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]]> Die Grenzboten
Jahrgang, viertes Vierteljahr
iA, bedeutet Reichsspiegcl)
kirchliche Rivalitäten m Bttnntricgc (vgl^
auch den Aufsatz „Griechisrh-orlhodore und
römisch-talholischeKirchc" iuHesl47 S.!!<l R.44, 288
Becher, Erich: Gehirn und Seele lElsc
W-ulscher)........... . 5V, 500
I R, H,: Literatur sür Jagd und Hnnde
licbhaber (Buchbesprechnngen).....Ki, 53l
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cum ein Mann in hoher, weithin sichtbarer Stellung aus dieser
Zeitlichkeit abberufen wird, dann kann man sich beim Lesen der
zahlreichen Nachrufe, die ihm in allen Tageszeitungen und Zeit¬
schriften pflichtgemäß gewidmet werden, häufig kaum des Gefühls
erwehren, daß dieser Nachrufspflicht gewöhnlich recht handwerks¬
mäßig und schablonenhaft genügt wird, wenn es nicht gerade einer von den
ganz Großen ist, deren Tuten mit einem besonderen Griffel im Buch der Ge¬
schichte verzeichnet sind. Aus dein Kreise derer, die dem Verstorbenen menschlich
näher gestanden haben, mischt sich wohl hier und da eine Note aufrichtiger
Trauer in den Chor, aber den meisten merkt man doch an, daß sie es eilig
haben, ihre konventionelle Verbeugung vor der Majestät des Todes und den
Verdiensten des Dahingeschiedenen zu machen. Die schnellebige Zeit kann den
Augenblick nicht erwarten, wo man von etwas anderem spricht, und was uns
da — man möchte fast sagen: anstandshalber — als Trauer vorgeführt wird,
weckt nur zu leicht die Erinnerung an die bitter-skeptische Frage Hamlets: Was
ist ihm Hekuba?
Aber es ist doch nicht immer so. Es gibt Lücken, die sich auch in einer
Zeit, die soviel Oberflächlichkeit und Ansprüche zur Schau zu tragen scheint,
schwer schließen, die auch in weiteren Kreisen mit aufrichtigem Schmerz empfunden
werden. Wen von allen, die der Entwicklung unseres Vaterlandes in den
letzten Jahrzehnten mit Aufmerksamkeit und mit warmem Herzen gefolgt sind,
hätte nicht ein jäher Schreck durchzuckt, eine tiefe Niedergeschlagenheit ergriffen,
als die Trauerkunde von Badenweiler die Welt durcheilte? Hier war mehr
als konventionelle Trauer um einen verdienstvollen, hochgestellten Mann; hier
regte sich das Bewußtsein eines schweren Schlages für das deutsche Volk, das
in dem Freiherrn von Marschall einen seiner besten Männer verloren hat.
Eben jetzt hatte man Großes von ihm erwartet. Er hatte soeben erst die
schwerste Aufgabe übernommen, die einem deutschen Diplomaten überhaupt gestellt
werden konnte, und von Freund und Feind war ihm bescheinigt worden, daß
man ihn in erster Linie für fähig hielt, diese Aufgabe zu lösen. Fast zu über-
schwänglich, lauter jedenfalls, als die Klugheit gebot, war er als der Mann
des allgemeinen Vertrauens gepriesen worden. So sah er sich getragen von
der Hoffnung seines Volkes, von der Anerkennung der ganzen Welt. Viele
wußten gar nicht oder hatten es vergessen, daß Freiherr von Marschall schon
im siebzigsten Lebensjahre stand, also nahe jener Altersgrenze, nach deren Über¬
schreitung für die Mehrzahl der Menschen jeder Tag des Lebens als ein
besonderes Geschenk erscheint. Aber auch die Wissenden, die sich nicht verhehlen
konnten, daß Alter und Leiden bereits diese starke Natur zu erschüttern begannen,
vertrauten unwillkürlich angesichts der Frische des Geistes, der unverwüstlichen
Arbeitskraft und Zähigkeit, die in diesem robusten, mächtigen Körper wohnten,
auf die Hilfsquellen ungebrochener Lebenskraft, die die ganze Persönlichkeit in
sich barg. Marschall schien niemals zu den Naturen zu gehören, die ihre
Kräfte in rastloser, aufreibender Tätigkeit aufzehren und die man nur mit
Sorge an neue große Aufgaben herantreten sieht. Eine eigentümliche Mischung
von behäbiger Ruhe und lächelnder Leichtigkeit schien ihn über alles hinweg»
zutragen, woran sonst das Nervensystem gewöhnlicher Sterblicher Schiffbruch zu
leiden pflegt. Um so bitterer und unerwarteter empfindet man den harten Griff
des Schicksals, das diesen Starken nur drei Monate nach Beginn seiner neuen,
mit so großen Hoffnungen begleiteten Tätigkeit niedergeworfen hat.
Es liegt eine starke Tragik in dem Abschluß dieses reichen und fruchtbaren
Lebens. Und doch! Den Verstorbenen selbst vermag man kaum zu beklagen,
wenn es wahr ist, was die Weisen aller Zeiten gelehrt haben, daß dem Menschen
kein größeres Glück begegnen kann, als von einem Höhepunkt abberufen zu
werden, wo er statt des Verzichts und der Entsagung, die so manches Leben
abschließen, den Ausblick in ein Land erfüllter Hoffnungen und errungener Er¬
folge genießen konnte. Und wenn es dem Leben des entschlafenen Staatsmannes
nicht an zahlreichen bitteren, sehr bitteren Stunden gefehlt hat, so ist er doch
durch diese hindurch zu immer größeren Erfolgen hindurchgedrungen. In der
Tat ist dieses Leben ein beständiger Aufstieg gewesen, und zwar nicht in dem
Sinne, wie wohl manchem Glückspilz ein Erfolg nach dem anderen in den
Schoß fällt; vielmehr ist es ein redlich erkämpftes und erarbeitetes Glück gewesen,
die Frucht eines inneren Wertes, der in Mühen und Erfahrungen geläutert
und gefestigt wird.
Wie man es in der Laufbahn des Staatsmannes öfter findet, hat auch
Marschall die Tätigkeit, die ihm im besten Sinne Lebensberuf werden und die
ihm die größten Erfolge bringen sollte, nicht von Anfang an als Ziel ins
Auge gefaßt; er hat ursprünglich nicht Diplomat werden wollen. Als unabhän¬
giger Mann, als Angehöriger einer der vornehmsten Familien seines Heimat¬
landes Baden, ist er allmählich in die politische Tätigkeit hineingeführt worden,
bis andere die Eigenart seiner Fähigkeiten erkannten und ihn an die Stelle
stellten, von der aus im Laufe der Zeit der Politiker zum Diplomaten und
Staatsmann wurde.
Wenn auch die äußeren Daten seines Lebens zum Teil schon bekannt, zum
Teil durch die Tageszeitungen genügend wieder in Erinnerung gebracht worden
sind, erscheint es doch angezeigt, das Wichtigste davon hier noch einmal zu
wiederholen, um daran die Entwicklung dieser bedeutenden Persönlichkeit zu
zeigen. Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein entstammt dem badischen
Zweige seines Geschlechts, das sich in der Geschichte dieses Landes einen ehren¬
vollen Platz gesichert hat. Auf dem väterlichen Gut Neuershausen bei Freiburg
ist er am 12. Oktober 1842 geboren. Durch Grundbesitz und Fannlienzugehörigkeit
schienen ihm für sein späteres Leben gewisse Bahnen vorgezeichnet zu sein,
und es konnte sich für ihn bei der Wahl des Berufes nur darum handeln,
diesem Leben durch die Vorbildung zu einer bestimmten Tätigkeit eine festere
Gestalt zu geben. Sein auf Klarheit und Schärfe gerichteter, reichbegabter
Geist fühlte sich zum juristischen Studium getrieben, und in diesem Beruf hat
er lange Jahre seine Befriedigung gefunden. Ohne Zweifel hat diese Tätigkeit
einen gewissen Einfluß auf seine ganze Geistesrichtung gehabt, und namentlich
seine Gegner wollten noch lange später in der Art und Methode seines par¬
lamentarischen Auftretens die Eigenheiten des Plaidoyers erkennen. Höhnend
sprachen sie dann von dem „Staatsanwalt", der an Bismarcks Stelle die aus¬
wärtige Politik des Reiches leite. Wenn es aber auch richtig sein mag, daß
Herr von Marschall anfangs einzelne Schwächen und Eigentümlichkeiten des
praktischen Berufsjuristen in eine neue Tätigkeit hinübernahm, so hat er sie
einerseits bald genug abgestreift, anderseits bildeten diese Schwächen doch nur
die unbedeutende Kehrseite vieler glänzenden Eigenschaften, vor allem der ihm
eigenen, auf logischer Schärfe und voller Beherrschung des Gegenstandes
beruhenden inneren Sicherheit und Klarheit, ferner aber der durchdringenden
Beobachtung der Menschen und Verhältnisse. Es wird aber hiernach verständlich
sein, daß diese Vorzüge erst in der diplomatischen Tätigkeit zur vollen Ent¬
faltung kamen, daß sie hier ausgiebiger zur Geltung gelangten als in der mehr
bureaukratischen Tätigkeit der Leitung eines Reichsamts.
Wenige Jahre nachdem Marschall das Amt eines Staatsanwalts in Mann¬
heim übernommen hatte, riefen ihn die Verhältnisse auf das politische Kampffeld.
Als Vertreter des grundbesitzenden Adels nahm er 1875 seinen Sitz in der
badischen Ersten Kammer. Einmal zur praktischen Mitwirkung an der Gesetz¬
gebung seines engerm Vaterlandes und zur parlamentarischen Tätigkeit berufen,
konnte eine solche Persönlichkeit hinfort nicht unbemerkt bleiben, und so sehen
wir ihn 1878 bei den bedeutungsvollen Reichstagswahlen jenes Jahres zum
ersten Male eine wichtige Rolle spielen. Seine persönlichen Überzeugungen wiesen
ihn in das konservative Lager. In Baden hatte bis dahin ein gesunder Kon¬
servatismus nicht so recht aufkommen können. Die Gegensätze hießen dort im
wesentlichen: Liberalismus und Klerikalismus. Die Rückwirkungen des preußischen
Kulturkampfs hatten diese Gegensätze verschärft, anderseits war auch Baden nicht
unberührt geblieben durch das von der Reichspolitik ausgehende Abflauen der
Stimmung, die bis dahin dem Nationalliberalismus eine beherrschende Stellung
gesichert hatte. So sahen die badischen Konservativen ihre Hoffnungen gestärkt;
denn mehr als früher fühlte man im Lande den Mißstano, daß sich seit der
Schwächung des nationalen, maßvollen Liberalismus und der Verschärfung der
konfessionellen Gegensätze die immerhin beachtenswerten konservativen und evan¬
gelisch-positiv gerichteten Elemente immer mehr zurückgedrängt sahen. Freiherr
von Marschall wurde der Führer dieser konservativen und evangelisch-kirchlichen
Bewegung, und so lag es nahe, das Ansehen seiner Persönlichkeit auch bei den
Reichstagswahlen auszunutzen — mit dem Erfolge, daß Marschall als Vertreter
des 10. badischen Wahlkreises in den Reichstag einzog, wo er sich der deutsch¬
konservativen Partei anschloß. Wer das Wesen des späteren Staatsmannes
richtig erkennen will, darf diese Grundlage seiner politischen Richtung nicht über¬
sehen. Sie zeigt, daß der Gegensatz, in den er später zu seinen ehemaligen
Parteigenossen geriet, nicht auf ursprünglicher und grundsätzlicher Meinungs¬
verschiedenheit beruhte, sondern durch besondere Umstände herbeigeführt wurde.
Abgesehen davon wird man zweierlei beachten müssen. Wenn sich jemand aus
den Reihen einer Partei heraus zum Staatsmann entwickelt, wird er immer
leicht das besondere Mißfallen derer erregen, die mit ihm früher an einem
Strang gezogen haben. Denn vom Parteistandpunkt gesehen, erscheint die Persön¬
lichkeit, die einen umfassenderen Blick gewonnen hat, natürlich als ein Abtrünniger,
und in die übliche Bekämpfung der abweichenden Meinung des ehemaligen
Freundes mischt sich noch die Bitterkeit der Enttäuschung und Kränkung. Dann
aber kam vielleicht noch etwas anderes hinzu. Vielleicht empfand Marschall
schon während seiner Zugehörigkeit zur deutschkonservativen Fraktion manches,
was ihn von seinen Parteifreunden trennte. Denn es ist nicht anzunehmen,
daß er, der Angehörige eines süddeutschen Mittelstaates, mit seinem doch recht
anders gearteten Stammescharakter, sich ohne weiteres mit den Eigentümlich¬
keiten des preußischen Konservatismus, der auf ganz anderen geschichtlichen
Traditionen beruht, eins gefühlt haben sollte. Und vielleicht hat diese gerade
bei grundsätzlicher Übereinstimmung dennoch gefühlte leise Differenz nicht un¬
wesentlich dazu mitgewirkt, den Parteimann zum Staatsmann umzuformen.
Marschall ist nicht lange Reichstagsabgeordneter gewesen. Er war bei der
Neuorganisation des Justizwesens im Jahre 1879 Landgerichtsrat geworden,
und diese Tätigkeit lockte ihn mehr als das Mandat, das er bei den Neuwahlen
von 1881 nicht wieder erneuern ließ. Bald darauf wurde er Erster Staats¬
anwalt, und so schien ihn der alte Beruf doch wieder festhalten zu wollen. Aber
schon war seine politische Befähigung zu deutlich hervorgetreten, als daß sein
Landesfürst auf diese Kraft hätte verzichten können. Im Jahre 1883 ernannte
ihn der Großherzog zum badischen Gesandten in Berlin und zum Bevollmächtigten
beim Bundesrat. So war er nun doch in das Zentrum der Reichspolitik gestellt
und wirkte hier als ein allgemein hochgeschätzter, verdienstvoller Mitarbeiter an
der Reichsgesetzgebung. Als solchen hat ihn auch Fürst Bismarck anerkannt.
Da die leidenschaftliche Erregung späterer Zeiten diese Tatsache zu verwischen
gesucht hat, ist es notwendig, auch daran zu erinnern. Allerdings lag die
Tätigkeit des Freiherrn von Marschall in diesen Jahren vorwiegend auf inner¬
politischem Gebiet, wie er denn z. B. um die Durchführung der Reichsversicherungs¬
gesetzgebung besondere Verdienste hat. Immerhin war seine Stellung der Form
nach eine diplomatische; tatsächlich war er dadurch auf das eingehendste an der
gesamten Reichspolitik interessiert und wurde und ihr gründlich vertraut. So
bildete die Tätigkeit Marschalls als badischer Gesandter den Übergang zu seiner
weiteren staatsmännischen Laufbahn.
Die Entlassung des Fürsten Bismarck im März 1890 brachte den bedeutungs¬
vollsten Wendepunkt im Leben Marschalls. Der Kaiser hatte bekanntlich gehofft,
den Grafen Herbert Bismarck auf seinem Posten als Staatssekretär des Aus¬
wärtigen Amts halten zu können. Aber Graf Herbert folgte seinem Vater, und
nun mußte auch für diese verantwortliche Stellung ein neuer Mann gesucht werden.
Hält man alle die Umstände und Einflüsse zusammen, die damals für die Wahl
des Nachfolgers bestimmend waren, so scheint es wohl begreiflich, daß sie auf
den badischen Gesandten in Berlin fallen mußte. Freiherr von Marschall wurde
also mit der Leitung des Auswärtigen Amts betraut und sah sich damit plötzlich
vor eine Aufgabe gestellt, an der ein Durchschnittscharakter unfehlbar gescheitert
wäre. Sein Vorgänger war der Sohn des Altreichskanzlers gewesen, der Ver¬
traute und das ausführende Organ seines großen Vaters. War auch Freiherr
von Marschall formell nur der Stellvertreter des Reichskanzlers, gingen auch die
großen Direktiven der auswärtigen Politik von: Kaiser selbst und vom Kanzler
aus, so wälzte sich doch auf den neuen Staatssekretär eine Verantwortungslast
von gewaltigem Umfange; ihm fiel zu einem großen Teil die Fortsetzung und
Erhaltung des Werkes zu, das der größte Staatsmann des Jahrhunderts begonnen
hatte. Und in dieser Aufgabe war er trotz aller Erfahrung und Vorbereitung
in wesentlichen Stücken ein Neuling. Aber sein festgefügter Charakter, noch
gestützt durch warme und doch besonnene Vaterlandsliebe und durch einen gesunden,
berechtigten Ehrgeiz — den Ehrgeiz des tüchtigen Mannes, der weiß, was er
wert ist, und der seine Kräfte betätigen will, — ließ ihn mutig in die Bresche
springen. Sein klarer, selbstsicherer Geist und seine ungebrochene Arbeitsfreudigkeit
und Energie mußten ihn: helfen, die Schwierigkeiten zu überwinden, deren Um¬
fang er sich nicht verhehlte. Er wußte wohl, daß er Fehler machen würde, aber
er durfte sich sagen, daß die Eigenart der Lage auch anderen die Lösung der
Aufgabe schwer, vielleicht noch schwerer machen würde, und so hielt er es für
seine Pflicht, getrost dem an ihn ergangenen Ruf zu folgen und seine beste Kraft
daran zu setzen. Es begann für ihn eine Zeit heftiger Anfeindungen. Den
erregten Gemütern jener Jahre — und dazu gehörten damals Leute, denen sonst
kein Opfer für das Vaterland zu groß war, die aber in der Verbitterung über
Bismarcks Entlassung und die damit zusammenhängenden Ereignisse jede Be¬
sonnenheit eingebüßt hatten, — erschien es schon als ein Verbrechen, daß sich
jemand dazu hergab, dem „neuen Kurse" seine Kraft zur Verfügung zu stellen.
Es waren die Zeiten, die vorhin erwähnt wurden: man verhöhnte den „Staats¬
anwalt", der an Bismarcks Stelle auswärtige Politik treibe. Man fand alles
klein, töricht und schwankend, was die neuen Männer anfingen, so wie vorher
alles groß, klug und fest gewesen war. Der Vorwurf war in mehr als einem
Punkte begründet; es war in der Tat eine unselige Übergangszeit. Aber die
Ungerechtigkeit und Übertreibung lag in der summarischen Verurteilung, der
unterschiedslosen Vermengung aller politischen Erscheinungen und persönlichen
Momente, die in dem Begriff „neuer Kurs" zusammengefaßt wurden. Viele
gaben sich gar nicht die Mühe, zu untersuchen, was unvermeidliche Folge der
Vergangenheit und was willkürlich herbeigeführt war; sie vergaßen das Beobachtete
nach Ursache und Wirkung zu ordnen, den tatsächlichen Veränderungen der Lage
Rechnung zu tragen, Persönliches und sachliches zu trennen. Marschall ist allen
diesen Anfeindungen gegenüber ruhig und sicher seinen Weg gegangen, selbst
unermüdlich arbeitend und lernend und so immer reicher die Fülle seiner Gaben
entfaltend.
Ernster war natürlich die Gegnerschaft, die ihm aus sachlichen Bedenken
gegen die von ihm vertretene Politik erwuchs, und hier waren es vor allem
die Handelsverträge, die ihm die erbitterte Opposition seiner ehemaligen Partei¬
freunde eintrugen. Will man aber Marschalls persönlichen Anteil an dieser
Politik — mag man ihn nun Verdienst oder Schuld nennen — richtig ein¬
schätzen, so darf man nicht vergessen, daß er erstens die grundlegenden Ent¬
schlüsse dieser Politik nicht zu verantworten hatte, und daß er zweitens eine
handelspolitische Situation vorfand, an der er nichts Wesentliches ändern
konnte und aus der er nur nach Möglichkeit die Vorteile herausholen mußte,
die zur Erreichung des ihm einmal vorgezeichneten Zieles führten. Es ist
müßig, die Frage aufzuwerfen, wie Marschall wohl gehandelt haben würde,
wenn er damals selbständig und mit voller Verantwortung der deutschen
Handelspolitik hätte die Richtung geben können. Es genügt, zu wissen, daß er
die Aufgabe, die ihm seine Stellung als Staatssekretär zuwies, mit Geschicklichkeit
und Entschiedenheit durchführte, wie es ihm seine Pflicht gebot. Was
ihn davon hätte abhalten können, wäre nur die Überzeugung von der Ver¬
kehrtheit der Grundgedanken dieser Politik gewesen. Daß er diese Überzeugung
nicht besaß, daß er im Gegenteil die Grundgedanken der Handelsvertrags¬
politik billigte, steht außer Zweifel. Aber damit wurde er seiner ursprünglichen
politischen Richtung keineswegs untreu. Denn jene Politik wäre wohl mit den
konservativen Wünschen und Bedürfnissen in Einklang zu bringen gewesen,
wenn nicht die begleitenden Umstände in Anschauungen, Begründungen und
Maßnahmen — Fehler, die auf das persönliche Konto des damaligen Reichs¬
kanzlers Grafen Caprivi fallen, — einen für lange Zeit unheilbaren Riß
zwischen den großen Erwerbsgruppen herbeigeführt und die Konservativen zu
einseitigen Verfechtern extrem argrarischer Forderungen gemacht hätten.
Was aus dieser Zeit zurückblieb, war eine erbitterte Feindschaft zwischen
Marschall und den Konservativen, so wie sie nun inzwischen geworden waren.
Und als nun der Kanzlerwechsel 1894 eine gewisse Umkehr von manchen
Prinzipien und Anschauungen des „neuen Kurses" mit sich brachte, erschien die
Stellung des Staatssekretärs ernstlich gefährdet. In Wirklichkeit war das
Vertrauen des Kaisers zu Herrn von Marschall unerschüttert, und ein sachlicher
Grund, dem Staatssekretär die Führung der Geschäfte, in die er sich jetzt ganz
eingearbeitet hatte, zu entziehen, bestand durchaus nicht. Aber in politischen
Kreisen war um jene Zeit der Eindruck entstanden, als ob es in der Führung
der Reichsgeschäste an der nötigen Einheitlichkeit fehle, als ob es in den
höchsten Neichsämtern Strömungen gebe, die gegeneinander arbeiteten. Und
das war auch in dem Sinne richtig, daß der persönliche Einfluß des alten
Fürsten Hohenlohe nicht mehr die beherrschende Kraft hatte, um eine entschiedene
Überlegenheit geltend zu machen. Daß eine solche Lage die politische Intrige
weckt, ist eine traurige, aber sich immer wieder bestätigende Erfahrung. In
dem Freiherrn von Marschall glaubten die Drahtzieher der Intrige einen der
Männer zu sehen, die als charakteristische Figuren aus der Capriviperiode in
die neue Lage angeblich nicht passen sollten. So galt es sür sie, an ent¬
scheidenden Stellen den entsprechenden Eindruck zu erwecken. Ging es nicht
auf geradem Wege, so mußte es auf krummem gehen. Jetzt begann die
Lanzierung von allerlei Nachrichten und Aufsätzen in der Presse, die Herrn
von Marschall kompromittieren sollten. Es sollte der Anschein erweckt werden,
als ob Marschall selbst mit Hilfe der ihm ergebenen Presse intrigiere oder
politische Sonderzwecke verfolge. Aber die Erwartungen der im Dunkeln
Schleichenden schlugen in einer ganz ungeahnten Weise fehl. Der Staatssekretär
selbst zerriß das Netz, mit dem er umsponnen werden sollte, indem er die
ermittelten Vertreiber dieser Preßnotizen vor Gericht ziehen ließ. Er unternahm,
wie er sagte, — und der Ausdruck ist seitdem berühmt geworden, — die
„Flucht in die Öffentlichkeit". Dieser Prozeß Leckerl-von Lützow, dem im
Jahre 1897 infolge der dabei gemachten Enthüllungen der Prozeß gegen den
Agenten der politischen Polizei, Kriminalkommissar von Tausch folgte, reinigte
allerdings die politische Atmosphäre, aber er verleidete auch durch seine
Konsequenzen dem Staatssekretär die Weiterführung seines Amts. Auch hatten
ihn die Aufregungen dieses schlimmen Jahres körperlich schwer angegriffen.
So schied er nach einem längeren Urlaub, während dessen sein Nachfolger,
Botschafter von Bülow, die Geschäfte führte, von seinem Posten, und damit
wurde seine Kraft für das Amt frei, auf dem er seine höchsten Triumphe
gefeiert hat. Er wurde im Herbst 1897 Botschafter in Konstantinopel.
Worauf beruhten nun die bekannten Erfolge, die Marschall in fast fünf¬
zehnjähriger Tätigkeit an: goldenen Horn erreicht hat? Worauf die eigenartige
Stellung, die er als Berater, Freund und Vertrauensmann des Sultans Abdul
Hamid, eines der argwöhnischsten und kompliziertesten Charaktere, die die
orientalische Herrschergeschichte gekannt hat, einnahm? Worauf die Möglichkeit,
in kurzer Zeit das scheinbar zusammengebrochene Werk wieder aufzubauen und
bei den Männern, die Abdul Hamid gestürzt hatten, das gleiche Vertrauen
wiederzugewinnen? Worauf das hohe Ansehen, das er persönlich auch bei denen
seiner diplomatischen Kollegen genoß, die sich in der Rolle zurückgedrängter
Rivalen und unterlegener Gegner sahen? Es kommen da mancherlei seltene
Eigenschaften zusammen. Zunächst Äußerliches. Er gab sich stets natürlich, ja
er schien sich gehen zu lassen in demi zutreffenden, sicheren Bewußtsein seines
inneren Übergewichts, das durch die angeborene freie Vornehmheit seines Wesens
vor jeder Gefährdung geschützt war. Seine Überlegenheit, die auf Menschen¬
kenntnis, Sachkenntnis und logischer Klarheit beruhte, bedürfte eben niemals der
äußeren Pose. Die behäbige Ruhe, die durch die Wucht seiner körperlichen
Erscheinung an Schwerfälligkeit zu grenzen schien, imponierte besonders den
Orientalen. Es gefiel ihnen, daß dieser Mann immer Zeit zu haben schien,
die wichtigsten Fragen mit lächelnder Gelassenheit, eine Zigarette nach der
andern rauchend, verhandelte, nie ungeduldig und aufgeregt wurde, aber auch
mit fester Entschiedenheit ohne Winkelzüge forderte, wenn er von Rechts wegen
etwas zu fordern hatte. Es schien ihm nie auf einen Triumph persönlicher
Geschicklichkeit anzukommen; er war wie der Spieler, der mit Verschlagenheit
die Chancen vorbereitet und die sich bietenden schnell ausnutzt. Wer aber ihm
gegenüber mit solchen Mitteln arbeiten wollte, der fühlte sich alsbald durch¬
schaut. Seine Kunst und seine Mittel waren die besseren Gründe; hatte er sie
mit seiner sicheren, geschulten und scharfen Dialektik für eine Sache zusammen¬
getragen, dann ließ er diese selbst wirken und unterstützte diese Wirkung nur
dach die Bonhomie und die ungezwungene, liebenswürdige Menschlichkeit, die
sein ganzes Auftreten ausstrahlte. Deshalb konnte ihm auch der geschlagene
Gegner persönlich nicht ernstlich böse sein, denn er sah hinter den Erfolgen
dieses Mannes nicht die sonst so häufig vorhandene Genugtuung befriedigter
Eitelkeit, sondern den durch menschliches Verstehen und leicht ironische Skepsis
gemilderten Ernst der Pflichterfüllung um der Sache willen.
So erschien wohl die Hoffnung berechtigt, ein solcher Mann werde auch
das Beste dazu tun können, um die Mißverständnisse zwischen Deutschland und
England zu beseitigen. Schon das wenige, was Freiherr von Marschall in der
kurzen Zeit seiner Übernahme der deutschen Botschaft in London tun konnte,
hat in den maßgebenden Kreisen in England den Eindruck hervorgerufen, daß
der rechte Mann an diese Stelle gestellt worden sei. Das Schicksal hat es
anders gewollt, und der Platz, den ein tüchtiger und trefflicher Mann einnahm,
ist leer geworden. Aber er hat sich seinen Platz in der Geschichte erworben und
sein Andenken wird darin fortleben.
or einiger Zeit fielen im preußischen Abgeordnetenhause diese
Worte: „Wir haben von Rußland aus den Zeitungen recht
mangelhafte Vorstellungen; wir lesen von Rußland im allgemeinen
nur, wenn dort Attentate verübt, wenn dort Bestechungen und
sonstige Schandtaten vorgekommen sind." In diesen Worten liegt
unzweifelhaft eine gewisse Übertreibung, aber ihrem entscheidenden Inhalte nach
treffen sie zu. In der Tat haben wir Deutschen eine durchaus unzulängliche
Kenntnis der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse unseres großen östlichen
Nachbarn und tatsächlich gehen wir ziemlich gleichgültig, wenn nicht gar ganz
verständnislos an den großzügigen Reformen vorüber, die in den letzten Jahren
in Rußland eingeführt worden sind und bereits beachtliche Ergebnisse gezeitigt
haben. Wenn auch der Gründe für unsere mangelhafte Vertrautheit mit den
russischen Verhältnissen gar viele sind — ich erinnere nur an die Schwierigkeiten,
die die russische Sprache für uns Deutsche bietet, die darauf beruhende völlig
unzureichende Kenntnis der wissenschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Literatur
Rußlands, an die Schwierigkeit, Land und Leute kennen zu lernen und sich von
den Zuständen des weiten Reiches durch eigene Anschauung zu überzeugen —,
so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß diese „mangelhafte Vertrautheit"
bedauerlich und geeignet ist, die vielfältigen deutsch-russischen Beziehungen
bedenklich zu beeinträchtigen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die wirt¬
schaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Nußland, wie in jüngster Zeit
des öfteren von sachverständiger Seite betont worden ist. Wir haben lange
Zeit von Rußland als dem „Koloß auf tönernen Füßen" gesprochen. Ich glaube,
daß dieser Vergleich heute nicht mehr zutrifft. Ich meine vielmehr, daß wir
nicht vergessen dürfen, daß sich hinter unserer östlichen Grenze ein Reich dehnt
von unermeßlicher Ausdehnung, in dessen nördlichen Teilen zwar der Boden
kaum anstand, in dessen Süden dagegen Palmen im Freien wachsen, dessen
Boden Schätze von ungeheurem Werte birgt, dessen meilenweite Wälder zu
einem großen Teile darauf warten, nutzbar gemacht zu werden, und dessen land¬
wirtschaftlich nutzbare Fläche imstande ist, weit größere Erträge als bisher zu
liefern. Dieses weite Reich, dessen europäischer Teil allein die zehnfache Größe
des Deutschen Reiches ausmacht, ist von etwa hundertfünfzig Millionen Menschen
bevölkert. Dieses Hundertfünfzig - Millionenvolk steht im Begriff zu erwachen,
sich wirtschaftlich zu regen und sich der in ihm ruhenden Kräfte bewußt zu
werden, seitdem ein verlorener Krieg und revolutionäre Wirren im Innern ihm
die Gefahr eines Zusammenbruches vor die Augen führten. Katastrophen
jedoch erzeugen große Männer. Wie vor hundert Jahren Preußen in der Zeit
seiner tiefsten Demütigung Männer hervorbrachte, die wie ein Stein, ein
Hardenberg, ein Schön usw. ihr Volk freimachten von drückender Gebundenheit,
so haben sich auch in Rußlands schwerster Zeit Männer gefunden, die bereit waren,
mit zäher Energie an der Umgestaltung der Grundlagen zu arbeiten, auf denen
sich bisher das Leben des weitaus größten Teiles der russischen Bevölkerung
vollzog. Ich denke dabei in erster Linie an die Maßnahmen zur Herbei¬
führung einer agraren Neugestaltung Rußlands, zur Befreiung des russischen
Bauern vom „Mir".
Eben erst sind fünfzig Jahre vergangen, seitdem die Hauptmasse der
russischen Bauernschaft nach ungefähr zweihundertjähriger Knechtschaft, deren
Druck unter keinem Herrscher schwerer auf ihr gelastet hatte als unter der der
„Philosophin auf dem Kaiserthron", Katharinas der Zweiten, sich in eine völlig
veränderte Lebenslage versetzt sah, und schon wieder befindet sie sich mitten in
einer vollständigen Umgestaltung ihrer Verhältnisse. Wer die jetzigen Vorgänge
verstehen will, kann an den Maßnahmen Alexanders des Zweiten und ihren
Folgen nicht vorübergehen. Jahrzehntelang hatte die Frage der Leibeigenschaft,
in die die russischen Bauern mit dem Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts
allmählich gesunken waren, das schwierigste politische Problem Rußlands gebildet,
an dessen Lösung die hervorragendsten Köpfe der russischen Intellektuellen selbst
zu einer Zeit gearbeitet hatten, in der ein offenes Wort der Verbannung in
das östliche Sibirien gleichstand. Dem Zarbefreier Alexander dem Zweiten war
es vorbehalten es zu lösen. Es wird berichtet, daß die Lektüre von Turgenjeffs
„Memoiren eines Jägers" ihm die Augen über die Lage der Bauern geöffnet
und in ihm die Überzeugung geweckt haben soll, daß trotz der ablehnenden Haltung
des überwiegenden Teiles der Grundbesitzer die Befreiung der Bauern durch¬
geführt werden müsse. Alexander der Zweite ging von der Anschauung aus,
daß eine Befreiung der Bauern von den Fesseln der Abhängigkeit allein, d. h.
ohne sie mit Grund und Boden auszustatten, ein ebenso unnützes wie staats¬
gefährliches Beginnen sein würde. Sie würde den in Unselbständigkeit groß
gewordenen Bauern aller Existenzmittel beraubt, ihm vollständiger Proletari¬
sierung und damit der Ausnutzung durch die Großgrundbesitzerschaft anheim¬
gegeben haben. Diesen Gedanken entsprach das „Allgemeine Gesetz", das
Freilassungsmanifest vom 19. Februar (3. März) 1861. Es erklärte die Bauern
für frei und übertrug ihnen zur wirtschaftlichen Benutzung, zur Nutznießung,
einen Teil des Landes der Grundbesitzer. Zunächst blieben zwar diese die
Eigentümer des abgetretenen Bauernlandes, für dessen Nutznießung die Bauern
einen Pachtzins, Naturalleistungen oder dergleichen zu prüstieren hatten. Aber
diese einstweilige Abhängigkeit, diese „zeitweilige Verpflichtung", sollte nur ein
Ubergangszustand sein, der sobald wie möglich in die vollständige Unabhängigkeit
hinüberleiten sollte. Zu diesem Zweck sah das Gesetz die entgeltliche Ablösung
des Bauernlandes vor; war sie perfekt geworden, d. h. das Bauernland aus¬
gekauft, so wurden die Bauern endgültig frei, so gelangten sie in den Stand
der freien Ackerbauern. Da naturgemäß weder der einzelne Bauer, noch die
Gemeinde, noch etwa die Bauernschaft als Ganzes in der Lage war, die un¬
geheuren Summen, die die Ablösung erforderte, aufzubringen, so sah sich der
Staat veranlaßt, einzugreifen. Er übernahm einstweilen die Schuld der Bauern¬
schaft, indem er zinstragende Papiere, sogenannte Loskaufsscheine, ausgab, die
den Gutsbesitzern als Gegenwert für das abzulösende Land übermittelt wurden,
während der Bauernschaft die Verpflichtung auferlegt wurde, die gesamte Los¬
kaufsschuld nebst Zinsen in dem Zeitraum von neunundvierzig Jahren zu tilgen.
Auf dieser Grundlage ist die Landablösung in der Folge dank der Unterstützung
des Staates einerseits, dank der erheblichen Verschuldung der Gutsbesitzerschaft
anderseits verhältnismäßig rasch vor sich gegangen.
Das Werk der Bauernbefreiung griff so unmittelbar und so tief in die
Lebensverhältnisse der russischen Bauernschaft ein, daß es verständlich ist, wenn
man versuchte, so weit wie möglich an bewährte überkommene Einrichtungen
anzuknüpfen und den Umfang der Neuerungen nicht weiter auszudehnen als
der Zweck des Emanzipationswerkes erforderte. Zu diesen anscheinend
bewährten, überkommenen Institutionen gehörte der „Mir", eine seit Jahr¬
hunderten bestehende Institution des russischen Rechts. „Mir" bedeutet im
russischen „Welt" und in der Tat war — bzw. soweit er noch besteht: ist —
der Mir die Welt, in der der russische Bauer lebt. Unter „Mir" versteht
man ein dreifaches: 1. ein Organ des öffentlichen Rechts, ein Verwaltungs¬
organ; 2. die Versammlung der Wirtschaftshäupter einer Gemeinde; 3. die
Gemeinde als Eigentümerin des gesamten ihr übertragenen Bauernlandes, die
Feldgemeinschaft. An diese alte Rechtsinstitution des Mir knüpfte das
Befreiungsedikt dergestalt an, daß es den Bauern aus der gutsherrlichen
Abhängigkeit befreite und ihn dem rechtlichen und wirtschaftlichen Zwange des
Mir unterwarf. Der Mir als Verwaltungsorgan bietet hier kein Interesse;")
nur zur Illustration sei bemerkt, daß der Mir dem Bauern die Erlaubnis zum
Verlassen seines Dorfes erteilen mußte, daß er ihm den Paß auszustellen hatte,
daß er eine beschränkte niedere Gerichtsbarkeit über die Gemeindemitglieder
ausübte u. tgi. in. Hier interessiert der Mir in seiner Eigenschaft als Besitzer
des Gemeindelandes, als Feldgemeinschaft. Von den rund 110 Millionen
Dessjätinen**) Land, die durch das Freilassungsmanifest von 1861 in den
Besitz der Bauernschaft übergegangen sind, gelangten in den persönlichen Besitz
der Bauern nur 19 Millionen Dessjä'einen, während die restierenden 90 Millionen
der Gemeinde, dem Mir, übertragen wurden. Die Übertragung des Landes
zu Sonderbesitz geschah im wesentlichen nur in den ehemals polnischen und
littauischen Provinzen des sogenannten Westgebietes; im ganzen übrigen Ruß>
land wurde es dem Mir zu Kollektiobesitz übertragen. In den Gebieten des
kollektiven Besitzes, des Gemeindebesitzes oder Mir, ist der einzelne Bauer nur
Eigentümer seines Hauses und des dieses umgebenen Hofraumes im Dorf, im
übrigen gehört das ganze Wirtschaftsland an Acker, Weide, Wiese und Wald
der Gemeinde. Ihr obliegt die Aufgabe, dieses Land nach Maßgabe bestimmter
Verteilungssysteme, die in den verschiedenen Gegenden voneinander abwichen
und in der Praxis verschieden gehandhabt wurden, zu verteilen. Damit war es
jedoch nicht getan. Nach der festen Überzeugung der russischen Bauern hat jeder
Bauer den unbedingten Anspruch, hinsichtlich des ihm zugewiesenen Anteils um
nichts schlechter gestellt zu sein als irgendeiner seiner Gemeindegenossen. Bei der
Verteilung des Gemeindelandes war daher vor allem auch Rücksicht auf eine
gleichwertige Gestaltung der einzelnen Anteile zu nehmen, eine Aufgabe, die
wegen der außerordentlich verschiedenartigen Beschaffenheit und Lage des Bodens
einerseits, der oft zahlreichen Bevölkerung der Gemeinden anderseits, mit den
größten Schwierigkeiten verknüpft war. Das unabweisliche Ergebnis der
Landverteilung war daher eine einfach ins Bizarre gehende Bodenzersplitterung.
„Es gibt Dörfer, in denen die Zahl der zum Anteil eines Wirtes gehörigen
Einzelstücke hundert und sogar mehr beträgt, und wenn die Zahl der Fetzen
zwanzig nicht übersteigt, so ist das müßig zu nennen. Die entfernteren Stücke
jedes Anteils liegen meist mehr als drei Kilometer von der Wohnstätte entfernt,
ja es gibt Fälle, wo diese Entfernungen 20 Kilometer übersteigen. Das
Bebungen solcher entfernter Parzellen macht sich natürlich nicht bezahlt und
der Boden wird ausgesogen solange er noch was trägt und dann, trotz Land¬
mangels, als Urlaub unbenutzt gelassen. Die Schnurstreifen im Felde sind
meist nur wenige Meter breit bei einer Länge von Hunderten von Metern und
manchmal bis zu einer Breite eines Schrittes zusammengeschrunipft. Dabei
wird das eine Stück von anderen durch einen mit Unkraut bewachsenen Strich
getrennt. Daß dabei von reiner Saat nicht die Rede sein kann, liegt auf der
Hand, und der unmittelbare Verlust an Feldareal durch diese Grenzstreifen
wird von Kennern auf ein Siebentel der Gesamtfläche veranschlagt. Ein Querpflügen
und -eggen ist ausgeschlossen." (von Wrangell.) Diese Zustände allein hätten
genügt, eine rationelle und intensive Bewirtschaftung des Bodens unmöglich zu
machen; hinzu kamen jedoch in derselben Richtung wirkende Momente. Zwei
von ihnen seien noch erwähnt. Das Fehlen arrondierter Wirtschaftsflächen,
die Gemenglage der Grundstücke, hatte zur notwendigen Folge, daß dem
Bauern jede Freiheit und Initiative bei der Bodenbearbeitung, der Saat,
der Ernte genommen wurde. Ein Bauer z. B., dessen Roggenfeld zwischen den
ebenfalls von Roggen bestandenen Feldern anderer Bauern lag, konnte nur
dann ernten, wenn es auch den anderen gefiel, dies zu tun, da er im andern
Falle sein Land nur erreichen konnte, wenn er das ihre beschädigte. Daher
bestimmte der Mir, wann die Feldarbeiten vorgenommen werden sollten. Und
ferner: da jeder Bauer Anspruch auf Land hatte, die Bevölkerungszahl der
Gemeinden im allgemeinen aber wuchs, so war von Zeit zu Zeit eine Ums¬
tellung des gesamten Gemeindelandes unabweislich. Derartige Anleitungen
pflegten in vielen Gemeinden alle paar Jahre vom Mir beschlossen und vor¬
genommen zu werden; erst ein Gesetz von 1893 bestimmte, daß Anleitungen
nicht häufiger als in zwölfjährigen Zwischenräumen durchgeführt werden sollten.
Es gab eine Zeit, in der man auch in Westeuropa in dem russischen Mir
die vollendetste bäuerliche Wirtschaftsorganisation sah. Wie die Gestaltung der
Verhältnisse in Rußland gezeigt hat, haben die Bewunderer des Mir seine
ungeheuren Schwächen und Nachteile vor lauter Bewunderung übersehen. Eine
Organisation der bäuerlichen Wirtschaft, die bei den Bauern das Bewußtsein,
auf eigener Scholle und vererblichem Besitz zu arbeiten, nicht aufkommen läßt,
die ihm jede Initiative unmöglich macht, ihm jede erst in der Zukunft Ertrag
bringende Arbeit als für einen anderen geleistet erscheinen lassen muß, die
jeden beabsichtigten Fortschritt im Keim erstickt, eine solche Organisationsform
kann nur den Untergang der bäuerlichen Wirtschaft bedeuten. Wenn Nußland
seit Jahrzehnten wieder und wieder Mißernten aufzuweisen hatte, wenn von
Jahr zu Jahr die Steuerrückstände wuchsen, wenn nach einem im Jahre 1897
vom russischen Finanzministerium herausgegebenen Werke 70,7 Prozent der
gesamten bäuerlichen Bevölkerung die auf 19 Pud") pro Kopf angenommene
Menge an Getreide zur Ernährung, die auf 7,5 Pud angenommene Menge
an Getreide zur Viehfütterung aus ihrem Landanteil nicht decken konnte,
während nur 20,4 Prozent diese Mengen erreichte und nur 8,9 Prozent mehr
als 26,5 Pud Getreide aus ihrem Landanteil herauswirtschaftete, wenn die
Zahl der Arbeitspferde und des Arbeitsviehes von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
relativ sank, wenn die Prozentzahl der wegen physischer Defekte vom Militär¬
dienst befreiten Personen von 1874 bis 1901 mehr und mehr stieg — so sind
das alles Erscheinungen, deren Ursachen zu einem ganz erheblichen Teil in der
Herrschaft des Mir, in der russischen Feldgemeinschaft lagen.
Dieser Erkenntnis hat man sich in Rußland lange Zeit hindurch ver¬
schlossen und die Ursachen der eben erwähnten und anderer Erscheinungen des
bäuerlichen Wirtschaftslebens ganz wo anders gesucht. Im russischen Volke
sowohl wie bei der Regierung war es noch bis vor verhältnismäßig wenigen
Jahren eine ausgemachte Sache, daß es der Mangel an Bauernland sei, der
die in vielen Gegenden Rußlands sast trostlosen bäuerlichen Zustände verschulde.
Schon im Jahre 1882 hat diese Überzeugung zu der Gründung der Bauern»
agrarbank geführt, deren Aufgabe es sein sollte, den Verkauf von Land an die
Bauern zu vermitteln. Dieselbe Überzeugung beherrschte mehr als zwanzig
Jahre später (1905/06) auch jene Bauern, die mit Sense, Knüttel und Feuer¬
zeug auszogen, um dem Gutsbesitzer den roten Hahn aufs Dach zu setzen und
sich in den Besitz seiner Ländereien zu bringen. „Beseitigung des Landhungers"
war auch die Parole, unter der die bäuerlichen Abgeordneten sich in die erste
Reichsduma wählen ließen. Und diese erste, am 17. (30.) Oktober 1905 ins
Leben gerufene russische Volksvertretung selbst war von den angeblich alles
auflösenden Wirkungen des Landmangels so durchaus durchdrungen, daß sie in
die Adresse, mit der sie die Eröffnungsthronrede des Zaren beantwortete, die
Sätze aufnahm: „Die Klarstellung der Bedürfnisse der Landbevölkerung und
entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen bilden die nächste Aufgabe der Duma.
Die bäuerische Bevölkerung harrt ungeduldig auf Befriedigung der Agrar-
bedürfnisse. Die erste Neichsduma würde nicht ihre Pflicht erfüllen, wenn sie
nicht ein Gesetz schüfe zur Befriedigung dieser Bedürfnisse mit Hilfe der Staats-,
Apanagen- und Klosterländereien und durch zwangsweise Enteignung des Land¬
grundbesitzes." Die Frage, wie schaffen wir den Bauern Land, war auch in
der Folge eine der Kardinalfragen, mit denen sich die erste Duma beschäftigte;
sie sollte an diesem Problem scheitern. Die von den Volksvertretern erhobenen
gesetzwidrigen und willkürlichen Forderungen hinsichtlich der Zwangsenteignung
beantwortete der Zar mit dem Auflösungsmanifest vom 8. (21.) Juli 1906, in
dem sich die Worte finden: „Der russische Bauer wird ohne fremdes Eigentum
anzutasten, da wo die ländlichen Besitzungen zu klein sind, ein gesetzliches Recht,
ein gesetzliches rechtschaffenes Mittel erhalten, um seinen Landbesitz zu erweitern."
Die Einberufung der zweiten Duma wurde auf den 5. (18.) März 1907 fest¬
gesetzt; auch diese wollte die Agrarfrage unter dem Zeichen des Landmangels
lösen. In uferlosen Debatten wurde die Angelegenheit erörtert, Behauptungen,
denen jede stichhaltige Begründung fehlte, wurden aufgestellt, jeder Logik bare
Vorschläge wurden gemacht, aber etwas Entscheidendes und Durchführbares
wurde nicht zutage gefördert. Im übrigen hatte die zweite Duma eine fast
ebenso kurze Lebensdauer als ihre Vorgängerin; nach drei Monaten wurde sie
aufgelöst.
Inzwischen hatte die Regierung seit geraumer Weile unmittelbar in die
Agrarfrage eingegriffen. Daß in einem gewissen Umfange Landmangel herrschte,
mag zugegeben werden, da in der Tat die bäuerliche Bevölkerung weit mehr
als das den Bauern zur Verfügung stehende Anteilsland und die von ihnen
durch Kauf erworbenen Ländereien gewachsen war. Aber daß der Landhunger
gewaltig überschätzt oder nicht richtig gewürdigt wurde, ergiebt sich aus der
Tatsache, daß 1905 — zu Beginn der Reformen — der Landanteil von nur
23 Prozent der bäuerlichen Wirtschaften geringer als 5 Dessjätinen war,
während 77 Prozent mehr als 5 Dessjätinen bearbeiteten. Immerhin — auch
die Negierung ließ sich bei ihren ersten Maßnahmen zur Hebung der dauer-
lichen Verhältnisse von dem Bestreben leiten, den Bauern „mehr Land" zu
schaffen.
Die erste Gruppe von Maßnahmen setzte sich aus den folgenden Vorgängen
zusammen:
1. Ein Allerhöchster Befehl vom 3. (16.) November 1905 gab der Bauern¬
agrarbank auf, in weitergehenden Maße als bisher private Ländereien aus¬
zulaufen, zu parzellieren und den Bauern weiter zu verkaufen. Mit diesem
Ukas trug die Negierung zugleich den innerpolitischen Verhältnissen Rußlands
zu jener Zeit Rechnung. Die Bauernbewegung von 1905/06, die sich teilweise
zu einem förmlichen Bauernkriege auswuchs, hatte viele Gutsbesitzer veranlaßt,
sich ihrer Liegenschaften durch Verkauf zu entäußern. Dem ungeheuren Angebot
von Land — es betrug in der Zeit vom 1. November 1905 bis 31. Dezember
1906 nicht weniger als 8742825 Dessjätinen, während im Durchschnitt der
vorhergehenden zehn Jahre jährlich etwa 500000 Dessjätinen angeboten wurden
— stand nur eine geringe Nachfrage gegenüber, so daß die Möglichkeit gegeben
war, unlautere Elemente (Wucherer, Güterschlächter usw.) könnten versuchen,
diese Verhältnisse sür sich auszunutzen, das Land billig auszulaufen, um es nach
Wiedereintritt normaler Verhältnisse an die Bauern zu (sür diese) ungünstigen
Bedingungen wieder zu veräußern. Um dem vorzubeugen, wurde die Bauern¬
agrarbank beauftragt, zum Vorteile der Bauern, aber auch zum Nutzen der
verkaufenden Gutsbesitzer in die anormalen Zustünde einzugreifen.
2. Ein Ukas vom selben Tage — 3. (16.) November 1905 — bereitete
die Abschaffung der Ablösungssteuern vor, dergestalt, daß der Bauernschaft zu-
nächst die Hälfte desjenigen Teiles der Loskaufszahlung (siehe oben), der noch nicht
entrichtet worden war, erlassen wurde. Später, Anfang 1907, ist die Abzahlung
der bis dahin noch nicht amortisierten Loskausszahlung ganz erlassen worden.
Durch diese Maßnahme wurde der gesamten Bauernschaft eine ganz beträcht¬
liche, sie außerordentlich drückende Schuldenlast von den Schultern genommen,
und unzweifelhaft hat sie die Bauern äußerst wohltätig berührt und ihre Lage
erleichtert. Von manchen Seiten (vgl. z. B. Schilder, „Entwicklungstendenzen
der Weltwirtschaft". Franz Siemenroth, Berlin 1912, Bd. I. S. 44) wird der
Erlaß dieser „Steuer", die in manchen Gouvernements den Reinertrag des
bäuerlichen Betriebes überstiegen haben soll und deren Eintreibung nach der
Ernte die Bauern zwang, ihre Erträgnisse so bald wie möglich zu veräußern,
„als eine der segensreichsten Folgen der großen russischen Revolution" angesehen.
3. Durch zwei Allerhöchste Befehle vom 12. (25.) August und 27. August
(9. September) 1906 wurden die Apanagenverwaltung und die Verwaltung der
Domänen angewiesen, landwirtschaftliche Ländereien und Teile des Waldlandes
an die Bauern, teils durch Vermittlung der Bauernagrarbank, teils direkt an
sie zu verkaufen.
4. Durch ein Gesetz vom 15. (28.) November 1906 wurde die Verpfändung
Von Anteilsland an die Bauernagrarbank zugelassen. Diese Maßnahme hatte
den Zweck, den Bauern durch die Verpfändung Geld in die Hand zu geben
und sie dadurch in den Stand zu setzen, Land zu kaufen.
5. Man suchte die Übersiedelung von Bauern nach Sibirien auszugestalten,
um die vielfach äußerst volkreichen Gemeinden im europäischen Rußland zu ent¬
völkern und auf diesem Wege Land frei zu machen.
So beachtenswert alle diese Maßnahmen auch waren, die wichtigsten Ur¬
sachen der schlechten Lage des Bauernstandes, die Feldgemeinschaft und die
Gemenglage der Landanteile, berührten sie nicht. Um in dieser Richtung grund¬
legende Reformen durchzuführen, mußte zunächst, wenn auch einstweilen nur im
kleinen Kreise einflußreicher und sachverständiger Personen, der fast in ganz
Rußland herrschende Glaube an die Unübertrefflichkeit des Mir erschüttert und
überwunden werden. Daß eine solche Wandlung in den Anschauungen über
eine durch eine jahrhundertealte Überlieferung geheiligte Institution nur
allmählich um sich greifen konnte, ist verständlich. Anderseits konnte aber die
gewonnene Erkenntnis: der Mir ist die Wurzel alles Übels, in Anbetracht der
trostlosen Lage der Bauernschaft, nicht wieder untergehen, und die Forderung
der Abschaffung der Feldgemeinschaft und des Übergangs zum Sonderbesitz mußte
um Anhänger werben. Schon eine im Jahre 1902 eingesetzte, weitschichtig
organisierte Konferenz, die die Bedürfnisse der Bauern und ihre Lage unter¬
suchen sollte, hatte erkennen lassen, daß die Meinungen über den Mir nicht
mehr ungeteilt waren und daß auch bereits, namentlich unter den vor¬
geschritteneren Landwirten Westrußlands, Stimmen laut wurden, die die Be¬
seitigung der Gemenglage forderten. Wenn die Regierung sich trotzdem mit
ihren ersten Maßnahmen der Forderung, den Bauern mehr Land zu schaffen,
anschloß, so nahm sie damit auf die allgemeine öffentliche Meinung, insbesondere
auch auf die in den Kreisen der aufständischen Bauern herrschenden Ansichten
kluge Rücksicht. Im Schoße der Negierung selbst aber war man wohl schon
damals überzeugt, daß mit diesen ersten Maßnahmen die Reformen nicht beendet
sein, sondern erst begonnen haben konnten, daß der nächste Schritt die Zer¬
trümmerung des Mir und die Beseitigung der Gemenglage sein mußte. Die
treibende Kraft innerhalb der Regierung wurde der im März 1906 auf den
Posten eines Ministers des Innern berufene spätere russische Ministerpräsident
P. A. Stolypin, ein Mann, fähig und entschlossen, seine Reformpläne durch¬
zuführen. (Vgl. über ihn den Aufsatz des Herausgebers der Grenzboten: Stolypin
und Rußland, Jahrgang 1911, Ur. 39. S. 581.)
In der Zeit zwischen der Auflösung der ersten, oppositionellen Duma und
dem Zusammentritt der zweiten, ebenso oppositionellen Duma war es, als
Stolypin seine Gedanken in die Tat umzusetzen begann. Ein Paragraph der
russischen Verfassung (Z 87) gibt der Regierung das Recht, in varlamentslosen
Zeiten in dringenden Notfällen gesetzgeberische Aktionen im Wege kaiserlicher
Manifeste vorzunehmen unter der Bedingung, daß sie nach Zusammentritt der
Kammern innerhalb einer gewissen Frist deren Sanktion einholt. Auf diesen
„Notparagraphen" stützte sich der Ukas vom 9. (22.) November 1906, auf
Grund dessen die grundsätzliche Reform der bäuerlichen Verhältnisse zunächst
durchgeführt wurde. Man hat die Legalität dieses Allerhöchsten Befehles mit
der Begründung angefochten, daß 1. die Verfassung nur plötzlich auftretende,
nicht längst bestehende Notfalle treffen wolle, wenn sie „in dringenden Fällen"
einseitige gesetzgeberische Akte der Negierung zulasse, und daß 2. Stolypin gegen
die Verfassung verstoßen habe, da er den Ukas vom 9. (22.) November der
zweiten Duma nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von einem Monat nach
deren Zusammentritt vorgelegt habe. Der erste Einwand betrifft eine Frage
der Interpretation; der zweite war an sich richtig, muß aber als beseitigt
angesehen werden, da das Manifest vom 9. (22,) November 1906 durch ein
auf verfassungsmäßigen Wege zustande gekommenes Gesetz, im wesentlichen des
gleichen, zum Teil erheblich erweiterten Inhalts, vom 10. (23.) Juni 1910
ersetzt worden ist.
Die beiden entscheidenden Bestimmungen dieses Gesetzes gehen dahin:
s) Jeder an der Nutznießung des Gemeindebesitzes beteiligte Bauer kann ver¬
langen, daß ihm sein Anteil als Sonderbesitz zugewiesen werde; und b) in
allen Gemeinden, in denen keine allgemeinen Anleitungen seit der Landzuerteilung
stattgefunden haben, sollen so angesehen werden, als ob sie zum Sonderbesitz
übergegangen seien, das heißt die in diesen Gemeinden an der Feldgemeinschaft
beteiligten Bauern sollten ihren Anteil am Gemeindeland als ihren Sonder¬
besitz, ihr persönliches und vererbliches Eigentum betrachten können. Auf Grund
dieser Bestimmungen konnte sich der Bauer endlich frei machen von dem Zwange
des Mir; um ihn aber ganz auf sich selbst zu stellen, bedürfte es noch der
Beseitigung der Gemenglage. Auch in dieser Beziehung haben bereits der Ukas
vom November 1906 und das ihn ersetzende Gesetz von 1910 Bestimmungen
getroffen; inzwischen sind sie, um allen Bedürfnissen gerecht werden zu können,
in vielfach erweiterter Fassung in dem besonderen Landeinrichtungsgesetze vom
29. Mai (11. Juni) 1911 niedergelegt worden. Der Zweck dieser Bestimmungen
war, die Ausscheidung des Sonderbesitzes aus dem Gemeindeland, die Schaffung
selbständiger, wohlarrondierter Bauernhöfe, die Eröffnung einer neuen Zukunft
für den russischen Bauernstand. Es wurde zur Erreichung dieses Zieles eine besondere
Landeinnchtungsorganisation (Bezirkskommissionen, Gouvernementskommissionen,
Komitee sür Landeinrichtungsangelegenheiten beim Landwirtschaftsministerium in
Se. Petersburg) geschaffen, der es oblag, die Absichten der Regierung auszuführen.
Das ist in knappen Zügen der wesentliche Inhalt der Gesetze und Ver¬
ordnungen, die die jüngsten agraren Reformen in Rußland eingeleitet haben.
Es würde zu weit führen, hier darzustellen, wie diese Gesetze und Verordnungen
im einzelnen durchgeführt wurden, wir müssen uns vielmehr auf eine summa¬
rische Übersicht über die bisherigen Erfolge der Reform beschränken.
Was ist erreicht worden? Blicken wir zunächst auf das Ergebnis der
Maßnahmen der Regierung, die sich an die Forderung: Mehr Bauernland!
anschlössen. Die Bauernagrarbank ist der ihr erteilten Weisung, mehr Land aus
privater Hand zu erwerben, in weitesten Umfange nachgekommen. Sie hat in
der Zeit vom I.Januar 1906 bis 31. Dezember 1911 rund 4 Millionen Dessjätinen
Privatbesitz an sich gebracht. Allein in den beiden Jahren 1906/07 erwarb sie
gegen 22/4 Millionen Dessjätinen — eine Zahl, die um so größer erscheint, wenn
man berücksichtigt, daß die Bank in dem Jahrzehnt vor 1906 durchschnittlich
jährlich noch keine 100000 Dessjätinen erwarb. Seitdem wieder ruhigere Zeiten
in Rußland eingekehrt sind, sind die Ankäufe der Bauernagrarbank — dem stark
gefallenen Angebot seitens der Grundbesitzer entsprechend — beträchtlich gefallen.
In den letzten beiden Jahren 1910/11 erreichten sie sogar bei weitem nicht den
früheren Durchschnitt von 100000 Dessjätinen. Von der Apanagenverwaltung
erwarb die Bauernagrarbank in den genannten sechs Jahren gegen 1/^ Millionen
Dessjätinen, so daß sie in dieser Zeit im ganzen mehr als 5 Millionen Dessjätinen
Land erworben hat. Von diesen sich in ihrem Besitz befindlichen Ländereien
hat sie inzwischen etwa 3 Millionen Dessjätinen an die Bauern verkauft. Von dem
Domänenland, dessen Verkauf an die Bauern unmittelbar zugelassen war, sind
in dem Jahrsechst etwa 300000 Dessjätinen in bäuerlichen Besitz übergegangen.
Rechnet man zu diesen Ziffern noch hinzu, daß infolge der Auswanderung nach
Sibirien etwa 1 Million Dessjätinen frei gemacht wurden, so ergibt sich, daß
der den bäuerlichen Wirtschaften im europäischen Rußland zugute gekommene Land¬
zuwachs in derZeitvoml. Januar1906bis 31. Dezember1911 rund ^/zMillionen
Dessjätinen beträgt. Ganz gewiß hat nicht jeder Bauer seinen Besitz vergrößern
können — es war auch nicht nötig, da der Landmangel enorm übertrieben
wurde —, ganz sicher haben auch nicht alle diejenigen, die in der Tat eine Vesitz-
vergrößerung gebrauchten, eine solche vornehmen können, aber trotzdem wird man
zugeben müssen, daß in Rußland in wenigen Jahren eine ganz gewaltige Be¬
sitzverschiebung zu gunsten des Kleinbesitzes stattgefunden hat.
Wichtiger noch sind die Ergebnisse der Maßnahmen, die auf die Schaffung
von Sonderbesitz zielten. In dem Jahrsechst (1906 bis 1911) sind nicht weniger
als 1.2/4 Millionen Bauern aus der Feldgemeinschaft ausgeschieden; die gesamte
ausgeschiedene Fläche beläuft sich auf rund 12 Millionen Dessjätinen. Außerdem
sind gegen 3000 Gemeinden, in denen seit der Landzuteilung keine allgemeinen
Anleitungen stattgefunden hatten, als zum Sonderbesitz übergegangen zu
betrachten; die auf diese Weise dem Sonderbesitz zugeführte Landstände beträgt gegen
1^/2 Millionen Dessjätinen. Die Landeinrichtungsarbeiten d. h. die Ausscheidung
und Umlegung der bäuerlichen Grundstücke, die Bildung von geschlossenen Bauern¬
höfen, die Auseinandersetzungen zwischen mehreren Dörfern einer Gemeinde usw.
kamen den Wünschen und Bedürfnissen der bäuerlichen Bevölkerung in so weit¬
gehendem Maße entgegen, daß es den Landeinrichtungsbehörden ganz unmöglich
war, die von Jahr zu Jahr steigende Zahl der Amräge infolge unzureichender
Arbeitskräfte, Mangel an Landmessern usw. umgehend zu erfüllen. Nament¬
lich machte sich der Mangel an Landmessern in den ersten Jahren äußerst
fühlbar. Durch besondere Vorkehrungen wurde ihre Zahl innerhalb dreier
Jahre (1907/10) von 200 auf mehr als 5000 erhöht, aber auch jetzt reicht ihre
Zahl noch nicht hin, alle Anträge auf Auseinandersetzung sofort zu bearbeiten.
Gegen 11 Millionen Dessjätinen Landes sind von 1906 bis 1911 umgelegt worden;
von diesen rund 11 Millionen entfallen auf die Ausscheidung einzelner Bauern¬
höfe und die Auseinandersetzung ganzer Gemeinden etwa 6^ Millionen, auf die
Auseinandersetzung verschiedener Dörfer einer Gemeinde etwa 4^ Millionen.
Diese Erfolge der jetzigen Agrarreform Rußlands übersteigen selbst die
kühnsten Hoffnungen, die bei der Einleitung der Reform gehegt wurden.*) Es hat
sich gezeigt, daß in weiten Kreisen der Bauernschaft völliges Verständnis für
die Nachteile der sozialistischen Organisationsform des Mir bestand oder doch sich
bald durchsetzte und daß die Bauernschaft sich davon überzeugte, daß ein wirt¬
schaftlicher Fortschritt nur auf dem Boden des Individualismus möglich ist.
Die Zukunft wird lehren müssen, welchen Nutzen die vom Zwange des Mir
befreiten, wirtschaftlich selbständig gemachten Bauern aus der gewonnenen Frei¬
heit ziehen werden. Der russische Bauer ist kein Dummkopf, wenngleich es ihm
bei seiner Schwerfälligkeit nicht leicht wird aus sich selbst heraus vorwärts zu
schreiten und Initiative zu entwickeln; daran mag die lange Zeit hindurch
ertragene Unselbständigkeit schuld sein. Immerhin muß die Regierung diesem
Umstände Rechnung tragen, wenn die Zertrümmerung des Mir die erhofften
wirtschaftlichen Vorteile zeitigen soll. Sie ist sich dieser Aufgabe auch bewußt
und sucht ihr gerecht zu werden durch die Ausgestaltung des landwirtschaftlichen
Bildungswesens. Ein Heer von Agronomen, Landwirtschaftslehrern usw. ist von
den Landeinrichtungskommissionen angeworben worden, damit den Bauern geholfen
werde, sich in die neuen Verhältnisse zu finden, indem ihnen Mittel und Wege zu
einer zweckentsprechenden Ausnutzung ihres Landbesitzes, zur Hebung ihrer Vieh¬
wirtschaft und dergleichen mehr gezeigt werden. Demselben Zwecke dienen die
vielen neu eingerichteten Musterwirtschaften, Stationen zum Verleihen von
Maschinen und Geräten, Molkereien usw.
Der Erfolg aller dieser Maßnahmen und Einrichtungen wird nicht ausbleiben
können, um so weniger, wenn Regierung und Parlament die auch auf anderen
Gebieten des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens des großen Reiches in An¬
griff genommenen Reformen und Neuerungen fortsetzen. Insbesondere werden
sie die Bestrebungen zur Hebung des geistigen Niveaus der Bauern tatkräftig
fördern müssen, um diesen die im wirtschaftlichen Kampfe unentbehrlichen Hilfs¬
mittel in die Hand zu geben. Von einer Bevölkerungsgruppe, die zu einem
außerordentlich hohen Prozentsatz aus Analphabeten besteht, wird man keine
wirtschaftliche Aufwärtsbewegung erwarten dürfen. Ein gewisses Maß allgemeiner
Kenntnisse kann auch der Bauer nicht entbehren sobald er seinen Betrieb rationell
gestalten, unzweckmäßige extensive Anbaumethoden durch ertragreiche intensive
Methoden ersetzen, sich mit den fortschreitenden Ergebnissen der landwirtschaft¬
lichen Technik vertraut machen und seine Erzeugnisse vorteilhaft verwerten will.
Je mehr die Intensität des bäuerlichen Betriebes fortschreitet, um so größer
wird das Bestreben der bäuerlichen Kreise sein, sich bestimmte grundlegende
Kenntnisse zu verschaffen, und in dem Maße, in welchem Regierung und Par¬
lament diesem Streben gerecht werden, wird auch der Bauer aus seiner neuen
Lage Nutzen ziehen. Die Aufwendungen, die Rußland in den letzten Jahren
zur Ausgestaltung des früher — namentlich auf dem Lande — außerordentlich
mangelhaften Bildungswesens gemacht hat, sind nicht unbeträchtlich. Während
noch das Budget von 1907 nur 14 Millionen Rubel für Volksschulen aufwies,
sind in das Budget für 1912 55 Millionen eingesetzt worden. Darin liegt
wenigstens ein Anfang, wenn auch 55 Millionen Rubel nicht hinreichen, das
arg vernachlässigte niedere Bildungswesen Rußlands auf eine dem west¬
europäischen sich nähernde Stufe zu bringen. — Die Hebung des geistigen
Niveaus der Bauernschaft wird auch von entscheidenden Einfluß auf die weitere
Ausgestaltung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens sein. Die Regierung
bringt zwar, wie es scheint, dem Genossenschaftswesen noch keine ungeteilten
Sympathien entgegen, immerhin ist seine Förderung im Interesse einer nach¬
haltigen Stärkung des meist kapitalschwachen russischen Bauernstandes dringend
geboten. — Angelegenheiten von weitreichender Bedeutung für die bäuerlichen
Wirtschaften sind ferner die Ausgestaltung des russischen Verkehrswesens, ins¬
besondere der Eisenbahnen, die Vervollkommnung des landwirtschaftlichen Kredit¬
wesens und anderes mehr.
Wenn auch die russische Agrarreform und die sie begleitenden und stützenden,
in mehr oder minder intensiver Weise in Angriff genommenen sonstigen
Neuerungen einstweilen noch in ihren Anfängen stehen, so wird man doch nach
den bisherigen Ergebnissen nicht umhin können, anzuerkennen, daß sich in Ru߬
land tiefgreifende Wandlungen vollziehen, die auf eine große wirtschaftliche
Zukunft hinweisen. Es ist bereits von Rußland als von den, volkswirtschaftlich
mächtigsten Staat der Zukunft gesprochen worden. Ob und wann diese
Prophezeiung eintreten wird, mag dahingestellt bleiben; im Augenblick ist in
erster Linie die Tatsache wichtig, daß ein ungeheures Reich wirtschaftlich erwacht
ist. Mit dieser Tatsache haben die großen Industriestaaten der Welt, vor allen:
Rußlands nächster Nachbar: Deutschland, zu rechnen. In wenigen Jahren
laufen unsere Handelsverträge, unter ihnen unser Vertrag mit Rußland, ab;
auf deutscher wie russischer Seite wird schon heute an der Vorbereitung eines
neuen deutsch-russischen Handelsvertrages, der auf lange Jahre hinaus die
Grundlage der Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern sein wird, gearbeitet.
Die Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands wird natur¬
gemäß auf die Gestaltung dieses neuen Vertrages nicht ohne Einfluß sein
können, möge aber die Wertung dieses Umstandes auf deutscher wie russischer
Seite in einer Weise geschehen, die den Volkswirtschaften beider Länder gerecht
wird. Deutschland ist auf Rußland, Rußland auf Deutschland angewiesen, der
russische Export nach Deutschland ist ebenso steigerungsfähig wie der deutsche
Export nach Rußland, beide Staaten zählen sich gegenseitig zu den besten Ab¬
nehmern ihrer Erzeugnisse; möge hier wie dort die leider nicht mehr bei allen
Handelsvertragsverhandlungen vertretene Auffassung sich durchsetzen, daß letzten
Endes Handelsverträge nicht den Austausch von Gütern hemmen, sondern ihn
fördern sollen/) »
Zur Veröffentlichung des Herrn Dr. Linde seien einige Bemerkungen nach¬
getragen, die mir infolge meiner abweichenden Auffassung vom Mir notwendig
erscheinen.
Herrn Lindes Auffassung vom Mir stimmt allerdings mit der russisch-
offiziell geäußerten überein, aber sie wird doch der großen kulturellen und politischen
Bedeutung dieser eigenartigen Blüte völkischer Organisation für Rußland und
das russische Volk nicht gerecht. Der Mir an sich war nicht so schlecht, wie
ihn schließlich die Regierung hingestellt hat, um ihn im Jahre 1906 gegen
den Willen der Slavjanophilen beseitigen zu können. Wenn er an den
großen Schäden der russischen Wirtschaft mit schuld ist, so liegt dies daran,
daß die russische Negierung (hier gleichbedeutend mit Polizei) die innere Ent¬
wicklung des Mir gewaltsam aufgehalten hat. Die Reform von 1861
hat den Bauern aus der Hörigkeit des Adels unter die der Polizei gebracht und,
während in den Jahren der Negierung Nikolaus des Ersten tüchtige intelligente
Leibeigene immerhin Millionäre werden konnten, gelang solch Streben seit 1861
eigentlich nur denen von den Mirangehörigen, die von Anfang an über Geld
verfügten. Da aber das Geld ausschlaggebend wurde, blühte wohl der Handel
und entstanden große stadtartige Gebilde, aber die Landwirtschaft, bäuerliche
und gutsherrliche, lag danieder. Die im Mir organisierten sozialen Kräfte
durften sich aber selbst im Rahmen des Mir nicht entwickeln. Im revolutio¬
nierten Rußland wagte keine Negierung, auch Stolrwin nicht, dein Genossenschafts¬
wesen im Zusammenhange mit dem Mir jene Bedeutung zu geben, die es etwa
bei uns hat, sondern entschloß sich lieber, den radikalen Schnitt zu machen,
indem man das Kind mit dem Bade ausschüttete und den Mir als solchen
preisgab. Damit ist Rußland in seiner Wirtschaftsverfassung auf den Weg der
Entwicklung gedrängt, wie ihn Westeuropa genommen hat, ohne jedoch die ent¬
sprechende Vorentwicklung durchgemacht zu haben. Das belastet die Entwicklung
mit einem wichtigen Gefahrenmoment: Rußland hat nicht nur ein Zentrum,
wie etwa Frankreich Paris vor der großen Revolution als Sammelbecken des
Proletariats und politischer Machtfaktoren hatte, sondern ein Dutzend. Die
politische Schwäche Rußlands und somit auch die Auffassung vom Koloß auf
tönernen Füßen ist darum durchaus nicht beseitigt.
Durchaus zutreffend ist indessen, wenn Herr Linde meint, das Kapital habe
durch die Reform in der Landwirtschaft einen neuen Stimulus gefunden, sowie,
daß die tüchtigen Bauern, von denen schon Schultze-Gaevernitz spricht, heute den
Acker noch leichter an sich reißen können wie früher, was zur Folge haben wird,
daß sich in Rußland ein reich mit Land ausgestatteter Großbauernstand bilden
kann. Diesem Großbauernstand muß aber nach und nach die Unterschicht ver¬
loren gehen, weil in der russischen Landwirtschaft sich entweder nur der Riesen¬
betrieb, von schnell auftreibbaren Arbeiterhänden bewirtschaftet, halten kann oder
eine genossenschaftlich betriebene Organisation von Kleinbauern. Also möchte ich
folgern: die Agrarreform hat vorläufig Kräfte entfesselt, befreit, die der Ent¬
wicklung des Handels zweifellos in den nächsten Jahren zugute kommen müssen
und zwar um so mehr, je mehr die russische Regierung es sich angelegen sein
läßt, die neuerschlossenen Gebiete durch Verbesserung der Verkehrswege an die
großen Märkte anzuschließen und sofern, und das ist die conäitiv sine qua non,
immer gutes Erntewetter eintritt. Südrußland zum Beispiel hängt fast ausschließlich
von den Witterungsverhältnissen ab, die Bodenbearbeitung hat einen ganz
minimalen Einfluß auf die Güte der Ernte und tritt nur dann in ihre Rechte,
wenn die Witterungsverhältnisse es gestatten.
Auf diese Darlegungen antwortet Herr Dr. Linde mit einer ausführlicheren
Begründung seiner Auffassung, die hier folgen möge:
„. . . Sie schreiben, meine Auffassung vom Mir sei die der russischen offi¬
ziellen Kreise. Das stimmt zwar, aber es ist auch die communis opinio der
Wissenschaft. Nach eigenem Durchdenken der Verhältnisse habe ich mich dieser
Ansicht anschließen müssen, da nach meiner festen Überzeugung eine sozialistische
oder kommunistische Organisationsform, wie die des Mir, nicht anders als fort¬
schritthemmend und sogar rückschrittlich wirken kann. Eine soweitgehende wirt¬
schaftliche Gebundenheit mußte notwendig zum Zusammenbruch sühren. Ich
gebe ohne weiteres zu, daß das russische Polizeisystem einen Teil — vielleicht
einen großen Teil — der Schuld an der schließlichen Gestaltung der Ver¬
hältnisse trägt, doch das Prius scheint mir in dem Dinge an sich, im Mir, zu
liegen. Für mich sind die meines Erachtens in erster Linie durch den Mir
herbeigeführten Zustände ein charakteristisches Beispiel dafür, daß letzten Endes
der wirtschaftliche Fortschritt und Aufstieg nur auf individualistischen
Boden möglich ist. Sie sagen, die russische Regierung hätte die innere Ent¬
wicklung des Mir gewaltsam aufgehalten. Ich unterstelle, daß es richtig ist,
aber selbst wenn sie es nicht getan hätte, wenn sie Volksbildung verbreitet,
wenn sie das Genossenschaftswesen gefördert, wenn sie den landwirtschaftlichen
Kredit organisiert, wenn sie Eisenbahnen gebaut und wer weiß was sonst noch
getan hätte, — selbst dann hätte ich mir nicht vorstellen können, welche großen
Erfolge der Mir hätte zeitigen wollen. Ich meine die Wirtschaftsgeschichte
anderer Staaten, insbesondere auch Deutschlands, hat erwiesen, daß eine wirt¬
schaftliche Gebundenheit, mag sie auf dem Bauernstand, mag sie auf dem Ge¬
werbe liegen, sofern sie die wirtschaftliche Tüchtigkeit des einzelnen negiert,
schließlich trotz aller behördlichen Förderung und aller Maßnahmen in Ver¬
knöcherung und Niedergang mündet.
Eine ganz andere Frage ist, welche Gefahrenmomente die Zer¬
trümmerung des Mir für Rußland birgt. Mir waren Ihre Ausführungen
in Heft 39 vorigen Jahres wohl bekannt. Wenn ich diese Seite der Frage nicht
berührte, so geschah es mit Rücksicht auf den Umfang und weil ich darüber
später noch zu schreiben gedenke. Ich pflichte Ihren Ausführungen in dieser
Hinsicht rückhaltlos bei, aber die Schaffung eines großstädtischen Proletariats
und die sich daraus ergebenden revolutionären Möglichkeiten können mich nicht
in der Überzeugung irre machen, daß Rußland kein Koloß aus tönernen Füßen
ist. Wirtschaftliche Reformen haben wiederholt politische Revolutionen im Ge¬
folge gehabt und beide zusammen sind nicht selten die Grundlage einer all¬
gemeinen Evolution gewesen. Sollte es in Nußland anders sein? Wer weiß,
vielleicht geht Rußland schweren inneren Konflikten entgegen, aber was will
das bedeuten für seine spätere wirtschaftliche Zukunft? Die nächste russische
Revolution wird das Gewitter sein, das die Lage klärt und Reibungsflächen
beseitigt; sie wird Rußlands wirtschaftliche und politische Zustände für mehr oder
weniger lange Zeit niederdrücken, aber wird doch nimmermehr auf die Dauer
verhindern können, daß Rußlands wirtschaftliche Macht erstarkt und wächst.
Sie sind der Meinung, Rußland werde einen reich mit Land aus¬
gestatteten Großbauernstand hervorbringen, dem jedoch eine Unter¬
schicht fehlen wird. Dem ersten Teile dieses Satzes trete ich bei mit der
Einschränkung, daß der angedeutete Zustand doch wohl erst im Verlauf einer
langen Reihe von Jahren eintreten wird, da der russische Bauernstand alles in
allem genommen, zurzeit weder auf dem geistigen und sozialen Niveau steht,
noch diejenige Kapitalkraft und sonstigen Hilfsmittel besitzt, die die Voraussetzung
für diese Entwicklung sind. Der Besitz ausgedehnter Ländereien allein tut es
doch gewiß nicht, um einen lebensfähigen Großbauernstand zu schaffen. Aber
mag die angedeutete Entwicklung selbst in späterer Zeit eintreten, so glaube ich
doch nicht, daß sie so umfassend verläuft, daß schließlich der ganze Bauernstand
nur aus Großbauern besteht. Eine derartige Entwicklung würde ich zugeben,
wenn Rußland herrenloses Neuland wäre und plötzlich in den Dienst
der Weltwirtschaft träte. , Im Gegenteil liegt die Sache aber so: Ein
unter starkem behördlichen Druck stehender, von Steuerlast fast erdrückter, wirt¬
schaftlich absolut rückständiger, kapitalschwacher, ungebildeter Bauernstand ist
vorhanden. Ein solcher Millionen von Angehörigen zählender Stand kann nicht
in kurzer Zeit beseitigt werden; er wird auf lange Zeit hinaus die Grundlage
der Landwirtschaft bleiben, er wird an die Städte abstoßen, was er sich nicht
assimilieren kann, wird die städtische Entwicklung dadurch fördern, aber sein Kern
wird bleiben, was er war: kleine Bauern. Würde es in Rußland nicht so
kommen, so wäre das, an den Vorgängen in anderen Staaten gemessen, eine
einzigartige Entwicklung; mir scheint jedoch diese Entwicklung in Anbetracht der
Lage des russischen Bauernstandes für lange, lange Zeiten unmöglich.
Sie sprechen zum Schluß von der Bedeutung des guten Erntewetters
für die russische Bauernschaft und sagen, daß die Bodenbearbeitung nur ganz
minimalen Einfluß auf die Güte der Ernte habe. Die Bedeutung des Ernte¬
wetters in allen Ehren — leider haben wir ja soeben erst erfahren, daß
schlechtes Erntewetter auch eine gute Ernte zugrunde richtet. Aber ganz ent¬
schieden glaube ich doch den Wert der Bodenbearbeitung für die Landwirtschaft
betonen zu müssen. Unsers deutschen Erfahrungen haben uns doch jedenfalls
gezeigt, daß die Vervollkommnung der Bodenbearbeitung, daß Meliorationen,
Düngung, Aussaat usw. von ausschlaggebender Bedeutung für die Erträgnisse
sind. Ich kann nur nach alledem, was ich von Rußland weiß, nicht vorstellen,
daß es dort anders ist. Aber das erinnere ich mich, an mehr als einer Stelle
gelesen zu haben, daß man in Rußland vielfach ohne weiteres erkennen kann,
wo Bauernland, wo gutsherrliches Land liegt. Der — mir plausibel erscheinende
— Grund soll darin liegen, daß eben die Bauernschaft vielfach rein extensiv
arbeitet, der Bodenbearbeitung keine Sorgfalt widmet, nicht düngt, während der
Gutsherr intensiv wirtschaftet und sich neuere technische Erfahrungen zu nutze
macht. Das wird in Zukunft der Bauer auch tun können, und darin eben sehe
ich gerade ein Moment, das zur Erträgnissteigerung führen muß. Der
vom Mir freigewordene Bauer wird düngen, wird eine rationelle Bodenkultur
treiben, wird vorwärts kommen wollen, da er auf eigener Scholle sitzt und für
sich selbst und seine Kinder arbeiten kann."
Soweit Herr Dr. Linde. Unsere Meinungsverschiedenheit wurzelt in der
verschiedenartigen Bewertung der natürlichen Vorbedingungen für die
russische Landwirtschaft. Herr Dr. Linde stellt durchaus im Einklang mit
den Gepflogenheiten der deutschen Wissenschaft dauernd die russischen und deutschen
Verhältnisse in Parallele. Ich halte solche Gegenüberstellung dort für unzulässig,
wo nicht theoretische, sondern praktische Schlüsse gezogen werden sollen. Im
Gebiete des russischen Getreidebaues, also in der Südhälfte Rußlands, — vor¬
wiegend schwarze Erde, — stehen für die eigentlichen Feldarbeiten, wie Acker¬
bestellung und Aussaat, nur wenige Tage zur Verfügung. Ist der Schnee nicht
rechtzeitig abgegangen, so ist die Aussaat in Frage gestellt; bleibt der Schnee
zu lange liegen, so ist der Acker so weich, daß er nicht zu bearbeiten ist;
ging der Schnee zu früh fort, so verwandelt die Erdrinde sich in Fels.
Einen allmählichen Übergang vom Winter zum Sommer gibt es nicht. Aus
dieser Beobachtung erklärt sich meine Bemerkung, daß die Bodenbearbeitung
„einen ganz minimalen Einfluß auf die Güte der Ernte" habe. Das gleiche
gilt von der Ernte und von der Herbstbestellung. In einigen wenigen Tagen
muß seitens der Landwirte ein Pensum bewältigt werden, zu dessen Erledigung
in Deutschland ebenso viele Wochen zur Verfügung stehen. Aus diesen klimatischen
und geologischen Eigentümlichkeiten ergibt sich die Wirtschaftsweise und aus allem
zusammen die soziale Gliederung der Landbewohner sowie deren Besitzverhältnisse.
Auf die Schwierigkeiten der Düngung infolge mangelnder Viehzucht und der
Unmöglichkeit den Acker im Frühjahr und Herbst zu befahren gehe ich hier
garnicht ein. Der Kampf gegen solche gewaltige natürliche Hindernisse, wie
sie sich in Rußland der Ackerbewirtschaftung entgegenstellen, setzt entweder das
Vorhandensein großer, stark disziplinierter Menschenmassen voraus oder riesiger
finanzieller und technischer Hilfsmittel oder beides. Wie steht es nun damit nach
der Reform Stolvpins?
Als Nußland vor einem halben Jahrhundert von der patriarchalischen
zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung überging, da wurden die Eigenheiten des
Landes seitens der Slavjanophilen sehr sein berücksichtigt, indem diese das durch
die natürlichen Vorbedingungen begründete Bedürfnis nach genossenschaftlichem
Zusammenschluß auch auf die Besitzverhältnisse am Boden ausdehnten und die
freiwerdenden Bauern durch den Mir an den Boden fesselten. Daß das Ver
halten der Slavjanophilen mehr aus nationalen: Gefühl als durch kluge Er¬
kenntnis der wirtschaftlichen Bedürfnisse zu erklären ist, möge unberücksichtigt
bleiben. Im Mir waren jedenfalls eine Fülle starker Ansätze zu einer eigen¬
artigen russischen Kultur vorhanden; neben dem Ackerbau konnte sich auf dem
Lande eine Industrie entwickeln, die als Hausindustrie in ihrer Eigenart vielleicht
nur von Japanern und Chinesen übertroffen wird; eine Volkskunst blühte auf.
um die wir uns in Deutschland vergeblich mühen. Diese Faktoren wurden aber
in der Folge mit dem Eindringen westeuropäischer liberaler Ideen mehr
und mehr unterschützt, da man in Rußland wenigstens bezüglich der Wirt¬
schaft absolut modern, „europäisch", sogar „amerikanisch" sein will. Die
an sich schwache Regierung sah in der Mir-Verfassung vorwiegend ein be¬
quemes Mittel, die frei gewordenen Bauern „in Ruhe" zu erhalten und sie vor dem
„schädlichen" Einfluß der vom „faulen Westen" infizierten Intelligenz zu bewahren.
Der Bauernstand wurde isoliert; hinaus konnte jeder, aber nicht hinein. So
war es denn auch nicht der Mir, der die Entwicklung des Individuums hintan
hielt, sondern die Polizei und die Kirche, die das Mir-Statut zum „politischen"
Zwangsmittel machte. Aus gleichem Grunde unterblieb Volsbildung, Land¬
straßenbau usw. So floß den Betrieben innerhalb des Mir auch nicht das
Kapital zu, das in der russischen Wirtschaft Anlage suchte, obwohl durch die
gemeinsame Bürgschaft eine Kreditfähigkeit gegeben war, wie sie in der Klein¬
industrie sonst nirgends in der Welt zu finden ist. So blieben denn auch
alle Versuche der Regierung, die Hausindustrie zu heben, die besonders lebhaft
um die Jahrhundertwende angestellt wurden, auf dem Papier oder Spielzeuge
für die Petersburger Hofgesellschaft.
Unter der Herrschaft des Finanzministers Witte erhielt der Mir wirtschaftlich
den Todesstoß durch die forzierte Industrialisierung Rußlands. Schon von 1870 ab
riß das Industriekapital die gewinnversprechende Produktion an sich, ohne an die
bestehenden Wirtschaftsorganisationen anknüpfen zu dürfen, weil die politische Polizei
das Einströmen nichtbäuerlicher Elemente in den Mir verhinderte. Der Mir wehrte
sich auf seine Art: bis heute hat die russische Industrie es noch nicht vermocht,
sich einen dem deutschen, ja selbst auch nur dem polnischen gleichwertigen Arbeiter¬
stamm zu schaffen. Der Industriearbeiter ging bis in die jüngste Zeit während der
Sommermonate aufs Land und half vielfach beim Einbringen der Ernte. Diese
Unterbrechung seiner Tätigkeit in der Fabrik auf zwei bis drei Monate beein¬
trächtigte naturgemäß seine Fertigkeit als Schlosser oder Weber. Die im Dorf
hergestellten Erzeugnisse konnten dennoch bald nicht mehr mit den städtischen
konkurrieren. Aus dem Mir verschwand die industrielle Produktion, seine wirt¬
schaftliche Kraft war schließlich auf die primitivste Ackerwirtschaft gestützt. Die
aber mußte umso kläglicher werden, als auch die Sommerarbeiter in den Städten
an höhere Löhne gewöhnt, immer zahlreicher ausblieben und die starken Bauern¬
burschen den Mir-Acker zu vernachlässigen begannen, weil sie als Streckenarbeiter
der schnell wachsenden Eisenbahnen, als Gutsarbeiter, Flußschiffer usw. bares Geld
verdienten, mit dem sie die Abgaben im Mir bezahlen konnten. So ist der Mir
nicht am Kommunismus zugrunde gegangen, sondern an der Unvernunft der
Regierenden und an der Habgier des Fiskus, der die russische Staatswirtschaft
absolut auf europäische Grundlagen stellen wollte.
Die Agrarreform Stolypins geht meines Erachtens zu weit. Sie schüttet
das Kind mit dem Bade aus. Sie berücksichtigt ausschließlich die Großunter¬
nehmer und unter ihnen besonders die industriellen. Die russische Industrie
wird nach völliger Loslösung des Arbeiters von der Scholle einen dem west¬
europäischen wahrscheinlich gleichwertigen und dennoch billigeren Arbeiterstamm
erhalten. Dadurch werden die russischen Produkte konkurrenzfähiger auf dem
Weltmarkte werden und Rußland dürfte noch mehr wie bisher zur Ausdehnungs¬
politik getrieben werden. Aber die Landwirtschaft dürfte um so schwereren
Tagen zusteuern, weil sie keine Arbeiter findet. Schon vor der Reform über¬
stiegen die landwirtschaftlichen Löhne im Juli-August in gewissen Gegenden
Südrußlands die in Deutschland üblichen um das Doppelte. Woher sollen die
Arbeitshände kommen, wenn die Verödung der Dörfer weiter die rapiden
Fortschritte macht, wie in den letzten sechs Jahren? Sollen nur kapitalistische
Grundsätze auch für die Landwirtschaft maßgebend sein, dann hat Herr Linde
ohne Zweifel recht, wenn er der individualistischen Wirtschaftsform den Vorzug
gibt vor der genossenschaftlichen, kommunistischen. Dann wird man bald in
Rußland Hunderttausende fleißiger Chinesen bei den Erntearbeiten sehen und
das russische Getreide wird die Welt überschwemmen. Solche Erfolge mögen
kommen, wenn die russische Regierung das russische Volk preisgeben wollte
zugunsten der Amerikanisierung. Wird sie es tun? Die Folgen wären unberechenbar,
nicht nur für Rußland!
Was wird? Die wirtschaftlichen Folgen der Abschaffung des Mir scheint
mir Herr Dr. Linde im allgemeinen richtig zu erkennen. Die Getreideproduktion
wird sich heben — bis zu einem, wie ich glaube, nicht sehr hohen Grade.
Die Gefahren einer Dürre scheinen mir aber heute für Rußland (wirtschaftlich
und politisch betrachtet) größer, als vor der Reform Stolypins. Bis dahin
hungerten die Bauern auf den Dörfern weit ab von der Eisenbahn und von
den Städten, und die Polizeichefs von Petersburg, Moskau und Charkow oder
Briansk brauchten sich keine Sorge zu machen, wenn Arbeiterentlassungen das
brodlose Proletariat von heute auf morgen um Tausende vermehrten: mit Sonder¬
zügen wurden die Leute in die Dörfer abgeschoben; dort konnten sie kein Unheil
anrichten, mochten sie auch zu Skeletten abmagern. Jetzt geht das nicht mehr
und in weiteren fünf Jahren wird es vollständig ausgeschlossen sein, wenn die
Auflösung des Mir im bisherigen Tempo weiterschreitet. Die Dürre wird ihre
Begleiterscheinungen fortab vorwiegend in den Industriestädten zeigen. Die
russische Industrie, die auf dem Weltmarkte noch nicht konkurrenzfähig ist, wird
noch abhängiger vom innerrussischen Markt sein, wie bisher und das Industrie¬
kapital, das bisher schon in Jahren schlechter Ernten große Opfer bringen
mußte, wird fortab noch ganz anders bluten, wenn es einmal wieder in Süd¬
rußland nicht gelungen sein sollte, das Saatkorn am richtigen Tage in die Erde
zu bringen. Das ist die wirtschaftliche Kehrseite der Agrarreform Stolypins.
Die politische ergibt sich von selbst: Rußland steuert der Revolution zu, weil
die Regierung nur den Interessen des Großkapitals Sorge tragend alles ver¬
nachlässigt hat, was der großen Volksmasse zur Entwicklung auf dem sichern
Boden der heimatlichen Scholle notwendig war. Mehr als früher sind wir
berechtigt dies russische Reich einen Koloß auf tönernen Füßen zu nennen.
„Tante Settchenl" sagt Karl, „drauß die denn Angst, sie bekämen ihren
Lohn nett"
Ein ängstlich fieberndes Fragen ist in seinen Augen und ein Hilfe¬
suchen dabei.
„Gott sei Dank, lieber Bub, daß ich mir ein Bißchen von meinem Haus¬
haltungsgeld abgezwackt und zurückgelegt hab. Stell mal die Rechnung auf, was
es machet"
Karl holt ein Stückchen Kreide hervor und rechnet damit auf der Tischplatte.
Wo sie fettige Stellen hat, muß er fest auf die Kreide drücken. Er multipliziert
und addiere, rechnets noch einmal nach und sagt:
„Stimmt! Zweiundsiebzig Mark und einunddreißig Pfenning machts, Tante
Settchenl"
Tante Seelchen spricht die Zahl nach, hört mit der Arbeit am Herde auf,
rückt den Küchenstuhl vor den Schrank und steigt darauf. Auf dein Schranke
stehen allerlei Schüsseln und Töpfe, eine wenig gebrauchte dient ihr als Geld¬
kassette. Sie greift hinein und nimmt den Fuß eines roten Strumpfes, der mit
einem blauen Bändchen zugebunden ist, heraus, schüttet das Geld auf den Küchen¬
tisch und fängt zu zählen an. Es sind zwei Zehnmarkstücke und eines zu zwanzig
dabei, der Nest ist Silber, Nickel und Kupfer.
»Zehn, zwanzig, vierzig, zweiundvierzig, siebenundvierzig, neunundvierzig
dreiundfuffzig, fünfundfuffzig. . ."
Bei vierundsechzig hält Tante Seelchen mit Zählen inne und wischt sich den
Schweiß von der Stirne, denn es sind nur noch wenige Silberstücke da. Wird
es reichen auf 72.31?
Und wieder fährt der Zeigefinger ordnend unter den Münzen herum. Je
näher an die Siebenzig, um so stärker klopft den beiden Menschen das Herz.
Gott sei Dank, es sind über zweiundsiebenzigl
Tante Seelchen zählt weiter, und als sie fertig ist, sagt sie mit bitterer
Stimme:
„Bub, jetzert denn wir noch neunnndvierzig Pfenning zu verleben!"
„Tante Seelchen, die Hinkel legen ja noch fleißig!" tröstet der Bursche,
schließt den Küchenschrcmk auf und sieht nach dem Brot.
„Tante Seelchen, es sind noch drei Laiber Schwarzbrot da!"
„Siehst du, unser Herrgott verläßt uns net!"
Gibt das ein Ruck in dem Burschen, Unser Herrgott — ?! —:
„Was wird unserm Herrgott noch viel an uns liegen!"
„Jeßgott, Bub, was sagst du denn da für eine Gotteslästerlichkeit? Warum
soll denn unserm Herrgott nix mehr an uns liegen?"
,.Weil sich der Vater totgeschossen hat!"
„Dessentwegen trägt der liebe Herrgott uns doch mir nach!"
„Die Sophie hat er schon verrückt gemacht!"
Der Junge lacht schmerzvoll höhnisch zu diesen Worten. In Tante Seelchen
ruft dieses Lachen ein Echo wach, Tante Seelchen kennt dieses Lachen. O, sie
kennt es sehr gut. Ein Grauen schüttelt sie. Sie will den Bub vor einem schmerz¬
lichen Weg bewahren. Er soll in Kindlichkeit bei Gott bleiben, nicht ihn jetzt
verlieren und ihn dann auf Dornenumwegen wieder suchen müssen. Wer weiß, ob
ihm die Gnade des Suchenmüssens, der Sehnsucht, geschenkt würde!
Tante Seelchen möchte dem Neffen den Spruch sagen: Wen Gott lieb hat,
den züchtigt er. Aber sie weiß, daß man die Wahrheit eines solchen Spruches
erst erkennen kann, wenn einem des Unglücks Segen schon zur fühlbaren Gewi߬
heit geworden ist. Da schweigt sie einen Augenblick und ordnet die Gedanken.
Und noch einmal gellt Karls Lachen. Und nun sagt Tante Seelchen ganz klar
und ruhig:
„Lieber Bub, laß die Menschen sagen, was sie wollen — wir können sogar
glauben und hoffen, daß euer Vater für die ewig Seligkeit noch nicht verloren ist I"
Das kommt so ruhig und bestimmt von ihren Lippen, daß es in die weh-
heiße Seele des gequälten jungen Menschen fällt wie Tau der Erlösung. Er spürt,
daß sein gepreßtes Herz sich wieder weitet, und aufatmend fragt er:
„Meinst du das wirklich, Tante Seelchen? Im Katechismus steht aber doch,
die Selbstmörder kämen in die Höll!"
„Im Katechismus steht aber auch, daß unser Herrgott unendlich barm¬
herzig wär!"
Da wird die Erwartung des Burschen so groß, daß ihm das Herz zittert
und der stoßende Atem laut durch den Rachen rasselt.
Tante Seelchen aber fährt weiter fort:
„Unser Herrgott hat auch gesagt, lieber Bub, wenn des Menschen Sünden
zahlreich wären wie der Sand am Meer, und guck nur, wieviel Sand schon
drauß am Rhein liegt, und so rot wie Blut — unser Herrgott kann sie ihm alle
miteinander verzeihen, wenn sie ihm nur leid tun. Und deinem Vater, lieber
Bub, kann noch alles leid getan haben, denn er hat noch gelebt, wie ich zu ihm
kommen bin. Und was kann man nicht alles denken in einer halben Stund
Alles kann ihn noch gereut haben, alles! Daß er sich an fremdem Gut vergangen
hat, daß er die eigene Hand an sich gelegt hat. Vielleicht hat er gedacht: Wär
ich nur lieber ins Zuchthaus gangen statt meinem Herrgott vorzugreifen! Drum,
lieber Bub, darf man net verzweifeln, und muß immer denken, daß unser Herr¬
gott eine Menschenseele viel lieber errettet, als wie er sie verdammt. Denn er
hat sie ja auch mit seinem kostbaren Blut erlöst. Man muß glauben, lieber Karl,
fest glauben, man muß die Pflichten der Nächstenliebe erfüllen, aber man muß
auch hoffen, immer hoffen und am meisten auf die Barmherzigkeit von unserm
Herrgott, denn wir sind alle sündige Menschen. Der eine hat größere Fehler,
der andere leichtere; der eine fällt nicht so tief, der andere gar arg tief.. ."
Karl sitzt und lauscht. Mit jedem Worte der Altjungfer vermehrt sich der
Ausdruck des Friedens in seinem Gesichte. Die Unruhe und das Zucken ver¬
schwinden, die Augen flackern nicht mehr, die Hände liegen still. Es ist in ihm,
wie wenn er nach schwerer körperlicher Arbeit wohlig im Bette liegt und nicht
gleich einschlafen kann. Er sagt zur Tante:
„Wie schön du das sagst, Tante Seelchen. Du ziehst das alles so schön
zusammen, was da im Katechismus steht und dort. Der Pfarrer hat immer nur
das erklärt, was er grad durchgenommen hat!"
„Lieb Kind!" entgegnet ihm Tante Seelchen, „erst im Leben kriegt man
richtigen religiösen Sinn, wenn man nur ein bißchen für die Religion veranlagt
ist. Weißt du, Bub, einen richtigen Sinn, grad wie Hören, Sehen, Fühlen.
Nicht so was Angelerntes, was man bloß im Kopf hat und sonst nirgendsI"
Im Hausgange scharren Füße; die Taglöhner kommen herein, Willem, der
Geselle, voran. Er soll ihr Wortführer sein und fragt:
„Meistern, die Leut wollen wissen, wie daS jetzert weiter werden tat. Der
Karl hat vordere ein paar Wort fällen lassen, aus denen könnt man nehmen..."
„Willem, die Leut können ihr Geld kriegen, und wenn du heunt Abend
fortgehen willst, kannst du auch deinen Lohn haben. Es wird ja doch alles ver¬
steigert, und wir führen die Bauerei net weiter. Die Gummere können auch mal
hängen bleiben. Wer sie sich steigert, kann sie ja brechen. Bei solcher Hitz und
Trocknung gibt's ja doch net so viel!"
Karl nimmt wieder das Stück Kreide und rechnet jedem vor, was er zu
bekommen hat, fragt dann, ob das so stimme. — Ja! — Daraufhin zählt Tante
Seelchen das Geld auf. Die Leute streichen es ein und gehen.
Willem hat unter der Auszahlung der Taglöhner seine Habseligkeiten in ein
Schließkörbchen gepackt und steht nun auch zum Abschied bereit. Karl zahlt ihm
seinen Lohn während Tante Seelchen das Zeugnis schreibt. Da die Tinte im
Sekretär des Schmiedes versiegelt ist, muß Willem die seine holen, die er selbst
aus Blütenblättern der roten Essigrose gemacht hat und in einem Medizingläschen
verwahrt. In dem langen Fläschlein steckt der Federhalter mit der verrosteten
Feder, die sperrt. Tante Seelchen hat ihre Mühe, die Buchstaben zuwege zu
bringen. Als sie fertig ist, gibt sie ihre Abschiedsermahnungen:
„So, Willem, jetzert geh in Gottesnamen. Ich denk, du hast dich bei uns
über nix zu beklagen gehabt in all der Zeit, wo du bei meinem Schwager gelernt
und geschafft hast. Du kennst dein Geschäft durch und durch, und das Handwerk
hat immer noch goldenen Boden. Daran mußt du immer glauben, wenn du auch
gesehen hast, wie's bei deinem ersten Meister zu End gangen ist. Wär er ganz
beim Handwerk blieben und hätt sonst nix angefangen..."
„Tante Seelchen," fällt Karl ihr ins Wort, „jetzert dem Vater keinen Vor¬
wurf in den Tod nachrufen!"
„Ja!" sagt Willem, dem die Ansprache der Alten sehr ans Herz greift, „ja,
laßt ihn ruhen!"
Dann nimmt er sein Dienstbuch in Empfang, hebt sein Schließkörbchen auf
die Achsel und geht:
„Also adscheh beisammenI Und wenn ihr mal was brauchtet, oder wenn ich
euch mal irgendwie behilflich sein könnt, ich tu's euch gernl"
Als der Geselle gegangen ist, sagte Karl:
„Wenn jetzert die Märzen noch fort ist und der Jud den Rapp geholt hat,
Tante, dann sind wir ganz alleinI"
Tante Seelchen schaut ins Krankenzimmer und sieht, daß Sophie eingeschlafen
ist, die Taglöhnerin aber auch. Sie ruft sie leise an:
„Märzen . .. Märzen . . .!"
Sie schüttelt die Schlafende sachte; da fährt diese auf:
„Jeßgott, ich bin jo wirklich eingeschlofe!"
„Bscht, höche, Märzen, daß das Made net wach wirbt Kommt, steht jetzert
auf und geht heim, 's ist ZeitI"
Die Frau steht auf. Immer noch schlaftrunken, reibt sie sich die Augen.
Allmählich wird sie ganz munter und sagt dann, als sie begriffen hat, daß sie
heimgehen soll:
„El, Tante Seelchen, ich tat Euch ganz gern ablösen beim Wachen heunt
Nacht!"
Sie möchte lieber dableiben; es ist besser, zu wachen und nicht im Bette zu
liegen, als mit einem brutalen Säufer eine widerliche Ehegemeinschaft zu haben.
Aber Tante Seelchen lehnt ihr Anerbieten ab, und Karl zählt ihr das Lohngeld
in die Hand.
„Märzen, da ist Euer Lohn von dere Woch; wir können jetzert keine Leut
mehr beschäftigen!"
Da schaut die Frau den Burschen und seine Tante traurig an und sagt:
„Ach, lieber Gott, ihr zwei habt jetzert auch euer Last und euern Bast.
liberall ist etwas, überall! Ach Gott, und ich mit meinem versoffenen Lump! Hätt
der sich umgebracht statt euerm Vater!"
Nur ein Seufzen gibt ihr Antwort. Tante Seelchen wühlt aus dem Kartoffel¬
korb unter dem feuchten Schalengeringel einige Kartoffeln heraus.
„Haltet mal Euern Schurz auf!" sagt sie und läßt die Knollen hineinfallen.
„Da nehmt Euch die paar Kartoffeln mit, daß Eure Kinder was zum Nachtessen
haben. Und das Geld versteckt Euch, sonst versauft's der doch, wenn's in seine
Händ fällt! So. g' Nacht, Märzen!"
Und dann sind sie allein, Karl und Tante Seelchen.
Seelchen, das durch sein Sprechen vom Feueranmachen abgekommen ist, schiebt
nun ein Büschel Stroh in den Herd, darüber legt sie eine Hand voll dürren
zasseligen Rebholzes, wie es im Frühjahr in den Wingerten geschnitten und in
der waldarmen rheinhessischen Gegend zum Feueranzünder benutzt wird, und
steckt das Ganze in Brand.
Da hören sie daS Hoftor in den Angeln kreischen. Es geht jemand in
den Hinteren Hof. Am Küchenfenster taucht ein Kopf auf, des Juden grinsendes
Gesicht. Er nickt und ruft Guten Abend. Ob der Karl nicht die Stallaterne
anstecken wolle?
„Wenn dn müßt, Tante, was mir das leid tut," sagt Karl zur Tante, ,>daß
ich jetzert den Gaul wieder fortführen fehl"
„Dadrüber mußt du jetzert hinaus sein!" erwidert ihm die Alte. „Geh jetzert
schön und steck die Latern an. Nachher wollen wir noch viel zusammen plaudern,
wenn die Sophie so weiter schläft wie aweil!"
Während Tante Seelchen Kartoffeln zum Rösten in die Pfanne schüttet und
Eier zum Backen zerschlägt, zündet der Bursche die Laterne an und geht dann
hinaus zu dem Juden.
Der Lichtschein irrt über das Hofpflaster, huscht in die Ecken und Winkel,
zuckt die Scheuerwand hinauf und verliert sich im Stall. Dort hängt von der
Decke ein am Ende zu einem Haken umgebogener Draht herab. Karl deutete die
Laterne hinein; sie schaukelt hin und her. Da rußt der in einem Drahtgestelle
befestigte, weitbauchige Zylinder ein wenig an.
Das Pferd hat schon gelogen. Als die Stalltür geöffnet wird, springt es
mit einem Satze auf. Es wittert einen Fremden und bläst erregt durch die
Nüstern. Karl beruhigt das Tier, das zu wiehern beginnt, und fragt den Juden:
„Habt Ihr eine Trens bei Euch? — So, dann geht hinauf und holt ihn
Euch selber!"
Es ist boshaft, den Juden aufzufordern, sich den Gaul selbst zu holen. Der
Rappe wird sich von einem Fremden nicht anbinden lassen. Karl weiß das, er
wird aber an der Unbeholfenheit des Juden seine Freude haben.
Dieser geht den Pferdestand hinauf. Das Tier bläst noch wilder durch die
Nüstern. Der Jude klopft ihm auf den Hals. Da geht das Tier vorn hoch, so¬
weit es durch den Trensenriemen, mit dein es an die Krippe angebunden ist, nicht
behindert ist. Der Jude drückt sich in die Ecke, um von den niederpraddelnden
Hufen nicht zerschlagen zu werden.
„Na, KatzengoldI" höhnt Karl, „ich tat mich schämen für einen Gäulsjud,
noch keinen Gaul aus dem Stall holen zu könnenI"
Er wird dem Juden, dem stinkiger, der ihm den schönen Rappen wieder
aus dem Stalle schafft, nicht helfen, mag der sich allein abquälen. Im Stalle
wird das Tier sich die Trense nicht so leicht von einem Fremden abstribben lassen;
es hat es ja kaum vom Vater oder vom Gesellen geduldet.
Der Jude macht wieder einen Versuch. Aber sobald er sich dein Pferde nur
nähert, fängt es an, zu tänzeln und hochzugehen. Endlich gelingt es dem
Händler, den Gaul an der Trense zu fassen. Er zerrt daran herum. Huppla,
muß Karl zur Seite springen, denn der Rappe schmeißt nach hinten aus, rasch
zweimal hintereinander. Beim zweitenmal schlagen die Hufe heftig wider die
niedere Decke. Der weißgetünchte Lehmbewurf bröckelt ab und bestreut den Pferde¬
rücken. Die Laterne rasselt. Da packt den Burschen die lodernde Begeisterung
der Schadenfreude.
„So ist's recht, Rappchen!" schreit er lachend, „nur nix. gefallen lassen von
dem Jud! Auf ihn, drauf, drauf!"
Tante Seelchen hört in der Küche die Unruhe des Tieres und den Lärm
ihres Neffen. Sie öffnet das Fenster und ruft:
„Karl, was ist denn los, Bub?"
„El, Tante, der Gaul läßt sich von dem Katzengold net angreifen, und das
macht mir einen Mordsspaß I"
Dann höhnt er den Juden wieder:
„Gell, schlechte Judehändelchen könnt Ihr machen, aber ohne Stallknecht
einen Gaul vom Stand herunterbringen, das könnt Ihr nett"
Da steht die Tante im Rahmen der Stalltür und fragt:
„Na, was geht denn da für sich oder net für sich?"
„Nu, wie heißt, was werd gehen für sich? Nix geht für steht 's tut gehen
überhaupt net. Der Rapp war gewesen von jeher ein scheu Tier, und der bös
Bub will mir ihn jetzt machen noch ganz lolii"
Nun spricht Tante Seelchen verweisend zu dem Jungen:
„Ist das die ganze Frucht von dem, was isch dir vordere gesagt hab, Karl?"
Da bricht wieder alles Ungezügelte, alles jugendliche Draufgängertum in
dein Burschen los, und er knirscht mit trotziger Stimme:
„Ich gönn ihm den Gaul net, dem Dreckjud, dem stinkiger I"
„Nu," sagt der Jude, „die Familie Salzer aus Spelzen ist net dreckig und
net stinkig, die Familie Salzer ist eine ehrbar FamilieI"
Wütend über diese Worte, stürmt Karl auf den Mann zu, droht ihm mit
der Faust und zischt seine Worte zwischen heißem Atem hindurch:
„Jüdchen, Jüdchen, nimm dich in acht, sonst kannst du mal was erfahren I
Kann die ganz Familie etwas für dem Vater seine Schuld?"
„Nu, aber der Jud muß sich lassen schelten, wie's gefällt dem Christ, gelt,
Jüngelchen: das war und bleibt so: ein schlechter Christ ist immer noch besser als
ein guter JudI"
„Karl, wenn du so bist, machst du mir keinen Spaß!" wirft Seelchen dem
Neffen vor. „Das ist doch jetzert mal net zu ändern. Sei dem Mann behilflich,
stribb dem Gaul die Stalltrens ab und tu ihm dem Katzengold seine an. Geh
fort, lieber Bub, allo!"
Mehr als die bittenden Worte selbst, macht der traurige Klang der Stimme
den Burschen wieder weich. Er nimmt aus der Haferkiste einige Körner und
reicht sie dem Tiere, dessen Augen feurig glänzen, dar, streichelt es und spricht
ihm beruhigend zu. Dann stribbt er ihm die Trense ab und die andere an, heißt
die Tante und den Juden aus dem Stalle gehen und führt dann seinen
Rappen hinaus.
Draußen ruft er den Händler herbei und gibt ihm den Trensenriemen in
die Hand, der Tante die Laterne, platscht dabei dem Gaule den Wanst und sagt
ihm beständig liebe Worte. Wie er sieht, daß das Tier sich beruhigt hat, heißt
er den Mann ein paarmal im Hofe herumgehen; er beobachtet dabei das Pferd.
Das spitzt die Ohren, legt sie wieder, sieht sich auch hin und wieder nach Karl
um. Dann sagt dieser:
„So ist'S recht, mein Hans, so ist's recht, nur schön brav!"
Und der Jude meint nach einem Weilchen:
„Nu wird man das Tor können aufmachen! Läßt er sich reiten?"
„Auch das, wenn Ihr wollt, Katzengold! Aber erst will ich ihn noch ein
Bischen in die Reih putzen, haltet mal still!"
Da will einer seinem Freunde einen letzten Liebesdienst tun und holt aus
der Stallnische Striegel, Fett und Bürstchen, streicht dein Tier das glänzende Fell
und schmiert auf die Hufe das gelbe Fett. Da wird die Maserung des Hornes
schön deutlich und sieht aus wie Achat. Und bei der ganzen Arbeit bleibt Karl
tief gebückt oder wendet wenigstens daS Gesicht ab. Denn aus der Wehmut des
Trennungsschmerzes tropfen ihm leise Tränen, die die anderen nicht sehen sollen;
nicht einmal die Tante. Als die Arbeit beendet ist, sagt er:
„So, jetzert macht euch fort, ihr zwei!"
Der Bursche klopft dem Tiere noch einmal die Schenkel, wirft seine Arme
stürmisch um deu Pferdchals und trägt die Putzutensilien in den Stall zurück.
„Tante Seelchen, mach du das Tor auf!"
Er will im Stalle bleiben, bis das Tier fort ist; er kann ihm nicht nach¬
sehen. Nein, nein, das ist zu hart! Und so bleibt er im leeren Pferdestall, bis
im Hose wieder alles stille ist und Tante Seelchen ihn ruft. Als sie in der
Küche sind, glänzen keine Tränen mehr in seinen Augenwinkeln.
Tante Seelchen deckt den Tisch zum Nachtessen. Sie holt zwei Teller von
dem Brett herunter — Karl denkt mit Schmerz: sonst warens vier — nimmt aus
der Schublade Gabeln und Messer und stellt das Geschirr aus den Tisch, dessen
Platte Karl zuvor mit einem auf einen Stock aufgerollten Wachstuch bedeckt hat.
Dann schöpft sie die größten Kartoffeln aus der auf dem Herde stehenden Pfanne
und Eier und Salat aus einer Schüssel auf die Teller. Danach stellen sich die
beiden Menschen hinter die Stühle, bekreuzen sich und beten, die gefalteten Hände
auf den Stuhllehnen. Still und ohne Gespräch essen sie. Landleute sind das so
gewohnt; man hat keine Zeit, beim Essen anderes zu tun als zu essen.
Nach dem Mahle sagt .Karl:
„Tante Seelchen, was ist's jetzert so still bei uns. Fast unheimlich still!"
„Nur keine Angst haben, lieber Bub, jetzert Spuk ich das Geschirr, da klapperts
und rappelts!"
Beim Geschirrspülen sagt sie dann mit ihrer reifen, beruhigenden Stimme:
„Da setz dich mal neben mich, Bub. Ich hab dir noch verschiedenes zu sagen l"
(Fortsetzung folgt)
in 29. und 30. April d. Is. haben im preußischen Kultusministerium
Verhandlungen eines aus dreiundzwanzig Mitgliedern bestehenden
Sachverständigenausschusses stattgefunden, um an Stelle der mit¬
einander streitenden Systeme eine Einheitsstenographie zu schaffen.
Mit der Leitung der Verhandlungen hatte der Reichskanzler den
Geheimen Regierungsrat und vortragenden Rat im Kultusministerium Klatt
betraut, der durch den Provinzialschulrat Professor Tiede-Berlin unterstützt
wurde. Nachstehender Antrag wurde angenommen:
„Die künftige deutsche Einheitsstenographie soll eine fest geregelte (Schul-)
Verkehrsschrift besitzen und durch ihre Kürzungsfähigkeit als Redeschrift die
Erreichung aller Kurzschriftzwecke ermöglichen."
Fürwahr, ein stolzes Programm! Die stenographisch-germanische Streitaxt
soll begraben werden, die Kämpfe um die beste Stenographie, um ihre Ein¬
führung in die Schule sollen aufhören. Ob aber die Einheitsschrift überall
empfohlen oder gar zur Einführung befohlen wird, das ist nach der ausdrück¬
lichen Äußerung des Geheimrath Klatt noch eine offene Frage. Man will die
neue Erfindung erst sehen, erst haben, bevor bindende Erklärungen für Preußen
abgegeben werden.
Seit Jahrzehnten richtet jede Systemvertretung an die preußische Unterrichts¬
behörde Anträge aus Einführung ihrer Schrift in die Schulen. Alle diese
Anträge sind bisher abgewiesen worden. Infolgedessen werden Abgeordneten¬
haus und Reichstag mit Bittschriften gequält, die Kurzschrift als eine „gemein¬
nützige Schrift" anzuerkennen und in Preußen auf Einführung in die Schulen
zu dringen. Die Parlamente aber sagen, wie ein Richter, der begütigend einen
Streit schlichten will: „Meine Herren, einigen Sie sich." — Daher soll jetzt ein
neues Einheitssystem den erhabenen Zweck erfüllen, in Deutschland stenographische
Ruhe zu schaffen. Aber gerade das Land, das die Ruhe schaffen kann, lehnt
vorläufig jede bindende Erklärung ab, wie es denn bisher vermieden hat, sich
für ein System zu entscheiden.
Aber wozu wurde dann eigentlich die Konferenz berufen? Antwort:
Preußen tut den unermüdlich schreienden ihren Willen, das Einigungswerk soll
in Szene gesetzt werden, aber Preußen hat gar kein Interesse an seinem Zu¬
standekommen, weil im Schulwesen viel wichtigere größere Aufgaben zur Lösung
drängen, und um in dieser Komödie der Irrungen vorweg zu zeigen, wie über¬
trieben die Behauptung von dem „allgemeinen Nutzen" der Stenographie ist,
bitte ich das Nächstliegende Bild festzuhalten:
Reichstag und Abgeordnetenhaus haben zusammen, wenn man die Doppel¬
mandate abrechnet, etwa siebenhundertfünfzig Mitglieder. Beide Häuser zusammen
haben nach unserer Kenntnis noch nicht sieben Mitglieder, die ernstlich etwas
von Stenographie verstehen, so wenig ist sie in die Kreise der Gebildeten ein¬
gedrungen: trotz siebzigjähriger heftigster Bemühungen, diese Schrift zu einem
„Gemeingut der Gebildeten" zu machen, trotz aller Anstrengungen in Schulen,
Vereinen, Versammlungen, in Werbeschriften, Zeitungsberichten, statistischen
Nachrichten, behördlichen Geldunterstützungen, durch Stenographentage und
Stiftungsfeste. Da man in zahlreichen Geschäften und Bureaus Diktatsteno¬
graphen sieht, bekommt der Laie die Vorstellung, als ob Stenographie als Verkehrs¬
schrift Verwendung fände; in Wahrheit ist diese Schrift trotz unglaublichster
Zeitverschwendung durch Vereinsmeierei und Zeitschriftenkämpfe, trotz unentgelt-
licher Unterrichtskurse nur in Kreise gedrungen, die sich beruflich damit
beschäftigen, und außerhalb der stenographischen Technikerkreise nur geringfügig
verbreitet. Seit siebzig Jahren haben Tausende, in den letzten Jahrzehnten
Hunderttausende angefangen Stenographie zu lernen, Zeit und Geld im
Uebermaße dafür wegzuwerfen und trotz dieser siebzig Jahre eifriger Stenographie-
Pflege sucht man brauchbare Stenographen mühselig, eifrig, zu Zeiten dringlich
und fruchtlos mit der Laterne. Ja, diese Tatsache hat die Herren so wenig
ernüchtert, daß sie noch heute an eine Stenographie als Verkehrsschrift
glauben. —
An den Mißerfolgen waren die Schulen in ganz Deutschland, wenn auch
nicht überall, gleichmäßig beteiligt. Die Schulen Preußens erteilten bisher
verständigerweise nur wahlfreien Unterricht, die Herren der Konferenz wünschen
aber, daß die Schüler nun pflichtig mit Stenographie gepeinigt werden, selbst
wenn sie nicht die geringste Fähigkeit für Kurzschrift haben, und doch setzt sie,
wie etwa das Klavierspiel, Begabung voraus. Wie zur musikalischen Betätigung
Gehör und eine gewisse Fingerfertigkeit nötig sind, so erfordert die Kurzschrift ein
gutes Auge, ein scharfes Gehör und eine geschickte Hand. Gerade die Hand-
geschicklichkeit fehlt so häufig; unzählige Menschen bekommen schon wegen dieses
Mangels keine gute gewöhnliche Handschrift, wie viel weniger eine leserliche
stenographische. Schon aus diesen tatsächlichen Ursachen kann die Kurzschrift in
der Schule keine besonderen Triumphe feiern.
Immerhin, obgleich einer großen Zahl von Schülern die hinreichende
Handgeschicklichkeit und der nötige Formensinn fehlen, um stenographische Zeichen
sorgfältig, das heißt für das Wiederlesen sicher auszuführen, ist doch stets eine
kleine Zahl Schüler vorhanden, die sehr wohl imstande sind, sich der Kurzschrift
nebenbei mit Vergnügen zu widmen. Wir brauchen deshalb das Kind nicht mit
dem Bade auszuschütten und können den wahlfreien Stenographieunterricht
gelten lassen. Aber wir müssen festhalten: nur Personen, die sich beruflich mit
Schreibmaschine und Kurzschrift beschäftigen, Personen, die außerhalb der Schule
mit Fleiß und Ausdauer sich jahrelang der Stenographie widmen, bringen es
wirklich zu etwas. Auch hier sind die Tüchtigen wie in allen anderen Berufen
wiederum nur vereinzelt. Wer kann Kurzschrift erheblich verwerten? nur Per¬
sonen, die viel mit schriftlichen Arbeiten zu tun und das aus der Praxis
erwachsene Bedürfnis haben, die Kurzschrift zu benutzen. Es handelt sich hier
nur um eine kleine Gruppe von Leuten, die mit schriftlichen Arbeiten überhäuft
sind, wie Rechtsanwälte, Großkaufleute und Leiter aller möglichen Institute.
Aber diese schreiben doch überhaupt nicht selbst, sondern halten sich Berufs¬
stenographen, Maschinenschreiber und sonst geeignete Personen für schriftliche
Arbeiten. Berufsschriftsteller verwenden Kurzschrift ebenfalls ganz vereinzelt,
weil sie immer erst in Langschrift ungeschrieben werden muß.
In den Kollegs saß gewiß mancher neben einem eifrig stenographierenden
Zuhörer und beneidete ihn um seine ausführlichen Kolleghefte. In Wahrheit
wird dieser Nutzen übertrieben und ist oft recht zweifelhaft. Die jungen Leute
lernen erst allmählich das Wichtige vom Nebensächlichen unterscheiden, schreiben
daher zu viel mit und zwar die Mittelmäßigen um so mehr, je weniger sie
vom Inhalte des Professorenvortrags verstehen. Später aber sehen sie die
stenographisch überfüllten Kolleghefte nicht mehr an, aus Scheu vor den Mühen
des Wiederlesens. Sie lernen Bücher kennen, die viel mehr leisten und alles
übersichtlicher bringen als die Kollegienhefte. Gegen die leicht leserliche Druck¬
schrift muß sich doch die stenographische Handschrift verstecken, das fühlen die
meisten und deshalb lassen sie die schönen Hefte auch ruhig in ihrem Versteck.
Auf diese Weise kommen viele, die noch auf der Universität Gebrauch von der
Kurzschrift machten, ganz unmerklich von ihrer weiteren Verwertung zurück.
Die massenhaft gesammelten Mitunterzeichner des Antrags auf Einführung
der Stenographie in Schulen wissen gar nicht, welche nutzlose Last sie der
Jugend aufbürden. Die Abgeordneten sind in dieser Frage, wie schon oben
nachgewiesen, ohne das geringste Sachverständnis. Sie bilden sich ein, weil sie
in den Parlamenten stenographieren sehen, das lasse sich in der Schule so
nebenbei mit erlernen. Die Herren haben keine Vorstellung, daß es sich beim
Stenographieren in den Parlamenten um eine Berufskunst handelt, die nicht
jedermann zugänglich ist.
Das Unsinnige des Gedankens einer stenographischen Verkehrsschrift begreift
jeder Laie, wenn er sich nur eine halbe Stunde von einem Bekannten die
Buchstabenformen irgendeines Systems erklären läßt. Da wird er bald merken,
wie eigenartig der Haarstrich, der Grundstrich, der Punkt, die gerade und die
gebogene Linie ausgenutzt werden, um einen möglichst hohen Grad der Kürze
zu erzielen, wie ähnliche Zeichen ster verschiedene Bedeutungen groß, klein, dick,
dünn, eng und weit voneinander geschrieben werden. Nun vergleiche man
unsere einfachen, einzeln aneinander gereihten Buchstaben mit den schon erwähnten,
durch alle möglichen feinen Unterscheidungen entstehenden stenographischen Zeichen
und Wortbilder und man wird alsbald herausfinden, daß stenographische Schrift
für den allgemeinen Verkehr viel zu unzuverlässig und viel zu schwer leserlich ist.
Machen wir uns einmal kurz einige Bedingungen der Leserlichkeit der
Schrift klar. Bei Druckschrift wird die Leserlichkeit erschwert durch die Gleich¬
förmigkeit der Buchstabe». Die Stadt Berlin hatte vor Jahren auf ihren
Straßennamenschildern nur große Buchstaben verwandt. Ein Wort wie
KUK^0K87IM - SI^LSL war sehr schlecht leserlich. Als dieser Fehler
erkannt wurde, schrieb man „Kurlürsten-Ztrasse" und sofort ergab sich gute
Leserlichkeit. Die Abwechselung zwischen kurzen und langen Zeichen, das heißt
die Vermehrung der Erkennungsmerkmale verdeutlichte die Schrift.
Für/ die Lesbarkeit der Handschrift kommt noch etwas anderes hinzu.
Woher lesen wir eine in ihren Schriftzügen verzerrte Handschrift dennoch mit
Geläufigkeit? Wir entziffern eine bekannte Handschrift leicht, weil wir die
Züge kennen, und wir lesen selbst unbekannte Handschriften, weil uns die
Sprache unterstützt. Wir kennen die Worte, wir entziffern den Zusammenhang.
Viel schwerer wird es uns die Handschrift einer fremden Sprache zu lesen,
wenn wir sie nicht so beherrschen wie die Muttersprache; hier beginnt schon die
Entzifferung durch Vergleichung der Schriftzüge untereinander. Ungewöhnlich
verzerrte Handschriften werden nur von einzelnen an die Züge gewöhnten Per¬
sonen entziffert. Einzelne Setzer in Druckereien erlangen eine besondere Fähigkeit,
unleserliehe Handschriften gelehrter Herren ins Leben zu rufen. Hier hört
aber selbst für den Setzer die mechanische Arbeit auf, er muß versuchen in das
Verständnis des Zusammenhanges einzudringen.
Worin besteht die Unleserlichkeit? Die Schriftzüge haben die Mannig¬
faltigkeit der Merkmale verloren, sie gehen unkenntlich ineinander über.
Übertragen wir diesen Gedankengang auf die Kurzschrift. Sie enthält
schon durch die Feinheit und Geringfügigkeit ihrer Zeichenunterschiede sehr viel
weniger Stützpunkte für die Lesbarkeit als die Langschrift. Gleiche Zeichen
groß und klein, stark und schwach bedeuten ganz verschiedenes, die Zeichen selbst
sind schon die allereinfachsten, weil die äußerste Kürze der Züge erstrebt wird.
Hier ist also zur Überwindung sehr vermehrter Schwierigkeiten die Aufbietung
besonderer Fähigkeiten, besonderen Fleißes und vielfältiger Mühen erforderlich. —
Wie kann eine solche Schrift jemals eine Verkehrsschrift werden?
Allerdings, die höhere stenographische Technik, die Redezeichenkunst weiß
dieser Schwierigkeiten der Farblostgkeit durch ein sehr wertvolles Mittel Herr
zu werden, nämlich durch besondere Kürzungen, die Sigel. Diese müssen, wenn
sie zuverlässig sein sollen, möglichst scharf erkennbar gewählt werden. Die
erkennungsleichten Sigel machen eine Kurzschrift erst wahrhaft nutzbar sowohl
für den Berufstechniker wie für den Privatgebrauch. Der Nedezeichner, der
Kammerstenograph muß über einen großen Vorrat feststehender Sigel verfügen
und gleichzeitig die Fähigkeit erwerben für jedes neue Gebiet, das seine Kräfte
beansprucht, während des Nachschreibens, d. h. augenblicklich neue Kürzungen
zu erfinden. Das macht den Berufsstenographen zum Künstler.
Freilich, wenn man Zeitschriften wie die „Stenographische Praxis" liest,
ersieht man, daß selbst etatmäßige Praktiker in sesfionsfreier Zeit zu ganz
untergeordneten Bibliotheksarbeiten verurteilt sind.
Unter Redezeichnern, die beruflich nach demselben System arbeiten, herrschen
feststehende Kürzungen, damit sie gegenseitig ihre Schrift im Interesse des amt¬
lichen Dienstes lesen können. Einfacher liegen die Dinge für den Außen¬
stehenden, der eine Kurzschrift in seinem Berus als Berichterstatter, als Rechts¬
anwalt, als Gelehrter verwertet. Er kann sie sich nach seinen Sonderbedürfnissen
zurechtmachen, sie soll nur für ihn allein lesbar sein, und daher braucht es für
ihn ganz und gar keine Einheitsstenographie zu geben, er kommt mit jeder
Kurzschrift aus, die er zufällig gelernt oder wohl gar für seine Zwecke selbst
erfunden hat.
Farblose Schulschrift hat einen Nachteil, der für den Allgemeingebrauch
noch ganz besonders hinderlich ins Gewicht fiele, das ist der Mangel der leichten
Übersichtlichkeit. Eine Seite stenographischer Schulschrist ist so farblos, so gleich¬
förmig wegen der Massenhaftigkeit der Schriftzüge auf kleinem Raum, daß
nur ein sehr geübtes Auge eine gesuchte Stelle schnell wiederfindet, aber
selbst dieses Auge kann ich an mein Schriftstück in wichtigen Fällen, wo ich
eindringlich wirken will, nie so fesseln wie an einen Schriftsatz in klarer,
unzweifelhafter Buchstabenlangschrift. — Einen ernsten Brief, eine weittragende
Mitteilung, eine notwendige schriftliche Anregung werde ich, wenn sie wirksam
fein, wenn sie besondere Aufmerksamkeit erregen soll, niemals in stenographischer
Schrift, sondern stets in den klaren ausführlichen Zügen der Buchstabenschrift
schreiben. Deshalb sage ich: es fehlen der Kurzschrift alle wertvollen Eigen¬
schaften ein Gemeingut, eine Verkehrsschrift zu werden.
Bedenkt man, welche Mißverständnisse schon heute mit Briefen in Buch¬
stabenschrift hervorgerufen werden, welche Unzahl von Irrtümern schon entstehen
durch oberflächliches Lesen von Druck- und Handschriften und vergegenwärtigt
man sich die mannigfaltigen Schriftpeinlichkeiten, die nun gar bei Benutzung
einer Kurzschrift von der größten Bedeutung und viel schlimmer find als unsere
buchstabenschriftlichen Undeutlichkeiten, so kann man nur mit Schrecken an die
Torheit der Einführung einer Kurzschrift in den Schreibverkehr denken. Nur
der einzelne, der Kurzschrift zu seinem Sonderberuf macht, kann sie mit all
ihren Feinheiten, Schwächen und Mängeln sich so aneignen, als Werkzeug
so beherrschen, daß sie für ihn zuverlässig und sicher lesbar ist. Das große
Publikum aber mit seinen leichten und schweren Händen, mit seinen kurzsichtigen
und weitsichtigen Augen, mit seinen stumpfen und gleichgültigen, nervösen und
unruhigen Temperamenten ist nieder imstande diese feinen und kleinen Zeichen
zu schreiben noch gar mit dem Wiederlesen einer solchen Zeichenkunst sich abzu¬
quälen. Daher wiederhole ich: Unzuverlässig und viel zu schwer leserlich ist die
Kurzschrift für den allgemeinen Gebrauch.
Und nun gar im schriftlichen Geschäftsverkehr, wo es sich um Geldfragen
handelt, kann eine Kurzschrift mit ihren geringfügigen Zeichenunterschieden und
unzähligen Verwechslungsmöglichkeiten gegen die klare, leicht leserliche Langschrist
mit ihren aneinandergereihten Buchstaben niemals aufkommen. Legen nicht
unsere Kaufleute trotz dieses großen Vorzuges der zweifelfreien Buchstabenschrift
doch großen Wert darauf, Leute in ihren Geschäften zu haben, die eine recht
schöne Handschrift schreiben? Selbst unsere Ziffern werden im öffentlichen Ver¬
kehr für unzuverlässig erachtet und bei Geldbenennungen in Buchstaben wieder¬
holt, weil die einzelne Ziffer je nach ihrer Stellung eine Bedeutung hat und
Irrtum oder Fälschung leicht möglich ist. Jede stenographische Schrift aber ist
durch unmerkliche Korrekturen aufs leichteste abänderungsfähig, sie würde im Ge¬
schäftsleben zu den gröblichsten Unredlichkeiten naheliegenden Anlaß bieten, Mi߬
verständnissen jeglichen Vorschub leisten, das Prozessieren vermehren und so für
den Kaufmann wie im allgemeinen schriftlichen Verkehr eine Quelle unerträg¬
licher Geschäftsschwierigkeiten anstatt der vorgespiegelten Erleichterungen werden.
Die Kurzschrift kann daher im Geschäftsleben für Handel und Gewerbe immer
nur Diktatschrift bleiben, die in Buchstabenschrift übertragen werden muß. Auch
die Versuche nach stenographischen Manuskript zu setzen, haben sich nicht bewährt.
In zahlreichen Geschäften spielt die Schreibmaschine eine viel größere Rolle als
die Stenographie. Man kann behaupten, das wahre natürliche Schreibhilfs¬
mittel der Zukunft ist die Schreibmaschine.
Handschrift und Maschinenschrift treten in Wettbewerb aber nicht Langschrift
und Kurzschrift. Neuerdings tritt mit der Kurzschrift das Grammophon als
Sprechmaschine in Konkurrenz und scheint sich in großen Betrieben rasch einzu¬
bürgern. Diese Maschine ersetzt den Diktatstenographen; also selbst die steno¬
graphische Diktatpraxis, ein Beruf, der heute Tausende beschäftigt, wird bereits
durch die Maschine eingeschränkt und in dem Maße abgelöst, wie die Maschinen
vervollkommnet und billiger werden. Der Maschinenschreiber bringt die voll¬
gesprochenen Walzen auf seinen Apparat, hört den Inhalt Satz für Satz ab und
bringt ihn dabei gleich mittels Schreibmaschine zu Papier.
Was wollen nun die Stenographieeiferer? Sie wollen den Verkehr, der
seit neuester Zeit gefördert und erleichtert wird durch Maschinenschrift, belasten,
belästigen, verundeutlichen, erschweren durch Stenographie und zwar indem sie
behaupten, die Stenographie sei ein dringendes Bedürfnis; sie ist aber nicht nur
kein Bedürfnis, sondern es fehlen ihr auch alle Eigenschaften ein solches zu werden!
Die Forderung einer Einheitsstenogrnphie ist gestellt, weil die verschiedenen
Stenographieschulen sich streiten. Wer sind denn die Streiter? Es sind abgesehen
von den Führern die Zeitschriften, die Vereins- und Vergnügungsstenographisten.
Eine Einigung oder Einheitsschrift ist weder nützlich noch notwendig. Im
Gegenteil, gerade der Streit der Systeme hat im letzten Jahrzehnt ihre Leistungen
für die Parlamente gehoben.
Nur ein Teil der Konferenzteilnehmer hat wirklichen, tieferen Einblick in
die Bedingungen, die eine Redezeichenknnst erfüllen muß. Der Streit mit
Herren, die niemals im Parlamentskampf als Stenographen gestanden haben,
ist völlig fruchtlos. Die bloße Tatsache, daß die ersehnte Einheitsstenographie
zweien Herren soll dienen können, macht ihre Ersindbarkeit zu einem unerreich¬
baren Ideal.
Der Waldschratt. Ein Spiel in drei Aus¬
zügen von Eberhard König. Musik von Hans
Summer. (Dichtung und KlaviercmSzug in
Kmnmission bei Leede, Leipzig.) Eine Dichtung
gedankenreich und tief, getragen von einer
höchsten sittlichen Idee, zugleich erfüllt von
dem Waldesdnft echter Märchenromantik, hat
uns Eberhard König in einem seiner jüngsten
Werke „Der Waldschratt" beschert. Einige
Märchengläubigkeit freilich müssen Wir mit¬
bringen, wenn wir in das Reich der zu Ko¬
bolden und Elfen personifizierten Elementar¬
gewalten eintreten wollen, dann aber macht
der Dichter es uns leicht an seine Gestalten
zu glauben. Was der Dichtung zugrunde
liegt, ist die alte, auch der christlichen Mystik
geläufige Vorstellung der sich nach Seele seh¬
nenden unbeseelten Natur, die darum zum
Menschen verlangt, daß er ihr Erlösung bringe
(vgl. Rom. 8, 18 ff.), die auch in der Nöck-
und Undinensage anklingt und unter den
modernen Dichtern von Hugo Euler in seinem
„Erdöls Rübezahl" benutzt worden ist, mit
dem man um ehesten die Waldschrattdichtung
Königs zusammenhalten könnte. Aber während
dort das symbolische und spekulative über¬
wiegt, kommt hier im „Waldschratt" ein ethi¬
sches Moment voll zur Entwicklung. Aus dem
Boden der Philosophie Schopenhauers und
Richard Wagners erwachsen, wird das Stück
zu einer ergreifenden Tragödie des aus Er¬
kenntnis geflossenem Mitleids, das verkörpert
wird in erster Linie durch drei ideale Men¬
schen, den Magister, Kälthe, den todkranken
kleinen Konrad, und das schließlich auch im
Schratt den Sieg davonträgt über die unter
dem Druck der Verfolgung und Verachtung
seitens der Menschen bei ihm notwendig zum
Ausbruch kommenden Leidenschaft. Der un¬
bezwingbaren Sehnsucht seines Herzens fol¬
gend, hat er trotz der eindringlichen Warnung
der Elfen vom Menschenbrot gegessen, das er
in der dem schlafenden Magister entwendeten
Botanisiertrommel fand:
so jauchzt er selig auf und wird — „hüben,
drüben heimatlos". — Wie das der Dichter
zur Entwicklung bringt, indem er ausführt, wie
die drei Menschen und auch der Schratt schlie߬
lich im Kampf mit der Wirklichkeit des Lebens
und dessen Brutalität unterliegen, das ist von
erschütternder Wirkung, zumal im Schratt trotz
aller Not seine Überzeugung: „Menschenschön¬
heit ist wahr", Recht behält und in ihm un¬
mittelbar vor seinem Tode angesichts des um
ihn sterbenden kleinen Konrads seine sittliche
Erhebung vollendet:
Fürwahr, heiß steigt es einem dabei in die
Augen, und ich gestehe offen, daß mich kaum
eine neuere Dichtung so tief ergriffen hat wie
dieser „Waldschratt" mit seiner sehnsuchtsvollen
Märchenstimmung und herben Tragik. Es ist
an dieser Stelle nicht möglich, auf die Einzel¬
heiten der schönen Dichtung einzugehen, aber
eine Probe der wundervollen Poesie möge
noch hier folgen, die Warnung der Elfen vor
dem Zauber, der im heiligen Brote ruhe:
Die äußere Form des Stückes ist insofern
neu, als gesprochene Partien mit melodrama¬
tischen und Gesangsszenen abwechseln, je nach
demJnhalt. König selbst hat in der Wiener Zeit¬
schrift „Der Merker" (1910,16. Heft) sich über
die Berechtigung derselben ausgelassen. —
Die edle, ausdrucksvolleMusik zu der edlen Dich¬
tung stammt von dem greisen Braunschweiger
Meister mit dem von jugendreinstem Idea¬
lismus erfüllten Herzen, von Hans Somnier,
dem letzten Romantiker. Möchte den beiden,
die sich so gut verstehen — König lieferte
dem Tonmeister die Dichtungen „Riquet mit
dem Schöpf", „Rübezahl und der Sackpfeifer
von Reiße" — die Freude beschicken sein,
daß ihr gemeinsames, kerndeutsches Werk auf
den deutschen Bühnen festen Fuß fasse.
Japanische Totenopfer. Auf der ganzen
Erde ist seit urältesten Zeiten der Glaube ver¬
breitet an eine ihrem Licht entrückte Welt, an
ein „Land ohne Heimkehr", wo alles so ist
wie hier, nur dunkel oder in fahle Dämmerung
getaucht. Und die Toten bleiben, wie und was
sie auf Erden waren, sie „leben", nur eben wie
„Tote", umschweben ihre Grabstätten und
Wohnungen, besuchen ihre zurückgelassenen
Lieben — und der Kaiser bleibt der Kaiser,
und der Feldherr der Feldherr. Und, sagen
die Japaner, auch die alten „toten" Soldaten
„leben", und wenn der Sohn des Himmels
Wieder zu den Waffen ruft, werden ihre
geisterhaften Leiber aus dem Totenreiche
steigen, „den Kaiser, den Kaiser zu schützen". —
Im „Nihongi", dein Zweitältesten (ge¬
schichtlichen) Buche der japanischen Literatur,
von 720, lesen wir zum Jahre 2 vor Christi:
„Jnmato-sito-no - Mikoto, des Kaisers" —
Suinin, arg. 29 vor bis 70 nach Christi —
„jüngerer Bruder, starb. Jamato-Hiko wurde
begraben. . . . Darauf wurde seine Persön¬
liche Dienerschaft versammelt, und alle
wurden lebendig aufrecht innerhalb der Um¬
hegung des Grabhügels begraben. Mehrere
Tage lang starben sie nicht, sondern weinten
und wehklagten Tag und Nacht. Zuletzt
starben und verwesten sie. Hunde und Krähen
suchten nach ihnen und fraßen sie. Der Kaiser
hörte ihr Weinen und Wehklagen, betrübte
sich in seinem Herzen, befahl seine hohen
Beamten zu sich und sagte: „Es ist ein hartes
Ding, diejenigen, die einen im Leben geliebt
haben, zu zwingen, ihm in den Tod zu
folgen. Obwohl es eine alte Sitte ist,
warum sie befolgen, wenn sie schlecht ist?
Beratet euch, wie man dieser Nachfolge in
den Tod von jetzt ab Einhalt tun kannt"
Fünf Jahre später starb die Kaiserin. Der
Kaiser versammelte seine Minister und sagte:
„Wir haben bereits anerkannt, daß der Brauch
der Todesnachfolge nicht gut ist. Was soll
nun bei diesem Begräbnis geschehen?" Da
trat Roni-no-Sukune vor und sagte: „Es ist
nicht gut, Menschen lebendig auf dem Grab¬
hügel einer fürstlichen Persönlichkeit zu be¬
graben. Wie darf solch eine Sitte auf die
Nachwelt gebracht werden? Ich bitte einen
Ersatz vorschlagen zu dürfen, den ich Ew.
Majestät anheimstellen will." Er läßt Töpfer
kommen und Tonfiguren von Menschen,
Pferden usw. formen, „die in Zukunft als
Ersatz für lebende Menschen dienen und auf
dem Grabhügel aufgestellt werden sollen." —
Diese sogenannten „Tsuchiningho : Tonbild¬
nisse" haben sich vereinzelt erhalten und sind
als unschätzbare Seltenheiten ins Museum ge¬
kommen, ins Britische und ins Uenomuseum
Ach, der Zauber ist zu groß,
Hüben — drüben: Heimatlos I
in Tokyo. Das Berliner Museum für Völker¬
kunde besitzt einige Nachbildungen.
Also, bereits um Christi Geburt ist nach
dem „Nihongi" jener cmimistische grauen¬
volle Gebrauch abgeschafft worden; und wir
hätten keinen Grund, daran zu zweifeln,
wenn man 1. für jene Zeit überhaupt schon
von japanischer „Geschichte" reden könnte, und
wenn 2. nicht die chinesischen (und korea¬
nischen) Annalen wären. Die Wei-Annalen
berichten nun aus dem Jahre 247: „Zu
dieser Zeit starb die ^japanische) Königin
Himeko" (übrigens höchstwahrscheinlich das
Urbild der sagenberühmten Kaiserin Jingo
Kvgo, der angeblichen Eroberin Koreas, 200),
„ein großer Hügel wurde über ihr errichtet,
und mehr als hundert ihrer männlichen und
weiblichen Dienerschaft folgten ihr in den
Tod." Ob freiwillig oder gezwungen, durch
Selbstmord oder Getötetwerden, wird nicht
gesagt, sicher ist aber: Totenopfer im eigent¬
lichen Sinne wurden in Japan noch um die
Mitte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts
dargebracht, und dasselbe „Nihongi", das von
ihrer angeblichen Abschaffung um Christi
Geburt spricht, bringt aus dem Jahre 646,
im hellen Lichte der Geschichte, einen Erlaß
des Kaisers Kotoku (646 bis 6S4), in dem
°s heißt: „Gelegentlich des Ablebens von
Menschen haben sich Fälle ereignet, daß ihnen
nahestehende Personen sich selbst oder andere
erdrosselten, um ihnen in den Tod zu folgen,
oder das Pferd des Verblichenen dem Tode
weihten . . . oder sich das Haar abschnitten
oder die Daumen verstümmelten und dabei
den Toten Priesen. Mit all' solchen alten
Gebräuchen soll völlig aufgehört werden/'
Aber ungefähr siebenhundert Jahre später
kam die Sitte auf, dem Lehnsherrn durch
Harakiri in den Tod zu folgen, und Siebold
behauptet, die Totenopfer in jenem ältesten
Sinne hätten sich bis zu Taikos, das ist
Hideyoshis, Zeiten, bis zum Ende des sech¬
zehnten Jahrhunderts erhalten. Jedenfalls
begingen damals noch fünf Vasallen eines
jung verstorbenen Sohnes Tokugawa Ueyasus
Harakiri, und Wohl im Zusammenhang mit
diesem Vorkommnis in seiner Familie schärfte
Ueyasu 161S den Samurai aufs neue
nachdrücklichst das Verbot ein, sich ans dem
Grabe ihres Herrn zu töten oder zu ver¬
stümmeln: „Obgleich es zweifellos eine ur¬
alte Sitte ist, daß ein Vasall seinem Herrn
in den Tod folgt, hat dieser Brauch doch keine
Berechtigung. . . . Diese Bräuche werden
strengstens untersagt. . . . Wer dies Verbot
mißachtet, ist das gerade Gegenteil eines
treuen Dieners. Seine Nachkommen werden
durch die Einziehung seiner Besitztümer zur
Armut herabsinken, als Warnung für die¬
jenigen, die den Gesetzen ungehorsam sind."
Trotz alledem und alledem verübten sieben-
und dreißig Jahre später, beim Tode Uemitsus,
des dritten Tokugawa-Shoguns, zwei ausdrück¬
lich mit Namen genannte Dciimyos „Junschi" :
Das Sterben mit dem Herrn, und erst 1664
machte Jeyasus Urenkel Jetsuna mit jenem
Verbote Ernst: Die Ländereien des Über¬
treters wurden eingezogen, zwei seiner Söhne
hingerichtet und die übrigen Fcimilienmit-
glieder verbannt. Das berühmte Harakiri
der „siebenundvierzig Ronin" von 1703
gehört nicht hierher, aber noch im japanischen
Schicksalsjahre 1868 ereignete sich ein Fall von
Selbstmord am Grabe deS Herrn, Lafcadio
Hearn spricht von einzelnen Fällen sogar noch
in der eben hinter uns liegenden Meji-Ära,
und den letzten haben wir im September 1912
„schaudernd selbst erlebt".
In diesen Zusammenhängen muß die Tat
Nogis betrachtet werden: ewiger Kriegsruhm
umstrahlt ihn anch in den Augen der Euro¬
päer, aber vielleicht noch unvergänglicher,
noch leuchtender ist für seine Landsleute die
Gloriole, die er sich durch seine Selbstopferung
ums Haupt gezogen hat: im Leben wie im
Tode „ein treuer Diener seines Herrn"!
Die moderne Negierung mißbilligt den
Selbstmord ausdrücklich in dein amtlichen
Lehrbuch des Muralunterrichts. Ein Dr. Ua-
makawa wandte sich gegen die „Ethik des
Selbstmordes", sah sich aber von der stür¬
misch erregten öffentlichen Meinung gezwun¬
gen, sein Universitätsamt niederzulegen. End¬
lich soll dem japanischen Reichstag neuerdings
ein Antrag zugegangen sein, das Harakiri
wieder offiziell zuzulassenI
Wenn die Erörterungen über den mutmaßlichen Nachfolger des leider von
uns gegangenen Freiherrn Marschall von Biederstem einen so breiten Raum in
der Tagespresse einnehmen, so sind daran nicht allein die zum Teil übertriebenen
Erwartungen und Hoffnungen schuld, die sich seinerzeit an die Ernennung dieses
Staatsmannes auf deu Posten eines Londoner Botschafters knüpften. Vielmehr
ist es die Bedeutung, die die öffentliche Meinung dem Posten selbst für die weitere
Entwicklung der deutschen auswärtigen Politik zumißt.
Seit es feststeht, daß England uns gegenüber eine Politik übt, die stark an
jene erinnert, die Albion während des achtzehnten Jahrhunderts gegen Frankreich
in so glücklicher Weise verfolgte, gilt London als die Zentrale, von der aus die
für Deutschland wichtigsten Fäden der Weltpolitik gesponnen werden. Kann die
Tatsache an sich zugegeben werden, so darf es auch nicht Wunder nehmen, wenn
sich um unsere Stellung zu England zwei Parteien gebildet haben, deren eine
die Erhaltung des Friedens um jeden Preis fordert, deren andere einer Entscheidung
durch das Schwert lieber heute als morgen zustrebt. Was wäre da natürlicher,
als wenn beide Parteien danach trachten, solche Kandidaten auf den freigewordenen
Platz zu bringen, die den eigenen Auffassungen von den Aufgaben der deutschen
Politik am besten zu entsprechen scheinen. Das alles beweist aber doch noch nicht,
daß nun London auch der wichtigste diplomatische Posten wäre, den Deutschland
zurzeit zu besetzen hätte.
An die zu wählende Persönlichkeit werden Ansprüche gestellt, die sich schwer
in Einklang bringen lassen: die Friedensucher sehen sich nach einer gewandten,
mit unerschütterlicher Ruhe ausgerüsteten weisen Persönlichkeit um; jene, die zum
Bruch treiben, legen größeren Wert auf schneidiges Auftreten und Rücksichtslosigkeit
im Fordern. Daneben melden sich auch die kleineren Jnteressenpolitiker mit
ihren Kandidaten. Von ziemlich einseitigen Gesichtspunkten ausgehend, machen
sie die ihnen genehmen Persönlichkeiten namhaft. So entsteht ein munteres Rätsel¬
raten, das unter der Tarnkappe des sachlichen Interesses eigentlich nur dem
Sensationsbedürfuis gerecht wird, da es Gelegenheit zur Aufrollung alles möglichen
persönlichen Klatsches gibt. Leider nimmt nicht nur das ungebildete Publikum
und das mit den tatsächlichen inneren Verhältnissen Deutschlands wenig vertraute
Ausland diesen Unfug viel zu ernst.
Selbstverständlich ist auch der Ruf nach einem Kaufmann wieder lebendig
geworden. Ich möchte dazu nur an ein Wort Marschalls erinnern, das dieser
einmal nicht eben höflich nach Deutschland zurückrief, als ihm vorgeworfen wurde,
er nähme in Konstantinopel die Handelsinteressen dieser oder jener Firma nicht
genügend wahr. „Ich bin," ließ er durch die Presse sagen, „Vertreter Seiner
Majestät des Kaisers und des Deutschen Reiches und nicht Handlungsreisender
für irgendein Geschäft I" Und doch wird dieser Mann heute von der gesamten im
Orient tätigen Handelswelt hoch geehrt I Wie kommt es? Weil er stets das all-
gemeine Interesse über das des einzelnen gehoben hat und weil er sich durch die
Interessen eines großen Handelsherrn nicht hat einschüchtern lassen, die Interessen
von hundert kleinen gleichzeitig wahrzunehmen. Ich vermag es mir nicht vor¬
zustellen, daß ein Kaufmann, der sein ganzes Leben hindurch nur egoistische Zwecke
verfolgen nutz, dessen politisches Handeln im wesentlichen darin bestanden hat, Tag
für Tag von Geschäft zu Geschäft zu eilen, das ihm persönlichen Nutzen bringen
soll, daß ein Kaufmann befähigt sein sollte, im Augenblick der Ernennung zum
Botschafter alles in sich zu überwinden, was ihn bis dahin leitete: ein Kaufmann
wird nur in seltenen Fällen in der Lage sein, die Gesamtinteressen eines Volkes,
die sich nun einmal nicht in Mark und Groschen darstellen lassen, nach anderen
als nach geschäftlichen Gesichtspunkten zu erkennen. Ein Bankier wird in London
leicht verleitet sein, die Interessen des Großkapitals, ein Schiffahrtsdirektor die der
Schiffahrt, ein Eisenindustrieller die der Eisenindustrie ganz besonders zu bevor¬
zugen und ohne es selbst zu wollen, alle anderen Interessen diesem einen Gesichts-
Punkte, der ihm besonders geläufig ist, unterzuordnen. Und täte er es nicht, so
würde er in Kürze alle seine Freundschaften und persönlichen Beziehungen daheim
einbüßen, wie es einst Herrn Möller als Handelsminister gegangen ist. Dann
aber schwebte er in der Luft, da es doch nur ganz wenige Kaufleute geben mag,
die gleichzeitig auch die für einen Botschafterposten notwendigen Beziehungen zur
internationalen Diplomatie haben. Da taucht zwischen meinen Tintenfässern die
Figur des Geheimen Legationsrath Helfferich, Direktors der Deutschen Bank auf,
dieses Professors der Staatswissenschaften; Organisator des Reichskolonialamts,
Diplomat, Direktor der Anatolischen Eisenbahnen, Beherrscher aller Valntafragen
und wohl auch gründlicher Kenner des Weltverkehrs, ist er heute wohl Kaufmann,
aber seine Vorbildung genoß er doch in solchen Kreisen, in denen der Blick stets
auf das Ganze gerichtet bleibt. Aber Etikette und Herkommen sprechen gegen ihn
und im übrigen hat der Glückliche erst im letzten Jahre das Schwabenalter
erreicht.
Wenden wir uns den Namen der von der Presse aufgestellten Kandidaten
zu, so muß zunächst hervorgehoben werden, daß es als wahrscheinlich gelten darf,
daß der Posten sehr schnell neu besetzt werden wird, also ein längeres Interregnum
nicht beabsichtigt ist. Damit wird denn auch die Kandidatur des Geheimen
Legationsrath Freiherrn von Stumm, gegenwärtig Direktor der politischen
Abteilung des Auswärtigen Amts, als Geschäftsträger hinfällig. Zweifellos
ist Herr von Stumm einer der tüchtigsten Diplomaten aus seiner Generation.
Aber auch er hat das für einen Botschafter übliche Alter noch nicht erreicht.
Übrigens würde auch für ein längeres Interregnum der gegenwärtige amtierende
erste Sekretär der Londoner Botschaft, von Kühlmann, durchaus der Aufgabe
gewachsen sein, da brennende Fragen, die eine sofortige Bearbeitung in London
selbst erheischten und infolgedessen von dem Botschaftsrat allein nicht bewältigt
werden könnten, nicht vorliegen. Wir verhandeln mit England gegenwärtig über
keinerlei Einzelfragen, die eine zeitweilige Verstärkung des Personals bei der
Botschaft in London notwendig machen. Schon die Tatsache, daß Herr von
Marschall einen langen Urlaub antreten konnte, beweist, daß dem so ist. Aber
schließlich gebietet es die Höflichkeit, den Posten eines Botschafters nicht gar zu
lange unbesetzt zu halten.
Doch wie steht es mit den anderen Kandidaten?
Für den Fernstehenden einigermaßen ernsthaft sieht die Kandidatur des
Grafen Bernstorff, derzeitigen Botschafter in Washington aus. Es scheint fast, als
seien es die Freunde aus Handel und Industrie, die sich den Grafen wünschen,
weil er ein unseren Exporteuren sehr sympathisches Wesen zeigt und stets geneigt
ist, in Handelssachen das gerade an ihn herantretende einzelne Geschäft zu
berücksichtigen. Dazu kommt noch, daß er als ein Mann von guten Beziehungen
zur englischen Gesellschaft gilt. Gegen seine Kandidatur spricht aber der Umstand,
daß Graf Bernstorff bei der nordamerikanischen Regierung recht gut eingeführt ist
und in Washington Fragen zu bearbeiten hat, die seinen Fähigkeiten liegen.
In London müßte er sich vollständig neu einarbeiten. Seine Versetzung würde
also zur Folge haben, daß auf zwei im Augenblick gleich bedeutsamen Posten je
ein mit den Spezialfragen nicht vertrauter Botschafter stände. So erscheint denn
die Kandidatur Bernstorff nicht wahrscheinlich.
Dann sind eine Reihe von Außenseitern genannt worden: Generalfeldmarschall
Freiherr von der Goltz, wahrscheinlich weil man glaubt, einen Orient-Spezialisten
in London haben zu müssen; Freiherr von Rechenberg, der sich einst als Gouverneur
von Ostafrika bemerkbar machte. Zu den Außenseitern darf man wohl auch Herrn
von Kiderlen rechnen, wenn auch in einem erweiterten Sinne. Er wird nicht
von seinen Freunden, wohl aber von seinen Gegnern auf jeden Botschafterposten
gewünscht, und so soll der Glaube erweckt werden, als läge sein Ehrgeiz tatsächlich
in dieser Richtung. Sicher wird Herr von Kiderlen auf jeden Posten gehen, auf
den ihn der Monarch entsendet; aber gegen die Londoner Kandidatur in diesem
Augenblick spricht doch ein wichtiges Moment: für die auswärtige Politik ver¬
antwortlich ist zwar Herr von Bethmann, aber dessen „Techniker" ist der Berufs¬
diplomat Kiderlen. Der Name des Herrn von Kiderlen bedeutet gewissermaßen ein
System, das nur der Techniker und Künstler handhaben kann, der es sich selbst
zurechtlegte. Die Berufung .Kiderlens' auf einen Botschasterposten müßte natür¬
licherweise eine Änderung des Systems zur Folge haben, selbst wenn die beste
Absicht bestände, es weiter zu führen. Da aber die Stellung eines Botschafters
abhängig ist von den in der Wilhelmstraße gegebenen Weisungen, so wäre es
nicht undenkbar, daß Herr von Kiderlen als Botschafter womöglich gezwungen
sein würde, Dinge auszuführen, die er gegenwärtig als Leiter der Zentrale als
falsch oder unzweckmäßig oder inopportun ablehnt. Ich kann mir nicht denken,
daß ein Charakter von der starken Prägung Kiderlens solch einen Wechsel tragen
würde, ohne Konzessionen durchzusetzen, die schon deshalb kaum gefordert und
gewährt werden könnten, weil sie mit der historisch begründeten Stellung der
kaiserlichen Botschafter kaum in Einklang zu bringen wären.
Ein deutscher Botschafter ist zwar formell der Vertreter des Deutschen Reiches,
und als solcher dem Reichskanzler unterstellt, tatsächlich aber lediglich der
Mann des persönlichen Vertrauens des deutschen Kaisers, in dessen Person sich
die Gesamtinteressen des Reichs und der Nation an der auswärtigen Politik ver¬
körpern. Ein deutscher Botschafter ist das, was den ethymologischen Inhalt seines
Titels bildet: der Bote des Kaisers, der Vertreter der kaiserlichen Ansichten, also
in das Deutsch der Reichsverfassung übertragen: das ausführende Organ der
Politik, die in der Zentrale, im Auswärtigen Amt zu Berlin, getrieben wird.
Auch ein deutscher Botschafter in London hat keine persönliche Politik zu treiben,
auch er handelt lediglich im Auftrage des Kaisers beziehungsweise des nach außen
hin verantworlichen Reichskanzlers, was praktisch seine Abhängigkeit vom Aus¬
wärtigen Amt, bzw. dessen Staatssekretär bedeutet. Wenn von London aus
gegen Deutschland konspiriert wird, so ist es zur Feststellung der Tatsache ebenso
wichtig, rechtzeitig in Erfahrung zu bringen, in welcher Richtung die Fäden
gesponnen werden, wie von wem sie gesponnen werden. Das „von wem" ist in
London leicht zu ermitteln, das „wohin" wird eher in Rom, Kopenhagen, Madrid,
Paris, Petersburg, Wien und Konstantinopel zu erfahren möglich sein. Überdies erhält
ein Botschafter alle ihn besonders angehenden Nachrichten nicht etwa direkt von den
anderen diplomatischen Posten, sondern erst auf dem Umwege über das Aus¬
wärtige Amt, dessen Leiter es durchaus in der Hand hat, zu bestimmen, was dem
Botschafter mitgeteilt werden soll, was nicht. Diese tatsächlichen Verhältnisse geben
den Rahmen für den Aktionsradius eines deutschen Botschafters, und aus ihnen
kann man folgern, in welcher Richtung der Kaiser und seine verantwortlichen
Ratgeber Ausschau nach dem neuen Manne halten, nicht aus der Stimmung, die
gerade hier und dort über England herrscht.
Aus den angedeuteten Gründen dürfte denn auch die Persönlichkeit des
schließlich ernannten Mannes kaum in erster Linie dafür bezeichnend sein, welche
Stimmung in Deutschland Einfluß auf die auswärtige Politik gewonnen hat.
Wir sind gewiß nicht indiskret, wenn wir angeben, daß unsere Politik nicht
darauf ausgeht, den „Frieden um jeden Preis" zu erhalten, aber ebenso wenig
zum kriegerischen Austrag drängt. Der Mann des Kaiserlichen Vertrauens dürfte
somit eine besonnene, mit den Absichten des Auswärtigen Amts vertraute Persön¬
lichkeit werden, deren Tätigkeit im übrigen den Wunsch zur Schau tragen mag,
mit den englischen Staatsmännern in ein allen Teilen erfreuliches Vertrauens¬
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viciusilsr, sKIsIctisQnsr' Audhumla-ut. Osnuni sonnsliss
^rrsielisn ciss vieles. — Ström^s /^utsic-ut. — Outs
Pension. — XSrpsrptlsAs unten Äritlienor I.situng.
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Ko^iun.-Kiste IVI. 1V.Q. M. Lo^liebs L Oo.
Vs'SsIsu 12.
le eben abflauende Krise auf dem Balkan hat bei allen Staaten
des Kontinents die Frage in den Vordergrund gerückt, welche
Interessen sie auf dem Balkan und an Balkandingen haben, um
danach ihre Haltung im gegebenen Augenblick einzurichten. Die
Vorfrage ging naturgemäß auch durch die deutschen Blätter und
wie es scheint, herrscht in ihr erfreuliche Übereinstimmung: Deutschland hat die
vielseitigsten wirtschaftlichen und politischen Interessen zu wahren!
Solche Harmonie in der Beantwortung der allgemeinen Frage schließt leider
tiefgehende Meinungsverschiedenheiten über die Aufgabe des heutigen Tages
nicht aus. Die Prestigepolitiker rasseln gewaltig mit dem Säbel und fordern,
Deutschland solle sür die Erhaltung der Türkei eintreten, die ernsthaft nationalen
Kulturpolitiker weisen mit Recht auf die Gefahr hin, die dem Deutschtum ganz
allgemein durch die kräftige Entwicklung der Südslawen droht, die Real- oder
Wirtschaftspolitiker aber wollen im wesentlichen nur die Interessen des Kapitals,
das ist die des Handels und der Industrie gelten lassen. In Wirklichkeit laufen
die Forderungen aller drei Gruppen neben- und durcheinander und die hier
und da laut werdenden praktischen Vorschläge verraten eigentlich nur, welche
Gruppe über die besten Informationen verfügt: die Mittel zur Wahrung unserer
Interessen lassen sich nun einmal nicht allein nach Gesühlsmomenten finden;
sür praktische Entschlüsse ist die Summe aller Faktoren, sind die Zeiterfordernisse
maßgebend und — Kenntnis des nützlichen und wirklich erreichbaren. So
groß z. B. die Gefahr des Emporstrebens der Slawen für die Germanen
ist, so scheidet die Tatsache an sich praktisch vollständig aus der auswärtigen
Politik aus, nachdem es doch in erster Linie Fürsten von deutschem Geist und
Geblüt gewesen sind, die die staatlichen Organisationen der Slawen seit
Jahrhunderten schufen: Nußland, Rumänien, Bulgarien verdanken ihre politische
Organisation deutschen Fürstenhäusern (Holstein-Gottorp, Hohenzollern, Koburg),
Tschechen, Polen, Kroaten ihren kulturellen Ausschwung deutschen Gelehrten und
Lehrern auf allen Gebieten. Das Erwachen der Slawen ist zum guten Teil
unser, der Deutschen, Werk,'— wir werden sie durch keine siegreichen Kriege,
durch keinerlei politische Unterdrückung von weiterer Machtentfaltung zurück¬
halten, wenn wir selbst nicht rassenmäßig, das will sagen: zahlenmäßig, geistig
und wirtschaftlich so stark werden, daß neben uns keine andere Gewalt auf¬
kommen kann. Diesem Ziele zuzustreben, kann nicht in erster Linie Aufgabe
der auswärtigen Politik sein, das wäre eine Aufgabe der inneren. Die Leiter
der auswärtigen Politik sind gezwungen, mit den vorhandenen, gegebenen
Faktoren zu rechnen, die Leiter der inneren haben die Aufgabe, diese Faktoren
im Sinne unserer Stärkung zu vermehren, solange es dafür noch Zeit und
Mittel gibt.
Scheidet somit der deutsch - slawische Gegensatz als Kampf zweier Kulturen
für die praktische Politik Deutschlands auf dem Balkan im Augenblick aus, so
wird unsere politische Tatensreude obendrein gezügelt durch die geographische
Lage Deutschlands zu den Balkanstaaten. Alles, was uns noch als Spielraum
übrig bleibt, ist gewissermaßen geistiger Natur, beruht fast ausschließlich auf der
Gesundheit der Nation daheim, auf der Güte ihrer staatlichen und sozialen
Organisationen und findet seinen Ausdruck in der folgerichtigen, stetigen Ent¬
faltung unserer Welthandelspolitik. Politischen Einfluß haben wir in der Türkei
nur in diesem Sinne zu suchen und deshalb auch zu keiner Zeit unter anderen
Gesichtspunkten gesucht, als etwa in Petersburg oder Washington. Die deutsche
Politik ging niemals auf Gebietserwerbungen in der Türkei aus, wie etwa die
englische, russische und österreichisch-ungarische, sei es nun zu kolonisatorischen
oder zu strategischen Zwecken. Auch nicht zu Bismarcks Zeiten. Ein Blick auf
die Karte der alten Welt erklärt die Gründe solcher Zurückhaltung zur Genüge.
Darum sind die Mittel deutscher „Eroberungs"-Politik Geist und Kapital,
nicht das Schwert.
Blieben nun aber wirklich handelspolitische Gesichtspunkte für unsere
Beziehungen zu den Balkanstaaten allein übrig, dann ergab sich die im akuten
Falle notwendig einzunehmende Haltung der deutschen Diplomatie von selbst:
harmonisches Zusammenwirken mit allen übrigen am Balkan interessierten Mächten,
insonderheit mit denen, deren Interessen ebenso liegen, wie die unsrigen.
Zum mindesten gleichwertig mit den unsrigen sind die Interessen Frank¬
reichs, das ebenso wie wir namhafte Kapitalien in der Türkei investiert hat.
Ein kulturell und wirtschaftlich aufstrebendes Osmanenreich ist Abnehmer
deutscher und französischer Waren, Anlagemarkt für deutsches und französisches
Kapital, Betätigungsgebiet für französische und deutsche Geistesarbeit. An den
Pforten dieses Reiches rütteln die kleinen Balkanstaaten, die sich auf Kosten
der Türkei bereichern wollen. Wie Frankreich diesem Unterfangen gegenübersteht,
zeigt am klarsten seine Weigerung, Bulgarien Geld zum Kriegführen zu leihen.
Man darf also annehmen, daß in den maßgebenden Kreisen Frankreichs die
Interessen an der türkischen Frage zum mindesten ebenso aufgefaßt werden wie
bei uns. Was läge da näher, als daß die deutsche und französische Diplomatie
sich einander zunächst über die nächsten Schritte verständigt hätten, die der
jüngsten Lage gegenüber einzuschlagen waren.
Nicht ganz so einfach liegt die Frage bei unseren Bundesgenossen Österreich
und Italien. Vor allen Dingen für Österreich-Ungarn können sich infolge
eines Balkankrieges Möglichkeiten zum Handeln ergeben, die dem kurzsichtigen,
vom Tag lebenden Politiker günstiger erscheinen als es tatsächlich der Fall
wäre. So ließe sich womöglich der Fehler wieder gut machen, der seinerzeit
durch die Räumung des Sandschak begangen wurde; auch der Einfluß Italiens
in Albanien, der übrigens vorwiegend auf dessen Handelsbeziehungen beruht,
ließe sich vielleicht zurückdrängen; aber doch nur vorübergehend, denn der Handel
sucht sich seine Wege nicht gern unter der Führung des Bajonetts. Das
wären Eintagserfolge, die durchaus nicht im Verhältnis zu der Einbuße ständen,
die Österreich - Ungarn durch die alsdann auch unvermeidliche territoriale
Ausdehnung Serbiens und Bulgariens erleiden müßte. So darf denn auch in
Zukunft vom Ballhausplatz her eine Haltung erwartet werden, die zunächst
darauf ausgeht, den Ausbruch eines Balkankrieges zu verhindern und, wenn
solches Bemühen einmal erfolglos bleiben sollte, einen Friedensschluß zu bewirken,
der am 8tatu8 quo auf dem Balkan nichts ändert.
Italien ist in ähnlicher Lage, wenn es auch im gegenwärtigen Augenblick
aus der Notlage der Türkei den meisten Nutzen zu ziehen vermöchte. Eine
Schmälerung des türkischen Besitzstandes auf dem Kontinent durch die kleinen
Valkanstaateu und Österreich-Ungarn in diesem Augenblick hieße für Italien
entweder auf seinen Einfluß in Albanien verzichten oder seine eben eingeleitete
Eroberung in Nordafrika preisgeben. Es läßt sich von hier aus nicht übersehen,
ob es nicht gerade diese Erwägung ist, die die englische Diplomatie veranlaßt hat,
das Feuer auf dem Balkan neu anzufachen, nachdem Italien auf den Beitritt
zu einem englisch-französischen Mittelmeerbund verzichtete. Aber die Wahr¬
scheinlichkeit liegt vor, nachdem es für die Engländer festzustehen scheint, daß
die einzig empfindliche Stelle des Dreibundes dort unten an der Adria zu
finden sei. Die Feststellung, die des früheren russischen Ministerpräsidenten
Stolnpin Bruder in der gewiß nicht deutschfreundlichen Nowoje Wremja macht,
daß nämlich der Angelpunkt der englischen Politik in der Feindschaft Albions
gegen Deutschland zu suchen sei, verstärkt die Wahrscheinlichkeit erheblich. Wir
können um so eher den Finger auf die Wunde legen, als diese, längst in
Heilung begriffen, in kurzem vernarbt sein dürfte. Weder Italien noch Öster¬
reich-Ungarn denken daran, um der verhältnismäßig geringfügigen Rivalitäten
in Albanien willen die Vorteile preiszugeben, die jedem von ihnen der Dreibund
bietet. Denn nicht in erster Linie gegen die Türkei richtet sich der Anschlag der
Gegner, sondern gegen den Dreibund, der es Italien ermöglichte, seine natür¬
lichen Aufgaben in Nordafrika trotz England und Frankreich durchzuführen, der
es Österreich-Ungarn trotz Rußlands passivem Widerstande gestattet, seine
inneren und äußeren Schwierigkeiten mit Gleichmut zu tragen und allmählich
zu überwinden.
Angesichts der Haltung Frankreichs und der Dreibundmächte erklärt es sich,
wenn in deutschen unterrichteten Kreisen auch von Rußland behauptet wird, daß
dies einem Kriege auf dem Balkan, der nicht eine Schwächung des Dreibundes
bedeutete, kein Interesse entgegenbringt, und es soll mich gar nicht wundern,
wenn Herr Ssasonow schon in den nächsten Tagen den Ansichten zustimmt, die
Herr von Kiderlen am Mittwoch einem Politiker gegenüber geäußert hat. Somit
darf bei den zumeist interessierten Großmächten, also wohl bei Frankreich und
den Dreibundmächten, die Neigung ins politische Rechenexempel eingesetzt werden,
die Türkei gegen jeden sich aus einem Balkankriege möglicherweise ergebenden
Gebietsverlust auch fernerhin schützen zu wollen; die „neue Erwerbsgemeinschaft",
wie die Kölnische Zeitung treffend die Balkangegner der Türkei nannte, führte
umsonst Krieg, verdiente nichts aus ihrem Unternehmen. Angesichts solcher Tat¬
sachen dürfte eine gewisse Beruhigung auf dem Balkan um so eher zu erwarten
sein, je energischer die Hohe Pforte sich der Durchführung jener Reformen in
Albanien und Mazedonien zuwendet, die sie erst kürzlich von neuem ver¬
sprochen hat.
Der geneigte Leser wird aus obigen Ausführungen unschwer erkennen,
daß ich den eigenartigen Ernst der internationalen Lage auf dem Balkan in
ihrer Bedeutung für Deutschland durchaus zu würdigen weiß; er wird mir
auch zugeben, daß es kein Würfelspiel war, dem wir in der abgelaufenen Woche
zusahen, sondern eine grimmige Schachpartie, in der zwei ebenbürtige Gegner
schon Ritter und Königinnen gegeneinander einsetzten. Zug um Zug ward
gezogen: Bagdadbahn, Persien, Marokko, Tripolis, Schiffsgeschwader von der
Nordküste ins Mittelmeer, Armeekorps an der russischen Südwestgrenze, allgemeine
Mobilmachung auf dem Balkan; dazwischen wirkten Minister- und Diplomaten¬
gespräche wie Geplänkel unter den Bauern. Presse und Börse waren die Zu¬
schauer. Wer aber hätte es erlebt, daß ein Schachspieler je versucht, die Partie
durch den Faustschlag aufs Brett zur Entscheidung zu bringen?! Und doch
wird es im politischen Schachspiel immer und immer wieder gefordertI Wem
wäre denn ein Faustschlag von unserer Seite zugute gekommen? Doch nur
jenen Gegnern, die seit zehn und mehr Jahren darauf ausgehen, uns Schwierig¬
keiten zu bereiten und den Dreibund zu zerbrechen, dessen Vorhandensein es jedem
der drei Bundesgenossen ermöglicht hat, die. durch die geographische Lage
bedingten Hindernisse in dem Maße zu überwinden, wie es geschehen I Die
Partie ist einstweilen zu unseren Gunsten entschieden, rüsten wir für die nächste I
Um so eigenartiger muß es berühren, wenn sich immer noch Stimmen
finden, die aus dem Dreibund heraus gegen Dreibundmächte aufbegehren, wie
es z. B. von Zeit zu Zeit in Wien, aber auch in Norddeutschland geschieht.
Solche Stimmen finden bei uns besonders im nationalen Lager Widerhall,
weil sie berechtigter nationaler Besorgnis entspringen. In keinem Gebiet sonst
auf der Welt hat der Nationalitätenkampf solche Schärfe erreicht, wie auf
dem, das die Dreibundstaaten in Mitteleuropa bedecken. Was Wunder, wenn
gerade die Vorkämpfer des Deutschtums aus ihren Erfahrungen des Alltags
heraus glauben das nationale Prinzip in den Vordergrund rücken zu müssen,
wo doch reine Machtfragen der Wirtschaft zum Austrag kommen. Es handelt
sich in den nächsten Jahren nicht darum, ob der Sandschak von Slawen oder
Türken beherrscht wird. Schon jetzt herrschen dort Slawen und werden es auch
tun, wenn der Doppeladler einmal seine Fittiche über ihn breiten sollte. Die
Frage ging und geht um ein System, dem die Dreibundmächte ihre Welt¬
machtstellung zu einem bedeutenden Teile verdanken. Und wenn das Attentat
dagegen abgewendet werden konnte, so war dies möglich, weil letzten Endes
doch reale Interessen, wie solche gegenwärtig Frankreich die Politik diktieren
und nicht ehrgeizige Rivalitäten den Ausschlag geben. Die jüngste Krise hat
sich friedlich gelöst. Wenn die einmal zusammengeführten Reiche nun auch in
Zukunft fest zusammenstehen und den Kampf um nationale Kultur lediglich der
inneren Politik als Aufgabe überlassen, dann dürfen wir hoffen, daß allmählich
auch der Balkan aufhören wird, Sprengkammer der europäischen Politik zu sein.
le ein Götze, von dem noch einige Neste stehen geblieben sind, so
wird Luthers Bild vollends vor uns abgetragen. Der es tut. ist
ein Professor in Innsbruck, Mitglied der Gesellschaft Jesu, namens
Hartmann Grisar.*)
Ich habe im Kampf um Menschenliebe eine Wahrheit entdeckt,
die ich so ausspreche: Verstehen heißt mitschuldig sein. Jeder Gedanke ist eine
Tat; jedes Nachdenken ist ein wenn auch in Herz und Hirn zurückgehaltenes
nachtun; Sündlosigkeit ist ein leeres Wort und auch Jesus konnte keinem
verzeihen, ohne zuvor mit ihm zu sündigen.
Der Jesuit, der sich jahrelang mit Luther beschäftigte, hat sich also jahre¬
lang zu seinem Mitschuldigen gemacht. Daß er damit auch allen, die Luther
lieben, zum Freunde geworden ist, war mein erstes Gefühl. Dann überlegte ich
mir, wie er diese Gedanken, durch die er Tag für Tag lutherisch wurde, in
seinen Betrachtungen vor Gott verantwortet haben mag. Nachdem ich das
Buch gelesen, weiß ich es. Er hat nur die Ansätze der Geistesbewegung
Luthers mitgemacht, genau soweit, als die sogenannten sündigen Anwandlungen
auch im Kloster alltäglich und anerkannt sind. An dieser Grenze angekommen,
floh er entsetzt die Wege zurück, während Luther weiter geschritten ist, in ein
Land hinein, wo ihm kein Mönch folgen wird, ohne sich vor dem Richterstuhl
der Kirche zum Empörer zu machen.
Deshalb fühlen wir bei Grisar den Herzschlag Luthers nicht. Wir vermissen
sogar Empfindungen, die in der kirchenfreien Luft allmählich überall gediehen
sind; den geistigen Bestand, der sich in Goethe zusammenfaßt. Es ist erstaunlich,
wie man den Ausfall dieses Besitzes spürt. Bei Grisar sällt er wirklich aus und
seine Sprache macht deshalb auf uns weltlich Gebildete ganz erschreckend den
Eindruck der hilflos exerzierenden Armut. Weltlied ist ja Goethe und nicht
kirchlich, das ist wahr. Von ihm geführt glauben wir aber doch tiefer zu sein
und finden auf diesen Wegen auch Luther.
Doch Beichtzettelscherze sind die Sünden nicht, die der Jesuit mitmacht,
darstellt und flieht. Sie sind schwer genug, um alle Vertreter der öffentlichen
Sittlichkeit in unruhiges Aufmerken zu versetzen. Das scheint mir der Erfolg
dieses Buches zu sein, zu zeigen, daß Luther für die protestantische Kirche ebenso
unerträglich ist, wie für die katholische. Luthers Last ist der protestantischen
Forschung der letzten Jahrzehnte an manchem Kreuzweg zu schwer geworden und
man ließ ihn stehen, um eine erleichterte, ihm ähnliche Gestalt weiter zu tragen.
Die Summe dieser Erleichterungen ist erschreckend und es ist begreiflich, daß kein
Protestant denAntrieb empfand,siesv energisch zusammenzunehmen,wie dieser Gegner.
Das schönste Schmuckstück in den Augen der gläubigen Lutherbetrachtung
war von jeher die Geschichte seiner Bekehrung. Es ist so gut wie abgetan. Die
Findung der Bibel, dieser Geschichte Einleitung, ist längst zur Sage gemacht. Das
große Buch stand ihm nicht nur an der Universität zur Verfügung, sondern wurde
ihm auch beim Eintritt ins Kloster in rotem Leder überreicht, mit der Mahnung, er
möge fleißig darin lesen. Auch die Gnade Gottes war nicht vergessen. Wenn sie selbst,
— wie Grisar zugibt — in der theologischen Schullehre jener Zeit nicht mehr
lebendig genug durchklang, so schmeichelte sie sich doch und stürmte mächtig in den
Gebeten und Gesängen der Kirche in die Herzen, und überwältigte Sinne und
Verstand durch der Pfeiler Himmelshöhe, durch Halbdunkel, Weihrauch, Lichter
und den Gotteskuß am Hohen Tisch. Und auch die Tugenden waren nicht tot.
Zwar zog eine Welle der Lebenslust durch die Länder, die den Geist der Kirche
zurückdrängte und ihre Vertreter zu Zwittern aus Entsagung und Genuß machte,
damit auch den kirchlichen Handlungen die Fratze des Betruges ausdrückend. Aber
das waren doch alles nur Abweichungen vom uuangetasteten Tugendideal, das
gepredigt und geglaubt wurde, als Unterströmung wirkte und, wenn auch
zitternd, das gute Gewissen des menschlichen Lebenshauch noch trug. Das war
nicht viel anders, als wenn heute die Gedächtniskirche ihre schwache Hand über
den Westen Berlins hält und wie eine Selbstverspottung der Gesellschaft wirkt.
Dennoch klammert sich diese mit ihrem schwachen Gewissen an die Kirche und
läßt sich dort auch zu Pflichterfüllung treiben, die nicht wirkungslos ist. Aus
der Reformationszeit kennen wir ähnlich wie bei uns die schreiendsten Gegen¬
sätze am besten; wir denken beim Stuhl Petri an der Borgia Lust, davor dem
Teufel graust, und beurteilen nach solchen Bildern leicht die Allgemeinheit. Die
Kirche trieb aber unbestreitbar auch damals Bewegungen der strengsten Selbst¬
zucht und aufopfernder sozialer Arbeit, insbesondere im Mönchtum, aus ihrer
Kraft hervor. Diese Leistungen waren nicht anders, als die man bei uns
mit diesen Ehrennamen auszeichnet und wenn sie Luther Teufelswerk nannte,
so haben sich seine Nachfolger dem Recht des katholischen Widerspruchs auf
Grund ihrer eigenen Pflichtbegriffe nicht entziehen können. — Doch das Schmuck¬
stück bröckelt weiter. Die Bekehrung wird überhaupt nicht mehr anerkannt. Man
sagt sich, daß Luther von einem solchen Erlebnis nicht erst Jahrzehnte später,
sondern in den Jahren des Ereignisses selbst Hütte Kunde geben müssen. Diese
fehlt. Er spricht viel von seinen Ängsten und deren Wegnahme, aber nie von
der plötzlichen Erleuchtung durch ein Bibelwort. Noch ein Jahr vor dem Thesen¬
anschlag hielt er eine sehr ausführliche Vorlesung über den Römerbrief mit
lauter persönlichen Bekenntnissen; seit auch hier die Erwartungen, Hinweise zu finden,
enttäuscht sind, haben die protestantischen Forscher den alten Bekehrungshergang
vollends preisgegeben und ließen sich das Zugeständnis abnötigen, daß Luther
ein unsicherer Gewährsmann für seine Lebensgeschichte sei. So bleiben anscheinend
wenigstens die Ängste und deren Lösung und damit doch der echte Kern der
Bekehrung. Doch auch hier ist der protestantischen Forschung die Kraft gewichen.
Den Nahmen der Nöte bilden die übermenschlichen Anstrengungen Luthers und
die Unerfahrenheit seiner Seelsorger. Nun läßt sich aber mit der Elle nicht
beweisen, daß Luther mehr tat, als andere und beweisen läßt sich, daß seine
Beichtväter wohlwollende Männer waren, die ihm die Lehre von der göttlichen
Nachsicht vor Augen stellten. In Anerkennung dieses Sachverhaltes kam es dann
zu dem schmachvollen Rückzug auf protestantischer Seite, daß Luthers Anfechtungen
für die bedauernswerten Zustände eines Kranken erklärt werden. Weil er körperlich
krank war, krankte sein Geist; weil er Arterienkrämpfe hatte, bildete er sich die
düsteren Vorstellungen vom göttlichen Zorn aus und wenn die Krämpfe sich
lösten, fühlte er sich in der Gnade. Hausrath hochgehaltene Lutherbeschreibung
stellt seine Geschichte auf diese Grundlage; sie wurde von keiner Verehrung in
Stücke gerissen, sondern stillschweigend oder mit Zurückhaltung gebilligt und heute
kann der katholische Gegner mit diesen Angstzuständen nach Belieben Ball spielen,
bald in wohlwollendem Mitleid, bald in Grauen vor dem Teufel, den er stück¬
weise in Luther zeigt. Er fühlt sehr deutlich, daß damit der Held des Pro¬
testantismus verraten ist und hat die Bahn für eine Entwicklungsgeschichte aus
frommem Übereifer, falschem Glauben, ungenügender Bildung, berechnendem Ehr¬
geiz, verstiegenem Trotz, wütender Selbstbehauptung bei Luther frei. Besonders
im Punkte der Bildung haben protestantische Forscher wieder beschämt die Segel
gestrichen. Sie lassen sich überreden, daß Luther zur Änderung seines Urteils
über die Scholastik gekommen wäre, wenn er den heiligen Thomas aus wirklichen,
Studium gekannt hätte. Es ist kein Wunder, daß Grisar auch von dieser An¬
erkenntnis den freiesten Gebrauch macht. Seine fachmännische Gespreiztheit
gegenüber dem berühmten Dilettanten wirkt zwar ergötzlich, aber den Schein der
Gelehrsamkeit hat er für sich. Der Glaube an Luthers göttliche Sendung ist
zwar weder durch katholische noch protestantische Gelehrte zu töten; aber, das
läßt sich ersehen, die evangelische Kirche kennt diesen seinen Gott nicht. Der
ihrige war damals keineswegs unbekannt und hätte keines neuen Propheten
bedurft. Darum wissen ihre Vertreter mit den Bekenntnissen Luthers von seinen
Wandlungen nichts Bestimmtes anzufangen und müssen sich das von den Katholiken
bestätigen lassen.
Grisar braucht aber nur weiter zu greifen, so findet er nicht nur ein Schmuck¬
stück im Staube, sondern im Herzen Luthers die Wunde von den eigenen Freunden.
Schon Melanchthon hat ihm die Wahrheit seiner Wahrheiten nicht geglaubt und
ist zu den Gegnern zurückgekehrt. Dasselbe hat auch Albrecht Ritschl getan und
weder ein Konservativer noch ein Liberaler darf predigen, was Luthers Haupt¬
lehre gewesen ist. Luther hat den freien Willen geleugnet. Alle Deutungs¬
versuche, die das bestreiten möchten, sind gescheitert. Er hat ihn geleugnet von
der Betätigung höchster Gottesliebe bis zur Vollbringung der einfachsten körper¬
lichen Handlungen. Wenigstens fand er keinen Punkt, an dem er die Freiheit
einstellen konnte, und er entzog sich denn auch nicht der letzten Folgerung, daß
es mit der Vorstellung körperloser Geistigkeit wohl überhaupt nichts sei.*) über
diese letzten Gänge seines Gedankens mag sich streiten lassen; Grisar braucht auch
nicht so weit zu gehen. Denn sicher ist, daß Luther Gott für den Täter aller
Sünden und die höllische Verdammnis für unausweichlich erklärt hat, und daß
er sagte, sündigen sei recht getan und die Bereitschaft zur Hölle sei der Haupt¬
beweis sür die Frömmigkeit.**) Es ist selbstverständlich, daß Luther bei solchen
Sätzen nicht mehr an den Gott im Jenseits denkt, sondern an die allwirkende
Weltkraft, vor der es nur Tatsachen, keine Schulden gibt. Diese Kraft war
wohl Luthers Gott und dieser Glaube das Treibende in allem Protestantismus,
aber die protestantische Kirche wurde auf dem Boden des Katholizismus
gegründet. Kein überraschenderer Beweis dafür, als die Übereinstimmung
zwischen Erasmus und dem Begründer der heutigen liberalen kirchlichen
Theologie des Protestantismus. Was in Erasmus' Schrift >,vo libero arbitno",
der Kampfschrist gegen Luther, steht, das ist der ganze Ritschl. Die protestantischen
Theologen gingen von Anfang an mit Scheu um diese Bekenntnisse Luthers
herum und es ist einigermaßen gelungen, sie als verunglückt und durch die
Fragestellung eines Augenblicks gegeben hinzustellen. Aber Grisar brauchte
nur die Tatsachen zu lassen, wie sie sind, um der protestantischen Kirche einen
Luther vorzuhalten, der in das Lager ihrer materialistischen Gegner gehört.
Pflicht und Verantwortung vor Autoritäten, die über das Natürliche hinaus¬
gehen, sind selbst gefallen. Grisar hat auch nicht gezögert, diese Lehre als
das Durchgehende und eigentlich Neue in allen lutherischen Gedankenbildungen
erkennen zu lassen. Es ist nicht zu leugnen, daß er damit recht hat.
Der Lehre entsprach bei Luther das Leben. Was Grisar für den Wahr¬
heitsbeweis an diesem Punkte irgend einsetzen konnte, das hat er eingesetzt.
Denn damit geht es erst vollends an den Wert der Persönlichkeit. Über den
Sinn undeutlicher oder die Tragweite verunglückter Lehren wird sich immer
streiten lassen. Das übrige Verhalten erst muß sie ihres gefährlichen Charakters
entkleiden oder ihn erhärten. Grisar sügt Ring sür Ring eine Kette, die Luther
erdrosseln soll.
Das Schlimmste ist in seinen Augen die Heirat. Sollten nun nicht hier
endlich Luthers gleichfalls verheiratete Nachfolger in der Lage sein, seine Tat
zu der ihrigen zu machen? Man sollte es glauben, und es fehlt auch nicht
am Preis des protestantischen Pfarrhauses. Aber Grisar sängt sie mit dem
Witz des Simplizissimus. Der protestantische Pfarrer heiratet, wie er sagt, aus
sittlicher Pflicht, nicht ans sinnlicher Lust, und wirkt durch diesen Gegensatz
lächerlich. Es blieb uicht aus, daß auch Luthers Ehe ausschließlich nach der Pflicht¬
seite bearbeitet wurde, und seine Worte scheinen das Recht dazu zu geben. Er
wollte ja dem Teufel, ehe er stürbe, noch ein Spiel anrichten und sollte es auch
nur eine verlobte Josephsehe sein, weil er es nicht wagte, ohne die gottgewollte
Ergänzung durch ein Weib zum jüngsten Gericht zu kommen*). Aber wenn
man seine sämtlichen Erwägungen über die Verbindung mit einem Weib über¬
sieht, so findet man ausschließlich den Gedanken des Naturtriebes und in einer
Deutlichkeit, die fromme Ohren in die Flucht treibt. Sein Pflichtgesetz ist die
Lust. Das stimmt, denn Gott, das weiß er, wohnt in den Körpern. Wer
meldet denn sonst seine vollzogene Trauung mit den Worten: Um Warnungen
durch meine Freunde auszuweichen, „bin ich der Bore eiligst beigelegen" ? Diese
einzige Äußerung ist das Lachen des Erdgeistes auf alle Anstrengungen der Ausleger
zugunsten des übersinnlichen Pflichtgesetzes, und die Protestanten, die Gott und
Pflicht bei Luther so schmerzlich mißverstanden, werden zur Gefolgschaft des
Katholiken. Grisar läßt es sich nicht verdrießen, diesen Zusammenhang zwischen
Lehre und Leben bei Luther an allen Punkten aufzuspüren, wobei er sehr deutlich
herausarbeitet, daß Luthers Nachdenken während der Wartburgzeit sich fast ganz
als Auseinandersetzung mit dieser Hauptangelegenheit kund gibt.
Der Naturalist der Frauenliebe war er, wie sich denken läßt, in allem.
Und in allem verrät ihn seine Sprache. Man nennt sie im Protestantismus
unfein, derb, barbarisch, zynisch. Grisar versäumt nicht, sie auch gemein und
schmutzig zu nennen und kann peinlich schweigenden Zugeständnisses sicher sein.
Luther redet auch ungereizt selten ohne starke Natürlichkeiten; seine Kampf¬
schriften aber schwelgen in Tiervergleichen und Stoffwechselgefühlen. Die Tat-
sache dieser Sprache, die heute niemand über die Lippen bringt, nötigt seiner
Person gegenüber zu einer Entscheidung. Sie ist nicht ein Fleck im Bilde, sondern
des Bildes Seele. Mit Beschwichtigungen und Vorbeigehen ist es deshalb nicht
getan. Diese fessellose Sprache in ihrer Schönheit und ihren Verzerrungen ist
ein fortwährender Gesang der befreiten Natur und eine immer lebendige
Anerkennung des Gottes der Welt. Wer den nicht will, muß auch Luther
und seine Sprache ganz und gar und damit den stärksten deutschen Geist von
sich abtun.
Fehlen nur noch die Peinlichkeiten, die aus Luthers Stellung zur pro¬
testantischen Kirchengründung hervorgehen. Er hat weder Gründungsgesetz noch
Ausführungsgewalt anerkannt. Die Bibelauslegung macht er vom Gottesgeist
abhängig und diesen hält er weder an Person noch Amt gebunden. Das ist
Anarchismus. Jeden Tag soll über die Geister neu gekämpft werden und
nichts über Führer und Einrichtungen entscheiden, als die freie Übereinstimmung.
Die Macht aller Kirchenbehörden, Kirchenordnungen oder Bekenntnisse ist ihm
nur rein tatsächlich. Eine göttliche Zwangsgewalt gibt es nicht. Alle
Bemühungen, aus diesen Gedanken das göttliche Recht irgendeiner jemals zu
gewinnenden Kirchenbildung, vollends etwa der heutigen Landeskirchen, zu
gewinnen, sind vergebens. Immer können nach Luthers Wort zwei fromme
Männer kommen, die in göttlicher Kraft eine bessere Kirche darstellen. Grisar
arbeitet dieses Empörerbild als Gegensatz zu den Anschauungen evangelischer
Oberkirchenräte bewußt heraus. Er braucht kaum hinzuzufügen, daß die kirch¬
lichen Änderungen nicht Luthers Antrieb entsprangen, daß Luther überhaupt
weder Schöpferkraft noch Freude in diese Gebilde hineingelegt hat, um ihn und
die nach ihm benannte Kirche als fremde Geister sich gegenübertreten zu lassen.
Und selbst um die politische Ergebenheit stand es nicht so wohl bei Luther,
wie es die Kirche immer von ihm gerühmt hat. Er war ein Königsanbeter,
das ist wahr. Weil er Gott im Sichtbaren verehrte, so war ihm die irdische
Gewalt Gottes erste Dienerin. Er versprach ihr den Himmel und scheute sich
nicht, sie in der Revolutionszeit im Namen seines Gottes zum Hauen, Stechen,
Würgen aufzufordern. Aber wehe ihr, wenn eine Gewalt gegen das Gebot des
Weltlaufs sich stemmen wollte! Er schrie schon 1515/16, selbst wie ein Revo¬
lutionär, nach dem natürlichen Recht; er achtete Fürsten, die es weigern
wollten, wie Buben und riß eine Königskrone in den Mist. Auch hier galt
ihm als einziges Gesetz die Gotteskraft, für die er weder Herrscherhaus noch
Verfassung als Bürgschaft anerkannte. Er war Königsanbeter und zugleich
Anarchist. Auch die politische Gewalt hielt er nur für eine tatsächliche; sie
sollte sich mit aller Kraft als Zwangsgewalt menschlichen Rechts behaupten,
aber nie ließ er sich einen Zwang zum Zwange gefallen. An eine göttliche
Gewalt glaubte er in keiner menschlichen Regierungsform und machte kein
Hehl daraus, daß die Rechts- und Eigentumsbegriffe, wie sie damals
anerkannt wurden, seines Erachtens auf gottloser Grundlage ruhten. Er brachte
das in unbeholfenen, aber unverkennbaren Ansätzen zum Ausdruck. — Es kann
nicht fehlen, daß Grisar auch den Politiker Luther den bestehenden Gewalten
zur dringenden Beachtung vorstellt. Die katholische Kirche ist zwar als ganze
politisch auch anarchistisch; aber ihre Autoritäten gewähren den politischen, die
ihre Bedingungen annehmen, doch so lange Rückhalt, als sie selbst ihre An¬
erkennung behaupten. Für den Augenblick zum mindesten scheinen die Staats¬
gewalten bei der katholischen Lehre zu gewinnen und Luther scheint für die
Aufrührer auch unserer Tage die Waffen zu liefern. Darum präsentiert Grisar
die Grundsätze der katholischen Kirche als Rettung vor Luther in demselben
Sinne, in dem sie der letzte Katholikentag als Rettung vor der Sozialdemokratie
anbot.
So schreitet Grisar durch Luthers Leben mit dem Sünden- und Tugend¬
maßstab beider Kirchen. Er mag sehen, auf wen er damit wirkt. Unsere Auf¬
gabe ist es hier nicht, die Lebensbäche zu erschließen, die in Luthers Gottes-
findung zum erstenmal finden. Er fand, wie schon angedeutet, den Gott, der in den
Körpern wohnt, und darum wurde ihm alles neu. Der unsinnliche Gott erwies sich
ihm, wie das Wort es sagt, als sinnlos; der Gott der Welt erfüllte ihm, was
die religiösen Vorbildes der Vergangenheit beschrieben. Das hindert die Pro¬
testanten am Verständnis, daß sie von neuen Glaubenserfahrungen Luthers reden
wollen und nicht von einem neuen Gott. In das Glück dieses Glaubens ist
Grisar nicht hinabgestiegen; aber dazu hat er es gebracht, den Protestanten ihre
ganze Hilflosigkeit an ihrer entscheidenden Kirchenlehre, dem Rechtfertigungs¬
dogma, zu zeige«. Es hilft alles nichts. Kein Protestant hat bis heute erklärt,
was bei der Rechtfertigung vor sich geht. Zuerst bin ich Sünder und dann
ein Gerechter: was ist dabei an mir für eine Veränderung vorgegangen? Hier
liegt der Schlüssel des Lutherverständnisses. Die Theologie spricht vom ein¬
fachen Hinnehmen der Gnade. Aber sie bleibt die Erklärung schuldig, wie es
geschieht, daß durch dieses Nehmen der Mensch, der ein Sünder war, nun ein
Gerechter wird. Man muß eine Veränderung bei Luther erkennen, sonst fehlt
an der Einsicht in das, um was er im Grunde den Kampf seines Lebens führte,
nicht weniger als alles. Grisar fand die Antwort auch nicht; aber die Pro¬
testanten müssen es sich gefallen lassen, daß er über die Theorie der von ihm
als rein äußerlich bezeichneten Gnadenzurechnung den ganzen Spott scheinbarer
Überlegenheit ausgießt. Sie ist ihm das Verzweiflungserzeugnis eines verwirrten
und im Trotz versteiften Kopfes. Die Protestanten halten dem immer das
unbeirrbare Gefühl entgegen, daß auf der Gegenseite niemand weiß, was Gottes
Gnade ist. Sehr richtig; sie brauchen bloß weiter zu schließen, daß infolgedessen dort
niemand weiß, was Gott ist. Brachte also Luther eine neue Gnadenlehre, so
brachte er die Lehre von einem anderen Gott. Solange der Protestantismus
am Urgott des Katholizismus festhält, kann er auch keine wirkliche Gnaden¬
lehre gewinnen, muß es sich aber sagen lassen, daß nach seinem Verständnis
von Luther und Paulus Gott weiter nichts als einen Spaß mit sich macht,
indem er zuerst die Zorneswolken und dann den Gnadenblick zeigt, ohne irgend¬
welchen Anlaß.
Damit ist der wesentliche Gehalt der Grisarschen Arbeit wiedergegeben
Unserem Bericht ist nur der erste Band aufgegeben, aber er enthält schon alle
wichtigen Gedanken. Luther hätte bei einer Unternehmung, wie der Grisarschen,
gesagt: ich will dem Eselskopf seinen Rotz um die Nase schmieren, — Grisar
meint, daß „ehrliche Wahrheit und historische Gerechtigkeit schließlich unter der
weiten Sonne doch für jeden noch so heiklen historischen Gegenstand einen Platz,
wo er sich ungefälscht beleuchten läßt, wird finden müssen" (S. IX). Luthers
Wendung wäre mir ansprechender erschienen. Grisar hat seinen Gegenstand
gar nicht an irgendeinen bisher unbekannten Platz unter der Sonne gezogen,
sondern einfach vor das Auge der katholischen Kirche, seiner Gegnerin, genau
wie sein Vorgänger Denifle, nur weniger blind für die möglichen Zugeständ¬
nisse. Wozu also das irreführende Wort vom Platz uuter der Sonne und von
der ungefälschten Beleuchtung?
Es bleibt uns die Aufgabe, den Hauptabschnitten des ersten Bandes zu folgen.
Er führt von Luthers Anfängen bis zum Augsburger Reichstag des Jahres 1530.
Was von der Abstammung und Kindheit Luthers bekannt ist, berichtet
Grisar nur andeutend. Er ließ sich durch die Betrachtungen, mit denen
Arnold Berger vom Einfluß des Blutes und der Umgebung spricht, offenbar
nicht überzeugen. Eine Aufgabe wäre ihm aber doch mit Bestimmtheit gestellt
gewesen. Er teilt selbst mit, daß Eltern und Prügelpräzeptoren den Knaben
scheu machten. Woher nun hatten sie die dazu nötigen moralischen Über¬
zeugungen? Ihre Art entsprach nach Luthers Aussagen dem, was er später
von Kirche und Kloster zu erfahren bekam. Es waren Zumutungen ohne
Lebensgehalt, weil hinter ihnen kein Gott stand. In welchem Verhältnis stehen
heute die fruchtbaren Erziehungsweisen zu denen des Jesuitismus? Herrscht da
nicht der Gegensatz von Lust und Zwang, gegründet auf den tieferen von Natur
und Unnatur? Ist es also glaublich oder nicht, daß Luther schon in seiner
ertötenden Erziehung den Schaden der Kirche zu fühlen bekam und sällt auf die
Art dieses Schadens nicht ein scharfes Licht?
Für den Eintritt ins Kloster gibt er die altbekannten Veranlassungen.
Das Gewitter bei Stotternheim mit den: Blitzschlag, der an Luthers Seite
niedersuhr, steht im Mittelpunkt. Arnold Berger fühlt sehr tief heraus, daß
der Geist der Natur zu allen Zeiten die echte Gottheit war und hier einen
seiner Söhne geschüttelt hat, bis er willenlos sein Knecht wurde. Luther ist
damit ins Urzeitlich-Riesenhafte gerückt und erscheint in dem großen Augenblick
aus seiner übrigen Geschichte herausgerissen. Berger hätte aber zeigen müssen,
wie Luthers Geist sich in der Studienzeit auf ein solches Erlebnis vorbereitete
und wie seine spätere Gottesverehrung dazu stimmte. Grisar hat die Aufgabe
einer Erklärung überhaupt liegen lassen. Die Herbeiziehung der immer ver¬
wendbaren krankhaften Ängstlichkeit und der allgemeine Hinweis auf ein von
Haus aus tiefes Naturell besagen nichts. Und doch ist klar, daß mindestens
eine brauchbare Vermutung an diese Stelle gesetzt werden müßte. Luther war
Studierender der Philosophie und angehender Jurist. Sein Herz dachte nicht
an Kirchendienst. Und nach vier Jahren des Studiums war er fertig zum
Niederbruch. Wieviel junge Erfurter Juristen mit bestandenen Vorprüfungen,
gesellschaftlichen Ansehen und wohlhabenden Elternhause hätte wohl ein Blitz
ins Kloster gebracht? Was war bei ihm also Besonderes? Nichts anderes,
als die niederschmetternder Eindrücke des Universitätsstudiums. Wo andere
fröhlich oder schimpfend paukten, da mußte er aufhören, weil er erstickte. Sagt
mir doch, so fleht er, um Gotteswillen nur überhaupt was ein Ding ist,
aber so, daß ich damit leben und denkend die Welt nachfühlen kann! Aber
ihr steht stumpfinnig vor dem Schauspiel der Welt und fühlt nicht, wie die Tier-
und Menschheit leidet und nach Lösung schreit. Luther schrie um Liebe zu
der Wissenschaft und da sie seinem Gefühle unangreifbar blieb, warf er sich
lechzend vor die Speise der anderen großen Lebensspenderin, der Kirche. Was
war das anderes als Gottsuchen schon in der Wissenschaft? Wie beleuchtet
das die Art und die Allgegenwart seines Zwanges zu Gott! — Das alles
hätte Grisar aus dem Buch entnehmen können, dem er ein Drittel seiner sieben¬
hundert Seiten widmet, Luthers Nömerbrieferklärung aus den Jahren 1515/16.
Diese Erfahrungen waren es, die sein Urteil über die Scholastik bestimmten.
Grisar glaubt, im Heiligen Thomas hätte Luther Erquickung gefunden. Er
wird sich damit irren. Leben, wie Luther es brauchte, hatte Thomas ebenso¬
wenig wie Okkam oder Gabriel Viel. Luther suchte den Pulsschlag der Welt
und nicht die Irrungen nach einer eingebildeten Nicht-Welt.
Der Humanismus versprach wirkliches Leben, hielt aber zuletzt auch nicht
stand, weil Erasmus und die Seinen sich doch vor dem frostigen Nichts des
Kirchenglaubens beugten. So erklärt sich Luthers Zuneigung zu dieser großen
Neben- und Neuerscheinung in der geistigen Nährwelt und sein Bruch mit ihr.
Grisar zeichnet Luthers Stellung zumHumanismus unsicher, weil er nicht sehen kann,
wie bestimmt Luther von Anfang an bei den Humanisten dasselbe vermißt hat,
wie bei den Mönchen und Priestern: einen Gott. Er sieht deshalb nur eine
Annäherung Luthers an die ihm geistverwandten Zerstörer des Kirchen glaub eus
und daß sie ihn fallen ließen, als er Pflicht und Gewissen leugnete und Re¬
volution und allgemeine Sittenlosigkeit seine Spur zu zeichnen schienen. Tat¬
sächlich äußerte Luther von Anfang an starke Bedenken, die Grisar aber nicht
wertet. An dieser Stelle, vor Luthers Eintritt ins Kloster, sucht man die
Schilderung von Scholastik und Humanismus, fest gestaltet an dem Punkte, wo
sie in Wirkung treten. Bei Grisar zerfließt diese und die folgende Entwicklungs-
fchilderung in eine Wirrsäligkeit von Elementen und Vorelementen und endlichen
Ereignissen, bald mit sachlichen Zusammenstellungen, bald in chronologischer oder
quellenkritischer Auflösung, und wirkt oft nur noch wie ein Haufe Sammelbogen.
Überall findet man Stücke, nie die ganze Meinung.
Die Wissenschaft hatte keinen Gott, weil die Kirche keinen hatte. Diesen
Zusammenhang sah Luther zuerst nicht, suchte Gott im Kloster und kam hier dem
Mangel auf den Grund. Man wies ihn, wie nicht anders möglich, auf das
unsinnliche Nichts, von dem beide Kirchen reden. Er fühlte, daß es keinen
Hauch ertrage und wollte sich ihm ohne sinnliche Empfindung geben. Je tiefer
er aber in sich hineinsah, um so aufgeregter wurde er. Und als er im Schrecken
über sich selbst zerbrechen wollte, da erlebte er den Schwindel dieser Gotteslehre.
Sein Glaube schlug um zu der Wirklichkeit. Die Sinne wurden Gottes Greifer.
Er sah die Lüge der Entsinnlichung, die sich in die Ecke einer Zwischenzustands¬
lehre zwischen sinnlich und unsinnlich bis zum heutigen Tag geflüchtet hat und
den Katholiken zumutet, ihr Atmen und Essen und Lieben, kurz des Menschen
Körperlichkeit, die alles ist, als gleichgültig anzusehen und ihr Wesen zu leugnen,
um von Schuld frei zu sein. Die Empörung über diese Falschheit und
die Rückführung des Menschen zur Wahrheit seines Wesens und seiner Götter
wurde Luthers Lebenswerk. Grisar setzt ihm ohne Scheu die Ausrede seiner
Schullehre entgegen. Die ergreifendsten Kämpfe und Siege, die rührendsten
Klagen Luthers prallen an dieser Stirn ab. Luther weiß von Zeiten, wo
ihm vor Pein das Augenlicht ausging. Kann das jemand von einem jungen
Menschen lesen, ohne gebannt zu sein und wenigstens das Leiden zu verehren?
Grisar aber nennt das Bekenntnis einen „Erguß", den Luther „einmal zu einer
Zeit, da er sich innerlich gepreßt fühlen mußte, einfließen ließ." (Seite 53.) Uns,
die ihren Geist nicht nach der Vorschrift abgetötet haben, erscheint solches Vor¬
übergehen als herzlos. So hätte Luther nach der Meinung dieses wohlbestehenden
Mönchs auch werden sollen, und daß er das nicht wollte, wird ihm zum eigentlichen
Vergehen gemacht. „So oft und so viel er auch von diesem verworrenen Geistes¬
gang im Kloster redet, man erfährt nicht, daß er sich auf innere Verdemütigung und
auf kindliches vertrauensvolles Gebet, um den Ausgang zu finden, verlegt hätte."
(Seite 13.) Nein, aber wenn er betete, so sprach er Auge in Auge mit Gott. Nur
war das Herz oft zu schwer. Es verlege sich einer auf Goethe, um ein Dichter
zu werden! Wahrscheinlich bleibt er beim Notwcintrinken. Es verlege sich einer
auf gedruckte Worte, um ein Beter zu werden! Am wahrscheinlichsten wird er
ein Betrüger. Das ist der Geist dieses Lutherverständigen fast Seite für Seite.
Nicht einmal die zartesten Selbstanklagen, die gewissenhaftesten Zweifel Luthers
am eigenen Werk machen Eindruck. In aller Welt nimmt man sonst an, daß
Selbstvorwürfe der Weg zur Besserung sind. Grisar dagegen quittiert sie dankend
mit der Bemerkung, daß der Angeklagte sich offenbar richtig gezeichnet habe. So
bleibt ihm Luthers Entwicklung begreiflicherweise verworren; nur die Abweichungen
von den Zwangsgewalten in Lehre und Leben kommen scharf heraus. Der
allwirkenden Kraft gegenüber gibt es nicht Zustimmen und Ablehnen, sondern nur
Erleben. Aber das Lebensgefühl erleidet Hemmungen. Wir machen sie nicht
selbst und lösen sie noch weniger. Beides kommt über uns, und kein Augen¬
blick, in dem wir über unser künftiges Schicksal etwas sagen könnten.
Dies sind die einfachen Grnnderfahrungen für Luthers Hauptlehren. Wir
sind nichts als Naturgeschöpfe: also jubeln wir, daß wir nicht für uns selbst
verantwortlich sind, sondern daß wir gehen, wie wir müssen und dürfen, wie
wir können! Daraus wurde Luthers Lehre von der Notwendigkeit alles Geschehens,
die in Kampfstellung gegen das Überlieferte eine so seltsame Gestalt annahm.
Er wie auch Calvin offenbaren sich durch diese Lehre als die Söhne des Zeit¬
alters der Naturerweckung, in deren Auswirkung sich bis heute unsere Geschichte
bewegt. Keiner befreit sich selbst von den Hemmungen, sondern die Neueinstellung
der Sinne kommt über ihn durch Wirkung von außen. Dieses Erlebnis heißt
die Rechtfertigung allein aus Gnade. Eine wirkliche Gerechtwerdung ist es,
denn die Hemmung hört auf und der Mensch wird besser; aber nichts ist es
als ein Gesunden aus dem unbekannten Vorrat des Lebens. Gesundet aber
wirkst du mit erneuter Kraft: du gehst über von Liebe. Gesunden selbst aber
ist Fassen, Loben, Glauben im ursprünglichsten Sinne. Der Augenblick der Neu¬
einstellung ist völlige Gewißheit: Heilsgewißheit; der Übergang durch nichts zu
erzwingen, Störungen immer zu erwarten: Heilsungewißheit, Mut zur Sünde,
Bereitschaft zur Hölle. Das Gesunden verbreitet sich von Person zu Person,
beginnend nach Luthers Glauben bei Jesus: Jesus der Gottesvermittler. —
Grisar läßt sich in diese Empfindungen nicht hineinreißen und Luthers Haupt¬
lehren sind ihm deshalb nichts als Wahnsinn, geboren aus einem von Natur
unglücklichen Geist und zur Reife gebracht durch sittliche Selbstaufgabe. Er zeigt
Mitleid und Erschrecken, aber die Hauptsache ist, daß er anklagt, höhnt und verachtet.
Viel Vergnügen macht ihm das von ihm sogenannte Turmerlebnis und
man würde ihm etwas nehmen, wollte man es unterschlagen. Er hat mit viel
Erfolg nachgewiesen, daß Luther für seine neue Stellung zu Gott den Begriff
des Glaubens nicht sofort, sondern erst etwa im Jahre 1518 gewann. Und
nun erscheint es nach guten Zeugnissen glaubwürdig, daß Luther diesen wunder¬
vollen Handgriff für sein Gefühl gewann — auf dem Abtritt. Es ist Grisars
eigene und eine durchaus wertvolle Entdeckung, zu der er sich klug einer Er¬
läuterung enthält. Man hört bei dieser Geschichte nicht nur das Lachen, sondern
die Trompete des Erdgeistes. Die heiligste Entdeckung eines Menschengeistes
muß in dieser natürlichsten aller Befreiungen entstanden sein! Und Luther, der
Urmensch, erzählt das mit Behagen wie einen Fingerzeig, was Gottesdienst seil
Nur noch zwei Kabinetstücke jesuitischer Verdrehung, der gern zugestanden
wird, daß sie unbewußt geht. Das erste ist die Schilderung von Luthers Nom¬
reise. Was damals in Rom zu sehen war, das lese man, wo man will; es
steht überall. Und Luther nahm Anstoß. Aber wer war schuld? Nicht das
unheilig-heilige Rom, sondern sein ungefestigier, aufs niedrige gerichteter Sinn.
— Wer ist schuld, wenn ein katholisches deutsches Mädchen sich in einer ita¬
lienischen Stadt nicht auf die Straße traut wegen der frechen Blicke der Pfaffen?
Ohne Zweifel die Bionda, da sie auf die Blicke der frommen Väter sieht, statt auf ihre
Gewänder. In solchen Fällen könnte die Schuldfrage doch mindestens unerörtertbleiben.
Noch geschickter ist die Schilderung von Luthers Stellung im Observanten-
streit der Augustinerkloster. Zweifellos ist sein Übergang zu der Gegenpartei
ein entscheidendes Ereignis seines Lebens gewesen. Was man davon wissen
kann, ist nur, daß die Wendung im Zusammenhang mit der Wendung zu den:
neuen Gott steht. Grisar aber versteht es durch Andenken und Zurücknehmen
den Eindruck zu erwecken, daß Luther seine Überzeugung für Staupizens Gunst
und den Wittenberger Lehrstuhl aus Streberei und ehrgeiziger Berechnung
gewechselt habe. Er bringt es dahin, daß diese Gewissenlosigkeit und ihre Ver¬
teidigung als eine der wichtigsten Triebfedern für die Gotteslehre des jungen
Luther Hervortritt. „Eine Fortsetzung des früheren Widerstrebens gegen Staupiz
konnte ihm nur hinderlich sein. Doch das Nähere über die eigentümliche
Schwenkung ist nicht bekannt." So wird zugleich ein häßlicher Verdacht aus¬
gesprochen und die Verantwortung abgelehnt. — Will man Ähnliches sehen, so
lese man den Abschnitt mit der Überschrift: „Die böse Begierlichkeit unwider¬
stehlich?" Es heißt: „Bei Luther wurde angenommen" (von früheren Erklärern),
„daß er durch gewohnheitsmäßige sittliche Vergehen, durch beständiges Nachgeben
gegen die Begierlichkeit des Fleisches sich im Zustande vollständiger innerer
Verrottung befunden habe. Nun läßt sich aber nichts anderes über sein ethisches
Verhalten vor dem Umschlag seiner Lehre anführen, als was oben dargelegt
ist. Freilich besitzt die Geschichte kein allwissendes Auge wie der Eine, der
Herzen und Nieren durchforscht; jedoch für uns sind die historischen Argumente
für jene Behauptung von größter innerer Verrottung, nämlich Texte und Tat¬
sachen, die jeden überzeugen müssen, nicht vorhanden. Wenn Luther die vor¬
ausgesetzte Stärke der Begierde lehrte, so konnte er hierzu auch auf anderem
Wege gelangt sein, als bloß durch fortgesetztes Fallen. Sicher ist es nicht bloß
die eigene traurige Erfahrung, welche zu großen Abirrungen des Urteils Ver¬
anlassung geben kann." (S. 86 f.) Der Leser deute sich die Absicht der von
mir hervorgehobenen Worte, um zu erkennen, was hier ausgesprochen und was
gemeint ist. — Oder man beachte endlich, mit welchem Nebenton Spalatin
fortwährend als der Hofmann im Priesterrock bezeichnet ist und wie Luthers
Benehmen seinen Fürsten gegenüber trotz aller Gegengründe beharrlich auf die
Linie der höfischen Berechnung herabgezogen wird. Das alles sind Unredlichkeiten,
ohne die sich Luthers Bild nun einmal auch für Katholiken nicht so rettungslos
vernichten läßt, wie es Grisar versucht hat. Ob sie absichtlich oder im unbewußten
Trieb geschehen, ist, das sei nochmal betont, für ihren Wert belanglos.
Luther fühlte sich mit allen großen Frommen der christlichen und jüdischen
Vergangenheit im Einklang. Er wird Recht haben; es wird so sein, daß alle
religiöse Kraft in jedem Gewand aus der Natur gesogen wurde. Nur steht
Luther an Entschiedenheit über allen und wir dürfen ihn getrost allen
Neligionsbringern aus fremdem Blute an die Seite stellen.
le Ähnlichkeit der römischen und der preußisch-deutschen Geschichte
hat schon oft Anlaß zu politischen Vergleichen gegeben. Im folgenden
wollen wir gewisse volkswirtschaftliche Analogien betrachten.
„Die ersten dreißig Jahre des zweiten Jahrhunderts v. Chr.
(Niederwerfung Karthagos in der Schlacht bei Zama 202 v. Chr.)
bildeten für Italien eine jener glücklichen Epochen, wo auch einer, der mit
wenig Kapital anfängt, ein Vermögen erwerben kann, weil Produktion und
Konsum mächtig und zu gleicher Zeit sich steigern, wo es Arbeit in Fülle und
mühelosem, reichen Verdienst gibt, wo sich leicht, schnell und in hohem Maße
die Ansammlung von Kapital vollzieht." (Guglielmo Ferrero: „Größe und
Niedergang Roms".) Auch Gründerjahre, wie bei uns nach dem französischen
Kriege, und Spekulationen in ländlichem und städtischen: Grundbesitz fehlten
nicht. Vor allem aber hob sich das eigentlich kaufmännische und überseeische
Geschäftsleben. Dieses stand in einem Zusammenhange mit dem Staat und
dem Staatsleben, wie er uns heute schwer verständlich ist. Infolge des
Fehlens jeder fest angestellten und besoldeten Beamtenschaft blieben überaus
viele Aufgaben, die wir heute als unbedingt staatliche ansehen, der Privat¬
unternehmung überlassen. Fiskalische Regieverwaltungen scheint es fast gar
nicht gegeben zu haben; selbst Steuerveranlagung und -erhebung (in den
Provinzen, Italien selbst wurde bald steuerfrei) spielte sich zum großen Teil
im Rahmen privater Unternehmung ab. Es soll damals in Rom so viele
Staatslieferanten und Lieferungsgesellschaften gegeben haben, daß man beinahe
sagen konnte, alle römischen Bürger hätten an diesem Geschäftszweige teil¬
genommen. Rom muß damals von einem Taumel nach Geld und Besitz
ergriffen gewesen sein. Man muß sich vor Augen halten, daß im Altertum
die Erschließung eines neuen Landes durch seine Eroberung vollkommen der
heutigen Erschließung durch die modernen Verkehrsmittel entsprach. Dem ein¬
dringenden römischen Heere folgte der römische Kaufmann auf dem Fuße; er
versorgte das Heer mit allem Nötigen, kaufte die Kriegsgefangenen als Sklaven
auf, erhandelte die Beute und übernahm gleich Pachtungen von Steuern,
Domänen, Minen und anderem Staatseigentum, das dem besiegten Staate oder
Fürsten abgenommen war. So bedeutete jeder siegreiche Feldzug damals eine
neue Hochkonjunktur.
Dieser politisch-merkantile Aufstieg hatte eine sehr lange Dauer; er währte
mit Unterbrechungen bis zur Begründung der Alleinherrschaft des Augustus,
also über anderthalb Jahrhunderte. Daß er dann nachließ, hatte seine Gründe
darin, daß erst der römische Stamm sich verzehrte und verschwand, dann der
latinische und endlich das ganze italische Volk. Schon seit dem Jahre 200 v. Chr.
begann die Wanderung des Landvolks nach Rom und von da nach den über-
seeischen Gebieten. Von den kleinen Leuten verkauften viele den Acker ihrer
Väter und erstanden dafür ein Schiff. Der Blick richtete sich nach Rom, wo
es ungeahnt viel zu verdienen gab. und dann in die weitere Ferne. So viele
Leute zogen vom Lande in die Hauptstadt, daß die ladinischen Städte darüber
beim Senat Klage führten. Während die Weltstadt wuchs und die Preise des
städtischen Grundbesitzes gewaltig in die Höhe gingen (Cicero kaufte ein Wohn¬
haus auf dem Palatin für 3^2 Mill. Sesterzen etwa 700000 Mary, trat
eine Entwertung des ländlichen Bodens ein. Bereits nach der Zerstörung der
Handelsrivalcn Karthago und Korinth (146 v. Chr.) geriet die Landwirtschaft
in eine schwere Krise, die alsbald zum Untergang der Getreide- (vereinigten
Getreide- und Vieh ) Wirtschaft und späterhin zum Verschwinden des Mittel¬
standes und seiner Ersetzung durch eine ausländische Sklavenschaft führte.
Für diesen Umschwung ist ein Wort bezeichnend, das in einer sehr viel
späteren, bereits abgeklärten Zeit, nämlich um das Jahr 100 n. Chr., der
römische Schriftsteller Plinius (Rat. hist. 18. 35) geschrieben hat: „Noäum
aZri inprimis servaneium antiqui putavere. . . Verumque conMentibus,
latifunäia peicliciere Jtälmen." „Daß vor allem ein gewisses Maß im Land¬
besitz einzuhalten sei. haben die Vorfahren als notwendig angesehen. ... Und
für Einsichtige (ist es) zweifellos, die Großgüter haben Italien zugrunde ge¬
richtet." Dies Wort wird heute gern übertragen, einerseits auf unsere modernen
Verhältnisse, anderseits auf das persönlich-politische Gebiet, und aus dieser Über¬
tragung heraus ungefähr in dem Sinne gebraucht, daß der Rittergutsbesitzer
die Quelle alles Übels sei. Wir wollen nun hier von Parteipolitik absehen,
aber — die einmal angeschnittene Parallele zwischen dem altrömischen und dem
preußisch-deutschen Staate weiter verfolgend — uns fragen, ob die in dem
altrömischen Satze anscheinend ausgesprochene Verurteilung des ländlichen Groß»
besitzes vor den Tatsachen und der Geschichte zu Recht besteht.
Diejenige Landverteilung, die wir heute noch im wesentlichen in Ostelbien
haben, besteht seit jener Zeit des Mittelalters, als die Deutschen, über die Elbe
nach Osten zurückflutend, bis nach Ostpreußen, ja bis nach Livland und Estland
ihre siegreichen Waffen und ihre höhere Kultur trugen. Selbst die Landes¬
kulturgesetzgebung, welche Anfang des vorigen Jahrhunderts einsetzte, hat so
sehr wesentliche Änderungen nicht gebracht, da sie die Städte und königlichen
(d. h. fast alle größeren) Dörfer unberührt ließ und nur das Verhältnis zwischen
den Rittergütern und ihren sogenannten adligen Bauerndörfern verschob. In dieser
Besitzverteilung hat sich nun aber der ostelbisch-preußische Staat, seitdem er eben
aus einem Neichsfürstentum ein Staat wurde, d. h. etwa seit Friedrich Wilhelm
dem Ersten, allen an seine Volkskraft herantretenden Proben gewachsen gezeigt.
Friedrich der Große hat mit seinem Bestände an Rittergutsbesitzern und Bauern
halb Europa die Spitze geboten und in den Kriegen 1813 bis 1815 ist die
Befreiung vom napoleonischen Joch und dann wieder 1866 und 1871 die
deutsche Einheit erkämpft worden. Die Unglücksjahre 1806 und 1807 erscheinen
vom heutigen Standpunkte aus nur wie eine vorübergehende Schwäche, ver¬
gleichbar derjenigen des römischen Staates beim Einbruch Hannibals in Italien
(218/16). Wir fragen uns also vergeblich, worin die wirtschaftspolitische
Schädlichkeit des ländlichen Großbesitzes in den hundertunddreißig Jahren, die
zwischen dem Regierungsantritt Friedrichs des Großen und der Schlacht von
Sedan liegen, bestanden haben sollte.
Aber die römische Geschichte selbst gibt zu Zweifeln Anlaß. Italien wurde
in dem Jahrhundert 366 bis 266 von dem lokalen Agrarstaat Rom erobert,
aufgeteilt und kolonisiert. Dabei hat es neben der Bildung mächtiger, latinischer
Gemeindekolonien auch an Ansätzen zur Bildung von Großbesttz nicht gefehlt
(Mommsen, Rom. Gesch. I S. 188 u. 443). Und doch gilt die Zeit von 264
bis 133 als die Blütezeit der Republik, und die innere Kraft, mit der sich Rom
des mächtigen Karthago erwehrte und es 202 bei Zama niederschlug, wird noch
heute allgemein bewundert.
An sich kann also das Bestehen ländlichen Großbesttzes unmöglich eine
staatliche Gefahr fein. Dazu kommt noch, daß, bei uns wenigstens, der größere
Besitzer nachweislich der Lehrer und Führer auf allen Gebieten der technischen
Vervollkommnung des landwirtschaftlichen Betriebes gewesen ist und ist, und
daß er notwendig ist als Träger der Selbstverwaltung in Kreis und Provinz.
Nun kann man allerdings sagen, nur das Übermaß sei schädlich, und gewiß
kommt man damit der Wahrheit näher. Aber so recht befriedigend ist auch
diese Erklärung nicht; denn in dem politisch doch von jeher sehr kräftigen Ost-
elbien hat es ja von jeher auch fast ein Übermaß von Großbesitz gegeben. Die
Gründe müssen also anderer, mehr innerlicher Natur sein.
Die Urform einer bäuerlichen Gutswirtschaft hat darin ihr Gepräge, daß
sie sozusagen eine kleine Volkswirtschaft in sich ist. Die Vielseitigkeit der Pro¬
duktion befriedigt den ganzen primitiven Bedarf der Familie und ihres Gesindes
an Wohnung, Nahrung und Kleidung. Daher gibt es in den ältesten sowohl
römischen wie germanischen Zeiten kein Geld. Tacitus sagt von den alten
Germanen: ,,/U'Mntum et aurum vropitimL an iiati all neMvennt. äudito."
„Ob die Götter in ihrer Gnade oder in ihrem Zorn ihnen Silber und Gold
versagt haben, möchte ich nicht entscheiden." Der räumlichen und wirtschaftlichen
Isolierung entspringt ein fest gefügtes Familienleben. Der alt-römische und —
in etwas milderer Form — auch der alt-germanische Familienvater hat Gewalt
über Leben und Tod, Freiheit und Besitz seiner Angehörigen und seines
Gesindes, und nur durch das stete innige Zusammenleben werden diese urwüchsigen,
wuchtigen Rechte gemildert. Der Kindersegen ist erwünscht, da den vermehrten
Arbeitskräften im allgemeinen auch eine größere Ergiebigkeit des Bodens zu
entsprechen vermag, um so mehr, als bei der meist noch schwachen Besiedlung
Land übergenug zu haben ist. „Menschen sind der eigentliche Reichtum"
(Friedrich d. Gr.). Ganze Völker, — z. B. die Sachsen bis zur Zeit Karls des
Großen — leben so Jahrhunderte hindurch in beschaulicher Weise, soweit sie
nicht durch Kriegsgefahr aufgeschreckt werden. Es ist eine eigentümliche Tatsache,
daß eine solche, sich selbst genügende Getreide- und Viehwirtschaft der Volkskraft
ungemein dienlich und aller Nationalität Keim und Kern ist.
Das Familienleben, die natürliche Abhängigkeit der Kinder von den Eltern,
wird nun in diesen ältesten Zeiten das gegebene Vorbild aller sich bildenden
menschlichen Ordnung. Das Verhältnis des Familienvaters zum Gesinde, des
Königs zum Volksgenossen ist ein herrschaftlich-väterliches. Es beruht auf
Unterordnung der ganzen Person für das ganze Leben. Gute menschliche
Eigenschaften, wie Frömmigkeit, Anhänglichkeit, Treue, Autoritätsglaube, finden
ihren Nährboden, plusqus ibi boni mores valent, quam alibi bonae leZes.
(Tacitus, Lierm. cap. 19.)
Auf der anderen Seite allerdings fehlt alles Streben nach Verbesserung der
Lebenslage, wie es uns Tolstoi hinsichtlich des russischen Bauern geschildert hat.
Die tägliche enge Berührung mit der Natur läßt das Leben — vom Stand¬
punkt des hochzivilisierten Menschen — fast wie ein Vegetieren erscheinen. Die
Familie lebt in Trägheit dahin, besonders die Männer („ipsi nehme"), und
gearbeitet wird nur so viel, daß man seine „Nahrung" hat.
Ein Wandel tritt, wie überall, mit eintretender Differenzierung ein. Die
Bedürfnisse werden größer, die, insbesondere zur Kleidung selbstgewonnenen Pro¬
dukte, wie Linnen, Wolle und Leder, werden nicht mehr selbst verarbeitet oder
genügen nicht mehr. Daher wird ein Teil der Produktion verkauft und die
Wirtschaft beginnt in eine gewisse Abhängigkeit vom Markt zu geraten. Dieser
Prozeß greift immer weiter um sich; Schulden werden gemacht, die früher viel¬
seitige Produktion nimmt immer einseitigere Formen an (z. B. nur Vieh- oder nur
Getreidewirtschaft, Wirtschaft ohne Bau- und Brennmaterial oder ohne Flachsbau
und ohne Schafzucht) und richtet sich immer mehr nach der Konjunktur des
Marktes. Während die Urform der Wirtschaft eine Ein- und Ausfuhr kaum
kannte, wird schließlich fast der ganze menschliche Bedarf eingeführt und nur
einige wenige Fabrikate ausgeführt: die Landwirtschaft wird damit selbst
unmerklich zur Industrie und zum kapitalistischen Betriebe.
Ermöglicht wird dieser Vorgang erst durch das Eintreten des Geldes in
die Geschichte. Indem das Geld allgemeiner Tauschfaktor und Machtträger
wird, räumt es auf mit einem großen Teil der Abhängigkeitsbeziehungen, die
früher dem väterlichen Verhältnis nachgebildet waren. Aus Herrschaft und
Gesinde werden Arbeitgeber und -nehmer, aus dem persönlich - untertänigen
Bande wird ein sachlich-wirtschaftliches. Die persönlichen Autoritäten des
früheren sozialen Lebens treten zurück und das unpersönliche Geld tritt an ihre Stelle.
Die in fabrikmäßige Bahnen einlenkende Landwirtschaft kennt kein Band persön¬
licher oder gemütlicher Färbung mehr, sondern ist, wie ein Hochofen oder eine
Papierfabrik, nur noch Geldherstellungswerkzeug.
Groß sind die materiellen Erfolge dieser Entwicklung. Der Übergang von
der patriarchalisch-persönlichen Gebundenheit zur sachlich-wirtschaftlichen Freiheit
bewirkt die höchste Blüte und Entfaltung aller Kräfte. Aber schon trägt sie
den Keim späterer Zersetzung und Auflösung in sich. Es leidet das Familien¬
leben, die Heiligkeit der Ehe und die Ehrfurcht vor Eltern und Obrigkeit. Kinder
werden eine wirtschaftliche Last. Es leidet die in der Urzeit angesammelte
körperliche und ethische Kraft des Menschen. Wurde früher der menschliche Geist
innerhalb der vorhandenen Vielseitigkeit der Natur sortwährend auf neue Gebiete
abgelenkt, so beginnt jetzt eine nervenzerreibende, intensive Anspannung in immer
gleichbleibender einseitiger Richtung.
Diese nunmehr genugsam gekennzeichnete Wandlung hat das alte Italien
in vollstem Maße durchgemacht.
Eigentliche landwirtschaftliche Großbetriebe, das heißt solche mit plan¬
mäßiger, einheitlich organisierter Oberleitung, hat es in der älteren römischen
Geschichte und zur Zeit des älteren römischen Adels (des Landadels oder
Patriziats) nicht gegeben. „Eine eigentliche Großwirtschaft, gestützt auf einen
ansehnlichen Sklavenstand, wie wir sie später in Rom finden, kann für diese
Zeit nicht angenommen werden" (Mommsen I, S. 188). Wer damals viel
Land hatte, besaß damit nichts anderes, als eine Summe von Kleinbetrieben.
Der Patriziat war ein auf dem Lande wohnender Bauernadel, Rom zu seiner
Zeit lediglich ein Markt- und Tempelflecken, Hauptort eines Bauernstaates von
wenigen Quadratmeilen Größe. Selbst zur Zeit der Aufhebung des Patriziats
beziehungsweise der Abschaffung seiner Vorrechte (367 v. Chr. durch die Licmisch-
Sextischen Gesetze) hatte das römische Gebiet erst die Größe von ein bis zwei
heutigen preußischen Kreisen erreicht. Wie sehr alles noch in der reinsten Natural¬
wirtschaft steckte, ist daraus zu ersehen, daß in Rom bis etwa zum Jahre 450 v. Chr.
überhaupt nicht gemünzt wurde und als Tauschmittel anfangs das Vieh
(pLLUnia), später Kupfer nach dem Gewicht diente. Erst im Jahre 268 v. Chr.
wurden die ersten Silbermünzen geprägt. Daß solche primitiven Zustände
einen Großbetrieb ausschließen, liegt auf der Hand, und völlig verkehrt und
auf einen Anachronismus zurückzuführen ist daher die landläufige Vorstellung,
das Wort I^tikunäia Komam percllcZLre beziehe sich auf den Großbesitz des
alten römischen Landadels. Patrizier-Latifundien, die aber von immerhin recht
bescheidener Ausdehnung gewesen sein müssen, hat es wohl gegeben; sie sind
aber zweifellos lediglich aus der ursprünglichen (sowohl wirtschaftlichen wie
politischen) Realgenossenschaft der patrizischen Großbauern entstanden, die anscheinend
ursprünglich allein die politischen Rechte besaßen (wie noch unsere Bauern nach
der bis 1892 geltenden Landgemeindeordnung); und so hatten sie auch das
Weideland der Gemeinde okkupiert, das wahrscheinlich, wie auch später bei
deutschen Dörfern und Landstädten, an der äußeren Grenze des Gebietes lag
und das anfänglich, so lange die Bevölkerung gering war, wenig Wert für die
ärmeren und viehlosen Bürger gehabt haben mag. Dies angemaßte Vorrecht
der Patrizier auf den ÄZer publicus wurde dann aber nach langen Partei¬
kämpfen durch die licinischen Gesetze (367) aufgehoben und jeder römische Bürger
sollte fortan Anteil an dem Gemeindeland haben, keiner aber mehr als fünf¬
hundert Jngera (-^- Morgen) besitzen. Gleichzeitig mit den Vorrechten des
Patriziats selbst wurde also die alte, ziemlich unschuldige Form des Gro߬
besitzes beseitigt und nie hätten die Latifundien ihre spätere Berühmtheit erlangt,
wenn sie nicht, rund drei Jahrhunderte später, unter ganz anderen Verhältnissen
wieder erstanden wären.
Denn als ungefähr der Höhepunkt des merkantilen Aufschwunges erreicht
war, das heißt nach dem Jahre 140 v. Chr., verschwand d'le freie und boden¬
ständige Bevölkerung und mit ihr die vereinigte Getreide- und Viehwirtschaft,
die immer die kraftvolle Urform aller Land- und Volkswirtschaft bleiben wird.
An ihre Stelle traten teils große Weidewirtschaften mit (ausländischen) Sklaven
als Hirten, teils Gartenwirtschaften, in denen man Wein- und Ölbaumzucht
trieb. Aber auch in den letzteren wieder besorgten (ausländische) Sklaven das
Einernten in Akkord und im Dienst eines Sklavenhalters. Wir hören aus
dieser Zeit gleichzeitig von einer Blüte (an Weinreben, Plantagen) und einer
Verödung (an Menschen) des platten Landes. Es war eben in manchen
Gegenden dasjenige in vollstem Maße eingetreten, was heute mit dem Namen
„Urbanisierung" bezeichnet wird; die Gegenden des gartenmäßigen Anbaues
(vor allem Campanien) waren mit den Villen der römischen Großen dicht
besetzt; das Land war ohne das Erholungsbedürfnis und den Luxus der
Großstädter nicht mehr zu denken; es war nur noch ein Anhängsel der Stadt.
Im Zusammenhange nämlich mit dem Fortströmen der ländlichen
Bevölkerung, mit dem Heranströmen des kolonialen Getreides und der gleichzeitig
wegen des Fehlens von Zöllen eintretenden Bodenentwertung hatten die
vornehmen Städter das gesetzliche Recht erlangt, die Bauernhöfe auszulaufen.
Das führte nun (nach Mommsen) zu einem Feldzuge des Kapitals gegen
die Bauernwirtschaften, mit dem verglichen alles das mild und menschlich
erschien, was die Patrizier vor dreihundert Jahren an den Plebejern gesündigt
haben mochten. „Die Kapitalisten liehen nicht mehr an den Bauer auf
Zinsen aus. was an sich schon nicht anging, da der Kleinbesitzer keinen Über-
schuß von Belang mehr erzielte, . . . sondern sie kauften die Bauern¬
stellen auf und verwandelten sie im besten Fall in Meierhöfe mit Sklaven-
wirtschaft. Man nannte das ebenfalls Ackerbau; in der Tat war es wesentlich
die Anwendung der Kapitalwirtschaft auf die Erzeugung der Bodenfrüchte."
So gab es jetzt eine neue Form von Latifundien: den Großbesitz mit
kaufmännischen Großbetrieb, weil die alte bäuerliche Betriebsweise, ob
im Kleinen oder im Großen, wirtschaftlich nicht mehr bestehen konnte. Das
Wort I-Munäium aber hat im Laufe von drei Jahrhunderten einen ähnlichen
Wechsel seiner Bedeutung durchgemacht, wie das Wort eques. Wie aus dem
Rittersmann ein Großkaufmann wurde, so wurde aus dem patriarchalischen
Latifundium ein plutokratisches, aus dem „herrschaftlich" betriebenen Großbesitz
des Landedelmanns der kaufmännisch geleitete Großbetrieb des Handelsherrn
oder gar der Handelsgesellschaft. Die alten Worte eques und latikunciium
behielt man bei, obwohl ihr Sinn und Wert sich völlig geändert hatte, l^tikunäia
Komam peräiäerö bedeutet also soviel als: Nom ist zu Grunde gegangen
an dem kapitalistischen Betriebe der Landwirtschaft, verbunden mit
dem Einströmen unverheirateter ausländischer Arbeiter, oder: nicht
die Siege der Germanen, sondern die Entvölkerung des platten
Landes von nationalen Arbeiterfamilien hat Nom vernichtet.
Betrachten wir nun die Dinge bei uns, so kann es scheinen, als ob wir
ganz demselben trostlosen Ziel zusteuern, wie das alte Rom. Denn die rein
kapitalistische Wirtschaftsweise und das Gewimmel von unverheirateten, land¬
fremden Arbeitern finden wir in haarscharfer Ähnlichkeit bereits im heutigen
Deutschland wieder. Sombart sagt: „Man muß die rationell betriebenen Guts¬
wirtschaften dieser Provinzen (gemeint sind: Sachsen, Braunschweig, Schleswig-
Holstein) aus eigener Anschauung kennen, um zu wissen, daß ihre Organisation
wie ihre ganze Geschäftsführung in nichts von denen eines großen industriellen
oder kommerziellen Unternehmens verschieden ist. Hier herrschen Erwerbsprinzip
und ökonomischer Rationalismus unbeschränkt, in den großen Arnheims stehen
die stattlichen Reihen der Hauptbücher, die Zahlungen werden durch Über¬
weisungen auf das Girokonto bei der Reichsbank geleistet, und die Hauptarbeit
wird von einen: Heere freier (das heißt von Boden und Familie losgelöster)
geldgelohnter Wanderarbeiter verrichtet." In den zehn Jahren, die verflossen
sind, seitdeni diese Worte geschrieben wurden, ist die Entwicklung immer mehr
von der früheren „herrschaftlichen" oder „bäuerlichen" Betriebsweise zur rein
geldwirtschaftlicher oder kaufmännischen fortgeschritten. Wir können dagegen
nichts machen: denn die letztere Betriebsweise ist rein wirtschaftlich die über¬
legene.
Die verhängnisvolle Ähnlichkeit der Verhältnisse scheint sich aber auch auf
dasjenige Heilmittel zu erstrecken, das heute vor allem zur Bekämpfung von
Landflucht und Ausländerzufluß empfohlen wird, auf die innere Kolonisation.
Der pessimistische Historiker sagt uns, daß man es im alten Italien ja auch
bereits mit innerer Kolonisation versucht hat; daß es sich auch damals darum
handelte, den bodenständigen Landarbeiterstand zu erhalten und den kleinen
ländlichen Mittelstand zu vermehren; daß auch damals diese Bewegung teils
den Bauernauskäufen, teils dem Großstadtleben und der eigenartigen antiken
Industrialisierung entsprang: ja, daß selbst die normale Größe der Landlose
bei den alten Römern (30 Jugera 7^ Hektar) dieselbe war, als bei uns
(5 bis 15 Hektar). Er sagt uns weiter, daß sich damals Männer der höchsten
Aristokratie und von hoher Genialität, die Gracchen, an die Spitze der Bewegung
stellten und daß sie die in der Aufschwungsperiode in Rom zusammengelaufenen
Menschenmassen, die das erhoffte Glück nicht gefunden hatten und nun herum«
lungerten, wenigstens zum Teil wieder aufs Land zurückgeführt haben; daß
dann unter Sulla, Cäsar und Augustus ganze Legionen (insbesondere die Sieger
von Philippi) meist nicht-italischer Soldaten in Italien Landsitze erhielten. Und
daß alle diese Maßregeln ebensowenig der Entvölkerung Einhalt geboten haben,
wie die materiellen und Ehrenvorrechte der kinderreichen Frauen, die Augustus
einführte. Welch trostloser Ausblick!
Aber doch sind die Verhältnisse des Altertums zu uuserem Glück grund¬
verschieden von denen der Gegenwart. Ein einfacher Vergleich beweist dies:
Es wird heute niemandem einfallen, wie es in Italien geschah, alle Besitzungen
eines blühenden Großdorfes auszulaufen und an seiner Stelle einen Großbetrieb
zu eröffnen; er fände nie und nimmer dabei seine Rechnung, denn der Boden
ist bei uns noch nicht entwertet, der Bauer sitzt noch fest, und im Gegenteil
geht die Richtung der Zeit auf immer intensivere Ausgestaltung im Kleinen,
und es finden öffentliche und selbst rein private Landgesellschaften ihren Vorteil
darin, Güter zu parzellieren. Auch innerhalb der größeren Güter besteht bei
uns offenbar nicht die Tendenz zur Zusammenballung, sondern, von lokalen
Erscheinungen abgesehen, eher zum Auseinandergehen; sind doch seit 1871 in
meinem früheren landrätlichen Kreise durch Selbständigwerden von Gutsvorwerken
nicht weniger als vierundzwanzig neue Gutsbezirke entstanden, was sich einfach
durch Wertvermehrung beim Parzellieren erklärt. Das Vorhandensein aber dieser
Wertvermehrung ist das Entscheidende für die Tendenz unserer Entwicklung, die also
gerade das Gegenteil von derjenigen ist, die Plinius als für Rom
verderblich erklärt hat. Man darf sich nicht dadurch täuschen lassen, daß auch
bei uns ein namhafter Auflauf von Bauerngütern in den letzten hundertJahren statt¬
gefunden hat: es ist die Landeskulturgesetzgebung von 1807 bis 181L, mit deren
letzten Ausläufern wir es hierbei lediglich zu tun haben, keine eigentlich volks¬
wirtschaftliche Tendenz. Bis zu dieser Gesetzgebung lag Ritterguts- und Bauer¬
land im Gemenge derselben Feldmark, die Bauern waren gleichzeitig der
Hauptstamm der Gutsarbeiterschaft. Großzügig wäre es nun gewesen, ein und
dieselbe Feldmark in ihrem ganzen Umfange immer entweder dem Gutsbetriebe
oder dem bäuerlichen Betriebe zu widmen. Das tat man aber nicht, konnte
man auch vielleicht nicht tun, sondern man teilte jede Feldmark zwischen Herr¬
schaft und Bauerschaft und erhielt eine große Zahl lebensunfähiger, kleiner
(adliger) Dörfer, deren Gebäude dieselbe Ortslage mit den Gutsgebäuden hatten
und von deren Land sich eigentlich schon vorher sagen ließ, daß der Gutsherr
es zur Abrundung seiner Wirtschaft fast unbedingt brauchte. So haben denn
die Gutsherren in sehr vielen Fällen diese kleinen Bauern ausgekauft, und ich
wage zu behaupten, daß das nicht anders ging und daß das Verschwinden dieser
Zwerggemeinden auch kaum als ein dauernder, irreparabler Schade angesehen
werden kann. Auch erscheint es keineswegs ausgemacht, ob man heute mit
Recht die Deklaration von 181K verurteilt, welche die Regulierungsfähigkeit der
kleinen, nicht gespann-haltenden Bauerwirtschaften ausschloß. Wahrscheinlich hätten
sich diese isolierten Kleinbetriebe durch das vorige Jahrhundert hindurch noch
weniger gut gehalten, als die gespann-fähigen. Da aber immerhin eine Menge
Bauergüter bei diesem unglückseligen Übergang von der Feudal- zur Geldwirtschaft
verloren gegangen ist, so ist es heute unbedingt notwendig, sie zu ersetzen, und
zwar durch Parzellierung ganzer Rittergüter. Wenn ein halbes bis ganzes
Dutzend davon in den mit zu viel Rittergutsbesitz versehenen Kreisen in Bauer¬
land aufgeteilt sein wird, so werden wir leistungsfähige Gemeinden und eine
mindestens ebenso gute Besitzverteilung haben, als vor 1800. Die Kleinwirt¬
schaften sind aber zum Glück bei uns nach wie vor durchaus rentabel. Nur
die lokale Abrundung hat die Gutsherren veranlaßt und fast gezwungen, die
ihnen besonders günstig gelegenen zu erwerben, und diese Umlaufsbewegung kann
heute als im wesentlichen abgeschlossen angesehen werden.
Allerdings ist es Zeit, daß bei uns für innere Kolonisation mit allem
Nachdruck gesorgt wird. Sonst verpassen wir den richtigen Moment ebenso, wie
es die alten Römer und anscheinend auch die heutigen Engländer getan haben.
In Rom war die Getreidewirtschaft bereits im Verschwinden (seit 140 v. Chr.),
als die Gracchen mit ihren Plänen hervortraten (133 und 123). Als bedenk¬
liches Symptom kam hinzu, daß die gracchische Bewegung, die viel von der
heutigen sozialdemokratischen an sich hatte, von vornherein eine gewalttätige war
und sich gegen das Eigentum und den Reichtum richtete. Das mußte den
erbitterten Widerstand aller Besitzenden herausfordern. Aber überhaupt, so
großartig die Erfolge der Römer auf dem Gebiet der äußeren Kolonisation
gewesen sind, so wenig scheint das antike Staatswesen dem Problem einer inneren
Kolonisation gewachsen gewesen zu sein, dem wir heute im Begriff sind, langsam
und nach einer Reihe von Erfahrungen, die wir machen mußten, mit ganz
anderen Mitteln zu Leibe zu gehen. Mit der bloßen Aufteilung des kahlen
Grund und Bodens ist es eben nicht geschehen; der Leiter einer Aufteilung
entwirft heute einen Ansiedlungsplan, an Hand dessen die Parzellen erst wirt-
schaftlich ausgebaut werden müssen; und so bedecken sich dann die Flächen eines
vorherigen Großbesitzes wie mit Perlen, mit einer großen Zahl Anwesen von Wohn¬
häusern und Wirtschaftsgebäuden, mitWege- und Wasseranlagen, Zäunen usw. Auch
für die gemeindlichen Bedürfnisse an Schule (Kirche), Gemeinde- und Armenhaus,
Dorfteich, Dorfanger, Sandgrube wird vorsorglich gedacht. Die Ansiedler sucht
man sorgsam aus; es hat sich herausgestellt, daß der Hauptstädter für den
landwirtschaftlichen Beruf fast stets verloren ist, daß er zwar von Landbesitz
und bequemem In-den-Mund-Wachsen von Lebensmitteln träumt, daß er aber
versagt, wenn es sich nun ernstlich darum handelt, mit Pflugschar und Dung
umzugehen und in erster Morgenfrühe beim Melken mit dem unsauberen Kuh¬
schwanz Schläge ins Gesicht zu erhalten. Zur Beschaffung des baulichen, des
lebenden und toten Inventars (Wirtschaftsgerät) verlangt man heute vom An¬
siedler entweder eigenes Kapital (5000 Mark) oder man gibt dazu den sogenannten
Zwischenkredit. Ohne diese langwierige Kleinarbeit ist nichts Dauerndes zu
schaffen. Nun kennen wir zwar die Wirkungen der gracchischen Gesetze nicht.
Was Mommsen davon rühmt, wird von anderen Historikern bestritten und auf
das Mißverständnis einer Zahl bei Livius zurückgeführt. Von all den genannten
Schwierigkeiten wird uns aber kaum etwas berichtet; und dies Schweigen gerade
ist höchst bedenklich. Nur hören wir, daß den ärmsten Ansiedlern Geld zur
Jnventarbeschaffung gegeben wurde, und zwar aus den Schätzen, die der gerade
im Jahre 133 verstorbene König Malus von Pergamus dem römischen Staat
testamentarisch vermacht hatte; wir hören ferner bezeichnenderweise, daß selbst¬
ständige neue Gemeinden nicht gegründet wurden, und endlich scheint es, daß
die alten Besitzer Entschädigungen nur für ihre Gebäude erhielten, und daß man
ihnen im übrigen ihr Land beziehungsweise einen Teil desselben einfach wegnahm,
und zwar mit der Begründung, es gehöre zu dem seit dreihundert Jahren ver¬
schollenen aZer publicus. Man hat es sich danach mit der ganzen Kolonisation
recht leicht gemacht; wenigstens würde man es heute kaum Kolonisation zu
nennen wagen, wenn man Großstädter massenhaft in bestehende Dorfslagen
führt, sie in den bestehenden Häusern unterbringt und es ihnen überläßt, sich
vielleicht neue Häuser zu bauen. So scheint denn die gracchische Ansiedlung
lediglich wie ein plötzlicher Strom von Menschen über die Gemeinden Italiens
hingebraust zu sein, aber keine dauernden Spuren hinterlassen zu haben. Bei
den späteren Veteranen - Ansiedlungen war dies noch weniger der Fall. Den
Siegern von Philippi wurden einfach achtzehn blühende italische Landstädte
zugewiesen, die sie, wie im Kriege, erst mit stürmender Hand nehmen und die
bisherigen Einwohner vertreiben mußten. Das war keine Kolonisation, sondern
Raub, und zwar nicht zu volkswirtschaftlichen, sondern zu militär-politischen Zwecken.
Die groß-wirtschaftliche Tendenz selbst hätte man bekämpfen sollen. Aber gegen
sie war der antike Staat mit seinem staatlich organisierten Freihandel ohnmächtig.
Statt ihrer bekämpfte man die friedlich angesessenen Besitzer. Was nützte eine
Hinaufführung der Massen aufs Land, wenn man die entwerteten Betriebe und
Anwesen nicht mehr wieder erwecken konnte, wenn die bäuerliche Wirtschaft ohne
Betriebsmöglichkeit war, da ihr der Zollschutz fehlte, und wenn deshalb das
Land unaufhaltsam im Begriff stand, sich in ein Hirten- und Gartenland zu
verwandeln! Zwingende wirtschaftliche Tendenzen sind meist stärker als gewalt¬
same staatliche Anordnungen.
Es wird dem verehrten Leser klar geworden sein, daß wir heute mit viel
günstigeren Verhältnissen zu rechnen haben. Nur müssen sie auch wirklich und
rechtzeitig ausgenutzt werden. Der verdiente Verfechter der inneren Kolonisation,
Professor Sering, hat im Februar dieses Jahres in einem vortrefflichen Vor¬
trage im Landesökonomiekollegium beklagt, daß die bisher nur in Posen und
Westpreußen eingeleitete großzügige Kolonisation ins Stocken geraten und daß
in den anderen östlichen Provinzen alljährlich nicht mehr als neunhundert bis
tausend Bauernstellen mit rund 10 000 Hektar Fläche gegründet würden.
Sering hat auf England hingewiesen, wo es, trotz Zwangsenteignung und
Zwangspacht, die ein Gesetz von 1907 eingeführt habe, nicht mehr gelingen
wolle, den durch eine allzu frühe kapitalistische Entwicklung vernichteten Bauern¬
stand wieder aufzurichten. „Noch ist es bei uns Zeit," sagte er, „eine kräftige
Anstedlungspolitik zu betätigen. In zehn bis zwanzig Jahren wird es zu spät
sein, weil wie in England, so auch bei uns, der Reichtum aufs Land zieht und
Luxuspreise anlegt, während das beste Kolonistenmaterial verloren geht und
unser Volk allmählich an robuster Kraft einbüßt."
Neben der inneren Kolonisation tut es allerdings auch not, den Druck zu
mildern, den der ausländische Saisonarbeiter auf den deutschen Arbeiter ausübt.
Freilich kann dies nur soweit geschehen, als die deutsche Gütererzeugung dem
Auslande gegenüber konkurrenzfähig bleibt; denn sonst würde infolge der ewigen
Wechselwirkung, die in allen volkswirtschaftlichen Dingen stattfindet, mit der
Konkurrenzfähigkeit der deutschen Betriebe gleichzeitig abgesägt werden die
Existenz des deutschen Arbeiters, der ja eben geschützt und erhalten werden soll.
Anderseits wird alle innere Kolonisation nichts mehr helfen und es wird der
bis vor kurzem so gepriesene Bevölkerungsüberschuß endgültig dahin sein, wenn
einmal der Bauer bei uns ernstlich lose wird. Haben wir es auch bis jetzt
zum Glück nur mit dem Wegzug der jüngeren Kinder der angesessenen Familien
zu tun, so fehlen doch schon heute alle die Familien auf dem Lande, deren
Arbeitskraft der slawische Saisonarbeiter ersetzt. Namentlich aber: es fehlt auch
ihr Nachwuchs.
Geschieht etwas Energisches gegen diese Richtung der Entwicklung, so geht
unsere landwirtschaftliche wie unsere industrielle Produktion wahrscheinlich schweren
Zeiten entgegen; denn, befreit von der ausländischen Konkurrenz, wird der
deutsche Arbeiter, wie der englische es schon tut, seine Lebensansprüche weiter
erheblich steigern. Diese Steigerung wird Opfer fordern, für die die produ-
zierenden Kreise allein kaum werden aufkommen können. Es wird das Volks¬
ganze bis zu einem gewissen Grade mit herangezogen werden müssen. Indes,
das Höchste steht auf dem Spiele, was ein Volk hat: die Erhaltung des eigenen
Volkstums!
Das größte Problem der Zukunft dürfte es sonach sein, die wirtschaftlichen
und die völkischen Interessen, die bei uns eben anfangen, in einen unheilvollen
Gegensatz zu geraten, auszugleichen und abzuwägen. Die antiken Stadtstaaten
(Athen, Karthago, Rom) sind alle daran zugrunde gegangen, daß sie in ein¬
seitigster Weise nur die kapitalistisch-wirtschaftlichen Interessen förderten. Der
alte merkantile Stadtstaat stand auf vollkommen primitivem, manchesterlichem
Boden; er war Träger der Staatshoheit und Schirmer der Ordnung: damit
waren die antiken Staatsausgaben im wesentlichen erfüllt; es kam nur noch
das hinzu, was man praktisch brauchte, um das engherzige und kurzsichtige,
aber souveräne Stadtvolk zufrieden zu stellen, nämlich, für uns fast unbegreif¬
licherweise, die ursprünglich auf religiösem Boden erwachsenen Spiele und in
Rom, seit Gajus Grachus, die Versorgung der Hauptstadt mit Brotkorn
(„p-mon et LirLLN8L8"). Keine Volksschule, keine soziale Versicherung sorgte
für Wohl und Bildung des kleinen Mannes; jeder mußte selbst sehen, wie er
sich durchs Leben half und sich gegen körperliches Mißgeschick und die Schwäche
des Alters schützte. Eigentlich ausgebildete Verwaltungszweige waren in Nom
nur die Ordnung schaffenden: das Kriegswesen und die Rechtspflege. Jede
weitsichtige Wohlfahrts- und Volkspflege fehlte. So bildete sich ein klaffender
Gegensatz zwischen Reich und Arm. Der gewaltige Römerstaat ist während
seiner Blütezeit im Grunde von nur etwa dreitausend Familien (senatorischen
und ritterlichen Standes) getragen worden. Nur diese wurden in Wahrheit
der griechisch-römischen Kultur teilhaftig. Alles übrige war Plebs, die man
fütterte und verhätschelte, da sie die Beamten wählte, für deren wahres Wohl
man aber nichts tat, und die daher in Unwissenheit und Aberglauben dahin¬
lebte. (Domaszewski, Geschichte der römischen Kaiser). Der Aufstieg des
Mannes aus dem Volke in höhere Kreise war fast unmöglich, da der
Mittelstand immer mehr verschwand und durch freigelassene Sklaven als
Gastwirte, Gutsinspektoren, Künstler, Professoren, Ärzte ersetzt wurde. So
fehlte es an jedem nationalen Nachschub von unten. Und als die Pro¬
skriptionen Sullas und der Triumvirate mit einem großen Teil des römischen
Adels aufgeräumt hatten und in dessen eigenen Reihen Ehe- und Kinderlosigkeit
einriß, da war man am Anfang vom Ende. Der Untergang des julisch-
claudischen Kaisergeschlechts mit Nero (68 n. Chr.) bezeichnet auch den Unter¬
gang des eigentlichen Römertums, und kaum mehr einen Jtaliker finden wir
seitdem an der Regierung. Alle die bedeutenden Kaiser des folgenden Jahr¬
hunderts waren Provinzialen, d. h. sie entstammten römischen Kolonialgeschlechtern.
Eine grundlegende Verschiedenheit des antiken und des modernen Staats¬
lebens ist es also vor allem, daß die Massen des Volkes im Altertum völlig
zurückblieben, daß heute aber — wenn die Demokraten es auch noch so sehr
bestreiten — für ihr Vorwärtskommen außerordentlich viel geschieht. Dazu
kommt noch als überaus einschneidend der Faktor, daß der Mensch der neuesten
Zeit es gelernt hat, sich die Kräfte der Natur dienstbar zu machen. Der gro߬
artig entwickelte neuzeitige Verkehr, die maschinellen Errungenschaften, die Aus¬
nutzung der elektrischen Kraft, eröffnen ganz andere Möglichkeiten der Ent¬
wicklung, als frühere Perioden der Menschheit es ahnen ließen. Es erscheint
uns heute so natürlich, daß die Verpflegung der Viernüllionenstadt Großberlin
so glatt geht und daß niemals Hungersnöte auftreten. Wir wissen kaum mehr,
daß dies lediglich eine Folge der Erfindung der Dampfkraft und der neuzeit¬
lichen Weltverschiffungen an Getreide ist; wir erinnern uns kaum mehr, daß im
alten Rom wie in London bis etwa 1850 fortwährend Hungersnöte wieder¬
kehrten, da der extensiv-wirtschaftende und vom ausgleichenden Weltmarkt
isolierte Staat — alle europäischen Staaten bis 1860 waren solche, heute noch
die Wolga-Gouvernements — an überaus großen Schwankungen zwischen Über?
Produktion und Hungersnot litt; wir müssen uns vergegenwärtigen, daß diesen
Schwankungen gegenüber sich ein fester, wenn auch nur mäßiger Schutzzoll
nicht halten ließ, weil er von dem ersten ernsten Ansturm des darbenden Volkes
hinweggefegt worden wäre. Dieser Schutzzoll aber wieder hat es erst vermocht,
daß im Gegensatz zum Altertum bei uns die Entwertung des ländlichen Grund
und Bodens und der Untergang unserer Landwirtschaft bis heute verhindert
worden ist.
Nicht also bloß die oberen gesellschaftlichen Schichten, wie in Rom, haben
bei uns den Aufstieg der letzten vierzig Jahre genossen, sondern infolge des
immer mehr verbesserten Schulwesens und der rasch steigenden Löhne und
Lebenshaltung der unteren Klassen wird das Volksganze, wenn nicht gleich¬
zeitig, so doch in schneller Aufeinanderfolge einer Kulturhöhe entgegengebracht,
die in dieser Allgemeinheit bisher in der Welt unbekannt war. Und infolge
des sich immer mehr ausdehnenden Bahnnetzes wird ferner das ganze deutsche
Gebiet, fast bis in die äußersten Winkel hinein, kulturell und wirtschaftlich ent¬
wickelt und näher herangebracht an die Mittelpunkte des gewaltig pulsierenden
öffentlichen Lebens.
Ist uns so vieles gelungen, was dem Altertum versagt blieb, warum
sollte es uns da nicht auch beschieden sein, die wirtschaftlichen und völkischen
Interessen miteinander auszusöhnen?
Das Ergebnis unserer Betrachtungen ist danach folgendes: Grundsätzlich
ist nicht die Größe, sondern die Art des Betriebes für das völkische
Interesse entscheidend. Im Gegensatz zum alten Italien geht die Richtung
der Entwicklung schon an sich bei uns nicht auf Latifundienbildung, sondern
eher auf Aufteilung. Daß die letztere bei uns wirtschaftlich, das heißt gewinn¬
bringend ist, hat seinen Grund in den neuzeitiger Einrichtungen, hauptsächlich
im Getreidezoll, der den Bodenwert hochhält, und im Bahnverkehr, der die
intensive Betriebsweise ermöglicht und fördert. Ohne diese beiden Errungen¬
schaften wäre Deutschland wahrscheinlich schon im vollsten Übergange zur Vieh-
Großwirtschaft mit einer Mindestleistung von Arbeit und einer Mindestmenge
von Landbevölkerung. Der landwirtschaftliche Großbetrieb ist an fich
politisch, sozial und wirtschaftlich genau so berechtigt wie der
gewerbliche; auch vom völkischen Standpunkt ist er keineswegs zu verwerfen,
vorausgesetzt, daß er seinen Stamm von nationalen Arbeitern
festhält, wie dies besonders auf fideikommissarisch oder traditionell befestigten
Gütern der Fall ist. Gefährlich ist nur seine kapitalistische Aus¬
gestaltung unter Verwendung ausländischer Saisonarbeiter und
übermäßiger Maschinenkraft. Diese Gefahren liegen bei dem Kleinbetriebe
nicht in demselben Maße vor, und seine Vermehrung ist daher eine nationale
Pflicht und Forderung, um so mehr, als der Kleinbesitz in seinem Bestände durch
die wenig glückliche Agrargesetzgebung von 1807/1816 gelitten hat.
Karl nimmt sich ein Schemelstühlchen, stellt es dicht neben die Tante, setzt
sich darauf, lehnt den Kopf Wider Settchens Bein und sagt:
„So hock ich gut, Tante Seelchen, als wenn du meine Mutter wärst. Jetzert
kannst du mir sagen, was du noch zu sagen hast!"
Die Alte zieht die nasse Hand aus dem Wasser, trocknet sie an der Schürze
ab, streichelt über Karls Haar und spricht dann zu nur, indem sie ihre Arbeit
wieder aufnimmt:
„Siehst du, lieber Bub, du bist ja noch jung und kannst dich wieder heraus¬
schaffen; du darfst den Mut net verlieren. Es wird uns ja jetzert alles versteigt,
und nix bleibt übrig; auch mein Vermögen schlüpft mit drein. Aber da liegt mir
nix dran. Ich bins Schaffen ja gewöhnt, und ich will ja gern schaffen für dich
und das Made. Wenn ich mal net mehr da bin, sollt ihr zwei an mich denken
können wie an euer zweit Mutter!
„Aber, Tante Seelchen!" unterbricht Karl die Sprechende, „tu doch net, als
ob du morgen schon sterben müßt!"
Tante Seelchen schüttelt den Kopf und fährt weiter:
„Nein, Karl, da soll unser Herrgott mich vorläufig davor bewahren, denn ich
bin noch nötig für euch zwei! Am meisten für das Made. Und dabei mußt du
mir helfen. Weißt du, die Sophie müssen wir irgendwo hintun, in die Irren¬
anstalt nach Heppenheim an der Bergstraß oder nach Hossein im Ried. Arm sind
wir jetzert, und ich glaub net, daß die Gemeind uns die Sophie unterhält, solang
wir zwei noch einen Knopf verdienen können. Wir müssen halt alle beid sehen,
recht bald einen Unterschlupf zu finden. Wenns hier in Spelzheim net ist, dann
sonstwo. Für dich machts sichs vielleicht am besten drunten in Bechtheim oder
in Alsheim oder in Guntersblum oder in Winternhcim. Da gibts viel reiche
Bauern, und die brauchen immer Knechte!"
In Karl sind widerstreitende Gefühle. Sein Herz krampft sich in dem
Schmerze, aus dem Hause zu müssen, in dem er geboren und groß ward. Aber
es ist auch eine den Atem leise stoßende Erwartung in ihm auf die Neuheiten,
die da wie Schlüssel in sein Leben greifen werden. Er selbst weiß das alles nicht
zu unterscheiden und sagt:
„Tante, wenn ich an all das denk, wird mirs so komisch I"
„Nur nicht verzweifeln, Karl, wies auch kommen soll! Ich will dir einen
guten Rat geben. Wenn man so von einem Tag in den anderen lebt, wird man
zu einer Maschin. Die läuft auch und schafft ihre Arbeit, aber ohne eigen Ziel.
Das ist es: man muß sich ein Ziel in seine Zukunft stecken und immer drauf
lossteuern. Nee rechts und net links gucke und nur immer aufs Ziel. Und dein
Ziel muß sein: wieder deine eigne Bauerei zu kriegen. Spar dir Pfenning um
Pfenning, das gibt Marke. Und die Marke geben hundert Marke. Und wenn du
auch nur ein klein Bauerchen gibst, du bist aber selbständig, und das ist das beste.
In fuffzehn Jahr kannst du so weit sein. Wenn du das nötige Alter hast, findst
du vielleicht auch ein Made, wo ein bißjen Geld hat. Nur immer ein adretter
Bursch bleiben, Karl, und dein wild Naturell ein bißjen bezähmen. Still und
ein Schäffer, das macht Eindruck bei den reichen Bauernmäd!"
Und die gute Jungfer möchte alle Begeisterung, die in einem jungen Menschen
ist, in helle, starke Flammen entzünden. Sie nimmt des Burschen Kopf zwischen
die Hände, läßt aus ihren Augen alles Feuer strahlen, das in ihrer Seele ist,
und sagt mit hinreißenden Schwung:
„Herrgott noch mal, wer weiß, was meinem Bub noch alles Schöne wider¬
fährt im Leben! Ich seh ihn schon so, wie er als Bauer in einem großen Hofgut
über einen Haufen Knecht und Magd kommandiert, alle Sorten von neumodischen
landwirtschaftlichen Maschinen hat und Geld wie Heu und zu allerletzt noch vom
Großherzog den Titel Ökonomierat kriegt!"
So sagt sie und ist ganz begeistert, schüttelt dem Burschen die Hände und
strahlt ihm mit dem Finger das Haar.
Der Junge aber muß an die Leiche da droben denken, das läßt keine Be¬
geisterung in ihm aufkommen und erstickt den glimmenden Funken.
„Lieb Tante Seelchen, ich hab nie so recht begreifen können, was Luftschlösser
sind. Was du aweil sagst, das sind auch Luftschlösser. Alles Luft, Luft und
wieder Luft. Ich mein, 's tat doch alles anders werden!"
Als Tante Seelchen diese traurigen Worte hört, will auch ihr der Mut
entschwinden, und sie sagt nur:
„Aber lieber Bub, wer wird denn so plaudern, wenn man noch so jung ist
wie du und die ganz Welt noch vor sich liegen hat!"
„Tante Seelchen. wenn ich net immer an den Vater droben denken müßt.
Das ist jetzert so was Merkwürdiges in mir: Ich kann dem Vater net recht geben
in dem, was er getan hat, aber ich hab ihm doch auch so arig gern. Da tut
jetzert alles durcheinander wühlen in nur, alles so durcheinander!"
„Darüber wollen wir jetzert sprechenI Komm steh mal auf, Bub, ich wills
Geschirr wegräumen!"
Karl steht auf und lehnt sich wider den Tisch. Tante Seelchen huscht in der
Küche, stellt da einen Teller hinweg, hängt dort ein Handtuch an das Tücherbrett,
räumt ein Glas in den Schrank und macht so blitzblanke Ordnung. Sie fühlt sich
dann wohler. Als sie die Arbeit beendet hat, schöpft sie einen Seufzer der Er¬
leichterung und einen der Befriedigung aus der Brust und darnach einen der
Sorge, — Seufzer eines treuen Herzens. Sie setzt sich neben den kalt gewordenen
Herd, rückt mit dem Fuße das Schemelstühlchen herbei, klopft mit der Flachen
Hand darauf und sagt zu Karl:
„Komm jetzert daher! Jetzert das Letzte, was ich dir noch sagen will für heut!"
Karl schlürft mit müden Schritten herbei, setzt sich so, daß sein Rücken an
den Knien der Tante anlehnen kann und gähnt, während Tante Seelchen zu
sprechen beginnt. Als sie seine Müdigkeit steht, fragt sie ihn, ob er auch noch
zuhorchen könne. Ja, ja, er wird schon achtgeben!
„Zuerst muß ich dir sagen, daß wir vor allen Dingen sorgen müssen, daß
dein Vater unter den Boden kommt. Man kann das bei einer verwundeten
Leiche net lang anstehen lassen. Und jetzert denk mal dran, was ich dir vordere
gesagt hab von der göttlich Barmherzigkeit! Hast du noch alles gut in Gedanken?"
„Ja, Tante Seelchen, das vergeß ich auch net!"
„Na ja, das ist gut so. Sieh, wenn du das alles begriffen hast, wirst du
auch verstehen, was ich dir jetzert noch dazu sag!"
Nach diesen Worten hält die Jungfer ein wenig inne, denn sie weiß, was
sie nun sagen wird, reizt den Burschen wieder. Sie fährt ihm mit der Hand
durch das struppige Haar und tätschelt seine Backen, während sie weiterfährt:
„Nach all dem, was du heut Abend gehört hast, wird's dich net wundern,
wenn ich dir sag, daß der Vater natürlich net vom Herr Pfarrer begraben wird.
Bscht, höche, Karlchen, net aufbrausen, höche, höche! Horch schön zu, was ich dir
weiter sag! Gell, Bub, du glaubst doch fest dran, daß dein Vater durch Gottes
Barmherzigkeit von der ewigen Qual gerettet sein könnt? Glaubst du das, Bub?"
„El jo, Tante Seelchen," antwortet Karl mit wehheiserer Stimme, „das ist
ja das einzige, was mich ruhig macht gegenüber der Bosheit der Menschen!"
„Na ja, siehst du, was braucht dir dann noch dran zu liegen, ob die sterb¬
lichen Überreste von deinem Vater in einer großartigen Leich naus auf den
Kirchhof kommen oder ganz still und unauffällig. Begreifst du, daß das lauter
äußerliche Formen sind, die nichts ändern am jenseitigen Leben von einem Ab¬
gestorbenen? Wie mancher wird vom Pfarrer begraben mit Gesang und Weih¬
rauch, und seine Seel brennt vielleicht doch in der Höll. Wer von uns Menschen
kann dem anderen ins Herz gucken? Siehst du, an so Sachen darf man sich net
stoßen. Vielleicht hast du noch net gehört, daß auf dem hohen Meer die Leichen
einfach ins Wasser geworfen werden, in Segeltuch eingewickelt, ein paar alte
Noststäb zu Füßen, und ins Wasser damit. Und das wird so gemacht, daß es
die anderen Reisenden ja net merken, die könnten es sonst an die Nerven kriegen.
Jetzert frag ich dich, wer begräbt denn da die Toten? Da ist auch kein Pfarrer
dabei, denn auf den Schiffen sind vorläufig noch keine stationiert. Ein paar
Matrosen werden zum Gebet kommandiert, aber ob sie auch was beten, ist die
andere Frage. Und so ein Begräbnis auf dem Meer kann einem Guten wie
einem Bösen passieren. Ich will damit nur sagen, daß es auf die Form garnet
ankommt; das ist ganz Nebenfach. Wenn dein Vater reumütig gestorben ist,
wenn er eine vollkommene Reue gemacht hat, wenn ihm all seine Sünden leid
getan haben, weil er dadurch den lieben Gott beleidigt hat, dann hat ihm unser
Herrgott seine Sünden vergeben, ob er jetzert vom Pfarrer begraben wird oder
nicht. Hast du das jetzert begriffen, lieber Bub?"
„Ja, Tante Seelchen, das seh ich jetzert auch ein. Aber weißt du, 's ist
halt doch schwer, sich da auf einmal so hineinzufinden, wenn man's die ganze
Zeit anders gewöhnt wart"
„Ja, weißt du, mein lieber Buhl" entgegnet ihm Tante Seelchen, „das ist
mehrstenteils so, daß der Verstand der Menschen in ihren Gewohnheiten einschläft,
und dann machen sie halt so da hinaus, wie's beim Vater war und beim Gro߬
vater und beim Urgroßvater. Und das mußt du dir ein für allemal merken:
alles Unglück, das über einem kommt, soll man auffassen als eine Schickung
Gottes. Das sagt auch der Pfarrer in der Predigt. Aber da meint er mehrstens,
die Leut sollten net brummen und net schimpfen, sie sollten halt einfach das Maul
hallen und höchstens noch beten. Gewiß soll man das, beim Beten wächst das
Herz. Vor allen Dingen soll man aber lernen, unsern Herrgott zu verstehen.
Man soll aus dem Unglück sich etwas für seine eigene Seel herauslesen, daß sie
tiefer wird und mit der Zeit Sinn und Verstand in den Fügungen Gottes begreift.
So mußt du's auch machen. Wenn man erst mal so weit ist, daß man sich durch
das Unglück net verbittern läßt, spürt man schon bald einen großen Gewinn.
Und wenn er nur darin bestehen tat, daß man nicht kopflos dasteht, wenn ein
neues Unheil über einem kommt. Kannst du mir das nachfühlen?"
„Noch net alles I" antwortet Karl, „noch net alles, Tante Seelchen, aber ich
glaub fest, daß du recht hast, weil ich seh, daß du aus deinen Erfahrungen sprichstI"
„Na ja, dann folg mir auch mal schön und tu, was ich dir sagt"
Auf diese Mahnung stöhnt Karl mit gepreßtem Atem:
„Ja, Tante Seelchen, ja, ich Willi"
Dann aber schweigen sie.
Die Küchenlampe singt leise. In der Scheuer und in der Werkstätte zirpen
die Grillen, heute wie alle Tage. Aus der Ferne hört man das Dengeln der
Sensen. Sonst hörte man's ganz nahe, nämlich von draußen auf dem Hofe.
Verloren kräht hie und da ein Hahn.
Die zwei Menschen aber sitzen stille und sinnen und seufzen manchmal. Dann
sieht eines das andere an. Die Gesichter sind ernst. Bei der Jungfer ist Ge¬
faßtheit dabei, auch Mut; in einem: mutige Ergebenheit. Aber in des Burschen
Antlitz zuckt häufig die Qual der ungereiften, zum erstenmal in ihren Tiefen auf¬
gewühlten Jugend, und dieses Zucken liest sich wie eine Frage an die Gottheit,
wie ein erschütterndes Warum, wie ein verzweifeltes Auswegsuchen. Das weiche
Eisen windet sich unter den Hammerschlägen...
Plötzlich stößt in die Stille ein harter Hornruf: Tawuut-dort-tout. ..
Der Nachtwächter bläst elf Uhr.
Nun legen sie sich zur Ruhe nieder. Zuerst ist das Zimmer dunkel, aber
nach einer halben Stunde ist es vom bläulich silbernen Mondschein erfüllt. Karl,
der nicht einschlafen kann, schaut mit weit offenen Augen in den vollen Mond.
Groß, klar und leuchtend hängt er in der schweigenden Nacht wie ein milder,
festigender Trost des Himmels.
Am frühen Morgen wird Karl durch das gelle Lachen Sophies geweckt. Vom
Schlafe erquickt, erinnert er sich nicht gleich der Ereignisse von gestern, seine Seele
ist leicht Aber nur für einen ganz kurzen Augenblick, und dann legt sich wieder
alles erdrückend schwer über ihn. Der Bursche kleidet sich an und begibt sich in
die Küche, um den Kaffee zu kochen. Er räumt die Schlacken und die unver¬
brannten Kohlen aus dem Herde und zieht den Aschenkasten hervor, den er sodann
in den Hof trägt. Aber das Hin- uno Herarbeiten zerstreut ihm die wehen
Gedanken nicht. Es bleibt ihm unbehaglich-, es fehlt ihm etwas. Vielleicht wird
es ihm besser, wenn er einmal in den Pferdestall geht. Das war sonst immer
sein erster Gang vom Bette aus: in den Pferdestall zum Rappen, der wieherte,
wenn er ihn sah. Heute wird kein Rappe wiehern. Wird er denn fressen im
fremden Stalle oder wird er trauern? Wie der Bursche im leeren Stall steht,
kommen ihm die Tränen. Er geht wieder in die Küche und kocht den Kaffee.
Nach dem Frühstück macht sich Karl daran, den verlassenen Pferdestall zu
misten. Wozu die Arbeit aufschieben? Einmal muß es ja doch sein. Er ist
gerade dabei, das Reff von dem noch darin steckenden Heurest zu befreien, als er
am Tore rütteln hört. Da jagt zuerst ein Schrecken und dann eine Wut durch
seine Glieder, denn er denkt an die Menschenansammlung von gestern Abend. Er
packt die Mistgabel fester und rennt damit ans Tor.
„Antwort zuerstl" schnarrt er, „wer ist drauß?"
„Karl, mach uffl" ruft es von draußen, „mir sind's, 's Schreiner Klinge,
nur denn de Sarg for dein Vatter! Mach uff, sunscht bleiwen do so viel
Leut steheI"
Da öffnet der Bursche und läßt zwei Männer herein, einen älteren und
einen jüngeren; Schreiner Kling und seinen Sohn. Auf einer Tragbahre haben
sie den Sarg stehen, schwarz lackiert und am Kopfende mit einem blechernen
Christuskörper versehen. Zwischen der Deckelfuge hängt eine rundumlaufende
Papierspitze heraus mit der sich wiederholenden Aufschrift: Ruhe sanft, Ruhe
sanft. Ein Kranz dieser beiden Worte rings um den Sarg. Die Schrauben,
womit der Deckel verschlossen wird, haben Kreuzform. An den beiden Längsseiten
der Totenlade sind Henkel zum Tragen angebracht, denn die Gemeinde hat noch
keinen Totenwagen.
Noch ehe die Schreiner ihre schwarze Last zur Stiege Hinaustragen können,
öffnet sich das Tor abermals, und die Totenfrau, deren Aufgabe es ist, die Toten
des Dorfes zu waschen, anzukleiden und in den Sarg zu legen, kommt herein.
Karl zeigt den Leuten das Zimmer, in dem die Leiche steht. Zuerst möchte
er mit ihnen hinein gehen, aber die Totenfrau sagt ihm, er solle das lassen, da
man nicht wissen könne, ob der Anblick jetzt am zweiten Tage und bei der großen
Augusthitze für die Angehörigen überhaupt noch erträglich wäre. Da geht er
wieder die Stiege hinunter. Im Hausgange unten bleibt er stehen und hört, wie
der Sargdeckel polternd abgehoben wird; hört, wie die Hobelspäne im Sarge
unter der Last der Leiche wuscheln und rascheln; hört den Sargdeckel zum zweiten
Male poltern und die Verschlußschrauben quietschen. Da geht er zu seiner Tante,
setzt sich ihr gegenüber auf einen Stuhl und sieht sie mit großen, schreckhaften
Augen und schlohweißem Gesichte an. Tante Seelchen bemerkt das Grauen in dem
Jungen, straffe ihre Mienen zu energischen Zügen und ermuntert ihn:
„Wacker sein und denken, daß du wieder alles gutmachen tätstl"
Nach einer kleinen Weile kommen die Leute wieder die Stiege herab. Die
Totenfrau, die trotz ihres traurigen Berufes ein rohes Gemüt hat, verlangt einen
Schoppen Wein. Es will Karl wenig passend erscheinen, jetzt Wein zum Besten
zu geben, aber um das Weib los zu sein, holt er aus der Küche ein Schoppen-
glas und eine Stearinkerze, die er anzündet. Der Kellereingang liegt im Hausflur;
rotangestrichen schneidet die Falltür in den schwarz - weiß geplätteten Bodenbelag.
Karl öffnet sie mit einem Ruck und steigt die steinerne Treppe hinab. Nach
wenigen Augenblicken erscheint er wieder, aber mit leerem Glase, zur großen Ent¬
täuschung des Weibes. Er hat nichts zapfen können, denn auch die Weinfässer
sind versiegelt.
Auf diese Auskunft hin wendet die Totenfrau sich um und verläßt ohne
Gruß das Haus. Der alte Schreiner blickt ihr verächtlich nach und murmelt vor
sich hin:
„Schroh Tier, das du bischt I"
Auf eine Frage Karls an die beiden Männer, ob auch sie bös darüber
wären, daß er ihnen keinen Wein geben könne, erklären sie, in aller Herrgotts¬
frühe tränken sie noch keinen Wein, fragen noch nach dem Geburtstagsdatum des
Schmiedes, weil das auf das für den Grabhügel bestimmte Kreuz noch nicht auf¬
geschrieben sei, und als sie es erfahren haben, gehen sie.
Karl und Seelchen beratschlagen, wie sie sich den Tag einteilen sollen, als der
Arzt eintritt. Die Jungfer sagt in erstaunten Tone:
„Herr Doktor?"
„Ich wollte nur mal nach der Kleinen sehen!"
„Jeßgott, Herr Doktor I" sagt Tante Seelchen gerührt, „das ist aber schön
von Ihnen. Dank der Nachsrag. Sie hat die Nacht ja im ganzen ruhig ver¬
bracht, wenn man davon absieht, daß ihre Hände beständig auf dem Deckbett
herumgewuschelt haben. Mit ihrem grellen Lachen ist sie dann wach worden und
verhält sich seitdem bald erregt, bald teilnahmslos. Eben ist sie still, wie Sie ja
selbst sehen!"
„Ja, Fräulein Seelchen," entgegnet der Arzt, „es ist am besten, Sie tun
das Mädchen einmal eine Zeitlang nach Heppenheim in die Anstalt. Möglich,
daß sie sich dort wieder erholt. Ich habe Ihnen hier schon einen Schein geschrieben!"
Als Karl das hört, röter sich seine Wangen. Er wendet sich an den Arzt,
der in der Brusttasche seines Rockes fingert, und fragt in freudiger Erregung:
„Ein Schein, Herr Doktor, ein Schein für den Herrn Pfarrer?"
Da wird des Arztes Gesicht von Unmutfalten zerrissen, und in Karl tastet
mit kalten Fingern eine große Enttäuschung. Er geht aus dem Zimmer.
Darauf sagt der Arzt mit freundlichem Gesichte zu Seelchen:
„Es ist ein Schreiben für den Oberarzt der Anstalt, der mit mir befreundet ist!"
Da spricht Tante Seelchen dem Doktor von ihrer Sorge, daß sich im Dorfe
keine Chaise finden möge, um das Mädchen nach Worms an den Bahnhof zu
fahren, denn man könne mit der Kranken den Weg doch nicht zu Fuß machen.
„Owowowowo!" erwidert der Arzt, „so schlimm sind unsere Bauern denn
doch noch nicht alle, liebes Fräulein Seelchen. Zum Beispiel sind da die Ge¬
schwister Holtner, der Hannes, der Vinzenz und die Male. Besonders der Hannes.
Derb, vielleicht auch grob, aber gut und gütig. Der Vinzenz hat sich beim
Sensenwetzen eine böse Schnittwunde in den Arm beigebracht und liegt nun an
ein wenig Wundfieber. Zu dem muß ich, und da will ich dem alten Hannes
Holtner sagen, daß er mal gleich seine alte Kalesche einspannt. Sie machen unter¬
dessen das Mädchen fertig."
Aber Tante Seelchen hat noch andere Bedenken. Ob man nicht noch ein¬
mal einen Tag warten solle, weil sie doch die Vorbereitungen zur Beerdigung
treffen müsse.
Da schnalzt der Doktor mit der Zunge, wie er schnalzt, wenn er mißmutig
ist, und sagt der Alten, sie solle mehr an die Lebendigen als an die Toten denken.
Was da zu ordnen sei, könne wohl auch der Junge machen. Ein feierlich Be¬
gräbnis gäbe das ja doch nicht, wie er ganz frei heraussagen wolle, wozu da also
viele Vorbereitungen? In einer halben Stunde sei der Hannes Holtner da, und
dann reiche es noch für den Zehnuhrzug nach Bensheim. Von dort fahre man
mit der Mainneckarbahn nach Heppenheim.
Bei diesem guten Rate des Arztes denkt Seelchen an ihren leeren Geldbeutel.
Aber es ist eine Scham in ihr, die sie hindert, dem Doktor davon zu sprechen.
Darum sagt sie:'
„Herr Dokter, könnt das mit dem kranke Made net zu Unzuträglichkeiten
führen in der Eisenbahn? Jeßgott, ich wär so froh, wenn uns der Vetter Holtner
mit seiner Kutsch gleich bis nach Heppenheim fahren wollt I"
„Dja!" wirft der Arzt ein, „das ist so ne Sache, jetzt bei der vielen Feld¬
arbeit. Hin und zurück ist das ein Weg von einem ganzen Tag; wird nicht gut
zu machen sein!"
Da rafft Tante Seelchen sich auf, und während ihr die Schamröte bis unter
die Haarwurzeln steigt, sagt sie hastig:
„Herr Dokter, 's ist auch wegen den Kosten!"
Im ersten Augenblicke zuckt es dem Mann in den Fingerspitzen, er möchte
das Portemonnaie aus der Hosentasche ziehen. Doch er besinnt sich eines anderen,
und reicht Tante Seelchen die Hand hin:
„Fräulein Seelchen, das kann auch so gehen; wie Sie wollen. Den
lachenden Erben der Holtners wird es nichts verschlagen, wenn der Hannes ein-
mal einen Werktag lang feiert. Ich bring das in Ordnung! Guten Morgen,
Fräulein Seelchen!" (Fortsetzung folgt)
urch den zarten Septembernebel bricht die Sonne. Landwärts
ziehen die verdampfenden Schwaden, aufgesogen von dem mütter¬
lichen Licht, und geben die Erde frei, da reckt sich in die klar
gewordene, reine, ruhevolle und doch so hoffnungsreiche Luft, ein
Haus auf der Höhe. Es blickt aufs Meer, das sich von seinen
Schleiern befreit hat und leise rauscht. „Und seine Haltung ist so, daß man
ihm die Liebe zum Meere ansieht, so freudig gehoben blickt es auf die Flut
und immer nur auf die Flut." Vor dem Hause aber steht ein Mann, schlank
und rüstig, die grüne Spessartmütze auf dem vollen, blonden Haar, eine Baum¬
schere in der Hand, und sein Auge wechselt zwischen innig sorgender, handfester
Liebe, die seinen Bäumen, seinen Beeten gilt, und dem freien, hingegebenen,
klaren Schauen in die Weite.
Max Dreyer, dessen funfzigsten Geburtstag die Schar seiner Freunde
und Verehrer feiern wollte, steht hier auf eigener Erde und feiert seine eigene
Feier, da er fern von den Menschen seiner Erde und seinem Meere nahe ist
und das freie Sichversenken und Schauen hat, ungehemmt von den Giebeln
der Großstadt, von der Liebe und Betriebsamkeit der Menschen. Auf eigenem
Weg hat er die eigene Erde sich erobert.
Als vor mehr denn einem Jahrzehnt Dreyers rüstige, hoffnungsvolle
Energie daranging, aus dem zerklüfteten Lehmboden, auf dem sich Wind und
Wetter ein Stelldichein gaben, sein Haus zu bauen und Kulturland zu schaffen,
ward er von allen Ansässigen und Kennern des Landes gewarnt. Er hörte
nicht und tat nach seinem Willen. Und heute ist sein Land der schönen Insel
gesegnetster Fleck Erde.
Ohne diese seine eigene Erde, auf der er Wurzel schlug, ist Max Dreyer
nicht mehr zu denken. Auf diesem harten Boden, der Winde Spielplatz, zu
dem seine Wesensart so trefflich paßt, hat alles Reine und Beste in ihm sich
geklärt. Hier hat er, der Gesellschaftsflüchtige, seine fromme Einsamkeit gefunden.
Und hier nur konnte er zur Höhe seines Schaffens kommen. Hier nur sein
tiefstes und innerlichstes Werk: „Auf eigener Erde" schaffen.
Auch er mußte den Weg zu sich selber finden. Die achtziger Jahre, diese
Sturm- und Drangperiode der neuen deutschen Literatur, trug auch Max Dreyer
auf ihren Wogen. Ibsens überragendes Genie — der Naturalismus — die
soziale Frage — dies Dreigestirn, das über die Geister herrschte, leuchtete auch
in Dreyers Schaffen hinein. Trotzdem ist es falsch, sein erstes Drama: „Drei"
lediglich als eine epigonenhafte Frucht Jbsenschen Einflusses zu nehmen. In
alle Werke dieser Zeit „Geschichte einer Denkerin", „Hunger", „Jochen Jürgens",
„Winterschlaf" leuchten die großen Fragen des Tages hinein: die soziale, die
Frauenfrage, die freie Ehe. Aber nicht diese Bewegungen an sich will er als
dichterischer Geschichtsschreiber gestalten — mehr interessiert ihn das rein
Menschliche, das Einzelschicksal und die Einzelpersönlichkeit, der aus dem Strome
der Zeit der Konflikt erwächst. Und bei dem einzelnen das Eigene — der
eigene Wille und die eigene Art, die eigene Wege geht. Fest in sich selbst,
gerade, aufrecht und klar, selbständig bis zur Selbstgenügsamkeit und eigenwillig
bis zum Eigensinn sind seine Menschen, dabei von ursprünglicher Natürlichkeit
und frischem Frohmut.
Und ganz früh schon das, was man die „ideale Forderung" Dreyers nennen
könnte: Die Forderung der Frau nach einem starken Manne, der ihr Achtung
abzwingt. Hier haben wir das zweite Hauptmotiv der Dreyerschen Kunst:
die Frau, uni deren Bild er kämpft, deren Ergründung er in immer neuen
Gestalten sucht. Nicht das weiche, ergebungsfreudige Weib, die starke, spröde
Frau, die ihr Selbst und ihr Eigenes wahrt, bis der Eroberer ihr Besseres
gibt. — In vielerlei Wechsel, in immer neuen Bildern und Gestalten kommt
dieser Gedanke zum Ausdruck.
„Wer geht ist Herr, wer fährt ist Knecht," von diesem eigenwilligen Wort
des Hans Meinle („Winterschlaf") bis zum stolzen Wanderspruch des Peter
Brandt: „Wer sucht, der hat, wer findet, der verliert," ist eine weite Strecke
Wegs, auf welchem Max Dreyer eine Fülle besonderer Ideen, krauser und
lustiger und wirklich ernst gemeinter anhäuft. Manch Schrullenhaftes findet
sich und vieles, das ganz gewaltig anfechtbar ist. Doch ist es immer eigen¬
artig. Ob er mit aller Strenge für eine Lieblingsidee kämpft, ob er im liebens¬
würdigen Scherzspiel seine krausen und absurden Einfälle schieben läßt, ob er
endlich als erbarmungsloser Fechter die Dinge auf seines Degens Spitze stellt.
Seine Neigung zum parabolischen, zum widerspruchsvollen, zum radikalen, seine
fröhliche Lust am Bluff kommt hier zum Ausdruck. Mit allem, was die Zeit
ihm bringt, setzt Dreyer sich in ganz persönlicher Weise auseinander. Im
Großen wie im Kleinen. Mit der sozialen Frage, mit der Wünschelrute wie dem
Radium, mit der Kindererziehung wie mit einzelnen politischen und religiösen Fragen.
Hin und wieder hat Dreyer auch mit raschem Griff an Dinge sich gewagt, die
ihm nicht aus dem Herzen kamen, die ihn nur reizten, und denen seine Bildner¬
kraft leicht beizukommen glaubte. Oder er hat mit schnellen Bildnerhänden einen
Stoff, auch einen, der ihm nahe war, bewältigt. In großen Zügen stand das
Werk nun da — doch unfertig, und der Dichter hatte das Interesse daran ver¬
loren. Seine Seele hat er dann nicht hineingegeben.
In dem Lustspiel „In Behandlung", das auf dem Hintergrund der Frauen¬
frage spielt, hat sich Max Dreyer seine Aufgabe noch gar zu leicht gemacht;
trotzdem meldet sich schon hier sein kräftiger und liebenswürdiger Humor stark
zum Wort. In dem historischen Schwank „Eine" wird mit großem Aufwand
und schwerem historischen Geschütz aus der Wiedertäuferzeit, das dem Stück
das innere Gleichmaß kostet, die Idee der Vielweiberei, die in gewissem Sinne
ja modern ist, durch die Nöte eines „Einzelnen" in sehr drastischer, aber
drolliger Weise widerlegt. Aus mancher Grobheit, mancher gequälten Dürre,
leuchten herzlich warme Töne hervor, viel ursprüngliche Fröhlichkeit und Schelmerei.
Hier schon finden wir die große Gabe Max Dreyers mit scharfen, humoristischen
Lichtern die menschliche Schwäche zu zeichnen, mit fröhlicher Kühnheit die heikelsten
Fragen zu behandeln, vor allem aber Dinge, die an die Tiefen rühren, in derber,
offener Munterkeit, ohne Entblößung ans Licht zu ziehen. Ja vielleicht ist in diesen
munteren Spielen mehr eigene Sehnsucht des Dichters eingeschlossen als er selber
wahr haben will. Und eine Absage gegen alles Bohemehafte liegt darin. — Mit
Satire und fröhlicher, gütiger Ironie zieht Dreyer über den Kultus des Per¬
sönlichen her in seinem Junggesellenschwank „Großmama". Als Lustspiel nicht
auf großer Höhe, ist es doch eine geradezu köstliche Studie eines alternden
„Junggesellen aus Prinzip", mit vielen kleinen urechten Zügen ausgestattet,
mit tausend reizenden komischen Einfällen geschmückt. — Allem Unwahren, aller
Kriecherei und der verhaßten Prüderie hat Max Dreyer in seinen Komödien
den Krieg erklärt. Gesundes sinnenfreudiges Triebleben aber kommt zu seinem
vollen Recht. Herzliche Wärme mit fröhlichem, urwüchsigen Humor vermählt,
kecke, derbe und doch anmutige Laune, haben die köstlichsten Werke voll
Witz, Behagen und Innigkeit geschaffen! — In seinem arg verketzerten „Tal
des Lebens", in dem mancher nur Lüsternheit zu wittern vermag, hat er ver¬
logener Prüderie die urgesunde Natürlichkeit gesunder Liebe mit kecker Laune
gegenübergestellt. In Max Dreyers Seele wohnt die Reinheit und nnr ein
gänzlich Reiner konnte furchtlos bis an die Grenzen des „Erlaubten" gehen.
— Dem gleichen Schicksal arger Mißdeutung verfallen ist auch die „Hochzeits¬
fackel", die übrigens an dem Dreyerschen Urübel der Unausgeglichenheit leidet.
„Hochzeit ist Heimlichkeit"; wider die Versündigung gegen dieses keusche
Gefühl, wider die Schamlosigkeit, mit der die heimlichsten und stillsten Empfin¬
dungen zweier Menschen, die das Leben zusammengibt, ans Licht gezerrt und
begafft werden, wendet sich hier des Dichters ehrlicher Zorn in fröhlichem Ge¬
wände. — In all seinen Komödien und Schwänken ist er im tiefsten Grunde
ernst. Doch da er nicht gestehen mag, wie ernst und ehrfürchtig er über die
Dinge denkt, greift er zur Maske und wird oft am tollsten, wo er am tiefsten
aus der Seele spricht. Gerade damit zeigt Dreyer, daß er ein Dichter von
Geblüt ist, und er widerlegt zugleich sein eigenes Bedenken, daß Dichtung
Entblößung sei. Wer ahnt — im „Lächelnden Knaben", dem fremden Findlings-
kind, Dreyers heimliche, von ihm selbst gewiß nicht zugestandene Vatersehnsucht?
Hier herrscht die Majestät des Kindes, und so wird dieser elternlose, verstoßene
Wicht zum Liebesgott (Amor, der lächelnde Knabe) und Glückbringer.
Der junge Optimismus, die jungen lieben Illusionen, der Knabenseele ernstes
Suchen und Sichweiten, das triebhafte Sprießen, des Erwachens Scheu und spröde
Auflehnung dagegen findet gütig lächelnde und ehrfürchtige Schilderung. Die
tiefsten und reinsten Töne für die Not dieser Jahre mit ihrer Qual, ihren
Kämpfen und ihrem Überschwang hat Max Dreyer in seinem innerlichsten
Stück: „Die siebzehnjährigen" gefunden, wo knabenhafte Reinheit und elemen¬
tare weibliche Raubtiernatur gcgeneinanderstehen und eine zarte Seele eigentlich
an einem Irrtum zerbricht. Von Reinheit getragen ist auch „Venu3 ^matkusia",
ein historisches Stück, dessen fanatischer Jugendheld an dem Zwist der politisch
gebotenen Keuschheitsforderung und dem Zwang des Blutes zugrunde geht.
In den Dramen „Der Probekandidat" und „Der Sieger", die an künstlerischer
Vertiefung manches zu wünschen übrig lassen, ferner im „Hans" begegnen wir
einem weiteren Dreyerschen Zug: der unbedingten Wahrhaftigkeit.
Im „Probekandidaten" stellt Max Dreyer auf dem Boden der ihm
vertrauten Schule eine klare, reinliche, tief wahre Persönlichkeit der unwahr¬
haftigen, von Herkommen, Streberei und Selbstsucht regierten Menge gegen¬
über. Um die Wahrheit und Freiheit des Unterrichts geht es. Prächtige,
ganz eigen gesehene Menschenbilder hat Dreyer hier gefunden. In dem von
sonnigem Behagen und scharfer Nordseeluft gleichermaßen durchwehten Drama
„Hans" ist dem Dichter eine aufrechte und klare Frauengestalt von verhaltener
Güte und Innerlichkeit, die durch die Liebe Weisheit und Verstehen lernt, trefflich
gelungen. — Um das Eigene der Persönlichkeit und in der Kunst geht es auch
im nächsten Drama, „Der Sieger", einer leider gänzlich unfertigen Arbeit, die
zum Kampfstück geworden ist.
Der Drang zur absoluten Wahrhaftigkeit, den wir als eine der persön¬
lichsten Eigenschaften Dreyers bezeichnen, führt statt künstlerischer Notwendigkeit
in einigen späteren Werken die Feder. („Puß", „LLLlesia triumplmns".)
Von seiner Heimathliebe, seiner Freude an freier Weite, und seinem Hang
zur Erde, seinem angeborenen Mecklenburger Land und von aufrechten,
helläugiger Menschen, um die der Duft der Scholle weht, durch deren Seele
der Meerwind fährt, von Menschen, die auf eigener Erde wurzeln und
im eigenen Wesen ihr Genüge haben, erzählen die Novellen „Lautes und
Leises", „Strand". Auf seinem Heimatboden ist „Des Pfarrers Tochter von
Streladorf" entstanden. Dort sind anch die Blumen Dreverscher Kunst gewachsen,
die seiner Sprache wahrsten .Klang bekommen haben: sein plattdeutsches Gedicht¬
buch „Nah Huus", das Frische und Schelmerei und leichte Wehmut vereint.
Ans Dreyers eigener Erde aber steht vor allem in Starrheit und Selbst¬
herrlichkeit „Ohm Peter", stehen die drei Helden seines Romans „Auf eigener Erde",
diese starken, ragenden, bis ans Ende sich selbst getreuen Naturen, auf die man,
trotz mancher Mängel, vieler Schwächen — nicht ohne Ergriffenheit sehen kann.
Ohm Peter, ein Problematiker ganz eigener Prägung, der hinter Härte
und Dialektik heimliche Sehnsucht und mimosenhafte Scheu versteckt, ein geistiger
Eigenwanderer von schmerzlicher Notwendigkeit, hat in leidenschaftlicher Ein¬
samkeit zur Natur sich geflüchtet, der er in pantheistischen Aufgehen gehört.
In seiner Welt von Meer, Weite, Sonne und Wolken sucht ein schlicht-
seiner, treu hingebender Mensch ihn auf — Kind und Weib zugleich —, weckt
in ihm alle Sehnsucht und läßt ihn die Einsamkeit schmerzlicher empfinden —
und dennoch nur heißer lieb gewinnen. Von seinem Weltenheimweh seiner
inneren Zerklüftung vermag sie ihn nicht zur Selbstaufgabe, die einzig Glück
bedeutet, zu erlösen.
„Auf eigener Erde" handelt vom Kampf erbangesessener Herrenkinder um
den geliebten Boden, den sie endlich wieder gewinnen. Fromm wird der
Dichter, wenn er von der Erde spricht und heilig wie ihm wird die Erde
uns. Ein Buch der Erde wie „Ohm Peter" ein Buch vom Meer. Und
hier finden wir auch Max Dreyers Frauengestalt in ihrer Vollendung. Ursula
von Elch, Herrin auf der geliebten Erde, findet sie doch ihre eigene Erde erst,
als sie das Land sür die Liebe opfert. Ihr ganzer Gegensatz und dennoch eine
ganze Frau ist die Schifferstochter und Schiffseignerin Miete („Klaas Kork"), die
an ihrem Schiff als ihrem besten Eigen mit heißer Leidenschaft hängt, In ihr
hat Max Dreyer einmal die andere Seite der weiblichen Natur, das Katzenhafte,
das lauernd Raubtierhafte gegeben. Wie eine Sehnsucht ist es in Max Dreyer,
der wahrlich kein Mannweib liebt. Er, der Frauenkenner und -crkenner, der
so viele Frauen schwach gesehen, hat sich sein Ideal zu schaffen gesucht, das
ihm das Leben nicht zugeführt. — In seiner Weise hat er sich die Frauen¬
frage gelöst. „Die Frauenfrage ist der Mann." Ein schwaches Männer¬
geschlecht läßt so viel Frauenkräfte unerfüllt, daß sie nach eigenem Tun und
nach Selbstherrlichkeit streben. Nicht „die Zähmung der Widerspenstigen"
ist die Tiefe seiner Frauenanschauung — sie liegt bei ihm in der Ergänzung,
der Erfüllung und Beherrschung der Frau durch den Mann.
Es ist kein Widerspruch, daß nicht nur diesen klaren Herrenmenschen des
Dichters Herz gehört, daß er so oft das Abseitsliegende, Besondere sucht, so
gern auf Menschen mit Absonderlichkeiten eingeht. — Auch das ist Herrentum
und Eigenart. Nichts Winkelhaftes und Verschrobenes haben dabei auch diese
Eigenbrötler. Nur ihren besonderen Gefühlsklang, nur ihren eigenen geistigen
Weg gehen sie. Der Pastorssohn Gottfried, „Lsxa loczuuntur", dem all seine
Heimatsehnsucht sich in dem Armring, den er aus dem alten Grab bei seiner
Heimatskirche ausgegraben, verdichtet, ist ein Betspiel. — Mag sein, daß
namentlich in Dreyers frühen Werken das Abweichen vom breiten Wege mit
allzu starker Bewußtheit und Freude an sich selbst sich gibt. Aber nicht den
anderen Wahrheit predigen will er, nicht Neuland will er mit seinen Ideen
entdecken. Nur das Recht des eigenen Denkens und der eigenen Art will er
behaupten.
Am einsamsten steht er wohl in seinem musikalischen Gefühl. Er, der
wahrlich kein musikverlassener Barbar ist — man lese, wie er die Seele der
Musik zu deuten weiß in manchem seiner Werke — lehnt dennoch mit Peter
Brandt die Öffentlichkeit der Musik ab, die „laut ohne Einsamkeit", die „nicht
die Reinheit der einsamen Stille hat".
Krasser noch ist Dreyers musikalisches Bekenntnis über das Lied, das er
für eine minderwertige Kunstgattung erklärt. Eine Mischung zweier Künste,
wodurch beide unrein werden. Der feste und starke Sinn des Wortes werde
durch die Musik gewaltsam verändert. Und wiederum die Musik durch das
Wort gefesselt. „Die Musik ist da, wo das Wort noch nicht ist. Und
wiederum da, wo das Wort nicht mehr sein kann." „Drei Reiche sind
übereinander: die Wolken, über den Wolken die Sterne, über den Sternen
Sphärenklänge".
Mögen diese Ausführungen von „tödlichem Radikalismus" sein, wir wollen
uus nicht bei Pastor Willers' Worten beruhigen: Starres Gedankentum der
Einseitigkeit, kalte Konstruktion einer Theorie. Wir wollen dem Dichter glauben,
daß er bei Liedern, und nun gar bei Opern, einen Zwiespalt gefühlt hat, eine
Unbefriedigung, über die er sich gedanklich Rechenschaft ablegte, um dann zu
so radikalen, aber gewiß ehrlichen und reinlichen Anschauungen zu kommen.
Der ganzen großen Kunst geht Dreyers pietätloser Geist zu Leibe.
„Jeder Bauer, der die Erde pflügt, steht der Gottheit näher als der
Künstler." Und für die Menschheit sei das Wachstum des Korns wichtiger
als die Lösung irgend welcher Probleme. So grotesk das klingt, es ist ihm
keine Redensart. Mag es wieder einseitige Erfassung und Überspannung sein,
so ist es doch kein Wortspiel, obwohl er oft genug gezeigt hat, daß es ihm
heiliger Ernst mit der Kunst ist. Und dennoch: „Spiel ist Verstellung, spielen
sollte nur, wem's not tut, daß er sich verstellt". — Also ist die Kunst
ihm nur ein Spiel, und — so wird mancher sagen — es fehlt ihm nur
der tiefste Ernst und fehlt ihm nur die zwingende Notwendigkeit, daß er
schaffen muß?
Es ist eine große — die größte Frage in der Kunst: wer muß denn
schaffen? Und wie viele glauben, schaffen zu müssen, über die in kurzen Jahren
der Wind der Vergessenheit weht? — Kunst und Leben, sie sind Schwestern,
urverwandt, die Äußerungen desselben Triebes. Alle Kunst ist Sehnsucht.
Manch einer hat die gewaltigsten Träume, Träume in Tönen, in Bildern,
Träume, die Dichtungen sind bis ins einzelste ausgeführt — und zum Kunst¬
werk für die anderen fehlt nur das eine, daß er Hand ans Werk legt. Das
Wichtigste allerdings — für die anderen, aber für den Künstler? Wäre Naffael
nicht auch ohne Hände der größte Maler gewesen? Buße nicht das Geist-
geschaffene seine größte Reinheit ein, wenn die Hand daran rührt? Und weiter:
entscheidet nicht oft der Zufall, ob ein Dichter zum „Künstler" wird? Wäre
Liliencron Schriftsteller geworden, wenn nicht das Leben sich ihm versagt hätte?
Wieviel schweigende Dichter mag es geben? In Dreyers Dichtungen finden
wir so manchen.
Kunst ist Entblößung. Das ist nicht bloß Dreyers Theorie, er hat auch,
leider, muß man sagen — nur allzu sehr versucht, das Eigenste zu verbergen
und nur das Gröbere Gestalt werden lassen. „Meine Visage gehört mir selbst."
Das Allerpersönlichste des Dichters will er der Dichtung vorenthalten.
In solchen Absonderlichkeiten verliert sich Dreyer aber nicht. Die Lust
am Grübeln verdirbt ihm die Lust am Leben keineswegs. Er findet seine
Freude am Bilden und am Bildlichen. Selbst in seinen schwächeren Stücken
rettet ihn die Bildkraft seiner Schilderung. Die gedrungene Anschaulichkeit der
Menschenzeichnung und der beseelten Bildlichkeit der Naturschilderung in seinen
besten Werken ist schlechthin meisterhaft. Echte Bildschnitzerfreude wendet auch
dem Kleinsten seine ganze Liebe zu. „Nebenfiguren" gibt es nicht für ihn.
Das Nebensächlichste bekommt ein scharf gezeichnetes Gesicht. Und seine Dichter¬
güte blickt mit festen klaren Augen und findet ihre größte Freude an denen, die
das Leben stark und geruhig bejahen, der Grübler liebt die schlichtesten und
natürlichsten.
Auf eigener Erde — das ist Max Dreyers Sieg und die Befreiung über
sich selbst. Eigene Erde — das Beste, was dem Menschen beschieden sein kann.
Wer eine eigene Erde hat, etwas auf Erden, wo er wurzelt, um das er
kämpfen kann, dem seine Not und seine Liebe gehört, der ist gesegnet. Auf
eigener Erde — ist das nicht die Losung für unsere Zeit? Bis ins Soziale
geht es. Denn gibt es bessere Abwehr gegen Vaterlandsvergessenheit und
Internationales als eigener Siedler auf eigener Erde? — Doch bleiben wir
beim Menschlichen. Die eigene Erde ist die Lösung und Erlösung vom allzu
Täglichen. Vom Hastigen, von dem Zerrissenen, geistig Zerklüfteten, vom
Heimatlosen unserer Zeit.
Max Dreyer ist noch jung. So jung und schaffensstark, daß wir noch
viel von ihm erwarten dürfen. Wir wünschen, daß sein Schaffen ihm inMer
ernster und innerlicher werde, und keine Flüchtigkeit und keine falsche Scheu,
sich zu entblößen, ihm seine Werke schmälert. Zu lange hat er planmäßig
versteckt. Zu lange hat er von sich selbst wenig genug gegeben. Erst durch
„Ohm Peter", den „Lächelnden Knaben" und zuletzt durch den gemütvollen
„Martin Overbeck" erfahren wir von ihm selber etwas. Das ist ein Wunsch
zum Schluß: Dieser tapfere, klare, warmherzige, urdeutsche Dichter soll uns
mehr von seinem eigenen Wesen, aus seinem Herzen geben.
Mit Ehrfurcht lesen wir unsere gründlichen
Bücher. Nimmt doch auch die Gemeinde der
Fachgenossen in der Regel die Erläuterungen
feierlich auf, denen sie dort begegnet. Manch¬
mal freilich —I Des Fürsten Chlodwig zu
Hohenlohe-Schillingsfürst bekannte Denkwür¬
digkeiten fangen mit verstreuten Notizen aus
des nachmaligen Reichskanzlers Knabenzeit
an. 1834 im Herbst ist Prinz Chlodwig
sekundärer des Gymnasiums zu Erfurt. Er
schreibt in sein Tagebuch: „Ankunft der ganzen
Familie auf dem Neuerbe. Allgemeine Krank¬
heit." Hierzu erläutert der Herausgeber
Friedrich Curtius: „Am 12. November war
nämlich der Landgraf Viktor Amadeus ge¬
storben und hatte seinen Allodialbesitz" —
Ratibor, Corvey, Treffurt—, „seinen Neffen,
den Prinzen Viktor und Chlodwig, hinter¬
lassen. Corvey wurde seit dieser Zeit der
regelmäßige Aufenthalt der Familie." Nun
kann jene Familienankunft sehr Wohl mit dem
Erbanfall in Zusammenhang stehen, aber der
Ausdruck „Neuerbe" legt vielmehr Erfurt als
die Örtlichkeit fest. So heißt eine Gasse im
südlichen Teil der früheren Innenstadt, wo
also, — und darin liegt vielmehr der Wert
dieser Aufzeichnung, — Chlodwig und sein
Bruder Viktor als Schüler gewohnt haben
müssen. Das ist um so interessanter, als
„das Neuerbe" bald hernach, mit Beginn der
Eisenbahnära, für solche Bewohner ein recht
ungeeignetes Milieu gewesen wäre. — Noch
schlimmer fuhr Professor Ludwig Geiger bei
noch größerer Behutsamkeit. Er gab den
Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter heraus.
Hier erzählt der letztere, e<habe den Minister
von Schuckmann „promeimnäo" getroffen,
und zwar bei dessen Landgute an der Unter¬
spree, „das man ein Sandschlecht nennen
dürfte" (Reclam, Bd. III, 426). Aus Land
zu Sand und gut zu schlecht fertigte der alte
Zelter mithin einen billigen Kalauer, aber
Professor Geiger steuerte auf eigenste Kosten
erst den wahren Witz bei, indem er die wissen¬
schaftliche Anmerkung hinzusetzte: „(Snnd-
schlecht) bei Grimm, Deutsches Wörterbuch,
Weder unter Sand noch unter Schlecht auf¬
geführt".
„Hiernach ist der Klageanspruch
aus dem Vertrage vom 25 April 1904 und
zwar aus dem Grunde, weil der Beklagte auf
die zur Verfügung zu haltenden vier Kuxe
und seine übrigen Kuxe aus dem Erlöse der
Kaligerechtsame als Gewinn erhalten, was
dein Kläger als Vergütung für seine Mühe¬
waltung zukam und was Beklagter dem Klüger
in Höhe seines Vergütungsanspruchs heraus¬
zugeben vorpflichtet ist, und soweit dieser Grund
versagen würde, weil er schuldhaft, um seinem
Vorteile zu dienen und seine Forderung zu
befriedigen, den Vergütungsanspruch des Klä¬
gers gegen die Gewerkschaft geltend zu machen
unterlassen, diesen in Höhe dieses Anspruches
geschädigt und ihm daher wegen Vertrags¬
verletzung zu leisten hat, dem Grunde nach
gerechtfertigt."
So schreibt das Overlandesgericht in
Düsseldorf in dem Urteil des 4. Zivilsenats
vom 20. Juni 1912.
Auch solche Schöpfungen können Gutes
stiften, wenn sie im Unterricht Verwendung,
finden. Für die Schüler der höheren Klassen
wird es eine dankbare und lehrreiche, wenn
auch schwierige Aufgabe sein, den Satz ins-
Die Mobilmachung auf dem Balkan hat auf die Börse wie ein
Donnerschlag gewirkt. Nicht anders wie vor Jahresfrist anläßlich des Marokko¬
konfliktes durchfuhr ein lähmender Kriegs schrecken die Mächte, welche sich gerade
jetzt angesichts der glänzenden Wirlschaftskonjunktur und der verminderten Geld-
svrgen einer besonders ausgeprägten Sorglosigkeit Hingaben. Auf politische
Überraschungen war man ganz und gar nicht gefaßt. Im Gegenteil, der Friede
in Tripolis schien nur noch eine Frage von Wochen, wenn nicht von Tagen,
und den inneren Schwierigkeiten der Türkei, den Aufständen und der Unruhe
der Balkanvölker legte man nicht das mindeste Gewicht bei. Die ständige
Gewohnheit ließ die täglichen Nachrichten hierüber schließlich uninteressant er¬
scheinen. Von dem Friedensschluß mit Italien erwartete man auch eine
Beschwichtigung dieser Unruhen, die nur eine interne Angelegenheit der Türkei
zu sein schienen und keineswegs in das Gebiet der hohen Politik überzugreifen
drohten. Seit die Börse die wichtige Frage des deutsch-englischen Einver¬
nehmens nicht mehr als eine Quelle möglicher Sorgen glaubte betrachten zu
müssen, schenkte sie tatsächlich der Politik keine Beachtung mehr. Nur die Ge¬
staltung der Geldverhältnisse gab ihr Anlaß zu einer gewissen Beunruhigung
und nachdem auch diese Furcht von ihr genommen, lag die Bahn frei. In
Wirklichkeit aber war die Situation insofern nicht unbedenklich, als die Speku¬
lation unter dem Einfluß der günstigen Konstellation einen mächtigen Anreiz
erhalten und infolgedessen die Kurse auf eine Höhe getrieben hatte, die schon
an sich Bedenken erregen mußte. Je mehr sich in den Betriebsausweisen und
den bekanntwerdenden wirtschaftsstatistischen Daten der starke Ausschwung des
Wirtschaftslebens ausprägte, um so stürmischer gestaltete sich das Treiben am
Effektenmärkte. Unter den größten Ansätzen wurden die Kurse der Jndustrie-
papiere von Etappe zu Etappe gesteigert. Je weitere Kreise die Spekulation
zog, um so mehr vergrößerte sich die Zahl der schwachen Hände und besonders
in den Kassaindustriepapieren, welche großenteils nie gesehene Kurse erklommen
hatten, waren enorme Summen aus Kredit gekauft. Diese ganz einseitige
Spekulation auf die Hauffe bot bei dem hohen Kursstand der Papiere, der
längst nicht mehr eine ausreichende Risikoprämie gewährleistete, ganz außer¬
ordentliche Gefahren. Die Verhältnisse lagen an den kontinentalen Börsen
gleichmäßig; wie in Berlin, so war auch in Wien, Petersburg und Paris eine
Überspekulation vorhanden, die alle Merkmale einer ungesunden Entwicklung
aufwies. Unter diesen Umständen mußte der plötzliche Kriegsschrecken, auf den
die Börsen nicht im mindesten gefaßt waren, geradezu vernichtend wirken. Ein
kopfloser Verkaufsandrang setzte ein, die Kurse fielen haltlos, da Käufer nicht vor¬
handen waren und die Banken bei der Unübersichtlichkeit der Situation vorerst
nicht intervenierten. So war für einzelne Werte, obwohl sie bisher zu den Favorit¬
papieren gezählt hatten, wie die Aktien der Akkumnlatorenfabrik, überhaupt keine
Notiz zustande zu bringen, der Kurs mußte gestrichen werden. Andere Papiere
der gleichen Klasse erlitten enorme Verluste; so sanken die Aktien der Vogt¬
ländischen Maschinenfabrik, die im Frühjahr den Anlaß zu dem bekannten Ein¬
schreiten des Staatskommissars gegeben hatten, an den beiden ersten Schreckens¬
tagen um volle 100 Prozent. Von der Größe des Verkaufsandranges kann
man sich ein Bild machen, wenn man hört, daß am ersten Tage etwa eine
Million Gelsenkirchener und über zwei Millionen Kanadaaktien angeboten waren.
Kein Wunder, wenn die führenden Montanwerte, die Schiffahrts- und Elektrizitäts-
aklien sämtlich 10 bis 20 Prozent im Preise sanken. Solche Entwertung hatte
natürlich Zwangsverkäufe und Selbstexekutionen im größten Umfang zur Folge,
so daß die schwachen Positionen zum Teil mit enormen Verlusten liquidiert
wurden. Dieser schmerzliche Zusammenbruch der Börse war indessen nicht sowohl
in den realen Verhältnissen als in der Kopflosigkeit begründet, welche die Börse
überraschenden Situationen gegenüber häufig an den Tag zu legen pflegt, und
er gewann eine solche Größe nur infolge der börsentechnisch ungünstigen Markt¬
lage. Es fehlte das Ventil der Baissespekulation. Das zeigte sich sofort, als
der Markt von den schwachen Elementen gereinigt war und nach dem ersten
Schrecken wieder ruhige Überlegung Platz griff. In diesem Moment hörte
nicht nur der Verkaufsandrang auf, sondern es vollzog sich ein vollständiger
Tendenzumschwung. Stürmische Rückkäufe ließen die Kurse alsbald wieder derart
in die Höhe schnellen, daß der unbeteiligte Beobachter auch in diesem Verhalten
des Marktes nur eine unbedachte Übertreibung zu sehen vermag.
Will man die augenblickliche Situation, die unklar und gefahrdrohend
genug ist, zutreffend würdigen, so muß man sich folgendes vor Augen halten.
Die weltwirtschaftliche Konjunktur befindet sich gegenwärtig in einem
Aufstieg, der an Intensität, Umfang und gesunder Grundlage die Periode der
letzten Hochkonjunktur bei weitem übertrifft. Noch nie hat die nationale Pro¬
duktion der Hauptwirtschaftsländer, vornehmlich aber die Deutschlands, einen
solchen Umfang erreicht wie gegenwärtig. Die Eisenindustrie, die Kohlen¬
förderung, die weiter verarbeitenden Gewerbe, alle wissen mit ganz vereinzelten
Ausnahmen nur von Nekordzahlen über Tätigkeit und Absatz zu berichten.
Diese mächtige wirtschaftliche Bewegung ist aber noch in ihrem inneren Kern
gesund. Die fast unzertrennlichen Begleiterscheinungen jeder länger andauernden
Hochkonjunktur, Überspekulation, hochgespannte Warenpreise, Mißverhältnis
zwischen Produktion und Absatz, Kredit- und Geldnot, unerschwingliche Zinssätze,
lassen sich einstweilen noch überhaupt nicht oder doch nur vereinzelt feststellen.
Insbesondere hat der Geldmarkt eine sehr erfreuliche Erleichterung erfahren.
Es fehlen daher einstweilen alle Anzeichen dafür, daß der allerdings unaus¬
bleibliche Umschwung des Wirtschaftslebens in bedrohlicher Nähe ist. Zum
mindesten darf man die Behauptung wagen, daß die Voraussetzungen für einen
krisenhaften Zusammenbruch wie im Jahre 1907 heute nicht gegeben sind, und
daß daher ein solcher vorerst nicht zu befürchten ist, wie er anderseits auch bei
einiger Vorsicht wohl überhaupt vermieden werden kann.
Die große Frage ist aber, ob dieser so günstigen Wirtschaftslage von feiten
der Politik ernsthafte Gefahren drohen. Die Börse hat offenbar in blindem
Schrecken die Frage zunächst vorbehaltslos bejaht, als sie die Mobilmachung
der Balkanstaaten erfuhr, gleich darauf aber fast mit derselben Bestimmtheit
verneint, als sie glaubte hoffen zu dürfen, daß der Balkankrieg lokalisiert bleiben
würde. Nun ist zwar bis zur Stunde eine wirkliche Klärung der politischen
Lage nicht eingetreten. Es ist der Mobilmachung einstweilen noch nicht die
Kriegserklärung oder die Eröffnung der Feindseligkeiten gefolgt. Selbst wenn
dies aber in den nächsten Tagen der Fall sein sollte, so liegt noch kein Grund
vor, deshalb einen Weltbrand für unausbleiblich zu erachten. Außerordentlich
beruhigend muß es wirken, daß der Balkonkonflikt zunächst den Frieden zwischen
Italien und der Türkei in greifbare Nähe gerückt und damit einen offenen
Interessengegensatz zwischen Nom und Wien beseitigt hat. Immerhin bleibt
natürlich, so lange nicht eine einmütige Erklärung der Großmächte vorliegt,
eine gewisse Unsicherheit und Bedrohlichkeit der Lage bestehen. Politische Ge¬
fahren, selbst wenn sie entfernt und nicht unmittelbar bedrohlich sind, müssen
naturgemäß der wirtschaftlichen Entwicklung einen starken Hemmschuh anlegen.
Schon ein lokalisierter Balkankrieg wäre für Deutschland, das mit allen in
Betracht kommenden Staaten, vornehmlich aber mit der Türkei durch starke
Gläubiger- und Wirtschaftsinteressen verknüpft ist, ein beklagenswertes Ereignis.
Doch dürfte angesichts der ganz ungenügenden finanziellen Rüstung der kleinen
Balkanstaaten ein langdauernder Krieg kaum im Bereich der Möglichkeit liegen.
Anders aber und weitaus bedrohlicher läge die Sache, wenn die Möglichkeit
weiterer Verwicklungen in Betracht gezogen werden müßte, selbst unter der
Voraussetzung, daß Deutschland an diesen nicht unmittelbar beteiligt wäre.
Es gälte dann, mit ganzer Kraft sich wirtschaftlich auf alle Eventualitäten
zu rüsten.
Unter diesen Umständen gewinnt natürlich die Frage nach der finanziellen
Kriegsbereitschaft Deutschlands ein erhöhtes aktuelles, wenn auch glücklicher¬
weise einstweilen nur theoretisches Interesse. Lager die Dinge hinsichtlich der
Finanzkraft Deutschlands so, wie man sie im Ausland bei unseren guten
Freunden noch bis vor kurzem wieder und wieder zu schildern beliebte — wir
hätten dann allen Grund, europäischen Verwicklungen sorgenvoll entgegenzusehen.
Glücklicherweise aber haben wir soeben erst den Beweis dafür erbracht, daß
unsere Geldverhältnisse eine ganz unerwartete und erstaunliche Elastizität besitzen.
Angesichts der gespannten Lage des Geldmarktes im Vorsommer und den täglich
wachsenden Ansprüchen der Industrie und der Börse mußte man mit Sicherheit
darauf rechnen, daß die Reichsbank vor dem Beginn des Herbstquartals ihren
Zinsfuß erhöhen würde, um so mehr als der Privatdiskont sich hart in der
Nähe der Bankrate hielt. Nun hat sich aber, man kann sagen verblüffender
Weise herausgestellt, daß es der Bank trotz einer gewaltigen Inanspruchnahme
am Ende September möglich war, diesen gefurchtsten Termin ohne Diskont¬
erhöhung zu überwinden. DerReichsbankpräsidenthatbeiKonstatierungdieserTatsache
ausdrücklich hervorgehoben, daß dieses erfreuliche Resultat der vorsichtigeren
Disposition zu verdanken sei, welche die Banken sich haben angelegen sein
lassen. Es zeigt sich also, daß bei gutem Willen der Beteiligten viel erreicht
werden kann.
Indessen sind wir von dem Ziele, der Reichsbank einen Goldschatz zu
sichern, der sie auch den schwierigsten Wechselfällen gegenüber gewappnet
erscheinen läßt, noch weit genug entfernt. Müßte der Goldbestand zu diesem
Behuf doch ungefähr auf das Doppelte seiner gegenwärtigen Höhe anwachsenl
Erfreulicherweise ist nun auf dem Bankiertag in München, der sich auch
mit der Erörterung dieser Frage befaßt hat, der ernste Wille und die Bereitschaft
der Großbanken zutage getreten, an dieser wichtigsten Aufgabe unserer nationalen
Wirtschaft mitzuarbeiten. Das ausgezeichnete Referat des Direktors der Deutschen
Bank Helfferich darf nach dieser Richtung als eine programmatische Erklärung
angesehen werden.
Interessant ist, daß der früher, in der Bankenquete und auch nachher noch,
besonders von Rießer, lebhaft «erfochtene Widerspruch gegen die Erhöhung der
Giroguthaben der Banken fallen gelassen wurde. Es besteht also nunmehr in
dieser schwerwiegenden und entscheidenden Frage Einigkeit zwischen der Reichs¬
bank und den Großbanken. Demgegenüber hat es wenig zu bedeuten, wenn in
einer Art Rückzugsgefecht der Referent Helfferich die Staatsverwaltung und die
Seehandlung mit der Behauptung angriff, daß sie nicht auf genügende bare
Kassenbestände hielten. Dieselbe wurde von feiten der Regierung sofort ziffern¬
mäßig und in energischer Form widerlegt. Auch über die Empfehlung des
Hilfsmittels der kleinen Noten zur Vermehrung des Goldbestandes der Reichs-
dar! kann man skeptischer denken als der Referent, ohne deshalb den außer¬
ordentlichen Wert der erzielten prinzipiellen Übereinstimmung in Frage zu stellen.
Bei dieser Gelegenheit sei noch ein Rückblick auf die sonstigen Verhandlungs¬
gegenstände des Bankiertages geworfen. Von diesen interessieren die größere
Öffentlichkeit noch zwei in besonderem Maße: die Hebung des Kurses der Staats¬
anleihen und die Stellung der Privatbankiers. Die erstere Frage ist von
Theoretikern und Praktikern so vielfältig erörtert und nach allen Richtungen hin
beleuchtet worden, daß es nicht möglich war, neue Gesichtspunkte in das Feld
zu führen. Das Ergebnis ist, daß ein Mittel, den Kurs der Staatsanleihen
konstant zu halten, undenkbar ist. Unsere Renten teilen die Entwertung mit
den Staatspapieren Englands und Frankreichs aus im allgemeinen hier wie
dort gleichen Gründen. Die Zwangsanlagepflicht der Sparkassen und Ver¬
sicherungsgesellschaften stellt, wie schon das Beispiel Frankreichs zeigt, kein
Universalheilmittel dar, gehört aber zu den beachtenswerten kleinen Mitteln,
und wird hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt befürwortet, die Liquidität der
Sparkassen zu heben.
Die Auseinandersetzung mit den Privatbankiers hatte wie vorauszusehen
war, kein greifbares Ergebnis. Wie hätte dies auch wohl der Fall sein sollen,
da die erstatteten Referate vorher dem Planet des Vorstandes unterlagen und
somit eine offene Darlegung der Interessengegensätze zwischen Privatbankiers
Arbeitseinstellung erreichen zu wollen, ein höchst bedenkliches Beginnen. Es be¬
steht keine Gleichheit zwischen Lohnarbeitern und Bankbeamten. Diese sind ja
durch die handelsrechtlichen Bestimmungen über ihren Dienstvertrag privilegiert,
sie genießen bei allen Banken durchaus angemessene Arbeits- und Gehalts¬
bedingungen mit Alterszulagen, sast allenthalben Pensionsrecht und gute
Avancementsverhältnisse. Aus den Reihen der Bankbeamten gehen die Ressort¬
chefs und ein guter Teil der Leiter hervor. Die gewerkschaftliche Organisation
dieser Beamten ist daher ein ganz verfehlter Gedanke, vor allem aber ein so
gefährlicher Versuch, daß nicht nur das eigenste Interesse der Banken, sondern auch
das der allgemeinen Wohlfahrt gebietet, ihn im Keime zu ersticken. Eine Arbeits¬
einstellung der organisierten Bankangestellten könnte ja unser ganzes wirtschaft¬
liches Räderwerk in einem Nu zum Stillstand bringen. Hier steht mehr auf
dem Spiele als bei dem Streik der Arbeiter irgendeines Jndustriezweiges.
Von welchem Geiste die Organisatoren dieses neuen Verbandes beseelt sind, zeigt
die Tatsache, daß die Sozialdemokratie offen bei ihm Pate steht. Es ist daher
durchaus verständlich, wenn die Allgemeine deutsche Kreditanstalt als
erstes Institut kurzerhand die Beamten entlassen hat, die sich dem neuen Verband
angeschlossen haben. Die Banken werden diesen Standpunkt ebenso festhalten
müssen, wie der Staat gegenüber seinen Eisenbahn- und Postbeamten. Das ist
nicht Ausfluß einer Angestellten feindlichen Gesinnung, sondern eine gebotene
Rücksichtnahme auf das eigene und mehr noch auf das allgemeine Wohl.
Verantwortlich: der Herausgeber George Cleinow in SchöneSerg, — Manusiriptsendungen und Buche werden
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k't'imsnsr'-, ^bitunisntsn - Lxsmsn vor». Huck Dsmsri»
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Wir dürfen nicht allein, wir sollen ion der Zukunft
träumen, denn dieser Traum muß über unsere Gegen¬
Kurt Vreysig wart herrschen.
aß es den Deutschen der Gegenwart, denen wenigstens, die tiefer
in das Denken und Fühlen des Volkes hineinschauen, nicht wohl
zu Mute ist, dürste keinem Zweifel nichr unterliegen. Das Un¬
gesunde, in den Säften Ungesunde in unserem Volke tritt dem
Beobachter schon in gewissem Grade auf dem physischen Gebiete
entgegen, mehr noch auf dem ethischen und sozialen aus tausend Symptomen.
Und wir haben nicht einmal den — auch so noch zweifelhaften — Trost, daß
unsere Nöte auch die Nöte der ganzen Volksgesellschaft unseres europäischen
Festlandes sind, internationale Kultmkrankheiteu. Sondern was uns fehlt, hat
vorwiegend endemischen Charakter, ist wenigstens eine eigene Form jener Kultur¬
krankheiten und zwar eine solche von besonders rapiden Verlauf. Unser Volk,
ohnehin durch frühere schwere Aderlässe, ungeeignete Lebensweise und zeitweise
Unterernährung — um im Bilde zu bleiben — in seiner Widerstandskraft
geschwächt, hat seit 1370 zu rasch leben, sich zu schnell entwickeln müssen. Die
Kräfte des Volksorganismus sind bei der plötzlich erforderlichen Anpassung an
ganz neue Verhältnisse, beim Übergang von dem alten Glück im Winkel zu dem
nervenzerreibenden Posten im Widerstreit der Weltmächte so sehr überanstrengt
worden, daß einer inneren Zersetzung nicht nichr genug gesunde Kräfte ent¬
gegenwirken konnten. Nur noch ein Volk der neuesten Zeit hat eine Wandlung
von ähnlich rapiden Verlauf, ja von noch schnellerem vollzogen — nämlich vom
Mittelalter unmittelbar in die Neuzeit —: das japanische. Es hatte viel
gesparte junge Kraft zuzusetzen, viel alten ritterlichen Kern; und doch — auch
bei ihm sehen scharfe Beobachter schon Kennzeichen übler Folgen und wissen
nicht, ob die Mächte des Lebens oder des Todes in diesem Volke schließlich
triumphieren werden.
So hat sich in den letzten Jahrzehnten unter den nachdenklichen unseres
Volkes ein sonderbares Bedürfnis erst unbewußt, dann immer bewußter fühlbar
gemacht, das Bedürfnis nach einer Antwort auf die Schicksalsfrage: Sind wir
ein junges Volk oder ein altes? Stehen wir, weil erst jetzt unser Staatswesen
eine feste Schale um den größten Teil unseres Volkskörpers schließt, und weil
unser Wirtschaftsleben sich ungeahnt entwickelt hat, am Anfange eines gewaltigen
Aufschwunges zu höchsten nationalen Werten, — oder sind alle jene Zeichen
staatlicher und wirtschaftlicher Expansion nur die letzten Lebensregungen eines
greisenhafter Volkes, das seine Lebenszeit zu Ende läuft, seinen Kulturhöhepunkt
längst hinter sich hat und in krampfhaft lächerlicher Weise eine Jugend vor¬
zutäuschen sucht, vortäuschen kann, weil die ganze Staatengesellschaft ringsum
selbst aus lauter abgelebten Kulturvölkern besteht? Man ringt nach Orien¬
tierung für unsere Zeit im Verlaufe des Weltgeschehens und glaubt vielleicht
in der richtigen Einordnung in die Entwicklungsreihe einen Trost zu finden,
der doch nur der Trost des Quietisten sein kann, denn mit dieser Einordnung
scheint man sich blind dem Determinismus der Entwicklung zu unterwerfen.
Aber eine solche Orientierung muß uns doch nicht dahin führen, die Hände
in den Schoß zu legen, sondern kann auch in der Absicht geschehen, von diesem
festen Pol aus den Hebel anzusetzen an den Lauf der Entwicklung; dieser Begriff
braucht nicht der Idee des persönlich freien Willens zu widersprechen. Auch
die Persönlichkeiten sind Träger der Entwicklung, und in ihren Händen kaun
in manchen Zeiten das richtunggebende Steuer liegen. So wird man die Be¬
deutung der gesuchten Orientierung für das praktische Wirken nicht verkennen.
Jndeni man es unternimmt, den Ablauf des (an sich zwar großenteils irrationalen)
historischen Prozesses in einer Weise zu rationalisieren, daß der gegenwärtige
Zustand sich diesem Ablauf einfügt, werden die Kräfte und Möglichkeiten sichtbar,
die eine Lenkung der Entwicklung ermöglichen. Aber freilich, sei es unter dem
suggestiven Einfluß der naturwissenschaftlichen Entwicklungsidee, sei es aus einem
Bedürfnis des menschlichen Wesens heraus: die bisher sich an diesem Problem der
Rationalisierung versucht haben, sind doch wieder bedenklich ins deterministische
Fahrwasser geraten. Wenn Marx allein von wirtschaftlichen Verhältnissen die
Geschicke des Menschen abhängen läßt, wenn Lamprecht die Kollektivpsyche in
ihrer Wandlung als bestimmend für das menschliche Geschehen setzt, wenn
Breysig den gesetzmäßigen, mithin unabänderlichen Ablauf der historischen Reihen
wenigstens auf dem Gebiet des staatlichen Lebens statuiert, so könnte man von
hier aus zum resignierten Zuschauer werden. Daß dem nicht so zu sein braucht,
daß z. B. Breysig selbst statt dieser Rolle die des politischen Vorkämpfers über¬
nommen hat, ist eine von den irrationalen Erscheinungen, die in der Zeit
der Mechanisierung und der Masse den Glauben an die Undurchdringlichkeit der
menschlichen Natur wachrufen.
Zu den Denkern, die beim Versuch einer Orientierung der oben bezeichneten
Art den Ablauf der Ereignisse wesentlich von außerpersönlichen Ursachen ableiten,
gehört auch Walther Rathenau. Sein Buch „Zur Kritik der Zeit" (Berlin 1911,
S. Fischer) zeigt ihn stark von der Rassentheorie beeinflußt, so stark, daß er das
Leben der geschichtlich bedeutsamen Völker in seinem Verlauf auf der Zusammen¬
setzung der Völker aus zwei stammverschiedenen Schichten beruhen läßt. Den
Höhepunkt seines Daseins bedeutet es nach Rathenau für ein Volk, wenn diese
beiden Schichten sich ineinander auflösen, weil dann die besten und höchsten
individuellen Kräfte beider Schichten aus der bisherigen Spannung sich lösen,
sich auswirken. Der Vorgang vollzieht sich anfangs langsam, später schneller,
führt zu einer Periode der Höchstleistung, schwillt dann wieder ab, „und die
ausgebrannten Völker bleiben wie tote Schlacken am Wege liegen". Für unser
Volk würde die Emanzipation der Unterdrückten, ihre äußere und gesetzlich an¬
erkannte rechtliche Gleichstellung mit den bisherigen Herren hiernach als der
bedeutsamste Schritt auf dem Wege zu diesem Ziel anzusehen sein.
Die physikalisch-chemische Erklärung Rathenaus hat ohne Zweifel viel
Bestechendes. Wir alle kennen aus der Geschichte die Völkermischungen, wenn
wir auch ihren Zusammenhang mit Höchstleistungen nicht immer vor Augen sehen.
Wir wissen auch, daß allerdings Edeloölker, auf geringe Rassen aufgepfropft,
vor ihrem Untergang in diesen den höchsten Glanz ihres Seins gezeigt haben.
Auch das geben wir Rathenau gern zu, „daß alle Kultur dieser Erde von
aristokratischen Organisationen ausgegangen ist" (weil nämlich Demokratie und
Kultur entgegengesetzt wirkende Kräfte sind). Aber daß diese Aristokratien immer
auf rassenmäßiger Verschiedenheit beruhten, wird Rathenau nicht beiveisen können,
am wenigsten gerade sür das deutsche Volk. Gewiß sind die verschiedensten
sremdrassigen Einschläge dein Germanentum eingewebt worden, aber wenn man
z, B. an den Aufstieg unfreier Ministerialen in die Adelskaste des Rittertums
denkt, dürften Herren und Knechte, wenn auch nicht in gleichem Maße, so
doch jedenfalls beiderseits Anteil an jenem fremden Blute bekommen haben,
ohne daß jeues Phänomen der Entbindung aller höchsten Kräfte beider Rassen
eingetreten wäre.
Aber gleichviel, darin hat Rathenau jedenfalls Recht, daß unsere Zeit in
höherem Maße als frühere Zeiten das Ergebnis einer sozialen Umschichtung
darstellt, und daß diese auch Bevölkerungsteile emporgeführt hat, deren Wesens¬
art mit unserem vererbten Ideal von deutscher Kultur kontrastiert. In diesem
Sinne können wir mit Rathenau von einer fortschreitenden Entgermanisierung
unserer Zeit reden. Ihr zur Seite tritt, hervorgerufen durch die Nötigung des
Menschen, bei zunehmender Übervölkerung zu existieren, die Mechanisierung der
Menschheit unserer Tage.
Die Mechanisierung, die, von der Gütererzeugung ausgehend, nach und
nach, vom wachsenden Einfluß des Kapitalismus gefördert, Staat und Gesell¬
schaft und jeden einzelnen in ihre Kreise zieht, jede Persönlichkeit unfrei zu
machen sucht, jede Lebensfunktion in tausend Abhängigkeiten hineinzieht, hat
Rathenau in glänzender und geistvoller Weise, wenn auch nicht ohne Einseitigkeit
geschildert. Man hat den Eindruck, als ob ihm der gigantische Mechanismus,
dem nachgerade alle menschlichen Betätigungsgebiete zustreben, selbst so ungeheuer
imponiere, daß es sür ihn einer Willensanstrengung bedürfe, um sich von der
Suggestion zu befreien. Er sieht in dem Ergebnis des Mechanisierungsprozesses —
dies auch als Probe für die Ausdrucksweise unseres Autors — „einen Zug
von Spezialisierung und Abstraktion, von gewallter Zwangsläufigkeit, von zweck¬
haftem, rezeptmäßigem Denken, ohne Überraschung und ohne Humor, von
komplizierter Gleichförmigkeit". Die ethische Kategorie der Einfügung des
Individuums in diese Maschine ist die Verantwortlichkeit, die an die Stelle der
autonomen Pflicht getreten ist.
Zu der mit der Mechanisierung verlangten inneren Wandlung, zu der
Einfügung der autonomen Persönlichkeit in die Gegebenheiten des Objekts sind
nach Rathenau die germanischen Herren des Abendlandes nicht fähig; „gegen
Städte, Stände, Konstitutionen, Demokratie, Verkehr, Handel und Industrie
haben sie sich mannhaft gewehrt, und noch jetzt bedeuten alle konservativen
Programme nichts weiter als Umschreibungsformeln des unbewußten Willens
gegen die Mechanisierung". Nur dem Umstände also, daß sich die für das
germanische Prinzip tödliche Mechanisierung nicht völlig durchgesetzt hat, ist die
Erhaltung des transzendenten Inhalts im deutschen Geistesleben zu verdanken,
das Fortbestehen von Innerlichkeit und Freiheit, Aufopferung und Wahrheits¬
liebe, Mut und Treue. Aber Rathenau ist der Meinung, daß die Epoche der
Mechanisierung in der Evolution der Menschheit nichts anderes bedeute als
einen Durchgang, der zugleich ein Übergang sei zu einer höheren Entwicklungsstufe,
indem die Not eine Auslese zu Neuem, Größerem hervorrufe. So würde der
Mechanismus überwunden durch einen gewaltigen seelischen Ausschwung der
(europäischen?) Menschheit.
Auf diesen Wegen ins Prophetenland können wir demi Verfasser nicht
folgen. Für uns bedeutet die Mechanisierung die Not und Gefahr des Augen¬
blicks (vgl. auch meine Ausführungen in Heft 14 dieses Jahrgangs, S. 16 f.).
Uns ist dieses Zeitalter nicht ein respektvoll zu verehrender Übergang zu höheren
Stufen des Daseins, sondern eine Epoche der Erkrankung, an der unser Volk
zugrunde gehen kann. Und eigentlich hätte nach den gegebenen Prämissen
Rathenaus Buch ausklingen müssen in einen Aufruf an die unsichtbare Kirche
der Mechanisierten, an die germanische Ketzergemeinde in der fanatisierten Masse
der Rechtgläubigen des materialistisch-mechanistischen „Fortschritts". Noch ist
ja der nach Rathenau so „komplizierte und schwierige Beruf des Einsiedlers"
(im Sinne der Bewahrung persönlicher Autonomie) auch in der allgemeinen
Abhängigkeit nicht ausgestorben.
Aber vielleicht ist Rathenaus für die Gegenwart verzichtender Ausblick aus
ein hinter aller Mechanisierung liegendes Sonnenland der Seele darauf zurück-
zuführen, daß er seine Erfahrungen im hoffnungslosen Getriebe der großen
Stadt, der großen Welt gesammelt hat, in rettungslos mechanisierten Schichten.
Meiner Meinung nach müssen wir vielmehr von der anderen Seite ausgehen,
von den Gesunden oder noch Heilbaren. Daß wir diese Volksteile stärken und
von ihnen die Durchseuchung fernhalten, darin ruht das deutsche Zukunfts¬
problem, vor dessen Lösung alle sozialen, kulturellen, politischen Probleme zurück¬
treten, weil unsere Existenz als Volk davon abhängt, daß nicht das Dekadente
überwiegt, sondern das Jugendkräftige. Nur auf diesem Wege kann auch
Klarheit über die Frage gewonnen werden, ob wir als Volk jung oder alt sind.
Mit großem Nachdruck hat in den letzten Jahren neben anderen besonders
A. I'Houel darauf hingewiesen, daß unser Volk seine jugendliche Schicht in
seinem Bauerntum besitzt; zuletzt in dem Buche „Zur Psychologie der Kultur,
Briefe an die Großstadt" (Bremen 19.10, Niedersachsen-Verlag Schünemann).
Im Zeitalter der literarischen Pflaumenweichheit will es etwas besagen, wenn
ein Buch zeigt, daß sein Verfasser noch rechtschaffen zürnen und hassen kann.
Das ganze Buch ist eine Anklage, gerichtet gegen den Volksverderb, der aus¬
geht von den Großstädten, vom Kapital, von der Industrie, von der Börse;
es sind Rathenaus Ausgangspunkte der mechanistischen Bewegung, die hier als
Feinde erkannt werden. Ein echter Prediger des alten Stils, nennt der evan¬
gelische Pfarrer I'Houel das Kind stets beim rechten Namen. Getragen ist die
Jnveltwe von dem positiven Untergrund einer genauen Kenntnis der Bauern¬
psyche, wie sie der Verfasser schon in einem früheren Buche erwiesen hat („Zur
Psychologie des Bauerntums", 1905). Wenn man ein fühlendes Verständnis
des inneren Lebens sucht, so wird man bei l'Houel nicht selten an Wilhelm
Heinrich nicht erinnert, aber die Heftigkeit der Tonart berührt sich mit einzelnen
Schriften von Hansjakob, dessen Gesinnungsgenosse l'Houel in mancher Hinsicht
ist. Von den Großstädtern erwartet l'Houel nichts mehr, ihnen will er auch
nicht helfen; „aber der Raubbau an unserer Natur, am Lande, am Bauerntum
ist der gefährliche; gefährlich, weil er unser Volk seiner Zukunft beraubt".
Kapitalistische Unternehmung, Eisenbahn, Presse, eine Volksschule, die den Bauer
nicht auf seiner Scholle heimisch macht, sondern ihr entfremdet, — sie alle
tragen das dem Bauerntum Fremdartige ins Land hinaus. Die Folge ist die
Abwanderung des jungen Landvolkes in die Städte, Proletarisierung, mancherlei
anderer Verderb. Und der auf dem Lande bleibende Teil des Volkes beginnt
seine Eigenart zu verachten. Eine Rettung erwartet l'Houel nicht von Heimat¬
vereinen und Trachtenfesten, sondern vom Staate, der das Land als Rückhalt
und Depot des ganzen Volkes werten lernt, der Bauernblut oder doch Bauern¬
verständnis in die Behörden bringt; ferner von der Wissenschaft, insbesondere
der volkskundlichen, und vor allem von dem Wiedererwachen einer lebendigen
Religion, auch in dem noch heilbaren Teile des Bürgerstandes. Man wird
wohl auch dahin zu streben haben, daß der Warenhunger des Landvolkes nicht
immer neu erregt wird. Selbst der weltknndige Rathenau scheint es für
erreichbar zu halten, daß unsere Volkswirtschaft nach und nach alle Arbeit
aufgibt, die nur Reizurigs- und Betäubungsmittel, Schmuck, Vergnügungen und
Zerstreuungen schafft, also Dingen dient, die zur Erhaltung des leiblichen, zur
Beglückung des seelischen Lebens nicht erforderlich sind; mithin schließliche Be¬
schränkung der Weltarbeit auf notwendige Produkte, womit in einem höheren
Sinne als in dein Ostwalds eine Energieersparnis gegeben wäre. Der Handel
müßte mit der Erregung immer neuer Bedürfnisse zur Erweiterung seiner Absatz¬
märkte aufhören; wenigstens müßte man anfangen, unsere kostbare Reserve, die
gesunde Landbevölkerung, anders zu behandeln als einen wilden Stamm, in
den man, um ihn ausbeuten zu können, nach und nach alle Zivilisationsgifte
hineinträgt.
Es ist nun nicht nur die ganze Schicht der Natürlich-Jugendlichen in
unserer Volksgesellschaft, der von der „Kultur" noch unverdorbenen Land¬
bevölkerung, sondern es ist auch alles auf persönlicher Bedeutung beruhende
Führertum, das von der mechanisierten Gesellschaft unterdrückt, nicht an seinen
Platz gestellt, durch Einpassung in einen Mechanismus seiner wertvollsten Be-
tätigung beraubt wird. „Wahrlich dies ist nicht der Wille des Lebens in uns,
daß wir die zu Dienern machen, denen die Kraft zur Herrschaft eingeboren ist",
so lautet demgegenüber das Evangelium des „Jndividualaristokratismus", wie
es Kurt Breysig in seinem Buche „Von Gegenwart und von Zukunft des
deutschen Menschen" (Berlin 1912, Bondi) verkündigt. Auch hier ist es
der Aufschrei der — Rathenau würde sagen: germanischen — Seele gegen
die Knechtung: „Es ist die Mechanisierung der Seele, des Lebens,
an der wir kranken . . . das unmechanischste Gut unseres Lebens, der
Mensch selbst, wird heut zu Rad- und Triebwerk umgeformt." Persön¬
liches Leben ist das Rettungsmittel vor dieser Verflachung, vor allen:
vor der Niedertretung der Führermenschen. Jedem zum Führer Befähigten
soll sein Wirkungskreis werden, aber nur ein so großer, als er von ihm per¬
sönlich übersehen und beeinflußt werden kann. Darum fordert Breysig vor
allem Dezentralisierung der Regierung, aber dafür Zusammenlegung aller nach
sachlichen Prinzipien geteilten Einzelfunktionen eines übersehbaren Bezirks in
die starke Hand eines natürlichen Führers. Nur so ist die Pflege der land¬
schaftlichen Eigenkultur möglich, die sonst unterzugehen droht. Mit Recht wird
gegenüber der zunehmenden Auflösung der Negierung in „Ressorts" an die
Macht des preußischen Landrath alter Observanz erinnert, der mit der Zusammen¬
fassung aller Zweige der Regierungsgewalt wie ein kleiner König in seinem
Kreise stand. (Daß man auch von anderer Seite an eine Reform der Ver¬
waltung in dieser Richtung denkt, beweisen die gleichgerichteten Ausführungen
eines Kenners wie Richard Witting im Tag vom 12. September d. I.). Dem¬
entsprechend ist die Zusammenballung einer großen Masse bloßer Nummern¬
menschen in einem Großbetriebe zu verwerfen; persönliche Beziehungen des ein¬
zelnen zu dem Führer des Ganzen, auf der Grundlage des bewußten Zu-
sammenarbeitend nach einem bestimmten Ziel, der freiwilligen Unterordnung
unter den überlegenen Führermenschen und der menschlichen Fürsorge dieses
pflichtbewußten Oberen für seine Untergebenen, kurz statt des mechanischen ein
organischer Zusammenhalt aller Mitarbeiter eines Unternehmens, in der In¬
dustrie, in der Landwirtschaft, im Handelshaus — das ist das Ideal, dem
Breysig zustrebt.
Gerade hier wäre erst in höherem Maße als dies bei Breysig geschieht,
auf eine der Wurzeln der Mechanisierung hinzuweisen. Ich meine die Diffusion
aller Bevölkerungselemente, hervorgerufen durch eine schrankenlose Freizügigkeit,
die alle persönlichen Beziehungen leicht und schnell aufhebt, alle Stammes¬
eigentümlichkeiten verschiebt. Persönliches Wirken der Führer ist doch nur
möglich, wenn der Führer die Gefährten einzeln oder doch ihrer Gesamt¬
physiognomie nach kennt. Die letztere, die physische und psychische Beschaffenheit
des Ganzen verändert sich nun aber vou Tag zu Tag oder doch von Jahr zu
Jahr z. B. für jeden Landwirt des Westens, für jeden Chef einer Fabrik oder
eines großen Kaufhauses, für jeden Schuldirektor in einer Großstadt. Und
die da wandern, Arbeiter, Kaufleute, Beamte, sie alle nebst ihren Kindern, sie
wollen das, was sie verlassen haben, möglichst ähnlich wieder vorfinden, sie
können und wollen nicht neben der neuen Anpassung an sonstige veränderte
Verhältnisse auch noch der persönlichen Führerschaft einer ausgesprochenen In¬
dividualität sich anbequemen. Sie suchen vielmehr das Schema. Das Fluk¬
tuieren der Bevölkerung wirkt somit der Arbeitsgemeinschaft entgegen, und die
bisherige Atomisierung der Arbeit fördert wieder die Abwanderung von einer
Arbeitsstätte zur anderen. Es wird daher, will man Breysigs Ideal der Ver¬
wirklichung entgegenführen, eine Einwurzelung der Bevölkerung an ihrer Stelle
erstrebt werden müssen. Dazu bedarf es aber einer inneren Wandlung in den
Massen zu deren Durchsetzung ich noch keinen Weg sehe.
Auch der Staat ist ein Träger des Mechanischen, weil er mit seinen Ver¬
ordnungen oft ohne Berührung mit dem Lebendigen, vom grünen Tische aus
wirkt. Es ist nun merkwürdig und mutet an ideologische Weltfremdheit an,
wenn der Staat bei Breysig wie ein nur derzeit noch erforderlicher Notbehelf
angesehen wird, so lange notwendig, bis die Menschen gelernt haben, sich ohne
fremde Zügelung zu ertragen. Auch Kriege werden, so meint unser Autor von
derselben Perspektive beeinflußt, verschwinden; die langsam absteigende Kurve
der Kricgsneigung bei den europäischen Völkern scheint ihm dafür Beweis genug.
Wie aber, wenn diese Erscheinung nur ein Symptom des Alterns, der wachsenden
Willensschwäche unserer Völkergesellschaft bedeutete! Spricht doch Breysig selbst
von der kläglichen Todesfurcht, die der Kulturmensch in sich großziehtI
Bei der Anwendung von Breysigs Gedanken auf den Staat wird der auf dein
mechanischen Prinzip und auf der Annahme einer Gleichwertigkett aller Menschen
für das Volks- und Staatsganze beruhende Parlamentarismus natürlich nach
Möglichkeit beiseite geschoben werden müssen. Dafür wird der Schwerpunkt
der staatlichen Leitung in einen Neichsrat verlegt, dem alle Bürger von
höchster Führerqualität angehören, von dem Adel über die Bürgermeister der
Großstädte zu den Größen der Wissenschaft und Kunst und von diesen zu den
hervorragendsten in der Volkswirtschaft, in Landbau, Bankwesen, Industrie,
Handel, zu den Meistern der Technik und des Kriegswesens, den Vertretern der
Schulen aller Grade, der Presse, des Handwerks, des Arbeiterstandes. Gegen¬
über den auch in anderen Kreisen besprochenen Gedanken einer Ersetzung des
Reichstags durch eine berufsständische Volksvertretung bedeutet Breysigs Vorschlag,
der den Reichstag in seiner Stellung beläßt und nur eine Versammlung der
wirklich Sachverständigen neben ihn stellt, eine kaum mehr utopisch zu nennende
Idee. Die Bedeutung des neuen Reichsrates läge meines Erachtens nicht so
sehr in einem staatsrechtlichen Gegengewicht gegen den Reichstag, als in der
Wirkung der dort ausgesprochenen, von Rücksichten auf Wählermassen und
Parteiinteressen freien Worte auf die öffentliche Meinung und — anf den Kaiser.
Daran denkt auch Breysig selbst (vgl. Tag vom 17. Juli).
Man wird gegen Breysigs Aufstellungen vielerlei einwenden. „Politische
Praktiker" haben bereits von der Bedeutungslosigkeit dieses „Rates der Besten"
geredet, auf den doch niemand hören werde (Post vom 13. Juni). Die
Schwierigkeit der Einschätzung der Führer, sowohl durch sich selbst als durch
andere, ihre Eigenschaft als fehlerbehaftete, egoistische Menschen wird es schwer
gelingen lassen, die richtigen Männer stets an die richtigen Plätze zu stellen.
Alle diese Schwächen in Breysigs Entwurf sind Ergebnisse des optimistischen
Sinnes, des unerschütterlichen Vertrauens auf die Menschennatur. Und auch,
wo man die Vorschläge im einzelnen ablehnt, lassen sie doch klar erkennen, daß
man in immer weiteren Kreisen ernster Volksfreunde jetzt die seinerzeit von
demokratischen Doktrinären postulierte politische Gleichheit aller Staatsbürger
und ihr Ergebnis, den deutschen Reichstag, für Erscheinungen hält, deren Zeit
einmal ablaufen muß, weil es absolut wertvolle Systeme auf politischen: Gebiete
uicht gibt.
Immerhin geht Breysig auf gemäßigteren Bahnen als der unter dem
Namen Daniel Frymann schreibende Autor des Aufsehen erregenden Buches
„Wenn ich der Kaiser wär'" (1912). Und das ist um so bemerkenswerter, als
Breysig bei allem scharfen Blick in die inneren Zusammenhänge menschlichen
Daseins — seine historische Berufsarbeit hat ihn geschärft — doch fast als welt¬
fremder Theoretiker erscheint, wenn man seine Forderungen mit denen Frymcmns
vergleicht, die allem Anschein nach langjähriger politischer Praxis entspringen.
Hier geht einmal der Praktiker weiter als der Theoretiker zu gehen wagt —
wie muß es um unser politisches Leben stehen, wenn die Dinge in der Nähe
gesehen noch soviel mehr nach Verbesserung verlangen als von ferne geahnt.
Daß auch Frymanns innerpolitische Reform von verschiedenen Seiten her
anfechtbar ist, dürste ihm selbst klar gewesen sein. Seine Wahlrechtsreform ist
sogar dem rein mechanistischen Maßstab der Zahl der Untergebenen bei der
Bemessung des Mehrstimmrechts nicht entgangen. Dazu scheint sie ihm nur
erreichbar gegen Gewährung des reinparlamentarischen Regierungssystems. Hier
wie in anderen Einzelheiten stehen Breysig und Frymann weit voneinander.
Aber in einem gehen sie zusammen: eine völlige innere Umkehr, ein Umdenken
scheint beiden nötig, soll der Niedergang unseres Volkes aufgehalten werden.
Und zwar scheinen mir Frymanns Projekte zu einer Regeneration auf Grund
der Durchsetzung einer radikaldeutschen Gesinnung den vorliegenden Anzeichen
nach immer noch leichter ausführbar, als die in der Richtung aristokratischer
Gestaltung des Volkskörpers sich bewegenden Vorschläge Breysigs. An sich sollte
ja beides zusammengehen. Aber der Grad der Erschlaffung und der Zersetzung
in den Grundüberzeugungen des Volkes gestattet uns nicht darauf zu hoffen.
Auch die Durchsetzung seiner Anregungen erwartet Frymann erst von einer
gewaltigen Katastrophe, die den Boden für entschieden nationale Politik bereiten
wird. Zu tief erscheint das Übel eingewurzelt; Mittel von lebensgefährlicher
Drastik sind vonnöten.
Diese Katastrophentheorie auf dem Gebiete der Heilung unserer nationalen
Leiden wird heute im stillen von vielen Vaterlandsfreunden vertreten, wenn sich
auch im Innern eines jeden ein Widerstand gegen die Anerkennung einer solchen
Notwendigkeit regt. Mag aber nun eine Operation auf Leben und Tod
erforderlich sein oder nicht, sicherlich haben einstweilen und später auch der
Hygieniker und Therapeutiker des Volkskörpers das Ihre zu sagen. Wir werden
unermüdet fortfahren müssen, neue Vergiftung fernzuhalten und die vorhandenen
Gifte durch Stärkung der gesunden Säfte im Volke zu bekämpfen und nach
Möglichkeit auszuscheiden.
Die Zeit ruft nach weitsichtigen Staatsmännern, die solche Symptome, wie
sie die in diesen Blättern erwähnten Bücher darstellen, zu deuten wissen, die
den reinen Idealismus und die Liebe der Verfasser zu ihrem Volke werten und
ihre Hochziele anerkennen. Die Gefolgschaft ist bereit; werden die Führer sich
zur rechten Zeit einstellen?
le Geschichte vom Aussatz und der Heilung des Armen Heinrich,
die zuerst Hartmann von Ane um die Wende des zwölften
Jahrhunderts im Deutsch seiner Zeit episch dargestellt hat, ist
nach ihm noch oft, und nicht nur in der deutschen Literatur
behandelt worden. Und es ist seltsam, daß dieser Stoff, welcher
der theatralischen Aufmachung nur in wenigen Motiven entgegenkommt, späterhin
am häufigsten gerade dramatisch gestaltet worden ist. Kannegießer (1836) und
Josef von Weilen (1860), Franz Bonn (1880) und Hans Pöhnl (1887) und
mancher andere hat die Erzählung vom Armen Heinrich dramatisiert, und
Hans Pfitzner hat ein Textbuch von James Grau in Musik gesetzt. Neben
diesen bühnenfähigen aber wenig bedeutenden deutschen Stücken hat der Amerikaner
Longfellow mit seiner „Goldenen Legende" ein phantastisches Buchdrama
geschaffen, das voll von Gelehrsamkeit und philiströser Pedanterei steckt und die
alte Begebenheit mit eigensinnig wuchernden Ranken und stoffremdem Schling¬
werk verkümmert und erdrückt.
Unbezweifelt die kräftigste und bedeutsamste dichterische Leistung nach.Hartmann
ist rund siebenhundert Jahre später ans Licht der Rampe getreten: Gerhart
Hauptmanns Drama „Der Arme Heinrich, eine deutsche Sage", zum erstenmal
auf dem Wiener Burgtheater im November des Jahres 1902 aufgeführt.
Das Motiv des Aussatzes, obzwar vom ästhetischen Standpunkt aus heiß
umstritten, ist gleichwohl in der Poesie uralt und nicht selten und nicht einmal
immer ernst behandelt. Tristan und Ulrich von Lichtenstein haben sich als
Aussätzige verkleidet unter die Siechen gemischt, um sich der Geliebten zu nähern.
Und von der Vlutkur lesen wir schon bei Plinius. Aber auch an Widerstand
gegen das auffällige Motiv fehlt es nicht. Unter Laubes Einfluß hat Josef
von Weilen den Armen Heinrich seines Dramas zum Blinden gemacht, und auch
Longfellow weicht dem Aussatzmotiv scheu aus; da er aber dennoch mit dem
Worte spielt, wird man bei ihni über Heinrichs Krankheit nicht klar. Am
schärfsten hat Goethe geurteilt, der Hartmanns Epos in Büschings „unseliger"
Übersetzung zur Hand hatte: es brachte ihm das „an und für sich betrachtet
höchst schätzenswerte Gedicht physisch-ästhetischen Schmerz". Das „Motiv", sagte
Goethe, „wirkt wenigstens auf much so gewaltsam, daß ich mich vom bloßen
Berühren eines solchen Buches schon angesteckt glaube." Wie seltsam klingt
gegen dies Urteil des Philhellenen das liebenswürdige Wort des dem Mittelalter
vertrauten Jakob Grimm: „Die kleine Erzählung ... ist mit solcher Milde
und Reinigkeit aus der Seele des Dichters hervorgegangen, daß man die
Einfachheit und Meisterhaftigkeit seiner Arbeit mit nichts wahrer vergleichen kann,
als mit der bescheidenen fleckenlosen Tugend der Handlung selbst, welche uns
geschildert wird. ... Die Rede braucht hier keine Blumen, das Ganze hinterläßt
den reinen erquickenden Eindruck wohlriechender Kräuter."
Der Wandel, den die Geschichte des Armen Heinrich in sieben Jahrhunderten
deutscher Poesie erfahren hat, läßt uns nicht bloß die Veränderung des Erfassens
und Gestaltens erkennen. In Hellem Licht zeigt sich die Entwicklung des Schauens,
des Denkens und Dichtens, der Geistesrichtung überhaupt, am deutlichsten an
den beiden Enden der langen Reihe widergespiegelt, und wie an vielflächigen
feingeschliffenen Kristallen gebrochen und in einzelne Farben zerlegt. Hartmann
und Hauptmann! Die beiden dürfen uns — ihren Zeit- und Ewigkeitswert
unbeschadet — füglich als gültige Vertreter ihrer Zeiten erscheinen; für die
übrigen wird da und dort ein Seitenblick ausreichen.
Die Fabel ist im wesentlichen dieselbe geblieben: Der Ritter Heinrich von Ane
wird vom Aussatz befallen und zieht sich von aller Welt auf einen einsamen
Meierhof zurück. Eine Tochter der Pächtersleute ist willens, sich für ihren
kranken Herrn zu opfern, denn ein Arzt zu Salerne hat sich erbötig gemacht,
die Krankheit durch das Herzblut einer reinen Jungfrau zu heilen. So zieht
der Aussätzige mit dem Mädchen nach Italien. Schon soll die Blutheilung vor
sich gehen, da reut es den Ritter, und er verhindert das Unterfangen. Im
Zusammenhang mit dieser selbstlosen Tat genest Heinrich ohne menschliche Hilfe
und erhebt, rein und gesund in die Heimat zurückgekehrt, das Pächterskind zur
Gattin.
Diese einfache Begebenheit hat Hartmann durch ein starkes inneres Band
zur Handlung zusammengeschlossen: Heinrich, der allerdings alle Vollkommen¬
heiten der Welt besaß, in allen Dingen ein „xvunsLkIebön" führte und auch
ethisch gut war, fehlt nach der Auffassung des Mittelalters doch darin, daß er
seine Vorzüge anstatt Gott, sich selbst zu verdanken meinte. Darum versucht
ihn Gott mit der scheußlichsten Krankheit solange, bis er seinen Willen beugte.
„Gott schwang seine Geißel über den Weltseligen" sagt Chamisso, dem wir
eine wundersame, nur viel zu wenig bekannte poetische Erneuerung des mittel¬
hochdeutschen Gedichtes verdanken. Über dieses selbst unterrichtet Anton E. Schön¬
bach in seinem Buch über Hartmann von Ane, das dem modernen Empfinden
den Geist des Mittelalters erläutert.
Das Thema von Strafe und Versöhnung beherrscht also das alte Epos
und verleiht ihm seine innere festgefügte Geschlossenheit. Gerade diese stärkste
Verkettung aber, die nur aus unerschütterter naiver Glaubensfreude entsprießen
konnte, ist dem Drama Gerhart Hauptmanns versagt. Heinrichs Gottesbegriff
wurzelt in einem unklaren Pantheismus, an dem Krankheit und Genesung nichts
ändern. Für das oft gebrauchte Wort „Gott" kann man durchaus und mit
Fug ebensowohl Schicksal oder Fügung als Welt oder Sein einsetzen. Heinrichs
Beten ist ein seraphisch Klingen im eitlen Wahren der Gottesnähe oder ein
Fluch auf die schmutzigen Hunde des Schicksals, die auf seiner Fährte liegen.
Und wenn bei Hartmann die Heilung von Gott kommt, weil zu den Welt¬
tugenden Heinrichs nun auch die Frömmigkeit trat, so leuchten bei Hauptmann
„drei Strahlen der Gnade", die das innerste Herz ans dumpfer Bedrängtheit
lösen und es ausweiden ins urewige Liebeselement. Mit nicht geringer Kraft
und Kunst hat der Dichter das Aufdämmern, das Ausbrechen und das alles
Erfüllende der großen und reinen Liebe in einer mächtigen Rede geschildert,
der Liebe, die den Kranken und Gebrochenen innerlich befreit und äußerlich
gesund macht. Trotzdem klafft hier der breiteste Sprung in Hauptmanns Gedicht.
Das Symbol ist zu schwach, und von der höchst realen Krankheit, die mit den
stärksten Mitteln des Naturalismus ausgemalt ist, baut sich keine Brücke zur
rein symbolischen Heilung, von der Seuche des Leibes zur Läuterung der Seele.
Longfellow hat sein Werk mit der faustischen Idee des Kampfes zwischen
Gut und Böse umrahmt und durchwirkt. Dadurch erlangt die Handlung etwas
Außerlebendiges, aber auch Unlebendigcs und Schematisches. Der Prolog zeigt
Luzifer im Kampf mit Kreuz und Kirche, der Schluß bringt die Engel der
guten und bösen Tat. Die Blutkur ist das Böse schlechthin; alles, was darauf
Bezug hat, unternimmt Luzifer. Er rät im Beichtstuhl zur Opferung, er begleitet
die Reisenden, er schärft als Arzt das Messer und will dem Reuigen den
Eintritt wehren.
Gerhart Hauptmann führt uns zu Beginn seines Dramas gleich auf das
weltentrückte Landgut, wo der schon kranke und gebrochene Heinrich weilt. Und
wir dürfen billig darüber staunen, daß er, nicht anders wie Longfellow, den
wirksamen Gegensatz auf die Bühne zu stellen verschmäht hat: Heinrich auf der
Höhe seines Weltruhms, und der Beginn der Krankheit, das Verhalten der
Gesellschaft, Heinrichs Entsetzen und vergebliche Auflehnung usw. Der Dramatiker
hat vielmehr die Vorgeschichte, die Hartmann nur ganz allgemein andeutet, mit
realen und bunten Zügen ausgestattet, und holt sie in gelegentlich eingeschobener
Erzählung da und dort nach. Heinrich, bestrahlt von Friedrichs kaiserlicher
Gunst, im Glänze der Welt, ist von einer Kreuzfahrt eben ruhmreich zurück¬
gekehrt und heimlich verlobt mit des staufischen Kaisers junger Tochter. So
trägt ihn das Geschick auf die Höhe; die Pracht des Orients umgibt den jungen
Helden und der Vlütmduft aus fernem Süden umschmeichelt seine Erinnerung.
Da erkennt er die Anzeichen des Siechtums. Die beiden einleitenden Akte
bringen nun in beständiger kunstvoller Steigerung die Kunde von Heinrichs
Aussatz. Erst verbirgt sie sich hinter dunklen und unklaren Worten, es schwirren
versteckte Anspielungen, die immer breiter und deutlicher werden, bis endlich
Heinrich selbst am Ende des zweiten Aktes in machtvoll ausbrechender Rede
das Geständnis seiner Krankheit in die Welt wirst. Das ist eine ganz
große Szene, die mit starker dramatischer Wirkung eine sorgfältig aus¬
gearbeitete Steigerung beschließt. Sie gehört dem Bühnendichter, welcher
die in der epischen Chronologie schlicht aufeinander folgenden Ereignisse kunstvoll
disponiert.
Eine andere Änderung, ein Angelpunkt der Neugestaltung liegt hingegen
in der Charakterzeichnung der Meierstochter. In einer von Hartmann mit
kunstreichem Ebenmaß erbauten epischen Szene erfährt sie vom Aussatz ihres
Herrn, von dem die Eltern längst wissen, und von der Möglichkeit der Heilung.
Um himmlischen Lohnes willen beschließt sie, für Heinrich zu sterben, und unter
der Macht dieses unirdischen Beweggrundes bricht schließlich auch der Widerstand
der Eltern. Chamisso hat diese allmählich und hart gewonnene Zustimmung
der Eltern in klarer Steigerung auf drei Nächte verteilt; Longfellow begründet
den Entschluß überhaupt nicht. In Hauptmanns Dichtung ist alles verwickelter
und vielfach zusammengesetzt. Ottegebe — so nennt er die Pächterstochter —
weiß von vornherein vom Aussatz. Sie ist als ein bleichsüchtiges Kind gezeichnet,
an der Grenze der Jungfräulichkeit, mit krankhaftem Gebaren, Fieberkrämpfen
und hysterischen Ausbrüchen, mit asketischen Neigungen, die ihre Körperhaftigkeit
herabsetzen, daß ihr zarter Leib fast wesenlos im Dunkeln zu leuchten scheint.
In diesem Kinde ringt die unausgesprochene Liebe zum Entschluß hin, für den
Herrn, den Geliebten, den Tod zu leiden, aber sie verbirgt sich hinter der
religiösen Verzückung, die wahrhaft und ebenso ungebändigt in dem Mädchen
lebt. Dieser Zwiespalt martert das zarte Herzchen: „Ich rang um seine Seele
nicht!" klagt Ottegebe. Auch bei Hartmann findet sich ein Unterton dieser
hoffnungslosen, alles duldenden Liebe, daneben aber auch noch die praktische
Rücksicht auf die Wohlfahrt der Eltern, denen der gesundete Herr die Tat der
Tochter vergelten müßte. — Hauptmann läßt eine Kinderliebe zwischen Heinrich
und Ottegebe vorangehen, eine zart ausgesponnene erste Neigung der Kinder
ans der Zeit, da Heinrich als Jungherr auf dem Meierhof weilte. Von dorther
leitet er Hartmanns liebliches Wort „mein klein Gemahl".
Im Drama sind die Pächtersleute nicht eines Sinnes, wie bei Hartmann.
Hauptmann, der sie unter den Namen Gottfried und Brigitte einführt (Gottfried
heißt der Pächter auch bei Longfellow), hat der dramatischen Lebendigkeit sehr
klug genützt, als er Brigitte zum widerspieleuden Charakter gestaltete, und dem
Elternpaare eiuen greisen Mönch, Ottcgebes vertrauten Beichtiger Benedikt, zu¬
gesellte. Ganz neu (und modern), aber in gutem Zusammenhange mit den
Ereignissen ist der Zug, daß die Anwesenheit Heinrichs auf dem Meierhofe
drückend empfunden wird, ja, daß Brigitte Heinrichs Tod wünscht. Überdies
ist Ottegebe das einzige Kind; bei Hartmann hat sie Geschwister, die zwar
farblos gehalten und nur erwähnt werden, immerhin den Eltern erhalten
bleiben.
Hauptmanns dritter und vierter Akt zeigen Heinrich innerlich ringend und
äußerlich kämpfend, bis schließlich die schwer verhaltene Not der Selbsterhaltung
siegt. Er ist mit reicher äußerer Geschichte umgeben, die von Hauptmann nach
manchem historischen Motiv gefügt und frei gestaltet ist. Heinrichs Vetter Konrad
möchte sich des Schlosses und Besitzes zu Ane bemächtigen; er macht die Welt
in einem betrügerischen Begräbnis an Heinrichs Abscheiden glauben, stellt ihm
nach und sucht ihn zu töten. (Dieser böse Vetter stirbt schließlich unrühmlich.)
Heinrich ist vom Meierhof in die Wildnis geflohen und fristet dort sein aus¬
sätziges Dasein in Elend und Verfolgung. An diesen drohenden äußeren Ge¬
fahren erwacht die innere, die künstlich eingedämmte Lebenslust aufs neue zu
wildem Feuer, und gegen sein früher, ach, so festbegründetes Wissen und seine
bessere Überzeugung macht er sich auf, mit Ottegebe nach Italien zu ziehen.
Ottegebe geht gegen den Willen der Eltern und Benedikts. Bei Hartmann
begleitet sie der Schmerz, aber auch der Segen der Zurückbleibenden hin nach
Salerne zur Blutkur, von deren Erfolg Heinrich und alle Beteiligten überzeugt
sind. — Longfellow hat diese Reise in szenischen Bildern vorgeführt, die den
Hauptstock des episch zerflatternden Dramas ausmachen. Hauptmann führt die
ganze Zeitstrecke bis zur Wiederkehr in die Heimat wie die Vorgeschichte in
eingesprengtem epischen Berichte vor.
Des Arztes eindringliche Warnung, die Aufzählung aller Schrecknisse der
Operation und des bitteren Todes verhallen an des Mädchens festem Willen.
So schließt sich der Arzt mit dem Kinde ein. Von Ludwig Uhland, der sich
auch mit dem Heinrich - Stoff getragen hat, ist das Bruchstück einer Szene
erhalten, das eine ausführliche Unterredung des Arztes mit dem opferbereiten
Kinde zum Gegenstande hat. — Hartmann allein hat ein liebliches Motiv
gestaltet: der Arme Heinrich erblickt durch eine Spalte in der Tür des
Mädchens nackten Leib festgebunden auf dem Operationstisch. Da faßt ihn
unbezwingliches Mitleid, Gott kehrt ihm den Sinn und füllt ihn mit frischem
Mut, und er hält den Arzt vom todbringenden Schritt noch zur rechten Zeit
zurück. Selbst Chamisso hat, wie die anderen, die zierliche Erfindung ver¬
ändert: den Armen Heinrich reut das grausame Opfer, als das Mädchen schon
mit dem Arzte eingeschlossen ist, er erbricht gewaltsam die Tür, jetzt erst erspäht
er das Kind und er verhindert seinen Tod.
Und so genest Heinrich durch den Sieg, den sein besserer Teil über die
Selbstsucht errang. Ganz schlicht berichtet Hartmann: Gott hat ihn erlöst.
Bei Hauptmann ist dafür die Liebe gesetzt, die ihn befreit und gesund macht.
Und er zieht mit Ottegebe über die Alpen zurück in die Heimat. Longfellow
hat sich's nicht versagt, in arger Pedanterie die allzu verständige und entsetzlich
nüchterne Bemerkung des Försters anzuhängen: „Er fand alsdann auch Heilung
durch die Tugend Von Sankt Matthäus heiligem Gebein. Doch glaub' ich
fest, daß Luft und Sonnenschein Und die Bewegung in den Reisetagen Zu
seiner Heilung vieles beigetragen."
Aber das Pächterkind ist nun um die ersehnte Himmelskrone gebracht; den
verzweifelten Ausbruch höchster Leidenschaft, den Hartmann dem Mädchen in
den Mund legt, hat Chamisso für den modernen Leser mit glücklicher Hand
gemildert. Bei Hauptmann fällt Ottegebe, das roegemüde Kind, in krankhafte
Apathie.
Die folgenden Ereignisse dienen zur Abrundung und lassen die Dichtungen
melodisch verklingen. Heinrich von Ane wird in der Heimat feierlich empfangen.
Das mittelhochdeutsche Epos endet damit, daß die Pächterstochter unter Zu»
Stimmung des „Rates" dem glücklich Genesenen zur Ehe verbunden wird. Lohn'
Gott uns allen, wie den beiden I — Auch Ottegebes Apathie löst sich, Heinrich
erhebt das zitternde Geschenk des Himmels, Heirat und Krönung beschließen
das Drama mit einem vollen Akkorde. Und selbst Longfellow findet einen,
wenn nicht ganz ungetrübten, so doch poetisch feinbewegten Abklang in der
Szene auf Schloß Vautsberg bei Abendglockenläuten und der Erinnerung an
Fastrada und den Großen Karl.
Die verschiedenen Anforderungen der epischen und dramatischen Technik
haben neben formalen, auch starke stoffliche Änderungen erzwungen, wiewohl
man nicht sagen kann, Hauptmann habe die Geschichte des Armen Heinrich
vergröbert. Das Theater brauchte vor allem noch einige Hilfspersonen; so
führt Hauptmann neben dem Knappen Ottaker, dem getreuen Ungetreuen, noch
Hartmann von Ane ein, Heinrichs Dienstmann und Freund. Seine dichterischen
Qualitäten werden nicht berührt. Ähnlich hat Longfellow unter einer Masse
von Personen Walther von der Vogelweide seinem Werke eingefügt, auch ihn
als Freund und Berater Heinrichs, den er von Hoheneck nennt.
In einer merkwürdigen Novelle „Der Arme Heinrich" hat Ricarda Huch
eine seltsame Umgestaltung gewagt. Heinrich von Ane läßt die Blutheilung
wirklich geschehen, das „Liebheidli" stirbt unter dem Messer des sarazenischen
Arztes und Heinrich gesundet in ihrem Blute. Damit ist das Thema in der
Spitze umgebogen; Heinrich lebt ein langes inhaltreiches Leben voll neuer
Gesundheit. Was uns die Novelle, die mit allem berückenden Zauber der
Huchschen Erzählungskunst glänzt, hier noch erwähnen läßt, ist die überraschende
Einkleidung. Ein Mönch, Bruder Baldrian, der Philosoph seines Klosters,
pflegt seit Jahren einer Lieblingsidee nachzuhängen, er hat sich einen vernunft¬
mäßigen Gang aller Lebensläufe zurechtgelegt, eine planmäßige Anordnung von
Schuld und Sühne, die er wie geometrische Figuren betrachtet, und herzliche
Freude darüber empfindet. Nun ist Heinrichs absonderliches Lebensgebilde, das
der Mönch mit gespanntester Aufmerksamkeit verfolgt, und auf dessen erschreck¬
liches Ende er mit scheuer Erwartung, und besorgter Teilnahme seit Jahren
wartet, in Ehren, ja mit einer freilich wenig verdienten Seligsprechung beschlossen
worden. Das vermag er nicht zu fassen. Trübsinnig kehrt er heim und
schreibt die Geschichte Heinrichs nieder, so, wie er sie an Gottes Stelle an¬
geordnet hätte.
Kehren wir aber zu Hartmann und Hauptmann zurück. Abgesehen von
Episch und Dramatisch, von Stoff und Auffassung ist ein gewaltiger Unterschied
im rein Technischen, das der Poetik zuzählt, auffällig und beachtenswert. Hart¬
manns Personen stehen frei in klarer Lust, Hauptmann hat sie mit tausend
Fäden an die Erde geknüpft. Hartmann verfügt über eine schlichte, rein epische
Technik, über einen einfachen Ausdruck, über lebendige Bilder und unverbrauchte
Kunstmittel. Die Moderne kann offenbar nicht mehr so einfach darstellen, der
neuere Dramatiker benötigt einen unendlich größeren Aufwand. Was an Mitteln
für die äußere Inszenierung, für Brauch der Zeit, Schmuck und Tracht, Nahrung
und Mahlzeit, Jagd und Waffen, Krieg und Kampf, Bildung und Wissen,
Verkehr und Umgang aufgewendet wird, ergibt einen ungeheuren Apparat, an
dem alle Gebiete moderner Wissenschaft und Kenntnis ihren Anteil haben.
Insbesondere deutlich könnte das zum Beispiel gezeigt werden, wollte ich hier
in Ausführlichkeit die Einschläge aus den Reichen der Natur vergleichend auf¬
zählen, wie sie sich bei den beiden Dichtern finden. Während Hartmann mit
zwei bis drei, bildlich und ausdrücklich gebrauchten Namen sein Auskommen
findet, zeigt sich bei Hauptmann eine ungezählte Fülle von Worten für Baum
und Blume, Tier und Stein. Auch das Naturgefühl selbst, das sich in der
Poesie allmählich in den Werten des Kontrastes und der Parallele Heimatsrecht
erworben hat, fehlt ja im Epos Hartmanns noch völlig.
Hauptmann bleibt im „Armen Heinrich" der Antike fern, er benützt
gelegentlich den Koran und insbesondere die Bibel. Rechtsfragen, wie sie
Hartmann nicht ungern behandelt (Standesunterschiede und ähnliches), hat er
eher verwischt oder vermieden. Naturgemäß ist im Drama das Lokal breiter
ausgeführt (der Meierhof usw.) und die Handlung in reiche örtliche Beziehungen
hineingestellt. Der Schauplatz ist vornehmlich der Schwarzwald, wie bei Long-
fellow der Odenwald und die Gegend am Rhein. — Hauptmanns Sprache ist
reich, nicht selten archaisierend. Herr und Knecht sind in der Rede nicht unter¬
schieden. Historische Irrtümer sind selten und nicht von Belang. Schlimmer,
ja unbegreiflich ist eine grobe Nachlässigkeit in der chronologischen Führung des
Dramas: der erste Akt spielt im Herbst, der zweite im Winter und der dritte,
zeitlich folgende wieder im Herbst desselben Jahres.
Hauptmann und Hartmann! Eines modernen Urteils will ich mich füglich
enthalten. Jede der beiden Heinrich - Dichtungen will genossen und sür sich
gewürdigt werden, nicht die eine auf Kosten der anderen gelobt. Sie wurzeln
in allzu verschiedenen Zeiten, die wir wohl gegeneinander abgrenzen, über die
wir aber nicht aburteilen sollen. Jede Zeit hat ihre Werte, und im Grunde
lebt jeder Mensch in der Zeit, die ihm gebührt. Ist er stark genug, sich darüber
zu erheben und die Außenstehenden nach eigenem Willen zu modeln und ihnen
sein Gepräge aufzudrücken, so beugen wir uns seiner Stärke. Ist seine Tatkraft
zu schwach, sein Wollen nicht stark genug, gelingt es ihm nur mangelhaft oder
versucht er's glücklos, so bleibt ihm nur übrig, sich zu bescheiden.
Lernen wir aber aus solcher historischen Betrachtung in den Geist der
Zeiten einzudringen und die Notwendigkeit der Entwicklung und die geschlossene
Folgerichtigkeit des Ganges der Dinge in jedem Falle des Lebens erblicken, ob
sich's nun zum scheinbar Besseren oder scheinbar schlimmeren wendet, lernen
wir absehen von der eigenen armen Persönlichkeit und ihrem kleinen Schicksal
im Hinblick auf die unendliche Fülle um uns, so darf es uns genug sein, —
denn das wird, wohl auch der Schluß der uns erreichbaren Lebensweisheit sein.
Konstantinopel, den 6. Oktober 1856.
n der mir allergnädigst erteilten Instruktion haben Ew. Königliche
Majestät hervorzuheben befohlen, daß Allerhöchstdieselben die Ein¬
setzung einer erblichen, europäischen Dynastie aus einem alten
Fürstengeschlechte mit traditionellen fürstlichen Bewußtsein und mit
einem aus angeerbter Gewohnheit ruhenden Sinne sür Sitte und
Recht für die Lonciitio 8me qua, ne>n des Gedeihens der beiden Fürstentümer
Moldau und Wallachei halten. Ew. Königliche Majestät haben mir daher aller¬
gnädigst zur vorzugsweisen und Hauptaufgabe zu machen geruht, die übrigen
Bevollmächtigten für diese Ansicht zu stimmen, und mich dabei durch Neben¬
sachen nicht beirren zu lassen.
Die Vereinigung sämtlicher Kommissäre, fast aller in demselben Hause,
oder doch ganz in der Nähe, die Berührungspunkte, die sich hierdurch ergaben,
haben vielfach von selbst auf die Besprechung der Sache geführt, und ich bin
daher nunmehr imstande, Ew. Königlichen Majestät darüber eine genaue und
alleruntertänigste Darstellung zu geben, wie dieser Gegenstand von Allerhöchstdero
Mitkontrahenten des Pariser Friedens aufgefaßt wird, und wie ungefähr zur¬
zeit die Chancen für die in Rede stehende Angelegenheit stehen.
Handelte es sich bei der politischen Reorganisation der beiden Fürstentümer
nur um eine Frage, nämlich die der Zweckmäßigkeit und des Nutzens für jene
Länder selbst, und gingen alle zur Mitwirkung an dieser Reorganisation berufenen
Kommissäre der verschiedenen Mächte lediglich von dieser Basis aus, dann hätte
Ew. Königlichen Majestät Kommissarius ein sehr leichtes Spiel, Allerhöchstdero
Intention auch von anderer Seite adoptiert zu sehen, und derselben Eingang
zu verschaffen. Taß ein starkes, monarchisches, möglichst gesichertes und daher
erbliches Regiment in den Fürstentümern diejenige Regierungsform sein würde,
welche den Interessen derselben am meisten zusagt, darüber findet eigentlich,
wenn man der Sache auf den Grund geht, gar keine Meinungsverschiedenheit
statt, es sind vielmehr alle Mächte von dieser Wahrheit so sehr durchdrungen,
daß lediglich deshalb, weil dies nur zu sehr der Fall ist, ein Teil Ew. Königlichen
Majestät Mitkontrahenten des Pariser Friedens die Maßregel gerade um dieses
Grundes und seiner Folgen willen nicht will.
Denn das Interesse, der Nutzen und die Zweckmäßigkeit der Maßregel für
die Fürstentümer selbst sind für die Mehrzahl der Mächte nur höchstunter¬
geordnete Motive, von denen sie bei den bevorstehenden Verhandlungen aus¬
gehen. Das Hauptmotiv für dieselben bleibt ihre eigene Politik, ihr eigener
Nutzen, ihr eigenes Interesse; nur, was innerhalb und ohne die mindeste Be¬
einträchtigung dieser alleinigen Rücksicht noch etwa für die Fürstentümer geschehen
kann, das würde man, und auch dieses nur mit großem Mißtrauen, allenfalls
zulassen wollen.
Das ist im allgemeinen die Stellung der Mehrzahl der Mächte zu dieser
Frage; ihr eigenes Interesse tritt überall in den Vordergrund; nur Ew. Königliche
Majestät allein nehmen zu derselben einen verschiedenartigen Standpunkt ein,
der, indem er nach unseren Beziehungen zu den Fürstentümern gleichzeitig unseren
Interessen entspricht, gestattet, das Wohl jener Länder zum vorzugsweisen Ge¬
sichtspunkt zu machen.
Was zunächst die Pforte betrifft, so ist vielleicht diese mehr, als jede
andere Macht davon überzeugt, daß ihre beiden in Rede stehenden christlichen
Vasallenländer, wenn sie ein starkes erblich-monarchisches Regiment erhielten,
sehr bald zu einer Entwicklung kommen würden, die erstaunlich sein würde; aber
sie kann sich darüber nicht im Zweifel befinden, daß diese Entwicklung notwendig
zur Unabhängigkeit der Länder führen muß. Deshalb sträubt sie sich auch gegen
die Union, weil sie weiß, daß diese Union den fremden Erbfürsten zur Folge
haben würde. Ihre Anschauungsweise ist von ihrem Standpunkte aus voll¬
kommen richtig. Ihr Hauptinteresse besteht nicht darin, das Beste jener Länder
zu wollen, sondern darin, daß ihr die Länder bleiben, und sie bleiben ihr um
so sicherer, je länger die jetzige Wirtschaft in denselben beibehalten wird. Des¬
halb hebt die Pforte auch ganz offen in ihren Noten und besonders in den letzten
vertraulichen Mitteilungen, die ihr Ambassadeur am englischen Hofe, Mr.
Matharus an Lord Clarendon gemacht hat, nicht mehr das Interesse der Fürsten¬
tümer, sondern nur die Folgen hervor, die ihre Union unter einem fremden
Erbfürsten für das türkische Reich haben würden. Sie sagt geradezu: das, was
die Fürstentümer fördert, was ihnen in ihrer politischen Organisation Leben und
Bestand gibt, das ist unser Tod, und wir wollen nicht die selbstmörderische Hand
an uns legen. Was die Pforte will, das ist schließlich: Assimilierung der
Vasallenländer an den Hauptbestandteil des türkischen Reiches, oder wenn es
gestattet ist, diesen Ausdruck zu gebrauchen, Osmanisierung der beiden Fürsten¬
tümer Paschaliks im günstigsten Falle unter christlichen Paschas. Auf das
Interesse der Fürstentümer selbst kommt die Pforte nur indirekt und insofern
zurück, als sie sagt: die Fürstentümer gehören mir, sie sind mir garantiert, und
da sie dies sind, so erfordert es ihr eigener Nutzen und ihre eigene Ruhe, daß
jede Disharmonie zwischen ihnen und dem Reich schwinde, mithin, daß sie
demselben assimiliert werden. Die Pforte hat nach dem Pariser Frieden das
letzte Wort zu reden, und wird es unzweifelhaft stets in diesem Sinne tun. Je
mehr man daher dem türkischen Kommissär, oder den türkischen Behörden davon
sprechen und sie in der Überzeugung bestärken wollte, daß ein den Ländern
zu gehender fremder Erbfürst zum Gedeihen und zur Kräftigung der Länder
beitragen werde, desto mehr würde man die Türken gegen sich haben, denn sie
wollen eben keine solche Kräftigung. Die Zustimmung der Pforte zu einer in
was immer für einer Weise selbständigen erblichen monarchischen Negierung der
Länder wird, darüber darf man sich keine Illusionen machen, nur durch Gewalt
erlangt werden können, wenn nicht durch diejenige des Krieges, sondern doch
durch diejenige der Umstände.
Was hiernächst Nußland betrifft, welches bis vor dem Kriege eine bedeutende
Rolle in den Fürstentümern gespielt hat, so werden Ew. Königliche Majestät
bereits aus meinen früheren ehrfurchtsvollsten Berichten allergnädigst entnommen
haben, daß der Kaiser Alexander der Zweite beabsichtigt, eine große Zurück¬
haltung in den Fragen, welche diese Länder betreffen, zu beobachten. Dahin
gingen die Äußerungen seiner Diplomaten in Berlin und Wien gegen mich;
aber man konnte doch durchblicken, daß im Grunde Rußland kein wesentliches
Interesse habe, die Selbständigkeit der Fürstentümer zu fördern, und die besondere
Betonung seiner Diplomaten, daß man zwar die Länder durch die zu berufenden
Diwans aä Koa zum freien Ausdrucke ihrer Wünsche gelangen, der Pforte dem¬
nächst aber das letzte Wort zu lassen haben werde, ließ darauf schließen, daß
man russischerseits hiernächst den Widerstand der Pforte eher begünstigen, als
zu beseitigen trachten werde.
Die russische Politik kann bei dieser Haltung in jedem Falle eines günstigen
Erfolges in dieser Frage sicher sein. Kommt in bezug auf die Fürstentümer
nichts Wesentliches zustande, werden dieselben in ihrer bisherigen mangelhaften
Verfassung belassen, oder gar noch mehr an die Pforte angeschlossen und
osmanisiert, so erlangt die russische Politik zweierlei: einmal das Wiedererwachen
der Sympathien jener Länder sür Rußland, und sodann eine Blanc für die
Westmächte, auf die die Moldau-Wallachen, wie einst die Polen, ihr Augenmerk
gerichtet haben, und somit auch in dieser Hinsicht eine Enttäuschung Europas
über die Macht Frankreichs und Englands zur Wiederbelebung unterdrückter
Nationalität. Wird hingegen etwas zustande gebracht, werden die Fürstentümer
unter eine kräftige Regierung gestellt, so kann dies nicht anders, als durch
Lockerung der Bande zur Pforte, d.h. also zum Nachteil des türkischen Reiches
geschehen; eine Lockerung der Bande der Moldau und Wallachei zur Pforte
kann allerdings auch zu einem Beispiele für Serbien, Bulgarien usw. führen;
Rußland wird somit durch den Frieden erreichen, was es durch den Krieg
vergeblich zu erreichen gestrebt hat.
Daß Rußland sich dieser günstigen Stellung zu der vorliegenden Frage
vollkommen bewußt ist, und daß diese Stellung seine gegenwärtige Zurückhaltung
diktiert, darüber waltet kein Zweifel ob, wird auch in konfidentiellen Gesprächen
von seinen Diplomaten gar nicht geheim gehalten, welche vielmehr die Dis¬
positionen des Pariser Kongresses über die Fürstentümer geradezu, und mit
vollkommenem Rechte, als einen der wenigen Punkte des Friedens bezeichnen,
der Nußland vollkommen befriedige.
Worüber man in Rußland noch zu keiner Überzeugung, zu keinem Abschluß
der Ansichten, und somit auch noch zu keinem Entschluß in Beziehung auf das
Eintreten in die Handlung gekommen ist, besteht lediglich in dem Zweifel,
welche der alleruntertänigst vorgedachten beiden vorteilhaften Alternativen die
vorteilhafteste sein, und welche man sich daher anzueignen haben werde.
Der russische Kommissär Mr. de Basily, der sich hier sehr an mich gehalten,
und mich fast täglich und lange zu besuchen pflegt, und mit dem ich daher, wie
mit dem französischen Kommissär, zu einem näheren und vertraulichen Verhältnis
gekommen bin, hat mir in einer Weise gesprochen, die mich voraussetzen ließ,
daß er von der Auffassung Nachricht haben müsse, die Ew. Königliche Majestät
über die den Fürstentümern zu gebende Regierungsform allergnädigst angenommen
haben. Er sprach mir von der Zweckmäßigkeit eines einheitlichen und monarchischen
Regiments in denselben, und meinte, daß er es gern sehen würde, wenn ein
Deutscher, zumal protestantischer Fürst für jene Länder auserwählt werde. Mit
einem solchen werde dann auch der Übergang zu der griechischen Religion
mindere Schwierigkeiten haben, als dieses bei einem katholischen Fürsten der
Fall sein werde. Ich sah sehr bald ein, daß Mr. de Basily sich bemühte, mir die
Ansicht beizubringen, daß wir uns auf einem und demselben Standpunkte befinden.
Ganz kürzlich erwiderte ich ihm indes auf diese Anführungen, daß, was er mir
in dieser Hinsicht jetzt und früher gesagt habe, durchaus von mir nur als seine,
des Mr. de Basily Privatansicht betrachtet werden könne, denn aus den Ge¬
sprächen mit anderen russischen Diplomaten wisse ich ziemlich sicher, daß dies nicht
die Meinung seiner Negierung sei, und daß diese schließlich, wenn sich die Fürsten¬
tümer durch ihre Diwans für die Union und für die Einsetzung eines Erbfürsten
aussprechen sollten, wahrscheinlich dies wenig oder gar nicht begünstigen, sondern
vielmehr eher hintertreiben werde.
Mr. de Basily zeigte mir nun seine Instruktion und ein Zirkularschreiben
an die russischen Konsulate in den Donaufürstentümern; nach beiden soll ersterer
und die letzteren für jetzt zur Unionsfrage, womit die des erblichen Fürsten
zusammenhängt, keine bestimmte Stellung einnehmen, und jede Äußerung darüber
vermeiden, aber darauf gehalten werden, daß die Diwans über die Unions-
ftage zum freien Ausdrucke ihrer Wünsche gelangen.
Mr. de Bastln erwähnte nun seinerseits weiter gegen mich vertraulich, daß
man sich in Se. Petersburg, besonders auf seine Auseinandersetzung hin, schon
jetzt für die Unterstützung der Union und ihre Konsequenzen schärfer ausgesprochen
haben würde, wenn nicht eine sehr hochgestellte Persönlichkeit — vielleicht erfahre
ich noch später, wer damit gemeint ist — sich diesem Projekte entschieden abhold
gezeigt hätte, weil man dieselben Unannehmlichkeiten und Weiterungen, wie in
Griechenland, fürchte; er hoffe indes, daß man, auf seine weiteren Gründe hin,
diesen Widerstand besiegen werde.
Was mich betrifft, so bin ich der alleruntertänigsten Ansicht, daß Rußland
die bisherige, zweifelhafte Stellung zu dieser Frage beibehalten, und erst dann
für die eine oder die andere Alternative entschieden eintreten wird, wenn sich
dies nicht mehr vermeiden läßt. Dann aber wird Nußland ganz nach Maßgabe
seines jeweiligen Interesses handeln. Es stimmt dies auch ganz mit dem Inhalt
der russischen Zirkularnote an seine auswärtigen Agenten vom 22. August d. Is.
über die allgemeine politische Stellung Rußlands überein, die mir Herr von Boutenieff
vertraulich mitgeteilt hat.
Ob wir daher hinsichts ... des den Fürstentümern zu gebenden Erb-
fürsten auf die Unterstützung oder den Widerstand Rußlands zu rechnen haben
werden, hängt von der Zukunft ab, und es läßt sich ... gar nichts Sicheres
voraussagen.
Anlangend nun die Ansichten des anderen Nachbarlandes der Fürstentümer,
nämlich Österreichs, so hat der Kommissarius dieses Landes, Baron Koller, sowohl
mir als den übrigen Mitgliedern der Kommission gegenüber eine ziemlich kalte
und zurückhaltende Haltung angenommen, und im allgemeinen bisher vermieden,
gesprächsweise auf den Gegenstand einzugehen. Wo dies geschehen ist, hat er
ganz klar und ohne Rückhalt, und ohne bis jetzt weiter auf eine Diskussion
einzugehen, erklärt, daß man österreichischerseits nichts als einige innere
administrative Reformen für jene Länder anstrebe; was irgend dazu führe, eine
Art von Selbständigkeit für die Fürstentümer anzubahnen, das wolle Österreich
entschieden nicht. Man wolle im allgemeinen Beibehalt des statug amo. Am
wenigsten könne man zugeben, daß der Kongreß von Paris durch die stipulierte
Anhörung der Volkswünsche in jenen Ländern einen glücklichen Griff getan habe.
Ausführlichere und oft sehr eingehende Unterhaltungen hierüber habe ich indes
mit Baron Prokesch gehabt, der sich auch offener und mit der ihm eigenen
Kathedermanier über die Sache ausgesprochen hat. Nach ihm sind, was zunächst
die Form betrifft, die Stipulationen des Pariser Friedens in betreff der Ein¬
setzung der Kommission für die Fürstentümer, die ein Einverständnis über das
schaffen soll, was der Pariser Kongreß, als alles noch unter Waffen war, nicht
erreichen konnte, ein entschiedenes Zeichen der Einsichtslosigkeit derer, die dort
getagt haben, und die nach seiner Meinung alle mehr oder weniger mit Blindheit
geschlagen sind. Ich habe nicht unterlassen, ihn daran zu erinnern, daß darunter
sich auch Graf Buol befunden, und sein Kaiser demnächst zu denjenigen Souveränen
gehört habe, die den Vertrag mit sanktioniert haben, während wir beim Eintritt
in den Kongreß diese Punkte bereits als vereinbarte vorgefunden haben, denn
etwas Wahres hat diese Auffassung.
Im allgemeinen kommen die österreichischen Raisonnements in der Sache
selbst auf folgende Punkte hinaus:
1. Die Türkei soll in ihrer Integrität erhalten werden; Osterreich hat dies
noch besonders mit Frankreich und England stipuliert. Eine Ordnung der Ver¬
hältnisse in der Moldau und Wallachei, die das Band zur Pforte lockert, und
dies würde jede selbständige Gestaltung der dortigen Zustände sein, ist somit
gegen seine eingegangenen Verbindlichkeiten; Österreich muß daher dabei stehen
bleiben, daß die Moldau und Wallachei den Charakter getrennter Provinzen, und,
als Provinzen, den einer möglichsten provinziellen Abhängigkeit von der Pforte,
als Zentrum des Reiches, behalten.
2. Die Anhörung der Volkswünsche ist ein gefährliches, das konservative
Prinzip in Frage Stellendes Präzedens. Wer diesen Gedanken ausgesonnen, ist
ohne weiteres ein Demokrat, und noch dazu ein vollkommen roter gewesen. Wer
irgend zur Ausführung dieses heillosen Gedankens mitwirken wolle, der ist ein
noch röterer Demokrat. Der Kongreß in Paris hätte nichts ärgeres erfinden
können, um sich und das konservative Prinzip bloßzustellen. Dieser Punkt müßte
daher nach Möglichkeit eludiert werden, und die Kommission habe gut zu machen,
was der Pariser Kongreß in dieser Hinsicht verpfuscht habe.
3. Dagegen habe man sich mit allem Ernste der inneren Entwicklung des
Landes durch Ordnung der Kommunal- und Agrarverhältnisse, durch Herstellung
eines guten Finanzsystems, Aufhebung der Bojarenprivilegien, Einführung einer
besseren Justiz usw. zu unterziehen.
Es ist sehr leicht, dieses Raisonnement als unhaltbar zu bekämpfen. Innere
Verbesserungen lassen sich da nirgend mit Erfolg ausführen, wo die energische
Hand der Leitung, die Moralität in der Verwaltung, und der gute Wille fehlt.
Diese Eigenschaften werden aber jeder Bojarenregierung abgehen. Ich konnte
daher auch dem Baron Prokesch und ohne ihn zu verletzen geradezu sagen, und
meine Ansicht begründen, daß ich an gar keine Verbesserungen glaube, die Oster¬
reich in jenen Ländern beabsichtige, und daß dieses alles eitle Phrase sei. Wer
etwas Ordentliches in der Moldau und Wallachei herstellen wolle, der müßte
ihr vor allen Dingen eine Negierung geben, die Macht und Ansehen habe, das
Gute durchzusetzen. Dies sei die conciitlo sine ama non des Gedeihens der
Länder. Baron Prokesch gab dies gewissermaßen zu, und meinte, der Kongreß
in Paris hätte am besten getan, einen einzigen Kommissär mit ausgedehnten
Vollmachten zur Reorganisation des Landes abzusenden. „Einen österreichischen"
— fiel ich ein, denn ein anderer würde Ihnen doch sicher nicht gefallen haben.
Warum da nicht lieber gleich einen Fürsten?
Die Wahrheit ist auch hier die: daß Österreich bei der ganzen Frage von
nichts weniger, als von einem Interesse für jene Länder bestimmt wird, daß
es vielmehr, seiner historischen Politik in Beziehung auf dieselben treu, unter
dem Schatten irgendwelcher mysteriösen Negociation, ganz wie dies nach dem
Frieden von Kaynardyi (10/21 ---- July 1774) geschehen ist, eine Macht¬
vergrößerung anstrebt. Daher die Fortdauer der Besetzung der Moldau und
Wallachei durch die österreichischen Truppen unter dem Vorwande der noch nicht
ausgeführten Grenzregulierung; binnen kurzem soll, nach den Andeutungen
von Baron Prokesch, eine ausgedehnte Anhäufung von Truppen längs der ganzen
moldau-wallachischen Grenze in Siebenbürgen und der Bukowina dazu kommen
unter den: ferneren Vorwande, daß die in Paris beschlossene Anhörung der
Volkswünsche in der Moldau und Wallachei, die Rumänen in Siebenbürgen,
Ungarn und der Bukowina aufgeregt, und dies bereits zu einer großartigen Ver¬
schwörung im nationalen Sinne daselbst geführt hätte, der man auf der Spur
sei. Daher ferner die geheime Wirksamkeit Österreichs gegen jeden andern, als
österreichischen Einfluß in jenen Ländern, so z. B. gegen Frankreich in betreff
der von einer französischen Kompagnie beabsichtigten Sereth> Schiffahrt, und gegen
uns in Beziehung auf die Bank. Auch in Hinsicht auf die „europäische Donau-
Schiffahrt Regulierungskommission" glaubte Baron Prokesch bereits ohne Rück¬
halt aussprechen zu dürfen, daß diese nichts zustande bringen, und schließlich auf
der Donau alles beim alten bleiben werde. „Österreich sei" — so meinte Baron
Prokesch — „bei jenen Nachbarländern in dem Grade interessiert, daß es eher
in einen Krieg eintreten, als eine Umgestaltung der dortigen Verhältnisse in
einem Sinne zugeben werde, der die jetzigen Machtverhältnisse änderte."
Daher tritt auch Osterreich, welches für den Krieg gegen Nußland nichts
getan, jetzt, wo es gilt, die Verhältnisse in der Moldau und Wallachei zu
regulieren, mit einer Freundlichkeit gegen Rußland bei der Grenzregulierung
und sonst auf, als wenn es gelte, die eigenen Triumphe zu realisieren, während
es doch nur die fremden sind, und die Briefe von Herrn von Boutinieff sind
voll von Klagen über das mauvai8 vouloir des Wiener Kabinetts.
Daß also mit dem österreichischen Kommissär über das Projekt eines den
Fürstentümern zu gebenden erblichen fremden Fürsten gar nicht gesprochen werden
kann, wird hiernach keiner weiteren Ausführung bedürfen. Man könnte es nnr
tun auf die Gefahr hin, mit Österreich gänzlich zu brechen, und diese Gefahr
soll ich nach dem Hauptgesichtspunkt der mir allergnädigst erteilten Instruktion
vermeiden.
Was nun die Westmächte betrifft, so ist England bereits von seiner in Be¬
ziehung aus die Fürstentümer im Kongreß zu Wien bekannten und verteidigten
Politik desertiert, und befindet sich im vollen Rückzüge; das Kabinett von London
hat sich, wie jederzeit in den orientalischen Angelegenheiten geschehen ist, endlich
die Privatpolitik seines hiesigen Botschafters Lord Stratford de Reeliffe oktroyieren
lassen, und sich demgemäß die türkische Auffassungs weise angeeignet. Um ganz
sicher in betreff der Fürstentümer nichts Reelles zustande kommen zu lassen, hat
Lord Clarendon schließlich einen Diplomaten als Kommissär ausgewählt, der
überall das augenscheinlichste Talent an den Tag gelegt hat, die Verhältnisse
zu verwirren, und zu brouillieren.
Nur Frankreich hält noch an den Anschauungen fest, die es beim Pariser
Friedenskongreß in betreff der Fürstentümer bekannt hat. Die bekannte englische
Note Lord Clarendons über die Konversation mit Mr. Mathuras (?) über die
Fürstentümer hat Frankreich in einer Weise widerlegt, die deutlich bekundet, daß
es der englischen Allianz seine Ansichten in Beziehung aus die Moldau und
Wallache! nicht opfern will. Frankreich bleibt fest dabei stehen, daß man die
Wünsche der Moldau-Wallachen über die Union hören müßte, und die Union
eine zweckmäßige Maßregel sein werde. Über den den Ländern zu gebenden
fremden Erbfürsten hat sich Frankreich jedoch in eine, einer vielseitigen Deutung
fähige Reserve gehüllt.
Es bleibt zum Schlüsse noch der Ansicht Sardiniens ehrfurchtsvoll zu
erwähnen, welches an der Kommission teilnimmt. Bei der Spaltung, die augen¬
scheinlich zwischen Frankreich und England in dieser Frage eingetreten, wird die
Haltung des sardinischen Kommissars eine sehr vorsichtige sein; soweit die eine
oder die andere dieser beiden Mächte hierdurch nicht verletzt wird, wird sich
Sardinien auf der Seite derjenigen Anschauung befinden, die Osterreich das
Widerspiel hält. Blicken wir daher um uns und auf unsere Mitkontrahenten
des Pariser Friedens, so finden wir, was die Frage über den fremden Erb¬
fürsten betrifft, nirgends eine entschiedene und offene Mitwirkung für den von Ew.
Königlichen Majestät mit so großem Recht in den Vordergrund gestellten Punkt,
aber auf feiten der Türkei, Österreichs und Englands einen offenen und entschiedenen
Widerstand.
Sehen wir die Union der Länder als vorbereitendes Mittel zum Zweck an,
so finden wir eine offene und entschiedene Mitwirkung nur in Frankreich, eine
zweifelhafte in Nußland und Sardinien, einen unzweifelhaften Widerstand in der
Türkei, Osterreich und England.
Ein offener und entschiedener Alliierter für Ew. Königlichen Majestät erhabene
Ansichten würde jedoch in den Fürstentümern selbst, wenn diese zum freien unbe¬
einflußten Ausdruck ihrer Wünsche gelangen, zu finden sein.
Allein alles weist darauf hin, daß, wenn überhaupt noch der Pariser
Frieden in den die Fürstentümer betreffenden Stipulationen zur Ausführung
kommen sollte, jener Ausdruck kein reiner sein wird, besonders wenn die öster¬
reichische Okkupation fortdauern sollte.
Nach den Informationen, die dem General von Wildenbruch und mir aus
den Fürstentümern selbst vorliegen, würden diese, wenn sie sich über die Wahl
eines fremden Erbfürsten aus einer erblichen europäischen Dynastie zu entscheiden
hätten, diese auf ein Mitglied der schwedischen, savonischen oder belgischen Regenten¬
familie fallen lassen; von einem deutschen Fürsten würde man einen über¬
wiegenden Einfluß Österreichs befürchten. Die Wahl eines Mitgliedes eines
deutschen Fürstenhauses würde sonach im Lande selbst keine Unterstützung finden.
Ew. Königlichen Majestät habe ich geglaubt, diese Lage der Sache in tiefster
Ehrfurcht darstellen zu müssen; ich habe, und ich darf alleruntertänigst hoffen,
in richtiger Auffassung der meinem Allerhöchsten Königlichen Herrn vor allem
schuldigen Pflicht der Wahrheit, keine Täuschung darüber obwalten lassen dürfen,
daß die mir allergnädigst gestellte Aufgabe hiernach keine Hoffnungen auf eine
Realisation derselben darbietet, es sei denn, daß ganz veränderte Umstände
eintreten, welche die allgemeine Politik der Mächte und die Weltlage ändern.
Was für die Fürstentümer, aller Anstrengungen ungeachtet unsererseits
zustande gebracht werden dürste, wird im günstigsten Falle nicht über ein
Stützwerk hinausgehen, und man wird von Glück zu sagen haben, wenn man
wenigstens nicht der Aussichten für eine bessere Gestaltung der Verhältnisse unter
günstigeren Konstellationen für die Zukunft verlustig geht.
Als Brennpunkt für die allgemeine europäische Politik werden die Fürsten¬
tümer indessen stets eine Wichtigkeit einnehmen, die wie mir scheint, Preußen
ferner an diese Frage fesseln wird, wenn gleich Ew. Königlichen Majestät erhabene
Ansichten für jetzt sich nicht realisieren lassen würden. (Fortsetzung folgt)
Seelchen zieht die Kranke an und ruft ihren Neffen, der aus dem Pferdestall
hereinkommt. Sie sagt ihm, daß sie nach Heppenheim fahren werde und zwar
jetzt gleich. Bis gegen Abend sei sie wieder zurück. Der Karl solle unterdessen
einmal zu den Männern und den jungen Burschen gehen, als da seien der Wirbels
Peter und der Geiers Andrees, der Frickels Georg und der Mitscherts Jakob,
von denen man doch gewohnt sei, daß sie den Leuten den Gefallen täten, die
Totenlade auf den Kirchhof zu tragen. Die sollten sich dann für die Nacht bereit
halten. Nicht viel Aufhebens machenI Wenn daS Dorf stille und der Mond auf¬
gegangen sei, könne man die Beerdigung bewerkstelligen.
Dies und das sagt Tante Seelchen, bis man auf einmal vorm Tor auf der
Straße Peitschenknall und gleich darauf im Hausgang eine Stimme hört:
„Habia, habla, sind wir fertig?"
Und dann ist es wieder stille, aber das Tor poltert, und die alte Kutsche
rumpelt in den Hof.
Karl ist beklommen. Wie wird der Vetter Holtner sich gegen ihn verhalten?
Holtners sind reich, man sagt, nach dem Baron droben im Schlosse seien sie die
reichsten Leute im Dorfe, aber sie gehören auch zu den Geschädigten.
Hannes Holtner führt seinen Gaul mit der Kutsche in den Hof. Er ist ein
Hüne von Gestalt. Sein stolzer Gaul ruckt den Kopf auf. Da haben die beiden
gleiche Höhe. Im Dorfe wollten sie ihm einmal den Spitznamen „Die Hopfen¬
stange" geben. Da sagte er ihnen, sie sollten das nur schön bleiben lassen, denn
er habe auch in der Breite so viel, daß es zur Länge passe. Und dieser Hüne
sagt zu dem Sohne des Selbstmörders mit einer Stimme, die ein Stückfaß zum
Resonanzboden zu haben scheint:
,,G' Morje, Bub, wo ist deine Tante, die Seite?"
Dabei leuchtet aus seinem glattrasierten Gesichte eine ehrliche Freundlichkeit,
die keine Hintergedanken hat. Karl wird es ganz warm ums Herz, und er ant¬
wortet ein übers andere Mal:
„El, drin ist sie, Vetter Holtner, drin ist sie, Vetter Holtner, drin ist sie;
geht nur hinein, Vetter Holtner!"
Und da der alte Junggeselle sich noch am Gaule zu schaffen macht, fügt der
Bursche hinzu:
„Ihr braucht euch net zu genieren, Vetter Holtner, geht nur hinein!"
Wuppla, schnurrt der Harnes da herum wie ein eifriger Rekrut, wenn KehrtI
kommandiert wird, und poltert:
„Was, geniern? Vielleicht vor dir Lausbub, dir dreckigem? Oder vor deiner
Tante, dere alt Schachtel?"
Er trappt durch den Hausgang ins Zimmer; Karl hinterdrein. Unter der
Tür beugt Hannes Holtner sich nach vorn, um nicht an dem Oberpfosten an-
zustoßen, und gleich will der Hüne drauf los wettern. Da schießt Sophie auf
ihn zu und sagt, indem sie dabei unverwandt auf den Boden schaut:
„Ja ja, so geht's halt, ja ja, das geht so, hmhmhmhmhm, geht so, sag ich,
hmhmhml"
Hannes Holtner, der von dem Arzte bereits unterrichtet ist, faßt die Kranke
bei der Hand und erwidert ihr:
„Du hast ganz recht, meine Maat, so geht's und kein Bißjen anders; aber
heut fahren wir! Verstanden?"
Doch Sophie sagt nur, daß das so ginge. Hannes Holtner wendet sich an
die Jungfer:
„Wie kommst du dazu, zu meinen, man wollt dir keinen Gefallen tun? Was
könnt ihr denn dafür, daß der tolle Kerl sich . . ."
Tante Seelchen fällt ihm ins Wort: „Bscht!", legt den Finger auf die Lippen
und deutet mit den Blicken auf Sophie.
„Jaso!" sagt Hannes Holtner, der Hüne, „da muß man zartfühlend sein!
Auch recht! Na, also, ihr könnt nix dazu, und so dumm wie die anderen Bauern
sind 's Holtners net! Jetzert, wie kann sich denn aber auch so ein Rindvieh mit
dem Jud auf Spekulationen einlassen, das Kamel?"
Karl hört diese Schimpfworte und kann dem, der sie so grob und rück¬
sichtslos herauspoltert, nicht zürnen. Er weiß nicht, warum. In ihm wirkt nur
das Gefühl, daß dies Schimpfen anders sei als das der erbosten Bauern und
Arbeiter von gestern Abend.
Auch Tante Seelchen lächelt nur bei dem Geschimpfe des Riesen, denn sie
weiß es, daß hier keine verbissene Bosheit geifert, sondern daß nur eine ehrliche
Derbheit und junggesellenhafte Schrulligkeit rumort.
„Und was wird denn jetzert aus euch zwei, Seite?" fährt Hannes Holtner
fort, „aus dir und dem Bub? Hätt'se du geHeirat, du dumm Mensch, wer wird
dich denn heut noch haben wollen?"
„Aweil predigts Laster Moral!" erwidert Tante Seelchen schmunzelnd.
„Warum hast du denn net geHeirat? Wer wird dich denn heut noch haben wollen,
dich alten Bock?"
„Wirklich, Seite, wir könnten ins Spaßige kommen, aber aweil dürfen wir's
net. Jetzert im Ernst geredt: was willst du anfangen? Denn dein ganz Gerstchen
ist doch beim Teufel!"
„Ja!" seufzt Tante Seelchen, „das weiß unsern Herrgott, was aus uns zwei
werden soll!"
„Für den Bub Wissens auch noch andere Leut als nur unser Herrgott. Wenn
der will, kann er zu uns als Ackerbursch kommen!"
Da ist Karl, der das mit Staunen hört, freudig erschrocken und eifert heraus:
„Ja, Vetter Holtner, das macht mir Spaß, und die Gaul hab ich für mein
Leben gern!"
Aber er denkt auch an seine Tante und fragt:
„Vetter Holtner, denn Ihr für meine Tante keinen Platz?"
„Nein!" entgegnet Hannes Holtner kurz und bündig, „für die ist kein Platz
mehr da. Wir haben jetzert schon mal drei alte Schachteln aus Gnad und Barm¬
herzigkeit aufgenommen, und da ist für eine, die uns wirklich noch was schaffen
könnt, kein Platz mehr da. Man kann doch auch die drei anderen nicht einfach
zum Kuckuck jagen!"
„Na, 's wird auch für mich noch einen Unterschlupf geben!" wirft Tante
Seelchen ein, seufzt einmal und sagt dann weiter: „Komm, jetzert will ich noch ein
paar Eier sieden für unterwegs, damit wir was zu essen haben!"
Hannes Holtner winkt mit der Hand ab:
„Die Male hat schon einen schönen Korb voll zurecht gemacht, Sette, du
brauchst nix zu tun als anmessen!"
Wie er sieht, daß das der Sette unangenehm ist, daß sie bei seinen Worten
verlegen wird, setzt er noch hinzu:
„Mußt net meinen, Sette, daß das die Male aus Lieb zu dir getan hätt.
Das fällt der Male garnet ein. Das hat sie getan, weil ich nix eß, was die
Male net gekocht hat. Manche Leut deuten uns das ja als Geiz aus, weil wir
unser Essen überallhin eingewickelt mitbringen, aber die Leut können denken und
sagen, was sie wollen!"
Sophie wird unruhig, und das erinnert die drei anderen an die Fahrt.
Hannes Holtner zieht die Uhr hervor, die mit einem Lederriemchen an die Weste
gebunden ist, wirft einen Blick darauf und treibt zur Eile an:
„Allo hopp, marsch, daß wir fortkommen, ich will den Gaul net so abjagen.
Sette, setz dein Kcipotthütchen auf und los!"
Er geht hinaus, um im Hofe die Kutsche zu wenden und dicht vor die
Haustür zu fahren.
Als Tante Seelchen und ihre Nichte, die immerwährend vor sich hinspricht
und dabei die Nase auf und ab rümpft wie ein Kaninchen, sich anschicken, in den
Wagen einzusteigen, sagt Holtner:
„Die reinsten Baronsleut!"
Karl und Seelchen empfinden das wie Hohn. Karl wird blutrot im Gesicht
und knirscht mit den Zähnen. Aber Tante Seelchen blickt den Hüner vorwurfsvoll
an und sagt zu ihm:
„Hannes, deine Grobheiten tun gut, aber dein Spott tut auch weh!"
Da sagt der Hannes Holtner, wo er einen Gefallen erweise, da Spotte er
nicht. Das sei nicht so gemeint, und wenn sie es anders haben wollte:
„Die reinsten Bettelbarone I"
Da lächelt Tante Seelchen wieder, und Karl empfindet die Grobheit wie eine
Erlösung aus der Beklemmung, in die ihn die vorausgehende Bemerkung ge¬
bracht hat.
Hannes Holtner steigt auf den Kutscherbock. Sein langer Oberkörper ragt
weit über das Lederdach der Kutsche hinaus. Er nimmt die Peitsche aus dem
Köcher, wickelt die Zügelriemen von der Bremse neben dem Sitze, an die er sie
zuvor befestigt hat, heißt den Burschen das Tor aufmachen und dann: Hüohü,
Schimmel, hopp!
Karl sieht dem Wagen nach. Das grauschwarze Lederdach schwankt. Das
lackierte, aber schon längst blind gewordene Untergestell gärrt und knarrt. Man
hört das noch, nachdem die Kutsche schon um die Ecke verschwunden ist.
Der Bursche schließt das Tor wieder und geht ins Haus.
Karl hat das Schlafzimmer ein wenig in Ordnung gebracht und sitzt nun
auf einem Stuhl, denn er ist schon wieder müde. So knapp nach dem Ausstehen
schon wieder müde, denkt er und gähnt. Seine Arme sind schwer; er läßt sie zu
beiden Seiten hinabbaumeln. Sein Körper rutscht schlaff zusammen.
So sitzt er eine Weile da. Es ist ganz still im Haus. Daß man hin und
wieder von der Straße das Gerassel eines vorbeifahrenden Wagens oder einen
Bauer mit der Peitsche klappern hört, läßt diese Stille im Hause noch tiefer und
unheimlicher erscheinen. Karl schaudert und meint, er höre ein Seufzen und
Stöhnen und Ächzen droben über der Decke, wo der Vater im Sarge liegt. Es
ist ihm eigentlich doch lieber, daß er schon im Sarge liegt und daß der Sarg
schon verschraubt ist. Man hat da weniger Bangigkeit. Aber was braucht man
sich zu fürchten? Da entdeckt der Bursche, daß ein Unterschied ist zwischen Bangigkeit
und Furcht. Denn Furcht ist für ihn das gleiche wie Mutlosigkeit, Feigheit.
Diese kann man überwinden; er kann sie überwinden. Unter der Bangigkeit muß
man leiden, bis sie von der Gewohnheit vertrieben wird.
Er schlummert ein. Der Kopf sinkt ihm langsam auf die Brust. Seine
Schwere zieht auch den Oberkörper vornüber, und diese Bewegung weckt ihn
wieder. Da fährt er vom Stuhle auf.
Dumpf aus dem Hühnerställe kräht der Hahn. Es fällt Karl ein, daß die
Hühner noch nicht herausgelassen und noch nicht gefüttert sind. Das tut er jetzt
und streut dem hungrigen Vieh Gerste hin.
Über dem Füttern hört Karl das Tor aufklinken. Sein Blick sucht nach
einer Waffe. So oft das Tor geht, denkt er an feindliche Eindringlinge. Seit
gestern Abend muß er so denken. Er springt an den Dunghaufen und zieht die
vierzinkige Gabel heraus.
Es ist der Gurkeuhändler, der nachfragt, wann er die Gurken holen könne.
In zwei Stunden könne das geschehen, erklärt der Bursche, denn jetzt habe
er zuerst ein paar Gänge zu tun, die sich nicht hinausschieben ließen, weil sonst
die Leute im Felde und zu Hause nicht mehr zu treffen wären.
Karl verschließt dann Haus und Hof und macht sich auf zu den Bauern,
die er bitten will, die Leiche des Vaters auf den Friedhof zu tragen.
Zuerst geht er zum Wirbels Peter. Doch der ist schon nicht mehr daheim.
Aber seine Mutter ist da. Sie hängt gerade Wäsche zum Trocknen auf eine Leine.
Wie das Tor zufährt, unterbricht sie die Arbeit und schaut auf. Karl grüßt die
dicke alte Bäuerin. Doch sie erwidert seinen Gruß nicht, greift nach dem Reiser¬
besen und kreischt mit geifernden Munde:
„Was willscht denn du Spitzbubenbankert in unserm Haus? Wann du net
nachsehe, daß du nauskummscht, schmeiß ich dir alle Rippe im Leib kaputl"
Karl schaut sich um, ob da nichts sei, womit er sich bewaffnen könne, aber
er findet nichts Greifbares in der Nähe. Da will er, ohne die tätlichen Angriffe
der Frau abzuwehren, versuchen, ob er sie nicht mit vernünftigen Worten begüten
könne. Er wird der Erhöhter darstellen, was der Vetter Holtner gesagt hat, daß
er da doch nichts dazu könne, wenn sein Vater unrecht gehandelt habe, und dann
wird er ganz demütig seine Bitte vorbringen. So hebt er an:
„Bas Wirbelsen. . .1"
Weiter kommt er nicht,
„Nix Bas Wirbelsen! Naus aus unserm Haus, nix wie naus l For Spitz¬
bubenvolk is do taar Platzt"
Auch sie hat Geld verloren durch die Betrügereien des Schmiedes, und darum
kennt sie kein Erbarmen. Sie nimmt den noch voll Unrat hängenden Stallbesen
und wirft ihn nach dem Burschen. Da muß dieser zurückweichen. Beim Hinaus¬
gehen ruft er:
„Ihr seid jo so dumm wie dick Ihr. . .!"
In den Gassen danken sie ihm nicht auf seinen Gruß. Wenn er an
Menschen vorüber muß, die als besonders roh bekannt sind, bedauert er, sich
keinen Prügel zur Wehr mitgenommen zu haben. Er stramme dann seine ganze
Tapferkeit auf und macht ein bissiges Gesicht, aber das Herz klopft ihm doch
bänglich, bis er glücklich vorüber ist. Bisweilen fliegt ihm ein Schimpfwort an
den Kopf. Bei einer solchen Gelegenheit läßt er sich hinreißen, dem Schimpfenden
das alte Kindersprüchelchen nachzurufen:
Schäume (schänden schimpfen), schäume tut net weh,
Wer mich schaut, Hot Lauf un Floh l
Aber gleich darauf tut ihm etwas weh, sein Kopf von einem Stein, den ihm
der Bauer daran geworfen hat. Er taumelt zwei, drei Schritte und fühlt an die
getroffene Stelle. Da werden seine Finger warm und naß. Er beschaut sie;
sie sind voll Blut. Es tröpfelt ihm auf den Hals. Am Kriegerdenkmal an dem
Brunnen zieht er sein Taschentuch hervor, netzt es, wäscht die Wunde aus. legt
das Tuch zu einer Kompresse zusammen und drückt es auf die verwundete Stelle.
Es ist unbequem, so mit hocherhobenen, rückwärts gebeugtem Arme zu marschieren.
Er schiebt den Hut weit ins Genick und über das Taschentuch, das jetzt von selbst
über der um des Vaters willen empfangenen Wunde hält.
Nun wird er den Frickels Georg um die Gefälligkeit bitten. Der ist mit
seinem Vater gerade dabei, einen Wagen Hafer abzuladen. Sie sehen den Burschen,
geben ihm aber keine Antwort. Karl ruft immer wieder seinen Gutenmorgengruß.
Er weiß, daß der Alte nicht gut hört und zu den Leuten, die nicht laut genug
sprechen, sicher ja sagt, wo es nein heißen müßte. Aber der junge Frickel ist doch
nicht taub, und so ruft er noch einmal:
„G'Morje, Georg, hörst du dann nix?"
Keine Antwort.
Ein kleiner Bruder des Angerufenen spielt im Sande. Er steht auf, geht
in die Scheuer und schreit am Wagen hinauf:
„Salzers Karl is do, Georg' dort steht er!"
„Löß ihn steheI" brüllt der Georg. „Mir steht er lang gull"
Da will es Karl scheinen, als tue solche Mißachtung noch weher als die
Behandlung der Wirbelsen, dreht sich herum und geht. Zweimal schon abgewiesen I
Weiter denn zu Mitschertsl
Dort Hetzen sie den Hund an ihn. Karl springt aufs Tor zu. So kann der
Hund ihn nur noch an der festen Lederkappe des Stiefels fassen. Der Bursche
tritt kräftig nach hinten aus, da läßt das Vieh locker, und Karl wirft das Tor
zu. Der Bursche sieht die spitzen Zähne des Hundes im Leder abgezeichnet. Ein
tiefes Weh stöszt ihm aus dem Herzen zum Halse herauf. Er meint, das müsse
ihm den Hinteren Gaumen durchstoßen. Er besinnt sich, ob er nach diesen Er¬
fahrungen überhaupt noch zum Geiers Andrees gehen soll. Aber der Vater muß
doch hinaus auf den Friedhof! Vielleicht sind Geiers ruhiger und weniger
fanatisch. Sie sind reich, da liegt es nahe, zu glauben, daß sie in ihrem Ver¬
halten dem Vetter Holtner ähnlich sind. So tröstet der Bursche sich. Doch er
erlebt die vierte Enttäuschung, wenn man ihn auch wenigstens anhört.
soso, deshalb sei der Karl gekommen. Man hätte gemeint, er wolle vielleicht
mit hinausgehen Grummet machen, um abzuverdienen, was sein Vater durch¬
gebracht habe. Und wenn so ein Selbstmörder auch begraben sein wolle, so solle
er das doch selbst besorgen. Wer sich selbst umbringe, müsse sich auch selbst das
Grab besorgen. Ganz gut ginge das. Man nimmt seine Schippe mit auf den
Kirchhof, gräbt sich sein Loch und schießt sich da drunten tot. So hätte der Schmied
es machen sollen. Das Zuschaufeln hätte man ihm zur Not besorgen können.
Das wäre Geiers Ansicht. Und adschch jetzert!
Nun muß Karl sich besinnen, wohin er noch gehen könne. Er denkt an
diesen und jenen und verwirft diesen wieder und jenen auch. Er weiß, man wird
ihn überall abweisen. Wenn er wenigstens Geld hättet Dann könnte er zu denen
gehen, die für ein paar Mark alles tun, zum Beispiel zum Mandietz Philipp, der
ba sagt, er wolle den Eid sehen, den er für zehn oder zwanzig Mark nicht
schwören könne. Aber Karl hat kein Geld, und so wird sein Vater noch warten
müssen. Wie lange?
Dem Burschen kommt die Verzweiflung. Er sieht und hört nicht, was auf
dem Wege um ihn vorgeht. Mechanisch tappt er weiter, tappt am eigenen Hause
vorbei bis an die nächste Straßenecke. Da merkt er es zuerst. Er geht zurück
ins Haus, setzt sich in die Küche und sinnt und sinnt, was da zu machen sei.
Aus seinem Sinnen wird er durch den Gurkenhändler gerissen, der die Gurken
holen will. Er kommt mit Pferd und Wagen. Das weckt in dem Burschen den
Schmerz um seinen Rappen wieder. Er hilft die Gurken aufladen und fühlt sich
beim Arbeiten freier und leichter. Die Gedanken und Sorgen quälen ihn da
nicht. Es ist auch gut, wenn man Gesellschaft hat. Daher fragt Karl, ob der
Gurkenhändler keinen Mann mehr brauchen könne zum Zählen. Nein, der Karl
wisse ja, daß für diese Arbeit Weiber genug da wären, die zudem billiger arbeiteten.
So muß Karl den Mittag allein im Hause verbringen.
O der Unruhe und Not, die die Jugend in der Einsamkeit empfindet I
Karl wandert wie der ewige Jude. Im Hause hält es ihn nicht. Da geht
er in die Scheuer, steigt die Leiter hinauf bis unters Dach und setzt sich auf den
Katzenlauf. So nennen sie den langen kräftigen Balken, der von einer Giebel¬
wand zur anderen zieht.
Da und dort schließen die Dachziegeln nicht dicht und lassen die goldenen
Sonnenstrahlen hindurch. Sie hängen sich in die vielen Spinngewebe und schaukeln
sich siebenfarbig darin. Stäubchen Wirbeln in den Sonnengassen, unaufhörlich in
Bewegung. Durch die beiden Luken in den Giebelwänden fällt nur wenig Licht.
Darum ist es da oben so schön dämmerig. Auch stille ist es. Wenn Karl seufzt
oder etwas vor sich hinspricht, hallt es nicht hohl und schaurig, denn die Scheune
ist fast bis unters Dach gefüllt, aber nicht mit eigener Frucht. Der Vater hat
ja nur immer Gummern und Gummern und wieder Gummern gepflanzt. Die
Scheuer ist an den reichen Metzger Scheck in Neuhauser vermietet, der auch in
der Spelzheimer Gemarkung viele Äcker hat. Die Frucht davon fährt er in die
Schmiedescheuer ein und läßt sie hier auch dreschen. Karl denkt, dieses Jahr wird
er die Dreschmaschine nicht in den Hof schieben helfen. Wie da alle Gedanken
jetzt immer sagen: das wird nicht mehr sein, und jenes wird nicht mehr sein. Die
Gedanken sagen auch: wie schön wär's jetzt da oben auf dem Katzenlauf, wenn
man den Amboß aus der Werkstätte sein lustig Lied singen hörte. Aber es ist
still, und man hört die Gedanken ganz laut in die Stille rufen: weißt du noch,
wie das Blut am Amboß floß und zwischen die Pflastersteinritzen sickerte? Wenn
aber die Gedanken so laut in die Stille rufen, dann meint man, die eigenen
Gedanken wären es gar nicht gewesen, sondern irgendeiner da in der Ecke oder
dort. So ein Böser, der einem erschrecken möchte. Karl sieht sich scheu um, ob
nicht einer in einer dunklen Ecke sitze. Und wie er in jene Ecke schaut, wo er's
verdächtig rascheln hörte, ist es ihm, als käme der Kerl nun wirklich gerade aus
der entgegengesetzten Ecke hinterrücks herbei und wolle ihn vom Katzenlauf hinunter
aufs Terr werfen. Da gruselts dem Burschen, und er steigt hastig die Leiter
hinab. Unten im Hofe sind wenigstens die Hühner, mit denen man sich ein
wenig unterhalten kann. Er hat ja zwar heute keinen Mittagshunger, aber die
Hinkel ganz sicher. Die kümmert es nicht, ob im Hause ein Toter liegt oder nicht.
Karl holt sich einen Kumpf Gerste und läßt die Tiere aus der Hand fressen.
So verweilt er sich mit diesem und jenem, bis die Sonne hinter das Scheuer¬
dach sinkt. Da wird's im Hofe schattig, und man kann an den Abend denken.
Das ist gut; jetzt wird Tante Seelchen nicht mehr lange bleiben. Aber was wird
sie dazu sagen, daß Karl keine Sargträger bekommen konnte? Wird sie einen
Rat wissen? Vielleicht spannt der Vetter Holtner den Wagen ein, und man fährt
den Sarg aus den Friedhof. Der Gedanke an diesen Ausweg beruhigt den
Burschen ein wenig. Er schaut sich um und sucht nach einer Arbeit, mit der er sich
die Zeit vertreiben könne. Es ist furchtbar, so nach Arbeit suchen zu müssen. Es
schadet dem Hofe nicht, wenn er einmal gekehrt wird, und so tut er das, fängt
am Tor an und hört am Misthaufen auf. Den haben die Hühner zerkratzt und
zerwühlt; sie suchen darin nach unverdauten Körnchen. Karl schichtet die zer¬
streuten und verzettelten Halmen und Strohsträhnen aufeinander, hat seine helle
Freude an der blitzblanken Sauberkeit und empfindet zum erstenmal aus Eigenem
den Segen der Arbeit.
Zwischendurch kommt der junge Schreiner Kling und bringt das Totenkreuz.
Wo der Längsarm und der Querarm sich schneiden, ist ein ovales Schild angebracht
mit der Aufschrift:
Hier ruht in Gott
Franz Salzer
« 17. 4. 1850. 1' 11. 8. 1897.
K. I. ?.
Karl liest die Inschrift des Täfelchens und fühlt im ersten Augenblick sein
Herz wieder zentnerschwer werden. Es ist wie ein Schwamm, der sich voll saugt
von Leid und Weh. Aber dann muß er denken, daß dieses Kreuz auf einem
Blumenhügel stehen wird. Er wird des Vaters Grab mit Geranikum bepflanzen,
und es wird blühen wie alle Gräber, und man wird nicht sehen, daß der in ihm
Ruhende eines anderen Todes gestorben ist wie seine Nachbaren zur Rechten und
zur Linken. Der Bursche muß an die milden sonnigen Sonntagnachmittage des
Frühlings denken, wenn nach Winterkälte und Winternöten die Dörfler zum erstenmal
wieder ihre Gräber besuchen. Wenn auch auf den Gräbern ein grünes Ostersprossen
ist. Wenn die Weiber mit sanften, wehmütigen Stimmen von den Toten sprechen,
die da ruhen. Und wie da ein großer Friede ist auf dem Kirchhof, den ein Kranz
von blühenden Kastanienbäumen umschließt. Und über die blühende strotzende
Pracht des Sommers hinweg denkt Karl an die Zeit des Herbstes, wo der Nebel
seine grauen frostigen Tränentücher über die Welt schleift, an Allerheiligen und
Allerseelen, wo die Dörfler unter Trauer- und Bußgesängen hinaus auf den
Friedhof ziehen, um für die Abgestorbenen zu beten. Und wie auch da aus dem
leisen halbgetrösteten Weinen der Frauen an den über und über geschmückten
Gräbern ein frommer, gutmachender Friede quillt. . .
So ist es in Karls Seele, als er vor dem Totenkreuz seines Vaters steht,
und so wird es in ihm ganz still und gut.
Er steht noch immer vor dem braun gestrichenen Kreuz, als das Tor aufgeht
und Tante Seelchen hereintritt.
„Na, Buhl" sagt sie, „hast du schon alles in Ordnung, weil du da stehst?"
„Garnix hab ich in Ordnung, Tante SettchenI" erwidert Karl.
„Ja, aber warum denn net?" fragt sie mit einem leichten Vorwurf in der
Stimme.
„Tante Seelchen, ich bin net schuld; ich hab alles getan, was du mir gesagt
hast, aber keiner will helfen, den Vater hinaustun I"
„Hab ich mir's net gedenkt!" seufzt Tante Seelchen.
Sie gehen in die Küche. Tante Seelchen weiß viel zu erzählen von der
Güte des rauhbautzigen Vetters Holtner.
Vetter und Base nennen sie in Spelzheim alle, zu denen sie nicht Du sagen.
Als man in Heppenheim gefragt habe, wer die Kosten bezahle, habe er, noch
ehe sie eigentlich über diese Frage in Verlegenheit hätte kommen können, geant¬
wortet, als müßt es so sein:
„Kosten bezahlt Hannes Holtner, Spelzheim bei Wormsl"
So habe der Vetter Holtner gesagt, und die Sophie sei wieder ganz außer
sich gewesen, so daß sie Tante Seelchen, schon Angst gehabt hätte, man würde
das arme Made in die Zwangsjacke stecken. Was das eine Not und ein Elend
wäre! Und jetzt wolle sich am Ende niemand finden, der den Vater auf den
Kirchhof trage. Ob denn die Menschen ihren Katechismus ganz vergessen hätten
und nicht mehr wüßten, daß Totebegraben zu den Werken der Barmherzigkeit
gehöre.
Da rückt Karl mit seinem Plan heraus. Vielleicht würde bei eingetretener
Dunkelheit der Vetter Holtner den Gaul anspannen; man könne den Sarg ja auch
auf den Wagen laden.
Tante Seelchen schüttelt den Kopf. Man könne von den Leuten doch nicht
grad alles verlangen; der Karl solle doch nicht gleich den Sack mitsamt dem Zipfel
haben wollen. Zudem müsse man sich doch auch selbst etwas zutrauen und dürfe
sich nicht ganz auf fremden Beistand verlassen.
Nun meint der Karl, man solle sich an Willem, den Gesellen, wenden, der
doch seine Dienste angeboten habe. Aber auch davon will Tante Seelchen nichts
wissen und sagt dem Burschen, der Willem habe schon genug gesehen und gehört,
und ob der Karl denn nicht spüre, daß die Schande vor bekannten Menschen weher
tue als vor solchen, die einem fremder sind.
Tante Seelchen wechselt die Kleider und besinnt sich aus einen Ausweg aus
dieser neuen Verwirrung, macht ein bekümmertes Gesicht, seufzt ein übers andere
Mal und sagt dann:
„Wenn's halt die anständigen Leut net tun, muß man in Gottesnamen zu
denen gehen, die für drei Kreuzer alles tun!"
Karl erwidert, daran habe er auch schon gedacht, aber sie hätten doch keine
drei Kreuzer, noch nicht einmal drei Pfennig hätten sie.
„'s gibt immer noch gute Menschen!" sagt Tante Seelchen, „'s gibt immer
noch gute Menschen, wenn sie auch grob sind!"
Sie hebt ihren Oberrock in die Höhe. Seinen Geldbeutel verwahrt man im
unteren Kamisol besser. Ein Zehnmarkstück legt sie auf den Tisch und dazu noch
vierzehn Mark in Silber.
„Vom Vetter Holtner?" fragt Karl erstaunt.
„Von wem anders?! Aber das mußt du abverdienen, lieber Bub, wenn du
mal droben bei dene drei bist! Siehst du, das muß dein erster Ehrgeiz sein! So,
und jetzert geh fort zum Mandietz - Philipp, zum Büttner-Karl, zum Schmitte-
buckel und zum Ollwcmgs-Madhees. Die viere tragen uns den Vater schon hinaus.
Aber meinen dir Geld mit, denn das wirst du dir schon gefallen lassen müssen, daß
sie dich fragen, ob du sie auch bezahlen könntst!"
Karl steckt das Silbergeld in die Tasche und macht sich auf den Weg, der
wieder ein Leidensweg für ihn wird. (Fortsetzung folgt)
Das Rätsel der Sandbänke. (Englische
Gedanken über eine Landung der Deutschen
in England.) Daß jeder Mensch in Deutsch¬
land mit heißem Begehr den Tag herbeisehnt,
an dem sich deutsche Kriegsschiffe vor eng¬
lischen Häfen wiegen und der taktmäßige
Schritt deutscher Truppen über den heiligen
Boden Old Englands dröhnt, das ist all¬
gemach für den Durchschnittsengländer zum
unverbrüchlichen Glaubenssatz geworden. Von
den verschiedensten Stellen aus hat man sich
bemüht, diese Überzeugung immer tiefer im
Herzen des englischen Volkes einwurzeln zu
lassen: in öffentlichen Versammlungen, im
Parlament haben die Abgeordneten des Volkes,
haben die Offiziere des Heeres und der Flotte,
die Vertreter der Regierung auf die drohende
Gefahr hingewiesen, und den amtlichen War¬
nungen ist in volkstümlichen Romanen von
dem bevorstehenden Einfall der Deutschen
weiterreichende und kräftigere Wirkung ver¬
liehen worden.
Bei all diesen Phantasien ist man stets
leichten Herzens über die Hauptschwierigkeit
hinweggeglitten, wie es nämlich möglich sein
sollte, in unserem Zeitalter der Telegraphie
ein Heer von hunderttausend Mann mit der
zu seiner Beförderung notwendigen Flotte
zusammenzubringen, ohne daß man in Eng¬
land schon von den ersten Truppen- und
Schiffsbewcgungen benachrichtigt würde und
sofort die wirksamsten Gegenschläge führte.
Diese Hauptfrage sucht nun ein englisches
Buch zu lösen, welches zwar bereits vor
einigen Jahren erschienen, jetzt aber in der
bekannten Ausgabe von Nelson weiteren
Kreisen zugänglich ist. Es hat Erskine Childers
zum Verfasser und betitelt sich: „l'ne Kicicile
ok tus Lamas". „das Rätsel der Sandbänke".
Childers läßt einen jungen Engländer,
Davies, mit seiner Jacht zum Wassersport
nach der ostfriesischen Küste fahren. Davies
erregt dabei den Verdacht eines Engländers,
der auf deutscher Seite als Spion gegen sein
eigenes Vaterland dient, und wird von ihm
während eines Sturmes auf die Bänke des
HnhenhörnscmdeS westlich von Kuxhaven ge¬
lockt. Er entgeht aber dem ihm bereiteten
Untergang, schöpft selbst Verdacht und sucht
nun mit Hilfe eines Freundes vom Aus¬
wärtigen Amt die deutschen Pläne auszukund¬
schaften, die gerade jetzt zwischen den ost¬
friesischen Inseln und dem Festland verfolgt
und ausgeprobt werden. Unter mannigfachen
Fährnissen gelingt es ihm, folgendes fest¬
zustellen:
Die Deutschen sind sich Wohl bewußt, daß
strengste Geheimhaltung allein den Erfolg
jedes Unternehmens gegen England sichern
kann. Sie verzichten deshalb darauf, die
gegen England bestimmten Truppen in einem
der großen Nordseehäfen einzuschiffen, da dort
jede Truppen- und Flottenbewegung sofort
bekannt wird. Ebenso denken sie nicht daran,
ihr Heer nach glücklicher überfährt in einem
der großen englischen Seeplätze landen zu
lassen, wo sich vom Hinterkante leicht Ver¬
stärkungen herbeiführen und derWiderstand sich
Planmäßig und wirksam gestalten ließe. Ihr
Plan geht vielmehr dahin, ein ausreichendes
Aufgebot Infanterie mit leichten Feldgeschützen
in großen seetüchtigen Leichtern in aller Ge¬
schwindigkeit an die englische Küste zu werfen
und sich vorerst einen geeigneten Küstenstrich
als Operationsbasis zu sichern.
Die zu diesem Zweck bestimmten Truppen
sollen — und das ist das Wesentliche in
Childers Buch — an der Küste Ostfrieslands
mittels der nach der Stadt Norden führenden
Eisenbahn zusammengezogen werden. Drei
Abzweigungen der Bahnlinie nach Norddeich,
Bensersiel und Karolinensiel erleichtern das
Vordringen der Truppen bis ans Meer. An
diesem Küstenstriche kann das größte Still¬
schweigen bewahrt werden. Denn die Küste
ist schwer zugänglich, das Land nur dünn
besiedelt, große Städte fehlen ganz. Die
Leichter versammeln sich in den Mündungen
von sieben unbedeutenden Küstenflüßchen, wo
sie genügende Wassertiefe, einige Hafenanlagen
und Schleusentore finden. Eine Verbesserung
der Wasserläufe ist beabsichtigt und soll für
die Öffentlichkeit als Maßnahme zur Erleich¬
terung des Verkehrs mit den vorliegenden
Inseln erklärt werden. Entsprechend den sieben
Flüssen zerfällt das ganze Unternehmen in
sieben Unterabteilungen, die ihre Befehle von
der Hauptleitung in Esens erhalten, einem
Städtchen in der Mitte des Küstenstriches,
wenige Kilometer vom Meere gelegen. Die
letzten Vorbereitungen sollen monatelang vor¬
her getroffen und im Falle englischen Ver¬
dachtes als Maßnahmen der Landesverteidi¬
gung ausgegeben werden.
Als Landungsplatz an der englischen Küste
kommen nur zwei Punkte in Betracht: ent¬
weder die Küste von Essex zwischen Foulneß
und Brightlingsea oder der Wash. Letzterem ist
der Vorzug zu geben. Denn da England,
wenn es überhaupt einen Angriff auf seine
Küsten vermutet, die Verwendung großer
Transportschiffe voraussetzt, so ist ein solcher
Küstenstrich für die Landung der deutschen
Truppen zu wählen, wo man aller Wahr¬
scheinlichkeit nach die Deutschen nicht erwartet
und eine Verteidigung nicht vorbereitet hat.
Gerade die Nordseite des Wash, bekannt unter
dem Namen East Holland, bietet für die deutsche
Landung die günstigsten Bedingungen. Sie
ist Flachland, gegen die See durch Deiche
geschützt und wie Friesland mit Sandbänken
umsäumt, die bei Ebbe trocken liegen. Die
Deutschen finden also dieselben Verhältnisse
wieder, die ihnen von den heimischen Ge¬
wässern her bekannt und vertraut sind. Dabei
kann East Holland von Osten her durch die
Bostontiefe leicht erreicht werden. Dieser
natürliche Kanal hat bei Ebbe noch eine Tiefe
von 34 Fuß, bietet also eine vortreffliche Reede
für die zur Deckung beigegebenen Geschwader
und ist gegen die Dünung des offenen Meeres
durch die vorliegenden Bänke des Long Sand
geschützt. Die deutschen Kriegsschiffe können
an diesen seichten Küsten noch mit Sicherheit
manövrieren, wo die englischen bereits fürchten
müssen, auf Grund zu laufen. Einen wei¬
teren Vorteil bietet die geringe Entfernung,
die von Borkum nur 24V, von Wcmgeroog
280 Seemeilen beträgt.
Für die Einschiffung in den Sielen der
ostfriesischen Küste stehen während einer zwölf-
stündigen Flutperiode stets 2^/z Stunden zur
Verfügung, wo das Wasser tief genug ist, um
die Boote über die Sandbänke ins offene
Meer zu bringen. Daß daS Unternehmen
auch bei sorgfältigster Vorbereitung höchst ge¬
wagt bleibt, bestreitet der Verfasser nicht, hebt
besonders hervor, wie gefährlich es für die
Deutschen werden müsse, wenn die Engländer
durch Zufall errieten, was vor sich gehe, und
nun einen Schwarm leicht gebauter Boote
entsendeten, welche die Deutschen während
ihrer Fahrt durch die schwierigen Gewässer
zwischen dem Festland und den Inseln un¬
vermutet überfielen. Trotz alledem hält Chil-
ders das Gelingen einer solchen Unternehmung
keineswegs für ausgeschlossen und findet jeden¬
falls, daß der mögliche Gewinn den hohen
Einsatz Wohl rechtfertige.
Wie der deutsche Generalstab über den
Plan einer Landung in England denkt und
welche Rolle er hierbei den friesischen Inseln
zuweist, ist unbekannt. Allerdings scheint man
jetzt diesen vorgeschobenen Bollwerken unserer
Nordseeküste von beiden Seiten größere Be¬
deutung beizumessen. In aller Stille sind
von unserer Seite starke Befestigungswerke
aufgeführt worden, und welches lebhafte
Interesse die Engländer gerade diesem Teil
unserer Küstenlinie entgegenbringen, ist uns
aus dem Spionagefall der beiden englischen
Offiziere vom vergangenen Jahre sattsam in
Erinnerung.
Die Kenntnis nun, welche Childers von
den deutschen Küstengewässern, von dem
Strich zwischen Flensburg und Kiel nicht
minder als von den Watten zwischen Kux-
haven und Borkum, entwickelt, ist geradezu
auffällig genau. Wenngleich in letzter Linie
auch bei ihm der Hauptzweck ist, die Gründe
für einen erhöhten Seeschutz Großbritanniens
möglichst eindringlich darzulegen, so zeichnet
sich sein Buch doch vor anderen Erzählungen
dieser Art durch die Peinlich gewissenhafte und
gründliche Art aus, mit welcher der Verfasser
seine Theorie von den ostfriesischen Inseln
und Sandbänken als dein Ausgangspunkt
der deutschen Flotte entwickelt und sozusagen
wissenschaftlich begründet. Das Buch ist in
allen seinen Teilen mit außerordentlicher, man
darf sagen fachmännischer Sachkunde ge¬
schrieben, und gewisse Ungereimtheiten — so
läßt er den deutschen Kaiser selbst in dunkler
Nacht einem Schleppversuch mit Leichtern in
den Gewässern von Bensersiel beiwohnen —
sollen ihm nicht zu schwer angerechnet werden.
Dem Buch sind mehrere recht brauchbare
Karten des deutschen Küstengebiets zwischen
Borkum und Kiel beigegeben. Wir brauchen
daran allein noch keinen Anstoß zu nehmen;
denn solche Karten sind an der Küste überall
für billiges Geld im Handel käuflich zu
haben. Aber gerade die Angaben im Text
selbst sind bis in unbedeutende Kleinigkeiten
mit solcher Genauigkeit und Anschaulichkeit
gemacht, daß man kaum annehmen kann,
diese Kenntnis sei nur auf Grund eines ein¬
dringlichen Studiums der deutschen Seekarten
gewonnen worden. Im Gegenteil, die ganze
Erzählung erweckt durchaus den Eindruck,
als erzähle hier ein Mann, der seine Be¬
obachtungen mit höchster Sachkunde an Ort
und Stelle selbst gemacht habe.
Und wenn wir dann lesen, daß die
beiden englischen Freunde für ihren Zweck
nicht eine der üblichen schmucken Lustjachten
mit zahlreicher Bemannung und Dienerschaft
benutzen, sondern ganz allein ein unauffällig
schwarz gestrichenes Fahrzeug bewohnen,
welches, als ehemaliges Rettungsboot sehr
stark und flach gebaut, für jene Gewässer be¬
sonders geeignet ist, so werden wir unwill¬
kürlich an jene vier oder fünf Engländer
erinnert, die erst in diesem Sommer, ebenfalls
in unscheinbarem Boot und ohne Begleitung,
die deutschen Küsten unsicher machten. Es
ist richtig, daß sich nicht genügend Material
ergab, um ihre Verhaftung aufrecht zu er¬
halten; doch bleibt dabei noch immer die
Frage offen, ob sie ihre Freilassung nicht
vielmehr einer Lücke unserer Gesetze als ihrer
Schuldlosigkeit verdankten. Gewiß kann es
der Sicherheit unseres Vaterlandes nicht
förderlich sein, wenn wichtige Geheimnisse
unserer Landesverteidigung, wie Geschützteile,
neu angelegte Befestigungen, dem voraus¬
sichtlichen Feind verraten werden. Doch
wollen wir nicht vergessen, daß es daneben
auch gewisse Einzelheiten unserer Grenzgebiete,
unserer Küstenbildung gibt, die zwar an und
für sich nicht geheim zu halten sind und von
jedem straflos besichtigt werden können, die
aber für das Wohl und Wehe unseres Vater¬
landes doch von der größten Bedeutung
werden können, wenn sie, wie es in unserem
Buch geschieht, von sachkundigen Angehörigen
eines uns unfreundlich gesinnten Volkes Plan¬
mäßig vom militärischen Gesichtspunkt aus
erkundet werden. Daß diese Erkenntnis in uns
immer tiefer wurzeln möge und im besonderen
englische Jachten in unseren Gewässern immer
die Beobachtung fänden, die sich nach den
Erfahrungen der letzten Jahre als notwendig
erwiesen hat, dazu kann auch das Buch von
dem Rätsel der Sandbänke an seinem Teil
nicht unwesentlich beitragen*).
Die Fortbildung der Juristen und die
Bereinigung für staatswissenschaftliche Fort¬
bildung zu Berlin. Der alte Justizrat, bet
welchem ich in Breslau die Anwaltsstation
abmachte, Pflegte, wenn wir uns über die
Fülle der Gesetze unterhielten, die ich damals
zum Assessorexamen lernen mußte, immer ver¬
gleichsweise darauf hinzuweisen, wie gut es
doch die jungen Juristen zu seiner Zeit —
das war in der Zeit vor Gründung des
Norddeutschen Bundes — gehabt hätten. Sie
lernten das Preußische Allgemeine Landrecht,
die Allgemeine Gerichtsordnung, das Straf¬
gesetzbuch und daneben noch ein halbes Dutzend
anderer Gesetze, und damit war im wesent¬
lichen das Wissensgebiet erschöpft. In der
Tat, die Gesetzgebungsmaschine arbeitete da¬
mals mit einer nicht nur für einen Exami¬
nanden höchst erfreulichen Langsamkeit. Be-
trachtet man einen Band der Preußischen
Gesetzsammlung der vierziger bis sechziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts, so umfaßt
er zwei bis drei Jahrzehnte und ist dabei
noch lange nicht so stark wie ein einen ein¬
zigen Jahrgang enthaltender Band der
neuesten Zeit.
In dieser Fülle neuer Gesetze liegt die
eine Ursache, welche eine Fortbildung der
Juristen nötig gemacht hat.
Die zweite Ursache ist die völlige Umge¬
staltung des ganzen Wirtschaftslebens in
Deutschland. Mit der Wandlung aus einem
Agrar- in einen Industriestaat, mit der Aus¬
breitung des modernen Bank- und Börsen¬
wesens, mit der Schaffung des gewerblichen
Rechtsschutzes, mit der Ausgestaltung des
Hypothekenbank- und Versicherungswesens, mit
den ungeahnten Fortschritten der Technik und
der ebenso ungeahnten Ausdehnung des Ver¬
kehrs sind nicht nur neue Rechtsgebiete auf¬
getaucht, für welche neue Rechtsnormen nötig
wurden, sondern dem einzelnen Juristen ist
es bei der Vielgestaltigkeit des modernen
Lebens nicht mehr möglich, von vornherein
sich in allen Lebens- und Wirtschaftssphären
ohne fremde Hilfe zurechtzufinden. Wer in
Preußen in den fünfziger und sechziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts in den damals
noch durchweg kleinen Städten oder auf dem
Lande aufgewachsen und mit offenen Augen
bis zum bestandenen Assessorexamen durch die
Welt gegangen war, der war mit den überall
gleichliegenden wirtschaftlichen Verhältnissen
hinreichend vertraut, um mit Erfolg überall
Recht sprechen zu können. Dies ist von
Grund aus anders geworden. Mit der Er¬
langung der für das zweite Staatsexamen
erforderlichen Rechtskenntnisse hat der Jurist,
wenn er nicht gerade diesen Kreisen ent¬
stammt, z. B. noch nicht das wirtschaftliche
und soziale Verständnis, um Fragen deS
Kartellrechts, des Bank- und Börsenrechts
oder des gewerblichen Rechtsschutzes mit voller
Beherrschung des Stoffes zu entscheiden. Hier
sitzt der berechtigte Kern des nur zu oft zu
Unrecht erhobenen Vorwurfes der Weltfremd¬
heit der Richter.
Im Rahmen der Studenten- und Refe¬
rendarsjahre ist so viel juristischer Stoff neu
aufzunehmen und zu verarbeiten, daß hier
kein Platz für die Erlangung dieser volks¬
wirtschaftlichen, sozialen und technischen Kennt¬
nisse bleibt; aber die Kräfte unserer jungen
Assessoren werden ja bei dem gegenwärtigen
Überfluß an Assessoren nicht sofort nach be¬
standenen Staatsexamen für den Justizdienst
gebraucht. So ist hier der richtige Zeitpunkt,
diese schwerwiegende Lücke ihrer Ausbildung
auszufüllen.
Diese Aufgabe hat der preußische Justiz¬
minister mit klarem Blicke erkannt und hat
durch die Allgemeine Verfügung vom 3. Juli
1912 die bisher nur ausnahmsweise erfol¬
gende Beurlaubung von Gerichtsassessoren zu
einer dauernden Einrichtung gemacht. Die
Verfügung übt zwar keinen Zwang zur Fort¬
bildung aus; es wird aber auch genügen,
wenn sie eS als erwünscht bezeichnet, daß die
Gerichtsassefforon in der auf die große Staats¬
prüfung folgenden Zeit ihre rechtswissen¬
schaftlichen Studien fortsetzen oder auf anderen,
insbesondere wirtschaftlichen Gebieten neue
Kenntnisse und Erfahrungen sammeln. Als
Fortbildungsmittel nennt die A. V. Beschäfti¬
gung in einem freien Berufe, z. B. in einem
kaufmännischen, gewerblichen oder landwirt¬
schaftlichen Betriebe, Mitwirkung bei einer
gemeinnützigen und unparteiischen Rechts¬
auskunftsstelle, Aufenthalt im Auslande,
Teilnahme an den rechts- und staatswissen¬
schaftlicher Fortbildungskursen, Besuch einer
Universität zur Wiederaufnahme der Fach¬
studien, Beschäftigung bei einem Rechts-
anwälte.
Von diesen Mitteln wird das zu 4 Ge¬
nannte — Teilnahme an den Fortbildungs¬
kursen — zweifellos am meisten von den
Assessoren gewählt werden. Die Beschäftigung
in einem kaufmännischen oder gewerblichen
Betriebe, welche den großen Vorzug hat, daß
die jungen Juristen die Probleme einmal
nicht von der juristischen, sondern von der
wirtschaftlichen Seite sehen, wird immer nur
wenigen zugänglich sein, weil die Zahl solcher
Betriebe, welche einen Juristen beschäftigen
kann oder will, verhältnismäßig gering
ist, aber jährlich zwölf- bis dreizehnhundert
Referendare das Assessorexamen bestehen.
Zu den Auslandsreisen wird nur der geringste
Teil der jungen Juristen die Geldmittel
haben. Die Beschäftigung beim Anwalt und
in der Rechtsauskunftsstelle, so lehrreich sie
an sich sind, zeigen den Assessoren auch immer
nur die juristische Seite der Probleme. Der
Besuch der Universität hat den Nachteil, daß
die dortigen Vorlesungen im wesentlichen für
Anfänger zugeschnitten sein müssen. So
führt alles also die fortbildungsbedürftigen
Assessoren zur Teilnahme an den rechts-und
staatswissenschaftlicher Kursen.
Hier aber wäre das Anerbieten des Justiz¬
ministers, den Assessoren einen einjährigen
Urlaub zu bewilligen, vergeblich, wenn nicht
die Vereinigung für staatswissenschaftliche Fort¬
bildung zu Berlin, diesem Bedürfnisse der
Assessoren Rechnung tragend, ihren Winter¬
kursus zu einem Halbjahrkursus ausgebauthätte.
Diese der Anregung Althoffs entsprungene
Vereinigung, die gegenwärtig unter der Lei¬
tung des Vortragenden Rats im Kultus¬
ministerium Wirkt. Geh. Oberregierungsrat
Dr. Elster steht, hat einen Studienplan für
den Fortbildungskursus im Winterhalbjahr
1912/13 aufgestellt, welcher an Reichhaltigkeit
des Stoffes und an klangvollen Namen der
Vorlesenden das Ideal eines solchen Kursus
erfüllt.
Während bisher die Vorlesungen über¬
wiegend staatswissenschaftliche und technische
Themata behandelten, ist diesmal zum ersten
Male — Wohl mit Rücksicht auf die zu er¬
wartende Assessorenhörerschaft — eine Gruppe
rein juristischer Vorlesungen eingefügt. Hier
liest Heilfron über juristische und Politische
Tngesfragen, Stammler über Theorie der
juristischen Praxis, Seckel über bürgerliches
Recht: Allgemeiner Teil und Schuldrecht,
Kipp über allgemeine Fragen aus dem Fa¬
milien- und Erbrecht, Anschütz über allgemeine
Begriffe und Lehren des Verwaltungsrechts,
Hellwig über Recht und Rechtsschutz, van
Calker über Reformfragen auf dem Gebiet
der Gerichtsverfassung und des Strafprozesses,
von Liszt über die dogmatische Weiterbildung
des Strafrechts durch die deutschen Entwürfe,
Krohne über Forderungen der Sozialpolitik
für ein neues deutsches Strafgesetzbuch und
Strafvollzugsgesetz, Katz über Praktische Mün¬
zen auf dem Gebiet des gewerblichen Rechts¬
schutzes.
Aus der Gruppe der Borlesungen über
Volkswirtschaftslehre seien hervorgehoben die
den Kursus einleitende Vorlesung Elster's
über „Das Bevölkerungsproblem unter be¬
sonderer Berücksichtigung des Geburtenrück¬
ganges in Deutschland", die Vorlesungen
Bernhards über Probleme der Wirtschafts¬
politik, Dades über Agrarwesen und Agrar¬
politik (besonders Einzelfragen), Hermes' über
Grundkrcdit und Grundkreditanstalten, Kapps
über die öffentlich-rechtliche Lebensversicherung,
Rießers über die deutschen Großbanken und
ihre Konzentration, Harris' über die leitenden
Ideen der wirtschaftlichen Expansionsbestre¬
bungen der Weltmächte in der Gegenwart,
Köbners über wirtschaftspolitische Probleme
Nordamerikas, Göpperts über Börse undBörsen-
geschäfte, Crügers über Einführung in das
deutsche Genossenschaftswesen, Herkners über
neueste Probleme der Sozialpolitik, Eberstadts
über neuzeitliches Wohnungswesen und städ¬
tische Bodenpolitik.
Von kleineren Vorlesungen aus anderen
Gebieten dürften besonders interessieren die
von Lamprecht, zum kulturgeschichtlichen Ver¬
ständnis der Phantasietätigkeit der Gegenwart,
von Dove über Wirtschaftsgeographie von
Afrika, von Hermes über deutsches Zeitungs¬
wesen.
Aber nicht nur in? Hörsaal sollen die
jungen Juristen ihre Kenntnisse von Recht
und Wirtschaft erweitern, sondern sie werden
auch an die Quellen unseres Wirtschaftslebens
geführt. Es find eine große Reihe von Be¬
sichtigungen und Ausflügen vorgesehen, die
das Verständnis für die in den Vorlesungen
behandelten Fragen wirtschaftlicher und sozialer
Art fördern sollen. Gegenstand der Besichti¬
gungen sind industrielle Anlagen, kunstgewerb¬
liche Anstalten, Verkehrseinrichtungen, Staats¬
und Gemeindebetriebe, städtebauliche Anlagen
und soziale Veranstaltungen. Solche Aus¬
flüge werden u. a. nach dem Flugsportplatz
Berlin-Johannisthal, nach den Kaliwerken
von Staßfurt, nach den Berliner Elektrizitäts¬
werken, den Warmhäusern von Wertheim und
Tietz, der Weingroßhandlung von KempinSki
und der Schultheißbrauerei gemacht. Kein
Spaziergang durch diese Werke ist beabsichtigt,
bei welchem die Hörer deS Kursus ohne wirt¬
schaftlichen Gewinn bleiben, sondern jeder
Besichtigung geht ein einführender gründlicher
Vortrag deS Herrn Matschoß, Leiters der
Zeitschrift Technik und Wirtschaft, voraus.
Seinen Abschluß aber findet der Kursus in
einer zwölftägigen Studienreise nach den
Niederlanden unter Führung der Herren Wirkt,
Geh. Oberregierungsrat Dr. Elster, Prof.
Dr. Harms und Privatdozenten Dr. Hoff¬
mann.
So wird man nach der ganzen Zusammen¬
setzung dieses Studienplanes sagen können,
daß den jungen Assessoren in der Tat keine
bessere Möglichkeit der Fortbildung geboten
werden kann, als eS mit der Summe dieser
Vorlesungen geschieht. Nur der Wunsch wäre
noch hinzuzufügen, daß neben diesen Winter-
knrsus ein ebenfalls auf ein halbes Jahr be¬
messener Sommerkursus träte, so daß die auf
ein Jahr beurlaubten Assessoren auch Gelegen¬
heit hätten, zwei Semester lang die reiche
Belehrung dieser Vorlesungen und Besichti¬
gungen zu schöpfen. Mit ständigen Jahres¬
kursen könnte sich die Vereinigung zu einer
staatswissenschaftlicher Akademie aufwachsen,
wie sie ihresgleichen Wohl kaum anderwärts
hätte. Sie würde dann für die Fortbildung
der Juristen und Verwaltungsbeamten das¬
selbe bedeuten, was die Kriegsakademie für
die Fortbildung der Offiziere bedeutet.
Die sechswöchigen Fortbildungskurse, wie
sie in Berlin, Köln und Posen bestehen, und
die noch kürzeren, wie sie in diesem Jahre
z. B. in Jena gegründet worden sind, sollen
daneben durchaus nicht verschwinden. Sie
behalten ihre volle Berechtigung für die Fort¬
bildung der bereits in besoldeten Stellungen
befindlichen Juristen, denen auf absehbare
Zeit der Staat Wohl keinen längeren Urlaub
als sechs Wochen wird geben können.
Weibliche Eigenart und weibliche Bildung.
Eine alte Erfahrung lehrt, daß die uns ge¬
läufigsten Begriffe sich oft als erstaunlich un¬
klar erweisen, wenn wir uns einmal der
Mühe unterziehen, ihren Gehalt zu unter¬
suchen. Mer führte nicht die „weibliche Eigen¬
art" oft und gern im Munde und was be¬
deutet dieser Ausdruck? Bei näherer Be¬
trachtung eine schillernde Seifenblase. Unter
Umständen ist das Spiel mit Seifenblasen
durchaus harmlos, aber es kann auch gefähr¬
lich werden. In unserem Falle tritt uns der
Ernst der Sachlage entgegen, wenn die Forde¬
rung einer der „weiblichen Eigenart" an¬
gepaßten Bildung erhoben wird. Hier dient
ein verschwommener Begriff zum Ausgangs¬
punkt für weittragende praktische Maßnahmen.
Wir müssen nämlich bekennen, daß uns die
reine Wissenschaft bis heute die Antwort auf
die Frage nach den typischen Merkmalen der
weiblichen Psyche und dem Verlauf ihrer Ent¬
wicklung schuldig blieb, also die „weibliche
Eigenart" nicht scharf zu formulieren ver¬
mochte. Nun hat freilich Waldeyer im letzten
Sommer den Ausspruch getan, daß die
sekundären Geschlechtscharaktere nach der Psychi¬
schen Seite um so stärker hervortreten, je
höher die Lebewesen entwickelt find; aber es
will uns scheinen, daß diese Behauptung nicht
auf tatsächlicher Beobachtung beruht. „se¬
kundäre Geschlechtscharaktere" sind anatomische
Begriffe, und es ist sicher ein gefährliches
Unterfangen, anatomische Begriffe aus Geistiges
übertragen zu wollen. Die Naturforschung
versteht unter sekundären Geschlechtscharakteren
körperliche Merkmale, die, ohne direkt der Fort¬
pflanzung zu dienen, dennoch nur einem der
Geschlechter eigentümlich sind; so werden etwa
der eigenartige Bau des männlichen Kehlkopfs,
der auch äußerlich kenntlich ist (Adamsapfel)
oder der Bartwuchs als sekundäre Geschlechts¬
charaktere bezeichnet. Ähnliche unzweifelhafte
und offensichtlich unterschiedliche Eigenheiten
des Geschlechts finden wir auf psychischem
Gebiet nicht. An und für sich wäre es denkbar,
daß die männliche Psyche Funktionen auf¬
wiese, die die weibliche nicht besäße und um¬
gekehrt, aber dies ist nirgends erwiesen, auch
ist die Psychische Grundstruktur bei Mann und
Weib offenbar die gleiche, denn das Vor¬
stellen, Wollen, Fühlen, Denken usw. ist den
gleichen Gesetzen unterworfen. Diese Psychi¬
schen Funktionen sind natürlich bei den ein¬
zelnen Menschen sehr verschieden entwickelt,
aber die exakte psychologische Forschung hat
bezüglich der Differenz zwischen den Ge¬
schlechtern immer nur feststellen können, daß
etwa Mädchen im allgemeinen leichter be¬
einflußbar sind als Knaben, daß jene im all¬
gemeinen mehr zum sinnlich anschaulichen,
diese mehr zum abstrakten Vorstellen veranlagt
sind usw.; jedoch während es uns als Ab-
normität erscheint, wenn eine Frau die männ¬
liche Form deS Kehlkopfs und die entsprechende
Stimmlage besitzt oder Bartwuchs aufweist,
so liegt es durchaus in der Sphäre des Nor¬
malen, wenn wir bei einem Mädchen eine
bessere abstrakte Denkfähigkeit finden als bei
einem Knaben, oder wenn eine Frau gelegent¬
lich schärferen Verstand beweist als ein Mann
Wenn sich also in allen Psychologischen Expe¬
rimenten immer nur eine relative Gültig¬
keit des „weiblichen" und „männlichen" Typus,
Wo ein solcher überhaupt beobachtet werden
konnte, feststellen ließ, so sehen wir diese Er¬
fahrung in der praktischen Psychologie des
Alltags bestätigt: es gibt keine Psychische Er¬
scheinung oder Funktion, die wir bei vorurteils¬
freier Betrachtung als typisch weiblich oder
als typisch männlich bezeichnen könnten, so
daß sie nur abnormerweise bei einem An¬
gehörigen deS anderen Geschlechts in mehr
als rudimentärer Form vorkäme. Mut, Auf¬
opferungsfähigkeit, Ausdauer, Fleiß, Tatkraft,
List, Feigheit finden wir sowohl bei Männern
als bei Frauen, und bei beiden Geschlechtern
werden sie im gleichen Sinne gewertet. Natür¬
lich gibt es Eigenschaften, die unter gegebenen
sozialen Verhältnissen beim Weibe höher ge¬
schätzt werden als beim Mann (z. B, Sanft¬
mut!) und umgekehrt, aber niemals wird ein
Wert zum Unwert. Wenn wir von weib¬
lichen Männern und von männlichen Weibern
reden, so tun wir es unter Benutzung der
Vorstellung eines ganz vagen, dazu noch im
Lauf der Geschichte veränderlichen Durch¬
schnittstypus. Es ist jedenfalls vom exakt
wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht gerecht¬
fertigt, auf Psychischen Gebiet von sekundären
Geschlechtscharakteren zu sprechen und noch
viel weniger ihr stärkeres Hervortreten mit
steigender Entwicklungsstufe der Lebewesen zu
behaupten. Von den Tieren können wir hier
füglich absehen, aber wenn die Weiber und
Männer der niederen Menschenrassen gleich¬
artiger sind als bei den kultivierten Rassen,
weil jene sich mehr oder weniger den gleichen
Verrichtungen widmen, während sich bei diesen
eine ausgeprägte Arbeitsteilung herangebildet
hat, so ist dies gewiß keine Differenzierung
der Sexualität, sondern allgemein mensch¬
licher Funktionen. Wir müssen vielmehr sagen!
mit steigender Entwicklung tritt das Geschlecht-
liebe im Gesamtbilde der Seele in den Hinter¬
grund und die höheren, geschlechtslosen Funk¬
tionen, die zur Sexualität in keiner ein¬
deutigen Beziehung stehen, überwiegen, wie
denn auch diejenigen Hirnteile, die uns als
Träger höheren geistigen Lebens bekannt sind,
die niederen Hirnteile, von denen aus die
rein animalischen Fähigkeiten reguliert werden,
sowohl beim weiblichen als auch beim männ¬
lichen Menschen weit überwuchert haben. Da¬
mit ist aber auch die Möglichkeit für eine
weitgehende individuelle Differenzierung
gegeben.
Nebenbei bemerkt, könnten wir z. B. in
der Tatsache, daß das Gefühl der Verant¬
wortung der Nachkommenschaft gegenüber und
die Liebe zu ihr seit den Zeiten primitivster
Gesellschaftsformen beim männlichen Geschlecht
zugenommen hat, eine Annäherung an die
älteren mütterlichen Tendenzen zur Pflege des
Kindes und somit einen gewissen sexuellen
Ausgleich finden. Es kommt hier aber gar
nicht darauf an, die durchaus gleichartige
Veranlagung der männlichen und weiblichen
Psyche darzutun — sie zu erweisen oder zu
widerlegen mag Aufgabe der Zukunft sein —
nur die Verschwommenheit des Begriffs „weib¬
liche Eigenart" sollte gekennzeichnet werden.
Hier müssen wir noch einen Schritt weiter¬
gehen und dabei rühren wir zugleich an die
Konsequenzen einer unklaren Begründung.
Man ist so sehr dazu geneigt, zu be¬
haupten, daß das weibliche Individuum von
der Natur zum Mutter berus, d.h. zur Lei¬
terin des Kindes, vorherbestimmt sei und
man übersieht dabei, daß die „Hinweise der
Natur" der Mutterschaft gelten, indem sie
sich auf das Tragen, Gebären und Säugen
des neuen Menschen erstrecken, aber ganz und
gar nicht darüber hinaus. Wenn das Weib
die Pflege und Leitung des Kindes über die
erste Lebenszeit hinaus übernahm, so waren es
die Verhältnisse der menschlichen Gemein¬
schaft, die es dazu führten und die auch heute
die Erziehung wenigstens des kleinen Kindes
in seine Hände legen. Körperlich zur Er¬
zieherin des dem Säuglingsalter entwachsenen
Kindes prädestiniert erscheint sie bei nüch¬
terner Betrachtung nicht. Auf geistigem Ge¬
biet können wir auch schwerlich von einer
„Vorherbestimmung" reden, denn gerade das
Moment, das die männliche und weibliche
Psyche im allgemeinen noch am meisten unter¬
schiedlich charakterisiert — die starke Anspruchs¬
fähigkeit des Gefühlslebens beim Weibe —,
die aber natürlich nicht im Sinne der An¬
thropologie als sekundärer Geschlechtscharakter
aufgefaßt werden kann, da sie sich auch bei
Männern häufig findet und möglicherweise
überhaupt nur das Produkt einer wenig dis¬
ziplinierten Erziehung ist, ist eine nicht un¬
bedenkliche Gabe für den Erzieher. Es sei
selbstverständlich nicht verkannt, daß die Emo-
tivität ein grundlegendes Moment für die
Entwicklung überaus wertvoller Charakter¬
eigenschaften bilden kann, gemeint ist hier
nur die leichte Auflösbarkeit gewisser Gefühle
und Affekte, die geeignet sind, die Überlegung
zu rauben und dadurch die Überlegenheit zu
untergraben. Wenn wir nun die Mutter
aus hier nicht näher zu untersuchenden Grün¬
den in weitgehendem Maße Erzieherin des
Kindes sein lassen wollen, so muß uns daran
liegen, dem Mädchen alle Mittel in die Hand
zu geben, die geeignet sind Selbstzucht zu
lernen, denn die Herrschaft über die Gefühle
ist die Grundforderung, die wir an den Er¬
zieher stellen müssen und zugleich der Grad¬
messer wahrer Bildung. Zu diesen Mitteln
gehört aber in erster Reihe die Beschäftigung
mit den unerschöpflichen Schätzen der Kunst
und Wissenschaft, die Übung in logischer und
objektiver Betrachtungsweise usw. Freilich
totes Wissen bringt keine Erlösung von
dem unklaren Drange übermächtiger Ge¬
fühle, Wohl aber das lebendige Erfassen einer
überindividuellenWirklichkeit. Deshalb fordern
zahlreiche zielbewußte Frauen den Schlüssel,
der in die Freiheit führt, nicht im blinden
Verkennen ihrer sozialen Aufgaben als mütter¬
liche Erzieherinnen, sondern in ihrer Erkenntnis
und — in Selbsterkenntnis.
Um die Fähigkeit zum Erziehen zu ge¬
winnen, bedarf es keines Lehrerinnenseminars.
Das, bißchen pädagogische Weisheit und die
Kenntnis einiger didaktischer Regeln, die hier
erworben werden können, mögen der künftigen
Lehrerin (dies ist der Erzieherin gegenüber
der engere Begriff) ganz nützlich sein, treffen
aber durchaus nicht den Kern der Sache.
Von innen heraus muß die Fähigkeit zum
Erziehen erwachsen und sie wurzelt in dem
Verständnis für den Menschen in seinem indi¬
viduellen und Gemeinschaftsdasein. Deshalb
ist es wichtig, daß die Bildung der Mädchen
bis über die ersten Jahre der Pubertät hinaus
eine allgemeine, unter mehr oder weniger
ideellen Gesichtspunkten angelegte und nicht
Fachbildung sei. So betrachtet ist von den
höheren Bildungsanstalten die Studienanstalt
dem Seminar vorzuziehen. Die Fachbildung
drängt naturgemäß auf einen gewissen Ab¬
schluß hin und dieser Abschluß geht auf Kosten
der Vertiefung und vor allen Dingen: er ist
geeignet, in jungen Köpfen den Maßstab für
das eigene Können zu verschieben. Wenn
man Lehrerin ist, „beherrscht" man den Lehr¬
stoff und ist mit zwanzig Jahren Autorität,
die Absolventin der Studienanstalt hingegen
weiß, daß sie nur „reif" geworden ist zum eigent¬
lichen Lernen. Der ganze Lehrstoff wird in
der Studienanstalt notwendig unter anderen
Gesichtspunkten dargereicht als im Seminar,
eben immer im Hinblick auf die Erweiterung
durch das Studium. Dieser Gesichtspunkt
gibt aber die Weite des Horizontes, die
Grundlage für Persönliche Kultur.
Bon der rein Praktischen Seite gesehen —
und auch diese muß in Anbetracht der Aus¬
führungen des Herrn Prof. Göpfert über
Seminare und Studienanstalten in Ur. 3S der
„Grenzboten" nach dem Grundsatz auciiamus
et slrera pars kurz erörtert werden — ist
die seminaristische Bildung als Vorbereitung
für die Universität dem Bildungsgange der
Studienanstalten nicht als gleichwertig zu
erachten. Dies kommt offiziell darin zum
Ausdruck, daß das Lehrerinnenzeugnis nur
die philosophische Fakultät erschließt. Die
Beschränkung in der Wahl des Studiengebiets,
die damit gegeben ist, läßt den praktischen
Wert deS Lehrerinnenzeugnisses im Vergleich
mit dem Abiturientenzeugnisse geringer er¬
scheinen. Aber auch rein sachlich wird die
seminaristische Bildung als Vorbereitung für
den Universitätsbesuch als unzulänglich be¬
zeichnet, unter anderem auch von zahlreichen
reifen Frauen, die meist aus eigener Erfahrung
sprechen, indem sie selbst mit seminaristischer
Bildung ausgerüstet die Universität beziehen
mußten, da die Abiturientenprüfung erst seit
etwa fünfzehn Jahren von Frauen abgelegt
werden kann, und am eigenen Leibe die Un-
Zweckmäßigkeit ihrer Vorbereitung erprobt
haben. Es wäre doch Wohl recht unklug,
gerade die Stimme dieser Frauen, die man
„Frauenrechtlerinnen" zu nennen Pflegt, als
parteiisch abzulehnen.
Ganz abgesehen von alledem muß vom
Praktischen Standpunkt ferner betont werden,
daß seit Jahren, besonders seit der vermin¬
derten Verwendung nur seminaristisch vor¬
gebildeter Lehrerinnen an höheren Schulen,
eine bedenkliche Überproduktion an Lehrerinnen
besteht. Die Stellenvermittlung des Allge¬
meinen Deutschen Lehrsrinnenverbandes sieht
sich oft ganz außerstande, Absolventinnen
des Lehrerinnenseminars an höheren Schulen
unterzubringen. Angesichts dieser Tatsache
ist es zu beklagen, daß sich seit der Aner¬
kennung des höheren Lehrerinnenseminars
als Vorbereitungsanstalt für die Universität
die Gelegenheiten zur Erwerbung des Lehre¬
rinnenzeugnisses etwa verfünffacht haben.
Jene Anerkennung hat überdies bewirkt, daß
der Zudrang zum Oberlehrerberuf ganz un¬
verhältnismäßig stärker ist als zu anderen
akademischen Berufen"). Hierfür ist nicht
etwa eine ausgesprochene Neigung der Frau
für die Lehrtätigkeit verantwortlich zu machen.
Oft genug wird das Mädchen von denen, die
ihr Schicksal lenken, zum Besuch des Seminars
gedrängt. Hat sie es durchgemacht, so ent¬
schließt sie sich, sich der Oberlehrerprüfung zu
unterziehen, einerseits um sich bessere Er¬
werbsmöglichkeiten zu sichern, anderseits um
sich auf diese Weise die Teilnahme am wissen¬
schaftlichen Leben zu ermöglichen. Neigung
und Begabung drängen sie vielleicht in andere
Bahnen, aber eS ist nun zu spät, sie einzu¬
schlagen. Das Reifezeugnis allein gewährt
Bewegungsfreiheit.
Kann die Inhaberin des Reifezeugnisses
die Universität nicht beziehen, so ist ihr
Bildungsgang durchaus nicht auf der Hälfte
stecken geblieben, denn einen einigermaßen
abgerundeten, wenn auch elementaren Über-
blick über die einzelnen Lehrfächer bietet
die Studienanstalt genau ebenso gut wie das
Seminar. Verwendung im Praktischen Leben
findet eine tüchtige Abiturientin auf den
mannigfachsten Gebieten — als Privatlehrerin
reichlich ebensoviel wie die Seminaristin —
wie denn auch junge Männer mit dem Reife¬
zeugnis sie finden und nicht an Halbbildung
zugrunde gehen. Die künftige Mutter hat
aber ihren geistigen Horizont nach Möglichkeit
erweitert und Verständnis gewonnen für das
Denken und Streben ihrer Söhne und Töchter.
Ich möchte heute mit der Besprechung
eines Artikels des „Semigotha" beginnen, der
die kindliche Leichtgläubigkeit deS „Redaktions¬
komitees" in ebenso Hellem Lichte erscheinen
läßt, wie seine Unkenntnis über die land¬
läufigsten Erfahrungstatsachen der Genealogie.
Es ist der Artikel über das Grafengeschlecht
Khuen von Belast (S. 66 f.), den ich meine.
Ob der „Semigotha" mit seiner jüdischen
Zuschreibung hier im Rechte ist, oder nicht,
kann aber deshalb vielleicht ein allgemeines
Interesse, auch innerhalb des Deutschen
Reiches, beanspruchen, weil der königlich
ungarische derzeitige Ministerpräsident und
Minister des Innern, auch Minister am
kaiserlichen Hoflager usw. Graf Karl Khncn-
Hödcrväry diesem Geschlechte angehört.
Der „Semigotha" schreibt darüber unter
der Überschrift: „(Machdochai) Khuen aus
dein Stamme Aaron? — Können als arisiert
gelten" folgendes: „Letztbekanntes Herkunfts¬
land: Rom bezw. Italien; nun in Bayern
und Tirol, und die Linie Khuen - Belasi-
HödervÄry in Slavonien. Beglaubigung der
jüd. Genesis: laut Oberstlt. a. D. Arbogast
Gf. Khuen-Belast in Linz, O. ----- Oe. Kath.
Konvertiert anno 317 n. Chr. — Tiroler
Uradel......Dieses altedle Grafenhaus
führen wir mehr nur als histor. Reminiszenz
hier an. — Geschichtliche Notiz: ^uno 317
n. Chr. ließ Kaiser Konstantin der Große IioL
siZno omnes eine Menge Höflinge taufen,
darunter auch seinen jüd. Leibarzt Machdochai
(Hehr. Marhdechai oder Mardochai ----- Markus
oder auch Marx zu deutsch), der den Kaiser
vom Aussatz kuriert hatte. Von diesen: Mach-
dochai, nach der Matthias geheißen und zum
Präfekten in Südtirol bestellt, stammen ur¬
kundlich die heutigen Gfn. Khuen ab. Die
Nachkommen des Präfekten nannten sich nach
ihrem Wohnsitz Traum, Trameno. Um das
I. 1000 hießen sie schon die Khuenen von
Traum. .. . Durch die vielen ario-german.
Alliancen im Laufe der Jahrh, sind die alt¬
edlen Khuen nun heute allerdings sozusagen
längst entsemitisiert und fast als reinarische
Geschlechtsträger anzusehen, aber — selbst
ethnologisch schlägt heute dem Kenner das
Jüdische, z, B. bei dem ehemaligen Barus
v. Kroatien — ganz merklich durch."
Der von den „Gelehrten" des „Semi-
gotha" als Gewährsmann angeführte Graf
Arbogast Khuen ist am Is. Oktober 1910 zu
Linz gestorben. Man kann ihn also nicht
mehr befragen. Das eine aber kann mit
Sicherheit ausgesagt werden, daß er, wenn
er wirklich das gesagt oder geschrieben haben
sollte, was der „Semigotha" nach dem Vor¬
stehenden behauptet, vollkommen verdreht
war. Die Sucht, Abstammungen vornehmer
Geschlechter bis auf die Römer zurückzuführen,
ist bekanntlich uralt. Der gänzlich fabelhafte
genealogische Zusammenhang der Zollern mit
den Colonna spukt noch immer in manchen
Köpfen und die Habsburger und mit ihnen
die Habsburg-Lothringer können sogar, wenn
den „alten Schriften" zu trauen wäre, ihre
Abstammung bis auf die Venus zurückführen.
Die moderne wissenschaftliche Genealogie weiß
dagegen, umgekehrt, ganz genau, daß es
Stammreihen, die bis in jene fernen Zeiten,
also etwa bis in die Zeiten Justinians (ge¬
storben S6ö) oder Konstantins deS Großen
(gestorben 373) zurückgehen, nicht nur nicht
gibt, sondern gar nicht geben kann. Schon
tausendjährige Jubiläen des Bestehens eines
Geschlechtes des niederen Adels, von der
Gegenwart zurück gerechnet, sind ganz aus¬
schließlich Erzeugnisse frommer Wünsche und
von familiengeschichtlichen „Klitterungen", und
ein solches tausendjähriges Jubiläum setzt doch
nur ein Vorkommen erst um das Jahr 900
ungefähr voraus, mit dem man von der Zeit
Konstantins deS Großen noch rund sechs
Jahrhunderte entfernt ist. Einen Adel, der
1350 oder vorher schon vorkommt, nennt man
adelsgeschichtlich bereits: Uradell Nassen-
und Abstammungsfragen kann man aber nicht
auf dem Wege der „Klitterung", sondern ganz
ausschließlich auf Grund genauer, urkundlicher
Forschungen beantworten. Der „Präfekt" in
Südtirol mit Namen Matthias, als Ahnherr
der Khuen, ist also einfacher „Mumpitz", um
mich eines sehr deutlichen Wortes zu bedienen,
und seine Identität mit dem getauften
jüdischen Leibarzt Machdochai, der Konstantin
den Großen vom Aussatze geheilt hat, hängt
erst recht vollkommen in der Luft, wobei noch
gar nicht einmal in Betracht gezogen zu
werden braucht, daß der Aussatz eine Krank¬
heit ist, die sich nicht heilen läßt. — Seiner
Absicht nach gehört der vorstehende Artikel des
„Semigotha" in eine Linie mit denjenigen
über Ranke und über Biedermann, die ich
schon behandelt habe. Der „ehemalige Barus
von Kroatien" ist aus irgendeinem Grunde
den Gesinnungsgenossen des „Semigotha"
nicht angenehm, deshalb muß ihm eine
jüdische Abstammung „angehängt" werden,
und, da die Khuen notorisch Tiroler Uradel
sind, nimmt man bereitwillig zu einem Märchen
feine Zuflucht, das nicht nur den Stempel der
Erfindung, sondern denjenigen der Unmög¬
lichkeit von vornherein an der Stirn trägt I
In der gleichen Abteilung des „Semigotha",
der die Grafen angeblich jüdischer Herstammung
enthalten soll, findet man auch noch das
Geschlecht Schimmclmnnn. ES wird hier auf¬
geführt unter der Bezeichnung: „(? Jssaschar)
Schimmelmann". Im Texte heißt es zu Be¬
ginn: „Letztbekanntes Herkunftsland: Däne¬
mark; nun in Preußen (Schleswig-Holstein)
und Dänemark. Beglaubigung der jüd. Ge¬
nesis : sicherem Vernehmen nach (Br. N. i. E.).
Lutherisch, konvertiert ca. gen Mitte des acht¬
zehnten Jahrh.". Nachher heißt es des näheren:
„In Fritsch Handb. d. J.-frage 27. Aufl. 1910,
S. 2SS steht wörtlich: Die grast. dänische und
die freiherrl. Familie v. Schimmelmann stammt
vomJudenSchimmelmcmn, demFrieorich d.Gr.
nach seinem Einmarsch in Sachsen die Über¬
führung der Vorräte der Sachs. Porzellan¬
manufaktur übertragen hatte. sah. brachte
die Vorräte aber an sich und floh nach Ham¬
burg, nachdem er unter ihnen die Sachs. Kron¬
juwelen im Werte von 6 Mill. Talern ent¬
deckt hatte. Er lieh dem König von Däne¬
mark S Mill. und wurde von diesem geadelt
und gegrast. Im deutschen Adel als notorisch
bekannte Tatsachen."
Man kann aus der Art der Anführung
im „Semigotha" nicht recht sehen, woFritsch
aufhört und von wo an das „Redaktions¬
komitee" selbst spricht. Der Schlußsatz: „Im
deutschen Adel als notorisch bekannte Tat¬
sacken" ist jedenfalls vom letzteren. Ich habe
gegen alles dieses zunächst zu erklären, daß,
wenn das Handbuch usw. von Fritsch das
vorstehend angeführte wirklich enthält, dieses
im höchsten Grade bedauerlich ist. Zweitens
aber kann ich, der ich ziemlich genau weiß,
was „im deutschen Adel als notorisch bekannte
Tatsachen" sind, nie von der vorstehenden
„Geschichte" gehört zu haben bekunden.
Ehe ich nun auf das Genealogische und
das Biographische näher eingehe, möchte ich
noch auf dasjenige hinweisen, was der „Semi¬
gotha" in der „III. Abteilung — Freiherrn¬
klasse" über „Schimmelmann" sagt. Er ver¬
weist hier im wesentlichen auf das in dem
vorstehend geschilderten Artikel Gesagte. Her¬
vorzuheben ist aber doch der Satz: „gemein¬
samer Abstammung mit den dar. Gfn. von
demselben Sachs. Juden Schimmelmann".
Neu ist also an dieser Stelle, das; der
„Jude Schimmelmann", der „Überführer der
Vorräte der sächsischen Porzellanmanufaktur
unter Friedrich dem Großen", ein: „sächsischer"
Jude ist.
Diesen Mann sich etwas näher anzusehen,
verlohnt sich nun doch. Es ist Karl Heinrich
Schimmelmann, geboren 1724, gestorben 1782,
der zunächst in Dresden als Kaufmann, Pächter
der kursächsischen Generalakzise und Lieferant
Friedrichs des Großen im siebenjährigen
Kriege ein beträchtliches Vermögen erwarb.
Von 1759 ab war er Inhaber eines Hand¬
lungshauses zu Hamburg und trat 1761 als
Generalkommerzintendant in den Staatsdienst
des Königreichs Dänemark, dessen Finanzen
er von 1764 ab, mit kurzer Unterbrechung,
fast unbeschränkt und mit großem Erfolge für
die königlichen Kassen leitete. Er erhielt im
Jahre 1762 den dänischen Freiherrenstand mit
dem Prädikate „af Lindenborg" und am
28. April 1779 den dänischen Grafenstand.
Er ist der Ahnherr des gräflichen Hauses des
Namens. Der Ahnherr des freiherrlichen
Hauses ist sein Brudersohn Ludwig Heinrich,
königlich dänischer Oberst. Sachse war nun
keiner von diesen beiden Ahnherrn, das Ge¬
schlecht Schimmelmann ist vielmehr, nach ur¬
kundlichen Nachweisen, die mir vorgelegen
haben, ein altes Bürgergeschlecht der Stadt
Rostock. Es ist bisher gelungen, es bis zum
Jahre 1486 ungefähr dort zurück zu ver¬
folgen. Die Stammreihe beginnt mit Joachim
Schimmelmann, der 1K10 Bürger der Hansa¬
stadt Rostock wird. Die Ehefrauen der Schimmel¬
mann sind vom Jahre 1608 ab, in welchem
ein Niklaus Schimmelmann heiratet, sämtlich
Ratsherrentöchter, bis zur Mutter Karl Hein¬
richs einschließlich. Bürger von Rostock konnte
nun, von den Zeiten der dortigen Juden¬
verfolgung (1493) an bis in das neunzehnte
Jahrhundert hinein, kein Jude werden, ebenso¬
wenig konnte ein Jude dort Grundbesitz er¬
werben. Mit den vorstehenden Feststellungen
entfällt somit auch nur die Möglichkeit, daß
die Schimmelmann jüdischer Herkunft seien.
Was endlich der „Semigotha" an Lebens¬
einzelheiten über Karl Heinrich, den ersten
Grafen, auftischt, ist einer Schmähschrift ent¬
nommen, die zu Anfang des vorigen Jahr¬
hunderts erschien, und entspricht nicht den
Tatsachen.
Übrigens — und das muß in diesem Zu¬
sammenhang auch noch erwähnt werden —
sollte man meinen, daß der Name Schimmel¬
mann im deutschen Volke für alle Zeiten vor
solchen und ähnlichen Verunglimpfungen ge¬
schützt sein müßte: durch die hochherzige Hand¬
lung des Grafen Heinrich Ernst von Schimmel¬
mann, gestorben 1831, der, gemeinsam mit
dem Prinzen Friedrich Christian von Schleswig-
Holstein-Augustenburg, von 1791 bis 1794
unserem Schiller die bekannte Unterstützung
von jährlich 3600 Mark zahlte, die dem
kranken Dichter die Genesung und eine Zeit
stiller Sammlung ohne Rücksicht auf Geld¬
erwerb ermöglichte.
Elcktrisieruni, der Stadtbahn. Das Ab¬
geordnetenhaus wird in den nächsten Wochen
darüber zu beschließen haben, ob die Züge
auf der Stadt- und Ringbahn und auf den
Berliner Vorortbahnen noch weitermitDamPf-
lokomotiven befördert werden sollen, oder ob
sie zukünftig elektrisch gefahren werden. Es
handelt sich dabei um die Bewilligung von
SO Millionen Mark für die Herstellung der
baulichen Anlage und um die Beschaffung
und Abänderung der Fahrzeuge, die mit
73 Millionen Mark veranschlagt sind.
Es sollen damit die schon lange vorhan¬
denen Wünsche der Berliner Bevölkerung er¬
füllt, die Leistungsfähigkeit der Stadtbahn
gesteigert und ihre Fahrzeit erheblich ab¬
gekürzt werden. Aber so ganz schmerzlos soll
dies nicht vonstatten gehen. In der Denk¬
schrift, die den Abgeordneten von der Eisen¬
bahnverwaltung vorgelegt worden ist, findet
sich die Wohl vielen überraschende Mitteilung,
daß die Einnahmen der Stadtbahn nicht aus¬
reichen, um ihre Betriebskosten zu decken,
geschweige denn das Anlagekapital zu ver¬
zinsen: und es ist darin ausgerechnet, daß
im Jahre 1916, dem voraussichtlich letzten
Jahre des Dampfbetriebes, das Defizit etwa
2 Millionen Mark betragen wird.
Dieses ungünstige Ergebnis wird aber
erklärlich, wenn man die Fahrpreise der
Stadtbahn mit den Fahrpreisen ähnlicher
Unternehmungen des In- und Auslandes
vergleicht. Nach einer Tabelle von Kemmann
betragen die Einnahmen für die Person
auf der Berliner Stadt- und Ringbahn
7,6 Pfennige, wobei nur eine drei¬
malige tägliche Benutzung der Zeitkarten
zugrunde gelegt worden ist. Bei einer vier¬
maliger Benutzung würde die Durchschnitts¬
einnahme nur 6,6 Pfennige für die Person be¬
tragen. Die nächstbillige Bahn ist die Me-
tropolitain von Paris mit 11,2 Pfennigen für
die Person, dann folgt die Berliner Hochbahn
mit 13,2 Pfennigen. Die Londoner Bahnen be¬
wegen sich im Durchschnitt auf derselben Höhe
mit 11,9 bis 16,4 Pfennigen für die Person. Alle
amerikanischen Bahnen dagegen, die bekannt¬
lich mit dem Einheitsfahrpreis von 6 Cents
arbeiten, haben dementsprechend eine Ein¬
nahme von 21 Pfennigen. Die Berliner Bahn ist
also etwa dreimal so billig als die amerika¬
nischen Anlagen und fast doppelt so billig
als die englischen. Das ist sehr angenehm
für die Bevölkerung Berlins. Da aber der
Zuschuß von zwei Millionen und die
Verzinsung des Anlagekapitals von
dem ganzen Lande getragen werden
muß, so kann man nicht Wohl sagen,
daß dieser Zustand berechtigt wäre.
Mit oder ohne elektrischen Betrieb: eine Stei¬
gerung der Fahrpreise läßt sich nicht länger
hinausschieben. Es kann deshalb nur be¬
grüßt werden, daß die Eisenbahnverwaltung
die Erhöhung der Fahrpreise bei einer so
günstigen Gelegenheit durchsetzen will, Wie
sie die Einführung des elektrischen Betriebes
mit seinen großen Vorteilen für die Berliner
Bevölkerung bietet.
Die Ausführung der Anlage ist in ähn¬
licher Weise gedacht, wie sie vom preußischen
Staat für Hamburg schon vor mehreren
Jahren hergestellt wurde. Für die Strom-
zuführung sollen Drähte über die Gleise ge¬
spannt werden, jedoch nicht in der einfachen
Weise wie bei den Straßenbahnen, sondern
unter Benutzung eines zweiten über den
eigentlichen Fahrdraht gespannten Drahtes in
Kettenform, womit der Leitungsanlage eine
größere Haltbarkeit und ein gefälligeres Aus¬
sehen verliehen wird.
In Hamburg bestehen die Züge lediglich
aus Triebwagen und man kann beobachten,
daß sie je nach dem Andrang aus ein bis
vier solcher Doppelwagen zusammengesetzt
werden. Für Berlin will man zunächst ver¬
suchen, die vorhandenen Wagen auszunutzen.
Man Plant deshalb nicht die Beschaffung neuer
Triebwagen, sondern den Ersatz der Dampf¬
lokomotiven durch elektrische. Doch soll jeder
Zug nicht nur eine Lokomotive am vorderen,
sondern auch eine am Hinteren Ende erhalten,
so daß auf den Kopfbahnhöfen, wie z. B. auf
dem Potsdamer Bahnhof, das Umsetzen der
Lokomotiven vermieden wird; denn die Züge
können mit den zwei Lokomotiven genau so
gut vor- wie rückwärts fahren. Die Fahr¬
zeit soll dabei um etwa ein Fünftel der jetzigen
Zeit verkürzt werden. Man würde also für
eine Fahrt zwischen Charlottenburg und
Stralau—Rummelsburg etwa 3 Minuten an
Zeit ersparen. Nimmt man an, das; im
Jahre 1916, dem ersten Jahre des elektrischen
Betriebes, etwa zweihundert Millionen die
Bahn benutzen und die mittlere Reisedauer
jeder Person nach dem jetzigen Fahrplan
20 Minuten beträgt, so würden, da die Fahrt¬
dauer nach der Elektrisierung nur 16, also
4 Minuten weniger betrage, im ganzen
800 Millionen Minuten 13,3 Millionen
Arbeitsstunden in diesem Jahre durch das
schnellere Fahren gewonnen werden, die bei
dem durchschnittlichen Lohnsatz von 50 Pfennig
einem Gewinn von Millionen Mark an
Arbeitsmöglichkeit entsprechen würden. Es
steht also der geforderten Fahrgelderhöhung
auch eine größere Verdienstmöglichkeit gegen¬
über.
Überweisung dieses Teiles des Eisenbahn¬
betriebes an Private Wohl kaum bestehen
dürften. Einen gewissen Vorteil wird der
Staat zweifellos daraus ziehen, daß den
großen Privatwerkon für diese Zwecke bereits
vorzüglich ausgebildetes Personal zur Ver¬
fügung steht, während der Staat doch im¬
merhin seine Beamten auf diese neuen Be¬
triebsbedingungen erst einarbeiten müßte.
Die vorübergehende Überlassung des Be¬
triebes an Private scheint ihm dazu die beste
Der elektrische Strom soll aus Privat¬
werken zu einem bereits vereinbarten Preise
gekauft werden. Auf diese Weise will sich
der Staat Wohl dagegen sichern, daß in seinen
Berechnungen keinerlei Ungewißheit mehr ent¬
halten ist. Ferner ist in dein Lieferungsver¬
trag vorgesehen, daß im Kriegsfalle oder im
Falle von Arbeiterstreiks die Betriebsführung
ber Stromerzeugungsanlagen sofort voll¬
ständig in die Hände des Staates übergeht,
so daß also Unterbrechungen aus diesen
Gründen nicht zu befürchten sind. Im übrigen
soll sich der Staat auch das Recht vorbehalten
haben, die Werke nach einigen Jahren schon
zu erwerben, so daß also Bedenken gegen die
Die sechzehnbändige deutsche Ausgabe von
Balzacs „Menschlicher Komödie" (Insel-
Verlag zu Leipzig) ist kürzlich zum Abschluß
gelangt: als eine sehr beachtenS- und dankens¬
werte Leistung, deren Verdienst es ist, die
Architektur, die Balzac selbst in die große
Menge seiner Bücher zu bringen wünschte,
den großen Zug, in dem hier die Synthese
einer vielfältigen LebenSwelt vollzogen ist,
erstmalig zu betonen. Nicht bloß durch die Ver-
einigung in eine einheitliche Veröffentlichung,
wie sie Balzac selbst gewünscht hätte, und
durch Voranstellung seiner Programmatischen
Vorrede ist dies geschehen, sondern auch durch
biographische und ästhetische Würdigung, die
Überblick gewährt und den Zusammenschluß
damit sinnfälliger macht. Mit einer prunk¬
vollen Rede leitet Hugo v. Hofmannsthal den
ersten Band ein; seit Goethes und Heines
Zeit war keiner in Deutschland, der es so
verstanden hätte, mit feiernden, das Wesent¬
liche in Schönheit darbietenden Worten ein
Buch zu übergeben wie Hofmannsthal. Der
letzte Band des nun abgeschlossenen großen
Werkes bringt eine literarhistorische Abhand¬
lung von Wilhelm Weigand, die nichts ge¬
ringeres ist als die beste Darstellung > die
Balzacs Leben und Schaffen noch gesunden.
Nach Weigands vorzüglichen Arbeiten über
Stendhal (die mit dem Balzac-Essay zu¬
sammen auch in besonderem Bande im Insel-
Verlag erschienen ist) und über Ubbo Galiani
war es auch nicht anders zu erwarten, und
es ist erfreulich, daß auch ein Montaigne an¬
gekündigt wird. Die besonderen Vorzüge der
Abhandlung sind tiefe Lebenskenntnis und
reiche Kunsterfahrung. Die Betonung der
Herkunft, des gascognischen Erbteils in
Balzacs Blut; das Entscheidende über
die geistige Ausbildung des Dichters, das
darin liegt, daß der empfängliche Geist
des jungen Menschen von den Eindrücken
einer grandiosen Epoche gleichsam ausgeweidet
und befähigt wird, eine unendliche Welt in
seiner Phantasie zu hegen; die geheimnisvolle
Einheit aufzuzeigen, die inneres und äußeres
Schicksal im Dichter bilden (der Lebens- und
Liebesroman mit Frau v. Hanskci) — und
Balzacs Werk, den Roman als demokratische
Kunstform in die Entwicklung des Schrifttums
einzugliedern und damit der Darstellung den
Rahmen zu geben — alle diese Themen
finden hier ihre vorbildlich gute Behandlung.
Es will daneben nichts besagen, wenn die
Mühe, welche die sprachliche Bewältigung so
schwer in Worte zu fassender Dinge kostet,
bisweilen fühlbar geblieben ist. Eine Lebens¬
auffassung spricht aus dieser Darstellung zu
uns, und dies kann nicht leicht irgendwo so
sehr am Platze sein wie hier. Des Systems, in
das Balzac in seinem Plan des ganzen Werkes
das Leben seines Zeitalters in all seinen
Erscheinungen zu bringen sucht, ist die Summe
von Balzacs Leben und Dichten, die Weigand
zieht, nicht unwürdig.
Verantwortlich: der Herausgeber Georg« Cleinow in Schöneberg. — Manuskriptsendungen und Briefe werden
erbeten unter der Adresse!
A» den Herausgeber der Grenzlinien in Friedenau bei Berlin, Hcdwigstr. 1».
Fernsprecher der Schristleitimg: Amt Uhland SSM, des Verlags- Amt Lützow S610.
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b. H. in Berlin SV/. 11.
Druck: „Der Reichsbote" G. in. b. H. in Berlin SV. 11. Dessauer Strasze M/37,
TmG (Zusilo ciSp Xi'Ast für' Alls
eilf hier matt uncl slsnci funlsn, eilf nsnvös uncl snsnAislos sinnt,
rissen LLNsffsnsIcr'Äfr ein>>c:n Asisti^s ocisr> Ko>os>'ii<:us I^hohl'-
si'vsitunA us^öd^höhe-t ist, vais^ cisnsn snsvnöotsncis Ki'snlcnsitsn u.
sano/ol's (ZsniUtssnk'SAunAsn eilf Wicisr'stsnclstAniAlcsit nannisn, ist
SK>»41'0Q^I»
LsnatoAsn ist von nisni' sis 15 000 p"ofssso>»su uncl Hsi'-thu
hitsi- XultunISncisi' glänz-frei bsgutac-rest. L)!s unsusgssst-t
stsiAsncls IXIsonOsAS uncl ssnlloss bsAsistsi'es Z^usent'iftsn be¬
weisen, clsss l-lunclsi'ttsussncls in Lsnstogsn eilf Wiscisi'bslsbung
irr'si' X^-Zfts uncl eilf LtÄk'lcunA ini'su lcöi'ohl'liLnon uncl Asisti^su
l-sIstunAstAni^icsit suensn uncl fincisn. Ws>> LsnstoAsn roer rinnt
lcsnnt, vönlsnxs psi' I-'ostlcsi'es sins iilusti'ihres >Z"ose:mit>'s, eilf
lcostsnlos ohl'hören v/i^ni von IZsusi' Lif., lZsniin LW. 43.
5-OsuisLlilancls vornSlimstSr
^ Leliaumwsin
I üeiWstellt ans leiinslen yusl!M8WCmsn äsr 8hör I
von I-j^sur uncl Lognsc!
^ ^orei>sI-VorKaufsstsIIs sortir VV. 30, l.uitpolöiti's««,, 18.
! is der Reichskanzler von Bethmann Hollweg in Übereinstimmung
> mit dem kaiserlichen Statthalter Grafen von Wedel sich entschloß,
eine Reform der reichsgesetzlichen Bestimmungen über die Ver¬
fassung Elsaß-Lothringens in Angriff zu nehmen, stützte er sich
in allen wesentlichen Punkten seines Gesetzentwurfs auf Wünsche
und Anregungen, die im Laufe mehrerer Jahrzehnte aus Elsaß-Lothringen an
die Landes- und die Reichsregierung gerichtet worden waren. Die elsaß-
lvthrmgische Frage hat nie vollständig geruht, so wenig man in der Öffent¬
lichkeit auch davon wahrnehmen konnte, daß die zuständigen Reichsinstanzen
mehr taten, als die Wünsche des reichsländischen Landesausschusses und die
Vorschläge der Landesregierung mit passivem Wohlwollen in Empfang zu
nehmen. Wiederholt habe ich während der Amtstätigkeit des Grafen
Posadowsky mit ihm und dem damaligen Unterstaatssekretär Wermuth über
die elsaß-lothringische Verfassungsfrage gesprochen, und jedesmal empfing ich
den Eindruck, daß beide Herren ihr nicht nur platonische Aufmerksamkeit
widmeten, sondern ernstlich bemüht waren, eine praktische, erfolgverheißende
Lösung des so überaus schwierigen Problems zu finden. Wenn die An¬
gelegenheit damals trotzdem nicht von der Stelle kam, so dürfte der Grund
dafür in erster Linie in dem relativ geringen Interesse, das der Reichs¬
kanzler Fürst von Bülow ihr entgegenbrachte, sowie in der geringen Initiative
der Negierung des Fürsten zu Hohenlohe-Langenburg zu suchen sein. Ferner
freilich auch in den großen Bedenken, die Graf Posadowsky selbst wegen der
Wirkungen einer Reform hegte, wie er sie verantworten zu können glaubte.
Denn sein staatsmännischcs Gewissen erlaubte ihn: nicht, soweit zu gehen, wie
später Herr von Bethmann Hollweg ging, und anderseits kannte er die Psyche
der Elsaß-Lothringer doch zu genau, um nicht zu wissen, daß eine verhältnis¬
mäßig bescheidene Teilreforni mehr Unzufriedenheit schaffen würde als die Bei¬
behaltung des bestehenden Zustandes.
Herr von Bethmann Hollweg besaß einen größeren Optimismus. Und
hinter ihm stand in dieser Angelegenheit als treibende Kraft ein Statthalter,
der von der absoluten Notwendigkeit, die staatsrechtliche Lage Elsaß-Lothringens
endlich weiter zu entwickeln, überzeugt und gleichzeitig fest entschlossen war, sich
für die Durchführung dieses Werkes mit seiner ganzen Person einzusetzen.
Elsaß-Lothringen hatte seine Verfassungsreform also dem Zusammentreffen
besonders günstiger Umstände zu verdanken. Dennoch wäre das Reformwerk
nicht in Angriff genommen worden, wenn die beiden an erster Stelle mit¬
wirkenden Persönlichkeiten nicht hätten überzeugt sein können, daß sie mit ihren
Vorschlägen einen starken Rückhalt in der elsaß-lothringischen Bevölkerung selbst
finden würden. Keiner von ihnen, und ebensowenig ihr dritter Verbündeter,
Staatssekretär Delbrück, konnte annehmen, daß eine Vorlage, die in jedem
einzelnen Punkte die Spuren alter Anträge und Resolutionen des elsaß-lothrin¬
gischen Landesausschusses aufwies, von denselben Persönlichkeiten bekämpft werden
würde, die diese veranlaßt hatten.
Es war daher falsch, das Unternehmen der Verfassungsreform als ein
Experiment zu bezeichnen, das auf bloßen Hoffnungen und der Spekulation
auf die Dankbarkeit der elsaß-lothringischen Bevölkerung aufgebaut war. Ich
bin über die vorbereitenden Arbeiten zur Verfassungsvorlage genau genug unter¬
richtet, um behaupten zu können, daß mit peinlichster Gewissenhaftigkeit und in
fast zu weit getriebener Unparteilichkeit alle Anregungen, die aus Elsaß-Lothringen
kamen, zur Ausgestaltung des Entwurfs herangezogen wurden. Wenn je eine
Vorlage auf realen Voraussetzungen beruhte, so war es diese. Und was ihr
wirklich an Berücksichtigung der bis dahin ausgesprochenen elsaß-lothringischen
Wünsche noch fehlte, wurde im Laufe der Verhandlungen im Reichstage und
im Bundesrate zum größten Teil noch in ihren Wortlaut eingefügt; u. a. die
für unmöglich gehaltene Bestimmung, daß Elsaß-Lothringen mit nahezu vollen
bundesstaatlichen Rechten im Bundesrate vertreten sein sollte, sowie die Ein¬
führung des nur durch eine sehr bescheidene Wohnsitzklausel beschränkten, dafür
aber durch Ersetzung der Stichwahlen durch Nachwahlen noch erweiterten Reichs¬
tagswahlrechts.
Mit Recht konnten daher die gesetzgebenden Faktoren des Reiches und
besonders der Reichskanzler erwarten, daß das Verfassungsgesetz in Elsaß-
Lothringen zum mindesten gerechte Beurteilung und loyale Anerkennung finden
würde. Aber wie war der tatsächliche Erfolg?
Kaum stand mit annähernder Sicherheit fest, daß die Verfassungsvorlage
in ihrer erweiterten Gestalt Gesetz werden würde, da setzte in Elsaß-Lothringen
eine Opposition gegen sie ein, die an Ungerechtigkeit, Leidenschaftlichkeit und
Skrupellosigkeit kaum noch zu überbieten war. Der Grund dieser Erscheinung
war für den Außenstehenden schwer zu erkennen. Für den Kenner der Persön¬
lichkeiten, die in Elsaß-Lothringen die Politik machen, war die Erklärung aber
nicht schwer. Der Teil der elsaß-lothringischen Politiker, der durch Schürung
der Unzufriedenheit mit den bis dahin bestehenden Zuständen zu Einfluß und
Ansehen gelangt war, sah in der über Erwarten umfangreichen Erweiterung
der Rechte des Landes nichts als eine Gefährdung der eigenen, mit zweifel¬
haften Mitteln errungenen Bedeutung. Ein zufriedenes Volk, eine stetige Ent¬
wicklung des Landes lag nicht in der Richtung der persönlichen Pläne dieser
Männer. Das Elsaß-Lothringen der alten Verfassung hatte ihnen Stoff in
Hülle und Fülle geboten, als Volkstribunen für die Rechte und Freiheiten der
Bevölkerung das Wort und die Feder zu führen. Die veränderten Verhältnisse
hätten das nicht mehr erlaubt, wenn man sie nicht von vornherein mit dem
Odium der Volksfeindlichkeit, der germanisatorischen Zwangsmache belastet hätte.
Und das geschah denn auch mit unübertrefflicher Gründlichkeit.
An sich war dieses Vorgehen eher albern als tragisch. Etwas Überzeugungs¬
mut und Ehrlichkeit der übrigen Bevölkerung hätte die wenigen Schreier dem
Fluche der Lächerlichkeit preisgegeben; denn sie bestanden ursprünglich nur aus
dem kleinen Kreis der oberelsässischen Nationalisten, die nach dem Verschwinden
des offenen Protestes in kleinlichen Nörgeleien gegen die deutsche Verwaltung
und das Deutschtum im allgemeinen, sowie in ostentativer Begünstigung alles
Französischen eine Entschädigung für den Verlust ihres Ansehens als nationale
Märtyrer gesucht hatten. Leider zeigte sich aber sehr bald, daß diese Männer
die „Mentalität" ihrer Landsleute nur zu richtig beurteilt hatten. Offen Farbe
zu bekennen, sich unter Umstünden sogar Anfeindungen von Verwandten und
Bekannten auszusetzen, ist im allgemeinen noch nicht die Sache der Elsaß-
Lothringer. Zwar gibt es sehr viel rühmliche Ausnahmen, und man kann die
Persönlichkeiten, die sich lieber mit allem, was ihr einstiges Lebensmilieu aus¬
gemacht hat, überwerfen, als auf das ehrliche Bekenntnis ihrer nationalen und
politischen Überzeugungen verzichten, gar nicht hoch genug schätzen, aber im
großen und ganzen ist der Elsässer und der Lothringer von heute zum Märtyrer
seiner Überzeugungen herzlich wenig veranlagt. Einzig und allein dieser Tat¬
sache war es zuzuschreiben, daß das Vabanquespiel der paar Nationalisten statt
mit einer vernichtenden Niederlage mit einem alle Welt überraschenden Erfolge
endete und den Ausgangspunkt für die ganze politische Entwicklung Elsaß-
Lothringens nach Einführung der neuen Verfassung bilden konnte.
Man muß sich, um die gegenwärtig in Elsaß-Lothringen bestehenden
politischen Verhältnisse richtig würdigen zu können, vor Augen halten, daß die
Nationalisten, die gegen die Verfassungsreform Front machten, sämtlich dem
elsaß - lothringischen Zentrum angehörten oder ihm nahe standen. Nur dadurch
erklärt es sich, daß ihr Vorgehen sofort ein Echo in weiteren Kreisen fand;
denn die nächste Folge der Verfassungsreform waren die ersten Landtagswahlen,
und sür diese war die Parteikonstellation so, daß der Klerikalismus als die stärkste
Macht mindestens mit den Liberalen, Demokraten und Sozialdemokratin, unter
Umständen aber auch mit dem Lothringer Block als Gegnern zu rechnen hatte.
Es war daher für ihn, wenn er auf die Erhaltung seiner bisherigen Macht¬
stellung sah, eine absolute Notwendigkeit, in sich fest zusammenzuhalten. Hätte
das Zentrum daher die nationalistischen Verfassungsgegner von sich abgestoßen,
so hätte es eine unter Umständen verhängnisvolle Spaltung seiner Kräfte herbei¬
geführt und wäre der Gefahr ausgesetzt gewesen, bei den Wahlen weit ins
Hintertreffen zu geraten. Ich persönlich bin zwar der Meinung, daß die ent¬
schiedene Abstoßung der Nationalisten dem Zentrum nur wenige Mandate gekostet,
dafür aber eine ganz bedeutende innere Festigung seiner Organisation verschafft
haben würde. Auf jeden Fall würde das Zentrum weit mehr Mandate erobert
haben als die Nationalisten, und diese wären später im Landtage gezwungen
gewesen, sich dem Zentrum unter den von diesem diktierten Bedingungen wieder
zu nähern; aber man kann es vom Standpunkt der Taktik immerhin verstehen,
wenn die Führer der Partei es angesichts der Landtagswahlen nicht auf eine
Machtprobe ankommen lassen wollten; denn selbst in dem deutschen Flügel des
elsaß-lothringischen Zentrums sind in nationaler Beziehung noch mancherlei
Schattierungen vorhanden, so daß bei einer reinlichen Scheidung zwischen Zentrum
und Nationalisten unter Umständen auch der Verlust mancher für die Partei
wertvollen Persönlichkeiten zu befürchten gewesen wäre, die in absehbarer Zeit
zuverlässige Stützen der Zentrumspolitik werden konnten. Einzig und allein die
Machtfrage war daher für das Zentrum ausschlaggebend, als es der Parole
der Nationalisten, die Verfassungsreform zu bekämpfen, folgte und den scheinbar
unbegreiflichen Entschluß faßte, sich von der altdeutschen Zentrumspartei wieder
weiter zu entfernen.
Wenn man aber auch versucht, die Motive, die das elsaß-lothringische
Zentrum zur Preisgabe seiner früher gerade gegen den Nationalismus eifrig
verfochtenen nationalen Überzeugungen veranlaßten, so objektiv wie nur möglich
zu würdigen, so helfen doch alle Bemühungen, praktischen Erwägungen gerecht
zu werden, nicht über die Tatsache hinweg, daß der Entschluß des Zentrums,
mit den Nationalisten gemeinsame Sache zu machen, die ganze politische Ent¬
wicklung des Landes vom Augenblick der Einführung der neuen Verfassung an
in verhängnisvoller Weise beeinflußt hat.
Die unmittelbaren Folgen seiner Taktik hatte das Zentrum selbst zu tragen.
Seine Fraktion ist in der Zweiten Kammer des Landtags zwar die bei weitem
stärkste. Da es außerdem dank dem geschickten Vorgehen seiner Parteifreunde
in Lothringen die dortigen Wahlen ganz in seinem Sinne beeinflußt hatte,
verfügt es fast ohne Einschränkung auch über die lothringischen Stimmen. Seine
Stellung im Parlament wäre dadurch geradezu glänzend, wenn es nicht an
den inneren Widersprüchen krankte, die der Gegensatz zwischen deutscher und
rationalistischer Richtung mit sich bringt. Die viel besprochenen Beschlüsse der
Budgetkommission der Zweiten Kammer über den kaiserlichen Gnadenfonds, die
Repräsentationsgelder künftiger Statthalter, die Kaiserjagd und die politische
Polizei wären nicht gefaßt worden, wenn die nationalistischen Mitglieder der
Fraktion nicht mit aller Gewalt dahin gedrängt hätten, die ihnen verhaßte
Regierung zu brüskieren. Und die Wahrscheinlichkeit, daß das Zentrum zur
ausschlaggebenden Macht in der reichsländischen Politik würde, wäre um vieles
größer, wenn die Regierung im Zentrum eine in nationalen Dingen zuverlässige
Fraktion erblicken könnte. Statt dessen hat sie zwar mit der klerikalen Mehrheit
zu rechnen, weiß auf der anderen Seite aber ganz genau, daß alle Nach¬
giebigkeit gegen einzelne konfessionelle Wünsche dieser Mehrheit sie nicht einen
Augenblick gegen peinliche Überraschungen auf nationalem Gebiet sichert, die
aus der Mitte dieser Mehrheit hervorgehen können, solange die Regierung nicht
ganz in klerikale Bahnen einlenkt.
So hat sich das Zentrum durch seine Verbindung mit dem Nationalismus
selbst den Weg zur Macht außerordentlich erschwert. Anderseits hat das Ver¬
halten des Zentrums gegenüber den Nationalisten aber auch sehr bedenkliche
Wirkungen auf die Entwicklung der übrigen bürgerlichen Parteien ausgeübt.
In erster Linie ist der Lothringer Block von ihm beeinflußt worden.
Die Existenz dieser Organisation war von jeher für jeden politisch denkenden
Menschen etwas Unbegreifliches. Geboren aus reinem Bezirkspartikularismus,
geführt von engherzigen Kirchturmspolitikern, entwicklungsunfähig und fortschritts¬
feindlich, war diese Partei nur dadurch lebensfähig, daß die in ihr maßgebenden
Notabeln gute Beziehungen zur Regierung unterhielten. Als diese durch die
Einführung der neuen Wahlkreiseinteilung, in der die Ansprüche der verschiedenen
Blockgrößen nicht genügend berücksichtigt werden konnten, verloren gingen, hatte
der Block seine Rolle als selbständige Partei eigentlich ausgespielt. Um aber
doch noch den Schein der Selbständigkeit aufrecht zu erhalten, warf sich die
Mehrheit seiner Anhänger ganz dem Zentrum und seinen nationalistischen
Freunden in die Arme. Unter den Gründern des den Nationalismus partei¬
politisch organisierenden Nationalbundes waren die angesehensten Vertreter des
„gouvernementalen" Lothringer Blocks. Und die Fraktion dieser Partei in
der Zweiten Kammer setzt sich gleichfalls ausschließlich aus Klerikalen und
Nationalisten zusammen.
Die natürliche Folge davon ist. daß die Blockfraktion zur Regierung
ungefähr in demselben Verhältnis steht wie das Zentrum, und daß sie als
Bestandteil einer gegen klerikal-nationalistische Ansprüche zu bildenden Mehrheit
nicht in Betracht kommen kann. Für die Dauer der ersten Legislaturperiode
des elsaß-lothringischen Landtags wird somit die Majorität der Zweiten Kammer
unter allen Umständen aus Zentrum und Lothringer Blockklerikalen bestehen
und bei beiden das nationalistische Element einen in vielen Fällen bestimmenden
Einfluß ausüben. Diese innige Verquickung von Klerikalismus und Nationalismus
dürfte den Regierungen in Berlin und in Straßburg die erste große Enttäuschung
der von ihnen auf die Verfassungsreform gesetzten Hoffnungen gebracht haben.
denn nach der Haltung des deutschen Zentrums während der Verfassungs¬
beratung im Reichstage hatten sie auf eine mehr nationale Entwicklung seiner
reichsländischen Tochterpartei wohl rechnen können.
Die zweite, vielleicht noch schwerere, weil noch weniger erwartete Ent¬
täuschung muß ihnen das Verhalten des elsaß-lothringischen Liberalismus nach
der Einführung der neuen Verfassung bereitet haben. Der reichsländische
Liberalismus, der sich aus der Liberalen Landespartei und den Demokraten
zusammensetzte, war auch vor der Verfassungsreform wesentlich schwächer gewesen
als der Klerikalismus. Dennoch konnte er sich über Nichtberücksichtigung seiner
Wünsche bei der Verfassungsgesetzgebung nicht beklagen. Die elsaß-lothringische
Regierung hatte sich im Laufe der letzten Jahre daran gewöhnt, die Liberale
Landespartei als die zuverlässigste Stütze der deutschen Politik im Lande
zu betrachten. Und mit Recht, denn in der Liberalen Landespartei war sowohl
unter der Führung des Altelsässers Notar Götz, als auch unter der des gleich¬
falls altelsässischen Schriftstellers G. Wolf in nationalen Fragen eine Richtung
verfolgt worden, die zu einer immer inniger werdenden Verständigung zwischen
Einheimischen und Eingewanderten, sowie zwischen dem elsaß-lothringischen und
dem altdeutschen Parteileben führen mußte. Gouvernemental in dem Sinne,
wie es von Gegnern der Partei behauptet wurde, war die Liberale Landes¬
partei nie gewesen, aber sie hatte oft auf der Seite der Regierung gestanden,
wenn Fragen mit nationalem Untergrund von anderer Seite in antideutschem
oder der Entwicklung des Deutschtums schädlichem Geiste behandelt wurden.
Kein Wunder, daß die elsaß-lothringische Negierung bei der Verfassungsreform
bestrebt war, diese Partei nicht zu benachteiligen und manchen ihrer Wünsche
zu erfüllen, der von klerikaler Seite bekämpft wurde. Die elsaß-lothringische
Regierung muß eben in erster Linie deutsch sein und alle Bestrebungen unter¬
stützen, die ihr die Lösung ihrer nationalen Aufgaben erleichtern.
Die Liberale Landespartei war denn auch diejenige politische Organisation
des Landes, die dem neuen Verfassungsgesetz am freundlichsten gegenüberstand
und trotz mancher Kritik im einzelnen die großen Vorzüge des Gesetzes am
offensten anerkannte, da sie in ihm die Erfüllung vieler Forderungen, die aus
ihrer Mitte erhoben worden waren, erblicken durfte. Als natürliche Wirkung
dieser ehrlichen Würdigung der neuen Verfassung hätte man nun die um so
energischere Fortführung der alten Politik der Liberalen Landespartei erwarten
müssen, denn was durch sie erreicht worden war, mußte logischerweise auch
durch sie nutzbar gemacht werden. Und vermutlich wäre die Partei ihren alten
Grundsätzen auch treu geblieben und hätte sich mit ihnen einen stetig zuneh¬
menden Einfluß auf die Politik des Landes gesichert, wenn nicht durch das
neue demokratische Wahlrecht mit einem Schlage das Machtbestreben zum Kern¬
punkt der ganzen reichsländischen Parteipolitik geworden wäre.
Wie das elsaß-lothringische Zentrum zunächst nur das eine Ziel verfolgte,
sich bei den ersten Wahlen zum Landtag die Mehrheit zu sichern, und zu dem
Zwecke alles zusammenfaßte, was sich — gleichgültig, wie es in anderen Dingen
dachte, — uni das klerikale Banner scharen ließ, so stellte auch der Liberalismus
die Frage der parlamentarischen Machterweiterung bald ganz in den Mittelpunkt
seiner Bestrebungen. Bei den Landtagswahlen trat das noch nicht so deutlich
in die Erscheinung, weil sich zur Durchführung dieser Taktik innere Umformungen
in den liberalen Organisationen als notwendig erwiesen, die bis zu den Wahlen
unmöglich bewerkstelligt werden konnten. So focht der reichsländische Libera¬
lismus bei den Landtagswahlen im wesentlichen noch mit der alten Front
gegen Klerikalismus und Nationalismus. Nur hinsichtlich der näheren Bestimmung .
der liberalen Richtung äußerte sich bereits ein starker Zug nach links, der in
erster Linie den demokratischen Kandidaten und Vereinen zustatten kam. Als
die Wahlen dann aber dem mit dein Nationalbund verschwisterten Zentrum
einen über Erwarten großen Erfolg brachten, gingen die liberalen Parteien mit
Eifer an den Neubau ihrer Organisationen.
Zwei Gesichtspunkte wurden dafür maßgebend: das Zentrum hatte mit
cinheinnsch-rationalistischer Hilfe seinen Sieg errungen, folglich mußte auch der
Liberalismus die einheimischen Kreise mehr an sich heranzuziehen suchen, ohne
Rücksicht auf ihre Anschauung in nationalen Fragen zu nehmen; und zweitens
hatte das Schlagwort, die Elsaß-Lothringer seien ihrem ganzen Wesen und
ihrer politischen Tradition nach demokratisch, bei den Wahlen eine gewisse Zug¬
kraft ausgeübt, also mußte in der allgemeine» Richtung der liberalen Politik
eine Demokratisierung eintreten. Mit diesem Programm gingen die Liberale
Landespartei und die demokratische Volkspartei an die Reorganisationsarbeit.
Von beiden war die Liberale Landespartei die bei weitem stärkere. An sich
hätte sie die Demokraten zu sich herüberziehen oder bei einer Verschmelzung
die Grundlagen des neuen Programms liefern müssen. Nach den sür die
Fusionsverhandlungen aufgestellten Grundsätzen war das aber ausgeschlossen,
und tatsächlich kam nach monatelangen Mühen ein neues Parteigebilde zustande,
das weit mehr der alten demokratischen Organisation als der Liberalen Landes¬
partei glich. Es entstand eine Fortschrittspartei mit demokratischen Programm,
aber nicht einheitlich für das ganze Land, sondern geteilt in eine elsässische und
eine lothringische Fortschrittspartei. Diese Trennung mußte um so mehr über¬
raschen, als die alten Parteien, aus denen die Fortschrittsparteien hervor¬
gegangen waren, das ganze Land umsaßt hatten, und als die Reorganisations¬
bewegung gerade mit dem Argument der Vereinheitlichung des elsaß-lothringischen
Parteiwesens und der Zusammenfassung aller liberalen Kräfte begründet worden
war. Dennoch ließ sie sich leicht erklären, wenn man das ganze Fusionswerk
lediglich unter den taktischen Gesichtspunkten betrachtete, die dafür ausschlag'
gebend gewesen waren.
Während im Elsaß gerade von dem demokratisch-radikalen Auftreten der
neuen Partei ein großer Eindruck auf die einheimische Wählerschaft erwartet
wurde, hatte man in Lothringen mehr mit gemäßigt liberalen Elementen zu
rechnen und mußte sich auf absehbare Zeit auch noch viel zu sehr auf das alt¬
deutsche Element der Eingewanderten stützen, als daß man sie einem noch recht
zweifelhaften Zuwachs aus einheimischen Kreisen zu Liebe hätte verstimmen
dürfen. So brachte die Reorganisation des reichsländischen Liberalismus
im Grunde wieder zwei verschiedene Parteien zustande, die noch den großen
Nachteil hatten, regional getrennt zu sein und infolgedessen die gemeinsamen
Landesaufgaben unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten zu betrachten. Formell
wurde zwar eine gewisse Einheitlichkeit hergestellt und auch eine gemeinsame
fortschrittliche Fraktion in der Zweiten Kammer gebildet; aber diese Einheit ist
entweder nur Schein und wird sich dann gegenüber den von einander abweichenden
Spezialforderungen der gemäßigteren Lothringer und der radikaleren Elsässer
nicht behaupten können, oder sie ist, wenigstens für das parlamentarische Wirken
der beiden Parteien eine Tatsache. Dann aber hat die ganze Trennung nur
den einen Sinn, die Lothringer liberale Wählerschaft durch scheinbare Berück¬
sichtigung ihrer gemäßigten politischen Anschauungen für eine Partei zu gewinnen,
die in allen wichtigeren Fällen doch von der radikaleren elsässischen Richtung
beherrscht wird. Und tatsächlich dürfte diese letzte Annahme, die auch den
taktischen Ursachen der ganzen Reorganisationsbewegung besser entspricht, die
zutreffende sein; denn nach den bisherigen Leistungen der fortschrittlichen Fraktion
in der Zweiten Kammer läßt sich von einem mäßigenden Einfluß der Lothringer
Fraktionsmitglieder nicht sprechen. Ob unter diesen Umständen die Gründung
der beiden Fortschrittsparteien auch nur rein taktisch als ein Gewinn gegenüber
dem früheren Zustande bezeichnet werden darf, steht dahin. Auf jeden Fall
aber hat sie die politische Haltung der liberalen elsaß-lothringischen Parteien
wesentlich verschoben und damit auch für die reichsländische Negierung neue
Schwierigkeiten geschaffen.
Es ist absolut nicht nötig und auch nicht einmal zweckmäßig, daß eine
Regierung, wie die elsaß-lothringische, im Landtage eine Partei besitzt, die mit
ihr durch dick und dünn geht. Aber dringend notwendig wäre es für sie,
wenigstens die Gewißheit zu haben, daß sie sich doch in bestimmten nationalen
Fragen auf eine oder mehrere Parteien sicher verlassen und auf eine gerechte
Würdigung ihrer schwierigen Lage bei ihnen rechnen könnte. Das wäre schon
deswegen ein Gewinn, weil dann die Regierung zu einer größeren Stetigkeit
ihrer Politik gezwungen würde, da sie logischerweise die Kritik der in nationalen
Dingen grundsätzlich zuverlässigen Parteien sorgfältig beachten müßte. Bei der
Liberalen Landespartei war die Regierung in dieser Lage, und daraus erklärt
sich ohne weiteres der verhältnismäßig große Einfluß der an Zahl nicht so
großen alten liberalen Partei auf die Gestaltung der Landespolitik und der
neuen Verfassung selbst. Die fortschrittliche Fraktion enthält zweifellos Ab¬
geordnete, die im Sinne der Liberalen Landespartei weiter arbeiten möchten,
aber die Zusammensetzung der neuen fortschrittlichen Parteien bietet keinerlei
Gewähr dafür, daß sie solche Neigungen in die Tat umsetzen können. Denn
wie die radikale Strömung der Elsässischen Fortschrittspartei politisch anti-
gouvernemental sein oder doch sich geben muß, um ihren demokratisch-republi¬
kanischen Freiheitsgeruch nicht einzubüßen, der sie den breiten Wählermassen
angenehm machen soll, so wird der einheimisch-nationalistische Teil der Bevölkerung,
der sich der Partei angeschlossen hat, in nationalen Fragen antigouvernemental
sein, denn seine Ansichten über die nationalen Bedürfnisse des Landes unter¬
scheiden sich von denen der Regierung grundsätzlich. Die fortschrittliche Fraktion
wird daher günstigstenfalls aus Opposition zur klerikalen Mehrheit in nationalen
Fragen gelegentlich auf der Seite der Regierung stehen, in? allgemeinen aber
versuchen müssen, das Zentrum mit Forderungen, denen von rationalistischer
Seite eine gewisse Volkstümlichkeit geschaffen worden ist, zu überbieten. Nur
dann wird sie der Treue ihres neugewonnenen einheimischen Anhangs sicher
sein. Die Besprechung des Falles Grafenstaden in der Zweiten Kammer war
eine Probe aufs Exempel. Hier mußte die fortschrittliche Fraktion mit den
kräftigsten Tönen in das Verdammungsurteil gegen die Regierung einstimmen,
weil ihr sonst ihre sämtlichen neuen Freunde aus der elsässischen Bourgeoisie
wieder weggelaufen und der ganze Erfolg der Parteiumformung hinfällig
geworden wäre.
Unter diesen Umständen steht die elsaß - lothringische Regierung in der
Zweiten Kammer buchstäblich allein. Sie wird sich im einen oder im anderen
Falle eine Mehrheit verschaffen können, wird aber immer befürchten müssen,
mit der gesamten Kammer in Konflikt zu geraten, sobald Gesetzentwürfe von
nationaler Bedeutung zur Beratung kommen, zumal sie bei der sozialdemokra¬
tischen Fraktion selbstverständlich keine Unterstützung finden würde.
Es hat sich also durch die Verfassungsreform, oder, richtiger gesagt, durch
die Einführung des neuen Wahlgesetzes gerade für diejenige elsaß-lothringische
Regierung, die von allen, die bisher am Ruder waren, bei weitem am meisten
zur Erfüllung der Volkswünsche beigetragen hat, eine überaus schwierige Lage
ergeben, und es ist kein Wunder, daß man heute von ihr behauptet, sie hoffe
ihre Lage dadurch zu erleichtern, daß sie durch Nachgiebigkeit in konfessionellen
Dingen das Zentrum in allgemein politischen und nationalen Fragen gefügiger
zu machen sucht. Diese Behauptung, deren Richtigkeit freilich erst noch zu
beweisen wäre, zeigt, daß man in nichtklerikalen Kreisen selbst das Gefühl hat,
die Regierung zu Handlungen gedrängt zu haben, deretwegen man sie natürlich
wiederum angreifen müßte. Sie zeigt aber auch, daß man im Volke den par¬
lamentarischen Faktor, auf den sich die Regierung allenfalls stützen könnte, die
Erste Kammer, heute schon als quantitö nöZIiAsabls betrachtet, obwohl seine
Gleichberechtigung durch das Verfassungsgesetz gewährleistet ist.
An dieser Zurückdrängung der Ersten Kammer trägt die Regierung selbst
viel Schuld. Sie hätte der Ersten Kammer unter allen Umständen gleich zu
Beginn der Session eine der großen Vorlagen, die in der „Thronrede" an¬
gekündigt worden waren, übergeben müssen, statt der Forderung der Zweiten
Kammer, diese zu bevorzugen, so bereitwillig nachzukommen. So ist man über
das, was die Erste Kammer zu leisten vermag, heute noch ganz im Unklaren
und muß befürchten, daß sie sich in: Falle eines Konfliktes mit der Zweiten
Kammer aus ihrer Aschenbrödelstellung selbst nicht mehr herauswagt. Dabei
würde die größere Unabhängigkeit, welche die Erste Kammer schon deswegen
besitzt, weil ihre Mitglieder nicht in derselben Weise wie die der Zweiten sich
jeder Stimmungsnnance bestimmter Wählerkreise anzupassen brauchen, sie gerade
zur objektiven Beratung solcher Gesetzentwürfe wie der Beamten- und Lehrer-
bcsoldungsvorlage besonders befähigt haben. Statt aber der Ersten Kammer
ihre verfassungsmäßigen Rechte von vornherein in vollem Umfange zukommen
zu lassen, der Zweiten Kammer dadurch die Grenzen ihrer Macht zu zeigen und
in der Bevölkerung die Erkenntnis zu wecken, daß sie mit der Förderung einer
allzu radikalen und antigouvernementalen Stimmung in der Zweiten Kammer
ihre eigenen Interessen in keiner Weise fördert, hat die Negierung ihre ganze
Aufmerksamkeit der Zweiten Kammer zugewandt und deren Bedeutung für
die Wählerschaft noch künstlich erhöht mit dem Erfolge, daß die Mehrheit der
Zweiten Kammer der Negierung ihren Willen aufzwingen zu können meint und
die Regierung sich tatsächlich in einer wenig beneidenswerten Lage befindet.
Diese ungünstigen Wirkungen der Verfassungs- und Wahlrechtsreform waren
nicht vorauszusehen. Nachdem sie aber eingetreten waren, mußte versucht werden,
sie wieder zu beseitigen oder doch abzuschwächen. Und wie die Verkehrung der
erhofften günstigen Folgen der Reform in das Gegenteil aus dem parteipolitischer
Leben des Landes hervorgegangen war, so mußte auch das Mittel, die neue
Verfassung in gesünderer Weise dem Lande nutzbar zu machen, in partei¬
politischer Maßnahmen gefunden werden. Den unmittelbaren Anstoß, eine neue
Partei in Elsaß - Lothringen zu gründen, gab das Eingehen der Liberalen
Landespartei und die Bildung der demokratischen Eisässischen Fortschrittspartei.
In dieser Organisation war für den gemäßigten Liberalismus, der in der
Landespartei eine, wie kaum bestritten werden kann, sehr eifrige und nutz¬
bringende Tätigkeit entfaltet hatte, kein Platz mehr. Und noch viel weniger
konnten sich ihr die freikonservatioen Kreise anschließen, die der Liberalen
Landespartei gern Wahlhilfe geleistet hatten. Aus all diesen heimatlos gewordenen
Alt- und Neu-Elsässern bildete sich vor ein paar Monaten unter heftigen Aus¬
einandersetzungen mit der Elsässischen Fortschrittspartei eine Elsaß-Lothringische
Mittelpartei. Sie will im Gegensatz zu den anderen Parteien, die auf
nationalistische und demokratische Strömungen Rücksicht nehmen und sich
daher hnperpartikularistisch geben müssen, besonders auch den großen natio¬
nalen Aufgaben des Reiches ihre Aufmerksamkeit zuwenden, den engen
Zusammenhang zwischen Elsaß - Lothringen und dem Reiche pflegen und
den Ausbau der staatsrechtlichen Selbständigkeit des Landes auf monarchischer
Grundlage fördern. Als eine deutsch-elsaß-lothringische Partei der niittleren
Linie wendet sie sich mit Entschiedenheit gegen Nationalisten, Sozial-
demokraten und ausgesprochen reaktionäre Bestrebungen. Sie will weder
gouvernemental noch antigouvernemental sein, sondern wird die Regierung ohne
Rücksicht auf demagogische Umtriebe überall unterstützen, wo sie ihre Pflicht als
deutsche und als elsaß-lothringische Regierung tut. Sie wird ihr aber auch
mit allem Nachdruck entgegentreten, wenn sie sich in großen oder in kleinen Dingen
von den Bahnen abdrängen lassen sollte, die ihr sowohl durch die bundesstaat¬
liche Selbständigkeit des Landes, wie auch durch ihren Charakter als deutsche
Negierung vorgezeichnet sind.
Einstweilen steht die neue Partei noch in ihren Anfängen. Aber schon ihr
Erscheinen hat dazu beigetragen, daß manche extreme Forderung der radikalen
Richtung mit beschwichtigenden Erklärungen beiseite geschoben wurde. Die
Gegner bezeichnen sie als totgeborenes Unternehmen, bekämpfen sie aber mit
Waffen, die man nur einem Feinde gegenüber anwendet, den man fürchtet.
Man weiß, daß die Elsaß-Lothringische Mittelpartei tatsächlich nur da einsetzen
will, wo die natürliche Parteientwicklung nach der Verfassungsreform aus tak¬
tischen Rücksichten gewaltsam abgebrochen wurde, und daß sie ein durchaus
logisches Ergebnis der Verfassungsreform und ihrer politischen Wirkungen ist.
Und das ist vielleicht das Erfreulichste in der ganzen einjährigen Entwicklung
Elsaß-Lothringens unter der neuen Verfassung, daß sich endlich Männer gefunden
haben, die in offener politischer Wirksamkeit die Bahnen einschlagen wollen, die
schließlich allein zum Ausgleich der zwischen Elsaß-Lothringen und dem Reich
noch bestehenden Gegensätze und damit auch zur endgültigen Überwindung des
Nationalitütenhaders im Lande selbst führen können.
ährend die klassischen Sprachen in anderen europäischen Ländern
entweder vom Lehrplan der höheren Schulen ganz verschwunden
sind, oder infolge starker Verminderung der ihnen gewidmeten Lehr¬
stunden nur noch ein Schattendasein führen, oder endlich unter
dem Zugeständnis mehr oder weniger schrankenloser Freiheit in
der Wahl des Studienganges starke Einbußen an Interessenten erlitten haben,
bilden sie in Deutschland noch immer auf der guten Hälfte seiner höheren
Lehranstalten das Kernstück des Unterrichts. Und selbst in Preußen, das im
Anfange des Jahrhunderts dem Gymnasium sein Privileg, alleinige Vor¬
bereitungsstätte für die Hochschule zu sein, nahm, stehen auch noch etwa drei-
hundertsiebzig alte „Gelehrtenschulen" vierhundertfünfzig Anstalten realistischen
Charakters gegenüber. Dies Verhältnis befriedigt aber die Verfechter eines
neuen Bildungsideals, mit dem sie nach homöopathischen Rezept die Schäden
der Zeit kurieren zu können hoffen, so wenig, daß der Kampf um das Monopol
des Gymnasiums jetzt zu einem Kampf um seine Existenz geworden ist. In
diesem Kampfe sind uns „Bremsern" unter anderem auch außerhalb unseres
Vaterlandes wertvolle Bundesgenossen erstanden. Nicht nur, daß jede durch
Majoritätsbeschlüsse herbeigeführte politische, soziale, wirtschaftliche Maßregel
allerorten ihre überzeugten Gegner behält, es sind, trotzdem die Wirkungen
einer anderen Orientierung in Erziehungsfragen sich nicht sofort und allgemein
bemerkbar machen und festgestellt werden können, in einigen der den klassischen
Studien untreu gewordenen Ländern früher als zu denken war so unerwartete
und nachdrückliche Proteste gegen die neue Schule und Rufe nach der auf¬
gegebenen alten erhoben worden, daß sie nicht bloßem Widerspruchsgeist und
kultureller Rückständigkeit entstammen können. Ausgehend von der Verwilderung
des französischen Stils, der Verflachung der allgemeinen Bildung und dem zu¬
nehmenden Mangel an Klarheit und Schärfe des Denkens und Ausdrucks haben
in den letzten Jahren nicht nur französische Schriftsteller, Gelehrte und Studenten,
fondern auch Großindustrielle nicht aufgehört, auf eine Revision der Lehr¬
pläne von 1902 zugunsten eines kräftigeren Betriebs der klassischen Sprachen
zu dringen, und bezeichnend ist, daß soeben in der Educational Review eine
Stimme aus England, wo man neuerdings gegen die die Kenntnis des Lateinischen
und Griechischen fordernden Ausnahmebedingungen der Universitäten Oxford und
Cambridge Sturm läuft, warnend auf den „Schiffbruch, den Frankreich bei dem
Experiment der praktischen Erziehung erlitten habe", hinweist: „seine Jugend
in Arkadien verbracht zu haben," lesen wir da, „ist die beste Vorbereitung selbst
für einen künftigen Hüttenbesitzer."
Eine auf den ersten Blick viel auffallendere Bewegung für eine intensivere
und ausgedehntere Berücksichtigung des Humanismus als Bildungsfaktors hat
aber seit einigen Jahren in Amerika eingesetzt, also gerade dem Lande, das
den alten Kulturvölkern den Namen für eine materialistische Lebensauffassung
hergeliehen hat, einem Lande ohne solche jahrtausendalte Tradition, wie sie
nach Meinung unserer pädagogischen Amokläufer bei uns träge, zähe und vor¬
urteilsvolle Feinde jeglichen Fortschritts erzieht.
Seit 1906 hat die Universität Ann-Arbor, Michigan, alljährlich sogenannte
Symposien, d. h. Diskussionen, über den Wert des Humanismus, insbesondere
des Studiums der klassischen Sprachen für die verschiedenen Berufe veranstaltet:
Mediziner, Ingenieure, Juristen, Theologen, Kaufleute, Professoren der philo¬
sophischen Fakultät sind der Reihe nach zu Worte gekommen. Eine Gesamt¬
publikation dieser Symposien, vermehrt uni Meinungsäußerungen anderer her¬
vorragender Männer des öffentlichen Lebens, hat 1911 ihr Organisator W. Kelsey
in New Aork erscheinen lassen: aus dieser in pädagogischer Hinsicht überhaupt
wie für das amerikanische Geistesleben insbesondere hochbedeutsamen Sammlung
möchten wir unseren Lesern — und unseren Gegnern — eine Blütenlese von
Gedanken vorsetzen; nur die Theologen übergehen wir, weil die Notwendigkeit ihrer
klassischen Vorbildung bei uns nur erst ganz vereinzelt bezweifelt worden ist.
Wir beginnen mit klassischen Philologen und Philosophen, deren Stellung
zu der Frage am begreiflichsten ist. Die große Masse in Amerika ist ver¬
materialisiert, aber unter den Denkenden macht sich eine Reaktion zugunsten des
Humanismus geltend: sie sehen mit Besorgnis die Scheu der Studierenden, die
angeblich schwierigen oder nutzlosen alten Sprachen für ihre Allgemeinbildung zu
treiben. Wer darüber klagt, daß er später lateinische und griechische Texte nicht
mehr lesen könne, vergißt, daß er auch viel anderes Schulwissen mit der Zeit
eingebüßt hat. Zu erziehlichen Zwecken sind aber die Originale der Über¬
setzungen vorzuziehen. Unzweifelhaft insonderheit ist der Wert der klassischen
Sprachen, wenn es sich um Interpretation fremder Gedanken handelt. Gelehr¬
samkeit, Wissen, Originalität, Beredsamkeit, Genie können auch ohne klassische
Bildung bestehen; kritischer Sinn und richtiges Gefühl für die Relativität der
Wortbedeutung selten oder nie. Nichtberufliche Erziehung ist zu allen Zeiten
literarisch und sprachlich gewesen, beruhend auf einer klassischen Literatur. Die
Griechen bilden nur eine scheinbare Ausnahme: sie studierten Homer und ihre
älteren Klassiker, um ihren Geist zu bilden, nicht um sich zu unterrichten. Die
antiken Klassiker müssen einen Platz in der höheren Erziehung behaupten, der
ihrer Bedeutung für unsere gesamte Kultur entspricht: man kann sie nicht auf
das Niveau einer gelehrten Spezialität hinabdrücken, ohne unfere Bildung zu
entmannen und unsere Kultur ärmer zu machen. Angriffe gegen sie entspringen
der Auflehnung gegen Disziplin und schwierigere Arbeit, dem Verlangen nach
schnellen Nützlichkeitsergebnissen und dem Aufgehen im Kulte des Modernen.
Solche Bundesgenossen sind auch für die Naturwissenschaftler gefährlich, und
auch für die Neusprachler: für den „praktischen" Menschen sind Corneille und
Lessing ebenso tot wie Homer und Aristoteles. Die klassischen Studien sind das
unentbehrliche Fundament für jegliche historische und literarische Gelehrsamkeit
an der Universität, der Schlüssel für die letzten vierhundert Jahre unserer Kultur.
Ein gewisser Prozentsatz der Gebildeten wenigstens muß sie getrieben haben.
Wenn, der zehnjährige Unterricht mäßige Erfolge hat, so liegt das am Unter¬
richt, nicht an den klassischen Sprachen (Shorev, Univ. Chicago). Man sollte
nicht zuerst an den künftigen Beruf denken, sondern vor allem daran, den
Menschen zu bilden; des Menschen Erziehung ist des Menschen Gericht. Dazu
aber sind die klassischen Studien die beste Vorbereitung: es scheint unvermeidlich,
daß wir, wenn wir erst zu einer gesunden Auffassung der Erziehungsfragen
zurückgekehrt sind, ein Wiederaufleben der klassischen Studien als eine wesentliche
Begleiterscheinung dieser Rückkehr erleben werden. Freilich sollten Nicht¬
Philologen unter geringerer Betonung alles Formalistischen in sie eingeführt
werden (Wenley, Univ. Ann-Arbor).
Hören wir nunmehr Mediziner. Die Erlernung der klassischen Sprachen ist
schwierig und schließt Leichtfertigkeit und Oberflächlichkeit aus: dafür schärfen
sie die Beobachtung und fördern die Beweglichkeit des Geistes — beides unschätz¬
bare Eigenschaften für den künftigen Arzt. Auch für das Verständnis der
zahlreichen dem Lateinischen und Griechischen entlehnten Fachausdrücke sind sie
unentbehrlich; unzweckmäßig wäre es, Rezepte in der Landessprache statt in der
ärztlichen Weltsprache zu schreiben. Allerdings soll die Vorbildung des Arztes
nicht auf die beiden alten Sprachen beschränkt bleiben (Vaughan, Universität
Michigan). Der Student, der außer den Bildungselementen, die mit seinem
erwählten Berufe in notwendigen! Zusammenhange stehen, sich noch weitere
Bildungsvorzüge angeeignet hat, ist am besten vorbereitet, nicht nur für das
Leben, fondern auch, um einen biologischen Ausdruck zu gebrauchen, für seine
Spezialisierung. Solche Vorbereitung begreift den humanistischen Unterricht
notwendig in sich — sonst kommen wir zu dem Ideal des gewöhnlichen auf
Routine beruhenden Geschäftserfolges. Der Arzt muß Tugenden, Laster, Be¬
dürfnisse seiner Umgebung verstehen, die menschliche Natur kennen, historische
Kenntnis der politischen Einrichtungen besitzen: zu all dem hilft ihm das Studium
des klassischen Altertums. Der wahrhaft gebildete Arzt ist größer als sein
Beruf. Auch seine freie Zeit muß er würdig ausfüllen können: er kann es mit
den unvergänglichen Werken der Alten. Geeignete Lehrer müssen die Studierenden
dazu anregen und dafür begeistern (Hinsdale, ebenda).
Die Vortragenden mit juristischer Bildung waren meist Rechtsanwälte, also
Männer der Praxis. Das Recht ist ein praktischer Gegenstand, aber zugleich
eine Wissenschaft, deren Beherrschung eine über das Gewöhnliche hinausgehende
geistige Ausrüstung erfordert. Niemand kann als Student dieses Faches auf
viel Erfolg rechnen shne angemessene allgemeine Vorbildung, und niemand in
der Ausübung dieser Kunst, ohne für intellektuellen Wettbewerb der schärfsten
Art geschult zu sein. Schnell nutz er sich in eine fremde Materie hineinfinden,
sich unter Umständen fremde Arbeit aneignen können. Um solche Fähigkeiten
zu fördern, muß der Unterricht ausdauernde Anstrengung vom Schüler bean¬
spruchen: diese erwirbt er am sichersten durch mathematische Studien und eine
gründliche klassische Vorbildung. Der Anwalt muß die Sprache in der Gewalt
haben und schnell Bedeutungsschattierungen erfassen: das Studium der Klassiker
verleiht ihm auch Leichtigkeit im Gebrauch des ohne Latein nicht gründlich zu
beherrschenden Englisch. Ein klar formulierter Fall ist halb gewonnen. Freilich
sollten dem Anwalt auch Deutsch und Französisch geläufig sein (Hatchins, Univ.
Michigan). Ein gesundes Urteil spielt bei der konsultativen und prozessualer
Tätigkeit des Urwalds die erste Rolle: dazu leiten ihn eine genaue Schriftsteller¬
interpretation, wie sie die alten Sprachen fordern, und philosophische Studien
an, die aber jener als Grundlage bedürfen. Dazu kommt, daß die juristische
Terminologie reich an Latinismen ist und das römische Recht dem unsern
zugrunde liegt. In den alten Klassikern haben wir eine lange Reihe erprobter
vorbildlicher Schriftsteller, während das laut angepriesene Neue eine sichere
Auswahl verlangt; jene verleihen reiche Geistesbildung und halten uns in stetem
Zusammenhange mit den großen Geistern aller Zeiten (Starr, Rechtsanwalt,
Chicago). Mehr als moderne Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften
gibt der klassische Unterricht dem zukünftigen Anwalt, der mit geisteinengenden
Interessen zu tun hat, Weite des Blicks und generalisierendes Denken in mensch¬
lichen Angelegenheiten. Die alten Sprachen haben vor den fließenden, oft
nachlässige Wendungen gebrauchenden modernen den Vorzug der Regelmäßigkeit
und Unveränderlichkeit, wenden sich mehr als jene an den Verstand als an das
Gefühl, fördern die Kenntnis des Englischen, dem sie so viel Lehnworte geliefert
haben, und vermitteln endlich die Kenntnis des römischen Rechts, nach dem in
fast allen Staaten der Union und in England Deszendenz und Erbschaftsrecht
beurteilt werden. So unleugbar die Bedeutung der Mathematik ist, so geben
doch Sprachen und Literatur, indem sie die Beziehungen nicht nur der Zahlen,
sondern auch des Lebens und die Gesetze der Lebensführung zum Ausdruck
bringen, einen weiteren Blick als die Mathematik. Wohl schärfen die Natur¬
wissenschaften die Beobachtung und übermitteln ein wertvolles Wissen, aber
naturwissenschaftliche Schulung entwickelt nicht das Vermögen zur Ableitung
abstrakter Lebensregeln, weil dort das sinnliche Interesse das Denkinteresse
überwiegt. Die Bestimmung des Sinnes von Gesetzestexten ist eine der praktisch
wichtigsten Ausgaben des Rechtsgelehrten: darin übt er sich am besten durch
Interpretation der Klassiker (Evans, Rechtsanwalt, Chicago).
Wir kommen zu den Ingenieuren. Für die Berufsbildung des Ingenieurs
ist in Amerika viel geschrieben und viel getan, aber wenig für seine allgemeine
Bildung. Wie auf anderen gelehrten Gebieten herrscht in der Abteilung für
Jngenieurwissenschaft der Militärische Geist vor. Heutzutage tauchen für den
Ingenieur Probleme auf, die zu ihrer Lösung mehr als praktische Erfahrung
verlangen: man fragt jetzt nach gebildeten Männern. Der Ingenieur hat den
Kommunen gegenüber eine schwere Verantwortung; mit allerlei Volk muß er
auszukommen verstehen; er braucht Bestimmtheit des Denkens, Klarheit des
Ausdrucks: alles lernt er durch die Humaniora. Die Hälfte der Zeit, die das
Englische jetzt im Lehrplan beansprucht, würde man mit Gewinn für das
Lateinische verwenden, ja auch nur zwei Jahre Lateinstudium sind schließlich
besser als nichts (Satler, Professor der Marineingenieurkunde, Michigan). Der
Ingenieur muß Wissenschaftler sein, er muß nicht nur wissen „wie?", sondern
auch „warum?"; er muß ein Meister der Sprache sein: Englisch kann man
aber nur verstehen, wenn man Latein kann. Man studiert dies natürlich nicht,
um es zu sprechen: seinen Bau will man kennen lernen und mit seiner Hilfe
den der Muttersprache, Fülle und Leichtigkeit des Ausdrucks. Freilich tüchtige
Arbeit sollen die jungen Leute auf den Colleges lernen: aber sie möchten dort
gepäppelt werden und nicht selbständig eindringen. Auf die Tatsachen kommt
es weniger an als darauf, den Geist des Schülers zu entwickeln und richtung-
gebend zu beeinflussen (Williams, Prof. der Jngenieurkunde, Univ. Michigan).
Die mathematisch-naturwissenschaftliche Ausbildung ist nicht, wie H. Spencer
will, die einzig wertvolle Ausbildung; die in den humanistischen Fächern nicht,
wie derselbe behauptet, ein engherziges Vorurteil. Um uns auf das Lateinische
zu beschränken — „denn meine Söhne sollen auch Griechisch lernen" —, so
hat es einen bedeutenden Wert für die geistige Schulung, bietet die unumgäng¬
liche Grundlage für das Erlernen moderner fremder Sprachen, die der Ingenieur
kennen muß, um die Fortschritte seiner Wissenschaft in anderen Ländern zu
verfolgen, und lehrt ihn endlich ein Mensch unter Menschen zu sein. Lieber
sechs Jahre Latein, als andere nützliche Studien, wie Orthographie-, Physiologie-
und Patriotismuskurse (Patterson, wie oben).
Endlich lassen wir die men o5 atfail-8, die Männer des praktischen Lebens,
zu Worte kommen. Für junge Leute, die im Geschäftsleben, in der Finanz¬
wirtschaft und im Staatsleben, mit einem Wort im praktischen Leben eine
leitende Stellung einnehmen wollen, sind Studien vorzuziehen, die ihn den
Menschen genau kennen lehren: im klassischen Unterricht aber studieren wir die
Humanität in einer konkreten Offenbarung, in üppigem Reichtum, in der Mannig¬
faltigkeit geistiger Vollendung. Das dort dargestellte reife und doch jugendlich
frische Leben bildet die Grundlagen, auf denen unsere Zivilisation und Kultur
erbaut sind: unsere Jurisprudenz geht aus griechische und römische Rechts¬
anschauungen zurück, unsere Philosophen knüpfen noch an Sokrates, Platon und
Aristoteles an, die Formen unserer Literatur stammen von Dichtern, Rednern
und Historikern Roms und Griechenlands. Und es gibt keinen wirkungsvolleren
Weg, diese Quellen zu studieren, als den, sie in der Ursprache zu lesen: die
Schwierigkeit der alten Sprachen erhöht ihren Wert als Unterrichtsgegenstand.
Mag man Einzelheiten wieder vergessen — die Wirkung dieses Studiums auf
die Geistesentwicklung, auf Welt- und Menschenkenntnis, auf die Erhebung der
Seele ist unverlierbar, ein Teil des Wesens des Studierenden geworden
(Williams, Herausgeber der Jndianopolis News). Klassische Erziehung ist ein
entschiedener Vorzug sür einen Geschäftsmann. Sein Tagewerk ist prosaisch,
die Männer, mit denen er zu tun hat, sind in der Regel von wenig oder gar
keiner Schulung; die Geschäftsgrundsätze, denen er begegnet, sind nicht immer in
Übereinstimmung mit den von ihm früher gewonnenen Ideen von Ehrenhaftigkeit.
Überall gibt es da nicht viel Kunst oder Poesie; und wenn er nicht einen Hinter¬
grund seines Lebens und Denkens hat, so eine nicht versiegende Quelle von
ruhiger Behaglichkeit und Lebensfreude, wie sie eine klassische Erziehung ihm
gewähren kann, so wird sein Leben ein leeres, nichtiges Ding sein, während
Geschäftssorgen und Geschäftserfolge so überwiegend auf ihn wirken werden,
daß der Mensch ganz in ihnen aufgeht. Ein an den Klassikern gebildeter
Geschäftsmann wird sich mit Verehrung und Liebe an jene geduldigen Männer
erinnern, die ihn Latein und Griechisch lehrten und in ihm eine Liebe für das
Schöne erweckten: solche Männer, mit Idealen erfüllt, trifft er vielleicht nie
mehr an in seinem täglichen Beruf. Mag er sogar die Namen der in der
Klasse gelesenen alten Autoren vergessen, die Erinnerung an jene Tage und jene
Männer hat ihre Wirkung auf den Menschen selbst geübt: er ist dadurch besser
geworden, auch ein besserer Geschäftsmann (Sloaned, Großkaufmann, New
Uork). Daß eine klassische Erziehung eine ausgezeichnete Vorbereitung für das
Geschäftsleben sei, ist mir immer als ein von selbst einleuchtender Satz erschienen.
An der auch in Europa beklagten Mißachtung der alten Sprachen ist zum Teil
ihr trockener und grammatistischer Betrieb schuld: der menschliche und ästhetische
Wert der klassischen Literatur sollte von den Lehrern mehr betont werden. Der
Sinn für die ewige Schönheit der Alten tut unserer Jugend not, die nicht das
„Erkenne dich selbst", sondern „Mache Geld", „Habe Erfolg", „Überflügle
Krösus" zu ihrem Wahlspruche macht. Die gegenwärtige laxe Jugenderziehung,
die zur Autoritäts- und Arbeitsscheu geführt hat, benötigt der Zucht des Klassi¬
zismus. Der künftige Beruf kommt erst in zweiter Linie; Fachschulen sind im
Überfluß da, und doch entwickelt sich der Geschäftsmann erst im Geschäft selbst,
während der Nutzen der Theorie sehr problematisch ist. Da liegt eineVerkennung des
wahren Zwecks der Ausbildung. Wir brauchen Ideale in unserem Lande! Das
innere Leben kommt zu kurz. Glücklich der Geschäftsmann, der, nachdem er zu
erwünschtem Wohlstande gelangt ist, für etwas mehr als Golf, Tennis und Spieltisch
Interesse hat, und dem sein Sophokles, sein Homer und sein Catull den Winter
seines Lebens zum Frühling machen (Loch, ehemaliger Großkaufmann in New Uork).
Hiermit schließen wir unsere mosaikartig aneinander gereihten Zitate. Wir
haben uns öfter auf die Folgerungen beschränken müssen und die Begründung
weggelassen, aber nicht selten hat sich auch schon der Redner nur auf den Aus¬
druck seiner Überzeugung beschränkt: und die scheint uns bei Männern, die
intelligent, lebenskundig und aller Schwärmerei abhold sind, für unsere Zwecke
beweiskräftig genug zu sein. Es kam uns darauf an, zu zeigen, welche geistigen
Strömungen weite Kreise des als rein erfolganbetend verschrienen Dollarlandes
beherrschen. Daß man nicht — auch der Humanist nicht — jede hier geäußerte
Ansicht unterschreiben, jeden Vorschlag ohne weiteres auf unsere Verhältnisse
übertragen kann, versteht sich von selbst — aber dem ewigen Exemplifizieren
unserer Modernen auf das Ausland schieben solche Stimmen, wie sie von dort
drüben ertönen, doch wohl einen Riegel vor und warnen vor leichtsinniger
Preisgabe inkommensurabler Werte, deren eine Fülle auch das klassische Altertum,
la Sinne antiquit6, wie sie Voltaire nennt, uns noch heute darreichen kann.
Bezeichnend für diese amerikanischen Verteidiger des klassischen Altertums ist,
daß sie praktische Gesichtspunkte in den Vordergrund stellen und die Denken und
Sprechen disziplinierende Kraft der alten Sprachen hervorheben, d. h. die formale
Bildung, die bei unseren Reformern mitleidiges Lächeln erregt — und daß
gerade die Geschäftsleute bei den moralischen und ästhetischen Wirkungen des
Klassizismus mit Vorliebe verweilen.
Die viere, zu denen er gehen, deren Dienste er erbitten soll, gehören zu den
Dorfrohlingen, mit deren Namen man die ungezogenen Kinder schreckt. Kerle, die
in alle Messerstechereien verwickelt sind, die in hellen Mondnächten des Winters
auf verbotene Jagd gehen und dem Baron, der die ergiebige Spelzheimer Jagd
gepachtet hat, die Fasanen wegschießen, worüber die Bauern aber nicht gerade sehr
böse sind, weil die Fasanen ihnen heillosen Schaden an den jungen Gurkenkulturen
anrichten. Die Familien der viere zählt man, um es kurz und mit einem Wort
zu sagen, zu den geborenen Gaunern. Und in ihre Wohnwinkel muß Karl. Da
es schon ein wenig spät ist, fürchtet er, sie nicht mehr anzutreffen. Dann müßte
er sie in den Wirtschaften suchen. Aber es zeigt sich, daß seine Vermutung un¬
begründet ist. Er trifft sie alle. Sommers arbeiten sie an der Dreschmaschine.
Das ist eine schwere Arbeit, bei der selbst ein Dorfrowdie recht müde wird.
Der Büttner-Karl ist gerade dabei, sich den Staub vom Leibe zu waschen.
Er hat das Hemd bis in die Hüften heruntergestreift und steht vor einem großen
Kübel Wasser. Er puddelt darin, plustert, schneuzt und brüllt dann:
„Schossefine, du Mensch, geb mer mol e Handtuch edel, daß ich mich
abdrückele kann!"
Er hat nicht umgeschaut, als er Tritte hinter sich hörte, und glaubt, seine
Frau stehe hinter ihm. Als er eine fremde Stimme hört, dreht er sich herum.
„Ich bin's, 's Schmied Salzers KarlI"
Da fährt der Halbnackte herum, schlüpft in sein Hemd, ohne sich abgetrocknet
zu haben, schnallt den Gürtel um die Hosen und sagt:
„Kassenrechnersbesuch! Dunnerkeil noch emol und in die Händ gespaukt, das
passiert uns arme Leut net jeden Tag!"
Schon beim ersten Wort ist der Bursche zusammengezuckt und abwechselnd
weiß und rot geworden. Der Büttner-Karl bemerkt das:
„Brauchscht net zu verschrecke, Börsch! Mir sort Leut tun dir nix! Weißt,
uns Hot dein Vater nix gestohle, mir denn selwer nix! Aber 's Hot garnix zu
sage, daß es jetzert auch mol en große Spitzbub im Dorf geben Hot. Unsereiner
nimmt sich emol eine Klanigkeit, und dann nennen das die dreckige Bauere gleich
stehle. Jetzert sehen sie wenigstens emol, was stehle eigentlich ist, und sind
hoffentlich von jetzert ab net mehr hinter uns her wie der Teifel hinter einer
arme Seell"
Und so fühlt der Sohn des Selbstmörders, daß man den Namen seines
Vaters gleich und noch tiefer stellt als die niedrigsten Existenzen im Dorfe. Ein
Zorn wallt in ihm auf, aber er hat doch so viel Selbstbeherrschung, sich klar zu
machen, daß er hier schweigen müsse, wenn er zu seinem Ziele kommen wolle.
Eben fragt der Büttner-Karl:
„Na, mol davon gered: was hosche auf dem Herz?"
Da sagt der Bursche, weshalb er gekommen ist.
„Haw ich mir's net gleich gedenkt I" ruft der andere dazwischen, „baw ich
mir's net gleich gedenkt! Gell, wann de Pass net will un seine getreue Schofs-
köpp, do sin mir gut genung?!"
„Es wird net von euch verlangt, daß ihr's umsonst tutt" erwidert Karl.
„Was verlangst du?"
„Na, zwaa Mark kriejen sunscht die Sargträjer. Halten mer's auch so; awwer
bei rer Kundschaft our eurer sort, muß ich mir schun aushalte, daß de Lohn im
voraus bezahlt werd!"
Karl legt, von diesen Worten auf tiefste getroffen, ein Zweimarkstück auf den
Tisch und sagt nur noch:
„Also heunt Abend um Elfe, daß wir uns drauf verlassen können!"
Dann verläßt er das Zimmer und begibt sich zu den anderen.
Wie er bei dem Mandietz-Philipp durch die offene Tür tritt, liest der gerade
seiner alten Mutter mit stockender Stimme aus der Zeitung vor; der Nagel des
rechten Zeigefingers fährt die Zeilen nach. Karl hört: ... bedeutende Unterschleife;
die Tochter ist über die Tat des Vaters irrsinnig geworden...
Da weiß er, von wem die Rede ist.
Es ist schon dunkel, als er heimkommt. Tante Seelchen hat als Nachtessen
Kaffee gekocht; sie sagt:
„Da hab ich einen guten Kaffee gekocht, Bub! Trink, das tut dir gut. Es
steht dir noch genung bevor heunt Abend, und du darfst net gleich klagen über
das, was die schrohe Kerls zu dir gesagt denn. Du wirst noch manches hören
müssen, bis sich das mal ein Bißchen vergessen hat, oder bis was Neues passiert,
wo die Menschen sich drüber aufhalten können!"
Die beiden schlürfen den Kaffee, essen Butterbrot dazu und reden nichts.
Erst als Tante Seelchen die Tassen in heißem Wasser ausspült, fragt Karl:
„Sag mal, Tante Seelchen, was wird denn jetzert eigentlich aus dir?"
Da antwortet sie, daß die Pfeddersheimer Konservenfabrik Arbeiterinnen zu
dauernder Beschäftigung suche, und da wolle sie hingehen; ganz nach Pfedders-
heim wolle sie ziehen. Denn eS wäre ihr doch lieber, wenn sie den Spelzheimern
ganz aus den Augen wäre. Wenn sie diesen Schicksalsschlag auch in Geduld er¬
tragen wolle, so sähe sie doch nicht ein, weshalb sie den boshaften Menschen zum
Gespötte da herumlaufen solle.
Wie Tante Seelchen das sagt, wankt Karls Festigkeit.
„Tante Seelchen, das sagst du?? Und gestern hast du mir noch Mut zu¬
gesprochen II"
Da merkt die Jungfer, was sie dem Burschen ist: eine Stütze, die nicht
brechen darf, wenn er aufrecht stehen soll. Sie sagt:
„Bub, versteh mich net falsch I Ich geh fort von Spelzheim, weil ich in
Pfeddersheim mein Brot leichter verdienen kann. Du mußt dran denken, lieber
Karl, daß ich net mehr jung bei Jahren bin und Tag für Tag älter werde. Und
in der Fabrik verdien ich mein Geld leichter, als wenn ich mit den Bauern als
Taglöhnerin bei Wind und Wetter drauß auf dem Acker steh, was ich zudem
garnet mehr so gewöhnt bin. Ich miet mir drüben in Pfeddersheim eine Slud,
wo ich meine paar Habseligkeiten einstell, und so werd ich mein Tagwerk zu Ende
bringen!"
Karl stellt sich das so vor, wie er seiner Tante Gesicht nicht mehr sehen und
ihre Stimme nicht mehr hören wird, und noch ehe sie fort ist, quillt schon das
Heimweh nach ihr in ihm auf; er sagt:
„Aber, Tante Seelchen, da sehen wir uns ja garnet mehr!"
„Als ob Spelzheim und Pfeddersheim eine Welt weit auseinander täten
liegen!" erwidert sie. „Vielleicht darfst du vom Vetter Holtner aus mein Bißjen
Möbel nüberfahren. Und zudem: wenn du immer an das denkst, was ich dir
gestern Abend gesagt hab, da mußt du mich um dich herum fühlen, auch wenn
ich mal net mehr da bin!"
Tante Seelchen, die Tapfere, ist ein wenig lebensmüde geworden, aber sie
will es sich nicht eingestehen, obwohl sie diese Lebensmüdigkeit seit der an¬
klagenden Frage ihres Neffen bereits als eine Schuld ihm gegenüber empfindet.
Sie sagt:
„Hörst du, lieber Bub, was ich dir gesagt hab? Wenn du an meine Be¬
lehrungen denkst, wirst du immer fühlen, daß ich bei dir bin!"
„Ja, Tante Seelchen, die werd ich auch meiner Lebtag net vergessen!" ant¬
wortet der Bursche.
Und dann schweigen sie. Tante Seelchen denkt trübe Gedanken. Und wenn
auch Karls Seele niedergedrückt ist — sie ist immer noch jugendstark genug, aus
sich heraus die freudige Erwartung auf Tante Settchens Umzug erblühen zu lassen,
die sie bald ganz erfüllt.
Erst das Erscheinen der Sargträger treibt die Beiden auf.
„Bub, du trägst mir das Kreuz voran und gehst mit naus, damit es auf
dem Kirchhof ordnungsmäßig zugeht!" sagt Seelchen und zündet dann die Lampe
an, um den Männern die Stiege hinauf zu leuchten. Karl trägt die beiden Böcke,
auf denen der Sarg stand, hinunter.
Die Viere poltern schwer die Treppe wieder hinab. Sie haben der Jungfer
kaum Zeit gelassen, mit dem Palmbüschelchen einige Spritzer Weihwasser über den
Sarg zu sprengen.
Im Hofe stellen sie die Lade noch einmal ab auf die von Karl bereit gestellten
Böcke. Tante Seelchen hat ihre liebe Not, dem rohen Gerede der Menschen Einhalt
zu tun.
„Ihr habt so viel Anstand gehabt und habt euch Sonntags angezogen, aber
inwendig habt ihr kein Ehrgefühl. Schämt euch doch ein klein Bißjen!" sagt sie
mit barscher Stimme. Doch ihre Worte machen wenig Eindruck. Man droht ihr,
den Sarg stehen zu lassen, wenn sie ihre Ermahnungen nicht lasse. Karl aber
denkt daran, wie andere Tote begraben werden. Die Jungfer macht das Tor auf:
„Mo, geht, geht, gehet Karl means Kreuzt"
Karl nimmt das Kreuz auf und geht zum Tor hinaus. Die Viere schreiten
mit dem Sarge hinterdrein.
So wird der Schmied aus seinem Hause getragen.
Der seltsame Leichenzug bewegt sich durchs Dorf. Es läuten keine Glocken,
aber aus den Höfen klingt das Sensendengeln, und irgendwo tutet der Nacht¬
wächter elf Uhr. Der Mond steht hoch am Himmel und leuchtet dem Schmied
auf dem letzten Wege. Menschen sind keine mehr auf den Gassen, denn nur die
späten Sensendengler sind noch außer dem Bett. Wenn es ja bekannt geworden
wäre, um welche Stunde man den Selbstmörder begraben würde.. .1 Denn die
Schadenfreude tut wohl.
Es ist still. Nur hin und wieder schwirrt eine Eule, und hin und wieder
Schlusse einer der Sargträger zwischen den Zähnen hindurch eine halblaute Ver-
wünschung über die schwere Last. Sie haben ihre Not; sie stöhnen, sie ächzen.
Sie zerbeißen die Rosmarinzweige, die sie dem Brauche gemäß erhalten, zwischen
den aufeinander gepreßten Zähnen, aber sie müssen schweigen. Das ist dem Sohne
des Toten ein Trost. Seine Tränen fallen in den Gassenstaub. Wenn man da¬
nach fragen würde, so könnte er keine Auskunft geben, ob seine Tränen Tränen
der Trauer oder Tränen des Schmerzes über das ehrlose Begräbnis seien.
Es dauert ziemlich lange, bis die Fünfe mit dem toten Sechsten ihr Ziel
erreicht haben, obwohl es zum Friedhof gar nicht weit ist. Aber es geht bergauf.
Endlich sind sie am Pariser Tor. So heißt der Brückendurchgang, der den das
Dorf wie ein Gürtel umspannenden Park am Ausgange nach dem Friedhof
unterbricht.
Der Friedhof selbst liegt auf einem Rain, von einer Mauer umgeben und
einem Kranz hoher Kastanienbäume, die dunkel in die bläulichsilberne Mondnacht
ragen. Am eisernen Gittertore muß Karl das Kreuz senken, denn die Äste der
Bäume greifen tief herab.
Im Mondschein liegt der Erdaushub des Grabes. Karl geht darauf zu und
steht bald vor dem schmalen langen Schacht, der da in die Erde geschnitten ist.
Vorsichtig nähert er sich dem Rande und schaut hinunter. Man kann den Boden
nicht sehen, es ist zu dunkel dazu. Und so könnte man auf den Gedanken
kommen, daß dieser Schacht himmterreiche bis ins Feuer der Erde, bis in —
die HölleI
Karl tritt zurück und steckt das Kreuz in den Erdaufwurf. Hinter ihm wettert
der Schmittebuckel darüber, daß der Totengräber nicht da sei. Der Bursche hat
vergessen, ihn zu bestellen und heißt den einen der Kerle, den Mann, der nicht
weit entfernt wohnt, zu rufen. Aber der wirft die Bemerkung hin, Botengänge
wären mit den erhaltenen zwei Mark nicht bezahlt. Als Karl daraufhin ein
besonderes Trinkgeld in Aussicht stellt, läuft der Ollwangs-Maddhees davon und
kommt bald mit dem Totengräber zurück. Der schnarrt Karl an:
„Warum denn ihr denn nix gesagt, wann euern Vater begrawe werd? Mußt
wisse, um Mitternacht rum werrn net viel Leut begrawel"
Dann legt er zwei Eichenprügel quer über das Grab, ebenso zwei Seile.
Der Sarg wird auf die Prügel gestellt, die sich unter der Last ein wenig nach
unten durchbiegen. Die Männer fassen die Stricke an. die sich straffen und an
dem Holze des Sarges reiben. Jetzt schaukelt er in der Luft über dem
Grabe. Auf einen Zuruf des Totengräbers hin zieht Karl die beiden Stecken vom
Grabe hinweg, wirft sie beiseite und reckt sich wieder gerade und sieht zu, was
da geschehe.
Langsam senkt sich der Sarg hinunter in den Schacht des Grabes. Anfangs,
so lange er noch vom Lichte des Mondes erreicht werden kann, bleiben seine Umrisse
erkenntlich. Dann aber sieht man gar nichts mehr.
Nun auf einmal, ganz plötzlich und unvermittelt weiß Karl, daß er jetzt
seinen Vater nie mehr sehen wird. So ist der Wechsel der Bilder in seiner Seele:
er sieht den Vater am Amboß stehen und schmieden, sieht ihn neben dem Herde
fitzen in der Ruhe des Feierabends, sieht ihn an den Büchern schreiben und den
Bauern Geld ausbezahlen, sieht auch, wie er es einnimmt. Und die Zusammen¬
künfte mit dem Juden fallen ihm ein, die des Vaters Verderben wurden. Er
sieht ihn auf dem Felde in den Gurkenanlagen stehen und erinnert sich des Ab¬
schieds und des Wiedersehens. Blut, Blut, Blut sieht er und schaudert und hört,
wie die Seile unterm Sarge herausgezogen werden und knarrend am Holze reiben
und schnarren.
Der Totengräber nimmt ihn am Ärmel, zieht ihn näher an den Grabrand,
gibt ihm ein kleines Schippchen in die Hand und sagt zu ihm:
„Do schmeiß deim Vater drei Schippcher voll Erd nunner und sag dazu:
Aus Staub bist du, und zu Staub sollst du wieder werden! Sonst sagt das jo
der Parre, aber . . .1"
Karl nimmt das Schippchen, sticht ein Häufchen Lehmerde damit auf und
schrickt es hinunter in das Grab. Dumpf fällt es auf den Sarg, und das zweite
auch und das dritte wiederum. Aber dazu sprechen kann Karl nichts. Als er
das Wort Pfarrer hört, steigt ein wehes Gefühl in ihm auf, das ihm den Hals
zuschnürt. Denn wieder wird er des großen Unterschiedes inne, der zwischen
seines Vaters Beerdigung und der anderer besteht.
Nach dem dritten Wurfe neigt er das linke Ohr tiefer dem Grabschachte zu.
Es ist ihm, als müßte sein Vater jetzt noch ein Abschiedswort herausrufen, noch
ein einziges, ehe die unerbittliche Erde sich auf ihn häuft, höher und immer
höher, schwer drückend auf den Sarg. Aber es bleibt alles still, und dann poltern
die brockigen Lehmschollen hinunter, und die massigen Schaufelwürfe fallen dumpf
auf den Sargdeckel.
Da dreht sich Karl herum und geht.
Am Tore des Friedhofs wendet er den Blick noch einmal. Die Männer,
die er nur wie dunkele Schatten sieht, schaufeln eifrig das Grab zu. Das Kreuz,
das er getragen hat, ragt über die gebückt Arbeitenden hinaus. Bald wird es
in der Reihe der anderen stehen ...
Eine große Sehnsucht nach Güte und Liebe ist in dem Jungen aufgewacht;
er meint fliegen zu müssen, um eher bei Tante Seelchen zu sein, bei Tante
Seelchen, die so guten Trost weiß.
Und als er zu ihr heimkommt, setzt er sich auf ihren Schoß und läßt sich
hätscheln wie ein kleines Kind. Und da er ganz willenlos ist, zieht die Jungfer
ihn aus und bringt ihn ins Bett, setzt sich zu ihm auf den Bettrand und
streichelt ihm die Wangen und das Haar. Da wird es friedlich in seiner Seele,
und er sagt:
„So ist es schön, Tante Seelchen, aber heut ist es das letzte Malt"
Der Abschied war überstanden.
Obwohl Karl, wie er es seiner Tante mehr als hundertmal versicherte, sehr
gern zu Vetter Holtner ging, so kehrte er doch auch am Tor noch mehr als zehnmal
wieder um und hatte ihr noch dieses und jenes zu sagen, als ob sie sich im Leben
nie mehr wiedersahen.
Er hätte auch gerne noch einmal mit dem Vorschlaghammer auf den Amboß
gehauen, daß es mächtig geklungen hätte, aber die Werkstättetür war ja versiegelt.
Schließlich hätte er ja auch das Fenster eindrücken können, aber Tante Seelchen
hatte ihm abgeraten. Man könne ihm das als Siegelverletzung auslegen, und
dann müsse er am Ende ins „Knechen"; das Gericht verstehe keinen Spaß.
Und so ganz zuletzt hatte Karl noch einmal sehr tief geseufzt und war dann
wirklich gegangen. Im neuen Heim aber hatte er dann tagelang sein schweres
Herz herumgetragen.
Doch das ist jetzt vorbei, und die Gewohnheit will sich schon wieder ein¬
stellen; die Gewohnheit, die ja den Menschen schließlich auch zur Maschine machen
kann, die aber auch ein gutes Seelenpflaster ist, unter dem die Wunden verharschen.
Karl steht jetzt morgens um vier auf. Seine Stube liegt über dem Pferdestall,
in dem drei kräftige Ackergäule stehen. Vom Stalle aus gelangt man auf einer
Leiter durch eine Luke in das Stübchen. Es ist frisch getüncht worden; die Decke
weiß, die Wände rosa mit einem grünen Strich oben herum. Und darin steht ein
Bett, ein Stuhl, ein Tisch, ein Waschgestell, ein Kleiderschrank und ein Stiefel¬
knecht. An der Wand über dem Waschgestell hängt der Kammkasten und darüber
der Spiegel, gerade so groß, daß man den Kopf und den Hals darin sehen kann,
um das Haar schön kämmen und Sonntagsmorgens sehen zu können, wie der
Schlips sitzt. Werktags bindet der Bauer keinen Kragen um.
Über dem Bette hängt zu Häupten ein kleines Kreuz, an der Lüngswand
ein schreiend bunter Öldruck, die heilige Familie darstellend. Das Bett steht so,
daß dem Karl die Sonne beizeiten ins Gesicht scheinen kann, wenn sie nur am
Himmel ist und nicht von Wolken verborgen wird. Sie muß ihre goldenen
Strahlen durch zwei Fensterchen schicken, die mehr lang als hoch sind. Einen
Ofen hat das Stübchen nicht. Der Vetter Holtner hatte gesagt, einen Ofen brauche
der Karl nicht, weil seine Bude gleich über dem Gäulsstall liege. Da sei es viel
molliger als ein Ofen machen könne. Wenn es Sommers zu heiß würde, solle
er die Fenster offen lassen, und nachts brauche dann auch der oberste Flügel der
zweiteiligen Stalltür nicht geschlossen zu werden, dann ziehe es schön durch, und
der Karl schlafe luftig.
Vierzehn Tage war er nun schon in seinem neuen Dienst. Eigentlich mußte
er sagen, daß er mehr zu Hause als im Dienst war. Denn die drei Geschwister
ließen ihn das Dienstverhältnis gar nicht fühlen und waren zu ihm wie zu
ihrem Kinde.
Anfangs hatte er jeden der beiden Brüder „Vetter Holtner" gerufen. Da
waren aber stets Verwechslungen vorgekommen. Der Hannes wußte nicht, ob er
oder sein Bruder gemeint war, und auch der Vinzenz mußte den Burschen immer
erst fragen, ob er von ihm oder dem Hannes etwas wolle. Auf einmal sagte der
Hannes, nun habe er sich gerade genug über diesen „Kuddelmuddel" geärgert, der
Karl solle zu ihm von jetzt ab Unkel Hannes und zu seinem Bruder Unkel Vinzenz
sagen. Das geschah aber auch deshalb, weil sie den Jungen recht lieb ge¬
wonnen hatten.
Als die Schwester der beiden das hörte, meinte sie, wenn das mit den
Unkeln so in seiner Richtigkeit wäre, dann könnte der Karl zu ihr doch auch
Tante Male rufen.
Das war ja nun dem Karl ein bißchen schwer geworden, weil er eigentlich
zu niemand anders als zu seiner wirklichen Tante, zu seiner Mutter Schwester,
Tante sagen wollte. Aber die Male war, richtig betrachtet, fast gerade so gut zu
ihm wie Tante Seelchen. Wenn sie morgens ins Feld fuhren, steckte sie ihm
immer rasch noch etwas Besonderes zu, ein paar saftige süße Birnen, eine Tasche
voll Frühzwetschcn und dergleichen mehr. Darum entschloß der Bursche sich doch,
Tante Male zu rufen. Aber gleichzeitig nahm er sich vor, dabei stets auch an
Tante Seelchen zu denken.
Tante Seelchen wohnte jetzt in Pfeddersheim und arbeitete in der Konserven¬
fabrik. Es gefiel ihr ganz gut. Anfangs störte es sie ein wenig, daß dort gar
so viele Protestanten wohnen, während in Spelzheim die Katholiken überwiegen.
Aber sie gewöhnte sich daran und war bald so weit, daß sie nicht immer, wenn
sie mit jemand, den sie noch nicht näher kannte, sprach, sich heimlich fragen mußte:
ist der nun katholisch oder evangelisch?
Karl hatte ihr wirklich das Möbel, das ihr gehörte, herüberfahren dürfen
und kam nun alle Sonntage nach dem Mittagessen zu ihr, blieb bei ihr bis zum
Nachtessen und machte sich dann über Kneisenheim wieder auf den Heimweg.
Und ein schöner Weg ist das. Am schönsten wird er, wenn man einmal das
im Tale liegende Kneisenheim verlassen hat und auf der Anhöhe ist, von der aus
die Straße schnurgerade nach Spelzheim hinunterläuft. Sonst sind ja so schnur¬
gerade Straßen sehr langweilig. Aber die Kneisenheimer Chaussee ist es deshalb
nicht, weil man von ihr aus gar hübsche Aussicht genießen kann.
Zu Füßen der Anhöhe, über die sie hinwegläuft, liegt der zu dem alten
Schlosse der Herzoge von Dalberg gehörende große Park. Und in sein grünes
Wipfelmeer schaut man da hinein. Wie eine Insel lugt daraus hervor der spitz-
haubige Turm mit dem weit ausladenden Storchennest darauf. Gar häufig kreisen
die Störche über dem Park und lassen sich klappernd in ihr Nest nieder. Oder
sie fliegen hinaus in die Klauern, das in einiger Entfernung vom Dorfe liegende
Waldgebiet, in dessen Sümpfen die roten Langbeine sich Frösche fangen. Auf
dem Rückwege ruhen sie sich meist auf dem Kirchdache noch einmal aus, das mit
dem Glockentürme links vom Pariser Tor über die Wipfellinie des Schloßgartens
ragt. Wenn Karl das von der Kneisenheimer Chaussee aus beobachtet, fallen ihm
alle Storchensprüchelchen ein, die er als kleiner Bub dem Vogel zugeschrien hat.
Oder wenn in ihm die Sehnsucht aufstieg, noch ein kleines Brüderchen zu
bekommen:
Aber wenn das die arme Sophie hörte, rief sie rasch:
So und derlei waren die Gedanken, die dem Karl auf dem Heimwege von
Pfeddersheim kamen. (Fortsetzung folgt)
s ist selbstverständlich, daß eine von meeranwohnenden Stämmen
gesprochene Volkssprache in ihrer Laut- und Wortbildung auch
stark vom Leben des Meeres beeinflußt wird, daß sie, wie
das wirtschaftliche Leben der Bevölkerung, zu ihm in natürlichen
inneren Beziehungen bleibt und daß diese sich vor allem auch in
seiner Literatur ausprägen müssen. Das bekannteste zum plattdeutschen Programm¬
lied gewordene Gedicht Reuters ist eine Lobpreisung der plattdeutschen Sprache,
die ein „Eikboom, de naße an de See" genannt wird. Dies ideale Bild
ergänzt Groth durch einen markigen Hinweis auf ihre weit über Deutschland
hinausgreifende praktische Bedeutung für das Leben auf der See.
Man kann dies Urteil mit einigen Einschränkungen ruhig gelten lassen: in
der Tat ist die plattdeutsche Sprache nicht nur die Prägerin der nautischen
Technologie vor allem für die Segelschiffahrt gewesen, das mit ihr verbundene,
jetzt allerdings schon greulich mit chinesischem „Pidgin" und anderem exotischen
Mischmasch versetzte Schiffs- und Matrosenplatt ist für Auswanderer und
sonstige Heimatfremdlinge das letzte seelische Band, das sie mit dem Mutterlande
verknüpft. Diese Klänge ertönen in ihnen noch, wenn andere Stimmen aus
dem Vaterlande nicht mehr in ihnen leben.
Auch das Leben des Janmaats vorm Grootmast, des „Fahrensmannes",
des plattdeutschen Matrosen und Schiffers klingt, leider weniger von ihm selbst
als durch stammesgenösftsche Kunstdichter gepflegt, in der neuniederdeutschen Lyrik
wieder. Aber ihre feinsten Töne erwachen darin nicht; die Seele der See
schlummert in vertrauteren, und zugleich in stärkeren Registern der plattdeutschen
Sprache. Die See vermählt sich, in Liebe und Haß, gewährend und verlangend zu¬
gleich, mit der Seele des Plattlands, und dieses seltsame salomisch anmutende Ver¬
hältnis fand, wie die Seele Niederdeutschlands überhaupt, unter allen plattdeutschen
Lyrikern bei Groth seinen feinsten und poetisch vollendetsten Ausdruck. Man
braucht nur das „Oil Bühnen"-Gedicht im „Quickborn" — vor sechzig Jahren
schenkte Groth dies wundervolle Buch den Deutschen, nicht nur seinen Stammes¬
genossen — sprechen zu lassen: lebt in ihm nicht die ewig schenkende, ewig
raubende See, die allem durch sie ins Dasein Gerufenen — Kirchturm, Haus,
Steen, Past, Insel, Beche, Hund, Mensch mit der Laune einer Nacht das Leben
wieder nimmt, dieses seltsam spukhafte, scheinbar nur für drei, sechs, höchstens
zehn Menschengenerationen berechnete Leben des Wattenreichs, wie es uns aus
den Schriften der alten Chronisten mit ihren entsetzlichen „Mandrenke"berichten
entgegenstarrt? Oder man erlebe das weniger bekannte Gedicht „De Flot" mit.
Packt uns die Tücke, mit der das Wattenmeer in Verbindung mit der grauen
Nebelftau den Jäger, den Kraut(Krabben)fischer, den Halligmann zur Hohl¬
ebbezeit in das unentwirrbare Netz ihrer Pricke, Auen und Tiefe verstrickt,
nicht mit Polypenarmen, schüttelt uns das Grauen, mit dem der in hundert
Schlangenleibern heranschleichende Tod seinen Opfern langsam zum Herzen
hinaufkriecht, nicht mit Fäusten? Sieht man sie nicht laufen, hört man nicht
das Zischen der See gegen ihre Leiber:
Aber das Meer, in der Geschichte des Landes fast immer der Feind, wird
in der Geschichte des Volkes auch einmal zum gewaltigen Helfer. In lapidaren
Langzeilen klingt sein Eingreifen in der „Stande bi Hemmingsted" wieder:
Auch anderen neuplattdeutschen Dichtern hat geschichtliche Überlieferung
dankbare poetische Stoffe geschenkt. Die alte niedersächsische Volkswildheit, die
Nahrung, Kraft und Lebensfreude, wenigstens bei den Küstenstämmen, aus
dem Meere sog, mürb sich sicher auch in Liedern, wie dem alten Hörnumer
Strandräubervers:
ausgetobt oder besser: ausgebrüllt haben (pnsm ron caudae), aber leider ist
von ihnen so gut wie nichts erhalten. Vor allem ist es schade um den Unter¬
gang des großen Störtebekerliedes, von dem nur die erste Strophe
nachgeblieben ist. Aber der Ostfriese W. Lüpkes hat eine vorzügliche Nachdichtung
im Geiste des Originals geschaffen, stofflich gedrungen, von dramatischem Leben
erfüllt und von geradezu vollendeter archaistischer Stilisierung, so daß dies neue
Störtebekerlied getrost den Grothschen Balladen an die Seite gestellt werden
darf. Von dem sehr langen Gedicht (abgedruckt im Ostfriesisch-plattdeutschen
Dichterbuch, Aurich, A. H. F. Dunkmann) mögen zwei den Kampf bei Helgo¬
land schildernde Strophen hier stehen:
Schiffsbeutegierig, strandbeutegierig waren die Friesen von je bis auf diese
Tage, vor allem die Snlter und die Helgolander. Die Blicke, mit denen ihre
Vorfahren durch Schaum und Brandung antreibenden Fahrzeugen entgegen¬
sahen, haben entschieden unserem heutigen Humanitätsgefühl nicht entsprochen,
sondern wünschten etwas ganz anderes. Etwas von der unheilvollen Kraft
dieses Blickes spricht aus des friesischen Dichters Fooke Hoissen Müllers Ballade
„Kork Helgos Oog" zu uns, obwohl es sich im übrigen darin nicht um Strand¬
beute handelt:
Ein Nachfahr Störtebekers und nicht minder frecher Plünderer Hamburger
Schiffe war Klaus Kniphoff, eine der poetischen Verherrlichung unbedingt würdige
Piratenfigur, denn als er nach dem Grasbrook geführt wurde, um dem Amts¬
nachfolger des berühmten Rosenfeld übergeben zu werden, weinten alle zuschauenden
Frauen und Mädchen aus Jammer über das allzufrüh dem Scharfrichter ver¬
fallene schöne junge Blut. Ein junger Hamburgischer Dichter, Gorch Font, hat
das von den Zeitgenossen anscheinend Versäumte nachgeholt und Kniphoffs Taten
und Schicksal ein dem Lüpkesschen Störtebekerliede ähnliches plattdeutsches Denkmal
gesetzt:
Burgen hat es an der Wasserkante nicht gegeben, außer in Ostfriesland,
an den Häuptlingssitzen, und das waren poesielose Steinlasten, keine Rittersitze
mit Reuter usw. Das, was man romantisch nennt, hat also auch in den
Menschen Plattdeutschlands mit ihrer vorwiegend auf die Realität der Dinge
gerichteten Sinnesart und der besonders den Dithmarschen und Friesen eigen-
tümlichen mathematischen Veranlagung niemals eine gemütliche Pflegestätte gehabt,
und so finden wir von poetischen Niederschlägen der Romantik, deren eigent¬
liches Feld sonst die Lyrik ist, kaum Spuren. Wohl aber von dem tiefen Natur¬
gefühl, das die scheinbar so reizlose Landschaft der Marschen, Moore und Küsten
in ihren Kindern auslöst. Man braucht nur eine Prosaschilderung der Eider-
marsch von Klaus Groth zu lesen, um die Bande zu erkennen, die in diesen
Landstrichen Menschen und Natur miteinander verknüpft. Wie aber beseelt sich
diese Natur erst in seinen Gedichten, und wie ist auch hier überall der Salz¬
geschmack der See, das Atmen des Haffs, der geheime plutonische Urgeist zu
spüren, der als zartester elementarer Duft ihren Poren entströmt. So kann
man mit Recht sagen: sie sind mittelbar durch das Meer erzeugt. Mitunter
steht die Natur geisterhaft, vom Irdischen losgelöst, für sich selbst da, wie im
Gedicht „Dat Moor". Meistens aber tritt sie in ihren Beziehungen zum
Menschenleben und Menschenschicksal auf. Durch die dezente Farbengebung,
den musikalischen Ton und die wie ein Strom leiser Elegien anmutende
sprachliche Weichheit erinnert Groths Dichtung an die Poesie des stammes¬
verwandten Theodor Storm. Groth hatte ein selbstwüchsiges poetisches Naturell;
darum hat er sich in seiner Lyrik auch niemals von Heine beeinflussen lassen,
obwohl dieser ihn sicher angeregt hat. Ich wenigstens finde Gefühlselemente
der Heineschen Poesie — der sich ja zu damaliger Zeit kein Dichter ganz ent¬
ziehen konnte — bei Groth wieder, besonders die packende Stimmungskraft der
Nordseelieder, wenn auch nicht die ihnen eigene traumhafte Süße.
Als ein weiteres Beispiel mag auch noch aus einem anderen Grunde die
erste Strophe aus dem Wiegenlied der „Schipperfru" angeführt werden:
Es ist bezeichnend für die Schaffensweise Groths, der gern Volksliedmotive
aufnahm und selbständig verarbeitete (nicht abschrieb, wie ihm allen Ernstes vor¬
geworfen ist). Der zugrunde liegende Wiegenreim heißt im Friesischen:
Auch das hübsche Wiegenlied von Willrath Dreesen (im ostfriesischen Dichter¬
buche), mit seiner raunenden Verlebendigung des Meeres, findet am besten gleich
hier einen Platz:
Um auf Groth zurückzukommen: alte Volksliedmotive klingen unter anderem
auch wieder in der „Lotsendochter", der die See den Liebsten raubt:
Durch Heine ist vielleicht auch „Schippers Brut" angeregt, das Gedicht
von den beiden Liebenden, die ohne Elternwissen in die weite Welt gehen:
Diese elementaren und symbolischen Beziehungen der See zu den Schicksalen
des menschlichen Herzens finden sich noch zahlreicher als bei Groth bei älteren
und jüngeren friesischen, besonders ostfriesischen Dichtern wieder. Überhaupt hat
Ostfriesland eine garnicht unbedeutende plattdeutsche Lyrik hervorgebracht,
während sich unter den Schleswig-holsteinischen Hallig-, Insel- und Küstenfriesen
eine solche nicht entwickelte, jedenfalls weil hier, im Gegensatz zu Ostfriesland,
das Plattdeutsche das Friesische als Volks- und Verkehrssprache noch nicht hat
verdrängen können. Auch dort tritt die See wiederholt als Zerstörerin des
Liebesglückes auf, um so grausamer, wenn für die Geliebte ein Gretchenschicksal
hinzukommt:
singt mit etwas sentimentalen Unterton der unglückliche Harbert Harberts.
Den gleichen volkstümlichen Ton trifft auch der ältere poetisch hochbegabte
Fooke Hoissen Müller, wenn er für den letzten Gruß des im Meere versunkenen
Geliebten die Schwalbenbotschaft wählt:
Solche natürlichen und einfachen Grundmotive, die zwanglos aus der
Seele des niederdeutschen Volks quellen, sind selbstverständlich der gegebene
Stoff für seine Dichter, und es ist zu beklagen, daß so vorzügliche Talente wie
beispielsweise Müller und Harberts, denen sich noch manche anreihen ließen,
sich literarisch nicht haben durchsetzen können. Wir müßten, um dies zu erklären,
aus Zeitverhältnisse und bestimmte Entwicklungslinien der hochdeutschen Literatur
eingehen, ferner auf kurzsichtiges Mißverstehen eingeborener niederdeutscher
Literaten, die bis in die Neuzeit eine künstlerische Auffrischung, die z. B. französische
Maler für ihre Kunst längst als notwendig erkannt hatten, im Schoße des eigenen
Stammes bekämpften (Hermann Allmers). Man erkannte eben nicht, daß in
diesen sprachlich manchmal noch unbeholfen ringenden Poesien die Wurzel neuer
Dichterkraft faß, Keime, die längst trieben bevor die „Heimatkunst" literarisch
verkündet war. In diesem Punkte sind überhaupt die niederdeutschen Stämme,
besonders die der Küstenstriche, und ihre Lyrik mit anderen Sondervölkerschaften
und ihrer Literatur zusammenzustellen. Stets erscheinen dort Stolz auf Eigenart
und Heimatgefühl besonders ausgeprägt. Das Stammesgefühl der Nieder¬
deutschen erkennt man vor allem in der dichterischen Lobpreisung der platt¬
deutschen Sprache. Fast kein niederdeutscher Poet hat sie unbesungen gelassen;
Groths unvergleichliches „min Modersprak" löste diesen Ton bei allen späteren
aus. Das Heimatgefühl dagegen fand sich früher — jetzt ist es nicht mehr
so — in geradezu elementarer Stärke vornehmlich bei den Jnselfriesen, sowie
überhaupt bei den Bewohnern der entlegensten, ödesten und rauhesten Gegenden.
Das Heimweh der Halligleute war sprichwörtlich und hat seinen ergreifendsten
Ausdruck in dem Magnussenschen Gedicht „De Halligmatros" gefunden. Ich
setze die erste und letzte Strophe hierher.
Es beginnt nun ein Wechselgespräch. Der Kapitän will den Matrosen
zurückhalten und schildert ihm die Kleinheit und Verlassenheit der Hallig, und
als das nichts nützt, ihre Gefahren. Er schließt mit dem Bericht, daß des
Matrosen Schafe und Lämmer, Frau und Kind in einer Sturmflut ertrunken
sind und sein Haus fortgespült worden ist, aber der bleibt fest:
Wie groß auch die Gefahren der See sind und wie oft sich das Motiv
„dieweil" (geblieben) wiederholt: die See lockt Seemannsblut. Was kümmert
es den Jungen von der Waterkant, ob „Rasmus" auch ihn vielleicht einmal
holen wird, wie den Vater, die Brüder, den Nachbar. Er ist ein Kind der
See, denn das Land, auf dem sein Vaterhaus steht, ist von ihr gegeben, und
so gehört er zu ihr. So entwickelt sich überall, wo Schiffer und Fischer
einerseits und Bauern anderseits in der Küstengegend sich berühren, ein starker
Gegensatz, in dem der Seemann, kann er es mit dem Geld des Bauern auch
nicht ausnehmen, sich als der Freiere und Tüchtigere fühlt. Das geht sogar auf
die Frauen über. Die friesische Eilandstochter weist die Werbung des reichen
Festlandsbauern stolz zurück:
Neben solchen Gegensätzen kommt aber auch die eigentliche seemännische Be¬
rufsfreudigkeit, das Bord-, Matrosen- und Fischerleben kraftvoll und anschaulich
in der Seemannspoesie zum Ausdruck. Von den alten Emdener Buisen (Herings¬
fängern) meldet uns folgendes Gedicht aus dem Jahre 1828:
Man wird auf Teilung gefischt haben, denn eine Strophe lautet, tröstlich
für die zurückbleibende Braut:
Die ganze Poesie der alten Segelschiffahrt klingt aus einem Liede des
gleichen Jahres „Dat seilklare Schipp" wieder, das wegen seiner zahlreichen
nautisch-technischen Ausdrücke hier leider keinen Platz finden kann. An Bord,
und somit auH in den Bordliedern, geht es bekanntlich mehr realistisch derb
als zartfühlend her, wie überall, wo Sitte bringende Weiblichkeit ausgeschaltet
M. Mau höre ein paar Verse, mit denen der Bremer Seemann Red die
famosen Geschichten aus seiner „Fohrensstied" einleitet:
Ein echter und rechter Seemannspoet wird uns voraussichtlich einmal in
dem schon genannten Gorch Font, einem Finkenwärder Fischerkind, erwachsen.
Der kennt die See und ihre Leute. Als Beispiel sein Gedicht auf die aufsitzende
Fünfmastbark „Preußen" (7. November 1910).
Seltsamerweise hat nur die Nordsee ihre Kinder (Dithmarscher und
Friesen) zu ihrem dichterischen Ruhm begeistert. Die Ostsee nicht, nicht einmal
den Dichter des „Vagel Grip", John Brinckman.
Herr Dr. Paul Ernst schreibt in Ur. 39 der
Grenzboten Seite 692: „Die Pcistoren sind
Beamte dieser Kirche, welche angestellt werden
und Gehalt bekommen dafür, daß sie die ein¬
mal von der Kirche angenommenen Ansichten
lehren; bekanntlich müssen sie sich bei ihrem
Amtsantritt ausdrücklich dazu verpflichten.
Wie nun alle diese Verhältnisse durch bewußte
und unbewußte Täuschung sehr verworren sind,
kann ein Mensch von Überzeugungstreue auf
die Idee kommen, daß er lehren müsse nicht
was ihm amtsmäßig aufgetragen ist und wo¬
für er bezahlt bekommt, sondern was ihm
sein.Gewissen' eingibt." „Was würde denn
der Staat etwa mit einem Amtsrichter machen,
der Plötzlich nach seinem .Gewissen' richtete
und nicht nach dem Gesetzbuch?" Unklarheiten
bestehen allerdings darin, daß die Ordinations-
formulare der deutschen Landeskirchen die
Bibel und die Bekenntnisschriften nennen, aber
nicht unzweideutig genug sagen, in welchem
Sinne und in welcher Umgrenzung. Jedes
deutsche Kirchenrecht erklärt der Sache nach
wie Karl Köhlers Kirchenrecht S. 184: „Doch
ist zu beachten, daß die Verpflichtung auf
Schrift und Bekenntnis niemals die Bedeutung
der Zustimmung zu der Wortinspiration der
Heiligen Schrift oder der juridischen Bindung
an den Wortlaut irgendeines Symbols haben
kann. Schrift und Bekenntnis können in der
evangelischen Kirche niemals zu einem in
juristischer Weise zu handhabenden Lehrgesetze
werden." Tatsächlich hat auch gerade der
letzte Apostolikumsstreit bewiesen, daß die
Preußischen Generalsuperintendenten ihren
Ordinnnden ausdrücklichen Dispens von ein¬
zelnen Sätzen des sogenannten apostolischen
Bekenntnisses erteilt haben, zumal sie auch für
ehre eigene Person dieselbe Freiheit in An¬
spruch genommen haben. Ausdrücklich wird
erklärt, nicht der Buchstabe, sondern der Geist
von Bibel und Bekenntnis soll gelten. Was
aber dieser Geist ist, was die Hauptsache und
was Nebensache ist, das zu entscheiden, ist der
persönliche» Überzeugung des einzelnen über-
lassen. Tatsächlich herrscht der Zustand, daß
jeder ordiniert wird, der gewillt ist, christ¬
lichen Glauben im Sinne der Reformation
zu Pflegen und dabei sich den notwendigen
Ordnungen fügen will. Wünschenswert ist
nicht, daß das „Gewissen" des Pfarrers aus¬
geschaltet wird und er einem Bekenntnis als
juristischem Lehrgesetz sich fügt; sondern daß
jeder Pfarrer sich fragt, ob er eine persönliche
Glaubensüberzeugung hat, die ihn mit Eifer
und Freudigkeit im Sinne und Geist der
Reformation und des echten Christentums
wirken läßt. Daß dies auch bei kritischer
Stellung zu vielen Sagen der Bibel und bei
Ablehnung mancher theologischer Sätze von
Paulus und Luther möglich ist, beweisen die
Tatsachen. Ich habe bereits in Heft 25 der
Grenzboten die Überzeugung vertreten, daß
die schweizerischen Kirchen das Rechte treffen,
wenn sie die Verpflichtung nur auf das
Evangelium Jesu und auf die Grundsätze der
Reformation ausdehnen. Vielleicht kommen
die deutschen evangelischen Landeskirchen auch
allmählich zu solchen weitherzigen Formu¬
lierungen. Wir sollten jedenfalls dies mit
Ernst anstreben. Herr Dr. Ernst übersieht,
daß die Kirchen die Religion nicht bloß ver¬
äußerlichen. Gewiß ist dies eine große Gefahr
des Kirchcngeistes. Die Kirchen werden aber
zugleich von dem Gesetz der Assimilation be¬
herrscht. Sie haben trotz Luthers Wort von
der Erde als einem Jammertal sich die
Stimmung Brunos und Spinozas von der
Herrlichkeit des Weltalls in Schleiermacher
angeeignet, ebenso trotz !Luthers Wort vom
verlorenen und verdammten Menschen die
Stimmung Kants von der Erhabenheit des
Menschengeistes. Wer wie Dr. Ernst einen
„neuen Glauben" vertritt, sollte nicht den
Versuch machen, alles Veraltete und Verrottete
in den Kirchen zu konservieren, um dann
möglichst schnell über sie hinweggehen zu
können.
Seine Familie und die
Firma I. P. Bachem in Köln. Die rheinische
und die deutsche Volkshalle. Die Kölnischen
Blätter und die Kölnische Volkszeitung. Zu-
gleich ein Versuch der Geschichte der katholischen
Presse und ein Beitrag zur Entwicklung der
katholischen Bewegung in Deutschland. Von
Karl Bachen», Dr. jur. ner. Erster Band
(bis 1848). Köln, I: P. Bachem, 1912. -
LKaeun a les äökemts as ses quslitös, Die
Kehrseite der altpreußischen Tüchtigkeit, die
Unfähigkeit, moralische Eroberungen zu machen,
hat mancherlei weltgeschichtliche Folgen gehabt,
und es ist keine Übertreibung, wenn man die
Macht des Zentrums auf sie zurückführt. Der
freundliche Ton der Proklamation, die Friedrich
Wilhelm der Dritte am 6. April 1815,, an die
Einwohner der mit der Preußischen Monarchie
vereinigten Rheinlande" richtete, gewann die
Herzen, aber das preußische Regiment stieß
sie zurück durch den unbegründeten Zweifel
an ihrer Loyalität, den Verdacht der Hin¬
neigung zu Frankreich, durch schulmeisterliche
Bevormundung, bärbeißige, grämliche Be¬
kämpfung der Gewohnheiten und Lustbarkeiten
einer fröhlichen Bevölkerung, und durch grobe
Behandlung der gebildeten Bürgerschaft. Als
dann vollends das Versprechen, die vorgefun¬
denen Beamten im Besitz ihrer Posten und
im Genuß ihrer Einkünfte zu lassen, durch
engherzige Auslegung unwirksam gemacht
wurde, schlug die anfangs so günstige
Stimmung sichtbar um. Görres schrieb: „Die
Eintracht, die glücklich Wurzeln geschlagen, ist
zerstört; längst besänftigte Leidenschaften und
Abneigungen sind wieder aufgewacht, und
jeder Tag sieht die Kluft größer werden, die
verwandte, jetzt unter einem gerechten, wohl¬
wollenden Fürsten eng verbundenen Stämme
voneinander trennt." Die Mißstimmung
ergriff die evangelische Minderheit so gut wie
die katholische Mehrheit, aber dieser wurde
sehr bald noch weiterer Grund zu Beschwerden
geliefert, da dem Nachwuchs ihrer mittleren
und höheren Stände jede Aussicht auf Ver¬
sorgung im Staatsdienste geraubt wurde, und
die aus Altpreußen eingewanderten Beamten
Kristallisationspunktc für die Gründung neuer
evangelischer Kirchgemeinden bildeten, die sich
kräftiger Förderung von oben erfreuten. Was
jedoch am meisten erbitterte, das war der
Maulkorb. Keine Möglichkeit, öffentlich Be¬
schwerden auszusprechen bei der damaligen
Knebelung der Presse I Von den Iensurstüclchen,
die Bachem mitteilt, sei nur eins erwähnt.
das zwar mit den Schmerzen der Rheinländer
nichts zu schaffen hat, dafür aber die Geistes¬
höhe der Behörden, die das Geistesleben der
Nation in die rechte Bahn leiten sollten, sehr
hübsch beleuchtet. Die Kölnische Zeitung be¬
kam eine Anzeige der Übersetzung der „Gött¬
lichen Komödie" von Philalethes (bekanntlich
Pseudonym des Königs Johann von Sachsen);
diese strich der Zensor, Polizeirat Doleschall,
mit der Begründung: mit göttlichen Dingen
dürfe nicht Komödie getrieben werden. Und
nun gar die Katholiken I Alle ihre Bemühungen
um Konzessionen für Zeitungen und Wochen¬
blätter blieben vergeblich, und außerhalb
Preußens erscheinende katholische Zeitschriften,
wie die Historisch-Politischen Blätter wurden
verboten. Darum standen die rheinischen
Katholiken in der Vorderston Reihe in dem
Kampfe um Preßfreiheit und eine Verfassung.
Sobald beides 1848 errungen war, fanden
die nun vor sich gehenden Zeitungsgründungen
Wohl vorbereiteten Boden. Denn während
die protestantischen Freiheitskämpen meistens
Kirchenfeinde waren, hatten auf katholischem
Boden Geistliche und Laien in einmütigem
Zusammenwirken eine reiche Erbauungs-,
Unterhaltungs- und Streitschriftenliteratur ge¬
schaffen, die das Volk im katholischen Sinne
aufklärte. Meine Wenigkeit ist ein Pröbchen
vom Erfolg dieser Aufklärungsarbeit. Mein
Vater war ein evangelischer Buchbinder, der
katholische Pfarrer sein bester Kunde, und
meine katholische Mutter sorgte dafür, daß ich
im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren alle
diese katholischen Sachen zu lesen bekam. So
bin ich damals katholisch geworden. Die Feind¬
schaft der Konfesstonen und der Weltanschau¬
ungen erklärt es, daß der Anteil der Katho¬
liken an dem Politischen Ringen jener Zeit
in der dominierenden Literatur unbeachtet
bleibt und Görres höchstens als „der tolle
Görres, der anfängliche Revolutionär und
spätere Ultramontane" erwähnt wird, obgleich
er, wie Bachem richtig ausführt, der erste
deutsche Publizist großen Stils gewesen ist
und sein Freiheitsideal nicht das französisch-
jakobinische, sondern das mit der Monarchie
wohlverträgliche altgermanische war. Dem
Umschlage des ersten Jahrgangs des Rhei¬
nischen Merkur gab er die taciteische Aufschrift:
Oe minoribus rebus Principes consultant
(Bachems Setzer macht consulsnt daraus),
ac msjoribus omnes, lo tönen, ut es,
quoqus, quorum psnesplebem srbitrium
sse, apuä Principes pertractentur. Nicht ge¬
duldet, nein, geboten muß die Freimütigkeit
sein, schreibt er u. a. zur Begründung des
Anspruchs auf Preßfreiheit. Den Historisch-
Politischen Blättern, die der Geist des großen
Görres beseelte, verdanke ich den besten Teil
meiner Politischen Bildung.
Knien vor körperlichen Symbolen des Gött¬
lichen, und die Anbetung Gottes in Geist und
in der Wahrheit gilt dem Gott in unseren
Herzen, nicht dem auf dem Altare körperlich
gegenwärtig geglaubten. Aber freilich, wenn
die jungen Herren während des Hochamtes
dem Altar den Rücken gekehrt haben, um die
in Balltoilette auf dem Chöre paradierenden
Opernsängerinnen zu lorgnettieren, dann nutz
man der Auffassung BachemS einige Berechti¬
gung zugestehen. Die Erfahrung zeigt leider,
daß bei der Masse die innere Gottesverehrung
sehr fest mit dem Äußerlichen verknüpft ist,
und daß mit dem Gott auf dem Altare nur
allzuoft auch der im Herzen entweicht, die
heilsamen Wirkungen schwinden, die der Glaube
an den allgegenwärtigen Gott auszuüben ver¬
mag. Wie beim Verzicht auf kultische Äußer¬
lichkeiten dem Volke die innerliche Religion
erhalten bleiben könne, das ist eins der
schwierigsten Probleme der Gegenwart.
Das, was Bachem Vertiefung nennt, das
lebhafte orthodoxe Konfesfionsbewußtsein, ist,
wie er selbst gesteht, erst durch den Gegensatz
zum Protestantismus wachgerufen worden,
oder vielmehr dadurch, daß dieser Gegensatz
den Charakter der Feindseligkeit annahm, weil
eine Protestantische Negierung die katholische
Mehrheit benachteiligte > und bedrängte.....
Allen Politikern ist das Studium dieser
Geschichte der Entstehung einer katholischen
Presse in Deutschland dringend zu empfehlen.
Die Personen und Schicksale der Familie und
der Firma Bachem bleiben, abgesehen von
den ersten Kapiteln, im Hintergrunde. Was
daraus mitgeteilt wird (ein Anhang enthält
Urkunden und Briefe aus dem Familienarchiv),
ist kultur- und wirtschaftsgeschichtlich interessant.
So z. B. veranschaulichen die nach heutigem
Maßstabe winzigen Besoldungen und bei ge¬
schäftlichen Transaktionen gezählten Geld¬
summen sehr deutlich das Sinken des Geld¬
markts in den letzten hundert Jahren.
zurückgeben. Die Offenbarung Gottes in der
Musik empfinden, beweist mehr Tiefe, als das
Die Diplomaten sind eigentlich ein bemitleidenswertes Völkchen. Geht
irgendwo einmal eine internationale Freundschaft aus den Fugen, so werden sie
dafür gescholten, gibt es Krieg, so ist daran entweder ihre „Trottelhaftigkeit"
oder ihre „Perfidie" schuld; geschieht aber einmal etwas Erfreuliches, kommt es
zu einer die öffentliche Meinung schmeichelnden Entscheidung, dann haben sie
keinen Teil daran: es ist „trotz ihrer" gut gegangen! Die Völker, die Nationen,
die zwingenden historischen Vorgänge, .neuerdings auch die Bankiers und die
Börsen, — sie alle haben ihr hervorragendes Verdienst am glücklichen Verlauf
irgendeiner Entwicklung, — aber beileibe nicht die Diplomaten. Sollte in
dieser Tatsache nicht der innerste psychologische Grund dafür zu finden sein,
daß es so wenig wirklich gute Diplomaten gibt? Sollte nicht gerade die
ungeheure Selbstverleugnung, die dem Diplomaten auf Schritt und Tritt auf¬
erlegt wird, der Grund für viele sein, dem Beruf den Rücken zu kehren noch
ehe sie recht dazu gekommen ihre Fähigkeiten zu beweisen? Der moderne
Diplomatenberuf ist dem des forschenden Gelehrten vielleicht der ähnlichste: wie
dieser die ihn bewegenden Probleme erst im emsig arbeitenden Hirn ausreifen
lassen muß, ehe er das Ergebnis der Öffentlichkeit übergeben darf ohne darauf
zu rechnen, freudig begrüßt oder gar verstanden zu werden, so durchforscht der
tüchtige Diplomat in einsamer Denkarbeit die Realitäten des internationalen
Lebens, um die Aufgaben, die die Nation ihm stellt — nicht im demokratischen
Sinne, sondern im Sinne historisch begründeter Möglichkeiten — auszuführen.
Und findet er sich auf der Höhe seiner Aufgaben, so wird der Diplomat
zum schaffenden Künstler, der mit zarter Keuschheit formt und knetet an den
politischen Problemen, nur selten beglückt von der Gewißheit, noch persönlich
den Ruhm ernten zu können, den seine Arbeit verdient. Solch ein Glücklicher
unter den Diplomaten war Fürst Bismarck, jener vorsichtig wägende und kühn
zupackende deutsche Staatsmann, der bis zur Reichsgründung stets die Mehr¬
heit gegen sich hatte. Heute feiern sie ihn wegen seiner sichtbaren Erfolge, aber
vergessen, daß seine heldenhaftesten Leistungen in der Vorbereitung jener Er¬
folge liegen, und daß es gerade jene dunklen Jahre sind, die durch das Wort
Olmütz beschattet werden, in denen die wahre Größe unseres Nationalhelden
erprobt wurde.
Deutschland hat im vorigen Jahre in der internationalen Politik durch eine
Situation hindurchgehen müssen, die seitens der Opposition als ein zweites Olmütz
bezeichnet wurde. Wir haben stets einen entgegengesetzten Standpunkt eingenommen,
in dem Bewußtsein, daß das Reich seine Kräfte nicht zersplittern durste. Die verant¬
wortlichen Diplomaten haben in der ganzen Zeit der Marokkokämpfe eine solche Fülle
von Selbstbeherrschung bewiesen und haben sich trotz der schwersten Angriffe so frei
von jeder Eitelkeit gezeigt, daß sie uns auch da die größte Hochachtung ab¬
nötigen, wo wir mit den einzelnen Maßnahmen nicht einverstanden sein können.
Und ich denke mir, daß von dieser Hochachtung aus sich auch das Vertrauen
entwickeln wird in die weitere Führung unserer internationalen Geschäfte. Die
Neuordnung der Balkanfrage steht schon seit Jahren vor der Tür. Aber noch
in keinem Stadium hat sie so sehr den Stempel einer Aktion gegen den Drei¬
bund getragen, wie gegenwärtig. Und wie Preußen seinerzeit der „deutschen
Einheitsfrage" Rechnung tragen mußte, so trägt heute die auswärtige Politik
Deutschlands der „mitteleuropäischen" Rechnung: unsere Diplomatie treibt
reichsdeutsche Politik im Rahmen des Dreibundes, dieses seit mehr
als zwanzig Jahren als Friedenshort erprobten Gefüges. Das Attentat auf
den Dreibund, das in dem Vorgehen Englands und Rußlands und der kleinen
Balkanstaaten lag, mißglückte an der Festigkeit des Dreibundes: Österreich-
Ungarn und Italien haben durch ihr Verhalten bewiesen, welchen Wert für sie
der Bund hat. Dieses durch den schnellen Friedenschluß zu Ouchy, jenes durch
die Bereitwilligkeit, mit der es — trotz schwerwiegendster Bedenken — die
Hand zur Verständigung mit Rußland geboten. Der Dreibund ist nicht nur
intakt geblieben, der ihn angreifende Dreiverband erzittert in seinen Fugen,
nachdem sich herausgestellt hat, daß die französischen Interessen denen der
deutschen Nation viel verwandter sind als denen Englands, nachdem sich weiter
herausgestellt hat, daß Albion durchaus nicht geneigt ist seinem russischen Freunde
in dessen Bestreben die Dardanellenstraße zu beherrschen, beizustehen. So sind
an der Lokalisierung des Balkankrieges zwar die realen Verhältnisse schuld,
aber das Verdienst sie richtig bewertet und die gewonnene Erkenntnis recht¬
zeitig in die Wagschale geworfen zu haben, müssen wir diesmal doch den Diplo¬
maten zugestehen. Und aus dieser Feststellung ziehe ich den weiteren beruhigenden
Schluß, daß unsere Diplomaten auch befähigt sein werden, den Augenblick richtig
zu erkennen, wenn die Entscheidungen der internationalen Politik in die Hände
der Armecleitung zu legen sein werden.
Die „Lokalisierung" des Balkankrieges und die Vereinbarung der
Mächte, wonach territorial der solus quo auch der Balkanhalbinsel, soweit
es sich um die Türkei handelt, erhalten bleiben soll, legt die Frage
nahe, wer denn nach dem Kriege, in dem doch irgendjemand Sieger
bleiben oder unterliegen muß, die Zeche bezahlen soll. Bisher sind alle die
Großmächte in Mitleidenschaft gezogen, deren Balkanhandel durch den Krieg
berührt wird; der Ausgang des Krieges, wird das wirtschaftliche Interesse
derer unter ihnen verletzen, die auf der falschen Seite standen. Welches aber
ist die richtige Seite?
Wir stehen erst am Anfang des Ringens. Die großen Gegner sind Türken
und Bulgaren. Ihre Heere scheinen einander ebenbürtig. Für den Krieg selbst
scheint Bulgarien in seinen Bundesgenossen eine willkommene Kräftigung zu er¬
halten; ob beim Friedensschluß die Freundschaft besonders Serbiens noch als
Vorteil empfunden werden wird, scheint mir fraglich. — So läßt sich denn auch
heute noch nicht sagen, wer denn die Zeche bezahlen wird und auf Prophe¬
zeiungen möchte ich mich nicht einlassen. Für Deutschlands Handel und sonstige
Interessen als ganzes genommen erscheint es mir gleichgültig, wer die Balkan¬
halbinsel beherrscht — die Türkei oder Bulgarien. Ein Wechsel der bisherigen
Verhältnisse würde einige Unbequemlichkeiten nach sich ziehn, würde einige Per¬
sonalveränderungen bedingen, würde vielleicht die Chancen einiger Privatunter¬
nehmer verschieben — aber mehr auch nicht.
Anders steht es für die Mächte des Dreiverbandes.
Als der erste Schuß auf dem Balkan fiel war es nicht so sehr die Tat¬
sache, daß ihn der Kronprinz von Montenegro abfeuerte, die den Dreiverband¬
diplomaten den Schreck in die Glieder jagte, als vielmehr das Schießen an
sich. An der Themse und an der Newa fühlt man sich so ähnlich wie der
Zauberlehrling in Goethes Gedicht. Der Krieg ist da und man glaubte doch,
mit einem Bluff zu erreichen, was nun auch durch den Krieg nicht erreicht
werden dürfte. Jetzt, wo es Ernst wird, wünschen die Herren den Krieg
schleunigst beendigt zu sehen. Im Stillen hofft man. der Himmel werde ein
Erbarmen haben und die Wege auf dem Kriegsschauplatz in Sümpfe verwandeln
oder aber so viel Schnee herniedersenden, daß an Kriegführen nicht zu denken
wäre. Dem gleichen Mißbehagen scheint auch der Konferenzgedanke ent¬
sprungen, den Frankreich eifrig propagiert und der von England und Rußland
verständnisvoll aufgenommen wurde. Frankreichs Sorge um die schleunige
Wiederherstellung des Friedens ist verständlich; seine Interessen an Balkan¬
fragen lassen sich durch die Zahl 4000000000 veranschaulichen und der
bisherige 8tatu8 quo ist den französischen Kapitalisten genehm gewesen. Von
einer Verschiebung der Kräfte läßt sich aber eine Erweiterung des französischen
Einflusses um so weniger erwarten, als die geographische Lage Frankreichs dieses
mit Heer und Flotte noch mehr in den Hintergrund drängt, wie Deutschland.
Frankreich ist ebenso wie Deutschland durch je eine Dreibundmacht von der
Balkanhalbinsel getrennt. Während Frankreich und Deutschland an diesem
Balkankriege schon aus wirtschaftlichen Gründen kein Interesse hatten,
haben England und Rußland ihr Interesse von dem Augenblick an ver¬
loren, seit es feststeht, daß auch nach dem Kriege am territorialen Besitz der
Türkei nichts geändert, daß also nur das erreicht werden soll, was die Türkei selbst
schon längst freiwillig zugestanden hat: Reformen in Albanien und Maze¬
donien. Beim Dreibund liegen die Interessen heute etwas anders. Nachdem
der Krieg gegen die Warnungen der Dreibundmächte doch ausgebrochen
ist, wäre es schade an das vergossene Blut, wenn er vor reinlicher Fest¬
stellung der wirklichen Kräfteverhältnisse in einer Konferenz versumpfen sollte.
Leidet auch im Augenblick unser Orienthandel, so dürfen wir solches doch in
Kauf nehmen im Hinblick auf die Vorteile, die sich sür uns aus der Herstellung
kl
Die Frage, ob die Schaffung eines Reichs-Petroleum-Handelsmonopols
zweckmäßig sei, hat nicht nur die Regierung, sondern auch die zunächst inter¬
essierten kaufmännischen Kreise seit dem Tage eingehend beschäftigt, an dem der
Reichstag den bekannten nationalliberalen Antrag Bassermann, Dr. Stresemann
und Genossen annahm, durch den die Regierung aufgefordert wurde, sich die
Bestrebungen der Standard Oil Co., die zirka 80 Prozent des deutschen Bedarfs
an Petroleum deckt, näher anzusehen. Das Ergebnis der Erhebungen
der Regierung stimmt nicht ganz mit dem Ergebnis der Erwägungen
der kaufmännischen Kreise überein. Während die Regierung das Bedürfnis
nach Schaffung jenes Monopols bejaht, haben sehr namhafte amtliche Handels¬
vertretungen es entschieden verneint. Allerdings waren die meisten Handels¬
kammern sich darüber einig, daß die heutige Versorgung Deutschlands mit
Petroleum keineswegs ideal sei und daß, falls es der Standard Oil Co. ge¬
lingen würde, ihre Konkurrenz an die Wand zu drücken, die Petroleumpreise
zum Schaden vieler Millionen Konsumenten ins Ungemessene steigen könnten.
Wenn viele Handelskammern trotz dieser Erkenntnis das Reichsmonopol ab¬
lehnten, so geschah es, weil sie annahmen, daß erstens durch dasselbe die
gegenwärtigen Zustände wenig geändert würden, da das Reich auch bei Vor¬
handensein des Monopols von der Standard Oil Co. abhängig bliebe, und
daß zweitens die nicht zu unterschätzende Gefahr bestehe, das Reich könne in
schweren Zeiten das Monopol im fiskalischen Sinne ausnutzen, sich durch das
Monopol neue Einnahmequellen erschließen und gerade die weniger bemittelten
Klassen, die wichtigsten Verbraucher des Leuchtöls, mit einer finanziell äußerst
wirksamen neuen Verbrauchsabgabe belasten. Unter noch manchen anderen
Argumenten sind diese beiden die wesentlichsten, regelmäßig wiederkehrenden in
den Äußerungen der Handelskammern. Die Regierung sucht sie zu widerlegen,
indem sie erklärt, die von ihr vorgenommenen Erhebungen hätten ergeben, daß
es nicht unerreichbar erscheine, sich durch geeignete Verträge die für Deutschland
erforderlichen Ölmengen zum größten Teil ohne Inanspruchnahme der Standard
Oil Co. zu sichern. Das ist eine zwar erfreuliche, aber außerordentlich vor¬
sichtig formulierte Erklärung. Wer bürgt für das Zustandekommen „geeigneter"
Verträge? Was heißt „zum größten Teil"? — Der Befürchtung einer fiskalischen
Ausnutzung des Monopols sucht die Regierung durch die Erklärung zu begegnen,
daß sie unter keinen Umständen eine neue Verbrauchsabgabe schaffen wolle.
daß die zu bildende Vertriebsgesellschaft mit allen Mitteln auf die Verbilligung
des Leuchtöls hinarbeiten solle und daß der etwaige Gewinn aus dem Monopol
der Allgemeinheit im Wege der Erfüllung wichtiger sozialpolitischer Forderungen
zugute kommen werde. ,
Man wird das Zutrauen zu unserer Regierung haben dürfen, daß
ihre Erklärungen das Ergebnis durchaus zuverlässiger und unantastbarer
Erhebungen sind. Sollte es ihr demgemäß gelingen, sich eine gewisse
Ellbogenfreiheit gegenüber der Standard Oil Co. zu erhalten und vor allem
zu verhindern, daß etwa die Standard Oil Co. sich mit ihren derzeitigen
Konkurrenten über den Kopf der Reichsregierung hinweg die Hände reicht
zu gemeinsamer Preisfestsetzung — was in einem derartigen Falle werden
soll, ist schlechthin nicht auszudenken —, sollte es ihr serner gelingen, die Preise
des Petroleums unter dem jetzigen, jedenfalls nicht über dem gegenwärtigen
Stande zu halten, jede fiskalische Ausnutzung des Monopols abzulehnen, so
wären eine Reihe sehr gewichtiger Bedenken gegen das Monopol hinfällig und
man könnte denjenigen beipflichten, die zwar grundsätzlich jedes Monopol
verwerfen, aber immerhin ein Reichsmonopol dem Monopol einer ausländischen
Erwcrbsgesellschaft gegenüber als das kleinere Übel ansehen und daher vorziehen.
Der Kleinhandel dürfte von dem Reichs-Petroleummonopol profitieren,
was ihm von Herzen zu gönnen wäre. Durch das Vorgehen der Standard
Oil Co., die bestrebt war, den Zwischenhandel möglichst auszuschalten und den
Vertrieb des Petroleums von der Quelle bis zur Lampe selbst durchzuführen,
ist der Kleinhandel seit Jahren schwer geschädigt worden. Wenn ihm geholfen
werden könnte, ein Stück seines ehemaligen Tätigkeitsgebietes wieder zu
gewinnen, so wäre das sehr zu begrüßen. Nicht die letzte Voraussetzung für
das Zustandekommen des Monopols sollte daher sein, Gewißheit darüber zu
schaffen, welche Wirkung es auf den Kleinhandel haben wird.
Pressenachrichten gemäß bemüht sich die Standard Oil Co., die amerikanische
Regierung zu veranlassen, bei der deutschen Regierung zu intervenieren, um
das Zustandekommen des Monopols zu verhindern. Es wäre nicht sehr über¬
raschend, wenn die Union, die zwar sür sich selbst mit beachtenswerter Konsequenz
die Monroe-Doktrin in Anspruch nimmt, sich diesen Bemühungen zugänglich
zeigte. Einer derartigen Intervention dürfte die Reichsregierung jedoch mit
Ruhe entgegensehen, da sie sie als einen unfreundlichen Akt und eine unerwünschte
Einmischung in unsere Verhältnisse zurückweisen könnte. Das Reichsmonopol
richtet sich nicht gegen das amerikanische Petroleum als solches, bezweckt auch nicht
die Unterstützung außeramerikanischer Lieferanten, sondern es wendet sich allein
gegen die Monopolgelüste einer amerikanischen Gesellschaft, die zwar den größten
Teil des in der Union geförderten Petroleums kontrolliert aber bei weitem
nicht alles.
Abzuwarten bleibt, ob der von der Negierung erwartete Gewinn durch
das Monopol sich einstellen wird und damit Mittel für sozialpolitische Aufgaben
und Zwecke bereit gestellt werden können. Für den Fall des Zutreffens dieser
Erwartung sind bereits Verwendungsvorschläge gemacht worden. Vielleicht ist
das etwas frühzeitig geschehen. Aber da es nun einmal geschehen ist, so möge
vor allem ein Vorschlag zur Erörterung gestellt werden. Es ist dieser: Der
Gewinn aus dem Reichs-Petroleummonopol ist in erster Linie zur
Förderung der Jnnenkolonisation zu verwenden. Die Jnnenkolonisation
gehört zwar nach der herrschenden Auffassung nicht zu den sozialpolitischen
Aufgaben im engeren Sinne, aber darüber kann doch kein Zweifel mehr sein,
daß sie eine Angelegenheit von so eminenter Wichtigkeit und von so schwer¬
wiegender Bedeutung auch für unsere Sozialpolitik ist, daß ihre weitestgehende
Fö
Die Börse blickt auf außerordentlich bewegte Wochen zurück. Seit der
Krisis von 1907 ist kein solcher Sturm über die Effektenmärkte dahingebraust,
wie in diesen Oktobertagen. War schon der Zusammenbruch gleich nach dem
Bekanntwerden der serbisch-bulgarischen Mobilmachung schlimm, so war er doch
nur der Auftakt zu den fast beispiellosen Vorgängen, welche sich am 11. und
12. Oktober an den europäischen Börsen abspielten. Wäre der Allsbruch des
Weltkrieges Tatsache gewesen, die Kopflosigkeit und Bestürzung hätte nicht größer
sein können. Wahllos wurden die Effekten aus den Markt geworfen, zu jedem
Preise suchte man sich seines Besitzes zu entledigen, aus blinder Furcht, nur
nicht der Letzte sein zu müssen. Solchem Verkaufsandrang war der Markt nicht
gewachsen. Woher hätten auch in solchen Augenblicken Käufer kommen sollen,
die bereit waren, die weggeworfene Ware aufzunehmen? Der sicherste Halt des
Marktes in kritischen Zeiten, eine starke Kontermine, welche bei sinkenden Kursen
zur Deckung schreitet, war nicht vorhanden. Die Großbanken abir, die durch
den neuen Kurssturz ebenfalls überrascht waren, intervenierten zunächst nicht —
teils weil die Situation unübersichtlich war, teils weil eine gemeinschaftliche
Verständigung, die doch die Voraussetzung tatkräftigen und wirksamen Ein¬
greifens gewesen wäre, nicht stattgefunden hatte. Es verlautete, daß einer solchen
Verständigung zunächst Etikettenfragen und Eifersüchteleien im Wege gestanden
Hütten — eine Lesart, die nach dem später bekanntgewordenen Verhalten der
Großbanken in der Angelegenheit des Petroleummonopols nicht gerade unwahr¬
scheinlich klingt. Wie dem aber auch sei, zunächst fehlte jedenfalls ein positives
Eingreifen, wenn auch vielleicht eine gewisse Hilfe insofern geleistet wurde, als
die Kundschaft nicht durch die Banken selbst in rigoroser Weise zum Verkauf
gedrängt wurde. Die Selbstexekutionen waren ja schon schlimm genug. Jene
beiden Tage hatten eine Verwüstung des Kursniveaus zur Folge, wie sie in
dieser Heftigkeit seit Jahr und Tag nicht zu beobachten war. Das Bedenklichste
an dieser Panik war, daß sie sich Nicht auf unsere Börsen beschränkte; umgekehrt
ging die neue Erschütterung vielmehr von den ausländischen Börsen aus.
Wien, Paris, Petersburg befanden sich in einem Zustande, der der Auflösung
nahekam. An diesen Börsen hatte die Überspekulation viel weitere Kreise
gezogen als bei uns; in Paris waren die russischen Jndustriewerte, in Wien
die österreichischen derart in die Höhe getrieben, daß sie in vielen Fällen nur
noch eine Rente von 2 Prozent gewährten. Dazu kam das starke Interesse,
welches der französische Markt an Balkanwerten, namentlich an den türkischen,
serbischen und griechischen Anleihen besitzt. So war denn die Erschütterung in
Wien und Paris noch viel heftiger als in Berlin. Die genannten schweren
Jndustriewerte wie Sosnowice, Briansk, Maltzoff, Tula stürzten um mehrere
hundert Franken, 4prozentige Russen verloren 9 Prozent, Serben nicht weniger
als 21 Prozent.
Dieser bedrohliche Zustand der Börsen ließ nunmehr ein Eingreifen
erforderlich erscheinen. Die Berliner Banken vereinigten sich zu einem Jnter-
ventionskonsortium; allenthalben nehmen die Regierungen der Großmächte
Gelegenheit, durch beruhigende Erklärungen der Kriegsfurcht entgegenzuwirken
und zu betonen, daß zufolge freundschaftlicher Vereinbarung der ausbrechende
Balkankrieg lokalisiert bleiben würde. Diese Maßnahmen verfehlten ihre
Wirkung nicht. Insbesondere die außerordentlich zuversichtlichen Erklärungen
des deutschen Staatssekretärs bei dem Festmahl der Ältesten der Kaufmannschaft
in Berlin verjagten den letzten Nest der Besorgnis, daß die unmittelbare Folge
der Balkanwirren ein europäischer Krieg sein werde. Als dann noch der
Friedensschluß zwischen Italien und der Türkei endlich zur Tatsache geworden
war, hatte man allenthalben den Ereignissen gegenüber soviel Fassung gewonnen,
daß auch die Eröffnung der Feindseligkeiten auf dem Balkan und die formellen
Kriegserklärungen mit Gleichmut hingenommen wurden. Ja, der Umschwung
der Meinung war so vollständig, daß umfangreiche Rückkäufe eine stürmische
Erholung der Kurse zur Folge hatten—eine Übertreibung, die, wie der weitere
Verlauf der Dinge schon gezeigt hat, nicht zu rechtfertigen ist und sich von selbst
korrigieren muß. Immerhin darf man der Ansicht sein, daß die Spelulations-
krisis, welche sich an die plötzliche Aufrollung des Balkanproblems anschloß,
zunächst überwunden ist. Augenblicklich sind weitere Komplikationen unter den
Großmächten nicht zu fürchten; mit dieser Gewißheit ist Raum für eine nüchterne
Abschätzung der Sachlage und sür eine objektive Beurteilung der Zukunft gegeben.
Zunächst aber ist es wichtig, die Folgerungen aus den Ereignissen der jüngsten
Zeit zu ziehen und deren Lehren zu beherzigen.
So gefährlich die Situation der Börse an den kritischen Tagen sich dar¬
stellte, so ist doch mit Befriedigung zu konstatieren, daß die Widerstandskraft
des Marktes und der Spekulation eine bemerkenswert große gewesen ist. Trotz
der enormen Kursverluste ist keine irgendwie belangreiche Insolvenz vorgekommen.
während bei früheren Zusammenbrüchen des Marktes massenhafte Bankerotte die
Regel waren. Und zwar hat sich die Berliner Börse auch in dieser kritischen
Zeit besser gehalten als die Pariser. Helfferich hat schon auf dem Münchener
Bankiertag darauf hingewiesen, daß bei der vorjährigen Marokkokrisis Berlin
größere Widerstandskraft an den Tag gelegt habe als Paris — eine Behauptung,
die er jetzt im einzelnen ziffernmäßig durch Vergleichung der Kurse und Zinssätze
in einem Artikel des Bankarchws belegt — und er kann den gleichen Nachweis
auch bei der jüngsten Krisis führen. Diese größere Schwäche des Pariser Marktes
ist natürlich darauf zurückzuführen, daß, wie oben hervorgehoben, die all¬
gemeinen Verhältnisse bei ihm ungünstiger lagen: die Überspekulation war
ungesunder und erstreckte sich gerade auf russische Werte, die infolge der nahen
Beteiligung Rußlands an den Wirren als besonders gefährdet gelten mußten.
Aber der Zusammenbruch des Marktes war doch so stark, daß er auch die
französische Rente in seinen Bereich zog; sie verlor in den kritischen Tagen
2,40 Prozent. Ebenso wurde in Wien die österreichische und ungarische Rente
mit in den Strudel gezogen: sie büßten 3,10 und 2,90 Prozent ein. Dagegen
sind die preußischen 3^/zproz. Konsols von dem allgemeinen Rückgang fast
unberührt geblieben. Sie weisen nur ein halbes Prozent Kursunterschied auf
und haben sich damit von allen europäischen Renten am besten gehalten. Dies
ist ein Ergebnis, mit dem wir sehr zufrieden sein können. Deutschland steht an
finanzieller und wirtschaftlicher Widerstandskraft seinen Konkurrenten nicht nach.
Wer trotz aller Nachweise noch daran zu zweifeln wagen wollte, den mag die
gegenwärtige Entwicklung der Geldverhältnisse eines besseren belehren.
England und Frankreich haben ihren Banksatz erhöht — die deutsche Reichsbank
fühlt sich einstweilen noch stark genug, ihren Zinsfuß, der jetzt ein halbes Prozent
niedriger ist als der englische, festzuhalten. Englische Wechsel suchen jetzt den
deutschen Markt auf, um sich den billigeren Zinssatz zunutze zu machen. Dabei
muß, worauf hier schon wiederholt hingewiesen worden ist, Deutschland nur
mit seinen eigenen Kräften haushalten — fremde Gelder sind, wie der Neichs-
bankprästdent kürzlich konstatieren konnte, nicht mehr im Lande. Umgekehrt hat
heute Deutschland erhebliche kurzfristige Forderungen an das Ausland und einen
großen Besitz an fremden Wertpapieren.
Trotz dieser günstigen Situation sollte man die Lehren der jüngsten
Krisis beherzigen und von den eigenen und den Fehlern anderer lernen. Das
ganze wirtschaftliche Leben war bei uns wie anderswo zu sehr auf den Optimismus
eingestellt. Man sah nur auf die glänzende Seite der wirtschaftlichen Entwicklung
und glaubte so handeln und disponieren zu dürfen, als könne dieser nur aus
sich selbst und nicht von außen Gefahr drohen. Das ist um so merkwürdiger,
als gerade die letzten Jahre unter dem Zeichen der politischen Spannung der
Großmächte gestanden haben. Da man sich aber gewöhnt hatte, die politische
Lage lediglich nach dem Stand des Verhältnisses Deutschlands zu England und
Frankreich zu beurteilen, so übersah man völlig, daß die Gefahr auch in einem
anderen Winkel aufflammen könnte. Eine so einseitige Orientierung ist in wirt¬
schaftlichen Dingen unheilvoll. Gerade bei günstigen Zeiten muß der Kaufmann
wie der Industrielle eine Dosis Pessimismus sich bewahren, wenn er richtig
disponieren will. Nur auf diese Weise ist es möglich, der Gefahr der Über¬
anspannung, der Überproduktion und Überspekulation zu entgehen. Wenn nun
auch augenblicklich nach allgemeiner Überzeugung der europäische Frieden trotz
des Balkankrieges nicht als bedroht anzusehen ist, so wäre es doch ein schwerer
Fehler, diesen Krieg, bloß weil er lokalisiert ist. als nicht vorhanden anzusehen.
Die Börse schien hierzu im ersten Augenblick, wie das Aufschnellen der Kurse
bewies, nicht übel Lust zu haben. Aber nicht nur die Börsenspekulation, auch
die Industrie scheint teilweise geneigt, den Einfluß eines lokalisierten Balkan¬
krieges auf den Gang des Wirtschaftslebens gering einzuschätzen. Man hält
die augenblickliche Weltkonjunktur für so stark und in sich gefestigt, daß die
Störung im Südosten Europas ihr nichts anhaben kann. Die augenblickliche
Verschlechterung der Börsenlage ficht die Industrie wenig an, denn dringende
Emissionswünsche dürften, nachdem die großen Expanftonsprojekte durchgeführt
sind, zurzeit kaum bestehen. Die Geldverhältnisse sind zudem weit günstiger als
zu erwarten war, so daß wohl auch die Frage der Beschaffung industrieller
Kredite trotz der proklamierten Zurückhaltung der Banken keine wesentlichen
Schwierigkeiten bieten wird. Man glaubt daher in industriellen Kreisen, sich
von der hochgehenden Welle der Konjunktur emportragen lassen zu dürfen und
die Gunst des Augenblicks nach Kräften ausnützen zu müssen. Die Preis¬
erhöhungen des Roheisenverbandes, noch mehr die des Kohlensyndikats sind
ein treffender Beweis für diese Auffassung. Das Kohlensyndikat fühlt sich der¬
maßen als Herr der Situation, daß es kein Bedenken getragen hat, die jüngste
Preiserhöhung gegen den Willen des Fiskus zu dekretieren und es hierüber mit
dem letzteren zum Bruch kommen zu lassen. Der Fiskus hat sein Abkommen
mit dem Syndikat gelöst und öffentlich dokumentiert, daß er diese Preispolitik
des Syndikats für ungerechtfertigt und gemeinschädlich hält. Hier wird der
Industrie in einer wohl noch nie dagewesenen Art und Weise von Amts wegen
attestiert, daß sie den Bogen überspannt und sich in Gegensatz zu den
Forderungen stellt, die im Interesse der Konsumenten erhoben werden müssen.
In der Tat ist das Verhalten des Kohlensyndikats nur schwer begreiflich.
Man muß sich vergegenwärtigen, daß der Beitritt des Fiskus, welchem die
Einigung mit den übrigen Außenseitern folgte, für das Syndikat eine
nicht hoch genug zu schätzende Errungenschaft bedeutete. Denn durch diese
Einigung wurde das Kohlensyndikat des kostspieligen Wettbewerbs mit den
syndikatfreien Zechen überhoben. Diese Konkurrenz hatte zu den so drückend
empfundenen Umlagen geführt, welche zuletzt eine Höhe von zwölf Prozent des
Bruttoerlöses erreicht hatten und den größten Mißmut unter den Mitgliedern,
das heißt vor allem den reinen Zechen hervorriefen. Die Folgen der Einigung
waren daher in finanzieller Beziehung äußerst weittragend. Nicht nur, daß
unmittelbar darauf eine Preiserhöhung stattfinden konnte, welcher der Fiskus
zustimmte, sondern es gelang auch, alsbald die Anlage um volle 3 Prozent
zu ermäßigen. Aus dieser Ermäßigung aber resultieren die Mehrgewinne,
welche das abgeschlossene und laufende Geschäftsjahr für die Kohlenzechen so
erträgnisreich gestaltet haben. Bei der Harvener Gesellschaft beispielsweise
ist infolge der Ermäßigung der Anlage ein Mehrgewinn von nicht weniger
als 2^/2 Millionen Mark, im letzten Quartal sogar ein solcher von 600000 Mark
entstanden. Da nun die Absatzverhältnisse sich ferner so günstig gestalteten,
daß die Förderungseinschränkung für Kohlen völlig und für Koth zum wesent¬
lichen Teile aufgehoben werden konnte, so lag in der Tat vom geschäftlichen
Standpunkt kein Grund vor, jetzt zu einer so umfassenden und beträchtlichen
Preiserhöhung zu schreiten. Gegen eine solche sprechen nicht nur die Rück¬
sichten auf den privaten Konsum, der durch diese Preispolitik in einer Zeit der
Teuerung schwer belastet wird, sondern auch alle Gründe, die eine möglichste
Schonung der Kohlen verbrauchenden Industrie fordern. Diesen Bedenken hat
der Fiskus Ausdruck gegeben und hat. als das Syndikat diesen nicht Rechnung
trug, von seinem Vorbehalt Gebrauch machend, das Abkommen gekündigt. Das
Syndikat aber hat nicht nur die Öffentlichkeit über die wahre Stellungnahme
des Fiskus falsch informiert, fondern durch den Mund seines Leiters Kirdorf
sich höhnisch dahin geäußert, daß mit einem so schwerfälligen Kontrahenten wie
dem Fiskus nicht zu paktieren sei. Es ist kein Zweifel, daß die Öffentlichkeit
geschlossen auf Seite des Handelsministers stehen wird, dem lebhafter Dank
dafür gebührt,, daß er so entschlossen das Tafeltuch zwischen sich und dem
Syndikat zerschnitten hat. Der Vorfall ist ein deutlicher Beweis dafür, ein
wie gefährliches Instrument ein Privatmonopol ist, wenn nicht eine wirk¬
same Rücksichtnahme auf das öffentliche Wohl verbürgt ist. Das Syndikat
spielt ein gefährliches Spiel. Man braucht nicht zu verkennen, daß unter den
gegenwärtigen Produktionsformen die Kartellierung bis zu einem gewissen Grad
ein Gebot der Notwendigkeit ist, um regelloser Erzeugung zu steuern und der
Vergeudung wirtschaftlicher Kraft Einhalt zu tun und doch der Ansicht sein,
daß eine öffentlich-rechtliche Kontrolle der Preispolitik durch das Gemeinwohl
gefordert wird. Die neuzeitliche Entwickelung drängt entschieden dahin,
den Staat mit der Kontrolle solcher für die Gesamtheit aller Staats¬
bürger wichtigen und unentbehrlichen Gewerbserzeugnisse zu betrauen. In
der Richtung dieser Entwicklung lag die vor einigen Jahren eingeführte Be¬
schränkung der Bergbaufreiheit, in derselben liegt in noch höherem Grade das
jetzt zur Diskussion stehende Reichspetroleummonopol. Das Verhalten des
Kohlensyndikats kann nur dahin führen, auch solche Kreise, welche einem so weit
reichenden Eingriff des Staats in die Regelung wirtschaftlicher Verhältnisse
zweifelnd gegenüberstehen, mit dieser staatssozialistischen Politik zu befreunden.
Verantwortlich: der Herauegeber George Tleinow in Schöneberg. — Manuskriptsendungen und Buche werden
erbeten unter der Adresse:
An den Herausgeber der Grenzlinien in Frieden«» bei Berlin, Hedwigstr. 1».
Fernsprecher der Schriftleitung: Amt Uhland ZWO, des Verlags: Amt Lützow 6610.
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b. H in Berlin SV. 11.
Druck: „Der Reichsbote" G. in. b. H. in Berlin SV. 11. Dessau-r Straße 8S/S7.
Neuer deutscher Hausrat 55^:
Künstlern habenwirbestimmteflrbeitsartenMaße unüNormen festgelegt uns Somit
eine wesentliche verbilligung unserer flrbeit erreicht. Mir streben mit siehen zweck¬
dienlichen uns zeitgemäßen, schönen uns preiswerten Hausrat nach einem Seutsihen
Stil. Das Ergebnis ? »jähriger flrbeit zeigt unser neues preisbuch v 78 mit über
Stoffe^Teppiche^Heleuchtungskörper^GartenmöbelHellem», bei Vresöm
Dresüen,Ntngstr.is
München,LU',°bach"
Herlitt, Sellevuestv.lO
Hannover, Wz-«
u einer gedeihlichen Entwicklung des Staates ist es notwendig,
daß er alle Kräfte des Volkes zu einem einheitlichen Wirken
zusammenfassen kann. Das vornehmlichste Werkzeug zur Durch¬
führung des Gesamtwillens sind die Beamten. Für sie ist daher
die Unterordnung des eigenen Willens unter den der Gesamtheit
selbstverständliche Pflicht, und diese Unterordnung kommt zum Ausdruck im
Gehorsam gegen den Vorgesetzten. Wer das nicht anerkennen will, ist zum
Beamten nicht geeignet.
Dem gegenüber aber steht die Tatsache, daß der Beamte keine bloße
Maschine ist und auch nicht sein darf; und so notwendig eine feste einheitliche
Leitung des Ganzen ist, so notwendig ist auch die selbständige Verantwortlichkeit
der unteren Organe für die Art der Ausführung und deren Anpassung an die
ihnen anvertrauten Interessen. Unter Umständen müssen sie es als Pflicht
empfinden, auf hervortretende Übelstände hinzuweisen und für deren Abstellung
einzutreten. Wo das gehindert wird, verlieren die leitenden Behörden den Blick
für die tatsächlichen Verhältnisse, und die unteren Organe werden an rein
äußerliche Anwendung der Schablone gewöhnt. Das führt zur Verknöcherung.
Erhöhte Bedeutung für das Gemeinwohl kann das Gefühl der selbständigen
Verantwortlichkeit bei den Beamten in politisch erregten Zeiten erhalten. Es
ist dann in ihm ein Schutz gegen einseitige Ausnutzung der Macht durch augen¬
blicklich regierende Parteien gegeben.
Der hier ausgesprochenen Forderung, daß, unbeschadet der Gehorsamspflicht,
die Selbständigkeit der Beamten gewahrt wird, entspricht unser Beamtenrecht
auch im allgemeinen. Die grundsätzliche Unabsetzbarkeit sichert sie in hohem
Grade gegen Launen und Willkürlichkeiten der Vorgesetzten, und diese Sicherheit
ist in neuester Zeit ganz erheblich dadurch erhöht worden, daß die Besoldung
nach dem Dienstalter allgemein durchgeführt wurde.
Dazu kommt, daß im allgemeinen das Recht der Untergebenen schon in
dem Wohlwollen und der Gewissenhaftigkeit der Vorgesetzten seinen Schutz findet.
Nur schwer und nach vielfacher Erwägung entschließen sich die vorgesetzten Be¬
hörden zu härteren Strafen.
Trotzdem ist das noch jetzt gültige, das Disziplinarverfahren gegen die nicht
richterlichen Beamten regelnde Gesetz vom 21. Juli 1852 reformbedürftig, wie auch
in den Verhandlungen des Abgeordnetenhauses am 7. Februar d. I. von allen
Parteien in höherem oder geringerem Grade anerkannt wurde. Es entspricht
nicht mehr dem neuzeitlichen Empfinden.
Die Anschauungen find andere geworden.
Früheren Zeiten erschien die Unterordnung des einen Standes unter den
anderen als etwas Natürliches und Gottgewolltes; erst offensichtlicher Mißbrauch
der Macht erregte Unwillen. Diese willige Unterordnung vor dem Höheren,
bloß weil er höher ist, haben wir nirgends mehr. Wir haben unsere Kinder
so erzogen, daß sie wissen, sie sind um ihretwillen, nicht um der Eltern willen
da. Die Eltern selbst verlangen die Anerkennung ihrer Autorität nur, soweit
es durch ihre überlegene Lebenserfahrung berechtigt ist, und auch gut geartete
Kinder würden ein anderes Verhalten der Eltern als unberechtigte Unterdrückung
empfinden. Dieselbe Änderung sehen wir in dem Verhältnis zwischen Lehrern
und Schülern, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Überall genügt nicht
mehr der gute Wille des Befehlenden, es recht zu machen, er muß auch recht
haben, und dem Gehorchenden muß auch verständlich sein, daß dem so ist.
Gewiß ist dadurch die Stellung des Höheren schwieriger geworden, aber
darum wird nicht schlechter gehorcht. Achtungsverletzungen der Kinder gegenüber
den Eltern haben schwerlich zugenommen, die allgemeine Schulzucht ist nicht
schlechter geworden, und die Ordnung in einer Fabrik auch mit sozialdemo¬
kratischer Arbeiterschaft hält sicherlich den Vergleich mit der in den besten Arbeits¬
stätten der alten Handwerksmeister aus. Daß die Gesetze von der Gesamtheit
der Bevölkerung weit besser geachtet werden als in früheren Jahrhunderten,
darüber ist doch gar nicht zu reden, und die Staatsgewalt setzt ihren Willen
bis in die entlegensten Orte ganz anders durch, als das bei den früheren
absoluten Herrschern der Fall war.
Dieser Entwicklung des allgemeinen Lebens dürfte der tatsächliche Verkehr
zwischen Vorgesetzten und Untergebenen im allgemeinen gefolgt sein, und gewiß
wird die große Mehrzahl der Vorgesetzten lieber durch Überzeugung als durch
einfache Anwendung der Dienstgewalt auf den Untergebenen einzuwirken suchen.
Aber Reibungen kommen doch vor. Der Vorgesetzte kann im Drange der
Geschäfte nicht immer liebenswürdig sein, und beim Untergebenen führt der
Zwang zur Unterordnung des eigenen Willens unter den fremden zu seelischen
Spannungen, die auch einmal in nicht ganz einwandfreier Weise sich entladen.
In derartigen Fällen, wo in augenblicklicher Hitze von der einen oder der
anderen Seite im Ausdruck oder sonstwie fehlgegriffen wird, wird ja meist die
richtige Einschätzung der Sache nachträglich das richtige Verhältnis von selbst
wiederherstellen. — Vielleicht verdient hierbei Erwähnung, wie humorvoll und
mit wie feinem Verständnis für das Empfinden des Untergebenen einmal der
hochkonservative Oberpräsident von Pommern Senfft von Pilsach ein Einschreiten
gegen einen Beamten ablehnte, der respektwidrig von ihm gesprochen hatte. Er
meinte: „Das Schimpfen auf den Vorgesetzten gehört zu den Grundrechten des
preußischen Beamten; aber gehorchen muß er."
Aber nicht alles kann mit Humor und Freundlichkeit zurechtgelegt werden,
es muß auch einmal einfach die amtliche Erledigung der Sache eintreten.
Es kann nun kein Zweifel darüber sein, daß der Vorgesetzte das Recht
haben muß, bei Meinungsverschiedenheiten seinen Willen durchzusetzen und
gegebenenfalls den Untergebenen wegen seines Verhaltens zurechtzuweisen. Ebenso
selbstverständlich ist, daß der Untergebene, wenn er sich bei der Entscheidung
nicht beruhigen will, nachher die vorgesetzte Behörde anrufen darf. Zweifelhaft
kann nur sein, ob und wieweit es angemessen ist, daß Zurechtweisungen
des unmittelbaren Vorgesetzten schon den Charakter förmlicher Strafen haben
können.
Nach dem Gesetz werden die drei geringeren Strafen, die sogenannten
Ordnungsstrafen, die Warnung, der Verweis und die Geldbuße, von den Vor¬
gesetzten oder den vorgesetzten Behörden im gewöhnlichen Verwaltungsverfahren
festgesetzt, und jeder Vorgesetzte hat das Recht zu Warnungen und Verweisen.
Dem entspricht auch die Bestimmung in der neuen Dienstanweisung für die
Direktoren und Oberlehrer, obwohl die Standesvertretung, in der ebenso viel
Direktoren wie Oberlehrer vertreten waren, es anders gewünscht hatte. Dagegen
sind in der Dienstanweisung für die Rektoren der Gemeindeschulen diese zwar
für Vorgesetzte erklärt, das Strafrecht ist ihnen aber nicht gegeben worden.
Diese letzte Bestimmung steht im Gegensatz zu dem Gesetz von 1852 und erklärt
sich aus der Erkenntnis, daß das Strafrecht der Vorgesetzten nach den beson¬
deren Verhältnissen der einzelnen Beamtenklassen einzurichten ist. Diese aber
sind so mannigfaltig und so wandelbar, daß die näheren Vorschriften darüber,
wie es im bayerischen Beamtengesetz in Artikel 117 geschieht, am besten aus
dem Gesetz ausgeschieden und der Staatsregierung überlassen werden. Grund¬
sätzlich dürfte dabei davon auszugehen sein, daß das Recht zu förmlicher Be¬
strafung nicht im Interesse derer liegt, die durch nur einmalige Beförderung
Vorgesetzte ihrer früheren Amtsgenossen geworden sind, und bei denen das
amtliche enge Zusammenwirken zu geringe Sicherung gegen den Verdacht per¬
sönlicher Gereiztheit gewährt.
Die neueren Beamtengesetze der süddeutschen Staaten kennen übrigens die
Warnung nicht als förmliche Strafe. Daß sie notwendig sei, möchte ich auch
nicht behaupten, aber doch ist es wohl gut, daß es vor dem Verweise noch
eine geringere Strafe gibt, die etwa da verhängt werden kann, wo eine tatsächliche
Verletzung der Dienstpflicht vorliegt, die nach Ansicht der vorgesetzten Behörde
nicht durch bloße Mahnung und Belehrung gesühnt werden kann, bei der aber
doch die Schuldigen in gutem Glauben gehandelt haben, so daß subjektiv
wieder der Verweis zu hart wäre.
Wenn nun Unstimmigkeiten zwischen dem Vorgesetzten und dem Unter¬
gebenen vorkommen, ist der Untergebene von vornherein im Nachteil. Der
Vorgesetzte hat den Amtsapparat zur Hand, um sich das Material zu ver¬
schaffen, der Untergebene ist für die Beschaffung auf seine privaten Mittel,
vielleicht sogar auf die Gefälligkeit des Vorgesetzten angewiesen. Wenn es aber
zu persönlicher Zuspitzung kommt, so kann der Vorgesetzte sich sein Material
aus dem ganzen dienstlichen und privaten Leben des Untergebenen zusammen¬
suchen, und meist wird er ja, wenn er es will, irgend etwas finden können,
was sich mit mehr oder weniger Recht verwerten läßt. Der Untergebene ist
nicht in derselben Lage. Zudem ist er bei jeder unvorsichtigen Wendung in
Gefahr, sich der Achtungsoerletzung schuldig zu machen, die ihn auf alle Fälle
strafbar macht, auch wenn er sachlich im Recht ist. Der Vorgesetzte dagegen
hat immer die Vermutung für sich, daß er im Interesse'des Dienstes handelt,
das ihn ja zwingen kann, Dinge zu sagen, die für den anderen kränkend sein
müssen.
So ist für den Untergebenen eine Beschwerde oft eine heikle Sache,
auch in Dingen, in denen er durchaus im Recht ist, und mancher
verzichtet lieber auf sie, auch wo sie im Interesse der Sache läge, um sich
nicht den Aufregungen und Widerwärtigkeiten auszusetzen, die von ihr zu
erwarten sind.
Indes diese Benachteiligung der einen Seite liegt in den Verhältnissen
und läßt sich nicht beseitigen, wenn die Ordnung aufrecht erhalten werden soll.
Sie muß getragen werden und wird auch von Verständigen willig getragen;
um so mehr aber muß das Verfahren selbst die Sicherheit möglichster Ge¬
rechtigkeit bieten.
Im Gesetze selbst nun wird Näheres über das Verfahren bei der Verhängung
der Ordnungsstrafen nicht bestimmt, doch ist wohl anzunehmen, daß keine Strafe
verhängt wird, ohne daß dein Beschuldigten vorher Gelegenheit gegeben war,
sich zur Sache zu äußern, und ohne daß die Strafe selbst mit ihrer Begründung
schriftlich festgelegt wird.
Wo der unmittelbare Vorgesetzte das Strafrecht auszuüben hat, ist eine
weitere Sicherung des Untergebenen auch wohl kaum durchführbar, da sonst
infolge der Erschwerung tatkräftigen Eingreifens seitens des Vorgesetzten leicht
die Sicherheit des Dienstes leiden könnte. Es genügt da, daß es dem, der Unrecht
erlitten zu haben meint, freisteht, im Wege der Beschwerde die höhere Behörde
anzurufen.
Die Reformbedürftigkeit der jetzigen Ordnung beginnt da, wo die Ent¬
scheidung nicht durch den unmittelbaren Vorgesetzten, sondern durch die vor¬
gesetzte Behörde erfolgt.
In solchen Fällen gehen alle Schriftstücke des Untergebenen durch die
Hand des Vorgesetzten; ebenso erfährt dieser alles, was der Untergebene etwa
bei mündlichen Vernehmungen sagt. Der Untergebene erfährt von den Berichten
des Vorgesetzten nur das, was die Behörde ihm glaubt mitteilen zu sollen; er
erfährt es durch Vermittlung des Vorgesetzten, der seinerseits in der Lage ist,
zu den neuen Auslassungen des Untergebenen wieder seine Bemerkungen zu
machen, von denen der Untergebene abermals nichts weiß.
Auf diese Weise werden Unrichtigkeiten und Einseitigkeiten des Unter¬
gebenen durch deu Vorgesetzten aufgedeckt, die Darstellung des Vorgesetzten aber
ist nicht in genügender Weise der Berichtigung durch die Gegenseite unter¬
worfen; denn die Behörde ist gar nicht in der Lage, immer zu erkennen, wo
Entstellungen und Irrtümer vorliegen können, wo sie also noch weiter beim
Untergebenen nachfragen müßte. Sie bekommt zudem die Auslassungen des
Untergebenen zugleich mit der Beleuchtung durch den Vorgesetzten. Es ist
unvermeidlich, daß sie da oft gleich von vornherein zu einer falschen Auf¬
fassung der Sachlage sowohl wie der Ausführungen des Untergebenen kommt.
Besonders leicht werden Irrtümer in der Auffassung der begleitenden
Nebenumstände vorkommen, betreffs deren häufig überhaupt kein Bericht der
Untergebenen eingefordert werden dürfte.
Viel schlimmer noch steht es, wenn zu den sachlichen Gegensätzen persön¬
liche kommen. Da ist bei dem üblichen Verfahren der Vorgesetzte in der Lage,
zu allen subjektiven Erörterungen des Untergebenen seine Kritik zu geben, nicht
aber kann dieser es in gleicher Weise gegenüber der Gegenpartei, die überdies
immer das letzte Wort hat. Das widerspricht allem, was im Gerichtsleben als
Erfordernis der Gerechtigkeit anerkannt ist.
'
Es muß darum gefordert werden, daß in Streitfällen zwischen Vorgesetzten
und Untergebenen grundsätzlich beiden Parteien volle Kenntnis über das gesamte
Material gegeben wird, soweit es für die Beurteilung des vorliegenden Falles
in Betracht kommt, insbesondere daß also auch dem Untergebenen ein Einblick
in die Berichte des Vorgesetzten über ihn gewährt wird.
Eine weitere Quelle für ein falsches Urteil der Behörde kann in der Art
liegen, wie sie den Beschuldigten zur Sache vernimmt.
Zum Glück sind doch Disziplinarsachen für die meisten Beamten etwas
Ungewohntes, und die nicht juristisch vorgebildeten sind von vornherein in
Gefahr, ihre Sache ungeschickt zu führen. Diese Gefahr wird aber unberech¬
tigter Weise ganz erheblich gesteigert, wenn dem Beschuldigten ohne genaue
Angabe dessen, was ihm vorgeworfen wird, nur einfach aufgegeben wird, sich
über diesen oder jenen Vorgang zu äußern; doppelt wird sie gesteigert, wenn
er weiter gezwungen wird, plötzlich, ohne Vorbereitung, ohne Beratung mit
anderen über verwickelte, vielleicht weit zurückliegende Dinge sich zu äußern.
Es wäre wunderbar, wenn bei einem solchen Verfahren nicht recht häufig Fehlgriffe
vorkämen, denn die Verteidigung kann von dem gar nicht richtig geführt
werden, der die Anklage nicht kennt.
Es ist darum zu verlangen, daß, wo nicht die Gefahr der Verdunklung
des Tatbestandes vorliegt, gleich bei Eröffnung der Vernehmungen dem Be¬
schuldigten genau angegeben wird, was man ihm vorwirft, und daß ihm eine
angemessene Frist zur Vorbereitung seiner Rechtfertigung und die Möglichkeit
gewährt wird, sich vorher mit anderen zu beraten.
Wenn die hier geforderten Bestimmungen eingeführt werden, so kann das
Recht des Beamten für die weitaus meisten Fälle als genügend gesichert gelten.
Dennoch aber können Fälle vorkommen, wo der Bestrafte es seiner persönlichen
oder seiner Beamtenehre schuldig ist, durch jedes Mittel den gegen ihn sprechenden
Schein zu widerlegen oder — auch solche Fälle können doch nicht als aus¬
geschlossen gelten — Schikanen von irgendeiner Seite bloßzulegen. Dazu aber
kann in schwierigeren Fällen nur ein gerichtliches Verfahren mit dem Recht der
Zeugenvernehmung verhelfen. So muß dem Beamten auch das Recht zu¬
gebilligt werden, gegen die Strafverfügungen der Vorgesetzten und vorgesetzten
Behörden sich an Disziplinargerichte zu wenden. Für die Gemeindebeamten
ist durch das Zuständigkeitsgesetz von 1883 dieses Recht bereits eingeführt, und
was für sie recht ist, muß auch für die Staatsbeamten billig sein.
Dafür spricht auch eine andere Erwägung. Es dürften die Ansichten über
die Beamtendisziplin in manchen Punkten auseinandergehen, z. B. darüber,
wie weit ein Vorgesetzter auch in außeramtlichen Dingen Vorgesetzter bleibt,
wie weit er innerhalb der Vereine als Vorgesetzter zu achten ist, wie weit die
Pflicht der Rücksicht auf höher stehende Beamte, die nicht eigene Vorgesetzte
sind, geht usw. Ebenso werden die Meinungen verschieden darüber sein, was
in den politischen Kämpfen, z. B. mit den Polen und der Sozialdemokratie,
einem Beamten gestattet ist, und was nicht. Man ist im übrigen Staatsleben
immer mehr dazu übergegangen, die Entscheidung rechtlicher Streitfragen den
Verwaltungsbehörden abzunehmen und Gerichtshöfen zu übertragen. Augen¬
scheinlich fühlen sich alle Beteiligten, die Rechtsuchenden wie auch die Ver¬
waltungsbehörden und die Minister selbst wohl dabei. Es wird ein fester
Rechtsboden gewonnen, und auch der Verdacht der Willkür ist ausgeschlossen.
So kann es auch in zweifelhaften Disziplinarfragen dem Minister nur angenehm
sein, wenn die Entscheidung ihm abgenommen und auf Disziplinargerichte über¬
tragen wird. Sollten diese einmal in wichtigen Fragen versagen, so kann ja
durch die Gesetzgebung eingegriffen werden.
Damit kommen wir auf die Zusammensetzung der Disziplinargerichte.
Denn wenn es sich um die schwereren Disziplinarstrafen handelt, die tief
in das Leben des Beamten eingreifen, um Strafversetzung, vielleicht noch ver¬
schärft durch Verkürzung des Gehaltes, oder gar um Dienstentlassung, schreibt
schon das Gesetz von 1852 besondere Formen des Verfahrens vor, durch die
dein Beschuldigten genügendes Gehör und eine hinreichende Verteidigung gesichert
werden soll.
Als die entscheidenden Disziplinarbehörden erster Instanz sind indes für
die weitaus größere Mehrzahl der Beamten die Provinzialbehörden, als Re¬
gierungen usw., eingesetzt. Verwaltungsbehörden aber sind ihrer Natur nach
nicht geeignet, nach strengem Recht zu urteilen. Ihr Amt ist es, das praktisch
Nützliche zu finden und dies in eine Form zu kleiden, die den geltenden Gesetzen
entspricht. Dabei ist es ihre Pflicht, sich nach den Weisungen und nach der Absicht
des Vorgesetzten zu richten. Diese Gewöhnung ist eine schlechte Vorbereitung
für ein unparteiisches Urteil. An sich wird schon das Urteil über die Verein¬
barkeit einer bestimmten politischen Tätigkeit mit der Beamtenstellung wesentlich
davon beeinflußt werden, ob die Richtung des betreffenden Beamten von dem
Beurteiler für richtig oder für unheilvoll gehalten wird. Bei Fragen der
Beamtendisziplin wird ein streng Konservativer anders urteilen als ein Libe¬
raler. Auch bei den Berufsrichtern lassen sich derartige Elemente der Sub¬
jektivität nicht völlig beseitigen, aber bei Verwaltungsbehörden ist obendrein die
Möglichkeit gegeben, daß die Zusammensetzung der Spruchkollegien nach den
Wünschen des jeweiligen Ministers erfolgt, und es ist nur menschlich, wenn
der eine oder der andere der Urteilenden, vielleicht ohne es zu wissen, doch
durch den Gedanken beeinflußt wird, was von oben gewünscht wird, und was
für sein Fortkommen förderlich ist.
Um diese Quelle der Rechtsunsicherheit zu beseitigen, ist zu fordern, daß
die Disziplinargerichte statt durch Verwaltungsbehörden durch Disziplinar-
kammern mit richterlichen Charakter gebildet werden. Es würde alsdann die
Leitung in der Hand eines Richters liegen und diesem müßten auch richterliche
Beisitzer zur Seite stehen.
Tatsächlich wird dieser Forderung auch schon für die meisten höheren
Beamten durch das Gesetz von 1352 genügt; denn für die Beamten, zu deren
Anstellung die Ernennung, Bestätigung oder Genehmigung durch den König
oder den Minister erforderlich ist, ist der Diszipltnarhof in Berlin die Dis¬
ziplinarbehörde erster Instanz; der Disziplinarhof aber hat unter seinen Mit¬
gliedern auch Richter aus dem höchsten preußischen Gerichtshofe. Wenn sür
die höheren Beamten diese Rechtssicherheit geboten ist, so ist sie doch für die
mittleren und unteren Beamten — zu ihnen kommen in diesem Falle die Ober¬
lehrer hinzu — erst recht geboten, da bei ihnen gerade — auch hier einschlie߬
lich der Oberlehrer — die eigene Rechtskenutnis durchschnittlich geringer ist, als
bei den bevorzugten höheren Beamten.
Die Rechtsungleichheit erklärt sich aus den Anschauungen früherer Zeiten,
denen der verschiedene Gerichtsstand für die verschiedenen Stände recht und
natürlich erschien; jetzt aber ist diese Ungleichheit für das allgemeine Nechis-
gefühl unerträglich. Dementsprechend ist auch bereits durch das Zuständigkeits-
gesetz vom 1. August 1833 für alle städtischen Beamten unterschiedslos als
Disziplinarbehörde erster Instanz, an Stelle des Disziplinarhofes sowohl wie
der Bezirksregierung, der Bezirksausschuß, als zweite Instanz das Oberver¬
waltungsgericht eingesetzt.
Neben den richterlichen Beisitzern aber müssen Vertreter der vorgesetzten
Behörde des Beschuldigten hinzugezogen werden, damit auch die Eigenheiten
der besonderen Berufspflicht richtig gewürdigt werden können.
Wenn aber der Beamte nach Möglichkeit gegen jede Kränkung seines Rechtes
geschützt werden soll, so gehört dazu auch die richtige Würdigung des psycho¬
logischen Momentes. Da dürfte nun der Vorgesetzte sich doch nicht immer richtig
in die Denkweise der untergeordneten Beamtenklassen versetzen können, und
selbst wenn- dies der Fall sein sollte, so wird doch in manchen Fällen nicht bloß
bei dem Bestraften, sondern auch bet den ihm gleich stehenden Beamten leicht
der Zweifel entstehen, ob ihm volles Recht geworden ist. Dieser Zweifel wird
um so leichter entstehen, als in Beamtenkreisen vielfach der Glaube verbreitet
ist, daß die Behörde von vornherein die Neigung hat, dem Vorgesetzten gegen¬
über dem Untergebenen recht zu geben. Der Zweifel aber an der unbedingten
Gerechtigkeit ist für die Festigkeit der Staaten kaum weniger gefährlich als das
wirkliche Bestehen von Ungerechtigkeiten.
Aus diesen Gründen erscheint es geboten, daß in den Disziplinargerichten
nicht nur, wie bisher, die vorgesetzten Behörden, sondern auch die Berufs- und
Standesgenossen des Beschuldigten vertreten sind.
Eine Schädigung der Disziplin ist davon nicht zu befürchten. Wirkliche
Disziplinlosigkeiten sind dem innersten Wesen nicht bloß des preußischen Beamten,
sondern auch des Preußen überhaupt so zuwider, daß ein Gericht von Standes¬
genossen über sie kaum milder urteilen würde, als die vorgesetzten Behörden
es tun. Daß Standesgenossen für ein Aufbäumen gegen unnötige Schroffheiten
und Herausforderungen seitens des Vorgesetzten mehr Verständnis haben, kann
sein; das ist aber auch kein Fehler. Schädlich kann es schon deswegen nicht
sein, weil die Zahl der Standesgenossen unter den Beisitzern immer nur den
kleineren Teil ausmachen würde. Es wird ja auch keine Regierung als Mit¬
glieder der Disziplinargerichte solche Beamte ernennen, denen sie nicht volles
Verständnis für die Notwendigkeit der Disziplin zutraut.
Auch diese Forderung ist für die meisten höheren Beamten, für die der
Disziplinarhof die erste Instanz ist, insofern schon mehr oder minder erfüllt,
als die juristisch vorgebildeten Beamten sich untereinander näher stehen und so
den anderen gegenüber als Standes- und Berufsgenossen fühlen.
Um den Zweck des hier ausgesprochenen Wunsches zu erreichen, dürfte es
ratsam sein, daß die Wahl der Regierung auf solche Beamte fällt, die auch
das Vertrauen der Standesgenossen haben, also vielleicht aus der Vertretung
der Standesvereine oder im Einverständnis mit ihnen genommen werden. Ein e
bindende gesetzliche Festlegung dieses Punktes ist allerdings wohl kaum möglich,
denn es könnte ja doch einmal in einem Beamtenvereine eine oppositionell¬
radikale Richtung die Oberhand gewinnen, so daß von ihr nichts Gutes zu
erwarten wäre.
In Bayern ist ein entschiedener Schritt in der besprochenen Richtung
gemacht worden. In den Disziplinarkammern (der unteren Instanz) wirken
zwei Mitglieder, in dem Disziplinarhof (der obersten Instanz) drei Mitglieder
mit, die aus dem Geschäftskreise des Ministeriums entnommen sind, dem der
beschuldigte Beamte untersteht. Aus den Geschäftskreisen der einzelnen Ministerien
aber sind neben der nötigen Zahl von Stellvertretern für jede Disziplinar-
kammer zwei bis sechs, für den Disziplinarhof drei bis sechs Mitglieder vom
Könige ernannt, aus deren Zahl der Gerichtspräsident für den einzelnen Fall
jene zwei oder drei Mitglieder auswählt. Diese Bestimmung gibt in weit¬
gehendem Maße die Möglichkeit, den oben geäußerten Wunsch zu erfüllen, und
nach den mir gewordenen Mitteilungen wird sie tatsächlich in dem Sinne benutzt.
Fraglich könnte allerdings sein, ob bei Zuziehung auch von Unterbeamten
zu den Disziplinarkammern nicht zu befürchten ist, daß diese es an der für
einen Richter notwendigen Selbständigkeit gegenüber den höheren Beamten fehlen
lassen. Wenn das der Fall sein sollte, so wäre ein Heranziehen der Unter¬
beamten zu den Disziplinarkammern für sie ein Danaergeschenk. Ich selbst wage
nicht zu entscheiden, ob dies Bedenken berechtigt ist, ich wollte es aber nicht
unerwähnt lassen. In Bayern hat man es nicht.
Wenn schon für die unterste Instanz der Disziplinargerichte der richterliche
Charakter zu fordern ist, so erübrigt sich die Erörterung darüber, daß er für
die zweite Instanz erst recht nötig ist. Wenn jetzt das Gesamtministerium die
höchste Instanz ist, so dürfte gerade dies in politisch erregten Zeiten am aller¬
wenigsten die Sicherheit gegen gewollten oder ungewollten Mißbrauch zu
politischen Zwecken gewähren. — Die jetzigen Zeiten sind trotz aller Partei¬
kämpfe doch solche, wo der ruhige Gang der Verwaltung nicht gestört wird.
Ob die Disziplinargerichte unterster Instanz nach Regierungsbezirken oder
Provinzen, oder vielleicht auch für weniger zahlreiche Beamtenklassen gleich für
den ganzen Staat einzurichten sind, das scheint nur eine rein praktische Frage
und ihre Entscheidung wesentlich von der Häufigkeit der vorkommenden Fälle
abhängig zu sein.
Über die Notwendigkeit, ein Wiederaufnahmeverfahren zu ermöglichen,
braucht nicht gesprochen zu werden, da sie früher gelegentlich auch von der
Negierung anerkannt worden ist.
Vielfach wird auch die Forderung aufgestellt, daß dem Beamten Einblick
in seine Personalakten gewährt werde. In Bayern ist wenigstens vorgeschrieben,
daß ihm auf Verlangen der wesentliche Inhalt — zu dem auch Randbemerkungen
gehören können — mitgeteilt werde. Der Zweck ist wesentlich, ungerechten
Ausschluß von der Beförderung u. tgi. zu verhindern. Nun ist aber das Urteil
darüber, wozu der einzelne Beamte tauglich ist, naturgemäß subjektiv, und der
Beweis für die Richtigkeit subjektiver Urteile ist schwer zu erbringen. Es gibt
daher zu Bedenken Anlaß, wenn der Vorgesetzte vom Untergebenen wegen
der subjektiven Urteile zur Verantwortung gezogen werden kann, zu deren
rückhaltloser Abgabe er doch verpflichtet ist. Berechtigt ist die Forderung der
Mitteilung nur für die behaupteten äußeren Tatsachen. Eine darüber hinaus¬
gehende Verpflichtung zur Mitteilung würde nur die Folge haben, daß die
subjektiven Urteile, ohne die es nun einmal nicht geht, aus den Personalakten
irgendwohin anders verschwänden, z. B. in die persönlichen Notizbücher der
höheren Vorgesetzten, und das dürfte erst recht nicht wünschenswert sein. Übrigens
sollen z. B. in den Personalakten der Oberlehrer sich Notizen der bezeichneten
Art überhaupt nicht befinden, die finden sich in den Verwaltungsberichten und
anderen Stellen, so daß also mit der Mitteilung der Personalakten gar nichts
erreicht würde. Wenn es auch in anderen Verwaltungen anders sein mag,
so beweist das doch, wenn es auch nur in einem Berufe so ist, daß mit derartigen
äußerlichen Bestimmungen sich gar nichts machen läßt und jede zu weit gehende
Forderung zwecklos ist.
Abseits von den hier erörterten Fragen liegt die, wie schon früher, so auch
kürzlich wieder im Abgeordnetenhause behandelte, ob der Arrest noch als Strafe
für die Unterbeamten beizubehalten ist. Nach früheren Äußerungen glaubt die
Staatsregierung an ihm festhalten zu sollen, weil durch die Zulässigkeit dieser
Strafart es mitunter ermöglicht werde, Beamte noch länger im Dienste zu
behalten, die sonst nicht mehr haltbar feien. Daß dies zutrifft, ist kaum zu
bezweifeln. Trotzdem erscheint die Strafe mit den jetzt herrschenden Ehrbegriffen
unvereinbar. Wie die Unterrichtsverwaltung mit Recht Ohrfeigen in der Schule
verbietet, trotzdem diese zweifellos manchem Jungen ganz vorzüglich bekommen
sind Und auch weiter bekommen würden, so muß auch, vom militärischen Ver¬
hältnis abgesehen, die Arreststrafe für erwachsene Männer als ehrenrührig und
darum unzulässig angesehen werden. Wenn ein Beamter nicht durch empfindliche
Geldstrafen und Strafversetzungen zu ziehen ist, so muß er eben des Amtes
entsetzt werden. Die Arreststrafe ist kränkend für den ganzen Stand.
r. Hans Rost hat von seinem vor vier Jahren erschienenen viel¬
besprochenen Buche „Die Katholiken im Kultur- und Wirtschafts¬
leben der Gegenwart" eine Neubearbeitung, der besonders die
Berufszählung von 1907 zugute gekommen ist, herausgegeben
unter dem Titel: „Die wirtschaftliche und kulturelle Lage der
deutschen Katholiken" (Köln, I. P. Bachem, 1911). Daß die Juden reicher sind
als die Protestanten, diese die Katholiken in der Wohlhabenheit übertreffen,
weiß seit beinahe hundert Jahren jedes Kind in Deutschland. Aber es ist natürlich
nicht bloß interessant, sondern auch von Wichtigkeit, den genauen statistischen
Nachweis der allgemein bekannten Tatsache zu kennen, wie ihn dieses Buch
erbringt. Die genauesten Nachweise liefern die Steuerlisten Badens, aus denen
sich ergibt, daß im Jahre 1907 bei den Katholiken 511, bei den Protestanten
1278, bei den Juden 6784 Mark Vermögen auf den Kops fielen; der durch¬
schnittliche Protestant ist also mehr als doppelt, der Jude dreizehnmal so reich
wie der Katholik. Natürlich hängt der Vermögensstand mit dem Beruf und der
sozialen Lage zusammen. Die Katholiken betreiben vorherrschend das am
wenigsten einträgliche, landwirtschaftliche Gewerbe (wenn der Großgrund¬
besitz hie und da ein verhältnismäßig hohes Einkommen abwirft, so entstammt
dieses nicht der Landwirtschaft im engeren Sinne, sondern den landwirtschaft¬
lichen Industrien oder dem Bergbau), die Protestanten die einträglichere Fabri¬
kation und die Juden das einträglichste: den Handel — namentlich den Geld-
Handel und die Spekulation. Da die Katholiken in der Landwirtschaft ein Plus
haben, so muß ihre Zahl in Gewerbe und Handel hinter der zurückbleiben, die
ihnen nach ihrem prozentualen Anteil an der Bevölkerung gebühren würde.
Wenn sie in manchen Industrien der Normalzahl nahekommen, sie erreichen oder
gar überschreiten, so ist das lediglich der größeren Zahl von Lohnarbeitern zu
danken. Die amtliche Statistik teilt die Gewerbeangehörigen in die drei sozialen
Stufen: s) Selbständige (Eigentümer, wozu Mitinhaber, Pächter, Direktoren,
Administratoren kommen); b) nichtleitende Beamte (wissenschaftlich, technisch und
kaufmännisch gebildetes Verwaltnngs- und Aufstchtspersonal); c) sonstige Ge¬
hilfen, Lehrlinge und Lohnarbeiter. Wo also die Katholiken in einem der ein-
träglicheren Gewerbe mit einer verhältnismäßig bedeutenden Zahl vertreten sind,
da rührt das günstige Verhältnis nur von der starken Besetzung der Kategorie c
her, während sie in den ersten beiden Kategorien ausnahmslos zurückbleiben.
Und wie überall sonst, so wird auch hier die Wirkung wiederum zur Ursache.
Weil die Katholiken die weniger einträglicheren Gewerbe betreiben, sehlt ihnen
das Geld, ihre Söhne durch die Ausbildung auf Mittel- und Hochschulen in
die lohnenderen Gewerbe und Beamtenstellungen hineinzubringen. Bei manchen
Gewerben entscheidet der Standort. An der Reederei, Seeschifferei und Hochsee¬
fischerei können sich die Katholiken nicht beteiligen, weil die Küstenprovinzen
protestantisch sind; in der Binnenschiffahrt sind sie besser vertreten. In der
Brauerei, deren eigentliche Heimat Bayern ist, wiegen die Katholiken, in der
Brennerei die protestantischen Bewohner des ostelbischen Kartoffelbodens vor.
Das Ergebnis der vielen statistischen Tabellen wird folgendermaßen zusammen¬
gefaßt:
„Mit Ausnahme der eigentlichen Landwirtschaft gibt es keine einzige unter den sämt¬
lichen dreiundzwanzig Berufsgruppen, in welcher bei den Katholiken die Prozentzahl der
selbständigen, der Eigentümer und Besitzer höher wäre als ihr Bevölkerungsprozentsatz. In
allen Berufsgruppen stehen die Katholiken, mitunter ganz erheblich, hinter dem Anteile zurück,
den sie nach dem Bevölkerungsprozentsatz haben sollten. Dies gilt namentlich in der Gärtnerei
und Tierzucht, im Bergbau, Hütten- und Salinenwesen, in der chemischen Industrie, in der
Industrie der forstwirtschaftlichen Nebenprodukte, Leuchtstoffe, Seifen, Fette, Ole, Firnisse, in
der Textilindustrie, in der Papierindustrie, im Polygraphischen Gewerbe, im Handels- und
Versicherungsgewerbe, wo den Katholiken Fehlbeträge von 10 und mehr Prozent nachzuweisen
sind. Noch größer sind die Fehlbeträge in der sozialen Schicht des wissenschaftlichen, tech¬
nischen und kaufmännischen Verwaltungs- und Aufsichtspersonals, der Gutsverwalter, Chemiker,
Techniker, Ingenieure, Prokuristen usw. Mit alleiniger Ausnahme des Bergbaues, Hütten-
und Salinenwesens sind in allen Berufsgruppen einschließlich der Landwirtschaft die Katho¬
liken hier mit bedeutend kleineren prozentualen Anteilen vertreten als die Protestanten, die
Jsraeliten und die sonstigen Bekenntnisse; der Fehlbetrag erreicht in manchen: Verufstande
20 Prozent. Aber auch in der sozialen Schicht der Arbeiterschaft findet keine zahlenmäßige
Übereinstimmung zwischen Vevölkerungsprozentsatz und Berufsarten statt, sondern es finden
sich bei den meisten Berufsgruppen Fehlbeträge. Die Katholiken überragen ihren Bevölkerungs¬
prozentsatz in der Arbeiterschaft nur in der eigentlichen Landwirtschaft, im Bergbau, in der
Industrie der Steine und Erden, in der chemischen Industrie, in der Textilindustrie, im
Baugewerbe und in der Gast- und Schankwirtschaft, und zwar sind es mit Ausnahme des
Bergbaues kleinere Beträge. In allen übrigen Berufsgruppen ist auch die Arbeiterschaft bei
den Katholiken zahlmäßig geringer vertreten, als ihr Bevölkerunciscmteil eS fordert. Allerdings
sind — und das ist charakteristisch für die soziale Struktur der Berufsgruppen nach konfessioneller
Gliederung — die Fehlbeträge der Katholiken in der Arbeiterschaft bedeutend geringfügiger
als in den Schichten von Besitz und höherer Vorbildung."
Wenn die Katholiken im Besuch des humanistischen Gymnasiums nicht so
weit hinter den Protestanten zurückbleiben wie in dem der verschiedenen Arten
von Realschulen (daß auch in dieser Beziehung die Protestanten noch weit von
den Juden übertroffen werden, ist bekannt), so haben sie das dem Umstände
zu verdanken, daß nicht wenige katholische Bauern einen Sohn studieren lassen,
um einen „Pater" in der Familie zu haben. Günstiger als in der Wirtschaft
und in der Teilnahme am höheren Geistesleben steht es um die deutschen Katho¬
liken in der Zunahme derKopfzahl. DieBevölkerungsbewegung ist in den verschiedenen
Staaten des Reiches und in den Provinzen der größeren Staaten verschieden verlaufen.
Für Preußen gilt, daß die Zahl der Katholiken bis 1848 prozentual ab-, von
da zugenommen hat. Seit 1871 beträgt das Mehr 2,60 Prozent. Die Zahl
der Protestanten ist von 1867 bis 1907 von 15988934 auf 23847 337. die
Zahl der Katholiken von 8268169 auf 13352444 (1906) gestiegen. Diese stärkere
Zunahme führt Rost auf die Einwanderer slawischer und italienischer Arbeiter
zurück und findet diesen Zuwachs wenig erfreulich, weil diese Einwanderer der
ärmsten und ungebildetsten Schicht angehören und ihre Pastorierung bedeutende
Kosten verursacht, die ohnehin ungünstige Lage der Katholiken also noch ver¬
schlimmert. Daß sich die Katholiken vor den Protestanten und den Juden durch
größere Fruchtbarkeit auszeichnen, hebt natürlich auch er hervor — die katho¬
lische Familie hat durchschnittlich ein Kind mehr als die protestantische —
und gleich Wolf (siehe dasHeft22 derGrenzbo'.en Jhrg. 1912; die beiden haben unab¬
hängig voneinander gearbeitet) weist auch er nach, daß das Mehr nicht etwa
auf Rechnung des polnischen Teils kommt, überdies, daß sich wohlhabende
katholische Gegenden darin ebenso verhalten wie die armen. Aber die größere
Fruchtbarkeit würde ohne die Einwanderung eine stärkere prozentuale Ver¬
mehrung der Katholiken nicht zur Folge haben, weil ihre Wirkung teils durch
größere Sterblichkeit (hauptsächlich Kindersterblichkeit) aufgewogen wird, teils
durch den Verlust vieler Diasporakinder, die aus Mischehen stammen oder aus
anderen Ursachen evangelisch erzogen werden. Die evangelische Diaspora in
katholischen Gegenden besteht aus gut situierten Beamten, die, vom Staate auf
mannigfache Weise begünstigt, es leicht haben, für die Erziehung der Kinder in
ihrer Konfession zu sorgen.
Wird nun nach den Ursachen der „Zurückgebliebenheit" gefragt, so leugnet
Rost ganz entschieden, daß die angebliche Jnferioritüt darunter sei. Dagegen
spreche die hohe wirtschaftliche und Kulturblüte der italienischen, niederländischen,
deutschen Städte im Mittelalter und der heutige Kulturzustand der katholischen
Rheinländer. Wenn in neuerer Zeit England und das überwiegend protestan¬
tische Deutschland die größeren katholischen Nationen wirtschaftlich überflügelt
haben, so erkläre sich das aus dem Umstände, daß beide reich an Kohle und
Eisen sind, diese beiden Stoffe aber im Maschinenzeitalter den Rückgrat des
Wirtschaftslebens ausmachen. Aus demselben Grunde sei das kleine katholische
Belgien der industriellste Staat des Kontinents, und der Glanz Englands werde
zudem durch seinen schrecklichen Pauperismus arg getrübt. Was Deutschland
betrifft, so sei die ungünstige Lage der Katholiken auf folgende drei Ursachen
zurückzuführen. Im Resormationszeitalter seien der neuen Kirche die freien
Reichsstädte und die Ebene zugefallen, beide von einer regeren Bevölkerung
bewohnt als die katholisch gebliebenen Gebirge mit ihren Bauern (woraus doch
folgt, daß zwischen größerer Regsamkeit und der neuen Konfession eine innere
Verwandtschaft bestanden haben muß); und das an^us reZio, nun8 reliZio habe
dafür gesorgt, daß die überwiegend bäuerlichen Territorien katholisch, die
gewerblicheren protestantisch geblieben seien. Dem ersten Schlag sei in der
napoleonischen Zeit ein zweiter gefolgt: die Säkularisation. Diese vernichtete
mit den geistlichen Fürstentümern achtzehn rein katholische Universitäten und
viele von Klöstern unterhaltene Bildungsanstalten und brachte den geistlichen
Grundbesitz, da Katholiken säkularisierte Kirchengüter nicht kaufen dürfen, in
die Hände von Protestanten und Juden; für Württemberg wird ihr Wert auf
300 Millionen Mark, für Preußen auf eine Milliarde geschätzt. Und daß sich
die Katholiken von diesen Schlägen nicht erholen können, dafür sorge die Im¬
parität. Es handle sich nicht bloß um den Ausschluß der Katholiken von den
höheren und höchsten Staatsämtern; schon der Zugang zu den untersten Stufen
werde den Katholiken versperrt. Über die Praxis der fiskalischen Gruben¬
verwaltungen im Saarrevier, wo den Z7000 katholischen Bergleuten nur
12000 evangelische gegenüberstehen, wird berichtet:
„Die Werkschullehrer, Aufseher, Wiegemeister und Bergboten sind in weit überwiegender
Zahl Protestantisch. Der Löwenanteil der Beamtenstellen von den Direktoren bis zu den
Obersteigern und Bergboten herab liegt in den Händen der Protestanten. Ein blinder Zufall
ist natürlich hier nicht im Spiele, sondern bewußte Absicht. Die fast ausschließlich Protestan¬
tischen Obersteiger wählen die zu Steigern geeigneten jungen Leute. Man läßt die katholischen
Arbeiter nicht Steiger und Obersteiger werden, weshalb sie auch nicht in der Lage find, ihren
Kindern eine höhere Bildung zuteil werden zu lassen. Welche Summen von Gehalt, sagt
der Verfasser einer in Se. Johann erschienenen Broschüre, welches Kapital an Einfluß, welch
ein Reichtum von Möglichkeiten höher zu kommen, fließen so im Laufe der Jahrzehnte zu
ungunsten der Katholiken den Protestanten zu, wie dominiert das protestantische Beamtentum!
Wie setzt sich da instinktiv der Wahn allseitiger Überlegenheit auf der einen Seite fest, während
sich der andern das dumpfe niederdrückende Gefühl des Zurückgesetztseins bemächtigt. Durch
Ansiedlung von Beamten werden ganze protestantische Dörfchen geschaffen. Die sehr ver¬
breitete Zentrumspresse erhält von der Bergverwaltung keine Druckaufträge, während sich die
liberale protestantische Presse großer Aufträge und Zuwendungen erfreut. Es ist das fürwahr
eine Enteignungspolitik des Preußischen Staates den Katholiken gegenüber, die jeden ehrlichen
Menschen entrüsten muß."
Auch die höhere Besoldung der evangelischen Geistlichen — viele katholische
Pfarrer erreichen noch nicht einmal das Einkommen von Subalternbeamten —
benachteiligt die Katholiken ganz bedeutend. Der Motivierung mit der Familie
des evangelischen Pfarrers stellt Rost die Ansicht entgegen: gerade deshalb, weil
die katholischen keine eigenen Kinder haben dürfen, müßten sie mehr bekommen.
Das evangelische Pfarrhaus sei bekanntlich der wichtigste der Kanäle, durch
welche Söhne der unteren Schichten in die höheren aufsteigen; da fordere denn
die ausgleichende Gerechtigkeit, daß den katholischen Geistlichen die Mittel gewährt
würden, talentvolle arme Jungen ihrer Gemeinden durch Unterstützung in die
Höhe zu bringen.
In der grundsätzlichen Auffassung des Verhältnisses der katholischen Kirche
zu Kultur und Wirtschaftsleben stimme ich vielfach, wenn auch bei weitem nicht
vollständig, mit Rost überein, will aber, ihn nur gelegentlich erwähnend, meine
Ansicht selbständig entwickeln, so weit das im Umfange dieses Aufsatzes möglich
ist. Einfach erscheint die Sache nur den Radikalen zur Rechten und zur Linken.
Der asketische Heilige sieht in der christlichen Religion lediglich das Mittel zu
seiner persönlichen Erlösung, Heiligung und Beseligung und fragt nicht nach
Kultur; der moderne Freidenker sieht in der christlichen Religion und besonders
in der katholischen Kirche die Haupthindernisse des Kulturfortschritts, mit deren
letzten Resten so rasch wie möglich aufgeräumt werden müsse. Für die mit
Wirklichkeitsinn Begabten hingegen bilden diese beiden großen Wirklichkeiten ein
verwickeltes Problem.
Klar ist zunächst, daß wir im Christentum eines der drei Grund¬
elemente unserer heutigen Kultur haben; die anderen beiden sind das
Hellenentum und die Rasseneigenschaften der Germanen und der Romanen.
Das Christentum sorgt für die Volksgesundheit, indem es alle das Leibesleben
schädigenden Genüsse als Sünden und Laster verpönt. Die Hierarchie hat als
berufene Vertreterin der christlichen Ethik gegen Ende des Mittelalters versagt,
aber diese hat sich neue Organe geschaffen und von diesen aus dann auch die
alte Kirche reformiert. Und so oft auch noch weiterhin die Kirche ihr Amt
als Pflegerin reiner Sittlichkeit schlecht verwalten mag, es ist nicht gleichgültig,
ob die Religion das Gewissen im Volke lebendig erhält, oder ob der Naturalismus,
der sich im Altertum mythologisch verkleidete, heute in biologischer oder philo¬
sophischer Maske allgemeine Geltung erlangt. Durch ihren Monotheismus sodann
ermöglicht die christliche Religion echte Wissenschaft. Solche konnte im klassischen
Altertum u. a. darum nicht aufkommen, weil die vereinzelten Denker in dem
polytheistischen Volke keine Resonanz fanden; der Gedanke der Gesetzlichkeit des
Naturgeschehens kann nur dort allgemein herrschend und dadurch Grundlage
des wissenschaftlichen Denkens und Forschens werden, wo ein einziger ver¬
nünftiger Wille als Wurzel alles Daseins anerkannt ist. Darum gibt es
außerhalb der christlichen Welt keine Wissenschaft, die diesen Namen verdiente.
Die Einsetzung des siebenten Tages als Ruhetag ferner sichert den körperlich
arbeitenden Armen die Teilnahme an den geistigen Gütern der Menschheit,
bewahrt sie vor Bestialisierung und ermöglicht den Begabteren unter ihnen den
Aufstieg. Arbeit ist allen ohne Ausnahme zur Pflicht gemacht; zuerst in der
Form einer Bestrafung, dann durch das Sabbathgebot, das mit den Worten
eingeleitet wird: „sechs Tage sollst du arbeiten", dann durch Ephesier 4, 28 und
2. Thessalonicher 3,10. Die ungeheure Tragweite der Worte, die dem ersten
Menschenpaare und damit dem ganzen Menschengeschlecht seine irdische Aufgabe
enthüllen: „erfüllet die Erde und machet sie euch Untertan", ist erst in unserer
Zeit erstaunlicher Volksvermehrung und Naturbeherrschung offenbar geworden.
Im Reiche Gottes, einem Reiche der Liebe, Gerechtigkeit und Vernunft, stellt
das Evangelium dem Menschen sein höchstes Kulturideal vor Augen. Kant,
Fichte und Schiller haben es unter dem Namen des Vernunststaates erneuert,
und die Utopien unserer Sozialisten und Soziologen sind Kopien davon, die
sich vom kirchlichen Ideal durch zweierlei unterscheiden. Sie sollen im Diesseits
ohne Rest verwirklicht werden, während die Kirche, die Menschennatur richtiger
beurteilend, nur die Vorbereitung im Diesseits fordert, die Vollendung ins
Jenseits verlegt, und nach sozialistischer Ansicht soll die dem Ideal entsprechende
edle Gesinnung durch Umgestaltung des Gesellschaftszustandes bewirkt werden,
während das Christentum die äußeren Zustände durch Besserung der Herzen
umwandeln will. Eine ganz besondere Bedeutung gewinnt der christliche Glaube
gegenüber dem naturphilosophischen Materialismus und Atheismus, der heute
gepredigt wird. Der blinde, sinnlose, unerbittliche Kausalitätsmechanismus statt
des allgütigen fürsorgenden Gottes, mit dem leeren Nichts vor und dem leeren
Nichts hinter ihm, kann bei anhaltend Nachdenkenden nichts anderes als Ver¬
zweiflung erzeugen, und wenn unter den Anhängern des neuen Glaubens nicht
eine Selbstmordmanie einreißt, so ist das nur den beiden Umständen zu danken,
daß die meisten Menschen oberflächlich und gedankenlos sind, von den Tieferen
aber die optimistisch Angelegten durch schöne äußere Erfolge bei guter Laune
erhalten werden. (Eine treffende Schilderung des Gemütszustandes des modernen
Menschen, dem sich das gräßliche Bild der entgötterten Welt enthüllt hat, finde
ich eben an einem Orte, wo sie niemand leicht suchen wird: Deutsche Maler
und Zeichner im neunzehnten Jahrhundert von Karl Scheffler S. 143
Insel-Verlag.) Durch welche besondere Leistungen die alte Kirche sich
außerdem verdient gemacht hat. ist so bekannt, daß kaum daran erinnert
zu werden braucht. Es war nur Sorge sür rationelle Förderung des
Seelenheils seiner Mönche, was Benedikt von Nursia zu der Vorschrift
bestimmte, daß sie alle Lebensbedürfnisse durch eigene körperliche Arbeit beschaffen
und namentlich auch Bücher abschreiben sollten. Aber hierdurch sind sie die
Retter der antiken Kultur für die europäischen Völker, die Erzieher der kriegs-
und jagdlustigen Germanen zur landwirtschaftlichen und gewerblichen Arbeit
geworden. Ihre Schulen haben ein grundsätzlich bücherfeindliches Volk von
Analphabeten ans Bücherwesen gewöhnt, im methodischen Denken geübt, seinen
Sinn für Metaphysik und hierdurch auch für Physik erschlossen (keine exakte
Wissenschaft ohne Mathematik, also ohne Abstraktion!) und so die um 1500
beginnende moderne Wissenschaft vorbereitet. Durch ihren symbolischen Gottes¬
dienst und den biblischen und legendären Stoff, den sie den Künstlern lieferte,
wurde die Kirche Pflegerin der bildenden Künste, und mit ihrer hierarchischen
Verfassung, mit ihrer geordneten Vermögensverwaltung, wurde sie die Lehrerin
der Politik und Staatsverwaltung und hat in barbarischen Zeiten den Staat
ersetzt, wo und so oft er fehlte.
Nur darf man nicht, wie die frommen Enthusiasten und die Apologeten
tun, alle Kulturschöpfungen der christlichen Ära dem Christentum oder gar der
Kirche, der Hierarchie ausschließlich gut schreiben. Die beiden Kräfte, die mit
ihr zusammengewirkt haben, sind schon genannt worden, und nachdem die
Kirche das Erziehungswerk an den Germanen vollendet hatte, hat sie deren
entbundene und in der von ihnen geschaffenen bürgerlichen Ordnung tätige
Eigenkraft, wie jedermann weiß, meist mehr gehemmt als gefördert. Auch in
den bildenden Künsten, deren sie sich vorzugsweise rühmt, hat nicht ihr Geist
allein gewaltet. Nicht bloß Rubens und die übrigen Maler des Barock, sondern
auch Naffael, Correggio, die Venetianer, Murillo haben, was keinen Vorwurf
bedeutet, an den Heiligen und den Engeln, die sie malten, vor allem ihre Freude
an der schönen Gestalt, am warmen Fleisch, an prachtvollen Gewändern und
anderem weltlichen Prunk betätigt, und der gotische Stil ist, wie Ruskin nach¬
weist (John Nuskin von Sam. Saenger S. 65) keineswegs eine Schöpfung des
religiösen Geistes gewesen. Die gewaltigen Kirchenbauten der deutschen Städte
zumal waren Betätigungen weit mehr des kraftvollen, stolzen Bürgergeistes als
der Frömmigkeit. Diese Städte sind, wie Karl Adolf Menzel vor neunzig Jahren
geschrieben hat, eigentlich schon im Mittelalter protestantisch gewesen, sofern
„dieses Wort den Widerstand gegen das Streben bezeichnet, Religion und Kirche
als Mittel und Form weltlicher Machtübung zu gebrauchen". Dieser Mißbrauch
der Religion und des durch verdienstvolle Kulturarbeit erworbenen Einflusses
und Besitzes zur ungemessenen Mehrung des Besitzes und zur Aufrichtung einer
Weltherrschaft war nun hauptsächlich der Punkt, auf welchem das Verdienst der
römischen Kirche in Mißverdienst umschlug, so daß die Reformation und die
Trennung der nordischen Völker von der jeder Reform widerstrebenden unver¬
meidlich wurde, und das Papsttum beharrt bis auf den heutigen Tag in der
Schuld, indem es sie nicht anerkennt, die damalige geschichtlich gewordene und
nur vorübergehend berechtigt gewesene Form des Kirchenwesens als eine göttliche
Institution dogmatifiert und sich in die fortschreitende Säkularisierung der Gesell¬
schaft nicht fügt, die darin besteht, daß die Kirche, die als einzige Inhaberin
weltlicher Bildung bei den Barbaren anfänglich alle Funktionen einer geordneten
Negierung und Verwaltung sowie die Volkserziehung übernommen hatte, diese
Funktionen nach und nach an die Staaten, die bürgerlichen Gemeinden und die
gelehrten Korporationen verlieren muß, die sich unter ihrer Leitung gebildet
haben. Die Stellung, die sie vom siebenten bis ins zehnte Jahrhundert den
Germanen gegenüber einnahm, kann sie heute nur noch, und zwar mit Hilfe des
Staates, in der Heidenmission behaupten.
Sofern nun die deutschen Katholiken, nicht aus unedlen Absichten, sondern
in gutem Glauben, aus religiöser Überzeugung, die unberechtigten Ansprüche der
Kurie verteidigt haben, sind sie nicht ohne eigene Schuld in die dieser gebührende
Strafe verwickelt worden. Daß sie mit aller Kraft aus der ungünstigen wirt¬
schaftlichen Lage hinaus und hinausstreben, verdient Anerkennung, und die
reiche Entfaltung des katholischen Vereins- und Genossenschaftswesens und der
katholischen Presse und Literatur beweist, daß diesem Streben der Erfolg nicht
fehlt, und daß die Ratschläge, die Rost erteilt, befolgt worden sind, lange ehe
sie gegeben wurden. Doch wäre es bedauerlich, wenn diese Ratschläge die
Wirkung hätten, die Flucht aus der Landwirtschaft in die Industrie, an der
Ostelbien leidet, auch ini katholischen Süden und Westen einreihen zu lassen.
Rost hebt es als einen Ruhmestitel der deutschen Katholiken hervor, daß sie
dem Priesterstande und den Klosterorden reichlich Rekruten liefern und für
kirchliche Zwecke Spenden opfern, die in Anbetracht ihrer bescheidenen Vermögens¬
lage übermäßig genannt werden können. Das ist ein sehr zweifelhafter Ruhmes¬
titel, denn die eifrige Sorge für Kultzwecke entspringt einer Wertschätzung des
Knies, die in schreienden Widerspruch steht zum Geiste des Evangeliums (wie ihn
besonders das dreiundzwanzigste Kapitel des Matthäus, das zweite und das
siebente des Markus und der Galalerbrief deutlich aussprechen), und an einer
Überfülle von Geistlichen, Mönchen und Nonnen hat die Kirche noch niemals
Freude erlebt. Solche Fülle hat in neuester Zeit die Franzosen, die Portugiesen
mit rasendem Haß nicht allein gegen die Kirche, sondern gegen das Christentum
entflammt, und nirgends in der Welt ist der Klerus verachteter als in Rom,
am Sitze des Papsttums, wo es von überflüssigen Geistlichen wimmelt, während
in Deutschland der durch den Kulturkampf verursachte Priestermangel die Liebe
zur Kirche nicht vermindert, sondern zur Leidenschaft gesteigert hat. Häufung
von Kulthandlungen, die viele geistliche Personen nötig macht, ist nicht christliche,
sondern jüdisch-pharisäische und heidnische Art; eine im Verhältnis zur Kopfzahl
der Gemeinden übergroße Zahl von Geistlichen läßt sich nur in der Diaspora
rechtfertigen, wo die kleinen Gemeinden zu weit entfernt voneinander liegen, als daß
sie von einem Orte aus pastoriert werden könnten. Rost selbst sieht sich veranlaßt,
mit Berufung auf den Kardinal Fischer gegen die übermäßigen Ausgaben auf
zum Teil geschmacklosen Kirchenschmuck, und in vorsichtiger Weise sogar gegen
das Meßstipendienwesen zu polemisieren. Daß die katholischen Bauern der
Landwirtschaft treu bleiben, das ist, namentlich unter den heutigen Umständen,
ein weit echterer Ruhmestitel, und es entspricht auch den Grundsätzen des Evan¬
geliums, denen in höherem Grade als die Protestanten treu geblieben zu sein
die Katholiken sich rühmen. (In einer Beziehung mit Recht. Während die
katholische Kirche durch weltliche Machtansprüche und durch die Ausbildung ihres
Knies vom echten Christentum abgewichen ist, ist sie ihm treu geblieben durch
die Pflege des Geistes der Bergpredigt, der allerdings mitunter gefährlich wird,
indem sich Sorglosigkeit, Trägheit und Leichtsinn darunter verbergen, wie auch
Rost zugesteht. Liiacun a Iss cMauw ac se8 czualites, gilt eben auch von
jedem Volke, jedem Zeitalter, jeder Konfession). Die Landwirtschaft ist nicht
allein, wie schon Cicero hervorgehoben hat, das neidloseste Gewerbe, sondern
auch frei von Versuchungen zu anderen Sünden, die namentlich im Handel
lauern. Gerade weil in der Landwirtschaft mit harter körperlicher Arbeit nur
mäßiger Wohlstand erlangt werden kann, erhält sie Leib und Seele gesund.
Überhaupt würde die Absicht, es den Protestanten oder gar den Juden im
Vermögenserwerb gleichtun zu wollen, den Abfall vom Geiste der katholischen
Kirche bedeuten, der in dieser Beziehung mit dem Geiste des Christentums
identisch ist. Das Streben nach Reichtum verträgt sich so wenig mit dem
Christentum wie die Forderung einer absoluten Existenzsicherheit, die das Ver¬
trauen auf Gottes Vorsehung überflüssig macht. Dem Volke Israel ist vor etwa
dreitausend Jahren (Deuteronomium 28, 12) verheißen worden: Du wirst viele
Völker zinsen und von keinem gezinst werden; den Jüngern Jesu wurde nicht
allein das Streben nach Reichtum ausdrücklich verboten, sondern auch für diese
Welt nichts anderes als Verfolgung und Pein in Aussicht gestellt. Beide Ver¬
heißungen sind nicht allgemein in Erfüllung gegangen — die meisten russischen
Juden schmachten heut in entsetzlicher Armut, und viele Christen erfreuen sich
des Wohlstandes, ohne ihrer Religion untreu zu werden — aber doch im großen
und ganzen, so daß die Abstufung der Vermögenslagen genau dem Geiste der
Konfesstonen entspricht, da der Protestantismus in dieser wie in mancher anderen
Beziehung das Ergebnis eines Kompromisses ist. Wie der Kompromiß auf dem
wirtschaftlichen Gebiete zustande gekommen ist, hat Max Weber dargestellt, der
geradezu den Geist des modernen Kapitalismus aus dem Calvinismus hervor¬
gehen läßt. Im Mittelalter war eine kindlichere Form des Kompromisses
üblich: die reichen Fabrikanten, Kaufleute, Bankiers der italienischen Städte
pflegten auf dem Sterbebette einen Teil der gezogenen Wucherzinsen zu restituieren
oder von ihrem ungerechten Mammon kirchliche Stiftungen zu machen.
Protestantische Theologen haben ihre furchtbare Prädestinationslehre mit
der Annahme eines doppelten göttlichen Willens zu verteidigen gesucht: der
geoffenbarte Wille Gottes verbiete die Sünde, der verborgene erzwinge sie, um
durch die ewige Verdammnis der Sünder die Gerechtigkeit zu betätigen. An
diese ungeheuerliche Absicht Gottes glaubt heute natürlich kein Mensch, und die
theologische Schrulle, alle Geschehnisse der Welt unter dem Gesichtspunkte der
Sünde zu betrachten, haben wir uns abgewöhnt, aber der Schein zweier, mit¬
einander in Widerspruch stehender Willen Gottes ist tatsächlich vorhanden, denn
es waltet in der Welt weithin der Zwang zu dem, was die Theologie Sünde
nennt. Der Widerspruch löst sich durch eine Annahme, die der Gang der
Kulturentwicklung nahe legt. Wir sehen, daß, so wenig die Erhaltung des
einzelnen Menschenleibes und des Menschengeschlechts ohne Hunger nach Nahrung
und ohne den Geschlechtstrieb denkbar ist, so wenig auch die Kulturentwicklung
der Antriebe entbehren kann, die von niederen und unter Umständen böse
erscheinenden Trieben ausgehen. Die wichtigsten Entdeckungen und Erfindungen
sind allerdings von Forschern gemacht worden, denen es nicht um Geld und
Gut, sondern nur um die Wissenschaft zu tuu war, aber die praktische Ver¬
wendung der Entdeckungen und Erfindungen, die diesen erst ihre weltgeschichtliche
Bedeutung verleiht, die moderne Technik, würde ohne das Unternehmerinteresse
nicht in Fluß gekommen sein. An die Ausbildung des heutigen Geld- und
Kreditwesens, das ein unentbehrliches Glied des bestehenden Wirtschaftssystems
geworden ist, wäre nicht zu denken gewesen, wenn nicht Habsucht und Genußgier
die Spekulation der Finanzgenies beflügelt hätten. Dieselben Leidenschaften ziehen
in Wechselwirkung mit wirklichem Bedürfnis die Welt der Farbigen in die
europäische Kulturentwicklung hinein, die zugleich Verbreitung des Christentums
bedeutet, und Rost mahnt wiederholt, tüchtig Geld zu verdienen um der Seelen
Seligkeit willen, weil die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse des Volkes
schrecklich viel Geld koste. Wenn alle armen Katholiken in geduldigen Leiden,
in frommer Entsagung und im Vertrauen auf Gott sich bei ihrer Armut be¬
scheiden wollten, dann würde die „verdammte Bedürfnislosigkeit" sie allmählich
in jenes Proletarierelend hinäbdrücken, in welchem das geistige wie das sittliche
und das religiöse Leben verkümmert oder in Lastern erstickt, so daß also die
wider-kirchliche sozialdemokratische Arbeiterbewegung nicht allein für Staat,
Gesellschaft und Volkswirtschaft, sondern auch fürs Christentum eine Not¬
wendigkeit gewesen ist. Die bildenden Künste endlich und die Poesie können
sich nicht voll entfalten ohne einen Stärkegrad der Sinnlichkeit, den ein zartes
christliches Gewissen als Sünde oder wenigstens als Gefahr der Sünde fürchtet.
Anderseits beweist die ganze Weltgeschichte, daß die Völker zugrunde gehen,
wenn diese Triebe ungezügelt walten, und daß unter den Zügeln, zwar nicht
bei jedem einzelnen, aber wenn im Volke verbreitet, im großen und ganzen
das christliche Gewissen das wirksamste ist, während zugleich der christliche Glaube,
die christliche Liebe und die christliche Hoffnung das soziale, das Geistes- und
das Phantasieleben mit Inspirationen, Idealen und Antrieben befruchten, die
nirgend anderswoher geschöpft werden können. Es ist demnach klar, daß Gott
beide Seiten der Menschennatur, die ja beide von ihm geschaffen find, die
niedere und die höhere, wirken lassen will; in Wechselwirkung, einander ab¬
wechselnd spornend und beschränkend, sollen sie Kultur schaffen und dadurch das
Reich Gottes vorbereiten, das also ohne die Hilfe vom Reiche der Welt nicht
gebaut werden kann. Dieses ist uns Heutigen nicht mehr das Reich des Teufels,
aber da eben jedes der beiden Reiche seine besondere Aufgabe hat, die der des
anderen entgegengesetzt ist, war es keine Übertreibung, wenn Luther den Papst
den Antichrist nannte. Das ist er besonders in der Zeit von Bonifaz dem Achten
bis Leo dem Zehnten gewesen, wo die Kurie die größte Finanzmacht Europas
war. Daß diese von Gott angeordnete Arbeittcilung unaufhörlich Selbst¬
widersprüche und Gewissenskonflikte erzeugt, ist in der Weltordnung gegründet,
die darauf beruht, daß das Weltgetriebe durch Gegensätze in Bewegung erhalten
und vorwärts gedrängt wird.
Eine rege Teilnahme der Katholiken am Geistesleben liegt im Interesse
des Vaterlandes, und ihre stärkere Vertretung auf Gymnasien und Universitäten
wäre besonders deswegen zu wünschen, weil der Aufenthalt in der akademischen
Atmosphäre allmählich das Eis des Orthodoxismus zum Schmelzen bringen
muß. Oft habe ich nachgewiesen, daß der moderne Gebildete noch Christ sein
kann; keine der modernen Wissenschaften verbietet den Glauben an die christ-
lichen Grundwahrheiten: Monotheismus, persönliche Unsterblichkeit der Menschen¬
seele, ethische statt kultischer Gottesverehrung (Kult nur als pädagogisches und
Erbauungsmittel, nicht als Vermittlung göttlicher Gnade von Bedeutung),
Offenbarungscharakter des Christentums (in seiner Gesamtheit, mit Einschluß des
israelitischen Prophetentums und der Entwicklung der Kirche, aber nicht aller
einzelnen biblischen Lehren und Geschichten). Dagegen vertragen sich die pauli-
nischen und die durch Fortbildung des Paulinismus geschaffenen Kirchendogmen,
die nur symbolischen Sinn und pädagogischen Wert haben, wenn sie wörtlich
verstanden werden sollen, weder mit der modernen Wissenschaft noch mit reinem
und feinem sittlichen Empfinden, und die späteren Dogmen, vom Trans-
subftantiationsdogma an, sind schlechthin unannehmbar. Der Umstand, daß es
nur ein verhältnismäßig kleiner Komplex historischer und psychologischer Wahr¬
heiten ist, welcher der Orthodoxie widerspricht, und die Ungerechtigkeit vieler
der Angriffe, die gegen Christentum und Kirche gerichtet werden, machen es
den gebildeten Katholiken verhältnismüßig leicht, sich die UnHaltbarkeit der
Orthodoxie zu verbergen, aber eine engere Fühlung zahlreicher Katholiken mit
der protestantischen akademischen Welt würde doch mit der Zeit vielen die
Augen öffnen. Das wissen die Fanatiker und die Bigotten, darum verketzern
sie die Kölnische Volkszeitung und das Zentrum, welche friedlichen Verkehr mit
den Andersgläubigen, Hand in Hand gehen mit den gläubigen Protestanten, und
lebhafte Beteiligung an allen wirtschaftlichen, sozialen und Kulturbestrebungen
der Nation anzubahnen sich bemühen"). Auf diesem Wege müssen die Katholiken
endlich dazu gelangen, die Orthodoxie durch eine christliche Weltanschauung zu
ersetzen, auf deren gemeinschaftlichem Boden sich die Konfessionen oder Kirchen
als historisch und durch Stammesanlage berechtigte verschiedene Formen des
nämlichen Christentums zu friedlichem Wirken einigen können. Weil das wie
eine Denunziation klingt und den Prozeß stören könnte, würde ich es nicht
öffentlich sagen, wenn die Zeit nicht vorüber wäre, wo damit Schaden angerichtet
werden konnte; denn jetzt verkündigen die Fanatiker von Trier, Berlin, Paris,
Wien und Rom, natürlich in anderer Meinung als ich, diese Wahrheit so laut,
daß die Welt von den: Lärm erfüllt ist, den sie verführen.
Trotzdem sie mit aller Macht an der Sprengung des Zentrumsturmes
arbeiten, wird dieser halten, so lange — die Imparität währt. Der Ober¬
präsident von Vincke hat schon 1816 an Hardenberg berichtet, welche Erbitterung
die Zurücksetzung der Katholiken bei der Besetzung hoher Staatsämter am Rhein
erzeugte, und als man die Imparität als Zufall zu deuten versuchte, fuhr der
Geschichtsphilosoph Ernst voll Lasaulx, ein Neffe von Josef Görres, mit grimmem
Humor gegen diesen Unsinn los. Wird Inferiorität der Katholiken vorgeschützt,
so genügt es daran zu erinnern, daß auch ein Joseph von Eichendorff lediglich
darum nicht befördert wurde, weil er katholisch war, und daß in Breslau die
Herren von der evangelisch-theologischen Fakultät eine Reihe von Jahren hin¬
durch bei Öffnung des Umschlags als Verfasser der preisgekrönten Arbeit jedesmal
einen katholischen Theologen fanden. Das von Rost beigebrachte Material ist
so überwältigend, daß kein vernünftiger Mensch an der Absicht der protestantischen
Regierungen, namentlich der preußischen, die Katholiken nach Möglichkeit von
höheren Staatsämtern auszuschließen, zweifeln kann. Die Absicht entspringt
einem idealen Beweggrunde, dessen Berechtigung hier nicht geprüft werden kann:
die Dynastien und die Spitzen der Bureaukratie sind ehrlich überzeugt, daß der
Geist des Katholizismus sich mit dem Wesen und dem Zweck des modernen
Staats nicht vertrage und daß zudem die Hierarchie den Deutschen feindlich
gesinnt sei, sie fürchten darum von einer starken Beteiligung der Katholiken an
der Verwaltung sür die Sicherheit des Staates. (Weniger ideal sind die
Gründe der Imparität in der Kommunalverwaltung. Mallinkrodt hat vor
vierzig Jahren die Städte mit steuerlich überwiegend protestantischer Bevöl¬
kerung Brutnester der Intoleranz genannt, deren Praxis das Knirschen des
ganzen inneren Menschen hervorrufe.) Das darf die Negierung eines ver¬
fassungsmäßig paritätischen Staates natürlich nicht eingestehen, und darum sehen
sich ihre Vertreter in die peinliche Lage versetzt, Ausflüchte konstruieren zu
müssen, über welche die Protestanten im geheimen lachen und die Katholiken
sich geräuschvoll entrüsten. Die preußische und die Reichsregierung sest zu machen,
sind die katholischen Fanatiker und Bigotten eifrig bemüht, indem sie den Papst
zu Kundgebungen drängen, welche die Protestanten beschimpfen und aufs neue
erbittern, die moderne Staatsordnung durch die Aufwärmung hierarchischer
Ansprüche wie das Privilegium kom zu bedrohen versuchen (sie ernstlich zu
bedrohen, hat die Hierarchie keine Macht mehr) und die katholische Jugend
durch pädagogisch verwerfliche Bigotterie in einer auch für den Staat bedenk¬
lichen Weise schädigen. (Das tut die Verordnung über die Kinderbcichte und
Kommunion.) Die Lage der deutschen Katholiken und ihr Zusammenhalten
wird dadurch unendlich erschwert, aber sie werden zusammenhalten, so lange
die Imparität dauert. Sie wären dumm — und das sind sie nicht — wenn
sie die zur Verteidigung ihrer staatsbürgerlichen Rechte und als Zentralstelle
für ihre wirtschaftlichen Bestrebungen geschaffene politische Organisation, nach
der sie Jahrzehnte lang vergebens gerungen haben und zu der ihnen endlich
der Kulturkampf verholfen hat, aufgeben wollten, so lange die Zustände fort¬
bestehen, die zur Gründung der Zentrumspartei gedrängt haben.
Gerade da, wo die Kneisenheimer Chaussee in einem weiten Bogen herum¬
schwenkt nach Rabenheim, liegt der Friedhof. Immer schaut er dann hinauf an
des Baders Grab. Es ist leicht aus den anderen Gräbern herauszufinden, denn
es blühen keine Blumen darauf. Wüst liegt der gelbe Lehmhügel da. Die Tante
hatte ja zwar ein paar Grasblumen darauf gepflanzt, doch die waren bald wieder
verwelkt, weil sie nicht gegossen worden waren.
Karl ging nicht auf den Friedhof. Er fürchtete die Schmähreden der anderen
Besucher, wenn er vor dem Grabe stünde. Überhaupt ist er menschenscheu geworden.
Werktags hat er ja seine Arbeit und kann sich um niemand kümmern. Er ist auch
noch sehr selten allein im Felde gewesen, meist ist er in Begleitung der Brüder
Holtner. Da haben die Bauern, die auf den Nachbaräckern arbeiten, nicht den
Mut, ihn anzurempeln, und den eigenen Taglöhnern hatte Unkel Hannes beim
Eintritts Karls gesagt:
„Da denn wir jetzert einen neuen Ackersbursch. Hüt sich einer, in seiner
Gegenwart was Vergangenes aufzurühren!"
Sonntagsmorgens ging Karl nicht in das Hochamt, wie es dem Brauche
nach für den Burschen ziemlich gewesen wäre, sondern er begab sich mit Unkel
Vinzenz in die Frühmesse. Da war er vor Nnrempelungen der früheren Kame¬
raden gefeit.
Unkel Hannes hielt sich nicht an die Kirchengebote, und es war ihm nichts
daran gelegen, die Messe zu versäumen. Den Karl hatte das anfangs stutzig
gemacht, zumal Tante Seelchen ihm anempfohlen hatte, seinem katholischen Glauben
treu zu bleiben und auch danach zu leben. Aber je länger er im Hause Holtner
war, nur so mehr erkannte er die unter einem rauhen Äußeren sich verbergende
Güte und Liebe des alten Junggesellen, und er störte sich nicht mehr daran, daß
dieser den Besuch der Messe versäumte. Daß Unkel Hannes außerdem sowohl
seine beiden Geschwister wie auch ihn selbst in dem streng kirchlich religiösen Leben
ganz unbehelligt ließ, rechnete er ihm hoch an. Hatte nicht Tante Seelchen gesagt,
Menschen, die nicht in die Kirche gingen, die sich über die Kirchengebote hinweg¬
setzten, seien auch in der Regel große Religionsspötter und wüßten nichts besseres,
als die Treuen der Kirche zu säuseln und zu verhöhnen? In diesem Punkte hatte
sich aber Tante Seilchen sehr geirrt, wenigstens soweit der Unkel Hannes in
Betracht kam.
Trotz aller Menschenscheu war aber dem Burschen wieder viel von seiner
alten Kraft und auch ein Stück von seinem heftigen Temperament zurückgekehrt.
Nicht so, als ob sich das im Benehmen gegen seine neue Herrschaft gezeigt hätte.
Nein, es lag nur wieder in ihm, und er spürte, daß es bei geeigneter Gelegenheit
wieder losbrechen könne. So wunderte es ihn oft, wie er nur damals bei dem
Tode des Vaters so schlapp und anfangs bei den Holtnersleuten so täppisch hatte
sein können, so daß sie häufig sagten:
„Kerl, stell dich doch net so, man meint, du wärst net aus dem Dorf!"
Aber dann hatte ihm der Unkel Hannes einen Vortrag gehalten zur Besserung.
Er hatte ihn gefragt, ob er denn eigentlich wisse, was er im Hause sei.
Karl hatte gezögert mit einer Antwort. „Knecht" zu sagen, konnte er sich
nicht überwinden, denn Knechtsein kam ihm noch arg demütigend vor.
Auf sein Schweigen hatte Unkel Hannes ihm zur Antwort gegeben:
„Ackersbursch bist du bei uns! Ackersbursch!"
Und hatte ihm dann noch gesagt, er müsse mehr mit Verstand arbeiten. Da
war Karl sehr rot geworden, weil er das für einen Tadel hielt. Unkel Hannes
hatte die Verlegenheit des Burschen bemerkt und gesagt:
„Mußt jetzert net meinen, ich wär unzufrieden mit dir, im Gegenteil! Ich
mein nur so, Kerl, du sollst net schaffe wie ein Gaul oder in deinem Fall noch
besser gesagt: wie ein Ochs, der da naustrampelt und seine Arbeit schafft, weil er
net anders kann. So schaffen ja zwar die mehrsten Menschen, aber 's ist net
nötig, daß du die Menschochsen um ein Exemplar vermehrst. Du bist ja auch in
anderer Hinsicht durch dein Malheur anders geart' wie die anderen!"
Das Letzte da schmeichelte dem Burschen, und er war schon williger, den Rat
des derben Mannes anzunehmen.
„Was dir noch fehlt, ist die recht Besinnsamkeit. Früher war die viel mehr
unter den Leut, und wenn die heutigen Menschochsen ein bißchen inS Alter
kommen, kriegen sie mitunter auch noch ein bißchen von der Besinnsamkeit, die ich
mein. Die Besinnsamkeit, wie schön es auf der Welt ist, und wie ganz besonders
schön es ist, auf dieser schönen Welt Bauer zu sein, Ackersmann. Siehst, wenn
ich an das Wort Acker denke, muß ich's auch gleich schon aussprechen, weil's außer
unserem Herrgott seinem Namen kein kräftiger Wort auf der Welt gibt. Verstehst
du das? Nein, das verstehst net! Bist selbst noch ein Menschochs! Vielleicht
auch nur ein purer Ochs! 's wird dir noch verwunderlicher sein, wenn ich dir
jetzert sag, daß ich das Wort Acker net allein denke und spreche, daß ich's auch
rieche und schmecke, daß ich meine, mein Herz nennt sich Acker, mein Herz ist ein
Stück vom Acker, hat all das in sich, was ein Acker in sich hat. Drum glaub
ich auch net, daß es nach mei'in Tode aus ist mit mir. Denn mein Herz ist
ein Acker. Ein Acker vergeht nicht. Der wird immer wieder neu. Ein Acker ist ewig!"
Nach diesen Worten hatte Unkel Hannes ein wenig inne gehalten, als ob er
sich auf etwas besänne. Oder als ob seine Gedanken an einem Gewebe weiter-
spänneu, das nicht für jedermann ist. Oder als ob er ein still Gebet für sich
spräche. Und Karl war dann sehr verwundert gewesen, als er gesehen hatte, wie
sich des Mannes Augen mit Tränen füllten. Sie liefen aber nicht über.
In diesem Augenblicke fühlte der junge Mensch eine heilige Weihe in sich,
fühlte, wie sich seine Seele weit auftat. Und wie er sah, daß Hannes Holtner
tief seufzte, beugte er demütig seinen Kopf, denn er hatte die Ahnung, daß der
Alte nun etwas ganz Merkwürdiges tun würde. Und das tat er: er ballte seine
Fauste, reckte jauchzend die Arme aus und rief dazu:
„O Acker, Acker, Acker!"
Sonst war es nichts. Aber es war doch viel. Denn auch in den jungen
Burschen kam ein Schimmer der Weihe, die die Seele des alten Junggesellen ver¬
klärte, und von dem Jubel, der den begeisterten Ackersmann durchschüttelte.
Hannes Holtner aber fuhr nach einer kleinen Weile des Schweigens also fort:
„Siehste, lieber Bub, mich hat der Acker gesund gemacht. Ich war krank,
wie du's zum Teil noch bist. Krank am Herzen ohne Herzfehler. Das wirst du
auch net wissen, daß ich in meinen jungen Jahren einmal auf der Universität
gesessen hab?"
Als Karl das hörte, fuhr er erstaunt auf und sagte nur:
„Universität?"
„Ja, sie berus vergessen im Dorf. Sie Wissen's nimmer. Ein so guter
Bauer bin ich worden, kein Manschettenbauer. Der Acker ist dran schuld. Wie
ich gelernt hatte, zu begreisen, wie schön der und die ganze Natur ist, war ich
gesund und ein Bauer durch und durch. Und kein Menschochs mehr. Weißt du,
mich hat in meinen jungen Jahren auch etwas durcheinander geschüttelt. So,
wie dich jetzert. Bei dir war's das Unglück mit deinem Vater, bei mir war es
ein Weibsbild gewesen. Ich Ochsl Von einem Weibsbild sich kaput machen zu
lassenl Aber heut benedeie ich sie. Sie hat mich hinaus auf den Acker geschmissen.
Ich wär sonst heut ganz sicher ein Bücherwurm. Nationalökonomie zu studieren,
ich Ochsl Ich dreifacher Ochs! Bauer sein, das ist, waS gesund erhält. Die Welt
ist heutzutag ein großes Narrenhaus, und kurz über lang muß sie mal verkrachen
die verrückt Gesellschaft. Da hab ich nur den einzigen Wunsch, daß wenigstens
unsere Bauern gesund bleiben und wieder ein tüchtig Volk auf die Welt setzen,
wenn sich die Narren gegenseitig die Schädel eingeschlagen haben. Und was ich
tun kann, will ich tun, ein paar ganz tüchtige, richtige Menschen groß zu
ziehen. Wenn ich dich so betracht: du könntst einer werden, wenn du dir Müh
gibst! Da hätt ich doch in meinen alten Tagen, wenn ich selber nimmer kann, einen
der meine Äcker lieb hat."
Hannes Holtner hielt wieder eine Weile inne.
Karl aber sagte scheu und in Ehrfurcht:
„Ich will schon alles tun, was Ihr sagt, Unkel Hannes!"
Da sprach Hannes Holtner weiter:
„'s ist eigentlich garnet so schwer, aus einem Menschochs zu einem echten,
rechten Mensch zu werden. Horch auf: vor allen Dingen muß ein Bauer, oder
was du bist: ein Ackersbursch, wenn er alles, was über ihn kommt, mit Gleichmut
ertragen will, ganz eins mit der Natur werden. Wenn das der Fall ist, wird
einem keine Ärwet (Arbeit) zu schwer, weil man weiß: ich bin der Natur erster
Diener. Ich gehör zu ihr wie der Regen, wie die Sonn, wie der Schnee, wie
der Wind und der Tau. Wer so denkt, ist schon keine Maschin, kein Menschochs
mehr. Nee denken: was muß ich Bauersmann mich doch abrackern sür mein
täglich Brot. Denken: die Arbeit an der Natur ist mein Teil, und ich muß sie
schaffen, wenn sie mich im einen oder anderen Jahr auch net so ergiebig belohntl"
Der junge Bursche reißt die Augen weit auf über solche Lehre des studierten
und doch so bäuerischen Bauers Hannes Holtner und sagt:
„Unkel Hannes, 's heißt aber doch schon in der Schrift: Im Schweiße deines
Angesichts sollst du dein Brot essen!"
Hannes Holtner aber, der Bauer von ganzer Seele, erwidert:
„Diesen Fluch Gottes, mein lieber Bub, muß man überwinden. Begreifst
du das: erst wenn einem die Arbeit kein Fluch mehr ist und das Bißchen täglich
Brot Nebenfach, erst dann, oder vielmehr: grad dann lebt man auf der Welt mit
ihren Dornen und Disteln wie im Paradies, und unser Herrgott hat seinen Spaß
an einem und denkt: Siehst so waren der schlecht Adam und die verdorben Eva
vor dem Fall; hätt das miserabel Lumpenvolk net so bleiben können?!"
Hatte der Karl Salzer da lachen müssen über die wenig respektablen
Äußerungen, die der Unkel Hannes dem lieben Herrgott über sein erstes Menschen¬
paar in den Mund legte.
„Gelt, lachst, weil ich so klobig bin? Hat nix zu sagen! Laß dir jetzert noch
verzählen, wie du das machen mußt, wenn du nach meinem Herzen werden
sollst! 's ist so leicht, Karl! Brauchst nur die Augen recht aufzureißen, wenn du
draußen bist. Im Frühjahr, wenn der Acker aufwacht, wenn er anfängt, zu
atmen. Wie da der weiße Hauch aus ihm herausdampft! Wie er duftet, wenn
man ihn mit dem Pflug herumstürzt. Mütze die Sonn begreifen und fühlen, wie
sie die Mutier ist von der ganzen Natur und auch von dir. Mütze sehen, wie sie
auf- und untergeht und wie sie sich verändert. Mußt aus ihrem Gesicht ablesen
können, was für Wetter wir des andern Tags haben werden. Das mußt du
auch am Mond sehen. Mußt die Sterne betrachten und fühlen und glauben, daß
sie lebendig sind. Nee dran denken, was du in der Schul gelernt hast: das wären
Welten! Stern sind's Stern, Stern und nix anderes I Lebendige Sterne! Mußt gar
nichts mehr anderes denken und fühlen, als daß du ein Stückchen wärst von dieser
ganzen schönen großen lebendigen Welt um dich herum. Daß du zu ihr tätst
gehören und daß du nötig für sie wärst wie Sonne und Mond und Stern. Siehst
du, Bub, das ist alles. Man lernt's leicht, wenn man nur mal den Anfang
macht, dem kleinsten Ding Beachtung zu schenken und seine Schönheit zu sehen.
Ich will mal Achtung auf dich haben, ob du das fertig bringst! So, g' Nacht
jetzert!"
Das hatte Hannes Holtner dem Karl Salzer gesagt in einer Nacht, da sie
zusammen in dem Pferdestall saßen und wegen der Lotte, der Stute, wachen
mußten, weil sie am Nachmittag heftige Kolikanfälle gehabt hatte.
Auf den Burschen machten die Worte des alten Junggesellen einen eben so
tiefen Eindruck, wie es die Worte der Tante vor einigen Wochen getan hatten.
Sie waren ihm eine Art Offenbarung und erleichterten ihm auch tatsächlich die
Last seines Geschickes nun noch mehr als es bereits durch die Freundlichkeit der
Geschwister, die ihn in ihr Haus aufgenommen hatten, geschehen war.
Dem Hannes Holtner fühlte er sich nun noch mehr verwachsen. Anfangs
hatte es ihm ja scheinen wollen, als würde er sich einmal mehr dem Unkel Vinzenz
anschließen können, denn der war weniger wortkarg und auch nicht so derb. Aber
nachdem Unkel Hannes ihm dermaßen die Seele aufgeschlossen hatte, war seine
Stimmung umgeschlagen.
Nun fuhr er sehr gerne mit ihm ins Feld, und am liebsten war es ihm,
wenn sie allein waren. Dann konnte er seinem alten Freunde zeigen, wie er sich
bestrebte, den gegebenen Winken nachzuleben.
Dem Hannes Holtner dagegen war das eine drollige Sache, seinen Zögling
im Eifer zu sehen, das „Menschochsliche" abzustreifen, zumal das im Anfange
gar täppisch war. Der Junge meinte, nun in jedem Dreckelchen eine Schönheit
entdecken zu müssen. Und als das gar zu toll wurde, mußte er sogar einmal
bremsen. Er sagte in seiner derben Art:
„Karl, jetzert mußt du net meinen, daß du alles, aber auch absolut alles
mit Schönheitsaugen angucken müßtest, zum Beispiel auch das, wenn der Gaul
den Schwanz in die Höh hebt und was fallen laßet"
Auf diese Dämpfung hin schämte der Bursche sich, und eine Zeitweile sprach
er überhaupt nicht mehr viel mit Hannes, so daß dieser schon glaubte, sich in
dem Burschen getäuscht zu haben. Womöglich wirkte in dem immer noch das
überheftige Temperament, und der gelindeste Tadel machte ihn verbittert.
Aber das war nicht so. Karl erforschte sich nur und überlegte, ob er den
Unkel Hannes vielleicht falsch verstanden hätte in jener Nacht.
Nach ein paar Tagen war er wieder im Gleichgewicht, denn seine Über¬
legungen hatten ihn zu der Erkenntnis geführt, daß der Unkel Hannes trotz der
Weihe, mit der er die ganze Natur empfand, auch die Alltäglichkeit gelten lasse,
und sah ein, daß das auch so sein müsse, um vor Übertreibungen und Schwärmerei
bewahrt zu bleiben.
Mit dem Gleichgewicht seiner Seele kehrte auch die Gesprächigkeit seines
Mundes wieder. Hannes Holtner merkte gleich, daß die paar Tage Schweig¬
samkeit recht gute Wirkung gehabt hatten, denn in dein Wesen des Burschen
zeigte sich nun mehr Bedächtigkeit. Statt des Schwatzens hatte er nun das
Sprechen gelernt. Er sprach nur noch, wenn er glaubte, etwas Besonderes sagen
zu können.
So waren sie an einem späten Abend noch einmal auf die Nabenheimer
Höhe gefahren, um noch mehrere Haufen Grummet heimzuholen, denn es drohte
Regen zu geben.
Aus der Rheinebene war der Mond aufgestiegen und schwebte wie ein blut¬
rotes Lampion langsam am Himmel herauf. Als er höher gelangt war, quollen
unter ihm ein paar Wolken auf und legten sich gerade an seinen unteren Rand
hin. Da deutete der Bursche auf das Himmelsbild und sagte scherzhaft zu Unkel
Hannes:
„Do guckt hin, Unkel Hannes, der Tagdieb von Mond ist aber heut mal
faul: er legt seinen dicken Kopf auf ein weich WolkenkissenI"
Da blitzte durch Hannes Holtners Augen das Feuer der Freude, und er
erwiderte nur:
„Dunnerkeil, 's ist aber auch währt"
Karl aber fühlte es ganz deutlich, daß er dem Unkel Hannes eine große
Freude bereitet hatte.
Ein andermal, als sie anfangs September morgens um vier Uhr im Hofe
standen und zum Himmel aufblickten, an dem die Sterne im lichtvollen Funkeln
glänzten, stieß Karl seinen alten Freund an:
„Unkel Hannes, sieht das net aus, als wollten sich die Stern herunter auf
die Erde tropfen lassen? Als ob sie denken täten, die Welt könnt net Licht
genung kriegen I"
Nachdem Hannes Hvltner das angehört, hatte er seinem Zögling nur auf
die Schulter getätschelt.
Er selbst aber hatte das tiefe Glück empfunden, Apostel der Seele zu sein . ..
Karl spürte es bald auch selbst, daß seine Seele voller Freude wurde. Und
aus seinem freudigen Drang heraus nahm er sich vor, nun auch nicht mehr so
menschenscheu zu sein. Er wollte wieder mit seinen alten Kameraden anknüpfen
und nicht mehr einen anderen Weg sehen, wenn sie an ihm vorbeigehen oder
vorbeifahren. Auch die Alten wieder grüßen, was er seither aus Verbitterung
unterlassen hatte. Jetzt, da er sich dazu entschloß, wunderte es ihn sogar ein
bißchen, daß Unkel Hannes das von ihm nicht verlangt hatte.
Eines Tages, als er hinter dem Pfluge herging und den frischen köstlichen
Erdgeruch mit Wonne in sich einsog, bemerkte er, daß zwei Ackerbreiten weiter der
Fritz Puls ebenfalls mit dem Pflugkarren angefahren gekommen war. Er rief ihm zu:
„Na, Fritz, willschte die Stoppeln rumstürzen?"
Er erhielt zuerst keine Antwort. Und als er den Burschen noch einmal
anrief, erwiderte statt dessen der Vater, der auch dabei war, in einer rohen,
unflätigen Abweisung.
Kaum hatte Karl diese Antwort vernommen, als sofort der alte heftige Kerl
in ihm aufwachte. Der Zorn quoll ihm mächtig, und er rief dem alten Bauers¬
mann derbe Schelten hinüber.
Hannes Holtner, der einige Pferdelängen hinterdrein mit einem zweiten
Pfluge arbeitete, rief Karl zu:
„Bub, Halts Maul und ärger die Leut nett Und auch net gleich so
zornig werdenI"
Beim Morgenessen sagte ihm der Bursche, warum er dem Fritz zugerufen
hatte. Er wolle nicht mehr so menschenscheu sein und dies und das, und er
könne garnicht begreifen, warum man so abstoßend gegen ihn sei. Ob denn
wohl die Bauern ihm noch immer den Fehler des Vaters nachtrügen?
Noch am selben Tage sollte er den Grund erfahren.
Als nach der Heimkunft die Gäule ausgespannt und im Stalle sind und er
ihnen gerade das Futter richten will, hört man auf der Straße schellen. Hannes
Holtner ruft dem Burschen zu:
„Karl, geh naus, horch mal, was der Polizeidiener ausschellt!"
Karl springt ans Tor und horcht hinaus. Gerade entfaltet der Polizeidiener
einen Zettel.
„Nächsten Samstag werden im großen Saale des Gemeindehauses dahier
zwangsweise öffentlich versteigt die nachgelassenen Liegenschaften und Mobilien des
verstorbenen Schmieds Salzer. . ."
Mehr hört der Bursche nicht. Er weiß, nun wird alles im einzelnen auf-
gezählt. Das will er nicht hören. Er ist kreidebleich. Nun weiß er auch, warum
Unkel Hannes, der zum Vormund der beiden Kinder erncirmt worden war, in der
letzten Zeit so oft beim Bürgermeister gesessen hatte.
„Na, was ist?" fragt Hannes Holtner.
„Unkel Hannes, wenn Jhr's hören wollt, geht nur selber naus; ich kann's
net hören. Unser Sach wird versteigt!"
Da will der alte Junggeselle seinem Schützling einen Trost geben und sagt:
„Darfst dich net so angreifen lassen davon. Was ich aufsteigern kann, steig
ich, verstanden?!"
Aber Hannes Holtner muß sehen, daß der Bursche sehr aus dem Geleise
gekommen ist. Der gibt ihm auf seine Frage gar keine Antwort, zeigt keine Freude
über den Vorschlag und sagt nur:
„Jetzert weiß ich auch, warum die heut morgen so grob waren: denn Angst,
's tat net langen, um alles zu decken!"
„Karl!" antwortet Hannes Holtner, „das tut's auch net. Aber ich will dir
etwas sagen, was ich vom Bürgermeister weiß, was aber noch net unter die Lent
kommen soll. Du weißt, daß der Baron droben schon viel Wohltätiges in unserer
Gegend getan hat. Nun hat er dein Bürgermeister gesagt, daß er die Sach decken
tat, soweit deinem Vater seine Kaution und der Erlös aus der Konkursmasse net
langen tat, um den Fehlbetrag gut zu machen. So arg viel, glaub ich, braucht
er ja net drauf zu legen. Drum mach dir weiter keine Sorgen. Die Bauern
werden, wie du siehst, gar keinen Grund haben, lange Gesichter zu machen!"
Karl weiß nicht recht, was er dazu sagen soll. Er atmet heftig und sieht
den Unkel Hannes zweifelnd an.
„Wirklich, Unkel Hannes?"
„Wenn ich dir's sag, lieber Bub I Ist dir kein Zentner vom Herz?"
„Ja doch!"
Dann füttert Karl seine Gäule, meint auch, daß nun alles gut werden könne,
und doch bohrt ein tiefes Leid in ihm, weil nun auch die von Tante Seelchen in
der Kaution steckenden fünftausend Mark verloren gehen.
Jetzt, wo er die Sachen alle, die durch die Schuld des Vaters in Unordnung
gekommen sind, bald geregelt weiß, erwacht die Sehnsucht, einmal das Grab zu
besuchen, heftiger in ihm. Er nimmt sich vor, gleich wenn die Versteigerung vorbei
und den Bauern der Entschluß des Barons bekannt ist, auf den Friedhof zu
gehen. Der Groll der Dörfler gegen den Vater wird sich dann gelegt haben und
damit auch die Erbitterung gegen den Sohn.
(Fortsetzung folgt)
Das ist Karls Hoffnung.
Von den Werken Dcmthendeys verlegt Ernst Nowohlt-Leipzig
die Gedichtbände „Ammenballade" »ut „Singsangbuch" (beide ans dem
Verlag von E. Bonsels u. Co.-München übergegangen), sowie die Dramen
mit Ausnahme der „Spielereien einer Kaiserin" und den: „Drachen
Granti", welche ebenso wie der Roman, die Novellen, der „Bänkelscmg"
und alle übrigen Gedichtbände bei Albert Längen-München erschienen sind.
ax Dauthendey dürfte, wenn ich richtig schätze, der überwiegenden
Mehrheit meiner Leser so gut wie unbekannt sein, ja manche
werden, durch ungünstige Kritiken eingenommen, wenig geneigt
sein, jemandem, der zu seinen Gunsten sprechen will, ohne weiteres
Glauben zu schenken. Hat man doch in letzter Zeit allzu ab¬
sonderliche Dinge mit lauter Stimme anpreisen gehört, als daß der nachdenkliche
Teil des Publikums nicht längst hätte mißtrauisch werden sollen. Daher
muß ich wohl oder übel damit anfangen, die Gründe dafür darzulegen, weshalb
das Publikum der Produktion des Dichters noch immer kalt gegenübersteht, und
weiterhin feststellen, was es mit den ungünstigen Berichten und Gerüchten
auf sich hat.
Dauthendey wurde zuerst bekannt als ein „Neutöner" schlimmster Sorte.
Da war ein Gedichtbuch „Ultra-Violett", ein Buch voller Skizzen in ab¬
gebrochenen Rhythmen, schwer verständlich in der Absicht, und mit so viel
Filigranfeinheiten überladen, daß es zu keiner rechten Form kommen konnte.
Da waren merkwürdige Dramen, in denen u. a. der Schauplatz das menschliche
Gehirn war. Dergleichen Jugendsünden hat mancher Dichter hinter sich und
Dauthendey selber hat sie als solche erkannt. Damals jedoch gab es sogleich eine
Anzahl Unberufener, die von Enthusiasmus berauscht, die Absicht für die Tat
nahmen und Anfänge für unsterbliche Werke hielten. Doch dies wäre, wenn
es auch das Publikum verstimmte, noch nicht so schlimm gewesen. Aber man
stellte den Dichter auch sogleich in die Gesellschaft der George, Mombert und
des jungen Rilke, und das hängt ihm bis heute an. Schon damals war diese
Gruppierung falsch, aber noch heute, da der Dichter längst kein Jüngling mehr,
fondern ein Mann von vierundvierzig Jahren ist, und sich zu einer großen.
reichen und kraftvollen Persönlichkeit ausgewachsen hat, noch heute stellt sich das
Publikum unter seinem Namen einen jener schwer verständlichen Neutöneriche
vor, über welche die Literaturgeschichte, wie es heißt, hinweggehen wird und
den man daher nicht zu lesen braucht.
Anders verhält es sich mit den ungünstigen Urteilen der Presse. Über
Dauthenden reden, heißt über etwa fünfundzwanzig Bände Rechenschaft ablegen.
Es ist ganz klar, daß das nicht alles Meisterwerke sein können. Manche, wie
der „Bänkelsang", sehen so aus, als seien sie nur zur Erholung geschrieben,
oder als Spielerei wie die „Ammenballade", oder als Vorübung wie das „Sing¬
sangbuch" oder die Einakter. Das ist nun freilich kein Grund zum Publizieren,
aber der moderne Dichter, der nicht wie in früherer Zeit im wesentlichen von einem
Amte lebt, ist dazu wohl oder übel genötigt, sei es weil der Verleger es wünscht,
sei es um das Publikum in Atem, seine Verehrer warm zu halten. Anderes,
wie die Mehrzahl der Dramen, nimmt sich aus, als sei es rein um des
materiellen Erfolges willen geschrieben. Damit aber ist es für einen großen
Dichter eine gefährliche Sache. Selbst ein Goethe hätte beim besten Willen nicht
schreiben können wie Kotzebue, allemal wären schlechte Kotzebues dabei heraus¬
gekommen, kein einziger guter. Aus demselben Grunde hat auch z. V. Dauthendens
Roman „Raubmenschen" trotz der zum Teil wunderbaren Beschreibungen kein
Glück machen können und wenn ein Kritiker, der die wirklich großen Leistungen
des Dichters nur vom Hörensagen kannte, sich an dies eine Werk, das ihm
wenig Lust auf andere machte, hielt und seiner Enttäuschung offenen Ausdruck
verlieh, so ist das vollkommen begreiflich.
All dies aber beweist nicht, daß Dauthendey kein großer und bedeutender
Dichter ist und jeder wird das merken, der mit offenen, unbefangenen Sinnen
für echte Poesie seine wirklich guten Bücher aufschlägt. Da sind zunächst die
Gedichtbände. Man lasse sich nicht durch die in vielen Anthologien ver¬
tretenen Proben täuschen, denn diese oft recht nützliche Verbreitungsmethode
kann auf Dauthendey keine Anwendung finden.
Seine Gedichtbände sind nämlich nicht einfach gesammelte Gedichte, sondern
jeder von ihnen hat eine innere Einheit, in demselben Sinne wie etwa Shakespeares
Gedichte oder Platens venetianische Sonette eine innere Einheit ausweisen. Auch
vou diesen wird das vereinzelte Stück auf den Unkundigen immer einen befremd¬
lichen Eindruck machen, erst aus dem Ganzen heraus wird das Einzelne recht
verständlich. Prüft man aber das ganze, so gewahrt man bald, daß sie wie
reiche bunte Feldblumensträuße sind, die ein naiver, von Gärtnermoden un¬
berührter Mensch beim Spazierengehen sammelt, absichtslos, aber mit reiner
Freude an den schönen, zarten, buntfarbigen Dingern. Und es kommt ihm
wenig darauf an, ob auch einmal ein unscheinbares Gräslein oder gar ein
Unkraut dazwischen gerät, das gehört mit zum Strauß, wie es ja auch mit zur
Wiese gehört. Und wie die Feldblumen, die niemand gesät hat, deren Samen
der Wind oder die Vögel hergetragen haben, so sind auch diese Gedichte. Nun
läßt sich über den Geschmack bekanntlich nicht streiten, der eine liebt Vergi߬
meinnicht, Heckenrosen, Veilchen und Glockenblumen, der andere lacht darüber
und hält sich an Orchideen und schwarze Rosen. Dagegen ist nichts zu sagen.
Wer aber, ohne Gleichnis gesprochen, interessante Deklamationen oder subtile
Nervenschwingungen, das Gleißen von Edelsteinen oder den Duft exotischer
Parfüms, wer die weißen Marmorbrunnen, die stillen Parkteiche oder die
schwülen Gemächer einer modernen, oft allzu esoterischen Hedouistenlyrik satt
hat, versuche es ruhig einmal wieder mit der Natur, die sich in Dauthendeys
Gedichten ausspricht.
Was man von Goethes Gedichten gesagt hat, daß sie nämlich Gelegenheits¬
gedichte im besten Sinne seien, das gilt auch, und weit ausschließlicher, von
denen Dauthendeys. Er will keine Gedichte machen, er spricht seine Stimmung
ans, und weil er ein Künstler ist, wird dieser Ausdruck zum Gedicht aus die
natürlichste Weise, die ja immer zugleich die unbegreiflichste ist. Irgend etwas
berührt ihn, Wolken, Sonne, der Mond, Kastanienknospen oder Apfelblüten,
anderes schießt hinzu und es rundet sich ein Gedicht und ist zum Ausdruck
eines jubelnden, bewundernden, glücklichen oder gedrückten Menschenkindes ge¬
worden. Aber am häufigsten doch eines verliebten Menschenkindes. Die Liebe
beherrscht ihn völlig, und dies Gefühl entströmt ihm so reich und übermächtig,
daß er es immer von neuen: und immer wieder anders aussprechen muß, ja
er beseelt von seinem Überfluß die Naturdinge. Denn „alle Dinge sind Wesen
wie der Mensch, alle ein Stück Liebesleben im Liebeslied des Weltalls". Und
so steht denn der Maiwald verliebt da, die Mailuft hat Liebeölauneu, jeder
Baum lächelt wie ein Liebender, verliebtes Herzblut macht die Amseln singen
und die Düfte sind die Liebeslieder der Blumen. Daher die große Wärme
dieser Lyrik. Nein Beschreibendes ist fast gar nicht darunter, alles trägt nur
zu einer bestimmten Stimmung bei und ist nur aus dieser Stimmung heraus
gesehen. Und da es alles allgemein bekannte Stimmungen sind, so kann diese
Lyrik von allen naiv empfindenden Menschen nachempfunden werden. Ja, die
Allgenreinheit geht so weit, daß man sich vielfach an die Lyrik unserer mittel¬
alterlichen Minnesänger ^gemahnt sühlt; nicht zufällig ist Danthendeys bestes
Gedichtbuch dem Andenken Walters von der Vogelweide gewidmet, es bringt
tatsächlich eine gewisse Wesensähnlichkeit zum Ausdruck, und einzelne Stücke
könnten geradezu Volkslieder sein, so einfach ist ihr Gefühl und ihr Aufbau.
Und wenn z. B. in den japanischen Novellen von einer Tieftraurigen, aber
sich mühsam Bezwingenden gesagt wird, sie war „bis an die Augen voll
Trauer", so könnte auch das in einen: alten Volksliede stehen.
Was aber Dauthendey dann wieder im großen ganzen von den Minne¬
sängern trennt, ist die Fülle der Naturanschauung und die damit zusammen¬
hängende unerhörte Differenziertheit im Ausdruck, die dann wieder die Form
mitbedingt. Über den Reichtum seiner Anschauung wäre ein ganzes Kapitel
zu schreiben. Dieser Reichtum liegt weniger in der Zahl der Gegenstände,
als in der stets veränderten, von der Stimmung des Augenblicks bedingten
Art, den an sich nicht großen Kreis der Dinge anzuschauen. Die „Ewige
Hochzeit" enthält gleich fünf Gedichte hintereinander, die alle die Überschrift
„Deine Augen" tragen, doch könnte man noch mehreren aus demselben Buche
die gleiche geben. Mit diesem Reichtum der Anschauung hängt die Fülle und
Treffsicherheit seiner Vergleiche zusammen, von denen ich einige Beispiele geben
will. Bei einer Japanerin ist Gesellschaft und alles schwatzt durcheinander.
Da heißt es: „Das Zimmer war laut wie ein Baum, in dem eine Sperlings¬
schar plaudert", und später: „Die Schar von (indiskreten) Fragen baute sich
wie eine Dornenhecke um Hanale (die Heldin) auf." Oder eine alte Dame
sagt: „Wieviele Gedanken mögen an den Sternen hängen. Wieviele Tausende
von Seereisenden haben nachts mit offenen Augen hier unter den Sternen auf
wandernden Schiffen gesessen. Jeder Stern ist wie eine eingepuppte Seiden¬
raupe, von der man Gedanken wie Seidenfäden abspinnt." Oder in der Nähe
von Bombay: „Alles Leben atmet breit, wenn nicht ein Geierschrei aufgellt
und wie ein Beil aus blauem Himmel fällt." Aber das Erstaunlichste ist, wie
diese Vergleiche überall an ihrem Platze sind, sie sind nicht erdacht, sondern
wachsen aus der Situation heraus, wie sie anderseits wieder helfen, die Situation
anschaulich zu machen. So gehört es zu dem ersten der angeführten Beispiele
notwendig hinzu, daß es japanische Laute sind, von einer europäischen Unter¬
haltung würde man schwerlich so sprechen können; beim zweiten Beispiel müssen
es gerade indiskrete Fragen sein, und wer je unter dem flutartigen Eindringen
solcher zu leiden hatte, wird den Vergleich sofort nachempfinden. Und eben
weil diese Vergleiche, die bei Dauthendev niemals rhetorische Formeln oder
bloßer Schmuck sind, stets aus der frischesten Anschauung entspringen und
organisch notwendig an ihrer Stelle stehen, unterlasse ich es auch, Bruchstücke
aus den Gedichten herzusetzen, ihre Berechtigung läßt sich nur im Zusammen¬
hang des ganzen Gedichts nachfühlen.
Was nun die Form betrifft, so wird sie manchem zuerst kraus vorkommen,
und wer z. B. von Geibel kommt, wird überhaupt das Vorhandensein von
Form leugnen, ja die einzelnen Verse holprig finden. Da sind „Regellosig¬
keiten" aller Art, lose werden die Verse verbunden, manche sehen wie ver¬
wischte Terzinen aus, dann wieder paarweise Reime und dazwischen reimlose
Zeilen. „Kommt aber nur einmal herein, begrüßt die heilige Kapelle." Da
merkt man denn bald, wie die Form dieser Gedichte gleichsam von innen
heraus entsteht, und daß hier viel strenger geformt ist als z. B. in Mörikes
»Im Frühling" oder in ähnlichen Rhapsodien des großen Schwaben. Wie
da alles Klingende gebunden ist durch Binnenreim und Assonanzen und durch
Alliterationen fortgeleitet wird und sich rundet scheinbar zwanglos und doch
ohne Wahl! Nicht eigentlich aus der Tradition erwachsender Formwille des
Dichters ist hier tätig, sondern die Stimmung des Gedichtes bildet sich organisch
aus zu immer differenzierter, ihm allein angemessener Form.
Von den Gedichtbänden ist der beste und reichste das „Lusamgärtlein".
Jünger, wenn man so sagen kann, auch nervöser sind die „Ewige Hochzeit"
und der „Brennende Kalender." Letzterer, eine Art lyrisches Tagebuch, zeigt
so recht, wie die Gedichte unter der Gewalt des Augenblicks entstehen und sich
zwanglos zu bunten Kränzen reihen. Im ganzen monotoner, wenn auch nicht
ohne herrliche Einzelstücke, sind die beiden Bünde „In sich versunkene Lieder
im Laub" und der „Weiße Schlaf". Teilweise ganz neue Töne bringt dann
„Weltspuk". Neben manchem, noch nicht ganz Geklärten, gibt es hier ein paar
Gedichte, die direkt aus bildender Volksphantasie, wie sie sich in alten Natur¬
mythen ausspricht, entsprungen zu sein scheinen. Wie Böcklin aus einer Stimmung
heraus die Gestalt des „Schweigens im Walde" schuf oder aus einem Geräusch
die „Meeresbrandung", jene Meerfei, die harfend in einer Felsenspalte steht,
so erzählt Dauthendey von dem gespenstischen Nebelschwein, das im nassen
Herbstwalde wühlt oder der Nebelkuh, die vorm Fenster brüllt oder von den
sieben Weltgespenstern. Und immer wieder bewundert man, wie diesem Dichter
alle Töne zu Gebote stehen, vom hellsten Liebesjubel bis zur dumpfesten
Verzweiflung und der lastenden Gedrücktheit, von der der „Weiße Schlaf"
voll ist.
Dem neuesten, schön ausgestatteten Gedichtband Dauthendeys, der „Ge¬
flügelten Erde", steht man allerdings nicht ohne Verlegenheit gegenüber. Er ist voll
von großen Schönheiten, ich hebe nur Agra, die Kulibajadere, die shoe-bagon
Pagode, auf den Ceylonstraßen, Kanton hervor, aber das Ganze ist unerquicklich.
Der Dichter besingt hier eine Weltreise. Nun kann man das gewiß tun, wie
es auch Byron vor einem Jahrhundert mit seiner Europareise getan hat. Aber
diese Europareise, ich meine natürlich „Childe Harolds Pilgrimage", ist formal
mehr zusammengehalten, von einer einheitlichen Stimmung beherrscht und
behandelt nur Gegenstände, die im Allgemeinbewußtsein lebten und zu unserem
Gefühl in lebhafter Beziehung standen. Bei Dauthendey aber weiß man
nicht, besingt er nun eine Reise oder gibt er eine lose (dann aber viel
zu ausgedehnte) Reihe von Stimmungsgedichten über Naturschönheiten und
Sehenswürdigkeiten. Seine Gedichte, sagte ich, formen sich von innen heraus
aus sich selbst, das ergibt einen Strauß, aber ein Strauß ist kein Gemälde,
und eine Reihe von Gedichten kein Epos. Der Dichter scheint selbst das Be¬
dürfnis empfunden zu haben, eine Einheit zu schaffen und spricht daher bei
allen passenden, und wie wir leider gestehen müssen, auch unpassenden Gelegen¬
heiten von seiner Sehnsucht nach der daheim weilenden Geliebten. Aber dadurch
wird nichts besser, denn Sehnsucht nach der Geliebten und eine Weltreise sind
Dinge, die schlecht zueinander passen. Man wird mir die Odyssee vorhalten,
aber das ist eine Heimfahrt, die Heimfahrt eines heldenhaften Dulders. Dauthendey
ist kein Held, er unternimmt auch keine Heimfahrt, sondern nur eine Rundreise,
und eine dichterische Notwendigkeit, daß die beiden Liebenden sich trennten, ist
mit keinem Wort angedeutet. Und schließlich sind uns die meisten Gegenstände
zu fremd, sie bleiben uns Kuriositäten, die wir anstaunen, aber nicht unserem
Vorstellungsschatz einzuordnen vermögen. Denn noch ist die Erde dem ge¬
wöhnlichen Menschen zu groß und von Indiens Wundern, Chinas Emsigkeit
und Japans Zierlichkeit ist noch gar zu wenig ins Allgemeinbewußtsein ein¬
gedrungen. So muß denn auch der Dichter statt zu schildern, allzu oft be¬
schreiben, was denn nicht selten einen gereimten Bädeker ergibt, über den man
füglich den Kopf schüttelt.
Aber noch andere Früchte hat uns diese Weltreise des Dichters gebracht,
den Roman „Raubmenschen" und die bereits erwähnten „Japanischen Novellen".
Wie Vorübungen dazu, kaum mehr, nehmen sich die unter dem Titel „Lingam"
vereinigten astatischen Novellen aus. Es sind gutgeschliffene Skizzen, die fast
alle in der Weise angelegt sind, daß gelegentlich der Schilderung einer inter¬
essanten Örtlichkeit ein exotischer Charakter skizziert wird. Mit Kiplings Ge¬
schichten, denen man sie zur Seite gestellt hat, können sie sich nicht messen, dazu
sehlt ihnen die Bodenständigkeit und das lebendige Verständnis für die not¬
wendige Eigenart der geschilderten Menschen, ein Mangel, der sich übrigens auch
in der „Geflügelten Erde" unangenehm bemerkbar macht, wo Bauchenden
über Buddhismus und indische Askese spricht, wie der „Arme Mann im Tocken-
burg" über Shakespeare!*)
Einen Fortschritt demgegenüber bedeutet der Roman „Raubmenschen", der
uns von der Küste der Bretagne nach Amerika und Mexiko führt. Freilich
können uns weder die Handlung, von welcher der Dichter selbst zugibt, daß sie
sich ein wenig kolportagehaft ausnimmt, noch die nur von außen gesehenen
Menschen interessieren, aber die Schilderungen, von denen nur die Ankunft am
Atlant, das Vogelfest, die Einfahrt im Newnorker Hafen, der Brand der Hoch¬
bahn, der Einbruch der Tropennacht und der großartige Sturm auf der Rück¬
fahrt hervorgehoben seien, sind ganz wundervoll. Es sind nicht mehr bloße
Bilder, sondern Erlebnisse, Erlebnisse mit allen Nerven aufgenommen und mit
erstaunlicher Anschaulichkeit und Lebendigkeit wiedergegeben. Duftiger sind die
Japanischen Novellen mit dem Titel „Die acht Gesichter am Biwasee". Mag
sein, daß auch sie nicht ganz echt in der Auffassung sind, wir sind keine
Japaner, also kommt für uns wenig darauf an. Aber wie zart ist die eigen¬
tümliche Naturstimmung erfaßt, der Nachtregen, der Mondschein, die Segel¬
boote, und seit Albert Samains Novellen habe ich nicht wieder etwas so Gra¬
ziöses gelesen wie den „Flug der Wildgänse" oder die zweite von „Hasenauges"
Geschichten, während die dritte mit den grandiosen Kriegsprahlereien an die
übermütigsten Schwänke der Nenaissanceliteratur erinnert.
Über den Dramatiker Dauthendey kann man sich vorläufig kürzer fassen.
Er ist bis jetzt nichts weiter als eine Hoffnung, eine geliebte zwar, doch eine,
die sich immer wieder gegen bange Zweifel wehren muß. Gewiß sei gegenüber
der oft beklagten Eigentümlichkeit des Publikums, einen Künstler zum Spezialisten
der Gattung machen zu wollen, mit der er sich zuerst bekannt gemacht hat,
betont, daß es sich hier weder um eine Spielerei, noch um einen vergeblich
ringenden Ehrgeiz handelt, aber noch weniger liegt ein Grund vor, in dithy¬
rambisch jauchzende Begeisterung zu verfallen, wie das hier und da geschehen
ist. Daß diesen kräftigen, keineswegs sentimentalen Anschauungsmenschen neben
der zartesten Lyrik handfeste reale Stoffe reizen, kann nach dem Gesagten nicht
wundernehmen; überraschend ist jedoch seine Fähigkeit, solche Stoffe durchaus
bühnengerecht zu gestalten. Wenn man von der allzu breiten, mit Satire über¬
ladenen Bohömekomödie „Maja", den beiden Einaktern „Lachen und Sterben"
und dem „Fünfuhrtee", dramatisierten Novellen, der grobschlächtigen Jahrmarkts¬
komödie „Menagerie Krummholz" und dem gequälten Humor der „Madame
Null" absieht, so bleiben mit „Frau Raufenbart" und „Ein Schatten fiel über
den Tisch" zwei höchst beachtenswerte, außerordentlich gut gemachte Theater¬
stücke (das ist heute nicht wenig!). Namentlich das erstere dürste eines lebhaften
Bühnenerfolges gewiß sein, ebenso wie es die „Spielereien einer Kaiserin"
überall sind, wo eine gute Vertreterin dieser „Bombenrolle" zu beschaffen sein,
wird. Aber gute Theaterstücke brauchen noch keine hervorragenden Dichtungen
zu sein. Gewiß ist diese Trödlerin, Frau Raufenbart, eine voll ausgerundete.
prächtig dastehende Gestalt; höchst beachtenswert ist sogar die Objektivität, mit
der diese unsympathische Figur gezeichnet ist; und die Art, wie sie sich trotz
dem jammervollen Ende, das sie den liebenswürdigen Gestalten des Stückes
bereitet, zur alles beherrschenden Heldin des Dramas auswächst, verrät den
großen Künstler. Aber wie klein wird wieder das Ganze, wenn man es mit
dem Maßstab von Hebbels „Maria Magdalena" mißt, ein Vergleich, zu dem
das Stück durch den ähnlichen Stoff herausfordert. Und wie roh stehen
die Effekte und Kraftstellen der „Spielereien" neben der weitschauenden
Größe und der viel ruhigeren, aber nicht minder packenden Dramatik
von Strindbergs ebenfalls das problematische Weib behandelnden „Königin
Christine". Viel Natur ist in Dauthendeys Dramen, man sehe die
zarten Szenen im ersten Akt des „Schattens", aber auch oft statt Gestaltung
Aphorismen, und statt Größe Effekt. Und auch das jüngste Drama „Der
Drache Granti" läßt kein abschließendes Urteil zu. Betrachtet man die wunder¬
volle, allerdings auch unter großem Aufwand an starken Mitteln zustande¬
gebrachte Geschlossenheit des ersten Aktes, mit den eigentümlichen Naturlauten
der Leuchtturmbewohner und der grausigen Unwetterstimmung, so möchte man
über den neuen Dramatiker jubeln, aber über dem schleppenden zweiten und
dem an groteske Räubergeschichten gemahnenden dritten Akt möchte man schier
verzweifeln. Es hilft nichts anzuerkennen, daß die starken Effekte ganz naiv
hervorgeholt sind, ein modernes Theaterpublikum kann da. wie das Münchener
Experiment beweist, nicht mit.
Und doch bleibt die Hoffnung auf den Dramatiker Dauthendey bestehen.
Denn überall, in den Gedichtbänden sowohl wie in den übrigen Werken, ist
eine kräftige und durchaus gesunde Entwicklung festzustellen, und bei dem Reichtum
seiner Begabung kann man nicht absehen, nach welcher Richtung sich der Dichter
noch weiter entwickeln wird. Er selbst sagt einmal „Vor der Natur, vor der
Arbeit und vor einem liebenden Menschenherzen halten wir heute unsere tiefsten
Andachten." Natur und Liebe hat Dauthendey uns wieder und wieder gepriesen,
vielleicht wird er uns auch noch ein Hoheslied der Arbeit" schenken.
Jakob Minor ->-. Die deutsche Literatur-
forschung hat einen schweren Verlust zu be¬
klagen : Jakob Minor ist als ein Junger von
uns geschieden, ein Junger nicht bloß an
Jahren — hatte er doch noch nicht das sechste
Dezennium seines arbeitsreichen Lebens ab¬
geschlossen —, ein Junger auch in seiner
seltenen Arbeitskraft, in den weitblickenden
Plänen, die ihn bis zuletzt beschäftigten, ein
Junger nicht zuletzt durch sein Temperament,
das ein Stück seines Charakters war.
Minors wissenschaftliches Feld war eigent¬
lich nicht näher begrenzt. Er umfaßte das
ganze Gebiet der deutschen Dichtung von
ihren Anfängen bis auf die lebendige Gegen¬
wart mit beinahe gleichmäßiger Gründlichkeit
und Gewissenhaftigkeit. Seine erstaunliche
Belesenheit, im Verein mit einem auch nach
Jahren fortwirkenden durchaus verläßlichen
Gedächtnis, ließen ihn immer aus der Fülle
des in seinem Kopfe aufgespeicherten Wissens
schöpfen. Dieses stets dienstbare Wissen hat
auch seine Seminarübungen belehrend und an¬
ziehend gestaltet, wenn auch der gelehrige
Schüler, der sich vielleicht oft durch Wochen
und Monate mit einem literarhistorischen
Problem abgemüht hatte, in seines Nichts
durchbohrendem Gefühle zunächst nur davon
durchdrungen war, eigentlich nichts zu wissen.
Dann aber war Minor wieder der gütige
Lehrer, der mit einem freundlichen Wort die
redliche Arbeit seines Jüngers ehrlich zu lohnen
verstand, wie er überhaupt, selbst die Personi¬
fizierte Gewissenhaftigkeit, die selbst in der
scheinbar unbedeutendsten Rezension offenbar
wurde, gewissenhafte Arbeit immer bereitwillig
anerkannte und ihr hohes Lob spendete.
Sein vielseitiges Wissen hat Minor auf
die mannigfachsten Gebiete literarhistorischer
Forschung gelenkt. Er hat gewissermaßen an
allen Kapiteln mitgearbeitet, und nirgends
als ein bloßer Kärrner, sondern überall posi¬
tives Gut zutage gefördert. In seinen Anfängen
beschäftigte er sich mit mittelhochdeutscher Poesie
und schritt sodann bis zur vorklassischen
Zeit vor, bis die Weimarer Heroen und neben
ihnen die Romantiker sein intensivstes Studium
auf Jahre hinaus bis an sein Ende fesselten.
Seine bedeutendste Schöpfung — der Brenn¬
punkt zugleich seines wissenschaftlichen Lebens¬
werkes — ist die leider unvollendete, groß
angelegte Schillerbwgraphie, das würdigste
Denkmal, das dem großen Weimarer von
einem, der ihm innerlich verwandt war, gesetzt
werden konnte. Sie blieb ein Torso, wie
das Leben des Helden den sie feierte, ein
Torso auch wie das des Meisters, der das
Denkmal schuf.
Von einer anderen Seite zeigt sich Minor
als Verfasser seiner neuhochdeutschen Metrik.
Selbst schauspielerisch begabt — Jugendpläne
weisen auch in diese Richtung —, verstand er
es, Wort und Rhythmus in ihrer geistigen
Wechselwirkung zu erfassen, den Geist der
Sprache im Rhythmus zu belauschen. So
hat er dieser mit Unrecht als trocken ver-
rufum Wissenschaft ganz neue Bahnen ge¬
wiesen, welche weit ab führten von der bis
dahin beliebten rein mechanischen Beschreibung
rhythmischer Formen.
Dieser Zug ins Große, der immer all¬
gemeinen Gesetzen und Prinzipien zustrebte,
paarte sich bei Minor sehr Wohl mit jener
peinlichen Feinfühligkeit, mit welcher der
Philologe auch die kleinsten Details mühe¬
voller Forschung als wertvoll erachtet, solange
auch nur ein Schatten der Unklarheit reine und
volle Erkenntnis hindert. Als einen Diener
am Wort hat er sich selbst bezeichnet und
seinen philologischen Scharfsinn vereint mit der
ihm eigenen Gabe poetischen Nachempfindens
in seinem großen Faustkommentar erprobt.
Aber bei aller Vertiefung in seine fach¬
wissenschaftlichen Studien hat Minor niemals
die Fühlung mit dem Leben verloren. Er
war auch der Literarhistoriker der Gegenwart,
— wenn der Ausdruck erlaubt ist — der
allen Erscheinungen der Bühne und der Lite¬
ratur des Tages das lebhafteste Interesse
entgegenbrachte. So besitzen wir von ihm
mehrere Schauspielerporträts aus der klassi¬
schen Zeit des Wiener Burgtheaters, Meister¬
stücke der Charakterisierungskunst; bis in die
letzte Zeit war er als Burgtheater-Rezensent
für die Osterreichische Rundschau tätig, und
in zahlreichen Zeitungsartikeln hat er zu
literarischen Tagesfragen aller Art mit der
ihm eigenen lebendigen Kraft ein entschiedenes
Wort geäußert.
Der Gelehrte Minor ist in seinen Schriften
der Allgemeinheit zugänglich, und was er
geschaffen, wird bleiben. Anders der Mensch:
viele haben ihn gekannt — viel mehr hätten
ihn kennen müssen; und unvergessen wird er
immer denen sein, die sich rühmen dürfen,
seine Schüler gewesen zu sein. Man brauchte
nur einmal seine Vorlesung zu besuchen, um
sein warmfühlcndes, aufrichtiger Empfindung
volles Herz kennen zu lernen. Er Pflegte
sich so in seinen Gegenstand zu vertiefen, daß
er von dem Blatt, auf dem die Borlesungs¬
materie nur in Schlagworten skizziert war,
kaum aufzuschauen Pflegte. Er sprach nicht
eigentlich zu seinen Hörern, dennoch fehlte
nicht der Kontakt. Denn in seiner Stimme
lebte es, das innere Pathos, welches den
Freimut der Gesinnung mit männlicher Kraft
und menschliches Mitgefühl mit aus dem
Innersten bewegter Stimme unwillkürlich
zum Ausdruck brachte. Sprach er etwa von
Lessing, konnte er seinem modulationsfähigen
Organ Töne von Erz entlocken, wenn er den
Kämpfer Lessing schilderte, und seine Stimme
vibrierte von mühsam verhaltener innerer
Erregung, wenn er sein jähes Ende berührte.
Und diese Wirkung wurde ohne die billigen
Mittel der gerade bei Literarhistorikern nicht
selten beliebten blendenden Phrase erreicht.
Seine Vorlesungen trugen ebenso wie seine
Schriften immer den Stempel der strengsten
Sachlichkeit, ein Exzerpt davon anzufertigen
wäre eine schwierige, vielleicht unmögliche
Aufgabe gewesen; eS gab schlechthin nichts
Unwichtiges, keine überflüssigen Bemerkungen,
keine wortreichen Phrasieruugen, Minor
machte keine Konzessionen, auch nicht an die
Schöngeister. Immer steuerte er gerade auf
sein Ziel zu, immer nannte er das Kind
beim rechten Namen. Diese Aufrichtigkeit
seines Wesens und die Geradheit seines
Charakters haben denn auch seinem Wirken
ihr klares Gepräge aufgedrückt: er war ein
Professor im ursprünglichen, schönen Sinne
dieses Wortes.
Unvergeßlich wird der Eindruck bleiben,
den seine Festrede am Schillergedenktage des
Jahres 190S auf die Versammelten machte,
als er mit den Worten des „Unser Vater"
in weihevoller Stunde den Sieg des lichten
Dichtergenius, der immer sein Leitstern ge¬
wesen war, auf seine Vaterstadt herabflehte.
Dem Rückblickenden klingt es nach wie ein
Vermächtnis — er konnte kein besseres hinter¬
Wiener Lieder und Tänze. (Heraus¬
gegeben von Eduard Kreuser, Verlag Gerlach
u. Wiedling, Wien und Leipzig. Preis M. 16.)
Wie Gras und Blumen zwischen Steinen,
so wächst auf dem Wiener Boden das Volks¬
lied hervor. Es ist bodenbeständiges Eigen¬
gewächs wie der Wein, der rund um Wien
blüht. Es gibt kaum mehr einen anderen
Punkt in der Welt, wo der Volksgesang so
unmittelbar und echt aus der Empfindungs¬
weise der Bevölkerung hervorquillt, geradezu
unerschöpflich, wie gerade in der Wiener
Heimat. Es ist kein Zufall, daß leichte Musik
und die Operette fast ausschließlich aus Wien
kommen und in der ganzen Welt gesungen und
gespielt werden. Es ist aber auch kein Zufall,
daß so Große wie Beethoden, Schubert,
Brahms und andere in der liederreichen
Donaustadt am Fuße des KahlenbergeS ge¬
lebt haben, denn sie wußten zu genau, was
ihre hohe Kunst dem Zsmus loci zu ver¬
danken hatte, sie und alle anderen, die ihr
Edelreis auf den wildwachsenden, mit dem
Herzen der Bevölkerung tief verwurzelten,
immer und immer neu erblühenden Lieder¬
baum aufpfropften. Auch durch die ganz
großen Schöpfungen geht von daher dieser
süßhcrbe Duft, ein leiser rhythmischer Nnter-
strom, der rauschselig wie ein würziger Hauch
von der Donau und von den Weinbergen
herüberkommt, dahinter irgendwo in einer
Erdfurche versteckt eine Fiedel jauchzt und
schluchzt, oder das Tremolo eines Natur-
söngers verhallt. Ihr wißt euch Wien zu
finden in dein Haufen schlechter neumodischer
Architekturen? Kommt, ich will euch in die
idyllischen Winzerdörfer rund um die Stadt
führen, ich will euch Wien, das ewig junge,
das singende und lebensfreudige, zeigen,
draußen, wo die Traumhäuptigkeit des Wiener¬
waldes und die lachende Sonnigkeit des Wein¬
geländes mit der blaublickenden Donau zu
jenem unausgesungenen Dreiklang vermählt
sind, der im Wesen dieser Menschen, in der
Dichtung und in der Musik immer wieder¬
kehrt, am vornehmlichsten in diesen Heurigen¬
liedern, die das Volk dichtet: „A Winsel, süß
Holz, Klarinett und a Klampfen ..."
wieder hochmodern sind. Immerhin kann
ein halbwegs geübter Musikliebhaber die^
Übertragung für Laute selbst durchführen.
Der stattliche Band enthält Lieder und Tänze,
die chronologisch bis 1820 zurückreichen. Trotz¬
dem ist kein einziges Lied darunter, das nicht
heute noch im Volksbewußtsein lebendig Wäre.
Natürlich droht auch diesem heitersten Stück
unverfälschter Volkskunst immer wieder Unter¬
gang und Vergessen, dem es auf diese Weise
entrissen ist. Das war die Absicht des An¬
regers der Schöpfung, des Direktors der
Wiener städtischen Sammlungen, Herrn Eugen
Probst, der als der geistige Urheber des Werkes
zu betrachten ist. Ich muß das Verdienst
dieses außerordentlichen Kenners der Wiener
Volksmuse besonders hervorheben, seiner edlen
Bescheidenheit zu trotz, mit der er sich so in
dem Hintergrund gehalten hat, daß nicht ein¬
mal sein Name unter den Herausgebern des
Werks ersichtlich ist, an dem er so großen
persönlichen Anteil hatte.
In der ganzen Sammlung befindet sich
kaum ein berühmter Name, kein Schubert,
nur Weniges von Johann und Joseph Strauß
und von Joseph Lanner. >Jm sonstigen nur
unberühmte, solche, die nur im heimatlichen
Bezirk einen Klang haben. Aber das ist
gerade ein Vorzug der Sache und ein Be¬
weis, daß ihre Echtheit volksentsprossen ist.
Auch sprachschöpferisch ist sie so ergiebig
wie nur der Volksmund sein kann, den:
man eS gerne glaubt, wenn er sich mit
diesen Worten selber besingt: „O, du süße,
weiche, melodienreiche, barbe, laute Weana-
sprach' . . ." Freuen wir uns, daß es so was
auf der Welt noch gibt, eine echte und rechte
Volksmuse, deren ewig junger Liedermund
unermüdlich zu sagen und zu singen weiß.
Das Buch aber, das ihre Bekanntschaft in
die weitere Umwelt hinausträgt, ist ein wahrer
Gesundbrunnen für das Herz. Wer mit dem
grünen Lautenband geschmückt damit umzu¬
gehen weiß, der hat bei seinen Zuhörern ge¬
wonnenes Spiel. Gegen diese Gesänge Ver¬
halten sich die sogenannten innigen Lieder
gewisser Brettlgrößcn wie fade Limonade gegen
einen schmeckerten süffigen Naturwein.
diese volkstümlichen Instrumente gegenwärtig
Die Preßberichtcrstattung über gericht¬
liche Verhandlungen als Lehrmittel des
Verbrechertums. Die Öffentlichkeit unserer
Gerichtsverhandlungen, eine gewiß segens¬
reiche Einrichtung, hat die bekannte Erschei¬
nung der „Kriminalstudenten" gezeitigt, d.h.
angehender oder bereits ausgewachsener Ver¬
brecher, welche aus dem Zuhören bei den
Gerichtsverhandlungen in Strafsachen etwas
für ihre eigene Tätigkeit profitieren wollen.
Bei dem beschränkten Umfange der Zuhörer¬
räumlichkeiten unserer Gerichtssäle kann die
Zahl der anwesenden „Kriminalstudenten"
immer nur eine geringe sein, und so dringt
das, was sie dort, sei es an neuen Wegen
und Spezialitäten des Verbrechens, sei es an
Mitteln der Verteidigung, lernen, garnicht
oder nur ganz allmählich in breitere Kreise.
Etwas ganz anderes ist es aber, wenn
die Presse bei ihrer Berichterstattung der
Gerichtsverhandlungen sich mit eben diesen
Punkten ausführlich beschäftigt. Selbstver¬
ständlich wird keine Zeitung das Verbrechertum
wissentlich fördern und belehren wollen, um
so mehr möge sie darauf achten, das; sie dies
nicht fahrlässig tut.
Den Anstoß zu dieser Mahnung gibt mir
der ungefähr übereinstimmende Bericht meh¬
rerer Berliner Blätter über eine unlängst vor
einer Strafkammer des Landgerichts I Berlin
stattgehabte Verhandlung.
Bouletten von Pferdefleisch kaufen — denn
diese fräßen die Hunde besonders gern —,
solle dann vier bis fünf Stück einem unbe¬
wachten Hunde hinwerfen und ihn so langsam
in ein Haus locken. Er solle es möglichst
vermeiden, ihn auf der Straße festzumachen,
weil sich da alle möglichen Vorübergehenden
um den Vorgang kümmerten; in einem Haus¬
flur dagegen sei er völlig unbeachtet. Er
solle sich auch eine starke und gut aussehende
Hundeleine kaufen und nicht etwa den Hund
an einen: Bindfaden festmachen; denn von je
edlerer Rasse das Tier sei, das er stehle,
desto mehr würde es auffallen, wenn es an
einer gewöhnlichen Strippe geführt würde.
Alle diese Ratschläge haben nun bedauer¬
licherweise verschiedene Blätter im Rahmen
der Wiedergabe dieser Gerichtsverhandlung
abgedruckt und haben so eine sachdienliche
Unterweisung zum Hundediebstahl, die der
angeklagte junge Verbrecher nur der zufälligen
Bekanntschaft mit dem alten verdankt, unter
all die Tausende von Lesern getragen, welche
eine der Zeitungen in die Hand bekommen.
Daß sich aus der Lektüre einer solchen
Gerichtsverhandlung etliche Burschen zum
Hundediebstahl angeregt fühlen, ist gewiß
nicht zu hindern. Ich bin der letzte, der die
Berichterstattung in Strafsachen einschränken
möchte; aber daß diese Burschen nun auch
gleich aus der Zeitung erfahren, wie es am
geschicktesten gemacht wird, das ist doch wahr¬
haftig nicht nötig.
Vielleicht entnehmen also die Herren
Preßberichterstatter und die diesen Teil der
Zeitungen überwachenden Herren Redakteure
aus vorstehendem Beispiel die Anregung, aus
den Berichten über Gerichtsverhandlungen
alles das auszumerzen, was nur Lehrmaterial
für das Verbrechertum ist und was meist,
ohne daß Zusammenhang und Deutlichkeit
leiden, ganz gut gestrichen werden kann.
erfolgreich ausführen könne. Er solle sich
Gegenwärtig wird die von Herrn Poincare in die Verhandlung geworfene
Formel des status quo auf dem Balkan vielfach ins Lächerliche gezogen, da sie
ja doch für den Ausgang des Balkankrieges keine rechte Autorität habe, nachdem
es sich herausgestellt, daß die vereinigten Slawen der Türkei überlegen seien. Ganz
abgesehen davon, daß die Überlegenheit der Slawen noch nicht absolut fest¬
steht, so daß es auch durchaus noch nicht ausgemachte Sache ist, ob am
status c>no der Türkei wird gerüttelt werden dürfen, hat die Formel doch den
einen großen Erfolg gezeitigt, den sie vor allem anderen bezweckte. Sie hat
den Ausbruch eines Krieges unter den Großmächten, der in bestimmten Tagen
sehr viel näher stand, als selbst die Börse es ahnte, verhindert. Neben diesem
großen Erfolge, der natürlich nur möglich war, weil weder die Russen den
Bulgaren, noch die Franzosen den Türken bezüglich ihrer kriegerischen Leistungen
ganz trauten, spielt der Ausbruch eines lokalisierten Balkankrieges, wie er gegen¬
wärtig tobt, doch nur eine geringe Rolle. Bulgarien, Serbien, Montenegro und
Griechenland sind keine Vasallenstaaten irgendeiner europäischen Macht und eben¬
sowenig hat irgendeine europäische Macht das Protektorat über die Türkei über¬
nommen. Wenn die vier zuerst genannten Staaten den Zeitpunkt zum Angriff
auf die Türkei trotz allen Verwarnungen der Großmächte für gekommen erachteten,
so lag es nicht in der Hand irgendeiner Großmacht, ihnen in den Arm zu fallen,
ohne selbst das Schwert zu ziehen. Wer also hier von einer „öffentlichen Nieder¬
lage" der Diplomatie spricht, kennt entweder die Umstände nicht, oder er wirft sie
gutgläubig oder absichtlich durcheinander. Die Formel vom status quo ist
natürlich nur solange haltbar, wie die Türkei in der Lage ist, ihr Land selbst zu
verteidigen. Vermag die Türkei dies nicht, so nutzt ihr auch die Formel nichts,
und speziell wir Deutschen, die aus tausend Gründen ideeller und materieller Art
der Türkei sympathisch gegenüberstehen, werden uns dem ehernen Spruch eines
entscheidenden Feldzuges, der die Türkei vom europäischen Kontinent verjagt, nicht
wiedersetzen. Das Eintreten für den Unterliegenden liefe unseren eigenen Interessen
direkt zuwider. Deutschland, das weder auf der Balkanhalbinsel noch in Klein¬
asien politische Ziele verfolgt, hat ein Interesse daran, daß in den Gebieten, mit
denen es in Handelsverkehr und Güteraustausch steht, gesicherte Rechtsverhältnisse
herrschen. Solche Sicherheit können aber nur innerlich gefestigte Staatswesen
bieten. Dabei haben wir selbstverständlich nur daS Wohl der Allgemeinheit im
Auge und nicht dasjenige einiger Monopolisten.
Die von Deutschland bisher eingenommene Haltung wird durch die bisherigen
Nachrichten vom Kriegsschauplatz in keiner Weise modifiziert. Deutschland kann
wie vor acht und vor vierzehn Tagen zunächst nur als stiller Beobachter daneben
stehen und im übrigen auf alle Anregungen mit Wohlwollen und Entgegenkommen
eingehen, die zu einer für die Großmächte friedlichen Lösung der Balkanwirren
führen können. Wer auch hier heißt bereit sein alles für den Fall, daß eine
friedliche Auslösung der Balkanwirren ausgeschlossen bliebe. In welchem Falle
Deutschland gezwungen sein würde, das Schwert zu ziehen, läßt sich selbst
theoretisch nicht einwandfrei ermitteln. Nur soviel läßt sich sagen: das Gewicht
der deutsch en Waffen braucht nur dann in die Wagschale geworfen zu werden, wenn
deutsche Interessen gefährdet erscheinen; daß und weshalb diese Interessen in
einem gewissen Maße zugleich Dreibundinteressen sind, ist an dieser Stelle schon
wiederholt dargelegt worden. Der oasuZ ioeckeris wird je nach Lage der Dinge
verschieden nahestehen und für seinen Eintritt dürfte das geschriebene Wort irgend
eines Vertrages weniger den Ausschlag geben, als die Art des jeweiligen Zu¬
sammentreffens der politischen Faktoren. Daß diese Faktoren sich aber im Laufe
des Krieges noch recht häufig ändern können, das beweisen die unausgesetzten
Bemühungen der verschiedenen Diplomaten, neue Bündnisverträge abzuschließen,
hier neuen Anschluß, dort Entfremdungen herbeizuführen. Es sind z. B. nicht
allein Liebenswürdigkeiten höfischer Etikette, die das russische Zarenhaus gegenwärtig
dem greisen Könige von Rumänien erweist. Die Überreichung des Feldmarschall¬
stabes durch den Bruder des Kaisers von Rußland, Großfürsten Michael, knüpft
an die Waffenbrüderschaft im Kriege von 1877/78 an. Nussischerseits versucht
man, alte Erinnerungen weckend, das Band wieder fester zu schmieden, um das
Königreich Rumänien aus seiner Zurückhaltung in dieser Balkankrise heraus¬
zulocken. Sollte es wirklich zu einem rumänisch-russischen Bündnis kommen, so
dürfte nach meiner persönlichen Kenntnis der Dinge in Rußland das letzte Bollwerk
gefallen sein, das die Friedensliebe der russischen Regierung heute noch gegen die
Kriegstreibereien der Panslawisten schützt. Die russische Gesellschaft ist wie vor
dem Ausbruch des Krieges von 1877 von einem Taumel erfaßt, nicht so sehr,
weil sie ein tiefes Gefühl für die Balkanslawen vorwärts triebe, als vielmehr
aus dem Empfinden heraus, daß die inneren Verhältnisse Rußlands wieder
einmal zur Katastrophe drängen.
Angesichts dieser innerlich haltlosen Stimmung gewinnt auch die rein
kirchenpolitische Strömung in Rußland, wieder an Einfluß die Fragen der ge¬
samten griechisch-orthodoxen Kirche berührt. Es wird so oft gesagt, daß Nußland
mit einer Festigung und Ausdehnung der Macht Bulgariens auf der Balkan-
Halbinsel durchaus einverstanden sei. In dieser Verallgemeinerung trifft die Auf-
fassung nicht zu. Von Rußland würde ein mächtiges, den Balkan beherrschendes
Bulgarien, das sich vom nordischen Koloß unabhängig gemacht hätte, sehr un¬
angenehm empfunden werden. Zunächst nicht etwa aus wirtschaftlichen Gründen,
sondern in erster Linie durch Vermittlung aller der Fragen, die aus dem
Gebiete der Kirchenpolitik liegen. Die russische Geistlichkeit, die heute in der
griechischen .Kirche schon wegen der Fülle ihrer Geldmittel gewissermaßen die
führende Rolle hat, strebt mit zäher Energie darnach, diese Stellung auszudehnen
und zu befestigen durch die politische Unterordnung der orthodoxen Bevölkerung
des Balkans unter den russischen Metropoliten. Solange mehrere schwache
Staaten in Frage kommen, gelingt dies auch bis zu einem gewissen Grade. Die
Lage dürfte sich aber ändern, wenn ein Staat wie Bulgarien eine Art von Hegemonie
über die anderen erwirbt. Gegenwärtig und zwar seit Peter der Große den Mos¬
kaner Metropoliten unter die Herrschaft des Heiligen Synods zu Se. Petersburg
stellte, hat die griechisch-orthodoxe Kirche keinen eigentlichen Mittelpunkt. Sie
würde einen solchen aber in demselben Augenblick erhalten, in dem die Hagia Sofia
zu Konstantinopel wieder in den Besitz einer christlichen Macht käme. 1877/78 war
ihr Besitz das Ziel der russischen Politik, sollte Rußland nun die Erreichung des
Zieles neidlos den Bulgaren allein überlassen? Unter diesem Gesichtspunkt darf
man also auch eine Rivalität zwischen Rußland und Bulgarien erwarten, um so
mehr als die geschichtliche Überlieferung den Südslawen bedeutende Vorrechte
gegenüber den Russen als Hüter des Erbes von Byzanz einräumt. Waren eS
doch die Südslawen Kyrill und Methodius, die den orthodoxen Glauben nach Kiew,
nach Rußland trugen.
Man unterschätze die hier kurz angedeuteten Probleme nicht, auch wenn sie
weit ab vom wirtschaftlichen Kampf der Mächte liegen, und unterschätze darum
auch nicht die Bedeutung des Ausrufs Ferdinands, der den Satz enthält, daß die
Bulgaren für die Freiheit des Christentums gegen den Islam kämpfen. Bei
einer genügenden Würdigung der Größe des Problems wird man auch erkennen,
wie weit die rein wirtschaftlicyen Interessen Frankreichs abstehen von diesen scheinbar
id
Am 22. Oktober ist der preußische Landtag zu seiner letzten Session in
der Legislaturperiode 1908 bis 1913 zusammengetreten. Mit Rücksicht auf die im
nächsten Jahre bevorstehenden Landtagswahlen und die bedauerlichen Vorgänge,
die in der letzten Session die Arbeiten des Landtages so überaus beeinträchtigten,
hat die Eröffnung besondere Aufmerksamkeit gefunden, die noch vergrößert wurde
durch die Notwendigkeit, für den verstorbenen Präsidenten von Erffa einen geeigneten
Nachfolger bestimmen zu müssen.
Die Wahl des Präsidenten ist auf den bekannten Politiker Grafen
Schwerin - Lowitz gefallen und erfolgte unter Bedingungen, die wir nur freudig
begrüßen können. Es ist stets Sitte gewesen, daß der Präsident des preußischen
Abgeordnetenhauses von der konservativen Fraktion gewissermaßen präsentiert
wurde und daß die übrigen bürgerlichen Parteien, ohne besondere Schwierigkeiten
zu erheben, zustimmten. Auch im vorliegenden Falle ist dem alten Brauch gemäß
verfahren worden, und die Sozialdemokraten, rechtzeitig von den Konservativen
benachrichtigt, störten die Wahl nicht. Durch diesen Vorgang ist von vornherein
eine friedliche Note in die Stimmung des Abgeordnetenhauses gekommen und
es steht zu hoffen, daß es dem bekannten Takt und der großen Geschäftsgewandtheit
des Grafen Schwerin gelingen wird, sie auch fernerhin in den Verhandlungen
aufrecht zu erhalten. Jedenfalls dürfte Graf Schwerin sich nicht zum Werkzeug
konservativer Heißsporne machen, die glauben, den Sozialdemokraten mit eben
solchen rohen Mitteln erfolgreich entgegentreten zu können, wie sie die Sozial¬
demokraten selbst in ihrer Politik anwenden. Es wird damit aller Wahrschein¬
lichkeit nach den sozialistischen Rauhbeinigkeiten von vornherein die Reibfläche
genommen.
Die friedliche Stimmung im preußischen Abgeordnetenhause konnte gleich in
seiner ersten Arbeitssitzung zur Geltung kommen, gelegentlich der nationalliberalen
und freisinnigen Jnterpellation zur Fleischnotfrage. Die Abgeordneten
Schiffer und Wiener begründeten die Interpellationen und besonders Ober¬
verwaltungsgerichtsrat Dr. Schiffer tat es mit viel Glück; er verstand es, das
Versäumte der Regierung in ein genügend grelles Licht zu setzen, ohne jedoch ihre
zweifellos guten Absichten zu ignorieren. Von allgemein politischer Bedeutung ist
dabei, daß der Abgeordnete Schiffer sich namens der nationalliberalen Partei
durchaus auf den Standpunkt des Schutzes der nationalen Arbeit stellte und
auch die sanitären Maßnahmen, die einen wichtigen Teil der agrarischen
Schutzzollpolitik ausmachen, billigte. Herr Wiener, der freisinnige Redner, ver¬
klausulierte seine gegenteilige Auffassung derart, daß man aus seinen Ausführungen
auch das Gegenteil von dem, was er sagen wollte, heraushören konnte. Jedenfalls
haben die Ausführungen Schiffers, obwohl er so nebenher das Verschwinden der
preußischen Wahlrechtsfrage von der Tagesordnung kritisierte, eine Basis gezeigt,
aus der sich die Konservativen und Nationalliberalen verständigen können.
Das Hauptinteresse des Tages nahm die Rede des Herrn Minister¬
präsidenten von Bethmann Hollweg in Anspruch. Ganz allgemein muß
zunächst festgestellt werden, daß Herr von Bethmann in der Debatte unzweifelhaft
Fortschritte gemacht hat und daß er, wenn auch nicht mit der Geschmeidigkeit des
Fürsten Bülow, so doch liebenswürdig, lebhaft und geistig scharf gegen den frei¬
sinnigen Redner zu polemisieren verstand. So gewann denn auch die Rede von
vornherein an Wärme und Herr von Bethmann fand bereitwillige Zuhörer nicht
nur wegen seiner amtlichen Stellung, sondern auch als Redner.
Der Inhalt der Rede braucht an dieser Stelle nicht wiedergegeben zu werden
da sie im wesentlichen den Standpunkt vertritt, den ich selbst in den Grenzboten
bezüglich der Fleischteuerung verteidigt habe. Die Regierung hat zweifellos das
Richtige getan, indem sie die partielle Öffnung der Grenzen von Fall zu Fall
genehmigte. Sie hat durchaus nicht, wie die Agrarier behaupten, an den Grund-
lagen des Zollsystems gerüttelt, sie hat ebensowenig, wie die Freihändler jubeln,
eine Konzession an den Freihandel gemacht. Für die Regierung war vielmehr
in der ganzen Teuerungsaktion nur der Gesichtspunkt maßgebend, die berechtigten
Wünsche der Konsumenten mit den ebenso berechtigten Wünschen der Landwirtschaft
auszugleichen. Sie hätte mit ihren Maßnahmen, und das ist ja an dieser Stelle
schon hervorgehoben worden, wahrscheinlich schon früher auf den Plan treten
können, und hätte auch — in dieser Beziehung haben die Landwirte durchaus
recht — geschickter, als es geschehen, die öffentliche Meinung über die Zusammen¬
hänge der Teuerung mit den Bedürfnissen von Nation und Staat aufklären können.
Wenn Herr von Schorlemer, der Landwirtschaftsminister, aber für die bei der
Aufklärungsarbeit aufgetretenen Schwierigkeiten allein die Presse verantwortlich
macht, die nach seiner Meinung „ein eigensinniges Ding" sei, so stimmt
diese Auffassung nicht ganz mit den tatsächlichen Verhältnissen überein. und ich
möchte daher den in Frage kommenden Regierungsstellen empfehlen, einmal die
Tätigkeit der Preszdezernate bei den verschiedenen Ressorts daraufhin zu prüfen, ob
an diesen Stellen alles getan worden ist, um in der öffentlichen Meinung wenigstens
Verständnis für die Negierungspolitik zu wecken. Ich glaube, daß sich bei einigem
Eindringen in die Lebensbedingungen der Presse auch die Mittel finden werden,
ohne die eine wirksame Negierungspolitik in der Öffentlichkeit undenkbar ist. Die
Presse läßt sich gern belehren, aber nicht — kommandieren. Verlangt die Regierung
Unterstützung in der Presse, so wird sie sich dazu bequemen müssen, deren Vertreter
aufzuklären.
Wer die Rede des Herrn Ministerpräsidenten aufmerksam liest, wird in ihr
trotz ihrer vielfachen Vorzüge etwas vermissen: den Hinweis auf die allgemeine
Teuerung, einen Hinweis auf die Tatsache, daß die Fleischteuerung nur einen Teil
der Gesamtteuerung bildet. Und doch stellt dieser Zusammenhang das beste
Argument gegen die Übertreibungen der Fleischnotagitation dar! Oder sollte
der Wunsch, eine kritische Erörterung der Grundfragen unserer Wirtschaft zu
vermeiden, diese Zurückhaltung diktiert haben? Es ist lediglich von der Fleisch¬
teuerung gesprochen worden und die ganze Schlacht wurde schließlich zu einem
Zweikampf zwischen den landwirtschaftlichen Produzenten und den Konsumenten,
wobei Herr von Bethmann den Konsumentenstandpunkt genügend, Herr von Heyde-
brand den der Produzenten über Gebühr hervorgekehrt hat. Wir wollen dies
Moment festhalten, und zwar deshalb, weil die Rede Heydebmnds auf dem Hinter¬
grunde der voraufgegangenen Veröffentlichungen des Bundes der Landwirte
die wirtschaftliche, kulturelle und somit auch nationale Bedeutung der Kon¬
sumenten in einem durchaus schiefen Lichte erscheinen läßt. Wenn man
das Wort Konsument in dem Zusammenhange hört, in dem es von der
agrarischen Presse vielfach gebraucht wird, so stellt man sich unwillkürlich
dickwanstige, faule Kuponschneider vor, die, in den Städten zusammengepfercht,
ein müßiges Schlemmerleben führen; kulturelle Werte erwartet man von ihnen
nicht; sie sind eben nur Verbraucher: Fresser und Säufer und, soweit sie Staats¬
beamte sind, „Kostgänger der Landwirtschaft". Kommt man gelegentlich auf das
Land, so erfährt man, wie sich dies Bild vielfach schon im Gehirn der Landwirte
festgesetzt hat, die sich nun für das ihnen von den Städtern angehängte Wort
vom „dummen Bauer" rächen durch das Wort vom „faulen Konsumenten".
Damit ist NUN selbstverständlich einer friedlichen nationalen Entwicklung nicht gedient.
Die sogenannten reinen Konsumenten schließen alle die Klassen ein, die schon längst
den Anspruch daraus haben, als geistige Führer der Nation geachtet zu werden. Sind
es doch Universitätslehrer, die Lehrer unserer Schulen, die Bildner der deutschen
Jugend; die Ingenieure und Erfinder, die das Verkehrswesen in Deutschland zu dem
ausgezeichnetsten der ganzen Welt gemacht haben; die Hüter unseres Rechts, die
Ärzte und Künstler und das stetig wachsende Heer der BeamtenI Ich unterschätze
durchaus nicht den Wert der Produzenten. Aber betrachten wir das ganze Volk
als einen Körper, so ist die Rolle der Produzenten den Händen vergleichbar,
während die Mitglieder des neuen Mittelstandes das Gehirn und die große Masse
den Leib vorstellen, der in alle Teile des Körpers die gesunden Säfte hinein¬
bringen soll.. Dementsprechend müssen wir auch im Interesse des Staates für
die Konsumenten eine größere Berücksichtigung fordern, als wie es durch die
Entwicklung unserer Wirtschaft und ihrer Gesetzgebung seit den siebziger Jahren
geschehen ist. Von den Führern der nationalen Parteien aber erwarten wir ein
besseres Verständnis für die Bedeutung des neuen Mittelstandes, wie es auch aus
einigen Wendungen der Rede Heydebrands hervorschimmert.
Herr von Bethmann sieht als Hauptmittel zur Beseitigung der Fleischnot die
innere Kolonisation. Ich gebe zu, daß die innere Kolonisation auch eine jener
Matznahmen darstellt, die uns im Zusammenhange mit anderen bezüglich der
Fleischproduktion unabhängig vom Auslande machen könnte. Aber eine Vermin¬
derung der Fleischnot, eine Herabsetzung der Preise für Lebensmittel, erwarte
niemand davon, wenn es nicht möglich werden sollte, gleichzeitig auch den Gründen
für alle sonst bestehenden Teuerungserscheinungen zu Leibe zu gehen.
Wie schon oben gesagt: die Fleischteuerung ist nur eine Teilerscheinung
der gesamten Teuerung. Woher aber rührt diese?
Ich will mir selbstverständlich nicht anmatzen, diese Frage hier auf zwanzig
Zeilen zu beantworten. Im Nahmen der Krisentheorie, der Frage nach den
Gesetzen der Preisbildung und wie die volkswirtschaftlichen Probleme alle heißen,
hat man das Teuerungsproblem schon in hundert dicken Büchern erklären wollen,
ohne es zu ergründen. Ich selbst sehe seinen Ursprung in der treibhausartigen
Entwicklung von Handel und Industrie, in der ungeheuren Geschwindigkeit, mit
der wir zu arbeiten gezwungen sind und in der dadurch möglich gewordenen falschen
Verteilung des immobilem und mobilen Besitzes. Wer diesem Übel steuern wollte,
müßte ein gewaltiger Reformator oder ein brutaler Revolutionär sein.
Von allen den Wegen, die zur Beseitigung der Krisen und Teuerungen
empfohlen werden, haben der freihändlerische und der sozialistische Weg die meisten
Anhänger. Aber wirkliche Zugkraft übt keiner von beiden auf die Gesetzgeber
aus. Das sreihändlerische Ideal ohne Übergang zur sozialistischen Produktions-
form scheint völlig in Mißkredit geraten zu sein. Der Freihandel, das wird von
den Sozialisten ebenso richtig erkannt wie von den Konservativen, würde uns nur
noch mehr in die Hände des Großkapitals und zwar des internationalen, liefern,
wie es heute schon der Fall ist. Ideen aber, die mit dem Stempel des Sozialismus
versehen werden könnten, machen uns gruseln. Wir kommen noch immer nicht
zu der Auffassung, daß sozialistisch und sozialdemokratisch zwei ganz ver¬
schiedene Dinge sind und daß ein Mann, der in der Wirtschaft sozialistischen
Ideen eine gewisse Berechtigung einräumt, Gottgläubiger, Aristokrat, Monarchist
und Nationalist sein kann. Der Sozialismus bedingt auch durchaus nicht kommu¬
nistische Wirtschaftsformen; ebensowenig engt er das Individuum ein; wohl aber
schafft er breitere Möglichkeiten für die Entwicklung des Individuums.
Wie hängt das alles mit der Rede des Herrn von Vethmann zusammen?
Nicht so lose, wie es scheint. Der Grundpfeiler der nationalen Wirtschaft ist der
Boden; im Mittelpunkt aller Wirtschaftspolitik steht die Bodenpolitik, und praktische
Bodenpolitik stellt auch die innere Kolonisation dar, die der Herr Reichskanzler
empfiehlt. Wollen wir einen Hauptgrund der Teuerungen wenigstens auf Menschen¬
alter beseitigen, dann dürfen wir vor einer die Besitzverhältnisse verändernden
Reform nicht zurückschrecken. Das sollte mit obigen Ausführungen gesagt sein.
Herr von Bethmann hat in seiner Rede vom Freitag, den 25. Oktober, ein
sehr interessantes Programm für die innere Kolonisation vorgetragen. Es setzt
sich zusammen aus allen den kleinen Mitteln, die, wie ich das in einem früheren
Aufsatz über „Innere Kolonisation" (Heft 34) näher ausgeführt habe, bei der
heutigen Wirtschaftsordnung und sozialen Verfassung allein anwendbar sind. Auch
wenn in absehbarer Zeit eine größere Wirtschaftsreform in Aussicht genommen
sein sollte, würde man sich an die bisher angewandten praktischen Mittel halten
müssen. Die notwendiger scheinende Reform würde gewissermaßen nur den
neuen, weiteren Rahmen für die bewährten praktischen Maßnahmen bilden.
Auch das Vorgehen der Regierung in den einzelnen Provinzen mit ver¬
schiedenen Organisationen ist sehr warm und dankbar zu begrüßen. Es geht
daraus hervor, daß nicht nach der Schablone gearbeitet wird, daß vielmehr
die lokalen Verhältnisse aufmerksam berücksichtigt werden. Die Gründung
von Kolonisationsgesellschaften und die Beteiligung des staatlichen Kapitals
an diesen liegt durchaus in der Richtung aller der Vorschläge, die darauf
hinzielen, der Bodenspekulation nach und nach das Material zu entziehen, da für
die Hergabe staatlichen Kapitals die Befestigung des Besitzes als Gegenleistung
gefordert wird. Aber man soll sich dennoch nicht verleiten lassen, zu erwarten,
daß die Gründung solcher Gesellschaften einen größeren und nachhaltigen Schutz
gegen die weitere Steigerung der Bodenpreise haben könnte. Ich fürchte vielmehr,
daß das Gegenteil der Fall ist. Jede neue Kolonisationsgesellschaft wird einen
neuen Stimulus zur Steigerung des Bodenwertes schaffen, und solange die
innere Kolonisation energisch weitergeführt wird, muß damit gerechnet werden,
daß die Bodenpreise steigen. Wird doch die Nachfrage ständig gesteigert! Erst
wenn die Kolonisation vollständig durchgeführt und der Boden sozusagen durch-
gehends „befestigt" ist, kann wenigstens theoretisch mit einer Minderung der Boden¬
preise und damit zugleich mit einer größeren Wertung des Geldes gerechnet
werden, wenn nicht inzwischen andere Momente, etwa starke Bevölkerungszunahme,
bei gleichzeitigem Wachstum des allgemeinen Wohlstandes, größere staatliche Be¬
dürfnisse, neue Erhöhung der Bodenpreise, neue Antriebe für die Spekulation
bedingen.
Erkennen wir somit den Weg, den die Regierung vorläufig eingeschlagen hat,
als richtig an, so verschließen wir durchaus nicht die Augen vor der Wahrschein¬
lichkeit, daß die in Aussicht genommenen Mittel zur Erreichung des Zieles, nämlich
zur erneuten Seßhaftmachung erheblicher Volksteile nicht ausreichen. Dazu wäre,
wie gesagt, eine alle Wirtschafts- und Eigentumsverhältnisse tief berührende Agrar¬
reform notwendig, die klug aristokratische Prinzipien in eine sozialistisch-nationale
Gesetzgebungsarbeit einfügte.
Bei der Kostbarkeit, die der Boden heute schon für die Nation hat, sollte er
unbedingt so verteilt werden, daß die gesunden Ideen, die der Herr Minister¬
präsident zum Leitpunkt für die Innere Kolonisation erhoben hat und die in
einer den lokalen Verhältnissen angepaßten Mischung der verschiedenen Wirtschafts¬
einheiten gipfeln, auch wirklich durchgeführt werden können. So sollte nicht nur
ein Gesetz geschaffen werden, das die Latifundienbildung in Zukunft
beschränkt, sondern es sollten Maßnahmen getroffen werden, die es ermöglichen,
auch die bestehenden Latifundien zu verkleinern. Selbstverständlich nicht
in einem rigoroser Enteignungsverfahren, Sondern durch Einfügung bestimmter
genereller Vorschriften für die Erbfolge und durch Festsetzung gewisser Grenzen
für die Größe des in einer Hand vereinigten Landbesitzes. Wir können uns heute
in Deutschland nirgends mehr den Luxus von Gütern leisten (von Waldgütern
wird hier vollständig abgesehen), die dreißig, vierzig und noch mehr tausend
Morgen groß sind und die sich im Besitz einer Hand befinden. Selbstverständlich
sind auch Kautelen zu schaffen, die einer zu weitgehenden Zersplitterung der Güter
einen Riegel vorschieben.
Meinem Vorschlage stehen, wenn man vom Widerstande der beati possiäentes
absieht, vorwiegend formale Bedenken entgegen und freilich — der liberale
Grundsatz vom freien Spiel der Kräfte in der Wirtschaft.
Die formalen Bedenken liegen in dem vorhandenen Hypothekenrecht, in den
Fideikommisstatuten sowie in gewissen Hausgesetzen. Besonders schwer wird den
zuletzt genannten beizukommen sein, wenn sie irgendwie international geworden
sind. Ferner dort, wo direkte Deszendenten fehlen. Praktische Bedenken treten
überall da zutage, wo bereits Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Industrie zu
einem Wirtschaftsbetrieb vereinigt sind. Auch sie werden überwunden werden
können, wenn man sich zu einer weiteren Differenzierung der gewerblichen Be¬
triebe nach Rohstoff, Halb- und Fertigfabrikationen verstehen wollte. Und das
ist ja gerade die Aufgabe des großzügigen Reformators, Hindernisse zu beseitigen,
wenn es sich um so große Fragen handelt wie das Wohl und die Zukunft einer
Verantwortlich: der Herausgeber George Tleinow In Schöneberg. — Mannskripiseiidungen und Briefe werden
erbeten uiiter der Adresse:
An den Herausgeber der Grcnzbotri» in Frieden«» bei Berlin, Hcdwigstr. I».
Fernsprecher der Schristl-iiung: Amt Uhland WM, des Verlags: Amt Lützow «610,
Verlag: Verlag der Grenzvoten G, in. b. H, in Berlin SV, 11.
Druck: „Der Reichsbor-" G. in. b, H. in Berlin SV. II. Dessauer Strafe SL/Z7,
le Reise eines leitenden Staatsmannes, wie die des Staats¬
sekretärs Sols nach Afrika, bringt mancherlei Gutes mit sich.
Nicht nur für die Kolonien selbst und deren deutsche Bevölkerung,
sondern auch für die heimische öffentliche Meinung. Der Staats¬
sekretär mußte in Afrika wohl oder übel in zahlreichen Ansprachen,
Festreden und Interviews sein Herz soweit öffnen, daß der aufmerksame
Beobachter einen ziemlich guten Einblick in seine Absichten und Anschauungen
gewinnen konnte.
So erfährt man auf diese Weise auch daheim weit mehr über die Ziele
der Regierung als bei den Reichstagsverhandlungen, deren wichtigster Teil sich
in neuerer Zeit auffälligerweise mit besonderer Vorliebe hinter den verschlossenen
Türen der Budgetkommisston abzuspielen pflegt.
Wenn an dieser Stelle seinerzeit die Ernennung Svlfs als ein gewisser
Wendepunkt begrüßt wurde, so hatte es damit seine Nichtigkeit. Wir wissen
jetzt, daß Sols volkstümliche Kolonialpolitik treiben will, und zwar in aus¬
gesprochenem Gegensatz zu Dernburg, der für reinliche Nassenscheidung, Besied¬
lung, Selbstverwaltung, kurz alles, was man unter dem Begriff „volkstümliche
Kolonialpolitik" zusammenzufassen pflegt, wenig Sinn bekundete. Erst vor kurzer
Zeit hat dies Herr Dernburg selbst ausgesprochen bzw. sich nachweisen lassen
müssen. Er hatte der Zeitschrift Kolonie und Heimat, die seine Politik in
der Rassen- und Besiedlungsfrage kritisierte, eine Zuschrift gesandt, in der er
u. a. die Behauptung aufstellte, seine Auffassung in der Mischehenfrage unter¬
scheide sich in keiner Weise von der des Staatssekretärs Sols. Mit Recht bat
die erwähnte Zeitschrift um Auskunft, warum er dann nicht, wie dies Dr. Sols
sofort nach seinem Amtsantritt tat, die Ärgernis erregenden Zustände auf Samoa
im Sinne der reinlichen Rassenscheidung zu sanieren versucht habe. Man
müsse doch notwendig auf den Gedanken kommen, daß Dr. Sols zuzeiten
Dernburgs hier nicht Wandel schaffen durfte. Letztere Vermutung hat wenige
Wochen später eine überraschende Bestätigung erfahren, indem Staatssekretär
Sols gelegentlich einer Rede in Afrika erklärte, er sei schon seit fünf Jahren
bestrebt gewesen, in seinem Wirkungskreise Samoa eine reinliche Rassenscheidung
durch Verbot der Mischehen zu erreichen, sei aber in Berlin auf Widerstand
gestoßen. Und Herr Dernburg hat darauf nichts zu erwidern gehabt. Nach
obiger Feststellung ist kein Zweifel darüber möglich, was Dernburg getan hätte,
wenn ihm von einer starken Neichstagsmehrheit die Sanktion der Mischehen
auf dem Präsentierteller dargebracht worden wäre. Der damalige Reichstag
war glücklicherweise anderen Geistes Kind, um so leichter wäre es Dernburg,
wenn er wirklich über die Mischehenfrage desselben Sinnes wie Dr. Sols ge¬
wesen wäre, unter dem letzten Reichstag geworden, eine Regelung der Rassen¬
verhältnisse in den Kolonien, wie sie jetzt kommen wird, herbeizuführen. An
Anregungen dazu hat es nicht gefehlt. Anderseits gewinnt die Amtstätigkeit
Dr. Solfs auf Samoa ein neues Gesicht. Er hat im Hinblick auf die dortigen
Rassenverhältnisse jahrelang viel zu leiden gehabt und auch an dieser Stelle
Angriffe von rücksichtsloser Schärfe erfahren. Es scheint, daß man ihm viel
abzubitten hat.
Als Herr l)r. Sols ans Ruder kam, war seine erste Amtshandlung von
Belang das Verbot von Eheschließungen zwischen Weißen und Farbigen auf
Samoa, Gleichzeitig ließ er verlauten, daß das Verhältnis der beiden Rassen
in demselben Sinne in allen Kolonien generell geregelt werden solle. Dabei
blieb er trotz scharfer Angriffe im Reichstag und trotz jener Mehrheitsresolution,
welche die Mischehen in den Kolonien sanktionieren wollte. Und noch in Afrika
erklärte er unter lebhafter Zustimmung der weißen Bevölkerung, daß er von
seinem Standpunke nicht abweichen werde; außerdem sei die Zustimmung des
Bundesrath zum Mischehenbeschluß des Reichstags ausgeschlossen.
, Sachlich irgend etwas über die Notwendigkeit reinlicher Rassenscheidung
und das Verbot der Mischehen zu sagen, sollte eigentlich nicht notwendig sein
einem Volke gegenüber, das ein gut Teil der Welt kolonisiert und dabei seine
Nasse erhalten, sein Volkstum bewahrt hat. Man hat entweder Rassegefühl
oder man hat es nicht. Denjenigen, denen es fehlt und die dafür den lieben
Gott verantwortlich machen wollen, indem sie auf die Gebote des Christentums
hinweisen, sei gesagt, daß unser Herrgott verschiedene Nassen nicht zu dem Zweck
geschaffen hat, damit die Menschen sie vermischen.
Daß die Reinhaltung der Rasse und des Volkstums die Grundbedingung
jeder nationalen Kolonisation ist, sagt dem Gebildeten die Geschichte, dem ein¬
fachen Mann der gesunde Menschenverstand. Wer in doktrinärer Verblendung
rein mechanisch die Forderungen des Christentums über diejenigen der Nation
stellt, handelt nicht einmal im Interesse der christlichen Lehre, deren Hort gerade
diejenigen Völker sind, die sich rein erhalten haben. Wer sendet denn Vorzugs-
weise die Missionare aus? Doch wohl die Deutschen und Engländer! Sinken
wir herunter auf den Standpunkt der Portugiesen oder gewisser südamerika¬
nischer „Völker", so ist es vorbei mit der christlichen Mission.
Wie gründlich der Staatssekretär zunächst in seinem früheren Wirkungs¬
kreise, Samoa, im Sinne der Erhaltung der Rasse und des Deutschtums auf¬
räumt, beweist auch der jüngste Erlaß des neuen Gouverneurs Dr. Schultz,
wonach nur deutschsprechende Personen Mitglieder des Gouvernementsrats werden
können. Mancher wird erstaunt fragen, ob das denn nicht selbstverständlich sei.
Eigentlich sollte man dies meinen, aber auf Samoa lagen zu Anfang der
deutschen Herrschaft die Verhältnisse so eigenartig, daß man die zahlreich
ansässigen Engländer und Amerikaner nicht gut übergehen konnte. Und später,
als es möglich war, dem Deutschtum alleinige Geltung zu verschaffen, glaubte
anscheinend Dernburg, der zuweilen diplomatische Ambitionen hatte, zarte Rück¬
sichten auf die lieben Nachbarn in Australien nehmen zu müssen. Nun ist auch
dieses Ärgernis aus der Welt geschafft.
Nachdem nun durch Dr. Solfs Eingreifen die Rassenreinheit der deutschen
Bevölkerung in den Kolonien und ihrer Nachkommen sichergestellt ist, läßt sich
auch mit mehr Ruhe über Besiedlung und alle damit in Zusammenhang stehenden
Erscheinungen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens in den Kolonien reden.
Gerade an der Besiedlung der Kolonien hat sich zu deren Schaden der
Hang des Deutschen zum Theoretisieren und Moralisieren reichlich gütlich getan.
Der Deutsche überlegt nach subtilen wissenschaftlichen Versuchen und Anfragen
lange hin und her, ob das Klima in der oder jener Kolonie so sei, daß der
Vater Staat die Verantwortung für das Wohlergehen eventueller Nachkommen¬
schaft eventueller Ansiedler übernehmen könne. Derweile kolonisieren fremde
Völker mit unseren Auswanderern ihr Neuland oder gebrauchen sie als Kultur¬
dünger. So war es früher und so ist es noch heute. Daß Südwestafrika
Siedlungskolonie ist, hat man ja nachgerade begriffen, aber über Ostafrika sind
sich die Theoretiker noch nicht einig. Wohl aber Praktiker, wie die zahlreichen
Ansiedler, die sich im Norden der Kolonie Wohlbefinden. Herr Dernburg ließ
sich von diesen Tatsachen nicht überzeugen. Er äußerte sich vor wenigen Wochen
erst in der oben erwähnten Zuschrift an Kolonie und Heimat:
„Es ist ein großer Unterschied zwischen dem, was man aus nationalen
Gründen wünscht, und was sich aus ethnographischen (wohl anthropologischen?)
und klimatischen Rücksichten erreichen läßt. Ich halte es heute noch für ein
Verdienst, hierüber meinen Landsleuten Karen Wein eingeschenkt und dadurch
manche kleinbürgerliche Existenz vor dem Untergang bewahrt zu haben. Diese
Politik ist jedenfalls ehrlicher als die mancher meiner Gegner, die die Leute als
.Kulturdünger' unter allen Umständen in die Kolonien verpflanzen wollen. Ein
Staatsmann in verantwortlicher Stellung wird im zwanzigsten Jahrhundert
derartige Experimente abzulehnen haben. Sie sind auch nach meinem Abgang
nicht versucht worden."
Wir können Kolonie und Heimat nur beistimmen, wenn sie Herrn Dern-
burg darauf erwidert:
„Nun, wir bekennen uns zur Politik der Leute, die der Ansicht sind, daß
diejenigen Gebiete Afrikas, die sich einigermaßen dazu eignen, mit der Zeit,
natürlich unter Beobachtung der erdenklichsten Vorsichtsmaßregeln, planmäßig
besiedelt werden müssen. Denn weder von den farbigen Rassen, noch vom
Großkapital können unsere überseeischen Besitzungen voll ausgenutzt werden, Die
Gefahr, daß dabei schwächere Existenzen ,als Kulturdünger' untergehen, ist bei
den heutigen Fortschritten der Tropenhygiene verhältnismäßig gering. Die
Siedlungen der neueren Zeit beweisen dies. Und wirtschaftlich muß eben der
Staat, der ein Interesse an der Kultivierung seiner Kolonien hat, in der Über¬
gangszeit etwas nachhelfen.
Andere Völker haben dies längst begriffen. Nach der Dernburgschen An¬
schauung dürfte kein Staatsmann im zwanzigsten Jahrhundert dulden, daß sich
alljährlich Tausende in Bergwerken, Glasbläsereien, Spinnereien usw. die
Schwindsucht und den Tod holen. Der Fortschritt der Menschheit fordert eben
Opfer, das ist immer so gewesen und wird immer so bleiben. Blühende deutsche
Siedlungen in aller Herren Ländern zeigen dem, der aus der Menschheits¬
geschichte lernen will, daß es mit dem Großkapital allein nicht getan ist. Auch
das Großkapital mit seinen Schöpfungen steht und sällt mit der lebendigen
Arbeit des Menschen. Wir können Herrn Dernburg versichern, daß auch.nach
seinem Abgang' die weitere Kolonisation der Welt nicht nur versucht, sondern
sogar vollzogen werden wird. Dasjenige Volk, das nicht seine Kolonialgebiete
mit seinen Söhnen besetzt, wird ausgeschaltet."
Nun möchten wir aber den Begriff Besiedlung etwas näher erörtern. Wir
verstehen darunter keine kleinbäuerliche Besiedlung. Gewiß mag dies in kleinerem
Maßstab in Ostafrika und vielleicht auch in anderen Kolonien da und dort
möglich sein, wie z. B. die gute Entwicklung von Leudorf am Meruberg zu
beweisen scheint. Aber zu dieser Siedlungsform liegt weder für die Kolonien
noch für das Mutterland ein Bedürfnis vor. Wenn der echte Bauer in seiner
Heimat nicht mehr recht weiter kommt, so bietet sich ihm in den Ost¬
marken reichlich Gelegenheit, mit kleinem Kapital, das für die Kolonien viel
zu gering ist, eine neue Heimat zu gewinnen, in der er sich besser einzuleben
vermag als in den ihm meist ganz unverständlichen Verhältnissen Afrikas. Und
er nützt seinem Vaterland in den Ostmarken viel mehr denn als Überseer, Wer in der
Landwirtschaft überhaupt nicht mehr fortkommt, paßt auch nicht nach Afrika,
er tut besser, wenn er sich in der Industrie eine Existenz sucht. Für die aus¬
gesprochene Kleinsiedlung kann vielleicht noch ins Feld geführt werden, daß sie
beim kleinen Mann in der Heimat eine gute Werbekraft im Sinne des kolo¬
nialen Gedankens besitzt und deswegen wohl eine gewisse Förderung verdient.
Falsch wäre aber unserer Ansicht nach eine Kleinkolonisation im großen Stil.
Als Träger kolonialer Besiedlung kommen unseres Erachtens in erster Linie die
Söhne des gebildeten Mittelstandes in Betracht, die mit 30- bis 50000 Mark
Vermögen in der Heimat als Landwirte nicht viel anfangen können, drüben
aber mit Fleiß und Tüchtigkeit gut vorwärts kommen. Auch Herr von Lindequist,
der frühere Staatssekretär, der Ostafrika vor einigen Jahren mit dem aus¬
gesprochenen Zweck bereist hat. Grundlagen zu gewinnen für eine lebhaftere
Besiedlung, ist der Ansicht, daß dieser Typ, den die Engländer „Gentleman-
Farmer" nennen, am besten für unsere Kolonien paßt. In Südwestafrika
gehört denn auch tatsächlich der größte Teil der Ansiedler diesem Typ an.
Bezüglich der Akklimatisationsfähigkeit der weißen Siedler sagt Herr
von Lindequist in seinem jüngst erschienenen Bericht*):
„Was vom tropischen Höhenklima von 1200 bis 2000 Metern theoretisch
erwartet war, das hat die praktische Erfahrung an den dort ansässigen Weißen
bestätigt; die Männer haben ihre Leistungsfähigkeit, die Frauen ihre Gebär¬
tüchtigkeit behalten, die heranwachsende Generation ist körperlich, intellektuell und
moralisch vollwertig geblieben; Anzeichen irgendwelcher Degeneration sind
nirgends zu finden."
Herr Dr. Sols hat sich auch nicht an die pessimistische Auffassung Dern-
burgs gekehrt, sondern durch den Mund des neuen Gouverneurs Dr. Schnee
deutlich zu erkennen gegeben, daß die Besiedlung durch Bereitstellung weiterer
geeigneter Gebiete gefördert werden soll. Es ist daher kaum zu befürchten, daß
in Ostafrika, wie dies unter dem Dernburg-Rechenberg-Regime geschehen ist,
gebildete Anstedlungslustige mit 100000 M. Vermögen — nach Südwestafrika
gewiesen oder vermögende und bewährte Südwestafrikaner, die nach Ostafrika
übersiedeln wollten, mit dem Bemerken abgefertigt wurden, es sei kein Land
verfügbar.
Die Entwicklung der kolonialen Siedlungen zu selbständigen Gemeinwesen
wird vielleicht unter Sols ein etwas rascheres Tempo einschlagen. Wenigstens
hat er schon wiederholt zu erkennen gegeben, daß er möglichste Dezentralisation,
d. h. die Verlegung des Schwerpunktes der Verwaltung nach den Kolonien selbst,
anstrebt mit der Tendenz des allmählichen Ausbaues der Selbstverwaltung. In
Südwestafrika ist zwar unter Dernburg die von der Anstedlerschaft stürmisch
geforderte Organisation der Selbstverwaltung zustande gekommen und hat seither
Ersprießliches gewirkt, aber man fühlte doch deutlich heraus, daß sie erzwungen
war und die Kolonialverwaltung sich bemühte, das Heft in der Hand zu
behalten. Die Selbstverwaltungsorgane wurden ihres Lebens nicht froh und standen
fortgesetzt auf gespanntem Fuß mit der Zentralverwaltung. Daß unter diesen Um¬
ständen die Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens nicht vorwärts gehen wollte, ist
kein Wunder. Schon seit Jahren rief die Farmerschaft nach einer landwirtschaftlichen
Kreditorganisation, deren Notwendigkeit Dernburg bei seinem Besuch in Südwest
anerkannt hatte. Die Farmer kamen nicht weiter, weil es ihnen an Mitteln
fehlt, ihren Grund und Boden intensiver auszunutzen. Es ist dieselbe Erscheinung,
die wir aus der Geschichte der heimischen Landwirtschaft kennen. Auch hier ist
sie erst dann richtig lebensfähig geworden, als ein unter tatkräftiger Mitwirkung
des Staates organisiertes Genossenschaftswesen und ähnliche Maßnahmen auch
dem schwächeren Landwirt die Mittel an die Hand gaben, seiner Betriebsweise
die Hilfsmittel der modernen Technik zugute kommen zu lassen. Aber trotz der
Versprechungen Dernburgs warteten die Südwestafrikaner vergebens. An sich
ist die ganze Angelegenheit beinahe lächerlich, denn es handelt sich um ein
verhältnismäßig geringfügiges Kapital als Grundstock, das der verflossene
Reichstag jeden Tag bewilligt hätte. Für jeden, der sich auch nur ein klein
wenig in die Verhältnisse hineindenken kann, war es längst klar, daß nur der
Staat einen billigen Kredit, wie ihn die Farmer brauchen, schaffen kann. Für
die Großfinanz ist das Objekt zu geringfügig und die Sicherheit, rein bart¬
mäßig betrachtet, ungenügend. Darüber kann sich Dernburg als gewiegter
Finanzmann keinen Augenblick im Zweifel gewesen sein; wir haben auch seine
angeblichen Bemühungen, die Großfinanz für die Sache zu interessieren, nie
ernst genommen. Es hätte der unter Herrn von Lindequist im Kolonialamt
abgehaltenen Sitzung von namhaften Vertretern der Bankwelt wirklich nicht
bedurft, um dieses Faktum protokollarisch festzustellen.
Herr Dr. Sols will denn auch dem mehrjährigen Hängen und Würgen ein
Ende machen und schon im Herbst eine Vorlage im Reichstag einbringen,
welche die Grundlage für ein ländliches Kreditinstitut schaffen soll. „Doppelt
gibt, wer schnell gibtl" Eine blühende Farmwirtschaft bringt die Aufwendungen
und gelegentliche unausbleibliche Verluste eines Tages vielfältig wieder ein.
Das sind die wichtigsten Fortschritte, die uns Dr. Solfs Afrikafahrt gebracht
hat. In Einzelheiten wollen wir uns nicht verlieren, obwohl noch mancherlei
aufzuführen wäre. Aus dem ureigensten Ressort Dernburgs sei nur noch die
teils vollzogene teils bevorstehende Einigung der Diamanteninteressenten auf
rechtlichem und steuerpolitischem Gebiet durch den neuen Staatssekretär erwähnt.
Man fragt unwillkürlich nach dem Grunde der raschen Lösung veralteter
Streitfragen durch Dr. Sols. Er scheint uns auf der Hand zu liegen. Dernburg
ging mit vorgefaßten Meinungen hinaus. Für ihn waren die Kolonien vor¬
zugsweise „Objekte" für großkapitalistische Transaktionen und Unternehmungen.
Was nicht unter diese Formel zu bringen war. interessierte ihn nur mäßig und
wurde, wenn es sein Interesse in Anspruch nahm, mit schlecht verhehlter Un¬
geduld behandelt. Südwest interessierte ihn als Bergbauland, Ostafrika als
Negerhandels-Kolonie, in der der Weiße nur als Großhändler und Verkehrs¬
unternehmer in Betracht kam. Die kleinen Leute, wozu nach großkapitalistischen
Begriffen auch die Farmer und selbständigen Pflanzer gehören, wußte er in
seinem Programm nicht recht unterzubringen. „Hilf dir selbst", rief er ihnen
mehr als einmal zu.
Sols reiste nicht mit großem Gefolge und kam mit der ausgesprochenen
Absicht nach Afrika, wieder gute Beziehungen zwischen Kolonialverwaltung und
der deutschen Ansiedlerschaft in Südwest- und Ostafrika anzuknüpfen. Das ist
ihm in vollem Maße gelungen. Dernburg hat den Kolonien durch seine Be¬
ziehungen zum Großkapital den für die Anlage eines großzügigen Verkehrs¬
netzes so notwendigen Kredit verschafft, und das wird ihm unvergessen bleiben.
Die Frucht der Solfschen Reisen und Maßnahmen aber wird, wenn nicht alles
trügt, die gesunde Entwicklung deutschen Volkstums in den Kolonien sein, und
das ist ebensoviel oder letzten Endes vielleicht noch mehr wert.
cum wir von der Sprache eines bestimmten Berufes sprechen, etwa
von der Jägersprache, Seemannssprache, Bergmannssprache usw.,
so verstehen wir darunter die Gesamtheit von Wörtern oder
Redewendungen, die jenen Berufsarten eigentümlich sind. Wir
verstehen aber nicht darunter eine bestimmte Sprachfärbung oder
Sprachprägung, also nicht einen bestimmten Stil, und wir sprechen daher auch
nicht von einen: Jügerstil, einem Seemannsstil,, einem Bergmannsstil usw. Mit
dem Ausdruck Gesetzessprache dagegen bezeichnen wir nicht nur die Gesamtheit
von Fachausdrücken und Redewendungen, die in den Gesetzen vorkommen,
sondern auch die Sprachgestaltung, die geistige Prägung der Ausdrucksweise,
die wir Stil nennen. Wir können also bei der Untersuchung der Gesetzessprache
eine objektive Seite unterscheiden, die wir als Gesetzessprache im engeren Sinne
zu bezeichnen hätten, und eine subjektive, die wir dann Gesetzesstil benennen
müßten. Wenn trotzdem die letztere Bezeichnung wenig üblich ist — sie soll
auch im folgenden nicht verwendet werden — so liegt das daran, daß die
Gesetzessprache gewissermaßen etwas Unpersönliches hat. Vor der Wucht, der
Erhabenheit, der Feierlichkeit, mit der sie wirkt oder doch wirken soll, tritt die
Persönlichkeit des Gesetzgebers oder des Verfassers des Gesetzentwurfes zurück.
Man kann die Gesetzessprache vielleicht bildlich vergleichen mit jenen gewaltigen
Domen des Mittelalters, deren Erbauer ebenfalls hinter ihre Schöpfung zurück¬
getreten sind, so daß wir vielfach nicht einmal ihren Namen kennen. Wie der
Dom in seinem ganzen Aufbau, seinen Umrissen, seiner Einzelausschmückung
einen großzügigen monumentalen Ausdruck tragen soll, wie er hoch über dem
Hä'usergewimmel und dem Straßenlärm des Alltagslebens aufsteigt, weltflüchtig
und doch nicht weltfremd, und wie er anderseits doch wieder volkstümlich in
dem Sinne sein soll, daß er zu der Stadt gehört, die er überragt, so soll sich
auch die Gesetzessprache durch einen Zug ins Große auszeichnen und doch
wiederum der Seele des Volkes verwandt sein, dessen Rechtsleben sie regeln
soll. Die Aufgabe des Gesetzgebers ist daher in sprachlicher Beziehung nicht
leicht. Er hat größere Schwierigkeiten zu überwinden als ein Schriftsteller des
Alltagslebens, selbst wenn dieser den höchsten künstlerischen Zielen auf literarischen
Pfaden zustrebt. Zunächst kann sich der Gesetzgeber das Gebiet, auf dem er
wirken soll, nicht frei wählen wie der Schriftsteller. Denn das Gesetz regelt
alle Lebensverhältnisse. Ebensowenig kann der Gesetzgeber mit dem oft recht
spröden Stoffe frei schalten und walten wie der Dichter. Während dieser dem
Stoffe Geist von seinem Geiste einzuhauchen bestrebt ist und auf ganz bestimmte
künstlerische Wirkungen hinarbeitet, um derentwillen er einzelne Teile des Stoffes
nebensächlich behandeln, andere dafür um so wirkungsvoller hervortreten lassen
darf, sind dem Gesetzgeber seine Ziele genau vorgezeichnet, und er darf sie nicht
aus den Augen lassen, um als Meister der Sprache zu glänzen. Er soll dem
Willen der höchsten Staatsgewalt Ausdruck verleihen, er muß gebieten und
verbieten, er soll das Rechtsleben eines Volkes in bestimmte Bahnen lenken und
muß daher seinem Stoffe überall die gleiche Beachtung schenken. Er muß zu
allen sprechen und darum allen verständlich sein, wie verschieden auch ihre
Fähigkeit ihn zu verstehen sein möge. Und doch soll sich auf der anderen Seite
seine Sprache von der Sprache des Alltags unterscheiden und überdies eine
Fachsprache sein. Technische Rücksichten zwingen den Gesetzgeber, den Stoff in
Paragraphenreihen einzuteilen, was eine gewisse Einförmigkeit und damit eine
Beeinträchtigung der künstlerischen Wirkung unvermeidlich mit sich bringt. Aber
auch sonst legt die Eigenart der Gesetzessprache dem Gesetzgeber Fesseln an.
Er darf das prächtige Farbenspiel der Leidenschaft, das dichterischen Schöpfungen
oft den höchsten Reiz verleiht, in seiner Sprache nicht entfalten. Ernst und
einfach müssen die Töne sein, die er verwendet. Durch Witz, Humor, Zartheit,
Eleganz der Redewendungen zu glänzen ist ihm versagt. Sodann ist die
Gesetzessprache eine reine Schriftsprache, gewissermaßen eine schweigende Sprache,
die unter anderen Regeln steht wie das gesprochene Wort. Der Gesetzgeber
muß daher auf alle diejenigen Wirkungen verzichten, die sich nur in der freien
Rede erreichen lassen.
Ein hervorstechendes Kennzeichen unserer Kultur ist der Zug ins Massen¬
hafte, die Riesenhaftigkeit aller Verhältnisse, die es immer schwerer macht, den
Stoff geistig zu meistern und die Klippe der Schwerfälligkeit zu vermeiden.
Dieser Umstand bedingt es, daß der Gesetzgeber unserer Tage eine schwierigere
Aufgabe hat als seine Vorgänger in früheren Jahrhunderten, deren Sprache
volkstümlicher, wärmer, patriarchalischer und doch autoritativer klingt als die
Gesetzessprache unserer Zeit, die sich mehr und mehr von der Sprache des Volkes
entfernt hat, ohne darum an Erhabenheit und Würde zu gewinnen.
AIs das wichtigste Erfordernis der Gesetzessprache muß man die Klarheit
bezeichnen. Ich verzichte auf eine Begriffsbestimmung, die ebenso leicht zu geben
wie schwer zu nutzen ist. Wesentliche Bedingungen der Klarheit des sprach¬
lichen Ausdrucks sind aber jedenfalls Kürze und Anschaulichkeit. Je mehr an
Stelle einer zusammenfassenden einheitlichen Darstellung eine umständliche Auf¬
zählung aller einzelnen Fälle tritt, um so mehr büßt die Gesetzessprache an
Anschaulichkeit, Übersichtlichkeit und nicht zuletzt an Wucht und Eindringlichkeit
ein. Es mag zugegeben werden, daß es bei den überaus vielgestaltigen und
flüchtigen Rechtsverhältnissen, die der Gesetzgeber unserer Zeit zu ordnen hat,
keine leichte Aufgabe ist, sich knapp und klar auszudrücken. Aber eine genauere
Prüfung unserer Gesetzessprache nach dieser Richtung ergibt, daß hier viel
gesündigt wird. Man vergleiche beispielsweise die umständlich abgefaßten, mit
Einzelheiten überladenen §§ 823. 824 B. G. B. und ZZ 14 bis 17 des Gesetzes
über den unlauteren Wettbewerb mit dem so einfach und klar gehaltenen
Art. 1382 des Locke civil. Die Rechtsprechung der französischen Gerichte über
Schadenersatzfragen mit der Handhabe dieser einfachen Bestimmung ist der
Rechtsprechung unserer Gerichte über denselben Gegenstand vollständig gleich¬
wertig. Die Klarheit und Genauigkeit einer gesetzlichen Bestimmung besteht
nicht darin, daß der Gesetzgeber alle möglichen Fälle bis in die kleinsten Einzel¬
heiten von der hohen Warte, auf der er steht, zu regeln versucht, sondern darin,
daß er darauf vertraut, daß die allgemeinen Vorschriften, die er gibt, bei der
Urteilsfällung in verständnisvoller Weise ausgelegt und angewendet werden.
»Ion multg, Zeck nullum gilt auch für den Gesetzgeber.
Darüber, daß der Gesetzgeber sich kurz und knapp ausdrücken soll, wird
wohl kaum eine Meinungsverschiedenheit bestehen, und diejenigen, die umständlich
und ausführlich abgefaßte Gesetzesvorschriften wie die beiden vorangeführten
über die Schadenersatzpflicht verteidigen, werden darauf hinweisen, daß die ver¬
wickelten Verhältnisse, die zu regeln sind, eine einfachere Ausdrucksweise in
diesem Falle nicht zulassen. Anders steht es mit der Frage der Anschaulichkeit
und der damit im Zusammenhange stehenden Frage der Volkstümlichkeit unserer
Gesetzessprache. Hier handelt es sich nicht um rein sprachliche Formfragen,
sondern um grundsätzliche, rechtswissenschaftliche Anschauungen, die sich schroff
gegenüberstehen und die auch in der Fassung der Gesetze ihren Ausdruck finden.
Der Umstand, daß das Bürgerliche Gesetzbuch eine so wenig volkstümliche
Sprache redet, ist vielleicht in erster Linie nicht darauf zurückzuführen, daß sich
die Verfasser nicht volkstümlicher hätten ausdrücken können, sondern daß sie es
nicht gewollt haben. Es sehlt nicht an Juristen, die eine volkstümliche Aus¬
drucksweise der Gcsetzessprache verwerfen, weil sie glauben, daß das Gesetz
dadurch an Wissenschaftlichkeit einbüße. Diese Auffassung hängt im tiefsten
Grunde zusammen mit dem Streit, der in unseren Tagen so heftig entbrannt
ist zwischen der sogenannten Freirechtsschule und ihren Gegnern, die man als
Vertreter der „konstruktiven Jurisprudenz" zu bezeichnen pflegt. Wie die An-
bänger der letztgenannten Richtung alles Heil von einer strengen begrifflichen
Einordnung des Stoffes in rechtswissenschaftliche Formen erwarten, so stehen
sie wohl auch als Gesetzgeber auf dem Standpunkte, daß die Gesetzessprache
eine reine Fachsprache sein müsse, und daß das Streben nach Volkstümlichkeit
zu verwerfen sei. Sie brandmarken gewissermaßen die volkstümliche Sprache
und die damit verbundene Auffassung als unjuristisch. Die Freirechtsschule hat
sich bisher mit der Frage der Gesetzessprache nicht besonders beschäftigt, da sie
genug damit zu tun hat, ihre Rechtsauffassung gegen die herrschende Ansicht
zur Geltung zu bringen. Aber es ist nicht zu bezweifeln, daß ein Sieg der
Freirechts schule in unserer Rechtswissenschaft und unserer Rechtspflege auch auf
die Sprache der Gesetzgebung von entscheidenden Einfluß sein würde.
Jedenfalls ist die Richtung abzulehnen, die die Gesetzessprache zu einer
reinen Fachsprache zu machen bestrebt ist. Die Rechtswissenschaft ist keine Geheim¬
wissenschaft, und die Gesetzessprache darf keine Geheimsprache sein, die nur einem
Kreise von wissenschaftlich Eingeweihten zugänglich ist. Auf der anderen Seite
ist aber auch die Forderung zu weitgehend, ein Gesetzbuch müsse so abgefaßt
sein, daß es jeder verstehen, jeder sich ohne weiteres daraus Rat erholen könne.
Bei den einfachen Kulturverhältnissen ferner Zeiten mag das möglich gewesen
sein, heute nicht mehr. Außerdem aber sind diejenigen, die Volkstümlichkeit
der Gesetzessprache fordern, sich selbst wohl nicht vollständig darüber klar, was
sie verlangen. Das Volk setzt sich aus einer großen Menge sozialer Schichten
zusammen, deren Verständnis außerordentlich verschieden ist. Ein Gesetz, das
vielleicht volkstümlich im Sinne der Akademiker ist, ist es nicht für den Kauf¬
mann, den Angestellten, den kleinen Beamten; und eine Gesetzessprache, die dem
Auffassungsvermögen dieser Kreise gerecht würde, würde nicht verstanden werden
in den Kreisen der Arbeiter, der Dienstboten und der Angestellten für die
niedrigsten Verrichtungen. Wo soll man also die Grenze ziehen? Soll sich der
Gesetzgeber so ausdrücken, daß er bis in die untersten Volksschichten hinein ver¬
standen wird? Es erhellt ohne weiteres, daß die Forderung, die Gesetzessprache
müsse volkstümlich sein, ohne nähere Begrenzung zu weit geht.
Also weder eine reine Fachsprache noch eine reine Volkssprache soll die
Gesetzessprache sein. Der Gesetzgeber kann ohne eine gewisse rechtswissenschaftliche
Prägung seiner Worte nicht auskommen. Dazu dienen in erster Linie die
Fachausdrücke. Es ist von der größten Wichtigkeit, daß überall, wo ein Aus¬
druck zur Bezeichnung von Rechtsverhältnissen oder Rechtsvorgängen im Gesetze
wiederkehrt, er dieselbe Bedeutung habe. Dadurch wird die Einheitlichkeit in
der Gesetzessprache gewahrt, werden Weitschweifigkeit, Umständlichkeit und Un¬
sicherheit vermieden. In früheren Jahrhunderten, als die Aufgabe des Gesetz¬
gebers noch einfacher war, wurde die Einheitlichkeit der Gesetzessprache gewähr¬
leistet durch die Persönlichkeit des Gesetzgebers, durch seinen Stil. Heute, wo
ein größeres Gesetzeswerk die Mitarbeit zahlreicher Kräfte erfordert, wo der alles
beherrschende Zug ins Massenhafte auch auf dem Gebiete der Gesetzgebung
hervortritt, sind die Fachausdrücke in der Gesetzessprache ein wesentliches Mittel,
den Stoff zu bewältigen und sprachlich einheitlich zu gestalten. Bei der Bildung
der Fachausdrücke aber ist Anschaulichkeit und Verständlichkeit von größter Be¬
deutung. Es ist hier dem Gesetzgeber dringend anzuraten, zurückzugreifen in
den reichen Sprachschatz der Vergangenheit, der zum Teil in den Rechtssprich¬
wörtern erhalten ist. Auch in der österreichischen, der schweizerischen und der
niederländischen Gesetzessprache finden sich vielfach Ausdrücke, die sich bei uns
nicht mehr erhalten haben, die aber unsere Gesetzgeber mit Vorteil zur Wieder¬
belebung der Gesetzessprache verwenden könnten.
Ein weiteres Mittel, das dem Gesetzgeber zu Gebote steht, Eintönigkeit und
Weitschweifigkeit in der Ausdrucksweise, namentlich aber Wiederholungen zu
vermeiden, sind die Verweisungen. In größeren Gesetzen läßt sich schwer ohne
sie auskommen. Eine zu häufige Verwendung von Verweisungen aber raubt
der Gesetzessprache Übersichtlichkeit und Anschaulichkeit, weil das, was der Gesetz¬
geber hat sagen wollen, nicht ohne weiteres vor dem Geiste des Lesers steht,
sondern erst durch eine weitere Gedankentätigkeit gewonnen werden muß. Jeden¬
falls müssen die Verweisungen so gehalten sein, daß klar ist, was der Gesetz¬
geber hat sagen wollen. Es müssen also die betreffenden Paragraphen zahlen¬
mäßig angeführt sein, und es empfiehlt sich weiter, auch kurz anzugeben, was
sie enthalten. Die so häufig in unseren Gesetzen wiederkehrende Formel: „Diese
und jene Bestimmungen finden entsprechende Anwendung" ist ganz gewiß nicht
geeignet, klar auszudrücken, was der Gesetzgeber hat sagen wollen, und zwingt
namentlich den Laien zur Entfaltung einer rechtswissenschaftlichen Tätigkeit, zu
der er nicht befähigt ist. Vor allem aber ist es zu vermeiden, daß eine Ver¬
weisung sich durch eine Reihe von Paragraphen hindurchzieht, in der Weise,
daß der erste Paragraph auf einen anderen, dieser wieder auf einen dritten,
der dritte aus einen vierten verweist usw. Dadurch muß sich der Leser erst
durch eine Reihe von Paragraphen hindurchwinden, ehe er weiß, was der Gesetz¬
geber hat sagen wollen. Dieser Fehler findet sich nicht selten im Bürgerlichen
Gesetzbuche.
Die Richtigkeit der Gesetzessprache erscheint als eine so selbstverständliche
Forderung, daß man sie nicht besonders zu betonen braucht, und doch wird ein
strenger Sprachrichter auf diesem Gebiete viel in der Sprache unserer Gesetze
zu rügen finden. Vielfach hängt die Frage nach der Richtigkeit der Gesetzes¬
sprache unmittelbar zusammen mit der Frage nach der Klarheit der Gesetzes¬
sprache. Denn für gewöhnlich ist es nicht wohl denkbar, daß sich jemand klar
ausdrückt, ohne daß seine Ausdrucksweise richtig ist. Die Frage hat eine formelle
und eine inhaltliche Seite. Der Gesetzgeber muß die Sprachregeln befolgen,
über die ja allerdings, wie wir wissen, in einzelnen Fällen große Meinungs¬
verschiedenheiten bestehen, und er muß Sorge tragen, daß der Ausdruck, den
er anwendet, seinen Gedanken genau deckt. Die letztgenannte Forderung ist
weit schwieriger zu erfüllen, als man vielleicht anzunehmen geneigt ist. Ost
stellt sich erst bei der Anwendung eines Gesetzes heraus, welchen Umfang und
welche sonstige Bedeutung ein vom Gesetzgeber gewählter Ausdruck hat. Oft
ist auch die Forderung, einen treffenden Ausdruck zu wählen, man möchte sagen
unerfüllbar. Welchen passenderen Ausdruck als „körperliche Sachen" hätte der
Gesetzgeber wohl im Z 242 Se. G. B. wählen können? Und doch, welche Streit¬
fragen hat es nicht hervorgerufen, als sich die Elektrizitätsdiebe damit ver¬
teidigten, daß Elektrizität keine körperliche Sache sei! Es empfiehlt sich jedenfalls,
wenn der Sprachgebrauch nicht ganz sicher ist oder wenn der Gesetzgeber davon
abweichen will, daß er erklärt, welche Bedeutung einem bestimmten Ausdruck
„im Sinne des betreffenden Gesetzes" innewohnt.
Die Gesetzessprache muß ferner rein sein in dem Sinne, daß der Gesetzgeber
keine entbehrlichen Fremdwörter braucht, aber auch Provinzialismen und nach¬
lässige Redewendungen vermeidet, die vielleicht in der Alltagssprache oder in
einem flüchtig geschriebenen Zeitungsberichte verzeihlich sind, aber nicht in einem
Gesetzeswerke großen Stils. Was die Beseitigung der Fremdwörter in der
Gesetzessprache anlangt, so ist allerdings große Zurückhaltung geboten. Denn
es ist nicht zu übersehen, daß sie namentlich in der Handelswelt vielfach fest
eingebürgert sind und internationalen Umlauf haben. Daher können selbst gute
Verdeutschungen große Verwirrung anrichten, weil das Volk dem Gesetzgeber
nicht mit seiner Ausdrucksweise folgt. Ob eine Verdeutschung gelungen ist, stellt
sich oft erst heraus, wenn das Gesetz in Kraft getreten ist. Gute Verdeutschungen
pflegt das Volk schnell anzunehmen, schlechte weist es zurück. Hier gelten ähnliche
Grundsätze für den Gesetzgeber wie bei der Bildung von Fachausdrücken.
An letzter Stelle erst steht die Schönheit der Gesetzessprache. Hier ist es
freilich schwer zu sagen, was man unter diesem Begriff zu verstehen hat. Ein
dichterisches Werk kann in bezug auf sprachliche Schönheit im höchsten Maße
vollendet sein, und doch wäre seine Ausdrucksweise bei einem Gesetze völlig
unangebracht. Die Schönheit der Gesetzessprache besteht nicht in einem glänzenden
Feuerwerk buntfarbiger Redensarten und packenden, geistreich wirkenden Gegensätzen,
sondern in einer ruhigen Einfachheit, in Natürlichkeit und Wohlklang der Rede.
Von untergeordneter, aber doch nicht ganz zu unterschätzender Bedeutung
ist die Wahl der Überschrift eines Gesetzes und die Fassung der Eingangs- und
der Schlußworte. In manchen Fällen bietet sich die Fassung der Überschrift
eines Gesetzes von selbst dar, z. B. Postgesetz, Neichsbankgesetz, Vereinsgesetz,
Strafgesetzbuch usw. In anderen Fällen läßt sich eine mehr oder weniger um¬
ständliche Bezeichnung des Gesetzes nicht vermeiden. Jedenfalls ist es ein gutes
Zeichen, daß man neuerdings auch der Fassung der Ueberschriften unserer Ge¬
setze Aufmerksamkeit geschenkt hat und bestrebt ist, möglichst kurze und treffende
Ausdrücke dafür zu wählen. Aus dem „Allgemeinen Deutschen Handelsgesetz¬
buch" ist ein „Handelsgesetzbuch", aus der „Allgemeinen Deutschen Wechsel¬
ordnung" eine „Wechselordnung" geworden. Die Militärstrafprozeßordnung
hat man in eine Militärstrafgerichtsordnung umgewandelt usw.
Die Eingangs- und die Schlußworte der Gesetze weisen eine gewisse alter¬
tümliche Färbung auf. Hierbei mag auf einen an sich unbedeutenden Umstand
hingewiesen werden, der zeigt, wie sich in den letzten fünfzig Jahren die Gesetzes¬
sprache verschlechterthat. Die preußischen Gesetze beginnen: „Wir Wilhelm usw.
verordnen mit Zustimmung der beiden Häuser des Landtags usw." In den
Reichsgesetzen dagegen heißt es: „nach erfolgter Zustimmung des Bundes¬
rath usw." Wie häufig das Wort „erfolgt" später in unserer Reichsgesetzgebung
wiederkehrt, weiß man.
Die Frage, ob die von der guten Umgangssprache abweichende Gesetzes¬
sprache heute noch berechtigt ist, muß hiernach unbedingt bejaht werden. Der
Gesetzgeber hat andere Aufgaben zu erfüllen, als der Schriftsteller oder der
Redner des Alltagslebens. Er muß von hoher Warte wie durch ein Sprach¬
rohr zum Volke sprechen und seine Ausdrucksweise muß daher anders sein als
die des Volkes, mit der sie gleichwohl den Zusammenhang nicht vermissen lassen
darf. Ein guter Teil des Ansehens und der Wirkung eines Gesetzes beruht
auf seiner Sprache. Es verhält sich damit ähnlich wie mit dem Gepränge und
der Hofsitte, mit der sich der Herrscher umgibt, die vielfach eigenartige, alter-
tümelnde und darum fremd anmutende Formen aufweisen. Sie sind not¬
wendig, um die Person des Fürsten von seiner Umgebung und vom Volke ab¬
zuheben, Schranken zwischen beiden aufzurichten, die des Herrschers Würde, sein
Ansehen, seine Unverletzlichkeit und Heiligkeit wahren sollen. In ähnlicher Weise
muß sich auch die Gesetzessprache von der Sprache des Alltagslebens durch eine
gewisse Feierlichkeit und Gehaltenheit abheben.
(Ein Aufsatz über die Sprache unserer Reichsgesetze wird folgen)
ugendliche Auswanderung ist so alt, als überseeische Auswanderung
überhaupt, denn immer war unter der Zahl der Emigranten stets
auch das jugendliche Alter vertreten. Doch vollzog sich ihre Aus¬
wanderung genau im Rahmen der der „Erwachsenen" — einzeln,
im Fmnilienverbande oder in Gruppen — ganz oder teilweise aus
eigene Kosten, freie Ausreise auf Kosten des Jmigrations- oder Emigrations¬
landes.
Für diese Untersuchung besitzt die jugendliche Auswanderung erst Interesse
in dem Moment, als sie eine besondere der Jugend angepaßte Organisation
erhält, d. h. unter Fürsorge von Personen, Anstalten oder Vereinen stattfindet.
Solche organisierte Auswanderung Jugendlicher scheint zum ersten Male
in England im Jahre1844 stattgefunden zusahen, und zwar betraf sie jungeMädchen
und Frauen. Von jeher waren es vorzugsweise Angehörige männlichen Geschlechts,
die in überseeischen Ländern eine neue Heimat suchten und fanden. Nur im
Familienverbande verließen auch Frauen und Mädchen die Heimat, an Zahl
aber gegen die Fülle der männlichen Auswanderer stark zurücktretend. Dies schuf in
den Kolonien und schließlich auch in der Heimat ein offenbares Mißverhältnis
zwischen den Geschlechtern. Hier ausgleichend zu wirken, vor allem die Zahl der
Frauen und Mütter in den Kolonien zu mehren, war das Bestreben der ersten organi¬
sierten jugendlichen Auswanderung. Es waren gesunde heiratsfähige Mädchen, die
auf Anregung von Kolonialagenten unter behördlichen Schutz die überseeische
Reise zuerst unternahmen. Denn selbstverständlich läßt sich eine weibliche Aus¬
wanderung nur propagieren und einleiten unter fürsorglichen Garantien zum
Schutz der jungen Emigrantinnen auf der Reise und bei der Ankunft im fernen
Lande. Diese entstammten zuerst den Armen- und Besserungshäusern, den Ge¬
fängnissen des Landes, bis der Gedanke weiblicher Auswanderung im Volke
Wurzel gefaßt hatte und auch gute Elemente sich dazu verstanden, das Leben
in den Kolonien — Australien, Neuseeland, Kanada — zu versuchen.
Von einer eigentlichen Kinderauswanderung — im Alter von dreizehn bis
fünfzehn Jahren — finden sich die ersten Spuren in den Berichten der Ragged¬
schools*) und Poorlaw Guardians Englands zu Ende der vierziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts.
Die Schüler der Raggedschool rekrutierten sich fast ausschließlich aus jungen
Dieben, Schelmen und Tunichtguten und das große Problem für die Schulleiter
war, die Unterbringung dieser Kinder in Verhältnisse, die sie den? lasterhaften
Milieu, in dem sie geboren, entreißen und ihnen einen ordentlichen Lebenswandel
erleichtern sollten. Einen Ozean zwischen Whitechapels Spelunken, den 8tuas
von Bethnal Green und den Objekten der Fürsorge zu legen, erschien ein Erfolg
versprechender Weg. Er wurde betreten und von da ab bildete die Auswanderung
eines der probatesten Fürsorgemittel der Raggedschools, deren Bedeutung erst
in neuester Zeit zurückgetreten ist.
Auch die Armenbehörden Irlands und Englands waren dem Gedanken
der Kinderauswanderung um diese Zeit nahe getreten. Ein Parlamentsbeschlnß
des Jahres 1850 gibt bereits allen Armenbehörden das Recht, aus den Armen¬
steuern Mittel zur Auswanderung von verlassenen (äesorwä) Kindern auf¬
zubringen. Indes durfte und darf auch heute kein Kind emigriert werden, das
nicht vor zwei Richtern schriftlich seine Einwilligung gegeben hat.
Noch in den fünfziger Jahren wurde das Beispiel der Raggedschools von
Fürsorgeerziehungsanstalten, besonders dem berühmten Redhill. nachgeahmt und
überseeische Auswanderung als ein treffliches Mittel betrachtet, die zu ent¬
lassenden Zöglinge im Leben unterzubringen.
Aber diese regelmäßige Auswanderung, die durch einige Fürsorgeanstalten
betrieben wurde, betraf wieder nicht das eigentliche Kindesalter, sondern kam
nur für Jugendliche über fünfzehn Jahre in Betracht. Die Kinderauswanderung
aus Workhouses*), die vereinzelt durch Schiffahrtsagenten mit Genehmigung
der betreffenden Armenbehörde stattgefunden hatte, war aus verschiedenen Gründen
völlig eingeschlafen und von der heutigen Organisation der Kinderauswanderung
führen keinerlei Fäden zu ihr zurück. Sie beruht in ihren Anfängen durchaus
auf der Initiative von zwei in der sozialen Jugendfürsorge arbeitenden Frauen,
Miß Macpherson und Miß Rye, die Ende der sechziger Jahre unabhängig von
einander den unbestreitbaren ethischen Wert der Auswanderung gerade in den
Kinderjahren erkannten und propagierten. Beide waren mit den Verhältnissen
Kanadas, das als Ziel der jugendlichen Auswanderung immer mehr in den
Vordergrund trat, vertraut. Miß Macpherson indes, streng methodistischen
Kreisen angehörend, war von höchsten religiösen Idealen erfüllt, während Miß
Nye mehr aus praktischer Erkenntnis heraus handelte. An und für sich
bezweckten beide dasselbe: das größere Wohl des Kindes und seine bessere
Zukunft. Sie fanden, daß Farmerfamilien in Kanada bereit waren, Kinder
um ihrer geringen Dienste willen unentgeltlich aufzunehmen und damit dem
Kinde die Gelegenheit zu geben, sich im anpassungsfähigsten Alter im kanadischen
Sinne zu entwickeln, die Akklimatisation auf schmerzloseste Weise durchzumachen
und später die reichen Möglichkeiten des Landes in vollem Maße auszunutzen,
weit besser als ein erwachsener Neuling. War es aber möglich, mit Erfolg
Kinder schon in den Jahren zu emigrieren, in denen ihre Erziehung noch
erhebliche Ausgaben in der Heimat verursachte, so verwandelte sich das bisherige
Haupthindernis in der Emigrationsfrage Jugendlicher, der Kostenpunkt, in sein
Gegenteil, in einen Besürwortungsgrund. Die Aufbringung der nötigen Mittel
zur Ausführung ihrer Pläne bereitete daher beiden Frauen wenig Schwierigkeiten.
Miß Nye war die erste, die 1868 neunzig Kinder, Knaben und Mädchen
im Alter von acht bis vierzehn Jahren, zumeist aus einer Jndustrialschool**)
Lioerpols stammend, über das Wasser nach Kanada brachte. Für jedes Kind
erhielt sie von der Behörde 8 Pfund und außerdem 1 Pfund und 4 Shilling
als Kostenzuschuß von der kanadischen Negierung.
Im nächsten Jahre war auch Miß Macpherson so weit, daß sie eine
ähnliche Gesellschaft nach Kanada begleiten konnte. Als diese ersten Versuche sich
außerordentlich bewährten, wiederholten beide Frauen von nun an alljährlich
ein- bis zweimal die Überführung von Kindern aus englischen Waisenhäusern
und ähnlichen Anstalten nach Kanada.
Im Anschluß an diese erste geordnete, nicht sporadisch unternommene
Kinderauswanderung nahmen auch andere Vereine die Auswanderung in ihre
Jugendfürsorge auf, z. B. Mr. Middlemore in Birmingham, The Manchester
and Salford Refuges und sehr bald auch Dr. Barnardo, „der Vater der
Niemandkinder".
Die ersten Jahre brachten in der Tat eitel Erfolg. Alles war des Lobes
voll, besonders Miß Rue, die am meisten mit der Öffentlichkeit arbeitete, erntete
ungeteilten Beifall. Indes, in jeder neuen Unternehmung, die sich erst eine
feste Operationsbasis selbst schaffen muß, sind Irrtum und Mißgriffe unver¬
meidlich. Das Prinzip war von Anfang an gut. Das was sich als ungenügend
oder mangelhaft in der Organisation herausstellte, wurde verbessert oder
abgeändert und man kann sagen, im allgemeinen vollzieht sich auch heute die
englische Kinderauswanderung in der durch die ersten Vereine, besonders durch
Miß Macpherson (deren Organisation noch heute besteht, während die Irrungen
und Wirrungen bei Miß Rue so verhängnisvoll wurden, daß ihre Arbeit die
Werits und Strerns Society der Kirche übernehmen mußte) erprobten Weise:
englische Erziehungsanstalt und kanadisches Heim, das den jungen Auswanderern
gleicherweise zum Empfang, zur Vermittelung ihrer Unterkunft in einer Familie
und als Zufluchtsort im Falle von Erkrankung, Wechsel der Pflegestelle und
anderem dient.
Erst in den letzten Jahren sind neue Ideen über Kinderauswanderung
aufgetaucht und in der Praxis versucht worden. Vor allem war es Mrs. Close,
die mit großer Begeisterung neue Gesichtspunkte vertrat. Im Interesse Englands
und des individuellen Kindes vertritt sie die Ansicht, daß die bisherige Gepflogenheit,
nur gesunde, leistungsfähige, vorwiegend ältere Kinder zu emigrieren, einerseits
den Nachwuchs in der Heimat kümmerlicher als notwendig macht, anderseits
zarten, schwächlichen Kindern die Vorteile einer Jugend in dem kräftigenden
Klima Kanadas und dem naturgemäßen Leben auf einer kanadischen Farm
versagt. Hier ausgleichend zu wirken ist Mrs. Close bestrebt. Die Emigration
schwächlicher Kinder muß aber natürlich unter anderen Bedingungen statt¬
finden als die übliche. Für ihre Unterbringung will sie in geeigneten
Gegenden eine Reihe von „Farmschools" errichten, in denen die Kinder neben
dem gewöhnlichen Schulunterricht mit den Dingen vertraut gemacht werden, die
sie später im kanadischen Leben brauchen: landwirtschaftliche Kenntnisse für die
Knaben, hauswirtschaftliche für die Mädchen. Um diesen Farmschulen das Odium
der Anstaltserziehung zu nehmen, sollen in jeder Farmschule nur zwölf bis
fünfzehn Kinder aufgenommen werden. Das spätere Verbleiben im Lande bleibt
freier Wahl überlassen. Auf Wunsch dürfen die Kinder auf Kosten des Vereins
nach England zurückkehren und dort einen Beruf ergreifen.
Mrs. Close, als reiche und großzügige Philantropin, verstand es, ihre Ideen
in die Praxis zu übersetzen. Sie fand bei der kanadischen Negierung reges
Interesse für ihren Plan, und in Neuschottland wurde ihr eine Farm von zwei
tausend Acres, Nauwigewak in der Nähe von Se. John zu sehr günstigen
Bedingungen überlassen, um ihren „Anschauungsunterricht" zu geben, d. h. die
praktische Durchführbarkeit ihrer Ideen zu beweisen. Im Jahre 1908 wurden
fünfzehn dürftige elende Kinder, Knaben und Mädchen im Alter von sieben bis
zwölf Jahren, auf die Farm gebracht, die landwirtschaftlich von einem kana¬
dischen Inspektor, hauswirtschaftlich und erzieherisch von zwei englischen Damen
geleitet wird. Die Kinder sind gut gediehen und das Experiment kann durchaus
als geglückt gelten. Trotzdem macht die „Farmschool-Emigration-Association",
an deren Spitze Mrs. Close steht, keine Fortschritte. Das größte Hindernis
liegt wohl in dem Kostenpunkt. Die jährlichen Unkosten für ein Kind in der
Farmschule betragen 15 Pfund, sind also geringer als in einer englischen
Poorlawschool, wo mit einer jährlichen Ausgabe von 24 bis 32 Pfund pro
Kind gerechnet wird, aber erheblich größer als bei dem üblichen Auswanderungs»
verfahren, wo Aussteuer, Ausreise und Inspektion die einzigen Unkosten sind,
und eine einmalige Summe von 12 bis 15 Pfund das Kind für alle Zu¬
kunft versorgt.
Auch fehlen für die Übersendung der unter dem Armengesetz stehenden
Kinder, der sogenannten Poorlawkinder, auf die Mrs. Close in erster Linie rechnet,
die gesetzlichen Grundlagen. Die Armenbehörden sind wohl befugt, aus den
Armensteuern Mittel zu verwenden, die Kinder bei ihrer Entlassung im Leben
unterzubringen, nicht aber jährlich regelmäßige Erziehungsgelder außerhalb
Englands fließen zu lassen.
Mrs. Closes Gedanken sind in allerjüngster Zeit von Mr. Fairbridge,
einem Oxfmder Rhodes-Stipendiaten, für Australien aufgenommen worden. Auf
seine Anregung wurde eine neue „Ehild-Emigration-Society" gegründet. Diese
Oxforder Ideen unterscheiden sich nur sehr wenig von den Grundsätzen, die
Mrs. Close leiteten — eigentlich nur darin, daß ein Rückfluß nach England ganz
wegfällt und die Anstalten nicht in erster Linie für schwächliche Kleinkinder
bestimmt sein sollen. Sowohl Mrs. Close als auch Mr. Fairbridge wollen aber
Kolonien von Kinderfarmen") zu zwölf bis zwanzig Poorlawkinder ins Leben
rufen, deren Zöglinge erst in verdienstfähigem Alter auf die Farmer einheimischer
Besitzer kommen oder je nachdem auch einen anderen Beruf ergreifen können.
Mit neuen Ideen und größerer Intensität scheint neuerdings auch die
Heilsarmee die Kinderauswanderung betreiben zu wollen. Sie macht zu dem
Zweck großartige Propaganda in England, ohne aber über ihre Organisations¬
absichten näheren Aufschluß zu geben.
Die Aufmerksamkeit nichtphilantropischer Kreise nimmt die Organisation
einer Kolonialfarm in England und einer Lehrfarm in Kanada in Anspruch,
die nicht für arme Kinder, sondern für Zöglinge höherer Schulen gedacht sind.
Knaben, die sich zum Farmerleben hingezogen fühlen, können ihre Gefühle auf
einer englischen Farm in der Praxis kritisch prüfen, ehe sie den immerhin kühnen
Schritt nach Kanada machen. Haben sie die sechswöchentliche Probezeit in
England erfolgreich bestanden, so finden sie auf einer Farm im Westen Kanadas
bei Calaaru*) Gelegenheit, rationelle kanadische Landwirtschaft während der
guten Jahreszeit zu erlernen und während des Winters eine der vorzüglichen
landwirtschaftlichen Hochschulen Kanadas zu besuchen. Das Verfahren ist jeden¬
falls kostspieliger als das rein praktische Arbeiten als Farmgehilfe auf einer
beliebigen Farm, ob es viel besser ist, bleibt dahingestellt. Von Wert ist wohl
in erster Linie der Halt und die guten Ratschläge sachverständiger Leiter, die
für junge Leute im Anfange ihres kolonialen Farmerlebens nicht hoch genug
eingeschätzt werden können.
Für alle diese Vereine (mit Ausnahme der Oxforder Farmschool-Association)
kommt als Einwanderungsland nur Kanada in Betracht, wenn auch Barnardo
und einige andere Vereine, die nicht nur Kinder, sondern auch Jugendliche
emigrieren gelegentlich einige ihrer Schutzbefohlenen in Neuseeland, in Australien
oder Südafrika untergebracht haben. Neuerdings scheint es allerdings, als ob
Australien als Einwanderungsland mehr in den Vordergrund träte. Nicht nur,
daß dem Gründer der Oxforder Farmschool-Association, Fairbridge, ein 1000
Hektar großes Gut zu seinen Versuchen von der australischen Regierung über¬
lassen wurde, auch ein anderes Unternehmen für jugendliche Auswanderung, die
„Junior Imperial Migration"-Gesellschaft, an deren Spitze ein Mr. Sidgwick
steht, ist völlig unter australischer Protektion. Die Gesellschaft beabsichtigt junge
Burschen aus den großen Städten auf Farmer Neuseelands und Australiens
unterzubringen. Bis jetzt ist ein Trupp von fünfzig Burschen nach Neuseeland
zu demi ermäßigten Überfahrtspreis von je 200 Mark emigriert worden. Über
beide Unternehmungen kann hier nicht mehr als die Tatsache berichtet werden,
da wegen der Neuheit beider Organisationen Resultate noch nicht vorhanden sind.
Mit wachsendem Eifer bemühen sich immer mehr Vereine, das weib¬
liche Geschlecht zur Auswanderung zu ermutigen und darin zu unterstützen.
Ihre Auswanderer sind ja nicht alle jugendlichen Alters, doch bilden junge
Mädchen einen großen Prozentsatz ihrer Schutzbefohlenen, die sie in einem Heim
in London oder in Liverpool versammeln, über das Wasser geleiten, drüben
in einem kanadischen Heim empfangen und denen sie in zuverlässiger Weise zu Brot
und Beruf verhelfen. Die Aoung Womens Christian-Association und die Englisch
Womens-Emigration-Association sowie die South-African-Emigration-Association,
die sich ausschließlich Erleichterung und Vermehrung der weiblichen Auswanderung
angelegen sein lassen, sind, wenngleich auf ideeller Basis ruhend, keine
eigentlichen Wohltätigkeits-, sondern mehr Wohlfahrtsvereine, die weibliche Per¬
sonen jedes Alters, jedes Standes beraten, ihnen helfen und nur in besonderen
Fällen auch pekuniär unterstützen.
Nur den Angehörigen besserer Stände dienen die beiden kolonialwirtschaft¬
lichen Frauenschulen*) in England, die ihre Zöglinge mehr zu selbständiger
Arbeit in den Kolonien erziehen, doch auch oft mit Stellungen in fremden Fa¬
milien auf dem Lande und in der Stadt versorgen.
Für Emigration von Kindern des kleinen Mittelstandes hat eine Mrs.
Wallis in Toronto eine Organisation geschaffen, die vor allem bestrebt ist, den
Kindern von Gewerbetreibenden die Vorteile der Auswanderung nach Kanada
zu verschaffen.
Rein privater Natur ist das Unternehmen von Mrs. Sanford in Winnipeg;
sie erhält von kanadischen Familien, die weibliche Dienstmädchen wünschen, bare
Geldvorschüsse, mit denen sie alljährlich nach England reist. Dort engagiert sie
emigrationslustige Mädchen, bestreitet die Reisekosten und geleitet sie sicher über
das Wasser. Das Reisegeld wird den Mädchen allmählich vom Lohn, der
durchschnittlich 480 Mark pro Jahr beträgt, abgezogen. Von hundertachtzehn
Mädchen, die Mrs. Sanford in fünf Jahren nach Kanada brachte, haben nur
zwei in ihrer Entwicklung nicht befriedigt. Gewiß kein schlechter Erfolg.
Das ist so dort: Sonntags nach dem Hochamt besuchen sie ihre Toten auf
dem Friedhof. Wenigstens so lange tun sie eS, als der Schmerz noch frisch ist.
Man kann nicht sagen, daß sie allzu empfindsam seien. Bei den meisten heilen
die Wunden sehr rasch, die seelischen Wunden. Zuerst ist ja bei den lebhaften
Rheinhessen viel Weinen und Wehklagen, aber man hat auch schon erlebt, daß die
Töchter eines bereits lange Jahre hindurch kranken und nun dem Tode nahen
Vaters sich unter Kichern und lachender Lustigkeit die Trauerkleider gemacht haben,
und, als der Tod dann wirklich eingetreten war, Sturzbäche von gesenktem Leid
vergossen.
Aber, wie gesagt, besonders in den ersten Monaten nach dem Tode eines
Lieben gehen sie eifrig auf den Friedhof. Da blühen die Gräber in aller Pracht;
ja, sie sind stolz auf ihre Gräber. Man kann sagen: es wird ein wahrer Luxus
getrieben in Blumen und Kränzen, und an Allerheiligen-Allerseelen erreicht
er seinen Höhepunkt, bis dann der erste Frost alles knickt und schwarz und
welk macht.
Allein im September ist noch alles blühend, wenigstens auf dem neuen
Teil des Gottesackers. Auf den alten Gräbern, auf denen die verwitterten Kreuze
und Steine stehen, wuchert meist Gras, und Fliederbäume senken ihre Wurzeln
tief gradem.
Unter den neuen Gräbern ist da eines, das nicht blüht. staubig liegt der
Lehmhügel. Sonntags nach dem Hochamt steht auch niemand da, der betet. Auch
nachmittags nach dem Kaffeetrinken, wenn die Weiber vor der Rosenkranzandacht
oder danach ihren Spaziergang auf den Kirchhof machen, ist niemand am Grabe,
der mit sanften Worten von dem spricht, der da drunten ruht. Immer liegt das
Grab allein und verlassen. Höchstens daß die Vorübergehenden auf das Kreuz
deuten und hämisch dazu lachen.
Aber da ist nun der zweite Sonntag im September angebrochen, und .Karl
Salzer macht sich in der Frühe parat, um in die Sechsuhrmesse zu gehen. Er
steht vor der Waschschüssel, tunkt den Kamm in das Wasser, in dem er sich bereits
gewaschen hat und fährt damit durchs Haar, strahlt die nassen Haare alle nach vorn
und zieht dann übers linke Auge den Scheitel. Unkel Hannes nennt Karls
Scheitel ein feines Lauspfädchen. Wie der Bursche sich herumdreht, um aus dem
Schranke einen frischen Kragen zu holen, sieht er die Tante Male durch den
Hof gehen.
„G' Morje, Tante Male!" ruft er zum Fenster hinunter. „El, ich wollt Euch
nur mal fragen, ob ich heut schon vor der Kirch meinen Kaffee trinken könnt?"
„El jol" erwidert Male, „das kannst du; ich brüh ihn jetzert über. Hast
du was vor?"
Da legt der Junge die beiden Hände hohl um den Mund und ruft halblaut
hinunter:
„Tante Male, ich kann's jetzert net mehr aushalten, ich will mal auf den
Kirchhof gehen an meinem Vater sein GrabI"
„'s recht, lieber Bub, das tu du nurl" entgegnet Male Holtner erfreut, die
schon mehrmals dem Bruder Hannes gesagt hat, dasz er den Burschen doch einmal
auf den Kirchhof stäuben solle, wohingegen der Bruder Hannes stets erklärt hat,
dazu dürfe man den Karl nicht zwingen, das müsse von selber kommen.
Karl wartet immer, bis es „ausgeläutet" hat, und geht dann erst aus dem
Hause. So ist er sicher, auf dem Kirchwege ziemlich allein zu sein. Auch heilte
macht er es so.
In der Kirche stellt er sich unter die Stiege, die auf die Empore führt; da
ist er unbeachtet. Er klappt sein Gesangbuch auf und blättert sich zur ersten Me߬
andacht, das ist die, wie der Priester sie am Altare betet. Auf der linken Spalte
stehen die Gebete in lateinischer Sprache, aus der rechten in deutscher. Karl war
als Schüler Meßdiener gewesen. So weiß er alle Antworten des Ministranten
auswendig, und auch die Gebete des Priesters sind ihm geläufig, soweit sie laut
gesprochen werden. Wenn man das sieben Jahre täglich hört, lernt mein's auch
und hat dann immerdar seine Freude daran, die lateinische Messe anzubeten.
Er kann zwar das Lateinische nicht übersetzen, aber rechts die Gebete hat er auch
schon hundertmal gelesen, um zu wissen, was das Lateinische eigentlich heißt. Ein
Pfarrer kann diese lateinischen Gebete schon ziemlich rasch sprechen, aber er ist
ein Stümper gegen seine Ministranten, die ihre Antworten herunterrasseln, als
sei eine Raspelmaschine in Tätigkeit gesetzt. Darum schadet es auch gar nichts,
wenn Karl ein bißchen später in die Kirche kommt und der Pfarrer das Staffel¬
gebet bereits beendet hat. Karl Salzer, gewesener Meßdiener, holt ihn noch ein.
„Introilzo ani Altare Oel! /^et Osum, cui laetikicat juventutem meam!"
Aber heute geht es doch nicht so fließend wie sonst. Er muß beständig daran
denken, daß er nachher auf den Friedhof gehen, daß er da seines Vaters Grab
sehen wird. Wie das aussehen mag unter den anderen? Gewiß nicht schön I Ob
und kahl, die anderen dagegen blühend. Noch vor der Kirchweihe, die in acht
Tagen ist, wird er es mit Blumen bepflanzen. Tante Male wird ihm sicher einige
Geranimstöcke aus ihrem Garten geben.
Nach der Messe geht er zum Pariser Tor hinaus und die Rabenheimer
Chaussee hinauf. Den Haupteingang, der an der Kneisenheimer Straße liegt,
will er nicht benutzen; man soll ihn nicht sehen. An der Nordseite des Friedhofs
führt ein Weg vorbei- dort ist auch ein Tor. Mitunter steht es auf; man kann
einmal probieren. Ist es aber verschlossen, so kann man ja oben drüber klettern.
Karl findet das Tor wirklich verschlossen. Da schiebt er sein Gesangbuch in
die Rocktasche; recht zwängen muß er es, denn es ist klotzig und dick wie ein
Backstein. Dann drückt er den Hut fester in den Kopf und schaut sich noch einmal
scheu um, ob ihn auch keiner belauern könne. Aber in der Sonntagsfrühe sind
die Felder leer von Menschen, und Fuhrverkehr ist auf der Rabenheimer Chaussee
Sonntags auch nicht. So steigt er unbemerkt auf das Lattentor und schwingt
sich darüber — drunten steht er auf dem Kiesweg des Friedhofs, steht stille
und lauscht.
Es ist nichts zu hören, nnr sein eigen Herz klopft so laut, daß er den Mund
öffnen muß. Wohl hundertmal sagt er es sich vor, daß er kein Dieb sei, sondern
wie jeder das Recht habe, den Kirchhof zu besuchen, aber seine Beklemmung will
nicht weichen.
Auf den Fußspitzen schleicht er weiter, die Augen weit offen, der Gehörsinn
aufs äußerste gespannt, der Oberkörper nach vorn gereckt. Erst als er mehrere
Seitenwege gekreuzt hat, merkt er sich seinen Diebsgang an. Im stillen schilt er
sich einen Esel und sucht seine erregten Nerven zu einer Dämpfung zu zwingen.
Vor allem tritt er nun mit vollem Fuße auf. Aber schon gleich darauf erschrickt
er vor seinem eigenen Schritt. Zwar ist es hellichter Tag, die Vögel tirilieren,
und die liebe Sonne scheint.
Die Sonne! jubelt es da in ihm, und über die Bäume des Parkes hinweg,
über denen sie steht, schaut er zu ihr auf. Im September kann ein starkes Auge
schon in ihr Leuchten hineinsehen, so lange sie noch im Osten steht, und Karl schaut
ihr tief ins reine Antlitz. Das gibt ihm Mut. Das hat er nun schon vom Unkel
Hannes gelernt, Mut zu schöpfen und seelische Ruhe aus dem bloßen Anblick der
Sonne, die er als lebendiges Körperwesen fühlt.
Mit raschen fröhlichen Schritten geht er nun auf das Grab des Vaters zu,
das letzte in der Reihe. Wohl liegt es da ohne den Schmuck blühender Blumen,
aber Mutter Sonne streichelt es auch mit ihren goldenen Händen.
Und jetzt steht er davor, sieht zuerst hinunter auf den Staub des Hügels
und dann auf zum Kreuze. Kaum hat er den Blick darauf geheftet, als er zu¬
sammenfährt, wie von einem heftigen Schrecken erfaßt. Dann nähert er sich dem
Kreuze aus halbe Grabeslänge, bleibt stehen, beugt sich vor und starrt aus das
Schildchen, das die Aufschrift trägt. So steht er eine Weile ganz wortlos und
starrt und starrt.
Aber dann reckt er die geballten Fäuste zum Himmel auf, schüttelt sie
und schreit:
„Ein Dunnerkeil vom Himmel soll den verschmeißen, der sich an dem Grab
vergriffen halt"
Das Echo hallt verworren tief drunten im Park, und gleich darauf von dem
Wege her, der hinter dem Schloßgarten her nach Zockheim führt, ein wieherndes
Gelächter. Ein paar Bauernburschen stehen da und haben gesehen, was an dem
Grabe da oben vorgeht. Sie wissen auch den Grund zu Karls Fluch.
Der aber steht und starrt in tiefstem Schmerze wieder auf das Kreuz.
Auf das war geschrieben gewesen:
Hier ruht in Gott
Franz Salzer.
Und nun sind die Worte „in Gott" hinweggekratzt.
Karl tritt ganz heran und betrachtet das Schild genau. Da sieht er, daß
die Ölfarbbändelchen, die an der beschädigten Stelle herunterhängen, noch ganz
feucht sind. Er bückt sich, ob er auf dem Boden auch noch von dem Schabsel
fände, doch es ist nichts zu sehen. Der Wind scheint es verweht zu haben. Da
zupft er die Farbbändel von dem Kreuze ab, legt sie auf die flache linke Hand
und zerreibt sie mit dem Zeigefinger der rechten. Kein Zweifel! sie sind noch
feucht und färben die Haut. Karl kann sich das nicht erklären. Sonst ist das
Kreuz ganz trocken und färbt nicht mehr. Er schüttelt den Kopf.
Doch auf einmal kommt ihm die Erleuchtung wie ein Blitz. Das „in Gott"
war schon einmal abgeschabt gewesen und ist jedenfalls im Auftrag des Unkels
Hannes wieder erneuert worden. Und demnach ist es schon zum zweitenmal
ausgekratzt. Da wacht das Weh, von dem seine Sinne durch die Aufmerksamkeit
der Untersuchung etwas abgelenkt war, mit doppelter Schärfe aus. Er hängt die
Arme über das Querholz des Kreuzes und sinkt schlaff zusammen. Das Kreuz
ächzt und neigt sich zur Seite.
Tante Seelchen hat ihm das so schön gesagt von der vollkommenen Reue,
die nach seinem katholischen Glauben der Mensch erwecken muß, um aus tiefster
Sünde heraus wieder ein Sohn Gottes zu werden. Und an der Hoffnung, daß
sein Vater sie erweckt und dadurch seine Seele vor der ewigen Qual gerettet
haben könnte, hat er sich aus seinem Leid aufgerichtet, und sie allein hat ihn das
ertragen lassen, daß man seinem Vater alle Ehren des Grabes verweigerte, die
man sonst jedem gibt, wenn er auch nur aus äußerer Gewohnheit seine religiösen
Pflichten erfüllt hatte. Und nun waren die Bauern so boshaft, ihrer Meinung,
daß der Selbstmörder in tiefster Hölle brenne, in so roher und die Hinterbliebenen
so verletzender Weise zum Ausdruck zu bringen. Daß sie die Worte „in Gott"
entfernten, ist für Karl soviel, als hätten sie auch gleich hingeschrieben: Hier ruht
im Teufel. Als ob im Teufel, der die ewige Unruhe und Qual selbst ist, eine
Seele ruhen könnte I Doch daran dachten sie nicht, sie wollten eben nur nicht
leiden, daß ein Selbstmörder in Gott ruhe. Warum haben sie dann nicht gleich
die ganze Überschrift hinweggefegt? Karl meint, daß es ihn dann weniger geschmerzt
hätte. Die Entfernung des Namens Gottes auf dem .Kreuze ist ihm das Schmerzliche.
Zugleich mit seinem Schmerze steigt in ihm der Zweifel auf, ob der Vater
denn wirklich auch die wenigen Lebensaugenblicke, die ihm geblieben waren, zur
Erweckung einer vollkommenen Neue benutzt habe.
Diese Frage quält ihn nun fast noch mehr als die Schändung des Kreuzes an sich.
Um dieselbe Zeit sagt Male Holtner zu Hause bei ihren Brüdern:
„Was ist's doch so gut, daß ich das drauß auf dem Kirchhof gesehen hab
und daß ich's diese Woch gleich hab machen lassen. Heut morgen hat er schon vor
der Frühmeß gesagt, daß er naus aus den Kirchhof gingel" ^
„Möcht wissen," fragt Haares Holtner, „wer da so boshaft war und seinen
Zorn an dem Kreuz hat auslassen müssen?!"
„Bscht, höche, sei MI" wirft der Vinzenz dazwischen, „aweil seh ich ihn zum
Tor reinkommen I"
Sie stehen vom Kaffeetische auf, und Hannes Holtner geht hinaus in den Hof.
Sofort fällt ihm das verstörte Wesen des Burschen auf, aber er denkt, daß
ihn der Besuch des Friedhofs und des Grabes seines Vaters so erregt habe. Erst
als der Junge ihm keinen Guten Morgen wünscht, was er selbst damals nach
dem Tadel über die Schönheitsaugen nicht unterlassen hat, wird Hannes Holtner
stutzig. Er schaut seinen Schützling noch einmal scharf an; dann ruft er ihm zu^:
„Karl, geh mal da her!"
Der tut daS und sieht mit dem Ausdruck unsäglicher Qual in den Augen zu
seinem alten Freunde auf.
„Na, sag mal, lieber Bub, was ist dir denn in aller Herrgottsfrüh schon
über die Leber geloffen, weil du ein Gesicht machst wie das Leiden Christi?"
„Unkel Hannes, die miserablen Menschen denn das Kreuz von meinem Vater
verschändet!"
Nun steht Hannes Holtner starr da und weiß nicht, was er antworten soll.
Hat der Junge herausgefunden, daß die Stelle bei den Worten „in Gott" frisch
überstrichen ist? Dann wäre es vielleicht am gescheitesten gewesen, das ganze
Schildchen neu schreiben zu lassen. Verflixte bäuerische Knickerigkeit!
„Was denn die?" fragt er, um etwas zu reden.
„'s Kreuz von meinem Vater verschändet! .in Go<t° denn sie sauber aus¬
gekratzt. Und, Unkel Hannes, sagt mir's mal grad heraus: Gell, 's war schon
mal ausgeschabt und Ihr habt's wieder machen lassen?"
Die Stallmagd kommt mit einem Korb voll Dickrüben aus dem Keller und
sieht erstaunt auf den erregten Ackersburschen. Hannes Holtner bemerkt den Blick
und sagt zu Karl:
„Karl, faß dich ein bißjen; ein Weibsbild braucht nicht zu sehen, wenn ein
Mannskerl mal von etwas angepackt worden ist. Komm, wir wollen mal zu¬
sammen in die Slud gehen!"
Er packt den Burschen beim Genick und schiebt ihn ins Haus. Gerne hätte
er ihn an der Hand genommen, aber das sieht Hannes Holtner, dem Hüner, allzu
zärtlich aus. In der Stube drückt er ihn in den altväterischen Lehnsessel und
sagt mit ruhiger Stimme zu ihm:
So, jetzert wollen wir mal ruhig mitnander reden. Faß dich ein bißjen,
mein lieber Bub, sag ich dir noch mal; man kennt dich ja sonst gar nicht mehr.
Du bist doch schon ein ganz anderer Kerl worden, seitdem du bei uns bist!"
„Seit ich bei Euch bin, Unkel Hannes, bloß bei Euch!" unterbricht Karl
den Sprechenden, dem er seine Liebe beweisen will.
„Na, meinetwegen, seit du bei mir bist. Und du wirst doch jetzert net alles
übern Haufen schmeißen wollen?!"
„Nein, das will ich net! Aber seht Ihr, Unkel Hannes, das war mein ein¬
ziger Trost gewesen, daß mein Vater in den paar Minuten, die er noch gelebt
hat, sein Vergehen gegen unsern Herrgott und gegen seine Gesetze bereut haben
könnte, und daß er deswegen net ganz verloren gangen wär. Und jetzert kratzen
die mir das .In Gott' weg. Warum nur? Warum? Warum?"
Hannes Holtner aber sagt mit der unerschütterlichen Ruhe des Alters:
„Ja, jetzert sag mal, du Hitzeblitz, brauchst du dir deswegen deinen Glauben,
daß dein Vater alles bereut haben könnte, nehmen zu lassen, bloß weil so ein
paar Menschochsen, und dazu noch recht ordinäre, sich an deinem Vater seinem
Kreuz vergriffen haben?"
Karl Salzer schweigt still, weil er einsieht, daß der Unkel Hannes wieder
einmal recht hat.
„Du hast mir schon verzählt, daß dir nix mehr dran liegen tat, wie dein
Vater begraben worden ist, weil das alles nur äußerliche Form wär, die an der
Sach, daß dein Vater für die Ewigkeit doch gerettet sein könnt, nix ändern tat.
Wenn du ein klein bisjen selber tätst weiterdenken, müßtst du auch von selber
draufkommen, daß es auch nix ausmachen tat, wenn dein Vater überhaupt kein
Kreuz hätt, wenn er nebig der Kirchhofsmauer eingescharrt worden wär wie vor
fünfzehn, zwanzig Jahr der fremde Soldat, der sich in unsrer Gemarkung von
der Mainzer Eisenbahn hat totfahren lassen, an den niemand mehr denkt. Ist's
so, oder ist's net so?"
Karl gibt keine Antwort und sinnt vor sich hin, sinnt und sinnt, fährt nach
einer Weile auf und redet ganz gemessen und betont:
„Unkel Hannes, jetzert horcht mal, was ich mir aweil so zusammen¬
gedenkt hab!"
„Wenn einer vor seinem Tod alles so gemacht hat, wie's in den Kirchen¬
geboten steht, wenn er grad vor seinem letzten Schnappert noch ein paar Sünden
gebeichtet und's Nachtmahl kriegt hat, dann muß ihn der Pfarrer kirchlich begraben.
Unkel Hannes, denkt an den pensionierten Gendarm aus der Schratzengaß da
orauß! Der hat, so lang ihn eins gekannt, seiner Lebtag auf die Pfarrer
geschimpft, was es das Zeug gehalten hat, ist jahrzehntelang net zum Nachtmahl
gangen, noch net mal auf Ostern, wo man doch gehen muß, hat net an unsern
Herrgott geglaubt und hat immer gespottet auf ihn. Wie ihm sein letzt Stündchen
geschlagen hat, bestürmt ihn seine Frau: Adam, laß dir den Pfarrer rufen, Adam
laß dir den Pfarrer rufen! Er läßt ihn rufen! der Pfarrer kommt, bleibt eine
Stund lang draußen bei ihm, holt das Nachtmahl und das Heilig Ol, und alles
ist gut. Am selbigen Tag stirbt er noch, und drei Tag drauf tut ihn der Pfarrer
begraben, als wär er seiner Lebtag der beste Christ von der ganz Gemein gewesen.
Mein Vater hat seiner Lebtag seine religiösen Pflichten erfüllt und ist alle Ostern
zum Nachtmahl gangen, und grad in dem letzten halben Jahr läßt er sich durch
den stinkiger Jud zu hohen Spekulationen verleiten. Die Sach geht fehl, und
er schießt sich tot. Gelebt hat er noch, vielleicht noch eine Viertelstund lang.
Alles kann er bereut haben. Aber man weiß es nicht. Der Pfarrer hätt's hören
müssen, dann wär er auch kirchlich beerdigt worden. Und weil ich glaub, daß er
bereut hat, liegt mir auch nichts an dem äußerlichen Formelkram. Aber jetzert
horcht mal, Unkel Hannes, und das ist es, Unkel Hannes, was ich mir ausgedenkt
hab: wenn uns der Pfarrer in der Schul gelehrt hat, daß eine vollkommene
Neue im Augenblicke des Todes genügt, um einem vor der ewigen Verdammnis
zu bewahren, dann muß er doch in meinem Fall so viel für die Ehre von meinem
toten Vater tun und von der Kanzel herunter den Bauern sagen, daß mein Vater
vor seinem Tod, der net gleich eingetreten ist, eine vollkommene Reue erweckt
haben könnt, daß er demnach net in der Höll wär, und daß derntwegen die Bauern
auch kein Recht hätten, an dem Kreuz das ,Jn Gott' auszukratzen. Und er muß
ihnen sagen, lieber Unkel Hannes, wenn sie's doch wieder täten, wär's grad so
gut, als hätten sie keinen Glauben an unserm Herrgott seine Barmherzigkeit!"
Er schweigt und sieht den Hannes Holtner fragend und erwartend an.
Der schaut nachdenklich vor sich hin und nickt ein paarmal mit dem Grau¬
kopf, reckt sich gerade aus zu seiner Hünengröße, zieht auch den Karl Salzer aus
dein Sessel und sagt zu ihm:
„So, mein lieber Bub, jetzert bist du kein Menschochs mehr, und heut Mittag
gehst du nauf zum Pfarrer, wenn die Mittagskirch aus ist, und sagst ihm das
mit der vollkommenen Reue genau so, wie du mir's gesagt hast. Und nachher
wirst du sehen, was er macht. Denn das hast du dir so gut ausgeheckt, daß er
net dran vorbei kannt Entweder — oder!"
Der Bursche ist wieder gefaßt. Daß er auf diesen Gedanken gekommen ist,
gibt ihm das Gefühl der Männlichkeit. Er kann nun auch mit der Tante Male
und dem Unkel Vinzenz über den Fall ganz ruhig reden. Die Tante Male macht
ihm einen Vorwurf daraus, daß er nicht schon lange einmal auf den Friedhof
gegangen ist. Sie habe ja selbst das Grab schon einmal mit Blumenstöcken ver¬
sehen wollen, aber dann habe sie sich über Karls Gleichgültigkeit so geärgert, daß
sie es doch gelassen und gedacht hätte, wenn der sich nicht darum bekümmert, was
gehts mich an!
„Dem Bub war die Sach net gleichgültig!" knurrt Hannes Holtner dazwischen.
„Der ist aus einem ganz anderen Grund net hinaus. Aber so was begreift ein
Weibsbild net; je länger das Haar, um so kürzer der Verstand!"
Dann aber kann Karl Salzer es nicht erwarten, bis es nachmittags fünf Uhr
ist. Denn erst um diese Zeit kann man den Pfarrer sprechen. Von Zwei bis
Drei ist er in der Nachmittagsandacht, die aber sein Kaplan vorbeten muß, obwohl
der eigentlich von seinen Filialgängen viel müder ist als der Pfarrer.
Von Drei bis Vier trinkt er Kaffee und ruht sich ein bißchen aus.
Von Vier bis Fünf leiht er den Kindern Bücher aus. Bücher bekommen nur
die, die ihren Katechismus geläufig kennen. Und in den Büchern stehen geschrieben
die Legenden der Märtyrer und Heiligen, Konvertitengeschichten und Erzählungen
aus der Zeit der englischen Katholikenverfolgung.
Um die Langeweile zu vertreiben, macht der Bursche sich alles mögliche zu
schaffen. Er holt den Staubbesen mit dem langen Stiel aus dem Kellerhaus und
kehrt am hellen Sonntag alle Spinnweben aus dem Pferdestall. Dabei fällt
Staub auf die Gäule, und er muß sie frisch bürsten und striegeln.
Zwischendurch denkt er auch einmal daran, daß er heute nicht nach Pfedders-
heim zu Tante Seelchen gehen kann. Was die sich wohl nicht alles einbilden wird
über den Grund seines Ausbleibens? Ihm selbst kommt gar kein Leid darüber
auf, daß er heute auf den ihm lieb gewordenen Gang verzichten muß, so sehr
lobt in ihm die Begeisterung über die Mission, die er beim Pfarrer zu erfüllen
hat. Denn wenn einmal der Unkel Hannes, der doch ans der Universität gewesen
ist. sagt, die Sache sei so außerordentlich fein ausgedacht, daß selbst der Pfarrer
nicht daran vorbei käme, so muß es doch auch schon etwas Besonderes sein. Er
freut sich kindlich darüber, daß er auf den guten Gedanken gekommen ist, der den
Bauern am nächsten Sonntag von der Kanzel herunter einen Rüssel eintragen wird.
Vom nächsten Sonntag ab wird er auch nicht mehr in die Frühmesse gehen,
sondern ins Hochamt. Mitten unter seine alten Kameraden wird er sich setzen.
Zweimal hat er nun auch schon die Christenlehre versäumt, die die schulentlassene
Jugend bis zum zwanzigsten Jahre besuchen muß. Da wird ihm der Pfarrer
heute gleich einen Abputzer geben.
Kaum hat die alte große Standuhr, die vom Fußboden bis an die niedere
Decke reicht, ihre fünf Schläge getan, als Karl sich auf den Weg macht.
(Fortsetzung folgt)
or mir liegen zwei Werke: ein kleines und ein großes. Sie
scheinen nichts weiter miteinander zu tun zu haben, als daß der
Zufall sie gleichzeitig auf meinen Schreibtisch gelegt hat; das
erste heißt: „Entlegene Spuren Goethes"*), das andere: „Die
Technik im zwanzigsten Jahrhundert"**).
Zwei Zeitalter: das eine, für uns Deutsche wenigstens, ausdrückbar in
allen seinen geistigen Zügen und Empfindungen durch den Namen eines einzigen
Mannes, das andere nur verständlich, wenn man es erfaßt in seinen alles
Einzelne und Persönliche verschlingenden Massenerscheinungen.
Goethes Zeit, eine Zeit des frohen Nebeneinanders von Natur und Mensch.
Die Natur war dem Menschen nicht mehr das geheimnisvolle Wesen, bald Freund
und bald Feind, als das der Aberglaube von Jahrtausenden sie angesehen hatte,
aber auch noch nicht der unentbehrliche Diener, den zu bändigen und in seinem
Dienst festzuhalten, die nervenzerrüttende Aufgabe der Gegenwart scheint.
In das große, bunte Gewebe, in dem wir Menschen der Gegenwart allem
und jedem seinen unverrückbaren Platz zugewiesen haben, haben wir uns selbst
mitverwebt. Wir konnten nicht anders, denn wir haben die Weltkraft als solche
nicht bezwungen, nur an einzelne ihrer Erscheinungsformen haben wir uns
geklammert, wie ein kleines Tier, das sich von den Flügeln des Adlers mit in
die Lüfte nehmen läßt.
Unsere vermeintlichen Schöpfungen strahlen uns einen eigenen Geist ent¬
gegen, der tief in unser äußeres und inneres Leben eingegriffen hat. Wir sind
andere Menschen geworden. Die Nutzung der Natur in Maschinen und Apparaten
hat uns selbst in unserer Gesamtheit etwas von einer Maschine gegeben, in
einem ganz anderen Umfange, als es jemals vorher der Fall gewesen ist.
Eine weit zwingendere Bedeutung haben für uns Zeit und Ort, als
sie es für einen Menschen der Goethescher Zeit hatten. Tausend Dienste tut
uns die in unsere Wege geleitete Natur, aber sie tut sie nicht freiwillig; sie
will dazu angehalten sein; wie ein wohlgeregeltes Uhrwerk müssen wir uns
daher selber abrollen bei Tage und bei Nacht. Nicht mehr wacht hier und da
nur ein einzelner über der verschlafenen Stadt; für tausend Menschen ist die
Nacht zum Tage geworden, unzählige Arme regen sich in ihr. Die Maschinen
in den elektrischen Stationen singen, die Pumpen in den Wasserwerken stampfen,
es rollen die Züge an den Kammern vorbei, in denen wir schlafen, einteilt
senden die Telegraphen ihre Nachrichten unaufhörlich um den Erdball. Alle
diese Dinge, sie dienen uns, aber sie fordern auch unsere Dienste in Massen
und unerbittlicher Pünktlichkeit.
Das überspannte Herrengefühl des neunzehnten Jahrhunderts, das sich an
der mechanischen Meisterung der Naturkräfte fast zum Größenwahnstnn gesteigert
hatte, bricht in uns zusammen! Der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts,
so groß er war, sein letztes Ziel war unerfüllbar und daher falsch. Hinter
keine der Grundfragen der Schöpfung sind wir gedrungen. Die Geheimnisse
des Lebens und des Schaffens liegen in den gleichen blauen Fernen, wie nur
jemals zuvor.
Damit kommt mit Riesenmacht der lange beiseite geschobene Gedanke
zurück: Natur und Mensch, keiner des anderen Herr, zwei Unterkräfte einer
und derselben Überkraft, in tausend Beziehungen zueinander gestellt, jeder kleiner
und größer als der andere. Wir besinnen uns wieder darauf, was des
Menschen wesentlichste Merkmale sind, wir finden sie nicht mehr darin, daß sich
auch in unserem Denken die Naturgesetze spiegeln, daß wir daher diesem Denken
folgend dem Geschehen in der Natur notwendigerweise nachgehen und es nützen
können; wir fangen an, unsere Größe wieder in den Dingen zu suchen, die den
Menschen von der äußeren Natur unterscheiden. Sittliche Ziele erzwingen
wieder ihren Weg neben den mechanisch-geistigen.
Es ist an dieser Stelle, daß wir uns mit der Naturanschauung der Goethescher
Zeit die Hand reichen. Von dieser Stellung aus können wir uns der äußeren
Errungenschaften freuen, die uns das Eindringen in die Wege der Natur
gebracht hat, können wir aber auch die körperlichen und seelischen Wirkungen
werten, die unsere enge Verbindung mit den Naturkräften herbeigeführt hat.
Dichter bemächtigen sich der Massenprobleme unserer Zeit, wie sie aus
diesen Abhängigkeiten entstehen, Philosophen versuchen einzudringen in die
geistigen Geheimnisse der Naturkräfte, die unser eigenes geistiges Leben rück¬
wirkend zu beeinflussen vermochten. Eine Psychologie der Maschinenarbeit, des
Maschinenmenschen wächst heran.
Was unzusammenhängend erscheinen könnte: Goethes Zeit und die Technik
des zwanzigsten Jahrhunderts, so gesehen findet es seinen Zusammenhang. In
diesem Licht liegen die beiden Bücher vor mir, wie Saat und Ernte, wie
Ausblick und Erfüllung.
Treues Vertiefen in des Dichters Wege hat mühsam ein kleines Bändchen
füllen können mit dem, was in Goethes Tun Anfänge darstellt, die aus der
theoretischen Beschäftigung mit den Naturwissenschaften zur praktischen Meisterung
derselben führten. In das Jlmenauer Bergwerk ruft uns das Buch, in das
stille Weimar, zu bautechnischen und industriellen Versuchen aller Art, zu frohen
Erwartungen und manchen Enttäuschungen, zum ersten Aufhorchen auf den
beginnenden Siegeslauf der Maschine, zu erwartungsvollen Beschäftigungen
mit den großen Problemen der Gasverwertung, der Elektrizität und zum ersten
Ahnen, daß die Eroberung der Luft keine unerfüllbare Sehnsucht des Menschen¬
geschlechtes bleiben werde.
In dem anderen Buch, der Technik im zwanzigsten Jahrhundert, zieht in
erstaunenerregender Fülle, den ganzen Erdball umspannend, die Summe des
Erreichten an uns vorüber, trotz knappester Darstellung den Umfang dreier Bände
fast sprengend.
Der erste Band schildert die Gewinnung der Rohmaterialien, nachdem ein
kurzer Grundriß der technisch-geschichtlichen Entwicklung die großen Richtlinien
angedeutet hat, auf denen der Fortschritt in der Nutzung der Naturkräfte vor
sich gegangen ist. Wir sehen, wie die Menschheit sich der in Jahrmillionen in
Gestalt von Torf und Kohlen aufgespeicherten Sonnenwärme plötzlich bemächtigt
hat, um sich von der schwersten körperlichen Arbeit zu befreien. In wenigen
Menschenaltern rauchen unsere Schornsteine die Schätze von unabsehbaren Zeit-
räumen zum Himmel; zu immer tieferen Lagerstätten des schwarzen Diamanten
müssen mir hinabsteigen, immer schwieriger und künstlicher werden die Verfahren
zur Abbohrung der Schächte, zur Haltung der Grubenwasser, zum Schutz von
Leben und Gesundheit der Grubenarbeiter. In einer nicht allzufernen Zukunft
droht die Erschöpfung der Vorräte. Auf dreihundert Jahre höchstens schätzt
man noch die Förderungsdauer der englischen Kohlengruben, auf etwa das
Dreifache die der deutschen. Wir sind also England in Hinsicht auf den
Kohlenvorrat überlegen; der englische Vorsprung beruht hinwiederum auf
der Güte seiner Kohlen und auf der Lage der Gruben in Meeresnähe.
Sind die europäischen Kohlenvorräte erschöpft, so rücken ungeheure Lagerstätten
im chinesischen Reich in den Vordergrund; man hat mit Recht noch vor wenigen
Jahrzehnten Betrachtungen darüber anstellen können, ob nicht deshalb in einem
Jahrtausend China das Zentrum der Weltindustrie sein werde. Der menschliche
Erfindungsgeist ist aber allen Befürchtungen vorausgeeilt; der schwarze Diamant
wird entthront werden, ehe er erschöpft ist. Seit wir mittels der Elektrizität
die Kräfte von jedem Gewinnungsort an beliebige Stellen leiten können, seitdem
wir in ihr auch das Mittel zur Verwandlung von Kraft in Wärme haben,
können wir uns frei machen von der Bindung an die Kohle; einen Ersatz geben
uns die Wasserkräfte, die von den Bergen zu Tal drängen, und die Kräfte, die
in Flut und Ebbe an unseren Küsten branden.
Viel bedenklicher steht es um die Vorräte an Eisenerz. Zwar haben wir
auch darin allein in Europa mit Sicherheit noch einen Spielraum von hundert
bis zweihundert Jahren und in anderen Teilen der Welt noch mehr; aber es
sind sowohl an sich die Vorräte nicht mit denen an Kohlen vergleichbar, noch
sehen wir schon klar den Weg, den wir nach Erschöpfung der Eisenerze zu gehen
haben. Immerhin eröffnen sich auch hier Ausblicke, die eine eigentliche Be¬
fürchtung nicht aufkommen lassen; es braucht z. B. nur daran erinnert zu
werden, wie die Verwendung des Zements berufen ist, das Eisen in vielen
seiner bisherigen Anwendungen zu ersetzen; es kommt auch in Betracht, daß
eines Tages der Ausbau der Eisenbahnen im wesentlichen seinen Abschluß
gefunden haben wird.
Noch mehr bedroht als der Vorrat an Eisen und noch schwerer ersetzbar
ist der an Holz. Hier wird es der ganzen Energie der Menschheit bedürfen,
einen genügenden Bestand zu erhalten; aber auch hier wird schon jetzt daran
gearbeitet, das Holz in vielen seiner Verwendungsgebiete dnrch andere Stoffe
zu ersetzen.
Neben das Holz treten als wichtigste Rohstoffe der Erdoberfläche die
Faserstoffe, Baumwolle voran. Seit dreitausend Jahren ist ihre Verarbeitung
der Menschheit bekannt, nach Europa ist sie erst vor wenigen Menschenaltern
gedrungen, hat sich aber so unentbehrlich gemacht, daß wir Europäer ihretwegen
in Tributpflichtigkeit zu Amerika geraten sind, das zwei Drittel aller Baumwolle
erzeugt. Deutschland zahlt 400 Millionen Mark jährlich für Baumwolle an
die Vereinigten Staaten. Diese Verhältnisse werfen ein Licht darauf, wie
wichtig die Entwicklung der Banmwollkultur in unseren eigenen Kolonien ist.
In ein ähnliches Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Erdteilen ist Europa
in bezug auf Wolle getreten.
Der zweite Band des Werkes führt durch die Verarbeitung der Rohstoffe;
wir sehen, wie alle die tausend Dinge entstehen, die uns als Selbstverständlich¬
keiten erscheinen, ohne die wir uns kaum noch ein Leben vorstellen können.
Mit Staunen versenkt man sich in die ungeheure Geistesleistung, die hier der
Menschheit praktisch dienstbar gemacht worden ist, sieht man die Fülle von
Werkstätten, Werkzeugen und Maschinen vor sich, die, vor allem in den Industrie¬
ländern Europas, wie in ungeheuren Arsenälen aufgestapelt ist, um die Natur¬
kräfte in unseren Dienst zu zwingen; zugleich drängt sich die Erkenntnis auf,
wie unlöslich die Verbindung geworden ist, die die Menschheit der Gegenwart
mit der Welt der Maschinen eingegangen ist. Die oben erwähnte Abhängigkeit
Europas von den Rohstoffen anderer Erdteile erscheint dagegen bei der Lektüre
dieses zweiten Bandes nicht mehr wie ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis,
fondern es zeigt sich, daß Arbeitsteilung zwischen den Völkern und Erdteilen die
Gegenwart beherrscht, die Zukunft noch ausschließlicher beherrschen wird.
Der dritte Band endlich stellt die Gewinnung des technischen Kraftbedarfs
und der elektrischen Energie dar. Ohne die eingefangenen, gebundenen und in
unsere Wege geleiteten mechanischen Kräfte würde so gut wie nichts von dem
entstanden sein, was die Technik des zwanzigsten Jahrhunderts als ihre und
des neunzehnten Jahrhunderts Leistungen rühmen kann. Kaum ein größerer
Tag in der Geschichte der Menschheit als der, an dem die Dampfmaschine
stöhnend ihr erstes Werk tat!
Wer sich durch die drei Bände der „Technik im zwanzigsten Jahrhundert",
durch den gedrängten klaren Text, durch die Bilder und Pläne hindurchgearbeitet
hat, wird erfüllt sein von Stolz ob des Erreichten. Wenn er aber ein nach¬
denklicher Mensch ist, dann greift er darauf gerne zu „Goethes entlegenen
Spuren" oder zu den Werken des Meisters selbst, sein Stolz wird geringer
werden, sein reineres Menschentum aber wird das Haupt erheben. Über allem
Erreichten steht vor dem strebenden Menschen hoheitsvoll, wie zu allen Zeiten,
das Geheimnis des Lebens, das Woher, das Wohin, das WarumI Als klein
und unwesentlich sinkt so manches zurück, was wir in eifriger Kleinarbeit den
Geheimnissen der Natur abgelauscht haben; über den Geheimnissen steht unent-
thront das Geheimnis!
Dem Fach¬
manne Vertrauen schenken ist gut, soweit eS
sich um rein technische Angelegenheiten handelt.
Man darf aber ihm gegenüber das eigene
Urteil nicht ausschalten, zumal wenn eine so
sehr jeden einzelnen berührende Frage zur
Erörterung steht wie das Schreiben. Nichts
anderes aber als ein vervollkommnetes, ver¬
edeltes Schreiben ist das Stenographieren.
Bei den Verhandlungen über die Brauchbar¬
keit oder gar Notwendigkeit der Kurzschrift
wäre es daher nicht wohlgetan, den Berufs¬
stenographen allein zu hören. Als solcher
hat Herr Conradi in Ur. 40 dieser Blätter
sich gegen den Gedanken einer Vereinheit¬
lichung der Kurzschrift mit Lebhaftigkeit und
Entschiedenheit gewendet, Ich möchte dagegen
für diejenigen hier das Wort ergreifen, die
in der Stenographie schon in ihrer jetzigen
Gestalt und Anwendungsmöglichkeit eine treue,
brauchbare Dienerin erkannt haben, die weite
Verbreitung, die sie gefunden hat, für eine
erfreuliche und bedeutsame Erscheinung der
Zeit halte» und der Meinung sind, daß sie
noch viel mehr Segen stiften würde, wenn
sie in einer einheitlichen, modernen, prak¬
tischen Gestalt sich der Unterstützung aller
Regierungen, besonders der Preußischen, er¬
freute.
Es ist schwer vorstellbar, daß die rund
dreihunderttausend Personen, die auf deutschem
Sprachgebiet jedes Jahr die Kurzschrift er¬
lernen, in der Mehrzahl durch die von den
stenographischen Vereinen durch Flugblätter,
Vorträge und andere Werbemittel betriebene
Reklame dazu eingefangen sein sollten. Gewiß
treibt die Werbetrommel viele, darunter
sicherlich manche ungeeignete und unberufene,
in die stenographischen Kurse, aber entschei¬
dend ist doch die Überzeugung, daß auf den
vielen Lebensgebieten, in denen das Schreiben
eine wichtige Rolle spielt, die Kurzschrift Zeit
und Mühe spart. Von wie vielen Behörden
und Geschäften wird nicht die Beherrschung
der Kurzschrift zur Anstellungsbedingung ge¬
macht I Sie ist aus vielen Verwaltungen
und Schreibstuben schon jetzt einfach nicht
mehr hinwegzudenken. Und die Anforderungen,
die von ihr an Hand und Verstand gestellt
werden, sind keineswegs so groß, daß sie nur
in seltenen Fällen erfüllt werden könnten.
Mögen auch viele im Kurzschrift - Unterricht
nicht durchhalten, andere zahlreiche das Er¬
lernte liegen lassen (das ist bei allen Lehr¬
fächern so I), es bleiben immer doch noch sehr,
sehr viele, die stenographische Schrift mit
einer Schnelligkeit von hundertfünfzig Silben
in der Minute und weit höher hinauf
zu schreiben und das Geschriebene so
schnell und sicher wiederzulesen vermögen
wie die Langschrift. Freilich darf man
nur mit dieser Vergleiche anstellen, nicht
mit der mechanisch hergestellten Druck- oder
Maschinenschrift, die an Übersichtlichkeit die
mit der Hand hergestellte immer über¬
treffen wird. Ihre eigentliche Pflege wird die
Kurzschrift vorzugsweise in den im wesentlichen
schreibenden Berufen finden. Aber auch in
den akademischen Kreisen, die der Schrift, dem
Handwerkszeuge des Geistes, vielleicht über¬
haupt nicht immer die wünschenswerte Auf¬
merksamkeit und Sorgfalt widmen, gibt es
doch nicht wenige Verehrer der geflügelten
Feder, selbst in den höheren Semestern, die
doch auf die schwierigen älteren Systeme an¬
gewiesen, aber mit ihnen trotzdem sehr zu¬
frieden waren, wenn sie sich in der lern¬
frohen Jugend fleißig durch sie hindurch- und
in sie eingearbeitet hatten. Dem jetzigen
Geschlecht wird es leichter gemacht, ohne
daß duch die Leistungen deswegen ge¬
ringer geworden wären, wie jedes Wett¬
schreiben größerer'stenographischer Verbände
lehrt. Da gibt eS Dilettanten, die dreihundert
Silben und mehr schreiben.
So ist trotz der sinnreichen Anpassung
des Phonographen an die Bedürfnisse des
heutigen Geschäftszimmers die Stenographie,
ohne Übertreibung gesprochen, auf einem
Siegeszuge begriffen, und die Parlamente
wie die Reichsregieruug verdienen Dank,
nicht Spott, wenn sie sich bemühen, ihr das
zu geben, was ihr leider noch fehlt, die Ein¬
heitlichkeit. Es ist gewiß verdrießlich, daß eS
nicht eine deutsche Stenographie, sondern eine
Anzahl von Stenographien gibt, daß ins¬
besondere auch in dieser Hinsicht der Gegen¬
satz zwischen Süd- und Norddeutschland stark
ausgeprägt ist. Gelänge es, daß die Vertreter
der verschiedenen Systeme sich auf einer mitt¬
leren Linie einigten und sich so auf dem
ganzen Gebiete wiederholte, was auf einem
Teilgebiete vor fünfzehn Jahren gelungen ist,
daß dann die einzelnen deutschen Regierungen,
Preußen voran, der Kurzschrift in dieser Ge¬
stalt Eingang in die höheren Schulen ver¬
schafften, was durchaus nicht in der Form
eines Zwangsunterrichts zu geschehen brauchte,
so würden wir nicht nur dem Wunsche von
vielen Tausenden entgegenkommen, sondern
auch unser Schriftwesen ein tüchtiges Stück
weiter bringen und damit ganz gewiß einen
Kulturfortschritt machen. Die inneren wie
äußeren Schwierigkeiten des Unternehmens
sollen dabei durchaus nicht unterschätzt wer¬
den; aber daß, wenn es glücken sollte, nach
einem Menschenalter man sich sehr Wundern
wird, wie man überhaupt das Bedürfnis nach
einer solchen Kurzschrift je hat anzweifeln
können, das ist allerdings meine feste Über¬
zeugung.
Der
zustimmende Aufsatz Dr. Eduard Havensteins
zum Extemporaleerlaß des Kultusministers
(Ur. 3 der Grenzboten, Jahrg. 1912) hat post
Kstum im 37. Heft der Blätter für höheres
Schulwesen eine Erwiderung erfahren, die in
ihrer persönlichen Form entschieden verunglückt
ist. Ich will aber nicht weiter die Partei
Havensteins ergreifen, denn auch ich kann
seine überschwenglichen Hoffnungen nicht teilen.
Ich möchte hier — ohne den Kunze auf¬
zuschlagen — einige Worte der Entgegnung
vorbringen, damit die Frage in den Grenz¬
boten nicht einseitig beleuchtet wird.
Herr Dr. Havenstein legte bei dem Ex¬
temporale den Ton auf das Examen und
behauptete, die Auffassung von der Schule
als von einer Prüfungsanstalt sei eine grund¬
verkehrte. Ich halte sie für die richtige. Wir
brauchen eine strenge Prüfende Kontrolle, um
ständig über Fleiß, Auffassungsgabe und Fort¬
schritte jedes Schülers genau Bescheid zu
wissen, jenen tadeln oder ernähren, diesen
loben zu können. Nur dann ist es uns mög¬
lich, die Förderung an den richtigen Stellen
einsetzen zu lassen und den Rhythmus des
Unterrichts der Fassungskraft der Klasse an¬
zupassen. In der Praxis werden solche Examina
täglich angestellt, auch von solchen Lehrern,
die in der Schule nicht eine Prüfungsanstalt
sehen können. Jeder fragt am Anfang der
Stunde das Pensum ab, das er um Tage
vorher zum häuslichen Studium den Schülern
aufgegeben hat. Und wenn er Neues, Un¬
bekanntes entwickelt hat, stellt er Fragen, um
den Grad des Verständnisses festzustellen. Ist
das alles keine Prüfung? Ja, es gibt sogar
gewissenhafte Lehrer, die sich die Resultate
solcher „Examina" in jeder Stunde notieren,
um darauf ihr Gesamturteil aufzubauen.
Ein wertvolles schriftliches Examen, das
uns in vielen Dingen Auskunft und Anregung
gab, war das alte Extemporale. Hier kam
außerdem ein Moment hinzu, das uns der
Erlaß gerade genommen hat: die Vorberei¬
tung. Der Schüler wußte, an dem bestimmten
Tage wird Extemporale geschrieben, und war
dadurch gezwungen, sich in die Lektüre oder
Grammatik zu verliefen oder wenigstens seine
Gedanken auf den Gegenstand im voraus zu
konzentrieren. Diese Vorbereitung nennt Herr
Havenstein unsinnig. Glaubt er denn, daß
durch den Erlaß Plötzlich alle Schüler in den
Stand gesetzt werden, den Stoff schneller zu
beherrschen? Wir dürfen uns doch nichts vor¬
machen. Die Schüler bleiben so, wie sie waren
und können erst ganz allmählich in reiferen
Alter zu Selbständigkeit und Unabhängigkeit
erzogen werden. Mittlerweile haben wir ja
mit den neuen Bestimmungen Fühlung ge¬
nommen und können schon einiges über ihre
Wirkung aussagen. Da wird mancher die
Erfahrung gemacht haben, daß, seitdem die
vorbereitende Konzentration wegfällt, die Ar¬
beiten weit unüberlegter geraten. Das drückt
sich schon in der Schrift aus, die deutlich
liederlicher geworden ist. Die Anforderungen
mußten natürlich bescheidener werden, da bei
mangelnder EinPrägung des Stoffes unmög¬
lich die gleichen Leistungen von den Schülern
verlangt werden können. Auch für die be¬
urteilende Kontrolle haben die Arbeiten jetzt
weniger Wert, da die geistigen Kräfte des
Schülers nicht mehr in derselben Weise an¬
gestrengt werden wie früher.
Auch jüngere Lehrer werden meiner An¬
sicht sein. Denn es handelt sich bei dieser
Frage gar nicht um den Streit der Alten und
der Jungen, der „Isuäatorss temporis acti"
und der „Anhänger des modernen Geistes",
sondern um die Frage! dürfen wir noch länger
mit sogenannten „Reformen" an der Schule
hernmexperimentieren, um den Schülern mög¬
lichst bequeme Wege zu finden? Soll die
Schule zu Selbstzucht und geistiger Arbeit
erziehen oder soll sie die Söhne wohlhabender
Eltern möglichst mühelos zum alleinselig¬
machenden Abiturium führen?
Denn daß der Ertemporaleerlnß tatsächlich
eine Erleichterung für die Schüler bedeutet,
beweist gerade die große Schar der Gründe,
mit denen der Minister das Gegenteil be¬
hauptet. Auch kann man klar aus ihnen
herauslesen, daß das neue Verfahren den¬
jenigen Schülern zugute kommen soll, die in
der Furcht vor dem Extemporale im voraus
nervös wurden und dann im entscheidenden
Augenblick versagten. Der Minister gibt also
seine Rücksichtnahme aus „schwachnervige und
minderwertige"Kinder zu und Herr Dr. Haven-
stein auch.
Durch solche Erlasse, die mittels der Presse
in die breiteste Öffentlichkeit getragen werden,
wird das Publikum in der Meinung bestärkt,
die Schule habe die Pflicht, auch den Schwachen
und Schwächsten sich anzupassen, und jeder
Junge, dessen Eltern es sich leisten können,
müsse unbedingt die ganze Schule durchlaufen.
Dieser gefährliche Irrtum, der durch rücksichts¬
volle „Reformen" immer mehr gekräftigt wird,
füllt unsere höheren Schulen ost mit wert¬
losen Material. Die Folge davon ist eine
stetig wachsende Gleichgültigkeit und Gering¬
schätzung gegenüber der Schule. Die Schüler
werden schließlich in ihrem Besuch nur noch
eine Formalität sehen, um zu sozial geachteten
Stellungen zu gelangen. Die Schule hat
aber nicht die Aufgabe, ein geistiges Mcm-
darinentum zu schaffen, sondern befähigte
Naturen zu geistiger Selbstdisziplin und
methodischer Arbeit zu erziehen. Deshalb
muß nachdrücklich und kräftig darauf hin¬
gewiesen werden, daß nicht alle Jungen auf
die höhere Schule gehören; deshalb müssen
die Ansprüche erhöht, deshalb muß die Kon¬
trolle verschärft werden. Dann werden wir
auch wieder eine Jugend zur Heranbildung
bekommen, die sich für den Unterricht wirklich
begeistern kann, in dem sie die Stärkung
ihrer geistigen Kräfte fühlt, und der das
Wissen nicht gewaltsam in das widerwillige
Hirn gestopft werden muß.
In Neuen¬
burg (NeuchÄtel), in dem lieblichen Städtchen
an dem blaugrauen See, am buchenbewach¬
senen Jura, der jetzt in goldener Herbsteslnhe
glüht, hat der Bund im neukonstruierten, trans¬
portablen Ausstellungsgebäude die XI. Natio¬
nale Kunstausstellung eröffnet. Nun können
die Schweizerstädte der Reihe nach mit der
heimischen Kunst, ihrer Entwicklung, ihrem
Stand und ihren Gipfeln in ästhetisch, wie
nuSstellungstechnisch einwandfreien Rahmen
bekannt gemacht werden. Der Bau der Pa¬
riser Gesellschaft für „Lcmstruetion ciemon-
tsble et ki^ier.iczuö" hat 120000 Franken
gekostet; er bedeckt eine Gesamtfläche von
1K00 Quadratmetern, bietet eine Brüstung von
700 Metern Gesamtlänge. Die Auf- und
Abmontierung ist überaus einfach und die
Dimensionen und Verteilungen richten sich
mit größter Leichtigkeit nach den jeweiligen
Terrainverhältnissen. Die Wände sind aus
Zement, mit Rupfen bespannt und mit Öl¬
farbe dick bestrichen. Die Konstruktion ruht
auf zerlegbaren, eisernen Röhren, die un-
unterbrochene Fensterreihe, die das obere
Viertel der Außenwand einnimmt und an die
Bedachung aus Wellblech stößt, ist nicht gläsern,
sondern aus dem unzerbrechlichen und un-
verorennbaren Sicoid, einem Zelluloidprodukt,
Nicht die Halle allein, auch der Geist
dieser Ausstellung ist neu. Er ist gekenn¬
zeichnet von der unerschrockenen Empirie und
Versuchsfreudigkeit, die dem eidgenössischen Ge¬
meinwesen so Wohl ansteht. Es liegt darin
ein herzerhebendes Selbst- und Gottvertrauen.
Seit dem 16. September ist die Aus¬
stellung eröffnet und jetzt noch, wie belagert.
Der Place du Port, wo die Halle steht, ist
ein Marktplatz. Ringsherum Karussels, Schie߬
buden, Panorama, Menagerie mit Kind und
Kegel, mit grün, gelb, blau schreiend ge¬
tünchten Wagen und der bekannten Dar¬
stellungsbarbarei der Jahrmarksbuden: die
zusammengewachsenen Schwestern, der In¬
dianer, blutige Familiendramen u. a. in.
Mitten in dieser wüsten Unechtheit, verlogenen
Gottverlassenheit die schlichte Halle, in ihrer
edlen Zweckmäßigkeit, mit der Front einer
herbstschimmernden Ahornallee zugewendet.
Eintrittsgeld — 60 Centimes, nicht mehr als
zur Jungfrau ohne Unterleib, und Bauern,
Viehhändler, Weinbergbesitzer, Gewerbler,
Arbeiter, Kinder, Buben, Mädchen, Intel¬
lektuelle, mit einem Wort, alles, was auf den
Beinen ist und müßig, steht vor den zwei¬
undzwanzig Bildern Max Buris, dem Löwen
der Ausstellung, vor Hodler, Amiet, Welti,
Hermanjat und den anderen Schöpfern schwei¬
zerischer Kunst. Die tüchtigen Vertreter reihen
sich um sie, es folgen die kühnen Sucher, die
der Zukunft angehören, die braven, erfreu¬
lichen Maler, deren Bilder „jeder Wohnung
zur Zierde gereichen", schließlich recht zahl¬
reich die ganze Mannschaft (und Weibschaft)
des mehr oder weniger Unbedeutenden.
diesen Versuch stolz sein und der Versuch als
durchaus gelungen bezeichnet werden. Ge¬
lungen nicht allein, weil Bilder im Werte
von 160000 Franken verkauft wurden —
NeucMel zählt 22000 Einwohnerl —, nicht
bloß, weil künstlerischer Genuß, Bekanntschaft
und Befreundung mit der nationalen Kunst
einer bisher unerreichten Breite der Bevölke¬
rung zugeflossen, sondern hauptsächlich, weil
erst die Wanderhalle, die bald hier, bald dort
in kleinen Provinzstädten die gesamte Gegen¬
wartsleistung der nationalen Künstlerschaft
vereinigt, die Kunst zu einem Lebenswert der
gesamten Nation machen wird. Die Leute
wogen durch die Säle und sind zumeist bei
den Größten entrüstet. Vor Hodlers Porträts
hört man Ausrufe: „e'ost iZnobls", vor
AmietS „Obsternte" lachen junge Leute laut,
und vor einiger Zeit stach einer mit dem
Messer in ein Hodlerbild. Dergleichen ist
natürlich schmerzlich im ersten Augenblick.
Aber was beweist das schließlich? Daß die
Wirkung gewaltig war. Der Messerheld, der
auf das Hodlerbild losging, ist für die Kunst
lange nicht so verloren, wie manches Dämchen
cmsBerlin>V.,das mitKennermiene dieLorgnette
vor van Gogh aufsetzt. Denn Hodler zu er¬
leben, heißt eine Unterwerfung erdulden, eine
Geistesgewalt über sich Herr werden lassen.
Wer bleibt da gutwillig? Gegen Unterjochung
wehrt sich jeder Aufrechte — der eine mit
dem Messer, der andere mit dem Wort —,
auch Petrus griff einst zum Schwerte. Nein,
auf den Messer-Löst") setze ich große Hoff¬
nung, er wird nicht der erste Saulus sein,
aus dem ein Paulus geworden. Und ge¬
fallen die Mittelmäßigen dein lauten, erregten
und nichtkaufenden Teil des Publikums am
besten, so bedenken wir, daß der Schritt von
den zusammengewachsenen Frauen und dem
grünbemalten Skalpjägcr zur Abend-, oder
Morgen- oder Herbst- oder Frühlingsland¬
schaft des — aber wozu einen Namen nennen?
wir kennen ja den Begriff — des Kunst¬
malers X. U. Z. bedeutend schwieriger ist, als
von diesem zu Hodler. Unmerklich vollziehen
sich die größten Wandlungen: drin in der
Halle empört man sich über Hodler, lacht
Amiet aus, steht gerührt vor X. U. Z. Doch
hfpf ggn i Barbarei der
Straße hineinzustellen. Der Bund darf auf
der Abfall von der Biophon-, Bioskop-, Bio-
gram- usw. Malerei ist vollzogen. Mich dünkt,
der Messer °Löst wird noch ein Hodler-
Schwärn?er, oder gar ein Maler.
Neben diesen Gesichtspunkten erscheint
einem die eigentliche Beurteilung der Aus¬
stellung fast nebensächlich. Die großen, be¬
kannten Schweizer haben kaun? etwas Neues
zu bieten gehabt. Nur bei Max Buri und
bei Abraham Hermcmjat erscheint die Fülle
ihrer Entfaltung in einer bisher unbekannten
Pracht. Buri hat in seinem Dorfklatsch,
Besuch bei den Großeltern, Brienzersce eine
Helligkeit der ihn? so geläufigen blauen Töne,
eine Schärfe des Konturs mit der Vermei¬
dung jeder Härte, ja mit einer Süßigkeit und
heuduftenden Zartheit der Atmosphäre vereinen
können, die seiner Entwicklung den Sommer
gebracht. Seine Eigenart steht heute rein
und vollendet auf dem Boden seiner Heimat,
gleich unabhängig vom farbenunfähigen Genre,
wie vom unstofflichen, französischen Impressio¬
nismus. Sein Saal mit den zweiundzwanzig
Bildern übersonnt von einer Glücksempfin¬
dung, der sich jede soziale Schicht ohne
Widerspruch und freudig ergibt. Das Glück
hat uns alle in seiner Gewalt und Buri
scheint seine Farben erfunden zu haben. Man
kann es nicht anders bezeichnen: ungebrochenes
Kinderglück strahlt Buri aus. Eine Art Über¬
raschung bedeutet der Faucheur von Hermcmjat.
Man erwartete seit langem viel von diesen?
Künstler. Nun scheint sein Most auf einmal
alle bisherige Trübe der Gärung auf den
Boden geschlagen zu haben. Auch er mußte
sich von den Franzosen einerseits, von Hodler
anderseits losarbeiten, bevor es ihm gelungen,
er selbst zu werden. Sein Faucheur ist samt
der Wiese ein Duft, ein Blick durch zarte
Nebel hindurch, der ein Gewühl von schmet¬
ternden Farben in die feine Mattigkeit einer
flimmernden,perlmuttgrauen Sonnenstrahlung
hineingetrunken hat, das ferne, gebändigte
Getön ahnen läßt und dem schweren, wiegenden
Ausholen des Masters, den? Fallen der
Garben die gegenwärtige Zeitlichkeit der Vision
gibt. Alles so zart, so dampfend, daß man
beklommen nach der Tür sieht, es könnte ein
Luftzug das ganze Gesicht von bannen wehen.
Es bliebe noch vieles zu sagen übrig.
Doch der Raum verbietet es; so seien bloß
einige Namen genannt, Namen, die hierzu¬
lande mit Recht einen guten Klang führen
und an die sich das reichSdeutsche Ohr doch
sehr bald wird gewöhnen müssen: Auber-
jonois, Blanchet, Breßler, Donzö, Gilliard,
Paul-Theophile Robert, Stiefel, Torcapel
und Valled.
So oft noch ein
Handbuch über die Kunst des neunzehnten
Jahrhunderts erschien — und das war in
dein letzten Jahrzehnt häufig genug der Fall
— wurde eS aus Gründen der Unzuläng¬
lichkeit und Unzuverlässigkeit von der be¬
rufenen Kritik abgelehnt, und jedesmal wurde
dabei der Wunsch nach einer wirklich brauchbaren
Darstellung laut, die dem wißbegierigen Laien
unbedenklich in die Hände gegeben werden
könnte. Karl Scheffler, der angesehene Kunst¬
schriftsteller und Herausgeber von „Kunst und
Künstler", hat diese Not offenbar ebenfalls
einPfunden, als er eS unternahm, dasselbe
Thema zu behandeln, diesmal in der Gestalt
eines umfänglichen und reich illustrierten,
historisch-kritischen Führers durch die Na-
tionalgalerie.^) Das Buch ist kürzlich im Ver¬
lage von Bruno Cassirer erschiene?? und ver¬
dient nicht allein des Problems wegen Be¬
achtung, sondern vornehmlich auch deshalb,
weil viele Wohl gerade diesem Autor eine
vollauf befriedigende Lösung zugetraut haben
mögen.
Wir erhalten zunächst einen historischen
Überblick über die Sammlung von 1861 bis
1911, wobei eingehend, wenn auch etwas
einseitig, die Bedeutung Tschudis und die
Richtlinien seines Programms erörtert werden.
Darauf lernen wir in kurzen Abschnitten das
Gebäude selbst, seine Entstehung und seine
sämtlichen Mängel, sowie das Sammelgebiet
kennen, den? es gewidmet ist. Dann geht
der Verfasser zu??? Hauptthema seiner Arbeit,
der deutschen Malerei des neunzehnten Jahr¬
hunderts, über.
Er nimmt hier von vornherein zwei ent¬
gegengesetzte Strömungen an, deren eine er
als die „nationale Jdealmalerei", die andere
— etwas sehr umständlich — als die „in
lokaler Begrenzung sich entwickelnde Wirk¬
lichkeitskunst" bezeichnet. Die erstere scheidet
er in zwei Gruppen: die Nazarener mit ihren
Nachfolgern und die Deutsch - Römer (Böcklin,
Feuerbach, MarLes, Klinger, Thoma). Bei
den Nazarenern werden wiederum von der
eigentlichen Geschichts- und Legendenmalerei
(einschließlich Schwind und Richter, dann
Kaulbach, Piloty, Makart, Gebhardt u. a.)
die Bildnis- und Landschaftsmaler (Wasman,
Janßen, Robben, Koch, Preller, Schirmer u. a.)
abgesondert. Ist hier die Gruppierung noch
vorwiegend historisch durchgeführt, so wird bei
dem Abschnitt über die realistisch-impressio¬
nistische Richtung der topographische Gesichts¬
punkt vorangestellt.
An erster Stelle finden die Berliner „Wirk¬
lichkeitsmaler", vor allen Schadow, Krüger,
Blechen und Menzel eine sachliche und aus¬
führliche Würdigung, dann werden nachein¬
ander die Düsseldorfer Akademiker (Hasen¬
clever, Kraus, Vautier, Ueberhand u. a.), die
Vertreter des Münchener „Atelierstils" (Kobell,
Spitzweg, Lier, Defregger u. a.), die Wiener
(Waldmüller, Pettenkofer, v. Alt), die Dres¬
dener (Friedrich, Dahl, Rayski), die Frank¬
furter (Hausmann, Burnitz, Schmitson) und
die Weimarer Schule (Preller, Buchholz), je
nach ihrer Bedeutung an sich und für die
Nationalgalerie im besonderen kürzer oder
eingehender behandelt.
Ein weiteres Kapitel ist W. Leiht und dem
„süddeutschen Malerkreis" (d. h. Trübner,
Schund, spert, Thoma, Diez, Habermann,
Zügel, Schönleber, Lenbach u. a.) gewidmet,
dem im nächsten Abschnitt M. Liebermann
und der „norddeutsche Malerkreis" (d. h.
Abbe, Kuehl, Dettmann, Skarbina, Leistikow
u. a.) gegenübergestellt werden.
Darauf wendet sich der Verfasser den
„fremden Vorbildern" zu, deren malerische
Eigenart er knapp charakterisiert, wobei er
besonders für die Bedeutung der von Tschudi
unter so manchen Kämpfen erworbenen Fran¬
zosen mit großem Eifer eintritt.
Endlich wird eine Übersicht über die Plastik
des neunzehnten Jahrhunderts unter Hervor¬
hebung der bedeutendsten vertretenen Künstler
(Schadow, Rauch, Begas, Hildevrcmd, Gaul,
Robim, Meunier, Maillot) versucht und mit
berechtigtem Nachdruck auf die mannigfachen
Mängel und Lücken dieser Abteilung hin¬
gewiesen. In einem Schlußwort skizziert
Scheffler dann noch die Zukunft der Na¬
tionalgalerie und ihre Aufgaben, wie er sie
sich vorstellt.
Der Hauptvorzug dieses Buches ist in den
ausführlicheren Betrachtungen zu suchen, die
einzelne dem Verfasser besonders sympathische
Künstlerpersönlichkeiten (Feuerbach, Marsch,
Schund, Leiht, Trübner, Liebermann) gefunden
haben; er gibt in diesen Fällen eine gute
Charakteristik ihrer Eigenart und erfreut durch
eine liebevolle Schilderung ihres Schaffens.
Bei denjenigen hingegen, die seinem subjek¬
tiven Empfinden ferner stehen (Schwind,
Richter, Böcklin, Thoma u. a.), erscheint er
befangen und seine Urteile sind vielfach un¬
gerecht. Man gewinnt hier überhaupt den
Eindruck, daß er schon bei der Einteilung,
des Materials sehr eigensinnig vorgegangen
ist; es fehlt völlig die bei derartigen
Handbüchern unumgängliche Objektivität,,
der Abstand von Epochen, Personen und
Werken.
Schondie gewaltsame Scheidung in „Jdeal¬
malerei" und „Wirklichkeitskunst" muß als
ein grundsätzlicher Fehlgriff erscheinen, denn
er nötigt den Verfasser, jeden zu behandeln¬
den Künstler hier oder da einzuordnen, als
ob für das neunzehnte Jahrhundert eine
doppelte Kunstgeschichtsschreibung Vonnöten sei
und als ob nicht in so und so vielen Füllen
ein Ausgleich zwischen beiden Richtungen
stattgefunden hätte. Viele wesentliche Zu¬
sammenhange werden durch dieses System
zerstört und oft bleiben enge Beziehungen
unerwähnt. Dazu kommt der in der Auf¬
gabestellung liegende Übelstand, daß die
in der Nationalgalerie nicht vertretenen
Maler überhaupt nicht genannt werden; es
hätte sich Wohl empfohlen, die bedeutenderen
unter ihnen (wie Stuck und viele andere
Münchener), wenigstens rin dem Namen an
geeigneter Stelle einzufügen, wodurch dann
auch die Lücken und Mängel der Knnst-
sammlung klarer zum Ausdruck gebracht
worden wären.
Was die fremden Vorbilder angeht, so
Wird man Scheffler beipflichten, wenn er
unier ihnen die meisten Nichtfranzosen als
überflüssig bezeichnet; sie sind in der Tat
nichts weniger als „vorbildlich". Aber er
hätte weiter gehen und auch einigen Erwer¬
bungen französischer Herkunft die höhere
Qualität absprechen sollen. Der Degas war
gewiß keine glänzende Erwerbung, und Bilder
wie der Kastanienbaum von Renoir, oder die
von Fantin, Latour, Ccizin, Vuillard, Boldini
hätte man sicherlich entbehren können. Das
Programm sollte hinsichtlich der Fremden
lauten: die schmerzlichsten Lücken, wie Dela-
croix, Corot, van Gogh, Gauguin baldigst
mit hervorragenden Meisterwerken füllen und
dafür alles Leibliche und Mäßige rücksichtslos
entfernen. Hier ist mindestens ebensoviel zu
reinigen wie zu ergänzen. Die Hauptauf¬
gabe der Galerie wird aber immer darin
bestehen müssen, die deutsche Kunst des neun¬
zehnten Jahrhunderts in möglichster Voll¬
ständigkeit zu zeigen, und was da für Unter¬
lassungssünden — gerade auch von Tschudi
— begangen find, wird jeder ermessen, der
das Gebiet einigermaßen überschaut und der
ihm ohne jede Voreingenommenheit gegen¬
übersteht. Die kühlen Wendungen, mit denen
in aller Nebensächlichkeit Leute wie Thoma
erledigt werden, geben deutlich genug zu
verstehen, von welcher Tonart die tendenziöse
Note dieses Buches sei.
Hier wie in manchen anderen Fällen ver¬
rät sich der Verfasser als einen allzu willigen
Schüler Meier-Grases, dem gegenüber man
ihm wirklich mehr Selbständigkeit zugetraut
hätte. Hoffentlich findet er sie bei weiterer
Vertiefung in diesen ihm so naheliegenden
Gegenstand. Die Bekehrung von der im¬
pressionistischen Tendenzmethode zur sach¬
lichen Kunstschreivung ist Wohl auch für ihn
nur eine Frage der Zeit.
Noch einige Äußerlichkeiten. Die Sprache,
in der Scheffler diesmal schreibt, wimmelt
von Schlagworten aus dem Redaktions- und
Atelierjargon, die man bei dieser Gelegenheit
lieber vermißt hätte. stilistische Entglei¬
sungen, wie sie mehrfach vorkommen, stehen
einem Buche, das offenbar vornehm gehalten
sein will, schlecht an; triviale Ausdrücke, wie
„Charme", mag man überhaupt nicht, We¬
nigstens aber nicht immerfort in der Pein¬
lichen Schreibung „Chara" lesen, und be¬
leidigende Druckfehler, wie „Triumphircit",
müßten Verfasser und Setzer untereinander
mit den Waffen austragen.
Druck und Ausstattung des Buches sind
im übrigen ausgezeichnet; die etwa auf¬
tauchende Besorgnis, der Adler auf Titel und
Umschlag könnte naive Gemüter bewegen, den
Schefflerschen Ausführungen halbamtliche Be¬
deutung zuzumessen, erweist sich Wohl selbst
bei oberflächlicher Einsichtnahme als völlig
unbegründet.
Mag man immerhin die guten Seiten
dieses Buches erwägen, zum Schluß bleibt
einem doch wieder nur die nun bald legenda¬
rische Preisfrage: Wann findet sich endlich
jemand, der sine irs et stuäio die Geschichte
der deutschen Kunst des neunzehnten Jahr¬
Hand und Gehirn. Unter dieser Spitz¬
marke schreibt die Deutsche Tageszeitung in
ihrer Ur. SS4 vom 31. Oktober d. I.: „In dem
neuesten Hefte der Grenzboten beschäftigt
sich der Herausgeber wieder einmal mit
dem neuen Mittelstande, den er als das Ge¬
hirn des Volkskörpers bezeichnet, während er
die Produzenten, also Landwirtschaft, Gewerbe
und Industrie, mit den Händen vergleicht.
Bekanntlich hinkt jeder Vergleich. Das Hinken
dieses Vergleichs ist aber außergewöhnlich stark.
Im menschlichen Körper Pflegt das Gehirn
die Hände zu lenken. Daß der neue Mittel¬
stand einen ähnlichen Einfluß auf die schaffen¬
den Stände ausübte, kann doch ernstlich selbst
von dem begeistertsten Freunde dieses neuen
Mittelstandes nicht behauptet werden."
Sehen wir zu, wer recht hat.
Der neue Mittelstand setzt sich zusammen aus
allen den „An geht eilten", die nicht einer täg¬
lichen Kündigung unterworfen werden können,
die also nicht „Arbeiter" sind, nämlich aus:
Werkmeistern, Handlungsgehilfen, Zeichnern,
Technikern, Ingenieuren, Privaten und öffent¬
lichen Beamten, Lehrern, Offizieren, Gelehrten,
Pastoren, Redakteuren, Direktoren usw. In
den neuen Mittelstand gehören somit alle
diejenigen, die ihre Kopfarbeit nicht in
eigenen Betrieben verwerten, sondern diese
an den Staat, an die Kommunen und an
Private gegen vereinbarten, bestimmten Lohn
verdingen. Mitglieder des neuen Mittel¬
standes sind somit die Konstrukteure und Er¬
finder aller technischen Fortschritte, die seit
dreißig Jahren gemacht worden sind; selten
befindet sich unter diesen ein Unternehmer.
Mitglieder des neuen Mittelstandes sind die
Präsidenten, Direktoren, Betriebsleiter aller
der Verkehrsmittel, die wir in ihrem heutigen
Zustande bewundern — etwa von Post, Tele¬
graph, Telephon, Eisenbahn, Schiffahrt usw.
Mitglieder des neuen Mittelstandes sind die
Chemiker, die dem industriellen Unternehmer
immer neue Verwendungsmöglichkeiten für
die Kohle, die dem Landwirt den Gebrauch
des Kali und sonstigen künstlichen Düngers
gezeigt haben. Mitglieder des neuen Mittel¬
standes sind die meisten kühnen Seefahrer
und Forscher, die während der letzten dreißig
Jahre mit dem Gelde der Hamburger Reeber
oder Berliner Bankiers den deutschen Handel
über die Meere führten, die in China Eisen¬
bahnen, in Brasilien elektrische Kraftstationen
anlegten. Mitglieder des neuen Mittelstandes
sind auch alle die Angestellten der Wirtschasts-
verbände, mögen sie nun Syndizi, Sekretäre
oder Redakteure heißen, die für hohe Zölle,
hohe Preise und für niedrige Löhne und
gegen soziale Lasten kämpfen, damit die
Hände des Volkskörpers, eben die Unternehmer
aller Grade sich rühren können. Auch der
Redakteur der Deutschen Tageszeitung, der
die am Anfang zitierte Notiz schrieb, ist ein
Mitglied des neuen Mittelstandes und somit
ein Partikelchen Gehirn von unserem Volks¬
körper — ein geistiger Führer für die land¬
Die Türkei liegt am Boden, ihre Armee befindet sich in einem Zustande,
der der Vernichtung fast gleichkommt. Sie wird gewiß noch Schlachten
schlagen, wenn es gelingt die asiatischen halbwilden Stämme noch recht¬
zeitig zum Schlagen zu bringen, sie wird Konstantinopel verteidigen, aber
ihren Ruf könnte sie nur wiederherstellen durch die Säuberung türkischen
Bodens vom Feinde aus eigener Kraft. Soviel aus den Berichten der
Tagespresse zu entnehmen ist, kann damit kaum noch gerechnet werden. Die
türkischen Truppen liefen auseinander; sie sind höchstens noch hinter dem schützenden
Wall einer Festung zusammenzubringen. Der einzelne Soldat war nicht etwa
feige, aber die Truppe als ganzes war es, weil sie nicht geführt wurde. Die
einzelnen Truppenteile wirkten nicht zusammen, sie fügten sich nicht zu dem
stolzen Begriff Armee. Schon die zahlreichen Meldungen über Fortnahme
von türkischen Geschützen ließen vermuten, daß die drei Hauptwaffen nicht
zusammenarbeiteten; jede von ihnen kämpfte für sich, keine Kameradschaft ver¬
band die Führer.
Trotz dieser Tatsachen ist es heute unmöglich ein abschließendes Urteil
abzugeben. Das Kriegsglück ist launisch und geht gern mit demjenigen, der
den längsten Atem hat. Solange die Bulgaren nicht Konstantinopel erobert,
solange Ferdinand, Zar von Bulgarien, nicht das Kreuz auf der Hagia Sofia
wieder errichtet, solange können noch Ereignisse eintreten, deren Möglichkeit
wir vielleicht erraten aber nicht bestimmt voraussagen können. Der ganze
Balkankrieg ist aber eine viel zu ernste, in ihren Folgeerscheinungen noch völlig
unübersehbare Katastrophe, als das es ratsam erscheint, heute die Zukunft vor¬
auszusagen. Nur das folgende steht fest: die Türken sind bisher an allen
Stellen geschlagen, die Bulgaren haben sich als ein Heldenvolk gezeigt, das
glänzend geführt wurde; doch noch sind die türkischen Hilfsquellen nicht erschöpft;
sonnt ist auch noch nicht die Klärung auf dem Balkan eingetreten, die absolut
notwendig ist, um das den europäischen Frieden ständig bedrohende Balkan¬
problem nunmehr unter Wahrung der europäischen Interessen zu lösen. Sollte
die Türkei stark genug sein, um sich auf dem europäischen Festlande zu be¬
haupten, dann wird sie niemand am Bleiben hindern; fehlt ihr die Kraft dazu,
so möge sie sich nach Asien zurückziehen.
Erst wenn die Entscheidung hierüber gefallen sein wird, dürfte der geeignete
Augenblick zum Eingreifen der interessierten Mächte eintreten. Eine starke
Türkei würde die Bundesgenossen finden, die ihr den territorialen 8tatus que>
garantieren; die geschlagene Türkei würde die europäischen Interessenten ver¬
sammelt sehen, sich den finanziellen und wirtschaftlichen 8tatus c>no gegenseitig
zu garantieren. Diesen Zeitpunkt wollen wir abwarten. Denn dann gewinnt
die Bälkanfrage erst den Charakter einer speziellen Angelegenheit der Gro߬
mächte; freilich tritt sie dann in ein gefährliches Stadium. Das darf und
muß sogar unumwunden ausgesprochen werden, damit wir beim Eintritt des
Kriegsfalles für uns nicht aus den Wolken fallen.
Gegenwärtig ist die Haltung Deutschlands unverändert die des stillen
Beobachters, der sich natürlich auf die verschiedensten Eventualitäten vor¬
bereiten muß. Frankreich und England mahnen zum schnellen Frieden; auch
Nußland wäre eine Intervention vor Eroberung Konstantinopels durch Zar
Ferdinand willkommen. Österreich-Ungarn will scheinbar nicht eher etwas von
einer Intervention wissen, bis es sich mit Serbien wegen des Sandschak ver¬
ständigt hat, um dann auf einer etwaigen internationalen Konferenz mit einem
kalt accompli erscheinen zu können.
Als Kuriosum, das aber schlaglichtartig beleuchtet, welch ein Rattenkönig
unangenehmer Fragen mit der Lösung des Balkanproblems zusammenhängt, sei
noch registriert, daß Österreichs katholisches Sonntagsblatt ebenso wie die Zeit¬
schrift des Grafen Oppersdorff „Wahrheit und Klarheit" an die Habsbnrgische
Monarchie ganz ernsthaft die Aufforderung richten, das Schwert zu ziehen und
di
Die abgelaufene Woche hat im preußischen Landtage so etwas ähnliches
wie eine Polendebatte gebracht. Den Anlaß dazu bot eine Jnterpellation
des Abgeordneten Korfanty und Genossen über die sogenannte Anwendung des
Enteignungsgesetzes vom Jahre 1908. Die Polen suchen aus diesem Gesetz für
ihre nationalen Ziele Kapital zu schlagen und man sollte sich darüber nicht
wundern. Denn die eigenartige Begründung des Gesetzes von 1908 und vor
allen Dingen die Begründung, die es durch die Reden des Herren- und Ab¬
geordnetenhauses seinerzeit erfahren hat, gibt den Polen das schönste Agitations¬
mittel in die Hand, um die nationale Glut lebendig zu erhalten. Ich hatte
seinerzeit als Petersburger Mitarbeiter der Grenzboten nicht die Möglichkeit,
in dieser Zeitschrift selbst meine Ansichten über die Einbringung des Ent¬
eignungsgesetzes zu veröffentlichen, sondern mußte mich mit einem protestierenden
Brief begnügen. Was ich damals gegen das Gesetz anführte, beginnt sich nach
und nach einzustellen. Das ganze Gesetz hat durch die Form seiner Einbringung
den Charakter einer nationalen Angriffswnffe gegen die Polen erhalten, obwohl
es doch nur eine wirtschaftliche Abwehrmaßregel gegen das Überhand¬
nehmen der Bodenspekulation in unserer Ostmark sein konnte und wollte.
Diese Auffassung wird am besten bestätigt durch den erstmaligen Gebrauch,
den die Regierung von deur Gesetz gemacht hat. Sie hat nicht alt-polnischen
Besitz als solchen enteignet, sondern hat lediglich Grundstücke, die seit mehreren
Jahren besonders lebhaft der Bodenspekulation dienstbar waren, und in¬
folgedessen von Hand zu Hand gehend eine ungesunde Steigerung der Boden¬
preise in ihrer Gegend bewirkten, durch Enteignung dem Verkehr entzogen.
Die Regierung mußte sich bei dieser Maßnahme auf das schlechte Gesetz von
1908 stützen, da es andere Gesetze leider nicht gibt, die einen Eingriff gestatten
in wirtschaftliche Auswüchse, wie eben die Bodenspekulation einer ist.
Ich gebe zu, daß Parteikonstellation und Agitation des Ostmarkenvereins
seinerzeit die Regierung in die gefährliche Richtung gedrängt haben; das
Gesetz mag infolge einer Zwangslage gegenüber dem liberalen Prinzip vom
freien Spiel der Kräfte und gegenüber der konservativen Besorgnis vor dem
generellen Enteignungsprinzip mit dem nationalistischen Mäntelchen behängt
worden sein. Um so mehr wird die heutige Regierung auch in Zukunft danach
trachten müssen, das Gesetz lediglich als das zu benutzen, was es sein kann:
als eine Handhabe gegen die ungesunde, die Nation gefährdende
Bodenspekulation, nicht aber als eine solche im Nationalitätenkampf.
Es wäre falsch, wenn wir unsere Maßnahmen nach der Ansicht einstellen wollten,
daß es die Polen sind, die uns aus der Oftmark vertreiben; Tatsache ist, und das
gilt als fest im Auge zu behalten, daß es die wirtschaftliche Entwicklung, daß es
die zunehmende Jndustriealisierung des Westens gewesen, die uns die Be¬
völkerung des Ostens abspenstig gemacht hat. Nicht gegen die Polen kolonisieren
wir im Osten, wir kolonisieren, um die Schäden einer einseitigen wirtschaftlichen
Entwicklung auszugleichen. Dieses Zusammenhanges müssen wir uns dauernd
bewußt bleiben, damit wir niemals Ursache und Folgeerscheinung im Kampf
um die Ostmark verwechseln.
Die Polen und leider auch die ultramontanen Führer der Zentrumspartei
sind blind genug, diese Tatsache nicht anerkennen zu wollen. Sie zeigen damit,
daß sie trotz allen entgegengesetzten Beteuerungen und trotz allen Versuchen,
die öffentliche Meinung in Deutschland einzuschläfern, an ihrem Traum fest¬
halten, ein selbständiges oder ein autonomes Polen unter Verletzung der
deutschen Reichsgrenzen wieder aufzurichten. Über diese Tatsache hilft keine
Versöhnungskomödie hinweg. Das wird nun wohl auch Herr Professor Hans
Delbrück einsehen, nachdem ihn, der sich so viel um einen deutsch-polnischen
Ausgleich bemüht hat, jüngst ein polnischer Publizist als viel gefährlicher für
die Polen hinstellte als die „Hakatisten". Zwischen den Polen und den
Teilungsmächten gibt es solange keine ehrliche Aussöhnung als bis das Reich
der Jagelonen wiederhergestellt ist, oder bis die nicht nach Amerika aus¬
gewanderten Polen sich den Deutschen assimilierten. Wir wollen auf diesen
Zeitpunkt nicht warten. Wir können dem Einbruch der polnischen Flut in das
von der Industrie gerissene Loch nur begegnen, wenn wir das Loch wieder
zustopfen mit unserem eigenen Menschenmaterial, das natürlich stärker als
jene sind sein muß, stärker an Zahl und Tüchtigkeit. Das aber können wir
nur, wenn wir eine nationale Wirtschaftspolitik befolgen, eine solche, die das
Volk und nicht eine solche, die das rollende Kapital in erster Linie im Auge hat.
Der militärische und administrative Zusammenbruch der Türkei erscheint
heute noch nicht so absolut unabwendbar, daß man daraufhin schon die wirt¬
schaftspolitischen Folgen desselben voraussagen dürfte.
Infolgedessen mögen die damit verbundenen Sorgen und Erörterungen einer
späteren Zeit vorbehalten bleiben. Andere Sorgen liegen uns augenblicklich näher.
Der Zustand des internationalen Geldmarktes ist es, der Handel und In¬
dustrie gegenwärtig zu ernsten Besorgnissen Anlaß gibt. Die kriegerischen Ereignisse
haben die in den allgemeinen Verhältnissen begründete Anspannung in unvorher¬
gesehenen Maße verschärft. Nachdem die Reichsbank, mehr aus Vorsicht, als weil
eine unmittelbare Notwendigkeit vorlag, ihren Zinsfuß auf 5 Prozent erhöht hatte,
durfte man hoffen, daß das Jahresende keine weitere Zinsverteuerung mehr
bringen werde. Denn gerade die Verhältnisse des deutschen Geldmarktes und
der Status der Neichsbank waren durchaus befriedigende. Indessen hat die
abermalige Diskonterhöhung der Bank von Frankreich, der eine solche der
italienischen Notenbanken auf dem Fuße gefolgt ist, das Bild durchaus ver¬
schoben. In Frankreich herrscht jetzt ein Zinsfuß von 4^, in Italien ein
solcher von 6 Prozent, Sätze, wie sie in dieser Höhe seit der letzten Geld¬
kalamität nicht mehr vorhanden waren. Die Bank von England wird angesichts
der starken Geldentnahmen und der Steigerung des Londoner Privatsatzes, die
gleiche Maßregel nicht mehr aufspielen können und dann ergibt sich bei dem
ungünstigen Stand der Devisenkurse auch für die Neichsbank die Notwendigkeit,
die Diskontschraube weiter anzuziehen. Die Wahrscheinlichkeit, daß uns die
nächste Woche einen sechsprozentigen Diskont beschert, ist daher leider eine sehr
große. Denn es ist kaum anzunehmen, daß die Neichsbank sich nur mit einem
halben Prozent begnügen wird. Diese selbe Maßregel hat sich erst eben als
ungenügend erwiesen — man wird den Fehler nicht zum zweiten Male begehen.
Ein so hoher Diskont ist aber unter allen Umständen eine Sturmwarnung. Er
zeigt an, daß nunmehr der wirtschaftlichen Entwicklung auch von feiten des
Geldmarktes schwere und unmittelbare Gefahr droht. Bisher war die Kon¬
junktur gerade darin fest verankert, daß trotz der großen Ansprüche der Industrie
der Geldmarkt keine Spuren der übermäßigen Belastung erkennen ließ. Diese
erfreuliche Gewißheit ist jetzt geschwunden. Es gilt jetzt die Segel zu reffen
und nach Möglichkeit dein wirtschaftlichen Expansionsdrang zu steuern, sollen sich
nicht die trüben Erfahrungen der letzten Wirtschaftskrisis wiederholen.
Der Plan eines Reichspetroleummonopols, über den in diesen
Blättern bereits berichtet worden ist, erweist sich bei näherer Prüfung als eine
ebenso interessante und schwierige Frage. Interessant, vor allem wegen der
prinzipiellen Grundlage und der Eigenartigkeit der Finanzierung; schwierig,
wegen der Bedenken, die sich gegen die Durchführbarkeit erheben.
Nach drei Seiten verdient der Monopolplan uneingeschränkte Billigung.
Zunächst — das ist die wichtigste, grundsätzliche Seite — weil er zum ersten
Male das Prinzip vertritt, daß der Staat private Monopole nicht dulden
darf, daß es seine Aufgabe ist, in den Prozeß der Gütererzeugung und -Ver¬
teilung da einzugreifen, wo wichtige Konsmnartikel der Allgemeinheit in die
Hände weniger privater Erwerbsgesellschaften gelangen, die in der Lage sind,
die Konsumenten sich tributpflichtig zu machen. Was der Staat gegenüber der
Standard-Oil-Compam) für recht hält, muß er in gleicher Weise gegenüber den
großkapitalistischen Riesenunternehmungen für billig finden, welche einheimische
Bodenschätze, wie Kohle und Kali, oder die Versorgung mit Elektrizität zum
Gegenstand ihrer Monopolbestrebungen machen. Diese bewußte Ausdehnung
der staatlichen Aufgaben, welche dem Projekt zugrunde liegt, verdient um so
mehr hervorgehoben zu werden, als gerade in diesem Punkt sich eine offene
gegnerische Kritik nicht hervorgewagt hat. Der Begriff des Staatssozialismus
hat seine Schrecken verloren.
Die zweite Seite, welche das Projekt in günstigem Lichte erscheinen läßte
ist der Schutz des Konsums gegen Ausbeutung. Beträgt doch der jährliche
Verbrauch Deutschlands an Leuchtöl nicht viel weniger als eine Milliarde Liter.
Jeder Pfennig Preisaufschlag setzt sich daher in eine Besteuerung des Konsums
von 10 Millionen Mark um. Freilich liegt einstweilen eine Ausbeutung der
Verbraucher durch den Rockefeller-Trust noch nicht vor; im Gegenteil, durch den
Konkurrenzkampf mit den Gegnern sind die Preise während der letzten Jahre
in Deutschland auf niedrigem Niveau geblieben, sie haben im Durchschnitt nur
etwa 15^2 Pfennig betragen und sind erst 1912 teilweise über 17 Pfennig
gestiegen. Dagegen rechnet der Regierungsplan mit einem Normalpreis von
21 Pfennigen ab Tankanlage, so daß also die unmittelbare Wirkung des
Monopols nicht etwa eine Verbilligung sein wird. Nur einer späteren Aus¬
beutung durch das Privatmonopol wird ein Riegel vorgeschoben.
Drittens endlich darf man es mit Genugtuung begrüßen, daß das Reich
durch diesen Plan finanzielle Vorteile erstrebt. Zwar verwahrt sich die
Reichsregierung entschieden gegen den Gedanken, daß der Monopolplan eine
verdeckte Verbrauchsabgabe schaffen wolle. Nicht zur Aufbesserung der laufenden
Einnahmen des Reichs, sondern zur Erfüllung besonderer sozialpolitischer Auf¬
gaben sollen die Erträgnisse des Monopols dienen. Aber das Ergebnis ist
doch jedenfalls das: die großen Gewinne, welche sonst einer Monopolgesellschaft
zugeflossen wären, sollen der Allgemeinheit zu gute kommen und der Erfüllung
öffentlicher Aufgaben dienen.
Kann man also den Grundgedanken des Monopols rückhaltlos zustimmen,
so verdient in gleicher Weise die geplante Durchführung Beifall. Der
Gedanke, das Handelsmonopol nicht in die Hände des Staats, sondern in die
einer unter staatlicher Kontrolle stehenden Privatgesellschaft zu legen und dem
Unternehmen damit kaufmännische Beweglichkeit zu sichern, ist im allgemeinen
durch das Vorbild der Neichsbank veranlaßt. Im einzelnen dagegen finden
sich bedeutende Abweichungen, entsprechend der verschiedenen Struktur und den
verschiedenen Aufgaben beider Unternehmungen. So die dauernde finanzielle
Beteiligung des Reichs durch Aktienbesitz, dem durch Beilegung fünffachen
Stimmrechts die dauernde Beherrschung der Gesellschaft gesichert ist, so vor allem
die ganz neuartige Gewinnregulierung, welche darauf abzielt, das finanzielle
Interesse der Gesellschaft und des Fiskus nicht mit hohen, sondern mit niedrigen
Preisen zu verknüpfen. Es soll nämlich über einen normalen Höchstpreis hinaus,
der mit 21 Pfennigen in Aussicht genommen ist, das Aktienkapital nur eine
Dividende von 4 Prozent, der Fiskus aber gar keine Gewinnbeteiligung erhalten,
während bei niedrigen Preisen Aktiengewinne und Staatsrente im umgekehrten
Verhältnis zur Preisbewegung ansteigen. Der Plan geht davon aus. daß bei
900 Millionen Liter Absatz bei 20 Pfennig Literpreis die Gesellschaft 5 Prozent
Dividende auf 60 Millionen Aktienkapital, gleich 3 Millionen Mark, das Reich
12 Millionen Gewinn erhalten soll. Beträgt der Preis aber nur 17 Pfennig
für das Liter, so steigt die Dividende auf 9^ Prozent, die Gewinnbeteiligung
des Reichs auf 23,4 Millionen.
Wie man sieht, ist die Durchführbarkeit des Plans davon bedingt, daß die
Monopolgesellschaft mit niedrigen Einkaufspreisen rechnen kann. Denn sie ist
natürlich nur imstande, den Detailpreis auf 17 Pfennige zu fixieren, wenn im
Einkauf es nach Deckung von Zoll, Fracht, Verwaltungsunkosten und Ab¬
schreibungen entsprechend billiger, also etwa auf 14 Pfennige zu stehen käme.
Die Kardinalfrage ist also die, ob und wie die Beschaffung der erforderlichen
Ölmengen möglich ist.
Deutschland ist nun bekanntlich nur in sehr geringem Grade selbst Pro¬
duzent. 80 Prozent des Gesamtbedarfs liefert die Standard-Oil, den Nest
hauptsächlich Rußland, Galizien, Rumänien. Der Entwurf will die Standard-
Oil-Company ausschalten. Er rechnet damit, daß es möglich sein wird, den
Bedarf von anderen unabhängigen Produzenten zu decken. Als solche kommen
die genannten europäischen Länder und einige, vom Rockefeller-Trust angeblich
unabhängige amerikanische Gesellschaften in Betracht.
An sich erscheint es auffallend, daß die Reichsregierung nicht den doch nahe
liegenden Weg gewählt hat, die Versorgungsfrage durch ein Abkommen mit der
Standard-Oil-Company zu lösen. Zu einem solchen wäre der Trust unter
dem Druck der Monopolabsichten zweifellos zu haben gewesen, wie er ja auch
ähnliche Abkommen mit den deutschen Vertriebsgesellschaften geschlossen hat.
Gegen den Trust aber ist der Monopolplan nur dann durchzuführen, wenn er
bei der Versorgung völlig ausgeschaltet werden kann. Denn bliebe die Monopol¬
gesellschaft auch nur mit dem kleinsten Quantum auf ihn angewiesen, so würde
daran die Durchführbarkeit des Monopolplans scheitern müssen.
Es hat nun fast den Anschein, als sei die Regierung in dieser Hinsicht bei
dem Entwurf des Projektes nicht gut beraten gewesen. Pate gestanden hat bei
der Durcharbeitung des Planes die Deutsche Bank mit ihren Petroleum¬
interessenten. Aus dem Zwist, der nach Veröffentlichung des Planes zwischen
ihr und der Diskontogesellschaft ausbrach und dem erbaulichen Federkrieg der
beiden eifersüchtigen Großbanken war das mit aller wünschenswerten Deutlichkeit
zu ersehen. Es wurde aber durch diesen nicht gerade erbaulichen häuslichen
Zank auch offenbar, daß der Rivalität beider Banken sehr materielle Eigen¬
interessen zugrunde lagen. Jede verfolgte bei dem Monopolplan ihren eigenen
Profit. Die Deutsche Bank trug in diesem Ringen den Sieg davon und die
Folge war die öffentliche Absage der Diskontogesellschaft. Es ist nun nicht schwer
zu sehen, welches die Interessen der Deutschen Bank sind, welche durch
den Monopolplan in der vorliegenden Form gewahrt werden. Die Deutsche
Bank ist (in Verbindung mit mehreren anderen Bankhäusern) zunächst interessiert
an der Steaua Romana, einer rumänischen Produktionsgesellschaft, deren Aktien
unlängst in Deutschland eingeführt worden sind. Diese Produktionsgesellschaft
würde durch das Reichsmonopol zu einem Hauptlieferanten werden und in
Zukunft jeder Absatzsorge und jedes Konkurrenzkampfes insbesondere mit der
Standard überhoben sein. Die Deutsche Bank hat aber auch noch Interessen
an einer Vertriebsgesellschaft, der Europäischen Petroleum-Union, im Finanz¬
jargon „Eyn" genannt. Mit dieser Gesellschaft wollte ursprünglich die Deutsche
Bank die gesamte europäische Petroleumproduktiou zusammenfassen und den Kon¬
kurrenzkampf gegen die Standard aufnehmen. Der Plan scheiterte, weil die Dis¬
kontogesellschaft mit ihren rumänischen Produktionsinteressen sich ausschloß, und weil
die verbleibende Organisation nicht stark genug war, dem Rockefeller - Trust
die Spitze zu bieten. Daher mußte die Deutsche Untergesellschaft der „Eyn",
die Deutsche Petroleumverkaufsgesellschaft, nach verlustreichem Kampfe die Waffen
strecken und sich mit der Standard-Oil verständigen. Es ist dies schon gelegentlich
in diesen Blättern geschildert wölben. (S. Grenzboten Ur. 42 v. 1911.) Der
Vertrag mit der Standard, genauer, mit deren Deutschen Untergesellschaft, der
Deutsch-Amerikanischen Petroleumgesellschast erwies sich aber für den anderen
Teil so ruinös, daß die D. P. V. G. auf dessen Aufhebung Klage erhob. Sie
erstritt in Hamburg ein obsiegendes Urteil, das aber ihre Lage materiell nicht
verbessern kann, denn mit oder ohne Vertrag ist sie durch die Standard-Oil
ruiniert. Dagegen ist das Reichsmonopol ihre Rettung. Denn nach dem
Entwurf soll die Monopolgesellschaft verpflichtet sein, alle Vertriebsunter¬
nehmungen, gleichviel ob sie dieselben brauchen kann oder nicht, auszulaufen.
So wurde also auf Reichskosten ein bedenkliches Engagement mit Vorteil
abgewickelt. Es begreift sich also, daß die Deutsche Bank ein allzugroßes
Interesse hat, um als ein unparteiischer Ratgeber bei Ausgestaltung des
Monopols zu gelten.
Aber auch die Gegnerschaft der Diskontogesellschaft ist keine uneigen¬
nützige. Ihre Interessen weisen sie daraufhin, ein Handelsmonopol zu Falle
zu bringen. Denn die Deutsche Erdölgesellschaft, die ihr nahe steht, hat
noch während der Vorbereitungsarbeiten zum Monopol einen Pakt Mit der
Standard abgeschlossen, um sich das Privatmonopol in Deutschland zu sichern.
Die Deutsche Erdölgesellschaft, welche in der Zeit von kaum zwei Jahren treib-
hausartig in die Höhe geschossen ist, beherrscht die deutsche Petroleumproduktion
und hat außerdem in der jüngsten Zeit sich starke Beteiligungen an der rumä¬
nischen und galizischen Produktion gesichert. An einem Handelsmonopol hat
die Erdölgesellschaft kein Interesse, weil sie ihre erklecklichen Gewinne aus ihrer
deutschen Produktion zieht, für welche der hohe Finanzzoll von 75 Mark ihr
eine höchst lukrative Verwertung sichert. Eine staatliche Monopolgesellschaft
würde sie der Absatzmöglichkeit zu solchen Preisen berauben. Sie muß daher
bestrebt sein, diese Gewinne auch in Zukunft sicherzustellen oder zu kapitalisieren.
Das kann sie nur im Wege des Privatmonopols oder wenn es ihr gelingt,
die Verstciallichung zu entsprechendem Preis durchzusetzen. Daraus läuft denn
wohl auch die Politik der Gruppe Diskontogcsellschaft hinaus. Es ist höchst
willkommen, daß der Zwist der Banken der Öffentlichkeit einen Einblick in die
Interessensphären gewährt hat. Es wird daher möglich sein, bei Ausbau des
Monopols dafür Sorge zu tragen, daß durch dasselbe nicht die Interessen
dieser oder jener Finanzgruppe, sondern nur die der Allgemeinheit gewahrt
werden. Dies dürfte aber nur durch eine Verständigung mit der Standard-Oil
zu erreichen sein.
Wie rasch die gewiegten Finanzkreise bei der Hand sind, einen staatlichen
Monopolplan für ihre Zwecke auszuschlachten, zeigt die Nachricht, daß angeblich
ein Vorantrag behufs Erwerbung einer der amerikanischen Außenseitergesell-
schaften für das Monopol durch Vermittlung des amerikanischen Bankhauses
Kühn Löb abgeschlossen sein soll. Durch diesen Vertrag sei der Erwerb der
Aktien, welche im vorigen Jahre noch unter Pari zu haben waren, zu einem
Kurse von etwa 450 Prozent der Monopolgesellschaft gesichert.
Die hier geäußerten Bedenken dürften wohl auch maßgebend dafür fein,
daß, wie verlautet, im Bundesrat sich Stimmen, vor allem die Hamburgs,
gegen das Monopolprojekt ausgesprochen haben. Hoffentlich gelingt es aber,
den weitsichtigen Plan in einer Form durchzuführen, der wirklich den Interessen
der Allgemeinheit, wenn auch weniger denen des Großkapitals Rechnung trägt.
Verantwortlich: der Herausgeber George Tleinow in Schöneberg. — Manustriptsendungin und Buche «erden
erbeten unter der Adresse:
An den Herausgeber der Grrnzbotrn in Friede»«« bei Berlin, Hcdwigftr. 1».
Fernsprecher der Schrlstleitung: Amt Uhland SKM, des Verlags: Amt Lützo« KS1D,
Verlag: Verlag der Br-nzbot-n G. in, b, H, in Berlin SV. 11.
Druck: „Der Reichsbote" B. in. b. H, in Berlin SV. 11. Dessauer Stratze 86/37.
Neuer öeutfther Hausrath«
Künstlern haben wir bestimmteflrbeitsartenMaße unöNormen festgelegt und damit
eine wesentliche verbillign«« unserer Arbeit erreicht, wir streben mit diesem zweck¬
dienlichen und zeitgemäßen, schonen uns preiswerten Hausrat nach einem deutschen
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s°.t-in..x--t« «..10- 6. W. SeKIiSbs 6 Oo.,
Si'esiau 12.
wei neue Tatsachen haben uns die Oktoberschlachten gebracht:
den siegreichen Balkanbund und die verlustreiche Türkei. Mit diesen
beiden Ergebnissen des jüngsten Orientkrieges hat die Politik der
europäischen Großmächte fortan zu rechnen, selbst dann, wenn
das nächste Ergebnis der Siege nicht so ausfallen sollte, wie die
Slawen es wünschen. Auch Deutschland wird sich mit dem Umsturz am Balkan
abzufinden haben. Es wird sich vielleicht am ehesten von allen Großstaaten der
europäischen Staatengesellschast mit dem neugeschaffenen Zustand abfinden können,
weil die Intimität der deutscheu Beziehungen zum alten Osmanenreich niemals
über die politische Freundschaft bis zur tatsächlichen Verbündung hinausgeschritten ist.
Was uns mit der Türkei im Augenblick ihres schweren Sturzes verbindet,
find Fäden wirtschaftlicher Natur, allerdings, wegen der großen Investierung
deutschen Kapitals und deutschen Unternehmungsgeistes bei den Bahnbauten in
Vorderasien, Fäden von ganz besonderer Stärke. An sich aber gehören in das
System der weltwirtschaftlichen Beziehungen des Deutschen Reiches naturgemäß
auch die Staaten, die heute im Balkanbund zusammengeschlossen sind. Ich
habe schon früher einmal an dieser Stelle zu zeigen versucht, daß das Ziel der
Weltpolitik Kaiser Wilhelms des Zweiten die Einheit des deutschen Weltwirtschafts¬
gebietes ist. Daß in dieser Wirtschaftseinheit der gesamte nahe Orient eine
hervorragende Stellung einnimmt, wird fofort klar bei einer kleinen statistischen
Zusammenstellung, die mir der Leser erlauben möge.
Nach seiner geographischen Lage ist das Deutsche Reich ein Festlandsstaat.
Seine Kolonien reichen nach Zahl und Flächeninhalt nicht an die der anderen
Großmächte heran. Auch militärisch ist Deutschland trotz aller maritimen An¬
strengungen eine Festlandsmacht geblieben. Und unsere wirtschaftliche Erzeugung
arbeitet überwiegend auf dem europäischen Festlande. Unser Bezug aus den
Kolonien ist noch verhältnismäßig gering. Der Umtausch unserer Waren geht
überwiegend in Europa selbst vor sich.
Das Statistische Jahrbuch für 1910 stellt fest, daß im Jahre 1909 Waren
im Werte von 8238 Millionen Mark aus und nach Deutschland mit den übrigen
Ländern des europäischen Festlandes und dem unmittelbar anstoßenden türkischen
Asien und dem französischen Nordafrika ausgetauscht wurden. Diesen auf
Land- und Flußwegen und mit Küstenschiffen beförderten Gütern standen solche,
die auf Seeschiffen verfrachtet wurden, im Werte von nur 6862 Millionen Mark
gegenüber. Die Überlegenheit des deutschen Festlandshandels über den deutschen
Seehandel läßt sich von anderer Seite noch durch eine Statistik beleuchten,
die Geoffroy Durham in der Contemporary Review aufgemacht hat. Danach
nahm die deutsche Ausfuhr nach Rußland, Österreich-Ungarn und der Schweiz
in den beiden Jahrzehnten 1889 bis 1908 um 33 Millionen Pfund Sterling
mehr zu als der englische Handel dorthin. Im letzten Jahrzehnt 1899 bis 1908
nahm der englische Handel nach Rußland sogar um neunzehntausend Pfund Sterling
ab. der deutsche aber um 4^ Millionen Pfund Sterling zu. Nach Österreich-
Ungarn wuchs der deutsche Handel um fast 8^ Millionen Pfund Sterling,
der englische noch nicht einmal um eine Million. Nach fast allen anderen
Nachbarländern Deutschlands steigerte sich der deutsche Handel um fast das
Doppelte gegenüber dem englischen. Dagegen ist das Wachstum des englischen
Warenaustausches im Seehandel ganz unvergleichlich größer als das des deutschen.
Schon im gegenseitigen Verkehr zwischen Deutschland und England ist die Zu¬
nahme des britischen Handels um 1^ Millionen Pfund Sterling größer als
die des deutschen, und der Gesamthandel Englands nach Außereuropa ist im
letzten Jahrzehnt um 31^ Millionen mehr gewachsen als der des Deutschen
Reiches.
Damit ist klipp und klar bewiesen, daß die Stärke des deutschen Handels¬
verkehrs auf dem europäischen Festlande und nach den anstoßenden Ge¬
bieten Nordafrikas und Vorderasiens liegt. Aber auch in dem so abgegrenzten
Verkehrsbereich Deutschlands lassen sich noch gewisse Gebiete als besonders
belangreich abzirkeln. Die beiden größten Verkehrsstränge unseres Vaterlandes
laufen von Norden nach Süden rhein- und elbaufwärts, um dann längs der
Donau ihren Weg nach dem nahen Orient gemeinsam zu bahnen und vom
Zusammenstoß des Schwarzen Meeres mit den östlichsten Becken des Mittelmeeres
(bei Konstantinopel und Haidar Pascha) ihre Straße durch Anatolien und
Mesopotamien nach dem Indischen Ozean zu suchen. Dieses Wegenetz zieht
Mitteleuropa (das Deutsche und das Habsburger Reich) in engste Fühlung mit
den slawischen Balkanstaaten, Rumänien und dem Osmcmenreich. Mitten ein¬
gezwängt zwischen die in sich geschlossenen Weltwirtschaftsgebiete Rußlands und
Frankreichs setzte der mitteleuropäisch-vorderasiatische Handel Deutschlands im
Jahre 1909 Waren im Werte von 3213 Millionen um, der Verkehr Deutschlands
mit Rußland dagegen nur für 1S93 Millionen und nach Frankreich mit seinen
Kolonien gar nur für 976 Millionen Mark. Der mitteleuropäisch-vorderasiatische
Warenverkehr Deutschlands übersteigt also den Handel mit Rußland und
Frankreich um fast 400 Millionen Mark. Da das vorderasiatische Gebiet erst
vor der eigentlichen Erschließung steht und unerschöpfliche Reichtümer birgt, so
hat der wirtschaftliche Ausdehnungstrieb des deutschen Volkes mit den gro߬
artigen Bahnbauten in Vorderasien bewußtermaßen die zweckmäßige Richtung
eingeschlagen. Die oben angeführte Statistik gibt uns aber auch das Recht,
von dem mitteleuropäisch - balkanstaatlich - osmanischen Verkehrsgebiet als dem
eigentlichsten, in sich geschlossenen Weltwirtschastsbereich des deutschen Volkes zu
sprechen. Seitdem wir durch den Marokko vertrag mit Frankreich die Möglichkeit
erhalten haben, auch unseren oft- und westafrikanischen Besitz durch das völker¬
rechtlich handelssreie Belgisch-Kongo in ungehinderte wirtschaftliche Verbindung
zu bringen, seitdem ist die Voraussetzung gegeben, diese Verkehrslinie von
Hamburg über Wien, Konstantinopel, Bagdad, Deutsch-Ostafrika, Kongo und
Groß-Kamerun durch die freie Atlantische See nach der Nordsee in eine
geschlossene Kreislinie unserer weltwirtschaftlichen Interessen zurückzubiegen.
Für einen wirtschaftlichen Imperialismus Deutschlands, wie ich ihn zu
verstehen bemüht bin und hier skizziert habe, behält die mitteleuropäisch-vorder¬
asiatische Verkehrs- und Handelsgemeinschaft jederzeit ihre gleichbleibende Be¬
deutung, einerlei, ob der jetzige Krieg uns eine territorial beschnittene Türkei
und einen Balkanbund als dauerndes politisches Gebilde (etwa nach dem Muster
des Deutschen Reiches) bringt oder nicht. Selbstverständlich ist es leichter, ein
solches wirtschaftspolitisches Ziel zu erreichen, wenn man mit einem einzigen
Faktor auf dem Balkan, einer direkt an Österreich-Ungarn angrenzenden Türkei
zu rechnen hätte. Aber schon vor dem Kriegsausbruch war die Stimmung
in Konstantinopel gegen Deutschland infolge englischer Einflüsse nicht mehr so
freundlich wie noch im Sommer vorigen Jahres. Das hätte uns auch ohne
den Krieg den Ausbau unserer Wirtschafts- und Verkehrsbeziehungen in Vorder¬
asien erschwert. Wenn jetzt die Türkei im Gefühl ihrer Niederlagen für unsere
wirtschaftlichen Bedürfnisse zunächst wenig Interesse zeigen wird, so können wir
uns mit einer Erinnerung auf eine bessere Zukunft vertrösten. Denn schon
einmal hat der Zusammenbruch der offiziellen Türkei, damals als das Regime
Abdul Hamids sein Ende erreichte, unsere türkischen Beziehungen schwer erschüttert.
Die Pause bis zur Wiederaufnahme unserer weltwirtschaftlichen Aufgabe in der
Türkei läßt sich am besten ausfüllen mit der Ausgestaltung der wirtschaftlichen
Interessengemeinschaft Mitteleuropas mit dem neuen Balkanbunde.
Hier freilich fällt unserem Verbündeten Österreich-Ungarn und vielleicht
Italien die Hauptaufgabe als den Nächstbeteiligten zu. Es ist trotz allem in
der deutschen Presse doch wohl viel zu wenig gewürdigt worden, daß die vom
Deutschen Reich und Österreich-Ungarn zum Beginn des italienisch-türkischen
Krieges eingeschlagene Politik in'vollem Umfange erfolgreich gewesen ist.
Denn nun steht mitten an den nördlichen Küsten des Mittelmeeres und
mit einem Fuß am afrikanischen Nordufer das in sich geschlossene Mitteleuropa,
hoffentlich (im Hinblick auf die weiteren tripolitanischen Arbeiten Italiens) von
dem Hemmschuh der adriatischen Eifersüchteleien befreit und damit imstande,
das ganze ungeheure Schwergewicht der Dreibundskraft sowie die familiären
Beziehungen des italienischen Königshauses zum montenegrinischen zu einer ersprie߬
lichen Gestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen Mitteleuropas zum Balkan¬
bunde ausnutzen zu können. Das Neue Wiener Tagblatt hat am 2. November
mit einer Äußerung von besonderer Seite auf die Interessengemeinschaft Öster¬
reich - Ungarns und Italiens in der Balkanpolitik hingewiesen. Daß diese
Interessengemeinschaft auf dem Boden einer weisen Selbstbeschränkung fußt,
wissen wir aus einer vom gleichen Tage datierten Auslassung des Pester Lloyd,
daß Österreich ° Ungarn am Balkan „saturiert" ist und nicht auf territoriale
Eroberungen ausgeht. Die Habsburgischen Interessen, so sagt das offiziöse
Organ des Österreich und Ungarn gemeinsamen Ministeriums des Äußern,
zielen nur auf möglichst gute Beziehungen zu den Balkanstaaten ab. Diese
„aus freiem Entschlüsse auferlegte Selbstbeschränkung", dieses „Programm der
territorialen Enthaltsamkeit" zielt auf „ein bleibend gutes Verhältnis zu den
Balkanstaaten in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht" ab. Österreich-Ungarn,
das auf den territorialen Zusammenhang mit dem Ägäischen Meere freiwillig
verzichtet, kann und will den Verkehrs- und wirtschaftspolitischen Zugang mit
dem östlichen Becken des Mittelmeeres nicht entbehren. Es bietet dem Balkan¬
bund und in erster Linie Serbien die Hand zu einer solchen Interessengemein¬
schaft. Ob diese in der Form eines Zollbündnisses oder eines Zollvergünstigungs¬
vertrages in die Erscheinung tritt, das ist eine Frage der Zweckmäßigkeit.
In Serbien und vor allem in Bulgarien dürfte diese Frage nicht von
vornherein abgewiesen werden. Man mag sich noch nicht festlegen wollen, aber
soviel ist sicher, daß die Eifersucht Rußlands auf die bulgarischen Erfolge und
die Möglichkeit eines Zusammenpralls bulgarischer und russischer Interessen am
Goldenen Horn die Diplomaten in Sofia jetzt schon ihre Blicke auf den Drei¬
bund lenken läßt. Am 1. November schrieb der halbamtliche Mir in einer
Polemik gegen den Temps deutlich genug, daß sich Bulgarien zwischen einer
mißgünstigen Tripleentente und dem Dreibund auch für diesen entscheiden
könne.
Auf diesem Stande also ist heute die Frage einer Verkehrs- und wirtschafts¬
politischen Vorzugsstellung Österreich-Ungarns bei den Balkanbundstaaten. Ich für
meine Person neige zu der Ansicht, daß eine wirtschaftspolitische Begünstigung
der Habsburgischen Monarchie der erste Schritt sein kann sür die Herstellung
einer mitteleuropäisch-balkanstaatlichen Zollunion auf dem Grunde des Systems
der Vorzugszölle. Ein Ziel aufs innigste zu wünschen und auf die Dauer
kaum zu vermeiden, wenn diese Union in die Form eines wirtschaftspolitischen
Schiedsgerichtsbundes gegossen wird.
Allerdings — das Schicksal ist wankelmütig. Man muß sich vor Augen
halten, daß Unbelehrbarkeit gerade auf politischem Gebiet die besten Ideale
verderben kann. Wenn Serbien halsstarrig ist oder Bulgarien doch Furcht
vor dem großen russischen Vetter hätte? Ja, dann bleibt für Österreich-Ungarn
und damit für den Dreibund noch der Ausweg über Rumänien. Es heißt,
die Habsburgische Monarchie habe schon heute ein Militärabkommen mit diesem
Königreich. Dessen Nachbarschaft am Schwarzen Meer läßt, wenn es sich zu
einer wirtschaftspolitischen Union mit dem Dreibund bereit findet, auch den
Verkehrsweg nach Vorderasien finden und Österreich-Ungarn, Rumänien und selbst
ein verstümmeltes Osmanenreich umklammern immer noch den Balkanbund und
setzen ihn schachmatt.
er 1904 erschienenen Spitteler - Broschüre des Musikers Felix
Weingärtner war es vergönnt, den Ruhm des bis dahin ver¬
kannten großen Epikers unserer Zeit mit einem Schlage zu be¬
gründen. Seither wächst die Flut von Spitteler-Büchlein und
Artikeln ständig, ohne deshalb dem schweren Problem dieser Er¬
scheinung näher zu kommen. Alljährlich, so albern das heute bereits erscheint,
wird Spitteler neu entdeckt, aber niemals — so nötig das wäre — neu erklärt.
Aus dieser schalen Panegyriker-Literatur ragt eine Abhandlung von Professor
Ragaz (Programm der bündnerischen Kantonschule 1912) als angenehme Aus¬
nahme hervor, eine Ausnahme, wenn nicht was Ergebnis und Schärfe, so doch
was den Ernst der Untersuchung und die Klarheit der Fragestellung betrifft.
Stehen Spittelers „Prometheus und Epimetheus" und Nietzsches „Also
sprach Zarathustra" in einem genetischen Zusammenhang zu einander? Wenn
ja, wie ist dieser beschaffen? Ragaz verfügt weder über das vollständige
Material zur Beantwortung der Frage, noch beherrscht seine Sichtung das vor¬
handene. Einem Chaos der Beweisführung kann nimmermehr Ordnung,
geschweige Sicherheit entnommen werden. Es sei daher gewagt, das gesamte
Für und Wider der Frage in ein dreiteiliges System: historisches, psychologisches
und ästhetisches Beweismaterial zu bringen und kritisch zu überblicken.
Sobald die Ähnlichkeit zwischen den beiden Werken festgestellt ward, wurde
der damals noch kaum gekannte Spitteler mit aller Selbstverständlichkeit in die
Gefolgschaft Nietzsches verwiesen, als Nietzsches Schüler abgestempelt und als
solcher hielt er in Richard M. Meyers Literaturgeschichte seinen Einzug. Im
Kunstwart (Novemberheft 1902) haben dann Spittelers Freunde, später er selbst,
auf die Tatsache hingewiesen, daß der „Prometheus" vor dem „Zarathustra"
erschien und somit eine Abhängigkeit von Spittelers Seite ein Ding der
Unmöglichkeit wäre.
1904 stellt Weingärtner*) die der bisherigen entgegengesetzte Hypothese
kühn und bestimmt auf. „Ein einziges Werk kann zum Vergleich herangezogen
werden, nämlich Nietzsches .Also sprach Zarathustra', und zwar hauptsächlich
deshalb, weil Nietzsche den vor dreißig Jahren erschienenen .Prometheus'
Spittelers gekannt hat und, wie der Leser vielleicht schon aus einigen An¬
deutungen bemerkt haben wird, sichtlich von ihm beeinflußt worden ist." Wein-
gärtner enthält sich jeder historischen Beweisführung.
Im Kunstwart Band XVI 3, Seite 134, erklärt darauf Spitteler selbst:
„Nietzsche kannte den .Epimetheus', ehe er den .Zarathustra' schrieb."
Nun konnte die Frage nicht mehr unerörtert bleiben. Im Morgen 1908
griff Frau Förster nun Spitteler und Widmann in der ihr eigenen, unlieb¬
samen Art an („Nietzsche und die Kritik"). Darauf legte Spitteler**) einen
ausführlichen Bericht ab über seine Beziehungen zu Nietzsche in einer Vorlesung
vor dem neuen Verein in München, die dann in Buchform erschienen ist. Die
Behauptung, Nietzsche hätte den „Prometheus" gekannt, bevor er seinen
„Zarathustra" schrieb, hält Spitteler hier nicht mit der Unbedingtheit seines
Kunstwartartikels aufrecht. „Er hatte meinen.Prometheus' gelesen," heißt es
auf Seite 21, „ob früher oder eben erst jetzt (1887, also nach .Zarathustra')
kommt hier nicht in Betracht." Spitteler belegt zwar diese Meinung nicht,
allein er gibt auf Seite 16 bis 19 eine ausführliche Erzählung der Ereignisse,
die die Tatsache höchstwahrscheinlich erscheinen ließen. „Im Januar 1881
begeisterten sich für das Buch neben vereinzelten Schriftstellern im besonderen
einige ehemalige Schüler Nietzsches." Man wollte das Buch Nietzsche zeigen,
Spitteler verwahrte sich dagegen. „Wenn man mich aber fragt, was ich sonst
von der Möglichkeit halte, daß Nietzsche schon damals, oder bald darauf (also
im Jahre 1381 oder 1882) meinen .Prometheus' durch einen merkwürdigen
Zufall könnte kennen gelernt haben, so antworte ich: Ich halte es nicht bloß
für möglich, sondern für wahrscheinlich; ja, wenn ich meine Meinung ganz
aussprechen darf — und warum sollte ich sie nicht ganz aussprechen dürfen? —
so sage ich, es müßte ein merkwürdiger Zufall sein, wenn Nietzsche das Buch
nicht schon damals (1881 oder 1832) kennen gelernt hätte. Man muß eben
wissen, daß trotz dem Stillschweigen der Presse der .Prometheus' in den
höchsten Kreisen der literarischen und gelehrten Welt der Schweiz außerordent¬
liches Aufsehen erregte.
Die Kunde davon, daß sich ein erstaunliches, geheimnisvolles Buch biblischen
Stils ereignet habe, sprach sich seit Februar 1881 unter den bedeutenden Männern
der deutschen Schweiz herum. Sämtliche namhaften Schriftsteller, auch die
angesehensten Musikdirektoren in Bern, Zürich und Basel hatten das Buch in
Händen, Keller besaß es, Meyer besaß es, Adolf Frey und Widmann machten
vergebliche Versuche, die Nachricht von dem Phänomen nach Deutschland zu
verbreiten. An den schweizerischen Universitäten war es bekannt, ich weiß z. B.,
daß die Professoren der deutschen Literatur an der Züricher und Berner Universität
das Buch kannten; Jacob Burckhard, Professor in Basel, hat es von mir selber
zugeschickt bekommen.
Und Nietzsche, Professor in Basel, mit allen berühmten Männern
der Schweiz in Fühlung, sollte nichts davon vernommen haben? Ich
habe schon mitgeteilt, daß zu den allerersten Lesern und Bewunderern des
Buches einige ehemalige Schüler und begeisterte Jünger Nietzsches gehörten;
darunter Baseler, die ihrem geliebten Lehrer Dankes- und Ehrfurchtsbesuche
abstatteten.
Was ist nun wahrscheinlicher? Daß diese Schüler Nietzsches ihrem Meister
gegenüber sämtlich von dem merkwürdigen Buch geschwiegen habe» sollten, oder
daß einer von ihnen ihn im Gespräch darauf aufmerksam gemacht hat? Ferner
bedeutete ja das Werk für den Buchhandel zu zweien Malen eine Neuigkeit;
einmal im Jahre 1880, als der erste Teil erschien, das andere Mal im Jahre
1881, beim Erscheinen des zweiten Teils. Die Firma Sauerländer, welche
das Werk verlegte, ist oder war wenigstens eine der angesehensten Verlags¬
firmen der Schweiz. Was ist nun wieder wahrscheinlicher, daß keiner der
Baseler Buchhändler, weder im Jahre 1880 noch im Jahre 1881, das neue
Buch Herrn Professor Dr. Fr. Nietzsche zur Ansicht ins Haus gesandt hätte,
oder daß einer von ihnen das tat? Ich vermute, es wird wohl der oder jener
von ihnen sich ebenfalls gesagt haben: .Das muß man Nietzsche schicken, das
ist etwas für ihn.' Oder ich höre Jakob Burckhard, wie er beiläufig im Gespräch
zu Nietzsche sagt: .Sehen Sie sich doch einmal gelegentlich das ein, wenn Sie
Zeit haben! Vielleicht gelingt es Ihnen, aus dem Zeug klug zu werden; ich
kann weiß Gott nichts damit anfangen.' Endlich: im Herbst 1881 unmittelbar
nach dem Erscheinen des zweiten Teils brachte der Berner Bund eine große
Besprechung des Buches; Nietzsche las mit Vorliebe den Bund. In der ge-
lesensten Zeitung Basels, den Baseler Nachrichten, wies Professor Stephan Born,
also ein Kollege Nietzsches an der Baseler Universität, mit auszeichnenden
Worten auf das Werk hin.
Darum noch einmal: Ich kann zwar keine Spur davon auffinden, daß
Nietzsche den .Prometheus' im Jahre 1881 oder 1882 zugeschickt erhalten
hätte, allein es wäre verwunderlich, wenn ihm das Buch damals, da es als
erstaunliche literarische Neuigkeit bei den auserlesensten und berühmtesten Persön-
lichkeiten der Schweiz Aufsehen erregte, entgangen wäre."
Zu diesem Tatbestand kam seither kein neues historisches Material, es sei
denn die karge Bemerkung Bernouillis"): „Frau Overbeck las das Buch im
Jahre 1882 unmittelbar nach Erscheinen des zweiten Teiles und wollte bei
einem der Besuche Nietzsches in jenem Jahre das Gespräch darauf lenken;
Nietzsche verhielt sich aber völlig gleichgültig und achtlos, wie gegen etwas, das
ihn weder interessierte noch ihm bekannt war." Halten wir vorerst fest, daß
Nietzsche im Jahre 1882 anfangs Mai fünf Tage bei Ooerbecks zu Besuch
war und daß „Zarathustra" im Winter desselben Jahres vollendet wurde,
wenigstens Buch 1 bis 3'^).
Was viele andere über diese Frage geschrieben, ist kaum von Belang und
wenn Hermann F. Hofmann in bezug auf eine mögliche Abhängigkeit des
„Pronietheus" vom „Zarathustra" sagt: „Wir wissen jetzt bestimmt, daß es
sich umgekehrt verhält, daß Nietzsche Spittelers Werk gekannt hat" — so ist
sein „Wir" entweder als pluralis majestatis aufzufassen, oder es umfaßt nur
die, die jede neue Lehre durch ihre Neuheit für bewiesen erachten. Nein,
bestimmt wissen wir das noch lange nicht.
Was folgt unzweideutig aus diesem historischen Material?
1. Daß von einer Abhängigkeit nur bei Nietzsche gesprochen werden kann,
da doch der „Prometheus" vor dem „Zarathustra" bereits fertig war.
2. Die Möglichkeit dessen, daß Nietzsche das Werk Spittelers gekannt habe,
ist gegeben, jedoch ist die Wahrscheinlichkeit nicht so überzeugend, wie sie nach
den Ausführungen Spittelers auf den ersten Anblick erscheint, dagegen ist jegliche
Gewißheit vom historischen Standpunkt aus der Luft gegriffen.
Spitteler ist kein Literarhistoriker, er ist Dichter und hat als solcher wahr¬
haftig keinen Grund, allen Einzelheiten in Nietzsches Leben nachzugehen, die
der Wahrscheinlichkeit seiner Annahme Abbruch tun könnten f).
Erstens muß festgestellt werden, daß Spitteler die Behauptung. Nietzsche
habe den „Prometheus" vor Abfassung des „Zarathustra" gekannt, im Jahre
1908 nicht in dem bestimmten Ton des Kunstwartartikels von 1902 wiederholt,
sondern nur die Möglichkeit zu beweisen sucht. Ist ihn: inzwischen nach
genauerer Überprüfung seiner Erinnerungen die Gewißheit des Jahres 1902
zu einer Wahrscheinlichkeit herabgesunken? Es ist recht begreiflich, daß Spitteler
sich des Eindrucks höchster Wahrscheinlichkeit nicht erwehren konnte. Gewiß,
normalerweise wäre es undenkbar, daß ein Buch, das Kellers Beifall hatte,
das Widmann mit Begeisterung aufnahm, das Burckhard, Meyer, Frey, Over-
beck kannten, das als schweizerischer Verlagsartikel den einheimischen Buch¬
händlern am Herzen lag, daß dieses Buch zu Professor Dr. Nietzsche in Basel
keinen Weg gefunden hätte.
Allein Spitteler übersteht und die übrigen dachten auch nicht daran, daß
Nietzsche im Winter 1830 bis 1881 längst nicht mehr Baseler Professor war!
Ostern 1879 ging Nietzsche zur Erholung nach Genf, um seine furchtbaren Kopf-
und Augenschmerzen, die ihm schon seit langem die allerwichtigsten Lektüren
erschwerten, loszuwerden. Die Kur war erfolglos und nach seiner Rückkehr
reichte er der Erziehungsdirektion sein Abschiedsgesuch ein, das er mit Kopfweh
und Abnahme der Sehkraft begründete. Das Jahr 1879/80 war sein schlimmstes
Krankheitsjahr. Die Baseler Existenz wird im Frühjahr aufgelöst. Bücher
werden verpackt, verschenkt, Hefte verbrannt: „Was soll ich noch mit den Heften,"
sagt er der Schwester, „ich bin nächstens blind oder tot." Geistig und körperlich
gebrochen tritt er seine Wanderschaft an: Bremgarten, Zürich, Wiesen, Se. Moritz
sind seine Leidensstationen. Sein Zustand bessert sich wohl, aber noch im Juli
klagt er in einem Brief, daß es mit den Augen gar nicht besser werden will.
Im September geht er nach Hamburg*). „Im sechsunddreißigsten Lebensjahre
kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität, ich lebte noch, doch ohne
drei Schritte weit vor mich zu sehen. Damals — es war 1879 — legte ich
meine Baseler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten in
Se. Moritz und den nächsten Winter, den sonnenürmsten meines Lebens, als
Schatten in Naumburg." Vom Herbst 1880 als „Prometheus" noch nicht da
war, bis Anfang Mai 1882 als „Prometheus" doch längst keine Tagesneuheit,
kein notwendiger Gesprächsstoff mehr war, war Nietzsche kein einziges Mal in
Basel. Vom November 1880 bis April 1881 lebte Nietzsche in seiner genue¬
sischen Einsamkeit (Bernouilli I. 308), und vom Juli bis November desselben
Jahres finden wir ihn in Silsmaria bereits mit dem „Zarathustra" beschäftigt,
ohne in Basel gewesen zu sein, ohne mit jemanden aus dem Schweizer Kreise
gesprochen zu haben. Diese ganze Zeit stand unter dem Zeichen der Musik:
Peter Gast, Chopin, Carmen und Wagner füllen ihn aus, ihn den Nichtlesenden.
Da ist doch der Wahrscheinlichkeitsgrad ein anderer. Es scheint mir
durchaus denkbar, daß ein Totkranker, der sein Amt niederlegen mußte, weil
er das Lesen nicht mehr ertrug, sern von Basel, trotz den von Spitteler an¬
geführten Momenten den „Prometheus" nicht gelesen hat. Die Aufzeichnung
Bernouillis, Nietzsche wäre der Erwähnung des „Prometheus" seitens Frau
Overbeck später fremd und verständnislos gegenübergestanden, hat nunmehr
nichts Geheimnisvolles. Es folgt daraus auf alle Fälle, daß der „Prometheus"
für den „Zarathustra", mit dem sich Nietzsche schon seit 1879 herumtrug, nicht
die erste evokative Anregung hergeben konnte, da die angegebenen Umstände,
die Annahme, Nietzsche hätte den „Prometheus" im August 1881 gekannt, als
höchst unwahrscheinlich erscheinen lassen. Daß Nietzsche den „Prometheus" vor
August 1881 kennen gelernt hätte, ist nicht nur nicht unzweifelhaft, wie Wein-
gärtner, Hofmann, Ragaz und andere meinen, nicht einmal höchst wahrscheinlich,
wie Spitteler meint, es ist sogar im höchsten Grade unwahrscheinlich und das
Entgegengesetzte sozusagen sicher. Ob und inwiefern gegen Ende des Jahres
1882 da für Nietzsche eine weit größere' Wahrscheinlichkeit der Spitteler Lektüre
besteht, der „Prometheus" auf den bereits stark vorgeschrittenen „Zarathustra"
im einzelnen Einfluß gewonnen haben mochte, ist noch zu erörtern. Jedenfalls
fehlt hierzu derzeit jegliches historisches Material.
gewinnt für Nietzsche das Aussehen einer kriminalen Untersuchung. Wirft man
die Frage auf, die Spitteler mit so nobler Energie verneint hat. ob es denkbar
wäre, daß Nietzsche einen Einfluß, den er erfahren, dem er vielleicht den ent¬
scheidenden Gedanken des Übermenschen zu verdanken hatte, absichtlich und
bewußt hätte verschweigen, die Spuren verwischen und verheimlichen können, so
ist man gezwungen, die Frage zu bejahen. Das ist denkbar. Nietzsche war
unzweifelhaft von einem Originalitätswahn befallen, wie ihn in dieser Reizbarkeit
vielleicht nur noch Winckelmann ausweist, zur lebhaften Aufnahme jeden Ein¬
druckes übrigens ebenso überbereit wie Nietzsche. Was den „Zarathustra" an¬
belangt, hat sich der Originalitätswahn noch ganz besonders gesteigert, wie aus
der Schilderung im „Lene Komo" ersichtlich: „Hat jemand Ende des neun¬
zehnten Jahrhunderts einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeit¬
alter Inspiration nannten?" Hier wird der „Zarathustra" expre88l8 verbis
als göttliche Offenbarung bezeichnet. Nietzsche macht also, was dieses Werk
anbelangt, von vornherein den Anspruch auf größte Originalität. „Über die
Sparsamkeit, mit der Nietzsche tiefgehende Eindrücke seiner Lektüre unter Um¬
ständen auch den nächsten Freunden verbarg," machte bereits Overbeck seine
Beobachtungen*). Der Fall Stirner ist ein Analogon. Auch ihn hat Nietzsche
verschwiegen und Overbecks Aufzeichnungen haben uns erst auf diese Spur
geführt, wie auch der Hölderlinsche Einfluß entdeckt werden mußte und nirgends
eingestanden war. Schwerwiegend sind auch die in Frau Jda Overbecks
„Erinnerungen"**) angeführten Worte Nietzsches: „Nun habe ich es (Stirner)
Ihnen doch gesagt, und ich wollte nicht davon sprechen. Vergessen Sie es wieder.
Man wird von einem Plagiat reden, aber Sie werden das nicht tun, das weiß ich."
Wenn wir zum Originalitätswahn noch die Furcht vor Plagiats¬
beschuldigung hinzunehmen, so haben wir die Motive beisammen, aus denen
ein etwaiges Verschweigen des Spittelerschen Einflusses hätte hervorgehen
können.
All das aber ist nur Möglichkeit. All das kann, darf und will nichts
anderes sagen, als daß die Annahme, Nietzsche könnte den „Prometheus" ver¬
schwiegen haben, aus seiner Psyche heraus geschehen darf. Sie bleibt deshalb
eine historisch unerwiesene, wenn auch psychologisch zulässige Annahme.
Eine ernstliche Vergleichung beider Werke haben bisher nur Weingärtner,
Bernouilli und Ragaz vorgenommen. Vollständigkeit und noch mehr die kritische
Anwendung der gefundenen Ähnlichkeiten stecken noch in den Anfängen. Nach
Weingärtner äußert sich die Abhängigkeit des „Zarathustra" vom „Prometheus"
nicht nur darin, daß in beiden Werken der Held von zwei Tiergestalten begleitet
wird, „Prometheus" vom Löwen und vom Hündchen, „Zarathustra" vom Adler
und von der Schlange, sondern auch vielfach in den Gedankengängen, den
Bildern und der Sprache.
Bernouilli erweitert und bestimmt zugleich die von Weingärtner nur
genannten Ähnlichkeiten. Er weist (a. a. O. S. 390) darauf hin, daß bei
Spitteler nur ein Nietzschetier, der Adler vorhanden sei, bemerkt aber, daß, da
über die formale Berührung hinaus der Gedanke, wenn auch nicht die Be¬
zeichnung des Übermenschen als Leitmotiv Spittelers Dichtung durchzieht, der
Anschein einer beträchtlichen und höchst bedeutsamen Abhängigkeit unvermeidlich
ist. sobald die entsprechende Bekanntschaft feststeht (a. a. O. S. 388). In for¬
maler Hinsicht findet Bernouilli Nietzsches Virtuosität im Aphorismus vor dem
„Prometheus" bewiesen. „Den unerhörten Zauber der Stimmung schöpfte
Nietzsche ganz allein nur aus sich selbst und hierin übertrifft er Spitteler an
Pracht und Glanz, man mag vergleichen wo man will" (S. 390). „Als es
jedoch galt, für den eigenen Reichtum an Musik und Denkgehalt einen Rahmen
zu zimmern, könnte Spittelers Werk Vorbild geworden sein; was am stärksten
an .Epimetheus' erinnert, sind gerade die epischen Ingredienzien ini .Zarathustra'".
Von der formalen Seite hat Ragaz alledem nur noch die allerdings sehr
wichtige Beobachtung hinzuzufügen (a. a. O. S. 105), daß Nietzsches Zarathustra.
was die Sprachform anbetrifft, als etwas Fremdartiges unter seinen Werken
steht; „weder in einem früheren noch späteren Werke hat er sich des biblischen
Stils bedient; es ergab sich auch nicht, wie bei Spitteler, aus seinem Bildungs¬
gang" (S. 101). „Sowohl Spitteler als Nietzsche verwenden den biblischen
Stil. Bei Spitteler fallt das nicht auf, da dieser bilderschwere Stil der natür¬
liche Ausdruck der Eigentümlichkeit seiner Kunst ist; Spitteler ist der Dichter der
Überwelt, der Visionär, in dessen Phantasie auch die abstraktesten Dinge plastische
Gestalt annehmen. Bei Nietzsche hingegen erscheint er als etwas durchaus
Fremdes und auch nur in den? einen Werke.
Die Ähnlichkeit bezieht sich aber auch auf poetische Gestalten.
Karl Spitteler eigentümlich sind Personifikationen seelischer Eigenschaften
und Vorgänge. So begleiten den Prometheus ein Löwe und ein Hündchen,
Personifikationen des Geistes und des Herzens, es kommen vor Kinder des
Löwen und Hündchens. Dieselben Figuren kehren auch in Zarathustra wieder;
auch dort erscheint der Held in Begleitung zweier Tiere: des Adlers und der
Schlange; auch dort wird der Geist unter anderm zu einem Löwen, die Weisheit
zu einer Löwin, und auch dort hat die Löwin Weisheit ein Junges."
In Übereinstimmung mit Bernouillis Auffassung der epischen Ingredienzien
im „Zarathustra" weist Ragaz noch nachdrücklich darauf hin, daß Nietzsche die
Verschmelzung der beiden Pläne: des Sentenzbuches und des Zarathustras im
Sinne des heutigen Werkes, Ende 1882, eben als „Prometheus" im Buchhandel
erschien, vollzog. Also auch Ragaz meint wohl, daß der Rahmen, die epische
Einheit dem „Prometheus" entnommen wäre und stützt die Annahme mit dem
Datum: Ende 1882.
Bei genauerem Hinsehen büßt das alles mächtig an Beweiskraft ein.
Weingärtner stutzt vor den verwandten Tiersymbolen: bei Spitteler Löwe
und Hündchen, bei Nietzsche Adler und Schlange.
Bekanntlich hat Nietzsche „zu einer Zeit (nämlich anfangs 1881), da der
erste Teil des Epimetheus ihm auch im günstigsten Falle kaum schon vorgelegen
haben könnte", in den „Fröhlichen Wissenschaften" (Aph. 314) den Löwen und
den Adler verwendet und da selbst seinen Schmerz „Hund" genannt.
Daß beide, Spitteler wie Nietzsche, unabhängig voneinander zu dieser Tier¬
symbolik gekommen sein konnten, liegt bei der großen Verwandtschaft ihrer
Bildungsquellen auf der Hand. Der Pastorsohn und Pforta-Schüler Nietzsche,
der Theologe Spitteler waren beide bibelsche, haben beide von der Bibel un¬
zählige inhaltliche und formelle Anregung erhalten. Der Prophet Daniel,
Kapitel 7, Vers 4, spricht von vier Tieren: „Das erste wie ein Löwe und hatte
Flügel wie ein Adler." Nietzsche vermochte seiner Schlange nicht einmal den
neutestamentarischen Dialekt, geschweige ihre Abstammung abzustreifen, wie der
umgestaltungskräftigere Spitteler: „Möchte ich klug von Grund aus sein, gleich
meiner Schlange," ist doch nur eine Wunschform der Mahnung: „Seid klug
wie die Schlangen." Beide waren auch in der Antike und besonders in den
Kultproblemen der Antike heimisch. Beide haben vielfach die Wandlung ver¬
folgt, wie ägyptische Gottheiten mit Tierköpfen, Osiris mit dem Sperberkopf,
die Göttin Sechmet mit dem Löwenkopf, zu griechischen Menschengöttern mit
Tierattributen wurden, und beide kannte» wohl Athene, als sie die Eule nicht
neben sich stehen ließ, sondern den Eulenkopf auf den eigenen Schultern trug.
Konnten dermaßen die zwei theologisch gebildeten und bewanderten Neuhumanisten
Nietzsche und Spitteler nicht nur zu leicht unabhängig voneinander auf den
Gedanken kommen, der Göttergestalt, die jeder sich selber erweckt, hie der Halb¬
gott Prometheus, hie der Titanide Zarathustra, Tiere beizugeben, wie sie allen
Göttern, die sie kannten, von jeher beigegeben waren?
Für die Beurteilung der Abhängigkeit ist die Gemeinschaftlichkeit so nahe¬
liegender Symbole weniger ergiebig, als die Art ihrer Anwendung. Da stehen
sich aber Spitteler und Nietzsche diametral entgegen.
Prometheus lebt in engster Gemeinschaft mit seinen Tieren. Die selbst¬
verständliche und unbedingte Herrschaft des Menschen vorausgesetzt, ist sein
Verhältnis zu ihnen naiv und zärtlich, ein Ergebnis langjährigen, unausgesetzten
Zusammenseins und Verstehens. So steht der Bauer zu seinem Vieh. Ohne
Sentimentalität, ohne Rührung legt er ihnen alle Last auf, die aus ihrem
Schicksal folgt, keinen Deut mehr. Das Schicksal, wofür er sich nicht verant¬
wortlich fühlt und sei es noch so grausam, einmal erfüllt, liebt er sie mit
alltagsgewohnter, ruhiger Zärtlichkeit, beherrscht sie als geistiger Lenker der
Arbeit am Tag und es fehlte nicht viel, daß er des Abends mit ihnen, wie
mit den übrigen Knechten, Mägden und Helfern als primu8 inter pare8 zu
Tische säße. Spittelers Löwe und Hund sind in dieser Art die individualisierte
Gattung und daß sie ihre Gattungseigenschaften im höchsten Grade besitzen,
daß sie sich mit einem erhabenen Menschenschicksal sinnlich verketten, — darin
sind sie Individuen.
Zarathustras Löwe und Schlange dagegen sind Allegorien, stilisierte
Wappentiere, die gar kein Arbeits- und Alltagsschicksal haben. Sie haben weder
ein mit Zarathustra vielfältig verschlungenes Schicksal noch eine sichtbare,
gattungsmäßig bedingte Tierseele; sie sind nur Stickerei an Zarathustras Priester¬
mantel, bei der Arbeit sind sie nicht bei ihm. Sie sind nicht, sie repräsentieren
bloß. Sein Adler hat nur eine Eigenschaft, er ist mutig, seine Schlange nur
eine, sie ist klug. Wir sehen das ganze Leben von Spittelers Tieren, wir sehen
sie in tausend Gestalten, Lagen, Bewegungen. Bei Zarathustra eine einzige
Vision: „Und siehe! Ein Adler zog in weiten Kreisen durch die Luft, und an
ihm hing eine Schlange, nicht einer Beute gleich, sondern einer Freundin: denn
sie hielt sich um seinen Hals geringelt."
Prometheus ist ein naiver, der mit seinen Tieren lebt, mit ihnen sein
Schicksal teilt, indem er sie beherrscht und in die er zugleich sein Innerstes
hineinpr.ojiziert; Zarathustra dagegen ist ein in Seide einherschreitender Hoher-
priester, der stolz auf seine Wappentiere blickt, nur ihre abstrahierten, stilisierten
Eigenschaften kennt, deren dekorativer Ausdruck sie geworden und ruft ihnen
von der Ferne zu: „Mögen mich meine Tiere führen." Prometheus aber schläft
mit den seinigen auf einem Lager.
So zeigt die Anwendung der Tiersymbolik bei Nietzsche und Spitteler nur
Verschiedenheit.
Ganz unzulänglich ist die Annahme, Nietzsche müsse den Gedanken des
Übermenschen aus dem „Prometheus" genommen haben, falls er ihn gekannt
habe. Selbst dann nicht. Ich will ganz davon absehen, daß schließlich jede
Heldenvorstellung dem Übermenschen nah verwandt und so alt wie die Menschheit
ist. Es sei nur auf die gemeinsame Quelle hingewiesen, aus der zwei hervor-
ragende Geister zu gleicher Zeit mit historischer Notwendigkeit denselben Ge¬
danken schöpfen mußten: eben den Übermenschen. Zweifach ist die Quelle. Die
Deszendenztheorie, der Darwinismus erfüllte die Geister in der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts. Aus der Auffassung, daß der Mensch seinen Weg
vom einzelligen Urbazillus durch die ganze Skala der organischen Welt hindurch
genommen, daß der Aufstieg von Art zu Art erfolgt ist, daß auch der einzelne
Mensch dieses jahrtausendalte Werden als Embryo mit der Geschwindigkeit der
Biogenose in den neun Monaten immer wieder durchmacht, dieser Gedankengang
weist doch notwendig in die Zukunft, in der wir auch die jetzige Art werden
überwunden haben, und der Mensch den Übermenschen gebiert. Muß nicht ein
visionär-optimistisch veranlagter Geist aus dem frischen Eindruck der Deszendenz
den Übermenschen ersehen? Müssen sie es nicht alle? Spitteler, Nietzsche —
und weit weg von Basel: Ibsen? Hat er nicht zur selben Zeit um den stolzen,
freien Adelsmenschen gerungen? Und nur beiläufig: die Deszendenztheorie
knüpft ein enges Verwandschaftsband, ein Blutband zwischen Mensch und Tier.
Jedes Tier sagt uns von nun an: auch du warst einst, was ich bin. Damit
legt sie doch auch dem Dichter nahe, in diese Vergangenheit hinabzusteigen, den
Menschen, der zwischen Tier und Übermensch steht, zum Teil in die über¬
wundenen Stufen wieder einzukleiden, sein Inneres ihm als Adler, Schlange.
Löwe, Hund verkörpert an die Seite zu stellen. Die Erzählung und die
erzählende Dichtung ist eine Betätigung der menschlichen Erinnerungsgabe.
Die Deszendenztheorie erscheint in der poetischen Umgestaltung als das gro߬
artige Epos der Menschwerdung und sie selbst führt notwendig jeden Dichter,
der sich in diese philogenetische Menschheitserinnerung vertieft, zur ästhetischen
Krönung der Gattungsapotheose: zum Übermenschen. Doch nicht der Darwinsche
Gedanke allein förderte den in den achtziger Jahren vielerorts auftauchenden
Gedanken des Übermenschen. Der Weltmoment selbst rief ihn als Widerspruch
mit lauter Stimme.
Die Zeit steht im Siegeszeichen der liberalen Bürgerschaft. Sie allein
vermag die günstige Konjunktur nach dem Kriege zu ergreifen und. durch den
materiellen Aufschwung dem bisherigen papiernen Recht die Tatsache ihrer
politischen Gleichstellung hinzuzuerwerben. Dieser politische Höhenstand ent¬
spricht naturgemäß einem ästhetischen Tiefstand. Ohne formale Tradition, ohne
Gesittung, ohne Lebenskultur steht plötzlich die neue Klasse als herrschende Macht
da. Sie fordert die Opposition heraus. Aus ihrer eigenen Mitte wird der
neue Adel hervorgehen, der die liberale Demokratie selbst bis zum Ende des
Jahrhunderts so vollständig umgestaltet, daß sie sich plötzlich als konservative
Adelskaste dem quatnöms stat, dem Proletariat, feindlich gegenüber sieht. Die
ersten Opponenten aus ihrer Mitte, die ersten Adelsucher in der Ära des
nivellierenden Bürgertums, waren eben Spitteler. Ibsen, Nietzsche. Nietzsche
war ein Aristokrat, dem die Baseler Adelsherrschaft — denn da fiel sie noch
nicht, sie verlor nur die Provinz Baselland im Bürgerkrieg — begreiflicher war
als vielen Fremden. Spitteler, der ersten Generation nach dem Baseler Bürger¬
krieg angehörig, sah als Student in Basel und als Einwohner in Liestal, der
neuen Hauptstadt des neuen Kantons Baselland, den Konflikt mit eigenen
Augen. Er lebte als Schüler und Student in Liestal und fuhr täglich nach
Basel hinein, um von den Patrizierprofessoren zu lernen. Künstler neigen
naturgemäß immer zur Aristokratie, außerdem sind die Schweizer überhaupt
das aristokratischste Volk in Europa. Der alte Geburtsade! aber fiel, wenigstens
im Reiche und in der Schweiz verlor er bereits früher die Führerschaft, und
der neue Geistes- und Geldadel war noch nirgends zu sehen, — so mußten
ihn die Seher erträumen, da die Menschheit ohne Adel nun mal nicht leben
kann. Die Sucher nach einem neuen, echten Adel im Zeitalter der Natur¬
wissenschaft konnten sich nicht von genealogischen Äußerlichkeiten führen lassen,
der Almanach von Gotha schien ihnen nicht verläßlich. Mußte da das Gefühl
einer bevorstehenden neuen Auslese der Menschheit nicht wieder in der Vor¬
stellung des Übermenschen münden?
„Die epischen Ingredienzien des .Zarathustra'" geben für Bernouilli einen
weiteren Beweis für die Abhängigkeit vom „Prometheus". Unter diesen
epischen Ingredienzien kann nichts anderes verstanden werden, als die Gestalt
des Zarathustra und alle eigentliche Handlungen, die äußere Erscheinung von
Zarathustras Schicksal, denn das ist das einzige, was als Rahmen die lose
aneinandergereihten Sprüche zusammenhält. Nach Ragaz konnte die Ver¬
schmelzung des ursprünglichen „Zarathustra"-Planes, mit einem hiervon unab¬
hängigen Buch von Sprüchen zum heutigen „Zarathustra", Ende 1882, über¬
haupt nur durch die Lektüre des „Prometheus" erfolgen. Wie ist's damit
beschaffen? Der epische Rahmen in „Zarathustra" ist ein untergeordnetes
Ornament, weit weniger gewichtig, als in „Bocaccio" oder in „Tausend und
eine Nacht". Was geschieht eigentlich, episch genommen, im „Zarathustra"?
„Als Zarathustra dreißig Jahre alt war, verließ er seine Heimat und
den See seiner Heimat und ging in das Gebirge. Hier genoß er seines
Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde." Nach
den 10 Jahren kehrt er zu den Menschen zurück. Auf dem Wege ereignen
sich noch die zwei symbolischen Abenteuer im „Till Ulenspiegel"-Stil und dann
beginnt Zarathustra zu sprechen. Er spricht, — das ist alles und was er
spricht, sind eben „Nietzsches" Sprüche, die er jahrelang gesammelt, die, so
schön und tief sie sein mögen, mit „Zarathustra" und oft miteinander herzlich
wenig zu tun haben, sondern sie haben es mit Nietzsche und mit der Philosophie
zu tun. Kaum vier bis fünf Mal unterbricht eine epische Stelle die sast fünf¬
hundert Seiten starke Rubauat Nietzsches. So viel ist sicher, daß eben diese
epischen Stellen von ärmster Unoriginalität sind, nur weisen sie auf andere
Muster entschiedener als auf Spitteler hin. Untersuchen wir diese Fälle einzeln.
Der Eingang. Es wurde hervorgehoben, daß Zarathustra gleich dem
Prometheus sich in der Blüte seiner Jahre von der menschlichen Gesellschaft
abschließt, — hier müsse also wieder eine Entlehnung vorliegen. Das heißt
nun wieder, die Kopfgröße nach den Haaren messen. Vorerst sei erwähnt, daß
der Einleitung des „Zarathustra" ein Erlebnis Nietzsches zugrunde liegt, eines,
das als eine weit sichtbare Gemarkung mitten auf seinem Lebensweg steht:
das Auftauchen des Gedankens der ewigen Wiederkunft, im August 1861 in
Sils Maria. Bernouilli (I, 321) entnimmt das Zitat der Andreas Salomo:
„Er hatte die Absicht, ihre Verkündigung davon abhängig zu machen, ob und
wieweit sie sich wissenschaftlich werde begründen lassen. Wir wechselten eine
Reihe von Briefen über den Gegenstand, und immer ging aus Nietzsches
Äußerungen die irrtümliche Meinung hervor, als sei es möglich, auf Grund
physikalischer Studien und der Atomlehre, eine wissenschaftlich unverrückbare
Basis dafür zu gewinnen. Damals war es, wo er beschloß, an der Wiener
oder Pariser Universität zehn Jahre ausschließlich Naturwissenschaften zu studieren.
Erst nach Jahren absoluten Schweigens wollte er dann, im Fall des gefürchteten
Erfolges, als Lehrer der ewigen Wiederkunft unter die Menschen treten."
Dieses ereignet sich in der Stunde, da „Zarathustra" konzeptionsreif wird
und Nietzsche verpflanzt das Geschehnis ohne poetische Gestaltung und Umbildung
in die Einleitung des „Zarathustra".
Abgesehen hiervon ist wieder die Anwendungsart desselben Motivs, wie bei der
Tiersymbolik bei beiden Dichtern eine grundverschiedene, ja entgegengesetzte.
Prometheus zieht sich mit Epimetheus zurück, sie bauen sich ein Haus und
gründen Rousseauisch im Gegensatz zu der verderbten Gesellschaft eine neue,
reine, eigene. Ihre ganze Tat ist von vornherein als soziale Revolution
gedacht, denn sie verschwinden nicht dem Gesichtskreis der anderen, sondern
lagern sich ihnen gegenüber als Feinde. — „Und legten einen Balken vor den
Weg und sperreten mit Schloß und Riegel wohl das Tal und nahmen kein
Gesetz und keine Sitte an, und war ihr einziges Gebot der eigenen Seele
Flüstern, wenn sie sinnend wandelten in Wald und Hain und an des Berges
dust'gen blumigen Geländen.
Und über alle dem, so ward besonders ihre Art und anders ihre Sprache,
also daß sie sagten „r" wo alle sprachen „l", und daß sie rücklings sich ver¬
neigten, wo die andern sich bekreuzigten in ihres Herzens andachtvoller,
staunender Verehrung.
Und ward daraus ein gegenseitiges Mißverhältnis hin und her, und es
geschah, wenn ab und zu ein Zufall oder auch geselliges Verlangen sie ver¬
führte in der Brüder Kreis, so stockte allsofort das Spiel und wurde stumm
das trauliche Gespräch — und fanden keinen Platz und paßten nirgends hin
und waren allerorten fremde unwillkommene Gäste. —"
Das sind also keine Einsiedler, sondern soziale Revolutionäre, die sich von
der Menschheit nicht absondern, sondern sich ihr entgegenstellen.
Wie anders Zarathustra. Er geht ins Gebirge, um zehn Jahre seines
Geistes und seiner Einsamkeit zu genießen. Die tiefe Kluft, die den
„Prometheus" vom „Zarathustra" trennt, öffnet sich in diesem Gegensatz:
Prometheus lebt — Zarathustra denkt. Prometheus braucht die Menschen,
wenn auch zur Feindschaft, um sich, im Widerspruch zu ihnen, zu behaupten.
Zarathustra braucht sie nicht, er sieht und hört sie zehn Jahre nicht, er baut
kein Haus, er besucht die Welt nicht, er steht nicht auf wider die Gesellschaft,
er steht außerhalb derselben, weil er mit sich allein zu tun hat. Er steht der
Natur gegenüber und nachdem er zehn Jahre gedacht, spricht er zuerst zur
Sonne und wird dann andere zehn Jahre zu den Menschen reden — nicht
tun, nicht mit ihnen kämpfen, sondern sie unterrichten, predigenl Keinen
einzigen Balken wird er vor den Weg legen, kein einziges Tal sperren, keiner
Fliege wehren. Andere epische Ingredienzien sind vom neuen Testament voll¬
kommen abhängig; so die Einleitung „Von der schenkenden Tugend" (S. 109):
„Als Zarathustra von der Stadt Abschied genommen hatte, welcher sein Herz
zugetan war und deren Namen lautet: ,Die bunte Kuh° — folgten ihm viele,
die sich seine Jünger nannten, und gaben ihm das Geleit. Also kamen sie
an einen Kreuzweg: da sagte ihnen Zarathustra, daß er nunmehr allein gehen
wolle." Oder .Das Kind mit dem Spiegel' (S. 119): „Hierauf ging
Zarathustra wieder zurück in das Gebirge und in die Einsamkeit seiner Höhle
und entzog sich den Menschen: wartend gleich einem Sämann, der seinen
Samen ausgeworfen hat."
„Das Zeichen" (S. 474) enthält noch eine Stelle, die der Prometheus-
Theorie wieder die irreführende äußerliche Wahrscheinlichkeit verleiht. „Und in
Wahrheit, als es helle vor ihm wurde, da lag ihm ein gelbes mächtiges Getier
zu Füßen und schmiegte das Haupt an seine Knie und wollte nicht von ihm
lassen vor Liebe und tat einem Hunde gleich, welcher seinen alten Herrn wieder¬
findet. Die Tauben aber waren mit ihrer Liebe nicht minder eifrig als der
Löwe; und jedesmal, wenn eine Taube über die Nase des Löwen huschte,
schüttelte der Löwe das Haupt und wunderte sich und lachte dazu."
Wieder hindert uns ein recht naheliegendes persönliches Erlebnis Nietzsches
das Urbild dieser Vision in der fragwürdigen Anregung des Prometheus zu
suchen. Der Löwe und die Tauben! — das ist Venedig. Kurz vorher war
Nietzsche doch da. Es ist bereits betont worden, daß Nietzsches ornamentale
Auffassung seiner Tiere etwas Heraldisches hat. Sieht man doch in Venedig
auf Schritt und Tritt den archaistisch erhabenen San Marco mit dem assyrischen
Bart und einem friedlich grinsenden Löwen zu seinen Füßen, um den die Tauben
flattern. Von dem ist Spittelers Löwe ungefähr ebenso entfernt, wie der vene¬
zianische heraldische Wappenlöwe von jenem wundervollen ägyptischen Relief,
auf dem schmerzdurchwühlt ein Leu. das Bildnis großartiger Willensentfaltung
hochaufgerichtet auf den Vorderbeinen steht, während er den pfeildurchbohrten
Hinterleib abgestorben wie einen toten Lappen hinter sich einherschleppt.
Die epischen Ingredienzien des „Zarathustra" zeigen uns Nietzsche das
biographische oder das literarische Muster schülerhast kopierend. Keines von
beiden vermag er episch umzugestalten, einfach zu erzählen ist ihm nicht gegeben,
ein Beweis seines epischen Unvermögens. Wäre sein unepisch geschaffenes
Talent demi starken epischen Zauber des „Prometheus" zur Zeit der „Zarathustra" -
arbeit ausgesetzt gewesen, es Hütte sich diesem überlegenen Magnet restlos ergeben
müssen. Daß das nicht der Fall ist, daß alle scheinbaren Ähnlichkeiten auf
andere näherliegende Anregungen zurückgehen, daß die epischen Bestandteile des
„Zarathustra" in der Anwendungsart der Motive eine Unabhängigkeit vom
„Prometheus" aufweisen, die der epischen Unselbständigkeit Nietzsches nicht zu¬
zutrauen ist, — das alles scheint mir Beweis genug, daß Nietzsche zur Zeit
der Abfassung des „Zarathustra" den „Prometheus" nicht gekannt hat.
Die Übereinstimmung in der Sprachform ist der letzte Abhängigkeitsbeweis
der uns wieder als notwendiges Ergebnis gemeinschaftlicher Voraussetzungen
historisch erklärbar scheint. Ragaz hebt hervor, daß der gehobene Bibelstil, die
rhythmische Prosa des „Prometheus" in Spittelers Schaffen organisch eingefügt ist,
während dieselbe Sprache bei Nietzsche als ein Fremdkörper dasteht, daß Spitteler
als Theologe von der Bibel orientiert war, Nietzsche dagegen als Philologe nicht.
Der Bibelstil ist tatsächlich in beiden Werken unverkennbar. Während aber
Spitteler die düsteren Klänge des Alten Testaments seiner deutsch-schweizerischen
Sprachmelodie schöpferisch anpaßt, übernimmt Nietzsche unverarbeitet den helleren
Spruchstil des Neuen Testaments. Übrigens steht auch in Spittelers Schaffen
die Anlehnung an hebräische Dichtung vereinzelt da. Im „Prometheus" klingt es
nach der Davidsharfe, im Olympischen Frühling ist aus einem Psalmisten ein
Aste geworden. Dieser Weg von Nazareth nach Athen ist übrigens der
problematischen Dichtererscheinung Spittelers einzige Lösung. Nazareth plus
Athen plus lebendiges Deutschtum hat es uns alten unverbesserlichen Europäern
seit jeher angetan. Das ist nun einmal unser Schicksal und solche Städte büßen
ihren Zauber je länger, je weniger ein. Ich habe einen teueren Freund, einen
Süddeutschen, der sich unfehlbar in jede Hamburgerin verliebt, die ihm in die
Nähe kommt. So gibt es Reaktionen im Leben der einzelnen, wie der Völker,
im Geistigen wie im Leiblichen, die einfach geographisch bedingt sind.
Wie kommt Nietzsche gerade zur Zeit des „Prometheus" auf Mythos und
Bibel, fragt weiter Ragaz als Argument. Für solche Fragen gibt es der Ant¬
worten tausend. Wagner war eine beiden gemeinsame Anregung, beide fanden
sich später ganz unabhängig voneinander in der Opposition gegen seine Musik.
Die Gestalt des „Zarathustra" hatte sich lange vor „Also sprach Zarathustra"
in Nietzsches Phantasie fetzgesetzt. Die Person des Religionsstifters allein war
demnach schon ein stärkerer Hinweis auf jenen Religionsstifter, den Nietzsche als
Gegner vor sich sah, den er mit den eigenen Waffen besiegen wollte, den
Jenseitsprediger Jesus. Und entlehnt er das Geschoß der Waffenkammer des
Feindes, so ist das weiter kein Wunder und bedarf keiner dritten Erklärung
durch den „Prometheus". Nietsches Kolleg 1875/76 „Altertümer des religiösen
Kultus der Griechen" konnte ihn auf „Zarathustra" geführt haben (Förster II. 326).
Frau Förster behauptet, daß er seit seiner Jugend den Bibel-Psalmen-Hymnenton
geliebt und ein Beweis hierfür ist seine Beschäftigung mit Hölderlins Hyperion
wo er den Reiz rhythmischer Prosa auf sich wirken ließ. Auch Bernouilli
(I. 367) weiß davon, daß: „bereits in den siebziger Jahren gelegentlich in ihm
der Traum auftaucht, ein Buch im Psalmenton zu schreiben."
Schließen wir nun hier vorläufig die Akten der Untersuchung und fragen,
was der vielen Worte kurzer Sinn ist. Soll die Abhängigkeit des „Zarathustra"
vom „Prometheus" hiermit geleugnet werden? Nein, es soll nur das neuerdings
als gesichert hingestellte Dogma in seiner Zweifelhaftigkeit begriffen werden.
Diese Abhängigkeit ist nichts weniger als gewiß. Sie ist möglich, doch kann
dem vorhandenen Material keine Sicherheit entnommen, die äußeren Ähnlich¬
keiten dagegen sehr wohl aus der Geistesstruktur der Zeit ohne Abhängigkeit
erklärt werden. Die Literaturgeschichte wird aber im Zweifelfalle mit Verzicht
auf wirksame und plausible Abhüngigkeitstheorien stets zur Annahme der
parallelen Betätigung schöpferischer Geister neigen, wo die Gedankenströme einer
Zeit den Parallelismus so nahe legen, besonders, wenn neben den Abhängigkeiten
grundlegende Gegensätzlichkeiten zu sehen sind. Es sei auf einen weiteren, tief¬
gehenden Gegensatz zwischen „Prometheus" und „Zarathustra" zum Schluß ver¬
wiesen. Ich muß voraussenden, daß ich sämtliche Deutungs-, Erklärungs- und
Grundgedankentheorien, die bisher über Spittelers „Prometheus" aufgestellt
wurden, die Spittelers im Kunstwart mit Inbegriffen, für grundverfehlt halte
und die einzelne Behandlung dieser Theorien meiner Spitteler Monographie,
allwo ich des Raumes eigener Herr bin, mir vorbehalte. Die Auffassungen
Weingartners, Spittelers, Bernouillis, Schalks, Hofmanns sind falsch, weil sie
alle diese Dichtung auf einen ethischen Gedanken zurückführen, während ihr nur
ein ästhetischer zugrunde liegt. Nicht der Sieg des Strebers gegen den wahr¬
haft Großen, nicht die Fragen des Gewissens und der Freiheit, der individuellen
oder der traditionellen Ethik sind der Inhalt der Prometheusdichtung, sondern
es ist der einzige Inhalt den ein christliches Epos seit Dante, Milton, Klopstock
hat und haben kann: die Erlösungsgeschichte der Menschheit. Der „Prometheus"
ist ein Erlösungsepos. Es stellt nichts mehr und nichts weniger dar, als das
Schicksal des Reiches Gottes auf Erden. Ich habe an dieser Stelle*) das Wesen der
epischen Weltanschauung formuliert, als die größtmögliche Erinnerungsferne, die
der ethisch unbeteiligte Betrachter, der Antiprophet, der Dichter an sich bei
seiner Weltenbetrachtung einnehmen kann. Dem judäisch-christlich-griechisch vor¬
bestimmten Geist Spittelers, der in einem Maße der Ausschließlichkeit Epiker
(im Sinne der Epopöe, nicht des Romans) ist, wie einer seit Jahrhunderten
die Erde nicht mehr betreten, entfaltet sich das Weltgeschehen in der Frage nach
der Möglichkeit einer Erlösung, nach der Frage: ist Jesus von Nazareth möglich,
ist er für uns auf dem Kreuze gestorben oder nicht?
In einer wundervollen kleinen Novelle: „Bergamo" erzählt Jens Peter
Jacobsen von einem Prediger, der die Seelen mit der Schreckensbotschaft auf¬
gepeitscht hat: Christus hätte den Tod nicht erlitten, sondern die Unmöglichkeit
der Erlösung kurz vor dem consummutum eingesehen, „sich vom Kreuz gerissen
und gen Himmel gefahren, — wir sind nicht erlöst," Das ist auch Spittelers
Antwort, er wiederholt sie zweimal im „Olympischen Frühling", aber sein Lied
vom Lande Meon hätte allein genügt.
Spittelers Pessimismus, der konsequenteste, den ich bisher gefunden habe,
bleibt bei diesem Negationen nicht stehen. Er dringt zu einem höchsten, letzten
Wert vor, der aber seiner Verneinung die Krone aufsetzt und der nicht seine,
sondern die epische Weltanschauung für alle Zeiten darstellt. Nachdem er alle
Werte, die dem Menschen erdenkbar und erlebbar, strahlend vorgeführt, durchlebt,
Hereu Gebrochenheit erfahren hat, bleibt ein einziger Wert, den der Epiker in
die Ewigkeit hinüberrettet und damit seiner Weisheitsschlange sich in den Schwanz
beißen läßt: „Denn der Weisheit letzte — ist der Schein!" „Willkommen WeibI
Du einzig lebenswerte Lüge!" Für Spitteler gibt es kein „Ding an sich".
Wir sehen dagegen Nietzsche als vollblütigen Optimisten. Er hat das
„Ding an sich" bekämpft, ist aber davon nicht losgekommen. Nietzsche ist doch
Prophet, der lehren und bessern will und an den Übermenschen glaubt und ein
Heil erwartet. Er stellt kein Schicksal dar, er unterrichtet, wobei Wert und
Tiefe seines Unterrichts nichts zur Sache zu sagen haben. Bei Spitteler kommt
ein absoluter Pessimismus als unwillkürliche, ja von ihm ungeahnte Abstraktion
seiner Weltenschicksalsschilderung zutage, vor dem er, selber erstaunt, stehen bleibt;
vielleicht dachte er sichs garnicht, daß es so schlimm um uns steht und nun geht
er lächelnd weiter, froh, daß seine Gestalten ihn über seine Philosophie belehrt
haben. Nietzsche schlägt den Mantel des Zarathustra um sich, wie der
Prediger den Talar und geht hin, seinen Glauben an ein Diesseits, an eine
Erdennacht des Übermenschen zu verkünden, er geht hin, den Galiläer zu be¬
kämpfen, dem wir alle zwei Jahrhunderte regelmäßig einen feindlichen Ritter
an den Hals zu schicken gewohnt sind, er bekämpft ihn mit feinen eigenen
Waffen, glaubt an eine neue Erlösung und hat den Imperativ überall im
Munde, wo Spitteler das Jmperfektum gebraucht. Er spricht: Du sollst, —
wo dieser sagt: es war. Zwischen den beiden zu wählen — wenn wir schon
das verfluchte Wählen nicht lassen können — ist weder eine poetische,
noch eine philosophische Wertfrage, sondern eine Frage des Temperaments.
Es sind zwei inkommensurable Größen. Was haben diese Männer mit¬
einander zu schaffen? Nichts. Höchstens dieses: daß beide den Gedanken¬
inhalt derselben weltgeschichtlichen Stunde, da die Begründung des Reiches und
die Deszendenztheorie alle Geister in Bann schlug, in der Einheit der eigenen
Persönlichkeit bewältigen konnten. Der eine ward berufen, um ihn lehrend
auszusprechen, der andere um ihn erlebend zu gestalten.
an begegnet oft der Ansicht, daß die Fideikommisse dem heutigen
Geist durchaus widersprächen. Und doch liest man dann wieder:
wer sieht, wie die Landgüter immer schneller die Herren wechseln,
wie schon längst die Landwirtschaft bloßer Erwerb geworden ist,
der muß wohl wünschen, daß diese wenigen alten Bande nicht
auch noch gelockert werden.
Der anscheinende Widerspruch erklärt sich so: einerseits verurteilt man —
und zwar mit Recht — den übergroßen spekulativen Besitzwechsel, der in unsrer
Landwirtschaft seit einigen Jahren eingenssen ist, anderseits will die heutige
alles nivellierende Zeit nichts mehr wissen von einem Sonderrecht, von der
„Sicherung des Glanzes" einer — meist adligen — Familie, mit der man zu
landrechtlicher Zeit die Einrichtung der Fideikommisse begründete. Dabei über¬
sieht man aber eins: Das Fideikommißwesen ist längst hinausgewachsen über
den einstigen privatrechtlichen Rahmen; es hat heute in sehr hohem Grade
volkswirtschaftliche, übrigens aber auch staatsrechtliche Bedeutung gewonnen
(Herrenhanswahlen); und vielleicht steht heilte ini Vordergrund die (agrarisch-)
politische Bedeutung, die unter dem absoluten Königtum noch fehlte oder doch
von anderer Art war. Wenn man also die Berechtigung des Fideikommiß-
wesens heute beurteilt, so sollte man nicht mehr lediglich private und
familiäre, sondern auch volks- und staatswirtschaftliche, ja selbst politische
Gesichtspunkte in Rechnung ziehen. Es wäre ein staatsmännischer Fehler, wollte
man ein Institut, das nach anderthalbhnndertjährigem unverändertem Bestehen
ja allerdings der zeitgemäßen Reform bedarf, ohne eingehende und sachliche
Prüfung den leidenschaftlichen Angriffen opfern, die sich von Zeit zu Zeit in
agrarfeindlichcn Blättern erheben. Der parteilose und nüchterne Blick wird den
guten Kern nicht übersehen, den diese Einrichtung auch für die heutigen Ver¬
hältnisse trotz einiger Rückständigkeiten noch hat.
Daß die Eigenart des landwirtschaftlichen Betriebes besondere Vererbungs¬
grundsätze bedingt, ist von jeher anerkannt worden. Dabei tritt ein Haupterfordernis
wesentlich in den Vordergrund, das gleichzeitig privatwirtschaftliche und volks-
wirtschaftliche Bedeutung hat: es muß eine gewisse Bevorzugung des Guts-
übernehmers gegenüber den andern Erben stattfinden. Wird ihm das Gut zu
dem vollen Verkaufswert angerechnet, so hat das zur Folge, daß er nicht leben
kann, daß durch die Schwäche an Kredit bzw. Betriebskapital eine gesunde
Fortentwicklung des Betriebes gehindert wird und daß notwendige Meliorationen
unterbleiben. Dies ist die zwingende wirtschaftliche Veranlassung zu gewissen
ländlichen Erbgewohnheiten geworden, nach denen der Übernehmer einen
ermäßigten Übernahmepreis zugebilligt erhält; und auch das Bürgerliche Gesetz¬
buch hat ihnen Rechnung getragen, indem es als Übernahmepreis für ein Landgut
im Zweifel den Ertragswert ansetzt, der wohl immer erheblich geringer sein
wird als der Verkaufswert.
Allein solche Erbgewohnheiten leiden an einem großen Fehler: Der bevor¬
zugte Übernehmer kann, wenn er lediglich unter dem allgemeinen bürgerlichen
Recht steht, alsbald seine Bevorzugung realisieren, und dadurch entsteht dann
der privatwirtschaftliche Nachteil, daß die anderen Erben umsonst verzichtet
haben, und der volkswirtschaftliche, daß das Gut nun doch, statt in einer
kräftigen, oft wieder in einer schwachen Hand sich befindet. Die Bevorzugung
des Übernehmers findet also ihre notwendige Ergänzung darin, daß er rechtlich
besonders gebunden wird, das Gut nicht zu verkaufen oder doch nicht zu seinem
alleinigen Vorteil. Die erste Alternative ist beim Fideikommiß verwirklicht, die
letztere, weniger strenge, beim bäuerlichen Anerbenrecht. Bei diesem erhält der
Anerbe nicht nur das Gut zum Ertragswert, sondern er erhält noch ein Drittel
von der ganzen Erbschaft als Voraus, muß diesen Voraus aber herauszahlen,
wenn er das Gut innerhalb einer bestimmten Anzahl von Jahren (fünfzehn
bis zwanzig) verkauft. Die Wirkung dieser Bestimmung ist wohl in den meisten
Fällen die gewünschte. Denn nach einer längeren Reihe von Jahren wird der
Besitzer, dessen Kinder inzwischen auf dem Gut herangewachsen sind, auch ohne
die Strafe der Voraus-Herauszahlung den Wunsch haben, das Gut unter den¬
selben Bedingungen, wie er es bekommen, weiter zu vererben. Das Anerbenrecht
stellt sich also der übergroßen Mobilisierung des Grundbesitzes in den Weg und
wirkt besitzbefestigend. Die ganze Rentengutsgesetzgebung und damit die innere
Kolonisation (Besitzbefestigungsgesetz vom 26. Juni 1912) hat man neuerdings
unter seine Herrschaft gestellt.
Danach ist vielleicht die Frage nicht ganz von der Hand zu weisen, ob
das Anerbenrecht nicht überhaupt das Problem der ländlichen Vererbung in
befriedigender Weise löst. Indessen muß man stets mit den historisch gewordenen
Verhältnissen rechnen. Das Anerbenrecht ist hinsichtlich des alten (nicht durch
neue Kolonisation begründeten) Besitzstandes nur in einzelnen Teilen Preußens
teils von alters her überkommen, teils eingeführt, und es hat stets nur für
Bauerngüter gegolten. So würde also für die Besttzbefestigung der größeren
Güter, deren Betriebsnatur im Grunde ganz dieselben Lebensbsdingungen hat,
es an jedem ihnen Rechnung tragenden Erbrecht gefehlt haben, wenn hier nicht
das Fideikommißrecht, einem wirklichen wirtschaftlichen Bedürfnis entsprechend,
sich eingebürgert hätte. Das historisch Gewordene aber soll man nicht blind¬
lings vernichten, sondern daran anknüpfen und auf ihm weiter bauen.
Allerdings muß dieser Weiterbau heute auf neue, nämlich nicht mehr rein
privatwirtschaftliche Grundlagen gestellt werden. Und diese grundsätzliche Neu¬
orientierung für die Ziele, die man den Fideikommissen stecken soll, führt zu
weitgehenden praktischen Folgerungen. Vom früheren Standpunkt aus konnte
ein Fideikommiß kaum groß genug sein; der Besitzer sollte ja eben in glänzender
Stellung sein (die landrechtlichen Bestimmungen, auf den Geldwert der heutigen
Zeit ungerechnet, setzen ungefähr einen Markmillionär voraus; siehe unten) und
verhältnismäßig leicht von seinem Überfluß für Frau und jüngere Kinder zurück¬
legen können. Vom neuen, Staats- und volkswirtschaftlichen Standpunkte stellt
sich die Sache ganz anders: nicht der Glanz der Familie, sondern die Betriebs¬
fähigkeit des Gutes sowie seine Befestigung als Besitz soll gesichert werden, nicht
die Zusammenballung großer Komplexe und Latifundien ist erwünscht, sondern
eine wirtschaftlich nach den Verhältnissen des betreffenden Landesteils richtig
bemessene Größe; die dauernde Vereinigung aber mehrerer Fideikommisse in
derselben Hand ist hiernach grundsätzlich unerwünscht. Ferner kann, wie sich
die Verhältnisse praktisch entwickelt haben, heute im allgemeinen ein kleiner
Fideikommißbesitzer für seine jüngeren Kinder in kleinen Verhältnissen ebenso
gut oder schlecht sorgen, wie ein großer in großen. Endlich besteht kein
Zweifel, daß z. B. vier kleine Fideikommißgüter von je dreitausend Morgen
eine viel größere nationale Widerstandskraft besitzen, als ein großes von zwölf¬
tausend Morgen: die baltische Revolution hat dies genugsam erwiesen; es
kommt nicht nur darauf an, daß der Grundbuchtitel, sondern daß auch die
leitenden Menschen national sind.
Bevor wir nun jedoch auf einzelne Reformvorschläge eingehen, müssen wir
die Gründe kurz erwähnen, die gemeinhin in Literatur und Presse für und
wider das Fideikommiß vorgebracht werden. An empfehlenden Momenten steht
in erster Linie die Erhaltung des Waldbestandes; da fast die Hälfte des
Fideikommißareals Wald ist, so würde, wenn jemals eine völlige Aufhebung
der Fideikommisse stattfände, schon aus klimatischen Gründen unbedingt gleich¬
zeitig ein besonderes Waldschutzgesetz ergehen und tief in die gegenwärtigen
Eigentumsverhältnisse eingreifen müssen. In zweiter Linie kommt in Betracht,
daß in Zeiten starken Besitzwechsels — wie er neuerdings stattfand und noch
stattfindet — es für die ehrenamtliche kommunale Verwaltung auf dem Lande
von größter Bedeutung ist, daß durch einige Fideikommisse ein fester Stamm
von Besitzern dem Kreise und der Provinz erhalten bleibt. Dazu kommt in
völkischer Beziehung eine starke nationale Widerstandskraft; nie hätte das bal¬
tische Deutschtum sich gegen die russisch-lettische Revolution so erfolgreich behauptet,
wenn es nicht durch Fideikommißverfassung gefestigt wäre. Ferner kristallisiert
sich gerade an den befestigten Grundbesitz fast stets auch ein Stamm von seß-
hasten Landarbeitern. Gerade diese völkische Bedeutung des Fideikommisses
darf man heute, da unsere Volkskraft nicht mehr in der alten Weise vorwärts
geht, ja nicht außer acht lassen. Und endlich, mag man auch die innere
Kolonisation in vielen Gegenden für noch so nötig halten: die Erhaltung eines
leistungsfähigen Großgrundbesitzes ist für die Landwirtschaft ebenso wichtig, als
für Handel und Gewerbe das Vorhandensein tüchtiger Großbanken, Großfabriken
und des Großhandels. Sonst fehlt es dem bäuerlichen und kleinen Grundbesitz,
der vier Fünftel des gesamten deutschen Bodens sein eigen nennt, an der wirt¬
schaftlichen und politischen Führung. Es liegt nicht in der Billigkeit, den
ländlichen Großbetrieben die Daseinsberechtigung abzusprechen, gewerbliche Gro߬
unternehmungen aber zu bewundern; gewiß wirken die letzteren wirtschaftlich
besonders befruchtend, aber sie zerstören auch und verbrauchen in besonders
hohen: Grade die Volkskraft.
Zuungunsten der Fideikommisse wird nielfach angeführt, daß ihr Grund¬
steuerreinertrag geringer sei, als der durchschnittliche und daß dies ein Beweis
schlechter und rückständiger Wirtschaft sei. Allein die Grundsteuerveranlagung
ist fast fünfzig Jahre alt und beweist schon deshalb nichts für heutige Ver¬
hältnisse; in meinem ehemaligen landrätlichen Kreise haben sich die Wert¬
verhältnisse seitdem infolge teilweiserJntensivierung der Wirtschaften, aber auch durch
die Entwertung des schweren Bodens, vollkommen geändert. Der sehr erklärliche
Grund des geringen Reinertrages der Fideikommisse liegt aber überhaupt in ganz
andrer Richtung, nämlich in dem oben erwähnten starken Vorherrschen des
Waldbestandes. Mehr Berechtigung hat der allgemeine Hinweis, daß die
Fideikommißwirtschasten oft, wenn auch keineswegs immer (in meinem Kreise
gehörten sie zu den besten), nicht so intensiv betrieben werden, wie dies auf
mittelgroßen Gütern der Fall ist. Indessen sehe ich darin keinen dauernden
Zustand; unsere Landwirtschaft befindet sich gerade jetzt mitten im Übergang
zur Intensität. Dabei gehen die Mittelgüter voran, die großen und die kleinen
(bäuerlichen) folgen überall etwas langsamer. So löst sich der vermeintliche
Vorwurf in eine durch die Natur der Sache allgemein bedingte Erscheinung
auf. Wenn ferner heute oft hervorgehoben wird, der befestigte Grundbesitz
trage einen Monopolcharakter, so liegt darin doch nur ein sehr kleines Körnchen
Wahrheit (siehe weiter unten), denn von dem Boden Preußens befinden sich
immer noch fünfzehn Sechzehntel, oder, wenn man vom Waldbestande absieht,
etwa vierundzwanzig Fünfundzwanzigstel im freien Verkehr und sind der Ent¬
faltung der wirtschaftlichen Kräfte überlassen. So scheint denn auch die
angebliche Einengung des freien Gntsoerkehrs, über die namentlich in
Schlesien geklagt wird, aus politischen Gründen aufgebauscht zu sein;
praktisch hat sie sich, wenigstens in den übrigen Provinzen, bisher nicht fühlbar
gemacht.
Einer Reform bedarf das bestehende Fideikommißrecht aber allerdings.
Wie wäre das auch anders möglich bei einem Rechtsgebiet, das seit Friedrich
dem Großen keinen Ausbau erfahren hat und das mit den fortgeschrittenen
und verfeinerten Verhältnissen der Gegenwart nicht mitgegangen ist! In der
heutigen Fiderkommißpraxis, d. h, in den bestehenden Stiftungsurkuuden ist die
Singularsukzession meist weit strenger durchgeführt, als es im Interesse der
Volkswirtschaft angemessen, ja als es im Familieninteresse nötig ist. Infolge¬
dessen hat das ganze Institut bis heute einen wenig herausgearbeiteten, fast
möchte man sagen, rohen Charakter. Die heutigen Stifter von Fideikommissen
kämpfen oft selbst gegen die nach heutigem Wirtschafts- und Entwicklungsstande
zu wenig Spezialisierte, gewissermaßen starre Form, in die das Landrecht, aber
wohl noch mehr die Praxis das Fideikommiß gefaßt haben. Das längst ab¬
gestandene Obereigentum der ganzen Familie muß endlich beseitigt werden.
Denn es hat zur Folge, daß der Besitzer hinsichtlich der Verfügung über „die
Substanz" und hinsichtlich deren Belastung zu Meliorationszwecken übermäßig
eingeschnürt ist. Der Grund und Boden hat zwar bei uns bis heute nicht
gerade Monopolcharakter erlangt, aber er ist doch viel wertvoller geworden,
und die gesamte deutsche Volkswirtschaft ist an seiner Verwendung und Bewirt¬
schaftung heute in ganz anderer Weise interessiert, als früher zuzeiten des isolierten
und extensiven Agrarstaates (Fleischnot!). Daher müßten selbst berechtigte Familien¬
rücksichten — solche liegen aber vielfach gar nicht vor — heute vor dringenden
volks- und staatswirtschastlichen Interessen zurücktreten. In Rußland hat man,
Zeitungsnachrichten zufolge — trotz des Widerstandes der baltischen Abgeordneten
— den Abverkauf von Majoratsland zu Kolonisationszwecken allgemein, d. h.
anscheinend ohne Erfordernis der besonderen aufsichtlichen Genehmigung im
Einzelfall, freigegeben. Bei uns würde eine solche völlige Freigabe wohl
zu weit gehen; indessen ersieht man aus dem russischen Vorgange, daß heute
eben noch ganz andere als privatrechtliche Gesichtspunkte im Fideikommißwesen
mitsprechen, nämlich staatswirtschaftliche, ja hoch politische. Es kann auch bei
uns kein Nachteil für das Allgemeininteresse darin gesehen werden, wenn einmal
ein Stück Majoratsland sich in Majoratskapital verwandelt.
Im Zusammenhange hiermit wird man sich auch der Notwendigkeit nicht
verschließen können, die Zusammensetzung der Fideikommißaufsichtsbehörde
wesentlich zu ändern. Bei aller Anerkennung, die man der jahrhundertelangen
Wirksamkeit der Oberlandesgerichte auf diesem Gebiete zollen kann, wird man
doch nicht übersehen dürfen, daß die Senate derselben berufen waren und sind,
stets in allererster Linie den privatrechtlichen Gesichtspunkt hervorzukehren. Das
Fideikommißwesen ist aber dem bloßen Privatrecht längst entwachsen und daher
muß man, anderen neuzeitlichen Erfahrungen folgend, eine besondere kombinierte
Behörde für die fernere Wahrnehmung der Fideikonmußaufsicht schaffen. Man
könnte dieselbe etwa so aufbauen, daß sie unter Vorsitz des bisherigen Senats¬
präsidenten (des Oberlandesgerichts) aus weiteren vier Mitgliedern bestände,
nämlich dem bisherigen Dezernenten, einem Verwaltungsbeamten (z. B. dem
Oberpräsidialrat) und zwei Laien (Fideikommißbesitzern). Einen staatlichen
Forstbeamten oder einen Beamten der Landwirtschaftskammer mit beratender
Stimme zuzuziehen, müßte statthaft sein. Dagegen dürfte eine völlige Abtrennung
der Fideikommißaufsicht von den Justizbehörden, die man auch erwogen hat,
zu weit gehen; es handelt sich doch immer noch um ein auf rein privatrecht¬
lichen Boden erwachsenes Institut, und man soll auch hier den Faden nicht
abschneiden, der an die Vergangenheit anknüpft. Die in der vorgeschlagenen
Weise zusammengesetzte Aufsichtsbehörde dürfte sowohl für die Beurteilung der
privaten Rechtsfragen wie der heute einschlägigen wirtschaftlichen und öffent¬
lichen Fragen berufen sein und würde die Grenze des aussichtlichen Gebietes
in geeigneten Fällen (Minderjährigkeit, Mißwirtschaft) weiter stecken können,
als das heute der Fall ist; auf sie könnte die heutige Mitwirkung der Agnaten,
die nicht immer rein sachlich und nicht immer frei von persönlichen Tendenzen
ist, zum guten Teil übergehen.
Ein oft gerügter Mißstand des Fideikommißwesens ist die meist fehlende
Abfindung der jüngeren Kinder. Nach der landrechtlichen Auffassung sollte der
Fideikommißbesitzer durch Festsetzung eines Mindesteinkommens von 2500 Talern
so reichlich gestellt sein, daß er in allen Fällen für die jüngeren Kinder genügend
viel zurücklegen könnte. Dieses System ist vom heutigen Standpunkte, wo alle
Rechtsverhältnisse so viel feiner ausgearbeitet sind, ein recht plumpes zu nennen;
denn niemand steht dafür ein und niemand kontrolliert, daß der Fideikommi߬
besitzer diese lediglich moralische Pflicht des Zurücklegens auch erfüllt. Dazu
kommt, daß der landrechtliche Mindestsatz von 2500 Talern (derGeldwert war damals
etwa der sechsfache, der damalige Mindestsatz entspricht also einem heutigen
Einkommen von 45000 Mark) heute kein reichliches Einkommen mehr darstellt,
und daß er als barer Reinertrag ohne Anrechnung der Naturalien gemeint
war. Rechnet man die Naturalien hinzu, die früher allgemein unberücksichtigt
blieben, aber seit den Miquelschen Steuergesetzen einen sehr wesentlichen Teil
des landwirtschaftlichen Einkommens ausmachen, so kommt man nach heutigen
Verhältnissen auf einen noch viel höheren Satz. So sind mit dem Sinken des
Geldwertes inzwischen eine große Menge Fideikommisse entstanden, die wegen
ihrer Kleinheit zu landrechtlicher Zeit unmöglich gewesen wären und deren
Besitzer nicht ohne weiteres einen Überschuß behufs Ansammlung übrig behalten.
An sich dürften nach dem oben Gesagten diese kleinen Fideikommisse nun
zwar keineswegs ein volkswirtschaftlicher Nachteil sein. Es muß nur, da die
Voraussetzung des Landrechts für die Ansammlung einer Abfindung weggefallen
ist, auf anderm Wege für die Abfindung gesorgt werden, damit das Fidei-
kommißwesen nicht schlechter eingerichtet ist als das Anerbenrecht. In einem
Entwurf von 1903 suchte die Regierung durch Einführung einer Abfindungs¬
stiftung dem bestehenden Mißstände abzuhelfen, stieß aber damit auf den Wider¬
stand der Fideikommißbesitzer selbst, die in dieser Maßregel und den mit ihr
verbundenen jährlichen Rücklagen eine starke Beschränkung ihrer bisherigen Ein¬
nahmen und ihres freien Verfügungsrechts über die Erträge sahen. Wie hätten
sie die Sache auch anders auffassen sollen I Gleichzeitig wurde damals die Ein¬
führung einer sogenannten Verbesserungsmasse vorgeschlagen, die auch aus
jährlichen Rücklagen gespeist werden und zu Meliorationen dienen sollte. Gegen
die letztere Einrichtung wurde nicht ohne Berechtigung seitens der Fideikommi߬
besitzer eingewandt, daß sie nur dem Gut das Geld entziehen werde, das besser
in dasselbe hineinzustecken sei. Hinsichtlich beider Massen aber besteht das Be¬
denken, daß sie tot und mechanisch wirken müssen, während eine gesunde Fort¬
entwicklung, die gleichzeitig auf Billigung seitens der Beteiligten selbst Anspruch
hätte, bestehen müßte in erweiterter Bewegungsfreiheit und lebendiger Betätigung.
Hier ist nun zu erwähnen, daß' das Landrecht selbst keineswegs, wie meist
angenommen wird, die Vereinigung des gesamten Gutsertrages allein in der
Hand des Besitzers als unbedingtes Erfordernis hinstellt. Vielmehr muß nur
dem zeitigen Besitzer der (nach heutigen Verhältnissen in der Tat recht bescheidene)
Reinertrag von 1250 Talern zur freien Verwendung übrig bleiben; der ganze
weitere Überschuß — abgesehen wohl von den Naturalien — kann mit „Prä¬
stationen" belegt werden, und zwar sowohl zum Besten der Kinder des jedes¬
maligen Fideikommißbesitzers, als zu Reserve- und Verbesserungszwecken. Bei
einer Reform wird es also im wesentlichen darauf ankommen, daß das, was
das Landrecht bereits fakultativ zuläßt, was die Praxis aber fast beseitigt hat,
obligatorisch wird. Zu diesem Ziel mag es viele zweckmäßige Wege geben.
Einer hat sich bereits freiwillig herausgebildet: es ist dies die Übernahme einer
hohen Lebensversicherung durch den Fideikommißbesitzer; indessen kann sie
schwerlich zur gesetzlichen Verpflichtung gemacht werden. Ein andrer Weg
sei hier erwähnt: Man lege jedem Fideikommißbesitzer die Befugnis bei,
in gewissen satzungsmäßig bestimmten oder behördlich kontrollierten Grenzen
zugunsten der Witwe und der im Besitz nicht folgenden Kinder letztwillige Ver¬
fügungen zu treffen, insbesondere Leibrentenvermüchtnisse auszusetzen. Diese
Bestimmung ist in einer mir bekannten Stiftungsurkunde vom Königl. Kammer¬
gericht bestätigt worden und hat auch die landesherrliche Genehmigung gefunden.
Eine derartige Regelung beschränkt die gegenwärtigen Fideikommißbesitzer nicht
in ihren Einkommensverhältnissen — was aus praktisch-politischen Gründen
von erheblicher Bedeutung ist —, sie macht die besondere Abfindungsstiftung
unnötig und setzt ein Lebens- und verantwortungsvolles Verfügungsrecht an
Stelle einer mechanischen Zwangsansammlung. Im allgemeinen wird ja auch
der Familienvater am besten entscheiden können, wie die finanzielle Dotierung
seiner Angehörigen einzurichten ist; nur daß er während seines Lebens sehr oft
nicht die Charakterstärke hat, die nötigen Rücklagen zu machen, oder daß er
infolge der immer neuen Anforderungen des Betriebes nicht dazu kommt. Das
Gut selbst soll also die Sparkasse auch des Fideikommißbesitzers bleiben, aus
der er bei seinem Tode schöpft. Auf diese Weise wird gleichzeitig die An¬
sammlung einer besonderen Verbesserungsmasse entbehrlich. Und dies ist heute
von erheblicher Bedeutung, da die Notwendigkeit immer intensiver werdender
Wirtschaftsweise die Besitzer heute mehr als früher dazu zwingt, ihre etwaigen
Überschüsse wieder in das Gut hineinzustecken. Der Fideikommißbesitzer befindet
sich heute vor dem Widerstreit, ob er die etwaigen Überschüsse für seine jüngeren
Kinder zurücklegen oder ob er damit die dringend erforderlichen Gutsmeliorationm
ausführen soll. Dieser Widerstreit verschärft sich noch durch die oft unnötig
erschwerte Aufnahme von Meliorationsdarlehen. Wenn der Besitzer künftig nach
meinem Vorschlage den durch Meliorationen gehobenen Ertrag zum Teil
testamentarisch seinen nicht im Besitz folgenden Erben zuwenden kann, so würden
sich daraus zweifellose Vorteile für die ganze Wirtschaftsführung und alle
Dispositionen des Besitzers ergeben.
Wird so das Fideikommiß dem heutigen Anerbenrecht genähert, so könnte
es auch für die Mittelgüter Bedeutung gewinnen, die sich heute leider in einem
übermäßigen Besitzwechsel befinden. Und damit würde aus einer Sonder¬
einrichtung des Großgrundbesitzes, die fortgesetzt die Abneigung und Kritik
anderer Berufsstände hervorruft, eine Einrichtung der ganzen Landwirtschaft
werden, die dem innersten Wesen des landwirtschaftlichen Betriebes entspricht und
die der richtige Typ des selbständigen deutschen Familiengutes sein könnte.
Eine gewisse Modifikation des allgemeinen Erbrechts läßt sich nun einmal nicht
unigehen, will man einen seßhaften, selbständigen Stand von Gutsbesitzern
erhalten und der Üoerschuldung der Landwirtschaft entgegenwirken; diese Üoer¬
schuldung wird sonst infolge der immer ausgesprochener hervortretenden reinen Geld¬
wirtschaft und infolge unseres Hypothekenrechts immer von neuem wieder eintreten.
Bei dem ländlichen Mittel- und Großbesitz stehen sich heute zwei extreme
Besitzformen gegenüber, die allzu bewegliche Besitzart des bürgerlichen Rechts
und die allzu unbewegliche Besitzart des Fideikomnnßrechts. Aufgabe der Gesetz¬
gebung wird es sein, eine geeignete Mittelform zu finden, die einerseits den
angestammten oder erworbenen Besitz und Herd in der Familie befestigt, anderseits
aber Verkauf, Abverkauf und Belastung nicht nichr von starren stiftungsmäßigen
Bedingungen abhängig macht, mittels deren gewissermaßen „der Tote über den
Lebendigen herrscht", sondern von der lebensvollen Einsicht des Gesetzgebers
und einer Aufsichtsbehörde, in der die Besten der Berufsgenossen mitwirken.
Man wende nun gegen meine Vorschläge nicht ein, die bestehenden Fidei-
kommißberechtigungen seien wohlerworbene Rechte ex pacto et provielentia
nmjorum, in die der Staat nicht eingreifen dürfe. Solche juristische Über¬
feinheit hält vor den Forderungen des modernen öffentlichen Lebens nicht Stand.
Und auch, daß für die Fideikommißgründungen der hohe Stempel von 3 Prozent
(des Bruttowertes) hat bezahlt werden müssen, kann maßvolle Änderungen des
ursprünglichen Fideikomnnßrechts nicht ausschließen. Es ist hier auch zu berück¬
sichtigen, daß die Stempelabgabe überhaupt erst 1822 eingeführt ist, daß gerade
aber die großen Fideikommisse meist schon aus dem achtzehnten Jahrhundert
stammen. Will man die bestehenden Fideikommißrechte schonen — und gewiß
empfiehlt es sich hier, suaviter in noae» vorzugehen —, so lasse man, ab-
gesehen von einigen allgemein als dringend anerkannten organisatorischen
Abänderungen, die alte Form für die alten Stiftungen einstweilen bestehen und
behandle zunächst nur alle neuen Anträge nach der neuen Form. Wird dann
gesetzlich den Besitzern der alten Fideikommisse freigestellt, zu der neuen, freieren
Form überzugehen, so wird es vermutlich nur eine Frage der Zeit sein, ob
sie von dieser Befugnis Gebrauch machen. Denn die Aussicht auf eigene freiere
Bewegung und die Möglichkeit, die nachgeborenen oder die vielleicht nur weib¬
lichen Kinder angemessen auszustatten, wird stiller, aber ebenso sicher wirken,
wie ein Gewaltakt des Gesetzgebers.
Ganz neu kommt dem Burschen das Dorf vor, so lange ist es her, seit er
zum letztenmal an einem Sonntagnachmittag durch seine Gassen ging.
Da gucken die Männer und Weiber zum Fenster heraus. Die Männer sind
hemdärmelig; Sonntags haben sie weißleinene Hemden an, deren Brustteil und
Ärmelbindchen steif gestärkt sind. Die Weiber tragen städtisch-modische Kleider,
aber immer ein paar Jahre hinter der modernsten Moderne, denn man verbraucht
seine Sonntagskleider nicht in einem kurzen Jahre.
So liegen sie auf den verschränkten Armen und schauen auf die Gasse und
schwatzen mit den Männern, die mit der Zigarre im Munde ins Wirtshaus gehen.
Und die Mädchen spazieren in langen Reihen Arm in Arm in den Schloßgarten,
der Sonntagsnachmittags für das Publikum geöffnet ist.
Und ein Pärchen geht zur Hochzeit laden. Sie geht schamig neben ihm.
Er dreht den Kops unternehmend nach allen Seiten und läßt sich als Hochzeiter
bewundern. Seine Freunde ziehen eine Strecke weit entfernt hinterdrein. Wenn
das Paar in ein Haus gegangen ist, um zu sagen, daß man sich am kommenden
Mittwoch zum Hochzeitsmahle einfinden solle, dann schießen die Burschen unten
im Hofe aus Pistolen.
So ist das Sonntags auf den Gassen, durch deren Treiben Karl möglichst
unbeachtet hindurchzuschlüpfen trachtet; denn sie sind immer noch unfreundlich zu
ihm. Auf sein Grüßen danken sie nicht oder erwidern es mit mürrischen und
verächtlichen Mienen.
Auf der Graden Gasse ist er ungenierter. Da gehen die vielen Wormser,
die an den schönen Spätsommertagen ihrer Stadt entfliehet? und den Spelzheimer
Park heimsuchen.
In der Graden Gasse steht auch das Pfarrhaus; eine Freitreppe führt zum
Eingang. Sie ist immer blank gefegt; wie geleckt, sagen die Bauern. Aber das
Pfarrhaus selbst ist nicht in bestem Zustande. Der Pfarrer ist selbstlos und will
aus dem Kirchenvermögen nur wenig für seine eigenen Bedürfnisse verwendet
haben. Der Olanstrich ist verwittert und blättert an vielen Stellen ab. Der
Regen hat schmutzige Streifen an die Wände gezeichnet. Die Haustür ist rissig.
Zur Rechten greift man nach dem rostigen Glockenzug. Karl zieht daran.
Die Pfarrersköchin öffnet ihm; sie ist rotbäckig und hat ein lachendes Gesicht.
Viele wundern sich, daß sie noch lachen kann, weil sie meinen, ein richtiges
frommes Pfarrhaus müsse sein wie ein Kloster: streng, ernst und schweigsam.
Aber Bawett, die Köchin, ist rotbäckig und froh. Als sie jedoch den Sohn des
Selbstmörders erblickt, wird auch sie ernst und gemessen und fragt mit veränderten
Mienen, was der Besucher wolle.
Den Herrn Pfarrer einmal sprechen.
Da müsse er ein wenig warten, es sei eine Schwester beim Herrn Pfarrer.
Eine junge Krankenschwester sei selbst krank geworden; die Strapazen seien zu
groß. Jawohl, und noch etwas: bei den Schwestern wäre gar manchmal Schmal¬
hans Küchenmeister, weil die Bauern nicht genug hinbrachten. Die Schwestern
seien doch arm und auf Almosen angewiesen. Aber Almosen! Pfeifen, Herzchen,
keine Almosen, sondern von dreckigen Lausbuben Grobheiten!
So sagt Bawett, die rotbäckige, sonst immer lachende Köchin, und verschwindet
in der Küche, indes Karl auf den großen roten Sandsteinplatten des Ganges steht
und denkt: wie die einem die Meinung sagen kann!
Es ist nichts langweiliger als das Warten in einem Pfarrhaus. Eine
gestorbene Ruhe geistert darin. Karl ist es, als müsse da auch eine Leiche in
einem der vielen Zimmer liegen. Und der Hausgang ist so kahl. Decke und
Wände sind weiß getüncht. Nur der einen Wand Leere ist durch ein großes
Kruzifix unterbrochen, von dem der wehleidende Gottessohn herabschaut in das
müde, durch rotes Glas schimmernde Lichtchen, das auf eisernem Arme vor ihm
zu seiner Ehre brennt.
Die Langeweile weckt seltsame Gefühle in dem Burschen. Er muß immer-
während an seine Grobheit gegen die Nonne denken. Vielleicht hätte er doch nicht
so heftig gegen sie sein sollen. Wenn Tante Seelchen ihm schon gesagt gehabt
hätte, was sie ihm dann abends gesagt hatte, wäre er es sicher nicht gewesen.
Und nun hört er, daß die Schwestern nicht immer satt zu essen haben. Da reut
es ihn tief, roh und brutal gegen eine dieser Krankenpflegerinnen gewesen zu sein,
und er denkt nicht mehr daran, daß auch sie hart und unchristlich an ihm
gehandelt hat.
Als die Schwester gegangen ist, macht der Pfarrer die Türe weit auf
und ruft:
„Das Nächste!"
Karl beeilt sich, einzutreten in die große Stube, die nach der Straße zu zwei
Fenster hat. Zwischen beiden ein weißangestrichener Stehpult, an den anderen
Wänden hohe, bis an die Decke reichende Büchergestelle. In der Mitte des
Zimmers steht ein runder Tisch von weitem Umfange. Ein paar Stühle sind
darunter geschoben.
Der alte grauköpfige Pfarrer schreibt an seinem Stehpult. Er ist ein ganz
Alimodischer, der noch mit Gänsekielen schreibt.
Wie da einer sagt: Gelobt sei Jesus Christus! dreht er sich herum, um
nachzusehen, wer es sei.
„Ah, der Salzer, Salzer, hin, hat Schon ein paarmal die Christenlehr
geschwänzt, Christenlehr geschwänzt. Wie geht das zu, he, geht das zu?"
Der alte Pfarrer spricht jedes vierte oder fünfte Wort doppelt, wenn er sich
mit jemand unterhält. Nur auf der Kanzel ist er den Pfarrern beizuzählen, die
nichts zweimal sagen.
„Willst dich entschuldigen, hä, entschuldigen?"
Obwohl Karl Salzer eigentlich nicht gekommen ist, um Entschuldigung wegen
Versäumnis der Christenlehre zu bitten, tut er das und denkt, daß so das Gespräch
wenigstens in Fluß komme.
„Herr Pfarrer, das werden Sie entschuldigen. Aber ich war immer bei
meiner Tante Seelchen; das ist jetzert drüben in Pfeddersheim I"
„Ja ja!" sagt der Pfarrer, „in Pfeddersheim, hin, hin, in Pfeddersheim;
Hab's auch schon gehört. Nicht mehr gefallen hier in Spelzheim, hä, nicht mehr
gefallen? War auch eine böse Sache mit dem Vater, böse Sache. Darf man
nicht tun so was, darf man nicht tun, das hat Gott verboten. Na, du kannst
aber doch ein tüchtiger Kerl werden. Aber — unbedingt das Wort Gottes hören,
und in die Christenlehre kommen. An dem Christenlehrsonntag mal nicht nach
Pfeddersheim gehen. Ein über den anderen Sonntag tut's auch, tut's auch ganz
gut. So, geh jetzt schön in Gottesnamen!"
Da ist Karl erstaunt, dasz er schon gehen soll, noch ehe er etwas geredet hat.
„Herr Pfarrer, nix für ungut — ich hätt Ihnen noch was zu sagen, noch
eine Bitt vorzubringenI"
Der Pfarrer, der sich schon wieder an seinen Papieren zu schaffen gemacht
hat, wendet sich wieder um und fragt:
„Na, und das ist?"
Jetzt arbeitet es doch mächtig in der Seele des Burschen. Er weiß, daß er
nun eine Sache ausfechten soll, deren Mißlingen ihn unglücklich und klein machen
würde. Er sucht in Gedanken rasch nach einem Anfangspunkt des Gespräches,
das er an den Pfarrer richten will, und sagt dann:
„Herr Pfarrer, Sie haben vordere von meinem Vater gesprochen. Er hätte
da etwas getan, was Gott verboten hätt. Das ist wahr; das hab ich eingesehen
und hab mich auch drein geschickt, daß er net kirchlich begraben worden ist. Ich
hab mir alles arg zu Herzen genommen und bin nicht mehr unter die Leut
gangen. Aber ich hab doch meinen Trost gehabt. Meine Tante Seelchen hat so
schöne Worte an mich gerichtet, die haben mich ganz ruhig gemacht. Sie hat
mich darauf hingewiesen, daß unser Vater ja nach dem Schuß, den er auf sich
abgegeben hat, noch eine Zeitlang gelebt habe, und daß er in dere Zeit all sein
Verschulden aus tiefstem Herzen bereut haben könnt, daß er, seinem früheren
christlichen Leben nach, ganz gut eine vollkommene Reue erweckt haben könnt, und
das hätte ihn doch vor der ewigen Verdammnis bewahrt. Ist das so, Herr
Pfarrer, ist das vielleicht net möglich?"
Der Pfarrer hat aufmerksam zugehört und versucht, aus den Worten des
Burschen einen Schluß auf seine Bitte zu ziehen, aber da ist das Schlußziehen
schwer. Vielleicht will er für seinen Vater eine Messe lesen lassen. Er antwortet:
„Gewiß ist das möglich, das ist gar nicht ausgeschlossen. Wir müßten ihn
und uns glücklich preisen, wenn es der Fall war. Und weil das gewesen sein
kann, wollen wir eifrig für die Seelenruhe des Abgeschiedenen beten. Denn wenn
er sich auch vor den Qualen der Hölle gerettet hat, so wird er doch seine Sünden¬
strafen im Fegfeuer abbüßen müssen. Da wollen wir beten, daß er bald daraus
erlöst werde und in die Freuden der ewigen Herrlichkeit eingehe I"
Karl meint, daß der Pfarrer nach diesen Worten Amen sagen werde wie
nach der Predigt, denn es war eine Predigt und keine doppelt gesprochene Silbe
dabei. Aber der Pfarrer fährt weiter fort:
„Wir wollen auch eine Messe für ihn lesen, damit ihm das gnadenreiche
Blut Christi zugute komme. Soll ich eine Meßbestellung in mein Buch eintragen?"
„Herr Pfarrer, wenn Sie wollten, wär mir's arg recht. Aber, Herr Pfarrer,
täten Sie die Meß für meinen Vater auch von der Kanzel herunter verkündigen
wie bei den anderen Leuten? .Am nächsten Donnerstag eine heilige Messe für
Franz Salzer'. Täter Sie so sagen, Herr Pfarrer?"
So, nun ist Karl da, wohin er will, und ganz fein hat sich das gegeben.
Die Freude über diese Finte macht ihn sehr mutig, und er denkt daran, daß ihn
der Unkel Hannes auf die Schulter patschen wird, wen:: er ihm das erzählt.
Für den Pfarrer jedoch ist das eine heikle Frage, eine ganz verflixte Frage,
eine Frage, die man nicht so eins, zwei, drei beantworten kann, über die man
zuerst einmal mit einigen Konfratres sprechen müßte: mit dem Pfarrer von
Rabenheim, mit dem von Osthofen und mit dem Dekan von Pfeddersheim. Eine
Frage, mit der man sich ganz gut einmal auf der nächsten Pfarrerskonferenz
oder in dem LonventuZ clerie-alis befassen könnte. Aber welche vorläufige Antwort
gibt man dem eindringlich fragenden Bauernburschen in diesem speziellen Fall,
der, allgemein gefaßt, so lautet: Ist es opportun, in einem Bauerndorf, dessen
strenggläubige Bevölkerung den Selbstmord als eines der schauerlichsten Verbrechen
gegen die Allmacht und Majestät Gottes erkennt, von der Kanzel herunter eine
Messe zu verkündigen für einen Selbstmörder, der ohne den Beistand des Priesters
starb, aber vor seinem Tode doch noch genügend Zeit hatte, eine vollkommene
Reue zu erwecken?
So lautet der interessante Fall, auf den einer aber sofort Antwort haben
will, ohne erst zu warten, bis die Pfarrerskonferenz oder der Lonvontus Llericcllis
ihre Entscheidung getroffen haben.
Der alte Pfarrer zieht die Stirne kraus. So kraus zieht er sie, daß sogar
die Kopfhaut mit den weißen Haaren sich leise vor- und zurückschiebt, und dann
beginnt er umschweiflich:
„Ja, mein lieber Jung, das ist so eine Sach, so eine Sacht Die Bauern
könnten mir das verübeln, sehr übel nehmen. Geht halt nicht gut, daß man
einen, einen Selbstmörder in einem Atemzug mit den in Gott Gestorbenen nennt.
Geht nicht gut, Salzerl"
„Herr Pfarrer, geht das auch net, wenn man eingesehen hat, daß der Selbst¬
mörder doch vor seinem Tode eine vollkommene Reue erweckt haben könnt?"
„Ja, siehst du, Salzer, es ist halt doch immer noch ein Zweifel dabei I"
Das ist schon ein schwererer Hieb gegen den Jungen, der ihn unsicher macht.
Aber dann ist er doch schlagfertig zu der Entgegnung:
„Herr Pfarrer, wenn Sie so wollen, haben Sie bei keinem Menschen die
Gewißheit, ob er gottselig gestorben ist. Auch bei denen riet, die noch einmal
gebeicht und kommuniziert haben!"
Und das ist eine Antwort, auf die der Pfarrer schweigen sollte. Er sagt jedoch:
„Aber das Gebot ist dann erfüllt!"
„So, Herr Pfarrer, das sagen Siel Sie als Pfarrer sagen das?"
Was bleibt einem Pfarrer, der durch einen Bauernjungen in die Enge
getrieben ist, anders übrig, als grob zu werden und barsch zu sagen:
„Na na, wo soll denn das all noch hinaus? Ich sag, das geht nicht, und
ab und fertig! Ich will die Messe in allem Stillschweigen lesen. Ich will dirs
durch den Glöckner Zimmermann sagen lassen, wann ich sie halten werde, damit
du ihr beiwohnen kannst!"
Da wacht auch in dem Burschen etwas von dem alten hitzigen Kerl auf,
und er entgegnet dem barschen Pfarrer:
„Herr Pfarrer, wenn Sie meinem Vater schon eine Meß lesen wollen, dann
branches auch keine zweiter Klasse zu sein. Vor unserm Herrgott sind alle Toten
gleich', da sollten Sie's auch so halten!"
Der Pfarrer sänftigt sich und sagt noch einmal so:
„Salzer, jetzt horch mir noch mal zu! Ein Pfarrer hat mehr Rücksichten zu
nehmen, als ein Mensch glaubt. Du willst öffentlich verkündigt haben, daß für
deinen Vajer, einen Selbstmörder, eine Messe gelesen werde, und mir nehmen das
die Bauern übel. Ein Bauer wird den Selbstmord immer als ein schauerliches
Verbrechen ansehen. Immer wird er das, solange er mit der Scholle und damit
der Natur tief verwachsen ist. Denn nichts in der Natur tötet sich selbst. Der
Bauer sieht, wie alles draußen in der Natur wartet, bis seinem Dasein ein Ende
gemacht wird. Verstehst du das? Und so ein Bauer meint dann, daß ich, der
Pfarrer, an diesem Glauben rütteln wolle, wenn ich mich dem Selbstmörder
gegenüber weniger hart erweise als er, der Bauer, selber. Und darum kann ich nicht!"
So spricht der Pfarrer und spricht es ernst mit fester Überzeugung, gegen die
nicht auszukommen ist, weil sie ihre Berechtigung in sich hat.
Karl denkt, daß es nutzlos sei, nun noch die andere Bitte wegen des Kreuzes
vorzubringen.
Aber deswegen ist er doch ins Pfarrhaus gekommen. Und was wird Unkel
Hannes sagen, wenn er dem Pfarrer die Sache mit der Grabschändung überhaupt
nicht auseinandergesetzt hat? Der wird dann sehr grob und sehr derb werden
und wird sagen, Vorüber mache der Karl Salzer viel Spektakel, wenn's aber bruns
ankomme und drauf und dran gehe, dann sei er so klein wie Salz.
Doch das wird der Karl Salzer sich nicht sagen lassen; deshalb wendet er
sich von neuem an den Pfarrer:
„Herr Pfarrer, wenn Sie grad so hart sein wollen, wie's die Bauern sind,
da wird Ihnen auch nix dran liegen, wenn sie das Grab von meinem Vater
verschämten!?
, Da ruckt der Pfarrer auf und fragt erstaunt oder zweifelnd:
„Was tun sie?"
„An jedem Kreuz auf dem Kirchhof drauß steht: Hier ruht in Gott; auch
auf meinem Vater seinem. Aber die Bauern denn das net sehen können und
denn die zwei Wörter .in Gott' ausgeschabt. Was sagen Sie dazu, Herr Pfarrer?"
Der Pfarrer wiegt bedenklich das Haupt und läßt es schließlich so weit nach
vorn hängen, daß man die Tonsur betrachten kann, die sehr stoppelig ist und das
Rasieren verdiente. Nach einem Weilchen erklärt er:
„Ich sehe darin nur eine Bestätigung dessen, was ich vorhin sagte: die Bauern
erblicken in dem Selbstmord ein furchtbares Verbrechen und glauben, daß Gott
diese Sünde unerbittlich strafe."
„Herr Pfarrer," entgegnet der Bursche, „aber Sie denn uns in der Schul
gelehrt: Und wären euere Sünden so zahlreich wie der Sand am Meere und rot
wie der Scharlach . . ."
Karl schluchzt tief erschüttert auf, beißt die Zähne aufeinander und fährt
dann fort:
„Meinem Vater seine Sünd war so rot wie Blut. Aber wie er früher
gelebt hat, und wie er war an dem Morgen, wo er's getan hat--ich glaub
sest dran, er hat's bereut!"
Darauf sagt der Pfarrer:
„Ihr habt's für selbstverständlich gehalten, daß ich eueren Vater nicht kirchlich
beerdigen könne. Warum habt ihr da auch das .Hier ruht in Gott' nicht weg¬
gelassen und nur euerem Vater seinen Namen auf das Kreuz schreiben lassen?"
„Herr Pfarrer, so weit denn wir überhaupt net gedenkt; der Schreiner
Kling hat das halt so gemacht, wie er's auf alle Kreuze macht. Und wenn wir's
uns überlegt hätten, dann hätten wir aus unserm Glauben raus, daß unser Vater
net der ewigen Verdammnis anheimgefallen ist, doch das .Hier ruht in Gott'
drausschreiben lassen!"
„Dja. . .!" seufzt der Pfarrer, und dann ist es einige Augenblicke ganz still,
bis der Priester weiterfährt:
„Ermesse an dem. was du alles schon erfahren hast, wie streng das Volk
über den Selbstmord denkt. Und es gibt ein altes Wort, das heißt: Vox populi
vox äei, die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes!"
Karl ist müde; das lange Stehen auf einem Platze verursacht ihm Schmerzen
im Kreuz. Auf des Pfarrers letzte Worte erwidert er:
„Herr Pfarrer, ich hab immer gemeint, bei einem Pfarrer, bei einem Priester
wär aller Trost zu holen, den's nur gibt auf der Welt. Das hab ich immer so
gemeint, weil ich gedenkt hab, ein Pfarrer müßt fast grad so sein wie unser
Heiland. Der wüßt was für mich, wenn ich so vor ihm stehen tat wie aweil vor
Ihnen. Und Sie sagen mir jetzert garnix auf das, was ich Ihnen geklagt hab.
Wenn Sie nur wenigstens sagen wollten, daß Sie den Bauern von der Kanzel
runter verbieten täten, meinem Vater sein Kreuz zu entstellen!"
Der Pfarrer sieht da eines seiner Schäflein im Leid und denkt, daß die
heutige Erfahrung es ihm und auch dem Glauben entfremden könne, und noch
einmal fragt er sein tiefstes Herz, ob er es den Bauern von der heiligen Stätte
der Kanzel aus sagen solle: Wer ohne Sünde ist, der werfe einen Stein auf jenes
Grab . . .!
Aber das Ärgernis, das die vielen anderen nehmen werden? Keine Begründung
werden sie annehmen, keinen Hinweis auf die unermeßliche Barmherzigkeit Gottes
verstehen wollen. Als eine Entschuldigung nicht des Sünders, sondern als eine
Beschönigung der ruchlosen Tat werden sie es deuten und unter sich dann sagen:
Gott, 's ist mit allen Sünden net so schlimm. Und die Jungen werden das von
den Alten hören, und das Ärgernis wird ein großes sein. Und soll er bei solchen
Aussichten diesem einen Schäflein, das verloren gehen könnte, nachgehen? Soll er
ihm nachgehen?
Da fällt ihm ein Ausweg ein.
Es gibt da im Dorfe eine Sorte Menschen, die die öffentliche Anschauung
über sittliche Dinge besonders zu beeinflussen imstande sind, jene alten Jungfern,
die sehr fromm sind und bitterböse Mäuler haben; die alles, was im Dorfe
geschieht, durchhecheln und nichts ungeschoren lassen; die, als jede Aussicht aus
eine Heirat geschwunden war, Jesum zu ihrem Bräutigam erwählten. Die Sitten¬
polizei des Dorfes. Und zu dieser Sittenpolizei könnte man den Burschen schicken.
„Salzer, horch mi Will dir einen guten Rat geben, guten Rat geben!"
Der Pfarrer spricht jedes vierte, fünfte Wort doppelt. Da spricht er als
Mensch und nicht als Priester.
Karl fragt neugierig und mit lechzender Erwartung:
„Und was wär das für ein Rat?"
Der Pfarrer gibt vertraulich seinen guten Rat:
„Geh mal zum Hungels - Gleichen und sag dort, sag, was du auch mir da
erzählt hast von der vollkommenen Reue, versteh, von der vollkommenen Reue,
und sagst noch dazu, der Herr Pfarrer hätt gemeint, daß man das Kreuz ruinieren
tat, wär grad nicht notwendig, grad nicht notwendig. Sag dort so, sag's genau
so! Wird seine Wirkung haben, schon seine Wirkung tun!"
Der gute Rat des Pfarrers befriedigt den Burschen nur halb. Das ist kein
goldener, das ist ein holperiger Mittelweg, den der Pfarrer da eingeschlagen hat;
ein sehr holperiger Mittelweg. Aber da nichts anderes zu erreichen ist, bescheidet
er sich und geht.
Als Karl wieder auf der Straße ist, überlegt er, ob er gleich zur Hungels-
Gret gehen soll. Aber Sonntags ist die nicht anzutreffen; so oft ein Glöcklein
läutet, springt sie in die Kirche. Karl denkt, es sei eigentlich schade, daß nicht
jeder Tag ein Sonntag ist. Wenigstens für die Frommen müßte es so sein; für
die frommen Betschwestern des Dorfes, deren Zungen sich dann weniger zum
Schaden des Nächsten und mehr zur Ehre Gottes regen müßten.
Wie wird der Unkel Hannes sich zu dem guten Rate des Pfarrers stellen?
Er, der den Frommen nicht sehr hold ist, der den selbstgerechten Quisseln einen
ganz giftigen Namen gegeben hat und sagt: die Nächsten am Thron Gottes.
So geht denn Karl heim mit seinem guten Rate und nicht gleich zur
Hungels-Grek. (Fortsetzung folgt)
er Ausdruck „Impressionismus" als Bezeichnung einer bestimmten
Kunstrichtung ist etwa vierzig Jahre alt und entstammt einem franzö¬
sischen Witzblatt, das von einer Gemäldeunterschrift „Impression"
z ausgehend, den Maler und seine Genossen spöttisch als „les im-
A pressionisies" bezeichnete. Aber der Pfeil traf nicht, der Ausdruck
gefiel den Angegriffenen und wurde ein Sammelname zunächst für eine ganz bestimmte
Gruppe von Malern, dann für eine Art System, bis man, wie es häufig mit
ästhetischen Begriffen zu gehen pflegt, so viel Verwandtes unter diese Bezeichnung
brachte und dem Verwandten wiederum soviel Ähnliches angliederte, daß zuletzt,
angesichts der nun doch höchst mannigfaltig gewordenen Fülle der Erscheinungen,
kein Mensch mehr recht wußte, was er impressionistisch nennen sollte, ja daß
sogar einzelne Gelehrte, wie R. Hamann, den Ausdruck auf schlechtweg alle
Äußerungen einer bestimmten Kulturepoche übertragen haben, wodurch er selbst¬
verständlich an Klarheit einbüßen mußte. Daher kommt es denn auch, daß es
jetzt bald keine Kunst mehr gibt, die nicht schon als impressionistisch bezeichnet
worden wäre. Hier wieder Klarheit zu schaffen, ist das Bestreben des Buches
von Werner Weisbach (Impressionismus, Ein Problem der Malerei in der Antike
und Neuzeit. Berlin, Grotesche Verlagsbuchhandlung, 1910*), 1911).
Wenn jemand eine Bewegung, die zu weit gegangen ist, zurückstauen und
eindämmen will, gerät er leicht in Gefahr, doktrinär zu werden. Weisbach ist
dieser Gefahr glücklich entgangen. Als künstlerisch empfindender Mensch ist er sich
dessen durchaus bewußt geblieben, daß ein künstlerisches Problem nicht mit ein
paar Definitionen klar umrissen werden und restlos erklärt werden kann und daß
zur Lösung eines künstlerischen Problems viele Wege möglich sind, von denen alle,
wenn sie nur ans Ziel der Kunst überhaupt führen, gleich gut und gleich berechtigt
sind. Aus diesem Grunde geht er nicht von einer bestimmten, notgedrungen extremen
Form des Impressionismus aus, und erläutert nicht durch die Formel: Impressio¬
nismus ist..., sondern wie es in künstlerischen Dingen einzig richtig ist, durch die Fest¬
stellung : Impressionismus entsteht, wenn der Künstler unverändernde (also nicht stilisie¬
rende, idealisierende) Wiedergabe des momentanen subjektiven Natureindrucks und nur
diese erstrebt. Und wiederum ist es vortrefflich, daß er sich nicht in geschiehts- oder kultur¬
philosophische Spekulationen verliert, sondern vom Künstler ausgeht. In der Tat dürfte
das Bemühen einiger Kritiker, aus dem Impressionismus einen Stil im Sinne von
Gotik oder Barock zu machen und diesen Stil dann ans einer impressionistisch gearteten
Kultur entspringen zu lassen, als verfehlt bezeichnet werden müssen. Denn es läßt sich
nicht ersehen, inwiefern sich ihrem Wesen nach so streng formale Künste wie Archi¬
tektur und Musik als impressionistisch charakterisieren lassen sollen, Lockerung der
architektonischen Form, die übrigens in fast allen Fällen auch nur scheinbar besteht,
besagt für sich noch nichts für das Vorhandensein einer impressionistischen Grund¬
anschauung und auch Musik, will sie mehr sein als ungebundene Nachahmung von
Naturgeräuschen — ist so fest in ihren, ich möchte sagen apriorischen melodischen,
harmonischen und akustischen Gesetzen gebunden, daß eine impressionistische Grund¬
anschauung sich ihrer niemals als eines adäquaten Ausdrucksmittels wird bedienen
können und ich fürchte sehr, daß die meisten Kritiker, die von impressionistischer
Musik geredet haben, sich entweder über den Begriff des Beiwortes oder wie leider
so viele unserer Ästhetiker über die inneren Formgesetze der Musik unklar gewesen
sind. Wir werden den Begriff also notgedrungen auf Malerei und Plastik ein¬
schränken müssen und dürfen ihn in der formal prinzipiell anders gearteten Poesie
nur mit Vorsicht anwenden.
Weisbach beschränkt sich aus rein äußeren Gründen auf die Betrachtung der
impressionistischen Malerei. Sehr sympathisch berührt es, daß er die Dinge nicht
vom Standpunkt eines ausschließlich auf Impressionismus eingeschworenen Wider-
spruchgeistes, sondern von dem eines empfänglichen Kunstfreundes betrachtet, eines
wann und ehrlich begeisterten, die Bedürfnisse seines Publikums geschickt berück-
sichtigenden Führers durch Europas Sammlungen. Überraschend wird seine Be¬
stimmung des antiken Impressionismus wirken, weshalb ich auf diese Ergebnisse
seiner Forschungen ein wenig näher eingehen will. So problematisch auch das
meiste in der antiken Malerei sein mag, so läßt sich doch in der schlagenden
Realistik, dem Bestreben einzelne Körper oder ganze Menschenmassen in starker
Bewegung wiederzugeben, in einer abkürzenden Technik, wie sie sich in dem
zweiten der von August Mau aufgestellten Stile der dekorativen pompejanischen
Wandmalerei äußern, eine impressionistische Tendenz nicht verkennen. Hierher
gehören vor allem die den: ersten vorchristlichen Jahrhundert entstammenden Odyssee¬
landschaften, die den Wandschmuck eines römischen Hauses auf dem Esauilin bildeten
und jetzt in der vatikanischen Bibliothek hängen. Das Prinzip einer freieren malerischen
Pinselführung, einer ausgesprochenen Vcileurmalerei, erhält sich auch während des
strengen dritten Stils, um während des vierten nahezu herrschend zu werden.
Das tektonisch Mögliche wird hier, wo es den Eindruck beweglicher Leichtigkeit,
momentaner Improvisation zu erwecken gilt, unwesentlich. Die Malerei wirft sich
auf die Reize der Bewegung Tanzender, auf die Reize schillernder, glänzender,
buntfarbiger Oberflächen. Auch in den uns aus dem ersten nachchristlichen Jahr-
hundert auf ägyptischem Boden erhaltenen Porträts bemerken wir ein Streben
nach frappierender Illusion bei einer Technik, die dem Gesamteindruck zuliebe
Einzelheiten kühn vernachlässigt.
Neu und der Auffassung Karl Neumanns mit Recht entgegentretend ist auch
Weisbachs Interpretation von Rembrandts Impressionismus. Er macht sehr richtig
darauf aufmerksam, daß der Bewegung in Rembrandts „Nachtwache" das Hin¬
reißende und Zündende fehlt, daß wir deutlich geschiedene, formal komponierte
Gruppen und markante, scharf umrissene Einzelgestalten unterscheiden, die den
Eindruck einer bewegten Gesamterscheinung beeinträchtigen. „Nur als Phantasie¬
kunstwerk kann die .Nachtwache in ihrer besonderen Eigentümlichkeit voll gewürdigt
werden." Überhaupt macht ja das Impressionistische als Technik sowohl wie als
formales Problem nur einen Teil, und nicht den wesentlichen, von Rembrandts
Produktion aus. Wohl gibt auch er. wie Hals, momentan gesehene Porträts,
aber der Moment ist nicht wie bei jenem zufällig geschaut, er ist gewählt als ein
die ganze Seele blitzartig bis in ihre verborgensten Tiefen erhellender Augenblick
(Porträt des Six mit den Handschuhen). Was auch Rembrandt malt, Vorgänge,
Porträts, Landschaften, so impressionistisch immer Einzelheiten gehalten sein
mögen, sein Zweck bleibt, abgesehen von Studien, die erdichtete, nicht die nur
beobachtete Stimmung.
Überhaupt dürfte man nicht zu weit gehen, wenn man sagt, daß das
eigentlich Impressionistische dem germanischen, insbesondere dem deutschen Geiste nicht
„liegt". Wohl hat es in Deutschland während des neunzehnten Jahrhunderts an
Nachahmern französischer Manier, ehrlichen (llhde) und unehrlichen, nicht gefehlt, Wohl
lassen sich schon früh energische Schritte zu impressionistischer Darstellung feststellen beim
jungen Menzel und namentlich bei Karl Blechen, wohl finden wir bei Marsch,
noch mehr bei Liebermann impressionistische Züge, aber das Problem als solches
hat doch bei uns nie recht Fuß fassen können. Es fehlt dem Deutschen im all¬
gemeinen die Schätzung des Animalischen und der Oberfläche, Er ist viel zu
geneigt, auf die „Seele" der Dinge zu gehen, ihren Kern, ihr innerstes Wesen zu
erfassen, viel zu begabt, sein Selbst in die Landschaft hinauszuträumen, zu fernen
Weiten, über Wiesen hin oder in das Dämmer des Waldes, als daß er im
Impressionismus Genüge finden könnte. Und daher kommt es. daß unter den
vielen bedeutenden und großen Malern, die wir im vergangenen Jahrhundert
gehabt haben, kein einziger ist, der als reiner und bedeutender Impressionist
anzusprechen wäre, kein einziger, der den Impressionismus nach irgend¬
einer neuen Seite hin ausgeprägt hätte. Auch Liebermann und Slevogt.
den Weisbach nicht mehr in die Betrachtung hineinzieht, können nicht als Beispiele
dagegen angeführt werden. Liebermann strebt in seinen reifsten und schönsten
Schöpfungen, den Reiterbildern am Strande, ganz deutlich anderen Zielen zu, die
man dekorative nennen könnte, wenn das Wort nicht häufig mißbraucht und bereits
ganz undeutlich geworden wäre. Es sind ruckartig erfaßte Bewegungskomplexe,
die zu einer lyrischen (doch nicht literarischen) Stimmung austönen. Und was bei
Slevogt impressionistisch genannt werden könnte, seine Freude an starker Bewegung
und am schnellen Improvisieren, erschöpft doch das Wesen dieses reichen Geistes
in keiner Weise, allerhöchstens könnte man sagen, er stellt seine impressionistische
Begabung in den Dienst seines schier unerschöpflichen Erzählungs-, Gestaltungs¬
und Beobachtungstalents.
Überhaupt betrachtet ja die jüngste Künstlergeneration den Impressionismus
als eine Richtung von gestern. Die Natur, so wie sie ist. genügt ihnen nicht
mehr, sie wollen wieder sich selbst ausdrücken, Stimmungen geben, oder streben
dekorativen Zielen zu, eine Tendenz, die sich schon bei van Gogh und Cvzanne
ankündigte. Aber gerade weil wir hier eine in gewisser Weise abgeschlossene,
darum gut übersehbare Entwicklung vor uns haben, kann uns das Weisbachsche
Buch von Nutzen sein, und an der Hand der vielen vortrefflichen Abbildungen
unsere Kenntnisse vertiefen und unser Interesse vielfältig anregen.
Es ist unter dem Pnket Lyrik, das ich an¬
zeigen soll, wenig Bemerkenswertes; einige
Bücher scheiden aus als gänzlich unbrauchbar.
Sie sind nicht da für eine ernsthafte Kritik;
der Druck gibt ihnen noch keine Berechtigung.
Joseph» Mes veröffentlichte „Neue Ge¬
dichte". Man erkennt aus ihnen wenigstens
ein ernstes, treues Streben und Talent. Be¬
sonders dieLandschaftsbilder bergen mancherlei,
was den Leser aufhorchen läßt. Die Dich¬
terin liebt den Herbst und seine klaren Träume,
seine Wehmut und Erfüllung. Sie zeichnet
mitunter deutlich und umrißrein. Auch zu
gestalten versucht sie, wenngleich die Kräfte
hier gelegentlich zu versagen scheinen. Die
Kindergedichte konnten mir weniger behagen.
Ich glaube, Josepha Metz wird noch mancherlei
Erfreuliches bescheren; nichts Großes und
Neues, aber Schlichtes und Jnniges, wie es
ihrer Gabe angemessen ist. Das Buch (Ver¬
lag Neues Leben, Berlin) ist einfach, ge¬
schmackvoll ausgestattet; es erweckt'Hoffnung
auf Erfüllungen.
Auch die „Gedichte" von Margarete
Windthorst (Deutsche Verlagsanstalt, Stutt¬
gart-Leipzig) verdienen Beachtung. Der Band
ist recht umfangreich, ein wenig überschweng¬
lich. Aber manches sanfte Lied gleitet vor¬
über mit einschmeichelnden Klänge. „Abend¬
frieden", „Dämmerstunde", „Erste Liebe",
„Schwesterlein, kommt", „Abend in der Berg¬
schlucht", „In ein Stammbuch", „Idyll",
„Abend am Kamin", „Auch das ist Winter¬
tag", „Wanderers Weihnacht" gehören zu den
besten Gedichten des Buches und gleichen den
stillen, bescheidenen Wegeblnmen, auf denen
gern des Wanderers Auge rastet. Wenn
Margarete Windthorst mehr Plastik, mehr
innerliche Kraft entwickelte, könnte sie eine
reifere Künstlerin werden. Die größeren Stücke
sind zu breit, zu gestaltlos; aber die gedank¬
lichen („Terzinen über das Leben") wiffen
zu fesseln und beweisen wenigstens, daß die
Verfasserin über das Idylle, Liedhafte hinauf¬
strebt. Hier ist der Weg, den sie verfolgen
muß. Die Zukunft wird dnrtun, ob die
sympathische Dichterin ihre Erstlingsgabe als
Einleitung oder Vollendung betrachtet. Ich
hoffe, sie bald' auf jener höheren Stufe zu
sehen, die ihr durch Ernst und Fleiß gewiß
beschieden sein wird.
„Am Tor des Abends" betitelt sich ein
Liederheft von Theodor Zlocisti (Jndischer
Verlag, Berlin >V. 16). Ich erwähne es nur
darum, weil hier das Judentum rein und
ehrlich hervortritt, nicht verbrämt mit Deutsch¬
tümelei und christlichen Allüren. Die Gedichte
selbst verraten mehr Wollen als Vollbringen
und einen — wenn auch nicht gerade ab¬
schreckenden — Dilettantismus, der weiteres
Eingehen unnötig macht.
Die sozialistischen Verse „Empor" von
Karl Frohmr (Hamburg, Alter u. Co.) er¬
zählen viel von Sieg, Menschlichkeit, Be¬
freiung. Immerhin meiden sie allzu ten¬
denziöses Geschrei und wirken in keiner Weise
abstoßend oder brutal. Auch schlichte Lieder,
sinnige Betrachtungen sind eingeflochten, —
alles gut genieint, aber künstlerisch wertlos.
Und nun wird Licht I Das „Hellenische
Dichterlmch" von Siegfried Metier (Veit
u. Co., Leipzig) ist ein Begleiter durchs Leben.
Die Mannigfaltigkeit, die nicht nur historische
Schönheit der Sprüche und Lieder entzückt
immer aufs neue. Leider ist die Übersetzung
nicht immer glatt und flüssig; manch un-
geschickte Wondung stört den Genuß der Lek¬
türe. Die Philosophischen Fragmente haben
in Diels und Resele würdigere Interpreten
gefunden. Aus der Fülle überraschender
Schönheiten mag wenigstens einiges angeführt
werden, was auch heute noch gilt und glänzt;
kurze Sentenzen voll Ironie oder tröstender
Wahrheiten:
Des Mannes höchster Schatz ein Weib, das
Sterbliche sind nur Bälge gefüllt mit rich¬
. (Epikur.)
Du bist Philosoph? Ich danke. Die Philo¬
sophen sind,
Soviel ich weiß, in ihren Reden grundgescheit,
Doch wie es gilt, zu handeln voller Un¬
. (Anaxippes.)
Was für ein glückliches Volk doch die Zitaten
find!
Sie haben Weibchen ohne jedes Sprachorgan.
Der Gedanke bedeutet soviel wie die Tat.
Gott faßbar? — Nein I Gesetzt, er wär eS, wär
^. Er hat ja geheiratet. —
L. Was du sagst I Geheiratet!
Nicht möglich! Sah ich ihn nicht noch jüngst
gesund und frisch
Spazieren gehn?
Betrachte nun auch andre Satzungen; du wirst
Soviel ersehn: Kein allgemeines Gutes gibt's
Nach Böses, sondern eines und dasselbe schuf
Jeweils die Zeit in Gutes und in Böses um.
Robert de Montesquious historische So¬
nette „Rote Perlen" haben in Franziska
Steinitz eine ausgezeichnete Nachdichterin ge¬
funden; die Übertragungen lesen sich gelegent¬
lich wie Originale. Diese Bilder aus Ver¬
sailles sind vornehm, etwas kühl, aber ihr
Wert liegt gerade darin beschlossen. Wie
Marmorstatuen in Taxushecken glänzen und
winken sie und zaubern Lust und Tod vor
unsern Augen. Der Xenienverlag in Leip¬
zig hat für eine vornehme Ausstattung Sorge
getragen und damit Dichter und Übersetzerin
nach Verdienst geehrt.
Zum Schluß will ich ein Buch loben, das
mir in mancher Beziehung bedeutend und
wichtig erscheint. Alfons Paquet gab neun
umfangreiche Gedichte unter dem Titel „Held
namenlos" heraus (Eugen Diederichs, Jena).
Es ist nicht schwer, an Walt Whitman zu
erinnern, auch an Verhaeren. Breit aus¬
ladende Verse, rhythmische Prosa wechseln ab
und geben äußerlich schon Hinweise auf die
beiden Vorbilder. Aber Paquet bleibt den¬
noch selbständig. Er ist ruhiger, sachlicher,
ihm fehlt das mitreißende Pathos. Auch er
sucht das, was man ja Wohl heute kosmische
Dichtung nennt. Es gehört innere Kraft und
Wucht dazu, den Leser immer wach und
eifrig zu halten, nicht in poetisierte Neise-
schilderung zu münden. Einzig Verhaeren
ist es bis jetzt gelungen; Paquet ist freilich der
Gefahr nicht völlig entgangen. Trotzdem
aber ist sein Buch neu, merkwürdig und
fesselnd; es berührt den Geist mehr als das
Herz. Doch niemals hat man das Gefühl
des Gewollten, Absichtlichen; dieses Buch ent¬
spricht des Dichters Wesen und ist wahr und
echt. Oft nimmt man es zur Hand, das so
köstlich gedruckt wurde, und legt es niemals
wieder fort ohne Gewinn und Nachdenken.
Beim
Landgericht l in Berlin sind jetzt in kurzer
Folge vor verschiedenen Strafkammern Straf¬
sachen gegen die sogenannten Bucketshops
(d. h. Animierbankiers) zur Verhandlung ge¬
kommen. Die Zeitungen berichten, daß
jedesmal im Beginn der Verhandlung viel
Zeit dadurch verloren gegangen sei, daß sich
der Vanksachverständige vor dem Gericht
ausführlich über das Wesen der Prämien¬
geschäfte, Stellagen, „In sich"-Geschäfte und
was sonst noch zum Betriebe eines richtigen
Bucketshop gehört, verbreiten mußte.
Es ist natürlich nicht zu verlangen, daß
jeder Richter mit dieser fern liegenden, mehr
banktechnischen als juristischen Materie ver¬
traut sei. Aber eS drängt sich der Gedanke
auf, ob nicht dadurch Arbeitszeit gespart und
ein besonders sachverständiges Nichterpersonal
erzielt werden könnte, daß nach dem Vorbilde
der Kammern für Handelssachen und ebenso
der Zivilkammern, denen ausschließlich Patent¬
sachen, Ehesachen, Streitigkeiten über un¬
lauteren Wettbewerb usw. überwiesen sind,
auch besondere Strafkammern geschaffen
werden, denen alle die Strafsachen zugeteilt
werden, welche das Handelsstrafrecht betreffen.
Ich denke hierbei besonders an Zuwider¬
handlungen gegen die Strafbestimmungen des
Aktienrechts, Konkursrechts, des Börsen- und
Depotgesetzes, sowie an alle die Fälle von
Betrug, Untreue, Unterschlagung, welche be¬
sonders banktechnische oder sonst kaufmännische
Kenntnisse boraussetzen.
Die Staatsanwaltschaft hat ein Bedürfnis
nach solcher Spezialisierung bereits anerkannt,
indem sie seit langem besondere Preßdezer¬
nenten an den größeren Landgerichten hat
und neuerlich beim Landgericht I Berlin be¬
sondere Dezernenten für die Bucketshopsachen
geschaffen hat.
Eine Zuteilung aller Handelsstrafsachen
an eine oder mehrere bestimmte Kammern
ließe sich mühelos zum Beginn eines neuen
Geschäftsjahres durchführen, für welchen
Zeitpunkt nach §Z 62, 63 G. B. G. das Prä¬
sidium des Landgerichts die Geschäfte auf die
Dauer des neuen Geschäftsjahres unter die
Kammern derselben Art herleite.
Daß für die Bildung solcher Spezial¬
kammern nur an ganz wenigen und zwar
den größten Landgerichten ein Bedürfnis sein
wird, ist selbstverständlich, an diesen aber
würde mit Schaffung solcher Kammern ein
Spezialistentum großgezogen, wie es in seiner
Sachkenntnis nach jeder Richtung hin nur
wünschenswert wäre.
Von außer¬
ordentlicher Bedeutung für die Durchführung
der gewaltigen Kulturarbeiten, die auf den
weiten Heide- und Moorflächen in unserem
deutschen Vaterlande der Lösung harren, ist
die Beschaffung ausreichender Arbeitskräfte.
Hier setzen die Bestrebungen ein, die Ge¬
fängnisse — natürlich nur cum Zr-mo salis
genommen — zum Teil aus den Mauern
der Stadt ins freie Moor hinauszulegen. Es
handelt sich darum, die unsozialen Elemente,
selbstverständlich mit Auswahl, in den Dienst
einer großen sozialen Ausgabe zu stellen, wie
sie in der Odlandkultur vor uns liegt. Der
Staat hat ein wesentliches Interesse daran,
die kleine und mittlere bäuerliche Bevölkerung
zu mehren, namentlich für die Kinder der¬
selben neue Siedlungen zu schaffen, damit
diese ihrem Stande und dem Lande erhalten
bleiben können. Man könnte es fast eine
ausgleichende Gerechtigkeit nennen, wenn die
Arbeitskraft derjenigen, die die Rechtsordnung
durchbrochen haben und zu einer Freiheits¬
strafe verurteilt wurden, verwendet wird, um
Herdfeuer und Arbeitsstätte zu schaffen für
solche Staatsbürger, die wie der Bauer den
Bestand des Staates festigen und sichern.
Die Zahl der Gefangenen, die aus Straf¬
anstalten und Gefängnissen der preußischen
Verwaltung des Innern mit Landeskultur¬
arbeiten überhaupt beschäftigt sind, betrug am
1. Januar o. I. nahezu vierzehnhundert
Mann. Es handelte sich dabei einmal um
Moorkulturarbeiten und zwar in Ostpreußen,
Hannover, Schleswig-Holstein, sowie in der
Rheinprobinz; außerdem um Dünenbefesti¬
gungen auf der Kurischen und Frischer Neh¬
rung und der Halbinsel Hela, um Fluß-
regulicrungen in den Provinzen Schlesien,
Sachsen und Hanuober, endlich noch um
Weinbergsanlagen an der Mosel und der
Nahe. Bei der eigentlichen Moorkultur waren
vierhundertfünfundvierzig Gefangene, darunter
dreihundertfünfundsechzig Zuchthäusler und
achtzig Gefängnisgefnngene beschäftigt. Wie
aus den Jahresberichten der einzelnen An¬
stalten hervorgeht, stößt die Verwendung der
Gefängnisgefnngenen auf keine Schwierigkeit.
Obgleich die Insassen der Gefängnisse nach
dem Gesetz ihre Zustimmung geben müssen,
kommen Weigerungen so gut wie garnicht
vor. Sie führen sich gut, sind fleißig und
billig, Ablösungen wegen schlechter Führung
sind selten. Ohne Murren haben sie Sommer¬
hitze und Winterkälte ertragen. Sie kehren
körperlich und geistig gekräftigt in die Freiheit
zurück. Auch die Ärzte betonen in ihren
Sonderberichten immer wieder, wie zuträglich
in gesundheitlicher Beziehung diese Außen¬
arbeit der Gefangenen ist.
Seit 1897 hat die preußische Gefängnis¬
verwaltung im Einvernehmen mit der land¬
wirtschaftlichen Verwaltung die Aufgabe, Plan¬
mäßig Odlandarbeiten durch Strafgefangene
auszuführen, in Angriff genommen. Es
handelt sich vor allem um die Kultivierung
und Besiedlung des Bargstedter und Reit-
moores im Kreise Rendsburg in Schleswig-
Holstein, sowie des Plattevenns im Kreise
Monjoie im Regierungsbezirk Aachen,
Das Bargstedter Moor umfaßt 210 Hektar.
Auf dem nördlichen Teil des Bargstedter
Moores waren vor der Überweisung an die
Gefängnisverwaltung geringe Kulturvcrsuche
vorgenommen worden. Im Jahre 1399 be¬
gann die Gefängnisverwaltung zunächst mit
dreißig Gefangenen die Arbeit. Vorgesehen
sind sieben Kolonistenstellen, einfache Kulonate
von 13 Hektar, Doppelkolonate von 20 bis
26 Hektar und eine Großbauernstelle von
37 Hektar. Vergeben sind sechs Kolonade;
ein Kolonat wird zur Unterbringung der Ge¬
fangenen benutzt. Die Kolonie zählt neun-
unddreißig Einwohner. Der Viehbestand der
Kolonisten umfaßt zwölf Pferde, vierund¬
zwanzig Kühe und Ochsen, fünfzig Stück Jung¬
vieh und vierundachtzig Schweine. Die Ge¬
bäudekosten betrugen je nach der Größe 7000
bis 14000 Mark. Für Wohn- und Wirt¬
schaftsgebäude der Großbauernstelle wurden
23000 Mark aufgewendet. Es dürfte hier
der erste Versuch vorliegen, eine Großbauern¬
stelle auf Hochmoor zu errichten, um darauf
Weidewirtschaft in größerem Umfange zu be¬
treiben. Der Besitzer dieser Stelle hat über
den Eingang seiner Haustür das Wort ge¬
setzt: Ich habe es gewagt. Daß dies Wagnis
gelingen wird, scheint heute schon sein Stall voll
prächtigen Rindviehs zu beweisen, das dem
Marschvieh nicht nachsteht.
Das Reitmoor südlicher Teil umfaßt 457
Hektar. Auch hier sind Kolonade verschiedener
Größe vorgesehen. Bis jetzt sind fünf Stellen
überwiesen. Die Nachfrage nach Stellen war
so groß, daß nicht alle Bewerber befriedigt
werden konnten. Die Zahl der Bewohner
beträgt einunddreißig Personen. Der Vieh¬
stand weist elf Pferde, neunundzwanzig Kühe,
sieben Stück Jungvieh und neundneunzig
Schweine auf. Für sieben Siedlungen sind bis
jetzt Gebäude errichtet; zwei davon dienen einst¬
weilen noch der Unterbringung von Gefan¬
genen. Die Ernteerträge stellten sich für das
Hektar bei Kartoffeln auf !)v bis 105, bei Hafer
auf 18 bis 22, bei Roggen auf 15 bis 21, bei
Heu auf durchschnittlich 58 Doppelzentner.
Das Plattevenn erhebt sich 650 Meter
über dem Meeresspiegel. Es umfaßt 69 Hektar
Ödland und wurde im Jahre 1399 von der
Gefängnisverwaltung erworben. Es sind
sechs Kolonade gebildet von je 10 bis 14 Hektar.
Die Kolonisten kommen den Berichten zufolge
gut voran; der erste Kolonist z. B. besaß beim
Anzüge zehn Stück Rindvieh und zwei
Schweine; er hat jetzt zwanzig Stück Rind¬
vieh, zwölf Schweine und ein Pferd. Das
Land wird vorzugsweise als Viehweide be¬
nutzt; der Hmertrag hat 40 Doppelzentner
für das Hektar ergeben Die Versicherungs¬
summe für Mobiliar, Vieh, Futtcrvorräte be¬
trägt rund 10600 Mark. Beim Anzüge be¬
zahlte er 6 Mark Steuern, jetzt 21 Mark,
die wegen großer Kinderzahl auf 6 Mail
ermäßigt sind. Die anderen Kolonisten be¬
finden sich in annähernd gleicher Lage. Die
Kulturen sind für die Umgegend vorbildlich
geworden, zahlreiche Landwirte setzen ihre
bis dahin wertlosen Vennländereien in gleiche
Kultur.
Die Gefangenenarbeit auf Heide und Moor
bedeutet nicht nur einen kulturellen Segen in
der Schaffung von Neuland. Sie ist ihrer
ganzen Natur nach dazu angetan, den Ge¬
fangenen draußen im freien Felde bei schwerer
Arbeit inneren Halt, frischen Mut und neue
Schaffensfreude wiedergewinnen zu lassen,
wenn überhaupt noch Keime für ein neues
Leben in ihm schlummern. Der Leiter einer
Gefangenenabteilung auf dem Moore be¬
richtete, daß ihm häufiger Äußerungen zu
Ohren gekommen seien, aus denen hervor¬
geht, daß die Gefangenen mit dieser Arbeit,
die neue Kulturwerte schafft, ihr Unrecht
glauben sühnen zu können. In dem Schreib¬
heft eines „Moorgcfangenen" wurde ein Ge¬
dicht gefunden, das mit den Worten schloß:
Die Reichsregierung und die Trusts. Im
Herbst 1895 veröffentlichte Theodor Duimchen
in den Grenzboten eine Reihe gegen das
Weltmonopol RockefellerS und die Allmacht
der Trusts gerichteter Artikel, um die ReichS-
regierung zum Kampf gegen die das Wirt¬
schaftsleben bedrohende Gefahr der Vertrustung
anzufeuern*).
Duimchen, der, bevor er sich der Schrift-
stellerei zuwandte, als Petroleumimporteur
und Großkciusmann jahrzehntelang im Prak¬
tischen Leben gestanden hat, schildert in seinen
Ausführungen die Entstehung und Begrün¬
dung des Petroleumtrusts durch den ebenso
frommen wie skrupelloser ehemaligen Krämer
von Cleveland, John D, Rockefeller, um im An¬
schluß daran mit verschiedenen Märchen der
Volkswirtschaft aufzuräumen. Zunächst mit
dem Axiom, daß die freie Konkurrenz der
Grundpfeiler aller Wirtschaft sei. Seitdem
Rockefeller und Genossen auf dem Plan er¬
schienen sind, seitdem die Trusts große Wirt¬
schaftsgebiete an sich gerissen haben, ist die
freie Konkurrenz ein heiterer Unsinn geworden.
Wir können aus Duimchens Darlegungen
außerdem lernen, daß die Trusts keineswegs
notwendigeWirlschaftsgebildesind, die organisch
aus dem kapitalistischen Wirtschaftsbetrieb her¬
auswachsen, wie dieMien- und freien Handels¬
gesellschaften, sondern daß sie lediglich als
Gründungen eines modernen Raubrittertums
in Betracht kommen. ES sind Gebilde, die
sich auf Korruption aufbauen und Korruption
verbreiten und die einen verhängnisvollen
Einfluß auf unsere sozialen, wirtschaftlichen
und politischen Zustände ausüben können,
sollte ihre Macht nicht noch in letzter Stunde
durch einen staatlichen Eingriff in ihre so¬
genannte Rechtssphäre gebrochen werden.
Der Petroleumtrust Rockefcllers ist ein
Schulfall. John D. Rockefeller, ein Mensch
ohne höheren Schwung der Seele, der am
Anfang seiner Karriere keinen „blutigen Cent"
— wie man drüben so schön poetisch sagt —
besitzt, arbeitet wie alle Leute seines Schlages
zunächst in Krämergeschäften, bis er eines
Tages die Entdeckung macht, daß sich mit
dem Gelde anderer erst recht Geld verdienen
läßt. Der Petrolenmhandel hat eS ihm an¬
getan; es schien ihm eine höchst lukrative
Sache, sich die Raffineure und Sllcmdbesitzer
tributpflichtig zu machen, koste eS auch, was
eS wolle — nämlich das Geld, die Existenz
und daS Leben der anderen.
Und nun begann ein Raubzug, wie ihn
die Welt noch nicht erlebt hat, der nicht mit
Spieß und Schwert, noch mit Kanonen und
Maschinengewehren geführt wurde, sondern
mit den Waffen der Lüge, des Verrates und
der Gaunerei. Er bringt es durch listige
Verträge fertig, daß ohne seinen Willen kein
Barret Petroleum mehr aus dem Olgebiet
exportiert werden kann. Nach und nach setzt
er sich in den Besitz aller Betriebs- und Ver¬
kehrsmittel. Den Olquellenbesitzern überläßt
er als geriebener Geschäftsmann zunächst ihr
Eigentum, damit er nach Gutdünken den
Einkaufspreis des Petroleums bestimmen kann.
Wie ein Keil schiebt er sich zwischen Produ¬
zenten und Konsumenten. Beiden diktiert er
seine Bedingungen, dem einen die Verkaufs-,
dein anderen die Einkaufspreise. Die Kon¬
trolle über die gesamte amerikanische Petro¬
leumproduktion befindet sich in seinen Händen;
anderseits leistet ihm der kleinste Krämer des
Erdenrunds Vasallendienste. „Ein Bauern¬
fänger hat eS dahin gebracht, daß ihm, dem
einzelnen Menschen, seine Zeitgenossen eine
Milliarde haben zahlen müssen, eine Milliarde,
der keine Leistung gegenübersteht: man ver¬
dankt ihm keine technischen Fortschritte, son¬
dern er hat sie mißbraucht, er ,'hat die
Menschen um nichts bereichert, um keinen
Besitz, um keinen einzigen Gedanken."
So standen die Dinge, als Duimchen
seine erste fulminante Anklageschrift gegen
Rockefeller schleuderte. Inzwischen ist der
Petroleumhandel längst zu einem Wellniouopol
der Standard-Oil-Co. geworden. Erst spät,
aber noch nicht zu spät ist die Regierung mit
einer Denkschrift, die nichts geringeres als
die Begründung einer unter Aufsicht des
Reichs stehenden Aktiengesellschaft zum Ver¬
trieb von Petroleum bezweckt, an die Öffent¬
lichkeit getreten. Es wäre dies der erste vom
Staate unternommene Versuch, den Macht¬
gelüsten der Standard - Oil - Co. durch ein
gesetzliches Eingreifen in den Petroleumhandel
einen Riegel vorzuschieben und den ver¬
derblichen Einfluß der Trusts auf das ge¬
samte Wirtschaftsleben zu brechen. Die offi¬
zielle Note über diesen wichtigen Schritt deckt
sich in der Hauptsache mit den weiter oben
näher bezeichneten Anregungen Duimchens,
die dadurch ein hohes aktuelles Interesse ge¬
winnen und bei der bevorstehenden Beratung
des Gesetzentwurfs von grundlegender Bedeu¬
tung werden könnten.
Um Rockefeller zu berockfellern — so regte
Duimchen an — müßte eine Deutsche Petro¬
leumhandlung, vielleicht in der Weise der
Preußischen Seehandlung oder der Reichsbank,
errichtet werden, die für Rechnung des Reiches
oder mindestens unter maßgebender Mit¬
beteiligung des Reiches das Petroleumgeschäft
zu betreiben hätte. In den Geschäftsbereich
fiele die Einfuhr von rohem und raffiniertem
Petroleum, ferner die Rasfinierung inlän¬
dischen und ausländischen Rohpetroleums in
Deutschland, der Bau und die Ausnutzung
von Sammeltanks und Röhrenleitungen, von
Kcsselwaggons usw. Die Deutsche Petroleum-
Handlung hätte sich zunächst mit den russischen,
rumänischen Quellenbesitzern zu verständigen,
ferner mit den amerikanischen, soweit sie noch
vom Standard unabhängig sind. Die Öl¬
quellen besitzer und die mit ihnen zusammen¬
hängenden Rafsineure — alle Todfeinde der
Staudard — müßten drüben in Amerika
zusammengefaßt, organisiert und in die Hand
der Deutschen Petrvlenmhandlung gebracht
werden. Um die Mitte der neunziger Jahre
waren nach zuverlässigen Schützungen noch
fünf Achtel bis drei Viertel der Gesamtpro¬
duktion völlig „unabhängig". Heute dürfte
es kaum noch der vierte Teil sein, aber diese
„amerikanische Filiale" der „Deutschen Petro¬
leumhandlung" könnte dennoch den Bedarf
in Deutschland in der Hauptsache decken.
Die wenigen noch unabhängigen Gesell¬
schaften Amerikas sind schon deshalb in ihrer
Existenz auf das äußerste gefährdet, weil sie
über keine eigene Tankflotte verfügen und
daher ausschließlich auf den Inlandmarkt an¬
gewiesen sind, den die Standard-Oil-Co.
„kontrolliert". Ihre Tage dürften, sollte ihnen
nicht bald Hilfe von außen kommen, darum
bald gezählt sein. Hier könnte das Reich,
resp, die zu gründende Aktiengesellschaft den
Hebel einsetzen, um Rockefeller aus dem Sattel
zu heben. Denn es handelt sich bei dieser
Aktion nicht allein um die Beschaffung von
billigem Petroleum, sondern erstrecht um
einen Kampf gegen die Trusts. In der Denk¬
schrift heißt eS allerdings: „Die Stcmdard-
Oil-Co. soll keineswegs von der Versorgung
des deutschen Marktes ausgeschaltet werden,
vielmehr ist von der geschäftskundigen Leitung
zu erwarten, daß auch sie unter Verzicht auf
ihre bisherige Monopolstellung Ol für den
deutschen Markt liefert."
Als ob Rockefeller jemals auf ergaunerte
Privilegien und Monopole freiwillig verzichtet
hätte I So naiv ist der Mann, der zur Er¬
reichung seines Zieles über ungezählte Leichen
gegangen ist, nicht, daß er auf ein liebens¬
würdiges Jureden der Reichsregierung hin
auch nur das geringste Entgegenkommen
zeigen würde. Den Petroleumtrust nannte
Duimchen einen Schulfall. Man ist in Ame¬
rika dabei, alle großen Industrien nach seinem
Vorbilde unter einen Hut zu bringen. Und
darüber hinaus streckt das vertrustete Kapital
seine Arme nach Deutschland aus, um sich
seine Bewohner tributpflichtig zu machen Die
Aktien der nur noch dein Namen nach deut¬
schen Zigarettenfabriken, befinden sich zum
großen Teil in amerikanischen Händen. Der
Tabaktrust ist so gut wie abgeschlossen.
Vertrustung heißt Verknechtung. Das freie
Spiel der wirtschaftlichen Kräfte, auf dem
unser Wirtschaftssystem beruht, dem wir auf
dem Weltmarkt unsere großen Erfolge ver¬
danken, hört auf, sobald die großen Korpo¬
rationen eine unbedingte, unkontrollierte, völlig
willkürliche Macht erlangt haben, immer nur
von der einen Erwägung geleitet, wie die
Beherrschten gründlich und dauernd ausgebeutet
werden können. Duimchen folgert weiter:
„Der Staat, die Monarchie oder die Republik,
mindestens aber doch das Königtum germa¬
nischer Auffassung, wird zur Farce, zur nieder¬
trächtigen Posse, wenn die Freien in ihrer
ganzen Existenz der Gnade von Leuten über¬
antwortet und ausgeliefert siud, auf die der
König gnr keinen Einfluß mehr hat/'
Duimchen, der sich in Hamburg als un¬
abhängiger Petroleumimporteur eine glänzende
Position geschaffen hatte, ist selbst von der
Standard-Oil-Co, ausgehungert worden, seine
Pessimistische Beurteilung der durch die Trusts
geschaffenen Wirtschaftslage mag daher hier
und da einer kleinen Korrektur bedürfen, aber
in seinen Hauptausführungen hat er recht be¬
halten, ebenso behalten seine Positiven Vor¬
schläge und die Mittel, die er im Kampf
gegen die Trusts empfiehlt, bleibenden Wert,
Was er vor zehn Jahren angeregt hat, näm¬
lich „das gesetzliche Eingreifen in den Petro¬
leumhandel", wird sich hoffentlich unter der
Leitung eines tatkräftigen Reichsschatzsekretärs
in allernächster Zeit vollziehen.
Volkserzieher von », I. Ziehen, Quelle
u, Meyer, Leipzig 1911 ^ geb, 3,80 M, Die
Idee einer Wissenschaft von der BvlkSerziehung
ist ein Lieblingsgedanke Ziehens, Schon mehr¬
fach hat er sich dazu öffentlich geäußert, und
auch das vorliegende Buch soll in dieser Rich¬
tung anregen. Es soll in die verschiedenen
Gebiete der Volkserziehung einführen, und
zwar glaubt der Versasser diesen Zweck am
besten durch Lebensbeschreibungen großer
VolZserziehcr erreichen zu können. Er führt
den Leser also durch die Weltgeschichte und
macht überall da Halt, wo ihm ein vvlks-
pädagogisches Prinzip ganz besonders an¬
schaulich in einer Person verkörpert zu sein
scheint, Kaiser, Staatsmänner, Gelehrte,
Geistliche, Männer der sozialen Arbeit, oft
durch Zeit und Anschauung weit voneinander
getrennt, rücken unter diesem Gesichtspunkte
in eine Linie der Betrachtung, und mancher
Stern, der in der politischen Geschichts¬
schreibung seinerzeit neben den helleren Sonnen
verblassen mußte, leuchtet hier in mildem und
wärmendem Glänze, z, B, Adamantivs Korais,
Ignaz H, von Wessenberg, Oberlin und andere.
Allerdings würde die Lektüre des Buches noch
belehrender und genußreicher sein, wenn der
Stil weniger gelehrtenhaft wäre und die
Lebensbilder mehr mit dein Auge des Künstlers
gesehen wären. Aber auch so ist das Buch
geeignet, starke Wirkungen auszulösen, be¬
sonders in unseren Tagen, wo die Not der
Zeit das Gewissen den Aufgaben der Volks¬
erziehung gegenüber wieder erheblich geschärft
hat. Hoffentlich findet es recht viele Leser,
und treibt sie nicht nur zum Nachdenken,
sondern auch zur opferfreudigen Mitarbeit
an der Lösung dieser Lebensfragen unserer
Nation,
Litcrnrische Halbwelt. Ihre Heimat ist
Wien. Nicht das Wien der „schönen blauen
Donau", der süßen Mädels und des Stephnn-
doms, sondern jene vom lokalen Hintergrunde
losgelöste wunderliche Kulturzentrnle, die den
Austausch von Waren zwischen den Hinter¬
ländern der österreichisch - ungarischen Mon¬
archie und dem westlichen Europa vermittelt.
Man hat nicht mit Unrecht gesagt, daß hier
die Tore Asiens sich öffnen. Alles, was aus
der großen Kulturfremdheit und unbeherrschten
Grenzenlosigkeit des Ostens kommt und nach
Westen hindrängt, alles, was diese schier
unerschöpfliche Pandorabüchse herzugeben hat,
Pralle hier zum ersten Male mit der Ab-
geschlissenhe.it und dem urbauen Geschmack
eines ausgesprochen europäischen Empfindens
zusammen. Hier vertauschen die „zugereister"
Panduren, Kroaten, Serben, Montenegriner
und Galizier ihr mehr oder weniger schmie¬
riges Kostüm zum ersten Male mit dem
Kleide, das Europens übertünchte Höflichkeit
vorschreibt. Hier wird mit dem Rocke meist
auch die Religion und der kompromittierende
Name abgelegt. Hier ist die Fixigkeit im
Erraffen kleiner Kulturzipfel Trumpf, Und
hier herrscht von Anfang bis zu Ende jenes be¬
neidenswerte Anpassungs- und Einfühlungs¬
vermögen, dus nnr im Heute lebt und alles,
Was noch gestern und vorgestern gewesen, wie
einen bösen Traum von sich abschüttelt.
Das geistige Parvenütum, dus sich von
Wien ans wie ein schmutziger Strom über
die deutschen Hanptstädie, insbesondere über
Berlin und München ergossen hat, hat
uns denn auch jene literarische Halbwelt zu¬
geführt, von der in diesem Zusammenhange
geredet werden soll. Der Begriff deS „Lite-
raten" hat angesichts dieser immer aufdring¬
licher werdenden Erscheinung allmählich einen
stark anrüchigen Charakter bekommen. Ja,
man kann beinahe sagen, daß er sich schon
heute zu einer ernsthaften Gefahr für unser
künstlerisches Nationalbewußtsein ausgewachsen
hat. Das literarische Berlin der Gegenwart
ist von einer unübersehbaren Schar mehr
oder weniger echter „Österreicher" — sie
hören allerdings zum Teil auf sehr klangvolle
deutsche Namen — überflutet, die es alle für
erforderlich halten, in ihrer Weise, unermüd¬
lich und betriebsam, an germanischer Kunst
und Kultur mitzuarbeiten. Im Cafühaus
sitzen sie und Pressen ihrer grotesken geistigen
Armut so etwas wie Schmocksche Brillanten
ab. Sie schreiben in einer Sprache, die nur
sie und ihre allernächsten Freunde für deutsch
halten. Sie suchen krampfhaft nach dem,
was sie ihre „Persönliche Note" nennen und
was sie von anderen ihresgleichen unter¬
scheiden soll. Sie saugen sich an den erst¬
besten „gut eingeführten" literarischen Namen
fest, in der stillen Hoffnung, daß der Messias
sie vielleicht doch noch einmal an seinen
Rockschößen mit zur Unsterblichkeit empor¬
tragen wird. Sie unterstützen, nach Maßgabe
ihrer bescheidenen Kräfte, alles, was ungesund
ist und verschnörkelt und konstruiert und ver¬
bildet. Sie sind jede Minute bereit, dem
ersten snobistischen Unsinn, den unsere ver¬
fahrene Zeit als neueste Parole ausgibt, als
begeisterte Fahnenträger zu dienen. Sie
nehmen sich selbst und ihr kleines mensch¬
liches Ich ungeheuer wichtig. Sie machen
Unbefangene glauben, daß sie tief sind wie
Zarathustra und unerschöpflich wie der Stille
Ozean. Aber in Wirklichkeit beschränken sie
ihre Sucht nach Persönlichkeitswerten meistens
auf den bescheidenen Ehrgeiz, sich im Laufe des
Jahres nur etwa zweimal die Haare schneiden
zu lassen.
Da sie fast nie ein eigenes Gesicht haben
und in besseren Stunden Wohl auch die
komische Bedeutungslosigkeit ihrer Figürchen
herausfühlen, ziehen sie ein Austreten in
Nudeln der selbstgewählten splenclicl Isolation
vor. Sie sammeln sich in Cliquen und
Grüppchen und treten, um besser wirken zu
können, nur noch geschlossen auf den Plan.
Sie gründen Zeitschriften, die fast gänzlich
unter Ausschluß der Öffentlichkeit erscheinen.
Nur der Kenner wird die verschiedenen
Schattierungen dieser Blätter, die alle Paar
Monate eingehen, um dann in ähnlicher
Gestalt wieder aufzuleben, auseinanderhalten
können. Genug, daß jedes eine ganz be¬
stimmte Literatenclique repräsentiert, die alle
Tage ihren Stammtisch im Caföhaus bezieht
und von hier aus ihre vergifteten Pfeile auf
wirkliche oder vermeintliche Gegner entsendet.
Da wird dann der Theater- und Künstler¬
klatsch geschäftig kolportiert. Da wird mit
einer feierlichen Umständlichkeit, als ginge es
um Haupt- und Staatsnktionen, von aus¬
geklügelten „Problemen" gehandelt. Und da
hebt vor allen Dingen ein Gezänke und Ge¬
leise und ein gegenseitiges Sich-mit-Schmutz-
bewerfen an, so lachhaft und würdelos,
daß Leute von einigem Geschmack sich
mit allen Zeichen des Entsetzens davor be¬
kreuzigen.
Denn das ist das Widerwärtigste an der
ganzen Erscheinung: die Bürger dieser lite-
rnrischen Halbwelt können ohne die Umgangs¬
formen zänkischer alter Weiber nicht leben.
Was den in England oder Frankreich reisen¬
den Deutschen so angenehm berührt: das auf
gegenseitige Achtung gegründete Kollegen¬
verhältnis zwischen Journalisten und Schrift¬
stellern — an den Tafelrunden unserer Kaffee¬
haus-Literaten sucht man vergeblich danach.
Da ist der eine immer der geschworene Feind
des anderen, den zu bekämpfen alle Mittel
heran müssen. Ob da mit haarsträubenden
Denunziationen gearbeitet wird, ob bei diesem
sauberen Geschäft ganze Schmutzkübel aus¬
geschüttet werden — was tut das zur Sache I
Das Entscheidende bleibt, daß man Aufsehen
erregt und daß der Borfall in den Kreisen,
die es angeht, eine Weile diskutiert wird.
Das Sprichwort von der Krähe, die der an¬
deren die Augen nicht aushackt, behält hier
nur zum Teil seine Gültigkeit. Die groteske
Beweihräucherung des Cliguegenossen, das
Aufblasen lächerlicher Nichtigkeiten zur Größe
eines Zeppelinballons, steht dicht neben dem
von jeder Scham verlassenen Zu-Tode-Hetzen
des Andersgläubigen.
Man könnte dies Schauspiel getrost dem
Gelächter Preisgeben, wenn dahinter nicht
doch ein bitterer Ernst lauerte. Wer einmal
in das literarische Berlin von heutzutage
hineingesehen hat, in das Berlin, dessen
Brennpunkt die Presse und das Theaterlcben
ist, der wird aus eigener Erfahrung wissen,
welchen gefährlichen Umfang die geschilderte
Bewegung allmählich angenommen hat. Die
in Cliquen verstreute literarische Halbwelt
stellt sich der freien Entwicklung unserer künst¬
lerischen Kultur überall hemmend und schä¬
digend in den Weg, verseucht unsere Theater
und unsere Zeitungen mit dein schleichenden
Gift ihrer ästhetischen Unfruchtbarkeit, und
trägt, nehmt alles nur in allein, die Haupt¬
schuld an den unerhörten Unterlassungssünden
unserer hauptstädtischen Bühnen. Gerade in
Berlin, das sich von jeher allem scheinbar
Neuen mit etwas zu bereitwilliger Freudig¬
keit öffnet, hat die Cliquenwirtschaft mit Leich¬
tigkeit jene heillose Machtstellung erringen
können, die sie heute unbestritten besitzt. Mit
ihren Sonderinteressen schließt sie einen festen
Ring um die oft schlecht beratenen Leiter
unserer Theater; mit ihren Phrasen umwedelt
sie die Redakteure unserer Zeitungen und
schneidet den Betroffenen mit böswilliger Hart¬
näckigkeit alle Adern ab, die in die Zugluft
des Lebens und der künstlerischen Gesundheit
zurückführen. So, und nur so, konnte sich
das unerfreuliche Bild des künstlerischen Elends
ergeben, an dem besonders unser Theaterleben
seit Jahr und Tag krankt.
Es werden hier absichtlich keine Namen
genannt. Diese Zeilen richten sich gegen ein
System, gegen eine Gesamterscheinung, nicht
gegen einzelne Personen. DaS Individuum
ist dabei vollkommen gleichgültig. Gefährlich
wird die literarische Halbwelt erst da, wo sie
als kompakte Masse in die Erscheinung tritt.
Aber diese kompakte Masse eines uns bedrän¬
genden wurzellosen, unfruchtbaren Parvenü-
tums muß denn auch als ernsthafte Gefahr
erkannt und respektiert werden. Nur von
dieser Erkenntnis aus kann der deutschen
künstlerischen Kultur eine gründliche Genesung
kommen. Mit dem gemütlichen Unterschätzen
und Lächerlichmachen des Gegners ist nichts
mehr geholfen. Die Situation ist ernst, ver¬
teufelt ernst sogar. Und schließlich lacht be¬
kanntlich am besten, wer zuletzt lacht.
Aus unserem Leserkreis wird uns im An¬
schluß an die Glosse „Zwei Beispiele zur Er¬
läuterungssucht" mitgeteilt, daß Zelter Wohl
keinen Scherz im Sinne des Verfassers C. N,
gemacht haben dürfte, wenn er das Landgut
des Ministers Schuckmann an der Unterspree
als „Sandschlecht" bezeichnete. In der Provinz
Brandenburg neunt man nämlich eine völlig
ertraglose, von tiefem Sande (Düne von alters
her) durchsetzte Strecke eine „Schlechte". Solche
„Schlechten" finden sich z. B. im Kreise Ost-
Sternberg und im Kreise Züllichau bei Kap,
in der Nähe des Schlachtfeldes vom 23. Juli
17ö9. Die Bezeichnung „Schlechte" dürfte
Zelter als geborenen Märker bekannt gewesen
sein.
Verantwortlich: der Herausgeber Georg- Tleinow in EchSn-Serg. — Manuskriptsendungen und Buche werden
erbeten unter der Adresse:
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Verlag: Verlag der Gr-nzboten G. in. b. H. in Berlin SV. II.
Druck: „Der R-ichsbote" B. in. b. H. in Berlin SV. 1!, Dessauer Strasz» SS/S7.
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eilf hier matt uncl elfmal fuiilsn, eilf us"vos uncl Sufi^islos Sinai,
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si'bsitunA nsi'abAssst-t ist, octs?' clsnsn snscnöptsncis X"su><nsitsn u. Z
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stsixsncis I^ÄL>it>sgs uncl 2an>>oss osAsists"es ^uscnniftsn be¬
weisen, class t-inne!s»'ttÄUSSnc!s in 3->nstoAsn eilf Wiscis"t>s>se>unA
in>>sy Kk'-Ms uncl eilf Ltäk'IcunA iii"S" lest'izsi'liensn uncl ^sistiAsn Z
I-sistun^sfäniZIcsit sucnsn uncl tincisn. Ws" L^nsto^su roer nickt
Insulte, of">snZs psi' I^'ostKsk'es sins iilustk'is^es <Z"osonü"s, eilf ^
Kostenlos of>>öfnete wii'ni von ösus" L-, Lif., ohl'im VW. 43,
'MZM'iÄ^^
MK
MA5t^ I-iMLN? sUs? UMsmew
N!M?K»AR «5 Do«wLdIkMÜ W«ZZ?ÄW W", SS, T-Mtxv!S«tZk, 48.
Kinbanddecken für die Grenzvoten
Ausfalle ^: Halbfranz. Dunkelgrüner Ledcrrücken und
Ecken, gekörnter Bezug, Schrift in Goldpressung. M. I.7S.
Ausquve K: Leinen. Dunkelgrünes Rohleinen, Pressung in
Schwarz mit Gold. M. 1.—.
Einen Prospekt mit Abbildungen der beiden Ausgaben nebst Bestellschein
sendet aus Wunsch der Verlag.
^empN°°"5er -5-. S"lag der Krettzvotc», G. in. b. Ä.
te von mir gewählte Überschrift der folgenden Ausführungen scheint
unendlich weit gefaßt zu sein. Sie eröffnet den Blick auf zwei
religiöse Gemeinschaften, die jede in ihrer Art zu den mannig»
faltigsten Fragen Anlaß geben, nach ihrer historischen Entstehung,
dogmatischen Begründung, ihrer nationalen oder internationalen
Bestimmtheit und Begrenzung, ferner nach den daraus sich ergebenden Be¬
sonderheiten des kirchlichen Lebens und der praktischen Religionsübung. Wenn
ich indessen die beiden großen Religionsgemeinschaften nebeneinander gestellt
habe, so wollte ich damit andeuten, daß ich sie gemeinsam betrachten möchte in
ihrem gegenseitigen Verhältnis, in den mannigfaltigen Beziehungen, die sie einst
verbanden, dann trennten, und sie heute nur noch in einem höchsten Sinne
als Einheit erscheinen lassen. Eben dieser letztere Umstand und das Streben nach
wirklicher Einheit ist es ja, das jeden, der religiös empfindet, auf das Tiefste
bewegen muß. Denn eine jede Religionsgemeinschaft strebt, so lange noch die
Wärme des Glaubens das ganze persönliche Leben zu durchglühen vermag, mit
Naturnotwendigkeit dahin, diese beseligende Gewißheit auch andern Menschen
zuteil werden zu lassen. Um so größer, sollte man glauben, müßte der Eifer
sein, alle zu vereinen, die in den Grundlehren der Religion, in der Anschauung
vom Wesen Gottes der gleichen Meinung sind, wenn sie auch in Einzelheiten
der Lehre oder der Religionsübung abweichenden Anschauungen huldigen.
Und doch stehen wir vor der gewaltigen Tatsache, daß nicht nur die evangelisch¬
protestantische Kirche ihr Sonderleben führt, daß vielmehr auch — und zwar
Jahrhunderte länger — eine bis jetzt unüberschreitbare Kluft zwischen der
griechisch-orthodoxen und römisch-katholischen Kirche klafft.
Das scheint auf den ersten Blick schwer begreiflich.
Die Trennung der protestantischen Kirche von der römischen kann man
leichter verstehen. Nicht nur die dogmatischen Differenzen in der Lehre von
den Gnadenmitteln der Kirche ebensowohl wie in den Grundanschauungen
über das Wesen der Kirche und ihre Organisation, über Laienstand und
Priestertum sind sehr erheblich. Die protestantische Lehre von der Rechtfertigung
allein durch den Glauben sowie überhaupt das Grundprinzip der evangelischen
Freiheit widersprechen so sehr im tiefsten Grunde der Jahrhunderte alten
Tradition der katholischen Kirche, daß hier eine Einigung völlig und für
immer ausgeschlossen erscheint. Gegen diese trennenden Momente hat sich
auch die Tatsache nicht als Heilmittel erwiesen, daß der Riß mitten durch
eine ganze Nation, eben die unsrige geht, daß wir namenloses Unheil durch
die Trennung über unser Volk heraufbeschworen haben und daß wir sie täglich
in den zahllosen Beziehungen des Zusammenlebens, im politischen, geistigen
und sozialen Leben auf das schmerzlichste empfinden.
Hierneben erscheint der dogmatische Unterschied zwischen der römischen und
der orthodoxen Kirche fast verschwindend klein. Die römische Kirche selbst hat
denn auch die östliche Kirche von jeher bis zum vatikanischen Konzil immer
nur als getrennte Schwester angesehen, während sie die Protestanten von Anfang
an als Häretiker und Abtrünnige brandmarkte. Freilich, seit dem vatikanischen
Konzil, liegen die Dinge anders.
Die Dogmen von der unbefleckten Empfängnis und der Unfehlbarkeit des
Papstes haben die Trennung der beiden Kirchen unwiderruflich gemacht und
geradezu verewigt. Wenn auch die orientalische Kirche als solche niemals für
ketzerisch erklärt worden ist, wie die protestantische, so bedeutet diese Unterlassung
doch nur eine diplomatische Inkonsequenz. Sie hat freilich die Wirkung gehabt,
daß auch auf römischer Seite die Hoffnung, die Orientalen wieder zu gewinnen,
nie ganz aufgegeben worden ist. Haben wir ja doch erst im Jahre 1911
den seltsamen Versuch des sächsischen Prinzen und Kirchenmannes erlebt, die
Union zu verwirklichen.
Bis zum vatikanischen Konzil (8. Dezember 1369 bis 20. Oktober 1870)
waren die dogmatischen Differenzen zwischen der östlichen und der westlichen
Kirche in der Tat gering. Im dreizehnten und fünfzehnten Jahrhundert war
die Polemik freilich heftig; es gibt Streitschriften, in denen den Lateinern
seitens der Griechen nicht weniger als sechzig, ja neunzig Verfehlungen vor¬
geworfen werden; aber auf beiden Seiten beging man unzählige Male den
Fehler, das was irgendwo von einzelnen Angehörigen gefehlt wurde, ohne
weiteres der gesamten Kirche der Gegner zur Last zu legen.
Die tatsächlichen Differenzen lassen sich auf wenige abweichende Grund-
anschauungen zurückführen. Hinsichtlich des Glaubens erkennen die Griechen
die römische Lehre vom Fegfeuer nicht an; sie geben zu, daß im Hades nicht
nur die ewig Verdammten weilen, sondern auch die Seelen derer, die noch zur
Erlösung gelangen können, auch glauben sie an eine Wirkung der Gebete für
die nur mit läßlichen Sünden behafteten Verstorbenen; allein sie leugnen das
purZutonum als besonderen expiatorischen Zustand und als besonderen Ort
und erklären mit Recht, daß sie in dieser Beziehung auf den Anschauungen der
alten Kirche beharren; denn die Lehre vom Fegfeuer ist in der Tat erst eine
Entwicklung des späteren Mittelalters; erst die Dominikaner brachten in Konstanti¬
nopel 1252 diese Frage zur Erörterung zwischen den Kirchen und erst seit dem drei¬
zehnten Jahrhundert ist sie zur vollen Ausbildung gekommen. Nun ist nicht
zu leugnen, daß die römische Lehre einerseits nur die vollkommen logische
Ausbildung aller älteren Anschauungen darstellt, während anderseits das Papst¬
tum und die römische Kirche auf dem Florentiner Konzil von 1439 die griechische
Auffassung für zulässig erklärt und als kirchliche Lehre nur die Empfehlung des
Gebetes für die Verstorbenen behauptet haben. Aber das alles geschah vor
dem Tridentinum (Konzil zu TrLent 1545 bis 1563).
Eine viel schwierigere Streitfrage bildete stets der Ausgang des heiligen
Geistes. Die Frage führt mitten hinein in die trinitarischen und pneumato-
logischen Lehren. Sie ist stets Mittelpunkt und Kern aller Differenzen zwischen
den beiden Kirchen gewesen und stellte in der Tat das stärkste dogmatische
Hindernis ihrer Union dar. Es handelt sich hier um eine theologische Grundfrage.
Die Lehre vom Ausgang des Geistes war der hauptsächlichste Inhalt
der weltberühmten Enzyklika des Patriarchen Photios vom Jahre 867, die die
bestehende Entfremdung zum ersten Male grell beleuchtete.
Alle die Hunderte und Tausende von Flugschriften und Büchern, die
seitdem von Angehörigen der orthodoxen Kirche gegen Rom und für das
Dogma vom Ausgang des Geistes aus dem Vater allein geschrieben sind,
beruhen auf Photios' Enzyklika. Photios und mit ihm die griechisch-orthodoxe
Kirche lehren noch heute, daß der Geist vom Vater ausgehe, in ihm also den
Ursprung seiner Wirksamkeit habe; die römische lehrt das Ausgehen des Geistes
vom Vater und dem Sohn, ex patre kilioquo. Und um dieses Wörtchen
Mioqus sind Ströme Blutes geflossen, haben Tausende freiwillig die Ver¬
bannung auf sich genommen I Um dieses Wörtchens willen, das die römische
Kirche in ihr Glaubensbekenntnis aufgenommen hat, ist der christliche Orient
dem Mohammedanismus und der Türkenherrschaft preisgegeben worden!
Das ist bis jetzt nahezu die allgemeine Annahme der Kirchen- und Dogmen¬
geschichte. Soll man wirklich in dieser dogmatischen Differenz die letzte Ursache
der Trennung der östlichen von der abendländischen Kirche erblicken?
Wie die Gegner Roms die Frage beleuchten, erscheint sie freilich wichtig
genug. Die Lehre der Lateiner, sagen sie, nimmt einen zweimaligen Ausgang
des Geistes aus der Trinität an, sie löse die Einheit des Gottesbegriffs auf,
in dem sie zwei Ursachen in der Trinität annimmt, Vater und Sohn; damit
sei die Einheit des Gottesbegriffs zerstört und die Grundlehre des Christentums
zum Polytheismus degradiert.
Eine Einigung der kirchlichen Anschauungen ist hier in der Tat vollkommen
ausgeschlossen. Auch Prinz Max von Sachsen hat in seiner bekannten Schrift eine
überbrückung dieser Kluft nicht vorzuschlagen gewußt. Aber in einer Beziehung
hat er zweifellos recht gehabt: es läßt sich nicht bestreiten, daß das lateinische
Dogma nur die Fortentwicklung einer schon bei den Kirchenvätern vorliegenden
dogmatischen Anschauung ist. Vater und Sohn sind stets als ein einziges
Prinzip des Geistes anerkannt worden. Sie senden auch nach der Lehre der
Väter den Geist nicht aus, insofern sie als Vater und Sohn verschieden,
sondern insofern sie durchaus als ein einziges Wesen und als eine einzige Kraft
wirksam sind. Mit Recht konnte also die römische Kirche darauf hinweisen,
daß der Zusatz kilioque keine prinzipielle Neuordnung schaffe, sondern nur
klarer zum Ausdruck bringe, was alte Kirchenlehre sei, da der Vater den Geist
nicht äusserte, insofern er Vater, des Sohnes Erzeuger sei, sondern insofern
er eine Person der unteilbaren Trinität sei, ebenso wie der Sohn. Anderseits
waren die Griechen im Recht mit ihrer Behauptung, der Zusatz stelle formal
eine dogmatische Neuerung dar; denn keine der sieben ökumenischen Synoden,
deren Entscheidungen von beiden Kirchen als Quelle der Theologie angesehen
wurden, hatte den Zusatz jemals kanonisiert, kein Kirchenvater hat diese Lehre
jemals aufgestellt oder verteidigt. Die römische Kurie hat vielmehr dem
Drängen der spanischen und fränkischen Kirche nachgebend, diese Neuordnung,
die noch Leo der Dritte auf das entschiedenste ablehnte, eingeführt.
Die theologische Entwicklung der griechisch-orthodoxen Kirche ist dagegen
schon seit dem achten Jahrhundert abgeschlossen gewesen, der große Kirchen-
lehrer Johannes von Damaskus hatte ihrer Theologie die letzte abschließende
Formulierung gegeben. Seitdem hat sich das griechische Dogma nicht mehr
entwickelt. In der lateinischen, römischen Kirche aber beginnt die große
theologische Entwicklung erst seit der Trennung von Konstantinopel: erst die
Scholastik hat das theologische System der römischen Kirche ausgebildet, das
im Tridentinum für immer festgelegt worden ist. Diese Feststellung erklärt
ausreichend, warum seitdem nie eine Einigung mehr erfolgt, vielmehr die
Trennung von Jahrhundert zu Jahrhundert größer geworden ist. >
Unter den jetzt gegebenen historischen Voraussetzungen scheint eine Einigung
in dem einen dogmatischen Punkte vollständig ausgeschlossen.
Wohl kam formal noch in den Tagen von Johannes Bekkos eine
Union zustande: 1274 wurde sie auf dem Konzil von Lyon durch die
Abgesandten des Kaisers Michael dem Achten Palaiologos beschworen. Aber
von welchem Geiste derartige Abmachungen eingegeben und getragen waren,
lehren die Werke des Führers jener Gesandtschaft, des Georgios Akropolites.
„Höret mich aut" ruft er in einer seiner Schriften den Lateinern zu,
„Warum streiten wir um theologische Fragen? Warum erkennen wir uns
nicht einfach als Menschen an, sondern bilden uns ein, wir müßten von
göttlicher Natur sein, die über den Himmeln thront? O, wir Toren!
Wir unterlassen es, unsere menschlichen Dinge einfach zu betreiben, und
streben nach der Natur der Cherubim; wir lassen ab, einfach die sittlichen
Gebote zu beobachten und haben es vorgezogen zu theologisieren; anstatt
uns in die Geheimnisse der Natur und des körperlichen Lebens zu vertiefen
und über unsere Sittlichkeit nachzudenken, sind wir zu Theologen geworden."
Man glaubt hier kaum einen Byzantiner zu hören. Denn das sind nicht die
Gedanken eines Freundes oder Gegners der Kirchenunion, sondern es sind die
Erwägungen eines Rationalisten. Akropolites steht freilich in der Geschichte
des byzantinischen Geisteslebens nicht allein. Es gehört zu den seltsamsten
Eigentümlichkeiten dieser uns noch in so vieler Beziehung verschleierten und
geheimnisvollen byzantinischen Kultur, daß neben der ausgeprägtesten Kirch¬
lichkeit alles geistigen Lebens doch seit dem zehnten Jahrhundert etwa, seit dem
Wiedererwachen des Humanismus, auch der Rationalismus auftaucht, allerdings
nur in wenigen Köpfen, selten deutlich faßbar, aber zu aller Zeit bis ins fünfzehnte
Jahrhundert wahrzunehmen und doch nie ganz identisch mit jenem Humanismus,
den die Mehrzahl der byzantinischen Gelehrten sehr wohl mit strenger Kirchlichkeit
zu vereinigen wußten. In Byzanz hat es mehr als einen Erasmus gegeben.
Eine Union aber auf dieser im Rationalismus beruhenden Grundlage
kann naturgemäß nicht bestehen, ebensowenig wie sie denkbar ist auf der Grund¬
lage eines gegenseitigen Duldens aller Besonderheiten, so daß die Union nichts
wäre als eine Äußerlichkeit. Solche jetzt wieder empfohlene Vogel-Strauß-Politik
könnte nur mit schwerster Enttäuschung enden und es war selbstverständlich, daß
die römische Kurie einen derartigen Vorschlag ohne weiteres ablehnte. Denn
beides muß vereinigt sein: tiefe theologische Einsicht, um die Streitpunkte scharf
zu erkennen, und doch genug religiöse Begeisterung und Hingabe, um sie zu
überwinden. Durch das Dogma vom Ausgang des Geistes werden die Freunde
einer Union vor eine schwere Aufgabe gestellt, die meisten anderen dogmatischen
Differenzen sind von geringerer Tragweite.
Das Verbot der Priesterehe kennt die orientalische Kirche nicht; es ist
allgemein Sitte, daß die Diakone vor dem Empfang der höheren Weihen
heiraten. In dieser Beziehung bewahrt der orthodoxe Osten die Praxis der
alten Kirche. Aber an den Prinzipien, auf denen der Zölibat in der römischen
Kirche begründet ist, hält doch auch die griechische Kirche fest. Auch ihr steht
die Ehelosigkeit der Diener Gottes prinzipiell höher als die Ehe. Ihre Bischöfe
sind durchweg unverheiratet und infolgedessen zumeist dem Mönchtum ent¬
nommen, auch ist dem Priester das Eingehen einer zweiten Ehe nicht erlaubt.
Hier wäre also eine Einigung unschwer zu erreichen. Ebenso steht es mit der
Frage der Liturgie, indem die Griechen der römischen Kirche den Gebrauch des
ungesäuerten Brotes vorwerfen und anderseits den Kelch niemals dem Laien
entzogen haben. Beides sind Differenzen aus verhältnismäßig später Zeit, und
in der Tat hat die römische Doktrin früher in diesem Punkte gegen die orthodoxe
Kirche ganz anders als gegen die Protestanten immerfort Duldung geübt. In
der Taufe hat die griechische Kirche an dem Ritus der völligen Immersion
festgehalten, aber doch die Wiedertaufe der römisch oder protestantisch, das heißt
durch bloßes Aufgießen Getauften, aufgegeben und die abendländische Form als
gültig anerkannt. Auch zahlreiche andere Unterschiede im Gottesdienst, in der
Firmung, in der Lehre von der Buße, der Ehe, in den Äußerlichkeiten der
Lebensführung der Geistlichen sind von keiner einschneidenden Bedeutung. In
allen diesen Fragen steht wenigstens die orthodoxe Kirche, so sehr sie in Anspruch
nimmt, die Gebräuche der alten Kirche bewahrt zu haben, doch auf dem Stand¬
punkt, den Photios in seinem Schreiben an Papst Nikolaus den Ersten vom Jahre
861 zum Ausdruck brachte: „Das treue Festhalten an den Überlieferungen und die
Abweisung jeder Neuerung verrät einen verständigen Sinn, in unwesentlichen Dingen
aber ist jeder sich selbst Gesetz. Es gibt allgemein verbindliche Normen, wie die
Glaubenswahrheiten, und besondere kirchliche Gesetze in einzelnen Ländern. So
ist es in dem einen Lande Sitte, sich den Bart zu scheren, in anderen sogar
durch Synodalverfügungen verboten; wir fasten nicht am Samstag, andere
haften; in Rom findet man keine gesetzlich verheirateten Geistlichen, bei uns hat
das Trullanum andere Bestimmungen gegeben. Ebenso gibt es Verschiedenheiten
in den Gebeten, Zeremonien, Gebräuchen, kirchlichen Verrichtungen, Disziplinar-
Verordnungen. Bei allen diesen Dingen kommt es nur darauf an, was in
einem Lande Sitte ist, niemand hat ein Recht, derartige Unterschiede zu tadeln,
wenn sie nicht den Glauben oder die Verordnungen der allgemeinen Konzilien
verletzen." So sprach der als Urheber des Schismas so oft verdammte Photios.
Wenn nun sein Geist, wie die griechische Kirche immer behauptet, noch heute
in ihr lebendig ist, so müßte die Einigung der Kirchen doch kein unerreichbares Ziel
sein, vorausgesetzt, daß das Schisma eben nur eine Wirkung der Verschiedenheit
in dogmatischen und allgemein religiösen Normen und Gewohnheiten wäre.
Wenn wir zum Vergleich nur mit einem kurzen Seitenblick die protestan¬
tischen Kirchen streifen, so ergibt sich alsbald, wie unendlich viel größer
hier der Unterschied von der römisch-katholischen Kirche ist und wie nahezu in
allen wichtigen dogmatischen Fragen die griechische und die römische Kirche
durchaus auf dem gleichen Fundamente ruhen. Im Zurückgehen auf die älteste
Kirche, wie sie aus den Evangelien sich ergibt oder abgeleitet wird, lehnte die
protestantische Kirche die gesamte Überlieferung und die Entscheidungen der Konzilien
als Norm des Glaubens ab und stellte ihre Konfession auf eine vollständig neue
Grundlage. Die griechische wie die römische Kirche sind dagegen in der Anerkennung
der Autorität der Väter und der Konzilien durchaus einer Meinung. In der
Lehre vom Abendmahl hat die Reformation ein neues Dogma eingeführt, das
den beiden älteren Kirchen in gleicher Weise fremd ist; ebenso stimmen in der
Lehre von der Buße und Rechtfertigung, in der Wertschätzung der guten Werke
und der Gnadenmittel der Kirche die römische und die orthodoxe Gemeinschaft
in allem wesentlichen überein gegenüber der prinzipiell anders gearteten und
damit völlig unvereinbarer Lehre von der Rechtfertigung allein durch den
Glauben. Die gesamte Ordnung des Gottesdienstes, in dessen Mittelpunkt die
Messe steht, ist gegenüber der protestantischen Weise durchaus die gleiche alte
der ungetrennten Kirche. Und was das kirchliche Leben anbetrifft, so hegen
beide Kirchen die gleiche Wertschätzung eines „Standes von Betern", um das
Wesen des Mönchwms recht prinzipiell in dieser Formel zusammenzufassen,
während die evangelischen Kirchen diesen Stand vollkommen ausgeschlossen und
auch dem Priestertum selbst eine durchaus neue Bedeutung gegeben haben, die
von der römischen und der orthodoxen Kirche mit gleicher Schärfe abgelehnt wird.
In der Tat, die Kluft zwischen den evangelischen Konfessionen und der
orthodoxen Kirche ist um nichts geringer als jene, welche den Protestantismus
von der römischen Kirche trennt. Daher ist auch nur ein einziges Mal eine
Union zwischen der orthodoxen und der protestantischen Kirche Deutschlands
ernstlich versucht worden, und bezeichnenderweise ging der Versuch nicht von der
orthodoxen Kirche, sondern von den Protestanten aus. Bereits Melanchthon
bahnte eine Verständigung an, als er 1569 dem Patriarchen von Konstantinopel
die Augsburger Konfession in griechischer Übersetzung mit einem aufklärenden
Schreiben übersandte. Mit Nachdruck wurde drei Jahre später von Tübingen
aus der Versuch einer Einigung unternommen. Jakob Andreae, Lucas
Osiander und insbesondere Martin Crusius legten dem Patriarchen Jeremias
dem Zweiten die Lehren des Protestantismus ausführlich dar. Die Antwort
des Patriarchen vom Jahre 1575 fiel so aus, wie sie in allen Punkten ein
römischer Bischof nicht anders hätte geben können. So tadelt er zunächst,
daß die Protestanten das Dogma der nicänischen und konstantinopolitanischen
Synode vom Ausgang des Geistes allein vom Vater nicht annehmen wollten.
In der Rechtfertigungslehre aber verteidigt er mit Entschiedenheit die Werke
neben dem Glauben, hält an der Siebenzahl der Sakramente und besonders
an der Lehre vom Abendmahl fest. Desgleichen verteidigte er das Gebet für
die Verstorbenen und die Verehrung der Heiligen, trat nachdrücklich für die
Institution des Mönchtums ein und verwarf die lutherische Lehre von der
Willensfreiheit. Die Protestanten mußten erkennen, daß die griechische Kirche
in allen Grundfragen auf dem Standpunkte der römischen stehe. Als trotzdem
Lucas Osiander ausführlich antwortete, brach der Patriarch die Verhandlungen
ab mit der Begründung, eine Verständigung halte er für vollkommen aus¬
geschlossen.
Seitdem ist der Gedanke einer Union zwischen den orthodoxen und pro¬
testantischen Kirchen nie wieder ernstlich erwogen worden; erst 1873 und 1874
fanden unter dem unmittelbaren Eindruck des Vatikanischen Konzils zwischen
den Führern der anglikanischen und Vertretern der orthodoxen Kirche aus
Rußland, Griechenland und den übrigen Balkanländern in Bonn Verhand¬
lungen statt; allein wieder stellte sich die absolute Unmöglichkeit jeder Ver¬
ständigung heraus. Auch hat die protestantische Kirche niemals eine Pro-
paganda für eine Einigung im großen Stil entfaltet, während der Eifer
der katholischen Kirche für die Union niemals aufgehört hat. Dabei ist es höchst
bemerkenswert, daß die Werbungen ausschließlich von Rom ausgehen.
In der orthodoxen Welt sind in den letzten drei Jahrhunderten weder in der
Kirche Rußlands noch in den Kirchen des Königreichs Griechenland und des
übrigen Orients irgendwelche Bestrebungen zu erkennen, die aus eigenem Antriebe
auf eine Beseitigung der trennenden Schranken hinarbeiteten; jedenfalls sind
die offiziellen Kirchen allen derartigen Gedanken einzelner immer ferngeblieben.
Und doch befand sich die Kirche der Griechen unter der Herrschaft der Türken
in der denkbar unseligsten und gedrücktesten Lage. Sie hat in jenen Zeiten eine
Wärme des Glaubens und eine Kraft des Martyriums bewiesen, in denen
allein schon die allergünstigste Voraussetzung für eine Verständigung mit der
freien und mächtigen Kirche hätte liegen müssen; in der Tat aber sehen wir,
daß die UnionsVerhandlungen eben dann aufhören, als die griechische Kirche sich
nicht mehr des Schutzes eines freien Staates erfreut. Die letzten byzantinischen
Kaiser betrieben die Union aus politischen Erwägungen, um Schutz gegen die
Türken zu finden; mit dem Falle von Konstantinopel, mit dem Einzug der
Türken in die Hagia Sofia, mit dem Beginn der Unterdrückung der orthodoxen
Christen durch die Türken erlischt jeder Wunsch nach Verständigung mit der päpst¬
lichen Kirche. Gegenwärtig entfalten ganze Ordensgemeinschaften der römischen
Kirche im Orient eine in vieler Beziehung segensreiche Tätigkeit, zahlreiche Zeit¬
schriften, zu denen sich erst jetzt wieder die Oriente e Koma gesellte, dienen dem
Ziele der Beseitigung des kirchlichen Schismas, und doch scheint alles vergebens.
Seit fast dreihundert Jahren wirkt die „Römische Propaganda", schon vorher war
das LoIIeZium Zraseum in Rom gegründet worden, und kaum hatte man in der
Kurie von der Abweisung erfahren, die den Tübinger Protestanten vom Patriarchat
widerfahren war, da schickte man eine Anzahl Angehörige des Jesuitenordens nach
Konstantinopel. Allein die Resultate dieser Bemühungen sind gering gewesen, nicht
wirksamer alle Bestrebungen der jüngsten Zeit, besonders unter dem Pontifikat Leos
des Dreizehnter. Wohl hat die römische Kirche in Syrien, wo sie mit der pro¬
testantischen Propaganda wetteifern muß, einige Fortschritte gemacht, allein für
die Unionsfrage ist das ohne Bedeutung; die Enzyklika Leos des Dreizehnter
vom Jahre 1896 ein alle orthodoxen Völker, die sie aufforderte, den Papst als
das Oberhaupt der Kirche anzuerkennen, erfuhr die schroffste Ablehnung.
Ebenso erging es dem jüngsten Unionsvorschlag des Prinzen Max von
Sachsen. In seltsamer Verkennung der historischen Voraussetzungen und des
Wesens einer wahren Union wurden der griechisch - orthodoxen Kirche alle ihre
Sonderrechte zuerkannt, die Schuld an der Kirchenspaltung so gut wie aus»
schließlich der römischen Kirche beigemessen, die dogmatischen Differenzen aus¬
drücklich als Neuerungen der abendländischen Kirche hingestellt. In allem und
jedem wurde der griechische Standpunkt vertreten und nur eines von den orthodoxen
Christen verlangt: die Anerkennung des päpstlichen Primates, der Oberhoheit
des Papstes als des Hauptes der gesamten Christenheit. Aber einmütig wurde
der Vorschlag von der griechisch-orthodoxen Kirche abgelehnt.
Hier stehen wir in der Tat vor jenem Unterschied in der Lehre und der
Anschauung der beiden Kirchen, die jede Verständigung ausschließt. Denn ob¬
wohl im Grunde keine Glaubensfrage, keine Frage des Gottesdienstes, sondern
eine Frage der äußeren Organisation der Kirche, wenigstens bis zum Vatikanum
und dem Unfehlbarkeitsdogma, bildet doch der Primat des Papstes das stärkste
Hindernis jeder Kircheneinigung. Die orthodoxe Kirche hat ihn nie anerkannt
und wird ihn nie anerkennen. Sie besteht auf der alten Organisation der
christlichen Kirche, wonach die höchsten Würdenträger gemeinsam die Patriarchen
von Rom, Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem sind. Über
diesen steht nach orthodoxer Anschauung die Gesamtheit der Kirche, d. h. die
Konzilien, außerdem aber sind die Patriarchate gleichberechtigt; nur eine höhere
Rangstufe ist dem Bischof des alten Rom vor der Kirchentrennung nie bestritten
worden. Auch heute hält die orthodoxe Kirche im Prinzip an der Gleich¬
berechtigung der Patriarchate fest, zu denen sich seit dem Jahre 1721, seit der
Neuerung Peters des Großen, für die Kirche Rußlands der Allerheiligste spröd
mit gleichen Rechten gesellt hat; vorher, seit 1589, hatte der Bischof von Moskau
als Patriarch die Geschicke der russischen Kirche bestimmt, seit 1657 war er
nicht mehr vom Patriarchen in Konstantinopel bestätigt worden; aber Peter der
Große machte dem russischen Patriarchat durch die Einrichtung des Svnods
ein Ende.
Der Primat des Papstes ist in der Tat die stärkste Ursache der Kirchen¬
trennung geworden, das unüberwindliche Hindernis der Union. Die orthodoxe
Kirche hält an der Institution der alten Kirche fest, daß die Patriarchate ein¬
ander gleich an Rechten seien, höchstens dem Bischöfe Roms ein gewisser Vorrang
an Ehren zukomme als dem Nachfolger des Fürsten der Apostel. Nun ist aber
seit dem neunten Jahrhundert die Würde des Papstes so gewaltig erhoben
worden, seine Stellung als oberster Hirte der gesamten christlichen Welt so sicher
festgestellt, durch das Unfehlbarkeitsdogma in letzter Folgerichtigkeit fo über jede
kirchliche Organisation und jede andere priesterliche Würde erhoben worden, daß
ein Nachgeben in diesem Punkte von seiten der Griechen nichts anderes sein
kann als vollkommene Unterwerfung unter die Entscheidung Roms in allen kirch¬
lichen Fragen. Hier ist jedes Entgegenkommen von seiten der römischen Kirche
völlig ausgeschlossen, weil jeder Versuch die Grundlagen der katholischen Kirche
sofort zertrümmern müßte. Daneben bildet der Anspruch der päpstlichen Kurie
auf den Primat so sehr und so ausschließlich den Ausgangspunkt des Streites,
daß die orthodoxe Kirche die Geschichte eines Jahrtausends verleugnen müßte,
wenn sie hier nachgeben wollte. Sie müßte die namenlosen Qualen von
Tausenden ihrer Glaubensgenossen, die Zerstörung Konstantinopels durch die
Kreuzfahrer, den Untergang des griechischen byzantinischen Reiches und der
nationalen Selbständigkeit gut heißen, wenn sie jemals den päpstlichen Primat
anerkennen wollte; denn aus Abscheu gegen diese Herrschaft haben sie ja all jenes
Unheil erlitten.
Es ist nötig, in die Jahrhunderte der mittelalterlichen Geschichte zurück¬
zugehen, um das vollständig zu verstehen. Es mag eine sehr folgerichtige
Konstruktion sein, mit der die heute dogmatisch fixierte Stellung des Papsttums
aus den Anfängen der christlichen Kirche und ihren dogmatischen Grundlagen
entwickelt wird. Zweifellose Tatsache, unverrückbar geschichtliche Wahrheit bleibt
daneben, daß es bis zum neunten Jahrhundert kein Dogma von einem päpst¬
lichen Primat gegeben hat. Man mag alle Ehrentitel häufen, die von Kaisern
und Fürsten, von Bischöfen und Patriarchen den Päpsten in den ersten Jahr¬
hunderten bei dieser oder jener Gelegenheit gegeben wurden, sie können die
Entscheidung des 28. Kanon des Konzils von Chalkedon (451) nicht erschüttern:
„Unsere Väter haben dem Stuhl des alten Rom den Vorrang zugewiesen, weil
es die Stadt der Kaiser ist, und mit der gleichen Absicht haben die hundert¬
fünfzig Bischöfe dem allerheiligsten Stuhl des neuen Rom (Konstantinopel) den
gleichen Vorrang zugewiesen in der begreiflichen Erwägung, daß eine Stadt,
die durch einen Kaiserthron und einen Senat ausgezeichnet ist und den gleichen
Vorrang (vor anderen Städten) besitzt wie die ältere kaiserliche Roma, auch in
den kirchlichen Angelegenheiten wie jene erhöht werden solle, da sie nach jener
die zweite Stelle einnehme." Geringere Bedeutung besitzt daneben der Umstand,
daß die Bischöfe von Konstantinopel ebenfalls den Titel eines ökumenischen
Patriarchen angenommen haben, d. h. eines Patriarchen, der als solcher für die
ganze damalige Welt anerkannt werden wollte, eine Würde, die sich noch heute
die Titulatur der Patriarchen von Konstantinopel beilegt, die mit ebensolchen
Rechte auch der Patriarch von Alexandria sich zeitweilig angemaßt und die der
römische Bischof anfangs nicht immer bekämpft, sondern gelegentlich sogar
zugestanden hat.
Wichtiger aber ist ein anderes. Jene Entscheidung des Konzils von Chalkedon
zeigt mit zweifelloser Klarheit, daß der Vorrang der Bischöfe von Rom wie
von Konstantinopel sich nicht auf irgendwelche rein kirchliche oder dogmatische
Überlegenheit stützt, sondern ausschließlich gerechtfertigt und begründet wird
durch die nahe Beziehung zur weltlichen Macht des Kaisertums, das in diesen
Städten seine Residenz besaß. Hier liegt der Schlüssel des Verständnisses auch
für die Entwicklung der Folgezeit. Denn das westliche Kaisertum hört im
fünften Jahrhundert auf, die Einheit des Imperium Komanum wird durch
Justinian noch einmal, zum letzten Mal wiederhergestellt, es herrscht wieder ein
Kaiser im ganzen Reich. Aber dieser Kaiser residiert nicht mehr in Rom,
sondern in Konstantinopel; das römische Reich ist zum byzantinischen geworden.
Im Verhältnis zum Bischof von Rom mußte in dieser Periode das Ansehen des
Patriarchen von Konstantinopel gewaltig wachsen. Allein gleichzeitig nimmt
das Verhältnis zwischen Staat und Kirche eine Wendung, die der Bedeutung
des römischen Bischofs zunächst verhängnisvoll zu werden droht, in Wahrheit
nur förderlich geworden ist. Justinian errichtet die absolute Suprematie der
Staatsgewalt über die Kirche. Schon der erste Bischof von Konstantinopel, der
nach Konstantin den Versuch gemacht hatte, den Gedanken vom Reiche Gottes
aus Erden in die Praxis des Lebens umzusetzen, der große Johannes Chry-
sostomos, war daran gescheitert und in der Verbannung gestorben. Jetzt erklärte
das Konzil von 536: ohne den Willen und Befehl des Kaisers darf überhaupt
nichts in der Kirche geschehen; und es beugten sich der Papst Vigilius ebenso
wie der byzantinische Patriarch vor der Kaisergewalt.
In Konstantinopel, im östlichen Reiche, ist das Verhältnis nie ein anderes
geworden. Aber in der westlichen Hälfte des alten römischen Reiches konnte
sich das Kaisertum nach Justinian nicht mehr behaupten. Hier wurde das
höchste Bistum der Kirche frei, hier trat es allmählich in die Befugnisse der
erlöschenden kaiserlichen Gewalt ein. So entwickelte sich sein Primat im Gegensatz
nicht nur zum Patriarchen und zur griechischen Kirche, sondern auch im Gegensatz
zur byzantinischen Staatsgewalt und zur byzantinischen Nation. Endlich löste
sich das Papsttum vom Osten völlig los, indem es mit der Krönung des
fränkischen Königs am Weihnachtsfeste des Jahres 800 ein westliches Imperium
Komanum schuf, dem es nicht zu dienen brauchte, sondern das es benutzen
konnte, um in seinem Schutze der Verwirklichung seiner geistlichen und kirch¬
lichen Ideen nachzugehen.
Im Osten waren unterdessen die stärksten Umwälzungen vor sich gegangen.
Im siebenten Jahrhundert bricht das alte Reich zusammen. Die Eroberungen
Justinians in Spanien und Afrika werden preisgegeben, in Italien behauptet
das Reich nur den Süden und die Küsten. Es folgt der zweihundertjährige
Kampf des griechischen Reiches gegen die Araber, die eigentliche weltgeschichtliche
Großtat von Byzanz. In diesem ruhmreichen Kampfe gehen alle nicht völlig
hellenisierten Teile des Reiches verloren; es bleiben nur Kleinasien und die
Balkanhalbinsel übrig samt den Inseln des Meeres, eine völlig einheitliche,
homogene Masse, von gleichartiger Nationalität, Sprache und Kultur. Es entsteht
ein byzantinisches Reich auf hellenistischer Grundlage. Und gleichzeitig zieht sich
der Hellenismus aus Italien, wo er seit dem dritten Jahrhundert geherrscht
und in Diokletian triumphiert hatte, vor dem Barbarentum der Germanen
völlig zurück. Das Nationalgefühl der Byzantiner aber ist in diesen zwei Jahr¬
hunderten umso reizbarer und empfindlicher geworden, je einheitlicher und
geschlossener die gesamte Kultur sich entwickelt hat. Insbesondere ist hier in diesem
lange dauernden Kampfe gegen den Islam um die staatliche und die religiöse
Eigenart völlige Harmonie zwischen Kirche und Staat erreicht worden, ein
gegenseitiges Durchdringen und Aufgehen beider Gewalten ineinander, wie es in
dieser Vollendung die Welt vorher nicht gesehen hatte. Und was das Kräftever¬
hältnis anbetrifft, so zeigt sich ein entschiedenes Übergewicht des Staates; nicht eine
Theokratie kann man dieses Reich nennen, sondern eher einen Cäsaropapismus.
Der Patriarch herrscht in der Kirche unbedingt, nicht gehindert durch Konzilien,
aber er ist der Hofbischof des Kaisers, der ihn ernennt und absetzt nach Be¬
lieben. Kaisertum und Patriarchat verschmelzen von jetzt ab in der Vorstellung
des byzantinischen Volkes zu einer Einheit, der Gedanke einer Trennung der höchsten
Gewalten entschwindet allmählich dem Bewußtsein des Volkes, es bleibt die
Staatskirche in vollendeter Form. Und als im fünfzehnten Jahrhundert das
Kaisertum vernichtet wird, ist darum die Einheit nicht zerstört. Die russische
Kirche stellt sie uns heute aufs deutlichste dar, und im Jahre 1910 durfte
in einer Volksversammlung vor der Universität Athen ein Mönch unter dem
Beifall der Menge ausrufen: „In Konstantinopel wohnt der wahre
Basileus unserer Nation, der Patriarch."
Eine Union der Kirchen ist somit auch undenkbar, weil die orthodoxe Kirche im
Prinzip von jeher Staatskirche war, Einheit der höchsten politischen und geistlichen
Gewalt voraussetzt, die römische Kirche dagegen universal, rein geistliche Gewalt,
insbesondere seit dem Vatikanum eine rein geistige, religiöse, völlig internationale
Macht geworden ist, die sich prinzipiell kraft ihres göttlichen Ursprungs über
die weltliche stellt.
Schließlich: die Einheit der geistlichen und weltlichen Gewalt wurde im
byzantinischen Staat nicht ohne die schwersten Erschütterungen durchgesetzt.
Die Bewegung des Bildersturmes ist noch immer eines der rätselvollsten Pro¬
bleme. Die Ursachen dieser gewaltigen Episode der byzantinischen Geschichte
sind gewiß verschiedenartig, eines aber darf man nicht vergessen: die Abneigung
gegen die Verehrung von Bildern im Kultus ist nie hellenistisch gewesen. Im
Gegenteil, die starke Ausbildung des Bilderdienstes war sicherlich erst eine Folge
der Wirkung des Hellenismus auf das Christentum. Der Mohammedanismus
aber verabscheute den Bilderdienst, und von Kleinasien her, wo in jahrzehnte¬
langem Verkehr Christentum und Islam sich an den Grenzen nicht durch¬
drangen, aber kennen lernten, ging die Bewegung aus. Das Mönchtum hat
mit hingebenden Heroismus in diesem Kampfe von anderthalb Jahrhunderten
die Sache des Christentums gegen die Staatsgewalt geführt, die anfangs allzu
geneigt schien, diesen Bestrebungen nachzugeben; das Mönchtum hat dabei die
Unterstützung des römischen Bischofs gefunden. Allmählich aber entwickelte sich
der Streit zwischen der Staatsgewalt und den Klosterleuten zu etwas Größerem,
aus der Frage um die Verehrung der Bilder wurde die Frage um die Freiheit der
Kirche vom Staate. Der Abt Theodoros von Studion ist der letzte große Vor¬
kämpfer der Kirchenfreiheit gewesen, die er verfochten hat im Verein mit dem
römischen Papste. Allein er unterlag. Der Islam wurde in seiner Wirkung
auf die religiöse Kultur des Reiches beseitigt, die Bilderverehrung im vollen
Umfange durch das Versöhnungsdekret von 843 wiederhergestellt und vom
Staate übernommen; allein von Freiheit der Kirche ist seitdem in der östlichen
Welt nie wieder die Rede gewesen, Staat und Kirche schlössen ihren Bund für
immer.
Davon war das römische Papsttum des Westens ausgeschlossen. Im
siebenten Jahrhundert hatte das Kaisertum seine Macht rücksichtslos gebraucht,
die Theologie der Kirche nach Belieben festgesetzt; der widerstrebende Martin
der Erste war in Rom verhaftet worden, nach Konstantinopel gebracht und
endete im Exil. Kein Wunder, daß das Papsttum mit allen Mitteln danach
strebte, sich dieser Zentralgewalt zu entledigen. Anderseits wurde gerade wegen
seiner Verbindung mit dem Kaisertum des Westens das Papsttum selbst als
fremde, antinationale Macht angesehen und immer empfindlicher wurde das
erstarkte Nationalgefühl der Byzantiner gegen den Anspruch des Papstes, in
Glaubenssachen oberste Autorität zu sein. Durch die Gewalttätigkeit des Kaisers
Basileios wurde zwar der große Photios abgesetzt, die äußerliche Einheit noch
gewahrt, allein Bulgarien von Rom getrennt und der griechischen Kirche ein¬
verleibt. Das Schisma ist nicht sogleich eingetreten, eine äußerliche Verbindung
hat noch zweihundert Jahre bestanden, befördert durch das Sinken der Kaiscr-
gewalt im Westen, die dem östlichen Reiche noch einmal die Hoffnung auf Ge¬
winnung von Italien gab. Aber als sie mit Otto dem Großen wieder erstarkt
war, erfolgte die stärkere Anlehnung des Papsttums an das westliche Kaisertum
und schon 968 titulierte Johann der Dreizehnte den Kaiser Nikephoros Pholas
als Kaiser der Griechen und nannte Otto den Großen römischen Kaiser. Die
Ausbreitung der weltlichen Herrschaft des Papstes in Unteritalien auf Kosten
des byzantinischen Reiches gab schließlich den Ausschlag, und entscheidend wurden
die Machtansprüche des Papsttums, wie es sich im elften Jahrhundert unter
dem Einfluß der Reformen von Cluny entwickelte. Im Jahre 1054 wurde bei
den Verhandlungen der Bruch unvermeidlich. Michael Kairoularios hob die
Kirchengemeinschaft auf.
So wurde klar ausgesprochen, was längst in der Wirklichkeit Wahrheit
geworden war. Das Papsttum war abendländisch und universal geworden,
die griechische Kirche byzantinisch und Staatskirche. Die Byzantiner haben, sicher
in ihrer Eigenart und selbstbewußt, bis ins dreizehnte Jahrhundert auch geistig
überlegen, nie das Bedürfnis nach der Union empfunden so wenig wie nach
kirchlichen Reformen. Erst als die politischen Bedrängungen anfingen, haben
die Kaiser Unionsverhandlungen mit dem Papsttum angeknüpft, deren Resultat
die Kirche niemals anerkannt hat. Und heute ist eine Union vollkommen aus¬
geschlossen, denn was die orientalische Kirche von der römischen erlitten
hat, kann sie nie aus ihrem Gedächtnis auslöschen, die politischen Erinnerungen
find von den kirchlichen Anschauungen nicht zu trennen. Die Kaufleute von
Venedig und Genua haben das Reich der Byzantiner durch Handelsprivilegien
ausgesogen; im Jahre 1182 erfolgte plötzlich ein furchtbarer Ausbruch des
nationalen Hasses, unter den unmenschlichsten Greueln wurden alle Lateiner,
die in und um Konstantinopel wohnten, umgebracht. Nur die Sizilianische
Vesper läßt sich mit diesem furchtbaren Ausbruch nationaler Erbitterung ver¬
gleichen, den in seiner Durchführung nichts entschuldigen kann, den man aber
versteht, wenn man die Ursachen erwägt. Es folgte nach zwanzig Jahren die
Rache der Venetianer. 1204 wurde Konstantinopel von den Kreuzfahrern
erobert, das byzantinische Reich vernichtet. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum,
daß die Macht des byzantinischen Reiches erst im Jahre 1453, durch den Einzug
Mohammeds des Eroberers, gebrochen wurde. Gewiß war immer noch der
Orient so sehr in Konstantinopel konzentriert, daß der Fall dieser Stadt den Unter¬
gang eines Reiches bedeuten konnte. Aber seit dem Jahre 1261 war es nur noch
der Schatten ihrer alten Größe, denn wie haben die Lateiner Konstantinopel
ausgeplündert! Bis dahin die reichste und erste Stadt der Welt, wurde sie
seit 1204 durch die roheste Habgier und Brutalität ausgeraubt, und der gesamte
materielle und geistige Reichtum einer jahrjundertealten Kultur auf die roheste
Weise vernichtet; den Türken ist später nicht viel geblieben. Unmittelbar auf dem
Fuße folgten den Venetianern die Legaten des Papstes Innocenz; mit rücksichts¬
loser Härte wurde in dem ganzen lateinischen Kaisertum der römische Glaube
eingeführt, die griechische Geistlichkeit vertrieben, die Einkünfte eingezogen.
Verlust der nationalen Selbständigkeit und Verlust des Glaubens der Väter
gingen Hand in Hand, hatten die gleiche Ursache: darf man sich wundern, daß
dies Zusammentreffen nie dem Gedächtnis des Volkes entschwunden ist? Gegen¬
über solchen Erfahrungen wiegt alle Nachgiebigkeit in Fragen des Glaubens
wenig. Die wahre Ursache der Kirchenspaltung war einst die Byzantinisierung
der östlichen Welt, die Errichtung der Staatskirche, und die Umgestaltung des
Abendlandes durch die Germanen; eine politische Ursache war es, für welche
die religiösen Differenzen nur die Form waren, in der nach mittelalterlicher
Weise tiefe geistige Gegensätze sich auszusprechen pflegten.
Heute wirkt diese Ursache noch nach, von einer Europäisterung des Ostens
sind wir noch weit entfernt. In der Idee der Staatskirche liegt der Grund
des Stillstandes aller religiösen Entwicklung. Darum ist auch keine
Union der griechisch-orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche denkbar.
Mögen alle dogmatischen und kirchlichen Differenzen diskutierbar und endlich
lösbar sein, die orthodoxe Welt des Ostens wird nie die Suprematie des
Westens anerkennen, wie sie im päpstlichen Primat besonders seit dem Vati-
kanum ausgesprochen ist. Erst müssen die Kardinäle das Purpurgewand und
die roten Schuhe abgelegt haben, die Jnstgnien des byzantinischen Kaisers,
müssen die großen Fragen der nationalen Besonderheit gelöst sein, ehe an
eine Union der gesamten christlichen Kirche gedacht werden kann. Die universale
Kirche widerstrebt im tiefsten Wesen der Besonderheit der Nationen, ist aber in:
Laufe der Weltgeschichte nie imstande gewesen ihre Eigenart ganz aufzuheben;
selbst in der katholischen Kirche Deutschlands ist das Nationalgefühl noch eine
Macht. Für die Völker des Ostens aber, die, wie das russische Volk, unter
dem Schutze und in den Fesseln einer Nationalkirche wohnen, oder die eine
Erinnerung daran als köstliches Gut bewahren wie die Griechen, für sie wird
eine wirkliche Union mit der universalen katholischen Kirche und ihrem Ober¬
haupte in Rom für immer eine Unmöglichkeit bleiben.
Ein Aufsatz über die Erfordernisse der Gesetzessprache ist in
Heft 4S der Grenzboten veröffentlicht.
Im Rahmen dieser knapp zu haltenden Erörterung kann es sich nicht darum
handeln, ans der Hochflut unserer Reichsgesetzgebung auch nur die wich¬
tigeren Schöpfungen einer eingehenden, alle Einzelheiten berücksichtigenden Unter¬
suchung zu unterwerfen oder gar mit Verbesserungsvorschlägen aufzuwarten.
Das wäre um so überflüssiger, als wir gerade über das hauptsächlich hier in
Betracht kommende Gesetzeswerk, das Bürgerliche Gesetzbuch, nicht nur mehrere
treffliche Einzelschriften besitzen, die sich in eingehender Weise mit seiner sprach¬
lichen Fassung beschäftigen, sondern auch in einer Reihe von Zeitschriften, z. B.
der Deutschen Juristenzeitung, den Grenzboten, dem Gerichtssaal, Gesetz und Recht
und namentlich in der Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins die
Sprache unserer Gesetze, zumal die der neuesten Gesetze, öfter Gegenstand von
Abhandlungen gewesen ist. Außerdem würde eine derartige eingehende Einzel¬
prüfung unausbleiblich in juristisches Fachwerk hinüberführen. Es kann sich
also nur darum handeln, in großen, allgemeinen Zügen und einfachen Um¬
rissen ein Bild der Entwicklung unserer Gesetzessprache während der letzten fünfzig
Jahre zu zeichnen, unter besonderer Berücksichtigung einzelner wichtigerer Gesetze,
wobei vielleicht zur Belebung des Ganzen vereinzelt Streiflichter auf diese oder
jene Sonderbestimmung fallen können.
Die Reichsjustizgesetze und das Bürgerliche Gesetzbuch mit seinen Neben¬
gesetzen bilden Marksteine in der Geschichte der deutschen Gesetzgebung nicht nur
in rechtlicher, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Diese Gesetzeswerke teilen
daher die Entwicklung der neueren Gesetzessprache in drei Abschnitte, deren
erster also von der Reichsgründung bis zum Jahre 1879 geht, während der
zweite die Zeit von 1879 bis 1900, der dritte die vom Jahre 1900 bis zur
Gegenwart umfassen würde. Die Gesetzessprache in der ersten Hälfte des neun¬
zehnten Jahrhunderts zeichnet sich durch eine gewisse Einfachheit und Schlichtheit
des Ausdrucks aus, während es ihr auf der anderen Seite an Genauigkeit und
Sorgfalt fehlt. Die Sprache des Gesetzgebers steht der allgemeinen Ausdrucks¬
weise näher als in unseren Tagen. Dann wird in der zweiten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts die Gesetzessprache immer blasser, farbloser und
unpersönlicher.
Die Verfassung des Deutschen Reiches ist nicht das älteste unserer Reichs¬
gesetze, aber sie verdient dennoch an erster Stelle genannt zu werden.
In sprachlicher Hinsicht allerdings kann sie keinen Anspruch darauf machen,
ein hervorragendes Werk zu sein. In bezug auf die Reinheit der Sprache
fallen namentlich die vielen nicht nur leicht entbehrlichen, sondern auch
recht unschönen Fremdwörter unangenehm auf: Jndigenat, Exekution, Kom¬
petenz, Petitionen, Legislaturperiode, Finalabschlüsse, Kriegsmarine, Friedens¬
präsenzstärke, Aversum und viele andere. Wenn in Artikel 19 gesagt wird,
daß eine „Exekution" vom Kaiser zu „vollstrecken" sei, so beweist das ebenso
wie ähnliche Nachlässigkeiten, daß man der sprachlichen Fassung dieses Grund¬
pfeilers unserer Gesetzgebung keine sonderliche Beachtung geschenkt hat. Gleich¬
wohl ist die Reichsverfassung kein sprachlich schlechtes Gesetz. Die knappe,
bestimmte Ausdrucksweise gefällt. Die Paragraphen sind überwiegend kurz, die
längeren sind in kurze Abschnitte eingeteilt, was nicht nur angenehm zum Auge
spricht, sondern auch die Klarheit und Anschaulichkeit der Sprache des Gesetzes
fördert, dessen Gegenstand recht spröde ist.
Zu unseren ältesten Reichsgesetzen zählen das Handelsgesetzbuch und die
Wechselordnung. Obwohl es auch hier in einzelnen nicht an sprachlichen Nach¬
lässigkeiten fehlt, ist die Sprache dieser Gesetze im ganzen sehr zu loben. Sie
ist anschaulich und klar und befindet sich im Einklang mit der Sprache des
Handelsverkehrs. Die spätere Fassung des Handelsgesetzbuches vom 10. Mai
1897 hat die Gesetzessprache nicht verbessert. Namentlich der Abschnitt „Aktien¬
gesellschaften" ist unerfreulich, vor allem sehr schwerfällig und wenig anschaulich
geschrieben. In bezug auf die Reinheit der Sprache mußte das Handelsgesetz¬
buch besondere Zurückhaltung üben, weil viele der in der Handelswelt um¬
laufenden Fremdwörter fest eingebürgert sind und sich nicht ohne weiteres durch
Verdeutschungen ersetzen lassen, auch wenn diese an sich gut sind. Gerade in
diesem Punkte aber hat man bei der Neufassung der Wechselordnung vom
30. Mai 1908 sehr gesündigt. Es wird es gewiß niemand verteidigen, daß
man bei der InterNationalität des Wechselverkehrs in unserem Gesetzbuch ein¬
gebürgerte Ausdrücke wie „Akzeptant", „Indossament", „Protest" u. a. durch
an sich vielleicht ganz gute Verdeutschungen ersetze. Denn die Gefahr, daß diese
Verdeutschungen nicht richtig verstanden werden und dann zu rechtlichen Weite¬
rungen Veranlassung geben, liegt nahe. Aber bei einer ganzen Menge von
Fremdwörtern, z. B. Regreß, Kopie, Provision, Legitimation usw. ist die Be¬
fürchtung überflüssig. Die Überschriften der beiden Gesetze hat man in zweck¬
mäßiger Weise in „Handelsgesetzbuch" und „Wechselordnung" gekürzt.
Weiter ist das Strafgesetzbuch zu erwähnen. Auch seine Sprache ist im
ganzen genommen nicht schlecht. Sie ist klar. Mit Fremdwörtern wird kein
verwerflicher Aufwand getrieben. Einzelne Paragraphen, wie z. B. die Begriffs¬
bestimmung des Versuchs 43), die des Betrugs mit ihrer vielgerügten Rede¬
wendung von der „Vorspiegelung falscher Tatsachen", sind wenig glücklich. Im
ganzen kündigt sich in diesem Gesetze bereits die spätere, farblose, abstrakte,
wenig anschauliche Ausdrucksweise der Gesetzessprache an; es überwiegt jedoch
noch die Ausdrucksweise, die in den Gesetzen aus der ersten Hälfte des neun¬
zehnten Jahrhunderts üblich ist.
Zu den besten Leistungen der Gesctzessprache jener Zeit gehören die preu¬
ßischen kirchenpolitischen Gesetze ans dem Jahre 1873, die sogenannten Mai¬
gesetze. Mögen sonst die Anschauungen sehr darüber auseinandergehen, ob
diese Gesetze unserem Vaterlande zum Heile gereicht haben; in sprachlicher
Hinsicht verdienen sie uneingeschränktes Lob. Sie sind klar, knapp, rein, einfach
und natürlich in ihrer Ausdrucksweise. Fremdwörter sind nur spärlich ver¬
wendet. Ich möchte da z. B. darauf hinweisen, daß das Gesetz vom 12. Mai
1873 über die kirchliche Disziplinargewalt einen „Gerichtshof für kirchliche
Angelegenheiten" kennt, während das einen ähnlichen Gegenstand behandelnde
Kirchengesetz vom 16. März 1910 einen Gerichtshof als „Spruchkollegium"
bezeichnet, obwohl der Ausdruck „Kollegium" längst aus unserer Gesetzessprache
verschwunden ist, und man recht gut „Spruchbehörde", „Spruchgericht" oder
„Spruchamt" hätte sagen können. Wo die Maigesetze häßliche Fremdwörter
anwenden, z. B. im § 6 des ebengenannten Gesetzes („Visitationen von Demeriten«
cmstalten"), da hat man offenbar geglaubt, von der herkömmlichen Ausdrucks¬
weise nicht abweichen zu dürfen.
In bedeutsamer und, wie man hinzusetzen darf, erfreulicher Weise, weichen
die 1879 in Kraft getretenen sogenannten Neichsjustizgesetze von der sprachlichen
Ausdrucksweise der bisherigen Gesetzgebung ab. Hier finden wir zum ersten
Male bewußtermaßen ein Streben des Gesetzgebers, der sprachlichen Form eines
Gesetzes Aufmerksamkeit zu widmen. Zwar betätigt sich dieses Streben zunächst
fast ausschließlich darin, daß man die entbehrlichen Fremdwörter durch gute
Verdeutschungen zu ersetzen sucht, aber daneben wird doch die Ausdrucksweise
gegen früher genauer und sorgfältiger, wenn auch leider nicht anschaulicher und
knapper. Nicht alle Verdeutschungen sind gelungen, aber die ganz überwiegende
Mehrzahl derselben hat sich in unserer Gesetzessprache eingebürgert. Reine
Tafel hat man allerdings nicht gemacht. Schon die Überschriften der Zivil¬
prozeßordnung, der Strafprozeßordnung und der Konkursordnung hätten recht
gut von ihren fremdwörtlichen Bestandteilen gereinigt werden können. Auch
sonst ist manches entbehrliche Fremdwort stehen geblieben. Daß man „Instanz"
nicht durch „Rechtszug", „Termin" nicht, wie in der österreichischen Zivilproze߬
ordnung, durch „Tagfahrt" oder „Tagsatzung", „Revision" nicht durch „Rechts¬
rüge" ersetzt hat, mag angehen. Aber befremdlich ist es, daß man z. B. „Prozeß"
mit „Rechtsstreit" verdeutscht — eine Verdeutschung, die bekanntlich nicht
unangefochten geblieben ist — dabei aber gleichwohl von einem „Prozeßbevoll¬
mächtigten" und einer „Prozeßvollmacht" spricht, obwohl doch nichts näher
gelegen hätte, als „Streitvollmacht" und „Streitbevollmächtigter" zu bilden, wie
man „Streitgenosse" und „Streitverkündung" gebildet hat. Die Strafproze߬
ordnung ist sprachlich der Zivilprozeßordnung gleichwertig, während das Gerichts-
verfassungsgesetz und namentlich die Konkursordnung durch Knappheit und An¬
schaulichkeit hervorragen. Es verdient, hervorgehoben zu werden, daß die Aus¬
drucksweise unserer Zivilprozeßordnung in Österreich Schule gemacht hat. Denn
die österreichische Zivilprozeßordnung hat nicht nur die Ausdrucksweise der
unseligen im allgemeinen übernommen, sondern auch zahlreiche Paragraphen
dem Wortlaute nach.
Bei aller Anerkennung dessen, was in den Reichsjustizgesetzen in sprach¬
licher Hinsicht geleistet worden ist, stellen sie doch keinen großen und namentlich
keinen nachhaltigen Fortschritt in der Entwicklung unserer Gesetzessprache dar.
Wir sehen im Gegenteil, wie in der Folgezeit die Ausdrucksweise des Gesetz¬
gebers immer schwerfälliger, pedantischer, unlebendiger und oft unverständlicher
gegen früher wird. Eines der übelsten Gesetze in sprachlicher Hinsicht ist die
sogenannte Novelle zum Aktienrecht vom 18. Juli 1884. Hier sind namentlich
die Verweisungen, von denen die Rechtsjustizgesetze sehr zum Vorteil der An¬
schaulichkeit einen überaus sparsamen Gebrauch machen, so häufig, daß jede Über-
sichtlichkeit verloren geht und die Verständlichkeit in hohem Maße erschwert wird.
Zuweilen verweist von sechs Paragraphen immer der eine wiederum auf den anderen.
Im Jahre 1888 wurde sodann bekanntlich der erste Entwurf zum Bürger¬
lichen Gesetzbuche veröffentlicht. Die Fassung, die das Gesetz bei seiner end¬
gültigen Verabschiedung erhalten hat, weicht zwar in sprachlicher Beziehung nicht
unbedeutend von dem ersten Entwurf ab. Gleichwohl kann man sagen, daß
sich diese Abweichungen im großen und ganzen mehr auf Einzelheiten beziehen,
als auf die sprachliche Gesamtgestaltung des Gesetzbuches, so daß die folgenden
Erörterungen ebensowohl für die Sprache des Entwurfes wie für die Sprache
des fertigen Gesetzbuches gelten. Die Meinungen über die Sprache des Bürger¬
lichen Gesetzbuches sind sehr geteilt. Selbst die bereits erwähnten Einzelschriften
über die Sprache des Bürgerlichen Gesetzbuches von Erker und Gensel, in denen
der Gesetzgeber begeisterte und gewandte Verteidiger gefunden hat, spenden dem
Werke zum mindesten kein uneingeschränktes Lob und haben namentlich im
einzelnen zahlreiche Ausstellungen zu machen. Im allgemeinen aber wird die
Sprache des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht günstig beurteilt, obwohl ich hier
einschränkend bemerken muß, daß sich die Urteile, die man bei Günther „Recht
und Sprache" (S. 76) sowie in der vom Reichsjustizamt herausgegebenen Zu¬
sammenstellung aufgezählt findet, fast alle auf den ersten Entwurf des Bürger¬
lichen Gesetzbuches beziehen, und daß man viele der Ausstellungen als berechtigt
anerkannt und daher bei der endgültigen Fassung des Gesetzbuches berücksichtigt
hat. Ich kann mich leider nicht unter die Zahl der Lobredner der Sprache
des Bürgerlichen Gesetzbuches einreihen. Es ist nicht zu verkennen, daß der
ungeheuere und sehr spröde Stoff, der hier zu bewältigen war, der sprachlichen
Ausgestaltung des Gesetzes erhebliche Schwierigkeiten bereitete, zumal zahlreiche
Mitarbeiter erforderlich waren, und eine große Anzahl von Einzelrechtssystemen
zu einen: einheitlichen Ganzen verschmolzen werden mußten. So konnte nur
ein Vergleichswerk entstehen, das, so achtunggebietend es auch als Gesamtleistung
erscheinen mag, doch wie alle Vergleiche nach keiner Richtung ganz befriedigen
konnte. In erster Linie ist am Bürgerlichen Gesetzbuche die Reinheit der
Sprache zu rühmen. Die Verfasser haben sich bemüht, alle entbehrlichen Fremd¬
wörter zu vermeiden und dafür neue deutsche Ausdrücke zu prägen. Nicht
überall haben sie dabei eine glückliche Hand bewiesen. Sie haben durchweg
mehr Rücksicht auf die Deutlichkeit genommen als auf Knappheit und Anschau¬
lichkeit des Ausdrucks. Es klingt nicht gut, wenn fortwährend von Erklärenden,
Einwilligenden, Anweisenden, Annehmenden usw. die Rede ist. Der reiche
Schatz der Rechtssprache vergangener Jahrhunderte hätte wohl Ausdrücke liefern
können, die anschaulicher sind, und ebenso hätte man aus der österreichischen,
der schweizerischen und der niederländischen Gesetzessprache manches herüber-
nehmen können. So hat das österreichische Bürgerliche Gesetzbuch bei den Be¬
stimmungen über die Annahme an Kindesstatt die Ausdrücke „Wahleltern,
Wahlvater, Wahlmutter, Wahlkind", die sich auch bei uns zweifellos schnell
eingebürgert hätten und den umständlichen Umschreibungen, die das Bürgerliche
Gesetzbuch dafür verwendet, wohl vorzuziehen gewesen wären. Im allgemeinen
aber kann man dem Gesetzgeber nur Dank wissen, daß er mit den Fremd¬
wörtern gründlich aufgeräumt hat. Nach dieser Richtung hat denn auch die
Sprache des Gesetzbuches ganz überwiegend Anerkennung gefunden.
Auch die Nichtigkeit der Sprache verdient warme Anerkennung. Die Ver¬
fasser haben sich offenbar große Mühe um die Wahl des passenden Ausdrucks
und die Beobachtung der Sprachregeln gegeben. Ein Versehen, wie es ihnen
im Z 919 vorgekommen ist, wo von einem „verrückt gewordenen Grenzzeichen"
die Rede ist, wirkt mehr erheiternd als verstimmend.
Weniger leicht als die beiden vorhergehenden Fragen ist die Frage nach
der Klarheit und Schönheit der Sprache zu beantworten. Es ist nicht zu ver¬
kennen, daß die Einwürfe, die man nach dieser Richtung gegen das Gesetzbuch
erhoben hat, es sei für den Laien vollständig unverständlich und bereite selbst
dem Juristen große Schwierigkeiten, es sei weitschweifig, abstrakt und farblos
geschrieben, gehe dem Einfachen, Natürlichen, schlichten aus dem Wege, zu
einem großen Teile wenigstens der Berechtigung nicht entbehren. Es scheint,
als ob diese Ausdrucksweise weniger in einem mangelnden Können als in einem
mangelnden Wollen der Verfasser seinen Grund gehabt habe. Das Gesetzbuch
vermeidet mit Absicht volkstümliche Ausdrücke und sucht in möglichst umständ¬
licher Weise seine Vorschriften so zu fassen, daß alle nur denkbaren Fälle ein¬
begriffen sind, jeder Zweifel ausgeschlossen ist oder es doch sein soll. Damit
wird aber Unerreichbares angestrebt und der Klarheit, Übersichtlichkeit und An¬
schaulichkeit der Sprache Abbruch getan.
Entsprechend der Entwicklung, die unsere neuere Gesetzessprache genommen hat,
vermeidet das Gesetzbuch jede Anführung von Beispielen, was die Lebhaftigkeit und
die Anschaulichkeit der Darstellung ebenfalls sehr beeinträchtigt. Sehr zu loben ist
dagegen, daß der Entwurf eine feste juristische Fachsprache durchführt. Überall,
wo ein Ausdruck wiederkehrt, hat er dieselbe Bedeutung. Die zahlreichen Ver¬
weisungen, die sich finden, erschweren das Verständnis, namentlich da, wo nur
gesagt wird, daß diese oder jene Vorschriften „entsprechende Anwendung" finden.
In auffallendem Gegensatze zu der Sprache des Gesetzbuches selbst steht
die Ausdrucksweise der dickleibigen Motive, die sogar in der Überschrift die
von selbst sich darbietende Verdeutschung „Begründung" verschmähen. Sie
sind mit Fremdwörtern geradezu gespickt und auch sonst in dem herkömmlichen
Stil der Rechtswissenschaft gehalten. Wie man aber auch immer über die
Sprache des Bürgerlichen Gesetzbuches denken mag, jedenfalls ist es hoch zu
veranschlagen, daß die Gesetzgeber auf die Form des Gesetzes so viel Sorgfalt
verwendet haben. Um so mehr ist es zu verwundern, daß dieser Vorstoß auf
sprachlichem Gebiete in unserer Gesetzgebung so wenig Nachahmung gefunden
hat. Denn in den sechzehn Jahren, die seit der Verkündung des Bürgerlichen
Gesetzbuches verflossen sind, hat unsere Gesetzessprache, die allerneueste Zeit viel-
leicht ausgenommen, keine Fortschritte gemacht. Unseren Gesetzen werden zwar
jetzt keine „Motive" mehr beigegeben, sie erhalten dafür eine „Begründung",
man sucht entbehrliche Fremdwörter zu vermeiden, aber man legt nach wie vor
kein großes Gewicht auf die sprachliche Fassung der Gesetze. Alles, was auf
diesem Gebiete erreicht worden ist, ist nur den unablässigen Bemühungen des
Sprachvereins zu danken. Besondere Erörterung haben drei große Gesetz¬
entwürfe der letzten Zeit gefunden: Der Entwurf zur Strafprozeßordnung, der
zur Neichsversicherungsordnung und der Vorentwurf zum Strafgesetzbuche. Die
beiden erstgenannten Entwürfe sind so eingehend in der Zeitschrift des Sprach¬
vereins besprochen worden, daß ich mich darüber nicht ausführlicher zu ver¬
breiten brauche. Man rühmt die Sprache, namentlich die des zweiten Ent¬
wurfes der Strafprozeßordnung, die bekanntlich auf Veranlassung des Sprach¬
vereins von Professor Streicher umgearbeitet worden ist. Der Entwurf hat
durch diese Bearbeitung bedeutend an Klarheit, Knappheit, Richtigkeit und
Schönheit gewonnen, was allseitig anerkannt wird. Aber der Bearbeiter war
an sein Vorbild, den ersten Entwurf gebunden und durfte sich deshalb keine
grundstürzenden sprachlichen Änderungen gestatten. Was er bei der Bearbeitung
der Reichsversicherungsordnung geleistet hat, ist zu allgemein bekannt geworden
als daß ich es hier zu rühmen brauchte. Wenig erfreulich dagegen ist die
Sprache des Vorentwurfs zum neuen Strafgesetzbuche, die Staatsanwalt Wulffen
in der Zeitschrift Gesetz und Recht einer scharfen, aber größtenteils nicht
unbegründeten abfälligen Beurteilung unterzogen hat.
Vielleicht vermißt man in der vorstehenden Übersicht über die sprachliche
Entwicklung unserer Reichsgesetze viele nicht unbedeutende Gesetze, z. B. die
Gesetze über militärische Verhältnisse oder die zahlreichen auf Handel und Industrie
bezüglichen Gesetze, die Gewerbeordnung an der Spitze, die Zoll- und Steuer¬
gesetze, die Gesetze über das Verkehrswesen usw. Hierzu möchte ich bemerken,
daß ich alle diese Gesetze und manche andere um deswillen nicht erwähnt habe,
weil sie sich, mag vielleicht auch das eine sprachlich besser, das andere schlechter
ausgefallen sein, doch nur inhaltlich voneinander unterscheiden, für die
Entwicklung unserer Gesetzessprache aber nichts bedeuten, so daß sich auch
nichts Besonderes und namentlich nichts Kennzeichnendes darüber hätte sagen
lassen.
Überblicken wir den vorstehend skizzierten Gang der Entwicklung unserer
Gesetzessprache, so müssen wir die Frage, ob sie den berechtigten Anforderungen
entspricht, unbedingt verneinen. Im Zusammenhange mit dieser Tatsache steht
es, daß die Gesetzessprache und die Sprache des Volkes nur wenig gegenseitige
Einwirkung aufeinander haben, daß sich im Gegenteil eine tiefe Kluft zwischen
beiden aufgetan hat. Am deutlichsten tritt dies bei dem Bürgerlichen Gesetzbuche
zutage, dessen Ausdrucksweise nur sehr geringe Spuren in der Volkssprache hinter¬
lassen hat, wobei allerdings nicht außer acht zu lassen ist, daß es verhältnismäßig
erst kurze Zeit in Geltung ist.
Am stärksten wird natürlich die Sprache der Behörden von der Gesetzes¬
sprache beeinflußt; leider, wie man hinzufügen muß, nicht in wünschenswerter
Weise. Die Behörden ahmen vielfach die Schwerfälligkeit, Weitschweifigkeit und
Umständlichkeit unserer Gesetzessprache in ihren Urteilen und Entscheidungen,
ihren Verfügungen und Mitteilungen nach, befleißigen sich aber nicht der Rein¬
haltung von Fremdwörtern und der sprachlichen Genauigkeit, die, vielfach
wenigstens, Vorzüge unserer Gesetzessprache darstellen. Auch die Sprache der
Rechtswissenschaft wird stark, wenn auch nicht in dem Maße wie die Amtssprache,
von der Gesetzessprache beeinflußt. Dagegen weist die Sprache der übrigen Wissen¬
schaften nur einen sehr geringen Zusammenhang mit der Gesetzessprache auf.
In der Sprache des Handels hat die Gesetzessprache viel geringere Spuren
hinterlassen als in der Amtssprache. Während überdies auf die Sprache der
Behörden alle Gesetze annähernd den gleichen Einfluß ausüben, sofern nur die
in Frage kommenden Gesetze mit dem Dienstbetriebe der Behörden überhaupt
etwas zu tun haben, ist die sprachliche Einwirkung der einzelnen Gesetze auf
den Handel, oder überhaupt auf die Sprache des Volkes sehr verschieden. Am
stärksten macht sich die Ausdrucksweise der Strafgesetze im Alltagsleben bemerkbar.
Die Bedeutung von Ausdrücken wie Diebstahl, Betrug, Brandstiftung, Rotznase,
Kindsmord, Erpressung usw. ist jedem geläufig und es ist kaum ein Unterschied
zwischen diesen Ausdrücken als Fachausdrücken und Volksausdrücken. Den größten
Einfluß übt die Gesetzessprache da aus, wo es sich um das Verfahren handelt:
Mahnverfahren, Zahlungsbefehl, Versäumnisurteil, Prozeszvollmacht, Revision,
Gemeinschuldner usw. sind aus der Sprache der Reichsjustizgesetze in die Volks¬
sprache übergegangen. Ebenso stark ist die Einwirkung auf dem Gebiete des
Verkehrswesens. Wer spricht heute noch von der Korrespondenzkarte, von
rekommandierten Briefen, von x>08te reswnte usw.? Dagegen geht die Sprache
des Volkes, namentlich die Sprache des Kaufmannsstandes, vielfach ihre eigenen
Wege bei den Gesetzen, die die wirtschaftlichen Verhältnisse regeln. Reichs¬
gerichtsrat Förtsch hat in der Deutschen Juristenzeitung (1905) daraus hin¬
gewiesen, daß die Kaufleute vielfach dieselben Ausdrücke gebrauchen wie das
Bürgerliche Gesetzbuch, damit aber einen ganz anderen Sinn verbinden. So
nennt der Kaufmann „Vertreter" (Z 166 B. G. B.) auch denjenigen, der keine
Vollmacht zum Abschluß von Verträgen besitzt. Das Wort „Bestätigung"
(Z§ 141,144 B. G. B.) wendet der Kaufmann auch da an, wo er einen Vertrag
genehmigt (Z 177 B. G. B.) oder wo er ein Vertragsanerbieten annimmt
(Z 147 B. G. B.) oder wenn er einen Vertrag lediglich schriftlich abfassen will.
Unter „Abnahme" versteht das Bürgerliche Gesetzbuch (Z 433) die Inbesitz¬
nahme der Ware; die Handelswelt dagegen die Erfüllungshandlung des Käufers
überhaupt. Der Ausdruck „Rücktritt" ist der Geschäftswelt unbekannt.
Bei der schönwissenschaftlichen Literatur verflüchtigt sich aus leicht begreif¬
lichen Gründen der Einfluß der Gesetzessprache nahezu vollständig.
(Ein Aufsatz über Maßregeln zur Verbesserung der Gesetzessprache wird folgen)
ature Ka8 xvorked in Z^kriKa upon lar^er auel droaäer Ime8
dran 8ne na8 äone in Lurope." Diese Worte Bruce's in
seinem Buche über Südafrika erfassen ganz die Eigenart der süd¬
afrikanischen Natur. Denn in der Tat: es ist so, als habe
die Natur hier frei und ungehindert gewaltet, nach ihrem Belieben
schaffend, ohne Rücksicht auf das, was die Menschen wirtschaftlich und zweck¬
mäßig nennen. Nicht vorsorglich, wie in Europa, ist hier das Nützliche mit
dein Schönen gemischt, wird der Boden durch Flüsse und Regen gewässert,
während in seinen Tiefen Erze und Kohlen den Bedürfnissen der Menschen
dienen; hier wechseln nicht Gebirge und See, Wald und Felder ab. New,
als ob es in der Absicht der Natur gelegen hätte, sich in Südafrika auszutoben
und zu erholen von der Vernunft, die sie in anderen Erdteilen zeigt, hat sie
ein Werk geschaffen, das alle menschliche Erwägung verspottet.
Über das ganze riesige Gebiet südlich des Zambesi, über ganz Südafrika,
breitet sich, meist bis dicht an die Küste heranreichend, eine riesige Hochsteppe.
All die Länder, die jetzt unter britischen Machtbereich gekommen sind, sind eine
gewaltige, öde, wasserarme Steppe. Denn was bedeuten die fruchtbaren Land¬
striche im Süden der Kapkolonie, in Natal, im Basutoland im Vergleich zu
den Flächen von Maschona-, Matabele- und Bechuanaland, — die jetzt zu dein
Protektorat Rhodesien zusammengeschlossen sind — und zum Oranjefreistaat und
zu Transvaal, das allein fast Frankreichs Größe erreicht? Sie bilden nur die
Ausnahme zu der Regel: daß dieser ganze — Kontinent könnte man fast sagen —
nie dichte Besiedlungen von Menschen beherbergen, nie seiner Größe entsprechende
Mengen von Nahrungsmitteln erzeugen wird. Nur dem Viehzüchter, dem weite
Flächen gehören, auf denen genügsames Vieh sich spärliche Nahrung suchen kann,
bieten sich Aussichten auf Erfolg.
Tagelang fährt die Bahn von Osten nach Westen, von Beira nach Bula-
wayo, und tagelang wieder von Norden nach Süden, von den Victoriafällen
nach Kapstadt, jedesmal tausende von Kilometern, ohne dem Reisenden ein
anderes Bild zu bieten, als eine unendliche Ebene, meist dürftig mit grauem
Dornengestrüpp und einigen Grasbüschen bestanden, teils auch von Felsblöcken
und Steinen bedeckt.
Doch auch in dieser toten, gleichmäßigen Einförmigkeit hat die Natur ihre
Laune walten lassen. Auch diesen Gegenden hat sie ihre Schönheiten nicht
versagt. Sie gab diesen Steppen nicht nur die eigenartige Schönheit, die der
unendlichen Fläche stets eigen ist, nicht nur das wundervolle Farbenspiel des
Sonnenaufgangs und Untergangs, die klare und durchsichtige Luft der Hoch¬
steppe. Sie unterbrach die Einsamkeit durch Schönheiten und Schauspiele, die
keinen in der Welt nachstehen; sie überhäufte dieses äußerlich so arme Land
mit den wertvollsten und seltensten Gütern, die sie überhaupt besitzt: mit Gold
und Diamanten, Kohle, Kupfer und anderen Erzen. Sie bot dem Menschen
jede Möglichkeit der Entwicklung. Je nach seinen Anlagen konnte er ein ein¬
samer Viehzüchter, hartarbeitender Goldsucher, ein rücksichtsloser Spekulant werden,
oder seine Gaben im Dienste seines Landes verwerten und seinen Blick schärfen,
um Fragen zu erfassen und lösen zu helfen, die die ganze Menschheit angehen.
Und — die letzte, aber nicht die geringste Gabe — sie verlieh dem Lande die
Eigenschaft, daß weiße Menschen dauernd in ihm leben und sich heimisch fühlen
können.
Drei Tage und drei Nächte fährt man von der Ostküste, sast die doppelte
Zeit vom Süden, um die Zambesifälle zu erreichen. Keine Veränderung der
Natur kündet ihre Nähe, keine üppigere Vegetation; bis dicht heran reicht die
ewige, graue Steppe. Nur das Donnern der Wasser, das Aufsteigen einer
weißen Säule von Wasserstaub — der tönende Rauch, wie die Eingeborenen
sagen —, weithin sichtbar und hörbar, deutet auf ihr Vorhandensein hin. Doch
auch wenn man, wenige hundert Meter von ihnen entfernt, die kühne Eisen¬
bahnbrücke überschreitet, die den Zug über den Zambesi und dann hinein in
den Kongo führt, gewahrt man nicht mehr von ihnen, als einen dünnen
Streifen. Eine hohe vorgeschobene Felskulisse versperrt die Aussicht. Es ist,
als ob die Natur ein so wertvolles Gut besonders sorgsam versteckt hätte.
Ganz dicht muß man an das Wasser herantreten, bald von dieser, bald von
jener Seite vorpirschend, um allmählich einen Gesamteindruck von der Größe und
Mächtigkeit dieses Weltwunders zu gewinnen. Dann erst begreift man, welch
prachtvolle Verbindung die Natur hier geschaffen hat: einer der drei größten
Fälle der Welt — denn 2 Kilometer ist der Zambesi breit, von Inseln und
Klippen in viele Arme geteilt, und 150 Meter tief stürzt er sich hinab —,
und ein gewaltiger, tiefer Canon sind hier zu einem Ganzen verschmolzen. In
einer engen, kaum 60 Meter breiten Schlucht werden die herabstürzenden Wasser
des Flusses aufgefangen und senkrecht steigen auf der anderen Seite die Felsen
wieder 150 Meter empor. Und unten im Canon donnert und brodelt das
Wasser und wirft Wolken feuchten Wasserstandes empor, in den die Sonne
einen breiten Regenbogen zeichnet, und sucht den schmalen Ausweg, den ihm
die Felswände lassen.
Noch herrscht hier der tiefe Friede, den Livingstone vorfand, als er vor
fünfzig Jahren als erster Weißer die Zambesifälle sah; noch ist die Natur nicht
entweiht durch Häuser und Hotelpaläste, durch die frechen Farben von Plataeer,
den Lärm von beutelustigen Führern und Kutschern; noch zeigen keine Schorn¬
steine, daß die Menschen die gewaltigen Kräfte der Natur umgeprägt haben in
die kleine Münze, die sie brauchen. Aber wie lange wird es dauern, bis die
Industrie — und zwar zunächst in ihrer abstoßenden Form, der Fremden¬
industrie — sich dieses Kleinods bemächtigt haben wird, um es des schönsten
Zaubers zu berauben, den es heute noch besitzt — seiner Unberührtheit?
Nicht weit von den Fällen — nicht weit für afrikanische Raumbegriffe —,
achtzehn Stunden Eisenbahnfahrt entfernt, liegt, in der Steppe versteckt, eine
andere Stätte der Bewunderung, die Matoppo Hills; den gleichen tiefen Ein¬
druck hinterlassend, wie jene, und doch wie verschieden! Dort Leben, Kraft,
Wirken der Natur; hier Stille, Einsamkeit, Abgeschlossenheit.
Mitten in der kahlen Ebene des „Veldt" liegen diese Hügelketten und
doch, auch in der Nähe, kaum von: Himmel sich abzeichnend. Erst wenn die
einzelnen Felsblöcke am Wege sich mehren und sich zu seltsamen Silhouetten
türmen, wird man der Hügellandschaft gewahr, in der man sich plötzlich befindet.
Langsam steigt man über steinigen Boden, und erklimmt den leichtgeschwungenen
Rücken eines granitnen Hügels, auf dessen Gipfel einige kleinere Felsblöcke
ruhen, wie von Riesenhand dorthin gewälzt. Von dort oben kann das Auge
nach allen Richtungen schweifen, bis fort in weite Fernen. Doch wohin der
Blick auch fällt, nirgends entdeckt er ein Zeichen von Pflanzenwuchs, oder die
Spur von menschlichen Ansiedelungen. Ringsum nichts als Stein: einzelne
Felsen, Berge, Gebirgszüge, Täter von Granit, mit starrer Klarheit auch in
der Ferne sich abzeichnend unter den unbarmherzigen Strahlen der Sonne.
Vollkommene Stille herrscht hier oben, kaun: unterbrochen von dem schnellen
Flug eines Vogels. Es ist, als hätte die Natur ein Symbol geschaffen; als
hätte sie aus den unendlichen Ebenen Südafrikas, aus all den Felsen, all der
Einsamkeit und Sonnenglut ein Wahrzeichen herauskristallisiert; als hätte sie
den Sinn, die Eigenart, die einsame Größe des Landes zusammengefaßt in
diese eine Landschaft.
Oben, auf dem Gipfel des Hügels, ist eine Bronzeplatte in den Felsen
eingelassen, mit der Aufschrift: k-lere lis tke remmns of Lecil ^c>Ku KKväes.
Dies ist die Stelle, die sich der Gründer Südafrikas zu seiner Grabstätte aus¬
gewählt hat. Nun ruht er mitten im Herzen des Landes, das seinem Herzen
am nächsten gestanden hatte. Zwar hat er viel vollbracht in seinem Leben,
schwebte viel als noch zu vollbringen seinem geistigen Auge vor: er hat die
Vereinigung des gewaltigen südafrikanischen Reichs unter britischen Zepter
erkämpft; er hat die bedeutendsten industriellen Unternehmungen des Landes
geleitet und neugeschaffen; er hat den britischen Imperialismus gefördert, wie
kaum ein anderer; ihm schwebte eine britische Weltherrschaft im Bündnis mit
Deutschland und Amerika vor. Aber sein Herz hing an den weiten Strecken
Landes, das er allein für sein Vaterland erworben hatte und das jetzt seinen
Namen trägt. Das war seine eigenste Schöpfung; um seine Erhaltung hat er
oft genug gebangt und gekämpft. Hier in den Matoppo Hills hatte er Wochen
bangen Wartens und geduldigen Harrens verlebt, als er in: Matabeleaufstand
mit feindlichen Führern verhandelte und die Zukunft des Landes von dem
Zustandekommen einer Verständigung abhing.
So ist auch die starre, tote Einsamkeit der Matoppo Hills durchgeistigt
und belebt von dem Willen eines Menschen. Und gerade diese geistige Durch¬
dringung der Natur durch den Geist eines großen Menschen, dieses Einswerden
von Mensch und Natur, das ist der stärkste und dauerndste Eindruck, den die
Matoppo Hills hinterlassen.
Die Debeers-Mine in Kimberley und die Premier-Mine in Cullinan bei
Pretoria, wenige hundert Kilonieter von einander entfernt, sind die einzigen
Stellen in der Welt, wo die Diamanten im Großbetriebe des modernen
Kapitalismus gefördert und verarbeitet werden. Hier sind Tausende von weißen
Angestellten, Zehntausende von schwarzen Arbeitern, viele Millionen Kapital
ausschließlich damit beschäftigt, jene kleinen weißen Steine zu fördern, die
keinem anderen Zwecke dienen, als die Frau zu schmücken.
Beides hochentwickelte moderne Großbetriebe mit einem bis ins Feinste
entwickelten Mechanismus. Aber beide von Grund auf verschieden in Ent¬
stehung und Entwicklung. Debeers ist der Krupp, Premier der Thyssen der
Diamanten. Jenes ein Werk, das auf eine vierzigjährige Geschichte, eine stetige,
große Weiterentwicklung zurückblickt; dieses kaum zehn Jahre alt und doch
fertig, gewaltig — wie aus der Erde gewachsen.
Auch das Verfahren — der Produktionsprozeß bei beiden ist von Grund
auf verschieden. Die Debeers-Minen dem modernen Steinkohlenbergwerk ver¬
gleichbar: Förderanlagen, Schächte, Stollen, Gänge, ausschließlich Untertage¬
arbeit. Auf weiten Flächen wird dann das diamanthaltige Gestein, der
Blueground, ein Jahr lang gelagert und, um es zu zersetzen, den Einflüssen
der Witterung ausgesetzt. Daraus wird es gewaschen und in ein System von
immer enger werdenden Sieben gebracht, bis schließlich nur die feinkörnigen
Überreste übrig bleiben, aus denen die Diamanten gelesen werden.
Ganz anders, noch eindrucksvoller, weil noch konzentrierter, die Premier-
Mine. Hier wird nur im Tagebau gearbeitet, denn der Blueground steigt von
über tausend Meter Tiefe bis zur Oberfläche empor. Ein riesiges Loch ist
gegraben worden: zwei Kilometer lang, einen Kilometer breit, hundert Meter
tief. Unten schimmert der Grund blaugrau, scharf sich absehend von dem
rötlich-gelblichen Gestein der Seitenwände. Auf dem blau-grauen Boden wimmelt
es, wie in einem Ameisenhaufen. Dort arbeiten achttausend Schwarze ununter?
brochen, Tag und Nacht, wochentags und Sonntags; hauen das Gestein ab,
beladen kleine Wagen damit, bringen sie an die Seilbahn. Und in unend¬
licher Reihe laufen diese Wagen den Berg hinauf, hinein in gewaltige Fabrik¬
anlagen. Dort werden sie in Mörser entladen, die das Gestein in kleine Teile
zermalmen. Noch einmal wird es zerkleinert, dann wieder durch Wasser über
Siebe getrieben. So gehen in jedem Monat über eine Million dieser kleinen
Wagen den Berg hinauf und werden verarbeitet; so schnell verarbeitet, daß die
Diamanten, die am Morgen noch tief im Gestein geschlummert haben, schon
am Nachmittag vom Sortierer in kleine Säckchen gepackt werden. Und dieses
ganze, in sich abgeschlossene, aufs äußerste durchgebildete Verfahren mit all
seinen verschiedenartigen Maschinen und Vorrichtungen ist in zehn Jahren
geschaffen worden; geschaffen worden, obwohl nichts Ähnliches ihm als Vorbild
dienen konnte, obwohl jedes Verfahren, jede Maschine neu erprobt werden
mußte. Noch im Jahre 1902 ließ hier ein Bur sein Vieh zur Weide gehen
und sich aus dem kümmerlichen Gras der Steppe seine Nahrung suchen.
Es ist ein eigentümlicher Gedanke, daß all dieses eines Tages verschwinden,
überflüssig werden könnte: daß diese Werke, die, wie die Debeers-Minen, jetzt
täglich für 400000 Mark Werte schaffen, zum Stillstand verurteilt werden
könnten. Es brauchte nur einem Gelehrten zu gelingen, den genügenden Druck
zu erzeugen, um statt der winzigen Splitter, die er bis jetzt erzeugte, größere
Diamanten aus der Kohle zu kristallisieren. Es brauchte nur der Mode, also
der Gesamtheit der Frauen, zu gefallen, sich mit kleinen Muscheln oder mit
Schwefelkies zu schmücken — und all das. was hier aus dem Nichts gezaubert
worden ist, würde wieder in das Nichts versinken.
Die Gegend zwischen Kimberley und Johannesburg ist keineswegs erfreu¬
licher als anderswo in Südafrika: womöglich noch flacher, trockener, reizloser
als sonst. Man achtet kaum darauf, daß der Zug in einer kleinen Senkung —
Tal kann man es nicht nennen — entlang fährt. Wenige Kilometer zur Rechten
und zur Linken hebt sich das Gelände wieder zu flachen Hügeln. Erst wenn
man aus der Erde unvermittelt hier und da steile, vielleicht 20 Meter hohe
Hügel aus blendend weißem Gestein emporsteigen sieht, daneben langgestreckte
Fabrikanlagen mit Förderschächten und rauchenden Schornsteinen, dann durchzuckt
den Reisenden das Gefühl: jetzt sind wir im Lande des Goldes.
In der Tat: unter dieser nüchternen, kahlen Oberfläche birgt die Erde die
reichsten Goldvorräte, die bisher gefunden worden sind. Mitten durch die un¬
fruchtbare Ebene zieht sich ein hundert Kilometer langer, wenige tausend Meter
breiter Streifen, der das goldhaltige Quarz birgt: der Witwatersrand oder
kurzweg Rand genannt.
Aber diesem Land fehlt der Schimmer von Romantik und Abenteuern, der
sonst die Goldländer umstrahlt. Nüchtern, wie das Land, ist auch der Betrieb.
Das Gold wird nicht gefunden, es wird gewonnen. Hier findet kein Goldsucher
nach unsäglichen Anstrengungen den Goldklumpen, der ihn mit einem Schlage
zum reichen Manne macht; hier werden keine blutigen Kämpfe gefochten um
Claims und goldhaltige Stellen. Hier herrscht der kühlrechnende Kaufmann;
hier arbeitet das Großkapital international und unpersönlich, mit allen Mitteln
der Technik, die ihm zu Gebote stehen. Denn das Gold zeigt sich hier nicht,
launisch wie die Glücksgöttin, an der einen Stelle in überreichen Adern, wenige
Schritte davon wieder verschwindend. Es sitzt, dem unbewaffneten Auge un¬
sichtbar, aber gleichmäßig verteilt und immer vorhanden, im Quarzgestein. Nun
braucht der Geologe nur die Mächtigkeit dieser Quarzadern zu berechnen, der
Techniker die Schächte zu bauen, aus denen das Gestein herausgeholt wird und
die Mörser, in denen es zu weißem Mehl verstampft wird; der Chemiker die
Säuren zu bereiten, die das Gold aus jenem Staub herausziehen; und der
Kaufmann kann sich seinen Gewinn kalkulieren.
So zieht sich zu beiden Seiten der Bahn eine Goldmine neben der anderen
hin: Schornsteine, Fabriken, Berge weißen, gemahlenen Quarzes, Wellblechhäuser
Maultiergespanne. Als ob man zwischen Düsseldorf und Bochum durch Kohlen¬
zechen und Hochöfen führe. Alles nüchtern und arbeitsam.
Wenn man wirklich Romantik sucht, so würde man sie eher noch in
Johannesburg finden. Auch hier nicht die Romantik der westamerikanischen
Minenstadt mit Spielhöllen und Branntweinspelunken, Goldsuchern mit Revolvern
und breitrandigen Hüten. Denn Johannesburg ist eine moderne Großstadt mit
allem Komfort, Warmhäusern, feinen Hotels und Villenviertel. Aber die Ro¬
mantik der ganz modernen Stadt, die jetzt hundertundzwanzigtausend weiße
Einwohner beherbergt, wo vor dreißig Jahren kaum ein Haus stand, hat es
sich doch noch bewahrt; noch hat es die Romantik der Stadt, die noch nicht in
sich gefestigt ist und keine Vergangenheit hat; die Romantik der Stadt, in der
Zehntausende nach dem Glück jagen, ihr ganzes Hab und Gut in dem Jen
des Börsenspiels anlegen; in der der eine zur Höhe der reichsten Männer der
Erde emporsteigt, der andere seines Geldes beraubt wird und wieder zur Arbeit
seiner Hände greifen muß, um sein tägliches Brot zu verdienen.
Alles, was die Natur in Südafrika an Lieblichkeit der Landschaft, Frucht¬
barkeit des Bodens übrig hatte, scheint sie auf Kapstadt vereinigt zu haben.
Hier hat sie einen der schönsten Häfen der Welt geschaffen: das mächtige, ein¬
fache Massiv des beherrschenden Tafelberges, eingerahmt von den bizarren Linien
kleinerer, steiler Berge. Zu ihren Füßen brandet das Meer und wirft seine
Wellen gegen die Felsblöcke, die den weißen Strand all der vielen kleinen
Buchten unterbrechen. Und an den Hängen zwischen Meer und Berg zieht
sich die Stadt, mit all ihren Vororten und taufenden von kleinen Häuschen,
die von Gärten umgeben sind mit grünem Rasen, vielerlei Blumen und seltenen
Bäumen.
Eine Vergangenheit mehrerer Jahrhunderte kolonialer Geschichte durch¬
geistigt die Stadt, die jetzt noch in frischem Leben blüht. So entgeht sie dem
Schicksal, das sonst europäische Kolonialstädte ihres Reizes beraubt: entweder
eine glorreiche Vergangenheit zu haben, aber in einer schläfrigen und tatenlosen
Gegenwart zu leben — wie die portugiesischen oder spanischen Kolonien —,
oder in einer geschäftigen, nüchternen Gegenwart zu leben, ohne von den
Erinnerungen an Geschichte und Tradition getragen zu sein, wie die amerika¬
nischen und australischen.
Kapstadt hält die Mitte zwischen beiden: die zweihundert Jahre holländischer
Herrschaft haben sich der Stadt tief eingeprägt. Schlichte, schmucklose Gebäude,
einfache Kirchen. Alleen alter schöner Eichen geben der Stadt ihr Gepräge.
Ihre Lage als Ausfuhrhafen eines großen, blühenden Landes, ihre Verbindungen
nach Südamerika und Australien sind die Grundlagen ihrer gegenwärtigen und
zukünftigen Blüte.
Wer das Hinterland von Kapstadt durchstreift, der glaubt in die Alpen
versetzt zu sein; aber nicht Alpen, wo ein Berg sich drohend und beengend neben
den anderen erhebt. Zwar sind auch hier Gebirgszüge. vielgestaltig mit steilen
Gipfeln und felsigen Hängen. Aber zwischen ihnen dehnen sich weite, fruchtbare
Täter — fast schon Ebenen —, von Flüssen durchströmt, mit fruchtbarem
Boden. Hier gedeiht Wein und kostbares Obst, das im Winter auf den Tischen
Londons prangt, Weizen und Gerste. Zwischen hohen Bäumen versteckt liegen
die weißen Farmer holländischer und deutscher Bauern, die schon seit vielen Gene¬
rationen dieses Land bestellen.
So mag sich dem, der, von Europa kommend, all diesen Reichtum zum
ersten Male sieht, wohl der Traum des alten Europas hier zu erfüllen scheinen;
als sei ein neuer Weltteil gefunden, der all den Überschuß von Menschen und
Kraft aufzunehmen und ihn reichlich zu ernähren vermöge. Bis ihn dann die
ewige Steppe jenseits der hohen Berge belehrt, daß er auch hier europäische
Lebensbedingungen nicht wiederfinden wird.
Es ist natürlich, daß ein Land von so eigenartigem Gepräge, mit einer
so langen Vergangenheit kolonialer Geschichte einen tiefen Einfluß ausgeübt
hat auf die Menschen, die es bewohnen. Nur geringes Interesse vermögen —
von diesem Standpunkte aus — die Engländer zu erwecken; erst vor einem
Jahrhundert eingedrungen, sind sie, wie überall draußen, nur von dem Wunsche
beseelt, wenig von dem Lande anzunehmen, in dem sie wohnen — was die
ideellen Werte betrifft — und um sich herum die Lebensbedingungen ihrer
Heimat zu schaffen.
Außer Betracht sollen auch die Eingeborenen bleiben, denn auch sie zeigen
dem Beobachter keine diesem Lande allein charakteristischen Züge; soviel Interesse
auch die tapferen Kämpfe dieser kriegerischen Stämme — mit ihrer höheren
und strafferen Organisation, als sonstwo in Afrika — zu erwecken vermögen,
soviel Teilnahme man auch ihrem Schicksal entgegenbringen vermag: ihrer
Waffen und so ihrer Mannhaftigkeit beraubt, müssen sie Arbeit leisten, deren
Lohn sie zu ihrem Leben nicht brauchen; und zwar Arbeit, die ihrer Natur
nicht zusagt, tief unter der Erde von Lungenkrankheiten und steter Gefahr bedroht;
über der Erde sind sie für Monate ihrer Bewegungsfreiheit beraubt.
Das eigentliche Produkt dieses Landes, umgemodelt in ihrem Charakter,
beeinflußt in ihrem Wesen durch sein Klima, seine Landschaft, die Beschäftigung,
die es ihnen aufzwingt, sind die Abkömmlinge jener alten holländischen An¬
siedler, die Buren. Ihre Geschichte ist die des Landes gewesen, sie haben es
erobert, besiedelt und sind nun untrennbar mit ihm verwachsen. Sie zogen in
die Steppe und lebten von dem Vieh, das sich seine Nahrung selbst suchte;
jagten das Wild und bekriegten die Eingeborenen; lebten in der Einsamkeit
und liebten sie. Nur das notwendigste lockere Gefüge staatlicher Gemeinschaft
hielt sie zusammen. Denn sie haßten das enge Zusammenleben und jeglichen
Zwang. Mit eiserner Zähigkeit hingen sie an ihrer Sprache und Religion.
Der materielle Fortschritt anderer Weltteile, die Gaben der Zivilisation ließen
sie unberührt. Sie wollten sich nicht bereichern, wollten nicht andere von
ihrem Besitz verdrängen. Sie wollten nur eins: ihre Freiheit und ihre Einsamkeit.
Es ist ein tragisches Geschick, daß ihnen auch dieser bescheidenste, negativste
aller Wünsche nicht erfüllt wurde. Die Engländer verdrängten die Holländer
aus der Kapkolonie und begannen auf ihre Art, das Land zu zivilisieren. AIs
ihnen ihre Sprache genommen, ihre Freiheit beschränkt werden sollte, da ver¬
ließen die Buren ihre alten Heimstätten und zogen hinauf nach Norden in
wildes, unbekanntes Land. Nur ihre Freiheit und nationale Eigenart wollten
sie behalten. Wieder besiedelten sie das Land und wurden heimisch in ihm,
und wieder folgten ihnen die Engländer. Aber es gelang ihnen, durch Unter¬
handlungen und tapfere Kämpfe ihre Selbständigkeit zu bewahren.
Da entdeckte man in ihren dürren Steppen riesige Goldfelder. Was anderen
Völkern als eine Himmelsgabe erschienen wäre, war ihnen ein Greuel. Es
brachte fremde Menschen in ihre einsame Steppe, stellte sie vor alle Probleme
des modernen Staates und Kapitalismus. Vergeblich versuchten sie sich gegen
die neue Zeit zu stemmen und die Entwicklung auszuhalten. Auch jetzt noch
waren sie bereit, sich mit dem neuen Geiste der Zeit auseinanderzusetzen, indem
sie vor ihm zurückwichen. Wieder wollten sie ihr Hab und Gut, Weib und
Kind auf ihre Ochsenwagen laden und wieder hinausziehen in das unbekannte
Land im Norden.
Aber nun war es zu spät; von allen Seiten hatten die Engländer sie
eingeschlossen. Es war ihnen nicht einmal mehr erlaubt, ihr Hab und Gut den
Fremden zu überlassen. Im Norden umklammerte sie die gewaltige Schöpfung
Cecil Rhodes'; im Westen war ihnen der Eintritt in die Wüste des Bechuana-
landes verwehrt durch die listigen Verträge, die die Engländer mit den ein¬
geborenen Häuptlingen geschlossen hatten. Im Osten versperrten Natal und
die portugiesische Kolonie das Vordringen. So waren sie vor die Wahl gestellt,
den Forderungen der Fremden nachgebend auf ihre nationalen Eigenschaften
zu verzichten oder mit einem gewaltigen Weltreich zu kämpfen. Sie wählten
das Tapferere. Sie wurden geschlagen, mußten geschlagen werden nicht nur
wegen der ungeheuren Zahlenübermacht, sondern auch wegen der Eigenschaften
ihres Charakters: Selbständigkeit, die in Ungehorsam ausartete; Vorsicht, die
sie den Sieg nicht ausnutzen ließ.
Jetzt haben die stegreichen Engländer die Buren ihrem Weltreich als ein
neues Glied einfügen wollen. Es wäre eine seltsame Rache, wenn die Besiegten
den Sieger mit den friedlichen Mitteln der Verfassung, die ihnen in die Hand
gegeben sind, unterjochten und sich so ihre Selbständigkeit und Freiheit sicherten,
um die sie so lange mit den Waffen gekämpft haben.
Außer den alten, nichtfrommen Jungfern, die bei den Geschwistern Holtner
das Gnadenbrod haben, ist niemand im Hause. Sie sitzen im Garten, der hinterm
Hause liegt und warm und sonnig ist, in dem kein Wind pfauchen und die alten
Weiblein ärgern kann, weil ringsum die nachbarlichen Scheuern mit den hohen,
eingesattelten Dächern stehen. Sie hocken nah und dicht beisammen, denn ihre
ausgetrockneten Pergamentleiberchen können viel Wärme brauchen, „'s Holtners
drei Hutzelcher" heißen sie im ganzen Dorfe. Sie sind sehr verwundert, als sie
Karl in den Pferdestall gehen sehen, denn sonst kommt doch der Karl immer erst
um halb neun Uhr heim an den Sonntagabenden. Sie winken und rufen und
werfen die dürren Altweibleinsärmchm in die Höhe: Hnhla, habla, der Karl solle
einmal herkommen. Die dünnen Stimmchen zirpen und quietsckien, fast hört es
sich an, als gackerten ein paar Hühner.
Die Altweiblein sind neugierig und möchten gerne wissen, wie das ist mit
der Tante Sette, die das erste aus dem Dorfe ausgewanderte Weibsbild sei.
Hinausheiraten, das könnten sie ja verstehen, denn dann habe doch so ein Weibs¬
bild sein Auskommen. Aber ein ledig Weibsbild in der Fremde? Die Spelzheimer
seien doch auch nicht wie die armen Odenwälder darauf angewiesen, ihre Töchter
als Mägde in die Welt zu schicken, und jetzt gehe auf einmal die Sette auswärts.
Eine ganze Revolution ist in den Seelchen der Altweiberchen über diese
Tatsache, und Karl ist voller Erstaunen über die Hutzelchen. Ob sie denn auch
auswandern wollten, weil sie alles so genau ausfragten? Hui jul, wie da die
Drei in Aufregung geraten! Sie auswandern, wo sie es doch so gut hätten?
Ganz leichte Arbeit hätten sie zu tun und bekämen so gut und so reichlich zu
essen dafür!
Nein, nein, die Hutzelchen wollen gewiß nicht fort. Die Auswanderung der
Sette ist wie ein riesiger schwarzer Meteorstein in die siebenzigjähriger, schon halb
wieder in Kindheit gesunkenen Seelen gefallen, und nun stehen sie davor und
wissen ihn nicht mehr fortzubringen daraus, wiewohl ihr ganzes Sinnen und
Denken sich dagegenstemmt.
In die Unterhaltung der Viere poltert eine Stimme:
„Na, ich hab gemeint, da tat einer beim Pfarrer hocken und tat dem einen
Vortrag halten, und jetzert schwatzt er da mit den Hutzelcher, hä?"
Hannes Holtner ist aus dein Wirtshaus heimgekehrt. Als Karl ihn hört,
springt er auf. Hannes Holtner aber sagt:
„Na, geh mal gleich mit herein und verzähl mir mal, was es mit dem
Pfarrer geben hat!"
Im Zimmer drückt er den Jungen wieder in den alten Lehnsessel und läßt
ihn sprechen und hört seinem Schützling aufmerksam zu.
„Hmhmhmmmm, hmhmhmmm, sosososo, kettet!" macht er zwischendurch
manchmal.
Als Karl seine Erzählung beendet und auch von dem guten Rate des
Pfarrers gesprochen hat, fragt er:
„Unkel Hannes, wie stellt Ihr Euch dazu?"
„Da nutz man jetzert mal abwarten. Gehst morgen mal nauf zu der
Hungels-Grek. Mal sehen, was du für Erfahrungen machst. Ich bin jetzt selber
gespannt, wie sich dem Herr Pfarrer seine Quisselgarde verhält, bin kolossal
gespannt!"
„Unkel Hannes!" klagt der Bursche, „ich bin jetzert garnet mehr so zufrieden
wie sonst!"
„Weißt du, lieber Bub, da kann dir auch kein Mensch helfen!" entgegnet
der Alte. „Du mußt dir vorstellen, daß dein Herz noch ist wie ein klein ungezogen
Kind. Wenn die Mutter einmal nicht ist wie sonst aller Tag, wenn sie dem
Kind mal kein Liedchen singt, macht's Kind ein verdrießlich Gesicht, läuft herum
und mangelt. So geht's deinem Herz, wenn's aus dem Gleichgewicht kommt.
Nur Geduld, wenn du mal noch ein bißchen älter bist, wird sich das alles schon
finden. Jetzert geh naus und besorg die Gaul! In der Arbeit vergißt sich der
Kummer. Geh hin!"
Karl geht aus dein Zimmer und über den Hof durch den Pferdestall in
seine Kammer und zieht sich um; hernach füttert er die Tiere.
Nach dem Nachtessen begibt er sich gleich zur Ruhe, aber er kann nicht
schlafen. Sonst freute er sich beim Ausziehen auf den kommenden Morgen. Ein
wenig erholt von den Strapazen des verflossenen Tages, sehnte er sich schon
wieder nach dem Duft des Ackers, der aus den vom Pfluge aufgerissenen Schollen
kraftweckend aufquillt. Heute Abend freut er sich auch nicht auf die Säearbeit.
In der Kirchweihwoche macht man das Korn unter. Unkel Hannes hat ihn bei
der Aussaat der Stoppelrüüen den richtigen Säeschwung des Armes gelehrt und
ihm damals gesagt, das wäre doch noch ein viel köstlicheres Gefühl, wenn statt
des rauhen Rübensamens das glatte feste Korn zwischen den Ungern hindurch-
sause. Wie das ein wunderbares Prickeln sei in Daumen, Zeigefinger und
Mittelfinger, das müsse er fühlenl Ihm zuliebe wolle er, der Unkel Hannes,
einen ganzen Acker Korn mit der Hand untermachen, obwohl es mit der Säe-
maschine viel schneller ginge. Aber sie wollten es von jetzt ab immer so ein¬
halten, nämlich ein paar Äcker stets mit der Hand bestellen zum persönlichen
G müsse.
Und morgen soll der Säetag sein, auf den Karl sich so sehr gefreut hat,
der ihm aber nun nach den Erfahrungen des heutigen Tages ganz gleichgültig ist.
Doch der Schlaf ist ein guter Doktor, und in der frischen Kraft des Morgens
schämt man sich der müden Mutlosigkeit des verwichenen Abends. Wenn man
erwacht, springt man als tüchtiger Ackersbursche mit gleichen Füßen aus dem
Nest, hängt's vor's Fenster und füttert seine Gäule, die Montags nach der
Ruhe des Sonntags schon erwartungsvoll mit den Hufen stampfen.
Es hat sich ja da gleich wieder ein Unmutsgedanke in dem Burschen auf¬
machen wollen, denn er mußte sich so unwillkürlich darüber ärgern, daß er seinen
ersten Kornsäetag nicht in ganz ungetrübter Freude und in voller Sorglosigkeit
begehen konnte. Aber das ist jetzt, wo er mit dem Sieb in die Spreukammer
geht, schon wieder vorbei. Vor Sonnenaufgang singt man nicht; als Bauer ist
man schweigsam in der Frühe des Tages. Es ist, als ob am frühen Morgen
die Natur an besonders weihevoller Arbeit schaffe. Um einem herum ist's wie
ein geheimnisvolles Weben und Wehen, das fromm und gütig macht und demütig
und doch voll starker Hoffnung.
Darum ist man stille in der Frühe des Tages wie in einer Kirche.
Aber so zwischendurch darf man doch einmal trällern: Lalala bumbum
hmhmhmhm lalalalal
Das singt man so halblaut zwischen den Zähnen hindurch im gleichen Takt,
mit dem die Arme das Sieb schwingen.'
So lebt in Karl doch die Freude wieder auf und willerst müde werden,
als draußen auf dem Acker auch die Arme von den rastlosen halbrunden Säe-
schwüngen zu ermatten beginnen. Da stellt auch schon der ärgerliche Gedanke an
den Gang, den er am Nachmittag wird machen müssen, sich ein und zupft und
zwickt an seinem Herzen.
Nach dem Mittagessen schirrt er zusammen mit Unkel Hannes den Leiter¬
wagen ab, den man jetzt, nachdem die Getreide- und auch die Grummeternte
eingetan ist, nicht mehr braucht, und sie befestigen statt der Leitern die einzelnen
Teile des Kastenwagens auf dem Rädergestelle. Als diese Arbeit getan ist, ver¬
ändern sie die Spurweite der Säerinnen an der Saatmaschine, denn sie sind noch
auf Rübensamen eingestellt aus der Zeit der Stoppelrübenaussaat. Danach
ordnen sie noch verschiedenes in Scheuer und Schuppen, in den Sparren und im
Kellerhaus.
Es düstere schon, als sie endlich so weit sind, und der Unkel Harnes sagt:
„So, Karl, jetzert sind wir fertig, 's hat doch länger gedauert, als ich
gemeint hab, daß es dauern tat. Na, kommst doch noch früh genug zu dem
Polizeidiener des Herrn. Aber laß dir's gesagt sein: Bei der Hungels-Grek darfst
du net blöd sein, denn das Aas hat Haar auf der Zung. Wenn sie kreischt,
schreist du auch: wenn sie grob wird, wirst du's auch! Nee erst warten, bis sie
dir ein paar herunter gerissen hat!"
Dann gehen sie zusammen fort, der Hannes Holtner und der Karl Salzer.
Hannes Holtner hat eine leichte Hacke auf der Schulter. Er will vor dem
Nachtessen noch einmal rasch hinaus in das Pflanzfeldchen springen, ein paar
Salatpflanzen setzen; das kann man noch machen zwischen Tag und Dunkel.
An der Roßgasse trennen sich die beiden. Karl geht geradeaus die berg¬
anstrebende Wingertsgasse hinauf, an deren oberen Ende die Hungels-Grek wohnt.
Hannes Holtner biegt in die Roßgasse ein; er ruft dem Burschen nach, auf dem
Heimweg solle er am Schreiner Kling vorbeigehen und ihm den Auftrag geben,
das Täfelchen am Kreuze wieder zu beschreiben.
Am Untertor begegnet ihm der Pfarrer, der von seinem Spaziergange zurück¬
kehrt. Hannes Holtner nimmt die Hacke von der Schulter und hält sie dem
Pfarrer quer in den Weg. Ein akademischer Bauersmann darf sich das dem
Pfarrer gegenüber erlauben.
,,Gu' Owend, Herr Pfarrer!"
„Grüß Gott, Herr Holtner!"
Zu einem akademischen Bauersmann sagt auch der Pfarrer in der Anrede Herr.
„Herr Pfarrer, unter uns, damit es kein Mensch sonst weis wird: gelt, am
Sonntag war die Logik aus dem Pfarrhaus ausquartiert?"
„Spötter, Spötter!" sagt der Pfarrer, der stehen geblieben ist, sich mit der
einen Hand auf den Spazierstock stützt und die andere hinter das schäbige grün
gewordene Zingulum steckt, das um seinen behäbigen Leib liegt.
Hannes Holtner aber redet jetzt ernst zu ihm:
„Fissematenten helfen: Konsequenz war das wirklich net. Der Bub hält viel
aus unter der Geschieht, und Jhre Ihre Bauern wären net besser und net
schlechter worden, wenn Sie ihnen das verboten hätten. Und daß ich aus dem
junge Kerl einen tüchtigen Menschen mache, dürfen Sie mir glauben. Ich wär'
Ihnen sehr dankbar gewesen, wenn Sie dem Bub den Gefallen getan hätten,
zumal er's Ihnen begründet hat wie ein Professor. Jetzt bin ich gespannt, was
aus Ihrem guten Rat wird. Konsequenz war das net!"
„Theologische Konsequenz, mein Lieber, theologische Konsequenz!" erwidert
der Pfarrer harmlos.
Da lacht Hannes Holtner auf und spottet:
„Ausgezeichnet, Herr Pfarrer, theologische Konsequenz!"
„Immer noch ein bißchen Freigeisterei im BlutI" sagt der Pfarrer, indem
er mit dem Stocke droht, „ja, ja, Freigeisterei. Unter der Bauernjuvpe guckt's
immer noch heraus: Schwarz-Rot-Gold. Ja, ja, Freigeisterei, Schwarz-Rot-Gold.
Wird aber alles schon gut ausgehen, die Grek ist ein willig und gehorsam Schäfchen.
Karl Salzer ist ein jung Füllchen, rennt sich die Hörner schon noch ab, jung FüllchenI"
„Herr Pfarrer, Sie haben heut kein Glück: ein Füllchen hat keine Hörner,
ein Füllchen kann nur die Beine oder das Genick brechen, und das wär' schad'
auf alle Fällei"
Dem Pfarrer wird das Gespräch ungemütlich, und er gibt ihm eine andere
Wendung:
„Eine Bitte meinerseits, Herr Holtner! Die Schwestern sind mal wieder
übel dran mit ihrem Küchenvorrat; wenig zu essen, sehr wenig zu essen. Bauern
denken zu wenig an die Schwestern, denken zu wenig dran. Wollen Sie nicht
mal ein bißchen aushelfen, ein bißchen gründlich aushelfen? Ihre Schwester schickt
ja alle vierzehn Tag einen Korb voll hinauf; sehr anerkennenswert! Aber alle
Bauern, die es können, sollten es so machen, alle!"
„soso!" sagt Hannes Holtner, „da haben also die armen Nönnchen mal
wieder nix zu essen. Bei jedem Dreck rufen die Bauern die Nonnen, aber ver¬
hungern täten sie sie lassen. Das wär' auch so ein Predigtthema, Herr Pfarrer,
oder haben Sie Angst, die Bauern täten nachher aus Trutz garnix mehr bringen?"
O, da ist der Pfarrer in allen Nöten diesem Freigeist gegenüber. So überhört
er denn die Frage Hannes Hvltners geflissentlich und bettelt noch einmal:
„Nicht wahr, Herr Holtner, ich hab' keine Fehlbitt getan? Ich selber kann
gar nichts mehr tun, gar nichts mehr; auf Wochen hinaus nicht. Ich kann mich
nicht ganz entäußern!"
Dabei sieht er an seinem fadenscheinigen Talar hinunter, und in seiner
Stimme ist ein Weh.
.Den Hannes Holtner packt das Mitleid. Denn es ist bekannt, daß der alte
Pfarrer von Spelzheim den letzten Bissen aus dem Munde und das letzte Hemd
vom Leibe geben würde, und daß er einmal nicht Schätze hinterlassen wird, die
der Rost und die Motten verzehren. Er ist sehr mildtätig, der alte Pfarrer, wenn
er auch nicht immer konsequent und auch nicht immer feinfühlend ist.
„Gewiß, Herr Pfarrer, es soll net fehlen. Der Bub kann morgen ein paar
Korb voll neue Kartoffeln und ein paar Korb voll Kraut hinauffahren. Und
wenn bei Ihnen etwas fehlen sollt. . .!"
Da winkt der Pfarrer ab, und die beiden gehen auseinander.
Karl ist unterdessen beim Häuslein der Hungels-Grek angelangt. Es ist ein
niedriges Hüttchen. Die Fensterchen sind der Erde so nahe, daß man bequem
hineinsehen kann, und auch bequem hineinsteigen könnte, wie Grek immer fürchtet.
Denn sie ist doch noch jungfräulich. Eine Jungfrau von dreiundfünfzig Jahren.
Sie schließt ihre Läden immer gut zu, wenn es zu dunkeln beginnt. Gott bewahre
sie vor einem Angriff.
Karl sieht es von weitem, wie sie die Läden verrammelt. Er überlegt sich,
wie er die Grek anreden soll. Es kommt ihm komisch vor, die Unverheiratete Base
zu nennen, wie das den verheirateten Weibern gegenüber der Brauch ist. Zu einem
Junggesellen kann man ja wohl Vetter sagen, aber zu einer alten Jungfer Base?
Und wie wär's mit Fräulein? Ganz sicher würde die Grek das als Hohn auf¬
fassen. Alle Welt ruft ihr eben Grek zu. Aber erstens gehört der Sohn eines
Selbstmörders nicht zu aller Welt, und dann will der Karl Salzer wirklich besonders
höflich sein. Aber es fällt ihm keine Anrede ein, und so sagt er noch rasch, ehe
die Grek den letzten Laden verschließt:
„Kann ich mal hinein zu Euch kommen?"
Huij, reißt da die Grek die Augen auf.
„Was, du zu mir?"
„Der Herr Pfarrer schickt nicht"
„Was, dich schickt der Herr Pfarrer, dich? Dich?"
„Ja, ich war gestern lang bei ihm und hab mit ihm geschwätzt und hab
auch Euch was zu sagen!"
„So, mir hast du was zu sagen? Na, dann komm mal 'rein, ich will dir's
schon verkaufen!"
Zwar hätte die Grek den Burschen am liebsten sofort zum Kuckuck gejagt,
aber wenn der Herr Pfarrer den Kerl geschickt hat.. .!
Sie setzt sich parat, schiebt die Brille auf die Nase und nimmt den Strick¬
strumpf zur Hand. Die Nadeln klappern. Es klopft an.
„Nur herein!"
„Gu' Owend auch!" sagt Karl und denkt daran, daß auch die Hungels-Grek
ihm an dem schrecklichen Tage ein böses Wort nachgerufen hat.
„Da geh mal her, stell dich da hin und sag kurz und bündig, was du willst,
und was der Herr Pfarrer will!" sagt die Grek, indem sie dabei über die Brillen¬
gläser glotzt. Dann sieht sie wieder auf ihren Strickstrumpf, strickt die angefangene
Nadel aus, rollt den Wollknäuel in die schon fertige Röhre des Strumpfes, steckt
die leer gewordene Nadel hindurch, legt das Strickzeug beiseite, setzt die Brille ab
und fixiert den in einiger Entfernung von ihr in dem hellen Lichtkreis der Lampe
stehenden Burschen. Ihre Nase ist stark gebogen, und der Rücken scheint scharf
wie ein Messer. Grelle graue Augen stehen daneben.
Karl hat seine Kappe in der Hand und wartet, bis die Grek so weit ist, um
zuzuhören; dann sagt er:
„Ich weiß net, ob's Euch bekannt ist, daß meinem Vater sein Grab schon
ein paarmal geschändet worden ist, oder vielmehr nur das Kreuz!"
Karl wartet aus Antwort, aber er bekommt keine. Die Grek kneift nur ihre
dünnen Lippen ein und macht:
„Ma!"
„Nun war ich gestern beim Herrn Pfarrer gewesen," fährt Karl fort, „und
Hab's ihm gesagt und hab gemeint, er sollt von der Kanzel herunter sagen, daß
das ungehörig wär'; die Leut sollten das lassen."
Wieder hält der Sprecher inne und schaut die Zuhörende an. Die aber läßt
nur ihre Augen kreisen und funkeln; man kann nicht erraten, was sie denkt. Das
will den Burschen ein wenig unsicher machen; er fragt:
„Ist so was net unrecht?"
„Nur mal weiter, nur mal weiter, auf daß ich hör', was ich mit der Geschieht
zu schaffen habt" drängt die alte Jungfer mit einem scharfen Lauerblick.
Jedoch noch ehe Karl sein Sprechen wieder aufnehmen kann, wird die Tür
aufgerissen und ein mit ihm etwa in gleichem Alter stehender Bursche kommt
herein. Die Hände ir. den Hosentaschen, mustert er den Besuch mit frechen
Blicken von oben bis unten und fragt dann, sich an die Sitzende wendend, mit
bedeutsamem Augenzwinkern:
„Na, Tante, was will dann der do?"
Aber die Tante ist nicht gut aufgelegt; sie schnarrt den Neffen an:
„Halt dein dumm Maul und pank dich fort aweil; ich kann dich heunt Owend
net brauchet"
„Warum willst du denn heut keine Kippe (Gemeinschaft) mit mir halten?"
schnarrt der Neffe grob und aufbegehrend dagegen. „Ich will wissen, warum ich
fortgeschustert soll werden I"
Da steht die Grek auf, öffnet die Tür, zerrt ihren Neffen am Arm hinaus,
indem sie dazu sagt:
„Morgen, Alter, kannst du wieder kommenl"
Dann nimmt sie ihren alten Platz ein und wendet sich mit einem Kopf-
schnicken an Karl:
„So, du, jetzert mach mal deinen Vers fertig, ich hab net viel Zeit zu ver¬
lieren. Ich weih jetzert immer noch net, was ich mit eurer Geschicht zu schaffen
haben soll!"
Karl kommt es vor, als sei die Jungfer jetzt nicht mehr so sicher wie vorhin,
ehe der Bursche, der Hinklers-Seppel, der mit ihm in der gleichen Schulklasse
gewesen ist, dazwischen gepoltert war.
Nun sagt er kurz und bündig:
„Der Herr Pfarrer hält's vorläufig net für geraten, von der Kanzel herunter
schon etwas zu sagen, und hat gemeint, ich sollt' Euch bitten, Ihr sollt' so unter
den Leut 'rumplaudern, daß es doch net recht wär', sich an meinem Vater seinem
Kreuz so zu versündigen. Er könnt' ja seine Sünden noch vollkommen bereut
haben und so vor der Hölle gerettet sein. Das hat der Herr Pfarrer gemeint,
und hat sich auch sicher viel davon versprochen, sonst hätt' er mich net zu Euch
geschickt!"
Schon während der letzten Worte des jungen Menschen ist die Alte von ihrem
Stuhle aufgestanden, hat die Knöchel der geballten Fäuste auf den Tisch gestemmt
und ihre funkelnden Blicke in die Augen Karls gebohrt. Der muß denken, daß
die Hungels-Grek nun aussehe wie die Weiber, die in den Märchen als Hexen
gezeichnet werden. Sie hat die dünnen Lippen so scharf eingezogen, daß man nur
noch zwei ganz schmale blaßrote Streifen sieht. Es ist, als sei ihr die Mund¬
öffnung durch einen Messerschmied beigebracht worden. Diese zusammengepreßten
Lippen öffnen sich jetzt, und Worte sprühen heraus, die der Haß gekocht und
vergiftet hat:
„So, das meint der Herr Pfarrer? Und so weit kann ein Pfarrer seine
Pflicht vergessen??"
Bis dahin waren die Worte mehr gezischt wie gesprochen, aber jetzt kreischt
die Fromme in hohen Fisteltönen:
„Was ich mein, will ich dir jetzert sagen: das Kreuz sollt' man aus deinem
Vater seinem Grab ausreißen und mit dem Beil in Stücke hacken. Und hundert
Menschen sollten auf deinem Vater seinem Grab herumtrampeln und sollten's
verstampfen, auf daß man net mehr sieht, daß das überhaupt einmal ein Grab
war. Stein auf Stein sollten die Leut zudem noch drauf aufhäufen, wie die
Juden des Alten Testaments es dem Absalon gemacht denn. Und unser Herrgott
sollt' zu guter Letzt deinem Vater seinem Grab den Regen versagen, die Sonn'
und den Schnee. Brottrocken müßt's sein und immerdar müßt' ein Schatten
drüber liegen über deinem Vater seinem Grab, daß auf ewige Zeiten sichtbar wär':
da ist ein gottvergessener Selbstmörder verscharrt. So sollt's ein Kainsmal geben
für die Gräber von den Selbstmördern. DaS sollt' der Herr Pfarrer von der
Kanzel herunter sagen und net mir zumuten, über deinem Vater seinem Grab
den Schutzengel zu spielen I"
Sie muß nach Luft schnappen, die Hungels-Grek. Ihre platte Brust, über
die sich die geblümte Jacke straffe, arbeitet heftig. Der Atem rasselt. Sie beißt
den Mund zusammen, kneift die Lippen scharf ein und stößt ihn wieder auf.
Karl aber sagt:
„Na, wenn das so ist, kann ich ja wieder gehen, 's gibt ein alt Sprich¬
wort: „Je krummer, um so schlimmer. Man sollt aber sagen: Je frömmer, um
so schlimmer. Das heißt, man kann's net sagen; denn wenn man so einen Haß
hat wie Ihr, ist man mindestens ein halber Teufel!"
„Wu jäh!" schreit dünn und spitz die Wut aus dem Weib. Sie krallt das
Strickzeug auf und macht eine Bewegung, als wolle sie es dem Burschen an den
Kopf werfen.
Doch da ruckt dieser aus seiner zusammengesunkenen Haltung auf, und es
ist, als wolle er durch die Decke des niederen Zimmers hindurchwachsen. Er ballt
die Faust, geht einen Schritt auf die Wütende zu und sagt mit harter, metallischer
Stimme:
„Vergeht Euch net, auf daß ich mich net vergeh, sonst gibt's ein schlimm
End!"
Er wendet sich um und geht zur Tür hinaus. Das Weib schrille ihm nach:
„Hinaus aus meinem ehrbare Haus, Kerl; an dir hängt ja noch der Gestank
von deinem Vater seinen Sünden!"
Als Karl wieder auf der Straße ist, spuckt er- einmal kräftig aus.
Aber in der Hütte der Frommen hat er eine gewaltige Revolution des
Gemüts verursacht. Allmählich kehrt die kühle Überlegung bei der Hungels-Grek
zurück. Sie schlägt sich vor den Kopf und sagt:
„Herrgott, hätt ich doch mein dumm Maul gehalten! Hätt ich doch nur so
getan, als ob ich auf alles eingehen wollt. Da hätt doch kein Mensch gemerkt. ..
Hätt kein Mensch gemerkt. .., daß . . .1 Was mach ich jetzert dem Lausbub weis,
warum dem Salzer seiner da gewesen wär? Am End geht der mir jetzert net
mehr naus auf den Kirchhof, im Fall die das ,Jn Gott' wieder draufmalen
lassen!"
Karl Salzer aber geht über den Lindenplatz zum Schreiner Kling, um ihm
zu sagen, er möge das Kreuz wieder in Ordnung bringen und fragt den Mann,
ob das nicht eine schmachvolle Tat wäre, auf dem Friedhof ein Grab zu schänden.
Da nickt der Schreiner und sagt, man solle doch die Toten ruhen lassen; und da
habe der Karl ganz Recht, was hinter dem Vorhang des ewigen Jenseits von
unserem Herrgott gemacht werde, das wisse ja niemand. Er möchte nur mal
wissen, wer eigentlich so boshaft wäre; ob der Karl denn gar keinen Anhaltspunkt
zur Ermittelung des Täters habe. Nein, der Karl habe keinen Anhaltspunkt', er
wäre schon bei dem Herrn Pfarrer gewesen und dies und das und so und so.
Wie aber der Schreiner Kling die Meinung des Herrn Pfarrers hört, wird auch
er ein wenig zurückhaltender, aber er verläßt doch wenigstens seinen Grundsatz
nicht, und das befriedigt den gequälten jungen Menschen einigermaßen. Dann
sagt der Schreiner Kling noch, daß er die Sache noch vor Kerb (Kirchweih)
wieder in Ordnung bringen würde, und er tat hoffen und es dem Karl wünschen,
daß es dann auch bleibe und nicht wieder ausgekratzt werde. Und eine Gute
Nacht hin und her.
Dann geht der Karl Salzer heim und erzählt dem Unkel Hannes, was es
gegeben.
Als Karl seinen Bericht beendet hat, ruckt Hannes Holtner zu seiner Hünen¬
größe auf und sagt:
„Jetzert will ich dir mal einen Vorschlag machen I Bittgang haben wir nun
genug getan, das hat jetzert ein End, und wir verlassen uns auf unsere Fäuste.
Auf die Kerb hockst du dich mir net daheim hin, auf Kerb gehst du mir ins
Wirtshaus wie die anderen jungen Leut auch. Da hört man mancherlei. Das
sollt mir denn doch mit komischen Dingen zugehen, wenn kein einziger unter den
jungen Kerls wüßt, wer der Grabschändcr ist. Und wenn du's herausgebracht
hast, wer's war, mußt halt sehen, was du dagegen machst. Ist's ein arm
erbärmlich Mottchen, drohst du ihm einmal mit einer Anzeige. Ist's ein Kerl,
der sich damit net einschüchtern läßt, schmeißt du ihm mal die Knochen halb
entzwei. Verstanden?!"
Da ist der Karl Salzer mit diesem Vorschlage einverstanden. Wenn halt
der Herr Pfarrer mit seiner Leibgarde, wie der Unkel Hannes sagt, in diesem
Falle nicht imstande ist, Ordnung zu schaffen, dann muß man sich eben selbst
helfen. (Fortsetzung folgt)
Ein polnischer Bauernroman« Immer
wieder und nicht zuletzt in diesen Blättern
ist auf die Schicksalsbedeutung der polnischen
Zustände und der polnischen Entwicklung für
den Bestand Preußens, des Reiches und des
Deutschtums hingewiesen worden. Dankbar
ist alles zu begrüßen, was uns die Polen
tiefer verstehen und besser kennen lehrt; und
dazu gehört selbstverständlich auch der beste
und ernsteste Teil ihres Schrifttums. Wir
wissen davon in Deutschland im allgemeinen
sehr wenig. Von den neueren polnischen
Dichtern etwa, die Otto Hauser in seiner
„Weltgeschichte der Literatur" (vgl. meine Be¬
sprechung Grenzboten, Jahrg. 70, 10) auf¬
führt, sind bei uns nur Mickiewicz, Julius
Slowacki, I. I. Kraszewski und Henryk
Sienkiewicz mit einigen Werken bekannt ge¬
worden. Und wir würden es gewiß über¬
flüssig und bedauerlich finden, wenn man
uns, wie aus Rußland und Skandinavien
und Frankreich, auch mit allen Polnischen Be¬
gabungen von zweitem und dritten Wert be¬
kannt machen würde. Bei dem Werk „Die
polnischen Bauer»" von dem Dichter Wla-
dislaw Stanislaw Reymond aber ist diese
Einführung ein nicht bestreitbares Verdienst.
Gewiß ist es viel verlangt, diese vier starken
Bände dem alljährlich mit einem Übermaß
von Büchern beschenkten deutschen Leserkreise
zuzumuten, aber der Übersetzer Jean Paul
d'Ardeschah und der Verleger Eugen Die-
derichs verdienen dafür wärmsten Dank. Denn
dieser vierteilige Roman „Die polnischen
Bauern" ist ein Lebensbild von zwingender
Gegenständlichkeit, handgreiflicher Echtheit und
dichterischer Gewalt. Er ist das Werk eines
lyrisch empfindenden Menschen, der doch zu¬
gleich die dem unbefangenen Erzähler eigene
epische Kraft jugendlicher Völker besitzt, die
ihnen später häufig abwelkt. Und das Werk
eröffnet uns Blicke ins polnische Volkstum,
die wir sonst kaum irgendwo haben, und ent¬
schleiert uns insbesondere mit der Selbstver¬
ständlichkeit des mitlebenden Volksgenossen
Empfindungen, die der deutsche Dichter nie¬
mals ganz verstehen und gestalten können
wird.
Reymond führt in das Dorf Lipce im
russischen Polen und da insbesondere in das
Haus des Hofbauern Matthäus Boryna; er
geleitet uns in jedem der vier Bände durch
eine Jahreszeit, deren Äußerungen in der
Natur und in der menschlichen Arbeit breit
und mit Behagen am Kleinen, aber doch mit
jener zusammenhaltenden Kraft vorgeführt
werden, die den echten Erzähler auszeichnet,
ja, eigentlich erst macht. Da erleben wir die
unendliche Regenzeit des Spätherbstes, in der
das ganze Dorf zu ertrinken scheint, bis dann
der Winter mit klingendem und klirrenden
Frost einzieht, Frost, der nicht nur Bäume
und Bäche und den Dorfweiher erstarren
macht, sondern auch die Häuser durchkältet,
zumal die Häuser der Armen, wo „die Kälte
mit eisernen Klauen alles zusammenpreßt".
„Kein Schrei," so heißt es da von der Ode
des Winters, „zerriß das starre Schweigen
der Felder, keine lebendige Stimme zuckte
auf. Richt einmal ein Windstoß ließ den
trockenen, glitzernden Schnee aufrascheln, nur
selten kam von den ini Schneewehen ver¬
sunkenen Wegen ein klagendes Schellengeläut
oder das Knarren der Schlittenkufen herein-
geirrt, aber so schwach und fern, daß, ehe
man noch erfassen und erkennen konnte, von
woher und wo, alles schon wieder verklungen
war, als hätte eS die Stille verschlungen."
Dann erwacht der Frühling, spät, hier in
der großen Ebene des Ostens, und mit ihm
erwacht das schlafende Dorf, in dem man im
Winter so wenig hat schaffen und manchmal,
wenn alles verweht war, nicht einmal in den
Spinnstuben hat zusammenkommen können.
Nun ziehen fahrende Bettler wieder ein, nun
kommt der wandernde, geheimnisvolle Volks¬
freund wieder, der alte Rochus, der die Kinder
im Polnischen unterweise und überall mit Rat
und gutem Wort und heiliger Erzählung zur
Hand ist. Bis dann der Sommer mit glü¬
hender, sengender, alles zum Reifen dringender
Hitze einherzieht und die goldenen Saaten
von Himmelsrand zu Himmelsrand das Ge¬
lände überwogen.
Mit sehr geschickter Steigerung steht am
Schluß jedes der vier Bücher eine Art Höhe¬
punkt: am Ende des ersten wird die Hochzeit
zwischen dem Hofbauern Boryna und der
schönen Jagua gefeiert, diese Hochzeit, derent¬
wegen Unfriede zwischen Vater und Sohn in
den Hof kommt, denn der Vater benachteiligt
nun die Kinder erster Ehe, und der Sohn
selbst liebt die Stiefmutter. Da tanzen sie
in der Schenke: „Die zappelnden, schäkernden
Krakowiaks mit der abgerissenen, klirrenden
Melodie, die wie mit Ziernäglein beschlagene
Gürtel mit tanzfrohen Liedlein aufgeputzt war;
die Krakowiaks voll Lachen und Mutwillen,
voll fröhlichen Sanges und üppiger, starker,
kecker Jugend und zugleich voll lustiger Possen,
voll Haschen und Greifen, und voll Glut des
jungen, liebeshungrigen Blutes. Heil
... MazurkaS langgedehnt, wie Feldraine,
breitgestreckt wie die Mathiasbirnbäume, rau¬
schend, und wie die unabsehbaren Ebenen so
breit, voll Schwergewicht und schlank auf¬
strebend, sehnsüchtig und verwegen, gleitend
und dräuend gepackt, würdevoll und drauf¬
gängerisch und steifnackig dazu, wie jene
Mannsleute, die zu einem Haufen zusammen¬
geschart, wie ein Wald aufragend, sich in den
Tanz werfen mit Juchzern und solcher Macht,
als ob es zu hundert gegen Tausende an¬
gehen sollte, und wenn man dabei die ganze
Welt zerreißen, verprügeln, zerstampfen, zu
Splittern zerschlagen, auf den Absätzen aus-
einandertragen müßte und selbst zugrunde
gehen, um dann noch nach dem Tode zu
tanzen, mit den Hacken aufzutrampeln und
forsch auf mazurische Art aufzujuchzen: ,Da-
dana!'
. . , Und mächtige Obereks tanzten sie,
ruckweise Springetänze, schwindelnde, tolle,
rasende, herausfordernde und wehmütige,
sengende und versonnene, mit Klageliedern
durchwobene, im Siedetakt des feurigen
Blutes pulsende und doch voll Güte und
Lieben, plötzlich niedersausende, wie eine
Hagelwolke und voll herzlicher Stimmen,
voll himmelblauer Blicke, voll lenzverheißender
Lüfte, voll düfteschwangeren Zweigerauschens,
das aus blütenschweren Obstgärten kommt.
Tänze, die wie jene sangerfüllten Frühlings¬
felder sind, Tänze, wo auch die Tränen noch
durch Lachen fließen, und das Herz Freude¬
lieder singt, und die Seele sich sehnsüchtig
losreißt, den fernen Weiten, den entlegenen
Wäldern entgegen und in die große Welt
hinausfliegt, ahnender Träume voll, vor sich
her singend: ,Oj Da-dana!''
Solche unsagbare Tänze folgteneiner dem
andern.
Denn also freut sich das Bauernvolk zur
gelegenen Zeit."
Am Schluß des zweiten Bandes hat sich
das ganze Dorf aufgemacht, um die Holz¬
fäller des Gutsherrn an der unberechtigten
Niederlegung des Gemeindewaldes zu hindern;
wie ein entfesselter, bislang aufgestauter
Waldfluß selbst bricht die Wut des Dorfes
über die anderen her, und verwundet, zerrissen,
aber doch siegreich kehren die Ausgezogenen
zurück.
Am tiefsten ergreift der Abschluß des
dritten Bandes, der Tod Borynas, der bei
jenem Kampf unheilbar verletzt worden ist.
In der Nacht erhebt sich der Bauer, der
monatelang ans Lager gefesselt war, noch
einmal. Im Hemd stolpert er über die
Schollen, taumelt über die Regenrisse des
Ackers, und dann sammelt er Erde ins Hemd
und geht, sie aussäend, als wäre eS Saat¬
korn aus einem bereit gestellten Sack, über
sein Gebreite. „Und dann, als die Nacht sich
schon ein bißchen zu trüben begann, die
Sterne verblaßten und die Hähne das Morgen¬
grauen auszukrähen anfingen, verlangsamte
er sein Tun, blieb häufiger stehen, und schon
ganz vergessend, Erde wieder aufzunehmen,
säte er aus der leeren Hand — als müßte
er sich selbst bis zum letzten Nest auf die seit
Ahn und Urahn zugehörigen Felder aussäen,
als gäbe er alle gelebten Tage, sein ganzes
Menschenleben, das er einst erhalten hatte,
diesem Land und dem urewigen Gott zurück."
Und während die Felder ihn noch einmal
anzurufen scheinen, stürzt er zu Boden und
stirbt.
Nur ein Jahr und nur die Geschicke eines
Dorfes umfaßt das Werk. Aber dafür lernen
wir diese Menschen auch in ihrem ganzen
Leben und in ihrer ganzen Tätigkeit kennen,
ohne daß mit übertriebener Peinlichkeit ledig¬
lich äußere Vollständigkeit angestrebt wäre.
Denn die eigentliche Romanhandlung: der
Kampf um Borynas Hof, die Schicksale des
Haussohns und der schönen Jagua, der Kampf
der Gemeinde um Boden und Wald — das
alles verknüpft erst durchaus künstlerisch die
breiten Bilder, die niemals von der eigent¬
lichen Handlung fortführen, niemals bloß
Hintergrund, sondern immer notwendiger
Bestandteil der Vorgänge sind. Ganz katho¬
lisch ist diese Dorfschaft, selbstverständlich
katholisch, dem ländlich derben Geistlichen tief
ergeben und noch in Roheit und Geldgier
immer wieder gebändigt durch die Liebe zur
Scholle und die Liebe zur Kirche. Und es
lebt in allen ein urtümliches Bolksgefühl.
Das zeigt sich nun besonders stark und für
uns besonders nachdenklich in der Abwehr
der russischen Beamten und der russischen
Sprache, die sie bringen — beides wird als
völlig fremd und unzugehörig empfunden.
Und ebenso als fremd und feindlich empfinden
diese Polen die Deutschen, die sich als An¬
siedler in ihrer Nähe festsetzen wollen.
Wieder ziehen sie alle aus und künden jenen,
daß sie nicht mit ihnen Hausen und Höfen
wollen, und zwingen sie zum Abzug. „Hale,
die Deutschen, das ist ein anderes Volk, ge¬
lehrt und vermögend, die handeln mit den
Juden zusammen und ziehen ihren Gewinn
aus Menschennot" — so spricht einer dem
anderen ganz aus der Seele, und es spricht
daraus der Haß des Slawen überhaupt
gegen die Ordnung und Sicherheit, die Bil¬
dung und Überlegenheit der Deutschen, jener
Haß, den jeder Kenner des Ostens dort
immer wieder finden wird.
Eine tiefe Liebe zum Boden der Väter
erfüllt das ganze Buch, jenes bäuerliche
Denken und Sein, das bei uns Jeremias
Gotthelf Wohl am stärksten verkörpert hat,
und wovon in dem großen Bauernroman
„Judas" unserer Lulu von Strauß und
Torney ein gutes Stück Gegenwart künst¬
lerisch lebendig geworden ist. Aber auch der
herben Art, mit der die großen französischen
Realisten, Flaubert vor allen, Bodenmenschen
schildern, ist das Buch verwandt. Nur ist
alles gewissermaßen jugendlicher, als ob der
Erzähler noch in der Zeit einer erst frisch
erwachenden Kultur stände. Das spürt man
nicht nur an den nach Art alter Volksepen
eingefügten Zwischengliedern, erzählten Le¬
genden und Sagen, sondern in der ganzen
Art, wie sich der Erzähler mit seinen Ge¬
stalten eins fühlt. Nirgends spricht der
Volkserzieher, der Volksbelehrer, der von
außen schauende Künstler, überall der Mensch,
der mitten drin steckt, der zu einem guten
Teil seine Geschichte schreibt. Und es erhöht
die Achtung vor der Begabung von Wladis-
law Stanislaw Reymond, daß er dabei doch
die ordnende Hand des wirklichen Dichters
bewährt und uns bei der Rückschau die volle
Einheit eines wesenhaften Kunstwerks sehen
läßt.
Die Übersetzung des umfangreichen Werks
ist sehr gut; die leicht hamburgische Färbung
läßt erkennen, daß Jean Paul dÄrdeschah,
von Geburt Wohl Pole, jetzt in der Nähe
Hamburgs angesessen ist.
In unserer großen Erinnerungszeit be¬
grüßen wir ein Unternehmen mit besonderer
Freude, das in Gust. Schloeßmanns Verlag,
Hamburg, unter dem Titel „Als Deutschland
erwachte" in zwanzig in sich abgeschlossenen
Bändchen (zum Preise von 76 Pf., geb. 1 M.,
bei etwa hundert Druckseiten) vorliegt. Es
wendet sich an Jugend und Volk und bringt
in jedem Bande einen Packenden Ausschnitt
aus der Franzosenzeit und den Freiheits¬
kriegen, in dessen Mitte eine hervorragende
Persönlichkeit oder Begebenheit steht, von
Kennern der Zeit auf Grund reichen Quellen¬
materials dargestellt und mit interessanten
Abbildungen nach zeitgenössischen Vorlagen
geschmückt. Schon die Titel zeigen, wie weit
die Sammlung spannt: Königin Luise (Oskar
Brüssau), Blücher (Elis. Erich Pauls), Stein
(Paul G. A. Sydow), Hofer (Rich. Weitbrecht),
Schill (Ernst Evers), Jahr (Karsten Brandt),
Scharnhorst (E. von Wangenheim), Gneisenau
(derselbe), Arndt(Sydow), Napoleon I. (Pauls),
Körner (Brandt), Weimar (Adolf Bartels),
Aus Hamburgs Schreckenstagen (Jul. Hohn),
Das Elend der Fremdherrschaft (H, Bechtols-
heimer), Mit Leier und Schwert (Gotth.
Boetticher), Mit der großen Armee 1812
(Jul. Hahn), Heldenmädchen und -Frauen
(Otto Karstadt), Die Völkerschlacht bei Leipzig
(Ernst Schäfer), Belle-Alliance (Pauls). Zu
Vorträgen wie zum Vorlesen in der Familie
ist hier ein reicher Stoff übersichtlich auf¬
gespeichert, den sich patriotische Kreise nicht
entgehen lassen sollten. Die vom selben Ver¬
lage gratis abgegebene Übersicht „Die Be¬
freiungskriege in Literatur und Kunst" dürfte
mit ihren viele Hunderte von Titeln um¬
fassenden Angaben jedem willkommen sein,
der tiefer in die Literatur über die Zeit von
Eduard Stilgevauer: „Das LieVcsnest."
Roman. (Berlin, bei Rich. Borg.)
Wir zeigen dies Buch an, nicht weil wir
ihm eine große Verbreitung wünschen, sondern
lediglich, uni im Namen des guten Geschmacks
gegen eine unsaubere Sache zu protestieren.
Denn kein Zweifel: das Stilgebauersche
„Liebesnest" ist eine unsaubere Sache. Es
arbeitet mit den übelsten Mitteln des Kol¬
portageromans. Es paradiert von Anfang bis
Ende mit peinlich unwahren Gefühlen. ES
sucht die Erstndungsarmut und die schrift¬
stellerische Talentlosigkeit seines Verfassers
hinter einer schlecht verhehlten Lüsternheit zu
verstecken, die um so häßlicher wirkt, weil sie
ausschließlich auf den Geschmack halbwüchsiger
Kommis und Ladenmamsells eingestellt scheint.
Im Mittelpunkt steht ein erbärmlicherSchwäch-
ling, der dem Leser nur die Wahl läßt, ihn
als Idioten zu bemitleiden oder als Schurken
zu verachten. Und um diesen sogenannten
Helden schart sich ein so liebliches Durch¬
einander von verlogenen Situationen, von
anrüchigen Gesinnungen und von sentimen¬
talen Unmöglichkeiten, daß man das Buch
mit einem herzlich schlechten Geschmack auf der
Zunge fortlegt. Man braucht ganz gewiß
nicht Prüde zu sein, um den Stilgebauerschen
Roman als beträchtliche Herausforderung zu
empfinden. Er ist so skrupellos in der Wahl
seiner Mittel, so durchsichtig in der Art seiner
verderblichen Spekulation, daß man ihn ebenso¬
gut aus ästhetischen wie aus moralischen
Gründen verwerfen muß. Die deutsche Lite¬
ratur hat auf keinen Fall mit Dingen dieser
Art zu schassen. Sie wird es ganz entschieden
ablehnen, mit den Ausgeburten einer Phan¬
tasie behelligt zu werden, die unverkennbar auf
der Hintertreppe zu Hause ist. Und sie wird
ferner, schon aus Selbsterhaltungstrieb, un¬
erbittlich darauf dringen, daß Bücher dieser
Art möglichst weithin sichtbar mit der war¬
nenden Aufschrift „Giftl" versehen werden.
L. Potpeschnigg. „Aus der Kindheit
bildender Kunst." (Säemann-Schriften für
Erziehung und Unterricht. Heft 2) Leipzig,
Teubner. 1912. 1,60 M.
schönen entstanden ist, die andere, zu der
hauptsächlich die Ethnologen (E. Grosse,
K. von den Steinen u. a.) gehören, macht
geltend, daß es eine durch lange Übung
thematisierte Darstellung eines Naturgegen¬
standes, also erst das Endprodukt einer Ent¬
wicklung ist, auch sprachlich nicht als Orna¬
ment, sondern als der konkrete Gegenstand,
den es nachbildet, empfunden wird. Die
letztere Meinung erhält nun eine höchst be¬
achtenswerte Stütze in der vorliegenden, sorg¬
fältig gearbeiteten kleinen Schrift einer Zeichen¬
lehrerin. Sie betont nachdrücklich, daß kein
Kind aus sich selbst heraus darauf kommt,
ein Ornament zu zeichnen, daß vielmehr
Darstellung eines Objektes stets der Aus¬
gangspunkt der Zeichnung ist. „Kein Kind
bringt an seiner Zeichnung Verbesserungen
im Sinne einer genaueren Symmetrie oder
dergleichen an. — Rhythmus und Symmetrie,
,die ewigen Postulate alles Kunstschaffens',
sind den Menschen gar nicht angeboren,
müssen mühsam erworben werden", und zwar
nicht innerhalb bildnerischer Tätigkeit, sondern
im Handwerk. Und ohne zu verkennen,
daß bei Kindern und bei Naturvölkern nicht
die gleichen Verhältnisse gegeben sind, schließt
sie: „Die Absicht auf Dekoration oder
Schmuck gehört gewiß nicht dem Anfange
einer Entwicklung darstellender Kunst an."
Sehr interessant sind auch die mitgeteilten
Beobachtungen über die Entwicklung kind¬
licher Darstellung, über Behandlung der
Plastik und die daraus sich ergebenden For¬
derungen für den Zeichenunterricht. Wer sich
mit den berührten Fragen beschäftigt, aber
auch, wer Verständnis gewinnen will für
Kinderzeichnungen, sei auf das mit vielen
Reproduktionen ausgestattete Büchlein nach¬
drücklich hingewiesen.
frei und selbständig aus Gefallen am Form¬
Die erfreuliche Nachricht, daß die Türkei um einen Waffenstillstand nachgesucht
hat, der Wohl als Einleitung der Friedensverhandlungen zu betrachten ist, hat die
Überzeugung befestigt, daß das Ende der Balkanwirren bevorsteht. Nachdem
die Gefahr eines offenen Konfliktes zwischen Österreich und Serbien, die einen
Augenblick lang nahe genug gerückt schien, als beseitigt anzusehen ist, herrscht die
ungeteilteste Befriedigung darüber, daß es gelungen ist, jenen gefährlichen Brand
auf seinen Herd zu beschränken und sein übergreifen auf die Großstaaten zu ver¬
hindern. Obwohl nun noch längst nicht alle Schwierigkeiten aus dem Wege
geräumt sind, betrachtet doch die Börse die Angelegenheit als praktisch erledigt und
hat sich beeilt, dieser Auffassung durch eine kräftige Erhöhung des Kursniveaus
Ausdruck zu verleihen. Das mag etwas vorschnell erscheinen und die nächsten
Tage werden uns darüber belehren, ob nicht wieder etwas Wasser in den Wein
der freudigen Hoffnungen getan werden muß. Ohne über eine friedliche Er¬
ledigung der schwierigen Fragen pessimistisch zu denken, wird man annehmen
dürfen, daß im Laufe der diplomatischen Verhandlungen sich noch kritische Augen¬
blicke einstellen werden, in denen der Börse weniger behaglich zumute sein wird
als heute. Aber gleichviel, ob uns nun die nächsten Tage noch mehr oder weniger
erhebliche Kursschwankungen bringen werden, soviel ist wohl sicher, daß die Episode
des Balkankrieges in ihrer unmittelbaren Wirkung aus die Effektenbörsen als
abgeschlossen gelten kann und daß es daher möglich ist, heute schon einen Rück-
blick auf diese bewegte Zeit zu werfen. Die kritische Periode umfaßt genau den
Monat Oktober-, aus einem Vergleich der Kurse am Ende September mit denen
Ende Oktober läßt sich daher ziemlich genau erkennen, was für Einbußen und
Verluste diese verhältnismäßig kurze Spanne Zeit verursacht hat. Der Kurswert
der Effekten, welche an der Berliner Börse gehandelt werden, ist Ende Oktober
derart gesunken, daß man über zwei Jahre zurückgehen muß, um ein gleiches
Niveau zu finden. Mit den Septemberkursen verglichen, berechnet sich der Minder¬
wert der Papiere des Berliner Kurszettels auf nicht weniger als zwei Milliarden
Mark. Natürlich handelt es sich dabei nur zum allergeringsten Teil um realisierte
Verluste, da die Berechnung das gesamte emittierte Kapital erfaßt. Aber ob
realisiert oder nicht, jedenfalls liegt zunächst eine Entwertung vor, die sich auch
dem solidesten Effektenbesitzer fühlbar machen musz. Sind doch gerade auch die
Rentenwerte äußerst empfindlich von dem Kursrückgang betroffen worden. Die
deutschen Staatsanleihen haben, obwohl von den politischen Ereignissen direkt nicht
berührt, allein 0,71 Prozent durchschnittlich eingebüßt. Aber auch die direkten
Verluste sind außergewöhnlich hohe gewesen. Sie lassen sich natürlich nur schätzungs¬
weise angeben. Man kann aber aus dem starken Minderbedarf bei der Monats¬
regulierung den Schluß Ueber, daß allein bei den Ultimopapieren die Verluste
sich auf etwa 60 Millionen Mark belaufen haben. Dazu treten dann die wahr¬
scheinlich nicht geringfügigeren Einbußen an den Kassawerten, so daß man hinter
der Wahrheit eher zurückbleibt, wenn man den effektiven Verlust der Berliner
Börse auf 100 Millionen Mark schätzt. Das ist eine gewaltige Ziffer und es ist
erstaunlich, daß bei so enormen Verlusten nicht in weit größerem Umfang Zahlungs¬
einstellungen vorgekommen sind. Freilich hat man alles getan, um der Schwierigkeit
Herr zu werden; es mag sich manches schwach gedeckte Konto jetzt in den Büchern
der Banken finden, das in der Hoffnung auf bessere Zeiten durchgeholten und
nicht der börsenmäßigen Exekution überliefert wurde. Aber jedenfalls ist der
Beweis erbracht, daß der Markt auch einer so schweren Erschütterung standzuhalten
vermochte, daß mithin von einer die Grenzen der Leistungsfähigkeit übersteigenden
Überspekulation nicht wohl geredet werden konnte.
Es erhebt sich nun die Frage, ob nach einer Klärung der politischen Verhält-
nisse die Börse mit einiger Berechtigung auf eine Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand rechnen darf.
Die verschiedenen Anläufe, welche gemacht wurden, bei der geringsten Aussicht
auf Besserung, das Kursniveau nach oben zu revidieren, lassen darauf schließen,
daß man in dieser Hinsicht sehr optimistisch denkt. Hat doch nicht einmal die
inzwischen erfolgte Erhöhung des Reichsbanksatzes irgendeine abschreckende Wirkung
ausgeübt! Trotz eines Diskontos von 6 Prozent hält man es für richtig, die
Kurse der Jndustriewerte energisch zu steigern. Um volle 10 Prozent sind die
hauptsächlichsten Montanaktien binnen weniger Tage in die Höhe geschnellt! Dem¬
gegenüber muß mit aller Entschiedenheit darauf hingewiesen werden, daß nach der
gegenwärtigen Lage des Geldmarktes ein Mißverhältnis zwischen Zinsfuß und
Aktienrente besteht, welches früher oder später eine energische Korrektur erheischt.
Der Durchschnittskurs der an der Berliner Börse gehandelten Montanaktien belief
sich Ende Oktober auf 192,45 Prozent gegen 208,34 Prozent Ende September.
Trotz dieser bedeutenden Kursermätzigung gewährten diese Papiere Ende Oktober
nur eine Verzinsung von 5,6 Prozent auf das investierte Kapital. Durch die in
der ersten Hälfte des November eingetretene starke Kurssteigerung ist dieses Erträgnis
noch kleiner geworden. Eine solche Verzinsung einer starken Kursschwankungen
unterworfenen Aktie ist, wie hier schon des öftereii betont worden ist, auch bei
einem normalen Stand des Zinsfußes ungenügend, sie ist aber vollkommen anormal,
wenn der Reichsbankdiskont auf 6 Prozent steht und die allgemeinen Verhältnisse
darauf hindeuten, daß mit einer längeren Periode teuern Geldes gerechnet
werden muß.
Dieses letztere ist nun aber gegenwärtig durchaus der Fall. Das Anziehen
der Geldsätze, das freilich durch die Kriegsläufte begünstigt worden ist, stellt sich
als eine durchaus internationale Erscheinung dar. Wohin wir blicken, haben die
Zentralnotenbanken ihre Sätze erhöht und das scharfe Steigen der Devisenkurse
beweist, daß der bei solcher Gestaltung der Geldverhältnisse übliche Kampf um das
Gold lebhaft eingesetzt hat. Es kann auch gar kein Zweifel darüber bestehen, daß
diese Geldteuerung eine Folge der äußerst lebhaften industriellen Konjunktur
ist, welche rundum, wo nur auf dem Erdball die Essen rauchen, gegenwärtig das
Zepter führt. In allen industriellen Ländern sehen wir eine auf das äußerste
angespannte Produktion im Bergbau, wie im Eisen- und Stahlgewerbe. Allent¬
halben begegnen wir daher auch den gleichen Erscheinungen: steigende Preise,
Erweiterung des Produktionsapparates, Überlastung der Verkehrsmittel, dringenden
Kapitalbedarf. Für Deutschland geht dieser Kapitalbedarf der Industrie
deutlich aus dem Mehrbetrag der Neuinvestitionen bei den Aktiengesellschaften und
Gesellschaften mit beschränkter Haftung hervor. In den ersten zehn Monaten des
laufenden Jahres ist die Summe des in Neugründungen und Erhöhungen an¬
gelegten Kapitals auf rund 130 Millionen angewachsen gegen 68 Millionen im
Vorjahr. Nur das Jahr 1906. also das Jahr der letzten Hochkonjunktur, hatte
noch eine höhere Ziffer aufzuweisen: 204 Millionen. Dabei hat sich bekanntlich
die Industrie infolge der Kreditbeschränkungen im Laufe des Sommers besondere
Beschränkungen auferlegen müssen und ist auch in den Herbstmonaten durch die
politischen Schwierigkeiten vielfach in der Durchführung ihrer Pläne gestört worden.
Es ist also ganz offenbar, daß die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse eine
ganz parallele Entwicklung zu denen des Jahres 1906 aufweisen. Der starke,
durch die Konjunktur bedingte Geldbedarf der Industrie läßt sich nur mit geringem
Erfolg zurückdämmen, denn man kann das in vollem Gang befindliche Schwungrad
nicht plötzlich zum Stillstand bringen. Weil aber die Entwicklung einen so gleich¬
artigen Verlauf nimmt, ist es lehrreich, sich die Etappen des damaligen Aufstieges
und Zusammenbruches vor Augen zu halten, um nicht wieder von den Ereignissen
überrascht zu werden.
Allerdings darf man nicht übersehen: wir sind heute in unserer Geld- und
Bankorganisation besser gerüstet als vor sechs Jahren. Wir haben durch die
schmerzliche Krisis gelernt und manche Mängel abgestellt. Dies gilt insbesondere
von der Pflege des bargeldlosen Zahlungsausgleichs. Der jetzt vorgelegte Entwurf
des Postscheckgesetzes bringt dies zur rechten Zeit in Erinnerung. Der Post-
scheckverkehr war von der Regierung zunächst als ein Provisorium, als ein Versuch,
nicht ohne gewichtige Bedenken und zum Teil gegen eine lebhafte Opposition ein¬
geführt. Die Regelung war auch insofern nicht ganz glücklich, als ein seltsam
verklausuliertes und unbegreiflich schwerfälliges Gebührenwesen die Wirksamkeit
der Einrichtung hemmte. Trotzdem ist die in dem dreijährigen Zeitraum ein¬
getretene Entwicklung dieses neuen Überweisungsverkehrs eine wahrhaft glänzende
gewesen. Am Ende des ersten JahreS bestanden etwa dreiundvierzigtausend Konter;
diese haben sich bis heute mehr als verdoppelt; die Monatsumsätze belaufen sich
auf annähernd 3 Milliarden, die Guthaben der Kontoinhaber auf beinahe
150 Millionen.
Nunmehr will das Postscheckgesetz die Einrichtung zu einer dauernden ge¬
stalten und die Mängel der ursprünglichen Einrichtung abstellen. Die Gebühren¬
sätze werden vereinheitlicht und ermäßigt, die besonders anfechtbare Strafgebühr
für lebhafte Umsätze auf dem Konto kommt in Wegfall, der so naheliegende Ge¬
danke, die Gebühren durch Freimarken statt durch lästige Buchungen zu erheben,
wird in Wirksamkeit umgesetzt, und endlich werden die Pflichtguthaben der Konto¬
inhaber auf die Hälfte, nämlich auf 50 Mark ermäßigt.
Alle diese Vorschläge verdienen uneingeschränkten Beifall. Es darf mit
Sicherheit erwartet werden, daß im Laufe weniger Jahre der Postscheckverkehr sich
zur weitaus wichtigsten Einrichtung des Zahlungswesens ausbilden wird, weil er
auf viel breiterer Grundlage beruht, als der Giroverkehr der Neichsbank und der
Abrechnungsverkehr der Banken. So dürfen wir hoffen, daß mit seiner Hilfe es
allmählich gelingen wird, dem Grundübel unseres Geldwesens, dem zu starken
Vargeldumlcmf zu steuern.
Die Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten hat den Demokraten
Wilson an das Ruder gebracht. Damit wird aller Wahrscheinlichkeit nach ein
Umschwung in der Wirtschaftspolitik Amerikas eingeleitet, der, wenn er auch zu¬
nächst noch unsicher und seinem Umfange nach unbestimmt sein mag, doch für die
wirtschaftlichen Verhältnisse der Union und der nach Amerika importierenden
Länder, vor allem also auch Deutschland, große Bedeutung gewinnen kann. Es
handelt sich zunächst um eine Änderung in der Tarifpolitik. Das Hochschutz-
zollsystem der Republikaner weicht jetzt dem Programm der Demokraten, welche
nur Fiskalzölle wollen. Indessen wird man kaum auf eine sofortige grund¬
stürzende Änderung rechnen können. Zölle von so exorbitanter Höhe, wie sie
Amerika eingeführt hat, lassen sich nicht durch einen Federstrich beseitigen, ohne
das ganze Wirtschaftsleben der Gefahr der Zerstörung auszusetzen. Nur ein all-
mählicher Abbau kann in Frage kommen. Aber es werden doch wohl Ermäßigungen,
namentlich für die Textilindustrie sowie für die Eisen- und Stahlindustrie, ein¬
treten, die eine bedeutende Rückwirkung auf unseren Export ausüben können, nicht
sowohl in Zeiten einer Hochkonjunktur, in der diesseits wie jenseits des Ozeans
die Werke der Nachfrage nicht gerecht werden können, als in den kommenden
Zeiten einer wirtschaftlichen Depression. Im Hintergrunde warten des Präsidenten
aber auch noch andere wirtschaftliche Aufgaben von kaum minderer Bedeutung.
Die Trustfrage, deren Lösung Roosevelt wie Taft mißlungen ist, verlangt einen
Angriff von anderer Seite, nämlich von der einer Revision des Aktienrechts.
Nur auf diese Weise dürfte es gelingen, der Willkürherrschaft der Finanzmagnaten
in den Kapitalgesellschaften die Spitze zu bieten. Und endlich harrt auch noch die
Organisation des Bankwesens einer Neuordnung. Von allen Kulturstaaten
besitzt Amerika die verfehlteste Bankverfassung. Sie ist so eingerichtet, daß sie
gerade dann versagen muß, wenn die kritisch gewordenen Verhältnisse aus dem
Geldmarkte und im Wirtschaftsleben die Unterstützung durch eine leistungsfähige
Zentralnotenbank dringend erfordern. Die fürchterliche Geldkrise des Jahres 1907
hat einen für Amerika selbst sehr schmerzlichen Beweis von der Unzulänglichkeit
der dortigen Bankverfassung geliefert. Gleichwohl ist es bisher nicht gelungen,
das Projekt einer Zentralnotenbank auf gesunder Grundlage durchzusetzen. Möge
dem neuen Präsidenten ein besserer Erfolg beschicken sein. Bei der bekannten
Solidarität der Geldmärkte der Welt haben auch wir das dringendste Interesse
daran, daß jenes für die Weltherrschaft so wichtige Zentrum seine Bankverfassung
derart regelt, daß nicht durch ein Versagen derselben Europa wie im Jahre 1907
Verantwortlich: der H-rauSged-r George Tleinow in SchSnederg. — Manustrtptsendungen und Brief« werden
erbeten unter der Adresse:
Si« den Hrriiiisacber der Grcnzlwten in Frieden«« bei Berlin, Hcdwigstr. 1»,
Fernsprecher der Schriftleitung! Amt llhland ZWO, d-S Verlags- Amt Lützow «610.
Verlag: Verlag der Brenzbot-n G. in. b.H. in Berlin SV. 11.
Druck: .Der Reichsbote" G. «. b. H. in Berlin SV. 11, Dessau-r Straße SK/37.
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ach geltendem Recht wird ein Verstorbener, der keine letztmillige
Verfügung hinterläßt, nicht nur von seinen nächsten Angehörigen,
sondern in Ermangelung solcher auch von dem entferntesten Ver¬
wandten beerbt. Das Gesetz stammt aus dem römischen Recht
H-^WÄiMM sechsten Jahrhunderts. Sollte eine so schrankenlose Ver-
wandtenerbsolge zu irgendeiner Zeit dem Gemeinwohl förderlich gewesen sein,
so ist sie in ihrer heutigen Geltung unvereinbar mit den Bedürfnissen und dem
Rechtsbewußtsein der Gegenwart. Nach dem Rechtsbewußtsein der Gegenwart
haben die entfernten Verwandten kein größeres moralisches Recht auf die Erb»
s^äst als jeder Fremde, als die Gesamtheit. Es erscheint deswegen im Hinblick
a..is die wachsende Ausdehnung der Aufgaben des Deutschen Reiches recht und
hakig, wenn solche im Grunde herrenlose Erbschaften nicht mehr als ein unver¬
dienter Gewinn lachenden Erben, sondern dem Reiche zugewiesen werden,
vnter seinem mächtigen Schutze wird jedes Vermögen in Deutschland erworben
v it erhalten; seine Leistungen für die Gesamtheit und damit für den einzelnen
haben sich außerordentlich vermehrt und erhöht, während der weitere Familien-
! eis sich aller Pflichten entledigt hat, auf die er sich früher zur Begründung
eines Erbanspruches berufen konnte. Die Bestrebungen der verbündeten Re¬
gierungen, das Erbrecht nach dieser Richtung fortzubilden, stehen im Einklang
mit längst gewonnenen Ergebnissen der Volkswirtschafts- und Staatsrechtslehre
nid im Einklang mit der Volksüberzeugung, wie sie sich in zahlreichen Kund¬
gebungen hervorragender Mitglieder aller politischen Parteien ausgesprochen hat.
Was die Verwendung der Einkünfte aus dem öffentlichen Erbrecht anlangt, so
sollten heimfallende Erbschaften nicht zur Deckung von laufenden Ausgaben,
sondern zur Erhöhung des Stammvermögens des Reiches verwandt werden,>'
also zur Tilgung der Schuld oder zur Verstärkung des Schatzes. Wir treten
für ein Erbrecht des Reiches auf dieser Grundlage ein. Wir erwarten von
einer Änderung der testamentslosen Erbfolge zugunsten der Gesamtheit an Stelle
der entfernteren Verwandten eine Entlastung der unteren Klassen der Bevölkerung,
eine gerechtere Verteilung der materiellen Glücksgüter für den Todesfall, Stärkung
der vaterländischen Gesinnung und eine beträchtliche, stetig fortschreitende Besserung
der Reichsfinanzen.
n den letzten Wochen ist wieder mehr als es gut ist von der
deutschen Armee die Rede gewesen. Unsere Neider und Feinde
außerhalb haben versucht die Prinzipien, die die deutsche Armee
beherrschen, für den Zusammenbruch des türkischen Heeres ver¬
antwortlich zu machen und haben damit natürlich auch jene
deutschen Offiziere treffen wollen, die im Osmanenreich als Instrukteure tätig sind
und waren. Die Tagespresse hat die Nichtswürdigkeiten mit gebührender
Schärfe zurückgewiesen. Was hat, in der Tat, unser ehrliches Mühen mit dem
politischen Geiste zu tun, der das ehedem so ruhmreiche Heer der Osmanen
vernichtete?! Wenn man uns durchaus tadeln will, so könnte man es doch
nur dafür, das wir dem Nimbus des Islam noch soviel vertrauten, um an
eine Erneuerung der Türkei ernsthaft glauben zu können.
Nun gibt es eine nicht geringe Zahl von guten Patrioten, die sich von
der Agitation unserer Gegner gegen die deutsche Armee eine Wirkung ver¬
sprechen, die den europäischen Frieden bedroht; die Furcht vor Deutschland sei
hin, und um so größer sei die Neigung es herauszufordern. Wir wollen darüber
nicht rechten, ob die Beobachtung zutrifft oder nicht, es erscheint uns vielmehr
natürlich, wenn die unverbesserlichen i-evanLkÄl-ä8 kein Mittel unversucht lassen,
um die bei den Franzosen hier und da einziehende Friedensliebe gegen
Deutschland zurückzudrängen und den kriegerischen Sinn jenseits der Vogesen
von neuem anzufachen und sei es selbst auf Kosten der Wahrheit. Die Besorgnis
unserer Vaterlandsfreunde läßt sich nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Die
Gefahr, daß die leicht entzündlichen Franzosen glauben könnten, die deutsche Armee
sei nicht mehr auf der Höhe, ist vorhanden, und somit ist auch die Notwendigkeit
gegeben, ihr zu begegnen.
Unsere Aufwendungen für Heer und Flotte stellen eine Versicherungs¬
prämie auf den Frieden dar. Diese Prämie ist naturgemäß um so höher, je
höher der Wert der zu verhindernden Güter steigt und je größer die Gefahren
sind, denen jene ausgesetzt werden. Die deutschen Patrioten, die eine Erhöhung
der Versicherungsprämie fordern, sind somit im Recht, sie passen sich lediglich
einer neuen Situation an, für deren Zustandekommen niemand die Armee wird
verantwortlich machen dürfen. Die Frage ist nur, wie die Prämiensumme im
einzelnen angelegt werden soll.
Die Ansichten hierüber gehen gerade bei den berufenen Spezialisten weit
auseinander. Rein militärische, politische, wirtschaftliche, historische und persön¬
liche Momente beeinflussen die verschiedenen Ansichten ebenso wie auch lediglich
tief eingefressene Vorurteile. Daneben vermissen wir sowohl an den verant¬
wortlichen Stellen wie in der unverantwortlichen Publizistik eine gewisse Un¬
befangenheit des Urteils, ohne die es in Fragen des Gemeinwohls — und
Heeresfragen sind Fragen des Gemeinwohls — nun einmal nicht geht. Jeder
fürchtet die Tradition anzutasten und doch versteht jeder unter der
Tradition etwas anderes. Jeder, der etwas über militärische Dinge zu sagen
weiß, hält mit seiner Auffassung gern zurück, wenn sie nicht peinlich genau
parallel mit der von der Armeeleitung befohlenen läuft, um nicht in den Verdacht
zu geraten, daß er an die Rechte der obersten Kommandogewalt rühre und damit
zugleich der antimonarchischen Presse Stoff zur Agitation gebe. So kommt es,
daß es eine allgemeine sachliche Erörterung von prinzipiellen Armeefragen
eigentlich nicht gibt und daß die öffentlichen Kundgebungen dauernd zusammen¬
laufen in einer einzigen Forderung: Vermehrung! Für Vermehrung des Heeres
kann und darf jeder öffentlich eintreten, gleichgültig, ob es sich um neue
Bataillone, neue Batterien, Bespannungen, Flieger oder Telegraphendrähte
handelt. Die Sache ändert sich schon, wenn es sich um Spezialfragen handelt:
schwere oder leichte Geschütze? Einzelfeuer oder Salven? Zeppelin oder Parseval?
Dann wird der berufene Kritiker, der mit den Ansichten des Kriegsministers
nicht übereinstimmt, bald an die Schranken gelangen, die die oberste Kommando¬
gewalt ihm gezogen hat. Fast unmöglich aber ist es dem Offizier gemacht, sich
über die inneren Einrichtungen und Verhältnisse der Armee auszusprechen.
Welches Thema er auch in Angriff nehmen wollte: Beförderung, Verpflegung,
Train, Ausbildung, Alter der Offiziere oder Ehrengerichte, — immer wird ihm
wie Papageno in der „Zauberflöte" ein energisches „Zurück!" entgegenschallen
und: „Sie tasten an die Kommandogewalt!" oder „Sie gefährden die Sicherheit
des Staates!" hinterdreingrollen/)
Gegenwärtig geht wieder der Ruf nach einer Vermehrung des Heeres durch
die Lande. Er schallt um so lauter, als die verantwortlichen Stellen nicht
geneigt scheinen, die Unterlassungen wieder gut zu machen, die bei der Auf¬
stellung des letzten Armeevermehrungsplanes begangen wurden. Wir stehen wohl
zum erstenmal seit der Reichsgründung vor der Tatsache, daß das Kriegs-
Ministerium vom Reichstag gebilligte Heeresergänzungen nicht nur nicht so weit
vorbereitet hat, daß die neuen Formationen innerhalb vierundzwanzig Stunden
aufgestellt werden können, wir erleben es, daß z. B. die Maschinengewehr¬
abteilungen erst länger als ein Jahr nach der Bewilligung durch den Reichstag
aktiv werden können I
Unter diesen Umständen verdient eine Broschüre „Die Andern und wir"
von Hermann Hochwart, (Dieterichsche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1912)
Beachtung, die zu dem für manchen Leser wohl überraschenden Ergebnis kommt,
daß im Falle eines europäischen Krieges Frankreichs Überlegenheit über Deutsch¬
land vierzehn Infanterie- und vier Kavalleriedivisionen ausmache, während
Rußland den verbündeten Deutschen und Österreich-Ungarn um sechs Jnfanterie-
und elf Kavalleriedivisionen überlegen sei. Eine große Zahl von Einzelberech¬
nungen für die verschiedenen Waffen belegt die Behauptung im einzelnen,
soweit das Verhältnis Deutschland-Frankreich in Frage kommt. In einem
Kapitel „Was soll geschehen?" zieht der Verfasser die Konsequenzen seiner Fest¬
stellung. Er fordert eine Heeresverstärkung zugunsten der Infanterie um rund
achtzigtausend Mann, indem er sich auf alle die militärischen Autoritäten beruft, die
den Sieg immer nur dort mit Gewißheit erwarten, wo die Überlegenheit der
Zahl steht. Auch ich teile durchaus den Standpunkt, daß schon zu Friedens¬
zeiten die Sicherheit des kriegerischen Erfolges gewährleistet werden muß.
Ebenso gebe ich ohne weiteres zu, daß in der numerischen Überlegenheit eine
gewisse Garantie liegt. Aber doch nur eine gewisse. Denn der Geist der
Truppe und ihre Ausbildung sind die unerläßliche Voraussetzung für ihre praktische
Tüchtigkeit, und gute Ausbildung und kriegerischer Sinn werden, wie Friedrichs
des Großen „Wachtparade" bewiesen hat, den Mangel an Zahlen eher ausgleichen
können, als große Zahlen kriegerischen Sinn und Ausbildung ersetzen dürsten. —
Diese Zusammenhänge und Wechselwirkungen berücksichtigt Hermann Hochwart
nicht genügend. Vielleicht legt er sich aus den oben angegebenen Gründen
Zurückhaltung auf, vielleicht schätzt er die Wechselwirkung nicht hoch genug ein.
Und doch wäre in dem Abschnitt Offiziere und Unteroffiziere die Stelle gewesen,
wo das Problem „Einwirkung des Friedens auf die Armee" wenigstens hätte
berührt werden müssen. Denn die Offiziere und Unteroffiziere bilden für die
Heeresleitung den allejn zuverlässigen Maßstab dafür, was sie an kriegerischen
Leistungen von der Nation erwarten darf, nicht etwa die Hetzreden sozial¬
demokratischer Agitatoren oder die Tiraden der pazifistischen Presse. Und gerade
in dieser Beziehung sind in den letzten Jahren sporadisch Erscheinungen an die
Oberfläche gekommen, die jedem ernsten Patrioten doch Veranlassung geben
sollten, zu prüfen, ob unter den bestehenden Friedensverhältnissen jede Heeres¬
vermehrung auch ohne weiteres eine Heeresverstärkung wäre, und ob nicht
Fragen der inneren Heeresorganisation heute größere Berücksichtigung erheischen,
als man allgemein glaubt. Es soll und kann auch in diesen Worten keine
Herabsetzung der Heeresleitung .liegen; erinnern wir uns allein der Tatsache,
daß wir die Mobilmachung Roons als eine außerordentliche Leistung feiern.
Und doch hatte dieser Paladin nur acht Armeekorps aufzustellen und kriegs¬
bereit zu machen, während der heutige Kriegsminister dreimal soviel und oben¬
drein noch Waffen marschieren lassen müßte, an die man vor fünfzig Jahren
überhaupt noch nicht gedacht hatte.
Eine diese Fragen sachlich angreifende Literatur steht der Öffentlichkeit aus
den früher erwähnten Gründen so gut wie garnicht zur Versügung. Neuer¬
dings fangen Offiziere an, sich um die finanzielle Rüstung des Reichs zu
kümmern, aber über das ihnen zunächstliegende müssen sie schweigen. Nur
die Frage der Überalterung des Offizierkorps ist einigermaßen häufig erörtert
worden, aber — und das ist das Unerfreuliche daran — unter viel zu starker
Betonung des dabei mitspielenden finanziellen Momentes und ohne zu praktisch
brauchbaren Vorschlägen zu gelangen. Und doch ist gerade die Überalterung
des Offizierkorps die Wurzel allen Übels: mangelhafte oder in den verschiedenen
Teilen der Armee von einander abweichende Ausbildung, Byzantinismus, Springer-
tum mit dem notwendig daranhängenden Nepotismus und der Untergrabung
der Kameradschaft, Verletzung der gerichtlichen und ehrengerichtlichen Bestimmungen,
allmähliche Zweiteilung des Offizierkorps — alles das hängt innig zusammen
mit der Überalterung der Offiziere. In einem bösen Zirkel zieht eine
unerfreuliche Erscheinung die andere nach: die Aussichtslosigkeit für
die Mehrzahl, in jungen Jahren zu halbwegs selbständigen Stellungen
zu gelangen, hindert viele Tüchtige, überhaupt zur Armee zu gehen;
die Notwendigkeit, sich gegen eine zahlreiche Konkurrenz zu behaupten, veranlaßt
die Untergebenen, auch da ihre Überzeugung zu opfern, wo sie durch Vorschrift
und Gesetz gestützt wird, während die Vorgesetzten absolut gefügige Untergebene
bevorzugen, um ja nicht „oben" unliebsam aufzufallen. Wo sind die wunder¬
voll klaren Verhältnisse und Auffassungen, die noch in den 1870er Jahren
keine Kompromisse aufkommen ließen! ? Aber nicht das Offizierskorps kann dafür
verantwortlich gemacht werden! Aus dem Offizierkorps muß sich unter solchen
Umständen, und würden die schärfsten und besten Verordnungen erlassen um der
Tendenz zu begegnen, nach und nach das Verantwortungsgefühl zurückziehen, die abso¬
lute Zuverlässigkeit muß verkümmern, denn nicht mehr höchste Leistungsfähigkeit
bleibt maßgebend, sondern tausend Rücksichten, die sich aus der Verfassung der über¬
alterten Vorgesetzten unmerklich von selbst ergeben, erzwingen sich Anerkennung. Und
sollte nicht gerade diese Perspektive alle die auf den Plan rufen, die da wissen,
welch einen ungeheuren Kulturwert gerade ein gesundes Heer für die Nation
darstellt, die es besitzt?! Wer darum für die Stärkung der Armee eintritt, muß
in erster Linie hier den Hebel einsetzen. Gelingt es nämlich, hier gesunde Verhältnisse
zu schaffen, dann wird man mit Leichtigkeit auch eine andere angebliche Folge¬
erscheinung des Friedens beseitigen: die sogenannte Abneigung gegen das Heer.
Es ist merkwürdig, daß es gerade verabschiedete Offiziere sind, die an
allen Orten glauben, einen Rückgang der Achtung vor der Armee feststellen zu
müssen. Dieser Auffassung widerspricht die einfache Tatsache, daß sich die
politischen und gewerblichen Unternehmungen um Offiziere geradezu reißen.
Freilich müssen es mindestens ehemalige Regimentskommandeure sein. Alles, was
darunter liegt, wird glatt abgelehnt; nur der ganz junge Leutnant hat wieder
Chancen. Hierin wird zum Ausdruck gebracht, daß man den erfolgreichen Offizier
gern nimmt, nicht aber den Durchschnittsoffizier, denn nach Auffassung der
communi8 opinio steht der Durchschnittsoffizier unter dem Durchschnitt der
Anforderungen, die die fortgeschrittene Zeit gegenwärtig an alle Mitglieder der
tätigen Gesellschaft stellt. Die oft beklagten schlechten Erfahrungen, die Privat¬
unternehmer mit ehemaligen Offizieren in den letzten zwanzig Jahren gemacht
haben, sind es, die rückwirkend auch die im Lande herrschenden Auffassungen
über die Armee in ungünstigem Sinne beeinflußt haben, und die AntiMilitaristen
halten hier eine Ernte, wo nicht sie gesät haben. Es ist Sache der Armee¬
leitung, die Ursachen zu beseitigen, und diese Ursachen liegen vorwiegend in der
Überalterung des Offizierkorps, nicht im Nachlassen kriegerischen Geistes bei der
Nation, nicht im Mangel an gutem Willen bei den Offizieren selbst.
Es ist selbstverständlich, daß die Überalterung und ihre Folgeerscheinungen
nicht von heute aus morgen behoben werden können; ein Zeitraum von sechs
bis acht Jahren wäre schon erforderlich, um Kompagnie- und Batteriechefs von
durchschnittlich dreißig Jahren, Bataillons- und Abteilungskommandeure von
sechsunddreißig und Regimentskommandeure von vierundvierzig Jahren zu
gewinnen. In dieser Zeit dürfen die sonstigen Heeresergänzungen und -Ver¬
besserungen nicht ruhen. Aber einer Heeresvermehrung von rund achtzigtausend
Mann, wie Hochwart sie anstrebt, möchte ich doch nicht ohne weiteres das
Wort reden.
Im gegenwärtigen Augenblick würde sie überdies im In- und Auslande
berechtigtes Aufsehen erregen und Deutschland in den Verdacht bringen,
einen Angriffskrieg vorzuhaben, ohne daß es doch der Fall ist. Derartige
Dinge können unseren Welthandel ohne Grund empfindlich schädigen, —
wenn auch nur vorübergehend. Was aber nach meiner Auffassung angestrebt
werden sollte, das ist die jährliche Selbsttätige Steigerung der Heeresstärke in
einem bestimmten Verhältnis zur Steigerung des Volkswachstums. Es sollte
endlich damit gebrochen werden, daß die Heeresverwaltung um jeden Mann
mehr mit den Parteien feilschen muß. Nur neue Formationen, die sich aus der
allmählichen Vermehrung des Heerespersonals in gewissen Zeitabständen not¬
wendig machen, sollten fortab noch besonders bewilligt werden müssen. Daß die
Quinqnennatswirtschaft auf die Dauer unhaltbar ist, haben die letzten Heeres¬
ergänzungen deutlich genug erwiesen.
Aber auch bei dem jetzigen Zustande könnte manches getan werden ohne
große finanzielle Aufwendungen, um die uicht zum Heeresdienst eingezogenen
Mannschaften wenigstens teilweise für den Krieg vorzubilden. Ich denke da
hauptsächlich an den Ausbau der Kriegervereine zu Schützenvereinen, in denen
auch Nichtsoldaten, etwa die Söhne von den Vätern selbst in der Handhabung
des Gewehrs und im Schießen unterwiesen werden könnten. Gewehre, Karabiner
und Revolver sowie Patronen sollten von der Heeresverwaltung unentgeltlich zur
Verfügung gestellt werden. Wo militärische oder private Schießstände vorhanden
find, dürften sich Schwierigkeiten kaum ergeben. Ähnlich könnte auch mit Richt¬
übungen an Geschützen vorgegangen werden. Preisschießen und -richten, Aus¬
zeichnungen aller Art und last not Iea8t die größte Duldsamkeit allen Personen
gegenüber, die den Wunsch haben, als Schützen ausgebildet zu werden, müßten
doch jährlich tausende Jünglinge zu guten Schützen machen. Aber auch hierbei
wird die Lonclitio sine qua non sein: Verjüngung des Offizierskorps. Denn
die mit den militärischen Schießvereinen verbundene Mehrbelastung würde vor¬
nehmlich die Bezirkskommandos treffen. Nur junge, elastische Kommandeure
und Bezirksoffiziere werden aber glänzende Leistungen aufzuweisen haben.
as Verlangen nach gleichem Wahlrecht sür alle Staatsbürger wird
im Namen der Gerechtigkeit erhoben. Ideal genommen hat solche
M^Z Forderung nicht weniger zur Voraussetzung als gleiche politische
Befähigung und gleiche Leistungen jedes Bürgers sür die Aufrecht-
erhaltung des Staates nach außen und innen (politisch) und seine
materielle Förderung (wirtschaftlich und sozial.)
Der erste Teil der Voraussetzung fällt in sich zusammen, selbst bei denkbar
gleichmäßiger Vorbildung auf geschichtlichem und staatswissenschaftlichem Gebiet
und ähnlicher praktischer Schulung.
Es wird stets neben der Menge apolitischer Naturen, also neben solchen, denen
das Organ für die Staatsnotwendigkeit überhaupt zu fehlen scheint, zwei Haupt¬
gruppen geben, die der politischen Köpfe und der antipolitischer Elemente.
Erstere zeichnen sich durch eine mehr oder minder glückliche Vereinigung von
Intelligenz und praktischem Blick aus. Die gegnerische Gruppe weist zwei
Haupttypen auf, je nachdem ein starker seelischer Defekt überwiegt (Schwach¬
begabte, Minderwertige, Gewohnheitsverbrecher) oder infolge Übermaßes an
Phantasie ein mangelhafter Sinn für das Reale, das praktisch Erreichbare
besonders hervortritt. (Fanatiker, Utopisten, Zukunftsstaatler.)
Von gleicher politischer Befähigung kann da wohl kaum die Rede sein.
Um so nachdrücklicher aber wird die Forderung gleichen Wahlrechts von ihren
Vertretern mit dem Satze: „Gleiche Pflichten, gleiche Rechte!" begründet.
Als allgemeine Pflichten gegenüber dem Staat, für deren Erfüllung poli¬
tische Rechte verlangt werden, kommen wesentlich nur die Entrichtung von
Steuern und die Leistung des Heeresdienstes in Betracht. Hat man aber schon
jemals von den leidenschaftlichen Freunden der Gleichheit und Gerechtigkeit
verlangen hören, daß den vom Heeresdienst«und von direkten Steuern Befreiten
ihr politisches Mitbestimmungsrecht genommen oder auch nur gekürzt werde?
Mehr nocht Es ist vom staatlichen Gesichtspunkt aus keineswegs gleich¬
gültig, aus welchem Geist die Ableistung politischer Pflichten erfolgt. Oder
besteht kein Unterschied zwischen dem Bürger, der einmal über unbequemen
staatlichen Zwang schilt, den aber im gleichen Augenblick die Einsicht eines
besseren belehrt, und dem anderen, der den Widerstand gegen die Pflicht¬
erfüllung zielbewußt zur antimilitaristischen Organisation oder zur Aufreizung
eines Steuerstreiks ausdehnt?
Man darf auch nicht vergessen — und das soll sich gegen eine mechanische
Gleichwertung steuerlicher Leistungen wenden — mit wie verschieden großen
persönlichen Opfern die Erfüllung staatlicher Pflichten bezahlt wird. Wie
mühelos entrichtet der Rentner seine Steuern, und wie viel schlaflose Nächte,
welchen Verbrauch an Nervenkraft mag dieselbe Summe dem Großindustriellen
und Ingenieur, dem genialen Forscher und rastlos hilfreichen Arzte kosten, die
in ganz besonders hervortretender Weise dem Staat und seinen Gliedern noch
weit höhere Dienste als Steuern leisten!
Bei der allgemeinen Wehrpflicht ist anderseits nicht gut zu übersehen, daß
sie den ihr Unterliegenden wesentlich verschiedene Vorteile bringt. So gut dem
Einjährigen auch körperliche Strapazen und nahe Berührung mit den Kameraden
aus anderen Volksschichten sein mögen, das Dienstjahr macht keinen unerlä߬
lichen Bestandteil seiner Erziehung aus. Wogegen der Angehörige des Arbeiter¬
standes, meist auch in jüngerem Alter dienend, abgesehen von der sür Hand¬
arbeiter besonders wichtigen gesundheitlichen Kräftigung, eine Reihe von Eigen¬
schaften, verstärkt oder neu erworben, mit ins Leben hinausnimmt, die seinen
sozialen Wert erheblich steigern. Wären die Wunder unserer riesigen gewerkschaft¬
lichen Organisationen denkbar ohne die erziehliche Wirkung altpreußischen Drills?
So muß der Satz von gleichen Pflichten und Rechten, im Kern analysiert,
zu der Auffassung führen: die Pflichterfüllung ist nur ein Minimum positiver
Leistungen im staatlichen Interesse.
Wie nun, wenn jemand über dies Mindestmaß hinaus das politische, wirt¬
schaftliche oder kulturelle Ansehen des Staates erheblich fördert, durch politische
Tätigkeit, soziale Fürsorge, künstlerische Höchstleistungen, durch Entdeckungen und
Erfindungen, durch großkaufmännische Unternehmungen, die Brot für Tausende
schaffen? Dies Mehr, das ein Vielfaches der Mindestforderung sein mag, sollte
bei einem — vom staatlichen Gesichtspunkt aus — ideal gerechten Wahlrecht
niemals vernachlässigt werden.
So kommt man von selbst zu dem vernünftigeren und gesunderen Grundsatz:
für gleiche Leistungen gleiches Recht, bei ungleichen Leistungen aber auch
Abstufung des politischen Einflusses.
Dieser kritischen allgemeinen Erörterung soll zur besseren Veranschaulichung
ein Vergleich aus der deutschen politischen Gegenwart folgen. Für den, der in
großen Zügen mit obigen Darlegungen einverstanden ist, wird die Entscheidung nicht
schwer fallen, welches der beiden hier herangezogenen Wahlrechte einer vertieften
Auffassung von Gerechtigkeit mehr genügt. Ob das Reichswahlrecht, das allgemein,
geheim, direkt und gleich, scheinbar alle Forderungen der Gerechtigkeitsfreunde be¬
friedigt, oder das Wahlrecht zur Bremer Bürgerschaft, das zwar auch geheim und bis
auf einen Fall direkt ist, aber, statt alle Bürger gleich zu werten, ständische
Bevorzugung mit dem Grundsatz allgemeiner Berechtigung verbindet.
Jedes direkte Wahlrecht, dessen Ergebnis, ob gewollt oder ungewollt, die
Rechte der Wähler ungleich verteilt, läßt sich als ein Plural-(Mehrstimmen-)
Wahlrecht auffassen. Der folgenden vergleichenden Anrechnung sind als statistisches
Zahlenmaterial zugrunde gelegt: die amtlichen Veröffentlichungen über die
Reichstagswahl 1907 und die Wahl zur Bremer Bürgerschaft 1905 (Jahrbuch
für Bremische Statistik 1907). Beim Reichswahlrecht kommen die Abstufungen
des politischen Einflusses nur durch die Bevölkerungsziffern der Kreise zur An¬
schauung. Setzen wir nämlich das Wahlrecht eines Wählers in dem am dichtesten
bevölkerten Kreise Potsdam 10 (Teltow-Beeskow-Charlottenburg) 1, so hat
ein Wähler des Kreises Schaumburg-Lippe gewissermaßen 25 Stimmen. Denn
in Charlottenburg kommt ein Abgeordneter erst auf 248000 Wahlberechtigte,
in Bückeburg schon auf nicht einmal 10000. Von den hansestädtischen Kreisen
ist Hamburg III mit nur 2 und Bremen mit nur 4 Pluralstimmen erheblich
benachteiligt. Hamburg I und II mit je 6 Pluralstimmen kommen dem Durch¬
schnitt von 8 Pluralstimmen schon näher, der allein von Lübeck als dem kleinsten
hansestädtischen Wahlkreis mit nur 25000 Wahlberechtigten und daher mit
lOfachem Wahlrecht übertroffen wird. Die Beispiele mögen genügen.*)
") Durch die Reichstagswahlen von 1912 und die letzten statistisch bearbeiteten Bürger¬
schaftswahlen (1908) ist die zahlenmäßige Ungleichheit im Reich noch deutlicher geworden:
Aus der nebenstehenden statistischen
Zusammenstellung erhellt, wieviel
Prozent der Wähler auf jede
Ziffernstufe des Pluralwahlrechts
entfallen. Ein ganz deutliches
Anschwellen der Anteile mittleren
Grades, ein Maximum der Wähler
in den Wahlbezirken durchschnitt¬
licher Größe ist noch von dem
Gedanken übrig geblieben, das
Reich in gleiche Bezirke von an¬
nähernd 25000 Wählern zu glie¬
dern. Die in den verflossenen
vierzig Jahren entstandenen Ex¬
treme erklären sich aus dem Zurück¬
bleiben des agrarischen Ostens, dem
plötzlichen Wachstum der Jndustrie-
gegenden und dem Vorhandensein
der kleinen Kreise Schaumburg-
Lippe und Waldeck, denen als
Bundesstaaten mindestens ein Ab¬
geordneter zufallen mußte.
Die gewaltigen Größenunter¬
schiede unserer Reichswahlkreise
sind wiederholt betont, aber, so
viel ich sehe, noch niemals so
lebendig veranschaulicht worden,
wie es mit dem Ausdruck in
Pluralstimmen geschieht.
Ebenso meines Wissens neu wie
reizvoll ist dagegen der Versuch, ein ausgesprochenes Klassenwahlrecht in seinen
Wirkungen als Pluralwahlrecht zu beleuchten. Das Wahlrecht zur bremischen
Bürgerschaft ist hierfür ein ausgezeichnetes Objekt, weil es mit seiner ständischen
Bevorzugung (selbständige Förderung ideeller und materieller Kulturgüter) be¬
sondere soziale Eigenschaften und Fähigkeiten unterstreicht, ohne die Wähler des
allgemeinen Wahlrechts ihrer Mitbestimmung zu berauben.
Wer von der mittelalterlich anmutenden Schale abzusehen vermag, wird
einen gesunden, im guten Sinne modernen Kern finden. Denn Bildung, Besitz
und Masse, Produzenten und Konsumenten, jeder Teil kommt zu seinem
Rechte.
Von den acht Klassen, die das bremische Wahlsystem (Bürgerschaftsgesetz
4 bis 9) kennt, entfällt die Hälfte auf die Sondergruppen.
die Privilegierten insgesamt also 82, von denen entsprechend der wirtschaftlichen
Bedeutung der Hansestadt, 60 (d. i. 40 Prozent aller Abgeordneten) auf Handel
und Gewerbe beziehungsweise Industrie entfallen.
„Die Bedeutung der Abgliederung der Gelehrten, Kaufleute, Gewerbe¬
treibenden und Landwirte in besonderen Wahlklassen mit bestimmten Vertreter¬
stellen für die Gegenwart liegt darin, daß sie eine Gewähr gibt, daß in der
Bürgerschaft stets in hinreichender Zahl jene Berufsstände vertreten sind und
Mitglieder, deren Fähigkeiten und Erfahrungen eine ersprießliche Mitarbeit
besonders auch an den Verwaltungsaufgaben der Bürgerschaft sichern" (Bollmann,
„Verfassung und Verwaltung der freien Hansestadt Bremen", 13. Band der
Bibliothek des öffentlichen Rechts).
Die IV., V., VI. und VIII. Klasse sind die des allgemeinen gleichen Wahl¬
rechts, mit Ausschluß der in den ständischen Klassen wahlberechtigten Bürger.
Ihrer Gliederung liegt nur der Wohnsitz des Wählers zugrunde. So wählt
An der Hand des Jahrbuchs für bremische Statistik läßt sich nun leicht
die Anrechnung in Pluralstimmen vollziehen, so daß ein Vergleich mit der
Wirkung des Reichswahlrechts möglich wird.
Das mindeste Wahlrecht haben die Bürger im 1. Bezirk der VIII. Klasse,
wo 992 Wahlberechtigte auf 2 Abgeordnete kommen, also 1:496. Dagegen
werden 393 Gelehrte durch 14 Abgeordnete vertreten ---- 1: 23. Das Wahlrecht
des Gelehrten ist demnach ^ : - 496 : 28 ein 18faches. Innerhalb
der Klassen des allgemeinen Wahlrechts schneidet die V. am besten ab, die mit
^ ein 6faches (496 : 78) Wahlrecht besitzt. Die Spannung von 1:6 ist groß,
aber was will sie besagen gegen 1:25 im Reich?
Ein staatsrechtliches Kuriosum bildet das scheinbar ungeheuerliche Über¬
gewicht der III. Klasse: auf 12 Wähler ein Abgeordneter, das hieße ein 41faches
^4^^ Wahlrecht. Solche Annahme wäre ein Trugschluß, da das Wahlrecht zur
III. Klasse, die die Vertretung aller Gewerbetreibenden umfaßt, den Charakter
des indirekten trägt. Man bemerke wohl, daß in der VII. Klasse die zur Kammer
für Landwirtschaft wahlberechtigten Bürger direkt ihre Vertreter wählen. Dem-
nach müßten in der III. Klasse die zum Gewerbekonvent Wahlberechtigten ihre
Abgeordneten unmittelbar bestimmen. Sei es nun, daß dieser Wahlkörper un-
tunlich groß erschien, sei es anders, genug, die Verfassung legte fest, daß die
Abgeordneten III. Klasse nicht von allen Gewerbetreibenden, sondern nur von
ihrer Bemfsvertretung, dem Gewerbekonvent (180 Handwerker, 90 Fabrikanten)
gewählt werden sollen. Damit werden die Gewerbetreibenden aber zu Urwählern,
die Gewerbekonventsmitglieder zu Wahlmännern III. Klasse. In solcher Eigen¬
schaft verlieren die letzteren natürlich den Nimbus einer unverständlichen
Bevorzugung.
Nur der „Urwähler" III. Klasse kann, was sein Wahlrecht betrifft, mit dem
Wähler anderer Klassen verglichen werden I
Jetzt ergibt sich eine eigenartige Komplikation, die in dem Wahlverfahren
begründet ist. Wird dies auch formal mit vollem Recht als indirekt angesprochen,
so fehlt doch jede materielle Konsequenz. Sowohl in dem Bewußtsein der
Wähler, denn die Wahlen zum Gewerbekonvent gehen mit geringer Beteiligung,
ohne politische Kämpfe vor sich, da sie nur als Wahlen der Berussvertreter,
nicht als Urwähler zur Bürgerschaft betrachtet werden, als nicht minder nach
der Auslegung des Bürgerschaftsgesetzes: die Gewerbetreibenden, die Urwähler
III. Klasse, sind in jeder anderen wahlberechtigt, soweit sie nicht eben als
Gewerbekonventsmitglieder Wahlmänner der III. Klasse sind. An Beispielen
erläutert: der Direktor einer chemischen Fabrik, Dr. plin., wählt in der I. Klasse,
ein Zigarrenfabrikant als Teilnehmer des Kaufmannskonvents in der II., ein
Handwerker in den Klassen des allgemeinen Wahlrechts.
Bei Berechnung der Pluralstimmen müssen der Vereinfachung halber die
paar Gelehrten der Gewerbetreibenden unberücksichtigt bleiben. Dann zerfallen
die Urwähler III. Klasse in zwei verschieden berechtigte Gruppen, in die Fabri¬
kanten, die Wähler II. Klasse sind (etwa 75 als Teilnehmer des Kaufmanns¬
konvents) und in die übrigen Fabrikanten (325) und sämtliche Handwerker
(rund 3000), die in der IV., V., VI. oder VIII. Klasse wählen.
Beider Wahlrecht setzt sich aus zwei Anteilen zusammen,
dem direkten Wahlrecht der II. bzw. IV. V. ^- VI. 4- VIII. Klasse.
Fabrikanten, die Mitglieder des Kaufmannskonvents sind, haben demnach
mit 27 (24 4- 3) Pluralstimmen den stärksten politischen Einfluß.
Die übrigen Gewerbetreibenden aber müssen, in der Voraussetzung, daß sie
sich ähnlich über Stadt und Land verteilen, wie die sonstigen Glieder der IV.,
V.. VI.. VIII. Klasse auch das durchschnittliche Stimmrecht aller Klassen des
«8 1 496
allgemeinen Wahlrechts angerechnet werden, d. i. Das sind ^
1,65 oder rund zwei Pluralstimmen.
Handwerker und nicht kaufmannskonventberechtigte Fabrikanten haben dem¬
nach gleich viel Wahlrecht wie die VI. Klasse (allgemeine Wahlen in Bremer-
haven) 3->-2---5 Stimmen.
Dem Stimmwert nach ergeben sich folgende Gruppen:
Die prozentuale Verteilung der Wähler auf die acht Stimmwertgruppen
ist aus der angefügten Tabelle leicht zu ersehen.
Interessanter ist die rechte Hälfte der Tafel, welche die eigentliche Macht¬
verteilung unter den Ständen darstellen soll.
Weil grundsätzlich jeder Bürger wählt und durch Steuersatz keiner aus¬
geschlossen ist, kann man die Bezirke allgemeiner Wahl, vorzüglich die dicht¬
bevölkerten (1- und 2faches Wahlrecht) als die Domäne der Lohnarbeiter
betrachten. (Die nicht geringen Ausnahmen dieser Voraussetzung beruhen auf
der Tatsache, daß die im allgemeinen kleineren altstädtischen Bezirke heute noch
von Handwerkern und Kleinbürgern beherrscht werden.)
Damit hat diese Klasse, dank ihrer Zahl — theoretisch betrachtet — den
verhältnismäßig stärksten Einfluß.
Es entfallen nämlich auf die Vertretung:
Der oben entwickelte Satz: für gleiche Leistungen gleiche Rechte usw. ist
hier trefflich beleuchtet. Während in einem reinen Pluralwahlrecht jedes Indi¬
viduum nach bestimmten Merkmalen gewertet wird, liegt dem ständischen Prinzip
die Bedeutung eines ganzen Erwerbszweiges zugrunde. Und diese Bedeutung
muß das Ergebnis der Menge der Individuen sein, malgenommen mit dem
Interesse des Staats an dem einzelnen Glied des betreffenden Berufs.
Als eine Probe auf geschickte Machtverteilung in Bremen mag die Tat¬
sache gelten, daß es weder zum Terrorismus des Großkapitals noch zu dem
des Proletariats kommen kann, dank der Einschiebung einer kräftigen Mittel¬
standsvertretung. Es ist so verhütet, daß die Vermögenden die Rechte der
Minderbemittelten außer acht lassen, wie auch daß die Masse der Weniger¬
gebildeten sich über die soziale Bedeutung der Kulturträger hinwegsetze.
Die ausführliche Behandlung des Bremer Wahlrechts ist ja von dem
Gesichtspunkt aus erfolgt, daß es dem ideal gleichen Wahlrecht zweifellos näher
kommt als die gleiche Wahl communi sensu: Denn ziehen wir abschließend
den Vergleich:
1. Das Reichswahlrecht hat im Laufe einer Entwicklung, die schlechterdings
nicht alle zehn Jahre durch Neueinteilung berichtigt werden kann, zu einer ganz
erheblichen Ungleichheit der Kreise geführt, und damit zu einer Wahlrechts¬
minderung auf der einen, Wahlrechtsmehrung auf der anderen Seite. Die Spannung
zwischen den auf diese Weise Meist- und Mindestbegünstigten beträgt 25:1.
Sie ist kaum geringer als die bei einem ständischen Klassenwahlrecht, wie dem
zur Bremer Bürgerschaft mit 27 :1.
2. Während aber in Bremen die Privilegierung bestimmter Bildungs- und
Erwerbsgruppen in staatlichem Interesse beabsichtigt ist und wohl mit Vernunft¬
gründen verteidigt werden kann, ist im Reich die Bevorzugung und Entrechtung
einzelner Gegenden gänzlich sinnlos.
3. Nun mag immerhin zugunsten deS Reichs das Überwiegen der Kreise
mittlerer Größe betont werden: 57,5 Prozent der Reichswähler haben ein
mittleres, das heißt 6- bis lOfaches Wahlrecht, während in Bremen sich
55,3 Prozent mit der niedersten Stufe dem einfachen Stimmrecht begnügen
müssen.
4. Doch lehrt ein Blick auf die Mandatsverteilung der Bürgerschaft, daß
der Gefahr jedes Klassen Wahlrechts, der Erdrückung der Minderbemittelten durch
die Rücksichtslosigkeit des Kapitalismus wirksam vorgebeugt ist.
Wo aber sind die Bürgschaften unseres Reichstagswahlrechts, dessen Gleichheit
doch Gerechtigkeit bedeuten soll oder wenigstens sollte — die Bürgschaften dafür,
daß nicht eines Tages der letzte Kulturträger im Reichstag von den Vertretern
der großen unschöpferischen Masse verdrängt wird?
^ ^- ^ >-M! as nützen die schönsten Abhandlungen über unsere Gesetzessprache,
wenn alles beim alten bleibt? Zwei Punkte muß man bei dem
Bestreben, die Gesetzessprache zu verbessern, im Auge behalten.
! Einmal, daß sich soziale Gebilde, und dazu rechne ich hier auch
^die Sprache, nur langsam und allmählich und nur innerhalb
gewisser Grenzen durch Maßnahmen irgendwelcher Art beeinflussen lassen,
daß man also niemals in kurzer Zeit große und in jedem Falle nur begrenzte
Erfolge erwarten kann. Sodann zweitens, daß man nicht von einer einzigen
Maßnahme Besserung erwarten darf, sondern nur von einer Vereinigung
einer ganzen Reihe verschiedener Mittel. So wie es falsch ist, bei einer Krankheit
zu glauben, daß man nur ein bestimmtes Heilmittel anzuwenden brauche, um
sofort die Gesundheit wiederzuerlangen, wie vielmehr nur ein planmäßiges,
gesundheitförderndes Gesamtverhalten allmählich zur Genesung führen kann, so
ist auch für die Heilung der Gebrechen unserer Gesetzessprache eine planmäßige
sprachliche Erziehung die Hauptsache. Daß fast alles, was bisher zur Hebung
unserer Gesetzessprache geschehen ist, ein Verdienst des Sprachvereins ist, und
daß ihm auch bei den nachfolgenden Vorschlägen die Führerrolle zugedacht ist,
brauche ich nicht erst zu betonen.
Bei der Prüfung der einzelnen Vorschläge ist wohl zu unterscheiden zwischen
solchen Maßregeln, die der deutschen Sprachwissenschaft zugute kommen würden,
und solchen, die geeignet erscheinen, das Gefühl sür die Schönheit unserer Gesetzes¬
sprache in die breiten Massen des Volkes zu tragen. Diesen Gesichtspunkt hat
man meines Erachtens bei einigen bisher gemachten Vorschlägen nicht genügend
berücksichtigt. So wird z. B. von verschiedenen Seiten (Trautmann: „Der Staat
und die deutsche Sprache", 1911, S. 21) die Forderung erhoben, ein Reichs¬
sprachamt einzurichten, das in ähnlicher Weise wie in Frankreich die französische
Akademie für die deutsche Sprache zu wirken habe. Nach den Erörterungen
über den Gegenstand auf den Hauptversammlungen des Sprachvereins 1887
in Dresden und 1903 in Breslau hat dieser Vorschlag keine Aussicht, die Unter¬
stützung des Sprachvereins zu finden. Ich kann mich dieser ablehnenden Haltung,
auch soweit die Hebung der Gesetzessprache in Frage kommt, nur anschließen.
Wie Behaghel mit Recht hervorgehoben hat, mag eine derartige Körperschaft
für die Sprachwissenschaft und die Sprachforschung in Frage kommen, aber nicht
für das praktische Leben. Auch Eduard Engel spricht sich in seinem kürzlich
erschienenen Werke „Deutsche Stilkunst" (S. 15) gegen die Errichtung einer
derartigen Behörde aus, indem er witzig meint, wenn sie errichtet würde, würde
sie jedenfalls die Bezeichnung „germanistisches Reichsinstitut" führen. Noch
entschiedener muß man sich gegen die ebenfalls von Trautmann und anderen
empfohlene Maßregel wenden, daß ein Reichssprachgesetz erlassen werde, um
zwangsweise für alle Anzeigen und Benennungen deutschen Wortlaut einzuführen.
Es könnte da leicht kommen, daß man dem Gesetzgeber empfehlen müßte,
zunächst einmal vor der eigenen Tür zu kehren.
Eine weit empfehlenswertere Maßregel besteht darin, Gesetzentwürfe durch
Sprachkenner überarbeiten zu lassen. Der Allgemeine Deutsche Sprachverein
hat bekanntlich diesen Weg bereits wiederholt eingeschlagen und die Entwürfe
für das Zolltarifgesetz, die Eisenbahnverkehrsordnung, die Strafprozeßordnung
und zuletzt die Reichsversicherungsordnung umarbeiten lassen. Ich bin weit
entfernt, eine derartige Maßregel grundsätzlich zu verwerfen oder das zu ver¬
kleinern, was auf diesem Gebiete von den Mitgliedern des Sprachvereins, die
mit dieser schwierigen Aufgabe betraut worden waren, geleistet worden ist. Aber
ich halte ein derartiges Vorgehen doch nur in Ermangelung eines Besseren für
angebracht und kann meine Bedenken dagegen nicht unterdrücken. Zunächst
wird man ein derartiges Verfahren nicht für die gesamte Gesetzessprache, sondern
nur für einige wenige Gesetzentwürfe anwenden können. Die große Menge
der kleineren Gesetze bleibt also davon unberührt. Sodann aber ist es nicht
unbedenklich, die Sprache eines Entwurfes nachträglich zu ändern, wenn dies
nicht durch den Schöpfer des Entwurfs selbst geschieht. Nur zu leicht kann
durch sprachliche Änderungen etwas ganz anderes gesagt werden als das, was
der Gesetzgeber hat sagen wollen, ohne daß man hieraus dem mit den sprach¬
lichen Verbesserungen Beauftragten einen Vorwurf machen kann. Oft stellt sich
erst bei der Anwendung und Auslegung eines Gesetzes durch die Gerichte heraus,
welche Rechtswirkungen eine bestimmte sprachliche Fassung nach sich zieht. Dazu
kommt, daß der mit der sprachlichen Überarbeitung eines Entwurfs Betraute
an seinem Inhalt nicht rühren darf, sondern genau sprachlich das wiedergeben
muß, was in den einzelnen Paragraphen steht. Dadurch werden aber dem
freien Flug der Gedanken, wie er für eine Meisterung der Sprache notwendig
ist, starke Fesseln angelegt. Zum Schlüsse möchte ich noch darauf hinweisen,
daß man durch ein derartiges Verfahren dem Verfasser eines Gesetzentwurfs ja
geradezu ein sprachliches Armutszeugnis ausstellt und ihn zur Sprachfaulheit
erzieht. Was würde ein Professor, was würde ein Richter sagen, wenn man
ihm zumutete, seine Arbeiten erst von einem Sprachsachverständigen überarbeiten
zu lassen I Der Gesetzgeber aber läßt sich das ruhig gefallen. Im übrigen kann man
meines Erachtens auf sprachlichem Gebiete wohl zwischen Meistern und Stümpern,
aber nicht, wie die Kölnische Zeitung und die Deutsche Juristenzeitung meinen,
zwischen „Sachverständigen" und „Laien" unterscheiden. (Vgl. Zeitschrift des
Sprachvereins November 1909.)
Wenn ich nun im folgenden mit eigenen Vorschlägen hervortrete, so gehe
ich hierbei von der Erwägung aus, daß die Frage der Gesetzessprache in erster
Linie eine Frage der Juristensprache ist. Denn Juristen verfassen fast aus¬
nahmslos unsere Gesetzentwürfe, wenn auch oft unter Beihilfe sachkundiger
Fachleute. Das Gesetzesdeutsch kann sich nicht bessern, wenn sich nicht zuvor
das Juristendeutsch bessert; wenn nicht die Sprache der Rechtspflege, namentlich
der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft, vollkommener wird. Die zahlreichen
Anregungen, die der Sprachverein auf diesem Gebiete den Behörden gegeben
hat, sind durchweg sehr wohlwollend aufgenommen worden, aber wenn man die
Sache bei Lichte besieht, so ist dieses Wohlwollen mehr platonischer als werk¬
tätiger Art. Gewiß ist manches erreicht worden, aber in der Hauptsache wird
man finden, daß die Vorgesetzten Verfügungen über Verfügungen erlassen zur
Pflege unserer Muttersprache, daß aber wenig oder gar nichts geschieht, um die
Durchführung dieser Verfügungen zu sichern. Fast ausnahmslos beziehen sich
übrigens diese Verfügungen auf die Schriftsprache, während die mündliche Aus¬
drucksweise meines Wissens kaum je Erwähnung findet. Die eingehendsten
Vorschriften werden darüber gegeben, wie unsere jungen Juristen für ihren
künftigen Beruf herangebildet werden sollen, aber nirgends finden wir An¬
weisungen darüber, was geschehen soll, damit ihr Sprachgefühl geläutert werde.
Die Zeugnisse sprechen sich über die Fortschritte in jedem noch so unbedeutenden
Tienstzweig aus, aber uur selten findet sich eine Äußerung darüber, welche
Sprachgewandtheit der Referendar sich erworben hat. Es werden besondere
Übungen abgehalten, in denen die kunstvollsten Urteilsentwürfe angefertigt
werden, aber ich habe noch niemals gehört, daß einer der Leiter derartiger
Übungen statt eines Urteilsentwurfs den Referendaren die Aufgabe gestellt habe,
sich über die Sprache eines Gesetzes zu äußern und etwa das Gesetz oder einen
Teil desselben in einer sprachlich besseren Form niederzuschreiben. Ich glaube,
daß mancher Referendar, der in seinen Personalakten die üblichen glänzenden
Zeugnisse hat, sehr in Verlegenheit wäre, wenn ihm eine solche Aufgabe gestellt
würde. Selbst die sprachliche Fassung der Urteilsentwürfe bildet recht selten
den Gegenstand von Besprechungen zwischen Richter und Referendar. Ich
schlage daher vor, daß der Sprachverein bei den Justizverwaltungen der Bundes¬
staaten vorstellig werde, daß Verfügungen erlassen werden, die etwa folgenden
Inhalt haben sollen:
1. Die Zeugnisse der Vorgesetzten müssen sich darüber aussprechen, ob der
Referendar Sprachgefühl besitzt und ob er sich hinreichende Gewandtheit im
schriftlichen und mündlichen Ausdruck angeeignet hat.
2. Es sollen neben der Anfertigung von Urteilsentwürfen den Referendaren
auch Aufgaben gestellt werden aus dem Gebiete der Gesetzessprache und der
Sprache der Rechtspflege.
Es ist möglich, daß in den Bestimmungen über den Vorbereitungsdienst
der Referendare bereits Vorschriften der unter Ur. 1 gedachten Art enthalten
sind; gehandhabt werden sie jedenfalls in Preußen nicht.
Ebenso müßte für die Befähigungszeugnisse, die die Landgerichtspräsidenten
und die höheren Vorgesetzten über die ihnen unterstellten höheren Justizbeamten
alle zwei Jahre zu erstatten haben, vorgeschrieben werden, daß darin der
Fähigkeit des Beamten, sich in seiner Muttersprache auszudrücken, ausdrücklich
Erwähnung getan würde. Natürlich müßten derartige Zeugnisse individuell
gehalten sein und nicht, wie man das jetzt häufig findet, in einer starren und
darum nichtssagenden Formel bestehen. Wenn auch für die Beförderung in
höhere Stellen, namentlich für die Berufung ins Ministerium, immer in erster
Linie juristische Fähigkeiten den Ausschlag geben werden, so müßte doch gezeigt
werden, daß man höheren Orts daneben Wert auf Gewandtheit im sprachlichen
Ausdruck legt, was bis jetzt leider ganz und gar nicht der Fall ist.
Was nun die Gesetzentwürfe anlangt, so wäre — ebenfalls durch Vor¬
stellungen bei den Justizverwaltungen — anzustreben, daß in der Begründung
jedes Gesetzes ein besonderer Abschnitt der sprachlichen Ausgestaltung des Ent¬
wurfs gewidmet würde; daß der Verfasser seine Ziele und seine Absichten nach
dieser Richtung darzulegen hätte. Es ist auffallend, daß sich, soviel mir
wenigstens bekannt geworden ist, bis jetzt in keinem einzigen Gesetz eine der¬
artige sprachliche Begründung findet, nicht einmal beim Bürgerlichen Gesetzbuche.
Überall, wo die Motive desselben die sprachliche Ausdrucksweise erwähnen, ist
lediglich die rechtliche Bedeutung eines Wortes oder einer Redewendung Gegen¬
stand der Erörterung, aber nicht die sprachliche Richtigkeit oder Schönheit. So
finden wir z. B. im vierten Bande der Motive Auslassungen darüber, weshalb
der Ausdruck „Abkömmlinge" gebraucht worden ist (S. 31); ebenso (S. 161)
darüber, weshalb man „Güterverwaltnngsgemeinschaft" und nicht „Güter¬
einheit", „Gütervereinigung" oder „Güterverbindung" gesagt hat; ferner
(S. 874) darüber, weshalb man den unehelichen Vater mit diesem Namen
bezeichnet und ihn nicht „Erzeuger" oder „schwangerer" genannt hat*). Oft
ist von dem Sprachgebrauch!! des Gesetzbuches die Rede, aber stets hat diese
Bezeichnung nnr den obenerwähnten, auf die rechtliche Seite sich beziehenden Sinn.
Ein großer Teil der sprachlichen Unebenheiten in unseren Reichsgesetzen
ist weniger auf mangelndes Können als auf Gedankenlosigkeit und Gleich¬
gültigkeit gegen den sprachlichen Ausdruck zurückzuführen. Es sei gestattet,
nachstehend einige Beispiele anzuführen, wie längst veraltete Ausdrücke immer
wieder von Gesetz zu Gesetz weitergejchleppt werden, obwohl es bei einiger
Aufmerksamkeit ein Leichtes wäre, sie durch sprachlich richtigere oder reinere
Wortfassungen zu ersetzen. Das recht entbehrliche Fremdwort „Register" findet
sich in unserer Gesetzessprache an zahlreichen Stellen. Wir haben ein Handels-
register, ein Prokurenregister, ein Firmenregister, ein Genossenschaftsregister, ein
Vormundschaftsregister, ein Schiffsregister, ein Börsenregister. Das Bürgerliche
Gesetzbuch hat uns schließlich noch ein paar weitere Register dazu beschert. Für
alle diese Bezeichnungen hätte man ebensogut „Buch" sagen können. Selbst die
Bezeichnungen „Handelsbuch" und „Schiffsbuch" wären verwendbar gewesen,
obwohl diese Ausdrücke bekanntlich auch noch einen anderen Sinn haben. Das
österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch sagt „Vormundschaftsbuch" oder
„Waisenbuch" (ZZ 207 und 208). Unsere Gesetzgebung kennt ja auch ein
„Staatsschuldbuch" und ein „Reichsschuldbuch". Daß es sich bei diesem ganzen
Registerunfug lediglich um ein gedankenloses Forttraben in den aufgefahrenen
sprachlichen Geleisen der Vergangenheit handelt, zeigt die Verwendung, die der
Ausdruck im Hypothekenbankgesetz vom 13. Juli 1899 (ZZ 22 und 30) gefunden
hat. Nach diesen Paragraphen haben die Banken die Hypothekendarlehen, die
sie ausgeben, in ein Verzeichnis einzutragen. Was hätte nun näher gelegen,
als dieses Verzeichnis „Hypothekenbuch" oder eben „Hypothekenverzeichnis" zu
nennen? zumal der erstere Ausdruck sich schon im Preußischen Berggesetz vom
24. Juni 1865 (§ 45) findet. Aber unsere Gesetzessprache kennt von früher
her den Ausdruck „Hypothekenregister", und obwohl er eine rechtsgeschichtliche
Bedeutung hat, die in dieses Gesetz gar nicht hineinpaßt, spricht der Gesetzgeber
doch von einem „Hypothekenregister" der Hypothekenbanken. In die Zivil¬
prozeßordnung, deren Verfasser so sehr bestrebt waren, die Sprache von Fremd¬
wörtern reinzuhalten, hat man bei einer nachträglichen Abänderung das scheu߬
liche Wort „Prozeßagent" eingeschmuggelt, obwohl es doch wahrlich ein Leichtes
gewesen wäre, eine passende Verdeutschung dasür zu finden, etwa Sachwalter,
Rechtsvertreter, Gerichtsvertreter, Rechtsbeistand, Gerichtsbeistand, Fürsprech
(schweizerisch) oder Rathmann (niederländisch). Daß das längst aus unserer
Gesetzessprache verschwundene Wort „Kollegium" in dem preußischen (evange¬
lischen) Kirchengesetz, betreffend die Beanstandung der Lehre von Geistlichen
vom 16. März 1910 wieder aufgetaucht ist, habe ich bereits im zweiten Ab¬
schnitt erwähnt.
Auch sonst finden sich in bezug auf den Inhalt mitunter Vorschriften, die
erkennen lassen, daß der Gesetzgeber wenig darüber nachgedacht hat, wie er sich
am kürzesten ausdrücken könne. Als die Zivilprozeßordnung den Grundsatz
der freien Beweiswürdigung einführte, war es durchaus angebracht, daß man
im § 259 (jetzt Z 286) bestimmte:
„Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der
Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach
freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für
wahr oder für nicht wahr zu erachten sei."
Denn bis dahin galt vielfach der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht,
vielmehr war das Gericht bei seiner Entscheidung an ganz bestimmte Beweis¬
regeln gebunden. Hätte man den erwähnten Grundsatz also nicht ausdrücklich
ausgesprochen, dann hätten vielleicht Zweifel darüber auftauchen können, wie
das Gericht bei der Urteilsfindung zu verfahren habe. , Nachdem aber der
Grundsatz der freien Beweiswürdigung über ein Menschenalter lang in unserer
Gesetzgebung eingeführt ist, ist es höchst überflüssig, daß uns der Gesetzgeber
in jedem neuen Gesetze, das ein Gerichtsverfahren behandelt, wieder versichert,
daß das Gericht nur nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden habe. Ähn¬
liches gilt von der Bestimmung des § 260 der Se. P. O. (Vgl. Gewerbegerichts¬
gesetz Z 41; Gesetz über die Kaufmannsgerichte vom 4. Juli 1904 Z 16;
Militärstrafgerichtsordnung § 315, Kirchengesetz vom 16. März 1910 Z 11 u. a.).
Über die zahlreichen lediglich auf Nachlässigkeit beruhenden Verstöße gegen die
Sprachregeln, die sich in unseren Gesetzen finden, ist so viel geschrieben worden,
daß ich mir füglich die Anführung von Beispielen ersparen kann. Alles dies
würde nicht vorkommen, wenn der Verfasser eines Gesetzentwurfes in der Be¬
gründung Rechenschaft geben müßte über die sprachliche Behandlung seiner Arbeit.
Von größter Bedeutung würde ich sodann ein Wörterbuch der Gesetzes¬
sprache halten, in dem nicht nur gute Verdeutschungen der Fremdwörter der
Gesetzessprache enthalten wären, fondern auch die hauptsächlichsten Rede¬
wendungen, die in unseren Gesetzen öfter wiederkehren, berücksichtigt würden*).
Dadurch würde den Verfassern von Gesetzentwürfen die Arbeit außerordentlich
erleichtert und vor allem würde die Aufmerksamkeit ständig darauf gerichtet,
daß die Sprache des Gesetzgebers musterhaft sein muß. Die Abfassung eines
derartigen Wörterbuches stößt aber, wie ich mich durch einen Versuch überzeugt
habe, auf erhebliche Schwierigkeiten.
Es wäre sodann weiter anzustreben, daß in den Volksvertretungen, in den
Kommissionen und in der Presse die Sprache des Entwurfes eines Gesetzes,
mehr als das bisher geschehen ist, zum Gegenstand der Erörterung gemacht
würde. Aber auch ohne daß bestimmte Gesetzentwürfe vorliegen, wäre nach
Möglichkeit anzustreben, daß in der Presse und zwar sowohl in der Fachpresse
wie in der Tagespresse und in den gesetzgebenden Körperschaften unsere Ge¬
setzessprache öfter untersucht und die allgemeine Aufmerksamkeit darauf gelenkt
würde. Auch hier brauche ich das Lob des Sprachvereins nicht zu singen.
Trotz aller Anstrengungen sind die Fachzeitschriften, die zuweilen Aufsätze über
unsere Gesetzessprache bringen, recht spärlich gesät, und die Haupttätigkeit nach
dieser Richtung entfaltet immer noch die Zeitschrift des Sprachvereins. Namentlich
aber ist es eine Zeitschrift, die einen großen Einfluß vermöge ihres Leser¬
kreises ausüben könnte, die sich aber bisher mit Sprachfragen gar nicht befaßt.
Es ist die Deutsche Richterzeitung, die wir sogar in der Zeitschrift des Sprach¬
vereins (November 1909) als abschreckendes Beispiel in sprachlicher Hinsicht
aufgeführt finden. Es wäre meines Erachtens eine dankbare Aufgabe für den
Sprachverein, sich mit der Schriftleitung der Deutschen Richterzeitung in Ver-
bindung zu setzen und ihr klar zu machen, daß zu den Standesinteressen der
Richter, deren Wahrung die Deutsche Richterzeitung sich so sehr angelegen sein
läßt, auch die Standespflicht gehört gutes Deutsch zu sprechen und zu schreiben*).
Die Erreichung dieses Zieles würde aber sehr gefördert, wenn die Deutsche
Richterzeitung nicht nur von Zeit zu Zeit sprachliche Aufsätze aus dem Gebiete
der Gesetzgebung und der Rechtspflege brächte, sondern wenn sie außerdem eine
regelmäßige erscheinende „Juristische Sprachecke" einrichtete, wo zur Schärfung
des juristischen Sprachgefühls mangelhafte Sätze aus der Gesetzessprache und
aus Urteilen besprochen und verbessert würden. Der Sprachverein müßte aber
auch weiter anstreben, daß eine derartige „Juristische Sprachecke" möglichst bei
allen juristischen Zeitschriften eingerichtet würde. Dadurch würde meines Erachtens
zehnmal mehr genützt als durch ein Reichssprachamt. Den leicht voraus¬
zusehenden Einwand der Schriftleitungen der Fachblätter, daß es ihnen an Raum
für derartige Sprachecken fehle, müßte man dadurch begegnen, daß man
wenigstens die Zusicherung zu erreichen strebte, daß gelegentlich ein kleiner Bei¬
trag zur Schärfung des juristischen Sprachgefühls Aufnahme fände. Auch den
Tageszeitungen, die so oft unter der Spitzmarke „Juristendeutsch" zur Er¬
heiterung ihrer Leser Satzungetüme aus Urteilen veröffentlichen, müßte klar
gemacht werden, daß es leicht ist, zu tadeln, daß aber bessermachen hier wie
überall schwerer ist, und daß es daher eine der Presse würdige Aufgabe wäre,
wenn sie gleichzeitig mit den als sprachlich schlecht beanstandeten Sätzen auch
deren Verbesserung veröffentlichte.
Schlußwort. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß es auch
heute noch berechtigt ist, daß die Gesetzessprache eine eigenartige Prägung und
besonderen Stil aufweist, daß aber unsere heutige Gesetzessprache den an sie
zu stellenden Anforderungen nicht entspricht und daß sie daher verbesserungs¬
bedürftig erscheint. Wenn nun aber weiter gefragt wird, welchen Einfluß eine
Verbesserung der Gesetzessprache auf unser ganzes Volkstum haben würde, so
kann ich darauf nur erwidern, daß sich nicht voraussagen läßt, wie sich
Lebendiges in der Flucht der Zeiten entwickeln wird. Ich will deshalb mich
bescheiden und nur ein paar Bemerkungen wagen.
Wenn die Sprache unserer Gesetzgebung sich ändert, wieder einfacher,
kräftiger, kerniger wird, so wird zweifellos die Amtssprache hiervon in starkem
Maße beeinflußt werden. Die Behörden werden in ihren Verfügungen und
Erlassen, ihren Urteilen und Entscheidungen der Ausdrucksweise des Gesetz¬
gebers folgen. Die billigen Witze über das Juristendeutsch werden dann wohl
aus unseren Zeitungen und Zeitschriften verschwinden. Aber auch die Recht¬
sprechung dürfte nicht unbeeinflußt bleiben von einer Änderung in der sprach-
lichen Fassung der Gesetzesvorschriften. Manche Umgehung unserer so fein
ausgeklügelten Gesetze wird heute nur dadurch ermöglicht, daß sich der Gesetz¬
geber zu kasuistisch ausgedrückt und dadurch den Richter gehindert hat, die
Vorschriften verständnisvoll auf die vielgestaltigen Lebensverhältnisse anzuwenden,
während er dem Gesetzesübertreter sein Vorhaben erleichtert hat. Außerdem
wird die Tätigkeit des Richters in ganz anderer Weise angeregt werden, wenn
er einfache Gesetzesvorschriften, wie z. B. den oben erwähnten Artikel 1382
des Locke civil, vor sich hat, als wenn er, wie in den W 14 bis 17 des
Gesetzes über den unlauteren Wettbewerb, eine Reihe von Einzelbestimmungen
im Gesetze findet, und seine Tätigkeit nun darauf beschränken muß. nach¬
zurechnen, ob alle Voraussetzungen, die der Gesetzgeber erwähnt, vorhanden
sind. Jemehr Einzelbestimmungen der Gesetzgeber in seine Paragraphen hinein¬
packt, desto einförmiger und geistloser gestaltet sich die Urteilsfindung, und
deshalb ist dringend zu wünschen, daß die Gesetzessprache wieder einfacher und
natürlicher werde.*)
Die früher veröffentlichten Berichte befinden sich in Heft 28, 31
und 42 der Grenzboten von diesem Jahre.
Konstantinopel, den 15. Januar 1857.
le Absendung nach Konstantinopel der von Euer K. K. und Aller-
höchstdero Mitkontrahenten des Pariser Friedens Allerhöchst
ernannten Kommissäre zur Begründung von Vorschlägen über die
künftige Organisation der beiden Donaufürstentümer hat nach
Inhalt des Friedensvertrags und der in demselben vereinbarten
Generalmstruktion zu dem Zwecke stattgehabt, um durch diese Kommissäre
die Expedition und die Absendung desjenigen Firmans konstatieren zu lassen,
welchen die bei der Pforte beglaubigten Repräsentanten der an jenen: Friedens-
Muß beteiligten hohen Mächte mit dieser zur Konvokation der Diwans aä ne>c
vereinbaren sollten, welche in den gedachten Ländern den Wünschen aller Klassen
des Volks einen genauen und gesetzlichen Ausdruck geben sollen.
Euer Königlichen Majestät hiesiger Gesandter hat Allerhöchstdenselben über
die Umstände, welche dieses Werk verzögert haben, alleruntertänigste Meldung
gemacht, und das Bedürfnis einer Übereinkunft über den Firman schien insofern
auch nicht dringend, als die eingangs erwähnten Stipulationen vorschreiben,
daß vor der Evakuation jener Länder von den österreichischen Truppen ohnehin
weder die Berufung jener Diwans, noch der Abgang der Kommissäre nach den
Fürstentümern statthaben solle, Bedingungen, die ihrerseits wieder an die Grenz-
regulierimg geknüpft wurden, so daß vermöge eines viziösen Zirkels, in dem
sich die Angelegenheit zu drehen schien, jene wohlwollenden Absichten des Pariser
Kongresses für die Fürstentümer im Laufe der ganzen Zeit und bis auf die
letzten Wochen auch nicht um einen Schritt weiter kamen.
In den letzten Wochen jedoch hat die Angelegenheit, um derentwillen die
sechs Kommissäre der Mächte, unter deren Garantie die Fürstentümer gestellt
sind, nun schon seit nahezu sechs Monaten hier weilen, einen doppelten Anstoß
erhalten, einmal indem die in Paris neu eröffneten Konferenzen auch einen
Abschluß der abgedachten Hindernisse in Aussicht stellen, und es danach nötig
schien, den Firman für den Fall fertig zu haben, daß seine Exekution möglich
würde, und anderseits und hauptsächlich, indem der englische Ambassadeur Lord
Stratford de Retcliffe, in dessen Politik jene Verzögerung lag, Ursache zu dem
Wunsche haben mochte, sich des von seiner Regierung hier gesendeten Kommissars
Sir Henry Bulwer baldmöglichst zu entledigen, dessen Anwesenheit ihm um so
unbequemer wurde, je weniger es ihm unbekannt bleiben konnte, daß zwischen
ihm und Sir Henry Bulwer eine prinzipielle Meinungsverschiedenheit stattfand, die
sich nicht bloß auf die Angelegenheit der Donaufürstentümer bezog, sondern
einer schon vorhandenen Opposition gegen die Politik Lord Stratfords in der
orientalischen Frage überhaupt in England eine stärkere Nahrung geben konnte.
Dieses persönliche Verhalten Lord Stratfords zu Sir Henry Bulwer ließ ersteren
demnach die baldige Entfernung des letzteren wünschen, und Euer Königlichen
Majestät Gesandter und die übrigen Repräsentanten der beteiligten Mächte benutzen
dies: Dispositionen Lord Stratfords aus das glücklichste, um den Firman mit
der Pforte zustande zu bringen, und zwar in der Weise, daß bereits nach
wenigen Konferenzen, über welche Euer Königlichen Majestät die erschöpfendsten
Berichte Allerhöchstdero Gesandten vorliegen, das mannigfache Schwierigkeiten
bietende Werk definitiv redigiert worden war, und es sich nun nur noch darum
handelte, es zur Kenntnis der Kommissäre zu bringen, die es zu exekutieren
haben, bevor die Publikation in den Fürstentümern erfolgt.
Nach Inhalt des Pariser Friedensvertrages sowohl als nach Inhalt der
den Kommissären vom Pariser Kongreß erteilten Generalinstruktion ist derselben
auf die Redaktion jenes Firmans nicht der mindeste Einfluß eingeräumt worden;
die ganze Angelegenheit ist lediglich der Vereinbarung der Repräsentanten mit
der Pforte vorbehalten worden, und es hätte daher im Sinne der Vertrags¬
bestimmungen vollkommen genügt, wenn den Kommissären eine einfache offizielle
Mitteilung von kompetenter Stelle über die erfolgte Redaktion des Firmans
und seine Absendung nach den Fürstentümern behufs der Konstatierung der¬
selben zuteil geworden wären.
Eine Teilnahme der Kommissäre an den Beratungen über den Gegenstand
schien in der Tat auch nicht im sächlichen Bedürfnis zu liegen. Die Natur der
Sache brachte es vielmehr schon an und für sich mit sich, einerseits daß die
Repräsentanten den Kommissären ihrer eigenen Regierung eine genaue Einsicht
in die Motive ihrer Wirksamkeit bei der Redaktion jenes Firmans boten, und
anderseits, daß diese Motive auf einer gleichartigen Anschauung des durch
gleichartige Interessen bedingten Bedürfnisses beruhten. So schien auch der
Gegenstand allseitig aufgefaßt zu werden, bis gegen den Schluß hin eine
Schwankung eintrat, und französischer- und österreichischerseits infolge, wie es
scheint, eines von der russischen Regierung geäußerten Wunsches eine nähere,
wenn auch nur passive und informatorische Teilnahme der Kommissäre an den
Konferenzen in Frage gestellt wurde, infolge deren man sich dahin vereinigte,
die Kommissäre zu einer Schlußkonferenz zu berufen. Der Zweck dieser Be¬
rufung war nicht ganz deutlich ausgedrückt, denn in dem gleichlautenden Ein¬
ladungsschreiben des Großvesirs an mich und meine Kollegen vom 10. d. M.
zu der am 13. d. M. bei demselben auf seinem Landsitze zu Emirghen am
Bosporus anberaumten Konferenz hieß es: „pour la röllaction an projet 6u
I^irman", während offenbar die Absicht nur dahin ging, in gewissen Grenzen
den Kommissären informatorische Erläuterungen über den Inhalt zu geben, was
für mich und die Mehrzahl meiner Kollegen insofern überflüssig war, als wir
diese Erläuterungen schon durch die Mitteilungen der Gesandten erhalten hatten.
Indes schien es immerhin wünschenswert, daß die Interpretation, die der Groß-
vesir selbst einzelnen Stellen des Firmans in einem für die Türkei günstigen
Sinne mündlich gegeben hatte, auch vor den Kommissären, insonderheit vor
dem eigenen Pforten-Kommissär, wiederholt würden, und um diese Erläuterungen
zu ordnen und zu formulieren, vereinigten sich daher die Kommissäre mit Aus¬
schluß desjenigen der Pforte, dessen Anwesenheit hierbei nicht nötig schien, am
Tage vor jener Sitzung zu einer näheren vertraulichen Besprechung.
Bei dieser Gelegenheit eröffnete uns Sir Henry Bulwer, daß Lord Stratford
nicht nur jede mündliche Besprechung mit ihm über den Firman und die An¬
gelegenheit der Türkei überhaupt abgelehnt und vermieden, sondern ihm auch
nicht die mindeste Einsicht in die Motive zum Firman, in seine Berichte und
sonstigen Schriftstücke gestattet habe, und daß er das Projekt zum Firman selbst,
um es doch vor der Konferenz zu kennen, soeben erst von Lord Stratford durch
eine amtliche, schriftliche Requisition herausgepreßt habe, so daß er in der ganzen
Angelegenheit als ein Komo moon8 erscheinen müsse, und deshalb auch gezwungen
sein werde, vielfache Fragen zu stellen, welche seinen Kollegen überflüssig scheinen
könnten. Er hob dabei insonderheit hervor, daß nach Spezialinstruktion, die
seine Regierung ihm erteilt, auf ihm eine Verantwortlichkeit für den Inhalt des
Firmans selbst ruhen könne, und er daher entschiedener Erklärungen bedürfen
werde, daß ihm keine Gelegenheit und kein Recht zugestanden worden sei, seine
Stimme hierbei geltend zu machen.
In dieser Hinsicht hatte mir Sir Henry Bulwer allerdings vertraulich und
im allgemeinen schon vorher eröffnet, daß seine Regierung Lord Stratford
angewiesen hatte, dafür zu sorgen, daß der britische Kommissär und mit ihm
die übrigen Kommissäre der Mächte zur Teilnahme an der Diskussion des
Firmans zugezogen würden, und daß seine Regierung gegen ihn selbst voraus¬
gesetzt habe, daß man den Firman nicht ohne Zuziehung und Anhörung der
Kommissäre redigieren werde, und jetzt hat mir derselbe die ihm in Abschrift
mitgeteilte Depesche der englischen Regierung an Lord Stratford zu lesen
gegeben, welche in dieser Hinsicht allerdings die positivsten Befehle und eine
weitläufige Auseinandersetzung der Gründe enthält, weshalb die englische
Regierung dieses für wünschenswert halten müsse.
Wie die Sache hiernach lag, und da ähnliche vertrauliche Mitteilungen
von Sir Henry Bulwer in mehr oder weniger umfassender Weise bereits auch
meinen Kollegen gemacht worden waren, so konnten wir ihm nur sagen, daß
wir uns in dieser Hinsicht insofern auf einem anderen Standpunkt befänden,
als unsere Regierungen uns eine Mitverantwortung für den Inhalt des Firmans
nicht aufgelegt hätten, und daß wir uns daher auch nicht berechtigt glaubten,
andere als einige erläuternde Auskünfte zu verlangen, die im ganzen nur auf
eine Wiederholung der Erklärungen hinausliefen, welche die Pforte bereits den
Repräsentanten selbst gegeben habe, z. B. über die Zulässigkeit der Diskussion
der Unionsfrage in den Diwans und über diejenige von Wahlprogrammen und
deren Druck, sowie über einige mehr untergeordnete Punkte. Er könne daher
bei weitergehenden Observationen und bei einer etwa seinerseits zu verlangenden
Diskussion der Fundamente, auf denen die Redaktion des Firmans und die
Komposition der darin angeordneten Volksversammlung beruht, um so weniger
auf unsere Teilnahme rechnen, als wir, die wir von dem Gange der Verhand¬
lungen, den Motiven und dabei sonst zur Berücksichtigung gekommenen Um¬
ständen von unserem Gesandten unterrichtet seien, die ihrerseits auch den
Ansichten und Meinungen der Kommissäre jede zulässige Berücksichtigung geschenkt
und solche zur Geltung zu bringen gesucht hätten, die Überzeugung aussprechen
müßten, daß der Firman in der projektierten Redaktion trotz aller unvermeidlich
gewesenen vagen Stellen die instruktionsmäßige Aktion der Kommission nicht
behindern werde, und daß überhaupt bei so verschiedenen entgegengesetzten
Interessen etwas Besseres nicht zustande zu bringen gewesen sei.
Diese im Schoße der Kommission stattgehabten Äußerungen werden vielleicht
einiges Licht auf die skandalösen Vorgänge werfen, welche daraufhin in der
vorgestrigen Konferenz bei dem Großvesir Reschid Pascha bei den Erörterungen
zwischen Lord Stratford und Sir Henry Bulwer stattgehabt haben, und in welchen,
wie mir scheint, besonders von des edlen Lords Seite jede Rücksicht aus den
Augen gesetzt wurde, die er der Versammlung selbst, seiner Regierung und
deren Abgeordneten, einem Mitgliede des Rats der Königin, schuldig war, und
die nicht verfehlen werden, ihren Widerhall im englischen Parlamente zu finden.*)
*) Der Vorfall, auf den Richihofen hier anspielt, ist in seinen Berichten an den
König nicht enthalten, da darüber der ständige Preußische Gesandte bereits an das Aus¬
wärtige Amt berichtet hatte. Wir finden aber in der schon zitierten „Geschichte der
Familie Praetorius von Richihofen" folgende amüsante Darstellung, die wir unsern Lesern
nicht vorenthalten wollen.
„Zur Feststellung der Schlußredaktion des FirmanS ließ der Groszwesir Reschid Pascha
eine Einladung in sein Sommerpalais zu Emirghan zum 13. Januar (18S7) an sämtliche
beteiligte Botschafter und Gesandten und an sämtliche Kommissäre der Mächte ergehen,
an letztere, um, wenn von ihrer Seite Einwendungen gegen die Ausführbarkeit der
Bestimmungen erhoben werden sollten, ihnen Gelegenheit zu geben, solche jetzt zur Sprache
zu bringen.
Niemals Wohl hat eine Konferenz von Diplomaten ein so abnormes Schauspiel dar¬
geboten, als diese, zu welcher unter des Großvesirs Vorsitz die Botschafter von England,
Frankreich und Rußland, der Jnternuntius von Österreich, die Gesandten von Preußen und
Piemont und mit mir meine vorgedachten Kollegen von der noch immer zu keiner Tätigkeit
gelangten europäischen Kommission erschienen waren.
Die Gesellschaft hatte sich kaum bei dem Großwesir versammelt, als auch eine auf¬
fallende Bewegung der Subalternbeamten und Diener stattfand. Es wies schon auf eine
sehr absichtliche Unterscheidung hin, daß die Bernsteinspitzen der den Botschaftern und
Gesandten überreichten Tschibuks viel kostbarere Brillantbuketts zeigten, als die den Bevoll¬
mächtigten zur Kommission Präsentierten; diese Tschibuks wurden daher von den letzteren
refüsiert. Auch hatte man zwei Tische, einen höheren und einen niedrigen mit entsprechenden
Stühlen aufgestellt; der höhere sollte für die Botschafter und Gesandten, der niedere für die
Mitglieder der Kommission bestimmt sein. Als diese ihr Befremden über diese Einrichtung
laut werden ließen, entschuldigte sich Reschid Pascha damit, daß diese Einrichtung auf Ver¬
langen Lord Stratfords und des Baron Prokesch getroffen worden sei. Ehe indes der
Konflikt hierüber zum Ausbruch kam, wurde auf Einsprache der Botschafter von Frankreich
und Nußland, sowie der Gesandten von Preußen und Sardinien, welchen der Großvesir
beistimmte, das separat-Tischarrangement beseitigt und durch ein gleichartiges ersetzt. Die
Botschafter und Gesandten nahmen nun auf der einen Seite, die Bevollmächtigten auf der
anderen Seite des präsidierenden Großvesirs Platz. Als der letztere die Voraussetzung
aussprach, daß jeder der Bevollmächtigten durch den betreffenden Botschafter oder Gesandten
bereits von dem Inhalte des Firmansentwurfes sowie von den Erläuterungen und Motiven
zu demselben unterrichtet sein würde, sowie die Frage daran knüpfte, ob deshalb die Vor¬
lesung des Entwurfes unterlassen und gleich in die Diskussion etwaiger Bedenken und Ein¬
würfe eingetreten werden könne, erhob sich Sir Henry Bulwer und trug auf langsame
Vorlesung jedes einzelnen Artikels an. Er begründete diese Forderung damit, daß er sich
im Vergleich zu seinen Kollegen in einer durchaus exzeptionellen Lage befinde. Jhni habe
nämlich Lord Stratford im Laufe der Verhandlungen keinerlei Mitteilung gemacht, so daß
er, wenn ihni auch kurz vor dieser Konferenz eine Abschrift des Firmansprojektes zu Händen
gekommen sei, doch dem Inhalte und mehr noch der Begründung desselben gegenüber durchaus
ein Komo novus sei und daher darauf halten müsse, daß hier Artikel für Artikel mit den
etwa erforderlich erachteten Erläuterungen vorgelesen werde.
Nach der Erklärung des Großvesirs wird der Firman sofort der Bestätigung
des Sultans unterbreitet werden; diese wird in wenigen Tagen erfolgen, und
der Firman mit der Bestätigungsformel den Repräsentanten mitgeteilt werden.
Ebenso wird der Firman demnächst an die Caimakame der Donaufürstentümer
abgesandt werden, um die statistischen Vorarbeiten behufs der Wahllisten in
die Wege zu leiten. Das eigentliche Wahlgeschäft soll demnächst erst beginnen,
wenn die Kommissäre daselbst eintreffen, was nicht vor Ende März dieses Jahres
stattfinden kann, nachdem in den letzten Pariser Nachkonferenzen dieser Zeitpunkt
als Termin für die Beendigung der Grenzregulierung und der österreichischen
Okkupation festgesetzt worden ist.
Die Mission der Kommissäre, soweit sie sich auf ihre Wirksamkeit in Kon¬
stantinopel bezieht, ist somit zu Ende und nach der bei dem Sultan erbetenen
Die gegenseitige Animosität der beiden englischen Staatsmänner hatte, wie hier bemerkt
werden muß, noch seinen besonderen Grund in der demnächst tatsächlich gewordenen Vor¬
ahnung Lord Stratfords, daß Sir Henry Bulwer bestimmt sei, ihn in dem Botschafterposten
bei der Pforte abzulösen.
Nun gab es eine Szene ganz seltener Art zwischen den beiden Bevollmächtigten einer
und derselben Regierung.
Lord Stratford sprang auf und erklärte: Was Sir Henry Bulwer hier über sein Ver¬
Verhältnis zu ihm anführe, habe keine Berechtigung und müsse als durchaus .inconvenable'
bezeichnet werden, da der Botschafter und nur dieser allein der Vertreter Ihrer Majestät
der Königin sei, so gehste er ihm Schweigen. Sir Henry erwiderte hierauf, dies sei mit
einer Ausnahme richtig, nämlich soweit es sich nicht um die Fürstentümer Moldau und
Wallachei und um das alles handle, was das englische Interesse bei der Politischen Gestaltung
derselben im Sinne des Pariser Friedens betreffe; dafür sei er ausersehen und verant¬
wortlich, und er allein, und darum handle es sich hier allein ausschließlich; dem Lord
Stratford stehe überhaupt keine Kritik über sein Verhalten zu und es sei ganz unqualifizierbar,
ihn hier untergeordnet erscheinen zu lassen; er bestehe daher auf der Vorlesung des FirmanS-
entwurses Punkt für Punkt.
Diese Erklärung setzte den englischen Botschafter so in Erregung, daß er seinen Stuhl
ergriff und man kaum zweifelhaft sein konnte, welche Direktion er ihm zu geben geneigt
war. En hielt sich jedoch noch zurück; alle Mitglieder der Konferenz sprangen auf, und die
Sitzung wurde unterbrochen. Die beiden englischen Gegner eilten zu der innerhalb des
Palais des Großvesirs angebrachten Telegraphenleitung, um sofort gegenseitige Beschwerden
telegraphisch nach London gelangen zu lassen. Für IV2 Stunde schien es, daß die ganze
Konferenz vereitelt, der Firman und somit die endliche Abreise der Kommissare nach den
Donaufürstentümern aufs neue in Frage gestellt sei. Endlich war es aber insbesondere
der Intervention des französischen Botschafters und des preußischen Gesandten, sowie der
Einsprache der Kommissäre gelungen, die beiden Kombattanten zu beschwichtigen und sie zu
überzeugen, daß die Sache selbst unter ihrem häuslichen Streit nicht leiden dürfe. Die Sitzung
wurde nun wieder aufgenommen, die Vorlesung des Projektes begann und nach einigen
Stunden wurde dasselbe mit von mir proponierten Redaktionsänderungen allseitig an¬
genommen.
Man wird sich leicht denken können, daß bei dem folgenden Diner eine gedrückte und
Penible Stimmung herrschte. Indessen war doch ein bedeutsamer Schritt geschehen, und
der Abreise der Kommisston nach den Fürstentümern stand von dieser Seite kein Hindernis
mehr ini Wege."
Abschiedsaudienz der Kommission werden sich die Mitglieder derselben in
beliebiger Weise und nach den Instruktionen ihrer Regierung von hier weg¬
begeben, um sich demnächst zum 30. März d. I. in Bukarest wieder zusammen¬
zufinden.
Euer p. Präsidenten habe ich daher durch eine telegraphische Depesche vom
heutigen Tage ebenfalls um Verhaltungsbefehle hinsichtlich meiner Abreise gebeten.
Hiermit ist der erste, man kann nicht einmal sagen Vortakt, sondern nur
ein Vorspiel zum Vorakt der Wahlen für die Diwans in den Fürstentümern
vollendet worden. Es hat etwa sechs Monate gekostet, und wäre sicherlich heute
noch nicht zustande gebracht, wenn Lord Stratford nicht seine Zögerungspoliiik
aus den eingangs gedachten Gründen aufgegeben hätte.
Euer Königliche Majestät werden daher die Schwierigkeiten allergnädigst
ermessen, die der Aufgabe an sich und an Ort und Stelle entgegenstehen werden,
und wenn die Erfüllung derselben nicht zu rasch und in der Weise vorwärts¬
gehe, als Allerhöchstdieselben im Interesse der Sache selbst es wünschen, dies in
Allerhöchster Nachsicht auf Rechnung dieser Schwierigkeiten setzen.
Nachdem Sir Henry Bulwer erklärt hat, daß er den Inhalt des Firmans,
besonders soweit derselbe sich auf die Form der Zusammensetzung der Klassen
bezieht, in denen die verschiedenen Stände der Fürstentümer zum Ausdruck ihrer
Wünsche gelangen sollen, nicht für zweckmäßig erachte, und er in dieser Hinsicht
viele Schwierigkeiten voraussehe, ist zu fürchten, daß er selbst dahinneigen
werde, diese seine Voraussicht wahrzumachen. Es wäre daher wünschenswert,
wenn die englische Regierung ihn durch eine andere Persönlichkeit ersetzte, obwohl
nicht zu leugnen ist, daß die Kommission dadurch eines geistreichen Mitgliedes
verlustig ginge, freilich eines solchen, dessen diplomatisches Genie unproduktive
Seite überall mehr in der Schaffung von Hindernissen und Schwierigkeiten, als
in deren Überwindung Geltung gefunden hat. Sir Henry Bulwer selbst hat
sich hierüber noch nicht ausgesprochen, er hat aber mir und seinen übrigen
Kollegen von dem Inhalt einer telegraphischen Depesche Kenntnis gegeben, die
er seiner Negierung über die Vorgänge in der Konferenz vom 13. d. M.
gesendet und deren Inhalt vollkommen der Wahrheit entspricht. Es wäre zu
erwarten, daß die britische Negierung selbst die Jnkonvenienz fühlen müßte,
Sir Henry Bulwer in der Kommission zu belassen, wenn an die Auffassungen
dieser Regierung selbst immer der gewöhnliche Maßstab des Schicklichen und
Angemessenen, und nicht oft der des Außergewöhnlichem und manchmal selbst
des Unnatürlichen anzulegen wäre." (Weitere Berichte folgen)
Die Tage bis zur Kirchweihe vergehen rasch.
Aus Pfeddersheim kommt einmal ein Brief, in dem Tante Seelchen aufragt,
warum der Karl am verflossenen Sonntag nicht herübergewandert sei, ob er krank
wäre oder was sonst; sie sei voller Unruhe. Er solle doch gleich eines schreiben,
und viel Vergnügen auf die Kerb.
Da setzt Karl sich noch am selben Abend in seine Kammer und schreibt die
Antwort, Soundso wäre die Sache und an krank sei gar nicht zu denken. Auch
solle Tante Seelchen an Kerb wieder einmal nach Spelzheim kommen; freundlichst
sei sie von Holtners dazu eingeladen, womit unter den herzlichsten Grüßen schließe
ihr dankbarer Neffe Karl Salzer.
An schöner Arbeit auf dem Felde fehlt es auch nicht. Die Äcker, in die noch
Winterkorn soll, werden geeggt und dies und das. Und zwischendurch besucht
Karl auch einmal den Friedhof und überzeugt sich, daß das Kreuz wieder in
Ordnung ist.
Freitags vor der Kerb ist die Versteigerung der Salzerschen Liegenschaften.
Außer dem Haus steigert der Hannes Holtner so ziemlich alles zu gar nicht
niedrigen Sätzen an. Denn als die Bauern merken, daß Hannes Holtner, der
reiche Mann. Liebhaber ist, bieten sie ihn gewaltig in die Höhe; der kann schon
zur Deckung der veruntreuten Summen einen fetten Brocken beitragen, denken sie.
Aber bei Ackern in nicht gerade guter Lage spielt der Hannes den Boshaften
einen Schabernack. Wenn sie ihn recht in die Höhe geschraubt haben, ist er still
und bietet nichts mehr darauf, und der Acker wird dem Quertreiber zugeschlagen.
Da werden sie vorsichtiger, und Hannes Holtner kommt bei den letzten Ackern
wieder auf seine Kosten. Und wie er dann abends heimkommt und erzählt, was
er alles angesteigert, da ist ein anderer voller Freude.
Die Bauern aber sagen, daß sie gar nicht begreifen könnten, wie so ein alter
Junggeselle, der den anderen Menschen immer konträr wäre, auf einmal so den
Narren an dem Schmied Salzer seinem rotzigen Lausbub gefressen haben könnte.
Und dann rechnen sie nach, ob der Erlös aus der Versteigerung hinreiche, die
Unterschleife des Schmiedes zu decken. Es bleibt eine Differenz. Da bedauern
sie, den Hannes Holtner nicht noch mehr hinaufgeboten zu haben und schimpfen
auf den Bürgermeister und das Gericht. Das würde nun wohl so kommen, wie
man es bei Kassenunterschleifen gewöhnlich in der Zeitung lese, daß nämlich die
Mitglieder die Kosten decken müßten, oder daß der Reservefonds angegriffen
werden müßte.
Aber nächsten Tages, am Küche-backe-kerwe-Samstag, läßt der Bürgermeister
durch die Ortsschelle bekannt machen, daß der Herr Baron habe den fehlenden
Betrag der Kasse überwiesen, um die weniger bemittelten Mitglieder der Spar-
und Darlehnskasse vor Schaden zu bewahren. Da lassen die Bauern den Baron,
der ihnen auch den Bauplatz für ein neues Schulhaus geschenkt hat, hoch leben
und schmunzeln stillvergnügt. Im Winter aber schimpfen sie auf denselben Baron,
weil er ihnen nicht genug Wildschaden bezahlt.
Am Küche-backe-kerwe-Samstagnachmitiag geht der Karl mit einem Korb
voll Blumen auf den Friedhof, um das Grab seines Vaters für die Kirchweihe
zu schmücken. Es sind lauter blutrot blühende Geraniumstöcke, die er pflanzen will.
Es ist ein geschäftiges Leben im Dorfe. Die Bauern kommen früher vom
Felde heim als sonst. In der Graden Gasse werden die Verkaufsbuden auf¬
geschlagen. Da ist ein Hämmern und Schieben und Scharren. Neugierige Kinder
stehen dabei, um einstweilen schon irgendeine der Herrlichkeiten, die eben aus den
grvßwürfeligen Kisten ausgepackt und morgen in den Buden ausgebreitet liegen
werden, zu erspähen.
Das meiste Interesse hat aber doch das Karussell, oder, wie sie es nennen!
die Reitschul. In einer regelrecht viereckigen Seitenausbuchtung der Graden Gasse
wird sie errichtet. Dieser kleine rechteckige Platz heißt denn auch das Reitschuleck.
Wagen mit Balken, Brettern und Stangen stehen herum. In einem Wohnwagen
wird die Drehorgel probiert, die Drehorgel, die zur Kirchweihe so viel schmutzige
Gassenlieder aus der Stadt in das Dorf verschleppt und mit ihrem Geleier das
kleine stille liebe Volkslied vertreibt. Und so schrille es aus dem Wagen, und die
Knechte, die gerade beim Vieruhressen sind, summen mit:
„Ja das Studium der Weiber ist schwer, lalala!"
Und:
„Schenk mir doch so'n kleines bissel Liebe, Liebe, sei doch nicht so schlecht
zu mirl"
Karl beeilt sich, durch das Getriebe zu kommen. An der Gasse, die zum
Friedhof führt, wird es stiller. Das Eckhaus dort bewohnt der Bäcker Reges.
Es duftet nach Kuchen; die Weiber schleppen sie heim: Zwetschenkuchen, Apfel¬
kuchen, Zimtkuchen, Krümelkuchen, dicke Kuchen und den König der Kuchen, den
Bunt, in dessen Teig besonders viel Butter, viele Eier, viel Rosinen gemehrt werden.
Auf dem Friedhof macht der Bursche sich emsig an die Arbeit. Die Erde
des Grabes hat sich gesetzt, und es hat das Hügelmäßige verloren. Karl schürst
mit der Hacke, die er mitgebracht hat, den hellgelben Lehmboden tief auf, und
streut dann die schwarze Erde, die er aus der Klauer, dem sumpfigen Waldland in
der Nähe des Dorfes, geholt hat, darüber. Die Blumenstöcke wühlt er in den
Boden ein und drückt ihre Wurzeln fest an. Und wie das Werk getan ist,
springt er vom Boden auf, tritt ein wenig zurück und betrachtet, was er geschafft.
So, NUN sieht das schön aus, nicht mehr öde und trostlos wie vorher. Jetzt
ist des Vaters Grab kein Schandgrab mehr, kein Stiefkind mehr unter den anderen
Gräbern, die im Blumenschmucke liegen.
Eine so große Freude über die bescheidene Schönheit ist in dem Burschen.
Aber neben der Freude über die Schönheit eines Grabes blüht so rasch auf die
dunkle Blüte der Melancholie. Man möchte weinen, weil es so schön ist. Man
möchte dem Toten da unten rufen: Komm heraus, und sieh dein schönes GrabI
Dem Sohne des Selbstmörders steigt eine brennende Beize in die Augen.
Scheu schaut er sich um, ob ihn auch keiner beobachte in der Trauer um seinen
Vater. Aber in unmittelbarer Nähe haben die Gräber keinen Besuch und an den
weiter entfernten ist man emsig bei der Arbeit.
Karl bückt sich wieder, um noch allerlei zu ordnen, zerdrückt ein Erd-
schöllchen, liest ein Steinchen ab, richtet ein geknicktes Blatt auf. Es ist ihm,
als könne er sich von der Herrlichkeit, die er da geschaffen, gar nicht mehr trennen.
Doch je länger er bleibt, um so größer wird die Sehnsucht nach seinem
Vater, die ihn noch nie so heftig gepackt hat wie gerade heut. Er faltet die Hände
und reckt sie abwärts nach dem Boden, sein Kopf aber bückt sich nach hinten,
damit die Augen den blauen Himmel sehen. Man weiß den Toten da unten
liegen in dem engen Grab, aber trotzdem sucht man ihn in der Unendlichkeit.
Wenn man an den Tod und die Toten denkt, dann wittert die Seele Ewigkeits¬
rauschen und Gottesnähe. Sie wird klein und demütig, sie streckt die Hand aus
nach Gott, wie Kinderhändchen nach des Vaters Mantel haschen, und das ist dann
der Drang zum Gebet und die Stunde des Gebets.
Karl macht das Kreuzzeichen und betet ein Vaterunser, und danach spricht
er in einer aus tiefster Seele schauernden Requiemszerknirschung die Bitte:
„Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm. Amen."
Und dann springen seine Gedanken zurück in die Schulzeit. Er erinnert sich
einer Legende, die ihnen der Pfarrer erzählte, aus der er jetzt weichen Trost für
seine Trauer schöpft.
War da ein reicher Mann, dessen Herz in großer Schwermut hing, weil sein
Vater gestorben war. Er konnte sich genug tun, für die Seelenruhe des toten
Sünders zu beten. So ging er denn auch einmal in ein großes Kloster, gab
dem Abte einen Beutel mit Geld und bat ihn, ein recht starkes Gebet für den
Verstorbenen zum Himmel zu senden. Da schickte der Abt den Mann in die
Klosterkirche und hieß ihn warten. Das tat der Mann und sah, wie der Chor
der Kirche sich mit Mönchen füllte. Zuletzt kam der Abt. Eine Weile war es
ganz still, bis auf einmal alle Mönche laut sprachen: Herr, gib ihm die ewige
Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm. Amen. Nach diesen Worten erhoben sie
sich von ihren Knien und verließen die Kirche wieder. Darüber geriet der Mann
in großes Erstaunen. Er ging noch einmal zu dem Abte und beklagte sich dar¬
über, daß man für das viele Geld nur so wenig gebetet habe. Der Abt gab ihm
keine Antwort, sondern befahl, daß jeder einzelne Mönch das kurze Gebet auf
einen Zettel schriebe. Als alle Zettel eingesammelt waren, band er sie zusammen,
legte das Gebund auf die eine Schale einer Wage und das Geld des Reichen auf
die andere, und siehe, das Gebund der Gebetszettel zog das Geld tief herab.
Damit beschied der reiche Mann sich und war getröstet.
Ein warmer Trost und ein inniges Gutsein kommt auch in Karl. Vom
Vater denkt er nun auch an die Mutter. Die ist schon lange tot und liegt in
einer der älteren Reihen. Er sucht das Grab auf und betet auch sür sie das
kurze kräftige Gebet. Zwischen dem Efeu, mit dem das ganze Grab bewachsen,
sind einige Halme Gras hervorgeschossen. Es war schon lange kein Karl und kein
Tante Seelchen dagewesen. Wie merkwürdig, daß man so wenig an seine Mutter
deutet Weil sie schon so lange tot ist und er sich ihrer kaum erinnern kann! Ob
er wohl weniger Leid hätte, wenn der Vater seine grausige Tat schon viel früher
begangen, zu einer Zeit etwa, wo seine Kinder noch nicht unterscheiden konnten
zwischen Gut und Böse?
Nein, es ist besser, nicht darüber nachzudenken. Was geschehen ist, ist geschehen
und nicht zu ändern. Herr, gib ihm die ewige Ruhe!
Karl geht auf dem Rückweg an dem großen Kruzifix vorbei, das in der Mitte
des Hauptweges steht. Auf dem hohen Sockel ist zu lesen, daß ein Herzoglich
Dalbergscher Jäger dieses Kreuz gestiftet. Ist ein feiner Meister gewesen, der
^uno Ovula jVtvLLI^XI daS Kruzifix gemeißelt halt Ein mächtiger Gottesleib
hängt da an den wuchtigen Balken. Grausamer Schmerz ist in die Züge des
Gesichts gegraben, in dem aber doch auch wieder die Verklärung des Sieges und
der göttlichen Gewißheit leuchtet.
Karl stellt sich unter dieses Kreuz, setzt die Kappe ab, schaut mit scheuen
Blicken hinauf. Aber man braucht keine Scheu zu haben. Wirklich nicht! Dieser
Gott ist barmherzig. Gelobt sei Jesus Christus!
Der Bursche geht nach Hause.
„Hast du alles schön in Ordnung gebracht?" fragt ihn Hannes Holtner.
'"
„Ja, s ist alles schön in der Reih jetzert, Unkel Hannes!
„Bist du jetzt auch zufriedener, ruhiger?"
„Ganz ruhig und zufrieden, Unkel Hannes!"
Karl möchte dem Unkel Hannes auch sagen, daß er so recht von Herzen
gebetet habe. Aber er folgert aus dem Charakter deS verschlossenen Mannes, es
müsse dem peinlich sein, davon, was man in tiefster Seele tut, sprechen zu hören,
zumal, wenn die Lippen noch warm von den Worten des Gebets.
So schweigt er und denkt, daß er mit dem Unkel Hannes später einmal über
das Beten sich unterhalten könne.
Zufrieden schläft er dem Kirchweihsonntag entgegen.
Wie er sich's vorgenommen, geht er an diesem Tage in das Hochamt, zum
erstenmal wieder seit dem Tode des Vaters. Er macht sich zeitig auf den Weg,
um sich einen Platz zu sichern. Es könnte schon sein, daß seine Kameraden boshaft
sind und ihm den Eintritt in die Bank verwehren.
Die Kirche ist noch leer, als er kommt. Auf der Seite, die dem Frauen¬
geschlecht angewiesen ist, knien ein paar alte Weiber, vorn im Chor einige Kinder,
denen der Glöckner gerade das Schwatzen verbietet. Er steckt die Nummern des
Amtes und der Lieder im Diözesangesangbuche, die dem heutigen Gottesdienste
bestimmt sind, auf die dazu an verschiedenen Stellen der Kirche angebrachten
Täfelchen.
Karl kniet sich in eine Bank, die mit dem unteren Ende wider einen Pfeiler
stößt; so hat er wenigstens nur einen Nachbarn.
Nach einer Weile füllen sich die Bänke.
Ohne großen Anstand kommen die jungen Kerle herein, knien sich, legen das
Gesangbuch auf das schmale Bankbrett und siegeln mit den Armen darüber.
Als sie Karl sehen, stoßen sie sich an und schminken die Köpfe. Was will
denn der da auf einmal wieder? Sie erheben sich von dem niederen Kniestuhl
der Bänke und setzen sich, strecken die Köpfe zusammen und tuscheln. Vielleicht
habe der nun wieder das Herz, zu kommen, weil seinem Vater seine Angelegen¬
heiten geregelt wären.
Bisweilen dringt ein Wort an Karls Ohr. Er gibt sich Mühe, nicht zu
hören, was da geschwatzt wird, aber es gelingt ihm schwer. Immer wieder ertappt
er sich dabei, daß er den Burschen doch Aufmerksamkeit schenkt. Er ist froh, als
der Glöckner endlich an der neben der Sakristeitür angebrachten Schelle zieht, das
Zeichen zum Beginne des Amtes.
Ein großes Geräusch geht durch das weite Gotteshaus, ein Scharren,
Rascheln und Rauschen. Man erhebt sich von den Sitzen und läßt sich auf die
Knie nieder.
Die Orgel fängt zu spielen an.
Der Pfarrer kommt aus der Sakristei und geht hinauf an den Altar. Vier
Meßdiener schreiten ihm voraus, die zwei vorderen die Hände vor der Brust
gefaltet. Von den anderen schwingt der eine leise das silberne Weihrauchfaß, der
andere trägt das Silberschiffchen, das die Weihrauchkörner enthält, zwischen den
ebenfalls gefalteten Händen. Der Priester hat in der linken Hand den mit dem
weißseidenen Velum verhüllten Kelch, die rechte liegt leicht darauf, damit die
darüber gedeckte goldene Opferschale, die Palme, nicht herunterfalle.
Am Altare teilt sich der Zug der Meßdiener; zweie knien sich auf die rechte,
zweie auf die linke Seite des Altares, während der Pfarrer in der Mitte die
Stufen hinaufgeht, den Kelch auf den Tisch niederstellt und dann das Tabernakel
ausschließt. Es ist sakramentalischer Sonntag, an dem der Segen mit dem Aller-
heiligsten gegeben wird.
Dem Burschen kommt es vor, als habe er das alles schon eine Ewigkeit
nicht mehr gesehen, so neu mutet es ihn an. Aufmerksam verfolgt er alle Vor¬
gänge am Altare.
Nachdem der Priester die gold- und edelsteinfunkelnde Monstranz dem
Tabernakel entnommen und sie auf die Platte des Altars gestellt, kommt er
gemessenen Schrittes, die priesterlichen Gewänder schleifen ihm würdevoll nach,
die Stufen wieder herunter, und zwei der Meßdiener treten an seine Seite. Der
eine zieht den Deckel des Weihrauchfasses in die Höhe und hält es dem Pfarrer
handlick entgegen; der andere öffnet das Schiffchen und legt das Löffelchen darin
handgerecht. Der Priester schöpft damit die goldgelben und weißen Harzkörner
auf die rotglühenden Holzkohlen.
Der duftende Rauch steigt empor. Die Sonnenstrahlen streuen die bunten
Farben der Glasgemälde auf den hohen gotischen Fenstern in das blaue Rauch-
gequirle.
Die Altarschellen rasseln. Der Pfarrer steigt wieder die Altarstufen hinauf,
umfaßt die Monstranz und hält sie dem Volke entgegen. Die Orgel stimmt an
und die Gläubigen singen:
Bei den Worten heilig, heilig, heilig macht der Priester mit der Monstranz
in Kreuzesform den Segen über die Gemeinde, und wieder rasseln die Altarschellen.
Da klopfen die Singenden auf die Brust.
Wir beten dich in Demut, mit Furcht und Zittern an.
Die kleine weiße Hostie in der Monstranz schwebt wie eine schimmernde
Taube.
Heilig, heilig, heilig, unaussprechlich heilig bist du, Jesus, ohne End im
hochheiligen SakramentI
Der Ministrant schwenkt heftiger und rascher das Weihrauchfaß. Dichte Duft¬
wolken quirlen zu den hohen Gewölben empor, kaum daß der Priester zu sehen
ist, und der sakramentale Gott ist verborgen wie Jehova in der zwischen den
Flügeln der Engel auf der Bundeslade hängenden Wolke.
Karl singt scheu mit, ganz scheu und mit halber Stimme. Es ist ihm, als
würden sie ihm das Singen verbieten, wenn er zu laut würde.
Nach dem Segen setzt die eigentliche feierliche Messe ein. An den Stufen
des Altars beginnt der Priester mit den Ministranten die Wechselgebete.
Introibo sa altare vel!
^6 venin ami laetiiicat zuventutem meam!
Und die Gläubigen singen:
Danach stimmt der Pfarrer den Jubclhymnus des Qloris in exoelsis Oeo an.
Und wieder der Gesang der Gemeinde.
Wie der Pfarrer, nur mehr mit der langen, schimmernden weißen Aide
bekleidet, die Kanzel ersteigt, kommt dem Karl Salzer plötzlich eine scharfe Röte
ins Gesicht; er wird unruhig. Am liebsten möchte er sich unter die Bänke verkriechen.
O, daß er nicht daran dachte, als es noch Zeit war, nicht in das Hochamt
zu gehen, dann wäre ihm diese Schande erspart gebliebenI
Es ist dem Burschen ganz plötzlich eingefallen, daß am Kirchweihsonntag die
Namen der während des Jahres gestorbenen Gemeindemitglieder verlesen werden,
weil für sie am zweiten Kirchweihtage ein feierliches Totenamt gehalten wird.
Seinen Vater, den Schmied Salzer, wird der Pfarrer Wohl nicht verlesen; der ist
kein Gestorbener, der ist ein Selbstmörder.
Als der Pfarrer hinter der Brüstung der Kanzel auftaucht, richtet der Bursche
sofort den Blick zu ihm auf; er möchte, daß der ihn bemerke. Wenn er will,
kann er dann in seinem flehentlichen Blicke eine Bitte lesen. Wenn er will. Aber
er wird nicht wollen. Starr stehen Karls Blicke.
Der Pfarrer schlägt ohne einen Blick auf seine Seelsorgekinder das schwarze
Verkündigungsbuch auf. Zuerst verliest er die bestellten Messen und sagt dann:
„Morgen früh um sieben Uhr findet ein feierliches Requiem für die während
des verflossenen Jahres im Herrn verstorbenen Gemeindeangehörigcn statt. Das
sind .. .!"
Er zählt die Namen auf, der Reihe nach, wie ihre Träger die Welt ver¬
lassen haben. Johannes Härtung ist der Zweitletzte gewesen; er starb einige Wochen
vor dem Schmied. Der Pfarrer aber läßt ihn den Letzten sein.
Den Namen des Schmieds nennt er nicht.
Es gibt eine Bewegung unter den Leuten. Sie strecken die Köpfe zusammen.
Die Burschen in Karls Nähe stoßen sich an und beobachten den Sohn des Selbst¬
mörders scharf, welchen Eindruck der Schimpf auf ihn mache.
Karl hält die Blicke noch ein kleines Weilchen auf den Pfarrer gerichtet, und
dann senkt er sie und erhebt sie nicht mehr. Er hört nicht mehr, was um ihn
vorgeht. Erst als es ein großes Scharren in der Kirche gibt, schaut er auf.
Der Pfarrer hat das Evangelium in deutscher Sprache verlesen und schließt
nun seine Predigt daran, während die Gläubigen sich setzen.
Auch.Karl tut daS, aber er kann dem Prediger keine Aufmerksamkeit schenken.
Seine Gedanken tosen durcheinander, und eine Sehnsucht nach Tante Seelchen
durchschüttelt ihn. Er ist froh, als der Gottesdienst beendet ist.
Ire, missA est!
In langen Schleifen und Schnörkeln voller Jubel gesungen vom Priester.
Gehet, die Messe ist gefeiertl
I)co Zratms!
Die Antwort der Ministranten und des Volkes in der gleichen Tonfolge.
Gott sei Dank!
Karl begleitet das Wechselgebet mit seinem Hohn. Für die empfangenen
Gnaden soll er danken, er aber dankt für daS Ende der erduldeten Qual.
Heftiger wird seine Sehnsucht nach der Tante, die leidmildernde, fromme
Worte zu sprechen weiß. Da fällt ihm die Mahnung ein, sich nicht verbittern zu
lassen; er sucht, sich der trüben Gedanken zu entschlagen. Nachdem er heim¬
gekommen, gelingt es ihm ein wenig beim Pferdefüttern. So merken sie ihm
beim Mittagessen nichts an. Er freut sich, das ihm das gelungen ist.
Nach Tisch liest er ein bißchen in der Wormser Zeitung, steht nach, wer von
den Spelzheimer Wirten ein Kirchweihinserat eingerückt habe, und was es sonst
noch Schönes in der Zeitung zu lesen gibt, bis Tante Male zum Kaffee ruft.
Während sie dabei sitzen, schallt es plötzlich von der Straße herein:
Taratatta dunda, uba, uba.. .
Kaum ist die Nachmittagsandacht beendet und der Kirchweihkaffee getrunken,
da schmettern schon die Trompeten, die große Trommel radaut und die kleine
wirbelt. Wenn sie das hören in den Stuben, springen sie von den Tischen auf
und eilen an die Fenster. In die Herzen und in die Beine der Bauernmädchen
kommt die zappelnde Tanzungeduld. Sie wiegen sich nach dem Takte der auf
der Straße vorbeiziehenden Musik der „Kerweburschen". Jeder Wirt, bei dem
Tanzmusik stattfindet, hat einen „Kerwebursch" oder deren auch gleich zwei, drei.
Sie tragen den geschmückten „Kerwebaum" und den „Kerwekrcmz" unter den
Klängen der Musik durchs Dorf und stecken zuletzt beide auf den eisernen Arm,
der eigens dazu am Wirtshaus angebracht ist.
Karl bleibt mit den Geschwistern Holtner am Kaffeetische sitzen, als der Zug
der Kerweburschen vorbeijodelt. Aber er zuckt zusammen bei den dumpf prallenden
Schlägen auf das Fell der großen Trommel; heute soll er ausgehen, zum ersten
Male die Wirtschaft besuchen nach so langer Zeit. Und das nach dem Schimpf,
der heute morgen seinem Vater und somit auch ihm widerfahren ist. Wie werden
sich die Kameraden zu ihm stellen?
Da sagt der Unkel Hannes:
„Hörst du's, Karl, das sind siel Allo, mach, daß du fertig wirst mit deiner
Kaffeebrüh und nauskommst zu den jungen LeutI"
Aber Karl, der ein Grauen in sich spürt, wenn er daran denkt, daß man
ihn um des Vaters verspotten und höhnen könnte, möchte nun doch lieber daheim
bleiben und antwortet ausweichend:
„Unkel Haares, heut auf den ersten Kerwetag gehen doch die besseren Leut
net aus!"
Allein Hannes Holtner merkt wohl, was sich hinter diesen Worten verbirgt.
„Ist das deine ganze Courage? Wenn aber nachher auf dem Kirchhof wieder
was durcheinander ist, hältst du mir auch fein dein Maul. Laere vieu noch mal,
Kerl, wie kommst du mir denn vor? Ist dir deine Hitz ganz verflogen?"
„Unkel Hannes, Ihr wißt net, was mir das ein Greuel ist, mich mit den
dummen Buben herumzudisputieren. Die lachen ja doch nur, wenn ich ihnen
alles so auseinandersetz wie Euch und dem Herrn Pfarrerl"
„Du sollst denen ja auch garnix auseinandersetzen!" erwidert Hannes Holtner,
„das weiß ich auch, daß die Rindvieher das net begreifen. Achtung sollst du
geben, ob net der eine oder der andere sich verrät. Auf Kerb wird viel Wein
gesoffen, das macht die Zungen locker!"
Hannes Holtner greift in die Tasche und holt die Börse heraus. Es ist noch
eine altmodische Strippbörse. Er Strippe die Ringe zurück und schüttelt das Geld
vor den Schlitz. Gold, Silber, Nickel und Kupfer blinkt. Er fingert ein Zehn¬
markstück auf und gibt es seinem Schützling:
„Da! Wenn's all ist, gibt's neues. Nix sparen auf Kerb! Die sollen sehen,
daß sich des Holtners Ackersbursch net lumpen läßt!"
Der Karl Salzer betrachtet das Goldstück mit großen Augen und sagt:
„... All ist .. .? Da bleibt noch übrig davon! So viel Kerwegeld hab ich
ja meiner Lebtag noch net gehabt!"
Noch ehe der Unkel Hannes etwas erwidern kann, greift auch Vinzenz
Holtner in die Tasche und holt sein Portemonnaie hervor, wühlt darin herum
und entnimmt ihm ein Zehnmarkstück:
„Da, Karl, ist auch von mir ein bißjen was. Da hat der Hannes recht:
Nur net lumpen lassen auf die Kerb. Mußt den andern bezahlen, bringst sie
auf deine Seit. Könnt ihr den Kerl, der das Kreuz immer verdirbt, gehörig verhetzen!"
Da rinnt in alle Runzeln, die Male Holtner im Gesichte hat, ein gütiges
Lachen, und sie sagt:
„Nein, auf Kerb darf man sich net lumpen lassen. Ich auch net!"
Sie greift in die Tasche des Rockes. Es klimpert darin. Male hat kein
Portemonnaie und keine Börse; sie trägt das Geld lose in der Tasche. Indem
sie den Rock nach hinten spannt, krabscht sie es zusammen und streicht es auf der
flachen Hand auseinander:
„So reich wie unsere zwei Herrn bin ich jo net, Karl, aber für 5 Mark
langt's doch noch! Da!"
Karl ist sprachlos. Er guckt die Dreie der Reihe nach an. Die Lippen
stehen ihm leise auseinander. Nach einer Weile aber sagt er:
,Meroö auch, mereS auch! Aber ich weiß wirklich net, wie ich das alles
ausgeben soll!"
„Na, geh nur matt" meint Harnes Holtner, „das wird sich schon finden!
So ein paar Flaschen Wein reißen ins Geld. Brauchst keinen Rachenputzer zu
trinken, das ist net nötig. Jetzert allo, zieh dein Säckchen an und mach dich
fertig!"
Karl fährt in seinen Rock, wischt den Mund ab, an dem noch einige Kuchen¬
krümchen hängen, setzt den Hut auf und geht:
„Na, dann adscheh beisammen!" Sieben Uhr komm ich heim und futter
die Gaul!"
„Das ist net notwendig!" entgegnet Hannes Holtner. „Amesier du dich nur!
Ich mach die Gaul heut selber! Laß dir von der Tante Male den Torschlüssel
geben, kannst du heimkommen, wann du willst. Allo, Male, geb dem Bub den
Torschlüssel!" (Fortsetzung folgt)
Wir entnehmen diesen Aufsatz dem soeben erschienenen umfangreichen
Werk Chamberlains über Goethe. (Verlag von F. Bruckmann A-G
Die Schriftltg.
l velde ist, glaube ich, der weiseste Mensch, von dem wir Kunde
besitzen; jedenfalls bildet der Besitz wahrer Weisheit ein hervor¬
ragendes Kennzeichen dieses Mannes unter anderen bedeutendsten
Männern. Er ist nicht Religionsstifter, nicht Verkünder einer
philosophischen Doktrin, nicht stupender Gelehrter, noch träumt
er von sozialpolitischer Allbeglückung; vielmehr steht er zu allen derartigen
Geistesrichtungen in einem Widerspruch, der ihn solchen Männern gegenüber
leicht in die Stimmung des Widersachers treibt. Seine Unfähigkeit, einer jener
Kategorien anzugehören, ermöglicht es ihm, vollendete Weisheit zu erlangen;
denn jede übermäßige Leistung setzt Einseitigkeit voraus, und diese schränkt das
Urteil ein, das eigentliche Werkzeug der Weisheit; und was den göttlichen Wahn
betrifft, so mögen wir ihn in seinen verschiedenen Äußerungen noch so hoch
stellen, ihn mit Plato als Schöpferkraft besingen, ihn mit Carlyle als Erzeuger
des Heroischen preisen, sicher ist, daß mit dem Worte Weisheit eine feste Grenze
gegen das Wahnvolle gezogen wird. Weisheit besitzt nach Goethe jener Geist,
der „die Zustände mit Freiheit und Klugheit überschaut"; sie ist also zugleich
kühn und selbstbeherrscht. Ein Mann, der an den praktischen Aufgaben, die
das Leben ihm stellt, allen Hindernissen und Bitternissen zum Trotze freudevoll
sein eigenes Können und Sein auferbaut, kann nie mit einem Buddha oder
einem Schopenhauer die Verneinung des Willens zum Leben als Weisheit ver¬
künden; vielmehr lautet sein erstes Bekenntnis: „Gedenke zu lebenl" und er
macht uns auf die „Wichtigkeit" jedes noch so gering und flüchtig erscheinenden
Lebensgenusses aufmerksam (S. 448). Aller Überspannung der ethisch-religiösen
Ansprüche gegenüber ruft Goethe aus: „Wie süß ist es, mit einem richtigen,
verständigen, klugen Menschen umgehen, der weiß, wie es auf der Welt aus¬
sieht und was er will, und der, um dieses Lebens anmutig zu genießen, keine
superlunarische Aufschwünge nötig hat, sondern in dem reinen Kreise sittlicher
und sinnlicher Reize lebt." So kräftig bejahend weiß er den Wahn zu bändigen!
Mehr Verbindungsstege scheinen zum Philosophen und zum Gelehrten hinüber¬
zuführen, doch handelt es sich immer nur um ein bedingtes Nehmen und Geben,
begleitet von Abneigung gegen die besondere Gemütsart, die aus der aus¬
schließlichen Hingabe an das Denken oder an das Wissen zu entspringen pflegt.
Zu einer Philosophie, welche die letzten Geheimnisse des Daseins aufzudecken
unternimmt, fehlt dem wahrhaft Weisen der Glaube an die hinreichende Be¬
fähigung des Menschengeistes; schon in jungen Jahren, nach verschiedenen Irr-
Wanderungen, hatte er „eingesehen, daß es besser sei, den Gedanken von dem
Ungeheuren, Unfaßlichen abzuwenden"; gern nennt er sich einen „Menschen¬
verständler" und verlangt das spekulative „gleich fürs Haus brauchen zu
können". Zum Gelehrten ist die Leidenschaft zu feurig, der Genius unfähig,
auf den Gebrauch seiner Flügel zu verzichten; außerdem lehrt ihn seine Er¬
fahrung, nicht die Pfaffen allein zögen den Obskurantismus groß, vielmehr läge
es in der Tendenz aller Gelehrten, „barbarische Obskuranten" zu werden. Bei
der Wissenschaft der Natur schreckt ihn der plumpe Realismus unserer Forscher
ab; seine auferbauende Phantasie zersprengt „die Sklavenfessel der — doch nur
von Menschen aufoktroyierten — Wirklichkeit"; an Forschern hat er bemerkt,
wie gar leicht man dazu gelangt, „zuletzt für lauter Wissenschaft gar nichts zu
sehen;" ist doch „eine Wissenschaft, wie jede menschliche Anstalt und Einrichtung,
eine ungeheure Contignation*) von Wahren und Falschen, von Freiwilligen
und notwendigen, von Gesunden und Krankhaften". Dieselbe Neigung zur
Ablehnung bemerken wir auf sozialem Gebiet: die hochfliegenden Weltverbesserungs¬
pläne Samt Simons und anderer nennt er kurzweg „allgemeine Unverschämt¬
heiten", und über das noch heute so gepriesene Humanitätsideal seines Freundes
Herder spottet er: „Die Welt wird Ein großes Hospital und Einer des Anderen
humaner Krankenwärter werden." Was die Politik im allgemeinen betrifft, so
weist er sie möglichst von sich ab und bekennt: „Ich mag mich sehr gern
regieren und besteuern lassen, wenn man mir nur an der Öffnung meines
Fasses die Sonne läßt," und: „Wenn nur Ordnung gehalten wird, so ist es
ganz einerlei, durch welche Mittel." Auch hier haben wir also seine Weisheit
nicht in theoretischen Doktrinen, in umgestaltenden Regenerationsgedanken und
dergleichen zu suchen, noch weniger in dem üblichen Rausch über die herrliche
Beschaffenheit unserer Gegenwart und die goldenen Verheißungen der Zukunft;
vielmehr kündet er von dieser voraus, ihre gerühmten Vorzüge — „die Fazili-
täten der Kommunikation", die Ausbreitung von Bildung und Überbildung,
die Machtentfaltung der Presse usw. — würden nur ein „Verharren in der
Mittelmäßigkeit" zur Folge haben, ja, in manchen Stunden glaubte er schon
„die Wogen und Brandungen der zu befürchtenden Barbarei" zu vernehmen.
Von Goethes Weisheit können wir demnach vorausschicken, sie sei weder
historisch noch prophetisch, weder visionär noch schematisch; sie fußt im Erlebnis
und lehnt jegliches Dogma ab. Im Gegensatz zu allen Schimären lautet ihre
Hauptmaxime: „Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst;" was aber nicht
materiell utilitaristisch, vielmehr im Sinne eines „ideellen Utilitariers" gemeint
ist. Wie es an jener Stelle weiter heißt: „Wenn wir nach innen das Unsrige
getan haben, so wird sich das Nachaußen von selbst geben." Die Grund¬
annahme dieser Weisheit steht uns hiermit schon deutlich vor Augen: die
Gegenwart enthalte das Mögliche. Ein jeder besitzt die Gegenwart; an ihm
nur liegt es:
Und jeder Schritt ist Uncrmeszlichkeit.
Alle Sehnsucht nach früheren oder späteren Zeiten ist Torheit, Vergangenes und
Künftiges, beides
Schließt an heute sich rein, an ein Vollendetes, an.
Wissenschaftlich wird die ursächliche Erklärung dessen, was ist, aus dem, was
war, abgewiesen, weil sie alles tiefere Erschauen des Gegenwärtigen und dadurch
zugleich alle wahre Erkenntnis des Ewigen vernichtet; mythisch-religiös kann
der Gott-Schöpfer, der „nur von außen stieße", nicht zugestanden werden, und
der Glaube ist zwar „ein heiliges Gefäß", nicht aber für ein überkommenes
Bekenntnis, vielmehr ein Gefäß, in welches jede Gegenwart und jeder Gegen¬
wärtige eigenes Gefühl, eigenen Verstand, eigene Einbildungskraft zu opfern
hat. Es ist genau der gleiche Grundton wie in dem evangelischen Worte von
dem Himmelreich, das in dem Acte/zu unseren Füßen begraben liegt: Jeder
kann ihn heben, heute ebenso wie gestern und morgen. „Es ist immer dieselbe
Welt, die der Betrachtung offen steht, die immerfort angeschaut oder geahnet
wird, und es sind immer dieselben Menschen, die im Wahren oder Falschen
leben ..." Und sind wir nur weise, und verhindern es nicht, daß „Leben sich
des Lebens freue":
Daher die Goethen eigene Art von milder Ironie, welche in derselben Weise
über religiösen wie über wissenschaftlichen, ästhetischen und politisch-sozialen
Wahn lächelt, keinen von allen jedoch unbeachtet und ungenutzt von sich abweist.
„Schauen, wissen, ahnen, glauben und wie die Fühlhörner alle heißen, mit
denen der Mensch ins Universum tastet, müssen denn doch eigentlich zusammen¬
wirken ..." Dies ist zugleich Realismus und Mystik: nur ist es der Realismus
eines die Wirklichkeit schöpferisch frei gestaltenden Geistes, und es ist die Mystik
des offenen, nicht diejenige des geschlossenen Auges; außerdem steht beides im
Dienste eines durch und durch praktisch tätigen Genieinsinns.
Die jungen Schweizer. Als die Schweizer
Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zum
erstenmal als solche auf der Bildfläche der
deutschen Dichtung erschienen, da meinten die
Leipziger Literaturpäpste, ein Schweizer könne
überhaupt kein großer deutscher Dichter werden,
weil ihm die Reinheit der Sprache abginge.
Der bescheidene Albrecht Haller hat sich diese
Meinung gar sehr zu Herzen genommen.
Tntsächlich weisen sowohl der Politische wie
der kulturelle Nisus des deutschen Strebens
bis zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts
nach Norden. Die siebenziger Jahre haben
ja — unter anderen Räuschen — auch einen
kulturellen Einheitsrausch entfesselt, und es
schien fast, als würde die Politisch so segens¬
reiche Zentralisation die blühende Mannig¬
faltigkeit, die üppige Landschaftlichkeit deutscher
Dichtung mit einem einheitlichen Reichsgrau
verheerend übertünchen. Die zwei Klassiker,
die die Schweiz entsandt, Gottfried Keller
und C. F. Meyer, stehen im Zeichen dieser
Zeit. Nicht als wären sie weniger schweizerisch
gesinnt als irgendeiner der heutigen, aber
ihre Werke waren sprachlich doch mehr von
Weimar als von Zürich bedingt, nicht stoff¬
lich, nicht in ihren Anschauungen und Ten¬
denzen, worin sie jegliche Nahrung von der
Heimat zogen, sondern nur sprachlich. Das
Alemannische spielt bei beiden eine unter¬
geordnete Rolle und sie beweisen ungefähr
die UnHaltbarkeit des Leipziger Richtspruches,
sie beweisen, daß auch ein Schweizer die
Fülle und Reinheit erreichen kann, die den
großen deutschen Dichter kennzeichnet. Je
mehr das neunzehnte Jahrhundert zur Neige
ging, desto stärker trat die Liebe zur land¬
schaftlichen Mannigfaltigkeit zutage, desto lauter
erscholl der Ruf, die Sehnsucht nach stammes¬
mäßiger Ursprünglichkeit: der Heimatschutz, der
kulturelle Partikularismus. JeremiasGott-
helf, der bis dahin fast nur von örtlicher
Bedeutung war, wurde entdeckt und Fritz
Reuter an die Seite gestellt. Doch konnte
Gotthelf niemals deutsches Gemeingut werden,
denn er blieb — gerade in den Perlen seiner
Leistung — durchaus im Dialekt stecken. Der
erste, der aus seinem alemannischen Sprach¬
gefühl heraus eine gemeindeutsche Dichter¬
sprache schuf, der die ungeschliffenen Edelsteine,
die wie Kiesel zahlreich im Flußbett des
Dialektes liegen, zum Strahlen bringen konnte,
War Karl Spitteler, der Schöpfer des
„Olympischen Frühlings", des einzigen großen,
modernen Epos, das unsere Literatur seit
„Hermann und Dorothea" aufzuweisen chat.
Dies hier, am Eingang der Betrachtungen
über schweizerische Literatur festzustellen, sei
mir als eine Huldigung an SpittelerS Adresse
erlaubt, um so mehr, da die besten der Mo¬
derne in der Schweiz eben in der sprachlichen
Handhabung seine Schuldner sind und da ich
bei den Neuerscheinungen zufällig keine Gelegen¬
heit habe SpittelerS zu gedenken. Ihn unter¬
scheidet von Keller und Meyer, daß er nicht,
wie jene, ein deutscher Klassiker geworden,
obwohl er ein Schweizer ist, sondern zum Teil
weil er das ist. Spitteler schrieb zu allererst
aus dem Geiste der alemannischen Sprache jenes
berg- und heuduftige Deutsch, das aus der land¬
schaftlich bedingten Mundart hervorgehend,
kraft seiner zwingenden Bildlichkeit jedem
Deutschen sofort verständlich, wie ein frisches
Blut einen alternden Körper belebt hat.
Die Schweizer sind heute Mode geworden,
dessen kann uns jeder Verlagskatalog über¬
zeugen, und man hat allen Grund, sich dieser
Mode herzlich zu freuen, denn sie bedeutet eine
unversiegbare Quelle reinsten, klarsten Deutsch¬
tums, eine gesunde, vornehme Tradition be¬
deutet sie, deren wir in unserer Zeit all¬
gemeiner Ratlosigkeit wie der Blinde des
Stabs bedürfen. Allein mit der Freude ist es
nicht getan: eben weil die Schweizer Mode
sind — wir wollen den etwaigen verwerf¬
lichen Beigeschmack des Wortes Mode un¬
betont lassen — ist es geboten, den Strom,
der von den Alpen her befruchtend sich über
die deutschen Lande ergießt, beizeiten auf seinen
Gehalt zu prüfen. Er ist kräftig und reich
genug, so daß bei noch so dichter Schleuse nur
Veiwässer und Geröll aufgehalten werden,
während alle Fluten, die nichts UnaufgelösteS
mit sich führen, ungehindert ihren Weg finden
sollen. Dies ist wenigstens das Ziel, das
wir uns gesteckt, indem wir uns vorgenommen,
unter dem obigen Titel die moderne schwei¬
zerische Literatur von Zeit zu Zeit einer ein¬
heitlichen Betrachtung zu unterziehen, wobei
der Tatsache, daß die innere Entwicklung der
Schweiz über die sprachliche Dreiteilung hinaus
einem einheitlichen, starken Nationalsinn ent¬
gegenstrebt, dadurch Rechnung getragen werden
soll, daß wir den hervorragendsten Leistungen
der romanischen Schweiz unsere Aufmerk¬
samkeit nicht versagen.
Alfred Huggenberger s), d es „ Bauern¬
dichters", Ruhm ist laut durch die Zeit¬
schriften und Zeitungen gegangen. Wie schön,
daß die Fährte ausnahmsweise richtig, daß
der Lärm nicht ein blinder gewesen. In ihm
ist der deutschen Dichtung wahrhaftig ein
Großer erstanden und eben darum ist es fast
komisch, daß die Kritik der Nebensächlichkeit
seines Bauerntums eine so übertriebene Wich¬
tigkeit beimißt. Der Bauer wurde mit all
der Rührung, die Naivität, Natureinfalt, Frei¬
heit von jeder literarischen Erbbelastung dem
Städter einflößt, in den Vordergrund gestellt.
Dem kann nicht zeitig genug widersprochen
werden: Huggenberger ist ein großer Dichter,
der des Anziehungsmittels eines Kuriosums
einfach nicht bedarf. Dann aber ist diese
ganze Rührung auch falsch und beruht auf
der Unkenntnis des Landes und der Sitten,
wie ja tatsächlich die vielbereiste Schweiz zu
den am wenigsten bekannten Ländern in
Europa gehört. Ich meine natürlich die
schweizerische Schweiz, nicht die Hotelschweiz.
Nun ist Huggenberger Wohl ein waschechter
Bauer, aber weder naiv, noch ohne literarische
Erbschaft, sondern im Gegenteil von äußerst
verfeinerter, komplizierter Gemütsart und
durchaus belesen. DaS ist weiter gar nicht
verwunderlich. Wer die hohe Stufe deutsch¬
schweizerischer Volksbildung kennt, wem eS
bekannt, daß es hier durchaus nicht zu den
Seltenheiten gehört, daß junge Leute vom
Lande nach Absolvierung des halben oder
auch des ganzen Gymnasiums auf den
väterlichen Hof zurückkehren und Weiterbauern,
einfach aus freier Berufswahl so gut wie aus
angestammter Schollenliebe, den wird es
wenig überraschen, daß der Bauer an den
Kulturgütern der Nation und der Menschheit
nicht weniger teilnimmt als der Kaufmann
oder der Arzt auf dem Lande, eher mehr.
Ein solcher Bauer und G ebirg Sh um arise ist
Alfred Huggenberger, und seine Lyrik —
gemäß den, starken Traditionsbewußtsein des
Bauern — steht durchaus auf der gesicherten
Grundlage guter Überlieferung. Das Volks¬
lied, wie es aus Goethes formender Hand
hervorging, Schiller, Heine und Conrcid
F. Meyer sind die erkennbaren Nährsalze
seines Poetischen Humus.
„Sei mir gegrüßt du frischer Morgen,
Der mir der Arbeit Segen bringtI"
oder:
„Ich grüße dich, du klarer Morgen,
Der mir der Scholle Frieden beut",
wird Wohl jeden an Schiller mahnen; das
schöne Lied „Hochzeit" hat den kraftvollen
Balladenaufbau Meyers, das süße Wiegen¬
liedchen „Tine, eine, Wickelkind" oder „Heim¬
fahrt" sind in der Art, das Volkslied zu ver¬
arbeiten, ganz Goethe angeschlossen. Nichts¬
destoweniger ist Huggenberger ein Lyriker von
stärkster Eigenart und tiefster Innerlichkeit,
was niemals sagen will, daß er keine Meister
gehabt hätte. Seine Sprache, sein Rhythmus
erklingt in einer zarten Selbstverständlichkeit,
himmelweit entfernt von jeglicher gesuchten
Einfachheit des Stils. Seine Gefühlswelt
ist uns längst geläufig, nur daß sie sich so
Wesenseins mit den Pflichten, Schmerzen und
Freuden bäuerlicher Alltagsereignisse gibt, daß
sie so erdenfest verwachsen mit dem Allzu¬
menschlichen gerade dieser Lebensart erscheint,'
erklärt die Neuheit des Zaubers, die be¬
glückende Greifbarkeit seines Wortes. Mit
seinem Pferd, dem Stier, dein Kälblcin, dem
unfruchtbaren Baum und seiner Mähmaschine
kann sich Huggenberger in seltenem Maße
einen: er fühlt ihr Sein, spricht ihre Sprache
und wandelt gesenkten Hauptes als Mensch
und schicksalsnotwendige Gewalt über diese
Welt hin, und sein einziger Borten über seine
Leidensgenossen, daß er sich seiner Tragik
bewußt ist. Der herrschende Gefühlskreis
Spittelers klingt in seinein Humor häufig an,
der eben in der poetischen Erfassung der Not¬
wendigkeit besteht. Das hindert die Kritik
nicht, ihn „naiv" zu finden, er ist ja ein
Bauer! Ein Schweizer Bauer I Natürlich
muß er „naiv" sein, es steht doch im „Fremden¬
führer", und wenn er die Gebrochenheit des
Weltenschicksals in leicht lächelnden: Rhythmus
besiegt, — die Kritik fand ihn naiv.
Huggenberger verflicht seine Verse gerne
in seine Novellen"), und mich dünkt, er hat
guten Grund, das'zu tun. Seine Gedichte
und Erzählungen stehen sich recht nahe. „Daniel
Pfund", „Der Hofbauer" und andere lesen
sich wie die Prosaische Ausbreitung der Ge¬
dichte „Die Waise" oder „Froschballade". Ein
Bursch, ein Mädchen, ein Bauer, das Kälb¬
lein und der unfruchtbare Baum, sie alle
können bei Huggenberger zuweilen ihr ganzes
Leben mit dem ganzen bisherigen Inhalt in
einen? einzigen Seufzer, einem kleinen Gedicht
entbinden, von sich geben, sich dessen entledigen.
Die Novelle Huggenbergers steigt dann den
Rain zurück, wächst sozusagen von der Frucht
zur Knospe zurück.
„Daniel Pfund kam mit zwölf Jahren
als Dienstknabe nach dem Dörfchen Kalkacker,
oberhalb Reichenberg. Im vierundfünfzigsten
starb er daselbst als lediger Güterknecht."
Wie alles so absonderlich sich zutrug, trotz der
Atome Merck und der Nani Spinner, das
vermag eben nur die ganze, treffliche Er¬
zählung „Daniel Pfund" begreiflich zu machen.
Auch C. F. Meyer liebt eS („Gustav
Adolfs Page"), das Ergebnis der Handlung
voranzustellen und so das Werden rückgreifend
zu entwickeln. Das sind natürlich Handgriffe
der Erzählungskunst, die das echte, seiner
Selbständigkeit bewußte Talent stets ruhig
der guten Tradition entnehmen wird. Die
Furcht davor ist ein Schwächezeichen. Huggen¬
berger aber ist gesund wie eine junge Eiche.
Wenn wir aus historischen Werken große
Zeiten oder interessante Persönlichkeiten uns
verlebendigen, so werden wir bald das Ver¬
langen empfinden, über das Urteil der Histo¬
riker hinaus uns selbst ein Bild von den
Triebfedern der Zeit, von den handelnden
Personen und ihren Motiven, von ihren Per¬
sönlichen Kämpfen und Leiden zu bilden, wie
es am besten in ihren eigenen Schriften, in
Ansprüchen und vertrauten Briefen uns ent¬
gegentritt. Doch ist es nicht immer leicht, an
die Quellen zu gelangen. Sind sie doch zu
oft in vielen dickleibigen und seltenen Büchern
berstreut, deren Beschaffung mit bieten Um¬
ständen und großem Zeit- und Geldaufwand
verknüpft ist. Da kommen uns zwei Unter¬
nehmungen entgegen, die die nötige Auswahl
und Beschränkung vorgenommen und alles
Wissenswerte in einem oder zwei Bänden
oder Bündchen vereinigt haben. Ich nenne
an erster Stelle die „Deutschen Charakter¬
köpfe, Denkmäler deutscher Persönlichkeiten
aus ihren Schriften", herausgegeben im Ver¬
lage von B, G. Teubner in Leipzig von
Wilhelm Capelle. Die Ausstattung ist eine
würdige, wie sie einem solchen für unsere
nationale Kultur wertvollen Unternehmen ge¬
ziemt, das in ganz besonderer Weise zur Er¬
weckung wahrhaft vaterländischen Sinnes und
zur Vertiefung historischer Bildung beitragen
kann. Die Bände (zu je 2 M, in Leinen
gebunden) enthalten eingehende Einleitungen
von hervorragenden Kennern der Zeiten und
Persönlichkeiten, eine durchweg vorzüglich ge¬
troffene Auswahl aus Briefen und Schriften
und, um das Bild der Zeit vollständig zu
machen, eine Anzahl Abbildungen nach gleich¬
zeitigen Vorlagen, Die Wiederkehr der großen
Gedenktage von 1813 läßt uns zuerst nach
dem Bande „Gneisenau" greifen, dessen Briefe
und Denkschriften W, Ccipelle herausgegeben
hat, und in denen die Zeit der Not und
Trübsal, wie der endgültigen Befreiung wieder
vor uns aufsteht, gezeichnet von einem der
Edelsten, der nie selbständig eine eigene Armee
führen durfte und doch als wahrer Besieger
des Korsen erscheint. Das Bild eines echten
Patrioten und aufrechten Mannes gewinnen
wir aus der Autobiographie Nettelbecks, die
Max Schmitt-Hartlieb nach der Hakenschen
Ausgabe besorgt hat. Mit feinem Takt hat
I, Wille eine Auswahl der köstlichen Briefe
der Elisabeth Charlotte, Herzogin von Orleans,
gegeben; Markus Zucker läßt Albrecht Dürer
und seine Zeit in Dürers Briefen vor uns
aufleben; Heinrich Pestalozzi, der liebenswerte,
wird uns von Hermann Walsemann in einer
Auswahl von Briefen und kleinen Schriften
vorgeführt; in den Reigen der Frauen um
Goethe führt uns Gertrud Büumer in den
Briefen von „Goethes Freundinnen", die
einen stattlichen Doppelband (zu 3 M,) füllen;
und den großen Staatsmann und Freund
Goethes und Schillers, „Wilhelm von Hum¬
boldt" läßt uns in seinen Briefen Karl Sell
näher treten. Wenn sich auch die Sammlung
an alle Kreise unseres Volkes wendet, so ist
sie besonders ein Schatz der heranwachsenden
Jugend, die wir durch sie über seichte Lektüre
hinweg an die Gründe unserer nationalen
Kultur führen können, — Ein ähnliches Unter¬
nehmen bringt N, Voigtländers Verlag in
Leipzig in seinen „Qucllcnvnchern", die in
kleinerem Format und zu wechselndem Preis
(kartonniert, je nach Umfang 60 Pf. bis 1 M,)
erscheinen und schon eine stattliche Reihe von
Nummern ausweisen. Doch ziehen sie ihre
Kreise weiter, und neben hervorragenden
deutschen Persönlichkeiten (wie „Blücher" in
seinen Briefen) bringen sie kulturhistorische
und fachwissenschaftliche Monographien („Die
ersten deutschen Eisenbahnen", Rob, Mayer,
„Erhaltung der Kraft"), Kriegsschilderungen
von Augenzeugen (Guericke, „Belagerung
Magdeburgs", 1864, 1866, Kämpfe mit Wit-
boi usw,) und über Deutschland hinaus her¬
vorragende Vertreter der Wissenschaft (wie
Celsus, „Über Grundfragen der Medizin",
Mela, „Geographie des Erdkreises"), Sie
dienen gleichermaßen gediegener Unterhaltung
wie der Vertiefung des Studiums, und da
sie in rascher Folge fortgesetzt werden, dürfte
jeder etwas für sich Geeignetes darin finde».
Ihr billiger Preis wird sie namentlich in
Schüler- und Studentenkreisen schnell ein¬
Hermann Lingg. Eine Lebensgeschichte
von Frieda Port. C. H. Becksche Verlags¬
buchhandlung, München 1912, Frieda Port
hat Hermann Lingg und seinem Hause viele
Jahre hindurch nahe gestanden und auch das
Werden Linggscher Werke teilnehmend be¬
gleiten dürfen. Aus herzlicher Liebe und
mannigfacher Kenntnis heraus schildert sie
hier das Leben des Dichters. Es wird vor
diesem Buch manchen geben, der erstaunt die
tiefe Problematik erkennt, die Lingg durch¬
kämpfen mußte, bis er menschlich zur Ruhe
und dichterisch zum großen Kunstwerk kam;
und es wird auf den viel verkannten Teil¬
nehmer des viel verkannten Münchener Dichter¬
kreises mehr als ein neues Licht aus dieser
niemals übertreibender und sicherlich getreuen
Schilderung fallen. Insbesondere die Dar¬
stellung von Linggs Jahren als Militärarzt,
von dem fürchterlichen Eindruck der Ereignisse
des Jahres 1848 eröffnet eine weite Aussicht,
die uns den Meister der geschichtlichen Lyrik
und den Verfasser der „Völkerwanderung"
besser begreifen lehrt. Ein literarhistorisch
irgendwie abschließendes Urteil hat Frieda
Port in dem an dichterischen Empfindungen
reichen Buche nicht geben wollen, sie hat aber
auch dem künftigen ästhetischen Darsteller
Linggs außerordentlich reichen Stoff in feiner
Darlegung geboten. Hoffentlich erleben wir
nun auch einen Neudruck der völlig ver¬
griffenen „Völkerwanderung".
Lenaus Werke. Herausgegeben von Carl
Schaeffer. (Meyers Klassikerausgaben.) Zwei
Bände. Leipzig und Wien, Bibliographisches
Institut.
Das wilde, ungezügelte und unruhvolle
slawische Temperament Nikolaus Lenaus und
sein weiches, gemütreiches deutsches Wesen,
dem wiederum eine starke Dosis slawischer
Schwermut beigemischt war — diese wunder¬
liche Mischung hat seltsam gestaltete, herrlich
duftende Poetische Blüten hervorgebracht, die
ihrem Dichter den Ruhm des größten öster¬
reichischen Lyrikers eingetragen haben. Seine
Werke werden stets im deutschen Volke, in
dessen Herz er sich tief und dauernd hinein¬
gesungen hat, ein großes und dankbares
Publikum finden. In Meyers bekannten
Klassikeransgaben hat Carl Schaeffer Lemmus
Poetische Werke neu herausgegeben. Außer
den lyrischen und größeren lyrisch - epischen
Dichtungen bringt er den „Faust", den „Sa-
vonarola", die „Albigenser" und das dra¬
matische Gedicht „Don Juan". Die von ihm
für die Einleitungen und knappen Anmer¬
kungensorgfältig benutztenForschungsergebnisse
(über die er allerdings nicht hinauskommt)
beruhen zu einem erheblichen Teile auf den
Klier die Ursachen des Zusammen bruns es
der türkische» Armee schreibt uns ein Freund:
„. . . Es sind jetzt fast genau zwei Jahre
her, daß die türkische Armee aus den großen
Manövern zurückkehrte, die unter der Leitung
des Generalfeldmarschalls von der Goltz
auf dem Gelände der blutigen Schlachten des
gegenwärtigen Krieges abgehalten wurden.
Ungefähr sechzigtnusend Mann waren an diesen
Manövern beteiligt. Es war das erste Mal
seit dem Krieg mit Griechenland, daß die
türkischen Truppen in einem so großen Ver¬
band versammelt waren. Unter Abdul Hamid
hat es überhaupt keine Manöver gegeben;
nach der Einführung der Verfassung waren
im Jahre 1909 zum erstenmal Manöver in
kleineren Verbänden ausgeführt worden. Die
Befriedigung über den glänzenden Verlauf
der großen Korpsmanöver von 1919 war in
den türkischen Militärkreisen eine große und
allgemeine.
Nach der Rückkehr vom Mnnöverschauplatz
gab der Generalissimus Mahmud Schefket
Pascha zu Ehren des Generalfeldmarschalls
von der Goltz im Hotel Tokntlian in Kon-
stantinopel ein großes Diner, bei dem die
gesamte Generalität anwesend war. Während
der Tafel brachte Mahmud Schefket Pascha
in deutscher Sprache, die er gut beherrscht,
einen Trinkspruch auf den Generalfeldmarschnll
von der Goltz aus. Er rühmte die Verdienste
des Generalfeldmarschalls um die Reorgani¬
sation der türkischen Armee, von deren Er¬
folgen die soeben beendeten Manöver Zeugnis
ablegten, und dankte ihm mit bewegten
Worten für seine aufopfernde Arbeit an der
Vervollkommnung des türkischen Heeres. Das
Hoch auf von der Goltz wurde mit Begeiste¬
rung aufgenommen, und mein Tischnachbar,
ein alter General, sagte zu mir, gleichfalls
auf deutsch: „Wir verehren diesen Mann wie"
— er suchte das Wort — „wie einen Heiligen."
Von der Goltz erhob sich zu einer Er¬
widerung. Er wehrte den Dank Mahmud
Schefkets mit der Bemerkung ab, daß das
Meiste noch zu tun sei, und daran anknüpfend
gab er, Scherz und Ernst vermischend, eine
kleine Manöverkritik. Er lobte die strategischen
und taktischen Dispositionen, die im ganzen
zweckmäßig und glücklich angelegt gewesen
seien. Dagegen sei in der Ausbildung der
Stabsoffiziere und Subalternoffiziere noch
außerordentlich viel zu tun; es fehle hier noch
nahezu vollkommen an jeder Selbständigkeit
und Initiative, jn an verständnisvollen Auf-
nehmen der von der Gefechtsleitung aus¬
gehenden Befehle. Der Glanzpunkt der tür¬
kischen Armee sei der gemeine Mann, An
Ausdauer, Leistungsfähigkeit und Genügsam¬
keit habe die Welt diesem prächtigen Material
kaum etwas Gleichwertiges gegenüberzustellen.
Er sei Bataillonen begegnet, die zwei Tage¬
marsche von nicht weniger als je 60 Kilometer
hinter sich gehabt Hütten, ohne dabei irgend-
etwas zu essen zu bekommen, und die trotzdem
pünktlich in die vorgeschriebenen Stellungen
eingerückt seien. Auf diese Genügsamkeit des
türkischen Soldaten scheine man aber allzu¬
viel zu rechnen, denn der wundeste Punkt
des türkischen Heeres sei die Intendanz, der
Nachschub von Proviant und auch von Mu¬
nition. In diesem für den Erfolg im Ernst¬
fall überaus wichtigen Punkte sei nahezu noch
alles zu leisten.
Das Hoch auf die türkische Armee, der
von der Goltz ein rasches und gesundes Fort¬
schreiten auf der betretenen Bahn der Re¬
organisation wünschte, fand ebenso lauten
Beifall wie der Toast Mahmud Schefkets auf
den Generalfeldmarschall. Aber leider ist
seit jener Zeit nicht allzuviel geschehen, um
die Mängel, auf die von der Goltz damals
sogar in fröhlicher Tafelrunde hinzuweisen für
nötig hielt, zu beseitigen. Von der Goltz ist
in den seither verflossenen zwei Jahren nicht
wieder nach der Türkei zurückgekehrt. Man
hat ihn nicht mehr aufgefordert, sei es, weil
man glaubte, ihn nicht mehr nötig zu haben,
sei es, weil man seine Kritik unliebsam emp¬
fand. Er hat, soviel mir bekannt ist, sein
Urteil über die großen Manöver des Jahres
1910 nicht nur in jener Tischrede nieder¬
gelegt, sondern in einem ausführlichen Bericht
an den türkischen Generalissimus, der Wohl
irgendwo in den Archiven des Serasiierats
oder des Generalstabs schlummern mag.
Die letzten Ereignisse haben von der Goltz
Recht gegeben. Die mangelnde Selbständig¬
keit und Initiative des mittleren Offiziers und
das Fehlen jeder ausreichenden Intendantur
haben in erster Linie den Zusammenbruch der
türkischen Armee verschuldet.
Erschwerend kamen hinzu gewisse Schäden
in: türkischen Offizierkorps, die sich gerade im
Laufe der letzten zwei Jahre zu einem wahren
Verhängnis entwickelt haben.
Früher bestand ein großer Teil des tür¬
kischen Offizierkorps aus den sogenannten
„Alailis" (von Alai-Regiment), aus Offi¬
zieren, die aus dem gemeinen Stand hervor¬
gegangen waren. Der andere Teil des Offi¬
zierkorps war gebildet aus den „Mekteb-
lis", das ist den aus der Kriegsschule
hervorgegangenen Offizieren. Die mit dem
Regiment aufgewachsenen Alailis bildeten ge¬
wissermaßen den Kitt der türkischen Armee.
Sie verkörperten die Verbindung zwischen der
Truppe und den höheren Kommandoinstanzen.
Ein Gegensatz zwischen den Alailis und
Mektcblis war in früheren Zeiten überhaupt
nicht oder doch nur in beschränktem Maße
'vorhanden. Ein solcher Gegensatz hat sich
jedoch im Laufe der letzten Jahrzehnte mit
dem Eindringen europäischer Einflüsse, die sich
bei den MektebliS sehr stark, bei den Alailis
überhaupt nicht geltend machten, heraus¬
gebildet. Die Revolution des JahreS 1803,
die zur Proklamation der Verfassung führte,
wird häufig als die Revolution der Armee
gegen den Despotismus Abdul Hamids be¬
zeichnet. In Wirklichkeit war diese Bewegung
nur die Revolution der zum großen Teil für
das jungtürkische Komitee gewonnenen Mek-
teblis, deren Herrschaft über die Armee für
den Augenblick ausreichte. Neun Monate
später, im April 1909, kam es in Kon¬
stantinopel zu der bekannten Gegenrevolution:
der bis auf die Knochen mohammedanisch ge¬
bliebene gemeine Mann, geführt von dem
demselben Kulturkreis angehörenden Alaili,
lehnte sich auf gegen den europäisch und frei¬
geistig angehauchten Mektebli, und machte den
Versuch, den Sultan von der Herrschaft des
jungtürkischen Komitees, das in den Mekteblis
seine Hauptstütze hatte, zu befreien. Eine
große Anzahl von Mekteblis wurde damals
in Konstantinopel von den eigenen Leuten
ermordet, die anderen flohen, und zehn Tage
lang stand Konstantinopel unter der Herrschaft
der nur von den Alailis geführten Truppen.
Aber die Komiteeoffiziere holten zum Gegen¬
schlag aus. Unter der Führung Mahmud
Schefkets rückten die mazedonischen Truppen,
in denen die Mekteblis das Übergewicht be¬
saßen, in einer Stärke von etwa dreißigtausend
Mann mit bewunderungswürdiger Schnellig¬
keit nach Konstantinopel heran, besetzten in
der Nacht vom 23. auf den 24. April alle
wichtigen Punkte der Stadt und zwangen am
Vormittag des 24. April die von den soge¬
nannten Meuterern besetzten und verteidigten
Kasernen nach heftiger Kanonade zur Über¬
gabe. Abdul Hamid wurde abgesetzt und
Mohammed der Fünfte zu seinem Nachfolger
proklamiert. Die Rädelsführer der Meuterei
wurden festgenommen, abgeurteilt und zum
großen Teil auf den öffentlichen Plätzen Kon¬
stantinopels aufgehängt. Unter den also
Hingerichteten befanden sich zahlreiche Alailis.
Auch nach diesem Strafgericht blieb der tiefe
Gegensatz zwischen dem Mektebli und dem
Alciili und das unüberbrückbare Mißtrauen
des jetzt unbeschränkt die Herrschaft ausübenden
jungtürlischen Komitees gegen den reaktio¬
närer Gesinnung verdächtigen Alaili bestehen.
Man glaubte der Herrschaft über die Armee
nur dann auf die Dauer sicher zu sein, wenn
es gelänge, die Alailis möglichst radikal aus
der Armee zu beseitigen. Infolgedessen wurden
die Alailis massenhaft mit oder ohne Pension
aus der Armee entfernt. Je Prekärer die
Stellung des jungtürkischen Komitees in den
letzten zwei Jahren wurde, desto mehr suchte
es durch solche Maßnahmen seine Position zu
sichern. Durch die Entfernung des Alaili
verschwand aber das notwendige Bindeglied
zwischen Kommando und Truppe; und dieses
Bindeglied verschwand ohne Ersatz. Denn der
Mektibli war sich zu gut, um wie der Alaili
mit der Truppe zu leben. Er fühlte sich in
der Hauptsache als Generalstäbler und ver¬
nachlässigte den Dienst in der Kaserne und
in der Front. Es soll vorgekommen sein,
daß Offiziere monatelang ihre Truppe nicht
zu Gesicht bekamen.
Die Ausrottung der Alailis erklärt ein¬
mal die ungenügende Anzahl von Offizieren,
die sich bei den zuerst ins Gefecht kommenden
Truppenteilen befanden, außerdem auch den
absoluten Mangel an Fühlung zwischen Offi¬
zieren und Truppe, der sich in den ersten Ge¬
fechten herausstellte.
Verschärft wurden diese Verhältnisse, die
an sich schon ihre Wurzel in der Politik hatten,
durch die Tatsache, daß das mehr und mehr
sich aus Mekteblis zusammensetzende Offizier-
korps, nachdem eS sich einmal in die Politik
gestürzt hatte, die Beschäftigung mit der Po¬
litik nicht wieder aufgab, sondern im Gegen¬
teil sich immer mehr mit der Politik und
immer weniger mit dein Dienst befaßte.
Namentlich die Offiziere der mazedonischen
Garnisonen brachten einen unverhältnismäßig
großen Teil ihrer Zeit im Parlament und
in den politischen Klubs von Konstantinopel
und Salonik zu. Die Bemühungen Mahmud
Schefkets, das Offizierkorps von der Politik
abzubringen, sind bekannt.
Mahmud Schefket hatte ein deutliches
Gefühl für die Gefahren, die hier vorlagen.
Er sagte mir bald nach dem Einzug in
Konstantinopel im April 1909, die wichtigste
Aufgabe für ihn sei die Wiederherstellung der
Disziplin in der Armee und vor allem auch
im Offizierkorps. Ereignisse, wie diejenigen,
welche sich jetzt vollzogen hätten, könnten nicht
vorübergehen, ohne die Disziplin schwer zu
erschüttern, und es komme alles darauf an,
über diese Wirkungen Herr zu werden. Man
hat an Mahmud Schefket oft genug getadelt,
daß er nicht die nötige Konsequenz besitze und
sich scheue, bis zum letzten Ende für seine
Ideen einzutreten. Die Erklärung liegt zum
großen Teil darin, daß Mahmud Schefket
sich nicht stark genug fühlte, mit Gewalt
gegen die nach wie vor Politik treibenden
Offiziere der mittleren und niederen Grade
vorzugehen; ein scharfes Zugreifen hätte
blutige Konflikte innerhalb des Offizierkorps
selbst ausgelöst. Mahmud Schefket wollte
solche Konflikte vermeiden und hoffte, daß es
einer beharrlichen und geduldigen Arbeit ge¬
lingen werde, allmählich wieder die Zügel
in die Hand zu bekommen, das Offizierkorps
seiner eigenen Aufgabe wieder zuzuführen
und die Disziplin wieder aufzurichten. Er
ist an dieser Aufgabe gescheitert.
Das jungtürkische Komitee war, nachdem
eS sich die unbeschränkte Herrschaft gesichert
hatte, natürlich nicht entfernt in der Lage,
alle Wünsche auch nur innerhalb des Kreises
der Mekteblis zu befriedigen, und so erwuchs
ihn: die Opposition in den Reihen der Mek¬
teblis selbst, auf die es sich bisher vor allein
gestützt hatte. Der Konflikt erreichte seinen
Höhepunkt im Frühling dieses Jahres mit
dem Abfall des größeren Teils des Offizier¬
korps vom Komitee zu der sogenannten Libe¬
ralen Union, der den Sturz des jungtürkischen
Kabinetts und seinen Ersatz durch das Ka¬
binett Mahmud Mukthar und Kiamil herbei¬
führte.
Diese Politischen Gegensätze im Offizier¬
korps selbst, die sich schließlich zu erbitterten
Kämpfen zuspitzten, haben in der letzten Zeit
die Zersetzung im Offizierkorps auf das
Höchste gesteigert. Der sich häufig wieder¬
holende Fall, daß Offiziere niederen Grades
in ihrer Eigenschaft als Komiteemitglieder
ihren Vorgesetzten bis hinauf zu den höchsten
Rangstufen ihren Willen aufzwangen, hat der
Disziplin im Offizierkorps den letzten Rest
gegeben. Das schlechte Beispiel der Offiziere
mußte auch auf die Mannschaft zurückwirken,
der ohnedies die immer wiederholten Phrasen
von Verfassung und Freiheit zu Kopf gestiegen
waren. Die Auflösung der militärischen
Organisation hatte bei Ausbruch des Krieges
einen gefährlichen Höhepunkt erreicht.
Dies gilt insbesondere für die in der
Hauptstadt und ihrer unmittelbaren Um¬
gebung, sowie überhaupt für die in der euro¬
päischen Türkei stehenden Truppen. Die
Regimenter, die im Innern der asiatischen
Türkei standen, wurden von den verhängnis¬
vollen Einflüssen weniger berührt.
Neben diesen Verhältnissen allgemeiner
Natur wirkten noch einige besonderen Ursachen
mit, uni den Zusammenbruch der türkischen
Armee in den ersten Kämpfen herbeizuführen.
Weitaus der größte Teil der in der euro¬
päischen Türkei stehenden Truppen hat seine
Heimat in Anatolien und diese Truppen
waren allmählich europamüde geworden.
Das fortgesetzte Hin- und Herschieben infolge
der Bcmdenkämpfe und der albanesischen
Aufstände, das Zurückhalten der Leute lange
über die Dienstzeit hinaus, hatte ihre Geduld
und ihre Kampfesfreudigkeit auf das äußerste
erschöpft.
Diesen! Umstand suchte das neue Kabinett
Achmet Mukthar—Kiamil Rechnung zu tragen,
indem es wenige Wochen vor Kriegsausbruch
einen großen Teil der in Mazedonien und
Thrazien stehenden geschulten Truppen —
man spricht von mehr als hunderttausend
Mann — in ihre Heimat entließ. Die Ma߬
nahme soll insbesondere erfolgt sein, weil
man hoffte, auf diesem Wege die bevorstehen¬
den Neuwahlen zur Kammer in einem für
die neue Negierung günstigen Sinn beein¬
flussen zu können. Über die großen Bedenken,
die sich aus der Politischen Konstellation er¬
gaben, setzte sich Kiamil in seinem unbedingten
Vertrauen aus die Freundschaft und den
Schutz Englands hinweg. Bis zum letzten
Augenblick, auch nachdem die Mobilmachung
der Balkanstaaten bereits erfolgt war, hat
Kiamil an der Zuversicht festgehalten, daß
England durch ein Machtwort den Krieg ver¬
hindern und sich schützend vor die Türkei
stellen werde. Als sich diese Hoffnung als
nichtig erwies und die Kriegserklärungen er¬
folgten, wurden die gelichteten Kadres in aller
Eile ausgefüllt, zum Teil durch Mann¬
schaften, die nie einen militärischen Dienst
durchgemacht hatten, die mit den Waffen
nicht umzugehen wußten und die man förm¬
lich auf den Straßen von Konstantinopel
aufgelesen hat. War vorher schon durch die
Zulassung der Christen zum Militärdienst die
Einheitlichkeit der Truppen beeinträchtigt
worden, so war diese Art der Ergänzung
der zunächst mit den Bulgaren ins Gefecht
kommenden Regimenter geradezu ruinös.
Die auf den ersten Blick ganz unerklärliche
und alle Welt überraschende Panik, die erst
bei KirMlisse und dann bei Bunar-Hussar die
türkischen Truppen nach mehrtägigem erfolg¬
reichen Widerstand erfaßt hat, ist auf dieses
unerhörte Verfahren zurückzuführen.
Jetzt endlich, nachdem die Türken bis zur
Tschataldschalinie zurückgeworfen sind, ist es
gelungen, die relativ gut ausgebildeten und
disziplinierten Truppen aus Kleinasien und
Shrien heranzubringen, die ihre Widerstands¬
fähigkeit in den Kämpfen der letzten Woche
bereits bewiesen haben und die vielleicht noch
in der allerletzten Stunde die Ehre der tür¬
kischen Armee zu retten und einen annehm¬
baren Frieden zu sichern vermögen.--"
Dieser Tage setzte mir ein Freund der Grenzboten die Aufgaben Deutsch¬
lands im Angesicht der Balkankrise wie folgt auseinander: Kleinasien sei das
letzte Stück Erde, um das die europäischen Großmächte zu kämpfen haben, das
infolgedessen auch noch in den Besitz Deutschlands gebracht werden könnte;
daher sei es Deutschlands Pflicht, Österreich auf allen seinen Wegen im Orient
zu folgen und ihm besonders in seinem Streit mit Serbien den Rücken zu
stärken; Österreich werde zur Durchsetzung seiner Interessen auf der Balkanhalb¬
insel vor den: Kriege nicht zurückschrecken, wenn es Deutschlands militärischer
Unterstützung sicher sei; in Anerkennung dieser Unterstützung würde Österreich
uns helfen, Kleinasien zu gewinnen. Die Auffassung unseres Freundes steht
nicht allein da; sie stellt vielmehr die Auffassung weiter Kreise in Deutschland
dar. In ihrer einfachen Gradlinigkeit hat sie zweifellos etwas sehr Bestechendes
an sich. Eine nähere Überlegung zeigt indessen, daß die Auffassung vor den
Aufgaben der Praxis nicht standhält. Was gefordert wird ist nicht mehr und
nicht weniger, als daß Deutschland sein Selbstbestimmungsrecht ohne weiteres
in die Hände der österreichischen Staatsmänner legen solle. Aber noch mehr:
die hier Deutschland zugedachte Aufgabe steht im gegenwärtigen kritischen
Augenblick gar nicht zur Erörterung.
Wie ist denn die Lage?
Österreich hat in Albanien und an der Adria politische und territoriale
Interessen, die durch die siegreichen Serben bedroht sind. Im übrigen sind
Deutschland und Österreich als Exportländer von Jndustrieprodukten im nahen
Orient Konkurrenten. Im Vertrauen auf die Tüchtigkeit des türkischen Heeres
und auch in der Hoffnung, den Balkanbund von einem Kriege zurückzuhalten,
hat sich die Diplomatie der Großmächte auf die Formel des 8tatu8 quo
geeinigt, wonach selbst ein siegreicher Balkanbund auf keinerlei territoriale
Erwerbungen auf Kosten der Türkei rechnen sollte. Die unerwartet großen
Erfolge Bulgariens und die scheinbar vollständige Auflösung der türkischen
Armee in Albanien und im Sandschak, beides in den Augen der Welt durch
eine weniger geschickte als rücksichtslose Handhabung der Zensur ins Unendliche
gesteigert, verblüfften die öffentliche Meinung Europas derart, daß kaum noch
jemand daran zweifelte, die Türkei liege am Boden; weder dürften die Mächte
die christlichen Balkanstaaten um die Früchte ihrer Siege bringen, noch könnten
die Großmächte selbst zurückgehalten werden, den türkischen Braten in Kleinasien
zu zerlegen. Mit diesem Wandel der Kräfteverhältnisse und Meinungen bekam
auch die Stellung Österreich-Ungarns zum Sandschak-und zum Adriaproblem ein
anderes Gesicht, nachdem es sich herausstellte, daß Serbien das von ihm besetzte
Gebiet behalten wollte.
Die Erwerbsgesellschast des Balkanbundes hatte nämlich die europäische Türkei
— zunächst freilich nur auf dem Papier— unter sich wie folgt geteilt: Bulgarien
sollte das Gebiet südlich seiner bisherigen Grenzen bis ans Meer ohne Kon¬
stantinopel erhalten; Griechenland Mazedonien ohne Saloniki; Montenegro
einige Gebiete südlich und östlich; Serbien den Sandschak und Albanien mit
einem verhältnismäßig breiten Küstenstreifen an der Adria. Gerade hinter
den Absichten Serbiens steht Nußland, das ein möglichst starkes Serbien an
der Südgrenze Ungarns haben möchte, einmal um in einem Kriege die Kräfte
der Habsburgischen Monarchie zu zersplittern, und ferner um neben Montenegro
noch einen zweiten Schutzmann an der Adria zu besitzen, der Italien und
Österreich-Ungarn kontrollieren könnte. Speziell gegen die Aufstellung dieses
zweiten russischen Schutzmannspostens sind die Ansichten Österreich-Ungarns und
Italiens geeint.
Aus dem Widerspruch der Interessen, der sich durch den knappen Satz
ausdrücken läßt: soll Serbien an die Adria gelangen? ist der Konflikt entstanden,
der über Europa so plötzlich die Sorge des Krieges zusammengezogen hat.
Also nicht das Wohl und Wehe der europäischen Türkei steht zur Erörterung.
Österreich und Italien schlagen nun vor, Serbien solle sich einen Ausgang zum
ägäischen Meer suchen. Davon will Serbien nichts wissen, aus Furcht mit
Bulgarien und Griechenland in Verdruß zu kommen, da deren Anteil an der
Beute geschmälert ^werden müßte. Aber auch Rußland will nichts davon
hören, denn das, was es den heutigen Adriamächten leichten Herzens zumutet,
weist es am ägäischen Meer mit Entrüstung zurück: es will neben Türken,
Bulgaren und Griechen nicht noch die Serben in der Nähe der Dardanellen
haben.
Die vermittelnden Vorschläge Österreich-Ungarns, die auch seitens Italiens
und Deutschlands unterstützt werden und seitens der Türkei nicht zurückgewiesen
werden dürften, zielen nun auf folgendes: Serbien bekommt einige Gebiets¬
erweiterungen an seinen Südwestgrenzen; Albanien wird aber als autonomer Staat
unter Herrschaft eines von der Türkei ziemlich lose abhängigen Emirs organisiert;
den wirtschaftlichen Interessen Serbiens wird durch den Bau einer Eisenbahn
zur Adria Rechnung getragen. Serbien will von allen dem nichts hören und
hofft das große Österreich zur Nachgiebigkeit zu zwingen, indem es durch die
Eroberung von Durazzo ein lait acLompIi schafft. Österreich-Ungarn seinerseits
kann im Hinblick auf die künftige Entwicklung seiner Machtstellung an der Adria
nicht nachgeben und wird es auch nicht tun.
Soweit scheint die Lage ganz .klar, wenn Rußland nicht wäre; ein
Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien ohne Rußlands Mitwirkung
brauchte niemanden in Deutschland zu beunruhigen. Rußland hat aber
nicht nur das oben gekennzeichnete Interesse an Serbien, es ist durch die
Entwicklung der Sandschakfrage seit dem Jahre 1909 auch noch ganz persönlich
in Mitleidenschaft gezogen. Rußland hat damals vor den Waffen Österreich-
Ungarns und Deutschlands zurückweichen müssen, weil es die Niederlagen im
fernen Osten noch nicht verwunden hatte. Heute fühlt es sich in seinem Land¬
heer wieder stark oder tut doch wenigstens so. Und selbst wenn es sich nicht
so stark fühlte, hat der serbisch - österreichische Konflikt für das offizielle Rußland
eine Bedeutung gewonnen, die sich durchaus nicht allein in dem Stärkerwerden
seines serbischen Bundesgenossen erschöpft. Der 1909 vor Österreich-Ungarn
angetretene Rückzug lastet auf der inneren Politik Rußlands wie eine schwere
Niederlage; die panslawistischen Elemente in der Presse und im Heer haben
unermüdlich daran gearbeitet, den Krieg gegen Österreich populär zu machen
und, wenn man den Angaben der Russen trauen darf, so ist er es,
freilich mit ganz besonders scharfer Spitze gegen das Deutschtum. Daneben
wird dem Zaren klar zu machen versucht, daß er aller inneren Schwierigkeiten
durch einen siegreichen Krieg Herr werden könnte — übrigens ein Argument,
das leider auch bei uns immer häufiger zugunsten eines Krieges ins Feld
geführt wird. Dieser Nebenumstände muß man sich erinnern, will man sich
ein Bild vom Ernst der Lage machen. Nicht bei Österreich-Ungarn, oder gar
bei Deutschland liegt die Entscheidung darüber, ob Krieg oder Frieden sein soll,
sondern allein bei Rußland. Rußland hat es heute noch in der Hand Serbien
zurückzurufen, Nußland kann es verhindern, daß Österreich gezwungen wird,
das von Truppen entblößte Belgrad zu besetzen. Es steht bei Nußland, ob
es bereit ist, den Einmarsch der schwarzgelben in Novibazar mit dem Einfall
in Galizien zu beantworten. Und allein durch diese Zusammenhänge und
nicht durch mehr oder minder wahrscheinliche Aussichten in Kleinasien wird
Deutschlands Stellung in dem Konflikt bestimmt. Wird Österreich' Ungarn
von Rußland augegriffen, dann tritt für Deutschland der ca8U8 koecionZ in
Kraft und weder in der deutschen Diplomatie noch im Großen Generalstabe
dürfte jemand auf den Gedanken kommen, dieser Verpflichtung auszuweichen,
auch wenn durch den Krieg für Deutschland eine Erweiterung seines Länder¬
besitzes nicht abfiele. Ein stegreicher Krieg Schulter an Schulter mit Österreich
gegen Rußland würde große sichtbare Ergebnisse nicht zeitigen, wohl aber solche,
auf die wir dennoch stolz sein könnten und die am besten zusammenzufassen
wären in den Satz: engere Verbindung mit Österreich in Mitteleuropa. In
der Weltwirtschaft würden diejenigen die meisten Vorteile von dem Kriege
h
verantwortlich! der Herausgeber George Tleinow in Schöneberg, — MannsKiptfenduugen und Buche werde»
erbeten nntrr der Adresse:
«» den Herausgeber der Grenzbotrn in Frieden»» bei Berlin, Hcdwigftr. l».
Fernsprecher der Schrittleitung! Amt M>la»d ZKM, de« Verlag«: Amt Lutjow Sblll,
Verlag- Verlag der Br-nzboten Si, in, b. H> in Berlin SV. 11.
Druck! .Der Reichsbote« B. --, b, H, in Berlin LV.II. Dessauer Strad» SS/Z7.
Kinbanddecken für die Grenzboten
Ausgabe ^: Halbfranz. Dunkelgrüner Lederrllcken und
Ecken, gekörnter Bezug, Schrift in Goldpressung. M. 1.75.
Ausgabe K: Leinen. Dunkelgrünes Rohleinen, Pressung in
Schwarz mit Gold. M. 1.—.
Vielfach geäußerten Wünschen aus unserm Leserkreise entsprechend
haben wir eine Original-Einbanddecke für die Grenzboten in geschmack¬
voller, solider Ausführung herstellen lassen. Für jeden Jahrgang
sind vier Decken erforderlich. Die Decken für 1912 sind sofort
komplett lieferbar, für 1913 und die folgenden Jahrgänge jemalig am
Schlüsse des betr. Vierteljahrs. Gegen einen entsprechenden Aufschlag
sind wir bereit, einzelne Decken mit den Jahres- und Bandzahlen älterer
Jahrgänge zu versehen.
Einen Prospekt mit Abbildungen der beiden Ausgaben nebst Bestellschein
sendet auf Wunsch der Verlag.
^^yn-">5°r -5. Werlag der Orenzvotm, G. in. b. Ä.
Läelzter I-iqueur aller Kationen
D«?s»«c DvNikxdUmÄ Verll» M, SV, I-MtI-olMtr. ^.8.
in Anschluß an die Rede, die der Herr Reichskanzler in der
Zweiten Kammer des Preußischen Landtages über die Fleischnot
und innere Kolonisation gehalten hat, wird in den Grenzboten
vom 30. Oktober d. I. (S. 244) der Erlaß von Gesetzen gefordert,
die den Zweck verfolgen, die Latifundienbildung zu beschränken bezw.
die vorhandenen Latifundien zu verkleinern. Man braucht einstweilen noch nicht so
weit zu gehen. Andere Gesetze, und zwar solche, die die Ansiedlung auf dem Lande
geradenwegs erleichtern, erscheinen mir viel notwendiger. Wir haben kein Gesetz,
das das Bauen erlaubt, aber sehr viele Gesetze, die das Bauen von Wohn¬
häusern mit so vielen Kautelen umgeben, daß sie dem Bauvcrbot gleichkommen.
So erging am 2. Juli 1875 das Fluchtliniengesetz, das ein absolutes
Bauverbot an unregulierten Straßen schafft. Auf dem Lande ist aber fast keine
Straße — sofern es sich nicht gerade um den bebauten Dorfkern handelt —
den heutigen Anforderungen gemäß hergestellt. Der Gesetzgeber hatte hier das
Interesse der Gemeindefinanzen in erster Linie im Auge; er wollte die Gemeinden
vor der Anlage eines zu weit verzweigten Straßennetzes bewahren, das entstehen
mußte, wenn jeder Bürger hätte nach Belieben bauen dürfen. Doch ist man
hierbei viel zu weit gegangen. Das Finanzinteresse der Gemeinden kann auch
dadurch gewahrt werden, daß jede Gemeinde verpflichtet wird, entweder für die
ganze Gemeinde allgemein oder für jede Straße ihres Gemeindebezirks orts¬
statutarisch festzusetzen, wie viel an Pflasterungskosten seitens der Anlieger ein- für
allemal zu zahlen ist, wenn sie bauen wollen. Jetzt haben die Gemeinden ein
allgemeines Bauverbot, infolgedessen gestatten sie das Bauen überhaupt nicht.
Dies geht, wie gesagt, zu weit, — ganz abgesehen davon, daß man auch in
den Anforderungen, die an neue Straßen gestellt werden, meist zu weit geht.
Sodann schuf das Ansiedlungsgesetz vom 10. August 1904 ein weiteres
Bauverbot. Wer ein Haus errichten will, das sich nicht unmittelbar an den
schon bebauten Dorfkern anschließt, bedarf zuvor einer besonderen, durch den
Kreisausschuß zu erteilenden Ansiedlungsgenehmigung. Nun tagt der Kreis¬
ausschuß höchstens alle Monate einmal; ferner befragt er, ehe er sich entscheidet,
gemäß Z 17 des Anstedlungsgesetzes die Gemeinde, wie viel an Kapital sie für
Kirche und Schule fordert, um die ihr zwar nicht durch den Neubau, aber
durch die voraussichtlich darin wohnenden Menschen erwachsenden Mehrausgaben
decken zu können. Zu der Antwort hat die Gemeinde einundzwanzig Tage
Zeit. Der Gemeindevorsteher fordert, um leine Nackenschläge in der Gemeinde
zu bekommen, für Kirche und Schule möglichst viel. Der Kreisausschuß ver¬
handelt hierüber und setzt dann den Betrag fest, den der Baulustige zu hinter¬
legen oder richtiger zu zahlen hat, bevor er die Baugenehmigung erhält. Daß
alles dies viel Zeit erfordert, erschwert das Bauen ungemein, ganz abgesehen
davon, daß der, welcher bauen will, meist nicht an Überfluß an Geld leidet. Jeden¬
falls werden ihm dadurch seine Barmittel in etwas, manchmal ganz erheblich
beschnitten.
Allerdings ist die Ansiedlungsgenehmigung nicht erforderlich, wenn ein
behördlich festgestellter Bebauungsplan besteht und der Bau innerhalb des Gebiets
des Bebauungsplans erfolgt. Indes dies weiß man zu umgehe«. In einer
aufblühenden Dorfgemeinde ist vor mehr als zehn Jahren ein Bebauungsplan
zeichnerisch hergestellt worden, jedermann richtet sich danach, er wird aber nicht
ausgelegt und nicht behördlich festgestellt, damit — wie schlechte Menschen glauben
annehmen zu müssen — vor jeder Baugenehmigung ein großer Geldbetrag
infolge des unfertigen Bebauungsplans als Ansiedlungsgenehmigung erhoben
werden kann. An derartige böswillige Umgehungen des Gesetzes mag man bei
Abfassung desselben nicht gedacht haben. Indes braucht auch gar nicht immer
Absicht vorzuliegen. Ein Bebauungsplan bleibt auch manchmal schon deshalb
liegen, weil die beteiligten Behörden und Privatpersonen sich darüber nicht
einigen können, und das Einspruchsverfahren gescheut wird.
Auch ohne böse Absicht wirkt Bummelei und Unbeholfenheit eines weder
juristisch noch technisch gebildeten Gemeindevorstehers dahin, daß die förmliche
Feststellung des Bebauungsplanes entweder überhaupt oder doch recht lange
unterbleibt. Dabei läuft die Gemeinde auch kaum eine Gefahr. Denn die
Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts geht dahin, daß die Baupolizei
einen auch noch nicht fertiggestellten Bebauungsplan berücksichtigen muß. Gesetz
und Rechtsprechung haben sich eben dahin geeinigt, den Gemeinden
das Leben möglichst leicht und dem Baulustigen das Bauen möglichst
schwer zu machen.
Wie kann nun ein kleiner Mann auf dem Lande, der sich etwas erspart
hat, um sich ein eigenes Häuschen zu errichten, alle diese Schlingen, die das
Gesetz dem Baulustigen gelegt hat, vorher klar erkennen, um sie zu vermeiden.
In einer von ihnen wird er sicher hängen bleiben und zwar recht lange dann,
wenn er gerade keinen ihm wohlwollenden Amtsvorsteher trifft. Bei einem
solchen Gesetzeszustand gibt es für die private aus eigener Initiative betriebene
Ansiedlung des kleinen Mannes auf dem Lande keinen Raum. Da ist das
Bauen in größeren Städten erheblich leichter.- da gibt es einen Bebauungs¬
plan — also ist die Ansiedlungsgenehmigung überflüssig —, da sind ganze
Straßensysteme von weitblickenden, nach Vergrößerung strebenden Städten schon
im voraus fertiggestellt, so daß man ohne weiteres daran sich aufbauen kann.
Angesichts dieses gesetzlichen Zustandes braucht man sich auch nicht über die
Tatsache zu wundern, daß Neubauten vorzüglich in unseren Städten erfolgen,
wenn nicht auch noch andere Gründe für die Erscheinung vorhanden wären.
Noch nachteiliger für Neuansiedlungen auf dem Lande wirkt der Umstand,
daß unsere Grundstücke auch auf dem Lande meist reich an Hypotheken sind
und der Gutsbesitzer einen Morgen seinem Kutscher, der sich anbauen will,
nicht zu eigen auslassen kann, weil er die Genehmigung seiner Hypotheken¬
gläubiger dazu nicht zu erlangen vermag. Dazu kommt, daß. wenn eine solche
Entpfändungserklärung von einem Hypothekengläubiger abgegeben werden soll,
zuvor der Katasterbeamte aus der Kreisstadt kommen und für den Morgen eine
besondere Handzeichnung fertigen oder richtiger ihn in das Kataster aufnehmen
und an Ort und Stelle vermessen und versteinen muß. Alles dies erfordert
recht viel Zeit, Verdruß und Umstände, ganz abgesehen von den Kosten. Auch
hier muß Wandel geschaffen werden. Es ginge sehr wohl an, die Genehmigung
der Hypothekengläubiger durch ein Unschädlichkeitsattest seitens der Behörde zu
ersetzen. Es fragt sich nur, wi? dies zu bewerkstelligen wäre, ohne daß die
Sicherheit der Hypothekengläubiger darunter litte.
Dr. Schiele-Naumburg, der für die Erleichterung von Neuansiedlungen
unermüdlich tätig ist, schlägt vor, jedem Gutsbesitzer die Abschreibung von einem
Fünfzigste! seiner Gutsfläche ohne Befragung der Hypothekengläubiger zu ge¬
nehmigen, sofern auf der abgeschriebenen Fläche eine Ansiedlung erfolgt. Denn
durch diese Neuansiedlung und die dort wohnenden Menschen (Arbeitskraft)
würde das Restgut im Wert gesteigert, so daß eine Gefahr für die Hypotheken-
gläubiger nicht bestehe.
Ich gehe soweit nicht. Ich meine, man könnte die Rechte der Hypotheken-
gläubiger noch besser dadurch wahren, daß man die pfandfreie Abschreibung
überhaupt nur bei einem Rentenkauf zuläßt. Wenn also der Gutsbesitzer sich
für die Parzelle kein Kapital, sondern nur eine Rente ausbedinge, die als
Rentenlast auf der abgeschriebenen Parzelle an erster Stelle eingetragen wird
und auf dem Gute auf dem Titel des Grundbuchblattes als Zubehör vermerkt
wird, so werden die Hypothekengläubiger voraussichtlich von da ab sogar ein
besseres Pfand besitzen, denn die Rente wird meist mehr betragen, als dÄ
Reinertrag der abgeschriebenen Parzelle und das Restgut würde außerdem
durch die Neuansiedlung an Wert gewinnen. Allerdings würde man noch eine
Prüfung fordern müssen, ob der Gutsbesitzer sich auch wirklich nicht mehr als
die Rente ausbedungen hat. Da über jeden Grundstückskauf eine gerichtliche
und notarielle Urkunde aufgenommen werden muß, so kann zweckmäßig in
derselben vom Verkäufer und Käufer versichert werden, daß Verkäufer sich
nicht mehr als die Rente ausbedungen hat und daß Käufer nicht mehr als
die Rente gibt. Der Gemeindevorsteher und Amtsvorsteher wird dies auch
leicht nachprüfen können. In diesem Falle könnte daher das Unschädlichkeits¬
attest sehr wohl durch eine Bescheinigung des Amtsvorstehers oder des Gemeinde¬
vorstehers ersetzt werden. Diese Bescheinigung wird dahin zu lauten haben,
daß die ausbedungene Rente den Jahreszinsen des ortsüblichen Wertes der
Parzelle entspricht.
Verlangt man diese Bescheinigung, die leicht zu beschaffen wäre, und jene
Versicherung beider Teile im Kaufvertrage, so werden schwerlich die Hypotheken¬
gläubiger jemals geschädigt werden können. Schließlich erhalten sie ja auch
von jeder Abschreibung Mitteilung vom Gericht und können, wenn sie wollen,
alles nachprüfen.
Ähnliches habe ich auf der Versammlung des Vereins für exakte Wirt¬
schaft forschung (5. Ergänzungsheft S. 12) und auf dem zweiten Internatio¬
nalen Hausbesitzerkongreß ausgeführt (Stenogr. Bericht Bd. II, S. 159).
Jüngst fragte ein Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses bei mir an,
ob ich meine in jenen Versammlungen gemachten Vorschläge bereits formuliert
hätte. Dies ist die Ursache, daß ich folgenden Gesetzesoorschlag der Öffent¬
lichkeit unterbreite:
Gesetzentwurf
zur Förderung von kleinen Anstedlungcn
§ 1-
§ 13s des Ansiedlungsgesetzes vom 10. August 1904 wird aufgehoben und erhält dafür
folgende Fassung:
Die Ansiedlungsgenehmigung ist ferner nicht erforderlich zu Wohnhäusern, die nicht mehr
als fünf heizbare Zimmer haben und höchstens zwei Familien Wohnung gewähren.
8 2.
ß 15 des Gesetzes betreffend die Anlegung und Veränderung von Straßen und Plätzen
in Städten und ländlichen Ortschaften WuchtliniengesetzeS) vom 2. Juli 187S erhält folgenden
Zusatz:
In Dorf- und Stadtgemeinden sowie Gutsbezirken von weniger als zehntausend Einwohnern
ist durch Ortsstatut ein für allemal festzusetzen, wieviel für den laufenden Meter Frontlänge
einer Baustelle bei einem Bau an unregulierten Straßen an Straßenregulierungskosten zu
zählen ist, und daß die Abbürdung dieses Betrages auch durch Eintragung einer Rente von
dreißig- bis fünfzigjähriger Dauer gestattet ist. Kommt der Baulustige diesen: nach, so darf
die Baugenehmigung auf Grund von H 12 des Fluchtliniengesetzes nicht versagt werden.
ss-
In Dorf- und Stadtgemeinden sowie Gutsbezirken von weniger als zehntausend Ein¬
wohnern können Parzellen bis zu 60 Ar Größe zum Zwecke der Errichtung von kleinen
Wohnhäusern mit nicht mehr als fünf heizbaren Zimmern und die nicht mehr als zwei
Familien Wohnung gewähren, Pfandfrei abgeschrieben werden, sofern für die Parzelle eine
jährliche (ewige) Rente als Kaufpreis ausbedungen ist, welche bei der Abschreibung auf der
Parzelle an erster Stelle zur Eintragung zu bringen und auf dem Titelblatt des Haupt¬
grundstückes zu vermerken ist. Diese Abschreibung darf erst dann vorgenommen werden,
wenn der Verkäufer und Käufer in einer gerichtlichen oder notariellen Urkunde versichert
haben, daß eine weitere Gegenleistung als die Rente nicht ausbedungen bzw. geleistet ist und
der Orts- oder Amtsvorsteher bescheinigt hat, daß die Rente einem Jahreszinse des orts¬
üblichen Wertes der Parzelle entspricht. Diese Bescheinigung ist ein Nnschädlichkeitszeugnis
im Sinne von Art. 120 des Einführungsgesetzes zum B. G. B.
In diesem Gesetzesvorschlag kann selbstverständlich das eine oder andere
anders gefaßt werden. So braucht sich das Gesetz nicht von vornherein auf
Orte von weniger als zehntausend Einwohner zu beschränken, ebenso nicht auf
Abschreibung von Flächen von 50 Ar, sondern es können Flächen von 100 Ar
oder noch größere zugelassen werden. Mir scheint es angebracht, zunächst nur
ein Gesetz mit solcher Beschränkung zu erlassen, um erst Erfahrungen zu sammeln
und erst, wenn sich die Vorschriften praktisch bewährt haben, kann man sie dann
leichter weiter ausdehnen.
Die Größe der Wohnhäuser ist auf fünf heizbare Zimmer beschränkt. Als
Einfamilienhaus würde dasselbe schon ein größeres sein. Als Zweifamilienhaus
würde die Wohnung (im Erdgeschoß) zwei heizbare Zimmer und die im ersten
Stock drei solche Zimmer haben, was in Rücksicht auf das Getrenntschlafen der
beiden Geschlechter nicht zu viel erscheint. Häuser für zwei Familien muß man
schon zulassen, weil dadurch nicht bloß eine erhebliche Ersparung eintritt, sondern
weil alle kleinen Leute nicht imstande sind, sich ein Eigenhaus zu erwerben.
Der kleine Mann will aber vom Arbeitgeber unabhängig wohnen und bezieht
eine Deputatwohnung nicht immer so gern wie eine Miethwohnung.
Daß es sehr hart ist, daß die Pflasterkosten und Kanalisationsbeiträge auf
einmal erhoben werden und nicht durch eine Rente getilgt werden dürfen, ist
näher ausgeführt in Heft 67 der Mitteilungen des preußischen Landesverbandes
der Haus- und Grundbesitzervereine. Es ist erforderlich, daß die Gemeinden
veranlaßt werden, die Tilgung solcher Beiträge durch Jahreszahlungen zuzulassen.
Vielleicht ist es möglich, da unser Reichskanzler die Ansiedlung fördern
will, daß unsere preußische Behörde ein derartiges oder ähnliches Gesetz zur
Beförderung von Ansiedlungen auf dem Lande ausarbeitet, das die jetzt
bestehenden rechtlichen Schwierigkeiten auf ein erträgliches Maß zurückführt.
Sind die gesetzlichen Beschränkungen und Schwierigkeiten, die für Kleinansied¬
lungen auf dem Lande bestehen, beseitigt, so wird sich auch ein anderer Vorschlag
der Grenzboten leichter realisieren lassen, der darauf hinzielt, den verkleinerten
Großbetrieben einschließlich der Fideikommißherrschaften aufzugeben, zuverlässige
Diener und Beamte sowie die erforderliche Zahl von Arbeitern, gegen Auferlegung
einer jährlichen Grundrente, auf eigener Scholle sich ansiedeln zu lassen. Eventuell
kann ihnen dies bezüglich ihrer Arbeiter durch Gesetz vorgeschrieben werden.
Sie werden voraussichtlich dadurch mehr Einnahmen haben, als durch den Rein¬
ertrag, den ihnen diese abgeschriebenen Flächen vorher gebracht haben. Ja, ich
halte es für wahrscheinlich, daß, wenn man obiges Gesetz auch auf die Ab¬
schreibung von Kossätenstellen, also Wirtschaften von vielleicht bis 10 Hektar
Umfang, ausdehnen wollte, dann die einzelnen Fideikommißherrschaften Teile
ihrer Güter in derartige Wirtschaften umwandeln werden; sie erhielten dann
viel leichter und zuverlässiger die jährlichen Einkünfte als jetzt. Sind doch die
Landlords, denen das Gebiet von London gehört, ähnlich vorgegangen. Sie
haben die in der Stadt gelegenen Flächen in Erbbaurecht gegeben und ziehen
ihre Grundrenten von den Erobauberechtigten ein. Meine Vorschlüge unter¬
scheiden sich allerdings von dem englischen Rechtszustand dadurch, daß nach
meiner Ansicht der Ansiedler ein volles Eigentum erlangen muß, nicht bloß ein
solches, welches nach Ablauf von bestimmten Jahren (in England nach neun¬
undneunzig Jahren) wieder an den Grundherrn zurückfällt. Wie die Geschichte
uns lehrt, wird dieser Rückfall an den Grundherrn doch auf die Dauer nicht
durchgeführt. Er führt allmählich zum vollen Eigentum. Jedenfalls sind die
Erbpachtverhältnisse, die in früheren Jahrhunderten in Preußen geschaffen worden
sind, durch die seit 1848 einsetzende Gesetzgebung in volles Eigentum verwandelt
worden. Ähnliches ist in anderen Ländern geschehen. Nimmt man also die
Lehren der Geschichte sich zur Richtschnur, so kann es sich, wenn man die An-
siedlungen fördern will, nur um Überlassung zu freiem vollen Eigentum handeln
und darf nur die Auferlegung einer Grundrente zugelassen werden, die, wie
das Bürgerliche Gesetzbuch in Z 1202 Abs. 2 vorschreibt, seitens des Ver¬
pflichteten nach längstens dreißig Jahren gegen eine Kapitalzahlung abgelöst
werden kann. Diese Frist ist für Preußen auf zwanzig Jahre herabgesetzt. — —
Im vorstehenden ist nur die Beseitigung der für Ansiedlungen zurzeit noch
bestehenden rechtlichen Hindernisse erörtert. Daß daneben noch vielfache Schritte
zu unternehmen sind, um die Ansiedlungen ganz allgemein zu fördern, ist
selbstverständlich. Es ist eine ungeheure mosaikartige Kleinarbeit zu leisten, —
an hundert Punkten sind die Hebel anzusetzen, soll etwas Ersprießliches, Dauerndes
geleistet werden. Insbesondere dürften zur Kapitalbeschaffung in jeder Provinz
Pfandbriesinstitute für Häuser nach dem Vorbilde des Berliner Pfandbriefamts
ins Leben zu rufen sein.
n einem Brief vom 5. November 1670 an ihren Bruder, den
Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz, bat die Herzogin Sophie
von Hannover, er möge ihr den „Simplizius Simplizifsimus"
in Frankfurt besorgen, da man ihr diesen Roman angelegentlich
empfohlen habe. Sie erhielt auch den gewünschten Band zusammen
mit der Geschichte von der „Landstörzerin Courage" und einer Sendung pfälzischen
Weines, wofür sie sich am 10. Dezember bedankte und lustig bemerkte, die
„Courage" sei noch nie so stattlich beritten gewesen als diesmal, da sie auf
einem Faß daher gekommen sei. Über den Autor der beiden Erzählungen
zerbricht sie sich freilich vergebens den Kopf. Der blieb ihr so gut wie dem großen
Universal-Lexikon von Zedler aus dem Jahre 1735 und späteren Lesern fremd,
so daß z. B. noch Gervinus 1838 einen fiktiven Samuel Greifenson von Hirschfeld
als Verfasser des „Simplizius" behandelte, bis eben um diese Zeit der wahre
Urheber hinter den: Pseudonym erkannt und unter dem vorher bedeutungslosen
Namen Grimmelshausen dem Bewußtsein der Zeit eingeprägt wurde.
Sein Hauptwerk war freilich nie vergessen gewesen — Lessing hatte zu
seinen Verehrern gezählt —, und es mutet wie ein schicksalvoller Zug an, daß
es wie ein Volksbuch ohne Zusammenhang mit dem Autor seine Lebenskraft
erprobte und daß sein Held ohne eigentlichen Personennamen, nur mit einen:
inhaltsreichen Sinnamen begabt, durch die Jahrhunderte schritt.
Auch jetzt haben wir noch nicht allzu deutliche Kunde vom Menschen
Grimmelshausen. Sein Werk ist das Überragende und seine Person empfängt
ihr Licht von ihm. Und wenn wir schon den Spuren seiner Erdentage nach¬
gehen, wird uns doch erspart bleiben, daß er in absoluter Klarheit sich hinderlich
zwischen uns und seine Schöpfung stelle, die zwar aus dem Zeitlich-Gebundenen
emporwuchs, sich aber zum Ausdruck der spezifisch deutschen Gemütsart entwickelte
und also mit der Kraft eines Symbols in die Zukunft hinein fortwirkt.
Jm Thüringerland begegnen wir zuerst den adligen Ahnen unseres Schrift¬
stellers, die sich uach dem heute Sachsen-meiningenschen Dorfe Grymaltshusen
nannten. Im Jahre 1327 verkaufte dort Heinrich von Grymaltshusen seine
Güter und Fischereigerechtsame an ein benachbartes Kloster.
Dann tauchen Namensverwandte dieses Stammes in Hessen auf und zwar
in dem Städtchen Gelnhausen an der Kinzig. Hier erwirbt sich zufolge eineni
Eintrag von 1571 in einem Gelnhausener Kopialbuch Jörg Christof von Grimmels-
hausen, Zentgraf zu Reichenbach, eine Wohnung in der Haytzergasse. Die
adligen Herren von Grimmelshausen hatten sich inzwischen bürgerlichen Berufen
zugewandt, und Melchior von Grimmelshausen, der Großvater unseres Schrift¬
stellers — der Simplizius heißt wohl nach ihm Melchior —, war als ehrsamer
Bäcker in Gelnhausen tätig. Der Vater Johannes erwarb sich als Bauersmann
seinen Lebensunterhalt, und der Humor, mit dem Simplizius gleich im ersten
Kapitel von seiner Herkunft berichtet, wo der Bauernhof zum Palast und die
rauchgeschwärzte Kammer zum Prunksaal wird, mag wohl aus dem Kontrast
zwischen dem rittermäßigen Namen und den dürftigen äußeren Verhältnissen
geflossen sein.
Hier also kam Jakob Christoph von Grimmelshausen zur Welt. Für das
Jahr seiner Geburt fehlen einwandfreie Angaben; man setzt es um 1622 oder
1625 fest.
Die frühen Jahre seiner Jugend verbrachte er noch in einem Frieden, in
den die Kriegstrompete nur von ferne ihre beunruhigenden Tone warf. In«
seiner Vaterstadt genoß er den ersten Schulunterricht, der ihm kaum mehr als
Lesen und Schreiben beibrachte. Da fuhr der Soldatenlärm auch über die
Wälder des Spessart und Vogelsberges und wälzte sich in das Tal der Kinzig.
Anno 1634 wurde Gelnhausen eingenommen und geplündert, die Einwohner
vertrieben oder getötet, und unser Knabe ward dem Troß einer kaiserlichen
Abteilung einverleibt. Am 25. März 1635 ward er von den Hessen gefangen
und nach Cassel geführt. Nun befand er sich mitten in dem Getriebe von
Soldaten, Offizieren, Troßbuben, Weibern, Marodebrüdern und Lomdstörzern,
deren Schicksale und Gestalten ihm den Stoff zu seinen späteren Schriftwerken
liefern sollten.*)
Wir müssen annehmen, daß der junge Grimmelshausen in den nächsten
Jahren als Musketier durch verschiedene Gegenden Deutschlands gezogen sei und
an manchem Gefecht teilgenommen habe. In einer vielzitierten Stelle seines
„satirischen Pilgram", wo er deutlich von sich spricht, heißt es: „Ohne Ruhm
zu melden, ich bin ehemalen auch dabei gewesen, da man einander das
Weiße im Auge beschaute." Vermutlich hat er unter anderem auch an der
Schlacht bei Wittstock am 24. September 1636 (alten Datums) teilgenommen,
die er im zweiten Buch des Simplizissimus, Kap. 27, außerordentlich lebendig
zu malen weiß.
Ende 1638 finden wir ihn als jungen Musketier in Offenburg, und von
da an datiert ein bedeutungsvoller Abschnitt seines Lebens, indem er von nun
an ständig in Mittelbaden bleibt und sich hier eine neue Heimat erwirbt.
Durch einen Zufall scheint es ihm gelungen zu sein, die Aufmerksamkeit
des Stadtkommandanten auf sich zu lenken. Ende 1638 war es, als Herzog
Bernhard von Weimar sich nach der Eroberung von Breisach anschickte, auch
Offenburg zu belagern, worin damals Johann Reinhard Freiherr von Schauen¬
burg als kaiserlicher Oberst kommandierte. Daselbst fing man just um diese
Zeit im Mühlbach ein Platteißlein, d. i. eine Steinbutte, was in jenen Gegenden
ein ungewöhnlicher Fang ist, den die Fischer eben darum dem besagten Obristen
zum Präsent machten; und dieser ließ sich den raren Fisch schmecken. Der junge
Musketier Grimmelshausen aber wurde durch den merkwürdigen Vorgang zu
der Prophezeiung veranlaßt: die Stadt Offenburg werde nicht eingenommen
werden, solange der Oberst Schauenburg lebe und darin kommandiere.— Der
Erfolg hat ihm recht gegeben. Jener Überfall Bernhards von Weimar wurde
glücklich abgewehrt, und Offenburg entwickelte sich unter Johann Reinhard
von Schaumburgs Leitung zu einer starken Festung, die während der folgenden
Kriegsjahre standhaft allen Stürmen trotzte.
Grimmelshausen aber scheint sich durch seinen Ausspruch die Gunst des
Kommandanten erworben zu haben, der sich wohl, wie die ganze Soldateska
jener Zeit, dem Zauber der Wahrsagungen, Sterndeutern usw. nicht entzog.
Zunächst wurde er dessen Negimentssekretär und schrieb von da an manchen
Brief an den obersten Kriegsherrn der katholischen Partei, Herzog Maximilian
von Bayern, nach München, wo diese Schriftstücke im Neichsarchiv noch der
Bearbeitung harren. Als Schauenburg daran ging, Offenburg zu befestigen,
war Grimmelshausen wiederum ein geschickter Helfer. Unter anderem hatte er
sich offenbar auch mit dem Fortifikationswesen befaßt und war dadurch instant
gesetzt, einen Plan der Stadt Offenburg mit ihren Werken und Gräben zu
zeichnen, der ebenfalls noch in München bewahrt wird.
Schauenburg verließ 1647 den Ort seiner bisherigen Wirksamkeit, und
Grimmelshausen trat in das Regiment des Oberstleutnants Joh. Burkard von
Elter ein, und zwar wiederum als Regimentssekretär oder Musterschreiber.
Damals ist er, der Sprößling eines lutherischen Geschlechts, zum Katho¬
lizismus übergetreten, jedoch ohne dadurch seinen freien Blick und seine tolerante
Stellungnahme in religiösen Dingen aufzugeben. Unter die äußeren Gründe,
welche ihn zu diesem Konfessionswechsel veranlaßt haben, gehörten wohl auch
seine Beziehungen zu der im Jahre 1628 geborenen Wachtmeisterstochter
Katharina Henninger, deren Vater ebenfalls zur Offenburger Besatzung zählte.
Am 30. August 1649 wurde zwischen den beiden jungen Leuten die Ehe voll¬
zogen, welcher im Laufe der Jahre zehn Kinder entsproßten.
Inzwischen war der westfälische Friede geschlossen und bald danach das
Eltersche Regiment aufgelöst worden, wodurch Grimmelshausen für eine andere
Berufsmöglichkeit frei wurde. Da erinnerte sich sein alter Gönner Hans Reinhard
von Schauenburg an ihn und holte ihn zu sich.
Nur wenige Meilen nördlich von Offenburg liegt, zum Renchtal hernieder¬
blickend, der Stammsitz der Schaumburgs, auf einem Bergvorsprung über dem
kleinen Dorf Gaisbach; und dahin kam Grimmelshausen sozusagen als Militär¬
anwärter in die Zivilstellung eines freiherrlichen Schaffners oder Verwalters,
als welcher er sich seinem freundschaftlich gesinnten Herrn auf vielfältige Weise
nützlich zu machen wußte. Für die guten Beziehungen zwischen ihm und seiner
Herrschaft spricht der Umstand, daß das Fräulein von Schauenburg -im Jahre
1652 Patinstelle bei einer Tochter Grimmelshausens übernahm, die nach ihr
Anna Dorothea getauft wurde.
Im Jahre 1662 übernahm er für drei Jahre ein ähnliches Verwalteramt
auf der nahen, jetzt verschwundenen Ulenburg, welche dem Straßburger Arzt
Dr. Job. Kuffer gehörte. Dann kehrte er wieder nach Gaisbach zurück und
führte von 1665 an die Schauenburgische Wirtschaft „Zum silbernen Stern";
in dieser Stellung wie vorher nützte er alle Gelegenheit, in der neuen Um¬
gebung festen Fuß zu fassen. Es gelang ihm auch, sich Grundbesitz zu erwerben,
wie beispielsweise das Gaisbacher Spitalgut in seine Hände kam.
So trat er in immer engere Fühlung mit der einheimischen Landbevölkerung.
Er lernte ihre Sitten und Bräuche kennen und lauschte voll Aufmerksamkeit ihren
Erzählungen, ihren Schwänken, Sagen und Märchen. Auch die umgebende
Bergwelt blieb ihm nicht stumm. Er stieg — damals ein selten Ding — zu
ihren Höhen hinauf und weidete sich den Blick im großen Rundumschauen.
Auf der hohen Mooß ist er gewesen und den Mummelsee im Gebiet der Hornis-
grinde hat er um seiner Merkwürdigkeit willen sicher besucht.
Als Anno 1667 die bischöflich Straßburgische Regierung, zu deren Gebiet
das Städtlein Neunheil gehörte, der Kündigung ihres damaligen Schultheißen
Elias Gott willfahrte, erwählte sie Grimmelshausen auf dessen Bewerbung hin
zum Nachfolger. Es mag sein, daß Reinhard von Schauenburg, der zu den
elsässischen Freiherrn von Fleckenstein in verwandtschaftlichen Beziehungen stand,
dabei ein günstiges Wort für ihn einlegte; jedenfalls erwies sich der Schwieger¬
vater Grimmelshausens als Empfehlung, der Zaberner Spitalschaffner und
Ratsherr Henninger, welcher sich bereit erklärte, Bürge für seinen Eidam zu
sein, da dieser vor Antritt des neuen Amtes seinen Gaisbacher Grundbesitz als
Kaution verpfänden mußte.
So wurde also Grimmelshausen im Juli 1667 Schultheiß, oder wie es
lateinisch hieß „prätor" der Stadt Renchen. Aus seiner Amtszeit ist eine
Mühlenordnung erhalten, vom 13. Okt. 1667 datiert, von der eine Kopie im
Renchener Rathaus behütet wird. In Renchen ist später noch einer seiner
Söhne als kaiserlicher Postmeister nachweisbar. Doch erlosch das Geschlecht in
der männlichen Linie, während von der weiblichen jetzt noch Nachkommen im
Badischen leben.
Leider wurde Grimmelshausen in seinem Amte nicht alt. Im Jahre 1676
— er war erst in den Fünfzigern — trat der Tod an ihn heran. AIs
damals die Franzosen ins Breisgau und die Schwarzwaldtäler einbrachen, litt
es den Grimmelshcmser nicht hinterm Tintenfaß und in der Stube. Seine
Familie flüchtete gleich vielen anderen in die Berge; er aber ließ sich als
Soldat in die Liste schreiben, um nochmals wie in der Jugend ins Feld zu
ziehen. Da schlug ihm, wohl rasch und unerwartet, der harte Ritter Tod das
Schwert aus der Hand. Aus der Verborgenheit eilten die Söhne ans Sterbe¬
lager des Vaters, der mit den Sakramenten der katholischen Kirche versehen,
am 16. August 1676 von dieser Welt ging.
Wir haben gelegentlich erwähnt, daß Grimmelshausen immerdar Gelegenheit
genommen hat, seine Bildung zu erweitern und zu vertiefen. In den wilden
Zeitläuften seiner Jugend hatte er den Schulsack nicht schwer mit Kenntnissen
bepacken können. Aber nachdem ihm Krieg und Frieden vielerlei menschliche
Situationen vor Augen geführt hatten, drängte es ihn, auch den inneren Zu¬
sammenhang der Dinge zu erfassen und sich ein geistiges Weltbild zu erwerben.
Von diesem Trieb beseelt gelang es ihm, sich einen Standpunkt zu verschaffen,
von dem aus er alles Menschliche ohne richtenden Eifer voll Verständnis
betrachtete.
Das gibt auch seiner Satire einen Einschlag von Toleranz und führte
ihn dazu, selbst das Grauenvolle noch mit dem Schimmer seines Humors zu
umstrahlen. Auf Grund dieser persönlichen Sicherheit und Geschlossenheit, die
auch den: Schmerzlichen die Stirne bietet und keine feigen Ausflüchte sucht,
durfte er dem Simplizius das Motto voransetzen: „Es hat mir so wollen
behagen, Mit Lachen die Wahrheit zu sagen." Ein süß-sentimentaler sogenannter
Humor kommt dabei freilich nicht heraus, sondern ein geistiges Überwinden der
Lebensnot, welche als solche anerkannt und durchaus nicht hinweggeweint oder
-gelächelt wird.
Eines freilich ging ihm wie seiner Zeit ab: die verehrende Erhöhung des
Weibes. Die Frau wird für ihn kein Gegenstand erhabener Gefühle, kein Ziel
und keine Erfüllung innerer Wünsche. Sie ist häufig ein Objekt des Spottes
und derber Scherze, oft die Verkörperung des Leichtfertigen und Unbeständigen,
und im besten Falle bloß die Gehilfin des Mannes und die Befriedigung
seiner Lust.
Aus diesem Mangel an weiblicher Weichheit erklärt sich auch die im all¬
gemeinen scharfe und unzimperliche Luft, welche im ganzen Buche weht, die
Freude am kräftigen Witz, an der rohen Gebärde, an der hanebüchenen
Situation, aber auch die starke Männlichkeit, das gesunde und urkräftige Lachen
und im letzten Ende der ungebrochene Humor.
Dabei nehmen im „Simplizissimus" die innersten Gedankengänge zuletzt
eine religiöse Wendung, ähnlich wie später im „Wilhelm Meister" Goethes die
Unrast eines strebenden Wanderlebens in den Frieden einer mystisch verklärten
Erlösung aufschwingt.
Für Grimmelshausen wie für seine ganze Zeit gipfelt die Frage nach dem
Sinn des Lebens schließlich in der Kardinalfrage nach dem Verhältnis des
Menschen zu Gott, wobei Gott als ein der Welt Entgegengesetztes aufgefaßt
wird; denn die Welt ist das Ungöttliche, das Gottfeindliche, kurzum der Teufel.
Vom Glauben an den Teufel kann sich auch Grimmelshausen trotz seiner
Aufgeklärtheit und mancher Zweifel, nicht völlig frei machen. Und mit dem
Höllenfürsten zieht das ganze Heer abergläubischer Vorstellungen in die Erzählung
ein, die auch nach dieser Seite hin die Anschauungen jener Zeit ausgiebig zur
Darstellung bringt. Aber als positives Gegenspiel all dieser Gedankengänge
kommt der ethisch-religiöse Zug in den letzten Partien des „Simplizins" un¬
gebrochen zum Ausdruck, während der Roman vorher seinen eigentlichen
moralischen Gehalt im Kampf zwischen Gut und Böse und in dem Zurechtfinden
aus der Verirrung erweist. Dabei tut sich der Autor unter dem Druck seiner
moralischen Absichten in der Gestaltung von derben und brutalen Vorgängen
keinen Zwang an. Der ihm innewohnende Drang zu bessern erlaubt ihm,
kräftig aä ooulos zu demonstrieren und den Maßstab ästhetischer Forderungen
zugunsten seiner Tendenz zu ignorieren. Er kann grobe Dinge nicht mit feinen
Worten sagen, und das Bewußtsein seiner inneren Gesundheit und Lauterkeit
gibt ihm anderseits ein Recht, das Rohe und Niedrige seiner Zeit und seiner
Menschen nicht nur ungeschminkt darzustellen, sondern es mit einem gewissen
Behagen auszumalen und humoristisch-satirisch zu akzentuieren.
Die theologischen Gedankengänge, wie sie Grimmelshausen bei seinem
Simplizius aufdeckt, können deutlich auf die Einwirkung gewisser Schriften zurück¬
geführt werden, während ihm sonst in allen Verhältnissen das Leben als oberste
Lehrmeisterin für sich und seine schriftstellerische Produktion gegolten hat. Da¬
neben war seine Lektüre ausgebreitet und erstreckte sich auf die verschiedensten
Gebiete.
Aber vor allen Dingen begegnete er den Fragen der Zeit voll Anteil¬
nahme. Als Soldat hatten ihn all die technischen Mittel des Befestigungswesens,
der Pulverfabrikation usw. interessiert. Unter den Bauern lebend reizten ihn
national-ökonomische Probleme, und er sah den Weg zur Beförderung des
Wohls der Gesamtheit in einer kommunistischen Verwaltung, wie er sie den
Simplizissimus bei den widertäuferischen Kolonisten bewundern läßt (Buch V,
Kap. 19). — In politischen und nationalen Dingen hoffte er alle Gesundung
von einem Parlament, in welches jede Stadt ihre zwei klügsten Männer ab¬
ordnen sollte. Zur Förderung und Erhaltung der religiösen Eintracht war er
für die Aufhebung aller konfessionellen Zänkereien zugunsten einer christlichen
Einheitsreligion. Den Bestrebungen der Sprachgesellschaften wandte er sich
miteifernd zu, ohne in die Übertreibungen Zehens zu verfallen, und er verfocht
ihre Anschauungen in gesunder und natürlicher Weise in seiner Schrift „Der
teutsche Michel". Der zeitgenössischen Literaturströmung machte er seine Reverenz
mit einigen heroischen Romanen, welche freilich mit der gesamten Kunstgattung
das Schicksal teilten, vergessen zu werden, und er focht (im „Vogelnest") mit
seinem Nebenbuhler Zehen einen kritischen Kampf aus, bei dem er seine Einsicht
in psychologische und romantechnische Fragen offenbart.
Die Geschichte seiner Zeit studierte er in den Bänden des „^Keatrum
Luropüum" und im „Erneuerten teutschen Florus" des Eberhard Wassenberg
von Emmerich. Kunde von fernen Ländern, von allerhand Merkwürdigkeiten,
von mythologischen, astrologischen und sonstigen Materien schöpfte er aus den
Sammelwerken, welche zu seiner Zeit so beliebt waren und die allerlei Wissens¬
kram bunt durcheinander in wechselnder Mannigfaltigkeit boten. Ein derartiges
Opus war des Th. Garzonus „Allg. Schawplatz" und des Spaniers Petrus
Mexia „Historischer Beschicht-, Natur- und Wunderwald", von dessen deutscher
Übersetzung die Karlsruher Hof- und Landesbibliothek ein Exemplar von 1668
besitzt, das Grimmelshcmsens Namen auf dem Titelblatt trägt. Aus solchen
derartigen Blütenlesen ließen sich Zitate, Anspielungen. Exempel und wissen¬
schaftliche Verbrämungen holen, die gelegentlich den eigenen Ausführungen ein
besonderes Gewicht verleihen sollten.
Daneben war Grimmelshausen mit deutschen und fremden Literaturerzeug¬
nissen aufs beste vertraut. Er kannte unsere Volksbücher, dazu die Schwänke
Bebels und Paulis, die Schriften des Fischart, Hans Sachs, Logan, Schupp
und Moscherosch, des Boccaccio und wahrscheinlich auch die des Bandello;
ferner die Heiligenlegende, die Werke Luthers (welche er nach der Jenenser
Ausgabe zitiert), den Theophmftus Paracelsus. die Wunderchronik des Prätorius,
die Amadisromane, die „Arcadia" des PH. Sidney, welche Opitz 1629 übersetzt
hatte, die „Assenat" Philipps von Zehen, endlich die Erbauungsschriften des
Spaniers Guevara und die Schelmenromane, welche einst durch die Verbindung
Spaniens mit Deutschland unter Kaiser Karl dem Fünften leicht und schnell
Eingang bei uns gefunden hatten.
Seit der Entdeckung Amerikas hatte der Abenteurerdrang die weitesten
Kreise ergriffen; er schuf nicht nur den leichtlebigen Glücksritter, sondern erzeugte
auch eine geneigte Stimmung für literarische Produkte, welche derartige Schick¬
sale und Gestalten zum Vorwurf wählten. Und begreiflicherweise nahm diese
Literaturbewegung ihren Ausgang von Spanien, wo man zuerst von dem gol¬
denen Strom aus der Neuen Welt überflutet und von jener fiebrigen Erregung
gepackt wurde, welche die ganze leichtfertige, heimatlose, glückshungrige Schar
der Picaros und Landstörzer erzeugte.
Infolge einer ähnlich gearteten, aber in ihrem Ziel unentwegt auf künst¬
lerische Betätigung gerichteten Unruhe war der junge Callot im Jahre 1604
seinen Eltern in Nancy entlaufen und mit wandernden Zigeunern zum erstenmal
in das heiß ersehnte Italien gekommen. Den Eindrücken unterwegs und bei
seinen Reisegefährten verdanken wir jene Darstellungen aus dem Leben der
heimatlosen Vagabunden, die als ausdrucksvollste Illustrationen zu Grimmels-
hausens „Landstörzerin Courage" betrachtet werden können. Freilich von noch
größerer Bedeutung sind seine beiden Zyklen von den „Schrecknissen des Kriegs",
welche 1632 bis 1633 entstanden, in denen wir die zeichnerisch vollendete Ge¬
staltung des Milieus besitzen, das wir nirgends lebendiger als bei Grimmels¬
hausen dichterisch festgehalten finden. Zum Landstörzer und Zigeuner war der
gewaltsam aus aller Heimat gerissene Waffenbruder und Landsknecht getreten, neben
die Schelmen und Picaros die in der Kriegslust hart gewordenen Abenteurer,
Beutesucher, Marodebrüder und Mordbrenner. Mit gleicher Energie und mit
gleicher Totalität gab Callot mit dem Stichel, was Grimmelshausen mit der
Feder von den Menschen und Schicksalen der kriegerfüllten Welt den Nachfahren
überlieferte.
Die literarischen Produkte, welche jene europäische Stimmung erzeugte, die
Schelmengeschichten, machten naturgemäß aus einen Menschen wie Grimmels¬
hausen, welcher durch das wilde Hin und Her des Dreißigjährigen Krieges
gegangen war, einen ganz besonderen Eindruck; da begegneten ihm verwandte
Klänge, bekannte Situationen und vertraute Charaktere. Und gerade bei ihrer
Lektüre mag er sich besonnen und voll erregender Betroffenheit gemerkt haben,
daß er selber viel mehr als jene Picaros erlebt hatte, bis er vom Gelnhausener
Büblein zum Soldaten, und vom Soldaten zum Renchener Schultheiß geworden
war, daß er aber auch anders zum Leben stand als sie, freier, ernster und
tiefer. Und so kam er dazu und schrieb in manchen Stunden die Geschichte eines
Mannes, dem er in vielen Zügen sein Antlitz lieh und sein äußeres Kleid, in den
er aber auch sein inneres Wesen hineingoß, bis das Ganze mehr wurde als
bloß ein kulturhistorisches Dokument, sondern überdies ein Kunstwerk voll innerer
Haltung und Beseeltheit. So schritt der Simplizius Simplizissimus aus seinem
engen Tal hinaus in die weite Welt.
Was wollten neben ihm die früheren schriftstellerischen Versuche Grimmels-
Hausens bedeuten, jene „Traumgeschichte von Dir und Mir" und jener „Flie¬
gende Wandersmann nach dem Mond", die er zur Stilübung vor etwa zehn
Jahren nach einer französischen Vorlage übersetzt hatte, — oder die „Histori
vom keuschen Joseph", welche er als literarisches Produkt mehr aus seinen
angelesenen Kenntnissen als aus seinem inneren Schaffensgrund zutage förderte.
Erst im „Simplizissimus" gab er den blutwarmen Niederschlag seines
Lebens, seines Entwicklungsganges, seiner inneren Gestaltenfülle und seiner
Weltanschauung. Hier rangen sich seine Hoffnung und Sehnsucht, seine Leiden
und Freuden vom Herzen. Der „Simplizius" wird sein Bekenntnisbuch, seine
„Dichtung und Wahrheit" und darum ein wirkendes Zeugnis auch vom Dichter¬
und Menschenwert Grimmelshausens. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß der
eigentliche Name des Helden, Melchior Sternfels von Fuchsheim, ein Anagramm
des Namens Joh. Cristoffel von Grimmelshusen ist, genau wie die vielfachen
Pseudonyme, hinter denen er sich ehedem verborgen hatte.
Der Roman führt uns aus der Einsamkeit eines friedlichen Waldlebens
durch ein unruhiges und manchmal roh verwildertes Leben abwärts in die
Tiefe eines körperlichen und sittlichen Verfalls, bis es wieder zur Höhe eines
beschaulichen Einsiedeltums aufsteigt, wo der Held seinen wahren Menschenwert
aufs neue erkennt und hervorholt.
Daß er dies als Einstedel tut, ist im Plan des Ganzen wohl begründet.
Und doch muß den Grimmeishausen eine gewisse Unbefriedigung mit diesem
Schluß, wie das fünfte Buch ihn bringt, erfüllt haben, dessen Glaubhaftigkeit
aus der psychischen Veranlagung des Simplizius heraus bezweifelt werden mochte.
Kann dieser Abenteurer, den sein Tatenhunger, sein Fürwitz, man möchte sagen,
sein Dämon getrieben hat, eine Irrfahrt durchs Leben zu wagen, der aus der
Enge kam und immer mehr die Weite eroberte, — kann der mitten in der
tätigen Welt wieder in die Enge zurückkehren und dort seine Bestimmung
finden? Grimmelshausen, der Autor, welcher dem Simplizisstmus so viel von sich
gegeben hatte, lebte ja selbst nicht im Nesignationswinkel, er war kein Mönch
und kein Einsiedel geworden, sondern ein schaffendes Glied der Menschheit.
Also trieb es ihn, seineu ersten fünf Büchern ein sechstes nachzuschicken,
wozu ihm der buchhändlerische Erfolg seines Werkes ein weiterer Ansporn war.
Freilich, den einmal angelegten Faden durfte er nicht zerreißen, er konnte ihn
nur fester spinnen und stärker drehen. So verläßt der einsiedlerische Simplizius
seine Berghütte und wird aus einem Wald- ein Wallbruder. Doch jetzt lenkt
er den Drang, in die Welt zu steigen, auf eine fromme Pilgerbahn, die ihn
an die heiligen Orte führen soll. Das war immerhin die rechte Fortsetzung
seines Lebens, wie er es als Soldat und Abenteurer geführt hatte. Und
deshalb stürzt er in neue Unrast, bis er infolge eines Schiffbruchs auf einer
menschenleeren Insel landet, wo nun sein Leben in glaubhaft gemachter Ein¬
samkeit verläuft. Seine Sehnsucht kehrt sich nicht zur Heimat, sondern ganz
nach innen, und so läutert er sich zur vollkommenen Seelenreinheit. Hier bleibt
er als ein ganz Gefestigter, der die Welt entbehren kann, glücklich, daß er mit
seiner Hände Arbeit sich die Erde Untertan machen und durch inneres Streben
das Menschliche in sich zur Vollkommenheit entwickeln darf. Außer an dem
inhaltsreichen Gang seiner Erzählung, die uns ein unübertroffen anschauliches
und lebenstrotzendes Kulturbild vom Dreißigjährigen Kriege gibt, und die uns
zum Schluß noch die erste Robinsonade schenkt, läßt uns also Grimmelshausen
an der Entwicklungsgeschichte eines Charakters teilnehmen, der sich geistig über
sein Jahrhundert erhebt. Es zeugt von seiner eigenen inneren Selbständigkeit,
daß er es fertig bringt, in den Zeiten des tiefsten wirtschaftlichen und nationalen
Verfalls einen solchen Charakter zu schaffen, der trotz Schmutz und Greuel
körperlicher und geistiger Art im Innersten gesund und keimstark bleibt.
Dabei ist wohl keine Dichterfigur so in allen Zügen vollkommen das Spiegel¬
bild des deutschen Wesens wie der Simplizius Simplizissimus. Moeller van
den Brück hat dies einmal in voller Ausführlichkeit dargetan. Das Harte,
Kantige, Eckige, ja selbst das Flegelhafte und Rohe, dann wieder das liebevoll
Beschauliche, das Sinnierende und spekulative, das zeitweilige Sichverlieren
und das stete Sichwiederfinden, das Weltschweifende und Heimverlangende, der
Wirklichkeitssinn gepaart mit romantisch ungebundener Phantasie, Abenteurerlust
und Gedankentiefe, die Frömmigkeit eines goldsuchenden Gemüts, die Herzens¬
einfalt neben der Verstandesklugheit: all dies, wenn es schon im einzelnen
allgemein menschlich ist, gibt sich doch in eins verwoben durchaus als spezifisch
deutsch. Und all dies bringt Grimmelshausen im Simplizius als Folge seiner
eigenen deutschen Natur und seiner unverdorbenen künstlerischen Naivität zur
Darstellung.
Denn er hatte sich trotz alles üppigen und verschnörkelten Deutsch und aller
Sprachverwilderung seiner Zeit eine unmittelbar aus dem Volk geschöpfte
Erzählungskunst bewahrt, die sich voll Frische und Treffsicherheit zu geben weiß;
trotz aller Sittenverwilderung war ihm der Glaube an den unverlierbaren
Menschenwert gerettet, und trotz aller Lebensverwilderung verfügte er über die
Gabe, in sich selbst die Versöhnung mit allem Feindseligen und Widrigen zu
vollziehen und eine heroisch-humoristische Weltanschauung zu behaupten, die es
ihm als Mensch und Dichter ermöglicht, im Simplizius einen Helden zu zeichnen,
der trotz Greuel und Not den Blick auf die ewigen Richtpunkte nicht verliert,
eben weil er seiner eigenen Natur treu bleibt, die im Guten und Bösen die
Natur seines Volkes ist.
Deshalb kann auf dem Denkmal, das unserem Grimmelshausen im Jahre
1879 in Renchen, der Stadt seiner Wirksamkeit, gesetzt wurde, mit Recht der
Spruch gemeißelt stehen:
Diesen Aufsatz entnehmen wir dem soeben erschienenen Werk von Lud¬
wig Riesz „Historik". Ein Organon geschichtlichen Denkens und Forschens.
Erster Band. G. I. Göschensche Verlagshandlung G. in. b. H. Berlin
und Leipzig 1912. Broschiert 7.S0 M.
WK
s^Aeben der Verschiedenartigkeit des Gefühls von Lust und Unlust, mit
der die Menschen die ihre Existenz berührenden Veränderungen in
ihren Vorstellungskomplexen begleiten, haben schon die Alten nach
I der Neigung des Empfindens und Handelns bei gewöhnlichen Anlässen
vier verschiedene Typen von Menschen unterschieden. Nach der
Schnelligkeit und dein Stärkegrade, womit einem äußeren Vorgang die Erregbarkeit
(Rezeptibilititt) folgt, nach der Kraft und Nachhaltigkeit der Gegenwirkung (Rea-
gibilität) lassen sich verschiedene Permutationen zusammenstellen, von denen eine
ziemlich genau auf jeden von uns als passende Regel unseres täglichen Verhaltens
angewandt werden kann. Bahnsen hat mit Beschränkung auf das wichtigste eine
Tabelle von sechzehn Variationen aufgestellt*); wir kommen aber, da nur in seltenen,
stark ausgeprägten Fällen für den Historiker ein Urias; vorliegt, diesen mehr im
Alltagsleben wichtigen Grundzug hervorzuheben, mit der populären Zahl aus. Bei
den Skizzierungen, die in der psychologischen Literatur von diesen vier Typen ge¬
macht werden, läuft oft der Fehler mit unter, daß vieles, was anderen Erscheinungen
des Seelenlebens angehört (z. B. Eukolie und Dyskolie, Affekte und Leidenschaften,
Gemütstiefe und Fühllosigkeit, Pflichteifer und Leichtsinn) hineingezogen wird, um
das Bild abzurunden. Herbart ist außerdem geneigt, die Temperamente mit Physio¬
logischen Eigenschaften in Verbindung zu bringen**). Auch körperliche Signalements
werden zuweilen an die Schilderung dieser Besonderheiten ohne Grund an¬
gehängt^*).
Das sich für den Historiker am leichtesten bemerkbar machende Temperament
ist das des Cholerikers, der schnell aufbraust und sich nicht beruhigt, bis er einen
seiner tiefen Erregung entsprechenden Gegenschlag ausgeführt hat, der aber auch
günstige Eindrücke und Mitgefühl gern durch praktisch wertvolle Gunstbezeigungen
und hochherzige Hilfsleistungen „realisiert". Luther, der sich seinen Ärger über
Angriffe auf seine Partei durch noch gröbere Invektiven vom Halse schrieb, der
die Bannbulle des Papstes öffentlich verbrannte und den Schwarmgeistern so
energisch entgegentrat, der aber auch jedem Getreuen gern ein wertvolles Geschenk
machte, den entlaufener Nonnen Ehemänner verschaffte und im Kreise derer, die
an seinen Gesprächen Anteil nahmen, rücksichtslos offen und unerschöpflich mit¬
teilsam war, ist ein klarer Typus des cholerischen Temperaments. Daß Bismarck
die Löwenmähnen schütteln konnte und in dem Schleichkampse der Presse mehr
als das ^U3 tslioms übte, auch wo das Staatsinteresse es nicht erforderte, daß er
aber anderseits, wo ihm Talent oder Verdienst nahetrat, außergewöhnliche Be¬
förderungen durchzusetzen wußte und seinen Verehrern mit Perlen des Geistes und
Humors immer gefällig war, ist auf sein Temperament zurückzuführen. Treitschkes
wissenschaftliche Schriften kann man nur richtig verstehen, wenn man bei ihrem
Studium die kräftigen Reaktionen dieses Cholerikers auf die von ihm während
der Zeit ihres Entstehens rezipierten wechselnden Eindrücke in Anschlag bringt.
Das von Schiller Philipp dem Zweiten in den Mund gelegte Wort:
„Wenn ich einmal zu fürchten angefangen,
Hab ich zu fürchten aufgehört."
entspricht ganz der Neigung des Cholerikers, „Zug um Zug" zu leiden und zu
handeln; der historische Philipp der Zweite hatte allerdings ein ganz anderes
Temperament.
Durch lebhaftes Minenspiel und beredte Gebärde verrät der Sanguiniker die
Schnelligkeit und Stärke seiner Empfänglichkeit, während er durch Tathandlungen
nur schwach und flüchtig reagiert. Mit einem Sarkasmus nimmt er seine Rache,
und schnell ist bei ihm eine Beleidigung, eine Nichtswürdigkeit, aber oft auch eine
Wohltat vergessen. Blücher konnte mit Aork auch nach solchen haarsträubenden Szenen,
wie an der Katzbach, leicht wieder auf guten Fuß kommen und Wellingtons irre¬
führende Handlungsweise für immer vergessen, weil er Sanguiniker war? dem
cholerischen Gneisenau war das nicht so leicht möglich. Friedrich der Große war
Sanguiniker, wir haben schon gesehen, mit dyskolischer Grundstimmung. Seine
leichte Aussöhnung mit dem Vater, sein Verhalten zu Voltaire, seine Witze über
die Kaiserin von Rußland, sein Eingreifen in den Prozeß des Müllers Arnold
und seine Nichtbeachtung der indirekten Wirkung, die seine Annäherung an Eng¬
land in Frankreich hervorrufen mußte, hingen zum guten Teil mit seinem Tem¬
perament zusammen. Auch an unserem Kaiser Friedrich dem Dritten war der
Sanguiniker unverkennbar. Bei Frauen erscheint das sanguinische Temperament,
wo es sich mit Eukolie begegnet, wie bei Bettina von Arnim und Goethes Mutter,
besonders anziehend. Auf diese bei Staatsmännern gefährliche Kombination, die
man am Günstling von Jakob dem Ersten, dem Herzog von Buckingham, studieren
kann, hat Goethe seinen Egmont angelegt. „Scheint mir die Sonne heut, um das
zu überlegen, was gestern war?" und als ihn Oranien gewarnt hatte: „Daß
anderer Menschen Gedanken solchen Einfluß auf uns haben! Mir wäre es nie
eingekommen; und dieser Mann trägt seine Sorglichkeit auf mich herüber. —
Weg! Das ist ein fremder Tropfen in meinem Blute."
Schwache und langsame Rezeptibilität kontrastiert beim Phlegmatiker sehr
günstig mit starker und nachhaltiger Rückwirkung. Fabius Cunctator, Tyrenne,
Daun und Wellington unter den Kriegshelden, Augustus, Burleigh, Wilhelm der
Dritte von England, Hardenberg und Napoleon der Dritte unter den Staats¬
männern repräsentieren diesen Typus in der Geschichte am besten. Aus Louis
Schneiders Biographie, RoonS Aufzeichnungen und den Ereignissen vom 10. bis
15. Juli 1870, geht hervor, daß Kaiser Wilhelm der Erste doch auch ein phleg¬
matischer Su-zxvXv; war. Mit diesem Temperament hütet man sich am leichtesten
vor Übereilungen und wird den Forderungen der Sache am ungestörtesten gerecht;
Personen dieser Anlage erscheinen deshalb nicht so „temperamentvoll", wie die
vorhergehenden Typen.
Zugleich um zu zeigen, daß auch in einem ganz anderen Kulturkreise die
Temperamentsunterschiede ganz gleiche sind, wollen wir eine Anekdote anführen,
durch welche die Japaner die drei aufeinanderfolgenden Wiederhersteller friedlicher
Ordnung in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, Nobunaga, Hideyoshi
und Jyeyas als Vertreter des sanguinischen, cholerischen und phlegmatischen Tem¬
peraments kennzeichnen. Sie erzählen, daß es gelungen war, einen Kuckuck zu
fangen und daß alle drei sich damit abmühten den Vogel in der Gefangenschaft
zum Schreien zu bringen. „Ich schlage ihn tot, wenn er nicht schreien will,"
drohte der Sanguiniker. „Ich werde ihm das Schreien schon beibringen," beschloß
der Choleriker. „Ich werde warten, bis er schreien wird," tröstete sich der Phleg¬
matiker Jyeyas, der Begründer des Hauses Tokugawa. Er allein soll den Kuckuck
haben rufen hören*).
Als viertes Temperament wird gewöhnlich das melancholische aufgeführt, das
aber, da aus dem medizinischen Sprachgebrauche Melancholie als Benennung für
krankhafte Seelenzustände in allgemeine Aufnahme gekommen ist, nach Bahnsens
Vorschlag besser das „anämatische" heißen sollte. Es verbindet langsame und
schwache Rezeptivität mit flüchtiger oder sehr schwacher, wenn auch nachhaltiger
Reagibilität. Mit solchem Temperament ist es schwer, durch eigene Taten in
leitende Stellungen zu kommen; man findet diese Varietät deshalb in der Geschichte
selten in deutlicher Beleuchtung. Von Männern glänzender Karriere wüßte ich
nur den preußischen Minister AncMon und den österreichischen Feldmarschall
Grafen Benedeck als Anämatiker in Anspruch zu nehmen. Dagegen macht sich
dieses Temperament sehr bemerkbar, wo es nur auf prinzipielle Opposition, auf
Nörgelei ankommt. In der Fronde kann man auf die Anämatiker zählen. Bei
geborenen Herrschern findet sich dieses Temperament nicht gerade so selten; an
dem Habsburgischen Kaiser Friedrich dem Dritten, dem preußischen König Friedrich
Wilhelm dem Dritten und dem Zaren Alexander dem Dritten haben wir sehr
deutliche Vertreter dieser Gattung. Dem höheren Alter gibt die Zurückhaltung
der Lebensäußerung, die dem Anämatiker eigen ist, um so mehr Ehrwürdigkeit i
das Volk erwartet eine dieser Anlage entsprechende Handlungsweise vom Papste,
von gealterten Herrschern und großen Philosophen*). Die Geduld des von seiner
Xantippe mißhandelten Sokrates und Hiobs Gemütsruhe sind die bekanntesten
Vorbilder für solchen ehrenvollen Mangel an Temperament. Der Quietismus
der Buddhalehre zielt auf das Extrem in dieser Richtung. Das wird dann aber
mehr eine gewollte Unterdrückung der Sensibilität, Rezeptibilität und Neagibilität,
als ein innerhalb der Temperamentsunterschiede fallendes Verhältnis des Puls¬
schlages der Individualität**). Es kommt daher gelegentlich zu Eruptionen, wie
dem Amoklaufen.
Bei den meisten Menschen, aber keineswegs bei allen, verringert sich der
Einfluß des Temperaments von selbst mit zunehmender Erfahrung und abnehmender
Beweglichkeit des Körpers. „Die Schwaben werden mit dem vierzigsten Jahre
klug", ist ein Sprichwort, das doch Wohl auf die erst dann erworbene Fähigkeit,
Temperamentsausbrüche zu beherrschen, zu beziehen ist. Den Versuch dieser Selbst¬
beherrschung durch Reflexionen macht ja jeder, der die Nachteile der frischen und
warmen Impulse wiederholt erfahren hat; aber es gelingt nicht immer. Von
dem Sanguiniker Friedrich dem Großen haben wir das schöne Geständnis: „Alles,
was ich an Reflexion habe, setze ich in Bewegung, um den ersten Moment zu
vermeiden, der bei mir sehr lebhaft ist und, solange diese Lebhaftigkeit des ersten
Moments dauert, hüte ich mich sorgfältig, eine Entscheidung zu treffen über das,
was ich gesehen habe, und über das, was ich gehört habe und was mich erregt;
trotz alles Bemühens vermeide ich ihn nicht immer, diesen ersten Moment, und
dann — macht Monsieur Dummheiten und verbrennt sich Monsieur die Finger."
Gewöhnliche Sterbliche beißen sich auf die Zunge und verbrennen sich, wenn sie
Sanguiniker und Choleriker sind, doch leicht den Mund — bei Gönnern und Vor¬
gesetzten.
Auf der Straße ist schon ein lebhaftes Treiben. Die Wormser sind schon
in Scharen da. Sie machen zuerst einen Spaziergang durch den Park, ehe sie
zum Tanze gehen.
Bauernmädchen in weißen Kleidern haben sich am Arme und gehen in breiten
Reihen. Kinder drängen sich an die Verkaufsbuden, um ihre Pfennige los zu
werden, lutschen farbiges Zuckerzeug, das sie hin und wieder aus dem Munde
hervorholen, um zu sehen, wieviel davon schon abgezuckelt sei, und jedes rühmt:
„meins schmeckt besser wie deinsl" Trompetchen, Mundharmonikas und Gummi¬
blasen lärmen. Zurufe von hüben und drüben.
Karl kauft sich an einem Stande ein Dütchen Zigarren, steckt eine an und
geht hinter dem Zuge der Kerweburschen her, der gerade aus der Roßgasse
herauskommt und in die Pfaugasse einbiegt. Es sind die vom Wirte „Zum
grünen Baum".
Vorüber ein Bursche, der eine große Fahne schwingt, hinter ihm drein die
beiden, die den Kerwebaum tragen; es ist ein mit goldenen und buntfarbigen
Bändern geschmücktes kleines Tannenstämmchen. An dem dahinter folgenden, aus
Laubzweigen gewundenen Kerwekranz hängen Trauben und Äpfel neuer Ernte.
Hinter Kerwebaum und Kerwekranz schmettern die Musikanten. Auch ein Krug
mit Wein wird mitgetragen; der Kerwebursch Schänke ihn aus. Die Leute sollen
selbst versuchen, wie gut der Wein ist, den die Wirte auf Kerb verzapfen.
Um den ganzen Zug herum hüpft ein Bajazz, der einen Reiserbesen über
seinem Kopfe Wirbeln läßt, da und dort auch auf die Fensterbrüstungen springt,
um sich ein Küßchen zu stehlen, oder er marschiert auf einige zwanzig Schritte vor
der Musikkapelle einher, seinen Besen im Takte auf und nieder hebend, als wäre
es der Stab eines Tambourmajors.
Zu Karls großem Erstaunen und auch zur Verwunderung der zuschauenden
Bauern kommt der Kerwebursch mit dem Weinkrug auf ihn zu, Schänke ihm das
Glas voll und bietet's ihm an:
„Prost, Karl, trink und laß alles drin versaufen, was dir Sorgen machen
könnt!"
Karl nimmt die Zigarre aus dem Munde und trinkt.
„Bekomms, Willeml"
Es ist der Schmiedegeselle. Er geht einige Schritte neben dem Sohne seines
früheren Meisters her und erkundigt sich nach diesem und jenem und auch nach
Tante Seelchen; ob sie auch auf die Kerb in Spelzheim wäre. Nein, nicht; sie
wäre eingeladen worden, aber bis jetzt sei sie noch nicht da, und sie werde wohl
auch nicht kommen. In acht Tagen ginge er, der Karl, wieder hinüber nach
Pfeddersheim. Da ist der Geselle sehr erstaunt, daß Karl auf einem so hohen
Feiertag, wie es die in acht Tagen stattfindende Nachkirchweihe ist, nicht im Dorfe
bleiben will.
Vor dem Wirtshaus „Zum Grünen Baum" macht der Zug Halt. Die
Kapelle schwenkt seitlich ab und stellt sich auf die andere Straßenseite. Eine
Leiter wird herbeigeholt. Der eine Bursche steigt hinauf, steckt den Kerwebaum
auf den aus der Mauerecke springenden eisernen Arm, an den er auch den
Kerwekranz hängt. In einer fast endlosen Reihe von launigen Versen preist er
dann die Kerb, die Kerwegäste, ermahnt die Burschen und die Mädchen, recht
brav zu sein und nicht im Dunkeln spazieren zu gehen. Der Refrain einer jeden
Strophe heißt:
So viel Verse er spricht, so viel Gläser Wein gießt er auch hinunter. Eine
erkleckliche Anzahl. Und schließlich das Ende:
Er läßt sich sein Glas abermals füllen und begießt den Kranz mit dem
perlenden Naß. Zuletzt zerschellt er das Glas auf dem Straßenpflaster, und der
ganze Zug begibt sich in den Tanzsaal.
Der Geselle nimmt Karl beim Arm und zieht ihn mit, obwohl er sich
heftig wehrt:
„Willem, ich tanz net, das mach ich dies Jahr net, wo mein Vater erst so
kurz tot ist!"
„Brauchst ja auch net zu tanze, hock dich hin und guck mi"
Karl läßt sich an einen Tisch niederdrücken und bestellt sich eine Flasche Wein.
Es kommen etliche seiner früheren Kameraden. Aber sie setzen sich an einen
anderen Tisch. Willem, der Geselle, sieht es. Als Kerwebursche hat er auch auf
Ordnung im Saale zu sehen. Er bedeutet den jungen Kerlen, daß die Tische der
Reihe nach gefüllt werden müßten. Da entgegnen sie, zu dem Karl Salzer setzten
sie sich nicht. Wenn der Wirt ein Kerl wär, schmisse er den überhaupt hinaus.
Willem antwortet, dem Wirte sei es gleichgültig, wem er seinen Wein verkaufe,
und zudem, was der Karl Salzer ihnen getan habe? Na, das wär doch eine
alte Supp; ob dem sein Vater denn nicht die Kasse bestohlen hätte? Willem
dagegen: wenn der Vater das getan hätte, dann brauchte man es doch den Sohn
nicht entgelten zu lassen, und jetzert sollten sich mal nicht so lang besinnen. Hopp,
marsch, marsch, hinüber I
Karl hat wohl bemerkt und auch aus einigen aufgefangenen Worten gehört,
daß sich die Burschen sträuben, seine Gesellschaft zu teilen. Sein Kopf wird
brennend rot. Er zerkaut seine Zigarre. Das garstige, vereinsamende Gefühl
von dem fünften Rad am Wagen befällt ihn. Er möchte aufstehen und den Saal
verlassen, greift nach dem Hut, der über ihm an einem in die Wand eingelassenen
eisernen Haken hängt. Doch er zieht die Hand wieder zurück; warum soll er das
Feld räumen? Er setzt sich wieder und flegelt sich breit hin.
Neue Gäste kommen. An der Saaltür bleiben sie stehen und mustern die
einzelnen Tische nach den vorteilhaften Plätzen. Zu Karl will sich niemand
setzen, bis da ein grober Bauer kommt und gleich auf die Burschen losfährt, die
mit dem Gesellen disputieren. Sie haben sich einen sehr guten Platz ausgesucht.
Der Bauer sagt ihnen, so ein schöner Platz sei ein Vorrecht für ältere Leute und
nicht für rotznäsige Buben. Er packt einen Stuhl und rüttelt und schüttelt ihn
so lange, bis der darauf sitzende Bursche herunter auf den Boden purzelt. Ehe
der sich von seinem Erstaunen erholt hat, liegt ein zweiter, von dem gleichen
Schicksal betroffen, an seiner Seite, und einen Augenblick später torkelt der dritte
dazu. Nun wäre schon Anlaß da zu einer schönen Kellerei, aber Willem schlichtet:
„Na, allo, ihr Bursch, hockt euch da nüwwer zu das Salzers Karl!"
„Ich naar awwer aach!" wirft der Bauer dazwischen. „In dere Eck do
hinne is grad de richtig Platz for eich junge Kerl. Do könnt ehr aach mache,
was ehr wollt!"
Dann macht er eine einladende Handbewegung nach Frau und Tochter zu,
die hinter ihm stehen, während die jungen Burschen hinüber an Karls Tisch gehen.
Der sagt ihnen:
„Ihr braucht euch vor mir net zu fürchten oder zu ekeln!"
„Tun wir auch net!" antworten sie, „wir wollten ja nur unsern Tisch für
uns haben, weil wir zu siebt sind!"
Sie sind ein bißchen klein geworden auf das Rütteln und Schütteln hin.
Der Kellner kommt und fragt, was die Herren trinken. Es ist ein Hilfs-
kellner aus Worms. An gewöhnlichen Sonntagen bedienen der Wirt und sein
Sohn allein; auf Kerb aber geht das nicht, da braucht man Hilfskellner. Und
die Wormser Kellner reden die Bauernburschen mit Herr an, was diese sehr
schmeichelt. Sie sehen sich an und beratschlagen, was sie trinken sollen.
„So nobel wie der Salzer da können wir's net treiben. Unser Vater ver-
dient sein Geld net so leicht wie's dem seiner verdient hat. Bringen Sie jedem
einen Schoppen Wein!"
„Laß dir sagen, Alterchen!" fährt Karl auf, „daß das Geld net von meinem
Vater ist. das hab' ich vom Unkel Haares!"
Kaum hat er das gesagt, so reut es ihn auch schon. Was brauchen die zu
wissen, wie er zu Haares Holtner steht!
Aber die Burschen sind schon aufmerksam geworden, sehen sich gegenseitig an
und jeder liest aus des anderen verwundertem Gesichte: Was, der sagt zu dem
reichen Sonderling Haares Holtner Unkel? Ihre Achtung vor Karl steigt. Als
er in gemütlichen Tone ihnen sein Glas Wein anbietet, hier sollten sie einmal
trinken, bis sie ihren Wein hätten, lehnen sie es nicht ab, und im Laufe des
Nachmittags wird die Freundschaft wieder so dick, als wäre sie nie gestört gewesen.
Karl kommt es mitunter vor, daß er sich in der Gesellschaft der jungen Kerle
entwürdige. Wenn er sich bei irgendeiner öden Redensart ertappt, errötet er bis
unter die Haarwurzeln. Mehrmals schon nahm er einen Anlauf, der Unterhaltung
einen edleren Schwung zu geben, aber es gelang ihm nicht. Er spürt, daß in
den Kameraden Mächte der Gewohnheit stark sind, gegen die er nichts vermag,
ja, daß er ihnen unterliegt 'und in die gleiche geistige Tölpelhaftigkeit gerät, die
ihn in den wenigen Augenblicken der Bedachtsamkeit erröten macht.
Der Wein erhitzt die Köpfe. Karl läßt sich überreden, ein Mädchen zum
Tanze aufzufordern, aber sie schlägt es ihm ab. Da bleibt er trotzig in seiner
Ecke sitzen und trinkt und trinkt. Die anderen, die auf seine Kosten mittrinken,
trösten ihn; was brauche ihm an dem dreckigen Weibsvolk zu liegen, wer weiß,
wie das noch einmal kommen könne: die Mädels leckten nach ihm vielleicht noch
einmal die Finger bis an die Ellenbogen.
Gegen Abend verläßt die Burschengesellschaft den Saal, um frische Luft zu
schöpfen. Es geht ein kühler Wind, der dem Karl wohltuend den heißen Kopf
uuispült. Nun merkt er noch deutlicher, daß es in seinem Hirnkasten schon ein
wenig drunter und drüber gegangen war. Wie hätte er sich sonst überreden lassen,
ein Mädel zum Tanzen zu engagierenI Und nun besinnt er sich auch darauf,
warum er eigentlich die Kerb mitmacht; daß er doch nur gern erfahren möchte,
wer das Kreuz auf dem Friedhof schon ein paarmal ruiniert hat. Da sagt er
zu den anderen:
„Hört mal, ich will euch mal was sagen I Jetzert ist schon ein paarmal auf
meinem Vater seinem Grab Schimpf und Schand getrieben worden; 's hat einer
am Kreuz die zwei Wörtchen ,Jn Gott' ausgekratzt. War keiner von euch auch
mal auf dem Kirchhof, daß er das gesehen hätt'?"
Die Burschen stellen sich täppisch. Freilich haben sie es gesehen und sich
auch darüber gefreut. Nun kommen sie in Verlegenheit, und der eine und der
andere bereut jetzt, mit Karl getrunken zu haben. Einer sagt:
„Ja, ich Hab's auch gesehen; aber was ist denn dabei? Du wirst doch
vielleicht dein' Vater net in Schutz nehmen wollen?"
Da möchte Karl anfangen mit seiner Erklärung, warum es ungerechtfertigt
ist, die Worte „In Gott" auf dem Kreuze eines Selbstmörders, besonders eines
solchen, der nicht gleich tot war, zu entfernen. Zu guter Zeit fällt es ihm noch
ein, daß seine Auseinandersetzungen wohl kein Verständnis finden würden, und
so sagt er nur:
„In Worms tat' das net passieren. Und Wenn's einer tat', und tat' dabei
erwischt werden, tat' er geknaßt werden, tüchtig geknaßt wegen Grabschändung.
Denn vor Gericht wird net danach gefragt, ob das das Grab von einem Selbst¬
mörder oder von einem anders Gestorbenen ist. Wenn ich den croisade, der sich
an meinem Vater seinem Grab vergriffen hat, mach' ich kurzen Prozeß; wird net
lang an's Gericht gangen, dem hau ich das Fell voll, daß nix mehr drauf gehet"
Drohend schüttelt er die Fäuste; von den Burschen aber entgegnet ihm einer:
„Der wird aber auch grad so still halten, wenn du ihn vermöbeln willst!"
„Also weiß keiner von euch," fragt Karl noch einmal, „wer's war oder wer's
gewesen sein könnt'?"
Sie verneinen es und lügen nicht; sie wissen nichts. Man hat ini Dorfe
viel Vermutungen angestellt und die Verdächtigen Wohl auch gefragt mit einem
Ton in der Stimnie, der dem Betreffenden recht deutlich die Anerkennung für
die Tat an dem Grabe des verhaßten Schmiedes merken ließ; aber es war nichts
zu erfahren gewesen.
Karl sieht seine Kameraden mißtrauisch an.
„Euch kann man net trauen I Aweil steht ihr auf meiner Seit, weil ich euch
bezahlt hab'. Wer weiß, wie's morgen istl"
Da munter die Burschen auf. Sie brauchten dem Karl seinen Wein nicht,
und wenn er anfange zu krakeelen, könnten sie gleich wieder fortgehen. Dann
wollten sie einmal sehen, wer sich zu dem Karl Salzer an den Tisch setze I
Nun lenkt Karl wieder ein. Er habe das doch nicht so gemeint, daß er
ausgerechnet sie der Tat fähig halte.
Es gibt einen großmäuliger Bubenstreit mit faden Worten herüber und
hinüber, und wenn Hannes Holtner dabei gewesen wäre, würde er bei seinem
Zögling öfters einen Ausbruch der ihm so verhaßten Menschochslichkeit bemerkt
haben. Es war, als ob alles in den letzten Wochen in dem Burschen Gereifte
in der Dummjungengesellschaft wieder zerfließe.
Nach vielem unnützen Gerede, und nachdem einige der Burschen erklärt
hatten, das sei doch keine Kerweunterhaltung, und wenn der Karl jetzert das Maul
nicht halte, gingen sie ihrer eigenen Wege, einigte man sich wieder und versprach
sich gegenseitig, nach dem Nachtessen beim Wirt Rembes im Gasthaus Zum Löwen
zusammentreffen zu wollen, weil es dort so gemütlich wäre.
Auch Karl geht nach Hause, obwohl man ihn zum Nachtessen nicht erwartet.
Hannes Holtner ist gerade beim Pferdefüttern.
„Wartet, Unkel Hannes, ich helf Euch ein bissen!"
„Na, na, ich hab' gemeint, du wollest heunt Nacht mal durchmachen?"
„Die andern sind heim, bin ich auch heim. Was soll ich da so allein
herumtorkeln?"
„Na hast du schon was in Erfahrung bringen können?"
Die Frage verwirrt den Burschen. Noch deutlicher als vorhin im Wirtshaus
erkennt er, daß er sich eigentlich recht einfältig benommen, daß er sich seinen
Kameraden gegenüber gar nicht überlegen gezeigt habe, und er gesteht dem
Unkel Hannes:
„Ich weiß net, was das war, aber ich hab' meinen Kameraden gegenüber
garnet so sprechen können wie zum Beispiel beim Pfarrer. Wenn ich's so richtig
betracht', ist mir die Geschicht' heut garnet so ernsthaft herauskommen wie sonst,
und wie ich davon angefangen hab', sind die gleich über mich hergefallen!"
„Jajal" entgegnet Hannes Holtner, „'s ist net so leicht, sich bei seinesgleichen
so zu geben, daß sie die Überlegenheit anerkennen, ohne grob oder spöttisch zu
werden. Jetzert gehst du mir heunt Abend noch mal fort und nimmst dich ein
bißjen mehr zusammen. Auf jed' Wort, das du in der Angelegenheit redst, mußt
du dich gehörig besinnen!"
Dann füttern sie zusammen die Pferde. Es ist kühl im Freien, da empfindet
man die warme Stalluft heimelig und behaglich. Die Laterne, leise an dem
Draht schaukelnd, an dem sie von der Decke herunterhängt, verbreitet einen matten
Lichtkreis; die Helle geht nicht bis in die äußerste Stallecke. Wie ein Winter-
abendsdämmer ist es, weich und beruhigend, still und friedlich. Die Gäule zer-
mahlen die Haferkörner mit den Zähnen. Bisweilen mustert auch eines der Tiere
Unterm ZVeihnachtsbcmm
oder stampft mit dem Hufe. In der Scheuer zirpen die Grillen, die mit der
Ernte eingefahren worden sind. Drüben im Kuhstall must hin und wieder ein
Rind. Der Lärm von der Gasse klingt nur gedämpft herein, denn die Torfahrt
ist überbaut, und das Tor reicht bis an die Decke.
Die beiden Menschen sitzen auf der Bank und lehnen sich an die weißgetünchte
Stallwand. Hannes Holtner hat die rauh und rissig gearbeitete Hand über die
Augen gelegt, mit der anderen unterstützt er den Ellenbogen. Karl Salzer hat
die beiden Ellenbogen auf den Knien und den Kopf in den Händen.
„Unkel Hannes, ich tat' schon lieber da sitzen bleiben als wie auf die
Musik geheilt"
„Ja, 's ist schön da!" erwidert Hannes Holtner. „Aber wenn man noch
so jung ist wie du, darf man noch nicht gleich dem ersten Ekel vor den Menschen
nachgeben und sich daheim hinhocken. Denn grad so schnell wie vorher der Ekel
kommt bei euch jungen Leut' auch wieder die Sehnsucht nach der Gesellschaft.
Geh du heunt Abend nur mal fort und seh' zu, daß du zu deinem Ziel kommstl"
Und so geht denn Karl Salzer nach dem Nachtessen wieder fort.
(Fortsetzung folgt)
> cum Se. Nikolaus in den letzten Wochen vor Weihnachten das Land
durchzieht, um die Einkäufe und Bestellungen für seinen großen
Gabensack zu machen, so kehrt er wohl zuerst in den Buchläden ein.
Gilt es doch, deutschen Kindern zu bescheren, und da darf unter
I der Lichtertanne ein Buch oder mehrere nicht fehlen. Nun — die
Auswahl ist auch in diesem Jahre nicht eben klein.
Unter den Bilderbüchern lacht uns zuerst ein alter Bekannter an: C. A. Bren-
dels „Kleine Menschen in der großen Stadt", herausgegeben von der Literarischen
Vereinigung des Berliner Lehrer-Vereins im Buchverlag der „Hilfe", Berlin-
Schöneberg. War es doch einer der ersten und in der Hauptsache gut gelungenen
Versuche, die Großstadt für die künstlerische Verwertung im Bilderbuch heranzuziehen.
In farbenfroher, lebendiger Darstellung ist hier alles im Bild festgehalten, was die
Welt des Stadtkindes ausmacht. Zu der neuen Ausgabe hat A. Holst eine Reihe
Gedichte beigesteuert, die voll dichterischen Schwunges die Bilder für diejenigen
unter den Eltern umschreiben, denen die Gabe des eigenen Erklärens und Erzählens
mangelt. (M. 2 50, Pappausgabe M. 3.50.) — Ein echter Dichter, Otto Ernst^
hat auch die zarten Verse zu dem duftigen Märchen „Im Wunderwald" geschrieben,
das Arthur Heyer, ein neuer und vielversprechender Name unter den Kinderbuch¬
illustratoren, im Verlage Etzold u. Co. in München erscheinen ließ. (M. 4.—.)
Eine Fülle von Beobachtung steckt in diesen humorvollen Bildern, die das
lustige Treiben der Waldtiere zu König RieselbartS Fest verkörpern. Haben seine
Bilder, wie z. V. die Elfen, auch zuweilen noch etwas Erdenschwere an sich: bald
dürfte dieser junge Meister sich Künstlern wie Kreidolf würdig an die Seite stellen.
Bei seinem „Niki", einer „drolligen Hundegeschichte" im selben Verlage, zu der
F. O. Hildebrand nette Verschen geschrieben hat (M. 3.80), denken wir unwillkür¬
lich an Maeterlincks schönen Essay „Beim Tode eines jungen Hundes", so sehr
weiß Heyer uns in seinen großen farbigen Blättern das Innenleben der schönen
weißen Bulldogge nahe zu bringen. Das sind Bilder, zu denen wir Erwachsene
gern zurückkehren, und die der Jugend ihren Freund in neuem Lichte zeigen
werden. Nur sein Denkmal am Schluß des Bandes wird den meisten als ver¬
früht erscheinen. Derselbe Verlag bringt (ebenfalls zu M. 3.50) noch ein „Katz
und Maus-Lust- und Trauerspiel aus dem Märchenlande der Westfälischen Schinken"
von Emil Terfloth, dessen manchmal etwas weit ausgesponnenen, aber lustigen und
in ihrer drastischen Lebensweisheit an Altmeisters Busch gemahnenden Verse dem
„Hassaratz" nicht weniger Freunde gewinnen werden als die vielen köstlichen
Illustrationen von Willi Ehringhausen in ihrer bezwingender Komik. — Ebenfalls
eine Mäusegeschichte bietet uns der Verlag von P. Brandt, Berlin-Steglitz. in
seinem Buch „Vom Hausmäuschen und Feldmäuschen". Zu zwölf Bildern Otto
Speckters, die die ganze Grazie des bekannten Meisters atmen, hat Adalbert
Harnisch ein humorvolles Epos geschrieben, das in der Form viel von Kopisch und
Rückert hat und, wenn es auch nicht an die Gustav Falkeschen Verse zu den
Katzenbildern desselben Meisters (im Verlage Janssen-Hamburg) heranreicht, doch
immer amüsant und lustig zu lesen ist. — Die neue Auflage von Band I (Kind¬
heit) der bekannten, vortrefflichen Sammlung „Der deutsche Spielmann", heraus¬
gegeben von Ernst Weber, (Verlag Georg D. W. Callwey-München, 40 Bände
je M. 1.—), in diesem Zusammenhange zu würdigen, berechtigen die Verände¬
rungen, die der Illustrator Ernst Kreidolf an seinen Bildern vorgenommen hat.
Während die Dichter ihre Verse oft wieder einschmelzen und neu erstehen lassen
(man denke an Hauptmann, Dehmel, Spitteler), hört man bei Malern seltener von
einer Veränderung eines veröffentlichten künstlerischen Gebildes, und bei kleinen Buch¬
illustrationen wohl kaum einmal. Daß Kreidolf hier bessernde Hand angelegt,
beweist uns aufs neue, ein wie ernst strebender Künstler er ist. Es ist ein hoher
Reiz, die beiden Ausgaben zu vergleichen und den Gründen nachzugehen, aus
denen der Maler die Komposition vereinfacht, Einzelheiten verkleinert, das Ganze
zusammengerückt, die Farbengebung verändert hat usw. Wie an Bilderschmuck,
so ist die Neuausgabe auch in den Versen zu ihrem Vorteil verändert und ver¬
mehrt. — Nach Art der kleinen Bücher der Greenaway erschien bei I. F. Schreiber
in Eßlingen „Sing Sang!" Allerlei Verschen mit Bildern von Gertrud Römhildt.
Trotz des billigen Preises (50 Pf.) hätte die Auswahl sorgfältiger sein und Verse
wie „Fällt ein Messer oben herab; Schlages dem Kindle 's Armle abi" durch
andere ersetzt werden können. Die Bilder von Heiland Eichrodt in Strasburgers
„Trau — Trala" desselben Verlages gehören mit zu den schönsten, die uns die
moderne Kinderbuchbewegung geschenkt hat. Unter den Versen findet sich manches
Gute, doch schaut oft die Reflexion der Großen bedenklich durch. Die Bilder der
Sibylle von Olfers (in „Windchen" zum Beispiel) wirken überzart und leicht
puppenhaft. „König Löwes Hochzeitsschmaus" derselben Autorin (M. 2.40), in
dem sie nur Tiere bringt, ohne sie doch lebendig und charakteristisch wiedergeben
zu können, endet ohne Abschluß; der ganze Gedankengang ist wenig glücklich.
Ein paar Zeilen als Beispiele: „Seht da unsern Igel, den Rittersmann, er bringt
Leberwiirste aus Schnecken an", oder „Aus grünem Klee und roten Rübchen
Kaninchen macht Gemüsesüppchen". Da würde sich der Löwe schön bedankenl —
In „Für Nesthockerl und flügge Kinderlein" des Verlages Max Kellerer in
München (M. 2.—) sind die Bilder von I. Widenmann das Beste. Die Verse von
Josef Weber sind oft ganz unkindlich und alles andere eher als poetisch: es ist so
viel von Gesichter!. Patscherl, Zeiserl, Zuckersüssl darin die Rede, daß einem
Norddeutschen wenigstens dabei übel wird. Dabei stört der Fettdruck der zu
betonenden Worte gräßlich. — „Mit Heidi und Trallala" nennt sich ein Bilderbuch
von R. F. Günther, Bonn a. Rh. (siel), das im Verlag der Jugendblätter (Carl
Schnell) in München „mit vielen Bildern nach Ideen des Verfassers von Harry
Schultz" erscheint (M. 2.80). Ich weiß nicht, ob dabei die grandiose Idee, die
auf jedem Bilde wiederkehrt, sei es im Schlaf-, Spiel-, Eßzimmer oder beim
Zahnarzt, einem der Buben den Hemdzipfel aus der Hose hängen zu lassen, auch
auf Konto des Verfassers zu setzen ist; neuer ist jedenfalls die Anpreisung inmitten
der Verse, daß („Mit Heidi und Trallala!") das kluge Mütterlein schon längst das
Buch von Günther über die Zähne besitzt! So wichtig die Zahnpflege ist: als
Stoff eines Bilderbuches und zu belanglosen Reimen und Bildern verarbeitet, hat
sie wenig Aussicht auf den Erfolg, den der Verlag sich von diesem Buch des
Bonner Zahnarztes verspricht, indem er an den (himmelhoch über diesem Mach¬
werk stehenden) „Struwelpeter" des Arztes Hoffmann erinnert. — Ein modern
sein sollendes Bilderbuch legt uns auch der Verlag Gustav Kiepenheuer in Weimar
vor: „Tante Krinoline und andere Geschichten". Ein Bilderbuch mit Versen von
Helene Vrieslander. Die in der ganzen Art an Kreidolf erinnernden und drucktechnisch
vorzüglich herausgekommenen Bilder ließe man sich gefallen, wenn nicht die „Ge¬
schichten" ein aller Poesie bares, im Sujet oft widerliches Gereimsel darstellten, deren
faustdick ausgetragene Moral das Ganze noch unleidlicher macht. Ein Beispiel aufs
Geratewohl für viele: „Die Moral von der Geschicht': Sind auch Tanten
wunderlich, mach dich stets mit ihnen Freund, Wer die kränkt, am End' doch
weint." — Eine Erholung und Herzstärkung darnach bereitet „Das schwarze
Bilderbuch" von Rolf von Hoerschelmann, München, Martin Moerikes Verlag,
(M. 4.—). Da leben alle guten Geister der Silhouettierkunst, die in den letzten
Jahren, besonders auch in den mannigfachen Veröffentlichungen des Kunstwarts,
eine fröhliche Auferstehung gefeiert hat. Man muß schon an die größten
Namen auf diesem Gebiete, wie Fröhlich, denken, wenn man einen Vergleich her¬
anziehen will. Ein graziöser Humor ist in diesen lebenerfüllten, behaglichen
Bildern, auf denen Typen der Kleinstadt, wanderndes Volk oder Helden wie die
sieben Schwaben besonders gut geraten; nicht minder sind seine Naturbilder von
bestrickenden Reiz. Dabei ist alles so ansprechend und verständlich, daß man die
Verse von A. von Bernus entbehren möchte, um so mehr, da sie zu viel auf¬
zählen, statt die Bilder zu umschreiben. Hoerschelmann ist ein Künstler, dem
wieder zu begegnen wir aufrichtig wünschen. — Der Verlag von Joseph Scholz
in Mainz, dessen prächtige Künstler-Bilderbücher nun schon in den kleinsten Ort-
schaften zu finden sind, wie man mit Freuden auf Reisen feststellen kann, bringt
wieder eine Reihe trefflicher Neuerscheinungen. Zu den zwölf Grimmschen Märchen,
wie sie in den schönen Bilderbüchern von Kunz, Lefler-Urban, Liebermann,
Schmidhammer u. a. vorliegen, sind als dreizehnter Band „Die sieben Raben" mit Bil¬
dern von Franz Stassen getreten, der sich den schönsten der Sammlung anreiht. Ein
willkommeneres billiges Geschenk als diese Märchenserie oder wenigstens der eine
oder andere Band daraus (zu je M. 1.—), ist für die Kleinen kaum zu denken.
EugenOßwald, der trefflicheTierschilderer, ist mit einem neuen Tierbilderbuch „Komm"
vertreten, das aus Pappe mit zweiundzwanzig farbigen Tafeln M. 3.— kostet; in
einigen seiner Bilder streift er aber diesmal ans Karikaturenhafte. Sein An¬
schauungsbilderbuch „Mein Spielzeug" (unzerreißbar M. 1.—) wird den kleinen,
und „Ringsumher", zu humorvollen Versen von Holst, den größeren Kindern
Freude machen. Für die ABC-Schützen hat dann W. Kotzde „Des Kindes
Fibel" herausgegeben, zu der Arpad Schmidhammer weit über hundert farbige Bilder
beigesteuert hat. Der Übungsstoff baut sich methodisch auf, und die prächtigen
Märchen- und Tierbilder, Szenen aus Stadt- und Landleben, den Kindern von
kleinauf vertraut, werden die oft so gefürchtete Fibel zum Lieblingsbuch der Jugend
machen; man möchte wünschen, daß sie es auch in der Schule benutzen darf. Ist doch
das im selben Verlag im vierzehnten Tausend vorliegende ABC-Bilderbuch unseres
lieben Meisters Hans Thoma (M. 4.—) seiner ganzen Anlage nach mehr als
Bilderbuch oder für den Einzelunterricht gedacht. Besonderen Dank aber verdient
der Verlag für die Herausgabe von „Scholz künstlerischen Volksbilderbüchern",
die zum Preise von 50 Pf. für acht Vollbilder auf Pappe oder sechzehn aus
Karton es nun auch den minder bemittelten Klassen ermöglichen, ihren Kindern
echte farbenfrohe Kunst vorzusetzen. Die bekannte Elitetruppe des Scholzschen
Verlages hat auch hier die Illustration übernommen, und herzerfreuende Gaben
liegen bereits vor; von Schmidhammer „Heiteres Spiel", „Hoppe, Reiter" und
die ganz köstlichen „Heinzelmännchen" (ein wahrer Schatz für 50 Pf.), „Fröhlicher
Reigen" von H. Schroedter, Rütselbüchlein von Langbein, „Unsere Haustiere" von
Kappstein, und eine Anzahl Märchen (je zwei in einem Bande) von Müller-
Münster, Gebhardt u. a. in. Mit den „Vaterländischen Bilderbüchern", heraus¬
gegeben von Wilh. Kotzde, stellt der Verlag Scholz das Bilderbuch in den Dienst
einer der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit. Sie wollen bewußt der Pflege und
Stärkung vaterländischen Sinnes unter der deutschen Jugend dienen. Jeder der
Bände, im Format des „Deutschen Bilderbuches" und in der Anlage des Jcmkschen
Soldatenbilderbuches, das der Verlag früher veröffentlichte, enthält acht farbige
Vollbilder, zahlreiche Textbilder und eine knappe, geschichtliche Übersicht. (Je
M. 1.—) Bislang liegen zwei Bände „Friedrich der Große" von Franz Müller-
Münster, der hiermit eines seiner besten Werke geschaffen hat, und drei Bände
über die Zeit von 1803 bis 1815 von Angelo Jcmk vor, zu dessen Lobe kaum noch
etwas zu sagen ist. Der heranwachsenden Jugend wird damit ein seltenes Bildungs¬
mittel geboten, und in der Schule dürfte die Sammlung zur Belebung des Interesses
am geschichtlichen Unterricht von großer Bedeutung sein. — Ein wunderschönes
Bilderwerk aus dem Verlag für Volkskunst, Richard Keutel, Stuttgart, schließt sich
hier an: „Die Freiheitskriege 1813 in der Kunst", zehn farbige, technisch hervor¬
ragend wiedergegebene Kunstblätter nach Originalen von Arthur Kampf, Robert
von Haug, L. Herterich, Karl Marr und Donner von Richter, zu denen Hans
W. Singer den begleitenden Text geschrieben hat. (Karl. M. 3.—, Lbd. M. 4.—.)
Es sind Bilder darunter, wie „Die Lützower an der Leiche Körners" oder Kampfs
„Einsegnung der Freiwilligen", „Mit Mann und Roß und Wagen", die sich der
Vorstellungskraft der Jugend stark einprägen und sie ins Leben hineinbegleiten
werden. Die vierfarbigen Weihnachtsbilder desselben Verlages auf Karton, wie
Leonardos „Abendmahl", Bilder von Richter, Herterichs „Johanna Stegen" und
ähnliche, werden bei dem billigen Preis von 20 Pfennigen als kleine Gaben vielen
willkommen sein. — „Die Heinzelmännchen", das lebensprühende Gedicht von
August Kopisch, haben auch Fritz Gareis jun. zur Illustration begeistert. Sein
Werk ist als Bilderbuch groszen Formats in Loewes Verlag Ferdinand Carl in
Stuttgart erschienen (M. 4 —). Auf zweiundzwanzig großen, meist farbigen Tafeln
hat er die helfende Geisterschar und die faulen Menschlein dargestellt und eine
Reihe der amüsantesten und humorvollsten Blätter geschaffen. Besonders die
Zwerglein mit ihren grünen Laternchen sind ihm prächtig gelungen, weniger gut
die Bilder der Gesellen, bei denen die leicht an Schmidhammers Art erinnernde
rundliche Pausbäckigkeit zu sehr wiederkehrt. Für eine hoffentlich bald nötig
werdende Neuauflage dürfte eine genaue Durchsicht des Textes und Abdruck nach
dem Original empfehlenswert sein. Derselbe Verlag legt auch eine mit vielen
humoristischen Buntbildern und Silhouetten geschmückte Sammlung „Deutsche
Kinderreime und Lieder" vor, deren Auswahl I, Baß übernommen hat, und die
auch eine Anzahl hübscher, sonst weniger bekannter Verslein bringt (M. 2.—). —
Ihren schönen Gaben für die Kinderstube (ich erinnere nur an die vielverbreiteten
Werke „LustigesKleinkinderbuch" und „König ist unser Kind", „Kinderland, duZauber-
lcmd", „Kinderhumor für Auge und Ohr" und „Frühling, Frühling überall") hat
Gertrud Caspari eine neue hinzugefügt: „Für unsere Einjährigen" mit Versen von
Adolf Holst, im Verlage von Alfred Hahn in Leipzig; auf Pappe M. 2.80. Da sehen
wir den „Nackedei" im Wasser plätschern und erleben fröhlich seinen Tageslauf mit,
in dem Milch, Kuchen und die Haustiere die größte Rolle spielen. Aus dem „Kinder¬
land", das mit seinen vierzig Seiten M. 3.— kostet, liegt eine Auswahl von acht Seiten
(zu 60 Pf.) und aus dem „Kleinkinderbuch" ebenfalls eine achtseitige Auswahl auf
Pappe (zu 80 Pf.) vor, die die Sammlung „Hahns wohlfeile Ausgaben von künst¬
lerischen Bilderbüchern" bestens einleiten und in den wenigen Blättern einen Vor¬
geschmack von dem Reichtum der Originalausgaben geben können. In Paula Dehmels
neuen Kindergedichten „Auf der bunten Wiese" offenbart sich wieder die echte Dichter¬
natur der Schöpferin der „Rumpumpelgedichte". Viele Verse aus diesem Buch, das
Elfe Neben - Victor mit reizenden und drolligen bunten Bildern geschmückt hat, werden
bald Gemeingut der Kleinen sein und in Anthologien übergehen. Den Preis hat der
Hahnsche Verlag mit M.3.— nicht zu hoch angesetzt. — Nach und neben dem Schauen
noch einiges für die kleinen Kehlen und das Hausmütterchen zum Singen. Seinem
ersten Band der „Alten, lieben Lieder", „In der Kinderstube" zubenannt, hat
Karl Henniger im zweiten Band die Lieder „Im Jahreskranze" folgen lasten
(Verlag der Jugendblätter, Carl Schnell, München; M. 3.—). Die Bilder sind
wieder von Jos. Mander, humorvoll und farbenfreudig, wie wir es an diesem
Künstler gewohnt sind, die Klavierbegleitung klingend, einfach in Singstimme und
Begleitung, von Wilh. Müller. Von „Lenzes Ankunft" bis zu den „Pfänder-
spielen" im Winter leben da altbekannte vertraute Weisen und auch weniger ver¬
breitete Lieder auf, für deren vortreffliche Auswahl der Name des Herausgebers
bürgt. Dem dritten, in Vorbereitung befindlichen Bande sehen wir erwartungsvoll
entgegen. — Wenigstens die Melodien einer größeren Anzahl Lieder finden wir
in der von Maria Kühn ausgewählten Sammlung „Macht auf das Tor, Alte
deutsche Kinderlieder, Reime und Singspiele", die in der bekannten Sammlung
der „Blauen Bücher" im Verlage von Karl Robert Langewiesche in Düsseldorf
zum Preise von M. 1.80 (Lbd. M. 3.—) in veränderter Neuauflage vorliegen.
Nur altes Volksgut im strengeren Sinne wurde aufgenommen und eine nach
Inhalt und Ausstattung mustergültige Sammlung geschaffen, wie wir sie jeder
jungen Mutter in die Hand wünschen, die von den ersten Wiegen- und Koseliedern
an bis zu den Spielen älterer Kinder hier reiches Material findet. Die diskreten
Zeichnungen von Stefanie Langewiesche fügen sich dem Werke harmonisch ein.
Von den Bilderbüchern zu den Spielen ist nur ein kleiner Schritt. Die
Ideen der künstlerischen Bewegung der letzten Jahre auch auf diesem Gebiete zur
Anwendung zu bringen, ist dringende Forderung, wie sich hier auch phantasie¬
vollen, beobachtenden und denkenden Eltern und Kindersreunden ein reiches Feld
der Betätigung erschließt, da die Verleger neuen Anregungen gern zugängig sind.
An der Spitze steht auch hier der Verlag von Joseph Scholz in Mainz. Eine
Anzahl seiner schönen Bilderfolgen aus den Märchen- und Kinderbüchern als
Legespiele den Kindern zu unterbreiten, die an die vertrauten Bilder mit besonderem
Interesse herantreten, lag nahe; man nutz den Jubel der Kleinen miterleben,
wenn sie z. B. Schmidhaminers köstliche Rotkäppchenbilder und die vielen anderen
unter ihren Händen Gestalt annehmen sehen. Datz sie gezwungen sind, vorher
die Bilder sich auch in den Einzelheiten genau anzusehen und einzuprägen, ist der
erzieherische Vorteil dabei. Noch Kleineren wird in dem „Farbendomino" ein
leichtes und unterhaltendes Mittel geboten, sich an den Unterschied der Farben zu
gewöhnen und ihre Namen zu lernen, während die mit Augen versehene Rückseite
der Platten das Spiel auch für Größere geeignet macht (M. 1.20). Sehr beliebt
sind serner die Quartettspiele, deren Scholz eine große Anzahl in künstlerischer
Ausstattung vorrätig hat (durchweg M. 1.20 bis M. 1.50). Auch da haben so
tüchtige Zeichner wie Cifsarz, Mickelait u. a. am Werke mitgeholfen. Das nützte
schon ein rechter Griesgram sein, den bei dem „Luftiger Quartett" Schmid-
Hammers nicht ein befreiendes Lachen ankäme. Lehrhaftere Zwecke, im Ver¬
folg eines unterhaltenden Spieles, streben das „Zitatenquartett", „Führer der
Menschheit", „Deutsche Städte", „Berühmte Gemälde" und viele andere an. Man
staunt, welche Fülle des Anregenden da für billiges Geld geboten ist, und der
Schulunterricht wird davon Nutzen ziehen. Auch für die älteren Spielarten hat
Scholz beste Namen herangezogen; wir nennen von Otzwald das „Zirkusspiel"
(M. 3.—), das „Belagerungsspiel" und ähnliche. Von Otzwald fehlt auch ein
„Tierlotto" nicht (M. 3,50); doch hat der Künstler darin nicht immer eine glückliche
Hand gezeigt. Bewußt der Belehrung dienstbar macht C. Mickelait das Spiel in
seinem „Geschichtlichen" und seinem mit einer übersichtlichen Erdkarte versehenen
„Geographischen Frage- und Antwortspiel" (je M. 3.50), wobei auch wirtschaftliche
Fragen belebend in den Vordergrund treten. Von den Neisespielen, die sich über
Deutschland erstrecken, liegt mir die „Rheinreise" vor, deren farbige Zeichnungen
von Heinsdorff stammen, und die uns ermöglicht, im Familienkreise eine anregende
und amüsante Ferientour den schönen Strom entlang zu machen. Wie viel die
Kinder dabei profitieren können, liegt auf der Hand. Gerade auf diesem geo¬
graphischen Gebiet könnte noch viel Schönes entstehen; und wer eine neue Idee
hätte, welche an Stelle der immer auftretenden Würfel eine andere zufällige
Gewinnart setzte, würde sich den Dank der Kleinen verdienen. In allem aber
sehen wir das ernste Streben des Verlages, auf diesem zeitweise vernachlässigten
Gebiet Wandel zu schaffen und an Stelle der bisher üblichen geschmacklosen Aus¬
stattung eine künstlerische in edlen Farben zu bringen, die auch verwöhnten An¬
sprüchen genügt. Bei solchen Leistungen verlohnt es sich nicht, auf die von Gustav
Weise, Stuttgart, unter dem Titel „Die Kunst im Leben des Kindes" (!) heraus¬
gebrachten Formbogen einzugehen, aus denen die Kinder Tierbilder auszuschneiden
und durch allerlei Kniffe zu plastisch wirken sollenden Figuren umzuformen haben
(In Karton M. 2.—). Das Ganze bleibt spielerisch papieren und wirkt unwahr.
Dagegen haben wir eine Anzahl anderer guter Beschäftigungsmittel. Von
Malbüchern, die den Kindern teils grundierte und vorgezeichnete Vorlagen zum
Ausmalen überlassen, oder den fortgeschritteneren und auch den Eltern An¬
regung geben wollen, selbständig vorzugehen, seien die Zeichen- und Mal¬
bücher von Gertrud Caspari genannt (Verlag Alfred Hahn in Leipzig, zwei
Hefte zu je M. 1.25), ferner die vielen Malbücher des Scholzschen Verlages und
endlich die des Verlages I. F. Schreiber in Eßlingen, insbesondere das schöne
„Märchenmalbuch" (M. 1.—), meistens nach Mauderschen Bildern. Eine vor¬
zügliche „Anleitung zum Vorzeichnen" gibt bei Schreiber Th. Gobi heraus. Im
Gegensatz zu beliebt gewordenen Schnellmalkunststücken, die aus zufälligen Ähnlich¬
keiten eines Gegenstandes mit geometrischen Formen, wie Quadrat, Kreis usw.,
eine Zeichnung erwachsen lassen, legt der Herausgeber auf den inneren Aufbau,
das Wachstum des Dinges das Hauptgewicht und betont das Charakteristische,
fast übertrieben stark, um auf natürlichem Wege zu seinen einfachen, ausdruckst
vollen Formen zu gelangen. Wer die bislang vorliegenden acht Hefte (zu je
80 Pfennig) durchgearbeitet hat, wird keine Schwierigkeit mehr haben, die Natur
und die Dinge um uns mit wenigen Strichen zur Freude der Kleinen aufs Blatt
zu bannen und den Kindern wieder richtige Anleitung zu geben. Von denselben
Grundsätzen geht Gösis „Anleitung zum Formen in Ton und Plastilina" aus,
der Kunst, die wie keine andere dem Kind Beobachten, Nachdenken und Geschick-
lichkeit der Hände anerzieht. Auch hier liegen drei Hefte zu je 80 Pfennig vor,
die warme Empfehlung verdienen. Hatte der Verlag schon in seinen „Be¬
schäftigungsbogen", den „Heimatkundlichen Baubogen" und den „Münchner
Künstler - Modellierbogen" (zu je 20 Pf.) ein billiges und die Kinder lange be¬
schäftigendes und unterhaltendes Anschauungsmaterial geboten, die seine Hefte
„Ausschneide - Arbeiten für Glanzpapier" praktisch ergänzten, so bringt er jetzt
in zwei Heften „Bunte Kartonarbeiten" von Gobi und Brethfeld eine
Fülle von Vorlagen, und Anregungen zum Verzieren, die alle darauf ausgehen,
die schöpferische Phantasie des Kindes anzuregen (je M. 1.40). Wer erst eins der
Schreiberschen Beschäftigungsmittel kennen gelernt hat, wird bald auch zu den
übrigen greifen. — Ein sehr gefälliges „Ausschneide- und Klebespiel" hat auch
Irene Braun (mit Schere, Klebstoff und Pinzette) bei Scholz in Mainz heraus-
gebracht. Sie scheut sich auch nicht, zur Übung für die Kleinsten Blaubogen zum
Durchpausen und ähnliche Hilfsmittel beizulegen, und wer einmal beobachtet hat,
wie schwer den kleinen Händchen die einfachsten Scheren- und Klebehandgriffe im
Anfang werden, wird ihr recht geben. Der Karton mit vielen einfachen Vorlagen
dürfte Anfängern willkommen sein. —
Eine Zusammenfassung all dieser der künstlerischen Kultur dienenden Be¬
strebungen bringt das Albrecht-Dürer-Haus in Berlin W., Kronenstraße 18, in
seinem hervorragend gut ausgestatteten „Dürerkasten. Ein Flächenspiel mit Bildern
und Farben, mit Schere und Buntpapier." (M. 10.—) Zusammengestellt nach
Anregungen von Annemarie Pallat-Hartleben, enthält er neben Schere, Linealen,
Zirkel, Klebstoffen eine Sammlung Olkreidestifte und Tuschkasten, für kleinere
zeichnerische Ergänzungen gedacht; das Hauptgewicht ruht auf den in einer
Auswahl von weit über hundert Farben beigegebenen Buntpapieren, aus denen
die geschickte Hand des Kindes die schönsten Papp- und Klebearbeiten herstellen kann,
den Eltern und sich selbst zur Freude. Wie da das Gefühl für wohlproportionierte
Flächengestaltung und schöne Farbenzusammenstellung geweckt wird, ist leicht
ersichtlich; die beigegebenen Anregungen lassen der Phantasie weitesten Spiel¬
raum. Dieselbe Verfasserin hat in ihrem Büchlein „Vereinfachtes Puppen¬
schneidern" (M. 3.—) ihre künstlerischen Ideen auf Puppen- und Kinderkleider
übertragen und dürfte damit bei den kleinen Mädchen warme Gegenliebe finden.
Auch die lange vergessene Perle hat die künstlerische Bewegung der letzten
Jahre wieder hervorgezogen, das Material, das weit mehr noch als Buntpapier
schöne Licht- und Farbeneffekte hervorbringt, wenn kunstgeschickte Hände sich liebevoll
mit ihnen beschäftigen. Für sie hat Ernst Flemming einen „Perlenwebeapparat"
konstruiert, den das Dürerhaus ebenfalls für M. 10.— in den Handel bringt.
Die schönsten Gebrauchsgegenstände lassen sich darauf anfertigen, und der künst¬
lerischen Phantasie ist ein weites Gebiet der Betätigung eröffnet. In noch höherem
Grade ist das beim Dürer-Weberahmen (M. 4S.—) der Fall, der nach einem
Modell von Martha Franck ausgeführt ist, im Gegensatz zu den älteren Systemen
wenig Raum wegnimmt, da er an jedem Tisch angebracht werden kann, und es
ermöglicht, in den verschiedensten Techniken künstlerische farbenprächtige Gebilde
von 2 bis 3 Meter Länge herzustellen. Er wird die größeren schwedischen Web¬
stuhle in manchem Hause zu ersetzen berufen sein. In der „Modelljacht" endlich
gibt Prof. Karl Storch eine Anleitung zum Selbstbauen von Boot- und Jacht¬
modellen und Kanoes, die besonders unserer reiferen männlichen Jugend, die
unserem Schiffswesen so großes Interesse entgegenbringt, willkommen sein wird.
Gehört doch schon ein größeres Maß geistiger Einsicht und manueller Geschick-
lichkeit dazu, auf Grund der ausgezeichneten Anweisung und genauer Pläne die
zierlichen Gebilde herzustellen, die nicht nur dem künftigen Schiffsbautechnikcr Freude
bereiten, sondern auch dem neuen Sport des Modelljachtsegelns neue Freunde
zuführen werden. Der Preis des ebenfalls im Verlag des Dürerhauses erschienenen
Werkes beträgt M. 5.—.
Damit nehmen wir von einem der liebenswürdigsten und anheimelndsten
Gebiete der Kindererziehung Abschied, um im nächsten Artikel eine Übersicht neuer
„Jugendschriften" zu geben.
Aus der Geschichte der preußischen Ein¬
kommensteuer. Eine weit verbreitete Annahme
geht dahin, dasz die Einkommensteuer in
Preußen erst durch Miauet eingeführt worden
sei, nachdem Sachsen und Baden schon vorher
zu ihr übergegangen waren. Wie aber schon
die Miquelsche Denkschrift zur Steuerreform
von 1893 erwähnt, hat die Preußische Re¬
gierung bereits im Jahre 1847 den Versuch
unternommen, dieser Steuerform Eingang zu
schaffen. Dieser interessante geschichtliche Vor¬
gang bildet den Gegenstand einer soeben ver¬
öffentlichten eingehenden wissenschaftlichen
Untersuchung.*)
In dem Existenzkampf, den England zu
Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gegen
Napoleon zu führen genötigt war, hatte Pitt
im Jahre 1799 die Einkommensteuer als ein
finanzielles Hilfsmittel eingeführt, und vier
Jahre später erfolgte eine definitive Neu¬
organisation dieser Einrichtung. Nach diesem
Vorbild wurde in Preußen zuerst zur Auf¬
bringung der Kriegskontribution die gleiche
Steuer eingeführt, aber schon 1811 von
Hardenberg wieder aufgehoben. Da jedoch
die Kommunen mittlerweile den Realservis in
eine milde Einkommensteuer umgewandelt
hatten, blieb auch weiterhin die Tradition in
der Praxis erhalten, und der im Jahre 1847
aufgestellte Regierungsentwurf hatte somit vor
dem Reglement von 1803 neben der eigenen
früheren Erfahrung auch die kommunale
Praxis voraus.
Die Stellungnahme der deutschen National¬
ökonomie zu dieser Frage war in der ersten
Hälfte des Jahrhunderts unter dem Einfluß
Adam Smiths eine durchaus ablehnende.
Die politische Theorie des Liberalismus for¬
derte umgekehrt — im Gegensatz zu den
Konservativen Stahl und Haller — möglichst
als einzige Steuer die Einkommensteuer zur
Stärkung der Parlamentarischen Macht¬
befugnisse.
Diese Forderung wurde noch gekräftigt
durch den Kampf gegen die kommunale Mahl-
und Schlachtsteuer, welche in den Städten
gezahlt wurde, die nicht früher zur Klassen¬
steuer übergegangen waren; je mehr die Mäst¬
ung Schlachtsteuer einbrachte, um so schwieriger
war es, denselben Betrag durch die Klassen¬
steuer aufzubringen. In denjenigen Städten
nun, die den rechtzeitigen Übergang versäumt
hatten, wurden besonders die unteren Klassen
von der verhaßten Besteuerung der wichtigsten
Lebensmittel getroffen. Nur die hohe Bureau¬
kratie und die städtischen Behörden, die einen
Zuschlag bis zu fünfzig Prozent erhoben,
schätzten diese ergiebige Steuer, während die
Beamten der Veranlagungsbehörde sich aus
praktischen Gründen den Freunden der Ein¬
kommensteuer anschlössen.
Das Jahr 1840 war auch für die Steuer¬
reformbewegung ein Epochenjahr in der
preußischen Geschichte; auch diesmal wirkte,
wie 1803, das englische Vorbild. Denn
1842 hatte Peel die Einkommensteuer in
England wiedereingeführt. Die,Proletariats¬
frage" lenkt jetzt gebieterisch die Aufmerksamkeit
auf sich, und für die vormärzliche Opposition
wurde, wie für die französische vor 1739,
Sozialreform vielfach identisch mit Steuer¬
reform. Alle Provinziallandtage beschäftigten
sich 184S mit dieser Frage, und, wenn sie
auch nicht Positiv die Einkommensteuer for¬
derten, so war doch die Verurteilung der Mcchl-
und Schlachtsteuer in den folgenden Jahren
eine ganz allgemeine.
Ebenso überraschend wie die Einberufung
des vereinigten Landtags kam der politischen
Welt im Februar 1847 der vollendete Ein-
lommensteuerentwurf der preußischen Re¬
gierung, den Otto Camphausen, der Bruder
Ludolfs, ausgearbeitet hatte. Man vermutete
sofort politische Motive, wie sie tatsächlich auch
eine Äußerung Leopold von Gerlachs bezeugt,
nämlich man müsse durch die ineomstsx die
Parteien sprengen und die Reichen um ihre
angemaßte Popularität bringen. Auch soziale
Gründe werden bei dem großen Notstand der
letzten Jahre angesprochen haben; vor allem
aber die starke Bewegung, die gegen die Mahl-
und Schlachtsteuer gerichtet war. Verlieren
konnte die Regierung bei der Einführung der
schon bewährten Steuer nichts; wurde aber
der Entwurf abgelehnt, so fiel auf den Land¬
tag die Verantwortung für den Fortbestand
der verhaßten Lebensmittelsteuern. Aus solchen
Motiven heraus ließ die Regierung auf das
deutlichste die Unannehmlichkeiten hervortreten,
die der Einkommensteuerermittlung anhaften
würden. Gegen das Reglement von 1808
war immerhin die Vorlage mit ihrer pro¬
zentualen Steigerung und Selbsteinschätzung
schon ein modernes Gesetz.
Die Presse wandte sich sofort gegen den
radikalen Versuch der Regierung, und die
Entscheidung des Landtags entsprach dieser
öffentlichen Stimme. Die Herrenkurie entschied
sich, wie zu erwarten, für die Regierungs¬
vorlage. In der Dreiständekurie war die
liberale ostpreußische Ritterschaft und der Adel
von Posen aus idealen Gründen, die schlesische
Ritterschaft, weil sie die Not der unteren
Klassen besonders vor Augen hatten, vor¬
wiegend für die Einkommensteuer. Von den
städtischen Abgeordneten dagegen stimmten die
meisten wegen des einträglichen Kommunal¬
zuschlags für die Mahl- und Schlachtsteuer;
die oppositionelle rheinische Bourgeoisie für
die Einkommensteuer. Die Majorität der
Landgemeinden war für die Vorlage, die für
sie Besteuerung der Reichen bedeutete.
Mit der Ablehnung der Vorlage war die
politische Absicht der Regierung erreicht. Die
Presse verurteilte zwar diesen Ausgang, nicht
aber die im Landtag vertretenen Stände; die
Nicht- oder Wenigbesitzenden aber hatten weder
Abgeordnete noch Presse.
Die Revolution führte einen der ersten
Verteidiger der Einkommensteuer auf den ver¬
antwortungsvollen Posten des Finanzministers
— David Hansemann. Zugleich zeigte sich
in den unteren Klassen aufs neue eine lebhafte
Bewegung für die Steuer und kam in zahl¬
reichen Petitionen an die Nationalversammlung
zum Ausdruck. Hansemann hatte die doppelte
Aufgabe, einmal die Revolution zu finanzieren,
was ihm dank des so oft bekämpften Staats¬
schatzes und einer freiwilligen Anleihe von
fünfzehn Millionen Taler gelang, ihm somit
das Einbringen einer Zwangsanleihe er¬
übrigte; zweitens eine große allgemeine
Finanzreform zu schaffen. Hierzu lag ihm
das gründlich durchberatene Projekt von 1847
vor. Aber Hansemann wagte es nicht, seine
eigene Partei, die Bourgeoisie, durch die bei
ihr unbeliebte Einkommensteuer zu brüskieren,
weil er sie im Kampf gegen das Andrängen
der radikalen Demokratie und der Reaktion
brauchte. Diese Doppelstellung hat ja über¬
haupt den schnellen Sieg der Reaktion herbei¬
geführt, die sich nun natürlich mit aller Energie
auf die von Hansemann nicht durchgeführten
Reformen warf.
Schon am 6. Dezember 1848 wurde ein
Entwurf über die Einkommensteuer ange¬
kündigt, im Juli 1849 veröffentlicht, und im
Herbst in veränderter Gestalt dem durch Drei¬
klassenwahl geschaffenen Parlament vorgelegt.
Erst 1860 kam es infolge der durch die Mobil¬
machung verursachten Notlage der Staats¬
finanzen zur Entscheidung. Die Regierung
verzichtete jetzt auf die früher von ihr für not¬
wendig erklärte Steuerreform, und eS kam
ein Kompromiß zustande, die „klassifizierte
Einkommensteuer".
In diesem Übergangsgebilde lagen die
Entwicklungskeime der Miquelschen Finanz»
reform, welche die durch mancherlei Politische
und materielle Gründe lange verzögerte Ein«
führung jenes Steuersystems zur Verwirk¬
lichung brachte. Dr. D, Meyer-Berlin
Strafprozessuale Strcitgenosscnschaft. Wir
brauchen in der künftigen Strafprozeßordnung
ein Rechtsinstitut, welches etwa dem entspricht,
was man im Zivilprozeß „notwendige Streit¬
genossenschaft" nennt. Ich will dies an zwei
Beispielen klar machen.
Zwei Personen sind, der eine als Dieb,
der andere als Hehler angeklagt. Beide werden
vom Schöffengericht verurteilt. Der Dieb legt
Berufung ein, der Hehler nicht. Der Dieb
wird in der zweiten Instanz freigesprochen,
das Urteil gegen den Hehler ist inzwischen
rechtskräftig geworden. Wir haben dann das
Schauspiel, daß der Hehler bestraft worden
ist, weil er seines Vorteils wegen Sachen, von
denen er wußte, daß sie mittelst einer straf¬
baren Handlung erlangt seien, verheimlicht
oder angekauft hat, während die Strafkammer
ausdrücklich bei der Freisprechung des ver¬
meintlichen Diebes festgestellt hat, daß diese
Sachen nicht mittelst einer strafbaren Hand¬
lung erlangt sind.
Ein anderer Fall.
Zwei Personen sind wegen gemeinschaft¬
licher Körperverletzung aus § 223 s Se. G. B.
angeklagt und in der ersten Instanz verurteilt
worden. Der eine legt Berufung ein, der
andere nicht. Auf die Berufung des Ersten
erkennt die zweite Instanz auf Freisprechung
mit der Feststellung, daß sich dieser bei der
Körperverletzung nicht beteiligt habe. Gegen
den zweiten Angeklagten aber, gegen welchen
das erstinstanzliche Urteil inzwischen rechts¬
kräftig geworden ist, bleibt die Feststellung
bestehen, daß er gemeinschaftlich mit einem
anderen in bewußtem und gewollten Zu¬
sammenwirken eine Körperverletzung begangen
hat. Danach ist womöglich die Strafe gegen
ihn höher bemessen, danach war sogar viel¬
leicht seine Bestrafung überhaupt nur möglich,
weil der für die Bestrafung aus s 223 Se. G. B.
erforderliche Strafantrag nicht gestellt war.
Das sind doch Widersprüche, die so uner¬
freulich sind, auch den beteiligten Laien von
selbst so in die Augen springen und deshalb
geeignet sind, das Ansehen der Strafjustiz zu
untergraben, daß auf ihre Abstellung bei
Reform der Strafprozeßordnung Bedacht ge¬
nommen werden müßte.
Nach Analogie des § 62 Z. P. O. wäre
zu bestimmen:
„Kann der Tatbestand einer strafbaren
Handlung mehreren Angeklagten gegenüber
nur einheitlich festgestellt werden, oder ist
ihre Anklagegemeinschaft aus einem sonstigen
Grunde eine notwendige, so wird, wenn ein
Anklagegenosse ein Rechtsmittel einlegt, die
Sache auch gegen die anderen Anklage¬
genossen nicht rechtskräftig. Die Strafsache
ist aber gegen die anderen Anklagegenossen
in der Instanz nur dann erneut zu ver¬
handeln, wenn die Verhandlung gegen den
die Instanz anrufenden Genossen zu einem
Ergebnis geführt hat, welches jene erneute
Verhandlung geboten erscheinen läßt."
Kommentar zum Automovilgesetz, zur
Bundesratsverordnung vom 3. Februar 1910,
sowie zum Automobilsteuergesetz von Dr.
Martin Jsaac, 1912, Berlin, Otto Liebmann,
16 M., geb. 17,S0 M.
Die Bedeutung, die der Kraftwagen in
unserem heutigen Verkehr besitzt, läßt ihn auch
im Rechtsleben eine erhebliche Rolle spielen.
Gerichts- und Verwaltungsbehörden haben
sich in immer gesteigertem Maße mit Rechts¬
fragen über das Automobil zu befassen. In
dem Bureau des Urwalds werden Fragen des
Automobilrechts in Straf- und Haftpflicht¬
prozessen erörtert. Bei Automobilunfällen sind
Verletzte und Haftpflichtige bestrebt, sich über
die Rechtslage zu unterrichten. Diese Infor¬
mation ist in verwickelten Fällen selbst für
den geschulten Juristen nicht leicht. Man
denke an die entstehenden Rechtsfragen beim
Zusammenstoß zwischen Automobil und Fuhr¬
werk, an die Haftung von Automobilhalter,
Chauffeur, Tierhalter und Kutscher zu dritten
und untereinander. Der Jsaacsche Kommentar
geht diesen verwickelten Fragen in muster¬
gültiger Gründlichkeit und Übersichtlichkeit
nach. Die Fülle des Materials überrascht.
Die angeführten Entscheidungen und die
Erläuterungen werden den Praktiker nur
selten im Stich lassen. Es sei insbesondere
auf die Anmerkungen, die sich auf das Ver¬
halten von Kraftwagenführer und Fuhrwerks¬
lenker beim scheuen von Pferden beziehen,
zu 8 9 des Automobilgesetzes und § 20 der
Bundesratsverordnung verwiesen. Die Er¬
läuterungen, insbesondere die zur BundeS-
ratsverordnung, geben in dankenswerter
Weise auch Aufschluß über technische Fragen,
die dem Nichtfachmann nicht immer geläufig
sein werden. Vielleicht empfiehlt es sich bei
einer Neuauflage des Werks auch die Vor¬
schriften des Strafgesetzbuchs über fahrlässige
Körperverletzung und Tötung zu kommentieren
und hierbei die den Automobilverkehr be¬
treffenden strafrechtlichen Entscheidungen über
Fahrlässigkeit und ursächlichen Zusammenhang
auch unter diesem Gesichtspunkt zusammenzu¬
stellen.
Der Kommentar ist geeignet, dem Richter
und Verwaltungsbeamten wie dem Anwalt
und gebildeten Laien ein zuverlässiger Führer
zu sein.
DaS Erscheinen der zweiten vervollstän¬
digten Auflage der Reden von Emil Dn Bois-
Reymond in zwei Bänden (Verlag von Veit
u. Co., Leipzig 1912) rückt die Gestalt des
großen Physiologen, der trotz seiner fremd¬
ländischen Abstammung unser war, wieder vor
die Seele derer, die abseits von der speziellen
wissenschaftlichen Arbeit stehend, den Klang
der Namen stiller Forscher nur selten ver¬
nehmen. Emil Du Bois-ReymondI Wem
wäre der Name dieses Mannes fremd ge¬
blieben, als er vor vierzig Jahren in der
Versammlung Deutscher Naturforscher und
Arzte sein „JgnorabimuS" sprach, das zum
geflügelten Worte wurde. Was Materie und
Kraft find, wie sie zu denken vermögen, werden
Wir niemals erkennen, hatte er damals ver¬
kündet und im Anschluß an diese Rede „über
die Grenzen des Naturerkennens", die später
durch eine andere verwandten Inhalts über
„die sieben Welträtsel" ergänzt wurde, hatte
sich eine Diskussion entwickelt, die weit über
die Gelehrtenkreise hinaus lebhaftes Interesse
erregte. Jenes Bekenntnis hatte Du Bois-
Reymond vorteilhaft von der dogmatischen
Zuversicht der Materialisten unterschieden, und
der Materialismus war, da er Unbegreifbar-
keit bekannte, von einer Philosophie zu einem
naturwissenschaftlichen Prinzip herabgesunken.
Das Banner der exakten Forschung, die jeg¬
lichen transzendenten Einschlag ablehnt, hoch¬
zuhalten, hat Du Bois-Reymond niemals
versäumt und wir können uns davon auch
aus seinen „Reden" überzeugen. Wir brauchen
nur seine Ausführungen über die „Lebens¬
kraft" oder den „Neo-Vitalismus" aufzu¬
schlagen, wo er sogar in recht extremer Weise
der mechanischen Naturerklärung das Wort
redet. Mag manches von dem, was Du Bois-
Reymond in seinen „Reden" niedergelegt hat,
von der Wissenschaft des heutigen Tages über¬
holt und widerlegt worden sein, — eins werden
wir immer staunend bewundern: die Reg¬
samkeit des Geistes, der zu uns spricht, die
Vielseitigkeit und Gründlichkeit der hier ge¬
offenbarten Arbeit. Derselbe Mann, der in
das Lebenswerk eines Johannes Müller und
eines Hermann Helmholtz eingedrungen ist
und es uns lebhaft vor Augen zu führen weiß,
sucht auch Voltaire, Lamettrie, Maupertins,
Diderot sowie vielen anderen, die seinem eigent¬
lichen Forschungsgebiet fern stehen, gerecht zu
werden und schlägt den Leser in seinen Bann.
Und derselbe Mann weiß über das National¬
gefühl, oder über die Beziehungen der Natur¬
wissenschaft zur bildenden Kunst, über den
deutschen Krieg, über Universitätseinrichtungen,
sowie andere Fragen des öffentlichen Lebens
und der Geschichte fesselnde Worte in glän¬
zender Form zu sagen.
Die neue Ausgabe der „Reden" ist gegen
die erste, die, noch von Du Bois-Reymond
selbst besorgt, seit Jahren vergriffen und im
Buchhandel kaum erhältlich ist, um sechs Reden
und zehn akademische Ansprachen bereichert
worden, die aus der Zeit 1887 bis 189S
stammen. Überdies enthält der erste Band
die Gedächtnisrede auf Du Bois-Reymond,
die der Erlanger Professor Rosenthal in der
Physikalischen und physiologischen Gesellschaft
zu Berlin gehalten hat. Rosenthal feierte
Du Bois-Reymond damals als den letzten
derer, welche um die Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts der experimentellen Naturwissen¬
schaft neue Bahnen eröffneten.
ES ist dankbar zu begrüßen, daß Du Bois-
Reymonds Tochter, Estelle Du Bois ° Rey¬
mond, die „Reden", die zum großen Teil in
der Akademie der Wissenschaften gehalten
Wurden, in der vorliegenden Ausgabe weiten
Kreisen wieder zugänglich gemacht hat und
wir wünschen der wertvollen Publikation die
Zwei Eroberungen. Die letzten Jahre
haben dem friedlichen Wettkampfe der Nationen
Erfolge beschert, die während mehrerer Jahr¬
hunderte das vergeblich ersehnte und unter
ungeheuren Anstrengungen und Opfern zu
erreichen gesuchte Ziel vieler unerschrockener
Männer waren. Innerhalb einer kurzen
Spanne Zeit fiel sowohl der Schleier, der
das Geheimnis des nördlichsten Punktes des
Erdballs deckte, als auch derjenige seines süd¬
lichsten. In die Ehre, ihre Flagge erstmalig
am Nord- und am Südpol aufgepflanzt zu
haben, teilen sich die Amerikaner und die
Norweger. Kleinlicher Neid und häßliche
Eifersucht haben die Freude über die Er¬
reichung des Nordpols zu keiner ungetrübten
werden lassen. Der unerquickliche Streit
zwischen Peary und Cook ist noch in aller
Gedächtnis, er wird jetzt von neuem wach¬
gerufen durch das Erscheinen der deutschen
Ausgabe von Fred. A. Cook: „Meine Er¬
oberung des Nordpols" (Hamburg, Alfred
Janssen. Geb. 10 M.). In einem stattlichen
Bande gibt Cook einen genauen Bericht über
seinen Aufenthalt unter den Eskimos und über
seinen Zug nach dem Norden. Für jeden Tag
seines Vordringens zum Pol sind die Zahlen
her erreichten Breite, der Temperatur usw.
angegeben, sowie die Mittel genannt, die er
anwandte, um eine möglichst einwandfreie
Ortsbestimmung zu erzielen. Interessant ist,
daß Cook sich dabei auch auf oft wiederholte
Messung der Schattenlänge stützt. Die Er¬
klärungen, die er dazu gibt, sind einleuchtend,
sie werden Wohl auch wissenschaftlichen Nach¬
prüfungen standhalten. Mag Cook nun den
Nordpol erreicht haben oder nicht — neben¬
bei sei bemerkt, daß Amundsen und mit
ihm eine ganze Anzahl Polarforscher daran
nicht zweifeln —, so ist sein Buch doch als
eine Bereicherung der Literatur über die
Arktis zu begrüßen. Noch mehr würde dies
der Fall sein, wenn die Polemik gegen Peary
nicht so sehr in den Vordergrund träte. —
Tode um den Vorrang als Nordpolsieger der
Kampf, des Südpols unbestrittener Bezwinger
ist Roald Amundsen. Soeben, noch vor demi
norwegischen Original, erscheint die deutsche
Ausgabe seines Buches: „Die Eroberung des
Südpols" bei I. F. Lehmann in München
(zwei Bände mit über dreihundert Abbildungen,
Karten und Plänen, geb. 22 M-). Amundsen
wußte sich die Erfahrungen seiner Vorgänger
in der Antarktis klug zunutze zu machen. Ab¬
weichend von Scott und Shackleton, um nur
die letzten zu nennen, wählte er gerade die
vielgenannte Eisplatte als Stützpunkt sür
seinen Vorstoß nach Süden. Er erkannte klar,
daß die von Roß 1841 entdeckte und nach ihm
benannte ungeheure, feste Eisfläche, die den
südlichen Teil des Roßmeeres bedeckt, ein
dauerhaftes Gebilde darstellt und vermutete,
daß der Weg über sie mit erheblich weniger
Anstrengungen und Gefahr verknüpft sein
würde, als das Vordringen von irgend¬
einem anderen Punkte aus. Der Erfolg
hat ihm Recht gegeben. BewundernSwert
ist das Organisationstalent Amundsens. Die
in regelmäßigen Etappen vorgeschobenen
Lebensmittelniederlagen, die weise Ein¬
teilung der Kräfte von Mensch und Tier
und nicht zuletzt die Kunst, die Expeditions¬
teilnehmer während der ganzen Zeit in reger
Tätigkeit und vollständig gesund zu erhalten,
haben die einzig dastehende Reise und den
glänzenden Erfolg ermöglicht. Die Wissen¬
schaft hat durch den kühnen Zug Amundsens
und seiner wackeren Begleiter die wertvollsten
Aufklärungen über den antarktischen Kontinent
erhalten. Während den Nordpol ein 4000Meter
tiefes Meer bedeckt, erhebt sich am Südpol
festes Land zu einer über 3000 Meter hoch
liegenden großen Ebene, die von Rand¬
gebirgen eingeschlossen wird. Äußerst inter¬
essant versteht Amundsen seine Reise zu
schildern, keinen trockenen Bericht, sondern
eine lebensvolle prächtige Darstellung enthält
daS Buch. Mit Plastischer Anschaulichkeit spricht
er über das Leben und Treiben im Winter¬
quartier „Framheim", mit unverhüllter Liebe
über die erhabene Natur und deren zwei-
und vierbeinige Geschöpfe. Letzteren, den
treuen Hunden, ist ein nicht geringer Raum
im Buche zugebilligt, und mit Recht, denn
ohne die Hilfe dieser Tiere wäre der Pol Wohl
noch nicht sobald erreicht worden. Amundsens
Buch stellt sich würdig den besten Werken über
Polarreisen an die Seite, es bietet den Lesern,
zu denen auch die reifere Jugend ohne weiteres
Vom lustigen Alt-England. Umgibt das
Stuartsche Königshaus in der Geschichte ein
seltsames Flimmern, oft wie echter Glanz
aufleuchtend und doch, genauer besehen, immer
ein zehrendes Schwalm, so bringt dieser
Umstand vor allen? die Schwierigkeit mit sich,
jene Reihe auffallender Herrschergestalten zu
charakterisieren. Gewiß ist, daß sich kein Fürst
und keine Fürstin von wirklicher Größe unter
ihnen befand, Wohl aber neben plumpen und
gemütlosen Narren ein Schlag geborener
Bühnenhelden. Zwei davon, Maria Stuart
und ihr Enkel Karl der Erste, haben ihr in
eine Tragödie auslaufendes Lebensschauspiel
unter dem Henkerbeil tapfer beschlossen. Der
älteste Urenkel Marias, Karl der Zweite, war
nach W. M. Thackeray ein Halunke, aber kein
Snob, — was völlig zutrifft, den > Fall jedoch
keineswegs erschöpft. Mit der Hinrichtung
seines Vaters erstand England als Republik,
von bibelfesten Spartanern in Harnisch und
Sporenstiefeln regiert. Zehn Jahre politischer
Machtentfaltung nach außen und innen
folgten, dann starb der Zauberer, der dies
vermocht hatte, und für seinen Sohn Richard
Cromwell war „die Hand des Herrn" offen¬
bar zu schwer. Er lief davon, die frommen
Puritaner haderten und ein neuer Bürgerkrieg
drohte, als etliche Aristokraten in Befehls¬
haberstellen kurzerhand den Verbannten Stuart
zurückholten. Karl der Zweite wurde wie
der Messias empfangen, und er allein von
allen Königen seines Geschlechts hat, notdürftig
aber in beinahe origineller Weise, verstanden,
was man von ihm wollte. Eine gute und
gerechte oder gar starke Regierung konnte er
nicht bieten, dafür war er ein Stuart, aber
harte Schicksalsstöße hatten ihm den Hochmut
ausgetrieben, der die Gesinnungslosigkeit
seiner Vorfahren so unerträglich machte.
England, der puritanischen Betstunden unter
Kürassierbewachung müde, wollte einmal aus
Herzensgrunde dem „ehrt" ein Schnippchen
schlagen und dazu war der restaurierte Monarch
wie geschaffen. Seine, durch lässige Gut¬
mütigkeit gemilderte Menschenverachtung, seine
durch Geist und Witz verdeckte Würdelosigkeit,
seine Kunst, den Mangel an Ehrgefühl und
Gewissen durch beinahe heroische Liederlichkeit
nach jeder Richtung in den Schatten zu stellen,
sie haben gleichsam elektrisierend gewirkt und
den fünfundzwanzig Jahren dieser Regierung
ein Parfüm verliehen, gegen daS ihre Schäden,
düsteren Kehrseiten und Verderbnisse niemals
recht zur Geltung gelangt sind. Das lustige
Alt-England hieß nachmals die Zeit, in der
bei Hofe zwar bisweilen das Bargeld emp¬
findlich ausging und im Lande noch öfter,
Wo aber das Paradies Mohammeds sein
kräftiges Abbild erreichte. Unter den auf
solches Hofleben gestimmten Seelen befand sich
Graf Anthony Hamilton; er hat dann in
höherem Alter, als die Stuarts und er mit
ihnen wieder im Exil saßen, unter Benutzung
von Erinnerungen eines Genossen jenes
rasenden Treibens, des Chevaliers Philibert
von Gramont, sein berühmt gewordenes Buch
verfaßt: „Der englische Hof unter König
Karl dem Zweiten." Die wohlgefällige
Schilderung von unstreitig pikanten Scandalosis
wurde schon mehrfach ins Deutsche übertragen,
jetzt durch Paul Friedrich als „Die Memoiren
des Grafen von Gramont" (Wilh. Born-
grüber, Verlag Neues Leben, Berlin W.j.
Vier Illustrationen von F. von Bayros stellen
gewagte Situationen aus Hnmiltons Berichten
dar, doch mag die Auffassung des Künstlers
im ganzen hingehen. Ein Dutzend Porträts
wäre natürlich instruktiver gewesen. Allein
diese Ausgabe ist von Gramonts kühner
Behendigkeit eigentümlich beeinflußt worden.
Ihr Bearbeiter hat nach Regeln eigenen
Geschmacks, über die er auf Seite 7 in wenig
gewinnendem Tone Rechenschaft gibt, darin
herumgewirtschaftet. Mag sein, daß die
Flüssigkeit der Erzählung — die Verdeutschung
ist nicht schlecht — Vorteil davon hatte. Nur
bewundert man hier eben ein neues Beispiel
des emporwuchernden literarischen in b H¬
<L. N.
Ein nordischer Bildner. 1902 — die
Ausstellung bei Keller u. Reiner, in der zum
erstenmal sein Lebenswerk umfassend in
Berlin vorgeführt wird — und Stephan
Sinding, der Norweger, ist nicht nur in aller
Munde (das will nicht viel sagen in unserer
schnellobigen Zeit, und viel wird in zehn
Jahren vergessen) — nein, er ist eingezogen
in die Herzen der Deutschen, die ihm ihre
Liebe entgegenbringen, seit sie ihn so kennen
lernten, und die ihm Treue halten werden in
die Jahrhunderte hinein. Denn in dem
stammverwandten Künstler spüren wir Blut
von unserem Blut und Geist von unserem
Geist; da ist ein Ideal erfüllt, das uns von
germanischer Kunst vorschwebte; da ist Wahr¬
heit und Schönheit, Tiefe und Phantasie,
keusche Lieblichkeit und posenferne Schlichtheit,
heraufgeholt aus Ursprünglichkeit und selbst¬
sicherer Kraft, und gemeistert von einer
wunderbaren Technik. Als Norweger darf
er stolz seinen Namen neben die Ole Bull,
Ibsen und Björnson setzen, denen er in
Bergen und vor dem Nationaltheater in
Christiania die Standbilder schuf; wie sie ist
er hinausgegangen in die Welt; und Berlin,
dessen Liebe er warm erwidert, darf sich
rühmen, ihm, dem Schüler von Albert Wolff,
das Rüstzeug seiner Kunst an die Hand ge¬
geben zu haben. Von Berlin ging auch die
Popularisierung seiner Kunst aus; von hier
aus zogen die Tausende von Reproduktionen
nach seinen Hauptwerken in die deutschen
Häuser: die holdselige Verkörperung des
Schlafes, unter dem Titel „Die Nacht" be¬
kannt; der trotzige „Sklave"; die „Barbaren¬
mutter" in ihrer finsteren Größe; die er¬
greifende Gestalt der „Gefangenen Mutter",
die in Fesseln auf den Knien ihrem Kinde
die Brust reicht; die „Älteste ihres Geschlechts",
die Seherin an der Grenze der Ewigkeit;
die im Sturm daherbrausende „Walküre";
das monumentale Symbol der formenden
„Mutter Erde"; die keusche „Anbetung"; und
die Gruppe, die seinen Namen über die Erde
getragen und so viel Nachahmer gefunden
hat: die „Zwei Menschen" in ihrem seligen
Umfangen.
Und noch einmal — zehn Jahre später
— soll von Berlin aus seine Kunst und jetzt
auch nähere Kunde über sein Leben ins
deutsche Volk dringen, mehr noch, scheint mir,
als eS bisher geschehen konnte. Vor mir
liegt M. Rapsilbers in ehrlicher Begeisterung
geschriebene, eingehende und verständnisvolle
Biographie und feinsinnige künstlerische Wür¬
digung des Meisters, „Stephan Sinding",
ein Band der Serie „Kunst und Schönheit",
den der Verlag Marquardt u. Co., Berlin
I^V/. 67, mit 61 (einundsechzig!) Original¬
reproduktionen und einer Gravure in größtem
Quartformat für den unglaublichen Preis
von 1,80 M. (in Prächtigen Leinenband
2,80 M.) herausgebracht hat. Ich habe den
lebhaftesten Wunsch und hege an dessen Er¬
füllung keinen Zweifel, daß dieser Band, der
alle Hauptwerke SindingS und eine reiche
Menge der bislang weniger bekannt ge¬
wordenen (darunter die Umarbeitung der
„Walküre" und die neue Gruppe der in
Frühlingsahnung erschauernden jungen
Menschenkinder „Mai") sowie eine Anzahl
hochinteressanter Skizzen bringt, eins der be¬
liebtesten und erhofftesten Weihnachtsgeschenke
werden und dem Menschen Sinding die
Heimstätte noch tiefer im deutschen Herzen
begründen wird, die der Künstler Sinding
längst inne hat.
Nur eins habe ich zu erinnern. Wenn
es Ncipsilber auch in der Hauptsache darauf
ankam, das Werk des Meisters sprechen zu
lassen und biographische Daten nur zum
besseren Verständnis der Kunst zu geben:
eine hätte er nicht übergehen sollen: des
Künstlers Muse, die schöne Frau Elga Sin¬
ding, die alle Sorgen und Mühen seines
schwer ringenden Lebens mit ihm teilt, deren
Urteil er seine Pläne bis ins kleinste unter¬
breitet und der als Zeugnis seiner innigsten
Liebe die Worte auf dem Original der „Zwei
Menschen" in Jcicobsens Up - CarlSberg-
Glyptothek in Kopenhagen gelten: ^ ma
Liliencron- und Falke-Ausgaben. Bon
der Freundschaftsband Richard Dehmels auf
Grund letztwilligor Bestimmung des Dichters
gesichtet und neu eingerichtet, liegen jetzt die
„Gesammelten Werke" Detlev von Lilien-
crons in acht würdig ausgestatteten Halb¬
kalblederbänden vor, denen sich die schon
vorher erschienenen zwei Bände Briefwechsel
in gleicher Ausstattung anreihen. Der Preis
des gebundenen Bandes beträgt 6 Mark;
V erlag von Schuster u. Löffler in Berlin.
In dem knappen Vorwort setzt Dehmel
Zweck und Ziel des garnicht lange nach der
ersten Gesamtausgabe veröffentlichten Werkes
auseinander. „Vor allem mußte der end¬
gültige Wortlaut seiner Bücher gesichert
werden. Aus den verschiedenen Handexem¬
plaren, die er bei seinen Vortragsreisen be¬
nutzte und in freien Stunden durchzufeilen
pflegte, waren die vielen Verbesserungen in
vergleichender Sichtung zusammenzutragen;
und aus den noch nicht in Buchform ver¬
öffentlichten Schriften war das Wertvollste
ebenfalls auszusuchen und an Passender Stelle
einzureihen." Die Reihenfolge der Gedichte
ist geblieben, wie sie Liliencron, getreu seiner
Maxime „Variatio cleleetst", angeordnet
hatte. Poggfred, das „kunterbunte", nach und
nach auf neunundzwanzig Gesänge ange¬
wachsene Epos, nimmt seiner Bedeutung
gemäß den ersten Band ein (in teilweise ver¬
änderter Reihung der „Kantusse"); es folgen
zwei Gedichtbände mit den Untertiteln: „Der
Heidegänger" (als bezeichnend aus früherer
Zeit für „Kämpfe und Ziele" wieder ein¬
gesetzt), „Kampf und Spiele", „Nebel und
Sonne", „Bunte Beute", „Gute Nacht";
Band 4 und 5 enthält die Dramen; Band 6
die Romane; Band 7 die Novellen (von
denen die letzten den Titel „Späte Ernte"
bekommen haben); und der 8. Band „Mis-
cellen" bringt neu eine Auswahl Gelegen¬
heitsschriften, meist Rezensionen, „um auch
diesen Arbeiten Liliencrons, denen er selber
wenig Wert beimaß, die aber manchen köst¬
lichen Satz enthalten, die gebührende Be¬
achtung zu sichern; sie haben in den soge¬
nannten jüngstdeutschen Entwicklungsjahren
gute Fürsprecherdienste geleistet."
Was Liliencron uns und insbesondere der
modernen Lyrik bedeutet, erübrigt sich an
dieser Stelle zu sagen. Seien wir stolz
auf dieses würdige Denkmal, das sich der
Meister selbst gesetzt, und wünschen wir ihm,
daß eS in viele Häuser Eingang gewinne.
Als Liliencron seinen sechzigsten Geburts¬
tag feierte, begrüßte ihn sein Freund Falke als
„Hauptmann, General,
der deutschen Lyrik Feldmarschall."
Bleiben wir in diesem Bilde, so nimmt
Gustav Falke in dem Generalstab eine der
ersten Stellen ein. Ihm als einem unserer
Besten gilt eine Ehrung zu seinem sechzigsten
Geburtstag am 13. Januar 1913. In aparten
Seitenhaut von Prof. Czeschka, der auch die
übrige Ausstattung besorgte, liegen seine
„Gesammelten Dichtungen" in fünf Bänden
im Verlage von Alfred Janssen in Hamburg
vor (16 M., einzeln 3,60 M.). Die Bände,
in denen der Ertrag eines roichen Lebens
aufgegangen ist, wie er bislang in acht
Gedichtbänden aufgespeichert lag, tragen
die Titel „Herddämmerglück", „Tanz
und Andacht", „Der Frühlingsreiter",
„Der Schnitter" und „Erzählende Dich¬
tungen". Mit seinen ersten, in Zeitschriften
veröffentlichten Gedichten gewann er die
Freundschaft Liliencrons, Norddeutscher und
ein Stück Grandseigneur wie er, wenn ihm
auch im Tiefsten das „Herddämmerglück",
der Friede einer glücklichen, beseligenden Ehe,
ein Sichbescheiden und Zurruhekommen die
schönsten seiner Lieder schenkte. Mit seinen
ersten Gedichtbänden „Mynher der Tod" und
„Tanz und Andacht" hat er sich als reifer
Mann seine Stellung in der deutschen Lyrik
geschaffen, die die folgenden Bände nur be¬
festigen, aber nicht mehr merklich verändern
konnten; eine langsam, aber stetig wachsende
Gemeinde Scharte sich um ihn; seine zweite
Vaterstadt Hamburg ehrte sich und ihn Hei
Gelegenheit seines funfzigsten Geburtstages
durch einen jährlichen Ehrensold, und Aus¬
wahlen aus seinen Werken, die eine Perle
an die andere reihen konnten, machten ihn
weiter bekannt. Er ist keiner von denen, die
als „Neutöner" um jeden Preis von sich
reden machen; eine stille Innigkeit und Inner¬
lichkeit wie auf Thomaschen Bildern geht von
ihm aus; wo man heute seinen Namen nennt,
ist man gewiß, daß ein herzwarmes Ver¬
stehen, eine Liebe ohne viele Worte sich ihm
entgegenbringt. Seine Jubelausgabe ist ein
guter Freund in der Familie, und beschenkt
und beglückt; möchte man sich ihrer zum
Berthold Litzmann hat die Gesamtausgabe
der Werke Ernst von Wildenbruchs über¬
nommen und die G. Grotcsche Verlagsbuch¬
handlung in Berlin hat nunmehr die zwei
ersten Bände in die Welt geschickt. Der Plan
der Ausgabe ist die Dramen für sich und die
Romane und Novellen für sich in zwei Reihen
von je neun und sechs Bänden zu ordnen.
Ferner macht der Herausgeber folgende An¬
gaben über die Anlage seiner Arbeit: „In
der Reihe der Romane und Novellen sind die,
Motive aus dem Seelenleben des Kindes be¬
handelnden, Erzählungen in einem Bande für
sich zusammengestellt, Per letzte Band der
Dramen bringt außer den von ihm selbst ver¬
öffentlichten Jugendwerken noch einige Dramen
und Dramenentwürfe der Frühzeit, die für
die Entwicklung des Dramatikers bedeutsam
und daher der Aufnahme in die Gesamtaus¬
gabe wert erscheinen. Eine dritte Reihe bringt
in zwei Schlußbänden außer den beiden
Heldengedichten „Vionville" und „Sedan"
die aus den Handschriften stark vermehrten,
nach der Zeitfolge ihrer Entstehung geordneten
lyrischen Gedichte, ferner die Humoresken, eine
Anzahl von Skizzen in Prosa und aus¬
gewählte Reden und Ansprachen. Für den
Text der Ausgabe war maßgebend der Druck
der letzten Hand, d. h. die letzten zu seinen
Lebzeiten erschienenen und von ihm selbst
durchgesehenen Einzeldrucke." Der Heraus¬
geber hat nicht versäumt, die erreichbaren
Handschriften und die ersten Drucke zum Ver¬
gleich heranzuziehen. Zum erstenmal gedruckt
erscheint in dieser Ausgabe das nachgelassene
Trauerspiel „Ermanarich". Die beiden er¬
wähnten ersten Bände sind mit einleitenden
Bemerkungen versehen, die über die Ent¬
stehung der jeweils in einem Bande ver¬
einigten Werke Wildenbruchs einigen Aufschluß
geben. Im ganzen tritt das Philologische
Moment in dieser Ausgabe äußerlich durch¬
aus in den Hintergrund und künstlerische
Grundsätze scheinen für den Herausgeber und
den Verleger Richtung gebend gewesen zu
sein. Die Ausstattung bezeugt guten Ge¬
schmack, sie ist schlicht und vornehm. So mag
denn Wildenbruch zu seinen alten Freunden,
denen zum erstenmal Gelegenheit gegeben
wird, die Lebensarbeit des Dichters als
Ganzes zu überschauen, neue werben.
Eine sehr erfreuliche und weiten Kreisen
zweifellos hochwillkommene Neuausgabe ist
die vom Verlag S. Fischer, Berlin, veran¬
staltete vollständige Volksausgabe der ge¬
sammelten Werke von Gerhart Hauptmann
in sechs Bänden, in Leinen gebunden zum
geringen Preise von 20 Mark. Sie enthält
außer den chronologisch geordneten Dramen
in vier Bänden auch die Prosawerke „Bahn¬
wärter Thiel", „Der Apostel", „Der Narr
in Christo Emanuel Quint", „Griechischer
Frühling" und „Atlantis". Die Ausstattung
ist in jeder Beziehung zu loben. Alle Freunde
und Verehrer der Hauptnmnnschen Muse seien
nachdrücklich auf dies neue Unternehmen hin¬
gewiesen.
Der Tempel-Verlag hat seine Klassiker¬
ausgaben um einige wertvolle Bände be¬
reichert. Die zwölfbändige Schillerausgabe
ist durch einen dreizehnten Band, einer
Darstellung von Schillers Leben und seinem
Werk aus der Feder Fritz stiess, ergänzt
Worden, die gewiß vielen, die sich ihres
Schillers in dem sorgfältig hergestellten Text
des Tempel - Verlags erfreuen, willkommen
sein wird. Sie ist ergiebiger als die sonst
in den üblichen Einleitungen und Anmerkungen
niedergelegten Kommentare.
Im letzten Sommer erschien im gleichen
Verlage ein zweibändiger Körner und in
jüngster Zeit ein sechsbändiger Lessing. Für
die Freunde unserer klassischen Literatur be¬
darf es kaum mehr als dieses Hinweises,
denn die Tempel - Ausgaben sind längst als
inhaltlich gediegen und in der äußeren Form
geschmackvoll anerkannt. Die vorliegende
Lessing-Ausgabe enthält das Poetische Schaffen
Lessings vollständig, ferner außer der „Ham¬
burgischen Dramaturgie" und demi „Laokoon"
die theatergeschichtlichen und theaterästhetischen,
sowie die hauptsächlichsten archäologisch-Phi¬
lologischen und rationalistisch-theologischen
Schriften.
Jeder Band Tempelklassiker kostet in Leinen
Die Voraussicht, daß die Entspannung der politischen Lage sich nicht
ohne Rückfälle und erneute Krisen vollziehen werde, hat nur zu bald ihre
Bestätigung erfahren. Der Interessengegensatz der an den Balkanfragen meist
beteiligten Großmächte schien sich letzter Woche zu offenem Konflikt zuzuspitzen.
Nachrichten und Gerüchte über Mobilisierungen in Österreich, Nußland und
sogar in Deutschland (!), Sensationsdepeschen über den bedrohlichen Stand der
Dinge im europäischen Konzert füllten die Spalten der Tagesblätter und erregten
eine tiefgreifende Beunruhigung und Kriegsfurcht. Das Barometer der Börse
sank wieder auf Sturm. Eine energisch gehaltene Beschwichtigungsnote der
Reichsregierung war notwendig, um der Kopflosigkeit zu steuern und eine
größere Gelassenheit gegenüber der zwar ernsten, aber doch nicht unmittelbar
bedrohlichen Lage zum Siege zu verhelfen. Die Wolken verzogen sich wieder
und heute herrscht — auf wie lange? — wieder die allgemeine Zuversicht, daß
die definitive Regelung der Balkanfrage unter den Großmächten in Freundschaft
und Frieden erfolgen werde. Indessen hat es mit dieser definitiven Beilegung
noch gute Weile —, wir wissen, wie langsam internationale Konferenzen arbeiten.
Die Balkanfrage wird also günstigenfalls noch auf Monate hinaus eine ständige
Sorge und Quelle der Beunruhigung für das Wirtschaftsleben bilden. Mittler¬
weile machen sich schon jetzt die wirtschaftlichen Folgen des Krieges in
steigendem Maße fühlbar. Noch ist zwar die Kraft der Hochkonjunktur in der
schweren Industrie nicht gebrochen, aber auf einzelnen Gebieten zeigen sich doch
Stockungen, die unmittelbar durch den Krieg veranlaßt werden. So vor allem
im Textilgewerbe, so auch in dem Rückgang des Exports von Weißblech,
das vornehmlich für die Petroleumindustrie Südrußlands und der Donauländer
bestimmt ist. Aber auch in anderen Industriezweigen zwingt die unsichere
politische Lage und die Goldteuerung zur Zurückhaltung, und wenn die Montan-
industrie zurzeit auch noch über ihre Leistungsfähigkeit hinaus beschäftigt ist,
so fangen doch die Aufträge auf längere Zeit hinaus an spärlich zu werden.
Am unmittelbarsten spürt die Wirkung des Krieges Österreich-Ungarn: die
Liste der Zahlungseinstellungen und Bankrotte beweist es deutlich. Die von
den Balkanstaaten dekretierten Moratorien und die faktische Uneinziehbarkeit
von Aufständen in der Türkei, hat für viele Exporteure Verlegenheiten und
Zahlungsstockungen zur Folge. Besonders nachteilig macht sich fühlbar, daß
der Wechselverkehr mit den Ländern des Balkanbundes infolge der Mora¬
torien gestört und die Lage der Gläubiger gefährdet ist. Denn nach geltendem
Recht wird der Protest eines fälligen Wechsels durch das Moratorium ver¬
hindert, während der Regreß gegen den inländischen Wechselverpflichteten, für
den das Moratorium nicht gilt, von der Beibringung des Protestes abhängig
ist und in der Frist von wenigen Monaten verjährt. Der Wechselgläubiger ist
also in einer prekären Lage. Österreich-Ungarn will durch ein Notgesetz helfen,
indem es im Einklang mit den Beschlüssen der Haager internationalen
Wechselkonferenz den Gläubiger von der Beibringung des Protestes ent¬
bindet und den Regreß aufrecht erhält. Ein gleiches Vorgehen haben für
Deutschland die Ältesten der Kaufmannschaft zu Berlin bei der Reichsregierung
in Antrag gebracht und es steht zu hoffen, daß diesem Antrage, für den alle
Gründe der Billigkeit und des Rechtes sprechen, alsbald stattgegeben wird.
Bedenklicher als diese unmittelbaren Nachteile des Krieges ist die Be¬
unruhigung, von der angesichts der politischen Unsicherheit die kleinen Sparer
ergriffen sind. Wie zuzeiten der Marokkoaffäre drängen sich wieder die Ein¬
leger an den Schaltern der Sparkassen, besonders in Ostpreußen und Schlesien,
und fordern aus Furcht vor feindlicher Invasion ihre Spargroschen zurück, um
sie nach Väter Sitte im Strumpf verschwinden zu lassen. Ein Beruhigungs¬
telegramm des Reichskanzlers an den Oberpräsidenten von Ostpreußen
mußte dazu dienen, diese übergroße Ängstlichkeit der kleinen Leute zu ver¬
scheuchen. Ähnliches wird auch wieder aus Frankreich gemeldet. Dieses Ver¬
halten des Sparpublikums in kritischer Zeit beweist, wie dringend erforderlich
es ist, sür die Liquidität der Sparkassen besser zu sorgen als es bisher geschehen
ist. Denn was soll geschehen, wenn einmal wirklich der Feind an den Grenzen
steht? Es war in der Tat hohe Zeit, das Gesetz über die Anlagen der
Sparkassen, dieses so viel umstrittene und so angefochtene, in den Hafen zu
bringen.
Die alles frühere Maß übersteigende Beschäftigung unserer Montanindustrie
hat zu schweren Verkehrsstockungen im Ruhrgebiet geführt. Alljährlich, wenn
der lebhaftere Geschäftsgang der Herbstmonate einsetzt und zugleich die Land¬
wirtschaft für Nübentransporte erhöhte Ansprüche an den Frachtverkehr stellt,
pflegt im Jndustrierevier ein Wagenmangel aufzutreten. Die Eisenbahn¬
verwaltung kann nicht so viel leere Güterwagen stellen, als von den Zechen
täglich für den Kohlenversand angefordert werden. Dies wird von der Industrie
stets als ein schwerer Mißstand empfunden, denn die Kohlenförderung ist auf
sofortige Verladung eingestellt. Ein Lagern der Kohle bedeutet eine Einbuße
an Arbeit, Zeit, Geld und Qualität und kann bei bedeutender Förderung auch
schon aus räumlichen Gründen nicht erfolgen. Kann daher die tägliche Förde¬
rung nicht zum Versand gebracht werden, so müssen die Zechen sie einschränken
oder einstellen. Das bedeutet natürlich eine gewaltige Einbuße an Absatz und
Gewinn, an der auch die Bergarbeiter durch Lohnausfall stark beteiligt sind.
Nun ist in den letzten Monaten die Wagengestellung derart hinter den An¬
forderungen zurückgeblieben, daß der Ruhrbezirk sich plötzlich vor einer Wirt¬
schaftskatastrophe sah. Im Oktober fehlten rund hundertundachtzigtausend Wagen,
im November wuchs die Ziffer noch mehr an. Der Förderungsausfall im
ersten Monat wird auf annähernd 25 Millionen Mark, der Lohnausfall der
Arbeiter auf etwa die Hälfte dieser Summe angegeben. Eine völlige Verkehrs¬
stockung trat ein. Bahnanlagen und Bahnhöfe waren den Anforderungen des
Verkehrs nicht gewachsen, die verstopften Geleise konnten weder sür Abfahrt
noch für Zufuhr genügend freigemacht werden. Ein Notschrei und heftige An¬
klagen gegen die Staatsbahnverwaltung erhoben sich im Revier. Im Landtag
wurde interpelliert, der Minister reiste persönlich an Ort und Stelle, um die
erforderlichen Abwehrmaßregeln zu treffen. Es zeigte sich, daß die Entwicklung
der Industrie und des Verkehrs ein so rapides Tempo eingeschlagen hatte, daß
auch die mustergültigen Einrichtungen und die gewaltige Organisation der
preußischen Eisenbahnverwaltung ihm nicht gewachsen waren. Ist doch die
Kohlenproduktion im laufenden Jahre in geradezu phänomenaler Weise gestiegen!
Die Zunahme beträgt gegen das Vorjahr während der ersten zehn Monate bei
Steinkohlen etwa 11 Prozent, bei Koth 14, Braunkohlen 12 Prozent. Dem¬
gegenüber erweist sich die reguläre Wagenvermehrung von jährlich 5 Prozent,
welche die Staatsbahnverwaltung eintreten läßt, selbstverständlich als ungenügend.
Es ist aber vollkommen ungerechtfertigt, wenn diese sehr bedauerlichen Verkehrs¬
stockungen nun zu maßlosen Angriffen gegen das Staatsbahnsystem und dessen
angeblichen Fiskalismus mißbraucht werden. Der Eisenbahnverwaltung kann
man keine Schuld beimessen, wenn sie die Mißstände dieses Herbstes nicht
vorausgesehen und ihnen nicht vorgebeugt hat. Ein Aufschwung der Montan¬
industrie in dem jetzt vorhandenen Umfang ist ja von keinem der beteiligten
Industriellen auch nur geahnt worden. Es ist eine Art Verhängnis, welches
das Jndustrierevier betroffen hat, und dem sich auch mit äußerster Anspannung
von Personen und Material nicht steuern ließ. Die nunmehr von der Staats¬
bahnverwaltung in Angriff genommenen großzügigen Abhilfsmaßregeln, starke
Vermehrung des Wagenparkes, Bau großer Abstellbahnhöfe, Vermehrung der
Zu- und Abfuhrgeleise, werden die Wiederkehr ähnlicher Zustände im nächsten
Jahr verhindern.
Täuscht nicht alles, so wird übrigens das gegenwärtige Arbeitstempo der
schweren Industrie kaum lange mehr anhalten können. Es ist bereits oben auf
den hemmenden Einfluß hingewiesen, den die politischen Verhältnisse auf die
wirtschaftliche Entwicklung ausüben müssen. Die bedenklichste Seite bildet aber
die Lage des Geldmarktes. Geld wird teurer und teurer. Schon ist die
Sächsische Bank der Neichsbank vorausgeeilt und hat ihren Zinsfuß auf
6^/2 Prozent erhöht. Die Reichsbank selbst zögert noch, obwohl ihr Status
nicht sehr befriedigend ist. Es scheint aber fraglich, ob sie über die Jahres¬
wende hinaus mit ihrem Satz auskommen kann und nicht genötigt ist, auf 6^/2
oder gar 7 Prozent zu gehen. Alte Erfahrung lehrt, daß derartig hohe Zins¬
sätze auf die Dsuer die bestfundierte Konjunktur erdrosseln.
Die Lage des Geldmarktes gibt aber zu besonderen Bedenken noch deshalb
Anlaß, weil ganz außerordentliche Ansprüche in nächster Zeit an ihn
herantreten werden, von denen man augenblicklich nicht weiß, wie er ihnen gerecht
werden soll. Mit dem Ende des Balkankrieges wird bei allen kriegführenden
Staaten ein starker Geldbedarf für das Retablissement und die Entschädigungen
auftreten. Außerdem sind aber noch verschiedene Anleihetransaktionen in
Schwebe, deren Durchführung nur durch den Kriegsausbruch verhindert wurde,
so die türkische Zollanleihe von 1911, von der noch etwa 80 Millionen Mark
unrealisiert sind, eine weitere Anleihe der Türkei von etwa 200 Millionen Mark
bei der französischen Gruppe der Ottomanbank, die bekannte Anleihe Bulgariens
von 180 Millionen Franken, welche mit einem internationalen Konsortium ab¬
geschlossen, aber nicht realisiert ist, und endlich eine große Anleihe Italiens in
Höhe von 600 Millionen Franken, die zur Liquidierung des Tripolisfeldzuges
bestimmt ist. Schon dieser dringliche Geldbedarf der europäischen Staaten ist
also auf mehr als eine Milliarde Mark zu schätzen und er vergrößert sich noch
bedeutend, wenn auch Österreich-Ungarn, wie wahrscheinlich ist, für Wehr-
zweete an den Geldmarkt appellieren sollte. Nun steht aber noch im Hinter¬
grunde der immense Kapitalbedarf des neuen Chinas, dessen Befriedigung
unaufschieblich ist und den europäischen Märkten zur Last fallt. Man weiß, daß
China seinerzeit mit dem sogenannten Sechs-Mächte-Sundikat über eine
Anleihe von 1^ Milliarde Mark verhandelt hat und daß ihm die Gewährung
derselben unter bestimmten Kontrollmaßregeln zugesagt wurde. China hat die
ihm gestellten Bedingungen nicht akzeptiert und sich einstweilen durch eine kleinere
Anleihe geholfen, die eine englische Firma finanzierte. Doch hat diese mit einem
Mißerfolg geendet und es wird China nunmehr nichts übrig bleiben, als sich
über die große Anleihe aufs neue mit dem Sechs-Mächte-Sundikat zu ver¬
ständigen.
Es sind also ganz gewaltige Summen, welche der Geldmarkt voraussichtlich
im kommenden Frühjahr aufzubringen haben wird. Ein großer Teil der Ansprüche,
so vor allem die italienische Anleihe, fällt freilich nicht dem deutschen Geldmarkt
zur Last. Anderen aber kann er sich nicht entziehen, so namentlich nicht dem
Geldbedarf der befreundeten Donaumonarchie und den Ansprüchen Chinas, sür
die einzutreten ihn vertragliche Verpflichtungen wie politische Rücksichten zwingen.
Wir werden also wieder in die Notwendigkeit versetzt sein, für ausländische
Zwecke Geld ausbringen zu müssen zu einem Zeitpunkte, wo nicht nur unser
Kapitalmarkt der Stärkung und Erholung dringend bedarf, sondern wo auch
noch unaufjchiebliche inländische Ansprüche an ihn herantreten werden. Es sei
nur erinnert an die Geldbedürfnisse, welche der preußische Staat für die
Elektrisierung der Berliner Stadtbahn, der Großberliner Zweckverband für
die Waldkäufe, die Stadt Berlin voraussichtlich für die Übernahme der
Berliner Elektrizitätswerke haben werden. Auch hier handelt es sich um viele
Hunderte von Millionen Mark. Durch den Zwang der Verhältnisse kann also
selbst bei größter Zurückhaltung die Lage unseres Geldmarktes leicht ungünstiger
werden, als sie je zuvor gewesen ist. Es ist wichtig, diese nicht sehr erwünschte
Konstellation im Auge zu behalten, zumal zweifelsohne von der Rücksichtnahme
auf sie auch die Zinspolitik der Reichsbank beeinflußt werden dürfte.
«»antwortlich! der Herausgeber George Tleinow in Schoneverg, — Wanuskriptsendungen und Briese werden
erbeten unter der Adresse!
«» den Herausgeber der Grcnzliotrn in Friede»«» bei Berlin, Hedwigftr. t»,
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Verlag! Verlag der Grenzbote» <i>> in> b. H> in Berlin SV. 1l,
Druck! „Der Reichsbote" «> in> b. H. in Berlin SV. 11. Dessauer Straß» 8S/S7,
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Klio-^VerK Q.in.b.N., eternel b.devin a.KK.86.
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Sei allen OptiKsi'n vonnstig.
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^mil SusoK, A.-Q., KatKenow
Optiselis luciustl-is.
Qkßi-üricist 1L00. QsAnüncjst 1300.
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SO StUeK IVI. 9.—.
s°p,im.-K!-es wi.,o.-. l). vo. SoiiliElZS L Oo.,
sZpSKiau
rofessor Schott in Breslau spricht sich in einer kleinen Broschüre
gegen die Ausdehnung der Erbschaftssteuer und gegen eine Reform
des Erbrechts zugunsten des Reiches aus. Nach seiner Ansicht
ist es nicht gerechtfertigt, die Kinder und den überlebenden Ehe¬
gatten zur Erbschaftssteuer heranzuziehen, da diese die Familie
treffe und in vielen Fällen das vererbte Vermögen wirtschaftlich als Familien¬
eigentum zu betrachten sei. Die Ansicht ist nicht neu. Gewiß ist es richtig,
daß eine Steuer, die der Familie auferlegt wird, diese trifft. Ein Irrtum
aber ist es, wenn der Verfasser, wie andere Gegner der Steuer, schlechthin
behauptet, die Erbschaftssteuer beeinträchtige die Familie. Der Satz bildet offen¬
bar die Grundlage der ganzen, gegen die Steuer gerichteten Bewegung. Tat¬
sächlich wird nicht „die" Familie im allgemeinen, sondern nur die kleine Anzahl
der begüterten Familien beeinträchtigt. Es können für die steuerliche Belastung
doch nur die Familien in Betracht kommen, denen Erbschaften zufallen. Das
sind regelmäßig nur die Familien der besitzenden Klassen. Die Familien der
besitzlosen Klassen werden regelmäßig nicht in Mitleidenschaft gezogen, weil sie
nichts erben; im Gegenteil, ihre Lage bessert sich, indem die aufkommenden
Beträge der Gesamtheit zugute kommen. Die Zahl der Besitzlosen ist aber viel
größer, als die der Besitzenden, — volle 50 Prozent der Bevölkerung nehmen an
einem Einkommen von weniger als 900 Mark jährlich teil und 95 Prozent
an einem Einkommen von weniger als 3000 Mark. Daraus folgt, daß die
Ausdehnung der Steuer auf Kinder und Ehegatten für die große Mehrheit
aller Familien zu einer Wohltat wird. Behandelt man die Frage einseitig
vom Standpunkt der erbeuten Familie, so wird deren Geldinteresse natürlich
nicht gefördert, wenn sie eine Erbschaft versteuern muß, so wenig, wie sich die
Vermögenslage des einzelnen dadurch verbessert, daß ihm Steuern auferlegt
werden. Dennoch ist es unerläßlich, im Gesamtinteresse des Staates und
Reiches. Bei der Erbschaftssteuer insbesondere handelt es sich um eine Ma߬
nahme der ausgleichenden Gerechtigkeit. Die besitzenden Klassen sind in klarer
Erkenntnis der ihnen obliegenden Pflichten entschlossen, einen Teil ihres Erbes
der Gesamtheit zum Opfer zu bringen, damit die Minderbemittelten nicht immer
wieder in Anspruch genommen, sondern möglichst von drückenden Lasten befreit
werden. Das erscheint mir als ein Vorgang von hoher geschichtlicher Bedeutung,
als ein Sieg menschenfreundlicher und staatserhaltender Gesinnung über die
natürliche Selbstsucht.
Wenn Schott weiter geltend macht, die Erhebung der Steuer müsse in
manchen Fällen zu großer Härte führen, wie bei schwerer Erkrankung, Erwerbs¬
unfähigkeit des Erben, so muß man zugeben, daß derartige Übelstände nach
dem Hinscheiden des Gatten, des Vaters sich in höherem Grade fühlbar machen
werden, als bei anderen Steuern. Aus dieser Erwägung läßt sich indessen
nicht folgern, daß der ganze Steuergedanke ungerechtfertigt sei, sondern nur,
daß man sich bemühen muß, sür jene bedauerlichen Fälle Abhilfe zu schaffen.
Ich habe wiederholt eine Gesetzesbestimmung dahin vorgeschlagen, daß auf
Alurag in allen Fällen Stundung, Ermäßigung und nötigenfalls völlige Befreiung
von der Steuer zu bewilligen ist. in denen festgestellt wird, daß aus besonderen
Gründen die Erhebung der Erbschaftssteuer eine ungerechtfertigte Härte in sich
schließen würde. Bringt man ein solches Sicherheitsventil an, so findet das
Bedenken seine Erledigung, das oft und nicht ohne Grund gegen die Steuer
vorgebracht worden ist.
Auch für die Änderung des Erbrechts selbst, für ein Erbrecht des Reiches,
hat Schott wenig übrig, obwohl der Plan, die entfernteren Verwandten in
Ermangelung eines Testaments als Erben auszuschalten und die Reichskasse an
ihre Stelle zu setzen, auch bei den Gegnern der Erbschaftssteuer zahlreiche An¬
hänger gefunden hat. Handelt es sich doch bei diesem Vorschlag überhaupt
nicht um nahe Angehörige, sondern um entferntere Verwandte, und auch nur
dann, wenn sie nicht testamentarisch vom Erblasser eingesetzt sind. Ein grund¬
sätzlicher Gegner der Reform ist freilich auch Schott nicht. Er gibt zu, daß
es unmoralisch ist, wenn lachende Erben, die der Verstorbene nicht gekannt
und an die er nicht gedacht hat, die oft erst unter Schwierigkeiten aufgefunden
werden, plötzlich wie in der Lotterie den unverdienten Gewinn einer Erbschaft
machen, während viele fleißige Leute darben und der Staat in finanziellen
Nöten steckt; bei einer Beschränkung des Erbrechts könnten ungezählte Millionen
erübrigt und in besserer Weise zur Erfüllung sozialer Aufgaben verwendet werden.
„Die Richtigkeit dieses Gedankens," ruft er aus, „ist nicht zu bestreiten
und wurde, soviel ich sehe, auch von keiner Seite bestritten." Dennoch bekämpft
er die Reform und tadelt die Regierung, daß sie den Entwurf von 1903 ein¬
gebracht habe, weil ihm das öffentliche Erbrecht zu weit ausgedehnt erscheint.
Meinerseits habe ich befürwortet, die Erbrechtsgrenze unmittelbar hinter den
Geschwistern zu errichten, so daß die weiteren Seitenverwandten, einschließlich
der Geschwisterkinder, nur noch kraft Testaments erben würden. Denn alle
diese Verwandte sind der Regel nach lachende Erben, sie müssen als Gesetzes¬
erben wegfallen, wenn die Reform durchgreifend und wirkungsvoll sein soll.
Die Regierungsvorlage bleibt hinter meinen Vorschlägen zurück, indem sie erst
mit den Geschwisterkindern abschneiden will. Auch das ist Schott noch zuviel.
Er kommt nicht darüber hinweg, daß ein Verstorbener von seinem Onkel und
Vetter nur noch auf Grund testamentarischer Einsetzung beerbt werden soll.
Damit werde die Axt an die Wurzeln des Erbrechts gelegt; dann sei gar kein
Halten mehr. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit sei noch unter Vettern
viel zu stark, als daß sie nicht die Erbschaft auf alle Fälle, auch ohne Testament,
haben müßten. Ich kann das nicht einsehen. Ich kann nicht einsehen, daß
echte verwandtschaftliche Zuneigung notwendig bare Bezahlung im Todesfalle
verlangt, daß eine so reine Empfindung unlöslich verbunden sein soll mit Geld¬
interesse und Habsucht.
Schott glaubt sicherlich, eine gute Sache zu vertreten, wenn er sich des
Onkels und Vetters, die ihm bedroht erscheinen, so nachdrücklich annimmt. Ich
kann aber kein höheres Ideal darin erblicken, sür eine kleine Anzahl besser¬
gestellter Personen einzutreten, als für eine große Anzahl bedürftiger. Wer sich
sür die Sonderinteressen einzelner Gruppen von Seitenverwandten erwärmt,
muß notwendig kalt und taub bleiben gegen die Not der Masse; ein Drittes
gibt es auf diesem Gebiete nicht. Und sind denn diese Onkel, Vettern, aber auch
Neffen und Nichten wirklich darauf angewiesen, ihre Verwandten zu beerben? Haben
sie ein Recht darauf, daß jene früher sterben, als sie selbst, daß sie unverheiratet
und kinderlos sterben und nicht testieren zugunsten eines anderen? Ist es zu¬
viel von ihnen verlangt und nicht in ihrem wohlverstandenen Interesse, daß
sie sich auf ihre eigenen Füße stellen, aus eigener Kraft für sich sorgen wie
die Millionen, die in harter Arbeit, in Not und Entsagung sich und ihre
Familien durchbringen, ohne auch nur ein Erbe ihrer Eltern anzutreten?
Aber auch für die Erben selbst ist der Wert derartiger Anfälle kein un¬
bedingter. Wie die Erfahrung rings um uns lehrt, bringt eine reiche Erbschaft
keineswegs immer das Glück, das eine kindliche Auffassung sich von den
goldenen Bergen verspricht; schwere Schäden, nicht nur für Geist und Gemüt,
auch für die Gesundheit, ja für den Geldbeutel sind nur zu oft in ihrem
Gefolge. Ein sittliches Bedürfnis nach solchen Erbschaften besteht jedenfalls
nicht. Bestünde es doch, so müßte der Gesetzgeber dem Erblasser die Testier-
sreiheit entziehen!
Wenn nach dem Ergebnis unserer Betrachtung für die Mitglieder der
weiteren Familie ein moralischer Anspruch aus testamentslose Erbschaften nicht
besteht, so sprechen gewichtige Gründe dafür, die danach ins Freie fallenden
Erbschaften der Gesamtheit zuzuweisen, zum Besten der Reichskasse und damit
jener großen Mehrheit der Bevölkerung, die nach Damaschkes wahrem Wort
trotz allen stolzen Rühmens vom Fortschritt der Zivilisation im schweren Kampf
um das Notwendigste alle Kräfte des Leibes und Geistes aufbraucht. Gewiß
wird es nie gelingen, alle Menschen zufrieden und glücklich zu machen. Aber
sehr wohl ist es möglich, denen, die Not leiden, mehr Erleichterung, mehr
Freude am Leben und damit mehr Glück und Zufriedenheit zuzuführen. Zu
den besten Mitteln, diesem Ziele näherzukommen, gehört nach meiner Über¬
zeugung eine durchgreifende Reform des Erbrechts und eine durchgreifende
Besteuerung der Erbschaften.
ngefähr ein Jahr ist verflossen, seit der Marokkohandel für ab¬
sehbare Zeit zum Abschluß gebracht wurde. Seitdem ist bei uns
nicht allzuviel geschehen, um Klarheit über die Frage zu ver¬
breiten. Die Tageszeitungen haben ihrerseits gewissenhaft und
ausgiebig die Ereignisse behandelt und je nach ihrem Standpunkt
erläutert und beleuchtet. Aber für den Zeitungsleser ,der Gegenwart ist es
außerordentlich schwer, auf solcher Grundlage ein deutliches Bild von dem
gesamten Verlauf der Angelegenheit zu gewinnen. An Stelle des sorgfältig
begründeten Urteils, das sich auf eine genaue Kenntnis der Zusammenhänge
und einen genügenden Überblick über das Geschehene stützt, tritt nur zu leicht
eine Summe von Eindrücken, die weniger aus den Tatsachen selbst als aus
der Art ihrer Darstellung in den Tagesberichten stammen und mit dem besonderen
Standpunkt der Zeitungen zusammenhängen, aus denen der Leser seine Meinung
schöpft. Der größte Teil der nationalen Presse hat aus Gründen, über die
noch zu sprechen sein wird, in unserer Marokkopolitik überwiegend eine Kette
von Fehlschlagen, Niederlagen, Rückzügen und Demütigungen gesehen. Die
Blätter wählten dementsprechend ihre Stellung bei der Berichterstattung, wie es
immer geschehen wird, wenn man die Berichte unter dem Gesichtspunkt ansieht,
daß man die Regierung zum Einschlagen eines anderen Weges bestimmen
möchte. Die gegnerische Presse teilte zwar diesen Standpunkt nicht, aber —
stets auf die schärfste Kritik der Negierung eingestellt — sah sie, in Anbetracht
des äußeren Eindrucks der Ereignisse im Lande, keine Veranlassung, sich für
eine augenscheinlich unvolkstümliche Politik der Regierung ins Zeug zu legen,
sondern stellte die Sache gleichfalls so dar, als ob die Marokkopolitik die
Ungeschicklichkeit und den Mißerfolg der Negierung klar erwiesen habe. Was
die Regierung selbst zur Aufklärung der Sache tat, kam gegen die herrschende
Stimmung nicht recht auf, weil eine umfassende Veröffentlichung urkundlichen
Materials aus verschiedenen Gründen nicht empfehlenswert schien, während die
Darstellungen, die der Reichskanzler und der Staatssekretär des Auswärtigen
Amts gelegentlich im Reichstag gaben, durch die nachfolgende Preßpolemik ihrer
unmittelbaren Wirkung beraubt wurden. Sonstige Veröffentlichungen aber,
deren Verfasser gegen den Strom der öffentlichen Meinung zu schwimmen ver¬
suchten, wurden, obwohl sie auf guten Informationen beruhte», in der Presse
mit der ganzen Verachtung abgetan, die man für sogenannte „offiziöse Be¬
schönigungsversuche" übrig zu haben pflegt. Das Gesamtergebnis ist also, daß
bei uns kaum etwas geschehen ist, um die von Augenblicksstimmungen, äußeren
Eindrücken und bestimmten Tendenzen beeinflußten Darstellungen der Marokko¬
frage gründlich nachzuprüfen.
In Frankreich ist man sehr viel eifriger beschäftigt gewesen, die öffentliche
Meinung in zusammenhängenden Darstellungen außerhalb der Tagespresse über
die Marokkoangelegenheit zu belehren. Eine ganze Reihe von Veröffentlichungen
ist bald nach Abschluß der deutsch-französischen Verhandlungen erschienen, meist
aus der Feder von Journalisten, die die Frage in den Zeitungen behandelt
und zu diesem Zweck an amtlichen Stellen und bei eingeweihten Interessenten
Informationen gesammelt hatten, diese aber, bevor die Frage nicht zu einem
gewissen Abschluß gediehen war, nicht völlig der Öffentlichkeit preisgeben konnten.
Es braucht kaum besonders erwähnt zu werden, daß diese Darstellungen den
Vorzug haben, von einer genauen Kenntnis der öffentlichen Meinung in Frank¬
reich auszugehen. Sie wollen ja eine Brücke herstellen zwischen den Vor¬
stellungen des französischen Volkes und den Wegen, die die französische Regierung,
teils aus ihrer besseren Einsicht in den wahren Stand der Dinge, teils durch
die Umstände gedrängt, eingeschlagen hatte. Solche Darstellungen der Frage
können natürlich auch für uns außerordentlich lehrreich sein, da es für uns in
diesem und in manchem kommenden Fall nützlich sein muß, die Eigentümlich¬
keiten der französischen Auffassung kennen zu lernen. Nur darf man sie nicht
als Quellen ansehen, aus denen wir Deutschen uns über die für uns wichtigen
Tatsachen objektiv unterrichten können. Deshalb verdient, wie ich glaube,
unter den Schriften dieser Art die meiste Aufmerksamkeit nicht diejenige, die
sich nach unseren Begriffen am meisten unserer Auffassung der Tatsachen nähert
und daher uns den größten Wahrheitskern zu enthalten scheint, sondern die¬
jenige, die in ihrer Auffassung der französischen Interessen am meisten die
nationale Eigenart wiederspiegelt und für die Aufgabe, Regierungspolitik und
öffentliche Meinung in Einklang zu setzen, augenscheinlich die intimste Kenntnis
der amtlichen Auffassungen, der Wünsche der privaten Interessenten und der
populären Strömungen mitbringt. Als eine solche Darstellung der letzten Phase
der Marokkofrage darf wohl das Buch von Andrö Tardieu gelten, das unter
dem Titel: „l^e ^ystöre ä'^Maur" im Frühjahr erschienen ist. Der bekannte
französische Publizist hat den Ereignissen nahe genug gestanden, um die Vor¬
aussetzung zu rechtfertigen, daß er manchen Blick hinter die Kulissen getan hat.
Dabei ist jedoch zu bedenken, daß Tardieu nicht den Ehrgeiz des Historikers
hat, die Quellen der Kenntnis des Geschehenen für alle kommenden Zeiten zu
erschließen; er bleibt auch als Versasser eines mit urkundlichen Material an¬
gefüllten Werke« von nahezu vierzig Druckbogen der Mann, der zunächst vor
der Gegenwart sein Licht leuchten lassen und auf die öffentliche Meinung seiner
Zeit wirken will. Das Wirksame geht ihm über das Wirkliche. Man kann
ihm dabei weniger eine bewußte Färbung der Tatsachen vorwerfen, als eine
Umprägung des Stoffes, wie sie einem lebhaften Temperament und einem
phantastereichen, zur Tendenz geneigten Sinn sehr leicht unterläuft, sobald es
sich um selbsterlebte Dinge handelt, an denen persönliche Interessen und patrio¬
tische Gefühle lebhaft beteiligt waren. Nötige doch schon der Titel uns ein
Lächeln ab, denn geheimnisvoll konnte die Aktion von Agadir den Franzosen
eigentlich nicht sein. Immerhin ist die Art, wie Tardieu das angebliche Ge¬
heimnis zu entschleiern sucht, sür uns interessant und lehrreich.
Eine ganz andere Bedeutung hat natürlich das Gelbbuch, das die fran¬
zösische Regierung kürzlich veröffentlicht hat. Hier lernen wir den Teil des
amtlichen Materials kennen, den die französische Regierung selbst für geeignet
hält, das französische Volk und die ganze Welt über ihre Marokkopolitik zu
unterrichten. Sehen wir dieses Material mit deutschen Augen an, so entsteht
daraus mancher Eindruck, den die französische Regierung augenscheinlich nicht
berechnet hat. Da diese Eindrücke das Gewicht der Gründe der deutschen
Politik vermehren helfen, so kann man sich dieses Ergebnis gewiß gern gefallen
lassen.
Wenn wir nun aber eine Darstellung suchen, die dem deutschen Stand¬
punkt ganz und gar gerecht wird, so müssen wir uns seltsamerweise an einen
englischen Verfasser halten. Wie schon erwähnt wurde, ist die Stimmung bei
uns in Deutschland so merkwürdig beeinflußt, daß ruhige Würdigungen unserer
Marokkopolitik selten sind. Deshalb muß es für uns überraschend wirken,
wenn ein völlig unabhängiger Ausländer das ganze, der Öffentlichkeit bis jetzt
zugängliche Material untersucht und daraus die Überzeugung gewinnt, daß die
deutsche Politik in dieser Frage nicht nur folgerichtig und den deutscheu Inter¬
essen entsprechend, sondern auch die einzige war, die sich nicht ins Unrecht setzte.
Diese gründliche und unparteiische Behandlung der Marokkofrage stammt aus
der Feder des Engländers E. D. Morel. Sein Buch führt den Titel:
,Me>roLLO in Diploma^", und er gelangt darin zu einer überaus scharfen
Verurteilung der englischen Politik in der Marokkofrage. Man darf aber daran
nicht etwa die Hoffnung knüpfen, die englische Politik werde nun durch die
Stimme dieses aufgeklärten und offenherzigen Landsmannes zu einer Revision
ihres bisherigen Standpunktes bewogen werden. Solche Hoffnungen dürften
sich als eitel erweisen. Es ist nur die erstaunlich unbefangene und Vorurteils-
lose Behandlung des Stoffes, die dem Buche den Wert gibt; daß der Verfasser
Engländer ist, hat nur die Bedeutung eines zufälligen Nebenumstandes. Aller¬
dings darf man wohl sagen, daß nur ein Deutscher oder ein Engländer solcher
Objektivität fähig ist, und vielleicht sind uns die Engländer darin noch über¬
legen. Es ist die beste Seite der Charakterveranlagung, des Erziehung ssnstems
und der Lebensauffassung der Engländer, daß sie einen rücksichtslosen Wahr¬
heitsmut entwickeln. Wenn diese Eigenschaft außerhalb der persönlichen und
nationalen Sphäre nicht immer zur Geltung kommt, so liegt das daran, daß
ihr dem Auslande gegenüber andere Eigenheiten die Wage halten, nämlich die
nationalen Vorurteile, der maßlose Dünkel und eine uns Deutschen oft kaum
begreifliche, bis in die höchsten Kreise von Staat und Gesellschaft hineinreichende
Unwissenheit. Wo aber eine Persönlichkeit einmal durch tiefere Bildung die
nationale Beschränktheit überwunden hat, da finden wir in der Beurteilung
von Menschen und Dingen in der Regel auch jene schlechthin unbegrenzte Un¬
befangenheit, die wir an Morel bewundern müssen. Nur darf man nicht
erwarten, daß solche Urteile in England selbst aus die öffentliche Meinung den
geringsten Eindruck machen. Die Anschauungen der Nation bewegen sich viel
zu sehr in gewohnten Bahnen, in denen sie durch einen in Jahrhunderten an¬
erzogenen und erworbenen, allmählich zur nationalen Eigentümlichkeit gewordenen
Instinkt für den nationalen Vorteil erhalten werden. Man muß sich also
gegenwärtig halten, daß die Bedeutung des Morelschen Buches nur in der vor¬
urteilsloser, klaren Feststellung der Wahrheit liegt.
Nun genügt freilich ein fremdes Zeugnis für die deutsche Politik nicht,
um sie auch für den vaterländischen Standpunkt zu rechtfertigen. Eine Politik
kann in sich glänzend und erfolgreich durchgeführt und dennoch falsch sein. Hier
entscheidet selbstverständlich nur der vaterländische Standpunkt. In den meisten
Fällen wird für Deutsche kein Zweifel bestehen können, welches Ziel den deutschen
Interessen zu bezeichnen ist. Der Wege zum Ziel wird es immer sehr viele
geben. Wird einer von ihnen beschritten, ohne daß man das Ziel erreicht,
dann mag die Kritik einsetzen; dann ist wirklich etwas versehen worden. Liegt
aber nun dieser Fall in der Marokkopolitik vor? Die Frage muß auf das
bestimmteste verneint werden. Es ist ganz unmöglich, in die Erörterung der
Marokkopolitik auch nur einige Klarheit zu bringen — von einer Verständigung
darüber ganz zu geschweigen —, wenn nicht von vornherein festgestellt wird,
daß über das Ziel dieser Politik von Anfang an eine grundlegende Meinungs¬
verschiedenheit bestand. Es ist nicht an dem, daß die deutschen Interessen in
Marokko ein allgemein und zweifelfrei erkennbares Ziel hatten und daß nur
die Art der Ausführung verschiedene Möglichkeiten zuließ. Die Wahrheit ist,
daß zu jeder Zeit, im Anfang wie in: weiteren Verlauf der Entwicklung, in
bezug auf das Ziel dieser Politik zwei Ansichten nebeneinander standen, von
denen die eine die andere ausschloß. Die eine wollte, kurz gesagt, Marokko
für Deutschland erwerben; die andere lehnte diese Möglichkeit bewußt und ent-
schieden ab. Indessen, so wenig sich diese beiden Grundanschauungen mitein¬
ander vertrugen, so gab es doch ein Gebiet, auf dem sie sich berührten. Das
waren die Beziehungen, die der deutsche Handel in Marokko bereits angeknüpft
hatte und mit glänzendem Erfolg weiter pflegte. Diesen Beziehungen Schutz
und Förderung zu gewähren, war eine Pflicht der deutschen Regierung, die von
allen Seiten vorbehaltlos anerkannt wurde. Die deutschen Handelsinteressen in
Marokko bildeten daher den gemeinsamen, natürlichen Ausgangspunkt für die
Beweisführungen der beiden erwähnten, sich schroff gegenüberstehenden Ansichten.
Die Befürworter einer deutschen Schutzherrschaft in Marokko oder auch
einer deutschen Besitzergreifung von Teilen des Landes stützten sich auf die
Erfolge, die der deutsche Handel dort erzielt hatte, und vor allem auf die
Stimmung der bereits in Marokko tätigen Deutschen, die nicht genug betonen
konnten, wie freundlich ihnen die Eingeborenen gesinnt seien, wie reich die
natürlichen Hilfsquellen des Landes seien, wie wenig aber auch die marokkanische
Regierung die Fähigkeit besitze, diese Hilfsquellen zu erschließen und zu erhalten,
und wie ein solches Regierungssystem doch unmöglich langen Bestand haben
könne. Lag nicht in dieser Meinung der Marokkodeutschen eine Autorität, die
nicht umgangen werden durfte? Wer wußte in Marokko besser Bescheid als die
Männer, die an Ort und Stelle als Pioniere des Deutschtums wirkten? Die
Männer, die auf ihren Reisen nach Marokko gekommen waren, halfen die
Meinung verbreiten, daß dort ein gesegnetes, wirtschaftlich noch so gut wie
unerschlossenes Land sozusagen nur der deutschen Hand harre, um seinen Reichtum
über die Welt auszuschütten. Dazu die lockende Aussicht, eine Kohlenstation
an der atlantischen Küste von Afrika, auf dem halben Wege nach unseren
Kolonien, zu gewinnen. Endlich darf man wohl nicht übersehen, daß die
Männer, die als Frucht ihrer Reisen in Marokko die Empfehlung einer
aktiven deutschen Marokkopolitik mitbrachten, meist schon, als sie dorthin
kamen, von der Überzeugung erfüllt waren, Deutschland müsse, da
es als Kolonialmacht ohnehin bei Verteilung der Welt zu spät gekommen
sei, überall fleißig Umschau halten, wo es vielleicht noch feinen Fuß
hinsetzen könne. Für die Vertreter dieser Anschauung mußte der Gedanke an
ein deutsches Marokko etwas geradezu Bezauberndes haben.
In den Wein der herrlichen Aussichten mußte nun freilich von anderer
Seite viel, sehr viel Wasser gegossen werden, und das ist der Standpunkt, den
auch die Grenzboten stets eingenommen haben und der auch hier vertreten werden
soll. Man kann ganz durchdrungen sein von dem Wunsch und dem Willen,
die Macht und die legitimen Interessen des Reichs überall zur Geltung zu
bringen. Man kann ebenso durchdrungen sein von der Überzeugung, daß eine
stetige Zunahme der Bevölkerung das Deutsche Reich eines Tages dahin bringen
müßte, auch eine äußere Expansionspolitik nicht von der Hand zu weisen. Man
kann durchaus die Ansicht verwerfen, daß die Zukunft unseres Volks nur durch
bequemen, friedlichen Erwerb gesichert werden könne und daher das beständige
Sichbescheiden und Sichdrücken die oberste Rücksicht der deutschen Politik sein
müsse. Aber trotz alledem ist man berechtigt, zu sagen, daß, gerade je ent¬
schiedener diese Grundsätze praktisch zur Geltung gebracht werden sollen, desto
sorgfältiger daraus geachtet werden muß, daß sie zu rechter Zeit und am rechten
Orte angewendet werden. Mit der souveränen Nichtbeachtung unserer geo¬
graphischen Lage und aller sonstigen Wirklichkeiten, oder mit dem Reden in
Brusttönen ist es nicht getan. Auch verlieren die Gegengründe einer besonnenen
Realpolitik gegenüber den aufgeregten Träumereien von einem deutschen Marokko
nicht dadurch an Gewicht, daß sie unbedachter oder böswilliger Weise mit den
Beweisführungen grundsätzlicher Pazifisten oder bequemer Geschäftspolitiker in
einen Topf geworfen werden. Ob wir Veranlassung haben, unseren Kolonial¬
besitz auszudehnen, kann hier nicht untersucht werden; als geeigneter Kolonial¬
besitz für uns kann aber in keinem Falle ein Land angesehen werden, das nicht
eigentlich im Bereich unserer überseeischen Interessen, sondern vor den Toren
von Europa liegt, und zwar für unsere nächsten Feinde und Konkurrenten in
unserer Nachbarschaft viel näher und viel leichter erreichbar als für uns. Gewiß
dürfen wir, wenn wir vorwärts kommen wollen, auch die Möglichkeit von Ver¬
wicklungen nicht scheuen, aber wir müssen, wenn wir uns in eine solche Lage
aus eigenem Entschluß bringen wollen, einigermaßen imstande sein, Art und
Umfang der möglichen Verwicklungen vorauszusehen und in unsere Berechnungen
einzustellen. Die Folgen einer Besitzergreifung in Marokko würden jedoch jeder
Berechnung spotten und uns Verpflichtungen auferlegen, die bei unserer zentralen
Lage in Europa nur unter Voraussetzungen zu erfüllen sein würden, die unsere
Politik nicht mehr als kühn und wagemutig, sondern einfach als frevelhaft und
gewissenlos kennzeichnen würden. Die Autorität der in Marokko lebenden
Deutschen genügt nicht, um dieses Urteil zu erschüttern. Man kann ein aus¬
gezeichneter Geschäftsmann, ein vortrefflicher Patriot und ein erfolgreicher Pionier
des Deutschtums sein, ohne einen genügenden Teil von dem politischen Augen¬
maß zu besitzen, durch das allein Fragen dieser Art entschieden werden können.
Es ist richtig, daß die eingeborenen Marokkaner den Deutschen in ihrem Lande
besonderes Wohlwollen und Vertrauen entgegengebracht haben. Das beruht
einmal auf der Gediegenheit und Anpassungsfähigkeit an die Bräuche des Landes,
wodurch die Geschäftsgewohnheiten der Deutschen von denen mancher anderen
Handeltreibenden vorteilhaft abstechen, sodann aber auf der Beobachtung, daß
die Deutschen fast allein von allen Fremden frei von politischen Nebenabsichten
erschienen. Wer bürgte uns dafür, daß die Wohlgesinntheit und scheinbare
Ergebenheit der Marokkaner erhalten blieben, wenn wir in die Reihe der Mächte
getreten wären, die Marokko politisch besitzen wollten? So schlau waren die
Marokkaner natürlich auch, daß sie Deutschland gar zu gern gegen die ihnen
augenblicklich lästigeren und gefährlicheren Franzosen und Spanier ausgespielt
hätten. Und es war wiederum durchaus gerechtfertigt, daß geschickte deutsche
Geschäftsleute dieses Spiel der Marokkaner aufnahmen, um sich geschäftliche
Vorteile zu sichern. Das haben z. B. die Gebrüder Mannesmann getan, und
sie hätten es mit vollem Erfolg tun können, wenn sie nicht den Fehler begangen
hätten, zu ihren Gunsten die deutsche Politik über die Linie hinausdrängen zu
wollen, die sie sich aus allgemeinen Rücksichten ziehen mußte. Selbst bei voller
Anerkennung der Pflicht, seine Interessen im Auslande zu schützen, wird es sich
kein Staat bieten lassen können, daß Privatleute ihm eine Politik vorschreiben, die
er im allgemeinen Interesse nicht verantworten kann. Auch sonstige Erfahrungen
bestätigen, daß das Entgegenkommen solcher Völker wie der Marokkaner auch von
Leuten, die man für Kenner halten sollte, leicht überschätzt wird. Die Schlichtheit
der islamitischen Moral, die im Privatleben und im Geschäftsverkehr einem ver¬
ständigen und taktvollen Fremden manches erleichtert, ist oft die Ursache, weshalb
die hier und da gebauten Brücken zwischen abendländischer und morgenländischer
Kulturwelt sür haltbarer angesehen werden, als sie es in Wahrheit sind. Die
Täuschung wird offenbar, sobald es sich ernsthaft um Dinge handelt, deren
Bedeutung über den Kreis der nächsten örtlichen und persönlichen Interessen
hinausreicht. So sind alle Erfahrungen mit der angeblichen Deutschfreundlichkeit
der Marokkaner für die Allgemeinheit und sür die Stellungnahme in großen,
grundsätzlichen Entscheidungen vollkommen wertlos. Was endlich die Frage einer
deutschen Kohlenstation an der atlantischen Küste Marokkos anlangt, so würde
der Besitz einer solchen Station zwar ganz angenehm sein, aber er ist nach
Ansicht maßgebender, sachkundiger Stellen nicht so notwendig, daß der Nutzen
die großen Opfer, die seine Erhaltung erfordern würde, aufwiegen könnte.
Das ist eine Fülle von Gründen, die gegen die Erwerbung politischer
Rechte in Marokko spricht. Es fragt sich nun, wie sich die deutsche Regierung
dazu gestellt hat. Die Antwort kann nur lauten, daß die Regierung seit dem
Bestehen des Deutschen Reichs immer darauf bedacht gewesen ist, die deutschen
Handelsinteressen in Marokko zu schützen und zu hörte-rü, dagegen sich allen
weitergehenden Bestrebungen gegenüber beharrlich ablehnend verhalten hat.
Jeder Versuch, das Gegenteil zu erweisen, ist angesichts der vielen amtlichen
Kundgebungen, aus denen die Stellungnahme der deutschen Politik hervorgeht
und durch die sie festgelegt worden ist, gänzlich aussichtslos. So hätten sich
deutsche Staatsmänner in diplomatischen Aktenstücken, in Reichstagsreden und
in anerkannt offiziösen Zeitungsartikeln niemals äußern dürfen, wenn sie auch
nur einmal im Laufe des ganzen Jahrzehnts, in dem die Marokkofrage die
öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, den Hintergedanken einer politischen
Festsetzung in Marokko ernsthaft gehegt hätten. Als in den ersten Jahren
unseres Jahrhunderts die Marokkofrage akut wurde, wurde die zu treffende
Entscheidung sorgfältig geprüft. Es ist nicht richtig — wie es später von einer
verärgerten Kritik dargestellt worden ist —, daß damals die Gelegenheit verpaßt
wurde, und daß man erst später, durch das englisch-französische Abkommen
vom 8. April 1904 unliebsam aus dem Schlaf gerüttelt, in unklaren Hin- und
Herfahren das Versäumte wiedereinzuholen versuchte und hierbei Nackenschläge über
Nackenschläge erfuhr. Nein, nicht eine verpaßte Gelegenheit, sondern ein sehr
genau überlegter Entschluß, der nach Anhörung aller maßgebenden Autoritäten
gefaßt wurde, hat unsere Staatsmänner veranlaßt, von Anfang an den Plan
einer politischen Festsetzung in Marokko bestimmt und bewußt abzulehnen. Am
14. April 1904 sprach der Reichskanzler Graf Bülow im Reichstage über die
Marokkofrage — das war also sechs Tage nach der Unterzeichnung des englisch¬
französischen Abkommens. Der Abgeordnete Graf Ludwig Reventlow war als
Wortführer der Richtung aufgetreten, die Deutschland in Marokko gern politisch
engagieren wollte. Schon damals wies Graf Bülow diesen Standpunkt mit
bemerkenswerter Schärfe zurück. Er lehnte es ab, das Land „in Abenteuer zu
stürzen". Auch später ist immer nur vom Schutz unserer wirtschaftlichen
Interessen gesprochen worden, während politische Pläne von amtlicher Seite
abgelehnt und bekämpft wurden. Auch Morel schreibt in seinem vorhin er¬
wähnten Buche mit Bezug auf die Bestrebungen der Altdeutschen: es könne
keinem Zweifel unterliegen, daß die deutsche Regierung und der Deutsche Kaiser
wiederholt die Versuche, sie in diese Bahnen zu zwingen, desavouiert und sich
beständig geweigert haben, ihre Marokkopolitik von ihrem vorgeschriebenen und
öffentlich kundgegebenen Kurs ablenken zu lassen. „Es kann" — so schreibt er
weiter — „ohne Furcht vor einem Widerspruch versichert werden, daß nicht ein Jota
eines Beweises von irgendeiner Seite dafür beigebracht worden ist, daß die leitenden
Männer in Deutschland jemals die weitergehenden Ansprüche der deutschen Kolonial¬
schwärmer sich zu eigen gemacht oder anerkannt haben, oder daß sie sich jemals für
die Erwerbung von Kohlenstationen oder einen Anteil an einem zerstückelten
Marokko ins Zeug gelegt haben." Das ist unbestreitbar richtig. Die deutsche
Regierung hat sich niemals auf ein Programm eingelassen, das die historische Kritik
späterer Zeit mit Recht veranlaßt haben würde, die deutsche MarokkopoMk mit
dem mexikanischen Abenteuer Napoleons des Dritten auf eine Stufe zu stellen.
Haben wir so das von Anfang an festgestellte Programm der deutschen
Marokkopolitik aus manchen Verdunklungsversuchen und Mißverständnissen heraus¬
geschält, so wird es zur weiteren Beurteilung nötig sein, Anfang und Ende
dieser Politik miteinander zu vergleichen. Was machte denn die Erfüllung einer
so einfachen Aufgabe, wie es der Schutz und die Förderung deutscher Handels¬
interessen in einem fremden Lande in den meisten Fällen doch zu sein pflegt,
unter diesen besonderen Verhältnissen so schwierig? Die Schwierigkeit lag
bekanntlich darin, daß Frankreich es unternommen hatte, allmählich seinen Einfluß
auf Marokko auszudehnen und auf diesem Wege das Land in seine Gewalt zu
bekommen. Die Kolonisationsmethoden Frankreichs mandelt es aber den An¬
gehörigen fremder Nationen sogut wie vollkommen unmöglich, in solchem Lande
noch ihrem eigenen Erwerb nachzugehen. Der Grundsatz der „offenen Tür"
und der gewerblichen Bewegungsfreiheit, wie er in den englischen Kolonien
herrscht, ist den Franzosen fremd, und die Erfahrungen, die in Tunis in dieser
Beziehung gemacht worden sind, ließen voraussehen, daß die Fortschritte der
französischen Politik in Marokko mit dem Ruin des deutschen Handels im Lande
gleichbedeutend sein würden. Die deutschen Interessen waren also nur zu wahren,
wenn Frankreich dahin gebracht werden konnte, durch eine förmliche, ausdrück¬
liche Verpflichtung auf seine gewohnte Praxis soweit zu verzichten, wie es zur
Erhaltung und Förderung des deutschen Handels notwendig war. Und das
mußte womöglich ohne den Einsatz von Machtmitteln erreicht werden; denn wir
wollten ja doch in Marokko keine Eroberungen machen und konnten ebenso¬
wenig um dieses Landes willen einen Krieg mit Frankreich anfangen. Die
sehr einfach klingende Formel: „Schutz den deutschen Handelsinteressen in Marokko
ohne politische Aspirationen" schloß also in Wahrheit eine solche Menge von
Schwierigkeiten in sich, daß die Aufgabe, als sie an die Leitung unserer aus¬
wärtigen Politik herantrat, fast unlösbar schien. Denn es kam noch das Weitere
hinzu, daß Frankreich nicht einfach die Eroberung Marokkos vollzog, sondern
die staatsrechtliche Form eines unabhängigen Marokko immer noch aufrecht
erhielt. Solange diese Form bestand, war jede Verständigung mit Frankreich
praktisch unwirksam, denn für die Rechte und Interessen der Fremden konnte
nur die marokkanische Regierung verantwortlich gemacht werden, und diese war
von Frankreich abhängig, ohne daß dieser französische Einfluß faßbar gewesen
wäre. Trotz aller dieser Schwierigkeiten haben wir es erreicht, daß Frankreich
durch einen förmlichen Vertrag veranlaßt worden ist, die Rechte, die es in
Marokko anstrebt und zum Teil schon ausübt, auch verantwortlich zu über¬
nehmen; infolgedessen ist es in der Lage, die Verpflichtungen, die es durch
denselben Vertrag bezüglich der deutschen Handelsinteressen übernommen hat,
aus eigenem Recht zu erfüllen. Natürlich besteht die Möglichkeit, daß Frank¬
reich diesen Vertrag nicht innehält, wie schließlich kein Vertrag und kein ent¬
sprechender Rechtsakt auf Erden einen absoluten Schutz gegen seinen Bruch
gewährt. Aber der Unterschied ist eben der: es handelt sich nicht mehr um
einen Wettstreit Deutschlands und Frankreichs wegen dehnbarer und vieldeutiger
Rechte gegenüber einem halbzivilisierten, angeblich unabhängigen Lande, sondern
um einen Vertrag zwischen zwei europäischen Großstaaten. Wird dieser Vertrag
gebrochen, so bedeutet das etwas ganz anderes, und die notwendig eintretenden
Folgen können unter anderen Gesichtspunkten angesehen werden. Käme es dann
zum äußersten, so würde es sich weniger um einen Konflikt wegen Marokko
handeln als um die Verteidigung unserer Ehre und unseres Ansehens in Europa.
Marokko würde dann nur die Rolle spielen wie die spanische Thronkandidatur
1870. Ziehen wir also die Summa des Erreichten, so sehen wir, daß wir
unsere Handelsinteressen in Marokko so gut gesichert haben, wie es überhaupt
möglich ist, und das alles, ohne uns politisch dort festzulegen. Mit anderen
Worten: wir sind an das Ziel gelangt, das wir uns von Anfang an gesteckt haben.
Trotzdem wird allgemein von der Niederlage unserer Marokkopolitik ge¬
sprochen, ja sogar von einer ganzen Kette von Niederlagen und Demütigungen.
Wie ist das möglich?
Zunächst sind es naheliegende Gründe, die diese Stimmung erzeugt haben.
Der Wunsch, Deutschland möge in Marokko politisch festen Fuß fassen, hatte
ja für Leute, die ohnehin dafür gestimmt sind, daß sich die nationale Unter¬
nehmungslust nach außen hin stärker betätigen sollte, sehr viel Bestechendes.
Man darf sich daher nicht wundern, daß in nationalen Vereinen und Zeitungen
sehr eifrig dafür gearbeitet wurde. So gewann diese Überzeugung, die nicht
die unsere ist, deren Ehrlichkeit wir aber trotzdem unbefangen würdigen, eine
sehr weite Verbreitung. Daß sie sogar noch über die Kreise, denen man ein
eigenes Urteil und eine wirkliche Überzeugung zusprechen kann, weiter hinaus¬
getragen wurde, war die gleichfalls für einen erfahrenen Politiker nicht schwer
zu begreifende Folge einer Eigentümlichkeit unseres Nationalcharakters. Der
Deutsche ist im allgemeinen nicht politisch angelegt; außer bestimmten Fragen,
die ihn zufällig näher persönlich angehen, vertieft er sich nicht gern allzu sachlich
in die Politik; diese ist ihm nnr Gegenstand eines meist unklar und doch stark
empfundenen Bedürfnisses, zu kritisieren und sich zu begeistern. Nichts entspricht
daher so sehr der politischen Disposition des Durchschnittsdeutschen als die
Möglichkeit, zugleich zu kritisieren und sich zu begeistern, wenn man ihm nämlich
sagt, die Negierung tauge nichts und tue in nationalen Fragen nicht ihre
Schuldigkeit. Dann kann der gläubige Empfänger dieser Versicherung nach
Herzenslust in ungebändigter Kritik sein Nationalgefühl aufwallen lassen; das
gibt nicht nur die angenehme Erregung, die der brave Staatsbürger von Zeit
zu Zeit braucht — denn er muß doch etwas für das Gemeinwohl tun —
sondern ist auch in der Regel kostenlos, schmerzlos und gefahrlos, weil im
tiefsten Grunde des Herzens doch das Vertrauen feststeht, daß die Regierung
die unangenehmen Folgen etwaiger Dummheiten zu verhüten weiß. Wer also
mit einiger Glaubwürdigkeit, ohne zuviel Nachdenken zu fordern, behauptet, die
Regierung habe irgendein angebliches nationales Interesse nicht schneidig genug
gewahrt, wird immer einen großen Erfolg bei der öffentlichen Meinung haben.
Eine breite Masse solcher Nachläufer stand daher auch in diesem Falle hinter
denjenigen, die aus einer von uns für irrig gehaltenen, aber immerhin auf
sachlichen Gründen beruhenden Überlegung in der Marokkofrage der Regierung
Opposition machen zu müssen glaubten. Der Druck, der von dieser Seite
immer wieder auf die Negierung auszuüben versucht wurde und die entsprechende
Behandlung der Frage in einem Teil der nationalen Presse haben dann
den Eindruck erzeugt, als ob die Regierung wirklich weitergehende Absichten in
der Marokkopolitik gehabt und sie nnr nicht eingestanden und energisch verfolgt
habe, so daß sie auf die Linie ihres ursprünglichen öffentlichen Programms
zurückgedrängt worden sei.
Diese Auffassung ist zwar völlig unrichtig, aber wenn man das, wie es
der Wahrheit entspricht, entschieden betont, so wird man von der Gegenseite
auf einige Tatsachen hingewiesen, die sich mit dem bescheidenen Ziel der
deutschen Marokkopolitik nicht zu vertragen scheinen. Diese Tatsachen find der
Kaiserbesuch in Tanger am 30. März 1905, das Unterbleiben einer Ver¬
ständigung mit Frankreich nach dem Sturze Delcassös im Sommer desselben
Jahres und endlich die Entsendung eines deutschen Kriegsschiffs nach Agadir
im Sommer 1911. Bei diesen drei Gelegenheiten vor allem glaubt die Kritik
ein auffallendes Mißverhältnis zwischen den angewandten Mitteln und dem
angestrebten Ziel zu erkennen. Sie schließt daraus, daß die deutsche Politik
von vorübergehenden Impulsen, mehr zu erreichen, nicht frei gewesen sei; und
da nun zwar auf die Tangerfahrt der Sturz Delcassös, dann aber auf die
Zurückweisung der Verständigung mit Frankreich die trüben Erfahrungen in
Algeciras und auf die „befreiende Tat" von Agadir die Enttäuschungen der
weiteren Verhandlungen folgten, fo gilt das alles als Beweis, daß jeder dieser
vermeintlichen großen Anläufe zu einem Mißerfolg geführt habe. Denn der
einzige wirkliche Triumph, der Sturz Delcasses — so sagt man — stehe doch
in keinem rechten Verhältnis zu einem so starken Mittel, wie es die Aus¬
spielung der Person des Deutschen Kaisers durch die Tangerfahrt gewesen sei,
und dieser Erfolg sei nicht einmal ausgenutzt worden.
Diese Vorwürfe und Einwände würden ganz berechtigt fein, wenn die
Marokkofrage aus dem Zusammenhange mit der sogenannten „großen" Politik
der europäischen Großmächte herauszulösen gewesen wäre, — wenn etwa
Frankreich nichts weiter gewollt hätte, als seinen nordafrikanischen Kolonialbesitz
durch die Erwerbung der Nordwestecke des schwarzen Erdteils zu erweitern. Man
muß aber bedenken, daß jeder Schritt, der uns in Marokko unserem wirklich
so bescheidenen Ziele näher führen sollte, zugleich ein Schachzug auf dem Brett
der europäischen Politik war. England suchte infolge einer vollständigen Neu¬
orientierung seiner Politik eine Annäherung an Frankreich und mit Hilfe dieser
Verständigung eine stärkere Sicherung seines Weges nach Indien; Frankreich
suchte eine bessere Rückendeckung für seine von dem Grundgedanken der Feind¬
schaft gegen Deutschland getragene Politik. Marokko war für beide Mächte
nur das Mittel zur Erreichung umfassenderer Zwecke. Darum benutzte Frankreich
den mit England abgeschlossenen Vertrag zu einem Akt offenkundiger Nicht¬
achtung nicht nur der deutschen Interessen in Marokko, sondern auch der poli¬
tischen Stellung Deutschlands in Europa, indem es das Abkommen der deutschen
Regierung nicht modifizierte. Die richtige Antwort darauf konnte nur ein öffent-
licher Akt gleicher Nichtbeachtung des englisch-französischen Abkommens von
seiten Deutschlands sein. Jeder gewöhnliche diplomatische Schritt hätte diesen
Zweck nicht erfüllt, weil er entweder wirkungslos geblieben wäre oder fast
unmittelbar einen Konflikt herbeigeführt hätte. Es mußte ein auffallender,
auf die ganze Welt stark wirkender, außerhalb der diplomatischen Aktionen
bleibender und doch an sich nicht provozierender Schritt sein. Diese An¬
forderungen konnte nur ein, sozusagen, höfischer Akt erfüllen.' das Betreten
marokkanischen Bodens durch den Deutschen Kaiser und seine Begrüßung im
Auftrage des unabhängigen Sultans von Marokko. Was zur Feststellung der
deutschen Interessen in Marokko allerdings eine Lächerlichkeit gewesen wäre,
wurde als eindringliche Lektion gegenüber einer versuchten Ausschaltung Deutsch¬
lands bei einer wichtigen Umgestaltung der Weltpolitik eine berechtigte Ma߬
nahme und eine Notwendigkeit. Wirksamer — und dabei in einwandfreier,
fast harmloser Form — konnte Deutschland nicht zum Ausdruck bringen, was
damals nicht aus Gründen der Marokkopolitik, sondern der allgemeinen Politik
auszudrücken notwendig war: daß es das englisch-französische Abkommen nicht
etwa in seiner Gültigkeit bestritt, sondern überhaupt als nicht existierend ansah.
Es ist also falsch, diesen Schritt nur an den besonderen Zielen der deutschen
Marokkopolitik zu messen.
Warum aber — so fragt man weiter — nahm Deutschland, wenn es in
Marokko doch nur seine Handelsinteressen sicherstellen wollte, nach dem großen
Erfolg, den es durch das Ausscheiden Delcassüs erreicht hatte, nicht die an¬
gebotene Verständigung mit Frankreich an, die auf derselben Grundlage erfolgen
konnte, wie sie 1909 tatsächlich erfolgt ist? Die Antwort ist einfach: Weil diese
Lösung die Anerkennung der französisch-englisch-spanischen Abmachungen in sich
schloß und damit Deutschland die einzige Rechtshandhabe genommen hätte,
um auch nur die bescheidensten Ansprüche für feinen Handel durchzusetzen. Die
Bereitwilligkeit Frankreichs war ein hingeworfener Köder; es wäre natürlich den
Franzosen angenehmer gewesen, wenn Deutschland die Ansprüche, die es bereits
aus eigenem Recht besaß, in einem Sonderabkommen als ein Geschenk Frank¬
reichs entgegengenommen hätte. Frankreich Hütte dann ohne eigentliche Gegen¬
leistung die Anerkennung seiner Stellung als bevorrechtete Macht in Marokko erlangt.
Das eben durfte nicht sein. Die deutschen Ansprüche bestanden für sich zu Recht —
mit oder ohne Frankreichs Erlaubnis — und diese Tatsache konnte, solange
Marokko als unabhängiger Staat bestand, nur durch eine erneute Festlegung
der vor dem stanzösisch-englischen Abkommen vorhandenen internationalen Rechts¬
lage befriedigt werde. Ohne diese Festlegung hätte sich Frankreich nach der von ihm
allgemein geübten Praxis niemals dazu verstanden, den deutschen Interessen irgend¬
welchen Raum zu lassen — trotz aller Verträge. Es war vollkommen richtig, was der
Kaiser in Tanger gesagt hatte, als er bei Begrüßung der deutschen Kolonie
das Versprechen, den Handel zu schützen, mit dem Zusatz begleitete, er werde
für die volle Gleichberechtigung mit allen Mächten sorgen, „was nur bei Sou¬
veränität des Sultans und Unabhängigkeit des Landes möglich ist". Es lag
im Zweck des Kaiserbesuches, den Sultan als freien Herrscher zu begrüßen und
die Gleichberechtigung aller Mächte zu betonen. Wenn das auch keineswegs,
wie später wohl behauptet worden ist, die Verbürgung der Unabhängigkeit
Marokkos für alle Zeiten, vielmehr nur die Bekundung des geltenden Rechts¬
zustandes bedeutete, so schloß doch dieses Kaiserwort für Deutschland die Mög¬
lichkeit aus, unmittelbar darauf diesen Standpunkt fallen zu lassen und ein
Sonderabkommen mit Frankreich einzugehen. Fürst Bülows staatsmännischer
Scharfblick hatte alle diese Momente richtig erfaßt, als er trotz mancher
erschwerenden Einflüsse den Lockungen Frankreichs widerstand und die Berufung
einer internationalen Konferenz durchdrückte.
Daß die Konferenz in Algeciras für uns keine erfreuliche Episode war, ist
ohne weiteres zuzugeben. Der Kampf, den Deutschland dabei gegen die Koa¬
lition seiner Neider und Gegner zu führen hatte, brachte manche äußeren Ein¬
drücke mit sich, die sür ein geschärftes nationales Selbstbewußtsein schwer zu
ertragen waren, und dergleichen Eindrücke wiegen in der Welt, wie sie um
einmal ist, und bei einer Staatskunst, die auch im günstigsten Falle nicht mit
ganz offenen Karten spielen und ihre letzten und besten Gründe niemals auf
dem Markte ausschreien kann, mindestens so schwer wie die immer zum Teil
hinter den Kulissen verborgenen Tatsachen. Die unangenehmste Überraschung
war für uns wohl die Haltung Italiens; erst heute wissen wir, daß Italien
sich durch die Zusicherungen der Westmächte hinsichtlich der künftigen Erwerbung
von Tripolis gebunden hielt. Daß es sich unter den obwaltenden Umständen
mehr als Mittelmeermacht denn als Dreibundmacht fühlte, wird ihm ein kühl
rechnender Politiker kaum verdenken können. Wenn nun aber aus alledem
gefolgert wird, das Ergebnis der Algeciraskonferenz sei für uns ein Fehlschlag
und diese ganze Politik somit ein Fehler gewesen, so ist das wiederum gänzlich
unzutreffend. Frankreich war gezwungen worden, eine Rechtslage anzuerkennen,
die es jahrelang bemüht gewesen war, als nicht vorhanden anzusehen und dann
förmlich zu beseitigen. Deutschland aber gewann einen förmlichen Rechtstitel,
aus Grund dessen es seine Interessen in Marokko wahren konnte. Erst auf
dieser Grundlage wurde das deutsch-französische Abkommen vom 8. Februar
1909 möglich, das innerhalb der Bestimmungen der Algecirasakte die besonderen
Wünsche und Ansprüche beider Mächte gegenseitig klärte und abgrenzte. Deutsch¬
land konnte jetzt den politischen und militärischen Interessen Frankreichs gewisse
Zugeständnisse machen, weil die Erfahrungen von drei Jahren inzwischen die
Lage verändert hatten. Wenn im Jahre 1905 die Dinge so gestanden hatten,
daß die förmliche Anerkennung der Gleichberechtigung aller Mächte nur unter
der Voraussetzung eines unabhängigen Marokkos zu erlangen war, so hatten
die drei Jahre nach dem Abschluß der Algecirasakte gezeigt, daß eine andere,
ebenso notwendige Voraussetzung für die Wirksamkeit der in Marokko inter¬
essierten Mächte, nämlich die Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und
der innere Friede des Landes, von der gesetzmäßigen Regierung in Marokko
nicht zu erlangen war. Indem Deutschland den ihm eigentlich daraus erwachsenden
Anteil politischer und militärischer Fürsorge innerhalb der in der Algecirasakte ge¬
zogenen Grenzen an Frankreich übertrug, blieb es seinem alten Programm getren
und wahrte sich' noch einmal die ausdrückliche und besondere Verpflichtung
Frankreichs, den deutschen Handelsbestrebungen nichts in den Weg zu legen.
Auf deutscher Seite hatte niemals eine grundsätzliche Abneigung bestanden,
Frankreich den Besitz von Marokko zuzugestehen, wenn nur eine Sicherheit gegen
die „Tunifikation" des Landes, d. h. gegen den Ausschluß jedes nichtfranzösischen
wirtschaftlichen Wettbewerbes nach dem Muster von Tunis, vorhanden gewesen
wäre. Diese Sicherheit gaben die Algecirasakte und das darauf beruhende
Abkommen von 1909, — note höre solange sie gehalten wurden. Es ist
daher unrichtig, wenn von französischer Seite — u. a. auch von Tardieu —
behauptet wird, daß die deutsche Regierung die weitere Ausbreitung der fran¬
zösischen Macht in Marokko als einen Mißerfolg ihrer eigenen Politik empfunden
habe. Natürlich empfand man bei uns diese Tatsache nicht gerade mit Freuden,
denn sie beruhte darauf, daß die marokkanische Negierung, von deren Unab¬
hängigkeit wir notgedrungen hatten ausgehen müssen, sich völlig unfähig zeigte,
die Anforderungen zu erfüllen, die man an eine unabhängige Regierung stellen
muß. Die Fortschritte der Franzosen waren nur die selbstverständliche Folge
dieser marokkanischen Unfähigkeit zur Freiheit und Selbstbestimmung, sie bewiesen
aber nichts gegen die Politik, die wir zur Erreichung des für uns allein wesent¬
lichen Zieles eingeschlagen hatten. Diese Ziele wurden erst in dem Augenblick
berührt, als die Franzosen sich genügend gesichert fühlten, um die Algeciras¬
akte selbst zu verletzen, in der sicheren Voraussetzung, daß Deutschland die
einzige Macht sein werde, die dagegen vielleicht Einspruch erheben könnte. Erst
als die ersten diplomatischen Schritte wegen der tatsächlichen Verletzung der
Algecirasakte erfolglos blieben, sandte Deutschland den „Panther" nach Agadir,
wo in jenen Tagen deutsche Handelsinteressen gefährdet schienen.
Man begegnet nnn auch hier wieder der Ansicht, daß das Mittel zu stark
gewesen sei für den zu erreichenden Zweck. Allein die Behauptung, daß man
ein Kriegsschiff nur dann entsenden dürfe, wenn es sich um eine ernste kriege¬
rische Aktion oder die Absicht einer Besitzergreifung an einer fremden Küste handle,
findet keine Stütze in der Praxis anderer Völker und auch nicht in unserer
eigenen Vergangenheit. Unzählige Male sind Kriegsschiffe aller Nationen zu
kleinen Strafexpeditionen gegen wilde Völkerschaften ausgesandt worden, oder
zur Unterstützung der Einkassierung von Schuldforderungen oder auch zur Ver¬
hütung unbedeutender Unruhen. Es beruhte auf einem einfachen Denkfehler,
wenn man die Fahrt unseres kleinen Kreuzers nach Agadir als eine kriegerische
Demonstration gegen Frankreich auffaßte. Das war sie nicht, sondern ein ein¬
facher Akt der Selbsthilfe in Form einer Drohung gegen die eingeborene Be¬
völkerung eines Teiles von Marokko, einer Selbsthilfe, die beispielsweise in der
Südsee häufig angewendet worden ist, ohne daß sich die Unbeteiligten darum
kümmerten. Die allerdings beabsichtigte und sogar stark betonte Spitze gegen
Frankreich lag in diesem Falle nur darin, daß eine solche Selbsthilfe nie geübt
worden wäre, wenn Frankreich die Algecirasakte nicht verletzt und sich aus¬
reichenden Erklärungen und weiteren Verhandlungen zu entziehen versucht hätte.
Die Entsendung des „Panther" bedeutete also nicht die Drohung an Frank¬
reich: „Jetzt wollen wir euch an den Kragen!", sondern nur den handgreif¬
lichen Wink: „Ihr habt die Verträge zerrissen, darum haben wir jetzt die volle
Freiheit auch zu den politischen und militärischen Aktionen, die wir anderenfalls
vermieden und euch überlassen hätten." Und das war auch der wesentliche
Inhalt der diplomatischen Erläuterungen, die diesen Schritt begleiteten und ihm
folgten. Nur enthielten sie noch den weiteren Gedanken, der den Zweck der
Demonstration klarstellte und den man kurz durch den Zusatz ausdrücken kann:
„— es sei denn, daß ihr mit uns in neue Verhandlungen tretet."
Von welchen Erwägungen gingen nun diese neuen Verhandlungen aus,
und was war ihr Ziel? So wie nunmehr die Sache stand, hatte Deutschland
kein Interesse mehr an der Unabhängigkeit Marokkos, nachdem dieser Staat
fünf Jahre hindurch einen Beweis über den anderen geliefert hatte, daß ihm
nicht zu helfen war. Wie schon an anderer Stelle angedeutet wurde, war die
sogenannte Freiheit Marokkos im Laufe der Entwicklung nur eine bequeme
Gelegenheit für die Franzosen geworden, die Verantwortung für allerlei Rechts¬
verletzungen von sich abzuwälzen. Die Besorgnis aber, daß Frankreich an den
fundamentalen Rechten Deutschlands noch einmal so vorbeigehen würde, wie es
1904 versucht hatte, war nach dem Vertrage von 1909 nicht mehr begründet —
trotz der immer noch vorhandenen Neigung zu Übergriffen. Deshalb lag es
jetzt unter den veränderten Umständen nur im deutschen Interesse, klare Ver¬
hältnisse zu schaffen und der französischen Marokkopolitik sogar behilflich zu sein,
an ihr Ziel zu gelangen. Aber es geht in den Beziehungen der Völker zu¬
einander ähnlich wie in privaten Rechtsverhältnissen: niemand gibt ein formales
Recht ohne Gegenleistung auf, und das selbst dann nicht, wenn der formale
Verzicht einen realen und sehr erwünschten Nutzen bringt. Wäre Frankreich,
ohne die Algecircisakte zu verletzen, eines Tages an Deutschland heran¬
getreten, um ihm unter Hinweis auf die Veränderung der Lage und sein
eigenes Interesse Verhandlungen vorzuschlagen, so wäre das für uns eine
gewisse Verlegenheit gewesen. Glücklicherweise schlug Frankreich diesen Weg
nicht ein, verleitet durch die Furcht vor den Schreiern im eigenen Lande,
die sich bei jeder Verstä'ndiguug mit Deutschland erheben, verleitet aber auch
durch die von Morel sehr klar nachgewiesenen Fehler der englischen Politik,
die sich französischer gebärdete als die Franzosen. Frankreich durchbrach die
Bestimmungen der Algecirasakte und gab damit Deutschland das Mittel an die
Hand, den geforderten Verzicht zu einem größeren Kompensationsobjekt zu
gestalten. Es galt für unsere Politik jetzt schnell und entschlossen zunächst
einmal die Freiheit auszunutzen, die uns Frankreich durch seinen Rechtsbruch
verschafft hatte, und darum wurde gerade die Maßregel der Entsendung eines
Kriegsschiffes nach dem außerhalb der französischen Machtsphäre gelegenen
Agadir gewählt, weil dieser Schritt die Möglichkeit einer Okkupation offen ließ.
Wirklich beabsichtigt ist eine solche nie gewesen, und unsere Regierung konnte
auch ruhig diese Erklärung abgeben; die Möglichkeit genügte für den Zweck der
Verhandlungen, denn es kam nur darauf an, eine greifbare Konsequenz des
von den Franzosen begangenen Fehlers zu schaffen, um ihnen die Notwendigkeit
einer Gegenleistung für den deutschen Verzicht und für das deutsche Ein-
Verständnis mit dem französischen Protektorat über Marokko klar zu machen.
Die von England genährte Furcht der Franzosen, Deutschland könne sich trotz
alledem im Susgebiet festsetzen, fand eine weitere Bestärkung durch die neu¬
belebten Hoffnungen der Altdeutschen.
Diese Kreise haben es Herrn von Kiderlen sehr verdacht, daß er ihre
Neigung zu extravaganten Treibereien und zu Mißverständnissen in dieser Richtung
etwas skrupellos in den Dienst seiner Politik stellte und sie als Springer und
Läufer in seinem diplomatischen Schachspiel verwendete. Ihr Groll darüber ist
begreiflich; aber warum ein guter Diplomat in dieser argen, sündhaften Welt
dieses überall und jederzeit gebrauchte Mittel grundsätzlich verschmähen sollte,
ist nicht recht einzusehen. Selbst wenn man jedoch aus verschiedenen Gründen
meint, daß Herr von Kiderlen das besser vermieden hätte, so hätten doch gerade
die Altdeutschen allen Grund, ihm mildernde Umstände zuzubilligen, da sie in
ihrer Agitation anläßlich der so besonders schwierigen Marokkofrage viele Jahre
hindurch mit mindestens gleicher Skrupellosigkeit über die loyalen und authen¬
tischen Aufklärungen der Regierung hinweggegangen sind und immer wieder
versucht haben, unsere Politik in eine andere Bahn zu drängen, als von Anfang
an vorgezeichnet war. Herr von Kiderlen hatte jedenfalls seinen Zweck erreicht,
den Franzosen begreiflich zu machen, daß eine weitgehende Gewährung ihrer
Wünsche in Marokko ein erheblich größeres Maß von Entgegenkommen und
gutem Willen auf deutscher Seite bedeutete, als man in Frankreich bis dahin
geglaubt hatte. So konnte er eine entsprechende Kompensation fordern.
Auch um diese Kompensationsfrage haben die in der Marokkofrage leider
chronischen Mißverständnisse einen Schleier von Dichtung gewoben. Man hat
die Sache so dargestellt, als ob wir schönes, fruchtbares Land in Marokko
gegen unbrauchbare, pesthauchende Sümpfe im Kongoland ausgetauscht hätten.
Nur schade, daß wir dieses Land in Marokko nie besessen und auch nie ein
Recht darauf gehabt haben. Was wir Frankreich gegeben haben, war nicht
ein Land, sondern ein von uns selbst nie geübtes und überdies für uns wertlos
gewordenes, von Frankreich aber erst zu realisierendes Recht.
Es konnten hier nur die wesentlichsten Punkte der Frage berührt werden.
Daß im einzelnen mancherlei geschehen ist, worüber die Meinungen auch der
Eingeweihten auseinandergehen werden, liegt auf der Hand. Den Anhängern
einer deutschen Eroberungspolitik in Marokko wird natürlich niemand das Recht
bestreiten können, zu beklagen, daß die deutsche Politik ihren Wünschen nicht
gefolgt ist, und noch viel weitere Kreise werden die unglückliche Fügung über¬
haupt bedauern, daß wir uns mit Marokko befassen mußten. Das sind an
sich berechtigte Ansichten. Aber auch diese entbinden den besonnenen Beurteiler
nicht von der Pflicht, die tatsächlich und konsequent befolgte deutsche Marokko¬
politik in ihrem ganzen Zusammenhange, losgelöst von dem Wust von Er¬
dichtungen. Mißverständnissen und falschen Schlüssen, zu betrachten und sich
auch aus den Darstellungen von der anderen Seite — etwa von Tardieu oder
aus dem französischen Gelbbuch — zu überzeugen, wie wenig die oft in
patriotischem Ärger hingeworfene Behauptung von der Überlegenheit der fran¬
zösischen oder englischen Politik und Diplomatie zutrifft. Die aus solchem
Studium gewonnenen Eindrücke werden manches Vorurteil beseitigen und der
Schulung des politischen Urteils auch in anderen Fragen zum Vorteil gereichen.
u den grundlegendsten philosophischen Problemen, die zugleich auch
ein allgemeineres Interesse beanspruchen dürfen, gehört die Frage
nach den Beziehungen von Geist und Materie, nach dem Ver¬
hältnis von Seele und Leib. Alle Erfahrung, die aus der Außen¬
welt in unser Bewußtsein dringt, alles Material, das wir durch
unsere Sinne aufnehmen, ist ja ein Beweis, daß eine Berührung oder doch
irgend ein Konnex der materiellen und der Bewußtseinswirklichkeit besteht; denn
die Sinneswahrnehmungen find nichts anderes als die seelische Spiegelung von
Vorgängen der Außenwelt. Und umgekehrt: wenn wir wollend die geringsten
Veränderungen in der Außenwelt hervorbringen, ja wenn unser Wille auch nur
unseren eigenen Arm bewegt, so hat diese Tatsache die andere zur Voraus¬
setzung, daß an eine seelische Regung bestimmte physiologische und physikalische
Veränderungen gesetzmäßig geknüpft sind. Darum hat der „gemeine Menschen¬
verstand" es stets als selbstverständlich vorausgesetzt, daß in der Sinneswahr¬
nehmung der Körper auf die Seele und in den Willenshandlungen umgekehrt
die Seele auf den Körper wirke, daß Leib und Seele also in einem gesetz¬
mäßigen Wechselwirkungszusammenhange stehen.
Sollte diese naive Voraussetzung aber vor der wissenschaftlichen Auffassung
zu Recht bestehen? Wie kann so Wesensverschiedenes, wie Leib und Seele, auf¬
einander wirken? Dieses Bedenken, ja die Überzeugung von der Unmöglichkeit
einer solchen Wechselwirkung hat im Beginn der neueren Philosophie grund¬
legendsten Einfluß auf die Gestaltung der größten Gedankensysteme gehabt. Sie
hat Spinozas Parallelismus, den Okkasionalismus eines Geulincx und Male¬
branche und schließlich Leibniz' Lehre von der prästabilierten Harmonie hervor¬
getrieben. Denn der Grundgedanke aller dieser Systeme ist bestimmt durch den
Versuch, die Beziehungen der Außenwelt und des Bewußtseins auf anderem
als kausalen Wege zu deuten.
In neuerer Zeit aber sind zu jenen allgemeinen Bedenken gegen eine
Wechselwirkung von Leib und Seele spezielle getreten: sie wurzeln in dem Gesetz
von der Erhaltung der Energie. Die Argumente für und wider haben eine
Fülle zum Teil wertvoller und lehrreicher Schriften über das „Leib-Seele-
Problem" hervorgetrieben, die aus dem Lager der Naturwissenschaft ebenso wie
der Philosophie und Psychologie stammen; sie alle sind ja an einer befriedigenden
Lösung des Problems in gleicher Weise, wenn auch von verschiedenen Gesichts¬
punkten aus, interessiert.
Jüngst ist uns ein Buch geschenkt, das, allseitig orientiert, die Argumente
aus den verschiedenen Gebieten kritisch erwägt und eine sehr willkommene Dar¬
stellung des heutigen Problemstandes bietet: das Buch „Gehirn und Seele"
von Erich Becher*). Der erste und umfassendste Teil des Buches gibt eine
orientierende und kritische Darstellung der modernen Theorien über Bau und
Funktionen des Nervensystems, vor allem des Großhirns, und erörtert auf
dieser Grundlage die Frage nach den physiologischen Korrelaten der einzelnen
seelischen Vorgänge. Die Gehirnphysiologie hat versucht, die Gesamtheit dessen,
was wir in unseren! Bewußtsein erleben, restlos zu erklären aus den nervösen
Prozessen im Großhirn, an deren Unversehrtheit die höheren geistigen Vorgänge
ja tatsächlich gebunden sind. Becher unterzieht nun die verschiedenen Hypothesen,
die zur physiologischen Erklärung von Gedächtnis und Assoziation, von Fühlen,
Wollen und Denken gebildet sind, einer eingehenden Kritik, und er zeigt, daß
eine rein physiologische Erklärung der Bewußtseinsvorgänge aus verschiedensten
Gründen nicht durchführbar ist.
Wir haben die Gehirnvorgänge als Auslösungsprozesse chemischer Energien
zu deuten; diese aber lassen — gegenüber der Fülle und Wandelbarkeit der
Bewußtseinsinhalte und -Vorgänge — so wenige Modifikationen zu, daß es
nicht gelingt, die verwickelten Vorgänge etwa des Wiederkennens, der Re¬
produktion oder des Gedächtnisses allein aus jenen körperlichen Grundlagen
abzuleiten. Umgekehrt aber haben wir oft Ungleichheit der physiologischen Reize
anzunehmen, wo in unserem Bewußtsein der Eindruck von Gleichheit oder
Ähnlichkeit erzeugt wird; so wäre z. B. niemals die Ähnlichkeit, die wir zwischen
einem menschlichen Gesicht und einer Photographie sofort erkennen, abzuleiten
aus irgendeiner Ähnlichkeit des Netzhautbildes in beiden Fällen. Viel größere
Schwierigkeiten aber setzen die Phantasievorstellungen und die Denkprozesse einer
restlosen physiologischen Erklärung entgegen: die dahingehender Versuche zwingen
zu einer Häufung von HilfsHypothesen, bei denen der Boden der Erfahrung
verlassen wird.
Aber auch die Versuche, unser Fühlen und Wollen rein physiologisch zu
erklären, scheitern — so einleuchtend sie auch von Forschern verschiedenster
Richtungen gemacht sind — an der inkommensurablen Natur der körperlichen und
seelischen Daten. Vor allem aber müssen einsichtige Forscher zugeben, daß
„es heute noch dem Physiologen ganz unmöglich ist, sich von den mechanischen
Prozessen, welche komplizierteren psychischen Leistungen: der Vergleichung, der
Verschmelzung, der Abstraktion, dem Urteilen und Schließen, entsprechen sollen,
auch nur in den allergröbsten Umrissen eine Vorstellung zu machen, welche nicht
rein hypothetisch, ja phantastisch wäre". (Jott.)
Nicht in den physiologischen Tatsachen allein also, sondern in einem
Zusammenwirken jener körperlichen Grundlagen mit den von ihnen wesens¬
verschiedenen Bewußtseinsdaten, muß die Erklärung des Seelenlebens gesucht
werden.
Damit erhebt sich nun auch für die moderne Wissenschaft das Problem,
wie ein solches Zusammenwirken dieser wesensverschiedenen Gebiete zu denken, wie
dementsprechend die Wechselbeziehungen von Leib und Seele zu deuten sind.
Vielleicht können wir heut noch keine endgültige, mathematisch-genaue Antwort
auf dieses Grundproblem geben; Becher stellt sich in den dem „Leib-Seele-
Problem" gewidmeten Abschnitten seines Buches darum in erster Linie die Auf¬
gabe, in dieser, die Geister scheidenden Erörterung „Vorarbeit zu leisten,
Vorurteile zu beseitigen und freie Bahn für eine unbefangene Abwägung der
Argumente zu schaffen".
Indem wir die rein physiologische Deutung des Bewußtseins als ungültig
erkannten, scheidet für uns zugleich eine Lösung unseres Problems von vorn¬
herein aus: die Auffassung, als sei das Bewußtsein, als sei das Seelische nur
eine unwesentliche Erscheinung des allein realen körperlichen Seins — also
die metaphysische Hypothese des „Materialismus". Aber nicht nur die Er¬
wägungen über die Natur der geistigen Vorgänge sprechen gegen diese, jetzt im
Absterben begriffene Weltauffassung; eine viel einfachere und zugleich grund¬
legendere Überlegung gräbt ihr die Wurzeln ab. Was stellt denn das eigentliche
Urmaterial aller unserer Erfahrung dar? In welcher Form wird alles, was
wir überhaupt kennen, wird also auch die Naturerfahrung uns vermittelt? In
Form von Bewußtseinsinhalten! Erst auf Grund dieser seelischen Eindrücke schließen
wir auf das Vorhandensein einer Außenwelt; darum muß jeder Versuch, die
Realität des Seelischen wegzuleugnen, notwendig mißlingen.
Wir haben vielmehr anzuerkennen, daß uns zweierlei Wirklichkeit gegeben
ist: seelische und körperliche. Die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden hat
in der modernen Wissenschaft zwei entgegenstehende Weltauffassungen gezeitigt:
die Wechselwirkungslehre einerseits — und die Theorie des psychophysischen
Parallelismus anderseits; jene ist durch Lotze und seine Schüler, — diese
durch Ebbinghaus, Wundt u. a. vertreten. Nach der Lehre des Parallelismus
gehen die materiellen und die seelischen Prozesse beständig gesetzmäßig einander
parallel, ohne an irgendeiner Stelle zu Ursache und Wirkung zusammenzutreten.
Allenthalben aber, so lehren einige Vertreter dieser Auffassung — vor allem
ihr genialer Begründer G. Th. Fechner —, ist mit Materiellen ein
seelisches verbunden; auch der Welt des Anorganischen geht unbewußt
Psychisches parallel.
Das Grundproblem für jede Form des Parallelismus ist die Frage: wie
kommt diese Übereinstimmung, dieses Parallelgehen zweier Gebiete, die sich doch
nirgends kreuzen und berühren, zustande? Wie kommt es z. B., daß ein Reiz a
in der Außerwelt von einer ihn repräsentierenden Wahrnehmung a begleitet ist,
obwohl — der Voraussetzung nach — das eine das andere nicht bewirkt? Und
wie kommt es anderseits, daß eine auf Veränderung in der Außenwelt gerichtete
Absicht eines bewußten Wesens diese Veränderung auch erzielt? Es hieße auf
alle Erklärung verzichten, wollten wir diese seltsame Übereinstimmung zwischen
den beiden wesensfremden Gebieten einfach anerkennen.
Darum hat man versucht, das scheinbar Unerklärliche durch eine Hypothese
begreiflich zu machen, die die Schwierigkeit in der Tat überwindet: nicht zwei
getrennte Vorgangsreihen laufen nebeneinander ab, sondern die beiden Gebiete,
die uns als getrennte erscheinen, sind im Grunde eines: zwei verschiedene Seiten
oder Erscheinungsweisen eines zugrunde liegenden, sie beide bewirkenden Realen.
Diese, zuletzt auf Spinoza zurückgehende Auffassung sucht also den Parallelismus
zu erklären, indem sie ihn überwindet, indem sie das Seelische und das Materielle
in einer höheren Einheit zusammenfaßt.
Diese Auffassung aber — so genial sie uns zunächst anmutet — enthält
doch wiederum eine Summe ungelöster Probleme: so vor allem die Frage, wie
jede der beiden „Manifestationen" des Realen sich zu diesem selbst verhalten.
Und sie führt außerdem Hypothesen ein, die ihrer Natur nach niemals durch
Erfahrung bestätigt werden können. So werden wir Becher zugeben, daß
sie „eher eine Verdoppelung als eine Lösung des ,Leib-Seele-Problems'
darstellt".
Aber der Parallelismus kann das Problem der Zusammenstimmung des
Materiellen und des Geistigen auch auf andere Art zu lösen versuchen. Gelten
ihm auf der einen Seite die physischen Wirkungszusammenhänge als ein
geschlossenes Ganzes, so stellt er diesem eine gleichfalls geschlossene psychische
Kausalkette gegenüber, indem er die Lücken, die unsere Erfahrung in dieser
Beziehung läßt, durch unbewußte seelische Vorgänge ergänzt denkt. Wenn nun
z, B. in einer Sinneswahrnehmung ein äußerer Reiz uns zu berühren scheint,
dann ist es nicht der äußere Gegenstand, der die Bewußtseinswirkung hervor¬
bringt: sondern ein jenem Gegenstand entsprechendes seelisches verursacht unsere
Wahrnehmung. Wenn es sich aber so verhält: was bürgt uns dann dafür,
daß die Körperwelt überhaupt vorhanden ist?! Erlebten wir doch dieselben
Bewußtseinseindrücke, auch wenn alles Sein geistiger, seelischer Natur wäre!
So berührt sich diese Form des Parallelismus mit uralten Gedanken¬
gängen der Philosophie: mit der idealistischen Weltauffassung, nach der das
Geistige das einzige Reale in der Welt ist, während die körperliche Natur nur
eine charakteristische Erscheinungsform dieses Realen darstellt.
Auch unsere Gehirnprozesse, an die wir die Bewußtseinserlebnisse gebunden
sehen, wären, wie alles Körperliche, nichts Reales; vielmehr müßten sie eine
Erscheinung, eine Manifestation darstellen zu den allein realen Bewußtseins¬
vorgängen.
Aber diese Hypothese — so einleuchtend sie in vieler Beziehung erscheint —
hält dennoch der Kritik nicht stand; denn diese letzten Glieder — die Bewußtseins¬
erlebnisse und die Gehirnvorgänge — sind so inkommensurabel, daß diese nicht
als „Manifestation", als Erscheinung von jenen aufgefaßt werden können. Die
Elemente unserer seelischen Erlebnisse (z. B. eine Tonwahrnehmung) sind ab¬
solut einfacher, unteilbarer Natur; im Physiologischen dagegen entsprechen jeder
Wahrnehmung' eine große Zahl von Erregungen. Sollten die Erregungen, die
auch nur in einer Gehirnzelle beständig wirksam sind, eine Manifestation von
Bewußtseinserlebnissen darstellen, so müßte ihnen eine Vielheit seelischer
Vorgänge entsprechen. Das ist aber tatsächlich nicht der Fall. Wir haben
aber ferner im Physiologischen ein dauerndes Substrat, an dem die Vorgänge,
die der Tonempfindung entsprechen, eine Veränderung bedeuten; ja diese Vor-
gänge sind im Grunde die sich verändernde, bewegende Hirnsubstanz selbst.
Der Ton dagegen ist nicht die Veränderung eines dauernd Seienden; er ist
ein einmaliges Geschehen; wer ihn hört, „erlebt nicht ein substanzartig Dauerndes,
das sich während des Erlebens veränderte". So kann das Tonerlebnis nicht
das Reale, das „Ansichseiende" des Gehirnvorgangs sein; es kann lediglich mit
diesem gleichfalls realen und eine andere Art der Wirklichkeit darstellenden
Gehirnvorgang verbunden sein. Sollten unsere körperlichen Vorgänge die
Manifestationen eines seelischen Geschehens darstellen, so müßten wir fordern,
daß jedem Vorgang, ja daß jeder Zelle ein seelisches „Ding an sich" entspräche,
dann kämen wir schließlich zu der in der Philosophie oft erhobenen Forderung
der „Atomseelen". Diese aber würden zur Lösung des Leib-Seele-Problems
nichts beitragen; denn niemals ist aus einer Vielheit von Seelen die Bewußt¬
seinseinheit, die unser Seelenleben charakterisiert, zu erklären. So bietet jede
Form des Parallelismus neue, .unüberwindliche Schwierigkeiten.
Aber sind denn die Argumente, die der Annahme einer „Wechselwirkung"
von Leib und Seele entgegenstehen, gleichfalls unüberwindlich? Ist die For¬
derung, daß materielle Wirkungen allerorten nur durch materielle Ursachen
hervorgebracht werden können, von vornherein selbstverständlich? Wir werden
heut nicht mehr das Prinzip aufstellen: nur Gleiches könne auf Gleiches wirken;
wir wissen, daß über Wirkungsmöglichkeiten nur Erfahrung entscheiden kann.
Ebensowenig wird uns die Tatsache, daß seelische Vorgänge sich der genauen
Messung entziehen, gegen ihr gesetzmäßiges Eingreifen in den Naturzusammen¬
hang sprechen; denn auch diese unsere Forderung darf die Wirklichkeit nicht
meistern. Die Tatsache aber, daß die seelischen Vorgänge, die wir erleben,
nicht aus den physiologischen Begleitprozessen allein zu erklären sind, spricht gegen
die Geschlossenheit der Naturkausalität.
Aber besitzen wir nicht ein grundlegendes Naturgesetz, das die Möglichkeit
eines Hinüberwirkens von Seelischem in das organische Gebiet dennoch prinzipiell
ausschließt? Fordert nicht das Gesetz von der Erhaltung der Energie, daß
die Summe der „Energie" der Fähigkeit, mechanische Arbeit zu leisten) in
der Natur in jedem Moment konstant bleibt? Diese Summe aber würde durch
ein Hinübergreifen körperlicher Wirkungen ins Geistige gekürzt, und durch das
umgekehrte Geschehen gesetzlos vermehrt werden. Bietet sich ein Weg, die
Forderung kausaler Beziehungen zwischen Leib und Seele mit diesem Gesetz in
Einklang zu bringen?
Becher macht uns mit einer Reihe der dahingehender Versuche bekannt.
Die überzeugendste Hypothese beruht auf der physikalischen Tatsache, daß es
Möglichkeiten genug gibt, die Bewegung eines materiellen Systems ohne Energie¬
aufwand zu beeinflussen; auf diese Art geschieht z. B. jede Richtungsänderung eines
in Bewegung befindlichen Körpers durch eine Kraft, die senkrecht zur Bewegung
ihres Angriffspunktes wirkt. Auf diese Weise wird uns also auch eine Mög-
lichkeit geboten, die Bewegungen im Großhirn als beeinflußbar von psychischen
Faktoren zu denken, ohne daß die Summe der körperlichen Energie beeinflußt,
ohne daß somit das Euergiegesetz verletzt würde. Und es eröffnet sich uns
somit ein Weg, die grundlegendsten Forderungen der Naturerkenntnis mit der
Auffassung in Einklang zu bringen, die uns dauernd am natürlichsten und
einfachsten erscheint, weil sie am wenigsten zu Hypothesen zwingt, die den Boden
der Erfahrung verlassen. Eine solche Auffassung aber ist die Überzeugung, daß
wir in den Sinneswahrnehmungen Wirkungen aus der Außenwelt in unserem
Geiste aufnehmen, und daß wir umgekehrt durch die seelischen Regungen des Willens¬
lebens unseren Körper zu beeinflussen fähig sind. Entzöge die wissenschaftliche Er¬
kenntnis, wie es eine Zeitlang schien, einer solchen Auffassung den Boden, so
hätten wir die Pflicht, unsere Weltauffassung mit dieser Erkenntnis in Einklang zu
bringen und in den grundlegendsten Fragen umzudenken. Aber Becher zeigt uns —
an einer Fülle von modernem, wissenschaftlichen Material —, daß die Sach¬
lage keineswegs so ist, sondern daß die Gründe für die Wechselwirkungstheorie
durchschlagender sind, als die für den Parallelismus.
Darüber hinaus versucht er noch eine Versöhnung der beiden entgegen¬
stehenden Weltauffassungen. Nicht in ihr möchte ich das wesentliche Verdienst
von Bechers Arbeit sehen; es liegt vielmehr darin, daß er in der vorliegenden
grundlegenden Frage das Für und Wider sachlich, scharfsinnig und gründlich
erwägt, auf Grund eines reichen, aus der neuesten naturwissenschaftlichen und
philosophischen Literatur geschöpften Materials.
Die Kameraden sind bereits im Saale, als er hinkommt. Er setzt sich zu ihnen.
Einen Tisch weiter hat der Fulde-Jean, der Neffe der Hungels - Grek, Platz
genommen. Der sieht den Salzer an und höhnt:
„Na, hast du dein Schmerz überwunden, weil du schon auf die Tanzmusik
gehst?"
Karl gibt ihm keine Antwort und fragt seine Kameraden:
„Na, ihr Barsch, was wird getrunken? Niersteiner oder Oppenheimer?"
Darauf gibt der Fulde-Jean die Antwort:
„Guck mal da, wie nobel treibt's der Bankrottskerl!"
„Halt dein Schlappmaull" heisern die anderen ihn an, „du bist ja net
gefragt I"
Aber der Fuld läßt sich nicht aus der Ruhe bringen:
„Ich will ja auch mit euch nix. Aweil hab ich's mit dem Spitzbubenvolk
zu tun. Wiewohl — ihr seid auch all mitnander zu bedauern, weil ihr euch mit
so einem Kerl abgeht I"
Da dreht sich Karl mit einem Ruck herum, schluckt einmal heftig, sagt aber
dann ganz gelassen:
„Weißt du, du Lausert, wenn wir net da hin im Tanzsaal wären, tat ich
dir ein paar stoppen, daß du über Kerb genung hättstl"
„Karl, kein Streit auf die Kerb!" beschwichtigen die anderen. „Die Spelzemer
Kerb ist als anständig Kerb bekannt, das muß so bleiben; drum kein Streit an¬
gefangen! Wenn ihr zwei was auszumachen habt, könnt ihr's ja nach der Kerb
auseinander machen!"
Da wirft der Fuld so andeutungsweise hin:
„Jo, nach der Kerb machen als viel Leut große Augen!"
Die Burschen denken, der Fulde-Jean habe wohl schon einen sitzen, denn
was der da will mit den Leuten, die nach der Kerb große Augen machen, das
weiß der Kuckuck. Einer nimmt den Karl am Arm und sagt:
„Da trink, Karl, und laß den Schlechtschwätzer plappern!"
Die Musikanten, die die ganze Zeit über ihre Instrumente gestimmt haben,
fangen nun mit dem Spiele an. Am Nachmittag benutzen sie die Blasinstrumente,
abends und nachts hindurch fiedeln sie.
Man daher, man haha, tibi dumdada dumdada!
Zuerst spielen sie den Tanz nur an, damit man weiß, was jetzt kommt.
Denn Tanzkarten gibt es nicht.
Die Burschen springen auf, um zu engagieren. Mit steifen Verbeugungen
tun sie es; mit täppischer Sittigkeit stehen die Bauernmädchen von ihren Plätzen
auf und hängen sich in den Arm des Tänzers. Der hat in der Hand, die er
seiner Tänzerin um die Hüfte legt, ein Taschentuch, damit deren Kleid nicht vom
Schweiße verdorben werde. Bäuerisches Zartgefühl.
In langer Reihe stellen sich die Paare hintereinander.
Die Musikanten spielen auf.
Die ersten Paare lösen sich aus der Reihe und drehen durch den Saal. Die
Arme schwingen auf und ab.
Mit gewandten Bewegungen schleift der Tanzordner zwischen den Tanzenden
hindurch. Er hat eine Schelle, mit der er zuweilen nach dem Takte der Musik
klingelt.
„Man", schnurrt die Baßgeige.
„Klingling", läutet das Glöckchen.
„Mmmklingling, mmmklingling, mmmklingling!"
Nun tanzen die Paare auf die andere Seite, der Herr macht vor der Dame
eine steife Verbeugung, sie gehen auseinander, ein jedes auf seinen Platz, oder
sie reihen sich gleich wieder an. Der Saal ist zu klein, sie können nicht alle
zugleich tanzen.
Karl sitzt allein am Tische; die anderen tanzen. Er langweilt sich, ärgert
sich, wünscht, daheim geblieben zu sein. Wozu die Possen? Er hat einen Ekel
und möchte ausspeien, greift nach dem Glas und trinkt.
Der Fulde-Jean kommt vom Tanzen zurück. Wie er den Salzer trinken
sieht, hebt er sein Glas in die Höhe:
„Prost, Salzerl Auf deinem Vater sein fein Grab! Prost, bekomms!"
„Was geht dich meinem Vater sein Grab an, dich Lauferei"
„Seid ihr zwei denn schon wieder aneinander?" fragen da etliche, die auch
wieder an den Tisch zurückkommen, und an den Fuld wenden sie sich besonders:
„Jean, sei doch auch mal still und laß den Karl gehen. Der kann doch
nix dafür, und mit der Kaff ist doch auch alles wieder in Ordnung. Also Halt's
Maull Wir denn uns ja auch anders besonnen, und der Salzer-Karl ist uns so
lieb wie jeder anderel"
Der Fulde-Jean tut, als habe er das überhört, und sagt:
„Außer dem do seinem Vater liegt kein Selbstmördsr aus dem Dorf auf
dem Spelzemer Kirchhof, 's ist eine Schand, sagt meine Tante Grek, und die
hat recht!"
„So laß das doch wenigstens heut ruhen, Kerl!" schimpfen die anderen.
„Wem's net gefällt, was ich red, kann sich ja einen anderen Platz suchen!"
kläfft der Fuld wieder dagegen.
Da steht Karl Salzer auf, tritt vor seinen Widersacher und sagt zu ihm:
„Red dich nur ruhig aus, Jean, 's ist mir ganz recht!"
Die Ruhe, mit der diese Worte gesprochen worden sind, versetzt den Fuld
ein wenig in Erstaunen; er weiß nicht, was er weiter sagen soll, und so ist denn
aus ein paar Tänze die Streiterei erledigt.
Der Fuld tanzt mehrere Touren und fängt dann wieder mit seinen Sticheleien
an. Dazwischen stürzt er ein Glas Wein nach dem anderen hinunter, denn er ist
erhitzt; bei den Tänzen war auch ein Galopp.
„Ja, ja, ich glaub als, daß nach der Kerb wieder manche Herrlichkeit herum
ist, auch auf dem KirchhofI"
Wie der Karl Salzer diese Worte hört, ist es ihm, als habe in der über dem
Tische hängenden Erdöllampe die Flamme Heller gebrannt. Er schaut auf. Die
Flamme aber brennt ganz ruhig. Wenn die Musikanten auf ihren Blasinstru¬
menten spielen würden, hätte es auch ein aus einer blank geputzten Messing¬
trompete fallender Lichtblitz sein können.
Karl Salzer fährt sich über die Stirn, sticht mit den Fingerspitzen in die
Augenwinkel, als wolle er dort ein wenig Schorf entfernen, und dann fragt er
den Fuld:
„Jean, kannst du mir vielleicht dadrüber Auskunft geben, weil du meinst, daß
nach der Kerb auch wieder manche Herrlichkeit auf dem Kirchhof herum wär?"
Der Jean Fuld hat stiere Augen, in deren Weiß die kleinen Äderchen stark
gerötet sind. Er blinzelt in das Licht über dem Nachbartisch und sagt:
„Kannst am Mittwochmorgen mal gucken!"
In Karl tobt es, aber er nimmt sich zusammen. Schon neigt er den Kopf
zur Seite, um seinem Nachbar zu sagen: Der ist's! als er sich auch schon eines
besseren besinnt und sich wieder dem Halbtrunkenen zuwendet:
„Also den Mittwoch, hä, Jean?"
Wieder ist das ganz ruhig und gleichgültig gesprochen. Der Fuld aber
antwortet:
„Wenn du's net abwarten kannst — meinetwegen auch schon den Dienstag!"
„So? Na ja! Da werden wir mal gucken am Dienstag. Gelt, am Dienstag!"
„Ja, guck da mal; wirst schöne Augen machen!"
Und der Fuld steht auf zum Tanzen.
Um zwölf Uhr wird eine Polonaise gegangen, und dann ißt man etwas, um
weüerzutanzen bis um vier Uhr, auch bis um fünf. So ist es der Brauch.
Als die Kameraden von der Polonaise zurückkommen, sagt Karl ihnen, daß
er sie jetzt auch beim Essen freihalten werde. Sie wüßten ja, daß sie das eigentlich
dem Hannes Holtner und nicht ihm zu danken hätten. Aber er täte es ihnen
doch auch gern, weil sie vorhin dem Fulde-Jean gegenüber gesagt hätten, sie
wollten wieder gute Kameraden sein.
Nach dem Essen geht er heim. Es gelüstet ihn nicht, noch länger dazubleiben.
Die anderen wollen ihn zurückhalten, aber es gelingt ihnen nicht trotz der Ver¬
sicherung, daß es jetzt doch erst anfange schön zu werden.
Als er aus dem Saale tritt, spürt er die Kühle der Nachtluft. Da knöpft
er seinen Nock zu, steckt die Hände in die Hosentaschen und geht eilends heim; es
ist nicht weit.
Das Haus ist schon ganz ruhig.
Im Bette liegt Karl lange mit offenen Augen. Jetzt weiß er, wer es ist:
Der Fulde-Jean, angestiftet von der Hungels-Grek.
Was wird der Unkel Hannes dazu sagen? Und was wird er zu tun raten?
Hannes Holtner sagt am nächsten Morgen, als er es erfährt:
„Ich traue diesen Nächsten am Thron Gottes viel zu, aber ich hätt mich
seither doch net getraut, zu denken, daß sie auch eines Friedhofsfrevels fähig wären.
Na, aber schließlich, wer hätt's anders sein sollen? Selber haben sie aber die
Courage nicht, verderben sie so einen jungen KerlI"
Und dann fragt er, was der Karl dagegen machen wolle.
Der antwortet, daß er schon hin und her überlegt habe, ob er es nicht doch
am gescheitesten anzeigen solle, aber es sei zu fürchten, daß er damit wenig erreiche
und die Bauern nur noch mehr gegen sich aufdringe, wenn einer ihrer Söhne
um seinetwillen oder vielmehr wegen seines Vaters in Strafe komme. Darum
halte er es für das beste, dem Fulde-Jean einmal gehörig das Fell zu vertrommeln.
Der werde wohl am Montagabend auf den Friedhof gehen, um sein Zerstörungs-
werk am Kreuze wieder zu vollbringen, und wenn man ihn dabei einmal tüchtig
verdresche, so erfahre das womöglich garniemcmd; denn der Fulde-Jean würde
es gewiß nicht erzählen, weil er sich ja dann blamiere. schlimmstenfalls könne
aus der Kellerei eine Feindschaft auf Lebensdauer werden, aber daran liege ihm
nicht viel; er sei ja nicht schuld.
Dem stimmt der Hannes Holtner bei, empfiehlt aber seinem Zögling, sich
vom Zorne nicht allzu heftig hinreißen zu lassen, damit das Dorf nicht wieder
von neuem rebellisch werde. Denn das sei gewiß, daß die Mehrzahl der Bauern
die Ansicht von der unbedingten Verdammnis des Schmiedes teilte, deshalb die
Korrektur der Kreuzesinschrift nach diesem Sinne hin ganz am Platze fände und
eine Opposition des Sohnes jedenfalls schlecht verstehen werde.
Je mehr aber Hannes Holtner sich die Sache überlegt, um so gefährlicher
erscheint ihm das Epiel. In der Tiefe genommen widerstrebt es auch seinen
Erziehungsgrundsätzen, daß er es geschehen lassen soll, wie einer mit roher Gewalt
zu seinem Ziel zu kommen sucht, und er bedauert, in diesem Sinne übereilig auf
den Burschen eingewirkt zu haben. Er fragt ihn noch einmal, ob nicht er, der
Hannes Holtner, sich das Bürschlein vornehmen und ihm gehörig die Leviten lesen
solle. Das würde gewiß seine Wirkung nicht verfehlen.
Aber Karl lehnt den Vorschlag des Mannes ab, wie dieser auch selbst voraus¬
gesehen hat.
Karl sagt, er könne das nicht dulden, und es würde ihn auch nicht befriedigen,
wenn ein Fremder tue, was seine Sache sei, die Sache des Sohnes für den Vater.
„Karl, also will ich weiter nix mehr sagen!" meint Hannes Holtner da.
„Hoffentlich kommst du zu deinem Ziel. Wenn du das, was du tun willst, als
einen Akt der Vergeltung auffaßt, kommst du ganz sicher auf deine Rechnung.
Was anders ist es, wenn du meinst, mit so einer Kellerei für die Zukunft weitere
Schandtaten verhüten zu torrent"
Den Jungen macht die Bedenklichkeit seines alten Freundes stutzig, und er
sagt zu ihm:
„Unkel Hannes, wenn's Euch net recht ist, laß ich's auch sein. Aber ich
glaub', daß mich nachher den ganzen Tag der Gedanke net verläßt, wie ehrlos
es von mir wär', meinem Vater sein Grab schänden zu lassenl"
Nun antwortet Hannes Holtner:
„Anzeigen willst du den Kerl net, und dein Grund dazu leuchtet mir ein.
Du willst dich aber auch erlösen von dem Druck, der auf dir liegt. Wenn ich
wußt', wie du es noch anders machen könntst, tat' ich dir's sagen. In Gottes
Namen dennl"
Auf Kerwemontag findet nach alter Übung um sieben Uhr in der Frühe
das feierliche Requiem für die im Laufe des letzten Jahres verstorbenen Orts¬
bürger statt.
Wenn der Pfarrer seines Vaters Namen auch nicht verlesen hat, Karl geht
doch in die Kirche.
Die schauerlichen Klänge des „Dies irae alles illa" wühlen in seiner Seele,
und wieder krampfen die Zweifel in sein Herz, ob der Vater seine Sünden bereut
habe in den wenigen Minuten, die er nach den Schüssen noch gelebt hat, oder ob
er verstockt gestorben sei. Aber da erinnert er sich all der schönen Worte, die ihm
Tante Seelchen gesagt hat, und das beruhigt ihn. Und dann singen die Schul¬
kinder mit zarten Stimmen das starke Gebet:
?le ^esu, Domino, avra eis requiem. /^nus vel, qui tollis peccata
aurai, avra eis rec>uiem. I^ux aeterna Incest eis, Oomine, eum Lanetis
tuis in aeternum, czuia plus es. ^e^uiem aeternam bona eis Oomine,
et lux aeterna luceat eis. Kequieseant in psee!
Als die Schulkinder mit gedämpften Stimmen das singen und der Schul¬
lehrer sie mit leisen Orgelregistern dazu begleitet, da wird es wieder ganz friedlich
in seiner erregten Seele. Er vergißt seine Umwelt. Erst als die Leute sich aus
der Kirche machen, kehrt sein Sinnen in die Wirklichkeit zurück, und er denkt, wenn
sie jetzt seines Vaters Grab nicht schändeten, wäre alles gut.
Nach dem Totenamt geht er auf den Friedhof. Das Grab ist noch in Ord¬
nung, das Kreuz noch nicht beschädigt.
Am Nachmittag kommt einer der Kameraden zu ihm und fragt ihn, ob er
heute wieder anginge.
Nein, nein, es sei ihm nicht drum zu tun. Er wolle nicht immer mit den
boshaften Menschen hintereinander geraten.
Er solle sich doch daraus nichts machen, entgegnet ihm der Kamerad. Mit
der Zeit lasse das schon von selbst nach.
Wie lange diese Zeit aber noch dauere, fragt Karl Salzer wieder dagegen.
Inzwischen könne er verrückt werden. Nein, er gehe nicht mehr aus. Sonntags
wolle er jetzt lieber wieder nach Pfeddersheim zu seiner Tante.
So bleibt denn der Karl Salzer auf den zweiten Kerwetag daheim. Es war
auch ganz gut, daß er nicht fortgegangen war. Denn während er im Garten saß,
hörte er auf einmal eines der drei Hutzelchen mörderische Schreie tun. Er eilte
in den Hof, um zu sehen, was da passiert sei.
Lotte, die Stute, hatte wieder die Kolik und schlug mit den Hufen bis an
die Decke des Stalles, so daß der Mörtel herunterbröckelte. Das Hutzelchen aber
stand vor der Stalltür, rang die Hände und rief ein übers andere Mal:
„Heilig Mutter Anna, steh dem arme Gaul den"
„Nee heilig Mutter Anna rufen, Hutzelchen I" schreit Karl, „schnell Feuer
angesteckt und Sack und Decken heiß gemacht!"
Er packt einen Arm voll Säcke zusammen, die auf dem Gartenzaun hängen,
holt eine filzige Pferdedecke aus der Geschirrkammer und packt dem Hutzelchen
alles auf mit der Weisung, die Säcke und Decke gut heiß zu machen. Er springt
hinüber zum Schullehrer Ohlinger, der über der Straße wohnt. Den hat der
Hannes Holtner zum Freund. Dort sitzt er heute und läßt sich Klavier vorspielen.
Bis in den sinkenden Abend sind die beiden um das Tier beschäftigt, dem
das lange Stehen im Stalle stets schadet. Erst als es ruhiger geworden ist, fragt
Karl, ob es dem Unkel Hannes nichts ausmachen tat, wenn er jetzt einmal auf
den Friedhof gehe.
Da entläßt Hannes Holtner den Burschen. Ja, er solle nur gehen und könne
bleiben, so lange er Lust habe; aber nicht zu hitzig solle er sein.
Karl Salzer steigt in seine Kammer, zieht dickere Kleider an und festere Schuhe;
denn er ist entschlossen, zu warten, bis der Fulde-Jean kommt, und wenn es über
die Nacht ist.
Wieder findet er das Kreuz unversehrt. Also war der Fuld noch nicht da¬
gewesen.
Nun wird er warten müssen, bis er kommt. Vielleicht geschieht das, bevor
er vom Tanzen zum Nachtessen geht, vielleicht auch erst nach dem Nachtessen.
Einerlei, er wird warten, unerschütterlich warten.
Er schaut sich um, wo es da ein Versteck für ihn gäbe, damit der Fuld nicht
schon beim Betreten des Friedhofs seiner ansichtig werde.
Fünfzig Schritt hinauf in einer der weiter rückwärtsliegenden Gräberreihen
steht eine dichte, schon am Boden sich verästelnde Zypresse. Dorthin geht er und
hockt sich hinter den Baum.
Es wird düster und düsterer. Die Grabsteine, Kreuze und Bäume, Zypressen,
Trauerweiden und Flieder treten immer tiefer in die Dämmerung.
Zuweilen reckt der Bursche sich in die Höhe und dehnt die Glieder, die ihm
in der kauernden Stellung steif werden. Ab und zu reibt er auch die Augen; sie
schmerzen von dem scharfen Spähen nach dem Friedhofstor.
Um acht Uhr war noch niemand da, und es ist ganz stille und dunkel. Hin
und wieder läuft dem Burschen ein Furchtfrösteln den Rücken hinunter. Dann ist
er froh, wenn er menschliche Stimmen hört von Leuten, die am Friedhofe vorbei
hinter dem Parke her nach Hause gehen.
Er wartet bis neun Uhr. Niemand kommt.
Zehn Uhr.
Niemand war da. Wird er nicht kommen? Hat er nur im Dusel gesprochen,
oder hat er sein Vorhaben vergessen?
Karl überlegt, ob er nicht lieber heimgehen soll. Es ist schauerlich, in tiefer
Dunkelheit auf dem Friedhofe allein zu sitzen. Aber der Fulde-Jean hat viel¬
leicht weniger Furcht wie er und kommt nach dem Tanzen heraus. Also bleibt
man da. Er verläßt sein Versteck und stellt sich vor die Zypresse.
Es wird kühl, und der Nachttau fällt. Karls Haare und Wimpern feuchten
sich, die Augen brennen. Er bindet sich das Taschentuch um den Kopf, so, daß
der Wulst dicht über den Augenbrauen liegt. Nun kann der Tau nicht so scharf
in die Augen.
Klar hallen die Glockenschläge von der Kirche herüber.
Elf Uhr.
Kurz danach hört er das Nachtwächterhorn tuten. In der Tiefe des Parkes
weckt es ein schauerliches Echo. Karl ist es, als müßten von seinem dumpfen
Klänge die Toten erwachen wie vor der Posaune des Gerichtes am jüngsten Tage.
Nun freut er sich, die Schwester Euphrosyne um Entschuldigung gebeten zu haben,
als er ihr und ihren Genossinnen vor einigen Tagen die Kartoffeln und das
Gemüse gebracht. Es ist in schlimmen, erschütternden und einsam machenden
Augenblicken des Lebens ein festigendes und beruhigendes Gefühl, für seine Schuld
an dem Nächsten Genugtuung geleistet zu haben. (Schluß folgt)
cum je ein Jahr die Jugend zur Teilnahme an den Geschicken des
Vaterlandes in Not und Sieg führen kann, so ist es das kommende,
der großen Erinnerungszeit geweihte.
Von Breslau ging der befreiende „Aufruf an mein Volk" aus,
und Breslau hat deshalb Waldemar Rosteutscher in den Mittelpunkt
eines Werkes gestellt, das er nach Holteis schönem Wort „Deutschlands Herz im
Frühling 1813" nennt (Phönix-Verlag F. C. Siwinna, Kaitowitz-Berlin; M. 1.80,
Lbd. auf Kunstdruckpapier M. 3.60). Das mit vielen szenischen und Porträtbildern,
mit Faksimiles von Ausrufen und Stiftungsurkunden geschmückte Buch, in dem
wir den Völkerfrühling schlagenden Herzens miterleben und von ihm aus die Helden
und Begebenheiten der Freiheitskriege an uns vorüberziehen lassen, ist für die
reifere Jugend recht geeignet. — Des Weimarer Kanzlers Friedrich von Müller
interessante Erinnerungen aus den Kriegszeiten 1806 bis 1813 finden wir in einer
billigen Ausgabe derHamburgischenHausbibliothek (Verlag Alfred Janssen, Hamburg;
Lbd.80Pf.), ein „klassisches und beherzigenswertes Zeugnis der aufgeregten Zeit".
Packende Bilder aus den Befreiungskriegen geben auch die unter dem Titel „Mit
Gott für König und Vaterland" vereinigten Aufsätze von Männern wie Johannes
Dose, Hackland-Rheinländer, Natorp u. a., die der Verlag desWestdeutschenJünglings-
bundes in Barmer in einem illustrierten Bande veröffentlicht. — Eine von Karsten
Brandt gut gekürzte Bearbeitung des Nellstabschen Romans bringt Loewes Verlag
Ferdinand Carl in Stuttgart in dem „Russenjahr 1812" (Lbd. mit 6 Vollbildern
M. 3.—); im selben Verlag sei auf das „Lebensbild Napoleons" für die Jugend
von G. Gramberg (Lbd. M. 3.—) hingewiesen. — Ein außerordentlich anschau¬
liches Bild des grausigen russischen Feldzuges bietet Walter VIoem, der bekannte
Erzähler, in einem Bande der Ullstein-Jugendbücher (M. 1.—): „Das Ende der
großen Armee", worin er auch die großen Seiten Napoleons, insbesondere seinen
unerschütterlichen Trotz gegen eine Welt des Unglücks, der Jugend vor Augen
stellt. — Noch lebenswahrer kann'einer erzählen, der mit dabei war: die „Er¬
lebnisse in dem Kriege gegen Rußland 1812" des hannöverschen Landbereuters
F. Kollmann geben dafür ein gutes Beispiel (Verlag Ernst Geibel, Hannover;
brosch. 50 Pf.). — Dasselbe gilt von den Bänden 6 und 7 der „Deutschen
Jugend- und Hausbücherei Heim und Herd" (Verlag Moritz Schauenburg, Lcchr;
Lbd. je M. 1.—). Vom Markgrafen Wilhelm von Baden finden wir dort „Die
Badener im Feldzug 1812" und „Das große Jahr 1813", von Friedrich Peppler
„Gefangenschaft in Rußland", und in „Was Alt und Jung erlebte, 1806 bis 1813"
trefflich ausgewählte kleine Abschnitte aus Kleist, Immermann, Nettelbeck, Hebel,
Kügelgen, Freytag u. a. — Ein wenig bekanntes Buch „Schicksale des deutschen
Feldwebels von Toenges auf dem Rückzug der Großen Armee aus Nußland" habe
ich, zusammengestellt mit Netteibecks „BelagerungKolbergs",Arndts Seen°Bioigraphie
und Briefen von Körner, Gneisenau, Blücher usw., abgedruckt in Band 19 der „Lebens¬
bücher der Jugend" (Verlag George Westermann, Braunschweig; Lbd. M. 2.50) unter
dem Titel „Die Flammenzeichen rauchen". — Auf den Ton von 1813 ist auch der
fünfte Jahrgang der „Neuen Jugendblätter" gestimmt, der unter der feinsinnigen
Bearbeitung Ernst Thieres vom Sachs. Pestalozzv Verein im Verlage C. Meinhold
Söhne, Dresden, unter dem Titel „Lieb Vaterland" erscheint. Bekannte deutsche
Dichter, von tüchtigen Zeichnern unterstützt, haben hier in Vers und Prosa ein
farbiges Gemälde der großen Zeit gegeben, das die Beigabe des „Jugend-
klllenders 1913" noch wertvoller macht. — Fesselnde geschichtliche Bilder von
„Deutschen Heldenmädchen" führt uns Henry Helmenstreit vor (Verlag Gustav
Weise, Stuttgart; Lbd. mit Buchschmuck von C. Breuer, M. 3.—). Von den
tapferen Frauen von Schorndorf, von Kämpferinnen aus Tirol und den Heldinnen
aus den Freiheitskriegen und von 1870 weiß sie hübsch zu erzählen. — Die
Geschichte des „Majors von Schill und des Müllers von Gieselheim", seines
getreuen Anhängers, schildert H. Müller-Bohn im Verlage Gustav Gräbner,
Leipzig; Lbd. M. 2.—; derselbe Verlag bringt auch eine interessante Erzählung
aus dem siebenjährigen Kriege von Hackland-Rheinländer: „Der Rappe von Ro߬
bach", mit Bildern von Arno Grimm (M. 2.—). — Episoden aus der Zeit der
Fremdherrschaft lernen wir auch in Wilh. Kotzdes „Der Feind im Land" kennen,
das mit Bilderschmuck von Heinsdorff bei Abel u. Müller in Leipzig (in Lbd. zu
M- 2.50) erschien; erfreulich kommt auch der Humor, wie in „Jochen Axmanns
Sautreiben", zu seinem Recht. — Über den glorreichen Taten der Befreiungsjahre
wollen wir die Helden späterer Kriege nicht vergessen. „Deutschlands Einigungs¬
kriege" (1864 bis 1871) schildert Prof. W. Müller in einem mit Vollbildern und
Schlachtenplänen geschmückten stattlichen Bande des Verlages Neufeld u. Henius,
Berlin (M. 4.50), wobei er besonders auch den weniger dargestellten Krieg von
1864 als Erprobung der Schärfe des preußischen Schwertes und der Virtuosität
der preußischen Strategie ausführlich bespricht und natürlich Moltkes und Bismarcks
Kriegs- und Staatskunst eingehend würdigt. — „Helden" des Lebens und des
Krieges von 1870 stellt Wilh. Monna in einer packenden, in ihrer knappen Aus¬
drucksweise überaus eindringlichen Sprache vor uns hin (Verlag Enßlin u. Laiblin,
Reutlingen; Lbd. M. 3.—), zu dem Buche hat der bekannte Soldatenmaler Anton
Hoffmann-München lebenswahre Bilder geschaffen. — In Gustav Freytags „Bildern
von der Entstehung des Deutschen Reiches", herausgegeben von Wilh. Rudeck
(Verlag von Walter Fiedler, Leipzig; Lbd. M. 6.—), die sich an seine berühmten
bis 1813 gehenden „Bilder aus der deutschen Vergangenheit" anschließen, lernen
wir das neunzehnte Jahrhundert in farbenreichen Aufsätzen kennen, bis mit der
Erfüllung des Kaisertraums unserer Vorfahren das Werk seinen glanzvollen Ab¬
schluß findet. — Einen glänzenden Überblick über die gesamte deutsche Geschichte
erhalten wir in einem der deutschesten Bücher, die je geschrieben wurden: „Deutsche
Männer". Fünfzig Charakterbilder von Robert Hessen. Verlag von Julius Hoff¬
mann, Stuttgart. (Lbd. M. 10.—.) Es ist ein Buch, das sich nicht zum wenigsten
an die deutsche Jugend wendet, die zum Lebenskampf antreten soll. In diesen
fünfzig Biographien von Männern, die in der deutschen politischen Kultur- und
Wirtschaftsgeschichte den Fortschritt herbeigeführt haben und als Muster von „Tat¬
kraft, Erfindungsgabe, Großmut im Erfolg, Heiterkeit im Unglück" die Repräsen¬
tanten ihrer Epoche bedeuten, stellt der Verfasser, der die Porträtkunst meistert,
leuchtende Vorbilder auf in dem Ehrensaal des deutschen Volkes. Von Armin bis
Bismarck, Wagner und Bodelschwingh — ein Weg der Arbeit, der Prüfung, der
Treue und des Erfolges von Männern, aus deren Andenken wir Enkel „Kraft
gewinnen mögen zu einem Gelübde treuen Durchhaltens für unser deutsches Volk".
Das Buch ist ein Kunstwerk edelster Art, das uns eingehender als weitläufige
Bände den wirkenden Geist der Zeiten vor Augen führt. Eine schöne Verbreitung
in deutschen Landen möge der Lohn für Verfasser und Verleger sein!
Von den Sammelunternehmungen haben die schon genannten „Ullstein-
Jugendbücher" (in Ppbd. M. 1.--) in diesem Jahre in Gerhart Hauptmanns
„Lohengrin" mit den Bildern von F. Staeger einen ganz besonderen Schatz.
Wendet sich der große Dichter doch hier zum erstenmal an die Jugend, um ihr
in erhabener Sprache, die sich in den Höhepunkten zu stolzen Versen zusammen¬
findet, von den Geheimnissen des Grates zu erzählen. Das Rittertum noch
einmal vor uns auferstehen läßt Felix Saiten in seinem herrlichen „Kaiser Max",
der, ein Held vom Scheitel bis zur Sohle, als leuchtendes Beispiel vor die
Jugend tritt.
In den ebenfalls schon genannten „Lebensbüchern der Jugend", die unter
der sicheren Leitung Dr. Friedrich Düsels im Verlage George Westermann-Braun-
schweig ihr Programm, der Jugend Bücher für den Lebensweg mitzugeben, treulich
einhalten, tut sich der Dichterin Elisabeth Dauthendeys „Märchenwiese" mit bunten
Blumen, taufrisch und zur Rast ladend, vor uns auf. Phantasievolle neue Märchen,
Geschichten und Gedichte bringt sie in schönem Wechsel, auch ein „Weihnachts¬
märchen" ist darunter und ein Stimmungsvolles Märchenweihnachtsspiel „Der
Schneemann". — F. Dusel hat in seinem „Fröhlichen Buch für die Jugend" ein
ganz prächtiges Humorschatzkästlein gezimmert, was die junge Welt ihm durch
dauernde Anhänglichkeit danken wird. Daß neben Eulenspiegel (nach dem Volks¬
buch von 1516 und Joh. Fischart) und den sieben Schwaben die Schild- und Lalen-
bürger und der Lügenbeutel Münchhausen lebendig werden, ließ sich erwarten'
aber weit darüber hinaus hat er aus Erzählungen Hebels und Kleists, schalkhaften
Gedichten von Chamisso, Uhland, Kopisch, Keller, Reuter u. a., aus lustigen
Stücklein von Pocal und fröhlichen von Goethe ein so feines, vom Derben zum
Zarten, vom Stofflichen zum Vergeistigten aufsteigendes Buch geschaffen, daß es
eins der schönsten Bücher der nun in zwanzig Bünden vorliegenden Sammlung
geworden ist (Lbd. je M. 2,50). Die Bilder zu beiden Bänden, von E. v. Geldern
und die humoristischen von R. Hansche, halten sich auf erfreulicher Höhe. —
Goethes Mutter, „Frau Aja", stellt Adolf Matthias in den Mittelpunkt seines
gehaltvollen Bandes, der sich auf des Sohnes Erzählungen in „Dichtung und
Wahrheit", auf Bettinas Aufzeichnungen und in der Hauptsache auf einer Aus¬
wahl von Briefen der Frau Rat, der Meisterin des Briefstils, aufbaut und die
frohsinnige, lebenslustige Frau mit dem gütigen verstehenden Herzen der Jugend
„zur Erquickung und Bildung" nahe bringt; ein Buch, das den Reiferen ein
wahres Labsal werden kann. Die vielen Einschalt- und Textbilder nach zeit¬
genössischen Vorlagen geben manches auch weniger bekannte Bild aus dem
Goethekreis.
Die „Mainzer Volks- und Jugendbücher", die im Verlage von Jos. Scholz
in hervorragender drucktechnischer Ausstattung erscheinen (M. 3.—) und, von
W. Kotzde geleitet, ein rechtes nationales Unternehmen geworden sind, legen eben¬
falls den 17. bis 20. Band auf den Weihnachtstisch. Kotzdes „Und deutsch sei
die Erde" entwirft uns ein lebendiges Bild aus der Zeit Albrechts und des Falles
Triglaws; Johannes Höffner erzählt aus alten Tagen, da ein Bauer einen Herzog
erzog, in der „Treue von Pommern"; mit Will). Lobsiens „Jodute!" kehren wir
ins alte Lübeck ein, wo der Freiheitskampf der Bürger gegen die adeligen Ge¬
schlechter und den Bürgermeister Perseval tobt; und Kurt Geucke entwirft in dem
„Steiger vom David-Richtschacht" ein fesselndes Bild unserer Zeit, wie sie uns
besonders in Technik und Bergbau, in Handel und Seefahrt entgegentritt. Seine
Schilderung eines Taifuns, die sich mit atemloser Spannung liest, gehört zu den
bedeutendsten Sturmschilderungen, die wir besitzen. Der zu erwartende zweite
Band soll seinen Helden dann als Kulturpionier auf den überseeischen Besitzungen
zeigen. Begeisternde Taten und Geschicke werden in den Mainzer Büchern der
empfänglichen Jugend vor Augen geführt, und Dichter sind es, die ihr diese Ge.
schichten schenken.
Von einer ebenfalls auf vaterländischer Grundlage beruhenden neuen Samm¬
lung „Jung Deutschland-Bücherei", die im Verlage von Otto Spamer-Leipzig
zu erscheinen beginnt, liegen bislang drei Bände vor: eine notwendigerweise gekürzte
Fassung von Alexis' „Jsegrimm", der zur Jahrhundertfeier gerade recht kommt,
von Max Geiszler „Der Junge, der eine Schlacht gewann" aus den Fridericia-
nischen Kriegen, und Jout Steffens „Helden der Naukluft", in denen die Witboi-
kämpfe den Hintergrund abgeben. Die drei Bände sind ein schöner Anfang; hübsch
in Leinen gebunden und in der sauberen Ausstattung an die Scholzschen Bände
erinnernd, auch wie sie mit Zeichnungen (von Anton Hoffmann, Knötel, Rocholl)
geschmückt, kosten sie je M. 3.50.
Gehen die letztgenannten Sammlungen auf moderne Erzählungen aus. so ist
die Aufgabe der „Bücher der deutschen Jugend" (Verlag der Jugendblätter, Carl
Schnell, München) die Herausgabe unserer alten Märchen, Sagen und schwanke,
wie Grimm, Schildbürger, Eulenspiegel, denen sich Robinson, Cooper, Hebel,
Auerbach, Stifter u. a. anschließen. Es sind Werke, die jeder Knabe gern in
seiner Bibliothek hat. Für die Auswahlen und Bearbeitungen zeichnen so bekannte
Namen wie Wolgast, Henniger, Meilinger, und man muß sich wundern, wie der
Verlag so trefflich ausgestattete Bände (bis 260 Seiten stark), mit vielen Bildern
von Putz, Engels, Winkler, Geigenberger u. a. für den Preis von M. 1.50 in
Leinen bieten kann. Sie sind eine Sammlung, der weiteste Verbreitung und
Unterstützung zu wünschen ist.
Solchen Leistungen gegenüber verblassen die „Neuen deutschen Jugendbücher",
die die Zentralstelle für Jugendpflege durch' E. H. Bethge im Verlage von Julius
Beltz in Langensalza herausgeben läßt, wenn sie ebenfalls je M. 1.50 kosten. Sie
bringen inhaltlich Gutes und berühren sich in Themen wie Hedins „Entdeckungen
und Abenteuer in Tibet" oder Nansens „Im Eise begraben" mit den „Wissen¬
schaftlicher Volksbüchern" aus dem Verlage Alfred Janssen in Hamburg; trotz der
geringeren Ausstattung wäre allenfalls der Preis da noch verständlich; aber
honorarfreie und in anderen Ausgaben längst für 10 oder 20 Pf. käufliche Werke
wie Michael Kohlhaas, Die Judenbuche, den Verbrecher aus verlorener Ehre
und ähnliche aufs neue in dieser Aufmachung zu solchem Preise ins Volk zu
bringen, dürfte wenig aussichtsreich sein. Man nehme einmal die Janssenschen
Bände oder den Kohlhaas aus Heyders „Freunde und Gefährten" (in Leinen
ebenfalls M. 1.50) zur Hand, um den in die Augen springenden Unterschied
zu sehen.
Eine empfehlenswerte neue Sammlung erscheint in dem schon genannten
„Heim und Herd" des Verlages Moritz Schauenburg in Lahr. Die hübsch ge¬
bundenen und sauber ausgestatteten Bände; „Heitere Geschichten", „Märchen",
„Reisen und Abenteuer" (die uns namentlich in den eisigen Norden oder nach
Turkestan führen). „Aus unseren Kolonien" bringen bestens ausgewählte Stoffe,
und daß neben erprobten Alten auch moderne Schriftsteller wie Ruseler, Löwen¬
berg, Elisabeth Dauthendey, Hedin usw. ausführlich zu Worte kommen, ist besonders
anerkennenswert. Der Band „Allerlei Kurzweil" mit seinen Scherzen, Rätseln,
Gesellschaftsspielen usw. wird im Familienkreise manche Stunde angenehm kürzen
können (je M. 1.—).
Unter den billigen Sammlungen haben die „Bunten Bücher" und „Bunten
Jugendbücher" im Verlag Entzlin u. Laiblin in Reutlingen, herausgegeben von
der Freien Lehrervereinigung Berlin, ihren festen Platz. (Jede Nummer, bis
48 Seiten stark, 10 Pf.) Wie sie als eins der ersten und wirksamsten Unter¬
nehmen den Kampf gegen die Schundliteratur aufgenommen und behauptet haben,
ist bekannt. Was an gediegenem Alten und Neuen, an Märchen, Schwänken,
Sagen, Abenteuern, Reisen und Erzählungen vorhanden ist, bieten diese schmucken,
aus gutem Papier sauber gedruckten und mit Illustrationen bekannter Künstler
versehenen Bändchen, deren Zahl sich schon auf mehrere hundert Nummern beläuft
und deren Verbreitung, zur Ehre des deutschen Volkes sei es gesagt, in die
Millionen geht. Viel Abbruch haben sie der Hintertreppenliteratur getan und tun
es hoffentlich noch weiter. Eine Anzahl Nummern sind auch in Leinenbänden
zusammengebunden und mit geringem Aufschlag käuflich. — In der Sammlung
„Frühlicht, Wort und Bild für die junge Welt", von der bislang die Bände
„Von Menschen und Tieren", „Die Alten und die Jungen", „Erzählungen und
Verse oberrheinischer Dichter", „Heimat und Fremde", „Aus Dorf und Hof",
herausgegeben vou H. Moser, vorliegen, bringt derselbe Verlag sehr fein aus¬
gewählte und illustrierte tard. Bändchen zu je 80 Pf.
Zu wechselndem Preise (10 bis 30 Pf.) und immer willkommen, erscheint,
herausgegeben vom Dürerbunde, bei Georg D. W. Callwey-München „Der Schatz¬
gräber", in würdiger Ausstattung und härtlich im Format, eine vorzügliche
Sammlung guter volkstümlicher Schriften. Von den letzten Nummern seien nur
Friedrich der Große (von Avenarius), Bläcker (von Björnson), Schwedische Ge¬
schichten (von Heidenstam), Sohle, Tschudi, Kinderreime mit Bildern von Schwind
und Pocal, und Volkssagen erwähnt, um zu zeigen, welch reiche „Schätze" da
ans Licht gehoben werden.
In der Fortführung der „Quellen, Bücher zur Freude und zur Förderung"
(tard. je 25 Pf., im Verlag der Jugendblätter, München) bringt ihr Herausgeber
Wolgast ein schön ausgewähltes Bändchen „Balladen" (von Hebbel bis Münch-
Hausen) neben Hebbels Nibelungen und Bearbeitungen von Robinson und Gulliver.
Die soliden Büchlein werden sich zur Schullektüre ebensogut eignen wie die
„Blauen und Grünen Bändchen" des Verlages Schafstein-Köln. (Karl, je 30 Pf.)
Herausgeber der „Blauen" sind I. v. Harten und Karl Henniger, der „Grünen"
N. Henningsen. In der ersten Reihe finden wir von Bernhard Oese eine wohl¬
gelungene Bearbeitung des Reineke Fuchs nach der Soltauschen Übersetzung der
alten Lübecker Ausgabe, mit Kaulbachschen Zeichnungen; die Herausgeber steuern
zwei Bündchen trefflich ausgewählter „Balladen und Lieder zur deutschen Geschichte"
bei; „Tiermärchen" von Volbehr, Nordseegeschichten, das Waltharilied u. a. ver¬
vollständigen die Sammlung. Wie die „Grünen Vändchen" auch, sind sie mit
entzückenden Federzeichnungen geziert. Die „Grünen" führen uns ins Leben
Karls des Großen, in den siebenjährigen Krieg und mit Förster Fleck nach Ru߬
land; mit Amundsen lernen wir das Eskimoleben kennen, wir reisen mit bewährten
Führern nach China, Tripolis, zu den Indianern und nach Südwest, und in
„Krupp" tritt uns die Entwicklung eines der größten technischen Betriebe der
Welt vor Augen.
„Konegens Kinderbücher", die bei Carl Konegen in Wien von Helene Schur-
Ries und Eugenie Hoffmann herausgegeben werden (je 20 Pf.), erhalten, neben
ihrer graziös-wienerischen Bilderzier, ihren besonderen Wert noch dadurch, daß sie
vieles bringen, das in den anderen Sammlungen noch nicht enthalten ist, wie:
Heyse, Lagerlöf, Platen, Lemonnier, Oukama Knoop, und weniger bekannte aus¬
ländische Märchen und Sagen. Es ist eine Sammlung, deren Bändchen man
gern begegnet und die ihren Platz behaupten möge.
Mit den ersten, schmuck ausgestatteten Heften tritt die neue, aus literarisch
religiöser Grundlage beruhende Sammlung „Säemann-Bücher" auf den Plan
(Verlag für Volkskunst, Richard Keutel, Stuttgart; je 15 bis 20 Pf.). Sie bringen
alte und neue Weihnachtslieder (illustriert von Steinhausen), zwei Christuslegenden
der Lagerlöf, Geschichten der Wildermuth, Sapper und Supper, Thomas' „Luther¬
geschichten" und Liliencrons „Sommerschlacht", und sühren sich damit gut ein.
So lange noch ein Heft der Schund- und Schmutzliteratur in Papierläden
oder im Kolportageranzen ein wenn auch noch so verstecktes Dasein fristet, wird
jede neue Sammlung dagegen hochwillkomner sein. Den deutschen Verlegern
fehlt es nicht an Initiative und Idealismus; mögen sie im Volke und beim
laufenden Publikum anerkennende und wirksacke Unterstützung finden I — —
Eine ganz köstliche Erzählung aus dem alten Hildesheim schenkte uns Gustav
Falke in „Herr Henning, oder die Tönniesfresser von Hildeshsim" (Alfred Hahns
Verlag, Leipzig; Lbd. M. 3.—). Wie wird da das Leben in der hochgiebeligen
Bischofsstadt im Jnnerstetale lebendig zu der Zeit, da die Reformation die Geister
noch nicht getrennt hatteI Mit überlegenem Humor weiß der Dichter die Typen
der Ratsherren hinzustellen, die berufen sind, über die dem heiligen Antonius
gehörigen Schweine zu wachen, und die schließlich dem lockenden rosigen Fleisch
der Tiere nicht widerstehen können und sich so um Amt und Würden bringen.
Und hinein spukt grausliche Kriegsrüstung und die Liebe eines Goldschmieds¬
töchterleins — das alles von Benno Eggert in alter Holzschnittmanier kongenial
illustriert. Weit über Hildesias Mauern hinaus wird das Buch freudigen Wider¬
hall finden.
Zum vierten Mal erscheint bei Jos. Scholz in Mainz das „Deutsche Jugend¬
buch", herausgegeben von Wilh. Kotzde (Lbd. M. 3.—), das wieder in bunter
Folge Erzählungen und Märchen, Gedichte und Sprüche anerkannter Schriftsteller
bringt und mit Bildern von Heinsdorff geziert ist; es reiht sich seinen Vorgängern
würdig an. — Ein prächtiges Werk veröffentlichte der Verlag E. Rister-Nürnberg:
„Das fröhliche Buch für die Jugend", ausgewählt von Hans Heller. Die
Bilder von Dotzler, Jöhussen und Horst-Schulze sind voll erquickenden Humors
und bei den „Sieben Schwaben", den „Schildbürgern", „Eulenspiegel" und
„Münchhausen" sind wir ja bei den Säulen der deutschen Schwankliteratur. Dem
stattlichen Leinenbd. (M. 3.50) wird manches Kindergemüt Freund werden. —
In dem starken Bande „In der Feierstunde" liegen uns eine reiche Anzahl
ansprechender Geschichten aus dem Kinderleben vor, die Pauline und Frida Schanz,
Mutter und Tochter, aus mehreren früheren und vielgelesenen Bänden ausgewählt
haben. Die Geschichten sind frisch und jung geblieben und haben in Willi Planck
einen tüchtigen Illustrator gefunden. (Lbd. M. 6.—, im Verlage Gustav Weise.
Stuttgart.) Aus demselben Verlage sind noch die „Allerweltsgretel" von Agnes
Hoffmann (M. 4.—) und „Ins Leben hinaus" von Berta Element (M. 3.—)
,als Lektüre für Mädchen zu nennen, denen für Knaben die mit etwas Jäger¬
latein aufgefrischten Jagderzählungen „Toms Erlebnisse" (M. 2.40) und der
.Deutsche Robinson" (M. 2 —) gegenüberstehen.
Mit Pocal sind wir sodann im Kreise alter echter Kinderkünstler. Der Verlag
Etzold u. Co. in München legt zwei Bände von ihm vor: „Märchen, Lieder und
lustige Komödien" und „Heitere Lieder, Kasperliaden und Schattenspiele". Da
haben wir alles zusammen, was von dem liebenswerten Künstler lebensfähig ist
und die Kinder zu Heller Freude begeistern wird. Von den Zeichnungen (Feder¬
zeichnungen, Silhouetten, auch farbige Bilder) und sogar Noten ist so viel auf¬
genommen, daß man über den billigen Preis von M. 2.— für den umfang¬
reichen kartonnierten Band staunen muß. — Eine gute kleine Auswahl in einem
Bande ist auch im Verlage Georg D. W. Callwey. München erschienen: „Für
fröhliche Kinder" (Hlwbd. M. 2.50), in dem Pocal - Freunde auch eine
Anzahl bisher unveröffentlichter Zeichnungen aus dem Pocal-Archiv finden
werden. —
Einen Größeren als er und dem ganzen Volke seit langem lieb und wert,
Ludwig Richter, läßt der Verlag Hegel und Schade in Leipzig in billigen Aus¬
gaben zu erneuter Wirkung kommen: es sei hier nur an die Serie „Fürs Haus",
die mit „Herbst" und „Winter" nun fertig vorliegt, und „Gesammeltes" erinnert
(zu je M. 1.20). In dem Märchenbuch „Es war einmal" (M. 2.—) ist er mit
den anheimelnden Zeichnungen zu den bekanntesten Grimmschen Märchen ver¬
treten, und in Julius Sturms in dritter Auflage erscheinendem „Buch für meine
.Kinder" (M. 3.—), neben Flinzer, Führich, Pietsch u. a. —
Eine hübsche Kopisch-Auswahl mit Buchschmuck von Julius Widnmann liegt in
Max Kellerers Verlag, München, kartonniert zum billigen Preise von 60 Pf. in
zweiter Auflage vor; eine größere, die neben den Gedichten auch Erzählungen
wie das „Karnevalsfest auf Ischia", die „Entdeckung der blauen Grotte" und den
„Träumer" bringt, hat Leo Greiner herausgegeben, dessen Name für eine vor¬
zügliche Auswahl bürgt. Sie nennt sich „Allerlei Geister" und ist ein Band der
schönen Delphin-Bücher, die Martin Mörikes Verlag-München als Weihnachts¬
gabe erscheinen läßt (M. 3,— Ppbd.). In den Schwarzweißzeichnungen Rolf
von Hoerschelmanns hat sie einen köstlichen Schmuck erhalten.
Auf dem Gebiete der Märchenliteratur, die gerade das hundertjährige Jubi¬
läum der ersten Ausgabe der Grimmschen Märchen feierte, nimmt ein großes
nationales Unternehmen, das im Verlage von Eugen Diederichs in Jena zu
erscheinen beginnt, den ersten Platz ein. Unter dem Titel „Die Märchen der
Weltliteratur", herausgegeben von Friedrich von der Beym und Paul Zaunert,
soll die Sammlung in ungefähr dreißig Bänden die deutschen und ausländischen
Volksmärchen enthalten, denen sich die Kunstmärchen von Musäus bis Storm an-
gliedern. Der Preis des von Ehmcke ausgestatteten Bandes beträgt M. 3.—,
Lederbd. M. 5.50. Wie man sieht, ein Unternehmen, das die Erde umspannt und
die Unterstützung jedes Gebildeten im höchsten Grade verdient. Bislang liegen
die zwei Bände „Musäus' Volksmärchen der Deutschen" (mit Holzschnitten von
Ludw. Richter), der erste Band der „Grimmschen Kinder- und Hausmärchen" in
neuer Anordnung und „Deutsche Märchen seit Grimm" vor, die für die meisten
eine freudige Überraschung bedeuten dürften. An anderer Stelle wird auf dieses
Standwerk deutscher Forschung und idealen Verlegermutes noch oft zurückzukommen
sein; hier seien zunächst die Eltern auf die Schätze hingewiesen, aus denen sie die
goldenen Äpfel aus Märchenland für ihre Kinder pflücken können. — Wendet sich
diese Sammlung an den großen Kreis der Gebildeten, so liegt in den von der
„Freien Lehrervereinigung für Kunstpflege in Berlin" herausgegebenen „Meister
des Märchens" eine vorzügliche Auswahl für die Jugend vor im Verlage von
Abel u. Müller in Leipzig (der auch die Werke Friedrich Meisters, wie den auf¬
regungsreichen „Vampyr" in hübscher Ausstattung herausbringt). Der Preis des
schön mit Bildern von Kuithan, Mickelait, Gebhardt, Stroedel u. a. geschmückten
kräftigen Leinenbandes ist M. 1.50. Die bislang vorliegenden Bände bringen
trefflich ausgewählte Märchen von Andersen, Arndt, Brentano, Chamisso, Fouque,
Goethe, Hauff, Kopisch, Musäus. Tieck und Wieland und dürfen als bestgeeignet
fürs Haus und für Bibliotheken warm empfohlen werden. — In einer Ausgabe,
die ganz für die Kinderstube gedacht und geeignet ist, erscheinen „Die schönsten
Kindermärchen der Brüder Grimm", ein stattlicher Quartban
P. Grod Johann und R. Leineweber) zu M. 4.50 im Verlage K
Stuttgart; derselbe Verlag bringt für die heranwachsende Mädch
hammers ansprechende Erzählung „Regen muß sein" (M. 3.—).
der Mutter Kindheit", erzählt von Sophie von Ruhfitz, nennt si
bearbeitung, die mit vielen farbigen Abbildungen von Joh. Sl
von Gustav Kiepenheuer-Weimar erscheint (Ppbd. M. 3.—). D
Märchen, wie sie dem Verständnis der ganz Kleinen angepaßt si
vor, und eine Bearbeitung des alten Märchengutes in diesen:
sür ganz Kleine) wäre ein lobenswertes Beginnen. Trotzdem ist die v
verfehlt; jeder Satz, den man mit den Originalen (Grimm oder, bei
Trojan) vergleicht, schlägt zuungunsten der Verfasserin aus, di
besser machen will, wo es sich nur um eine vorsichtige Auswahl
sames Vereinfachen handeln kann; und die grobe Nutzanwend
widerspricht der Ästhetik des Märchens durchaus. Eine Gege
Originale und dieses Aufgusses ist des beschränkten Raumes weg
so lehrreich sie auch wäre. Man vergleiche nur den Schluß der
Bei modernen Märchenerzählern heißt es sich mit Geduld wa
besten Erscheinungen dieses Jahres neben der „Märchenwiese" de
thendey sind Margarete Bruns' „Märchen der Salamanderhöhle"
Bruns, Minden, in prächtiger Ausstattung von Ehmcke M. 3.—).
ist eine Dichterin, die zu fabulieren versteht und, nach Vorgang
auch eine interessante Rahmenerzählung zu ihren Märchen erfun
hübsch wissen auch Anna Plothow in „Heideprinzeßchen" (bei E
Reutlingen, in stattlichem Lbd. M. 3.—) und Max Geißler im „
buch" (Leipzig, bei L. Staackmann, in Lbd. mit vielen Bildern
Lamberg, M. 4.—), den Märchenton zu treffen, wenn sie auch über
der alten Motive nicht viel hinauskommen; ebenso verlieren
Jmprovisatorin Lotte Girgensohn („Goldener Märchenborn", Ve
Leipzig, Ppbd. M. 2.--) beim ruhigen Nachlesen viel; nicht
„Großmutter in der Kinderstube" des Verlages Abel u. Müller,
einem frischfröhlichm, etwas ironisch-überlegenem Ton heben sich
Märchen" Max von Mallinckrodts (in Ernst Rowohldts Verlag,
übrigen heraus (M. 2.80 in Ppbd.). Auf den Landstraßen an u
dem Verfasser zugeflogen, atmen sie Lebenslust aus alten Schw
mannsscherzen.
Humordurchweht und getränkt mit würziger Waldesluft,
Märchen der Sophie Reinheimer entgegen, die im Vuchverla
Berlin-Schöneberg erschienen sind: „Aus des Tannenwalds
„Von Sonne, Regen, Schnee und Wind" (in entzückend illustr.
eine kleine Auswahl ist unter dem Titel „Wctterwölkchen" (
erschienen. Wie ihre größere Schwester auf diesem Gebiete, Clar
Märchen" im Verlag der Jugendblätter, München, und „Sonne
Reise" bei Schall u. Rentel, Berlin). weiß sie die Natur zu v
ihr die poesievollsten Märchen abzulauschen. Jede Mutter wird
Märchengut gern nach diesen Bänden greifen. Ebenso kann man
von Heinins Kiep geschmückte Bändchen „Der Springbrunnen" von Elu Evel-
Marbach (im Verlage Albert Längen-München), das sich auf ähnlicher Basis
bewegt, empfehlen. — Von Heinrich Scharrelmann trifft soeben noch „Däumling,
eine Geschichte für Kinder" aus Alfred Jcmssens Verlag in Hamburg ein. Er hat
vom alten Märchendäumling nur die kurze Gestalt geliehen; im übrigen ist er in
die moderne Welt mit Autos und Luftballons hineingeboren, ein frisches, forsches,
kluges (manchmal fast zu kluges), liebes Kerlchen, das für Wahrheit und Recht
eintritt und dessen Stimme stets da ertönt, wo man keinen Zeugen erwartet. In
welche amüsanten Situationen er im Hotel oder beim Professor, bei alten und
jungen Damen, in der Großstadt und im Walde gerät, möge man in dem drolligen,
herzerquickenden Büchlein nachlesen, das gewiß seinen Weg machen wird, wie die
übrigen Werke des bekannten Schriftstellers; eine größere illustrierte Ausgabe hätte
der „Däumling" wohl verdient.
Unter den Sammlungen verschiedener Märchen möchte ich auf die bei Abel
u. Müller-Leipzig erschienene Auswahl von R. Bachmann „Im Tal der Träume"
hinweisen, die Märchen von Andersen, Asbjörnsen, Aus 1001 Nacht und von Frida
Schanz enthält (ohne die Quellen anzugeben), sowie auf einen Band der schon
genannten Delphinbücher des Verlages Martin Mörike - München: „Die Fahrt
ins Wunderbare", die schönsten Märchen deutscher Dichter, ausgewählt von Otto
Falckenberg, der das Beste auf diesem Gebiete von Arndt, Brentano, Chamisso,
Eichendorff, Goethe, Moericke, Mosen, Pocal, Reinick u. a. vereinigt. Ist es auch
nicht die erste geschlossene Sammlung von Märchen unserer deutschen Dichter, wie
der Verlag sie ankündigt (ich erinnere u. a. an Leo Bergs „Deutsche Märchen",
in 2. Auflage 1907), so ist es doch, auch infolge ihres schönen Bildschmucks von
Rob. Goeppinger, eine der schönsten, die wir haben, und billig dazu (Ppbd.
M. 2.80).
Immer haben wir Deutschen gern auch ausländischen Märchenerzählern Auf¬
nahme gewährt, wenn sie uns etwas zu geben hatten. Von den naturwissen¬
schaftlichen Märchen des bei uns durch Einzelausgaben seiner Werke schon gut
eingebürgerten Dänen Karl Ewald erscheint im Verlage Kosmos, Franckhsche
Verlagshandlung, Stuttgart, die autorisierte deutsche Gesamtausgabe in Übersetzung
von Hera. Kiy. Bislang liegen die zwei Bände „Mutter Natur erzählt" und
„Der Zweifüszler und andere Geschichten" vor. (In Lbd. je M. 4.80.) Beide sind
mit Tafeln und Randbildern von W. Planck aufs ansprechendste ausgestattet. Ein
moderner Andersen ist in Ewald erstanden (1856 bis 1908), und wie sein älterer
Vorgänger wird er bald bei uns Heimatrecht haben. Eine seltene Anmut und
ein tiefer Humor durchzieht seine Geschichten, die uns die Natur in ihrer Größe,
in Aufbau, Kampf und Vernichtung offenbaren. In seinen Erzählungen rauschen
die ewigen Brandungsakkorde des Meeres und die Sphärenklänge der Gestirne
wie das heimliche Gezirp der Heuschrecken und das leise Flüstern in der Spinnen¬
hecke. Mit demselben sicheren dichterischen Instinkt erlebt und schildert er das
Vordringen der Urmenschen, der „Zweifüßler" inmitten der „Vierbeinigen" wie
das Weben der Libelle oder die Fiebergespräche der „Unsichtbaren", Stickstoff und
Sauerstoff. Und das alles so selbstverständlich, ohne Moral und Tendenz, und
unterhaltend und lustig dazu. Die reifere Jugend wird nicht loslassen, bis es die
Bände gelesen hat und zu eigen besitzt. — Nudyard Kiplings groteskes „Märchen-
duch", mit Illustrationen vom Verfasser, der ^ namentlich von exotischen Tieren,
von Leopard und Gürteltier, von Elefantenkindern und Walfischen zu fabulieren
weiß, wird vielen Kindern Spatz machen (Vita-Verlag Berlin, M. 3.50); nicht
weniger die Abenteuer der „Alice im Wunderland" von L. Caroll mit den inter¬
essanten Bildern von Arthur Rackham (Weimar, Gustav Kiepenheuer; M. 4.—).
Eine schöne umfassende Auswahl aus „1001 Nacht" legt Max Geißler im
Verlage von Entzlin u. Laiblin in Reutlingen vor, in der es ihm prachtvoll
gelungen ist, die weitschweifigen Erzählungen auf die Hauptsachen zurückzuführen.
Der mit vielen Bildern von A. Felix Schulze gezierte und auch in Druck und
Einband sich stattlich repräsentierende Band kostet M. 4.50. — Eine kleinere hübsche
Auswahl, mit Bildern von H. Grvbet, erschien in der Bearbeitung von Hans
Fraungruber in Loewes Verlag Ferdinand Carl in Stuttgart.
Auch von Robinson Crusoe liegen zwei Bearbeitungen vor: eine mehrfach
preisgekrönte von G. A. Gräbner in schlichter Ausstattung als Volksausgabe für
M. 2.— in 36. Auflage, was genügend für ihre Brauchbarkeit in .Kreisen spricht,
für die sie berechnet ist; und eine auch nicht viel teuere, von Robert Münch-
gesang im Verlage Enßlin u. Laiblin in großem Format, mit Bildern von Müller-
Münster, für M. 2.50, die der Jugend ihren alten Freund aufs neue nahe
bringen wird.
Als erster Band von „Eichblatts Deutschem Sagenschatz" erscheinen die von
Prof. Haas gesammelten „Pommerschen Sagen" (Verlag H. Eichblatt, Berlin-
Friedenau. M. 2.50). Ein großer Teil der Sagen wird hier zum erstenmal ver¬
öffentlicht, und die Quellen und Anmerkungen am Schluß geben wertvolle Hinweise.
Auf die kommenden Bände darf man nach diesem ersten, auch mit Abbildungen
versehenen, gute Hoffnung setzen. — Die Jugendauswahl von Arthur BonuL'
„Jsländerbuch" (Kunstwartverlag G. D. W. Callwey-München) mit Geschichten aus
der sagenhaften Urzeit unseres Brudervolkes sollte in keiner Bibliothek eines
deutschen Knaben fehlen (M. 2.50).
Viktor Rydberg erzählt in einem mit zehn Bildern von John Bauer ge¬
schmückten Bande der Jugend „Die Göttersage der Väter" als zusammenhängendes
Ganzes, die weit über die schwedische Jugend hinaus auch in Deutschland Interesse
finden wird; sie ist von I. Hiersche gut übersetzt (Verlag Albert Bonnier,
Stockholm-Leipzig, M. 4.50). Den Plastiker, die er in Italien sah, mit den
Mitteln der Sprache nahe zu kommen versucht Rydberg in seinen Lebensbildern
römischer Caesaren „Römische Kaiser in Marmor" (Verlag Peter Hobbing, Berlin-
Steglitz). Es ist ein Genuß, dem Dichter aus deu Spuren zu folgen, die der
Historiker in ihm vorgezeichnet hat. Eine knappe edle Sprache, die in kurzen Worten
manchmal überraschende Streiflichter über Menschen und Epochen wirft, steht
ihm zur Verfügung. Groß und einfach stehen seine Lebensbilder da wie die
Statuen und Büsten, denen sie gewidmet sind. Das ist eine Popularisierung der
Geschichte in bester Art. Der Preis des mit den Bildnissen der Caesaren versehenen
Bandes ist M.2.20. Ganz der Geschichte seiner Heimat entnommen ist „Der Waffen¬
schmied", der als Bereicherung der deutscheu Jugendliteratur willkommen ist; in
der Reformationszeit spielend, stellt er ein Stück schwedischer Kultur- und politischer
Geschichte vor Augen, durch die Statten- und Heldengestalten wie Erscheinungen
aus einem versunkenen Zeitalter gehen (M. 3.75). Auf Rydbergs rührende
Weihnachtsgeschichte „Die Abenteuer des kleinen Vigg am Heiligabend" (im selben
Verlage, zu 25 Pf.) sei aufmerksam gemacht.
In seinem „Puck" (Vita-Verlag, Berlin) läßt Kipling alte Heldengestalten
auferstehen, die den lauschenden Kindern die Geschichte des englischen Volkes in
Hauptabschnitten vorführen und den Reiz des trefflichen Schilderers ebenso er¬
kennen lassen wie sein Roman „Brave Seeleute" (im selben Verlag, M. 3.—),
der nicht nur gesunder reiferer Jugend, sondern auch Erwachsenen willkommen
sein wird.
Die amüsanten Geschichten „Helenens Kinderchen und anderer Leute Kinder",
die Eltern und heranwachsenden Kindern viel Spatz machen, erscheinen in neuer
Übersetzung von Paula Dehmel im Verlag von Josef Singer, Straßburg (Ppbd.
M. 3.—), ausgestattet mit fünfzig Silhouetten von Theodor Crampe. Diese
hübsche Ausgabe wird dem alten Buche viel neue Freunde erwerben.
Eine ganz vortreffliche Gabe erhält die reifere Jugend in der mit prachvollen
großen farbigen Bildbeigaben nach Kunstwartbildern und anderen ausgestatteten
Anthologie „Garben und Kränze", herausgegeben von H. Corrciy im Verlage
E. E. Meyer, Aarau-Leipzig, in großem Format. Das ist eine Sammlung von
Poesie und Prosa, ein Lesebuch in höchster Vollendung, wie wir es noch nicht
besaßen. Die besten und modernsten Namen sind darin vertreten, und über
Deutschland hinaus erstreckte sich die Auswahl: Lagerlöf, Scott, Maupassant,
Zola, Imsen, Björnson, Tolstoi seien nur als Beispiele genannt. Sein Erfolg
als Schul- und Volksbuch wird groß sein.
Mit den ausgezeichneten „niedersächsischen Erzählungen" die K. Henniger und
I. von Harten für Hannover und seine .Nachbargebiete (im Verlage Ernst Geibel,
Hannover) mit Beiträgen von Wilh. Busch, O. Ernst, G. Falke, Löns, Pocal,
Raabe, Sohle, Strnuß-Torney usw. herausgegeben haben (M. 2.50) und Ernst Zahns
eindringlichen „Erzählungen aus den Bergen" (Stuttgart, Deutsche Verlags¬
anstalt, Ppbd. M. 1.—), als Gegenstück zu den weitbekannten „4 Erzählungen",
sind wir bei der Lektüre angelangt, die für Grotze geschrieben ist, die aber wie
jedes echte Dichtwerk der heranreifenden Jugend in die Hand gelegt werden soll
und sie teilhaftig macht des großen, nie versiegenden Schatzes unserer Nativnal-
literatur.
Aber über Märchen, Sagen und Erzählungen hinaus nimmt die Natur die
Sinne einer gesunden Jugend gefangen. Das phantasievollste Märchen verblaßt,
wenn wir den ersten Band der „Wunder der Natur" in die Hand nehmen, der
im Deutschen Verlagshaus Borg K Co., Berlin-Leipzig, in Grotzquart, in pracht¬
voller Ausstattung, erscheint, und dem in kurzer Zeit noch zwei gleich schöne
folgen sollen. Es sind „Schilderungen der interessantesten Naturschöpsungen und
-Erscheinungen in Einzeldarstellungen", geschrieben von den ersten deutschen und
ausländischen Fachmännern unserer Zeit, wie Bölsche, Bürgel, Flammarion, Fraas,
Haeckel, Heat, Marshall, Miethe, Zell, um nur einige der bekanntesten zu nennen,
nicht trocken gelehrt, sondern im besten Sinne populär. Ein Buch, das uns in
Himmelshöhen und Erdentiefen führt, das uns erglühen läßt vor der Schönheit
der mikroskopischen wunderbaren Radiolariengebilde und erschauern vor den Welten
des Jupiter und Saturn, ein Buch, durch das wir Einblicke tun in das Leben
der Urzeit mit ihren Tierriesen wie in das Wachsen der Bazillen und prächtigster
Pflanzenformen, in dem wir von Bau der menschlichen Nerven hören wie von
den Geisirn auf Island oder den Sandwellen der tunesischen Wüste. Die überaus
große Zahl der Abbildungen, besonders der farbigen, ist von hervorragender
Schönheit. Glücklich der Gymnasiast, dem die Eltern solch ein Buch auf den
Weihnachtstisch legen können, zur Mitfreude der ganzen Familie, daß es ihn ins
Leben begleite als eine nie veraltende Quelle reinster Schönheitsfreude. Besser
kann die Liebe zur Natur und die Begeisterung für ihre Erforschung am Mikroskop
wie am Fernrohr oder aus gefahrvollen Reisen in die fernsten Gegenden in den
erstarkenden Seelen nicht gefördert werden. In Jahren werden sie dieses Buch
nicht auskosten. (M. 16.—.)
Im Titel mit diesem Prachtwerk begegnet sich das Buch Artur Fürst's „Die
Wunder um uns" (Vita-Verlag, Berlin, M. 6.—). Wie der spannendste Roman
mutet es uns an. und oft wird man zu ihm und den vom Menschengeist ge¬
schaffenen Wundern, die die Wirklichkeit uns vor Augen stellt und an denen wir
oft so gedankenlos vorbeigehen, zurückkehren. Wir treten ein in das wirbelnde
Leben moderner Technik; in die Tiefen moderner Naturerkenntnis werfen wir
einen für unsere Wünsche noch zu kurzen Blick. Bewundernd stehen wir am
Funkenturm zu Raum, der seine redenden Ätherwellen auf Tausende von Kilo¬
metern in die Welt sendet; wir staunen das sichtbar werdende Photogramm unseres
Herzschlages an oder den Apparat in der Brunnenfinsternis, der Ebbe und Flut
der festen Erde registriert; wir versuchen in die Geheimnisse des Atomverfalls des
Radiums oder in die Naturgeschichte des Genies einzudringen; Telephon und
Automobil, uns so vertraut und im Innersten doch vielleicht so unbekannt, ent¬
hüllen uns ihren überraschenden Bau ebenso wie Rechenmaschinen und Turbo-
dynamos; alles zur Anschauung gebracht durch ein reiches Bildermaterial. Eine
berechtigte stolze Freude ob des Erreichten spricht aus dem Buch; ein jauchzendes
Lied der neuen Zeit klingt uns daraus entgegen.
„Im Banne des Eisens" nennt Colin Roß eine Anzahl Skizzen, die sich oft
zu poetischem Schwung erheben und die den Versuch machen, dem Laien eine
Anzahl technischer Betriebe vorzuführen, wie sie der Ingenieur erschaut (Verlag
Die Lese, München-Stuttgart. M. 1.50. Lbd. M. 2.S0). In fesselnden Aufsätzen
erzählt er von „Kultur und Technik", den Schätzen der Erde, der Eisenwerkstatt
mit flammenden Hochöfen und Walzwerken, von Dampf- und Gasmaschinen,
um mit „Zukunftsträumen", wie sie das Radium uns vorzaubert, zu schließen.
Die Dampfmaschine allein als Triebkraft der Schiffe stellt Karl Radunz
in den Mittelpunkt seiner umfassenden Monographie „100 Jahre Dampfschiffahrt"
(Verlag C. I. E. Volckmann Nachf., Charlottenburg. Lbd. M. 8,50). Ehe der
Verfasser zu Fulton und dessen ersten brauchbarem Dampfschiff, dem „Clermont"
kommt, gibt er einen größeren Überblick über Segelschiffahrt und die Versuche der
Vorgänger, erzählt danach von der ersten Durchquerung des Ozeans mit der
„Savannah" im Jahre 1819, um dann zu den ersten Dampfern auf der Ostsee
und aus den Flüssen überzugehen. Unter stetem Eingehen auf die technischen
Verbesserungen berichtet er über die Entwicklung der großen Schiffahrtsgesellschaften,
unsere Kriegsschiffe und Schiffsmaschinen, den Bau der Ozeanriesen und das
Wachsen des Passagierverkehrs, alles durch ein klares Jllustrationsmaterial ver-
anschaulichend. Für unsere angehenden Techniker ein zur Einführung bestens
geeignetes, sachgemäß und verständlich geschriebenes Buch. Im selben Verlage,
der in C. Walter Vogelfangs instruktivem Büchlein „Die deutschen Flugzeuge in
Wort und Bild" einen auch illustrativ interessanten Überblick über die Fortschritte
unseres Flugwesens bringt (M. 1.60), erscheint, von Willi Hahn: „Für mein
Vaterland! Das gegenwärtige Militärflugwesen und die Militärluftschiffahrt der
europäischen Großmächte." (Lbd. M. 7.—). Wie die Jugend für Zeppelin und
seine Mitstrebenden ihr begeistertes Interesse bekundet, so tut sie es nicht minder
den Großtaten des Flugmaschinensports gegenüber. Hier hat sie ein Werk, das
ihr besonders die Bedeutung des Flugwesens im Kriege nahe bringt. Die
französischen, italienischen, englischen und deutschen Luftgeschwader werden uns
vorgeführt von einem Kenner, der unter schwierigen Umständen und oft als Spion
angesehen die fremden Verhältnisse ausgekundschaftet hat. Ein überaus reich¬
haltiges und interessantes Bildermaterial macht das Buch besonders anziehend. —
Und vom Heer gehen die Gedanken deutscher Knaben zur Flotte. Im Verlage
von Ferd. Hirt K Sohn in Leipzig erscheint in siebenter Auflage, neu bearbeitet
von Kontreadmiral Holzhausen, R. von Werners bekanntes Flottenbuch „Deutsch¬
lands Ehr im Weltenmeer", das, bis auf die neueste Zeit ergänzt, die Seefahrt
von den Wikingerzeiten bis auf unsere Tage in anschaulicher Darstellung schildert
und ein treffliches Bild unserer heutigen Seemacht gibt. (Mit vielen Abbildungen,
in Lbd. M. 5.—.)
Interessante Einblicke in das Reich der Erfindungen, der Natur- und Sprach¬
geschichte bietet Georg Biedenkapp in seinem in Loewes Verlag Ferdinand Carl
erschienenen Buche „Durch Wille zum Erfolg", (Lbd. M. 4,—), in dem wir mit
den Schicksalen von Nah- und Schreibmaschine, Telephon und Phonograph, Gas
und Fahrrad bekannt werden-, und I. E. Poritzky, in den „Kulturhistorischen
Charakterbildern" im selben Verlage (M. 3.—) erweitert diese Kenntnisse von
Edison rückwärts zu Galilei und Christoph Kolumbus, in den interessantesten
Kapiteln bei Michel Angelo, Goethe und Beethoven verweilend.
Der Verlag Ullstein u. Co. in Berlin bringt in starken Leinenbänden zu dem
billigen Preis von M. 3.— zwei naturwissenschaftliche Werke, denen weite Ver¬
breitung zu wünschen wäre. R. H. France, der treffliche Botaniker, erschließt
uns die geheimnisvolle „Welt der Pflanze". Volkstümlich wie in den meisten
seiner Schriften, macht er uns mit den Lebensvorgängen der Geschöpfe bekannt,
die wir sonst als fast leblos und unserem Gefühlsleben fernstehend empfinden.
Ihm ist die Botanik mehr als eine Wissenschaft: eine Helferin zur Bildung. Und
wer auf Frcmcss Wegen den Eingang in diese Wunderwelt gefunden, wird
erhebende Stunden erleben. Mit vielen interessanten Bildern, meist Naturauf¬
nahmen, wie dieses Werk, ist auch sein Gegenstück geschmückt: Th. Zells „Riesen
der Tierwelt". „Jagdabenteuer und Lebensbilder" heißt der Untertitel, und auf¬
regende aber glaubwürdige Jagderlebnisse vom ewigen Eise bis zum Äquator bilden
den Hauptbestandteil des stattlichen Bandes. Es müßte nicht von Zell geschrieben
sein, wenn wir nicht auch reiche Einblicke in das Seelenleben der Tiere gewonnen.
Möge dem prächtigen Werke, das die „Riesen" der Tierwelt behandelt, bald eins
folgen, das auch die kleinen Brüder im stillen Busch, in Luft und Wasser, mit
gleicher Liebe umfaßt und schildert! — j
Heimatliche Naturbilder reizvollster Art zeichnet Heinrich Löns, der
bekannte Roman-, Natur- und Jagdschriftsteller, in seinem „Da draußen
vor dem Tore". (I. Schnellsche Buchhdlg,. Wahrendorf, tard. M. 3,50, Lbd.
M. 4.50). Wie wird die niederdeutsche Heimat vor uns lebendig! Wie
lehrt ein solches Buch die Jugend mit wachen Sinnen um sich zu blicken und das
Leben in Gras und Strauch, am Waldgraben und im Moor und auf der Düne
aufmerksam zu belauschen! Mit einem solchen Naturforscher und -kenner, der
zugleich ein Dichter ist, läßt sich gut wandern. Manches von den dreißig Natur-
bildern wird in unsere Schullesebücher einziehen, dem Verfasser wie der einfach¬
stillen Natur „da draußen vor dem Tor" neue Freunde zu gewinnen. — In
schönem äußeren Gewände legt Albert Kleinschmidt den fünften Band seiner mehr¬
fach preisgekrönten Jugendschrift „Im Forsthause Falkenhorst" vor. Auch dieser
Band führt in Besuchen und Plauderstündchen beim Onkel Oberförster die junge
Welt in das Leben in Wald und Feld ein und vermittelt im Nahmen der Ferien¬
erzählungen eine Fülle von Jagdszenen und naturwissenschaftlichen Kenntnissen
(M. 4.—). Auf desselben Verfassers „Gottfried vom Rahmsose", aus der Ungarn¬
zeit, sei ebenfalls aufmerksam gemacht (M. 1.25). — Zwei ansprechende Werke
bringt der Verlag Moritz Schauenburg in Lahr in A. Theinerts „Hinaus" (M. 1.80)
und „Ins Weite" (M. 2.50). Seine auf trefflicher Beobachtungsgabe be¬
ruhenden und in frischer Sprache geschriebenen Darstellungen der uns umgebenden
Natur, insbesondere der Kleinwelt, wie Hummeln, Spinnen, Marder usw. lesen
sich interessant, wie die Reiseeindrücke aus seiner Wandermappe, wenn er von der
Türkei, Indien oder dem Wilden Westen erzählt. Die hübsch ausgestatteten Bände
eignen sich auch gut für Schülerbibliotheken. In dem Werke „Vom Himmel"
desselben Verlages gibt Viktor Schmitt astronomische Erzählungen für Volk und
Jugend in anregender, manchmal gar zu scherzhafter Form, die geeignet sind, zu
weiterem Eindringen in die Welt der Gestirne anzuregen (M. 1.50). — Zu
interessanten Beschäftigungen auf dem Gebiet der Botanik, Zoologie und Mineralogie
leiten die „Naturwissenschaftlichen Unterhaltungen für Knaben" an, die Witting
im Verlage Otto Maier in Ravensburg in drei Heften (zu je 80 Pf.) erscheinen
läßt. Neben vielem Wissenswerten erfahren die jungen „Sammler" alles nötige
für ihren Sport; das dritte Heft dürfte den Anfängern in der „Mikroskopie"
gelegen kommen. Zu gleichem billigen Preise und in derselben Ausstattung sind
„Mathematische Unterhaltungen", von E- Ernst, erschienen, welche Lust und Liebe
zu der manchmal nicht gerade verlockenden Wissenschaft erwecken sollen, sowie eine
Anzahl Hefte „Chemischer und Physikalischer Experimente", welche die Knaben
mit selbst hergestellten Apparaten ausführen können. —
Zu einer Reise „Von Pol zu Pol" lädt der große schwedische Forscher
Sven Hedin die Jugend ein. Wer reiste nicht gern an der Hand eines solch erfahrenen
Führers und väterlichen Freundes! Die handlichen Bände (es lagen zwei bislang
vor), zum billigen Preise von je M. 3.— (Verlag F. A. Brockhaus in Leipzig),
die viele Abbildungen, zum Teil nach Originalzeichnungen des Verfassers schmücken,
werden bei dein deutschen jungen Publikum dieselbe freudige Aufnahme finden
wie bei seinen Landsleuten. Geographische und geschichtliche Überblicke, eine Fülle
interessantester Kenntnisse, Erinnerungen aus seinen früheren Reisen sind hier
zusammengetan, den Blick der Jugend zu erweitern; amüsante und lebensgefährliche
Abenteuer sorgen für die nötige Spannung; im ersten Bande tut Europa sowie
Asiens Wunderwelt sich vor uns auf, und im Fluge durchqueren wir Australien;
im zweiten begleiten wir den kühnen Reisenden nach den Nordpolregionen und
über London, Paris und Rom in das unentdeckte Afrika, dessen kühnste Forscher
wir kennen lernen. Und nun kommt, so persönlich wie die beiden anderen, soeben
noch der dritte und letzte Band, der nach Amerika und dem Südpol führt, und
nachdem sich so der erdumspannende Kreis gerundet, mit einem Ausblick in den
Weltenraum seinen glanzvollen Abschluß findet. Kapitel sind in den drei Bänden,
deren Wucht wir nicht vergessen und die zu Glanzstücken in Anthologien
werden, und das Ganze hinterläßt einen tiefen nachhaltigen Eindruck. — Packende
Schilderungen aus dein Leben der Walfischfänger, von den Eingeborenen selbst
niedergeschrieben, gesammelt von signe Rink, bietet uns eine Auswahl des
Hamburger Jugendschristenausschusses unter dem Titel „Kajakmänner" (Verlag
Alfred Jcinssen, Hamburg, M. 1.—). Eine tiefe Melancholie liegt über diesen
uns in eine ungekannte Welt einführenden Erzählungen von harter Arbeit ums
tägliche Brot, von Fährnissen in Eis und Schnee, hinter denen allen der Tod so
nahe steht. Da ist wirkliches, ungeschminktes Leben, das kennen zu lernen unserer
Jugend von Nutzen sein wird. — In volkstümlicher Fassung und unterstützt durch
ein reiches Bildermaterial, bringt der Afrikareisende E. Zimmermann alles Wissens¬
werte über „Unsere Kolonien" in einem stattlichen Bande des Verlages Ullstein u. Co.
in Berlin (M. 3.—). Nach einem geschichtlichen Überblick geht der Verfasser zur
Schilderung namentlich der afrikanischen Besitzungen über. Ihr Erwerb, ihre
Kulturzustände, ihre Aussichten und Gefahren, das Leben der Farmer und Ein¬
geborenen — all das zieht in farbenreichen Bildern an unseren Augen vorüber.
Aber auch unseren Kolonialbesitz in der Südsee und das Pachtgebiet von Kiautschou
weiß der Autor fesselnd, zur Vertiefung des Interesses an unserem überseeischen
Besitz, Volk und Jugend vor Augen zu stellen. — Ein echtes Knabenbuch, spannend
von der ersten bis zur letzten Seite, interessant und belehrend, mit einem Vorwort
des bekannten Forschers Prof. Schillings, bringt der Verlag Neufeld u. Hemus,
Berlin, in seinem starken Band „Die Helden Afrikas" von Major W. Langheld,
den die Eingeborenen „Bonna Msuri", den „guten Herrn", nennen (M. 4,50).
Da lernen wir das alte Afrika und die alten und jungen Afrikaner kennen, mit
deren Namen und unsäglichen Strapazen, Mühen und Gefahren die Besitzergreifung
und Erforschung des schwarzen Erdteils verknüpft ist: stallr Pascha und Kitchener,
Emin Pascha und Wißmann, Peters, Stanley und Schillings, und wie sie noch
heißen, die den dunklen Fleck auf der Landkarte ausgefüllt und ihrem Vaterlande
den großen Kolonialbesitz erschlossen haben. Diese lebenswahr und packend
erzählten Geschichten werden hoffentlich der deutschen Jugend die Lust an den
unwahren Jndianergeschichten nehmen, denen sie an Abenteuerlichkeit nicht nach¬
stehen. Mit den „Frohen Wanderfahrten" von August Trinius im selben Verlage,
zu gleichem Preis, und ebenso mit vielen Bildern versehen, kehren wir ins deutsche
Vaterland zurück, dessen schönste Gebiete an Rhein und Mosel, in Thüringen,
Taunus und Spreewald, am Kyffhäuser und am Neckar wir an der Hand eines
frohen und weggeübten Wandersmanns durchstreifen, der uns überall die schönsten
Sagen und Erzählungen noch extra dreingibt, und an dessen Schluß wir in das
alte Wort einstimmen: „Ost und West — to Kuh ist Best."
Ein Kalender fürs neue Jahr darf nicht fehlen; man braucht nur an den
„Gesundbrunnen, Kalender des Dürerbundes 1913", zu erinnern, um sicher zu
sein, daß er auf dem Weihnachtstisch nicht vergessen wird. Ist er doch bei hoch
und niedrig, für die heranwachsende Jugend wie für die Alten, ein gern gesehener
und wohltätiger Begleiter durch die Monate. Er kostet (im Verlage von
G. D. W. Callwey-München erschienen) mit vielen Bildern, Abhandlungen,
Gedichten und Sprüchen 60 Pf.; der Stern, der ihm in diesem Jahr besonders
leuchtet (in früheren waren es Hebbel, Keller und Raabe), heißt: Rosegger.
Und wer seinen herangereiften Kindern einen verständigen treuen Berater für
die Auswahl ihrer Lektüre fürs Leben mitgeben will, wie er in keinem Bücher¬
schrank eines Gebildeten fehlen sollte, der schenke ihnen den „Literarischen Ratgeber
des Dürerbundes", der in diesem Jahre wieder erweitert erschienen ist. Die
kleine Ausgabe wird er reichlich lohnen I
Und damit dürfte Se. Nikolaus' Büchersack randvoll sein; .möge er ihn mit
seinen Schätzen beglückend unter vielen strahlenden Weihnachtsbäumen ausschütten!
Otto Erich Hartlcöen: Briefe an
Freunde. Berlin, S. Fischer.
Es ist merkwürdig, in welcher Klarheit
die Physiognomie des Lore-Dichters noch
heute vor den Augen der Hinterbliebenen
Zeitgenossen steht. Keiner aus der Schlacht¬
reihe jenes Literaturgeschlechts, das um 1890
herum sein Jahrhundert in die Schranken
forderte, hat uns ein so fest umrissenes Bild
seiner menschlichen Persönlichkeit vermacht,
keiner eine so entschiedene Popularität er¬
langt, wie der daseinsfreudige und trinkfeste
Otto Erich Hartleben. Man darf die Art
dieser Popularität nicht über-, aber auch nicht
unterschätzen. Ganz gewiß wurzelt sie weniger
im Künstlerischen, als vielmehr im rein
Menschlich-Persönlichen. DerDichterHartleben
mag den Leuten, die sich heute an seinen
Briefen und Tagebüchern erheitern, oft genug
verteufelt gleichgültig sein. Was diese Hart¬
leben-Freunde anzieht und warm macht, ist
einzig und allein die frische Naturfarbe seines
Gesichts, ist einzig und allein die ungeschminkte
Derbheit, mit der Otto Erichs Privatauf¬
zeichnungen, wo immer man ihnen begegnet,
den erschöpfenden Ausdruck und die plastische
Form für das finden, was man im Leben
einen ganzen Kerl zu nennen Pflegt. Es
könnte melancholisch stimmen, wenn man daran
denkt, daß die Narrenkappe dieses sympathi¬
schen Pierrot dein Außenstehenden immer
wichtiger sein wird, als der tiefe, künstlerische
Ernst und als das schönheitsdurstige Herz,
das hinter den Improvisationen einer fideler
Bierkanne schlägt. Man könnte Lust zum
Protest verspüren und sagen: Steckt eure
Nasen lieber in das lyrische und novellistische
Vermächtnis des Dichters Hartleben, ehe ihr
eure Philisterinstinkte von den anspruchslosen
Humoren eines guten Kerls und bierehrlichen
Zechkumpans kitzeln laßt. Aber wenn man
genauer zusieht, wird man seinen ästhetisch
dogmatischen Standpunkt doch aufgeben
müssen. Denn gerade aus dem persönlichen
Vermächtnis Otto Erich Hartlebens leuchten
die Farben des Lebens so prachtvoll, so echt
und so unwiderstehlich, daß man bedingungs¬
los kapituliert und die Briefe und Tage¬
bücher als das nimmt, was sie in Wahrheit
sein wollen: als den lebendigen Ausdruck
einer Individualität, der die Kraft gegeben
wurde, selbst das gleichgültigste Erleben auf
eine urpersönliche Formel zu bringen; als
das grundehrliche Dokument eines liebens¬
werten Menschen, der es verstanden hat, das
eigene Dasein, wie unabsichtlich, zum Kunst¬
werk zu adeln; als die natürliche Ergänzung
einer dichterischen Physiognomie, für die
Mensch-Sein und Künstler-Sein niemals zu
trennen gewesen ist.
doch so viel Persönliches und Wertvolles, daß
man den Sammlern Dank weiß, wenn sie
die in alle Welt verstreuten Grüße nicht in
irgendwelchen Postkartenalbums verschimmeln
liehen.
Von allem anderen abgesehen: das
Buch gibt einen humorfreudigen Kommentar
zu der Entwicklung des neudeutschen Natu¬
ralismus, in dessen ungebärdige Kreise der
blutjunge Referendar Hartleben seinerzeit
siegesgewiß einsprang. Es gibt die Silhouetten
jener Dichtorgeneration, die sich in der gemein¬
samen Sehnsucht nach der Morgenröte einer
neuen deutschen Kunst zusammenfand. Es
wirft — hier ernst, dort scherzhaft, immer
aber mit unbestechlicher Treffsicherheit —
allerlei Schlaglichter auf menschliche und künst¬
lerische Beziehungen, die heute schon fast der
Literaturgeschichte angehören. ES wirkt un¬
gemein wohltuend in der saloppen aphoristi¬
schen Art, wie es Stellung nimmt zur Lite¬
ratur, zur Presse, zum Theater, zur Politik
und zu hundert anderen Dingen. Man fühlt
leibhaftig, daß das alles wahr, daß es mit
gesunden Instinkten erschaut und erlebt worden
ist. Und man spürt — nehmt alles in allem —
auch den Glanz voll wehmütiger Schönheit,
der schließlich selbst die ausgelassensten Fide-
litätSeinfälle dieses Buches adelt. Man spürt
ihn, weil man das melancholische Schicksal
kennt, das den Menschen und Dichter Otto
Erich vor der Zeit an den Hemmungen seiner
Natur scheitern ließ.
Jedesmal, wenn man Hartleben liest, kehrt
ja das eine große Gefühl wieder: Welch ein
Prachtkerl muß das gewesen sein! Der un¬
erschrockene Wille zum intelligenten Optimis¬
mus, der ihn beseelt, das heuchelfreie Be¬
kenntnis zu sich selbst und seiner prachtvoll
germanischen Art, sein unbekümmert spru¬
delndes Temperament, das sich hin und wieder
in dem breiten Lachen des berufenen Philister-
tölers auslöst — das alles gibt jeder Zeile,
die von ihm ausgegangen ist, ihren unzerstör¬
baren Persönlichkeitswert. In seinen Ge¬
dichten, in seinen Novellen, in seinen Dramen
glitzern und schimmern die, wenn man so
sagen darf, gesellschaftlichen Talente seiner
Menschlichkeit. Das Wort vom ewigen Stu¬
denten, das man auf ihn geprägt hat, stimmt
freilich, wie alle Schlagworte, nur zum Teil.
Aber eS erschöpft jedenfalls jene eine und,
wie uns scheint, nicht unwesentlichste Seite
seiner Begabung, die dem Leser gerade aus
seinen privaten Aufzeichnungen wie frische
Bergluft entgegenweht. Die Hartlebenschen
Tagebücher und die Briefe an seine Frau
liegen der Öffentlichkeit seit längerer Zeit vor.
Die „Briefe an Freunde", die der Verlag
Fischer jetzt herausgibt, bringen, wie zu er¬
warten stand, in das längst fertig umrissene
Bild der Hartlebenschen Persönlichkeit keine
neuen Nuancen. Aber sie find trotzdem eine
willkommene Ergänzung und werden von
jedem, dem der Mensch und Dichter Hart¬
leben überhaupt etwas zu sagen hat, als
beschert gern und dankbar entgegengenommen
werden. Wie gesagt: ästhetisch betrachtet
wiegen sie mitsamt ihrer alkoholfeuchten Atmo¬
sphäre nicht schwer. Und das einzige, was
man als doktrinärer Kunstrichter vor dem
umfangreichen Bande feststellen könnte, wäre:
daß die Deutschen in Otto Erich Hartleben
den Klassiker der Bierkarte gefunden haben.
Aber aus diesen mit oft herzerfrischender Komik
hingeschleuderten Improvisationen schält sich
Der Hofrat schlief draußen vor der Stadt
auf dem Platz der stillen Leute. Aber hätte
er auch ein wenig gewacht und gesehen, wie
Lotte und Liese über seinen Nachlaß herfielen,
die Märchen lasen, die so gut verwahrt in
seinem Schreibpult geruht hatten, und nicht
gerade wohlwollend begutachteten, er würde
den jungen Mädchen ihre Bemerkungen gar
nicht übel genommen haben. „Denn erstens
ist eS überhaupt nicht so leicht, ganz jungen
Mädchen un? ihres Übermutes willen böse
zu werden, und für vernünftige Leute viel¬
leicht am wenigsten.... Zweitens aber war
der Hofrat selbst der Zeit längst entwachsen
gewesen, wo ihm seine kleinen Erlebnisse sich
zu märchenhaften Geschichten gestalteten. Ge°
blieben waren die beschriebenen Blätter, aber
was sie erzählten, war vergangen, ganz ver¬
gangen. Neue Menschen mochten ja nun Neues
erleben auf ihre Art."
Hat Wilhelm Münch von sich selbst ge¬
sprochen, als er mit diesen Worten seine letzte
Geschichte schloß, die uns nun im Verein mit
sechs anderen Skizzen als ein Vermächtnis
überkommen ist? (Der Schneider von Bres-
t,in und andere Geschichten. Mit biographi¬
schen Nachruf von Adolf Matthias. C. H.
Becksche Verlagsbuchhandlung, Oskar Beck.
München 1913. 3,60 M.) Er würde lächeln,
wenn diese kleinen Schilderungen Liese und
Lotte in die Hände fielen, wenn die gescheiten
jungen Damen auf den Gedanken kämen, daß
der Verfasser derartige Dinge selbst erlebt
haben könnte und alles furchtbar komisch
fänden. Die stille Freude an abgeklärter Be¬
trachtung von Menschen und Dingen ist der
Preis reiferer Jahre. Wer Wilhelm Münch
verehrt, in wem die Art seines Erlebens
Widerhall zu finden vermag oder eine Sehn¬
sucht weckt, der greife nach den nachgelassenen
Blättern. spannende Handlung, Schilde¬
rungen menschlicher Leiden und Freuden, die
sich zu eineni festen Ring schließen, wird hier
keiner suchen, der Münchs ältere Novellen¬
bände kennt. Gestalten vom Jahrmarkt des
Lebens, scharf gesehen und aufgefangen mit
der feingeschliffenen Linse der camera odsoura
einer Menschenseele, die uns in jedem Bild
ein Stückchen ihrer stillen Größe offenbart.
Auf die hübsche Einleitung, die Adolf
Matthias Wilhelm Münch zur Erinnerung
schrieb, sei noch besonders hingewiesen.
Einen Augenblick noch zu den Kleineren
nach Abschluß der Übersicht in Heft 49 zurück¬
zukehren, veranlassen uns die ausgezeichneten
Hefte, die im Verlage B. G. Teubner in
Leipzig soeben in zweiter Auflage unter dem
Titel „Kleine Beschäftigunnsbücher", heraus¬
gegeben von Lili Droescher, erscheinen. (Karl,
je M. 1.—.) Diese Büchlein geben die Theorie
zu einer Anzahl Beschäftigungsmittel, die im
vorigen Artikel erwähnt wurden. „Kinder¬
spiel und Spielzeug" von Clara Zinn, „Ge¬
schenke von Kinderhand" von Emma Humser,
und „Allerlei Papierarbeiten" von Gierke-
Davidsohn heißen die Titel. Sie können den
Müttern, deren Kindheit noch nicht in die Zeit
der „Arbeitsschule" fiel und die mit den
ödesten Handarbeiten sich und anderen die
Weihnachtsfreude verbittern mußten, beste An¬
leitung und Anregung geben, ihre Kinder nicht
nur nutzbringend zu beschäftigen, sondern ihnen
im Spiel mit einfachsten Material Wertvolles
für Leben und Charakterbildung zu vermitteln.
Für Größere ergänzt diese Hefte dus Bündchen
„Was mache ich meinen Eltern zu Weih¬
nachten?" mit Anleitung zupraktischen,einwand¬
freien Geschenken in Papier-, Bast- und Korb-
flechtarbeite», von Lindner — Carp — Pallat-
Hartleben, und in einem anderen Bändchen
der Sammlung „Handarbeit fiir Knaben und
Mädchen" zeigt E. P. Hildebrandt auf Grund
reicher Erfahrungen „Aus einer Schülerwerk¬
statt", wie sich auch mit knappen Mitteln ein
Werkunterricht bestreiten und zu schönem Er¬
folge führen läßt. Ein schönes Bildermaterial
unterstützt die Wirksamkeit sämtlicher Hefte aufs
Die Tagesdaten der abgelaufenen Woche haben schon heute die Bedeutung
von Marksteinen für die Geschichte des deutschen Volkes sowohl wie für die
Weltgeschichte: der Waffenstillstand zwischen Türken und Balkanstaaten, die
Gründung des neuen Staatswesens Albanien, der erneute Ausbruch der griechisch¬
slawischen Gegensätze, die Verlängerung des Dreibundvertrages, die erneute
Kampfansage des Zentrums an die Reichsregierung und schließlich die Versuche
der Fraktionen (Sozialdemokraten, Liberalen und Freikonservativen!) dem
Parlamentarismus im Reichstage sowohl wie im preußischen Landtage Eingang
zu verschaffen —, das alles sind Ereignisse und Geschehnisse, von denen jedes
einzelne für sich den Ausgangspunkt zu neuen Entwicklungen und zu neuen Pro¬
blemen und somit auch zu neuen Kämpfen bildet. Welch neue Fülle von Kom¬
binationen und Möglichkeiten schließen sie nun ein, da sie fast gleichzeitig auf
uns einstürmen!
Für uns Deutsche ist aus allem das wichtigste die Erneuerung des
Dreibundvertrages. Denn damit ist die bewährte Grundlage unserer aus¬
wärtigen Politik unverändert fest geblieben; neue Orientierungen und die damit
verbundenen Treibereien und Schiebungen erübrigen sich; das Reichsschiff darf
den seit dreißig Jahren bewährten Kurs weiter steuern. So bedeutet die Erneue¬
rung des Dreibundvertrages für uns Reichsdeutsche eine gewisse Garantie im Hin¬
blick auf die Stetigkeit unserer politischen und wirtschaftlichen Beziehungen. Jede
Erneuerung dieses Vertrages ist aber nicht nur ein neuer Beweis für die Sicherheit
unserer eigenen Stellung im Wettkampf der Völker; sie ist auch der beste Nachweis
dafür, was er auch den anderen Bundesgenossen bisher gewesen ist und was
diese in Zukunft von ihm erhoffen, und dies um so mehr, als der Vertrag im alten
Wortlaut erneuert wurde. Sie ist schließlich auch der glänzendste Beweis dafür,
daß die gemeinsamen Interessen Deutschlands, Hsterrcich-Ungarns und Italiens nach
wie vor so groß und vielseitig geblieben sind, daß selbst die verlockendsten An¬
erbietungen aus dem englischen oder französischen Lager es nicht vermochten,
ein Äquivalent zu bieten. Und auf dieser tief wurzelnden Gemeinsamkeit der
Interessen der Dreibundmächte beruht die Stärke des Bundes.
Den Dreibund im gegenwärtigen Augenblick als eine absolute Friedens¬
garantie hinstellen zu wollen, entspräche indessen nicht den Tatsachen. Gewiß
flößt er den Gegnern Respekt ein wie bisher, gewiß wird er auch in diesem
Augenblick den kriegslustiger Chauvinisten oder Panslawisten ein Argument
mehr für die Bewahrung des Friedens bedeuten, aber eine Garantie für den
Frieden ist er wie gesagt nicht: die Fragen, die gegenwärtig ein so bedrohliches
Gesicht angenommen haben, sind einstweilen keine Dreibundangelegenheiten,
sondern ausschließlich Österreich-Ungarische. Daran ist durch keine noch so feine
Beweisführung zu rütteln. Aber das ist ja bekannt und bedarf keiner Be¬
gründung mehr. Wie weit die Habsburgische Doppelmonarchie den Serben
gegenüber zu gehen gedenkt, muß der österreichisch-ungarischen Diplomatie schon
selbst überlassen bleiben.
Rußlands Haltung im serbisch-österreichisch-ungarischen Konflikte ver¬
dient nach wie vor kein Vertrauen, wenn auch nicht mit Sicherheit festgestellt
werden kann, wie die amtlichen Kreise in Petersburg und vor allen Dingen
der Zar selbst denken. Das Verhalten des amtlichen russischen Vertreters in
Belgrad, des Herrn Hartwig, erscheint zum mindesten eigenartig: es widerspricht
durchaus den loyalen Versicherungen, die Herr Ssasonow an allen Orten ab¬
gegeben hat. Bewahrheiten sich die Nachrichten vom letzten Sonnabend, wonach
Hartwig der serbischen Presse mitgeteilt haben soll, Rußland werde für den
Erwerb eines Adriahafens durch die Serben eintreten, dann müßte Rußland
bereit sein, Österreich-Ungarns Forderungen mit den Waffen in der Hand zu
begegnen. Denn das ist ja gerade der wichtigste Punkt des österreichischen
Widerstands gegen Serbien, daß Serbien wenigstens politisch nicht an die Adria
gelangen soll, aus Gründen, die im Heft 48 S. 437 näher auseinandergesetzt
wurden. Vielleicht übt die vorbehaltlose Erneuerung des Dreibundes auch auf
Rußland einen wohltuender Einfluß aus; vielleicht kann aber die russische
Regierung schon aus inneren Gründen nicht mehr zurück. Wie dem auch sei,
man wird Rußlands Haltung in der Adriafrage solange mit intensivem Mi߬
trauen begegnen müssen, wie es fortfährt sein Heer auf den Kriegsfuß zu
stellen. Gegenwärtig befinden sich im russischen Heere rund 400000 Mann über
den Friedensetat hinaus unter Gewehr. Das sind Mannschaften, die im Laufe
des Sommers und Herbstes dieses Jahres zu Übungen eingezogen waren und
bisher nicht entlassen wurden. Inzwischen reift aber auch der Rekrutenjahrgang
1912 heran und steigert mit jedem Tage die Kriegsbereitschaft unseres sar-
matischen Nachbarn; die russischen Rekruten gelten am 1./14. Januar als aus¬
gebildet. Entläßt Rußland nach diesem Termin seine älteren Jahrgänge noch
immer nicht, dann hätte es also im Januar seine Armee annähernd auf Kriegs¬
stärke und könnte sowohl auf die österreichisch-serbischen, wie auf die Friedens¬
verhandlungen der Türkei einen geradezu unerträglichen und Österreich-Ungarn
herabsetzenden Druck ausüben. Ich kann mir nicht recht vorstellen, wie unter
solchen Verhältnissen mit einer friedlichen Lösung der akuten Balkanprobleme
ohne weiteres gerechnet werden darf, und somit vermag ich trotz des größten
Vertrauens in die Tüchtigkeit unserer Diplomaten und die Friedensliebe Öster¬
reich-Ungarns den Optimismus nicht zu teilen, der vielfach auch von seiten der
Banken genährt wird.
In der inneren Politik bildet die Absage der Zentrumsfraktion des
Reichstages an den Reichskanzler die Sensation der Woche und zugleich ein
Ereignis von größter Tragweite. In der Sache selbst handelt es sich kurz um
folgendes: Der Bundesrat hat es abgelehnt, den Paragraph 2 des sogenannten
Jesuitengesetzes aufzuheben und auch den Bundesstaaten zu gestatten, das
Gesetz durch den Jesuiten einzuräumende Erleichterungen zu durchlöchern.
Dafür nun macht das Zentrum den Herrn Reichskanzler ganz persönlich ver¬
antwortlich, kündigt ihm sein Vertrauen und will sein „Verhalten dementsprechend
einrichten".
Der Herr Reichskanzler hat in einer eindrucksvoller Rede die Anmaßungen
der Zentrumspartei zurückgewiesen und diese vor allen Dingen davor gewarnt,
die Haltung des Bundesrath als Wiedereröffnung des Kulturkampfes hinzustellen.
Und doch will es den Anschein haben, als beabsichtigten die Ultramontanen der
katholischen Bevölkerung so etwas wie Kulturkampfstimmung vorzugaukeln, um
ihre Macht unter den deutschen Katholiken, die hier und da zu wanken scheint,
neu zu befestigen. Die Tatsache der Kampfansage an sich ist geeignet, klärend
zu wirken und Herrn von Bethmann Hollweg von Illusionen bezüglich der
Zentrumspartei zu befreien. Das Zentrum hat wieder einmal die Maske
gelüftet und dargetan, daß ihm ultramontane, also internationale und welt¬
bürgerliche Interessen mehr am Herzen liegen als nationale, und alle die Tinte
und Mühe, die in den letzten Jahren verschwendet wurde, um die Frage „ist
das Zentrum national?" in positivem Sinne zu beantworten, scheint umsonst
vertan. Die Zentrumspartei ist nicht national und wird es solange nicht
werden, solange sie von Rom aus, von italienischen Prälaten und Mönchen
angeleitet wird. Und gerade die Abhängigkeit von Rom auch in politischen Fragen,
die mit der Religion herzlich wenig zu tun haben, wie etwa die Jesuitenfrage, die
im Widerspruch zu den Wünschen von drei Vierteln der deutschen Bevölkerung
durchgesetzt werden sollte, wird durch das letzteVorgehen desZentrums gekennzeichnet.
Nach den Urteilen, die römische Päpste selbst über den Wolfscharakter der
Jesuiten gefällt haben, und die ich in Heft 16 von 1912 S. 109 nachzulesen bitte,
würden wir durch die Zulassung des Jesuitenordens vieles aufs Spiel setzen,
was uns teuer ist. Es mag zutreffen, daß die Bedeutung des Ordens
heute eine andere ist als noch vor vierzig Jahren. Aber darauf kommt es
nicht an. Maßgebend ist allein, daß der überwiegende Teil des deutschen Volkes,
darunter auch zahlreiche Katholiken, im Jesuitenorden eine dem Staate und der
modernen Entwicklung feindliche und schädliche Organisation erblicken. Wenn
dem Zentrum wirklich an der Erhaltung des konfessionellen Friedens gelegen
wäre, so würde es auf diese Stimmung Rücksicht nehmen.
Die Folgen der Kampfansage lassen sich noch nicht übersehen: will
das Zentrum um jeden Preis und um den ordnungsmäßigen Geschäftsgang zu
stören in die Opposition gehen, so dürfte sich daraus manch eine Komplikation
für die Regierung ergeben, vor allen Dingen dann, wenn sich für die
Partei öfter Gelegenheit bieten sollte, mit der Sozialdemokratie zusammen¬
zuarbeiten — etwa in Armee- und Flottenangelegenheiten — und wenn die
Liberalen die augenscheinlich geschwächte Stellung der Regierung nicht gar zu
stürmisch ausnutzen wollten, um ihr Verbesserungen auf parlamentarischem
Gebiet abzutrotzen. Jedenfalls ist eine Lage geschaffen, die seitens geschickt
und furchtlos geführter Parteien im Interesse der Parteien selbst verhältnis¬
mäßig leicht genutzt werden könnte. Im einzelnen läßt sich darüber natürlich
noch nichts sagen. Machen wir es also zunächst wie Herr von Bethmann und
warten wir in aller Ruhe ab, was kommt: auch die Zentrumssuppen brauchen
nicht so heiß gegessen zu werden, wie sie gekocht sind, und die Reichsregierung
wird sich schließlich auch ohne das Zentrum zurechtfinden, wenn sie sich nur zu
einer den gesunden Ansprüchen der Nation gerecht werdenden Politik versteht.
Daß die Reichsregierung ebenso wie die preußische weiß, wo der Schuh
drückt, zeigen die vielfachen Gesetzentwürfe auf wirtschaftlichem Gebiete, die dem
Reichstage und preußischen Landtage zugegangen sind: so der Wassergesetz¬
entwurf, mit dem wir uns in Heft 36 ausführlich beschäftigt haben, der Entwurf
zur Elektrisierung der Berliner Stadtbahn (Heft 42) und schließlich auch der Entwurf
zu einem Petroleummonopol (Heft 43 u. 45), der am Sonnabend im Reichstage
in erster Lesung behandelt wurde. Leider geht es mit dem zuletzt genannten Entwurf
ebenso, wie es so vielen anderen unter dem jetzigen Reichskanzler und preußischen
Ministerpräsidenten den Parlamenten vorgelegten Entwürfen ergangen ist: die
öffentliche Meinung ist nicht genügend und auch nicht rechtzeitig darauf vor¬
bereitet worden. So kommt es, daß der an sich populäre Schritt von den
wenigen kapitalistischen Interessenten in Grund und Boden diskreditiert werden
konnte, noch ehe das Publikum und die Mehrzahl der Abgeordneten sich eine eigene
Meinung bildeten. Dementsprechend war denn auch die Aufnahme des Ent¬
wurfs im Reichstage. In diesem Falle mag ja die Unterlassung zu einem guten
Ergebnis führen, dazu nämlich, daß die Regierung sich doch schließlich bequemt,
ein reines Reichsmonopol für Petroleum zu schaffen; aber das konnte doch auch
durch Vermittlung einer von der Regierung klug geleiteten Erörterung in der
Presse erreicht werden, ganz abgesehen davon, daß eine solche vorbereitende
Erörterung auch den Parlamentariern frühzeitig Gelegenheit gegeben hätte, sich
in die Gedankengänge der Regierung zu vertiefen und demgemäß fachlich vor-
bereitet zu sein, wenn der Entwurf selbst erscheint. Der Negierungsentwurf wäre
durch solche vorbereitende Erörterung auch nicht schlechter geworden, wie er ist;
zum mindesten konnte er von dem Vorwurf, ungenügend begründet zu sein,
gerettet werden. Das sozialpolitische Mäntelchen, das man ihm umhängte,
brauchte nicht erst von der Kammer geholt zu werden, wenn eine rechtzeitig
eingeleitete Presseerörterung gezeigt hätte, daß allein der Hinweis auf die Ge¬
fahr des Privatmonopols genügte, um den Gedanken eines Reichspetroleum¬
monopols volkstümlich zu gestalten.
Es ist dem Herrn Reichskanzler von Bethmann schon so oft an der
Hand einzelner Fälle nahegelegt worden, wie er durch ungenügende Vor-
bereitung und Bedienung der öffentlichen Meinung die an sich freudig begrüßten
Regierungsarbeiten erschwert, — natürlich nicht die Arbeit des einzelnen Vor¬
tragenden Rates, denn diese müßte unter dem Feuer der öffentlichen Kritik noch
intensiver werden, wie sie schon ist. Bei der heutigen Methode wird zu viel
Sisyphusarbeit geleistet, Arbeit, die nur in die Aktenspinde hineinwirkt, nicht
ins Publikum. Aber ganz abgesehen davon: die Regierungsautorität ebenso
wie die ganz persönliche des Herrn Reichskanzlers muß ohne Zweifel darunter
leiden, wenn, wie wir es jetzt erleben, ein so großer Prozentsatz von Entwürfen
von vornherein unter den Tisch fällt oder doch derart verändert werden muß, daß
von den Ideen der Regierung herzlich wenig übrig bleibt. Langen die gegen-
waldig vorhandenen Kräfte bei den einzelnen Ämtern und bei der Reichskanzlei
nicht aus, um den durch die Entwicklung bedingten Ansprüchen gerecht zu werden,
so müssen diese vermehrt werden. Die vier Herren der Presseabteilung können
die Aufgabe selbstverständlich auf die Dauer nicht erfüllen, wenn sie auch zur
Amtszeit des Fürsten Bülow Erstaunliches an Aufklärungsarbeit geleistet haben.
Der öffentliche Nachrichtendienst, das Zusammenarbeiten der Regierung
mit der öffentlichen Meinung durch Vermittlung der Presse und der Parteien,
bedarf dringend der Reform, und der Herr Reichskanzler wird sich zweifellos
einen über den Tageserfolg weit hinausgehenden Ruhm erwerben, wenn es
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«erantwortlich: der Heraxtgeber Beor««rlei>i»wir «chSnederg. — Manustriptl-ndnng»,, »ut Vliese wert«»
erbeten unter der Adresse:
«» den HerouSacber »er Grenzbotr» in Frir»r«a« »el «cru», He»wigßtr. t».
Fernsprecher der Schristleitung: Amt MMnd SSM, de» «erlag«: Amt Lützo» 6610.
B-ri->q: «erlag der «renzbot-n «, in. d. H, in Berlin S>V, 11.
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Wir bitten die Freunde der
das Abonnement zum 1Grei
. Quartal 1913
erneuern zu wollen. —- Bestellungen
nimmt jede Buchhandlung und jede
Postanftalt entgegen.Preis 6 M.Verlag der
Gom2boten
G. in. b. Ä.
Berlin
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Art. I. Sollte Wider Verhoffen und gegen den aufrichtigen Wunsch
der beiden hohen .Kontrahenten eines der beiden Reiche von feiten Ru߬
lands angegriffen werden, so sind die hohen Kontrahenten verpflichtet,
einander mit der gesamten Kriegsmacht ihrer Reiche beizustehen und
demgemäß den Frieden nur gemeinsam und übereinstimmend zu schließen. Art. II. Würde einer der hohen kontrahierenden Teile von einer
anderen Macht angegriffen werden, so verpflichtet sich hiermit der andere
hohe Kontrahent, dem Angreifer gegen Semen hohen Verbündeten nicht
nur nicht beizustehen, sondern mindestens eine wohlwollende neutrale
Haltung gegen den hohen Mitkontrahenten zu bewahren. Wenn jedoch
in solchen? Falle die angreifende Macht von feiten Rußlands, sei es in
Form einer aktiven Kooperation, sei es durch militärische Maßnahmen,
welche den Angegriffenen bedrohen, unterstützt werden sollte, so tritt die
im Artikel I dieses Vertrages stipulierte Verpflichtung des gegenseitigen
Beistandes mit voller Heeresmacht auch in diesem Falle sofort in Kraft
und die Kriegsführung der beiden hohen Kontrahenten wird auch dann
eine gemeinsame bis zum gemeinsamen Friedensschluß. Art. III. Der Vertrag soll in Gemäßheit seines friedlichen Charakters
und um jede Mißdeutung auszuschließen, von beiden hohen Kontrahenten
geheim gehalten und einer dritten Macht nur im Einverständnis beider
Teile und nach Maßgabe spezieller Einigung mitgeteilt werden. (Nach
Strupp, Urkunde zu der Geschichte des Völkerrechts, II, 160; der
Wortlaut der mit Italien 1882 abgeschlossenen Verträge ist nicht bekannt
gegeben worden.)
it großer Genugtuung ist in Deutschland, Österreich-Ungarn und
Italien diesmal die öffentliche Mitteilung begrüßt worden, wo¬
nach die drei Mächte die ausdrückliche unveränderte Erneuerung
ihres Bündnisvertrages bereits jetzt beschlossen haben, ohne den
früher vereinbarten Kündigungstermin erst abzuwarten. Gewiß
würde niemand im Ernst auf den Gedanken gekommen sein, daß der nächste
Kündigungstermin, der in den Sommer 1913 fallen sollte, wirklich die Auf-
lösung des Dreibundes bringen würde. Daß der Bund erneuert werden sollte,
stand für alle einigermaßen unterrichteten Kreise bereits fest. Aber es war in
der gegenwärtigen Lage nicht ohne Bedeutung, daß darüber sofort und vor
aller Welt Klarheit geschaffen wurde. Nicht etwa nur im Sinne einer poli¬
tischen Demonstration gegenüber den Gegnern des Dreibundes, die zwar
schwerlich selbst an seine Auflösung glaubten, aber es vielleicht gern gesehen
hätten, wenn die breite Öffentlichkeit darüber im Zweifel geblieben wäre. Die
Veröffentlichung der vollzogenen Tatsache war auch im entgegengesetzten Sinne
von Bedeutung. Sie schnitt unbegründete und nach verschiedenen Richtungen
hin schädlich wirkende Erwartungen ab, wonach den Dreibundmächten die Ab¬
sicht zugeschrieben wurde, daß sie Grundlagen und Ziele des Vertrages er¬
weitern wollten. Es war also wichtig, jedermann wissen zu lassen, daß der
Dreibund nicht nur überhaupt fortbestehen, sondern auf der alten Grundlage
fortbestehen werde.
Seit dreißig Jahren ist uns die Vorstellung, daß Österreich-Ungarn und
Italien unsere Verbündeten sind, so geläufig geworden, daß man erwarten
sollte, über die Besonderheiten dieser gegenseitigen Verpflichtungen könne kaum
noch ein Zweifel bestehen. Und doch kann man sich bei jedem Gespräch, das
diese Fragen berührt, selbst unter hochgebildeten Persönlichkeiten häufig genug
überzeugen, daß das durchaus nicht der Fall ist. Es ist nun einmal so: die
meisten beurteilen derartige Fragen vom Gefühlsstandpunkt. Wir Deutschen
sind ja ein so ungemein friedfertiges Volk. In einer längeren Unterredung,
die ich im Sommer 1911 mit einem jungtürkischen Politiker über die Ver¬
hältnisse der modernen Türkei hatte, gebrauchte dieser mir gegenüber u. a. die
hübsch geprägte Wendung: „I^c>u8 8vmmo8 belliquoux, msiZ nous ne voulons
MS ig, Zum-e." Ich glaube, wir können dieses Wort mit noch größeren! Recht
für uns in Anspruch nehmen. Alle weichlichen Deklamationen haben uns bis
jetzt — Gott sei Dank — den kriegerischen Sinn nicht austreiben können, und
der Gedanke eines Krieges, wenn er notwendig ist, flößt uns keine Furcht ein.
Aber wir wollen doch gar zu gern mit aller Welt Frieden haben. Darum
hören wir es besonders gern, daß wir bestimmte Mächte als unsere Freunde
betrachten können und mit ihnen im Falle eines Krieges Seite an Seite fechten
werden. Wir sind überdies vom Ausland nicht verwöhnt. Daß die Völker
im allgemeinen wenig Verständnis für einander haben und sich in den Organen
der öffentlichen Meinung gelegentlich mit allen Mitteln, die der Federkrieg an
die Hand gibt, gegenseitig heftig bekämpfen, ist ja nirgends in der Welt etwas
Ungewöhnliches. Uns Deutschen gegenüber aber tut die ausländische Presse
gern noch ein übriges, indem sie solche Fehden mit einer Gehässigkeit betreibt,
die weniger als irgendwo sonst davor zurücksehend, den Gipfel der Abgeschmacktheit
und des lächerlichen Blödsinns zu ersteigen. Wenn Blätter wie die Times,
Nowoje Wremja und Konsorten das Bedürfnis fühlen, die Leichtgläubigkeit ihrer
Leser auf harte Proben zu stellen, so ziehen sie sich anderen Ländern gegen-
über doch immer eine gewisse Grenze; Deutschland gegenüber gibt es eine
Grenze schlechterdings nicht. Bei solchen Erfahrungen genießen wir das Be¬
wußtsein, auch noch Freunde und sogar Verbündete außerhalb unserer Grenzen
zu haben, mit besonderem Wohlbehagen. Um so eher sind wir freilich auch
enttäuscht, wenn diese Freunde und Verbündeten nicht ganz den Begriffen ent¬
sprechen, die wir uns von ihrem Verhältnis zu uns gemacht haben. Es ist
deshalb wohl nützlich, einmal darüber nachzudenken, was ein Bündnis zwischen
verschiedenen Staaten überhaupt bedeutet, was es leisten kann und was es
nicht leisten kann.
Zunächst ist klar, daß die erste und oberste Rücksicht, die jeder Staat ohne
Ausnahme zu nehmen hat, in der Wahrung seines Selbstbestimmungsrechts
besteht, soweit er überhaupt Wert darauf legen will und muß, höchste irdische
Instanz zu bleiben. Mit jedem Vertrag, den ein Staat mit einem anderen
abschließt, opfert er einen Teil dieses Selbstbestimmungsrechts. Als die deutschen
Staaten zuerst im Norddeutschen Bunde, dann im Deutsche» Reich zu einem
„ewigen Bunde" zusammentraten, konnten sie das erwähnte Opfer bringen,
weil sie die geschichtliche Notwendigkeit erkannten, eine über dem Recht der
Einzelstaaten stehende Instanz, das Recht auf nationale Einheit, wieder an die
ihm gebührende Stelle zu setzen. In anderen Fällen aber ist ein Vertrag, der
unabhängige Staaten bindet, manche freie Entscheidung, besonders die über
Krieg und Frieden, bis zu einem gewissen Grade aus der Hand zu geben, eine
Sache, die in der Regel eine viel kompliziertere Erwägung in sich schließt, als
von den meisten vermutet wird. Denn die Beziehungen der Staaten zueinander
haben die Eigentümlichkeit, daß es mit dem bloßen Abmessen von Leistung und
Gegenleistung nicht getan ist. Scheinbar gleiche Verpflichtungen lösen oft über¬
raschende Wirkungen aus, und es zeigt sich dann, daß eine völlige Verschiebung
der Lage eingetreten ist, die dem einen der vertragschließenden Teile Vorteile
oder Nachteile auferlegt, an die niemand vorher gedacht hat. Es erscheint dem
Laien überaus einfach, daß zwei Staaten, die keine widerstreitenden, dagegen
mancherlei gemeinsame Interessen haben, den Beschluß fassen, gute Freunde zu
sein, und in einem Bündnis zum Ausdruck bringen, daß sie in guten und
bösen Tagen zusammenstehen wollen. Wer aber einen Begriff davon haben
will, welche Fülle von sorgfältigen und gründlichen Überlegungen einem solchen
Beschluß zugrunde liegen muß, der lese in den „Gedanken und Erinnerungen"
die Abschnitte nach, in denen Fürst Bismarck die Beziehungen des Deutschen
Reichs zu Rußland und Osterreich begründet. Bismarck war gewiß ein Freund
enger und freundschaftlicher Beziehungen zu Nußland. Trotzdem ging er auf
die scheinbar so vorteilhaften Anerbietungen des Grafen Peter Schuwalow wegen
eines Bündnisses nicht ein, weil sein scharfer Blick erkannte, daß Nußland zwar
dem Anschein nach dabei mehr einsetzte als Deutschland, in Wirklichkeit aber
Deutschland mehr festgelegt wurde, als nützlich war, und tatsächlich in eine
Abhängigkeit von der russischen Politik gekommen wäre.
Staatenbündnisse sind also alles andere eher als leichten Herzens hin¬
geworfene Bekundungen einer Interessengemeinschaft oder sympathischer Be¬
ziehungen. Sie tragen immer einen schweren, sorgfältig abgewogenen Ballast
von Verpflichtungen in sich, und der Kundige weiß, daß jeder Rechenfehler in
dieser Belastung das Fahrzeug zum Kippen bringen muß. Damit soll freilich
das Moment historischer Zusammengehörigkeit und gegenseitiger Sympathien
durchaus nicht unterschätzt werden. Es ergeben sich daraus Wirkungen für die
öffentliche Meinung, die jedenfalls wertvoll sind. Sie helfen durch die Erinne¬
rungen und Ideenverbindungen, die sie auslösen, das Werk der Staatsmänner
stützen und befestigen und lehren es besser verstehen. Ja noch mehr: ein gewiegter
Staatsmann wird überhaupt ungern Verpflichtungen von Staat zu Staat eingehen,
wenn er nicht eine gewisse Sicherheit hat, daß das Ganze nicht nur von politischen
Notwendigkeiten, sondern auch von volkstümlichen Empfindungen und Bedürfnissen,
ja sei es auch von festgewurzelten Irrtümern und Vorurteileen getragen wird.
Daß diese Regel sür unser Verhältnis zu Österreich-Ungarn zutrifft, liegt
auf der Hand. Die rein verstandesmäßige, streng politische Begründung unseres
Zusammenhaltens mit der Donaumonarchie hat mit den geschichtlichen Be¬
ziehungen eigentlich nichts zu tun. Aber es trifft sich gut und erleichtert das
politisch Wünschenswerte, daß wir in dem Staat der Habsburger aus einer
noch nicht erloschenen geschichtlichen Erinnerung heraus noch immer so etwas
wie ein Stück von unserem Vaterlande sehen, daß das Deutschtum noch immer
das kulturelle, wenn auch leider nicht mehr ganz das politische Rückgrat des
Donaustaates ist. Und wenn sich dabei auch gewisse Sentimentalitäten und
Äußerlichkeiten etwas mehr hervordrängen, als sachlich berechtigt und notwendig
ist, so braucht man darum nicht empfindlich zu sein. Es kann der Sache nur
förderlich sein, wenn die Phantasie nicht ganz ausgeschaltet wird. Man soll
nicht ängstlich rechten, wenn die Dinge gelegentlich etwas festlich ausgeschmückt
erscheinen. Man setzt sich nicht im Arbeitsanzug zum festlichen Mahl und trinkt
edlen Rheinwein nicht aus irdenen Töpfen. So sind bei geeigneter Gelegenheit
über die Beziehungen zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn schwungvolle,
die Phantasie in Bewegung Setzende Worte gefallen. Es kennzeichnet das bei
uns so zahlreich vertretene Geschlecht der Besserwisser und Pedanten, daß es
Leute gibt, die wegen dieses Beiwerks das Wesen des deutsch-österreichischen Bünd¬
nisses verkennen und allen Ernstes davor warnen, dem Verbündeten gegenüber eine
Politik im Sinne wnklicher „Nibelungentreue" zu treiben. Es würde freilich ver¬
kehrt sein, eine Politik der Nibelungentreue, d. h. eine Politik der unbedingten
Aufopferung auf Grund der einmal beschworenen Freundschaft, zu empfehlen.
Die Poütik unseres Bündnisvertrages aber ist eine streng sachlich begründete
im Sinne unserer eigenen Staatsinteressen; wir haben nur nichts dagegen,
wenn der Ernst des politischen Handelns gelegentlich begleitet und unterstützt
wird von dem Ausdruck wärmerer Empfindungen, die die Gemeinsamkeit des
Blutes und der geschichtlichen Vergangenheit nahe legt.
Wenn sich in unserem Verhältnis zu Österreich-Ungarn dieser Gemüt und
Phantasie anregende Einschlag in dem nüchternen Ernst der Staatsnotwendig¬
keiten von selber ergibt, so scheint das bei Italien etwas schwieriger zu sein,
und vielleicht ist es darauf zurückzuführen, daß unser Bund mit Italien immer
als weniger fest und zuverlässig angesehen worden ist. Es klingt immer etwas
nach einem Notbehelf, wenn im Festreden- und Begrüßungsstil auf die für
Österreich eigentlich nicht gerade angenehme Erinnerung hingewiesen wird, daß
Deutschland und Italien unter ungefähr gleichen Umständen ihre nationale
Einheit haben erkämpfen müssen.
Und diese Erinnerung ist auch für Italien nicht ganz frei von peinlichen
Momenten, da es dabei von deutschen Siegen Vorteil gezogen hat und ein großes
Volk sich nicht gern in Angelegenheiten solcher Art mit einer Dankesschuld gegen
Fremde belastet sieht. Dieses Verhältnis wird nicht erleichtert dadurch, daß die
Wesensverschiedenheit, ja man darf sagen: die Gegensätzlichkeit des Wesens zwischen
Deutschen und Italienern auch sonst das Verständnis erschwert. Man wende
nicht ein, daß ja Italien für uns das Land der Sehnsucht ist, daß die Be¬
geisterung sür das Land, wo die Zitronen blühen, seit Goethes Zeiten fast ein
Bestandteil unserer Weltbildung geworden ist. Was suchen denn neun Zehntel
unserer Jtalienfahrer und sogenannten Jtalienkenner jenseits der Alpen?
Niemand weiß das besser als die Italiener selbst: sie suchen die Kunstdenkmäler,
die Altertümer, die Zauber der Landschaft, allenfalls das Publikum der Wein¬
schenken und Vergnügungsstätten. Aber was wissen sie von dem eigentlichen
Volk, von dem Leben und der Arbeit des Volkes, von seinem Denken und
seinen Bedürfnissen, von den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen? Es
ist aus diesem Mangel um so mehr zu erkennen, daß die Sympathie und die
Befriedigung des Gesühlsmoments zwar angenehme Zugaben in den Beziehungen
verbündeter Nationen sind, aber nicht notwendige Grundlagen einer näheren
politischen Verständigung.
Nach diesen Vorausschickungen wird es möglich sein, die Frage der Bündnisse
mit Österreich-Ungarn und Italien vollständig losgelöst von jedem gefühls¬
mäßigen Beiwerk zu betrachten. Dabei scheidet von vornherein das weitver¬
breitete und volkstümliche, aber doch unrichtige Bild eines Bündnisverhältnisses
aus, das nur der Ausdruck einer allgemeinen Freundschaft und eines gegenseitigen
Wohlwollens ist. Das erste Erfordernis ist vielmehr, daß der Vertrag peinlich
genau umgrenzt, welchem Zweck das Bündnis dienen soll und welche gegen¬
seitigen Leistungen für diesen bestimmten Zweck in Aussicht genommen sind.
Damit ist zugleich ausgesprochen, daß über den Zweck des Bündnisses hinaus
kein Mitglied des Bundes von dem anderen in Anspruch genommen wird. Das
Gedeihen des Dreibunds und das lange Festhalten der Beteiligten an ihm
zeigt, wie wichtig die weise Beschränkung in den Zielen des Bündnisses ist.
Der Vertrag darf die Bewegungsfreiheit der einzelnen Staaten nicht einschränken,
er muß ihr vielmehr eine erhöhte Sicherheit geben. Darin liegt die Gewähr
für die Dauer und damit auch für den erhöhten Wert des Vertrages. Das
scheint alles beinahe selbstverständlich, und doch wird es bei den landläufigen
Urteilen über den Dreibund und die Pflichten der Dreibundmitglteder oft genug
nicht in Betracht gezogen. Für Österreich - Ungarn wäre der Dreibund nichts
wert, wenn es dadurch in der Wahrnehmung seiner Onentinteressen beengt würde;
Deutschland würde durch die Bündnisverpflichtung schwer geschädigt, wenn es
durch sie an einer freundschaftlichen Verständigung mit Nußland gehindert
würde; Italien müßte sich für eine Bundesgenossenschaft bedanken, die ihm die
Bewegungsfreiheit als Mittelmeermacht raubte. Dagegen bedingt das genau
stipulierte Zusammengehen in bestimmten Fällen ein gegenseitiges Vertrauens¬
verhältnis zwischen den beteiligten Mächten und eine klar zu umschreibende
Interessengemeinschaft, die auch auf andere politische Fragen zurückwirkt und so
eine freiwillige Erweiterung der Dreibundverpflichtung darstellt, die für die
Stetigkeit und Friedfertigkeit der europäischen Politik nur vorteilhaft sein kann.
So wenigstens hat sich die Dreibundpolitik in der Praxis gestaltet.
Man sagt, Bismarck habe 1866 den künftigen Dreibund schon voraus¬
geahnt und deshalb dafür gesorgt, daß Österreich aus dem verlorenen Feldzug
uicht das Gefühl einer seine Kriegerehre verletzenden und seine Großmachtstellung
gefährdenden Demütigung davontrage. Nach Bismarcks eigenen Schilderungen
hat ihm aber dabei weniger der Gedanke einer besonderen Verbrüderung mit
Österreich - Ungarn als vielmehr ein künftiges Dreikaiferbündnis vorgeschwebt,
eine zeitgemäße Wiederbelebung der heiligen Allianz, — befreit natürlich von
der Mystik und Romantik früherer Tage, von den legitimistischen Schrullen und
der übereifriger Bevormundungs- und Jnterventionssucht, aber doch wie ihre
Vorgängerin ein Hort der monarchischen Staatsidee gegen republikanische, radi¬
kale und sozialistische Tendenzen. Bismarck hat diesen Lieblingsgedanken nur
unvollkommen und vorübergehend ausführen können. Die Orientverwicklung der
siebziger Jahre trat dazwischen, nachdem Bismarck schon vorher durch die Mißgunst
Gortschakows in seinen Versuchen, mit Rußland in das gewünschte Verhältnis
zu kommen, bitter enttäuscht worden war. Diese Enttäuschungen häuften sich
nach den Erfahrungen des Berliner Kongresses, wo Bismarcks Versuche, Nu߬
land zur Erfüllung seiner Wünsche zu verhelfen, nur den Erfolg hatten, daß
er von den Russen zum Sündenbock ihrer eigenen Fehler gemacht wurde. Ihm
wurde es in die Schuhe geschoben, daß Rußland nach der Ansicht der pan-
slavistischen und nationalistischen Heißsporne schlecht abschnitt. Bismarck sah
sich also einer russischen Feindseligkeit gegenüber, von der er wohl erkannte,
daß sie nicht den Charakter einer vorübergehenden Verstimmung trug, sondern
ein Faktor war, mit dem man fortan rechnen mußte. Und da inzwischen die
Entwicklung der Orientangelegenheit auch einen Gegensatz oder mindestens eine
Rivalität zwischen den österreichischen und russischen Balkaninteressen geschaffen
hatte, so sah sich Bismarck jetzt in der Lage — wie er sich ausdrückte —,
zwischen Rußland und Österreich-Ungarn optieren zu müssen. Ein drohendes
Schreiben Kaiser Alexanders des Zweiten im Juli 1879 gab den Ausschlag.
Bei einer Zusammenkunft Bismarcks mit Andrasst) Ende August in Gastein
schlug die Geburtsstunde des deutsch-österreichischen Bündnisses, das dann im
Oktober formell abgeschlossen wurde. Die ganze Lage ergab den rein defen¬
siven Charakter des Bündnisses; sein einziger Zweck war die gemein¬
same Verteidigung gegen einen russischen Angriff, der damals nicht
außerhalb des Bereichs der Wahrscheinlichkeit lag. Diese plötzliche
Abwendung von Rußland und der energische Entschluß, nötigenfalls
dem angegriffenen Österreich mit der ganzen deutschen Heeresmacht beizuspringen
— ein Entschluß, den Bismarck bei Kaiser Wilhelm dem Ersten nur mit Mühe
durchsetzte —, erscheint auf den ersten Blick schwer vereinbar mit den Grundsätzen,
die der große Kanzler in seiner wechselvollen Politik sonst beständig festgehalten
hatte. Aber die wachsende Schwäche der russischen Dynastie und Negierung
gegenüber dem Panslavismus ließ damals zum ersten Male in vollem Ernst
die Möglichkeit eines Zweifrontenkrieges für Deutschland auftauchen. Schlug
Frankreich aus irgend einem Grunde gegen Deutschland los, so war bei den
nun in der russischen Politik herrschenden Grundsätzen und der Stimmung im
russischen Volk trotz der Friedensliebe Alexanders des Zweiten an eine Neutralität
Rußlands wie 1870 nicht zu denken. Das neue Bündnis sicherte für diesen Fall
die Hilfe Österreich-Ungarns. Das erschien so wichtig, daß die Gegenleistung
Deutschlands, die im Falle eines russischen Angriffes auf Österreich eintreten
sollte, kein zu hoher Preis dafür war. Vor allem aber sagte sich Bismarck,
daß Österreich-Ungarn mit seinen? starken Prozentsatz slawischer Bevölkerung der
russischen Gefahr keinesfalls auf die Dauer ganz passiv gegenüberstehen werde,
sondern daß es, falls das Deutsche Reich nicht zu haben sei, irgendeine andere
Anlehnung suchen müsse, sei es an Frankreich, sei es durch Verständigung mit
Rußland selbst oder auch durch alles beides. Die „Kaunitzsche Koalition"
nannte das Fürst Bismarck, und er fand, daß das eine sehr ernste und unbe¬
queme Möglichkeit sei. Dies war sür ihn das Entscheidende bei dem Abschluß
des österreichischen Bündnisses.
Wie man sieht, waren es gar keine gefühlsseligen Erwartungen gegenüber
dem Nachbarstaate und den Stammesbrüdern an der Donau, die das Bündnis
schufen, sondern harte, nüchterne Berechnungen der Staatsraison. Und so fiel es
Bismarck auch garnicht ein, jetzt, wo er seine Versicherungspolice gegen panslavistische
Feuersgefahr in der Tasche hatte, seine Politik gegen Rußland anders zu
orientieren, als er es sonst für nützlich gehalten hatte. Bekannt ist der „Rück-
versicherungsvertrag", den er später mit Rußland abschloß und der nur unter
der Voraussetzung denkbar war, daß das deutsch-österreichische Bündnis nur
in der strengsten Beschränkung auf den vereinbarten Bündnisfall zur Aus¬
führung kam, jede irgend weiterreichende Annäherung zwischen Deutschland
und Österreich-Ungarn aber ausschloß. So war es allerdings die Absicht
der Politik Bismarcks, der sich durchaus die Bewegungsfreiheit gegenüber Ruß
land nicht stören lassen wollte. Man hat später den neuen Kurs scharf ge¬
tadelt, daß er den Rückversicherungsvertragj mit Rußland fallen ließ. Heute,
wo man in allen diesen Verhältnissen klarer sieht, wird man dieses Urteil
wohl modifizieren müssen. Daran kann auch nichts ändern, wenn eine
neuerliche „Enthüllung" von einer Seite, die sich auf Mitteilungen des Fürsten
Herbert Bismarck beruft, kürzlich den Tadel der „Verständnislosigkeit" in
noch schrofferer Form gegen den Grafen Caprivi erhoben hat. Heute sind
mindestens starke Zweifel gestattet, ob man damals, nach der inzwischen ein¬
getretenen Entwicklung auf russischer Seite, wirklich so bereit war, den Vertrag
zu erneuern, ob nicht vielmehr die beiden Bismarcks, Vater und Sohn, einer
Selbsttäuschung unterlagen, als sie des Kaisers Alexanders auch noch im Jahre 1890
sicher zu sein glaubten. Da beide, noch ehe die Entscheidung fiel, aus dem Amte
schieden, war ihnen eine Selbstkorrektur dieser Vorstellung unmöglich, und sie waren
zu sehr Partei, um für das Nichtzustandekommen des Vertrages einen anderen
Grund zu suchen als die Schuld Caprivis. Es sprechen sehr gewichtige Tat¬
sachen und Gründe dafür, daß die landläufige Meinung, Alexander der Dritte
habe sich erst infolge des deutschen Verzichts aus die Verlängerung des Rück-
versicherungsoertrages enger an Frankreich angeschlossen, falsch ist.
Der Anschluß Italiens an das deutsch-österreichische Bündnis war nicht
das Werk der deutschen Politik, sondern der italienischen Initiative. Die
Eroberung von Tunis durch die Franzosen hatte den Italienern klar gemacht,
daß ihre natürliche Machtstellung im Mittelmeer jederzeit durch eine Verständigung
der Westmächte gefährdet werden konnte. Italien bedürfte also eines Rück¬
halts, der ihm Sicherheit gegen Angriffe der Westmüchte, vor allem Frankreichs
gewährte. Hier bot sich der Gedanke des Anschlusses an die bereits unter¬
einander verbündeten Zentralmächte: an Deutschland, das gleichfalls durch
Angriffsgelüste Frankreichs bedroht war, einen Bundesgenossen auf dieser Seite
gebrauchen konnte, — an Österreich-Ungarn, das als Feind besonders gefährlich
werden konnte und deshalb zu einem Freunde gemacht werden mußte. Der am
20. Mai 1882 zunächst auf fünf Jahre abgeschlossene und vorläufig geheim¬
gehaltene Dreibund wurde 1887 erneuert, nachdem Crispi in Friedrichsruh
persönlich mit Bismarck verhandelt hatte und die Bestimmungen eine präzisere
Gestalt erhalten hatten. Wenn man Italiens Stellung im Dreibund richtig
würdigen will, so darf man nicht übersehen, daß seine Stellung zu Frankreich
ähnlich ist, wie die Deutschlands zu Rußland. Wir dürfen nicht empfindlich
sein, wenn man in Rom den Draht nach Paris ebensowenig abreißen lassen
will, wie wir den Draht nach Petersburg. Natürlich ist die öffentliche Meinung bei
uns verstimmt gewesen über die „Extratouren" des italienischen Bundesgenossen,
geradeso wie man in Wien über uns verstimmt war, als der Rückversicherungs-
vertrag mit Rußland nachträglich an den Tag kam. Aber Italien ist in erster
Linie Mittelmeermacht, und soweit ihm Frankreich dabei die Hand bietet, kann
es diesen Vorteil nicht abweisen. Wir haben dabei den Trost: je weiter
Italien sich entwickelt und von dem guten Willen der anderen Miltelmeermächte
unabhängig wird, desto seltener wird es in die Lage kommen, den Versuchungen
französischer Freundschaft zu erliegen, desto wertvoller wird ihm die positive
Sicherung gegen Angriffe und Übergriffe sein, die es durch das gute Schwert
der Bundesgenossen im Norden erhält. Es war deshalb zu bedauern, daß
unsere deutsche Presse zu einem großen Teil die Kurzsichtigkeit beging, aus
einer falschen Sentimentalität für die Türkei die Aktion der Italiener in Tripolis
zu tadeln. Durch die Zusage der Nichtbehinderung dieser Aktion hatten die
Westmächte Italien sich halb verpflichtet, wie wir zu unserem Schaden in
Algeciras erfahren haben. Die tatsächliche Erwerbung von Tripolis hat Italien
nach dieser Seite seine Freiheit zurückgegeben und seine Mittelmeerstellung so
weit gestärkt, daß ihm die Verständigung mit Österreich-Ungarn jederzeit vor¬
teilhafter sein muß als eine Freundschaft mit Frankreich, die für ein auf sich
allein gestelltes Italien notwendig eine Abhängigkeit von Frankreich sein muß.
Aus dem allen ist zu ersehen, daß die einfachen Grundgedanken des Drei-
bunds wirklich trotz der vielen Änderungen in den politischen Verhältnissen noch
immer ihren Wert behalten haben. Und so ist durch die lange Dauer dieses
Verhältnisses allmählich auch jene schon angedeutete Wirkung eingetreten, die in dem
Vertrage selbst nicht enthalten ist, sondern über ihn hinausgeht: daß sich nämlich
daraus ein allgemeines politisches Vertrauensverhältnis der beteiligten Regierungen
ergeben wird, das im Hinblick aus die Gegenkoalition der Tripelentente von
höchster Bedeutung geworden ist. Das wird auch allgemein anerkannt. Über¬
empfindliche nationale Politiker beklagen freilich, daß der Schwerpunkt des
Dreibundes jetzt nach Wien hinübergeglitten sein soll. Wir haben Zeiten
gehabt, in denen diese Klage berechtigter war als jetzt, als man einstmals,
etwas zur Unzeit, dem Bündnis mit Österreich den Gedanken einer allgemeinen
Verbrüderung der beiden Reiche unterlegte. Jetzt ist die Befürchtung grundlos.
Wien steht im Mittelpunkte, well zufällig eine Frage im Vordergrunde ist, die
Österreich zunächst berührt. Deshalb kann doch das politische Gewicht des Drei¬
bundes vorzugsweise in den Entscheidungen enthalten sein, die in Berlin fallen.
Wir haben allen Grund, mit der Gestaltung dieser Bundessragen zufrieden zu
sein, und wollen hoffen, daß diese Konstellation noch lange ihre Bedeutung behält.
aris im Winter 1837. Ein kleiner, elegant eingerichteter Salon,
erhellt nur durch die aus dem geöffneten Pleyelschen Flügel
brennenden Kerzen und den rötlichen Schein des flackernden Kamin¬
feuers, so daß in den dunklen Ecken des Zimmers der Raum
sich ins Unermeßliche zu dehnen scheint. In weiterem oder
fernerem Abstände um das Instrument gruppiert, eine eigenartig zusammen¬
gesetzte Gesellschaft. Wir erkennen Heinrich Heine und Meyerbeer, Franz Liszt
und Ferdinand Hiller, die polnischen Dichter Niemcewicz und Mickiewicz, den
asketisch katholischen Opernsänger Adolf Nourrit, den Maler Delacroix. von
Frauen die liebliche Gräfin d'Agonie und das klassische Profil der George Sand:
in reglos stummer Haltung scheinen sie alle unter dem Banne eines ungeheuren
seelischen Eindrucks zu stehen. Denn vom Flügel her klingen, durch ein sammet¬
weiches Spiel den Saiten entlockt, Töne von wunderbarer, nie geahnter
Schönheit, bald trostlos und todestraurig, dann wieder erblühend in heimlicher
Wonne. Und in allen Sehnsucht, Sehnsucht... Am Instrument sitzt Fr6deric
Chopin und improvisiert.................
Von den Zeitgenossen haben dem Außergewöhnlichem der genialischer
Erscheinung Chopins eigentlich nur Franz Liszt und Robert Schumann das
feinfühligste Verständnis entgegengebracht. Aber auch selbst der letztere, der
sich mit geradezu schwärmerischer Begeisterung in die Tonwerke des Kunstgenossen
versenkt, sieht sich hier zuweilen einem Problem gegenüber, das er nicht zu
lösen imstande ist. Und da vollends auf „historischem Wege" ihm ganz uno
gar nicht beizukommen und seine Kunst aus der Geschichte der Entwicklung des
Klavierstils schlechthin nicht zu erklären war, hatte man sich allmählich in der
Erinnerung seines schweren körperlichen Leidens daran gewöhnt, auch in seiner
Musik vielfach etwas Krankhaftes zu erblicken. Ein großer Irrtum. Diese
Musik ist durchaus nicht krankhaft, sondern sie ist der sublimierteste Ausdruck
eines Seelenlebens, das wiederum eine Nervenkonstrultion von unerhörter
Reizbarkeit zur Voraussetzung hat.
Wollen wir also der Psyche dieser wunderbaren Musik näherkommen, so
gilt es zuvörderst die Individualität, der sie entquoll, psychologisch zu begreifen.
Ist dies an sich schon eine sehr schwer zu bewältigende Aufgabe — was weiß
ein Mensch vom anderen? hat Goethe einmal gesagt —, so wurde sie hier über¬
haupt unlösbar durch den Anekdotenkranz und die legendären Ausschmückungen,
welche nur halb befriedigte Neugier oder bewußte Absicht allzu leicht um Leben
und Charakter eines Mannes herumzudichten pflegen, der als Künstler und
als Mensch in seiner vornehmen Zurückhaltung doppelt interessant, obendrein
von dem romantischen Schimmer des tragischen Untergangs seines einst glor¬
reichen Volkes umstrahlt war. Erschien doch noch vor etwa fünf Jahren in
„autorisierter Übersetzung" ein bisher unbekanntes Tagebuch Chopins aus den
Jahren 1837 bis 1848, als deren Fabrikantin allerdings ziemlich rasch eine
Amerikanerin Jeanne Lee ermittelt wurde, die ganz unbefangen die Herstellung
von Tagebüchern berühmter Musiker als ihre schriftstellerische, von englischen
Journalen besonders geschätzte Spezialität angab I Die schnelle Aufdeckung des
Schwindels erstickte hier schon im Keime jeden etwaigen Schaden, den das Buch
weiterhin hätte anrichten können"), erheblich länger aber hat es gedauert, ehe
man hinter eine andere Fälschung kam, die viel bedeutungsvoller geworden ist,
da sie allen früheren deutschen Chopinstudien zugrunde liegt, ja sogar der
großen, von dem Engländer Niecks verfaßten Biographie. Es handelt sich da
um die Briefe des Meisters, deren Wortlaut der polnische Chopinbiograph
Karasowski in einer fast beispiellosen Weise gefälscht, gekürzt oder umstilisiert
hat, nur zu dem Zweck, um seinen Chopin als einen Idealmenschen sehen zu
lassen, — ein Verfahren, das in der wissenschaftlichen Welt den Namen Karasowski
als den eines Verbrechers an den: heiligen Geist der Wahrheit für alle Zeilen
brandmarkt. Bernard Scharlitt gebührt das große Verdienst, diese ungeheuer¬
liche Fälschung entdeckt und die Briefe zum ersten Male nach ihrem richtigen
Wortlaut übersetzt zu haben**). Diese Briefsammlung vornehmlich, sowie die
ausgezeichneten Untersuchungen Tarnowskis und Hoesiks (im Chopinheft der
„Musik" 1908) bieten das grundlegende und reichhaltigste Material für das
Verständnis der Individualität des Tondichters, die wir, soweit es der knappe
Rahmen einer Skizze zuläßt, möglichst eingehend in den folgenden Blättern zu
charakterisieren versuchen wollen.
Um überhaupt den richtigen Standpunkt für die Beurteilung Chopins als
Menschen wie als Künstler zu gewinnen, ist zuvörderst seine polnische Abkunft
im Auge zu behalten. Alle Versuche, ihn zum Franzosen zu stempeln, namentlich
weil sein Vater in Nancy geboren wurde und Chopin selbst den wichtigsten
Teil seines Lebens in Frankreich zugebracht hat, sind völlig verkehrt. Gewiß
hat der Meister diese oder jene Äußerlichkeit von dem Volke, unter dem er zwei
Jahrzehnte gelebt hat, angenommen: gefühlt hat er sich immer als Nationalpole,
der mit leidenschaftlicher Liebe an seinem Vaterlande hing. Alles, was darauf
Bezug hat, erweckt sein glühendstes Interesse. Das Laubblättchen vom Kahlen-
berg, dem einstigen Lagerplatz des tapferen Jan Sobieski, das er seiner Schwester
schickt, der schmerzliche Ausruf am Schluß eines Briefes, in dem er auf die
Nachricht von den Vorbereitungen zum Aufstande antwortet: „Ach warum kann
ich nicht wenigstens trommeln!", der wahnsinngleiche Paroxismus der Ver¬
zweiflung in den Stuttgarter Aufzeichnungen seines Tagebuchs, als er die Kunde
vom Falle Warschaus erhalten hat — im Zusammenhang damit steht die leiden¬
schaftlich düstere L-moll-Etude aus op. 10, die künstlerische Befreiungstat aus
jener furchtbaren Stimmung, — der Brief an seinen Freund Julian Fontana
vom 4. April 1848, darin er seine feste Zuversicht auf die endliche Wieder¬
herstellung eines großen, glänzenden Polens ausspricht, alles dies gibt ein
beredtes Zeugnis für sein Polentum, nicht minder die spezifisch polnische Nörgel¬
sucht, „allem einen Lappen anzuhängen", die Mokanterie, mit der er die gesell¬
schaftlichen Kreise Berlins, Dresdens, Wiens glossiert, die häufige Anwendung
polnischer Sprichwörter und Redewendungen in seinen Briefen, der „psiakrsw-
Preuße", ein Ausdruck, wie ihn nur tödlicher Stammeshaß in die Feder
diktieren kann. Bezeichnend ist ferner im höchsten Maße das eigentümliche
Sentiment, durch das polnische Wort ausgedrückt (nicht übersetzbar, etwa
„sehnsuchtsvolle Wehmut"), die glatte Zuvorkommenheit in der Unterhaltung,
die gleichwohl nicht den geringsten Blick in das Innere gestattet, und die Tat¬
sache, daß mit Ausnahme von Jules Franchomme nur Polen zum engeren
Freundeskreise Chopins gehörten. Nein, dieser Mann war weder ein ganzer,
noch ein halber Franzose, sondern Pole bis ins Mark. Und dies echt polnische
Wesen kommt in seiner Musik da am reinsten zum Ausdruck, wo er heimische
Tanzformen verwendet, vor allem in den Mazureks und den Polonaisen, und
teilweise mit französischer Charme gemischt in den Walzern, es durchzittert als
ein leiser Unterton auch alle seine anderen Dichtungen. Eben darin liegt ein
Hauptreiz seiner Poesie. Auch die wenigen Lieder Chopins sind über polnische
Texte geschrieben, das Lied aber verlangt, wenn es wirkungsvoll sein soll, einen
nationalen Lebensquell, und Chopins Lieder sind geradezu zu Volksliedern
geworden: man singt sie in Polen, ohne daß man weiß, wer ihr Schöpfer ist.
Diesen tief nationalen Charakter der Musik Chopins hat schon Robert Schumann
erkannt: „Wüßte der gewaltige, selbstherrschende Monarch im Norden, wie in
Chopins Werken, in den einfachen Weisen seiner Mazurkas ihm ein gefährlicher
Feind droht, er würde die Musik verbieten. Chopins Werke sind unter Blumen
eingesenkte Kanonen."
Als echter Pole sah Chopin die Dinge von seinem, d. h. höchst subjektiven
Staudpunkte, was nicht dazu paßte, lehnte er einfach ab; in fremde Individualität
einzudringen, gab er sich nicht die geringste Mühe; darum hat er, der Romantiker
par sxcellenLL, zur deutschen Romantik kein Verhältnis finden können: sehn-
manu erwähnt er nur einmal in einem Geschäftsbrief an Fontana, in dem von
der Widmung einiger Werke die Rede ist; die Gleichgültigkeit, mit der er die
Sache behandelt, ist bezeichnend.
Sein Geist ist regsam und nicht ohne Teilnahme für die Zeitereignisse.
So berichtet er über die Neptunentdeckung Leverriers, über die Erfindung eines
rauchlosen Pulvers, über die politische Lage usw., man gewinnt aber aus den
Briefen doch nicht den Eindruck, daß er im eigentlichen Sinne bedeutend gewesen
sei; was wir an ihm vermissen, ist die Universalität des Interesses, wie wir
es an unseren großen Meistern bewundern müssen, und die Fähigkeit zur
Abstraktion, im Besonderen das Allgemeine zu erfassen. Sein Interesse
erscheint, soweit es sich nicht um Fragen seiner Kunst handelt, naiv,
und selbst da, wo er von Musikwerken redet, kommt er eigentlich über ein
feuilletonistisches Referat über das Tatsächliche nicht hinaus oder er begnügt
sich mit der Abgabe von Werturteilen ohne deren Begründung. Von einer
Faustaufführung in Dresden z. B. weiß er nichts weiter zu sagen als: „Eine
fürchterliche, aber großartige Phantasie", von der Gemäldegalerie nur, daß er
sie zweimal besucht habe (1829 und 1830)*), und die ungeheure Summe von
Kultur und Geschichte in den Sammlungen des Grünen Gewölbes hat ihm
gar nichts zu sagen vermocht. Er lebte eben ganz seiner Musik, d. h. seiner
Welt, der Drang nach Erweiterung und Vertiefung seiner Bildung scheint ihm
abgegangen zu sein; während seines Pariser Aufenthalts hat er kein Buch,
auch kein polnisches gelesen. Dazu scheint zu stimmen, was Liszt in seinen!
dichterisch gefärbten, überaus reizvollen und innerlich wahren Buch über Chopin
von der höflichen Gleichgültigkeit des Meisters in der Unterhaltung berichtet:
entweder hört er zu oder er geht auf die Meinung der anderen ein, nie aber
versucht er, außer bei musikalischen Kunstfragen, die seinige zur Geltung zu
bringen. Wenn also Scharlitt die Briefe Chopins an seine Angehörigen
interessante Beiträge zur Welt- und Kunstgeschichte seiner Zeit nennt, so über¬
schätzt er sie nach dieser Seite; dazu ist auch ihr Standpunkt zu subjektiv. Aber
gerade darin liegt ihr Hauptwert als autobiographische Dokumente. Hier
entschleiert der im Leben so zurückhaltende Mann, der sein Leid sorglich vor
fremden Blicken barg, im Gedankenaustausch mit seinen Familienangehörigen
oder Herzensfreunden seine Seele, und die Eigenschaften, die den Kern
seines Wesens bildeten, treten darin deutlich zutage: sein Vaterlandsgefühl,
sein tiefes Gemüt, sein hingebendes Freundschaftsbedürfnis und seine
eigentlich nie erfüllte Sehnsucht nach Frauenliebe. Aber gerade für sein
Liebesleben, in das einen Blick zu werfen von besonderem Interesse
sein müßte, bieten auch diese Briefe wenig genug; Chopin begnügt sich
da größtenteils mit Andeutungen, die zwar seinen Herzenszustand offen-
baren, wenigstens soweit es sich um seine Jugendliebe Konstanza Gladkowska
und etwas später um Maria Wodczynska handelt, uns aber doch die beiden
Frauengestalten nicht sehen lassen. Das Rührende und Heilige einer reinen
Jugendliebe, die selbst dem Herzensfreunde gegenüber sich scheut, den Namen
des „Ideals" auszusprechen, kommt so recht zum Ausdruck in einem Briefe an
Jan Maluszynski, von dem er, wie es scheint, irgendwelche besorgliche Nachricht
erhalten hat: „Eine Stelle in Deinem Briefe hat mich sehr betrübt. Ist in der
Tat wenigstens eine gewisse Veränderung eingetreten? War man nicht etwa
krank? Bei einem so gefühlvollen Geschöpfe würde ich es leicht annehmen. Doch
vielleicht schien es Dir nur so. Vielleicht war es nur der Schrecken des 29?
Denn Gott wolle verhüten, daß ich die Ursache gewesen sein soll. Beruhige sie.
sage ihr, daß so lange meine Kräfte hinreichen, daß ich bis zum Tode ... daß
ich noch nach meinem Tode meine Asche unter ihre Füße streuen werde. Doch
das ist noch zu wenig, was Du ihr sagen könntest, ich will selber schreiben."
So schreibt man nur in der holden Überschwänglichkeit eines zwanzigjährigen
Herzens. Leider sind die Briefe an Konstanz« verloren gegangen; obwohl sie
sich anderweitig verheiratet hatte, müssen sie ihr sehr wertvoll gewesen sein, da
sie sie vor ihren: Tode vernichtet hat, auf daß nicht, was nach ihren eigenen
Worten den Stolz ihres Lebens bildete, nach ihrem Tode der Neugier der Welt
preisgegeben werde. Auch der Meister hat die Schwärmerei für sie noch jahre¬
lang in seinem Herzen bewahrt. Nicht minder tief war seine Liebe zu Maria
Wodczynska. mit der er sich 1835 in Dresden verlobt hatte, aber auch ebenso
unglücklich, da Graf Wodcznnski mit Rücksicht auf den Gesundheitszustand
Chopins das Verlöbnis wieder löste. Wie Chopin diesen Schmerz verwunden
hat, darüber fehlt in den Briefen jede Andeutung. Und ebensowenig äußert
er sich über sein Verhältnis zu Madame Düdevant aliaZ George Sand, wie sie
sich als Schriftstellerin nannte, die ihn in Paris in den Bann ihrer faszinierenden
Persönlichkeit gezogen hatte. Das Verhältnis dauerte etwa zehn Jahre, von
1836 bis 1847, wo es zum Bruche zwischen beiden kam; die Ursache erfahren
wir aus den Briefen an seine Angehörigen in breiter Ausführlichkeit. Es würde
zu weit führen, auf die unerquicklichen, zum Teil skandalösen Geschichten in der
Familie der Sand einzugehen, Schuld liegt auf beiden Seiten, aber Chopin hat
sicher nicht unrecht, wenn er behauptet, daß sein Eintreten für die von der Sand
gemißbilligte Heirat ihrer Tochter Solange mit dem Bildhauer Clösinger der
Dichterin die erwünschte Gelegenheit geboten habe, die Tochter und den unbequem
gewordenen Freund loszuwerden. Kurz, der Roman endete, wie es bei zwei
im Grunde so ganz und gar nicht füreinander geschaffenen Menschen voraus¬
zusehen war, mit einer schrillen Dissonanz, und die Bitterkeit, mit der der
Meister zuletzt über die langjährige Freundin urteilt, ist vielleicht nicht immer
ganz gerecht, aber von seinem Standpunkt aus wohl erklärlich. In Liebes-
anMegenheiten war Chopin keineswegs leichtsinnig, und als er erkennen mußte,
daß e^> doch nicht Liebe im höchsten Sinne gewesen, was ihn mit Frau Sand
verbunden hatte, da bricht der Schmerz um ein verlorenes Leben mit herz¬
erschütternden! Schrei hervor, und der Rest ist trostlose Resignation. Hier möge
ein Teil des Briefes folgen, in dem der todkranke Meister von London das
Gerücht von seiner bevorstehenden Heirat dementiert, und darin zugleich seine
edle Gesinnung offenbart: „. . . Allein, selbst wenn ich mich in irgendein Wesen
verlieben könnte, das mich auch so lieben würde, wie ich es mir wünsche, so
würde ich noch immer nicht heiraten, weil wir nichts zu essen und auch nicht
zu wohnen hätten. Eine Reiche aber sucht wohl einen Reichen, und wenn schon
einen Annen, so doch keineswegs einen Krüppel, sondern einen Jungen und
Hübschen. Allein darf man Not leiden, zu zweit aber ist es das größte Unglück.
Ich kann im Spital krepieren, werde jedoch eine brodlose Gattin nicht hinter¬
lassen. Übrigens sage ich Dir das alles unnützerweise, denn Du weißt ja, daß
ich so denke. An eine Gattin denke ich also ganz und gar nicht, vielmehr an
das Elternhaus, an die Mutter, die Schwestern. Gebe ihnen Gott, daß sie
guten Mutes bleiben. Indessen — wo ist meine Kunst hingeraten? Und mein
Herz — wo habe ich es vergeudet? — Kaum weiß ich mich zu entsinnen, wie
in der Heimat gesungen wird. Die Welt entschwindet mir ganz seltsam, ich
verliere mich, ich habe keine Kraft mehr. Wenn ich mich ein wenig aufraffe,
so sinke ich dann um so tiefer. Ich klage Dir nicht, Du hast es verlangt, des¬
halb klare ich Dich darüber auf, daß ich dem Sarge näher bin als dem Toten¬
bette. Mein Gemüt ist ziemlich ruhig. Ich bin resigniert."
Reden diese wenigen Zeilen nicht Bände?
Und doch fehlte es Chopin keineswegs an Sinn für Humor. „Frohsinuig
und ein Herz voll Sehnsucht", so hat ihn ein Jugendfreund charakterisiert. Für
seinen Schwager packt er immer die neuesten Pariser Witze und Anekdoten bei
und erzählt auch sonst gern schnurrige Geschichtchen, sein mimisches Talent,
durch wenige Striche an Haar und Krawatte sein Gesicht zur beliebigen Cha-
räktermaske zu verändern, wird von verschiedenen Seiten erwähnt. Wirklichen
Frohsinn aber atmen eigentlich nur die Jugendbriefe, da kann er sich auch selbst
verspotten, im allgemeinen jedoch ist sein Humor objektiv, also Ironie, und darum
unproduktiv: vergebens suchen wir in all seinen Werken ein Stück echt Humoresken
Charakters, denn auch die „Scherzi" tragen ihren Titel zu Unrecht. Anläufe
zum Humor sind unverkennbar vorhanden, aber eben nur Anläufe, denn gar
bald schweift die Phantasie des Dichters in improvisatorischer Art anderen
Zielen zu, so daß wir mit Schumann fragen mögen, wie sich der Ernst kleiden
soll, wenn schon der Scherz in dunklen Kleidern geht. Je älter er wird, desto
schärfer tritt der sarkastische Zug seines Wesens hervor. „Liszt läßt sich in Bonn
,er lebe hoch' schreien", bemerkt er anläßlich des Beethovenfestes trocken über
die Erfolge des einstigen Freundes. Über Komponisten untergeordneter Art
kann er sich überaus drastisch äußern, z. B. ist der achtundsiebzigste Brief, an
Fontana gerichtet, in seiner bizarren Laune wirklich Lachen erregend, und
vollends groteske Formen nimmt sein Humor an, wenn er auf seine Verleb
zu sprechen kommt. Die Ehrentitel hageln da nur so: „Probst ist ein Lump,
Plenck ist ein Dummkopf! Schlesinger aber ist ein noch schlimmerer Hund! Leo
ist ein Jude, so ein Schuft! Ich werde dem Juden einen kurzen Dankbrief
schreiben, daß er ihm in die Fersen fahren wird, (er fahre ihm hin, wo es
Dir beliebt.)" und in dem vorhin erwähnten Briefe heißt es: „Mach mir einen
Diener ausfindig. Amaren Frau Leo (das erstere wird Dir gewiß angenehmer
sein, ich erlasse Dir daher das zweite, wenn Du das erste ausführst.)"
Einem so beschaffenen Humor wohnt nicht die befreiende Kraft inne, das
Gemüt eines Menschen über das Leid des Lebens zu erheben. Und Chopin
litt. An sich schon von so krankhafter Reizbarkeit, daß er mehr wie jeder andere
Mensch mit den Nerven lebte, dessen Seele schon als Stoß empfand, was anderen
kaum leise Berührung dünkte, litt er an dem heimlichen Weh um sein ver¬
lorenes Vaterland, an seiner Herzenseinsamkeit und dem Bewußtsein der steten
Zunahme seines physischen Leidens. So mußte namentlich Fernerstehenden sein
Wesen sprunghaft, launisch erscheinen, als eine Synthese von Gegensätzen, die
eben nur durch eine ihm selbst eigene Logik zusammengehalten werden. Wie
alle nervösen, feministisch angelegten Naturen, war er im hohen Maße seinen
Stimmungen unterworfen, die sich in Momenten besonders starker seelischer
Erregung zu visionären Zuständen verdichteten. Bis zu welchem Grade der
Selbstobjektivierung seine glühende Phantasie sich dann erhitzen konnte, davon
zeugt ein Vorfall während des Aufenthalts in Malorka. Frau Sand hatte
mit ihren Kindern einen Ausflug gemacht, während dessen ein starkes Unwetter
losging. Chopin war daheim geblieben, weil er sich nicht wohl fühlte, nun
geriet er in furchtbare Aufregung, er sah sie schon tot und konnte schließlich den
Traum von der Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. Am Klavier hatte er
sich beruhigt und getröstet, überzeugt, daß er selbst tot sei. Er sah sich in
einem See ertrunken, schwere eisige Wassertropfen fielen auf seine Brust, und
als Frau Sand, die inzwischen glücklich heimgekommen war, auf die gleich¬
mäßig auf das Dach fallenden Regentropfen aufmerksam machte, leugnete er
das gehört zu haben. Es ist die gleiche Erscheinung, wie sie uns schon in den
wilden Phantasmagorien seines Stuttgarter Tagebuches entgegengetreten ist. —
Dieser so eigenartige, mit einem Nervensystem von unerhörter Reizsamkeit
und einer überreichen Phantasie begabte Mensch ist nnn ein Tondichter, der schon
als Jüngling den vielleicht allzu kühnen, aber edlen Willen hat — so schreibt
er 1831 an seinen mit großer Dankbarkeit verehrten Warschauer Lehrer Elsner —,
sich eine neue Welt zu schaffen. Indem er für seine höchst differenzierten Seelen¬
zustände vollgültigen Ausdruck suchte, in einer Sprache, die imstande ist, ohne
jedes begriffliche Hilfsmittel die Empfindung an sich wiederzugeben, mußte er
zum Schöpfer einer ihm nur selbst eigenen Musik werden, bei der die völlige
Untrennbarst eines im höchsten Maße subjektiven Inhalts von der dafür
gefundenen, vielfach improvisatorischen Form sofort in die Augen fällt. In
der Tat stehen wir hier vor einer völlig neuen Kunst: neben Richard Wagner
ist Chopin der größte Revolutionär auf menschlichem Gebiete. In seiner Har¬
monik liegt bereits der ganze Reichtum der modernen musikalischen Ausdrucks¬
mittel, ein Kolorismus der Töne, wie er vorher ganz unbekannt war. Indem
er Spannungsgefühle, erzeugt durch unerhört lange tomate Schwankungen, durch
Chromatik, Modulation, Dissonanzen, in neue Spannungen übergehen läßt, erzielt
er Steigerungen von ungeahnten Dimensionen, die das von Breithaupt auf die
Chopinsche Kunst angewandte Wort „Tristantechnik" als durchaus treffend
erscheinen lassen. Seine Melodik ist von so wunderbarer Farbenpracht, von so
herzbezwingender Allgewalt und geradezu plastischer Kraft, daß Robert Schu¬
mann z. B. von den „Pr61nac8" sagen konnte: „Hier aber war mir's, als
blickten mich lauter fremde Augen, Blumenaugen, Bafiliskenaugen, Pfauenaugen,
Mädchenaugen wundersam an." Ist es nicht, als ob alle Sehnsüchte unserer
Romantik in den Poesien des slawischen Meisters in: geheimnisvollen Leben
erblühten?
Es ist die sinnvolle Schönheit in ihrer höchsten Vollendung, die uns aus
den Melodien Chopins entgegentritt, und die Anwendung der auf den sterbenden
Tizian bezogenen, musikalisch wohllautenden Verse Hugo von Hoffmannthals
auf die Musik Chopins dürfte vielleicht ganz im Sinne des literarischen Robert
Schumann sein.
Und vollends als Rhythmiker steht Chopin nahezu unerreicht da. Die
Wiedergabe der seelischen Schwingungen, der momentanen Nervenzustände durch
zeitlich fixierte Werte, die zugleich einen das Gefühl stark erregenden Empfindungs¬
inhalt besitzen, d. h. die Umsetzung der rhythmischen Gefühle in Affekte, dies
Problem hat der Meister in denkbarster Vollkommenheit gelöst. Die Mischung
verschiedener Taktarten in Triolen und Zweitakt, die eine Verwischung der
Taktstriche durch einen häufig gegen das Metrum gehenden Rhythmus des Ge¬
dankens bedingen, der plötzlich aufblitzende Perlenregen nur durch das Gefühl einzu-
gliedernder Notengruppen, welche keineswegs kapriziöse, belanglose Fiorituren
bedeuten, vielmehr innerlich wahre, den Wert der Hauptnote unterstreichende
Koloraturen sind, jenes ganze, von Liszt so ausgezeichnet definierte Rubato.
welches den Bewegungen der Blätter und Zweige eines Baumes gleiche,
während der Stamm unbewegt bleibe, kurz alle die Feinheiten, die eine spezifische
Eigentümlichkeit der Kunst Chopins sind, machen das Chopiuspiel so überaus
schwierig;*) neben hochentwickelter Technik gehört eine besonders starke Fähigkeit
des Sich-einfühlen-könnens in diese Musik dazu, in der die für die moderne
Musik so charakterische Polyrhythmie schon voll entwickelt ist, nicht etwa erst
in Anfängen sich zeigt, wie Lamprecht irrtümlich meint (deutsche Geschichte,
erster Ergänzungsband Seite 29). Sie liegt in der Struktur der ganzen Musik
schon organisch beschlossen fertig vor. — Tristantechnik.
So ist er in allen seinen Stücken ganz und einzig, und die Erhebung des
Ichs und seiner Zustände zum alleinigen und höchsten Maßstabe, dieser
Tropismus seines Schaffens, wie es Scharlitt genannt hat, der seiner Musik
eben den nur ihr eigenen, unnachahmlichen Charakter verleiht, und der ihn so
häufig die Form der Improvisation, der Skizze anwenden läßt, stempelt seine
Tondichtungen zu Tagebuchblättern, zu Bekenntnissen aller Heimlichkeiten seiner
Seele: hier schweift seine Phantasie ins Ungemessene, Ahnungsvolle und träumt
sich eine Welt zusammen von wunderholder Märchenschöne, hier weint sein
Schmerz und rast seine Verzweiflung. Und über allem Sehnsucht, Sehnsucht. . . .
Man hat Chopin mit Richard Wagner zusammengestellt (Scharlitt im Chopin-
Heft der „Musik" 1908), und in der Tat liegt ein Vergleich zwischen dem
weltenstürzenden und -erbauenden Titanen der dionysischen Kunst und dem
zarten Dichter der Nachtgesänge näher als man bei der großen Verschiedenheit
ihrer Schaffungsgebiete vermuten möchte. Nicht nur gewisse Ähnlichkeiten in
äußeren Lebensumständen und Gewohnheiten, wie sie sich bei beiden in der
tiefgreifenden Einwirkung weiblichen Einflusses, in dem Luxusbedürfnis —
das sich bei Chopin gegenüber dem Seidenrausch des Bayreuther Meisters
freilich in recht bescheidenen Grenzen hält —, in ihrer UnWirtschaftlichkeit und
der ewigen Unzufriedenheit mit dem von ihnen Geschaffenen zeigen, fordern
zur Vergleichung heraus, sondern vor allem die bei beiden Meistern in so
markanter Weise zutage tretende Reizfähigkeit ihres Nervensystems, als deren
Correlat sich der eben erwähnte Subjektivismus in ihrem Schaffen ergibt, und
die grenzenlose Sehnsuchtsstimmung, von der ihre Werke getragen sind. Das
große Sehnen, das mit dem klagenden Sextenschritt und den schmachtenden
Vorhalten und Septattorden des Vorspiels zum Wunderwerk des „Tristan" so
ergreifend anhebt und dann namentlich im dritten Akt einen wahrhaft seelen¬
erschütternden Ausdruck findet, allerdings hier noch verstärkt und bestimmt durch
das erklärende Wort der Dichtung, es durchzittert die gesamte Musik Chopins
als der geheime Ton, auf den seine Seele heimlich lauscht, in den Polonaisen
und Mazurken determinierter, in den übrigen Schöpfungen gegenstandsloser,
mystischer, aber immer unverkennbar, ergreifend. Gleich Tristan verliert auch
er sich darum so gern im „Wunderreich der Nacht", und darum weht es uns
gerade bei der Versenkung in die Nocturnes oft wie Tristanstimmung an.
Wird es dem Wagnerkenner also wohl noch auffallen, daß in der Intensität
der Wirkung Chopinscher und Wagnerscher Musik eine merkwürdige Ähnlichkeit
herrscht, ja wenn in der ersteren motivische Gebilde auftauchen, die fast wie
eine Vorausnahme der Ausdrucksweise Wagners erscheinen? In dem l'-äur-
Prölude z. B. Loges Flackermotiv, in der Kantilene des Rondo op. 1 der erste
Takt der zweiten Strophe von Walthers Preislied, in der L-moII-Etude op. 10
das drängende Sehnsuchtsmotiv des „Tristan", in der Phantasie op. 49 eine
Stelle (der Oktavengang mit der chromatischen Triole), der das Motiv der
Hoffnungsfreude im Tristan entspricht, usw.
Eine solche Feststellung ist keine Reminiszenzenjügerei — von einer Entlehnung
des einen vom andern kann ja hier gar keine Rede sein —, sondern sie dient nur
zur Hervorhebung der Ähnlichkeit der seelischen Vorbedingungen ihres künst¬
lerischen Schaffens. Auffallend aber ist es dagegen, daß gerade Karl Lamprecht,
der die Zusammenhänge zwischen den psychologischen Grundlagen der einzelnen
Kulturzeitalter und deren Äußerungen in Kunst und Wissenschaft aufzudecken
sich bemüht, in seinem Geschichtswerk an Chopin mit flüchtiger Namensnennung
vorübergeht: ein schlagenderes Beispiel für die künstlerischen Ausstrahlungen
der von ihm so ausführlich behandelten Reizsamkeit hätte er nicht finden können.
Allerdings ist Chopin kein Deutscher, Liszt aber auch nicht, und tritt der
Einfluß des Meisters auf die Entwicklung unserer modernen Musik auch nicht
in dem Sinne zutage, daß er das Haupt einer Schule geworden ist, — das
ist bei der ganzen Art seines im höchsten Maße subjektiv und national ge¬
haltenen Schaffens gar nicht möglich — so besteht er gleichwohl. Unsere ganze
moderne Klaviermusik steht im Banne der Nachwirkung seiner Persönlichkeit;
man denke dabei nicht bloß an die zahllosen äußerlichen Nachahmungen seiner
Nocturnes oder Walzer, die ganze Technik des Klaviersatzes, die Ausdrucks¬
mittel des Klaviers sind durch ihn in gleicher Weise bereichert worden wie die
des Orchesters und Musikdramas durch Liszt und Wagner. Und wo trotz
ausgesprochener Individualität eine gewisse innere Verwandtschaft mit dem
Meister vorhanden ist, wie bei Moritz Moszkowski, Xaver Scharwenka und
Eduard Schütt, bei dem man allerdings von seinem gemütvollen, echt deutschen
Humor absehen muß, da ist eine Kunst von außerordentlicher Feinheit der
Linien und wundervollem Gehalt entstanden, namentlich in der Musik Schnees,
den man mit weit größerem Recht einen modernen Chopin nennen könnte als
Eduard Grieg trotz des überstarken nationalen Einschlags in seinen Kompositionen.
Und das andere Band, das Chopin mit der deutschen Musik verknüpft, heißt
— Bach. Er spricht in den Briefen nie über ihn aber wir wissen von anderer
Seite, wie eng sein Verhältnis zu dem Altmeister war. An Bach ist er durch
seinen Lehrer Elsner geschult worden, ihm verdankt er die strenge künstlerische
Disziplin, an Bach gemahnt auf Schritt und Tritt die Polyphonie seiner
Schreibweise und Bach spielte er, wenn er sich auf ein Konzert vorbereitete.
So haben also auch wir einen gewissen Anteil an ihm. Es gibt wohl
kein deutsches Haus, wo gute Musik gepflegt wird, in dem nicht der größte
polnische Tondichter seinen herzbezwingenden Zauber ausübte, in seinen
Harmonien den die Völker trennenden Gegensatz auflösend in den Frieden, der
höher ist als selbst die Vernunft, den sein ruheloses, armes Herz auf Erden
vergeblich gesucht hat.
! arna gilt den Menschen der Völkerfriede als eins der höchsten
Entwicklungsziele der Menschheit? Weil es, wie man sagt, ein¬
leuchtet, daß er von der Zweckmäßigkeit, der Moral und der
Religion gefordert wird.
^ Von der Zweckmäßigkeit: kein Krieg ohne Menschen- und
Gütervernichtung, ohne Vernichtung stofflicher und geistiger Werte. ES mag
zwar Fälle geben, in denen ein solches Vertilgen in kleinerem oder größerem
Umfange für die Entwicklung zweckmäßig ist. Das ließe sich aber besser syste¬
matisch nach Gesetzen regeln als durch den Krieg; denn der vernichtet ja doch
nur blind Faules und Gesundes, Schwaches und Starkes zugleich, oft genug
uur das Gesunde und Starke. Wie aber, wenn man fragt: wonach wäre zu
entscheiden, was vertilgt werden muß? Wir halten heute den Untergang der
antiken Welt zumeist für notwendig und durch die folgende Entwicklung gerecht¬
fertigt. Man kann freilich auch da zweifeln: tun wir es mit Recht? Genug,
wir tun es. Aber man setze: nicht die rohe Kraft von Barbarenhorden, sondern
Seneca hätte darüber zu entscheiden gehabt, ob die Ausrottung der griechisch¬
römischen Kultur bis an die Wurzeln nötig wart — — Wer will heute sagen,
ob nicht eine höhere Zweckmäßigkeit die Vernichtung der gegenwärtig herrschenden
Völker und ihrer Kultur fordert? Man antwortet: ist diese faul, so wird sie
von selbst auch im Frieden zugrunde gehen. Aber angenommen, es herrsche
wirklich der allgemeine Friede, kein Volk überschreite seine einmal gezogenen
Grenzen und mache sich andere Völker Untertan wie Preußen, Österreich und
Rußland sich Polen Untertan machten — von woher soll dann der neue Auf¬
trieb der Entwicklung in das große Absterben und Verkommen gebracht werden?
Man kann gewiß im einzelnen Falle sagen: ein Krieg zwischen Großbritannien
und dem Deutschen Reich sei unzweckmäßig, weil er Werte austilge, deren
Vernichtung in keinem Verhältnis stehe zu den: möglichen Siegespreis. Dann
setzt man eben als Maßstab des Zweckmäßigkeitsurteils voraus, daß der Bestand
gewisser Werte wünschenswert sei, nämlich derjenigen, die durch das Neben¬
einanderleben der beiden Völker gegeben sind. Man kann aber gedanklich den
Standpunkt höher und immer höher wählen und damit schließlich alle bestimmten
Werte und Zwecke und mit ihnen dann alle bestimmten Maßstäbe in Frage
stellen. Welchen Standpunkt ich auf dieser Leiter einnehme, hängt ab erstens
von meinem Willensentschluß, zweitens davon, welche gegenwärtigen und zu¬
künftig zu erwartenden Tatsachen sich mir als Grundlage meines Urteils auf¬
drängen. Wählen wir beispielsweise als Standpunkt den höchstmöglichen:
die Aufwärtsentwicklung der ganzen Menschheit oder gar des Kosmos. Dann
kann man entweder davon ausgehen, daß ein Faulwerden unserer Kultur
möglich oder wahrscheinlich sei. Alsdann würde die Ausschließung eines Krieges
jede Aufwärtsbewegung abschneiden, ein ewiger Friede wäre also unzweckmäßig.
Oder man ist überzeugt, daß wir auf dem geraden, untrüglichen Weg zum
höchsten Ziele sind und daß ein Irrtum ausgeschlossen ist. Dann wird man
den Krieg als entwicklungshindernd bekriegen. Nimmt man weiterhin als
Standpunkt die Entwicklung einer bestimmten Kultur, einer Rasse, eines Volkes,
einer Stadt oder bestimmter Persönlichkeiten, so lassen sich die Schlußfolgerungen
auf Grund jener beiden Tatsachen-Voraussetzungen beliebig nach der einen oder
anderen Seite hin ziehen. Das besagt: mit dein logischen Denken allein läßt
sich ohne Selbsttäuschung garnichts Festes über die Zweckmäßigkeit des ewigen
Friedens ausmachen. Welchen Standpunkt man einnimmt und welche Tatsachen
man seinem Urteil zugrunde legt, hängt ab von der Eigenart des Urteilenden
sowie von den Einzelerfahrungen, auf Grund deren er verallgemeinert. Andere
werden ihm immer Verallgemeinerungen anderer Einzelerfahrungen gegenüber¬
stellen können. Mit der bloßen Zweckmäßigkeit ist es also nichts.
Nun aber fordert die Moral den ewigen Frieden! Sowohl, heißt es, die
Moral der einzelnen wie die der Völker als Gesamtkörper (Kollektivindividuen).
Bleiben wir zunächst bei jener. Da kommt in Betracht einmal der Krieg als
sittenverderbendes Milieu für den einzelnen und zum anderen die beiden Gebote:
du sollst deinen Nächsten nicht schädigen und töten, und: du sollst deinem
Nächsten, es sei Freund oder Feind, Gutes erweisen. Der Behauptung, daß
der Krieg Laster erzeuge, kann man die Behauptung entgegenstellen, er erzeuge
Tugenden. Der eine neigt mehr dazu, die eine, der andere, die andere Seite
zu sehen und zu betonen. Und will man schließlich diese Dinge quantitativ
betrachten und gegeneinander abwägen, so macht man sich damit an eine im
Grunde unlösbare Aufgabe. Tugenden und Laster gedeihen im Kriege wie im
Frieden; es kommt nur auf die Menschen an, die Krieg führen oder die im
Frieden leben. Anders ist es mit den eindeutigen Geboten unseres sittlichen
Gewissens. Verbietet mir das, jemanden zu töten, gebietet es mir vielmehr,
jedermann nach meinen Kräften zu fördern — und ich kann nicht umhin an¬
zuerkennen, daß es so ist — dann ist der Krieg unsittlich, weil er das Gegen¬
teil verlangt. Man sucht wohl den klaren Befehl des Gewissens zu umgehen
und doch sittlich zu bleiben, nämlich: würde ich den Gegner nicht töten, so
würde er mich und meine Angehörigen oder viele meiner Volksgenossen töten;
ich würde also, wenn ich den Gegner nicht umbrächte, indirekt andere um¬
bringen. Aber nicht, was ein anderer tun würde oder tut, ist für meine
Sittlichkeit maßgebend, sondern allein der Befehl meines sittlichen Gewissens
ohne jede Hypothese und Konsequenzmacherei.
Fassen wir nun die Völker als Gesamtkörper auf und übertragen wir das
sittliche Gebot des einzelnen Gewissens auf sie, so würde es heißen müssen:
ein Volk soll nicht das andere schädigen oder vernichten, und ein Volk soll dem
anderen, es sei ihm freundlich oder feindlich gesinnt, Gutes erweisen. Da
aber erhebt sich die Frage: haben wir ein Recht zu dieser Übertragung eines
sittlichen Gebotes, das für den einzelnen gilt, auf eine Volksgemeinschaft? Der
Einwand: mit der Befolgung dieses Gebotes würde sich ein Volk zugrunde
richten, gilt ethisch nicht: das sittliche Gebot bleibt sür den einzelnen Gebot,
auch wenn es ihn zugrunde richtet, warum nicht ebenso für ein Volk? Die
Folgerichtigkeit ist unbestreitbar, aber das Recht, sittliche Verpflichtungen des
einzelnen auf Völker zu übertragen, kann bestritten werden. Und diese Frage
kann man nur lösen, wenn man sich darüber klar wird, was unter „Volk als
Gesamtkörper" zu verstehen sei. Man kann ein Volk auffassen als letzte, rein
naturhafte Einheit, innerhalb deren wohl für die einzelnen Teile rechtliche und
ethische Normen (gewissermaßen als biologische Zweckmäßigkeitsregeln) bestehen,
die aber nach außen hin lediglich ein Stück Natur bedeutet, allein dem Natur¬
ablauf unterworfen. Das Volk „soll" nicht dieses oder jenes in einem weiteren
Zusammenhang darstellen, es genügt, daß es ist, um so zu sein, wie es ist.
Es ist wie der Stein, der Baum, der Planet auch und folgt wie sie nur den
Seinsgesctzen. So angesehen hat das Volk als Ganzes keine ethischen Ver¬
pflichtungen. Doch man kann die Völker wiederum einer höheren Einheit, der
Menschheit, unterordnen und, wenn der Zweck der Menschheit als ein ethischer
angenommen wird, die Völker durch ethische Normen binden. Dann fragt sich,
ob es zwei Ethiker gibt, eine für Völker und eine für einzelne Menschen, oder
ob beide durch die gleichen Gebote verpflichtet werden. Zwei verschiedene
Ethiker würden voraussetzen, daß es neben dem Einzelgewissen auch ein Volks-
gewissen gibt, welches andere sittliche Gebote bewußt werden läßt wie das
einzelne Gewissen. Das ist eine ernste Frage, die sich nicht durch bloße
Meinung entscheiden läßt. Man kann aber von vornherein sagen: gäbe es
zwei Ethiker, so wäre für den einzelnen Volksangehörigen der Widerstreit
gegeben: soll ich meinem persönlichen Gewissen gehorchen und nicht in den
Kampf ziehen oder soll ich der Pflicht meines Volkes gehorchen und das Gewehr
nehmen? Was von beiden verpflichtet am meisten? Nimmt man aber eine
einzige Ethik an, so wendet sie sich, das ist mir zweifellos, gegen den Krieg.
Lassen wir diese Fragen offen und wenden wir uns den Forderungen der
Religion zu. Jahwe befiehlt den Juden, andere Völker zu unterwerfen, Allah
befiehlt den Gläubigen, die Ungläubigen zu unterwerfen. Einmal wird der
Kampf einem Volke, das andere Mal einer Religionsgemeinschaft gepredigt.
Der Gott-Vater Jesu — er ist wohl zu unterscheiden von dem Gott einzelner
christlicher Konfessionen oder bestimmter Entwicklungszeiten der Konfessionen —
hat sich weder an ein besonderes Volk, noch an eine begrenzte Gemeinschaft
gewendet, sondern an jeden einzelnen Menschen in der Menschheit. Für diesen
hat er die sittlichen Gebote sanktioniert. Wenn die Menschen den Worten Jesu
in allen Stücken gehorchten, so wäre es ihnen unmöglich Krieg zu sühren.
Wenn sie aber beides zugleich wollen, so stellen sie eine Reihe von Gedanken
dazwischen: sie „lösen die Widersprüche", sie „Harmonisieren", sie schieben mit
den einzelnen Gedanken die Gefühle der Zustimmung und Mißbilligung hin und
her, bis jene harmonische Dämmerung eintritt, die sich in dem Urteil äußert:
so ungefähr kann man beides vereinigen.
Wer dem sittlichen Gesetz in sich und dem Gebot der christlichen Religion
gehorchen will, muß den Krieg verurteilen. Dies erscheint mir ganz klar, und
doch — wer fühlt sich bei dieser Erkenntnis völlig beruhigt?
Wenn ich erfahre, daß mein Volk von einem anderen beleidigt oder
bedrängt wird, dann fahre ich auf. Warum? Ich selbst bin nicht beleidigt,
ich selbst empfinde nichts von dem Druck, ja ich habe vielleicht sogar wirt¬
schaftliche Vorteile davon. Dennoch fahre ich auf und empfinde den Gegner
meines Volkes — nun zwar nicht auch als meinen persönlichen Gegner,
aber — eben als Gegner meines Volkes. Und dies allein genügt, mich in die
Stimmung des Sich-wehren-wollens zu versetzen. Ferner: wenn ich auf das
innere Verhältnis achte, das ich zu meinem Volke habe, so entdecke ich darin
als wesentlich das Gefühl des Stolzes. Vielleicht nicht so sehr des Stolzes
auf seinen Zustand, als vielmehr des Stolzes auf die in ihm liegenden Mög¬
lichkeiten und auf seine Bestimmung. Die Willensrichtung dieses Gefühls läuft
da hinaus: ich will, daß mein Volk das stärkste, mächtigste und beste unter
allen Völkern sei oder werde. Was dieser Erwartung zuwiderläuft, schmerzt
mich; was ihr entspricht, freut mich. Es ist nicht anders wie bei einem richtigen
Jungen: er will der größte, stärkste und klügste werden. Stößt er an Grenzen
oder an Widerstände, die stärker sind als er, so empfindet er Schmerz und
Scham. Mit dem Reifwerden freilich übersieht er die Grenzen, bemerkt, daß
er in gewissen Richtungen nicht mehr wachsen und sich entfalten kann, und nun
wirft er seine Kräfte mit Bedacht in die Richtungen, in denen er weiterhin
wachsen kann. Aufhören und nachlassen wäre Krankheit. Hat er aber alle
Möglichkeiten erschöpft, so ist er „vollendet", das heißt: er ist nun entweder
der stärkste und beste, oder er hat sich dabei beschieden, es nicht zu sein, weil
er es nicht sein kann. Ebenso können Völker sich bescheiden in der klaren Er¬
kenntnis, daß ein weiteres Rennen über ihre Kräfte geht. Sie sind „müde"
und in ihren Möglichkeiten „erschöpft". Das bloße Dasein und Sich-wiederholen
hat vielleicht eine Zeitlang noch Wert für andere, doch nicht mehr für sie selbst.
Wenn ich aber nun will, daß mein Volk das mächtigste und tüchtigste sei, und
wenn ich weiß, daß es das noch nicht ist, so muß ich wollen, daß es das
werde, wenigstens in den Richtungen, in denen es das werden kann. Dieses
Streben und Sich-bäumen ist das unmittelbare Bewußtsein des Lebenstriebes
selbst, der da werden und wachsen läßt den einzelnen wie das Volk. Hört
dieses Streben auf, oder töte ich es aus irgendwelchen Verstandesüberlegungen
künstlich ab, so muß damit auch jener Trieb, jener Drang zur Entfaltung des
Lebens ein Ende finden. Es hat keinen Sinn mehr, Zwecke und Ziele zu
setzen, es hat keinen Sinn mehr, Ideale zu haben; denn es kann ja nichts
mehr sein oder anderes sein als da ist. Das Volk wäre nur ein Mechanismus,
der in sich abläuft — bis vielleicht auch die Feder erlahmt und das Räder¬
werk stillsteht.
Der unmittelbare Lebenstrieb, der sich in dem Willen äußert, stärker und
mächtiger zu werden, andere sich Untertan zu machen, ist es, der allen Kampf
heraufbeschwört, auch den Krieg. Er lebt in dem kräftigsten Volk der Welt als
der Trieb, das stärkste sein zu wollen. Erst wenn seine Lebenskraft in irgend¬
einer Weise versiegt oder wenn es die Unmöglichkeit seines Wollens klar erkennt,
wird es sein Wollen umbiegen in eine andere, vielleicht rein geistige Richtung,
in der es noch zu wachsen und andere zu überflügeln vermag. Das deutsche
Volk hat keinen Grund dazu. Es darf nicht allein im Reiche des Geistes das
erste Volk sein wollen, es darf wünschen — so empfinde ich es —, daß seine
Sprache die Welt beherrschen, daß seine Waffen unbezwinglich, daß sein Wort
das Wort des Herren sein soll. Das ist nicht ohne Unterdrückung, ohne Kampf,
wohl auch nicht ohne Krieg möglich, denn andere Völker erheben die gleichen
Ansprüche. Soll es nun darum verzichten? Es würde damit- den Lebens- und
Machtwillen der anderen nicht eindämmen. Ist dieser Wille unsittlich? Dann
ist der innerste Lebenstrieb die Quelle des Widersittlichen. Wir ständen vor
dem „radikal Bösen" unserer Natur, wie Kant es nennt, vor einer Verderbtheit,
die schon im Keime alles Werdens und aller Entwicklung steckt.
Wenn wir diesen merkwürdigen Widerspruch untersuchen wollen, so können
unsere Gedanken zwei Wege einschlagen. Einmal: ist dieser Lebens- und Macht¬
wille, dieser wurzelhafte Egoismus nicht selbst ein sittliches Gut? Und zweitens:
ist er nicht die Voraussetzung aller Sittlichkeit, ohne die alles Sittlich-sein un¬
möglich ist? Gelingt eine solche Rechtfertigung, so ist damit auch die Recht¬
fertigung des Krieges gelungen.
Daß das Leben und damit der Wille zum Leben an sich ein sittliches Gut
sei, wird von modernen Ethikern behauptet, merkwürdigerweise just auch von
solchen, die gegen den Krieg zu Felde ziehen. (Es ist kaum ein ärgeres Hin-
und Herstolpern denkbar als in den ethischen Gehversuchen unserer Monisten.)
Religiös bestimmte Ethiker, die das absolute Gut jenseits der Sphäre alles
Lebens verlegen, werten das Leben nur als Mittel oder lassen es überhaupt
nicht als irgendwie wertvoll gelten. (Buddhismus und Christentum.) Unser
unmittelbares ethisches (nicht Lebens-) Empfinden und unsere ethische Praxis
gibt diesen letzteren recht: wir werfen in der Tat das Leben für andere Menschen,
für Ideen, ja für Phantome hin und empfinden das als sittlich. Wenn dann
die Nationalisten des Militarismus und des Eudämonismus kommen mit den
Erklärungsversuchen: durch das Opfer eines einzelnen Lebens oder Glückes würde
ein größeres Quantum oder eine höhere Qualität anderes Glückes erhalten und
dadurch die Gesamtsumme oder Gesamtintensitüt gesteigert, so ist das doch nur
eine Verlegenheitsausrede. Wo ist denn die Steigerung, wenn ein Jüngling sich
für eine achtzigjährige Greisin opfert oder wenn ein Soldat einen verlorenen
Posten verteidigt? Man fagt auch wohl: die Schätzung der reinen Gesinnung sei
sekundär, das Primäre sei die Schätzung des Erfolges, das Gefühl der Schätzung
sei nach den psychologischen Analogien im Laufe der Entwickelung vom Erfolg
auf die den Erfolg verbürgende Gesinnung hinübergeglitten und hafte nun an
dieser Gesinnung, auch wo sie nicht mehr Erfolg verschaffe. (Simmel, Einl.
in die Moralwissenschaft.) Dieser Kausalnexus ändert nichts an der Tatsache,
daß wir eben die Gesinnung als sittlich schätzen und nicht den Erfolg. Die
zeitlich-kausale Reihenfolge bedeutet keine Wertung. Wir schätzen nicht das
Leben und den Erfolg als ein möglichst hohes Quantum oder eine möglichst
hohe Intensität des Lebens, sondern etwas, das über dem Leben steht.
Aber wir bemerkten schon: wenn wir diesen Trieb des Lebens und Wachsens
nicht hätten, könnten wir nicht anders sein wollen als wir sind, könnten wir
uus keine Ziele setzen, die über dem gegenwärtigen Dasein und So°sein stehen.
Es gäbe für uns kein Hinauf und kein Hinab. Daß heißt: es wäre ein
ethisches Verhalten unmöglich. Ohne Irrtum gäbe es keine Wahrheit, sondern
nur Seiendes und Seins-Gesetze. Ohne Unsittliches gäbe es kein sittliches,
sondern nur Dasein. Ohne diesen Zwiespalt gäbe es nur Naturgesetze, keine
Normen. Diese Spaltung im Urgründe unseres Wesens, diese Quelle des
Schmerzes ist der Punkt, wo Natur und selbständiges Bewußtsein sich scheiden.
Die Natur fließt weiter dnrch das seiner bewußte Ich und behauptet ihre
Gesetze. Aber die Kreatur lehnt sich auf wider dieses bloße Dasein und seine
Gesetze. So muß ich Streit und Krieg wollen, damit ich Frieden suchen kann.
Ich muß mich selbst behaupten und durchsetzen, damit ich mich opfern kann.
Was hilft es mir, wenn der eine mich aufruft: der Egoismus ist der ur¬
sprüngliche Grnndtrieb unserer Natur, der Altruismus nur seine psychologische
Verfeinerung; jener also hat den Vorrang, ihm vor allem mußt du gehorchen.
Und der andere: der Egoismus ist der rohe Urtrieb, erst mit der Entwicklung
des Altruismus hebt das sittliche Leben an, dieser also ist für dich maßgebend.
Das sind Schlüsse aus zufälligen Gefühlsbetonungen. Ich muß leben und
wachsen wollen, und ein Volk muß nach Macht streben über die anderen, das
ist die Bestimmung des Lebens. Und doch darf mir und darf dem Volke
Leben und Macht nichts gelten, denn nach der sittlichen Bestimmung ist kein
Leben sür sich, sondern für anderes. „Kein Erschaffner hat dies Ziel erflogen,
über diesen grauenvollen Schlund trägt kein Nachen, keiner Brücke Bogen,
und kein Anker findet Grund."
ismarck betrachtete die Kolonien völkerrechtlich und staatsrechtlich
als Ausland. Nur auf dem Gebiete des Missionswesens machte
er eine Ausnahme: zum Leidwesen des ultramontanen Deutsch¬
lands brachte er hier die heimische Gesetzgebung zur Durchführung.
In diesem Punkte wirkten parteipolitische Verhältnisse, die aus
dem verflossenen Kulturkampf hervorgewachsen waren, ausschlaggebend. Als
nämlich zwei französische Misstonare deutscher Abkunft, die einer demi Jesuiten¬
orden verwandten Pariser Kongregation angehörten, bei dem Auswärtigen Amt
um die Erlaubnis nachsuchten, in Deutschland ein Missionshaus zur Erziehung
von Missionaren für die deutsch-westafrikanischen Kolonien errichten zu dürfen,
da verweigerte er diese. Die Missionare beriefen sich bei ihrem Gesuch auf
Artikel sechs der Kongoakte, die, unter Bismarcks Leitung entstanden, Freiheit
der Religionsausübung gewährleisteten; Bismarck aber stützte sich auf das
Gesetz vom 13. Mai 1873, das auch allen der „Gesellschaft Jesu" verwandten
katholischen Orden die Niederlassung auf deutschem Boden untersagte. Bismarck
befürchtete einen Versuch der Jesuiten, auf dem Umwege über die Kolonien
heimlich nach Deutschland zurückzukehren. Im übrigen blieb ihm die An¬
gelegenheit, die in der katholischen deutschen Welt viel Staub aufwirbelte
(Artikel der Germania vom 27. Oktober 1885: „Was man bei uns unter
Religionsfreiheit versteht"), eine internationale und nicht eine konfessionelle.
Bei Beantwortung der sogenannten „Jnterpellation Reichensperger", die
anfragte, ob die Ausschließung der Jesuitenmission und mit ihr jeder katholischen
Missionstätigkeit beschlossene Sache sei, erkannte Bismarck zwar die Parität der
Bekenntnisse wie in der Heimat so auch für die Schutzgebiete voll an: er habe
nichts gegen deutsche Katholiken und hielte nicht allein evangelische Einrichtungen
für „identisch mit deutsch", wenn er auch eine Trennung der verschiedenen
deutschen Misstonsgebiete nach Konfessionen mit Rücksicht auf die Priorität
ihrer Entstehung um des konfessionellen und politischen Friedens willen wünsche,
aber die Zulassung fremdländischer Missionen müsse er ablehnen. Dabei berief
er sich auf das Vorbild anderer Mächte, besonders Englands, das den Toleranz¬
artikel sechs der Kongoakte auch nicht auf seine Kolonien anwandte, also fremde
Missionen darin nicht duldete und sogar seine eigenen Missionen aus Gebieten,
die an andere Staaten abgetreten wurden, auf dem Wege des Verkaufs an
die Missionen des neuen Schutzstaates zurückzog. Bismarck befürchtete von
Missionen fremder Staatsangehörigkeit Beeinflussung der Eingeborenen zu
politischen Zwecken in antideutschem Sinne, im übrigen wollte er keinen Staat
im Staate dulden. Den Jesuitenorden aber schloß er ganz speziell nach dem
Prinzip der Maigefetze aus, die für ihn, wie alle Gesetze, unübersteigliche Barrieren
waren, weil jener es verstehe, mit der Macht zu gehen und, diese sich, wenn
man Bismarcks Gedankengang ergänzt, in den deutschen Schutzgebieten nicht
bei dem mit der Kolonisation erst eben beginnenden deutschen Reiche, sondern
bei dessen politischen Feinden befinden würde. (Reden Band XI S. 244 bis
297.) In der Tat mußte die kosmopolitische, vaterlandslose Gesinnung d?r
Gesellschaft Jesu in der „exponierten Stellung" der Kolonien verhängnisvoll
wirken. Diese Besorgnis war aber besonders berechtigt, wenn, wie im vor¬
liegenden Falle, die dem Jesuitenorden verwandte Mission einem fremdstaatlichen
Orden unterstand, den Befehlen von dessen Zentrale gehorchen mußte und somit
die Macht eines fremden Landes (hier Frankreichs!) zu politischer Wühlarbeit
verwenden konnte.
Lag es auch nicht in Bismarcks Plan, andere, den Jesuiten nicht ver¬
wandte Orden der katholischen Mission aus den Kolonien auszuschließen, so
erwies sich die Bedingung, daß sie keinen Zusammenhang mit dem Jesuiten¬
orden haben durften, doch als ein zweischneidiges Schwert: ein solcher Zusammen¬
hang konnte auf Wunsch immer nachgewiesen werden. Das machten die Ultra¬
montanen sich zunutze. Windthorst behauptete, geschickt manövrierend, mit dem
Ausschluß „der katholischen" Orden sei die katholische Mission überhaupt in:
disparitätischen Sinne behandelt, und brachte damit den Kanzler nur allzu leicht
zum Entgleisen auf die vom Zentrum vorbereitete Bahn. Bismarck entgegnete
gereizt, die katholische Kirche besitze genügend Kräfte in Parlament und Presse,
die eine „traurige Beschäftigung im Kulturkampf und in der Hetze" fänden, Kräfte,
die sie besser in der Mission verwenden könnte. Damit hatten die Zentrumspolitiker
das Spiel gewonnen: Bismarcks nur wenig verhüllter Wunsch, die katholische Kirche
möge mit ungeschulten Kräften der Mission dienen, kam einer Ausschließung
jeder katholischen Mission gleich, denn diese ist ohne Orden ebenso undenkbar,
wie der evangelische Missionar ohne die heimische Organisation. Mit Berufung
auf Bismarcks eigene Worte konnten sie nun die disparitätische Behandlung
ihrer Konfession auch für die Kolonien behaupten, wenn Bismarck auch gegen
eine solche „Ungeheuerlichkeit" sich auf das bestimmteste verwahrte. Die gefähr¬
liche Behauptung der Ultramontanen, daß einer Bekehrung der Schutzgebiete
durch katholische Missionare das böse protestantische Kaisertum im Wege stehe, schien
sich nach ihrer Auffassung bewahrheiten zu wollen. Zwar hatte Bismarck dem
Zentrum dergestalt ein weiteres Mittel zur Erneuerung des Kulturkampfes in die
Hand gegeben, aber auf die Kolonialpolitik konnte es keine Anwendung mehr finden,
da diese zurzeit der besprochenen Debatte in ihrem wesentlichen Teile abgeschlossen
war. Aller Macht der ultramontanen Partei zum Trotz erreichte er. daß während
seiner Kanzlerschaft ihr Wunsch nach Aufhebung des Jesuitenparagraphen und
Anwendung des Toleranzartikels der Kongoakte auch auf die deutschen Schutz¬
gebiete vom Reichstag in den Sitzungsperioden von 1837 bis 1890 noch
dreimal abgelehnt wurde.
Näher und näher rückt die Mitternacht, und nun wird der Junge vom Ent¬
setzen förmlich geschüttelt. Er erinnert sich all der Gespenstergeschichten, die er
von je gehört. Wie die Diebe Punkt Zwölfe aller Nacht die Ruhe ihres Grabes
verlassen und zur Strafe für ihr Vergehen friedlos durch die Friedhofswege gehen
müssen, die Augen zu Boden gesenkt, als suchten sie Verlorenes. Wie da die
geizigen Bauern auferstünden, den Kirchhof verließen und hinauseilten auf den
Acker des Nachbarn, dessen Grenzstein sie zu eigenen Gunsten verrückt haben, und
wie sie nun eine Stunde lang mit den dürren Totenstngern den Boden um den
Grenzstein auf- und wiederzuwählen müßten. Wie die Kinderlein ihren Gräberchen
erstünden und Ringelreihen um ihre kleinen Kreuzlein herum spielten.
O, es ist so schauerlich, an all das zu denken. Es ist gewiß alles nicht wahr,
aber wenn man um Mitternacht auf dem Friedhof steht wie ein frecher Ein¬
dringling unter den tief in der Erde schlafenden Toten, dann glaubt man daran.
Dann ist es wie eine Strafe, daß man daran glauben muß.
Die Nacht ist so still, daß man jetzt die nahe Turmuhr über den Park
hinweg zum Mitternachtsschlage ausholen hört, Sie rasselt.... Sie schlägt die
vier hellen Vorschläge der ganzen Stunden!
Bem, bem, bem, dem .. .
Und dann die tiefen Klänge:
Bau, dazu, dazu. .. dazu!
Zwölf Uhr!
Mitternacht!
Totenstunde!
Gespensterzeit I
Noch während es schlägt, packen den Burschen eisige Schauder, die ihm die
Haut des Hinterkopfes zusammenziehen, wie kalte Bäche den Rücken hinunter¬
laufen und in den Lenden zerrieseln; einer nach dem anderen, ganz furchtbar.
Die Zähne klappern ihm, die Haare sträuben sich, er hört sein Blut rauschen und
seine Nerven sisseln. Hin und her wird er gerüttelt, als hätten ihn die auf¬
erstandenen Gespenster in der Zerre. Seine Augen weiten sich und quellen aus den
Höhlen hervor. Er stiert nach des Vaters Grab. Wird der jetzt auch heraus¬
kommen und, mit den Fingern auf die blutige Brust deutend, keuchend über die
Friedhofswege gehen? Wird sich leise und unheimlich die Erde heben, wie man
das sieht, wenn ein Maulwurf seinen Hügel aufwirft? Aber das Grab des Vaters
bleibt stille, nichts rührt und nichts regt sich.
Doch vielleicht steht jetzt schon ein Knochengerippe hinter ihm, ein Knochen¬
kerl mit dürren langen Armen und kahlem Totenschädel, aus den tiefen unheim¬
lichen Augenhöhlen entsetzlich grinsend. Karl verdreht die Augen und schielt nach
hinten. Er wagt nicht, sich herumzudrehen.
So steht er eine Weile, zitternd wie Espenlaub, die Zähne fest aufeinander
gebissen, damit sie nicht klappern sollen. Und dann wendet er sich doch mit einem
Ruck um — nichts ist hinter ihm.
Aber jetzt. .. horch, was ist das.? Man hört ein Fluddern in der
Lust.. .1 Dort hinten auf dem alten Teile des Friedhofes, der verwachsen ist
mit Hecken und Büschen und verhangen von Trauerweiden, dort ist es. .. . Von
dorther wird nun ein grausiger Totenzug kommen.... Schon hört man da eine
heisere Stimme. ... Es stöhnt, ächzt. ... Es schwirrt in den Lüften. . . . Man
spürt das Wellenschlagen der bewegten Lust wie schwülen Atem. . .. Und dann
fluddert es dicht über seinem Kopfe hin. ...
Er stößt einen schrecklichen Schrei aus, über den er dann selbst wieder erschrickt.
Das wird nun alle die Toten wecken. . , . Wieder der heisere Schrei in den Lüften,
ein paarmal nacheinander... .
Es war ein Käuzchen, das da aus dem Gebüsche flog, nur ein Käuzchen,
sonst nichts.. . .
Die Turmuhr schlägt das erste Viertel nach Zwölf. Wie begütigend klingt
es dem entsetzten Burschen ins Ohr. Es war nur ein Käuzchen, denkt er, nur
ein Käuzchen, und schaut sich wieder um, ob nichts Schreckhaftes zu bemerken sei.
Aber es bleibt ruhig. Seine Furcht legt sich wohl, doch schütteln ihn hin und
wieder noch eisige Schauder. Erst als die Glocke um ein Uhr die volle Stunde
schlägt, atmet er wie erlöst auf.
Bem, bem, bem, bem. Bau!
Vorüber ist die Totenstunde, die Gespensterzeit.
Gegen Morgen dampft ein leichter Nebel auf, aber er wird nicht dicht.
Als es zu dämmern beginnt, erhebt sich ein frischer Luftzug, der ihn wieder ganz
zerbläst.
Schon befürchtet Karl, daß er vergebens gewartet, daß er den Schrecken
umsonst erduldet habe, als er durch die herbstlich hohl hallende Luft den Klang
von Schritten fallen hört. Er horcht gespannt. Es ist ihm, als ob sein Gehörsinn
sich weiter ins vordere Ohr dränge.
Sind es Tänzer, die vom „Grünen Baum" kommen und den Weg nach Hause
hinter dem Park her nehmen?
Die Schritte nähern sich. Schon kann man unterscheiden, daß sie nur von
einer Person herrühren.
Es schlägt halb Sechs auf der Turmuhr, als das Friedhofstor quietscht.
Karl biegt den Kopf nach vorn, um besser sehen zu können, stiert scharf, und ein
Feuer sprenkelt durch seine Augen. Er huscht hinter die Zypresse zurück.
Es ist der Fulde-Jean.
Karl sieht, wie er geraden Wegs auf das Grab seines Vaters zugeht, wie er
dort ein Messer aus der Tasche zieht, es aufklappt und sich zu dem Kreuze nieder¬
beugt. Er ist in seine Arbeit vertieft.
Auf allen Vieren verläßt Karl sein Versteck und kriecht, so behende er nur
kann, in einem weiten Bogen um den Grabschänder herum, um ihn von hinten
zu erreichen.
Auf zehn Schritte ist er noch von ihm entfernt. Da macht er Halt, reckt
sich auf, ballt die Fäuste und bleckt die Zähne aufeinander. Die Rachsucht schüttelt
ihn, eine brutale Gier kommt in ihm auf. Es zuckt in seinen Fäusten, die Zähne
knirschen und mahlen aufeinander. Er muß, muß diesen Kerl da zusammen¬
hauen, wie ein Schmied altes Eisen. Des Vaters schweren Zuschlaghammer
wünscht er sich in die Faust.. .. Zerschmettern würde er den verdammten Grab¬
schänder da vorn. ...
Nun brüllt der Bursche, daß ihm der Schaum von den blauen Lippen stockt:
„Du verfluchter Hund, jetzert bist du verloren I"
Jean Fuld schrickt zusammen, das Messer entfällt seiner Hand, er fährt herum
wie ein heftig angedrehter Kreisel, und dann sieht er den Sohn des verhaßten
Selbstmörders in mächtigen Sätzen aus sich losrasen. Noch ehe er sich eines
weiteren besinnen kann, hat ihn sein Gegner gepackt.
Die beiden halten sich umklammert. Brust liegt an Brust. Sie ringen.
Die Stiefel wühlen sich in den weichen Lehmboden ein. Die Rücken sind gestrafft.
Jeder versucht, den anderen vom Boden in die Höhe zu bringen, um ihn dann
niederzuschleudern. Aber noch gelingt es keinem. Es ist ein wildes Keuchen und
Stampfen. Die Blumen sind zertreten. In der Blindheit des Kampfes stürzen
die beiden wider das Kreuz, daß es krachend zerbricht. Da zuckt der Fuld zu¬
sammen und ächzt mit heiserem Krächzruf:
„Hilfe!"
Die Kräfte verlassen ihn. Der wütende Schmiedesohn zischt ihm ins Gesicht:
„Was, Hilfe? Feigling! Hab ich dich jetzert, Kerl, hab ich dich?"
Wieder krächzt der andere um Hilfe und rafft seine letzten Kräfte zusammen,
um sich des Gegners zu entledigen. Da läßt der den einen Arm locker, ballt die
Faust, holt weit aus und schmettert sie dein anderen auf die Zähne. Dann packt
er den Überraschten bei der Brust, zerrt ihn auf die Erde nieder und kniet sich
ihm auf den Leib. Der Unterlegene spuckt dem auf ihm Knienden die aus¬
geschlagenen Zähne ins Gesicht und höhnt:
„Und er muß doch beim Teufel braten, beim Teufel in der tiefsten Höll!"
Ein Faustschlag ins Gesicht macht ihn verstummen. Als er die Augen wieder
öffnet, sieht er das Messer über sich blitzen. Der Atem geht ihm aus, so fest
würgt ihn da eine rasende Hand am Halse.
Dem Sohne des Selbstmörders glaser die Augen. Er schüttelt den unter
ihm Liegenden, sich kaum noch Wehrenden, daß ihm der Kopf heftig auf den
Boden fährt, und schnaubt, während er ihm das Messer mehrmals rasch hinter¬
einander in die Brust sticht:
„So, du sakramentser Kerl, wo jetzert auch mein Vater ist, im Himmel oder
in der Höll — wenn du zu ihm kommst, sagst du einen schönen Gruß von mir,
ich hätt dir's wett gemacht, daß du sein Kreuz.. .1"
Weiter redet er nicht. Das entsetzliche Stöhnen des Gestochenen bringt ihn
zur Besinnung. Er springt auf, wirft das bluttriefende Messer hinweg und beschaut
seine blutigen Hände. Ein Entsetzen packt ihn, die Gedanken stehen ihm still.
Mit hervorquellenden Augen betrachtet er stier den Röchelnden, und dann wirft
er sich neben ihn auf die Knie, schluchzt in tiefer Reue auf und ruft in qual¬
voller Angst:
„Jean, Jean, bleib leben! Das wollt ich net! Jean, Jean!"
Der Niedergestochene hebt schwer die Augenlider; den glasigen Augen ent¬
steigt mühsam und müde ein gebrochener Blick, aus dem das letzte Leben flieht.
Die Brust hebt und senkt sich noch einmal. Und dann nicht mehr. Tot.
Jetzt hört man nur noch des Mörders eindringliches, hastiges Zureden:
„Jean, Jean! Jean, Jean! Horch doch, Jean! Jean, hörst dn mich
net? Jean!"
Er umfaßt deu Leichnam mit beiden Armen und versucht, ihn aufzurichten.
Die Last ist schwer, der Kopf hängt sich hintüber und baumelt. Da erkennt der
Bursche, daß nicht mehr zu helfen ist. Er läßt die Leiche wieder auf die blut¬
getränkte Erde gleiten und kniet sich daneben. Sein Gesicht wird ausdruckslos,
als wüßte das Hirn nicht mehr, was da geschehen sei. So bleibt er eine Weile
knien, und immer blöder wird der Ausdruck seiner Mienen; der Mund ist halb
geöffnet, und die Augen haben das Geistige verloren.
Der unglückliche Mensch steht auf, putzt die blutigen Hände gleichgültig an
die Hosen, so wie er sie an der Stallschürze abstreicht, wenn er das Kleienfutter
fürs Vieh auf die Wärme geprüft hat, verläßt mit wankenden Schritten den Ort
der entsetzlichen Tat und kauert sich in dem Fliedergestrüpp eines alten Grabes
nieder, ein Zerschlagener an der Seele wie am Leibe.
Er bemerkt es nicht, daß ein Weib hastig und unruhig die Straße daher
kommt, am Friedhosstor stehen bleibt und mit grellen Blicken zwischen den eisernen
Gitterstäben hindurchlugt, zusammenzuckt, den Mund in heftigem Erschrecken mehr-
mals auf- und wieder zuklappt und schwankend wieder nach dem Dorfe zurückeilt.
576
In den Gassen stößt die Hungels-Grek einen gellenden Hilfeschrei aus und
sucht mit den angstrollenden Blicken die Gassen ab. Nach und nach erscheinen
ein paar verschlafene Bauern und fragen unter Gähnen, was denn nur los sei.
Es dauert lange, bis sie sich aus den wirren Worten der Grek ein Bild
machen können. Je mehr Bauern sie um sich sieht, um so rascher gewinnen
Bosheit und Fanatismus die Oberhand in ihr. und ihre aufstachelnden Rache¬
worte fallen wie zündende Funken in die Seelen der Versammelten.
„Seht ihr's!" sagt sie, „der Appel fällt net weit vom Stamm! Ausrollen
müßt' man das ganze Salzergesindel!"
Fast ist ihr der Neffe, dem zu Hilfe zu eilen sie nicht den Mut hatte, Neben¬
sache geworden. Erst, als auch der Vater des Ermordeten, ihr Bruder, sich in
den Menschenkreis drängt, verliert sie ihre Fassung wieder.
„Ach du liewer Gott, Georg, was en Unglück I Ach du liewer Gott, dem
Bub wird doch nix Schlimmes passiert sein!"
In den Mann fährt ein heftiger Schreck. Er ballt die Faust gegen seine
Schwester und zischt:
„Mensch, wann was passiert ist, sollscht du mir aach die Kraut krieje!"
Und dann reden die übrigen Bauern, junge und alte, auf ihn ein. Er hört
zu, und als der Bericht zu Ende ist, reckt er den Arm aus und ruft:
„Allo, mans dann, daß wir sehn, was passiert is. Und dem Salzer seinem
schmeißen wir alle Rippen im Leib kaput! Grek, voran!"
Aber die Grek hat eine entsetzliche Angst. Sie sieht wieder das Bild vor
Augen, das sie durch das Friedhofstor erspäht hat, und jetzt erst fragt sie sich mit
Bangen und Zagen: wird er noch leben? Und dann fällt ihr die Mutter ein,
die sie auf das Unglück vorbereiten muß.
„Georg, geh du aweil mit dene Leut mans, ich will zuerst zu deiner Fraa!"
So zieht die erregte Menge hinaus auf den Friedhof. Ein Menschenknäuel
schließt sich um das Grab, um die Kampfesstätte. Der Vater beugt sich nieder zu
dem Sohne, und muß sehen, daß er tot ist.
Eine Weile steht er ganz starr und wortlos, und auch in der Menge verliert
sich kein Wörtchen. Stille. Bis auf einmal der Mann seine Arme in die Luft
wirft und schreit:
„Jetzert gibts net Ruh und net Rast in mir, bis Vergeltung geübt ist! Ein
Dunnerkeil muß den Hund verschmeiße, der das geschafft hat!"
Da kommt auch die Hungels-Grek zum Tore herein und hält ein weiuendeß
Weib umfangen, das sie fast forttragen muß, so schwer lehnt es wider sie. Der
Menschenring öffnet eine Gasse und läßt die beiden ein. Der Bauer nimmt sein
Weib zu sich, zwingt seine rauhe, erregte Stimme zur Milde und sagt, indem er
der Frau mit seinem breiten Rücken den schaurigen Anblick zu verdecken sucht:
„Faß dich, Lerche, faß dich!"
Aber die unglückliche Mutter drängt ihn beiseite und sinkt mit einem wilden
Aufschrei an der Seite des Kindes nieder.
Die Hungels-Grek weiß sich nicht zu helfen. Sie möchte trösten und kann
nicht. Sie möchte die weinende, schluchzende Mutter aufheben, aber die Hände
sind ihr schwer wie Blei, und sie spürt, wie eine große Verwirrung sie umnebeln will.
Da wacht, ihr unbewußt, alle Frömmelei und aller Fanatismus in ihr wie
eine Schutzwehr auf. Sie reckt den Zeigefinger drohend in die Höhe und schreit
mit spitzer Stimme:
„Seht ihr's, ihr Leut, wie unser Herrgott schon alles Unheil über unser Dorf
kommen läßt wegen dem eineinzigen SelbstmörderI Das ist der Fluch Gottes I"
Noch ehe diese Worte in den Bauern recht zur Wirkung kommen können,
rollt ein Brüllen durch die Luft wie von einem Raubtier.
Karl, der alle Borgänge am Grab gleichgültig verfolgt hat, als gingen sie
ihn nichts an, wird durch die gellende Weiberstimme noch einmal aus seiner
Stumpfheit geweckt. Er springt auf, reißt in mächtiger Wut von dem Sockel des
Grabsteines, zu dessen Füßen er zusammengekauert lag, die Engelsstatue aus
weißem Kalkstein, schwingt sie über den Kopf und stürmt so auf die Hungels-Grek
zu, indem er mit gewaltiger Stimme dabei brüllt:
„Du sollst verflucht sein, du Mensch, du, du, du, tut"
Ein ganz entsetzliches Dröhnen grollt in dem Wörtchen du. Es liegt etwas
Dämonisches in der Erscheinung des Anstürmenden, der mit der schweren Engel¬
statue zum Wurfe ausholt wie ein Niese mit einem Felsblock spielt.
Die Bauern, hinter deren Rücken die Hungels-Grek sich vergebens zu vel>
stecken sucht, weil jeder sie wieder vor sich stößt, weichen gegen die Friedhofsmauer
zurück. Zu ihrer höchsten Verwunderung und Erleichterung zugleich läßt der
Bursche das Steinbild plötzlich fallen, wendet sich seitwärts und fliegt mit weit
ausgebreiteten Armen auf das Tor zu. In seinem Gesichte geht eine merk¬
würdige Veränderung vor. Das Rohe, Brutale, Viehische, Unsinnige, die ganze
dämonische Verzerrung weicht einem friedlichen Ausdruck, einem freudigen Strahlen
und erlösten Leuchten, und aus der Brust, aus der eben noch die rasendsten Rache-
und Wutschreie gellten, sprudelt eine halb gebrochene, halb klare Jubelstimme:
„Unkel Haares, Unkel Hannes!"
Hannes Holtner, den die Nachricht von der Tat beim Füttern erreicht hat,
kommt gerade zum Friedhoftor herein. In dem unglücklichen Menschen aber
wacht bei diesem Anblick die Liebe auf und berührt und segnet mit ihrem Kusse
seine stumpfe Seele, daß sie alles Unedle von sich schütteln muß.
Die Verfolger aber glauben, daß der Bursche ihnen entfliehen wolle, denn
ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf ihn, und so beobachteten sie das Kommen
des Mannes nicht.
Steine, von der bröckeligen alten Friedhofmauer gerissen, fliegen Karl ent¬
gegen, und einer zerschmettert ihm die Schläfenwand. Er stürzt, die ausgebreiteten
Arme nach vorn, zusammen.
Im gleichen Augenblicke will sich die Menge auf ihr Opfer werfen, doch
die dröhnende Stimme des Hüner Hannes Holtner hält sie zurück wie gebändigte
Tiere.
„Ruhr mir ihn keiner aut Soll noch mehr Unheil angerichtet werden?"
In einigen erwacht die Besinnung, und sie schelten auf die Steiuwerfer.
Diese aber fragen, ob dem Mörder denn ein Unrecht geschehen sei. Es ist ein
wüstes Schreien und Widerredengeben, bis der Polizeidiener die Menge aus dem
Friedhofe weist und den Arzt rufen läßt.
Hannes Holtner aber bückt sich zu seinem Schützling nieder, der regungslos
daliegt.
„Karl, mein lieber Bub, Karl, hörst du, Karl?"
Keine Antwort. Da hebt Hannes Holtner den Getroffenen auf wie ein
kleines Kind. Er ist tot. Die Liebe hat die Seele, die sie aus der Verlierung
erlöst, mit sich in die Heimat genommen.
Erschüttert legt Hannes Holtner die Leiche wieder auf die Erde, lehnt sich
wider die Friedhofsmauer und hält Wache bei seinem Liebling. Sein Blick geht
verloren inS Weite. Er zuckt zusammen, als er seinen Namen rufen hört. Sein
Bruder Vinzenz steht vor ihm.
„Hannes I"
Sonst nichts.
„Vinzenz!" sagt Hannes Holtner und deutet auf die Leiche. Sonst nichts.
Vinzenz Holtner aber weiß, daß der Bruder nach betrogener Jugendliebe,
die ihn von der Hochschule zurück auf die väterliche Scholle getrieben hatte, den
größten Schmerz seines Lebens leidet. Vinzenz Holtner weiß auch, daß sein
Bruder mitschuldig ist an den grausigen Geschehnissen, aber er schweigt.
Die Kunde von dem Unglück hat sich durch das Dorf verbreitet, und in
Scharen strömen sie heraus. Es ist ein Summen und surren von Stimmen vor
dem Friedhof, an dessen Eingang der alte Rüppel Wache hält und die An¬
drängenden zurückweist. Die nicht Zeugen der Tat waren, fragen nach den Einzel¬
heiten, und dann sprechen und raunen sie, wie doch ein Unglück das andere nach
sich ziehe.
Auch der Pfarrer kommt nach der Messe heraus. Er ist tief erschüttert, in
seinen Augen stehen Tränen. O, es ist so schwer, so grauenhaft verantwortungs¬
voll, Pfarrer zu sein, Hirte. Seine Lippen zittern von den Gebetsworten, die
zagend und zuckend über sie beben. O Gott, wieviel des vergossenen Blutes
kommt über ihn?
Er sieht den Schmerz des Hannes Holtner und streckt ihm die Hand entgegen.
Doch der achtet es nicht und sieht über den Pfarrer hinweg.
Da neigt der Priester den Kopf auf die Brust, die Hand aber läßt er nicht
sinken, sondern hebt sie höher zum Segen über den toten Karl.
Als die Hungels-Grek von der Leiche ihres Neffen zurückkommt, tritt sie an
die seines Mörders, schaut Hannes Holtner fest ins Gesicht und sagt mit
ungebrochen grausamer Schärfe:
„Das ist die Vergeltung!"
Dem Manne schwellen die Zornadern dick wie Bindfaden heraus, aber er
mäßigt sich. Mit tiefer Stimme fragt er die Hungels-Grek:
„Vergeltung?"
Aus seinem Munde kommt die Frage so schauerlich, daß dem Weibe alle
Brunnen der Frömmigkeit einbrechen. Der Tempel der Selbstgerechtigkeit, den
sie sich erbaut, stürzt zusammen und zerschmettert ihre Festigkeit. Sie taumelt
zurück vor der Erkenntnis, die bei der Frage Hannes Holtners wie ein zischender
Blitz ihre Seele durchzuckt. Sie wendet sich ab, wortlos zwar, aber das Herz
voll rasend anstürmender Vorwürfe und Anklagen.
Und zum erstenmal seit ihrer Kindheit geht sie in die Kirche wie der arme
Zöllner und betet dort für dreie.
Die Tage vergehen und die Wochen.
Zwei Gräber haben sich geschlossen, und schon blühen weisze Astern darauf.
Auf dem Friedhofe dulden sie sich als Nachbarn: der Selbstmörder und sein
Sohn und der Grabschänder.
Und wenn die Hungels-Grek dort kniet in tiefer Zerschlagenheit und nicht
fort will von den Gräbern, dann kommt eine Schwester des Ermordeten, ihre
Nichte, führt sie hinweg und sucht die Trostlose zu trösten.
Aber diese weist alle beruhigenden Worte ab.
„Lieb Kind, du weißt nicht, wie mir's ums Herz ist. Ich mein grad, ich
hätt alle Last der Welt zu tragen, und ich find keine Ruhe bis an mein Lebens¬
end, und ich möcht bald verzweifeln. Wer weiß, ob ich nicht noch bis über den
Tod hinaus büßen muß. Dem? immerfort hör ich unsern Herrgott sprechen:
Nichte nicht, damit du nicht gerichtet werdest. . .!"
Georg Fuchs: „Die Sezession in der
dramatischen Kunst und das Vollsfestspiel."
(Bei Georg Müller, München).
Georg Fuchs, der Leiter des Münchener
Künstlertheaters, bringt in diesem Bändchen
eine Reihe aktueller Gedanken, denen man
einen gesunden Kern nicht abstreiten kann, so
entschieden man auch die waghalsigen Konse¬
quenzen, zu denen der Verfasser gelangt, im
letzten Grunde verwerfen musz. Der gesunde
Kern liegt in dem Fuchsschen Aufruf, das
zeitgenössische Theater vom Elend des „Lite¬
rarischen" zu befreien, einer Bühnenkunst die
Wege zu bahnen, die in harmonischer Ge¬
schlossenheit nach großen, volksbeglückenden
Zielen strebt, und nach dem Borbilde des
attischen Theaters eine neue Kunstepoche
heraufdämmern zu lassen, die den verlockenden
Gedanken: „ein Volk, ein Gott, eine Kunst"
in wirkungsvollen Riesenlinien auszudrücken
vermag. Tatsächlich lastet das, was Fuchs
das Literarische nennt, wie ein Fluch über
unserem Theaterlebcn. Es hat eine solche
Zerrissenheit, ein solches Sich-Verkapseln in
Sonderbewegungen und eine so entschiedene
Abkehr von den Forderungen des Tages er¬
zeugt, daß schon sehr viel optimistische Phan¬
tasie dazu gehört, heute von einem lebendige»
Zusammenhang zwischen Theater und Volks¬
bewußtsein sprechen zu wollen. Wenn unsere
ernsthaften Bühnenhäuser veröden und ihre
Kundschaft mehr und mehr ans Varietö und
an den üppig wuchernden Kinematographen
abtreten müssen, so liegt das ganz gewiß
daran, daß das Publikum im Theater schon
lange nicht mehr findet, was eS sucht. Der
auf der deutschen Bühne, wie es scheint, all¬
mächtige Snob hat da eine heillos breite Kluft
geschaffen und wird vor dein Richterstuhl der
Zukunft zweifellos die Sünde vertreten müssen,
das dankbarste Menschenmaterial, das unser
Volk herzugeben hat, böswillig und hartnäckig
dein Theater entfremdet zu haben. Wenn
ein Vergleich gestattet ist: die englische
Bühne, so tief sie auch kulturell stehen mag,
hat auf jeden Fall jenen lebendigen Zu¬
sammenhang mit der Gegenwart und mit der
Zeit überhaupt, von dem wir oben sprachen.
Sie wurzelt mit allen Fasern in der Welt
des Engländers von heutzutage. Sie sucht
ihr Ziel nicht im fragwürdigen Bereich blasser
Problematik, sondern sie betont, stolz und
bewußt zugleich, in allen ihren Erscheinungen:
ich bin ein Produkt der englischen Nation;
ich fühle mich eins mit dieser Nation, und
es genügt mir, wenn ich widerspiegeln darf,
was die Wesensmerkmale, was die Farbe,
den Duft dieser Nation ausmacht. Hier
sinden wir jenen innigen Kontakt zwischen
Buhne und Volksbewußtsein, nach dem bei
uns heute nur noch Schwärmer suchen. Und
wer Lust verspürt, mag denn auch mit neid¬
erfüllten Augen auf die sogenannte englische
Theaterkultur blicken.
Wir müssen gestehen, daß wir diese Lust
ganz und gar nicht verspüren. Die Medaille
hat nämlich bei näherer Besichtigung auch
eine sehr, sehr böse Kehrseite. Die nahezu
völlige Abwesenheit aller geistigen Werte hat
aus der englischen Bühne einen Zustand ge¬
schaffen', der deutschem Geschmack denn doch
ziemlich unerträglich erscheint. Es herrscht
da , rein künstlerisch genommen, eine An¬
spruchslosigkeit, die uns bei allem guten Willen
nichts zu geben vermag; eine Primitivität
der Sitten und des Geschmacks, über die wir
eigentlich nur lächeln können. Und wenn
man uns ernsthaft vor die Wahl stellt, werden
wir doch wohl sagen müssen: Lieber auf unsere
Art „literarisch", als auf englische Art kindlich
und primitiv.
Auf diesem Wege also kommen wir nicht
weiter. Er führt ins Flache statt ins Tiefe,
ins ewig Banate statt ins künstlerisch Wert¬
volle. Das fühlt auch Georg Fuchs und sein
sehnsüchtiger Wunsch nach einer großen, ein¬
heitlichen Theaterkunst bewegt sich denn auch
in anderer Richtung. Er sucht und findet
die Verbindung zwischen den starken Ein¬
drücken, die ihm die Oberammergarcor Pas¬
sionsspiele einerseits und der Max Rein-
hardtsche Sdipus anderseits vermittelt haben,
und sein intelligenter, aber nicht durchweg
unanfechtbarer Gedankengang gipfelt in der
Forderung nach dem modernen Volksfestspiel¬
haus. Er steht mit dieser Forderung, wie
wir wissen, ganz und gar nicht vereinzelt da.
Zweifellos hat der Gedanke, um den es sich
handelt, etwas ungemein Bestechendes. Die
verblüffenden Wirkungen, die Max Reinhardt
mit seinen ersten Zirkusaufführungen auflöste,
mußten notwendig zur Reaktion, zur bün¬
digen Absage an das „literarische" Drama
des intimen Kammerspiels führen. ES ist
ein offenes Geheimnis, daß die Sehnsucht
unserer besten Geister seit Jahr und Tag
aus der Enge und Gebundenheit des soge¬
nannten Problemstücks heraus will, daß sie
nach dein al t^resco einer überlebensgroßen
Kunst strebt, daß sie der blassen Abstraktionen
müde ist und nach Fleisch und Blut und
Lebenswärme verlangt. Wir alle, denen die
Entwicklung des deutschen Theaters am
Herzen liegt, haben schon mit dem beglücken¬
den Gedanken eines Volksfestspiclhanses ge¬
spielt. Wir alle haben davon geträumt, daß
eine Zeit nahe ist, die die Wechsler und
Händler aus den Bühnenhäusern Peitsche und
Thaliens Tempel wieder zu einer Kunststätte
in des Wortes bester Bedeutung umschafft.
Georg Fuchs spricht da mit schöner Begeiste¬
rung einen Gedanken ans, um den sich in
dieser verworrenen Zeit der deutsche Idealis¬
mus schart. Und der Idealismus, mit dem
er den Kampf aufnimmt, ist denn auch das
Beste und Wertvollste an seinem Buche.
Allerdings sitzt an dieser Stelle gleichzeitig,
wie uns scheinen will, der Kardinalfehler seines
Rechenexempels. Eine Theatergründung ist
noch immer eine verteufelt reale Sache ge¬
wesen, bei der eS mehr uns gesunde Bilanzen
als auf waghalsige Phantasien ankam. Georg
Fuchs aber bleibt Phantast von Anfang bis
Ende, Phantast im guten und Phantast im
schlechten Sinne. Er schwärmt, aber er rechnet
nicht. Sein zukunftstrunkeues Auge sieht schon
Männer und Frauen, Kinder und Greise,
Gesunde und Kranke, Arme und Reiche in
endlosem Zuge zum Volksfestspielhause wallen.
Sein Ohr hört schon das beglückende Lursum
porcis, einer großen, allumfassenden Dramatik.
Was in Oberammergau möglich ist, fragt er,
warum soll das nicht auch in Profanen Bühnen¬
häusern möglich sein? Warum sollen nicht
auch da die aufrüttelnden Wirkungen einer
großen, Primitiv heiligen Einheitskunst zu
erzielen sein?
Wir, die wir etwas nüchterner denken,
müssen ihm darauf antworten: weil unsere
verworrene, tausendfach gespaltene Kultur¬
epoche von vornherein nicht den Boden für
das sogenannte Theater der Zehntausend her¬
zugeben vermag; weil wir viel zu ratlos,
zu unruhig, zu skeptisch, zu — nervös sind, um
much nur die Voraussetzungen für die erträumte
Einheitskunstaufzubriugen. DerBegeisterungS-
taumel, in den die Reinhardtschen ZirkuS-
nussührungen und die Obercnnmergnuer Spiele
einen sonst klaren Kopf wie Georg Fuchs gestürzt
Haien, ist begreiflich und entschuldbar, hält
aber einer kritischen Nachprüfung keinesfalls
Stand. Fuchs erhebt das, was als einmaliges
Experiment Passieren mochte, voreilig zum
System. Er läßt seinen — und unser aller —
sehnsüchtigen Wunsch zum Vater seines Ge¬
dankens werden. Er fordert als Gesetz, was
zufällig in zwei oder drei Ausnahmefällen
sich bewährt hat. Er vergißt, daß die Di¬
mensionen der Arena, wenn sie auch dem
„König Ödipus" und vielleicht fünf oder sechs
anderen antiken Tragödien gewisse Monu¬
mentalwirkungen abnötigen können, der großen
Gesamtheit unserer klassischen Dramatik ge¬
radezu mörderisch werden müssen. Er ver¬
gißt weiter, daß die Verwirklichung des Volks¬
festspiels mit großer Wahrscheinlichkeit — eS
sind heute schon Anzeichen dafür dal — sehr
bald zur völligen Verflachung und Bana¬
lisierung aller Theaterkunst führen würde,
schon deshalb, weil die auf sechs- bis zehn¬
tausend Zuhörer berechnete Riesenarena jede
Intimität, jede Nuance erbarmungslos mordet
und von der Stimme, der Geste und der
Gesichtsmimik des Schauspielers eine ins
grob Brutale und banal Sinnfällige gesteigerte
Theatralik verlangt. Und er jubelt im ersten
Rausche über dieWiedergeburt unseresTheaters
und vergißt dabei, daß er mit seiner Taktik
den halben Shakespeare, Goethe und Schiller
und den ganzen Hebbel und Ibsen und Haupt¬
mann kurzerhand totschlägt.
Die Sehnsucht, deren Herold Fuchs ist,
teilen wir. Die Folgerungen aber, zu denen
er kommt, müssen wir ablehnen. Immer¬
hin bleibt die Feststellung von Interesse, daß
Georg Fuchs, der ehemalige Reinhardtgegner
und erfolglose Erfinder der Reliefbühne, jetzt
mit fliegenden Fahnen ins andere Lager über¬
gegangen ist. So schnell können Welt¬
anschauungen sich wandeln.
Die Erkenntnis, daß eine vernünftige Hege
der bessere Teil des Weidwerks sei, bricht sich
erfreulicherweise in den Kreisen der Berufs¬
jäger wie der wirklichen Jagdfreunde immer
mehr Bahn, und kein Jäger, dem an einem
gutbesetzten Revier gelegen ist, wird heute
die Sorge für den Fortbestand seines Wildes
lediglich der Natur überlassen. Wer sich des
Rechtes erfreut, das edle Weidwerk auszu¬
üben, hat auch die Pflicht, sich des Wildes
in guten wie in bösen Zeiten anzunehmen,
durch sinngemäßer Abschuß kümmernder und
schlecht veranlagter Individuen die „Rasse"
zu heben und vor allem durch geeignete
Fütterungseinrichtungen dem Wilde über die
Not des Winters hinwegzuhelfen. Denn das
wird Wohl niemand, der in Wald und Feld
zu Hause ist, leugnen: die Daseinsbedin-
gungen für die jagdbaren Tiere unserer
deutschen Heimat werden von Jahr zu Jahr
ungünstiger. Die modernen „rationellen"
Methoden des Ackerbaues und der Forstwirt¬
schaft machen dem Wilde, wenigstens dem
Schalenwilde und dem Wildgeflügel, das
Leben immer schwerer. Feldgehölze, Erlen-
und Weidenheger, Dornenhecken, Odland-
flächen und Brüche verschwinden immer mehr
aus dem Landschaftsbilde, und auch die ein¬
förmigen geschlossenen Forstbestände, die noch
dazu meist aus Radelholz bestehen, bieten
nur als junge Kulturen dem Wilde Deckung.
Schlimmer noch sieht eS mit den Asungs-
verhältnissen aus. Kiefern-, Fichten- und
Buchenbestände entbehren des Unterholzes
und der Kräuterflora vollständig, Brachacker,
auf denen sich bis tief in den Winter hinein
immer etwas Genießbares erhielt, gibt es
nicht mehr, Holzarten, deren Rinde das Wild
und Vorliebe annahm, hat man als „nutzlos"
gerötet. Es bleibt dem armen Wilde zur
Befriedigung seines ÄsungsbedürfnisseS, vulgo
Hungers, nur die Wintersaat, vorausgesetzt
natürlich, daß auch diese ihm nicht durch
Stacheldrahtzäune oder hohen Schnee ver¬
sperrt ist.
An Vorschlägen, wie die natürliche Äsung
im Winter durch künstliche Fütterung zu er¬
setzen sei, hat es in der Fachliteratur nie
gefehlt. Aber die meisten Versuche in dieser
Richtung haben nur mäßige Erfolge gezeitigt,
zuweilen sogar geradezu ungünstig auf den
Gesundheitszustand des Wildes eingewirkt,
und dadurch ist mancher Weidmann von
weiteren Experimenten abgeschreckt worden.
Diese Mißerfolge hatten ihre guten Gründe.
Erstens wurde mit der Fütterung gewöhnlich
viel zu spät, d, h, erst bei hohem Schnee
und anhaltendem Froste, begonnen. Das
Wild braucht jedoch einige Zeit, ehe es sich
an den ihm vom Menschen gedeckten Tisch
gewöhnt und seine natürliche Scheu vor
Futterhütten, Krippen usw. überwindet.
Zweitens war es aber auch, wenn es die
Fütterungen endlich annahm, schon so ent¬
kräftet, daß ihm die hastige Aufnahme größerer
Quantitäten ungewohnter Nahrung wie Heu,
Kartoffeln und Rüben schwere Verdauungs¬
störungen zuzog und so das Eingehen manches
Stückes beschleunigte.
In seinem Buche „Die rationelle Wild-
fnttcnmg, insbesondere die Wintcrfüttcrung
des Rehwildes <J. Neumnnn, Neudamm,
M. 2.S0) gibt der Privatförster Fr. SchePPer
nun eine Anweisung, wie sich die geschilderten
Mißstände des künstlichen Ersatzes für die
fehlende natürliche Äsung vermeiden lassen,
ohne daß die beabsichtigte Wirkung der
Fütterung, die schon zeitig im Herbste be¬
ginnen muß, durch ungebetene Gäste wie
Mäuse, Eichhörnchen, Häher usw. beeinträch¬
tigt wird. SchePPer hat eine automatische
Futterkrippe für Rehwild — in größerem
Formate auch für Hochwild — konstruiert,
deren Herstellung nicht allzu kostspielig und
deren Mechanismus so einfach ist, daß sie
jahrelang in Gebrauch bleiben kann. Er ist
durch einen Zufall auf diese Erfindung ge¬
bracht worden, denn er beobachtete, wie eine
Ricke mit Kitz auf dem Fasanenfutterplcche
erschien, durch Niedertreten des Trittblechs
den Deckel eines der längst bewährten
Fnsanenfutterlasten hob und nun begierig
den kurz vorher eingeschütteten Mais äste.
Die Folgerung, daß Rehe, wenn sie freiwillig
und ohne Scheu einen aus Eisenblech ver¬
fertigten Kasten öffneten, um zum Futter zu
gelangen, auch einen größeren, eigens für sie
bestimmten Futterbehälter öffnen würden,
lag nahe. Der Versasser baute zwei Kasten
aus Holz, verwitterte sie durch einen Anstrich
aus Erdbrei und stellte sie im Walde um
Stellen auf, wo Rehe gern standen und durch
Ausstreuen von Kastanien und Rüben an¬
gekirrt waren. Er legte jetzt nur wenig
Futter aus den Boden, desto mehr aber in
die Krippe, deren Deckel durch einen Stell¬
stift ganz hoch gestellt war. Zunächst wurden
die Kastanien, Rübenstücke und Kohlblütter
in der Krippe von den Rehen unbeachtet ge¬
lassen, nach wenigen Tagen aber doch ge¬
nommen, worauf SchePPer die Kasten nur
noch mit Kastanien und Eicheln füllte, auf
den Boden jedoch nur einige Reste aus der
Krippe sowie einige wenige Blätter warf.
„Nach acht Tagen wurde der Krippendeckel
mittels des StellstiftS etwas tiefer gestellt,
so daß er sich beim Betreten des Fußbrettes
etwas bewegte; auch hieran gewöhnten sich
die Rehe in einigen Tagen, und zwei Wochen
später hatten sie gelernt, vertraut die ganz
geschlossene Krippe zu öffnen, d. h. durch
Niedertreten des Fußbrettes den Deckel in
die Höhe zu schnellen! sie erschraken auch nicht
im geringsten beim Niederfallen des Deckels,
obgleich dabei ein ziemlich lautes Klappen
erfolgte."
Nach diesem günstigen Ergebnis hat
SchePPer in den letzten Jahren eine große
Anzahl automatischer Krippen aufgestellt und
dadurch seinen Rehbestand unvermindert auch
durch strenge Winter hindurchgebracht. Außer
Kastanien, die übrigens zerquetscht verfüttert
werden müssen, und Eicheln verwendete er
in seinen Kasten später auch Mais, Bohnen,
Erbsen, statt dieser neuerdings aber vor allein
die bekannten, von Denkers Pferde-Kakes-
fabrik, Mona (Elbe) in den Handel ge¬
brachten Wildtnkes, denen er eine kleine Gabe
Phosphorsaurer Kalk und Kochsalz beifügt.
Es verdient besondere Anerkennung, daß der
Verfasser es verschmäht, seine Erfindung ge¬
schäftsmäßig auszunutzen, daß er sie vielmehr
aus Liebe zum Wilde und im Interesse
einer vernünftigen Hege der Allgemeinheit
preisgibt. Genaue Abbildungen der Krippe
und ihrer einzelnen Teile ermöglichen es
jedem Weidmann, sich diese nützliche Vor¬
richtung selbst herzustellen oder durch den
ersten besten Tischler anfertigen zu lassen.
Ein geradezu herzerfreuender Schmuck des
Buches sind die vorzüglichen, nach Photo¬
graphischen Momentaufnahmen wiederge-
gebenen Abbildungen der „in vollem Betrieb"
befindlichen Futterplätze für Rehwild und
Fasanen.
Ein zweites Buch aus dem Neummmschen
Verlage: „Die Dressur und Führung des
Gebrauchshundes" von Oberländer (geb.
M. 6.—) verdankt ebenfalls der Liebe zum
Wilde sein Entstehen. Da dieses als klassisch
anerkannte und von gewissen Jagdschriftstellern
auch schon fleißig aufgeschriebene Werk be¬
reits in der siebenten Auflage vorliegt, dürfen
wir uns hier auf eine kurze Anzeige be¬
schränken. Oberländer wendet sich sehr
energisch gegen das von manchen berufs¬
mäßigen Hundezüchtern aus Geschäftsinteresse
»erfochtene Prinzip der „Arbeitsteilung", das
in demi jagdlich keineswegs vorbildlichen
England seine Berechtigung haben mag, aus
deutsche Verhältnisse jedoch durchaus nicht
anwendbar ist. Seine Dressur- und Führungs¬
methode hat den Zweck, Hunde von jagdlicher
Vielseitigkeit heranzubilden, die nicht nur bei
der Hühnerjagd vorzügliches leisten, sondern
sich auch als Rnubzeugwürger und bei der
Wasserarbeit bewähren und vor allem als
Schweißhunde zu gebrauchen sind und durch
gewissenhafte Erfüllung dieser schönsten und
idealsten Aufgabe das krankgeschossene Wild
vor langsamem, qualvollen Eingehen be¬
wahren und es in der kürzesten Zeit in die
Hände des Jägers liefern. Schon um dieser
Tendenz willen ist dem temperamentvoll ge¬
schriebenen, auf langjährigen Praktischen Er¬
sahrungen beruhenden und mit vorzüglichen
Abbildungen ausgestatteten Buche die weiteste
Verbreitung zu wünschen.
Gewissermaßen eine Ergänzung dazu ist
„Die Dressur des Hundes" — Anleitung
zur Abrichtung der nicht zur Jagd verwen¬
deten Hunde — von Freiherr Si. von Creytz
(I. Reumann, Nendcnmn, geh. M. 3.—, geb.
M. 4.S0), von dem soeben die zweite Auflage
erschienen ist. Das Werk — ebenfalls reich
illustriert — behandelt gründlich und durch¬
aus verständlich alle Fragen der Erziehung,
Pflege, Dressur und Abrichtung des Luxus-,
Polizei-, Hirten-, Snnitäts- und Kriegshundes,
von denen ja namentlich der Polizeihund im
letzten Jahrzehnt eine ungeahnte Bedeutung
erlangt hat. Der Verfasser beklagt mit Recht,
daß unter den Tausenden von Stadthunden
kaum einer die Elementarbegriffe einer Dressur
erfahren hat, und daß gerade der Luxushund
infolgedessen zu einem langweiligen, unnützen
oder gar lästigen Nichtstuer wird, anstatt
seine geistigen und körperlichen Eigenschaften
im Interesse seines Herrn als dessen Freund,
Beschützer, Spiel- und Wandcrkamcrad zu
verwerten. Das Buch will deshalb eine An¬
leitung bieten, wie der Hundeliebhaber die
Anlagen seines vierbeinigen Hausgenossen
erkennen, ausbilden und benutzen soll. Zu¬
nächst gibt eS die fachmännische Erläuterung
jedes einzelnen für die Dressur in Frage
kommenden Tricks, sodann eine für den Laien
faßliche Definition. Danach geht es zu der
Beschreibung der Hilfen und deren Anwen¬
dung über. Das Zusammenwirken der Hilfen
wird veranschaulicht und dn, wo es die
Materie erheischt, werden die Belehrungen
durch Darstellungen aus der Praxis belebt.
Eine derartige erzieherische Beschäftigung mit
dem Hunde gewährt aber auch abgesehen
von dem rein praktischen Ergebnis manchen
nicht zu unterschätzenden Vorteil. Sie ist für
den Herrn selbst eine Schule der Selbst¬
beherrschung und der Ausdauer und fördert
entschieden unser Wissen von der Tierseele,
die uns ja so manches Rätsel aufgibt. Gerade
heute, wo wir ja darauf gefaßt sein müssen,
die mathematischen Lehrstühle unserer Hoch¬
schulen mit — Pferden besetzt zu sehen, ist
es ja eine dankbare Aufgabe, durch eigene
Beobachtungen zur Feststellung der Grenzen
des tierischen Intellekts beizutragen.
In dem literarischen Nachlaß des im Jahre
1908, für die sinologische Wissenschaft viel zu
früh verstorbenen Professors Wilhelm Grube
fand sich unter anderem eine fragmentarische
Übersetzung des ?oil^-suum-pur-i. Diese
ist von Dr. Herbert Müller im Auftrage der
Witwe ergänzt und herausgegeben worden
und jetzt bei E. I. Brill in Leiden erschienen
unter dem Titel „k^nx-Stoa-?en-i, die Meta¬
morphosen der Götter. Historisch - mytho¬
logischer Roman aus dein Chinesischen."
Der umfangreiche Roman, der in seiner
jetzigen Form erst aus dem Ende des sieb¬
zehnten Jahrhunderts stammt, in seinen Über¬
lieferungen aber sicher in weit ältere Zeiten
zurückreicht, behandelt die Deifikation einer
großen Schar meist mythischer Gestalten, welche
sich in die Kämpfe der fallenden Um- mit
der aufsteigenden Chou-Dynastie (im zwölften
Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung) mischen.
Obwohl also auf eine bestimmte, wenn auch
nur halbhistorische, Zeit und auf bestimmte
Vorgänge bezogen, ist der Inhalt der Er¬
zählungen durchaus Phantastisch und voller
Anachronismen. Aus diesem Grunde und
auch deshalb, weil das Buch, wie die Klasse
der chinesischen Volisromane überhaupt, im
niederen Stil geschrieben ist, erfreut es sich
in der chinesischen Literatur keines Ansehens.
Genau gesprochen: von» chinesischen Stand¬
punkte aus betrachtet steht es außerhalb der
Literatur.
Inhaltsangabe des nicht übersetzten Textteiles
eine notwendige Ergänzung. Noch eine Be¬
merkung sei gestattet: die im Texte auf¬
tretenden Personen gehören größtenteils den:
taoistischcn Götterkreise an. Insofern ist der
Index von großem Werte, da man in ihm
die wichtigsten taoistischen Götter zusammen¬
gestellt findet. Doch würde man dem Buche
unrecht tun, wenn man es als ein Hilfs¬
mittel für das Studium des Taoismus be¬
trachten und beurteilen wollte; das kann und
soll es nicht sein. Als einen weiteren wert¬
vollen Beitrag zur chinesischen Volkskunde
wollen wir es entgegennehmen, mit dem Ge¬
fühl des Dankes gegen den verewigten großen
K»reit«i, l)r. Hans, Anthropologie «ut
Strafrecht. Würzburg, Curt Kabitzsch, 1912.
Brvsch. 2 M.
Wir finden in der vorliegenden Broschüre
zwei Vorträge vereinigt. Der erste ist als
Nachruf für Lombroso gedacht und im vorigen
Jahre auf dem Vit. Internationalen Kongreß
für Kriminalanthropologie zu Gehör gebracht
worden, der zweite bietet einen Überblick über
die Verhandlungen dieses Kongresses. Es
handelt sich jedoch hier nicht lediglich um ein
Referat, vielmehr hat der Verfasser sich be¬
fleißigt, zu einzelnen Darlegungen kritisch
Stellung zu nehmen. Die klare Form des
Berichtes, der sich auf die wichtigsten und
aktuellsten der erörterten Fragen beschränkt,
ist Wohl geeignet, weite Kreise über den Stand
der Diskussion zu orientieren. Und dies ist
angesichts der Strafrechlsreform wichtig. Der
Verfasser vermutet, daß der Reichstag, der
sich mit dem Entwurf zum neuen Deutschen
Strafgesetzbuch zu befassen haben wird, direkt'
oder indirekt auch die Kritik berücksichtigen
müssen wird, die der Vorentwurf in zahl¬
reichen seiner Bestimmungen durch politisch
den verschiedensten Richtungen angehörige
Männer von zweifelloser Bedeutung aus dem
Kölner Kongreß gefunden hat. Wir möchten
Ganz anders muß der Standpunkt des
europäischen Forschers sein. Eine Lektüre,
welche so zum täglichen Brot des Volkes ge¬
hört und in einer Statistik der in China
meistgelesenen Bücher einen der ersten Plätze
belegen würde, verdient an sich das Interesse
des Folkloristen. Man trete abends in die
Dienerräume und frage, was die Leute sich
vorlesen, man nehme dein chinesischen Mit¬
reisenden auf Schiff oder Eisenbahn das Buch
aus der Hand, man erkundige sich im Theater
bei der Wiedergabe eines antiken Stückes
nach dem zugrunde liegenden Texte: in der
Mehrzahl der Fälle wird es sich um das
l^SnA-fusil-^um-i oder einen ähnlichen Roman
handeln. Diese außerordentliche Volkstüm¬
lichkeit des Buches wird auch Wilhelm Grube,
besten Sondergebiet ja die chinesische Volks¬
kunde bildete, zu seiner Aufgabe geführt
haben. Die Verdeutschung eines svlchenTertes
bietet ungewöhnliche Schwierigkeiten, trotz der
leichten Sprache, in welcher er geschrieben
ist. Man kann sagen: es gehört schon ein so
hervorragender Sinologe und vor allem ein
so glänzender Stilist wie Grube dazu, um uns
einen chinesischen Volksroman verständlich und
lesbar zu machen. In der vorliegenden Über¬
setzung ist das in trefflicher Weise gelungen, so
daß der Leser sich nicht nur mit Interesse, son¬
dern auch mit Vergnügen der Lektüre hingeben
kann. Die von Herbert Müller dem Texte
vorangestellten Ausführungen geben eine wert¬
volle Einleitung, die angefügte kurzgedrängte
Die Nachricht von dem Heimgang des greisen Prinzregenten von Bayern
ist überall mit tiefer Bewegung und aufrichtiger Anteilnahme aufgenommen
worden. Zwar war es ein Ereignis, das nicht überraschend gekommen ist.
Denn der ehrwürdige Herr stand längst an der äußersten Grenze, die demi
menschlichen Leben nun einmal durch das Naturgesetz gesteckt ist, und Unter¬
richtete wußten längst von dem Verfall der Kräfte, der bei der geringsten
Störung auch ohne eine an sich gefährliche Erkrankung zur Katastrophe führen
konnte. Ungewöhnlich lange hatte sich Prinz Luitpold die körperliche Frische
bewahrt; der alte Weidmann und Soldat war immer noch auf dem Posten,
als sich auf seinem Scheitel schon mehr Jahre gehäuft hatten, als auch den
lebenskräftigsten Menschen beschieden zu sein pflegen. Es wird Aufgabe einer
späteren ausführlichen Betrachtung sein, den Prinzen Luitpold als Menschen
und Regenten zu würdigen. Hier mag nur auf einiges wenige hingewiesen
werden.
Erst im Greisenalter ist Prinz Luitpold dazu gelangt, die Zügel der
Regierung seines Landes zu ergreifen. Er war bereits in das reife Mannes¬
alter eingetreten, als er zum ersten Male mit der Wahrscheinlichkeit rechnen
mußte, daß die Krone von Bauern einmal an seine Familie fallen werde.
Aber auch dann hat er wohl nicht geglaubt, daß es ihm selbst noch beschieden
sein würde, die Negierung zu führen. AIs dritter Sohn des Königs Ludwig des
Ersten wurde er, der Tradition seines Hauses und seiner eigenen frühzeitig hervor¬
tretenden Neigung entsprechend, vorwiegend zum Soldaten erzogen. Den
Pflichten des militärischen Dienstes widmete er sich allezeit mit großer Hingebung,
und besonders für die Artilleriewaffe hegte er eine große Vorliebe und ein
bemerkenswertes Interesse. Der Vater hatte von Anfang an bei der Erziehung
des Prinzen sein Hauptaugenmerk darauf gerichtet, daß der junge Luitpold zu
einem „teutschen Mann" erzogen werde. Die Hoffnung des Königs hat sich
erfüllt. Mit Hingebung und Treue ohnegleichen ist dieser echte Sohn des
Bayernlandes, der mit ganzem Herzen seinem Stammlande angehörte, sich dessen
bewußt geblieben, das; er als Deutscher zugleich dem großen Vaterlande ange¬
höre. Neben diesem lebhaften Sinn für die Herrlichkeit der deutschen Nation
und der warmherzigen Liebe für alles Deutsche hatte Prinz Luitpold von seinein
kunstsinnigen Vater auch das tiefe Verständnis für die Kunst und die Freude
am Schönen geerbt, Dies wurde deshalb von besonderer Bedeutung, weil
seine schlichte und gerade Natur und seine eigene spartanische Einfachheit ihn
davor bewahrten, auf die Entwicklung der Kunst persönlich Einfluß nehmen
zu wollen. Er hatte seine Freude am Umgang mit Künstlern, an unparteiischer
Förderung jedes Talents, ohne seinen eigenen Geschmack zur Richtschnur zu
machen, nicht selten als geschickter Vermittler zwischen den leidenschaftlich mit¬
einander ringenden Kunstrichtungen. Im übrigen trat er wenig hervor und
führte ein Leben stiller Pflichterfüllung. Dieser Pflicht folgend, mußte er eine
für sein deutsches Herz schwere Probe durchmachen, als er 1860 gegen Deutsche
das Schwert ziehen mußte und seine Division mit Ehren, aber doch ohne daß
das Kriegsglück ihm hold war, gegen den Feind führte. Um so freudiger
konnte er dann 1870 seinen königlichen Neffen im großen Hauptquartier.König
Wilhelms vertreten und zugegen sein, als das deutsche Kaiserreich wieder auf¬
gerichtet wurde. Wie der Fünfundsechzigjährige nach der schweren Katastrophe
im Juni 1886 vor eine ungewöhnlich schwierige Aufgabe gestellt wurde, ist
bekannt. Er hat sie in sechsundzwanzigjähriger treuer Arbeit in einen: Alter,
in dem andere zur Ruhe gehen, vollständig gelöst, gelöst vor allem durch die
Gewandtheit, Tüchtigkeit und Pflichttreue seiner Persönlichkeit. Seinem Nach¬
folger in der Regentschaft, dem Prinzen Ludwig, wendet sich das berechtigte
Vertrauen zu, daß er das Werk seines Vaters fortsetzen wird. Auch er steht
jetzt bereits im achtundsechzigsteu Lebensjahre, aber das Alter hat ihm noch
nichts von der frischen Tatkraft geraubt, die durch Erfahrung und praktische
Tüchtigkeit besonders in wirtschaftlichen Fragen gefestigt worden ist. Möge
ihm gleichfalls ein noch langes Wirken zum Segen seines Landes vergönnt sein!
Während in London die Verhandlungen im Gange sind, welche den
Frieden auf dem Balkan herbeiführen und die Lösung der verwickelten poli¬
tischen Probleme auf gütlichem Wege versuchen sollen, haben sich mittlerweile
die wirtschaftlichen Verhältnisse in Europa immer ungünstiger gestaltet.
Die Folgen des Krieges und der politischen Beunruhigung treten von Tag zu
Tag schärfer hervor. Die Hoffnung, daß durch eine Lokalisierung der Balkan¬
wirren und eine Verständigung der Großmächte das europäische Wirtschaftsleben
vor einem verderbenbringenden Rückschlag bewahrt werden könne, erweist sich
immer mehr als eine trügerische. Die entstandenen Schäden sind schon zu groß,
als daß sie überwunden werden könnten; sie ziehen weitere Kreise und machen
ihren lähmenden Einfluß schon da geltend, wo man sich außerhalb des Gefahren¬
kreises glaubte. So bedeutet das zu Ende gehende Jahr nicht einen hoffnungs¬
vollen, sondern einen sorgenreichen Abschluß einer glänzenden Wirtschaftsperiode.
Das Gefühl tiefster und beunruhigender Unsicherheit lastet aus Handel und
Wandel, es erstickt jede Unternehmungslust und verhindert alle Dispositionen,
denn niemand kennt die Gefahren der nächsten Zukunft.
Am schwersten und unmittelbarsten ist von dem Mißgeschick selbstverständlich
die Börse und der Kapitalmarkt betroffen. Der Effektenhandel stagniert
völlig. Nicht nur das Spekulationsgeschäft liegt brach — das wäre noch zu
ertragen —, sondern auch die ernsthafte Kapitalanlage alimentiert den Markt
nicht mehr. So sinkt das Kursniveau tiefer und tiefer. Schon haben unsere
vierprozentigen Anleihen und Schatzscheine den Paristand aufgeben müssen.
Nichts spricht deutlicher die augenblickliche Lage des Anlagemarktes aus, als die
Tatsache, daß die in kurzen Fristen rückzahlbaren vierprozentigen Schatzscheine,
eine Anlage allererster Qualität, ein volles Prozent unter Pari notieren, daher
nahezu 4^ Prozent Zinsen abwerfen. Die Geldverteuerung hat besorgnis¬
erregende Formen angenommen. Der Ausweis der Reichsbank zeigt, daß ihr
Status sich gegen das Vorjahr vom September ab um mehr als 600 Millionen
verschlechtert hat. Trotzdem hat die Bank ihren Satz von 6 Prozent nicht
erhöht, um die Beunruhigung nicht zu vermehren; sie kann davon aber nur
solange absehen, als sich der englische Geldmarkt noch in leidlich normaler Ver¬
fassung befindet und der Stand der Devisenkurse nicht einen Abfluß von Gold
befürchten läßt. Das ist glücklicherweise einstweilen noch der Fall. Am offenen
Markte aber versteifen sich die Sätze mehr und mehr. Der Privatdiskont steht
auf voller Höhe der Bankratc; für Ultimogeld wurden phantastische Schätzungen
von 10 Prozent genannt, so daß die Deutsche Bank, um den Markt zu be¬
schwichtigen, sich bewogen fand, Geld zu 8^ Prozent zur Verfügung zu stellen.
Unzweifelhaft hat auf die Knappheit von Geld auch die Kopflosigkeit Einfluß,
mit der gewisse Bevölkerungskreise Gold und Banknoten aufspeichern, um für
den Kriegsfall gerüstet zu sein. Wir haben schon jüngst darauf hingewiesen,
daß die starken Abhebungen bei den Sparkassen solchen Thesaurierungszwecken
dienen. Sollte man es aber für möglich halten, daß auch wohlhabende, ja
reiche Kreise zu solchen Mitteln greifen? Die Deutsche Bank glaubt es fest¬
stellen zu können. Ist dem so, dann offenbart sich in solchem Verhalten ein
wirtschaftlicher Unverstand, dessen man sich nur schämen kann. Es ist alsdann
die ernste Mahnung am Platze, nicht durch so törichtes Verhalten gerade die
Katastrophen herbeizuführen, denen man zu entgehen wünscht. Nur eine fast
kindliche Unerfahrenheit kann glauben, daß im Ernstfalle Gold und Silber,
daheim wohlverwahrt, sicherer seien als im Tresor einer Bank oder Sparkasse
oder daß bares Geld dem Besitz von Staatspapieren vorzuziehen sei. Im
Kriegsfalle sind die Bestände der Banken völkerrechtlich genau so geschützt wie
jedes andere Privateigentum. Auch die Neichsbank ist immun, denn sie ist
keine Staatsanstalt. Man hat absichtlich, auch aus diesem Grunde, ihr den
Charakter eines privaten Unternehmens gewahrt, den übrigens mit Ausnahme
der russischen Staatsbank auch alle sonstigen zentralen Notenbanken haben.
Man darf sich dabei erinnern, daß im Jahre 1870 während der Invasion
durch eine vorschnelle Maßregel einer deutschen Armeeleitung die Bestände der
Bank von Frankreich bei einer Niederlassung mit Beschlag belegt wurden, aber
selbstverständlich sofort wieder freigegeben werden mußten. Es ist also nicht
der geringste Grund zu solchen Besorgnissen vorhanden. Und was den Besitz
von Effekten, insbesondere Staatspapieren anlangt, so wird im Kriegsfalle durch
Einrichtung von Kriegslombardkassen und ähnliche Maßregeln dafür Sorge
getragen, daß Staatsanleihen zu Geld gemacht werden können. Deshalb ist
der Besitz von Staatspapieren eine vollkommene Bürgschaft für die Liquidität
im Ernstfall.
Die ungünstige Gestaltring der wirtschaftlichen Verhältnisse im letzten Quartal
machte sich für die Banken besonders fühlbar. Ohne die Rückschläge des Herbstes
wäre das Jahr ein äußerst gewinnreiches geworden; jetzt werden an vielen
Stellen Verluste eintreten, wo man auf Gewinn gerechnet hatte. Allerdings
wird — mit einer Ausnahme — diese Veränderung der Sachlage sich nicht
in einem Rückgang der Dividende äußern. Unsere Großbanken sind gefestigt
genug und verfügen über ausreichende stille Reserven, um etwaige Ausfälle
nicht auf das Erträgnis einwirken zu lassen. Aber trotzdem wird der Abstand
zwischen dem erhofften und dem erzielten Gewinnergebnis ein recht beträchtlicher
sein. Denn die großen Konjunkturgewinne des Emissions- und Konsortial-
geschäfts fehlen für das zweite Halbjahr fast völlig; es sind ferner fast bei
allen Instituten Debitorenverluste entstanden, die erhöhte Abschreibungen fordern.
Auf der anderen Seite wird freilich das Zinsenkonto erhebliche Mehrertragnisse
bringen und auch das Provisionsergebnis wird durch das lebhafte Börsengeschäfte
während der Haussezeit sich günstig gestaltet haben. Die am wenigsten erfreuliche
Seite der Bankbilanzen ist zweifellos in den Engagements zu erblicken, welche
direkt oder indirekt mit dem Berliner Jmmobilienmarkt zusammenhängen.
Auf diesen Beteiligungen ruhen zum Teil große Verluste und neue stehen noch
in Aussicht. Erst dieser Tage ist ja bekannt geworden, daß die gesamten Berliner
Großbanken der Firma Zielenziger einen Lombardvorschuß von 2 Millionen
Mark auf Aktien der Terraingesellschaft Müllerstraße gewährt haben, die, als
der künstlich getriebene Kurs sich nicht mehr halten ließ, einen Kurssturz von
60 Prozent erlitten. Verluste im Immobiliengeschäft sind denn auch die Ursache,
warum der Schaaffhausensche Bankverein — die oben erwähnte Aus-
nähme — seine Dividende uni mindestens 1Prozent wird verkürzen müssen.
Der Bankverein hat auf diesem Gebiete eine besonders unglückliche Hand
bewiesen. Er ist mit großen Beträgen engagiert bei dem Zusammenbruch des
Bauunternehmers Kurt Berndt. bei Großberlin G. in. b. H., und vor allem
mit der Garantie sür die erste Hypothek des Voardinghauses in Höhe von
6 Millionen belastet. Noch hält sich dieses Unternehmen zwar aufrecht, aber
es ist ihm nicht gelungen, die zweite Hypothek zu beschaffen, und seine Situation
ist daher eine gefährdete. Sind doch schon einige Lieferanten, darunter nicht
unbedeutende Firmen, in Schmierigkeiten geraten, weil sie kein Geld er¬
halten konnten.
Diese Verhältnisse lenken von neuem den Blick auf die üble Lage des
Terrainmarkts und die Kreditnot des städtischen Grundbesitzes. Mit
ihr hat sich in diesen Tagen sogar eine Jnterpellation im Abgeordnetenhause
beschäftigt und der Landwirtschaftsminister hat sich über die Stellung geäußert,
welche die Regierung gegenüber dem Notstand des städtischen Realkredits ein¬
nimmt. Er hat sich zustimmend zu dem Antrag geäußert, eine Untersuchung
von Staats wegen über die Gründe des Notstandes und die Maßregeln zur
Abhilfe zu veranlassen. Eine solche wirtschaftspolitische Enquete wäre in der
Tat mit Freude zu begrüßen. Denn es handelt sich hier um ein Problem,
das äußerst schwierig und verwickelt ist und das, selbst wenn man die Ursachen
des Notstandes klar erkannt hat, doch sehr schwierig zu lösen sein wird, weil
dazu tiefe Eingriffe in die gegenwärtige Rechts- und Wirtschaftsordnung getan
werden müssen. Denn mit kleinen Mitteln, der Errichtung neuer Hypotheken-
institute zu der schon bestehenden Legion alter, der Schaffung von Taxämtern
und ähnlichen Maßnahmen ist es nicht getan. Manches davon wird heilsam
wirken. Das Taxwesen liegt, wie jedermann weiß, im Argen, obgleich auch
hier manches aus freien Stücken gebessert worden ist. Der Kernpunkt des
Problems liegt aber in der Kreditfrage. Wenn man nämlich von der
Kreditnot des städtischen Grundbesitzes spricht, so ist darin Wahres mit
Falschen gemischt. In der ganzen Welt gibt es keinen Staatsorganismus,
in welchem dem städtischen Nealkredit so ungeheure Summen zur Ver¬
fügung stehen und jährlich aufs neue zur Verfügung gestellt werden, als
Deutschland. Das Hypothekenbankwesen hat nirgends eine derartige Ent¬
wicklung und Ausbildung erfahren als bei uns. Der Psandbriefumlauf der
Hypothekenbanken beläuft sich auf etwa 10 Milliarden Mark und diese Kapitalien
sind zum allergrößten Teile dem städtischen Grundbesitz und darunter vorwiegend
wieder Berlin zugeflossen. Durch das System, welches die Hypothekenbanken
beim Vertrieb der Pfandbriefe beobachten, sorgen sie dafür, bei einigermaßen
günstiger Lage des Geldmarktes, immer neues Kapital in das Danaidenfaß des
städtischen Nealkredits hineinzupumpen. Sie müssen dies tun, denn ohne
Steigerung des Pfandbriefumlaufes würden ihre Gewinne bald nicht mehr aus¬
reichen. Und trotz dieser enormen Zufuhr an Kapital besteht unzweifelhaft eine
Kreditnot. Zweite Hypotheken sind nicht aufzutreiben. Bauunternehmer und
Häuserbesitzer gehen an diesem Kapitalmangel zugrunde. Das scheint ein Wider¬
spruch. Er löst sich aber, wenn man der Frage auf den Grund geht. Die
Kapitalien, welche der Realkredit der Hypothekenbanken dem städtischen Grund¬
besitz zur Verfügung stellt, kommen zum überwiegenden Teil dem Boden¬
eigentümer zugute, dagegen nicht dem Produzenten, dem Erbauer. Der
Produktivkredit ist es, der fehlt. Der Produzent kann keinen Kredit
erhalten, weil er mit seiner Arbeit kein selbständiges Wertobjekt schafft. Das
Haus weicht dem Grund und Boden; nur der letztere, nicht das Haus als
solches kann beliehen werden. Daher nimmt der Grundeigentümer die zur
Verfügung stehenden Kreditkapitalien für sich in Beschlag; das zu erbauende
Haus und der dadurch geschaffene Mehrwert dient nur dazu, seinen Besitzkredit
zu erhöhen, während der Produzent leer ausgeht. Das Übermaß dieses Besitz¬
kredites, die Leichtigkeit ihn zu erhalten und zu erhöhen übt dann die bekannte
bodenpreissteigende Wirkung in den Großstädten. Ein ganz typischer Fall der
letzten Tage läßt dies klar erkennen. Eine Berliner Jmmobilienfirma ist in
Zahlungsschwierigkeiten geraten. Sie besaß in Charlottenburg ein größeres
Anwesen, welches sie „der Bebauung erschließen" wollte. Für dieses Terrain
rechnete sie auf Grund der bestehenden Bauordnung mit der Erbauung der
bekannten fünf- oder sechsstöckigen Mietskasernen. Unter dieser Annahme war
der „Wert" des Terrains kalkuliere und dementsprechend war der Grund und
Boden — wohlverstanden der unbebaute — bereits hypothekarisch belastet.
Da erschien eine neue Bauordnung, welche villenartige Bebauung vorschrieb.
In demselben Augenblick war das Terrain entwertet, die hypothekarisch ein¬
getragenen Kapitalien verloren. Der Grundeigentümer hatte schon im voraus
durch Aufnahme von Besitzkredit über die Werte verfügt, welche erst durch die
künftige Erbauung von Häusern geschaffen werden sollten. Derart liegen die
Fälle fast allenthalben, wo es sich um die Erschließung neuer Bauterrains in
den Großstädten handelt. Der Bodenspekulant schöpft den Rahm ab, der spätere
Eigentümer, noch mehr aber die Bauhandwerker, welche Arbeit und Geld für
die Erbauung opfern, sind die Geschlagenen.
Daraus ergibt sich, daß das Problem darin besteht, bei dem Nealkredit
die Elemente des Besitzkredits und des Produktions- beziehungsweise
Meliorationskredits zu trennen und letzterem den Vorzug vor ersterem zu
verschaffen. Denn nur der letztere ist volkswirtschaftlich bedeutsam. Diese Auf¬
gabe wird ohne Reform unseres Hypothekenrechts nicht zu lösen sein und bietet
die größten Schwierigkeiten, die im einzelnen hier nicht dargelegt werden können.
Um so mehr wird es zu begrüßen sein, wenn über diese Fragen eine ein¬
gehende Untersuchung Licht verbreitet. Wir haben mit früheren Enqueten vor¬
zügliche Erfolge erzielt; es sei nur an die Silberkommission, die Börsen- und
die Bankenquete sowie an das große Werk der Kartelluntersuchung erinnert, die
sämtlich über schwierige Fragen der praktischen Wirtschaftspolitik sehr dankens¬
wertes Aufklärungsmaterial geliefert haben.
Das Reichspetroleummonopol ist vom Reichstag nicht sehr günstig auf¬
genommen worden. Man darf indessen die Hoffnung nicht aufgeben, daß die
vertraulichen Mitteilungen der Negierung in der Kommission doch noch dazu
führen werden, in dieser wichtigen Frage zu einer gedeihlichen Entschließung
zu gelangen. Mittlerweile wird die breitere Öffentlichkeit darüber aufgeklärt,
daß die amerikanischen Trustmagnaten im Zuge sind, auch auf einem anderen
Gebiete ein Privatmonopol in Deutschland zu etablieren. Der amerikanische
Tabaktrust hat im Stillen die Hand auf eine Anzahl der bedeutendsten deutschen
Zigarettenfirmen gelegt. Er arbeitet genau nach dem Muster Nockefellers und
hütet sich, seine Herrschaft und Monopolbestrebungen nach außen kund zu tun.
Nur die Vranchekundigen wissen Bescheid. Daher haben die deutschen Tabak¬
händler es an der Zeit gehalten, öffentlich auf diese Bestrebungen aufmerksam
zu machen und zur Gegenwehr aufzurufen, ehe es zu spät ist. Vielleicht hilft
die Erkenntnis der Gefahr nicht nur dem Petroleummonopol zum Siege, sondern
ermutigt auch die Regierung auf dem betretenen Wege fortzuschreiten und sich
des „Patrimonismus der Enterbten" zu erinnern, das Bismarck schon vor
mehr als dreißig Jahren — leider vergeblich — in Wirklichkeit umzusetzen
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Verantwortlich: der Herausgeber Neorge Tleinow in Echöneberg, — ManusKIptsendungen und Breche wer»?»
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Druck: .Der Reichsbote' «. »>, b. H. in Berlin SV. 11, Dessau» Strasj« SS/M,
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mentar und ein ausführliches General-Register.
Der Ausstattung wurde die größte Sorg¬
falt gewidmet. — Das Werk tann als Fest-
geschenk von bleibendem Wert bestens emp¬
fohlen werden.
el all der Erregung in Europa, allein voran natürlich in England,
über die ungleiche Behandlung der Handelsschiffe der Vereinigten
Staaten und der fremden Schiffe im Panamakanal, wird die Haupt¬
sache, namentlich in Deutschland, sogut wie vollständig übersehen.
^ Man hat sich entrüstet über die einem vollkommenen Bruch gleich¬
kommende Auslegung des Hau-Pauncefote-Vertrages durch die vereinigten
Staaten, derzufolge man die von England zur Bedingung gemachte Gleichheit
der Gebühren für alle Handelsflaggen so verstand, als sei damit gemeint:
„alle Handelsflaggen mit Ausnahme der nordamerikanischen". Aber man hat
den zweiten Teil des inzwischen zum Gesetz gewordenen Kongreßbeschlusses
sehr wenig beachtet. Nach diesem Beschluß können im Auslande gebaute Handels¬
schiffe fortan zollfrei unter amerikanische Flagge gebracht werden und erwerben
dadurch den Anspruch auf gebührenfreien Verkehr im Panamakanal. Man hat
nicht bedacht, daß damit der Auswanderung europäischer Schiffe eine Tür
geöffnet wird, die zu einer vollständigen Verschiebung des Besitzes an Handels¬
flotten führen kann. In Deutschland hat man diesem Punkte keine Wichtigkeit
beigemessen, in den Vereinigten Staaten aber hat man sehr wohl gewußt,
was man tat. Man wollte endlich in den BefH einer starken eigenen Handels¬
flotte gelangen, wie sie England, Deutschland, Japan so wesentlich in ihrer
überseeischen Wirtschaftspolitik unterstützt. Zu diesem Zweck wollte man eine
Menge bester europäischer Schiffe für die Handelsflotte des Sternenbanners
gewinnen; daher stellte man ihnen als Magnet die Gebührenfreiheit im Pcmama-
kanal hin, die sie als fremde Schiffe gar nicht, als nordamerikanische aber mühelos
erlangen können.
Gegenwärtig ist die nordamerikanische Handelsflagge aus dem inter¬
nationalen Verkehr fast verschwunden. Einstmals folgte sie an Größe der
englischen auf den Fersen. Da kamen zwei für sie verderbliche Ereignisse: der
Bürgerkrieg, der eine Anzahl nordamerikanischer Schiffe den Raubkreuzern der
Südstaaten („Alabama", „Shenandoah") zum Opfer fallen ließ und noch weit
mehr zum Verkauf an Engländer trieb; sodann der Übergang von: Holzbau
zum Eisenbau, der die Amerikaner des großen, in ihren Eichenwäldern steckenden
natürlichen Vorteils beraubte; das billigste Eisen hatten aber die Engländer. Der
Bürgerkrieg endete mit dem Siege der Nordstaaten, die das englische Eisen durch
hohe Schutzzölle fernhielten; da damit der Schiffsbau verteuert und es für die
amerikanischen Reeber vorteilhafter wurde, ihre Schiffe im Ausland zu kaufen,
so verboten die Nordstaaten die Aufnahme fremder Schiffe unter die amerikanische
Flagge. Die heimischen Schiffe wurden aber so teuer, daß sie überall die
Möglichkeit des Wettbewerbs verloren. Um nun den amerikanischen Reedern
eine Entschädigung zu gewähren, verlieh man ihren Fahrzeuge« das gesetzliche
Monopol auf die gesamte Küstenfahrt, und verstand darunter die Fahrt zwischen zwei
beliebigen Häfen unter amerikanischer Herrschaft, selbst wenn sie so weit voneinander
entfernt waren wie New Vork und Honolulu. Auch die Küstenfahrt auf den
fünf großen Süßwasserseen durfte nur von nordamerikanischen Schiffen betrieben
worden. Diese Fahrzeuge sowie die Seefischer und (wovon hier ab¬
gesehen werden kann) einige besondere Ausnahmeschiffe machen die amerikanische
Handelsflotte aus. Unter den Segelschiffen rangieren die nordamerikanischen,
nachdem die englischen fast den Platz geräumt haben, an erster Stelle; unter
den Dampfern an dritter, denn nur die englischen und deutschen gehen ihnen voraus.
Aber aus dem internationalen Ozeanverkehr sind die einst so stolzen
Sternenbannerschiffe sogut wie verschwunden. Die Amerikaner haben seit einer
langen Reihe von Jahren versucht, diesem Mangel dadurch abzuhelfen, daß sie
ganz außerordentlich hohe Staatsunterstützungen für Postdampfer und für andere
Dampfer nach dem Maße der Größe und Schnelligkeit aussetzten. Es hat
ihnen noch weniger genützt als den Franzosen, die den gleichen Weg beschritten
und doch den kühnen Wagemut der englischen, deutschen, norwegischen Reeber
und Schiffer nicht ersetzen konnten. Lange stritt man sich über noch immer
weiter gehende Subventionen. Der Süden und die inneren Staaten wollten
jedoch nicht mitgehen; sie sagten: wir können mit eigenen Schiffen gar nicht
besser bedient werden als jetzt durch die fremden; letztere verlangen aber keine
Geldopfer von uns. Allmählich, namentlich infolge der Spannung mit Japan,
ist eine andere Anschauung zur Herrschaft gelangt: nicht nur bei den
Republikanern, sondern auch bei den Demokraten, namentlich in den am Golf
von Mexiko gelegenen Staaten, die sich vom Panamakanal einen ihnen besonders
nützlichen Verkehr versprechen.
Wie sehr die Übernahme des Baues des Panamakanals durch die Ver¬
einigten Staaten von der Stellungnahme gegen Japan beeinflußt ist, braucht
hier näher nicht dargelegt zu werden. Ursprünglich hat wohl kaum die Absicht
bestanden, die Wirtschaftspolitik des Seewesens aus diesem Anlaß zu ändern.
AIs man jedoch die japanische Handelsflotte immer schneller wachsen sah, kam
es auch den Amerikanern mehr und mehr zum Bewußtsein, einen wie seltsamen
Eindruck es machen müsse, wenn die Amerikaner die in ihrem Besitz befindliche
entscheidende Verkehrsader durch die westliche Halbkugel fast ausschließlich von
Schiffen fremder Völker befahren ließen. Weiter überzeugten sie sich auch an
eigenen und fremden Erfahrungen, daß jede Flottenaktion des Bestandes einer
bedeutenden Flotte von Handelsdampfern bedürfe.
Wie aber sollte man diesen erlangen? Mit Schiffsbau- und Neederei-
subventionen ans Ziel zu kommen, wie die Interessenten wollten, erschien aus¬
sichtslos. Auch die Befreiung der amerikanischen Schiffe von der Gebühr im
Panamakanal, übrigens auch nichts weiter als eine Subvention, konnte noch
weniger nützen. Es mußte schon der große Entschluß hinzukommen, zu erlauben,
daß im Auslande gebaute Schiffe in das Eigentum nordamerikanischer Bürger
und zugleich in das Flaggenregister der Vereinigten Staaten übergehen könnten,
und zwar zollfrei. Damit sollte zugleich das Handwerkszeug gewonnen werden
für eine Erweiterung der wirtschaftlichen Weltpolitik mit Bezug auf die Schiffahrt,
ja auch vielleicht mit Bezug auf die Politik überhaupt.
Das ist dann geschehen und zwar durch Beschluß des Kongresses vom
24. August 1912, d. h. durch die Panamakanalbill, die dem Präsidenten anheim¬
gibt, die Gebühr für Passieren des Kanals auf höchstens 1 Dollar 25 Cents für
ausländische Schiffe zu bemessen (inzwischen ist sie auf 1 Dollar 20 Cents festgesetzt).
Handelsschiffe der Vereinigten Staaten sollten jedoch von Abgaben freibleiben.
Gleichzeitig ist der zollfreie Zugang im Auslande gebauter Handelsschiffe erlaubt.
Die Anweisung des Handelsamts vom 30. August 1912 an die Zollämter
gibt über den Sinn dieser Bestimmungen nähere Auskunft, Mit der Befreiung
der amerikanischen Flagge brauchen wir uns nicht weiter aufzuhalten. Über
die Zulassung fremder Schiffe zur amerikanischen Flagge heißt es dort:
„ . . . . nach diesem Gesetz dürfen in das Register und zwar aus¬
schließlich für den Handel mit fremden Ländern oder mit den Philippinen
gebracht werden: Seeschiffe, ob Dampf- oder Segelschiffe, die von der
nordamerikanischen Dampferinspektion zur Beförderung trockner und verderblicher
Ladung als sicher befunden, zur Zeit der Anmeldung für das Register nicht älter
als fünf Jahre sind, wo sie auch immer gebaut sind, ... im alleinigen Eigentum
von Bürgern oder organisierten Gesellschaften der Vereinigten Staaten (orga¬
nisiert nach den Gesetzen der Vereinigten Staaten oder eines Einzelstaates
derselben), deren Präsident und leitende Direktoren Bürger der Vereinigten
Staaten (und keines anderen Staates) sein sollen. Vom Küstenhandel sollen
sie jedoch ausgeschlossen sein."
Letzteres ist die einzige Benachteiligung gegen in Amerika selbst gebaute
Schiffe. Ja, eingeführte fremde Schiffe dürfen sogar, wie noch ausdrücklich
hinzugefügt ist, Anteil an den vom Generalpostmeister zu vergehenden Sub¬
ventionen haben.
Nordamerikanische Reeber kommen also nun in die Lage, Schiffe in Eng¬
land, Deutschland, auch in anderen Ländern Europas, kaufen zu können und an allen
Vorteilen der amerikanischen Handelsschiffe, mit Ausnahme der Küstenschiffahrt,
teilnehmen zu lassen, nur dürfen sie nicht älter sein als fünf Jahre. Solche
Schiffe sind in Europa weit billiger, als in Amerika; dennoch läßt man
den sonst maßgebenden Gru"dsatz, daß die billigere Herstellung des Aus¬
landes durch Zölle wieder ausgeglichen werden müsse, hier gänzlich fallen.
Ganze Schiffe und für den Schiffbauer, nicht für den Händler, auch Schiffsbau¬
materialien sind zollfrei. Die Schiffe müssen Eigentum von amerikanischen Bürgen:
sein; amerikanische Bürger können sie also kaufen und einführen. Aber mit
Hilfe von in Amerika gegründeten Aktiengesellschaften können selbst Europäer
ihre Schiffe unter amerikanische Flagge bringen, nur muß die Verwaltung
aus amerikanischen Bürgern bestehen, was leicht genug zu machen ist.
Die amerikanischen Gesetze schreiben vor, daß die Besatzungen unter amerika¬
nischer Flagge fahrender Schiffe bis zu einem gewissen Bruchteil aus amerikanischen
Bürgern bestehen müssen. Diese sind natürlich nicht im Handumdrehen vor¬
handen, aber doch, falls man keine anderen Vorkehrungen trifft, in längstens
drei Jahren. In diesem Zeitraum erwerben Einwanderer das Bürger¬
recht. Schon jetzt sind die Löhne der Besatzungen in den Vereinigten
Staaten viel höher als in Europa. Wenn nun mit einemmal eine
solche Nachfrage nach Seeleuten entsteht, werden viele Engländer, Deutsche,
Skandinavier, vom Schiffsjungen bis zum Kapitän aufwärts hinüber¬
gehen. Alle europäischen Seestaaten suchen ihr Personal festzuhalten, es ist
aber nicht wahrscheinlich, daß dieses so großen Lockungen widerstehen wird. Denn
die Amerikaner können viel bieten. Man denke doch, wieviel Geld ein mittlerer
Dampfer von 8000 Registertonnen Netto auf einer einzigen Reise erspart.
Die Gebühren für zweimaliges Durchfahren des Kanals belaufen sich auf
19200 Dollars oder 80600 Mark. Dies vermeidet man mit dem Übergang
des Schiffes unter amerikanische Flagge, und dabei kann die Durchfahrt dann
im Jahre sechs- oder zwölfmal oder noch öfter wiederholt werden.
Es ist zu erwarten, daß sehr viele europäische Schiffe auf diese Weise die
Heimat wechseln werden und mit ihnen eine entsprechende Anzahl von Seeleuten.
Das werden auch die Kriegsmarinen der betroffenen Länder fühlen, denn ihre
Reserven bilden die Mannschaften der Handelsschiffe. Die Amerikaner können
eine Kriegsflotte fortan weit leichter bemannen als zuvor, die europäischen
Staaten weit schwerer. Auch weitreichende wirtschaftliche Folgen werden sich
einstellen. Bis zu einem gewissen Grade ist es richtig, daß der Handel der
Flagge folgt. Wenn statt der Europäer fortan viele Amerikaner in den süd¬
amerikanischen und australischen Häfen in Uokohama, Schanghai, Hongkong
einlaufen, so knüpfen sich viele Handelsbeziehungen zwischen diesen und den
Vereinigten Staaten an, zumal fortan die Reise von New Jork dorthin kürzer
sein wird als von Deutschland oder England. Auch werden sich die Staats¬
männer von Washington durch einen so viel lebendiger gestalteten Verkehr
amerikanischer Schiffe im Auslande genötigt sehen, vielen Ländern eine politische
Aufmerksamkeit zuzuwenden, um die sie sich bisher kaum gekümmert haben.
Welche Folgen das haben wird, kann heute noch niemand ahnen.
Man kann aber sagen: der Schwerpunkt des Seewesens, der bisher in
England und in zweiter Linie in Deutschland lag, wird fortan stark nach den
Vereinigten Staaten abgelenkt werden. (Wir trauen indessen unsern großen
Schiffahrtsgesellschaften zu, daß sie befähigt sind, dem neuen Problem in einer
Zum „Briefwechsel zwischen König Johann von Sachsen und den
Königen Friedrich Wilhelm dem Vierten und Wilhelm dem Ersten von
Preußen". Herausgegeben von Johann Georg, Herzog von Sachsen.
Unter Mitwirkung von Hubert Ermisch. Quelle u. Meyer, Leipzig,
1911. S14 Seiten.
er Briefwechsel König Johanns von Sachsen mit den Königen
Friedrich Wilhelm dem Vierten und Wilhelm dem Ersten von
Preußen, der uns von kundiger Hand und in musterhafter Aus¬
gabe geschenkt worden ist, führt uns durch alle Epochen, die für
die Geschichte der deutschen Einigung im neunzehnten Jahrhundert
bedeutsam geworden sind. Er spiegelt ihre einzelnen Stadien im Geiste dreier
Fürsten, die völlig abgeschlossene Individualitäten waren. Sie standen sich
persönlich nahe und verkörperten doch die Überlieferungen ihres Hauses, ihres
Staates; sie hatten deren Jahrhunderte alten Gegensatz durchzufechten, bis man
in einer höheren Einheit den versöhnenden Ausgleich fand. Ein außerordentlich
reizvolles, ein schimmerndes Spiel persönlichster Beziehungen, geistiger Gemeinschaft,
politischer Wandlungen, menschlichster und staatlicher Konflikte enthüllen die
zahlreichen Briefe der drei Monarchen.
Friedrich Wilhelmi und Johann hatten die bayerischen Zwillingsschwestern
geheiratet. Es waren an die zwölf Jahre nach dem Wiener Kongreß verstrichen,
als beide miteinander die Korrespondenz anknüpften. Etwas früher schon
war auch Prinz Wilhelm mit dem sächsischen Verwandten in schriftlichen Verkehr
getreten, der bald in freundschaftliche Formen überging. Freilich das leuchtete
von vornherein ein: enger schlössen sich Johann und Friedrich Wilhelm anein¬
ander an. Ihre Freundschaft war auf tiefer gegenseitiger Zuneigung aufgebaut.
Sie bilden, bei aller Verschiedenheit ihres Wesens, ein Paar für sich, wenn man
sie etwa mit dem Prinzen Wilhelm vergleicht. Der geistige Grund und Boden,
ans dem diese beiden standen, war nicht der seine. Man käme ins Schablonisieren,
wollte man den Reichtum dieser vielseitigen persönlichen Berührungen auf ein
paar dürre Begriffe zurückführen, statt ihnen liebevoll ins einzelne nachzugehen,
um das Verwandte und Widerspruchsvolle darin aufzudecken. Eine erschöpfende
Analyse kann hier freilich nicht unternommen werden; nur einige besonders
hervorstechende Eindrücke mögen festgehalten werden.
Die Briefe Friedrich Wilhelms und Johanns strömen für uns das Lebens¬
gefühl und die Stimmungen einer vergangenen Epoche ans. Ihre Korrespondenz
ruht auf einem starken Bedürfnis sich gegenseitig mitzuteilen, auf einer sehr
persönlichen Grundlage. Sie ist frei von dem erkältenden Hauch der Objek¬
tivität, der Rastlosigkeit und Zielstrebigkeit, der heutzutage, wenn man so
allgemeinhin urteilen darf, zumeist unserem brieflichen Verkehr anzuhaften pflegt.
Da sprechen zwei Menschen von dem, was innerstes Empfinden, Familie und
politische Ereignisse ihnen zutragen, gefühlvoll, mitteilsam, voll Freude an sich
und am anderen. Es kommt hinzu, bei Friedrich Wilhelm allerdings in stärkerem
Maße, ein besonderes Vergnügen am Schreiben, an Ausdruck und Form,
obwohl auch der Kronprinz von bewußter Pose weit entfernt ist und sich höchst
unbefangen den krausen Eingebungen des Augenblicks überläßt. Wohltuend
berührt die große Zartheit der Freunde im wechselseitigen Umgang, die Reinheit
und Wärme des Familienlebens, die in der langen Kette dieser Briefe durch¬
leuchtet.
Die beiden Freunde waren überaus erfinderisch in Spitz- und Kosenamen,
womit sie einander bedachten. Friedrich Wilhelm geradezu unerschöpflich.
Er gefiel sich in seinen humoristischen Verkleidungen als Dicky oder Onkel
Wauwau. Vielleicht wird man in seiner Selbstpersiflage nur den Ausdruck eines
gesteigerten Selbstgefühls, die kokette Ironie des Romantikers erblicken. Man
kann es bezweifeln, ob er ein Mensch von ursprünglich quellenden, echtem Humor
war; man möchte wohl eher von barock anmutenden Witz reden. Er glitt
freilich nur zu oft ins triviale Wortspiel oder gar in einen Berliner Kalauer
über. Ein ausgelassener, knabenhafter Übermut treibt in den Briefen des Kron¬
prinzen wie des Königs sein Wesen. Es verleiht dem Manne einen liebens¬
würdigen Reiz, nicht selten aber befremdet es geradezu, weil man darin die
Schlacken einer ungleichmäßigen Entwicklung, einer unharmonisch durchgebildeten
Persönlichkeit wahrzunehmen glaubt. In den burschikosen Ton des Freundes, dessen
Feder so gar nicht auf fürstliche Würde hielt, hat Johann kaum eingestimmt.
Dagegen scheint er empfunden zu haben, daß in dem sprudelnden, geistreichen
Kronprinzen mit seiner sich überstürzenden Skala von Gefühlen eine Originalität
steckte, die ihm selber fremd war. Er ließ sich gelegentlich mit fortreißen, die
Art Friedrich Wilhelms steckte ihn zuweilen an, aber immer spürt man auch in
seinen gehobenen Stimmungen, daß er nicht so beweglich war, nüchterner und
gewiß auch gesünder. Man wird ihn kaum als einen ausgesprochenen Roman¬
tiker betrachten können; Friedrich Wilhelm war es. Mißt man seinen viel-
spältigen, schillernden Charakter an dem geraden, besonnenen Wesen Johanns,
seinen phantastischen Überschwang an dem herzlichen, bisweilen überquellenden,
aber doch so viel einfacheren Empfinden des Freundes, so erinnert Johann
wieder in manchen Zügen eher an den Prinzen Wilhelm. In seinen rein
geistigen Interessen dagegen berührt er sich viel intimer mit dem preußischen
Kronprinzen. Sie beide standen noch im Zeichen des literarischen Geschlechts.
Sie lasen viel, Friedrich Wilhelm verfolgte die Danteübersetzung seines gelehrten
Freundes mit stetem Eifer. Wenn Johann einmal den Schwager beschwor, so tat
er es „bei allen Göttern Griechenlands und Skandinaviens, bei Dante und
Goethe, bei Beatrice und Laura, bei unserem Haß für die Nützlichkeitsmacher,
bei allen blauen Pflaumen Dresdens, bei dem entstandenen Erdbeben." Sie
hatten in jungen Jahren eine gemeinsame Reise nach Italien unternommen.
Friedrich Wilhelm hatte mit Rührung an Dantes Grab gestanden. Die
Erinnerungen an die Erlebnisse dieser Fahrt tauchen ab und zu in diesen
Briefen auf. Dem sächsischen Prinzen war ein Abend in Novi im Gedächtnis
geblieben, wo sie den ersten italienischen Sonnenuntergang sahen, das Dies irae
und das Stab-it mator deklamierten. So schwelgten der hohenzollernsche
Protestant, der sich so gern mittelalterlichen Vorstellungen hingab, und der
katholische Wettiner einträchtig miteinander in Empfindungen frommer Glut, wie
sie sich auch später in der Abneigung gegen die deutschkatholische Bewegung
zusammenfanden.
Wollte man kurzerhand die politischen Pole bezeichnen, die das innere
und äußere Leben dieser beiden Fürsten bestimmten und mit ihm das ihrer
ganzen Epoche, so möchte man sie auf der einen Seite in der Legitimität, auf
der anderen in der Revolution erblicken. In dem Kampf dieser beiden Ideen
entfalten sich alle die reichabgestuften Gegensätze, welche die vormärzliche Zeit
erfüllen und gewaltsam zusammenprallen, im Jahre 48, wo sie zugleich
ihren dramatischen und tragischen Höhepunkt erreichen. Johann und Friedrich
Wilhelm wurzelten im Glauben an das Gottesgnadentum der Monarchie, von
deren Aufgabe sie eine hohe und reine Vorstellung hatten; freilich sucht man
bei dem Sachsen vergeblich nach jenen: mystischen Schimmer, mit dem Friedrich
Wilhelm sich und sein Amt umkleidete. Man wird kaum irre gehen, wenn
man annimmt, daß sich Johann mehr der gottgewollten Pflichten als seiner
königlichen Ausnahmestellung bewußt war. Sein Herrschergefühl war, wie es
in dem ganzen Wesen dieses Mannes lag, nüchterner, einfacher, bürgerlicher,
und weit entfernt von der schwärmerischen, bisweilen ungesunden Verzückung,
zu der es sein romantischer Freund steigern konnte. Dynastisch, legitim empfand
auch Johann, aber wie viel leidenschaftlicher und phantastischer trug Friedrich
Wilhelm stets die Farben auf. Man höre seine Totenklage für den Kaiser
Franz, „den lieben herrlichen Franzi, weyland römischen Kaiser und (was für
mein Gefühl noch unaussprechlicher ist) den letzten König der Teutschen", diese
wunderliche Mischung wortreicher Gefühlsseligkeit und abspringenden Witzes.
Der Heimgang des Monarchen gab ihm Anlaß, in Erinnerungen an die heilige
Allianz zu schwelgen: „Die Drey, vor denen der HERR die Schaaren des
WeltEroberers niederwarf, die Ihn vor aller Welt als Ihren HERRn und
König bekannten und deren vereinter Macht Er das Ungeheuer der Revoluzion
gebannt überliefert hatte, bis auf einen geschmolzen! das Ungeheuer los und
an allen Enden Blut, Thränen, Brand, Verrath und alle Sünden hausend!!
das ist tragisch! und nun der Ersatz für dieses theure, geheiligte Haupt! Nicht
wie der für Alexander, der mehr als vollkommener Ersatz ist — sondern eine
gute ehrliche Haut, von der viele zweifeln, ob er begriffen, daß .1 -s-1 2 ist
und der gewiß nie begreifen wird, warum 1^1 unter gewissen Umständen
z> B. 6 seyn kann wie unter anderem bey Dir und Mokrlü" Ähnliche Er¬
güsse widmete er der Revolution, die er anläßlich der englischen Parlaments¬
reform im Mai 1832 mit einer wahren Flut apokalyptischer Verwünschungen
überschüttete. Er verglich sie mit dem Tier der Offenbarung Johannis, oder
„mit der Hure, welche mit den Königen gehuret und sie aus ihrem Kelch trunken
gemacht hat". Er berauschte sich geradezu an diesen Bildern, er redete sich
immer mehr in den Affekt hinein, um sich ebenso jäh wieder abzukühlen und
in die entgegengesetzte Stimmung umzuschlagen. „So im Schreiben," bekennt
er selber, „gefalle ich mir in der apocalyptischen Rolle und decretiere nunmehr,
daß das Thier die Revoluzion ist und die Hure die Weisheit des JahrlOOs,
die immer vollauf frißt und säuft und anderen giebt in großen Haufen zu kosten
und doch nimmer satt wird noch satt macht. Gewiß ist das Ding, was Revo¬
luzion jetzt heißt, Etwas, was seit Erschaffung der Welt kein Mensch geträumt
hatte bis 89. Es ist ganz etwas apart Behendes, kluges und Gottloses darin.
wie in nichts Ähnlichem bis Daher und den Reitz der Originalität kann Niemand
ihm absprechen bei seinem Auftreten. Daß es nach 43 Jahren, nach soviel
Blut und Thränen und nach so abgenutzten KunstGriffen und Verführungen
noch immer verführt, ist wahrlich kein Compliment für unser Geschlecht. Wenn
nur die Könige sich frey hielten von den MahlZeichen des Thiers. — Doch
genug Apocalypse; Laßt uns flugs ein recht kühles Thema wählen, um aus
dem mystischen Wüste zu entkommen." Aus der Antwort des sächsischen Freundes
klang etwas wie Bewunderung heraus, die schüchtern in denselben Ton ein¬
stimmen wollte und doch eine leise verständige Mahnung nicht unterdrücken
konnte, wenn er sagte: „Aber von der anderen Seite mache, daß wir ein
Deutschland nach unserem Sinne bekommen, damit die Leute sich nicht nach
einem apocalyptischen ditto sehnen." Auch Johann betrachtete den stürmischen
Liberalismus mit Mißtrauen und verurteilte die unreifen Auswüchse des jungen
parlamentarischen Lebens, die er in seinen: engeren Vaterlande ebenfalls zu
beobachten Gelegenheit hatte. Aber als besonnener Kopf strebte er doch ehrlich
darnach, den berechtigten Kern in all diesen Erscheinungen herauszuschälen, die
der andere in Bausch und Bogen verdammte. Johann war ein viel weniger
deduktiver Geist als Friedrich Wilhelm. Er hielt sich strenger und nüchterner
an die einzelnen Tatsachen und lief daher auch weniger Gefahr, das Kind mit
dem Bade auszuschütten.
Die politischen Ereignisse, in die sie als Zuschauer oder handelnde Personen
verflochten waren, erweckten daher bei so verschieden gestimmten Temperamenten
selten den gleichen Widerhall, obwohl sie in den Grundanschauungen eins waren.
AIs die Pariser Julirevolution auch nach Sachsen hinübergriff, enthüllte
sich diese Verschiedenheit zum erstenmal an einem ernsten Beispiel. Der preußische
Thronfolger las dem Prinzen ziemlich nachdrücklich die Leviten wegen der Nach¬
giebigkeit der sächsischen Regierung. „Ich muß jetzt frey von der Leber weg
sprechen," schrieb er am 23. September 1830, „und mich Dir als Freund
beweisen — und ein wahrer Freund kann nicht immer loben —. Die
Ereignisse bey Euch sind mir von allen ähnlichen, jetzt fast unzähligen
im schönen teutschen Lande die widrigsten und empörendsten. Zu Braunschweig
und Kassel herrschten oder herrschen Ungeheuer, würdig denen verstorbenen
Gottheiten Heliogabal's und Commodus' verglichen zu werden; Onkel Alten¬
burg, trotz seines 50 Jährigen Jubels, hat sich als ein alter Esel bewährt;
bey uns, zu Schwerin, zu Hamburg, ist Ernst gezeigt und alles beygelegt
worden —. Bey Euch waltet die väterlichste, billigste Regierung von
Teutschland, Ihr habt ein treues Heer, die mächtigsten Nachbarn, denen es
eine Freude wäre Euch moralisch und physisch beyzuspringen, und vor allem
ein vortreffliches Volk auf dem Lande — ! — I — I — Und Ihr weist dem
Otterngezücht, der Handvoll Canaille und Canaillen, dieser Mixtur von empörtem
Pöbel und schändlichen Empörern nicht die Zähne? — I!! Ich sage es mit
größter Überzeugung — unter allen denkbaren Lagen ist keine so vor ähnlichem
Beginnen sicherer stellende denkbar als die Eure! Und noch heute höre ich,
daß Ihr mit dem Gesinde! Euch einläßt, bald nachgeht, bald vorstellt, bittet
und verhandelt — (das macht mir das Blut sieden) — da wo Ihr von Gott
und Rechtswegen nichts thun sollt als befehlen — entweder; oder —. Und
dies oder ist niemand so im Stande mit Nachdruck auszusprechen als Ihr—.
Ein Wort des Königs und der verehrten Prinzen an das LandVolk. und sie
schlagen die Empörer todt —. Ein Befehl an Eure Garnisonen, und sie besetzen
jauchzend die ungehorsamen Städte Dresden und Leipzig, und wehe denen, die
Widerstand leisten wollen; aber sie werden nicht wollen, wenn Ernst gezeigt
wird, ich garantire es; und flösse ein wenig Blut, nun denn mit Gottes Hülfe
fließe es; es ist dann gewiß solches Blut, das besser auf dem Pflaster des
Alten und Neumarkts an seinem Platz ist als in den Adern, die es jetzt durch-
strömt —. Im schlimmsten Fall, der aber gewiß nicht eintritt, wenn Nachdruck
dem guten Recht zu Hülfe kommt, dann bedarfs eines Winkes und 10 Gar¬
nisonen von Böhmen, Brandenburg und Schlesien usw. stehen Euch zu Gebots —.
Aber um Gottes Willen zeigt doch endlich Ernst. Es ist zwar meiner Meinung
und Überzeugung nach Vieles falsch angegriffen, viel zu viel für den Augenblick
gewährt worden — aber es ist noch nicht zu spät. Dresden will keine Truppen
leiden? — wahrlich das ist mais. Ich beschwöre Dich, Geliebtester Freund,
wirke dahin, daß man kein Federlesen's mit den Kerls mache. Beunruhigt die
Dresdner das Zusammenziehen oder Nähern von Truppen, so Spotte man der
Unruhe —. Nur die Bösen kann das beunruhigen —. Protestieren sie da¬
gegen, so rede man königlich mit ihnen ein frisirtes Halt's Maul —. Drohen
sie, so verweise man sie auf die schleunige Antwort aus dem Munde der Geschütze
und sage ihnen deutlich, daß man sie für getreue Untertanen halte, aber ganz
bereit sey, falls sie's vorzögen, sie auch als Rebellen zu behandeln —. Glaub
mir Hansy — es muxt kein Dresdner."
Den Tag darauf vernahm er mit Freuden, daß die Dresdener selber um
den Einmarsch königlicher Truppen gebeten hatten. Er lobte das Verhalten des
Prinzen Friedrich, der zum Mitregenten ernannt worden war, und knüpfte
daran eine Bemerkung, die sich wie eine Vorahnung seiner eigenen, späteren
Geschichte anhört: „Ich bekenne frey, daß ich mir nicht genug Weisheit und
Fassung zutraue, eine ähnliche Stellung nicht blos so wie er, sondern überhaupt
ohne Ehre und Neputazion zu verlieren, auszufüllen." Johann selber war an
die Spitze der Jmmediatkommisston zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe
getreten. Friedrich Wilhelm begrüßte diesen Schritt, weil er den Freund just
an der, wie er meinte, geeigneten Stelle sah: „Ich fürchte, Du wirst gegen
einen gefährlichen Strom von Neuerungen zu kämpfen haben. Deine Grundsätze
sind aber recht eigends gemacht für Euren gegenwärtigen Zustand. Du wirst
das Maß finden zwischen dem Kleben am Alten und dem so verderblichen
Betreten eines ganz neuen Weges. Man ist sehr neuerungssüchtig gestimmt in
Sachsen, und das würde mich recht bange machen, wenn Du, liebster Hansy,
nicht die Hände so entscheidend im Spiel hättest."
Er schlug also schon mildere und gemäßigtere Töne an. Aber die
Leidenschaft des Doktrinärs zitterte noch darin nach, und Johann, der
überhaupt die Vorgänge viel mehr von innen heraus zu beurteilen vermochte,
setzte solchen Mahnungen einen leichten Dämpfer auf. Er sprühte ohnehin nicht
gleich im Feuer auf wie Friedrich Wilhelm. Er sah diese inneren Verhältnisse
nüchterner, geschäftsmännischer und trotz gewisser unverrückbarer Grund¬
anschauungen weniger dogmatisch an. Es blieb ihm daher auch nicht verborgen,
daß die traurigen Ereignisse ihre tieferliegenden Ursachen hatten, und daß sie
wirklich beunruhigend waren, weil „selbst die Bessergesinnten und nicht ohne
Grund mit dem schlaffen Gang der Administration unzufrieden waren". Er
gestand, daß die Negierung durch den Aufstand überrascht worden war, fand
aber die Stimmung in Dresden bereits besser. Anderwärts jedoch, besonders
im Erzgebirge und im Vogtlande, spuke der böse Geist noch. Er machte den
Kronprinzen mit dem Entschlüsse zur Umgestaltung der Verfassung bekannt.
Dafür sprachen ihm die Unterlassungssünden des vergangenen Landtags, der nicht
vorwärts und nicht rückwärts wollte, des weiteren der Wunsch, stürmischeren
Ansprüchen dadurch zuvorzukommen. Dann konnte sich die Regierung das Heft
in der Hand sichern. Die Stände sollten in der alten Weise einberufen, es sollte in
Gemeinschaft mit ihnen beraten werden, ohne alle Neuerungssucht, in der Absicht,
sich möglichst an das Bestehende anzuschließen. Denn den „ Glücklichmach ereien
und dem Revolutionieren" war auch Prinz Johann nicht hold. Dem Rad der
Entwicklung kurzweg in die Speichen zu greifen, wie Friedrich Wilhelm wollte,
davor bewahrte ihn doch sein stärker ausgeprägter Wirklichkeitssinn. Er stellte
sich mit einem vorsichtigen Reformprogramm auf den Boden der neuen Zeit
und nahm dann auch an den Arbeiten des ersten konstitutionellen Landtags
und seiner Nachfolger als Mitglied der Ersten Kammer tätig und gewissenhaft
Anteil. Dieses Verhalten schützte ihn freilich späterhin in den Jahren, die dem
Ausbruch der Märzrevolution vorangingen, nicht vor dem schmerzlichen Verdacht,
das Haupt einer ultraronalistischen Partei zu sein. Der Berufung des
Vereinigten Landtags in Preußen sah er mit innerem Unbehagen entgegen, und
zwar nicht zuletzt deshalb, weil er offenbar an der Zielbewnßtheit seines Freundes
zweifelte. Er warnte ihn ziemlich unverblümt: „Thue nichts, zu dessen
consequentester Durchführung Du nicht in Dir und in den Verhältnissen die
Kraft fühlst; denn daß die zerstörende Partei jede Gelegenheit als Handhabe
zu ihren Zwecken benutzen wird, ist außer Zweifel, und man muß sich darüber
keiner Täuschung hingeben. Darum bewahre Dir das Heft in der Hand.
Verzeihe, daß ich mir so etwas gegen Dich erlaube, aber ein alter Freund darf
wohl aufrichtig sprechen. Gott segne und erleuchte Dich."
Die Ereignisse des Jahres 1848 haben die Schwäche und den wankenden
Sinn König Friedrich Wilhelms in der Tat erwiesen. Johann beschwor ihn
Mitte März, als die Wiener Unruhen Metternich zum Rücktritt zwangen, die
Erregung nicht auf die Spitze zu treiben. Sein eigener Bruder hatte das
Ministerium gewechselt, an dessen Spitze ein liberaler Führer trat, und eine
Reihe von Wünschen gewährt. Er drängte Friedrich Wilhelm zu einem gleichen
Schritte. „Mislingt eine gewaltsame Unterdrückung," schrieb er ihm, „so ist
das Schicksal aller Fürsten Deutschlands entschieden, und glaube mir. die
öffentliche Meinung ist zu stark, als daß ihr auf die Länge mit blos mechanischen
Mitteln entgegen zu arbeiten sey. . . . Ahme so viel als möglich unser Beispiel
nach. Es ist der einzige Weg, der sür Preußen und ganz Teutschland zum
Heile führt. Man kann nicht mit dem Kopf durch die Wand." Als dieser
Brief in Berlin eintraf, war die Revolution in vollem Gange. Erinnerte sich
Johann bei dem Zusammenbruch seines königlichen Freundes an die absprechender
Worte, mit denen Friedrich Wilhelm nach den Juliunruhen vor achtzehn Jahren
die sächsische Negierung bedacht hatte? Die widerspruchsvollen Nachrichten über
die Berliner Vorgänge und das Verhalten des Königs bekümmerten und ver¬
wirrten ihn. In seiner bescheidenen Art syr'ach er nur den Wunsch aus, es
möge jeneni glücken, den ausgetretenen Strom wieder in sein gesetzliches Bett
zu leiten: „Es sind gewiß noch viele gute Elemente bei Euch; möge es Dir
gelingen, sie zu stärken, und ich glaube, daß es dazu doch nöthig ist, den lieben
Berlinern nicht zu schön zu thun."
Indessen warnte er, nachdem Friedrich Wilhelm die Nationalversammlung
vertagt und ihren Sitz nach Brandenburg verlegt hatte, Ausgangs November
davor, die verheißenen Zugeständnisse zu widerrufen. Wenn er aber die
Oktroyierung einer Verfassung widerriet, weil sie die zahlreichen Gegner der
Krone vermehren würde, die sie nur in Form gegenseitiger Vereinbarung
entgegennehmen wollten, so fand er damit beim König keinen Anklang. Denn
wenige Tage darauf, an? 5. Dezember, wurde die Versammlung aufgelöst und
die preußische Verfassung wirklich oktroyiert. Auch hier bestanden also im ein¬
zelnen charakteristische Verschiedenheiten der Auffassung, obwohl man in der
Abneigung gegen die Revolution als solche natürlich einig war.
Viel tiefer gingen sie in der deutschen Frage auseinander, die mit der
revolutionären Bewegung in den Einzelstaaten ja von vornherein aufs engste
zusammenhing, aber jetzt erst in jenes entscheidende Stadium trat, wo sich die
Geister trennten. Auch Prinz Johann von Sachsen und der König von Preußen
wurden in diese allgemeinen Gegensätze hineingezogen, in denen der Lebens¬
oder Machtwille ihrer Staaten zur Entfaltung drängte. Sie besaßen ursprünglich
auch hier eine gemeinschaftliche Grundlage, und Johann ließ sich auch nicht von
ihr abdrängen; er blieb eins und ungebrochen in sich selber, während in dem
preußischen Herrscher die eigentümliche Gespaltenheit seines persönlichen und seines
politischen Wesens zutage trat.
Es umschloß diese zwei Fürsten von Jugend auf die Welt des deutschen
Bundes. Sie waren nicht blind gegen seine Schwächen, aber er spielte doch
für die Formung ihres Denkens eine große Rolle und setzte ihm gewisse Grenzen,
die in beiden stark zur Geltung kamen, als das politische Leben Deutschlands
in mächtigen Fluß geriet und eben diese Schranken zu sprengen suchte. Deutsch
fühlten Johann und Friedrich Wilhelm, und beide wünschten einen stärkeren
Ausbau der Bundesverfassung in: Sinne der deutschen Einheit. Damals, als
Metternich durch die sechs Artikel, die der preußische Kronprinz nicht kannte,
sein sächsischer Freund aber mißbilligte, die eben errungenen Rechte der Stände
einzuschränken suchte, bemerkte Johann: „Überhaupt wäre es einmal an der
Zeit, jene teutschen Angelegenheiten aus einem großartigeren Gesichtspunkt auf¬
zufassen. Alle rein repressiven Maßregeln werden nicht helfen, so lange der
Bund sich nicht die Meinung der Besseren zu sichern suchen wird; ja sie werden
nur schädlich wirken." Er hielt es an der Zeit, daß die Bundesakte ihre
Versprechen, das gemeinsame Wohl Deutschlands zu fördern, einlösten. „Das
andere, was Noth tut," fuhr er fort, „ist aber eine zweckmäßige Umgestaltung
des Bundes, damit er inneres Leben und Kraft gewinne, und hier würde ich
mich in unseren oft besprochenen patriotischen Phantasien verlieren, wenn ich
mehr sagen wollte. Ich habe mir aber vorgenommen, einmal meine Ideen zu
Papier zu bringen und sie Dir dann zu schicken. Das einzige Mittel, hierzu
zu gelangen, wäre aber vielleicht ein Fürstenkongreß für Deutschland; doch
müßte matt freilich vorher über die Hauptideen einig seyn. Verzeihe, theuerster
Freund, diesen patriotischen Excurs. Ich konnte meine Gesinnungen Dir, der
Du mein Herz kennst, hier nicht verbergen, denn die Zeit läuft und der Boden
wird hohl in Teutschland. Sollte es möglich sein, jene schönen Träume zu
realisieren, dann wäre es an der Zeit, mit ganzer Kraft gegen alles Schlechte
aufzutreten, denn man wäre der Meinung der Besseren gewiß." Kronprinz
Friedrich Wilhelm nannte in seiner Antwort die deutschen Fürstentage seine
Lieblingsidee. Und was er in seiner sprudelnden, fahrigen, halbwitzelnden Art
hinzufügte, ist unendlich bezeichnend für diesen als Menschen wie als Politiker
so schillernden Monarchen. „Ich fürchte, ich fürchte," schrieb er, „die Zeit ist
zu matt und miserabel, um irgend eine Jnstituzion zu gründen, die über die
quatsche Charten-Schablone hinausgeht. Das ist zum Verzweifeln für die,
denen der Teutsche Nahme und das teutsche Wesen so heiß in Herz und Ein¬
geweide brennen wie mir!I!I! Nun Gott besser's. Amen. Meine Phantasie
geht mit mir durch (um die Sprache des Zeitgeistes zu reden), wenn ich auf
dies Capittel komme. Doch gestehe ich, daß in diesem Ausdruck etwas hypo-
critisches liegt — denn eigentlich meine ich, daß in Allem, was mir darüber
in Kopf und Herz liegt, wirklich ein sinnliches Gleichgewicht zwischen Verstand
und Gefühl vorhanden ist. Ich glaube, daß nicht Alle, die der Zeit Geist für
toll hält, wahnsinnig sind, und daß nicht alle, die der Zeit Geist für ernste,
zeitgemäß organisierte Männer hält, auch nur ein Scherflein gesunden Menschen
Verstandes haben —. Aber brechen wir lieber davon ab. Ich würde sonst
nicht endigen." Und er endigte in der Tat nicht. Ruhelos, kokett springt
dieses Schreiben von einem Gegenstand zum anderen über, vom Erhabenen
zum Alltäglichen, vom Politischen ins Persönliche, vom rauschenden Pathos, mit
dem er jedoch halb ironisch spielt, zum flachen Berliner Witz, ein Romantiker¬
brief durch und durch, mit verblüffenden Übergängen. In dieser Form konnte
ihn nur einer, eben Friedrich Wilhelm der Vierte, verfassen.
Als die zwei Freunde diese merkwürdigen Bekenntnisse austauschten, standen
sie in der vollsten Blüte ihrer Jugendjahre, beide noch nicht an führender Stelle.
Als das Jahr 1848 die deutsche Frage, jetzt eine Herzensfrage des ganzen
Volkes, aufrollte, waren sie auf der Höhe des Mannesalters angelangt, und
der eine als König von Preußen der Fürst, in dessen Hand die Geschicke der
Nation gelegt waren. Nachdem die preußische Negierung im Innern wieder einiger¬
maßen ins Gleichgewicht gekommen war, steuerte sie seit Anfang 1849 abermals
der Lösung des deutschen Problems zu. Der Konflikt der hohenzollernschen und
Habsburgischen Großmacht bereitete sich vor. Es galt die Entscheidung, ob der
kleindeutsche Gedanke oder der großdeutsche siegen werde, ob Preußen in dem
neu zu schaffenden Bunde die Stelle zufiel, die seiner wirklichen Stärke entsprach.
Auf der einen Seite das Preußen Friedrich Wilhelms, der persönlich an der
Habsburgischen Monarchie hing und eigentlich nicht ihren Ausschluß wollte, aber
sich doch zugleich von dem Machttrieb seines Staates und dem Ehrgeiz, der
zum Teil ihn selber beseelte, in die klemdeutsche Bahn treiben ließ, ohne
sich ganz und völlig zuverlässig dieser Politik hinzugeben. Auf der anderen
Seite das Österreich des Fürsten Schwarzenberg mit seiner bunten und viel¬
gestaltigen Ländermasse, das sich aus Deutschland nicht verdrängen lassen und
die Leitung behalten wollte. Johann war zwischen die zwei Parteien gestellt.
Als die ersten Noten Anfangs des Jahres 1849 die Gegensätze offenbarten,
erfüllte ihn dies mit Kummer. Er hatte auf ein einmütiges Vorgehen
Österreichs und Preußens gehofft und gab nun seiner Enttäuschung Ausdruck.
„Ich fürchte, das Endresultat würde entweder eine Zertrennung Deutschlands
oder ein gänzliches Scheitern des Verfassungswerkes seyn, was ich für das
Schlimmste halte, da es uns über kurz oder lang eine neue, schlimmere Revo¬
lution bringen würde. Ich vertraue indes auf Dein edles Patriotisches Herz,
daß Du alles thun wirst, um womöglich beide oder doch, eines jener Extreme
zu vermeiden."
Fast jede einzelne Entwicklungsstufe der deutschen Frage in den folgenden
Monaten wird durch den Briefwechsel Johanns und Friedrich Wilhelms beleuchtet.
Der sächsische Prinz hat wiederholt seine Stimme für das Zusammengehen
Preußens mit Österreich erhoben. Man mag dabei mitunter, wie es natürlich
ist, bei seinem vermittelnden Standpunkt, jene letzte Klarheit vermissen, die nur
die schroffere Haltung eines Entweder—Oder hätte verleihen können. Aber es
wäre unbillig, von ihm Ergebnisse erwarten zu wollen, die erst die Geschichte
der nächsten Jahrzehnte in blutigen Kämpfen entschieden hat; wohnten doch
auch in der Brust seines königlichen Freundes, der in viel höherem Maße zum
Handeln berufen war, zwei Seelen, die miteinander in Zwiespalt lagen.
Johann widerstrebte der kleindeutschen Lösung, sein dynastisches Selbstgefühl
mochte in seiner wachsenden Abneigung gegen das Frankfurter Parlament mit¬
reden, aus dessen Bann die deutschen Staaten, wie er forderte, erlöst werden
müßten. Er schalt auf Gagern, und als Preußen dessen Plan eines engeren
und weiteren Bundes durch die Unionsbestrebungen aufnahm, verteidigte Johann
die sächsische Regierung, die zusammen mit der hannoverschen sich nur für
gebunden ansehen wollte, falls sich sämtliche deutsche Staaten außer Österreich
anschließen würden. Johann sprach — in Übereinstimmung mit seinem regierenden
Bruder — als Vertreter seiner sächsischen Heimat, die, wie er betonte, der tat¬
sächlichen Mediatisierung durch Preußen zum Opfer fiel, wenn ihr nicht das
Gegengewicht der süddeutschen Staaten zur Seite bliebe. Einen auf Nord- und
Mitteldeutschland beschränkten Bund unter preußischer Führung verurteilte er als
unheilvolle Spaltung Deutschlands, weil ihm Österreich dadurch völlig entfremdet
werde. Man sieht in diesen Zeilen die alten Gegensätze vom Wiener Kongresse
wieder auftauchen, die Besorgnisse der Wettiner vor dem stärkeren und aus¬
greifenden Staat der Hohenzollern, Der Prinz wehrte sich besonders lebhaft
gegen solche Gefahren, weil gerade er sich von jenem Groll gegen Preußen frei¬
gemacht hatte und über alten Vorurteile» zu schweben glaubte. „Ich war viel¬
leicht einer der ersten, der in einer Zeit, wo noch der preußische Name unter
Sachsens Staatsmännern ein Gräuel war, meine Stimme für eine Annäherung
an Preußen erhob." Solche scharfe Auseinandersetzungen, die sich auch in den
nächsten Monaten wiederholten, ließen in beider Herzen, so sehr sie aufeinander
Rücksicht zu nehmen suchten, auch persönliche Verstimmungen zurück. Man trieb
den Olmützer Tagen entgegen. Johann warnte, beschwichtigte, er sprach von
einem neuen siebenjährigen Krieg. „Ich fürchte jedoch vielmehr," schrieb er
am 23. Oktober 1850, „daß uns ein neuer Dreißigjähriger Krieg bevorsteht,
wenn einmal der erste Kanonenschuß gelöst ist, denn jedenfalls werden die
populären Leidenschaften mit ins Spiel kommen. Die Möglichkeit, ja die nahe
Wahrscheinlichkeit eines solchen Ausganges, wenn Preußen auf seiner Politik
beharrt, ist leider nicht abzuläugnen. So sehe ich denn überall nichts als
Unheil auf diesem Wege und nur ein Mittel der Rettung für uns alle: offener
entschiedener Systemmechsel Seitens Preußens. Aber Preußens Ehre! Aber
die Ehre seines Königes! Darauf entgegne ich, wenn Preußen seine entschiedene
Geneigtheit zeigt seinen Weg aufzugeben, so wird man ihm — ich hoffe es —
goldene Brücken bauen. Aber auch abgesehen hiervon, kann es Preußens Ehre
seyn, einen Brudermörderischen Kampf zu veranlassen? Kann es Preußens
Ehre seyn, mit der Revolution, wenn auch nur mit der zahmen, in Bund zu
treten? Und wenn Hunderte, wenn tausende seinen König der Inconsequenz
beschuldigen, Hunderttausende werden ihm als dem Retter Deutschlands von
Herzen danken, und sein eigenes Gefühl wird ihm sagen, daß es besser ist an
einer verderblichen Bahn umzukehren als sich und andere durch Verharren auf
derselben ins Verderben zu stürzen!!" Er unterzeichnete diesen Brief: „Dein
treuer Freund Johann, der dir dann auch treu bleiben wird, wenn du uns
Kanonenkugeln zuschickst." Eine Woche später erneuerte er denselben Mahnruf
zum Frieden und zur Umkehr. Auch diesmal eiferte er gegen ein überspanntes
preußisches Ehrgefühl; aber er war sich doch vollkommen klar darüber, — der
Ton seiner Zeilen bestätigt es —, daß er dem preußischen Stolz einen außer¬
ordentlichen Schritt zumutete. Diese flehentlichen Bitten des Freundes mögen
in dem König immerhin den Boden für die Entschlüsse mit vorbereitet haben,
die ihn nach Olmütz führten. Aber am Christtag. drei Wochen nach dieser
Demütigung, war Friedrich'Wilhelm bereits wieder in der Lage, einen über¬
mütigen Brief nach Dresden zu richten, den er mit Karikaturen schmückte, voll¬
kommen unbefangen, vollkommen heiter. Das Befremden über die Stimmung
dieses Schreibens wächst, wenn man sich erinnert, mit welch heißem Groll der
Prinz Wilhelm und seine doch so ganz anders geartete Gemahlin diese Er¬
eignisse empfanden, wie schmerzlich sie in ihrer Seele brannten. Nach der Wieder¬
herstellung des alten Bundestages, die jenes bewegte innere Ringen vorläufig
abschloß, lenkte auch der Briefwechsel der beiden Fürsten wieder in ruhigere
Bahnen ein. Der Krimkrieg fand sie sogar einig in der gemeinsamen Ver¬
urteilung der österreichischen Politik, wenngleich Johann, auch hier der
Bedächtigere, zu dämpfen suchte, Österreich schonen wollte und sich in erster
Linie wieder als Bundesmitglied fühlte. Im September 1857 nahm Johann
abermals das Wort über den alten Dualismus Preußens und Österreichs.
Mit diesem Schreiben, einer Betrachtung über die gegenwärtige Lage, schließt
seine Korrespondenz mit Friedrich Wilhelm, der bald darauf in sein Leiden
verfiel, und merkwürdig ausdrucksvoll klingen hier die Probleme an, die zu
lösen der neuen Ära Preußens beschieden war. Johann bedauerte die fort¬
dauernde Spannung der beiden Mächte. Er sprach die österreichische Regierung
nicht ganz frei von Schuld, da sie sich während der orientalischen Krisis zwei¬
deutig benommen habe. Aber auch gegen Preußen glaubte er Vorwürfe erheben
zu müssen, namentlich insbesondere gegen jene zahlreiche Partei der „Stock¬
preußen", die ihre Anhänger unter den höchsten Beamten zähle. Sie strebe
rücksichtslos nach einer Machtvergrößerung des preußischen Staates. „Am
liebsten würde sie Österreich aus Teutschland hinauswerfen und das übrige
Teutschland unter preußischem Scepter vereinigen." Das Schicksal Süddeutsch¬
lands sei ihr mehr oder minder gleichgültig, wenn nur im Norden ein möglichst
abgerundetes Preußen entstünde. Ihre stärkste Abneigung kehre diese Partei
gegen den Deutschen Bund, der ihren Plänen im Wege stehe. Johann maß
dem Könige selber an diesen Bestrebungen keinen Teil zu. Aber er warnte ihn
vor ihrem wachsenden gefährlichen Einfluß. Ausdrücklich bezeichnete er ihm die
preußische Bundestagsgesandtschast mit ihrem konsequenten und bis ins kleinste
gehenden Widerstand gegen alle Maßregeln, die das Ansehen oder die Wirk¬
samkeit des Bundes erhöhen könnten, als Haupt jener Partei. Dieser Angriff
war auf Herrn von Bismarck-Schönhausen gemünzt, dessen Persönlichkeit hier
ihren Schatten vorauswirft. In ihm verkörperten sich alle jene Kräfte, die
Friedrich Wilhelms und Johanns Ideale zertrümmerten, um ein neues staat¬
liches Gefüge aufzubauen.
In den Briefen Wilhelms tut sich eine ganz andere Welt aus als in
denen seines Bruders. Auch er hatte früh mit dem sächsischen Prinzen Freund¬
schaft geschlossen, freilich ohne den überschwänglichen Zusammenklang jener beiden
Seelen. Das Verhältnis ruhte vielmehr auf wahrer gegenseitiger Hochachtung
und Teilnahme. Es ist der Bund zweier Ehrenmänner, die sich durch Rang und
Familie nahe stehen, einander mit Wohlwollen betrachten und freundlich-ernste
Worte tauschen, ohne den Unterschied ihres Wesens zu verleugnen. Ein ruhig
verständiges Beharren, das jeden in seinem Lebenskreis festhält! Sie suchen den
Abstand weder zu überbrücken noch zu erweitern, und ganz werden sie seiner
wohl erst inne, als sie beide, von der Wucht der sachlichen Gegensätze ergriffen,
aufeinanderprallen, auch jetzt, bei aller Schärfe der Aussprache, nicht ohne
jene Ritterlichkeit, die von Anfang bis zu Ende ihre Beziehungen ausgezeichnet
hat. Es ist von hohem Reiz, zu beobachten, wie sehr Wilhelm in seinen
frühesten und spätesten Äußerungen so ganz er selber bleibt, voll klarer
Bestimmtheit, voll Treue gegen sich selbst. Da sind keine überraschenden
Geistesblitze, kein Wetterleuchten gefährlicher Stimmungen, keine Gefühls¬
ergüsse oder überhaupt ein Vordrängen der eigenen Person. Dagegen ein
unendlich schlichtes Wesen, wahrhaftig gegen sich und andere. Mit anspruchs¬
loser Zartheit nimmt er alle Dinge auf, die das Leben des Freundes
irgendwie berühren. So gehalten und nüchtern-spröde seine Zeilen, so haus¬
backen seine allgemeinen Aussprüche klingen, so wird man doch an mancher
Stelle ihre scheue Wärme spüren und die Erlebniskraft einer schweren, aber
kerngesunden Natur ahnen — Eigenschaften, die auch bei unserem intellektuell
übersättigten und ästhetisch verwöhnten Geschlecht wieder langsam im Werte zu
steigen beginnen. Wir wissen heute ziemlich genau, welche schmerzliche Schule
den, Prinzen Wilhelm seine gescheiterte Neigung zu Elisa Radziwill auferlegt
hat; aber die wenigen zurückhaltender Worte, die er darüber fallen läßt, sind
ehrlich, geradeheraus und ganz frei von jugendlicher Selbstbespiegelung. Und
als ihm der Vater während des russisch - türkischen Feldzuges 1828 die Bitte, zur
Armee an die Donan gehen zu dürfen, abschlägt, klagt er in seiner unbeholfenen
Weise: „Als Sohn muß ich Gehorsam leisten und schweigen. Als Soldat blutet
mein Herz." — Ein rechtes Hohenzollernbekenntnis, und ein eigenstes dazu.
Es wird wohl kaum einen Leser geben, dem sich nicht zwingend, fast
befremdend die Wahrnehmung aufdrängt, in wie viel höherem Maße die brieflichen
Mitteilungen des Prinzregenten und Königs von sachlichen Erwägungen beherrscht
sind als die Friedrich Wilhelms des Vierten, wie viel weniger das innere Bedürfnis
sich anzuvertrauen darin eine Rolle spielt. Auch seinem Bruder lagen die politischen
Dinge am Herzen, daran ist kein Zweifel. Aber der Nachfolger erscheint viel un¬
mittelbarer als der Träger des preußischen Staatsgedankens, wobei ihm Bismarck
einige Male unverkennbar über die Schulter sieht, und zuletzt gar kann man den
Mann und die Sache kaum mehr auseinander halten: sie fallen in Eines zusammen.
Kurz nach der Übernahme der Regentschaft erwiderte Wilhelm die Wünsche
des Königs Johann mit einem Schreiben, in dem die Gegensätze der jetzt an¬
hebenden Epoche noch vollkommen zu schlummern scheinen, und höchstens durch
einen Klang von eigener Festigkeit angedeutet sind: „Auch Du bist," schrieb er,
„in Dein schweres Amt auf eine unerwartete und schmerzliche Art berufen
worden; indessen im Tode sieht man doch immer Gottes sichtbaren Willen!
Wie anders ist meine Lage!? Die Art, wie ich zur Verwesung des Königl.
Amtes gelangte, ist wohl die peinlichste, die einem Menschen auferlegt werden
kannt Ein Gedanke erleichtert das Schwere meiner Lage, daß ich in den letzten
Jahren so viel und oft mit dem Könige, meinem Bruder, im Ideen-Austausch
Über Regierungsmaßregeln so wohl, als über die Personen, denen die Aus¬
führung derselben oblag, stand — die mir zeigten, daß es ihm nur an der
Freiheit des Handelnkönnens gebrach, nur so manches in Preußen zu ändern.
Hierdurch bin ich gekräftigt worden, Verhältnisse eintreten zu lassen, die. wenn
der König seine völlige, freie Geisteskraft wieder gewinnt, seine Zustimmung
haben würden. In diesem Sinne handle ich mit Gottes Beistand. Leicht ist
meine Lage nicht, aber bei dem redlichen, festen und consequenten Willen, den
man bei mir kennt, wird man wissen, was man von mir zu halten hat: daß
ich so Gott will, die goldene Mittelstraße zu wandeln gedenke- — da ich von
jeher allen Extremen Feind gewesen bin! Auf Dein und aller deutschen
souveraine Vertrauen rechne ich dabei, wenn es deutsche und Europäische
Interessen gilt, die Eins sein müssen und Können!"
Indessen die Ereignisse selber zwangen die beiden Monarchen in ver¬
schiedene Richtung und ließen bald keinen Zweifel darüber, wie jäh und schroff
ihre Wege auseinandergingen, auseinandergehen mußten. Schon in der
italienischen Krisis des folgenden Jahres meldete sich der Gegensatz mit hörbarer
Bestimmtheit zu Wort. Johann erwartete von dem König von Preußen, daß
er für Österreichs gutes Recht in Italien sein Ansehen, und wenn es gelte,
sein Schwert in die Wagschale werfe, und erklärte sich bereit, ihm mit den
anderen Bundesfürsten auf dieser Bahn zu folgen. Er drängte zu raschem,
entschiedenem Eingreifen gegen Frankreich. Wilhelm blieb zurückhaltend. Seine
Regierung nahm eine neutrale Stellung ein und hielt daran fest, daß der
Krieg in Italien den Bund nichts angehe, sofern nicht gerade der Schutz des
Bundesgebietes in Frage komme. Vergeblich suchte Johann die Einwände des
Prinzregenten, der den preußischen Standpunkt verteidigte, zu entkräften. Er
steigerte seine Beredsamkeit zu einer Wärme, die gerade diesem überlegten,
besonnenen Mann wohl anstand: „Ich bitte und beschwöre Dich als Freund,
als Fürst, als Teutschen, laß diese Gelegenheit nicht vorübergehen, daß wir
alle wie Ein Mann dem Feind der öffentlichen Ruhe, der jetzt zum Glück die
Maske abgeworfen hat, entgegentreten. Ihr sprecht immer von Initiative.
Ergreift sie! und wir werden folgen." Es half nichts, der fürstliche Freund
setzte ihm vielmehr die Notwendigkeit einer Reform des Bundeskriegswesens
auseinander, wobei er ihm gereizte Worte und bittere Anspielungen auf Rhein¬
bundsgelüste entgegenschleuderte und die beiden Großmächte Preußen und
Österreich scharf gegenüber den kleineren Staaten ins Zentrum rückte. Man
wird sich nicht wundern, daß diese Sprache Johann schmerzte. Er warf
dem König vor, er betrachte die Dinge zu einseitig als Militär, zu wenig als
Politiker. Er verstehe es nicht, sich in die Lage der Mittelstaaten hinein¬
zudenken, die man nicht mit einem beliebigen Herzogtum vergleichen dürfe!
Diese Vorwürfe waren gewiß nicht ganz unbegründet. Aber eben in diesem
ausgeprägten militärischen Bewußtsein Wilhelms, der als König wohl einmal
verzagen konnte, aber sich zu seinem ganzen Stolze wiederaufrichtete, sobald
man ihn beim Portepee des preußischen Offiziers zu fassen wußte, eben in
diesem ausgesprochen militärischen Wesen ruhte doch ein erheblicher Teil auch
seiner Kraft und Bedeutung als Politiker. Und wenn er den mittelstaatlichen
Interessen nicht genug Rechnung trug, so verriet er doch nur den gesunden,
instinktsicheren Egoismus, ohne den nun einmal ein großes Staatswesen ver¬
kümmern müßte. Dies war es, was Johann seinerseits verkannte. Er war
Bundeslegitimist. Sein politisches Denken empfing in dieser begrenzten Sphäre
der Majoritätsbeschlüsse einen formalistischen Anstrich; er unterschätzte den eigen¬
willigen Machtgedanken, der Österreich und Preußen gegeneinander trieb und
beide wiederum aus der Zahl der übrigen Mitglieder so hoch und selbständig
hinaushob. War König Wilhelm ganz einseitig Preuße, so war König Johann
nicht minder einseitig Sachse. In jedem dieser beiden Herrscher lebten und
wirkten die eigentümlichen Überlieferungen ihres Hauses, ihres Staates. Es
war somit natürlich, daß sich diese überpersönlichen Gegensätze gerade in jenen
Jahren schicksalsschwerer Spannung der beiden Monarchen mit aller Gewalt
bemächtigten bis zum leidenschaftlichen Zusammenstoß. Das gehört nun einmal
zur Tragik fürstlicher Freundschaften.
Vorübergehend schien es zwar, als ob diese innerlichen Konflikte verstummten,
und die beiden Könige sich aufatmend der Pflege ihres persönlichen und
familiären Austausches zuwendeten. Aber die unaufhaltsam vorwärtsschreitenden
Begebenheiten rissen den Zwiespalt doch immer erneut auf. Über den National¬
verein war man bereits wieder verschiedener Meinung. Auch Wilhelm war
natürlich weit entfernt, sich irgendwie mit dessen Zielen gleich zu setzen; aber
während Johann den Verein geradezu des Hochverrates beschuldigte und
schärfere Maßregeln verlangte, dämpfte er diesen Eifer und riet abzuwarten,
bis die Regierungen durch wirklich gefährliches Treiben herausgefordert würden.
Auch diesmal sieht man den Prinzregenten von der nach vorwärts flutenden
Strömung stärker berührt als den Wettinischen Vetter. Immerhin, das war
nur ein verhältnismäßig unbedeutender Gegensatz. Viel tiefer grub und
erweiterte ihn der Frankfurter Fürstentag. Bismarck hat damals förmlich um
die Seele seines Herrn gerungen, der sich einer Versammlung nicht entziehen
wollte, zu der ihn ein König, eben Johann von Sachsen, als Kurier eingeladen hatte.
Bismarck siegte, Wilhelm folgte dem Freunde nicht. Johann hingegen versuchte ihn
nochmals schriftlich zu umwerben; er bat, die eben in Frankfurt vereinbarten Richt¬
linien einer Reform zu prüfen und anzuerkennen. Er mutete ihm ganz unbefangen
zu, mit dem Gedanken der Hegemonie in Kleindeutschland oder der Mainlinien¬
trennung in ein preußisches und österreichisches Deutschland zu brechen und gegebenen¬
falls seine Meinung ungescheut einem Bundesbeschluß unterzuordnen. Ebenso
naiv wie er Preußen die Vorbedingungen zum selbstherrlichen Großmachtenstaat
abschnitt, ebenso optimistisch unterschätzt er den habsburgischen Sonderwillen.
AIs nun die Schleswig-Holsteinischen Vorgänge aufs neue Zerwürfnisse
hervorriefen, sprach es König Wilhelm, dem diesmal Bismarck und sein Ge-
heimrat Wecken die Feder führten, offen aus, daß man darin das Symptom
eines tieferliegenden Übels zu erkennen habe, das zur offenen Wunde zu
werden drohe. „Dieses Übel ist die falsche Auffassung der absoluten Herrschaft
der Majorität am Bundestag, eine Doktrin, welche der Mehrheit der Stimmen
scheinbar eine große Macht beilegt, in Wirklichkeit aber, wenn sie auf die
Spitze getrieben wird, den Bund zum Untergange führt!" Er verwahrte sich
dagegen im Namen Preußens, aber auch Österreichs! „Welchen Wert," fährt
er fort, „welche Bedeutung hätte der Bund noch für Deutschland, wenn Preußen
und Östreich ihre Selbständigkeit, ihr nationales Bewußtsein aufgeben sollen?
Wie könnten Preußen und Ostreich, wenn ihr nationales und militärisches
Gefühl gebrochen wäre, dem Bunde noch eine Stütze gewähren? Würde ein
deutscher Bund, in welchem Preußen und Östreich nicht führten, sondern ge¬
horchten, dem Auslande gegenüber noch das nötige Ansehen haben?"
Die Schärfe, mit der hier König Wilhelm in Gemeinschaft mit dem Habs¬
burgischen Nebenbuhler gegen die Mittelstaaten auftrat, er kehrte sie zwei Jahre
darauf gegen dieses selbe Österreich, das nunmehr mit Sachsen zusammenging.
Die zwei Freunde wechselten vor dem Ausbruch des Kampfes noch einige
Briefe! Jeder fühlte sich von der Gegenseite bedroht und angegriffen. Eine
Versöhnung war unmöglich. Sie redeten aneinander vorbei, beide im Voll¬
gefühl ihres Rechtes und ihrer staatlichen Pflicht. König Johann hat die
schwere Entscheidung von Königgrätz mit edler Resignation auf sich genommen.
Die Worte, die er vor Beginn der Friedensverhandlungen an den Sieger richtete,
sind in ihren Versprechen, aber auch in ihren Hoffnungen erfüllt worden: „Das
Schicksal der Schlachten hat gegen uns entschieden. Ich erkenne in ihm eine
höhere Waldung und werde mit Redlichkeit in Alles eingehen, was die Lage
der Dinge mit sich bringt. Dies gilt ins Besondere von dem neu zu gestaltenden
Bundesverhältnis und der näheren Verbindung mit Preußen. Dabei hege ich
die zuversichtliche Hoffnung, daß Du keine Anforderungen an mich stellen wirst,
welche mein Land, das so treu zu mir gestanden hat, mit unbilligen Lasten
beschweren und seinen Wohlstand zu Grunde richten würde, und ebensowenig
mir etwas zumuthen wirst, was den wesentlichen Bedingungen eines selbständigen
Fürsten widerspricht. Im umgekehrten Falle würde die neue Verbindung das
unvermeidliche bittere Gefühl, das jeder Besiegte in sich trägt, noch schürfen
und den Keim neuer Zerwürfnisse in sich tragen." In solcher Gesinnung ist
er dem Kriege mit Frankreich entgegengegangen, in dem sein Sohn Albert an
führender Stelle ankämpfte. Er hat sie auch ins deutsche Reich hinüber¬
getragen. König Wilhelm und König Johann sind beide über die früheren
Gegensätze hinausgewachsen und haben sich in den gemeinsamen Aufgaben des
neugegründeten Bundesstaates wieder zusammengefunden. Auch ihr persönlichstes
Verhältnis hat in diesen Jahren eine besondere Wärme und Zartheit wieder¬
gewonnen, die bis zum Tode Johanns keine Trübung mehr erfahren hat.
s war vorauszusehen, daß die Verhandlungen des ersten All¬
gemeinen Richtertages in Wien, die dem Deutschen Juristentage
vorausgingen, insbesondere durch ihren Gegenstand „Die Laien¬
richterfrage" die Teilnahme der Allgemeinheit erregen würden,
obschon es den Richtern nur darauf ankam, hinsichtlich dieser Frage
über die Landes grenzen hinaus unter sich Fühlung und Klarheit zu gewinnen.
In Österreich, wo es wie in Frankreich, Belgien usw. bisher nur Schwur¬
gerichte, aber noch nicht Schöffengerichte gibt, sollen diese jetzt zur Einführung
gelangen. Selbstredend beschäftigt dieser Gegenstand auch die dortigen Berufsrichter
in hohem Maße, weil jede Vermehrung des Laienrichtertums. ja schon seine An¬
preisung einen gewissen Vorwurf der Unzulänglichkeit gegen die Berufsrichter enthält.
Als vor einiger Zeit eine Laienschulaufsicht für die höheren Schulen in
Vorschlag gebracht wurde, wandten sich die Oberlehrer begreiflicherweise sehr
lebhaft dagegen. Schon die geistige Schulaufsicht wird, obwohl sie keine völlig
laienhafte ist, von den Lehrern als ein Druck empfunden. Es dürfte daher zu
verstehen sein, wenn die Berufsrichter nicht erbaut darüber sind, daß
ihnen Laien als gleichberechtigte Richter zugesellt werden, Wir sehen allerdings
auch Reserve- und Landwehroffiziere neben den Berufsoffizieren tätig, aber so
ganz unerfahren sind die ersteren in ihrem militärischen Tätigkeitskreise keines¬
wegs, wennschon die Durchbildung des aktiven Offiziers stets eine vollkommenere
sein wird. Überdies werden die Laienoffiziere für den Kriegsfall dringend
gebraucht, was hinsichtlich der Laienrichter im Hinblick auf die Überzahl von
Referendaren und Assessoren in keinem Fall zutrifft.
Was würde man wohl dazu sagen, wenn jetzt verlangt würde, jeder
Rechtsanwalt, jeder Arzt, jeder Geistliche, jeder Lehrer müßte bei Ausübung
seines Berufs zwei Bürger seiner Stadt zur Seite haben, die ihn beraten,
vielleicht auch nur beaufsichtigen sollen. Warum werden gerade dem rechts¬
gelehrten Richter solche rechtsunkundige Gehilfen beigesellt?
Man hat darauf entgegnet, an sich wären die Bürger selbst die berufenen
und geeigneten Richter und der Rechtsgelehrte nur eine unvermeidliche Beigabe
zu diesen. Dies trifft geschichtlich nicht zu. Nach der deutschen Rechtsentwicklung
waren die Landesfürsten selbst die Richter und noch jetzt fällen diese ihre Urteile
im Namen des Landesfürsten. Auch Moses war anfänglich selbst der Richter
bei den Juden, bis ihm sein Schwager.Jethro arriel, Gesetze zu geben und
besondere Richter anzustellen (2. Buch Moses Kapitel 18). Nur die Feen- und
die Lynchrichter urteilen allein aus der jeweiligen unberechenbaren Volks¬
anschauung heraus ohne Gesetz und Recht.
Allerdings hielten schon in alten Zeiten die berufenen Richter die Gerichts¬
verhandlungen vor voller Öffentlichkeit ab, wobei der „Umstand", das sind die
um die Gerichtsstätte herumstehenden Volksgenossen, seine Meinung über die
Sache zum Ausdruck bringen durfte. Dies war die erste Form der Mitwirkung
von Laien.
Die eigentlichen Richter waren aber stets nur besonders erfahrene, rechts¬
kundige und angesehene Männer, die zwar regelmäßig der Meinung des „Um-
standes" Beachtung zollten, an diese aber nicht unbedingt gebunden waren. Erst
in späterer Zeit nahm die Mitwirkung von Schöffen bei der Rechtspflege die
jetzige Wesenheit an, und zwar als es galt, das zwar folgerichtig und
sorgsam durchgearbeitete, aber allzustarre, übernommene römische Recht bieg¬
samer zu machen und den deutschen Lebensanschauungen mehr anzupassen.
Das Schwurgericht in seiner jetzigen Form haben wir in Deutschland bis
zu seiner vor etwa sechzig Jahren erfolgten Übernahme aus Frankreich niemals
gekannt. Stets hat in Strafsachen — abgesehen von den Femgerichten —
ein verständnisvolles Zusammenwirken zwischen den Berufsrichtern und dem
„Umstand", dem die Rechtspflege beachtenden Volk, stattgefunden, etwa in der
Weise, wie jetzt noch in England der Richter mit der Jury, die völlig ver¬
schieden von dem französischen Schwurgericht ist. zusammen das Urteil findet.
Rechtsgeschichtlich ließe sich sonach für Deutschland und das mit ihm vor
fünfzig Jahren noch verbundene deutsche Österreich nur das Schöffengericht,
nicht aber das Schwurgericht rechtfertigen, das durch seine völlige Trennung
der Geschworenenbank von der Richterbank sich von dem Schöffengericht wesentlich
unterscheidet.
Warum aber soll überhaupt eine Beigabe von Laien- oder Volksrichtern
zu den Berufsrichtern stattfinden? Die alltägliche Erfahrung lehrt doch über¬
zeugend, daß der für seinen Beruf sorgfältig ausgebildete Fachmann auf seinem
Gebiet stets dem Nichtfachmann vorzuziehen ist. Oder sind etwa unsere Berufs¬
richter nicht genügend ausgebildet? Dann verbessere man ihre Ausbildung.
Oder erfordert das Richten überhaupt keine Ausbildung in Rechts- und
Gesetzeskunde? Dann schaffe man die Berufsrichter überhaupt ab und überlasse
die Rechtsprechung allein den Rechtsunkundigen. Eine Vereinigung von diesen
beiden erscheint aber zunächst widersinnig, wenn man den Satz festhält: „Der
für sein Fach ausgebildete Arbeiter ist stets der beste."
Es müssen also andere Gründe vorliegen, die das weit verbreitete Ver¬
langen nach gemischten Gerichten gezeitigt haben. Sie beruhen nicht etwa in
einer wirklichen Weltfremoheit der Richter. Warum soll denn der mitten im
Leben stehende Berufsrichter weltfremder sein als sein Gefährte in der Rechts¬
pflege, der Rechtsanwalt? Sie beruhen auch nicht auf einer Abneigung gegen
die rechtswissenschaftliche Ausbildung an sich. Sind doch auch die Staatsanwälte
und die Rechtsanwälte in der Weise wissenschaftlich ausgebildet, daß sie jederzeit
Richter werden können, und doch hat man in ihren Wissenswein noch niemals
einen Laienbeiguß tun wollen. Die Gründe liegen allein in dem Mißtrauen der
Allgenieinheit, daß die beamteten Richter nicht genügend unabhängig seien. Die
Unabhängigkeit ist naturgemäß das erste Erfordernis für die richterliche Tätigkeit.
Der Richter soll die Wage sein, durch die das menschliche Handeln mit den
Gewichten des Rechts nachgewogen wird. Hängt diese Wage nicht frei, sondern
wird sie irgendwie in ihrer freien Beweglichkeit gehemmt, so wird das Ergebnis
des Abwägens leicht unrichtig sein.
Wer zum Richter geht, möchte die volle Gewißheit von dessen unbedingter
Unabhängigkeit haben. An dieser entstehen bei der Allgemeinheit darum
leicht Zweifel, weil diese vielfach noch immer — in völliger Verkennung
der Staatsausgaben und -ziele — der Meinung ist, der Staat sei nur eine
Zwangsanstalt für die Staatsbürger und stets bemüht, diese möglichst unter
seiner „Fuchtel" zu halten. Demgemäß müßten alle Staatsbeamten auch hierauf
bedacht sein, und zu diesen gehörten aber auch die von dem Staat angestellten
und besoldeten Richter.
Es soll hier nicht auf diese falsche Auffassung vom Staate weiter
eingegangen werden. Jedenfalls ist sie gänzlich unzutreffend hinsichtlich der
Stellung der Richter im Staate. Nach ß 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes für
das Deutsche Reich wird die richterliche Gewalt durch unabhängige, nur dem
Gesetze unterworfene Gerichte allsgeübt. Die Allgemeinheit schenkt nur leider
dieser Unabhängigkeit nicht das volle Vertrauen, weil sie sich an den Spruch hält:
„Weh Brot ich esse, des Lied ich singe." Deshalb sind die Richter auf ihren
Tagungen und in ihren Zeitschriften eifrig bemüht, ihre Unabhängigkeit noch mehr
als bisher in die äußere, für jedermann erkennbare Erscheinung treten zu lassen
und überall hervorzuheben, daß sie sich zwar innerlich genügend unabhängig fühlen,
aber auch für jeden dritten deutlich sichtbar die Gewähr dafür ausgedrückt wissen
wollen, daß keine Staatsverwaltung daran denkt, die Richter zu ihren Gunsten
zu beeinflussen.
Dies ist nur möglich durch eine bestimmtere Betonung der Tatsache, daß der
Richter nicht ein Staatsbeamter im engeren Sinne ist, der den Weisungen der
Staatsleitung unbedingt Folge zu leisten hat, sondern nur ein Beamter im
Staate, der von diesem nur Anstellung und Gehalt, aber außer dem Gesetz keinen
Auftrag für seine amtliche Tätigkeit erhält.
Man hat sogar vorgeschlagen, den Richterstand zu einem freien Berufe wie
deu Urwalds- und Ärztestand zu machen und ebenfalls dem freien Wettbewerb
zu unterstellen. Mit Recht steht dem jedoch die Befürchtung entgegen, die
Richter könnten dann von den Parteien mehr als vom Staate abhängig erscheinen
und vielleicht sogar sein. Wir sehen es ja jetzt bereits vielfach bei den Schieds¬
gerichten, daß der von der Partei gewählte Schiedsrichter sich mehr als deren
Vertreter vorkommt, denn als ihr Richter.
Es wird deshalb zweckmäßig dabei verbleiben müssen, daß der Berufsrichter
vom Staate, d. i. der geordneten Allgemeinheit, angestellt und besoldet wird.
Gleichwohl mögen aber die Bürgschaften dafür, daß er nicht Staatsbeamter im
engeren Sinne ist, äußerlich wie innerlich erhöht werden.
Die Beseitigung der für die übrigen Staatsbeamten gebräuchlichen Titel,
Nangabstufungen und Orden würde schon für die nur die Außenseite betrachtende
Menge von Gewicht sein. Daß den Richtern das sonst aus den Beförderungen
sich ergebende höhere Gehalt nicht genommen werden dürfte, daß also für die
Stellenaufrückung die Dienstalteraufrückuug eintreten müßte, liegt auf der Hand.
Es wird ferner das Selbstbestimmungsrecht des Richters hinsichtlich des
Ortes wie der Art seiner Beschäftigung in höherem Maße als bisher gewährleistet
werden müssen, damit es nicht den Anschein gewinnen kann, ein der Staatsleitung
vermeintlich mißliebiger Richter werde an einem ihm unangenehmen Dienstorte
oder in einer ihm widerstrebenden Diensttätigkeit geflissentlich belassen. Es wird
auch ratsam sein, nicht der Staatsleitung, sondern einem zustündigen Teile des
Richterstandes selbst, ähnlich wie beim Offiziersstande, die Zumahl des neuen
Nachwuchses zu überlassen.
Es wird schließlich die reinrichterliche Tätigkeit der staatlichen Richter ganz
genau zu umgrenzen und von ihren sonstigen beamtlichen Pflichten zu scheiden
sein. Mit Recht hat sowohl der Deutsche Richtertag in Dresden wie der
Allgemeine Richtertag in Wien den Erlaß eines besonderen Richtergesetzes zur
Erfüllung dieses gesamten Verlangens als nötig bezeichnet.
Wird hierdurch die Gewähr für eine völlige Unabhängigkeit der beamteten
Berufsrichter gegeben, so wird sicherlich bald das Verlangen nach der Beigesellung
von Laienrichtern nachlassen.
Jetzt glaubt man immer noch in den Laienrichtern die unabhängigeren
Richter zu besitzen — wobei man verkennt, daß die ersteren, besonders in den
kleineren und mittleren Städten, wirtschaftlich und politisch von bestimmten
Kreisen viel mehr abhängig sind als die angestellte!: Berufsrichter — und in
ihnen Bürgen dafür zu haben, daß in die Rechtsprechung kein Einfluß von oben
her eindringe. Es ist nicht die „Weltfremdheit" der Berufsrichter, die man
fürchtet — ein Landwirt wird in städtischen Dingen oft noch mehr unerfahren
sein und der Städter in landwirtschaftlichen, wie der Richter —, sondern eine
unsichtbare Abhängigkeit und Unfreiheit.
Mit Recht stehen deshalb das Verlangen der Berufsrichter nach einer vollen
äußeren Sicherstellung ihrer Unabhängigkeit und ihr Widerstreben gegen die
Erweiterung des Laienrichtertums in innerem Zusammenhange. Sobald die
Allgemeinheit sich von der zuverlässigen Unabhängigkeit der beamteten Berufs¬
richter überzeugt haben wird, wird sie sicherlich auf die Laienrichter gern verzichten.
Bis dahin ist aber zurzeit noch ein weiter Weg. Die Hoffnung mancher
rechtsgelehrter Richter, daß schon ihr Widerspruch gegen die Laienzuziehung in
absehbarer Zeit deren Beseitigung erzielen könnte, ist allzu kühn. Und wenn
auch noch so klar nachgewiesen wird, daß der rechtskundige Berufsrichter als aus¬
gebildeter Fachmann zur Ausübung des Richteramts unbedingt geeigneter ist,
als der rechtsunkundige Bürger, so wird daraus unter den herrschenden
Anschauungen ein ausreichender Grund zur Beseitigung der Laienrichter niemals
entnommen werden. Schon deshalb nicht: unsere Parlamente sind im Grunde
genommen nichts anderes, als die der Staatsregierung als der Fachbehörde
beigegebenen Laien. Wie die Abgeordneten ihre Tätigkeit bei der Staatsleitung
für sehr notwendig halten, so werden sie auch die Mitwirkung der Laien in den
Gerichten entsprechend einschätzen.
Dazu kommt, daß in der Verwaltung, besonders in derjenigen der Ge¬
meinden, die Mitarbeit der Bürger sich mehrfach als brauchbar erwiesen hat.
Daß es sich hierbei aber fast ausschließlich um Zweckmäßigkeitsfragen und nicht
um Rechtsfragen handelt, wird meist übersehen und es wird demgemäß die
Mitarbeit der Laien bei der Rechtsprechung zu Unrecht für gleichermaßen wert¬
voll gehalten.
Es wird daher noch auf lange Zeit damit zu rechnen sein, daß mindestens
an der Strafrechtspflege Laien teilnehmen. Hiermit werden sich auch deren
eifrigste Gegner unter den Berufsrichtern abzufinden haben. Es kann daher vorläufig
nur in Betracht kommen, in welcher Weise die Mitwirkung der Laien an der
Strafrcchtsprechung an: geeignetsten und für deren Wissenschaftlichkeit, Einheit
und Gesetzestreue am ungefährlichsten zu gestalten ist.
Zu den kleinen Mitteln hierzu gehört die Bemühung, die Laien wenigstens
etwas in Rechts- und Gesetzeskunde zu unterweisen, was jetzt durch volks¬
tümliche Rechtszeitschriften zu erreichen gesucht wird. Anderseits wird die klare
Entscheidung zu treffen sein, daß die Schöffengerichte den Schwurgerichten vor¬
zuziehen sind. Wenn als der Vorzug der Mitwirkung von Laienrichtern in den
Strafgerichten bezeichnet wird, der geübtere Einblick der Laien in das alltägliche
Leben und der Austausch ihrer Anschauungen mit denjenigen der Berufsrichter
seien geeignet, diesen bei der Wahrheitserforschung wesentliche Dienste zu leisten,
so wird dies nur unter der Bedingung zutreffend sein, daß die Laien-
und die Verufsrichter in dasselbe Beratungsztmmer gehen und dort ihre
verschiedenen Ausfassungen gegenseitig klären. Bei einer Trennung der Richter¬
bank von der Geschworenenbank, wie sie im Schwurgericht stattfindet, ergibt sich
für die erstere aus der Mitarbeit der letzteren gar keine ersprießliche Ein¬
wirkung. Sie gehen beide ihren eigenen Weg und verstehen einander meist
garnicht.
Auch wenn die Mitwirkung der Laien an der Strafrechtspflege diesen einen
klaren Einblick in deren Einzelheiten und Verlauf eröffnen und sie in den Stand
setzen soll, etwaige ungehörige Einwirkungen auf die Urteilsbildung wahr-
zunehmen, so ist dazu wiederum nur die schöffenrichterliche Stellung geeignet.
Nur in dieser schaut der Laie völlig in das innere Getriebe der Rechtsprechung
hinein. Der Geschworene sieht von diesem fast gar nichts. Selbst wenn man
die Laien nur um ihrer angeblich zuverlässigeren Unabhängigkeit willen in den
Strafgerichten haben und ihren Spruch von den Einflüssen der beamteten
Richter möglichst losgelöst sehen wollte, wäre das Schöffengericht immer
noch geeigneter wie das Schwurgericht trotz seiner Absonderung der
Geschworenenbank, weil die führerlosen Geschworenen den aus der eingehend
vorbereiteten und durch Voruntersuchung festgelegten Verhandlung unbewußt
auf sie ausgehenden Einwirkungen leichter unterliegen werden, als die Schöffen
bei der offenen Aussprache im Beratungszimmer. Die Geschworenen halten
sich außerdem nicht selten allein an die Ausführungen des Anklägers und des
Verteidigers und sind meist selbst nicht in der Lage, deren gewandte Worte von
ihrem sachlichen Inhalt zu unterscheiden oder sich wenigstens Klarheit über ihre
auftauchenden Bedenken zu verschaffen. So fällen sie denn schließlich ihren
Spruch nicht aus dem Inhalt der Verhandlungen, sondern aus der für sie
berechneten Form der Ausführungen des Anklägers oder des Verteidigers,
allerdings unbeeinflußt von der Meinung des Richters, falls diese ihnen nicht
durch die Rechtsbelehrung zugeführt wird, aber einer Reihe von vielen anderen
sehr ungewissen Einwirkungen auf ihre Urteilsbildung ausgesetzt.
Es bleibt deshalb allezeit die Mitwirkung der Laien an der Strafrechts¬
pflege in den Schöffengerichten derjenigen in den Schwurgerichten vorzuziehen.
is Klopstock, der Messiasdichter, vor der Pietisterei seiner Zürcher
Freunde einmal ins Gebirge geflohen war, kam er vom Klöntal
her den Pragelpaß herunter ins Muotatal und fand da einen
Knaben, dem ein Mißgeschick seltsamer Art begegnet war. Er hatte
baden wollen in der schattigen Schlucht und nicht den Wind bedacht,
der vom Stoos herunter an heißen Sommertagen wie ein Gebläse einfallen
kann. Nun waren ihm die Kleider bis auf die Schuhe durch eine Sturmluft
in den Fluß geworfen worden, so daß er nackt auf der Muotabrücke kniete und
durch die Spalten hinunter spähte, als ihn der Dichter überraschte. Der war
von dem schlanken Körper und der schönen Stellung so entzückt, als ob ihm in
der grünen Wildnis ein Götterkind begegnet wäre; er rief den Knaben, der sich
vor seinem Schritt noch flüchten wollte, mit scherzhaften Worten an und half
ihm treulich aus mit seinem Rock, so daß er hemdärmelig mit seinem Wander¬
gefährten nach Schwyz hinunterkam, wo der Dichter in den „Drei Eidgenossen"
eine saubere Herberge fand, indessen der Knabe, mit seinem Rock über dem
nackten Körper angetan, zu seinen Eltern ging, die wohlhabende Doktorsleute
waren und gegen Rickenbach hinauf in einem Landhaus wohnten. Sie waren
einfach genug, das Abenteuer ihres Sohnes lustig zu finden, und weil sie dem
hilfreichen Wanderer seinen Rock nicht nur mit einem Dank zurückgeben
wollten, kam der Dichter aufs freundlichste eingeladen in ein Haus, wo ihn
keiner kannte und wo ihm darum ein Erlebnis menschlicher als bei den Schön¬
geistern in Zürich begegnen konnte.
Er saß gerade von dem Staub der langen Wanderung gesäubert in dem
getäfelten Saal, die Abendmahlzeit abzuwarten, als mit dem Knaben — der
seinen Rock sorgfältig gefaltet trug — eine Frau herein trat, wie der von
schlankem Bau, nur höher und rotblond. Sie zeigte ganz die freie Art des
Knaben, gab ihm die Hand und lud ihn ein, das Nachtmahl in ihrem Garten
einzunehmen, wenn er nicht anders verpflichtet sei. Obwohl ihr Sohn, den sie
fast um Kopflänge überragte, im dreizehnten Jahr stand, war sie noch jung
und schien dem Dichter von so freier Anmut, wie er noch keine Frau gesehen
hatte. Er nahm die Einladung mit Freuden an und ging sogleich mit ihnen
durch den wohlgebauten Ort und grüne Matten zu dem Haus hinauf, das mit
zwei vorgebauten Gartenhäuschen auf der Mauer gleich einem Landschlößchen
dalag, obwohl es den breiten Giebel der Schwvzer Bürgerhäuser zeigte. Er
hatte seinen Namen dreimal sagen müssen, bevor sie ihn verstand; auch dann
schien sie nichts von ihm zu wissen, als daß der sonderbare Klang sie lächeln
machte. So sah der junge Dichter sich der Rolle entkleidet, die er in Zürich
zu spielen hatte, und obgleich es seiner Eitelkeit unlieb war, gerade hier nicht
mit der Geltung seines Namens eingeführt zu sein, gab er sich fröhlich der
Begegnung hin.
Der Doktor war unterdessen ausgefahren und als er mit flinken Rossen
von Steinen herauf kam, war es ein kleiner schwarzer Mann, der mit seiner
klugen Geschäftigkeit kaum zu der hohen Frau und ihrem Knaben zu passen
schien; doch war er nicht weniger freundlich gegen den Gast, so gab es unter
dem breiten Ahornbaum im Garten ein fröhliches Mahl, bei dem der Dichter
sich immer mehr für die blonde Doktorsfrau entzündete. Auch sie schien Wohl¬
gefallen an den: Fremdling zu finden, der so schwärmerisch von ihrer Landschaft,
vom Menschengeist, von Freundschaft und von der Liebe zu sprechen wußte,
obwohl sie sich mit der Verschiedenheit ihrer Sprache nicht immer gleich ver¬
ständigten. Als der Dichter durch einen Abend mit fernen Blitzen in seine
Kammer zu den „Drei Eidgenossen" kam, hing er noch lange im Fenster und
sah dem Leuchten der fernen Wetter wie dem Geflacker seiner erregten Jünglings¬
seele zu, bis er seinen Nock mit dankbarer Sehnsucht küssend sich endlich in einen
kurzen Schlaf fand.
Er hatte für den anderen Tag mit der Frau und dem Knaben eine
Besteigung des Großen Mythen ausgemacht, zu der sie in der Frühe aufbrechen
wollten, von einem Knecht der Doktorsleute begleitet, der schon mehrmals oben
gewesen war und die Felswege kannte. Der holte ihn noch halb im Dunkeln
zur Morgenmahlzeit ab, worauf sie, mit Proviant reichlich gerüstet, ihre Berg¬
fahrt antraten, gerade als in der Ferne die weißen Zacken vom Urirotstock in
der ersten Sonne glühten, während das Tal, von den Felswänden der beiden
Mythen breit überschattet, noch in tauiger Dämmerung lag. Sie kamen auch
nach mancherlei Mühsalen gut hinauf bis auf den letzten Grat, als sich die
dunstige Morgensitze unvermutet zu einem Gewitter sammelte, das blauschwarz
hinter den grell beleuchteten Felszacken stand und Wolkenfetzen wie Sturmvögel
über ihre Köpfe jagte.
Sie versuchten noch, ein Felsloch zu erreichen, das mit Stangen und
Steinen bedeckt seit Alters eine notdürftige Zuflucht bot, schon aber brach ein
Donner los, der den Berg zu zersplittern und die losgerissenen Blöcke krachend
in die Tiefen zu werfen schien. Noch war jedoch kein Tropfen gefallen; und
während der Knecht mit dem Knaben in dein dunklen Loch aufräumte, blieb
die Frau tiefatmend davor stehen und sah in das drohende Wetter hinein. Sie
hatte bei der raschen Flucht ihren Hut abgenommen und der Sturm jagte ihr
rotblondes Haar, das in einem grell durchbrechenden Licht feurig leuchtete;
senkrecht über ihr aber stand und schien aus ihrem Kopf gewachsen ein altes
Steinkreuz vom nahen Gipfel, das von Menschenhänden mit eisernen Stangen
in das Gestein verklammert war. Wie der Dichter das sah, in dem donnernden
Aufruhr — darin die schwarzgeballten Lüfte mit den flackernden Felsen eine
Schlacht der Apokalypse kämpften — die lächelnde Frau und das ragende
Kreuz unbewegt: riß ihn das Sinnbild hin zu Gedanken menschlicher Vollmacht,
wie sie ihm nie in eine Ode geflossen waren. Als ob das alles, der Ver¬
nichtungskampf der Natur, die Frau und das .Kreuz lächelnd und leidend darin,
nur ein Schauspiel seiner entzückten Seele wäre, so brachen die Worte über¬
menschlich heraus.
Aber Sturm und Donner rissen die Worte wie fallende Blätter hin; was
stark wie Posaunen in ihm klang, wurde leer, w -um sein Mund es irr die Welt
zurück gab; und was sein eigenes Ohr davon vernahm, war kaum ein Vogel¬
schrei. So unentrinnbar überkam ihn die Ohnmacht des Menschengeistes, der
sich als Verwalter alles irdischen Daseins fühlen konnte, so lange er klug im
Bereich seiner Seele blieb, und nichts wurde, wenn er sich selbst hochmütig
hinaus tragen wollte in die Sprache der Natur: daß er niederbrach auf den
Stein und sich mit ausgestreckten Händen anklammerte. Wie er sich schluchzend
ausfloß und mit den strömenden Tränen sich doch im Ausbruch solchen
Schmerzes etwas Großes retten wollte, prasselten nach den ersten klatschenden
Tropfen die Wasserstürze nieder und spotteten auch seiner salzigen Tränen, daß
er wie ein gestürzter Vogel daliegen blieb und sich vom Wasser des Himmels
durchtränken ließ.
Als der Dichter, dem das begegnet war, wieder zu sich kam aus den
Untiefen seiner Ohnmacht, waren Sturm und Donner mit zackigen Blitzen schon
weit hinunter ins flachere Land um Einsiedeln gefahren und nur noch der Regen
strömte sein rieselndes Geräusch. Irgendwer hatte ihn an der Schulter gefaßt,
und als er aufsah, stand die Frau tiefgebeugt zu ihm und sah mit ihren Augen
erschrocken in die seinen. Da griff er die Hand mit beiden Händen und legte
Augen und Mund hinein und küßte sie, wie nie ein Heiligtum geküßt wurde.
Und sie, die außer dem Bereich seiner Seele eine Doktorsfrau zu Schwnz war
und ihren Knaben mit dem Knecht starr auf dies Schauspiel blicken sah, zog
ihm die Hand nicht fort und stand ihm bei mit ihrer Menschennase, bis er sie
selber ließ und tief aufstöhnend auch das Gewitter seiner Seele in kräuselnden
Tränen zur Ruhe brachte.
Sie standen nachher noch auf dem Gipfel bei dem ragenden Steinkreuz,
sahen tiefeingebettete Seegewässer und Berggipfel wie einen Sturzäcker liegen:
in des Dichters Seele drangen sie nicht mehr ein; die hatte ihr Gehäuse
geschlossen, und was dann mit den anderen stundenlang auf schlüpfrig gewordenen
Felsspuren hinunterstieg, war ein demütiges Menschentier, das in nassen Kleidern
fröstelte wie sie. Nur als sie, immer noch stumm von dem Ereignis, sich unten
trennten und der Dichter in einem wehen Gefühl, daß sie ihn mißverstehen
könnte, zum Abschied noch einmal ihre Hand bekam und sie fragte, ob er ihr
davon schreiben dürste, was ihm da oben begegnet wäre: sah er sie rot werden
und dann lächeln mit Hinterhalt, wie nur eine Frau lächeln kann, doch mit
hellen Augen, die fast schelmisch mit irgendeinem Einfall waren: das dürfe
er, nur müsse sie ihn: dann auch das Rezept von ihrem Vater, dem Land-
ammann, sagen.» »
So kam es, daß der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock in den „Drei
Eidgenossen" zu Schwyz einen Brief schrieb, in dem er tiefer an die hilflose
Not des Menschenschicksals zu rühren glaubte als in allem, was er früher
gedichtet hatte. Er schrieb einen Abend lang und bei der Kerze noch die halbe
Nacht daran; er traute der tönenden Macht erhabener Worte kaum noch und
stammelte mehr, als daß er sprach. Als aber die Kerze schon auf Finger¬
länge heruntergebrannt war, als immer stärker durch das offene Fenster das
mahnende Geräusch ferner Bäche scholl, legte er die Feder weg, weil ihn die
Merkwürdigkeit überkam, dies alles gerade der Doktorsfrau in Schwyz zu
schreiben. Sogleich wußte er aber auch, warum, und einmal soweit entfesselt,
hielt seine Seele nichts mehr zurück, so daß seine Niederschrift in das Ge¬
ständnis einer Liebe auslief, deren Leidenschaft in dieser Nachtstunde keine
Grenzen kannte.
Er siegelte den Brief, der viele Bogen füllte, noch in der Nacht, schlief
danach einen tiefen Schlaf, und schickte ihn durch einen Burschen zu ihr hinauf.
Als er das versiegelte Bündel Papier zum letztenmal in der Hand hielt, fühlte
er, daß etwas Schweres damit geschah; doch war er gewöhnt, tapfer zu seinen
Dingen zu stehen und nichts zu verbergen, was einmal soviel Gewalt über ihn
gewonnen hatte, weil ihm in der Offenheit rauschvoller Stunden mehr reine
Menschlichkeit zu leben schien, als in der Täglichkeit vorstchiiger Überlegung.
Er wußte genau, daß es nur einen Ausweg gab nach diesem Brief — wenn
sie ihm nicht das Haus verweisen sollte — der unwahrscheinlich und gefährlich
wie alle kühnen Dinge war: so wartete er am Morgen und am Mittag den
selbstgewählten Gerichtshof ab und dämpfte seinen Trotz erst, als auch der
Nachmittag verging, ohne daß eine Nachricht kam.
Um so mehr war er überrascht, als gegen fünf der Knabe heiter wie stets
erschien, ihn abzuholen: sie wollten noch einen Gang ins Muotatal zur Brücke
machen. Auch die Frau, die draußen wartete, war kaum anders als sonst,
gab ihm die Hand und fragte, wie ihm die Bergfahrt und die nassen Kleider
nachträglich bekommen wären? Er sah sie unbekümmert lächeln mit allen Zähnen
und wußte nicht, ob es Verstellung oder Spott war, und beides verdunkelte
ihn, ihr Bild, so daß er erst im gehen Worte fand, ihr für die Einladung zu
danken. Sie wehrte den verborgenen Sinn von diesem Dank mit einem Scherz¬
wort ab und blieb auch übermütig, so oft er mit einer Frage an seine Dinge
rühren wollte. Dabei kam sie ihm schöner und anmutiger vor als je, wie sie
dahinschritt in dein Nachmittag, der durch die Entladung der Lust klar und
starkfarbig geworden war. Sie gingen über den Wald von Jberg hinüber und
das moosige Kalkgestein mit seltsamen Höhlen unter Tannenbäumen gab dem
Knaben Gelegenheit zu übermütigen Kletterkünsten. Dem Dichter, der sich immer
trauriger als Fremder bei ihnen fühlte, und der die Frau, die ihm gestern auf
dem Berg und in dem Aufruhr der Nacht so nahe gewesen war, in der
Wirklichkeit dieser Wanderung sich immer hoffnungsloser entfernen sah, als es
durch irgendeinen Abschied möglich gewesen wäre, wurde schwer und trotzig
zumut.
Als sie dann endlich durch die steile Schlucht hinab ins Muotatal und an
die Holzbrücke gekommen waren, wo er den Knaben nackt und kniend gefunden
hatte — der nun gleich abwärts zwischen die Felsen kletterte und in den
rauschenden Spalt hinunter spähte, ob er von seinen Kleidern nicht irgend etwas
angeschwemmt fände —, so daß sie beide allein unter dem alten Schindeldach
der Brücke im Schatten standen und sich von dem sonnigen Gang erholten:
vermochte er die Traurigkeit und den Grimm nicht länger zu bemeistern: Ob
sie seinen Brief erhalten habe?
Erhalten wohl, sagte sie und wurde still, als sie vor seinen Augen noch
lächeln wollte; dann aber faßte sie sich gleich und rief nach ihrem Knaben, der
irgendwoher lustige Antwort gab: Da er nun einmal geschrieben habe, sei sie ihm
das Rezept von ihrem Vater schuldig geworden. Sie versuchte schon wieder zu
lächeln und es wurde dasselbe Gesicht voll weiblichem Hinterhalt daraus, das
sie ihm gestern beim Abschied gelassen hatte, nur daß in die Schelmerei der
Ernst gefallen war: Ihr Vater wäre der Landammann von Schwyz gewesen,
dessen Urteil im Land wie ein Gesetz gegolten habe; da ihre Mutter früh
gestorben und sie das einzige Kind gewesen sei. hätte sie anders als sonst wohl
eine Tochter zu ihm gestanden in ihrem zweisamen Beisammensein. So habe
ihr der Vater schon als Mädchen abverlangt, alles, was sie ihm nicht ohne
Überwindung sagen könne, in einen Brief zu schreiben, den er ihr nie vorhalten
wolle, wie böse oder unrecht er auch wäre, damit ihr keine Verstimmung einen
Rest im Herzen lasse, aus denen sich allmählich Mißtrauen sammele.
Sie habe das Rezept durch ihre Mädchen- und Jungfrauenjahre treu
befolgt, anfänglich oft, dann immer seltener; sie sei wohl manchmal ungerecht
und hitzig, doch immer aufrichtig dabei gewesen, da sie gesehen habe, mit welcher
Milde ihr Vater alle Launen, Klagen und Vorwürfe ertrug. Bis ihr der
Hochzeitstag diese Milde zwar auf eine resolute Art, jedoch die Weisheit des
Rezeptes um so unerwarteter offenbart habe. Unter allen Geschenken dieses
Tages sei nämlich eins gewesen, das ihr der Vater selber in die Hand gegeben
habe: ein Kästchen aus polierten Birnenholz mit ihrem Namenszug in eingelegter
Perlmutterarbeit und einem vergoldeten Schlüsselchen; darin hätten all ihre
Briefe in der Reihenfolge gelegen, wie sie geschrieben waren, keiner fehlend —
und alle ungeöffnet: da es bei solchem Unkraut wohl wichtig sei, daß es
vom eigenen Herzen loskäme, nicht aber, daß es seine Saat in andere
Herzen würfe!
Als so die blonde Doktorsfrau aus Schwyz dem Dichter das Rezept von
ihrem Vater, demi Landammann, gegeben hatte, holte sie auch seinen Brief
heraus, der in bunter Umhüllung ein ziemliches Päckchen war: sie habe ihn:
kein Kästchen aus Birnenholz machen können, wohl aber eine Tasche aus Zürcher
Seide, wenn ihm ein Andenken an sie nachdem nicht unlieb wäre.
Da riß der Dichter, der in seiner Enttäuschung die Weisheit des Land-
ammanns nicht schmackhaft finden konnte und sich in einem Spiel gespiegelt
sah, wo er im Feuer gebrannt hatte, den Brief aus seiner Hülle, dessen Siegel
unerbrochen war, und wollte ihn durch die blaugrünen Spalten zornig in die
tiefe Muota hinunterwerfen. Weil aber das Päckchen zu dick war und sich
zwängte, mußte er ihm kniend nachhelfen, so daß der Knabe, zufällig von seiner
Kletterei in den Schattengang der Brücke tretend, ihn in derselben Stellung
überraschte, in der er selber vor zwei Tagen da gewesen war. Nur, daß er
nicht aufsprang bei seinen Schritten, sondern tief auf die Spalten gebeugt zornige
Tränen tropfen ließ.
Doch nahm auch diesmal die Natur, nur scherzend mit einem Zufall statt
durch Blitz und Donner, den Dichter in dh Lehre; denn als der Knabe, die
Bewegung mißverstehend, auch durch die Spalten sah. entdeckte er den Brief
tief unten, der statt ins Wasser auf einen rund gewaschenen Felsblock gefallen
und mit seinem roten Siegel als eine merkwürdige Sternblume in der
Tiefe aufgeblüht war. Heraufzuholen war er da nicht mehr, und als der
Knabe erst wußte, daß er ins Wasser sollte, war es ein rasch ergriffenes Spiel
für ihn, mit Stöcken und mit Steinen danach zu werfen, ihm zu der Wasser¬
fahrt den letzten Ruck zu geben. Es war ein grausameres Spiel, als seine
Jugend ahnen konnte; aber der Dichter sprang ihm bei zu dieser Steinigung;
er war es auch, der schließlich mit einem Knüttel den Brief in den Strudel
verhalf, gerade als ein Landmann mit einer Kiepe aus der Brücke kam und
sich an ihrem närrischen Tun verwunderte.
Die Frau hatte unterdessen seitab gestanden, wie wenn sie als die einzige
die Grausamkeit von diesem Spiel empfände; nun ging sie wortlos von den
beiden den Talweg fort. Der Dichter sah ihr nach, wie sie den Nacken beugte
und Schritt für Schritt die schlanken Beine schwer los zu ziehen schien; dann
küßte er den Knaben, wie er die Frau nicht küssen konnte und entließ ihn
mit einem letzten Gruß an sie. Denn sie danach zu sehen, vermochte er nicht
mehr: sie ging aus dieser Felsschlucht in das sonnige Tal von Schwyz, wo
sie wohnhaft und im bürgerlichen Kreis ihrer Leute beheimatet war, indessen
er mit seiner Seele — wie er es niemals vorher so unabwendbar empfunden
hatte — durch kein Rezept geschützt, allen Naturgewalten ausgeliefert blieb.
Der Brief mit seinem Siegel war längst in hundert Strudeln geweicht
und aufgerissen, die Dunkelheit fiel schon ins letzte warme Licht, als er noch
immer dasaß und seine Traurigkeit die blaugrüne Tiefe absuchen ließ. Er sah
den Grund, auf dem doch einmal alles endigte, was Großes und Erhabenes
gelebt und gedichtet wurde; der Weg für seinen Brief war kürzer und resolut
gewesen; denn so weit und tief er auch mit einem Wort und Klang aus seiner
Seele in die Zeit und vielleicht zur Nachwelt dringen konnte: einmal war doch
die Wirkung am Ende angelangt, wo die Vergessenheit begann.
Und da erst war der Dichter weit genug, aus dem Rezept des alten
Landammanns von Schwyz für sich doch eine Weisheit herauszufinden: So
oder so, wenn alles, was er schrieb, auch in den Birnenholzkasten wandern
oder mit dem Strom der Zeit abtreiben mußte, so blieb doch seiner Seele ihr
ungeschmälertes Teil, daß sie in Rausch und Glück und Qualen sich der Natur
und dem Weltgeist vereinigte. Und ob ihm Sturm und Donner seine Worte
wie Spinnweben vor dem Mund zerrissen: seiner Seele untertänig blieben sie
doch. Wie ein Brennglas die Strahlen in sich band, zwang er die Welt in
sich, soweit die Sinne reichten; gebunden aber war sie erst, wenn er durch
seinen Geist in Klang und Ordnung brachte, was für die Sinne Sinnlosigkeit
und Schrecken gewesen war. Sein Dichtwort war das Siegel, das der Menschen-
geiht der Welt aufdrücken konnte als Zeichen einer Herrschaft, die den Natur-
gewalten unnahbar war.
Als in der Nacht aus den „Drei Eidgenossen" zu Schwuz der Fremdling
einsam abwanderte, der in Hemdärmeln mit dem Sohn der Doktorsfrau so
lcindsmännisch zu ihm gekommen war, da schüttelte der Wirt den Kopf, um
wieviel merkwürdiger doch solche Gäste wären als alles, was in Schwuz und
sonst redlich sein Tagwerk täte.
le gegenwärtige Kunstbewegung in Deutschland setzte im Jahre 1890
mit der Devise Rembrandt als Erzieher ein. Die jugendfrische Be¬
geisterung der jungen Generation hat sich weiterhin wenig darum
gekümmert, ob sie in ihrem Schaffen dem Namen, den sie auf ihre
Fahne geschrieben, gerecht wurde. Es genügte die Schwungkraft,
die ein solcher Name in einer Stunde verleiht, wo jeder leicht das Feuer des
Helden in seiner Brust glühend empfindet.
Heute mehren sich die Anzeichen, die auf eine völlige Wandlung in unserem
Verhältnis zur Kunst schließen lassen: an Stelle einer subtil ausgebildeten Form
tritt mehr und mehr das Verlangen nach größerer Berücksichtigung inhaltlicher
Werte. Ein sehr bekannter Kunsthistoriker, der bei der neuen Kunst seinerzeit
mit Eifer Pate stand, riet in diesen Tagen seinem jüngeren Kollegen nicht immer
nur Paris aufzusuchen, um eine Reihe formaler Maßstäbe zu sammeln, sondern
auch einmal nach Kolmar oder Lüneburg zu pilgern und sich dort in Denkmäler
eines inhaltlich gewichtigen Kunstschaffens zu vertiefe».
So mag es keine ganz unfruchtbare Aufgabe sein, an der Hand eines Rokoko¬
künstlerschicksals den Vorgängen, wie sie sich bei einer sterbenden Kunst abspielen,
zuzusehen. Schon das wahre Rokoko des achtzehnten Jahrhunderts können wir
uns nicht vorstellen, ohne dabei etwas von dem Geschwindschritt der auf eine neue
Zeit hineilenden Entwicklung mitzufühlen. Und die heutige Rokokomode? Ist sie
nicht vielleicht ein Vorbote des kommenden Umschwunges?
Die äußeren Vorgänge deS Erdenlebens F. X. Messerschmidts, um den es
sich handelt, sind schnell erzählt: ein schwäbischer Handwerkersohn, wurde er aus
einer kinderreichen Familie frühzeitig herausgenommen und zeigte erst in München,
dann in Wien frühreifes Talent für die Plastik. Dann kam die unvermeidliche
Romreise, auf der sich zuerst sein derbes Naturburschentum gegenüber der anwachsenden
Rokokoziererei geltend machte. Mit einem riesigen Holzklotz erschien er einmal im
Palast Farnese, um den dort befindlichen herrlichen Herakles nachzubilden, und
schon mußte er sich in ungeschliffen grobdeutscher Weise des Geredes seiner Kunst¬
genossen, die angesichts des rätselhaften Gebarens von Teufelsbeistand redeten,
erwehren. Späterhin machte es ihm ordentlich Spaß, eigene wertvolle Arbeiten
vor den Augen derer, die sie um hohen Preis begehrten, zu zertrümmern. In
Wien, wohin er 1766 zurückkehrte, begann für den Sonderling, der sich von der
Akademie zurückgesetzt fühlte, eine wahre Leidenszeit, und als nach fünfjähriger
Substitutswartezeit seine Anstellung als Professor erfolgen sollte, wußte man es
so einzurichten, daß dem des öfteren für wahnsinnig erklärten Künstler seine
Pensionierung zuteil wurde. Verbittert und menschenscheu zog sich Messerschmidt
nach Preßburg zurück und lebte dort weit draußen in einem einsamen Hause beim
Judenkirchhof. Seine ganze Lebensweise nahm mehr und mehr etwas saustisch
Unheimliches an. Neugierigen, und selbst wenn es reiche Auftraggeber waren,
wies er barsch die Tür, indem er erklärte, er arbeite nur für sich, und nach seinem
Tode werde er alles in die Donau schmeißen lassen. Den Ruf des Sonderlings zu
mehren, trugen auch die Werke bei, dank derer allein er in der Geschichte seiner
Zeit einen Platz verdient: seine Charakterköpfe aus Blei, Marmor oder Holz.
Die ersten entstammen dem Jahr 1770, sie fallen also in den Beginn des
deutschen Sturmes und Dranges, und neben Lenz, Lavater. Kaufmann und
Leuchsenring sollte auch Messerschmidt in der Schilderung jener Zeit nicht
fehlen;") denn mit all den Genannten hat er den Zug zu jugendfrischer
Ursprünglichkeit gemeinsam, und doch zeigt keimr von ihnen die Tendenzen der
Zeit so klar wie er, der den Vorzug hatte, mit einer schweren Lebens- und
Künstlererfahrung die Gedankengänge jener Leute mitzuerleben. Sein Beispiel
erklärt vielleicht auch am besten, wie schnell diese Stürmer der siebziger Jahre am
Ende ihres Könnens ankommen mußten, weil sie zu viel auf einmal in ihr Pro¬
gramm gesetzt hatten. Tragik der Jugend, die ungeduldig und vorschnell das
Größte erzwingen möchte.
Eine unverbürgte Geschichte berichtet, Messerschmidt sei einmal beschuldigt
worden, einen Juden mit Ermordung bedroht zu haben. Andere erzählen, er habe
wirklich eines Tages einen armen Schächer in sein Haus gelockt und ihn mit der
Pistole bedroht, um die Wirkungen der Todesangst auf seinein Antlitz beobachten
zu können. Das klingt Wohl alles wie nachträglich erfunden, ist aber doch recht
bezeichnend für die Denkart des Künstlers. Er wollte tatsächlich einer im Akade¬
mischen festgewurzelten Kunst den Reichtum lebensfrischer empirischer Beobachtung
in Form von Typen gegenüberstellen. So entstand die lange Reihe von Köpfen:
der kindisch Weinende, der Erhängte, der Erzbösewicht, der Gähnende, der Mi߬
mutige usw. bis zu den beiden kuriosen „Schnabelköpfen", wie er sie nannte, mit
den vielsagenden Bezeichnungen seines ersten Biographen, „der rücksichtslose Aus-
druck des Hohnes" und „der Ausdruck des Hohnes mit einem Zuge des Ver¬
langens nach dem Verhöhnten". Die Köpfe sind in ihrer Mehrzahl der Ausdruck
eines auf die Spitze getriebenen Naturalismus, einige suchen einem uns sonderbar
erscheinenden Humor gerecht zu werden, wie der Schafskopf oder der mit Ver¬
stopfung Behaftete. Jedenfalls waren sie infolge der unglückseligen Art des
Künstlers, der das Extreme suchte und verwirklichte, mehr Kuriositäten als wirk¬
liche Kunstwerke. Wer aber möchte die bestimmte Grenze zwischen Kunstwerk und
Kuriosum ziehen? Das Werk Messerschmidts bleibt bezeichnend für den wichtigen,
auch heute wiederkehrenden Augenblick, wo Kunst und allgemeine Geisteskultur
einander nahetreten, befruchten und schädigen. Suchen wir die weiteren Zusammen¬
hänge, in denen seine Arbeit entstand, zu erfassen.
Zunächst ist sein Realismus bewußte Reaktion gegen die seine Zeit noch
beherrschenden Barockformen. Abgesehen von dem stark satyrischen Grundton, der
Messerschmidt eigen ist, ist die individualistische Färbung seiner Arbeit das Ergebnis
eines Zustandes, der sich leicht einstellt, wenn Kunstmethoden zu lange unbeschränkte
Geltung gehabt haben. Sie verfallen dann meist einer Verallgemeinerung, die
sie jedem bloß technisch Begabten von selbst zugänglich macht. Freilich liegt auch
in dem Gegensatz, in den man sich gegenüber der gültigen Kunst einzuleben sucht,
der Grund der Schwäche solcher Neuerer. Über eine krampfhafte Verzerrung
bringen sie es nicht hinaus. Hierzu kommt der Mangel an wirklich großen Er-
lebnissen, wie sie die von Messerschmidt bekämpfte Barockkunst eigentlich voraus-
setzte, ein Mangel, der schließlich das grübelnd theoretische Denken, nicht zuletzt
in Osterreich selbst, förderte. Daher rührt auch die damals so häufige Erscheinung
von Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Leben, aber in einem für beide Teile
ungünstigen Sinne. Gerade die Möglichkeit des Wechsels in der praktischen Be-
tätigung zeigt, wie stark theoretisch das Verhältnis zu Arbeit und Gemeinschaft
geworden war. Man denke an den Schwärmer Chr. Kaufmann. Er gab sich
als Künstler, war eine Art Kraftapostel, betätigte sich als philanthropischer Pädagoge
und endigte als Herrenhuter Gemeindearzt. Ähnliche Vielgeschäftigkeit zeigte Lavater,
wenn auch bei ihm alles mehr um gewisse religiöse Bedürfnisse gruppiert erscheint;
aber seine Methoden zur Erfassung des Heiligsten bieten doch das Bild einer
bedenklich reichen Skala. Vielleicht wurde diese Art, den höchsten religiösen Werten
nahe zu kommen, mit Vorliebe vom Dilettantismus nach 1770 gepflegt. Das
rührte wohl daher, daß nach den großen Kirchen selbst die Sekten an innerlichem
Erleben eingebüßt hatten. Bei Messerschmidt ist zwar, abgesehen von unbestimmten
Beziehungen zur Freimaurerei (Jlg, „Messerschmidt" S. 39) nicht festzustellen,
was ihn aus seiner Künstlersphäre herausgelockt hätte. Verglichen mit unseren
Stürmern und Drängern ist er zeitlebens mehr Künstler geblieben. Gleichwohl
hat er sich über eine sonderbare Proportionstheorie hinaus, die selbst seinen .Körper
in Beziehung zu dem zu schaffenden Kopfe setzte, einer Grenzüberschreitung schuldig
gemacht, als er versuchte, im Geiste der Theorien seines Freundes und Lands¬
mannes Mesmer zu arbeiten. Mit ihm, nicht mit Lavaters physiognomischen
Versuchen, was sonst so nahe läge, ist Messerschmidt in Zusammenhang zu bringen.
So wie Mesmer seelische und physische Empfindungen und Affekte als Ergebnis
eines magnetischen Fluidums erklärte, so wollte der Künstler nicht nur Charakter¬
köpfe, sondern auch rein körperliche Zustände zur Darstellung bringen, wie z. B.
den Riechenden, den speiender usw. Er stellt so neben dem mehr ethisch
gerichteten Lavater, der das Genie in der Welt suchte, den realistischen Forscher
dar. Kunst wird bei ihm zur versinnbildlichten Wissenschaft, und die Arbeit des
Plastikers hat in der Geschichte der Kunst längere Zeit Geltung gehabt, als die
Theorien des Mesmerismus für die Wissenschaft Wert hatten.
Diese sachliche Wendung zur Wissenschaft führte nun bei Messerschmidt keines¬
wegs zu einer blos empirischen Materialsammlung. Das stoffliche Interesse kehrte
bei ihm, wie bei allen pseudowissenschaftlichen Versuchen des Sturmes und Dranges,
zu einer tieferen Erfassung der Persönlichkeit zurück, mit deren Erkenntnis man
die Welt selbst ergründet zu haben glaubte. Je weniger die Aufträge einliefen,
die ihn an bestimmte äußere Bedürfnisse und Interessen zeitweilig binden konnten,
um so mehr suchte seine grübelnde Natur sich in das Rätsel des Menschen zu
vertiefen. Merkwürdig ist hierbei, wenn wir uns neuerer Versuche von Persön¬
lichkeitsdarstellungen erinnern, daß ihn sein Realismus nie zu bestimmten Typen
hinführte. Darum erscheint seine Sammlung von Charakteren mehr wie eine
Republik, es fehlt ein alles beherrschender Typus, wie ihn z. B. unsere Über¬
menschenphilosophie in fest umrissenen Normen bildete. Das gibt seinem Tun
etwas suchendes; das Gesichtsfeld der Generation von 1770 bis 1790 war
wohl weniger mit fertigen Systemen verbaut, als es heute der Fall ist. Daher
rührt der Reichtum an stets wieder aufs neue einsetzenden Experimenten und
Deutungen auf allen einer philosophischen Formulierung zugänglichen Gebieten
der damaligen Wissenschaft.
Gleichwohl scheint es das Schicksal aller Künstler, die in das philosophische
Gebiet hinüberschweifen, zu sein, in einem engen Nationalismus stecken zu bleiben.
Die Generation von 1770 konnte trotz großer Anläufe dieser Gefahr nicht ganz
entgehen. Sie war jung, und nur naheliegende engbegrenzte Beobachtungen
standen ihr zur Verfügung: beides Umstände, die den Blick nur für einfache
Vernunftszusammenhänge öffnen. Beim schaffenden Künstler kommt noch hinzu
die übertreibende Bewertung des technischen Könnens, die die Grundlage jedes
höheren Schaffens sein muß. Eine solche Auffassung von der Arbeit schließt das
Erlebnis als störend aus, und ist leicht geneigt, das ganze Weltbild zu mechani¬
sieren. Die heutige Philosophie mit ihrem Gegensatz von mechanistischem und
vitalistischem Denken, jenes von Spencer, dieses von Bergson vertreten, würde,
wenn sie erst einmal von Künstlern in den Bereich ihres Denkens miteinbezogen
werden sollte, ähnlich einem festen Glauben eine starre Symbolsystematik zeitigen,
wie sie der Glanzzeit des Rationalismus eigen war. Messerschmidt meinte, die
Welt in seinen Köpfen restlos erschöpfen zu können, und ein mehr neugieriger als
wirklich suchender Denker, wie Nikolai, berichtete sympathisch von seinem Besuche
bei dem einsamen Künstler in Preßburg.
Man hat so beim Anblick dieses zielstrebigen und doch verworrenen Kunst¬
schaffens mehr den Eindruck, als handle es sich um eine Theorie und noch dazu
mehr um eine recht schwache und beschränkte, als um eine mit allen Lebensfasern
aus einer Künstlernatur heraus entstandene Erscheinungsreihe, die die Züge der
großen Welt mit Selbstbewußtsein widerspiegeln könnte. Dieses Höchste in der
.Kunst zu erreichen, ist Übergangserscheinungen, wie Messerschmidt eine war, selten
vergönnt.
Dafür ist solchen Naturen bei dein Reichtum der Einflüsse, die sich in ihnen
kreuzen, beschieden, eher menschlich begreiflich zu sein und erfaßt zu werden, als
den Nurkünstlern, die im Grunde weltfremder sind, als Menschen wie Messerschmidt
mit seinem Cinsamkeitsbedürfnis. So hat sich die dichterische Phantasie dieser
merkwürdigen Erscheinung in einem Dramolet „Hebe Herkules." eines Preßburger
Schulmannes bemächtigt. Da schenkt der Künstler, eben aus Rom zurückgekehrt,
auf einer Donanfahrt einer von ihm verehrten Dame einen herrlichen, aus Holz
geschnitzten Herkules. Aber die beiden werden vom Schicksal hart auseinander
gerissen. Erst nach langen Jahren, zu einer Zeit, als der Künstler an einer Hebe
arbeitet, erscheint ein Graf in seinem Atelier, ein unwissender brutaler Mensch,
der eine Hebe kaufen will, weil seine Frau es so wünscht. Der Künstler setzt den
Banausen grob vor die Tür; aber seine Kraft ist zu Ende. Da erscheint im
letzten Augenblick die Geliebte von ehedem. Es ist die Frau des Grafen, und ihr
wird die Hebe als Geschenk zuteil. Noch einige Meißelschläge sind nötig zur
Vollendung, der Künstler will an die Arbeit gehen; jedoch er fühlt, daß seine
Sendung mit der geistigen Vereinigung von Herkules und Hebe erfüllt ist, und
mit den Worten: „Hebe Herkulea, ich sehne mich nach Vergötterung", sinkt er
entseelt vor seinem letzten Meisterwerke zusammen.
Alle Frciheitsapostcl, sie warm mir immer zuwider;
Willkür suchte doch nur jeder am Ende für sich.
Willst du viele befrei'n, so wäg es, Vielen zu dienen.Wie gefährlich das sei, willst du es wissen? — Versuch'sI
Goethe
as ablaufende Jahr, das in jeder Beziehung so kriegerische und
kampfesfrohe — man denke der Revolutionen, Kriege und Partei¬
kämpfe! —, will sich, scheint es, in der Weltgeschichte sowohl wie
in der Geschichte Deutschlands noch einen guten Abgang sichern:
es zieht sich unter dem Klänge internationaler und innerpolitischer
Friedensschalmeien zurück. In London tagt eine Konferenz von Botschaftern,
die die Lösung der Balkanfrage und alles dessen, was damit zusammenhängt,
mit friedlichen Mitteln vorbereiten soll, und zwischen den Redaktionstintenfässern
der bürgerlichen Blätter Deutschlands zeigt sich so etwas wie versöhnliche Weih¬
nachtsstimmung, die ein ernstes Bedürfnis nach Ausgleich zwischen den bürger¬
lichen Parteien widerspiegelt.
Lassen wir die vielgewandten Herren, die sich zu London versammelt haben,
zunächst unter sich und bei ihren Gesprächen; was dort auch entschieden werden
mag, das deutsche Volk wird nur dann Nutzen daraus ziehen, wenn es
moralisch, wirtschaftlich und politisch gerüstet, innerlich gefestigt und nach außen
sicher geführt alle Dinge des Weltgeschehens in Ruhe an sich herankommen
lassen kann.
Umfassen wir rückschauend die Vorgänge auf dem Gebiete der inneren
Politik, so können wir vom Standpunkt der hauptsächlichsten Forderungen, die
wir an das ablaufende Jahr bei seinem Antritt stellten, leidlich zufrieden sein.
Haben sich auch die meisten Wünsche noch nicht verwirklichen können, so ist der
wichtigste von ihnen, die staatliche Inangriffnahme der inneren Kolonisation, auf
dem Wege zur Erfüllung: der deutsche Reichskanzler hat amtlich die innere
Kolonisation als die bedeutendste und wichtigste Aufgabe für die Regierungen
der Bundesräten anerkannt; der preußische Staat hat finanzielle Mittel für
die Lösung der Frage zur Verfügung gestellt; Männer in hohen verantwortungs¬
reichen Stellungen, wie der Frankfurter Regierungspräsident von Schwerin, der
Majoratsherr auf Bledau von Batocki, der unermüdlich tätige Geheime Re¬
gierungsrat Kapp, die Professoren Gering und Sohnren und tausend jüngere
Kräfte aller Parteien in Stadt und Land, haben im Jahre 1912 praktisch
zugegriffen, eingedenk Goethes Wort aus „Faust", das ich an die Spitze des
eben ablaufenden einundsiebzigsten Grenzbotcnjahrganges stellte:
Es ist nicht nur Gold im materiellen Sinne, was uns, das ist der Nation,
die innere Kolonisation bringt; die Arbeit am Problem der Seßhaftmachnng
ganz allein schafft durch die Notwendigkeit, sich bei ihr in alle sozialen und wirt¬
schaftlichen und politischen Probleme vertiefen zu müssen, so viel ideelles Gold, daß
sie uns ganz allein zu den kühnsten Schlüssen und Hoffnungen berechtigt. Als ich im
Sommer d. I. die Arbeit für innere Kolonisation als den Ausgang für eine
Verständigung und Aussöhnung der bürgerlichen Parteien bezeichnete, fand ich
aus liberalen und konservativen Kreisen freundliche Zustimmung. Dieser Um¬
stand beweist von neuem, wie die Erinnerung an den Heimatsboden die Volks¬
genossen nicht nur in der Fremde eint, er zeigt auch, daß die ernste Beschäftigung
mit ihm — was wir Agrar- oder Bodenprobleme nennen — die Denkenden
der Nation wieder aufs Ganze hinlenkt, der wirtschaftlichen und politischen
Zersplitterung Einhalt gebietet und alle sich als Teile eines großen Volkes
empfinden läßt.
So gebe ich denn auch die Hoffnung nicht auf, daß das Problem der
inneren Kolonisation nicht nur, wie Herr Oertel in der Deutschen Tages¬
zeitung meint, in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung die bürgerlichen Parteien
einigende Ziele hervorbringt, sondern auch in politischer.
An das Problem der inneren Kolonisation knüpfen gleich zwei Gebiete
unseres politischen Lebens an. die im abgelaufenen Jahr hart umstritten wurden:
die Polenfrage und die Frage nach der Stellung der bürgerlichen Parteien zur
Sozialdemokratie. Kampf gegen die Sozialdemokratie nennt die Deutsche
Tageszeitung für die Konservativen und Herr Trimborn für das Zentrum die
Voraussetzung für jede Verständigung unter den bürgerlichen Parteien. Aber
sie sagen nicht, wie dieser Kampf geführt werden solle, — es sei denn, daß
man aus ihren Ausführungen die Aufforderung zu.Ausnahmegesetzen heraus-
lesen soll. Diese Parole bleibt unfruchtbar und muß zum geraden Gegenteil
des Angestrebten führen; sie kann positiven Inhalt nur vom Problem der inneren
Kolonisation aus gewinnen.
Die Sozialdemokratie ist in ihrem innern Wesenskern eine wirtschaftliche
Erscheinung. Sie wird darum nicht mit politischen, sondern mit wirt¬
schaftlichen Mitteln wirksam zu bekämpfen sein. Sie wird solange wachsen,
wie die Verbilligung des Geldes andauert, wie die Nahrungsmittelpreise und
die Wohnungsmieten steigen, und keine noch so weit reichende soziale Gesetz¬
gebung wird ihr Abbruch tun können, solange lediglich das Geld zum Ausgleich
für alle wirtschaftlichen Nöte herangezogen wird. Der Nahmen, in den unsere
gesamte Sozial- und Wirtschaftspolitik hineingestellt ist, gleicht dem Faß der Da-
naiden: es ist kein Boden vorhanden, solange der Grundstückpreis milschwankt mit
den Warenpreisen und solange er jeder Konjunktur auf dem Warenmarkt nachgibt.
Und weiter: die sozialdemokratischen Ideen werden sich immer mehr der an der
Bodennutzung auf spekulativer Basis nicht beteiligten Kreise bemächtigen, es
sei denn, daß die führenden Kreise des gewerblichen Bürgertums, und dazu
rechne ich in allererster Linie den befestigten Grundbesitz, ein Einsehen haben und den
Bodenpreis, sei es durch staatliche Festlegung einer Verschuldungsgrenze, sei es
dnrch Feststellung eines unverrückbaren Bodenwertes, stabilieren.
Ein Kampf gegen die Sozialdemokratie, wie ihn sich ein Teil des liberalen
und konservativen Bürgertums sowie die Zentrumspartei denkt, erscheint mir
erfolglos. Das hat uns die Geschichte deutlich genug bewiesen.
Der inneren Kolonisation lege ich aber auch deshalb eine so große Be¬
deutung bei, weil sie, wie schon gesagt, uns endlich den Weg weist, auf dem
auch das polnische Problem zu lösen ist. Nachdem der Kampf um den
Boden der Ostmark sich als eine Finanz- und Wirtschaftsfrage entpuppt hat,
in der das rein nationale Element lediglich den Hitzegrad des Kampfes bestimmt,
ohne auf die Wahl der praktischen Kampfmittel einen ausschlaggebenden Einfluß zu
haben, ist es nicht mehr angängig, sie mit den geistigen Mitteln des Nationalitöten-
kampfes lösen zu wollen. In einer Wirtschaftsorganisation, in der alles
mobilisiert wird, wird stets derjenige die am heißesten begehrten Waren kaufen
können, dem das meiste Geld zur Verfügung steht. Das aber sind in der
Ostmark, wo eben der Boden die am heißesten umstrittene Ware bildet, die Polen;
sie verfügen uicht nur über viele hundert Millionen Arbeiterersparnisse aus den
Jndustriegegendcn, sondern auch über die etwa 600 Millionen Mark, die die An-
siedlungskommission in die Ostmark getragen hat. Weil guter deutscher Boden
demi falschen Gott der Handelsfreiheit geopfert wird, deshalb verlieren wir ihn
an das Fremdvolk und lassen es in ihrer vermeintlichen Verlegenheit so über¬
mütig werden, daß es selbst zum Boykott deutscher Waren innerhalb der
deutschen Landesgrenzen schreitet.
Die Erstarkung des Polentunis, die aus dem Boykott zutage zu treten
scheint, ist indessen problematischer Natur. In der Boykotterklärung brauchen
wir lediglich einen gut organisierten Volkswillen zu erkennen sowie die Überzeugung
bei den polnischen Führern, daß die polnische städtische Bevölkerung bereits
befähigt ist, die Versorgung der Ostmark mit ihrem Warenbedarf selbständig
vornehmen zu können. Wer seinerzeit das Buch Bernhards über die polnischen Wirt¬
schaftsorganisationen aufmerksam studiert hat, der wird von der Tatsache uicht
überrascht sein, und wer die Wechselwirkung zwischen ländlicher Kolonisation und
städtischer Gewerbeentwicklung zu beobachten Gelegenheit hatte, wird sich über
die Erstarkung des polnischen Bürgertums in den Städten nicht wundern. Die
Ansiedlung deutscher Bauern und die damit zusammenhängende Auflösung der
landwirtschaftlichen Großbetriebe hat, wie ich dies schon im Sommer 1908 in
diesen Heften näher begründete, auch dem alteingesessenen Handel in den Städten,
der mangels einer Industrie fast ausschließlich auf das platte Land angewiesen
ist, die Verbindungen zerstört und zwar um so schneller, als mit den Ansiedlern
auch das Genossenschaftswesen siegreich seinen Einzug in die Ostmark hielt.
Der alte Handel aber lag vorzugsweise in jüdischen Händen; die Polen fingen
erst um die Mitte der 1890er Jahre an, sich in größerem Umfange im Handel
zu betätigten. Nachdem die Juden aber ihre Handelsverbindungen verloren hatte»,
wanderten sie. beweglich wie sie sind, in die großen Städte, besonders nach
Berlin aus. Da nun aber kein geeigneter deutscher Kaufmannsnachwnchs vorhanden
war, die Protektionswirtschaft aber, die die deutschen Beamten usw. zwingt,
ausschließlich bei Deutschen zu kaufen, die wenigen deutschen Kaufleute und
Handwerker sehr schnell konkurrenzunlustig gemacht hat, konnten die Polen um
so eher in die Lücke springen, als sie offen in ihrer Nationalität bedroht, zur
höchsten Anspannung ihrer Kräfte in Handwerk und Handel geradezu gezwungen
wurden. Diese Entwicklung mußte kommen; sie war jedem klar, der überhaupt
nur über Siedlungsprobleme nachgedacht hat. Daß sie aber eine so wenig
vorbereitete deutsche Kampfmannschaft findet, das ist unsere, der Deutschen eigene
Schuld. So wenig erfreulich das hier skizzierte Bild auch ist, so haben wir
doch keine Veranlassung, den Kopf sinken zu lassen. Gut Ding will Weile
haben! Die Entwicklung wird sich, muß sich wieder zu unseren Gunsten wenden,
wenn erst der Überschuß aus den deutschen Ansiedlungsdörfern in die Städte strömt.
Darum soll auch das jüngste Aufbegehren der Polen uns nicht zu Maßnahmen
reizen, die dem Übel nicht beikommen können. Gesunde Bodenpolitik in ganz
Deutschland bietet die einzige Gewähr für die restlose Wiedereroberung der
Ostmark.
Die intensive Beschäftigung mit dem Problem der inneren Kolonisation
bringt uns aber auch einem rein politischen Gegenstande näher, über den die
bürgerlichen Parteien sich in der allernächsten Zeit werden verständigen müssen:
die Wahlrechtssrage in Preußen. Das Jahr 1912 hat in dieser Be¬
ziehung gewissermaßen als ein Jahr stiller Vorbereitung gedient, wenn es uns
der Lösung des Problems auch nicht einen Schritt näher gebracht hat. Soviel
ist jedenfalls festzustellen: auch in den liberalen Kreisen von Handel und
Industrie ist das Ideal der Übertragung des demokratischen Reichstagswahl¬
rechts ans Preußen merklich verblaßt. Nachdem in den Grenzboten gerade von
liberaler Seite wiederholt auf die Schäden des gleichen und direkten Wahlrechts
hingewiesen worden ist, tritt jetzt im Auftrage der Handelskammer zu Krefeld
Assessor Pieper offen mit Forderungen hervor, die auf berufsständische Grund¬
lagen für das Wahlrecht in Staat und Reich hinauslaufen. Ich bin überzeugt,
daß die Beschäftigung mit dem Problem der inneren Kolonisation unzählige
neue Argumente für berufsständische Organisation der Wahlen zunächst in
Preußen zutage fördern wird und somit enthält sie auch genügend starke
politische Elemente, deren eZ bedarf, um ein Zusammenwirken politischer
Parteien zu ermöglichen.
Mit diesem Ruck- und Ausblick sei das Jahr 1912 geschlossen. Was über
die internationale Lage zu sagen war, wurde in den voraufgegangenen Wochen
in verschiedenen Aufsätzen dargelegt. Hier nur noch eine Erinnerung. Wenn
dies H'se in die Hände meiner Leser gelangt, jährt sich zum hundertsten Mal
der Tag der Konvention von Tauroggen und es beginnt damit die große Zeit
der Befreiung Preußens vom Joch des Korsen. Möge die Erinnerung an den
persönlichen Mut, den Uorck durch seinen Übergang zu den Russen bewiesen,
uns selbst begeistern, das Werk der Befreiung von den Fesseln in Angriff zu
nehmen, die wir uns durch die Überspannung liberaler Wirtschaftsprinzipien
selbst schmiedeten. Bodenreform! Das sei die Losung für 1913. G, Lleinow
Die jungen Schweizer. Den historischen
Roman, der zur Zeit der archäologischen
Dichtung der Ebers, Dahn u. a, so sehr im
argen lag, hat C. F. Meyer mit am kräftigsten
neugestaltet. Statt der Poetisch angefärbten
Geschichtserzählung vermochte er das histo¬
rische Geschehnis in poetische Handlung umzu¬
modeln und, ein dichterischer ?Ihm - sir-
Künstler die historische Atmosphäre hervorzu¬
zaubern. Zwei starkbegabte Erzähler, beide
Baseler, wandeln auf gleicher Bahn.: Jakob
Schaffner") und Felix Moeschlin"*),
Noch mehr als Conrad Ferdinand Meyer
entfernen sich beide vom historischen Geschehnis
und suchen durchaus unabhängig von ihm das
geschichtliche plain-iur, die Atmosphäre der
Zeit. Sie bauen im Gegensatz zu Meyer ihre
Handlung auf den Lebensgang eines un-
historischen Menschen, eines Premier venu
auf, der aber von den großen Ereignissen
seine Beleuchtung erfährt. Dabei tritt ein
reizvoller Gegensatz der poetischen Empfin-
dungsart zutage. Schaffner geht ins Meta¬
physische, in das Naturwissenschaftliche, Moesch-
lin verharrt bei dem Einzelfall, bei der
Historie.
Der Jonathan Bregger, der in den
siebziger Jahren die Umwandlung von der
patriarchalischen Handarbeit zur Großindustrie
mitmachen will und nicht kann, ist ein Sym-
bolon sich ablösender Weltordnungen, er
deutet über sich hinaus auf eine Einheit.
Der Bote Gottes, der allein vom Gefühl
seiner inneren Sendung getrieben, nach dem
westfälischen Krieg hingeht und kraft der Voll¬
macht, die er von Gott erhalten und vom
Kaiser erlogen, Leben, Gedeihen in die Wüsten
trägt, ist der Kulturwille in Fleisch und Bein
und spricht Baseldütsch. Wo steht geschrieben,
daß Gott nicht auch diesen Dialekt versteht?
Das Bezeichnende ist, daß dieser Kulturwille
— mutstis mutsnäis — in alle Ewigkeit
hinein sich so gebärden wird, so oft ein Mensch
von Gottes Gnaden dem irdischen Nichts,
dem deutschen Zustand nach dem westfälischen
Frieden gegenübergestellt wird. So ist
Schaffners Geist eigentlich naturwissenschaftlich
eingestellt: er sucht das Gemeinsame der Er¬
scheinungen.
Dagegen haftet Moeschlin durchaus am
Einzelfall, ein Vollbluthistoriker, der beruflich,
wie ich höre — eine Ironie des Schicksals —,
Ingenieur ist. Ztppelvik ist ein Dorf in
Schweden. Die Bauern leben fast ganz in
der Naturalwirtschaft. Da kommt der Amerika-
Johann heim und bringt das Geld. Das
kehrt das unterste zu oberst und wir erleben
die Geschichte Europas Ende des neunzehnten
Jahrhunderts in Appelvik, wie sie Wohl auch
typisch und allgemeingültig in ihrem Prinzip,
jedoch eben durch die festgekettete Einzigkeit
des eben vorliegenden Falles ihren gewaltigen
Zauber ausübt.
Auch sonst weisen Schaffner und Moeschlin
gar verlockende Ähnlichkeiten und Verschieden¬
heiten auf und geben miteinander ein treff¬
liches Stück Basel. Alte, vererbte, veredelte
Kultur, Liebe und Verständnis für Tradition
und doch wieder eine Wohl verstandesmüßig
bedingte, aber dennoch imperative Einsicht in
die Notwendigkeit und Unerbittlichkeit des
Fortschritts und auch einen Willen zu ihm,
weil der mit dem Willen zur Macht, ja
zum Leben gleichbedeutend ist. Ein gut
Stück Landsmannschaft mit dem großen
„Lido/en 6e Qenöve" und ein Achtung ge¬
bietender künstlerischer Ernst ist Wohl auch
Baseler Erbgut. Und doch als Künstler eher
Gegensätze als Verwandte. Schaffner Poet
bis in die Fingerspitzen, ein „poieres" im
griechischen Sinne des Wortes. Der unauf¬
hörlich „malende", „bildende" Geist der ale¬
mannischen Mundart, dem eine erstaunliche
Symbolik innewohnt, ist in ihm lebendig.
Man braucht nur das Wunderbolle Werk
Emanuel Friedlis „Berndütsch, als Spiegel
des bernischen Volkstums"*) zu studieren,
um die stets aus der augenblicklichen Umwelt
schaffende Symbolik des Alemannischen kennen
zu lernen und zugleich die Quelle zu kosten,
aus der ein Stil wie Schaffners entspringt.
Die frisch geprägte Redensart sprudelt er
nur so heraus, als schlüge er Münze für
Peter und Paul mit jedem Satz: „Der Süße
tappte wie ein Nasenbär, und die andern
beiden hatten Ladestocke in den Beinen"**).
Oder: „Ihr seid beide gleich unsinnig. Und
wenn es möglich wäre, daß einer noch
dümmer wäre als ihr, so könnte er sich nicht
mehr zusammenhalten und müßte ausein¬
anderfallen vor Dummheit"***) Das kann
sich vor Bild und Bildnerlust kaum halten
und hält sich auch zuweilen nicht in seinein
üppigen Wuchern, in unverbrauchter Ver¬
schwendung. Dagegen ist Moeschlin der kluge
Wirt und Künstler. Ihm sind die Schätze,
die Schaffner mit vollen Händen ausstreut,
nicht weniger zugänglich; aber er beherrscht
die Wirkung. Es muß bei ihm alles seine
größtmögliche Wirkung hergeben und deshalb
setzt er bewußt seinen leuchtenden Stein in
die gedämpfte Umgebung. Dafür wirkt er
auch schlagend: mitten in den trockensten
Geschäftsbericht bricht seine Sprachpoesie hin¬
ein, das Armlichste siegreich umgoldend:
„Und diese seltsamen, ja unangenehmen
Herren erklärten den Appelvikern, daß bei
einem Konkurse vor allem und zu allererst
die Ansprüche der Gläubiger befriedigt werden
müßten. Erst wenn das geschehen sei, kämen
die Aktionäre an die Reihe. Die Gläubiger
aber, das seien sie.
Die Bauern standen da, als fiele am
heiterhellen Tage die Sonne vom Himmel
herunter wie ein angeschossener Vogel und
rundum werde es rabenschwarz."
Man steht erstaunt und ergriffen vor
der Überlegenheit dieser Reife der Könner¬
schaft bei einem jungen Erzähler, während
Schaffner eher das innere Wohlbehagen sorg¬
losen Reichtums weckt: greift zu, man hat's,
es ist nicht wie bei armen LeutenI
Dock genug des Vergleichs, beide haben
ein Anrecht, auch für sich betrachtet zu werden.
Moeschlins Werk zeigt uns den Künstler als
einen Fertigen. Er besitzt die Fähigkeit, die
Ideenfülle eines ganzen Zeitalters Poetisch
zu bewältigen, er beherrscht die Ökonomie
seiner Mittel: eine Entwicklung ist da eigent¬
lich kaum zu erwarten, — es sei denn als
eine Neugeburt der ganzen Individualität,
die bei dem Genie immer denkbar ist, die
jedoch die Kritik nur begreifen kann, wenn
sie schon da ist. Was aber Moeschlins fol¬
gende Werke selbst dann vor Interesse¬
losigkeit bewahren wird, wenn dieses Wun¬
der ausbleibt, das ist sein echter Humor,
dasselbe, was uns Fontane trotz des Sich¬
gleichbleibens nie überdrüssig werden läßt.
Der echte Humor, im Grunde die Fähigkeit,
die Welt von zwei oder mehr Gesichtswinkeln
aus in gleich gescheuter und origineller Weise
zu betrachten, bleibt stets neu, weil wir ihrer
in unserer jämmerlichen Gebundenheit so sehr
bedürfen, um das Leben irgendwie ertragen
zu können. Der Tourist und der Amerika-
Johann, die sich auf S. 266 unterhalten, sind
beide gleich gescheut, beide gleich ernst zu
nehmen, sogut wie Don Quixote und Sancho
Pansa. „Und die liebe Schwester, o Was¬
ser! ... Du göttlicher See... so blau, daß
das Meer in der Bucht von Neapel nicht
blauer sein kann. Herrliches Wasser!"
„Na ja, mit der Herrlichkeit ist's nicht
so weit her. Gut zum Trinken ist es
nicht, Fische gibt's auch nicht, und jeden
K36
Winter brechen zwei, drei Menschen durch's
Eis/'
In seinein großen Roman „Der Bote
Gottes" ist die Befreiung natürlich und un¬
gewaltsam vollzogen. Hat da der Stoff an
sich dem Dichter den Simplizius von Grimmels-
hausen auch nahegelegt, so hat diese Ver¬
wandtschaft längst nichts Schülerhaftes mehr,
sie liegt durchaus in der Natur der Sache. Ein
gewaltiges, episches Wollen trieb den Dichter
zur Geburtsstunde, zu allem Anfang deutschen
Lebens Anno 1648. Wir stehen gleichviel
wo — es ist ja nirgends etwas vorhanden —
auf irgendeinem Punkt des weiten heiligen,
römischen Reichs deutscher Nation. Ein ver¬
branntes Dorf, ein halbverhungerter Bauer,
mit einem Reichtum an verwilderten Hunden,
Katzen, nackte» Kindern. Wölfe, Raub, Mord
um und min so sieht des Kaisers Frieden
aus. Und nun kommt der Schweizer daher,
der Bote Gottes, mit einem unzähmbaren
Ding im Herzen, dem wir in dieser poetischen
Greifbarkeit Wohl noch nicht begegnet sind,
und nennt sich das Ding: Kulturwille. Und
ist sein einzig Wunder: Glaube und Selbst¬
losigkeit. Auftrag hat er von Gott allein,
doch schwindelt er in der Not den Leuten
den Kaiser vom blauen Himmel runter um
landauf landab schaffendes Leben, neues Ge¬
deihen hervorzuzaubern, das um ihn herum
aus dem Boden hervorwnchst, wie ein uraltes
Alltagsmärchen. Nur für ihn selber ist kein
Raum, sobald schützend daS Dach steht, die
erste Ernte wieder eingeheimst ist und friedlich
ein Herdfeuer flackert. Dann verbrennt er den
blechernen Pandursorden samt der betreßter
Uniform und zieht weiter: die Wüste ruft.
Es ist nicht behaglich der Bote Gottes zu
sein, die Boten des Kaisers haben es besser.
Gewiß, Schaffners Werk ist nicht geschlossen,
die Teile durchwachsen sich noch nicht so, wie
dies die Größe seiner Epik erfordert, aber Wohl
strahlt und leuchtet da ein Bild nach dein
anderen, in Jugendpracht und Sonnenfülle.
Nur eines: einen Augenblick nur hineingeguckt
in den Hof des gottverlassensten aller Bauern,—
ehe der Bote erscheint: „Die Ostersonne schien.
Es war eine Fülle Auferstehung im Licht,
wenn es die Glocken auch nicht beläuten
konnten, weil man sie gestohlen und den Krieg
damit bezahlt hatte. Der Schatten von zwei
wandernden Störchen ging über den Hof.
Der Bauer sah auf und es kam ihm bor,
als sei die Friedenstaube Nocchs das reine
Ob Moeschlin hier Halt macht und nach
einer Reihe wahrhaft tröstender Werke seinen
Platz etwa in der Reihe Wieland, Fontane,
I. V. Widmann behaglich einnimmt, — der
Platz, dünkt mich, ist so übel nicht — oder
ob er ausschlagen wird, nach rechts und nach
links, wie die Rebe auf dem Berge Samaria -.....
wer wollte da antworten? Fast ist es taktlos,
die Frage zu stellen; so scheu und geheimnis¬
voll sind die Wallungen inneren Werdens,
daß ich dus klare Gefühl habe, wir sprechen
immer zu laut und zu viel davon. Man
sollte eigentlich noch zehn Jahre über Moeschlin
überhaupt schweigen, wer weis;, ob man dann
nicht ganz anders reden könnte. Aber: que
poule? vous c>ne je lasse, — sagte der
Grüne Heinrich, wenn er sein Französisch
zeigen wollte; auch ich bin des weitver¬
breiteten Irrtums, man müsse ja leben.
Spreche ich nicht, so sagen die anderen desto
mehr, und Moeschlin hat keinen Nutzen, ich
aber den Schaden davon. So wollen wir
denn bloß immer wünschen und hoffen, daß
den Schaffenden nichts davon zu Ohren
kommt. Mit Schaffner aber ist es überhaupt
eine böse Sache. Da muß man nun ganz
sicher leise sein: denn er ist ganz ein Werdender.
Im „Bregger" ist er noch der tüchtige Schüler
tüchtiger Schule, in die er nicht zufällig hinein¬
gestolpert ist: Raabe, Fontäne, Keller. Fontane
und Keller sind im Tonfall, in des Satzes
leichtem und elegantem Rhythmus erkennbar;
das heitere Sichbescheiden, die Ehrfurcht vor
der Macht des Tntsächlichen könnte er von
beiden gelernt haben. Raabe schlägt aufs
Verborgene, mehr Innere: das Zittern einer
echten Schusterseele, das Rembrmidtsche Halb¬
dunkel der Werkstätte vor Feierabend, das
Tiefe, Ahnungsvolle und Unberechenbare, das
in der nüchternsten Menschenseele sich still ver¬
krochen duckt, im gegebenen Augenblick aber
alles über den Haufen rennt, was der Herr
im oberen Stockwerk sich fein säuberlich zurecht¬
gelegt hat, selbst wenn man ein so ehren-
und erdenfester Spezierer wie Herr Wacker,
und durchaus kein Wolkengucker ist, — daS
ist ein Porträt, dessen sich Meister und Schüler
rühmen dürfen.
Raubbögelchen gewesen gegen diese leuchtende
Verheißung. Sie machten ihm die Welt gleich
so friedlich, als ob es weit und breit keine
Wölfe gäbe. Er griff wieder zum Besen und
hatte ihn schon angesetzt, da erinnerte er sich
an die Hundsohrfeige und sah auf, was seine
Christine jetzt Wohl für ein Gesicht machte.
Er hatte eigentlich noch einmal lachen wollen;
was er jedoch sah, kam ihm bedenklich vor,
und er ließ es. Christine saß da mit den:
Kind zwischen den Knien und mit dem Ge¬
sicht über ihren Händen, und weinte. Die
Tränen liefen ihr schlank und hurtig über die
rechtschaffenen Wangen herunter, und fielen auf
Franzels blonden Kopf zwischen die kleinen
Läuse hinein, die er dort hatte. Der Bauer
trat besorgt näher."
Mensche» und Bücher. Gesammelte
Reden und Aufsätze von Dr. Wilhelm Kosch,
Professor für neuere deutsche Sprache und
Literatur an der Universität Czernowitz.
Verlag der Dykschen Buchhandlung, Leipzig
1912. 362 S. 8°.
Der verdienstvolle Eichendvrssforscher hat
in diesem umfänglichen Bande einundzwanzig
Aufsätze aus den Jahren 1904 bis 1911 ge¬
sammelt, die das Interesse auch nichtzünftiger
Kreise in vollem Maße verdienen. Sie be¬
handeln, der Abstammung ihres Verfassers
gemäß, meist österreichische Dichter und
Schriftsteller, greifen aber auch, wie z, B. in
den vier Prachtvollen Raabe-Aufsntzeu, in das
Gebiet der reichsdeutschen Literatur über.
Der Eingangsessay, „Die literarischen Strö¬
mungen des neunzehnten Jahrhunderts",
verbreitet sich in großen Zügen über die all¬
gemeine europäische Literaturentwicklung, mit
der Tendenz, überall die verborgenen roman¬
tischen Quellen auszuweisen; mir schnitt Kosch
indes die Romantik doch zu einseitig als
treibende Kraft der ganzen literarischen Evo¬
lution aufzufassen und daneben andere Kräfte
ganz zu unterdrücken. Der umfangreichste
Beitrag beschäftigt sich mit Clemens Brentano
und sucht diesem zwiespältigen Charakter, der
in der Beurteilung der Kritik noch heute hin
und her schwankt, durch feinfühliges Eingehen
auf seine innere Veranlagung gerecht zu
werden; meines Emcktens der die Wissen¬
schaft am meisten fördernde Artikel in dieser
Sammlung. Äußerst interessant sind die Ab¬
handlungen über I. M. von Radowitz, den
„Deutsch - Preußen", und Franz Schusella,
den „Deutsch-Österreicher". Radowitz, der
zielbewußt auf seinem Wege fortschreitende,
zäh am richtig Erkannten festhaltende Diplo¬
mat, wird mit knappen Strichen ausgezeichnet
charakterisiert; dagegen gelingt es Kosch nicht
so gut, das Schwankende, Haltlose des
Deutschböhmen zu erklären, so sehr er sich
auch bemüht, ihn vor hartem Urteil zu retten.
Bekannt ist ja Kosch als Martin Greif-Ver¬
ehrer; meines Erachtens überschätzt er den zarten
Stimmungslhriler als Dramatiker sehr. Ein
Essay, der sich mit Richard Schcmkal be¬
schäftigt, zeigt uns diesen Wiener Dichter in
seiner Entwicklung, sowohl der inneren, in
der Auffassung, wie der äußeren, in der
Sprache. Warme Worte der Anerkennung
findet Kosch beim Tode I. B. Widmanns,
und ein Panegyrikus „Muttersprache, Mutter-
land" macht den Schluß der wertvollen Samm¬
lung, die auch bezeichnend ist für die warme
Vaterlandsliebe deS Verfassers, der an der
katholischen Universität ftreiburg in der
Schweiz den Anfeindungen der ultramon-
tnncn Gegner weichen mußte.
Eine neue katholische Enzyklopädie. Es
ist eine stehende Redensart: wir leben im
Zeitalter des Universalismus und Kosmo¬
politismus, Sie mag im allgemeinen stimmen,
aber der Theologe wird für seine Wissenschaft
eher zu sagen geneigt sein: wir leben im
Zeitalter der Konfessionalisierung. Die beiden
Armeen protestantischer und katholischer Wissen¬
schaft marschieren getrennt, und man kann
nicht sagen, daß sie etwa vereint schlügen;
denn die Ziele sind beide Male ganz ver¬
schieden, und weil sie das sind, darum keine
Arbeitsgemeinschaft mehr. Es sind seltene
Ausnahmen, wenn Katholiken und Protestanten
an einem Werke der Wissenschaft gemeinsam
schassen, die Wissenschaft ist hier nicht mehr
überkonfessionell, die Zeiten liegen hinter
uns, seitdem Katholizismus mit Romanismus
zusammenzufallen begann, und einstweilen ist
keine Aussicht auf ihre Wiederkehr. Man kann
auf theologischen Gebiete förmliche Paralleli-
sierungen der wissenschaftlichen Erscheinungen
aufstellen; wie es beiderseitig Quellensamm¬
lungen, Textausgaben, Kirchenlexika und der¬
gleichen gibt, so können nicht minder dieselben
Themata hüben wie drüben bearbeitet werden
(momentane Spezialität ist der katholische
„Luther"),
Auch das uns zur Besprechung borliegende
große Unternehmen der „LÄlKolic lZney-
clopeäm« gehört in diese Linie. Es ist ein
katholisches Pendent zu Haucks einundzwanzig¬
bündiger Protestantischer Realenzyklopädie, wird
deren Umfang sicher erreichen, — mit Buch¬
stabe K stehen wir zurzeit im zwölften Bande —
unterscheidet sich aber von ihr durch die weiter
gesteckten Grenzen: der ausgesprochen theolo¬
gische Charakter tritt zurück, statt dessen ist
Philosophie, Wirtschafts-und allgemeine Kultur¬
geschichte reichlich eingelassen. In dieser Hin¬
sicht ähnelt das Werk dem Schieleschen Wörter¬
buch „Die Religion in Geschichte und Gegen¬
wart",
Das Werk wird herausgegeben von einem
Stabs von fünf Mitgliedern, an deren Spitze
der Professor für Latein und Literatur am
LolleM ok tlo Lid^ ok I^co VorK Charles
George Herbermnnn steht. Den Alleinvertrieb
für Deutschland und Österreich-Ungarn hat
die Herdersche Verlagshandlung in Freiburg
i, Br,, jeder Band kostet gebunden 27 Mark
bez. 36 Mark oder 65 Mark je nach der Fein¬
heit des Einbandes, Das ist angesichts des
Gebotenen sehr preiswürdig. Denn: die Aus¬
stattung zunächst ist eine ganz vorzügliche,
glattes Papier, angenehme Schrift und eine
Fülle bon Illustrationen, die, in der Regel
besondere Beilagen bildend, zum Teil aber
auch in den Text hineingedrückt, mit aus¬
gezeichnetem Geschmack gewählt und vortreff¬
lich reproduziert sind. Es seien als Beispiele
genannt: die Porträts von Bossuet, Erasmus
von Rotterdam, Franz von AM, Leo der
Dreizehnte, Kardinal Manning, Pius dem
Neunten und Pius dem Zehnten u. a,; von den
Künstlern finden sich Reproduktionen ihrer
Werke, so bei della Robbia, Botticelli, Tizian,
Murillo, Dürer; wichtige Inschriften wie die
des Aberkios sind wiedergegeben, oder Seiten
aus bedeutsamen Loclices, wie der Linsitieus,
der ^.mistmus, der Lockex ör^enteus oder
der Loclex Hammurabi; nicht minder werde»
Abbildungen aus den Oberammergcmer Pas¬
sionsspielen oder ein Faksimile aus des Ko-
permkus' revolutionären Werke als orbium
coslestium revoluiionibus geboten; ferner
ist von jedem Lande, mitunter auch von
Landesteilen, eine Karte beigefügt, die nament¬
lich die Diözesangrenzen genau erkennen läßt.
Auch historische Karten fehlen nicht, wie etwa:
Ltiristendom at elle äeatlr ok Innocent III;
selbst die kleinen Bilder, wie z. B. ^embsr
ok t^reuet, /^caclsm^ in Uniform oder die
Köpfe der verschiedenen katholischen Gelehrten
und Heiligen interessieren, Der Bilderschmuck
wirkt nicht aufdringlich', befriedigt auch nicht
bloß die Neugierde, sondern dient Lehrzwecken,
Wie schon angedeutet, nähert sich das
Werk einem Konversationslexikon, es bietet
sogar mehr als das ausdrücklich so genannte
bekannte, im Herderschen Verlag erscheinende
Werk. Sehr reichlich sind Philosophie und
Pädagogik bedacht; es finden sich pädagogische
Artikel über ^leoliolism (sehr gut, wesentlich
von der medizinischen Seite aus), Losclu-
cation, Lollege, Lruelt^ to ^.nimals, Lcluca-
tion ok tre IZIincI, ^caclsmies (hier über¬
raschen die zahlreichen kurzlebigen pontikiciaiz
acsclkmise, warum aber fehlen die deutscheu,
wo doch die französiscuen angegeben sind?) u. a.
Der Philosophie gehören an: Absolut«,
^eeictLnt, />,ctus purus, ^Znostioism, /^is.-
bisn Le:rook ok pnilosopdx. ^ristotlo,
^tnsism, ^tomism, LateZones, LKsrÄLter
(ganz psychologisch gehalten), Lommon Lsnse
PKilosopn/, LontiiiMnt, Lreation (hier sind
alle die berschiedenen Weltentstehungshypo¬
thesen untergebracht), Oelsen, vuiüism, IDy-
namism, kZmpincism, IZnorM frei tus lap
oltre eonservstion ok it (ein Spezialabschnitt
ist hier Wilhelm Ostwald gewidmet), Ltliics.
Evolution (sehr genau, auch die Bilder der
ältesten Schädel, vom Neandertal und bon
Mauer, fehlen nicht), petiskism, ?rec V/ni,
it^pnotism, kniff, läealism, Inkinit^ (unter
diesem Stichwort ist auch der Monismus be¬
handelt), prggMÄtisr», I^ogic usw. Selbst¬
verständlich haben die einzelnen führenden
Philosophen und Pädagogen, wie Bnader,
Günther, Herbart, Hegel, Kant (der freilich
nicht gut wegkommt) alle ihre Svnderartikel.
Die Politik und Wirtschaft ist bedacht mit
Artikeln über ^et oiLettlement, ^.xisrianism,
^.Itruism, ^nareliv, ^rbitration (hier sind
sehr wertvoll die Nachrichten über die kirch¬
liche Schiedsgerichtstätigkeit bei Arbeiter-
streitigkeitcn, ebenso über die staatlichen
Schiedsgerichte), /^ssooistion, IZanKrupt^
(eine wirtschaftliche Darstellung des Bankerotts,
der ein moral aspect angehängt ist), Lion
^IleZisncs (hier ist das für den Katholiken
heikle Problem des Gehorsams gegenüber der
Staatsgewalt sehr gut entwickelt), LKristian
vemocrscv (— die sogenannte katholische
Aktion), i^linilism, Kane usw. Auch die
Grenzgebiete zwischen Philosophie und Medizin
sind nicht vernachlässigt, wie Artikel über
^naestnesm (mit der allerdings etwas merk¬
würdigen Mahnung am Schluß: it is im-
portsnt, tbst clerZvmen slrould este ane
precsutions do aclvisinZ elle sclministrÄtion
ol tus sacrements bekore anaestnesis, even
tnouZn it nao be but lor s sliAnt operation),
^nstomv, ^ectieine (geschichtlich), ?Stro!oZ^
beweisen. Die Naturwissenschaften sind mit
Ausführungen über dickem/, ^stroloZv,
^Vstronomv, i^meist, Nenclelism, plsnts
(darunter speziell der pspvrus) u. a. ver¬
treten. Der allgemeinen kulturellen Bildung
sind zuzuweisen Artikel über^umismaties (eine
eingehende Münzgeschichte), pÄlaeoZrspnv.
perioäi'cal literature (eine Geschichte der
katholischen Presse in den einzelnen Ländern)
oder die Artikel über die einzelnen wichtigen
katholischen Verleger, wie Herder in Freiburg,
Pustel in Regensburg; als Katholiken haben
auch der Musiker Franz Liszt oder der Maler
Francois Millet Aufnahme gefunden, selbst¬
verständlich auch der Zentrnmsführer Lieber
— die Beispiele werden als Beweis für die
Reichhaltigkeit des Programmes der „Lstnolie
lZncvclopeciia" genügen.
Natürlich, der Schwerpunkt fällt auf das
religiöse Gebiet, und hier besitzt der Katholi¬
zismus, weil er ein geschlossenes kirchenpoli¬
tisches System darstellt, die Möglichkeit,
Objekte unter sich zu begreifen, die der Pro¬
testantismus für die Emanzipation von kirch¬
licher Leitung freigegeben hat. Der umfassende
Gesichtskreis dieses religiösen Lexikons rührt
zum guten Teil daher, daß es katholischen
Charakter trägt, der Protestantismus schiebt
eine ganze Reihe von Artikeln auf die „kon¬
fessionslosen" Wörterbücher ub. Alles, was
nur irgendwie, und sei es auch in der Form
der Negation, zum Katholizismus in Beziehung
gesetzt werden kann, wird behandelt. So etwa
die Auswanderung lMAration), die Geschichte
der Handschriftenillustration Msnuscripts>,
der wichtige Begriff des Naturgesetzes (unter
I^Ä^v) oder New! Work in tus Service ok
Lnurcn, oder das aus der englischen Ge¬
schichte bekannte (Zunpovcier?tot und der
ttslianci. Die kirchlichen Spezifika aus Ge¬
schichte, Liturgie, alt- und neutestamentlicher
Exegese, Frömmigkeit haben natürlich sämt¬
lich ihre Sonderartikel. Es gibt zurzeit kein
Lexikon, das so eingehend über das ganze,
große Gebiet des Katholizismus unterrichtete
wie die „IZnevelopeclia" vom Herz-Jesu-
Kultus an, über den heiligen Januarius hin¬
über bis zu Pius dem Zehnten, und zwar
ini allgemeinen sehr gut und zuverlässig
unterrichtet. Alle Artikel können bei einem
derartigen Unternehmen nicht aus gleicher
Höhe stehen, für die in Amerika arbeitenden
Herausgeber war die Beschaffung der deutschen
Liternturangaben nicht leicht; hier hapert es
denn auch zuweilen <z. B. in dem Artikel
Heynlin von Stein oder AnSgar), aber das
Streben nach Vollständigkeit ist da, und
keineswegs vor allen Dingen ist etwa einseitig
die katholische Literatur bevorzugt. Die Ver¬
fasser geben, z. B. in den Fragen der biblischen
Kritik, auch die akatholischen Problemstellungen
an und setzen sich mit ihnen auseinander; z. B.
in dem Artikel NaAm'liest mit der Frage, wer
den Lobpreis nusspricht, Maria oder Elisabeth.
Das Beiwort „Latnolic" im Titel darf
man freilich nicht übersehen. Das Werk ist
katholisch und will es sein. Das bischöfliche
Imprimatur fehlt bei keinem Bande, aber der
Herr Erzbischof hat die Editoren selbst zu
kirchlichen Zensoren eingesetzt und damit
xiven klein s sinZuwr prook of Ins eonki-
clence ima ok bis itesirs to kacilitats the
Publication ok tre v/ort. Die Mitarbeiter
sind sämtlich Katholiken, man ist aber doch
überrascht von der respektablen Zahl wissen¬
schaftlich arbeitender Katholiken, es ist doch
trotz aller Einschnürung noch sehr viel möglich I
Die deutsche katholische Wissenschaft ist nicht
allzu stark vertreten: die Geschichte des
deutschen Katholizismus hat Martin SPnhn
(z, B. den Artikel Kulturkampf oder Prussia,
I, von Radowitz) geschrieben, Franz KamPerS
behandelt die mittelalterliche Geschichte;
weiter begegnen uns I. P, Kirsch, Fr, Lauchert,
Ki, Löffler, der Breslauer Dogmatiker Jos.
Pohle, der Tübinger Kirchenrechtler I, B,
Sägmüller, P. Schläger u. a, Merkle freilich
fehlt, auch der schon eine Schattierung kirch¬
lichere Mausbach I Frankreich hat seine tüch¬
tigsten katholischen Gelehrten als Mitarbeiter
entsandt: Bröhier, den bekannten Philo-
forscher, der einen ausgezeichneten Artikel
über den hellenistischen Religionsphilosuphen
beisteuerte, Dedieu, den Herausgeber der
„Kevue clef 6eux morales" Goyau, Paul
Lejay, L, Sattel u, a.; aber auch hier fehlt
einer, der zurzeit kirchlich nicht hoffähig
ist: Louis Duchesne, Von Engländern finden
wir Pollen, Zimmermann, Chapman, den
gelehrten Benediktiner, von dem man immer
etwas lernt, Walker u, a,; von derzeitig in
Rom wirkenden Gelehrten haben mitgearbeitet
Paul Maria Baumgarten, Monsignore Benigni,
den die Welt bisher freilich mehr als den
römischen Hintertreppenanwalt der „Berliner"
gegen die Kölner denn als Gelehrten kannte,
Godefroid Kurth, der Direktor des belgischen
historischen Institutes in Rom u. a,; dazu
kommt dann noch der große Stab von in
Deutschland weniger bekannten Amerikanern,
sowie die Österreicher und Holländer.
Aber der hier austretende Katholizismus
provoziert nicht. Strenggläubig ist er, es
wird z, B. lang und breit die Glaubwürdig¬
keit des bekannten Januariuswunders zu
eruieren gesucht, und Franz Xaver Kraus
bekommt einen Wischer wegen seiner doch so
vorzüglichen SPectatorartikel, aber der für
derartige katholische Wörterbücher in der Regel
kritische Lutherartikel, aus der Feder von
H. G. Ganß ist gar nicht so übel, jedenfalls
redlich gemeint und nicht in Denifleschem
Poltertone geschrieben; der Verfasser irrt frei¬
lich, wenn er (unter Berufung auf Ranke)
das bekannte scharfe Breve des Papstes an
Cajetan für unecht hält. Aber über derartige
Dinge wird man nicht gerade in einer katho¬
lischen Enzyklopädie sich unterrichten wollen;
deren Stärke liegt in dem umfassenden Ge¬
biete des .Katholizismus, auf den Feldern der
Kirchenverfassung, des Kirchenrechtes, des
Kultus, der Moral und dergleichen. Hier
wie auf den verschiedenen schon berührten
Grenzgebieten leistet „'Nie Lstnolie lZncy-
clopeäia" Vorzügliches, sie übertrifft alle vor¬
handenen analogen katholischen Werke an
Reichhaltigkeit und Gediegenheit und ist für
den wissenschaftlichen Forscher wie sür den
Journalisten oder den gebildeten Laien auf
dem Spezialgebiet des Katholischen geradezu
unentbehrlich,
Verantwortlich: der Herautgeber George Tleino« In Echoneberg, — Manuslrixtlendungen und vrlel» «erden
erbeten unter der Adresse:
An den Herausgeber der Grrnzlwten in Frieden«» bei Berlin, Hedwigstr. 1».
Fernsvr-cher der Schristleituug: Amt Uhland LKM, de« Verlag»: Amt Lühow K610,
Verlag: N-rlag der Breiizbot-n «, in, b, H, in Berlin SV, 11,
Druck: .Der R-ichSbote" «, «, b, H, in Berlin LV, II. Dessauer Straße 3S/S7,
I