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]]> Zeitschrift für
Politik, Literatur und Runst
Herausgeber:
George LUeinow
Jahrgang
Zweites Vierteljahr
Berlin
Verlag der Grenzboten G. in. b. H.
. l9!2.
Boehn, Max ».: Biedermeier (Dr. R.Schacht) 24, 642
Jedermann, Das Spiel von (Dr, W, War
stat) . . . . ...........17.18N
le Gliederung eines Einheitsstaates beruht nicht in erster Linie
auf politischen, sondern auf verwaltungsrechtlichen und verwaltungs¬
technischen Gesichtspunkten: im Interesse der Verwaltung werden
Provinzen, Departements usiv. gebildet. Anders liegen die Ver¬
hältnisse in einem Staatenstaat von der „mosaikartigen Zusammen¬
setzung des Reiches". Er ist nicht in Verwaltungsbezirke gegliedert, sondern
seine Glieder sind selber Staaten: „Einzelstaaten", „Gliedstaaten", wie man sie
nennen will. Über den fünfundzwanzig — oder besser sechsundzwanzig —
Einzelstaatsrcgierungen steht die Negierung des Gesamtstaates, des Reiches.
Wie sich die Aufgaben des Reiches und die der Einzelstaaten von einander abgrenzen,
mit anderen Worten: wie die „Kompetenzen" zwischen dem Reich und den Einzel¬
staaten verteilt sind, sagt die Verfassung. Unsere Reichsverfassung hat — von
allen Einzelheiten abgesehen — eine dreifache Teilung der Kompetenzen vor¬
genommen: 1. Für einen Teil staatlicher Aufgaben sind die Gliedstaaten allein
zuständig, dergestalt, daß ihnen auf diesen Gebieten staatlicher Tätigkeit die
Gesetzgebung wie die Verwaltung zustehen soll (Beispiele: Kirchen- und Schul¬
wesen, Forstwesen, Landwirtschaft, Wasserrecht); 2. Für einen anderen Teil
staatlicher Aufgaben steht dem Reiche die Gesetzgebung und Beaufsichtigung, den
Gliedstaaten die praktische Durchführung der Gesetze zu (Beispiele: Zoll- und
Steuerwesen, Rechtsprechung); 3. Für einen letzten Teil staatlicher Aufgaben steht
dem Reiche allein sowohl die Gesetzgebung wie die Verwaltung zu (Beispiele:
auswärtige Angelegenheiten, Post- und Telegraphenwesen, Marine). Da nun
dem Reiche die „Kompetenz-Kompetenz" d. h. das Recht und die Fähigkeit
zusteht, den Kreis seiner Kompetenzen selbst zu bestimmen, so daß es bisher
von Gliedstaaten geregelte Komplexe staatlicher Tätigkeit seiner Gesetzgebung und
Beaufsichtigung, ja seiner Verwaltung unterwerfen kann, ist es ihm möglich, im
Wege einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Verfassungsänderung seiue
Zuständigkeit auf Kosten der Zuständigkeit der Gliedstaaten mehr und mehr
auszudehnen. In der Tat haben sich die Kompetenzen zwischen Reich und
Einzelstnaten seit dem Jahre 1871 erheblich verschoben, vorzugsweise deshalb,
weil das Reich schrittweise dazu überging, seine ihm durch die Verfassung über¬
tragenen Kompetenzen auch tatsächlich auszuüben. Dabei hat sich etwas abgespielt,
was in jedem Bundesstaate zu beobachten ist: der Kampf zwischen föderalistischen
und uuitarischen Tendenzen, der Kampf um eine Ausgestaltung des Reiches im
Innern zu den?, als was es dem Auslande schon seit langem erscheint: zum
Einheitsstaate.
Wer die Verhandlungen der Parlamente mit einiger Aufmerksamkeit ver¬
folgt, wird wissen, daß gerade in der letzten Zeit miederholt von unitarischen
und föderalistischen Bestrebungen, von der Regelung bisher durch Landesgesetze
geregelter Materien durch Reichsgesetze einerseits, „von der Erhaltung der
Selbständigkeit der Gliedstaaten" anderseits die Rede gewesen ist. Vielleicht
wird die Zukunft weitere Auseinandersetzungen über diese für die Stellung des
Reiches und seiner Einzelstaaten einschneidenden Fragen bringen. Es ist daher
nicht uninteressant, an der Hand der Parteiprogramme, Abstimmungen usw. zu
untersuchen, welche Stellung die wichtigsten Parteien im Parlament des Reiches
und seines größten Gliedstaates grundsätzlich föderalistischen und unitarischen
Bestrebungen gegenüber einnehmen und eingenommen haben.
Ich beginne mit derjenigen Partei, die in. E. am schärfsten unitarischen
Bestrebungen abhold ist: dem Zentrum. Das Zentrum als Partei hat kein
allgemein gültiges, auf die Dauer berechnetes Programm. Es hat gegen Pro¬
gramme von jeher eine starke Abneigung gehabt. Schon in den im Jahre 1861
geschriebenen, den katholischen Wählern Preußens gewidmeten zwölf Briefen:
„Die Fraktion des Centrums (Katholische Fraktion)" heißt es: „Die Fraktion
des Centrums hat kein Programm aufgestellt, einerseits weil sie sich die Lehre
der Geschichte von der Nutzlosigkeit eines solchen zu eigen gemacht hat, anderseits
weil sie verschmäht, das Volk zu täuschen, als wäre sie imstande, durch ein
bloßes Programm das Glück und die Freiheit desselben zu begründen". Trotzdem
gibt es Wahlaufrufe und programmatische Erklärungen genug, die die grund¬
sätzliche Stellung des Zentrums in klaren Worten aussprechen. — Als „der
Welse" Ludwig Windthorst, von 1851 bis 1853 und 1862 bis 1865 hannoverscher
Justizminister, später der bedeutendste Führer des Zentrums, in den Reichstag
des Norddeutschen Bundes eintrat, „fand er keine Partei vor, der er sich hätte
anschließen können". Er gründete daher mit einigen anderen Abgeordneten
(Klerikalen und Welsen) einen Verein, der sich den Namen „Bundesstaatlich-
konstitutionelle Fraktion" gab. Schon dieser Name bedeutete ein Programm, und
es hätte kaum noch ausdrücklich betont zu werden brauchen, daß die Fraktion die
„Wahrung möglichster Freiheit der Selbständigkeit der Bundesstaaten, soweit
sie mit der Handhabung einer kräftigen Zentralgewalt vereinbar" ist, erstrebe.
Der überragende Geist Windthorsts, der die kleine Fraktion beherrschte, hat in
der Folge auch die große Zentrumspartei beherrscht. Es ist daher kein Wunder,
wenn die Prinzipien der Bundesstaatlich-konstitutionellen Fraktion in ihrer nach¬
geborenen Schwester, dem Zentrum, dessen Gründung mit der Geburt des
Deutschen Reiches zeitlich zusammenfiel, fortlebten. Kein anderer als v.Mallinckrodt
hat das, als er am 31. Januar 1872 das Programm des Zentrums ver¬
teidigte, mit den Worten ausgesprochen: „Der dritte Punkt sunseres Programms)
ist das Prinzip der Föderation im Gegensatz zu dem Prinzip der Zentralisation,
im Gegensatz zu den Tendenzen des Unitarismus." Mit diesen Worten wurde
nur noch schärfer formuliert, was das „Programm der Fraktion des Zentrums"
vom Frühjahr 1871 bereits ausgeführt hatte: „Der Grundcharakter des Reiches
als eines Bundesstaates soll gewahrt, demgemäß den Bestrebungen, welche auf
eine Änderung des föderativem Charakters der Reichsverfassung abzielen, entgegen¬
gewirkt und von der Selbstbestimmung der einzelnen Staaten in allen inneren
Angelegenheiten nicht mehr geopfert werden, als das Interesse des Ganzen es
unabweislich fordert." Schon damals also vertrat das Zentrum den Standpunkt,
die Kompetenz des Reiches auf Kosten der Zuständigkeit der Gliedstaaten nicht
weiter auszudehnen als unbedingt notwendig sei. Es hat diesen Standpunkt
nie verlassen. Seit jenen Tagen hat es sich stets als Hort und Hüter
partikularistischer Interessen und Bestrebungen zu erweisen versucht, indem es
immer und immer wieder aus den „föderativem Grundcharakter des Reiches"
hinwies, die „volle Auswirkung" dieses „geschichtlichen und verfassungsmäßigen
Grundcharakters" forderte und erklärte, daß dessen „Beibehaltung und Behauptung"
seine „wachsamste Obsorge in Anspruch nehmen" werde. Daß eine Partei, die
von dem Augenblick ihres Entstehens an Gegnerin aller Zentralisation und
unitarischer Tendenzen war, die Schaffung verantwortlicher Reichsminister, ein
Neichseisenbahnsvstem, eine direkte Reichseinkommen- und Reichsvermögenssteuer,
ja sogar ein Briefmarkenübereinkommen zwischen dem Reich und Württemberg
und ähnliche Bestrebungen, die geeignet waren, die Einheit des Reiches über den
ursprünglich gegebenen Zustand hinaus zu fördern, bekämpfte, ist ebenso ver¬
ständlich wie die Tatsache, daß es das Zentrum war, aus dessen Schoß die
Frankensteinsche Klausel von 1879, die sür die finanzielle Entwicklung des
Reiches verhängnisvollste Maßnahme, geboren wurde.
Nicht aus den gleichen Beweggründen und nicht in dem starken Maße wie
das Zentrum, aber doch ganz unverkennbar, hat auch die 1876 gegründete Deutsch-
Konservative Partei föderalistischen Erwägungen und Bestrebungen Raum gegeben,
sich dagegen bestimmten unitarischen Tendenzen gegenüber ablehnend verhalten.
Wie anders jedoch die Deutsch-Konservative Partei dem Reich und dem Neichs-
gedcmken gegenübersteht, ergibt sich, wenn man die oben wiedergegebene Stelle
aus dem Programm der Fraktion des Zentrums von 1871 mit dem folgenden
Passus aus dem Gründungsaufruf der Deutsch-Konservativen Partei vom 12. Juli
187K vergleicht. In ihm heißt es: „Wir wollen die für unser Vaterland
gewonnene Einheit auf dem Boden der Reichsverfassung in nationalem Sinne
stärken und ausbauen. Wir wollen, daß innerhalb dieser Einheit die berechtigte
Selbständigkeit und Eigenart der einzelnen Staaten, Provinzen und Stämme
gewahrt werde". Diese Sätze, die sich — nebenbei bemerkt — unverändert
auch in dem sogenannten Tivoliprogramm vom 8. Dezember 1892 finden, sagen
nichts von einem Entgegenwirken wider die Bestrebungen, die geeignet sind, den
föderalistischen Charakter der Reichsverfassung abzuändern; es wird vielmehr
von einer Stärkung und einen: Ausbau der gewonnenen Einheit gesprochen. Es
ist auch nicht die Rede davon, daß von der Selbständigkeit der Einzelstaaten
nicht mehr als unabweislich „geopfert" werden solle; es soll vielmehr nur die
berechtigte Selbständigkeit und die berechtigte Eigenart geschont werden. Damit
wendet die Partei nur den Fundamentalsatz ihres ganzen Programms, nämlich
die Erhaltung dessen, was nach ihrer Ansicht „gut ist und sich als solches bewährt
hat", auf einen bestimmten Fall an. Nun läßt sich ja unzweifelhaft darüber
streiten, was als berechtigte Selbständigkeit und Eigenart der Staaten anzusehen ist.
Die Deutsch-Konservative Partei ist aber geneigt, berechtigte Eigenart auch dort zu
sehen, wo andere nur wenig berechtigten Partikularismus sehen können. Nimmt
man „ihren legitimistischen Zug", ihre „Wertschätzung überkommener staatlicher
Gewalten" hinzu, so ist es verständlich, wenn die Konservativen sich nicht selten
an der Seite des Zentrums fanden, wo es galt, den Föderalismus über den
Unitarismus zum Siege zu führen. Die Konservative Partei hat nicht immer
die Maxime verfolgt, daß die Einheit des Reiches auszubauen und zu fördern
sei. Direkte Neichssteuern — eine in. E. eminent nationale Forderung — haben
die Konservativen ebenso wie das Zentrum bekämpft; man denke nur an ihre
Stellung zur erweiterten Reichserbschaftssteuer, die eben jetzt wieder in Verbindung
mit der neuen Wehrvorlage erörtert worden ist. Oder man denke an ein anderes
Beispiel: die Vereinheitlichung der Eisenbahnen. Wie sich die Konservativen zu
ihr stellen, hat erst vor kurzer Zeit (30. Januar 1912) der Abg. von Pappenheim
im preußischen Abgeordnetenhaus dargelegt. Er führte aus: Was die Be¬
strebungen auf einen engeren Zusammenschluß der deutschen Eisenbahnen anlange,
die Ausdehnung der bisherigen Wagengemeinschaft zu einer Eisenbahngemein¬
schaft, einer allgemeinen Betriebsgemeinschaft, so seien sie, die Konservativen,
gern bereit, das zu tun, was im Interesse der Sicherheit und Erleichterung des
Betriebes und der Verkehrsverhältnisse liege, aber nur soweit, als nicht die
selbständige Verwaltung der deutschen Eisenbahnen in Frage komme. Sie hielten
sich verpflichtet, die Selbständigkeit der Bundesstaaten mit aller Sorgsamkeit zu
wahren (Beifall rechts), und sie würden alles vermeiden, was bei einer aus-
gedehnteren Eisenbahngemeinschaft geeignet sei, die selbständigen Entschlüsse dieser
Staaten in der allerwichtigsten Betriebsverwaltung zu hemmen. — Das hätte
mit denselben Worten auch ein Vertreter des Zentrums erklären können. Diese
und andere, unschwer beizubringende Beispiele machen es nicht ganz leicht,
Prof. von Below in allen Teilen zuzustimmen, wenn er sagt: „Die nationale
Idee ist für sie (die Konservativen) zu einer Grundlage ihrer politischen Haltung
geworden. . . . Hiernach steht es von vornherein fest, daß alle partiknlaristischen
Tendenzen aus den heutigen konservativen Kreisen verbannt sind. Die sächsischen
Konservativen z. B. wissen heute nichts mehr vom Partikularismus. Die Partei
verlangt nicht den Einheitsstaat und fordert Achtung der Einrichtungen der
Einzelstaaten aus grundsätzlicher Pietät gegen das historisch Überlieferte. Allein
es wird sich nicht nachweisen lassen, daß die Konservativen irgendwo die freie
Bewegung des Reiches hindern, wo das nationale Interesse sie heischt*)." Ich
muß mich demgegenüber einem anderen kompetenten Beurteiler, Prof. Heinrich
Triepel, anschließen, der in seiner sehr beachtenswerten staatsrechtlich-politischen
Studie „Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche" (Tübingen 1907)
die Meinung vertritt, daß, wenn man die politischen Parteien in unitarische
und föderalistische einteilen wollte, man die konservative im großen und ganzen
als eine föderalistische bezeichnen müsse. Allerdings wird man das den Kon¬
servativen — im Gegensatz zum Zentrum; vgl. die Ursachen der Reichstags¬
auflösung von 1906 — zugestehen müssen, daß sie, wo es sich darum handelte,
die Machtmittel des Reiches zu fördern und seine Stellung dem Auslande
gegenüber zu festigen, nicht versagten und daß sie dort, wo die Erhaltung der
Selbständigkeit und Eigenart der Gliedstaaten nicht berührt wurde, bereit waren,
an der Stärkung des Reiches mitzuarbeiten; ich brauche nur an ihre Stellung
ZU den Militär- und Flottenvorlagen, an ihre Stellung zu den Kolonien u. tgi.
zu erinnern. Schwierigkeiten ergeben sich für sie aber jedesmal da, wo uni¬
tarische und partikulare Bestrebungen in Konkurrenz miteinander treten, wo eine
Stärkung und ein Ausbau des Reiches sich nur auf Kosten der Zuständigkeit
der Einzelstaaten durchführen lassen. In solchen Fällen pflegen die Konservativen
— konservativ, das will hier sagen: föderalistisch, zu sein.
„Im Reichstag haben wir als Landsleute uns zusammengefunden, und es
soll das nationale Interesse sein, was uns am innigsten vereinigt. Den neuen
Provinzen werden wir zu beweisen haben, daß Preußisch und Deutsch Eins und
dasselbe ist und daß Deutschland gewinnt, was Preußen erwirbt. Undeutsche
Gesinnung ist bei uns nicht heimisch. Wir setzen das Vaterland stets über die
Partei, wir stellen das Nationalinteresse über alles. Der zu einem .Deutschen
Reich' sich entfaltende norddeutsche Bund, hervorgegangen aus dem Zollverein,
erscheint uns als die deutsche Weiterbildung der preußischen Monarchie." Diese
Sätze finden sich in der ersten programmmatischen Kundgebung der Freikonser¬
vativen oder Reichspartei, die sich 1867 bildete und „sich vor allem die Aufgabe
stellte, die Politik Bismarcks so nachdrücklich wie möglich zu unterstützen"
Schon die Tatsache, daß sich die Reichspartei die Förderung der Bismarckschen
Politik am Ende der sechziger Jahre, d. i. der Bismarckschen Einheitsbestrebungen,
zur wichtigsten Aufgabe setzte, läßt ebenso wie ihr Name darauf schließen, daß
diese Partei dem Einheitsgedanken mit wärmerer Liebe gegenüberstand und
gegenübersteht, ihn wärmer propagierte und ihn mit größerer Bereitwilligkeit
förderte als ihre konservative Schwesterpartei. Und in der Tat ist die Reichs¬
partei namentlich in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens bereit gewesen,
das Reich mit derjenigen Machtfülle auszustatten, deren es zur staatlichen
Einigung der Nation bedürfte (vgl. Wahlaufruf vom 6. Juni 1898). Allein
es ist doch nicht zu vergessen, daß die Neichspartei den Deutsch-Konservativen
innerlich sehr nahe steht, daß sie wie diese auf konservativem - wenn
auch um einiges freieren, liberaleren konservativem Boden — gegründet
ist. Dieser preußisch - konservative Grundcharakter hat dem deutschnationalen
Gedanken der Neichspartei eine ganz bestimmte preußisch-partikularistische Note
gegeben: ihr erscheint das Reich lediglich als die deutsche Weiterbildung der
preußischen Monarchie. Daraus folgt, daß die Reichspartei geneigt ist, solche
Bestrebungen zur Stärkung des Reiches und seiner Institutionen zu unterstützen,
bei denen Preußen nichts zu opfern braucht, die im Gegenteil eine Stärkung
der Stellung Preußens im Reiche bedeuten. Preußisch und deutsch ist ihr
identisch; preußisch-deutsch ist ihr Unitarismus, nicht deutsch schlechthin. Daher
konnte die Freikonservative Partei in ihrem Wahlaufruf vom 17. September 1888
mit Recht sagen, daß sie die Förderung einer auf die Festigung des Reiches
und die Stärkung des nationalen Bewußtseins gerichteten Reichspolitik für eine
der vornehmsten Aufgaben des preußischen Staates wie der preußischen Landes¬
vertretung halte. Die Reichspartei kann deshalb Preußen und seinem Parlament
eine Förderung unitarischer Tendenzen empfehlen, da diejenigen unitarischen
Bestrebungen, die sie überhaupt für unterstützenswert hält, nie eine Minderung,
sondern nur eine Stärkung preußischen Einflusses im Reich bedeuten werden.
In dieser Richtung ist in. E. recht bezeichnend, daß der sreikonservative Abgeordnete
Frhr. von Zedlitz in der Frage der Vereinheitlichung der deutschen Eisenbahnen,
die unter Umständen Preußens Einfluß ganz gewaltig steigern könnte, keineswegs
auf einem so schroff ablehnenden Standpunkt steht wie sein deutsch-konservativer
Kollege Herr von Pappenheim. Ersterer bemerkte am 23. Januar zu dieser
Angelegenheit, der Gedanke einer Erweiterung der Eisenbahngemeinschaft finde
bei der Regierung zwar lebhaften Widerstand, aber eine ganze Reihe praktischer
Schwierigkeiten würde vielleicht durch sie beseitigt werden — eine Äußerung,
aus der nur zu entnehmen ist, daß die Freikonservativen bereit sind, wenn nicht
den Gedanken positiv zu fördern, so doch wenigstens ihn gegebenenfalls zu
prüfen und an ihm mitzuarbeiten.
Man braucht sich nur der Tatsache zu erinnern, daß es der Deutsche
Nationalverein war, dessen politisches Erbe die Nationalliberale Partei antrat,
nachdem jener 1866 zu Grabe getragen, diese 1867 gegründet worden war,
um zu wissen, daß sie die unitarische Partei par excellence ist. Wenn das
erste Programm des Nationalvereins vom 14. August 1859 davon sprach, daß
politische Parteiforderungen der großen gemeinsamen Aufgabe der deutschen
Einigung unterzuordnen seien, daß eine einheitliche deutsche Verfassung herbei¬
zuführen und der deutsche Bundestag durch eine feste, starke und bleibende
Zentralregierung zu ersetzen sei, so sind das Gedanken, die die Nationalliberale
Partei von der Stunde ihrer Geburt an zu den ihrigen machte. „Unser Wahl¬
spruch ist: Der deutsche Staat und die deutsche Freiheit müssen gleichzeitig mit
denselben Mitteln errungen werden ... Die Einigung des ganzen Deutschlands
unter einer und derselben Verfassung ist uns die höchste Ausgabe der Gegen¬
wart . . . Wir sind entschlossen, die Bundeskompetenz zu befestigen und über
alle gemeinsamen Angelegenheiten auszudehnen." Das sind einige der ent¬
scheidenden Sätze des ersten Programms der Nationalliberalen Partei aus dem
Jahre 1867. Und nachdem am 18. Januar 1871 dem Deutschen Reiche ein
deutscher Kaiser entstanden war, da schrieb sie wenige Tage später (25. Januar
1871) die Worte: „Dem Zuge der Ereignisse folgend, tritt jetzt an uns die
Aufgabe, den anerkannten Mängeln der Verfassung ödes Norddeutschen Bundes^
abzuhelfen und unser öffentliches Wirken einer Reform zu widmen, welche bei
der ehrlichen Achtung des Bundesstaats die Zentralgewalt des Reiches bis zur
Machtfülle einer wirksamen und wohlgeordneten Staatslenkung stärkt." Das
sind nicht nicht nur Worte geblieben, sondern ihnen sind die Taten gefolgt, so
daß die Nationalliberale Partei in der Folge mit Fug als die Partei der
Reichsgründung bezeichnet werden konnte. Es ist hinreichend bekannt, welche
eminenten Verdienste sie sich um das wiedererstandene Deutschland erworben
hat; in entscheidender Weise hat sie den inneren Ausbau des Reiches, die Aus¬
gestaltung seiner Organisation, die Übertragung hinreichender Arbeitsgebiete auf
es, das Zustandekommen im unitarischen Sinne wirkender Gesetze beeinflußt.
Nur weniges braucht zum Belege dessen erwähnt zu werden. Um die Schaffung
eines einheitlichen deutschen Privatrechts, wie wir es heute in unserm Bürger¬
lichen Gesetzbuch besitzen, hat sich die Nationalliberale Partei ebenso große Ver¬
dienste erworben wie um die Schaffung eines Deutschen Strafgesetzbuches und
anderer wichtiger „Reichsjustizgesetze"; ein einheitliches Reichsvereinsgesetz hatte
von jeher zu einer ihrer wichtigsten Forderungen gehört; der Ausbau der
obersten Reichsbehörden, die Schaffung verantwortlicher Reichsministerien, die
Verstärkung der Befugnis des Neichsschatzamtes usw. sind von ihr mit
besonderem Eifer betrieben worden. — Fragt man sich, ob die Nationalliberale
Partei ihren unitarischen Bestrebungen auch in den ihrer parlamentarischen
Blütezeit folgenden Jahrzehnten treu geblieben ist, so kann man in. E. diese
Frage nur bejahen. Sie ist bei voller Wahrung der verfassungsmäßigen
Rechte der Einzelstaaten für eine weitere Entwicklung der Reichseinrichtungen
im nationalen Geiste eingetreten, sie hat sich getreu ihrer Forderung: eine
Vertretung nach außen, ein Heerwesen, eine Kriegsflotte, ein Recht, ein Verkehrs¬
gebiet — die Pflege der errungenen Einheitsgüter der Nation angelegen sein
lassen. Es sei in dieser Beziehung nur hingewiesen auf ihre Stellung zu den
Heeres-, Flotten- und Kolonialvorlagen, der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers,
ihre Tätigkeit auf dem Gebiete einer reichsgesetzlichen Regelung des Wohnungs¬
wesens, einer reichsgesetzlichen Regelung des Submissionswesens, ihre Stellung
in der Frage der Vereinheitlichung der Eisenbahnen, des Reichspetroleum¬
monopols usw. — Angelegenheiten, denen zum Teil andere Parteien aus föde¬
rativem Rücksichten mehr oder weniger ablehnend gegenüberstanden und gegenüber¬
stehen. Man mag welche Einwendungen immer gegen die Nationalliberale Partei
erheben — daß sie von ihrer Reichsfreudigkeit, ihrer Bereitwilligkeit, den Neichs-
gedanken zu fördern und zu stärken, nichts eingebüßt hat, wird man schlechthin
anerkennen müssen.
Unzweifelhaft ist auch der Linksliberalismus, das heißt die Gruppe von
Parteien, die sich im Jahre 1910 zu der Fortschrittlichen Volkspartei vereinigte,
als unitarisch anzusprechen Während es jedoch zu weit geht, von dem rechten
Flügel der Liberalen zu sagen, er sei mehr national als liberal, geht es
nicht zu weit, wenn man von seinem linken Flügel sagt, ihm liege mehr an
liberalen als an unitarischen Tendenzen. Wo unitarische Bestrebungen sich mit
seinen fortschrittlichen Forderungen vereinigen lassen, tritt er rückhaltlos für jene
ein; wo das dagegen nicht der Fall ist, ist er geneigt, diese seine Haltung
bestimmen zu lassen. Aber föderalistisch ist der Linksliberalismus uicht und auch
wohl, trotzdem es zuzeiten so aussehen mochte, nie gewesen. Die Deutsche
Fortschrittspartei z. B. war eine der ersten Parteien Deutschlands, die sich als
„deutsche" Partei bezeichnete, und schon in ihrem Gründungsprogramm vom
6. Juni 1861 ist sie für eine feste Einigung Deutschlands eingetreten. Auch
die heutige Fortschrittliche Volkspartei tritt grundsätzlich für eine Stärkung des
Reiches bei Aufrechterhaltung seiner bundesstaatlichen Grundlagen ein und hat
in ihrem Programm eine Reihe von Forderungen aufgestellt, deren unitarische
Richtung unverkennbar ist: verantwortliches kollegiales Reichs Ministerium; reichs¬
gesetzliche Reform des Fremden- und Auslieferungsrechtes; reichsgesetzliche
Regelung der Rechtsverhältnisse der in der Haus- und Landwirtschaft beschäftigten
Personen u. a. in. Eine stark unitarische Forderung liegt auch in dem Antrag
der Fortschrittlichen Volkspartei, einen Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich
zu schaffen, ein Vorschlag, von dem der Königsberger Staatsrechtslehrer Arndt
vor kurzem sagte, „er könnte und müßte am letzten Ende die Folge haben,
daß der Föderalismus und die Macht des Kaisers wie der verbündeten
Regierungen ausgeschaltet wird". Daß die Partei aber auch in weniger
wichtigen Fragen geneigt ist, unitarische Bestrebungen zu fördern, beweist
eine Äußerung des fortschrittlichen Abgeordneten I)r. Flesch gelegentlich
der ersten Beratung des Wassergesetzentwurfes im preußischen Abgeordneten¬
haus (20. Februar 1912), woselbst er grundsätzlich für die reichsgesetzliche
Regelung des Wasserrechtes, eine in früherer Zeit oft erhobene Forderung,
eintrat. Alles dieses deutet darauf hin, daß der Föderalismus in
der Fortschrittlichen Volkspartei keinen Stützpunkt findet. Allerdings beweist
es noch nicht, daß ihr der Liberalismus höher als der Unitarismus steht. Die
Belege dafür finden sich jedoch unschwer, wenn man den Abstimmungen links¬
liberaler Parteien in früheren Jahren nachgeht. Man denke z. B. daran, daß
die Fortschrittspartei am 16. April 1867 gelegentlich der Schlußabstimmung
über die Verfassung des Norddeutschen Bundes gegen den Entwurf stimmte.
Das Motiv dieses Handelns ist weder zu suchen in irgend welchen föderalistischen
Ansichten noch in der damaligen allgemeinen Verärgerung der Partei — die
allein wohl nie ausgereicht haben würde, ihre Haltung in einer so wichtigen
Angelegenheit entscheidend zu beeinflussen —, sondern in erster Linie in der
Überzeugung, daß der Entwurf berechtigten liberalen Forderungen nicht entsprach
oder gar widersprach: die Verfassung sah kein verantwortliches Neichsmiuisterium
vor, das Budgetrecht in bezug auf die Einnahmebewilligung und den Militäretat
war beschränkt, die Abgeordneten erhielten keine Diäten usw. Diesen Beweg¬
grund läßt unzweideutig eine Erklärung, die die Partei durch den Abgeordneten
Waldeck abgeben ließ, erkennen; in ihr wurde gesagt, die Partei stimme gegen
den Entwurf in dem Bewußtsein, „daß dessenungeachtet nicht im allermindesten
die Sache, wofür wir eintreten, die Einheit Deutschlands, gefährdet ist". Dieser
Vorgang hat sich im übrigen bei der Abstimmung über die Verfassung des
Deutschen Reiches am 14. April 1871 nicht wiederholt. Dagegen hat die
Fortschrittspartei aus denselben liberalen Erwägungen heraus es nicht über sich
vermocht, der Gesamtheit der in unitarischer Richtung wirkenden Reichsjustiz¬
gesetze zuzustimmen; sie hat vielmehr gegen die Strafprozeßordnung und gegen
das Gerichtsverfassungsgesetz gestimmt. Hinwiederum hat der Linksliberalismus
(im Gegensatz zur Sozialdemokratie) dem wichtigsten Fortschritt des Einheits¬
gedankens der letzten vierzig Jahre, dem Bürgerlichen Gesetzbuch, seine Zu¬
stimmung nicht versagt. Bekannt ist die Stellung des Freisinns zu so wichtigen,
die Stärkung des Reiches betreffenden Fragen wie den Militär-, Flotten- und
Kolonialvorlagen; bis vor wenigen Jahren hat er sich ihnen gegenüber schlechthin
ablehnend verhalten. Aber in dieser Beziehung ist eine Wandlung eingetreten:
1906 hat der linke Flügel der Liberalen für die Kolonialvorlagen, 1908 für
die Flottenvorlage, 1911 für das Quinquennat gestimmt.
Es bleibt die Sozialdemokratie. Über sie, die eine besondere Stellung
einnimmt, nur wenige Worte. Das zurzeit geltende sozialdemokratische Pro¬
gramm spricht sich nicht ausdrücklich darüber aus, wie die Partei dem Uni-
tarismus und Föderalismus gegenübersteht. Es kann aber keinem Zweifel
unterliegen, daß sie das größte Interesse an einer Förderung unitarischer
Tendenzen hat. Ihre Stellung wird jedoch nicht bestimmt durch irgendwie
geartete nationale Erwägungen — für solche ist innerhalb der Sozialdemokratie
kein Raum —, sondern ausschließlich durch politische Momente anderer Art.
Dahin gehört vor allem die Tatsache, daß der parlamentarische Einfluß der
Sozialdemokratie in keinem Parlamente so groß ist wie im Parlament des
Reiches, da diese Partei mit keinem bestehenden Wahlrecht so ausgezeichnete
Geschäfte macht wie mit dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen
Wahlrecht. Je weiter daher der Aufgabenkreis des Reiches gezogen wird, je
mehr es seine Kompetenzen ausdehnt, um so größer wird der Einfluß der Sozial¬
demokratie auf die deutsche Gesetzgebung und die politischen Verhältnisse des
Reiches. Nicht aus nationalen Erwägungen heraus fordert die Sozialdemokratie
z. B. eine reichsgesetzliche Regelung des Schulwesens — das Schulwesen stellt
einen der wichtigsten Aufgabenkreise der Einzelstaaten dar — und ein Reichs¬
schulministerium, sondern lediglich aus taktischen Gründen. Taktische Erwägungen
allein bestimmen die unitarischen Bestrebungen der Sozialdemokratie, und sie
werden sich jedesmal feststellen lassen, sobald sie sich in unitarischem Sinne
betätigt. Wenn die Sozialdemokratie dagegen in unitarischer Richtung wirkende
Bestrebungen, wie z. B. das Bürgerliche Gesetzbuch, ablehnt, so sind dafür
ausschließlich ihre politischen und wirtschaftlichen Grundanschauungen, nicht aber
ihr Föderalismus, an dem sie ihrer ganzen Natur nach nicht das geringste
Interesse haben kann, maßgebend.
Ich habe versucht, hier in Kürze die grundsätzliche Stellung der wichtigsten
Parteien unitarischen und föderalistischen Tendenzen gegenüber darzulegen. Zu
berücksichtigen bleibt dabei, daß wir heute eine Partei, die ihr einziges und
größtes Ziel in der weiteren nud völligen Ausgestaltung des Reiches zu einem
Einheitsstaat im eigentlichen Sinne des Wortes sieht, nicht mehr haben. Jede
Partei, auch die nationalliberale, vertritt entsprechend den komplizierten poli¬
tischen und wirtschaftlichen Verhältnissen des modernen Staates viele und vielerlei
Bestrebungen. Einzelne dieser Bestrebungen können zuzeiten so große Bedeutung
erlangen, daß sie andere, selbst entscheidende Grundsätze einer Partei vorüber¬
gehend völlig in den Hintergrund drängen. Wenn z. B. das Zentrum mit
seinem Toleranzantrag für ein Reichsreligionsgesetz — als solches charakterisiert
sich dieser Antrag in Tat und Wahrheit — eintritt, so setzt sie sich damit in
Gegensatz zu ihren stark ausgeprägten föderalistischen Tendenzen, da die Religion
und das Kirchenwesen ebenso wie das Schulwesen zu den wichtigsten einzel¬
staatlichen Kompetenzen gehören. In der Tat hat auch Fürst Bülow bei der
Beratung des Toleranzantrages (19W) als wesentlichsten Einwand gegen ihn
das staatsrechtliche Bedenken, daß er in die Zuständigkeit der Landesgesetzgebung
eingreife, geltend gemacht. Derartige Abweichungen von der Regel sind aus
politischen und wirtschaftlichen Rücksichten möglich; sie können aber das gezeichnete
Bild im ganzen nicht verändern.
HMI rganisation, das ist das Schlagwort der Gegenwart. Wo auch
immer Ziele irgendwelcher Art erreicht werden sollen, geschieht es
heute durch Zusammenschluß vieler Individuen, durch Unterordnung
des einzelnen unter den gemeinsamen Zweck, durch Ausnutzung
I der Stoßkraft der Masse auf das bestimmte Ziel zu. Unser Volk
gilt für besonders organisatorisch begabt; es mag das an der eingewurzelten
militärischen Disziplin liegen, die den einzelnen willig macht, sich einem Ganzen
einzuordnen. Aber es ist auch ein Wesenszug der modernen Menschen, daß sie
sich von allem, was nach Organisation aussieht, imponieren lassen, daß sie sich
als Mitglied eines Ganzen gehoben vorkommen gegenüber ihrer früheren Einzel¬
stellung; Beispiele sind nicht weit zu suchen. Dieser Wesenszug räumt natürlich
den Führern bei der Durchsetzung ihrer Pläne viele Hindernisse aus dem Weg,
so daß bei uns heute organisatorische Gedanken leicht zu Erfolgen führen.
Diese starke Neigung des einzelnen, sich in ein Ganzes einzugliedern, hat
ihre lächerliche Seite in der Vereinsmeierei, ihre komischen Figuren in Leuten
wie dem von Fritz Anders so lebenswahr gezeichneten Paragraphendirektor.
Aber sie hat auch ihre ernste, bedenkliche Seite. Sie liegt in der leichten Aus-
löschbarkeit des Individuellen zugunsten auch eines geringwertigen Allgemeinen,
in der Abladung der Verantwortung von einzelnen auf das Ganze, und in ihr
wurzeln die Macht des Schlagworts auf die Masse, die Herrschaft der Parteien,
in ihr ist es auch begründet, daß der Bürger der Gegenwart, selbst unserer
demokratischen Gegenwart, bei allen Schäden des öffentlichen, sozialen, wirt¬
schaftlichen Lebens zuerst nach der Staatsgewalt, der Polizei ruft, auch wo er
sich selbst helfen könnte. So lange diese Eigenschaft des deutschen Philisters —
und wie groß ist sein Anteil am deutschen Volk! — nicht bekämpft wird, erziele,:
wir mit aller staatsbürgerlichen Erziehung kein politisches Volk.
Was ist, wenn wir tiefer blicken, der Kern dieser Erscheinung? Die allzu-
willige Selbsthingabe des Subjekts an ein Objekt, ohne daß erwogen wird, ob
nicht die Erhaltung des selbständigen und selbsttätigen Subjekts den: Volke, dem
Staate, der Kultur größere Werte erhält als die Förderung eines toten Objekts.
Und wie viele dieserObjekte sind totimVergleichmitdemLebensreichtumdesSubjekts!
Wie dem Objekt in der Politik, heiße es nun Staatsraison oder Partei-
doktrin, Menschenopfer, d. h. persönliche Überzeugungen, dargebracht werden, soll
hier nicht berührt werden, auch nicht wie viele Subjekte z. B. dem Objekt
Schulorgamsation ab und an zum Opfer fallen. Aber mit dieser Erwähnung
stehen wir doch schon unserem Thema näher. Ich möchte nämlich behaupten:
Auf keinem Gebiet ist die Aufopferung der Selbständigkeit des Subjekts zugunsten
des Objekts unheilvoller als auf dem der geistigen Tätigkeit.
Ich darf an die bekannte Tatsache anknüpfen, daß in der modernen geistigen
Arbeit auf vielen Gebieten die Sammlung des Stoffes feine Verarbeitung über¬
wiegt. In den historisch-literarischen Wissenschaften häufen sich von Tag zu
Tag neue Quellen, neue Ausgaben alter Schrift- und Kunstwerke, deren Text¬
herstellung und Kommentar eine Masse von Arbeit und Gelehrsamkeit erfordert
hat. Es ist dies eine Konsequenz der wissenschaftlichen Arbeitsmethode, die
durch eingehendste Einzeluntersuchung zur Erkenntnis des Ganzen kommen möchte.
Es hat aber oft den Anschein, als ob der Blick aufs Ganze bei diesen Arbeiten
ganz verloren gegangen wäre, als ob die Masse des Einzelstoffes nur zusammen¬
getragen sei, um wieder Spezialuntersuchungen zu ermöglichen. Das wissen¬
schaftliche Auge hat sich dann derart auf die Kleinheit eingestellt, daß es sich
dem weiteren Blick in große Räume nicht mehr akkommodiert.
Die Leute, die mit dieser Akkommodationsstörung des inneren Auges behaftet
sind, bilden bereits einen beträchtlichen Teil unter den Arbeitern der Wissen¬
schaft. Schon blicken viele mißtrauisch auf den einzelnen, der es etwa
wagt, ein großes Wissenschaftsgebiet selbständig literarisch zu gestalten; er
kann doch nicht in gleichem Maße „Fachmann", d. h. Spezialist auf allen Teil¬
gebieten sein, die sein Bau berührt; manche halten ihn für unwissenschaftlich,
weil er ein Baumeister ist und kein Handlanger, weil er vielleicht gar das
regelrechte Zuhaueu der Backsteine nicht so aus dem ff versteht wie die vielen
Kleineren. Aber freilich, es muß ja Handlanger geben, auch Kärrner, die den
Stoff herbeischaffen, und wir wollen ihnen keinen Vorwurf machen, wenn sie
diese Hilfsarbeit mit Stolz, aber ohne Selbstüberschätzung leisten.
Wir wenden uns vielmehr gegen die, bei denen das Herbeischaffen von
Stoff zum Selbstzweck wird, bei denen diese Tätigkeit mit wissenschaftlicher
Tätigkeit überhaupt gleichgesetzt wird. Wir möchten zu der Erwägung auf¬
fordern, ob im einzelnen Falle der Wert des Objekts die Unterordnung des
Subjekts noch lohnt.
An der Hand moderner Bestrebungen auf dem Gebiete der Wissenschaft
sollen im folgenden die beiden Seiten des gerügten Mißstandes gezeigt werden,
nämlich die Überschätzung des Stoffes, also des Objekts, und die Unterschätzung
der wissenschaftlichen Persönlichkeit, des Subjekts.--
Die Leser der Grenzboten kennen durch den orientierender Aufsatz von
Kekule von Stradonitz (Jahrg. 1910, Heft 23) die Bemühungen, die man neuer¬
dings macht, um eine vollständige Sammlung der deutschen Zeitungen
herzustellen. Seit dem aufsehenerregenden Vortrag von Martin spähn im
Jahre 1908 ist eine ganze Literatur von Artikeln erschienen, die sich über die
Ausführbarkeit und die Art der Ausführung dieses Unternehmens verbreiteten.
Zumeist wurde verlangt, daß man keine Mühe und Kosten scheue, um ein so
großes Werk zustande zu bringen. Es liegt mir nun fern, die in den Zeitungen
lagernden Werte für das Studium des politischen, sozialen, kulturellen Lebens
einer Zeit gering zu schätzen. Aber mir scheint, auch hier ist die richtige
Abschätzung des Gewonnenen gegenüber der aufzuwendenden Mühe und Kostenlast
vielfach zu vermissen. Ich möchte den Freunden des Planes ein Wort entgegen¬
halten, das der unvergeßliche Friedrich Paulsen uns in seiner Pädagogik, seinem
literarischen Testamente, hinterlassen hat: „Im Grunde kann die Aufgabe der
Geschichte doch nicht sein, alles zu behalten, sondern richtig auszusieben und zu
vergessen. Alles behalten ist ja eine unmögliche Aufgabe; man denke, alles was
die Zeitungen über die Handelsverträge berichten und urteilen oder über das
Verhältnis Deutschlands zu England! Bei unserer gegenwärtigen Geschichts¬
forschung kann einem tatsächlich manchmal um Kopf und Busen bang werden:
es scheint wirklich so, als ob wir alles behalten wollten. Was soll werden,
wenn es fünfhundert Jahre so weiter geht, wenn alle Zeitungen, Protokolle,
alle Archive aller Behörden, alle Parlamentsberichte, von den Briefen, Memoiren
und privaten Aufzeichnungen gar nicht zu reden, aufgehoben, gesammelt und
am Ende auch noch kritisch edlere und bearbeitet werden? Die Folge müßte
dann wohl sein, daß spätere Zeitalter niemals dazu kämen, sich mit sich selbst
und ihren Aufgaben zu beschäftigen, aus Angst, etwas von dem, was früher
geschehen ist, zu vergessen." Das ist im Sinne vieler moderner Historiker eine
Ketzerei, aber hat nicht dieser Ketzer am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, wenn man
in die Gefahr gerät, in der Masse des Stoffes unterzugehen? (Man vergleiche das
Vorwort zur zweiten Auslage von Paniscus „Geschichte des gelehrten Unterrichts").
Freilich, der Deutsche ist gründlich und in seiner Gründlichkeit radikal.
Sammelt man also überhaupt Zeitungen, so muß man sie alle sammeln, denn
nur so ist ein objektives Bild der gesamten in der Presse niedergelegten Geistes¬
arbeit zu gewinnen, jede Auswahl wäre eine Willkür. Das Objekt ist da, das
Subjekt beugt sich ihm.
Und das Bestreben, alle Lebensäußerungen des Menschen, auch die äußer¬
lichsten, die Schale des Lebens, zum ehrfurchtwürdigen Objekt zu machen, tritt überall
hervor, neuerdings zum Beispiel in dem Vorschlag, ein Phonogrammarchiv
für Vortragskunst zu gründen, um auch den Klang der verhallten Stimme
zu bewahren. Selten hat sich die Mumienhaftigkeit mancher „wissenschaft¬
lichen" Bestrebungen von heute so offen gezeigt. Laßt den Faustmonolog. die
Antoniusrede in euren Herzen wirken, und ihr braucht keine Walze mit Kainzens
oder Matkowskus Stimme; lest Bismarcks Reden mit feuriger Seele, und sie
wecken stärkeres Leben, als wenn ihr sie maschinell ableiern könntet. Was ist
denn das lebendige Wort? Der Schall oder der Sinn?
In der Frage der Zeitungserhaltung aber liegt das Verfahren, das Nutzen,
bringt, ohne die Aussicht auf Bahnhofshallen voller Zeitungsbände zu eröffnen
gar nicht so fern, wenn man ein klein wenig Subjektivität nicht scheut. Kekule
von Stradonitz selbst hat (in der Zeitschrift für Bücherfreunde, neue Folge I, 1 von
1909) auf das Verfahren des Freiherrn von Fechenbach hingewiesen, der sich in
seinem Schlosse Laudenbach am Main eine „Politische Registratur" von Zeitungs¬
äußerungen angelegt hat; näheres darüber hatte O. Pfülf schon 1902 (in den
Stimmen aus Maria-Laach, Band 63) der Öffentlichkeit unterbreitet. Es
handelte sich um die fortlaufende Durcharbeitung der wichtigen Preßstimmen
und ihre Verteilung unter gewisse Rubriken, z. B. Politik, Wirtschafts-, Sozial-,
Firan-, Handels-, Kolonialpolitik, Parteiwesen, auswärtige Staaten usw., deren
jede wieder in viele Unterabteilungen zerfällt; bei neu auftauchenden Fragen
wurde jederzeit eine neue Sammelmappe angelegt. Von Fechenbachs Methode
wußten die meisten Bearbeiter der Zeitungsmuseumsfrage nichts, und Kekule
möchte ihr nicht den Wert eines Musters zuschreiben. Freilich, in der Ent¬
scheidung, was wichtig und was unwichtig sei, steckt ein gutes Stück Subjektivität;
die politische Überzeugung, die Weltanschauung des Sammlers spielt hier mit.
Und doch, meine ich. sollten wir — zwar nicht die Methode Fechenbachs im
einzelnen kopieren —, aber das Prinzip einer sofortigen Scheidung des Auf¬
zubewahrenden von der übrigen Masse und das Prinzip der Austeilung auf
Rubriken für die Zeitungssammlung fruchtbar machen. Nur so sichern wir die
Möglichkeit einer unmittelbaren Benutzung des Materials dem Historiker wie
dem Politiker. Und was der Freiherr von Fechenbach in täglich zwei- bis zehn¬
stündiger Arbeit geleistet hat. das müßte ein unterrichteter und einsichtiger Mann
mit bibliothekarischer und archivalischer Fachbildung, unterstützt von einigen
Hilfsarbeitern für die Einzelgebiete, auch leisten können. Auch Kekule hat sich
ja dem Gedanken nicht verschließen können, daß eine „Registratur der Zeitungs¬
ausschnitte" (es brauchen aber nicht immer nur Ausschnitte zu sein!) ganz andere
Benutzungsmöglichkeiten bietet als die bloßen Reihen der Vierteljahrsbände.
Nun wohl, so schaffe man zunächst diese Registratur und lege das Hauptgewicht
auf die Übersichtlichkeit und Fruchtbarkeit der Einrichtung, nicht auf die Voll¬
ständigkeit der Zeitungsreihen. Die Massen der Artikel, die vom Tage für den
Tag geschrieben werden, lasse man doch ruhig untergehen. Proben für spätere
Liebhaber dieser Literaturgattung werden sich ohne Zweifel ohnehin erhalten,
und mehr als Proben braucht man nicht, denn hier ist nicht der Inhalt des
einzelnen Artikels, sondern der Typus für unsere Kultur bezeichnend. Auch die
Hoffnung, aus dem Annoncenmaterial unserer Tageszeitungen Dissertationen
über die Psychologie der Reklame und über die Statistik der Heiratsannonce
zu gewinnen, wird selbst bei dieser beschränkten Aufbewahrung noch nicht
verloren sein.
Nun könnte noch ein anderes Verfahren angewendet werden, um die in
den Zeitungen enthaltene wertvolle Geistesarbeit für die Dauer nutzbar zu
machen. Vor mir liegt die „Denkschrift betreffend die Schaffung eines
deutschen Zeitungsarchivs", die im Sommer 1911 erschien. Auch hier
liegt der Versuch vor, nicht eine objektiv - vollständige, aber unübersehbare rohe
Materialsammlung zu schaffen, sondern eine kritisch ausscheidende, mithin subjektive
Durcharbeitung der Zeitungen nach dem darin enthaltenen Wertvollen. Allmonatlich
soll der Hauptinhalt der Artikel in ganz knappen sachlichen Auszügen ohne
Werturteil in einer Druckschrift veröffentlicht und gleichzeitig eine Einrichtung
zur Beschaffung der Originalartikel getroffen werden. Die Art, wie in einer
beigegebenen Probe der Inhalt der Zeitungsartikel skizziert ist, leuchtet als
praktisch zur Orientierung sehr ein; vielleicht könnte man bei der Aufnahme noch
etwas kritischer zu Werke gehen.
In vieler Hinsicht kann dieses Unternehmen, wenn es zustande kommt, als
Ersatz für die Originalblätter dienen, es zieht den Querschnitt aus der öffent¬
lichen Meinung über alle Tagesfragen; es hat den Vorzug, relativ härtlich zu
sein, und den noch größeren, zeitbeständig zu sein (es müßte auf holzfreies
Papier gedruckt werden). Wenn die Registratur nach dem Laudenbacher System
vorwiegend den Politiker und Historiker angeht, so finden in diesem umfassenderen
Versuch auch die Artikel aus den Gebieten der Literatur, Kunst, Moral,
Philosophie, Technik, Medizin usw. Berücksichtigung. Allerdings bringen die
Tageszeitungen so selten original-wertvolle Beiträge aus diesen Gebieten, daß
der Verlust, der durch ihre Vernachlässigung entstände, nicht allzuhoch anzu¬
schlagen wäre.
Überhaupt sollte man auch zweifellosen Verlust von geistigen Arbeitswerten
gegenüber nicht allzu ängstlich sein. „Es schießen ja bald andere Stämme dir
auf." Und die Aufbewahrung aller Lebensäußerungen des Menschengeistes für
die Zukunft entstammt zudem einem Prinzip, das die Wertung ausschaltet,
Groß und Klein gleichsetzt. Die Nachwelt wird sich in den ungeordneten,
erdrückenden Stoff, den wir ihr übergeben, schwerlich versenken. Vielleicht wird
sie versuchen, statt der Kleinarbeit die großen Zusammenhänge des Geschehens
und Seins zu erkennen, vielleicht gar wird sie überhaupt eine „unwissenschaft¬
liche" — das will nicht sagen kulturlose — Nachwelt sein.---
Der Scheu vor der Wertung, vor dem Hineintragen eines subjektiven Ma߬
stabes in die Masse der Objekte entstammt der Grundsatz, das alles Wißbare
auch wissenswert sei. Die Wissenschaft hat hiernach das Ziel, alles für den
Menschengeist überhaupt Erfaßbare zu ermitteln und darzustellen. Dieser An¬
schauung dient ein neues Unternehmen, das als Programm kürzlich das Buch
herausgab: Die Organisation der geistigen Arbeit durch „die Brücke",
von K. W. Bührer und Ad. Saager (Ansbach. Seybold. 1911). Die „Brücke"
erstrebt eine Organisierung der gesamten geleisteten und noch zu leistenden
Geistesarbeit aller Zeiten und Länder. Sie will die Ergebnisse der geistigen
Tätigkeit der Vergangenheit Systematisieren und dadurch übersichtlich und allgemein
zugänglich machen, und sie will auch die geistige Arbeit der Gegenwart und
Zukunft so einrichten, daß ihre Ergebnisse wie ihre Arbeitsweisen in ein Schema
sich einfügen. Man erstrebt, durch Verbindung und Fühlungnahme zwischen
den Arbeitern des Geistes, einem jeden das Arbeitsgebiet zuzuweisen, auf dem
er am meisten leistet, aber man sucht vor allem auch zu erreichen, daß eine
Bearbeitung derselben Aufgabe durch verschiedene Forscher vermieden wird.
Denn dies würde Energievergeudung bedeuten. Es gestaltet sich mithin die
gesamte Geistesarbeit der Menschheit zu einem großen Betrieb, worin jeder
einzelne ein Bestimmtes zu leisten hat, keiner dasselbe tut wie der andere, alle
daran arbeiten, neue wissenschaftliche Ergebnisse der früheren anzureihen und
dadurch die Quantität des Gewußten zu mehren. Erreicht soll dies werden
durch Anschluß aller Geistesarbeiter an eine Zentrale, von wo aus die Ver¬
mittlung aller nachgesuchten Auskünfte, die Herstellung von Verbindungen
zwischen den Forschern, der Nachweis der besten Arbeitsmethoden und Arbeits¬
mittel in alle Welt hinaus geleitet werden soll. Da alle Ergebnisse geistiger
Tätigkeit grundsätzlich als gleichwertig betrachtet werden, so stellt sich das
erstrebte Ziel den Brückenleuten in der Form einer ungeheueren Bibliothek dar,
worin die Wissenschaft als Ganzes in unzähligen Monographien gleichen For¬
mates (auch auf die äußere Nivellierung aller Geistesprodukte wird großer Wert
gelegt!) magaziniert ist. Man wird in diesen Bänden, die allerdings erst
in Jahrtausenden vollzählig sein können, restlos alles von Menschen Gewußte
finden; von der Kunstübung der Singhalesen bis zum Wesen der Nebelflecke
und zu den Lebensgewohnheiten der Eingeweidewürmer wird dieses gigantische
Konversationslexikon schlechthin alles enthalten.
Die Verfasser des Planes nennen das, was sie aus der Gerstesarbeit im
ganzen gestalten wollen, einen Organismus. In Wahrheit ist es ein Mecha¬
nismus. Nach dem Prinzip der Arbeitsteilung sollen die Einzelnen sich dem
Ganzen mit weitestgehender Spezialisierung einordnen. Es kommt ihnen nicht
darauf an, ob der neue Gedanke Blüte und Frucht eines selbständigen Denkens
ist, sondern nur auf die Lieferung möglichst zahlreicher Fertigprodukte. Hat
das einzelne Rad in der großen Maschine seine Arbeit geleistet und ist es
verbraucht, so wird es durch ein frisches ersetzt. In der Spezialisierung der
Geistesarbeit, im Fabrikbetriebe, worin jeder „gelernte Arbeiter" eine Spezial-
arbeit übernommen hat, sich alle gegenseitig in die Hände arbeiten und so die
Entstehung zahlreicher Produkte fördern, suchen die Brückenleute den Fortschritt
der Menschheit. Es kommt nicht, wie manche glauben, darauf an, daß der
Mensch ein Ganzes aus sich macht, sondern daß er sich der „Organisation"
unterordnet, wo er dann eine Spezialarbeit schafft, einerlei ob er sich bewußt
ist, daß er damit ein Ganzes fördert; auch der Metalldreher in der Maschinen¬
fabrik braucht nicht zu wissen, wie seine Scheiben und Stäbe, die er jahraus
jahrein fertigt, im Ganzen der Maschine wirken. Kurz, es handelt sich um eine
Unterwerfung sämtlicher Subjekte unter die vage Vorstellung vom Fortschritt
der Wissenschaft, wie ihn diejenige Schule faßt, der die Brückenleute angehören.
Diese Organisatoren sehen vor sich eine ungemessene Zeit, in der sich die
Auffassung von der Wissenschaft und ihren: Werte nicht ändert. Sie beweisen
schon hierdurch ihr mangelndes Verständnis für geschichtliches Werden. Aber
sie sind schon über den heutigen Zustand schlecht informiert, wenn sie alle
wissenschaftlich tätigen Menschen mit sich einig glauben über ihr Ziel geistigen
Schaffens: Aufhäufung von Resultaten zum allgemeinen Gebrauch. Hier wie
überall verleugnet sich nicht die utilitaristische Denkweise, wie sie um Ostwald
gepflegt wird/'')
Und wenn die Verfasser des neuen Projektes die Ersetzbarkeit jedes
wissenschaftlichen Arbeiters postulieren, so möchte ich dagegen sagen: mit jedem
wahrhaften Wahrheitsucher stirbt seine ganze Spezies aus. Das Falsum jener
Leute liegt in der Gleichsetzung der Begriffe Wirklichkeit und Wahrheit; die
bloße Ermittlung und Katalogisierung des objektiv Wirklichen ist nicht das hohe
Ziel, dem sich alle Subjekte ohne weiteres zu unterwerfen haben. Und dessen
Kenntnis oder gar nur Teilkenntnis verdient bloß Schätzung als Bestandteil
und Stütze einer Gesamtanschauung, die getragen wird vom Subjekt, von der
wissenschaftlichen Persönlichkeit.
Voll Verachtung sehen die Brückenleute auf den heutigen Zustand herab,
bei dem es vorkommen kann, daß zwei Gelehrte, ohne es zu wissen, dieselbe
Aufgabe in Angriff nehmen. Das bedeute Vergeudung von Energie und dürfe
in der künftigen „organisierten" Wissenschaft nicht mehr vorkommen. Anwendbar
ist das Prinzip des geringsten Energieaufwandes in der wissenschaftlichen Arbeit
allerdings, aber nur zur Vermeidung äußerer Schwierigkeiten, z. B. bei der
Benutzung von Bibliotheken, Museen, der raschen Beschaffung feststehender
Daten u. tgi. Hier könnte noch manche unnötige Mühe erspart werden, und
die Vorschläge der „Brücke" sind hier zum Teil der Erwägung wert. Aber
kann sie denn die Tatsache aus der Welt schaffen, daß die Menschen verschiedene
Fähigkeiten, verschiedene Wesensrichtuug, verschiedene Ausfassung derselben Tat¬
sachen in sich tragen? Sogar in den exakten Wissenschaften, in noch viel
höherem Maße aber in den Geisteswissenschaften entstehen vollständigere Resultate
bei doppelter Bearbeitung desselben Gebietes, als sie von einem einzelnen zu
erwarten sind. Und dazu kommt — aber hierfür haben die Brückenleute offenbar
keinen Blick —, daß jede wissenschaftliche Arbeitsleistung, selbst wenn sie kein
objektiv neues Ergebnis zeitigt, einen subjektiven Wert bedeutet, einen persön¬
lichen Gewinn für den Arbeiter an Schulung in der Wissenschaft, aber auch
an Ausbildung der Persönlichkeit in der Selbstförderung.
Die Methode der Arbeitsteilung ferner, die von der „Brücke" in das Schaffen
der Geistesarbeiter hineingetragen werden soll, hat sich auf dem Gebiete der
Industrie da bewährt, wo man Massen ohne individuellen Wert produziert.
Wenn nun schon in der manuellen Technik dieser Hervorbringung die Eigenschaft
der Unpersönlichkeit in dem Maße anhaftet, daß Fabrikware mit dem hand¬
werklich oder gar künstlerisch hergestellten Produkt gar nicht verglichen werden
kann, so wäre schon aus dieser Analogie heraus an das Fabrizieren geistiger
Werte nicht zu denken, noch mehr aber aus der Erwägung, daß der Geistes¬
arbeiter sein Eigenstes gibt, seiue Grenzen sich selbst zieht, mithin jede Ein¬
ordnung in ein Arbeitsschema um so mehr ablehnen muß, je stärker seine
Individualität ist. Aber freilich, wo es die Masse bringen soll, ist Erzeugung
von „Qualitätsware" Verschwendung von Energie.
Bezeichnend ist, daß das Brückenprojekt an der Geistesarbeit der Künstler
versagt. Ihre Werke werden als Ganzes genommen, jede Dichtung als Ganzes
in die Zukunftsbibliothek aufgenommen, während alle wissenschaftlichen Werke
sich zur besseren Einreihung in das Schema in ihre Gedanken zerlegen lassen
müssen! (Preisaufgabe: Man zerlege Burckhardts „Kultur der Renaissance",
Treitschkes „Politik", Chamberlains „Grundlagen" in ihre Gedanken! Die
Behauptung, daß man um der größeren Beweglichkeit willen die Gedanken aus
der Umgebung loslösen könne und müsse, führt sich hier selbst na absurclum.)
Wie es beim Dichtwerk nicht die Nebeneinanderreihung von Gedanken¬
atomen ist, die seinen Wert und seiue Wirkung ausmacht, so ist es auch bei
jedem wissenschaftlichen Werke von Bedeutung; gerade das, wodurch die Einzel¬
leistung sich nicht an die des Gebietsnachbars anpaßt, nämlich der subjektive
Faktor, die ganz individuelle Gesamtanschauung, macht den eigentlichen Wert
und Reiz des Werkes aus. Zerschlägt man das Werk, um aus ihn: den
objektiven Gedankenextrakt zu pressen, so geht dieses Aroma verloren. Es wäre
gerade so, als ob man künstlerische Plastiker zu Werkstücken für den Bau einer
Zentralmarkthalle zerschlüge.--
Die Kürze des Daseins erfordert es, das wissenschaftliche Streben, das
an sich unumschränkt ist, mit der Beschränktheit der verfügbaren Zeit in Ein¬
klang zu bringen. Wagner hätte sonst recht:
Gewiß wird der Mensch darauf verzichten müssen, die ganze Fülle des
Objekts Wissenschaft zu durchdringen. Aber soll er deshalb der Uraufgabe des
menschlichen Seins entsagen, ein Ganzes aus sich heraus zu gestalten? Soll er
deshalb als kleines Rad im großen Getriebe untertauchen, sich selbst zum Werkzeug
wandeln, sich dem Objekt ganz unterwerfen? Das wäre nur dann berechtigt,
wenn es ein Ziel von absoluter Bedeutung zu erreichen gälte. Aber auch
der religiöse Nimbus, womit man den „Bau der Wissenschaft" heute von
gewisser Seite umgibt, kann uns nicht darüber täuschen, daß ihm diese absolute
Bedeutung nicht zukommt.
ange Zeit hatte man der Polenfrage in Ostpreußen keine Bedeutung
beigemessen. Die Polen dort sind meist evangelisch, sprechen zum
größeren Teile eine besondere, mit litauischen und deutschen Wort¬
stämmen versetzte Art des Polnischen, das sogenannte Masurische,
welches nicht Schriftsprache geworden ist. In der evangelischen
Kirche wird zwar auch masurisch oder polnisch gepredigt, die evangelischen Geist¬
lichen sind aber bis auf ein oder zwei Masuren sämtlich deutsch; die Schule ist
deutsch. Eine polnisch-politische Agitation kannte man vor 1900 kaum in Ost¬
preußen.
Der Preußische Staat gab daher in Ergänzung des Reichsvereinsgesetzes
durch eine Verordnung vom 8. Mai 1908 in den drei Regierungsbezirken
Königsberg, Gumbinnen und Altenstein allgemein den Mitgebrauch des Masu-
rischen in öffentlichen Versammlungen frei, während er sonst nirgends der
polnischen Sprache dieses Recht über die Vorschriften des obigen Reichsgesetzes
hinaus gewährte. Ob man freilich in der Anwendung stets das Schriftpolnische
vom Masurischen unterscheiden wird, bleibt abzuwarten.
Allen schien es so, als ob die Polen (Masuren) in Ostpreußen schnell ein¬
deutschten und keine Gefahr für das Deutschtum und den Staat seien, zumal
Ostpreußen weder in das Preußische Abgeordnetenhaus noch in den Reichstag
polnische Abgeordnete entsendet. Wird dies jedoch immer so bleiben? Kann
auch künftig keine Gefahr entstehen?
Zu den nachfolgenden statistischen Zahlen möchte ich vorausschicken, daß ich
den von der amtlichen Statistik gemachten Unterschied zwischen Masuren und
Polen nicht befolge. Wie bereits erörtert ist, bildet das Masurische nur eine
polnische Mundart, ähnlich wie das Kassubische. Im Deutschen unterscheidet man
bei der Volkszählung auch keine Dialekte gegenüber dem Schriftdeutschen. Die
Zähler oder die Gezahlten scheinen häufig bei Ausfüllung der Zählkarten Polnisch
und Masurisch verwechselt zu haben, denn sonst wären Schwankungen in einer
Höhe bis 160 vom Tausend zwischen diesen beiden amtlichen Zählsprachen in
einigen Kreisen bei aufeinanderfolgenden Volkszählungen nicht erklärbar. Unsere
Betrachtung gewinnt bedeutend an Zuverlässigkeit dadurch, daß ich alle polnischen
Mundarten zusammengerechnet habe und nur allgemein das Polnische den:
Deutschen entgegensetze.
Die Provinz Ostpreußen hatte im Jahre 1890 1 958 663 Einwohner.
Von diesen hatten 1 496 451 oder 764,02 vom Tausend die deutsche Mutter¬
sprache, 23 060 oder 11,77 vom Tausend Polnisch und Deutsch, 316 166 oder
161.42 vom Tausend nur Polnisch als Muttersprache. Bis zum Jahre 1900
stiegen die Gesamtbevölkerung auf 1996626 Köpfe, die Deutschen auf 1 572 232
oder 787,50 vom Tausend (das ist um 75 881 Menschen oder 23,48 vom
Tausend), die deutsch-polnischen Leute auf 25 608 oder 12,83 vom Tausend
(also um 2548 Köpfe oder 1,06 vom Tausend). Hingegen fiel die Zahl der
Polen auf 286 160 oder 143,32 vom Tausend. Sie sank mithin absolut um
30 006 Personen oder relativ um 18,10 vom Tausend.
Diese schnelle Verminderung fiel ausschließlich den evangelischen Polen zur
Last. Denn 1890 zählten wir unter ihnen noch 251 051 Polen (--- 128,17
vom Tausend) außer 19 059 Doppelsprachigen. Bis 1900 sank die Zahl der
nur polnisch sprechenden Evangelischen auf 220 062 oder 110,22 vom Tausend,
mithin um 30 989 Köpfe oder 17,95 vom Tausend. Der absolute Verlust des
Polentums traf nur die ausschließlich polnisch sprechenden Evangelischen, hin¬
gegen stieg die Zahl der doppelsprachigen Evangelischen auf 20 602.
Etwas anders verhielten sich die katholischen Polen, sie zählten 1890 außer
3709 doppelsprachigen 62 999 oder 32,11 vom Tausend Leute nur polnischer
Muttersprache. Die Zahlen stiegen im Jahre 1900 auf 4775 Doppelsprachige
und 63 209 Polen. Die katholischen Polen haben somit einen absoluten Verlust
nicht erlitten; jedoch war ihre Zunahme gegenüber der allgemeinen Volks¬
vermehrung in Ostpreußen so gering, daß ihr Anteil auf 31,66 vom Tausend,
also um 0,45 vont Tausend sank.
Das war die Zeit, in der man von der völligen Verdeutschung der Polen
(Masuren) Ostpreußens träumte. Inzwischen breitete sich auch dort die polnische
Agitation ans. Die kurze Frist bis 1905 änderte schon das Bild.
Ostpreußen hatte nun 2 030 176 Bewohner, darunter 1 614 724 oder
795,36 vom Tausend Deutsche, 16 012 oder 7,88 vom Tausend Deutsch und
Polnisch als Muttersprache Angehende und 294 355 oder 144,94 vom Tausend
Polen. Das Deutschtum war zwar um fast 8 vom Tausend gestiegen, aber
diese Vermehrung war nicht mehr auf Kosten der Polen erfolgt, denn deren
Anteil hatte sich um rund 1-/^ vom Tausend erhöht. Das Wachstum der
Deutschen beruht hauptsächlich auf der Minderung anderer Volksstämme, in
erster Linie der Litauer, in zweiter Linie ans dem Sinken der Anzahl der polnisch und
deutsch Sprechenden. Gerade diese Ziffer gibt einen Maßstab für die Ver¬
schärfung der Volksgegensätze und die nationale Aufweckung der ostpreußischen
Polen. Je schärfer die Gegensätze zweier Völker sind, desto weniger Menschen
werden beider Völker Sprachen zugleich als Muttersprache angeben.
Von den Doppelsprachigen (polnisch und deutsch Redenden) waren etwa
13400 evangelisch und etwa 2600 katholisch. Von den Polen waren 226044
(111,34 vom Tausend der Gesamtbevölkerung) evangelisch, 65338 (32,18 vom
Tausend) katholisch. Die evangelischen Polen haben eine absolute Zunahme von
6000 Köpfen und auch eine anteilige von 1,12 vom Tausend erfahren, sind
also relativ stärker gewachsen als die Gesamtbevölkerung Ostpreußens. Die
Aussicht, sie einzudeutschen, ist jetzt verloren. Ihre Vermehrung ist sogar noch
größer als die der katholischen Polen, die um 2129 Köpfe oder um 0,52 vom
Tausend gewachsen sind.
Den Verbreitungsbezirk der ostpreußischen Polen bilden die Kreise Rasten¬
burg, Rössel, Altenstein, Ortelsburg. Neidenburg, Osterode, Angerburg, Goldap,
Oletzko. Lyck, Lötzen, Sensburg und Johannisburg. Hier zählte man stets,
wenn man die Doppelsprachigen je zur Hälfte den Deutschen und den Polen
hinzurechnete, über 10 vom Tausend der Einwohner als Polen. Vereinzelte,
aber weniger Polen sind in allen Kreisen Ostpreußens zu finden.
Fast alle Polen in den Kreisen Rössel und Altenstein sind katholisch; ein
Zehntel bis ein Fünftel der Polen ist in den Kreisen Ortelsburg, Neidenburg
und Osterode katholisch; in anderen Kreisen gibt es nur vereinzelte katholische
Polen.
In den oben genannten dreizehn Kreisen fanden sich nach erwähnter Berech¬
nungsweise unter je Tausend Bewohnern a) im Jahre 1900, b) im Jahre 1890:
Der Unterschied der Zahlen zu a) und b) ist unter den Strichen gezogen; die
darunter stehenden dritten Zahlen ergeben also die Verschiebungen im Tausendsatz
der Bevölkerung; mit wird die Zunahme, mit — die Abnahme gekennzeichnet.
Die Polen haben in sämtlichen Kreisen außer Ortelsburg eine Abnahme
und die Deutschen eine Zunahme im Jahrzehnt 1890 bis 1900 erfahren. Daß
die Zunahme der einen Partei nicht stets gleich der Abnahme der anderen ist,
erklärt sich aus dem Borhandensein weiterer, wenn auch geringer Fremdvölker,
z. B. der Litauer, Russen oder anderer Ausländer.
In der letzten Spalte ist für das Jahr 1900 in Tausendsteln der Kreis¬
bevölkerung der Überschuß der Deutschen über die Polen oder umgekehrt, mit
-I- das Überwiegen der Deutschen, mit — das Überwiegen der Polen berechnet.
Ein Vergleich der Zählungen von 1900 und 1905 verändert bedeutend das Bild.
Im Jahre 1900 betrugen die Ziffern:
Im Jahre 1905 sind die polnisch und deutsch redenden Doppelsprachigen
nicht besonders gezählt, sondern nur alle, die Deutsch und eine andere Sprache
zugleich als Muttersprache (z. B. auch Deutsch und Litauisch) angaben. Die
Doppelsprachigen des Jahres 1905 sind daher schwer mit den deutsch und
polnisch Sprechenden des Jahres 1900 vergleichbar, der Vollständigkeit halber
will ich sie zunächst mit anführen.
Im Jahre 1905 beliefen sich die Zahlen auf:
Die Zahl der polnisch und deutsch Sprechenden ist natürlich geringer als
die der Doppelsprachigen schlechthin, jedoch mit annähernder Sicherheit nicht zu
schätzen. Ich kann die Doppelsprachigen auch nicht je zur Hälfte den Deutschen
und Polen zurechnen und lasse sie bei der nächsten Berechnung ganz aus.
Es betrug der Tausendsatz im Jahre 1905:
In diesen Zahlen sind sowohl bei Polen als bei Deutschen die Anteile an
der Kreisbevölkerung zu niedrig bemessen, weil die unbekannte Zahl der Doppel-
sprachigen x) auf keiner Seite zur Hälfte gerechnet ist. Hingegen ist die
Überschußzahl richtig. Nennen wir die Zahl der reinen Deutschen a, die der
Polen d, so berechnet sich der Überschuß nach der Formel:
also a (Deutsche) — b (Polen) ^ Überschuß. Mit anderen Worten: bei der
Berechnung des Überwigens kann man die sonst je zur Hälfte auf Polen und
Deutsche verteilten polnisch und deutsch Sprechenden auslassen.
Ziehe ich jetzt die Überschußzahlen für 1900 und 1905 von einander ab,
so erhalte ich in Tausendsätzen folgende Bewegung zwischen deutscher und
polnischer Bevölkerung:
Als Ergebnis stellen wir für die dreizehn Kreise des polnischen Verbreitungs-
bezirks fest, daß zwar die Deutschen von 1900 bis 1905 um 11,2 vom Tausend
zugenommen haben, daß diese Zunahme aber lediglich auf Kosten der um mehr
als 13,3 vom Tausend verminderten Doppelsprachigen, aber nicht auf Kosten
der Polen, die um 2,9 vom Tausend gewachsen sind, erfolgt ist. Während
unter den Einzelkreisen von 1890 bis 1900 nur der Kreis Ortelsburg einen
ganz kleinen relativen Fortschritt des Polentums aufwies, finden wir für das
Jahrfünft 1900 bis 1905 bereits fünf Kreise mit Fortschritten des Polentums.
Der Kreis Altenstein hat die große Verschiebung im Anteil der Deutschen dadurch
erreicht, daß in dieser Zeit in Altenstein eine Bezirksregierung eingerichtet wurde,
die viel deutsche Beamte und deutsche Familien dorthin brachte.
Obige Statistik hatte für die Reichstagswahlen eine große Bedeutung.
In den Tageszeitungen war zu lesen, daß sich ein polnisches Wahlkomitee von
etwa zwanzig evangelischen Polen gebildet hat. Die polnischen Blätter Ost-
Preußens, die Gazeta Olszynska in Altenstein und der Mazur in Ortelsburg seit
seiner Richtungsänderung, aber besonders die in dem benachbarten Westpreußen
erscheinenden zahlreichen Zeitungen hatten gut vorgearbeitet, so daß die Polen
nicht mehr die Kosten einer Wahlagitation zu scheuen brauchten. Man will
auch künftig zur Erweckung nationalpolnischer Gesinnung eigene Kandidaten für
den ersten Wahlgang aufstellen. Sehen wir uns die Wahlkreise darauf an, in
welchen die Polen eine Rolle spielen können.
Im Reichstagswahlkreise Sensburg-Ortelsburg sind von 118651 Ein¬
wohnern 76046 Polen und 2951 Doppelsprachige, im Wahlkreise Osterode-
Neidenburg von 130746 Bewohner,? 71819 Polen und 2683 Doppelsprachige,
im Wahlkreise Oletzko-Lyck-Johannisburg von 144779 Einwohnern 78439 Polen
und 4438 Doppelsprachige. Diese drei ostpreußischen Wahlkreise sind überwiegend
polnisch. Wenn auch für die letzte Reichstagswahl noch nicht die Gefahr eines
Verlustes an die Polen bestand, so bedürfen sie doch in Rücksicht auf die stark
zunehmende polnische Agitation besonderer Aufmerksamkeit seitens der Deutschen.
In dem Wahlkreise Altenstein - Rössel sind unter 136015 Einwohnem
46084 Polen und 1568 Doppelsprachige, in Angerburg-Lötzen von 77555
Bewohnern 18376 Polen und 2798 Doppelsprachige. Die Polen könnten also
in diesen zwei Bezirken bei einer Stichwahl unter deutschen Parteien eine Rolle
spielen. Hoffen wir, daß dies nicht geschieht und ein deutschnationaler Kandidat
stets im ersten Wahlgänge durchkomme.
LWMs
H^-eMÄ^lec deutsche Lieder — Volkslieder! Es geht uns mit diesem Schatz
wie mit manchem andern — wir wissen nicht, wie reich wir sind.
Hier und da taucht einer hinab in die Tiefe, wo die Schätze
liegen, einer, dem von der Kinderzeit her der Sinn danach steht,
^und kommt empor mit gefüllten Händen und wir staunen. Noch
kaum einer ist weiter gelangt wie der Soldat im Märchen vom Feuerzeug, als
er in der Stube war, wo das Kupfergeld lag. Ein Sack Kupfergeld ist besser
als nichts; aber wenn man dann erst in die Goldstube kommt!
Wir sind ein zu ordentliches Volk, wir Deutschen, als daß wir unsere
Schätze unklassiert und unnumeriert ließen. In gewissem Sinne wissen wir,
was wir haben. Wir besitzen es schwarz auf weiß und können ruhig schlafen.
Leute, deren Beruf das ist, können für jedes Volkslied die wissenschaftliche Formel
angeben, die verrät, wo es aufbewahrt wird. „Hs. auf der königlichen Bibliothek
zu Berlin, ins. Zerm. quart. 494, Is. Jahrhundert" oder „Weimarer Pap.
Hs. 0. 72 vom Jahre 1436. Blatt 45" usw.
Aber es gibt unzufriedene Seelen, denen das nicht genügt, die sogar damit
noch nicht zufrieden sind, daß ein großer Teil der Volkslieder, geistlicher und
weltlicher, gesammelt ist, in Riesenbauten, Lexikonformat, in längst vergriffenen
Ausgaben, wie der von Wackernagel, und daß alle unsere großen Bibliotheken
sie besitzen, unansleihbar, in der Handbibliothek, zum Nachschlagen. Nur daß
sie fast ille nachgeschlagen werden. Was auf den ersten Blick befriedigender
scheinen könnte, aber bei genaueren: Zusehen nicht standhält, ist, daß fast sämt¬
liche Gymnasiums- und größeren Schulbibliotheken diese Werke besitzen — nur
merkt die Schule wenig davon. In der Schule ist für die Volkslieder „kein
Platz vorgesehen". In den Literaturstunden wird etwas „Geschichte des Volks¬
liedes" gelehrt, sie werden gestreift, mehr nicht. Ihr Platz wäre in den Gesangs¬
stunden, denn zum singen sind die besten von ihnen da. Aber gerade damit
steht es übel aus. In den Grenzboten (1909, Ur. 41) habe ich erzählt, wie
ich einen Rekognoszierungszug durch alle die Hunderte von „neuen, verbesserten
und revidierten Liederbücher für den Gebrauch an Volks- und Mittelschulen"
antrat und wie er ausfiel. Das war im Jahre 1909 und es ist nicht besser
geworden. Es wird auch dort nicht sobald besser werden. Wir, die wir die
alten Lieder lieb haben, müssen uns selbst helfen. Von meinem Versuch mit
dem Dorfkinderchor auf der Insel Reichenau habe ich ebenfalls in den Grenz¬
boten erzählt und muß mir hier versagen, von dieser Episode, die eine meiner
liebsten Erinnerungen ist, ausführlicher zu sprechen. Der Weg, den ich damals
einschlug, scheint mir gangbar für jeden, der Freude an den alten Liedern und am
Singen hat, Freude an Kindern auch, aber das gehört schon sowieso eng zusammen!
Sind denn aber unsere eigenen Kinder, unsere Kinder der „besseren Stände"
so gut versorgt, daß wir es uns leisten können, Experimente zu machen, die
uns aus dein Wege liegen? Man würde mich sehr mißverstehen, wenn man
das für meine Ansicht hielte. Unsere Kinder sind nicht gut versorgt, sie sind
sogar erbärmlich dran, schlimmer als die kleinen Dorfbarfüßer, die wenigstens
die Natur um sich haben, denn es scheint ja doch, als ob hie und da noch,
aus Heide und Waldwiese, ein Lied emporwächst aus alten, alten Wurzeln. —
Unser Stadtasphalt ist ein schlechter Boden dafür, auf solchem Boden ist es
möglich, daß Kinder aufwachsen mit alten Herzen, denen ein Volkslied mit
seiner schlichten Wärme fremder scheint, als wir Glücklicheren uns vorstellen
können — arme Kinder! Von ihnen vor allem möchte ich jetzt sprechen, denn
es ist mir immer klarer geworden, daß der Anfang hier gemacht werden muß,
vielleicht gerade, weil es schwerer Boden ist.
Es ist so still geworden in unseren Häusern. Großstadtbewohner, denen
auf ihrer Loggia sechs Klaviere zu gleicher Zeit den Morgen verschönern, werden
mir nicht beistimmen. Sie müssen mich nur verstehen. Was da gehämmert
wird in unserer „klavierverholzten" Zeit, ist nicht Hausmusik, eher grober Unfug.
Aus der alten, lieben Hausmusik ist „Salonmusik" geworden; sie hat sich sehr
verändert — zu unserem Nachteil. Den Kindern vor allem sollte man sie ans
dem Wege schaffen. Das Klavier hat sich zu breit gemacht. Lauten sollten
wieder ins Haus, Lauten und ihre bescheidene Schwester, die Gitarre. Keine
Begleitung paßt besser zu den lieben, alten Liedern, die uns seit Jahrhunderten
gehören, uns und unseren Kindern.
Solch ein uraltes Singevolk sind wir. So aus den: Innersten heraus
entstanden sind unsere Volkslieder. Das Wesen unseres Volkes ist darin, un¬
verfälscht. Was „deutsch" an uns ist, hat seinen reinsten Niederschlag in ihnen.
Selbst in der Kirche haben wir uns nie von den strengen Regeln einengen
lassen. Die lateinischen Gesänge haben uns nie genügt. In den Kirchen und
bei Bittgängen sang unser Volk deutsche Lieder, lange vor der Reformation.
Dafür haben wir ein frühes Zeugnis. Der Mönch Gottfried, der 1146 in
Begleitung des si. Bernhard am Rhein weilte, schrieb: „Als wir die deutschen
Gegenden verlassen hatten, hörte Euer Gesang ,Christ und genade' auf, und
niemand war da, der zu Gott gesungen hätte. Das romanische Volk hat keine
eigenen Lieder nach Art eurer Landsleute."
Wackernagel*) bringt den Text von 1448 geistlichen Volks- und Kirchen¬
liedern, die ihren Ursprung lange vor der Reformationszeit haben. Das
wunderbare vierzehnte Jahrhundert, diese merkwürdige Zeit, in der der Volks¬
geist so mächtig erstand, wo „jeder Handwerker unbewußt Künstler war", wie
der Herausgeber des Lotheimer Liederbuches (Arnold) sagt, hat die meisten von
ihnen entstehen sehen. Den köstlichen alten Krippenspielen, den Spielen der
Osterzeit, in denen das Volk aus bewegtem Herzen mitsingen konnte, verdanken
wir unendlich viele. „Es ist ein Ros' entsprungen" ist so entstanden. 1599
nennt das Mainzer Cantual es das „alt Trierisch Christliedlein". Die Schlichtheit
und Innigkeit der Weihnachtslieder aus dieser Zeit ist unbegreiflich herrlich.
Sie sind uns fast alle erhalten, viele in der köstlichen Sammlung von Heym
von Themar: „Schöne Christliche Weihnacht oder Kindleswiegen Gesang. Augs¬
burg 1590." Lebendig erhalten hat sich uns fast keins. Wir haben sie in drei
Jahrhunderten vergessen und verloren. Darüber können uns auch die Umdichtungen
nicht trösten, die hier und da entstanden sind und in denen noch ein Hauch der
alten Lieder weht. Nur ein Hauch freilich. Es ist den alten Liedern ja lange
Zeit so gegangen wie Shakespeares Dramen — man sah sie als Freigut an,
das jeder nach Belieben brauchen und an dem er nach Belieben herumflicken
konnte. Mit Ehrfurcht an sie heranzutreten, sie als unantastbares Vermächtnis
anzusehen, soweit sind wir heut noch nicht.
Daß Umdichtungen ins „Neudeutsche" solch ein altes Lied einfach totschlagen,
scheint nicht eingesehen zu werden. Das beweisen einige Publikationen der
letzten Jahre. In solch einem zurechtgedrechselten, schön geordneten, ich möchte
sagen „geplätteten" Volkslied ist nur noch blutwenig von seinem eigentlichen
Wesen. Es sind im besten Fall „Übersetzungen", also Notbehelfe. Unser altes
Deutsch ist so schlicht und schön, daß es nichts schadet, wenn wir wieder etwas
vertrauter mit ihm werden. Es hat seinen eigenen Rhythmus und seine eigenen
Regeln, und im Munde dieser einfachen Sänger wird es zu einer Sprache voll
Beredsamkeit und Kraft, die durch Veränderungen nur verlieren kann. Selbst
seine Derbheit verletzt nicht, sie gehört dazu, es ist etwas Kindliches in ihr,
wie Kinder derb sein können, „in aller Unschuld".
Schon im fünfzehnten Jahrhundert wurde an diesem Volksschatz „ver¬
bessernde" Hand angelegt von Mönchen und Gelehrten. Der Dechant Heinrich
v. Laufenberg zu Freiburg im Breisgau hat viele solcher Umdichtungen hinter¬
lassen. Glücklicherweise sah er seine eigenen Dichtungen nicht alle für schöner
an als die Alten. Zwei der schönsten, die etwa hundert Jahre vor ihm ent¬
standen sind, hat er unverändert in seine Sammlung aufgenommen. „Ich
wolt daz ich do Heime wer" und das wunderschöne „Ich weiß ein lieplich
engelspiel".
Diese beiden schlichten Lieder stehen in großem Gegensatz zu den von ihm
umgedichteten Texten und zu seinen eigenen Dichtungen. Seine Marienlieder, wie:
oder:
sind weit weniger erfreulich, aber immer noch annehmbar im Vergleich zu einigen
seiner weltlichen Gedichte.
So verwachsen war unser Volk mit seinen Liedern, Sie klangen so hinein
in all sein Mühen und Freuen, daß es nicht erstaunlich ist, wenn auch der
Aberglaube sich sein Teil von ihnen nahm. Merkwürdige Kunde haben wir
darüber. Da ist das uralte Lied: „Mytten wir im Leben Spuk mit dem todt
umbfangen". Im Mittelalter entstanden, war es bis ins dreizehnte Jahr¬
hundert hinein ein allgemeines Volkslied. Man sang es in schweren, angst¬
vollen Zeiten, bei Pestgefahr, Meeresnot, Krieg usw. Und ganz allmählich
erwuchs ihm eine finstere Bedeutung, es wurde zur Waffe — das Volk legte
ihm die Wirkung bei, daß es den Gegner töte, wenn man ihn damit „ansinge".
Und im Jahre 1310 mußte das Provinzialkollegium in Köln einen Erlaß ver¬
öffentlichen, der das Absingen dieses Liedes „ohne Erlaubnis gegen irgend¬
welche Personen" verbot*).
Zu allen Zeiten sollte wieder im Hause gesungen werden, aber um Weih¬
nachten herum vor allem. Weihnachten ist selbst für unsere Stadtkinder ein
Fest, an dem sie gern wieder zu Kindern werden — und wie wurde in unserer
Kinderzeit das „um Weihnachten herum" so herrlich lange ausgedehnt!
Wenn am 1. Advent in der Schummerstunde das erste Licht angesteckt
wird, auf einem Brettchen vor der Ecke, wo das Krippenbild hängt und wo
schon frühe Tannenzweige duften — wenn Tag für Tag ein Licht dazu kommt,
bis der Tag erfüllet ist, und Tag für Tag die alten lieben Lieder in der licht-
durchfunkelten Dämmerung erklingen — das ist Weihnachten, das alles und
nicht nur der eine unsagbar schöne Abend, über dein doch die leise Wehmut
liegt, daß er nun „gleich vorbei" ist. Unser liebes deutsches Weihnachten ist
uralt, und zu ihm gehören die alten Lieder, die wir ein bißchen vergessen haben
und die sich doch nicht vergessen lassen wollen.
Da ist das alte Dreikönigslied, das hat seinen eigenen Zauber! Freilich,
der Schnee müßte dazu knirschen, und am langen Stock muß der Stern leuchten —
je prachtvoller, je besser — und der König Kaspar muß sehr grauenhaft schwarz
gemalt sein — aber auch so — auch so:
Dreikönigslieder, prachtvoll erzählende, gibt es noch viele. Da ist dies:
und dies:
In dies sein liebstes Thema hat sich das Volk so recht hinein versenkt,
mit einem prachtvollen Instinkt für das Dramatische, Bildhafte: Da ist z. B. die
alte „Tagweis von den heyligen drey Königen", die in mehreren Handschriften,
in München, in Wien und in Nürnberg erhalten ist:
Die Krippenspiele unterstützten diesen dramatischen Zug, dieses mit beiden
zen in eine Situation Hineinspringen, wie wir es bei den alten Liedern so
oft finden. Da ist z. B. das Lied eines der „Hirten auf dem Felde", wie er
sich in einem alten Weihnachtsspiel einführt und vorstellt:
Von anderer Art, nicht minder schön, sind die eigentlichen Krippenlieder.
Ich kann sie nicht einmal alle nennen hier, es sind zu viele. Eines der schönsten:
„Vom Hymmel hoch, ihr Englein kommt, eya, eya, susani" — ist durch Robert
Kothe mit seiner Laute wieder bekannt geworden, dem wir überhaupt größten
Dank schulden für die Schätze, die er uns wieder lebendig gemacht hat. Noch
so vielen möchte ich die Auferstehung wünschen! Sie sind so still und alt und
andächtig und die Weihnachtskerzen leuchten aus ihnen allen.
Das herrlichste aber ist dies:
Osterlieder, voll schlichter Trauer über das Leiden des lieben Herrn, voll
Herzeleid über sein Sterben, überquellend von Dank für seine Liebe — viele
gibt es, die uns noch heilte lieb und teuer sein müßten. Ein sehr schönes und
sehr altes ist auf einem fliegenden Blatt des Klosters Meil erhalten. Es ist
wie ein Aufschrei.
Es ist der Vorklang zu unserem herrlichen „O Haupt voll Blut und
Wunden". Bei den Oster- wie bei den Weihnachtsspielen kommt das Volk zu
Wort; an tausend feinen menschlichen Zügen, mit denen es die heilige Handlung
ausstattet, erkennt man sein Werk. Von ganzem Herzen fühlte es die Leiden
der Karwoche mit, und der schlichten Erzähler sind viele, die sie uns wieder¬
geben, sei es als Lied, sei es als Text in einem der alten „Mysterien". Müh¬
selige Reime, ein stolperndes Versmas — und doch von eigentümlicher Gewalt —,
denn hier und da bricht des Erzählers Stimme wie in einem Schluchzen, und
sein Schluchzen geht direkt ans Herz. Man glaubt ihm. Er klagt vor sich hin
wie ein Kind, dem Weh geschehen ist, leidvoll und leise.
Nicht nur Weihnachts- und Osterlieder sind einer Auferstehung wert (obgleich
sie nun einmal die schönsten von allen sind). Da ist z. B. ein altes Se. Georgs¬
lied, das Kindern Freude machen muß, wenn Kinder noch ebenso sind wie zu
meiner Zeit. Daß ich es nicht als Kind gekannt habe, ist ein Schmerz, zumal
Se. Jörg der einzige Heilige war, zu dem ich persönliche Beziehungen hatte.
Er hing an der Uhrkette meiner Onkel auf den dicken Reitertalern und ritt
Pferde, die eines Heiligen wert waren. Und er war so schön! „Der heilige
Ritter Se. Görg ritt daher —" das wäre einem als Kind durch und durch
gegangen, und man hätte es nie wieder vergessen.
Nichts können unsere alten Lieder weniger vertragen als eine künstliche
Belebung. Es ist gewiß nicht meine Ansicht, daß sie „galvanisiert" werden
sollen. Man soll keinen „Verein zur Wiederbelebung usw. usw." gründen.
Wenn zwei Deutschen etwas gemeinsam gefällt, gründen sie bekanntlich einen
Verein. Bewahre uns der Himmel. Es gibt einen einfachen, viel sichereren
Weg. Die Mütter sollten ihn gehen. Sie sollten wieder mit ihren Kindern
singen. Das sollte nicht fremden Leuten überlassen werden. Ich kenne Land¬
güter, wo wöchentlich der Herr Lehrer mit seiner Geige unter dem Arm aufs
Schloß kommt, um die Kinder „singen" zu lehren. Sein Fidelbogen jammert
die alten wohl abgeleierten „Volksmelodien" (die keine sind) wie „Heiden-
röslein", „Goldene Abendsonne", „Wohlauf noch getrunken", „Steh ich in
finstrer Mitternacht" herunter, und die ganze „Stunde" ist für die Ohren der
Hausbewohner höchst martervoll. Und zu Weihnachten oder vielleicht an einem
Geburtstag darf ein wohl eingepauktes Lied vorgetragen werden. Es lebt noch eine
Art von Tradition in vielen Häusern, daß die Kinder singen sollten und gewisse
Lieder kennen, aber die Tradition allein nützt nicht viel, wenn ihr Geist nicht
mehr lebt. Er kann auferweckt werden, und das ist das Feld der Mutter —
ein herrliches Feld. Sie hat ihr Privilegium nur vergessen — von niemand
sollte sie es sich rauben lassen!
Gewiß gibt es unmusikalische Mütter, aber sie sind nicht die Regel in
Deutschland. Die meisten jedoch sind musikalisch verbildet. Ihr „Musikunterricht",
jammervoll wie er ist, steht wie eine Mauer zwischen ihnen und ihren Kindern.
Sie können ihn höchstens dazu verwenden, die gehaßten Übestunden zu beauf¬
sichtigen, wenn ihr Kind anfängt, denselben Weg zu gehen wie sie und dasselbe
Musikstroh zu dreschen. Sie wissen gar nicht, wie wunderschön es ist, im
Dämmerlicht mit seinen Kindern zu singen, keine einstudierten „Kinderchöre",
nein, alte schlichte Lieder, die ein Volk mit einem Kinderherzen gedichtet hat
und die noch heute stark und urkräftig sind. Sie würden ihren geraden Weg
in das Kinderherz finden.
Für Mütter, die Lust haben, diesen Weg zu gehen, und keine Lust, selbst
ein wenig zu forschen und zu graben, fehlt noch das Jdealsingebuch. Doch
das läßt sich beschaffen. Eine Überfülle von Material ist da, auch wenn wir
mit äußerster Strenge sichten und keine der Wachsperlen und Tait-Diamanten
der Silcher, Curschmann, Himmel, Hummel usw. durchpassieren lassen, selbst
wenn sie noch so „beliebt" sind. Es kann dem Buch dann leicht geschehen,
daß es zu gut wird, um wirklich populär zu werden, und das Schicksal des
Gesangbüchleins teilt, das Kaspar Melchior Haaß 1566 in Erfurt herausgab
und von dem er klagt: „daß sein Büchlein, so 6 Pfennig kostet, dem Verleger
mehrenteils sei liegen geblieben." (Dafür gehört es heut zu unseren kostbarsten
Schätzen.) Gleichviel, das Buch wird entstehen und wird in unserem alten,
lieben Deutschland seinen Weg finden zu denen, die es lieb haben. Wir sind
ja immer noch das alte Smgevolk — wir haben nur ein bißchen vergessen,
was wir singen sollen und was wir für reiche Leute sind. Unsere Schätze fressen
Schaben und Motten. Wir wissen nichts mehr von ihnen. Mögen sie unseren
Kindern wiedererstehen!
So verschiedengestaltig wie die Systeme
der großen Philosophen ist auch ihr Leben
gewesen. Der eine, Descartes, ist ein fran¬
zösischer Aristokrat, der bald in Paris vom
Lebonstcmmel trunken wird, bald in die
absolute Einsamkeit des Haag in die Welt des
Denkens zurücktaucht. Ein anderer, Spinoza,
fristet in Dürftigkeit sein Leben, jung an der
Schwindsucht dahinwelkend, und doch in der
mathematischen Objektivität seines Vetrachtens
alles Lebens von stillem Glück erfüllt. Ein
dritter, Giordano Bruno, ist ein einstiger
Mönch in dem die Lebensglut der Renaissance
alleKetten des christlichen Mittelalters gesprengt
hat: in ästhetischer Welttrunkenheit durchstürmt
er Italien, Frankreich, England, schreibt laxive
Komödien so gut wie Pantheistische Gottheits¬
hymnen, ist ewig in ruhelosen Drang.
Und dann endlich Kant: ein Denker von
ostpreußischer Ehrsamkeit des Lebens, dem
Handwerkerstande entstammend, und zeitlebens
an die Scholle der väterlichen Provinz nn-
gebannt.
Wir besitzen in der Hauptsache drei grund¬
legende Origiualquellen seines Lebens. Es
sind die Kantbiographien seiner Schüler Jach¬
mann, Borowski, Wasicmski (vor einigen
Jahren in einer Neuausgnbe unter dem Titel
„Immanuel Kant" hg. von Alfons Hoffmann
2,—M.),zu denen nocheineReihevonergänzen-
den Berichten kommen. Merkwürdigerweise sind
dicseQucllen noch niemals zu eincrselbständigen,
abgeschlossenen modernen Biographie des Den¬
kers verarbeitet worden. Nur in den Dar¬
stellungen des Kantischen Systems ist überall
ein Kapitel überfeinen Lebensgang eingeschaltet.
Die fehlende zusammenfassende Durcharbeitung
der Quellen zu einerseParatenBiograPhie ist erst
jetzt geleistet worden: durch die oben genannte
Darstellung Vorländers. Der Verfasser, der
sich in der Kantliteratur bereits einen wohl¬
bewährten Namen erworben hat, rechtfertigt
seinen Ruf auch in dieser neuen Schrift. Sie
gewährt einen umfassenden Einblick in das
Leben des Verfassers der „Kritik der reinen
Vernunft" und zeigt, wie verschieden es auf
den verschiedenen Altersstufen gewesen ist. Die
Schrift ist ein wirkliches wissenschaftliches Ver¬
dienst und ihrer literarischen Form nach geeignet,
auch alle bloße Neugierde über Kants Per¬
sönliches Leben vollauf zu befriedigen.
Der vor
kurzem als ordentlicher Professor nach Jena
berufene Herausgeber der „Kant-Studien",
Bruno Bauch, läßt seit einiger Zeit in der
Sammlung Göschen eine Geschichte der Phi¬
losophie erscheinen, von der jetzt der fünfte
Band vorliegt. Er ist Immanuel Kant ge¬
widmet und fügt damit einen neuen Versuch,
weitere Kreise in Kant einzuführen, zu den
schon vorhandenen. Wir besitzen solcher Ein¬
leitungen eine ganze Reihe. Die wichtigsten
sind die von Simmel, Paulsen, Kronenberg,
Külpe und Chamberlain. Nnnchs Einführung
kommt an Umfang etwa der Külpes gleich.
Sie unterscheidet sich von ihr vor allem durch
den engeren Anschluß des Verfassers selbst an
die Kantische Lehre. Külpe steht relativ weit
von Kant ab, Bauch ist Kantinner strenger
Schule. Dem entspricht, daß er auch in der
eigenen Darstellung nach Möglichkeit vermeidet,
mit Kants Gedanken frei umzugehen, wobei
sie leicht eine Veränderung erfahren. Seine
Darstellung schließt sich vielmehr nach Mög¬
lichkeit eng an Kants eigene an. Wo Kants
Ausdruck selbst die Präziseste Formulierung
seiner Gedanken ist, wird er unmittelbar über¬
nommen, an den dielen Stellen, wo er dunkel
und mißverständlich bleibt, wird der Versuch
gemacht, ihn durch andere deutliche Worte zu
ersetzen. So ist eine Einleitung in die Kan¬
tischen Hauptwerke entstanden, die ein selb¬
ständiges Buch für sich ist und anderseits doch
auch einen sehr guten Führer durch dieselben
darstellt, den der, welcher mit ihnen noch nicht
dnrch längeres Studium vertraut geworden
ist, bei ihrer Lektüre mit Vorteil neben sich
legen wird, (Cohens kleiner Kant-Kommentar
erstreckt sich leider nur auf die Kritik der reinen
Vernunft,) Freilich, die eigentliche» tiefsten
Dunkelheiten bei Kant, jene nicht wenigen
Stellen, wo seine Philosophie Angriffspunkte
bietet, erfahren auch hier keine volle Auf¬
hellung, woraus dein Verfasser kein Borwurf
gemacht werden soll, denn sie lassen eine be¬
friedigende Aufklärung nicht zu.
Das Buch ist trotz seines geringen Um¬
fanges von großer Vollständigkeit,
Der Neu¬
kantianismus hat seinen Höhepunkt überschritten.
Seine Vertreter werden von Jahr zu Jahr
stärker über ihn hinausgetrieben. Der reine
Kantianismus fängt an aufzuhören, „modern"
zu sein. — Das sind die Augenblicke, wo
Philosophische Strömungen beginnen populär
zu werden. Gerade die letzten Jahre haben
denn auch eine Fülle neuer Kantausgaben auf
den Büchermarkt gebracht. Meist waren es
die Hauptwerke der kritischen Epoche des
Denkens, die in oft guten, billigen Ausgaben
verbreitet wurden. Aber auch vorkritische
Schriften aus den Jugendstadien der philo¬
sophischen Entwicklung Kants, sodann seine
Briefe, endlich auch Sammlungen von Aper?us
sind in dieser Weise neu aufgelegt worden.
Die neueste Sammlung nennt sich „Kants
PopuläreSchriften". (Berlin,Verlag von
Georg Reimer. 1911. 417 S, 4M, geb. 5M.)
Sie ist unter Mitwirkung der Kcmtgcsellschaft
veranstaltet worden. Ungefähr die Hälfte des
Bandes gibt Schriften oder Stücke von solchen
aus Kants vvrkritischer Zeit! zwei Abschnitte
aus der „Allgemeinen Naturgeschichte und
Theorie des Himmels", sodann die wesentlich ins
Ästhetisch-Psychologische fallenden „Beobach¬
tungen über das Gefühl des Schönen und
Erhabenen", und die „Träume eines Geister¬
sehers, erläutert durch Träume der Meta¬
physik". Diese Schrift ist eine ungemein
geistreiche, noch heute fesselnde Satire auf den
schwedischen Geisterseher Swedenborg. End¬
lich lernt' der Leser Kant noch als Tröster der
Mutter eines früh verstorbenen jungen Schülers
des Philosophen kennen. Diese relativ frühen
Schriften Kants — sie reichen nur bis in sein
zweiundvierzigstes Lebensjahr — zeigen ihn
als eleganten Schriftsteller, der die großen
Autoren der französischen Aufklärung nicht ohne
Nutzen für seinen eigenen Stil gelesen hat.
Daran schließen sich Schriften und Frag¬
mente solcher aus der kritischen Epoche Kants.
Aus den großen Hauptwerken ist freilich nichts
aufgenommen worden, mit Ausnahme eines
Abschnitts aus der „Grundlegung zur Meta¬
physik der Sitten". Alles andere sind Ueber¬
schriften oder stammt aus solchen. Wir zählen
kurz auf: die geschichtsphilosophischen Abhand¬
lungen „Idee zu einer allgemeinen Geschichte
in weltbürgerlicher Absicht", „Beantwortung
derFrage: Was ist Aufklärung?", denreligivns-
Philosophischen Aufsatz: „Über das Mißlingen
aller philosophischen Versuche in derTheodizee",
die Politisch-Philosophische Schrift „Zum ewigen
Frieden". Dazu kommt noch einiges andere
Interessante, darunter ein, soweit ich sehe,
außerhalb der großen von der preußischen
Akademie der Wissenschaften veranstalteten
Gesamtausgabe der Werke Kants hier zum
erstenmal abgedruckter Brief an eine Frau
Maria von Herbert, die in einer dringlichen
Herzensangelegenheit seinen moralischen Bei¬
rat wünschte. Der Ton, den der Einund-
siebzigjährige anschlägt, ist ein recht herber
und rigoristisch strenger. Es ist zu hoffen,
daß die Briesschreiberin in ihren Ent¬
schlüssen nicht ans die Antwort des Philo¬
sophen gewartet hat, denn es dauerte ein
reichliches halbes Jahr, bis sie kam. Und doch
hatte es in jenem Schreiben bewegt geheißen:
„Großer Kant. Zu dir rufe ich wie ein gläubiger
zu seinen Gott um Hilf, um Trost oder um
Bescheid zum Tod", und auch die kategorische
Drohung war nicht ausgeblieben: „. . . nun
setzen sie sich in meine lag und geben sie mir
tröst oder verdamung, metaphisik der Sitten
hab ich gelesensamtdenKategorischeniniperativ,
hilft mir nichts, meine Vernunft verlast mich
wo ich sie am besten brauch, eine antwort ich
beschwöre dich, oder du kanst nach deinen
aufgeseten imperatif selbst nicht handln." —
Das ist der Inhalt des angezeigten Buches.
Es muß dem Verleger überlassen bleiben, auf
die Frage nach dem Bedürfnis zu antworten.
Daß aus dem eigentlichen philosophischen
Gehalt der kritischen Hauptwerke durch diese
Auswahl populärer Schriften dem Leser recht
wenig vermittelt wird, unterliegtkeinem Zweifel.
Etwas besser steht es freilich milder allgemeinen
Lebensauffassung Kants, seiner praktischen
Geistesrichtung. Nicht zustimmen kann ich jedoch,
daß die Kantgesellschaft dies buchhändlerische
Unternehmen „unterstützt", d. h. es also Wohl
subvenioniert hat. Ich möchte das für eine
allzugroße Munifizenz halten. Für die Verwen¬
dung der, wie es scheint, reichlich vorhandenen
Mittel der Gesellschaft gäbe es wichtigere
Zwecke genug. Ob den Mitgliedern der Kant¬
gesellschaft, denen das Buch sämtlich über¬
reicht worden ist — doch Wohl wiederum auf
Kosten des Gesellschaftsvermögens —, damit
sehr gedient gewesenist? SeinenJnhalt kannten
sie Wohl fast sämtlich. Viel erwünschter wäre
Wohl die Überreichung der neuen Kant¬
biographie Vorländers gewesen.
Durch Armenien, eine Wanderung; und
Der Zug Xenophons bis zum Schwarzen
Meere, eine Militär - geographische Studie.
Von E. v. Hoffmeister, Generalleutnant z. D.
(8 M.) Leipzig, B. G. Teubner.
An Reisewerken leidet die deutsche Literatur
keinen Mangel. Zu den besten aus neuester
Zeit darf dieses Buch gezählt werden. Denn
es bietet nicht nur fesselnde Schilderungen
dessen, was ein hochgebildeter Beobachter mit
offenem Sinn geschaut hat. Es ist ein Werk
auch von erzieherischen Wert. Als ein lebens-
crfahrener Mann, dein ein gütig waltendes
Geschick „vieles zu unternehmen und auch zu
vollenden" beschicken hat, weiß der Verfasser
seiner lebendigen, oft dramatisch bewegten Er¬
zählung manches lebenskluge Wort einzuflechten.
— Ganz besonders die heranwachsenden Jugend
wird für Geist und Gemüt viel daraus ge¬
winnen. Durch Südrußland führt uns der
Verfasser nach Tiflis und Kars, nach der
Nuinenstndt Ani und über Erserum nach dein
Zigana-Paß: wir erleben mit ihm den er¬
hebenden Moment, da er ini Norden einen
dunstig-blauen Streifen erkennt — Thalatta,
das Meerl Exzellenz v. Hoffmeister folgt auf
seinem Wanderwege den Spuren Xenophons
auf seinem berühmten „Rückzug der Zehn¬
tausend". Bis zu den Kurdischen Bergen
(Ende Dezember 401 v. Chr.) hat diesen
Xenophons „Anabasis" so klar geschildert,
daß die neuere Forschung im großen und
ganzen keinen Zweifel mehr hegt. Bezüglich
des weiteren Weges der Griechen teilt v. Hoff¬
meister die sonst geltende Ansicht nicht: er
glaubt, Xenophon sei vom Teleboas über die
Ebene von Erserum nordwärts nach dein
Tale des Harpasos (Chvrvlc Su), dieses auf¬
wärts bis Gymnias (Bciiburt) und von dort
über den Zigana-Paß nach Trapezus mar¬
schiert. Von Dschevizlit aus lernen wir noch
das alte Höhlenkloster Sumela kennen:
„ . . . seit Jahrhunderten hat es keinen Ge¬
danken hineingelassen." Trapezunt baut sich
in glanzvollen Bilde vor uns auf; wir rasten
noch in dem lieblichen Kerasund, von wo der
Feinschmecker Lukullus im Jahre 73 v. Chr.
die Kirsche nach Europa brachte — dann sagt
der beredte Wanderer dein schönen Lande im
fernen Osten Lebewohl, aus dem er in die
Heimat die Erinnerung mitnahm an Schlacht¬
felder, Ruinen und Klöster, um zauberhafte
Nächte, an Blütenduft und Friihlingspracht
des Pontischen Waldes.
„Miscegcimtion." In der Budgetkom¬
mission des Reichstages ist bei der Beratung
des Kolonialetats außerordentlich viel die
Rede gewesen von der „Miscegenation", der
Frage von der Mischehe zwischen Weißen und
Farbigen. Dies Problem, das man in den
Vereinigten Staaten längst in erfolgreicher
Weise erledigt hat — worauf ja auch der
Staatssekretär Dr. Sols besonders hinwies —,
sollte unter allen Umstünden nicht als Partei-
frage aufgefaßt werden. Es nimmt sich für
den Kenner der einschlägigen Verhältnisse, als
welcher ich mich nach mehr als fünfundzwanzig¬
jährigen Aufenthalte in den Südstaaten der
Union wohl ohne Anmaßung bezeichnen darf,
ziemlich seltsam aus, wenn man sieht, wie
Klerikale und Sozialiston in ungewohnter
Einhelligkeit zugunsten solcher Mischehen ein¬
treten, während Liberale und Konservative
„auf der Fenz" sitzen und nur die Regierungs¬
vertreter —allerdings Männer von eingehender
kolonialer Erfahrung — entschieden gegen die
Zulässigkeit offiziell sanktionierter Miscegenation
eintreten.
Es handelt sich hierbei tatsächlich um keine
politische Parteifrage, sondern um eine all¬
gemeine Rassenfrage, bei deren Beurteilung
alle Weißen auf einer Seite stehen müssen,
wenn man nicht erst durch sehr trübe Er¬
fahrungen noch nachträglich zu der Über¬
zeugung gebracht werden will, daß die Vor¬
herrschaft der Weißen nur durch die aller-
strengste Trennung und durch die allerschärfste
Scheidung beider Rassen aufrecht erhalten
werden kann! — überall da, wo Weiße und
Farbige zu fast gleichen Teilen beieinander
wohnen, erst recht aber natürlich da, wo sich
die Weißen in der Minderheit befinden (wie
beispielsweise in den amerikanischen Süd-
staaten Südkarolina, Alabama,Mississippi usw.),
weiß man das schon längst und handelt da¬
nach; denn man ist dort schon seit geraumer
Zeit zu der Einsicht gelangt, daß der furcht¬
baren Gefahr der „Haytisierung" ausschließlich
durch die schroffe Betonung der Rassen¬
trennung vorzubeugen ist.
Mischehen zwischen Farbigen und Weißen
sind in allen Südstaaten der Union bei Strafe
von fünf Jahren Zuchthaus verboten — und
das von Rechts wegenI — Rum beweist aller¬
dings die Tatsache der Mulattengeburten an
sich, daß auch das drakonischeste Gesetz keines¬
wegs imstande ist, jede sexuelle Rcissenver-
mischung zu verhindern. Aber erstens zeigt
die stark zurückgehende Ziffer der Mulatten¬
geburten, daß diese unlizenfierte Vermischung
— eine böse Erbschaft der schlimmen Sklaven¬
halterzeit — in absehbarer Zeit nahezu auf¬
hören wird, zweitens aber beugt das Anti-
miscegenationsgesetz vor allen Dingen der
Bildung gemischtrassiger offiziell anerkannter
Familien vor. Solche Familien aber könnten
— wenn ihr Oberhaupt ein Weißer — be¬
anspruchen, zu den Weißen gezählt zu werden;
durch diese Anerkennung aber würde sofort
die notwendigerweise aufrecht zu erhaltende
Oberherrschaft der Weißen Nassen von vorn¬
herein untergraben werden.
DaS Schlimmste an der Sache ist, daß
die Negerrasse, rein Physisch — oder sagen wir:
animalisch — betrachtet, die stärkere ist. Jede
Vermischung muß also auf die Dauer zur
Stärkung der farbigen Rasse führen. Selbst
aus der Vermischung von Quadronen und
Oktoronen untereinander ergibt sich keine
diesen hellfarbigen Eltern entsprechende hell¬
farbige Generation, sondern es erfolgt einRück¬
schlag zur dunkelfarbigeren Mischlingsform.
Hier in Deutschland gibt es viele zartgesinnte
Menschenfreunde, die es für ein schreiendes
Unrecht halten, wenn die Amerikaner auf
Grund der Hautfarbe Mitgeschöpfe zuMenschen
zweiter Güte stempeln »vollen. Dabei vergißt
man nur, daß es sich gar nicht um die Haut¬
farbe, sondern um die tatsächlich minder¬
wertige Nasse handelt. Wohl führt man
beispielsweise im Staate Texas eine strenge
Trennung der Rassen in den Schulen, Eisen¬
bahnen, Straßenbahnen und Theatern durch,
eine Trennung, welche sich auch auf die fast
Weißen Oktoronen erstreckt; dagegen hat man
nicht das geringste einzuwenden gegen den
Besuch der mexikanischen und sogar halb- oder
ganzindianischen Kinder in den staatlichen
Einheitsschulen der Weißen — auch wenn
diese jungen Azteken usw. noch so kaffeebraun
oder fast schwarz von Gesichtsfarbe sind.
Gehören sie doch auch einer voll anzuerkennen¬
den Herrenrasse an — die Neger und deren
Abkömmlinge aber richti
Der Neger muß freundlich und streng
gerecht behandelt werden, aber in ihm darf
auch nicht einmal die Idee aufkommen, daß
er den Weißen als Gleichwertiger und Gleich¬
berechtigter gegenübersteht. Je eher man das
in den deutschen Kolonien einsieht und je
strenger man demgemäß handelt, desto sicherer
wird man sein, sehr trübe Erfahrungen zu
ersparen, die andernfalls ganz unausbleib¬
Die abgelaufene Woche hat authentische Nachrichten über die Einzelheiten
der Wehrvorlage nicht gebracht. Nach wie vor ist man auf die Mitteilungen
der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 23. März angewiesen. Diese
haben einerseits die öffentliche Erörterung der zur Verstärkung unserer Wehr¬
macht geplanten Maßnahmen der Neichsregierung in Fluß gebracht, sind aber
anderseits zu unbestimmt und lückenhaft gehalten, um ein klares Bild dessen
zu bieten, was eigentlich gefordert wird, vor allem, um erkennen zu können,
welchen Weg man an leitender Stelle planmäßig zu nehmen beabsichtigt, damit
die Kriegsbereitschaft des Heeres auf den seiner Zweckbestimmung entsprechenden
Grad der Vervollkommnung gebracht wird.
Ob es zweckmäßig war, bei der vorläufig allgemein orientierender halb¬
amtlichen Veröffentlichung von einer Darlegung der leitenden großen Gesichts¬
punkte des beabsichtigten Organisationswerkes abzusehen, ist zu bezweifeln.
Denn wie die Sache jetzt liegt, stehen den uferlosen Forderungen des Wehr¬
vereines die Stimmen derer gegenüber, die unter Berufung auf die seitens der
Regierung abgegebenen Erklärungen gelegentlich der Beratung des Qninquennats-
gesetzes behaupten, zu einer weitgehenden Heeresverstärkung bestehe kein erkenn¬
barer Anlaß. Diese ablehnenden Stimmen finden in der breiten Masse um so
mehr Beifall, als noch keine Klarheit über die Lösung der Deckungsfrage besteht.
Die Befürchtung, es möchte letzten Endes eine neuerliche Belastung mit Steuern
auf Konsumgüter der Allgemeinheit Platz greisen, beherrscht weite Kreise und
wirkt um so ungünstiger angesichts der fortdauernden Teuerung. Was aber
das Schlimmste ist: es fehlt an Vertrauen der Regierten zu den Regierenden.
Die immer breiter klaffende Kluft zwischen Hoch und Niedrig, zwischen den
Gebildeten und Besitzenden einerseits und der großen Masse des Volkes ander¬
seits, der in erschreckenden! Maße sich steigernde Klassengeist und Klassenhaß
machen selbst Fragen von solch schwerwiegender Bedeutung wie jene der pater-
ländischen Wehrmacht, zu einem Gegenstand bitterer und zersetzender Kämpfe.
Man ist in den sogenannten leitenden.Kreisen, die in Politik und Leben den
Ton angeben, nur allzu weit entfernt von dem Gedanken, daß Führen nicht
gleichbedeutend ist mit Kommandierer. Man hat sich in jenen Kreisen trotz
aller Mahnungen ernster und besonnener Männer, trotz aller bedenklichen Zeichen
der Zeit bis heute noch nicht zu der Erkenntnis durchgerungen, daß man Opfer
nur auf Grund tiefwurzelnden Vertrauens erlangen kann. Und Opfer bedeutet
nun einmal unsere Kriegsrüstung. Das leugnen zu wollen, ist stunlos. Wie
soll aber das „Volk" selbstlose Opferwilligkeit besitzen, wenn ihm die nach
Bildung und Besitz zur Führerschaft Berufenen so vielfache Beweise eigener
„Drückebergerei" vor Opfern liefern, die ihnen aus nationaler und sozialer Pflicht
zufallen?
Um Vertrauen zu erzeugen, bedarf es des ragenden Beispiels. Erst
dann kann wirksam werden, was weiterhin bei uns fehlt: die sachliche Be¬
lehrung. Gerade inbezug auf Heeresfragen ist diese von einer nicht zu
unterschätzenden Bedeutung. Der um die Jahresweude erschienene Aufruf des
Deutschen Wehrvereins hat in durchaus zutreffender Weise darauf hingewiesen,
„daß gerade in Deutschland selbst in Kreisen, wo man das für unmöglich halten
sollte, eine erstaunliche Unkenntnis über eigene sowie fremde Wehrangelegenheiten
besteht, die Parlamentskreise nicht ausgenommen." Diese Feststellung muß logischer¬
weise zu der Forderung weitumfassender Aufklärung aller Kreise des Volkes über
Wehrangelegenheiten führen, nämlich über Zweck und Grundlagen des Heeres, über
seine Notwendigkeit im Interesse der Gesamtheit wie jedes einzelnen, über die
Bedingungen des Heerwesens zur Erreichung seiner Aufgaben als Organ der
Staatsmacht, schließlich über seine Beziehungen zum Dasein des gesamten Volkes, in
kultureller, sozialer und ökonomischer Hinsicht. Erst wenn diese Grundlage
durch eine „staatsbürgerliche Heereskunde" gelegt ist, kann Erfolg erwartet
werden von Bestrebungen, wie sie der Deutsche Wehrverein verfolgt. Daß
jene Grundlage heute fehlt, wird kaum von irgend einer Seite bestritten werden.
Die Ursache liegt darin, daß die Schule in dieser Hinsicht bisher völlig passiv
geblieben ist und daß, abgesehen von den Unwürdigen, Untauglichen und aus
sozialen Gründen Befreiten, auch von den Tauglichen ungefähr ein Drittel
nicht zur Ableistung der gesetzlichen Wehrpflicht herangezogen wird und infolge¬
dessen gar kein persönliches Interesse an den Wehrangelegenheiten nimmt.
Wem aber nicht durch staatsbürgerliche Heereskunde das Verständnis sür
Wesen, Zweck und Notwendigkeit einer starken Wehrmacht zu Lande grund¬
legend zu eigen geworden ist, den wird man kaum überzeugen können von „der
zwingenden Notwendigkeit, den Ausbau unseres Heeres nach verschiedenen
Richtungen hin zu beschleunigen, seine innere Tüchtigkeit zu heben und seine
Kriegsbrauchbarkeit auf einen möglichst hohen Stand 'zu bringen".
Die mangelnde staatsbürgerliche Bildung und Erziehung unseres Volkes
hat auf politischen: Gebiete dazu geführt, daß sich Millionen heute ein ganz
unzutreffendes Bild vom Staate, von seinem Wesen, Wert und Walten machen
und, irregeleitet von utopistischen Zukunftsidealen, dem eigenen Vaterlande fremd,
vielfach feindselig gegenüberstehen. So führt der Umstand, daß das Ver¬
ständnis des Heerwesens sich noch nicht auf die Höhe der allgemeinen Bildung
erhebt und in seinen großen und für Staat und Volk entscheidenden Momenten
noch nicht in das Bewußtsein des Volkes eingeführt ist, dazu, daß Auf¬
fassungen des Vorwärts wie jene über den „strategischen Grund der ins
Ungemessene steigenden Heeresreformen" auch über den Leserkreis dieses
radikalen Blattes hinaus Beachtung finden.
Man kann wohl behaupten, daß einer günstigen Aufnahme der Heeres¬
vorlage recht wenig Boden im Volke bereitet ist. Die Absichten der Reichs¬
regierung zugleich mit den bisherigen allgemeinen Mitteilungen über die nächst¬
liegenden Forderungen großzügig darzulegen, wäre sehr wünschenswert gewesen,
schon um deswillen, weil mit der gegenwärtigen Heeresvorlage die Reform
doch nicht abschließen, sondern erst beginnen kann, weil es sich serner nicht um
Schließung einiger Lücken, um Flickwerk handeln darf, sondern ganze Arbeit
bedeuten muß. Nicht in dem Sinne, daß die finanziellen Anforderungen ge¬
steigert werden müßten. Was jetzt zur Ausführung kommen soll, wird abhängen
von der Lösung der Deckungsfrage. Aber darum muß es. sich handeln, was
und wie an unserem Heerwesen reorganisiert und reformiert werden soll.
Von der Infanterie war schon in Ur. 13, S. 641 die Rede. Bei der Kavallerie
handelt es sich vor allem um die Frage, ob bereits im Frieden Kavallerie-Divisionen
geschaffen werden sollen. Frankreich besitzt solche, und zwar stehen ihrer mehrere
an der Westgrenze, zweifellos mit der Bestimmung, in: Falle eines Krieges
sofort in Deutschland einzufallen und hier durch umfangreiche Zerstörungen an
wichtigen Verkehrslinien unsern: Aufmarsch und unseren Operationen Hemmnisse
zu bereiten, zugleich aber durch leicht errungene Erfolge den kriegerischen Elan
des französischen Volkes zu entflammen. Auch auf deutscher Seite stehen zahl¬
reiche Kavallerieregimenter längs der Grenze. Sie sind aber nicht bereits im
Frieden in selbständige Kavalleriekörper zusammengeschlossen, sondern unterstehen
in Brigadeverbändcn den Armeekorps. Es kann hier nicht auf die fachwissen¬
schaftlich seit langem eingehend erörterte Frage im allgemeinen eingegangen
werden. Die deutsche Heeresleitung vertritt mit dem General der Kavallerie
von Bernhard: die Auffassung, daß die Kavallerie aus Gründen der Ausbildung
für ihre Gesamtausgaben im Frieden zweckmäßiger im Korpsverbande steht.
Die vier Kavallerieinspektionen (Posen, Stettin, Straßburg i. E. und Saar¬
brücken) können als Grundstock von Kavalleriedivisionen gelten, die im Mobil¬
machungsfalle zu formieren sind. Nur fehlt ihnen ein wichtiges Organ, der General¬
stab. Ihnen diese Ergänzung schon im Frieden zu geben, erscheint dringlicher
als die Errichtung einer siebenten Armeeinspektion. Übrigens noch eins: wir
haben bereits eine Kavalleriedivision im Frieden, nämlich beim Gardekorps. Es steht
nicht im Einklang mit den bei Ausbruch eines Krieges für die Heereskavallerie
erwachsenden Aufgaben, daß der einzige große Kavalleriekörper fern der Grenze
mitten im Reiche garnisoniert. Die Verlegung der Gardekavalleriediviston nach
der Westgrenze ist aus Gründen der Kriegsbereitschaft dringend geboten.
Für die beiden neu aufzustellenden Armeekorps sind, um sie organisatorisch
den bereits bestehenden gleichwertig zu machen, fünf Regimenter nötig. Jedes
Korps bedarf deren vier; drei sind bereits überzählig vorhanden: eines bei der
11. Kavalleriebrigade, zwei bei der 35. Division (41. Kavalleriebrigade). Der
Regierungsvorschlag enthält nur ein Regiment zu fünf Schwadronen. Das
bedeutet für den Mobilmachungsfall die Neuaufstellung vou vier kompletten
Regimentern. Ist es schon bei der Infanterie mißlich, Regimenter von 8 auf
12 Kompagnien umstellen zu müssen (vgl. Ur. 13, Seite 642/643), so mich
es noch weit ungünstiger für die Kriegsbereitschaft bezeichnet werden, wenn
ganze Kavallerieregimenter, für die erste Linie bestimmt, der Neubildung im
Augenblick des Ernstfalles vorbehalten bleiben sollen. Welches Zerreißen
bestehender, festgefügter Verbände, welch einschneidende Veränderungen in der
Stellenbesetzung bedeutet dies! Führer, Mannschaft, Pferde — alles aus ver¬
schiedenen Truppenteilen zusammengestoppelt, nicht zusammengeschult! Formiert
man die Korps — und das ist ein dringendes Erfordernis —, so muß man
auch die zugehörige Kavallerie formieren. Es brauchen ja nicht gleich fünf
Vollregimenter zu sein. Aber die Brigadekommandos und Regimentskommandos
nebst den Katers für die im Mobilmachungsfalle zu bildenden Schwadronen
müssen aufgestellt werden, am besten wohl in der Weise, daß man vou bereits
bestehenden Regimentern die fünften Schwadronen abtrennt und zunächst eine
größere Anzahl von Regimentern zu je vier Eskadrons schafft, die innerhalb
eines bemessenen Zeitraums auf volle Stärke ergänzt werden.
Für die Feldartillerie sind die normalmäßig zur Organisation eines Korps
gehörigen Verbände durch die Wehrvorlage vorgesehen. Was die Etatserhöhungen
betrifft, so ist nicht bekannt, ob auch eine Mehrung des Pferdebestandes mit-
inbegriffen ist, um einen Fortschritt in der Batteriebespannung im Frieden zu
erzielen. Sowohl in: Interesse der Friedensausbildung wie hinsichtlich erleichterten
Überganges auf den Kriegsfuß muß solches dringend gewünscht werden. Sehr
zu erwägen wäre die von autoritativer Seite angeregte Ausstattung sämtlicher
leichter Haubitzabteilungen mit Batterien zu vier Geschützen. Es würde sich
hierdurch eine äußerst günstige und nie wiederkehrende Gelegenheit für die Feld¬
artillerie ergeben, aus allen Nöten inbezug auf Mangel an Offizieren und
berittenen Unteroffizieren für die Aufklärung. Erkundung, Befehlsgebung und
Verbindung und inbezug auf Mangel an Reit- und Zugpferden mit einem
Schlage herauszukommen. Allerdings besäße das deutsche Armeekorps bei Durch¬
führung jenes Vorschlages (vgl. Neue Militärische Blätter 1911 Ur. 19
Seite 306 ff.) nur 120 statt 144 Geschütze. Aber demgegenüber sei hier nur
kurz bemerkt, daß dieses Verhältnis jenem der Infanterie im Korpsverbande
besser entspräche, und daß die Franzosen unter ihren 144 Geschützen pro Armee-
korps ebenfalls nur 120 wirklich vollwertig bediente und bespannte besitzen.
(Näheres möge aus dein zitierten Artikel in den N. M. Bl. ersehen werden.)
Ein Gebiet wird von der Wehrvorlage anscheinend gar nicht berührt,
obgleich es mindestens ebenso sehr einer durchgreifenden Reform bedürftig ist
als die organisatorische Gliederung der fechtenden Truppen: die Heeresverwaltung.
„Auch ich bin davon überzeugt, daß Vereinfachungen wie Reformen in unserer
Heeresverwaltung nötig sind". An diesen Ausspruch des preußischen Kriegs¬
ministers in der Reichstagssitzung vom 30. Januar 1911 sei hier schließlich die
Mahnung geknüpft, mit jenen Reformen ehestens planmäßig zu beginnen. nam¬
hafte Geschäftserleichterung und finanzielle Ersparnis im Frieden, insbesondere
aber bessere, der Lösung der vielseitigen und schwierigen Kriegsaufgabeu —
insonderheit des Problems der Verpflegung des Feldheeres — zweckmäßiger
angepaßte Organisation des gesamten Verwaltungsapparates kann und muß das
Ziel der Reform sein. Auch hier darf es sich nicht um Flink- und Stückwerk
handeln. Es muß ganze Arbeit getan werden: Aufstellung eines großzügigen,
einheitlich gestalteten Reformplanes und Festlegung seiner systematischen Durch¬
führung innerhalb einer bemessenen Zeitspanne. In enger Verbindung mit
diesem Bedürfnis steht die Lösung der Frage der Trainorganisation. Näher
darauf einzugehen wird bei anderer Gelegenheit möglich sein.
Für die Erörterung der Wehrvorlage in Presse und Volksvertretung möge
aber der Wunsch Erfüllung finden: Sachlichkeit auch gegenüber abweichender
Meinung! Möge es uns erspart bleiben, vor unseren Nachbarn und vor denen,
die unsere Zeit einst als „Geschichte" kennen lernen, erröten zu müssen, weil
selbst in solchen Fragen der gemeinsamen Lebensinteressen Egoismus, Klassen¬
hochmut und Klassenhaß ungezügelt sich geltend machten!
Die Beilegung des Bergarbeiterstreiks hat das Signal zu einer fast stür¬
mischen Aufwärtsbewegung an der Börse gegeben. Keinerlei Erwägungen
waren imstande, die plötzlich aufflammende Unternehmungslust zu zügeln. Mochte
die Flottenrede Churchills einiges Unbehagen wecken, weil sie die Hoffnungen
auf eine englisch-deutsche Verständigung nicht zu fördern geeignet war, mochten
die deutschen Wehrvorlagen das Gefühl von der Unsicherheit der politischen Weltlage
aufs neue verstärken — dies alles konnte den Umschwung der Stimmung ebenso
wenig dämpfen als die unbefriedigende Lage des Geldmarktes und die Nähe
des Ultimo. Alle Bedenken, die monatelang einen solchen Druck auf die Stimmung
ausgeübt hatten, waren im Nu verflogen — am Barometer des Kurszettels
gemessen, mußte das herrlichste Börsenwetter herrschen. Und doch kann dem
aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, daß in dieser Bewegung viel Selbst¬
täuschung mit unterläuft. Anfänglich gab den Anstoß nur die börsentechnische
Situation: die Kontermine war stark engagiert; die Deckungskäufe, zu denen sie
bei dem unvermuteten Abbruch des Bergarbeiterstreiks schritt, gaben den ersten
Anlaß zu einer Aufwärtsbewegung der Kurse. Das Tempo, welches die letztere
einschlug, ließ aber deutlich erkennen, wie willkommen der Spekulation der
Tendenzumschlag war und mit welcher Begierde man danach strebte, die
Situation auszunutzen — vielleicht gerade, weil ein letzter Nest von Unsicherheit
im Grunde bestehen blieb. Es wäre freilich zu weit gegangen, wollte man der
augenblicklichen Börsenkonstellation jede Berechtigung absprechen. Der Optimismus
saugte seine Kraft aus der Zuversicht, daß die Wirtschaftskonjunktur sich
auf ansteigendem Wege befinde. Diese Überzeugung hat im Grunde immer
bestanden; sie war aber durch die bedenklichen Begleiterscheinungen des ersten
Quartals stark zurückgedrängt worden. Nun gaben ihr Äußerungen bedeutender
Industriekapitäne und Bankleiter, die nicht etwa gelegentlich getan, sondern als
wohlüberlegte programmatische Erklärungen in den Generalversammlungen der
Öffentlichkeit übermittelt wurden, neue Nahrung. Soll man daran zweifeln,
daß die Grundlage unseres Wirtschaftslebens gesund ist, wenn Männer wie
Ballin und Kirdorf erklären, daß die Industrie sich in einer Hochkonjunktur
befinde, und wenn die gleiche Zuversicht vou deu Leitern der Großbanken
bekundet wird?
Zeigt doch auch die Entwicklung der Dinge in Amerika, daß dort ein
unverkennbarer Aufschwung eingesetzt hat, der seinen Ausgangspunkt von der
Besserung der Metallmärkte, insbesondere des Kupfermarktes nimmt. Der
Preis des roten Metalls ist im raschen Ansteigen begriffen; die Weltvorräte
sind stark gelichtet, und der Verbrauch wächst augenblicklich anscheinend noch
stärker als die Produktion. Aber dieser starke Einfluß des Kupfermarktes auf
die Tendenz und die Beurteilung der Konjunktur ruft die fatale Erinnerung
an die Jahre 1906 und 1907 wach. Auch damals war es die Kupferhausse,
die den Schlußstein im Gebäude der Hochkonjunktur bildete. In rapiden
Ansteigen wurde damals der Kupferpreis bis auf annähernd 120 Pfund Sterling
pro Tonne getrieben, und im Zusammenhang damit entfaltete sich eine zügel¬
lose Spekulation in Kupferaktien. Der Fall der großen Kupferfirma Heintze
in Neu' Bork gab dann das Signal zum allgemeinen Zusammenbruch: es trat
plötzlich zutage, welche enormen Vorräte aufgespeichert waren, wie man mit
falschen Statistiker die Öffentlichkeit getäuscht hatte, und wie hohl der Boden war,
auf dein ein solches Spekulationsgebäude sich auftürmte. Solche Erinnerungen
zur rechten Zeit vermögen recht heilsam zu wirken. Noch sind wir ja freilich
weit von ähnlichen Preisausschreilungcn entfernt; aber steht der Kupferpreis auch
erst auf 70 Pfund, so ist doch die Aufwärtsbewegung der letzten Wochen eine
beängstigend schnelle. Es fällt schwer zu glauben, daß sie nur auf gesunden
und nicht spekulativen Ursachen beruhen sollte.
Auch sonst fehlt es nicht an Parallelen zu der letzten Hochkonjnnktur-
periode. Der Vorwurf der Kreditüberspannung, welchen der Reichsbankpräsident
gegen unsere Bankwelt erhoben hat, wird durch einige Aufsehen errregende Vor¬
kommnisse in Helles Licht gerückt. Bei dem Zusammenbruch der Jmmobolien-
firma Mosler u. Wersche zeigt sich, daß fast sämtliche Großbanken mit Millionen¬
krediten beteiligt sind. Selbstverständlich hat keine einzige einen Überblick über
die Gesamtcngagements der Firma bei anderen Banken gehabt, sonst wäre
eine solche Überfütterung mit Kredit gegen eine Unterlage in zweitstelligen
Hypotheken undenkbar. Die gleiche Erscheinung zeigt sich bei dem Fall eines
rheinischen Industriellen, der an verschiedenen Stellen Millionenkredite in An¬
spruch zu nehmen verstanden hat. Vielleicht mag dem letzteren Vorkommnis
eine symptomatische Bedeutung nicht beiwohnen, weil eine Täuschung der Kredit¬
geber mit im Spiel gewesen sein mag. Um so mehr verdient der Fall Mosler u.
Wersche die öffentliche Beachtung, weil er erkennen läßt, in wie hohen: Maße
die Banken die ungesunden Verhältnisse des Berliner Jmmobolienmarktes
mit verschuldet haben. Die Dinge treiben hier ganz offensichtlich einer Krisis
zu. Die an sich lobenswerte Praxis der Krediteinschränkungen, deren Opfer
auch jene Firma geworden ist, wird, wenn zur Unzeit durchgeführt, noch gar
manchen den gleichen Weg gehen lassen.
Solche Befürchtungen sind um so naheliegender, je unbefriedigender die
Lage des Geldmarktes ist, je länger die ganz auffallende Zinsanspannung an¬
dauert. Die Hoffnung auf eine Ermäßigung des Bankdiskonts im zweiten
Quartal muß heute schon beiseite gelegt werden. Die Reichsbank ist weit
davon entfernt, durch eine Politik der Zinsermüßigung der spekulativen
Unternehmungslust auf allen Gebieten neue Nahrung zu geben. Es gilt,
sich auf einen fünfprozentigen Zinsfuß für die Dauer einzurichten. Jeden¬
falls ist es, soweit sich die Situation heute übersehen läßt, sehr unwahr¬
scheinlich, daß die Sommermonate noch eine Zinsermäßigung bringen werden,
die in: Herbst dann schon wieder von einer abermaligen Erhöhung abgelöst
werden müßte. Zweifelsohne ist auch, soweit es die internationalen Geld¬
verhältnisse gestatten, die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zinsfußes richtig
und im wohlverstandenen Interesse der Volkswirtschaft. Nur eine solche —
immer noch in mäßigen Grenzen sich haltende — Versteuerung des Kredits
kann uns davor schützen, alsbald wieder einer Katastrophe entgegenzutreiben.
Die Inanspruchnahme der Reichsbank am Quartalstermin läßt sich im Augen¬
blick noch nicht übersehen; sie ist aber zweifellos eine recht bedeutende gewesen
und wird wohl eine Nekordzifser ergeben. Der Ultimogeldsatz hat den un¬
gewöhnlich hohen Stand von 7 Prozent erreicht. Dieser verlockende Zinssatz
hat zwar ausländisches Kapital zu uns über die Grenze geführt, doch hindert
die Anspannung am Londoner Geldmarkt, daß diese Zuflüsse größeren Umfang
gewinnen. Der Bergarbeiterstreik in England dauert nun nahezu schon fünf
Wochen; über vierzig Millionen Mark haben die Gewerkschaften bereits an Unter-
stützungsgeldern ausgezahlt. Aber obwohl sie nunmehr bald am Ende ihrer Mittel
sind, hat doch weder diese Tatsache noch die Annahme der Mindestlohnbill
die Arbeiter bisher zu einem Nachgeben bewogen. Der deutschen Kohlenindustrie
kommt diese lange Dauer der Ausstandsbewegung nach Beendigung des Streiks
im eigenen Lager sehr gelegen. Sie wird jetzt alle Kräfte daran setzen, ihr
Absatzgebiet auf Kosten des englischen Konkurrenten zu erweitern.
In der Elektrizitätsindustrie macht die Monopolbildung gewaltige Fort¬
schritte. Neben den beiden großen Konzernen, der A.E.G. und Siemers-Schuckert
bestand bisher nur ein Außenseiter und gefährlicher Konkurrent in der Bergmanu¬
gesellschaft. Diese war durch kräftige Unterstützung ihrer Banken zu einer
erstaunlich raschen Ausdehnung und Entwicklung gelangt. Trotz aller Kapital¬
vermehrung war bei solcher Expansion der Geldbedarf ein ungeheurer, und die
von der Gesellschaft beanspruchten Bankkredite waren gewaltig. Jetzt wird der bisher
so trefflich prosperierenden Gesellschaft einfach das Lebenslicht ausgeblasen, weil
die Banken es für richtiger finden, für die Deckung des Kapitalbedarfs nicht
weiter zu sorgen, sondern die Gesellschaft der kapitalkräftigen Konkurrenz in die
Hände zu spielen. Siemers-Schuckert wird das neue Aktienkapital über¬
nehmen; mit der Selbständigkeit der Gesellschaft ist es vorbei. A.E.G.
und Siemers-Schuckert beherrschen fortan unbeschränkt den Markt. Was das
heißt, kann man sich vergegenwärtigen, wenn man sich daran erinnert, daß die
bevorstehende Elektrisierung der Berliner Stadtbahn der Elektrizitätsindustrie
Aufträge in Höhe von einer halben Milliarde zuführt. Der Staat ist jetzt ohne
Widerrede diesen beiden Monopolfirmen ausgeliefert, die in der Tat schlechte
Kaufleute sein müßten, wenn sie nicht den Weg der Verständigung dem Kampf
vorzögen. Es wäre vielleicht richtig gewesen, wenn der Staat durch eine eigene
Beteiligung — analog dein Aktienerwerb bei der Hibernia und der Rhein- und
Seeschiffahrtgesellschaft — sich gegen das Privatmonopol zur Wehr gesetzt hätte.
Stehen hier doch nicht nur seine eigenen, sondern in weitesten Umfange die
Interessen der Kommunen und der Allgemeinheit in Frage. Ein solches Eingreifen
ist leider versäumt worden; es hätte bei der Plötzlichkeit, mit der die Frage
austauchte, wohl auch einer Schnelligkeit des Entschlusses bedurft, die von staat¬
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„^11»- aaä „lloxluu" Kiioneo in j»>l«r In >>or Ausübe xotraxeo peril»».
veber»» «rbliltlied. Ilatslox» xratl» »mal kranko.
kli^VM. lz.in.b.11.. »ernst ttlez)
urit»te uiill leizlimgttilliigzll! kSIIlM-ZMig>thun>l ri» Hoiitiiientz.
IZs sima verscbieäene üinlicli lautenclc minlierwerti^o I^eeb-
»bmunxen im rlancisl, nahten Sie ciaber sui ille jec>>»in rlslter eingebrannte
iVlsrKe „Xlio", L. lieiserts ?»teut, del-«. „liexina", ges. gesell.
Linlx« ^norkenniinx«»! rlerr Kisch, ^hater KiecbvvareniabriK
Kisch S: Lo., ^iials s, sekreidt: lau clieser ?2Ac ihre Inserat«
I»», vurile lau daran erinnert, dass ick in«!»«» »tetixvn prounck, vvelcben lou ständig in der ^ahnte
bade, »an bereit» S d>« S ^»dro befiel«. leb xsdrauelie meinen „K»o"-?i>»>v<torda»i!r taxtlixücb, uni ist
mir aerselbs ein treuer Loxlsiler u»^ lieber r^rounii xevorden. leb vör irüiier im Nesilne eines anderen
Systems, jedoch bade ich schon ISnMt die Vorteil- Ihres Systems er>lammt uso. uso."
Herr Dr. veiebmann, I-vom-^votbeKe in l,cer, »clireibl: „Seit mehrere» Satiren xebrauclie ich
sttndix Irren „Kexin>>"-f'üIlkellerbAlter, und drängt es mich, liinon mitzuteilen, dass ich mit dem Halter
äurcbou» -okrleckoa bin und ich nur jedem emplebien Kann, bei ^nscbalkung eines I^üillsderiiaiters »n
IKr System in denken. Der rialter arbeitet noch deute, llaed ?Ier ^»treu, ebenso vie um ersten ?axe,
polli 6»» beste Teichen liir <Ile Oude Inres I^abrikAies."
rbeiterbewegungen im Kohlenbergbau erschüttern die Volkswirtschaft
deswegen so stark, weil ohne Kohlen Hunderttausende von gewerb¬
lichen Arbeitsstätten geschlossen werden müssen, und weil ohne
Kohlen der Verkehr sich wieder ans die primitiven Formen der
Postkutsche zurückentwickeln muß. Ein internationaler Kohlen¬
arbeiterstreik mit voller Wirksamkeit müßte die internationale Arbeitsstockung zur
Folge haben, jedenfalls den größten Teil der gewerblichen Arbeit stillegen, denn
mit alten Zeitungen und Stuhlbeinen kann man nur sehr kurze Zeit die Dampf¬
kessel heizen. Darum ergreift auch kein Niesenstreik, sei es etwa in der Metall¬
industrie oder im Verkehrsgewerbe, so tiefgehend die öffentliche Meinung wie
ein Kohleuarbeiterausstcmd im Ruhrrevier. Von dort, aus dem Oberbergamts¬
bezirk Dortmund, erhalten wir 58 Prozent der deutschen Stemkohlenförderuug.
Bleibt der Aufstand nicht isoliert, mischen sich auch noch zwischenstaatliche Ten¬
denzen ins Spiel, dann ist eine volkswirtschaftliche Katastrophe nahe, die keinen
Mitlebenden unberührt läßt und jedem auch ein vorschauendes Interesse abnötigt.
Seit 1905 hatten wir, von kleinen partiellen Erhebungen und Lohn¬
forderungen abgesehen, keine große Bergarbeiterbewegung mehr gehabt. Damals
waren Zechenstillegungen. Arbeiterentlassungen, Arbeitszeitverlängerung, Wagen-
nnllen und Lohnstreitigkeiten die Gründe der Unzufriedenheit; und die öffent¬
liche Meinung stand so sehr aus selten der 270000 Streitenden, daß manche
Stadtverwaltung, der evangelisch-soziale Kongreß u. a. öffentlich für sie sammelten
und der Erzbischof von Köln den christlichen Gewerkschaften 1000 Mark spendete.
Der Streik von 1905, an dem alle Verbände der Bergarbeiter beteiligt waren,
der wohl über 9V Prozent der Belegschaften erfaßte, hatte etwas länger als
drei Wochen gedauert; bis zum Schluß waren die Zechenverwaltungen der
schärfsten Kritik ausgesetzt, und die Arbeiterschaft war trotz Kontraktbruch und
Ausschreitungen gegen Arbeitswillige der Gegenstand der lebhaften Sympathien
des Publikums gewesen. Das ist diesmal völlig anders verlaufen. Der Streik
von 1912 dauerte vom 10. März bis zum 19. März; von Anfang an machte
ein beträchtlicher Teil der Organisierten, nämlich die Christlichen und die nationalen,
nicht mit, und die Sympathie im bürgerlichen Lager beschränkte sich auf demo¬
kratische und freisinnige Kreise, die dem in den Streik verwickelten Hirsch-
Dunckerschen Verband zu sekundieren sich verpflichtet fühlten. Gewiß waren
auch diesmal wirtschaftliche Forderungen gestellt worden, aber es herrschte doch
bei Unbefangenen die Meinung vor, daß nicht diese Forderungen, sondern die
Machtpolitik des Alten Verbandes, daß sozialistische und internationale Fragen
diesmal den Ausschlag gegeben haben. Und gerade das hat den schnellen
moralischen und tatsächlichen Zusammenbruch des Lohnkampfes in acht Tagen
herbeigeführt, des Lohnkampfes, an dem auch während der höchsten Entwicklung
nicht mehr als 60 Prozent der vorhandenen 350000 Arbeiter beteiligt waren.
Die Wandlung der öffentlichen Meinung kann kaum zurückgeführt werden auf
ein größeres Verständnis des Publikums für die heutige Arbeiterbewegung und
ihre Schwächen an sich, sondern sie ist im wesentlichen daraus zu erklären, daß
die Arbeitgeber seit Jahren straff organisiert sind, daß die Gewerkschaften uneinig
waren, daß es an zureichenden Gründen für einen verschärften Konflikt mangelte,
daß die Zechenverwaltungen über einen vortrefflichen Aufklärungsdienst verfügten,
und daß auch nur die Möglichkeit eines Sympathiestreiks zugunsten der eng¬
lischen Bergarbeiter die Sache bei uns unvolkstümlich machen mußte. Außerdem
fehlten in den Forderungen der streikenden Bergarbeiter die packenden Momente
des Jahres 1905: Wagennullen und Zechenstillegung. Gegenüber den heurigen
zehn Beschwerdepunkten gelang es dem Zechenverbande verhältnismäßig leicht
nachzuweisen, daß darum eine Zerrüttung unseres industriellen Lebens nicht
riskiert werden dürfe, zumal da bei dem wichtigsten Punkte, bei der Lohnfrage,
längst vor dem Streik der Zechenverband bedeutende Verbesserungen gewährt
und weitere in Aussicht gestellt hatte.
Die Forderungen, die von den drei Verbänden, dem Alten Verband, der
Polnischen Berufsvereinigung und dem Hirsch-Dunckerschen Gewerkverein, auf¬
gestellt waren, zielten ab auf 15prozentige Lohnerhöhung für alle Arbeiter/ auf
Änderung der Lohnzahlungstermine, auf Verkürzung der Arbeitszeit, ans
Einschränkung der Überschichten, aus das Wohnwesen, auf paritätischen Arbeits¬
nachweis, Abänderung der Strafen, paritätische Schiedsgerichte und Gewährung
von alkoholfreien Getränken. Man hat den Eindruck, als seien hier mühselig
recht viele Beschwerden und Wünsche zusammengestellt worden. In manchen
Punkten ist die Entwicklung im Fluß, und die Diplomatie der beiden Mächte
kämpft um dies oder jenes Zugeständnis, aber niemals können jene Forderungen
selbst in ihrer Gesamtheit ein so schroffes und unbesonnenes Vorgehen der
Arbeiter rechtfertigen, wie es der Streik von 1912 darstellt. Zunächst die Lohn-
frage. Sie muß sich richten nach den Kohlenpreisen, die erzielt werden, und
nach deu Preisen der Lebensmittel und Gebrauchsartikel; die ersteren sagen
uns, was an Lohn gezahlt werden kann, die anderen, was gezahlt werden
muß, damit der gtancZarä ol like nicht herabgedrückt werde.
Nun ist die Bewegung der Kohlenpreise von 1906 bis 1911 schwankend.
Es hat die durchschnittliche Jahresnotierung an der Essener Börse ab Zeche
für die Tonne betragen:
Die Jahre 1907 und 1908 sind Hochkonjunkturjahre, deren Preise anfangs
1912 noch nicht wiedererreicht waren.Halten wir die Löhne daneben, so
bemerken wir, daß sie rin der Konjunktur steigen und fallen.
Also ein deutliches Wiederanziehen der Löhne mit den Kohlenpreiseu.
Hierbei darf nicht übersehen werden, daß die Zahl der Schichten, der effektiven
Arbeitstage, abgenommen hat, die Leute haben in den letzten Jahren weniger
gearbeitet oder weniger Arbeitsgelegenheit gehabt. 1907: 321 Schichten, 1911:
304 Schichten. Relativ ist also der Lohn schon 1911 höher als 1907. Für
1912 ist die Lohnsteigerung bereits in vollem Umfange eingetreten, und sie wird
nach den neuen Richtpreisen des Kohlensundikats vom 1. April ab sich noch
weiter bemerkbar machen. Auf den fiskalischen Gruben ist den Hauern eine
Steigerung des Gedingelohnes bis zu 6,60 Mark in Aussicht gestellt, ähnlich
auf den privaten Gruben. Mag es nun auch richtig sein, daß die Lebens¬
haltung sich allgemein verteuert hat — sür eine Familie mit einem Einkommen
von 1600 bis 2000 Mark beträgt ab 1907 die Verteuerung etwa 8.4 Prozent —,
so sind doch die Bergarbeiterlöhne im Ruhrrevier schon heute weit darüber
hinaufgestiegen, so daß aus diesen Lohnsätzen, die die höchsten in Deutschland
sind, in der Tat kein Beweggrund zum Streik und Kontraktbruch geschöpft
werden kann. Auch die übrigen Streitpunkte sind, soweit sie eine Neuregelung
zulassen, so geartet, daß sie in Frieden und Verständigung erledigt werden konnten.
Warum dann aber der Kampf? Es handelte sich, um aus dem Kleinkram
das Wichtigste herauszuschälen, einmal um die Abgrenzung der Interessen der
Bergarbeiterorganisationen, um das Vordringen der Sozialdemokcatie zur höchsten
Machtspitze, ferner um die Frage der Anerkennung jener Organisationen und
schließlich um die Erzielung von Kollektivverträgen, um die Anerkennung der
Parlamentsherrschaft auch im Bergbau. Der Alte Verband, die stärkste Orga¬
nisation, ist in den Händen der Sozialdemokratie und umfaßt etwa 125000
Bergleute, davon 80000 im Ruhrgebiet. Der zweitgrößte Verband, der Christ¬
liche Gewerkverein, zählt rund 80000 Mitglieder, davon 60000 im Nuhrrevier.
Erst in zweiter Linie kommen in Betracht die polnische Berufsoereinigung und
der Hirsch-Dunckersche Gewerkverein mit insgesamt etwa 20000 Organisierten
im Oberbergamt Dortmund. Charakteristisch ist, daß dort annähernd 200000
Bergarbeiter außerhalb jeder Organisation stehen, und um einen Teil dieser
Nichtorganisierten wird namentlich von den Christlichen und von den Sozial¬
demokraten eine unablässige und tiefbohrende Werbearbeit verrichtet. Letzthin
hatten die Christlichen etwas abgenommen und die Sozialdemokraten sich ein
wenig verstärkt. Das regte den Alten Verband zu besonderer Kraftleistung an,
der christliche Verband sollte vollends übertrumpft und womöglich gesprengt
werden. Hinter diesem christlichen Verbände steht nun in der Hauptsache die
Zentrumspartei, und in manchen stark mit Industrie und Arbeiterschaft durch¬
setzten Reichstagswahlkreisen hat bereits ein scharfes Ringen von Zentrum und
Sozialdemokratie um die politische Macht und um die Mandate eingesetzt; das
hat das Kampfbild verschoben, es geht nicht mehr vereint gegen Liberale und
Hüttenpartei, sondern die christlichen Gewerkschaften sind durch die Schärfe der
sozialistischen Propaganda genötigt worden, sich auch in den Lohnkämpfen von
den sozialistischen Gewerkschaften abzutrennen und ihre Wirtschafts- und Sozial¬
politik für sich zu betreiben. Bei dem Ruhrbergarbeiterstreik wurde z. B. von
dem christlichen Generalsekretär A. Stegerwald in der Kölnischen Volkszeitung
vom 14. März d. I. der grundsätzliche Unterschied in der Stellung zum Streik
zwischen christlichen und sozialdemokratischen Gewerkschaften so ausgelegt, daß
die ersteren den Streik ausschließlich als wirtschaftliches und letztes Kampfmittel
ansehen, während er für die sozialdemokratischen nicht nur wirtschaftliches, solidem
auch politisches Kampfmittel sei und daneben noch als internationales Demon¬
strationsobjekt benutzt werde. Stegerwald weist auch auf die unterschiedliche
Stellung zum Streik in den Verkehrsgewerben hin, für die die christlichen
Gewerkschaften den Streik unbedingt ablehnen. Alles in allem sind die Christ¬
lichen in der Gegenwart mehr auf Verständigung mit den Unternehmern zur
Verbesserung des Loses der Arbeiter als auf Streik zum agitatorischen Zweck
gestimmt. Sie hoffen, wohl nicht mit Unrecht, für die Bergarbeiter genügend
herauszuschlagen, so daß die Arbeiter bei ihren Fahnen bleiben. Sie wollen
nicht ohne Not die Volkswirtschaft zerrütten und im Kampfe mit dem festgefügten
Unternehmertum die Kassen der Organisation und ihre Reputation als Gewerk¬
schaft aufs Spiel setzen. Die Redner dieser Gruppe im Reichstage, die Ab¬
geordneten Schiffer und Behrens, erklärten während der Verhandlungen am
14. und 15. März 1912, daß sie nur einen gerechten und aussichtsvollen Kampf
wollen, nachdem alle friedlichen Mittel erschöpft sind. Sie vertrauten auf die
Versicherungen der Grubenbesitzer, daß der Konjunktur entsprechend Lohn¬
erhöhungen eintreten, und hoffen darauf, daß andere Konzessionen in friedlicher
Verständigung gewährt werden würden. Die Sozialdemokratie hat darauf
durch ihre Redner Sachse und Dr. Erdmann erwidert, daß die Christlichen sich
den gelben Gewerkschaften genähert hätten, daß sie beherrscht würden von
politischen Motiven, die sich aus der Interessengemeinschaft Zentrum, Konser¬
vative und Regierung ergäben, denen in der Streikangelegenheit der Dreibund
Sozialdemokratie, Freisinn und Polentum gegenübersteht.
Es läßt sich nicht übersehen, wie die beiden Gruppen ihr Konto abschließen
werden, ob mehr die Ernüchterung oder mehr die Erbitterung die Gemüter
erfassen und je nachdem die Reihen der Unorganisierten oder der verschiedenen
Organisationen stärken würde. Jedenfalls haben diese taktischen Verbandsinteressen
keine untergeordnete Rolle in den jüngsten Streitigkeiten gespielt. In der öffent¬
lichen Meinung haben die christlichen Organisationen Sympathien erworben,
sie werden vermutlich ihren Verhandlungen mit dem Zechenverbcmde zu gute
kommen.
Viel ist die Rede gewesen von der Jnternationalität der Bergarbeiter¬
bewegung. Sie wird von der Sozialdemokratie in Friedenszeiten laut betont,
im Kriegsfalle, wie im vorliegenden, auf das schärfste bestritten. Nun mag ein
Unterschied bestehen zwischen der Jnternationalität allgemeiner sozialer Ideen
und der der unmittelbaren Arbeiteraktionen. Aber liegt es nicht nahe, daß die
sozialistischen Führer der deutschen, englischen, belgischen, französischen, öster¬
reichischen Bergarbeiter eine Verständigung untereinander anstreben, einmal um
dem Streik die mächtigste Wirkung zu sichern und anderseits um das Kapital
international zu treffen und keiner kapitalistischen Gruppe durch einen Streik in
einem Lande einen besonderen Vorsprung auf dem Weltmarkt zu verschaffen?
Die Kohle ist Weltmarktsartikel, und ist irgendwo z. B. die englische Kohle
durch die deutsche verdrängt, so kann sie sich nur schwer den Markt zurückerobern.
Neben diesen — sagen wir — sachlichen Beweggründen erheben sich auch die
der Sympathie oder der gleichartigen Stimmungen, wie es etwa die Anfangs¬
worte eines Leitartikels des Vorwärts vom 12. März 1912: „Der Riesenkampf
der Bergknappen" besagen:
Sie haben sich überall erhoben. Die eben noch fleißige Arveiter waren, sind trotzige
Kämpfer geworden. Zu den mehr als eine Million Bergknappen, die in England aus den
finsteren Gruben an das Tageslicht gekrochen kamen, um in der Sonne den Körper kühn zu
recken, kommen an die Zweihunderttausend, die im Ruhrrevier aufstehen. Und schon regt es
sich in Sachsen, regt es sich Im Schlesien, in Osterreich, in Frankreich, im Luxemburgischen.
Vielleicht raffen auch die Belgier sich noch einmal empor. Überall dieselbe Not, überall dieselbe
aus dieser Not geborene Entschlossenheit, und überall dieselbe abweisende Haltung der Gruben¬
magnaten, welche die Bergknappen zum letzten ungern getaner Schritt, zum Streik, zwingt.
Der englische Bergarbeiterstreik war am 1. März ausgebrochen. Vorher
hatten zahlreiche Besprechungen internationaler Art stattgefunden, wobei die
Frage des Sympathiestreiks lebhaft erörtert worden war. Auf einer dieser
Konferenzen, die am 22. Februar in London stattfand, und auf der die Berg¬
arbeiterverbände Englands. Belgiens, Frankreichs, Deutschlands und Österreichs
vertreten waren, rieten die Belgier und Deutschen von einem internationalen
Aufstand ab, weil die sozialistischen Parteien in Belgien und Deutschland ihre
verfügbaren Gelder für politische Zwecke brauchten. Aber man versprach, nach
Möglichkeit die festländische Kohleneinfuhr nach England zu verhindern mit
Hilfe von Überwachungskommissionen, die mit örtlichen Streiks gegen den
Kohlenexport nach England vorgehen sollten. Darüber hinaus ist von dem
Internationalen Komitee der Beschluß gefaßt worden, daß während des Streiks
in Großbritannien die Bergleute auf dem Kontinent die Förderung von Kohle
so viel wie möglich einschränken sollten. Das kommt doch in der Tat dem
internationalen Sympathiestreik sehr nahe.
Es hieß ferner in der Erklärung des Internationalen Komitees, daß, wenn
die Bergleute auf dem Kontinent gegenwärtig oder in Zukunft die Forderung
des Mindestlohnes stellen würden, dann auch die Bergleute von Großbritannien
die Kohlenförderung so viel wie möglich einschränken wollten. Die Bergleute
von Großbritannien sind zurzeit zuerst für die Forderung des Minimaltagelohnes
mit 900000 bis 1 Million Mann in den Streik eingetreten. Wie sich die
Dinge nun in England gestaltet haben, sollen Mindestlohnsätze für bestimmte
Distrikte, wo Bergbau betrieben wird, auf dem Wege der Tarifvereinbarungen
durch ein gemeinsames Komitee von Unternehmern und Arbeitern festgesetzt
werden. Das Komitee besteht aus Vertretern der Organisationen der Gruben¬
besitzer und der Arbeiter, was alsdann die Anerkennung der beiderseitigen
Organisationen voraussetzt. Können sich die Parteien in dem Komitee nicht
einigen über den Vorsitzenden, so stellt ihn die Regierung. Der Regierung
wird also in vielen Fällen die unparteiische Entscheidung zugemutet. Die Bill
ist angenommen, aber sie hat noch ein problematisches Aussehen. Die Berg¬
arbeiter Großbritanniens sind vom Syndikalismus beherrscht; sie wünschen wohl
die Vorteile des Lohnminimums, verwerfen aber jede Bindung ihrer Be¬
wegungsfreiheit, wie sie sich die australischen Arbeiter für ähnliche Zugeständnisse
gefallen lassen mußten, indem sie durch die Tarifabmachung gezwungen wurden,
auf das Streikrecht zu verzichten. Der Syndikalismus, dem die englischen Ge¬
werkschaften sich verschrieben haben, will aber gerade den Kampf um des Kampfes
willen und keine kleinen Etappen des Erfolges. Es soll auf die Art der Be¬
weis geführt werden, daß in der kapitalistischen Gesellschaft kein Friedenszustand
möglich ist, darum wird völlige Streikfreiheit und umfangreichste Streiktätigkeit
vorausgesetzt. England, das vielgepriesene Land der Herrschaft des friedlichen
Gewerkvereins, ist auf dem Wege des Syndikalismus in den letzten Jahren
von den erbittertsten Lohnkämpfen unterwühlt worden. In den letzten fünfzehn
Monaten gab es dort 1911: Kohlenstrcik in Südwales, Seemannsstreik, General¬
streik der Eisenbahner, Straßenbahnerstreik; 1912: Transportarbeiterstreik und
schließlich der gewaltige Bergarbciterstreik. Diese Kämpfe waren von Hangers¬
not und Revolten begleitet, derart, daß bei dem Dockarbeiterstreik in Liverpool
1911 zur Aufrechterhaltung der Ordnung eine Brigade Infanterie, zwei Regi¬
menter Kavallerie und vier Kriegsschiffe in Anspruch genommen werden mußten.
Der Schaden, der Großbritannien aus dem schwebenden Kohlenarbeiterausstande
erwachsen soll, wird auf vier bis fünf Milliarden Mark geschätzt.
Der Syndikalismus soll die Wirtschaftsordnung des freien Urd.:itsvertrages
zum sozialistischen Staate führen, aber auch die Mindestlohugesetzgelnmg liegt
durchaus auf diesem Wege. Das Mindestlohneinkommen verliert, sobald der
Geldwert sinkt und die Lebensmittelpreiie steigen, an Wert für den Arbeiter;
es muß also ständig kontrolliert und reguliert werden durch Lohnausschüsse und
Schiedsgerichte, die der Staat ins Leben ruft und leitet. Ferner muß der
Staat folgerichtig eingreifen, wenn die Bergarbeiter zu dem vereinbarten Mindest-
loh.nsatz nicht arbeiten wollen, also das Gesetz verletzen, oder aber, wenn die
Grubenbesitzer den Betrieb einstellen, weil ihn die staatliche Lohnregulierung
unrentabel gemacht hat. In einem Fall muß der Staat deu Arbeiter zur
Arbeit anhalten oder deu Arbeitswilligen schützen, im andern Falle muß er
zur Enteignung des Grubenbesitzers schreiten und den Betrieb selbst übernehmen.
Man kann nicht einwenden, daß die Löhne in der Regel die Mindestsätze über¬
schreiten würden, daß also die Folgeerscheinungen nicht zu befürchten seien.
Nach den Erfahrungen in Australien herrscht bei den unqualifizierten und trägen
Arbeitern die Neigung vor, dem Mindestlohn die Mindestleistung entsprechen zu
lassen. Es müssen daher fortdauernd Verfügungen erlassen werden, um dieser
Entwicklung zu begegnen. Also so viel Staatsintervention, daß der sozialistische
Staat als die natürliche Konsequenz erscheint.
Es ist richtig, daß der Syndikalismus der Anarcho-Sozialisten bei uns
noch nicht über sehr starke Anhängerschaft verfügt; aber wir haben andere
Triebkräfte, die ebenfalls das gewerbliche Leben dem sozialistischen Staat zu¬
treiben sollen. Es sind das das parlamentarische System in den Betrieben,
die konstitutionelle Fabrik, wobei nach und nach der Unternehmer und Betriebs¬
leiter seiner freien Dispositionsfähigkeit beraubt, der freie Arbeitsvertrag be¬
seitigt und die Herrschaft der organisierten Masse aufgerichtet werden soll. Das
darf bei all dein Drängen nach Instanzen zum Verhandeln von Partei zu Partei
nicht aus den Augen gelassen werden und erklärt jedenfalls die Abneigung der
Unternehmer, mit den Gewerkschaften über Lohn- und Arbeitsverhälthisse zu
unterhandeln. Aber auch praktische Bedenken liegen vor. Was haben tarif¬
mäßige Bindungen für einen Wert, wenn, wie im Ruhrrevier, nur ein Drittel
der Berufsgenossen organisiert sind, und wenn bei dem häufigen Stellenwechsel
der Bergarbeiter die Haftbarkeit eigentlich nur bei den Unternehmern gegeben
ist? Bei den Lohnstreitigkeiten ist ja heute der Kontraktbruch etwas sehr ge¬
wöhnliches, und der Abg. Gothein hat im Reichstage (15. März 1912) die
Häufigkeit des Kontraktbruches damit begründet, daß es zu umständlich und zu
riskant für den einzelnen Arbeiter sei, zu kündigen. Er schlug als Abhilfe¬
maßregel vor, daß es dem Arbeiterausschuß erlaubt sein sollte, für die Gesamt¬
heit der Arbeiter Erklärungen über Kündigung oder Wiederaufnahme der Arbeit
abzugeben. Das aber heißt mit Riesenschritten in das parlamentarische System
der Arbeit eintreten und den freien Arbeitsvertrag dem Majoritätswillen aus¬
liefern. Dreiviertel eines Arbeiterausschusses verlangt den Streik, dann muß
die Gesamtheit der zugehörigen Arbeiterschaft die Arbeit einstellen. Das ist die
konstitutionelle Fabrik, die Herrschaft der Mehrheit in der Industrie.
Da sich auf solche Experimente am lebenden Körper unserer Industrie die
Landesgesetzgebung in Preußen bisher nicht eingelassen hat und denen auch inZukunft
voraussichtlich Widerstand leisten wird, so wird ein Reichsberggesetz gefordert in
, der Erwartung, daß im Reichstage auch für die gewagtesten sozialpolitischen
Versuche eine Mehrheit leicht zu haben ist.
Ich halte den Standpunkt mancher Zechenverwaltungen, keine Arbeiter¬
vertretung anerkennen und nur mit dem einzelnen Arbeiter verhandeln zu wollen,
für verkehrt, da solche Einzelverhandlungen unter Umstünden mit 350000 Mann
doch ein Unding darstellen, und da auch die preußische Gesetzgebung bereits
gewisse Organisationen und Arbeitervertretungen als berechtigt anerkannt hat.
Man mag so vorsichtig und schonend wie möglich vorgehen, aber man sollte
sich nicht den Vorwurf der Weltfremdheit verdienen. Ich würde es für keinen
Fehler halten, das Institut der Arbeiterausschüsse lebensfähig zu gestalten, als
ein brauchbares Vermittlungsorgan zwischen Unternehmer und Arbeiter. Wie
die Verhältnisse sich heute entwickelt haben, wird freilich die Sozialdemokratie
jeder Organisation und Vermittlungsinstanz ihren Stempel aufzudrücken sich
bemühen. Das erschwert die sozialpolitische Arbeit und mahnt zur Vorsicht,
aber es kann sie auch nicht völlig unterbinden, weil das laiiZser faire, Iai8ser
aller erst recht der Sozialdemokratie zugute kommt. Jedenfalls sollte den
Arbeiterausschüssen das Recht gewährt werden, auch über die Lohnverhältnisse
mit den Zechenverwaltungen in Unterhandlungen zu treten. Die gegenteilige
oder zweifelhafte Bestimmung des Allgemeinen Preußischen Berggesetzes hat
wenig Zweck und Sinn und ist auch vielfach bei dem letzten Streik zur Seite
geschoben worden. Ein Organ muß dafür da sein, und dann ist der Arbeiter¬
ausschuß der für die Disziplin zuträglichste und darum überhaupt zweckmäßigste.
Wenn man das politische Fazit aus der Bergarbeiterbewegung ziehen soll,
so darf man sagen, daß es dank der vernünftigen Haltung der Unternehmer,
die rechtzeitig im Rahmen des Möglichen Zugeständnisse gemacht haben, ohne
den Streik abzuwarten, dank den christlichen und nationalen Organisationen,
die sich nicht in einen Demonstrationsstreik verwickeln ließen, dank der Regierung,
die für Aufrechterhaltung der Ordnung und für den Schutz der Arbeitswilligen
mit ausreichender Kraft gesorgt hat, schließlich dank auch der öffentlichen
Meinung, die nicht, wie oftmals vorher, bedingungslos auf die Seite der
Streitenden getreten ist, sondern auch den moralischen Mut der Arbeitswilligen
und das Frivole und Unberechtigte dieses Streiks anerkannt hat — daß dank eben
allen diesen verständigen Faktoren schweres Unheil für unser Vaterland verhütet
werden konnte. Darf man diese vorteilhafte Gestaltung der Dinge als normal
und für die Zukunft maßgebend betrachten? Doch wohl nur dann, wenn ent¬
sprechend der Schwere und den Gefahren der Bergarbeit von feiten der Zechen¬
verwaltungen in Friedenszeiten in eine ernsthafte Prüfung der Beschwerdepunkte
der Bergarbeiter eingetreten wird und die sozialen Einrichtungen, die schon jetzt
mit berechtigtem Stolz im Ruhrrevier vorgezeigt werden können, nach Maßgabe
der Leistungskraft der einzelnen Zechen ausgebaut werden. Gerechtigkeit und
vernünftige Sozialpolitik, aber auch Festigkeit gegenüber der Sozialdemokratie
und verwandter Demagogie, sie werden auch in Zukunft dem deutschen Markte
so schwere und unheilvolle Kämpfe fernhalten, von denen England soeben heim¬
gesucht worden ist.
le schlimmste Eigenschaft der Schlagworte ist, daß sie das Denken
ertöten. Nicht nur, daß sie den von ihnen gekennzeichneten An¬
spruch oder die in Frage stehende Reihe von Tatsachen oder Be¬
hauptungen mit einem Urteil, einem meist schiefen, häufig ge¬
hässigen Urteil versehen — nein, viel schlimmer ist es, wie gesagt,
daß sie auch den denkenden Menschen der Notwendigkeit überheben, die von
ihm bezeichneten Ansprüche und Behauptungen auf ihre Berechtigung zu prüfen
und ein Urteil darüber abzugeben. Man gebraucht nur das Schlagwort, man
sagt einfach: „Brotwucher" oder „Liebesgabe", und die Sache ist abgetan.
Man weiß, daß man verstanden wird und braucht also nicht weiter
nachzudenken. Von besonders einschneidender Bedeutung und von viel schlim¬
meren Folgen als in der innern Politik sind aber Schlagworte, die sich im
internationalen Verkehr, im Leben der Völker Geltung verschafft haben. Wenn
ein Volk es erreicht, einem Schlagwort, in das es seine Ansprüche zusammen¬
gefaßt hat, Geltung zu verschaffen,, so kann es ihm leicht gelingen, fremde
Völker mit diesem Schlagwort gewissermaßen zu hypnotisieren und sie zu ver¬
hindern, den diesem Schlagwort zu Grunde liegenden Anspruch auf seine Be¬
rechtigung hin nachzuprüfen. Niemand ist dies so gelungen, wie den Amerikanern
mit ihrem nun fast ein Jahrhundert alten Schlagwort: „Amerika den
Amerikanern." Und doch könnte die auswärtige Politik Amerikas dem
denkenden Deutschen zu soviel Fragen Anlaß geben: Mit welchem Recht treibt
Amerika die stärkste Expansionspolitik von allen Völkern der Erde? Ist es
übervölkert? Muß es sich auf diese Art neue Absatzgebiete schaffen? Mit
welchem Recht überfällt es schwächere Staaten und nimmt ihnen Kolonien ab,
die mit ihm selbst weder in wirtschaftlichem noch geographischem Zusammenhange
stehen? Mit welchem Recht verhindert es andere Großmächte, mit den selb¬
ständigen Staaten des südafrikanischen Kontinents in Verhandlung zu treten?
Auf alle diese Fragen, wenn sie überhaupt gestellt werden, erfolgt von drüben
nur die eine, stereotype Antwort: „Amerika den Amerikanern!" Und beschämt
zieht sich der Frager zurück, besinnt sich auf die Monroedoktrin und erkennt
willig die Ansprüche an, die so sicher fundiert sind.
Wenn man aber dann sieht, mit welch naiver Selbstverständlichkeit solche
Forderungen in der neueren amerikanischen Literatur erhoben werden, wie für
die weitestgehenden imperialistischen Ansprüche nicht einmal die Spur eines Be¬
weises versucht wird, sondern alles mit dem Hinweis auf die Monroedoktrin
abgetan wird, so wird man doch nachdenklich gestimmt und legt sich die Frage
vor: Wie weit sind solche Ansprüche berechtigt? Inwiefern ist es zulässig, sich
auf die Monroedoktrin zu stützen?
Mir selber gab den Anstoß zu diesen Fragen das Lesen eines Buches,
das einen amerikanischen Offizier zum Verfasser hat: 1"Ire valor ok i^noranLL
von Isomer I^en (London und New Uork, Harper Brothers). Es ist das
Buch eines tapferen und ehrlichen Patrioten, der sein Volk vor den Gefahren
warnen möchte, die ihm bevorstehen. Insbesondere will er seine Landsleute
hinweisen auf den bevorstehenden Kampf um die Vorherrschaft auf dem
Stillen Ozean und will ihnen dartun, daß ihre jetzige Sinnesart und
Nüstungsweise ihre notwendige Niederlage in diesem Kampf zur Folge
haben müßte. An der Hand von teilweise recht weitläufigen historischen Exkursen
und philosophischen Betrachtungen gelangt der Verfasser zur Aufstellung
einer Reihe vou Axiomen, die, so sehr sie auch dem deutschen Volk in Fleisch
und Blut übergegangen sein wogen, angesichts der herrschenden Strömung in
Amerika doch eine bemerkenswerte Objektivität und Einsicht beweisen. So z. B.
wenn er seinen Landsleuten vorhält, daß sie nicht mehr in der Betätigung des
Krämergeistes ihren einzigen Lebenszweck sehen dürften; daß es ein Irrtum sei,
in dem Reichtum eines Volkes eine Quelle militärischer Kraft zu sehen; daß
die Freunde des ewigen Friedens und der Schiedsverträge von falschen Voraus¬
setzungen ausgingen; daß die Milizarmeen eine mittelalterliche Einrichtung ohne
irgend welchen Kampfeswert für die Gegenwart seien. Nur große stehende
Heere böten Bürgschaft für den Frieden und den Fortschritt eines Volkes. Auf
Grund dieser Leitsätze fordert Homer Lea die Schaffung einer Flotte, die
mindestens doppelt so stark sein müsse, wie die irgend einer anderen Macht und
eines großen stehenden Heeres. Die Zeiten hätten sich geändert; Amerika läge
nicht mehr abseits von anderen Weltteilen, sei vielmehr durch die Verbesserungen
der Transportmittel in den Brennpunkt des Weltverkehrs gerückt; und die
Monroedoktrin, die die Vereinigten Staaten vor der näheren Berührung mit
fremden Völkern habe schützen sollen, biete Mein auch keinen Schutz gegen über¬
mächtige Nachbarn. Nur mit einer starken Rüstung könne Amerika die Kriege
bestehen, die die Verletzung der Monroedoktrin durch die nach Osten bezw.
Westen kraft logischer Gesetze sich ausdehnenden Völker Europas und Asiens
zur Folge haben müßten. Nur so könnten die Vereinigten Staaten die Pflichten
erfüllen, die die Monroedoktrin ihnen auferlege: über die Unabhängigkeit des
amerikanischen Kontinents (also einschließlich Südamerika) zu machen und ihre
Interessensphären im Karibischen Meere, im Zentral-Pacific und ihre asiatischen
Besitzungen schützen. Besonders wichtig seien die Inseln im karibischen Meer,
deren strategische Lage in der Nähe des Panama-Kanals solche Bedeutung be¬
sitze, daß die dortigen Besitzungen fremder Mächte eine Bedrohung bedeuteten.
— Im zweiten Teile des Buches schildert Verfasser deu wahrscheinlichen Verlauf
eines Krieges gegen Japan, wobei er zu dein Schluß kommt, daß Japan bei dem
erbärmlichen Stande der amerikanischen Rüstungen durch einen erfolgreichen Ein¬
bruch in Kalifornien schnell einen glorreichen Sieg erringen müsse; eine Offensive
der Vereinigten Staaten hält er sür ausgeschlossen.
Es gibt viele Behauptungen in Leas Buch, die den europäischen Leser in
Erstannen versetzen, die man aber seiner Nationalität, der rücksichtslosen Phantastik
seiner Landsleute und ihrem völlig mangelnden Verständnis für historische Ent¬
wicklung zugute zu halten bereit ist; so z. B. wenn er von Holland als von
einem binnen kurzem deutschen Staat spricht; wenn er die Anstellung Chinas
als etwas Selbstverständliches annimmt; ferner, wenn er ganz Europa für
übervölkert hält und daraus starke politische Expansionsgelüste nach Amerika
hin folgert. Das Überraschendste an seinen Darlegungen sind aber seine Pläne
über die politische Ausdehnung seines Volkes, über die Beherrschung der einen
Hälfte des Erdballs durch die Vereinigten Staaten, und zwar überrascht weniger
die Tatsache, daß er all dieses fordert, als die Art wie er es fordert. Der
Sinn dafür, daß er etwas Übermäßiges, Unberechtigtes verlangt, scheint ihm
völlig abzugehen. Er begründet die Ansprüche, die er auf die Kolonien fremder
Länder, auf diese selbst erhebt, nicht einmal damit, daß er sagt: Wir müssen
uns heranhalten; die anderen Völker dehnen sich aus, da dürfen wir, obwohl
mit Land und Mineralschätzen für absehbare Zeiten überreichlich versehen, nicht
zurückstehen, sondern wir wollen auch unseren Teil bei der Verteilung der Beute
haben. Es würde uns vielleicht nicht Wunder nehmen, wenn Lea seine Lands¬
leute aufforderte, die Republiken von Südamerika unter die wirtschaftliche und
politische Vormundschaft der Vereinigten Staaten zu bringen, oder wenn er
dafür plädierte, sich die störenden Besitzungen fremder Mächte im Karibischen
Meere anzueignen, oder wenn er sich für eine Vorherrschaft der Vereinigten
Staaten im Stillen Ozean und in China begeisterte — aber nein, das fordert
er nicht, darüber verliert er kein Wort. Das nimmt er als etwas ganz Selbst¬
verständliches, jedem seiner Leser Geläufiges an. So erscheint es ihm auch als
etwas Überflüssiges, irgend welche Gründe für seine Prätensionen anzuführen.
Das alles ergibt sich ihm aus der Monroedoktrin.
Es verlohnt sich daher schon der Mühe, zu prüfen, was die Monroedoktrin
ist und wie sie sich entwickelt haben muß, um den Ansprüchen eines Volkes
auf den halben Erdball als Stütze dienen zu können.--
Die sogenannte Monroedoktrin selbst ist in einer Botschaft des fünften
Präsidenten der Vereinigten Staaten Monroe an den Kongreß enthalten und ist
vom 2. Dezember 1823 datiert.*) Die hier in Betracht kommenden Paragraphen
haben folgenden Wortlaut:
Z 7. Auf den Vorschlag der Kaiserlich russischen Negierung, der durch den hiesigen
kaiserlichen Gesandten übermittelt worden ist, ist der Gesandte der Vereinigten Staaten in
Se. Petersburg mit weitgehender Vollmacht und mit dem Auftrag versehen worden, er solle
im Wege freundschaftlicher Verhandlungen zu einer Einigung über die Rechte und Interessen
der beiden Nationen auf die N.-W.-Küste dieses Kontinents gelangen. Ein gleicher Vorschlag
ist durch Seine Kaiserliche Majestät der Regierung von Großbritannien gemacht worden, die
ihn ebenfalls angenommen hat. Die Gelegenheit — im Verlauf dieser Verhandlungen —
ist günstig befunden worden zur Aufstellung eines Grundsatzes, in dem die Interessen der
Vereinigten Staaten enthalten sind, nämlich daß die beiden amerikanischen Kontinente in
Anbetracht der freien und unabhängigen Stellung, die sie errungen und sich erhalten haben,
hinfort nicht mehr als Gegenstand für künftige Koloniegründungen seitens europäischer Mächte
zu betrachten sind.
§§ 48 und 49. In den Kriegen, die die europäischen Mächte in ihren eigenen
Angelegenheiten geführt haben, haben wir weder je irgendwie teilgenommen, noch war es
mit unserer Politik vereinbar, dies zu tun. Nur wenn unsere Rechte angegriffen oder ernstlich
bedroht sind, würden wir uns verletzt fühlen oder uns zur Verteidigung rüsten. Mit den
Ereignissen auf diesem Erdteil sind wir, wie jeder einsichtige und unparteiische Zuschauer
zugeben muß, naturgemäß auf das engste verknüpft. Das Politische System der Verbündeten
Mächte ist in dieser Hinsicht wesentlich Verschieden von dem von Amerika. Diese Verschiedenheit
ergibt sich aus der Verschiedenheit der beiderseitigen Regierungen. Der Verteidigung der
unsrige», die erst durch den Verlust von so viel Blut und Geld zustande gekommen und durch
die Weisheit ihrer hervorragendsten Mitglieder vollendet worden ist, und unter der wir uns
eines unvergleichlichen Glückes erfreut haben — der Verteidigung unserer Regierung ist
dieses ganze Volk geweiht.
Wir schulden es daher der Aufrichtigkeit und den freundschaftlichen Beziehungen, die
wischen den Vereinigten Staaten und zwischen diesen Mächten bestehen, zu erklären, daß wir
jeden Versuch ihrerseits, ihr System auf irgendeinen Teil dieses Weltteils auszudehnen, als
unserem Frieden und unserer Sicherheit gefährlich erachten würden. In die bestehenden
Besitzungen und Gebiete einer europäischen Macht haben wir nicht eingegriffen und werden
es nicht tun. Aber gegenüber den Regierungen, die ihre Unabhängigkeit erklärt und aufrecht
erhalten haben, und deren Unabhängigkeit wir nach reiflicher Überlegung und gerechten
Grundsätzen anerkannt haben, könnten wir keine Intervention irgendeiner europäischen Macht
zum Zwecke ihrer Unterdrückung oder Beeinflußung dulden, ohne darin die Bekundung einer
unfreundlichen Gesinnung gegenüber den Vereinigten Staaten zu sehen. In den Kriegen,
die zwischen diesen neuen Regierungen und Spanien entstanden sind, haben wir unsere
Neutralität in dein Augenblick erklärt, wo diese Erkenntnis, an der wir seitdem stets festgehalten
haben, sich in den Augen der sachverständigsten Männer als unabweisbar richtig erwiesen hatte,
und als dringend erforderlich zu unserem eigenen Wohl. Die neuesten Ereignisse in Spanien
und Portugal haben erwiesen, daß Europa noch unentschlossen ist. Für diese wichtige Tatsache
gibt es keinen sicherern Beweis als diesen: Die Verbündeten Mächte haben geglaubt, es als
ihre Pflicht und als eine Persönliche Genugtuung ansehen zu müssen, mit Gewalt in die
inneren Angelegenheiten von Spanien zu intervenieren. Diese Intervention hat sich sogar
auf Regierungen erstreckt, die für sie keineswegs der Gegenstand besonderer Interessen sind,
ebensowenig wie die Vereinigten Staaten, die indessen weiter entfernt sind. Bis zu welchem
Punkt die Intervention nach diesem Prinzip gehen kann, das ist eine Frage, deren Beantwortung
im Interesse aller der unabhängigen Regierungen liegt, die um das Schicksal ihrer inneren
Angelegenheiten besorgt sind — auch wenn diese Regierungen weiter entfernt oder mehr in
Sicherheit sind als die Vereinigten Staaten. Unsere Politik gegenüber Europa, wie wir sie
seit Anfang der Kriege, die diesen Erdteil so lange erschütterton, eingenommen haben, bleibt
dieselbe: d. h. wir werden uns nicht in die inneren Angelegenheiten irgendeiner europäischen
Macht mischen; wir werden die am Ruder befindliche Regierung als die rechtmäßige ansehen,
wir werden freundschaftliche Beziehungen zu allen Mächten Pflegen und werden diese
Beziehungen durch eine aufrechte, feste und männliche Politik aufrecht erhalten, indem wir
unter allen Umständen das als das wichtigste Erfordernis betrachten werden, den gerechten
Forderungen jeder Macht nachzukommen, ohne Unrecht von irgendeiner zu dulden. Aber was
diesen Erdteil anbetrifft, so sind die Umstände erheblich und augenscheinlich verschiedene. ES
ist unmöglich, daß die Verbündeten Mächte ihr Politisches System ans irgendeinen Teil dieser
Hemisphäre ausdehnen, ohne unser Glück und unsere Zufriedenheit in Gefahr zu bringen;
auch kann niemand sich dein Glauben hingeben, daß unsere Brüder im Süden sich selbst
überlassen, es freiwillig annehmen würden. Ebenso unmöglich ist es deshalb, daß wir eine
solche Intervention in irgendeiner Form mit Gleichmut hinnehmen könnten.
Es ist unumgänglich notwendig, den gesamten Inhalt der in Betracht
kommenden Paragraphen der Botschaft des Präsidenten Monroe wörtlich wieder¬
zugeben. Reißt man nur die Sätze heraus, die einem als der charakteristischste
Ausdruck der Monroedoktrin zu sein scheinen, wie es bezeichnenderweise Dunning ^
tut, so verschleiert man eine für die Beurteilung der Monroedoktrin außer¬
ordentlich wichtige, ja ausschlaggebende Tatsache, nämlich die, daß das als
Monroedoktrin zutreffend in die Worte „Amerika den Amerikanern" zusammen¬
gefaßte Prinzip nicht als ein selbständiges Dogma in der Botschaft des Präsi¬
denten steht, sondern daß sie sich im engen Zusammenhang mit anderen politischen
Ereignissen jener Zeit befindet. Denn das ergibt schon ein flüchtiges Durchlesen
der Worte des Präsidenten: die Z§ 7, 48, 4» beschäftigen sich mit der Welt-
läge, mit den Streitigkeiten der europäischen Mächte, und es ist daher nicht
angängig, einen Teil dieses Inhalts vorauszustellen und für sich zu betrachten.
Man muß also die Monroedoktrin im Rahmen des ganzen Teiles dieser
Monroeschen Botschaft betrachten.
Es ist klar ersichtlich, daß der Z 7 sich aus einen anderen Tatbestand bezieht
als die 48, 49, wenn auch die Tendenz eine ähnliche ist. § 7 richtet sich
gegen England und Rußland, 48, 49 gegen einen Teil der europäischen
Mächte, gegen die sogenannte Heilige Allianz. Es handelte sich — im Falle
des Z 7 — um Grenzstreitigkeiten zwischen England und Rußland einerseits
und den Vereinigten Staaten anderseits. England wollte seine Grenzen in
Kanada vorschieben, Nußland die Einflußsphäre von Alaska erweitern, so daß
in den Grenzgebieten ständig Reiberei und Streit vorkamen. Diesen Zuständen
suchte der Zar ein Ende zu machen durch den Mas vom 16. September 1821,
also durch eine einseitige Entscheidung und Willenserklärung, ohne sich auf
Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten einzulassen. Diese protestierten,
ebenso wie England, gegen ein solches Verfahren, und es wurden nun Ver¬
handlungen eingeleitet, die zu einer endgültigen Grenzregulierung führen sollten.
Auf diese Verhandlungen nimmt der Präsident im Z 7 seiner Botschaft Bezug
und fügt dazu den Satz, dessen Inhalt dein Kopfe des damaligen Staatssekretärs
John Quincn Adams entstammte und der dem russischen Geschäftsträger schon
mitgeteilt worden war, „daß die amerikanischen Kontinente nicht mehr als
Gegenstand für künftige Koloniegründungen seitens europäischer Mächte zu
betrachten seien". Seine Absicht ist klar: er wollte Amerika für ein von
freien, fest umgrenzten Staaten bewohntes Land erklären, das für Kolonien,
wie sie bei unerforschten, unzivilisierten Ländern möglich seien, keinen Platz
mehr habe.
Der zweite Teil der Botschaft des Präsidenten — in den FZ 43, 49 —
bezieht sich auf die Tätigkeit der Heiligen Allianz in den zwanziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts. Als nach Abdankung Karls des Vierten Joseph Bonaparte
den spanischen Thron bestiegen hatte, waren in fast allen spanischen Kolonien
Mittel- und Südamerikas Aufstände ausgebrochen, die die Losreißung vom
Mutterlande zum Ziele hatten. In den Jahren 1810 bis 1820 folgte eine
Unabhängigkeitserklärung der anderen. Als nun Ferdinand der Siebente 1814
den spanischen Thron bestiegen hatte, war er dieser Bewegung gegenüber um
so hilfloser, als er schon aus den inneren Wirren seines Landes keinen Ausweg
wußte. Er erhoffte alles von der Staats- und monarchieerhaltenden Tätigkeit
der Heiligen Allianz, und so bat er 1818 die Verbündeten um Hilfe gegen
seine aufrührerischen Kolonien. Aber ein Einschreiten der Heiligen Allianz, so
warm es auch von Alexander dem Ersten befürwortet wurde, scheiterte an dem
Widerspruch Englands, das die Rebellen begünstigte. Es folgten nun lang¬
wierige Streitigkeiten und Verhandlungen zwischen Frankreich und Spanien gegen
England. In Übereinstimmung mit den Tendenzen Englands hatten die Ver-
einigten Staaten die südamerikanischen Republiken anerkannt und diplomatische
Vertreter entsandt. Gegenüber dem weiteren Drängen Englands, die geplante
Intervention der Mächte zurückzuweisen, befanden sie sich aber in schwieriger
Lage. Einerseits entsprach es ihrer Tradition und ihren politischen Zwecken,
die freiheitliche Bewegung der südamerikanischen Staaten, in denen sie mit Recht
eine zuverlässige Gefolgschaft erblicken konnten, zu unterstützen; anderseits war
ein Krieg für den jungen, durch eine wirtschaftliche Krise geschwächten Staat
eine große Gefahr. Aber die Ereignisse drängten zum Handeln; die Berater
des Präsidenten Monroe, vor allem der frühere Präsident Jefferson, rieten zu
einer energischen Erklärung gegen die Mächte, und so entschloß sich denn Monroe
am 2. Dezember 1823, die §§ 48 und 49 in seiner Botschaft zu verkünden.
Er lehnte also darin eine Übertragung der in Europa von der Heiligen Allianz
befolgten Politik auf Amerika ab; er proklamierte den Grundsatz, daß sich die
Vereinigten Staaten nicht in die Angelegenheiten fremder Mächte mischen würden,
sich aber anderseits auch Eingriffe fremder Mächte verbäten.
Dies also ist die Monroedoktrin, das Nationalheiligtum des amerika¬
nischen Volkes, also nicht eine vom Himmel gesandte Botschaft, nicht der Ausfluß
der göttlichen Eingebung eines Menschen, nicht etwas ewig Richtiges, ewig
Wahres, ewig Unantastbares. Nein, es ist der einfache Gegenzug in einem
politischen Schachspiel, eine Reaktion auf eine Reihe politischer und diplomatischer
Vorgänge, wie jede andere „Demarche" im diplomatischen Verkehr.--
Daß man die Monroedoktrin nicht als etwas Absolutes, Objektives betrachten
darf, sondern daß man sie in den Zusammenhang hineinstellen muß, in den sie
hineingehört, das beweist auch schon der Umstand, daß sie sonst gar keinen
Sinn ergibt. Denn was heißt „Amerika den Amerikanern" oder „Wir dulden
keine Einmischung fremder Länder, ebenso wie wir uns nicht in fremde
Angelegenheiten einmischen"? Es bedeutet an sich — objektiv betrachtet —
etwas so Selbstverständliches, daß es die Worte kaum lohnt. Denn daß Amerika
den Amerikanern gehört ebenso wie Deutschland den Deutschen oder England
den Engländern, bedarf keiner Erwähnung; und keine selbständige, ehrliebende
Nation wird sich die Einmischung einer anderen gefallen lassen; kein vorsichtiger,
kluger Politiker wird sich ohne weiteres in die Angelegenheiten eines fremden
Staates mischen. Das sind Grundbegriffe des Völkerrechts. Wohl aber gewinnen die
Worte des Präsidenten Monroe in dem Zusammenhang, in dem sie gesprochen sind,
Sinn und Bedeutung. Damals, 1823, war es nötig, solche Sätze auszusprechen. Da¬
mals griff die Heilige Allianz in dem Bestreben, das Bestehende zu erhalten, un¬
bedenklich in die Rechte fremder Staaten ein. Damals war die Zeit nicht fern, wo jede
fremde Macht an Amerikas Gestaden landen und die unerforschten Gegenden in
Besitz nehmen konnte. Damals hatte es darum einen tiefen und berechtigten
Sinn und war ein notwendiger und starker Protest, wenn der Präsident Monroe
sagte: „Amerika ist an uns, die Amerikaner, vergeben; es dürfen keine Kolonien
mehr auf ihm gegründet werden; wir kümmern uns um unsere Angelegenheiten
und werden — anders als die kleinen europäischen Staaten — jeden Eingriff
in unseren Kontinent als eine feindliche Handlung ansehen."
Heute, wo kein Mensch mehr daran denkt, Kolonien in Amerika anzulegen oder
die Souveränität eines amerikanischen, das Völkerrecht beachtenden Staates anzu¬
tasten, kann man sich eines Lächelns nicht erwehren, wenn man ein ganzes Volk unter
der Devise kämpfen sieht: „Mein Land ist mein Land!" „Amerika den Amerikanern"
— es sei denn, daß neuer Sinn und neue Forderungen hineingetragen worden
sind in diese Worte und nun geltend gemacht werden.
Wenn man die Monroedoktrin auf die ihr zukommende Bedeutung
zurückgeführt hat, indem man in ihr eine für die damalige politische Lage sehr
wichtige Kundgebung ihres Staatsoberhauptes erblickt, erübrigt es sich beinahe,
ihren Wert im streng Staats- und völkerrechtlichen Sinne zu prüfen. Immerhin
ist es interessant festzustellen, daß dieser Wert gleich Null ist, da ihr weder
Vertrags- noch Gesetzeskraft innewohnt. Darüber besteht kein Zweifel: sie schuf
nicht die geringste vertragsmäßige Verpflichtung— sie wurde nicht einmal einer
europäischen Großmacht offiziell modifiziert —; sie ist auch kein Staatsgesetz der
Vereinigten Staaten. Sie ist lediglich eine Meinungsäußerung des Präsidenten,
„der Bericht der Exekutivbehörde" an den Kongreß, „I^e messaZs n'a pas plus
la, valeur ni'uns loi qu'un äiscours an troile c»u uns cieLlaration ministen-
eile en Lurope", sagt Pekin (S. 50) zutreffend. Der Vergleich mit einer
Thronrede als mit einen: interessanten Staatsdokument ohne sonstige Kraft
gibt die Bedeutung der Monroedoktrin am zutreffendsten wieder.
In der Tat hat den Amerikanern selbst das Gefühl dafür, daß die Monroe¬
doktrin jeder Staats- oder völkerrechtlichen Stoßkraft entbehre, nicht gefehlt. Und
es mangelt daher nicht an Versuchen, ihr auch diese Weihe zu geben. Schon
im Jahre 1824 brachte der damalige Sprecher des Kongresses, Clan, den Antrag
ein, der Monroedoktrin Gesetzeskraft zu verleihen. Aber der Antrag stieß auf
solche Opposition, daß er nicht einmal zur Abstimmung gebracht, sondern bald
zurückgezogen wurde. „Politische Quertreibereien und Parteiwirtschaft waren
inzwischen (in dem einen Jahre seit der Verkündung!) eingerissen," bemerkt
Dunning hierzu bekümmert.
Die Ironie des Schicksals wollte es, daß die Vereinigten Staaten selbst es
sich versagen mußten, ihrer Doktrin auch für Südamerika Geltung verschafft zu
sehen. Im Jahre 1826 hatte Bolivar. der Erkämpfer der Freiheit für einen
großen Teil Südamerikas, alle Staaten Amerikas zu einem panamerikanischen
Kongreß nach Panama eingeladen. Der hauptsächliche politische Zweck, den er
damit verfolgte, war, abgesehen von dem erwünschten engeren Zusammenschluß
aller amerikanischen Staaten, der Wunsch, der Monroedoktrin auch für Süd¬
amerika Geltung zu verschaffen. Er erhoffte damit die Vereinigten Staaten zum
Schutze Südamerikas gegen etwaige Übergriffe der Heiligen Allianz zu verpflichten.
Solche sie betastenden Folgerungen wollten die Vereinigten Staaten nun doch
nicht aus ihrer Lehre gezogen wissen, und erst nach langen Kämpfen und
Beratungen entschlossen sie sich überhaupt erst zu einer Beteiligung an dem
Kongreß. Es wurden mit ganz beschränkten Vollmachten zwei Vertreter nach
Panama entsandt. Aber der eine von ihnen starb auf der Reise, der andere
erreichte Panama erst, als der Kongreß — wegen mangelnder Beteiligung —
gescheitert war. So blieben die Vereinigten Staaten davor bewahrt, sich selbst
mit ihrer Monroedoktrm desavouieren zu müssen. Aber es wurden doch den
jungen südamerikanischen Republiken die Augen darüber geöffnet, wessen sie sich
von ihrer großen Schwester im Norden zu versehen hatten, „daß die Vereinigten
Staaten sich auf die Monroedoktrm beriefen, wenn sie Vorteil daraus zu ziehen
gedachten; aber wenn sie kein Geschüft damit machen konnten, blieben sie stumm."
(Min S, 90.)
Viele Jahrzehnte später, im Jahre 1890, versuchten sie noch einmal ihrer
Monroedoktrm Geltung zu verschaffen, aber ohne sich lästige Verpflichtungen
aufzubürden. In diesem Jahre ließ der Staatssekretär Blaine Einladungen an
alle südamerikanischen Staaten ergehen, zu einem Kongreß zusammenzutreten,
der über einen engeren Zusammenschluß beraten sollte. Die wichtigsten Punkte
des Programms waren Vorschläge über einen Zollverein sür den ganzen
Kontinent und Einsetzung eines obligatorischen Schiedsgerichtes. Aber die süd¬
amerikanischen Republiken erkannten bald mit dein Scharfblick des Schwächeren,
welche Society I^omina sie da eingehen sollten. Es war nicht schwer voraus¬
zusehen, daß das vorgeschlagene Schiedsgericht bald den Vereinigten Staaten die
Vorherrschaft bringen mußte, und auch der Zollverein konnte lediglich den
Vereinigten Staaten Vorteil bringen, zumal diese sich weigerten, ihren Tarif
zugunsten der südamerikanischen Produkte herabzusetzen. So scheiterte der Plan,
sich unter dem Schutze der Gedanken Monroes die Vorherrschaft in Amerika zu
sichern, ebenso wie er nicht einmal die Zustimmung der gesetzgebenden Faktoren
der Vereinigten Staaten hatte finden können.
Wer wie steht — so fragt man sich — die schlichte und bescheidene Lehre
Monroes, die nur Amerika für seine Bewohner forderte, im Zusammenhang
mit der rücksichtslos imperialistischen Politik, wie wir sie auf dem Kongreß 1890
und in eineni Buch, wie dem anfangs zitierten von Homer Lea, vertreten sehen?
Wie ist es möglich, daß zwei so grundverschiedene Bestrebungen sich auf dasselbe
Prinzip stützen können? Einen sehr einfachen Ausweg findet Dunning aus diesem
Dilemma. Es ist die Antwort des typischen Amerikaners, wenn er schlicht
und einsach erklärt: gemäß den Veränderungen im Lause der Zeiten ist
die Monroedoktrm aus einem passiven Prinzip zu einem aktiven verwandelt,
und „was wir jetzt Monroedoktrm nennen und als Grundgedanken unserer
auswärtigen Politik schätzen, ist das Prinzip, das Monroes Erklärung
zu Grunde lag, nicht diese selbst." Der Humor davon, daß man aus einem
Nein ein Ja gemacht hat und trotzdem nun ernst behauptet, es sei das alte
Nein, scheint Dunning abzugehen. Man braucht diese Motivierung nur mit
Monroes eigenen Worten zu vergleichen, um einzusehen, daß eine solche Erklärung
für die Wandelbarst der Monroedoktrin unhaltbar ist. Vielmehr muß man
die Geschichte der Vereinigten Staaten während des ganzen neunzehnten Jahr¬
hunderts verfolgen, um zu sehen, wie die Monroedoktrin bewußt und planmäßig
entwickelt worden ist, solange entwickelt worden ist, bis von dem ursprüng¬
lichen Gedanken Monroes nichts mehr übrig blieb. Hier freilich kann nur auf
die Hauptpunkte dieser Entwicklung hingewiesen werden.
Schon der Präsident Pott baut durch seine Botschaft vom 2. Dezember 1845
die alte Monroedoktrin aus. Zwar schränkt er ihr Geltungsgebiet auf Nord¬
amerika ein, aber er erweitert sie stark, indem er statt der von Monroe beab¬
sichtigten Gegenintervention — also erst wenn Europa mit einer Intervention
angefangen hätte — eine Präventiv-Jntervention statuiert. Pott erachtet Ein¬
griffe in die Einzelstaaten Amerikas schon für zulässig, um einer Intervention
Europas zuvorzukommen. Wenige Jahre darauf ging er noch weiter, indem
er 1848 seine Erklärung vom Jahre 1845 auf ganz Amerika ausdehnt. Um einer
Intervention von Europa zuvorzukommen, greift er — in der Aucatan-Affäre —
in die Selbständigkeit eines mittelamerikanischen Staates ein.
Während der kurzen Episode des Kaisertums Kaiser Maximilians von
Mexiko erfuhr die Monroedoktrin eine folgerichtige und korrekte Anwendung im
Sinne ihres Stifters. Die Vereinigten Staaten widersprachen der europäischen
Intervention von Frankreich, England, Spanien, weigerten sich, den Mächten sich
anzuschließen, und protestierten schließlich gegen die Errichtung einer Monarchie.
Die Stärkung, die die Monroedoktrin bei dieser Gelegenheit erführen hatte,
ermutigte den Präsidenten Grant, im Jahre 1870 sie weiter auszubauen. Aber
er griff nicht auf das Original zurück, sondern auf die Polksche Weiterbildung.
Sein Versuch, San Domingo im Zeichen der Monroedoktrin zu annektieren,
war allerdings gescheitert. Der Senat hatte sich seiner kühnen Beweisführung,
daß man die Monroedoktrin verletze, wenn man San Domingo nicht annektiere,
da man so bei den ungeordneten Zuständen eine Intervention europäischer Mächte
möglich mache, nicht angeschlossen. Immerhin aber war es ihm gelungen, das
Polksche System der Präventiv-Jntervention zum Nutzen der Vereinigten Staaten,
zum Schaden aller anderen Staaten Amerikas so auszubilden und zum Gemeingut
seiner Nation zu machen, daß jeder seiner Landsleute in der Grant-Polkschen
seine alte Monroedoktrin sah. In dem schnelllebigen Lande der unbegrenzten
Möglichkeiten war durch das common lew der Engländer — das Gewohnheits¬
recht, das sich in vielhundertjährigen Gebrauch in England so oft bildet —
in fünfzig Jahren das unmöglich Scheinende möglich geworden: die alte Monroe¬
doktrin lebte in den Herzen der Amerikaner lebendig fort, ohne daß indes ein
Wort ihres alten Inhaltes in der nun verkündeten Lehre vorhanden war. So
geschickt war sie dem sich wandelnden Nationalcharakter der Amerikaner entsprechend
fortgebildet worden.
Nun, einmal verändert, wurde sie rücksichtslos angewandt, nicht nur gegen
Europa sondern ebenso gut gegen das übrige Amerika. Eine Gelegenheit zu
zeigen, was man sich unter der Grant-Pott-Doktrin dachte, ergab sich bei dem
VenezuelakonM des Jahres 1895. AIs England die Grenzen seiner süd¬
amerikanischen Kolonie Guyana immer weiter gegen Venezuela vorschob, ent¬
standen zwischen beiden Staaten Streitigkeiten. In diese Streitigkeiten griffen
die Vereinigten Staaten auf Veranlassung des damaligen Staatssekretärs Olney —
natürlich unter Berufung auf die Monroedoktrin — ein und boten ihre Dienste
zur Schlichtung des Konfliktes an. Dieser Drohung mit einer Intervention —
denn nichts anderes war das Eingreifen der Vereinigten Staaten, — begegneten
die Engländer außerordentlich kühl und scharf. In zwei Depeschen gab Lord
Salisbury seiner Verwunderung darüber Ausdruck, wie mau sich im vorliegenden
Falle auf die Monroedoktrin, jenes so oft desavouierte und unklare Dogma,
berufen könnte. Die Antwort erregte in den Vereinigten Staaten lebhafte
Erregung und kriegerische Stimmung. Schließlich wurde ein Ausweg gefunden,
indem beide Mächte ein europäisches Schiedsgericht anriefen. So wurde die
Grundregel der alten Monroedoktrin verletzt, indem die Entscheidung über eine
Angelegenheit Amerikas in die Hände Europas gelegt wurde. Aber viel wichtiger
ist die Tatsache, daß man die Monroedoktrin nicht wie bisher zur Verteidigung
gegen Europa sondern zum Augriff gegen dasselbe benutzte. Nachdem man so
sich England als Schiedsrichter hatte aufdrängen wollen, fehlte nur noch ein
Schritt, daß man Europa offen angriff. Und dieser Schritt wurde in Kuba
getan. Aber es gelang den Sophisten der Vereinigten Staaten, selbst
diesen Schritt unverhüllter Willkür und rücksichtslosen Imperialismus unter
die Rubrik Monroedoktrin — es handelt sich natürlich um die von Grant-
Polk abgeänderte — zu bringen. So gering das wissenschaftliche Interesse an
der Deduktion ist, so groß ist das psychologische und psychiatrische: Monroe
habe es als Aufgabe der Vereinigten Staaten erachtet, jede Verschlechterung der
politischen Lage der Kolonien in Amerika zu verhindern. Eine solche Ver¬
schlechterung sei aber durch das Verhalten Spaniens Kuba gegenüber herbei¬
geführt worden. Somit sei die Monroedoktrin verletzt worden usw.
Es versteht sich von selbst, daß, nachdem dieses Kunststück gelungen war,
sich die Rechtmäßigkeit der Aneignung von Hawai, der Philippinen usw. leicht
und zwanglos in analoger Art nachweisen läßt.
So ergibt sich die Antwort auf die Frage, wie sich die alte Monroe¬
doktrin mit dem Verhalten des modernen Amerikas vereinigt, ganz von selbst:
garnicht. Die alte Monroedoktrin ist tot, und das, was als solche verkündet
wird, ist die planmäßige, bewußte Schaffung moderner imperialistischer Grund¬
sätze durch neu-amerikanische Politiker, mit dem Zweck, der amerikanischen
Eroberungslust ein historisch-wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen.
Wenn es noch eines Beweises bedürfte, daß die Umgestaltung der Monroe¬
doktrin eine bewußte war und nur zu dem Zweck inszeniert wurde, die Herrsch¬
gelüste der Amerikaner zu erleichtern, dann gibt es keinen Beweis, der so schlüssig
wäre wie die Art, der Monroedoktrin — der alten sowohl wie der neuen —
zuwider zu handeln, wenn es sich als praktisch herausstellte. Man überging
sie einfach, wenn sie unzweckmäßig war, mochten die Voraussetzungen für ihre
Anwendung sonst auch noch so kraß gegeben sein. Daß die Monroedoktrin im
Falle des Venezuelastreites vergewaltigt wurde, ist schon erwähnt worden;
immerhin läßt sich noch geltend machen, daß den Vereinigten Staaten da»
mals gar nichts anderes übrig blieb, als den Schiedsgerichtsvorschlag Eng¬
lands anzunehmen, um aus ihrer bedrohlichen Lage herauszukommen. In diesem
Falle mußte sich eben wieder einmal das hohe Prinzip den Erwägungen des
praktischen Lebens beugen. Aber daß die Vereinigten Staaten das Anerbieten
Bolivars, die Monroedoktrin auf Südamerika auszudehnen, ablehnten, weil sie
sich von den theoretischen Verpflichtungen, die sie damit übernahmen, scheuten,
kann nicht entschuldigt werden. Ebenso versagten die Vereinigten Staaten, als
im Jahre 1835 Guatemala sie zu Hilfe gegen englische Übergriffe rief. Es war
der Schulfall für die Anwendung der alten oder neuen Monroedoktrin. Aber
der Präsident Jackson erklärte, sich nicht mit der Sache befassen zu wollen. Da
es gegen England ging, fand er nicht einmal den Mut zu einem kümmerlichen
Protest. Auch der ganze Clayton-Bulwer-Vertrag ist nichts anderes als eine
schreiende Verletzung der Monroedoktrin. Dadurch, daß die Vereinigten Staaten
mit England 1850 einen Vertrag abschlossen, der die Neutralität des
zwischen Atlantischen und Stillen Ozeans zu bauenden Kanals betraf, räumten
sie England ein Mitbestimmungsrecht über Dinge, die Amerika betrafen, ein.
Es war also ein klarer Verstoß gegen die Monroedoktrin. Es hat den Vereinigten
Staaten viel Mühe gekostet, fünfzig Jahre später durch den Hau - Pauncefote-
Vertrag von diesem Vertrage loszukommen. Wir sehen demnach, daß selbst ein so
geheiligtes Nationalprinzip, wie die Monroedoktrin, Ausnahmen erdulden kann,
und zwar dann, wenn es einem Stärkeren gegenüber zur Anwendung gebracht
werden soll, oder wenn man selbst auch Verpflichtungen dadurch eingehen soll.
Das Ergebnis der Untersuchungen über die Monroedoktrin ist also
folgendes:
Die Monroedoktrin ist ein für die Geschichte der zwanziger Jahre sehr
wichtiges politisches Dokument der Vereinigten Staaten. Es drückt den Willen
des amerikanischen Volkes aus, gleichberechtigt und unabhängig neben Europa
zu leben.
Die Monroedoktrin hat nur im Zusammenhang mit den damaligen geschicht¬
lichen Ereignissen Sinn und Bedeutung. Als Dogma betrachtet, aus dem
Zusammenhang gerissen, ist sie sinnlos.
Eine formell Staats- oder völkerrechtliche Bedeutung hat sie nicht; denn alle
Versuche, ihr eine solche zu geben, sind gescheitert.
Die von den modernen Amerikanern als Monroedoktrin verkündete Lehre
hat mit der alten nichts gemein. Es ist der von neueren amerikanischen Politikern
gefundene und beabsichtigte Willensausdruck des amerikanischen Volkes für seine
imperialistische Politik.
Die Monroedoktrin — die alte sowohl wie die neue — ist unregelmäßig
und nur dann angewendet worden, wenn es gerade tunlich oder zweckmäßig
erschien.
Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, sich mit den neu-amerikanischen
Politikern auseinanderzusetzen und sie zu fragen, wie sie es wagen können, ihre
Bestrebungen unter der Flagge der alten Monroedoktrin segeln zu lassen. Um
ihnen mildernde Umstände für ihre Rabulistik und bis ans Böswillige grenzende
Verdrehung der Tatsachen zu geben, müßte man sie zuerst fragen, mit welchem
Recht die Vereinigten Staaten die ihnen von Monroe vorgeschriebene Politik
der Isolierung aufgegeben haben. Herrschte Landmangel, Übervölkerung und
ein hierdurch hervorgerufener berechtigter Expansionsdrang? Nein; Amerika
kann noch auf Jahrzehnte hinaus alle Produkte, deren seine Bevölkerung bedarf,
selbst erzeugen: nach vorsichtigen Schätzungen kann es zweihundert Millionen
Menschen ernähren*). Es ist eines der wenigen Länder, das innerhalb seiner
Landesgrenzen alle erforderlichen Rohprodukte, Mineralien, nicht nur besitzt,
sondern auch verarbeiten und verbrauchen kann. Ein innerer Grund für eine
Expansionspolitik liegt also nicht vor. Diese entspringt vielmehr lediglich rein
äußerlichen Motiven des Ehrgeizes, der Habsucht, der Großmannssucht — mit
einen: Wort: imperialistischen Motiven.
So, wie sich die Monroedoktrin jetzt im Munde des modernen amerikanischen
Staatsmannes darstellt, ist sie nichts als ein Hohn, eine Unverschämtheit**).
Denn man hat sie nach zwei Richtungen hin erweitert:
Das Gebiet, das der Einmischung fremder Nationen entzogen ist, wird,
je nach den Bedürfnissen des Imperialismus, erweitert: es wird unbedenklich
auf Südamerika. Westindien, Hawai, die Philippinen erstreckt — das ist der
heutige Status — und ist unbegrenzt erweiterungsfähig.
Das selbstverständliche und von Monroe auch ausgesprochene Äquivalent
für das: „Amerika den Amerikanern!" nämlich: „Amerika enthält sich auch
seinerseits aller Einmischungen in die Angelegenheiten fremder Länder" —
diese selbstverständliche Einschränkung ist weggefallen und gibt den Amerikanern
nunmehr die theoretische Berechtigung sich ihrerseits an den Angelegenheiten
fremder Länder zu beteiligen.---
Dies also ist der gegenwärtige Stand der Monroedoktrin: auf der einen
Seite wird nicht nur jeder Eingriff einer fremden Macht in die Angelegenheiten
der Vereinigten Staaten — das wäre berechtigt und nur selbstverständlich —
als eine unfreundliche Handlung betrachtet, sondern auch jede Einwirkung auf
die kleinen Mittel- oder südamerikanischen Republiken, deren Geschäftsgebahren
doch oft genug zu Bedenken Anlaß gibt*).
Aber anderseits bleibt es den Vereinigten Staaten unbenommen, sich ihrerseits
überall dort einzumischen, wo ein Verdienst oder eine Vermehrung des Prestiges
herauszuholen ist — sei es nun in China, in der Mandschurei oder auf dem Balkan.
Man wird ohne weiteres zugeben, daß die Vorteile einer solchen Auffassung
lediglich auf feiten Amerikas liegen. Und doch ist es schließlich nicht nötig, sich
über die amerikanischen Monroeansprüche übermäßig aufzuregen. Eine so eminente
praktische Bedeutung wird sie wohl kaum in der Zukunft erlangen. Denn es
ist klar, daß die europäischen Mächte keinerlei Veranlassung haben, sich an einen
solchen Leitsatz für gebunden zu halten und dieser Marotte der Amerikaner eine
größere Bedeutung beizumessen, als sie selbst es getan haben, — nämlich eines
für viele Geschäfte sehr geeigneten Bluffs. Deshalb scheinen mir auch die
Bedenken nicht so schwerwiegend zu sein, die Pekin und Pohlan den Monroe-
vorbeho.le auf der Haager Konferenz 1899 knüpfen. Hier hatten die Vereinigten
Staaten erklärt, nur dann zu einem der wichtigsten Artikel, Artikel 27, ihre
Zustimmung geben zu wollen, wenn ein Vorbehalt, der sich mit der Monroe-
doktrin deckte, mit aufgenommen würde. Es ist amüsant zu lesen, auf wie
hartnäckigen Widerspruch die amerikanischen Delegierten sich gefaßt machten, wie
sorgfältig sie Entgegnungsreden präpariert hatten, und wie der gefürchtete Vor¬
behalt dann ohne irgendwelche Diskussion angenommen wurde. Polin und Pohl
fürchten, daß damit ein Präzedenzfall geschaffen, die Monroedoktrin nunmehr
von Europa anerkannt sei. Dies scheint mir nicht so gefährlich zu sein. Hier
trifft der Satz: ()ni weet consentire vicketur sicher nicht zu. Denn wozu
sollte man schweigend seine Zustimmung geben? Zu einem Leitsatz, der Grundsätze
aufstellt, die von dem Erfinder selbst nicht gehalten werden? Dessen ursprüng¬
licher Sinn im Laufe weniger Jahrzehnte den durchgreifendsten Änderungen
unterlag? Nein, die Mächte haben nicht zugestimmt, sondern sie haben keine
Diskussion angefangen, um die Beratungen nicht zu verzögern und den Artikel 27,
der ihnen wohl wichtiger war als die ganze Monroedoktrin, unter Dach zu
bringen. So schadeten sie sich nicht und taten den Amerikanern einen Gefallen.
Eine andere Frage ist es, ob die Vereinigten Staaten sich nicht selbst damit
schaden, wenn sie solche Vorbehalte in ihre Verträge hineinsetzen, indem sie ihre
Vertragsfähigkeit mindern. Aber das ist eine Frage, die sie mit sich selbst
abmachen müssen. Uns interessiert sie nicht.
Vielmehr ist für den Deutschen nur von Bedeutung das praktische Ergebnis,
das man aus der Erkenntnis von dem negativen Wert der Monroedoktrin zu
gewinnen hat. Es ist die Folgerung, die man aus jedem Bluff, jeder Prätension
zu ziehen hat: sich nicht durch solche Versuche des Gegners, eine stärkere Position
vorzutäuschen als er wirklich einnimmt, irre machen zu lassen und nicht vor
ihnen zurückzuweichen. Gerade den angelsächsischen Nationen gegenüber, die es
lieben, ihre offensiven Machtansprüche mit dem Schein der rechtlich begründeten
Forderung zu umkleiden, ist das von Bedeutung. Und im besonderen Maße
trifft es auf die Amerikaner zu, die solche scheinbaren Forderungen des Rechts
und der Gerechtigkeit noch außerdem ausstatten mit einer Fülle von tönenden
Phrasen, wie sie nur dem Republikaner zur Verfügung stehen.
Aber abgesehen davon, daß man sich von einer starken und selbstbewußten
Politik gegenüber den Vereinigten Staaten durch deren Monroedoktrin und
Imperialismus schon allein aus nationalem Ehrgefühl nicht abbringen lassen
dürfte, auch wenn die Vereinigten Staaten nicht vor einem Kriege zurückschreckten —
ganz abgesehen davon erscheint es überhaupt fraglich, ob die Amerikaner in der
Lage sind, ihre Worte erfolgreich durch die Tat zu bekräftigen „to back
tneir opinion", um ihren Jargon zu gebrauchen. In der Tat scheint die
Vermutung nicht unbegründet, daß sie im sicheren Gefühl der Unangreifbarkeit
und des Schutzes zweier Ozeane ihre Wehrkraft vernachlässigt haben. Daß
Amerikas Hunderttausend-Mann-Armee keine entscheidende Rolle in einem ernsten
Kriege spielen kann, war wohl ohne weiteres klar; und auch seine Flotte verliert
viel von ihrem äußerlich imponierender Eindruck, wenn man die Nachrichten
über die Disziplin auf amerikanischen Schiffen, die zahlreichen Desertionen*) und
die häufigen Unfälle aufmerksam verfolgt. Aber wie wenig Amerika auf einen
großen Krieg vorbereitet ist, das ersieht man erst aus den verzweifelten Warnungs¬
rufen, die Homer Lea in seinem Buche ausstößt. Und wenn man auch einen
Teil seiner Befürchtungen der patriotischen Tendenz des Buches zugute halten
muß, so rechtfertigen allein die von ihm angeführten Tatsachen die Warnung
vor einer Überschätzung der Wehrmacht Amerikas.
Aus all diesen Erwägungen heraus erscheint der Wunsch gerechtfertigt, daß
sich Deutschland — anders als bisher — nicht mehr zu sehr saszinieren lassen
möge von der wirtschaftlichen Stärke der Vereinigten Staaten, daß es die von
ihnen erhobenen Ansprüche, und mögen sie auch noch so sehr durch Monroe-
oder andere Doktrinen begründet sein, nüchtern prüfe, und daß es schließlich
alle Übergriffe nicht nur auf politischem, sondern vor allem auf wirtschaftlichem
Gebiet zurückweisen möge. Die Gelegenheit dazu bietet sich oft genug.
L
Wffas staatliche Lotteriewesen ist bei den Ethikern schlecht angeschrieben.
Was ließe sich auch vom moralischen Standpunkte viel zu seinen
Gunsten sagen? Keine staatliche Lotterie ist jemals aus einem
andern Grunde eingerichtet worden als aus dem des Geld¬
bedürfnisses. Der Staat benutzt das Verlangen der Menschen
nach Geld und Gut, um sich eine mehr oder minder gute Einnahme zu ver¬
schaffen. Eine Besteuerung der Hoffnungsseligkeit I
Aber ob auch schon viel gegen das staatliche Lotteriewesen moralisiert
wurde, die Staatspraktiker ließen nicht davon ab. Schon das Frankfurter
Bundesparlament wollte den Staatslotterien ein für allemal ein Ende machen,
sie blieben jedoch erhalten, ja sie haben manche andere Staats einrichtung über¬
dauert. Preußen hat seine auf das Jahr 1703 zurückzuführende Lotterie neuer¬
dings durch die Lotterieverträge mit zwanzig Bundesstaaten bedeutend aus¬
gedehnt, und da auch in Sachsen und Hamburg die Lotterien eingebürgert sind
und die süddeutschen Staaten eine Lotteriegemeinschast planen, wird weniger
als jemals früher an einen Rückgang zu denken sein.
Gerade diese Ausdehnung des Lotteriewesens rechtfertigt einen Vorschlag,
der, ob er auf den ersten Augenblick etwas wunderlich erscheinen mag, doch
geeignet sein würde, unsere geistige Kultur auf eine praktische Art zu fördern.
Wir denken an die Nutzbarmachung der Lotterien zur Verbreitung guter
Bücher.
Was auch in den letzten Jahren geschrieben und geredet wurde gegen die
als Gefahr erkannte Schund- und Schmutzliteratur — immer ist der vernünftige
Schluß der, daß das beste Gegenmittel die Ablenkung vom Schlechten und die
Hinlenkung auf das Gute ist. Zu diesem Zwecke haben sich große Vereine und
Gesellschaften gebildet, aber auch an Aufforderungen an die Regierungen hat
es nicht gefehlt, sich ernsthaft um diese kulturelle Bewegung zu kümmern. Wir
meinen.es braucht nicht bei denbereitwilligzugesagten „wohlwollenden Erwägungen"
zu bleiben.
Man vermutet, daß wir den Regierungen vorschlagen werden, den Gewinn
aus der Staatslotterie zur Unterstützung dieser Bestrebungen herzugeben. Aber
so weit gehen wir nicht. Das wird kein Staat tun, weil jeder die Lotterie
nicht eines idealen Zweckes wegen betreibt, sondern des Gewinnes wegen. Doch
Zureden hilft. Wir verlangen nicht den Verzicht auf den Gewinnertrag. Wir
schlagen etwas anderes vor: Der Staat soll die „Genieteten" nicht leer aus¬
gehen lassen'; er soll den vom Glück betrogenen Nietenbesitzern einen sanften
Trost bereiten, und er soll damit etwas Praktisches wirken zugunsten des Lese-
und Bildungsbedürfnisses.
Wir denken uns die Sache etwa so: Im allgemeinen hat die Lotterie¬
praxis dazu geführt, daß an der Spitze der Lotteriepläne außer sogenannten
„Prämien" eine Reihe fetter Gewinne stehen. Die preußische Lotterie stellt für
den günstigsten Fall 800000Mark in Aussicht, die sächsische ebenfalls 800000Mark.
Es folgen Gewinne von 500000, 300 000, 200000 Mark usw. Es mag sein,
daß diese sogenannten „Prämien" wie überhaupt die in allen Lotteriereklamen
obenanstehenden dicken Ziffern einen Reiz auf die hoffnungsseligen Spieler aus¬
üben; aber würde nun die Kürzung einer „Prämie" von 300000 Mark um
50000 Mark oder der Gewinne von 500000 Mark oder 200000 Mark um je
25000 Mark die Zahl der spiellustigen vermindern und das „Geschäft"
schädigen? Das ist kaum anzunehmen. Gerade gegen dieses Prämiensystem
wie gegen die übertrieben hohen Hauptgewinne lassen sich übrigens aus mancherlei
Gesichtspunkten heraus gewichtige Bedenken geltend machen. Jedenfalls würde
eine Kürzung der Prämien oder der Hauptgewinne leicht die Mittel liefern, um
den „Genieteten" das Kaufrecht auf ein Buch zu verleihen.
Der Vorschlag ließe sich in verschiedener Weise verwirklichen. Der Staat
könnte die Bücher, die als Trostgewinne in die Hände und Häuser der Spieler
gelangen sollen, selbst herstellen. Richtig angefangen, hätte er damit ein vorzüg¬
liches Mittel, der vielbeklagten Unwissenheit in staatlichen Dingen entgegen¬
zuwirken. Zum Beispiel: Es wird ein jährlich neubearbeitetes Staatshandbuch
herausgegeben; nennen wir es Staatskalender. Die Staatseinrichtungen, die
Gesetzgebung, die statistischen Zahlen der Bevölkerungslehre, gemeinnützige
Bestrebungen, Gesundheitspflege usw. werden in volkstümlicher Darstellung
behandelt. Für alle Stände ließe sich da regelmäßig ein sehr nützlicher Stoff
zusammentragen. Man könnte ein jährlich wiederkehrendes Buch, ein Volksbuch,
schaffen, das jedem willkommen wäre. Mit einem Aufwand von 50 bis 100000
Mark ließe sich etwas leisten.
Aber so verlockend wir diesen Vorschlag auch ausmalen möchten — jede
Negierung wird es einigermaßen scheuen, sich darauf einzulassen. Sie wird die
allezeit fehdelustige Kritik ihrer Gegner fürchten, und welche Regierung hätte
keine Gegner? Wie scharf pflegt man mit den Regierungsblättern umzuspringen,
und wie mißtrauisch würde man erst ein solches literarisches Unternehmen ver¬
folgen! Das müßte freilich nicht so sein. Eine geschickte Handhabung, losgelöst
von bureaukratischer Engherzigkeit und parteipolitischer Zwecken, der Beweis der
guten Absicht würden voraussichtlich jede unberechtigte Kritik niederschlagen.
Aber — es bleibt bei den: Aber.
Besehen wir ein anderes Verfahren. Der Staat könnte gegen die leer
ausgegangenen Spieler durchaus liberal verfahren. Statt sie mit einem von
ihm selbst herausgegebenen Buche zu bedenken, mag er ihnen das Anrecht geben,
sich nach freier Wahl in einer Buchhandlung gegen Auslieferung des nicht
gezogenen Loses ein Buch auszusuchen. Allerdings kommen wir dabei auf einen
bösen Punkt. Soll sich der Staat zum literarischen Richter über gut und böse
aufwerfen? Nun, er kann sich helfen. Haben wir nicht Kultusministerien? Es
ist kein unerhörtes Verlangen, daß sie sich um die Erzeugnisse unseres Geistes¬
lebens bekümmern. Wäre es etwas Unmögliches, die Werke unserer Literatur
zusammenzustellen, über deren Wert das Urteil abgeschlossen ist? Große Vereine,
wie die Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung, der Dürerbund, haben
vorgearbeitet. Wenn ein Kultusministerium trotzdem die Verantwortung scheut,
mag es einen literarischen Beirat aus verständigen Männern berufen, der das
Verzeichnis der, sagen wir „Lotteriebücher", zur freien Auswahl zusammenstellt.
Selbstverständlich sind damit nicht alle praktischen Einwendungen abgetan.
Vom Buchhandel erwarten wir keine Schwierigkeiten. Die bei ihm gegen Bücher
einzutauschenden Lose sind für ihn Gutscheine, über die er bei der Lotteriekasse
regelmäßig abrechnet. Ein glattes Geschäft, bei dem Verluste ausgeschlossen
sind. Es fragt sich noch, mit welchem Betrag das einzelne Eintauschen zu
berechnen ist. Doch das ist eine Sache rein finanzieller Art. Nehmen wir an,
eine Lotterie rechne in fünf Klassen mit insgesamt fünfhundertfünfzigtausend
Gewinnlosen, denen vierhundertfünfzigtausend nieder gegenüberstehen, so müßten,
wenn jedes Nietenlos als Buchgutschein mit 20 Pf. angerechnet werden soll,
zur Deckung 90000 Mark vorhanden sein. Um sie zu beschaffen, würden also
die Prämie, der erste und zweite Hauptgewinn um je 30000 Mark zu kürzen
sein. Das ist keine Schwächung des Lotterieplanes, von der man eine Er¬
schwerung des Absatzes der Lose befürchten könnte. Es ist im Gegenteil
anzunehmen, daß die Neuerung keinen Spieler verdrießen, sondern ihn über
die Häufigkeit seines Mißgeschicks trösten wird. Dem Spieler muß gestattet
sein, seine Nietenlose anzusammeln, um dann nach seinem Belieben Bücher zu
höherem Preise erstehen zu können. Wenn also beispielsweise ein Spieler in
einer fünfklassigen Lotterie ein Zehntellos durch alle Klassen spielt und in jeder
Klasse leer ausgeht, hätte er nach Erledigung der letzten Klasse fünf Nietenlose
zu je 20 Pf. zum Eintausch bereit, könnte also ein Buch zum Preise von
1 Mark verlangen; hat er zehn Zehntellose als Gutscheine beisammen, so kann
er ein Buch zum Preise von 2 Mark wählen. Eine Frage der Zweckmäßigkeit
ist es, ob man diese Verwendung der nieder unbegrenzt zulassen oder eine
zeitliche Beschränkung einführen will.
Unsere Ethiker schütteln die Köpfe. Welch eine prosaische Verquickung I
Lotterie und Literatur! Das Volk mit Büchern versorgen, weil es vom Spiel¬
trieb nicht lassen kann? Vielleicht ist gar beabsichtigt, diesen Spieltrieb noch
zu steigern? Kein erhebender Gedanke!
Aber wäre es denn zum ersten Male, daß Hohes und niedriges zum
guten Zwecke vereint worden wären? Kein Wohltätigkeitsbasar könnte statt¬
finden, wenn ganz allein auf den Edelsinn der Menschen gerechnet würde. So
verfehmt sonst das Wort ist, es gibt doch Fälle, wo der Zweck das Mittel
heiligt. Es handelt sich, kurz gesagt, um ein Mittel, Millionen guter Bücher
in die Wohnungen hineinzubringen, wo sie, wenn auch zunächst mit sauersüßem
Lächeln, als „Gewinne" aufgenommen würden.
Oder glaubt man, die geplante Einrichtung werde mißachtet werden? Die
Spieler würden, enttäuscht ob des entgangenen und, ach, wie sehnsüchtig
erwarteten Geldgewinnes auf die Durchsicht des Verzeichnisses der „Lotterie¬
bücher" und auf den Gang zum Buchhändler verzichten?
Dagegen spricht alle Erfahrung. Der Erwerbssinn wird mitsprechen. Für
sehr viele unserer lieben Mitmenschen ist heute gewiß die Versorgung mit
geistiger Nahrung die allergeringste Sorge. Und doch ist es ebenso Tatsache,
daß heute der Bildungsdrang mehr und mehr die Massen erfaßt. Ganz gewiß
wird manches Buch, das wir nach unserem Vorschlage aus dem Laden in die
Wohnungen schaffen wollen, nicht zu den Ehren kommen, die es verdient; aber
ebenso sicher werden Tausende, ja mit der Zeit Millionen von Büchern ihrem
Berufe, auf die Menschen zu wirken, zugeführt werden.
Man bringe gute Bücher unter die Leute. Das ist der Endzweck, den
wir im Auge haben.
F'-M^U)
W>5ÄROM
WKHAonja Kaürina trat ins Freie; es war Nacht, aber alles herum schien
!so hell wie am Tage. Die Erde, das Haus, die Ställe und die
niedrigen Gebäude, in denen das Gold gewaschen wurde, leuchteten
!weiß wie Kreide. Und es war unbegreiflich, woher dieser lichte
I Glanz stammte.
Ein leiser Schauer überrieselte Sonja Kaürina in der feuchtwarmen, weißen
Frühlingsnacht.
„Ich fürchte mich, Fräulein, ach, ich fürchte mich so sehr", sagte Marfuscha.
Sie trug den kleinen Koffer und ein Kissen nebst Plaid."
„Sei nicht bange, Marfuscha. . . Aber wo ist denn Stepan?
„Hinter dem Stall, Fräulein."
Stepan und die Pferde sahen im weißen Licht der Frühlingshelle ungewöhnlich
und geheimnisvoll aus. Das feuchte Murmeln des Flusses schien lebendig und
der Fluß selbst ein sage »Haftes Ungetüm, das aus den Tiefen der Erde empor¬
gestiegen war und sich nun im warmen Frühling ungebärdig hin und her wälzte.
Die Pferde schmausten ängstlich. Unruhig ging Stepan von einem zum
andern.
„Wollen wir fahren, Fräulein?" fragte Stepan, und es war, als wundere
er sich selbst, daß es dazu kommen sollte.
„Ja, gewiß. Geht es denn nicht?"
„Sie wissen ja selbst, Fräulein, daß die Flüsse aus den Ufern getreten sind.
Und nachts ist es in diesen Gegenden nicht geheuer zu fahren. Unsere Pferde
kennt man zehn Werst im Umkreis. ,Aha/ wird man sagen, ,das sind die von
den Goldbergwerken/ Ich habe deshalb schon die Schellen abgebunden."
„Habe keine Furcht, Stepan. Es wird uns nichts zustoßen; wir werden
schon glücklich bis zur .Grünen Herberge' gelangen,, und dort nehme ich andere
Pferde."
Stepan war beschämt:
„Wie Sie wünschen, Fräulein. Gott ist barmherzig."
Er schwang sich auf den Bock und nahm die Zügel in die Hand. Die
Pferde zogen an und fielen in einen ungleichmüßigen Trab. Die weiße Stande
erschreckte sie, und sie fühlten, ebenso wie Sonja Kaürina, die Unruhe Stepans.
„Leb' wohl, Marfuscha."
Sonja wollte sich bekreuzigen, zögerte aber einen Augenblick, als schäme sie
sich. Gleich darauf besann sie sich, befreite die Hand aus dem Plaid, in den sie
sich eingewickelt hatte, und machte das Zeichen des Kreuzes. In der weißen
Nacht schien alles wie verzaubert, unwirklich, unwahrscheinlich. Als die niedrigen
Goldwäschereigebände dem Blick entschwunden waren und zu beiden Seiten des
Weges ein spärlicher Tannenwald und kahle Birken sich dahinzogen, wurde es
uoch schauerlicher. Es schien, als ob gleich, bei der nächsten Biegung des Weges,
unheimliche Gestalten hervortreten und fragen würden:
„Wohin fährt Sonja Kaürina?"
Und weiter würden sie sagen, daß die Weiße Nacht und der Frühling ihnen
gehört. Das Fräulein soll zu Hause bei ihrem Vater sitzen, auf den verfluchten
Goldbergwerken — denn hier ist ihr Gebiet. „Die Nacht ist unser, Sophia",
werden die wüsten Gesellen fortfahren. „Kehre zu deinem Vater zurück — oder
wir werden dich töten."
„Warum wollt ihr mich töten?" phantasierte Sonja.
„Und warum tötet dein Vater uns? Hat er nicht erst neulich aus Jrkutsk
die Kosaken kommen lassen? Saugt er nicht Jahr für Jahr die Goldadern unserer
Erde aus? Betäubt er uns nicht durch Branntwein, und knechtet er uns nicht
durch sein tyrannisches Wesen?"
„Das ist mein Vater. Aber welche Schuld trifft mich?"
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme."
„Mir scheint, ich fange an zu phantasieren", dachte Sonja, sich mit Mühe
ermunternd, und, indem sie sich fester in ihren Plaid hüllte, sah sie mit ängst¬
lichen Augen auf Stepans Rücken, der ihr plötzlich auch unbekannt vorkam.
„Wo sind wir?" fragte sie dann und erkannte ihre eigene Stimme nicht.
„In der Saltykowschen Einöde", erwiderte Stepan, und much seine Stimme
klang fremd. Man hörte, wie irgendwo in der Nähe der Uns; traurig und schwer
aufseufzte. Zeitweise vernahm man leises Krachen, wahrscheinlich spaltete sich das
schwache Frühlingseis und versank ins Wasser.
Am Himmel ging Seltsames vor. Silberne, feuchte Schleier, die an den
Sternen zu hängen schienen, breiteten sich weit aus, und weiße Riesenflügel
spannten sich über die Erde.
Die Pferde waren unruhig, sie liefen nicht gleichmäßig, wie am hellen Tage,
sondern drängten sich eng aneinander.
Jetzt dachte Sonja Kaürina nicht mehr an ihren Vater, den sie heimlich
verlassen hatte, und eines nicht an ihren Bräutigam, der sie erwartete. Es
kam ihr vor, als würde diese angstvolle, geheimnisvolle Nacht kein Ende nehmen,
als würde sie ewig in der Trona durch den silbernen Nebel fahren, wie in
einem Märchen — und ewig würde in ihrem Herzen die Ahnung eines Unheils
erzittern. —
„Hier ist die .Grüne Herberge"^ sagte Stepan. Auf dem Abhang stand eine
große rauchige Hütte, aus der heiseres Hundegebell ertönte. Sonja stieg aus dem
Fuhrwerk und klopfte an die Flurtür.
„Die Tür ist offen. Wen schickt uns der Himmel?"
Sonja öffnete die Tür und trat in die Stiche. „Ich brauche Pferde", sagte
sie, und wieder klang ihre Stimme fremd, als hätte die Nacht alles in ihr
verändert, und als dürfe sie nicht mehr so reden wie früher.
„Pferde sind nicht zu haben. Sie müssen sich gedulden", erwiderte der
Wirt, ein großer Mann mit krausem Haar und listigen Angen.
Am Tisch saßen außer dem Wirt noch zwei Personen, ein würdiger Greis
und ein Mann in einem blauen .Kittel von unbestimmtem Alter und Aussehn.
Der Wirt schien den Alten wenig zu kennen, den andern dagegen nannte
er freundschaftlich Waßja.
„Wollen wir noch ein Gläschen trinken, Waßja?"
Als Sonja Kaürina ins Zimmer trat, stand der Manu, den der Wirt
Waßja nannte, auf und machte ihr eine Verbeugung.
„Ich brauche Pferde", wiederholte Sonja, sich ängstlich Hinsehend.
Der Wirt schien nicht gehört zu haben und rief laut:
„Olympiada! Den Samowar."
Auf der Schwelle zeigte sich eine dunkeläugige Schöne in einem Samfan
mit hochgegürtetem Mieder.
„Sie kommen von den Goldbergwerken?" fragte der Alte mit leiser Stimme.
Sonja bejahte zögernd. Dann setzte sie sich aus die Bank und sah bekümmert
auf deu Wirt.
„Ich rate dir," sagte dieser, sich an Waßja wendend, „Schmiede das Eisen,
solange es warm ist."
„Von deinen Lippen fließt Milch und Honig."
„Olympiada, habe ich nicht recht? Einem solchen Prachtkerl stehen alle
Wege offen."
Von dem ihr unverständlichen Gespräch und von der Hitze wurde es Sonja
schwindlig, und sie sank unwillkürlich mit dein Kopf gegen die Bank.
„Das Fräulein ist krank," sagte der Alte, „gebt ihr ein Kissen."
„Es macht nichts," erwiderte Sonja, „es wird gleich vergehen."
„Nach einer Stunde können wir fahren," bemerkte Waßja, indem er Sonja
anblickte. „Wenn Sie wünschen, können Sie sich zu uns in den Tarcmtaß") setzen;
wir werden Sie bis Grigorjewka bringen."
„Ich danke Ihnen."
Sonja fühlte sich fiebrig und wußte kaum mehr, was sie tun sollte; alles
denn ihr phantastisch vor.
„Nein, mein Lieber," sagte der Wirt jetzt und klopfte Waßja auf die Schulter,
„solch einen Allerweltskerl gibt es im ganzen Umkreis nicht mehr; zur Nacht
würde ich dich nicht unter einem Dache mit Olympiada lassen."
Olympiada lachte laut auf:
„Ich bin nicht dumm. Gott sei Dank habe ich selbst meinen Verstand."
Der Alte mischte sich jetzt ins Gespräch;
„Ich wundere mich über euch, meine Lieben. Immer lacht und scherzt ihr,
aber euer Lachen ist nicht lustig. Woher kommt das?"
„Was lügst du da, Alter," sagte der Wirt ärgerlich. „Wir sind schon lustig.
Du selbst sitzest da wie eine Nachteule, aber wir sind lustig."
„Gebe es Gott. In meiner Jugend war ich im Frühling immer sehr traurig
gestimmt."
„Warum denn das?"
„Ich weiß kaum, wie ich es euch erklären soll, meine Brüderchen. Wenn
im Frühling die Flüsse anschwollen und im Wasser die Balken, die Trümmer und
die herrenlosen Boote umhertrieben, dann wurde mir das Herz so schwer in der
Brust. Ich stand am Ufer, und rings um mich her das unübersehbare Wasser.
Und über dem Wasser schrie ein Bogel. Damals wußte ich noch nicht, wonach
meine Seele sich sehnte, aber jetzt weiß ich es."
„Wonach denn, Alter?"
„Nach Gott, Brüderchen."
„Was sprichst du da? Was hat Gott damit zu schaffen?"
„Sehr viel, meine lieben Freunde. Die Frühlingssluteu sind Gottes Tränen.
Er weint aus Liebe zur Erde. Und die Erde seufzt und sehnt sich nach ihm.
Lauscht auf die Stimmen des Frühlings, wenn wir weiterfahren! Die Erde ist
lebendig, Brüderchen. Sie hat eine Seele."
„Es ist möglich, daß die Erde lebendig ist," sagte Waßja und sah mit feucht¬
schimmernden Augen Sonja Kaürina an. „Was aber Gott betrifft, so ist das
noch eine große Frage. Die Erde sehen wir, sie ist hier, aber wer hat Gott
gesehen?"
„Sieh mal an, wie du fix. bist," erwiderte der Alte. „An die Erde glaubst
du, aber an Gott nicht. Und ich denke so; wenn es keinen Gott gibt, so gibt
es auch keine Erde. Dann gibt es nichts, nur einen ewigen Kreislauf,"
„Meinetwegen. Nicht ich habe ihn nusgedacht, ich pfeife darauf."
„Doch auch du wirst sterben."
„Ich genieße den Augenblick."
„Du bist ein gewandter Bursche, Waßjn," sagte der Wirt schmunzelnd.
„Solche gefallen mir. . . . Ihm ist es nnr um die Weiber zu tun, und im Jenseits
wird es sich dann schon zeigen, wer recht und wer unrecht hat."
„Mir scheint, es ist Zeit zu fahren," bemerkte der Alte versöhnlich.
„Wollen wir aufbrechen, Fräulein?"
„Ich bin bereit," sagte Sonja Kaürina. —
Der Morgen dämmerte schon herauf, als Sonja Kaürina, der Alte und
Waßja sich in den Tarantaß setzten, Sonja neben Waszja, und der Alte gegenüber.
In seinem stutzerhafter Fellmantel und der hohen Bibermütze sah Waßja,
der seines Zeichens Aufseher war, sehr verwegen aus. Sein Heller aufgedrehter
Schnurrbart, die allzu roten Lippen und die feuchtglänzender Augen erweckten
Sonjas Widerwillen.
„Gut, daß der Alte mit uns ist", dachte sie unwillkürlich.
„Ist es gefährlich, bei hohem Wasserstand zu reisen?" fragte Sonja, sich an
den Alten wendend, indem sie sich bemühte, ihren Nachbarn nicht anzusehen.
„Es wird schon gehen, Gott ist gnädig", erwiderte der Alte und bekreuzigte sich.
Sie waren erst eine Stunde unterwegs, und schou schien es, als führen sie
mitten im Fluß, von einer Insel zur andern, und als würde es bald keinen Weg
mehr geben und keine Möglichkeit umzukehren, da die Wasserfluten sich hinter ihnen
schlössen. Überall waren Wegweiser aufgestellt, einige waren schon von den Fluten fort¬
gespült und schwammen im Wasser. Auf anderen sah man ermattete Saatkrähen sitzen.
Der silberne Nebel verdichtete sich zu Wolken. In der feuchten Luft hörte
man das Schellengeklingel nicht.
Sie fuhren schweigend. Sonja Kaürina empfand die Nähe des blonden
Reisegefährten mit steigendem Unbehagen. Sie glaubte in ihm einen Angestellten
der Beketowscheu Bergwerke zu erkennen. Seine Nähe erfüllte sie mit Haß und
Furcht, wie alles, was mit den Goldgruben zusammenhing.
Gegen Mittag ließen sie die Pferde an einem Abhang halten, um zu frühstücken.
Der Aufseher holte einen kleinen Korb mit Proviant und Wein hervor und bot
Sonja einen Imbiß an. Sie dankte und teilte mit dem Alten ihr Frühstück, das
sie mitgenommen hatte. So sah sich der Aufseher gezwungen, seine Mahlzeit
allein zu verzehren! er trank dazu Wein und zwar gleich ans der Flasche.
Der reichlich genossene Wein belebte seinen Mut und er wurde zudringlicher.
"
„Es ist sehr schmeichelhaft für mich, in so angenehmer Gesellschaft zu fahren,
sagte er, Sonja zublinzelnd. „Du brauchst dich nicht zu beeilen, Kutscher. . ."
Sonja errötete.
„Sie fahren doch mit uns bis Grigorjewka?" fragte sie, den Alten anblickend.
"
„Nein, ich muß in Karpowka aussteigen.
Das hatte Sonja nicht erwartet. Sie rechnete aus, daß sie gegen Abend in
Karpowka sein würden, und daß sie in der Nacht allein mit dem Aufseher ihren
Weg fortsetzen müßte.
„Sollte ich nicht in Karpowka nächtigen?" flog es ihr durch den Sinn.
„Nein, das ist unmöglich."
In Grigorjewka erwartete sie ihr Bräutigam, ein politischer Flüchtling. Wurde
er von der Polizei entdeckt, dann war alles verloren. Sie erkannte das klar und
beschloß zu fahren.
In dein Chaos von Erde und Wasser kam Sonja Kaüriua sich klein und
verlassen vor. Am Himmel stieg eine glanzlose, rötliche, unförmliche Sonne auf,
umgeben von weißen, zerrissenen Wolken.
„Ich sehe Sie an, Fräulein, und wundere mich," sagte der alte Mann. „Sie
reisen so allein . . . Wohin und warum kann mir gleichgültig sein. Nur das eine
wundert mich, daß Sie keine Furcht haben. Und das ist gilt. Es steht geschrieben:
Die vollkommene Liebe treibet die Furcht ans. Man soll sich nicht fürchten,
weder vor den bösen noch vor den guten Geistern, und sogar nicht vor den
Menschen."
„Warum glauben Sie, daß ich mich nicht fürchte."
„Ich sehe Ihr Zeichen. Ein jeder Mensch hat sein Zeichen, der eine das
Zeichen der Furcht, der andere das Zeichen der Liebe."
„Und gibt es auch Menschen, die kein Zeichen haben?"
„Jawohl. Das sind Menschen wie Spreu. Sie leben und sterben, ohne sich
selbst zu kennen. Das sind keine wirklichen Menschen."
„Und welches Zeichen habe ich?" mischte sich der Aufseher ins Gespräch.
„Ich weiß es nicht, mein Lieber, ich weiß es nicht. Ich sehe dein Zeichen
nicht und möchte nicht lügen."
„Ich habe das Zeichen der Verliebtheit", sagte der Aufseher lächelnd, und
Sonja schien es, als hätte sein Fuß den ihrigen berührt.
Eine Troika kam ihnen entgegen. Unerwartet tauchten aus dem weißen Dunst
die schwarzen Köpfe der Pferde, das Fuhrwerk und der angetrunkene Kutscher auf.
Und wieder war alles vom Nebel verhüllt. —
Auch zur Nacht verzog der Nebel sich nicht. Es hatte den Anschein, als
wären Himmel und Erde mit Asche überzogen.
Ein fester Weg war nicht mehr vorhanden. Das Wasser reichte schon bis
an das Trittbrett des Tarantaß. In Karpowka hatte der Aufseher sich Brannt¬
wein geben lassen. Sonja fühlte jetzt, daß er betrunken war, und eine große
Unrnhe erfaßte ihr Herz.
„Unser Kutscher ist taub," bemerkte der Aufseher und deutete auf den gebeugten
Rücken des Fuhrmannes. „Wir können sprechen, was wir wollen, er hört
nichts."
„Wir haben keine Geheimnisse," sagte Sonja ängstlich. „Ich verstehe nicht,
was Sie meinen."
„Was ist denn da zu verstehen? Ich spreche von der Sympathie."
„Was sagen Sie?"
„Von der Sympathie", wiederholte er. „Wenn das Herz schneller schlägt. . ."
"
„Ach, mein Gott, rief Sonja, „ich glaube, wir sinken."
„Oho, halt an, Kutscher I . .."
Der Tarantaß legte sich auf die Seite, so daß das Wasser hereindrang.
„Halt! Dummkopf! . . ."
Der Aufseher erhob sich und riß, hinter dem Rücken des Kutschers, an den
Zügeln.
Die Pferde zogen rechts an, und der Tarantaß kam wieder ins Gleichgewicht.
„So ist es gut", sagte er lustig.
„Ist es wahr, daß man auf dieser Strecke oft beraubt wird?" fragte Sonja
plötzlich.
„Zwischen Karpowka und Grigorjewka?"
„Ja."
„Das ist richtig. Es kommt vor, daß man hier beraubt und sogar tot¬
geschlagen wird. Wenn wir uns dem Ort Roguliuo nähern, so kommen wir an
der Stelle vorbei, wo die Tamntschi meinen Onkel ermordet haben."
„Wer sind die Tamatschi?"
„So nennt man bei uns die Herumtreiber, die früher in den Goldberg-
werken arbeiteten und nun zu keiner anderen Beschäftigung mehr tauglich sind.
Das ist ein unheimliches Volk. Sie rauben und morden."
„Sie sind eine Knürina?" fragte er dann nach einem kurzen Stillschweigen.
„Vielleicht die Tochter des Besitzers?"
Sonja schwieg, aber der Aufseher rückte naher und flüsterte ihr ins Ohr:
„Mir scheint, ich kenne Sie. Ich habe Sie auf den Kaüriuschen Goldberg¬
werken gesehen, als ich dort in Geschäften war."
Sonja fühlte, daß ihre Hände und Füße wie im Fieber zitterten, alles schien
ihr ein wüster Traum, und sie glaubte schou uicht mehr daran, daß der Nebel
jemals weichen, die Wasser zurückfinden und sie wieder festes Laud sehen würde.
„Der Alte aus Karpowka gehört wahrscheinlich wohl zu einer Sekte."
„Warum glauben Sie das?"
„Er sprach allerlei unverständliches Zeug. Ehe Sie kamen, redete er immer
von der Liebe. Das eine sei eine Sünde, und das andere sei auch eine Sünde.
Aber ich denke, Sie als ein gebildetes Fräulein werden sicher begreifen, daß
alles sehr einfach ist. Und es gibt gar kein Geheimnis. Wenn der Mensch vom
Affen abstammt, so folgt daraus . . . Wir haben auch Bücher gelesen . . . Selbst¬
verständlich . . .
„Gott weiß, was Sie da reden. Ich begreife nichts", sagte Sonja.
„Sie werden es schon begreifen, liebes Fräulein", erwiderte der Aufseher
und legte seine Hand auf Sonjas Knie.
„Was fällt Ihnen ein?" rief Sonja laut und stiejz heftig seine Hand zurück.
In diesem Augenblick hielt der Kutscher die Pferde an, und sich zum Auf¬
seher umwendend sagte er ruhig:
„Wahrscheinlich sind wir in den Fluß geraten. Ich finde den Weg
nicht mehr."
Er kletterte vom Bock und versank bis an die Knie im Wasser, das den
Tarantaß umspülte.
„Hier ist ein Stein," sagte er darauf und deutete mit der Peitsche ans eine
graue Masse, die aus dein Wasser hervorragte. „Und rund herum ist Wasser.
Ich will die Furt suchen."
„Pack dich, alter Dummkopf", rief ihm der Aufseher ärgerlich nach.
Bald verschwand der Rücken des Kutschers im Nebel. Sonja wurde es
unheimlich, zu zweit im Tarantaß zu sitzen, sie stieg aus und kletterte auf
den Stein.
Von allen Seiten schienen graubärtige Riesen aufzutauchen, die mit den
Armen winkten: das war der Nebel, der solche Scherze trieb und allerlei
Formen annahm. Kein Stern war zu sehen. Das Wasser rauschte. Und es
klang, als höre man hin und wieder Stimmen aus der Tiefe. Auf den unend¬
lichen Wassern wanderte die Nacht und lauschte dem Frühlingsbrausen.
Aus dem Tarantaß kroch der betrunkene Aufseher und kletterte schwerfällig
auf den Stein. Sein Gesicht war abstoßend und schrecklich.
Da hörte man plötzlich im Nebel einen langen, durchdringenden Pfiff.
„Die Tamatschi," murmelte der Aufseher, „das sind sie. . ."
Sonja lachte unerwartet auf. „Was liegt daran?" dachte sie. „Ist es
nicht gleich?"
„Die Tamatschi. Es ist aus mit uns. Sie verfolgen uns!"
„Mir scheint, ich höre Pferdegetrappel", sagte Sonja aufhorchend.
Gleich darauf wurde im Nebel die Gestalt eines Reiters sichtbar. Groß und
grau glich sie einer Riesenfledermaus. Eine halbe Minute schwankte das Phantom
im Nebel, dann verschwand es.
„Er reitet zu seinen Kameraden", sagte der Aufseher.
Sonja sah ihn an, er war nüchtern, und es kam ihr vor, als ob in seinen
Augen etwas Menschliches leuchte. .. .
„Das hat die Angst vor dem Tode bewirkt", dachte Sonja.
„Ich habe die Furt gefunden", sagte der Kutscher, auf den Bock kletternd.
„Die Tamatschi!" schrie ihm der Aufseher ins Ohr, so laut er konnte.
Der Kutscher begriff, hieb auf die Pferde ein, und der Tarantaß flog dahin.
Das Wasser schäumte und stöhnte unter den Rädern. Der Nebel ballte sich
zusammen. Unter dem Wasser erzitterte die Erde.
Die Troika flog dahin.
Und plötzlich pfiff im Nebel eine Kugel vorbei, es klang wie ein Peitschenhieb.
Sonja Kaürina wurde es leicht zumute, der Aufseher hatte den Kopf gesenkt
und schwieg. Und wieder pfiff die Kugel. „Recht so," dachte sie, „recht so . . ."
Vor ihrer Seele stand das Bild ihres Bräutigams, und ihr Herz sang das
Schwanenlied der Liebe.
Und als die Troika den Abhang hinauf raste und das Mittelpferd mit der
Deichsel an die Pforte des Grigorjewschen Stationsgebäudes anprallte und weit
hinten im Nebel die Tamatschi verschwanden, regte sich in Sonja der Wunsch, aufs
neue so im Kugelregen dahinzufliegen mit der todesbereiten Liebe im Herzen.
a, was heißt Briefschreibetalent! Es ist damit wie mit allem;
eine Norm gibt es nicht. Der kleine Notizenbrief kann sehr nett
sein, und ich kann mit Vergnügen lesen, daß der Kanarienvogel
zwei Eier ausgebrütet hat, oder daß Fips zweimal geschoren wurde,
erst halb dann ganz —"
Wer an Fontanes Briefe in der Erwartung herantritt, große dichterische
Konfessionen, spannende Beiträge zur Geschichte eines interessanten und viel¬
bewegten Lebenslaufes zu finden, wird nicht ganz auf seine Rechnung kommen.
Zwar ist ihm auch jene zweite Gattung des „Talent LpiZwIairs", die er im
Anschluß an die eben zitierte Briefstelle anführt, „Reflektionen, philosophische
Betrachtungen, Bilder, Vergleiche, Angriffe und Verteidigungen" nicht versagt,
aber im ganzen verzichtet er auf die billige Gelegenheit, in Briefen als literarische
Autorität zu orakeln, vor allem in der Familienkorrespondenz, wo er ernste
Probleme nur erörtert, um sofort, des trockenen Tones satt, von dieser und
jener Kleinigkeit, sei es „vom NichtVorhandensein eines guten Bieres oder von
der Grobheit eines gestern entlassenen Dienstmädchens" — ein wahres Muster¬
thema, wie er selbst sagt — aus eine Weise zu erzählen, die den Leser mehr fesselt,
als es vielleicht fortgesetzte literarische Auseinandersetzungen vermöchten. Aus
den Berichten an die Familie spricht zumeist weder der Poet noch der Kritiker,
sondern lediglich Theodor Fontane der Mensch, und dieser war zweifellos das
allerbeste an ihm. Deshalb ist es gerade bei ihm von hohem Wert, daß der
Nachwelt oder vielmehr all denen, die ihm ferne standen, ein klares und nach
Verdienst sympathisches Bild seiner Persönlichkeit überliefert wird, nicht als Er¬
gänzung zu seinen Werken, sondern als dasjenige, was von ihm hauptsächlich
gekannt zu sein verdient. Es ist nicht zu leugnen, daß seine literarische Ein¬
schätzung durch den persönlichen Eindruck, den eine ganze Reihe von ma߬
gebenden kritischen Persönlichkeiten namentlich Berlins von ihm empfangen haben,
beeinflußt worden ist; daß, wer Fontane kannte und hochschützte, auch Romane
hochschätzen mußte, in denen sich der ganze Fontane kundtat und aussprach, ist
verständlich. Verblaßt diese Erinnerung einmal, dann könnte die literarische Kritik
leicht in den entgegengesetzten Fehler fallen. Die veröffentlichte Korrespondenz
jedoch wird dann imstande sein, wenn nicht den ganzen Neiz seines persönlichen
Umganges heraufzuzaubern, so doch die ständige Hochschätzung einer geraden
und liebenswürdigen Künstlernatur zu verbürgen.
Die Familienbriefe haben denn auch beim Publikum den zu wünschenden
Erfolg gehabt, sie liegen heute schon in sechster Auflage vor (Berlin, F. Fontane
u. Co., zwei Bände). Wozu die Gedichte zu ihrer Zeit über dreißig Jahre brauchten,
das ist den Briefen in sechs Jahren geglückt. Die 1907 erschienene zweite
Sammlung (jetzt in zweiter Auflage, Berlin, F. Fontane u. Co., gleichfalls
zwei Bände) ist zunächst eine Kollektion von Freundesbriefen: Witte, Eggers,
Zöllner und andere in früherer Zeit geschlossene und teilweise das Leben hindurch
dauernde Bekanntschaften sind die Adressaten. Der Briefwechsel mit dem Jugend¬
freund Wolfsohn ist von dessen Sohn eigens herausgegeben worden (Berlin,
Georg Bondi). Die Korrespondenz mit den Verlegern nimmt von Anfang an
einen breiten Raum ein. Später erweitert sich der Kreis. Wie vorher Theodor Storm,
so finden wir nun unter den dichterischen Kollegen, mit denen Fontane Briefe
wechselt, Spielhagen, Liliencron, Wolzogen, daneben Herren der Hocharistokratie
wie den Grafen Philipp zu Eulenburg, Künstler wie Fontanes langjährigen
Freund, den Maler von Handen, ferner eine Reihe noch heute im Berliner
literarischen Leben führender Persönlichkeiten: Brahm, Schlenther, Rodenberg u. a.
Wie man sieht, war es ein weiter Kreis, dem gegenüber Fontane aber stets
derselbe bleibt; die äußere Form, in der er seine Briefe abfaßt, wechselt, der
durchaus echte und aufrichtige Charakter seiner Äußerungen ist überall gleich.
Keine flüchtige Abfertigung, kein oberflächliches Gerede; jeder, den Fontane eines
Briefes würdigte, erhielt auch einen Brief, der Fontanes würdig war.
An: liebenswürdigsten offenbart er aber, was wiederum sehr für ihn spricht,
sein Briefschreibetalent der eigenen Familie gegenüber. Adressatin ist neben der
Gattin des Dichters vor allem sein Liebling, seine Tochter Martha, von deren
persönlicher Tüchtigkeit und Charakterstärke er auch dem Leser eine hohe Meinung
beizubringen weiß. In den kleinen Zwisten, die zwischen den Eltern über die
etwas eigensinnige Selbstbestimmung der Tochter entstanden, nahm der Vater
stets deren Partei. Diese und andere intime Familienangelegenheiten finden
in den Briefen ausgiebige Erörterung; daß trotzdem diese Teile der Korrespondenz
der Veröffentlichung nicht entzogen wurden, verdanken wir der bestimmten Willens¬
äußerung von Frau Fontane, der wir sür diese Aufopferung persönlicher Gefühle
zu Dank verpflichtet sind. Denn gerade im Verhältnis zu seiner Gattin offenbart
Fontane die eigensten Seiten seines Wesens. Er war weit entfernt, immer den
rücksichtsvoll nachgebenden Ehemann zu spielen; er ersparte ihr sogar bisweilen
die bittersten Wahrheiten nicht und klagte sie häufig an, sie beurteile ihn grund¬
sätzlich falsch. „Du hast ein riesiges Talent", schreibt er, „die Dinge nicht so
zu sehen, wie sie sind, sondern wie Du sie sehen willst. Du hast dir aus dem
Th. F. von Gottes Gnaden einen Th. F. von Emiliens Gnaden zurechtgemacht,
und alles, was Du über mich denkst und sprichst, sind Sätze, die aus Deine
Phantasier, uppe passen, nicht aber auf mich." Am meisten verurteilt er ihre
Forderung, daß alles tatsächlich Geschehende an ihr Ideal von der Sache heran¬
reichen solle. „Sie verlangte", so äußert er, „in jeder Minute oder mindestens
doch in jeder Stunde das Ideal des Daseins und wundert sich, es nicht ein¬
stiegen zu sehen, besonders jetzt, wo doch alle Fenster aufstehen." In vierzig
Jahren, so fügt er bei, habe sie in dieser Hinsicht nichts von ihm gelernt.
Fontane selbst war eben Realist auch in seiner alltäglichen Stellungnahme zu
den Dingen. Nichts Außergewöhnliches erwartend, wurde er auch durch nichts
allzu Gewöhnliches enttäuscht, und sein schlichter Sinn empfand gegen jedes
Übermaß der Erscheinung wie der Empfindung eine gesunde Abneigung. Zu
viel des Gute» auf einmal, selbst in der Form etwa zu vieler Geburtstags-
gratulationen — in deren Beantwortung er übrigens sehr gewissenhaft war —
erweckte sein Mißbehagen. Er war nach seinem eigenen Ausdruck „Monogamist
auch der Freude gegenüber." Am meisten verdroß ihn, was schon der Leser
seiner Romane erkennen muß, jeder Überschwang an Gefühlen, besonders jede
Art von Sentimentalität. Alles, was schmerzt und betrübt, muß „mit möglichst
guter Manier getragen werden." „Es ist unsere Pflicht, eine gewisse Hospital¬
stimmung von uns fernzuhalten und nicht in fruchtlose Heulhuberei zu verfallen."
Als die ihm gewiß sehr nahegehende Botschaft von Storms Ableben eintraf,
schrieb er: „Heute kam die Nachricht von Storms Tod. Aber mit Blechmusik
immer weiter und heiter vorwärts, bis man selber fällt. Nur keine Sentimen¬
talität. Was das Schmerzlichste ist. ist zugleich auch das Alltäglichste und
Gleichgültigste." Der Gedanke an das „selber fallen" hatte nichts trauriges
für ihn; im Gegenteil bemächtigte sich seiner gegen sein Lebensende eine immer
stärker werdende Sehnsucht uach Ruhe, und über Widerwärtigkeiten und Kümmer¬
nisse pflegte er sich mit dem alten Witzwort hinwegzutrösten „Ani neun Uhr ist
alles aus." Er stand damit freilich im Gegensatz zu seiner Frau, die, wie er
klagt, in der kleinsten Krankheit den Vorboten des Todes fürchtete.
Doch die mannigfachen Gegensätze zwischen den Gatten, die im Grunde nur
darin ihre Ursache hatten, daß beide kräftige Naturen und ein wenig zu sehr ihres
Kopfes waren, führten, da sie eben doch durch das denkbar echteste Gefühl
zusammengehalten waren, nie zu ernsten Konflikten — auch nicht bei einem
Frau Fontane so schwer treffenden und so unbegreiflich dünkenden Entschluß
ihres Gatten wie seinem Entlassungsgesuch (aus der Stellung als Sekretär der
Kunstakademie), durch das er das kaum gewonnene sichere Brot aufgab. Er
tat seiner Gattin diesen Schmerz an, weil sein persönlichstes Interesse und
Gefühl auf dem Spiel stand: sein Bedürfnis nach Freiheit, das sich mit einer
leicht untergeordneten beamtlichen Stellung vertragen hätte, bäumte sich gegen
einen auf ihn ausgeübten bureaukratischen Druck auf und ließ ihn alle anderen
Rücksichten vergessen. Derartiges kam aber nur in extremen Fällen vor, wo
man ihm tatsächlich an den Lebensnerv griff; im allgemeinen setzte er einen
Stolz darein, sich gut mit den mannigfachen, bisweilen harten Forderungen,
die seine Umgebung oder das Leben an ihn stellten, abzufinden, und verurteilte
diejenigen, die ihren Kops überall durchzusetzen trachten und ihn dabei überall
anstoßen: „Ich bin nun 'mal für Frieden und Kompromisse. Wer diese Kunst
nicht kennt, vielleicht nicht kennen will, solch ein Orlando wrioso und Charakter-
satzke kann sich begraben lassen."
Wenn er sich in jenem Fall mit seinen Vorgesetzten nicht stellen konnte,
so war gewiß nicht mangelnde Arbeitslust oder verträumte Poetenfaulenzerei
auf seiner Seite schuld; wir haben im Gegenteil in Fontane einen der fleißigsten
und in ihrer Arbeitskraft zähesten unserer neueren Schriftsteller zu bewundern.
Sein früherer „Gistmischerberuf" war für den späteren nicht die richtige Vor¬
bildung gewesen. Um so eifriger bemühte er sich, seine Werke auf volle schrift¬
stellerische Höhe zu bringen. Daß er sie nicht geniemäßig hinschleuderte, sondern
oft mit dem Ausdruck rang und auf die äußere Form, in der seine Bücher
vor das Publikum traten, höchsten Wert legte, zeigt seine Notiz, daß er wohl
dreiviertel seiner Zeit mit Feilen und Korrigieren zuzubringen pflege.
Äußerungen über die eigene Produktion finden sich in größerem Umfange
vor im zweiten Band der zweiten Sammlung und erlauben trotz ihrer relativen
Spärlichkeit manchen fesselnden Einblick in die Entwicklungsgeschichte dieses oder
jenes Werkes. So kann man sich bei einer Übersicht über allenfalls zu wählende
Titel für die Schach von Wuthenownovelle (1806 — IZt all8sipati sunt — Vor
Jena — Gezählt, gewogen und hinweggetan — Vor dein Niedergang) von
neuem überzeugen und freuen, daß das Schlichte und Anspruchslose noch bei der
bloßen Betitelung eines Werkes in Montanes Geschmack über das Markt¬
schreierische immer den Sieg davontrug. Für manche Romane lernen wir die
stofflichen Keime kennen, die dem Dichter zuflogen, und staunen über die geringe
Verhüllung, in der er fremdes Gut aufnahm: die Geschichte Jnstettens ist einem
zur Zeit der Abfassung von „Effi Briefe" noch aktiven Obersten passiert, und
dieser wurde von Kennern der Verhältnisse in dem betrogenen Gatten des
Romans sofort wiedererkannt. Einer befreundeten Dame verdankt der Dichter
die Mitteilung einer wahren Begebenheit, die Punkt für Punkt der Handlung
von „Unwiederbringlich" entspricht, und in der dies Wort auch schon mit
besonderem Nachdruck als Abschiedsgruß der vom Leben scheidenden neugefrciten
Gattin hervorgehoben wird. Man sieht von neuem — wie bei den ihrem Sujet
nach Fontane ganz selbständig zugehörenden Romanen —, daß äußere Erfindung
nicht seine stärkste Seite war und daß er sich freute, einen Stoff zu finden, zu
dem nur noch psychologische Feinarbeit zu leisten, nicht mehr das Gerüst zurecht-
zuzimmern war. Angesichts dieser Erscheinung ist es fraglich, ob er für die
Ausführung eines hochinteressanter, stofflich wie psychologisch gleich anspruchs¬
vollen Romanentwurfs, mit dem er sich lange trug, der rechte Mann gewesen
wäre; die historische Erzählung „Die Likedeeler", um 1400 spielend, sollte „eine
Aussöhnung sein zwischen seinem ältesten und romantischsten Balladenstil und
seiner modernsten realistischen Nomanschrciberei", ihre Helden „eine Gruppe von
an Karl Moor und die Seinen erinnernden Seeräubern". — „Alles steht mir
fest, nur eine Kleinigkeit fehlt mir noch, das Wissen", bemerkt er bei der ersten
ausführlichen Erwähnung des Planes; spätere Berichte aber zeigen, wie er um
Ausfüllung dieser Lücke bemüht war: er wandte sich an verschiedene Kenner der
Epoche um historisches Material, vertiefte sich eifrig in dieses und begeisterte
sich für das Störtebekerlied. So mag er auch für seine anderen in der Ver¬
gangenheit angesiedelten Romane historische Studien großen Umfangs gemacht
haben, vor allem für „Vor dem Sturm". Von den vielfachen Nöten und
Bedrängnissen, die zur Entstehungszeit dieses Werkes des Dichters ständige
Begleiter waren, erfahren wir viel, er sagt uns aber auch, was bei diesen:
Roman sein Ziel war und welches Verdienst er für sich in Anspruch nahm.
„Das Buch", schreibt er an den Verleger, „tritt ein für Religion, Sitte, Vater¬
land, aber es ist voll Haß gegen die ,blaue Kornblume' und gegen Mit Gott
für König und Vaterland', will sagen: gegen die Phrasenhaftigkeit und gegen
die Karikatur jener Dreiheit. Ich darf sagen, ... daß ich etwas in diesen: Buch
niedergelegt habe, das sich weit über das herkömmliche Romanblech, nicht nur
in Deutschland, erhebt."
Was ist nun dieser hohe Vorzug, den Fontane dieser seiner Dichtung wie
in verstärktem Maße all seinen späteren Romanen zuerkannt wissen will? Er
ist nach dem von ihm selbst immer gebrauchten Ausdruck: Leben. Er will
die Zeit vor dem Sturm schildern, nicht wie sie nach patriotischen Büchern
gewesen sein soll, sondern wie sie war. Ebenso ist es mit den Schilderungen
aus der Gegenwart; nicht konstruierte Nomantypen, nicht überkluge und über¬
witzige Reden will er in seinen Werken vorführen, sondern Leute, wie sie jeden
Tag in den Straßen Berlins herumgehen und die reden wie ihnen der Schnabel
— und wenn es ein hocharistokratischer Schnabel wäre — gewachsen ist. Die
Forderung kleinlichster Treue in diesem Realismus verwirft er: „Es ist gleich¬
gültig, ob ein Ortskundiger einwendet: Wenn man vom Anhaltischen Bahnhof
nach dem Zoologischen fährt, kommt man bei der und der Tabagie nicht vorbei."
Er ist zufrieden, „wenn man nur den Totaleindruck hat: Ja, das ist Leben."
Vor allem erhebt er diese Forderung in bezug auf die Dialogführung, in der er
sich besonderes Geschick zuerkennt.
Dies ästhetische Selbstbekenntnis mußte Fontaine in scharfen Gegensatz zu
den Vertretern der älteren Theorie des Romans bringen, vor allem zu der
Produktion Paul Hevses, aber auch zu Spielhagens älteren Werken. Der erstere,
sein Freund von alten Zeiten her, hat denn auch bisweilen gezögert, das, was
Fontane in dieser Richtung hervorbrachte, als Kunstwerk invollem Sinne zubezeichnen.
Demgegenüber betont Fontane immer wieder, wie sehr er sich bei all seiner
Produktion als Künstler fühle, nicht in dem Sinn freilich, daß er das Recht zu
einer geniemäßigen Ungebundenheit und zu einem Gefühl der Erhabenheit über
gewöhnliche Sterbliche daraus abgeleitet hätte. Er verachtete die Anmaßung der
Künstlerwelt, „daß ein Dichter, ein Maler und überhaupt ein Künstler etwas
Besonderes sei, während die ganze Gesellschaft auf der niedrigsten Stufe steht,
so niedrig, daß die meisten übergelegt werden müßten". Was ihn nach seiner
Meinung zum Künstler stempelte, war die Art und Weise, wie er die Dinge
anzusehen und darzustellen pflegte und vermochte. Nicht nur in seiner belle¬
tristischen Produktion, auch z. B. bei seinen Kriegswerken, seinen Büchern über
England u. a. bezeichnet er dem Verleger gegenüber dieses Künstlerische der
Auffassung und der Wiedergabe des Geschauten als den Hauptvorzug. Und in der
Tat ist er auch Künstler in den häufigen Schilderungen von Land und Leuten,
die seine Briefe enthalten.
In der Fähigkeit so schreiben zu können, erblickt er seine schriftstellerische
Beglaubigung. Aber gerade diese Seite seiner Tätigkeit schien ihm von der
Kritik immer verkannt und übersehen. Man kann an ihm ausstellen, was
man will, wenn man nur die künstlerische Höhe im allgemeine:, anerkennt. Er
versichert oft, er sei gegen Tadel, „selbst gegen starken und seinein Gefühl nach
ungerechten Tadel", gar nicht empfindlich. „Nur Nichtachtung kränkt mich tief.
Wird dem Buche und seinem Verfasser Existenzberechtigung zugesprochen, wird
in der Hauptsache eine Kraft anerkannt, so genügt das völlig. Nur unter die
Masse geworfen zu werden, unter der zwölf auf ein Dutzend gehen, ist mehr
als meine Geduld aushält." Auch zu eigener Ausübung des kritischen Berufes
fühlt er sich vor allem in seiner Eigenschaft als Künstler berufen. Seine
Berechtigung zu diesen: Metier „ruht auf einem," so schreibt er, „was mir der
Himmel mit in die Wiege gelegt hat: Feinfühligkeit künstlerischen Dingen gegen¬
über. An diese meine Eigenschaft hab' ich einen festen Glauben. Hätt' ich ihn
nicht, so legte ich noch heute die Feder als Kritiker nieder". Vollster Subjektivis¬
mus herrscht dann noch in seinen sämtlichen Kritiken, zu denen die Briefe manchen
interessanten Nachtrag liefern. Er darf versichern, daß ihm „Literaturheroentum
und Namenkult" fremd sind, in der Beurteilung von Schriftstellern ebenso wie
in der von Schauspielern. Er verwirft die Ziegler auf der ganzen Linie und
hat die kritiklose Berliner Matkowskyoerherrlichung nie mitgemacht. Ibsens
dichterische Kunst imponiert ihm von Anfang an, er hält ihn „für einen großen,
epochemachenden Kerl," aber gerade mit der Wahrheit seiner Dramen, „von
der jetzt jeder quatscht," kaun ihm der ehemalige Giftmischerkollege „gestohlen
werden." — „Die bewunderte Nora ist die größte Quatschliese — anderwärts
nennt er sie Schafsliese — die je von der Bühne herab zum Publikum gesprochen
hat." Freudig tritt er für die neue Richtung im deutschen Drama ein; vor
allem für Hauptmann — dessen „Friedensfest" ihm gewidmet ist —, kämpft er
Schulter an Schulter mit Brahm und Schlenther. Bei all seiner Überzeugung von
seiner Berufenheit zum Kritiker ist er aber mit seinen Leistungen auf diesem
Gebiete nicht so ganz zufrieden. Eine starke Hochschätzung und wohl auch Über¬
schätzung gefälliger journalistischer Plauder- und Unterhaltungskunst läßt sich vielen
Briefsteller entnehmen. So huldigt er Ludwig Pietsch oftmals auf die
schmeichelhafteste Weise, nicht ohne sich einer leisen Neidesregung bei der Lektüre
von dessen Aufsätzen schuldig zu bekennen: „Du könntest das nicht, so klang es
immer leise mit und deprimierte mich ein wenig."
Tief kränkt es ihn, den Schriftstellerberuf im allgemeinen so niedrig ein¬
geschätzt zu sehen. „Ein Schriftsteller ist ein Schmirarius, ein käuflicher Lügen¬
bold, eine verächtliche oder lächerliche Figur," so charakterisiert er die herrschende
Anschauung. Von jener kokett anspruchsvollen Ablehnung staatlicher Aus¬
zeichnungen, die in Künstler- und Literatenkreisen gelegentlich zu finden ist, hält
er sich frei. Er erkennt an, „daß man in Deutschland, speziell in Preußen, nur
dann etwas gilt, wenn man staatlich approbiert ist," und daß daher der Orden
wirklich praktischen Wert hat. „Man wird respektvoller angekuckt und besser
behandelt." Er legt Wert darauf, mit der Regierung und hohen Kreisen auf
gutem Fuße zu steheu und scherzt über sich als „Fürstendiener". Daß er dabei
von Servilitüt ebenso frei bleibt wie von einseitiger Überschätzung preußischer
Zustände bedarf gar nicht erst der Versicherung. Wie mancher Stoßseufzer über
den „Borusstsmus," „die niedrigste Kulturform die je da war," findet sich in
den BriefenI „Welch Glück, daß wir noch ein außerpreußisches Deutschland
haben. Oberammergau, Bayreuth, München, Weimar, das sind Plätze, daran
man sich erfreuen kann. Bei Strammstehen und Finger an die Hosennaht wird
mir schlimm." Auch seine lieben Berliner sind ihm nicht immer die beste
Gesellschaft. „Der Berliner als höherer Kulturmensch" ist das Lieblingsthema
seiner ironischen Expektorationen, und die herkömmlichen Berliner Banketts, bei
denen man „im Hochgefühl auf sechs Stunden Zeitgenosse zu sein ... die
pappernsten Semmeln frißt und im Festlokal an der Mündungsstelle von drei
Korridoren in einem wahren Gebläse von Zug sitzt," sind ihm ein Greuel.
Auch macht er mit Mißbehagen die Beobachtung, „daß das gesellschaftlich höher
potenzierte Berliner Leben immer nur ein Juden- will sagen Jüdinnenleben
gewesen ist." Im ganzen meint er: „Ehrlich ist der Märker, aber schrecklich.
Und daß ich gerade ihn habe verherrlichen müssen!"
Noch manches ließe sich diesem Meister der Plauderkunst nachplaudern.
Doch gilt auch beim Schreiben über Fontane eine Mahnung, die er sich selbst
am Schlüsse eines langen Briefes zuruft. Es sei ja, meint er da, ganz schön,
wenn einer viel schreibe; aber er müsse doch auch auf die Rücksicht nehmen, die
es zu lesen hätten.
August L. Mayer: El Greco. Delphin-
Verlage München 1011. M. 4.—.
Seit durch Meyer - Graefes „Spanische
Reise" das Interesse auf einen dem weiteren
Publikum bis dahin höchstens dem Namen
nach bekannten Maler gelenkt wurde, hat sich
von, Bureau des Museumsdirektors bis in
die Provinzsalons ein Meinungsaustausch
erhoben, dessen Lebhaftigkeit einer wichtigeren
Sache würdig Wäre und dessen Über¬
treibungen der Notwendigkeit entbehren. Die
einen gebärden sich wie angegriffene Wag¬
nerianer, betrachten die Werke deS Griechen
als Offenbarungen, die den besten Remvrandts
an die Seite zu stellen seien, die anderen
schelten sie manieriert, phantastisch, verzeichnet,
verrückt oder tun das Problem kurzweg mit
dein Ausdruck „Kunsthändlermache" ub, die
wenigsten aber kennen den Künstler wirklich.
Denn eine Reise nach Spanien, wo nicht nur
die meisten, sondern auch die besten Schöpfungen
des Meisters hängen, gehört auch heute noch
zu den nur von Sonderlingen oder Berufs-
menschen unternommenen Abenteuern. Bei
solcher Lage der Dinge ist die vorliegende
„Einführung" aus der Feder eines namhaften
Kunstforschers mir willkommen zu heißen, sie
bringt, sich auf das Notwendigste beschränkend,
einen knappen Lebensabriß, eine recht wohl¬
gelungene Übersicht über die wichtigsten Werke
und eine kurze Gesamtwürdigung, die durch
ihren ruhigen Ton und ihre gerecht abwägende
Haltung sehr sympathisch berührt. Ohne das
Eigenartige und Packende der besten Leistungen
des seltsamen Meisters zu verkennen, betont
derVerfasser den neuesten Geschichtsklitterungen
gegenüber mit Recht, daß weder von einem
Vorrang des Griechen vor Velcisquez noch
von einer Verwandtschaft mit Cözanne die
Rede sein kann, betont, daß die Farben bei
Greco wichtiger sind als die Lichtprobleme,
macht mit Recht darauf aufmerksam, daß die
Neigung zur Schlankheit und manche andere
Eigenheiten anch in der zeitgenössischen, Vene¬
zinnischen und, wie wir hinzufügen können, in
der französischen und niederländischen Kunstnicht
selten sind und führt endlich Märchen wie das vom
Irrsinn des Künstlers oder von dem Komplott
der vielgescholtenen Kunsthändler auf den Kern
des Tatsächlichen zurück. Dem anspruchs¬
losen aber nützlichen Büchlein sind fünfzig
zuni Teil recht gute Abbildungen beigegeben.
Nochmals die Leipziger Stadtrcvolutiou
vom Jahre 1830/)
Flathc schreibt in seiner „Geschichte von
Sachsen" (III. - 1873 —, 432), daß ein
Polterabendlärm am 2. September 1830 und
eine sich daraus entsponnene Schlägerei zivischen
Polizeidienern und Handwerkern den unschein¬
baren Ausgangspunkt der „sächsischen Revo¬
lution" gebildet habe. In „Mein Leben"
(1911) berichtet nun Richard Wagner, der in
jenein Sommer, als gewesener Nicolaitaner
und werden wollender Thomaner, in Leipzig
privatisierte (l., 61 ff.), über jenen Aufruhr
folgendes: „Die Extrablätter der Leipziger
Zeitung brachten die Nachricht der Pariser
Juli-Revolution. . . Mit Bewußtsein Plötzlich
in einer ssolchenj Zeit zu leben . . ., mußte
natürlich auf den siebzehnjährigen Jüngling
von außerordentlichem Eindruck sein, Die
geschichtliche Welt begann für mich von diesem
Tage an; und natürlich nahm ich volle Partei
für die Revolution, die sich nur nur unter
der Form eines mutigen und stegreichen Volks¬
kampfes, frei von allen den Flecken der schreck¬
lichen Auswüchse der ersten französischen Re¬
volution, darstellte Dn revolutionäre Er¬
schütterungen bald ganz Europa in mehr
oder minder starken Schauern heimsuchten,
und auch hier und da deutsche Länder von
ihnen berührt wurden, blieb ich längere Zeit
in fieberhafter Spannung, und wurde zum
ersten Male auf die Gründe jener Bewegungen
aufmerksam, die mir als Kämpfe zwischen
dem Alten, Überlebten und dem Neuen, Hoff¬
nungsvollen der Menschheit erschienen. Auch
Sachsen blieb nicht unberührt; in Dresden
kam es zu einem wirklichen Straßenkampfe,
der zu einer unmittelbaren politischen Ver¬
änderung durch die Einsetzung der Mitregent¬
schaft des nachherigen Königs Friedrich, und
zur Gewährung einer konstitutionellen Ver¬
fassung führte. . . In Leipzig selbst brachen
Unruhen aus, welche mich ... zu unmittel¬
barer Beteiligung am Staatsleben beriefen.
Dieses Stnntsleben hatte nun in Leipzig keine
andere Bedeutung, als die eines Antagonis¬
mus der Studenten mit der Polizei; die
Polizei war das Urverhaszte, an welchem sich
der Freiheitssinn der Jugend übte. Bei
irgend einem Straßenexzesse war es zu Ver¬
haftungen einiger Studenten gekommen! diese
sollten befreit werden. Die akademische Jugend,
unter welcher es bereits seit einigen Tagen
unruhig herging, versammelte sich eines Abends
auf dem Markte; die LandmannSschaften
traten zusammen und schlössen einen Kreis
um ihre Senioren, wobei eine gewisse komment¬
mäßige Feierlichkeit herrschte. . .: man sang
das .Oauclesmus iZitur', bildete sich in Ko¬
lonnen, und zog nun, verstärkt durch alles
Junge, was eS mit den Studenten hielt, ernst
und entschlossen vom Markte aus nach dem
Universitätsgebäude, um dort die Kärzer zu
sprengen, und die verhafteten Studenten zu
befreien. . . Doch nahm es eine andere als
die erwartete Wendung; im Hofe deS Pau-
linums ward der feierliche Schwarm vom
Rektor Krug (geb. 1770>, welcher mit ent¬
blößten: Greisenhaupte herabgekommen war,
aufgehalten; seine Versicherung, daß die Ver¬
hafteten bereits auf seine Bernnlassnng ent¬
lassen seien, brachte ihn? ein donnerndes Vivat
ein, und die Sache schien nun beendigt.
Allein die Spannung auf eine Revolution
War zu groß gewesen, als daß nicht irgend
etwas ihr zum Opfer hätte fallen müssen.
Plötzlich verbreitete sich der Ruf nach einer
berüchtigten Gasse, in welcher gegen eine ver¬
haßte Magistratsperson, welche dort der Volks¬
meinung nach ein übel berufenes Etablissement
in willkürlichen Schutz genommen hatte, popu¬
läre Justiz geübt werden sollte. Als ich im
Gefolge des Schwarmes an jenen? Orte an¬
langte, fand ich ein erbrochenes Haus, in
welchem allerhand Gewalttaten verübt wurden.
Das gefährliche Beispiel, welches von der
Jugend gegeben worden war, verführte jedoch
an den folgenden Abenden auch die niederen
Volsklassen ... zu ähnlichen Exzessen gegen
mißliebige Fnbrikherren und dergleichen: nun
wurde die Sache ernster; das Eigentum war
bedroht, der Kampf zwischen Arm und Reich
stand grinsend vor den Häusern. Jetzt waren
es die Studenten, welche . . . zum Schutz
gegen das niedere Volk herbeigerufen wur¬
den . . Theodor Distel-Llaservitz
Zum zweihundertjährigen Geburtstag
Friedrichs deS Großen hat Paul Kunzcndorf
im Verlage von Ferd. Dümmler in Berlin
eine Sammlung von Lebens- und Weisheits¬
sprüchen deS Königs herausgegeben, die er
„Frideriemnn" benannt hat. Diese Sprüche,
die Werken und Briefen Friedrichs des Zweiten
entnommen sind, beziehen sich auf Welt und
Menschen, Staats- und Kriegskunst, Wissenschaft,
Kunst und Natur, Religion und Priestertum
und auf noch viele andere Fragen des Lebens.
Es ist zweifellos ein dankenswertes Unter¬
nehmen, in einem Zeitpunkt, da über Friedrich
den Großen so viel und so vielerlei geschrieben
worden ist, weiten Kreisen Gelegenheit zu
geben, ein wenig aus der Quelle selbst zu
schöpfen und die Eigenart dieser gigantischen
Persönlichkeit aus ihrem eigenen Wesen wenn
nicht zu erfassen, so doch zu spüren. Das
gut ausgestattete, wohlfeile Büchlein (geb.
2 Mary bietet nicht weniger als 518 Zitate,
die sicher geeignet sind, uns einem ganz
Großen menschlich näher zu bringen und seine
Lebensweisheit als ein wertvolles Vermächtnis
In der Regel ist der Landrat der Vorsitzende der Einkommensteuer-Veran-
lagungskommission. Das ist durchaus in der Ordnung. Der Landrat steht an der
Spitze der Kreisverwaltung, er hat den Vorsitz im Kreisausschuß und im Kreistage.
Er kann unmöglich von der Kommission ausgeschlossen sein, die mit dem wichtigen
Geschäft der Veranlagung zur Einkommensteuer betraut ist. Als Vorsitzender
der Kommission hat der Landrat nicht nur die Leitung des ganzen Veranlagungs¬
geschäfts, sondern er hat auch die fiskalischen Interessen zu vertreten, er hat auf
eine richtige Einschätzung der Steuerpflichtigen zu achten und ist mit der Befugnis
ausgestattet, Rechtsmittel einzulegen, wenn ihm eine Einschätzung unrichtig
erscheint. Nun sind die Ansichten über richtige Einschätzung sehr verschieden,
und zweifellos sind die Angaben der Steuerpflichtigen sehr oft von dem Wunsche
geleitet, wenig Steuern zu zahlen. Das ist ein ganz natürlicher Wunsch, und
man kann die Zurückhaltung in Steuerangelegenheiten dem einzelnen um so
weniger verdenken, wenn er weiß, daß viele andere es ebenso machen. Herr
Professor Delbrück hat jüngst behauptet, daß der Betrag der Steuer, die infolge
zu geringer Einschätzung der Steuerpflichtigen in Preußen dem Staate jährlich
entgeht, viele Millionen beträgt. Seine Schätzung ist vielleicht übertrieben, und
ein Nachweis läßt sich zahlenmäßig nicht führen; aber so ganz unrecht hat
Professor Delbrück nicht. Ich kann als früheres Mitglied einer Ver¬
anlagungskommission bestätigen, daß in einzelnen Kreisen nicht selten fast
alle Steuererklärungen der Steuerpflichtigen beanstandet werden mußten,
also von vornherein unrichtig erschienen. Bei den Verhandlungen über die
Einschätzung wurden dann von den Steuerpflichtigen oft Ansichten zutage
gefördert, die zum mindesten „eigenartig" waren, oft aber auch auf merkwürdige
„Steuerirrungen" hinausliefen.
Hierbei kommt aber der Landrat als Vorsitzender der Kommission in eine
unangenehme Lage. Die Steuerpflichtigen lassen sich schwer belehren, sie werden
böse und feindlich. Die Unzufriedenheit über Beanstandungen und über angeblich
zu hohe Einschätzungen richtet sich natürlich in erster Reihe gegen den Vor¬
sitzenden der Veranlagungskommisston, und wenn der Vorsitzende der Landrat
ist, so kann er sich darüber doch nicht so leicht hinwegsetzen. Denn die
Kreiseingesessenen, die sich bei den Einschätzungsverhandlungen verärgert haben,
braucht der Landrat bei anderen Kreisangelegenheiten, und es ist leicht möglich,
daß sie dann versagen. Besonders schlimm wird das, wenn die Verärgerten
einflußreiche Leute im Kreise sind. Der Landrat ist also durch den Vorsitz in
der Veranlagungskommission in die Lage versetzt, sich jährlich bei der Steuer¬
einschätzung mit denjenigen Personen zu verärgern, mit denen er zur Förderung
anderer Kreisangelegenheiten in Eintracht zusammenarbeiten soll. Es kann dem
Landrat in dieser Lage nicht so sehr verdacht werden, wenn er ausweicht und
nachgiebig ist. Diese Nachgiebigkeit des Vorsitzenden der Veranlagungskommission
aber, die den Neigungen der Steuerpflichtige» sich anpaßt, muß zu einer laxen
Praxis führen, zu Einschätzungen, die hinter der Wahrheit zurückbleiben.
Da scheint mir folgender Weg gangbar: Für die Veranlagungskommisfion
wird die Stellung eines Regierungskommissars geschaffen, der bei der
Veranlagung mitwirkt. Der Kommissar nimmt an den Sitzungen der Kommission
teil, er hat kein Stimmrecht, muß aber jederzeit gehört werden; er kann Anträge
stellen und vor allem Rechtsmittel gegen unrichtige Einschätzung einlegen. Der
Regierungskommissar hat die fiskalischen Interessen zu vertreten und auf eine
den gesetzlichen Vorschriften genau entsprechende, volle und also gerechte Ein¬
schätzung zu halten. Wenn ihn seine Amtspflicht mit einzelnen steuerscheuen
Kreiseingesessenen in Widerspruch bringt, so kann er das ruhig tragen; denn
er hat mit ihnen sonst nichts zu tun. Ja, ihm gegenüber wird die Unzufriedenheit
gar nicht so tief gehen, weil jedermann weiß, daß er nur seine Pflicht tut,
während man von dem Landrat allerlei Rücksicht erwartet. Neben diesem
Regierungskommissar würde der Landrat dann nur die allgemeine Leitung des
Veranlagungsgeschäfts haben, er würde nicht dauernd mit seinen Kreiseingesessenen
in Streit und Widerspruch geraten, sondern ihm würde die sehr viel angenehmere
Aufgabe zukommen, bei Streitigkeiten mit dem Regierungskomnnssar zu ver¬
mitteln und auszugleichen. Selbstverständlich wäre es nicht nötig, daß für jeden
Landratskreis ein besonderer Regierungskommissar bestellt wird; es würde sür
niehrere Kreise ein Kommissar bestellt und dadurch auch eine gleichmäßige Praxis
herbeigeführt werden.
Durch die Einsetzung eines Regierungskommissars würden keinerlei Interessen
geschädigt oder bedroht werden; aber es würde eine Garantie geschaffen werden
für eine gleichmäßige und volle, also gerechte Einschätzung aller Steuerpflichtigen,
und das Gesamtergebnis der Einkommensteuer würde zweifellos ein besseres
werden.---
Die Junggesellensteuer ist oft vorgeschlagen, früher stets abgelehnt,
jetzt wird sie doch ernsthaft besprochen. Was hat man nicht alles zu ihren
Gunsten angeführt? Sie soll dein Staat nicht nur Geld zuführen, sondern auch
die Hagestolzen dazu bringen, eine Ehe zu schließen. Die Familie sei die
notwendige Grundlage des Staates, die Ehelosen seien minderwertig, sie zeigen
einen größeren Prozentsatz im Verbrechertum, eine höhere Sterblichkeitsziffer und
eine höhere Selbstmordziffer; jeder Mann, wenigstens bis zum funfzigsten
Lebensjahr, müsse heiraten und Kinder großziehen, das sei einfach seine verfluchte
Pflicht und Schuldigkeit. Wer sich dieser Pflicht entziehe, der müsse zum
Ausgleich dem Staate wenigstens eine Abgabe in Geld entrichten. Diese Aus¬
führungen gehen viel zu weit und sind auf einem falschen Wege. Gewiß beruht
der Staat auf der Familie; daraus folgt aber noch nicht, daß die Verehelichung
eine Pflicht gegen den Staat ist. Gar mancher hätte gern geheiratet; aber
dazu gehören zwei, und nicht jeder findet die andere, bessere Hälfte für seine
Ehe. Manch einen halten andere Pflichten von einer Heirat ab; und weder
diese noch die verstockten Weiberfeinde werden aus Furcht vor einer Steuer die
Erste, vielleicht nicht Beste, zur Frau nehmen. Es ist ganz abwegig, mit Hilfe
einer rein materiellen Einwirkung Entschließungen beeinflussen zu wollen, die
fast ausschließlich auf sittlichem Gebiet liegen. Also kurz, diese Gründe ziehen nicht.
Trotzdem bleibt uns Familienvätern ein Stachel zurück. Wir fühlen
doch eine Ungerechtigkeit, eine Benachteiligung gegen die Junggesellen. Aber
worin liegt sie, und wie ist ihr abzuhelfen?
Eine Ungerechtigkeit könnte nur dann anerkannt werden, wenn sie auf dem
Gebiete der Besteuerung selbst liegt. Ist das wirklich der Fall, dann kann, ja,
dann muß Abhilfe geschaffen werden. Und da muß man bei ruhiger Prüfung
der gesamten Belastungen des Staatsbürgers allerdings zugeben, daß der Jung¬
geselle besser fortkommt als der Familienvater. Nicht bei der direkten Steuer;
denn da zahlt jeder seineni Einkommen entsprechend gleichviel. Aber die indirekten
Abgaben, die in Form von Steuern und Zöllen auf Verbrauchsgegenständen,
besonders auf den Lebensmitteln liegen, die lasten auf dem Familienvater, der
den Unterhalt für Frau und Kinder zu bestreiten hat, zweifellos stärker, als
auf dem Ehelosen, der nur für sich zu sorgen hat. Es kann niemand leugnen,
daß bei gleichem Einkommen der Familienvater insgesamt, also mit direkten
und indirekten Steuern, dem Staate mehr gibt als der Junggeselle. In dieser
ungleichen Belastung liegt eine Ungerechtigkeit.
Wie nun ausgleichen? Bei den indirekten Abgaben kann ein Ausgleich
uicht vorgenommen werden, weil sie nicht unmittelbar von dem Konsumenten,
der sie schließlich zu tragen hat, erhoben werden. Der Ausgleich kann nur bei
den direkten Steuern erfolgen. Das ist der einzig mögliche Weg. Verfolgt
man in dieser Richtung den Weg weiter, so ergibt sich von selbst, daß dem
Familienvater entsprechend seiner Mehrbelastung mit indirekten Ab¬
gaben eine Erleichterung, also ein Nachlaß bei den direkten Steuern gewährt
werden muß. In gewisser Weise geschieht das jetzt schon, indem nach Z 19 des
.preußischen Einkommensteuergesetzes in drei Abstufungen bei Steuerpflichtigen,
deren Einkommen 3000 Mark, «500 Mark und 9500 Mark beträgt, gewisse
Ermäßigungen stattfinden, die im wesentlichen in einer Ermäßigung der Steuer-
stufen uni ein bis drei Stufen bestehen.
Diese Steuerermäßigung ist einem dunklen Empfinden entnommen, daß die
Steuerpflichtigen mit besonders schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen eine
gewisse Berücksichtigung finden sollen. Aber sie hat etwas Unbestimmtes und
Willkürliches, sie ist eine ungefüge Aushilfe. Doch der Keim eines richtigen
Gedankens liegt darin. Dieser Keim läßt sich weiter entwickeln. Es muß das
richtige Verhältnis gesunden werden, um die Mehrbelastung eines Steuerpflichtigen
an indirekten Abgaben durch eine Ermäßigung bei direkten Steuern zum Aus¬
gleich zu bringen. Solche Steuerpflichtigen sind nicht die Familienväter allein;
auch Ehelose, die Angehörige, Eltern oder Geschwister unterhalten müssen, sind
in derselben Lage wie Familienväter, auch sie haben eine stärkere Belastung
durch die indirekten Abgaben. Und die Familienväter sind wieder verschieden
stark mit indirekter Abgabe belastet, je nach der Größe ihrer Familie.
Alles dieses müßte bei dem Ausgleich berücksichtigt werden. Warum sollte
das nicht gehen? Man kann verschiedene Wege wählen. Man kann festsetzen, daß
die Belastung mit den indirekten Abgaben, soweit sie auf Verbrauchsgegenständen
ruhen, etwa jährlich — sagen wir — 12 Mark für den Kopf beträgt. Will
man das anerkennen, so müßte man dem Steuerzahler, der zum Unterhalt
anderer Personen nach Gesetz oder Sitte verpflichtet ist, für jede dieser Personen
12 Mark auf seine jährliche direkte Steuer (nicht auf sein steuerpflichtiges Ein¬
kommen) anrechnen, die Steuer also um so viel ermäßigen. Für diese Ermäßigung
könnte allenfalls ein Höchstbetrag bestimmt werden. Oder man könnte statt eines
bestimmten Geldbetrages einen Prozentsatz der Mehrbelastung durch indirekte
Abgaben feststellen und durch Anrechnung bei der direkten Steuer eine ent¬
sprechende Ermäßigung erzielen.
Selbstverständlich würde infolge dieser Ermäßigung an direkter Steuer für
alle steuerpflichtigen Familienväter und sonstige Unterhaltspflichtige der Gesamt¬
ertrag der direkten Steuern erheblich geringer werden. Das würde dem Herrn
Finanzminister nicht gefallen. Aber auch hier findet sich ein Ausweg. Der
besteht darin, daß gleichzeitig die Einkommensteuersätze entsprechend erhöht
werden. Die Mehrbelastung würden die Familienväter nicht tragen, sie würden
trotz der Erhöhung im großen ganzen nicht mehr zahlen wie bisher. Die
stärkere Belastung würde nur die treffen, die für niemand in der Welt zu sorgen
haben. Und das schadet nichts. Erreicht würde ohne einen Ausfall für den
Staat ein gerechter Ausgleich zwischen Familienvätern und Ehelosen.
Verantwortliche Schriftleiter: für den politischen Teil der Herausgeber Beorge Eleinow in Schöneberg, fiir
den literarischen Teil und die Redaktion Heinz Amelung in Wilmersdorf. — Manuslriptsendungen und Bries«
werden erbeten unter der Adresse:
An den Herausgeber der Grenzboten in Friede»«» bei Berlin, Hedwigstr. 1».
Fernsprecher der Schrtstleitung: Amt PfalzSurg 5719. des Verlag»: Amt Lützow S510,
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in, l>. H. in Berlin SV. 11.
Drü«! „Der R-ichSbote" G, in, b. H, in Berlin SV. 11, Dessauer Strasze SS/S7,
ZLv/ion-Iivn >V»»»o»> u. >V»IcI itussonsi Aosunri xolsAsn. —
Ssi-oitot fil^ »tlo ScKuIIllasson, lis» Tlnjilli^kom-,
pnlmsn«»'-, ^bltuniontvn - Uxsmsn vor-. Xuc-K Dämon»
Vo^do^vitunzi. — Xlsin« XIsssvn. (Zr-vncjlloKo,', Incll-
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WM
iM?!me bemerkenswerte Veröffentlichung unter der hier gegebenen
Überschrift hat unlängst die französische Zeitschrift Revue de Paris
über die Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen gebracht,
! besonders über die Episode aus dem Jahre 1875, in der eine
^Zeitlang Europa von dem Eindruck beherrscht wurde, daß es zu
einer neuen kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich
kommen werde. Der Artikel stammt aus der Feder des jetzt im Ruhestande
lebenden russischen Diplomaten Peter Ssaburow, der bekanntlich während einer
Reihe von Jahren (1880 bis 1884) seinen Monarchen auch am Berliner Hofe
vertreten hat. Es versteht sich von selbst, daß die Darstellung, die in dem
erwähnten Aussatz gegeben wird, ganz und gar den russischen Standpunkt fest¬
hält. Ssaburow gehörte durchaus nicht zu den russischen Staatsmännern aus
der Zeit Alexanders des Zweiten, die in besonderer Weise die Marke der
Deutschfreundlichkeit trugen. Er war durch und durch Russe, aus der Schule
Gortschakows hervorgegangen und innerhalb der Grenzen, die einem klugen
Manne stets durch selbständiges Urteil und eigene Erfahrung gezogen werden,
auch Anhänger und Bewunderer des alten Fürsten. Man wird also nicht den
Argwohn zu hegen brauchen, daß es sich um eine Darstellung handelt, die die
Ereignisse einseitig zugunsten der deutschen Auffassung zu färben sucht. Um so
beachtenswerter ist es, daß der alte Diplomat sich, gerade vom spezifisch russischen
Standpunkt ausgehend, zu einer Objektivität erhebt, die sehr deutlich zeigt, wie
nahe sich eigentlich die richtig verstandenen Interessen Deutschlands und Ru߬
lands berühren.
Der Verfasser geht davon aus, daß der Krieg 1.870 das europäische Gleich¬
gewicht tief erschüttert habe. In Nußland habe man schon bei Beginn des
Krieges dunkel geahnt, daß es zwischen dein geeinten Deutschland und Rußland
anders werden würde als bisher. Während bis dahin die freundschaftlichen
Gefühle der blutsverwandten Dynastien auch die Politik der Regierungen
bestimmt hatten, forderten jetzt die Gefühle und Stimmungen der Nationalitäten
ihr Recht. Dennoch tritt der Verfasser entschieden der französischen Auffassung
entgegen, die einen besonders starken Ausdruck in den Aufzeichnungen Emile
Olliviers über die Entstehung des Krieges von 1870 gefunden hat, nämlich der
Meinung, als ob Kaiser Alexander der Zweite nur aus persönlicher Neigung
und politischer Kurzsichtigkeit die bekannte deutschfreundliche Haltung während
des Krieges eingenommen habe. Ssaburow weist nach, daß gerade das russische
Interesse diese Haltung erfordert habe. Der Pariser Vertrag von 1856 hatte
zwischen Frankreich, Österreich und England eine dauernde Koalition aufgerichtet,
die sich gegen ein wichtiges russisches Lebensinteresse richtete. Nur Preußen
hatte sich an diesen besonderen Verpflichtungen zur Aufrechterhaltung der Ab¬
machungen über die Verhältnisse im Schwarzen Meere nicht beteiligt. Alexander
der Zweite, der unter den Eindrücken der Ergebnisse des Krimkrieges zur
Regierung gelangt war, hatte gerade im russischen Interesse keine Veran¬
lassung, die Politik seines Vaters fortzusetzen und Österreich gegen das auf¬
steigende Preußen zu beschützen. Er empfand mit Recht die Niederlagen
Österreichs 1859 und 1866 als Schläge, die gegen den Vertrag von 1856
geführt wurden. Ähnliche Erwägungen lagen auch 1870 der russischen Politik
zugrunde. „Österreich in dem bevorstehenden Kampfe neutral zu erhalten, war
in diesem Augenblick für Rußland eine Notwendigkeit; man kann ohne Über¬
treibung sagen, daß bei dem damaligen Stand der Dinge die preußischen Siege
auch die unsrigen waren." Dieser Auffassung des Kaisers und der maßgebenden
Politiker Rußlands stellten sich schon damals die „patriotischen Beklemmungen"
des erwachenden russischen Nationalismus entgegen. Die junge Generation
betrachtete den Krimkrieg nur noch als Geschichte. Er war für sie keine persön¬
liche Erfahrung, die ihre politischen Ideen beeinflussen konnte. Unmittelbar
empfanden diese Jüngeren nur die Störung des europäischen Gleichgewichts,
die in ihnen die Vorstellung erzeugte, als ob das benachbarte neue Kaiserreich
nach der gänzlichen Zerschmetterung Frankreichs nun Nußland vollständig isolieren
und zur Ohnmacht verurteilen werde. Den Männern dagegen, die einen
Einblick in die politische Praxis der vorhergegangenen Epoche gewonnen
hatten, erschien im Gegenteil das Bündnis mit Preußen notwendiger als je.
Das vergrößerte und befestigte Preußen war jetzt endlich ein nützlicher Bundes¬
genosse geworden, wie man ihn lange ersehnt hatte und für die Orientpolitik
brauchte. Ssaburow gibt hier seiner Überzeugung von der Richtigkeit der
Politik Alexanders des Zweiten einen sehr entschiedenen Ausdruck. Er schreibt
wörtlich:
„Man hat bei dieser Gelegenheit gesagt: .Rußland hat sich von Preußen
ausbeuten lassen.' Dieses Wort ist. weil es beständig wiederholt wurde, für
die Moskaner Patrioten eine geschichtliche Wahrheit geworden. Niemals aber
ist eine Anklage ungerechter gewesen. Wenn von Ausbeutung die Rede sein
kann, so ist sie gegenseitig gewesen. In Wahrheit hat sich Kaiser Alexander
erst von diesem Augenblick an in Europa politisch wohlgefühlt und hat Rußland
seine alte Stellung in der Welt wiedergegeben."
Nach Ssaburows Urteil bezeugte der Besuch Kaiser Wilhelms des Ersten
in Se. Petersburg im Jahre 1878 die Tatsache, daß die beiden Herrscher damals
die Herren der Welt waren. Kein Wunder, daß die Idee eines ständigen
Bündnisses auftauchte. Wäre es dazu gekommen, so wäre das auch für Ru߬
lands Orientpolitik von außerordentlicher Bedeutung gewesen. Aber die anti¬
deutsche Strömung war immer mächtiger geworden und machte sich auch in der
Regierung geltend. Alexander der Zweite war wohl tatsächlich und rechtlich,
aber nicht von Veranlagung Selbstherrscher. Wie Ssaburow hervorhebt, teilte
Fürst Gortschakow von Anfang an die Befürchtungen der Moskaner Patrioten
wegen der Einigung Deutschlands. Schon bei Beginn des Krieges hatte er die
Politik seines Kaisers, die er nicht verhindern konnte, nicht gut geheißen. Dieser
Stellungnahme entsprach auch sein Verfahren bei der Kündigung des Pariser
Vertrages.
Ssaburow weist nach, daß Gortschakow das gleicheZiel, die Befreiung Rußlands
von den ihm im Jahre 1856 auferlegten Beschränkungen, auf bequemere Weise
in vertrauensvollen Einvernehmen mit dem Fürsten Bismarck nach Beendigung
des Krieges erreichen konnte. Er wählte einen anderen Weg: die unvermittelte
Zerreißung des Vertrages während des Krieges. Er beschwor die Gefahr eines
allgemeinen europäischen Krieges herauf, um dadurch zu erreichen, daß Deutsch¬
land den Dienst, den es Nußland sonst freiwillig geleistet hätte, gewissermaßen
gezwungen leistete, um eine Erschwerung seiner eigenen politischen Lage zu ver¬
meiden. Der Druck, der von deutscher Seite auf England ausgeübt werden
mußte, um seine Zustimmung zu der geschaffenen Lage zu erlangen, erschien
jetzt nicht als ein Akt der Freundschaft und Dankbarkeit für Rußland, sondern
als ein Akt zur Wahrnehmung der eigenen Interessen, die es erforderten, daß
Deutschland in seiner kriegerischen Auseinandersetzung mit Frankreich allein
blieb und nicht durch neue kriegerische Verwicklungen mit anderen Mächten
gestört wurde.
Ssaburow nennt dieses Verfahren einen Meisterstreich Gortschakows, aber
er läßt bei aller Bewunderung für die diplomatische Geschicklichkeit feines alten
Meisters doch der Erkenntnis Raum, daß Gortschakow unrecht hatte. Zwischen
Kaiser Alexander und seinem Reichskanzler bestand eine tiefgehende Meinungs¬
verschiedenheit. Der Kaiser hatte die Erfahrung gemacht, daß ein schwaches
Preußen Österreichs Stellung verstärkt und es ermutigt hatte, in der Orient-
Politik Anschluß bei den Westmächten gegen Rußland zu suchen. Er sah daher
in dem neuen Deutschland ein verstärktes Preußen, durch dessen Freundschaft
Rußland in der europäischen Politik nur gewinnen konnte. „Er hielt an dem
Bündnis mit dem Deutschen Reiche fest; es war die notwendige Krönung der
Politik seiner ganzen Regierung." Gortschakow dagegen ging von dem Grund¬
gedanken aus, die Unversöhnlichkeit und Nevanchelust des besiegten Frankreichs
zu benutzen, um Deutschland und Frankreich gegen einander auszuspielen und
Rußland dadurch eine Vermittler- und Schiedsrichterrolle in Europa zu sichern.
„Er liebte es, Nußland mit einer reichen Erbin zu vergleichen, die sich den Hof
machen läßt, aber ihre Freiheit wahrt und niemandem ihre Hand gewährt."
Zur Beantwortung der Frage, welcher Standpunkt der richtige war, ver¬
weist Ssaburow einfach auf die Erfahrungen, die Rußland seitdem im Orient
gemacht hat. Die Ereignisse haben Gortschakow unrecht gegeben. Der Verfasser
entschuldigt den alten Kanzler mit seinen fünfundsiebzig Jahren, die ihm einen
Teil seiner Voraussicht geraubt hätten. Kaiser Alexander aber habe wohl
vorhergesehen, daß er bei der Entwicklung der Dinge im Orient die deutsche
Freundschaft brauchen würde. „So verfolgte der Kaiser einerseits seine persön¬
liche Politik, die der Kanzler anderseits neutralisierte." Das konnte natürlich
nicht ohne Rückwirkungen auf die deutsche Politik bleiben.
So gelangt der Verfasser zu der weiteren Frage, wer die Schuld an den
Mißverstündnissen und Trübungen der Beziehungen zwischen Deutschland und
Rußland trüge. Die öffentliche Meinung in Rußland hat den Fürsten Bismarck
damit belastet. Es ist nun bemerkenswert, daß Ssaburow trotz der vorsichtigen
Schonung, die seine Darstellung an der patriotischen Empfindlichkeit seiner Lands¬
leute und auch des französischen Publikums, an das er sich wendet, übt, die in
Rußland und Frankreich herrschenden Anschauungen recht deutlich korrigiert.
Er erörtert zunächst durchaus objektiv den Standpunkt der deutschen Politik.
Mit vollem Recht hebt er hervor, daß Bismarck der geographischen Lage
Deutschlands habe Rechnung tragen müssen. Deutschland mußte nach drei Seiten
seine Grenzen schützen. Österreich war besiegt, aber Bismarck hatte seine
berechtigte Empfindlichkeit geschont und bereits den Weg für eine künftige Ver¬
ständigung geebnet. Frankreich dagegen hatte sich schneller als erwartet von
seiner Niederlage erholt und seine militärische Macht wiederhergestellt. „Indem
Fürst Bismarck," so meint Ssaburow, „in Frankreich die republikanische Re¬
gierung begünstigte, stellte er eine Berechnung an, die die Ereignisse nicht
gerechtfertigt haben. In der Tat ist es nach zwanzig Jahren unfruchtbarer
Diplomatie dem deutschen Kanzler weder gelungen, Frankreich zu versöhnen,
noch es der Anarchie auszuliefern." Hier muß freilich vom deutschen Stand¬
punkte aus eingeschaltet werden, daß dabei jedenfalls der Gedanke der
Bismarckschen Politik unrichtig wiedergegeben wird. Fürst Bismarck hat
schwerlich erwartet, daß das republikanische Regiment in Frankreich zur Anarchie
führen werde; auch hat er die Aussichten einer Versöhnung der französischen
Empfindlichkeit niemals überschätzt. Wenn er die Republik begünstigte, so sagte
er sich, daß diese Regierungsform mehr als jede andere auf eine vorsichtige
Politik angewiesen war, während jeder Diktator oder Prätendent in Frankreich
zunächst und vor allem für sein persönliches Prestige sorgen mußte, also auf
die Pflege und Ausnutzung des Revanchegedankens geradezu hingewiesen wurde.
Daß Fürst Bismarck darin recht hatte, steht außer Zweifel. Für die Beweis¬
führung Ssaburows kommt es freilich nicht darauf an, ob man Bismarcks
Politik diese oder jene Deutung gibt. Das Tatsächliche in den Beziehungen
zwischen Deutschland und Frankreich ist richtig gekennzeichnet, und daran knüpft
Ssabnrow mit Recht die weitere Feststellung, daß Bismarck um so mehr bestrebt
war, die Ostgrenze des Reiches durch ein Bündnis mit Rußland zu decken.
Deutschland hatte auch durchaus kein Interesse, die deutschfeindliche Bewegung,
die sich in Rußland nach .1870 bemerkbar machte, durch einen Frontwechsel
noch mehr anzuspornen. Über diese Bewegung urteilt der Verfasser: „Sie war
verhängnisvoll, unvermeidlich; es war die spontane Stimme eines National¬
gefühls, das sich um die Berechnungen der Politik nicht kümmert." Leider war
Alexander der Zweite nicht stark genug, um solchen Bewegungen dadurch die
Spitze zu bieten, daß er seinen Kanzler ausschließlich zum Vollstrecker seines Willens
machte. Ssaburow sagt in dieser Gedankenverbindung sehr bezeichnend für die
Verhältnisse: „Nichts ist gefährlicher für einen Herrscher, als einen Minister zu
behalten, dessen Ideen von den seinigen abweichen; er läuft Gefahr, unbewußt
das Werkzeug dieses Ministers zu werden, der vor ihm den Vorteil voraus
hat, die Einzelheiten der Geschäfte zu beherrschen (I'avgnwAe nie cliliZer le
clef Maires)."
Hieran knüpft sich nun die Schilderung der bekannten Episode von 1875.
Der Hergang, wie er sich zu jener Zeit der Öffentlichkeit darstellte, mag hier
in folgendem noch einmal kurz skizziert werden. Die Annahme des französischen
Cadregesetzes im Frühjahr 1875 bedeutete eine so ungeheure Anspannung der
militärischen Kräfte Frankreichs, daß in sachverständigen Kreisen Deutschlands
der Eindruck entstand, dies könne unmöglich als eine dauernde Belastung zu¬
gunsten der allgemeinen Verteidigungsfähigkeit des Landes angesehen werden,
es sei vielmehr nur aus der Absicht zu erklären, daß Frankreich binnen kurzer
Zeit eine neue kriegerische Auseinandersetzung mit Deutschland herbeiführen
wolle. Während diese Sorgen anfangs nur die militärischen Kreise beschäftigten,
erschien am 8. April in der Post ein Alarmartikel mit der Überschrift: „Ist
der Krieg in Sicht?", der die Beunruhigung zum Gemeingut der weitesten
Kreise machte. Dem Artikel wurde amtlicher Ursprung beigemessen, und die
ganze deutsche Presse beschäftigte sich damit. Allgemein wurde die von Frank¬
reich drohende Kriegsgefahr besprochen und an einzelnen Stellen auch dem
Gedanken Ausdruck gegeben, daß, wenn ein neuer Krieg doch unvermeidlich sei,
es besser wäre, ihn früher zu führen, als zu warten, bis Frankreich vollständig
gerüstet sei und seinerseits anfange. Während dieses Lärms beobachteten die
maßgebenden politischen Persönlichkeiten ihre Ruhe. Der französische Minister
des Auswärtigen, Herzog Decazes, und der Berliner Botschafter, Herr v. Gontaut-
Biron. beeilten sich, friedliche Versicherungen abzugeben. Anderseits betonten
Kaiser Wilhelm. Fürst Bismarck und der Staatssekretär v, Bülow (der Vater
des späteren Reichskanzlers) an geeigneter Stelle auf das entschiedenste, daß
Deutschland keine Angriffsabsichten habe. Es schien, als ob sich der Sturm
wieder legen werde, als am 21. April Gontaut-Biron bei einem Diner des
englischen Botschafters mit Herrn v, Radowitz (dem späteren Botschafter) zu¬
sammentraf, der als besonderer Vertrauensmann des Fürsten Bismarck galt.
Das Gespräch der beiden Diplomaten bewegte sich anfangs in der Bahn, daß
beide ihre Befriedigung über die glückliche Erledigung des Zwischenfalls aus¬
drückten. Weitere Ausführungen Gontauts über die Haltung der deutschen
Presse veranlaßten indessen Herrn v. Radowitz doch, darauf hinzuweisen, daß
die Ausführungen der deutschen Blätter in wesentlichen Punkten sachlich gerecht¬
fertigt gewesen seien. Der Botschafter faßte dies dahin auf, daß maßgebende
Persönlichkeiten der deutschen Negierung sich den Gedanken eines Präventiv¬
krieges, falls die Krtegsabsicht Frankreichs zweifellos festgestellt erscheine, zu
eigen machten. Er berichtete über die Unterredung eingehend an den Herzog
Decazes, der sich nun unter dem Eindruck der Darstellung Gontauts an die
russische Regierung wandte und ihre Intervention gegen die angeblichen Kriegs¬
gelüste Deutschlands anrief. Hätte Fürst Gortschakow die Politik Rußlands
im Sinne seines Kaisers geführt, so hätte es nur einer kurzen Verständigung
mit Berlin bedurft, um eine Klärung der Lage herbeizuführen. Aber im
System des russischen Kanzlers lag es, die Miene anzunehmen, als glaube er
an die absolute Richtigkeit der französischen Auffassung; er hielt absichtlich den
Schein aufrecht, als habe er ernstlich zwischen Deutschland und Frankreich zu
vermitteln. Er veranlaßte den Kaiser Alexander, auf der bevorstehenden Reise
nach Ems in Berlin Station zu machen und sich mit Kaiser Wilhelm zu
besprechen. Da er selbst den Kaiser begleitete, wußte er es weiter einzurichten, daß
seine eigene Begegnung mit dem Fürsten Bismarck nicht den Charakter einer
vertraulichen Aussprache sondern eines diplomatischen Schritts annahm, indem
er nämlich den englischen Botschafter veranlaßte, dabei zugegen zu sein. Am
13. Mai fand der Besuch Kaiser Alexanders in Berlin statt; er konnte natürlich
nur ergeben, daß kriegerische Absichten Deutschlands überhaupt nicht bestanden
hatten. Aber Gortschakow verharrte in der Rolle, daß dieses Ergebnis die
Frucht der russischen Vermittlung gewesen sei. Er richtete an die russischen
Vertretungen im Auslande ein Zirkular, daß die Aufrechterhaltung des Friedens
gesichert sei, als ob es in seiner Hand gelegen hätte, daß Deutschland Frieden
hielt und Frankreich vor den bösen Gelüsten seines Nachbarn gerettet wurde.
Was nun die Unterredung zwischen Bismarck und Gortschakow in Gegenwart
des englischen Botschafters Lord Odo Russell betrifft, so begnügt sich Ssaburow
damit, die Darstellungen neben einander zu stellen, die er aus dem Munde der
drei Teilnehmer an dieser Unterredung selbst empfangen hat. Sie sind so
interessant, daß es notwendig erscheint, sie hier in dem Wortlaut wiederzugeben,
wie Ssaburow sie mitteilt.
Zunächst Gortschakow: „Frankreich hat sich an uns gewandt, um es gegen
die kriegerischen Absichten der deutschen Militärpakte! zu schützen. Der Kaiser
hat sich darüber mit dem Kaiser Wilhelm auseinandergesetzt, der ihn in dieser
Beziehung vollkommen beruhigt hat, indem er ihm sagte, daß, so lange er lebe,
Deutschland nicht Krieg anfangen würde. Meinerseits habe ich mit Bismarck
eine freundschaftliche, aber entschiedene Auseinandersetzung gehabt. Er hat sich
beklagt, daß man seinen Wunsch, den Frieden zu erhalten, anzweifle, während
er die Nächte schlaflos bei der Arbeit zubringe, die das Ziel habe, ihn zu
sichern. Ich habe ihm geantwortet: .Diese schlaflosen Nächte gerade beunruhigen
uns. Erinnern Sie sich, daß Sie die Last Ihres Ruhmes tragen: wenn Sie
an Schlaflosigkeit leiden, kann Europa nicht schlafen; wenn Sie Migräne haben,
hat Europa Fieber.' Ich muß ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß
er das Kompliment und die Lektion als Mann von Geist aufgenommen hat.
Er hat jede feindselige Absicht gegen Frankreich geleugnet; er hat ihm nur einen
freundschaftlichen Wink geben wollen. Wir haben uns auf dem besten Fuße
getrennt."
Lord Odo Russell gab folgende Darstellung: „Eines Tages erhielt ich eine
Depesche des Foreign Office, die mir mitteilte, daß man in Paris sehr beun¬
ruhigt wäre über eine Unterredung von Radowitz mit Gontaut-Biron. Ich begab
mich zum Fürsten Bismarck, um ihn zu bitten, mich in die Lage zu versetzen,
meine Regierung zu beruhigen. Der Fürst beauftragte mich, nach London zu
schreiben, daß man seiner Einsicht Unrecht täte, wenn man voraussetzte, daß er
die Existenz des Deutschen Reichs wieder den Wechselfällen des Krieges aus¬
setzen wolle; nicht Frankreich, sondern den Militärs beider Länder zürne er;
wenn es nach ihnen ginge, würde der Krieg sehr schnell entbrannt sein; um
die Leitung dieser brennenden Fragen wieder in die Hand zu bekommen, habe
er beschlossen, sie auf den Boden diplomatischer Auseinandersetzungen zu stellen;
die Auseinandersetzung habe stattgefunden; das sei alles, was er gewollt habe,
und Krieg würde nicht daraus entstehen. Ich schrieb alle diese Einzelheiten an
Lord Derby. Einige Tage darauf kam Kaiser Alexander mit seinem Kanzler
nach Berlin- Zugleich erhielt ich zu meinem großen Erstaunen den Befehl, mich
dem Schritte anzuschließen, den Fürst Gortschakow bei dem deutschen Kanzler
zu unternehmen vorhatte. Ich mußte gehorchen, obwohl ich von der Unzweck-
mäßigkeit eines Schrittes überzeugt war, der wahrscheinlich den Fürsten Bismarck
verletzen würde. Daher entschloß ich mich, die Rolle der stummen Person im
Stück zu spielen. Ich fand mich, wie es bestimmt war, ein, eine Viertelstunde
nach dem Fürsten Gortschakow. der mich rin den Worten empfing: .Kommen
Sie, lieber Botschafter, Sie sind bei unserer Unterhaltung nicht überflüssig.' Ich
setzte mich und begnügte mich, zuzuhören und die Stöße in diesem Wortduell
zwischen den beiden Kanzlern zu zählen. Ich gestehe, daß meine ganze Bewun-
derung dem Fürsten Gortschakow gehörte; er zeigte sich überlegen an Kalt¬
blütigkeit, an Höflichkeit, an Feinheit und, ich muß sagen, an Weite der Gesichts¬
punkte. Fürst Bismarck fühlte sich unbehaglich, wie jemand, der seinen Zorn
verbeißt. Es ist das erste Mal, daß ich ihn in seinen Antworten habe den
kürzeren ziehen sehen. Am folgenden Tage empfing ich den Besuch des Staats >
Sekretärs Vülow. Nach einigen Worten ohne Bedeutung nahm er seine feier¬
lichste Amtsmiene an und machte mir folgende Eröffnung: ,Seine Durchlaucht
der Kanzler beauftragt mich, Herr Botschafter, Eurer Exzellenz sein Bedauern
auszudrücken, daß Ihr Kredit bei Ihrer Negierung nicht so groß ist, wie Seine
Durchlaucht gehofft hatte.' Auf diesen unerwarteten Ausfall erwiderte ich:
,Haben Sie die Güte, meinerseits dem Herrn Kanzler zu antworten, daß auch
ich eine übertriebene Vorstellung von dem Kredit hatte, den Seine Durchlaucht
bei der russischen Regierung besaß/"
Was Bismarck selbst betrifft, so weiß Ssaburow nur eine Äußerung aus
späterer Zeit zu berichten, die sich auf diesen Vorgang bezieht. Bismarck sagte:
„Es ist für mich oft viel schwerer, mich mit meiner eigenen Regierung zu ver¬
ständigen als mit den auswärtigen Regierungen. Wir haben einen Generalstab,
der in beständigem Kriegszustand mit unseren drei Nachbarn ist, auch Österreich
nicht ausgenommen. Das ist ihr Handwerk, aber es ist nicht das meinige.
Im Jahre 1875 gingen unsere Taktiker zu weit, und ich habe dazwischen treten
müssen. Sie fanden, daß Frankreich sich zu früh von seinen Niederlagen erholte.
Glücklicherweise will der Kaiser keinen Krieg, solange er regiert. Trotzdem
wollte ich ihn nicht mit seinem Generalstab allein lassen. Deshalb habe ich
eine Auseinandersetzung mit der französischen Regierung herbeigeführt. Ich wußte
wenigstens, wo ich Halt zu machen hatte, während es die Militärs niemals
wissen." Und erregt fügte er hinzu: „Unglücklicherweise hat Fürst Gortschakow
das nicht verstehen wollen und hat es vorgezogen, einen diplomatischen Erfolg
auf meine Kosten zu erringen."
Wir wissen seitdem aus den „Gedanken und Erinnerungen", wie erbittert
Fürst B'smarck über das Verhalten Gortschakows war. Er war so fest davon
überzeugt, daß ein vertrauensvolles Zusammengehen Deutschlands und Rußlands
den Interessen beider Länder entspräche, und er hatte in der Pflege dieses Ge¬
dankens so viele Beweise seiner unerschütterlichen Loyalität gegeben, daß ihn
eine Verkennung und Durchkreuzung dieses Grundgedankens seiner Politik
empfindlicher als alles andere berührte, zumal da er genau wußte, daß Kaiser
Alexander das Interesse Rußlands anders verstand als sein Kanzler. Er
empfand Gortschakows diplomatische Schachzüge so tief, daß er ihm nicht einmal
das Recht einer abweichenden Meinung über die Interessen seines Landes
zuzugestehen vermochte. Daher widmete er ihm in den „Gedanken und Erinne¬
rungen" das harte Urteil: „Sein persönliches Übelwollen war stärker als sein
russisches Pflichtgefühl. Er wollte keine Gefälligkeit von uns, sondern Ent¬
fremdung gegen Deutschland und Dank bei Frankreich... Ich werde dem
Fürsten Gortschakow kaum Unrecht tun, wenn ich nach meinen mehrere Jahr¬
zehnte dauernden Beziehungen zu ihm annehme, daß die persönliche Rivalität
mit mir bei ihm schwerer wog als die Interessen Rußlands: seine Eitelkeit,
seine Eifersucht gegen mich waren größer als sein Patriotismus," Wenn diese
Worte in ihrer ganzen Härte und Schwere auch vielleicht etwas über das Ziel
hinausschießen, so wird man doch von der Menschenkenntnis des Fürsten Bis-
marck erwarten können, daß sie nicht ganz fehlgehen. Was Ssaburow aus
einer den: Landsmann und ehemaligen Vorgesetzten und Lehrmeister schuldigen
Rücksicht diskret verschweigt, muß also nach dieser Richtung hin ergänzt werden:
Gortschakows Politik war eben in hohem Maße auch durch persönliche Eitelkeit
bestimmt und von ihr getragen. Man wird dann auch die Erbitterung ver¬
stehen, von der Fürst Bismarck bei dieser Gelegenheit erfüllt war. Seine
gewaltige Persönlichkeit ließ sich nur schwer ganz in den Bann der diplomatischen
Form zwingen, so sehr er diese auch beherrschte. Es erklärt sich also sehr wohl,
daß es dem zünftigen Diplomaten, der der unbeteiligte Zuhörer bei der Aus¬
sprache der beiden Kanzler war, ohne damals den inneren Zusammenhang der
Dinge ganz zu kennen, so schien, als ob die Überlegenheit diesmal auf feiten
Gortschakows wäre.
Aus der Schilderung von Lord Odo Russell geht hervor, daß er zu seinem
eigenen Erstaunen zu der eigentümlichen Rolle, die er bei dieser Gelegenheit
spielte, durch einen Befehl seiner Negierung veranlaßt wurde. Es erscheint
allerdings einigermaßen auffallend, daß es Gortschakow glückte, die Mitwirkung
Englands zu diesen: diplomatischen Spiel gegen Deutschland zu erlangen. Zur
weiteren Aufklärung fügt Ssaburow daher eine Erzählung hinzu, die er viele
Jahre später ans dem Munde des seinerzeit vielgenannten Pariser Times¬
korrespondenten Blowitz hörte. Dieser erzählte folgendes:
„Einige Zeit vor der Ankunft Kaiser Alexanders in Berlin ließ mich der
Herzog Decazes, Minister der auswärtigen Angelegenheiten, rufen, um mir zu
sagen: .Sie können mir einen großen Dienst leisten; ernste Nachrichten kommen
aus Berlin; man sucht Streit mit uns wegen unserer Rüstungen. Der Kaiser
von Rußland, an den mir uns gewandt haben, ist geneigt, seine Reise nach
Ems zu benutzen, um einen Aufenthalt in Berlin zu machen und mit seinem
Oheim Kaiser Wilhelm zu sprechen. Aber um eine solche Angelegenheit berühren
zu können, ohne daß es den Anschein hat, als mische man sich in die Angelegen¬
heiten der deutschen Regierung, muß die öffentliche Meinung alarmiert werden;
ganz Europa muß erfahren, daß es sich vielleicht am Vorabend eines Krieges
befindet. Wir können das nicht durch unsere Zeitungen machen; man würde
uns anklagen, eine Intrige angezettelt zu haben, aber die Times, eine englische,
neutrale Zeitung, kann es tun. Wir werden Sie mit allen gewünschten Angaben
versehen/ Ich schrieb an den Herausgeber der Times, um seine Zustimmung
zu erbitten. Er antwortete mir, er könne nicht eine Korrespondenz veröffent¬
lichen, die eine befreundete Regierung beschuldige, sie plane einen räuberischen
Angriff gegen Frankreich, — es müßte denn sein, daß das Foreign Office ihn
mit amtlichen Material versehe, das die Gefahr eines Krieges bestätige. Ich
teilte diese Antwort dem Herzog Decazes mit, der nach einem Ministerrat mich
kommen ließ und mir Depeschen des Grafen Gontaut-Biron zu lesen gab, die
über seine Unterredung mit Herrn v. Nadowitz berichteten. Der Herzog fügte
hinzu, daß eine Abschrift dieser Depeschen soeben nach London geschickt worden
sei, um der englischen Regierung mitgeteilt zu werden. Er richtete wiederum
einen dringenden Appell an meine Zuneigung für mein Adoptivvaterland. Nun
zögerte ich nicht länger, und nach Hause zurückgekehrt verfaßte ich meine
Korrespondenz und schickte sie an den Herausgeber der Times mit meinem
Entlassungsgesuch, falls diese Korrespondenz nicht veröffentlicht werden sollte.
Zwei Tage darauf erschien der Artikel, wurde in den Zeitungen des Kontinents
abgedruckt und verursachte eine Panik an allen Börsen Europas."
Man weiß natürlich nicht genau, ob diese Erzählung des Herrn Blowitz
in allen Punkten zutrifft. Indessen spricht eine große Wahrscheinlichkeit dafür.
Hiernach wäre also eine Intrige des Herzogs Decazes dem diplomatischen Spiel
Gortschakows zu Hilfe gekommen.
Auch Ssaburow hebt von seinem Standpunkt aus hervor, wie empfindlich
Bismarck durch den Ausgang dieser Sache betroffen wurde. „Alle Feinde
Deutschlands freuten sich. In Rußland erhoben die Moskaner Patrioten das
Haupt. . . Fürst Bismarck fühlte sein Prestige berührt. Mit der Übertreibung,
die durch den Ärger eines Staatsmannes verursacht wurde, der bis dahin noch
keinen Mißerfolg gekannt hatte, sah er das große Deutschland in seiner Person
erniedrigt." Der deutsche Reichskanzler hatte nicht verhindern können, daß
Rußland wenigstens dem Anschein nach eine Art von Bevormundung ausgeübt
und Europa den Frieden diktiert hatte.
Wenn freilich Ssaburow weiter meint, diese Erfahrung habe in Bismarcks
Geist den Gedanken entstehen lassen, mit Österreich-Ungarn einen engen Bund
zu schließen, so ist das schwerlich richtig. Diesen Plan hat Bismarck lange
vorher schon erwogen; es handelte sich für ihn nur darum, den rechten Zeit¬
punkt abzuwarten. Wie er diesen Zeitpunkt aber erfaßt hat, das wird von
Ssaburow wiederum sehr klar dargestellt. Er sagt unumwunden, Bismarck
habe bei den Verhandlungen, die dem Orientkriege von 1877 vorangingen,
vor Rußland immer den Vorteil voraus gehabt, zu wissen, was er wollte.
Ssaburow erinnert daran, daß der ursprüngliche Kriegsplan Rußlands keine
weitgesteckten Ziele verfolgte. Man habe vielmehr der Türkei gegenüber an
dem alten Grundsatz festgehalten, „die Artischocke Blatt für Blatt zu verspeisen".
Die Absicht, den Balkan nicht zu überschreiten und ein nur zum Teil befreites
Bulgarien zu schaffen, wurde allen Besprechungen vor dem Kriege zugrunde
gelegt. Die Beschränkung in den Kriegszielen war geeignet, die Einmischung
der Mächte fernzuhalten, auch — was nach Ssaburows Versicherung Gortschakow
besonders angenehm war — die freundschaftliche Mitwirkung Deutschlands.
Rußland war dann auch nicht gezwungen, solange es diese Grenzen einhielt,
auf die früheren Verabredungen und Versprechungen gegenüber Österreich-Ungarn
wegen der Besetzung der westlichen Balkanländer (Bosnien und Herzegowina)
zurückzukommen. Nun änderte sich aber die Lage, als die Leitung der krieg¬
führenden Armee mit gutem Recht volle Bewegungsfreiheit forderte. Es kam
der Zeitpunkt, wo sich die russische Armee vor den Toren von Konstantinopel
befand. Die Mächte wurden dadurch überrascht und in Verlegenheit gesetzt.
Aber auch für die russische Regierung zeigten sich jetzt erst die Schwierigkeiten.
Namentlich Österreich gegenüber mußte man entweder auf einer neuen Grund¬
lage verhandeln oder sich mit Deutschland verständigen. Ssaburow erzählt weiter:
„Mit England hatte man in der Eile ein Versprechen ausgetauscht, weder
an Konstantinopel noch an Gallipoli zu rühren. Infolge dieser Bedingung
durfte das englische Geschwader nicht die Meerenge überschreiten. Aber diese
Abmachung wurde fallen gelassen vor dem Sturm der öffentlichen Meinung in
England, und Lord Derby, der sie abgeschlossen hatte, mußte aus dem Kabinett
scheiden. In dieser unsicheren Lage mußte man sich ein Unterpfand sichern.
England tat das, indem es seine Flotte in das Marmara-Meer einlaufen ließ
und dem bedrängten Sultan die Insel Cypern wegnahm. Österreich tat das,
indem es mit England und Deutschland die Überlassung der beiden Provinzen
vereinbarte, die es von uns zu erlangen nicht mehr sicher war. Rußland hatte
sein Pfand bequem zur Hand: es war Konstantinopel; aber seine Hand zögerte,
es zu ergreifen, und dieser einzige Augenblick wurde unwiderruflich verloren.
Und doch hatte der Kaiser das richtige Gefühl dafür gehabt, was er tun
mußte: der Befehl, Konstantinopel zu besetzen, war gegeben worden; er wurde
im Journal officiel an demselben Tage veröffentlicht, als man erfuhr, daß
England unter Bruch seines Versprechens sein Geschwader hatte in die Dardanellen
einlaufen lassen. Die Öffentlichkeit hat niemals die wirklichen Gründe erfahren,
weshalb dieser Befehl unausgeführt geblieben ist. Eine Art Verhängnis ver¬
folgte Kaiser Alexander bei seinen besten Eingebungen. Denn während seiner
an Ereignissen so reichen Regierung schadete die natürliche Güte des Menschen
der Energie des Herrschers. Deshalb entschlüpften uns in dieser denkwürdigen
Zeit überall die Früchte des Sieges."
So die Erzählung Ssaburows von diesem entscheidenden Augenblick der
neuesten russischen Geschichte. Was er als russischer Patriot darin nur diskret
andeutet, wird sich der Leser leicht ergänzen. Es war die politische Isolierung
Rußlands, die ihm in dieser kritischen Lage die Früchte seiner Anstrengungen
und Blutopfer entriß, und diese Isolierung wäre nicht eingetreten, wenn
Alexander der Zweite die Kraft gehabt hätte, seiner besseren Einsicht zu folgen
und — gegen die Bestrebungen seines Kanzlers und eines irregeleiteten National¬
gefühls — zur rechten Zeit die ihm entgegengestreckte Hand Deutschlands
festzuhalten. Das politische System Gortschakows, das im Jahre 1875 seinen
schärfsten Ausdruck gefunden hatte, trug die Schuld an den Enttäuschungen,
die Rußland erfuhr, nachdem es als Sieger vor den Toren von Konstantinopel
gestanden hatte. So ist es zu verstehen, wenn Fürst Bismarck zur Zeit des
Berliner Kongresses dem Times-Korrespondenten sagte: „Ich bin ein aufrichtiger
Freund meiner Freunde und ein aufrichtiger Feind meiner Feinde. Fürst
Gortschakow hat das jetzt gewahr werden müssen. Der Angelegenheit von
1375 hat er die politische Niederlage beizumessen, die er auf dem Kongreß zu
erleiden hatte." Nach der Darstellung Ssaburows, der diese Äußerung Bismarcks
wiedergibt, könnte es scheinen, als ob der deutsche Reichskanzler im Jahre 1878
nur unter dem Gesichtspunkte gehandelt habe, die persönliche Niederlage heim¬
zuzahlen, die er 1875 erlitten hatte. Das ist zweifellos unrichtig. Denn
wenn Bismarck auch die Sachen, die er betrieb, ganz zu seinen persönlichen
Angelegenheiten machte und sie gewissermaßen mit dem Feuer erfüllte, das in
ihm loderte, so geschah doch niemals das Umgekehrte, daß er persönliche Sachen
zu Staatsangelegenheiten machte. Gewiß hat er Gortschakow unter die Nase
reiben wollen, daß er 1873 aufzuessen hatte, was er sich 1875 eingebrockt
hatte; er ersparte dem russischen Kollegen, der nach seiner Überzeugung aus
persönlicher Eitelkeit gehandelt hatte, auch diese persönliche Quittung nicht.
Aber daß Bismarck seinerseits aus Rache Rußland in die Verlegenheit von
1878 gebracht habe, stimmt keinesfalls. Sein Verhalten Rußland gegenüber
während des Krieges und auf dem Berliner Kongreß spricht deutlich dagegen.
Aber man wird in der russischen Auffassung eine weitere Erklärung für die
feindselige Stimmung finden, die in Rußland gegen Deutschland Platz griff,
und aus der auch Bismarck notwendig die Folgerungen ziehen mußte.
Ssaburow erwähnt zum Schluß, daß auch Kaiser Alexander schließlich an
Bismarck irre geworden sei und damit das veränderte Verhältnis zwischen
Deutschland und Rußland besiegelte. Es ist bekannt, wie Fürst Bismarck jetzt
den Augenblick für gegeben erachtete, das längst geplante Bündnis mit
Österreich-Ungarn zu schließen.
Mit dieser Erwähnung schließt auch Ssaburow seine Ausführungen. Es
darf als ein bemerkenswertes Symptom angesehen werden, daß ein russischer
Diplomat von so reicher Erfahrung durch seine aufklärende Schilderung die
Politik Bismarcks gegenüber Rußland in ein so Helles Licht gestellt und dabei
anerkannt hat, wie sehr diese Politik auch den wohlverstandenen Interessen
Rußlands gerecht wurde. Das gibt diesen Erinnerungen auch eine große
Bedeutung für die Gegenwart.
! inmer und immer wiederholen sich im Reichstage, auf den alljährigen
Katholikentagen und bei sonstigen Gelegenheiten (u. a. im Anschluß
an die Beuroner Kaiserrede) die Forderung der Wiederzulassung
!des Jesuitenordens und die Beschuldigung, seine Ausschließung
!vom Reichsgebiet sei ein unerträgliches Unrecht, ein Ausfluß der
Feindschaft gegen die katholische Kirche als solche. Dabei heißt es gewöhnlich:
„Was habt Ihr gegen die Jesuiten? Wir alle, jeder gute Katholik, jeder
katholische Geistliche, denken ganz so wie die Jesuiten."
Es gab eine Zeit, es ist ungefähr hundertundvierzig Jahre her, da dachten
und urteilten die maßgebenden Faktoren der katholischen Kirche nicht nur anders,
sondern diametral entgegengesetzt in puncto Jesuiten: Papst, Erzbischöfe, Bischöfe,
niedere Geistlichkeit waren die heftigsten Gegner des Jesuitenordens. Sie alle
müßten also, wenn Gegnerschaft gegen diesen Orden ein Ausfluß der Feindschaft
gegen die katholische Kirche wäre, Feinde der von ihnen geleiteten Kirche gewesen
sein. Man erwäge die Ungeheuerlichkeit des inneren Widerspruchs: der ganze
offizielle Apparat der katholischen Kirche einschließlich Papst Feind seiner eigenen
Kirche I
Papst Clemens der Vierzehnte, der in seiner Eigenschaft als „Stell¬
vertreter Gottes und Oberhaupt der Kirche Gottes" nach katholischer Auf¬
fassung unmöglich ein Feind dieser selben Kirche gewesen sein kann, hat im
Jahre 1773 den Jesuitenorden wegen seiner Gemeinschädlichkeit für den Frieden
in der katholischen Kirche und in den weltlichen Staaten für ewig ausgehoben
und zur Rechtfertigung dieser Aufhebung ein geradezu vernichtendes Urteil über
ihn gefällt.
Einige Stellen dieses denkwürdigen päpstlichen Aufhebungsdekrets vomiru>8
ÄL reclemptor noster usw. lauten also:
„Wir haben zu unserem tiefsten Herzeleid bemerkt, daß vorbedachte und
noch viele andere Mittel fast gänzlich kraftlos und ohne Wirkung waren, um
so viele und wichtige Unruhen, Beschuldigungen und Anklagen gegen die genannte
Gesellschaft (nämlich die Jesuiten) zu zerstreuen, und daß sich deswegen unsere
Vorgänger, die Päpste (das Breve zählt an dieser Stelle ihrer zwölf auf!) ver-
geblich Mühe gaben, die erwünschte Ruhe in der Kirche wieder herzustellen.
Sie gaben zu diesen: Zweck viele heilsame Verordnungen teils über die welt¬
lichen Geschäfte, welche sie (die Jesuiten) sowohl in ihren heiligen Missionen
als außerhalb derselben betreiben, teils in Rücksicht der verdrießlichen Zwistig-
keiten, die von der Gesellschaft wider die ordentlichen Bischöfe, wider die Regular-
orden, wider die milden Stiftungen aller Art in Europa, Asien, Amerika nicht
ohne großen Schaden der Seelen und zum Schrecken der Völker mit solcher
Heftigkeit erregt wurden. Ferner betrafen die Verordnungen unserer Vor¬
gänger ... den Gebrauch und die Erklärung solcher Lehrsätze, welche der
apostolische Stuhl als ärgerlich und der guten Zucht und Sitte offenbar schädlich
mit Recht verdammt hat. . . Nach so vielen und heftigen Stürmen hatten
alle Rechtschaffenen gehofft, einmal den höchst erwünschten Tag anbrechen zu
sehen, der in vollem Maße Frieden und Ruhe brächte. Es entstanden aber...
nur noch gefährlichere und heftigere Stürme, ... so daß sogar unsere in Christo
geliebten Söhne, die Könige von Frankreich, Spanien, Portugal und von beiden
Sizilien sich genötigt sahen, die Jesuiten aus ihren Staaten zu verbannen
und auszustoßen, weil sie dies als das einzige und notwendige Mittel ansahen,
um zu verhindern, daß Christen im heiligen Schoß der Mutterkirche einander
angegriffen und zerrissen. ... So haben die vorgenannten Fürsten unserem
Vorgänger Clemens dem Dreizehnter ihre Gedanken vorgetragen. . . Allein der
Tod dieses Papstes hat den Ausgang dieser Sache unterbrochen. Da wir
nun durch die Gnade Gottes auf den Stuhl Petri gesetzt worden, gelangten
auch an uns sogleich jene Bitten, Forderungen, Wünsche, welche zu gleicher Zeit
von verschiedenen Bischöfen und anderen durch Gelehrsamkeit und Gottesfurcht
ausgezeichneten Männern unterstützt wurden." (Der heutige katholische Klerus nennt
solche Männer Feinde der Kirche Gottes.) „Damit wir aber in einer so schwer¬
wiegenden und wichtigen Angelegenheit den sichersten Entschluß faßten, haben wir
uns Zeit dazu genommen, nicht allein, um der Sache fleißig nachzuforschen, sie reiflich
überlegen und mit Bedacht dabei verfahren zu können, sondern auch um mit
vielen Seufzern und anhaltendem Gebet von dem Vater des Lichts Hilfe und
Beistand zu erflehen. In diesem Anliegen haben wir uns auch durch das
Gebet aller Gläubigen und durch Werke der Gottseligkeit unterstützen lassen. . .
Nach Anwendung so vieler und notwendiger Mittel also, im Vertrauen auf die
Eingebung und den Beistand des göttlichen Geistes wie auch durch Amts¬
pflicht gedrungen, die Ruhe und den Frieden der Christenheit zu erhalten,...
und nachdem wir außerdem noch bemerkt haben, daß es kaum oder gar nicht
möglich sei, daß, so lange sie (die Gesellschaft Jesu) bestehe, der
wahre und dauerhafte Friede der Kirche wieder hergestellt werden könne, ...
heben wir mit reifer Überzeugung, aus gewisser Kenntnis und aus der
apostolischen Macht erwähnte - Gesellschaft auf, unterdrücken sie, löschen
sie aus, schaffen sie ab und heben auf alle und jede ihrer Ämter, Ver¬
waltungen, Häuser, Schulen, Kollegien, Hospizien. . . Und daher erklären
wir. daß alle und jede Gewalt des Generals (des Oberhaupts der Jesuiten
in Rom), der Provinzialen, der Visitatoren und aller anderen Vorgesetzten
erwähnter Gesellschaft auf immer vernichtet bleiben sollen. . . . Wir wollen
ferner, daß, wenn einige von der aufgehobenen Gesellschaft sich bisher
in Kollegien und Schulen mit dem Unterricht der Jugend beschäftigten,
ihnen alle Leitung und Verwaltung genommen werde und nur denjenigen in
Zukunft zu lehren gestattet werde, die von ihren Arbeiten etwas Gutes hoffen
lassen und zugleich jenen unnützen Streitigkeiten und laxen Lehrmeinungen
(die berüchtigte Moraltheologie sKasuistikj der Jesuiten I), woraus so viel
Unruhe entstanden, völlig entsagen. . . . Was die heiligen Missionen betrifft,
für welche wir ebenfalls alles, was wegen Aufhebung dieser Gesellschaft ver¬
ordnet worden, verstanden haben wollen, so behalten wir uns noch vor, die¬
jenigen Mittel zu bestimmen, durch welche die Bekehrung der Ungläubigen . . .
leichter und sicherer erreicht wird. . . . Wir verbieten auch, daß irgend jemand nach
Bekanntmachung dieses Breves sich unterstehen soll, unter dem Vorwande einer
Bitte, Appelation, Deklaration oder Konsultation über entstandene Zweifel die
Vollziehung desselben im geringsten aufhalte. Denn wir wollen, daß von nun
an sogleich die Aufhebung und Unterdrückung des Ordens vollzogen werde bei
Strafe des uns und unseren Nachfolgern vorbehaltenen größeren Bannes,
welcher gegen alle, die sich unterfangen sollten, der Erfüllung dieser unserer
Verordnung Hindernisse in den Weg zu legen, sogleich verhängt werden soll."
„Wir ernähren alle christlichen Fürsten, daß sie mit der ihnen zustehenden
Macht, Gewalt und Ansehen ... aus Achtung und Gehorsam gegen den aposto¬
lischen Stuhl alle ihre Kräfte aufwenden, um dies unser Breve in vollkommene
Vollziehung zubringen und demselben entsprechende Verordnungen ergehen lassen."
(Ist in Deutschland u. a. geschehen durch Reichsgesetz.)
„Dieses Breve soll für immer fest, unverrückt und wirksam sein und
bleiben, ganz ohne Rückhalt befolgt und von allen und jedem, die es angeht
und in Zukunft angehen wird" (das sind doch ganz besonders alle späteren
Päpste!) „unverletzt beobachtet und gehalten werden."
„Und es soll auch, und nicht anders, in allen und jeden vorbemerkten
Punkten durch alle und jede ordentliche Obrigkeiten, auch durch die Auditoren
der Rechtssachen des heiligen Palastes, durch die Kardinäle der heiligen römischen
Kirche, durch die Legaten a latere, durch die Nuntien des apostolischen Stuhles
und andere, in welchen: Amte und Ansehen sie auch stehen, in allen Rechtssachen
und Instanzen gerichtet und entschieden werden, und alles nichtig und unkrüftig
sein, was dawider von jemandem, wes Standes er auch sein möchte. . .,
geschehen wird."
Dies der Wortlaut der wichtigsten Stellen des päpstlichen Aufhebungs-
breves vom Jahre 1773. Man hätte meinen sollen, daß nach einer so feierlichen
päpstlichen Kundgebung kein Mitglied der römisch-katholischen Kirche, am wenigsten
ein Papst, je auf den Gedanken hätte kommen können, den so verurteilten, für
immer aufgehobenen Orden trotz der vorerwähnten Androhung des größeren
Bannes wieder ins Leben zu rufen. Aber das Undenkbare, das Unmögliche
geschah doch. Nicht Jahrhunderte, nein einundvierzig Jahre, also schon ein
Menschenalter nach seiner Aufhebung durch Papst Clemens den Vierzehnten,
nämlich im Jahre 1814, wurde der Jesuitenorden wieder hergestellt durch Pius
den Siebenten, Papst derselben römisch - katholischen'Kirche! Die Ewigkeit, für
welche Clemens den Orden abgeschafft hatte, hat also nicht lange gedauert; und
die Gründe, mit welchen Pius der Siebente die Wiedereinsetzung des Ordens
zu rechtfertigen suchte, sind das diametrale Gegenteil dessen, was Clemens in
derselben Sache einundvierzig Jahre vorher in so feierlicher Weise nnter Berufung
auf göttliche Eingebung der Christenheit verkündet hatte.
Folgendes der Wortlaut der entscheidenden Stellen der Bulle, durch welche
Pius der Siebente den Jesuitenorden im Jahre 1814 wieder einsetzte:
„Für die Wiederherstellung der Gesellschaft Jesu werden täglich mit fast
allgemeiner Übereinstimmung der Christenheit dringende und wiederholte Bitten
vor uns gebracht von Exzbischöfen, Bischöfen . . . vorzüglich nachdem sich der
Ruf überall verbreitet hat von den segensreichen Früchten, welche diese Gesell¬
schaft in den gedachten Ländern hervorgebracht hat, so daß man hoffen durfte,
ihr Anwachs werde dem Acker des Herr» zur Zierde gereichen. . . . Und es
ist unumgänglich nötig, daß wir einem so gerechten und allgemeinen Verlangen
unsere Zustimmung nicht versagen. Denn wir würden uns des schwersten Ver¬
gehens vor dem Antlitz Gottes schuldig achten müssen, wenn wir . . . jene
heilsamen Hilfsmittel anzuwenden vergäßen, welche Gott der Herr durch seine
besondere Vorsehung uns darreicht. . . . Durch so erhabene Ursachen, durch so
viele und wichtige Entscheidungsgründe bewogen, haben wir uns vorgenommen,
dasjenige endlich auszuführen, was schon vom ersten Anfang unserer päpstlichen
Regierung" (also im Jahre 1800, d. i. nur siebenundzwanzig Jahre nach der
Aufhebung des Ordens durch Clemens den Vierzehnten) „unser lebhafter
Wunsch war. Nachdem wir also den göttlichen Beistand durch heiße Gebete
anzurufen, auch die Meinung und den Rat mehrerer unserer ehrwürdigen
Brüder, der Kardinäle der heiligen römischen Kirche, angehört, haben wir mit
voller Kenntnis und aus der Fülle unserer apostolischen Macht anzuordnen und
zu verfügen beschlossen, wie wir denn wirklich durch unsere gegenwärtige für
immer" („für immer" hatte auch Clemens den Orden abgeschafft) „gültige
Verordnung verfügen und beschließen, daß alle Verwilligungen, welche von uns
für das russische Kaisertum und das Königreich beider Sizilien ausgefertigt
worden sind" (nämlich die Wiedereinsetzung des Jesuitenordens in diesen beiden
Staaten), „von jetzt an auch für alle anderen Staaten und Länder
gelten sollen. . . . Auch erklären wir, daß sie (die Jesuiten) ... die Macht
haben sollen, sich der Erziehung der katholischen Jugend zu widmen." . . .
„Endlich empfehlen wir die Gesellschaft und ihre Mitglieder inständigst unseren
lieben Söhnen in Jesu Christo, den erhabenen und edlen Fürsten und zeitlichen
Herren, sowie unseren ehrwürdigen Brüdern, den Erzbischöfen, Bischöfen. Wir
ernähren, beschwören sie, nicht allein nicht zuzugeben, daß diese geistlichen
Brüder auf irgend eine Weise belästigt werden, sondern darauf zu fehen, daß
sie, wie es sich geziemt, mit Güte und Liebe behandelt werden. Wir befehlen,
daß gegenwärtiges Schreiben unverletzlich ... auf immer beobachtet werde, daß
es seine völlige Wirkung habe, daß es keinem Urteil und keiner Revision von feiten
irgend eines Richters, mit welcher Macht er auch bekleidet sei, unterworfen sei.
indem wir jeden Eingriff in diese unsere Anordnung . . . für null und nichtig
erklären. Dagegen soll keinerlei entgegenstehende apostolische Anordnung noch
Befehl Geltung behalten, auch nicht das in Form eines Breve erlassene Schreiben
Clemens des Vierzehnten . . ., das wir in allem, was gegenwärtiger Anordnung
zuwiderläuft, abgeschafft wissenwollen. Niemandem soll erlaubt sein, ausverwegener
Unbedachtsamkeit in irgend einer Rücksicht diesen Befehl zu übertreten oder ihm
vermessener Weise Hindernisse in den Weg zu legen. Würde sich aber jemand zu
solchem Attentat erfrechen, so wisse er, daß er den Zorn des Allerhöchsten und der
heiligen Apostel Petrus und Paulus auf sich lade." (Clemens hatte in seinem Breve
jeden, der ihm zuwiderhandeln werde, wes Standes er auch sei — also auch jeden
zuwiderhandelnden Papst —, mit dem „größeren Bann" bedroht. Mit diesem
droht Pius nicht, wohl aber mit dem „Zorn Gottes, Petri und Pauli", aber
diese seine Drohung verdient doch nicht mehr Beachtung, als er selbst der
Banndrohung Clemens' geschenkt hat, nämlich gar keine.).
Da haben wir zwei Urteile von zwei ganz kurze Zeit nacheinander regierenden
Päpsten über denselben hochwichtigen kirchlich-religiösen Gegenstand. Beide gelten
in der katholischen Kirche in ganz derselben Weise als direkt von Gott gesetzte
Hüter und Oberherren der römisch-katholischen Kirche. Beide haben in derselben
wichtigen Angelegenheit denselben Gott um Erleuchtung und Bewahrung vor
Irrtum angefleht; der eine sagt, er hätte „den Vater alles Lichts mit fort¬
gesetztem Seufzen und Bitten" angefleht, ihm den richtigen Weg zu zeigen, und
er habe sich dabei noch „durch das Gebet aller Gläubigen und durch Werke der
Gottseligkeit unterstützen lassen"; — der andere beteuert, er hätte „den gött¬
lichen Beistand durch heiße Gebete erfleht." Der eine verurteilt den Jesuiten¬
orden und seine ganze Tätigkeit in Grund und Boden, als gemeinschädlich, —
der andere erhebt sie in den Himmel. — Nach dem Urteil des einen waren die
Jesuiten die Quelle von Zank und schädlichen Morallehrer und werden es
immer bleiben, — nach dem anderen sind sie die „von Gott durch besondere
Vorsehung der Kirche verliehenen Gehilfen!" — Der eine beruft sich für die
Aufhebung des Ordens auf die Zustimmung von Bischöfen und durch Frömmigkeit
ausgezeichneten Männer. — der andere für die Wiedereinsetzung desselben Ordens,
also für das gerade Gegenteil, auf die Zustimmung von Erzbischöfen und
Bischöfen! — Der eine macht es allen weltlichen Obrigkeiten zur Pflicht, ihm
in der Unterdrückung des Ordens behilflich zu sein. — der andere fordert sie
auf, das gerade Gegenteil zu tun, den Orden nach Kräften zu fördern, zu
begünstigen! — Der eine verlangt Gehorsam und bedroht diejenigen, welche
seiner Aufhebung entgegenarbeiten, mit dem „höheren Bann", — der andere
heischt auch Gehorsam und kündigt den „Zorn Gottes, Petri und Pauli" den¬
jenigen an, die seiner Wiedereinsetzung des Ordens Hindernisse in den Weg
legen! — Der eine erklärt die Zuwiderhandlung gegen sein Breve für ein
„Sich-Unterfangen", — der andere die Zuwiderhandlung gegen seine Bulle
entgegengesetzten Inhalts für eine „Frechheit."
Dem einen wäre also nach inbrünstigen Gebeten die Aufhebung des
Ordens als Wille Gottes erschienen, dem anderen nach eben solchen Gebeten
das diametrale Gegenteil!
Da nun undenkbar ist, Gott sei in dieser Frage mit sich selbst in Wider¬
spruch getreten und habe absichtlich Wirrwarr in die Christenheit bringen wollen,
so muß, wenn nicht beide, wenigstens einer dieser Päpste seinen eigenen Wunsch
mit dem Willen Gottes verwechselt haben.
Die unvermeidliche Folgerung aus den von Pius für die Wiedereinsetzung des
Ordens geltend gemachten Gründen ist: die nachdrückliche und feierliche Behauptung
Clemens', sein Entschluß zur Aushebung des Ordens sei ihm nach inbrünstigen
Gebeten um Erleuchtung von Gott eingegeben worden, — sei wahrheitswidrig,
denn Gott wolle das Gegenteil, nämlich das Fortbestehen, die Wiedereinsetzung
des Ordens.
Bei unvoreingenommener Prüfung scheint die Verwechslung des eigenen
Wunsches mit dem Willen Gottes aber eher auf feiten Pius' zu liegen, denn
erstens sagt er ja selbst, die Wiedereinsetzung des Ordens sei von Anfang seiner
päpstlichen Regierung (also schon siebenundzwanzig Jahre nach dessen Aufhebung
für ewig durch Clemens!) sein lebhafter Wunsch gewesen; und zweitens stimmt das
Urteil Clemens' über den Jesuitenorden genau überein mit dem Urteil der
profanen Geschichtschreibung über den Orden und mit den Erfahrungen, die
zahlreiche meist katholische Staaten, in denen er zugelassen war, zu ihrem
Schaden an ihm gemacht haben, und die sich alle genötigt sahen, ihn wegen
seiner Gemeinschädlichkeit teils vorübergehend, teils dauernd auszuweisen (Frank¬
reich, England, Portugal, Niederlande, Republik Venedig, Schweden, Österreich,
Ungarn, Polen, Neapel, Rußland, Schweiz, Deutschland).
In dieser überaus wichtigen kirchlichen Frage steht also das Urteil von
Papst und Klerus der einen Generation (1773) in unversöhnlich schroffem
Gegensatz zu dem Urteil von Papst und Klerus der nächsten (1814). Beide
Päpste heischen Gehorsam für ihre in diesem Fälle schnurstracks entgegengesetzten
Anordnungen, und doch ist hier Gehorsam selbst für den gehorsamwilligsten
Katholiken ein Ding gänzlicher Unmöglichkeit, denn indem er das tut, was der eine
Papst befiehlt, tut, er unvermeidlich das, was der andere verbietet, — indem
er der Drohung des einen entgeht, verfällt er unvermeidlich der des anderen.
In der gleichen Lage befinden sich die Gesetzgeber und Regierungen der
weltlichen Staaten. Sie mögen sich stellen wie sie wollen, mögen den Jesuiten-
orden zulassen oder ausschließen; gerade dadurch, daß sie die Forderung des
einen Papstes ausführen, handeln sie unvermeidlich der des anderen zuwider.
Was bleibt in diesem Dilemma, wo die höchsten angeblich von Gott
gesetzten Hüter der römisch-katholischen Kirche sich unversöhnlich widersprechen,
also gänzlich versagen, selbst sür katholische Wähler, Volksvertreter, Regierungen
anders zu tun übrig, als beide päpstlichen Entscheidungen, Forderungen, Drohungen
als sich widersprechend und darum sich gegenseitig ausschaltend zu ignorieren
und sich durch das Studium der Lehren und Taten des Ordens ein auf eigene
Erkenntnis gegründetes Urteil zu bilden? Wer diesen allein richtigen Weg geht, wird
schwerlich zu einem anderen Ergebnis gelangen als Clemens, nämlich zu der Über¬
zeugung; daß der Jesuitenorden durch seine Lehren (namentlich von der Probabilität,
vom geistigen Vorbehalt, von der Lenkung der Absicht beim Handeln) alle Wahrhaftig¬
keit, Treue, Ehrlichkeit untergräbt, Anleitung zur Verlogenheit, Treulosigkeit gibt,
zur Verfolgungswut gegen alles, was er Ketzer nennt, aufreizt und den wahn¬
witzigsten Aberglauben verbreitet. Und wer diese Überzeugung vom Wesen des
Jesuitenordens gewonnen hat, der wird, wenn auch nicht auf die Autorität
Papst Clemens des Vierzehnten hin, so doch in völliger Übereinstimmung mit
dieser sagen: in einem Lande, wo ein festgefügter Orden mit solchen Lehren und
Bestrebungen frei wirken kann, und der noch dazu geleitet wird von einem im
Auslande wohnenden Oberherrn (dem Ordensgeneral in Rom, dem jeder Jesuit
so gut wie blinden Gehorsam schuldet), kann der Friede zwischen den ver¬
schiedenen Konfessionen nicht bestehen, am allerwenigsten in einem Lande von
konfessionell so gemischter Bevölkerung wie Deutschland.
Die Welt hat also erlebt, erstens, daß das Papsttum den Jesuitenorden
hegte, pflegte, förderte wie eins seiner liebsten Kinder. Sie hat zweitens erlebt,
daß es ihn für einen höchst gefährlichen Krebsschaden der katholischen Kirche und
weltlichen Staaten erklärte, der mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müsse,
und ihn aufhob, weil es kein anderes Mittel gäbe, ihn unschädlich zu machen.
Sie hat drittens erlebt, daß es ihn ein Menschenalter später für ein für das
Wohl der Kirche und Christenheit überaus segensreiches providentielles Geschenk
erklärte und ihn wieder einsetzte trotz des hierfür angedrohten größeren Bannes I
Angesichts solches Schwankens von einem Extrem zum anderen in der¬
selben hochwichtigen kirchlichen Angelegenheit liegt die Frage nahe, ob diese dritte
Stellungnahme nun wohl Roms unwiderruflich letztes Wort in dieser Sache
bleiben wird, oder ob es über kurz oder lang nicht doch wieder zu dem Stand¬
punkt Clemens des Vierzehnten zurückkehren und den Orden wieder in Grund
und Boden verurteilen wird. Mag das nun geschehen oder nicht, auf alle
Fälle steht fest, daß das bestehende deutsche Jesuitengesetz den Wünschen und
Vorschriften Papst Clemens XIV. und des katholischen Klerus seiner Zeit durchaus
entspricht, mithin auch vom katholischen Standpunkte aus nichts Stichhaltiges
dagegen geltend gemacht werden kann.
8^in 18. März fand im siebenbürgischen Wahlkreise Szek eine Nach¬
wahl für den ungarischen Reichstag statt. Der Wahlbezirk besitzt
einhundertzwölf Wähler. In der Regel wurde der Kandidat für
die Wahl hier einfach von der Regierung aufgestellt; der Kandidat
^übergab dann einem Unternehmer oder Wahlmacher (in Ungarn
Kortesch genannt) eine bestimmte Summe, für die dieser alles Nötige besorgte,
d. h. dafür bürgte, daß die für die Mehrheit nötige Anzahl von Wählern
bestochen werde und nur ihn wähle. So ging denn gewöhnlich alles ganz
ruhig und „ordentlich" zu. Diesmal hatte es aber offenbar vorher Verwirrung
gegeben;' der Wahlmacher hatte den Kreis an einen Kandidaten verkauft, der
zwar auch erklärte, sich der Regierungspartei anzuschließen, aber die Genehmigung
der Ortsbehörde nicht gefunden hatte. Der Oberstuhlrichter stellte seinen Onkel
als amtlichen Kandidaten auf, den wilden Regierungskaudidaten sperrte man zwei
Tage vor der Wahl ein, ebenso einige seiner Anhänger, während gleichzeitig
eine Kompagnie Infanterie und eine Schwadron Honveds sowie vierundvierzig
Gendarmen im Wahlkreise „zur Aufrechterhaltung der Ordnung" zusammen¬
gezogen wurden. Der amtliche Kandidat erhielt vierundvierzig Stimmen,
während der Gegenkandidat mit neununddreißig unterlag. Das ist ein kleines
Stilleben aus der ungarischen Wahlpraxis. Wenn man ferner erfährt, daß es
neben solchen kleinen Wahlkreisen Bezirke mit über sechstausend Wählern gibt,
wird man das ungarische Wahlrecht mit guten Gründen für merkwürdig und
reformbedürftig halten dürfen.*)
Aus welchen Bedürfnissen heraus ist nun das bestehende Wahlrecht geschaffen
worden? Erst nach Beantwortung dieser Frage ist das game Problem über¬
haupt verständlich. Nach Ausweis der Volkszählung von 1900 bilden die
Magyaren im eigentlichen Ungarn (also ohne Kroatien) eine Mehrheit von
51,4 Prozent. Obwohl sich bei der Art, wie die Volkszählung in Ungarn in
bezug auf die nationale Zugehörigkeit gehandhabt wird, gegen die Zuverlässigkeit
dieser Ziffern begründete Einwendungen erheben ließen, will ich sie, da es für die
vorliegende Frage nicht von besonderem Gewicht ist, gelten lassen. Kroatien,
wo die Magyaren nur durch eine kleine Zahl von Beamten hauptsächlich bei
der Eisenbahnverwaltung vertreten sind, entsendet auf Grund des ungarisch¬
kroatischen Ausgleiches vom Jahre 1868 vierzig Abgeordnete in den ungarischen
Reichstag, die allerdings bei bestimmten Fragen kein Stimmrecht haben. Das
ergäbe aber schon bei allgemeinem und gleichem Wahlrecht eine Minderheit für
das magyarische Volk im ungarischen Abgeordnetenhause. Nun betrachten sich
aber die Magyaren als das Staatsvolk Ungarns schlechthin. Ihre Sprache ist
die Staatssprache, sie nehmen nicht die Hegemonie, sondern die Suprematie
über die nichtmagyarischen Völker des Landes in Anspruch, und das kaum ver¬
hüllte Ziel ihrer Politik ist es, aus Ungarn einen magyarischen Nationalstaat
zu machen, was natürlich nur durch die Assimilierung der nichtmagyarischen
Bewohner des Landes zu erreichen ist. Bis zum Jahre 1848 hatte Ungarn
eine rein ständische Verfassung: der Landtag bestand nur aus den Vertretern
des Adels, neben dem einige Städtevertreter gar keine Rolle spielten. Der
Adel aber war magyarisch oder magyarisiert; letzteres war ohne Anwendung
von Zwang eine Wirkung gesellschaftlicher Einflüsse. Als nun in den Jahren 1848
und 1867 diese ständische Verfassung dem äußeren Scheine nach in eine moderne
Repräsentativverfassung verwandelt wurde, war die magyarische Suprematie
natürlich durch jedes wirklich demokratische Wahlrecht gefährdet, und so wurde
ein Wahlrecht geschaffen, das diese Suprematie gewährleisten sollte. Dem
diente zunächst die Wahlgeometrie: in den von Magyaren bewohnten Gegenden
wurden sehr kleine, in den von Nichtmagyaren bewohnten sehr große Wahlkreise
abgegrenzt; die Städte, in denen der Einfluß der Regierung stärker ist und die
Magyarisierung raschere Fortschritte macht, wurden bevorzugt; die Stimmen mußten
in einem einzigen Wahlort öffentlich abgegeben werden. Das Ziel wurde bei der
allgemeinen Korruption und Beeinflussung derWahlen durch Gewalt und Terrorismus
auch vollkommen erreicht. Im gegenwärtigen Reichstag sitzen, wenn man von den
dreizehn siebenbürger Sachsen absieht, die der Regierungspartei angehören,
und den vierzig Kroaten, die überhaupt nicht gewählt sind, weil der kroatische
Landtag seit Jahren nicht getagt hat und daher die Abgeordneten für den
Reichstag nicht wählen konnte, ganze acht Vertreter der Nationalitätenpartei,
d. h. Abgeordnete, die sich die Verfechtung der nationalen Interessen der nicht¬
magyarischen Nationalitäten zur Aufgabe gemacht haben.
Es gibt ja nun eine nicht kleine Anzahl magyarischer Politiker, die der
Meinung sind, daß es ganz gut in Ewigkeit so fortgehen könnte. Der Adel
beherrscht heute nicht mehr allein die Staatsmaschine; die regierende Schicht hat
sich erweitert, sie hat das städtische Bürgertum, Kaufleute und Industrielle und das
ständig anschwellende Heer der Beamten in sich ausgenommen, mit denen zusammen
der Adel nun das bildet, was man in Ungarn unter „Gentry" versteht. Die
ganze Mittelklasse, soweit sie sich der Forderung der unbedingten Herrschaft des
Magyarentums anschließt, darf sich mit dem Adel in die Herrschaft teilen. Die
Mehrheit der Bewohner des Landes steht trotzdem außerhalb dieses Kreises;
dazu gehören die industrielle Arbeiterschaft, ferner die Leute, die den Vorschriften des
Zensus nicht genügen und daher kein Wahlrecht besitzen, und endlich alle, die, als
nichtmagyarische Bürger des Landes geboren, keine Lust haben, ihr Volkstum
preiszugeben und sich zu magyarisieren. Diese Schichten sind in den letzten
Jahrzehnten sehr erstarkt; der Masse des rumänischen und slovakischen Volkes
brachte erst das Jahr 1848 die Befreiung aus der Leibeigenschaft. Trotz aller
Hemmnisse, trotz ihrer auch heute noch ziemlich niedrigen Kulturstufe haben diese
Völker doch außerordentliche Fortschritte auf wirtschaftlichem Gebiet und in bezug
auf die Volksbildung gemacht und aus sich heraus eine führende Intelligenz
entwickelt. Mit der Gründung von Fabriken ist eine industrielle Arbeiterschaft
in Ungarn entstanden, die sich durch deutsche Vermittlung die Lehren der
Sozialdemokratie angeeignet hat. Diese Massen wollen auf die Gesetzgebung
Einfluß gewinnen. Anderseits ist die führende magyarische Schichte innerlich
nicht stärker geworden. Sie hat gewiß ihre Macht nach Kräften ausgenützt,
nicht ohne Erfolg Proselyten geworben, die Widerstrebenden ihre Macht fühlen
lassen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist der Kleinadel in dieser Zeit
in Ungarn fast vollkommen aus seinem Landbesitz verdrängt worden, weil er
den Anforderungen einer modernen Wirtschaftsweise nicht gewachsen war. Die
Szekler in Siebenbürgen, ein besonders reinrassiger magyarischer Stamm, ver¬
lieren beständig Boden an die Rumänen, weil die Fürsorge des Staates sie
zu freiem Wettbewerb fast unfähig gemacht hat und jeder nur mehr Staats¬
pensionär werden will.
Das ist die eine Seite; die andere hängt mit der Eigenart der magyarischen
Politik zusammen. Ihr Ideal ist die völlige Unabhängigkeit Ungarns stets
gewesen und ist es heute mehr denn je. Höchstens die Gemeinsamkeit des
Herrschers mit Österreich betrachtet ein Teil der magyarischen Politiker ehrlich
als etwas erträgliches, ja vielleicht sogar für Ungarn vorteilhaftes. Indes haben
die magyarischen Politiker nach der Niederlage des Jahres 1849 doch so viel
Verständnis für Realpolitik gewonnen, daß sie die Erreichung ihres Zieles
nur von langsamer Arbeit erhoffen, der Wahrnehmung jedes Vorteils, der
Eroberung auch der unscheinbarsten Errungenschaft in der Loslösung von der
anderen Reichshälfte, bis ihnen dann bei guter Gelegenheit die völlige Selbst-
ständigkeit als reife Frucht in den Schoß fällt. Die Gruppierung in 67 er Par¬
teien (die auf den Boden des Ausgleichs stehen) und 48 er Parteien (die ent¬
weder die Personalunion oder völlige Selbständigkeit auf die Fahne geschrieben
haben) bedeutet keine wesentliche Verschiedenheit der politischen Programme,
sondern nur einen taktischen Aufmarsch. Die Art, wie nun dem Monarchen
immer neue Zugeständnisse abgerungen werden, entspricht ganz der Überlieferung
des alten ständischen Parlaments. Die Stände bewilligten in der Zeit, wo es
noch keine stehenden Heere gab, den: Fürsten Rekruten und Subsidien und ließen
sich dasür, wenn sie den Schlüssel der Lage in Händen hielten, ihre alten
ständischen Freiheiten bestätigen. In den anderen Habsburgischen Erblündern
hatte die Schaffung einer kaiserlichen Armee durch Wallenstein der Macht der
Stände unwiderruflich ein Ende gemacht, die freilich größtenteils schon in den
Zeiten der Gegenreformation gebrochen war. Auch in Ungarn hatte die Macht
der Stände in der zentralistisch-absolutistischen Periode seit Maria Theresia
manche Einbuße erfahren; aus Gründen, die zu erläutern hier zu weit führen
würde, war die Überlieferung der ständischen Politik dort aber lebendig geblieben
und hatte sich den neuen Verfassungsformen angepaßt.
Im Jahre 1867 war eine Versöhnung zwischen der Krone und den
Magyaren zustande gekommen, und das Verhältnis Ungarns zu den übrigen
Teilen der Monarchie wurde im „Ausgleich" festgelegt. Zum Teil liegt es an
der Mangelhaftigkeit dieses Instruments, daß trotzdem neue Zusammenstöße
zwischen der Krone und dem Parlament nicht ausblieben. Das Parlament stellte
in der oben angedeuteten Richtung Forderungen, die der Monarch nicht zugestehen
wollte; und nichts lag näher als der Gedanke, daß die Krone sich ein gefügigeres
Parlament, das der Gesamtstaatsidee freundlicher gesinnt sein würde, durch eine
demokratische Wahlreform leicht schaffen könnte. In einem ungarischen Reichstag,
der in seiner Zusammensetzung die ethnische Buntheit der ungarischen Völkerkarte
wiederspiegelt, hätte die Krone eine ganz andere Stellung als jetzt, wo sie sich
einer geschlossenen Masse, die von der magyarischen Aristokratie geführt wird,
gegenübersieht. In der Tat war es zur Zeit eines solchen Konflikts, daß die
Schaffung eines allgemeinen Wahlrechts als Programm einer ungarischen
Regierung verkündet wurde, die ihre Existenz allerdings nicht dem Vertrauen
des Parlaments, sondern nur dem der Krone verdankte. Als der Kaiser mit
einer Reihe aufeinanderfolgender ungarischer Kabinette über die notwendige
Wehrreform nicht einig werden konnte, berief er den General Baron Fejervary
im Jahre 1905 zur Regierung, und dessen Minister des Innern, Kristosfy,
kündigte die Vorlage eines Gesetzentwurfs über die Einführung des allgemeinen,
direkten, gleichen und geheimen Wahlrechts an. Schon diese Drohung genügte,
um die Parteien des Parlaments, die sich bisher einer Verständigung so
unnahbar gezeigt hatten, zum Einlenken zu bewegen; auf Grund eines mit der
Krone festgelegten Regierungsprogramms kam das Koalitionskabinett Wekerle
zustande, das die Verpflichtung übernahm, mit möglichster Beschleunigung eine
Wahlreform einzuführen, deren Inhalt hinter der von Kristoffy angekündigten
nicht zurückbleiben durfte. Aber gerade vor dieser Wahlreform hatten die
führenden magyarischen Politiker Angst, und sie sahen ihre Hauptaufgabe darin,
sie zu verhindern. Das Kabinett Wekerle fiel infolge der inneren Uneinigkeit
der Parteien, ohne der Wahlreform oder der Wehrreform auch nur einen Schritt
näher gekommen zu sein. Graf Khuen wurde vom Monarchen mit der Durch¬
führung beider Aufgaben betraut. Hohngelächter der Parteien begrüßte ihn.
Einer aber erfaßte die Lage: Graf Khuens Vetter Graf Stefan Tisza. Er
dachte sich: dieser Khuen ist ein energischer Mensch und hätte das Zeug in sich,
Wehrreform und Wahlreform mit irgendeinem Gewaltstreich durchzuführen. Es
ist besser, sich mit ihm zu verbünden, die Wehrresorm, auf der die Krone nun
einmal besteht, zu schlucken, dafür die Wahlreform aber zu verhindern. So
stellte sich Stefan Tisza Khuen zur Verfügung und wurde der eigentliche Führer
der neuen Regierungspartei, der Graf Khuen nach Auflösung des Abgeordneten¬
hauses unter Aufwendung ganz enormer Mittel (man spricht davon, daß Banken
und Finanzleute über 25 Millionen Kronen für den Wahlfonds beizusteuern
veranlaßt wurden) zu einem glänzenden Siege verholfen hatte. Die Opposition
war wieder einmal „zerschmettert", überdies die Unabhängigkeitspartei in zwei
Gruppen gespalten, von denen die eine Franz Kossuth, die andere Justs folgt.
Der Grund der Spaltung war die Frage des Wahlrechts gewesen; Justs tritt
nachdrücklich für das gleiche, allgemeine und geheime Wahlrecht ein, das Kossuth
und Graf Apponyi ablehnen.
Die Stellungnahme Jusths erscheint zunächst als ein Rätsel. Wie kommt
er, der magyarische Nationalist reinsten Wassers, dazu, für ein Wahlrecht ein¬
zutreten, das die magyarische Suprematie aufs schwerste bedroht? Die nächste
Erklärung wäre vielleicht die, daß er es eben gar nicht ernst damit meine und
seine Zustimmung auch nur einem sehr verwässerten Wahlrecht geben werde,
das den Magyaren nicht gefährlich werden könne. Das mag so weit zutreffen,
daß Justs gewiß Änderungen zugunsten des Magyarentums fordern wird: eine
Wählrechtserweiterung, vor allem eine Sicherung der Wahlfreiheit, die aber
ohne nachteilige Wirkung für die herrschende Stellung des Magyarentums sein
würde, wäre eine solche Karikatur, daß Justs dafür nicht eintreten könnte, ohne
sich lächerlich zu machen. Justs ist vielleicht kein sehr scharf denkender Kopf,
im ungarischen Parlament bildet er aber jedenfalls eine Oase der Anständigkeit
und Ehrlichkeit. Er will also sicherlich eine Wahlreform, die auch den nicht¬
magyarischen Nationalitäten Aussicht verschafft, im Reichstag halbwegs angemessen
vertreten zu sein; er steht die darin für das Magyarentum liegende Gefahr, er
hält dies aber für ein geringeres Übel als das jetzige System, das es der
Regierung ermöglicht zu bestimmen, wieviel Sitze sie der Opposition überhaupt
einräumen will. Das ist einfach eine Frage des Geldes, des aufgebotenen
Militärs und des von den Verwaltungsbehörden bethätigten Maßes von Skrupel¬
losikeit. Und da sagt sich Justs: Tisza und vielleicht sogar Khuen denken im
Herzen nicht viel anders als ich selbst; sie wollen auf ihren Wegen und mit
ihren Mitteln die Wahrung und Erweiterung der staatlichen Selbständigkeit
Ungarns. Aber nach demselben Rezept, nach dem Graf Khuen jetzt bei den
Wahlen eine überwältigende Mehrheit zusammengebracht hat, könnte irgend-
einmal im Auftrage des Monarchen ein Ministerpräsident eine noch viel stärkere
Mehrheit wühlen lassen, er könnte von uns, die wir diesmal doch wenigstens
vierzig übriggeblieben sind — genug, um wirksame Obstruktion zu machen —,
auch nicht einen hineinlassen. Und solch ein Parlament könnte dann jedes
beliebige Attentat auf die ungarische Selbständigkeit ausführen, ein gefügiges
Werkzeug dessen, was man in Ungarn unter dem Sammelbegriff „Wien"
zusammenfaßt. Wird aber eine Wahlreform durchgeführt, die mit entsprechender
Wahlgeometrie dem Magyarentum das zahlenmäßige Übergewicht sichert, bei
dem aber schon die stark vermehrte Zahl der Wähler, die geheime Abstimmung
und sonstige Sicherungsmaßregeln die Wahlkorruption erschweren, dann ist Justs
ziemlich sicher, daß die rein magyarischen Gebiete des Landes in Zukunft seiner
Partei zufallen werden — wie ja auch bisher schon die magyarischen Gegenden
vorwiegend Mitglieder der Unabhängigkeitsparteien wählen, wenn der Terrorismus
der Regierung nicht gar zu groß ist, während die sicheren Regierungssitze in
den Nationalitätengegenden liegen. Dafür will Justs sich einige Nationalitäten¬
vertreter mehr im Hause schon gefallen lassen. Wie er ist auch Kristoffy
Magyar von reinstem Wasser, viel mehr als der sehr international getünchte
Graf Apponyi; er ist kein Unabhängigkeitspolitiker vom Schlage Jusths, ihm
wohl insofern ähnlich, als auch er ein Mann von geradlinigem Denken ist. Er
steht in der Demokratisierung Ungarns etwas, das unausbleiblich kommen muß,
und glaubt, daß das Magyarentum diesen Prozeß um so besser überstehen wird,
je rascher es sich mit ihm abfindet.
Nur der Einblick in diesen „jarciin 8eeret" der magyarischen Politiker
gibt den Schlüssel zu den politischen Vorgängen der letzten Zeit. Die Koalition
hatte dem Monarchen ihr Wort in bezug auf das Wahlrecht gebrochen, wozu
die Führer der koalierten Parteien zweifellos schon bei Übernahme der Re¬
gierung entschlossen waren. Aber auch die Krone bestand nicht allzu nachdrück¬
lich auf ihrem Schein, wohl auf Grund der in Österreich mit dem allgemeinen
Wahlrecht gemachten Erfahrungen. Es würde zu weit führen, die Ursachen für
dieses Versagen des allgemeinen Wahlrechts in Österreich hier zu erörtern. Nur
das sei in aller Kürze angedeutet: das notwendige Korrelat des allgemeinen
Wahlrechts ist eine starke Regierung. Daß der Kaiser sich aber von dieser
Forderung wieder abdrängen ließ, wurde auch der Wehrreform zum Verhängnis.
Kaum von der Sorge wegen des allgemeinen Wahlrechts etwas entlastet,
steuerten die Parteien wieder in die ihnen so vertraute Bahn der „Gravamina".
Dieser so echt ungarischen Politik entstammt auch die letzte Krise. „Nur einige
kleine Konzessiönchen", flötete Graf Apponyi, „und wir stellen die Obstruktion
ein". Das war die Resolution wegen der Einberufung der Reserven. Graf
Khuen sah sich die Sache an, ging damit zum Kaiser und sagte ihm mit der
freundlichen Miene des Zahnarztes: „Es ist gleich geschehen und tut weiter
nicht weh." Der Kaiser wollte sich aber den Zahn doch nicht ziehen lassen.
So kam Graf Khuen zunächst mit leeren Händen zurück. Da geschah das Un¬
begreifliche: Graf Khuen stellte sich auf den Standpunkt Apponyis in der Frage
der Resolution über die Einberufung der Reservisten, ohne die Ermächtigung
des Kaisers zu besitzen. In Wien legte der Kriegsminister Verwahrung ein,
der Kaiser ließ die Resolution nicht zu, Graf Khuen demissionierte. Apponui,
Andrassy, Tisza, die drei Grafen, die Ungarns Geschicke lenken, hatten ihren
Zweck erreicht: man war wieder mitten drin in einem staatsrechtlichen Streit,
man kämpfte um die „Rechte der Nation", wie seit Jahrhunderten. Das
mußte die Aufmerksamkeit von der Wahlrechtsfrage ablenken. Der Monarch
gab nicht nach, da er diesmal eine starke Stütze am Kriegsminister und öster¬
reichischen Ministerpräsidenten fand und wohl auch das Gefühl hatte, er schulde
es seinem Nachfolger, Kronrechte nicht preiszugeben. Diesmal war also nichts
herauszupressen. Die Gefahr bestand aber, daß der Kaiser nun einen Staats¬
mann ans Ruder berufen könnte, den: es mit dem allgemeinen Wahlrecht
einigermaßen ernst sei; bis zu einem gewissen Grade ist dies beim jetzigen
Finanzminister Lukacs der Fall. Darum führte Graf Khuen sein letztes
Schelmenstück auf, indem er Vorgänge in der Audienz beim Kaiser, überdies
teilweise entstellt, der Öffentlichkeit preisgab, um so den loyalen Helden in
einem sentimentalen Rührstück spielen zu können, gleichzeitig aber die Macht
nicht aus der Hand der Grafen zu lassen, zu deren Willensvollstrecker er all¬
mählich herabgesunken ist. Die Wehrreform ist dadurch nicht einen Schritt weiter
gekommen, im Gegenteil; aber auch die Wahlreform scheint wieder etwas in
die Ferne gerückt. Immerhin dürfte dieses Stückchen Balkanpolitik trotz aller
Langmut und allem Ruhebedürfnis des Kaisers dem Fasse doch den Boden
ausschlagen. In wenigen Wochen wird Graf Khuen dem Kaiser melden müssen,
daß er außerstande sei, die Wehrreform so rechtzeitig zu erledigen, daß mit der
Aushebung eines erhöhten Nekrutenkontingents für diesen Herbst noch begonnen
werden könne. Und dann wird doch nichts anderes übrig bleiben als ein
Provisorium, Erledigung der Wahlreform und dann erst Beratung der Wehr¬
reform, wie es von der Justhpartei stets vorgeschlagen worden ist.
Freilich, das eine vermag man heute schon zusagen: die Wahlreformfrage
wird deshalb von der Tagesordnung nicht verschwinden, denn darüber kann kein
Zweifel bestehen, daß diese Wahlreform nur einen Schritt zum allgemeinen,
gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht bedeuten wird. Aber der Stein wird
ins Rollen kommen, und niemand kann voraussagen, wo er einst zur
Ruhe kommt.
An seine Schwester.
Tokyo. den 16. Juni 1897.
s gibt keine Worte, die den Eindruck schildern und wiedergeben
können, den dieses Märchenland gleich am ersten Tage auf uns
gemacht hat!! Das ist wirklich eine neue Welt, mit deren
Eigenart und unbeschreiblicher Anmut sich nichts von alledem
vergleichen läßt, was wir bisher gesehen haben!
Vorgestern Morgen um 6 Uhr kamen wir wohlbehalten in Uokohama an,
wo uns eine kleine Dampfbarkasse von Bord der „Emvreß" an Land brachte.
Nach sehr glimpflicher Zollrevision erfolgte dann unser japanisches Debüt mit
der Fahrt ins Hotel per Jinriksha. Wie Du vielleicht weißt, gibt es in diesem
gesegneten Lande nur zweibeinige Gäule in Gestalt reizend graziöser Kukis, von
denen man in leichtgebauten, zweirädrigen Karren im Laufschritt durch die
Straßen gezogen wird. Natürlich kann nur eine Person in einem solchen
Wägelchen Platz finden, und da Lilly voranfuhr, so konnte ich den göttlichen
Anblick von hinten genießen. Die Beine des Kukis, der den Karren zog, waren
unter dem letzteren sichtbar und sahen genau so aus, als gehörten sie zu meiner
besseren Hälfte. Diese köstliche Zusammenstellung wirkte rin unwiderstehlicher
Macht auf meine Lachmuskeln! Kaum hatten wir uns in unserem reizenden
Zimmer im Grand Hotel installiert, als sich nach schüchternem Klopfen ein
bezopfter Chinese mit Stoffproben aller Art durch die Tür wand und mir unter
vielen tiefen Bücklingen seine Dienste als Schneidermeister anbot. Es ist nämlich
Sitte, daß sich jeder Europäer gleich mit leichten Sachen versieht, falls er es
nicht vorzieht, elendiglich in seinem eigenen Schweiße zu ertrinken. Ich wurde
denn auch bald mit dem braven Meister Chang Choo handelseinig, und binnen
vierundzwanzig Stunden lieferte er mir drei Leinen-, zwei Flanell- und einen
ganz leichten Tuchanzug, die alle sechs tadellos sitzen, für den Gesamtpreis von
«5 Yen 130 Mark____
Zunächst machten wir einen mehrstündigen Spaziergang nach einem wenig
bekannten kleinen Tempel, der auf einer Anhöhe am Meere in lauschiger
Waldeseinsamkeit daliegt, im Schatten uralter, ehrwürdiger Cryptomerien ver¬
borgen. Ihm zur Seite sprudelt in einer dunklen tiefen Felsschlucht, die von
Schlinggewächsen aller Art umrankt und mit blühenden Azaleenbüschen bewachsen
ist, ein wundertätiger Quell aus einem in den Felsen gemeißelten Drachenkopf.
Und durch die enge, geheimnisvolle Schlucht blickt man durch das dunkle Grün
der Cryptomerien auf das tiefblaue Meer — ein Bild, so traumhaft, überirdisch
schön, wie es vielleicht nur der Pinsel eines Böcklin annähernd wiederzugeben
vermöchte! Ich fühlte mich, wie noch nie in meinem Leben, der Wirklichkeit
entrückt und hätte mich kaum noch wundern können, wenn etwa plötzlich die
bekannten japanischen sieben Glücksgötter leibhaftig vor mir aufgetaucht wären!
Ich — und Glücksgötter! Nein, das wäre zu viel verlangt, daher habe ich
sie mir heute zum Ersatz in Gestalt von niedlichen Porzellanfigürchen angeschafft.
Auf dem Rückwege kamen wir durch mehrere kleine Dörfer, deren Be¬
wohner zumeist in paradiesischen Kostüm mit Dreschen und Getreideworfeln
beschäftigt waren. Auch eine Dorfschöne sahen wir, die sich, auf einer Matte
kauernd, kunstvoll frisieren ließ. Unterwegs kehrten wir in einem Teehause ein,
dessen freundliche Wirtin uns unter nicht endenwollenden tiefen Verbeugungen
Tee in winzigen Schälchen kredenzte und dabei eine Beredsamkeit entwickelte,
auf die wir leider nur mit verständnisinnigen Jnterjektionen zu reagieren ver¬
mochten. Dann nahmen wir uns Jinrikshas und fuhren in die entzückende
Villa des Generalkonsuls, wo uns Herr K. mit einem improvisierten Diner und
herrlichem Rheinwein und Champagner bewirtete. Zu guterletzt fuhren wir
noch durch die Theaterstraße, wo das denkbar bunteste Treiben herrschte. Jetzt
muß ich schließen, da wir zu T.'s zum Diner gebeten sind.
An seine Schwester.
Yokohama. 23. Juni 1897.
Vor wenigen Stunden von unserem herrlichen Ausflug nach Nikko und
Umgebung zurückgekehrt, will ich die kurze Rast benutzen, um in meiner neulich
begonnenen Schilderung unserer japanischen Erlebnisse fortzufahren. Du glaubst
nicht, wie schwer es ist, einen ruhigen Augenblick zum Schreiben zu erHaschen,
denn da wir natürlich jede Minute ausnutzen, um so viel als nur möglich zu
sehen und zu lernen, sind wir abends meist ziemlich erschöpft und fchlafbedürftig.
Soviel ich mich erinnere, habe ich Dir nur unseren ersten Tag auf
japanischem Boden geschildert. Am nächsten Tage fuhren wir nach dem benach¬
barten Kamakura, das Uoritomo, der Begründer des Shogunates, im dreizehnten
Jahrhundert zu seiner Residenz erhoben hatte. Dort besichtigten wir zunächst
den schönen Tempel des Kriegsgottes Hachiman, der zugleich eine interessante
Sammlung japanischer Altertümer birgt. Dann suchten wir die Hauptsehens-
Würdigkeit dieses Ortes, den weltberühmten Daibutsu, d. h. „großen Buddha",
von Kamakura auf. Das ist eine Kolossalstatue des Amitübha, japanisch Unita,
des Buddha des langen Lebens und Beherrschers des Paradieses. Die Statue
mißt eine Höhe von 50 Fuß und ist im dreizehnten Jahrhundert errichret
worden. Von dem Tempel, der einst das Riesenbildnis umschloß, sind nur noch
die steinernen Sockel der Säulen zu sehen, so daß es jetzt unter freiem Himmel
steht, umgeben von hohen Bäumen, in ernst stimmungsvoller Umgebung. Ich
weiß nicht, wie es anderen ergehen mag, uns erfüllte der Anblick mit dem
Schauer frommer Andacht. In regungsloser Stille dasitzend, mit halbgeöffneten
Augen, verkörpert dieser Buddha so recht den Ausdruck des Nullpunktes der
Empfindung, gleich weit entfernt von Lust und Schmerz, jenseits von Gut und
Böse. Es liegt eine in Worten gar nicht wiederzugebende Weihe über diesem
ehernen Bildnisse — gerade inmitten solcher Umgebung I Das Innere der Statue
ist hohl und enthält mehrere Altäre, auf denen Weihrauchkerzen brennen. Nur
schwer trennten wir uns von dem erhabenen Anblick, aber wir konnten nicht
lange dort verweilen, da wir uns vorgenommen hatten, auch die nahegelegene
Insel Enoshima zu besuchen — und so mußten denn die unermüdlichen zwei¬
beinigen Gäule wieder vorgespannt werden — und vorwärts ging es in
scharfem Trab!
Enüshima ist eigentlich eine Halbinsel, durch eine schmale Landzunge mit
dem Festlande verbunden, zur Zeit der Flut jedoch von diesem getrennt, so daß
wir uns auf dem Rückwege von kräftigen Kukis huckepack durch das Wasser
tragen lassen mußten. Enoshima ist nur von Fischern bewohnt, jedoch berühmt
durch seinen landschaftlichen Liebreiz. Üppiger Waldwuchs deckt die Insel, und
von dem reizenden, auf dem Gipfel der Anhöhe gelegenen Teehause ließen wir
den entzückten Blick über die weite See hinausschweifen.
Hochbefriedigt kehrten wir von diesem genußreichen Ausfluge am Abend
nach Aokohama zurück und fuhren am nächsten Morgen nach Tokyo, wo wir
sofort einen Besuch bei Herrn v. T. machten, der den auf Urlaub abwesenden
Gesandten Herrn v. G. vertritt. Wir wurden auf das Liebenswürdigste empfangen
und auch gleich zu demselben Tage zum Diner eingeladen. Dann begaben wir
uns nach dem Shibapark, der durch seine prächtigen Tempel und die Mausoleen
von sechs Shogunen der Tokugawa-Dynastie berühmt ist. Obwohl an die Tempel
von Nikko nicht heranreichend, blendeten uns doch diese herrlichen Bauten durch
ihre herrliche Verbindung von Farbenpracht und Harmonie — bei allem Reichtum
an Gold und Farben doch nirgends Überladung oder Geschmacklosigkeit. Da
ich kein Japanisch verstehe, verständigte ich mich mit den Priestern schriftlich
auf Chinesisch, worüber diese nicht wenig erstaunt waren. Vom darauffolgenden
Tage an sollten wir es bequemer haben, denn wir hatten uns mittlerweile
einen sehr netten jungen Japaner, der des Deutschen mächtig ist. als Führer
für die ganze Dauer unseres japanischen Aufenthaltes engagiert. Er ist ein
beim Examen gestrandeter Student der Medizin, der jetzt sein Brot auf diese
Weise verdient. Wir zahlen ihm die sehr bescheidene Summe von 4 Mark
täglich, für Logis und Beköstigung hat er selbst zu sorgen, und sind sehr mit
ihm zufrieden, da er sehr intelligent und dabei ein Muster von Bescheidenheit
und Aufmerksamkeit ist.
Der nächste in Tokyo verlebte Tag wurde ganz dem Theater gewidmet,
denn Jchigawa Dcmjuro, der größte Schauspieler Japans, trat in dem volks¬
tümlichsten vaterländischen Schauspiel, „Chinshingura", d. h. „Vasallentreue", auf.
Die Vorstellung sollte um 11 Uhr vormittags beginnen und bis 9 Uhr abends
dauern, so daß wir uns für diesen Kunstgenuß, obschon wir nicht die Absicht
hatten, bis zum Ende der Vorstellung auszuharren, mit Lebensmitteln versehen
mußten. Das sehr geräumige Theater war brechend voll, aber zum Glück
hatten wir uns schon von Uokohama aus eine Loge gesichert. Der Zuschauer¬
raum ist mit der denkbar größten Einfachheit ausgestattet. Der Raum, der
bei uns das Parkett enthält, ist durch niedrige Holzwände in zahlreiche Quadrate
eingeteilt, in denen die Zuschauer, auf sauberen Matten sitzend, winzige Pfeifchen
rauchen und mit zierlichen Stäbchen Reis und sonstige Leckerbissen zu sich nehmen —
letzteres jedoch nur während der Pausen, die der Länge der einzelnen Akte
entsprechen. Die erhöhte Bühne ist durch einen Schiebevorhang vom Zuschauer¬
raum getrennt, enthält jedoch eine brückenartige Verlängerung, rianÄ-micKi,
„der Blumenweg" genannt, die durch den ganzen Zuschauerraum führt, und
auf der die handelnden Personen kommen und gehen. Und nun die Vorstellung
und vor allem Danjuroü Ich pflege nicht über Theatertränen zu verfügen,
aber am Schlüsse des zweiten Aktes, wo er vom Palaste seines verstorbenen
Herrn, der eben durch Harakiri (Bauchaufschlitzen) seinem Leben ein Ende gemacht
hatte, Abschied nimmt, wirkte sein wohl eine Viertelstunde währendes stummes
Spiel so tief ergreifend auf mich, daß mir die hellen Tränen über die Wangen
liefen! Dergleichen vermag nur ein wahrhaft großer Meister, und ein solcher
ist er. Ich erzählte unserem Führer, daß ich vor Jahren mit Danjuro durch
die Vermittlung eines Japaners in Museumsangelcgenheiten in Verbindung
gestanden hatte, und da meinte er, ich sollte ihm doch meine Karte schicken, er
werde uns gewiß empfangen. Ich tat es auch, und richtig: der Diener kam
sofort mit der Aufforderung Danjuros zurück, ihn nach dem Schlüsse des zweiten
Aktes in seiner Garderobe zu besuchen. Auf einer Matte sitzend, empfing er
uns mit würdevoller Liebenswürdigkeit und bat uns, Platz zunehmen; so setzten
wir uns denn ebenfalls nach japanischer Manier auf die Matte, bis uns
Porzellantabourets gebracht wurden. Ich sagte ihm, daß ich zwar schon gewußt
hätte, daß er der größte Schauspieler Japans sei, aber erst jetzt erfahren hätte,
daß er auch einer der größten dramatischen Künstler der Welt sei. Er schien
darüber sichtlich erfreut, und als ich ihn bat, auf sein Porträt, das ich gekauft
hatte, seinen Namen aufzuschreiben, sagte er, das Bild sei schlecht, er werde
mir ein anderes geben. Darauf verabschiedeten wir uns mit herzlichem Hände¬
druck. Es war mir hochinteressant, durch diesen Besuch zugleich die ganze
Bühneneinrichtuug aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Diese besteht
nämlich (wie einstmals auch bei uns, und neuerdings in München wieder
eingeführt) aus einer drehbaren Bühne, so daß der Szenenwechsel durch eine
einfache Umdrehung bewirkt wird. Auch in die Garderobenräume der Schau¬
spieler konnten wir einen flüchtigen Blick werfen. Nicht minder interessant war
es aber auch, das Publikum zu beobachten, mit welch gespannter Aufmerksamkeit
es der Vorstellung und besonders dem Spiele seines vergötterten Meisters folgte.
Bei besonders packenden Stellen machte es seiner Begeisterung durch eigen¬
tümlich krächzende Laute Luft, wie man sie bei uns zu Lande eigentlich nur
beim Zahnarzt zu hören pflegt.
Während wir uns in der Pause nach dem dritten Akte das reizvoll bunte
Treiben im Foyer ansahen, überbrachte uns ein Theaterdiener zwei Photo¬
graphien von Danjuro mit dessen eigenhändiger Unterschrift. Natürlich wurde
das sofort bemerkt, und nun drängte sich alles um uns, Groß und Klein, jeder
wollte das Bild sehen! Aber mit welch feinem Anstand geschah es, mit welch
bescheidener Höflichkeit bei aller Lebhaftigkeit! Es war eine reizende Szene.
Um 3 Uhr verließen wir das Theater, weil wir uns nach diesen 6 Stunden
doch etwas angegriffen und abgespannt fühlten, zumal wir den Hergang auf
der Bühne zugleich mit den Augen verfolgen und uns von unserem Führer
dolmetschen lassen mußten. Dieser Tag war einer von denen, die die Marksteine
im Leben bilden.
Den dritten Tag besichtigten wir das sehr interessante japanische Museum
im herrlichen Uyenoparke und fuhren von dort nach AsÄusa. Das ist eine Art
Würstelprater, wo man echtes unverfälschtes Volksleben kennen lernen kann.
Zahlreiche Schaubuden aller Art sorgen für das Vergnügen des Volkes, besonders
der Kinder, die höchst possierlich sind und wie Puppen aussehen, denen durch
irgend einen Zauber künstliches Leben eingehaucht ward. In Aseckusa ist auch
einer der größten und besuchtesten Tempel der Kuanon, der Göttin der Barm¬
herzigkeit. Scharenweise drängte sich das Volk in den Tempel, besonders Frauen,
die um Kindersegen flehten. Die Priester betreiben, in diesem Tempel einen
schwunghaften Handel mit Amuletten. Draußen vor dem Tempel werden
Vögel und Fische, besonders Aale, feilgehalten, durch deren Freilassung man
ein Buddha wohlgefälliges Werk verrichtet. . .
An seine Schwester.
An Bord des Genkai-maru, den 14. Juni 1898.
Nun schwimmen wir schon wieder seit acht Tagen und haben noch immer
nicht unser Ziel erreicht. Vor Chifu. von wo aus Dir Lilly schrieb, mußten
wir statt vierundzwanzig zweiundfünfzig Stunden liegen, da draußen ein taifun¬
artiger Orkan tobte und infolgedessen kein Schiff den Hafen verlassen durfte.
So kamen wir erst vorgestern vor Tagesanbruch in Chemulpo an. In der
Hoffnung, während des sast zweitägigen Aufenthalts daselbst einen Ausflug nach
Seul, der Hauptstadt Koreas, machen zu können, ließen wir uns an Land rudern,
erfuhren jedoch, daß die Wege infolge andauernder Regengüsse unpassierbar
seien und die Fahrt daher statt der unter normalen Verhältnissen erforderlichen
fünf bis sechs Stunden ganze neun Stunden in Anspruch nehmen würde. So
mußten wir schweren Herzens auf diese so einzig interessante Exkursion ver¬
zichten und uns mit einer kleinen Spazierfahrt nach einem anderthalb Stunden
von Chemulpo entfernten koreanischen Dorf begnügen, um doch wenigstens etwas
von Korea zu sehen. Interessant war es, wenn auch nicht gerade zu längerem
Aufenthalt einladend, denn von der Armseligkeit und Reizlosigkeit einer korea¬
nischen Stadt kannst Du Dir schwer eine Vorstellung machen. Die Häuser sind
elende Lehmhütten mit Stroh gedeckt, so niedrig, daß man kaum aufrecht darin
stehen kann, dabei außerordentlich unsauber. Man sollte meinen, ein Regenguß
müßte genügen, um so ein „Haus" fortzuschwemmen. Die ärmlichsten chinesischen
Bauernhäuser sind noch wahre Paläste dagegen! Und nun vollends die Ein¬
förmigkeit des Ganzen, die durch keine Pagode, keinen Tempel oder dergleichen
unterbrochen wird! Aus der Vogelperspektive nehmen sich die Strohdächer einer
koreanischen Niederlassung wie ein großer Pilzhaufen aus.
Die Koreaner selbst machen in ihren ausnahmslos weißen Gewändern einen
eigentümlich feierlichen Eindruck. Unter den Männern sieht man viele stattliche
Gestalten und hübsche, an den kaukasischen Typus erinnernde Gesichter. Die
Frauen hingegen sind von abschreckender Häßlichkeit und ersetzen, was ihnen
an natürlicher Schönheit abgeht, durch die denkbar häßlichste Tracht. Sie tragen
eine kurze figaroartige Jacke, die jedoch nur so weit reicht, als Damen en äöcolletö
entblößt zu sein pflegen. Was selbst bei den extravagantesten unter den letzteren
schamhaft verhüllt bleibt, ist hier in größter Ungeniertheit den Blicken aller
ausgesetzt — gleich als handele es sich um eine Ammenparade.. Dicht unter¬
halb der Brust umgürten sich diese Damen mit einem buschigen weißen Rock,
der bis an die Füße reicht. Zu alledem binden sie sich noch eine breite falten¬
reiche Schürze — nicht etwa um die Taille, sondern um den Kopf, als eine
Art Schleier, durch den die Rücksichtsvolleren ihren Anblick der leidenden Mit¬
welt ersparen.
Landschaftlich war der Weg recht hübsch — vulkanische Formationen können
ja nie ganz reizlos sein. Die grasbewachsenen Hügel zeichneten sich durch
anmutige Konturen aus, und der Blick auf das inselbedeckte Meer bleibt ja
immer schön. Schade nur, daß die Berge alle so kahl sind — von Baumwuchs
gewahrten wir nur wenige Spuren.
Seit gestern nachmittag sind wir wieder unterwegs nach Fu-san, wo wir
morgen früh ankommen sollen. Die Fahrt durch den inselreichen koreanischen
Archipel ist sehr genußreich, das Wetter kühl, die See spiegelglatt. . .
An seine Schwester.
Krodo, 10. Juli 18V8. .
Ans Nagasaki schrieb ich Dir zuletzt, und seitdem haben mir so viel Schönes
und Interessantes auf unserer Reise durch das Innere Japans gesehen, daß ich
gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. . .
Für den Fall, daß Du unsere Reise auf der Karte verfolgen willst, nenne
ich zuerst die Hauptetappen. Von Nagasaki gingen wir den ersten Tag bis
Takeo, den zweiten Tag von dort, mit einem Abstecher nach dem alten Tempel
Dazaifn, nach Halala und von dort nach Moji. Von Moji aus besuchten wir
Shimonoseki, wo Li Hung-chang und Jto dem chinesisch-japanischen Kriege ein
Ende machten. Jetzt verließen wir die Insel Kyushu und fuhren nach der
Hauptinsel Nippon hinüber. Hier wiederum war am vierten Tage unser nächstes
Reiseziel die heilige Insel Minajima, die so paradiesisch schön ist, daß wir zwei
Tage lang dort blieben. Dann ging es weiter nach Okayama, der Hauptstadt
der Provinz Bizen, berühmt durch das alte, wohlerhaltene Schloß des Daimno
Jkeda und den dazu gehörigen prachtvollen Park Koraku-En, eine der schönsten
alten Gartenanlagen Japans. Leider regnete es hier den ganzen Tag. In
Okayama nächtigten wir und fuhren am nächsten Tage auf einem schauderhaften
japanischen Liliputdampfer nach der von Europäern wenig besuchten Insel
Shikoku hinüber, um uns den altehrwürdigen Kompira-Tempel anzusehen; von
Kompira ging es am nächsten Tage nach Hiketa, wo wieder Nachtquartier
gemacht wurde. Dann führen wir nach Tolushima, wo wir der mangelhaften
Dampferverbindnng wegen eine Nacht und einen vollen Tag bleiben mußten.
Am Abend um zehn Uhr bestiegen wir wieder einen jener unglückseligen japa¬
nischen Dampfer und kamen nach sechs qualvollen Stunden um vier Uhr morgens
in Kobe an.
„Bestiegen den Dampfer" klingt rührend einfach im Vergleich mit der kom¬
plizierten Wirklichkeit. In Wahrheit bildet das Besteigen eines japanischen
Dampfers und das Fahren auf einem solchen eine langwierige Verkettung
tragischer Momente. Zunächst läßt man sich auf einem kleinen Boot (Sampan)
nach dem Dampfer übersetzen. Nachdem das Ziel erreicht ist, kriecht man durch
ein viereckiges, einen halben Quadratmeter großes Loch vom Boot in die Kajüte
des Dampfers hinein und befindet sich zunächst in einem engen Korridor, der
durch den angrenzenden Maschiuenraum so schön warm ist, daß man darin ohne
weiteres Eier nach Belieben ausbrüten oder kochen kann. Das erste, was nun
ein ahnungsloser Passagier tut, ist, daß er sich aufrichtet. Der reine Aberwitz!
Die Kajüte ist so niedrig, daß nicht einmal ein Japaner aufrecht in ihr stehen
kann. Also: Knalleffekt, wobei der Schädel der leidende Teil ist. Nun geht
es in den Schlafraum. Hier heißt es, sich vor dem Betreten dieses geweihten
Raumes zunächst platt auf den Boden setzen — denn Stühle gibt es nicht —
und die Stiefel ausziehen, um die saubere Matte nicht zu besudeln. Der Schlaf-
rann war verhältnismäßig luxuriös ausgestattet, denn an der Außenwand befand
sich ein Sofa, auf dem wir uns zur Not ausstrecken konnten, was wir auch
taten. Aber dorthin zu gelangen, war auch mit einigen Schwierigkeiten ver¬
bunden, da etwa zehn japanische Passagiere sich bereits wie die Heringe auf
dem Fußboden ausgestreckt hatten und teils rauchten oder Tee tranken, teils
schliefen. Kaum hatten wir uns häuslich eingerichtet, da entbrannte auch schon
ein wütender Kampf zwischen Moskitos und Flöhen, die sich um die Beute
stritten. Allgemeines Stöhnen, Fächeln, Jucken und Kratzen. Dabei eine
Temperatur, die schon keine mehr war, denn wegen des hohen Seeganges
mußten sämtliche Luken geschlossen werden. Durch eine der letzteren, die zufällig
nicht ganz hermetisch geschlossen war, ergoß sich plötzlich eine ganze Sturzwelle
über Lillvs Haupt. Kurz — als wir endlich in Kobe angelangt waren, konnten
wir uns ungefähr vorstellen, wie dem unverdaulichen Jonas zu Mute war, als
ihn der antisemitische Walfisch endlich wieder von sich gab. Welche Wonne,
wieder in einem europäisch eingerichteten Gasthof sich behaglich im Bette aus¬
strecken und auf Stühlen sitzen zu können, nachdem man die ganze Zeit hatte
auf Matten hocken und herumkrabbeln müssen!
Ja, die japanischen Hotels! Sie sind das niedlichste, sauberste, was man
sich an menschlichen Behausungen vorstellen kann — und dennoch ist solch ein
Puppenschrein ein Ort der Qual. Wenn alle Höllenschilderer vom Neuen
Testament bis auf Dante die Hölle stets in den abschreckendsten Farben schildern,
so scheint mir das eine ganz einseitige Auffassung zu sein. Ich kann mir sehr
wohl eine Hölle vorstellen, die durch Schönheit und Lieblichkeit die armen Ver¬
dammten über die Qualen täuschen soll, die ihrer dort harren. So eine Hölle
denke ich mir in Gestalt eines japanischen Gasthofes. Ahnungslos bilden sich
die armen Seelen ein, im Himmel zu sein, wenn sie dort angelangt sind; aber
wie bald kommt die Enttäuschung nach! Stundenlang auf dem Fußboden kauern
zu müssen, ist eine wahre Pein. Bisweilen gibt es aber auch Stühle — neue
Enttäuschung! Der Sitz ist zu kurz, die Lehne zu gerade, und dabei droht so
ein Ding jeden Augenblick unter der ungewohnten Last zusammenzubrechen.
Essen — allerliebst serviert und recht schmackhaft zubereitet, besonders roher Fisch,
aber weder sättigend noch nahrhaft. Von den Eßstäbchen will ich gar nicht
reden — ich lerne eher auf dem Seile tanzen, als mit Eßstäbchen turnen! Zur
Nacht ein sauberes Bett, und so weich und schön, daß man sich vor Hitze nicht
zu lassen weiß und sich durch Flöhesuchen die Zeit und den Schlaf vertreibt.
Ich nehme an, daß sich dieser japanische Gasthof gerade auf der Grenze zwischen
Himmel und Hölle befindet und speziell für Sanguiniker und Optimisten bestimmt
ist. Ist er zufällig valant, so dient er vermutlich als interimistischer Himmel
für selige Japaner, d. h. natürlich' nur für getaufte.
Trotz all dieser Mißstände war die Reise doch sehr genußreich. Die beiden
Glanzpunkte derselben waren Minajima und Kompira. Auf Minajima befindet
sich ein berühmtes shintoistisches Heiligtum, das aus dem zwölften Jahrhundert
stammt. Der Tempel ist auf Pfählen hart am Meeresstrande gebaut und steht
während der Flut vollständig im Wasser, was einen ganz eigenartigen Eindruck
macht. Die Insel selbst ist mit dem herrlichsten Baumwuchs bedeckt und bietet
durch ihre landschaftliche Schönheit und stille Weltabgeschiedenheit einen Ort
poetischer Beschaulichkeit, wie er gar nicht schöner gedacht werden kann. Eine
merkwürdige Sitte gebietet, daß kein Geburth- noch Todesfall aus dieser den
Göttern geweihten Insel stattfinden darf. Daher werden Todeskandidaten und
angehende Mütter rechtzeitig nach der gegenüberliegenden Hauptinsel hinüber¬
geschafft. Wir hatten unter diesem Verbot zum Glück nicht zu leiden.
Kompira gehört zu den meistbesuchten japanischen Wallfahrtsorten und ist
jetzt ebenfalls shintoistisch. obwohl es ursprünglich buddhistisch war. Mehr als
fünfhundert steinerne Stufen führen zu dem malerisch auf einer dichtbewaldeten
Höhe gelegenen Tempel empor. Oben angelangt wird der müde Pilger durch
die herrlichste Aussicht belohnt.
In Kyoto wurden wir von dem braven Koza empfangen, der uns von
Mr. G. empfohlen worden war. Er war ein Jahr lang in dessen Diensten
gewesen, und jetzt ist er unser Boy, Führer und Riksha-Mann (zweibeiniger
Karrengaul); letzteres ist sein eigentliches Metier. Dabei spricht der Mann gut
englisch, hat einen fein entwickelten Kunstsinn und einen wahren Enthusiasmus
für alles, was schön ist, ist obendrein von einer wirklich rührenden Ehrlichkeit
und Bescheidenheit. Mr. G. hat ihn uns durch freundliche Vermittlung eines
japanischen Freundes, eines Herrn N., verschafft. Dieser Herr N. ist der größte
hiesige Seidenhändler, seine Spezialität sind altjapanische Seidenstickereien und
Brokate. Natürlich machten wir ihm gleich nach unserer Ankunft einen Besuch.
Er lud uns sofort ein, an demselben Abend mit ihm nach Arashiyama zu fahren,
wo Feuerwerk und Illumination stattfinden sollte. Der Ausflug war reizend. Ara¬
shinama ist eine bewaldete Bergkette, eine Stunde von Kyoto entfernt, an deren Fuße
ein breiter Bach entlang fließt, der weiterhin in prächtigen Stromschnellen bergab
rauscht. Allenthalben Girlanden von roten Papierlaternen, von Zeit zu Zeit
buntfarbige Leuchtkörper, die himmelan steigen, um dann einen Funkenregen
herabzusenden, und über allem der Mond, der mit den Wolken kämpfte. Wir
setzten uns mit Herrn N. und einigen seiner Freunde in eins der zahlreichen,
mit bunten Lampen geschmückten Boote und fuhren auf dem Bache auf und
nieder, uns an diesem Märchenbild erfreuend.
Nur zwei Tage blieben wir in Kyoto und gingen dann wieder in Kozas
Begleitung auf die Wanderschaft, die jedoch nur eine Woche währte. Es war
abermals gleich der ersten Reise eine Pilgerfahrt, deren Ziel zwei altehrwürdige
Heiligtümer waren: das uralte buddhistische Kloster Koyasan und die Shinto-
tempel von Ise. das berühmte Nationalheiligtum der Japaner. Das Kloster
Koyasan liegt auf einem hohen, dicht bewaldeten Berge und gleicht eigentlich
einer förmlichen Tempelstadt. Der Weg hinauf war steil und anstrengend, ^
dafür aber unbeschreiblich schön. Eine Vegetation, von der Du Dir keine
Vorstellung machen kannst: Pinien, Kiefern, Palmen, Bambus, Ahorn, Azaleen,
mächtige Hortensienbüsche, Biwa- und Kakibäume in buntem Durcheinander,
alle zehn Schritt ein neuer Blick in eines der zahllosen Täter, die das Gebirge
nach allen Richtungen hin durchfurchen! Das Schönste aber harrte unser oben:
der riesengroße Friedhof, in einem Walde tausendjähriger Kiefern und Tannen,
wo zahllose Fürstengeschlechter vergangener Jahrhunderte, die hervorragendsten
Feldherren, Dichter und Künstler Japans ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.
Auch das Grabmal des Kobo Daishi, des eigentlichen Begründers des Buddhismus
in Japan und Erbauers des Klosters, befindet sich hier und daneben eine ihm
geweihte Kapelle. Koza, der ein frommer Buddhist ist, weihte ihm eine Kerze,
und ich tat ein gleiches. Unter Verlesung einer kurzen Gebetsformel zündete
sie der Priester an und steckte sie auf einen Leuchter vor dem Altar des Heiligen.
Der heilige Friede und die andachtsvolle Weihe dieses einzigschönen Totenhaines
wüßte ich mit nichts ähnlichem zu vergleichen; fast möchte man die glücklich
preisen, die hier zur ewigen Ruhe gebettet sind. Hier ist die Ruhe des
nirvana.
Auch Ise war hochinteressant, wenn auch in ganz anderer Art, denn die
dortigen Tempel bieten nichts Sehenswertes: es sind ganz schmucklose Bauten
aus weißem Holz, die alle zwanzig Jahre niedergerissen und durch neue ersetzt
werden. Das Holz der früheren Tempel wird in feine Späne zerhackt, die als
Amulette verteilt werden. Wir ließen uns dort den uralten heiligen Kagura-
tanz aufführen. Zwei Priester in festlichen? Ornate verlasen die einleitenden
Gebete, worauf acht dem Tempel geweihte Jungfrauen in ganz eigentümlicher
althergebrachter Tracht einen feierlichen Tanz aufführten und die mitgebrachten
Gaben: Sake, Reis, Biwafrüchte und Zweige des heiligen Sakcckibaumes,
weihten. Sechs Shintopriester machten die Musik auf Flöten und Trommeln
dazu.
Von Ise aus machten wir einen köstlichen Ausflug nach Toba und Futami,
am bergigen und herrlich bewaldeten Meeresstrande. Die japanische Landschaft
beschreiben zu wollen, ist ein vergebliches Bemühen: man muß sie empfinden
und dichterisch wiedergeben können — und das ist leider nicht jedermanns Sache.
Die Natur ist hier ein einzigartiges Kunstwerk der Schöpfung, Naturgenuß ist
hier Kunstgenuß — nur der Künstler und der Dichter kann das wiedergeben,
was hier die Seele des Beschauenden ersüllt. Es ist dem Traume gleich, der
in Nichts zerrinnt, wenn unzarte Hände ihn zu greifen suchen; daher bleibt uns
gewöhnlichen Sterblichen nur übrig, zu sehen und zu genießen und uns glücklich
zu preisen, so Herrliches mit eigenen Augen schauen zu können . . .
Aus einem Brief an Frau Clara Curtius.
.... Das Wenige, was wir im Fluge von Amerika kennen lernen konnten,
machte einen gewaltigen, oft verblüffenden Eindruck auf uns. Interessant war
dort alles, anziehend manches, abstoßend vieles. Von überwältigender Pracht
war insbesondere die landschaftliche Mannigfaltigkeit des Felsengebirges, aber
auch hier fehlte das, was die Natur veredelt, poetisch verklärt und dem Empfinden
und der Phantasie näher bringt: die Geschichte, die Vergangenheit menschlichen
Wirkens. Hier reden nur die Berge und Ströme, hier gibt es keine Stätten
alter Kultur, keine Schlösser und Burgen wie bei uns, von denen die Dichter
singen und sagen. Und nun erst die Städte! Wahre Tummelplätze modernster
Kulturbarbarei, in denen alles ans die denkbar praktischste Verwertung von Zeit
und Raum berechnet ist, um aus beiden nach Möglichkeit Kapital zu schlagen.
„Am Gelde hängt, nach Geld drängt doch alles." Man kann nicht umhin, die
technische Genialität zu bewundern, und wird doch dabei von der Frechheit
abgestoßen, mit der das elementarste Schönheitsgefühl verletzt wird. Besonders
charakteristisch als Typus einer Stadt von heute schien mir Wimpeg zu sein,
zu dessen Besichtigung wir den Aufenthalt von zwei Stunden benutzten. Es
scheint fast, als wären hier zu allererst die Telegraphenleitung und die elektrische
Straßenbahn angelegt und dann erst die Häuser errichtet worden.
Gar nicht mit Worten wiederzugeben ist daher der Eindruck, den nach dieser
Welt modernster Wirklichkeit Japan auf uns machte, diese traumhaft schöne
Märchenwelt, die alle Sinne so gefangen hält, daß es geradezu schwer fällt, an
ihre Wirklichkeit zu glauben. Seltsam, wie bei so geringer schöpferischer
Originalität so viel Originalität der Nachahmung möglich ist. Land und Leute,
Natur und Kunst: alles ist aus einem Gusse und daher stilvoll. Hier kann
man wie in keinem anderen Kulturlande beobachten, wie die Kunst dem Spiel¬
triebe entspringt — und welch herrliche Blüten bringt sie hervor! Einem harm¬
losen Spiele gleicht hier das Leben und das Volk selbst sorglos spielenden
Kindern. Daraus ist wohl auch zu erklären, daß der japanischen Kunst (vielleicht
von der Kolossalfigur des Buddha von Kamukura abgesehen) der Zug ins Große
abgeht. Groß ist der Japaner nur im Kleinen. Daher sind ihre Künstler
eigentlich mehr Handwerker, aber die Handwerker dafür wahre Künstler. Was
diese hervorbringen, ist nicht mehr Kunstgewerbe, das ist echte, unverfälschte
Kunst. Der Aufenthalt in diesem Wunderlande wird stets zu unseren sonnigsten
Erinnerungen gehören.
„Und China?" werden Sie fragen. China läßt sich auf keine Formel
zurückführen. China ist ein Buch, in dem nur Wenige zu lesen verstehen, und
selbst diese sind auf Schritt und Tritt dem Irrtum ausgesetzt. Alles, von den
alltäglichen Erscheinungen in dem Benehmen und der Ausdrucksweise der Menschen
angefangen bis zu den kompliziertesten Erscheinungen in Staat und Gesellschaft,
bleibt unverständlich, rätselhaft, oft lächerlich, solange man nicht weiß, wie es
geworden ist. In keinem Lande wiegt der geschichtliche Ballast so schwer, sind
die Fesseln althergebrachter, festformulierter Satzungen so hemmend wie hier.
Statt daß, wie anderswo, die Gegenwart das Altertum verdrängte, droht hier
vielmehr dieses jenes zu ersticken. Und weil jeder einzelne in allem, was er
tut und redet, wie er sich kleidet und bewegt, ja selbst wie er denkt und fühlt,
an feste kanonische Satzungen gebunden ist, geht dem Individuum oft jede
Individualität verloren, während es anderseits wohl kaum eine schärfer aus¬
gesprochene Volksindividualität gibt als die chinesische. Das eine ist eben die
Folge des anderen...
an will bemerkt haben, daß die Deutschen, sonst so gemütliche
und friedliche Leute, leicht in die Hitze geraten und unter Um¬
ständen sogar grob werden können, wenn sie über die liebe Mutter¬
sprache streiten. Und sie gibt so viel Anlaß zum Streit! Ich
erinnere mich aus meinem Leben, daß zwei mit einander befreundete
Rechtsbeflissene sich eine Zeitlang schief ansahen, weil sie sich zu scharf darüber
gezankt hatten, ob es heißen müsse: „gemäß dem Gesetz" oder „gemäß des
Gesetzes". So töricht solche Empfindlichkeit ist, so beweist sie doch, daß die
Muttersprache uns wichtig ist und uns am Herzen liegt.
Über eine Äußerlichkeit, dasKleid der Sprache, d. h. über die sogenannte
deutsche und lateinische Schrift, gelehrter: über Fraktur und Antiqua, hat man
im Reichstage mit demselben Feuer gekämpft wie über die bedeutendsten poli¬
tischen Fragen, und die vaterländische Erregung hat im Volke nachgezittert.
„Deutsche, wahrt eure heiligsten Güter, eure Schrift!" schallte es von der
einen Seite; von der anderen Seite wies man darauf hin, daß die deutsche
Schrift aus der lateinischen hervorgegangen ist, daß die meisten Reichsboten ihre
Namen lateinisch schreiben, und daß der Deutscheste der Deutschen, Jakob Grimm,
lateinisch geschrieben hat. Ein greifbares Ergebnis hat die Verhandlung nicht
gehabt; es bleibt beim Alten, und das ist, denke ich, kein Unglück. Die beiden
Schriftarten ergänzen einander. Es wird behauptet, unsere Frauenwelt, namentlich
die jüngere, bevorzuge die lateinische Schrift mit ihren großen einfachen Zügen.
Da es sich um eine Kleidungsfrage handelt, würde das Urteil der Frauen aller¬
dings sehr ins Gewicht fallen!
Die sprachliche Form der einzelnen Wörter ist bekanntlich festgestellt durch
die neue Rechtschreibung. Diese ist amtlich; und vor allem Amtlichen hat der
Deutsche immer noch eine gewisse Hochachtung, wenn er auch darüber schimpft.
Man hat ja auch manches an der neuen Schreibweise auszusetzen, aber man
fügt sich im allgemeinen der Vorschrift. Besonders ein Punkt hat vielseitigen
Widerspruch hervorgerufen und, wie ich glaube, nicht ohne Grund; es ist die
Wiedereinführung der Schreibweise -leren in der Endung der fremden Zeit-
Wörter, wie marschieren, studieren usw. Man hatte früher einmal so geschrieben,
aber das -leren war längst abgeschafft. Wir schrieben ohne e studiren, pro-
biren; unsere Soldaten marschirten nach Frankreich, kein Mensch hatte das
geringste Verlangen nach dem e. Nun ist es wieder da, wie jener Mann im
schwarzen Walfisch zu Askalon, den der Hausknecht uni halb vier Uhr zur Tür
hinaus- und, nach einem beliebten studentischen Zusatz, um halb neun Uhr wieder
hineinwirft. Das e soll die Länge der Silbe andeuten. Aber wir schreiben
z. B. mir, dir, ihm, ihr, sie, Herde, Wage, wir sind also nicht folge¬
richtig. Jedenfalls ist das e überflüssig, und heutzutage, wo die Zeit so kostbar
ist, sollte man sich nicht mit Überflüssigem plagen. Das deutsche Volk hat einen
glänzenden Beweis seines Gehorsams gegeben, indem es sich dem unterwarf;
zur Belohnung möge man bei der nächsten Reform der Rechtschreibmig — wir
pflegen ja unsere Reformen öfters zu reformieren — den überflüssigen Buch¬
staben mit aller gebührenden Höflichkeit endgültig an die Lust setzen!
Für die Form der Wörter sind unsere Zusammensetzungen von großer
Bedeutung. Die schrankenlose Freiheit, mit der wir die verschiedensten Dinge
zusammenkoppeln, ist ein zweischneidiges Schwert; sie ruft manchmal wunderbare
Gebilde hervor, die nicht nur den Deutsch lernenden Ausländer, sondern auch
den deutschen Leser verblüffen können. Was ist Stilphase? Was ist Saraszene?
— Ich nenne diese Wörter, weil sie nur gerade vorkamen. — Denkt man da gleich
an eine Phase des Stils und an eine Szene aus Miß Sara Sampson? In
einer hübschen Naturschilderung las ich neulich etwas verdutzt von den Kätzchen
der Granerle. Die Schreibung „Grau-Erle" hätte mir die Sache klargemacht.
Auch mit der vielgenannten Seegeltung habe ich mich noch nicht recht befreunden
können. Von den bekannten Wortungetümen, wie Motorluftschiffahrtstudien-
gesellschaft, will ich nicht sprechen; sie sind schon genügend an den Pranger
gestellt worden.
Es ist merkwürdig: unsere Zeit, die doch angeblich zu nichts Zeit hat,
hat doch Zeit, sich mit unnötigen Sprachballast zu befassen. Wozu Bahnsteig,
da Steig allein genügen und jede Verwechslung ausschließen würde (ich erlaubte
mir schon vor Jahren in einer vielgelesenen Zeitung darauf hinzuweisen)?
Geradezu unaussprechlich schön ist Bahnsteigsperre; ich möchte wissen, wie Aus¬
länder damit fertig werden. In Süddeutschland begnügten wir uns bisher
mit einfachen Hemden, wie die Franzosen mit LKsmises; jetzt kommt aus
dem Norden das Oberhemd zu uns. Welcher Kulturfortschritt! Was das
„Ober" bedeuten soll, ist mir übrigens nicht klar.
Bei den Zusammensetzungen spielt das „Binde-s" eine große Rolle,
die ich nicht unbeachtet lassen darf.
Das Binde-s! Ist einer, der's nicht kennt,
Das s, das Wörter bindet, Herzen trennt?
Es ist jenes s, das sich in zusammengesetzte Wörter einschiebt. Wir sehen
es im Reichstag und im Reichskanzler, in: Bezirksamt und im Sitzungssaal,
in der Kriegslust wie in der Friedensliebe, im Kriegsheer, aber nicht in
der Kriegführung, im Amtsrichter, aber nicht im Amtmann, im Handwerks¬
meister, aber nicht im Werkmeister. Das Binde-s hat schon heiße Kämpfe
entfesselt. Es hat viele Feinde, aber anch viel Ehre. Große Schriftsteller,
voran Jean Paul, und Gelehrte haben sich eingehend mit ihm beschäftigt; der
Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins hat ihm im Gewand
einer allerliebsten Plauderei eine gehaltvolle Untersuchung gewidmet. Ohne mit
diesen Arbeiten wetteifern zu wollen, dürfen wir vielleicht eine kleine Nachlese halten.
Die Gegner des Binde-s wollen es höchstens da zulassen, wo es als
Zeichen des Genetivs, des Was-Falles, aufgefaßt werden kann. Staatsmann
ist der Mann des Staats, Reichskanzler der Kanzler des Reichs, Bezirksamt
Amt des Bezirks usf. Aber Mönchskloster ist doch nicht das Kloster des
Mönchs, Freundeskreis nicht der Kreis des Freundes, Gastwirtsverein nicht
der Verein des Gastwirts; darum „fort mit dem s!" sagen dessen Gegner;
„es müßte heißen Mönchekloster, Freundekreis, Gastwirteverein". Am meisten
verübelt man es dem s, daß es sich mit Vorliebe an Feminina hängt, die doch
den Genetiv niemals auf s bilden, und zwar gerade an die schönsten: Religion,
Liebe, Freundschaft u. a. Man sagt: Religionskrieg, Liebeszeichen, Freund¬
schaftsbeweis, als ob es einen Genetiv des Religions, des Freundschasts usw.
gäbe. „Fort mit dem s!" sagen seine Feinde. Einer unserer bekanntesten
Schriftsteller hat dem sogenannten „falschen Binde-s" den Zutritt zu seiner
Zeitschrift strengstens verboten; er schreibt z. B. Gattungname, Botschaftrat,
Lieblingplatz, und man könnte sich deshalb mit dem Gedanken trösten, daß das
Binde-s keine Zukunft hat.
Man hat es humorvoll mit einem frechen Spatz verglichen, der sich überall
einnistet. Es erinnert mich an einen Spottvogel; es spottet der Regeln.
Jedenfalls ist es ein loser Vogel. Man hat den Satz aufgestellt, daß die
Wörter auf er mit wenigen Ausnahmen das Binde-s verschmähen, und daß
insbesondere Winter und Sommer s-frei bleiben. In der Tat gibt es nur
den Sommertag und die Sommernacht und die Sommerfrische, und „Winter¬
stürme wichen dem Wonnemond". Endlich eine feste Regel! Aber horch!
da hör' ich den Spottvogel vom nächsten Tannenbaum pfeifen:
Du grünst nicht nur zur Sommerszeit,
Nein auch im Winter, wenn es schneit.
Nach den Forschungen der Gelehrten ist das Binde-s hauptsächlich im
niederdeutschen Sprachgebiet heimisch und hat sich erst allmählich nach Ober¬
deutschland verbreitet. Noch heute gedeiht es am Niederrhein besonders gut.
Als Studenten in Bonn machten wir uns manchmal über die Nachts Wächter
(natürlich nur über diese Bezeichnung) und über die Nachts schellen lustig. Der
Amtmann hat kein s, er stammt aus der Zeit vor der s-Flut, aber von
Niederdeutschen hörte ich öfter Amtsmann, Amtshaus. Wir sagen im Süden
Heimatrecht, Heimatschein, Besuchkarte, im Norden scheint Heimatsrecht usw.
vorzuherrschen. „Ackersmann" als Bezeichnung des Berufs hat ein s, der
weitverbreitete Familienname hat aus alter Zeit die Form Ackermann bewahrt.
Die Russen haben, wie es scheint, kein Verständnis für das Binde-s; der Name
ihrer Hauptstadt, der ja deutsch ist, lautet im Russischen Peterburg, während
wir Petersburg sagen, welche Form anch von den Franzosen und Engländern
angenommen wurde.
Nicht immer ist das Binde-s ganz willkürlich und launenhaft. Dies zeigt
der feine Unterschied zwischen Wassersnot und Wassernot. Wassersnot entsteht,
weil zuviel Wasser, Wassernot, weil kein Wasser da ist. Das Wasser nimmt
sonst der Regel nach kein s zu sich; z. B. in Wasserglas, Wasserdruck (wo das
Wasser als Kraft gedacht ist). Ähnlich ist es mit Feuer: Feuerwehr, Feuer¬
leiter, aber Feuersnot. Ich erklärte mir den Unterschied in folgender Weise:
In Wassersnot wie in Feuersnot stehen die beiden verbundenen Wörter in einem
tieferen inneren Zusammenhang als z. B. in Wasserglas usf. Das Wasser ist
die Ursache der Not, es erzeugt sie durch seine Fluten wie das Feuer durch
seine Gluten. Der Genetiv — Wassers, Feuers — macht seinem Namen
Ehre; er zeigt sich als richtiger „Genetiv" (Zeugefall). Bei Wassernot dagegen
führt nicht das Wasser, sondern der Mangel an Wasser die Not herbei. Auch
in Hungersnot und in „Hungers sterben" haben wir wohl diesen Genetiv.
Man vergleiche auch liebeleer, lieblos, dagegen liebeskrank, liebestoll
(krank, toll durch Liebe); gefühllos, dagegen gefühlsselig.
Das s bei weiblichen Wörtern erscheint vielleicht weniger verwunderlich,
wenn man sich an den sächsischen Genetiv im Englischen erinnert, der ja auch
bei weiblichen Hauptwörtern Anwendung findet (mottier's book). Wir sprechen
ja auch wohl von Mutters Buch, Mutters Geburtstag. Bemerkenswert sind
auch Genetivsormen wie „des Nachts". Das Binde-s soll aber in der Regel
offenbar der Kitt sein, der die Wörter zusammenhält und zu einem
Ganzen verbindet. Oft dient es auch dazu, die Aussprache zu erleichtern.
Der verehrte Leser möge die Probe machen, indem er z. B. Zukunftsmusik,
Unterhaltungsblatt, sehnsuchtsvoll, hoffnungsvoll, Frühlingstag
ohne s ausspricht. Es wird dann wohl immer eine fast unmerkliche Pause
zwischen den zwei Wörtern entstehen. Hätten wir vokalische Endungen, würden
wir wohl klangvollere Bindelaute verwenden. Wo das s störend ist, sollte es
beseitigt werden. Wir sagen Arbeitgeber, Arbeitnehmer, warum nicht auch
arbeitwillig, arbeitlos, arbeitscheu?
Daß unser Volk sich nach Belehrung über sprachliche Dinge sehnt, beweist
der große Erfolg, den Ed. Engels „Deutsche Stilkunst" (Leipzig, G. Freytag)
erzielt hat. Allerdings ist es ein Lehrbuch von besonderer Art; es ist mit Geist,
Wissen und Geschmack und dabei auch mit marinen Herzen und frischem Humor
geschrieben. An einer erstaunlichen Fülle von Beispielen zeigt es nicht bloß,
wie es nicht gemacht, sondern auch wie es gemacht werden soll. Einzelne
Bemerkungen, zu denen das Buch Anlaß geben könnte, muß ich mir versagen;
ich möchte mir nur gestatten, in möglicher Kürze aus einen Gegenstand ein¬
zugehen, den ich schon vor zwei Jahren in diesen Blättern berührte. Die
Fürwörter „welcher" (Relativ), „derjenige", „derselbe" (im Sinne von is), die
jahrhundertelang in der deutschen Sprache wohlgelitten waren, sind verfemt und
sollen vom Leben zum Tod gebracht werden. Statt „welcher" muß es stets
heißen „der", statt „derjenige" auch nur „der", statt „derselbe" ist nur „er"
oder eine sonstige passende Ausdrucksweise zulässig.
Aber die Verkehrssprache hat sich die so leidenschaftlich bekämpften Wörter
bis jetzt nicht nehmen lassen, und es gibt namhafte Germanisten und anerkannt
tüchtige Stilisten, die an ihnen festhalten. Wir stehen also wieder vor einer Meinungs¬
verschiedenheit. Möge sie keine allzu heftigen Gemütsbewegungen hervorrufen!
Ich hatte mir seinerzeit erlaubt zu sagen, daß es Fälle gibt, wo jene
Wörter noch gute Dienste leisten können. Engel hat gegen „derjenige", wie es
scheint, nichts einzuwenden; er schließt sein Werk mit einem Ausspruch von
Goethe, in dem das Wort an betonter Stelle steht. „Welcher" läßt er unter
Bedingungen gelten; er tadelt jene Häufung von der, die, das, welcher man
heute so oft begegnet. (Z. B. „Er ist der, der der Nation die Einheit gab.)
Er schreibt „die Klarheit, welche die Dunkeln Seichtheit nennen", nicht „die die
Dunkeln", und führt einen Satz von Schopenhauer als abschreckendes Beispiel
an: „Die, die die, die die Buchstaben zählen, für klägliche Köpfe halten, mögen
nicht so ganz Unrecht haben." Aber „derselbe" findet keine Gnade vor seinen
Augen; er befehdet es auf acht Seiten seines Buches. Auf die Gefahr hin, ebenfalls
in Ungnade zu fallen, muß ich gestehen, daß ich mich von der Verworfenheit und
Verwerflichkeit dieses Wortes nicht überzeugen konnte. Unrichtig ist es nicht; es ist
bei Grimm mit zahlreichen Beispielen vom fünfzehnten Jahrhundert an belegt. Auch
in anderen Sprachen findet sich ein ähnlicher Gebrauch; ich erinnere an das griechische
«um-; (selbst, in eigener Person), das im Sinn von „er" gebraucht wird; das
bekannte Distichon von Lukianos tönt mir im Ohr, das zu deutsch lautet:
„sterblich ist, was Sterbliche haben. Entweder die Dinge
Gehen an uns oder wir gehen an ihnen vorbei"
M^-/^-«« heißen die letzten Worte im Urtext.
So finden wir das englische l'ne same, das von Hause aus eine engere
Bedeutung hat als „derselbe", im Sinne von „er" im Amtsstil und im kauf¬
männischen Stil. Doch das sei nur angedeutet; ich habe ja keine philologische
Abhandlung zu schreiben. Vielleicht behandelt einer unserer großen Sprachmeister diese
Frage näher, wie es vor kurzem Prof. Behaghel mit der „Welcher"-Frage getan hat.
Allerdings ist „derselbe" ein etwas umständliches und durchaus prosaisches
Wort, aber es ist unter Umständen brauchbar. Ich gebrauche das Wort vielleicht
vier- oder fünf Mal im Jahr; aber warum soll ich es mir diese vier- oder
fünf Male verbieten lassen? Ist es zu tadeln, wenn ein Bekannter mir über
einen Geschäftsmann schreibt: „Ich kenne den Mann schon lange und empfehle
Ihnen denselben bestens"? (dies gefiel ihm wohl besser als „ihn Ihnen".)
Sind folgende Sätze einer gut geschriebenen Zeitung zu tadeln: „Bei der
Insel Thasos kamen feindliche Kriegsschiffe an die Küste heran, manövrierten
längs derselben und fuhren dann weiter." „Vor dem Verhör und während
desselben hatte er eine große Aufregung an den Tag gelegt"? Kann
es jemanden stören, wenn auf einem Konzertprogramm steht: „Während
der Vorträge ist der Eintritt in den Saal sowie das Verlassen des¬
selben nicht gestattet"? Bei Goethe, der in „Dichtung und Wahrheit" recht
oft „derselbe" schreibt, findet sich z.B.: „Der Abgesandte brachte einen schön
gedrechselten hölzernen Pokal, mit Pfeffer angefüllt. Über demselben lag ein
Paar Handschuhe." Goethe hat wohl absichtlich nicht gesagt: „über ihm";
denn man hätte bei „ihm" eher an eine Person, also hier den Abgesandten,
denken können. Auch den Satz von W. von Humboldt: „So wichtig die Geistes-
freiheit, so schädlich jede Einschränkung derselben" kann ich nicht tadelnswert
finden. In allen diesen Fällen, die sich leicht noch sehr vermehren ließen,
wurde „derselbe" nicht ohne Grund geschrieben. Die Sätze hätten ja wohl
auch anders gefaßt werden können, aber wozu eine andere Fassung suchen,
wenn die eine sich bequem darbietet?
Bismarck, den Engel als Stilisten mit Recht sehr hoch stellt, hat in der
berühmten Emser Depesche das verhängnisvolle Wort gebraucht, indem er schrieb:
„Seine Majestät der König hat es darauf abgelehnt, den französischen Bot¬
schafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom
Dienst sagen lassen, daß Seine Majestät dem Botschafter nichts weiter mitzuteilen
habe." Das „demselben" wird (zum Glück für Bismarck!) hier durch den
Nachdruck entschuldigt, der in dem Worte liegen soll. Also gibt es doch Fälle,
wo es entschuldbar ist! Bismarck hat aber das Wort öfters, nicht nur ver¬
einzelt, angewendet. Und wie oft findet es sich bei Lessing und anderen! Nach
Engel ist „derselbe" reif zum Abschütteln vom Baum der Sprache. Geschüttelt
ist ja schon; warten wir nun, bis es fällt!
Andere Dinge scheinen mir viel wichtiger und für unsere Sprache geradezu
schädlich zu sein, z. B. jene von Engel gebührend gegeißelten Stopf- und Schachtel¬
sätze, denen unsere Wortstellung großen Vorschub leistet. „Die preußische Klassen¬
lotterie wird sich bei der bei der Bevölkerung herrschenden Abneigung nur
schwer einleben." „Hauptmann F., der. sich den von den acht dem Blutbad
entronnenen Senegalschützen überbrachten Nachrichten zufolge ohne alle Marsch¬
sicherung in unbekanntem Lande bewegt hat, wurde überfallen" usw. Diese
Sätzchen, die sich mir zufällig darboten, lassen wenigstens ahnen, was auf dem
Gebiet des Stopf- oder Wurststils in unserer lieben Muttersprache geleistet
und - - gesündigt wird. Die Palme gebührt einem Rechtsanwalt für folgendes
Klagebegehren (mitgeteilt von Moskowski): „Das Gericht wolle erkennen, der
Beklagte sei schuldig, mir für die von mir für ihn an die in dem von ihm
zur Bearbeitung übernommenen Steinbruche beschäftigt gewesenen Arbeiter vor-
geschossenen Arbeitslöhne Ersatz zu leisten."
Wenn ich die letzten Worte der „Bemerkung
statt einer Einleitung" richtig verstehe, handelte
es sich in der „kleinen Piöce" wohl um „Spott",
nicht um „Ernst", weshalb auch das von
Th. Olshausen herausgegebene Correspondenz-
Blatt auf den Inhalt nicht einging; es wäre
doch zu auffallend, daß es einer ernsten
Behandlung des damals so viel besprochenen
Gegenstandes hätte seine Blätter verschließen
wollen, auf denen gerade während des Jahres
1836 so vielfach von den Zollangelcgcnheiten
die Rede war. Es handelte sich um die
Aufhebung der Zollfreiheit und Einführung
eines ZvllgesetzeS in den Herzogtümern, um
das immer mehr anwachsende Defizit des
dänischen Staates zu beheben. Im Cor-
respondenz-Blatt wurden Aufsätze und Stände¬
versammlungsberichte zahlreich veröffentlicht.
Auch paßt es zu Hebbels damaliger Lage
viel besser, eine satirische Schrift über ein
solches Thema anzunehmen, als eine ernste
politische Broschüre; wir wissen ja, daß er
politische Epigramme machte, mit Jahnens
und Alberti ein politisch-literarisches Blatt
plante und allerlei Satirisches auf den ver¬
schiedensten Gebieten behandelte. So auf¬
fallend immerhin ein „Sendschreiben" Hebbels
„in Betreff der Zoll-Angelegenheit" erscheinen
muß, ausgeschlossen ist die Möglichkeit keines¬
wegs. Auch an der Angabe: „London, ge¬
druckt und verlegt bei Bailliö u. Comp." darf
man sich nicht stoßen, denn sie ist höchst¬
wahrscheinlich fingiert, wofür es damals an
Analogien bekanntlich nicht fehlt. Sehr wichtig
erscheint nur die Nachricht, daß die Schrift
„nicht in den Buchhandel gekommen ist";
daraus könnte sich erklären, weshalb Hebbel an
Franz schrieb, die Zusendung der Exemplare
sei der größte Beweis unbedingten Ver¬
trauens, den er ihm jemals gegeben habe.
Und wenn Franz Exemplare dieser Schrift
mit einer„Rechnung", vermutlich also zum Ver¬
trieb, nach Kiel geschickt bekam, so erklärt dies
Wohl auch, woher das Kieler Correspondenz-
Blatt seine Kenntnis der Schrift schöpfte. Leider
find Hebbels Briefe an Franz weder vollzählig
noch vollständig erhalten, und gerade von dem
Brief aus Hamburg, den 8. März 1836, mit der
entscheidenden Stelle über die „Exemplare"
fehlt der Schluß und vom nächsten aus Heidel¬
berg, April 1836, der Anfang, so daß wir
nicht wissen, ob nicht noch mehr über das
Schriftchen geschrieben wurde. Die Briefe-
Elise Lensings, die natürlich unzweifelhaften
Aufschluß böten, find bekanntlich nicht zu¬
gänglich. Wir müssen uns darum mit Ver¬
mutungen begnügen.
Was im Correspondenz-Blatt aus dem
„Sendschreiben" abgedruckt ist, rührt dem Inhalt
wie dem Stil nach ganz unzweifelhaft von
Hebbel her, besonders der Anklang an „Des
Sängers Fluch" fällt ins Gewicht.
Georg
Witkowski in Leipzig und Karl Reuschcl in
Dresden legen zwei neue, zusammenfassende
literarhistorische Versuche vor, Witkowski auf
knapp zehn Bogen „Die Entwicklung der deut¬
schen Literatur seit 1830" (R. Voigtländer,
Leipzig). Der Versuch ist ausgezeichnet ge¬
lungen. Jedes Eingehen auf die Lebens-
geschichte der Einzelnen ist selbstverständlich
vermieden, das Ziel des Ganzen ist eine
Einführung in die großen Dichter und ihre
Werke. Zu diesem Zweck wird jeder Epoche
eine knappe, aber sehr deutliche Schilderung
der Zeitverhältnisse vorausgestellt. Vielleicht
wäre es richtiger gewesen, den Abschnitt „Die
Zeitstimmung nach dem Jahre 1860" in zwei
Teile zu zerlegen, um den Umschwung, den
die glücklichen Feldzüge brachten, deutlicher
hervorzuheben. Es würde dann das Bild noch
klarer werden, indem die großen realistischen
Erzähler jenseits der Grenzen blieben, die der
Krieg 1870 und seine Folgen in unserer Lite¬
ratur gezogen haben. Die Gesamtanschauung
des letzten Abschnittes kann ich freilich nicht
gelten lassen, und sie wird im Grunde durch
Witkowski selbst widerlegt. Er sagt: „Die
Entwicklung unserer deutschen Literatur seit
1830 war ein Irren im Dunkel, nur von der
Vergangenheit trügerisch erhellt, von den
Funken stärkerer Talente für Augenblicke über¬
strahlt." Da ist doch nur richtig, wenn man,
mit Witkowski selbst zu sprechen, nur die
Vvrdergrundliteratur der Jahre von 1850 bis
1870 im Auge hat. Sieht man auf die Er¬
scheinungen, die er selbst in den Kapiteln
„Die dramatische Dichtung bis 1860" und
„Die großen realistischen Erzähler" vortrefflich
charakterisiert, so ergibt sich klar, daß in dem
silbernen Zeitalter unserer Dichtung ein großes
Geschlecht von Meistern vorhanden war, das
überall genau um die letzten Werte und Wir¬
kungen der Kunst Bescheid wußte, das ganz
national bestimmt war und uns einen heute
noch längst nicht ausgeschöpften Reichtum von
Dichtungen beschieden hat; ich nenne in Wit-
kowskis eigener Reihenfolge: Hebbel, Ludwig,
Freytag, Keller, Storm, Reuter, Groth, Raabe,
Luise v. Franaois, Marie v. Ebner-Eschenvach,
Saar, Meyer, Busch, Anzengruber. Dn aber
diese alle trotz jener an den Schluß gestellten
Gesamtanschauung liebevoll und sicher dar¬
gestellt werden, so wirkt Witkowski hier schließlich
gerade in dem Sinne, den das Schlußwort
nicht wahr haben will. Das Buch ist als
Ergänzung zu jeder umfangreicheren Lite-
raturgeschichte aufs wärmste zu empfehlen. —
Karl Reuschel hat die „Geschichte der deutschen
Literatur" von Ferdinand Schultz völlig neu
bearbeitet und das zuerst 1889 erschienene
Werk bis auf die Gegenwart fortgeführt
(Dresden, L. Ehlermann). Er will anderen
Zwecken dienen als Witkowski und gibt des¬
halb immer bei allen bedeutenden Dichtern
auch möglichst viel von den Lcbensgeschicken,
soweit sie für ihre Dichtung wichtig sind. Der
Hauptnachdruck liegt, wie das jetzt Wohl all¬
gemein anerkannt ist, auf der Geschichie un¬
serer Dichtung seit Lessing, sie nimmt zwei
Dritteile des Bandes in Anspruch und hier¬
von wieder die Entwicklung seit der Romantik
die gute Hälfte. Bei den Dichtern, denen er
nicht, wie Lessing, Hebbel oder Keller oder
gar Goethe und Schiller, eine knappe Analyse
aller Hauptwerke widmen kann, bemüht sich
Reuschel mit Glück, auf Einzelheiten hinzu¬
weisen, die den Zugang zu der Persönlichkeit
am klarsten eröffnen. So hebt er bei Marie
v. Ebner-Eschenbach das „Gemeindekind" und
einige Erzählungen, bei Saar fünf der Meister-
novellcn ans Osterreich hervor. Oft trifft er
einen besonders glücklichen charakteristischen
Zug, so wenn er von Fontanes knlvinistischcm
Fatalismus spricht. Freilich verführt dann
die Knappheit auch wieder manchmal zur
Blässe, wenn etwa vom „Uriel Acostn" gesagt
wird, er beleuchte die religiöse Frage, oder
von Kleists Novellen, daß der Dichter einmal
„die Schönheitslinie überschreite". Glücklich
scheint mir auch die immer schwierige Heraus¬
hebung der wichtigsten Erscheinungen unter
den Neuesten. Nur Hütte ich gern Dehmel
vor George und mit energischeren Nachdruck
behandelt gesehen. Im ganzen liegt der Ton
hier auf der geschichtlichen Entwicklung, die
wiederum nie für die Literatur allein als
etwas für sich Dastehendes gegeben, sondern
mit der ganzen Zeit in Beziehung gebracht
wird. Besonders erfreulich ist die starke Her¬
vorhebung einzelner immer noch nicht genug
gewürdigter Dichter wie Carl Spitteler. Der
volkstümliche Zweck des Werkes tritt überall
klar hervor. Es ist in seiner Art gleich¬
falls eine wertvolle und sicherlich dauerhafte
Einführung. Das Buch ist mit guten Bild¬
nissen aller wichtigeren Dichter geschmückt.
Eine Prächtige Gabe fürs deutsche Haus
ist Karl Fröhlichs „Schatten-Lilipur", das
F. Avenarius im Kunstwartverlage Callwey
in München „mit Versen für die Kleinen und
einem Nachwort für die Großen" gleichzeitig
mit Gertrud Stamms „Schattengeist" er¬
scheinen läßt. Das erstere (zu dem billigen
Preise von IM) war bisher unveröffentlicht
und wurde dem bekannten Herausgeber aus
dem Publikum ins Haus gesandt. Es ist eine
ganz frühe Schöpfung, die aber den späteren
Lehrer Konewkas schon ganz auf der Höhe
seiner Meisterschaft zeigt. Wollen wir alle
Feinheiten genießen, müssen wir die Lupe zu
Hilfe nehmen. Virtuoseres ist Wohl auf dem
Gebiete der Silhouettierkunst nie geleistet wor¬
den. Auch finden wir hier schon die ersten
Andeutungen, von dem „geheiligten Gesetz des
Profilausschnittes" abzugehen, wie es unter
den Modernen Gertrud Stamm unbekümmert
int. In ihrer Mappe (zu 2 M.) ist alles der
Ausdruck einer ganz eigenartigen künstlerischen
Persönlichkeit. Wo sie das Leben gepackt hat,
da ist's interessant; und ob sie Kinderszenen
oder widerhaarige Karrengaule, Straßen-
kehreriunen oder badende Backfische oder gar
Phantastische Gebilde wie die „Arbeit der Zeit"
unter die Schere nimmt, immer schlägt sie
uns durch ihr eigenartiges Schauen und Ge¬
stalten stark in ihren Bann.
Aus der Gegenwart in die Vergangenheit
zurück führen uns Rudolf Töpffcrs drei
humorvolle Bände „Die Weltreise", „Das
geliebte Ding", „Das kecke Lüftchen".
Goethes Anerkennung hätte den Künstler, der
lange vor Wilhelm Busch in seinen Werken
die zwerchfellerschütterndsten, pointcnreichsten,
haarsträubendsten Situationen schuf, vor lan¬
gem Vergessenwerden bewahren sollen. „Der
Künstler sprüht ja von Talent und Geist. Ge¬
wisse Stellen zeigen eine unnachähmbare Voll¬
kommenheit." Nun bringt ihn uns der Verlag
E. Baron, Berlin V/. 16, in den billigen drei
Bänden (zu 1,80 M.) wieder nahe, deren jeder
über zweihundert der amüsantesten Bilder mit
modernisierten Tert, steindruckartig auf gelb¬
lichem Papier wiedergegeben, enthält. Alle
Freunde des Wiedensahler Meisters werden
auch an seinem Vorgänger, dessen Bilder
er vielleicht nie gesehen, ihre helle Freude
haben.
Silbernagel: Bekämpfung des Verbrecher¬
tums durch Rettung jugendlicher Delinquen¬
ten. Bestrebungen und Reformen in den
Bereinigten Staaten von Nord-Amerika, Gro߬
britannien, Osterreich, Ungarn, Italien, Däne¬
mark, Schweden, Rußland und in der Schweiz.
Bern, Verlag von Stämpfli u. Co., 1911.
Preis M. 3,26.
Dieses Buch tritt für den Gedanken, eine
oder mehrere internationale Zentralen für
Jugendfürsorge zu schaffen, mit ebenso viel
Sachkenntnis als Begeisterung ein. Die Zu¬
kunft unserer Rechtsentwicklung liegt ebenso
sehr wie in der Erforschung der griechischen
und römischen Rechtsaltertümer auch auf der
vergleichenden Gegenüberstellung der Rcchts-
entwicklung moderner Völker. Aus den rechts¬
vergleichenden Forschungen des Verfassers heben
wir auf Seite 87 folgende Bestimmung aus
einem dänischen Gesetz vom 27. Mai 1908
hervor: „Wenn der uneheliche Bater einen
ihm durch obrigkeitlichen Beschluß auferlegten
Alimentenbeitrag nicht rechtzeitig zahlt, kann
die Mutter — insofern ihre ökonomischen Ver¬
hältnisse nach Ansicht derKommnnalverwaltung
ihr nicht erlauben, für den Lebensunterhalt
und die Erziehung des Kindes auf passende
Weise zu sorgen — die Zahlung des Bei¬
trages seitens der öffentlichen Kasse fordern,
ohne daß es als eine ihr geleistete Armen¬
unterstützung betrachtet wird. Die betreffenden
Behörden haben das Rückgriffsrecht gegen den
Vater; und wenn dies ohne Erfolg geltend
gemacht wurde, so wird die Leistung als eine
ihm gewährte Armenunterstützung betrachtet,
die den Verlust gewisser bürgerlichen Rechte
zur Folge hat. Dasselbe gilt für die ver¬
lassene, getrennt lebende über geschiedene Fran
hinsichtlich ihrer ehelichen Kinder."
Aus demselben Buch Seite 96 zitieren
wir folgenden Abschnitt: „Vorbildliches hat
das schweizerische Zivilgesetzbuch geleistet in
der Fürsorge für außereheliche Kinder. Die
Alimentenklage gegen den außerehelichen Vater
wird dem Kinde selbst gewährt. Bei Gut¬
mütigkeit und Gleichgültigkeit der Mutter wird
es also nicht rechtlos dastehen. An Stelle der
bisherigen, zum Teil sehr kurzen Verjährungs¬
fristen der kantonalen Stechte tritt die ein¬
jährige Klngefrist für Ansprüche gegenüber
dem außerehelichen Vater; auch für möglichst
rasche materielle Hilfe für Mutter und Kind
wird vorgesorgt. Wird die Vaterschaft glaub¬
haft gemacht, und befindet sich die Mutter in
Not, so kann der Richter den Vater auch ohne
den Nachweis, daß der Anspruch gefährdet sei,
schon bor dem Urteil anhalten, die unerlä߬
lichen .Kosten der Entbindung und des Unter¬
halts des Kindes für die ersten drei Monate
nach der Geburt sicher zu stellen. Bon hoher
Wichtigkeit muß ferner jedem Praktiker, der
weiß, wie oft der außereheliche Vater durch
Wegzug in eine andere Stadt oder in ein
anderes Land, besonders nach Frankreich, sich
der Zahlungspflicht zu entziehen und eine
Klage zu verhindern oder zu erschweren sucht,
die Norm des neuen Rechts erscheinen, daß
die Klage c^egen den außerehelichen Vater
nicht nur an seinem Wohnort, sondern auch
beim Richter am schweizerischen Wohnort der
klagenden Partei gestattet wird. Ebenso schafft
das neue schweizerische Recht den Gerichtsstand
der Heimat für Vaterschaftsklagen. Gegen
einen Schweizer, der im Auslande wohnt,
kann die Klage, wenn Mutter und Kind eben¬
falls im Auslande ihren Wohnsitz haben, beim
Richter seines Heimatsorts angebracht werden.
Nur .unzüchtiger Lebenswandel der Mutter'
zur Zeit der Geburt schließt die Vaterschafts¬
klage aus. Jedes außereheliche Kind erhält
bald nach der Geburt einen Beistand. Der
Beistand wird nach Durchführung der Klage
oder nach Ablauf der Klagefrist durch einen
Bormund ersetzt, wenn die Vormundschafts¬
behörde es nicht für angezeigt erachtet, das
Kind unter die elterliche Gewalt der Mutter
oder des Vaters zu stellen. Eine Zusprechung
des Kindes an den außerehelichen Vater mit
Standesrechten erfolgt auf Begehren des Klä¬
gers, wenn der Bater der Mutter die Ehe
versprochen oder sich mit der Beiwohnung an
ihr eines Verbrechens schuldig gemacht oder
die ihm zustehende Gewalt mißbraucht hat.
Gegenüber einem Ehemanne ist dieZusPrechung
mit Standesfolgen ausgeschlossen, wenn er
zur Zeit der Beiwohnung schon verheiratet
war. In- Falle einer Anerkennung oder ge¬
richtlichen Zusprechung erhält das Kind auch
ein, wenn auch beschränktes Erbrecht gegen¬
über der väterlichen Verwandtschaft. Ani dem
außerehelichen Kinde auch die Absolvierung
einer rechten Berufslehre zu erleichtern, wird
die Alimentationspflicht des außerehelichen
Vaters künftig bis zum achtzehnten Altersjahr
des Kindes festgesetzt. Andern sich später die
Verhältnisse des außerehelichen Vaters, so kann
der Richter die Höhe des Beitrages nach¬
träglich abändern. Gelangt der Vater also
nachträglich zu größerem Einkommen und Ver¬
mögen, während ihm zur Zeit der Vater¬
schaftsklage nur eine bescheidene Existenz be-
schieden war, so ist auf Klage des Kindes der
Alimentationsbeitrag den Verhältnissen des
Vaters entsprechend zu erhöhen I"
Bedenkt man, daß unser bürgerliches Gesetz¬
buch den Alimentationsbeitrag nicht nach dem
sozialen Stand des außerehelichen Vaters,
sondern höchst unsozial und höchst klassenjustiz¬
mäßig nach dem Stand der Mutter festsetzt
und dadurch den Makel der unehelichen Geburt
gesetzlich sanktioniert, erwägt man ferner, daß
die Säuglingssterblichkeit unter den unehelich
geborenen Kindern in Deutschland fast doppelt
so groß ist wie unter den ehelich geborenen
Kindern, zieht man ferner in Betracht, daß
die Zahl der Heeresuntauglichen unter den
unehelich Geborenen unverhältnismäßig groß
ist, stellt man endlich in Rechnung, daß trotz
dieser Dozimierung der unehelich Geborenen
die Zahl der unehelich geborenen prostituierten
Dirnen und der unehelich geborenen jungen
und alten Verbrecher im Verhältnis immer
noch eine sehr große ist, so wird man dem
Verfasser, der als Zivilgerichtspräsident in
Basel deutsche, schweizerische und französische
Verhältnisse als Praktiker überschaut, danken
müssen, daß er durch diese seine vergleichende
Rechtsstudie den sozialen Fortschritt vorbildlich
dort aufweist, wo er zu suchen und wo er
am nötigsten ist. Die soziale Fürsorge der
deutschen Rechtsgesetzgebung für die unehelich
geborenen Glieder unseres Volkes ist einer
der wundesten Punkte unseres Volkskörpers.
Während der Stille der parlamentarischen Osterferien sind wieder eine
Reihe von Geschehnissen zu verzeichnen gewesen, deren Erscheinen nicht geeignet
ist, gutes Wetter für die nächste Entwicklung der Reichspolitik zu künden: der
bayerische Jesuitenerlaß, ein viel beachteter Angriff des freisinnigen Abgeordneten
Haußmann auf die Wehrvorlagen, ein angeblich in Italien gesprochenes
Kaiserwort, das das nationale Empfinden jedes Deutschen tief verletzen wüßte,
das alles sind Erscheinungen, neben denen ein Lichtblick, wie etwa die am
Freitag, den 12. April vollzogene Gründung einer Gesellschaft für innere
Kolonisation, kaum nachhaltiger wirkt als ein Sonnenstrahl im heurigen April.
Erinnert man sich neben diesem allem noch der völligen Tatenlosigkeit der
Reichsregierung sowie der Treibereien gerade gegen die tüchtigsten von unseren
Reichsbeamten, so möchten einem die Hände schlaff in den Schoß sinken, und man
möchte weit fort eilen aus dieseni jämmerlich zerrissenen deutschen Vaterlande.
Was jeden nachdenklichen mit tiefster Sorge erfüllen muß, das ist der
ungeheure Gegensatz zwischen dem Tatendrang der Nation aus allen wirt¬
schaftlichen und damit zusammenhängenden Gebieten und der gleichzeitigen
fast völligen Apathie ethischen Aufgaben gegenüber. Man nehme den Kampf
innerhalb der nationalliberalen Partei. Aus der ganzen Flut von
Aufsätzen, die von den Nationalliberalen in der nationalliberalen Presse ver¬
öffentlicht wurden, sind meines Wissens nur zwei, die sich auf einen das gesamte
Kampfgebiet beleuchtenden Standpunkt stellen: vor einigen Wochen eine Aus¬
lassung der Kölnischen Zeitung und kürzlich eine Darlegung des Regierungs¬
rath Poensgen. Das sind Ausführungen, die es verstehen, sich von rein
taktischen Gesichtspunkten loszulösen, die zeigen, wo die Gefahr liegt, aber auch
nachweisen, wo die einigende Basis für die einander bekämpfenden Richtungen
zu finden ist. Alle anderen Aufsätze konnten ebenso gut von Freisinnigen oder
.Konservativen oder Landbündlern, Hansabündlern oder Jndustriebündlern und
Mitgliedern des Zentralverbandes deutscher Industrieller geschrieben sein: von
dem großen Ideal, das die nationalliberale Partei einst zusammenführte und
sie zur ausschlaggebenden im Reich erhob, davon scheinen nur wenige noch
etwas zu wissen. Was den Fernerstehenden sich als ein Kauf zwischen Jung-
und Altliberalen darstellt, bei dem die Alten Hüter der guten Tradition scheinen,
das ist in Wirklichkeit das Ringen des deutschen Einheitsgedankens gegen das
Vordrängen der partikularen Bestrebungen der wirtschaftlichen Organisationen.
Die nationalliberale Partei hat noch die Kraft besessen, und zwar — das muß
ausdrücklich hervorgehoben werden — dank Bassermanns Initiative, sich vom
Einfluß des Bundes der Landwirte zu befreien, nun wird sie zeigen müssen,
ob sie noch genügend stark ist, sich auch von andern wirtschaftlichen Verbänden
so unabhängig zu halten, daß sie trotz einer den Bedürfnissen der ein¬
zelnen Gewerbe Rechnung tragenden Wirtschaftspolitik auch nationale Politik
im Sinne Bismarcks und Benningsens zu treiben vermag. Dazu aber wird
sie der Mitwirkung derjenigen Kreise bedürfen, von denen Poensgen zutreffend
sagt: „Sie lassen sich noch nicht so sehr von wirtschaftlichen und persönlichen
Interessen leiten und pflegen bei ihrer politischen Tätigkeit mehr den Idealismus
gelten zu lassen."
Mancher meiner Leser wird in diesen Worten tadelnd eine weitgehende Kon¬
zession an den Demos finden. In der Tat liegt in ihnen eine Berücksichtigung
der Masse, eine Anerkennung der Macht der Zahl, aber durchaus keine Abkehr vom
aristokratischen Prinzip. Denn in ihnen liegt noch etwas mehr: nämlich
die Anerkennung eines durch die Reichsverfassung festgelegten Zustandes.
Im Lande des allgemeinen und gleichen Wahlrechts mit direkter und geheimer
Stimmabgabe ist die Macht der größeren Zahl gewissermaßen verfassungsmäßig
garantiert, und wir können sie zum Nutzen des Staatsganzen, wie wir ihn
verstehen, nur gebrauchen, wenn wir die Massen, das ist eben die „größere"
Zahl, mit unseren Ideen erfüllen. Das Postulat von der Autorität, das sich
auf ererbte Rechte oder Standesvorzüge stützt, hat in unserem kritischen Zeit¬
alter weder im politischen noch im gesellschaftlichen Leben eine tiefer gehende
Bedeutung. Heute gilt, was greifbar nützlich erscheint, und eine gewisse
Autorität üben nur diejenigen aus, die ihre Mitmenschen von der Nützlichkeit
und dem Wert von Ideen und Einrichtungen sachlich zu überzeugen vermögen.
Wer sonnt in dem aus dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht hervor¬
gegangenen Reichstag Einfluß gewinnen will, muß sich schon dazu bequemen,
in die Massen zu gehen, in den Massen zu arbeiten und sie hinter sich zu
bringen. Das aber ist nicht möglich durch Propagierung solcher Forderungen,
die wie die Programme der einzelnen Wirtschaftsverbände nur einzelnen Gruppen
auf den Leib zugeschnitten sind, die Interessen der anderen aber mehr oder
minder empfindlich verletzen müssen. Gegenüber solchen Forderungen wird das
organisierte Proletariat stets die Oberhand haben, eben weil es die größere
Zahl darstellt. Die Massen des Mittelstandes und der Arbeiter können
wir nur gleichzeitig gewinnen, indem wir ihnen ein beiden gemeinsames
Ziel und den Weg. es zu erreichen, zeigen. Gelingt es der nationalliberalen
Partei, auf dem bevorstehenden Vertretertage ein solches Ziel klar und deutlich
herauszuarbeiten und die Fraktionen des Reichstages und der Landtage zu
zwingen, freimütig und tapfer diesem Ziel durch ihre Einwirkung auf die Gesetz¬
gebung zuzusteuern, dann muß sich auch wieder das Maß von Vertrauen für
die Partei im Laude ansammeln, das notwendig ist, um Wahlschlachten siegreich
gegen den roten und schwarzen Internationalismus, gegen Sozialdemokraten
und Ultramontane, schlagen zu tourner. Eine Partei, die lediglich eine Ver¬
einigung von Wirtschaftsinteressenten wäre, verdiente bei aller Bedeutung der
Wirtschaft für das nationale Leben den Namen der nationalliberalen Partei
nicht.» »
Wie nötig die Nation es hat, sich auf die Grundsätze des Reichsbestandes
zu besinnen, damit das Reich nicht in Gefahr geriete, lehren uns von neuem
die Vorgänge in Bayern. Es wurde an dieser Stelle schon darauf hingewiesen,
mit welcher zielbewußter Frische der greise Freiherr von Hertling zum Staats¬
steuer griff. Nun hat er mit seinem Jesuitenerlaß der Regierungsmethode
in Bayern den Stempel der Zentrumsherrschaft aufgedrückt.
Es handelt sich um folgendes: Die ausländischen Jesuiten, die erst im
Jahre 1848 in das Gebiet des heutigen Deutschen Reichs einwanderten, wurden
durch das Reichsgesetz vom 4. Juli 1872, das sogenannte Jesuitengesetz, wieder
daraus verwiesen, die einheimischen aber unter Polizeiaufsicht gestellt und ihnen die
Ordenstätigkeit verboten. Gegen dies Gesetz, insbesondere gegen seinen
Paragraphen 2 ist seitens des Zentrums wiederholt Sturm gelaufen worden.
Zuletzt, am 1. Februar 1899, wurde mit Hilfe der Sozialdemokraten seitens des
Reichstages ein Gesetzentwurf angenommen, wodurch der Z 2 aufgehoben,
d. h. wodurch ausländischen Jesuiten wieder erlaubt wurde, das Reichsgebiet
zu betreten; der Bundesrat stimmte, nachdem Preußen seine Anschauungen
gewechselt hatte, einem entsprechenden Entwurf am 8. März 1904 zu. Damals
wurden nun die preußischen Oberpräsidenten angewiesen, das Gesetz in einem
„milden und versöhnlichen Sinne" auszulegen, freilich mit der Einschränkung,
„daß durch das Gesetz vom 8. März 1904 nur § 2 des Gesetzes vom 4. Juli 1872,
d. h. die Befugnis zur Reichsverweisung ausländischer und zur Internierung
inländischer Jesuiten aufgehoben, im übrigen aber das Gesetz, insbesondere Z 1,
formell und materiell unberührt geblieben sei. Gemäß dem zur Ausführung
dieses Gesetzes ergangenen Bundesratsbeschlusse vom S.Juli 1872 sei den
Jesuiten nach wie vor die Ausübung einer Ordenstätigkeit, sowie die Abhaltung
von Missionen untersagt. Als Ausübung der Ordenstätigkeit sei anzusehen
jede priesterliche und seelsorgerische Tätigkeit, insbesondere Predigt, Beichte,
Absolution, Messe und Sakramentsverwaltung. nachgelassen sei den Jesuiten
lediglich die sogenannte mi88a solitarm, das Lesen von Primizmessen, soweit
dabei der Charakter eines Familienfestes gewahrt bleibe, das Lesen stiller
Messen, sowie die Austeilung der Sterbesakramente. Als verbotene Ordens¬
tätigkeit sei weiterhin, entsprechend der Entscheidung des Oberverwaltungs¬
gerichts vom 8. Mai 1900, auch das Halten von religiös-wissenschaftlichen
Vorträgen durch Jesuiten anzusehen. Unter die hiernach verbotene Ordens¬
tätigkeit fallen selbstverständlich auch die sogenannten Konferenzvorträge und
alle priesterlichen Handlungen, die zum Zweck vorübergehender Aushilfe in der
Seelsorge vorgenommen werden. In Preußen ist stets daran festgehalten, daß
zwischen der Ordenstätigkeit der Jesuiten und anderen priesterlichen Funktionen
derselben ein Unterschied nicht zu machen sei."
Die Ultramontanen haben natürlich nicht gezögert, die liberale Auffassung
der Regierungen nach Kräften auszunutzen, und sie gingen in Bayern schließlich
soweit, daß der durchaus zentrumsfreundliche Kultusminister von Wehner
sich im August 1911 veranlaßt sah, einen Erlaß an die Kreisregierung von
Oberbayern zu richten, der dem gefährlichen Treiben der Jesuiten Einhalt
gebieten sollte. In diesem Erlaß wurde „in Übereinstimmung mit der Praxis
der übrigen größeren Bundesstaaten" daraus hingewiesen, „daß lediglich das
Lesen einer stillen Messe oder die Abhaltung von wissenschaftlichen oder religiösen
Vorträgen außerhalb kirchlicher Räume als erlaubt anzusehen sind, daß also —
von Notfällen abgesehen — jede seelsorgerische Tätigkeit, namentlich auch die
Abhaltung von Exerzitien und die Übernahme religiöser Vorträge in der Kirche,
in das Gebiet der verbotenen Ordenstätigkeit falle."
Gegen Ende des Jahres 1911, nach der Kammerauflösung, wurde der
Erlaß durch die Zentrumspresse weiteren Kreisen bekannt gegeben und als ein
Angriff auf die katholische Kirche zur Wahlagitation ausgenutzt. Soweit war
alles in Ordnung, bis Ende März dieses Jahres plötzlich ein neuer vom
Minister des Innern und Kultusminister gezeichneter Erlaß bekannt wurde, der,
zur vertraulichen Mitteilung an die Pfarrämter bestimmt, an die Kreisregierungen
gerichtet war. Dieser Erlaß hebt nicht nur die Erinnerungen Wehners auf,
sondern gibt den Behörden die Wege an, auf denen das Neichsgesetz am
leichtesten umgangen werden könnte!
Man muß schon mit den Feinheiten der einschlägigen Gesetzgebung und der
dazugehörigen Terminologie sehr eingehend vertraut sein, um die ganze Be¬
deutung des Erlasses ermessen zu können. In der Frankfurter Zeitung
schreibt ein Kundiger:
Nach demi neuen Erlas; sollen unter die verbotene Ordenstätigkeit nicht mehr die
sogenannten Konferenzen mit Vorträgen und Sakramentsspendungen sollen, sondern nur noch
die wirklichen Missionen. Der Unterschied zwischen Konferenzen und Missionen besteht darin,
daß unter Konferenzen religiöse Vorträge spezieller Tendenz, beispielsweise apologetischen und
ethischen Inhalts, verstanden werden, unter Misstonen dagegen eine Reihe von Vorträgen,
die nach dem Schema der Ererzitien des Ignatius von Loyola aufgebaut sind und die
religiöse Bekehrung im allgemeinen zur Aufgabe haben. Der Unterschied zwischen beiden
Veranstaltungen liegt lediglich im Stoff der Vortrüge, nicht aber in der Form der Ver¬
anstaltungen, die gleicherweise in der Kirche stattfinden. Als solche sind sie aber nach der noch
in Geltung befindlichen Bundesratsverfügnng vom 5, Juli 1372, die ganz allgemein den
Angehörigen des Jesuitenordens die Ausübung einer Ordenstätigkeit, insbesondere „in Kirche
und Schule" verbietet, untersagt. Der neueste Erlaß der bayerischen Regierung gestattet aber
die sogenannten Konferenzen auch in kirchlichen Räumen, auch wenn mit ihnen „Gelegenheit
zum Empfang der Sakramente" verbunden wird, und er setzt sich damit in Widerspruch zu
der Bundesratsverfügung und zu dem Gesetze selbst. Hier liegt das sehr Bedenkliche des
bayerischen Vorgehens. Auf dem Wege einer besonderen bayerischen Interpretation des
Gesetzes wird der Versuch unternommen, ein bestehendes Reichsgesetz unwirksam zu machen.
Der Vorgang, der sich letzthin in der Pfarrkirche des Stadtbezirks Haidhausen abgespielt hat,
ist bezeichnend dasür. Danach hatte das Stadtpfarramt bekanntgegeben, daß in der
Hciidhauser Pfarrkirche in der Zeit vom PaffionSsonntag bis Palmsonntag „eine heilige
Mission" stattfinden sollte, bei der der Jesuitenpater Prof. Franz Xaver Hayler sämtliche
Predigten halten sollte. Nachdem öffentlich auf die Verletzung des Reichsgesetzes hin¬
gewiesen wurde, ersetzte man durch Werkleben der Bekanntmachung die Worte „heilige
Mission" durch „heilige Exerzitien", der Inhalt der Veranstaltung blieb aber der gleiche.
Der Vorgang zeigt, daß es sich nur um zwei verschiedene Bezeichnungen für eine und
dieselbe Sache handelt. Wie in Haidhausen die Bekanntmachung überklebt wurde, so über¬
klebt der neue bayerische Jesuitenerlasz die bisherige Praxis und die sinngemäße Inter¬
pretation des geltenden Rechts, Die Form wird gewahrt, indem die Missionen, zum Unter¬
schied von den Konferenzen, als nach wie vor verboten bezeichnet werden, dn aber beide sich
kaum von einander unterscheiden, so bedeutet in Wirklichkeit die Zulassung der Konferenzen
die Aufhebung des ganzen Verbots.
Die eben wiedergegebenen Auffassungen stimmen mit dem überein, was
auch in der Kreuzzeitung wie in der sonstigen konservativen Presse mit alleiniger
Ausnahme der Deutschen Tageszeitung über den Erlaß ausgeführt wird, und
gerade bei den Konservativen empfindet man das Vorgehen der bayerischen
Regierung besonders unangenehm, wo so viele Köpfe und Beine an der Arbeit
sind, die nationalliberale Partei auf die Seite der schwarzblauen hinüber¬
zuziehen.
Der Herr Reichskanzler scheint nicht gewillt zu sein, den Angriff
Bayerns auf die Reichsgesetzgebung, über deren Durchführung gemäß Artikel 17
der Reichsverfassung der Kaiser zu wachen hat, zu dulden. Wenigstens finden
wir in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung (Ur. 80) folgenden hoffnung¬
weckenden Satz:
„Nach Mitteilungen der Presse hat die bayerische Regierung neuerlich Bestimmungen
über die Handhabung des K 1 des Jcsuitengesetzes erlassen. In einem Teil der Presse wird
daran die Behauptung geknüpft, daß diese Bestimmungen mit dem Sinn des Reichsgesetzes
und der dazu ergangenen Beschlüsse des Bundesrath in Widerspruch ständen. Ob das der
Fall ist oder nicht, wird Gegenstand der Prüfung für diejenige Stelle sein müssen, welche
verfassungsmäßig zur Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze berufen ist."
Sollte der Kanzler den Entschluß zu einem energischen Handeln finden,
so kann er sich darauf verlassen, daß die gesamte nichtultramontane Presse
hinter ihm stehen wird. Denn über die Schädlichkeit der Jesuiten stimmen
heute wohl die Ansichten der meisten mit dem überein, was Papst Clemens
der Vierzehnte über sie sagte. Der Leser findet darüber näheres auf Seite 109
dieses Heftes in dem Aufsatz „Aus der Geschichte des Jesuitenordens".
Für uns heißt es einstweilen abwarten. Die Regierung aber wird, gleich¬
gültig ob Bayern sich fügt oder nicht, gegenüber dem Zentrum in eine
schiefe Lage kommen und bei den Zentrumswählern an Vertrauen einbüßen.
Und es scheint fast, als wäre dies der tiefere Sinn des ganzen Spiels: der
bayerische Jesuitenerlaß ist ein Angriff nicht nur auf die Autorität der Reichs¬
regierung, sondern auch auf den konfessionellen Frieden. Herr von Bethmann
hat von Anfang an den Fehler begangen, daß er sich offen dazu bekannte,
ohne das Zentrum keine Politik treiben zu wollen. Jetzt setzt diese rücksichts¬
loseste aller Parteien seinen guten Willen einer Belastungsprobe aus, um fest¬
zustellen, wie weit sie ohne Risiko gehen könnte. Es wurde darauf schon in
Heft 13 Seite 636 hingewiesen. Dieser letzte Streich war besonders genial: gelang
es unbemerkt, die Jesuiten wieder in das deutsche Reichsgebiet einzuschmuggeln,
so würde es schwer halten, sie daraus zu entfernen; widersetzt sich der Kanzler, —
auch gut! Dann mögen die Kulturkampfposaunen tönen, und zwar solange,
bis die Reichsregierung an irgendeiner Stelle, die wichtig genug erscheint,
zum Loskauf schreitet. Vielleicht lassen sich dadurch auch die inneren Schwierig¬
keiten im Zentrum überwinden!
Das ist nun innerhalb weniger Wochen der zweite empfindliche Hieb, den
Herr von Bethmann von den Bundesgenossen erhält, mit denen er die Sozial¬
demokratie bekämpfen will! Der erste war die Ablehnung der Ostmarkenzulage
d
Die Erwartungen, mit denen man dem Quartalswechsel in Hoffnung auf
eine durchgreifende Besserung der Geldverhältnisse entgegengesehen hat, sind
leider nur in recht beschränktem Maße in Erfüllung gegangen. Wohl trat in
den ersten Tagen des April die übliche Erleichterung der übergroßen Anspannung
ein: der Privatdiskont, der sich fast auf der vollen Höhe der Bankrate gehalten
hatte, sank um mehr als ein volles Prozent, und am offenen Geldmarkt drückte
reichliches Angebot die Zinssätze noch stärker herab. Aber eine wahre Geld¬
flüssigkeit wollte sich nicht einstellen. Einen klaren Beweis für die gespannte
Situation des Geldmarktes lieferte der Reichsbankausweis für die erste
Aprilwoche, insbesondere wenn man seine Ziffern mit denen der Vorjahre ver¬
gleicht. Der Rückfluß erscheint danach zögernd und unbefriedigend. Am
Quartalsschluß war die Bank zwar nicht in dem befürchteten Maße in Anspruch
genommen worden: man hatte, durch die Erscheinungen am Geldmarkt belehrt,
beizeiten Vorsorge getroffen und sich gehütet, die Deckung der Bedürfnisse auf
den letzten Augenblick zu verschieben. Daher hatte sich der Steuerpflichtige Noten¬
umlauf der Reichsbank Ende März nur auf etwa 150 Millionen gestellt
und nicht den Umfang der vorjährigen Inanspruchnahme erreicht. Nach der
ersten Woche aber ergab sich die eigentümliche, bisher wohl noch niemals ver¬
zeichnete Tatsache, daß der Steuerpflichtige Notenumlauf um reichlich vierzig
Millionen zugenommen hatte! Der Rückfluß war hinter der Verminderung des
steuerfreien Kontingents zurückgeblieben. So präsentiert sich der Status, gemessen
am steuerpflichtigen Notenumlauf, schlechter als der vorangegangene, der doch
ein Bild der Quartalsanspannung bot. Es ist dies natürlich lediglich eine
Folge der Erhöhung des steuerfreien Kontingents an den Quartalstermmen.
einer Neuerung der letzten Bankgesetznovelle, deren recht zweifelhafter Wert durch
dieses Ergebnis in deutliches Licht gerückt wird. Diese Erhöhung des Kontingents
von 500 auf 750 Millionen ist, genau betrachtet, nur eine Maske. Sie dient
nur dem Zwecke, den steuerpflichtigen Umlauf geringer erscheinen zu lassen, als
er normaler Weise sein würde. Der Status der Bank an den kritischen Ter¬
minen wird künstlich verschönt — denn die Öffentlichkeit beurteilt denselben
kurzweg nach der Höhe des steuerpflichtigen Umlaufs. Das ist natürlich an sich
nicht richtig, denn die Festsetzung des Kontingents ist eine willkürliche. Aber
man hat sie doch getroffen und trotz aller Einwürfe festgehalten, um der Außen¬
welt eine leichtfaßliche Handhabe zur Beurteilung des Status zu geben. Dieser
Absicht wirkt die plötzliche Steigerung des Kontingents für einen Ausweistag
direkt entgegen — sie verschiebt die Vergleichsziffern völlig und ist geeignet, die
Öffentlichkeit irre zu führen. Die Kehrseite zeigt sich nunmehr in dem vor»
liegenden Ausweis. Erscheint der vorangegangene besser als er ist, so ist dieser
besser als er scheint.
Immerhin, der Geldmarkt spiegelt deutlich diestarkenKapitalsinvestitionen
wieder, die bis in die jüngste Zeit hinein stattgefunden haben. Für die
Höhe derselben liegen jetzt auch statistische Nachweise vor. Im ersten Quartal
des laufenden Jahres sind die Neugründungen und Kapitalserhöhungen bei den
Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung aus den normalen
Betrag von 430 Millionen Mark angewachsen. Das sind über 100 Millionen
mehr als im Vorjahre und etwa 33 Millionen mehr als im Hochkonjnnktur-
jahre 1907. Dabei ist wohl zu beachten, daß diese Ziffer sich nur auf das
Gesellschaftskapital bezieht und die sehr beträchtlichen Summen, die im
Wege der Obligationsanleihen für industrielle Zwecke aufgebracht worden
sind, nicht mit enthält. Der Kapitalbedarf der Aktiengesellschaften war mithin
ein außerordentlich hoher. Der Löwenanteil fällt auf die Banken, die Metall-
nnd Maschinen- sowie die Elektrizitätsindustrie. Es kann somit kaum mehr
ein Zweifel darüber herrschen, daß die allgemeinen Verhältnisse denen der letzten
Hochkonjunkturperiode immer ähnlicher werden. Nur insofern besteht ein offen¬
sichtlicher Unterschied, als damals Amerika die Führung hatte, während augen¬
blicklich die wirtschaftliche Entwicklung in den Vereinigten Staaten sich mit der
in Teutschland nicht messen kann. Der Zusammenbruch des Jahres 1907 hat
Amerika so tiefe Wunden geschlagen, daß deren Ausheilung heute noch nicht
erfolgt ist. Daher die auffällige Stagnation im Wirtschaftsleben der Vereinigten
Staaten, welche durch die politischen Kämpfe gegen die Herrschaft der Trusts
noch verstärkt wurde. Das Vorgehen der Regierung gegen die Finanzmagnaten,
die Auflösung der Standard Oil Company und des Tabaktrusts, die Unter¬
suchung gegen deu Skeet- und den sogenannten Geldtruhe haben eine abschreckende
Wirkung auf die Unternehmungslust ausgeübt und eine Zurückhaltung herbei¬
geführt, die gar nicht amerikanisch anmutet. Erst in allerjüngster Zeit macheu
sich deutliche Zeichen einer Besserung bemerkbar. Untrüglich läßt sich das an
dem Wiedererwachen der New-Iorker Börse verfolgen. Mit den steigenden
Kursen ist, wie die täglichen Umsätze zeigen, neues Leben in Wall Street ein¬
gekehrt, und mit der gewohnten Energie und dem starken Optimismus des
Amerikaners wird man drüben unzweifelhaft alle Kräfte anspannen, um den
Vorsprung gegen die Rivalen auf dem Weltmarkte wieder zu vergrößern. Es
ist nämlich geradezu auffallend, wie die Entwicklungslinie des Wirtschaftslebens
in Amerika und Deutschland während der letzten vier Jahre verschieden verläuft:
hier in scharf ansteigender, dort in abwärts gerichteter Kurve. Nach einer
jüngst veröffentlichten Statistik hat während dieses Zeitraumes beispielsweise die
Roheisenerzeugung Deutschlands uni 19 Prozent zu-, die Amerikas um 10 Prozent
abgenommen. Dementsprechend ist die Arbeiterzahl in den deutschen montan¬
industriellen Betrieben gewachsen, in den amerikanischen zurückgegangen. Noch
auffallender ist der Unterschied in der Entwicklung der Elektrizitätsindustrie, die
in Deutschland, begünstigt durch die Leistungsfähigkeit der großen Konzerne der
A. E. G. und Siemers - Schuckert, ein phänomenales Wachstum zeigt. Die
Eisenbahneinnahmen haben sich prozentual während dieser Zeit fast doppelt so
rasch vermehrt als in Amerika, und die gleiche Erscheinung läßt sich schließlich
im Geld- und Kreditwesen wie im Börsenverkehr verfolgen. In Deutschland
überall eine Steigerung von gewaltigem Umfang, in Amerika ein mehr oder
weniger scharf ausgeprägter Rückgang. Diese Signatur des amerikanischen
Wirtschaftslebens macht es auch erklärlich, daß New Uork, das sonst ein oft
unbequemer Kostgänger der europäischen Geldmärkte gewesen ist, jetzt als Geld¬
geber auftritt und mit seinein Überfluß unserem Mangel abhilft. Indessen
dürfte hier bald ein Nollenwechsel eintreten, sobald die Lebhaftigkeit des Ge¬
schäftes in Amerika nur einige Zeit anhält.
Die Vorboten zeigen sich bereits: Die starken Surplusreserven der New
Uorker Charinghouse-Benken, die noch Anfang Februar etwa 50 Millionen
Dollar betrugen, sind bis auf einen kargen Nest aufgezehrt, und die Zeit ist
wohl nicht mehr fern, wo an Stelle des Surplus ein beträchtliches Minus
erscheint. Dann werden die amerikanischen Guthaben in Deutschland verschwinden,
und die europäischen Zentralbauten werden darauf Bedacht nehmen müssen, sich
gegen die transatlantischen Kreditansprüche zu wappnen. Unser Geldmarkt wird
also in absehbarer Zeit einer neuen Belastungsprobe ausgesetzt sein, denn die
Summe der amerikanischen Guthaben ist mit 400 Millionen Mark wohl kaum
zu hoch beziffert. Das Manko zu decken, ist nicht leicht, und es begreift sich,
daß die fernere Entwicklung sorgenvolle Betrachtungen hervorruft. Diese sind
um so mehr gerechtfertigt, als die Ansprüche der Börse wieder im Wachsen
begriffen sind. Die allgemeine Situation begünstigt trotz aller Geldsorgen eine
spekulative Aufwärtsbewegung. Mit Vernunftgründen ist dem einmal entfachten
Spekulationsfieber nicht beizukommen, und ob die Banken geneigt und imstande
sein werden, durch Regressiv maßregeln abzuhelfen, ist sehr zweifelhaft. Ist doch
das Verlangen der Reichsbank nach einer kräftigen Erhöhung der Einschüsse bei
spekulativen Engagements gerade der Punkt gewesen, über den sich eine Einigung
im Kreise der Banken nicht hat erzielen lassen.
Die deutsche Schiffahrtsindustrie beschäftigen Aufsehen erregende
Projekte. Anscheinend hat der Fürstentrust sich durch seine Mißerfolge auf
anderen Gebieten nicht abschrecken lassen und plant die Errichtung einer neuen
Auswandererlinie Emden-New Uork als eine Konkurrenz gegen die Hamburg-
Amerikalinie und den Norddeutschen Lloyd. Dadurch fällt nachträglich Licht auf
den kürzlichen Austritt der Hamburgischen Schiffahrtsinteressenten aus dem
Aufsichtsrat der Levantelinie. An dem Projekt ist noch vieles in Dunkel gehüllt.
Denn ein solches Unternehmen würde die Aufbringung erheblicher Kapitalien
notwendig machen und von vornherein, wenn im Gegensatz zu den hanseatischen
Gesellschaften errichtet, mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, es sei
denn, daß es gelänge, ihm irgendwelche Sonderoorteile seitens der Regierung
zu sichern. Auf ein Hand-in-Hand-gehen mit der letzteren scheint in der Tat
der Plan angelegt zu sein, wenn sich zurzeit auch nicht erraten läßt, welche
Begünstigung man dabei in Rechnung stellt. Daß es aber anscheinend Ernst
ist, ergibt sich daraus, daß der norddeutsche Lloyd sich bereits auf den bevor¬
stehenden Konkurrenzkampf rüstet. Er hat, nachdem er jahrelang sich in seiner
Bautätigkeit die größte Reserve auferlegt hatte, ein neues großes Auswanderer¬
schiff der Schichauwerft in Auftrag gegeben. Man wird daher die weitere
Entwicklung dieser für die deutschen Schiffahrtsinteressen bedeutungsvollen
A
Lerantwortliche Schriftleiter! für den politischen Teil der Herausgeber George Tleinow in Schöneberg, für
den ltterarischen Teil und die Redaktion Heinz Amelung in Wilmersdorf, — Manustriptsendungen und Brief«
werden erbeten unter der Adresse:
«» den Herausgeber der Grcnzbotc» in Friedenau bei Berlin, Hcbwigstr. 1».
Fernsprecher der Schristl-itung: Amt Pfalzburg 5718. des Verlags: Amt Lützow «610.
»erlag- Verlag der Grenzboten B, in. b. H. in Berlin SV. 11.
Druck: „Der R-ichSbote" B. in. b. H. in Berlin SV. II, Dessauer Straße SS/S7.
le Mehrheit des Zentralvorstandes der nationalliberalen Partei
hat einem Antrage zugestimmt, der die alte, unserm öffentlichen
Leben unentbehrliche Partei zu sprengen droht. Der Antrag
enthält das Wort „jungliberal" nicht, spricht überhaupt nicht von
der „nationalliberalen Jugend"; aber in allen beteiligten Kreisen
ist es unstreitig, daß der unmittelbare Zweck des Antrages dahin geht, den
„Reichsverband der Vereine der nationalliberalen Jugend" zur Auflösung zu
bringen. Wir wollen in diesen Ausführungen nicht darauf eingehen, wie es
kommt, daß dieser Antrag trotz seines rein organisatorischen Anscheins so tiefe
Wirkungen haben kann — die Tagespresse hat genügend darüber berichtet —,
uns liegt nur daran, den Lesern dieser Zeitschrift die Verhältnisse der einzig¬
artigen Organisation zu erläutern, um die der Streit entbrannt ist.
Die Wiege der Bewegung stand im Rheinland. Bei den Reichstagswahlen
des Jahres 1898 war die nationalliberale Fraktion von dreiundfünfzig auf acht¬
undvierzig zurückgegangen. Überall wurde beobachtet, daß es nicht gelang, die
Jugend für die alten Ideale der Partei zu begeistern, daß selbst in den Familien,
in denen die Zugehörigkeit zur Partei Tradition war, die jungen Leute den
Organisationen fern blieben. Die Partei der Geheimräte und Kommerzienräte,
wie sie damals wohl genannt wurde, hatte ihre Werbekraft in der jungen
Generation verloren. Und so entstand, zunächst in Köln, der Gedanke, die
Jugend in sich zu organisieren; man meinte, dort wo die Jungen sich scheu
von den Versammlungen der Alten zurückhielten, sie gern unter sich ihre An¬
sichten austauschen und auf diese Weise zu politischer Tätigkeit im Dienste der
Partei erzogen werden würden. So wurde unter der Leitung des Professors
Dr. Moldenhauer, eines Mitgliedes des Zentralvorstandes der nationalliberalen
Partei, eines idealgesonnenen und begeisterungsfähigen Mannes, am 23. Januar
1899 ein Verein der nationalliberalen Jugend zu Köln mit nur sechsunddreißig
Mitgliedern begründet, der zwei Jahre darauf schon über eintausend Mitglieder
zählte. In rascher Folge wurden dann, zunächst im Rheinland und in der
Pfalz, weitere Vereine begründet. Am 21. Oktober 1900 schlössen sich davon
neun mit zweitausendfünfhundertzwanzig Mitgliedern zu einem Verbände, dem
Reichsverbande der nationalliberalen Jugend, zusammen. Dies war für die
Bewegung von der größten Bedeutung. Im Süden und Westen Deutsch¬
lands — weniger im Osten — entstanden eine große Anzahl immer neuer
Vereine, so daß bereits 1908 die Zahl Hundert überschritten war.
Das Verhältnis des Neichsverbandes zur Gesamtpartei war zunächst
organisatorisch nicht umgrenzt. Als dann — unter beträchtlicher Mitarbeit der
Jungliberalen — im Jahre 1905 sich die Partei ein neues Statut gab, erschien
es angebracht, die Rechte und Pflichten der „Jungen" darin unzweideutig fest¬
zulegen. So setzte man sest, daß die Organisation der Partei auch „die beson¬
deren der Vertretung nationalliberaler Grundsätze gewidmeten Verbände"
(Arbeiter-, Jugendvereine usw.) mit ihren Verbänden umfasse, man gab diesen
Vereinen und Verbänden das Recht, für je fünfhundert Mitglieder einen Ver¬
treter zum Parteitag, für je dreitausend Mitglieder einen Vertreter in den
Zentralvorstand zu entsenden. Organisatorisch wurden also der Jugendbewegung
keine besonderen Rechte eingeräumt; tatsächlich aber nimmt sie eine Ausnahme¬
stellung ein, denn außer den jungliberalen Vereinen sind bisher keine Sonder¬
vereine entstanden, die das Recht eigener Vertretung auf dem Parteitage oder
im Zentralvorstande verlangen könnten.
Prüfen wir, welches die eigenartigen Kriterien dieser Jugendorganisation
sind, so fallen vorzüglich drei Punkte ins Auge:
Die Zugehörigkeit zur nationalliberalen Partei war durch die Entstehungs¬
geschichte gegeben. Der Gedanke ging von einem altbewährten rheinischen Vor¬
kämpfer der Partei aus; die Begründer der ersten Vereine entstammten Familien,
in denen man stets nationalliberal gewesen war. Rudolf von Bennigsen machte
aus seinen Sympathien für die Jugendbewegung keinen Hehl. Der damalige
Vorsitzende des Zentralvorstandes der Partei, l)r. Hannacher, richtete gelegentlich
der Gründung des Reichsverbandes an den Kölner Jugendverein ein Schreiben,
in welchem er zum Ausdruck brachte, „daß die gesamte Partei mit lebhaftem
Gefühl des Dankes für diese patriotische Bemühung unserer jüngeren Freunde
im Westen und Südwesten des Reiches durchdrungen ist". Hieran konnte auch
der Umstand nichts ändern, daß zuerst im Süden, später auch im Norden, viele
Vereine die Worte „nationalliberale Jugend" aus ihren Firmen strichen und sie
durch den kürzeren Ausdruck „jungliberal" ersetzten. Diese Namensänderung
sollte keine Abweichung von der bisher eingehaltenen politischen Richtung an¬
deuten; rein praktische Gründe ließen die Änderung des Namens rätlich
erscheinen.
Von rechts und von links hat man versucht, die Zugehörigkeit der jung-
liberalen Bewegung zur nationalliberalen Partei anzuzweifeln und zu ver¬
dächtigen. Aus eigener Wissenschaft können wir versichern, daß niemals —
auch in den Zeiten, in denen tiefgehende Zwistigkeiten mit der Partei bestanden —
der Gedanke einer Absplitterung von der Partei erwogen worden ist. Das
Bewußtsein der Zusammengehörigkeit hat bei all denen, die berufen waren, sei
es im Reichsverbande, sei es in den einzelnen Vereinen, die Bewegung zu leiten,
jede Mißstimmung überwunden; auch dann, wenn über Einzelfragen gestritten,
wohl auch heiß gekämpft wurde, waren sich alt und jung über die Gesamt¬
richtung der politischen Überzeugung stets einig. Eine einzige betrübliche Aus¬
nahme muß festgestellt werden: die bayerischen Jungliberalen, die unter der
Führung des radikal gesonnener Kaufmanns Hübsch seit langem ihre eigenen
Wege wandelten, zerschnitten 1909 das Tischtuch zwischen sich und dem Neichs-
verbande und suchten und fanden näheren Anschluß am Freisinn, lieferten damit
aber auch den Beweis, daß solche Bestrebungen innerhalb des Neichsverbandes
unzulässig sind.
Auch darüber besteht kein Zweifel, daß die Jungliberalen sich stets inner¬
halb des Parteiprogramms gehalten haben. Ein besonders scharfer Gegner
der Jugendbewegung glaubt in dieser Beziehung ihr vorwerfen zu können, daß
der jungliberale Delegiertentag von Hannover (1906) die „grundsätzliche" Ein¬
führung des Neichstagswahlrechts in den Einzelstaaten gefordert hat, während
der 1908 in Magdeburg beschlossene Aufruf für die preußischen Abgeordneten¬
wahlen erklärt: „Von der Einführung des Neichstagswahlrechts ist abzusehen."
Indessen hat er nicht den Nachweis zu erbringen vermocht, daß auch nach 1908
die preußischen Jungliberalen für eine weitergehende Forderung als die Magde¬
burger Forderungen eingetreten sind, und damit entfällt die Notwendigkeit, auf
die Frage einzugehen, ob und in welchen: Umfange der Magdeburger Beschluß
als ein dauernder Programmpunkt anzusehen ist.
Was der Organisation ihre Eigenart gibt, ist die Altersgrenze. Nur solche
Vereine können sich dem Neichsverbande anschließen, „welche als ordentliche
Mitglieder Personen unter vierzig Jahren führen". Im Parteistatut ist eine
entsprechende Bestimmung nicht enthalten, so daß der Reichsverband in der
Lage ist, die Bestimmung jederzeit aufzuheben. Es ist dies nicht eine Lücke des
Statuts; bei der Beratung auf dem Allgemeinen Delegiertentage in Dresden
wurde gerade vom Neichsverbande der Antrag gestellt, daß nur die ihm
angeschlossenen Vereine als Jugendvereine zur Organisation der Partei zu gehören
hätten; bei der Annahme des Antrages würde die Aufnahme der Altersgrenze
in das Statut die notwendige Folge gewesen sein. Aber die Mehrheit der
Delegierten lehnte den Antrag ab, weil in Baden eine Anzahl von Jugend¬
vereinen entstanden war, die die Altersgrenze nicht eingeführt hatten und die
sich daher dem Reichsverbande nicht anschließen konnten.
Die Altersgrenze beruht auf dem Gedanken, daß die jungliberalen Vereine
nur eine Vorschule der Partei sein und ihre Mitglieder in einem gegebenen
Zeitpunkte an die nationalliberalen Vereine abgeben sollten; sie beruht auf der
ferneren Erwägung, daß Vereine ohne eine derartige Altersgrenze notwendig
zur Bildung einer eigenen Partei hinneigen werden. Es entstehen hieraus für
die Jugendvereine die unerfreulichsten Konsequenzen. Sie sind angewiesen aus
die Arbeit von Leuten, die fast durchweg an dem Aufbau ihres eigenen Lebens
arbeiten und daher verhältnismäßig wenig Zeit und Mittel für eine intensive
politische Tätigkeit aufwenden können. Sie müssen die besten Kenner der
Bewegung selbst und der politischen Verhältnisse fortgesetzt scheiden sehen und
sehen sich häufig ohne zwingende Not des Führers beraubt, für den ein Ersatz
nicht vorhanden ist.
Und doch wird gerade in den Kreisen der nationalliberalcn Jugend mit
großer Entschiedenheit an der Altersgrenze festgehalten. Sie und nur sie
ermöglicht es, den Gedanken durchzuführen, aus dem die ganze Bewegung
entstanden ist, die Jugend dadurch zum politischen Leben heranzuziehen, daß
man sie ihrer eigenen Autonomie überläßt. Die Altersgrenze schützt die Be¬
wegung vor der Verknöcherung, vor dem Klüngeltum, vor der Überschätzung
einzelner Persönlichkeiten. Sie zwingt sie, immer von neuem aus sich heraus
Führer zu erzeugen; sie hält sie in ständiger Verbindung mit der heran¬
wachsenden Generation und deren Empfindungen.
Ausnahmen von der Altersgrenze wurden auf der Vertreterversammlung
in Kaiserslautern für Baden und das rechtsrheinische Bayern gemacht. Ma߬
gebend waren dieselben Gründe, die den Parteitag zur Ablehnung des vor¬
gedachten Antrages des Neichsverbcmdes veranlaßt hatten, nämlich die Rücksicht¬
nahme auf die lokale Eigenart der Vereine in diesen Landesteilen. Praktisch
sind die Anträge kaum geworden. Die Vereine im rechtsrheinischen Bayern
haben sich dem Reichsverbande nicht angeschlossen; in Baden hat sich im Prinzip
die Altersgrenze immer mehr Anerkennung und Geltung verschafft.
Entscheidend für die Beurteilung der Bewegung sind ihre Ziele. Jeder
Verein, der dem Reichsverbande angehört, muß satzungsgemäß „bezwecken, die
Lässigkeit der Jugend gegenüber den Aufgaben des politischen Lebens zu
bekämpfen und seine Mitglieder zur praktischen Arbeit auf dem Boden der
nationalliberalen Grundsätze heranzubilden". Die Vereine sollen politische
Bildungsvereine sein. In die Vereine muß jeder aufgenommen werden, der
auf dem Boden nationalliberaler Grundsätze steht, ohne Rücksicht darauf, ob
seine politische Gesinnung mehr nach rechts oder mehr nach links gerichtet ist.
Es ist also falsch, wenn behauptet wird, die Jugendbewegung stelle eine Organi>
Sallon des linken Flügels der Partei dar.
Freilich, tatsächlich ist der Reichsverband eine feste Stütze der Bassermann-
schen Politik geworden. Die deutsche Jugend dieses Jahrhunderts ist — im
Gegensatze zu der Jugend der achtziger Jahre — im wesentlichen liberal und
demokratisch gesonnen, und so kann es nicht wunder nehmen, daß der liberale
Inhalt des Parteiprogramms von den Jungliberalen mit besonderer Ent¬
schiedenheit betont wurde. Dazu kommt, daß in denjenigen Landesteilen, die
die Stütze des rechten Flügels der Partei darstellen, die Parteiorganisationen
dem Aufkommen der Jugendvereine die allergrößten Schwierigkeiten entgegen¬
stellten. In Schleswig - Holstein gibt es z. B. keinen dem Reichsverbande
angeschlossenen Jugendverein, in Westfalen nur ganz wenige. Entweder ist die
Jugend auch in diesen Landesteilen liberal gesonnen, dann muß das System
der alten Organisationen über kurz oder lang zusammenbrechen — oder sie ist es
nicht; dann wäre es Sache der Landesteile gewesen, ihre Jugend dem Reichs¬
verbande zuzuführen, um auch deren Anschauungen Geltung zu verschaffen.
Die Ziele der Bewegung erkennt man am besten aus den Resolutionen,
die auf ihren Vertretertagen gefaßt worden sind. Zunächst tritt aus ihnen die
Zuverlässigkeit und Lebendigkeit hervor, mit der die Jugend von jeher für die
nationalen Forderungen eingetreten ist. Daß das Deutsche Reich eine kraftvolle
auswärtige Politik zu führen hat, daß Heer und Flotte auf der Höhe ihrer
Aufgaben zu erhalten sind, daß die Kolonien eine Notwendigkeit für unser Volk
darstellen, daß die Polenpolitik mit aller Entschiedenheit weiter zu führen ist,
und daß alle ultramontanen Machtgelüste eine Schädigung unseres Staatslebens
bedeuten, sind für jeden Jungliberalen Selbstverständlichkeiten, die immer und
immer wieder entschiedenen Ausdruck fanden.
Nicht weniger energisch allerdings forderte man eine liberale Politik der
Regierung. Die jungliberalen Resolutionen, die sich mit liberalen Forderungen
befassen, sind von dem Gedanken durchzogen, daß das deutsche Volk durch die
staunenswerte Arbeit, die es in diesen letzten Jahrzehnten unserer Entwicklung
geleistet hat, mündig geworden ist, daß das Deutschland des zwanzigsten Jahr¬
hunderts nicht nach Grundsätzen regiert werden könne, die für den Agrarstaat
Preußen gepaßt haben mögen, daß nur eine wahrhaft liberale Politik die Menge
dazu würde bringen können, sich von den Irrlehren der Sozialdemokratie ab¬
zuwenden. Und in dein Bewußtsein, daß eine liberale Politik nur mit Hilfe
einer starken liberalen Partei durchzuführen sei, haben die Jungliberalen auch
wiederholt darauf hingewiesen, daß ihr Ideal die Einigung aller Liberalen sei.
Dabei sind sie sich ihres Unterschiedes zum Freisinn stets bewußt gewesen; die
starke Betonung der nationalen Forderungen — hierin neigen die Jungliberalen
eher zu den Altdeutschen — ist bereits erwähnt worden; noch 1910 haben sie
sich in Köln bedingungslos zur Schutzzollpolitik bekannt.
Von den liberalen Forderungen ist bereits die grundsätzliche Forderung
der Übertragung des Neichstagswahlrechts auf die Einzelstaaten betont worden.
Hierhin gehören ferner die 1904 in Leipzig beschlossenen Richtlinien für ein
Schulprogramm, in denen man für die Simultanschule und die Beseitigung der
geistlichen Schulaufsicht eintrat; hierhin gehört der Kampf, der 1906 in Hannover
gegen die verkehrsfeindlichen Steuern, insbesondere die Fahrkartensteuer, geführt
wurde.
Aus derselben Gesinnung entspringen die sozialpolitischen Forderungen der
Jungliberalen: Kaufmannsgerichte, paritätische Arbeitskammern, Reform der
Wohnverhältnisse, Lösung der Agrarfrage wurden gefordert und in eingehenden
Debatten und Entschließungen behandelt. National, liberal und sozial wurden
je länger, je mehr die Schlagworte, mit denen die Bewegung ihre Werbe¬
kraft übte.
Und diese Werbekraft war bei weitem größer, als das rein zahlenmäßige
Anwachsen der jungliberalen Organisation ahnen läßt. Der Reichsverband hat
sich niemals als eine Spitze der Partei angesehen; die Diskussionen und Reso¬
lutionen seiner Vertretertage sollen nichts anderes sein als die Diskussionen
und Resolutionen der landschaftlich organisierten Verbände, nur daß das Alter
und nicht der Heimatsstaat oder die Provinz das unterscheidende Kriterium
war. Wenn die jungliberalen Vertretertage einen ungeahnt starken Widerhall
in der Presse und in der öffentlichen Meinung fanden, so mögen die Intelligenz
und die Energie der geistigen Führer der Bewegung hierzu nicht wenig bei¬
getragen haben. Aber das Wesentliche war doch: hier war eine Organisation
entstanden, die offen aussprach, was Tausende und Abertausende von Männern
dachten, die ihrer Gesinnung nach zur nationalliberalen Partei gehörten, und
was — infolge des eigenartigen Aufbaues der Parteiinteressen — doch nirgends
sonst eine weithin schallende Resonanz fand. So kam es, daß die Reichstags¬
wahl von 1903, die erste nach der Begründung des Neichsverbandes, der
Partei ein Mehr von dreihunderttausend Stimmen brachte. So kam es, daß
die Jungliberalen in ihren Kämpfen, sei es mit der Reichstags-, sei es mit
der Landtagsfraktion, niemals allein standen, daß es sich niemals in diesen
vierzehn Jahren um einen Kampf zwischen Alt und Jung handelte, sondern
daß stets die Jungen mit einem Teil der Alten auf derselben Seite waren.
Das soll nach dem Willen der Mehrheit des Zentralvorstandes nun anders
werden. Der Verlauf des Delegiertentages wird lehren, ob die Partei dies
lebensgefährliche Experiment wagen, und wenn sie es wagt, ob sie es über¬
dauern wird.
^icht nur bei den überzeugten Anhängern des Reichserbrechts
herrscht die Ansicht, man werde zur Erhöhung der Einnahmen
des Reiches in Kürze auf die Reform des Erbrechts zurückgreifen.
I Ist das richtig — und verschiedene Anzeichen sprechen dafür —,
> so liegt es nahe, die Vorlage vom 3. November 1908 zugrunde
zu legen. Nun war es sicher erfreulich, daß die Regierung sich entschloß, das
bedeutsame Reformwerk in Angriff zu nehmen und das testamentslose Erbrecht
zugunsten der Gesamtheit einzuschränken. Doch gibt die Durchführung des
Gedankens zu ernsten Bedenken Anlaß, und die Besorgnis, der finanzielle Erfolg
der Maßregel könne nur mäßig sein, ist nicht grundlos.
Der Entwurf sieht ein Erbrecht des Staates, nicht des Reiches vor.
Dabei handelt es sich zwar nur um einen Namen, aber um keinen leeren
Namen. Wenn der Neformgedanke in verhältnismäßig kurzer Zeit allgemeine
Zustimmung gefunden hat, so geschah dies vorzugsweise im Hinblick auf das
erwartete Reichserbrecht. Für ein solches waren und sind Sympathien vor¬
handen. Der Reichsgedanke hat seinen alten Zauber nicht verloren. Auf die
werbende, die erzieherische Kraft des Neichserbrechts ließen sich auch nach der
materiellen Seite hin die besten Hoffnungen gründen. Ich bin davon überzeugt.
Ist die Reform erst einmal verwirklicht und zeigt es sich, wie hier und dort,
in der Nähe und Ferne, der Reichskasse Erbschaften zufallen, wie die gemein¬
same Kasse sich zum gemeinsamen Besten füllt, ohne daß der einzelne aus
eigenen Mitteln dazu beizutragen braucht, so wird die Maßregel als wohltätig
und erfreulich empfunden werden, und mancher, der keine nahen Angehörigen
besitzt, wird den Gedanken willkommen heißen: mein Erbe ist das Vaterland.
Berechtigter Stolz und natürliche Eitelkeit werden zusammenwirken, um vater¬
ländische Gesinnung zu stärken und für den Todesfall zu einem Opfer zu
führen, das doch mit keinen Kosten verbunden ist. Bei solchen Erwägungen
denkt aber niemand an Preußen oder Lippe, man denkt ans Deutsche Reich.
So wird das Reichserbrecht je länger, je mehr volkstümlich werden, ein Landes-
") Vgl. dazu die das gleiche Thema behandelnden Aufsätze desselben Verfassers in den
Grenzboten 1910 Ur. 41 bis 44, 1911 Ur. 6 und 24, 1912 Ur. 3.
In einigen Wochen werden diese Aufsätze gesammelt und ergänzt im Verlag der
Grenzvoten als Broschüre erscheinen.
erbreche nie. Aber auch rein sachlich ist die Bezeichnung Reichserbrecht zu¬
treffend, weil 73 Prozent von den Einkünften dem Reiche und 25 Prozent
den Bundesstaaten zufallen sollen. Wenn Dr. Sydow in der Sitzung des
Reichstages vom 19. November 1908 äußerte, der Landesfiskus sei deshalb
als Erbe vorgesehen, weil die Regelung der Nachlasse durch die Landesbehörden
erfolgen müsse, so ist der Grund nicht stichhaltig. Die staatliche Einkommen¬
steuer wird durch die Gemeinde eingezogen, ohne daß man sie deswegen als
Gemeindeeinkommensteuer bezeichnet.
Auch dafür fehlen innere Gründe, den Bundesstaaten 25 Prozent vom
Ertrage zuzuweisen. Das Reich hat nichts zu verschenken, und im Jahre 1912
weniger denn je. Daß man ein solches Geschenk auch nicht mit den Kosten
der Verwaltung rechtfertigen kann, liegt auf der Hand. Ohnehin muß bei
der Ermittlung des Nachlasses der Schwerpunkt in die Gemeinde verlegt
werden, der dafür eine anteilige Vergütung gebührt. Der Reichskasse noch
mehr von ihren schmalen Einkünften zu entziehen, läßt sich angesichts der Schuld
der fünf Milliarden nach meinem Empfinden nicht verantworten. In erster
Linie ist der finanzielle Erfolg der Maßregel aber davon abhängig, an welcher
Stelle die Grenze für das Verwandtenerbrecht gezogen wird. Wiederholt möchte
ich empfehlen, die Grenze hinter den Geschwistern des Verstorbenen zu errichten,
so daß diese noch ohne Testament, die übrigen Seitenverwandten dagegen nur
auf Grund testamentarischer Einsetzung erben. Daß diesen damit kein Unrecht
geschieht, ist oft erörtert. Steht es doch in dem freien Willen des Erblassers,
seinen Verwandten zuzuwenden, was ihm gut scheint. Die Ausnahmefälle, in
denen wegen jugendlichen Alters oder Geistesschwache ein Testament nicht
errichtet werden kann, dürfen die Regel nicht bestimmen. Wird hingegen das
Reichserbrecht weiter eingeschränkt, so muß nicht allein das wirtschaftliche
Ergebnis der Reform hinter allen Erwartungen zurückbleiben, sondern das
Unrecht der lachenden Erben besteht im Wesentlichen unverändert fort und
die Reform verfehlt ihr eigentliches Ziel. Der Vorschlag geht auch keines¬
wegs zu weit. Das ergibt sich schon aus dem äußeren Umstände, daß
sich sonst hervorragende Staatsmänner und hervorragende Militärs von
entschieden konservativer Gesinnung nicht dafür erklären würden, wie
denn auch der maßvolle Gustav von Schmoller im Anschluß an John Stuart
Mill die Beseitigung des Erbrechts der Seitenverwandten schlechthin als einen
berechtigten Gedanken bezeichnet. — Im einzelnen gibt der Z 8 des Entwurfs
zu schweren Bedenken Anlaß. Behufs Milderung etwaiger Härten sollen die
Nachkommen der Großeltern des Verstorbenen Haushaltungsgegenstände und
Sachen des persönlichen Gebrauchs für die Hälfte ihres Wertes verlangen dürfen.
Dabei ist nach der Begründung an einzelne Stücke von geringer Bedeutung
gedacht, die für die Familie von Interesse sein könnten. In ihrer allgemeinen
Fassung erstreckt sich die Bestimmung aber auf die ganze Wirtschaft und auf
Kostbarkeiten von hohem Wert, in vielen Fällen also auf den gesamten
Nachlaß. Bei diesen Erbschaften würde mithin der Reichskasse die volle Hälfte
des Nachlasses entzogen, indem die nicht mehr erbberechtigten Verwandten in
veränderter Form doch wieder ein Erbrecht auf die Hälfte erhielten. Und sollte
es sich bestätigen, was Schwarzseher behaupten, daß die Erbrechtsreform über¬
haupt nur die kleinen Erbschaften erfasse, weil über die großen testamentarisch
verfügt werde, so hätte die Bestimmung zur Folge, daß die Hälfte aller Ein¬
künfte aus der Reform den lachenden Erben zufiele! Dies entspricht gewiß
nicht demi Zweck des Gesetzes. Es wird sich deswegen empfehlen, den Satz zu
streichen. Dasselbe gilt entsprechend für die Bestimmung, auch alle übrigen
beweglichen Sachen und Grundstücke, die „in ihrem wesentlichen Bestände"
von einem Großvater oder einer Großmutter herrühren, seien den Abkömm¬
lingen dieser Personen auf Antrag käuflich zu überlassen. Eine schleunige
Regelung des Nachlasses wird dadurch in allen Erdfällen unmöglich gemacht;
dem Erbschaftsamt aber erwachsen beträchtliche Mehrkosten und Mehrarbeit.
Nach meinem Ermessen sollte nur für Neffen und Nichten des Erblassers im
Interesse der Landwirtschaft ein Vorrecht auf den Erwerb von landwirtschaft¬
lichen Grundstücken zu 90 Prozent ihres Wertes festgesetzt, von weiteren Vor¬
rechten aber abgesehen werden. — Der Entwurf schlägt serner vor, den Erwerb
des Fiskus, der bei formeller Nichtigkeit eines Testaments eintritt, ganz oder
teilweise den eingesetzten Erben zuzuwenden. So wohlwollend und gerecht die
Vorschrift in Hinsicht auf die eingesetzten Erben erscheint, so würde sie doch zum
Nachteil der Reichskasse ein Privilegium om'08um schaffen, dem man schwerlich
das Wort reden kann. Die Verwaltung und Verwertung der Nachlasse soll
nach meinen Vorschlägen den Gemeinden gegen Vergütung übertragen werden
können. Es fehlt jedoch eine Vorschrift, wonach die Ortsbehörde der Sterbe-
gemeinde in jedem Fall ohne Verzug ein amtliches Verzeichnis des Nachlasses
aufzunehmen und nötigenfalls den Nachlaß sicher zu stellen hat. Anderseits
dürfte es sich empfehlen, der Reichskasse wie jedem Privatmann die Befugnis
zu gewähren, die Erbschaft auszuschlagen. Die Ansprüche etwaiger Gläubiger
werden dabei durch das Recht gewahrt, die Eröffnung des Nachlaßkonkurses zu
beantragen. — In: übrigen ist anzuerkennen, daß der Entwurf das schwierige
Problem gründlich behandelt und zweckmäßig gelöst hat. Besonders gelungen
scheint mir die Regelung, daß beim Vorhandensein von Großeltern diese als
Vorerben zu behandeln sind und die Staatskasse als Nacherbe. Da aber selt¬
samerweise gerade dieser Punkt in der Kommission Anlaß zu vielen Meinungs¬
verschiedenheiten gegeben hat, so ist es vielleicht gerade im höheren Interesse,
auf eine Änderung des bestehenden Rechtes nach der Richtung zu verzichten,
zumal Erbfälle an Großeltern verhältnismäßig selten vorkommen.
Man darf das Vertrauen hegen, daß die entstandenen Bedenken bei erneuter
Prüfung der nun vier Jahre zurückliegenden Vorlage Beachtung finden zum
Besten eines Gesetzgebungswerkes, dessen hohe ideale und materielle Bedeutung
allgemeine Anerkennung gefunden hat.
-^MVn der Reichstagssitzung vom 5. März d. I. erklärte der Herr
Staatssekretär des Innern seine Bereitwilligkeit, mit den ver¬
bündeten Regierungen in eine Erörterung darüber einzutreten,
inwieweit die Industrie durch Ortsstatut zu verpflichten sei, zu den
Kosten der Lehrlingsausbildung bei den Handwerkerorganisationen
beizutragen. Mit dieser Erklärung ist der Herr Staatssekretär den Bestrebungen
der Mehrheitspartelen des Reichstages in weitgehender Weise entgegengekommen,
da — wie die kürzlich vom Zentralverbande Deutscher Industrieller heraus¬
gegebene Zusammenstellung der im Reichstage eingebrachten Initiativanträge
erkennen läßt — von fast allen Fraktionen Anträge gestellt worden sind, die
mehr oder weniger darauf abzielen, der Industrie ganz allgemein die Kosten
der Handwerkerausbtldung aufzubürden.
Die Industrie hat somit begründeten Anlaß, zu der ihr zugedachten neuen
Belastung Stellung zu nehmen, und wird mit Recht die Forderung erheben
dürfen, daß bei einer Entscheidung der vielerörterten Streitfrage „Fabrik oder
Handwerk" die industriellen Interessen in gleicher Weise gewährt werden wie
die Interessen des Handwerks. Es ist bekannt, daß die Frage der Abgrenzung
von Fabrik und Handwerk im Laufe der letzten Jahre wiederholt zu weit¬
läufigen und verwickelten Streitigkeiten geführt hat und der Gegenstand zahl¬
reicher Abhandlungen und Denkschriften gewesen ist. Die Hauptursache der
entstandenen Kontroverse liegt ohne Zweifel in der Fassung der Novelle zur
Gewerbeordnung vom 26. Juli 1897 — der sogenannten Handwerkernovelle —,
deren unklare und unbestimmte Vorschriften in bezug auf „Handwerk" und
„fabrikmäßigen" Gewerbebetrieb bereits bei der Beratung des Gesetzentwurfes
von Kennern der Verhältnisse als verhängnisvoll bezeichnet worden sind. Eine
besondere Verschärfung wurde indessen in die Streitfrage dadurch hineingetragen,
daß die Bestimmungen des Handelsgesetzbuches für das Deutsche Reich in der
Fassung vom 10. Mai 1897 für die Anwendung der Begriffe „Handwerk",
„Handelsgewerbe" und „Kaufmann" durchaus abweichende Anhaltspunkte gaben,
während die von den zuständigen Behörden und vom Reichsgericht ergangenen
Entscheidungen für die Begriffe „Fabrik" und „Handwerk" wiederum eine Reihe
neuer Merkmale aufstellten. Es ist hierdurch die Komplikation und Verdunkelung
einer an sich zweifelsfreien Sachlage stark beeinflußt wordeu, und es erscheint
daher angebracht, diese drei in einander greifenden Momente zunächst im einzelnen
einer näheren Betrachtung zu unterziehen.
Infolge der völligen Gewerbefreiheit, die die Gewerbeordnung vom
21. Juni 1869 gegen den Willen und gegen die Wünsche der überwiegenden
Mehrheit des Handwerks einführte, erhob sich in Handwerkskreisen eine an
Kraft und Nachhaltigkeit ständig zunehmende Bewegung, die trotz des
anfänglichen Widerstrebens der Regierung zwar langsam, aber allmählich
den gewünschten Erfolg hatte, zumal sich ihrer das Zentrum und die
Konservativen sehr nachdrücklich im Reichstage annahmen. Die Forderungen
des Handwerks gingen einerseits auf die Wiedereinführung des Befähigungs¬
nachweises für Meister und Gesellen, andrerseits auf Einrichtung von
Zwangsinnungen und Handwerkskammern und auf die Regelung des Lehrlings¬
wesens. Schritt für Schritt sind diese Forderungen durchgesetzt worden
durch die Novellen zur Gewerbeordnung vom 7. Juli 1877 und von:
8. Dezember 1884, durch welche die Ausbildung des Handmerkernachwuchses
gesetzlich geregelt wurde, durch die Novellen vom 26. April 1886 und vom
6. Juli 1887, welche die Rechte der Innungen erweiterten, durch die große
Gewerbeordnungsnovelle vom 26. Juli 1897 (sogenanntes Handwerkerorgani-
sationsgesetz), welche die Zwangsinnungen und Handwerkskammern schuf, und
endlich durch das Gesetz vom 30. Mai 1908, das den Handwerkern die so
heiß begehrte Wiedereinführung des Befähigungsnachweises brachte und damit
wohl den Abschluß der eigentlichen Handwerkergesetzgebung gebildet haben
dürfte.
Durch die beiden letzterwähnten Gesetze ist die Kontroverse „Fabrik und
Handwerk" besonders aktuell und für die Industrie von steigender Bedeutung
geworden, nachdem der Keim zu dem Problem der Abgrenzung zwischen Hand¬
werks- und Fabrikbetrieben schon seit langer Zeit bestanden hatte. Bei viel¬
fachen Gelegenheiten hatten sich Bestrebungen bemerkbar gemacht, die Gesetz¬
gebung zugunsten des Handwerks gegenüber der mächtigen Konkurrenz der
Fabriken zu beeinflussen, mindestens aber eine deutliche Grenze zwischen beiden
zu schaffen. Bereits im Jahre 1848 forderte eine Petition zahlreicher Hand¬
werksmeister der Stadt Bonn von dem Minister von Camphausen unter anderem
eine Beschränkung des Gebrauches von Dampfmaschinen in Handwerksbetrieben.
Im Jahre 1849 verlangte der von einhundertsechzehn Handwerksmeistern aus
vierundzwanzig deutschen Einzelstaaten beschickte „Deutsche Handwerker- und
Gewerbekongreß" die Überweisung aller Handwerksarbeit in einer Fabrik an
die zünftigen Meister des Ortes, die Besteuerung der Fabriken zugunsten des
Handwerks, sowie die Aufstellung einer Geschäftsgrenze für die Fabriken und
den Handel mit Fabrikaten.
Auch auf der vom 17. bis 30. Januar 1849 in Berlin lagerten, von
den beiden königlichen preußischen Ministern für Handel und Justiz einberufenen
Handwerkerkonferenz bildete die Stellungnahme der verschiedenen Gewerbe zu
einander und zu den Fabriken einen wesentlichen Punkt der Beratung, und die
Bestimmung der preußischen Gewerbeordnung vom 9. Februar 1849 trug diesen
Forderungen insoweit Rechnung, als den Fabrikinhabern die Beschäftigung von
Handwerksgesellen nur dann gestattet wurde, wenn sie ihrer zur unmittelbaren
Erzeugung und Fertigstellung der Fabrikate bedurften.
In der gleichen Richtung lag später auch das Verlangen des
Anfangs der siebziger Jahre gegründeten Vereins selbständiger Handwerker und
Fabrikanten: „Trennung des Fabrikgesetzes von der eigentlichen Gewerbeordnung
sowie Ausarbeitung einer eigenen Fabrikgesetzgebung", und die Verhandlungen
des Reichstages haben vom Jahre 1873 ab den Mitgliedern des Hauses oft
Gelegenheit gegeben, auf den Gegensatz zwischen Fabrikbetrieb und Handwerk
hinzuweisen oder ihn zum Ausgangspunkt ihrer Forderungen zu machen.
Bezeichnend ist, daß hierbei in fast allen Fällen und ebenso von allen Seiten
der Begriff „Handwerk" unverkennbar mit „Kleinbetrieb" identifiziert wurde,
dem als Gegensatz der „Großbetrieb", die „Großindustrie", die „Fabrik" gegen¬
übergestellt wurde. Schon die Begründung zu dem dem Reichstage am 11. März
1831 vorgelegten Gesetzentwurfe, der zur Verabschiedung des Gesetzes vom
18. Juli 1881 geführt hat, wie auch die nachfolgenden Beratungen bieten
hierfür eine Fülle von Belegen; ebenso die Materialien zu den späteren Gewerbe¬
novellen von 1884, 1886 und 1887 und die darüber gepflogenen Neichstags-
verhandlungen. Sehr treffende Beweise sind in dieser Hinsicht ferner durch die
von der Leipziger Handelskammer für die Beratung des Deutschen Handels¬
tages herausgegebene Denkschrift über „Abgrenzung der Handels- und Hand¬
werks-(Gewerbe-) Organisationen oder Fabrik und Handwerk" erbracht worden.
Eine Definition der Begriffe „Handwerk" und „Fabrik" findet sich in keiner
der vorerwähnten Gewerbegesetze; auch die Hanowcrkernovelle von 1897 läßt
solche vermissen. An Bemühungen, sie zu schaffen, hat es im Reichstage zwar
nicht gefehlt, aber sie sind sämtlich an der Schwierigkeit gescheitert, eine
brauchbare Abgrenzung beider Begriffe, die fließend sind und sich stetig ändern,
festzustellen. Mit einer gewissen Leichtigkeit hat sich der Entwurf der Novelle
von 1897 über diese Schwierigkeit hinweggesetzt, indem in der Begründung zu
Z 100 (Zwangsinnungen) bemerkt ist: „Von einer Feststellung derjenigen
Gewerbe, welche zum .Handwerk' zu rechnen sind, sieht der Entwurf ab, weil
eine erschöpfende Aufzählung angesichts der Vielgestaltigkeit der gewerblichen
Verhältnisse nicht möglich ist. Ebensowenig erscheint es möglich, eine brauchbare
gesetzliche Bestimmung für den Begriff .Handwerker' aufzustellen. Daß die
Unterscheidung zwischen handwerksmäßigen und fabrikmäßigen Betriebe in der
Praxis nicht so schwierig sein wird, wie bisher vielfach angenommen ist, erhellt
mit genügender Sicherheit aus den mehrerwähnten Ergebnissen der amtlichen
Erhebungen über die örtliche Verteilung des Handwerks."*) Gleicherweise
wurde in der Kommissionsberatung des Handwerkergesetzes zu Z 100 ff. von
seiten der Regierungsvertreter u. a. erklärt: „Eine Begriffsbestimmung für die
Fabrikbetriebe im Gesetze aufzustellen, sei unmöglich. Entscheidend hierfür seien
die Verhältnisse des Einzelfalls. Die hier in Betracht kommenden Merkmale
des Fabrikbetriebes stünden aber im großen und ganzen nach der Rechtsprechung
des Reichsgerichts ziemlich fest."**)
Die Erfahrung hat leider bald gelehrt, wie sehr sich die Regierungs¬
vertreter hierbei in ihren Voraussetzungen getäuscht haben. Um so bemerkens¬
werter ist es, daß im Laufe der Verhandlungen im Plenum des Reichstages
von verschiedenen Abgeordneten auf das nachdrücklichste darauf hingewiesen
wurde, daß die begriffliche Fassung der Gesetzesbestimmungen zu ungewiß sei
und unvermeidlich zu großem Ärger und zu Streitigkeiten führen müsse***). In
voller Schärfe sah der Abgeordnete Richter dieses Ergebnis voraus und führte
in bezug hierauf in der Reichstagssitzung vom 24. Mai 1897 folgendes aus:
„Weiter, in. H., kommen die Handwerker in Betracht, welche sich in fabrik¬
mäßigen Betrieben befinden. . . . Also es würden z, B. Tischler, die in großen
Mühlen arbeiten oder für einen Fabrikunternehmer die zur Verpackung der
Waren erforderlichen Kisten herstellen, Stellmacher, Böttcher, Klempner, welche
Blechdosen für die Erzeugnisse einer chemischen Fabrik herstellen, die zahlreichen
in jeder Maschinenfabrik beschäftigten Schlosser zur Zwangsinnung herangezogen
werden können, soweit sie Gesellen oder Lehrlinge halten. Solche Handwerks¬
betriebe sind als integrierende Bestandteile der arbeitgebenden Fabrrkbetriebe zu
betrachten und müssen deshalb von der Jnnungsmitgliedschaft befreit werden."
Der gleiche Abgeordnete betonte in der Sitzung vom 23. Juni 1897, wie
überaus zweifelhaft es sei, welche Handwerker zu den der Innung zuzurechnenden
Gewerben gehören sollten, und wie schwierig die Grenzlinie zu ziehen sei, wo
der Fabrikbetrieb anfange und das Handwerk aufhöref). In ähnlicher Weife
suchte auch der Abgeordnete Gamp bei der Beratung des Z 94c eine Grenzlinie
zu ziehen, indem er ausführte: „Weder in der Kommission noch in den Kreisen
der verbündeten Regierungen hat eine Meinungsverschiedenheit darüber bestanden,
daß die von dem ß 94c den Innungen eingeräumte Befugnis, die Betriebe der
Jnnungsmitglieder revidieren zu können, sich nicht bezieht auf diejenigen Betriebe,
die dem industriellen und landwirtschaftlichen Betriebe angehören. ... Es ist
von keiner Seite beabsichtigt, den Innungen das Recht einzuräumen, auch die
Vetriebsstätten der Industrie und der Landwirtschaft einer Revision zu unter¬
ziehen, in denen Handwerker arbeiten, welche von der Industrie und Land¬
wirtschaft beschäftigt werden. Um das klarer zum Ausdruck zu bringen, haben
wir den Antrag auf Ur. 912 (— der angenommen wurde —) gestellt*)."
Trotz dieser vorgetragenen Bedenken setzten sich sowohl die Regierung wie
die Mehrheit der Reichstagsabgeordneten über die nicht zu leugnende Unklarheit
hinweg und zwar deshalb, weil, wie ans den Materialien zur Handwerker¬
novelle von 1897, den Verhandlungen, Kommissionsberatungen und endlich aus
den verschiedenen Bestimmungen dieses Gesetzes selbst mit unzweifelhafter Deutlich¬
keit zu ersehen ist, allgemein „Handwerksstand" und „Kleingewerbe" als gleich¬
bedeutend, dagegen „Handwerker" und „Angehörige der Großindustrie", „Hand¬
werk" und „Großgewerbe" oder „Großbetrieb" als Gegensätze betrachtet und
angesehen wurden.
Besonders geht dieses auch aus der Bestimmung des Z 129, Absatz 4,
hervor, der von der Befugnis zur Ausbildung von Lehrlingen in einem Hand¬
werksbetriebe und auch in einem dem Gewerbe ungehörigen Großbetriebe handelt.
Die scharfe Gegenüberstellung von „Handwerksbetrieb" und „Großbetrieb" gerade
an dieser Stelle läßt keine andere Deutung zu, als daß das Gesetz das Hand¬
werk zu den kleingewerblichen Betrieben rechnen will. Dieser Auffassung, die
allein der Tendenz des Gesetzes entspricht, schließen sich denn auch die Kommen¬
tatoren der Gewerbeordnung, Landmann, Nelke u. a. an, und das gleiche
ergibt sich aus den Erlassen des preußischen Handelsministers vom 16. Januar
und 12. August 1902, nach welchen die in den Z§ 129 bis 132 u getroffenen
besonderen Bestimmungen für Handwerker keine Anwendung auf „Fabrikarbeiter"
finden sollen. Steht demnach für einen Betrieb fest, daß auf ihn die §Z 134 ff.,
die für die Verhältnisse der Fabrikarbeiter gelten, anzuwenden sind, so folgt
daraus, daß dieser Betrieb auch in bezug auf die Bestimmungen über die Zwangs¬
innungen und Handwerkskammern nicht als ein handwerksmäßiger anzusehen ist.
Für die Streitfrage „Fabrik oder Handwerk" kommen von dem Inhalte
der mehrerwähnten Gesetze von 1897 und 1908 in erster Linie in Betracht die
Bestimmungen über die Zwangsinnungen 100 u. f.), über die Handwerks¬
kammern (H 103 u. f.) und über das Lehrlingswesen (H 129 u. f.). Die
Aufgaben und Rechte der Zwangsinnungen, zu denen nur die selbständigen, ein
stehendes Gewerbe betreibenden Handwerker gehören, sind kurz folgende:
Pflege des Gemeingeistes sowie Aufrechterhaltung und Stärkung der
Standesehre; Förderung eines gedeihlichen Verhältnisses zwischen Meistern und
Gesellen, insbesondere durch Errichtung von Jnnungsämtern, Jnnungsarbeits-
nachweisen usw.; Bildung von Schiedsgerichten zur Schlichtung von Streitig¬
keiten zwischen Jnnungsmitgliedern einerseits und Gesellen, ungelernten Arbeitern,
Handlungsgehilfen und Betriebsbeamten anderseits; die Einrichtung und Leitung
von Fortbildungs-- oder Fachschulen und Anregung von Veranstaltungen zur
Förderung der gemeinsamen gewerklichen Interessen der Jnnungsmitglieder; der
Erlaß von Vorschriften zur näheren Regelung des Lehrlingswesens, falls dies
nicht bereits durch die Handwerkskammer geschehen ist, wie z. B. über die
Höchstzahl der zu haltenden Lehrlinge und über die Notwendigkeit des Abschlusses
von Lehrlingsverträgen vor der Innung; die Verpflichtung, einen Gesellen- und
Prüfungsausschuß einzurichten; die Erhebung von Beiträgen und Gebühren; der
Erlaß von Ordnungsstrafen gegen die Mitglieder und endlich die Beaufsichtigung
der Handwerksbetriebe durch Beauftragte dahin, ob die gesetzlichen oder statuta¬
rischen Vorschriften beachtet werden.
Die Handwerkskammern sollen der Vertretung der Interessen des Hand¬
werks eines bestimmten Bezirks dienen. Ihrer Zuständigkeit sind die Fabrik¬
betriebe entzogen, so daß hinwiederum Fabrikanten, die Mitglieder einer freien
Innung sind, nicht in die Handwerkskammern gewählt werden dürfen. Außer
der Vertretung des Handwerks und der Vermittlung zwischen diesem und den
Behörden haben die Handwerkskammern folgende Rechte und Aufgaben:
Die nähere Regelung des Lehrlingswesens: Festsetzung der Bestimmungen
über Form und Inhalt der Lehrverträge, Festsetzung der Höchstzahl der zu
haltenden Lehrlinge und der Dauer der Lehrzeit, Überwachung der Durch¬
führung der für das Lehrlingswesen getroffenen Vorschriften durch Beauftragte
und Einrichtung eines Gesellenausschusses, der vor allem, bei dem Erlaß von
Vorschriften über die Regelung des Lehrlingswesens mitzuwirken hat; die
Bildung von Prüfungsausschüssen zur Abnahme der Gesellenprüfung und von
AuSschüssea zur Entscheidung über die Beanstandung von Beschlüssen der Prüfungs¬
ausschüsse; die Befugnis, Veranstaltungen zur Förderung der Ausbildung der
Meister, Gesellen und Lehrlinge zu treffen, also zur Einrichtung von Meister-
und Gesellenkursen, zur Einrichtung von Auskunftsstellen; Bildung von Unter-
stütznngsgenossenschaften; das Recht zur Einrichtung und Unterstützung von
Fachschulen, zur Erhebung von Beiträgen durch die Gemeinden, falls nicht
größeren Kommunalverbänden die Kosten auferlegt sind, wie dies z. B. in
Hamburg, Bayern und anderweit geschehen ist, zur Erhebung von Gebühren für
die Benutzung der Einrichtungen der Kammern und zum Erlaß von Ordnungs¬
strafen für Zuwiderhandlungen gegen die von der Kammer erlassenen Vorschriften.
Das Lehrlingswesen ist im Titel VII der Gewerbeordnung, der die Vor¬
schriften für gewerbliche Arbeiter überhaupt umfaßt, gesetzlich geregelt. Die
Bestimmungen für die zum Handwerk gehörigen Lehrlinge sind dortselbst in den
129 bis 132a getroffen. Diese Bestimmungen sind geschaffen durch das
Gesetz vom 30. Mai 1903 und bilden, wie bereits eingangs erwähnt wurde,
den Abschluß der Handwerkergesetzgebung. Da gerade auch diese Vorschriften
mehrfach zu Streitigkeiten Anlaß gegeben haben, so darf ihre Entstehungs¬
geschichte hier kurz gestreift werden.
In der Begründung zum Entwürfe dieses Gesetzes heißt es zu W 129
bis 133: „Wie sich Z 129 nach seiner Überschrift und seinen Eingangsworten
gleich den nächstfolgenden Paragraphen ausschließlich auf die Verhältnisse im
Handwerke bezieht, so wird auch der gegenwärtige Entwurf die nach den ver¬
schiedensten Richtungen hin anders gestalteten Verhältnisse in den Fabrikbetrieben
unberührt lassen. Die Anleitungsbefugnis derjenigen Personen, welche ihre
Ausbildung in Fabriken genossen haben, kommt daher hier überhaupt nur für
den Fall ihres späteren Übertritts zu einer handwerksmäßigen Tätigkeit in
Betracht""). In der XXV. Kommission zur Vorberatung des vorbezeichneten Gesetz¬
entwurfes war nun beantragt worden, in Z 129, Abs. 1, statt „in Handwerks¬
betrieben" zu setzen „in Betrieben, welche Handwerkslehrlinge ausbilden". Es
wurde geltend gemacht, daß es sich hier um die wichtige Frage der Unter¬
scheidung von Fabrik und Handwerk handele. Wenn also die Regierungsvorlage
die neuen Vorschriften für die Anleitung von Lehrlingen auf Handwerksbetriebe
beschränke, so bestehe die Gefahr, daß man alle größeren Handwerksbetriebe als
Fabrikbetriebe auffassen und von den speziell für das Handwerk erlassenen
Vorschriften über das Lehrlingswesen ausnehmen werde. Hierdurch werde aber
der Geltungsbereich des Gesetzes allzu sehr eingeschränkt. Gerade in den Fabriken
sei die Lehrlingsausbildung sehr wichtig, da hier der Lehrling keine Gewähr
für eine tüchtige sachliche Ausbildung habe.
Demgegenüber wurde von einem Regierungsvertreter betont, daß die Novelle
in Übereinstimmung mit den bei der Beratung der Gewerbeordnungsnovelle
vom 7. Januar 1907 seitens des damaligen Staatssekretärs des Innern abgegebenen
Erklärungen sich ausdrücklich auf die Regelung der Verhältnisse im Handwerk
beschränke, wie dies übrigens für die ZZ 129 bis 132 a der Gewerbeordnung
schon durch deren Stellung im System der Gewerbeordnung gekennzeichnet sei.
Der Abschnitt III (Lehrlingsverhältnisse) zerfalle erstens in den die 126
bis 128 umfassenden Unterabschnitt Allgemeine Bestimmungen, welche neben
dem Handwerk auf den fabrikmäßigen Gewerbebetrieb und die nicht zum Hand¬
werk gehörigen Gewerbe Anwendung zu finden hätten, und zweitens in den die
§Z 129 bis 132 a umfassenden Unterabschnitt IZ, welcher nur für diejenigen
Personen gelte, welche ein Gewerbe handwerksmäßig betreiben. Auch die
vorliegende Novelle wolle und könne die Lehrlingshaltung in Fabriken
nicht regeln.
Nachdem auf Grund dieser Ausführungen noch von verschiedenen Seiten
für und wider die Ausdehnung des Z 129 auf Fabrikbetriebe Stellung genommen
worden war, erklärten die Regierungsvertreter wiederholt und nachdrücklichst, daß
die verbündeten Regierungen einem solchen Eingriff in die Verhältnisse der
Fabriken und ihrer Lehrlingsausbildung, wie er von einzelnen Parteien erstrebt
werde, wohl kaum ihre Zustimmung erteilen würden. Es führe zu Jnkonsequenzen,
wenn die Lehrlingsausbildung in den Fabrikwerkstätten diesen lediglich für das
Handwerk berechneten Vorschriften unterstellt würde, während die Fabriken den
übrigen, für das Handwerk erlassenen Vorschriften der Gewerbeordnung
ausdrücklich entzogen seien. Bei der Abfassung und der Vertretung der sogenannten
Handwerkernovelle von 1897 sei von feiten der verbündeten Regierungen mehrfach
darauf hingewiesen worden, daß man eine Ausdehnung der für das Handwerk
erlassenen besonderen Bestimmungen auf die Fabriken auf keinen Fall zugeben
könne; in dieser Stellung der verbündeten Regierungen habe sich seither nichts
geändert. Es wurde daraufhin unter Ablehnung entgegenstehender Anträge die
Regierungsvorlage angenommen"). Aus diesen Vorgängen ergibt sich sonach,
wie auch erst kürzlich in einem Erkenntnis des Oberlandesgerichts Köln"") zum
Ausdruck gebracht worden ist, zweifelsfrei, daß der Gesetzgeber die Bestimmung
des §129 der G. O. auf Handwerksbetriebe beschränkt und auf Fabrikbetriebe
nicht ausgedehnt wissen wollte. Wenn daher in anderen Streitfällen die Ober¬
landesgerichte zu Breslau und Naumburg im entgegengesetzten Sinne entschieden
haben, so haben sie sich dadurch in offensichtlichen Widerspruch zu den Bestimmungen
der M 129 u. f. gesetzt und die bereits vorhandene Verwirrung noch vermehrt.
Es ist bereits eingangs erwähnt worden, daß durch die Bestimmungen des
Handelsgesetzbuches für das Deutsche "Reich die Streitfrage „Fabrik oder Hand¬
werk" besonders kompliziert wurde und beeinflußt worden ist. Wie die Gewerbe¬
ordnung, so gibt auch das Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897 eine Erläuterung
des Begriffes „Handwerk" nicht. Es geht nach unbestrittener Ansicht in Theorie
und Praxis von dem bewußten Gegensatze des Handwerks als Kleingewerbe
zum Großbetriebs als Großgswerbe aus""") und bestimmt, daß derjenige Kauf¬
mann, der zugleich Handwerker ist, nicht verpflichtet ist, Haudelsbücher zu
führen und seine Firma in das .Handelsregister eintragen zu lassen. Es schafft
mit dieser gesetzlichen Bestimmung zwei Arten voll Kaufleuten, die Vollkaufleute
und die sogenannten Minderkaufleuw, und legt damit — ganz unabhängig von
der Reichsgewerbeordnnng — dein erkennenden Registerrichter die Verpflichtung
auf. eine Entscheidung darüber zu fällen, ob jemand Handwerker ist oder nicht.
Gegen die Entscheidung des Negisterrichters ist die Beschwerde an das Land-
gericht und Oberlandesgericht bzw. das Kammergericht und in Einzelfällen sogar
an das Reichsgericht gegeben. Für die Frage, ob jemand Handwerker ist, ist
die Tatsache, daß er außerdem Handel betreibt, bedeutungslos. Es fragt sich
nur, ob dieser Handel noch innerhalb der Grenzen des Handwerksbetriebs liegt,
oder ob er diese Grenzen überschreitet*). Eine solche Überschreitung wird z. B.
vom Reichsgericht angenommen, wenn der Gegenstand des Handelsbetriebes
nichts mit dem Handwerk zu tun hat, oder wenn die Art des Handelsbetriebes
und seine Einrichtung von dem Handwerksbetriebe auch räumlich getrennt ist;
endlich auch, wenn diese beiden Fälle zwar nicht vorliegen, aber der Handel
nicht neben dem Handwerke besteht, sondern die Rolle des Handels die wirt¬
schaftliche Haupttätigkeit spielt.
Die nach diesen Gesichtspunkten vom Richter zu treffende Entscheidung ist
von der größten Bedeutung im Hinblick auf die Bestimmungen der partikularen
Handelskammergesetze. Das preußische Handelskammergesetz vom 19. August 1897
bestimmt in ß 3, daß zur Handelskammer diejenigen Kaufleute gehören, welche
in das Handelsregister eingetragen sind. Früher nahm man in Preußen auf
Grund dieser Bestimmung an, daß die Eintragung im Handelsregister allein
genüge, um die Mitgliedschaft zur Handelskammer nachzuweisen. Das Ober-
verwaltuugsgericht hat jedoch entschieden, daß die Zugehörigkeit zur Handels¬
kammer von dem ferneren Nachweise bedingt ist, daß der im Handelsregister
Eingetragene auch wirklich Kaufmann und nicht Handwerker ist. Es geht also
dabei von dem Grundsätze aus, daß auch Handwerker zufolge des ß 2 H. G. B.
registereintragungsfühig seien, ein Grundsatz, der mit Rücksicht auf § 4 H. G. B.
früher allgemein bestritten wurde. Auf Grund dieser Oberverwaltungsgerichts¬
entscheidung sind demnach gegenwärtig zur Entscheidung über die Frage, ob
ein Betrieb zum Handwerk zu rechnen ist oder nicht, auch die Handelskammer,
die Bezirksausschüsse und das Oberverwaltungsgericht zuständig.
Ähnliche Bestimmungen, wie das preußische Handelskammergesetz, enthalten
auch die entsprechenden Gesetze der meisten übrigen Bundesstaaten, so daß auch
hier über diese Frage bestimmte Landesbehörden zu entscheiden haben. Eine
besondere Regelung besteht nur im Königreich Sachsen, wo Handwerkern, die
gleichzeitig Handel treiben, das Optionsrecht gegeben ist, d. h. sie können wählen,
ob sie zur Handels- oder Gewerbe-Handwerkskammer gezählt werden wollen.
Aber auch hierdurch ist der Streit in Sachsen nicht gelöst worden, denn es sind
wiederholt von den Verwaltungsbehörden auf Grund der Bestimmungen der
Gewerbeordnung Betriebe als zum Handwerk gehörig angesehen worden, die
das sächsische Oberverwaltungsgericht als Fabriken betrachtet hat. Eigentümlich
liegt ferner die Sache in den Hansestädten, in denen die Eigenschaft als Kauf¬
mann den Gewerbebetreibenden zwar zur Mitgliedschaft in der Handelskammer
berechtigt und Voraussetzung dieser Mitgliedschaft ist, aber diese Folge nicht von
selbst nach sich zieht. Indessen ist zu beachten, daß in den Hansestädten Lübeck
und Bremen die Kompetenzen der Handelskammern nicht so umfassend sind wie
in den anderen Bundesstaaten, insofern sich ihre Tätigkeit nur auf Handels- und
Schiffahrtsinteressen erstreckt, und daß auch die ganze Frage sür die Hansestädte
weniger Bedeutung hat, weil deren Handelskammern aus staatlichen Mitteln
erhalten werden.
Das Reichsgericht hat aufGrund der verschiedensten gesetzlichen Bestimmungen,
vor allem der Strafbestimmungen der Konkursordnung und der Gewerbeordnung,
Gelegenheit gehabt, zu der Frage, wann ein Betrieb als „Handwerk" und wann
er als „Fabrik" anzusehen ist, Stellung zu nehmen. Es hat für diese Unter¬
scheidung eine Anzahl Merkmale aufgestellt, die es im Laufe der Jahre, ent¬
sprechend den Änderungen des Wirtschaftslebens, zum Teil anders ausgestaltet
hat. Nach seiner heutigen Rechtsprechung ist für den Begriff der „Fabrik"
wesentlich, daß der Umfang der Herstellung und der Einrichtung der Fabrik
eine gewisse Größe hat, daß die Produktion auf einen? weitentwickelten System
der Arbeitsteilung beruht, daß der Unternehmer sich in der Hauptsache auf die
Leitung beschränkt und sich der Betrieb in Räumen, die vom Unternehmer
bereit gestellt sind, vollzieht.
Nicht direkt ausschlaggebend, wenn auch für die Kennzeichnung des Betriebes
immerhin von Wert, sind nach Ansicht des Reichsgerichts noch folgende Momente:
die Zahl der Arbeiter, die Verwendung von Maschinen, der Umstand, daß ent¬
weder aus Bestellung oder Vorrat gearbeitet wird, und der Umfang des Ab¬
satzes. Diese Kriterien, auch die wesentlichen, brauchen indessen nicht alle
zusammenzutreffen,- es genügt, wenn mehrere entscheidende Merkmale vorliegen,
um einen Betrieb als „Fabrik" zu kennzeichnen.
Diesen Standpunkt des Reichsgerichts wird man jedenfalls als einen
zutreffenden anerkennen und aus ihm den Leitsatz ableiten können, daß alle
genannten Unterscheidungsmerkmale sich aus der Art und dem Umfange des
Betriebes heraus entwickeln lassen. Würde einheitlich nach diesen Grundsätzen
verfahren, so wäre die Frage der Abgrenzung der Begriffe „Fabrik" und
„Handwerk" nicht eine so brennende, ihr Umfang nicht so erheblich geworden.
Da aber nach den vorstehenden Ausführungen die verschiedenartigsten Behörden
über diese Frage zu entscheiden haben: die Verwaltungsbehörden der
sämtlichen Bundesstaaten von der Polizei- und Stadtbehörde ab bis zur
Ministerialinstanz, die Verwaltungsgerichtsbehörden, die Handelskammern, die
Einzelrichter, Landgerichte, Oberlandesgerichte, das Kammergericht und endlich das
Reichsgericht, und da ferner diese Behörden zum großen Teile gänzlich unab¬
hängig voneinander sind, so ist es nicht verwunderlich, wenn auf demselben
Gebiete die widersprechendsten Entscheidungen gefällt und der gleiche Betrieb
von der einen Behörde als „Handwerk", von der anderen als „Fabrik" an-
gesprochen worden ist. Die natürliche Folge war, daß sich Unzufriedenheit auf
beiden Seiten, im Handwerk sowohl wie in der Industrie, eingestellt hat, daß die
Gegensätze immer schärfer und die Wünsche auf Abänderung dieses unhaltbaren
Zustandes immer lauter und dringlicher geworden sind.
In der Reichstagssitzung vom 25. Mai 1897 wies gelegentlich der zweiten
Beratung der großen Hindwerkernovelle der Abgeordnete Richter darauf hin,
daß die Regierung von dem Zustandekommen des Gesetzes Dank nicht zu
erwarten habe, sondern daß das Gesetz erst die Etappe, die Handhabe zu weiterer
Agitation sein und eine noch stärkere Unzufriedenheit als bisher sich bemerkbar
machen werde. Diese Prophezeiung hat sich in vollstem Umfange erfüllt. Denn
alsbald nach Erlaß des Gesetzes bemühten sich die Hcmdmerkerkreise eifrigst, im
Gegensatze zu der aus der Gewerbeordnung und dem Handelsgesetzbuche in
Verbindung mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts sich ergebenden Ausfassung
der Begriffe „Fabrik" und „Handwerk" diesen eine Auslegung zu verschaffen,
die es ermöglichte, unter das Handwerk auch viele große und Mittelbetriebe
der Industrie und des Handels einzubeziehen. Diese Bestrebungen gingen
vielfach offensichtlich darauf hinaus, die Organisation und Zuständigkeit der
Zwangsinnungen und Handwerkskammern über das Handwerk hinaus auch auf
das fabrikmäßige Großgewerbe auszudehnen.
Der Anstoß wurde von der Gewcrbekammer zu Leipzig gegeben, die
bereits im Jahre 1897 den Wunsch hatte, die Großbetriebe zu den den
Handwerkern auferlegten Pflichten in bezug auf die Ausbildung der Lehrlinge
heranzuziehen. Sie beantragte auf dem deutschen Gewerbekammertage zu Würz¬
burg am 12. und 13. September 1898 eine Abänderung der Reichsgeworbe-
ordnung dahin, daß die Großbetriebe, sofern sie sich mit der Herstellung hand¬
werksmäßiger Arbeiten beschäftigten, den Zwangsinnungen unterstellt würden.
Der Gewerbekammertag sah zwar von einem Beschlusse in dieser Richtung ab,
da er den Alttrag nicht für aus'-ichtsvoll ansah. Er schlug jedoch einen anderen,
das gleiche Ziel erstrebenden Weg ein, indem er beschloß, bet den Landesbehörden
dahin vorstellig zu werden, daß derartige Groß- und Mittelbetriebe von den:
eventuellen Zwange, den Innungen anzugehören, mitergriffen werden sollten. Mit
diesem Beschlusse des Gewerbekammertages in Würzburg stimmt gleichlautend
auch der von dem ersten deutschen Handwerks- und Gewerbekammertag zu Berlin
im Jahre 1900 gefaßte überein, und von demselben Grundgedanken der
Ausdehnung der Zuständigkeit der Handwerkerorganisationen sind in gleicher
Weise die in den folgenden Jahren ans den .Kreisen der Handwerker laut
gewordenen Wünsche getragen. So beschloß der allgemeine deutsche Innungs-
und Handwerkertag im Jahre 1904, die Reichsregiemug um den Erlaß
gesetzlicher Bestimmungen dahin zu ersuchen, daß alle Großbetriebe, die hand¬
werksmäßig vorgebildete Arbeiter beschäftigten, zu den Wohlfahrtseinrichtungen
der Innungen und Handwerkskammern beitragspflichtig sein sollten. In außer¬
ordentlich charakteristischen Weise äußerte sich auf dem fünften deutschen
Handwerks- und Gewerbekammertage zu Lübeck im Jahre 1904 der Reichstags¬
abgeordnete Euler mit folgenden Worten zu dieser Frage: „Es ist nötig, daß
den Handwerkskammern ein gewisser Einfluß durch die Beauftragten gegeben
wird in der Frage: was ist Fabrik, was ist Handwerk? Für uns Handwerker
ist es klar, daß ein Handwerksbetrieb, auch wenn er mit hundert und
mehr Arbeitern besetzt ist, immer ein Handwerksbetrieb bleibt. Ich habe
die Überzeugung, man wird fünf, vielleicht zehn, vielleicht auch fünfzehn
Jahre und noch länger nach der Grenze zwischen Fabrik und Handwerk suchen,
sie aber selbst bei der besten Blendlaterne nicht finden. Zunächst will man
sie nicht finden, wenigstens nicht im Interesse des Handwerks. Man findet
sie aber leicht, wenn es gegen das Handwerk und für die Großindustrie, die
Fabriken geht . . . Wir müssen also dahin streben, daß es hier in die Reichs-
gesetzgebung eingefügt wird, daß diese Betriebe, soweit sie handwerksmäßig
ausbilden oder handwerksmäßig vorgebildete Arbeiter beschäftigen, zu den
Innungen und Handwerkskammern beitragen müssen." Der Handwerks- und
Gewerbekammertag zu Lübeck schloß sich dieser Forderung durch eine Resolution
an, und dem gleichen Beispiele folgte im Jahre 1907 auch der zu Eisenach
abgehaltene Handwerkstag, auf dem der nachfolgende Beschlußantrag angenommen
wurde: „Das Handwerk muß sein tiefstes Bedauern darüber aussprechen,
daß die Mehrzahl der deutschen Fabrikanten die Sorgen wie die Opfer
für die Ausbildung ihres Arbeitermaterials dem um seine Existenz schwer
ringenden Handwerk überläßt. Der Handwerkstag beschließt daher, mit
allen Mitteln dahin zu wirken, daß auch die Großindustrie zu deu
Wohlfahrtseinrichtungen der Innungen und Handwerkskammern, soweit die¬
selben das Gesellen- und Lehrlingswesen betreffen, mit Beiträgen heran¬
gezogen und die Bestimmungen der Gewerbeordnung dahin abgerundet werden,
daß jeder Gewerbebetrieb, ohne Rücksicht auf Umfang, die Zahl der Arbeiter,
die maschinelle Einrichtung usw. Beiträge an die Innungen und Handwerks¬
kammern zu leiste« hat."
Diese Forderung, die industriellen Betriebe zu den Beitragskosten sür die
Zwangsinnungen und die Handwerkskammern heranzuziehen, ist seitdem immer
nachdrücklicher verfolgt morden und hat im Reichstage die Unterstützung aller
rechtsstehenden Parteien, der Nationälliberalen und auch des Zentrums gefunden,
von denen diesbezügliche Initiativanträge bereits mehrfach gestellt worden sind.
Aber auch in der Praxis ist den Wünschen im Wege der Auslegung und Hand-
habung der Gesetzesbestimmungen die Zuständigkeit der Handwerkerorgauisationen
über die Grenzen des Handwerkes hinaus auf Mittel- und Großbetriebe
auszudehnen, infolge der freundlichen Haltung der Regierung dem Handwerke
gegenüber in ziemlich weitem Umfange Rechnung getragen worden. Die im
Jahre 1904 von der Handelskammer zu Stolp herausgegebene Denkschrift:
„Die Streitigkeiten über die Zugehörigkeit zu der Handelskammer" wie auch
die bereits erwähnte Denkschrift der Leipziger Handelskammer über die Frage
„Fabrik und Handwerk" geben eine umfangreiche Zusammenstellung der in
dieser Richtung besonders markanten Fälle.
Überblickt man alle diese Wünsche und Vorschläge des Handwerks, auf
die vorstehend Bezug genommen ist, so lassen sie sich, abgesehen von dem in
der Literatur nur ganz vereinzelt auftretenden Gedanken, den Streit durch eine
gesetzliche Definition der Begriffe „Fabrik" und „Handwerk" zu erledigen und
zur Fabrik alle Betriebe zu zählen, die Massenartikel bei Arbeitsteilung durch
Maschinenbetrieb auf Vorrat herstellen, im allgemeinen in zwei Kategorien
einteilen. Der eine Teil der Handwerkerforderungen geht dahin, die Fabriken
schlechthin zu den Handwerksorganisationeu heranzuziehen und zwar dadurch,
daß entweder ein jeder Gewerbebetrieb zu den Gesamtkosten der Innungen und
der Handwerkskammern überhaupt beitragspflichtig gemacht wird oder daß nur
derjenige Betrieb herangezogen wird, der sich mit der Herstellung handwerks¬
mäßiger Arbeiten abgibt oder Arbeiter handwerksmäßig ausbildet und hand¬
werksmäßig vorgebildete Arbeiter beschäftigt.
Der andere Teil der Handwerker verlangt zwar nicht die Zugehörigkeit
der Großbetriebe zu den Handwerkerorganisationen, wohl aber ihre Beitrags¬
leistung zu deren Einrichtungen. Die Vorschläge, die in dieser Beziehung
gemacht sind, gehen dahin, daß entweder die Großindustrie generell mit
Beiträgen für die Wohlfahrtseinrichtungen der Innungen und Handwerks¬
kammern belastet oder daß ein jeder Großbetrieb, der handwerksmäßig vor¬
gebildete Arbeiter beschäftigt, wenigstens soweit an den bezeichneten Kosten
beteiligt wird, als diese für die Förderung des Lehrlings- und Gesellenwesens
verwendet werden. Diese Forderungen werden mit der Behauptung begründet,
daß die Industrie gar nicht in der Lage sei, alle Handwerker, deren sie in
ihren Betrieben benötige, selbst auszubilden, zumal die Lehrlingsausbildung in
den Fabriken zu wünschen übrig lasse. Wie die Ausbildung der Lehrlinge, so
überlasse die Industrie auch die Aufbringung der dafür nötigen Kosten lediglich
dem Handwerke, entziehe diesem aber anderseits die besten Kräfte nach vollendeter
Ausbildung. Da hierdurch der vom Handwerke so empfindlich gefühlte Mangel
an Gesellen und Lehrlingen herbeigeführt werde, so werde das Handwerk also
in doppelter Hinsicht geschädigt. Aus diesen Gründen wird es als gerecht¬
fertigt bezeichnet, die Industrie zu den Kosten der Handwerkerlehrlingsausbildung
gesetzlich heranzuziehen, und mit dem Hinweis auf Österreich, welches solche
Mitbelastung der Großbetriebe bereits kenne, suchen das Handwerk und seine
politischen Freunde den Mangel an ziffernmäßigem und statistischen Beweis-
material zu ersetzen.
Wie nachhaltig diese mit immer stärkerem Nachdruck betonten Forderungen
des Handwerks die Stellungnahme der Reichsregierung bereits beeinflußt haben,
zeigt am deutlichsten das Verhalten des derzeitigen Leiters unserer inneren
Wirtschaftspolitik. Noch am 1. Februar 1908 erklärte Herr Dr. Delbrück als
damaliger Handelsminister im preußischen Abgeordnetenhause unter Hinweis
auf die Ergebnisse einer amtlichen, über mehrere Regierungsbezirke ausgedehnten
Erhebung: „Ich komme also zu dem Ergebnis, daß man, so schön der
Gedanke erscheint, nicht viel erreichen würde, wenn man den Versuch machen
wollte, die Industrie heranzuziehen, daß man voraussichtlich in einzelnen
Handwerkszweigen das Handwerk geradezu schädigen würde, weil man die
Zahl der Lehrlinge durch eine derartige Anordnung eher verringern als ver¬
mehren würde. Endlich bin ich der Ansicht, daß die ganze Maßregel, selbst
wenn sie, wie Herr Abgeordneter Trimborn sagt, nur aus dem Gesichtspunkte
heraus ergriffen wird, daß man das Geld nehmen soll, wo man es bekommt,
doch den Eindruck einer kleinlichen Kriegsmaßregel machen könnte und nicht
geeignet sein dürfte, den Frieden zwischen Handwerksbetrieb und Industrie zu
fördern, den zu fördern nach meiner Ansicht im Interesse aller Beteiligten liegt."
Im Gegensatz hierzu hat Herr I)r. Delbrück als Staatssekretär des Reichs¬
amts des Innern Anlaß genommen, sich in der Sitzung des Reichstags vom
5. März d. I. zu der gleichen Frage folgendermaßen zu äußern: „Dann ist
noch einer der zurückgebliebenen, noch unerledigten Wünsche die Forderung des
Handwerks, daß die Industrie zu den Kosten der Lehrlingsausbildung beitragen
soll. Diese Forderung wird, soviel ich weiß, jetzt von allen Teilen dieses Hohen
Hauses als berechtigt anerkannt, und sie hat zweifellos auch eine gewisse grund¬
sätzliche Berechtigung. Aber wenn man den Dingen näher tritt, dann kommt
man, wie ich es auf Grund sehr eingehender Prüfung auf diesem Gebiet getan
habe, doch zu dem Ergebnis, daß die Verhältnisse für die einzelnen Industrien
in den einzelnen Teilen Deutschlands sehr verschieden sind, und daß sehr wohl
der Fall eintreten kann, daß man durch die Nötigung der Industrie, zu den
Kosten der Lehrlingsausbildung bei der Innung beizutragen, das Handwerk
nicht fördert, sondern schädigt; und deswegen, meine Herren, habe ich immer
eine gewisse Scheu gehabt, hier mit einer reichsgesetzlichen Regelung einzugreifen,
die schlechtweg die Verpflichtung der Industrie feststellt, zu den Kosten der
Lehrlingsausbildung bei den Innungen und Handwerkskammern — denn da,
wo die Städte diese Kosten tragen, wird die Sache ja nicht akut — beizutragen.
Ich bin aber bereit, mit den verbündeten Regierungen in eine Erörterung
darüber einzutreten, ob diese Frage vielleicht in der Weise gelöst werden kann,
daß man eine ähnliche Regelung eintreten läßt wie bei den Fortbildungs-
schulen. Man könnte die Möglichkeit schaffen, daß man durch Ortsstatut die
Pflicht der Industrie, zu den Kosten der Lehrlingsausbildung bei den Hand¬
werksorganisationen beizutragen, regelt. Diese Regelung könnte eventuell auch,
ähnlich wie es in der letzten Novelle zur Gewerbeordnung geschehen ist, so
gestaltet werden, daß man der Aufsichtsbehörde die Möglichkeit gibt, in Ermange-
lung eines solchen Ortsstatuts eine entsprechende Anordnung zu erlassen. Das
ist nach meiner Ansicht vielleicht ein gangbarer Weg, der die Bedenken auf¬
räumt, die ich bisher der Forderung entgegengesetzt habe."
Hiernach steht man also vor der Tatsache, daß sich innerhalb weniger
Jahre bei dem Herrn Minister ein vollständiger Meinnngsnmschwung voll¬
zogen hat.
n einem schneehellen Wintervormittag des Fevrmns l.518 diktierte
der kaiserliche Rat Herr Willibald Pirkheimer den: Schreiber ins
Nürnberger Stadtprotokoll:
„Dem Jörg Graff und sein plindten gesellen ist abgelaint,
ain Spiel mit ainer Sau zu haben, zu verhüten am aufrur."
Herr Willibald konnte dabei, der Würde des Augenblicks zum Trotz, ein
Schmunzeln nicht unterdrücken, und auch den beiden anderen gestrengen und
würdigen „deputierten Ratsherren", die ihm zur Seite standen, Herrn Hieronvmus
Holzschuher und Herrn Jakob Muffel, huschte ein Leuchten stillergötzter Mensch¬
lichkeit über den Ernst des Amtsgesichts.
Es war aber auch zu toll, was der blinde Jörg Graff, vormals frummer
Landsknecht und Soldatendichter, nunmehr mit des hohen Rats Bewilligung
„Hofierer", das heißt von Hof zu Hof wandelnder Bänkelsänger, von den ehr¬
samen Vätern der Stadt zu erbitten sich erkühnte. Der Mann wollte nichts
Geringeres, als mit einem zweiten blinden Genossen „um eine Sau kämpfen",
worunter verstanden wurde, daß man ein Schwein an einen Strick band und
den Blinden, die ihr Glück versuchen wollten, einen starken Knüppel in die Hand
gab, worauf unter dem wilden Gejohle rohgesinnter Zuschauer das traurige
„Spiel" beginnen konnte. Wer das Schwein erschlug, der durste es behalten.
Und zu solch verrückten und empörenden Beginnen hatte der tolle Jörg
Graff die Genehmigung des fürsichtigem Rates verlangt. Das konnte er allen¬
falls im Kreise seiner wüsten Kriegsgesellen probieren, keineswegs aber zu Nürn¬
berg in der wohlgesitteten Stadt.
„Ihr seid dein Manne ansonsten stets gewogen gewesen, Herr kaiserlicher
Rat", bemerkte Hieronymus Holzschuher mit spöttischem Vorwurf.
„Will's ihm auch fernerhin bleiben!" versetzte Pirkheimer spitzig und scharf.
„Ihr müßt des Jörgen Schicksal wohl bedenken, dann werde Ihr Einsicht kriegen
und Lust zu unterem Urteil. Ich kenne den Mann seit den Reichskriegszeiten,
da er mit mir ins Schweizerische zog. Ihr mögt mir glauben, daß ich seine
Tapferkeit nicht minder zu schätzen wußte als die Wirkung seines köstlichen Lieds
zur Laute. Auch hat er mir der Knechte Mut mit manchem kernigen Sang
gehoben. Und nun bedenkt, daß dieser .Kraftgesell, dem Wald und Heide just
das beste Losament gewesen, im Vorjahre erblindete, als das Haus am Weißen
Turm abbrannte. Meinen Antrag, zu mir auf Gut Neunhof zu kommen, hat
er rundweg abgelehnt und dabei voll Trotz behauptet, es sei nicht seine Art.
an fremden Tischen zu schmarotzen, er wolle sich vielmehr sein Brot fiir sich
und sein Kind auf ehrliche Weise verdienen. Und seht, gerade dies gefiel nur
am Jörg Graff!"
Herr Pirkheimer war, indes er also erzählte, mit den Ratskollegen die
Stiege hinab und ins Freie gelangt. Ein zarter und gelinder Schnee hatte sich
allenthalben auf den hohen Giebeldächern, den Erkern, Türmchen und Ehörlein
niedergelassen und brachte dort, wo immer er konnte, ein neckisches Häubchen,
ein Zipfelmützchen oder sonst ein launiges Lichtgezier im dunklen Gemäuer hervor.
Herr Pirkheimer verabschiedete sich etwas kühl und selbstbewußt, wie es
den Kollegen gegenüber seine Art war, und wandte sich über den Kirchhofplatz
der Se. Sebalduskirche zu, deren spitzbedachte Zwillingstürme dem fallenden
Schnee immer höher entgegenstrebten.
Der Ratsherr zog seinen mächtigen Pelz etwas fester und schritt an der
Nordseite zum östlichen Portale, vor dem er eine Weile in lächelnder Betrachtung
stehen blieb.
In halber Höhe des mächtigen Eingangs standen auf zierlichen Piedestalen
zehn wohlgemeißelte Jungfrauen, fünf zur Rechten und fünf zur Linken. Die
rechts gereihten, es waren die biblisch Klugen, hielten die steinernen Lämpchen
frohlockend empor, doch jene zur Linken trugen sie traurig gesenkt. Auch hatten
sie das Haupt nicht stolz und siegesgewiß erhoben gleich den anderen, sie hielten
es vielmehr in Demut und trüber Verwirrung geneigt. Nun war es aber gar
seltsam und ergötzlich zu sehen, wie der Schnee, den ein nächtlicher Wind
hereingetrieben, gerade den armen törichten Jungfrauen je ein weißes Kränzel
ums Haupt gesponnen hatte, indessen wunderlicherweise gerade die stolzen und
kluggesinnten dieser himmlischen Zierde ermangelten. Dieses drollige Spiel der
unbekümmerten Elenrente entsprach so recht dem witzig erregten Temperament
und der sinnlich ironischen Weltbetrachtung des großen Humanisten, vielgelehrten
Denkers und sattelgerechten Spötters Herrn Willibald Pirkheimer.
Aber noch ein anderes war es, was ihn vor dieser beredt geschlossenen
Türe ein Weilchen halten ließ. Unter ihrer hohen gotischen Wölbung pflegten
die Nürnberger Bräute zum Willkomm gesegnet zu werden, wenn sie die Kirche
zum letztenmal als Mägdlein betraten. Und nun waren es bald dreiundzwanzig
Jahre, daß der stattliche, eben ans den hohen Schulen zu Padua und Pavia
heimgekehrte und dennoch schon angesehene junge Gelehrte die schöne Patriziers¬
tochter Crescentia Rieter durch dieses Tor zur Hochzeit geführt hatte. Doch
war die Gute schon lange tot, und Herr Willibald Pirkheimer hatte keine zweite
mehr gefreit, obgleich er schönen Frauen sehr gewogen war.
Der Ratsherr wandte sich nun einem kleinen einschiffigen Kirchlein entgegen,
das nicht ferne über dem Friedhofszaun hervorlugte. Ans Kirchlein geschmiegt
stand dort eine langgestreckte unscheinbare Hütte, aus deren hochragenden
Schornstein ein dichter Rauch sich drängend kräuselte. Und je näher Herr
Pirkheimer kam, desto fröhlicher schaute er drein, und schließlich begann er ver¬
gnüglich zu schnuppern — es schwamm ihm durch die Winterluft gar lieblich
ein Duft nach lecker gebratenen Würstchen zu.
Und als er nun, den stämmigen Nacken gebeugt, durch die rußgeschwärzte
Türöffnung spähte, da saß in der dämmerigen Ecke und hielt ihm lächelnd den
blinkenden Krug entgegen der Mann, der seinem Herzen näher stand als irgend
ein anderer Mensch auf Erden. Es war Herr Albrecht Dürer.
Etwa ein Stündlein später wandelten die beiden Schulter an Schulter ihr
liebes Nürnberg hinab, dem Ufer der Pegnitz zu, wo sich rings um den Henker¬
steig das dichtverworrene Häuser- und Brückenwerk immer düsterer gebärdete.
Auf all dem lauschigen Gemäuer aber lagerte als festlichhelle Krönung der klare,
feierliche Schnee.
„Es wird Euch nit gereuen, den Jörg geschaut zu haben," begann Herr
Pirkheimer. „Euch ist ja das Leben in jeglicher Form willkommen. Und je
schlimmer Ihr es schaut, um so Höheres macht Ihr daraus!"
„Ihr gebt mir viel der Ehre, lieber Herr Pirkheimer," erwiderte Dürer
mit freundlichem Lächeln.
„Nicht mehr, als Euch gebührt," polterte der andere.
„Auch hab' ich diesmal vor, Euch mehr ins Handwerk zu pfuschen, als
Ihr vielleicht vertragen wollt. Aber schlechter als Euer Gedichtzeug, das Ihr
znnftwidrig hin und wieder zusammenleimt, wird mein Malzeug auch nit sein.
Also denk' ich mir das Ding in solcher Art: Ihr laßt den blinden Jörg auf
einer Trommel sitzen, wie er's im Felde oft gepflegt, und gebt ihm eine Laute
zur Hand. Das Schwert aber legt Ihr ihn: überzwerch aufs Knie, als Zeichen
seiner alten Tapferkeit. Die Landsknechte sitzen und liegen um ihn herum,
aber keiner auf der festen Erden, dieweil sie nur im Traum des Jörg vorhanden
sind, sondern jeglicher gelagert auf einem zierlich gekräuselten und geballten
Wölklein, gleich wie der Mops auf dem Daunenpfühl, und wenn Ihr noch ein
paar von den Kerlen, der heiligen symmetria wegen, fein säuberlich in die
Luft verteilen wollt, hab' ich auch nichts dagegen!"
„O weh!" rief Dürer lachend, „mir wird's im Magen wüst vor Eurer
Phantasei. Wenn Ihr lang noch fortfährt, mir Bilder zu entwerfen, will ich
Euch bald versprechen, das Dichten bleiben zu lassen. Dann wär' uns beiden
geholfen!"
„Noch bin ich nit zu End'!" versetzte Pirkheimer, „doch seht Ihr drüben
am Wasserkuren des Steinmetzen Hermann Unfugs Haus. Dort lebt der Jörg
mit seinem Kind!"
„Mit seinem Kind?" wiederholte Dürer erstaunt.
„Das sollt Euch nit wundern," meinte der andere. „Er hatte ein Weib
aus den Zeiten, da er noch zu Augsburg ehrsamer Gürtler war. Sie war in
den langen Kriegslager, da er sie allein gelassen, ein recht verwildert Weibsbild
geworden und ist ihm schließlich entlaufen. Aber das Kind, das lebt mit ihm
und wird Euch wohl gefallen!"
Die beiden waren nunmehr vor ein kleines einstöckiges Haus gelangt, das
so ärmlich und ungepflegt war mie all seine Nachbarn in dieser winkeligen
Gegend. Durch den dunklen Flur erblickte man einen Teil des Hofes, aus
dem sich klingendes Hämmern und Feilen vernehmen ließ. Dort war wohl
der Steinmetz mit seinen Gesellen an der Arbeit.
Herr Pirkheimer zog den Freund eine finstere Treppe hinauf und tat so
heimlich, als ob es um ein Abenteuer ginge. Aber die Stufen knarrten so
laut, daß sich die beiden bald verraten sahen, denn plötzlich erschien auf der
Schwelle oben im Rahmen der dämmrig erhellten Tür eine jugendlich hohe
Frauengestalt, die sich spähend die Treppe herunterueigte. Zugleich aber lies;
sich eine kräftig tiefe Männerstimme vernehmen, die ein kriegerisches Lied voll
wilder Inbrunst sang, wobei das ganze Stiegenhaus erdröhnte:
„Aha, er hat uns schon gehört," lachte Herr Pirkheimer. „Sobald er
Fremde in der Nähe spürt, wird er kriegerisch. Macht Euch darauf gefaßt,"
fügte er leise hinzu, „daß er wenig davon wissen will, daß er das Augenlicht
verlor. Er tut, als wär' er noch der Alte von einst. Und ist doch so kläglich
schlimm daran! Gott grüß Euch, Jungfer Felicitas! Wollt Eurem Vater sagen,
daß er guten Besuch zu empfangen hat!"
Aber das hohe stattliche Frauenzimmer dort oben rührte sich nicht. Es
sah halb grollend, halb verlegen den ungebetenen Gästen entgegen und erwiderte
nichts. Herr Pirkheimer aber, der dem fraulich Schönen in jeglicher Lage
gewachsen war, zog unbeirrt das Pelzbarett vom Mähnenhaupt und verneigte
sich vor der Jungfrau in schalkhafter Art und doch rin solch vollendet patri-
zischer Höflichkeit, daß dem guten Kinde in jäher Verlegenheit das Blut ins
Antlitz schoß.
Im selben Augenblick erkannte Meister Dürer mit wohlgeübten staunenden
Blicken, wie schön dieses große und doch keineswegs ungefüge Mädchen war.
Auf einem köstlich ausgereiften Nacken saß ein rundlich vollbackiges Kindergesicht,
von üppig blonden Locken umwallt, in dem die großen tiefblauen Augen,
der knospend geschürzte Mund und das schalkhaft vorgerundete Kinn in
lieblichster Weise zwischen fraulichem Wissen und kindlicher Unerfahrenheit stritten.
Noch niemals hatte der Meister ein Antlitz gesehen, in welchem das reifende
Weib so sehr noch dein Kinde, das zagende Kind so ganz schon dem werdenden
Weibe angehörte.
Die Jungfrau mochte den forschenden Blick des schönen vornehmen Mannes
wohl bemerkt haben, denn sie wandte sich mit verlegenem Mißmut ab, wobei
dem Meister, den: das keineswegs mißfiel, ein stilles Lächeln entglitt'.
Indessen war Herr Pirkheimer an den Blinden herangetreten, der sich von
der Ofenbank erhoben hatte. Er war von hünenhafter Gestalt und sah rin
seinem dichtgekräuselten, zur Seite geteilten Landsknechtsbart dem berühmten
Frundsberger nicht unähnlich. Auch trug er noch immer die kriegerisch wilde
Tracht seines früheren Amtes: am grellen Wams zerschlitzte Ärmel von un¬
geheurer Weite, an den Hosen den einen Flügel so dürftig, daß das nackte Bein
hervorstarrte, den anderen aber aufs abenteuerlichste mit wulstigen Puffen und
farbigen Lappen verziert.
Er hielt die erloschenen Augen starr den Besuchern entgegen, und jählings
überzuckte sein Antlitz wilde Freude, als er Herrn Pirkheimers Stimme vernahm:
„Ich bin's, Jörg Graff, der einst Euer Feldherr war in: Schweizerkrieg, Wibold
Pirkheimer, den Ihr wohl noch kennt!"
„Wie freut's mich, Euch zu sehen, vieledler Herr!" fuhr der Blinde heraus
und schien den trostlosen Widerspruch in seiner Rede gar nicht zu empfinden.
Er griff nach der Hand des Ratsherrn und drückte sie freudig.
„Ihr schenkt dem fahrenden Sänger große Ehr'! Nun kann ich Euch auch
danken, daß Ihr mir Kenn hohen Rat den silbernen Schild erwirkt habt und
des neuen Brots Berechtigung!"
Es war nun ein ebenso lieblicher als ergreifender Anblick, als die schöne
Felicitas, die bei den Worten des Vaters hoch aufgehorcht hatte, ohne Zögern
und Gezier auf Herrn Pirkheimer zuschritt, seine Hand ergriff und sie küßte,
noch ehe er es hindern konnte.
„Ich dank' Euch, Herr!" sagte sie schlicht gelassen.
Herr Pirkheimer wandte sich ab, um sein Erröten zu verbergen. Aber
Dürer hatte es wohl bemerkt und warf dem Freund einen launig fragenden
Blick zu. Da errötete Herr Pirkheimer noch stärker.
„Gedenkt Ihr noch, Jörg Graff," begann er abzulenken, „unseres Zuges
über das Stilfser Joch? Als wir an: Abend vor dem ausgebrannten Dorfe
lagerten, da tratet Ihr hervor und fanget ein wildes Lied von des Krieges
hallenden Freuden trotz aller Not. Und indessen Ihr säuget, da kam es kläglich
und schauerlich aus zerfallenen Mauern herausgeschlüpft, viel hundert totbleiche
Kinder waren es, von gespenstischen Matronen geführt, und alle zogen sie
schweigend mit schleppenden Schritten an uns vorbei. Und plötzlich, als sie
seitab auf eine Wiese gekommen waren, da warfen sie sich nieder, groß und
klein und rauften mit gierigen Fingern Gras und Getränke und schlangen es
in Hungers Qual hinab, dem lieben Vieh vergleichbar. Gedenkt Ihr noch?
Ihr brandet bei diesem Anblick im Liede jählings ab und weintet laut, und
auch wir anderen weinten alle mit. Und solchem Greuel, den der Krieg uns
bringt und immer bringen wird, seid Ihr noch gewogen, Jörg? Noch immer
singt Ihr gern von Euren Landsknechtstagen? Ward Euch vom Segen des
Humanismus keine Kunde und vom Morgenrot einer milderen Zeit?"
Die Brust des blinden Niesen wogte gewaltig. Erinnerung bedrängte ihn,
und schmerzlich Verworrenes rang nach Klarheit. Dann aber riß es ihn mächtig
empor, und mit erhobenen Fäusten rief er:
„So solltet Ihr nit sprechen, der Ihr unser Feldherr wart, Herr Pirk-
heimer! Wer je den Brüdern Treu geschworen in Sturm und Not, wo Herz
an Herz geklopft im Fähnlein, Spieß an Spieß, indes die Trummeln lärmten
und die Pfeifen schrien, und wußt ein jeder: Mord und Brand, der Feind, der
ist vorhanden! — und dann den Staub von Schuh und Wams geschüttelt —
drauf und dran! — wer je ein frummer Knecht gewesen nach rechtem Regi¬
ment, dem liegt nichts anderes mehr im Sinn, er bleibt für alle Welt verloren
außer dem!"
Und nun, als hätte er alles um sich herum vergessen, tappte der Blinde
nach seiner Laute, die in der Ecke hing und stellte sich, wie er es wohl in den
Höfen und Schenken der Stadt gewohnt war, breitspurig inmitten des Zimmers
hin und begann mit schallender Stimme ein selbstersonnenes Landsknechtslied zu
singen, wobei er seinem Saitenspiel in grimmiger Weise ein schnarrendes
Trommeln entlockte:
Das war ein grausam stürmisches Lied, ganz ohne Wortgezier und Reim-
geprunke und doch ergreifend in seiner wahrhaftigen Nacktheit, Schlag für
Schlag. Vom Landsknecht sang der Blinde, der keine Zeit zu fasten und zu
beten habe, dagegen im Schnee und Regen springen oder lagern müsse und
dem kein Land zu weit sei, wenn es dort einem günstigen Herrn zu dienen
gelte, mit Spieß und Helleparten. Und eine grüne Heide ist das Buch des
Gerichtes, doch wird das Urteil fürchterlich geschrieben, bis daß das Blut die
Schuh' durchrinnt. Dann hebt die Klage an der treuen Frauen, und jede, die
den Mann erschlagen findt, zeigt bald sich eines andern wert, damit der Tote
ihrer sich nicht zu schämen brauche.
Doch als das Lied zu Ende ging, da ward des Blinden Stimme plötzlich
von schlecht verhehltem Schmerz gewürgt, und trüb und müde klangen die
Worte aus:
Es war nun weh und peinlich zugleich zu sehen, wie der starke Mann
gebeugten Hauptes aufs Ofenbänkchen zurückwankte, indes die Tochter, die ihm
die Laute sorglich abgenommen, an seiner Seite stehen blieb und ihm sachte
und rin traurigem Lächeln das ergraute wirre Haar zu streicheln begann. Der
Blinde aber hielt das Antlitz in den knorrigen Händen verborgen und stöhnte
von Zeit zu Zeit ingrimmig auf.
Herr Pirkheimer raunte dem Freunde zu: „Laßt uns gehen. Ich weiß nit,
was ich dem Mann zu sagen hätt!"
Doch eh' er mit Dürer das Zimmer verließ, zog er sein Beutelchen und
legte ein blinkendes Goldstück vor sich auf den Tisch.
Im selben Augenblick bemerkte Herr Dürer, der sich nochmals umgesehen
hatte, wie ein Zucken schmerzlichen Unwillens das Antlitz des Mädchens überflog.
Da nickte er dem schönen Kinde freundlich und begütigend zu. Sie aber ließ
einen kurzen Blick voll scheuer Verwunderung über sein Antlitz streifen und
beugte sich dann rasch auf das Haupt des Vaters nieder.
Auf dem Heimweg schritten die beiden eine Weile schweigend neben¬
einander hin.
„Und nun, was meint Ihr zum Jörg Graff?" begann Herr Pirkheimer endlich.
„Sein Bildnis wird noch lange in mir leben." erwiderte Türer. „Die
Qual des Jörg ist nicht mit bloßem Mitleid zu ermessen. Hier ward ein starkes
und gesundes Leben jäh zerstört inmitten seines wilden Laufs. Denn so Ihr
einen Fluß gewaltsam hemmt, so tobt er aus und reißt die Ufer mit und bringt
Zerstörung übers Land. Ich fürcht', es wird im Schlimmen enden mit dem Jörg!"
„Und da ich Gleiches denke," nickte Herr Pirkheimer, „so hab' ich mich
vor etlicher Zeit bemüht, der schönen Tochter Schicksal ins Sichere zu lenken,
und hab' ihr angetragen, bei mir auf Schloß Neunhof in Dienst zu treten, da
ich ja anstelliges Magdzeug jederzeit brauchen kann. Sie hat aber zum eigenen
Schaden davon nichts wissen wollen, und auch der Alte erhub ein groß Geschrei
und meinte, er lasse sein Kind, dieweil er sich's aus dem Feuer gerettet, nit
eine Gasse weit von sich."
Herr Dürer entgegnete nichts. Es wollte ihm nicht behagen, daß der
Freund solcherart von des Blinden Tochter sprach und daß er gedacht-hatte.
sie auf sein Schloß zu nehmen. Denn auf dem gastlichen Schlosse Pirkheimers,
des lebens- und liebesfreudigen, in Diensten zu stehen, mochte für jedes junge
gefällige Weibswesen allerlei bedeuten, was nicht immer leicht zu verwischen
war. Dies wußte man im ganzen Nürnberg und auch im Nachbarland umher,
und man hatte sich daran gewöhnt, wie man ja vornehmen, berühmten und
ums Vaterland verdienten Männern oft manches eher zugute hält als dem
schlichten, ans Maß der notgedrungenen Sitte gefesselten Bürger.
Und noch weniger wollte dem Meister die Frage behagen, die Herr Pirk-
heimer nun ganz unvermittelt an ihn richtete:
„Und wie gefiel Euch die Felicitas?"
„Ich find', daß sie kaum weniger als der Vater guten Trost's bedarf,"
meinte Dürer ausweichend.
„Und möchtet Ihr nit einmal ein Bildnis malen, auf dem der Jörg mit
seinem Kinde ist abkonterfeit?"
„Das weiß ich jetzo nit zu sagen," versetzte Dürer nach einigem Zögern.
„Ihr wißt, wie viel an guter Arbeit mich der Holzschnitt von des Kaisers
Brautzug kostet. Er ist nun bald zu End. Wann wollt Ihr kommen, ihn
zu sehen?"
„Das soll schon in den nächsten Tagen sein," meinte Herr Pirkheimer.
„Doch will ich Euch Genaueres noch sagen, da Ihr doch vorher mein Gast zu
Abend seid. Vergeßt nit: Zecuncl^ vizzilia ^atliei. Und sagt Eurem Weib',
ich laß sie grüßen und sie sollt' nit allzu ängstlich auf Euch sein und soll Euch
freundlichen Urlaub geben am Abend, da Ihr kommt."
Herr Pirkheimer reichte bei diesen Worten den? Freunde mit gutmütig
spöttischem Lächeln die Hand.
Hier auf dem Markte stand des Ratsherrn ehrwürdig stolzes Patrizierhaus,
die Stätte ruhmreichen Bürgerverdienstcs, freigebigsten Reichtums und unbegrenzter
weltberühmter Gastlichkeit.
„Lebt wohl, o seltener Vogel des Jahrhunderts, Fürst der Gelehrten,
Patron der Musen, Orakel aller Wissenschaften!" rief ihm Dürer lachend nach.
Herr Pirkheimer wandte sich im Tore um und drohte dem Meister lächelnd
mit dem Finger. Kein anderer durfte sich eines solchen Scherzes mit ihm
erkühnen. Nur Herr Dürer wagte es unverzagt. Wortschmig folgt)
an behauptet von der dramatischen Kunst gemeinhin, daß sie auf
Plastik hinarbeite. Das ist natürlich richtig! Die Bühne erst
stellt uns das dramatische Werk, die Dichtung und ihre Gestalten,
rund und voll in den Raum, sie stellt sie uns dreidimensional dar.
Welcher Art diese Plastik ist und in welchen: Verhältnis sie
zum Bühneuraume selber steht, das hat uns aber erst die jüngste Geschichte des
Theaters in. Deutschland, das haben uns die verschiedenen Gestaltungen gelehrt,
die man unserer modernen Bühne gegeben hat, zum Teil mit der ausgesprochenen
Absicht, sie zu reformieren. Erst jetzt, wo uns die Möglichkeit gegeben ist, das
Verhältnis von Bühnenplastik und Bühnenraum auf der Bühne der Mcininger
mit der Gestaltung des gleichen Problemes auf der Bühne des Deutschen Theaters
unter Brahms einerseits und unter Reinhardts Leitung anderseits zu vergleichen,
wo dieses Problem im Münchener Künstlerlheater gewissermaßen in abstrakter
und paradigmatischer Form behandelt ist, und wo uus schließlich Reinhardts
Zirkusaufführungen neue und doch vielleicht uralte Gestaltungen dieses Problems
nahe gebracht haben, erst jetzt vermögen wir die ganze Tragweite des Problems
für die weitere Entwicklung und die Reform unseres Theaters zu überschauen
und richtig einzuschätzen.
Alle modernen Bühnengestaltungen - ausgenommen sind die Versuche
Reinhardts, den Zirkus zur Bühne zu machen — sind nur Weiter- und Um¬
bildungen der alten, primitiven Kulissenbühne und stehen daher zunächst mit
unter dein allgemeinen dekorativen Gesetz, das diese beherrscht. Denn der
Bühnenraum des modernen Theaters ist stets so angeordnet, daß nur mit seiner
Betrachtung von vorne, von einer einzigen Seite her, gerechnet zu werden braucht.
Das grundlegende dekorative Gesetz, das sich aus dieser Auordnung des Bühnen¬
raumes ergibt, ist dies, daß seine Ausgestaltung ganz und gar auf diese eine
Ansicht, auf die Ansicht von vorne her, erfolgen muß.
Dieser dekorativen Grundforderung suchte die alte, primitive Kulissenbühne
mit den einfachsten Mitteln gerecht zu werdeu, indem sie sich mit der
Hintereinandcrordnung von Kulissen und auf diesen mit rein flächenhaften und
malerischen Andeutungen für die gegenständlichen und plastischen Einzelheiten
begnügte. So blieb die individuelle Ausgestaltung des Raumes nach den
Bedürfnissen der Handlung, die sich in ihm abspielte, und seine Füllung mit
plastischen Einzelheiten in der Hauptsache der Phantasie des Zuschauers über¬
lassen, der jene mageren Andeutungen genügen mußten und — genügten.
Mitten in dem so ausgestalteten Raume aber stehen nun die handelnden
Personen der Dichtung und besitzen die runde, dreidimensionale Plastik in
Wirklichkeit, die den raumfüllenden Einzelheiten die Phantasie leiht. Es könnte
der Gedanke naheliegen, daß dieser Gegensatz sich in der Einheitlichkeit des
Bühnenbildes störend bemerkbar machen und die Illusion vernichten möchte.
Dieser Gedanke ist zum Teil später für die selbständige, naturalistische Behandlung
des Details der leitende gewesen. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall.
In der Bühnenaufführung soll sich das volle Interesse des Zuschauers auf die
Handlung und die volle Plastik ihrer tragenden Personen konzentrieren. Auf
ihnen ruht die Hauptmacht des ästhetischen Interesses. Es genügt daher voll¬
ständig, wenn sie allein rund und voll im Raum stehen und wenn alle sie
umgebenden Einzelheiten lediglich durch Andeutungen für die Phantasie repräsentiert
sind, so daß diese sie nach Bedürfnis ergreifen und plastisch ausgestalten kann.
Die bloß illusionistische Plastik der Einzelheiten steht der wirklichen Plastik der
Bühnenfignren im Grade nach, sie wird aber in ihrer Art als die notwendige
räumliche Füllung zwischen den plastischen Figuren und dem umgebenden Raume
ihrer Aufgabe völlig gerecht.
Eine solche Verbindung zwischen den Figuren und dem Bühnenraume ist
jedoch notwendig. Denn auch die Figuren und ihre Plastik müssen sich dem¬
selben dekorativen Grundgesetz unterordnen, dein der ganze Bühnenraum folgt,
sie müssen auf Ansicht gearbeitet, nach vorne orientiert sein. Allerdings bedeutet
dieses Gesetz nur in beschränktem Maße eine Vorschrift für deu Dramatiker.
Er darf etwa seine Hauptfiguren uicht dazu zwingen, ihre wichtigsten Hand¬
lungen im Hintergrunde der Bühne auszuführen, wenn nicht schwerwiegende
ästhetische Gründe dafür maßgebend sind (Teils Apfelschuß, Geßlers Erschießung).
In erster Reihe bedeutet jener dekorative Grundsatz eine Vorschrift für den
Schailspieler. Er muß seine Gestalten „auf Vorderansicht" arbeiten und sie
möglichst nach vorne zu bringen suchen. Die plastische Füllung des Raumes
durch die phantastemäßig ausgestalteten Einzelheiten verhindert es nun, daß
dem Schauspieler der Zusammenhang mit dem Bühnenraume etwa gänzlich verloren
geht, wenn er nur einseitig dem Einflüsse jenes dekorativen Gesetzes folgen und
seine Verpflichtung, als Mitträger der Handlung im Zusammenhange mit den
übrigen Bühnenfiguren zu bleiben, mißachten wollte. Die runde und lebendige
Plastik der Figuren strebt eben schon an sich aus dem Bühnenraume hinaus.
Deshalb ist auch der ganze Aufbau der modernen Bühne darauf berechnet,
die fast zu selbständige und lebendige Plastik der dramatischen Figuren ini Bühnen-
wume zu halten. Der Zuschauer hat die moderne Bühne vor sich wie einen
Guckkasten, dessen eine Wand entfernt sei. Aber all Stelle dieser Wand
konstruiert sich der schauende gefühlsmäßig, unterstützt durch die Rampe und
das umrahmende Proszenium, eine vordere Abschlußebene für den Bühnenraum,
deren Vorhandensein ihm um so mehr ins Bewußtsein tritt, je mehr sie auch
dem Schauspieler naturgemäß eine Grenze setzt. So sehr auch die Plastik der
dramatischen Figuren nach vorn, zum Beschauer hindrängen möge, die Rampe
und der Btthnenrcchmen gebieten ihnen ein Halt, das sie nicht überschreiten
dürfen. Sie stehen im Bühnenraum auf Grund desselben dekorativen Gesetzes
wie die Figuren im Relief und sind ihre ganze Plastik dem Bühnenraume schuldig.
Sie beherrschen aber den Bühnenraum nur so lange unbestritten, als die
Plastik der Einzelheiten den dramatischen Figuren untergeordnet ist. Das war
auf der Kulissenbühne erreicht, solange die plastische Ausgestaltung der szenisch
angedeuteten Einzelheiten lediglich durch die Phantasie erfolgte.
Die Meininger begannen zuerst mit der selbständigen Behandlung des
Details. Sie setzten an die Stelle der nur illusionär-plastischen Andeutungen
das Stil- und wirklichkeitsechte Detail und seine dreidimensionale Plastik, und
schufen die realistische Bühne. Brahni folgte ihnen im Deutschen Theater und
versuchte, die Einzelheiten nicht nur so echt, sondern auch so vollständig wie
möglich zu geben. Er schuf die naturalistische Bühne. Aus der realistischen
Bühne der Meinniger sowohl wie auf der Bühne Brahms stehen nunmehr die
Einzelheiten mit selbständiger Plastik neben den Figuren. Das hat aber sofort
zur Folge, daß sie nun nicht bloß dann mehr da sind, wenn die Phantasie sie
braucht, sondern immer, daß sie auch zu unpassender Zeit die Aufmerksamkeit
auf sich und von den Figuren und der Handlung ablenken. Dadurch wird die
Plastik der Figuren in den Hintergrund gedrängt, das Detail, das Theater
überwuchert sie und damit die Dichtung. Der einmal eingeschlagene Weg führte
unweigerlich zur Entartung, er führte über die „Milieu"- und Standesdramen
zu den Sensationsstücken und endete bei der aktuellen Ausstattungsreoue.
Einen zweiten Weg schlug die Entwicklung der Bühne beim Wiedererwachen
der ästhetischen Sinnenkultur ein, die lange geschlafen hatte. Man wurde auf
die ästhetischen Eigenwerte aufmerksam, die in Farben, Formen, die im Material
und der Beleuchtung der gegenständlichen Einzelheiten steckten, und suchte diese
Werte selbständig zu betonen und nutzbar zu machen. Adolphe Appia und
Edward Gordon Craigh wiesen zuerst darauf hin, und Luise Dumont in Düsseldorf
sowie Hagemann in Mannheim, jetzt in Hamburg, taten die ersten Schritte
sür die Entwicklung einer lyrischen, einer Stimmungsbühne.
Max Reinhardts Tätigkeit an: Deutschen Theater in Berlin kann man am
besten wohl dadurch bezeichnen, daß man sagt, er vereinigte die naturalistische
und die lyrische Bühne zu einer naturalistisch-lyrischen Bühne, die ihren Ehrgeiz
auf eine möglichst echte und vollständige Wiedergabe der Einzelheiten, gleich¬
zeitig aber auf eine virtuose Ausbeutung der Stimmungswerte in den Einzel¬
heiten setzt.
Der lyrische Zug in der Gestaltung des Bühnenbildes und des Bühnen¬
raumes brachte aber eine neue Gefahr für die Plastik der Figuren und damit
für die Bühnendichtung. Durch die Betonung von Licht- und Farbenwerten
im Bühnenbilde wird dieses malerisch gestaltet, nicht plastisch; die flächenhaften
Reize erhalten das Übergewicht über das Dreidimensionale. Die Phantasie
vermag sich die Andeutungen für das Detail und die Raumgestaltung nicht
mehr plastisch auszugestalten, sondern wird durch die Betonung jener Stimmungs¬
werte in den Einzelheiten gezwungen, bei ihnen zu verweilen, sie kommt über
sie und ihre Flächenhaftigkeit nicht hinaus. Daher stellt sich die Notwendigkeit
heraus, die Figuren dem unplastisch und flächenhaft gewordenen Hintergrunde
anzupassen, ihre Plastik flacher zu gestalten. Die letzte Station dieser Ent¬
wicklung ist die Pantomime. Es ist bezeichnend, daß auch sie der Bühne
Reinhardts nicht fremd geblieben ist.
Den Rückschlag gegen diese Entartungsformen der modernen Bühne bildet
das Münchener Künstlertheater. Es versucht die überwuchernden plastischen
Einzelheiten wieder auszumerzen und durch allgemeine und einfache Andeutungen
für die Phantasie zu ergänzen. Es versucht, der Plastik der Bühnenfiguren
wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen, und stellt sie wieder beherrschend und fast
ohne alles plastische Nebenwerk streng dekorativ in den knappen und eng
umgrenzten Bühnenraum. Dennoch kann man diese Bühne nicht als einen
historisch gerichteten Versuch ansehen, man kann nicht etwa sagen, sie habe die
Entwicklung der modernen Bühnenplastik zurückgeschraubt. Sie stellt uns viel¬
mehr die dekorativen Beziehungen, die zwischen der Plastik der Bühnenfiguren
und dem Bühnenraum herrschen, in einer reinen Abstraktion, in so absoluter
Stilisierung dar, wie es die alte Kulissenbühne nie getan hat.
Es ist nicht zu verwundern, daß die lyrisch-naturalistische Kunst Reinhardts
auf diesen: Prototyp einer stilisierten Bühne bald Schiffbruch gelitten hat.
Dagegen muß man anerkennen, daß derselbe Reinhardt ein feines Gefühl
für die dekorativen Gesetze historischer Epochen bewiesen hat, als er darauf ver¬
zichtete, das antike Drama und das mittelalterliche Mysterium im modernen
geschlossenen Theater aufzuführen, und beide lieber in den Zirkus brachte. Man
hätte den Spott und die Angriffe, die ihm zuteil geworden sind, mindestens
schon deswegen etwas einschränken sollen, weil er uns durch seine Experimente
die Gelegenheit geboten hat. die Wirkung jener dekorativen Gesetze einmal im
freien Bühnenraum zu studieren.
Eine griechische Tragödie auf den: modernen geschlossenen Theater auf¬
führen, das heißt in der Tat, einem Kunstwerk Zwang antun. Denn die antike
Bühne war ja kein allseitig geschlossener, kein nur auf Vorderansicht orientierter,
vor allem kein umrahmter Raum, Daher bewegten sich auf ihr die plastischen
Figuren des Dramas viel freier, sie standen nicht so sehr unter der Herrschaft
des Raumes und wirkten weniger als Naumfüllung. Sie standen in selbst¬
ständiger Plastik da und hoben sich nur von einem Hintergrunde ab. Diese
ihre selbständige Plastik verlieren sie aber sofort, sobald sie auf die geschlossene
und umrahmte moderne Bühne treten. Im Raume der modernen Bühne hat
sogar derjenige Teil der griechischen Bühnenfiguren überhaupt nicht Platz, der
am meisten plastisch und in vollster Rundung, nach allen Seiten hin sichtbar
stand: der Chor. Die Sprechbühne der griechischen Einzelschauspieler, das
Logeion, hatte keine absolute vordere Raumgrenze. Das Raumgefühl des
Zuschauers vermochte keine vordere Grenzebene an der Sprechbühne zu fühlen.
Das Entstehen dieser Ebene, der vorderen Grenze der Sprechbühne, wurde
gehindert durch das Fehlen eines geschlossenen Nahmens, vor allem aber dadurch,
daß die Orchestra, der kreisrunde Tanzplatz des Chores, weit und kühn
geschwungen in das Halbrund des Zuschauerraumes hineinragte. Die Choreuten
konnten also nicht nur von vorne, sondern auch von den Seiten, ja sogar schräg
von hinten gesehen werden. Sie standen daher in absoluter, runder Plastik
vor den Augen der Zuschauer und erhielten gegenüber den Figuren der
Einzelschauspieler ein besonderes Gewicht. Denn diese lehnten ihre Plastik noch
immer wenigstens an die Hintergrundebene des Bühnenhauses an. Von einer
solchen Anlehnung findet sich in der Plastik des Chores keine Spur; das deko¬
rative Gewicht aber, das auf diese Weise ihm zufällt, ist durchaus verständlich
und erklärt sich von selber, wenn man an die Entwicklung des griechischen Dramas
ans dem Chöre denkt.
Daß Reinhardt die griechische Tragödie im Zirkus aufgeführt hat, war
ein Beweis dafür, daß er die räumlichen und dekorativen Gesetze der griechischen
Bühne richtig erfaßt hat. Denn kein modernes Gebäude bot ihm räumliche
Bedingungen, die sich dem antiken Theater hätten mehr anpassen können als
der Zirkusrundbau. Und ebenso hatte Reinhardt die wichtige Rolle erfaßt, die
die Plastik des Chores im griechischen Drama spielt, als er ihm die allseitig
sichtbare Arena als „Orchestra" zuwies. Ich glaube, daß es nicht nur die rein
dynamischen und regietcchnischen Werte waren, die dem Chöre im Zirkus eine
solche Wirkung verliehen, daß vielen durch sie erst eine Ahnung davon ver¬
mittelt wurde, was ein griechischer Chor zu bedeuten habe. Der Raum, in dem
sich die Masse befand, ermöglichte es jenen Werten erst, in einer Weise plastisch
und selbständig zum Ausdruck zu kommen, wie wir es auf unserer geschlossenen
Bühne nicht mehr gewohnt sind.
Je mehr nun die Bühnensiguren aus einem begrenzten und jeweilig durch
die Phantasie individuell ausgestatteten Bühnenraume heraustreten, um so mehr
verlieren sie selber an Individualität. Es fällt natürlich alles von ihnen ab,
was der individuell ausgestattete Raum selbst zu ihrer Individualisierung und
Charakterisierung beitragen könnte. Sie werden ja aus der Umgebung, die mit
ihnen in engster Wechselbeziehung steht, die sie bedingt und von ihnen bedingt
wird, ans ihrem Milieu herausgenommen und in den allseitig freien Raum
gestellt, der für unsere gestaltende Phantasie gar keine Anhaltspunkte gibt, das
„Nichts" ist. Es ist kein Zufall, daß die individuellen Figuren der griechischen
Bühne, die Einzelfiguren, auf das Logeton und seinen Hintergrund, auf diesen
wenigstens relativ begrenzten und individuellen Raum, angemiesen waren. Und
es ist ebensowenig ein Zufall, daß der Chor, der in allseitig zugänglicher, in
rundlicher Plastik draußen, inmitten des Publikums, auf der Orchestra stand,
nichts weiter schließlich mehr bildete als das allgemein-menschliche, das typische
Echo für die individuellen Vorgänge da oben oder da hinten auf der Sprechbühne.
Die Bühnenfigur, die im freien, unbegrenzten Raum steht und allseitig
sichtbar ist, muß sich notwendig in ihrer Plastik zum Typus entwickeln und alle
individuell bestimmten Züge aufgeben. Das beste Beispiel dafür bietet das
mittelalterliche englische Mysterienspiel von Jedermann"), das Reinhardt neuestens
in demselben Raum: aufführte, der sich für das altgriechische Drama als so
geeignet erwiesen hatte: im Zirkus.
Auch die mittelalterliche christliche Dramatik stellte ihre Figuren in der
Kirche oder auf dem Markte der Städte sozusagen in einen überindividuellen
Raum: inmitten des Publikums. Sie ließ den Raum leer und unbestimmt für
die Phantasie oder gab dieser doch durch die Andeutung so allgemeiner Vor¬
stellungen wie Erde, Himmel, Hölle nur Fingerzeige, die nicht weiter als bis
zu den ganz abstraktesten Begriffen führten. Auch sie stellte die Figur so ziemlich
von allen Seiten sichtbar in den Raum. Daher machte sich hier, wo es sich
um Einzelpersonen und nicht um Massen handelte, wie beim Chor auf der
griechischen Bühne, die stilisierende Folgewirkung dieser Tatsache noch schwer¬
wiegender geltend als dort. Denn jede individualisierende Einzelheit in Charakter¬
schilderung, Handlung, Miene und Gebärde, verliert an einer auf allseitige
Ansicht gearbeiteten Figur an Wert, wenn sie nur von einer einzigen Seite her
sichtbar ist und nur nach dieser einzigen Seite hin wirksam gemacht werden
kann. Untersucht mau nun aber eine individuelle dramatische Figur auf die
allseitige Wirksamkeit und Verwertbarkcit gerade ihrer individualisierenden Einzel¬
heiten, so findet man bald, daß gerade alle diese Einzelheiten, wie Mienenspiel,
Blick, Gebärde, auf Grund des menschlichen Körperbaus nur für einseitige
Darstellung geeignet sind. Die individuelle und charakteristische Plastik des
Dramas findet auf der nach vorne gewandten modernen Bühne gerade den
Raum, den sie braucht. Für die allseitige Verwertung im freien Raume sind
eigentlich nur die allgemein-konstruktiven Bestandteile der menschlichen Gestalt,
das rein Monumentale, verwertbar. Und ihm angepaßt erscheint dann auch
inhaltlich nur das Typische und Allgemein-Menschliche als zur Darstellung im
freien Bühnenraum geeignet. Das mittelalterliche Spiel von Jedermann, der,
typische Lebensgang des typischen Menschen mit der Wendung am Schluß, die
der typischen Morallehre der Kirche entspricht, dieses Spiel erscheint als das
erste Produkt einer solchen Bühne, die ihre Figuren frei in den Raum stellte
oder sie frei in den Raum zu stellen gewohnt war.
Daher belebte sich auch die alte Monumentalität jener Figuren wieder,
als Reinhardt sie in die allseitig freie Zirkusarena stellte. Allerdings bietet der
Zirkus bei weitem nicht dieselben günstigen, ja annähernd gleichen Ramn-
bedingungen für das mittelalterliche Spiel, wie er es für die griechische Tragödie
tat. Aber man darf bei einem solchen Versuche. Vergangenes zu beleben und
wieder anschaulich zu machen, über das, was dabei nicht mehr lebendig geworden
ist, füglich hinwegsehen angesichts dessen, was wieder vor uns ansieht.
Und in der Zirkusaufführung des Spieles von Jedermann wurde die
monumentale Plastik der mittelalterlichen Figuren in einer Weise auf uns
wirksam, der typische Wert und die typische Bedeutung der Handlung in einer
Weise uns nahe gebracht, daß es uns Söhne eines individuellen Zeitalters, das
die Entdeckung der Persönlichkeit und ihres Wertes zu seinen größten Errungen¬
schaften zählt, überwältigend berührte.
Dennoch besitzen diese retrospektiven Versuche Reinhardts mehr Erkenntnis¬
wert, als daß sie Einfluß auf die Gestaltung unserer Gegenwartskultur hätten.
Es fragt sich überhaupt, ob sich unter allen den besprochenen Bühnengestaltungen
schon diejenige findet, die man als die „Schaubühne der Zukunft" ansprechen
dürfte, weil sie als der notwendige Ausdruck der Kultur unserer Zeit erscheint.
Auch das Münchener Künstlertheater scheint mehr den stilisierten Werken einer
vergangenen Epoche den geeigneten Raum zu bieten als denen unserer eigenen Zeit.
Vielleicht ist es aber überhaupt ein Fehler, nur von „der" Schaubühne
der Zukunft zu sprechen. Vielleicht liegt es gerade im Wesen unserer Zeit, die
auf allen Gebieten zur Spezialisierung drängt, daß sie sich bemüht, auch allen
Möglichkeiten für die Gestaltung des Bühnenraumes und der Bühnenplastik in
möglichster Vollzähligkeit gerecht zu werden, daß sie sich nicht bemüht, „die"
Schaubühne, die Universalbühne zu schaffen, sondern daß sie versucht, dem
jeweiligen Stile des Bühnenstückes diejenige Bühne bereitzustellen, die ihn:
angemessen ist: dem idealistisch-stilisierenden Drama das Künstlertheater, dem
naturalistischen Milieudrama die naturalistische Bühne, dem volksmäßigen Spiel
die Freilichtbühne. Und vielleicht wird unsere Zeit auf Grund dieses feinen
Gefühles für den Stil einer Dichtung erst dann die „Schaubühne der Zukunft"
schaffen, wenn das „neue Drama" da ist, das Drama, welches der Ausdruck
unserer neugeschaffenen, eigenen Kultur ist.
In weiten Kreisen herrscht die Meinung,
daß die Biologie als die Wissenschaft von der
lebendige» Natur allein dazu berufen sei, die
Wellnnschauungsprobleme zu lösen. Als das
Gut aller Güter gilt das Leben, deshalb
werden alle Werte als Lebenswerte nnfgcfnßt,
in den Begriffen des aufsteigenden und ab¬
steigenden Lebens, des Gesunden und Kranken
glaubt man einen rein biologischen Wert-
gcgensatz zu besitzen und sowohl für den Ein¬
zelnen als auch für die Gesamtheit wird die
Lebendigkeit oder Gesundheit zum Lebensziel.
Nun erhebt sich aber die Frage, ob aus den,
Leben selbst Werte und Normen wirklich zu
gewinnen sind oder ob die Werte erst von
außen, durch den Willen des Menschen in das
Leben hineingetragen werden müssen? Tat¬
sächlich ist das Leben, wie Rickert ausführt,
soweit es als Lebendiges im Unterschiede vom
Toten erfaßt wird, ein Prozeß, der als solcher
»»r die Vorbedingung einer Wertsetznng sein
kann. Gerade weil das Leben Bedingung
aller Verwirklichung von Werten ist, kann es
keinen Eigenwert haben und Rickert weist mit
Recht darauf hin, daß so hoch das Leben als
Bedingungsgut steht und so kulturfeindlich
jede Lehre ist, die auf vollständige Lebens-
vernichtnng ausgeht, doch erst der, der die
bloße Lebendigkeit gelegentlich zurückzudrängen
vermag, ein Knien rmensch genannt werden kann.
Auch im sozialen Leben muß die bloßeLebendig-
keit um sittlicher Zwecke willen oft genng ge¬
hemmt werden. Die Kultur steht eben nicht
im Dienste des Lebens, sondern das Leben
steht im Dienst der Kultur. Insbesondere
die Philosophierenden Naturforscher sollten sich
darüber klar werden, daß das Leben als
solches keinen Eigenwert hat und daß die
Wissenschaft vom Leben immer nur Kausal-
znsamnu?nhünge feststellen soll, also keine Werte
kenne» darf. Dadurch erweist sich aber der
Biologismus als ungeeignet, eine Welt¬
anschauung zu begründen, die den Sinn des
Lebens zu erfassen sucht.
Rickerts Aufsatz ist in hervorragender Weise
geeignet, der in manchen Köpfen gerade auf
diesen, Gebiet herrschenden Begriffsverwirrung
zu steuern. Diejenigen, welche für Rickerts
Gedankengänge Interesse geivinnen, seien darauf
aufmerksam gemacht, daß sein Buch Kultur¬
wissenschaft und Niltuvwlssensch-ist nunmehr
in zweiter umgearbeiteter und vermehrter
Auflage, gleichfalls bei I. C. V. Mohr in
Man ist jetzt eifrig
an der Arbeit, Jugend- und Volksbibliothoken
zu gründen, eins bedenkt man nicht: Wie
bringe ich die Jugend zur rechten BuchnuS-
nütznng, zum rechton Lesen?
Es sei mir gestattet, zur Beantwortung dieser
Frage eine 20jährige Praxis heranzuziehen.
Der zweite Band des „Logos", der von
Georg Mehlis herausgegebenen Internatio¬
nalen Zeitschrift für Philosophie der Kultur
(Verlag von I, C, B, Mohr jPcml Siebeckj,
Tübingen), ist nunmehr abgeschlossen. Er ent¬
hält gleich dem ersten Bande sehr wertvolle
Aufsätze, die zum Teil aus der Feder hervor¬
ragender Gelehrten stammen: u, n, schreibt
Georg Simmel über den Begriff und die
Tragödie der Kultur, Jonas Cohn über
Hans von Markes, Georg Mehlis über die
Formen der Mystik, Wjntscheslaw Jwanow
über L, Tolstoi und die Kultur. In einer
überaus lesenswerten Abhandlung, auf die
um dieser Stelle wegen der Bedeutsamkeit des
Gegenstandes und seiner überaus glücklichen
Behandlung besonders hingewiesen sei, setzt
sich Heinrich Rickert mit dein „Biolvgisnins"
unserer Tage auseinander.
Als ich vor zwei Jahrzehnte» »leine kleine
Waldschule übernahm, fand ich bereits eine
Schülerbibliothek bar, An jedem Sonnabend
beluden sich die Kinder mit vier oder fünf
Bände», die sie heinischleppte». Ich fragte
mich: Welche» Gewinn mögen die Kinder
davon haben?
Am nächsten Sonnabend »ahn ich Ge¬
legenheit, i» der letzte» deutschen Wochen¬
stunde nach dem Gelesenen zu fragen. Die
Kinder sahen mich erstaunt, ja verdutzt an.
Offenbar hatte sie noch niemand nach den?
„Verstehest du auch was du liesest" gefragt,
sondern sie hatten bisher ihre Bücher wie
ihre Butterbrode verschlungen, ohne über das
Genossene nachzudenken. Das mußte anders
werden.
Zunächst gab ich jedem Kinde immer nur
ein Buch mit. Dann fragte ich: Kein» mir
jemand aus seinem Buche etwas erzählen?
Anfangs meldete sich niemand, bald aber
erhoben sich schüchtern einige Finger. Es
ging »och in Sprüngen ohne Zusamme»sang,
aber dann stellte sich auch schou die Freude am
Erzählen ein. Wohl ergänzte ich zuweilen; aber
im ganzen lies; ich den Kindern beim Erzählen
freie Hand. Das Korrigieren von Fehlern
sprachlicher und sachlicher Art verschob ich auf
den Schluß und das geschah auch nie in
tadelnder Weise. Überhaupt kam es mir
oarcmf an, dieser „Erzählstnnde", die man
auch Bibliotheksstunde nennen konnte, den
belehrenden Charakter einer Unterrichtsstunde
zu nehmen, durch die erzählende plaudernde
Form die Kinder aus ihrem Schneckenhäuschen
hervorzulocken. Das gelang, indem ich selbst
zum Erzähler und eifrigen Hörer wurde, mich
zu den Kindern setzte und in ihrer Sprache
redete. Bald bemerkte ich, wie sich die.Kinder
auf die Erzählstuude freuten, wie sie immer
eifriger in der Benutzung ihrer Bücher wurden.
Ich ließ mir zum Beginn regelmäßig Nummer
und Titel des Buches sagen; dann bestimmte
ich ein Drittel oder höchstens die Hälfte der
Kinder als Erzähler. Fünf bis zehn Minuten
ist Erzähldaner, oft aber lasse ich einen be¬
sonders eifrigen Erzähler auch länger erzählen.
Ich habe Kinder gehabt, die stundenlang
weiter erzählt hätte», wenn ich ihrem Rede¬
strom Raum gegeben. Oft schneide ich gar
zu sehr in die Breite gehenden Kindern das
Wort ab mit der Aufforderung: Sage in
wenigen Sätzen, wie die Geschichte verläuft
und enden Das reißt die Gedanken zu¬
sammen, hilft das Nebensächliche nnsscheiden
und dus Wichtige hervorkehren.
Interessant ist's, wie verschieden jedes Kind
an den Stoff herantritt und sich zu ihm in
Beziehung setzt. Man wirdkanm zwei gleichartige
Erzähler finden. Dieser Unterschied tritt be¬
sonders auffallend bei den Geschlechtern zutage.
Die Knaben bringen Tatsachen, Handlungen,
die Mädchen lieben die epische Breite.
Das macht sich auch schou in der Auswahl
der Bücher bemerkbar. Während die Jungen
mit Vorliebe Kämpfe, Reiseabenteuer, gute
geschichtliche Erzählungen, iuteresscuit »ut
spannend geschriebene Biographien, vor allem
auch Stammes-, Heimath- n»d Ortssagen
bevorzuge», lieben die Mädchen mehr Fa-
milienerzählunge», naturgeschichtliche Vor¬
gänge und Märchen. Der Psychologe findet in
der „Erzählstunde" ein reiches Veobnchtuugs-
feld. Der Erzieher erhält manchen Aufschluß
über die Charaktereigentümlichkeit, der Lehrer
manchen Wink über schwankende Vorstellungs¬
reihe», die der Ergänzung, der intensiverer
Anschauung bedürfen.
Es ist wichtig, die Auswahl der Bücher
nicht durchaus ven .Kindern allein zu über¬
lassen, eS muß das Alter, es muß die Auf¬
nahmefähigkeit, die Reife berücksichtigt werden.
In erziehlicher Hinsicht läßt sich hier manche
Lücke schließen. Ich Pflege träumerischen
Kindern, die sich gar zu leicht selbst verlieren,
Bücher mit frischer tatkräftiger Handlung in
die Hände zu spielen. Sie ahnen natürlich
nichts von meiner Absicht, aber ich habe doch
.schon mehrmals erfahren, wie hier das Buch
mehr vermochte als Eltern und Lehrer. Was
von den Kinder» gesagt wird, gilt in ver¬
stärkte!» Maße von den Jugendlichen und selbst
den Eltern. Ein kluger Lehrer und Bibliothekar
kann durch el» fesselndes überzeugendes Buch
Neigungen undLnster verderblicher Art vieleher
und wirkungsvoller bekämpfen als durch Persön¬
lichen Zuspruch. — Es ist richtig, daß man
jetzt der Tendenzschriftstellerci den Krieg er¬
klärt. Das Wort: Man merkt die Absicht
und wird verstimmt, besteht zu Recht. Aber
die verschwiegene und darum nur so tiefer
dringende Moral, wie sie z. B. unsere deutscheu
Märchen zeigen, darf der Lektüre nicht fehlen.
Ein Wilhelm v. Potenz, ein Peter Rosegger
verstehen es meisterhaft, diese in ein eindrucks¬
volles, ja ergreifendes Gewand zu kleiden.
Es ist eine Freude zu sehen, wie durch
die „Erzählstnnde" das ganze Wesen der
Kinder freier wird, sie kommen auch mit
eigenen Beobachtungen und Gedanken schlie߬
lich heraus. Zum Schlich bitten sie mich,
zu erzählen. Ich tue es, um Interessantes
aus meiner Wochenlektüre oder aus meiner
Lebenserfahrung zu bringen. Gut ist's be¬
sonders, den älteren Schülern das „Welt¬
verstehen", die Einrichtungen des Staate?
u. n. durch leicht verständliche Beispiele zu
erläutern. Die Kleinsten erhalten natürlich
ihr Märchen.
Die sorgfältige Ausnutzung des Buches
überträgt sich auch auf die Eltern. Meine
kleinen Erzähler erzählen auch zu Hause den
Eltern und vor allen den jüngeren Geschwistern.
Wo haben wir den» noch marchenerzählende
Mütter? Hier tut Auffrischung not. So
manche Mutter hat ans obige Weise sich wieder
ans ihre Pflicht besonnen, ihren Kindern nicht
nur leibliche Speise zu reiche».
„Die alten Geschichten hatte ich längst ver¬
gessen," sagte eine Mutter, „nun habe ich sie
von meine» Kindern wieder gelernt und muß
sie den Kleinsten alle Abend erzählen; sie
sind gar arg danach."
Hin und her im Winter an Sonntag¬
abenden läßt sich auch, wenn erst das Interesse
um Buch in einem Orte erwacht ist, ein Erzähl-
und Vorleseabend abhalten. Natürlich muß
mau ein guter Vorleser und Erzähler sei»
und keine langweiligen Sachen bringen.
Wichtig ist's auch, gute Schüler heranzuziehen.
Um das Buch in der Familie wirksam zu
machen ist's ratsam, die älteren Kinder znni
abendlichen Vorlesen anzuspornen. Das übt
die Lesefertigkeit und meist sind auch die Eltern
sehr damit einverstanden. So manche Mutter
hat darüber das Klatschen »ut der liebe»
Nachbarin und der Vater den Wirtshausbesuch
vergessen.
Wenn ich zum Schluß den Gewinn, den
nur die „Erzählstuude" in langjähriger Er¬
fahrung gebracht hat, summieren soll, so muß
ich sagen: Die „Erzählstunde" steuert dem
flüchtige» Überhinlese», den. Verschlingen,
lernt auf das Wesentliche achten, führt all¬
mählich zum Genuß des künstlerisch Ge¬
botenen, ist eine nachhaltige Ausprägung des
innerlich aufgenommene». Sie macht die
Kinder freier u»d aufmerksamer in ihrem
Wesen, mitteilsamer gegen Eltern und Lehrer,
bringt sie in innigere Verbindung mit ihre»
Erzieher» u»d verschafft dein Buch die rechte
Ausnützung. Lehrer und Bibliothekare haben
in ihr ein Mittel, volkserziehcrisch zu wirke».
Bei dem heutigen mehr äußerlichen Betriebe
des Bibliothekswesens gehen zwei Drittel der
gebotene» Werte verloren.
Die Entwicklung der deutsche» Stndentcn-
und Schiilcrherbcrgcn. „Das Jahrzehnt der
Wanderfahrten" wird einst einmal ein Chronist
das laufende Dezennium nennen können. All¬
überall an Sonntage» und während der Som¬
merferien — zuWeile» auch schon zur Zeit der
Wintersonnenwende — begegnet uns el» Trupp
frischer Wandervögel i» oft recht Phantastischer
Gewandung, den Rucksack und allerhand Kessel-
und Topfgeschirr auf dem Rücken tragend,
allen voran der muntere Spielmnim mit
der vändergeschmückle» Zupfgeige. Wer, wie
Schreiber dieser Zeile», um einem prächtigen
Sommertag den stiminnngsreichen Reiz einer
Halvtngswanderung miterlebt hat, sogar vo»
den in Wald und Wiese zubereiteten Speisen
vorsichtig gekostet, sodann in der Herberge
abends an den feurigen Reden und Liedern
der begeisterten Jungmannschnft sich erfreut
hat, muß mit frohem Herze» die Überzeugung
gewinnen, daß der gärende Most sich zu edlem
Weine klären wird. Fürwahr, diese Wan¬
derungen sind von einer so anheimelnden und
kraftstrotzenden Poesie begleitet, daß wir mit
einem gewissen Gefühl des Neides an unsere
eigene Jugend zurückdenken, die sich allzusehr
in enge Stuben verkriechen mußte. Wohl
nnterncchmen auch wir Fußwanderungen wäh¬
rend der Ferien, doch beschränkte» sich diese
Ausflüge meistens auf drei bis vier Tage, da
die Kosten für Unterkunft und Verpflegung
die bescheidene Neiseknsse dann völlig geleert
hatten.
Dank der im Laufe von »umnehr acht¬
undzwanzig Jahre» im ganzen denische» Vater-
lande und in Deutsch-Österreich eingerichteten
Studenten- und Schülerherbergen ist es den
fahrenden Scholaren jetzt ein leichtes, für ein
Spottgeld ausgiebig Land und Leute bis in
die entferntesten Winkel des deutschen Sprach¬
gebietes hinein aus eigener Anschauung kennen
zu lernen. Bekanntlich gewähren sämtliche
Herbergen ihren mit einer AuSweislarte ver¬
sehenen Besuchern unentgeltlich Logis nebst
einfachem Frühstück, zuweilen auch das Abend¬
brot, für das in der Mehrzahl der Fälle nur
ein geringer Obolus entrichtet zu werden
braucht. So ist es, da tagsüber Proviant
gekauft und unter freiem Himmel abgekocht
wird, auch den Unbemittelten möglich, für ein
paar Silberlinge herrliche Wanderwochen zu
verleben.
um. Von diesen stammten die »leisten ans
Leipzig und Dresden mit je über 3000, Wien
war vertreten mit 2295, Berlin mit 1974 und
das viel kleinere Reichenberg i» Böhmen mit
1774. Es folgen dann mehrere rheinische und
westfälische Städte, die mehr als 1000 Wander¬
vögel hinausflattern ließen. Es Ware» Köln,
Aachen, Essen, Düsseldorf und Münster, denen
sich auch noch das schlesische Breslau anreihte.
Elberfeld entsandte 611, Burne» 419, Hage»
263, Remscheid 116 und Lennep 52 Wander¬
lustige. I» Summn zogen 53567 muntere
Wandergesellen durch die dentschen Gaue. An
Besuchstagen wurden rund 15000 gezählt,
das bedeutet gegen das Vorjahr eine Zu¬
nahme von über 3000. Stand im letzten
Jahre Spindclmühle im Rieseiigevirge mit
1175 Nächtigungen an der Spitze, so ist der
Rekord des Jahres zuvor, nämlich Bingen »ut
1221 Besuchstage», nicht gebrochen worden.
Dies ist aber auch das einzige Minus, denn
bedauerlicherweise muß in bezug auf die Kosten
eine gewaltige Steigerung verzeichnet werde»,
dergestalt, dnß i» Osterreich die Anflügen der
Hcrbcrgsvcrwnltungen von 14000 uns 24000
bis 25000 Kronen, in Deutschlnnd von 39000
auf 47000 Mark nnschwvlle». Spricht sich
hierin die nllgemeine Erhöhung der Preise
für Lebensmittel aus, so muß i» Zukunft der
Preis der Nusweistarte von 85 Pfg. auf
2 Mark erhöht werden. Höchst erfreulich wirkt
demgegenüber die jüngst bekannt gegebene Ab¬
sicht unseres Kaisers, aus seiner Privatschatulle
2000 Mark für die Eifelherbergen zu stifte».
So bricht sich auch i» de» höchste» Re¬
gionen die Erkenntnis Bahn, welchen Segen
die außerordentlich starke Entwicklung des
genußreichsten aller Sports stiften kann. Denn
wie sehr die Schärfung der Sinne, die Kunst
der Beobachtung, die Freude an der Natur,
die Liebe zur Heimat und echtem Volkstum,
kurz, wie in allem die körperliche, geistige und
sittliche Erstarkung der deutschen Jugend durch
diese herrlichen Wanderungen glücklichste För¬
derung erfahren, ist gnr nicht zu absehen.
Wie sehr dieBenutzung derHerbergeu in den
letzen Jahren zugenommen hat, beweist der von
der rührigen Hauptleitung Hohenelbe in Böh¬
men soeben herausgegebene Jahresbericht für
1911. ZunächsthatdasWandergebietwiederum
eine bedeutende Erweiterung erfahren. In
Deutschland waren in, Jahre 19i0 hinzu¬
gekommen die Gebiete an der Mosel und im
Knnllgebirge, auch dieProvinzen Ost-undWest-
preuszen, ferner in Osterreich das Adlergebirge;
im letzten Jahre ist den jugendlichen Wnnders-
leuteu neu erschlossen die Daubner Schweiz
und das Kärtner Alpen- und Seegebict im
Bereiche der schwarzgelben Grenzpfähle, wäh¬
rend in unseren: Vnterlande auch Niederhessen,
Waldeck und das hessische Vergland gastliche
Tore geöffnet haben. So stieg die Gesamt¬
zahl der Herbergen auf 442 gegen 394 im
Jahre 1910 und 341 im Jahre 1909; die
Zunahme erstreckt sich ziemlich gleichmäßig auf
die beiden Verbündeten Reiche, doch behauptet
auch im abgelaufenen Jahre Deutschland einen
gewissen Vorsprung. Die Gesamtzahl der
Übernachtungen stellt sich auf 66556, das sind
12553 mehr als 1910 (gegen 1909 ein Plus
von 300001); um dieser starken Progression
sind weitaus am meisten — fast zu 90 Prozent
die Schüler der oberen Klasse» vieler höhere»
Lehranstalten beteiligt. Eine bemerkenswerte
Tabelle gibt die Heimat der Herbcrgsbesucher
Leid verbindet. Ein Unglück, eine Katastrophe, ivie sie durch menschliche
Schuld wohl noch nie in der Geschichte des Menschengeschlechts verursacht wurde,
richtete die Gedanken vieler hundert Millionen Erdenbewohner, soweit sie dem
gebändigten elektrischen Funken erreichbar, für Stunden, ja Tage auf ein einziges
Ereignis: auf den Untergang der Titanic. Was menschliche Kunst vermag,
war aufgewendet worden, um der White Star Line ein Schiffsungetüm von bis
dahin unerreichten Abmessungen und Leistungen zu bauen, um lebenswilligen
Menschen in unerhörter Zahl die Möglichkeit zu geben, neuen Hoffnungen, neuen
Gestaden zuzueilen. An den ehernen Gesetzen der Natur barst tollkühnes Wollen,
und fast zweitausend Lebensfroher mußten unwürdig, wie junge Katzen, die der
Vorsehung spielende Knecht im Sacke in den Teich wirft, hinunter in die Tiefe
des Todes. Leid verbindet. Millionen Menschen aller Zonen und Nassen
stehen an diesem entsetzlichen Massengrabe und bekennen erschüttert, daß es etwas
Mächtigeres gibt als menschlichen Geist und menschlichen Willen.
Die Katastrophe hat uns zwei Übertreibungen unserer Kultur so grell
beleuchtet, daß wir ein dem Untergange geweihtes Geschlecht sein müßten, wollten
wir nicht aus ihm Lehren ziehen: Sport und Luxus. Die Durchquerung
des atlantischen Ozeans ist zum Sport der beteiligten Schiffahrtsgesellschaften
geworden! Die Kapitäne haben nicht mehr die alleinige Aufgabe, die ihnen
anvertrauten Menschen nud Güter wohlbehalten über das Meer zu führen;
unsere hastende Zeit fordert von ihnen die Überbietung jeder erreichten Ge¬
schwindigkeit und stachelt dadurch ihren Wagemut bis ins Unendliche. Nach
allen bisher ernst zu nehmenden Nachrichten darf man das sportliche Moment,
die Nekordwut, als die wesentlichste Ursache des Unglücks bezeichnen. Für den
Umfang der Katastrophe aber tritt ein weiteres Moment hinzu: das Luxus¬
bedürfnis und die Erziehung des Publikums zum Luxus durch die miteinander
koilkrirrierenden Schiffahrtsgesellschaften. Die Katastrophe brauchte den Umfang
nicht zu erreichen, wenn statt der vorhandenen Tennisplätze, Wintergarten und
breiten Promenaden die Zahl der Rettungsboote größer gewesen wäre. Die Aus¬
sagen der geretteten Mannschaft stimmen darin überein, daß die Zeitspanne
zwischen dem Auflaufen des Schiffes auf den Eisberg und seinem Sinken aus¬
gereicht Hütte, um alle Fahrgäste wenigstens von dem sinkenden Koloß ab¬
zubringen. Da die See ruhig und die Nacht klar war, wäre es theoretisch
möglich gewesen, alle Fahrgäste und die Besatzung zu retten, selbst wenn das
helfende Schiff, die Carpathia, erst Stunden nach dem Versinken der Titanic an
die Unglücke stelle gelangt wäre. Also die Opfer sind ungeheuer groß trotz der
günstigsten Nebenumstände, und deshalb muß auch die Schuld der White Star
Line besonders hervorgehoben werden.
Nun ist naturgemäß die Frage aufgetaucht, wie es denn mit den Sicher-
heitsvorrichtungen der deutschen Schiffahrtsgesellschaften stehe. Im
allgemeinen ist die Sicherheit auf den deutschen Schiffen größer als auf den
englischen, von den französischen gar nicht zu sprechen. Wer einmal auf einem
deutschen und auf einem englischen Dampfer denOzean durchquerte, kennt den augen¬
fälligen Unterschied zwischen dem Leben auf diesem und jenem. Auf deu deutscheu
Dampfern ist der Dienst straffer organisiert, das Personal viel sorgfältiger aus¬
gewählt und ausgebildet, und der Reisende hat viel mehr das Empfinden, daß
man um sein Wohlergehen ganz persönlich bemüht ist, als aus den englischen
Schiffen. So fühlt sich denn auch der Engländer im allgemeinen wohler auf
den: deutschen als aus dem englischen Schiffe. Mit den« Ausbau der Sicherheits¬
vorrichtungen scheint man indessen auch bei Lloyd und Hapag nicht auf allen
Schiffen gleichmäßig vorgegangen zu sein. Zwar sind die entsprechenden Vor¬
schriften für deutsche Schiffe bedeutend strenger als für die irgendeiner anderen
Nation, zwar ist die Zahl der Rettungsboote und Rettungsgürtel reichlicher auf
deutschen Schiffen bemessen als auf den anderer Handelsmarinen, aber es scheint
doch, als wenn auch von den Schiffen unserer Gesellschaften bei Verhältnissen, wie
sie beim Untergange der Titanic mitsprechen, nicht jeder Schiffsgast bis auf
den letzten Mann vom Schiff gebracht werden könnte, und zwar aus dem
gleichen Grunde wie bei der Titanic, weil die luxuriöse Einrichtung zu viel
Raum beansprucht. Das Mißgeschick der Titanic wird nun wahrscheinlich zu einer
Besserung der Verhältnisse führen, wenigstens bei uns und für die nächsten
Jahre. Aber unsere Zeit ist vergeßlich. Vielleicht schon nach wenigen Wochen
erinnert man sich nur noch dunkel der Tragödie, und der Atem raubende
Konkurrenzkampf der Schiffahrtsgesellschaft steuert zu neuen Katastrophen. Darum
muß mit aller Bestimmtheit zum Ausbau der Rechte der Aufsichtsorgaue
geschritten werden und zwar in erster Linie der internationalen. Hier ist eine
Aufgabe für die Vorkämpfer internationaler Verständigungen; denn die Materie,
um die es sich handelt, ist bereits international. Man braucht sich nur daran
zu erinnern, daß die Titanic rund sieben Millionen Briefsendungeu aus der alten
in die neue Welt befördern sollte; diese sieben Millionen stammten sicher nicht
allein aus England, waren vielmehr aus allen Teilen Europas bei dem riesigen
Sammelbecken zusammengeströmt. Das internationale Interesse an der Sicherheit
des transatlantischen Schiffsverkehrs darf also unbedingt als nachgewiesen gelten.
Ob freilich England sich in dieser Beziehung weitergehender Kontrolle wird
unterwerfen wollen, wird abzuwarten sein.
Verschiedene Anzeichen im In- und Auslande sprechen dasür, daß der
bevorstehende Sommer wieder recht lebhafte politische Aussprachen und Steigerung
kriegerischer Stimmung bei allen Nationen bringen kann. Die republikanische
Regierung in China kann wegen chronischen Geldmangels nicht recht zur not¬
wendigen Autorität gelangen, und zwischen den geldgebcnden Mächten schreitet
die Verständigung nur langsam vorwärts; die deutsch-englischen Verhandlungen
wegen einer Verständigung dürfen einstweilen als beendigt gelten, ohne'
daß sie ein greifbares Ergebnis gezeitigt hätten. In Frankreich drängt eine
Strömung zur Anerkennung, die Ostmarokko verwaltungslcchnisch mit Algier
verbinden möchte, um so den Widerstand der Marokkaner gegen das französische
Protektorat schneller und leichter brechen zu können. Ein solcher Schritt mare
mit den Bedingungen des Vertrages vom 4. November nicht vereinbar, da die
Teilung Marokkos ausdrücklich und zwar zur Sicherung der wirtschaftlichen
Interessen der Nichtfranzosen als unzulässig festgelegt ist. Sollte die Strömung
dennoch Einfluß auf die französische Regierung gewinnen und diese zu ent¬
sprechenden Schritten veranlassen, so wären wir vor die Tatsache eines Vertrags¬
bruchs gestellt, gegen den die Diplomatie der übrigen Mächte einzuschreiten
gezwungen wäre. Die zunächst nur vermuteten Absichten Frankreichs, den Vertrag
vom 4. November durchbrechen zu wollen, werden von alldeutscher Seite schon
jetzt benutzt, um von neuem den deutsch-französischen Gegensatz zu verschärfen.
Eine neuerliche Aufpeitschung der nationalen Leidenschaften, wie im vorigen
Herbst, müßte im höchsten Maße bedauert werden. Ganz abgesehen von der
Gefährlichkeit des Spiels mit dem Feuer bedeutet eine zwecklos angefachte
Erregung den unwirtschaftlichen Verbrauch von nationaler Wärme, der sich im
Ernstfalle bitter rächen muß. Auch nationalen Aufgaben gegenüber kann das
Volksempfinden abgestumpft werden. Einmal entwickelte Kräfte müssen, sollen
sie kein Unheil anrichten, für bestimmte Zwecke verbraucht werden. Das ist ein
längst bekanntes Gesetz. Aufgepeitschte nationale Leidenschaften, die sich nicht
in einer großen internationalen Angelegenheit austoben können, müssen mit
unerbittlicher Naturnotwendigkeit auf die innere Politik übergreifen. Verärgerung
und Unlust sind die notwendigen Folgen seelischer Überreizung, Stumpfheit ernsten
nationalen Aufgaben gegenüber ist die Folge der Überspannung des nationalen
Ehrgeizes.
In der Marokkoangelegenheit die Geister gegenwärtig zu erhitzen, ist aber
um so gefährlicher, als heutzutage jeder deutsche Politiker, der Anspruch darauf
erhebt, ernst genommen zu werden, wissen muß, daß die Regierung nicht daran
denkt, in Marokko Land zu erwerben. Die Gründe für diese Haltung der
deutschen Negierung sind seit zehn Jahren so oft in diesen Heften auseinander¬
gesetzt worden, daß es sich wohl erübrigt, noch einmal darauf einzugehen.
Selbst wenn es demnächst bei der endgültigen Grenzregulierung in Mittel¬
afrika zu ernsteren Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich
kommen sollte, so würde ein Landerwerb in Marokko kaum in Erwägung
gezogen werden, und zwar an? dem sehr einfachen Grunde, weil man
an verantwortlicher Stelle in Deutschland nicht beabsichtigt, das Vater¬
land mit einem kostspieligen Unternehmen zu belasten, das seine strategische
Lage auf dein Weltkriegsschauplatz gegenwärtig nur verschlechtern könnte.
Marokko interessiert uns lediglich wirtschaftlich, politisch mögen die Franzosen
fortfahren, sich daran zu erfreuen; wir gönnen ihnen ebenso die neuen Volks¬
genossen wie die neuen Waffenbrüder, die erst in der abgelaufenen Woche alle
Beweise ihrer Anhänglichkeit an Frankreich durch eine große Meuterei in Fez
gegeben haben.
Sollten die weiter oben erwähnten Strömungen Ostmarokko mit Algier zu
verbinden, Einfluß auf die französische Regierung gewinnen, so würde der
Vertrag vom 4. November 1911 zum erstenmal auf seine politische Bedeutung
hin erprobt werden. Es müßte sich zeigen, ob die durch die Marokkanische Bank
geschaffene Interessengemeinschaft des internationalen Großkapitals sowohl wie
der als Aktionäre beteiligten nenn Mächte stark genug ist, um sie insgesamt
hinter die deutsche Diplomatie zu stellen. In rein politischer Beziehung steht
Deutschland gegenwärtig den Franzosen in allen Marokkoangelegenheiten viel
freier gegenüber als vor dein 4. November. Sollte es im Verlauf bevorstehender
Verhandlungen zu energischeren Schritten von deutscher Seite kommen, so bedürfte
es keiner Aktion mehr an der marokkanischen Küste. Die Marokkoangelegenheit
gehört seit dem vorigen Jahre zu den Fragen der auswärtigen Politik, die
zwischen Deutschland und Frankreich unter vier Augen auf dein Festlande
erledigt werden können. (Weiteres findet sich zu diesem Thema in meinem
Aussatz „Das deutsch-französische Marokkoabkommen" in Heft 45 der Grenzboten
von 1911, S. 291. bis 299.)
In der abgelaufenen Woche hat sich die Regierung auch nach langem
Kampf hinter den Kulissen bereit gefunden, die Wehrvorlagen dem Reichs¬
tage zu übermitteln. Am Montag, den 22. d. M., sollen die öffentlichen Aus¬
sprachen über diesen wichtigen Gegenstand im Parlament beginnen. Die
Besprechung in der Presse war schon äußerst lebhaft, da die Vorlage wohl nie¬
manden recht zu befriedigen vermag. Sie ist in gewissem Sinne Flickwerk, das
nur Ergänzungen bringen will, hier und da ein Loch zustopft, aber sonst die
organischen Grundsätze, nach denen die Armee gefügt ist, nicht berührt. Darüber
sind zahlreiche Militärschriftsteller recht ungehalten, andere wieder stehen auf
dem Standpunkte der Negierung. Unsere Heeresverwaltung hatte nicht die Absicht,
eine Reorganisation der Armee vorzunehmen, sie wollte lediglich ergänzen. Es
kann somit nur Streit entstehen darüber, ob die Ergänzungen den Bedürfnissen
entsprechen oder nicht und ob die Negierung mit der Bescheidenheit ihrer For¬
derung nicht doch sachliche militärische Bedenken beiseite schiebt. In der Tat
ist es so. Die Regierung wagt es nicht, eine große Vorlage einzubringen, die
unsere Armee wenigstens für die nächsten paar Jahre so aufbaute, wie es dem
Reichtum und der Zahl der Bevölkerung entspräche. Sie fürchtet, von den
Konservativen in der Deckungsfrage im Stich gelassen zu werden, und kann von
den Sozialdemokraten die notwendige Zustimmung zu neuen Steuern nicht
erwarten. Bon einem regelrechten Kampf um die Deckungsfrage mit Reichstags¬
auflösung und Neuwahlen will die Negierung des Herrn von Bethmann nichts
wissen. Also muß die Sache leiden!
Sehr bedauerlich ist diese Entwicklung der Dinge, weil sie anch die finanzielle
Grundlage des Reichs nicht unberührt läßt und die mühsamvom bisherigen Neichs-
schatzsekretär Or. Wermuth abgeschaffte Schuldenwirtschaft wieder einzuführen droht.
Herr Wermuth hat nun in letzter Stunde noch einmal seine Stimme
erhoben, um die von ihm eingeleitete Gesundung der Reichsfinanzen auch für
die Zukunft sicher zu stellen. In einem in der Deutschen Revue veröffentlichten
Artikel übt er eine außerordentlich scharfe Kritik an der neuen Richtung unserer
Finanzpolitik. Herr Wermuth geht von der Reichsfinanzresorm aus, die, „finanziell
betrachtet, mit einigem Erfolg zu Ende geführt" worden sei, und schildert dann
sehr ausführlich und einleuchtend die Sanierungsarbeit, die auf dieser Grundlage
in den letzten Jahren geleistet worden ist. Sie wurde erreicht mit der Fest¬
setzung des Satzes der Matrikularbeiträge, mit einer vorsichtigen Schätzung der
Einnahmen und mit der Einleitung einer gesunden Anleihepolitik. Diese Heil¬
mittel hätten in Bundesrat und Reichstag anhaltende Billigung gefunden. Das
Auftauchen der Rüstungs vorlagen habe aber diese gesunden Grundsätze über den
Haufen geworfen. Viele seien der Meinung geworden, daß die Finanzen schon
zu gesund geworden seien. Herr Wermuth macht dann seine bekannte Gegen¬
rechnung gegen die Optimisten auf und fährt fort:
Wer nun wünscht, daß die Überschüsse von 19t1 für die Mehrausgaben von 1912,
1913 usw. verwandt werden, der vertritt damit folgenden Gedcmkongang: „Wir hätten
eigentlich im Jahre 1911 leihen und die gesetzliche Schuldentilgung unterlassen müssen.
Beides ist durch die Überschüsse in das bessere Gegenteil verkehrt; wir haben nicht geliehen
und haben dem Gesetze gemäß Schulden getilgt. Den doppelten Erfolg aber wollen wir
wieder aufgeben, weil ein neuer, in den bisherigen Finanzplan nicht hineinpassender Bedarf
hervortritt. Jetzt machen wir für 1911 die Schuldentilgung rückgängig und nehmen nach¬
träglich eine Anleihe auf, um mit den so gewonnenen Beträgen künftige Ausgaben zu bezahlen."
Das ist ein ungomein gefährliches Beginnen. Nicht unbedenklich schon dann, wenn man auch
nur den kleinen Bedarf für werbende Zwecke nachträglich als Anleihe aufnimmt. Darüber
hinaus aber sicherlich geeignet, die Saniernngsnrbeit zu unterbinden. Nach allen Regeln der
Finanzkunst soll man Überschüsse zur Minderung der Anleihe benutzen. Mit ihnen die Lücken
im ordentlichen Etat des oder der nächsten Jahre ausfüllen, heißt die Schwierigkeiten der
dann folgenden Zeit vervielfachen. Man wolle nicht einwenden, dnsz die Ausgaben der neuen
Wehrvorlagen zum Teil nur einmalig sind und das; diesem Teil die Überschüsse recht Wohl
zu Dienst gestellt werden dürsten. Das Ware eines der Beruhigungsmittel, die uns schon
früher zum Nachteile gereicht haben. Erfcchrnngsmäszig sinken die einmaligen Ausgaben,
namentlich bei Heer und Marine, fast nie. Steht die Summe einmal im Etat, so hat sie
das Beharrungsvermögen auf ihrer Seite. Neue „einmalige" Ausgaben erheben sich an
Stelle der frühern. Die einzelne Kaserne, das einzelne Schiff erfordert eine einmalige
Ausgabe; aber wenn deren Raten erledigt sind, so bemächtigt sich ein anderer Bau gleicher
Art des leeren Platzes im Etat. Von den gegenwärtigen Neuforderungen des Heeres mag
ein mäßiger Teil wirklich vorübergehender Natur sein, weil umfassende Organisationen ins
Leben treten. Aber die große Rechnung darf dadurch nicht beeinflußt werden; im wesentlichen
hat der Finanzmann die einmaligen Ausgaben des ordentlichen Etats ebenso zu behandeln
wie die fortlaufenden. Hier indes handelt es sich nicht bloß um allgemeine Finanzregeln,
sondern an viel mehr: um die Weiterführung oder Unterbrechung, wenn nicht Preisgabe des
Gesundungsprozesses. Die Gesundung ist weit schneller fortgeschritten, als wir hoffen durften.
Noch ein oder zwei Jahre auf dem bisherigen Wege, und wir hätten das Ziel sicher erreicht.
Statt nun und beiden Händen zuzugreifen und das Jahr 19l1 vorbildlich für die kommende
Zeit sein zu lassen, sollen wir uns damit einwiegen, daß wir ja gar nicht nötig gehabt hätten
so eilig vorwärtszukommen, und sollten die einmal erreichten Vorteile wieder von uns
schieben? Damit geböten wir nicht nur der Gesundung Halt, sondern trügen einen neuen
Krankheitskeim in die Finanzen. Ein Nebeneinander von Sanierung und von deckungsloser
Befriedigung des neuen Bedarfs ist nicht möglich. Die Grenzen zwischen beiden werden sich
verwischen, und der neue Bedarf, in die Sanierungsfortschritte hineingezwängt, wird diese
zerstören.
Auf Grund rechnerischer Versuche kommt Herr Wermuth zu dem Schluß/
daß die neuen Ausgaben nur auf zweierlei Art gedeckt werden können: entweder
durch neue Einnahmen oder durch Rückfall in die Anleihe. Eine starke neue
Einnahme könne aber nur aus einer Besitzsteuer fließen, und als eine solche
Besitzsteuer könne nur die Erbschaftssteuer in Betracht kommen. Hoffen wir, meint
die Kölnische Zeitung, daß das Urteil des bisherigen Schatzsekretärs bei der
kommenden Erörterung der Decknngsfragen noch schwer in die Wagschale
«erantwortliche Schriftletter! für den politischen Teil der Herausgeber George Cleinow in Schön-Ser«, sür
i>en M-rsrlschen Teil und die Redaktion Heinz Amelung in Wilmersdorf. - Mamiftrixtsentungen und Brief-
werden erbeten unter der Adresse:
An den Herausgeber der Grrnzbotrn in Friedenau bei Berlin, Hedwigstr. 1».
Fernsprecher der Schriftleitung: Amt Psalzburg 5718, des Verlags: Amt Lützow SS10.
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b. H. in Berlin SV. 11.
»r««: „Der Reichsbote" B. »>. b. H. in Berlin SV. 11, Dessauer Strahl »e/»7>
er Name des Prager Antiquarssohnes, dem das metternichsche
Österreich zu enge geworden, hatte schon guten Klang, als Kuranda
im Jahre 1842 die von ihm begründeten „Grenzboten" von Brüssel
nach der Metropole des deutschen Buchhandels verlegte. Vierzig
Jahre später hat Eduard Herbst, der trotz seiner Fehler hochverdiente
Führer der liberalen Deutschen in Österreich, es betont, was die „grünen Hefte"
in den der Revolution vorangehenden Jahren bedeuteten: daß sie den Österreichern
über die Grenze herein Kunde brachten von deutschem Wesen, daß sie von
Leipzig her über die UnHaltbarkeit der österreichischen Zustände aufklärten, daß
sie zur Hebung dieses Bewußtseins unter der deutsch-österreichischen Jugend
ebensoviel beitrugen wie Anastasius Grüns „Spaziergänge eines Wiener
Poeten". So ist Kuranda mit seiner innerhalb der schwarzgelben Grenzpfähle
aufs strengste verpöntem und eben deshalb um so eifriger geschwärzten und um
so begieriger gelesenen Zeitschrift ein gefährlicher und erfolgreicher Kämpfer
gegen das „System" geworden. Von allem Radikalen hat er sich, damals wie
später, streng ferngehalten. Aber selbst sein gemäßigter Liberalismus galt den
Wiener Machthabern des Vormärz etwa identisch mit dem heutigen Begriffe des
Anarchismus.
Der Ton, in dem Ignaz Kuranda einen Absolutismus bekämpfte, der erst
durch sterile und vertrocknete Stabilität in der Verwaltung sein eigentliches,
trostloses Gesicht erhielt, war immer vornehm. Dies entsprach der hohen lite¬
rarischen und ästhetischen Bildung des Mannes. Mit seiner „Weißen Rose"
hatte er dramatische Erfolge erzielt; seine „Geschichte Belgiens seit der Revolution"
hatte die Anerkennung wissenschaftlicher Kreise gefunden. Zuvörderst ist es aber
doch der Publizist in Kuranda, der seinen dauernden Wert ausmacht: der
politische Schriftsteller, dem selbst der erzkonservative Heisere das Beiwort des
Geistreichen und Gediegenen nicht versagte. Es war der unermüdliche, mit dem
Worte und mit der Feder gleich vertraute, welterfahrene Zeitungsmann, der sich
nachher in einen der gewandtesten Parlamentarier umwandelte, die Osterreich
jemals besessen hat. In seiner Kleidung und seinen Manieren stets ebenso
tadellos wie in seinen Artikeln, höchst anregend in der Unterhaltung hat er es
zeitlebens verstanden, literarische und politische Bekanntschaften in größter Zahl
zu sammeln und für feine über den trivialen Egoismus hinausgehenden Zwecke
zu verwerten. Noch als junger Wiener Theaterrezensent war er mit Lenau,
Grün, Halm, Castelli u. a. in Berührung gekommen, später in Stuttgart mit
Uhland und den schwäbischen Dichtern, Robert Mohl, David Friedrich Strauß,
Cotta u. a., in Brüssel mit dein Minister Nothomb und dem vlämischen Dichter
Hendrik Conscience. An den Grenzboten arbeiteten zu seiner Zeit Deutsche wie
Laube, Kühne, Lewald, Österreicher wie Moriz Hartmann, Alfred Meißner,
Egon Ebert u. a., nebst einer langen Reihe österreichischer Aristokraten, die
dem Regime Metternich ständische Opposition machten.
In Leipzig duldete es den rastlosen Journalisten nie lange. Nach Paris,
Berlin, Wien, Italien fuhr er, um Informationen und Verbindungen zu
gewinnen; und in diesem gewiß nicht böse gemeinten Sinne spricht Lewald
gelegentlich von Kurandas gußeiserner Zudringlichkeit. Wenn dieser neben seiner
redaktionellen Tätigkeit in Leipzig noch Zeit fand, philosophische Kollegien zu
hören und das Doktordiplom zu erlangen, waren doch die Grenzboten in diesem
Abschnitte seines Lebens der erste und der letzte Gegenstand seiner zärtlichen
Sorge. Von ihnen sprach er am liebsten. „Man konnte es ihn: aus
dreißig Schritte ansehen," schreibt Meißner, „wenn wieder einmal eine Feder
ersten Ranges ihm ein Manuskript eingesendet hatte. Dann trug er sein Haupt
mit besonderem Schwunge, die Hand führte noch kecker als sonst das zierliche
Stäbchen, die Augen strahlten von siegreichem Feuer." Eine in liebenswürdige
Formen gekleidete Energie und ein lebhaftes geistiges Temperament haben wohl
auch bei dem späteren Politiker Kuranda manchmal ersetzt, was ihm an Tiefe
fehlen mochte.
Kurandas Tätigkeit bei den Grenzboten ist in diesen Blättern wiederholt
besprochen worden.") Hier möge seine politische Wirksamkeit im engeren,
parlamentarischen Sinne überblickt werden. Sie begann im Revolutionsjahre.
Als die Wiener Mürzbewegung ausgebrochen und mit jugendlichem Ungestüni
zum Erstaunen von ganz Europa ein scheinbar auf Fels gegründetes System
überrannt hatte, ging Kuranda nach der österreichischen Hauptstadt, wohl fühlend,
daß jetzt nur dort sein Platz sein könne. Das in Jubel schwimmende Wien,
die Aula zumal, empfing den Landsmann, der so lange für das nun Errungene
gekämpft hatte, mit lauter Freude. Damals sollte Kuranda die Leitung eines
großen, auf Aktien zu gründenden Journals „Die Reform" übernehmen, lehnte
aber ab, weil ihm die geplante Tendenz allzu gemäßigt erschien, er auch für
sich nicht die Gewähr völliger Unabhängigkeit erblickte. Er wurde in die
Deputation gewählt, die das sogenannte Frankfurter Vorparlament zu begrüßen
ging; er war Mitglied des Fünfziger Ausschusses, der die Einberufung des
wirklichen Parlaments vorbereitete. Bezeichnend für die Widersprüche, in die
Österreichs Deutsche bei aller echten schwarz-rot-goldenen Begeisterung vou Anfang
an gerieten, ist, daß Kuranda in Frankfurt weniger die Rechte der Deutschen
in Österreich als ihre Pflichten gegen die nichtdeutschen Nationen des Habs¬
burgerreiches betonte, daß er diesen die Unverletzlichkeit ihrer Nationalität durch
die künftige deutsche Reichsverfassung verbürgt wissen wollte — ein altruistisch¬
kosmopolitischer Idealismus, den sich die österreichischen Deutschen seither allmählich
abgewöhnen mußten.
Der Wahlkreis Teplitz in Böhmen wählte Kuranda in jene Versammlung,
in der zum ersten und zum letzten Male das gesamte deutsche Volk vertreten
war. Kuranda hat dem Frankfurter Parlamente, das trotz seiner Fehler
und seiner politischen Unfruchtbarkeit schon durch seine nie dagewesene Ver¬
einigung von Geist, Talent und Vaterlandsliebe immerdar eine stolze Erinnerung
bleiben wird, nur etwa ein Vierteljahr angehört und ist dort nicht sonderlich
hervorgetreten/') Er hatte sich dem linken Zentrum angeschlossen, das gemäßigte
liberale Tendenzen vertrat, die Volkssouveränität zwar als die einzige Grund¬
lage der zu schaffenden Reichsverfassung betrachtete, die Unterordnung der Einzel¬
staaten unter die Einheitsidee verlangte, dabei aber doch (in dem jener Zeit
eigenen, etwas verschwommenen Theoretisieren) die „Berücksichtigung der Einzel¬
regierungen und die unabweisbaren Partikularbedürfnisse nicht völlig in Abrede
stellte".
Schon am 24. August 1848 teilte der Vorsitzende dem Parlamente den
Austritt des Abgeordneten Kuranda mit. Eine Motivierung hatte dieser nicht
gegeben. Der schier unlösbare Gegensatz zwischen dem historisch gewordenen,
Polyglotten Österreich und einem alle Deutschen umfassenden einigen Deutschland
war wohl die tiefere Ursache dieses vorzeitigen Austritts.
Bald sehen wir Kuranda wieder in seinem eigentlichen Fahrwasser. Anfang
Oktober 1843 gründete er in Wien die „Ostdeutsche Post", die letzte große Zeitungs¬
schöpfung der Wiener Revolution. „Die Kluft zwischen einer traurigen Ver¬
gangenheit und einer neuen Zukunft" will er damit überbrücken. Er verlangt
eine entschieden freiheitliche Monarchie, der Monarch selber solle nur der unver¬
antwortliche und erbliche Präsident sein. Die Träger der Freiheit aber können,
wie der Eröffnnngsartikel ausführt, nur die Deutschen sein. Ein großes, starkes
Österreich ist sein Ziel. „Aber wenn die Erhaltung dieses großen Österreich
auch nur mit der kleinsten Gefahr für unsere Nationalität verbunden oder gar
der Schwerpunkt der Monarchie nach slawischer Seite fallen sollte und die
Autonomie des deutschen Willens von der slawischen Majorität bedroht würde
— dann mag immerhin die Monarchie in Trümmer fallen! Dann ist es
unsere heiligste Pflicht, das zu tun, was die Italiener und Kroaten gegen ihre
Unterdrücker unternommen haben. Und wir haben die lebendige Kraft dazu,
und wir haben auch das geschriebene Recht dazu; denn Österreich, das eigentliche
Österreich ist zu allen Zeiten deutsch gewesen und muß auch für alle Zukunft
deutsch bleiben." Kräftige Worte, die statt 1848 auch 1912 gesprochen sein
könnten I
Aber die politisch maßvolle Stimme der „Ostdeutschen Post" verhallte in
diesem Wiener Oktober, wo schon die extremen Elemente zu Wort gekommen
waren. Auch Kurandas Blatt wurde, als Windischgrätz Wien bezwungen,
Wert. Erst vom 18. Dezember 1848 an durfte es wieder erscheinen. Es litt
unter deu Quälereien des Belagerungszustandes. Kuranda mußte eine Zeitlang
die Redaktion abgeben und durfte sie erst 1853 wieder übernehmen. Gerade
um die Mitte der fünfziger Jahre aber hat die „Ostdeutsche Post" ihre Blütezeit
gehabt. Männer wie Eitelberger. Stubenrauch, Bauernfeld, Baron Eötvös,
Pratobevera, Rudolf Valdek, Emil Kuh u. a. waren ihre Mitarbeiter. Kuranda
selbst schrieb fleißig seine stets elegant adjustierten, kurzgefaßte:: und scharf
pointierter Artikel. Das Blatt war— wie der durchaus nicht zum Lobredner
geeignete Herbst sagte — unerreicht an vornehmem, würdigen! und doch ent¬
schiedenem Ton, an unter schwierigsten Verhältnissen bewährter Unabhängigkeit
und Gesinnungstüchtigkeit. Wie die Grenzboten einst ein Bindemittel zwischen
Deutschland und Österreich gewesen in den bösen Zeiten des Vormärz, wurde
die „Ostdeutsche Post" in dem kaum minder schlimmen Reaktionsdezennimn ein
„Pionier der österreichischen Publizistik".
Nicht eine politische Umgestaltung, sondern ein Zuscnnmenbrnch war das
Ende des nachmärzlichen Absolutismus. Kuranda, der den halbkonstitutionellen
und ganzföderalistischen Versuch des Oktoberdiploms von 1860 bekämpft hatte,
schloß sich, wie alle liberalen Deutschösterreicher, mit Begeisterung an Schmerling
an, den Schöpfer des Februarpatentes von 1861, das endlich eine wirkliche,
wenn auch recht bescheiden zugeschnittene Verfassung bot. Am 20. März wählte
ihn die innere Stadt Wien mit gewaltiger Mehrheit zu ihrem Abgeordneten in
den Landtag und dieser ihn (nach dem System der indirekten Wahlen, das bis
1673 bestand) am 6. April in den Reichsrat. Beiden Körperschaften hat
Kuranda von da ab ohne Unterbrechung bis zu seinem Tode, also durch drei¬
undzwanzig Jahre, angehört. „Von Schmerling bis Taaffe" ließe sich seine
parlamentarische Laufbahn überschreiben. An allen Verdiensten, die sich die
liberale deutsche Partei in diesem Vierteljahrhundert um die Ausbildung des
österreichischen Konstitutionalismus erworben, hat Kuranda seinen Anteil; an
den Irrtümern und Versäumnissen der „Herbstzeitlosen" trägt er sein Maß
geschichtlicher Verantwortung. Denn er war ein Mitleiter, ein Wortführer dieser
Partei. An staatsrechtlicher Bildung stand er einen: Mühlfeld und einem Herbst,
an hinreißender Kraft einem Giskra nach. Als schlagfertiger, witziger, zündender
Sprecher aber hatte er kaum seinesgleichen im österreichischen Abgeordnetenhaus?
der sechziger und siebziger Jahre, das an Talenten und Rednern wahrhaftig
nicht arm gewesen ist. In dieser provisorischen Bretterbude vor dem Schottentor,
dem „Schmerlingtheater", wie die Ungarn höhnten, hat der österreichische
Parlamentarismus ja doch seine schönsten Tage erlebt; und die großen staats¬
männischen Gesichtspunkte in den Debatten wie den vornehmen Ton, die in
diesem primitiven Volksvertretungsheim herrschten, möchte man sich in den prunk¬
vollen Palast am Franzensring gern zurückwünschen.
Im Geiste des nach heutigen Begriffen vielleicht zahmen Liberalismus jener
Tage und als Gegner der auf die Zerbröckelung Österreichs gerichteten föde¬
ralistischen Strebungen sprach Kuranda in den Jahren 1861 bis 1865 zu all
den großen legislatorischen Fragen, zum Preß-, zum Heimath-, zum Handels¬
gesetz, sprach er in den Adreßdebatten, fungierte er als allezeit bestunterrichteter
Referent über den Staatsvorauschlag. Sein Lieblingsthema aber waren die
weittragenden Probleme der auswärtigen Politik. Nicht als ob ' die"Zweite
Kammer damals in Österreich irgendeinen bestimmenden Einfluß auf die inter¬
nationalen Angelegenheiten geübt hätte; aber diese gehörten doch formell in
ihren Wirkungskreis. Und Kuranda hat in diesen Dingen, zu denen er" freilich
nur sprechen konnte, viel richtigen Blick gezeigt. Er verlangte in der italienischen
Frage eine endgültige Lösung, nicht durch die Waffen, sondern auf dem Wege
friedlicher Verhandlung, und sprach es offen aus, daß der Verlust der letzten
Besitzungen in Italien, dieses Erbteils der heiligen Allianz, für Österreich kein
Unglück wäre. Mit schneidendem Hohn geißelte er Österreichs ungeschickte Hand,
seine verhängnisvollen Mißgriffe in jenen Jahren, da die überlegene Kunst
eines großen Mannes planvoll zum Bruche zwischen den zwei deutschen Gro߬
mächten trieb; mit prophetischem Blicke sagte er den unvermeidlichen Kampf
um die Vorherrschaft in Deutschland voraus, den sich der Habsburgerstaat im
ungünstigsten Zeitpunkte aufdrängen ließ.
Kuranda, der Alt- und Großösterreicher, war durch die Katastrophe des
Jahres 1866 aufs tiefste getroffen. Damals gab er seine „Ostdeutsche Post" auf,
deren deutsch-österreichische Ziele durch den Sieg Preußens zunichte geworden.
Aber mit dem alten Eifer des gemäßigten Liberalen kämpfte er, wenn auch ohne
die schöpferische Kraft eines Herbst oder eines Hafner, für die innere Reorgani¬
sierung des cisleithauischen Österreich nach dem Ausgleiche, für die Aufhebung
des Konkordats, für die neuen Kirchen- und Schulgesetze. Daß der kleine Mann
mit der mächtigen Nase in der Karikatur der Wiener Witzblätter einen breiten
Raum einnahm, ist nur ein Beweis seiner Bedeutung. In all den Wirrnissen
und Verwicklungen, den nationalen Kämpfen, den staatsrechtlichen Experimenten
und gründlichen Umgestaltungen, die Österreichs innere Geschichte seit dem
Revolutionsjahrc zum guten Teile ausmachen, war Ignaz Kuranda alt geworden.
Er hatte den Höhepunkt seiner politischen Wirksamkeit lange überschritten, als
er gemeinsam mit Herbst, Giskra, Demel, Kellersperg gegen Andrassys Orient¬
politik scharfe Opposition machte. Nur einige jüngere aufstrebende Kräfte seiner
Partei, Pierer junior, Coronini, Walterskirchen, Ausspitz, Sueß, bildeten die
„böhmische Linke" in den Delegationen. Die alte Garde der Verfassnngspartei
aber verharrte mit Herbst auf dem Standpunkte, daß das europäische Mandat
zur Okkupation Bosniens ein gefährliches Präjudiz sei in einem Staate, der
wie Österreich auf dem historischen Recht beruhe. Sie verweigerten dem Grafen
Andrassv den Sechzig - Millionenkredit, den er vorerst für noch unbenannte
Zwecke im Mürz 1878 verlangt hatte; sie stemmten sich gegen die Okkupation,
die sie nicht verhindern konnten. Mag man der liberalen deutschen Linken, die
sich bald darauf, zum Teil durch ihre eigene Schuld, von der leitenden Rolle
in Cisleithanien verdrängt sah, auch in dieser Frage der äußeren Politik vor¬
werfen, daß sie ihre Zeit nicht verstand! man hat kein Recht anzunehmen, daß
Kuranda auch in dieser Sache anders gesprochen und gestimmt hat, als seine
Überzeugung ihm gebot.
Durch viele Jahre hat er dem Wiener Gemeinderat angehört, zu einer
Zeit, da dieser Stadtvertretung nach dem Falle der alten Befestigungswerke
große Aufgaben zufielen. Die Großkommune, in der damals der Rassenhaß
noch keinen Boden gefunden hatte, zeichnete ihn anläßlich seines siebzigsten
Geburtstages durch das Ehrenbürgerrecht ans. In weiten Kreisen genoß der
rechtschaffene, geradsinnige Mann, der fremdes Verdienst so gern anerkannte und
der anch in den Zeiten des berüchtigten „volkswirtschaftlichen Aufschwungs"
seine Hände rein erhalten hatte, Liebe und Achtung. Eduard Herbst, selbst ein
Träger der lautersten öffentlichen Moral, feierte in Kuranda den alten Kampf¬
genossen, der unter allen Umständen jene Grundsätze hochgehalten habe, zu deren
Festigung in der Bevölkerung Österreichs er vielleicht mehr als irgendein anderer
beigetragen hatte.
Kuranda, der schon seit einiger Zeit an einen: Herz- und asthmatischen
Leiden erkrankt war, nahm am 14. März 188t noch an einer Sitzung der
Nordbahndirektion teil und erschien an diesem Tage auch im Abgeordnetenhause.
Tags darauf warf ihn ein schwerer Anfall seines Leidens nieder. Am 29. März
verlor er das Bewußtsein, das von da ab nur auf kurze Zeit zurückkehrte.
Den nomo pe>knien8 verfolgten die öffentlichen Angelegenheiten in seine
Delirien. Er hielt Reden, stellte Anträge, nannte die Namen von Deputierten,
verlangte aufzustehen, um sich ins Parlament zu begeben. Von seiner Familie
umgeben, endete er am 4. April 1884, halb vier Uhr nachmittag.
Das abschließende Urteil über Ignaz Kuranda wird kein anderes sein,
als daß er ein Mensch von makellosen, Charakter, ein Politiker nicht von
führender Qualität, aber von parlamentarischer Befähigung und scharfem Urteil
war. Als Publizist steht er nach seinem Talent und nach seinen weit über
den Rahmen der Zeitung hinausreichenden Erfolgen für alle Zeit in erster Reihe.
I ^ a clam3 cliÄque lÄat trois sortes ac pouvoirs — so beginnt
Montesquieu das berühmte sechste Kapitel des elften Buches seines
„IZsprit c!e3 lois" und unterscheidet dann im einzelnen die„x>ni83!inne
iLAisIativL", die „puissance nie juMr" und die „pui8sanLe
öxöcutiLö". Nachdem um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
der große Franzose diese Lehre von der Teilung der Gewalten, die die Grund¬
lage und Voraussetzung aller staatsrechtlichen Gerechtigkeit ist, verkündete, verging
noch ein Jahrhundert, bis sie in der Staatspraxis mehr und mehr Geltung
erlangte. Aber mock> hente harrt sie vergeblich voller Erfüllung und Anerkennung.
Gerade heute müssen wir z. B. wieder erleben, daß die „Freirechtsbewegung"
für den Richter die Funktionen des Gesetzgebers sich anzueignen versucht. Die
Tätigkeit der Verwaltung ist trotz der Einführung und segensreichen Wirksamkeit
der Verwaltungsgerichtsbarkeit (in Preußen, Deutschland) immer noch nicht frei
von richterlichen und gesetzgeberischen Aspirationen. Und in den Rechten der
Parlamente finden wir, wie Fremdkörper eingesprengt, richterliche Befugnisse.
In einer der jüngsten Verfassungen, der 1904 eingeführten Verfassung der
Republik Panama, werden gar mit fast tendenziöser Betonung dem Parlament
Rechte auf allen drei Gebieten eingeräumt, indem im Titel VI („Die Gesetz¬
gebung") ausdrücklich unterschieden wird: „Die gesetzgeberische Tätigkeit der
Nationalversammlung" (Art. os), „Die Verwaltungstätigkeit der National¬
versammlung" (Art. 67) und „Die richterliche Tätigkeit der Nationalversammlung"
(Art. 66).
Eine der wesentlichsten richterlichen Obliegenheiten der meisten Parlamente,
sowohl der deutschen wie der außerdeutschen. ist die Wahlprüfung, die Ent¬
scheidung über die Legitimation ihrer Mitglieder.
Während sich in vielen konstitutionellen Staaten das parlamentariiche Recht
der Wahlprüfung gewohnheitsrechtlich entwickelt hat, ist es in anderen, zumal
neueren, Verfassungen ausdrücklich festgelegt. Eine dem Art. 27,1 der Reichs-
Verfassung („Der Reichstag prüft die Legitimation seiner Mitglieder und ent¬
scheidet darüber") ähnliche Bestimmung findet sich in zahlreichen Verfassungen.
Und es ist besonders charakteristisch, daß in vielen die richterliche Natur des
Wahlprüfungsaktes mit klaren Worten als solche bezeichnet wird. In der
ältesten geschriebenen Verfassung, der Lor8titution ok tke Uniteä Leake8 (von
1787), heißt es in Art. I, Sektion 5: „IZaLli Kouse Sta» be edle juclM ol
tus Llections, >eturn8 auel qualificÄtions it8 c»vn membLi'3." Die fran¬
zösische I^ol L0N8titutioneIliz vom 1<>. Juli 1875 bestimmt in Art. 10: „LliacunL
c>S8 cIiamblL8 L8t juZe 6e I'eliZibilite ac 8L8 membreR et <te iLAuIarite
as leur Llectivn." Derselbe juristische Kern ist in dem Art. 29,1 der Ver¬
fassung Chiles zu erkennen: „Ausschließliche Befugnisse der Deputiertenkammer
sind: 1. Die Wahlen ihrer Mitglieder zu prüfen, über Nichtigkeitsbeschwerden (I),
welche gegen sie eingelegt sind, zu entscheiden. . ." Ähnliche Bestimmungen
finden sich in den Verfassungen der monarchischen Staaten, so z. B. in der
russischen von 190l> in Art. 102: „Der Reichsrat prüft die Vollmachten seiner
erwählten Mitglieder; in gleicher Weise prüft die Reichsduma die Vollmachten
ihrer Mitglieder." Als staatsrechtliche Kuriosität sei noch angemerkt, daß die
bereits erwähnte Verfassung von Panama ihre „besondere" juristische Theorie
hat und die Wahlprüfung nicht als richterlichen Akt, sondern (in Art. ki7, 2)
als einen Akt der — „Verwaltungstätigkeit des Parlaments" kennzeichnet.
Allein die Ansicht Montesquieus, des großen staatsrechtlichen Analytikers,
der den Geist der Gesetze in seine einfachen Elemente schied, hat seit einem
halben Jahrhundert auch auf diesem Gebiete weiter vorbildlich und beispiel¬
gebend gewirkt und in einer Reihe von Staaten eine weitere „Scheidung" der
verfassungsrechtlichen Elemente, eine Ausscheidung und Abtrennung der wahl¬
richterlichen Obliegenheiten von den Befugnissen der gesetzgebenden Körperschaften
teils durchgesetzt, teils wenigstens angebahnt. Vorläufer war auch hier das für
alles gerechte Staatsrecht bahnbrechende Land: England. Im Jahre 18K8
übertrug die Lleetion ?senior8 auel Lonupt piÄetice8 at t2leetic>n8 z^et
die Verhandlung und Entscheidung über angefochtene Wahlen in England dem
Gerichtshofe der Lornmon ?Iea8 in Westminster (einem der drei obersten Reichs¬
gerichte, die inzwischen mit dem LKencLi^ coule zu dem einen rU^ki court
ok ju8eine vereinigt worden sind), über die Wahlen in Irland dem Lourt ok
Lornmon pica8 in Dublin und über die in Schottland dem Lourt ol 3e83in>us.
Beschwerden über Wahlrechtsverletzungen werden statt wie früher dem r1on8e
0I L0MM0N8 binnen einundzwanzig Tagen nach vollzogener Wahl diesen
Gerichtshöfen überreicht und von einem beauftragten Richter des „zuständigen
Gerichtshofs" an Ort und Stelle, d. h. innerhalb des betreffenden Wahlkreises
verhandelt und entschieden. Dieser Richter teilt dem Zpeglcer (dem „Kammer¬
präsidenten") nach Abschluß der Verhandlung seine Entscheidung, die ohne
weiteres „rechtskräftig" ist, urkundlich mit. In bezug auf Abgeordnete, deren
Wahl nicht aus den Kreisen der Wähler angefochten wird, ist dem Unter-
Hause eil! gewisses, mehr disziplinarrechtliches, Entscheidungsrecht über die Mit¬
gliedschaft der Gemeinen gewahrt geblieben, z. B. im Falle verweigerter Eides¬
leistung (Bradlaugh). — Ähnliche Bestimmungen sind auch in Schweden wenigstens
insofern durch die Verfassungsgesetze von 1866 und 1876 eingeführt worden,
als die Kammern nur über Verletzungen des sozusagen materiellen Wahlrechts
(Wählbarkeit u. a.) richten, dagegen Anfechtungen wegen Verletzungen des
formellen Wahlrechts, des Wahlverfahrens (und das sind die meisten und
folgenschwersten „Wahlproteste" in allen Staaten!) durch die Verwaltungsbehörden
dem Könige übermittelt werden, der sie zur Entscheidung dem Obersten Gerichts¬
hofe überweist. — Grundsätzlich hat auch Ungarn durch Z 89 des 33. Gesetz¬
artikels von 1874 die Entscheidung über Wahlstreitigkeiten der Königlichen Kurie
(d. h. dem Obersten Gerichtshof) übertragen. Aber das Ausführungsgesetz zu
diesem Deklarationsgesetz, wie man derartige Gesetze nennen könnte, ist nach
zwei vergeblichen Versuchen bis heute noch nicht erlassen. (Also ein ähnlicher
Fall wie in Preußen hinsichtlich der Ministerverantwortlichkeit, die ebenfalls
grundsätzlich verkündet, aber mangels jeglicher Ausführungsnormen noch ohne
praktische staatsrechtliche Bedeutung ist.) — Auch die erste, inzwischen geänderte
Verfassung Bulgariens von 1882 enthielt eine ähnliche Bestimmung in Art. 102:.
Wahlanfcchtuugen, die entweder von fünf Wählern oder dem obersten Ver¬
waltungsbeamten des fraglichen Wahlkreises beim Gerichte des Hauptortes des
Wahlkreises erhoben wurden, gingen von dort an den Kassationshof, der inner¬
halb zehn Tagen seine Entscheidung fällte. — In Österreich wurde 1880 vom
Abgeordneten Grafen Coronini und Genossen ein — übrigens technisch recht
schlecht konstruierter und stilisierter — Gesetzentwurf eingebracht, aber nicht an¬
genommen, der die Einsetzung eines „Gerichtshofs für angefochtene Neichsrats-
wahlen" bezweckte. — In der neuen Verfassung Elsaß-Lothringens von 1911
bestimmt Z 9: „Über Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahlen entscheidet
der oberste Verwaltungsgerichtshof, bis zu seiner Errichtung ein Senat des
Oberlandesgerichts. Zur Erhebung des Einspruchs ist jeder Wahlberechtigte
befugt, der an der betreffenden Wahl teilnehmen durfte, bei Wahlen zur Zweiten
Kammer auch jeder Wählbare, der bei der Wahl Stimmen auf sich vereinigt
hat." — Und zuletzt muß noch darauf hingewiesen werden, daß im Verwaltungs¬
recht der preußischen Selbstverwaltungskörper bereits der Gedanke der Abtrennung
und Verselbständigung der wahlrichterlichen Befugnisse verwirklicht ist. In
Preußen hat das sogenannte Zuständigkeitsgesetz von 1883 Wahlprüfungsgerichte
sozusagen für die zweite und dritte Instanz eingesetzt und nur in erster Instanz
den Vertretungskörperschaften die Entscheidung über die Legitimation ihrer
Mitglieder gelassen. § 10: „Die Gemeindevertretung beschließt ... 2. über
die Gültigkeit der Wahlen zur Gemeindevertretung." Z 11 „Gegen den Beschluß
der Gemeindevertretung findet die Klage im Verwaltungsstreitverfahren statt."
Der Grundsatz der wahlrichterlichen Zuständigkeit der Parlamente ist hier¬
nach längst durchbrochen. Der Gedanke, die Wahlprüfung sei als eine rein
richterliche Handlung zu behandeln, ist nicht mehr nur staatsrechtliche Theorie,
sondern schon in bemerkenswerten Umfange „Praxis" geworden. Die Erkenntnis
von der tiefen Ungerechtigkeit des gegenwärtig noch in den meisten Staaten
geltenden Rechtszustandes dämmert auf.
Das Wort des englischen Verfassungsrechts - l'Ke KinZ cannot alö wronZ!
hat man mit Unrecht auf das Parlament übertragen. Das Parlament kann
Unrecht tun, schweres Unrecht, und es fehlt dann der verantwortliche Minister,
der das Staatsunrecht, das (an sich) auch der König begehen kann, zu vertreten
hat. Ist schon im allgemeinen die Gefahr schweren parlamentarischen Unrechts
mit der Richtertätigkeit des Parlaments verbunden (mag es nun als Oberster
Gerichtshof tätig sein, wie das ttouZe ok I^ora8, oder als Staatsgerichtshof,
wie die französische Lonvention Nationale im Januar 1793), so wächst die
Gefahr da, wo es „in eigener Sache" zu richten hat. Und das ist der Fall
bei den parlamentarischen Wahlprüfungen. Bei den Parteifreunden und Partei¬
gegnern des „protestierten" Abgeordneten liegen alle jene Gründe vor, die in
sämtlichen Zivil- und Strafprozeßordnungen der Kulturstaaten entweder als
„Ausschließungsgründe" oder als „Ablehnungsgründe" (wegen „Befangenheit")
gelten. In einer Zeit, die an das Dogma von der parlamentarischen Unfehl¬
barkeit (die psychologisch erklärliche Reaktion gegen das staatsrechtliche Dogma
von der Unfehlbarkeit des absoluten Königs!) glaubte, lag die Erkenntnis von
der tiefen grundsätzlichen Ungerechtigkeit der parlamentarischen Wahlprüfungs¬
justiz noch unter der „Bewußtseinsschwelle".
Heute aber hieße es Zeitungen nach Berlin tragen, wollte man die bekannten
Gründe, die eine gerechte Wahlprüfungsjustiz des Parlaments (gleichviel welche
Partei oder Parteien die Majorität haben) fast unmöglich machen, wiederholen oder
durch neue vermehren. Alle Abgeordneten aller Parteien, mögen sie konservativ
oder liberal sein, dem Zentrum oder der Sozialdemokratie angehören, leitet
gleichermaßen das Streben, die Wahlproteste ihrer Gesinnungsgenossen möglichst
als begründet zu berücksichtigen, und die ihrer Gegner möglichst als unbegründet
auszuschalten. Und in neuester Zeit scheint denn auch auf dem Kontinent die
Ahnung aufzudämmern, daß parlamentarisches Unrecht ebensowohl möglich ist
wie polizeiliches, und daß gegen jenes ebenso wie gegen dieses der zuverlässigste
und größtmögliche Rechtsschutz, der im Rechtsstaat erreichbar ist, verlangt werden
darf und muß — die Entscheidung des Richters! Klare sich diese Ahnung bis
zu Heller, allgemeiner Erkenntnis, dann wird der Ruf nach unabhängiger
Wahlprüfungsjustiz immer lauter und häufiger und unterschiedslos von allen
Parteien erhoben werden!
Von feiten der Industrie wird die Notwendigkeit einer Änderung des
bestehenden Zustandes keineswegs verkannt, sondern gleichfalls eine Lösung und
Beseitigung der Schwierigkeiten angestrebt, die das Handwerkerorganisationsgesetz
vom 26. Juli 1897 und seine von den Handwerkerkreisen beliebte Auslegung
hervorgerufen hat. Als Angelpunkte der Streitigkeiten werden dabei angesehen:
die unklare Abgrenzung der Gebiete „Fabrik" und „Handwerk", die Unstimmigkeit
der Begriffe „Handwerker", „Fabrikant", „Kaufmann" in den verschiedenen, in
Betracht kommenden Gesetzen und endlich der Mißstand der Zuständigkeit so
zahlreicher Behörden. Die Abänderungsvorschläge der Industrie und ihrer
Vertreter sind indessen sehr verschiedener Art und werden offenbar mehr oder
weniger durch den Nachdruck beeinflußt, den die Handwerkskammern auf diesen
oder jenen der bezeichneten Differenzpunkte legen. Sieht man von einzelnen
Sondervorschlägen ab, so wird ein wesentliches Gewicht entweder auf den
Registereintrag gelegt und verlangt, daß gegen den Ausspruch des Register¬
richters sowohl der Handwerkskammer wie der Handelskammer das Recht der
Beschwerde mit der Wirkung beigelegt werde, daß die rechtskräftig erkannte
Eintragung bindend für alle Behörden sei, oder es wird empfohlen, vor der
Eintragung in das Register die beteiligten Organisationen zu hören. Neben
der zu diesem Zwecke angeregten Abänderung des Handelsgesetzbuches und der
Handelskammergesetze wird aber auch von einzelnen Seiten eine Abänderung
der Gewerbeordnung gefordert, mit der Begründung, daß gegenüber dem Ver¬
langen des Handwerks nicht so sehr die Beitragspflicht für zwei Kammern als
vielmehr die Anwendung der Verordmmgs-, Beaufstchtigungs- und Prüfungs-
rechte der Handwerkerorganisationen das bedenklichste an der ganzen Sache sei.
Im allgemeinen gehen indessen die gemachten Vorschläge darauf hinaus,
entweder die Begriffe „Fabrik" und „Handwerk" juristisch zu definieren oder
durch eine Instanz festzulegen, deren Ausspruch für alle Behörden bindend
sein soll.
Der erste dieser Vorschläge stimmt mit dem von einzelnen Handwerker¬
kreisen geäußerten Wunsche überein. Er muß aber nach der Ansicht aller der-
jenigen, die sich mit dieser Frage eingehender beschäftigt haben, wie auch des
Reichsgerichtes als unerfüllbar bezeichnet werden. Wirtschaftliche Begriffe haben
nun einmal die in ihrem Wesen begründete Tendenz, einer festen juristische«
Fassung zu widerstreben. Das zeigt sich in ganz besonderem Maße bei den
Begriffen „Fabrik" und „Handwerk", die, wie schon früher bemerkt wurde,
ständig im Flusse sind, eine Menge Übergangsformen und Spielarten aufweisen
und so dehnbar sind, daß, selbst wenn man für diese Frage jetzt eine juristische
Lösung finden könnte, eine solche schon kurze Zeit danach kaum noch stimmen
würde. Es kann daher dieser Weg als gangbar nicht erachtet werden, zumal
er andernfalls von der Negierung wohl schon längst beschritten worden wäre,
um auf diese Weise dem Streite ein Ende zu machen.
Der zweite aus Jndustriekreisen stammende Vorschlag, durch eine Instanz
die beiden fraglichen Begriffe authentisch deklarieren zu lassen, läuft darauf
hinaus, eine Stelle zu schaffen, die in Streitfällen als oberste Entscheidungs¬
behörde waltet. Er unterscheidet sich von den aus den Handwerkerkreisen ver-
lautbarten Wünschen grundsätzlich dadurch, daß er die bisher beobachteten gesetz¬
lichen Scheidungslinien von „Fabrik" und „Handwerk" aufrecht erhalten und
nur die bestehenden gesetzlichen Rechte und Pflichten für beide Teile unzwei¬
deutig klarstellen will. Es leuchtet ein, daß dieser Vorschlag viel für sich
hat. Er ist von der Regierung auch bereits aufgenommen worden,
indem in der von feiten des Reichsamts des Innern auf den 7. April 1911
einberufenen Konferenz die Frage zur Erörterung gestellt worden war/)
ob eine Verminderung der Schwierigkeiten nicht dadurch bewirkt werden könne,
daß in der Angelegenheit eine einzige oberste Instanz zur Entscheidung berufen
werde. Die Verwirklichung dieser Erwägung dürfte sehr wohl geeignet sein,
die Kontroverse, wenn auch nicht ganz aus der Welt zu schaffen, so doch der
Lösung erheblich näherzuführen, jedenfalls aber die Streitfälle herabzumindern.
Es mag hier zunächst dahingestellt bleiben, in welcher Form jener Vorschlag
zur Ausführung gebracht werden kann und inwieweit die aus Jndustriekreisen
in dieser Richtung gemachten besonderen Vorschläge praktisch und durchführbar sind.
Wenn die mehrfach angezogene Denkschrift der Leipziger Handelskammer bei der
derzeitigen Sachlage einen Ausgleich darin erblickt, daß eine genügende formale
Bürgschaft für eine dem Willen des Gesetzgebers Rechnung tragende, für beide
Rechtsgebiete (Handels- und Gewerberecht) einheitliche Auslegung der genannten
Begriffe („Fabrik" und „Handwerk") und Bestimmungen geschaffen werde, so
kommt sie jedenfalls hiermit dem oben erwähnten Vorschlage sehr nahe. Eine solche
formale Bürgschaft ist allein darin zu finden, daß die Entscheidung über die aus
Htz 100 n, 103 n und 103 o der Gewerbeordnung entstehenden Streitigkeiten, soweit
es sich dabei um die Begriffe „Fabrik" und „Handwerk" und die Auffassung der
Betriebe als ein einheitliches Ganzes oder getrennt zu behandelnde Doppel-
betriebe handelt, richterlichen Behörden (ordentlichen Gerichten oder Verwaltungs¬
gerichten), zum wenigsten in letzter Instanz, übertragen wird, wobei zugleich
für eine tunlichst einheitliche Rechtsprechung im Sinne der Rechtsprechung des
Reichsgerichtes sowie für Anhörung und Beteiligung der Handelskammern am
Streitverfahren zu sorgen ist.
Im Gegensatze zu diesen Vorschlägen zielen die Forderungen der Hand¬
werkerkreise nicht überall darauf hin, die bestehende Grenze klarzustellen, sondern
vielfach sie zugunsten der Erstarkung der Handwerkerorganisationen zu verschieben.
Es wird keine Grenzregulierung der Interessensphären nach dem bestehenden
Rechte, sondern eine Grenzveränderung angestrebt, und gegen dieses Vorhaben
wendet sich die Industrie mit dem Hinweise, daß die Gründe, die für die
Berechtigung dieses Bestrebens vorgebracht werden, unzutreffende sind.
Es muß zunächst geltend gemacht werden, daß aus der vom Handwerk
aufgestellten Behauptung, die Fabriken zögen die auf Kosten des Handwerks
ausgebildeten Gesellen und Lehrlinge in ihre Betriebe hinüber und machten sich
so ohne materielle Aufwendungen die Ausbildung dieses Nachwuchses zunutze,
höchstens die Berechtigung würde abgeleitet werden können, die Industrie an
diesen Ausbildungskosten zu beteiligen. Es kann daraus aber jedenfalls kein
Grund entnommen werden, die industriellen Betriebe den Handwcrker-
organisationen überhaupt zu unterstellen und diesen damit außer den finanziellen
Rechten auch die Berechtigung zur Lehrlingsbeaufsichtigung, Fabrikrevision usw.
zu gewähren. Denn bei der konsequenten Durchführung des Grundsatzes, daß
alle Betriebe, welche handwerksmäßig ausgebildete Arbeiter beschäftigen, den
Innungen oder Handwerkskammern zugehören müssen, würde es in Deutschland
kaum ein Unternehmen geben — selbst das Kruppsche in seinen Einzelbetrieben
nicht ausgenommen —, das nicht dem Handwerk zuzurechnen wäre. Die in
dieser Richtung liegenden Wünsche der Handwerker müssen daher als unberechtigt
zurückgewiesen werden.
Aber auch den weiteren Bestrebungen, die Industrie zu den für die Aus¬
bildung der Lehrlinge und Gesellen aufgewendeten Kosten generell heranzuziehen,
kann eine Berechtigung nicht zuerkannt werden. Es wird zunächst die Behauptung
bestritten, daß die Industrie nicht in der Lage sei, die für Aufrechterhaltung
ihrer Betriebe nötigen Arbeiter selbst heranzuziehen und auszubilden, und daß
sie daher auf den Nachwuchs aus dem Handwerk angewiesen sei. Um diese
Behauptung zu beweisen, wäre zunächst einmal festzustellen, wieviele von den in
der Industrie beschäftigten Arbeitern überhaupt aus dem Handwerk stammen.
Hierbei wäre aber, wenn die Beweisführung durchschlagend sein soll, der
Umstand scharf zu berücksichtigen, ob jene Arbeiter sich auch entsprechend ihrer
handwerksmäßigen Ausbildung in den industriellen Betrieben betätigen oder
nicht. Denn es ist eine unbestrittene Tatsache, daß zwar zahlreiche Fabrikarbeiter
handwerksmäßig vorgebildet sind, aber in Großbetrieben eine Verwendung
finden, die mit ihrem früheren Handwerkerbernfe nicht die geringsten Beziehungen
mehr hat. Alle diese Arbeiter, wie z. B. Bäcker, Tapezierer, Sattler usw., die
in Maschinenbaufabriken, chemischen Betrieben u. dergl. anderweit beschäftigt
werden, müßten bei der gedachten Berechnung ausgeschaltet werden, da
die für sie vom Handwerk vorher aufgewendeten Ausbildungskosten den in
Betracht kommenden Fabrikbetrieben in keiner Weise zustatten kommen. Eine
solche Statistik fehlt bislang vollkommen. Die von der Regierung in den
Jahren 1895 und 1906 angestellten Erhebungen ergaben keinerlei einwandfreies
Material. Es ist dies von dem preußischen Herrn Handelsminister selbst
anerkannt worden, der im Jahre 1907 im Landtage ausdrücklich hervorhob,
daß nach den vom Statistischen Amte bearbeiteten Untersuchungen unter den
Arbeitern der in Betracht gezogenen Fabriken sich 36,7 Prozent gelernte
Arbeiter befunden hätten, von denen 40,8 Prozent aus Handwerkerkreisen
stammten, während 59,2 Prozent in den Fabriken selbst ausgebilvet waren.
Die Zahl der in den Fabriken gewerblich ausgebildeten Arbeiter steige beständig,
die andere sinke dauernd. Zu einem ähnlichen Ergebnis ist auch die Handels¬
kammer zu Düsseldorf gekommen, die auf Grund einer im Westen Deutschlands
gehaltenen Umfrage festgestellt hat"), daß das Bedürfnis der Industrie nach
dauernder Beschäftigung gelernter Arbeiter mit handwcrksähnlichen Funktionen
in den einzelnen Industriezweigen ein sehr verschiedenes sei, und daß die Industrie
in recht beträchtlichem Umfange selbst gelernte Arbeiter ausbilde. Die indu¬
striellen Betriebe seien hierzu sehr wohl in der Lage, und die allgemeine Be¬
hauptung, daß das Handwerk dem jungen Nachwüchse eine allseitigere und
vollkommenere, den ganzen Kreis des Gewerbes erschöpfendere Ausbildung
gewähre als die Lehrlingserziehung in industriellen Betrieben, treffe keineswegs
zu. Es wird vielmehr gerade in dieser Beziehung in der Denkschrift der Düssel¬
dorfer Handelskammer zutreffend betont, daß sich die durch Verwendung von
Maschinen herausgebildete Spezialisierung der Arbeit im Handwerk ebenso
eingebürgert hat wie in der Industrie, und daß dadurch auch im Handwerk
dieselbe Folge, nämlich die einseitigere Ausgestaltung der Lehrlingsausbildung,
gezeitigt worden ist.
Des weiteren ist es eine bekannte Tatsache, daß handwerksmäßig vor¬
gebildete Arbeiter, um ihren gelernten Beruf in einer Fabrik zu betätigen, erst
völlig umlernen müssen, ein Umstand, dessen bereits in der zur Beratung der
Handwerkernovelle eingesetzten Reichstagskommission ausdrücklich gedacht worden
ist, in der auch gleichzeitig anerkannt wurde, daß vielfach Arbeiter, die in
industriellen Betrieben ausgebildet sind, zum Handwerke überzugehen pflegen.
Mangels jeden Zahlenmaterials — das schwerlich einwandfrei zu beschaffen sein
wird - läßt sich allerdings kaum nachweisen, in welchem Umfange ein solcher
Übergang stattfindet. Die Neichsgewerbeordnung hat indessen derartige Fälle
bereits ins Auge gefaßt und den Übergang durch die Bestimmung zu erleichtern
gesucht, daß auch Fabriklehrlinge zur Gesellenprüfung zugelassen werden sollen,
um als Gesellen oder selbständige Meister im Handwerk ihr Brot verdienen zu
können. In diesen Fällen kommt also die in der Industrie gewonnene Aus¬
bildung der Leute unbedingt dem Handwerke zugute.
In außerordentlich treffender Weise ist für die Behauptung, daß die In¬
dustrie, in erster Linie die Maschinenindustrie, in immer steigendem Maße und
in vorzüglicher Weise für die Ausbildung geeigneten Nachwuchses selbst sorgt,
der Nachweis erbracht worden in dem soeben erschienenen Werk: „Das Lehr¬
lingswesen und die Berufserziehung des gewerblichen Nachwuchses^)."
Aus der Fülle des in diesem Werke beigebrachten statistischen Materials
seien nur einige Zahlen herausgegriffen. Die eingehendsten statistischen Unter¬
suchungen sind von den Gewerbeinspektionen in Hessen gemacht und in ihren
Jahresberichten niedergelegt worden. Aus ihnen ergibt sich eine stetige Zunahme
der Lehrlingshaltung in den Fabrikbetrieben. Im Bezirke Offenbach war z. B.
die Entwicklung folgende:
Auch die Ergebnisse der Berufs- und Betriebszählung erweisen eine absolute
Zunahme der Lehrlingshaltnng in der Industrie. So betrug u. a. die Gesamt¬
zahl der Lehrlinge
Die angezogene Abhandlung betont dabei besonders, daß die Lehrlings¬
haltung in der Industrie wohl noch sehr viel mehr zugenommen haben würde,
wenn nicht die gesetzlichen Bestimmungen der Reichsgewerbe-Ordnung über
die jugendlichen Arbeiter in erheblichem Umfange die Folge gehabt hätten,
die Heranbildung der jugendlichen Arbeiter zu gelernten Arbeitern zu ver¬
hindern.
Auch der Hinweis des Handwerks, daß ihm die Industrie die besten Kräfte
nach vollendeter Ausbildung entziehe, ist unzutreffend. Nicht der von den
Fabriken gezahlte höhere Lohn ist, wie vielfach angenommen wird, der haupt¬
sächlichste Grund der Abwanderung von Lehrlingen und Gesellen aus dem Hand¬
werkerstande zur Industrie, sondern die verschiedensten Ursachen wirken nach
dieser Richtung hin zusammen. Hierher gehört u. a. die Festlegung der Arbeits¬
zeiten in den Fabriken und die Möglichkeit schnelleren Fortkommens, die
Beschränkung der Lehrlingszahl sowie der Mangel der Beschäftigungsgelegenheiten
für Gesellen im Handwerk und das vielfache Heranziehen zu hauswirtschaftlichen
Arbeiten, ferner die nicht genügende Ausbildung durch die Handwerksmeister,
die oft als mangelhaft empfundene Verpflegung und Unterkunft und das Fehlen
von Fachschulen, Mißstände, die besonders auf dem Lande beklagt werden und
aus denen sich ergibt, daß, falls tatsächlich Lehrlingsmangel beim Handwerk
herrscht, keineswegs die Industrie hierfür allein verantwortlich zu machen ist.
Es mag in dieser Beziehung auch noch auf das Urteil einer gewiß kompetenten
Stelle, nämlich des Ausschusses des Handwerks- und Gewerbekammertages,
hingewiesen werden, der den Lehrlingsmangel in tieferliegenden Ursachen sucht.
Es heißt in dem Bericht dieses Ausschusses vom Is. Dezember 1909 wie folgt:
„Allerdings ist nicht zu verkennen, daß die Handwerker an der Entstehung der
falschen Vorstellungen über die Lage des Handwerkes zu einem großen Teil
selber Schuld tragen. Statt in zuversichtlicher Weise die Entwicklungsmöglichkeit
des Handwerks nach den bisherigen Erfahrungen moderner Gewerbeförderung
anzuerkennen, wird leider immer und immer wieder auf Handwerkerversamm¬
lungen über die trostlose Lage und die Aussichtslosigkeit des Handwerks gejammert
und nach Staatshilfe gerufen. Es ist kein Wunder, wenn bei derartigen ans
den Kreisen des Handwerks selbst kommenden Klagen die Eltern sich hüten, ihre
Kinder ein Handwerk erlernen zu lassen, und daß man glaubt, zum Lernen des
Handwerks sei gerade der gut genug, der zu nichts anderem zu gebrauchen ist.
So ist das Handwerk zum Teil selbst schuld, daß tüchtige Kräfte, namentlich
aus den wohlhabenderen und gebildeteren Schichten unseres Volkes, dem Hand¬
werk sehr zu seinem Schaden ferngehalten werden*)."
Wenn des weiteren von Gegnern der Industrie die Behauptung aufgestellt
wird, daß die Ausbildung -der Lehrlinge in der Industrie schlechter sei als im
Handwerk, so muß diese Behauptung als durchaus irrig bezeichnet werden. Daß
dem nicht so ist, beweisen die Berichte der deutschen Gewerbeaufsichtsbeamten
zur Genüge. Diese beschäftigen sich seit dem Jahre 1887 eingehender mit der
Lehrlingsausbildung in den Fabriken und enthalten für Preußen, so besonders
der Bericht für 1906, eine Fülle interessanten Materials. Aus diesem ergibt
sich, daß zwar zahlreiche Klagen über die schlechte Ausbildung der Handwerks¬
lehrlinge erhoben werden, daß aber hinsichtlich der Ausbildung der Lehrlinge
in den Fabriken, wenn auch die Urteile ungleich sind und sich vielfach wider¬
sprechen, so doch im allgemeinen anerkannt wird, daß die Industrie sich in
großem Umfange der Heranziehung von Lehrlingen befleißigt und die genossene
Ausbildung eine gute ist. Dieser Meinung schließt sich im wesentlichen
und zwar unter ausführlicher Darlegung der Verhältnisse die Denkschrift der
Zentralstelle sür Volkswohlfahrt über das Lehrlingswesen und die Berufs¬
erziehung des gewerblichen Nachwuchses an. Es ist auch empfohlen worden,
eine Lösung der Streitfrage, ob die Ausbildung der Lehrlinge im Handwerk
oder in der Fabrik die bessere ist, dadurch herbeizuführen, daß durch eine Zusammen¬
stellung der Ergebnisse der Gesellenprüfungen festgestellt wird, wie sich das
Verhältnis der Lehrlinge aus industriellen Betrieben, die sich mit Erfolg der
Gesellenprüfung unterzogen haben, zu demjenigen der Lehrlinge aus dem Hand¬
werkerstande verhält. Ob indessen hierdurch eine einwandfreie Klärung der
Frage herbeigeführt werden würde, mag berechtigten Zweifeln unterliegen. Denn
wenn auch nach den Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung die Fabrikleiter
darauf halten sollen, daß die in ihren Betrieben beschäftigten Lehrlinge sich der
Gesellenprüfung unterziehen und dies durchaus im Interesse der letzteren liegt,
weil nur die bestandene Gesellenprüfung das Recht zum Anteilen von Lehrlingen
verleiht, so besteht doch bei den Handwerkskammern darüber Uneinigkeit, ob sie
berechtigt und befugt sind, durch ihre Prüfungsausschüsse Fabriklehrlinge prüfen
zu lassen. Wie das Ergebnis einer im Deutschen Handwerksblntt (Heft 4 vom
15. Januar 1911) veröffentlichten Rundfrage vom 22. Juli 1910 ausgewiesen
hat, steht ein großer Teil der Handwerkskammern auf dem Standpunkte, daß
sie solche Prüfungen nicht vornehmen dürfen und daß sie daher zur Ablehnung
entsprechender Anträge gezwungen sind.
Ein erheblicher Teil der Fabriklehrlinge ist somit gar nicht in der Lage, sich
zur Gesellenprüfung zu melden, während anderseits doch wohl kaum bestritten
werden kann, daß eine große Zahl dieser Fabriklehrlinge, obgleich sie die Gesellen¬
prüfung nicht abgelegt haben, mindestens ebenso gut ausgebildet ist wie regel¬
rechte Handwerksgesellen. Ob überhaupt die Prüfungsausschüsse der Handwerks¬
kammern überall befähigt sind, in dieser Hinsicht ein sachverständiges Urteil
abzugeben, dürste sehr fraglich sein.
Ganz besonders muß aber die Industrie Verwahrung einlegen gegen die
immer von neuem wiederholte Behauptung, daß das Handwerk die Kosten der
Lehrlingsausbildung allein und der Hauptsache nach zu gunsten der Industrie
trage. Wenn auch die letztere eine erhebliche Zahl von Arbeitern, die aus
dem Handwerke kommen, in den Fabriken verwendet, so leistet sie dafür doch
zu den öffentlichen Mitteln, aus denen zum Teil —- wie in Baden, Bayern
und den Hansestädten — die Handwerkskammern erhalten werden, in Form
von Steuern einen sehr erheblichen und jedenfalls einen größeren Anteil als
das Handwerk. In den übrigen Bundesstaaten, in denen die Handwerkskammern
nicht aus staatlichen Mitteln erhalten werden, werden die Fachschulen der
Handwerkskammern zum großen Teile von den Gemeinden unterstützt, also
ebenfalls von den aus den industriellen Unternehmen fließenden Steuern
mit unterhalten. Dies wird sich in Zukunft wohl noch in verstärktem Maße
geltend machen, da die ganze Einrichtung der Schulen — Lokale, Anstellung
der Lehrkräfte usw. — immer häufiger von den Kommunalverwaltungen über¬
nommen wird und somit die ganze Entwicklung des gewerblichen Schul¬
wesens darauf hinstrebt, letzteres den Stadtverwaltungen völlig zu unterstellen.
Es ist dies anscheinend auch der Weg, auf dem die Reichsregierung uach der
Erklärung des Staatssekretärs des Reichsamtes des Innern vom 5. März d. I.
im Reichstage den Wunsch des Handwerks zu erfüllen gedenkt. Daher ist es
vielleicht nicht ohne Interesse, sich dessen zu erinnern, was der Abgeordnete
Richter bei der zweiten Beratung des Z 103 i in der 232. Sitzung des Reichs¬
tages vom 25. Mai 1897 voraussehend ausführte: „. . . Hier ist die ungeheuer¬
liche Änderung der Kommission beschlossen worden, daß die Handwerkskammern
zwar eine sehr große Selbstverwaltung haben, aber nicht die Beteiligten, sondern
der Staat und die Gemeinden die Kosten zu zahlen haben. Bei allen Interessen¬
vertretungen, den Handelskammern, den Landwirtschaftskammern, und was ähn¬
liches geschaffen worden ist, heißt es, wie hier in der Regierungsvorlage, daß
die Kosten auch auf die Beteiligten umzulegen sind, und daß sie dann durch
Steuerzuschläge oder sonst zu erheben sind. Statt dessen hat die Kommission
dekretiert, daß die Kosten jedenfalls nicht von den Beteiligten zu tragen sind,
sondern daß der Staat und die Gemeinde sich darüber zu vereinbaren haben,
wer das Ehrenrecht der Bezahlung für die Handwerkskammern zu übernehmen
verpflichtet ist. Man klagt darüber, daß den Gemeinden allmählich die Kosten
aufgepackt werden, und das ist hier so ein Beispiel, wo man leicht dazu über¬
geht. Es heißt, die Handwerker seien so arme Leute. Gewiß sind sehr viel
arme Leute darunter — auch unter den Handelstreibenden finden Sie sehr viele
arme Leute, auch unter den Landwirten sogar notleidende — aber es gibt doch
auch wohl Handwerker, die leicht die Beiträge zu den Kammern zahlen können.
Es gibt solche z. B. im Schlossergewerbe, im Tischlergewerbe — es gibt auch
ganz wohlhabende Bäcker, sogar solche, denen man, wie Fürst Bismarck einmal
sagte, nur auf die Rocktaschen zu klopfen brauchte, um die harten Taler heraus¬
fallen zu sehen. Das sollen nun alles arme Leute sein, die keinen Groschen
zahlen können, um die Handwerkskammerkosten zu bestreiten! Ja, eine derartige
Selbstverwaltung, die sich nicht selbst bezahlt, ist ein Unding, eine Karikatur
auf Selbstverwaltung, die hier geschaffen wird. . . Wenn man nicht zu bezahlen
braucht, wird man sehr freigebig sein in bezug auf die Ausgaben. . ."
Diese Ausführungen sind auch heute noch zweifellos sehr beachtenswert,
und das Handwerk sollte bei seinen Klagen auch des weiteren nicht ganz über¬
sehen, daß die Industrie dem Handwerk gerade dadurch einen nicht zu unter-
schätzenden Dienst leistet, daß sie den ausgebildeten Gesellen lohnende Beschäftigung
gewährt. Gesellen wollen bezahlt sein; zahlreiche Handwerksmeister ersetzen aber
nachweislich diese Arbeitskräfte zu einem erheblichen Teile durch Einstellung von
Lehrlingen, und es ist von Handwerkerkreisen selbst oft genug die hieraus erwachsene
Lehrlingszüchterei als ein Krebsschaden des Handwerks bemängelt worden. In
wieweit letzterem aus der Lehrlingshaltung ein sehr ansehnlicher materieller
Vorteil erwächst, hat die Handelskammer Düsseldorf in ihrer im Mai 1911
erschienenen Schrift „Heranziehung der Industrie zu den Kosten der Hcmdwerker-
ausbilduug" ziffernmäßig nachgewiesen und aktenmäßig belegt. Hiermit fällt
also die Behauptung in sich zusammen, daß dem Handwerksmeister aus der
Lehrlingsausbildung verhältnismäßig hohe, nicht wieder ausgeglichene Kosten
erwachsen, und daß die Lehrlinge, die später zur Industrie übertreten, aus den
von Handwerkerorganisationen unterhaltenen Einrichtungen Vorteile gezogen
haben, denen keine Gegenleistungen gegenüberstehen. Das Handwerk selbst
dürfte, wenn ihm die Industrie die überschüssigen Kräfte nicht mehr abnähme,
sehr bald empfindlich dadurch berührt werden, daß der Zustrom von Lehr¬
lingen zum Handwerk immer mehr abflauen und dieses somit der bisherigen
billigen Arbeitskräfte beraubt werden würde. Recht bezeichnend hierfür find die
Ausführungen des Abgeordneten Trimborn gelegentlich der großen Handwerks¬
debatte im Reichstage im Dezember 1907: „Man fürchtet folgendes: Belege
man die Industrie für den Gebrauch der vom Handwerke ausgebildeten Kräfte
mit einer Abgabe, dann wird die Industrie davon ablassen, diese Kräfte für
sich in Anspruch zu nehmen, und Maßnahmen treffen, um sich ihre Kräfte selber
heranzuziehen. Tritt das ein, so wird ein Lehrlingsmangel in allen Hand¬
werken entstehen, auch in denen, die bisher über Lehrlingsmangel nicht geklagt
haben, und es hat die weitere Folge, daß die jungen Kräfte statt ihrer
bisherigen besseren Ausbildung lediglich eine industrielle erhalten." Kann
nach Vorstehendem die Frage, ob die einzelnen Handwerker durch die
Ausbildung ihres gewerblichen Nachwuchses besonders stark belastet
werden, ohne weiteres verneint werden, so muß des weiteren als fest¬
stehend erachtet werden, daß auch die Handwerkerorganisationen als solche
einer finanziellen Entlastung zu ungnnsten der Industrie nicht bedürfen. Die
Denkschrift der Düsseldorfer Handelskammer über „Die Beiträge der Industrie
zu den Kosten der Handwerkerausbildung und Handwerkerwohlfahrtspflege" hat
auf Grund der Finanzüberstchten der Handwerkskammern und Innungen für die
Jahre 1904 und 1905 unter peinlichster Berücksichtigung aller Umstände fest¬
gestellt, daß im Bildungsfonds beider Handwerkerorganisationen nicht nur kein
ungedeckter Aufwand vorhanden ist, sondern daß diese Körperschaften aus ihren
Einnahmen für Prüfungen und Einschreibungen, Schulzwecke, Ausstellungen, Kurse,
Vorträge, Prämien und Lehrlingsheime ein jährliches Plus von 226000 Mark
ohne die Staatszuschüsse, mit diesen aber eine Mehreinnahme von 465000 Mark
gehabt haben! Solche Verhältnisse lassen also den Ruf nach Unterstützung aus
anderen Geldquellen wohl kaum gerechtfertigt erscheinen, und von einer finanziellen
Überbürdung der Handwerkerorganisationen kann um so weniger die Rede sein,
als die Innungen von 71,4 Prozent ihrer Mitglieder Jahresbeiträge nur in
der Höhe von 1 bis 3 Mark erheben, während die Handwerkskammern ihre
Mitglieder im ganzen Reiche mit nicht mehr als 1,2 Millionen Mark Beiträgen
belasten. Das ist gewiß keine übermäßig hohe Summe, zumal wenn man
berücksichtigt, daß außerdem in Preußen die dritte und vierte Gewerbesteuerklasse
um die Summe entlastet wird, welche die Warenhaussteuer einbringt, und daß
eine ganze Anzahl von Bundesstaaten, wie Bayern, Hessen, die Hansestädte,
keine Beiträge zur Handwerkskammer erheben.
Wenig glücklich ist auch der Versuch des Handwerks und seiner Freunde,
die Forderung der generellen Heranziehung der Industrie zu den Unterhaltungs¬
kosten der Handwerkerorganisationen mit dem Hinweis auf die Einrichtungen
in Österreich zu begründen, da hierbei von gänzlich falschen Voraussetzungen
ausgegangen wird.
Das Fortbildungs- und Fachschulwesen ist, wie in der mehrerwähnten
Denkschrift der Düsseldorfer Handelskammer im einzelnen dargelegt ist, bis jetzt
nur in Niederösterreich gesetzlich geregelt. Das bezügliche Gesetz trifft indessen
nicht nur — es ist dieses eine durchaus irrige Behauptung die Industrie,
sondern verpflichtet das gesamte Gewerbe ohne Unterschied zu Sonderbeiträgen.
Es entlastet also das Handwerk nicht, sondern belastet dasselbe vielmehr sehr
empfindlich. In Österreich muß der Handwerker zunächst eine Gewerbesteuer in
einer Höhe bezahlen, die in Deutschland unbekannt ist, und er hat außerdem noch
besondere Beiträge zum Gewerbeschulfonds zu leisten. Ferner ist er belastet
durch die Beiträge, die die Handels- und Gewerbekammer zum Gewerbeschul-
sonds zahlt. Der Umstand, daß Industrie. Handel und Verkehr diese Beiträge
auch leisten müssen, wird daher nur ein sehr geringer Trost für den Hand¬
werker sein. Eine Sonderbelastung der Industrie zu den Einrichtungen der
Handwerkerausbildung gibt es jedenfalls in Österreich überhaupt nicht, vor
allem nicht in dem Sinne und mit der Begründung, wie sie die Vertreter des
Handwerks in Deutschland vorzubringen pflegen. Wenn man daher bei uns
dazu übergehen wollte, einseitig die Industrie allein zu ähnlichen Leistungen heran¬
zuziehen, wie das in Österreich mit dem ganzen Gewerbe geschieht, so würde sich
dieses nach den treffenden Auslassungen der Düsseldorfer Handelskammer, gerade
an den österreichischen Verhältnissen gemessen, direkt als ein Gewaltakt darstellen.
Von seiten des Handwerks und seiner Vertreter ist nun der Vorschlag
gemacht worden, die Heranziehung der industriellen Betriebe zu den Kosten
der Handwerkerausbildung derart zu gestalten, daß von der Gesamtheit der
ersteren entweder für jeden Handelskammerbezirk ein Pauschale - von einer Seite
ist der runde Betrag von 50000 Mark vorgeschlagen worden — aufgebracht
oder daß jede Fabrik nach der Kopfzahl der von ihr beschäftigten, im Hand¬
werke ausgebildeten Arbeiter besteuert werde.
Nach dem ersten Vorschlage würde sich bei Zugrundelegung der empfohlenen
Pauschalsumme von 50000 Mark für jeden Handwerkskammerbezirk eine jähr¬
liche Gesamtbelastung von 3,55 Millionen für die deutsche Industrie — es
handelt sich um einundsiebzig Kammern ergeben. Wie wenig begründet diese
Forderung ist und wie sehr sie mit den tatsächlichen Verhältnissen im Widerspruche
steht, lassen am besten die Ausführungen des preußischen Handelsministers vom
1. Februar 1908 erkennen"), die deshalb ungekürzt hier wiedergegeben sein mögen:
„Ich habe eine Umfrage veranstaltet, um festzustellen, welche Beträge denn
zunächst einmal die (preußischen) Handwerkskammern für die Lehrlingsansbildung
aufwenden, und da bin ich doch zu einigen nicht uninteressanter Ergebnissen
gekommen. Es hat eine kürzlich vorgenommene Umfrage über die Einnahmen
und Ausgaben der preußischen Handwerkskammern auf dem Gebiete des Lehr¬
lingswesens ergeben, daß im Jahre 1906 von den dreiunddreißig preußischen
Handwerkskammern zwanzig Handwerkskammern eine Mehrausgabe von ins¬
gesamt 60442,20 Mark auf dem Gebiete der Ausbildung der Lehrlinge zu
leisten hatten; dreizehn Handwerkskammern haben dagegen auf diesem Gebiete
20551,20 Mark mehr eingenommen, als sie aufgewendet haben. Alle dreiund¬
dreißig Handwerkskammern haben also zusammen 39891 Mark für das Lehrlings¬
wesen mehr ausgegeben, als sie eingenommen haben. Dabei sind allerdings nur
von acht Kammern Verwaltungskosten in Ansatz gebracht. Aber selbst wenn
man hierfür auch für die übrigen fünfundzwanzig Kammern je 1500 Mark
37 600 Mark hinzurechnet, so würden die durch Einnahmen nicht gedeckten
Aufwendungen aller preußischen Handwerkskammern auf dem Gebiete der Lehr¬
lingsausbildung 77391 Mark betragen. Auch dieser Betrag wird sich noch
etwas ermäßigen, weil ein paar Kammern, die ich hier nicht nennen will,
zweifellos zu hohe Verwaltungskosten in Ansatz gebracht haben, so daß man
wohl rund 70000 Mark als Gesamtleistung aller preußischen Handwerkskammern
auf dem Gebiete des Lehrlingswesens berechnen kann. Wenn man aber berück¬
sichtigt, daß diese Aufwendungen nicht ausschließlich der Industrie zugute kommen,
sondern daß ein Teil der Lehrlinge — ich will 60 Prozent annehmen — im
Handwerk bleibt, so würde man zu dem Ergebnis kommen, daß die preußischen
Handwerkskammern überhaupt nur 35000 Mark verausgabt haben, die der
Großindustrie, die hier in Frage kommt, angerechnet werden können. Nun ist
ja zuzugeben, daß die Handwerkskammern nicht allein derartige Schulen unter¬
halten, sondern daß dies auch die Innungen tun, und für die Innungen fehlen
die Zahlen. Es bestehen aber in Preußen nur dreihundertfünfunddreißig Jnnungs-
fachschulen, und es ist nach der ganzen Art der Einrichtung und dem Umfange
dieser Schulen nicht anzunehmen, daß die hier aufgewandten Kosten sehr erheb-
lich sind."
Diese Ausführungen des Herrn Ressortministers sind ohne Zweifel besonders
bezeichnend. Es dürfte ferner aber auch stark gegen den Vorschlag sprechen,
daß er auf die lokalen Verhältnisse keinerlei Rücksicht nimmt. Bei seiner Ver¬
wirklichung würden alle Industriebetriebe, also auch diejenigen gleichmäßig
belastet werden, die nicht den geringsten Nutzen von der Handwerksausbildung
haben, da sie entweder überhaupt keine handwerksmäßig vorgebildeten Arbeiter
in ihren Betrieben beschäftigen oder weil aus örtlichen Gründen die für die Lehr¬
lings- und Gesellenausbildung von den Handwerkskammern getroffenen Ein¬
richtungen für sie nicht in Frage kommen. In dieser Beziehung ist bereits
früher im Parlamente zutreffend auf den Umstand hingewiesen worden, daß es
ungerechtfertigt sei, Fabriken zu den Kosten für Einrichtungen heranzuziehen,
die gar nicht am Orte des Betriebes, sondern an weitentfernten Orten
liegen, so daß die eigenen Leute der Fabrik niemals Gelegenheit haben, aus
diesen Einrichtungen Vorteil zu ziehen.
Was den zweiten Vorschlag anbetrifft, die Höhe der Beitragspflicht der
Industrie zu den Handwerkskammern nach der Kopfzahl der von jeder Fabrik
beschäftigten, handwerksmäßig ausgebildeten Arbeiter zu bemessen, so erscheint
dieser Weg schon deshalb ungangbar, weil die Feststellung, welche Arbeiter
jeweilig in den einzelnen industriellen Betrieben aus dem Handwerk stammen,
eine ständige Kontrolle verlangen würde, eine solche Kontrolle aber bei dem
häufigen Wechsel der Arbeiterschaft als völlig undurchführbar bezeichnet werden muß.
Wenn aber ungeachtet dieser schwerwiegenden Bedenken das Handwerk trotzdem
auf der Forderung beharrt, daß die Industrie zu den Unterhaltungskosten der
Handwerkerorganisationen generell und direkt herangezogen wird, so dürfte zunächst
einmal die Frage zu klären sein, in welcher Weise für eine entsprechende Ver¬
tretung der Industrie in den Handwerkskammern gesorgt werden soll, damit erstere
ein Mitbestimmungsrecht über die Verwendung der aufgebrachten Beiträge hat.
Zu dieser, eigentlich selbstverständlichen Forderung haben indessen die Hand¬
werkerkreise bisher entweder keine Stellung eingenommen oder sie haben sie
sogar abgelehnt.
Aus den vorstehenden Darlegungen dürfte sich ergeben, daß das Drängen
des Handwerks, die Machtsphäre seiner Interessenvertretungen auf die Industrie
auszudehnen, durchweg der Berechtigung entbehrt. Vor allem ist die Forderung,
die industriellen Betriebe zu den Kosten der Handwerkerausbildung allgemein
durch Reichsgesetz heranzuziehen, in keiner Weise begründet, und die in dieser
Hinsicht von den Vertretern des Handwerks gemachten Vorschläge müssen als
undurchführbar angesehen werden. Es wird einem Zweifel nicht unterliegen,
daß, falls eine Sonderbelastung der Industrie zugunsten des Handwerks eingeführt
werden sollte, dieses Vorgehen unbedingt zu einer weiteren, sehr schnellen Ent¬
wicklung der Lehrlingsausbildung in den Fabriken führen würde, so daß dem
Handwerk nicht der erhoffte Nutzen, sondern empfindlicher Schaden entstehen
wird. Der Abfluß des gewerblichen Handwerkernachwuchses zur Industrie
kann durch gesetzgeberische Maßnahmen nicht beseitigt werden, wie auch ein
größerer Zustrom von Lehrlingen zum Handwerk nicht die Folge wäre,
da die Gründe, die diese beiden Momente zeitigen, in tieferliegenden
Ursachen zu suchen sind. Falls es sich die Industrie in allen ihren Teilen
angelegen sein lassen wollte, in weitergehenden Maße und systematischer als
bisher für eine geeignete Ausbildung der Lehrlinge Sorge zu tragen, würde
der Klage des Handwerks, daß ihm die Industrie die ausgebildeten Kräfte
fortnehme, immer mehr der Boden entzogen und hiermit beiden Teilen vielleicht
am besten gedient sein. Es möchte zu diesem Zwecke auch in Erwägung zu
ziehen sein, ob es sich nicht empfiehlt, die gesetzlichen Bestimmungen der Gewerbe¬
ordnung über die jugendlichen Arbeiter 134i bis 139 a), welche bisher
eine stärkere Vermehrung der Lehrlinge in den industriellen Betrieben ungünstig
beeinflußt haben, einer sachgemäßen Änderung zu unterziehen.
Als ein gangbarer Weg, um ohne Inanspruchnahme der Reichsgesetzgebung
zu einer Verständigung unter den Parteien zu gelangen, ist von vielen Seiten
der Erlaß des Staatsministeriums des Königlichen Hauses und des Äußern in
Bauern vom 10. März d. I. begrüßt worden, der auf den Versuch hinweist,
„in geeigneten Fällen eine Vereinbarung über die Beitrüge zu erzielen, die
seitens der Industrie zu den Kosten der Lehrlingsausbildung zu leisten wären."
Gegen ein solches Verfahren find vorkommendenfalls Bedenken nicht zu
erheben; es ist vielleicht in manchen Streitfällen als ein geeignetes Mittel
zu betrachten, um eine gütliche Verständigung zwischen Industrie und Handwerk
in der Frage der Lehrlingsausbildung herbeizuführen.
Die Streitfrage der Abgrenzung der Gebiete „Fabrik und Handwerk" wird
sich durch die gemachten Vorschläge allerdings ebensowenig wie durch gesetzliche
Bestimmungen völlig aus dem Wege räumen lassen. In dieser Hinsicht würde
lediglich durch Schaffung einer Instanz, welche einheitlich über alle Streitfälle
auf dieseni Gebiete zu entscheiden hätte, eine Besserung der derzeitigen ver¬
worrenen Sachlage und damit eine Milderung der vielfachen Klagen erzielt
werden können.
Bei der gegenwärtigen Lage der Sache sollte aber jedenfalls vor einer
Entschließung über einen gesetzlichen Eingriff die Frage sehr ernstlich geprüft
werden, ob durch eine einseitige Förderung des Handwerks auf Kosten der
Industrie der dem Handwerk erwachsende Vorteil den Schaden überwiegt, den
unsere Volkswirtschaft durch eine Verschärfung der Gegensätze zwischen beiden
Berufsständen erleiden müßte, und diese Prüfung sollten sich in erster Linie
diejenigen angelegen sein lassen, die zu einer Mitwirkung an gesetzgeberischen
Arbeiten auf diesem Gebiete berufen sind, und die nicht lediglich aus politischen,
sondern auch aus sachlichen Erwägungen heraus die zutage getretenen Be¬
strebungen unterstützen.
Etliche Wochen später wurde eines Nachmittags an Herrn Dürers schönem,
stattlichem Hause am Tiergärtnertore schüchtern, aber beharrlich angeklopft.
Frau Agnes Dürerin, die sich gerade im Werkstättenraum zu ebener Erde
befand, öffnete behutsam ein Spältlein im Fenster und lugte hinaus. Da stand
ein hochgewachsenes junges Frauenzimmer draußen, Haupt und Schultern in
ein großes Tuch gehüllt, wie es ärmere Leute zu tragen pflegten.
Frau Agnes ging, das Tor zu öffnen, tat es aber nur eine Handbreite
ans und fragte die Fremde, was sie begehre.
Diese erwiderte bescheiden, doch mit ruhiger Sicherheit, sie wolle mit dem
Maler Herrn Albrecht Dürer sprechen.
Da tat die Dürerin das Thor etwas weiter auf und musterte den selt¬
samen Besuch vom Kopf bis zu den Füßen und wieder hinauf in das junge
blühende Antlitz. Dann ließ sie die Fremde schweigend über die Schwelle und
winkte ihr, zu folgen.
Herr Dürer saß in seinem stillen Zimmer, den Stift in der Hand, über
ein großes weißes Blatt gebeugt. Von der nahegelegenen Stadtmauer, die in
voller Sonne stand, erfüllte den Raum ein goldiger Widerschein.
Der Meister erhob sich etwas unwillig, als Frau Agnes mit der Fremden
hereintrat. Dann blickte er erstaunt bald auf sein Weib, bald in das Antlitz des
jungen Geschöpfes, das nunmehr den lockigen Kopf vom Tuche befreit hatte
und ihn mit den großen fragenden Augen schweigend ansah.
„Ihr seid dem Jörgen Graff sein Kind," hieß Dürer sie nach einer Pause
willkommen, „das freut mich, daß ich Euch wiederseh! Ihr merkt, ich hab'
Euch wohl erkannt I"
Das schöne Wesen lächelte erfreut, senkte den Blick zur Diele und sprach:
„Ich wußt' nit, wer Ihr seid, lieber Herr, als Ihr damals mit Herrn
Pirkheimer beim Vater wart. Und auch den Vater hat's gereut, daß ihm keiner
gesagt, welch großer und berühmter Mann in sein armes Haus gekommen. Er
hätt' sich sonsten mehr Gewalt getan und nit nur an sein eigen Leid gedacht!"
Die sanfte, geruhige Einfalt, mit der das Mädchen diese Worte sprach,
stand in wunderlich wohltuendem Einklang mit ihrer ganzen schöngestalteten,
trotz ihrer ärmlichen Gewandung vornehm zu nennenden Erscheinung.
Dies hatte der Meister eben bedacht, als ein Blick auf Frau Agnes ihm
bedeutete, daß es wohl an der Zeit sei, die Jungfrau nach ihrem Begehr zu fragen.
„Ich wollt Euch um Eure Fürsprach bitten, lieber Herr, beim hohen Rat,
auf daß er ein Verbot erlaß, daß meines blinden Vaters Lieder kein Buchdrucker
nachdrucken und verhandeln dürf zu Nürnberg in einem Vierteljahr!"
„Das ist kein ungerecht Begehren," erwiderte Dürer lächelnd, „doch habt
Ihr Euch nit an den richtigen Mann gewandt. Mein Wort vermag nit viel
beim hohen Rat. Herr Pirkheimer könnt' in dieser Sach' Euch mehr von
nutzen sein!"
Die Magd aber schüttelte unwillig den Kopf. „Ich mag Herrn Pirk¬
heimer darum nit bitten!"
„Was habt Ihr da für Ursach'?" mengte sich die Dürerin ein. die bis
nun geschwiegen hatte.
Die Jungfrau schien sich eine Weile zu besinnen. Indessen lagen die
dunkeln, gestrengen Augen der Dürerin scharf in den ihren.
„Mir bangt vor ihm," gestand sie endlich leise.
„Da seid Ihr nit die Erste und werdet nit die Letzte sein," fuhr die
Dürerin heftig heraus. Sie war erregt vom Faltestuhl, in dem sie gesessen,
aufgesprungen und ging mit schweren Schritten auf und nieder.
Dürer aber trommelte mit den wunderbar schlanken Fingern ein Weilchen
nachdenklich vor sich auf den Tisch.
„Wollt Ihr Euch nit setzen, Felicitas," sagte er dann mit seiner laden
Stimme und wies auf einen Schemel an der Wand.
Das Mädchen aber spähte nach der Hausfrau hin, die, noch immer in ihre
erregten Gedanken versunken, die Stube hin und wieder durchmaß. Und erst
als Dürer sie nochmals mit freundlicher Geberde nach dem Schemel wies, wagte
sie sich zu setzen.
„Erzählt mir vom Bater, und wie das Unglück mit dem Brand sich
zugetragen," ermunterte sie der Meister.
Da begann Felicitas, ohne zu zögern, von der Unglücksnacht zu berichten,
die den Vater ums Augenlicht gebracht. Sie erzählte in ihrer stillen, wie von
einer großen inneren Milde getragenen Art, wie gellende Schreie sie in tiefer
Nacht aus dem Schlaf geweckt, und wie sie plötzlich ihre Giebelkammer. die
höchste im Hause, von schrecklicher Röte erfüllt gesehen, und wie mit einemmal,
noch ehe sie sich recht zu besinnen vermochte, die Tür von gierig zischelnden
Flammen umzingelt war. Da sei sie, an jeglicher Rettung verzweifelnd, inmitten
ihrer Kammer niedergekniet und habe zur heiligen Jungfrau um einen leichten
erlösenden Tod gefleht. Und inmitten ihres Gebetes habe sie plötzlich nichts
mehr von sich gewußt. Erst später sei ihr berichtet worden, der Vater habe,
allen Warnungen zum Trotz, eine Leiter an den flammenden Giebel gelegt und
sei durchs Fenster zu ihr gedrungen und habe sie also gerettet. Aber des Vaters
armes Antlitz sei, als sie ihn wiedergesehen, in furchtbarer Weise verbrannt
gewesen, und bald danach sei er völlig erblindet.
„Seit diesem Tag läßt mich der Vater keine Stund' von sich, und so konnt'
ich ihm auch heut nur heimlich entweichen, da er dem Meister Unfug, der heut'
silberne Hochzeit hält, zum Schmaus aufspielt."
Nach einer Weile, da alle nachdenklich geschwiegen, begann Dürer noch
andere Fragen an Felicitas zu richten, über des Vaters neue Lieder, und ob
das Volk ihm wohl gesinnt sei, und ob er auch vom Doktor Martinus Luther
schon gesungen, „von dem derzeit in aller Welt so groß Gered' sei".
Und während die Jungfrau auf alles eine bescheiden kluge Antwort wußte
und immer zutraulicher plauderte, ward ihr Antlitz von des Meisters unfehl¬
baren Silberstift in all seinem Liebreiz ans ein kleines Blatt gebannt, das ihn:
gerade zur Hand gelegen.
Sobald Felicitas das bemerkte, verstummte sie und hielt ganz ruhig, und
ihre großen Augen verfolgten das Tun des Meisters mit scheuem, andachts¬
vollem Staunen.
Frau Dürerin aber hatte sich indessen wortlos entfernt.
Da war es, als ob es immer stiller und stiller in der hoheitsvollen Stube
wurde. Felicitas wagte kaum zu atmen. Ihre Augen begegneten denen des
Meisters immer tiefer und verlorener.
Es war ihr, als wüchse er immer größer und herrschender vor ihren Blicken
empor, und dann glaubte sie plötzlich angstvoll zu fühlen, es sei ihr Leben ganz
in seine schmale, wundertätige Hand gegeben. Und so völlig bemächtigte sich
ihrer dieses selig widerstandslose Verlorensem, daß ihr das Haupt, als Dürer
sich erhob und den Griffel mit befriedigten Nicken zur Seite legte, mit geschlossenen
Augen und wie leblos auf die fiebernde Brust herabsank.
Da fühlte sie, wie des Meisters Hand ihr Kinn mit sanfter Gewalt emporhob,
und dann vernahm sie seine gütige Stimme: „Und wißt Ihr auch, Felicitas,
woran ich dachte, als ich Euch zeichnete? Ich dachte, so weibesmild und seliger
Sanftheit voll mag auch die Frau gewesen sein, die einst den Gottessohn gebar!"
Da richtete sich die Jungfrau jählings auf. Mit überflammtem Antlitz
stand sie Dürer gegenüber, nun fast so groß und erhaben wie er. Und langsam,
glühend rang sich Wort für Wort von ihren bebenden Lippen ab:
„So sollt' Ihr wissen,---daß ich heut'---nit nur des Vaters
wegen---gekommen bin!"
Des Meisters Antlitz überhuschte eine tödliche Blässe.
Dann aber umfaßte er in jäher Bewegung das Haupt des Mädchens mit
beiden Händen und ließ seinen leuchtenden Blick voll fragend gütiger Betroffenheit
in dem ihren ruhen.
Und dann berührten seine Lippen kühl und leise ihre helle Stirn.
„Deinen roten Mund zu küssen, Felicitas," sagte er hierauf mit zitternder
Stimme, „das wird mir wohl vor Gott nit möglich sein."
Noch standen sich die beiden einen Augenblick groß und wortlos gegenüber,
dann aber wandte sich die Jungfrau tiefgesenktem Hauptes und wankte langsam
der Türe zu.
Der Meister sah ihr schweigend mit weitgeöffneten Augen nach. Sie aber
hatte die Stube leise und ohne sich nochmals umzuwenden verlassen.---
Am späten Abend saß Herr Dürer noch lange vor der leise flackernden
Lampe. Er saß ganz still, die Hand ins lockige Haar vergraben.
Rings in der Nachbarschaft löschte man Licht um Licht. Nun brannte nur
noch eines gegenüber im Pilatushans und eines, ein winziges, ganz ferne oben
auf der kaiserlichen Burg.
Und bald erlosch auch dieses und bald auch jenes.
Nun war die Welt, da den Himmel jagendes Wolkengednnkel umhüllte,
in Finsternis gebettet, wie es tiefer Nacht gebührt.
Herr Dürer zog den Docht an seinem Lämpchen höher.
„Und wenn auch du noch verlöschest," murmelte er, „so herrscht wohl
Finsternis innen und außen!"
Doch plötzlich riß er sich mächtig empor und schritt nun eine Weile im
Zimmer auf und nieder.
Nach einiger Zeit begab er sich zu einem Pult in der Ecke, entnahm ihm
eine großgeformte Mappe und trug sie ans Licht.
Er rückte sich den Stuhl zurecht und begann nun langsam, wie liebkosend,
Seite sür Seite des Buches umzuwenden.
Es waren die herrlich urmächtigen Blätter der Apokalypse, in denen sich
einst die Kraft seiner Jugend und all ihr brausendes Schöpferglück geoffenbart.
Herr Willibald Pirkheimer sandte erfreuliche Botschaft: Maximilian, des
geliebten Kaisers Majestät, habe geruht, den Reichstag nach Augsburg in die
Stadt zu berufen, und so werde er auch Nürnbergs ehrbare Räte in Gnaden
auf der Pfalz empfangen, und auch Herr Dürer sei zu der Reise geladen. „Und
nehmt auch seins Papier und säuberliche Kohlen mit, dieweil Ihr, wie ich's
Euch versprech, den Kaiser kunterfeneu sollt, so wahr ich bin Euer unverdrossener
Freund und Gönner Billibaldus Pirkhenmer."
Und bald nach diesem Briefe erschien auch Pirkheimer selbst. Es galt eine
andere wichtige Frage: Dürers neuen Entwurf für des Kaisers „Triumphzug"
zu prüfen. Mit des Meisters erster Fassung war der kluge und gestrenge
Freund nicht einverstanden gewesen. Nun aber leuchtete ihm das breite Antlitz
voll Stolz und Mitschöpferfreude.
„Da habt Ihr nun das Nichtige getroffen! Das soll nun an den Kaiser
gehn nach Innsbruck. Auch will ich Euch im Brief gehörig preisen."
Dürer lächelte belustigt. „Ich könnt' das Lob wohl brauchen, denn die
Müh' war nit gering. Mir war nit immer festlich genug zu Mut dabei, auch
hat mir fremder Wille allzuoft den Stift verzerrt!"
„Hier kann ich Euch Besseres zeigen," fuhr er dann fort und entnahm
seinem Pulte eine Zeichnung, die er dem erstaunten Pirkheimer reichte. „Es
liegt sür den Schäufelin zum Holzschnitt bereit."
„Das ist ja die Felicitas," rief Pirkheimer, kaum daß er einen Blick auf
das Bild geworfen. „Und was habt Ihr Köstliches daraus gemacht!"
Es war in der Tat etwas Wunderliebliches, was der Meister da mit selig
sicherer Hand geschaffen.
Felicitas saß, ein reizendes Lächeln auf den Lippen, als Jungfrau Maria
in einem weiten, prächtig gefalteten Gewände inmitten einer fröhlichen Engel¬
schar, die sich musizierend, singend und früchtespendend rings um sie bemühte,
indes zwei andere flügelrauschende Himmelsboten eine herrliche Krone ihr zu
Häupten trugen, auch diese noch überhöht von brandenden Wolken und Gott
lobpreisenden Seraphins. Das Jesuskindlein aber stand vergnügt auf einem
Bein im Schoß der Jungfrau und hielt ein Ärmchen vertraut um ihren Hals
geschlungen und sah mit Wohlgefallen auf eine neckische Gesellschaft kleiner
Engelchen herab, die mit Gelärm und vieler Himmelsfreude den Großen gleich
sich gebä'rdeten.
„Da find' ich meinen alten Dürer wieder," rief Pirkheimer gerührt, „dort
wo er mir am liebsten, am herzvertrautesten ist!"
Er reichte Dürern die Hand, die dieser mit freundlichem Nicken ergriff.
„Doch fagt mir," fuhr jener fort, „wie wußtet Ihr das Antlitz der Felicitas so
wunderähnlich zu gestalten, dieweil Ihr sie nur flüchtig an jenem Vormittag in
Unfugs Haus geschaut?"
„Ich könnt' Euch drob erwidern," lächelte Dürer, „daß es mir nit schwerer
ward, die Jungfrau zu kunterfenen, als es Euch gelang, sie wiederzuerkennen.
Doch kann ich Euch berichten, daß sie vor etlicher Zeit bei mir gewesen und
dort auf dem Schemel gesessen ist, und da hab' ich sie kunterfeyt!"
„Da soll doch —," fuhr Herr Pirkheimer in drolliger Verblüffung auf.
„Die Felicitas ist zu Euch gekommen? Und nun sag' mir Einer, er kenne der
Weiber wunderlich Hirngetriebe und Possenwerk!"
„Sie ist zu nur gekommen," sagte Dürer mit Nachdruck, „um meine Für¬
sprach beim hohen Rat zu erbitten für des Vaters Lieder!" Und nun erzählte
er, er habe sich bereits bei einigen Herren vom Rat für des blinden Sängers
Anliegen verwandt und bitte nun auch ihn, den Vielvermögenden, um sein
schwerwiegend Wort in dieser Angelegenheit.
Herr Pirkheimer nickte zerstreut, indes er die köstliche Zeichnung aufs neue
zur Hand nahm und angelegentlich betrachtete.
„Wie seid Ihr der dürstenden Fläche so völlig Meister geworden!" brach
er begeistert aus. „Ihr habt sie mit pulsendem Leben erfüllt von: Anfang bis
zum Ende, und nirgends seid Ihr Frau Harmoma ein Eckchen schuldig geblieben.
So habt Ihr ein Stück einträchtig vollendeten Daseins auf diese Tafel hin¬
gebreitet, wo alles lächelnd in sich selbst beruht und nichts von außen her
verlangt wird."
„Doch will ich Euch gestehen," fuhr er nach einer Pause mit verschmitztem
Lächeln fort, „daß mir die schöne Jungfrau zwar sehr liebenswürdig, jedoch
nit völlig bei ihrem himmlischen Amte zu sein scheint. Es ist, als dächte sie
ein Endchen zu viel an sich selbst, und als wäre sie nur die Himmelsmutter,
weil der Herr Maler es also gewollt, wobei jedoch ein vollgemessen Blitzlein
noch ungezähmter Erdenfreude ihren lieblichen Äuglein entfleucht. Fast hätt' ich
Euch geraten, im Fall' Ihr mich vorher gefragt, das schöne stattliche Weibs¬
wesen nit als Himmelsmutter, wohl aber, nit minder göttlich, doch aller irdischen
Hüllen ledig, als leuchtende Vsnu8 amirabilis zu malen, wobei Euch nit
geringere Ehr', jedoch noch mehr an Herzenssreud' entstanden wär'. Ihr wißt
ja noch mein heidnisch Glaubenssprüchlein, das ich zumeist dem seligen Plato
abgelauscht und das da lautet: Die Alten sind vom Christentum nit fern
gewesen! — Was sagt Ihr nun dazu?"
Dürer hatte großen Auges jedes Wort des Freundes in sich aufgenommen,
und seine hohe, leuchtende Stirn hatte sich trüb umwölkt.
„Ihr tut nit gut daran, mich solcherart ans Irdische zu mahnen," sprach
er mit wehem Ernst, „Ihr wißt ja nit, wie viel mich dieser Weg gekostet, und
ob ich nit in schwerer Nacht mir Kraft geholt, auf daß ich endlich sagen konnt':
Die Kunst ist groß und schwer und gut, und wir mögen sie mit Ehren in das
Lob Gottes wenden. Und wenn die Alten ihre schönst' Gestalt eines Menschen
ihrem Abgott Apollo zugemessen, so wollen wir jetzt dasselbe Maß brauchen zu
Christo, dem Herrn, der der Schönste auf der Welt ist. lind wie sie einst die
Venus gebracht haben als das schönste Weib, also wollen wir dieselbe zierliche
Gestalt keuschlich darlegen der allerreinsten Jungfrau Maria, der Mutter
Gottes!"
Dürers Antlitz war, je länger er sprach, um so blässer und gestrenger
geworden. Es zuckte ein verhaltener Schmerz darin und die Kunde von un¬
ausgesprochenen Qualen. Und mit einemmal verstand Herr Pirkheimer des
geliebten Meisters wunderliche Worte, und seine spottgerüstete Seele wurde dabei
von Scham und Neue erfaßt: ins Himmlische hatte Dürer die Felicitas entrückt,
weil sie ihm irdisch nicht gehören durfte.
Dem großen Epikuräer, Freudenbejaher und Vielheitsdenker wurde bei
dieser schlichten Erkenntnis etwas schwül zumute. Nun hatte ihn wieder ein
Hauch berührt jener sittlich starren Mannesentschlossenheit, die um der Leiden¬
schaft willen die innere Stimme nicht morden will, und die sich allerorten bereits
in deutschen Landen wie Raunen vor dem Sturme zu regen begann, und als
dessen lauteste „Posaune des Evangeliums" der große Augustiner aus Wittenberg
zur Stunde die Massen begeisterte.
Und wie es des raschen, leichtentzündlichen Mannes Art war, legte er
liebkosend seinen Arm um Dürer und sah ihm mit flammenden Augen ernst
ins Antlitz. „Ich hab' Euch ganz verstanden. Lieber, und ich sag' Euch: Ich
bin stolz, Euer Freund zu seinl Ich wollt', ich könnt' mich Eures reinen kind¬
lichen Herzens rühmen. Dann stund' es wahrlich besser mit mir, wiewohl
ich —", er hielt einen Augenblick inne, und der alte Schalk begann seine Lippen
wieder zu umspielen, „wiewohl ich dann auch mancherlei an kleinen Freuden
niemals genossen hätt'!"
„Ihr seid ein unverbesserlicher Schlemmer," wehrte ihn Dürer lachend
ab. Er konnte diesem prächtigen Menschen niemals auch nur ein Viertelstündchen
gram sein. '
Dieser aber, als sei nun eine strafende Gerechtigkeit sogleich bereit, die
Verwegenheit seiner Anschauungen zu rächen, begann sich plötzlich unter leisem
Stöhnen sein linkes Bein zu betasten.
„O weh, sie hat mich wieder!" rief er in drolliger Verzweiflung und sank
in den nächsten Stuhl. „Das macht, weil ich aus lauter Lieb' so hastig auf
Euch zugesprungen bin!"
„Wie könnt Ihr Euch darob erzürnen," begann nun Dürer zu spötteln.
„Habt Ihr nit selbst die .Fürstin Podagrci' so weihevoll besungen, wie nur je
ein Schwärmer die Geliebte, und habt sie laut gepriesen, da sie Euch ans
Schreibpult schö'le und vor Frau Venus gefahrvollen Pfeilen bewahre? Und
nun beklagt Ihr Euch über sie?"
„Besingen und erleiden ist zweierlei," stöhnte Pirkheimer halb lachend, halb
ergrimmt. „Doch nun lebt wohl! Zum Glück hab' ich mein Pferd bereit,
sonst müßt ich heut' gar jämmerlich nach Haus hinken. Und wenn des Kaisers
Antwort kommt, so sollt Ihr von mir hören!"
Dürer ließ es sich nicht nehmen, den Freund die Stiege hinab und bis
ans Tor zu geleiten, wo der Knecht mit den Pferden wartete.
„Nun darf ich," jammerte Pirkheimer, nachdem er sich ächzend in den
Sattel geschwungen, „ein Wöchlein zuhause sitzen und die Früchte meiner Welt¬
lichkeit genießen. Meine fromme Schwester Caritas, die nennt das .ein Ge¬
fangener Gottes' sein. Nun ja! Lebt wohlt"
Als Dürer in sein Erkerzimmer zurückkehrte, da sah er sein Weib vor dem
Tische stehen, mit düsterer Miene das Marienbild betrachtend.
„Das hast du mir noch nit gezeigt," meinte sie erregt. „Ich find', du
hast viel redliche Müh' an die fremde Dirn verwandt!"
„Sie ist mir nit mehr fremd," versetzte Dürer ruhig. „Sie ist mir dessen
wert, wozu ich sie erwählt."
„Du hätt'se der ehrsamen Frauen genug, die auch das Bild mit gutem
Gold bezahlt hätten. Die aber ist eine hergelaufene Dirn, die zieht mit dem
betrunkenen Vater von Herberg zu Herberg. Da kann sie nit von hohen
Sitten seinl"
„Liebe," sagte Dürer gemessen und doch mit bitterem Ernst, „das ist nit,
wie du glaubst, daß ich die Frauen nur zu malen hab', wie sie der hohe Rat
zum Tanze tat. Ein alt' Geschlecht und ein tugendsam Weib sind wohl ein
edel Ding, doch hat mir Gott meine liebe Kunst vor allem gegeben, damit ich
stets das Beste herfürnehme, was Natur geschaffen, ganz unabhängig von der
Menschen Wertung. Der Künstler kennt nur ein Gebot, und das ist Sehen.
Und wo das Sehen sein Herz erfreut, da hat kein anderes Urteil mitzusprechen,
denn dieses überbleibe den Pfaffen und den Schöffen vom Geriesel"
Frau Agnes hatte des Meisters Worte nur mit sichtlicher Ungeduld über
sich ergehen lassen.
„Ein ehrsam Weib," erwiderte sie hastig, „wird stets zuerst nach guter
Sitte fragen. Und dir wär's auch nit recht, wenn's anders wär'!"
„Wir können uns darin wohl nit versteh«," versetzte Dürer achselzuckend.
„Es ist nit gut von dir, daß du dem Kind des Jörg so übel nachsprichst.
Sie ist ein arm Ding, das viel an Unglück zu ertragen hat und das sich
wunderlich rein bewahrt hat trotz allem Schmutz, der um sein traurig Leben
herumfließt. Und daß sie schöner ist, als ich irgend eine Jungfrau in Nürnberg
sah, das soll ihr etwa noch als Sünde angerechnet werden?"
Die Dürerin starrte eine Weile finster und bekümmert vor sich hin. Dann
aber fuhr sie seufzend auf und legte, einem plötzlichen Entschluß folgend, mit
scheuer Gebärde ihre Hand auf des Gatten Arm:
„Versprich mir, daß du die Felicitas nit nackend malst, wie du nach mir
schon andere gemalt. Bei dieser könnt' ich's nit ertragen!"
In Dürers Antlitz wallte zornige Nöte auf. Schon lag ihm eine herbe
Antwort auf den Lippen.
Da sah er aber das ängstlich fragende, herbgealterte Antlitz seines Weibes
ganz nahe vor sich, und aus ihren müd verschleierten Augen spähte es bang
und feucht nach den seinen.
„Ich will dir's gern versprechen, und es fällt mir leicht, dieweil ich's nie
im Sinn gehabt," erwiderte er mit wehmütig ernstem Lächeln und strich ihr
liebkosend über die Wange.
Sie aber nickte ihm dankbar und zufrieden zu, als Hütte sie damit die
dumpfe Beruhigung ihres ärmlich engen, pflichtgetreuen und Pflichten fordernden
Lebens wiedererlangt. (Fortsetzung folgt)
natole France nimmt in Deutschland nicht den Rang ein, der
ihm gebührt. Hinter Franzosen zweiten und dritten Ranges steht
er zurück. Den bedeutenden Einfluß, den er auf seine Landsleute
ausübt, unterschätzt man gewaltig. Selbst die Höhe der Auf¬
lagen seiner Bücher vermag die gröbere Aufmerksamkeit im Aus¬
lande nicht zu erzwingen. Oder sollte das an seiner ganzen geistigen Art
liegen? Gibt es doch Autoren, die nun einmal trotz ihrer unbestrittenen Größe
keine „Exportartikel" sind. Die beste Übersetzung nimmt ihnen den Duft; der
klügste und gewandteste Impresario hat kein Glück mit ihnen. Außerhalb seines
Sprach- und Kulturgebietes bleibt er immer ein aus dem Wasser gezogener
Fisch. Wie dem nun sei, ein Versuch, ihn von neuem dem deutschen Publikum
in Erinnerung zu rufen, sei gewagr; er findet seine Rechtfertigung zum
mindesten in der aktiven, noch längst nicht abgeschlossenen Produktion des in
seinem Schaffen und seiner Geistesachtung kurz hier zu skizzierenden Schrift¬
stellers.
Originale Geister lassen sich nicht klassifizieren. Sie schaffen Neues und
Eigenes. Aber wenigstens durch ihren Ausgangspunkt sind sie mit ihren ersten
Versuchen an Vergangenes gebunden. Auf France haben zwei sehr verschiedene
Strömungen deutlich gewirkt: einmal Renan, dann die Schule der Parnasstens.
Kaum kann man sich größere Gegensätze denken, und doch hat France beide
vereinigt. Renan hat keine Schule gemacht; sein Fall war so einzig, daß
jede Wiederholung ausgeschlossen war. Ein Schüler Renans hätte wie er
Priester sein, den Glauben verlieren und austreten müssen. Er hätte einen
Bretonen zum Vater und eine Gascognerin zur Mutter haben, nach Palästina
reisen und Orientalin studieren müssen. Immerhin ist Renan auf die jüngeren
Generationen von Einfluß gewesen; aber wie weit haben sich doch seine als
solche wohl bezeichneten Schüler Jules Lemcutre, Maurice Barrss und Anatole
France von ihm entfernt: Lemaitre ist zum polemischen Antipoden geworden,
Barros, dem Hermann Bahr als le pariÄt MAZicien ele l'Ironie morale ein
Buch widmete, ist heute nichts weniger als das, sondern ein braver Nationalist
mit sehr ausgesprochenen Grundsätzen. Nur France hat die Treue gehalten
und von dem Renan der letzten Phase, dem Verfasser der philosophischen
Dramen, dem Redner und Essayisten der I^euilles elütecliLLZ, jenen liebens¬
würdig sentimentalen Skeptizismus geerbt, dessen süßes Gift empfängliche Gemüter
unmerklich lahmt und zerstört. Aber er hat dieses Genre zu höchster Kunst
ausgebildet, während Renan auch hier ein Dilettant blieb und im Grunde dem
Ästhetentum sehr fern stand.
Dies führt uns zur zweiten Quelle, aus der France in seiner Entwicklungs¬
zeit mit vollen Zügen trank: zu den Parnassiens.
Mit dreiundzwanzig Jahren gelangte France in den Kreis des Verlegers
Lemerre und seiner Parnassiens. Hier brachte er der lyrischen Muse das, wie
es scheint, in jenen Jahren unvermeidliche Opfer. Man lobte sein feines
Empfinden, sein klug verwertetes Wissen, seine harmonische Natur, vermißte aber
den lyrischen Schwung und tadelte seine vornehme Zurückhaltung. Er brachte
es aber dann doch zu revolutionären Versen, die den ohnehin schon übel
angeschriebenen Verleger der Quelle rince zum Eingehenlassen seines Blattes
zwangen. Weder jene Reserve noch dieser Enthusiasmus gewannen France
die Sympathien Lecomte de Lisles, des geistigen Führers der parnassischen
Bewegung. Ja, es kam später zum offenkundiger Bruch, bei dein Lecomte de
Liste keine vornehme Rolle spielte, ohne daß France seine Mitschuld leugnen
konnte.
In verschiedenen Stellungen verblieb France nur kurz. So war er ein
Jahr lang der Redakteur des Lligsssm- biblioZMplie (1867), dem er einen
weniger trockenen Charakter gab, indem er neben Rezensionen auch Poetisches
und sonst Fiktives erscheinen ließ. Er soll auch anonym um diese Zeit manches
geschrieben haben. Lemerre fesselte ihn dann ein paar Jahre als Lektor an
sein Haus; aber die an sich schon nicht einträgliche Stelle wurde ihm bald durch
den Neid und die Intrigen derer verleidet, die unter seiner Kritik zu leiden
hatten. Und es verlangte France nach einer Stellung, in der man nicht berufs
mäßig anderen wehetun mußte. So kam er 1874 als Gehilfe an die Senats¬
bibliothek; aber hier machte ihm Lecomte de Liste als Vorgesetzter das Leben
so sauer, daß seines Bleibens nicht lange war. Seitdem hat France unseres
Wissens keine Stellung mehr bekleidet; er hatte es auch bald nicht mehr nötig,
denn sein Name verschaffte sich allmählich Geltung, so daß er vom Ertrage seiner
Feder leben konnte.
„l.e Lrime cle Sylvestre I5omiar6" war das erste Meisterwerk unseres
Schriftstellers. Viele sind geneigt, es heute noch „das Meisterwerk" zu nennen,
weil es die weiteste Verbreitung fand und wirklich populär wurde. Aber es
stellt doch nur eine Seite der Begabung seines Verfassers dar: die liebens¬
würdige, schalkhafte Ironie mit dem warmen Herzenston, der die Menge ergriff.
Der alte Bonnard ist ein Prototyp des später so beliebten Bergeret. Noch
fehlt ihm die philosophische Tiefe, die überlegene Lebensweisheit, aber er hat
doch schon die Herzensgüte, die Weltabgewandtheit des Stubengelehrten und das
große Wissen, das in den kleinen, praktischen Fragen des Lebens versagt, was
seinem Träger einen leicht komischen Anstrich gibt und ihn nur noch sympathischer
macht. Hier zeigt sich France von seiner liebenswürdigsten Seite, als ein fröh¬
licher, gütiger Beurteiler des Lebens. Es liegt beinahe etwas Germanisches in
dieser gemütvollen, weichen Herzlichkeit. Und doch ist France aller germanischen
Kultur so fremd als möglich; er hat nie auch nur den Versuch gemacht, in sie
einzudringen und sich mit ihr vertraut zu machen — eine Beschränkung, die
neben ihren offenkundiger Nachteilen doch auch ihre großen Vorzüge hat, zumal
in unserer Zeit des Internationalismus, wo die synkretistische Mischung der
Kulturen und die oberflächliche und eifrig erstrebte Sprachenkenntnis nicht immer
erfreuliche literarische Früchte zeitigt.
Die chronologische Ordnung verletzend, gruppieren wir das innerlich Zu¬
sammengehörige. Von der gleichen Seite wie in seinem ersten Werk zeigt sich
France nur noch in zwei späteren Büchern: „I^e I^ivre cle mon /um" (1883) und
„Pierre t>Jo?ihre" (1899), diesmal mit stark autobiographischen Einschlag. Diese
Kindheitserinnerungen gehören zu den wertvollsten Schätzen derfranzösischen Literatur
und aller Literaturen. Sie sind von einer unmittelbaren Frische, einer Wahrheit
und Feinheit, die ihresgleichen sucht. Der Dichter versetzt sich hier so völlig
in die Kindesseele, wie er sich später in die eines Heiligen der urchristlicher
Zeit, eines mittelalterlichen Mönchs oder eines Enzyklopädisten versetzt. Hier
liegt seine eigentliche Virtuosität, und sie ist die Frucht feinster Bildung, völliger
Reife und ernster Arbeit.
Diese Vollkommenheit dankt er nicht nur dem eigenen Talent, seinen Studien,
seinem Fleiß, sondern nicht zum mindesten dem Umstand, daß er in Pariser
Lust in einem feingebildeten Milieu aufwuchs, vielleicht auch der Tatsache, daß
er seine sprachliche Sicherheit sich nicht durch das Studium der Fremdsprachen —
das Italienische ausgenommen — trüben ließ. Wahrend der Provinzler sich
erst anpassen und manche alte Gewohnheit in Form und Ausdruck ablegen muß,
wuchs France in die sprachliche Vollendung sozusagen hinein. Er hatte nur
mit dem Pfunde zu wuchern, das ihm geschenkt war.
France ist der vielseitigste französische Schriftsteller der Gegenwart, weil er
der gebildetste ist; man möchte es nur weniger durchfühlen. Man lese vier
oder fünf Bände von ihm hintereinander, z. B. I^e Livre ac me>n /^.mi, l.a
I^0et88eriL cle !a I^eine peäaucjue, I.'IIe nich pinAvuin«, I^e I^s rouZe 1"kN8,
ohne den Namen des Autors zu kennen, und man wird nie auch nur die
Möglichkeit einer gemeinsamen Verfasserschaft ins Auge fassen. Der gewaltige
Unterschied liegt nicht nur in der großen Verschiedenheit der Handlung und des
Milieus, sondern vor allem in der völligen Unvergleichbarkeit der geistigen
Richtung. France ist ein Meister der Einfühlung, von unglaublicher Vielseitigkeit
Und Beweglichkeit. Dazu gehört ebenso viel historische Bildung als natürliches
Talent. Und es gefällt ihn,, in dieses oder jenes fremde Gewand zu schlüpfen,
um zu zeigen, daß er es zu tragen und in ihm sich zu bewegen versteht. Er
hat sich in allen möglichen Genres versucht und ist erst in den letzten Jahren
einseitiger geworden.
Neben Sylvestre Bonuard kann Jerome Coignard als eine Vorstudie zu
der Bergeretfigur bezeichnet werden. Wir finden ihn in den beiden Büchern
I^g, Ü?ütis8me <le le Keine peciauque (1893) und Opinic>n8 <le ^öröme
LoiZnarcZ (1893). Ist Bergeret ein etwas greisenhafter und hilfloser Bonnard,
so ist Coignard seine vergröberte Karrikatur, sein ins Materielle gezogenes Zerr¬
bild. Dieser fette, aus dem Amte längst entlassene Geistliche, dessen Tasche
stets leer, dessen Magen stets hungrig, dessen Schlund überaus durstig, dessen
Degen stets schlagfertig ist, erscheint uns in seiner Wirtsstube und mit seineu
galanten Abenteuern wie ein immerhin etwas vergeistigter Fallstaff des neun¬
zehnten Jahrhunderts in gallischem Gewände. Er handhabt auch die Zote mit
einer bemerkenswerten Virtuosität, und I.u Kuli88me cle la Keine peciimczue
(der Name eines Wirtshauses!) gehört jedenfalls zu den unsaubersten Büchern
des Dichters. Was den Abbe aber von Falstaff entfernt und als das Prototyp
Professor Bergerets erscheinen läßt, ist seine stupende Gelehrsamkeit und sein
stets lebendiges Interesse sür geistige Fragen, theologische Dispute und philo¬
sophische Probleme. Man kann sich keinen besseren Typus des verkommenen
Genies als diesen vertrunkenen Priester denken, der ein seiner würdiges Ende
findet — er wird auf offener Landstraße von einem alten Juden um eines
Liebesabenteuers willen erstochen —, und dessen Geschick uns doch um seiner
Geistesgaben und seiner Herzenseigenschasten willen ein wenig zu Herzen geht.
Das vollkommenste Buch des Dichters ist sein .larclin et'IZpieure (1894).
Vollkommen nicht in dem Sinne, als ob ein Genre besser wäre und höher
stände als ein anderes, sondern weil hier France eine Harmonie nach Form
und Inhalt erzielt hat, die ihm früher und später versagt blieb. Er hat hier
auf den fiktiven Einschlag, der ihm immer ein wenig Mühe machte, völlig ver¬
zichtet und sich in einer Nachdichtung der epikuräischen Philosophie versucht, die
in der Weltliteratur ihresgleichen sucht. Nur ein Franzose war dazu imstande,
die antike Philosophie des maßvollen Genusses in so subtiler Weise zu destillieren
und ihr eine andere französische Form zu geben, die, unbeschadet des antiken
Gehalts, dem Ganzen einen neuen Reiz verleiht. France hat hier das Größte
und Tiefste in klassisch reiner Form gesagt, das über des Menschen Ursprung,
Leben und Schicksal überhaupt gesagt werden kaun. Das muß auch derjenige
anerkennen, der, von anderen Voraussetzungen ausgehend, die Größe und
Schönheit einer gegnerischen philosophischen Weltanschauung unparteiisch zu
würdigen weiß.
Von nun an tritt eine eigentümliche Wendung in dem Schaffen des Dichters
ein. Es beginnt die Serie feiner zeitgenössischen Romane. Unter dem Titel
lUstoire Lontemporaine wurden die vier 1897 bis 1901 erscheinenden Bücher
^'One ein Rail. I.e N-mnequin ni'Osiei', i.'^nneau ä'/VmetKMs, Monsieur
I^erAeret ä Pari8 zusammengefaßt. Dein „tliZtoire" hätten wir gerne ein s
angehängt: es handelt sich um Geschichten, nicht um Geschichte. Was war
geschehen? France stand auf der Höhe seines Schaffens und seiner geistigen
Leistungsfähigkeit. Sein ^arcum ä'IZplLUle war schwer zu überbieten. Dem
alten Orient und der Renaissance Italiens hatte er seine beste Kraft gewidmet.
Nun drängte es ihn zur zeitgenössischen Geschichte.
Aus seiner aristokratischen Ruhe und Gleichgültigkeit, die das allzu Menschliche
gelassen hinnimmt und der entfesselten Leidenschaft einer tobenden Menge gegenüber
nur ein nachsichtiges Lächeln hat, wurde France herausgerissen. Er hielt am
Grabe Zolas später eine Rede, die nichts weniger als ein Meisterstück der
Beredsamkeit war, in ihrer Heftigkeit aber den Vater eines Sylvestre Bonnard,
Jerüme Coignard und Bergeret völlig verleugnete.
Diesen Ton schlägt France freilich in seiner rlistoii'L LontempoiairL noch
nicht an. Hier handelt es sich um lose Szenen des Pariser Lebens, teils in
republikanischen, teils in adligen Familien spielend. Bald befinden wir uns
in den Gemächern des Bischofs, bald in der Amtsstube des Präfekten, bald
beim Antiquar, in dessen Hinterzimmer sich mancherlei heterogene Elemente ein
periodisches Stelldichein geben. Es wird viel diskutiert, und zahlreiche Ab¬
schweifungen auf das Gebiet der Geschichte sind an der Tagesordnung. Mehrere
Einzelszenen sind köstlich entworfen und von plastischen: Humor. Aber das
Ganze ist ungemein lose konzipiert und flüchtig aneinander gereiht. Als Sitten¬
bilder aus der dritten Republik mögen dieser ungebildete, freidenkerische Präfekt,
der intrigante Bischof und der über der Nichtigkeit des Erdenlebens in philo¬
sophischer Ruhe thronende Bergeret wohl gelten. Kunstwerke aber sind diese
losen Szenen ohne Anfang und Ende doch nur episodisch. Als Ganzes wirken
sie nicht; dazu gehört ein sorgfältigerer Aufbau, eine straffere Linienführung,
ein zielbewußteres Fortschreiten. Der Zyklus ist zu stark von den Zeitumständen
abhängig, als daß er über die Zeit hinausreichte. Mögen Historiker und
Psychologen ihn später einmal konsultieren, in der Literaturgeschichte werden
diese vier Romane keine Rolle spielen.
Sie deuten überhaupt den Niedergang im Schaffen von France an. Was
er schreibt, ist und bleibt interessant, aber seine Produktion artet mehr und
mehr in ein geistreiches Sichgehenlassen, ein selbstgefälliges Selbstgespräch aus.
das seinen großen Reiz hat, aber vor dein strengen Urteil nicht bestehen kann.
Wem so viel gegeben ist, von dem wird man auch viel fordern. Mit dem
Li'ime als Z^Joe-Stro IZonnarä, I^s I^ivrc: ete mon /all, ^links, l^e l^s wuZe,
I.L .larciin ä'LpiLuie sind die Höhepunkte seiner Arbeit bezeichnet, überaus
charakteristisch ist das Interesse seines Publikums an den einzelnen Werken.
I.s 1^8 rouM, das nichts anderes als ein gut geschriebener Roman unter
vielen ist, brachte es auf 138 Auflagen; mit I 3K folgt I.e Lrimo ac Z^Ivestrs
Konnarcl, das denn doch in der französischen Literatur einen besonderen Platz
beansprucht. I.'Orms ein Rail, I.'IIe nich pmZouins, I.e Nannequin ni'Osler,
I.e livre 6e mon v^mi, ^half, I.a pötisserie, I^'^nneau ni'^metnMe,
Monsieur Lederet a Paris folgen in der Gunst des Publikums; aber wie
wenig treffend und bezeichnend für den inneren Wert der Werke ist doch diese
Reihenfolge! Alles, was eine größere Gedankenanstrengung erfordert, stellt sich
mit bescheidenen Auflagen ein. — Einige wenige Werke bleiben uns noch
zu besprechen. >
Zur la Pierre Llanebe schließt sich der Serie der mit starkem archäologischen
Ballast behafteten „Novellen"Sammlungen an, in denen mitunter glänzende und
großartige Gedankenreihen in einem Wust langatmiger, kunsthistorischer Aus¬
einandersetzungen erstickt werden. Lrainquebille, putois, piquet et ni'autres
recits profitables schlagen teilweise einen neuen Ton an. Die Weltanschauung
des Dichters hat sich hier ins Soziale übersetzt. Der Gemüsehändler, der
unschuldig verhaftet ins Gefängnis kommt, dort zum schlechten Menschen wird
und als ein Taugenichts endigt, ist für France ein Typus. Dieser Aristokrat
des Gedankens wird zum Sozialisten und Anarchisten. Es sind wieder einmal
die Institutionen, die den Menschen schlecht machen, und mit der Änderung des
Systems wird auch der Mensch ein anderer.
Mit dem Verschwinden des Dreyfusprozesses aus dem öffentlichen Interesse
verschwand auch France aus der politischen Arena. Seine Zeyt t^emmes cle
Karbe öleue haben mit manchen seiner früheren Werke Ähnlichkeit. Er liebte
diese Anlehnung an die Geschichte und die Legende, über die er frei phantasierte,
da ihm wie allen Reflexionsmenschen die eigene, originale Erfindung so ziemlich
versagt war. Aber was soll man zu diesen schlüpfrigen Geschichten sagen, die
so gar nicht dem Geist der Vorlage zu entsprechen scheinen? Es gibt eine
unnötige Frivolität, die selbst der anerkennen muß, der sonst weitherzig und
großsprechend von künstlerischer Freiheit und dem Recht auf die Behandlung
aller Stoffe redet. Wäre nur nicht gerade Maeterlinck mit seinem Ariane se
Karte bleue zuvorgekommen, der so ganz anders, so tief, ernst und fein
nordische Art und gallischer Zartheit zu verbinden wußte I Gegen dieses kleine,
intime Drama kommt die breitangelegte Novellenform nicht auf.
ttistoire eomique betitelt sich ein anderer Band, in offenbar irreführender
Weise das Wort Komik in seinem ursprünglichen Sinne nehmend: Schauspieler¬
geschichten. Zu dem Ruhme des Schriftstellers trügt diese gut erzählte Episode
aus dem Theaterleben, in der wir einer dem Typus Bergeret, Bonnard, Coignard
verwandten, autobiographischen Gestalt begegnen, nur wenig bei.
'
So bleiben uns nur die zwei letzten Schöpfungen übrig: I^IIe clef pinAouins
und .leanne ni'^rc. Jenes wie dieses hat gewaltiges Aufsehen erregt und aus
den verschiedensten Gründen. I^'Ile etes pinZouins ist nichts anderes als eine
Geschichte Frankreichs in Form einer Mystifikation. Der Reiz des Buches besteht
darin, aus dieser Tier- und Wildengeschichte die Anspielungen herauszusuchen,
die es in Fülle enthält. In Deutschland wäre längst ein Kommentar dazu
erschienen, und die Philologie hätte sich dieser willkommenen Beute in neu-
erwachter Streitlust bemächtigt. Vergleiche mit dem zweiten Teil des „Faust"
oder mit „Zarathustra" wollen wir nicht anstellen: es handelt sich nicht um
Welt- und Menschengeschichte, sondern nur um Gallien, den Krummstab und
die phrygische Mütze. Die Persiflage der Geschichte Frankreichs hat natürlich
ihr Interesse, und je gebildeter ein Franzose zu sein vorgibt, desto besser muß
er l^'IIe ach ?inZouin3 verstehen. Es ist aber schließlich doch ein recht kindliches
Vergnügen, auf vierhundert Seiten restlos alle Anspielungen herauszufinden und
damit den Genuß des Werkes erschöpft zu sehen. Es sei denn, man hätte an den
Schlüpfrigkeiten besonderes Gefallen, an denen das Werk reicher ist als jedes
andere des Dichters. Von der großen Nation gibt es somit nur einen kleinen
Begriff und zeigt sie sicher nicht von der besten Seite. Das Ganze ist ein
etwas zu umfänglich und allzu deutsch-gründlich gewordener schlechter Scherz.
Auch diesmal und mehr als sonst spottet France über den Leser, der sich die
Mühe macht, ihn ernst zu nehmen und gründlich zu studieren. Er will nur sich
selbst belustigen; ob andere das auch unterhaltend finden, ist ihm höchst gleich¬
gültig, und noch mehr, ob sie ihn verstehen. .learine ä'^rc ist denn doch von
anderem Kaliber, zwei dicke Oktavbände mit dein schweren Geschütz zahlloser
Verweise und gelehrter Anmerkungen. Diesmal war es dem großen Spötter
Ernst, soweit er dazu überhaupt noch imstande ist.
Jeanne d'Arc, die Nationälheldin. die Heilige, das Ideal des Landes —
wer sich an ihr vergreift, ist gerichtet. France ging sehr vorsichtig zu Werke.
Zu einer Verherrlichung der Jungfrau von Orleans ist freilich sein Werk nicht
bestimmt. In: Gegenteil nimmt man deutliches Bestreben wahr, alles Legendarische
so kritisch als möglich zu behandeln und ohne viel Aufhebens mit der ihm
eigenen Selbstverständlichkeit den Leser zu ernüchtern. Diese Vermenschlichung
der Heiligen, die sich mit der Methode Renans in seinem „Leben Jesu" ver¬
gleichen läßt, genügt freilich noch nicht, um den Ruhm historischer Exaktheit zu
verdienen; die Historiker sind vielmehr auf das Werk von France nichts weniger
als gut zu sprechen. Es erschienen gleichzeitig ein anderes französisches und ein
englisches Werk über den Gegenstand, die die strenge Wissenschaft weit mehr
befriedigten. Ihr buchhändlerischer Erfolg mag nicht so groß gewesen sein, denn
ein France, der Jeanne d'Arc kritisch darstellt, ist ein Schauspiel für Götter,
das sich der Lrteraturfreund nicht entgehen lassen will. Trotz dem offenkundiger
Bestreben des Verfassers, objektiv zu sein, ist nach dieser Seite seine Arbeit nur
halb gelungen. Zwei Jahrzehnte früher wäre sie vielleicht noch besser heraus¬
gekommen. Es ist und bleibt eine große Leistung, auf die sich der Forscher
jedoch nur mit vielen Vorbehalten verlassen kann.
Wie wäre das auch bei der Meinung anders möglich, die France selbst
von der geschichtlichen Wahrheit hat? Er ist davon überzeugt, daß wir sie nicht
kennen. Was für uns, die später Kommenden, von großer Bedeutung ist, schien
den Zeitgenossen unwichtig und von vorübergehendem Wert. Darin, und auch
in der Umkehrung des Axioms, mag France völlig recht haben, aber was
beweist das? Doch nur, daß die Lebenden das Ewige ihrer Zeit nicht erkennen
und das Vergängliche überschätzen. Die Geschichte in ihrer Gerechtigkeit rückt
die Dinge zurecht und weist einem jeden den gebührenden Rang an. Dem
Bergsteiger erscheint stets der Nächstliegende Berg als der höchste. Erhebt er
sich, steigt er aus den: Gewühl der Menschen im Tale zur Einsamkeit der Höhen
empor, so sieht er, daß die ferneren Gipfel weit höher sind und die näheren
an Bedeutung abnehmen. So erhebt sich auch der Betrachter der Geschichte,
wenn er Distanz gewinnt und von den seinen Blick trübenden Vorurteilen einige
einbüßt. Ein Irrtum wäre es z. B. zu glauben, daß Jesus Christus in seiner
Zeit über einen Kreis hinaus irgendwelches Ansehen genossen hätte. In einer
überaus feinen Erzählung, procureur as ^na6s" (1902), weist dies France
(nach vielen anderen) nach. Pontius Pilatus unterhält sich, etwa im Jahre 40,
mit einem römischen Beamten, der ihn fragt: „Du entsinnst dich noch jenes
jungen Laienpredigers und Wundermanns aus Gcckiläa? Er hieß, glaube ich,
Jesus von Nazareth?" — „Nein, ich besinne mich nicht darauf." — „Du
mußtest ihn ans Kreuz schlagen lassen!" — „Wirklich? Jesus von Nazareth
sagst du? Das ist mir aber ganz entfallen!"
Aus solchen an sich durchaus möglichen Begebenheiten entwickelt France
eine verzweifelte Geschichtsphilosophie, die mit seinem sonstigen Pessimismus und
Skeptizismus in völligem Einklang steht. Es fehlt ihm der Glaube an die
Geschichte mit dem an die Postulate der praktischen Vernunft. Sie ist gemacht,
willkürlich zusammengestellt. Sie enthält uns das Beste vor und berichtet das
Überflüssige. Wir wissen nichts Rechtes über die Vergangenheit, wie die
Zukunft trotz aller unserer gegenteiligen Bemühungen nichts Rechtes von uns
wissen wird!
In den kleinen Geschichten von France steckt oft mehr Philosophie als in
seinen großen Romanen. Mit Recht hebt Brandes die Bedeutung hervor, die
den Erzählungen Putois und Crainquebille für die Weltanschauung des Dichters
zukommt. Putois ist ein modernes und überaus lustiges Beispiel für die
Mythenbildung. Es weist nach — aber man vergißt diesen Hauptzweck über
dem stofflichen Interesse an dem erheiternden Gegenstände —. daß Legenden
auch heute noch vor unseren Augen entstehen. Dieser Putois, der nicht existiert,
den aber jeder irgendwo einmal gesehen hat, und dessen zahllose Misseiaten
jeder kennt, ist der „Niemand" des Odysseus,, ist jenes Luftgespinst, um das
sich einzelne wie magnetisch angezogene Tatsachen so fest und zahlreich gruppieren,
daß er schließlich historisch wird. Den Schluß zu ziehen, überläßt France dem
Leser: was wir von den Helden der Geschichte wissen, ist nichts anderes.
Vielleicht existierten sie dennoch, wahrscheinlich nicht; David Friedrich Strauß,
Renan, Havel, Kalthoff, A. Drews dürften an dieser Legendentheorie im belle¬
tristischen Gewände ihre helle Freude haben.
Neben den historischen tritt aber der politische, der gegenwärtige Skeptizismus.
Crcnuauebille ist seine Illustration. Dieser Gemüsehändler wird schlecht durch
die Gesetze, die den Menschen gut machen sollten. Er wird eingesperrt, als er
unschuldig war; als er aber wirklich schuldig wird, wollen die Pforten des
Gefängnisses sich nicht vor ihm öffnen. Hier erscheint France plötzlich als
Sozialist; aber wie lange? Der Sozialismus will Gleichheit, aber im Gesetz steckt
die Ungleichheit. Es „verbietet den Reichen wie den Armen unter den Brücken
zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen". Mit anderen
Worten: die Wohlhabenden machen Gesetze für die Armen, die Männer
für die Frauen. Auch das würde der Sozialismus gern gelten lassen, nicht
aber den Protest eines France gegen die Menschenrechte von 1789, die „eine
scharfe und unbillige Trennung zwischen dem Menschen und dem Gorilla machen".
Wenig erfreulich würden auch die Genossen die ganz in Renans Sinne geäußerte
Behauptung finden, die Wissenschaft, nicht das Volk sei souverän, und eine
Dummheit werde durch die Wiederholung im Munde von achtunddreißig Millionen
Franzosen nicht gescheitert. Die Menschenwürde und der Arbeiterstolz der
Massen werden durch das Kokettieren unseres Denkens mit dem tierischen
Ursprung der Menschheit nicht eben geschmeichelt, und die Behauptung, die
Menschen seien böse Bestien, die man nur mit Macht oder List im Zaume
halten kann, erinnert mehr an Swift, Hobbes und Macchicwelli, als an den
ähnliche Gedanken vorsichtiger äußernden Dramatiker Renan. Zum Glück gibt
France uns selbst einmal den Schlüssel zu der Lösung des Rätsels, wie er mit
seinen aristokratischen Anschauungen sich dem Sozialismus zuwenden könne.
Opportunistisch benutzt er ihn einfach als Peitsche gegen seine zwei Hauptfeinde,
den Klerikalismus und den Nationalismus. Aber sind die Feinde genügend
gezüchtigt, dann wirft er ihnen die Peitsche nach. Schade, daß niemals in den
großen Volksversammlungen, in denen France als Redner sich sozialistisch
gebürdet, ein Gegner auftrat, der mit gelesenen Zitaten belegt, ein wie starker
grundsätzlicher Gegner der freiheitlichen Volksbewegung dieser skeptische Geistes¬
aristokrat im Grunde ist. Man hat sich darüber in Frankreich selbst manchmal
getäuscht; wurde doch seine 1896 erfolgte Wahl in die Akademie von der
klerikalen und nationalistischen Partei unterstützt, der er sicher noch ferner steht
als dem Sozialismus. Und der weit konservativere Ferdinand Fabre unterlag
damals.
Fassen wir nun kurz unser Urteil über die Persönlichkeit und das Schaffen
von Anatole France zusammen, so liegt es uns fern, ihm als Gelehrten und
Schriftsteller die höchste Bewunderung zu versagen. Er hat es mit der Ein¬
fühlung in fremdes Wesen zu einer erstaunlichen Virtuosität gebracht. Er ver¬
stand es, sich in eine Mönchsseele der ersten christlichen Jahrhunderte und in
das Empfindungsleben eines Renaissancemenschen in wunderbarer Vollkommenheit
einzuleben. Er verfügt über ein seltenes Wissen und eine äußerst verfeinerte
Bildung. Als Stilist ist er unbestritten groß. Als Schriftsteller weiß er oft
mit einer warmen Herzlichkeit zu schildern, die bei ihm und überhaupt in der
französischen Literatur erstaunt und völlig original ist.
Er bringt es gelegentlich zu einer verblüffenden Selbstentäußerung und
argumentiert mit größter Ruhe und ohne jeden Vorbehalt gegen seine offen¬
kundiger Überzeugungen, so tief und völlig geht er in einer Zeitanschauung ans.
Andere seiner Bücher sind dann wieder von stärkster Subjektivität erfüllt, und
im Grunde ist man über sein Wesen und Wollen nach der Lektüre seines ganzen
Werkes völlig im Klaren.
Seine Gedankenwelt hat sich nicht verändert, wohl aber seine Einschätzung
einzelner Personen, wie Zola, Bourget. Lemcutre usw., freilich mehr, weil diese
selbst sich entwickelten, während er stehen blieb. Immerhin ist ein Niedergang
im Wert seines Schaffens unverkennbar. Seit zehn Jahren ermangeln seine
Werke ausnahmslos der früheren künstlerischen Vollendung. Die Produktion ist
unreifer und allzu beschleunigt. Inhaltlich ist eine wachsende Freude am
Pornographischen festzustellen, und eine gewisse sittliche Grundlage, deren manche
seiner früheren Schöpfungen nicht entbehrte, ist nun völlig geschwunden. Äußere,
veränderte Lebensumstände, die aus seiner Schriftstellertätigkeit mehr und mehr
einen Broterwerb machen, sollen an dieser Wandlung mitschuldig sein.
Man kann nicht umhin, zu bedauern, daß ein so vielseitig gebildeter Schrift¬
steller, ein so glänzendes Talent, ein so hervorragender Stilist an seinem eigenen
Niedergang so emsig arbeitet. Seine älteren Werke haben Anspruch auf unver¬
gänglichen Ruhm. Seine neuesten Bücher werden mit dem Tage verwehen.
Die eigentliche Tragik dieser Schriftstellerlaufbahn liegt in der Tragik der Per¬
sönlichkeit. France ist ein Opfer seiner alles in ironische Skepsis zersetzenden
Weltanschauung geworden. Diesem ätzenden Gift gegenüber hat er selbst nicht
standhalten können. Ein wahres Talent erblüht nur auf dem Boden einer
ehrlichen und festen Überzeugung, mag es von dem Herkömmlichen sich auch noch
so weit entfernen. An diesen Überzeugungen, die selbstlos und voll Opfermut
für das Wohl des Ganzen arbeiten, fehlt es dem modernen Frankreich mehr
als jedem anderen Lande. Stark analytisch veranlagt, ist der Franzose von
alters her der Skepsis zugeneigt. Geistreicher, vielleicht auch talentvoller und
feiner ist er als andere; doch kann man von ihm nicht sagen, daß sich „das
Moralische immer von selbst versteht". Und insofern ist Anatole France mit
seinem Schriftstellernamen und seinem ganzen Lebenswerk typisch fiir eine starke
und gefährliche Geistesströmung unserer Zeit, noch typischer für die Anschauungs¬
weise und die gegenwärtige Krisis seiner Heimat.
miterwägen, die jedem Fortschritt , selbst in
technischer Hinsicht, nur zu oft in die Speiche»
greift. —Ans eine gemeinsame Urlultur scheinen
mir Sitten zurückzuweisen wie die, der Er¬
wählten des kaiserlichen Harems einen sil¬
bernen Ring anzustecken und, wenn sie sich
Mutter fühlt, einen goldenen auf die rechte
Hand. Wer denkt da nicht an die Ber-
miihlungssitte der Juden? Oder man be¬
trachte die Figur Buddhas als Kind in
einer Schale des Todaijitempels, Rara,
und vergegenwärtige sich die in Kreta
ausgegrnbencn Püppchen mythischer Kultur.
Man vergleiche die Steinpfeiler in Hiao
Tnngchnn, Shantung (1. Jahrh, n. Chr.) mit
frühromanischen Säulen oder beobachte die
Rücksichtnahme auf Himmelsrichtungen bei
Tempel-, Stadt- und Palastanlagen, die an
ägyptische und römische Gewohnheit (Bitrnv,
Zehn Bücher über Architektur, Buch IV, Kap. 6)
erinnert. Demgegenüber steht deutlich erkenn¬
bar das fremdem Kulturkreise Entlehnte.
Während bei den Mittelmeervölkern die Archi¬
tektur die Mutter der Künste ist und alle
künstlerischen Gesetze, wie Symmetrie, Ryth-
mus, Reihung, sich in ihr am klarsten aus¬
sprechen, fehlen diese Gesetze in der chine¬
sischen Kunst oder wirken in einer der unseren
entgegengesetzten Form, weil der Chinese keine
Architektur in unserem Sinne kennt. Finden
wir also im chinesischen Kunsthandwerk sym¬
metrische Gegenüberstellung, rythniische Raum-
süliung, Perspektive von einem Augenpunkt
aus, so liegt Beeinflussung unseres Kultur¬
kreises vor. Dagegen ist alles das, was wir
naiv als chinesisch bezeichnen: übermäßige
Berschnörkelung des Linienspieles und der
ornamentalen Füllung, eine Eigentümlichkeit
des dekadenten, unschöpferischen, daher spiele¬
rischen Mandschustiles. Unter den Entleh¬
nungen, die zumal bei den Geweben deutlich
die Persischen Borbilder verraten, interessieren
die Pagoden, die meist als typisch chinesische
Erfindung gelten und doch (man betrachte
diejenigen zu Peiluchen, zu Kindler, zu
Chuangyucnita) das Vorbild des Pharus von
AlcxMdria deutlich erkennen lassen. Der
Schlagdegen der Chinesen mit dem verdickten
Ende (Is, bis 18. Jahrhundert) findet nur in
dem Roiicone der italienischen Frührenaissance
seinesgleichen und Borbild, und die Lust¬
schlösser in Uuanmingyuan bei Peking (1740)
sind chinesische Trinnons und Versailles. Alte
Glaswaren können ihre Abhängigkeit, besonders
in den ältesten Beispielen der kaiserlichen
Schatzkammer zu Japan, nicht verleugnen;
die Gläser erinnern in ihren Formen an den
dorischen ArybaloS (ein Gefäß für Salböl),
an Rheinweingläser (Römer genannt), an
Persische Kannen. Anderseits ist es wiederum
von gleicher Bedeutung, den chinesischen Ein¬
fluß in Europa zu betrachten: wie Böttger
1708 in Dresden zuerst Boccarotonware und
dann Porzellan, das mit Kaolin die Chinesen
selbst erst im fünfzehnten Jahrhundert er¬
funden hatten, nachahmte, oder wie ein
Mann des Volkes, Piching, schon im elften
Jahrhundert bewegliche Drucktypen erfand,
die jedoch die Chinesen oder Koreaner gemein¬
sam mit Europa nicht bor dem fünfzehnten
Jahrhundert zu benutzen wußten.
Mit diesen wenigen Beispielen sei genug
gegeben, um auf die Bedeutung des Buches,
schon als Mnterialsammlung, hinzuweisen und
die Lust zur Lektüre zu wecken.
In zwei Teilen: Tert- und
Tafelbnnü (194 Abbildungen). Leipzig, F.Hirt
und Sohn, 1912.. Geb. 10 M.
Nachdem es beinahe schon Ehrensache jedes
Kunsthistorikers geworden ist, eine allgemeine
Kunstgeschichte entweder von den Chnldäern
bis auf unsere Tage oder wenigstens eine des
neunzehnten Jahrhunderts zu schreiben, ist
man doppelt erfreni, einmal ein gänzlich ab¬
weichendes und anregendes Schema vorzu¬
finden, Kunst aller und neuer Zeit zu be¬
trachten. Waetzoldt, der sich durch seine „Kunst
des Porträts" einen guten Namen gemacht
hat, ist uns die nicht unebene Idee gekommen,
die einzelnen Künste, Architektur, Plastik, Ma¬
lerei, graphische und angewandte Kunst, nach
einander ästhetisch - Praktisch zu beleuchten. An
der Hand von Beispielen aus der ganze»
Kunstgeschichte stellt er klar und einleuchtend
das Gesetzmäßige der Einzelkünste auf, so daß
wir etwa eine Theorie der Kunst erhalten,
aber ganz vom modernen Standpunkte aus,
von den Werken ausgehend und gnr nicht von
vorgefaßten Ästhetikerineinungen. Es zeugt für
die rein künstlerische Auffassung und hohe didak¬
tische Begabung des Autors, daß er erstaun¬
licherweise in allen Zweigen der Kunst, und
in der alleil ebenso wie in der modernen,
Bescheid weiß und immer den richtigen Stand¬
punkt findet. So wird man zu ununter-
brochener Zustimmung genötigt.
Aber freilich fragt man sich auch, für wen
das Buch geschrieben ist. Es wendet sich näm¬
lich, so lehrreich es auch ist, und so viel De¬
finitionen es gibt, im eigentlichen Sinne we¬
niger an die Laien als an die Eingeweihten.
Es verlangt, um leicht und mit Erfolg ge¬
lesen zu werden, zwar nicht Vorkenntnisse,
Wohl aber (was schwerer iviegt) Bekanntschaft
mit dem Besten aus aller Kunst. Noch eines
hindert vielleicht die reine Poplila risierimgs-
absicht: die Wiederholung der gleichen Unter-
suchungSformen in jedem Abschnitt: „Tech¬
nische Grundlagen und Grundbegriffe" und
„Aufgaben und Mittel (z. B.) plastischer Ge¬
staltung". Hätte der Verfasser statt dessen
zunächst allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Kunst
erörtert und etwa die verschiedenen Dar-
stellungsmittel (tektonische, malerische, deko¬
rative, naturalistische, illusionistische usw.) klar
einander gegenübergestellt, so hätte er für die
Einzelkünste nicht nur viele Wiederholungen
gespart, sondern ihre bestimmten Wesensarten
auch viel runder und knapper herausarbeiten
können.
Unter den
Neuerscheinungen auf dein Gebiete der Literatur
über das Lufifahrtwesen gilt die von Joseph
Sticker herausgegebene freie Folge einzelner
Hefte über „Lustfahrt und Wissenschaft" als
eine der vielversprechendsten. Die Schrift-
lcitung setzt sich aus Autoritäten auf den:
Gebiete der Luftfahrt und Wissenschaft zu-
saimneu, so daß die Gewähr dafür gegeben
ist, daß überflüssiges Beiwerk ausgeschaltet
wird. , Was dann noch übrig bleibt, ist so
vielseitig nud zu fruchtbarer Anregung ge¬
eignet, daß es sich seinen Weg durch seine
Bedeutuug bahnt. Nicht besser konnte das
Unternehmen eingeleitet werden als durch
die feingeistiger Untersuchungen Prof. Josef
Köhlers, die einen „Querschnitt" durch die
Rechtsgebiete machen, um überall die Luft-
sahrtsätze darzustellen.
Die Untersuchung geht von den bestehenden
Rechtsgrundsätzen aus und verlangt deren
Ausgestaltung mit einem so warmherzigen
Eintrete» für die Erfordernisse des Luftfahrt¬
wesens, daß es sich verlohnt, einige Stich¬
proben wiederzugeben:
helfen. Ähnlich würde wegen Feuerver¬
sicherung von Luftfahrzeugen und „Häfen" vor¬
zugehen sein. Die Betrachtungen über die frei¬
willige Gerichtsbarkeit (Gewerbe- und Verkehrs¬
polizei) lassen gewisse Übereinstimmungen mit
andern Transportmitteln, aber auch gewisse
Abweichungen erkennen. Der Luftverkehr selbst
bedarf auch des Schutzes, z. B. gegen ober¬
irdische Starkstromleitungen, Luftdrähte von
gefesselten Ballons usw. Für das Strafrecht
wird auf die Analogien im Seerecht hin¬
gewiesen. Die schwierige Frage des Delikts¬
ortes wird geistvoll beleuchtet. Nicht ganz ein¬
verstanden werden die unbemittelten Erfinder
und Konstrukteure mit dein Satze sein: „Wer
Lustfahrzeuge führt, der wird schon die nötigen
internationalen Beziehungen haben, um bei
dem Heimatorte des anderen Fahrzeuges
klagen zu können." Hier erkennt man den
Mangel einer staatlichen Organisation des
Luftfahrtwesens und der staatlichen Interessen¬
vertretung der Luftfahrer. Die Sätze über
das Staats- und Völkerrecht lassen sich
ohne Versündigung an dem Geiste des
Dargebotenen nicht kürzen. Sie lassen aber
erkennen, wie ungemein schwierig es ist, diese
Fragen von der bestehenden Rechtslage aus
zu beurteilen — wenn man nicht der
Entwicklung des neuen Kulturfaktors Zwang
antun will.
Mit so fürsorglichein Herzen hat jedenfalls
wohl noch kein anderer Rechtsgelehrter die
komplizierte Materie gemeistert. So viele
schöpferische Anregungen finden sich selten
auf dreißig Druckseiten vereinigt. Das
deutsche Lustfahrtwesen wird den schuldigen
Dank zollen. Wer der Luftverkehrsfrage so
warmherzig gegenübersteht wie Professor
Kohler, der wird die Bitte nicht verübeln, seine
Abhandlung fortzusetzen und zu untersuchen, ob
man von dem Standpunkte eines neu zu
schaffenden gemeinsamen Lustrechtes der Einzel¬
stanten und von einem Luftvölkerrecht aus
nicht zu Ergebnissen kommen könnte, die dem
Kulturfnktor „Luftfahrt" noch weitschauender
Rechnung tragen würden. Dieses Gebiet
kann nur von einer Persönlichkeit bearbeitet
werden, die sich wie Professor Kohler des
Im Privatrecht spielt der Luftraum über
dem Eigentum an Grund und Boden eine
gewichtige Rolle. Hier wird der Grundsatz
aufgestellt, das; die Benutzung der Luftsäule
um so weniger Interessen des Eigentümers
verletzen wird, je höher der Luftraum vom
Boden entfernt ist. Die Festlegung einer
„horizontalen Grenze in bestimmter Höhe"
wird von der Hand gewiesen, da man noch
nicht wissen kann, Wie sich bei den unbe¬
grenzten Möglichkeiten der Zukunft die Wir¬
kungen von oben nach unten und von unten
nach oben einschätzen lassen. Zum Vergleich
für das Fernwirken in eine andere Luftsäule
werden höchst lehrreich das Jagdrecht und der
freie Durchgang funkentelegrnphischer Wellen
herangezogen. Auch die Bestimmungen ver¬
schiedener Staaten, für die Gerechtsame „Luft-
Kabel" anzulegen, spielen eine Rolle. Die
Frage der möglichen „Belästigung" muß be¬
urteilt werden vom Standpunkte des Kultur¬
bedürfnisses aus, dem die Lustfahrt Rechnung
trägt. Jn> Schuldrecht wird die Schlu߬
folgerung durchsichtig, daß der Führer, mit
der erforderlichen Befehlsbefugnis ausgestattet,
zu den Mitfahrern in eine Art Gesellschafls-
verhältnis tritt. In der Haftpflicht wird auf
die Nechtsähnlichkeit mit dem Seerecht ver¬
wiesen. Ersatz für Schaden durch herbei¬
strömendes Publikum wird abgelehnt. Die
Bildung eines Concerns der Versicherungs¬
anstalten zu obligatorischer Haftpflichtver¬
sicherung soll einer bestehenden Notlage ab¬
Neben den Verhandlungen über die Wehrvorlage haben die Kämpfe der Par¬
teien untereinander und die Stellung des Herrn Reichskanzlers dazu die Auf¬
merksamkeit auf sich gezogen. Die Bemühungen des Kanzlers sind nach wie vor
darauf gerichtet, alle bürgerlichen Parteien miteinander auszusöhnen, um mit ihnen
gemeinsam den „Kampf gegen den Umsturz" aufnehmen zu können, womit
die Bekämpfung der Sozialdemokratie gemeint wird. Daß ein solcher Kampf not¬
wendig ist, zeigen erneut Vorgänge wie die Ablehnung der Wehrvorlagen durch
die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, ebenso wie das Auftreten des Abgeord¬
neten Dr. Liebknecht im Landtage; das Eintreten für die Aufhebung des Jesuiten¬
erlasses müssen wir auch hierher rechnen, weil es allein durch den Wunsch gerecht¬
fertigt erscheint, dem Bestände des Vaterlandes zu schaden. Nur darüber gehen
die Ansichten auseinander, wo der Kampf anzusetzen hätte. Unsere Konservativen
wollen mit Ausnahmegesetzen und Verstärkung der Polizeigewalt vorgehen; die
Liberalen, denen es auf eine reine Machtpolitik nicht ankommt, erstreben die
Beseitigung der Ursachen, die so viele deutsche Staatsbürger in die Arme der
sozialdemokratischen Partei getrieben haben; sie erhoffen davon auch rückwirkend
eine innere Umwandlung dieser Partei.
Die Sozialdemokraten sind sich wohl bewußt, daß sie den Einfluß
auf die Massen, insbesondere auf die unreife Jugend, nur solange behalten, als
sie absolute Oppositionspartei bleiben. In den Köpfen der Verständigeren
unter ihnen hat es längst gedämmert, daß ein Gebilde wie der preußische Staat
nicht wie ein Kartenhaus umzublasen ist. Dieser in Jahrhunderten erstarkte
Organismus, der den siebenjährigen Krieg und das napoleonische Unwetter ver¬
tragen, der die Vormacht im Deutschen Bunde und dann im Deutschen Reiche
werden konnte, ist unzerstörbar, solange er sich nicht selbst zerstört. Darauf aber
zielen die Führer des Radikalismus innerhalb der Sozialdemokratie hin. Ihr
Verhalten hat keinen anderen Zweck, als die Gegner von rechts zu reizen und zu
Unvorsichtigkeiten zu veranlassen. Darum ist es doppelt zu bedauern, wenn ihnen diese
ihre Absicht gelingt und, in Wechselwirkung mit dem Treiben der Sozialdemokraten,
die bürgerlichen Kreise und die Regierung von Maßnahmen abgehalten werden,
die den sozialdemokratischen Lehren den Boden im Volke entziehen könnten. So¬
lange die Ansichten über die Mittel zur Bekämpfung der Sozialdemokratie noch
so weit auseinandergehen, ist naturgemäß auf eine Verständigung zwischen Kon¬
servativen und Liberalen nicht zu hoffen.
Was wir selbst als die besten Mittel zur Bekämpfung der Sozial¬
demokratie anerkennen, ist den Lesern der Grenzboten bekannt aus den vielen
Aufsätzen, die während der letzten zwei Jahre in diesen Heften über das Thema
veröffentlicht wurden. Die Möglichkeit der Beeinflussung der bereits sozial-
demokratisch organisierten Arbeiter müssen wir außer acht lassen! Die in dieser
Richtung unternommenen Versuche des Reichsverbandcs zur Bekämpfung der
Sozialdemokratie haben eher zur Stärkung der Partei als zu deren Schwächung
geführt. Wichtig ist dagegen, der Autorität der sozialdemokratischen Gewerkschafts¬
organisation die Autorität des Staates entgegenzusetzen durch eine entsprechende
Handhabung der Gesetze: die Masse geht immer dorthin, wo sie neben der
Gerechtigkeit auch die größere Macht fühlt. Der Ausgang des letzten Kohlen-
gräberstreiks hat das wieder deutlich bewiesen: ohne Ausnahmegesetze war es
möglich, die Arbeitswilligen gegen den Terror der Streitenden zu schützen, lediglich
durch energische und schnelle Anwendung der bestehenden Landesgesetze und Vor¬
schriften. Der Staat hat sich als eine gerechte Macht crwiesenl Die Arbeiter, die
angesichts solcher Beweise der Lebensfähigkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung
dennoch hinter Herrn Bebel und Rosa Luxemburg herlaufen, sind für uns ver¬
loren. Darum sollte man sich auch nicht um ihre „Seelen" bemühen. Anders
aber steht es mit den Kindern dieser Leute. Ihnen hat unsere ganze Aufmerk¬
samkeit zu gehören, da auf ihnen die Zukunft unseres Volkes und unserer Kultur
mit beruht. Was in dieser Richtung zu tu» ist, haben die Pastoren Claaßen in
Hamburg und Jlgenstein in Berlin und noch manch ein geistlicher Herr positiver
und liberaler Richtung erkannt, und Claaßen hat es in Heft 1,eingehend aus¬
einandergesetzt! indem wir die Arbeiterjugend gewinnen, nagen wir an der Macht
der sozialdemokratischen Partei, -— sie völlig unschädlich für das Staatswesen zu
machen, müssen weitere politische und wirtschaftliche Faktoren herangezogen werden.
Von beiden ist während der abgelaufenen Woche zwischen Negierung und Par¬
lament gesprochen worden.
Gelegentlich des Etats des Ministers des Innern im preußischen Landtage
wurde während der Debatte auch die Wahlrechtsreform in Preußen gestreift.
Im Hinblick auf die Möglichkeit der Vertagung des Landtages schon vor Pfingsten
hat der Abgeordnete Geheimer Regierungsrat Dr. Friedberg die Frage angeschnitten
mit dem Hinweis, daß sie noch einmal im Anschluß an entsprechende national¬
liberale Anträge behandelt werden würde. Herr Friedberg hat erneut nachgewiesen,
daß die schleunige Aufnahme der Wahlrechtsreform in Preußen eine Lebensfrage
für das Reich ist, notwendig nicht so sehr zur Erweiterung der Rechte der Massen
auf Kosten der Besitzenden, als zum Schutz von Bildung und Besitz gegen die
heranflutenden Massen. Darum will er, und mit ihm die preußische Landtags¬
fraktion der uationalliberalen Partei, auch von der Übertragung des Reichstag?-
wcchlrechts ans Preußen nichts wissen, das wohl ausschließlich der Masse und
damit der Sozialdemokratie und dem Ultramontanismus den Weg in den Landtag
chüele. Friedberg fordert ein abgestuftes Wahlrecht, das die Bildung genügend
berücksichtigt, und zum Schutz der Wähler vor dem Terror der Sozialdemokratie
direkte und geheime Stimmabgabe. Bei der Erörterung dieser Frage können
wir nicht umhin, erneut auf einen national-wirtschaftlichen Faktor hinzuweisen:
auf die Stellung des in Preußen regierenden Großgrundbesitzes in der Siedlungs¬
frage alas Ostmarkenfrage. Der Kern der Sache ist folgender: dank der Wirtschafts¬
und Zollgesetzgebung, dank der Energie, die die Feldarbeiterzentrale bei der Beschaffung
billiger polnischer Arbeiter entwickelt, dank dem Vordringen der Maschine rentiert sich
gegenwärtig auch in der Landwirtschaft am besten der ganz große Betrieb. Die
Folge davon ist, daß überall dort, wo mobiles Kapital aufs Land geflossen ist,
dieses benutzt wurde zur Ausdehnung der Grenzen großer Gütrr auf Kosten der
kleinen, besonders bäuerlicher Besitzungen. Dein einzelnen Großgrundbesitzer ist
natürlich ein Vorwurf daraus nicht zu machen, wenn er seinen Betrieb immer
wirtschaftlicher zu gestalten sucht, selbst wenn er dazu seine Nachbarn aufkauft.
Den nationalen Politiker aber läßt dieser Umstand zu der Erkenntnis kommen,
daß eine solche Entwicklung einer erfolgreicheren Lösung der Ostmarkenfrage
hindernd im Wege steht.
In unserer Auffassung kann uns auch die Denkschrift des Landwirtschafts¬
ministers über die Ausführung des Ansiedlungsgesetzes, können uns auch die
Ausführungen des Freiherrn von Schorlemer in der Budgetkommission nicht
erschüttern. Was über die Tätigkeit der Ansiedlungskommission gesagt wird,
erweckt den Eindruck, als wolle man die öffentliche Meinung beruhige» und ein¬
schläfern. Solange die Ansiedlungskommission nur etwa <!0()0 Hektar Land kauft
bei einem Angebot von mehr als Hektar, solange die Kommission ihren
Betrieb von Monat zu Monat durch Beamtenentlassungen einschränkt, solange
muß damit gerechnet werden, daß die Regierung dieses Knlturunternehmen all¬
mählich einschlafen lassen will oder muß. Sachliche Gründe für die Einschränkung
bestehen aber nicht, sondern ausschließlich politische, und zwar innerpolitische.
Wenn hier und da in der Presse behauptet worden ist, daß die Regierung Ruck
sichten auf die österreichischen Polen zu nehmen habe, so müssen solche Auffassungen
mit der größten Vorsicht aufgenommen werden, denn derlei Nachrichten stehen
häufig der Zentrale des Bundes der Landwirte nicht fern.
In Ostpreußen hat das Bauernlegen bereits einen solchen Umfang an¬
genommen, daß es dort gegenwärtig weniger Höfe gibt als vor der Stein
Hardenbergscheu Reform, also weniger als vor hundert Jahren! An die Stelle
der deutschen Bauern aber sind tausende von polnischen Arbeitern getreten, die
nicht nur die Beamten des Gutes zwingen, die polnische Sprache zu beherrschen,
sondern auch die Gutsherrschaft selber. (Wir haben sogar seit fünf Jahren in
Ostpreußen eine Polenfrage, wie Staatsanwalt Baumgarten in Heft 14 Seite 1!»
der Grenzboten nachgewiesen hat.) Und trotz diesen augenscheinlichen Ge-
fahren bringt die Negierung Wohl ein Gesetz ein, das der Güterzertrümmerung
Einhalt tun soll, — nicht aber ein solches gegen das Bauernlegen; im übrigen
findet sie sich mit Maßnahmen zur Befestigung des bäuerlichen Besitzes ab. Nun
soll selbstverständlich kein Wort gegen die Befestigung deS bäuerlichen Besitzes
gesprochen werden; sie ist die Voraussetzung für eine spätere gesunde Entwicklung
unserer Landbevölkerung. Aber sie genügt nicht, um die Schäden auszugleichen,
die eine ungesunde Ausbreitung des Großgrundbesitzes mit sich bringen muß. Mit
rein passivem Verhalten wirtschaftlichen Entwicklungstendenzen gegenüber kommen
wir nicht zur Rückeroberung der Ostmark, und das Grundwasser der polnischen
Volksvermehrung spült uns in hundert Jahren die deutsche Kultur davon, sofern
es nicht gelingen sollte, noch rechtzeitig dein Bauernlegen eiuen Riegel vorzuschieben.
Damit aber kommen wir wieder auf das preußische Wahlrecht zurück. Denn
von der Zusammensetzung des Landtages hängt es ab, ob es jemals gelingen
wird, ein Gesetz durchzubringen, das geeignet wäre, die Ausdehnung des Gro߬
grundbesitzes zu regeln. Es ist zwar dem Fürsten Bülolv gelungen, im Jahre 1W8
das Enteignuugsgesetz durchzubringen, es anzuwenden haben weder er noch sein
Nachfolger vermocht; und Herrn von Schorlemers Versprechen, es im gegebenen
Falle anwenden zu wollen, bedeutet noch nicht, daß der Fall eintreten muß. In
der Ostmark kann der nationale Gedanke erst zu seinem Rechte kommen, wenn
im preußischen Landtage ein anderer Geist herrscht als heute. Und um diesen
Wechsel zu erreichen, bedürfen wir der Wahlrechtsänderung in dein Sinne, wie
Friedberg sie skizziert hat.
Auch im Reichstage haben Erörterungen stattgefunden, deren Inhalt über
das Tagesinteresse hinausreicht. Die Jnterpellation wegen des bayerischen
Jesuilenerlasses hat den Herrn Reichskanzler zu einer Erklärung veranlaßt,
die ihm die Zustimmung des ganzen Hauses eintrug: er habe beim Bundesrat
eine für das ganze Reich gültige Interpretation des Jesuitengesetzes veranlaßt.
Man könnte nunmehr über den Anlaß zur Jnterpellation zur Tagesordnung über¬
gehen, wenn nicht gewisse Anzeichen auf größere Meinungsverschiedenheiten und
Kämpfe hindeuteten. Es hat den Anschein, als werde Bayern versuchen, im
Bundesrate seine neueste Auffassung des Jesuitengesetzes zur Geltung zu bringen,
und als ob das Zentrum die Angelegenheit zu einem Handelsgeschäft ausnutzen
wird. Noch scheint der Herr Reichskanzler unerschütterlich. Das geht aus dem
augenscheinlichen Widerspruch seiner Ausführungen mit denen des bayerischen
Bevollmächtigten, des Herrn von Lerchenfeld, hervor. Ob er und damit die preußischen
Bundesratsstimmen aber fest bleiben, muß abgewartet werden.
Durch einen Zufall, den der Herr Kriegsminister verschuldete, wurde in der
abgelaufenen Woche eine Frage stärker ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, als die
Beteiligten wohl selbst wünschen mochten: die Duellfrage. Der Herr Kriegs¬
minister hat auf eine Beschwerde des Abgeordneten Erzberger hin in seiner ehrlich-
schroffen Weise den Standpunkt der Armee in der Duellfrage zum Ausdruck gebracht,
wie er ist: ein Mann, der seine Ehre nicht mit der Waffe in der Hand zu ver¬
teidigen bereit ist, hat keinen Raum im dentschen Offizierkorps. Der Herr Kriegs¬
minister hat damit nichts gesagt, was nicht jedermann schon längst wüßte. Dennoch
hat sein Freimut viele, insbesondere die Zentrumskatholiken, verletzt. Herr spähn
hat auch Veranlassung genommen, sehr energisch gegen den Kriegsminister Stellung
zu nehmen und ihm die Freundschaft aufzukündigen. Die Drohung, diesem
Kriegsminister keine Wehrvorlage bewilligen zu wollen, dürfte freilich nicht aus-
geführt werden, wohl aber wird es zweifellos in der Kommission noch ein Nach-
spiel geben. Doch nicht von der Zentrumsmacht soll hier die Rede sein, sie ist
dank Herrn von Bethmanns Staatskunst bis auf weiteres stabiliere; der Fall, um
den es sich im Reichstage handelte, beansprucht als solcher unser Interesse.
Ein Arzt, Oberarzt der Landwehr, weigerte sich, einen Kollegen, der
seine Ehre in einem Briefe angegriffen hatte, zu fordern, und zwar „aus Rücksicht
auf die göttlichen Gebote, die menschlichen Gesetze, die logische Vernunftlehre und
auf seine Familie". Das zuständige militärische Ehrengericht verurteilte den
Oberarzt zu schlichtem Abschied, obwohl das Standesgericht der Ärzte sowohl wie
danach das ordentliche Gericht seinen Gegner wegen Beleidigung bestraft hatten.
Der König hat dann das Urteil des Ehrengerichts aufgehoben, aber den Oberarzt
aufgefordert, unverzüglich seinen Abschied ans dem Heere einzureichen.
Der Fall stellt uns erneut vor die Frage einmal, ob Duelle überhaupt
berechtigt sind und dann, ob der Wirkungskreis der Militärehrengerichte den
ihnen gestellten Aufgaben noch entspricht.
Ich kann mir Fälle denken, in denen die Sühne, die ein Richterspruch
bringen könnte, mir nicht genügen würde. Der zum Totschlag Gezwungene
setzt sein Leben aufs Spiel und ist bereit, seine Handlung selbst durch den Tod
zu büßen. Hierin liegt, solange das Duell nicht, wie z. B. in Frankreich, zum
Kinderspiel ausartet, ein ungeheuer wichtiges moralisches Moment. Wogegen
ich aber protestiere, das ist, daß mir dritte Menschen sollen vorschreiben können:
in dieser bestimmten Kategorie von Fällen mußt du unbedingt zur Waffe greifen,
"b dein gesunder Menschenverstand die Notwendigkeit dafür anerkennt oder nicht.
Diese Praxis des militärischen Ehrengerichts führt dazu, daß jeder Offizier
oder jeder im Offiziersrang stehende Arzt oder Beamter wehrlos der Anrempelung
eines jeden Raufboldes ausgesetzt ist, der nichts zu verlieren hat.
Es mag notwendig sein, für den aktiven Offizier den Kreis weiter zu ziehen,
in dem er zum Duell schreiten muß, als für andere Sterbliche. Der aktive
Offizier nimmt bei uns eine so exponierte gesellschaftliche Stellung ein wie kein
anderer Stand. Außerdem verkörpert seine Uniform ein Symbol, das wir uns
gerne rein erhalten wollen; er trägt den Rock des Königs; ein Angriff auf den
Offizier ist gleichbedeutend mit einer Beleidigung des obersten.Kriegsherrn; der
einzelne Offizier ist gleichzeitig Träger der Kollektivehre seines Standes, für die
^' sein Leben einzusetzen bereit sein muß. Jederzeit! Wir wünschen daran nichts
Su ändern. Denn das schöne Band der Kameradschaft, das unser Offizierkorps
umschließt, ist wohl wert, daß der einzelne dafür sein Leben wage. Die Not¬
wendigkeit für den Offizier, zur Waffe zu greifen, ist anerkanntermaßen auch
größer, weil die Strafen, die für persönliche Beleidigungen durch das Gesetz
vorgeschrieben werden, bei weitem nicht als ausreichende Sühne anzuerkennen sind.
Wesentlich anders liegen aber die Dinge, wo es sich um Reserveosfiziere und
ausgeschiedene Offiziere handelt. Die ehrengerichtlichen Bestimmungen, die dem
aktiven Offizier einen gewissen Schutz gewähren, stellen sich für den Reserveoffizier
als eine Quelle zahlreicher Unannehmlichkeiten, ja Gefahren heraus. Die Urteile
der Ehrengerichte für Reserveoffiziere fallen meist strenger aus als die für die
aktiven Offiziere; was aber die Hauptsache ist: sie haben Dinge zu berücksichtigen,
die mit der Zugehörigkeit zum Offizierstande nichts zu tun haben.
Die Praxis verschiedener Ehrengerichte hat dazu geführt, daß die Abhängig¬
keit von ihnen für Persönlichkeiten, die im öffentlichen oder privaten gewerblichen
Leben stehen, geradezu eine Ursache von Erpressungen ist oder wenigstens
Pressionen der übelsten Art zur Folge hat. Es wäre sehr lehrreich und nicht
ohne Bedeutung für die Beurteilung der einschlägigen Gesetzgebungen, wollte das
Kriegsministerium eine Umfrage darüber veranstalten, in welcher Weise die
Denunziationen von Gewerbetreibende», die Reserveoffiziere sind, wegen angeblicher
in Ausübung ihres Gewerbes begangener Gemeinheiten zugenommen haben. Es
sei erinnert an politische Ausnutzung der Zugehörigkeit zum Offizierkorps. Es sind
mir eine ganze Reihe von Fällen bekannt, wo Kaufleute, die ihrem Konkurrenten
schaden wollten, sich nicht gescheut haben, diesen Konkurrenten alle Unannehmlich¬
keiten eines ehrengerichtlichen Verfahrens auszusetzen, und ich weiß von dein Direktor
eines internationalen Syndikats, daß er neben seiner aufreibenden wirtschaftlichen
Betätigung noch durch fast fünf Jahre hindurch sich vor dem Ehrengericht zu
bereinigen hatte, weil ihn ein wirtschaftlicher Gegner entsprechend denunziert hatte.
Das Ehrengericht wird aber auch ausgenutzt, um Firmen zur Preisgabe
von Geschäftsgeheimnissen zu zwingen. So schwebt augenblicklich ein Fall,
in dem die ordentlichen Gerichte gewisse Beweiserhebungen als unerheblich
für die Sache zurückwiesen. Würden diese unerheblichen Beweise erhoben
werden, so müßte einer der Prozeßbeteiligten Auskünfte über schwebende
Verhandlungen geben, die es der gleichfalls am Prozeß beteiligten Konkurrenz
ermöglichten, die betreffende Firma vollständig lahmzulegen. Der Prozeß,
so darf man sagen, ist eigentlich nur angestrengt worden, um dies zu erreichen.
Um dennoch zu ihrem Ziele zu kommen, haben die Kläger eines der Mitglieder
der Konkurrenz, das Reserveoffizier ist, mit eurem ehrengerichtlichen Verfahren
beglückt, und der Mann, dem als Staatsbürger gewisse Aussagen erspart sind,
kann nun durch das Ehrengericht gezwungen werden, die der Konkurrenz interessanten
Aussagen zu machen, weil sie notwendig sind, um ihn als Offizier vollständig
makellos erscheinen zu lassen.
Die Andeutungen zeigen, daß die Bestimmungen des Ehrengerichts, wie sie
heute sind, nicht nur eine Gefahr darstellen für die persönliche Sicherheit des
Staatsbürgers, sondern sich auch zu einer Gefahr für die ruhige Entwicklung des
Konkurrenzkampfes im gewerblichen Leben auswachsen können. Die Besel mmungen des
Ehrengerichts stellen in ihrem weiten Wirkungskreise zweifellos einen Durchbruch
der ordentlichen Gerichtsbarkeit dar, und das so geschaffene Loch wird immer von
gewiegten und rücksichtslosen Menschen dazu genutzt werden, um alle vom Gesetz¬
geber geschaffenen Rechtssicherungen illusorisch zu machen.
Soweit die allgemein bedeutsamen Gründe, die zur Revision der Bestimmungen
über den Ehrenrat zwingen! Ganz besonders werden von ihnen aber die ehemaligen
Offiziere betroffen. Ich empfehle meinen Lesern den Artikel wieder aufzusuchen,
den Major Freiherr von Buttlar über die Offiziersehrengerichte in Heft 40 der Grenz
boten von 1911 geschrieben hat. Dieser Edelmann und Offizier erkennt darin
rückhaltlos an, daß den Offizieren a. D. ihr Fortkommen erheblich erschwert wird,
und er stellt fest, daß eine ganze Reihe von Offizieren, die gern des Königs Rock
getragen haben und die begeistert für ihren König und für das Vaterland ihr
Leben in die Schanze warfen, mit Rücksicht auf ihr Fortkommen eher auf die Zu-
geHörigkeit zur Armee verzichten, als sich den Unannehmlichkeiten auszusetzen, die
stets durch die Verbindung mit dem Ehrenrat drohen.
Es kann an dieser Stelle nicht in eine gründliche sachliche Auseinandersetzung
der ganzen damit zusammenhängenden Fragen eingetreten werden. Aber wer die
Verhältnisse bei der Armee, insbesondere bei den Offizieren, kennt, und wer auch
sonst einen offenen Blick für den Kampf ums Dasein bewahrt hat, der wird zugeben,
daß hier ein Schaden liegt, der ausgebrannt werden muß, auch im Interesse der
Armee selbst. Ein Gericht, daß verhältnismäßig leicht mißbraucht werden kann,
Der Reichstag hat die Wehrvorlagen in viertägiger Redeschlacht einer all¬
gemeinen Erörterung unterzogen und sie sodann der Budgetkommission überwiesen.
Vieles was in der Generaldebatte nur gestreift oder angedeutet werden konnte,
wird dort den Gegenstand eingehenderer Unterhaltung bilden. Zunächst über die
Gründe der Einbringung der Vorlagen, obgleich es nicht schwer hält, sie auch
ohne Einblick in die Akten der beteiligten Ämter zu erkennen. Der Abgeordnete
Bassermann hat sie zutreffend mit den Worten charakterisiert: der Ausgangspunkt
für die Verstärkung der Flotte und des Heeres liegt in den Marokkowirren.
Auch Herr Erzberger begann seine Rede mit diesem Hinweis und meinte, der
Kern der Vorlagen scheine zu sein, daß Deutschland — das „Revanche für Agadir"
zu nehmen nicht nötig hat, weil es ja dort nicht unterlegen ist — den seinem
Aufblühen neidisch oder feindselig gegenüberstehenden Mächten den Beweis liefern
wolle, wie irrig die Annahme eines Erschöpfungszustandes des Reiches in bezug
auf seine militärischen und finanziellen Leistungen sei. Die Friedensliebe des
deutschen Volkes und seiner Staatsleitung ist sowohl vom Regierungstisch wie
aus dem Hause mehrfach betont worden; zugleich aber hat sich, natürlich mit
Ausnahme der Sozialdemokraten, eine einhellige Anerkennung der Notwendigkeit
der Wahrung sofortiger Kriegsbereitschaft ergeben, ohne die, wie sich Müller-
Meiningen ausdrückte, unser gewaltiges Instrument zu Wasser und zu Lande nur
ein Messer ohne Klinge ist.
An den Kosten gemessen, verteilen sich die Anforderungen mit einem Drittel
auf die Marine, mit zwei Dritteln auf das Heer. Dieses Verhältnis spiegelt
ungefähr die Bedeutung wieder, die beiden Teile unserer Wehrmacht für die
Sicherung des Reiches zukommt. Aber auch nach ihrer inneren Wertung ist die
Heeresvorlage weitaus die bedeutungsvollere. Denn sie schließt Lücken in der
Friedensorganisation, die sich bisher recht unangenehm bei der Kriegsvorsorge
geltend gemacht haben. Lückenlos bleibt der Aufbau des Heeres zwar auch jetzt
noch nicht. Aber immerhin bedeutet die gegenwärtige Vorlage einen erheblichen
Fortschritt, eine namhafte Stärkung.
Durch die Errichtung einer siebenten Armeeinspektion wird der Mißstand
vermieden, im Kriegsfalle einen kommandierender General gerade in der wichtigsten
Stunde von seinem Korps entfernen zu müssen; zugleich bietet die Schaffung
dieser neuen Stelle die Möglichkeit, einen bewährten und für große strategische
Aufgaben als befähigt erachteten Truppenführer noch auf längere Frist dein
Heeresdienste erhalten und trotzdem in der Neubesetzung der Korps den bisher
als zweckmäßig erkannten Grundsätzen folgen zu können. Auch die Schaffung
von zwei neuen Korps dient in erster Linie der Verbesserung der Kriegsbereitschaft.
Je weniger Neuschöpfungen zum Mobilmachungstermin hinausgeschoben werden,
je mehr Stäbe und Katers schon in Friedenszeiten organisatorisch vorbereitet sind,
desto leichter und reibungsloser vollzieht sich der Übergang vom Friedens- zum
Kriegszustand. Dieser einfachen Erwägung danken die angeforderten Stellen
Weiterer Stabsoffiziere und Hauptleute bei den Stäben der Infanterie- und
Feldartillerieregimenter ihre Entstehung, wie ja auch die bereits bestehenden Oberst¬
leutnants- und Hauptmannsstellen bei jenen Stäben die Bestimmung haben, im
Kriegsfalle zur Besetzung der Regiments- und Bataillonskominandeurposten bei
den Reservefvrinationen der Infanterie, der Munitionskolonnen- und Reserve¬
formationsführer bei der Feldartillerie zu dienen. Nicht mit Unrecht hat man
darauf hingewiesen, wie intensiv Frankreich durch seine Kadergesetze diesem
Gedanken Rechnung trägt. Auch unser Bundesgenosse Österreich-Ungarn hat in
dieser Beziehung einen Vorsprung voraus. Dort ist sogar jedem Korpskvmmando
ein Feldmarschalleutnant oder älterer Generalmajor zugeteilt, der im Frieden
ohne Kommando, in: Mobilmachungsfall sofort bereit ist, an die Spitze eines
neuformierten größeren Truppenverbandes zu treten oder eine der zahlreichen
wichtigen höheren Kommcmdostellen auf den rückwärtigen Linien der Armee zu
besetzen. Die Infanterieregimente haben alle mindestens die doppelte Anzahl
Stabsoffiziere, als durch die Führung von Bataillonen bedingt ist, und außerdem
befinden sich Hauptleute bei den Stäben der Infanterie- und Jägerbataillone.
Das ist ein sehr wertvoller Behelf für den Übergang zur Kriegseinteilung und
wegen der schwachen Friedensstämme der Österreicher besonders wichtig, weil auf
diese Weise zahlreiche künftige Führer an die Spitze der minimal aus aktiven
Mannschaften bestehenden Verbände treten können.
Zu der Frage der Kaderoffizierstellen sei übrigens erwähnt — was bei der
Beurteilung ihrer weiteren Einführung bei uns vielleicht nicht ganz unbeachtet
bleiben sollte —, daß sich in Frankreich neuerdings Stimmen erheben, die dem
dortigen umfangreichen, besonders von Messimy propagierten Kadersystem den
Vorwurf machen, es würden dadurch zu viele Offiziere ohne eigentliche militärische
Tätigkeit gelassen. Daß unsere Oberstleutnants bei den Infanterieregimenten
ihre Stellung nicht gerade als eine befriedigende und beruflich erfreuliche ansehen,
ist bekannt. Die Hauptleute beim Stäbe sind insofern besser daran, als sie nach
mehr als zehnjähriger, oftmals sogar zwölfjähriger Kompagniechefzeit froh sind,
endlich mal eine Abwechslung in ihrer Tätigkeit zu finden. Bei dieser Gelegenheit
sei der Erwägung anheimgegeben, ob man nicht mittels der H'auptleute beim
Stäbe eine Erleichterung für die Kompagniechefs schaffen könnte, indem man nach
3—4 Jahren eine mindestens einjährige Entlastung von dieser Tätigkeit durch
Einspringen eines Stabshauptmanns herbeiführt. Denn Kommandos lassen sich
eben unmöglich für alle Hauptleute ermöglichen. Eine zehn- oder zwölfjährige
ununterbrochene Kompagniechefzeit aber wird bei den heutigen hochgesteigerten
Anforderungen auch der stärksten Nerven Herr.
Zu den nicht erfüllten Wünschen militärischer Fachkreise zählen die Kavallerie¬
divisionen sowie die diesen zuzuteilenden Pionier- und Radfahrerabteilungen.
Zum mindesten die vier Kavallerieinspektionen als volle Kommandobehörden aus¬
zugestalten dürfte doch sehr erwägenswert sein. Diese Verbände müssen schon
in einem nach Stunden zu berechnenden Zeitraum uach Ausspruch des Mobil¬
machungsbefehls aktionsbereit sein. Wenn aber der künftige Divisionsstab im
Frieden gar keinen Generalftabsofsizier, die Division keinerlei organisierte technische
Truppe besitzt, dann haftet dein Ganzen doch ein recht bedenklicher Grad von
Improvisation an, und das könnte ohne erhebliche Mehrkosten leicht vermieden
werden. Improvisationen im Kriegsfall sollten bei den Truppen der ersten Linie
überhaupt nicht mehr stattfinden müssen, denn diese haben in den ersten Tagen
des Krieges die großen Entscheidungskampfe an der Grenze zu schlagen, von deren
Erfolg unter Umständen alles abhängt. Schon aus politischen Gründen, mit
Rücksicht auf Bundesgenossen und Neutrale, wird in jener ersten wichtigsten Periode
eines künftigen Krieges jede Partei die äußersten Anstrengungen machen, den Sieg
an ihre Fahnen zu fesseln. Darum müssen wir den dort zur Verwendung
bestimmten Truppen ein ganz besonderes Augenmerk zuwenden.
Strategisch wird die neue Heeresgliederung sehr günstig wirken. An der
Ost- und Westgrenze stehen künftig je fünf Armeekorps, je eins deckt die Küste
und die Grenze gegen Holland. Von diesen zwölf Korps sind einzelne mit über¬
zähligen Jnfanteriebrigaden ausgestattet; ihnen wird wohl auch die geplante Etats¬
erhöhung in erster Linie zufließen, durch die gleichzeitig eine stärkere Ausnützung
unseres großen Menschenreservoirs stattfindet. Zu der auch im Reichstag wieder
geforderten „rücksichtslosen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht" hat die
Militärverwaltung nicht die Hand geboten. Die Präsenzstärke des Heeres erhöht sich
nur um 29000 Mann, wovon etwa zwei Fünftel auf Neubildungen, drei Fünftel auf
Etatserhöhungen bei schon vorhandenen Einheiten entfallen. Frankreich nimmt aller¬
dings einen weit größeren Prozentsatz seiner Bevölkerung für die Wehrleistung in
Anspruch als Deutschland. Das geschieht aber nur aus dem Grunde, weil dort die
starke Bevölkerungszunahme fehlt, die bei uns Jahr für Jahr die Zahl der Wehr-
Pflichtigen erhöht. Eine stärkere Ausnutzung dieses Reservoirs könnte aus volks¬
wirtschaftlichen Erwägungen befürwortet werden. Denn es liegt zweifellos eine
ungleichmäßige Verteilung der Lasten vor, wenn ältere Jahrgänge im Kriegsfalle
als Reservisten und Landwehrleute ins Feld ziehen müssen, während junge Wehr-
Pflichtige trotz völliger Tauglichkeit zunächst in der Heimat verbleiben. Dabei ist
aber „zunächst" zu betonen. Denn diese Pflichtigen müssen bei einer Mobilmachung
sämtlich einrücken und werden militärischer Ausbildung unterworfen, um zur
Bildung von Heereskörpern und Truppenverbänden zweiter Linie Verwendung zu
finden. Wird der Krieg durch die großen Maffenentscheidungen im Grenzgebiet
noch nicht beendet, dann treten jene Ersatzkräfte in Tätigkeit und es wird ein
völliger Ausgleich für alle Jahrgänge getroffen. Im Frieden könnte man einen
solchen vielleicht durch eine Erhöhung der Anforderungen an die geistige und
körperliche Tauglichkeit schaffen. Namentlich wäre es auch vom militärischen
Standpunkt zu wünschen, wenn geistig, zurückgebliebene und ethisch minderwertige
Leute nicht eingestellt würden. Denn beide Kategorien bilden eine große Erschwernis
der Ausbildung; für die Erziehung ist bei ihnen ebenfalls in den meisten Fällen
nicht viel zu wollen.
Vom militärisch eil Standpunkt kann gegen die raZe av nombre nicht ernstlich
genug Front gemacht werden. Es genügt nicht, die Wehrpflichtigen einzureihen.
Die Hauptsache ist ihre Ausbildung, Entweder müßte man die jetzigen Verbände
aus Stämmen zu Vollkörpern machen, oder es wären neue Truppenteile zu bilden.
Der erstere Modus böte deu Vorteil, im Frieden dauernd mit kriegsstarken Ver¬
bänden arbeiten zu können. Das wäre sehr schön, ohne Vermehrung der Dienst¬
grade aber undurchführbar. Und die zweite Möglichkeit beruht gleichfalls auf der
Voraussetzung vermehrten Ausbildungspersonals. Als solches kommen aber vor¬
wiegend nur untere Grade in Betracht. Nun ist im Reichstag mehrfach darauf
hingewiesen worden, wie bedenklich die jetzt drohende, teilweise schon vorhandene
Überalterung des Offizierkorps ist. Sie trifft vor allem die Grade vom Leutnant
bis zum Major, lind sie macht sich bei denen an: stärksten geltend, die am
meisten mit der Ausbildung und Erziehung des Mannes befaßt sind: den ständig
im Frontdienst stehenden Offizieren. Für sie ist jetzt schon die Aussicht, den
Regimentskommandeur zu erreichen, äußerst beschränkt. Je mehr untere Stellen
geschaffen werden, desto mehr steigert sich dieses Übel. Es besteht bei allen
Waffen, am stärksten natürlich bei der Infanterie, weil hier das Verhältnis der
unteren zu den oberen Stellen am ungünstigsten ist. Etatserhöhuugeu erfordern
einen wesentlich geringeren Kostenaufwand als Neuformationcn. Denn bei ersteren
kommt nur das Friedensbudget in Frage. Bei den letzteren aber enthält dieses
auch bereits einen Teil des Kriegsbudgets, nämlich den Aufwand für die Kriegs¬
vorsorge in sachlicher Beziehung. Überdies bedingen sie auch die Schaffung
höherer Kommandobehörden, vermehrte Bauten und Übungsplätze usw., steigern also
auch das Friedensbudget mehr als bloße Etatserhöhungen. Solche werden künftig
wohl nicht ausbleiben. Denn um die Maschinengewehrkompagnien zu gewinnen,
entzieht man auch diesmal den einzelnen Kompagnien Kräfte. Sie im Laufe der
Zeit wieder zu ersetzen, ist im Interesse der Ausbildung geboten.
Das gilt nicht nur vom Mannschaftsetat, sondern auch vom Pferdeetat.
Die Feldartillerie ist in ihren Hoffnungen auf vermehrte Bespannung enttäuscht
worden. Nur bei 111 Batterien (Preußen 84, Bayern 18, Sachsen 0, Württem¬
berg 3) findet eine Etatserhöhung an Mannschaften und Pferden statt. Der
Mangel an Bespannung macht sich bei der Friedensausbildung sehr störend
fühlbar, zumal jetzt auch Beobachtungswagen eingeführt sind. Frankreich ist uns
in dieser Beziehung voraus und es läßt sich in Wehrangelegenheiten nicht ver¬
meiden, das Maß der eigenen Leistung auch uach jener des voraussichtlichen oder
möglichen Kriegsgegners zu bestimmen. Die deutsche Feldartillerie zählt mehr
Geschütze als Frankreich (nach Veltzs 4968: ca. 33M) und in der Kriegsformation
auch mehr Batterien (nach Veltze 828:823); im Frieden allerdings besitzt die
französische Feldartillerie weit mehr Untereinheiten (nach Veltzö ist das Verhältnis
von Deutschland zu Frankreich nach dem bisherigen Stande 583:704), letztere
einschließlich 21 Rimailho°Batterien (155 Millimeter Haubitze Nimailho). Nicht
nur die Bespannung, sondern auch die Munitionsausrüstung ist in Frankreich
günstiger als bei uns gestaltet. Die französischen Geschütze können eine größere
Schußzahl abgeben als die deutschen. Hier liegt also, wie auch in den noch
nicht auf drei Bataillonen ergänzten Infanterieregimenten: und in den am Kriegs
sollstande fehlenden Pionierbataillonen des Friedensetats bereits der Keim zu
künftigen Wehrforderungen. Daß solche unvermeidlich sind, ist auch im Reichs¬
tage ausgesprochen worden. Die Regierung hat sich auf das uach sachlichen
Ermessen Notwendigste beschränkt und das Nützliche einstweilen der Zukunft über¬
lassen. Nach dem bisherigen Gange der Verhandlungen ist wohl anzunehmen,
daß die militärischen Vorlagen ziemlich unverändert zur Annahme gelangen
werden. Fraglich ist dies bezüglich der Deckungsvorlage, und deshalb kann es
nur als richtig bezeichnet werden, daß die jetzt getrennt vorliegenden Vorschlüge
nicht mit einem Mantelgesetz zu gemeinsamem Schicksal verbunden wurden.
Die Deckungsfrage ist auch militärpolitisch von großer Bedeutung. Aber an
erster Stelle steht die Erwägung, ob die organisatorischen Änderungen und Ver¬
mehrungen derart wichtig sind, daß ihnen im Interesse der Wehrhaftigkeit des
Reiches zugestimmt werden muß. Bejaht der Reichstag die Bedürfnisfrage, so
müssen eben die Mittel zur Befriedigung der konstatierten Bedürfnisse sichergestellt
werden. Auf welchem Wege, das ist eine finanzpolitische Frage, die vorwiegend
parteitaktisch gelöst werden muß. Auch wenn man dein Kriegsminister von
Heeringen nicht bei seiner Auffassung folgt, es handle sich in dieser Vorlage um
eine Lebensfrage der Armee, so muß iwch aus dem Wesen und der Zwecksetzung
des Heeres der dringende Wunsch gefolgert werden, Wehrfragen nicht von Partei¬
konstellationen abhängig gemacht zu sehen.
Wie schon in der Presse, so auch im Reichstage hat sich gegen die rein
technischen Vergrößerungen kein beachtenswerter Widerspruch vernehmen lassen.
Die Ausstattung sämtlicher Infanterieregimente mit Maschinengewehren ist für
Deutschland unerläßlich, nachdem die Nachbarn allenthalben diesen Schritt bereits
getan haben. Ein neues Element tritt mit den Scheinwerferzügen in die Führung
des Feldkrieges. Bei der Marine und in der Festungsverteidigung sind Schein^
Werfer schon lange eingeführt. Nun hat sich im russisch-japanischen Kriege 1904/05
eine starke Neigung gezeigt, den Schwierigkeiten des Angriffes durch Benutzung der
nächtlichen Dunkelheit zu begegnen. Jede Wehr erzeugt Gegenwehr. So haben
die auch bei uns in den letzten Jahren immer mehr gepflegten nächtlichen Unter¬
nehmungen — nebenbei sei auf die dadurch für die Truppen erwachsende große
Mehrbeanspruchung an Kraftaufwand und Zeit hingewiesen — das Bedürfnis
gezeitigt, den Verteidiger gegen die im Dunkeln nahende Gefahr zu schützen. Bei
jedem Armeekorps ist ein den Pionieren zugewiesener Scheinwerferzug beantragt.
Die Verkehrstruppen haben in den Fliegerformationen eine neue, durch die
starke Entwicklung des Flugwesens bedingte selbständige Organisation erhalten.
Frankreich schien uns auf diesem Gebiete zu überflügeln. Neuerdings hat sich aber
gezeigt, daß die deutsche Flugzeugindustrie der französischen durchaus ebenbürtig
ist. Was die Lenkluftschiffe betrifft, so ist der deutsche Vorsprung in bezug auf
Leistungsfähigkeit unbestritten. Namentlich bietet das mit großem Verständnis
angelegte Netz von Luftschiffstationen große Vorteile für die militärische Verwertung
Verantwortliche Schriftleiter: für den politischen Teil der Herausgeber Beorge Tleinow in Schöneberg, fiir
d«n literarischen Teil und die Redaktion Heinz Amelung in Wilmersdorf. — Manuskriptsendnnge» und Brief«
werde» erbeten unter der Adresse:
An >e» Herausgeber der Grenzbotrn in Frieden«» bei Berlin, Hedwigstr. I ».
Fernsprecher der Schristl-itung: Amt Pfalzburg S719, de» Verlag«: Amt Lützow SK10.
Verlag: Verlag der «renzboten G. in. b. H. in Berlin SV. 11.
Druck: „Der Reichsbote" G. in. S, H. in Berlin SV. II, Dessauer Strad« »«/»7.
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z I^s>-iisp>'SL>ikZ>'! Hai ^Stiti-um, 1035, 2619. »
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^!-^---- _ —--V
Kinbanddecken für die Grenzboten
Ausgabe ^: Halvsranz. Dunkelgrüner Lederrucken und
Ecken, gekörnter Bezug, Schrift in Goldpressung. M. 1.75.
Ausgabe L: Leinen. Dunkelgrünes Rohleinen, Pressung in
Schwarz mit Gold. M. 1.—.
Ein Prospekt mit Abbildungen der beiden Ausgaben nebst Bestellschein
lag der Nummer ö vom i. März bei.
^^ZlZ°//.f-r sert'-u, d-r chrenzli-le.., G. in. b. Ä.
it einer Broschüre dieses Titels trat kürzlich ein ehemaliger lang¬
jähriger Lustschifferoffizier, Hauptmann a. D. Hans-Waldemar
von Herwarth, in die Öffentlichkeit. Die Bedeutung dieser Ab¬
handlung geht zweifellos weit über den Rahmen der über Luft¬
fahrt fast alltäglich erscheinenden Broschüren hinaus. So konnte
nur ein Eingeweihter schreiben, ein Eingeweihter, dem bei vielseitigen inter¬
nationalen Beziehungen reichliche und gründliche, theoretische und praktische
Schulung im Gesamtgebiet des Luftfahrtwesens und in seinen Berührungsgebieten
zuteil geworden ist. Wenn der Verfasser das Ergebnis dieser mehr als zwölf¬
jährigen Erfahrung weiteren Kreisen in leicht verständlicher Form und mit der
Würze von Ernst, Satyre und Humor zugänglich macht, wenn er einen durch¬
geistigten Unterhaltungsstoff in solchen Dingen sieht, die sonst nur mit trockener
Sachlichkeit abgehandelt zu werden pflegen, so müssen ihm in erster Linie alle
diejenigen Kreise Dank wissen, denen die Pflege deutschen Luftfahrtwesens berufs¬
müßig zufällt; ferner aber auch alle diejenigen, die in dem neuen Gebiete das
„Verkehrsmittel der Zukunft" ahnen und die es nicht unter dem einseitigen
Gesichtspunkte einer „Waffe", sondern unter dem Gesichtswinkel eines Kultur¬
faktors, und zwar eines die bestehenden internationalen Gegensätze versöhnenden
Kulturfaktors, behandelt wissen wollen. Kurz gesagt: das Buch enthält also
nicht nur die erforderlichen lehrreichen Grundlagen für Luftfahrt, sondern auch
eine Fülle von Gedanken, an denen Zivil- und Militärbehörden, Fachleute und
Laien, Finanzleute und arme Erfinder, Juristen und Organisatoren. Lehrer und
Erzieher nicht gut vorübergehen können.
Der Verfasser stellt fest, daß wir mit dem deutschen Lustfahrtwesen teilweise
technisch, jedenfalls aber organisatorisch im Rückstände sind und befürchtet von
der werbenden Kraft der mit einem Kostenaufwande von 86 Millionen kürzlich
ins Werk gesetzten Neuorganisationen des französischen Luftfahrtwesens, worüber
er gründliche Kenntnisse an den Tag legt, schwierige politische Konstellationen,
deren Deutschland nur mit einer ebenso großzügigen und opfermütigen staatlichen
Organisation Herr werden kann. Höchst bemerkenswert ist aber, daß im Gegensatz
zu Frankreich das Heil in erster Linie nicht von einer militärischen Organisation
erwartet wird — die natürlich auch unumgänglich erforderlich ist —, sondern
in der Reichsorganisation des gesamten Lustfahrtwesens und aller verwandten
Gebiete. Die Darlegungen gipfeln daher in dem Nachweise der Notwendigkeit
eines „Reichslnftamtes" unter Bereitstellung der erforderlichen einmaligen Mittel
in Höhe der Kosten eines Panzerschiffes (35 bis 40 Millionen). Der Verfasser
glaubt, wie er es auch anderweitig ausgesprochen hat, daß die laufenden Aus¬
gaben dann eine halbe bis eine Million nicht zu übersteigen brauchen!
Wir sollen das Gebiet unter gänzlich neuen Gesichtspunkten betrachten und
entwickeln; von dieser hohen Warte aus setzt eine so freimütige, sachliche und
trotz mancher Schärfe vornehme Kritik des Bestehenden und Vergangenen ein,
wie sie sich nur ein völlig unabhängiger Mann erlauben kann. Die ehren¬
vollen Verdienste der obersten Stelle der Heeresverwaltung werden mit warmem
Soldatenherzen gewürdigt, was aber den Verfasser nicht hindert, den Finger
nachdrücklich in eine Wunde zu legen, aus der sich nach seiner Ansicht manche
großzügige Bestrebung der letzten sechs Jahre so verblutet hat, daß der große
Anlauf, den das deutsche Luftfahrtwesen einstmals nahm, in Stillstand und
relativen Rückschritt abgeartet ist. Hier spricht in Form und Inhalt der glühende
Patriot, der das Weiterbestehen einer kranken Stelle in: Staatskörper durch eine
rechtzeitige, schmerzlose „Operation in voller Öffentlichkeit" verhüten will. Nicht
Eigendünkel, nicht Mäkelsucht, soudern die Erkenntnis schwerer Schäden trieben
den Verfasser zwangvoll dazu, zum Besten des Vaterlandes für eine Neu¬
organisation des Luftfahrtwesens einzutreten und die verkannten Schäden rück¬
haltlos aufzudecken, weil ihm hierzu besser Gelegenheit gegeben ist als anderen,
deren Brot durch freie Sprache zweifellos gefährdet wäre.
Einige der vom Verfasser geübten Kritiken, die uns besonders wichtig
erscheinen, sollen hier eingehender behandelt werden, besonders da wir wissen,
daß die dargelegten Auffassungen vielfach in weitesten Kreisen der unterrichteten
Luftfahrer geteilt werden. Es handelt sich zunächst um das Verlangen des
Verfassers, die besonderen Militärkonstruktionen einzustellen. Unsere Industrie
ist zweifellos auf dem richtigen Wege und technisch leistungsfähig genug; durch
die Konkurrenz des Militärs wird aber die Privatindustrie aufs schwerste geschädigt.
Das französische Militär-Lustfahrtgesetz vom 21. März 1912 hat in Würdigung
dieser Tatsache, die niemand abzuleugnen vermag, Militärkonstruktionen aus¬
drücklich verboten. Die Praxis hat gezeigt, daß sich in Deutschland die besonderen
Militärkonstruktionen neben „Parseval" und „Zeppelin" nicht zu halten ver¬
mochten, und neben den neuen Produkten der Flugzeugindustrie sind auch die
aus einer ersten Not geborenen Flugapparate rein militärischer Konstruktion
verschwunden. Kaum hat man das eingesehen, so taucht auch schon die Nachricht
auf, daß man auf der Werft des Luftschifferbataillons II schon wieder den
neuen Typ eines Lenkballons entwerfe. Jeder weiß, wie teuer das Militär
baut, und jetzt wird unser gutes Geld wieder gewissermaßen hinausgeworfen.
Warum macht man sich die Erfahrungen nicht zunutze, welche die Artillerie im
Geschützbau unter schweren Opfern gemacht hat?
Hauptmann von Herwarth hält es ferner für besser, wenn das gesamte
militärische Lustfahrtwesen dem bisherigen Wirkungsbereich der Generalinspektion
des Militärverkehrswesens entzogen würde. Die dafür angeführte Begründung
leuchtet allerdings sehr ein. In zwölf Jahren ihres Bestehens hat, wie er
mitteilt, diese Behörde nicht einen Sachverständigen für Luftfahrt in ihrem Stäbe
gehabt, sondern das Gebiet durch Offiziere einer anderen Spezialtruppe bearbeiten
lassen, die auf ihreni Sondergebiet Hervorragendes geleistet haben, nicht aber
in der Luftfahrt. Nicht einmal eines der Führerexamen für Lustfahrzeuge haben
diese Offiziere gemacht; deshalb erscheint es ihm wohl erst recht als ein bedenk¬
licher Umstand, daß auch der Inspekteur der 1911 neugeschaffenen Stelle für
Luft- und Kraftfahrweseu keinerlei praktische Vorbildung als Luftfahrer erhalten
hat. Die Beteiligung an Luftfahrten als Passagier kann niemals die Erfahrungen
des praktischen Dienstes ersetzen. Aus diesem allen würde man unter gewöhn¬
lichen Umstünden die Schlußfolgerung ziehen, daß eben bei der Generalinspektion
des Militärverkehrswesens ein Sachverständiger für Luftfahrt einzusetzen, und
die Stelle des Inspekteurs für Lustfahrtwesen einem erfahrenen, bei der Luft¬
schiffertruppe bewährten Offizier zu übertragen sei, zumal es an solchen orga¬
nisatorisch auch schon bewährten Männern nicht fehlt, und diese Männer auch
ihrem Range nach für die Stelle geeignet wären.
Der Verfasser kritisiert ferner noch, daß man in letzter Zeit ein System
eingeführt hat, daß darauf hinausläuft, nach Möglichkeit nur Offiziere der
Spezialtruppen zu Luftfahrern heranzubilden. Das französische Militär-Luft¬
fahrtgesetz vom 21. März bestimmt ausdrücklich, daß die Luftfahrt kein Reservat¬
gebiet für Techniker bilden dürfe. Es hebt eindringlich und mustergültig hervor,
daß für den Dienst im Luftfahrtwesen in erster Linie Offiziere aller Waffen mit-
Generalstabseigenschaften tätig sein müssen; nur in den Reparaturwerkstätten
müßten naturgemäß die Techniker überwiegen. Es ist eine eigentümliche
Duplizität der Fälle, daß der Verfasser, der während seiner Dienstzeit Gelegenheit
hatte, sich bei den verschiedenen höchsten Behörden umzusehen, auf ähnliche
Gesichtspunkte hinaus will. Auch ihm schwebt der mustergültige Gedanke einer
nur „technischen" Zentralisation und sonstigen Dezentralisation vor.
Der Verfasser glaubt aus seiner Erfahrung mitteilen zu sollen, daß in
technischen Truppen die Intendanturen am leichtesten verknöchern und bei ihrer
ausschließlichen Burecmtütigkeit mit den Fortschritten des Luftfahrtwesen nicht recht
gleichen Schritt halten können. Er hat ferner die unzweifelhaft richtige Bemerkung
gemacht, daß Kavalleristen und Artilleristen die besten Beobachtungsoffiziere
abgeben, und daß es besonders der kavalleristischen Erziehung eigen ist, stets
das große Ganze im Auge zu behalten. Deshalb soll das Gesamtgebiet des
militärischen Luftfahrtwesens in intime Berührung mit der Kavallerie gebracht
und den Kavallerie-Inspektionen unterstellt werden, um so mehr, als sich der
technische Dienst der Kavallerie stündig vermehrt.
Ein mit solchem Freimut geäußerter, radikaler Abänderungsvorschlag läßt
die Vermutung zu, daß der Verfasser noch tiefer liegende Gründe für seine
Vorschläge hat, die sich für die breitere Öffentlichkeit aus leicht verständlichen
Gründen nicht eignen. Aber es muß doch zunächst die Frage aufgeworfen
werden, ob denn die Kavallerie sich dieser verantwortungsschweren Aufgabe
unterziehen will. Wenn wir den kühnen, freudigen und mtternehmungslustigen
Reitergeist in Betracht ziehen, so wird man annehmen dürfen, daß die Kavallerie
die dargebotene Hand gern ergreift. Aber auch unsere Feldartillerie erfreut sich
des gleichen Geistes, und deshalb müßte bei den: vom Verfasser vorgeschlagenen,
radikalen Vorgehen erwogen werden, ob nicht die in der Schlacht stabilere
Artillerie, deren Aufstellung für das Gerippe der fechtenden Truppen maßgebend
ist, für die Mühewaltung und Wartung des Militär-Luftfahrtwesens noch geeig¬
neter ist. Das französische Luftfahrtgesetz kommt zu einem noch großzügigeren
Standpunkt, indem es sagt: Luftfahrtwesen gleich Generalstabsdienst!
Niemand wird also dem Verfasser bestreiten können, daß er mit seinen
Vorschlägen einem gesunden und bedeutungsschweren Zug der Zeit gefolgt ist —
mag man auch sonst in Einzelfragen anderer Ansicht sein.
Weiterhin ist das Buch durch die Gedanken über Funkentelegraphie, Wetter¬
dienst und Orientierungsvorschläge für Lustfahrt höchst bemerkenswert. Diese
Erörterungen sind auch für Laien leicht verständlich und enthalten gesunde
Kernpunkte von erheblicher Tragweite.
Die Spezialfmgen sind in folgende Unterkapitel gegliedert: Jugenderziehung,
Freiballon, Luftschiffe, Hallen, Gas, Flugzeuge, Flugplätze und Flugfelder,
Photographie und Photogrammetrie, Orientierung, Funkentelegraphie, Wissen¬
schaftliches. In allen diesen Einzelfragen ist der neueste Stand der Technik
berücksichtigt. An dieser Stelle sei namentlich auf das in Deutschland lange
vernachlässigte Gebiet der Photographie und Photogrammetrie hingewiesen. Die
Amerikaner benutzten die Photographie bereits mit Erfolg im Sezessionskriege.
Die Franzosen haben mit der ihnen eigenen Rührigkeit in technischen Dingen
auf den Vorschlägen des Obersten Laussedat weitergebaut und daraus namentlich
für die Vermessung und Kartenherstellung in den Kolonien wertvolle und kosten¬
ersparende Resultate erzielt. Die Engländer haben im Burenkriege aus dem
Fesselballon Photographien angefertigt, die sie ihren Meldereitern als Marschroute
angaben und als Ersatz für Karten verwandten. Bei uns ist diese Sache lange
Zeit stiefmütterlich behandelt worden; sie verlangt gewiß vermehrte Aufmerk¬
samkeit und Beachtung seitens der maßgebenden Behörden.
So kurz die unter der Überschrift: „Koloniales" und „Reichstag" an¬
geführten Kapitel sind, so sind sie doch inhaltsschwer und weisen der Arbeits¬
freudigkeit große und wichtige Bahnen. Sehr erwünscht wäre es, daß das
Statistische Amt die gegebenen Anregungen aufgreift. Die vom Verfasser an¬
geführten Zahlen beweisen unwiderleglich, daß wir uns in einer Zeit befinden,
wo man den früher als Utopie verschrienen Luftverkehr als eine vorhandene
Tatsache ansehen muß. Mit Recht glaubt also der Verfasser, daß der Zeitpunkt
für sämtliche Behörden gekommen ist, sich mit dem gesamten Luftfahrtwesen
eingehend zu befassen. Mit Recht fürchtet der Verfasser, daß Unterlassungs¬
sünden in dieser Beziehung eine Gefahr, eine schwere Gefahr für unser
deutsches Vaterland heraufbeschwören würden, aus der uns auch die größte
Nationalspende für Luftfahrt nicht erretten kann. Aber dazu kann die National¬
spende maßgebend dienen, den Sinn und Geist der erdumspannenden Luftfahrt
in die weitesten Kreise zu tragen. Wirkliche Abhilfe des gegenwärtigen Not¬
standes kann nur der Staat durch eine Organisation schaffen, die den Zug der
Genialität an sich tragen muß.
Der Reinertrag des Buches ist der Wissenschaftliche» Kommission des
Deutschen Luftfahrerverbandes (noch vor Anregung der Nationalspende) zur
Verfügung gestellt worden, weil der Verfasser glaubt, daß die wissenschaftlichen
Unterlagen des Luftfahrtwesens einer namhaften Förderung bedürfen, wenn wir
auf diesem Gebiete den Franzosen ebenbürtig werden und im internationalen
Luftverkehr nicht die zweite Geige spielen wollen.
Was in den drei einleitenden Kapiteln in phantastisch - poetischer Form
gesagt wird, findet in dem Kapitel über Rechtsfragen sein auf realem Boden
ruhendes Gegengewicht. Hier wird dem freien Luftverkehr, sowie einem gemein¬
samen Luftrecht der Einzelstaaten und einem Lnftvölkerrecht ein offenes Wort
gewidmet.
Wenn aus dem Vorstehenden gefolgert werden könnte, daß der bedeutsame
Inhalt des Buches nur für Erwachsene geeignet sei, so muß hier ausdrücklich
betont werden, daß das von warmer Begeisterung durchsetzte Buch und die flotte
Schreibart ihren Eindruck auf die reifere Jugend nicht verfehlen werden. Und
darin geben wir dem Verfasser uneingeschränkt recht: „Wer die Jugend erzieht,
wer sie frei macht von dem Bleigewicht unzeitgemäßer Anschauungen, dem gehört
/?Z^meer den Männern, denen wir die nationale Wiedergeburt Preußens
vor hundert Jahren verdanken, steht Friedrich Schleiermacher in
vorderster Reihe. Er war aufgewachsen in Bewunderung Friedrichs
des Großen, in dessen Heer sein Vater Feldprediger gewesen war.
Dann hatte er sich ebenso wie Kant, Schiller, Fichte und Hegel
für die frauzöftsche Revolution begeistert. Als Preußen 1806 zusammenbrach,
suchte Schleiermacher von höherer Warte aus das übermächtige Schicksal zu
deuten: vieles Veraltete und Faule habe vernichtet werden müssen. Aber nun
sei die Zeit gekommen, in der Volk und König sich zusammenschließen müssen.
Jeder müsse bereit sein, Opfer zu bringen für das Vaterland. Die Kanzel der
Dreifaltigkeitskirche in Berlin wurde die Stätte, von der aus seine gewaltige Wirk¬
samkeit ausging. Ohne Fichtes „Reden an die deutsche Nation", E. M. Arndts
„Kriegs- und Wehrlieder" und Schleiermachers „Predigten" wären die
Freiheitskriege schwerlich gewonnen worden. Er rüttelte die feigen, egoistischen
Gemüter durch sein Wort und Beispiel auf.
Trotzdem hat Schleiermacher nach den Freiheitskriegen jahrelang als politisch
verdächtig gegolten. Derselbe Mann, der 1806 sein Vaterland Preußen nicht
verlassen wollte, obwohl ihm eine ehrenvolle Wirksamkeit in Bremen winkte,
wäre fast gewaltsam aus Preußen ausgestoßen worden. Der verknöcherte, eng¬
herzige Geist der Staatsleiter ertrug nach den Freiheitskriegen nicht mehr den
weiten, freien Geist eines Scharnhorst, Stein, Schleiermacher. 1313 predigte
Schleiermacher: Eine große Zeit ist gekommen, die alten Zeichen erneuen
sich wieder, denn Blinde sehen, Lahme gehen, Tote stehen auf! Indessen so
groß die Zeit begonnen hatte, so klein endete sie durch die Schuld einer Re¬
gierung, die die Zeichen der Zeit nicht verstand und nicht verstehen wollte.")
Schleiermacher wäre am liebsten mit in das Feld gezogen. Er half mit,
daß die Freiwilligen möglichst schnell zu den angewiesenen Punkten gesandt
wurden und erntete hierfür den besonderen Dank Scharnhorsts. Als er im
Felde nicht verwendet wurde, übernahm er im Juni 1813 die Redaktion des
Preußischen Korrespondenten, den bis dahin Niebuhr geleitet hatte, um auf diese
Weise auf die Gesinnung seiner Mitbürger zu wirken. Diese Zeitung war von
der Patriotenpartei begründet worden und Scharnhorst hatte feine Freude darüber
ausgesprochen. Während die gewöhnlichen Zeitungen nur kritiklos Nachrichten
verbreiten und das Publikum unterhalten wollten, sollte der Preußische Korre¬
spondent eine Zeitung im neuen großen Stil sein. Er sollte das politische Urteil
der Leser bilden helfen. Es war für jene Zeit etwas ganz Neues, daß Privat¬
männer in diesem Sinne wirkten. Es gab noch keine politischen Publizisten,
denn noch herrschte die Theorie vom beschränkten Untertanenverstand. Der
gute Bürger sollte schweigen und gehorchen und der überlegenen Weisheit der
Regierung vertrauen, was diese auch beschließen mochte. In unglaublich eng¬
herziger und kleinlicher Weise wurde die Zensur gehandhabt. Am 6. Juli 1813
erließ die Berliner Zensurbehörde an die drei in Berlin erscheinenden politischen
Zeitungen, die Spenersche, die Vossische Zeitung und an den Preußischen Korre¬
spondenten, ein Zirkular, in dem folgende Sätze standen:
Es „dürfen in keinerlei Formen Aufsätze und Äußerungen aufgenommen
werden, die offen oder versteckt eine revolutionäre Tendenz haben, oder einen
Tadel bestehender Einrichtungen, Verfügungen und Maßregeln direkt oder indirekt
enthalten. Festes Anschließen an die geheiligte Person unseres allverehrten
Monarchen, unbedingtes Vertrauen in die Weisheit und Zweckmäßigkeit der von
ihm nach den jedesmaligen Umständen gut befundenen Beschlüssen und Vor¬
schriften, sorgfältige Enthaltung von allem lauten Tadel der Maßregeln der
Regierung, bescheidene Versagung alles öffentlichen Urteils, wodurch ihrem
Ermessen und ihrer Übersicht unschicklich vorgegriffen wird — hierin besteht jetzt
die erste und heiligste Pflicht des wahren Patrioten; in diesem Sinne zu wirken
durch Wort, Schrift und Tat ist allein des guten Staatsbürgers würdig".
Eine selbständige, charaktervolle Leitung einer Zeitung ist natürlich unmöglich,
wenn die Zensur eine derartige Haltung vorschreibt.
Hegel hatte 1807 in diesen? Sinne die Bamberger politische Zeitung
redigiert. „Der Neugierde des Publikums ihr Futter zu liefern" war sein
, einziges Bestreben gewesen. Von dem ethischen Beruf eines Redakteurs hatte
er kein Bewußtsein. Schleiermacher dachte ganz anders, daher kam er bald in
Schwierigkeiten mit der Zensur. - Am 14. Juli 1813 erschien ein Artikel
Schleiermachers, in dem er die Befürchtung aussprach, der soeben verlängerte
Waffenstillstand könnte zu einem voreiligen Friedensschluß führen. Ein solcher
Friede würde uns. führte Schleiermacher aus, noch nicht das Verlorene wieder¬
geben. Es sei zu fürchten, daß ängstliche Gemüter, die zuerst einen guten
Anlauf genommen, von frühzeitiger Friedenssehnsucht übermannt, in ihren
Anstrengungen erschlafften. Ebenso wie Schleiermacher dachten die meisten
Patrioten. Man sollte meinen, eine solche Meinungsäußerung in einer politischen
Zeitung sei auch für jene Zeiten ganz unverfänglich gewesen. Aber allerdings,
mit den Grundsätzen, die die Zensurbehörde ausgesprochen hatte, stimmte sie
nicht überein. Denn Schleiermacher vertrat eine bestimmte Meinung, sogar in
dem Falle, daß sie nicht die Billigung der Regierung finden sollte, und er suchte
Anhänger für seine Gedanken zu gewinnen. Der nach unseren Begriffen recht
maßvolle Artikel Schleiermachers hatte denn auch glücklich die Zensur des
Geheimen Legationsrath von Schultz passiert. Aber der ängstliche Staatskanzler
Hardenberg verfügte daraufhin, die Zensur sei diesem abzunehmen und dem
Polizeipräsidenten Lecoq zu übertragen. Der Verfasser des Artikels aber sollte
aus dem Manuskript ermittelt werden. Hardenberg schrieb an den Geheimen
Staatsrat von Schuckmann: „Ich trage Ihnen auf, demselben seiner Dienste
Entlassung anzukündigen und ihm anzudeuten, binnen achtundvierzig Stunden
Berlin zu verlassen und sich über schwedisch-Pommern ins Ausland zu begeben,
mache Sie auch verantwortlich dafür, daß der Befehl pünktlich zur Ausführung
gebracht werde." Schleiermacher ahnte nicht, welche Gefahr über seinem Haupte
schwebte, als er als Redakteur des Korrespondenten von Schuckmann vorgeladen
wurde. Er bekannte sich gleich als Verfasser des Artikels und mußte sich einen
derben Verweis gefallen lassen, in dem Worte wie „Hochverrat" fielen. Im
Wiederholungsfalle wurde ihm Absetzung angedroht. Daß Hardenberg diese
eigentlich schon verfügt hatte, hat er niemals erfahren. Er wußte dem Gespräch
mit Schuckmann eine solche Wendung zu geben, daß dieser ihm wiederholt ver¬
sicherte, er halte ihn für einen aufrichtigen, das Vaterland liebenden Mann.
Und schließlich sprachen beide darüber, wie weit eigentlich bei Zeitungen die
Preßfreiheit gehen sollte.
Schleiermacher kam der Verweis abgeschmackt und lächerlich vor. Er äußerte
von jetzt an nur um so freimütiger und ungenierter seine Meinung. Aber um
so unbarmherziger strich Lecoq, dem alle Artikel im Manuskript vorgelegt werden
mußten, alles durch, was im etwaigen Gegensatz zu der offiziell gewünschten
Meinung stehen konnte. Zensor und Redakteur führten einen beständigen Klein¬
krieg miteinander. Als Lecoq die Sache zu arg wurde, schrieb er am 25. September
an Schleiermacher in verweisenden Ton: keine andere Zeitung habe so viel
Anlaß zu Streichungen gegeben und gegen die Vorschriften der Zensurbehörde
verstoßen. Schleiermachers Antwort bewies den Meister der Dialektik: Es tue
ihm leid, dem Zensor oder vielmehr dessen Unterbeamten Mühe gemacht zu
haben. Aber wenn diese doch einmal sich der Arbeit unterziehen müßten, die
Zeitungsartikel zu lesen, so sei die Mühe des Streichens keine so sehr große.
Auch fasse er das Verhältnis von Redakteur und Zensor wie ein Handelsgeschäft
aus, bei dem der eine vorschlage und dann sich etwas abdingen lasse. Die den
Redaktionen am 6. Juli mitgeteilten Vorschriften seien Vorschriften für den
Zensor, nicht für die Redakteure. Nur mit Befremden habe er einen Ton der
Drohung in dem Schreiben herausgehört. Die Zensurbehörde aber habe nicht
das Recht, Verweise zu erteilen und Drohungen zu erlassen. Lecoq flüchtete
sich wieder zu Hardenberg und rief dessen Schutz „gegen ungeziemende An-
maßungen und Beleidigungen des Professors Schleiermacher" an. Und er drang
durch. Hardenberg wußte drei Tage nach der ruhmreichen Schlacht bei Leipzig
nichts Besseres zu tun, als noch aus Leipzig, also vom Schlachtfelde aus an
Schleiermacher zu schreiben: „Sehr tadelnswert und unpassend ist dahingegen
der Ton, den Ew. Hochehrwürden in dein oben bereits erwähnten Schreiben
annehmen. Sie scheinen darin ganz zu vergessen, daß Sie dem Staatsrat Lecoq
Achtung schuldig sind, und daß es Ihnen in keiner Hinsicht gebührt, sich seinen
Verfügungen zu widersetzen." So sehr war der weite und freie Geist eines
Stein und Scharnhorst bereits 1813 aus der Negierung verschwunden, daß so
kleinliche Erlasse möglich waren. Der Preußische Korrespondent aber, der die
erste im großen Stil gedachte politische Zeitung sein sollte, unterlag unter den
steten Mißhandlungen der Zensur im Jahre 1814.
Kaum war der Freiheitskrieg beendet, so erschien — noch im Jahre 1815 —
eine kleine sechzehn Seiten lange Broschüre des Juristen Schmalz, des ersten
Rektors der Universität Berlin. Er stellte es darin als eine große Gefahr für
den Staat hin, daß politische Geheimbünde existierten. Diese seien so gefährlich
wie die Jakobiner in der französischen Revolution. Gemeine waren Vereine wie
der „Tugendbund", die in den Jahren 1808 und 1809 eine allgemeine Volks¬
erhebung gegen die immer drückender werdende Fremdherrschaft der Franzosen
zu entfachen versucht hatten, um die zögernde Negierung schon damals zum
Kriege fortzureißen. Schleiermacher hatte wie viele Patrioten solchen Vereinigungen
nahe gestanden. Er fühlte sich persönlich angegriffen und antwortete in einer
Schrift „An Herrn Geheimrat Schmalz. Auch eine Rezension." Er hielt diesem
vor: es sei schändlich, nach dem ruhmreichen Kriege Argwohn zwischen den
König und das Volk zu säen und zu rufen: „Das Vaterland ist in Gefahr!",
wenn keine Gefahr da sei. Es beständen allerdings noch heute solche Vereine
wie 1808, aber ohne Statuten: der Verein aller Gutgesinnten, die auch jetzt
noch, wenn es not tut, hervortreten werden. Auch andere Männer, wie Niebuhr,
zerzausten das Pamphlet von Schmalz. Dieser blieb in der öffentlichen Meinung
seitdem gerichtet; seine Rolle war ausgespielt. „Schmalzgesellen" nannte man
seitdem die Reaktionäre. Aber sein Ruf fand bei mehreren deutschen Regierungen
nur zu gutes Gehör, Schmalz erhielt eiuen württembergischen Orden, dann
einen russischen, zwei andere Regierungen folgten. Der Streit drohte durch
neue Schriften immer weitere Ausdehnung zu gewinnen. Da wurde ein weiterer
Schriftenwechsel vom Könige verboten. Aber zum Ordensfeste am 18. Januar
1816 erhielt Schmalz den Roten Adlerorden samt der Einladung zur könig¬
lichen Tafel. Schleiermacher wurde gefragt, was er zu dieser Ordensverleihung
sage. Er wußte, daß seiue satirischen Worte bald herumgetragen wurden und
den erreichten, dem sie galten. So antwortete er: „Nun ja, wo ein Aas ist,
da sammeln sich die Adler."
Doch dies waren erst die Vorboten eines ernsteren Streites, der nun ent¬
brennen sollte. Die Freiheitskriege waren von einer bis dahin noch nicht
dagewesenen Volkserhebung getragen gewesen. 'Die selbstverständliche Folge des
ruhmreichen Krieges wäre es gewesen, wenn das Volk, das sür des Vaterlandes
Bestand Gut und Blut geopfert hatte, nun auch in einer ständischen Verfassung
an der Beratung über Wohl und Wehe des Staats Anteil bekommen Hütte.
So war die Meinung von Stein, E. M. Arndt, Schleiermacher und vielen
anderen. Auch hatte der König bereits sein Wort gegeben, daß eine ständische
Volksvertretung durchgeführt werden sollte. Aber die nun bei allen Regierungen
einsetzende Angst vor der Revolution und dem Jakobinertum ließ es nicht zur
Durchführung des königlichen Versprechens kommen. Alle Begeisterung für ein
freies, starkes geeinigtes Deutschland erschien als staatsgefährlich, als Versuch,
die überlebte Verfassung des Deutschen Bundes unizustürzen. Besonders wurde
die Deutsche Burschenschaft verdächtigt, in der die nationale Begeisterung oft
überschauende. Dem religiösen Leben wurden die schwersten Wunden geschlagen,
da die religiöse Begeisterung mit der nationalen seit den Freiheitskriegen eng
verbunden war. Die Kirche wurde in jenen Jahren zum Bunde mit der
Reaktion gezwungen und entfremdete sich für Jahrzehnte die besten freiheitlich
gesinnten Männer. Vergebens erhob Schleiermacher seine warnende Stimme.
Er selbst wurde politisch verdächtigt.
Bei der harmlosen studentischen Feier des Reformationsfestes am .18. Oktober
1817 wurden auf der Wartburg symbolisch die Titel der Bücher von Schmalz
und anderen Reaktionären in jugendlicher Nachahmung der Tat Luthers ver¬
brannt. Dies wurde fast als revolutionäres Unternehmen angesehen. Tat¬
sächlich schien es, als ob die Demagogenangst imstande sei, wirkliche Revolutionäre
zu erzeugen. Ein fanatischer Student Karl Ludwig Sand ermordete den als
Führer der Reaktion verschrienen Dichter Kotzebue am 23. März 1814 in
Mannheim. Jetzt galt es den deutschen Regierungen als erwiesen: in den
Burschenschafter besteht ein Geheimbund, der nichts anderes als den Umsturz
der Verfassung, eine Art französischer Revolution erreichen will. Eine besondere
Untersuchungskommission wurde in Mainz eingesetzt, um die Mitglieder dieser
Verschwörung zu ermitteln. Nicht bloß Studenten und Gymnasiasten, sondern
auch Professoren wurden unschuldig verdächtigt. In Berlin fiel Schleiermachers
Freund und Kollege De Wette als erstes Opfer. Sein tröstender Brief an die
ihm bekannte Mutter von Sand wurde so ausgelegt, als habe er den Meuchel¬
mord als eine Gott wohlgefällige Tat gepriesen. Er wurde durch Kabinetts¬
order vom 30. September 1819 seiner Professur entsetzt. Schleiermacher sollte
nach dem Willen Schuckmanns das nächste Opfer sein. Das ihm zur Last
gelegte Verbrechen war, daß er als Dekan der theologischen Fakultät beim
Abschied De Weites ein Dankschreiben verfaßt hatte, das die Verdienste des
scheidenden Kollegen in gebührender Weise feierte und das Bedauern der Kollegen
wie der Studenten über den erzwungenen Abschied aussprach. Nun hatten zwar
die theologischen Kollegen Neander und Marheineke den Brief gleichfalls unter¬
schrieben. Aber deren Gesinnung galt als unverdächtig. Bei Schleiermacher
jedoch kamen neue Verdachtsmomente hinzu. Er hatte an seinen Schwager Arndt
einige Briefe geschickt, die beschlagnahmt wurden, als bei dem gleichfalls wegen
seiner patriotischen Schriften („Zeichen der Zeit", Teil 4) verdächtigen Arndt in
Bonn Haussuchung gehalten wurde. Schleiermacher hatte am 27. Januar 1819
an Arndt über seine eigene politische Untersuchung vom Jahre 1813 geschrieben:
„Es gibt wohl keine ärgere Erbärmlichkeit für einen König, als solche Schnippchen
in der Tasche zu schlagen, und darum kann man sie ihm ja wohl gönnen."
Dann erzählt Schleiermacher weiter vom letzten Krönungsfest am 18. Januar:
„Der gute Mann (der König) hat sich wieder vor einigen Tagen sehr prostituiert.
Da hat am Krönungsfest der Eylert ein erbärmliches Geschwätze in der Dom¬
kirche von der Kanzel gemacht über den schrecklichen Zeitgeist, wie alle Kräfte
über die Ufer getreten wären, wie überall Freiheit und Gleichheit gefordert
würde, aller Respekt vor den höheren Ständen geschwunden wäre. Da ist der
gute Mann hernach auf der Cour herumgegangen und hat ausgerufen: .Schöne
Rede gehört, sehr zweckmäßig, kann sich mancher ins Gewissen greifen!' —
Doch was soll man über den albernen Schnack noch ein Wort verlieren!" —
In einem Brief vom 14. März 1818 schrieb Schleiermacher über die wichtigste
Frage, die Einführung einer konstitutionellen Verfassung, an Arndt: „Seine
(des Königs) Persönlichkeit wird immer ein ungeheures Hindernis sein, die
allgemeine Angelegenheit vorwärts zu bringen, nie wird sich der Mann in ein
frei öffentliches Wesen finden lernen, und wie ihm schon die Universität hier
zu viel ist, wie sollte er je eine frei redende Versammlung in seiner Nahe dulden!
Ich glaube, muß es endlich einmal so weit kommen, so begibt er sich während
der Sitzungen an einen seiner Lieblingsörter, Paris oder Petersburg." Diese
nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Briefe bildeten das schwerste Anklage¬
material. „Verbrecherische Äußerungen und Trotz gegen des Königs geheiligte
Majestät" formulierte Schuckmann seine Anklage.
Ferner sprach gegen Schleiermacher, daß er gern an studentischen Festlich¬
keiten teilnahm. Nun war ein in fideler Laune geschriebener Brief eines
Studenten beschlagnahmt, in dem dieser ein am 2. Mai 1819 in Pichelsberg
gefeiertes Fest der Burschenschaft beschreibt. Hundertfünfundsiebzig Flaschen
Rheinwein seien dabei ausgetrunken. Die allgemeine Fröhlichkeit habe auch die
anwesenden Professoren ergriffen. „Lieber Bruder Schleiermacher," sagte Hermes,
„du bist ein zu herrlicher Kerl; laß uns Schmollis saufen!" Die Studenten
aber dachten: Wie wirst du und wir mit dir morgen um K Uhr in die Vor¬
lesung finden! „Du liesest morgen nicht!" riefen manche Doktoren und Studenten
aus. Aus diesem launigen Brief schmiedete die Untersuchungskommission neues
Anklagematerial. „Der unanständige lind sittenverderblichc Verkehr hiesiger
Universitätslehrer mit den Studenten auf öffentlichen Trinkgelagen" dürfe nicht
geduldet werden.
Ein Brief Schleiermachers vom Dezember 1806 hatte von der Notwendigkeit
einer allgemeinen Volkserhebung gesprochen. Da kein Datum auf dem Brief
stand, deutete man ihn so, als ob Schleiermacher in der Gegenwart eine all¬
gemeine Volkserhebung wünsche, damit eine konstitutionelle Verfassung ein¬
geführt werde.
Um weiteres Anklagematerial zu gewinnen, wurden zwei Polizisten zur
Überwachung der Predigten Schleiermachers in die Dreifaltigkeitskirche geschickt.
Sie sollten berichten, so oft Schleiermacher die Kanzel zu politischen Zwecken
mißbrauche. Ein Bericht der beiden Polizeikommissare Grano und Eckert über
eine Predigt Schleiermachers vom 14. November 1819 ist im Geheimen Staats¬
archiv aufbewahrt geblieben. Sie teilen mit, Schleiermacher habe gepredigt
über die Befreiung aller geistigen Kräfte, die wir der Lehre Jesu verdanken.
Er habe gesagt: Das Rechte müsse doch siegen, und es werde das Gute nur
durch die Prüfung wie durchs Feuer geläutert. Das schien eine offenbare An¬
spielung auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse. Weiter heißt es im
Polizeibericht: Mehrere Studenten in burschenschaftlicher Tracht nahmen ander
Abendmahlsfeier in der Kirche teil und beteten andächtig kniend. Männer wie
Schuckmcmn, Kamptz, Lecoq, Wittgenstein mochten bei diesem Bericht den Ver¬
dacht haben: Konnten diese Studenten nicht durch die heilige Feier zu neuen
Umsturzversuchen eingeweiht werden, wenn Sands Meuchelmord als eine Gott
wohlgefällige Tat von einem Freunde Schleiermachers gepriesen sei!
Kurz, die Ministerialkommisston berichtete am 16. März 1820: „Wer so
redet, so schreibt und so handelt wie der Professor Schleiermacher nach allem
diesem geschrieben, geredet und sich betragen hat, sollte nicht länger als Seel¬
sorger, Prediger und akademischer Lehrer der Religion und Moral geduldet
werden." Aber eine einfache Entlassung sei doch nicht ratsam. Um ihn un¬
schädlich zu machen, solle er nach Greifswald abgeschoben werden. Ein Mitglied
der Kommission schlug Königsberg vor. Das schien noch weiter und Schleier¬
macher dort noch ungefährlicher zu sein. So wurde Greifswald durchgestrichen
und Königsberg an die Stelle gesetzt. Aber wie bei vielen Verfolgungen jener
Tage blieben diese Berichte zunächst bei den Akten. Doch wurde daraus
manches bekannt. Die Stadt Berlin sprach bereits davon: Schleiermacher soll
abgesetzt werden. Zunächst blieb noch alles ruhig. Schleiermacher wurde nur
verboten, seine Vorlesung über „Politik" nochmals zu halten. Nach zwei Jahren
nahm sich Schuckmann aufs neue der Sache an. Sechs Anklagen trug er gegen
Schleiermacher zusammen: 1. Teilnahme an den politischen Umtrieben über¬
haupt. 2. Teilnahme an den Verbindungen und Umtrieben auf den Universitäten.
N, Billigung und Beförderung des Turm- und übrigen unangemessenen Geistes
unter der Jugend. 4. Mißbrauch der Kanzel zur Beförderung politischer An¬
sichten und Zwecke. 5. Mißbrauch des akademischen Lehramts zu eben diesem
Zwecke. 6. Verbrecherische Äußerungen und Trotz gegen Seine Majestät den
König. Sein Bericht an den Minister von Altenstein vom 5. Juni 1822 schloß
mit den Worten: „Alles dies belegt nun zwar keine Handlungen, durch welche
der p> Schleiermacher überführt wurde, daß er selbst eine Empörung oder
Revolution unmittelbar habe erregen wollen; es beweist aber seine Grundsätze,
nach welchen er eine Revolution für notwendig und erlaubt hält. Es beweiset
seine Gesinnungen, denen es an aller pflichtmäßigen Treue und Ehrfurcht gegen
Seine Majestät den König fehlt. Da nun die Bestimmung, zu der er von
Seiner Majestät dem Könige berufen worden, Bildung der Jugend für die
Staatszwecke ist, und da es hierbei nicht auf seine Meinungen und Gefühle
ankommen kann, sondern auf die Gesetze, unter denen er berufen worden und
Seiner Majestät dem Könige Treue und Gehorsam geschworen hat, so folgt
hieraus, daß ihm dieser Beruf nicht weiter anvertraut werden kann, sondern er
desselben zu entsetzen ist."
Auf eine sehr eigentümliche Weise trat der Kultusminister Altenstein, der
im Grunde die reaktionäre Strömung mißbilligte, für Schleiermacher ein. Er
lavierte auch hier wie sonst. Er schrieb Schuckmann, er sei im ganzen mit
ihm einverstanden, nur bedürfe die Sache noch weiterer Klärung und Unter¬
suchung. Für Schleiermacher hatte dies zunächst die Folge, daß ein Gesuch
um Urlaub zu einer sechswöchentlichen Reise nach Tirol ihn: von: Ministerium
„aus erheblichen Gründen" abgeschlagen wurde. Sofort beschwerte er sich beim
Könige direkt über diesen Bescheid. Daraufhin erhielt er am 6. September
einen vierwöchentlichen Urlaub bewilligt. Endlich im Januar 1823 wurde er
über alle Anklagepunkte vor dem Polizeipräsidium verhört. Betreffs der brief¬
lichen Äußerungen über den König gab Schleiermacher zu Protokoll, daß Briefe
stets ein Produkt der gegenseitigen Beziehungen seien, die zwischen Briefschreiber
und Empfänger bestehen. Sobald daher Briefsteller, die nur aus diesen
Beziehungen heraus zu erklären sind, in die weitere Öffentlichkeit dringen,
gewinnen sie einen ganz anderen Sinn. Er bedauert die Ausdrücke, die er
gewählt; sie seien das Produkt einer Augenblicksstimmung, ohne viel Überlegung
an seinen vertrauten Freund hingeworfen. Noch mehr aber bedauert er, daß sie
solche» zu Gesichte gekommen seien, für die sie nicht bestimmt waren. Auch gegen
die übrigen Anschuldigungen wußte Schleiermacher sich zu verteidigen. An Geistes¬
gegenwart und Verstandesschärfe fehlte es ihm nie, am wenigsten in Augenblicken
der Gefahr.
Auf diese Verteidigung hin forderte Altenstein Schnckmann aus, die Anklage
gegen Schleiermacher gründlich umzuarbeiten und besser zu motivieren. „Alles
was zur Entschuldigung des Schleiermacher dienen kann, ist beinahe ganz mit
Stillschweigen übergangen." Zweimal mußte Schuckmann sich der mühevollen
Arbeit unterziehen. So kam schließlich ein Antrag voller Anklagen und Restrik¬
tionen zustande, von den: Altenstein wußte, daß er weder von der Mehrheit des
Ministeriums noch von: Könige gebilligt werden könne. Der Antrag schloß:
»So ist doch sein ganzes Benehmen nicht entschieden genug, um seine gänzliche
Sinnesänderung zu verbürgen und frühere üble Eindrücke ganz zu verlöschen.
Und wir können nicht annehmen, daß dadurch alles, was ihn: zur Last liegt,
ausgetilgt, und daß bei einem Manne von seinen ausgezeichneten Talenten und
von seiner Gewandtheit das, was er jetzt äußert und treibt, wirklich das Werk
geänderter Gesinnungen und eigener Überzeugung sei, so daß mithin auf ihn
unter veränderten Umständen und Verhältnissen mit voller Sicherheit gerechnet
werden könnte. Ew. Königlichen Majestät unterwerfen wir hiernach ehrfurcht-
vollest, ob Allerhöchstdieselben den O. Schleiermacher ohne weiteres vorher¬
gehendes Verfahren seines Amtes als Geistlicher der Dreifaltigkeitskirche und
als Professor der hiesigen Universität zu entlassen geruhen wollen." Dieser
Antrag enthielt doch auch für das damalige Ministerium allzu starke Zumutungen.
Schuckmann war von Altenstein über ein Jahr lang an der Nase herumgeführt
worden. Preußen aber blieb die Schmach erspart, seinen größten Theologen
ausgestoßen zu haben.
Schleiermacher wußte wohl, was gegen ihn geplant war. Er ließ sich so
wenig einschüchtern, daß er in dem Agendenstreit mit der Feder gegen den
König selbst auftrat. Dieser hielt in redlichem Eifer für die Kirche Uniformität
der Liturgie für die wichtigste kirchliche Reform. Schleiermacher vertrat die
liturgische Freiheit und hielt die Einführung einer Sunodalverfassung für das
wichtigste Erfordernis der Gegenwart. Ohne eine solche Verfassung könne man
überhaupt nicht über eine neue Liturgie beraten. Nach einem längeren Schriften¬
wechsel schloß endlich Schleiermacher 1.829 in diesem Streit den Frieden, als
die Agende verbessert und ihm persönlich liturgische Freiheit zugesichert war.
Eine besondere Genugtuung für ihn war es, als er, der bis dahin ganz
Übergängen worden war, am 18. Januar 1831 den Noten Adlerorden dritter
Klasse erhielt. In seinem Dankschreiben an den König konnte er nicht unterlassen
zu sagen, „daß die Gesinnungen der ehrfurchtsvollsten Treue und Hingebung
gegen Ew. Majestät und der reinsten Liebe gegen das teure Vaterland durch
nichts Erfreuliches oder Ehrenvolles, das mir persönlich widerfährt, erhöht werden
können." Der Beweis des königlichen Wohlwollens aber rühre ihn auf das
Innigste, denn er leuchtet „wie ein freundlicher Stern in mein herannahendes
Alter, der manches Trübe und Dunkle in der Vergangenheit mit einem milden
Glanz überdeckt."
Schleiermacher ließ sich durch alle bösen Erfahrungen nicht in eine ver¬
bitterte Stimmung hineintreiben. Er blieb patriotisch und königstreu, aber auch
ebenso freiheitlich gesinnt. Darum konnte er nicht, wie das „Junge Deutschland",
der Pariser Juli-Revolution zujubeln. Vor allem wünschte er keine Übertragung
der revolutionären Bewegung nach Deutschland. Wäre man 1817 dem Rate
Schleiermachers und vieler Patrioten gefolgt, so hätte eine Volksvertretung die
Wünsche der Massen vorbringen können, und die Revolution von 1848 wäre
uns erspart geblieben. So aber erzeugte die bleiche Revolutionsangst durch ihre
Abwehrmaßregeln gegen die gar nicht drohende Revolution innerhalb dreier
Jahrzehnte die Gewalttaten des Jahres 1848.
aß es neben der militärischen Rüstung eine finanzielle Rüstung
gibt, ist demi allgemeinen Verständnis seit langem durch Herrn
Reichsbankprästdenten Havenstein nahegebracht worden. Von
anderer hochverdienter Seite, dem Grafen Schwerin-Lowitz, wurde
neuerdings das Wort „wirtschaftliche Rüstung" geprägt, und zwar
in dem Sinne des Feldmarschalls Moltke: „In dem Augenblick, wo für den
Kriegsfall die deutsche Landwirtschaft nicht mehr in der Lage wäre, Heer und
Flotte unabhängig vom Auslande zu ernähren, in dem Augenblick hätten wir
jeden Feldzug schon verloren, bevor noch der erste Kanonenschuß gefallen wäre."
Es handelt sich also für uns um Unabhängigkeit vom Auslande. Aber
nicht um Unabhängigkeit der einzelnen Privatwirtschaft. Es kann von vorn¬
herein allen Gegnern zugegeben werden, daß auf dein Gebiete des privaten
Geschäftslebens ein paritätisches Verhältnis (av ut ass) herrscht, und daß durch
den Bezug einer Ware kein Käufer in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Ver¬
käufer tritt. Vielmehr handelt es sich hier um volkswirtschaftliche Abhängigkeiten,
wie sie z. B. hinsichtlich des deutschen Kalis und des amerikanischen Petroleums
niemand bestretten wird, und die das diplomatische und gesetzgeberische Verhalten
der Staaten schon im Frieden wesentlich beeinflussen können. Andrerseits wollen
wir hier nicht beweisen, daß auf äußeren Glanz eines Staates plötzlich ein
Zusammenbruch folgen kann, weil dieser Glanz schon lange vom wirtschaftlich
unterjochten Auslande zehrte und schon lange im eigenen Innern etwas faul
war. Der Untergang des ehemaligen spanischen Weltreiches ist sicher eine Folge
eigener wirtschaftlicher Schwäche Spaniens gewesen, höchst wahrscheinlich auch
der Untergang Karthagos nach den glänzenden Siegen Hannibals. Und selbst
Frankreichs Erschöpfung, als die napoleonischen Siege ihm keine Reichtümer
mehr zuführten, wird zum guten Teil darauf zurückgeführt, daß Napoleon
durch die Kontinentalsperre das eigene Land wirtschaftlich ungemein geschwächt
hatte. Aber auf diese Art Abhängigkeit vom Auslande — die damit zusammen¬
hängt, daß der eigene Staat sich wie ein gieriger Geschäftsmann mit zu viel
Außenpositionen „übernommen" hat — gehen wir hier nicht näher ein, sondern
suchen die Bedeutung wirtschaftlicher Rüstung in dem engeren Sinne Moltkes.
Allerdings hätte der Feldmarschall statt „Landwirtschaft" und „ernähren" viel¬
leicht noch besser die Worte gewählt „Volkswirtschaft" und „erhalten": denn
ein Heer will auch ausgerüstet, nicht bloß ernährt sein. Wir fassen daher
unsere Forderung so, daß im konkreten Kriegsfalle die heimische Volkswirtschaft
imstande sein soll, die unmittelbaren Lebensbedingungen von Heer und Flotte
zu sichern. Den Wert dieser speziell kriegerischen Unabhängigkeit mögen einige
Sätze veranschaulichen, die ich einem Aufsatze des Hauptmanns Deutelmoser aus
den Vierteljahrsheften unseres Großen Generalstabes (Jahrgang 1908 Heft 3)
entnehme. Es heißt da über das Verhältnis der Nord- und Südstaaten im
amerikanischen Sezesstonskriege (1861 bis 1864), der trotz hoher Kriegsbegeisterung
und anfänglich zweifelloser militärischer Überlegenheit der Südstaaten schließlich
mit deren Überwindung endete: „Der Süden zog seinen Erwerb fast aus¬
schließlich aus den durch Negersklaven bebauten Pflanzungen, wo Baumwolle,
Zucker, Reis, Indigo und Tabak gewonnen wurden. Der Anbau von Brod¬
getreide war nur gering, die Industrie vergleichsweise wenig entwickelt. Hieraus
ergab sich eine überaus störende wirtschaftliche Abhängigkeit vom Auslande, die
sich während des Bürgerkrieges natürlich fortwährend steigerte. Sie war um
so nachteiliger, als sich im Süden größere Geldmittel bei weitem nicht so leicht
flüssig machen ließen wie im Norden."
„Dieser war nicht nur an sich reicher, sondern auch durch die Art seiner
Landeserzeugnisse weniger auf fremde Einfuhr angewiesen. Seine Bewohner
trieben Getreide- und Futterbau, Schlachtvieh- und Pferdezucht. Sie gewannen
auf eigenem Grund und Boden Eisen, Kupfer, Blei, Hölzer für den Schiffbau,
Hanf und Steinkohle. Ihre Industrie stand in wirtschaftlicher Blüte, ihre Kriegs¬
und Handelsflotte beherrschte das Meer und die Binnengewässer. Sie konnten
also ihre Erzeugnisse unmittelbar dem Heere nutzbar machen. Ihrem Gegner
aber vermochten sie durch die Blockade seiner Häfen um so größeren Schaden
zuzufügen, als ihn: dadurch nicht nur die Einfuhr von Kriegsbedarf erschwert,
sondern auch seine wichtigste Einnahmequelle, die Baumwollausfuhr nach Europa,
unterbunden wurde."
„Die wirtschaftliche Konjunktur im Norden wurde, vom Daniederliegen
ganz vereinzelter Industriezweige abgesehen, durch den Krieg nicht schlechter,
sondern besser."
„Nur selten kam es vor, daß sich (im Süden) eine befohlene Truppen¬
gestellung verzögerte, und wenn ein solcher Fall eintrat, lag das nie am
Nekrutenmangel, sondem stets am Fehlen der nötigen Waffen und Ausrüstungs¬
stücke, deren Beschaffung große Schwierigkeiten machte."
„Man blieb (in: Süden) mit der Artillerie erheblich im Rückstände, da
deren gesamtes Material nur vom Auslande geliefert werden konnte."
Wenn man diesen Ausführungen noch hinzufügt, daß die Südstaaten über
ein weit besseres Material von Führern und Offizieren verfügten: wer kann
dann noch bezweifeln, daß den Sezessionskrieg im Grunde nur die wirtschaftliche
Selbständigkeit und Überlegenheit der Nordstaaten entschieden hat und daß
diese Momente für die Entscheidung jedes Krieges von höchster Bedeutung sind?
Und doch gibt es zahlreiche Gegner der sogenannten wirtschaftlichen Selbst¬
versorgung.
Von diesen Gegnern wollen wir nun einen herausgreifen, der nicht auf
extrem-freihändlerischen Boden steht, sondern Anhänger unserer zeitigen Wirt¬
schaftspolitik ist, und dessen Gegnerschaft deshalb frei bleibt von dem Verdacht
der Tendenz. In dem lesenswerten Buche „Fleischeinfuhr?" sagt Herr Dr. Müller,
die Theorie von der wirtschaftlichen Selbstversorgung, „wie sie sich in dem
Bestreben nach gänzlicher wirtschaftlicher Emanzipation vom Auslande aus¬
drückt, . . . würde in ihrer konsequenten Durchführung nichts anderes bedeuten
als den gänzlichen Verzicht Deutschlands auf seine wirtschaftliche Weltmacht¬
stellung". Die führenden Organe unserer Landwirtschaft seien kurzsichtig und
geradezu verblendet (Tag vom 19. März 1912), wenn sie darauf abzielten, die
93 Millionen Mark hinwegzudrücken, die an Schlachtvieh und Fleisch jährlich
zu uns aus dem Auslande hineinkämen; man übersähe dabei die Milliarde
Mark unserer Tributpflicht an das Ausland für Futtermittel (1911). „Ist es
wirklich wahr, daß ein Krieg für uns die Unterbindung der Auslandszufuhr
zur Folge haben muß, dann kommt es tatsächlich gar nicht darauf an, ob uns
die 41/2 Prozent unseres zeitigen Fleischbedarfes, die wir jetzt noch aus dem
Auslande beziehen, entgehen, sondern die Frage wird akut, was denn aus
unserer heimischen Produktion werden soll, wenn ihr Betriebs-(Futter°)mittel in
der vorher nachgewiesenen enormen Höhe vorenthalten werden."
Diese Ausführungen enthalten nach einem zutreffenden Vordersatz ein recht
anfechtbares Schlußergebnis. Durchaus richtig ist, daß wir nicht wieder „boden¬
ständig" werden können. Sombart nennt es eine abenteuerliche Vorstellung,
zu glauben, ein Volk wie das deutsche sei noch der Erhaltung aus eigener
(Boden-) Kraft fähig. Und in der Tat: allein an Rohbaumwolle, die wir ja
selbst gar nicht haben, brauchen wir jährlich fast für ^2 Milliarde Mark
(1910); das Eisenerz unserer eigenen Bergmerke genügt auch uicht annähernd
für unsere Eisenproduktion, wir holen uns gewaltige Mengen aus Schweden
und Südrußland; für unseren Bedarf an Bau- und Nutzholz würde der deutsche
Hochwald auch dann nicht ausreichen, wenn er das doppelte der jetzigen Fläche
ausmachte; und schon für das Jahr 1900 hat man berechnet, daß unser Pferde¬
bestand vervierfacht, unser Rindviehbestand verdreifacht, unser Schafbestand ver-
neunfacht werden müßte, um den inländischen Bedarf an Häuten und Wolle
M decken. Die deutsche Volkswirtschaft ruht eben heute schon auf einer etwa
dreimal so großen Bodenfläche, als sie das Deutsche Reich mit seinen Grenzen
umspannt; nur befindet sich diese Fläche nicht in mathematischer Zusammen¬
gehörigkeit, sondern sie liegt zersprengt über alle Erdteile. Trotzdem und trotz
eines, absolut genommen, enorm gestiegenen Außenhandels sind wir heute ini
ganzen nicht abhängiger vom Auslande als früher. Sombart meint sogar, daß
wir immer unabhängiger werden, daß verhältnismäßig der Außenhandel einen
immer geringeren Anteil an unserer Volkswirtschaft habe, da diese innerlich
immer mehr erstarke. Die Lösung dieser merkwürdigen Erscheinung ist darin
zu finden, daß wir früher Fabrikate aus dem Auslande holten, heute fast nur
noch Rohprodukte einführen und den Produktionsprozeß von Anfang bis zu
Ende nach Deutschland selbst verlegt haben. Wir selbst liefern jetzt die Arbeit
und führen die Fabrikate aus; wir bezahlen in wachsendem Umfange fremden
Boden mit heimischer Arbeit, und nur so ist es uns möglich, auf einer ver¬
hältnismäßig kleinen Fläche unsere gewaltige Volkszahl zu ernähren.
Daß nun aber hierin schon eine Gefährdung unserer kriegerischen Leistungs¬
fähigkeit liege, kann bei näherem Zusehen nicht zugegeben werden. Für die
Ausrüstung des Heeres und seine und des Volkes Ernährung, wie sie
Feldmarschall Moltke im Auge hat, kann es unmöglich sehr darauf ankommen,
daß auch alle hierzu nötigen Rohprodukte im Inlande gewonnen werden. Unsere
kriegerische Schlagfertigkeit leidet nicht darunter, daß das Eisenerz, aus dem
unsere Kanonen und Gewehre gefertigt werden, in fremden Bergwerken
gewonnen wird, und daß das Schuhzeug, die Sättel oder Tornister unserer
Soldaten aus Häuten von Tieren gemacht werden, die sich in Amerika, Rußland
oder sonstwo getummelt haben. Diese Rohprodukte werden immer, auch wenn
einzelne Einfuhrquellen oder Einfuhrwege versperrt sind, auf anderem Wege
zu uns eindringen können, zumal sie nicht Kriegskonterbande sind. Ungemein
viel wichtiger ist, daß wir die Produktionsstätten und die gelernten Arbeitskräfte
im Inlande haben, und nicht, wie seinerzeit die amerikanischen Südstaaten,
genötigt sind, Waffen, Munition und Ausrüstungsgegenstände von auswärts
einzuführen. Was aber die Erhaltung unseres Volkes während des Krieges
betrifft, so ist hinsichtlich der für die Bekleidung notwendigen Rohprodukte
(Baumwolle, Wolle, Häute) außerdem zu sagen, daß der Bedarf an ihnen
einer bedeutenden Einschränkung und Zusammenziehung fähig ist; denn Kleider
und Schuhzeug werden im täglichen Leben nicht unbedingt von heute auf morgen
gebraucht, sondern wenn sie knapp und teuer werden, kann ein neuer Einkauf
durch Ausbessern und Flicken noch sehr lange hingezogen werden.
Nicht so sehr viel anders verhält es sich mit den Rohprodukten, die unsere
Landwirtschaft für ihren Betrieb aus den: Auslande beziehen muß. Es sind
dies Futter- und Düngemittel im Werte von jährlich etwa V2 Milliarde Mark
in normalen Jahren (das dürre Jahr 1911 scheidet wegen unseres Kartoffel-
und Futtermittelausfalls von über einer Milliarde Mark Wert für unsere
Betrachtungen besser aus). Von Futtermitteln kommen hauptsächlich in Betracht:
Futtergetreide (Futtergerste und Mais), Futterrüben, Rauhfutter (Klee und Hell)
und Abfälle (Kleie, Schlempe, Zuckerrübenschnitzel, Ölkuchen). Es ist nun höchst
unwahrscheinlich, daß es einem oder auch mehreren Feinden Deutschlands je
gelingen würde, die Zufuhr dieser Futtermittel wesentlich zu beeinträchtigen.
Die zentrale Lage Deutschlands, die ja allerdings einerseits Angriffen von allen
Seiten offen steht, hat andrerseits den großen Vorzug, daß eine Absperrung
derartiger Zufuhren überhaupt kaum möglich ist. Wir grenzen an zwei offene
Meere und an nicht weniger als sieben ausländische Staaten. Schon jetzt im
Frieden gehen große Mengen von Futtergerste (übrigens auch von Weizen) aus
Südrußland und den Donauländern über ausländische, nämlich die nieder¬
ländischen Rheinhafen ein. Bei einer Blockierung unserer Seeküste würden
vielleicht auch noch die Häfen von Genua, Trieft und Libau eine Rolle spielen,
jedenfalls aber die ausgedehnten Landgrenzen vom Feinde nicht verschlossen
werden können. Auch können die genannten Futtermittel unmöglich als Kriegs¬
konterbande angesehen werden, soweit es sich nicht etwa um direktes Pferdefutter
handelt (Hafer, Heu). Endlich ist das liebe Vieh viel weniger verwöhnt als
der Mensch, und läßt sich eine Variation in der Futterart je nach der Konjunktur
der Einfuhrmöglichkeiten ganz gern gefallen. Hier sehen wir also keine bedroh¬
liche Abhängigkeit vom Auslande.
Schwieriger liegt die Sache schon beim Brodgetreide (Weizen, Roggen),
weil der Mensch desselben tagtäglich bedarf. Beim Weizen haben wir es mit
einem Einfuhrbedarf von etwa 30 Prozent zu tun; an Roggen haben wir seit
einigen Jahren nicht unerheblich ausgeführt; auch wurde Roggen früher in
erheblichen Mengen bei uns verfüttert und wird es in geringeren Mengen wohl
auch jetzt noch, sobald die Futtergerste im Preise steigt, wie seit Herbst 1911.
Man kann wohl also annehmen, daß unsere Ernte an Weizen und Roggen
zusammen unseren Brotbedarf zu etwa vier Fünfteln deckt, daß wir also jährlich
etwa 20 Prozent dieses Bedarfs einführen müssen. Dieses Verhältnis kann
immerhin noch als ein unbedenkliches gelten im Gegensatz zu England, dessen
Ernte statistisch einige Wochen seinen Bedarf decken mag, wo aber in der Praxis
eine fast tägliche Zufuhr notwendig zu sein scheint, da schon gelegentlich jedes
größeren Streiks Verpflegungsschwierigkeiten eintreten. Gerade der Umstand,
daß infolge unserer geographischen Lage wie unseres Einfuhrscheinsystems
Deutschland für einen großen Teil von Europa den Getreidedurchfuhr- und
Vermengungsverkehr sowie die Mutterei besorgt, bürgt uns dafür, daß auch im
Kriege das Getreide seine im Frieden gewohnten Bahnen nicht ganz verlassen
wird. Nicht nur an Roggen, sondern auch an Weizen haben wir ja ebensowohl
eine große Einfuhr wie Ausfuhr, und eben erst hat England nicht unerhebliche
Mengen deutschen Weizens bezogen, da infolge des Bergarbeiterstreiks und der
dadurch hervorgerufenen Kohlen- und Frachtverteuerung der Getreidezufluß aus
den fernen Überseeländern nach England stockte. Schließlich kommt beim
Getreidebedarf, im Gegensatz zum Fleischbedarf (siehe unten), aber ähnlich wie
bei den Futtermitteln, immer noch in Betracht, daß es sich um tote Ware handelt, die
dem Verderben nicht so leicht ausgesetzt ist, und die auch im Kriegsfalle von den ver¬
schiedensten Seiten und auf den mannigfachsten Wegen zu uns hereinkommen kann.
Wenn ein empfindlicher Punkt an unserer wirtschaftlichen Rüstung vorhanden
ist, so ist es unsere Fleischversorgung, von der zu sprechen nun noch erübrigt.
Denn obwohl unser Fleischbedarf nur zu etwa 41/2 Prozent aus dein Auslande
kommt, so fällt bei der Einfuhr schwer ins Gewicht, daß ihre Möglichkeit durch
die verschiedensten Rücksichten, insbesondere solche veterinärer und sanitärer Art,
beengt ist. Die Mehrzahl der europäischen Länder scheidet als Bezugsquelle für
lebendes Vieh aus, weil sie entweder selbst einführen müssen, wie England,
oder noch weniger Viehstämme haben als wir, wie Schweden, vor allem aber,
weil sie verseucht sind, wie Rußland und die Balkanländer, und die Einfuhr von dort
unseren eigenen Viehbestand aufs schwerste gefährden würde. Es bleibt eigentlich
nur Dänemark und in geringerem Maße Österreich-Ungarn für unsere Aus¬
landsversorgung mit lebendem Vieh übrig, während ein Versuch mit der Einfuhr
französischen Schlachtviehs wieder fallen gelassen werden mußte. Der oben
erwähnte Dr. Mueller sagt darüber: „Die Einfuhr lebenden Schlachtviehs erweist
sich ebensowohl bezüglich der erforderten Menge, als auch für die Beeinflussung
der Preisbildung praktisch als unwirksam. . . . Unter allen Umständen ist sie
aber wegen der ständigen Gefahr der Seucheneinschleppung ... zu beanstanden
und am besten. . . überhaupt auszuschließen." Dieser Standpunkt darf nicht
als zu rigoros erscheinen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das freihäudlerische
England aus gleichen Gründen so ziemlich alle Länder außer Kanada und den
Vereinigten Staaten gegen die Einfuhr lebenden Schlachtviehs sperrt.
Es bleibt also für unsere Fleischversorgung die Einfuhr frischen oder
gefrorenen Fleisches übrig. Sie ist gegenwärtig nach zwei Richtungen
erschwert: erstens durch einen Zoll, der im Verhältnis zur Lebendeinfuhr sehr
hoch ist; zweitens durch die Bestimmung des Z 12 des Reichs - Fleischbeschau¬
gesetzes vom 3. Juni 1900, wonach behufs sanitärer Nachprüfung nur ganze
oder (bei Rindern und Schweinen) halbe Tierkörper eingeführt werden dürfen,
und die Mitlieferung von Brust- und Bauchfell, Lunge, Herz und Niere im
natürlichen Zusammenhange vorgeschrieben ist. Da das in dieser Gestalt gelieferte
Fleisch, auch wenn gefroren, einen längeren Transport nicht aushält, ohne den
Geruch der Eingeweide anzuziehen, so hat sich eine bedeutende Einfuhr von
Fleisch bei uns nicht entwickelt, und fast uur Dünemark und die Niederlande
kommen hierfür in Betracht.
Vom Standpunkt unserer wirtschaftlichen Rüstung muß diese geringe Ent¬
wicklung der Vieh- und Fleischeinfuhr unbedingt erwünscht erscheinen. Ja, wenn
auch anzunehmen ist, daß in einem Kriege zwischen europäischen Großmächten
Dänemark und die Niederlande neutral, und die Zufuhr aus ihnen nicht
gefährdet sein würde, so muß man doch die völlige Unabhängigkeit Deutschlands
von ausländischer Vieh- und Fleischeinfuhr als erstrebenswertes Ziel bezeichnen.
Und zwar selbst dann, wenn dieses Ziel nur unter Verringerung unseres
Getreidebaues zu erreichen wäre. Jedenfalls aber ist eine Parallele zwischen
unserer Tribuipflicht an das Ausland für Futtermittel und derjenigen für
Schlachtvieh verfehlt. Denn es ist eben ein großer Unterschied, ob man tote,
beliebig transportfähige und der Art nach untereinander meist ersetzbare Futter-
Mittel (Rohprodukte) einzuführen genötigt ist, dabei aber auch noch unter vielen
sich bietenden Bezugsquellen und Bezugswegen wählen kann: oder ob man das
höchststehende Fabrikat der Landwirtschaft (Schlachtvieh) — das, weil lebendig,
beim Transport allen möglichen Gefahren ausgesetzt ist, — einführen muß,
und zwar von einer ganz bestimmten Bezugsquelle und nieist auf einem ganz
bestimmten Wege, der verhältnismäßig leicht unterbunden werden kann. Von
höchster Bedeutung ist, daß Schlachtvieh im Inlande in großen Mengen dauernd
herangezogen wird, daß Produktionsstätten und Produzenten hierfür vorhanden
sind, daß es an dem Viehstammkapital nicht fehlt, von dem nötigenfalls eine
Weile gezehrt werden kann. Daß dagegen das inländische Schlachtvieh teilweise
mit ausländischem Futter herangezogen wird, beeinträchtigt unsere Rüstung fast
ebensowenig, als daß unsere Kanonen teilweise aus ausländischem Eisenerz
gefertigt sein mögen.
Aus diesen Gründen empfiehlt es sich auch für uns durchaus uicht, dem
Beispiele Englands zu folgen und die Einfuhr argentinischen Gefrierfleisches zu
erleichtern. Wir wollen durchaus nicht bezweifeln, daß sich der Markt für
frisches Fleisch in England ganz ebenso unabhängig von dem Markt für „Frost¬
fleisch" erhalten hat, wie bei uns etwa der Buttermarkt von dem Palminmarkt
oder wie der Markt lebender Fische von demjenigen toter Fische; daß also
unsere Landwirtschaft unter der Konkurrenz des billigeren, aber auch minder¬
wertigen Gefrierfleisches kaum zu leiden haben würde. Worauf es vom kriegerischen
Standpunkt aus ankommt, ist, daß nur derjenige, welcher die Seegewalt besitzt
und sie unter allen Umständen zu behaupten gedenkt, soviel auf eine einzige
Karte — hier die Schiffslinie zwischen Buenos-Aires und dem allein mit den
nötigen Vorrichtungen zum Auftauen usw. versehenen Heimathafen — setzen
darf. Es wäre unverantwortlich, wenn wir, ohne Seeherrschaft, dem Risiko
dieses Beispiels folgen wollten. Eine Unterbindung der genannten Schiffahrts-
Linie, die England fast ein Drittel seines gesamten Fleischbedarfs liefert, würde
die Verpflegung unseres Volkes direkt in Frage stellen.
Gegenwärtig zeigt ein Vergleich mit England die verhältnismäßige Solidität
und Überlegenheit unserer wirtschaftlichen Rüstung. Wir haben für unseren
Brotbedarf zu etwa vier Fünfteln, für unseren Fleischbedarf zu etwa neunzehn
Zwanzigsteln Eigendeckung und können hoffen, daß bei der Mannigfaltigkeit
unserer Grenzen keine Kombination fremder Mächte imstande sein wird, die
Zufuhr des Fehlenden abzuschneiden. Auch läßt sich wohl annehmen, daß
schlimmstenfalls der Konsum einer bescheidenen Einschränkung oder Abwechslung
mit anderen Lebensmitteln (Kartoffeln, Gemüse) fähig ist. Lasen wir doch vor
einiger Zeit von einem allgemeinen Fleischboykott in Amerika. In England
dagegen ist die Quote der Eigendeckung so gering geworden, daß sie praktisch
kaum mehr in Betracht kommt, und daß bereits von heute auf morgen eine
Stockung der Zufuhr bedrohlich wirkt. Dazu ist dort diese Zufuhr einzig und
allein auf das Meer und den Schutz der eigenen Flotte angewiesen. Nichts
also als eine nüchterne Wahrheit hätte der Erste Lord der Admiralität aus¬
gesprochen, als er kürzlich sagte, die Kriegsflotte sei für England eine Not¬
wendigkeit, für Deutschland ein Luxus, wollten diese Worte ausschließlich vom
Standpunkt der Volksernährung, den: heutigen Angelpunkt englischer Politik,
verstanden sein.
England ist in einer Zeit, als es die einzige seebeherrschende Macht war,
vom Prohibitivsvstem (etwas wesentlich anderes war die seit 1828 geltende
„Gleitende Skala" nicht) fast unvermittelt (1846 bis 1849) zum Freihandel
übergegangen und hat alle Vorteile dieses Überganges genossen, bis neuerdings
andere Mächte unter kraftvollen, nationalen Regungen zu Weltmächten heran¬
gewachsen sind. Da nunmehr England einer Kombination mehrerer Mächte
nicht mehr unbedingt gewachsen ist, so muß es ein Zusammengehen z. B.
Deutschlands und Frankreichs unter allen Umständen zu verhindern suchen. Aus
der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Auslande ist damit bereits eine politische
geworden. Der hierin für das eigene Land liegenden Gefahr stehen Englands
einsichtige Kreise völlig offenen Auges gegenüber, aber mit dem Gefühl, daß
man nicht mehr zurück kann (Sir Edward Grey soll im vorigen Sommer direkt
auf Luthers „Ich kann nicht anders" hingewiesen haben). Joseph Chamberlain
hat um die Wende des Jahrhunderts mit ungeheurem Mut den Kampf gegen
die Volksstimmung aufgenommen, die seit den geschichtlich gewordenen Erfolgen
des englischen Freihandels im vorigen Jahrhundert auf eine Überschätzung der
Segnungen desselben eingeschworen ist. Aber es ist Chamberlain nicht gelungen,
seine Mitbürger hinzureißen; der englische Industriearbeiter, bzw. Wähler, will
sich nicht gefallen lassen, daß man ihm den Brotkorb nach seiner Ansicht höher
hängt; er will gut essen, mögen dafür diejenigen, die ihn regieren, schlecht
schlafen. Die Selbstsucht der in England rapide wachsenden Demokratie läßt
kaum die Möglichkeit einer Umkehr offen. Und das englische Volk, verwöhnt
durch die wirtschaftlichen Vorteile eines sechzigjährigen kaufmännischen Welt¬
bürgertums, scheint nicht mehr die Kraft und den Willen zu haben, die Lasten
einer unabhängigen Landespolitik und nationalen Selbstverteidigung auf sich
zu nehmen.
An unsere Erinnerung aber klopft leise jenes resignierte und gleichzeitig
prophetische Wort des Tacitus (Ost'maria 33): UrZentibu8 imporii latis niliil
jam pisestare Fortuna majus potest, quam Kostium cZisLvrciiam.
Das traurige Schicksal des Jörg Graff begann sich mählich wieder zu
erhellen. Er vermochte zwar noch oft in die heftigste Verzweiflung über seine
Blindheit zu geraten, aber es gab doch mancherlei Ablenkungen und bescheidene
Freuden, zumal wenn es um die Befriedigung seiner nicht geringen Eitelkeit
ging. Er war vor allem nicht wenig stolz darauf, daß von feiten des hohen
Rates der Nachdruck seiner Lieder auf ein Vierteljahr verboten ward, was sich
im Volke genugsam herumsprach und das Ansehen seines Namens verbreitete.
Es drängten sich nunmehr die Sachverständigen und Schaulustigen herbei, wenn
er irgendwo in einer Schenke sang, und mancher klugberechnende Wirt verstand
daraus seinen Vorteil zu ziehen. Besonders die ehrsame Innung der Gürtler
war es, die dem einstigen Zunftgenossen noch immer getreulich anhing und sein
abenteuerliches Schicksal mit gruseligen: Mitleid liber sich ergehen ließ.
Doch mehr noch als des blinden Sängers urwüchsig derbe, als sichere
Pfeile ins Herz des niederen Volkes abfliegende Lieder vermochte die Schönheit
und das seltsame Gehaben seiner Tochter die Neugier des lieben Publikums
zu reizen.
Felicitas begleitete den Vater stets in die Schenke und führte ihn auch
wieder nach Hause, tat aber im übrigen, als hätte sie keinerlei Anteil an allen,,
was sonst mit des Vaters „hofierendem" Gewerbe zusammenhing. Sie saß ganz
still und gelassen an seiner Seite, als gehörte auch sie den Zuhörern an, und
dankte auch keineswegs, wenn ein freigebiger Gast seinen Heller oder gar einen
Weißpfennig mit Geklirr auf den zinnernen Teller warf. Zuweilen trank ihr
ein Wohlgelaunter oder ein von ihrer Schönheit Betroffener kühnlich zu; dem
dankte sie nur, wenn es in allen Ehren geschehen konnte, und wußte sich
ansonsten jegliches ungeziemende Gespäße oder Gedenke so glatt vom Leibe
zu halten, daß den abgeblitzten Unternehmer gar bald eine reuige Verwirrung
überkam.
Dieses unnahbare, selbstsichere, einer vornehmen Patrizierin nicht unwürdige
Betragen war nun aber bei der Tochter eines Bänkelsängers, der Jörg Graff
ja schließlich all seiner Kunst zum Trotze war, etwas so Unerhörtes und Auf¬
reizendes, daß sich bald ein zierliches Kränzlein verschmitzter Legenden um die
spröde Jungfrau zu bilden begann. Die verwegenste darunter mochte wohl jene
sein, die da kecklich behauptete, die Felicitas sei gar nicht des Jörgen Kind,
sondern in früher Jugend von dem wilden Landsknecht aus einem edlen Hause
gestohlen und als eigen Kind erzogen worden.
So kränkend dieses Lügengespinst für den Jörg auch sein mochte, es hatte
doch sein Gutes, indem es ihm das Nürnberger Volk in hellen Scharen zutrug,
was wieder seinem Beutel sehr zustatten kam.
Nun aber war seit einiger Zeit eine merkliche Veränderung mit der Felicitas
vor sich gegangen, die selbst dem blinden Vater nicht verborgen bleiben konnte.
Ihr Wesen war noch stiller und zurückhaltender geworden, sie sprach in kargen
Worten nur das Allem ötigste und konnte zu Hause stundenlang in einer Ecke
sitzen und vor sich hinträumen. Und so mächtig war diese Sucht nach innerster
Einsamkeit in ihr geworden, daß ihr Mitleid mit dem Vater dagegen nicht
mehr aufkam. Sie hatte ihn sonst durch mauches kindlich fröhliche Wort und
manchen liebkosenden Scherz zu erheitern gewußt; nun aber ließ sie den blinden
Mann, als würde sie selbst an aller Daseinsfreude verzweifeln, in all seinein
Jammer oft in sich versinken und wußte ihm keinen Trost.
Der Blinde aber, schwankend zwischen Groll und Bestürzung über der
Tochter vermeintliche Lieblosigkeit, begann Gefahr zu wittern, als ginge da einer
um, der ihm die Seele seines Kindes zu rauben gewillt war. Oft sprang er
in kriegerischem Ungestüm empor und verlangte, von phantastischen Träumen
erhitzt, nach seinem guten Schwert, das er grimmig zu schwingen gedachte
gegen alle, die ihn mit List oder schändlicher Gewalt um sein Liebstes bringen
wollten.
Dann hatte Felicitas genugsam zu tun, den wilderregten Mann zu beruhigen,
und sie konnte es nur, indem sie ihre zitternden Hände lange in den seinen
ließ, die sie mächtig und ungestüm umschlossen hielten, als gelte es, dem Näuber-
sinn der ganzen Welt zu trotzen.
Am meisten ängstigte den Jörg, daß ihn Felicitas von Zeit zu Zeit allein
ließ, was vormals nie geschehen war. Sie wußte dann, aufs heftigste von
ihm befragt, ihre Abwesenheit stets zu erklären, als hätte sie auf dem Markte
oder bei der Nachbarin zu tun gehabt, was ja auch zum Teil der Wirklichkeit
entsprach.
Die volle Wahrheit gestand sie dem Vater nie. In Wahrheit hatte sie
sich eilig durch allerlei Nebengassen in der Richtung nach dein Tiergärtnertor
entfernt und war, vor dem Hause Dürers angekommen, mehrmals um deu
Platz herumgegangen und hatte dabei in scheuer Verwirrung zu des Meisters
Fenster hinaufgespäht.
Das wiederholte sich nun immer häufiger, und es geschah auch noch
in diesen Tagen, da Dürer sich längst in Augsburg beim kaiserlichen Hofhalt
befand. Felicitas hatte zwar von seiner rühmlichen Sendung erfahren, zumal
in Nürnberg viel davon gesprochen wurde, denn man war in der Bürgerschaft
und allem Volk nicht wenig stolz darauf, den großen Meister als getreuen Sohn
der Stadt vor des Kaisers Angesicht zu wissen.
Doch konnte sich Felicitas in ihrer wunderlich verworrenen Sehnsucht nicht
enthalten, den: Vater zu entfliehen und nach dem Erker des vornehmen, stillen
Hauses hinaufzuspcihen, ob der Zurückgekehrte nicht etwa doch das Fenster öffne
und sich ihr zeige.
Einmal aber, an einem Abend im Sommer, da sie schon wochenlang ver¬
geblich gewartet, pochte sie kurz entschlossen an des Meisters Tor, eine etwaige
Ausrede über die Ursache ihres GeHabens gar nicht erwägend.
Und im Augenblick wurde ihr auch schon geöffnet und zwar von einem
hübschen, zierlichen Jüngling, der ein fröhlich buntes Barett auf den langen
blonden Locken trug und offenbar das Haus gerade verlassen wollte.
Kaum sah er der Jungfrau blasses und erregtes Antlitz, als er mit großem
Erstaunen rief: „Ihr seid dem Jörgen Graff sein Kind! Das freut mich, schönes
Fräulein, daß ich Euch endlich in Wirklichkeit schaue! Mir ist Euer holdselig
Antlitz gar wohl vertraut, und manches Stündlein seid Ihr schon mit mir allein
im Kämmerlein gesessen!"
Felicitas aber, seine tolle Rede nicht beachtend, erwiderte kurz und streng,
sie wünsche zu Herrn Albrecht Dürer geführt zu werden.
Der wohlgelaunte Jüngling versetzte hierauf, der Meister weile noch in
Augsburg und dürfte dort geraume Zeit noch bleiben, da ihm mancherlei ehren¬
volle Aufträge zuteil geworden.
Er zog sodann mit artigen Anstand das Barettlein und erklärte, er sei
der Hans Springinsklee aus Dinkelsbühl, und die Jungfrau möge sich vor ihm
nicht fürchten, er wolle ihr vielmehr etwas Wunderliches zeigen, das ihr gar
sehr gefallen werde.
Und ohne ihre Antwort abzuwarten, ergriff er sie vertraulich und doch so
ehrerbietig an der Hand, daß ihm Felicitas wortlos die Treppe hinauf folgte,
in einen luftigen Saal mit hohen Fenstern, wo auf langen Tischen allerlei
Handwerkzeug herumlag, indes die Wände entlang und rings in allen Ecken
die wunderlichsten Dinge aufgestapelt waren, wie große Hirschgeweihe und Muschel¬
gewächse, erotische Tongefäße und Schnitzereien, Standarten und Rüstungen,
Gliederpuppen und Gipsmodelle, die sich alle in phantastischer Unordnung zu
befehden schienen.
Indes Felicitas den Raum erstaunt betrachtete, hatte der junge Springinsklee
rasch einen Holzstock geschwärzt und auf einer Handpresse einen kleinen Druck
hergestellt, den er nun der Jungfrau mit zuversichtlichen Lächeln überreichte
Es war des Meisters köstliches Bildnis „Maria, von vielen Engeln verehrt!"
Felicitas aber hatte kaum einen Blick auf die Zeichnung getan, als ihr
Antlitz in heftiger Röte aufflammte und das Blatt ihrer bebenden Hand entglitt.
Der junge Springinsklee bückte sich rasch danach und schaute nun selbst
verdutzt darein, denn er war auf solche Wirkung nicht gefaßt gewesen. Er sah,
wie die Jungfrau die Zeichnung großen Auges betrachtete, als wollte sie jeden
Strich ihrer Seele einprägen; er hörte das erregte Atmen ihrer Brust, und es
ward ihm plötzlich bange, als hätte er das Bild nicht zeigen dürfen.
Und so erschrak er nicht wenig, als sich Felicitas jählings mit flehender
Gebärde an ihn wandte und ihn beschwor, ihr das Blatt nach Hause mit¬
zugeben, wo sie es wie ein Kindlein behüten und betreuen wolle.
Das war dem verlegenen Malerknaben keineswegs willkommen, denn er
wußte nicht, ob es dem Meister recht wäre.
„Ihr könnt es morgen holen, Jungfrau, bis ich die Meisterin gefragt, die
jetzo nicht zu Hause ist," versuchte er auszuweichen.
Felicitas aber sagte entschlossen und drohend:
„Ich geb's Euch nimmer! Ihr müßt es mir lassen!"
Und als gelte es, das Bild aufs schnellste in Sicherheit zu bringen, wandte
sie sich hastig der Tür zu und lief in Eile die Treppe hinab.
Im ersten Augenblick gedachte der junge Springinsklee ihr nachzusetzen.
Dann aber zuckte er die Achseln, als wäre da nichts mehr zu ändern, ergriff
sein Barettleiu und folgte ihr geruhigen Schrittes nach.
Im dunkelnden Hausflur traf er auf Dürers Magd Susanne, die ein Licht
in der Hand hielt und ihn mißtrauisch fragte, wer denn die tolle Weibsperson
gewesen, die eben die Treppe herab gerannt sei und sie fast umgeworfen habe.
Ob's etwa eine Diebin war?
Der Jüngling beruhigte die Gute und meinte, es sei ein Modell des
Meisters gewesen, und diese Art von Frauenzimmern sei immer ein wenig verrückt.
Da gab sie sich lachend zufrieden und sagte, das sei sie hier in diesem Hause
schon gewohnt, und es könne ihr auch recht sein, denn es sei ein lustig Leben.
Der Malgeselle aber klopfte ihr schalkhaft auf die rauhe Wange und schritt
durch die Tür hinaus, die Felicitas in Eile offen gelassen.
Als die Dürerin erfuhr, was während ihrer Abwesenheit sich zugetragen,
gab es am nächsten Morgen eine böse Unterredung mit dem jungen Springinsklee.
Er mußte sich nach einer reumütigen Abbitte bequemen, ein Schreiben an den
Meister nach Augsburg zu richten, worin er ihm den Vorfall beichtete und
seiner Zerknirschung gehörigen Ausdruck gab.
Es kam zwar keine Antwort von Dürer selbst, wohl aber erschien nach
einigen Tagen Herr Willibald Pirkheimer, begab sich unter viel Gepuste und
Gestöhne in den Gesellensaal und nahm dort den Springinsklee angesichts aller
beim Ohrläppchen, was aber eher einer Liebkosung als einer Züchtigung glich.
Frau Agnes, die von seiner Ankunft durch die Magd Susanne erfahren,
setzte sich entschlossen die Haube zurecht, band sich eine frische Schürze um und
begab sich ebenfalls in den Gesellensaal.
Dort fand sie den alten „Störenfried und Widersacher", wie sie ihn gern
und noch etwas schärfer bei sich selbst benannte, mit dem Springinsklee, dem
Scheufelin und den anderen Formschneidern und Malknaben vor den Holz¬
schnitten zu des Kaisers Triumphbogen in ein ernstes und angelegentliches
Kunstgespräch vertieft, wie es der leutselige Ratsherr gern mit der Jugend zu
üben pflegte.
Die Dürerin begrüßte ihn nicht sonderlich freundlich, doch immerhin mit
dem gebührenden Respekt und fragte sogleich, ob Albrecht ihm etwa über die
Missetat des Springinsklee geschrieben, da sie selbst noch keine Zeile darüber
erhalten.
Herr Pirkheimer erwiderte mit lächelnder Höflichkeit, ihre Vermutung sei
allerdings richtig. Der Meister habe sich dahin geäußert, daß er diesem Vorfall
keinerlei schlimme Bedeutung beilege, ja daß er ihm sogar willkommen sei,
denn er hätte der Jungfrau ohnehin früher oder später einen Abdruck des
Bildes übersandt.
Frau Agnes war klug genug, ihren Ärger hinunter zu würgen und sich
im Gegenteil erfreut zu zeigen über die Nachsicht des Gatten, wobei aber dem
jungen Springinsklee aufs neue ein strafender Blick zuteil ward.
Dahingegen wundere es ihn. fuhr der Ratsherr fort und konnte dabei
ein leise spöttelndes Lächeln nicht unterdrücken, daß Frau Agnes ihn nicht nach
weit Wichtigerem als solchen Kleinigkeiten gefragt. Es werde ihr gewiß will¬
kommen sein, zu hören, daß Dürer den gütigen Kaiser Maximilian und manch
andern großen und mächtigen Herrn kunterfeyt und daß ihm hohe Ehren,
darunter auch ein ritterlich Wappen, verliehen worden. Auch habe er die
freudige Botschaft zu überbringen, der Meister werde in kurzer Zeit, vermutlich
schon am Tage „p08t imtivitatiZ Nariae", heimkehren, und habe ihn beauftragt,
dieses auch seiner lieben Hausfrauen mit schönen Grüßen mitzuteilen.
Da gab sich die Dürerin zufrieden und vergaß ein Augenblickchen sogar
ihrer üppig blühenden Abneigung gegen den alten Feind, der nun bereits seit
fünfundzwanzig Jahren in seiner wuchtigen Unbezwinglichkeit zwischen ihr und
dem Gatten stand.
Sie fragte ihn, da die Magd soeben das Frühstückbrot für die Maler¬
knaben brachte, ob ihm ein Gläschen feurigen Ungarweines nicht willkommen
sei, der dem Meister unlängst von einem Verehrer seiner Kunst gesandt worden.
Herr Pirkheimer sträubte sich keineswegs dagegen, ja es schien dem alten, in
allen Sätteln zurechtgewiegten Diplomaten ein besonderes Vergnügen zu sein,
mit Frau Agnes freundlich und artig zu tun, als übersonnte beider Seelen ein
fröhlicher Sommertag, indes in Wahrheit das unterirdische Grollen immer¬
währenden Gewitters vorhanden war.
Und als er sich nach einiger Zeit empfahl, geschah es scheinbar im besten
Einvernehmen, wobei die uralte Lüge von Mensch zu Mensch, zuweilen auch
Höflichkeit genannt, auf gute Rechnung gekommen war.
Felicitas war an jenem Abend atemlos heimgekehrt und hatte gehofft, der
Vater werde sie nicht vermissen. Sie wurde aber nicht nur in ärgerlicher
Ungeduld von ihm selbst erwartet; es saß noch ein anderer da, der sie mit
vorwurfsvoll besorgten Blicken empfing. Das war Hans Scherlin, ein junger
Bäckergeselle aus der Nachbarschaft, der sich seit ewiger Zeit in entschiedener
Weise um sie bemühte.
Felicitas verstand es, das Marienbild, das sie noch in der Hand trug,
geschickt hinter ihrer Schürze zu verbergen, und sagte dem Vater, sie habe sich
im Krämerladen, wo sie ein Stück Wollzeug gekauft, im Geplauder mit einer
Nachbarin verspätet. Und wirklich trug sie auch das Wollzeug in der Hand,
das sie sich auf dem Heimwege verschafft hatte.
Der Blinde aber begann nunmehr zu jammern und zu klagen, wie ihn
sein einzig Kind in all seinen: Elend lieblos verlasse, und als Felicitas, im
Unmut über des Scherlins Anwesenheit, in trotzigem Schweigen verharrte,
wurde er von heftigem Zorne ergriffen und fing ein so wüstes Geschimpfe und
Gefluche an, daß die Leute auf der Gasse sich sammelten und Meister Unfug
besorgt aus der Werkstatt heraufgesprungen kam.
Felicitas aber war in ihre Kammer gegangen und hatte sich weinend aufs
Lager geworfen. Nach einiger Zeit, als es draußen wieder ruhig geworden,
vernahm sie die schlürfenden Schritte des Vaters und hörte, wie er sich ängstlich
nach ihrer Tür tappte.
Da stand sie auf und öffnete ihn: und strich ihm mit ihren linden Händen
leise übers Antlitz, wobei der Blinde ganz stille hielt, als käme es wie ein
Segen über ihn, den er sich lang ersehnt.
Felicitas aber fragte den Vater, ob der Scherlin fort sei, denn sie wolle'
ihn heute uicht mehr sehen.
Er sagte, der Geselle sei traurig weggegangen, und es sei nicht schön von
ihr, den guten Knaben, mit dem er sich besser verstehe als mit irgendeinem,
so schnöde zu behandeln.
Felicitas preßte die Lippen zusammen und schwieg. Was sollte dieser
fremde Geselle in ihrem armen Leben, das ganz nur dem einen, großen, ein¬
samen Traume gehörte?
Der Scherlin hatte es wunderlicherweise verstanden, sich in des Vaters
Gunst zu setzen, was seit dessen Erblinden sonst noch keinem gelungen war.
Er wußte dem Vater, dem er sich einst in einer Schenke mit dem vollen Wein¬
kruge genähert, mit kluger Neugier immer wieder nach seinen alten Kriegs¬
fahrten auszufragen, und hatte sich damit seiner schwächsten Seite versichert.
Nun saß er oft an des Vaters Tisch und sprach mit ihm und schaute
dabei unverwandt nach ihr hinüber, mit heißen, bittenden und ihr so unerträg¬
lichen Blicken.
Unter solchen Gedanken hatte Felicitas den Vater in die Stube zurück¬
geführt und schlug nun Feuer, um das Öllämpchen anzuzünden und den Tisch
mit dem ärmlichen Abendbrot zu decken.
Bein: Aufflackern der Lampe gewahrte sie einen rätselhaften Schiinnrer in
der Ecke, den sie sich nicht zu erklären wußte. Sie ging darauf zu und sah,
aufrecht an die Wand gelehnt, des Vaters großes zweihändiges Landsknecht¬
schwert, das er bisher in einer Truhe mit Sorgfalt verwahrt gehalten.
Erschrocken fragte sie den Vater, warum er das Schwert herausgenommen
und wer ihm dabei behilflich gewesen.
Der Blinde aber erzählte ihr freudig erregt, der Scherlin habe das Schwert
auf seinen Wunsch hervorgeholt und er habe hierauf dem staunenden Gesellen
gezeigt, wie er einst als frummer Knecht sein treues Schwert geschwungen,
wobei aber die Stube allmählich zu eng geworden, so daß der Scherlin,
in Angst, einen Hieb zu erwischen, sich plötzlich unter den Tisch ver¬
krochen habe.
Der Blinde lachte, sich dessen erinnernd, gewaltig auf, Felicitas aber
meinte besorgt, sie wolle das Schwert aufs neue in die Truhe legen, denn die
blanke Klinge dort in der Ecke wolle ihr nicht gefallen.
Dagegen erhob nun der Vater heftigen Einspruch und verlangte, es müsse
sein Schwert, das zeitlebens sein bester Freund gewesen, von nun an stets bei
ihm in der Stube lehnen, denn anders vermöge er die Schrecken seiner Ein¬
samkeit nicht mehr zu ertragen.
Da gab Felicitas, um den Vater nicht abermals zu erregen, seufzend
nach, und der Blinde, seines Willens froh, begann in mächtigen Zügen ans
seinem Kruge zu trinken.
„Felicitas," sagte er dann, sich ans Fenster setzend, „es ist eine klare und
helle Nacht. Wie dichtgereiht die Sterne draußen am Himmel stehen, es ist
als wie ein einzig flammendes Licht!"
So pflegte er oft zu sprechen: als ob er alles noch sahe und seine Finsternis
verleugnen wolle.
Felicitas trat an seine Seite und sah in den Sternenhimmel hinauf.
„Sie steh'n in wunderlicher Ordnung," bestätigte sie, „die großen kühn,
wie funkelnde Steine auf dunklem Sammet, die kleinen in sanften munteren
Scharen, wie Blumen auf der Wiese vor dem Tore." Und nun mußte sie dem
Vater, der begierig nach den seltsamen Bildern der Sterne fragte, noch vieles
verkünden, ob sie wohl dieses gewahre und jenes, was er einst auf den nächt¬
lichen Lagerungen sich ersonnen und gemerkt.
Dann saßen sie wieder bei der Lampe nieder, und der Vater begehrte
uach seiner Laute. Felicitas brachte sie ihm, trug aber auch verstohlen das
Marienbildnis herein, das sie nunmehr vor sich auf den Tisch breitete und
immerfort betrachtete.
Der Vater aber sang sich eines seiner kernigen Büßerlieder, wie er sie einst
oft, von flüchtiger Reue erfaßt, inmitten seiner wilden Zeit, im Felde erdacht.
Es war ein „Klagelied wider Fleisch und Blut, daß Gott helfen und raten möge".
(Fortsetzung folgt)
s ist auffallend, wie wenig zahlreich die eigentlichen Gegenwarts¬
menschen unter uns sind. Die meisten, wenn sie in sich den
heißersehnten Zustand seelischer Gesundheit, Ganzheit, Ungebrochen¬
heit herstellen wollen, also das, was wir mit dem schmerzvollen
Wort „Glück" benennen, greifen entweder in die Vergangen¬
heit oder in die Zukunft. Erinnerungen oder Wünsche sind der Quell, aus
dem wir unser Glücksbedürfnis zumeist befriedigen, denn das Glück in die
Gegenwart hineinzuzwingen, die Miriaden kleiner Störungen wegzuschaffen und
das, was hienieden doch nicht gedeiht, wenigstens für den Augenblick mit
urmächtigen Wollen auf die Erde zu reißen — das ist den Tragikern, gleich¬
viel ob den erlebenden oder den gestaltenden, vorbehalten. Die sind, Gott
sei Dank, nicht zu dicht gesät und doch noch viel dichter, als uns bekömmlich.
Auf das Dichterische übertragen hieße das drei dichterische Herstellungsarten
unterscheiden: die erinnernde, die sehnende und die wollende. Kein Mensch
kann alle drei Vorstellungsarten als Grundzüge seines geistigen Mechanismus
sein eigen nennen, und der moderne Dichter, der zumeist Epik, Lyrik und
Drama pflegt, ist entschieden ein Bänkerl seines Virtuosentums. Den Glücks¬
zustand, den er im Schaffen sucht, kann er unmöglich, mit Schiller gesprochen,
im dreifachen Schritt der Zeit gleichmäßig durchtanzen. „Es war", spricht
der Epiker, wenn sein Auge in der Ferne den Punkt gefunden auf dem
es ewig ruhen möchte; „ach wär ich nur, ach hätt' oder könnt' ich nur" —
so streckt die Lyrik ohnmächtig ihre schwachen Arme in die ungreifbare Zukunft,-
„potz Donner — ich will", saust die Faust des Tragikers auf die steinerne
Tischplatte nieder, wobei nicht diese den Schaden zu nehmen pflegt.
Wir nennen unsere Zeit gern gegenwartsfreudig, tatenlustig. Mag fein.
Allein, hat man je mehr Erinnerung verzehrt als heute. Roman und Novelle
reichen nicht aus, Briefe, Tagebücher, alles muß herhalten, um dem Ver¬
gangenheitsdurst, der Erinnerungssehnsucht unserer Tage zu genügen und die
größte und älteste Gattung der Erinnerungskunst, das Epos, das Helden¬
gedicht, das Jahrzehnte hindurch von der offiziellen Ästhetik und Literatur¬
geschichte in Acht und Bann getan, als tote Gattung gekennzeichnet wurde,
gewinnt an Boden und Anziehungskraft.
Psychologisch unterscheiden wir zwei Arten der Erinnerung: die tatsächliche
und die imaginäre. Die tatsächliche beruht auf der Wiederbelebung ver¬
gangener, selbsterfahrener Erlebnisse, die imaginäre auf jener eigentüm¬
lichen Fähigkeit unserer Seele, das Gesamterleben der Menschheit, der Welt in
die eigene Vergangenheit hineinzufühlen und als Erinnerung wieder hervor¬
zuholen. Die erzählende Dichtung ist besonders dieser Art Erinnerung stark
verpflichtet. Die französischen Psychologen nennen sie das voeu" und
Goethe empfand sie: „Ach, Du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester
oder meine Frau". Die erzählende Dichtung, eine erstgeborene Tochter der
Erinnerung, trägt die Züge ihrer Abstammung auf der Stirn. Vor allem:
eine wirklich realistische Erzählung gibt es, kann es so wenig geben wie eine
solche Erinnerung. Man hat den Versuch gemacht, einen Vorgang von
mehreren unbedingt glaubwürdigen Männern beobachten und erzählen zu lassen.
Die Berichte widersprachen sich auf der ganzen Linie. Ich meine, dieses
Versuchs hat es auch gar nicht bedurft. Die Erzählung kann nicht anders,
als sich zu den Begebenheiten in eine gewisse Entfernung, in eine Perspektive
stellen. Jede Perspektive aber fälscht notgedrungenerweise die mathematischen,
die abstrakten, wirklichen oder wahren Größenverhältnisse des Gegenstandes.
Die Perspektive schiebt das Näherstehende auseinander, rückt das Fernerstehende
zusammen, kürzt und verlängert und ist nur von einem einzigen Punkt gesehen
wahr. Der Erzähler wählt seinen Perspektiven Punkt, seine „Erinnerungsferne",
ebenso frei wie der Zeichner, er kann sich zu den Ereignissen des ersten Trium¬
virats in eine geringere Erinnerungsferne stellen, als zum Untergang der Titanic.
Nicht von der Prosa oder Versform, nicht von der Länge oder Kürze wird
dann die Kunstart selner Schöpfung innerhalb der erzählenden Gattung abhängen,
sondern einzig allein von der geringeren oder größeren Erinnerungsferne, die
wir von nun all einfach „Ferne" nennen wollen, wird es bestimmt, ob er
einen Bericht, eine Novelle, einen Roman oder ein Epos hervorbringt.
Herodot, der Klassiker des schlichten Berichtes, stellt sich in jene Ferne zu
den Begebenheiten, aus welcher die Einzelheiten noch einzeln wirken, ohne sich
in die große Linie eines Zusammenhanges hineinzufügen. Das Wichtige und
Unwichtige steht im gleichen Gewichtsverhältnis nebeneinander, jede Einzelheit
ist gleich hell oder gleich dunkel gehalten. Im Tonfall und Tonwerk äußert
sich etwa die Gebärde des Staunens genau fo durchschlagend wie ein darauf¬
folgender Entschluß oder selbst die Tat; eine einfache Mitteilung tritt in der
Kraft hinter einer energischen Zurede gar nicht zurück:
„Weil er nun von der Schönheit seiner Gemahlin über alle Maßen ein¬
genommen war und dieselbe sehr rühmte, sagte er nicht lange nach seiner Ver¬
mählung (denn Kandaules sollte unglücklich werden) zu diesem Gnges: ,Gyges,
du glaubst wohl nicht, was ich dir von der Schönheit meiner Gemahlin sage;
denn die Ohren sind ungläubiger als die Augen, mache doch, daß du sie nackend
zu sehen bekommst/ Guges erhob ein großes Geschrei und sagte: .Herr, was
ist das für eine tolle Rede'" usw.
Frieseuhaft, endlos in derselben Hälberhabenheit, folgen die Figuren auf¬
einander. Herodots Ferne ist eben groß genug, um seine Figuren in ihrer
ganzen Größe zu ermessen, um das Einzelne scharf zu sehen, jedoch zu klein,
um das Gefolge der Gestalten in eine einheitliche Linie einzustellen.
Bei gesteigerter Ferne der Erinnerung entsteht die nächstgrößte epische
Gattung, die Novelle, wesentlich dadurch, daß der noch einheitliche, undifferenzierte
Erzählungsstoff des Berichtes sich spaltet und das Doppelelement von Begebenheit
und Milieu oder Hintergrund erkennen läßt. Die Begebenheit steht im Vorder¬
grunde, verliert aber an Raum und Bedeutung je mehr die Novelle sich dem
Romane nähert. Normen eines klassischen Verhältnisses lassen sich darin nicht
aufstellen, sie wären auch zu nichts nütze. Immerhin dürfte etwa die fünfte
Erzählung des zweiten Tages im Dekameron als Anschauungsbeispiel dienen.
Die Erinnerungsferne Bocaccios ist entschieden bedeutend größer als
Herodots, denn sein Rahmen umfaßt die Gestalten seiner Erzählung nicht allein
in der zeitlichen Aufeinanderfolge, sondern auch als gleichzeitig anwesende
Mehrheit, ja, er hat das obere Drittel seiner Bildfläche für den landschaftlichen
Hintergrund bewahrt, wie die Maler der Renaissance. Es geht daher auf
denselben Raum ein unvergleichlich größeres Stück realer Welt, als bei
Herodot.
Der brave Andreuccio aus Perugia kommt zum Roßmarkt nach Neapel.
Eine gemeine Lockerdirne stellt ihm ihre übliche Falle und der Vogel geht aus
den Leim.
Weite Sphären sind hier erfaßt: Stadt und Land, das seßhafte und das
Bewegliche sind in eine Schnittfläche gestellt. Die Träger der Handlung, der
einfältige und doch abenteuerlustige Dörfler, die Dirne mit ihren abgeschmackten
Mären von ihrer vornehmen Abstammung, sind stets auf der Folie, auf dein
Hintergrund sichtbar: die zwingende Gegenwart, die verblüffende Sichtbarkeit
des schmutzigen, schlechtgebauten Stadtviertels, das häusliche Leben der Zuhälter,
die ganze Bevölkerung, die Armut und schlechtes Gewerbe in diesen Niederungen
festhält, der jämmerliche Flitter, den die Dirne darüber hängt, das alles nimmt
einen bedeutenden Teil des gesamten Reizes für sich in Anspruch, während
Andreuccios Person und seine Begebenheiten mit dem Rest fürlieb nehmen
müssen.
Haben wir zwischen Bericht und Novelle einen grundsätzlichen Unterschied
aufstellen können, den zwischen primärer und differenzierter Masse, so ist zwischen
Novelle und Roman bloß ein quantitativer denkbar. So äußerlich zwar soll
er nicht gemeint sein, als könnte die Seitenzahl die Grenzen bestimmen, doch
wird sie durch die bloße Steigerung der Erinnerungsferne überschritten. Aus
der Ferne des Romanciers verschwindet die Begebenheit von der Oberfläche der
Erzählung, die ganze Fläche der Darstellung ist sozusagen vom Hintergrund,
vom Milieu, von der Landschaft in Anspruch genommen und die Begebenheit
tritt als unsichtbare Tragkraft in das Innere der Erzählung zurück, oder —
um den malerischen Vergleich zu Ende zu führen — sie wird Staffage. Vom
„Wilhelm Meister" über den „Grünen Heinrich" zu den „Buddenbrooks" und
„Ricks Lyhne" oder Costers „Tyll Ulenspiegel" können wir diese Erinnerungs¬
ferne als typisch für den modernen Roman bezeichnen. Die Zeit, die soziale
Schicht, die Nation sollen in ihren verschiedenen Äußerungen festgehalten werden,
es geht immer aufs Gesamte, auf das Große, das über dem einzelnen steht,
aus dem der einzelne nur zeitweise heraustritt, um wieder in ihm zu ver¬
schwinden, wie die Heldengestalten in der lebendigen Brücke des „Grünen Heinrich".
Alle bisherigen Arten der epischen Gattung, Bericht, Novelle, Roman,
blieben mit ihrer Erinnerungsferne innerhalb der Grenze unserer realen
Anschauungskategorien: Zeit, Raum und Kausalität. Wächst jedoch die
Erinnerungsferne über diese Grenzen der uns umgebenden Naturmöglichkeiten
hinaus, stellt sich der Dichter allem irdischen Geschehen so ferne, daß ihm die
Gewalt von Raum, Zeit und Kausalität nicht mehr ersichtlich ist und er souverän
das ganze Erdensein, ja den Kosmos einheitlich und mit künstlerischer Freiheit zu
bewegen wagt, — dann sind wir bei der Weltenerinnerung, beim Epos an¬
gelangt. Der Einzelne selbst, der etwa auftritt, ist nur ein Symbol für eine
ungeheure Vielheit, für die Nation, für die Menschheit, oder für die Idee.
Denn wenn Athens, des Zeus blauäugige Tochter, durch alle Himmel stürmt
und zum Schutze des Höheren, Besseren gegen das Geringere, niedrigere ihre
unbesiegbare Aigis erhebt, dann ist sie nicht Athena, sondern Griechenland, oder
das „Göttliche" oder die Notwendigkeit.
heodor Fontane hat einmal die Berechtigung einer neuen Dichtung
wesentlich damit begründet, daß sie originell sei, und er klagte
damals über die Dublettenkrankheit, die unserer Literatur anhafte.
Wer wollte bezweifeln, daß dieser Zug zur ewigen Wiederholung
des Gleichen auch heute bei uns vorhanden ist und nirgends
stärker als im Roman. In dem naturalistischen Roman der achtziger und
neunziger Jahre so gut wie in dem späteren Heimatroman strotzte es nur so
von Wiederholungen, Abwandlungen desselben Themas, gewissermaßen nur in
anderer Verkleidung. Neben dem Wertvollen, dessen Zahl und Gewicht sicherlich
nicht gering ist, liegt überall die bloße Dublette. Auch in dem Entwicklungs¬
roman ist das der Fall, seitdem er einen neuen Aufschwung genommen und,
noch beeinflußt durch das naturalistische Streben nach Intimität, immer neue
Gebiete der Lebensdarstellung erobert hat. Es ist deshalb immerhin ein seltener
Fall, wenn eine Anzahl gleichzeitig erschienener Werke dasselbe Motiv ganz
verschiedenartig, ganz persönlich, ja, jedes in seiner Weise originell behandelt.
Verhältnismäßig am wenigsten ist das in Richard Sexaus ersten Roman „März¬
trieb" der Fall (Berlin, Axel Juncker). Denn äußerlich verläuft sich das Thema
wenig von der üblichen Heerstraße. Ein junger Mensch, stark künstlerisch bewegt,
aber kein Künstler, lernt im Hause des Freundes, wo er sich im Dienste des
kranken Vaters nützlich macht, die junge Schwester und Tochter lieben und reißt
sich schließlich aus freiem Willen los, da er sie aus äußeren Gründen noch nicht
heimführen kann und seiner eigenen Stärke dem reinen Mädchen gegenüber
nicht traut. Sie aber fühlt sich durch ein Mißverständnis getäuscht und entzieht
sich ihm für immer, so daß die beiden Menschen für ewig fern von einander
dahergehen, weil das einfache Wort der Wahrheit nach allem Gewesenen nicht
mehr von ihm zu ihr durchdringt. Diese Vorgänge aber behandelt Sexan in
einer knappen Sprache mit sehr glücklicher, nicht geschwätziger Ausmalung der
Umgebung und mit scharfer, eindringender Charakteristik. Das langsame Erwachen
der Empfindung in ihr, das jähe Auflodern dann, das ihn erschreckt und ihr
unschuldsvoll natürlich ist, sind vorzüglich und ohne Schielen gegeben.
Origineller, auch in dem Inhalt der Erzählung selbst, ist der Roman von
Leonore Frei: „Das leuchtende Reich" (Stuttgart, I. G. Cottasche Buchhandlung
Nachfolger). Der Held dieses Romans stammt väterlicherseits aus einem adligen
Geschlecht, durch die Mutter aber aus einer Familie, in der seit zwei Generationen
alles in griechischer Luft geatmet hat. Mit Homer, Äschylos, Sophokles sind
die Kinder erwachsen, und Daniel Achilles sühlt hinter seinem Leben ein zweites,
das eines griechischen Helden. Und diesem Unterbewußtsein fügt sich bei fort¬
schreitenden Schicksalen alles ein, was er erlebt: der Tod des Bruders durch
die Schuld des Vaters, der Ehebruch des Vaters, dem wie zur Strafe der der
Mutter mit einem durchaus unter ihr stehenden Menschen folgt, der Tod des
Vaters, den vielleicht die Mutter hätte abwenden können und das alles
bringt dann schließlich das Orestes-Bewußtsein in Daniel Achilles zum Ausbruch.
Aber nicht wie der unselige Held der Antike, den die Erunnien Hetzen, sondern
als Selbstbefreier endet er und geht sanft und heiter auf den: See, der den
Bruder und den Vater verschlungen hat, in den Tod.
Die Gefahr der Übertreibung liegt bei solch seltsamem Vorwurf sehr nahe,
Leonore Frei ist ihr aber fast überall entgangen. Wir glauben ihr diesen
Menschen mit dem zweiten Gesicht durchaus und meinen mit ihm im wirklichen
Leben zu stehen, wie wir seinen Träumen, seinen Parallelempfindungen aus
dem leuchtenden Reich folgen können. Wir empfinden bald die Lebensunfähigkeit
gegenüber den harten Wirklichkeiten eines nun einmal eng begrenzten Daseins
und gelangen deshalb mit Leonore Frei auf den gewünschten Endpunkt: den
Freitod des Daniel Achilles nicht als eine Katastrophe, sondern als einen
Übergang in sein eigentliches Reich anzusehen.
Aus phantastischen Reichen zur herbsten Wirklichkeit führt Johannes Höffner
mit seinem Roman „Gideon der Arzt" (F. Fontane u. Co., Berlin). Er behandelt
die Geschichte zweier Juden, eines Vaters und eines Sohnes. Der Vater, Kreisarzt
in einer kleinen pommerschen Stadt, hält sich äußerlich, jedoch ohne Befolgung
der Zeremonien, noch zum Judentum, hofft aber den Sohn allmählich zum
Christentum hinüberzuleiten. Die aufflammende antisemitische Bewegung aber
führt dessen zuerst schön emporgehendes Schicksal einem jähen Ende zu. Überall
stößt er an sein Judentum. Die Verehrung, die der Vater in der Heimat
genießt, schützt ihn nicht vor einer schweren Herzenserfahrung, und eine vom
Gymnasium her lodernde Todfeindschaft mit einem rohen Mitschüler bringt
schließlich für den Studenten früh das blutige Ende auf der Mensur in Berlin.
Eine tief ergreifende Erzählung, in der die Tendenz sich niemals unrein vordrängt.
Denn wir erleben nicht einen für politische oder religiöse Auseinandersetzungen
herbeigezogenen Schulfall, in dem alles nach bestimmtem Schema verläuft,
sondern die menschliche Geschichte des Sohnes und, worauf es Höffner wohl am
meisten ankam, des Vaters. Wir empfinden auch überall, daß das Menschliche
in den engsten Beziehungen des Einzelnen das Letzte und Wertvollste ist. Dabei
erfreut der intime Realismus, mit dem das Leben der Kleinstadt um 1380
gegeben ist, ihre Tagewerke und ihre Feste, das Leben der Kleinbürger und mit
echter poetischer Gerechtigkeit auch wiederum die Vielfältigkeit des jüdischen
Lebens — das Haus des deutschen, Heimattreuen Arztes Gideon auf der einen,
das der fremden, nicht eingewurzelten, mißtrauischen Kleinjuden auf der anderen
Seite. Die Charakteristik ist überall knapp und fein, das Ganze in einem Zuge
heruntererzählt und so erzählt, daß im Grunde der Dichter nie herauszutreten
braucht, sondern die Menschen und Dinge ganz für sich sprechen lassen kann.
Die gehaltvollste von diesen vier Gaben hat uns Artur Brausewetter mit
seinem Roman „Stirb und werde" (Berlin, Otto Janke) gegeben. Es ist die
Geschichte eines Pfarrers, der nach schweren Kämpfen in demi Augenblick wie
ein Sieger stirbt, da der Unverstand der Menge ihn brutal fällt. Martin
Steppenreiter arbeitet zuerst in der kleinen Vaterstadt und gelangt hier nicht zu
rechter Wirkung, weil er ganz den ernstesten Pflichten seines Amtes lebt und
den gesellschaftlichen Verhältnissen, insbesondere auch seinem Patron nicht die
Einräumungen machen will, die man von ihm verlangt. In die Großstadt
berufen, erlebt er eine Umwandlung. Er gelangt durch einen Freund in die
Gesellschaft, er, der Musikalische, wird der „Herrgott der Großstadt", der gesuchte
Redner nicht nur auf der Kanzel, der mitschwimmt im Strome der Geselligkeit
und dem nun hier das rechte Maß verloren geht, bis er erkennt und umbiegt.
Von einer Hochzeitsfeier in eine Proletarierhütte berufen, sieht er auf den? nächt¬
lichen Gang den falschen Weg und geht nun einen anderen. Er entsinne sich
der letzten Forderungen des Amtes, er meidet jede Konzession und wird der
Geistliche der Elenden und Bedrängten. Aber auch hier erlebt er bitterste Ent¬
täuschung, als sein Vermögen vertan ist, seine materielle Hilfe den Bittenden
versagt werden muß. Und nun wagt er das Letzte und geht in die sozialdemo¬
kratische Versammlung, um dort über Sozialdemokratie und Christentum zu
sprechen. Zuerst wird ihm donnernder Beifall, dann aber, da er ganz anderes
sagt, als man von ihn: erwartet, tosender Widerspruch, bis er in dem Aufruhr
der beleidigten Genossen tot daniedergestreckt wird.
Es ist nicht etwa „der" Pfarrer, den uns Brausewetter hier zeichnet —
er stellt ihm einige ganz andere gegenüber, darunter eine sehr feine Gestalt, die
in der Gesellschaft lebt wie in seiner zweiten Periode Martin, und die doch
innerhalb dieser Gesellschaft ganz anders für das Evangelium zu wirken weiß.
Steppenreiter ist nicht ein Typus, sondern vielmehr ein Mensch, der immer nur
in sich wirken kann, wenn er ganz einer Überzeugung folgt, eine Natur, die sich
stets bis zum Letzten ausgeben muß, und für die es darum wirklich nur heißen
kann: Stirb und werde, noch in einem ganz anderen Sinn, als es für jeden
so heißt. Der demokratische Trotz des unkirchlichen Vaters und die vermittelnde
Demut der frommen Mutter haben seltsame Spuren in ihm hinterlassen; er
kann nur eins sein oder gar nichts sein, kann auch der geliebten Braut zuliebe
nicht um einen Schritt von der neu erkannten Wahrheit abweichen — eine
durchaus tragische Natur, deren Untergang erschüttert und zugleich befreit, weil
wir empfinden, daß sie diesem Leben doch nicht gewachsen ist. Nichts von
modernen Kirchenstreitigkeiten, nichts von allem, was uns im letzten Jahr beschäftigt
hat, lebt hier, sondern es handelt sich um die immer wiederkehrenden Kämpfe
einer besonders angelegten und groß angelegten, reich begabten Natur mit dem
Amt und dem Leben. Beide, der gewählte Beruf und die nicht gewählte Um¬
gebung, erscheinen schuldlos und der Held echt schuldlos-schuldig, wie tragische
Helden gemeinhin den in sie gelegten Konflikt erfüllen. Es ist erstaunlich, bis
zu welcher Höhe Brausewetter sich emporgearbeitet hat, besonders wenn man dies
Werk mit einem früheren, wie etwa „Halbseele", vergleicht. Auch im Äußer¬
lichen ist alles reif und rund, die großstädtische Gesellschaft vorzüglich gegeben
mit dem echten Ton des Kenners und ohne daß die Schilderung Selbstzweck
wird, weil alles nur der Idee der Dichtung dient. So regt das Werk zu tiefem
Nachdenken an und bringt mit der Entwicklung dieses Einen eine Fülle all¬
gemeiner Fragen, Gedanken, Hoffnungen in uns zum Wachen. Und wenn wir
jemanden: zutrauen möchten, nun auch einmal die kirchlichen und religiösen
Zeitkämpfe dichterisch darzustellen, die uns von Tag zu Tag tiefer erfassen, so
wäre es Artur Brausewetter, der Verfasser von „Stirb und werde!" Das evan¬
gelische Pfarrhaus kann stolz daraus sein, daß neben Heinrich Steinhausen,
Richard Weitbrecht, Fritz Philippi, Wilhelm Speck, Diedrich Specimann, Gustav
Frenssen (wobei ich allerdings nicht den Theologen von „Hilligenlei", sondern
den Dichter der „Drei Getreuen" und des „Jörn Abt" meine), daß neben sie
nun der Pfarrer außer Diensten Johannes Höffner und der Archidiakonus Artur
Brausewetter getreten sind, von denen beiden wir noch vieles zu erwarten
berechtigt und willens sind, vieles, was der Dublettenkrankheit so fern steht wie
ihre letzten Bücher.
Daß die Justiz nichts
taugt, sondern zum Himmel schreit, haben
wir so oft und aus so berufenem Munde ge¬
hört, in Zeitungen und Zeitschriften gelesen,
von der Tribüne des Reichstages und so
manches EinzellandtageS vernommen, daß
uns schließlich nichts anderes mehr übrig
bleibt, als eS auch zu glauben. Wenn aber
sonst Selbsterkenntnis der erste Schritt zur
Besserung ist, so trifft das hier leider nicht
zu, denn wenn wir uns an unsere Kritiker
wenden, um aus ihrer Kritik zu lernen, wie
Wir es besser machen sollen, so geraten wir
in die größte Verlegenheit. Nicht nur, daß
der eine dies, der andere jenes tadelt, das
Merkwürdige ist, daß es immer dieselben Per¬
sönlichkeiten, Politiker, Zeitungen, überhaupt
dieselben Vertreter der öffentlichen Meinung
sind, die die Rechtspflege kritisieren und dabei
nicht merken, daß sie heut das Gegenteil von
dem Preisen, was sie gestern vertreten haben:
Weil die ordentlichen Gerichte weltfremd
sind, und sich in die Verhältnisse einzelner
Berufsstände nichthineinfindenkönnen, brauchen
wir Standesgerichte, Gewerbegerichte, Kauf¬
mannsgerichte und vielleicht nächstens noch
einige mehr! dieselben Leute, die die be¬
geistertsten Anhänger dieser Gerichte sind, sind
die heftigsten Gegner der ältesten und wich¬
tigsten, der in Wirklichkeit einzig berechtigten
Standesgerichte, die wir haben, der Militär¬
gerichte.
Auf der einen Seite tadelt man die for¬
malistische Kompliziertheit unseres Rechts¬
wesens, die es dem Nichtjuristen so schwer
mache, sein Recht zu finden, aus der anderen
Seite schafft man immer neue Sondergerichte
mit verwickelten Zuständigkeiten und verursacht
damit in unzähligen Prozessen unfruchtbare,
Zeit und Geld kostende Streitigkeiten, die nur
dadurch entstehen, daß fraglich ist, ob das
ordentliche Gericht, oder das Gewerbegericht
oder das Kaufmannsgericht zuständig ist.
Ein wirkliches Übel, an dem unsere ganze
Rechtspflege krankt, ist die ungeheuerliche Streit-
nnd Prozeßsucht des Deutschen, der nicht eher
ruht, als bis er von sämtlichen Instanzen
bescheinigt bekommen hat, daß er im Unrecht
ist. Wenn aber der Vorschlag gemacht wird,
im Zivilprozesse die Berufung gegen die Ur¬
teile der Amtsgerichte bei geringfügigen
Streitgegenständen auszuschließen, oder die
Möglichkeit der Anrufung der dritten Instanz,
des Reichsgerichts, zu beschneiden, so steht
die öffentliche Meinung dagegen wie ein Mann
ans Aber dieselbe Zeitung, die mit zu den
lautesten Vertretern dieser öffentlichen Mei¬
nung gehört hat, berichtet unter der höhnischen
Überschrift „Unsere Juristen" und unter aller¬
hand spitzigen Bemerkungen darüber, wie viel
Zeit dieJuristen(!)doch anscheinend hätten, über
einen Fall zu streiten, in dein jemand durch
Einlegung von Rechtsmitteln drei Instanzen
mit der Frage beschäftigt, ob der Chansseegeld-
tcirif, der von Kraftwagen spricht, auch auf
Kraftfahrräder anzuwenden sei und er daher
nicht nur 10, sondern 15 Pfg. Chausseegeld
zu zahlen habe. Daß eS sich hier um die
Rechte des sonst so ängstlich in Schutz ge¬
nommenen Angeklagten handele, hat man
anscheinend übersehen, ebenso, daß doch nur
Juristen das Recht haben, „weltfremde For¬
malisten" zu sein, nicht aber die Männer der
Presse, die sich hier an die armseligen ö Pfen¬
nige klammern, ohne danach zu fragen, ob
es sich nicht etwa um einen Mann handelt,
der das Kraftfahrrad fortgesetzt, vielleicht zu
geschäftlichen Zwecken, benutzt und für den es
sich daher um eine grundsätzliche Entscheidung
von ziemlichem Vermögenswert handelt.
Man schüttelt den Kopf, wenn der Staats¬
anwalt eine arme Frau anklagen muß, weil
sie in Not halbverfaultes Brennholz im Werte
von einigen Pfennigen gestohlen hat, wenn
aber bei der Reform der Strafprozeßordnung
borgeschlagen wird, der Staatsanwaltschaft
zu gestatten, in gewissen besonders leichten
Fällen bon einer Strafverfolgung Abstand
zu nehmen, so bekämpft man es, weil es zur
Willkür führe.
Eine stark oppositionelle Wochenschrift be¬
richtet unter verschiedenen ironischen Rand¬
bemerkungen über einen Zivilprozeß, der da¬
durch jahrelang verschleppt worden ist, daß
eine Partei immer wieder neue Beweisanträge
gestellt hat. Die Zeitungen tadeln es nach
gewissen Sensationsprozessen, daß unsere
Strafprozeßordnung es einen: gewandten
Adbvkaten ermögliche, das Gericht zur Schau¬
bühne zu machen und wochenlang über Dinge
verhandeln zu lassen, die mit dein eigentlichen
Prozeßstoff wenig oder gar nichts zu tun
haben. Wenn aber die Regierung bei einer
Reform der Gesetzgebung dafür eintritt, dem
Gericht ein gewisses freies Ermessen bei der
Bestimmung des Umfanges der Beweisauf¬
nahme einzuräumen, so sind es dieselben
Politiker, die verkünden, daß damit das
sicherste Bollwerk des — natürlich stets un-
schuldigen — Angeklagten gegen richterliche
Willkür niedergerissen werde.
Wenn in Bonn eine Anzahl Korpsstudenteu
auf einer Kleinbahn Unfug treiben und schlie߬
lich angeklagt werden, weil einige der Teilneh¬
mer den Eisenbahntransport gefährdet hätten,
aber sämtlich freigesprochen werden mit der
ausdrücklichen Begründung, daß sich nicht habe
feststellen küssen, welche bon den Angeklagten
gerade die Täter gewesen seien, so ist das
natürlich ein krasses Beispiel von Klassenjustiz,
wenn aber in einen? großen Strafprozesse
wegen Landfriedenbruches gegen sozialdemo¬
kratische Arbeiter dasselbe geschieht, dann ist
das nicht etwa Gerechtigkeit, sondern eine
Blamage für die Staatsanwaltschaft und ein
Fall, der wieder einmal ein grelles Schlag¬
licht auf unseren Strafprozeß wirft, der nach
einer Reform geradezu schreit.
Die meisten Richter taugen nichts, weil
sie zu wenig vom Praktischen Leben verstehen
und weltfremd sind. Ein besonderes Palla¬
dium der Volksfreiheit aber bildet das Schwur¬
gericht, in dem recht oft Leute sitzen, die ihr
ganzes Leben in einer kleinen Stadt unter
engen Verhältnissen zugebracht haben, ferner
Oberlehrer, Professoren, verabschiedete Offi¬
ziere usw, und über Dinge entscheiden, zu
deren Verständnis ein recht erhebliches Maß
bon Kenntnissen des kaufmännischen und in¬
dustriellen Lebens und der modernen Ver¬
hältnisse nötig ist. Man rühmt sich, daß man
den „kleinen Befähigungsnachweis" geschaffen
habe und man kämpft für den „großen",
demzufolge niemand auch nur einen Stiefel
befohlen darf, wenn er es nicht vorher ord¬
nungsmäßig gelernt und seine Kenntnisse vor
einer Prüfungskommission dargelegt hat. Nur
zu dem Amte eines Geschworenen, der unter
Umständen berufen ist, Menschen zum Tode
zu verurteilen, bedarf es keines Studiums,
keines Examens und keines Befähigungsnach¬
weises. Um vou den rein juristischen Kennt¬
nissen ganz zu schweigen: unsere Strafrichter
langen ja deswegen so wenig, weil sie nur
Juristen sind und von moderner Pshchologie
keine Ahnung haben und daher nicht imstande
sind, Zeugenaussagen richtig zu würdigen.
Die Geschworenen können eS auch ohne solche
Vorbildung — allerdings nur, wenn sie den
Angeklagten freisprechen; wenn sie einen Un¬
schuldigen verurteilen und dieser, nachdem
das arme Opfer jahrelang n» Zuchthause ge¬
sessen hat, im Wiederaufnahmeverfahren frei¬
gesprochen wird, dann sind an diesem Fehl¬
spruche natürlich nicht die Geschworenen schuld,
sondern der Borsitzende, der durch seine vor¬
eingenommene Verhandlungsleitung die Ge¬
schworenen verführt hat. Welch blutiger Hohn
auf das ganze Schwurgericht in dieser Be¬
hauptung liegt, merkt anscheinend niemand.
Als besonders wichtig, und zwar mit Recht,
erachtet man, daß die Behörden des modernen
Staates an feste gesetzliche Regeln gebunden
sind und den Staatsbürger nicht nach will¬
kürlichem Ermessen behandeln dürfen. Als
jedoch das preußische Oberverwaltungsgericht
sich in einer neueren Entscheidung auf eine
noch jetzt gültige Verordnung vom Jahre 1677
stützte, fragte eine sehr weit rechts stehende
Zeitung, ob denn diese Herren kein Gefühl
dafür hätten, wie lächerlich sie sich durch eine
solche Begründung machten.
Als ein Grundpfeiler der Staatsordnung
wird die Unabhängigkeit des Richterstandes
geschätzt, aber, wohlverstanden, nur die Un-
nbhüngigkeit nach oben, beileibe nicht etwa
nach unten. Ein Richter, der allen Vor¬
gesetzten zum Trotz an seiner Meinung fest¬
hält und allen (angeblichen) BeeinflussungS-
bersuchen standhält, ist ein Held, Er ist ein
gerader und aufrechter Charakter, der Rück¬
grat hat und aus jenem zähen Holze ge¬
schnitzt ist, das man freilich unter dem heutigen
Strebertum nur noch selten findet. Wehe ihm
aber, wenn er es wagt, eine Auffassung zu
vertreten, die der öffentlichen Meinung un¬
bequem ist. Dann wird er mit Schmutz be-
worfen, weil er sich in bureaukratischen Dünkel
dem lebendigen Rechtsbewußtsein des Volkes
eiitgcgenstemmt. Ehrlich gesagt, es gehört
unter den heutigen Vorhältnissen, bei der
^ügellosigkeit einer gewissen Presse und der
weitverbreiteten Verlogenheit der Politischen
Agitation, ein weit größerer Mut dazu, ein
Urteil zu fällen, von dem man voraussieht,
daß es in der Öffentlichkeit Staub aufwirbeln
wird, als einen Spruch zu erlassen, der viel¬
leicht einem Vorgesetzten nicht gefällt. Mit
wie verschiedenem Maße gerade auf diesem
Gebiete gemessen wird, dafür nur ein Beispiel
aus jüngster Zeit: Gelegentlich einer Jnter¬
pellation über die Handhabung des Reichs¬
vereinsgesetzes tadelt ein Redner eine gewisse
Auslegung dieses Gesetzes durch die Gerichte.
Der Reichskanzler erklärt hieraus, er halte
ebenfalls diese Auslegung nicht für richtig, er
sei aber nicht berechtigt, den Gerichten hier¬
über Anweisungen zu erteilen. Und was ge¬
schieht in den Reihen der linken Seite des
Hauses, aus der Mitte derselben Herren, die
sich sonst mit ebensogroßen Eifer wie un¬
gebetener Beflissenheit als Wahrer der Unab¬
hängigkeit des Richterstandes ausspielen? Man
rief dem Reichskanzler zu: „Die Gerichte sollen
sich danach richten." Das bedeutet also, daß
sie solange unabhängig sein sollen, als ihre
Anschauungen der Demokratie wohlgefällig
sind, länger nicht. Es macht einen eigen¬
artigen Eindruck, daß ein solcher Zwischenruf
aus denselben Reihen stammt, aus denen man
so oft der rechten Seite des Hauses höhnisch
das Wort entgegengehalten hat: „Und der
.^orig absolut, wenn er unseren Willen tut."
Übrigens, damit wenigstens in einer
Beziehung Gerechtigkeit herrsche und nicht mit
zweierlei, sondern nur mit einerlei Muß ge¬
messen werde, so kommen die Gerichte nicht
etwa schlechter weg, als ihre höchste Spitze, die
Justizverwaltung. In allen Tonarten singt
die öffentliche Meinung das Lied, daß das
Examen nicht den Mann macht, daß man
sich hüten solle, den Wert einer staatlichen
Prüfung zu überschätzen, sondern nur danach
fragen solle, wer sich im Berufe als tüchtig
bewähre. Das hindert aber nicht, daß man
dem preußischen Justizminister einen Vorwurf
daraus macht, wenn er Assessoren, die sich in
der Praxis nicht bewährt haben, mitteilt,
daß sie auf Anstellung nicht zu rechnen
hätten. Warum das, was sonst richtig ist,
hier auf einmal falsch sein soll, warum es
gerade hier erlaubt sein soll, sich eine Pfründe
zu erhitzen, darauf ist man uns bisher die
Antwort schuldig geblieben. Vermutlich glaubt
man auch hier wieder einmal die Unab¬
hängigkeit des Richterstandes gefährdet. Die
Herren mögen ruhig schlafen. Wenn es
wirklich einmal nötig sein sollte, wozu vor¬
läufig keinerlei Aussicht vorhanden ist, die
Unabhängigkeit des Nichterstnndes gegen
Beeinträchtigungen von oben her zu schützen,
so werden wir selbst uns unsere Stellung zu
wahren wissen.
Die Tagespresse als die berufene Ver¬
treterin der öffentlichen Meinung klagt so oft
darüber, daß die Gerichte ihr nicht die nötige
Achtung vor ihrer Berufstätigkeit entgegen¬
bringen. Wenn das richtig ist, so ist der
Grund dafür nach dem Vorstehenden nicht
schwer zu finden. —
Nachdem dieser Aufsatz zum
Druck gegeben war, hat im Reichstage die
Beratung des Justizetats stattgefunden.
Dabei hat sich ein Abgeordneter in heftigen
Anklagen gegen ein Gericht ergangen, das sich
von einem Angeklagten eine schriftliche Er¬
klärung hatte ausstellen lassen, wonach er auf
Jnnchaltung der Ladungsfrist verzichtete. Es
handelt sich darum, daß nach der Strafproze߬
ordnung zwischen der Ladung des Angeklagten
zur Hauptverhandlung und dieser selbst eine
Frist von mindestens einer Woche liegen muß,
um dem Angeklagten die Borbereitung auf
die Verhandlung zu ermöglichen, und es ist
vielfach üblich, in Untersuchungshaft befind¬
liche Angeklagte, um ihnen diese Haft möglichst
abzukürzen, zu befragen, ob sie auf Jnne-
haltuug der Ladungsfrist verzichten. Daraus,
dnß dies hier geschehen ist, wird die Be¬
rechtigung hergeleitet, das Gericht einer Ver¬
gewaltigung des Angeklagten zu zeihen. Würde
ein Gericht erklären, die Ladungsfrist sei im
Gesetz bestimmt und es sei daher unzulässig,
dem Angeklagten dadurch entgegenzukommen,
daß man sie im Einverständnis mit ihm ab¬
kürzt, so würde man über Formalismus
schreien; würde ein Gericht sagen, die Ladungs¬
frist könne zwar abgekürzt werden, aber es
sei ja nicht Aufgabe des Gerichts, den An¬
geklagten hierauf aufmerksam zu machen, wenn
er nicht selbst einen dahingehender Antrag
stelle, so würde» die Kritiker fragen, ob denn
das Gericht kein Verständnis dafür habe, das;
ein Laie sich in den formalistischen Fallstricken
und Schleichwegen der Strafprozeßordnung
nicht zurechtfinden könne.
Mit besonderer Rücksicht
auf Preußen. Emil Roth, Gießen 1912.
M. 1.—.
Durch den sächsischen Volksschulgesctzeutwurf
ist die Frage der Konfessionsschule wieder in den
Bordergrund getreten und hat einen alten
Kämpfer für religiöse Toleranz, den 8S jährigen
Ritter von Schulte, den Mitbegründer deS
Altkatholizismus veranlaßt, sich „vom Stand-
Punkt des gläubigen Christen, des Vnterlands-
freundes" mit aller Schärfe gegen die
Konfessionsschule nuszusprechen. Konservative
evangelischer Orthodv.rie und Mtmmuniane,
behauptet Schulte, halten an der Konfessions¬
schule fest, um die Schule, Lehrer und Schüler
in der Hand zu haben. Dies geschehe ent¬
gegen dem Gesetze auch bei der evangelischen
Geistlichkeit durch die Ortsschulaufsicht und
die KreiSschulnufsichr, die überwiegend von
evangelischen Geistlichen ausgeübt wird.
Übrigens sträuben sich viele evangelische
Pfarrer gegen diese Aufsicht, von der sie nur
Scherereien haben, während die Lehrer mit
ihnen nieist besser fahren, als mit Fachleuten.
Grundsätzlich bleibt aber die Gefahr vor¬
handen, daß die Geistlichkeit auch über den
Religionsunterricht hinaus einen konfessionell
färbenden Einfluß auf die Schulen gewinnt.
Das darf auf keinen Fall geschehen, denn es
ist die Aufgabe des Staates, „alle künftigen
Staatsbürger in demselben patriotischen Geiste
heranzubilden" und die Religion darf nicht
mehr als die Deutschen trennend behandelt
werden. Die Erfahrung aller Länder, in
denen die öffentlichen Schulen konfessionslos
sind, lehrt, daß die beiden großen Kon¬
fessionen dort in besserer Eintracht leben, als
bei uns. Der Religionsunterricht ist Sache
der einzelnen Religionsgemeinschaften, er muß
in konfessionell gemischten Gegenden von den
Geistlichen erteilt werden. Im übrigen darf
die Religionsgemeinschaft keinen Einfluß auf
das Schulwesen ausüben, denn das Schul¬
wesen ist Sache des Staates. Den Widersinn
der Konfessionsschule zeigen um deutlichsten
die kleinen katholischen Volksschulen von 20
bis i!v Schülern um überwiegend evangelischen
Orten; sie belasten Staats- bzw. Gemeinde¬
kasse nnnöiig, die Schüler müssen von der
einen Lehrkraft im Einklnssenshstem unter¬
richtet werden, während sie ohne irgend
jemand Kosten zu bereiten, auf der benach¬
barten öffentlichen Volksschule im Achtklassen¬
system viel besser unterrichtet werden könnten
und günz sicher mehr im patriotischen Sinne
aufwachsen würden, wenn ihnen nicht von
Jugend an die konfessionelle Trennung se!
oculos demonstiert würde.
Schulte würzt übrigeus seine Aus¬
führungen mit sehr lehrreichen Erinnerungen
aus seiner Jugend in der unverblümten,
frischen Art, die wir aus seinem Memoiren-
Von V.F.Nic-
bergall, Professor an der UnKiersität Heidel¬
berg. Leipzig 1911. Verlag Quelle u. Meyer.
170 S. 8°. Preis geb. 4 M.
Man ist heute gewohnt, das Problem der
Persönlichkeit, der Individualität, als ein Psy¬
chologisches Problem behandelt zu sehen, mau
bemüht sich meistens, es auf dem Wege Psycho¬
logischer Untersuchung zu lösen.
Diesen Weg verschmäht Riebergall; er zieht
es vor, sein Problem auf eine Art zu lösen,
die gerade i» unserer Zeit etwas in Mi߬
kredit geraten ist, nämlich durch logisch-metu-
physische Spekulation, Er macht sich daran,
auf Grund einer feinfühligen Interpretation
des Sprachgebrauches die beiden Begriffe
„Person" und „Persönlichkeit" voneinander
zu scheiden und jeden für sich bis ins einzelne
zu bestimmen, um, sie dann in die Stufen¬
folge der Werte einzureihen, die eine theologisch-
dualistische Metaphysik zwischen den beiden
Prinzipien „Natur" und „Geist" aufbaut.
Letztes Ziel der Untersuchung ist also nicht
nur eine Begriffsbestimmung, sondern eine
Wertung der „Person" und der „Persönlichkeit"
auf Grund einer christlich - theologischen Wert-
Philosophie.
Die Resultate dieser Untersuchungen, die
den ersten Teil des Buches füllen, sollen hier
kurz angedeutet werden. Schon „dem Menschen
als solchen:, wie er aus den Händen der
Natur hervorgegangen ist", kommt auf dem
Boden der human-christlichen Kultur Wert zu:
er ist „Person". Auch als bloßes „Er¬
zeugnis der Natur" hat der Mensch „Eigen¬
recht" — das Recht zu bestehen und zu leben,
„angebornes Menschenrecht" — und „Eigen¬
art", d. h. bestimmte und so nur einmal vor¬
handene Anlage, Die Person, als „Natur",
steht aber nur auf einer Wertstufe zweiten
Grades,
Einen Wert ersten Grades dagegen ver¬
körpert die „Persönlichkeit" als eigenartiger
Besitz der „höchsten geistigen Werte". Die
Person, die Natur, liefert das Eigen; die
Persönlichkeit, als Ausfluß und Verkörperung
des Geistes, „nimmt dies Eigen als gewollt
in sich auf und setzt es in Verbindung mit
den höchsten Werten und Idealen des geistigen
Lebens", sie ist „die Verklärung der Person".
Diese letzten Gedanken finden ihre besondere
Ausführung in einer „Metaphysik der Persön¬
lichkeit", die der Verfasser an den Schluß des
ersten Teiles gesetzt hat. Die eigentliche Auf¬
gabe dieser „Metaphysik der Persönlichkeit"
ist die, von der Metaphysik die Fäden zu
knüpfen, die hinüberführen in das Gebiet der
Religion, Er sagt - „Persönlichkeit ist gegründet
auf ein höheres Ich. Sie kommt zustande,
wenn man sich mit dem Absoluten verbindet
oder das Absolute sich herabsenkt in die Person,"
Eine praktische Wendung erhält diese Meta¬
physik allerdings sofort, wenn dann Niebergall
weitersagt: „Ich (d.h. Wohl die Person) muß
mein höheres Ich selbst zu gewinnen, ich muß
den Anschluß an mein Ich zu erlangen suchen.
Ich muß mich gleichsam erkennen, wie ich von
Gott erkannt bin, also wie Gott mich haben
Will." Auf diese Weise kann man es sehr
Wohl verstehen, daß Riebergall schließlich be¬
hauptet: „Zuletzt ruht alle Rede von Persön¬
lichkeit auf dem Glauben an ein Absolutes."
Nach meiner Überzeugung hätte der Ver¬
fasser am Schluß seiner spekulativen Über¬
legungen diesen Ausspruch nicht tun können,
wenn er ihn nach seiner anfänglichen logisch¬
sprachlichen Begriffsinterpretation einer Nach¬
prüfung unterzogen hätte. Wir sprechen von
einer Persönlichkeit auch da, wo augenschein¬
lich kein solcher Glaube an ein Absolutes im
geistigen Sinne vorliegt. Auch ein Materialist
kann eine Persönlichkeit sein. So zeigt sich
am Schlüsse von Niebergalls metaphysischen
Betrachtungen klar und deutlich jener Fehler,
der einer logisch-spekulativen Methode immer
anhaftet: der Forscher erliegt gar zu leicht der
Versuchung, bei der Bestimmung eines Be¬
griffes in ihn immer gerade das hineinzulegen
und in ihm zum Schluß gerade immer das
zu finden, was er darin finden will.
Der zweite, umfangreichere Teil des Nie-
bergallschen Buches zeigt gewissermaßen die
praktische Anwendung jener metaphysischen
Ideen im Leben. Er soll uns zeigen, wie
Person und Persönlichkeit sich entfalten und
betätigen, wie sie in einer Reihe von Ge¬
bieten des äußeren Lebens wirksam werden
sollen. Eine Reihe solcher Gebiete — die
Alkoholfrage, das sexuelle Gebiet, die Ehe,
die Erziehung, die Religion, die soziale Frage,
Politik, Kunst und Dichtung — sollen hier
genannt sein, mehr um die Mannigfaltigkeit
und den Reichtum des Buches anzudeuten,
als un? es zu erschöpfen.
Die großen nationalen Ideen, die unser Volk in den siebziger Jahren
beherrschten und die Debatten unseres Reichstages und vieler Landtage ans ein
erfreulich hohes Niveau erhoben, beginnen immer mehr zu verblassen. Es ist
als ob der Einheitsgedanke seine ganze Kraft erschöpft habe in einer einzigen
großen Tat, welche ein Jahrzehnt noch in denen nachwirkte, die mit voller
Hingabe an ihr gearbeitet hatten, welche aber, je weiter wir uns zeitlich von
ihr entfernen, um so weniger unser politisches Empfinden und Handeln noch
zu bestimmen vermag. Gewiß, wir haben in der Zwischenzeit ein einheitliches
bürgerliches Recht geschaffen, aber auch seine Wurzeln ruhen in der Zeit um
1870/71; gewiß, es sind andere, wenn auch vielfach weniger weitreichende
nationale Gedanken verwirklicht worden, aber sie wurden nicht getragen von
breiteren Kreisen des Volkes, und unsere nationalen Parteien haben sich in den
Parlamenten nicht so für sie eingesetzt, wie man es hätte erwarten dürfen und
wie es früher geschehen ist. Auf die mannigfachen politischen und wirtschaft¬
lichen Ursachen dieser unerfreulichen Erscheinung ist in den Grenzboten oft
hingewiesen worden. Einen neuen Beweis für sie boten die Verhandlungen des
Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses, als ihnen die Etats der
Eisenbahnen im Reich und in Preußen Gelegenheit gaben, die wichtige Frage
der Vereinheitlichung der deutschen Eisenbahnen zu erörtern. Auf der rechten
Seite in beiden Häusern satte Zufriedenheit mit dem ausgezeichneten Zustand
unseres Eisenbahnwesens, der die Forderungen des Artikels 41 bis 47 der Reichs¬
verfassung weit hinter sich lasse; bei den Linksliberalen eine „sympathische
Stellung" zu dem Gedanken der Vereinheitlichung. Außer bei einem Vertreter
der Nationalliberalen im Reichstag, der als das zu erstrebende Ziel der Ent¬
wicklung die volle Eiseubahngemeinschaft auf föderativer Grundlage hinstellte,
nirgends Wärme und freudige Zustimmung zu einem Gedanken, der zum
mindesten ernstester Überlegung und Prüfung bedürfte. Und die Regierungen?
In Preußen ist man aus leicht erklärlichen Gründen entschiedener Gegner des
Gedankens. Und der Herr Präsident des Reichseisenbahnamtes hat nicht viel
mehr als sein „Interesse" bekundet und die Möglichkeit, daß eine weitergehende
Vereinheitlichung der Bahnen möglich sei, zugegeben. Aber selbst diese äußerst
vorsichtige Haltung brachte ihm im Abgeordnetenhause eine Rüge von konser-
vativer Seite ein, die gegen ihn den preußischen Herrn Finanzminister ausspielte,
der ebenso wie sein Herr Kollege im Eisenbahnministerium die Meinung hegt,
daß unsere Eisenbahnorganisation ausgezeichnet ist.
Es ist ein Trost, daß schon mehr als einmal unitarische Bestrebungen sich
trotz des Widerstandes der Konservativen durchgesetzt haben. Auch die Ver¬
einheitlichung der Eisenbahnen wird sich durchsetzen, wenn auch aus keinem
anderen Grunde als dem der wirtschaftlichen Notwendigkeit, die heute namentlich
in Süddeutschland lebhaft empfunden wird. Daß nur ein dorniger Weg zu
dem gewünschten Ziele führt ist unbedingt zuzugeben, da staatsrechtliche und
finanzielle Hindernisse zu beseitigen sind. Das größte Hindernis liegt jedoch
einstweilen noch in dem entschiedenen Widerspruche Preußens, das um die Ein¬
nahmen aus seineu Eisenbahnen besorgt ist. Sobald man in Preußen anderen
Sinnes wird, ist der Weg frei. Preußens Stellung ist verständlich; aber nicht
zu billigen ist, daß der preußische Partikularismus nicht den Mut zu einer
öffentlichen und rein staatlichen Erörterung der Frage findet. Die Initiative
zur Einberufung einer Sachverständigenkonferenz, die völlig unabhängig und
objektiv die Möglichkeit einer Eisenbahngemeinschaft auf föderativer Grundlage
prüft, ist das wenigste, was von Preußen erwartet werden könnte. Das
Ergebnis der Konferenz und die sich aus ihm ergebenden Konsequenzen könnten
Schon vor einem Vierteljahrhundert hat die republikanische Partei der
Vereinigten Staaten von Nordamerika erkannt, daß die Trusts die kleineren
freien Unternehmer zu verschlingen und in allen Industriezweigen Privatmonopole
zu errichten drohten. Sie hat damals das Shermansche Antitrustgesetz erlassen,
das noch heute maßgebend ist, das jedoch nichts anderes darstellt als eine
Kulisse zur Täuschung über den wahren Sachverhalt. Fünfundzwanzig Jahre
hindurch hat sich das Trustwesen ungehindert entfalten können; das Shermansche
Gesetz hat ihm bei seiner ungeheuren Entwicklung nicht im Wege stehen können.
Dabei hat die republikanische Partei aber niemals offen auf feiten der Trusts
gestanden; wenn sie das getan hätte, wären ihr große Wählerscharen untreu
geworden. Sie hat mit den Demokraten um die Wette gescholten, aber sie hat
sich mit peinlichster Sorgfalt gehütet, dasjenige Mittel gegen sie anzuwenden,
das allein Erfolg versprochen hätte: die Zulassung billiger europäischer Waren
zu niedrigen Zöllen, womit den Trusts die Aufrechterhaltung ihrer Monopol¬
preise unmöglich gemacht wäre. Statt dessen hat sie sich auf den Erlaß von
Strafgesetzen beschränkt, die nicht angewendet werden, wie das gegen die Ge-
mühruug und Annahme geheimer Frachtrabatte der Eisenbahnen, auf Grund
dessen der Petroleumtrust zu der ungeheuerlichen, im Wege des Kompetenz¬
konflikts jedoch ausgewischten Strafe von 29 Millionen Dollars verurteilt wurde.
Roosevelt selbst ist das Bild der Zweideutigkeit gegen die Trusts. Er hat
Reden gegen sie gehalten mit beispiellosen Kraftstellen. Sie seien schlimmer als
Straßenräuber, als bezahlte Rowdies und Zuhälter. Damit schien er der große
Vorkämpfer in einem wirklich weltgeschichtlich zu nennenden Unternehmen werden
zu wollen: in der Verteidigung der Gewerbefreiheit und des Kleinunternehmer¬
tums gegen das Milliardenkapital. Natürlich wurde er der Gottseibeiuns der
Rockefeller, Morgan, Harriman, Carnegie und des ganzen Trosses kleinerer
Größen, die sich diesen angeschlossen haben, sowie ihres Einflusses. Roosevelt
spielte als Präsident auch mehrmals mit dem Gedanken einer Ermäßigung der
Eingangszölle. AIs es aber zum Klappen kam, als man sich der Wahl von
1908 näherte, zog er sein ungestümes Rößlein wieder in den Stall. Die
Trusts und ihr ganzer hochschutzzöllnerischer Anhang drohten der Partei alle
Beiträge zu entziehen, wenn sie Roosevelt als Präsidentschaftskandidaten auf¬
stelle; ja sie werde sich nicht scheuen, einen Gegenkandidaten aufzustellen.
Roosevelt hielt es doch nicht für ratsam, diesen Drohungen zu trotzen; er ließ
den Zollreformgedanken fallen, erklärte sich mit den schärfsten Worten gegen
eine nochmalige Kandidatur, überhaupt gegen die dritte Bekleidung der Pra-,
sidentenwürde durch dieselbe Persönlichkeit. Vielmehr wandte er seinen ganzen
beträchtlichen Einfluß zugunsten des jetzigen Präsidenten Taft auf, den die
Trusts aufgestellt hatten, und der denn auch gewählt wurde.
Diese ziemlich klaren Verhältnisse haben sich in mehr als einer Beziehung
gründlich gewandelt. Die Dinge sind einen ziemlich unerwarteten Gang gegangen.
Der neue Kongreß hatte die versprochene Reform des Zolltarifs ausgeführt;
aber während man nach dem Programm der republikanischen Partei annehmen
mußte, daß diese gewisse Übertreibungen der Schutzzölle beschneiden werde,
erhöhte mau sie noch. Präsident Tahl irrte sich so sehr in der Volksstimmung,
daß er auf seiner ersten Rundreise durch den Westen Lobgesänge auf den Tarif
anstimmte, jedoch in seiner eigenen Partei einen rasch wachsenden Widerstand
antraf. Immer deutlicher bildete sich ein neuer Parteiflügel heraus, die
„Insurgenten", die den „Korrekten" entgegentraten und dem Riesenkapitalismus
Feindschaft schworen. Davon lernte Präsident Taft; klug schrieb er sich hinters
Ohr, daß eine neue Zeit anbreche. Gerade schickte der Riesenkapitalismus sich
an, einen neuen Fischzug zu tun. Die Eisenbahnen in den Vereinigten Staaten
sind sämtlich private Aktienunternehmen; diese taten sich im Frühjahr 1910
zusammen, um die Frachten und Fahrgelder ansehnlich zu erhöhen, wogegen
sich namentlich die westlichen Staaten aufs schärfste wandten, denn für Reisen
von Personen und Waren (z. B. Getreide) kommen für sie sehr lange Strecken
in Betracht. Da war es nun Präsident Taft, der in wirksamster Weise ein
Gesetz durchbringen half, das der bisher ziemlich machtlosen IntL>8tale-Lom-
Mei-LL-Lommi88i0n das Recht gab, das Inkrafttreten solcher Tariferhöhungen
M verbieten, bis sie durch einen weitläufigen und unsicheren Gerichtsspruch
bestätigt seien. Damit fielen die verhaßten Erhöhungen; es war ein großer
Erfolg für Taft. Es blieb der einzige, denn der zollpolitische Gegenseitigkeits¬
vertrag mit Kanada wurde durch die Neuwahl des kanadischen Parlaments
unmöglich, und der Schiedsvertrag mit England scheiterte daran, daß der Senat
auf vollster Erhaltung seines Mitbestimmungsrechts beharrte.
Roosevelt wollte nach der Rückkehr von seinem Jagdausflug nach Afrika
und der Reise durch Europa anfänglich dem politischen Treiben fern bleiben,
geriet aber bald hinein. Er schloß sich den erwähnten „Insurgenten" der
republikanischen Partei an, und zwar bot sich gerade damals eine aufregende
Veranlassung dar. Es kam an den Tag, daß der Minister des Innern,
Ballinger, einem New Uorker Kapitaltrust riesigen Grundbesitz in Alaska, Wälder
und Bergwerke, um einen Spottpreis in die Hände gespielt hatte. Der Fall
Ballinger-Pinchot hielt monatelang die öffentliche Aufmerksamkeit gefangen und
endigte mit dem Rücktritt Ballingers. Roosevelt vertrat mit den besten, unantast¬
barsten Gründen die Ansicht, daß der Staat, also der Staatenbund, an Grund¬
besitz und Bodenschätzen festhalten solle, was ihm gehöre, und nichts mehr an
Privatkäufer verschleudern solle.
Mittlerweile war aber Taft durch den Erfolg mit dem Vorgehen gegen
die Eisenbahnen immer mehr in Gegnerschaft gegen die Trusts geraten und
immer mehr ein Vertreter derjenigen Grundsätze geworden, an denen Roosevelt
1908 gescheitert war. Die Trusts erwiderten seine Angriffe, er aber rechnete
wohl auf den weitverbreiteten Haß gegen sie. Da begab sich das Wunderbare,
daß Roosevelt sie in Schutz nahm. Also beiderseits eine vollständige Ver¬
schiebung des Standpunkts. Roosevelt erklärte, auch die größten „Organisationen"
hätten einen Anspruch auf Geltendmachung ihres Strebens nach freiestem Gewerbe¬
betrieb. Nicht unmöglich machen solle man die Trusts, man solle sie nur unter
obrigkeitliche Aufsicht stellen, damit ihre Geschäfte zum Nutzen des Gemein¬
wesens geführt würden. Das heißt denn doch eine Elle aus Kautschuk zum
Messen benutzen! Ist es denkbar, durch Gesetze, so daß Richter darnach urteilen
können, festzustellen, worin der Nutzen des Gemeinwesens aus dem Betriebe
eines Riesengeschäfts wie des Petroleum- oder des Tabaktrusts besteht?
Das heißt doch vollends, entweder dem Staat gänzlich unbrauchbare Waffen in
die Hand stecken oder das wirtschaftliche Leben im allgemeinen seiner Willkür
unterstellen. Schon der exakten Aufsichtsführung einer europäischen, z. B. einer
deutschen Staatsbehörde wäre damit eine unlösbare Aufgabe gestellt, bei einer
amerikanischen würde vollends wieder das eintreten, was so oft vom dortigen
Gerichtswesen gesagt wird, daß der Reichtum mit vier Pferden durch alle Gesetze
hindurchsährt. Und das soll ein reformatorischer Akt sein!
Den Trusts konnte dieser 1908 noch heftig zurückgewiesene Gedanke
angesichts der festen Haltung Tafts gar nicht unangenehm sein; sie mußten
wissen, daß ihnen davon keine ernstliche Unbequemlichkeit drohte. Sie näherten
sich also Roosevelt und es schien, als ob er als ihr Pferd das große Rennen
um die Präsidentschaftskandidatur durchmachen solle.
Aber es kam wieder ganz anders. Roosevelt suchte krampfhaft nach einem
durchschlagenden Wahlspruch für die Massen. Nachdem er sich der Werbung
mit dem Kampf gegen die Trusts begeben, bedürfte er eines solchen mehr als
je. Doch ging er nun so weit, wie es kein Mensch für möglich gehalten hätte.
Er sprach sich für die Abberufbarkeit der Beamten, einschließlich der Richter,
durch das „Volk", d. h. durch einen Beschluß der Wählerschaft aus. Vor dem
Urteil unbefangener, aber politisch durchgebildeter Leute mußte das dem Faß den
Boden ausschlagen, namentlich mußte das den Urheber dieses Gedankens bei allen
konservativen Kreisen unmöglich machen. Es sei hier bemerkt, daß die Vereinigten
Staaten nach England das erste Land gewesen sind, das die uns heute selbst¬
verständlich erscheinende Unabhängigkeit des Richters durchgeführt hat.
Die Verteidiger Roosevelts gingen von der Annahme aus, daß er die ihm
zugeschriebenen Absichten gar nicht haben könne. Aber die Gegner beriefen sich
auf seine klaren Worte in der Rede zu Osawatomie und auf Artikel im Outlook,
die noch radikaler gehalten waren. Roosevelt selber sprach kein Wort, um das
Gesagte richtig zu stellen; es ist daher nicht daran zu zweifeln, daß er sich mit
seinem Vorschlag an den im Westen vielverbreiteten, aber auch im Osten sehr
häufig vorkommenden Radikalismus hat wenden wollen. Man sagt, daß die
Einwanderer des letzten Jahrzehnts, unter denen Ost- und Südeuropäer vor¬
wiegen, seine Ansichten begünstigen. Und diesen Neulingen — vier Jahre nach der
Einwanderung erlangt jeder Unbescholtene das Wahlrecht — will Roosevelt eine
derart heikle Entscheidung überweisen!
Präsident Taft hat offenbar damit einen Trumpf in die Hand bekommen,
den er auszunutzen fucht. Er tritt für die Verfassung ein und bezeichnet die
Abberufbarkeit der Richter als Heraufbeschwörung eines Zeitalters nichtiger
Anarchie (bubblmZ anarcli^, d. h. buchstäblich: Wasserblasen aufsprudelnder
Anarchie). „Die Reformen mögen möglichst von Grund aus unternommen
werden, möge das Volk lernen, ehrenwerte Männer zu Abgeordneten zu erwählen;
möge es sich zunächst an der Gemeindepolitik hinreichend beteiligen, um die Lenkung
der Angelegenheiten durch bosssZ (Vereinsgewaltige) unmöglich zu machen. Die
Selbstsucht der einzelnen, dies zu ausschließliche Bemühen um das Goldmacher,
ist die Wurzel allen Übels gewesen. Möge das Volk solche Vertreter wählen,
die die guten Seiten des parlamentarischen Wesens erkennen lassen."
Allem Anschein nach sind Roosevelts Aussichten sehr verdüstert. Er hat
zwar in den Vorwahlen für die entscheidende Hauptversammlung der republika¬
nischen Partei einige Weststaaten mit geringer Wahlmacht gewonnen, aber im
Nordosten anscheinend allen Boden verloren. Der Staat New Uork, der mächtigste
von allen, hat in allen Bezirken, wo der Gegensatz Taft - Roosevelt entschied,
Anhänger Tafts gewählt. Danach sollte man annehmen, daß dieser zum Partei¬
kandidaten erkoren werde.
Ob er aber in der eigentlichen Präsidentenwahl im November den Sieg
erringt, das ist eine völlig andere Sache. Der eigentliche Gegner ist dann
immer not) bie bemofrattfdje gartet, bie natürlich atte§ aufbieten roirb, um an§
bem geiler ber UtepuMitdner, ü)rem 3wtefpalt, Vorteil p gießen. Stetten diese
JRoofeoelt auf, bann roirb fie bie SIrme ausbreiten, um bie „Konservativen"
aufzunehmen, wogegen fie auf ben 3AP9 ver Stabifalen be§ SBeftenS trofft,
roenn SCaft roieber fanbibiert. 2in ^anbibaten l)at fie el)er p Dick al§ p roenig;
bie ©efal)r ist, bafj keiner fo rec£>t über ben anderen tjeruorragt, bot) roirb
man it)rer möglicberroeife in vertrauten 2In§fd)üffen £>err. (§,§ ist aber fogar
bie [Rebe dauon, bafj 33rinn, ber rabifalfte von alten, pu viertenmal auf ben
©djilb erhoben werben foüe. ®ann ist freilief) atte§ mögltd).
2In bem 2tu§fatt ist ©uropa feljr lebhaft interessiert. 23on it)in roirb e§
abhängen, ob ber 3mperiatt§mu§ not) straffer angezogen roerben soll, ob
namentlid) bie roirtfd)aftlid)e 25ormunbfd)äst über andere amerifamfd)e Staaten,
bie ber @kaat§fefretär ßnoj prjeit in 3ÄitteIamerifa aufpridjten sud)t, pftanbe
sommer roirb ober nid)t. 2lud) r)anbeI§poutifcl)e folgen formen fid) einstellen.
©ann aber dürfte fid) namentlid) eilest)eiden, role fid) bie grofee 9<iepubur p
ber 2IIImad)t ber üftero 9)orfer SßmtoEratie [teilen roirb. £>ier liegt eine 3ins=
Seranttoortlidj: ber .JieranSaeber (Steorae Steinatal in <Sdj5ne6erfj. — SBtanuftriptfenbungen nuk SBricfc Werben
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e mehr heutzutage die Gegensätze zwischen Glauben und Frei-
^ religiösität oder Unglauben sich zuspitzen, und die gläubigen
Elemente daher bestrebt sind, sich zu gemeinsamem Kampf zusammen¬
zuschließen, je mehr auch im politischen Leben die Notwendigkeit
erkannt wird, alle bürgerlichen Elemente zur Abwehr der Sozial¬
demokratie zu einen, desto öfter begegnet man der Erörterung der Frage, auf
welche Weise man die katholische Bevölkerung der evangelischen näher bringen
und wie man dem Katholizismus das „Politisch-Gefährliche", das ihm nun
einmal nach landläufigen Ansichten der meisten Protestanten innewohnt, nehmen
könnte. Hierbei hat von jeher der Wunsch, eine selbständige, von Rom
unabhängige katholische Kirche zu schaffen, eine große Rolle gespielt. Auch
jüngst ist dieser Gedanke wieder in den Grenzboten behandelt worden. Ich
möchte diese Erörterungen und die ganze Frage, der sie dienen sollen, von
katholischer Seite aus einer kurzen Würdigung unterziehen. Nicht als ob ich
für Katholiken schreiben wollte — für diese steht die Frage der von Rom los¬
gelösten, deutschen katholischen Kirche längst fest — sondern in dem ausgesprochenen
Wunsche, den nichtkatholischen Lesern durch Erörterung der tatsächlichen Ver¬
hältnisse und unserer Stellungnahme zu diesen unseren Standpunkt näher zu
bringen und bei ihnen Verständnis für denselben zu wecken.
Es muß zunächst zugegeben werden, daß es vom evangelischen Standpunkte
aus sehr verlockend erscheint, den Gedanken einer deutschen katholischen Kirche,
die vom Papste unabhängig wäre, immer wieder aufs neue in Gang zu bringen.
Eine solche Kirche würde ja dann des Hauptgegensatzpunktes entbehren, sie
käme für den gelegentlich immer wieder einmal ertönender Schlachtruf „Hie
Wittenberg. hie Rom" nicht in Frage, der „Stein des Anstoßes" wäre fort¬
geräumt. Mit einer solchen Kirche könnte man sich ebenso leicht vertragen, wie
^ gelungen ist, mehrfach die scharfen Gegensätze zwischen lutherisch und reformiert
auszugleichen oder zeitlich wie örtlich in den Hintergrund treten zu lassen. Es
ist auch begreiflich und sozusagen entschuldbar, wenn man das Scheitern aller
bisherigen Versuche, eine solche deutsche katholische Kirche zu gründen, an sich noch
nicht als Beweis für die Undurchführbarkeit des Gedankens gelten lassen will.
Wenn aber der Herr Verfasser des erwähnten Artikels der Grenzboten meint, es
sei die Sache bisher nur noch nicht richtig angefaßt worden, die Bewegung dürfe
nicht vont Staate ausgehen, sondern müsse aus der Reihe der Katholiken selbst
heraus begonnen werden, so muß man doch darauf aufmerksam machen, daß
gerade das, was er hier verlangt, auf die altkatholische Bewegung der siebziger
Jahre zutrifft. Sie ist aus den Kreisen der Katholiken heraus entsprungen.
Nie standen außerdem die Chancen für die Abtrennung der deutschen Katholiken
von Rom, für die Ausführung dieses Gedankens günstiger als damals. Und
trotzdem mißglückte die Bewegung. Denn, daß sie mißglückt ist, darüber täuschen
die Altkatholiken, die noch vorhanden sind, niemand, ini eigensten Innern wohl
sich selbst nicht hinweg. Das sollte zu denken geben. Man sollte der Frage
näher treten, ob es wirklich bloß Zufall, bloß die Einwirkung äußerer Umstände
war, welche die Bewegung mißlingen ließ. Oder liegt nicht vielmehr der Grund
des Scheiterns in der Sache selbst? Und in der Tat, wenn man der Frage
etwas näher tritt, wird man zu der Überzeugung kommen, daß solche Versuche
scheitern müssen, weil sie an innerer Inkonsequenz leiden.
Es kommen hier zwei Grundprinzipien der katholischen Kirche in Frage,
die so sehr mit dem Wesen der katholischen Kirche verwachsen sind, daß man
sie schlechterdings von ihr nicht trennen kann. Das eine ist das der Universalität,
das andere das der Autorität von oben. Die katholische Kirche ist ihrer ganzen
Verfassung, ihrer ganzen Geschichte nach eine Weltkirche und eine hierarchisch
organisierte Kirche. Sie ist dies ihrer Auffassung nach auf Grund der Organi¬
sation, die Christus selbst einst seiner Kirche gegeben hat. Die Richtigkeit dieser
Auffassung mag man von nichtkatholischer Seite bestreiten, die Tatsache, daß
sie besteht, muß aber allgemein zugegeben werden. Man muß also im vor¬
liegenden Fall mit ihr rechnen, wenn man nicht Luftschlösser bauen will.
Aus dem Weltkirchenstandpunkt folgt, daß man katholischerseits nie un¬
abhängige Landeskirchen wird gründen können, sondern daß, wenn eine Gliederung
nach Ländern eintritt, dies immer nur in der Art geschehen kann, daß man
die Bistümer eines Landes organisatorisch zusammenfaßt, diese Gesamtorganisation
aber wieder dem Papste unterstellt. Die Länder würden also in kirchlicher
Hinsicht Provinzen der Weltkirche sein. Es ist ausgeschlossen, daß die katholische
Kirche den deutschen Verhältnissen zuliebe von ihrem Weltkirchen - Standpunkt
abgehen sollte. Sie würde sich selbst aufgeben. Es bliebe also nur übrig, die
Bildung der unabhängigen deutschen Kirche im Gegensatz zu den kirchlichen
Autoritäten zu bewerkstelligen, wie es die Altkatholiken versucht haben. Hier
tritt aber sofort hemmend der zweite oben erwähnte Grundsatz in Geltung, daß
die Unterordnung unter die Hierarchie der Kirche das wesentliche Kennzeichen
des Katholizismus ist. Auf der Autorisation des Papstes beruht nach katholischer
Lehre jede Ausübung der geistlichen Funktionen innerhalb der Kirche. Priester
und Gläubige, die sich von dieser Autorität emanzipieren, hören damit auf,
katholisch zu sein. Man muß sich durch die Ausdrücke „deutsch-katholisch" oder
„altkatholisch" nicht täuschen lassen. Das sind Usurpationen, die logisch nicht
haltbar sind. Die Trennung von Rom bedeutet die Aufgabe des Prinzips, daß
die kirchliche Autorität kraft göttlicher Einrichtung in der Kirche zu befehlen hat, und
damit die Aufgabe des katholischen Grundprinzips, das gerade einen der Haupt¬
unterschiede zwischen katholischer und protestantischer Kirchenauffassung ausmacht.
Die Altkatholiken gehören logischerweise zu den Protestanten. Sie sind nur
dogmatisch noch nicht so freiheitlich entwickelt wie diese. Diese Entwicklung
kann aber eintreten und wird es vermutlich auch tun. Es steht ihr jedenfalls
kein Hindernis mehr im Wege, wenn man erst durch Trennung von dem
katholischerseits als höchste kirchliche Autorität geltenden Papsttum das Autoritäts¬
prinzip selbst durchbrochen hat.
Wie sehr man auch die Frage hin und her wenden mag, man kommt um
die Alternative nicht herum: „entweder unter päpstlicher Autorität und Führung
oder nicht mehr katholisch." Auch die griechisch-katholische Kirche kann im vor¬
liegenden Falle als Beispiel für eine andere Möglichkeit nicht herangezogen werden.
Denn diese negiert keineswegs das kirchliche Autoritätsprinzip, wie es eine deutsche
katholische Kirche tun müßte, die sich in Unabhängigkeit vom Papste gründen wollte.
Man kann also, das geht aus dem Gesagten hervor, nicht zugleich dem
Katholizismus in Deutschland die Existenzberechtigung zugestehen und verlangen,
daß er sich von Rom loslösen soll. Da man aber die Existenzberechtigung
den deutschen Katholiken doch wohl beim besten Willen nicht bestreiten kann,
so wird man sich eben mit der kirchlichen Abhängigkeit eines Teiles des deutschen
Volkes von Rom abfinden müssen, ganz abgesehen von den Wünschen, die man
in dieser Beziehung hat.
Birgt nun diese kirchliche Abhängigkeit der Katholiken von Rom wirklich
die politischen Gefahren in sich, die ihr gemeinhin von nichtkatholischer Seite
zugeschrieben werden? Man dürfe es nicht dulden, so sagt man, daß Deutsche
von einer außerdeutschen Macht Befehle empfingen. Schon Bismarck hat
geäußert, daß diese Auffassung der Dinge nicht korrekt sei. In der Sitzung
des Preußischen Abgeordnetenhauses vom 21. April 1887 sagte er: „Wenn er
(der Abgeordnete Richter) den Papst als Ausländer bezeichnet, so mag er das
als Protestant tun, aber, wenn ich Katholik wäre, glaube ich nicht, daß ich die
Institution des Papsttums als eine ausländische betrachten würde, und von
meinem paritätischen Standpunkt, den ich als Vertreter der Regierung inne¬
halten muß, gebe ich das zu. daß das Papsttum eine nicht bloß ausländische,
eine nicht bloß weltallgemeine, sondern weil sie eine weltallgemeine ist, auch
eine deutsche Institution für die deutschen Katholiken ist." In der Tat bringt
die weltallgemeine Stellung des Papstes, wie Bismarck sie bezeichnete, es mit
sich, daß er sich nie als Vertreter eines bestimmten Staates fühlen kann, wenn
auch naturgemäß - das ist menschlich — die Empfindungen des Volkes, aus
dem er hervorgegangen ist, ihm am nächsten liegen werden. Aber je mehr er
in seine Stellung hineinwächst, desto mehr werden die allgemeinkirchlichen Er¬
wägungen in den Vordergrund treten. Er hat ja gar keine Veranlassung, die
Interessen eines Staates besonders zu fördern, wohl aber die dringendste, sich mit
den Regierungen aller der Staaten, in denen Gläubige seiner Kirche leben, in gutem
Einvernehmen sich zu befinden. Es liegt wirklich gar kein Grund vor, seinen
Einfluß als einen die nationale Wirksamkeit der Katholiken schädigenden ein¬
zuschätzen. Gewiß, er hat die Interessen seiner Kirche zu vertreten und kann
dadurch auch in Gegensatz zur jeweiligen Regierung geraten. Aber würde eine
vom Papste unabhängige deutsche katholische Kirche, wenn man sich eine solche
denken könnte, in anderer Lage sein? Die Gefährlichkeit, die man den
päpstlichen Einflüssen als etwas Selbstverständliches zuzuschreiben sich vielerseits
gewöhnt hat, besteht tatsächlich nur in den Vorurteilen derjenigen, die in der
irrigen Auffassung leben, Deutschland sei ein protestantisches Land, wir besäßen
ein „protestantisches Kaisertum" usw., es müsse also alles Antiprotestantische
auch'antideutsch sein und daher bekämpft werden. Dem ist aber doch nicht so.
Deutschland ist nun einmal konfessionell in zwei Teile geteilt. Jedem der
beiden muß sein Recht werden. Je ernster und unparteiischer dieser Grundsatz
durchgeführt wird, desto mehr werden die schädlichen politischen und sozialen
Wirkungen der nun einmal vorhandenen Glaubensspaltung paralysiert. Je
weniger rechtmäßigen Grund zum Klagen man den Katholiken gibt, desto mehr
wird man auch die Macht des Zentrums schwächen, eine Macht, welche, das
läßt sich nicht leugnen, mehrfach nicht in nationalem Sinne Verwendung gefunden
hat. Denn diese Macht besteht abgesehen von dem Einfluß, den die Partei sich
durch ihre soziale Tätigkeit besonders beim niederen Volke gesichert hat, im
wesentlichen auf der Anschauung, daß alle und jede Freiheit, welche die
katholische Kirche in Deutschland besitzt, der Regierung und den Parlamenten
durch das Zentrum abgerungen worden sei, und daß, wenn das Zentrum lahm¬
gelegt würde, das katholische Volk und die katholische Kirche schutzlos den
Angriffen der Gegenpartei ausgesetzt wären.
Wir Katholiken dürfen anderseits nicht vergessen, daß wir in einem
paritätischen und nicht in einem katholischen Staate leben, daß wir also auch
auf den nichtkatholischen Bevölkerungsteil Rücksicht zu nehmen haben, um so
mehr, als wir nur dann auch für uns Rücksicht verlangen können. Wir können
nicht beanspruchen, daß in Deutschland die katholischen Anschauungen die ma߬
gebenden seien, ebensowenig, wie wir dies den evangelischen zugestehen. Ein
auf gegenseitige Rücksichtnahme, Achtung der beiderseitigen Überzeugungen und
Voraussetzung nationalen Bestwollens auf beiden Seiten begründeter nioäu3
vivencii ist sür Deutschland das einzig Mögliche.
iele Jahrzehnte lang haben die Briten als Muster politischen
Verständnisses gegolten. Gewiß haben die führenden Schichten
des britischen Volkes ein hohes, bei uns unerreichtes und, unseren
verschiedenen Verhältnissen entsprechend, unerreichbares Maß
politischer Schulung. Aber diese Schulung, so nützlich sie ist, kann
doch nur die taktische Seite politischer Betätigung betreffen. Wirkliches politisches
Verständnis erfordert einen Staatsmann und wirkliche Staatsmänner, die die
Aufgaben ihrer Zeit klar zu erkennen vermögen, sind überall und zu allen Zeiten
dünn gesät. England macht darin keine Ausnahme und die großen Erfolge,
die es in der Welt gehabt hat, ergaben sich auch zum Teil aus der Gunst
seiner Lage und der Gunst der allgemeinen Verhältnisse.
An großen, die Sinne blendenden Schlagworten fehlt es auf der britischen
Insel nicht. Wenn man den Konservativen oder — wie sie sich mit Vorliebe
nennen — Unionisten glauben will, so müßte für das gesamte britische Weltreich,
England eingeschlossen, eine herrliche Zeit anbrechen, wollten sie die Regierung
übernehmen. Ein Schutzzollsystem soll ihnen ermöglichen, alle Kolonien mit dem
Mutterlande zu einem Zollverein, zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiete
zusammenzuschließen, das für Großbritannien selbst den Vorzug haben würde,
der Arbeitlosigkeit abzuhelfen, die Einfuhr fremder Erzeugnisse zu beschränken
und obendrein Geld in den Staatssäckel zu bringen, ohne das Leben zu ver¬
teuern; der Ausländer würde die Einfuhrzölle bezahlen.
An Verheißungen also ist kein Mangel, und selbst wenn mau allen Wahl¬
köder abrechnet, bleibt noch genug übrig, um dem Briten den Mund wässrig zu
machen. Wenn man aber die Unterlagen des Planes, die Art seiner möglichen
Ausführung und die voraussichtliche Wirkung näher betrachtet, erheben sich so
große Bedenken, daß man zweifeln muß, ob denn in der Partei, die den Schutz¬
zoll befürwortet, wirklich staatsmännische Fähigkeit zu finden ist. Immer und
immer wieder wird das Beispiel Deutschlands herangezogen, das durch den
Zollverein und seine Schutzzölle aufgeblüht sei. Doch nirgends wird die Frage
aufgeworfen, ob denn die Verhältnisse überhaupt vergleichbar seien, ob ein über
alle Breiten und Himmelsstriche sich erstreckendes Kolonialreich wie das britische
nach derselben Weise behandelt werden könne wie die nur durch künstliche
Grenzen getrennten, doch denselben Wirtschaftsbedingungen unterworfenen Staaten,
die im Deutschen Reiche zusammengefaßt sind. Ebensowenig untersucht man ob
die sonstigen Verhältnisse des Erwerbslebens so gleichartig sind, daß ähnliche
Mittel auch ähnlich wirken müssen.
Der imperialistische Gedanke des altbritischen Zollvereins soll hier nicht
weiter verfolgt werden, unsere Erörterung soll sich vielmehr auf die Wirkung
der geforderten Zollreform auf Großbritannien beschränken. Als Joseph Cham-
berlain zuerst die Fahne des Schutzzolls erhob, war nur die Rede vom Schutze
der Industrie gegen die angebliche Überflutung mit fremden Erzeugnissen, die
dem britischen Arbeiter das Brot entzöge, während die Fremden britische Waren
von ihrem Markte fernhielten. Ob die britische Industrie wirklich so schutz¬
bedürftig ist, könnte füglich bezweifelt werden angesichts der großen Ausfuhr,
die gerade seit Chamberlains Angstruf mächtig gestiegen ist, anstatt zurückzugehen.
Großbritannien ist immer noch allen anderen Ländern in der Gütererzeugung
überlegen und ein Ausschluß britischer Waren ist jedenfalls für das Deutsche
Reich nicht nachzuweisen. Je wohlhabender Deutschland wird, um so mehr
schwillt sein Verbrauch britischer Erzeugnisse an. Als Entgelt führt es natürlich
deutsche Waren nach Großbritannien aus; denn umsonst gibt auch der Brite
nichts her und im Grunde ist aller Handel doch nur Güteraustausch, um nicht
zu sagen Tauschhandel. Als unmittelbarer Kunde Großbritanniens steht Deutschland
an zweiter Stelle, übertroffen nur von Indien; bei Berücksichtigung der über die
Niederlande und Belgien kommenden Einfuhr läßt es aber auch Indien
hinter sich.
Nun, die Frage, ob die britische Industrie schutzbedürftig ist, haben die
Briten allein zu entscheiden. Damals hatte Chamberlain sich ausdrücklich gegen
die Absicht verwahrt, Zölle auch auf Lebensmittel zu legen, ohne deren Massen¬
einfuhr das britische Volk verhungern müßte. Nicht weniger als fünf Sechstel
aller Lebensmittel müssen von außen kommen. Aus diesem Grunde erklärt sich
auch die Sorge, die den Briten befällt bei dem bloßen Gedanken, eine andere
Macht könnte zur See mächtig genug sein, die regelmäßige Zufuhr abzuschneiden,
oder auch nur auf kurze Zeit zu stören.
Wenn ein Zweig der britischen Wirtschaft schutzbedürftig ist, so ist es der
Landbau, der schon lange seine Aufgabe nicht mehr erfüllt und stetig zurückgeht.
Während in den 70er Jahren noch 3190000 Acker (2^2 Acker ^ 1 Hektar) mit
Weizen bebaut wurden, waren es 1908 nur noch 1663000, also nur wenig
mehr als die Hälfte und ein ähnlicher Rückgang zeigt sich in allen anderen
Zweigen; nur bei Hafer beträgt er bloß 1000 Acker. Der Viehstand weist zwar
im letzten Menschenalter eine Vermehrung auf, aber die Vermehrung hat nicht
Schritt gehalten mit dem Wachstum der Bevölkerung. Statt 9995000 Stück
Rindvieh im Jahre 1876 zählte man 1908 11738000, 17,4 v.H. mehr, während
die Menschenzahl in der gleichen Zeit von 33 auf 45 Millionen, 4V v. H. mehr
gestiegen ist, so daß also selbst hier von einem Fortschritte keine Rede sein kann.
Noch geringer ist die Zunahme bei Pferden und Schweinen und bei Schafen
ist überhaupt keine Zunahme, sondern eine Abnahme festzustellen.
Ganz besonders springt die geringe Leistung der britischen Landwirtschaft
ins Auge bei einen: Vergleich mit der deutschen, wobei freilich zu berücksichtigen
ist, daß die Oberfläche des Vereinigten Königreichs 58 v. H. des Deutschen Reiches
beträgt, seine Bevölkerung 70 v. H. Aber die deutsche Brotkornerzeugung ist
zehnmal so groß wie die britische, an Pferden hat Deutschland mehr als das
Doppelte, an Rindvieh beinahe das Doppelte, an Schweinen das Fünfeinhalb«
fache. Einzig an Schafen hat Großbritannien 4,7mal so viel wie Deutschland
und das ist ein Vorzug, um den man es nicht zu beneiden braucht. Denn
gerade die große Zahl der Schafe wirst ein trübes Licht auf die Verhältnisse.
Es ist traurig, zu sehen, wie der beste Weizenboden nur noch als Weideland
benutzt und von Distelgestrüpp überwuchert wird. Wo wogendes Korn in
Üppigkeit stehen und Tausenden von Händen Arbeit geben sollte, da wandeln
nicht bloß Kühe, sondern auch Schafe. Daß da des Bodens Ertragfähigkeit
nicht genügend ausgenutzt wird zum Wohle des Ganzen, ergiebt sich von felbst.
Nach dem neuerdings aufgestellten Programm der Schutzzöllner sollen nun
Zölle auch aus Lebensmittel gelegt werden, um die Landwirtschaft, vor allem
den Anbau von Brotfrucht wieder lohnend zu machen. Es ist das eine Frage,
die lediglich Großbritannien angeht, sie wird aber mit der Frage eines engeren
Zusammenschlusses der einzelnen Teile des britischen Weltreiches verknüpft und
um die großen Kolonien für ein allbritisches Wirtschaftssystem zu gewinnen,
wird vorgeschlagen, die koloniale Einfuhr zollfrei zu lassen oder ihr wenigstens
Vorzugzölle einzuräumen. Mit dem in Aussicht genommenen geringen Zollsatze
für den kolonialen Weizen dürfte jedoch dem britischen Landwirte wenig gedient
sein. Das bedeutete nur den Ausschluß des russischen und argentinischen Weizens —
die Vereinigten Staaten werden bald aufhören, Weizen und auch Fleisch aus¬
zuführen, da sie ihren ganzen Ertrag selbst brauchen — und ein tatsächliches
Monopol des kanadischen. Für den britischen Landwirt ist es am Ende gleich¬
gültig, ob die argentinische oder die kanadische Einfuhr ihm die Preise drückt.
Wenn der Zoll für ihn einen Wert haben soll, muß er entweder unterschiedslos
alle Einfuhr treffen oder wenigstens hoch genug sein, um den Wettbewerb der
Kolonien unschädlich zu machen.
Angenommen nun, der eingeführte Schutzzoll erfüllte diese Bedingungen,
würde er auch die erhoffte Wirkuug haben? Gewiß würde der Weizenpreis und
als seine natürliche Folge auch der Brotpreis um den Betrag des Zollsatzes
steigen, wie die Freihändler nicht unterlassen zu bemerken. Mit Vorliebe werden
daher Gegenüberstellungen der Weizenpreise in London und Berlin ins Gefecht
geführt, die tatsächlich mit geringen Schwankungen einen Unterschied von der
Höhe des deutschen Zollsatzes ausweisen. Dem britischen Ackerbauer jedoch würde
nur ein geringer Teil des Preisunterschiedes zufallen und der würde wettgemacht
durch die Preissteigerung aller Lebensbedürfnisse. Der Hauptnutzen würde nur
den Grundherren in die Tasche fließen, die zweifellos die Gelegenheit benutzen
würden, die Pachter, die in der Zeit des Freihandels gesunken sind, soweit wie
möglich wieder auf die frühere Höhe zu bringen. Der lautlose Landarbeiter
dagegen würde um nichts gebessert sein und sich wahrscheinlich wieder in der
Lage befinden, die er in der Zeit der hohen Schutzzölle in der ersten Hälfte
des vergangenen Jahrhunderts genügend ausgekostet hat. Noch heute sind die
hungrigen Vierziger sprichwörtlich.
Durch die Steigerung der Grundrente zugunsten der Großgrundbesitzer ließe
sich der Schutzzoll nicht rechtfertigen. Doch mehr als das ist kaum zu erwarten,
solange nicht das herrschende Lautsystem in seinen wesentlichen Zügen geändert
ist. Der Bauer ist immer das Stiefkind des britischen Staates gewesen. Schon
am Ausgang des Mittelalters wurde das Bauernlegen in: großen betrieben, um
Weideflächen für die Wolle abwerfende Schafzucht zu gewinnen, so daß Thomas
Morus mit Recht sagen konnte, die von Natur sanften Schafe verschlängen die
Menschen. An stattlichen Landsitzen mit den berühmten englischen Parks ist kein
Mangel, aber der freie Bauer, der auf dem eigenen, ererbten Landgute sitzt,
der Ueoman, der uns bei Chaucer und in den Balladen von Robim Hood
entgegentritt, der bei Crecy und Agincourt den Kern des englischen Heeres
bildete, ist kaum noch vorhanden. Er ist im Laufe der Jahrhunderte zermürbt
und sein Land ist vom Großgrundbesitz aufgesogen worden. An seiner Stelle
gibt es nur noch Pächter und Tagelöhner, und auch deren Zahl wird stetig
geringer. Denn was sollen die Landarbeiter noch länger auf einem Boden, an
dem sie keinen Anteil haben, der ihnen gegen kargen Lohn und schwere, nicht
einmal gesicherte Arbeit nichts zu bieten vermag?
Nur wenigen erst ist die furchtbare Gefahr zum Bewußtsein gekommen, die
dem britischen Volkskörper aus dieser Entfremdung von der Erde droht. Der
beste, gesundeste Teil des Volkes geht durch Auswanderung verloren. 1907 belief
sich die Zahl der Auswanderer auf 393000, 1908, wo die deutsche Aus¬
wanderung auf weniger als 20000 fiel, gingen noch 263000 hinaus. Die
Schwächlinge bleiben natürlich zurück und drücken den Stand der Volksgesundheit
herab.
Nun ist es gar nicht zu bezweifeln, daß das Rückgrat eines Volkes in
seiner Landbevölkerung liegt. Aus der Berührung mit der Erde muß es wie
Antaios in der griechischen Sage immer wieder neue Kraft schöpfen, und ein
Volk, das den Zusammenhang mit der Erde verliert, ist dem Untergang verfallen.
In Großbritannien steht die Landwirtschaft zwar technisch auf hoher Stufe, wo sie
eingehend betrieben wird. Ein reicher Ertrag wird aus dem Boden geholt und in der
Viehzucht ist in England noch viel zu lernen. Aber der Fehler ist, daß bloß ein
kleiner Teil des Bodens wirklich genutzt wird und deshalb nur ein geringer
Teil, nur ein Sechstel des Bedarfs, im Lande erzeugt wird. Nun ist jedoch
die Landbevölkerung bereits so zurückgegangen, daß mit den noch vorhandenen
Arbeitskräften eine eingehende Bewirtschaftung alles anbaufähigen Bodens trotz
aller arbeitsparenden Maschinen nicht möglich ist, und im Handumdrehen, durch
ein Gesetz, läßt sich die Landbevölkerung nicht vergrößern. Ihre natürliche Ver¬
mehrung wäre ja stark genug, um in einem Menschenalter genügend Arbeits¬
kräfte zu liefern. Wenn aber die Dinge weiter so bleiben wie bisher, geht dieser
natürliche Zuwachs durch Auswanderung und Abwanderung in die Städte wieder
verloren, noch ehe er dem Lande nutzbar werden kann. Die Einführung der
Schutzzölle würde wahrscheinlich die Entblößung des Landes noch beschleunigen.
Denn der Ruf nach Schutzzöllen erschallt am lautesten aus den Kreisen der
Industrie und an einen Schutz der Landwirtschaft ohne gleichzeitigen Schutz der
Industrie ist nicht zu denken — eher wäre das Umgekehrte möglich. Gesetzt
nun, die Schutzzölle seien eingeführt, dann wird die blühende Industrie, die
bereits den größten Teil der Bevölkerung in ihre Arme gezogen hat, noch mehr
Arbeitskräfte beanspruchen und die Landbevölkerung aufsaugen, bis das Land
so öde ist, wie gewisse Teile der schottischen Hochlande.
Weise ist es gewiß nicht, die schon so weit vorgeschrittene Industrialisierung
Englands auf Kosten der Landwirtschaft noch zu fördern. Der heimische Markt,
so aufnahmefähig er auch ist, vermag die anwachsenden Erzeugnisse der Industrie
nicht alle aufzunehmen und Schutzzölle in einem für die Ausfuhr arbeitenden
Lande können die Einfuhr nicht ausschließen, wie das Beispiel Deutschlands und
der Vereinigten Staaten zeigt, weil eben die Ausfuhr durch Einfuhr bezahlt
werden muß. Nun ist der Welthandel und mit ihm die davon abhängige Aus¬
fuhrindustrie großen Schwankungen unterworfen. Ein Fehlschlagen der Ernte
in anderen Ländern verringert die Kaufkraft und benachteiligt daher auch in
entsprechendem Maße die Ausfuhrindustrie. Wenn das Fehlschlagen gar in¬
dustrielle Rohstoffe wie Baumwolle betrifft, kann ein ganzer Industriezweig lahm
gelegt werden, wie es der Fall war während des amerikanischen Sezessionskrieges,
als den Baumwollspinnereien von Lancashire der Rohstoff abgeschnitten war. Je ein¬
seitiger also ein Volk sich auf die Allsfuhrindustrie verlegt, um so mehr wird es
von den Schwankungen des Welthandels abhängig, um so schwerer wird es von
der auswärtigen wirtschaftlichen und politischen Lage berührt, über die es keine
Gewalt hat, deren Veränderungen es oft nicht einmal vorhersehen kann. Die
Landwirtschaft hat zwar auch mit guten und schlechten Jahren zu rechnen; aber
der neuere Betrieb auf wissenschaftlicher Grundlage verbürgt doch eine gewisse
Stetigkeit im Ertrage und der Absatz ist sicher. Die Landwirtschaft ist das älteste
und wichtigste aller Gewerbe und wehe dem Volke, das sie vernachlässigt.
Ist nun eine gesunde Landwirtschaft schon nötig, um die Volkswirtschaft
vor gefährlicher Einseitigkeit zu bewahren, in kriegerischen Zeiten könnte ihr
Versagen von vernichtender Wirkung sein. Die Nervosität, mit der das englische
Volk darauf bedacht ist, sich die Seeherrschaft zu sichern, geht aus dem Bewußt¬
sein hervor, daß nur die Flotte das Land vor schneller Aushungerung bewahren
kann. Wenn es einem Feinde gelänge, die britische Flotte zu vernichten und
die Lebensmittelzufuhr zu unterbinden, müßte Großbritannien sich den Frieden
diktieren lassen. Der Feind brauchte sich nicht die Mühe einer Truppenlandung
zu geben; denn in zwei oder drei Monaten wäre der letzte Sack Mehl verbraucht
und die Invasion des Hungers könnte auch die beste Territorialarmee nicht
abwehren. Wahrscheinlich würde bei den geringen Beständen an Lebensmitteln
schon die bloße Kriegserklärung eine solche Preissteigerung herbeiführen, daß ein
allgemeiner Notstand einträte.
Dieser Gefahr sucht man durch immer größere Aufwendungen für die
Flottenrüstung zu begegnen. Viel besser jedoch wäre es, anstatt durch den Bau
von Überdreadnoughts andere Völker ebenfalls zu größeren Rüstungen zu
nötigen, das Augenmerk darauf zu richten, wie die Lebensmittelerzeugung im
Lande selbst gehoben werden kann. Den ganzen Bedarf selbst zu decken, daran
ist freilich nicht zu denken. Großbritannien hat eine dichtere Bevölkerung als
Deutschland und große Teile der britischen Insel eignen sich nicht für Getreide¬
bau. Wohl aber ist es möglich soviel zu erzielen, daß die Gefahr einer schnellen
Aushungerung gebannt ist, und durch die so gewonnene Sicherheit würde die
Nervosität schwinden, die sich aller Kreise bemächtigt hat und die ruhige Be¬
urteilung der internationalen Verhältnisse hindert.
Die Lage der Landwirtschaft und der Landbevölkerung ist die Achillesferse
des britischen Staates. Mit Stolz vergleichen die Briten ihr Reich mit dem
römischen Reiche. Die Weiterführung des Vergleiches zeigt, daß Großbritannien
auch wirtschaftlich den Wegen Italiens folgt, das den Getreidebau vernachlässigte,
seinen gesunden Bauernstand verfallen ließ, die Latifundienwirtschaft durchführte
und für sein Brot von den Kolonien abhängig wurde.
Wenn nicht bald Maßregeln getroffen werden, die eine Wiederherstellung
des Bauernstandes verbürgen, ist Großbritannien dem Niedergang verfallen.
Noch ist Großbritannien der Kern des Reiches, der Hanptteilhaber der Weltfirma
John Bull u. Söhne, noch überragt es mit seinen fünfundvierzig Millionen bei
weitem die elf Millionen seiner Söhne in den Kolonien. Aber die Kolonien sind
schon jetzt in keiner Weise mehr vom Mutterlande abhängig, sondern politisch
wie wirtschaftlich selbständig. Sie denken nicht daran, ihrer Industrie zugunsten
des Mutterlandes irgendwelche Beschränkungen aufzulegen. Wenn dieses seine
Landwirtschaft nicht wieder zur Blüte bringt, sondern sich auf die Korneinfuhr
aus den Kolonien verläßt, dann wird das bisherige Verhältnis sich schnell ändern.
Zwar hat Kanada jetzt erst sieben Millionen Einwohner; aber seine Entwicklung
hat neuerdings große Fortschritte gemacht. Auch die Vereinigten Staaten hatten
vor hundert Jahren nur eine Bevölkerung von sieben Millionen.
Großbritannien steht am Scheidewege. Wenn manche Politiker wähnen,
den Niedergang abwenden zu können durch gewaltsame Vernichtung des deutschen
Handels und Lahmlegung des deutschen Wettbewerbs, so beweisen sie dadurch
nur eine verderbliche Kurzsichtigkeit. Selbst wenn es der britischen Politik
gelänge, das Deutsche Reich zu zerschlagen, für Großbritannien würde sich
daraus keine neue Kraft, sondern ein Grund zum Beharren beim Alten und
als Folge nur eine Beschleunigung des Verfalles ergeben. Die Größe eines
Volkes beruht nicht auf der Kleinheit und Schwäche seiner Nachbarn, sondern
auf seinem inneren Werte. Nur zu richtig ist, was der Kaiser in Hamburg
vom Gebrauch der Peitsche beim Wettrennen sagte.
Die Gefahr, die dem britischen Volke droht, liegt in seinen inneren Ver¬
hältnissen, nicht in dem Vorwärtsstreben seiner Nachbarn. Noch ist es Zeit,
ihr zu begegnen und dem britischen Volkskörper die schwindende Gesundheit
wiederzugeben. Ob aber das System der Parteiregierung die Fähigkeit hat,
die Schäden nicht bloß zu erkennen, sondern auch zu heilen, das ist eine Frage,
die nur ein Optimist bejahen kann.
Wn der Breslauer Stadtbibliothek befindet sich eine interessante
Sammlung von Musikprogrammen aus den Jahren 1800 bis 1850,
die, wenn sie auch nicht ganz vollständig sein mag, gleichwohl
ein ziemlich getreues Bild des Konzertlebens nicht bloß Breslaus,
sondern der Zeit überhaupt vor uns entrollt. Es liegt nicht in
der Absicht der folgenden Darstellung, auf diese alten Programme einzugehen;
nur auf eine bemerkenswerte Tatsache mag hingewiesen werden: auf die
Seltenheit einer Kunstübung, mit der wir heutzutage geradezu übersättigt werden.
Sind wir also musikalischer geworden als jene frühere Generation, der das
Konzert eines namhaften Künstlers ein Ereignis von gewisser lokaler Bedeutung
war? Ohne Zweifel trägt die moderne Kultur, in deren Werden wir mitten
innestehen, einstweilen noch einen vorwiegend künstlerischen Charakter, wie am
deutlichsten die stark dichterisch gefärbte Weltanschauungslehre eines Nietzsche
beweist. Die zentrale Stellung einer Kunst, die, losgelöst von allem Begriff¬
lichen unmittelbar zu unserem Empfinden spricht, deutlicher als es je durch
einen Begriff geschehen könnte, erklärt sich daher ohne weiteres, desgleichen die
notwendige Folge, die gesteigerte Aufnahmefähigkeit, die fortschreitende Erziehung
zum Hören. Wir kennen den großen Kampf, der um Wagners Musik in der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entbrannte; heut wehren sich nur noch
vereinzelte Eigenbrötler gegen diese neue Kunst, die längst Gegenwartsmufik
geworden ist. Und so haben noch kühnere Neuerer wie Richard Strauß und Max
Reger den Boden für die Aufnahme ihrer Werke ganz anders vorbereitet
gefunden als die beiden Bahnbrecher Liszt und Wagner. Aber mit der öffent¬
lichen Musikpflege durch Künstler- und Orchesterkonzerte ist es schließlich allein
nicht getan, denn nur durch eigenes Studium, durch Selbstbetätigung, nicht
bloß durch Hören wird musikalische Bildung im eigentlichen Sinne erzielt
werden, eine Bildung, die, wenn sie wirklich tief ist, nicht hoch genug angeschlagen
werden kann. Wie steht es also mit der noch um die Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts so regen und sinnigen Pflege der Hausmusik, ist sie dementsprechend
auch intensiver geworden? Ohne zunächst eine glatte Antwort mit ja und nein
erwarten zu wollen, wird man zugeben müssen, daß sie nach einer Seite hin,
nämlich auf dem Gebiete des Trio- und Quartettspiels, eher zurückgegangen ist:
Gestalten, wie sie der sympathische Hugo Salus in seinem Gedicht „Kammermusik"
oder Karl Sohle in seinen liebenswürdigen „Musikantengeschichten" (Verlag von
L.Staackmann in Leipzig) schildert, wird man nur noch vereinzelt und mehr in kleinen
Städten antreffen. Dafür hat das Klavier dank seiner Vervollkommnung und Be¬
quemlichkeit eine weltbeherrschende Stellung gewonnen. Als das Hausorchester be¬
zeichnet es Oscar Bie in seinem Buche „Das Klavier und seine Meister", und um¬
schreibt dessen Aufgabe folgendermaßen in schöner Weise: „Ist es kein gut Ding, das
ganze Material der Töne vor seinen zehn Fingern zu haben? Hineinzugreisen, wirklich
hineinzugreifen? Und alle Nuancen aller Musik, das Singen, Springen, Flüstern,
Schreien, das Weinen und das Lachen unter den Nerven zu fühlen? Alles
freilich in den Ton des Klaviers gestimmt, alles in den epischen Ton der
modernen Kithara, der die Lyrik der Violine, die Dramatik des Orchesters in
seiner Art in sich faßt. In solcher Umsassendheit ist das Klavier drinnen im
dämmerigen Zimmer ein seltsamer und lieber Erzähler, ein Rhapsode für den
intimen Geist, der sich in ihm ganz improvisatorisch ausgeben kann, und ein
Archiv für den Historiker, dem es das ganze Leben der modernen Musik in
seiner Allerweltssprache von einem tiefen durchschnittlichen Gesichtspunkt aus
wieder aufrollt. So liebe ich das Klavier erst ganz, so ist es treu, ehrlich, echt
und allein." So von Natur zu einem Kulturfaktor par excellence berufen,
wird es durch Unbildung und Ungeschmack vielfach zum Marterinstrument herab¬
gewürdigt. Denn neben den herrlichen Blüten, unter dem goldenen Lianen¬
gerank echter Kunst wuchert das Sumpfgewächs Operette, in dessen Züchtung
Berlin und Wien um den Preis der Niedrigkeit ringen. Ist es nicht charakteristisch,
wenn namhafte Verleger darüber zu klagen beginnen, daß z. B. die ernste
Liederkomposition das unrentabelste Geschäft sei, da sie gegen die Schundmusik
der Operetten- und Varieteschlager nicht aufkomme? Es „lernt" eben heute
alles Klavier spielen, und das Klavier ist bald so gemein geworden wie die
Nähmaschine. Darum wird wohl der Kampf gegen den musikalischen Schund
noch aussichtsloser bleiben als gegen den literarischen, da das „Sichhinaufspielen"
auf ganz andere Schwierigkeiten stößt als das „Sichhinauflesen". Auch dem
besten Wollen wird mangelhaft entwickelte Technik unüberwindliche Hindernisse
entgegensetzen. Ein großer Teil auch des gebildeten Dilettantentums kommt
über eine gewisse Grenze nicht hinaus, daher die ablehnende Haltung gegen
Bach und die älteren Meister, ingleichen gegen die Etude, die den meisten wohl
als eine Art Kinderschrecken gilt. Und gerade in dieser Gattung verbirgt sich
so unendlich viel Stimmungsmusik, angefangen von den technisch und musikalisch
gleich wertvollen Etüden Cramers, die ein Hans von Bülow der Mühe einer
Neuausgabe für wert hielt, bis zu den von wahrhaft poetischem Dufte erfüllten
Chopins und den Riesenetüden Liszts. Dazwischen liegt nun unendlich viel:
die gehaltvollen, charakteristischen Etüden von Moscheles, die Chopin ähnlichen,
teilweise sehr schönen Novakowskis (Kistner) und Jensens, der etwas hausbackene
aber außerordentlich instruktive Keßler, die Poeten Hans Seeling und Ad. Henselt.
Charles Mayer (Kistner) und viele andere, wer zählt sie alle auf? Eine gute
Zusammenstellung wertvollen Etüdenmaterials ist neuerdings bei Andre erschienen.
Da fast jeder Klavierkomponist von Bedeutung gelegentlich auch Studienwerke
geschrieben hat, so bietet auch die neueste Klavierliteratur hier noch vieles Wert¬
volle, zum Teil hervorragende und für den Vortrag überaus dankbare Stücke,
es sei hier nur auf Mac Dowells Virtuosenetüden (Breitkopf u. Härtel), Ruthardts
edle Pedalstudien (Forberg), Sapellnikows Konzertetüden (Andre) hingewiesen.
Mit dieser, wie man steht, umfangreichen Literatur mögen aber wohl nur ver¬
hältnismäßig wenige vertraut sein, zumal die Anforderungen die sie stellt,
durchweg hoch sind, ja zum Teil virtuoses Können voraussetzen. Die hohen
Anforderungen — das ist das Leidige in der Musik. Eine in der Jugend
vernachlässigte Technik wird sich später nur sehr schwer wieder einbringen lassen,
und so bleibt dem größten Teile selbst des gebildeten Dilettantentums das
Höchste der Kunst verschlossen. Zu dem letzten Beethoven, zu Brahms und
Chopin dringen doch wohl die weitaus meisten niemals vor; man nascht hier
und da an den leichteren Sachen derselben, ein bißchen „Träumerei", ein paar
Chopinsche Walzer — und ahnt nicht, was man alles sich entgehen lassen mag.
Chopin! Die Schönheit seiner Musik ist mit Worten nicht auszusagen. Diese
süßen Klänge voll exotischen Reizes, diese schwebenden Stimmungen, diese
„Wogen auf phosphornen Schwingen — sehnende Wogen",
Man muß die Poesie zu Hilfe rufen, um einen schwachen Begriff davon
zu geben, und die eben zitierten Verse Max Dauthendeys dürsten sich wohl
dazu eignen — die Subjektivität solcher Assoziation natürlich zugegeben.
Unwillkürlich ist die Darstellung somit bereits von allgemeiner Betrachtung
auf das Gebiet des Ästhetischen und Literarischen hinübergeglitten. Nicht ohne
Absicht. Denn nicht für die ewig Blinden, deren Ergötzung die Schundfabrik¬
ware bildet, sind diese Blätter geschrieben, sie würden ja doch nichts daran
ändern — sondern für die, so „zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt" von
der Fülle des Reichtums, der Vielheit der Erscheinungen geblendet und ver¬
wirrt, vielleicht nicht immer missen, wonach greifen, und denen darum der
Fingerzeig des Historikers nicht ungelegen sein durste, dessen Pflicht es ist, auch
das Vergessene oder unbeachtete Gute in ein Helles Licht zu setzen.
Muß da eigentlich nicht von Rechtswegen zuvörderst der alte Bach genannt
werden? Wie viele, die sonst recht gut spielen, mögen ihn nicht kennen. Aber
das ist doch kein echter und rechter Musiker, der durch ihn sich nicht kann erbauen
lassen. „O welch eine Tiefe des Reichtums!" Seine Choralvorspiele — eine Predigt
in Tönen, Sonntagvormittagsmusik. Busoni, Reger, Stradal, Brahms haben
sie Mr das Klavier erobert. Das wohltemperierte Klavier ist ein nicht aus¬
zuschöpfender Born. Wie nahe kommt uns da der zeitlich so ferne Mann.
Spricht nicht ein geradezu modernes Empfinden aus dem wehmütigen Seelen-
gesange des Li8-moIl-Präludiums und aus der geheimnisvoll raunenden (Zi8-
mvIl-Fuge? Aber auch da, wo er sich zu Riesengröße reckt, wie in der chroma¬
tischen Fantasie — man muß sie in Busonis Ausgabe spielen (Simrock) —,
reicht er uns immer wieder seine warme Menschenhand. Ist es noch nötig,
auf den ungezählten Reichtum in seinen Fugen und Suiten und Toccaten (die
L-moII-Toccata!) hinzuweisen? Eine Morgenstunde in solcher Musik birgt eine
Art von Weihe für den ganzen Tag in sich. Das ist der Alte, nun die Buben.
Was von dem ältesten, dem Friedemann, gedruckt ist (bei Steingräber), zeigt
ihn als echten Sohn seines Vaters, leider ging der geniale Mensch im Elend
unter. Der zweite Philipp Emanuel suchte andere Pfade und wurde der Schöpfer
der Sonate, die bei ihm schon vielfach einen stärkeren Gehalt zeigt, als es dann
bei Haydn durchschnittlich der Fall ist. Es sind Prachtstücke darunter, ein paar
hat Bülow modernisiert. Reizend gelangen ihm die Rondos; was ist das in
L-aur für ein liebes, horniges Ding. Auch für Unterrichtszwecke wird die von
Riemann besorgte Auswahl aus Philipp Emanuels Werken (Steingräber) überaus
dankbar sein. Wer überhaupt Interesse am Archaischen gewonnen hat, dem
bietet die Sammlung „Alte Meister" in den bekannten Volksausgaben (von
Köhler, Niemann, Pauer herausgegeben) eine ebenso reiche als reizvolle Literatur,
und wer sich speziell mit dem strengen Stil befreundet hat, dem seien gemisser¬
maßen als Ergänzung zu Bachs Werk die Kanons und Fugen August Alexander
Klengels dringend empfohlen. Übrigens zeigt auch heute noch die Musik zuweilen
archaisierende Neigungen, man schreibt unter Benutzung alter Tanzformen „Stücke
im alten Stil" (Huber), Passacaglia (Weißmann), Gavotten (R. Niemann).
Die Suite, allerdings in wesentlich anderer Form und mit anderem Gehalt,
weist eine reiche Nachblüte auf. Der alten Form nähert sich am ehesten
Jensens reizende „Deutsche Suite"; auch das ansprechende Werk R. Niemanns
(Litolff, dort auch die Gavotte) wird man hier nennen müssen, der erste Satz
allerdings ist im Geiste der Romantik geschrieben. Ganz romantisch sind die
reich angelegten Suiten Mac Dowells (Breitkopf u. Härtel), Lazares (ebenda),
Streletzkis (Hainauer) und ganz modern die P. Ertels (Forberg). Da „Suite"
nicht eigentlich eine bestimmte Form, sondern nur eine Folge von Stücken bedeutet,
so bieten sich hier dem Komponisten die verschiedensten Möglichkeiten für die Wahl
der Formen und des Inhalts der Stücke, die er in einer Suite zusammenfassen will;
man vergleiche dazu Ruthardts „Militärische Suite" (Forberg) und Napoleäo
„psle ensis" (Andre).
Während also die Suite sich immer noch einer gewissen Beliebtheit erfreut,
ist die große Sonate heute allgemach verklungen. Von allen späteren Meistern
hat die lapidare Größe der klassischen Kunst eines Beethoven doch wohl nur
Brahms erreicht, namentlich mit seiner gewaltigen l^-moll-Sonate, die uns
anmutet wie der Lebensroman einer trotzig-herben Kraftnatur, die sich aus dem
Schmerz über die Zertrümmerung ihres Einzelglücks zur Befreiung ringt im
Dienst einer hohen sittlichen Idee. Die Sonate der Romantiker ist im Bau
lockerer, mosaikartiger zusammengefügt, aber es sind herrliche Sachen darunter,
wie z. B. die viel zu wenig gespickte Phantasie-Sonate Felix Dräsekes und die
romantischen Sonaten des feinsinnigen, hochpoetischen Amerikaners Mac Dowell,
der in seinem Sinnen und Dichten Schumann nahe steht. Es liegt ein geheimnis¬
voller Zauber über seiner Musik, die uns tief in das Wunderland der Romantik
führt, wo Nixen und Elfen ihr Wesen treiben und seltsame Blumen blühen
und die Sehnsucht heimlich lauscht auf den Ton, der „durch alle Töne donet".
(Das Andante der L-aur-Suite!) Ob wir ihm in sein amerikanisches Waldidyll
folgen oder ans Meer oder in nordisches Nebelgewölk, immer spüren wir den
Herzschlag einer von tiefstem Empfinden beseelten, von eigenem Feuer durch¬
glühten Persönlichkeit. (Werke bei Schott und Breitkopf u. Härtel.) Eine wenig
gekannte Sonate von edler, fast klassischer Haltung schrieb auch E. E. Taubert
(Simrock). Der erste Satz ist etwas spröde und reflektorisch, dafür entschädigen
reichlich die anderen Sätze, besonders der zweite. Auch die schönen Sonaten
von R. Fuchs (Kistner) und R. Niemann (Schweers u. Haacke; dort auch die
übrigen Kompositionen des leider fast verschollenen Tondichters) brauchen nicht
vergessen zu werden, es ist edle Musik. Wer auf diesem Gebiet noch weiter
suchen will, wird noch manch gehaltvolles Stück dieser Gattung finden. In der
Hauptsache aber folgte die moderne Klaviermusik dem besonders von Schumann
angebahnten Zuge zum Genrehaften: das „Charakterstück", das echte Kind der
Romantik, fand die weitestgehende Pflege bei den jüngeren Tondichtern, die sich
in näherem oder fernerem Abstände um Schumann und Chopin gruppieren;
und eine überaus reizvolle und gediegene Literatur entstand durch die Ver¬
mählung dichterischer Vorstellungen mit musikalischen im Augenblick der künst¬
lerischen Konzeption, z. B. die Stimmungsdichtungen des gemütvollen Th. Kirchner
(Simrock u. a.), A. Jensens wundervolle „Idyllen", das „Erotikon", das man
sehr lieben muß, die sinnigen „Sommermärchen" und „Herbstblätter" von R.
Fuchs (Simrock, die anderen Kompositionen des Meisters bei Kistner), die
reizenden „Genrebilder" von Hermann Goetz (Kistner), A. Krugs hochpoetische
„Idyllen" und „Romanzen". Georg Schumanns „Phantasien", „Traumbilder"
(Simrock). Auch ein Teil der schönsten Poesien Liszts, besonders die /an6<Z8
ac peI6rinaZe (Schott) gehören hierher, desgleichen Hans Huber, W. Kienzl,
der elegante Moczkowski und der ihm wesensverwandte W. Sapellnikow (Andre)
mit ihren gehaltvollen und klangschönen „Morceaux", ferner Korse. Bürzels
„Singen und Sagen" (Simrock), G. Lewins Abendbilver (Forberg), Leander
Schlegel (Kistner), A. Streletzki (Hainauer), Sjögrens Erotikon (Hainauer) und
viele andere, die hier aufzuzählen unmöglich wäre. Es sind das alles Namen
größtenteils noch lebender Tondichter, also verharrt auch die Musik der jüngsten
Zeit noch in der Romantik, aber es ist auch hier „ein neues Wissen um die
blaue Blume". Dem bei unserem gesteigerten Nervenleben erhöhten Verlangen
nach stärkeren Reizen und Spannungsgefühlen entspricht die häufige Verwendung
dissonnierender Elemente, frappanter Modulationen und Kombinationen,
schwebender Meeren, scheinbare Verwischung des tonalen Charakters usw. Aus
der ungeheuren Bereicherung der harmonischen und dynamischen Ausdrucksmittel
durch Liszt und Wagner werden die äußersten Folgerungen gezogen, kurz die
ganze Musik wird nervenhafter, nervöser wenn man will. Um sich das zu
verdeutlichen, braucht man bloß die Phantasiestücke Robert und Georg Schumanns
miteinander zu vergleichen oder noch besser etwa die „Colombine" Cyrill Scotts,
des „Modernsten" und Originellsten unter den Modernen, mit dem gleichnamigen
Stück aus Schumanns Carneval. Scotts Musik mag zunächst befremden, aber
sie interessiert sehr bald (Werke bei Schott). Dazu kommt noch bei den
Skandinaviern, besonders bei Grieg, und bei den Slawen, wie Suk, Nowak,
Juon, Röbikoff, ein starker nationaler Einschlag und ein an die norddeutsche
Art erinnernder grüblerischer Zug, ein fast pessimistisch zu nennender Unterton,
der dieser Musik einen herben, fremdartigen, aber eben darum reizvollen
Charakter verleiht. Die Musik der eben genannten Slawen namentlich ist
durchweg schwer, inhaltlich und technisch, aber gedankenreich, koloristisch und von
heißem inneren Erleben zeugend (Werke bei Simrock u. Schlestnger).
Aber auch bei Meistern, die in gewissem Sinne noch durch Schumann und
Chopin beeinflußt sind, zeigt sich unverkennbar jenes Neue. So bei dem schon
erwähnten Mac Dowell und Eduard Schütt, der in seiner Frühzeit Chopin
ziemlich nahesteht. Schütt ist eine der Sympathischsten und liebenswürdigsten
Erscheinungen der neueren Musikgeschichte, schönheitstrunken, heiter, empfindungs¬
tief. Man mag bei ihm an Peter Cornelius denken, mit dem er den gemütvollen
Humor gemein hat, und an Gustav Falke: es ist dieselbe abgeklärte Schönheit,
derselbe sonnige Glanz, wie er über den Falkeschen Gedichten liegt, der gleiche
Reichtum der Ausdrucksmittel und die Hinneigung zum Impressionismus. Wie
jener verdichtet auch er die durch physiologischen oder psychologischen Eindruck
gewonnene Stimmung durch weite Schwebungen von Spannungsgefühlen, ohne
kaum jemals in Gesuchtheit zu verfallen. Einem warmen Gemüt entquollen,
wirkt seine Musik mit ihrer blühend schönen Melodik wohltuend wie die Sonnen-
wärme selbst, und es wäre begreiflich, wenn Schütt zu den beliebtesten Klavier¬
komponisten der Gegenwart gehörte. (Werke bei Simrock u. Kistner.)
Starke romantische Stimmungselemente und spezifisch Wagnersche Einflüsse
verbinden sich mit nordgermanischen Volkstum in der Musik Christian Sindings
zu überaus reizvollen Gebilden. Man kann bei einem Streifzug durch die neuere
Klavierliteratur unmöglich an dem kraftvollen Norweger vorübergehen. Wer
ihn nur nach seinem weitverbreiteten „Frühlingsrauschen" kennt, wird nicht
eben eine übermäßig hohe Meinung von ihm gewinnen, es ist Treibhausfrühling,
und Sinding hat unendlich viel Besseres geschaffen. Werke wie die Stücke
op. L5 und 72, 81, 110 (Simrock) zeigen seine beste Art, op. (>5 Ur. 1 klingt
wie ein Vorspiel zu einer antiken Tragödie, über op. 31 Ur. 4 liegt die elegische
verschleierte Stimmung, die Imsen so liebt. Bei seinen späteren Sachen ist
allerdings zuweilen eine gewisse Manier nicht zu verkennen, in die er sich hinein¬
komponiert hat, ohne daß man indessen sagen dürfte, er wiederhole sich geradezu.
Seine Melodik ist immer edel und die Faktur ausgezeichnet und wirkungsvoll.
(Werke bei Peters u. Simrock.)
Auch der Däne P. E. Langemüller muß unter den lebenden Tondichtern
mit Ehren genannt, und seine stimmungsvollen, schönen „Tänze und Intermezzi"
(Hainauer) können allen Freunden ernster Musik auf das wärmste empfohlen
werden.
Die zuweilen vernommene Klage über den Niedergang der Klavier¬
musik erscheint demnach wohl doch nicht berechtigt. Gewiß fehlt es zurzeit an
Erscheinungen überragender Größe, aber innerhalb der kleineren Formen ist es
eigentlich andauernd vorwärts gegangen, und unter den jüngsten Tondichtern ist
noch manches vielversprechende Talent, wie Erich I. Wolf (Schlesinger) und
Alfred Bortz, der u. a. mit einer großzügigen Ballade den Beweis ausgezeichneten
Könnens erbracht hat (Simrock). Und namentlich hat, wie wir schon gesehen,
die Unterhaltungsmusik und die sogenannte Salonmusik wesentlich an Gehalt
gewonnen. Wie fein sind z. B. die pikanten und graziösen Stücke A. Clairlies
(Simrock), die kleinen romantischen Geschichtchen Ludwig Schuttes (Hainauer,
Simrock), Meyer-Olberslebens (Forberg), E. Kronkes (Kistner, Schweers und
Haacke); für Vortrag und zu Studienzwecken dankbar F. Mertkes Impromptus
über Schubertsche Themen (Steingräber). Noch viel Ansprechendes und Geschmack¬
volles würde sich hier nennen lassen. Aus besonders sympathisches Entgegen¬
kommen werden stets Tondichtungen rechnen können, die an Landschafts- und
Naturstimmungen angelehnt sind: was einen Hauch unserer Heimaterde in sich
trägt, ist fast immer gute Musik, und das sind selbst bei beschränkter Begabung
nicht die schlechtesten, die mit Walter sagen können:
„Im Walde auf der Vogelwelt'
Da lernt' ich auch das Singen",
zumal wenn ihnen gelingt, die Stimmung ebenso zu fast konkreter Anschauung
zu verdichten, wie es z. B. E. Hänser in seinem Intermezzo op. 40 Ur. 1 gelungen
ist. Es sei an dieser Stelle nur auf Kienzls Dichterreise, PH. Scharwenkas Seestücke
(Hainauer), des sympathischen W. Niemanns Reisebilder, Holsteinische Idyllen
Pastellbilder, aufmerksam gemacht, alles freundliche, anheimelnde Musik von
starkem Stimmungsgehalt und sorgfältiger Arbeit (Vieweg, Schmidt u. a.).
Vieles von dem oben Angeführten wird sich besonders für den Jugend¬
unterricht eignen. Instruktiv und geschmackvoll zugleich soll die Jugendliteratur
sein, und beide Forderungen werden heut in ganz anderer Weise erfüllt als etwa
vor einem halben Jahrhundert. Es würde zu weit führen, hier auf Einzelheiten
einzugehen, darum seien hier nur ein paar Namen genannt von Komponisten,
die in ausgiebigster Weise für Kinder geschrieben haben: A. Krug (Steingräber),
C. Reuther (Hainauer), P. Zilcher (Kistner, Simrock), R. Wickenhauser (Kistner).
Die Stückchen sind keineswegs tief, das sollen sie auch nicht sein, aber ansprechend
und lehrreich. Auch Schytte gehört hierher. Ein reizendes „Bilderbuch" hat
W. Niemann geschaffen (Leuckardt) und in „Wald und Flur" (Steingräber)
einen lieblichen Strauß für Kinderhände gepflückt; seine hübsche Suite „Meißner
Porzellan" (Schmidt) wird sich gut im Unterricht verwenden lassen, und als
Vorbereitung auf Bach die Sammlung von Blaß „Aus alten Meistern" (Simrock).
Zum Schluß noch ein Wort zu dem beliebten Thema „Die Oper im Salon".
Es ist begreiflich, daß man die Erinnerung an eine schöne Bühnenmusik auch
daheim gelegentlich wieder aufleben lassen möchte. Die verbreitetste Form, darin
das geschieht, ist das Potpourri, zugleich auch die verwerflichste. Für Dilettanten
unteren Grades sind aber solche Zusammenstellungen wertvoller Opernmelodien
immer noch mehr zu empfehlen als die verzweifelten Schläger der modernen
Operette. Die relativ besten Potpourris sind die von H. Cramer (Andrö). Eher
läßt sich über „Phantasie" reden. Thalberg hat damit begonnen und feine
Zeitgenossen entzückt. Seine Phantasien sind zum Teil noch heut spielenswert
und für einen historischen Sinn auch darum interessant, weil sie manch schönes
Stück aus ganz verschollenen Opern zu uns herüber gerettet haben. Dann
folgten Kullack und die zahllosen Nachtreter. Sind diese Phantasten im Grunde
meist nur verkappte Potpourris, in denen die Motive durch allerlei brillantes
Flitterwerk aufgeputzt sind, so haben sie doch zur Erzielung einer eleganten und
Virtuosen Technik einen nicht zu unterschätzenden Wert und sind wie die von
Smith, Voß und E. Dorn (Andrö) im Unterricht wohl brauchbar. Und vollends
berechtigt erscheinen die klaviermäßigen Übertragungen ganzer Szenen in der
kongenialen Art Bülows (drei Stücke aus den „Meistersingern", Schott), ferner
Liszts Schlußszene aus „Tristan" (Breitkopf u. Härtel), Jos. Rubinsteins „Bilder" aus
dem „Nibelungenring" und „Parsival" (Schott). Hier lebt die ganze Partitur im
Klaviersatz wieder auf. Bülows Meistersingervorspiel ist ein unerreichtes Meister¬
stück der Übertragungskunst, die selbst dem dreifachen Kontrapunkt des kom¬
plizierten Stückes gerecht wird. Auch die pompösen Wagnerphantasten E. Mertkes
(Steingräber) sind durchaus zu empfehlen, desgleichen Transkriptionen Jaells
(Schott) und die Carmenphantasie von Jos. Weiß (Steingräber). — Nicht ungern
wird ein geübter Klavierspieler auch Liederübertragungen und Liederphantasien
vornehmen, namentlich wenn ihm die Gabe des Gesanges versagt ist, und hier
bieten die von Liszt (Peters, Breitkopf u. Härtel), E. Schütt (Simrock), Mertke und
Jos. Weiß (Steingräber) eine ebenso reichhaltige als glänzende Literatur. Freilich
muß er neben großer Technik auch Gesang in den Fingern haben, denn die ganze
Gattung ist nach jeder Richtung hin sehr anspruchsvoll aber sehr lohnend.
Wenn hier der Versuch gemacht worden ist, einem großen Leserkreise
einen Überblick über die Klaviermusik unserer Tage zu geben, so konnte es bei
einem möglichst weitgespannten Rahmen nur in flüchtigem Überblick geschehen
und unter Heranziehung eines Materials von verschiedenartigstem Gehalt.
Manches davon wird von einem rein kritischen Standpunkt als epigonenhaft
bezeichnet werden müssen. Aber es galt bei der zugrunde liegenden tendenziösen
Absicht eines Kampfes gegen den musikalischen Schund den auseinandergehendsten
Geschmacksrichtungen Rechnung zu tragen und unsere jeweiligen Stimmungen
zu berücksichtigen. Man liest auch mitunter gern einen leichten Roman, ohne
daran zu denken, ihn mit kritischem Maßstabe messen zu wollen. Und schließlich
braucht das, was den Zug des Epigonenhaften an sich trägt, darum noch nicht
minderwertig oder gar schlecht zu sein. Auf der andern Seite mußte vieles
wegbleiben, was gut hätte genannt werden können: die musikalische Literatur
ist eben zu groß. Jährlich erscheinen im Durchschnitt etwa fünfzehnhundert
Klavierhefte. Wer soll das alles kennen? W. Niemanns „Klavierbuch" und
Proßnitz „Handbuch der Klavierliteratur" geben bereitwillig weitere Auskunft,
Und wenn, wie anzunehmen, der Verfasser mit seiner Ansicht hier und da auf
Widerspruch stoßen sollte, so nimmt er das Recht der Subjektivität seines Urteils,
das sich aus erlebten Eindrücken gebildet hat, eben so voll für sich in Anspruch,
wie Leitzmann, der Liszt und Wagner für die eigentlichen Verderber des Geschmacks
erklärt"), oder Max Graf, der in Schumann nur den „Liebling des musikalischen
Philistertums" (I) sehen kann""), dem dann anzugehören der Verfasser übrigens
ohne jede Scham bekennt. Von keinem Kunstwerk gilt so sehr wie von dem
musikalischen das Wort Fausts:
Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen!
Herr Pirkheimer ließ es sich nicht nehmen, bald nach Dürers Heimkehr
ein üppiges Gastmahl in seinem Hause zu geben, dem geliebten Meister und
seinen großen Erfolgen vor dem Kaiser zu Ehren. Er hatte dazu, in seiner
politischen Art das Erfreuliche mit dem Nützlichen verbindend, eine Anzahl ihm
befreundeter „Martinicmer" geladen, wie sich damals in Nürnberg die Anhänger
Luthers bezeichneten. Da war vor allem Herr Professor Christoph Schenrl,
vormals Kollege Luthers in Wittenberg, der sich sein Plätzchen gleich zur Linken
des Gastherrn gesichert hatte und ihn, des herrlichen Schmauses froh, verklärten
Blickes betrachtete. Er würgte gleich zu Anfang an einer Rede, die er auch
nicht lange behalten konnte und worin er von Herrn Pirkheimer dithyrambisch
behauptete, daß ihm keiner im ganzen Reiche nach mannigfaltiger Gelehrsamkeit,
Rednergabe, Staatsklugheit und hinwieder nach Ahnenruhm, Reichtum und aus¬
nehmender Gestalt gleichgekommen sei.
Dies mochte aber Dürern, der zur Rechten des geschmeichelt lächelnden
Hausherrn saß, gar wenig behagen. Der Meister besaß keinen Sinn für
Solcherlei schwülstige Feierlichkeiten, und so tat er nun, um das Gleichgewicht
wieder herzustellen, was die Laune des Augenblicks ihm eingab — er schnupperte
an Pirkheimers Ärmel herum und sagte dann: „Du hast dich parfümieret,
o Willibald! O sag, wie kann ein alter Landsknecht, wie du, sich noch mit Zibet
schmieren!"
Da lachten sie alle und Herr Pirkheimer nicht zuletzt, und es war für
diesen Abend gar viel an heiterer Menschlichkeit gerettet.
Doch blieb auch dem Ernst sein wohlgemessen Teil. Herr Staupitz,
Generaloikar der deutschen Augustiner, war auch zu Gaste, ein kühner, wort-
geivaltiger Mann, den man auch „die Zunge des Apostel Paulus" nannte.
Dieser sowohl als der scharfkantige Stadtschreiber Herr Lazarus Spengler
erzählten in flammender Rede vom großen Ringen des Mannes aus Witten¬
berg, und es brach aus dumpfem Grollen allmählig und immer unwiderstehlicher
in all diesen schlagbereiten Männern die eiserne Absicht hervor;' „dem Papste
Urlaub zu geben für alle Zeit." >
Der Herr des Festes aber, Herr Willibald Pirkheinier, saß stolz und froh
an der Spitze dieser wohlerlesenen Gesellschaft gelehrter und berühmter Freunde
und fühlte den Atem einer neuen gewaltigen Zeit über all diesen Häuptern
wehen. Er ahnte nicht, daß in nicht allzuferner Zeit des Papstes Bannfluch
ihn gar hart und unnachsichtlich treffen und in tiefe Bestürzung und Seelennot
versetzen werde. Noch weniger aber konnte er ahnen, daß er selbst einst der freudig
begrüßten neuen Lehre und all diesen streitbaren Männern entmutigt den Rücken
kehren und sich reumütig zur alten Kirche zurückbekennen werde, in Ängsten vor
„barbarischer Zerstörung aller tieferen Wissenschaft und Geistesbildung".
Der Meister aber mit den forschenden Blicken und dem wehmütig gütigen
Lächeln um den schönen Mund, Herr Albrecht Dürer, lauschte den streitbaren
Reden in Andacht und tiefbesinnlicher Freude an allem Lebendigen.
Ihn freute nicht minder als die rauschende Fahrt auf neuen Gotteswegen,
das herbstlich gerodete Laub des wilden Weines, das die grünlich schimmernden
Glaspoknle umrankte, das buntgehäufte lachende Obst auf den zinnernen Schüsseln,
das spiegelnde Lichtergehusch auf den silbernen Tellern und Krüger.
Die Fenster standen hoch der blauen Nacht geöffnet, und über die schlafenden
Dächer des Marktes siedelte der Mond vorüber, blank und kühl.
Die anderen Gäste waren alle längst geschieden, als Dürer in der tiefen
Nacht noch immer an der Seite des Freundes saß. Es war so der beiden
Gepflogenheit nach dem Trubel solcher festlicher Gelage: noch ein letztes gutes
Wort zum letzten Glase zu sprechen.
Dürer mußte vom Kaiser erzählen, wie er ihn „in seinem kleinen Stühle
hoch oben auf der Pfalz" mit Kohle kunterfent, in fiebernder Eile und doch mit
gutem Glück. Der Kaiser habe sich nur schwer zur Ruhe bequemt, und sein
ritterlich lachendes Auge sei wie auf Suche nach Arbeit gewesen inmitten dieses
Stündleins Untätigkeit. Und weiters erzählte er, er habe dem Kaiser eine Skizze
für den Triumphzug entwerfen müssen, und jener habe selbst die Kohle zur Hand
genommen, ihm zu zeigen wie er's meine. Doch sei die Kohle in des Kaisers
Fingern immer wieder abgebrochen, worauf ihn der Kaiser verwundert fragte,
wieso ihm dies nicht auch geschehe. „Da sagte ich: .Gnädigster Kaiser, ich
möchte nit, daß Euer Majestät geschickter zu zeichnen verstünden, denn ich!°"
Da hieb Herr Pirkheinier vor Freude auf den Tisch und lachte, daß die
Lichter zitterten:
„Ihr Leute von der Kunst dürft allzeit freier reden als ein Reichs¬
marschall!"
„Das macht," erwiderte Dürer, „weil wir allzeit zuguderletzt nur Gott
dem Herrn verpflichtet sind."
„Drum seid ihr auch ein hoffärtig Volk!" drohte Pirkheimer mit dem
Finger.
„Wenn echte Kunst hoffärtig macht, so sag' ich Euch, es wäre niemand
hoffärtiger denn Gott selbst, der alle Kunst geschaffen hat. Das aber kann
nit sein!"
So stritten die beiden hin und wider, und es war doch kein Streit; es
war nur ein zwiefach Genießen der schönen Welt und ihrer Wunderlichkeiten
von hüben und drüben.
„Fast hätt' ich nun vergessen, Euch ein Ding zu zeigen, das Euch erfreuen
wird!" sagte Dürer unvermittelt und zog ein flaches Päckchen aus der Tasche,
das er Pirkheimer überreichte.
Dieser entfernte begierig verschiedene Hüllen aus zartem Papier und sah
zuletzt ein Täfelchen aus blankem Kupfer vor sich, nicht größer als eine aus¬
gewachsene Männerhand.
„El, sieh doch," rief er, „potz Tausend, da haben wir ja wieder die
Felicitas!"
„Das ist mir recht, daß Ihr sie schon im Kupfer erkennt," nickte Dürer
befriedigt. „Ich hab' das Bildlein in Augsburg gestochen, zu Zeiten, da ich
niemand kunterfeyte. Es ward ein Ding, das mancherlei sagen soll."
Herr Pirkheimer hielt das Täfelchen ans Licht und sah es lange forschend an.
Felicitas saß in all ihrer Anmut und Schönheit auf einem großen behauenen
Steinblocke, angetan mit der edelschlichten Gewandung der vornehmen Nürn-
bergerinnen. Auf dem lichtüberzitterten Haupte trug sie diesmal an Stelle
des Rosenkränzleins ein prächtiges Kettendiadem mit funkelnden Steinen. Der
kleine pausbäckige Heiland in ihrem Schoße schien sie ungeduldig am Gewand
zu zupfen, sie aber achtete seiner nicht. Sie sah mit den großen fragenden
Augen dem Beschauer unverwandt ins Antlitz. In der Rechten hielt sie einen
Apfel als selig heiliges Symbol. Ihr zu Häupten trugen, wie auf dem früheren
Bilde, zwei flügelschlagende Engel eine fürstlich strahlende Krone. Ansonsten
aber zeigte sich nirgends irgendein himmlischer Bote und, im Gegensatz zu den:
früheren Bilde, das wie aus unendlichem Himmelsjubel herausgeschnitten schien,
war diesmal nur die Lieblichkeit irdischen Daseins zu ihrem Rechte gelangt:
aus einem schlichten Vordergrund, wo Gras und Kräuter sich behaglich sonnten,
geriet der Blick über welliges Erdland auf eine spiegelnde Meereslandschaft, die
ihrerseits wieder über ein fernes umwaldetes Schloß und ein dämmerndes Vor¬
gebirge mit wunderbarer Sehnsucht in den hohen wolkenlosen Himmel wies.
Das Sonderbare aber war — es zog sich mitten durch die sanfte fein¬
getönte Landschaft, knapp hinter dem Rücken der Madonna, mit unabweislicher
Deutlichkeit und Schärfe ein hölzerner Zaun dahin, der das Bild von einen:
Ende zum anderen in halber Höhe durchschnitt. Er schien in seiner grellen
Wirklichkeit für sich selbst nicht minder wichtig zu sein als alles andere zusammen¬
genommen. Es war ein plumper, ungekünstelter Wiesenzaun, aus roh behauenen,
in die Erde gerammten Pflöcken geschaffen, dessen oberen Lauf ein struppiges
Weidengeflecht verband.
„Nun sagt mir," quälte sich Herr Pirkheimer kopfschüttelnd ab, „was
wolltet Ihr mit diesem Zaun? Ich seh' allüberall ein selig Maß an Wärme,
holder Weiblichkeit und freundlicher Natur, und nun habt Ihr mir mit diesem
verteufelten Zaun, dessen morsches Holz man zu riechen glaubt, den ganzen
Himmelstraum inmitten entzweigeschnitten."
„So ist es," raunte Dürer, wohl mehr für sich als sür den andern, „es
ward ein Traum inmitten entzweigeschnitten!"
„Wie meint Ihr?" fragte Pirkheimer und lugte scharf nach dem Freunde aus.
„Ich meine — es hat der Zaun wohl einen Sinn. Zum ersten, nach
Maßen der Kunst: der wagrechte Zaun beruhigt alles Aufwärtsstrebende und
gibt dem Blick in die Landschaft stärkere Tiefe, indes er ihn ein Weilchen
hemmt. Zum anderen, nach Maßen des Menschlichen: er soll eine Mahnung
sein für die flatternde Seele, daß alles himmlisch Reine und Große in der
Kunst nit anders erworben wird) als daß ein grimmer Zaun die Sehnsucht
von der Erfüllung zu trennen weiß, den Geist vom Fleisch, die Lieb' von
der LustI"
Ganz ruhig hatte Dürer diese Worte vor sich hingesprochen, wie einer, der
von einem Sieg berichtet, der mehr aus fremder, denn aus eigener Kraft
gewonnen ward, woran es nichts zu feiern noch zu preisen gibt.
Herr Pirkheimer hatte indessen das Kupferblättchen schweigend vor sich
hingelegt, hob nun sein Kelchglas gegen das Licht und prüfte den schillernden
Trank mit liebevoller Sorgfalt. Dann sog er ihn bedächtig hinab und sagte,
den Becher niederstellend: „Wie habt Ihr Euer Leben ernst und streng gestaltet,
Liebsterl"
Dürer erhob sich wortlos und lehnte sich ans Fenster, als sei ihm die kühle
Umarmung der Nacht Bedürfnis.
Da trat Herr Pirkheimer fachte an seine Seite und legte ihm die Hand
auf die Schulter:
„Ich hab' mich jetzt eines seltsamen besonnen, und das ist dies: Ihr seid,
so will mich dünken, auf den Wegen der Kunst zum gleichen Ziel gelangt, als
Christus der Herr dereinst auf den Wegen der Menschlichkeit."
„Er wende alle Dinge zum Besten," erwiderte Dürer ergeben.
Und da wollte es Herrn Pirkheimer scheinen, als wünsche der Freund
darüber kein ferneres Wort.
Felicitas aber war in selber Nacht zur gleichen Stunde aus wunderlich
seligem Traum erwacht. Nun saß sie mit fiebernden Schläfen auf ihrem Lager
und schaute in den Glanz des Mondes, der ihre Tränen wie ein Silbernetz
durchspann. Sie hatte wahrhaftig im Traum geweint, so stark war das Er¬
träumte Wirklichkeit gewesen. Ein allzu kühner Wecker und Entschleierer ihres
tiefverborgensten Fühlens war dieser Traum gewesen/ und nun brannten ihr
die Wangen in pochender Scham, da sie seiner gedachte.
Sie hatte gemeint/ sie sei dem Meister in all der Glorie ihrer Himmels¬
lieblichkeit erschienen, wie das Bild, das sie besaß, sie zeigte: Maria, von vielen
Engeln verehrt. Der Meister aber stand in lächelnder Güte vor ihr, und aufs
neue vernahm sie seine stillen Worte, die sich unvertilgbar in ihr Herz gegraben:
„So weibesmild und seliger Sanftmut voll wie du, Felicitas, mag auch die
Frau gewesen sein, die einst den Gottessohn gebar!"
Nun aber — mochte es demütige Erkenntnis ihrer himmlischen Unwürdigkeit
oder vermessener dunkelwuchernder Erdentrotz sein —- sie sagte plötzlich und
wußte kaum, was sie eigentlich sprach: „Laß mich bei dir, o Meister, auf Erden
sein als dienende Magd und nimm den Himmelsglanz von mir, der mich
erdrückt! Laß mich auf Erden sein, wozu mich Gott erschuf! Und nimm dies
Wort nicht allzu kühn: es wird nicht wenig sein, was ich zu sein vermag!"
Und siehe, als sollte ihrem vermessenen Wunsch sofort Gewährung werden —
der himmlische Jubel, der sie bisher umgab, verstummte plötzlich, der krönende
Glanz um ihr Haupt erlosch, das Jesuskindlein war unmerklich ihrem Arm ent¬
flohen, und da stand sie nun, all ihrer Göttlichkeit entblößt, als arme Erden¬
magd im grauen Tag dem tiefbetroffenen Meister gegenüber und wußte nicht,
wie ihr geschah. Dem aber leuchtete mit einemmal ein frohverstehendes Lächeln
über das Antlitz, und er ging gelassen auf sie zu und legte ihr beide Hände
sanft auf die Schultern.
Und da geschah das Unerhörte — es lösten sich die Spangen ihres Kleides
wie von ungefähr, und ihr Gewand glitt still an ihr herab, wesenlos wie ein
Blatt vom Baum und so stand sie, von ihrer Schönheit wunderbar verschleiert,
hoch und stolz vor ihm, und ihre Seele war so ganz dem Unabänderlichen
hingegeben, daß keinerlei Verzagtheit oder mädchenhafte Scham ihr Sein zu
zerstören vermochte. Sie wußte und atmete nur das eine: So hat mich Gott
geschaffen, daß ich sei, und so den Meister, daß er mich erkenne.
Er aber hatte bereits in Hast den Silberstift ergriffen und begann nun
mit glühenden Wangen zu zeichnen, als ein seliger Herr ihrer Schönheit, Linie
für Linie voll unerhörter Kraft und doch in wundersanft gebändigter Klarheit.
Da schwellte ihr Herz unsäglicher Stolz, und plötzlich überkam es sie im
Rauschen ihres Blutes, als brause ein seliges Schöpfungslied aus uralten
Werdetagen in ihr, das singe von Weibesschönheit und ihrer Unvergänglichkeit,
die stets den Schöpfer gepriesen im süßbewußten Atmen marmornen Leibes von
Lenz zu Lenz, von Anbeginn zu Anbeginn. Und ihre Seele sagte schlicht und
kühn: Wozu mich krönen, Meister, mit Marias Lieblichkeit und himmlischer
Zier? Wozu erborgten Glanz, da ich doch selbst Vollendung bin?
Sofort aber stach die flammende Scham ins Herz ob solcher Vermessenheit,
und der süße Himmelsglaube an Maria schlug wie ein brennender Rosenbusch
mit Glut und Duft und scharfen Reuedornen wieder über ihr zusammen.
Und da begann sie bitterlich zu weinen und — erwachte.
Nun saß sie heißerschreckt auf ihrem Lager, und die Helle ihres zarten
Busens, die der kühle Mond liebkoste, ging stürmisch auf und nieder wie in
Fiebergluten.
Wo fand sie nun Erlösung für die Süße und die Sünde ihres Traums?
Und da begann die Sehnsucht gellend aus dem Dunkel ihrer Einsamkeit
emporzuschreien, nach ihm. dem Einen, Großen, Gütigen, der ihr allein Befreiung
und Erfüllung bringen konnte.
Und, ihrer wahnerhitzten Sinne nicht mehr mächtig, erhob sich nun Felicitas
in aller Stille vom Lager und begann in fiebernder Eile sich dürftig anzukleiden.
Dann huschte sie auf den Zehenspitzen hinaus, an des Vaters Stube vorbei
und die Treppe hinab, die diesmal kaum ein leises Knarren vernehmen ließ,
als wäre sie mit ihr verschwiegen im Bunde. Felicitas schob gelinde den
hölzernen Riegel vom Tor, und da stand sie auch schon zitternd auf der ein¬
samen Gasse, die der schiefe Mond nur dürftig erhellte.
Und nun begann sie, das Dunkel der Häuser entlang, in Scham und Scheu
und doch wie unwiderstehlich gerufen, den alten Weg ihres törichten Wahns
zu eilen, durch nichts behütet als durch ihre Sehnsucht. Sie glitt wie ein
flüchtiger Schatten dahin, noch völlig umsponnen von den zärtlichen Fiebern
ihres Traums. Eine Wolke hatte den Mond verdeckt und jagte mit fahlem
Gedunkel von Gasse zu Gasse. Schon war Felicitas dem Hause des Meisters
nicht mehr fern, da sah sie durch die Leere eines Seitengäßchens ein flimmerndes
Licht auf sich zukommen. Verängstigt blieb sie stehen und spähte dem Schein
entgegen. Sie wußte nicht vor noch zurück. Sie war, da nun Gefahr zu drohen
schien, mit einem Schlage wieder zur grausamen Wirklichkeit erwacht, und ihr
nächtlicher Weg erschien ihr verwegen und töricht zugleich. Sie sah eine dunkle
Gestalt, die ein Laternchen trug. Es war ein Mann von hohem stattlichen
Wuchs. Und sogleich vermochte sie zu erkennen, der nächtliche Wanderer sei
keineswegs wie ein Strolch oder Gassenschleicher gekleidet. In der nächsten
Sekunde ward ihr das pochende Herz wie von eiserner Faust zusammengepreßt,
denn jener stand vor ihr, den sie im Traum zu suchen ausgezogen war.
Da sank Felicitas mit wehem Seufzer an der Mauer nieder; schon aber
hatte sie Dürers Arm umfaßt, und so lag sie nun, das Haupt in scheuer Ver¬
wirrung gesenkt, reglos an seiner Brust.
„Felicitas", raunte ihr Dürer tieferschrocken zu, „was tut Ihr zu dieser
späten Stunde?"
Da sagte sie, das Haupt noch tiefer bergend: „Ich wollt' zu Euch!"
„Du törichtes .Kind," flüsterte Dürer erregt und vorwurfsvoll, „Du weißt
nit. was du tust!"
Felicitas erwiderte nichts. Ihr Atem aber ging so bang und ungestüm,
daß dem Meister plötzlich nebst aller Verwirrung die qualvolle Sorge beschlich.
das wunderliche Wesen sei an Leib und Seele gleicherweise erkrankt. Und ein
heftiges Mitleid, das nun in seinem Herzen aufbrach, überflutete und erstickte
alles, was etwa noch darin an dunklen Stimmen sich regen wollte. Er löste
sich den Mantel von den Schultern und hüllte die Fröstelnde darein.
„Felicitas," sagte er zärtlich und legte schützend den Arm um sie, „nun
mußt du heim. Ich will dich führen!"
Da ging sie schweigend neben ihm, wie ein zagendes Kind, das seinem
Führer willenlos vertraut. Er aber hielt ihre zarte Schulter gelinde umfaßt,
und so schritten die beiden nun im Schein des Lämpchens den Weg zurück,
den Felicitas eine Weile früher im Fieber ihres Traumes gewandelt war. Es
war nun wieder ein Traum für sie, der schönste, der wunderbarste von allen,
die sie je geträumt — an der Seite des Meisters, von seinem Arm umschlungen,
geschlossenen Auges dahinzuschreiten, ihre Schritte den seinen getreulich ver¬
mählend, als wäre es für alle Zeit.
Zwei trunkene Knechte, die wohl aus einer verspäteten Schenke kommen
mochten, torkelten mit wüster Hohnrede an ihnen vorüber.
Sie merkten es kaum.
In des Meisters Seele aber, indes er so mit dem schönen Kinde die Nacht
durchschritt, war in einsamster Tiefe ein sturmgewaltiges Ringen erwacht, das
war geringer nicht an leidgeprüfter Größe und letzter Berufung an alles selig
Menschliche als die donnernden Posaunen aus den flammenden Wundern der
Apokalypse.
Es war eine Stimme, die dröhnte in ihm: Du hast nach Schönheit gebürstet
von Anbeginn, und all dein Sehnen hat zu jeder Zeit nach tiefstem Erkennen
des heiligsten menschlichen Maßes geschrien. Begehrst du nicht die Schönheit
der Felicitas?"
Da gellte eine andere Stimme wild und hart empor:
„Begehre nicht des Leibes Schöne, da ihre Seele dir so wenig ist!"
Und eine andere höhnte, grimm und streng: „Sag, liebst du die Felicitas?"
Da sagte der Meister, hoch und frei: „Sie steht meinem Herzen nicht
näher als alles, was schön ist auf Erden."
Im selben Augenblick aber fühlte er seinen Nacken wild umschlungen von
den Armen der Felicitas, er sah ihr Antlitz heiß zu sich erhoben, als suchten
ihre Lippen bang nach den seinen. Da brach es jählings glühend über ihm
zusammen, verlöscht war all sein Stolz und all sein Trotz und alle Besinnung
— er neigte sich dem süßen Antlitz zu und küßte die warmen, werbenden
Lippen und küßte sie wieder und immer wieder.
Felicitas aber zuckte mit einemmal erschreckt aus seinen Armen empor und
horchte besorgt die Gasse hinab.
„Das ist des Vaters Stimme! Des Vaters Stimme!" schrie sie in hell-
ausbrechendem Entsetzen.
Sie riß sich aus des Meisters Armen und stürzte ihrem Hause zu.
Und nun vernahm auch Dürer aus der Ferne verworrenes Toben und
Geschrei. Es konnte wohl aus dem Hause des Unfug kommen.
Und in brennender Angst um Felicitas beschleunigte er seinen Schritt.
Was mochte dort im Hause geschehen sein?
Noch war er nicht zum Tor gelangt, als ein Weib im Nachtgewand mit
fliegendem Haar herausstürzte, das sich völlig verzweifelt gebärdete und jammernd
nach dem Häscher und den Wachen schrie: „Er hat ihn erschlagen! Er hat den
Mann mir erschlagen!"
Dann lief sie wie von Angst besessen kläglich schreiend die Gasse hinab
und scheuchte den Schlaf aus allen Häusern, so daß in Bälde die aufgestörten
Nachbarn und allerlei Volk aus dem Pegnitzviertel gelaufen kam und erschrocken
durcheinander stob.
Und bald erfuhr es jeder, der es hören wollte: der blinde Jörg sei in
nächtlicher Angst aus dem Schlaf gefahren und habe grimmig nach der Tochter
geschrien, doch diese sei nicht in ihrer Kammer gewesen, und so habe der Blinde
in wildausbrechender Wut über des Kindes Verschwinden sein altes Lands¬
knechtsschwert ergriffen und wütend damit herumgehauen, durch die Finsternis
der Stube und des Stiegenhauses, wobei er dem Meister Unfug, der eben die
Stiege heraufgelaufen kam, den Schädel fast entzwei gespalten. Nun liege der
Unfug im Sterben, und so sei der tolle Jörg an seinem Hauswirt zum Mörder
geworden.
Es war nun bezeichnend für des Jörgen Beliebtheit beim niederen Volke,
daß sich allsogleich Stimmen vernehmen ließen, er möge sich durch schleunige
Flucht vor den Häschern in Sicherheit bringen.
Dürer aber stand in weher Beklommenheit inmitten des eifernden Haufens,
von niemanden beachtet oder erkannt, und hoffte in der Stille, so töricht es
auch war, es werde dem Jörg gelingen, in Eile zu fliehen und sich irgend
wohin zu verbergen. Und sogleich bedachte er sich, es sei die einzige Zuflucht,
die der Blinde noch erlangen könnte, in einem der Nürnberger Klöster zu finden,
von deren altererbtem Asylrecht nur wenige noch wußten.
Und wirklich wankte mit einemmal, wie das Volk es verlangte, der blinde
Jörg aus dem Tor, geführt von seinem Kinde, dem das blonde Haupt in
Scham und Verzweiflung zur Erde hing, als fiele all das Schreckliche nur ihr
allein zur Last.
Da drängte sich der Meister ungestüm durch die Menge und flüsterte dem
Mädchen zu: „Begebt Euch rasch ins Kloster zu den Augustinern! Vergeht nit,
daß Ihr Freunde habt!"
Hatte Felicitas ihn vernommen? Er wußte es nicht, denn sie sah nicht
auf und gab auch sonst kein Zeichen des Einverständnisses.
Einen Augenblick sah ihr Dürer schmerzlich bekümmert nach, wie das schöne
Geschöpf gebrochen am Arm des Vaters hing, den sie selber doch führen und
stützen sollte. Dann wandte er sich seufzend ab und schlug den Heimweg ein,
indes das Volk sich schwatzend verlief. Und da er nun durch die Dunkelheit
schritt, im Herzen noch das Brausen von Glück und Qual der vergangenen
Augenblicke, erlosch das Laternchen in seiner Hand, das ihm Pirkheimer, der
fürsorgliche Freund, beim Abschied mitgegeben. So ging er nun seinen Weg
durch die Finsternis, und ihr drohendes Flügelschlagen war seiner Seele nicht
unwillkommen. Er liebte es, die Trübsal des Lebens der Finsternis ans Herz
zu legen, wohin sie gehörte, und wo sie dem endlosen Strom des Leidens sich
wiedervermählte, der alle Welt in Ewigkeit umschlingt. (Schluß folgt)
chulelend und Schulnot bestehen trotz der vielen Schulstraußvögel,
die es bestreikn. Universitätsprofessoren klagen über die mangel-
! hafte Vorbildung der Studenten, Lehrer über das schlechte Schüler-
! Material, Mütter über die Ungerechtigkeit der Lehrer, Väter über
ihre Weltfremdheit, Goethebündler über den ganzen Betrieb in
Bausch und Bogen, Künstler über Formelkram und Mangel an Anschauung.
Einer sieht den Grund in dem unzureichenden Lehrermaterial, das sich zum
größten Teil aus dem Kleinbürgerstand rekrutiere, der andere in der Auswahl
des Stoffes, der dritte in seiner Darbietung aus den Händen verknöcherter
Pedanten.
Über alle diese Fragen gehen die Anschauungen der Beteiligten und der
Zuschauer hoffnungslos weit auseinander, manchmal schnurgerade entgegengesetzt,
manchmal berühren sie sich scheinbar durch den Gebrauch derselben Wörter, die
ihnen aber ganz verschiedene Begriffe tragen. Bei Gelegenheit des Extemporale¬
erlasses des preußischen Kultusministers hörte man Stimmen des Jubels, daß
das nervenzerrüttende völlig unpädagogische Extemporale geschwunden, und
Stimmen knirschender Wut, daß dem weichlichen Schulorganismus das letzte
Rückgrat gebrochen sei. Und die Ansichten über Latein und Griechisch! Hier
Ostwald und viele andere mit beißendem Spott über vergeudete Kraft, dort
alte heimatsliebevolle Verteidigung der Ideale altakademischer Jugend! Hier:
Reform! Dort: Endlich Ruhe!
Und dazwischen führen wir Oberlehrer einen Eiertanz auf zwischen Lehr¬
plänen, Erlassen, Direktoren, Verordnungen, Schulräten und eigener Meinung,
fortreißenden und hemmenden Kollegen, Lehrbüchern und Wissenschaft unter einem
Hagel von Spott und Hohn der gesamten Presse, die nicht aus unseren Röhren
gespeist ist. Allerdings, nicht alle tanzen, viele schreiten unbekümmert und
bedächtig weiter. Recht oder Unrecht! Sie sind die Glücklichen.
Besonders auffallend ist die Beobachtung — aus Graff Sammlung
„Schülerjahre namhafter Zeitgenossen" geschöpft -—, wie gerade die gestaltenden
Zeitgenossen, Dichter und bildende Künstler, über ihre Schulzeit klagen. Sie
werden, bewußt oder unbewußt, das vermißt haben, was ihrer Begabung das
größte Bedürfnis war: Harmonische Fügung aller Erscheinungen in ein
beherrschendes Stilprinzip. Und dieser Mangel wird in den modernen Schulen
ganz gewiß vorhanden sein. Mehr als in den rein humanistischen Anstalten
von ehedem.
Marx Moeller hat unlängst in einem hübschen Gedicht die gemütvolle
Stimmung des Hauses am „Garten des alten Altphilologen" geschildert, und
auch der bis in alle Tiefen seines Wesens moderne Naumann preist in Graff
„Schülerjahren" den alten humanistischen Schulbetrieb seiner Knabenzeit. Diese
Stimmen sind ja bekanntlich nicht vereinzelt; denn das alte rein humanistische
Gymnasium hatte vor allen modernen Schulen voraus, daß ein großes Ideal
gepflegt wurde, daß durch die ganze Schule ein einheitlicher, dnrch Tradition
geheiligter Arbeitsstil ging. Das ist anders geworden. Wir sind in einer Zeit
des Tastens, des Überganges; wir haben keinen Stil mehr, der sich die Klein¬
arbeit unterordnet und das scheinbar Minderwertige im großen Zusammenhang
als gesetzmäßig erscheinen läßt. Daß die älteren Kollegen, die alle Reformen
seit den siebziger Jahren teils als Schüler, teils als Lehrer mitgemacht haben,
endlich zu reformieren aufhören wollen, ist ganz erklärlich, aber ich halte es
doch für Verblendung, daß man mit dem Bestehenden zufrieden ist oder Besserung
vom Stillstand hofft. Wir müssen wieder ein großes Ideal bekommen, das die
Kleinarbeit zu durchleuchten vermag, aus der zerstückelten Beschäftigung müssen
wir zurückkehren zu einem gepflegten Stil der Arbeit an der Verstandes-,
Gemüts- und Willensbildung unserer Schüler. Natürlich wollen wir nicht ins
Griechentum zurückkehren; es kann kein Zweifel sein, daß die Schule
sich um die deutsche Kultur der Vergangenheit und Gegenwart drehen muß.
Das ist schon zu oft ausgesprochen worden, als daß man Gründe dafür bei¬
zubringen hätte. Es soll hier einmal die Notwendigkeit der Schulreform vom
Standpunkt des Schulstils nachgewiesen werden.
Es handelt sich nicht mehr so sehr um den äußeren Stil der Schulräume
und der Lehrer. Darin ist jetzt vieles gebessert, wenn auch der letzte Sproß der
Buddenbrooks noch an den schäbigen „Kammgarnröcken" zugrunde gegangen ist.
Wer heute in einer modern eingerichteten Klasse mit guter Lüftung und gleich¬
mäßiger Heizung vor wohlgekleideter manierlicher Schülern unterrichtet, dem
scheint es wie ein böser Traum, daß er noch vor zwanzig und weniger Jahren
selbst unter einer Horde unsauberer Buben saß, die Tische, Bänke, Wände und
Lehrer mit Tinte bespritzten, Butterbrotreste auf die Diele warfen und im Verein
mit den Lehrern den Fußboden als Spucknapf benutzten. Die allgemeine Ver¬
feinerung der Sitten hat sich, nach meinen Erfahrungen, in der Schule über¬
raschend schnell geltend gemacht. Kunstwarts- und Dürerbundsideen haben in
schnellem Siegesfluge in die Schulen aller Gattungen ihren Einzug gehalten.
Die Kultur des Sinnes wird angelegentlichst gepflegt. Anschauungsbilder sind
auf eine viel höhere Stufe zur künstlerischen Vollendung gehoben; es ist dabei
nur die Gefahr, daß angeflogene und angelesene Urteile über Kunst und Künstler
ausgesprochen werden, weil die Popularisierung ästhetischer Urteile einen bequemen
Wort- und Phrasenschatz in den Mund gibt. Mir will es oft scheinen, als ob
all diese äußerlichen Blüten ahnungsvolle Zeichen inneren Niedergangs wären,
den wir durch kräftigen Eingriff — neuen Inhalt in neue Schläuche — hindern
müssen. Wird die Kunst noch ernst und heilig genommen, wenn ihre Bewertung
gelehrt wird! Kunsterziehung wo kein Hunger ist stillt kein Bedürfnis. Und
nach meiner Ansicht ist das Bedürfnis noch nicht genügend geweckt. Ich glaube,
daß man ruhiger abwarten müßte, was von den gesäeten Körnern aufgeht.
Ein einziger tiefer Eindruck ist mehr wert, als die Steigerung der gesamten
sinnlichen Kultur. Aber, wenn jene Bestrebungen vielleicht etwas ungeduldig
an der Verfeinerung des äußeren Sinnes arbeiten, so haben sie doch mit großem
Erfolg viel Geschmackloses der Lächerlichkeit preisgegeben und auch im sehnl¬
icher unmöglich gemacht.
Schulstil ist vor allem Arbeitsstil, für Schüler und Lehrer. Und ein frucht¬
barer Arbeitsstil wird durch die heutige Schule sür beide Teile fast unmöglich.
Wir wissen es alle aus unserer eigenen Jugendzeit, wie ein Tag, ein Abend
stiller Versenkung jählings weite Türen öffnet in eine Welt, deren Dasein man
bisher nicht ahnte. Ein Gefühl, wie Goethe es beschreibt, als er Shakespeare
kennen lernte, durchzitterte uns, wir waren wie Blindgeborene, denen plötzlich
das Augenlicht geschenkt wird. Wie durch Zauberschlag werden große Zusammen¬
hänge offenbar, und auf die gesamte Erkenntnis ergießt sich ein Lichtstrahl,
strömt eine befruchtende Flut — „die Existenz wird um ein Bedeutendes erweitert".
Derartige seelische Erlebnisse muß der Jüngling haben: er muß tagelang,
wochenlang zehren dürfen von dem gewaltigen Eindruck, der ihn erschüttert hat,
er muß Zeit und Ruhe haben das Erlebnis zu verarbeiten. Eine Vertiefung
in die neue Welt — deren Eroberung ich mir ebensogut auf physikalischem,
wie philosophischem und literarischeni Gebiete denken kann — wird den Jüng¬
ling seinen Arbeitsstil, d. h. die Auseinandersetzung seiner Eigenart mit dem
Lern- und Erkenntnisstoff finden lassen; er sucht selbständig seine Erlebnisse
zu verbinden und geht von der einen großen Bereicherung Schritt vor Schritt
an die Bearbeitung des ganzen Stoffes, der an ihn herangetragen wird. Von
einem festen Interessenkreis erobert man sich nach und nach die ganze An¬
schauungswelt.
Eine derartige Verarbeitung treibender Eindrücke war früher, auf rein
humanistischen Schulen, besser möglich als jetzt. Griechische und römische
Geschichte, Sprache und Literatur hingen für den Schüler so eng zusammen,
daß er von einem befruchtenden Erlebnis aus seine Fühlfäden auf das gesamte
Gebiet, auf alle Hauptfächer erstrecken konnte, die bei seiner Beurteilung in
Frage kamen. Mit einem einzigen persönlich erfaßten Begriff konnte man fast
das ganze sehnlicher meistern.
Heute scheint mir jene Vertiefung nahezu unmöglich gemacht. Der Schüler
hat sich durchschnittlich auf vier Fächer (oft auf fünf, ja sechs) vorzubereiten.
Ist es ihm, etwa bei der Vorbereitung auf eine Goethe- oder Shakespearestunde,
vergönnt gewesen, ein Stückchen offenen Himmel zu sehen, so wird ihm sehr
bald einfallen, daß er noch einige Paragraphen französische Grammatik zu pauken,
eine mathematische Hausarbeit einzuschreiben und einen Abschnitt römische Ge¬
schichte zu lernen hat. Gleichviel! Die Jugend ist leichtbeschwingt und soll auf
keinen Fall nur mit Kuchen großgezogen werden. Vielleicht findet der Schüler
nach Erledigung der Arbeiten, wenn sie ihn nicht den ganzen Abend gekostet
haben, die Stimmung wieder. Am Ende ist er auch energisch genug, künftig
seine Pflichtarbeiten zuerst zu erledigen und dann in die neuentdeckte Welt
hineinzutreiben. Aber, selbst wenn der beglückte Jüngling es fertig bringt,
unter den schwierigeren Verhältnissen von heute seine Liebhaberei nicht auf Kosten
seiner übrigen Schularbeiten zu betreiben, so nützt ihm bei der gleichmäßigen
Bewertung so vieler heterogener Fächer die Vertiefung in das eine Fach für
sein sehnlicher so gut wie gar nichts. Es ist nicht mehr möglich, die Haupt¬
masse des Schulstoffs von einer großen Anschauung aus zu erfassen. Jedes
Fach, durch einen anderen Lehrer vorgetragen, erfordert andere, eigene Auf¬
fassung, und die selbständige Arbeit wird entweder einschlafen oder neben der
Schule hergehen; sie kommt weder dem Schulbetriebe noch vorläufig dem Schiller
zugute. Nicht durch überbürdung — denn bei aufmerksamer Verteilung von
seiten der Schule ist die tägliche Arbeit für Durchschnittsschüler zu leisten —
sondern durch Zersplitterung des Interesses werden die Kräfte lahmgelegt, bleiben
tatsächlich fruchtbare Begabungen zu lange brach liegen. An der Zerstücklung
leidet der Arbeitsstil unserer Schuljugend. Wir sehen so erstaunlich wenig
selbständige Arbeiten, die Abiturientenprüfungen sind wahre Martern für den
prüfenden Lehrer; trotz einer erstickenden Fülle von Einzelkenntnissen, die da
herausgefragt werden, hat man selten die Freude, ein paar zusammenhängende
Sätze zu hören, die auf eigene Verarbeitung schließen lassen. Unser Ziel ist
doch, den Grund zu allgemeiner Bildung zu legen, den Weg zu weisen, auf
dein man zu einem eigenen Arbeitsfeld und eigener Arbeitsweise kommt. Wir
verlangen aber zu vieles durcheinander, und die innere Verarbeitung und Ein-
schmelzung kommt darüber zu kurz. Es muß also Abhilfe geschaffen werden
und die ist nur durch eine ganz gründliche Schulreform möglich.
Notwendig ist die Schulreform um so mehr, weil auch unser, der Lehrer,
Arbeitsstil unter derselben Zerstücklung leidet, wie der, der Schüler. Bei der
zunehmenden Spezialisierung der einzelnen Fächer wird es immer schwerer, die
drei Gebiete, die man mindestens beherrschen muß, zu verarbeiten. Aber an
drei Fächern haben wir in Zeiten der Überfüllung noch nicht genug. Sobald
die Nachfrage geringer ist als das Angebot, beginnt unter den Bewerbern die
verhaßte Fakultätenjagd. Altphilologen wird zur Bedingung ihrer Anstellung
eine Fakultas in Erdkunde, Mathematikern in Französisch oder Englisch gemacht
und ähnliches. Ich schlage eine beliebige Seite im Kunze-Kalender auf, treffe
die Professoren mit der Anciennität von 1883 und 1884. Fast alle besitzen
mehr als drei Lehrbefähigungen, viele fünf, einige sechs, einer sieben; als
Kuriosum erwähne ich die Zusammenstellung: Chemie, Mineralogie, Botanik,
Zoologie, Französisch, Religion! „Unser Wissen ist Stückwerk" übersetzt Luther,
aber das hatte er denn doch kaum vorausgeahnt!
Niemand wird heute mehr glauben, daß eine solche Fülle von Fakultäten
eine umfassende Bildung gewährleistet. Wir sind im Gegenteil sehr mißtrauisch
gegen die Fakultätenjagd geworden und bekennen fast durchweg, daß man an
drei Fakultäten überreichlich genug hat. In zwei nahe zusammengehörigen
Fächern kann man seine Persönlichkeit ausprägen. Man kann sich von dein
Fach, das man zu seinem Eigentum macht, den Stempel aufdrücken lassen.
Man muß mit seinem Fache zusammenwachsen, um darin guten Unterricht geben
zu können. Man muß aus der Fülle schöpfen können und nicht auf Schritt
und Tritt von Leitfäden und täglicher Vorbereitung abhängig sein. Zum
Einpauker genügt es,- daß man den Schülern immer um eine Lektion
voraus präpariert ist. Davon reden wir aber nicht. Die Schüler sollen von
den besten Lehrern in jedem Fache unterrichtet werden. Der heutige Zustand,
daß Oberlehrer und selbst Kandidaten in Fächern unterrichten, zu denen sie
weder Beruf noch Neigung haben, erstickt die Lehrbegeisterung im Keime oder
knickt sie in der Blüte und ist ein Hohn auf unsere Studien. Wozu haben
wir studiert, wenn wir in anderen Fächern beschäftigt werden oder wenn
andere den Unterricht ohne Studium leisten können! Es ist zu fordern: Über¬
ragende Ausbildung in zwei nahe zusammengehörigen Fächern und Unter¬
richt nur auf diesem Gebiet. Denn Wissen allein macht es bei uns nicht.
Die lebendige Erfassung der Hauptlinien, die überlegene Vereinfachung ist sür
uns ausschlaggebend.
Was unsern Arbeitsstil ebenso wie die Zerstücklung des stofflichen Interesses
gefährdet, ist die Notwendigkeit innerhalb eines Jahres in zu vielen verschiedenen
Klassen zu unterrichten. Das stellt harte Anforderungen an ein Umdenkungs-
vermögeu, das nicht jeder besitzt, das in raschen Jahren wohl angeht, wo die
Begeisterung noch über alle Schwierigkeiten mit vollen Schwingen hinweghilft.
Müssen wir in einem Jahre in fünf verschiedenen Klassen, darunter Sexta und
Prima oder Quinta und Obcrsekunda vier verschiedene Fächer unterrichten, so
macht man uns zu Verkleidungskünstlern oder Panmusikern, die mit Füßen,
Armen, Händen, Kopf und Mund zu gleicher Zeit eine fürchterliche Musik machen.
Soll der begeisterte Historiker zugleich Religion, Französisch und Latein, der
Chemiker Deutsch, Rechnen und Englisch, der Germanist Griechisch, Botanik
und Erdkunde unterrichten, so wird seine Persönlichkeit in Stücke zerhackt. Unter
diesen Verhältnissen wird sich allzuleicht ein Arbeitsstil herausbilden, der so die
Mitte zwischen dem Denkvermögen der Primaner und Sextaner hält.
Es lassen sich hier zur Verminderung der Verkleidungskünstelei zwei Wege
einschlagen. Der eine Weg wird mit gutem Erfolg in Holland beschritten:
ein Lehrer gibt in den fünf Klassen, aus denen dort die Oberrealschulen
bestehen (etwa Untertertia bis Unterprima) allein den ganzen Unterricht in einem
bestimmten Fache. So ist die Konzentration des Interesses durch das Fach
geboten, und fünf aufeinanderfolgende Klaffen erfordern nicht zu viel Umdenkungs-
arbeit. Der andere Weg, der übrigens bei uns von aufmerksamen Schul¬
leitungen nach Möglichkeit verfolgt wird, ist der, den Lehrer in vielen Fächern
und möglichst wenig Klassen unterrichten zu lassen. Dieser Weg ist deshalb zu
empfehlen, weil es für den Unterricht besser ist, wenn zusammengehörige Fächer,
wie Deutsch und Geschichte, Französisch und Englisch, Mathematik und Physik
in einer Hand liegen, und weil es für eine persönliche Gestaltung des Ver¬
hältnisses der Lehrer zu den Schülern leichter ist, wenn der Lehrer die Schüler
genau kennen lernt. Das holländische System ist für den Lehrer bedeutend
bequemer, aber wie ich aus siebenjähriger Erfahrung weiß, auf die Dauer sehr
langweilig. Das deutsche System oder vielmehr die schwankende Praxis unserer
Schulen stellt auch bei weisester Rücksichtsnahme noch zu hohe Anforderungen.
Ist es also wahr, daß der Arbeitsstil der Lehrer und Schüler zu keiner
rechten Entfaltung kommen kann, so ist es natürlich, daß beide Teile, die, jeder
über seine Kraft, gegeneinander anarbeiten, keinen Gefallen aneinander finden.
Ein Beruf mit steten Hemmnissen freier Betätigung ist für die, die an der
Freiheit der Forschung geleckt haben, ein beständiger Verzicht auf einen Teil
der persönlichen Ausbildung. Daher die große Anzahl resignierender Kollegen,
die geringe Anzahl derer, die mit Heller Freude bei der Arbeit sind. Daher
der Verdrossenheitsstil im Verkehr mit den Schülern, der empörte Stil, den
viele Kollegen bei der Beurteilung der Schulvergehen an sich haben, die
„gelbe Bitterkeitsweis" und der „unliebliche Jch-doIde°keine-Wäderräde-Ton",
der immer noch nicht ausgestorben ist. Man brauchte den täglichen „Hawjungs-
arger" nicht so ernst zu nehmen und sollte immer daran denken, daß
es, solange Verkehrsformen bestehen, konventionelle Lügen gibt. Schüler-
wogeleien sind ein trauriges Zeichen für den Arbeitsstil der bei uns herrscht,
liber keineswegs kennzeichnend für die moralische Beschaffenheit des einzelnen.
Wenn jemand seine Hausarbeit abschreibt, so hat er hauptsächlich „unselbständig
gearbeitet", erst in zweiter Linie kommt die Täuschung. „Bohrt" jemand beim
Extemporale ab, so hat er nicht betrügen wollen, sondern zur Unzeit und an
der falschen Stelle Hilfe gesucht. Die Beurteilung dieser konventionellen Schul¬
lügen ist eine reine Stilfrage. Wir sind uns fast alle einig, daß das Mogeln
Schulunsitte ist, bekämpfen es natürlich, wie andere Unsitten, aber verdammen
den Schüler nicht bis in Grund und Boden. Der Schulstil will es aber, daß
der Eintrag ins Klassenbuch oder die Bemerkung auf dem Zeugnis lautet:
„Wegen Täuschungsversuchs mit Arrest bestraft." Hätten wir ein gangbares
Wort oder gebrauchten wir die Pennälerworte: „abbohren" und ähnliche, so würde
hier der Stil einen viel richtigeren Begriff unserer Auffassung geben. „Betrug"
und „Täuschung" sind Ausdrücke, die etwas Ehrenrühriges haben, die darf man
Kindern gegenüber nicht anwenden, wenn man sie nicht zu dem doppelten Ehr¬
begriff treiben will, der eben zum nicht geringen Teil durch unsere Schuld unter
den Schülern herrscht. Man muß die Schüler von ihren Ehrbegriffen aus zu
packen versuchen und deswegen möglichst auch in ihren, Stil bleiben. Über¬
triebene Ausdrücke stumpfen das Ehrgefühl ab; allzu weit getriebene Unter¬
suchungen führen nur zu größerem Raffinement und dann zu wirklichem über¬
legten Betrug. Ein echter heimtückischer Betrug kann freilich nicht scharf genug
geahndet werden.
Welche unheimliche Welt von Lüge bringt die Beaufsichtigung der Schüler
außerhalb des Schullebens mit sich, hauptsächlich das unselige Kneipoerbotl
Wenn die Schule das Kneipen verbietet, so muß sie den abgefaßten Schüler
notwendigerweise schwenken, wenigstens nach einer Warnung; das können
wir aber nicht durchführen und daraus entsteht eine heillose Unsicherheit in der
Anwendung der Strafmittel. Durch Arreststrafen läßt sich kein Junge vom
Kneipen abhalte«. Die ganze Spionage und das Verhören der Jungens, die
sich gegenseitig nicht verraten wollen, ist etwas so Entwürdigendes für unsern
Verkehrsstil, daß man schon deswegen alle Kneipverbote aufheben sollte. Hier
greift die Schullüge über in das Elternhaus. Hat sich der Schüler in der
Schule festgelogen, und das geschieht meistens um der mitkneipenden Kameraden
willen, so muß er zu Hause weiter lügen, wenn die Schule dort Unterstützung
sucht. Man glaubt gar nicht, wie wir uns durch die Fürsorge für die Schüler
in ihrem Privatleben entwürdigen müssen. Wir werden von Pensionsvätern
und Müttern aufs schamloseste übers Ohr gehauen und hinterm Rücken aus¬
gelacht. Dr. Quitte hat in seiner Flugschrift „Schuldisziplin und Elternhaus"
sehr treffende Bemerkungen gemacht, die darauf hinauslaufen, daß die Schule
das Privatleben der Einheimischen nicht zu kontrollieren hat, keinesfalls in die
Rechte der Eltern eingreifen darf. Daher muß sie es auch dem Elternhaus
überlassen, die Pflicht der Überwachung allein auszuüben. So lange es in
Deutschland nicht für unanständig gilt, angetrunken oder verkatert in Gesellschaft
oder ins Geschäft zu kommen, wird am Kneipleben der Schüler wenig zu bessern
sein. Durch Schulstrafen und scharfe Überwachung erringen wir nur Schein-
erfolge, und daher sollten wir die entwürdigende Tätigkeit ganz einstellen; sie
trägt nur dazu bei, den unaufrichtigen Verkehrsstil zwischen Lehrer- und Schüler¬
welt zu fördern. Das Mittel der Überredung wird besser wirken, wenn das
Kneipen nicht durch die Schulordnung verboten ist. Die Hauptsache ist die
Aufklärung über die Gefahr des Alkohols, Anleitung zu Wanderfahrten und
Sport, für deren Teilnehmer der Alkoholgenuß durch eigene Verabredung
eingeschränkt oder verpönt ist.
Allen erwähnten und noch nicht angedeuteten Übelständen abzuhelfen, wird
nicht mit einer Schulreform möglich sein. Die Schulreform muß beständig am
Werke bleiben. Es müssen geradezu Versuchsstationen eingerichtet werden. Die
freien Schulgemeinden, die sich unter großen Opfern mutig neue Wege suchen,
müssen in Lehrerkreisen größere Beachtung finden; Beurlaubungen an eine solche
Versuchsstation, Berufung bewährter freier Reformer an Staats- und Gemeinde¬
schulen, staatliche Versuchsstationen müssen uns helfen neue Wege zu finden.
Es ist hier nicht der Ort, einen ausführlichen neuen Lehrplan zu ent¬
werfen. Es sind schon sehr gute Vorschläge gemacht worden. Zunächst handelt
es sich darum, neue Mittelpunkte des Interesses zu finden. Wie sich das
humanistische Gymnasium in seiner alten rassigen Einheitlichkeit um Homer,
Sophokles, Horaz, Cicero, Tacitus konzentrierte, so muß die moderne Schule
sich um das Nibelungenlied, Luther, Friedrich den Großen, Goethe und
Bismarck drehen. Als neuer Faktor kommen die Naturwissenschaften hinzu.
Die logische Sprachschulung, die man früher am Lateinischen gewann, muß durch
die Muttersprache gebracht werden. Fremde Sprachen müssen konsequent nach
direkter Methode unterrichtet werden, und den ausgesprochenen Zweck: sie ohne
Wörterbuch zu verstehen, darf man nie aus dem Auge verlieren. Auf münd¬
liche Beherrschung darf gar kein Wert gelegt werden, wohl auf gute Aus¬
sprache und Verständnis des Gesprochenen. Jeder weiß, daß man im Auslande
eine fremde Sprache in vier Wochen erlernt, und wer im Inland mit Aus¬
ländern verkehrt, hat Deutsch zu sprechen. Es kommt mehr darauf an,
Shakespeare lesen zu können, als einer englischen Dame über die Ungezogenheit,
in Teutschland englisch zu sprechen, hinwegzuhelfen.
Hätten wir für unsere Schule wieder größere Gesichtspunkte gefunden, so
müßten wir von den Ausgleichsbestimmungen noch viel mehr Gebrauch machen.
Wer in den sprachlich-historischen Fächern keine genügenden Leistungen erzielen
kann, muß sich durch gute Leistungen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen
Fächern herausreißen können, und umgekehrt. Ein Mindestmatz des Fleißes muß
überall verlangt werden; das versteht sich von selbst.
Die Einheitsschule, die von den einen als Ausbund pädagogischer Utopien,
von den andern als selbstverständliche Forderung eines sozialempfindenden
Volkes — und zwar mit vollstem Recht — hingestellt wird, muß vom Stand¬
punkt des Schulstils wenigstens soweit durchgeführt werden, daß die höhere
Schule erst mit Untertertia beginnt. Dann haben wir uns nicht zugleich in
das Begriffsvermögen der Sextaner und das der Primaner hineinzudenken. Es
wird nicht möglich sein, diese Änderung auf den Sturz durchzuführen. Als
libergang wird der Weg beschritten werden müssen, der bei den meisten Kollegen
allerdings den schärfsten Widerspruch gefunden hat: bis Quarta unterrichten
nur Mittelschullehrer. Diese sind zur Einübung des Stoffes der Unterstufe
(fremde Sprachen beginnen erst in Untertertia oder noch später, Englisch in
Quarta mit zwei Stunden) meist besser geeignet als wir Oberlehrer.
Der Direktor beaufsichtigt den Unterbau und entscheidet im Verein mit den
Lehrern dieser Stufe über die Aufnahme in die höhere Schule, verlangt nötigen¬
falls eine Prüfung und kann, auch wenn die Berechtigungen noch bestehen
bleiben, ungeeignete Schüler von der höheren Schule fernhalten.
In Untersekunda muß dann die „Bewegungsfreiheit" bereits beginnen,
d. h. die Schüler dürfen sich nun entscheiden, ob sie vorzugsweise die mathematisch¬
naturwissenschaftlichen oder die sprachlich-historischen Fächer studieren wollen.
Da dann für jede Abteilung höhere Ansprüche gestellt werden können, haben
wir lohnendere Arbeit und können den Schülern, die nicht mehr an der Zer¬
splitterung ihres Interesses leiden, mehr zumuten. Zweifellos wird so der
Arbeitsstil für Lehrer und Schüler gehoben; wo freudige Arbeit ist, wird auch
der Verkehrsstil zwischen „Arbeitgeber und Arbeitnehmer" auf eine andere Stufe
als die des Mißtrauens oder der Gleichgültigkeit gebracht, von der man jetzt —
übrigens gegen meine persönlichen Erfahrungen — so viel hört.
Keinesfalls darf man erwarten, daß mit Schulreformen jeder Grund zu
klagen fortfällt. Es wird immer noch faule Schlingels, untüchtige Lehrer,
eitle und urteilslose Eltern geben.
Von unseren Landsleuten, die gegen das
Kneipenwesen ankämpfen, verlangen die aller¬
meisten eine starke Verminderung der Kon¬
zessionen durch scharfe Handhabung der „Be¬
dürfnisfrage" oder durch gesetzliche Be¬
stimmung, daß eine Konzession nur aus eine
bestimmte Einwohnerzahl kommen dürfe.
Eine scharfe Handhabung der Bedürfnis-
swge ist für den Laien ein ganz guter
Gedanke; nur liegt die Sache so, daß die
Verwaltungsbehörde den 8 33 der Gewerbe¬
ordnung nicht scharf, sondern gerecht hand¬
haben soll. Rum ist anderseits auch wieder
der Begriff „Bedürfnis" ein so unheilbarer
Krüppel, daß ihm keine Macht der Erde auf
die Beine helfen kann. Ich habe noch keinen
Verwnltungsbeamten kennen gelernt, der an
dem Worte „Bedürfnis" eine reine Freude
gehabt hätte. Ob eine zukünftige Wirtschaft
einem Bedürfnis entspricht, kann auch der
Weiseste nicht voraussehen. Die Antwort, ob
ein Bedürfnis vorlag oder nicht, gibt nachher
meist die Rentabilität des Betriebes. Außer¬
dem ist für etwas Besseres immer ein Be¬
dürfnis da, leider kann aber kein Beamter
und kein Kollegium boraussehen, ob ein
neues Gasthaus besser oder schlechter sein
wird als die bereits vorhandenen.
Eine verschärfte Handhabung der Be-
dürsnisfrage wird die Willkür, die sowieso
schon herrscht, weil der Begriff „Bedürfnis"
jeder klaren Definition spottet, nur noch
verstärken, und neben der Einbuße an Ver¬
trauen der Bevölkerung in die Rechtsprechung
unserer Behörden, würde sie den weiteren
Vorzug haben, daß sie nichts nützt. Je
weniger Konzessionen erteilt werden, um so
mehr erhalten die bereits erteilten den
Charakter des Monopols. Je schwerer eine
Konzession zu erlangen ist, desto höheren Preis
erzielen die sicheren alten. Wer aber diesen
hohen Preis bezahlt hat, will die Zinsen
wieder herauswirtschaften und hofft, das Haus
zu noch höherem Preise über kurz und
lang wieder zu verkaufen. DaS gibt eine
Schraube ohne Ende, und jeder Käufer muß
einem Vorgänger gegenüber neue Reizmittel
suchen, die Bevölkerung zum Alkoholmißbrauch
zu verführen, weil er eben mehr Kapital in
das Geschäft gesteckt hat. Besserung auf diesem
Wege ist unmöglich.
Auf eine bestimmte Bevölkerungsziffer
eine Konzession zu erteilen, würde nur dann
bedeutsam sein, wenn die Bürger wie ein
Regiment Soldaten wohnten und lebten.
Die Klagen über die Schädigungen unseres
Volkes durch das Wirtshausleben wollen
nicht verstummen. Die einen verweisen auf
die drei Milliarden, die jährlich für Alkohol
ausgegeben werden und stellen darum er¬
bauliche Betrachtungen darüber an, wieviel
nützlicher dies Geld verwendet werden könnte;
die andern richten ihre Blicke auf die Armen-
lasten, die den Kommunen durch Alkohol¬
mißbrauch entstehen; die dritten weisen auf
den Zusammenhang zwischen Alkohol und
Verbrechen, Alkohol und Geisteskrankheiten
oder Tuberkulose hin, und die vierten be¬
klagen vor allem die Wunden, die in mora¬
lischer Hinsicht dem Volke geschlagen werden.
Im ganzen kann man Wohl sagen, daß alle
Freunde des Volkes darin einig sind, daß
etwas geschehen müsse. Es fragt sich nur,
was?
Verkehr verschiebt diese ganze Grundlage.
Eine Wogekreuzung, an der zehn Menschen
wohnen, und an der ein lebhafter Fuhr¬
werksverkehr stattfindet, kann einer Kon¬
zession mehr bedürfen als ein Gntsdorf mit
300 Seelen. Außerdem geht man dabei von
der fehlerhaften Boraussetzung aus, daß eine
erteilte Konzession wirklich ein Bedürfnis
befriedigt. Ich habe schon Gasthöfe auf dem
Lande kennen gelernt, die dem Menschen alle
Bedürfnisse abgewöhnten, weil sie von Schmutz
starrten und der Gast noch unhöflich be¬
handelt wurde, wenn er irgend etwas außer
Fusel forderte. Auf meine bescheidene Bitte
um ein Brot mit Wurst ist nur einmal die
Antwort geworden: „Wegen einem wird eine
Wurst nicht angeschnitten!"
schematisch auf so und so viel Seelen
eine Konzession erteilen zu wollen, würde
daher keine Verbesserung bedeuten.
Noch weniger gangbar für die Behörden
sind die Vorschläge der Abstinenten.
Die Prohibition einführen zu wollen,
d. h. die Alkoholproduktion und jeden Ver¬
kauf alkoholhaltiger Getränke zu verbieten,
wäre allerdings eine Radikalkur Ä w
Dr. Eisenbart, aber unter den gegebenen
Verhältnissen gelinder Wahnsinn. Der Gre¬
nadier Heines kann Wohl rücksichtslos sagen:
„Laß sie betteln gehen, wenn sie hungrig
sind", ein Staatsmann handelte gewissenlos,
wenn er Hunderttausende, die heute aus
dem Alkoholgewerbe ihr Brot haben, ihres
Brotes berauben wollte, nur um die Marotte
der Abstinenz restlos ins wirkliche Leben um¬
zusetzen.
Ebensowenig ist das Gemeindebestimmungs¬
recht diskutabel, dessen Wesen darin besteht,
daß über die Bedürfnisfrage an der Stelle
der staatlichen Behörden das Volk selbst ent¬
scheiden soll. Man muß schon ein großer
Optimist sein, wenn man von der Masse
soviel bessere Einsicht erwartet, daß man
kurzerhand anstelle der behördlichen Ent¬
scheidung den Zufall einer Majorität durch
Abstimmung setzen will. Man fährt Kanonen
auf, um schließlich, wenn das Glück gut ist,
einen Spatzen zu schießen.
Einen Ausweg aus diesen Wirrnissen
zeigt da nun das Streben des Deutschen
Vereins für Gasthausreform (Sitz Stettin,
Elisabethstr. 71). Ich sage ausdrücklich
„zeigt", denn ich schreibe nicht über Projekte,
die andere erst ausführen sollen, sondern
über Tatsachen, die nachgeprüft werden können.
Es bestehen nämlich in Deutschland bereits zirka
fünfzig Gasthäuser neuen Systems, die, wenn
sie auch nicht alle halten, was man sich von
ihnen versprach, doch den Beweis tiefer»,
daß man auf dem eingeschlagenen Wege zu
besseren Verhältnissen gelangen kann, lind
dies um so mehr, da der Durchführung dieser
Bestrebungen keiner fanatisch gegenübertritt,
außer vielleicht den radikalsten Abstinenten.
„Schutz und Trutz", das Zentralorgan
Wider die Übergriffe in der Abstinenzbewegung,
schreibt von ihr: „Es steckt in der Bewegung
ein sehr gesunder Kern, und wenn sich die
Bewegung vor Ausschweifungen hütet, braucht
sie als solche Reform allein von den anstän¬
digen Wirten weder gescheut noch bekämpft
zu werden. Daß die Bewegung alle Keime
zu einer großen Entwickelung in sich trägt,
wird jedem klar, der sich näher mit ihr
beschäftigt." Worauf will man nnn bei der
Gasthausreform hinaus? Das Endziel ist
folgendes:
An den einmal vorhandenen Konzessionen
wird im Interesse ihrer Inhaber nicht ge¬
rüttelt, dagegen werden für die Städte mit über
W (WO Einwohnern und die Landbezirke mit
Städten unter 2ö0V() Einwohnern gemein¬
nützige Gesellschaften gebildet, die das alleinige
Recht der Erwerbung neuer Konzessionen
erhalten. Diese gemeinnützigen Gesellschaften
sollen bestehen aus Privaten, Kommunen und
Staat. In welchem Prozentsatz Private,
Kommunen und Staat sich in die Anteile
teilen sollen, mag hier unerörtert bleiben.
Bei Errichtung dieser gemeinnützigen Bezirks¬
gesellschaften wird der Wert der bereits vor¬
handenen Konzessionen in den einzelnen Be¬
zirken festgesetzt. Die Einzelheiten der Zu¬
sammensetzung dieser Kommissionen können
hier ebenfalls unerörtert bleiben. Es steht
den bei Entstehung der Gesellschaft vor¬
handenen Konzessionsinhabern frei, zum Tax¬
preise der Kommissionen unter bestimmten
Kautelen für die Bezirksgesellschaft ihre
Wirtschaften zu veräußern. Wenn eS nicht
geschieht, sollen die betreffenden Konzessions¬
inhaber unangefochten bleiben, bis die Kor-
Zession von selbst erlischt. Will die Bezirks¬
gesellschaft über die Anzahl der im Bezirk
bereits vorhandenen Konzessionen hinaus
neue Schänkstätten einrichten, so gibt es da¬
gegen ein Einspruchsrecht der Bewohner des
engeren Bezirks, in dem der neue NnSschcmk
eröffnet werden soll.
In die Gasthäuser der Bezirksgesellschaft
werden Verwalter eingesetzt, die ein aus¬
reichendes Gehalt ohne irgend welche Ge¬
winnbeteiligung an den Einnahmen aus
Alkohol zu erhalten haben. Für Pensions¬
und Reliktenversorgung dieser Angestellten
ist Sorge zu tragen. Schnapsverkauf über
die Straße ist verboten. Ebenso darf die
Bezirksgesellschaft ihre Konzessionen nicht an
Private abtreten. Im übrigen sollen die
Gasthäuser bei der zentralen Stellung der
Gastwirtschaften im Volksleben zu einer
Stätte ausgebaut werden, wo alle auf das
Wohl der Bevölkerung gerichteten Bestre¬
bungen ein Unterkommen finden können
(Versammlungsraum, Vereinswesen, Wohl¬
fahrtspflege, Bibliothekswesen, Spielzimmer
usw.). Die Erträgnisse dieser gemeinnützigen
Gesellschaften sollen unter Aufsicht der Regie¬
rung an Kommunen wie auch an gemein¬
nützige Bestrebungen verteilt werden. Das
ist in großen Umrissen das Ziel, das die
Gasthausreformer in Deutschland anstreben.
Zu beachten wäre hierbei, daß dieser Weg
sich beschreitsn läßt, ohne dem bestehenden
Wirtestnnde gegenüber ungerecht zu werden,
daß keinerlei so weitgehende Änderungen wie
etwa bei der Prohibition oder dem Gemeinde¬
bestimmungsrecht nötig werden, daß der
Übergang von den alten Verhältnissen zu
den neuen ein allmählicher wird, daß keinerlei
Schädigung bestehender Gewerbe eintritt, und
wo etwa das in bestimmten Zweigen der
Alkoholproduktion angelegte Kapital eine
Verminderung seiner Verzinsung erleidet,
man bei der allmählichen Umwandlung sehr
Wohl in der Lage ist, ohne große Verluste an
Nationalvermögen sich den veränderten Ver¬
hältnissen anzupassen, ferner daß auf diesem
Wege Mittel gewonnen werden, sowohl für die
Kommunen wie für gemeinnützige Bestre¬
bungen, um manche Nöte im Volksleben zu
beseitigen, daß alle bisherigen Maßnahmen
gegen den Alkoholmißbrauch bei diesem System
sich viel leichter durchführen lassen, daß
man auf diese Weise in den Gasthäusern
der Gesellschaft wirkliche Volksheime schaffen
kann, und daß zuletzt mit dieser Organi¬
sation eine Grundlage geschaffen wird, auf
der in Ruhe unsere Nachkommen weiter bauen
können, entsprechend den dann veränderten
Zeitverhältnissen.
Zurzeit bestehen in Deutschland solche
Gesellschaften in den Provinzen Pommern,
Ostpreußen, Schlesien, Rheinland, Westfalen
und in Straßburg i. E. Am größten sind
die Gesellschaften in Pommern und West¬
falen. Die Pommersche Gesellschaft umfaßt
zurzeit etwa 20 Betriebe, die Rheinisch-West¬
fälische 16, die Kreisgesellschaft Reckling¬
hausen ebenfalls 16 Betriebe. Im Osten
auf dem Lande sind diese Reformgasthäuser
mit Kolonialwarenläden verbunden, weil das
schon Vorhergang und gäbe war; im Westen
schließen sich an die Betriebe große Speise¬
anstalten an.
Zum Überblick führe ich die Reinerträgnisse
einiger Gasthöfe nach Abzug aller Unkosten
In Westfalen stehen diese oben angeführten
Summen den Kommunen für gemeinnützige
Zwecke rein zur Verfügung.
Die bestehenden Gesellschaften für Gast¬
hausreform sind Kreisgesellschnften oder ge¬
meinnützige Gesellschaften für größere Bezirke,
denen zurzeit natürlich selbstverständlich das
alleinige Recht der Erwerbung neuer Kon¬
zessionen mangelt, da ein entsprechendes Gesetz
noch nicht besteht. Der Erfolg der Reform-
gasthäuser ist in den meisten Füllen im Osten
der, das; der Schnapskonsum um ein be¬
deutendes fällt, das nächtliche Spielen und
der Lärm nach 10 Uhr verschwindet, die Ar¬
beiter während der Arbeit nüchtern sind und
die Dörfer in den Reformgasthäusern einen
Mittelpunkt für alle Wohlfahrtsbestrebungen
erhalten. Im Westen wirken sie besonders
wohltuend als Speisewirtschaften für die
arbeitenden Klassen, und da auch dort überall
die Wirte kein Interesse am Alkoholkonsum
haben, fällt jedes Urinieren fort. Auch ini
Westen stehen die Reformgasthäuser natürlich
allen Wohlfahrtsbestrebungen offen und die
bedeutenden Überschüsse geben den Kommunen
Mittel weitere Wohlfahrtspflege zu treiben.
Der Herausgeber
dieser Zeitschrift hat das Verdienst, nachdrücklich
auf die Einwirkung hingewiesen zu haben,
die das russisch-polnische Judentum auf die
deutsche Sozialdemokratie ausübt. Diese würde
sich zweifellos erfreulicher entwickeln, wenn
ihr nicht vielfach durch jene Einwirkung eine
Richtung aufgenötigt würde, die in den deut¬
schen Verhältnissen einen Grund nicht hat.
An solche Beobachtungen wird man erinnert,
wenn man die kürzlich erschienene Schrift von
Jakob Segall „Die beruflichen und sozialen
Verhältnisse der Juden in Deutschland" (Berlin,
Verlag von M. Schiltberger) zur Hand nimmt.
Man ersieht aus ihr von neuen«, wie mißlich
es ist, wenn die Entwicklung eines Volks durch
Tendenzen gestört wird, die außerhalb seines
Jnteressenkreises liegen. Segall macht sta¬
tistische Mitteilungen über die Vertretung der
Juden in den verschiedenen Berufen und er¬
wirbt sich durch diese Feststellungen, die zweifel¬
los lehrreich sind, unseren Dank. Er geht
aber darüber hinaus und sucht Ratschläge
dafür zu erteilen, wo und wie die Jude»
weiter in den und den Berufen sich ausbreiten
sollten. Nachdem er z. B. konstatiert hat, daß
die jüdischen Arzte sich in den größeren Städten
unverhältnismäßig zusammendrängen, em¬
pfiehlt er ihnen, sich auch auf dem Lande
niederzulassen, und zwar, weil sie dort '„eine
Stütze derjüdischen Bevölkerung werden"(S.S7)
könnten. Die Juden sollen ferner in die
Staats- und Kommunalämter in den kleineren
Orten einzudringen suchen, um „hier das
jüdische Element zu verstärken" (S. 49). So
wird überall ausgekundschaftet, wo die Juden
noch Fuß fassen könnten, um die Geltung des
Judentums zu verstärken und auszubreiten.
Als Maßstab gilt bei dieser jüdischen Berufs¬
politik nicht das Interesse des deutschen Volks,
sondern eben nur das des Judentums. Eine
derartige Politik ist dem Verfahren desJesuiten-
ordens zu vergleichen, der gleichfalls sein Be¬
streben darauf richtete, seine Angehörigen auf
große und kleine Stellen im Staate zu bringen,
um so überall einen Platz des Einflusses zu
gewinnen. Wir verschließen uns natürlich
nicht der Erkenntnis, daß vom jüdischen Stand¬
punkt aus jene Versuche verständlich sind: man
hängt mit Liebe an der jüdischen Eigenart,
möchte sie schützen, bewahren, weiter aus¬
breiten. Wir erkennen selbstverständlich in
solcher Liebe zum eigenen Volkstum etwas
an sich schönes. Wir können uns denken, daß
gerade sehr edle Juden sich in den Dienst
jener Bestrebungen stellen. Aber die Schwierig¬
keit liegt darin, daß es das Leben des deut¬
schen Volks stört, wenn noch ein anderes
Volkstum bei uns seine besonderen völkischen
Ziele verfolgt. Auf deutschem Boden dürfen
alle Berufspolitik und alle Bevölkerungspolitik
ihre Ziele und ihren Maßstab nur in dem
Wohl des ganzen deutschen Volks haben. Es
entsteht oft ein tragisches Verhältnis, wenn
ein besonderes Volkstum mit einem großen
Volkstum in einen: Staat zusammenstößt, und
in diesem Sinne hat auch die Judenfrage einen
tragischen Charakter. Allein wenn wir den Juden
Mitleid und Verständnis entgegenbringen, so
darf uns dies doch nicht abhalten, das zu ver¬
langen, waS das deutsche Interesse fordert,
nämlich die Beseitigung aller jüdischen Son¬
derbestrebungen. Lehrreiche Urteile über die
zweckmäßige Erreichung dieses Ziels findet
man in den? im letzten Winter oft genannten
Buch „Judentaufen" (München, G. Müller).
Es verdient Beachtung und Anerkennung, daß
hier auch Autoren jüdischer Herkunft sich durch¬
aus im deutschen Sinne äußern und als ein
förderliches Mittel die Beschränkung der jü¬
Sieht man von den Kolonialkriegen der
Engländer und Franzosen ab, in denen
namentlich der Fesselballon (Tvniin und
Burenkrieg) zur Verwendung kam, und ebenso
von Fesselballon-, Lustschiff- und Flugzeug-
Verwendung in Tripolis und Marokko, so
hatte bisher nur Frankreich ein Kolonial-
luftfahrwesen in Madagaskar. Die noch
1911 aufgestellte Behauptung, daß in Mada¬
gaskar mehr staatliche Flugzeuge vorhanden
seien als in Deutschland, ist Wohl über¬
trieben gewesen und jedenfalls nicht mehr
stichhaltig, obgleich sie zu Schlußfolgerungen
führt, die für uns wenig schmeichelhaft sind.
Wenn man nun das Ergebnis der
Jahrestätigkeit der Belgischen Luftfahrkom¬
mission überblickt, so erhält man erst den
richtige» Standpunkt für die Beurteilung des
bor Kurzem abgeschlossenen französischen
Wettbewerbes für Wasserflugzeuge in Monaco.
Denn wenn man auch in Madagaskar mit
dein Luftfahrwesen vorwärts gekommen sein
">"g, so gilt nicht das gleiche für das fran¬
zösische Aauatorial-Afrika. Dies Rätsel löst
der Belgische Kommissionsbericht.
Die Kommission hält den Augenblick für
einen geregelten Aeroplandienst noch nicht
für gekommen und führt zum Beweis den
wieder aufgegebenen Kurier-Aeroplandienst
zwischen Richmond und London an. Der
Vergleich hinkt insofern, als England fast
während des ganzen JahreS von starken
Winden und Nebeln heimgesucht wird, was
im äquatorialen Afrika nicht in gleicher
Weise der Fall sein dürfte. Er ist aber
richtig in bezug darauf, daß auch in euro¬
päischen Ländern die Orientierungsmöglich¬
keiten für Luftfahrer noch zu wünschen übrig
lassen — zumal bei Nebel.
Die Franzosen haben es sich angelegen
sein lassen, mit Hilfe der schnell und billig
arbeitenden photogrammetrischen Kartenher¬
stellung gute und ausreichend genaue Kolonial¬
karten anzufertigen. In dieser Hinsicht
scheint man im Belgischen Kongogebiet noch
nicht weit genug vorgeschritten zu sein; denn
die Belgische Kommission hebt besonders die
Schwierigkeit der Orientierung über einem
mit Kunstbauten nicht engmaschig durchsetzten
Gebiet hervor. Dies ist sicher richtig. Jeder
Luftfahrer weiß, welche Hilfe ihm die Kunst¬
bauten leisten, deren Umrisse oder lang¬
gestreckte Linien auffällige Schnittpunkte be¬
sonders da entstehen lassen, wo sie die aus
der Vogelperspektive wenig hervortretenden
orographischen Linien durchkreuzen. Daher
geben z. B. Eisenbahnen und Eisenbahn¬
knotenpunkte einen vorzüglichen Orientierungs¬
anhalt. Aber gerade um Eisenbahnen fehlt
es in den Kolonien. Der Bahnkörper eignet
sich bei seiner Schmalheit noch weniger zur
Landung als bei uns. Die Geländestreifen
seitwärts der Bahn bieten in Wald- und
sumpsreichen Gebieten wenig Landungsplätze.
Aber selbst wenn dies der Fall wäre, würde
der mit einer defekten Maschine lautende
Luftfahrer den Angriffen wilder Tiere aus¬
gesetzt sein. Man denke namentlich an solche
unfreiwilligen Landungen, welche Verletzungen
der Luftfahrer bis zur Hilfslosigkeit im Ge¬
folge haben können.
Die Studienkommission schlägt daher vor,
nu Stelle der jetzigen Flugzeuge hauptsächlich
Wasserflugzeuge zu begünstigen. Das
Wassersystem des Kongo ist kartographisch gut
festgelegt. Die Wasserläufe bilden Orien-
tieruugslinien, denen der Luftfahrer leicht
folgen kann. Er mag dann ruhig einige
Umwege machen, wenn er sich nur mit Hilfe
dieses Ariadnefadens in dein Labyrinth der
Wälder, Ebenen und Sümpfe zurecht findet.
Da das schiffbare Kongosystem eine Länge
von 15000 Ka hat, in dessen Bereich sich in
erster Linie menschliche Siedlungen befinden,
Luftfahrwesen im Belgischen Kongo-
Gebiet. Am 25. Februar 1911 wurde durch
Kgl. Belgisches Dekret eine Studienkom¬
mission eingesetzt, welche die Bedingungen
für die Verwertung der Lustfahrzeuge im
Kongo erörtern und Borschläge für die zu
diesem Ziel erforderliche wissenschaftliche
Forschung machen sollte. Die Kommission
wurde aus sieben Mitgliedern zusammen¬
gesetzt, nämlich drei hohen Staatsbeamten,
drei Mitgliedern des Kgl. Belgischen Aro¬
klubs und einem militärischen Mitglied,
Kommandant Mercier. Letzterer hat nach
achtjährigen Kolonialdienst wertvolle Luft¬
schiffererfahrungen sammeln können und ist
also der gegebene „Mann der Praxis".
so geben die an Flüssen gelegenen Orte die
natürlichen Luftfahrzentren ab. Hier müssen
Reparaturwerkstätten und Relais angelegt
werden.
Während die Ausbildung geeigneter Wasser¬
flugzeuge einem im September aufzutragenden
Wettbewerb für Wasserflugzeuge auf der
Scheide vorbehalten bleiben soll (wofür
bereits 100000 Franks an Preisen gesichert
sind), sollen einige zwanzig wissenschaftliche
Beobachtungsposten über das Kongogebiet
herleite werden, um genaue Studien über
die Wasser- und Strömungsberhältnisse zu
machen, da man die Gunst oder Ungunst
der einzelnen „Häfen" im Kartenmaterial
festlegen muß. Gleichzeitig werden die
Beobachtungsstationen mit dem erforderlichen
Material ausgerüstet, um Temperatur-
und Feuchtigkeitsmessungen der Atmosphäre,
Messungen bon Windgeschwindigkeit usw. vor¬
zunehmen, und statistisches Material über
Häufigkeit der Winde und der einzelnen Wind¬
richtungen zu sammeln.
Derartige Unternehmungen werden ge¬
wöhnlich mit nur geringem Mehraufwand
an Kosten dadurch vervollkommnet, daß man
Fesseldrachen oder kleine Fesselballons mit
selbstregistrierenden Instrumenten in die Höhe
führt, so daß man in kurzer Zeit den atmo¬
sphärischen Zustand bis zu 2 Ku Höhe oder mehr
ergründen kann. Eine Zentralstelle hat alsdann
die Beobachtungsergebnisse und das statistische
Material auszuwerten und in einer für den
Luftfahrer verständlichen und gemeinnützigen
Form zu verbreiten.
Die Praktische Arbeit im belgischen Kongo
wird also eigentlich erst jetzt beginnen. Daß
sie aber beginnen kann, stellt der Rührigkeit
der Kommission und dem Kgl. Belgischen Aero¬
klub ein ehrenvolles Zeugnis ans. Jedenfalls
ist es eine großzügige Art so vorzugehen, daß
man in ein Kolonialgebiet nur dasjenige
einführt, was den örtlichen Verhältnissen
entspricht, und nicht mit einen „coup cle
töte" dem Kongo die europäischen Flugzeuge
aufzwingen will.
Das Marokkoabkommen und die An¬
näherung der deutschen Grenzen an das
Flußsystem des Kongo sollten die Anregung
geben, daß unsere Kolonialbehörden in gleichem
Sinne großzügig vorgehen. In den einzelnen
Kolonien werden die Bedürfnisse verschieden
sein. Auch das bleibt zu berücksichtigen, daß es
sich meist nicht um die Konstruktion von Wasser¬
flugzeugen schlechthin handelt, sondern um
Konstruktionen für Kolonialzwecke. Selbst¬
verständlich behalten auch die Bestrebungen,
geeignete Wasserflugzeuge für europäische Ver¬
hältnisse zu schaffen, ihren Wert, und deshalb
ist es freudig zu begrüßen, daß der deutsche
Fliegerbund zu Anfang September einen
besonderen Wettbewerb für Wasserflugzeuge
mit einer Preisdotation von 80000 Mark
plant. Möge sich das Reichskolonialamt an
derartigen Wettbewerben dadurch beteiligen,
daß weitere Preise für solche Apparate bewilligt
werden, welche man als Kolonialwasserflug¬
zeuge bezeichnen könnte.
Der rührige und stets das Gesamtwohl
des internationalen Kulturfaktors „Luftfahrt"
fördernde Kgl. Belgische Aeroklub wird mit der
entsprechenden deutschen Luftfahrervereinigung
eine für beide Teile nutzbringende und für
die internationale Luftfahrt bedeutungsvolle
Verbindung aufnehmen können.
Wenn eine brutale Gewalt menschlichen Einrichtungen und Gesetzen
gegenüber die Oberhand gewinnen kann, so ist das ein Zeichen dafür, daß die
Kraft des Geistes nicht mehr ausreicht, um jene im Zaume zu halten; bei politischen
oder sozialen Auseinandersetzungen ist es auch ein Beweis, daß sich die Maße in
dem Verhältnis der Menschen und sozialen Gruppen zueinander stark verschoben
haben: sie vermögen nach den früher geformten Gesetzen nicht mehr harmonisch
zusammenzuwirken. Die Menschen sind gewohnt, diese Wahrheit auf allen Ge¬
bieten der Technik anzuerkennen, und mit emsigen Fleiß arbeiten die Geschlechter
seit Jahrhunderten mit wachsendem Erfolg daran, das elementare Wirken der
Natur in seinen Ursachen zu erkennen. Ob es sich um die Eindämmung von
Strömen oder um die Ausbalanzierung eines Motors handelt —, wir ergründen
die lebendige Kraft und ihren natürlichen Willen, und sobald wir glauben sie
erkannt zu haben, beginnen wir den Kompromiß mit der rohen Kraft vorzu¬
bereiten, um sie zu bändigen und in den Dienst des menschlichen Geistes zu stellen.
Ganz anders ist unser Verhalten den Gewalten gegenüber, die aus der
Tiefe der breiten Volksmassen emporsteigen. Wir glauben die Neigungen unseres
Volkes durch ewige Gesetze festlegen und dann die Nationen zwingen zu können,
sich diesen Gesetzen entsprechend etwa wie die Obst tragende Pflanze am Spalier
zu entwickeln.
Die Verfassung unseres Staates erscheint uns dabei als etwas Ewiges, Heiliges,
und die Kräfte, die gegen sie wie Wellen an steinerne Bollwerke anprallen, sind
wir schnell bereit, als Wirkungen einer bösen, stets verneinenden Gewalt zu er-
kennen. Damit aber verzichten wir von vornherein darauf, sie auf ihre inneren
Ursachen hin zu untersuchen und begnügen uns, das „Böse" mit Gewalt zu be-
bekämpfen. Noch keine Regierung und keine Partei eines Zeitalters hat sich
Praktisch von solchem Vorgehen freimachen können, gleichgültig, ob sie sich konser-
vativ, liberal, klerikal oder sozialistisch nannte. Alle sind in dem Wahne, den Auf¬
gaben der praktischen Tagespolitik gerecht werden zu müssen, unterlegen und haben,
um dieser genügen zu können, reine „Machtpolitik" treiben müssen. Darum aber
erleben wir es, daß gerade auf politischem Gebiete so häufig und immer wieder
Katastrophen eintreten, in denen sich der Geist, der die Staaten schuf, unfähig
erweist, die mit elementarer Kraft emporkommende Gewalt abzufangen, zu bändigen
und in den Dienst des Ganzen zu stellen.
Einer solchen Katastrophe stehen wir auch heute wieder gegenüber. Die
gewalttätige Haltung des Sozialdemokraten Borchardt ini preußischen Abgeordneten-
Hause, die widerlichen Scenen, die sich — aus den letzten Nebenumständen er¬
klärlich — daran anschlössen, bedeuten nicht mehr und nicht weniger als ein
Versagen des Geistes gegenüber der Gewalt.
Es soll mit Vorstehendem selbstverständlich nicht beabsichtigt sein, das
Verhalten der Sozialdemokratie in einem milderen Lichte erscheinen zu
lassen. Ihr Vorgehen in der zweiten Kammer des preußischen Abgeordnetenhauses
ist verwerflich. Auch in Preußen gibt es noch genug andere Mittel, die es
ermöglichen, politischen Idealen die Wege zu ebnen. Die Presse ist bei uns
so wenig in ihrer Meinungsäußerung beschränkt, daß sie nichts hindert, die öffent-
liche Meinung allmählich für die Ideale der Sozialdemokraten zu gewinnen,
wenn diese sich als aufnahmefähig dafür erwiese; dasselbe gilt von der Bewegungs¬
und Redefreiheit in Vereinen und Versammlungen. Des revolutionären Weges,
den die preußische Sozialdemokratie im preußischen Landtage betreten hat, bedürfte
es nicht. Darum billigen wir auch das Verhalten des Präsidenten von Erffa;
er hat sich in einer äußerst schwierigen Lage als ein umsichtiger, taktvoller und
mutiger Mann erwiesen, der die Würde des Parlaments mit den einmal gegebenen
unzulänglichen Mitteln so gut als irgend möglich wahrte. Im übrigen ist der
Vorgang in der Geschichte des Parlamentarismus nicht neu. Selbst in England,
das von unseren Liberalen so gern als Musterstaat hingestellt wird, hat sich der
Präsident gelegentlich nicht gescheut, gegen Ruhestörer und zur Wahrung des par¬
lamentarischen Ansehens die Polizei zu Hilfe zu rufen; an einem Tage geschah es
sogar, daß siebenunddreißig Iren durch die Polizei abgeführt wurden. Das Ein¬
dringen der Polizei in den Sitzungssaal der Kammer darf somit nicht als spezifisch
preußische Erscheinung aufgefaßt werden.
Wenn wir uns indessen in dem vorliegenden Falle selbst durchaus auf die
Seite des Freiherrn von Erffa stellen, so möchten wir doch nicht, daß die führenden
Kreise des Bürgertums über ihrer berechtigten Entrüstung gegen die Genossen den
Kernpunkt der Katastrophe übersahen. Es handelt sich hier nicht allein um Form¬
oder Anstandsfragen, auch nicht um die Angelegenheit irgendeiner Partei, oder
um eine solche lediglich des Bundesstaates Preußen; es handelt sich um eine
nationale Frage, die losgelöst vom Parteiinteresse alle deutschen Staatsbürger tief
berührt: um die Autorität des führenden Bundesstaates.
Es ist kein Zufall, daß die Katastrophe hereinbrach gerade gelegentlich der
Behandlung der Besitzbefestigungsnovelle. Die preußische Regierung hat
sich seit den vierziger Jahren noch niemals so kompromittiert, wie seit 1908
wiederholt in der Siedlungsfrage. Sie hat es verstanden, das große Friedens- und
Kulturwerk der inneren Kolonisation zeitweilig dem Chauvinismus zu überlassen,
ohne in der Folge die Kraft zu besitzen, den Kampf auch dementsprechend zu führen.
Die Verantwortung für das Enteignungsgesetz trifft zwar die gegenwärtig
leitenden Männer in Preußen nicht, aber sie scheinen sich unter dem Druck der Verhält-
nisse doch nicht von den Fehlern ihrer Vorgänger freimachen zu können, und ihre Politik
hat daher etwas Unwahrscheinliches, auf allen Seiten Mißtrauen Erzeugendes. Sie
befinden sich in dieser Beziehung in der Gesellschaft jener Konservativen, die sich seiner¬
zeit aus durchaus stichhaltigen Gründen nur unwillig zur Annahme des Enteignungs¬
gesetzes bequemten und sich jetzt seiner Anwendung widersetzen. Es wäre verständlich
gewesen, wenn die konservativen Großgrundbesitzer mutvoll den Standpunkt des
Grafen Haeseler beibehalten und das Gesetz von 1908 zu Falle gebracht hätten.
Doch scheint es, daß Rücksicht auf die national erregte Stimmung seinerzeit die
Oberhand gewann. Nachdem sie aber das Gesetz einmal schaffen halfen, sollten sie,
gerade vom Autoritätsstandpunkt aus, auch für seine Durchführung Sorge tragen.
Sind aber ihre Bedenken gegen das Gesetz doch so stark geworden, daß sie die
früheren Argumente, die sie zur Annahme bewogen, nicht mehr aufrecht erhalten,
so sollten sie ihren früheren Fehler nachträglich einsehen und wieder gut machen,
was gut zu machen ist. Wir würden einen solchen Entschluß für höchst wertvoll
halten: er müßte zu der Frage führen, ob nicht die Annullierung des Ent¬
eignungsgesetzes heute eine größere nationale Tat wäre, als das formale Fest¬
halten an ihm, bei gleichzeitiger Schaffung solcher Gesetze, die den Bedürfnissen
der Nation besser Rechnung tragen. Die preußische Regierung würde viel Unruhe
und viel Unbehagen beseitigen, wenn sie dies Ausnahmegesetz aus der Welt schaffte,
das sie nicht anzuwenden wagt-, sie würde in weiten Kreisen ihre Autorität zurück
gewinnen, wenn sie den Kampf um den Boden wieder zurückbrachte auf das Gebiet,
wo er hingehört, auf das wirtschaftspolitische. Beim gegenwärtigen Stande der
einschlägigen Gesetzgebung ist der Kampf um den Boden vom wirtschaftlichen
in das höhere, rein nationale Gebiet gehoben, was zur Folge hat, daß das Wirt-
schaftliche Moment zu sehr in den Nebel geschoben wird. Man lege das Schwer¬
gewicht auf das Wort innere Kolonisation und sei stets eingedenk, daß die Land¬
frage außerhalb der Städte ebenso ein Kampfobjekt ist zwischen Großkapital und
Nation, wie in den Städten. Dann wird man auch den richtigen Weg zum
Erfolge finden und am Erfolge wird auch das Vertrauen auf die Regierung in
Am Sonnabend und Sonntag fanden in Berlin Tagungen zweier Parteien
statt, die beide für sich in Anspruch nehmen, das allgemeinstaatliche, das nationale
Wohl ganz besonders über alle Parteiinteressen zustellen: die vereinigte Reichs¬
und freikonservative und die nationalliberale Partei. Die eine hielt
nach den Wahlen zum ersten Male eine Sitzung ihres Gcsamtvorstandes ab, die
andere, die nationalliberale einen Parteitag nach vorausgegangener Sitzung des
Zentralvorstandes. Die Sitzungen beider hatten das eine gemein: sie zeigten
deutlich, daß beide Parteien noch nicht herausgekommen sind aus der Wahlkainpf-
Stimmung und daß beide noch immer glauben die besten Parteigeschäfte mit aus¬
giebiger Betonung des Imperialismus zu machen. Das sind aber auch, nach den
gehaltenen Reden zu urteilen, die beiden einzigen einigenden Momente dieser
nationalen Mittelparteien- was diese Reden sonst enthielten, führt sie diametral
auseinander. Das ist drei Jahre nach dem Sammelruf des Herrn von Bethmann
kein erfreuliches Ergebnis. Man wird aber auch kaum hoffen dürfen, die Gegen¬
sätze zwischen der konservativen Parteigruppe und der liberalen Partei bald ver¬
schwinden zu sehen. Zwischen beiden steht als unübersteigbare Zinne der Turm
des Ultramontanismus. Die Konservativen, die übrigens sonst von der Schäd¬
lichkeit des Zentrums ebenso überzeugt sind wie die Liberalen, nehmen den
oportunistischen Standpunkt ein, der sie mit dem Zentrum zu paktieren heißt; die
Nationalliberalen stehen mit verschwindend geringen Ausnahmen auf dem Stand¬
punkte Bassermanns, der da heißt: „Hände weg vom Zentrum!"
In einer solchen Situation könnte nur eine große, die beiden Parteien
einende Parole von dritter Seite, nämlich von der Regierung her, zusammen¬
führen. Gibt es eine solche Parole? Ich fürchte, eine solche gibt es nicht, weil
nach dem Bekenntnis des Freiherrn von Zedlitz und Bassermanns Herr von Beth¬
mann in seiner Eigenschaft als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident es
nicht vermocht hat, sich das Vertrauen beider Parteien zu erwerben: keine der
Parteien würde es mit Rücksicht auf ihre Existenz wagen, der Fahne des Kanzlers
zu folgen, weil niemand voraussehen könnte, wohin sie im Endergebnis kommen
würde. Das darf man aus allen Reden, die hier und dort gehalten wurden,
entnehmen. So ist denn aus den beiden Tagungen — betrachtet man sie vom
unparteiischen nationalen Standpunkte — nichts positives herausgekommen I
Kein Redner der beiden Parteien, so sehr auch alle die Regierung der Entschluß-
losigkeit und Zagheit ziehen, hat irgendeinen Vorschlag gebracht, der zur Annahme
seitens der Regierung geeignet wäre. Es waren viele schöne und scheinbar große
Worte, aber man konnte von keinem sagen: es war eine Tat.
Etwas anderes ist es, ob die Tagungen für die Parteien selbst einen Gewinn
brachten. Die Freikonservativen haben sich ausschließlich mit Organisationsfragen
beschäftigt, über die nichts Näheres verlautet, und die eine breitere Öffentlichkeit
wenig interessieren. Bei den Nationalliberalen ging es um den Bestand der Partei.
Die Vorgeschichte des Parteitages ist bekannt: Der Gesamtpartei wird
seit langem vorgeworfen, sie entwickle sich zu stark nach links, und die Landtags¬
fraktion hat gemeinsam mit den Landesverbänden in Westfalen und in Schleswig
die Vorgänge bei der Präsidentenwahl im Reichstage dazu benutzt, um eine Macht¬
probe zwischen Alt- und Jungliberalen herbeizuführen, die vielleicht eine Neu¬
orientierung der Politik bewirken würde. Der Versuch ist nicht so geglückt,
wie es seine Anreger glauben mochten. An der bisherigen Politik der national¬
liberalen Partei wird nichts geändert und Bassermann ist nach wie vor Ver¬
trauensmann der Mehrheit. Das äußere Ergebnis der Verhandlungen ist nun,
daß die jungliberalen Landesorganisationen in Rechten und Pflichten mit den alten
nationalliberalen Vereinen vollständig gleichgestellt sind, wobei ihnen aber das
Sonderrecht gewahrt bleibt, sich außerhalb der Partei zu einem Reichsverbande
zusammen zu schließen, der künftig keinen Teil der nationalliberalen Partei¬
organisationen mehr bilden soll, und für dessen Auftreten und Äußerungen die
Leitung der Partei jede Verantwortung ablehnt. Mit Recht wurde diese Vereinbarung
lediglich als ein Versuch bezeichnet. Wohin es die Partei führt, muß die Zeit lehren.
Einstweilen kann mitgeteilt werden, daß die jungliberalen Vereine sich
bereits am Sonnabend Abend unter Vorsitz des Dr. Kauffmann - Stuttgart zu
einem Reichsverbande zusammengeschlossen haben, und daß sich auch alle Vor¬
bedingungen für die finanzielle Grundlage des Verbandes günstig anlassen. Es
wird nun sehr von der Leitung des Verbandes abhängen, ob seine neue Organi¬
s
Die Mischehen in den Kolonien haben durch eine im Reichstag mit starker
Mehrheit beschlossene Resolution eine Sanktion erhalten, über die man sich im
Auslande sicherlich diebisch amüsieren und sogar jeder einsichtige Missionar die
Hände über dem Kopf zusammenschlagen wird. Zu unserem Glück ist aber dafür
gesorgt, daß auf diesem Gebiet die Bäume des Machtbewußtseins und Doktrinarismus
jener Mehrheit nicht in den Himmel wachsen, sintemalen die Resolution keine
praktische Bedeutung hat und Wohl auch nicht bekommen wird. Die Reichsgesetze
schließen zurzeit eine von Staatswegen gültige Ehe zwischen Weißen und Ein¬
geborenen in den Kolonien aus und die Gerichte haben diesen Standpunkt in einer
Reihe von Fällen bestätigt. Bei einer Änderung des geltenden Rechts hat aber
der Bundesrat ein gewichtiges Wörtlein mitzureden, und das wird sicher „Nein"
lauten. Im wesentlichen war das Zentrum und die Sozialdemokratie an dem
Zustandekommen der Resolution beteiligt, und von beiden, deren Parteigrundlagen
sich ans Gesichtspunkten internationaler Natur zusammensetzen, kann man natürlich
nicht sonderlich viel Sinn für Rassegefühl erwarten. Jene Mehrheit bringt mit
ihrer Resolution keineswegs den Willen der von ihr vertretenen Volksteile zum
Ausdruck. Die Mehrheit unseres Volkes hat, trotz aller Reichstagsmehrheiten,
noch ein gesundes Rasseempfinden, und der Gedanke, daß seine Kolonien in der
Zukunft von einer Mischrasse bevölkert sein und, was die notwendige Folge wäre,
das Blut seiner Nachkommen auch in der Heimat verderben könnte, wäre ihm
sicherlich unerträglich.
Wenn feudale Zentrumskoryphäen, wie einst, wieder einmal einen Nipundo
Uloa als „Kronprinz von Kamerun, königliche Hoheit," in ihre Gesellschaft ein¬
führen wollen und etwa eine hochgräfliche oder fürstliche Dame aus dem inter¬
nationalen Zentrumsadel sich einem solchen schwarzen Gentleman ebenbürtig fühlt,
weil er katholisch getauft ist, wenn Herr Roste und Herr Ledebour keinen Unter¬
schied zwischen sich und einem Hottentotten gelten lassen wollen, so ist das Sache
dieser Herrschaften; aber unsere Ansiedler in den Kolonien müssen es sich verbitten,
daß eine zufällige Reichstagsmehrheit sich berechtigt fühlt, ihnen ihren Rassen¬
standpunkt aufzuzwingen.
Die Frage der Mischehen ist eine ureigenste Angelegenheit unserer kolonialen
Landsleute und ihrer Körperschaften, in Südwestafrika des Landesrats, in den
anderen Kolonien der Gouvernementsräte bezw. der Ansiedlervereinigungen. In
Südwest ist der Rnssenstandpunkt der weißen Bevölkerung sogar schon öffentlich-
rechtlich festgelegt, indem diejenigen Ansiedler, die mit farbigen Frauen zusammen¬
leben, von der Beteiligung an der Selbstverwaltung ausgeschlossen sind, ebenso
von der Aufnahme in deutsche Vereine. Die Möglichkeit von Ausnahmen in
geeigneten Fällen ist vorgesehen. Überdies befanden wir uns bisher in einem
Übergangsstadium. In dem Maße, wie sich die weiße Bevölkerung durch Ein¬
wanderung von weißen Frauen ergänzt, wird auch die Entstehung von Misch¬
ungen nachlassen.
Als jüngst der neue Staatssekretär I)r. Sols verfügte, daß in Samoa die
Schließung von Ehen zwischen Weißen und Farbigen künftig nicht mehr zuzulassen
sei, und zu erkennen gab, daß er sich die generelle Regelung der Rechtsverhält¬
nisse der Mischlinge in den Kolonien angelegen sein lassen wolle, hatte er den
vollen Beifall der öffentlichen Meinung. Er hat sich wohl nicht träumen lassen,
daß diese Äußerung einer gesunden Äolonialpolitik im Reichstag einen derart ver¬
kehrten Widerhall finden würde. Hoffentlich wird Herr Dr. Sols auf seinem
Standpunkt beharren; er wird sich dadurch ein dauerndes Verdienst erwerben. Ein
Gesichtspunkt verdient noch besonders hervorgehoben zu werden. Bisher handelte
es sich nur um Verbindungen zwischen weißen Männern und schwarzen Frauen,
weiße Frauen dagegen waren für den Neger unerreichbar. Läßt man aber Misch¬
ehen von Rechts wegen zu, so kann der Neger auch seine Augen zu der weißen
Frau erheben. Ein doppelt widerwärtiger Gedanke! Und wenn es auch auf beiden
Seiten nur minderwertige Vertreter beider Rassen wären, die sich dann gelegentlich
vereinigten, so würde das Ansehen der weißen Nasse doch ungeheuer darunter
leiden. Die Frage hat darum eine tiefe politische Bedeutung!
Im übrigen hatte der neue Staatssekretär bei Vertretung seines ersten
Kolonialhaushalts einen guten Reichstag. Herr Dr. Sols hat es meisterhaft
verstanden, denjenigen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die ihn mit einem
gewissen Mißtrauen kommen sahen. Er will beileibe kein neues System einführen,
sondern nach dem bewährten System seiner Vorgänger weiterarbeiten. Außerdem
will er parteipolitische Strömungen aus der Kolonialpolitik ausschalten, weil, wie
er richtig sagt, die heimische Parteigruppierung sich auf koloniale Verhältnisse gar
nicht anwenden läßt. Wenn es nun auch aussah, als wollten ihm in dieser
Richtung Zentrum und Sozialdemokratie durch ihre Mischehen-Resolution das
Konzept verderben, so scheinen sich die Dinge im übrigen doch in seinem Sinne
zu entwickeln. Alle Parteiredner betonten bei den letzten Etatsverhandlnngen ihre
Kolonialfreundlichkeit und die Sozialdemokraten verwahrten sich sogar ausdrücklich
gegen den Verdacht, Kolonialgegner zu sein. Wer hätte das vor fünf Jahren
gedacht?
Bei der Diamantenfrage sind wir insofern einen Schritt weiter gekommen,
als diesmal eine Reform der Verwertung der Diamanten ernsthaft erörtert wurde,
auf Grund positiver Angebote deutscher Interessenten. Zwar trugen die ausländischen
Händler noch einmal den Sieg davon, weil die Diamantenregie sich bockbeinig
zeigte und die Kolonialverwaltung in der Kürze der Zeit eine Klärung nicht her¬
beizuführen vermochte. Aber man darf wohl annehmen, daß bis zum nächsten
Vertragsschluß die deutsche Konkurrenz des Antwerpener Diamantensyndikats in
die Lage versetzt wird, wirklich am Wettbewerb teilnehmen zu können. Die Ver¬
teidigung der Diamantenregie gegen allzu scharfe Angriffe ist dem Staatssekretär
Von manchen Seiten sehr verarge worden. Meines Einesteils gibt diese An¬
gelegenheit aber keine Handhabe dafür, daß Herr Dr. Sols die unter Dernburg
in mancher Hinsicht eingerissene großkapitalistische Monopolwirtschaft ebenfalls
begünstigen will.
Die Frage des Diamantenzolls, die jüngst an dieser Stelle eingehend
erörtert wurde, geht ihrer Lösung entgegen, nachdem die Kolonialverwaltung, wie
aus einer dem Reichstag vorgelegten Denkschrift hervorgeht, der Kolonialgesellschaft
für Südwestafrika bestimmte, wohl allen Teilen gerecht werdende Vorschläge unter¬
breitet hat.
An die Lösung der Jndersrage scheint sich sonderbarerweise kein Staats¬
sekretär wagen zu wollen. Auch Herr Sols nicht, der sich wieder auf die Kongo¬
akte berief, die es uns unmöglich mache, die Inder, die englische Untertanen
sind, aus der Kolonie zu vertreiben. Davon spricht ja auch niemand. Was
gefordert werden muß, ist lediglich eine schärfere Kontrolle der Inder. In erster
Linie müßten diese, wie jeder Deutsche bei seiner Ankunft in Ostafrika, den Besitz
einer bestimmten Geldsumme nachweisen können. Damit würde das massenhaft
einwandernde indische Proletariat ferngehalten. Ferner widerspricht es der Kongo
alte keineswegs, wenn die Inder, die es mit der Ehrlichkeit erwiesenermaßen gar
nicht genau nehmen und Meister sind in der Pleiteindnstrie, genan wie die deutschen
Kaufleute zu einer geordneten Buchführung verpflichtet werden. Warum sollen
wir denn englischer sein als die Engländer, welche die Inder, ihre eigenen Unter¬
tanen, aus guten Gründen nicht mehr nach Südafrika hereinlassen?
In der Gestaltung der Geldverhältnisse hat sich endlich ein erfreulicher
und durchgreifender Wandel vollzogen. Der Monat April hat nachgeholt was
seine Vorgänger versäumt hatten: es zeigte sich das ungewohnte Bild einer allge¬
meinen und stark ausgeprägten Geldflüssigkeit. Der Status der Neichsbank hat
infolgedessen eine völlige Verschiebung erfahren. Am Monatsende stand das
Institut kräftiger da, als man noch vor kurzem hätte ahnen können. Der Unter¬
schied gegen das Vorjahr war verschwunden und hatte sich in ein Plus verwandelt.
Unter diesen Umständen konnten auch die Ansprüche des Ultimo der Bank nicht
viel anhaben: Die steuerfreie Notenreserve sank zwar wieder von 287 auf 58
Millionen, aber nur mir im neuen Monat wieder kräftig in die Höhe zu schnellen.
Die Geldsätze am offenen Markt haben sich dementsprechend stark ermäßigt; der
Privatdiskont zeigt jetzt eine Spannung von 1'/^ Prozent gegen den Banksatz.
Es kann somit nicht Wunder nehmen, daß der Reichsbank jetzt von allen Seiten
dringend der Wunsch nach einer Diskontermäßigung nahe gelegt wird. In der
Tat scheinen nunmehr die Verhältnisse des Geldmarkts einer solchen Maßregel
nicht mehr im Wege zu stehen. Hat doch auch die Bank von England, die bisher
eine ebenso zögernde Diskontpolitik verfolgte, wie die Neichsbank, sich zu einer
Ermäßigung ihres Satzes entschlossen und die große Differenz zwischen den Zins¬
sätzen Deutschlands und Englands läßt es angängig erscheinen, die drückende Last
des hohen Bankdiskonts etwas zu erleichtern. Die Wahrscheinlichkeit spricht daher
dafür, daß die Reichsbank den Zinsfuß im Laufe der kommenden Woche um ein
halbes Prozent herabsetzen wird. Leicht wird indessen der Bankleitung der Ent¬
schluß nicht werden. Denn die Maßregel droht, die energischen Bestrebungen aus
Beschränkung der Kredite und Eindämmung der Börsenspekulation, die sich der
Reichsbankpräsident bisher hat angelegen sein lassen, zu durchkreuzen. Die
Börsenspekulation hat im Laufe des letzten Monats wieder einen außer¬
gewöhnlichen Umfang erreicht. Die günstigen Konjunkturberichte haben nach dem
Erlöschen des Bergarbeiterstreiks in England und Deutschland den Optimismus
üppig ins Kraut schießen lassen. Die Kurse sind infolgedessen auf eine Höhe
getrieben worden, die mit den tatsächlichen Verhältnissen nur schlecht in Einklang
steht. Daher machen sich denn auch deutliche Zeichen einer Überspannung geltend;
die Aufmärtsbewegung ist ins Stocken geraten, die Lebhaftigkeit der Umsätze ist
geschwunden und es bedarf eines neuen kräftigen Anreizes, um die drohende
Lethargie zu überwinden. Einen solchen erhofft die Börse von der Ermäßigung
des Bankdiskonts. Es wäre indessen recht unerwünscht, wenn das wohlfeile
Geld nur deu Erfolg hätte, das Spekulationssieber von neuem anzufachen. Die
gesamte wirtschaftliche Lage ist nicht danach angetan, einer Börsenhausfe als Folie zu
dienen. Schon die Entwicklung, welche sich in der Montanindustrie anbahnt,
ist geeignet lebhafte Bedenken über die fernere Dauer der Konjunktur wachzurufen.
Kritiklos, wie immer, hat die Börse die Verlängerung des Stahlwerk¬
verbandes mit Begeisterung begrüßt. Und doch ist diese Verlängerung, welche
sich daremf beschränkt, die Syndizierung der sogenannten Produkte in der
bisherigen Form festzulegen, dagegen die Kontingentierung der 1Z Produkte frei¬
zugeben, in Wahrheit fast ein Aufgeben des Syndikatgedankens. Denn alle
Schwierigkeiten, welche durch die Konkurrenz der verschiedenen Werke entstanden
waren und fortdauernd neu entstehen, liegen auf dem Gebiet der weiter verarbeitenden
Industrien, also auf dem dieser sogenannten L-Produkte. Hier zeigte sich der
Gegensatz der Interessen zwischen den großen gemischten Betrieben und den
sogenannten reinen Walzwerken auf das Deutlichste. Es ist nicht gelungen ihn
zu überbrücken. Die Freigabe der Erzeugung und des Verkaufs von K-Produkten
besiegelt die Überlegenheit der großen montanindustriellen Gebilde. Wenn ein
jedes Kartell den Zweck verfolgte, die Schwächeren zu schützen und durch
Organisation von Produktion und Verkauf lebensfähig zu erhalten, so ist
offenbar, daß dieser Gedanke in der Stahlwerksindustrie nicht mehr aufrecht
zu erhalten war. Die Niesenunternehmungen, wie Phönix, Gelsenkirchen, Luxem¬
burg, Thyssen haben kein Interesse mehr, durch eine Fesselung ihrer eigenen
Kräfte schwächeren Konkurrenten beizustehen. Bei der Gründung und der
ersten Verlängerung des Stahlwerksverbandes betrachtete man es in den Kreisen
der Industrie als eine Hauptaufgabe des Verbandes, eine völlige Syndizierung,
also eine Regelung nicht nur der Erzeugung, sondern auch des Verkaufs der
Produkte anzustreben. Wie haben sich die Verhältnisse in der Zwischenzeit ver¬
schoben! Die gemischten Werke sind mittlerweile durch Fusionen und Neuanlagen
größten Stiles zu einer solchen Entwicklung gelangt, daß ein jeder glaubt, den
Konkurrenzkampf mit Aussicht auf Erfolg aufnehmen zu können. Man kann auch
nicht leugnen, daß in der Ausgestaltung dieser gemischten Betriebe, welche alle
Stadien der Produktion, von der Kohlenförderung bis zur letzten Weiter-
Verarbeitung in sich begreifen, ein wirtschaftlich richtiger Gedanke zum Durchbruch
gekommen ist. Der gemischte Betrieb, das trustähnliche Gebilde, hat den Sieg
erfochten, zwar unter dem Schutz des Verbandes, dessen Ideengang war, den
Schwächeren und nicht den Großen zu stützen. Mit der Marktfreiheit aber, welche
nunmehr die Großen proklamiert haben, werden vollständig veränderte und zurzeit
nicht übersehbare Verhältnisse auf dem Markt der Fertigerzeugnisse geschaffen.
Man muß sich vergegenwärtigen, daß die Produktion an letzteren innerhalb der
acht Jahre Verbandshcrrschaft gewaltig gestiegen ist, ja, sich geradezu verdoppelt
hat. Noch in jüngster Zeit sind fieberhafte Anstrengungen gemacht worden, die
größten Neuanlagen zu schaffen, nach den neuesten Errungenschaften der Technik
eingerichtet, und auf eine ungeheuere Steigerung der Produktionsfähigkeit berechnet.
So die kolossalen Anlagen von Gelsenkirchen in Esch, von Thyssen in Hagendingen
und der Burbacher Hütte in Düdelingen. Enorme Kapitalien sind in diesen
Erweiterungsbauten investiert, erhebliche Kredite darin festgelegt worden. Welches
Schicksal wird dieser künstlichen Expansionspolitik beschieden sein? Das Gespenst
der Überproduktion taucht deutlich sichtbar am Horizont auf. Schwere Zeiten
mögen der Eisenindustrie vielleicht bevorstehen.
Diese Unsicherheit über die nächste Zukunft der Wirtschaftskonjunktur wirft
einen schweren Schatten auf das augenblicklich noch so glänzende Bild. Und
leider fehlt es auch sonst nicht an dunkelen Flecken. Die Lage der Kali¬
industrie gibt, je länger je mehr zu schweren Befürchtungen Anlaß. Diese
haben jüngst in dem Geschäftsbericht der Kaliwerks Aschersleben, einer der größten
Gesellschaften, einen sehr bezeichnenden Ausdruck, gefunden. Es unterliegt heute
keineni Zweifel mehr, daß das Kaligesetz in der ihm vom Reichstag 'gegebenen
Form einen Mißgriff darstellt. Die Bestimmungen des Gesetzes über die Neu¬
zuteilungen von Quoten, welche bei Felderteilungen und Schachtneubauten
beansprucht werden können, und daher auch jungen, fündig gewordenen Kali¬
werken eine vorläufige Beteiligungsziffer gewährleisten, haben eine Prämie auf
die Neugründuug von Kaliwerken und die Niederbringung von Schächten geschaffen.
Infolgedessen wurden auch die großen Werke zur Teilnahme an dieser Quotenjagd
gezwungen und waren genötigt, neue Schächte ohne wirtschaftliches oder betriebs¬
technisches Bedürfnis zu bauen, nur um ihre Beteiligungsziffer nicht Herabdrücken
zu lassen. So ergibt sich, daß die Kosten eines Schachtbaues sich auf drei bis
vier Millionen Mark belaufen, eine enorme und ganz unwirtschaftliche Investition von
Kapital. Die große Vermehrung der Produktionsstätten hat ferner eine empfindliche
Verminderung der auf das einzelne Werk entfallenden Quote zur Folge. Daher find für
Schachtbauten bereits mehr als eine Milliarde Mark verwendet worden. Während
bei Erlaß des Gesetzes 76 Schächte gezählt wurden, werden nach Ablauf der
ersten Karenzzeit deren über 200 vorhanden sein. Die auf das einzelne Werk
entfallende Quote muß also gewaltig an Beteiliguugswert verlieren, wenn es
uicht gelingt, den Absatz derart zu steigern, daß in dessen Zunahme ein Ausgleich
gefunden wird. Eine solche Absatzvermehrung erscheint aber den Beteiligten als
ein Ding der Unmöglichkeit. Visher wenigstens ist trotz aller Aufwendungen für
die Propaganda nur ein Mehrabsatz von 000000 Doppelzentner für das letzte
Jahr erzielt worden, während das vielfache nötig wäre, um einen Ausgleich
gegen die Produktionssteigerung zu schaffen. Die Folgen dieser ungünstigen Ver-
Hältnisse sind am Markt der Kaliwerke deutlich zu spüren. Die Kuxe der .Kaliwerke
sind gewaltig im Preis gesunken. Vielfach müssen die Besitzer das ganze eingezahlte
Kapital verloren geben, ja es sind Fälle zu verzeichnen, in denen die Besitzer, um
einer drohenden Zubußeverpflichtung zu entgehen, die Kuxe unter einer Zuzahlung
abgestoßen haben. Höchst bedenklich ist ferner die Überschwemmung des Publikums
mit Obligationen neugegründeter Kaliwerke. Diese sind nach einem mehr und
mehr eingerissenen Mißbrauch vielfach behufs Finanzierung der Schachtanlagen
ausgegeben worden, während das Kapital durch Zubußeleistung der Banken hätte
aufgebracht werden müssen. Trotz der formellen hypothekarischen Sicherheit stellen
diese Kaliobligationen eine sehr fragwürdige Anlage dar. Sie sind denn auch
schlechterdings nicht mehr anzubringen und große Posten dieser unrealisierbaren
Werte dürften die Portefeuilles der Konzernbanken belasten. Das Schlimme ist,,
daß die Fehler einer solchen übereilten wirtschaftlichen Gesetzgebung sich nicht
wieder ausgleichen lassen. Das natürliche Monopol Deutschlands, welches ihm
eine glückliche geologische Formation beschert hat, droht sich daher infolge un¬
Verantwortlich: der Herausgeber Georg« Cleinow in Schönoberg, — Mmnlskriptsendungen und Buche werde»
erbeten unter der Adresse!
An den Herausgeber der Grcnzbotrn in Frieden«» bei Berlin, Hcdwigstr. 1».
Fernsprecher der Schristleitung: Amt Pfalzburg S71S, des Verlags: Amt Liitzow 6510,-
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b. H. in Berlin SV. II.
Druck: „Der Reichsbote" G. in. b. H. in Berlin LVV. 11, Dessauer Strasze LK/37,
Ol'Ssdnel' LanK
HKtien-Kspits! . . ÜVIK. 200 000 000
i^sservefoncis . . iVZK. 61000 000
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— VWtVilM LWLl^U c/.SSIZl. I-K/^Kk^K'I' a. ^. N^lV.lZUKO —
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^IWNÄ, ^UMbui-g, Lautren, KeutKen O.-LcKl,, LücKsburZ, IZunxwu, Lsnnswtt,
Lliemmti-, LorbÄcb, vstmollt, IZmclen, lZZcbveAS, I?lsnKkurt Ä. O., k^eibui-Z i. Kr.,
?uIctA, I^ürtli, (Zlsiv/iK, OöttinMn, Orei?, tlaibui-A, tleiäelberZ, tteilbronn, Katto-
wit2, Königshütte <D.-LLKI., l.ehr, l-iegnitn, Lübeck, Heller, pwuen i. V.,
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/<?s»/?F/ /til/deiva/^it/,F ////ak l/s^u-a/w/?F !-<?/! is/s^M^/-?/--?/?/ ^s«c/in//it/?F
^^^///Fee/ZU- ^o/z /H'/?c>^6/es/5^6/Ah/'/z, I^e/vnöFe/es^e/'U'a^llNF'L/!,
po/Zs/^c/ete/?^/?, sotp/s so/?s^6/? Sa/?/eF<?se//äM/c/!6/! 7>»^sa/://o/ze,?.
Vermietung von LtsnüKammei'n
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er große Aufschwung, den die holländischen und belgischen See¬
handelsstädte, namentlich Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen
genommen haben, ist zum größten Teil auf Kosten Deutschlands
erfolgt. Deutschland bildet das große und weite Hinterland, das
über holländische und belgische Häfen einen großen Teil seiner
Rohstoffe bezieht und auf demselben Wege seine Fertigfabrikate in die Welt hinaus¬
sendet. Wenn auch deutscher Handel, deutsche Ein- und Ausfuhr nicht den aus¬
schließlichen Warenverkehr jener Länder ausmachen, so bildet er doch einen
wesentlichen Bestandteil davon. Fremde Bahnen, fremde Schiffahrtsstraßen ziehen
unter den bestehenden Verhältnissen die Frachten an sich, fremde große Schiffahrts¬
linien vermitteln den überseeischen Verkehr. Deutsches Geld wird auf diese Weise
of Ausland entführt und trägt dazu bei, den ausländischen Handel und
Verkehr zu beleben. Dem dabei verdienten Zwischengewinn verdanken Holland
und Belgien teilweise ihr Aufblühen, ihre Entwicklung und ihren Wohlstand.
Die deutsche Volkswirtschaft kann an dem Fortbestand dieser Verhältnisse kein
Interesse haben, da sie ihr je länger um so mehr Schaden zufügen. Wohl
aber liegt es in ihrem Interesse, den jetzt über Belgien und Holland gehenden
Verkehr wieder vom Auslande abzulenken und ihn deutscheu Bahnen, deutschen
Wasserstraßen, deutschen Schiffahrtslinien zuzuführen.
Bisher kamen in Deutschland als große Häfen und Handelsstädte für den
Weltverkehr fast ausschließlich Hamburg und Bremen in Betracht. Dort ver¬
einigt sich, wie die statistischen Nachweise überzeugend dartun, der größte Teil
des deutschen Überseeverkehrs. Die Bedeutung der übrigen Seestädte ist dem¬
gegenüber stets geringer gewesen und seit einiger Zeit im Verhältnis zu jenen
Handelsorten stets zurückgegangen. Die Lage von Hamburg und Bremen
gestattet den beiden Städten aber nicht, mit holländischen und belgischen Häfen
in erfolgreiche Konkurrenz zu treten. Trotz des großartigen Ausbaues von
Eisenbahnen und Wasserstraßen, wie er in den letzten Jahrzehnten in Deutsch¬
land festzustellen ist, wird der Verkehr aus Süddeutschland, Westfalen und
Rheinland, zum Teil auch der ausländische aus der Schweiz und Italien den
näheren Weg über Holland suchen, statt einen mit größeren Kosten verbundenen
Umweg über die Hansestädte. Diese Städte haben für diesen Teil des Verkehrs
eine zu östliche Lage, als daß er mit Nutzen dorthin gelenkt werden könnte.
Dazu bedürfte es eines Hafens, der weiter westlich liegt und günstigere Ver¬
bindungen bietet.
Ein solcher Hafen ist Emden. So lange dieser Ort in preußischem Besitz
war, sind auch die preußischen Herrscher und ihre Regierungen bestrebt gewesen,
dort einen Mittelpunkt für den Überseehandel zu schaffen. Diese Bestrebungen
und Versuche, die je nach der politischen und wirtschaftlichen Lage von
wechselndem Erfolge begleitet waren, gehen bis auf den Großen Kurfürsten
und Friedrich den Großen zurück. Als nach der Einverleibung Hannovers
Emden wieder an Preußen zurückfiel, wurden diese Versuche auch wieder auf¬
genommen. In jüngster Zeit ist der Emdener Hafen mit großem Aufwand neu
ausgebaut, die Fahrtrinne zur Benutzung für die größten Schiffe vertieft und der
Hafen mit den modernsten Ladevorrichtungen ausgerüstet worden. Durch den
Dortmund-Ems-Kanal sowie günstige Eisenbahnanlagen sind gute Verbindungen
mit dem Hinterkante geschaffen.
Somit scheinen alle Vorbedingungen für eine gute Entwicklung dieses
Hafens gegeben, und dennoch will der Verkehr sich nicht in der- Weise heben,
wie man es gehofft und vorausgesetzt hatte. Für diese Tatsache ist die
Konkurrenz der belgischen und holländischen Häfen in erster Linie verantwort¬
lich zu machen. Zum Teil liegt dies daran, daß der Handel altgewohnte
Wege, auf denen sich im Laufe der Jahrzehnte feste Beziehungen entwickelt
haben, nicht plötzlich aufgibt. Zum Teil trägt auch der Mangel an leistungs¬
fähigen Schiffahrtslinien daran die Schuld. Es genügt nicht, daß Passagiere
und Güter von allen Seiten her nach Emden herangezogen werden, es muß auch
Gelegenheit sür ihre sichere, schnelle und regelmäßige Weiterbeförderung vor¬
handen sein. An diesen hat es aber bisher noch gefehlt. Erst wenn in Emden
leistungsfähige Schiffahrtsgesellschaften entstanden sind, die den Überseeverkehr
pflegen, wird sich Emden wirklich in großzügiger Weise entwickeln können. Erst
dann werden sich die großen Kapitalien (über achtzig Millionen Mark), die
das Land dort aufgewendet hat, lohnend angelegt und ertragreich erweisen.
Ehe nicht selbständige Linien von Emden aus regelmäßige transatlantische
Fahrten ausführen, wird sich auch der erhoffte Aufschwung nicht einstellen.
Bis dahin werden trotz aller sonstigen Vorteile die Waren immer den Weg
über Rotterdam, Antwerpen und Amsterdam nehmen, wo ihre Weiter¬
beförderung sichergestellt ist.
Das Kapital wird sich aber nur dann zur Gründung von Schiffahrts¬
gesellschaften und zur Errichtung von festen Dampferlinien bereit finden, wenn
ein Ertrag in Aussicht steht, der eine angemessene Verzinsung gewährleistet. Es
hat sich gezeigt, daß der reine Passagier- und Frachtverkehr bei regelmäßigen Fahrten
keine genügende Verzinsung abwirft, wenn er nicht gleichzeitig mit dem Auswanderer¬
verkehr verbunden werden kann. Erst die Massenbeförderung von Menschen bringt
eine sichere Einnahme. Dies hat sich auch in Hamburg und Bremen gezeigt. Der
große Aufschwung der dortigen großen Linien steht in engster Verbindung mit
dem Auswandererverkehre. Daß die übrigen Häfen, namentlich der Ostsee,
in ihrer Entwicklung nicht haben mit den Hansestädten gleichen Schritt halten
können, ist zuni größten Teile auf den Mangel an Auswanderern zurückzuführen.
Eine Schiffahrtsgesellschaft kann jeder gründen, Schiffahrtslinien jeder ein¬
richten, wenn ihm die dazu notwendigen Kapitalien zur Verfügung stehen.
Aber zur Beförderung von Auswanderern ist nach den gesetzlichen Bestimmungen
eine besondere Erlaubnis erforderlich, deren Erteilung davon abhängt, wie der
Bundesrat die Bedürfnisfrage beantwortet. Unlängst hat sich nun eine Ge-
sellschaft gebildet, die von Emden aus die transatlantische Fahrt betreiben will,
um damit dem deutschen Handel die längst gewünschten neuen Verkehrswege zu
eröffnen. Sie hat, um eine gesicherte Grundlage zu erhalten, den Antrag gestellt,
ihr die Konzession zur Beförderung der Auswanderer zu erteilen.
Gegen diesen Antrag hat sich, namentlich von Hamburg und Bremen aus,
eine lebhafte Agitation erhoben, weil diese beiden Städte sich in der Macht-
und Sonderstellung, die sie bisher im deutschen Wirtschaftsleben einnehmen,
bedroht fühlen. Die Hapag und der Lloyd befürchten, daß ihnen ein Teil des
Auswandererstromes, den sie bewältigt haben, abgelenkt und damit ihre Ein¬
nahmen vermindert werden könnten. In weiterer Folge, so meinen sie, würde
dies ihre Stellung im Welthandelsverkehre erschüttern und ihnen die Möglichkeit
rauben, den Wettbewerb mit den außerdeutschen Schiffahrtslinien, namentlich
mit den englischen, erfolgreich durchzuführen. Sie fürchten eine Konkurrenz im
Inlande, die ihnen beträchtliche Opfer auferlegen würde.
Diese Befürchtungen sind aber falsch und übertrieben. Aus den statistischen
Nachweisungen ergibt sich, daß die Zahl der Auswanderer, die über die
holländischen Häfen und England gehen, in den letzten Jahren bedeutend zu-
genommen hat, während die Zahl derer, die ihren Weg über Hamburg und
Bremen nehmen, nicht gewachsen, sondern zurückgegangen ist. Im Jahre 1901
gingen über Hamburg und Bremen 45.2 Prozent des gesamten über die nord¬
europäischen Häfen auswandernden Menschenstromes, 1910 waren es aber nur
noch 36.3 Prozent. Besonders Bremen hat ständig an Boden verloren. Es
handelt sich nicht um deutsche Auswanderer, die überhaupt nur einen sehr
geringen Teil der Auswanderung ausmachen, sondern hauptsächlich um solche
aus den östlichen Ländern, von denen schon jetzt die größte Zahl nicht der
Hapag und dem Lloyd zufließen.
Von der Gesamtzahl der Auswanderer entfallen etwa 55 Prozent auf
Russen, Österreicher und Ungarn, über 25 Prozent auf Italiener, und mir der
Nest von 20 Prozent auf alle anderen Nationen. Die italienischen Aus¬
wanderer sind meistens sogenannte „Sachsengänger", die im Frühjahre nach
Amerika hinüberfahren und nach der Ernte von da zurückkehren. Für die Aus¬
wanderung über Deutschland kommen hauptsächlich die Auswanderer aus den
östlichen Nachbarstaaten in Betracht. Trotzdem diese aber ganz Deutschland
durchqueren müssen, bedienen sich nicht alle von ihnen deutscher Linien. Ein
großer Prozentsatz wandert über englische Häfen ab, eine weitere große Zahl
über Rotterdam, Antwerpen und Havre.
Wenn es gelingt, davon einen Teil nach Emden zu ziehen, so bleiben die
Transportkosten und der dabei erzielte Gewinn den deutschen Interessenten
erhalten. Die neue Gesellschaft beabsichtigt auch keineswegs eine Unterbietung
der bisherigen Preise herbeizuführen, weil dadurch das eigene Geschäft geschädigt
würde. Es ist vielmehr als sicher anzunehmen, daß die Beförderung der Aus¬
wanderer auf derselben Grundlage erfolgen würde, die bisher bei den anderen
Gesellschaften maßgebend gewesen ist. Eine Verständigung über die Fahrpreise
würde sich auch mit einer neuen Gesellschaft erzielen lassen, in derselben Weise,
wie sie zwischen der Hapag und dem Llond schon stattgefunden hat.
Wird die beantragte Konzession abgelehnt, so wird für die großen Schiffahrts¬
linien in den Hansestädten tatsächlich eine Monopolstellung geschaffen und jede
andere Konkurrenz auf lange Zeit hinaus ausgeschaltet. Die Gefahren und
Nachteile, die mit einem Monopol und Trust verbunden sind, sind zu bekannt,
als daß sie hier nochmals ausführlich geschildert und dargelegt werden müßten.
Überall wird dagegen angekämpft. Entstehen diese Trusts von selbst durch
Zusammenschluß der Interessenten, so wird sich nichts dagegen machen lassen.
Für den Staat liegt aber keine Notwendigkeit vor, diese Bildungen zu unter¬
stützen und durch gesetzliche Maßnahmen einzelnen Gesellschaften ein Monopol
zu verschaffen. Mit der Angabe, daß die Gesellschaft keinen Wettbewerb im
Inlande und keine Verkleinerung ihres Jnteressentengebietes vertrüge, um erfolg¬
reich in der Weltkonkurrenz bestehen zu können, kann schließlich auch jede andere
große Gesellschaft irgend einer anderen Branche auftreten. Im Gegenteil, das
öffentliche Interesse verlangt die Beseitigung aller Vorrechte; nur im freien
Wettbewerb können sich alle vorhandenen Kräfte entfalten und entwickeln.
Es dürfen auch die Gefahren nicht verkannt werden, die in der Vereinigung
so großer Machtmittel in einer Hand liegen. Es wird dadurch eine Gewalt
geschaffen, die selbst für den Staat unbequem werden kann. Schon jetzt machen
sich deren Einflüsse auf vielen Gebieten des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens
bemerkbar. Wenn eine kluge und gewandte Geschäftsführung es bisher erfolg¬
reich verstanden hat, dies wenig in die Erscheinung treten zu lassen und einen
Zusammenstoß mit staatlichen und allgemeinen Interessen klugerweise vermied.er
hat, so ist doch keine Gewähr vorhanden, daß dies für alle Zukunft der Fall
sein wird. Der Staat wird es jedenfalls leichter haben, mit mehreren Gesell¬
schaften zuarbeiten, als wenn er sich nur eine große geschlossene Macht gegenüber
hat, die dann unwillkürlich die Forderung aufstellt, als gleichberechtigte Macht
behandelt und anerkannt zu werden. Es ist auch fraglich, ob sich immer Leute
finden werden, die fo genial veranlagt sind, daß sie ein so großes Unternehmen
auch unter schwierigen Verhältnissen richtig leiten können. Man muß dabei in
vorausschaue«der Weise nicht nur mit den augenblicklichen Verhältnissen rechnen.
Je größer ein Unternehmen wird, desto schwieriger seine Leitung. Schon jetzt
blicken viele besorgt in die Zukunft, was aus den Niesenunternehmen werden
soll, wenn die leitende Kraft einmal fehlt. Es ist sehr selten, daß die Leiter
solcher Unternehmungen für einen Nachwuchs und Nachfolger sorgen. Ihre
Tätigkeit, ihre Energie läßt selten andere Personen gleichberechtigt neben sich
gelten. Dies macht sich gewöhnlich erst bemerkbar, wenn die Frage der Nach¬
folgerschaft akut geworden ist. Hat sich aber ein Verkehrszweig, eine Industrie
in einem einzigen Unternehmen zusammengedrängt, so leidet sofort das ganze
Wirtschaftsleben, wenn dieses nicht auf der Höhe bleibt. Sind dagegen mehrere
Unternehmungen vorhanden, so kann die Notlage eines solchen niemals von
demselben großen Einfluß auf das gesamte Gebiet sein. Es ist nicht vorteilhaft,
wenn ein Wirtschaftsbetrieb schließlich nur auf zwei Augen beruht. Vorsorgeuo
muß der Staat hier eingreifen. Er darf jedenfalls die Gefahren einer derartigen
Lage, denen er sich keinesfalls verschließen kann, nicht noch vermehren.
Daß Hapag und Lloyd, im weiteren Sinne auch die Städte Bremen und
Hamburg bemüht sind, ihre Sonderstellung zu behaupten und mit allen Mitteln
gegen die Bestrebungen und Versuche ankämpfen, die ihnen in dieser Hinsicht
unbequem und gefährlich sein könnten, ist ja von ihrem Standpunkte aus
begreiflich. Es frägt sich aber, ob dies nicht ein sehr enger Standpunkt ist, der
nicht im Interesse der Allgemeinheit liegt.
Für Preußen liegt jedenfalls keine Notwendigkeit vor, seine eigenen Interessen
zugunsten der Hansestädte zurückzustellen und zu vernachlässigen. Daß Emden
"ach seiner Vergrößerung und Erweiterung eine gewisse Konkurrenz für die
anderen Häfen bedeuten würde, wie dies jede neue Hafenanlage sein würde, ist selbst¬
verständlich. Darüber mußte man sich aber vor Beginn der Hafenbauten klar werden,
ehe die großen Mittel zu ihrer Ausführung bewilligt und bereit gestellt wurden.
Jetzt, nachdem die Bauten zum größten Teil vollendet sind, muß man sich aber
"icht scheuen, die notwendigen Folgerungen daraus zu ziehen. Tut man dies
nicht, so bleibt der Hafen trotz seiner technischen Vorzüglichkeit leer und unbelebt,
die ganzen Anlagen unbenutzt, die 80 Millionen ohne Ergebnis. Einen solchen
Erfolg können aber weder die Stadt Emden, noch Landtag und Negierung
beabsichtigt haben. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, alle Kräfte in Bewegung zu
setzen, um die Entwicklung des Emdener Hafens zu ermöglichen und zu erweitern.
Sie müssen deshalb auch alle Mittel benutzen, um beim Bundesrat die Erteilung
der Auswandererkonzession zu erzielen.
Auch militärische Gründe sprechen dafür. Je mehr die deutsche Kriegs¬
flotte anwächst, desto größer wird die Notwendigkeit, für sie vermehrte Stütz¬
punkte zu schaffen. Dies tritt um so mehr in die Erscheinung, als bei der
jetzigen politischen Lage die Ostsee als Kriegsschauplatz beinahe ganz ausfällt.
Es ist aber richtig und wichtig, seine Streitkräfte bereits im Frieden dort zu
vereinigen und zu stationieren, wo sie im Ernstfall gebraucht werden sollen.
Zwar bietet der Kaiser-Wilhelm-Kanal die Möglichkeit, die in Kiel befindlichen
Flottenteile nach der Elbmündung heranzuziehen, ohne daß der Feind dies zu
verhindern vermag. Aber der Betrieb auf dem Kanal ist mancherlei Zufällig¬
keiten ausgesetzt und das Durchfahren erfordert immer eine gewisse Zeit.
Störungen im Betriebe sind schon im Laufe der letzten Jahre gelegentlich vor¬
gekommen, sie können sich im Kriege noch öfter ereignen, wo man mit feind¬
lichen Unternehmungen rechnen muß. Diese brauchen nicht immer in dem Vor¬
gehen stärkerer, gelandeter feindlicher Truppenabteilungen zu bestehen, denen
man rechtzeitig entgegentreten könnte, sondern in dem Vorgehen einzelner Per¬
sonen, die sich unter allerlei Formen zu Wasser und zu Lande dem Kanal
nähern können. Mag der Kanal auch noch so gut bewacht und geschützt werden,
so muß doch immer mit der Möglichkeit einer längeren Betriebsstörung gerechnet
werden. Tritt diese aber ein, so sind die in der Ostsee befindlichen Flottenteile so
gut wie abgeschnitten, und zur Untätigkeit verdammt. Es wird keine Aussicht
bestehen, daß sie angesichts der überlegenen feindlichen Flotte um Jütland herum
die Vereinigung mit den in der Nordsee befindlichen Teilen ausführen können.
Wilhelmshaven allein genügt aber nicht als Flottenstützpunkt. Es ist nicht vor¬
teilhaft, alle seine Kräfte auf einem einzigen Puukt zu vereinigen. Eine gewisse
Verteilung der Kräfte ist vorzuziehen. Auch im Interesse der ganzen Küsten¬
verteidigung und der Verhinderung einer feindlichen Blockade ist es geboten,
neben dem großen Kriegshafen noch weitere, kleinere Stützpunkte zu besitzen,
von denen ans namentlich der kleine Krieg geführt werden kann. Hierfür
eignet sich nun Emden in vorzüglicher Weise. Der rechte Flügel der deutschen
Nordseestellung, die Elbmündung, ist durch die Befestigungsanlagen bei Kuxhaven
und Brunsbüttel gesichert. In der Mitte liegt Wilhelmshaven. Der linke
Flügel entbehrt noch eines solchen Schutzes, den ein Flottenstützpunkt bei Emden
in Zukunft gewähren würde. Er erhält eine besondere Bedeutung durch die vor¬
gelagerte Insel Borkum, auf der bereits Befestigungen errichtet sind und die eine
ständige Friedensgarnison erhalten hat. Dadurch ist auch Emden selbst bereits
gesichert, da es einer feindlichen Flotte unmöglich geworden ist, ohne weiteres
in die Emsmündung einzulaufen. Im Anschluß an das befestigte Borkum wird
sich eine energische und wirkungsvolle Durchführung des kleinen Krieges ermög¬
lichen lassen. Gerade die schwierigen Schiffahrtsverhältnisse der Nordsee mit
ihrem engen, häufig wechselnden Fahrwasser bieten hierzu die beste Gelegenheit.
Sie erschweren dem Gegner die Durchführung der Blockade, können sie sogar
unmöglich machen.
Soll Emden einmal als Flottenstützpunkt in Betracht kommen, so ist es
auch erwünscht, daß sich dort alle die Einrichtungen und Anstalten vorfinden,
die für die Unterhaltung, Ausrüstung und Wiederherstellung von Kriegsschiffen
erforderlich sind, ohne daß es dazu erst besonderer großer staatlicher Anlagen bedarf.
Je mehr der Hafen von Emden vergrößert, der Verkehr lebhafter wird, und auch die
Industrie sich dort festsetzt, in desto steigenderem Maße eignet sich der Ort für
einen Flottenstützpunkt. Er bietet dann von selbst alles, was die Flotte zur
Ergänzung und zur Wiederherstellung bedarf; und wenn auch zunächst die
großen Linienschiffe und Panzerkreuzer nicht in Betracht kommen, so doch jedenfalls
die kleinen Kreuzer, die Torpedo- und Unterseeboote.
Es ist neuerdings die Rede davon gewesen, daß die Hamburger und Bremer
Gesellschaften, um den Anforderungen von Emden zu entsprechen, deren
Berechtigung sich nicht widerlegen und abstreiten läßt, ihre großen Linien ab¬
wechselnd in gewissen Zwischenräumen in Emden anlegen lassen, und auch für
den Transport der Auswanderer dort die notwendigen Anstalten treffen wollen.
Dies bedeutet gewiß schon einen Fortschritt gegenüber dem jetzigen Zustande,
genügt aber noch nicht. Diese Gesellschaften werden ihre Emdener Filialen
immer nur als etwas Nebensächliches betrachten, die sie notgedrungen errichten
mußten, um fremde Unternehmungen auszuschließen. Ihre Haupttätigkeit werden
sie aber nach wie vor der Entwicklung des Hamburger und Bremer Verkehrs
widmen. Sie haben auch schließlich gar kein so großes Interesse daran, den
Verkehr von Holland abzulenken und die Auswanderer usw. den holländischen
Schiffahrtslinien zu entziehen, da ein großer Teil des Kapitals der dortigen
Gesellschaften sich in den Händen der Hamburger Gesellschaften befindet. Machen
die holländischen Linien gute Geschäfte, so kommt dies dann teilweise wieder
den Gesellschaften in den Hansestädten zugute. Eine selbständige Linie, die in
Emden ihren Sitz hat und lediglich den Verkehr über Emden betreibt, ist aber
durch keinerlei andere Rücksichten gebunden, und kann sich mit aller Kraft und
mit allen Mitteln ihrer eigentlichen Aufgabe widmen. Es ist daher begreiflich,
daß die Stadt Emden nur auf eine selbständige Gesellschaft Wert legt.
Schiffe, die Emden nur anlaufen, aber in anderen Häfen heimatsberechtigt
sind, werden naturgemäß alle Reparaturen und Ausrüstungsarbeiten in den ursprüng¬
lichen Liegehäfen vornehmen. Dort befinden sich infolgedessen auch die umfang¬
reichen Reparaturwerkstätten, Kohlenniederlagen, Magazine, deren jede Schiffs¬
linie bedarf. Dort wird auch der Proviant an Bord genommen, die Ausrüstung
im weitesten Sinne besorgt. Dort wohnen die Direktoren, die vielen An¬
gestellten usw. Auch bei Vergebung von Neubauten werden die örtlichen Werften
und Bauanstalten bevorzugt. Die Gründung einer Schiffahrtsgesellschaft, die
Errichtung neuer Linien zieht die weitesten wirtschaftlichen Folgen nach sich.
Sie belebt nicht nur den eigentlichen Schiffsverkehr und erstreckt sich nicht nur
auf den engen Bezirk des Hafens, sondern befruchtet den gesamten Handel und
Verkehr, zieht die Industrie an, hebt die Steuererträgnisse der Stadt und des
Staates und ermöglicht auch dem nächsten Hinterkante den Absatz aller seiner
Erzeugnisse. Wenn man sich diese großen Wirkungen vergegenwärtigt und die
großen wirtschaftlichen Werte berücksichtigt, die dabei auf dem Spiele stehen,
wird es begreiflich, daß die Stadt Emden, die ja in erster Linie dabei in Frage
kommt, mit allen Mitteln und nach jeder Richtung hin die Versuche unterstützt,
eine eigene Schiffahrtsgesellschaft zu erhalten. Anderseits werden aber auch die
Bestrebungen der Nachbarhäfen begreiflich, dies zu verhindern. Sache des
Staates ist es, in diesem Jnteressenkampfe den schwächeren zu unterstützen und
ihm wenigstens die Möglichkeit zu geben, eine erfolgreiche Tätigkeit zu entwickeln,
sein Können zu zeigen.
Auch der preußische Staat muß sich dieser Ansicht anschließen und den
gleichen Standpunkt einnehmen, schon aus Rücksichten auf die Besteuerung. Darin
liegt kein engherziger Partikularismus, sondern ein wohlberechtigtes Staats¬
interesse. Die Hafenanlagen in Emden sind mit preußischem Gelde erbaut,
nicht mit dem der Hansestädte, auch nicht mit dem des Reiches. Dasselbe gilt
von den Eisenbahnen und den Wasserstraßen. Es ist daher nicht mehr als
recht und billig, daß die Benutzer aller dieser Einrichtungen in Preußen steuer¬
pflichtig sein sollen. Das Emporblühen der Hansestädte wird gewiß von jedem
mit Freuden begrüßt, daneben dürfen aber nicht alle anderen Rücksichten ver¬
nachlässigt und beiseite geschoben werden. Durch die Verlegung des Vulkans
von Stettin nach Hamburg ist schon ein bedenklicher Schritt geschehen. Ob
es möglich gewesen wäre, den Vulkan seinerzeit zu veranlassen, statt nach
Hamburg nach Emden zu gehen, muß dahingestellt bleiben. Vielfach wird
dies behauptet. Dies hätte jedenfalls im preußischen Interesse gelegen und
hätte das Aufblühen von Emden sehr günstig beeinflußt. Ist diese Gelegen¬
heit auch unwiderruflich dahin, so hüte man sich doch, hier einen ähnlichen
Fehler zu begehen, und der wird begangen, wenn durch ein Versagen der
Auswandererkonzession das Entstehen einer eigenen Emdener Schiffahrtslinie
unmöglich gemacht und der Emdener Hafen mit seinem wichtigsten und
aussichtsreichen Verkehre den Hamburger und Bremer Gesellschaften aus¬
urch die Fortschritte der Neurologie, der Serologie und der
Rassenbiologie hat man sich heute daran gewöhnt, gewisse Probleme
des gesellschaftlichen und öffentlichen Lebens, die man früher als
rein soziale Erscheinungen angesehen hat, von biologischen Gesichts¬
punkten zu betrachten. Es sei hier daran erinnert, daß heute,
nachdem viele Jahre verstrichen sind, seitdem Lombroso sein Buch „Das Weib
als Verbrecherin und Prostituierte" hat erscheinen lassen, der Streit noch immer
hin und her wogt, ob die Prostitution ein soziales oder anthropologisches
Phänomen ist.
Neuerdings sucht nun der bekannte Rassenhygieniker Albert Reibmayr die
so überaus wichtige und so viel erörterte Frage der Landflucht, die bisher
unstreitig als soziale Massenerscheimmg gegolten hat, auf biologische Prinzipien
zurückzuführen. Seine Ausführungen im Archiv für Nassen- und Gesellschafts¬
biologie (1911 S. 349) gipfeln in dem Satze, daß die Durchseuchung unserer
heutigen Landbevölkerung mit Tuberkulose, Syphilis und Alkohol und den dadurch
verursachten körperlichen und geistigen Folgen die wesentlichste Ursache wäre,
welche den Bevölkerungsstrom vom Lande zur Stadt so außerordentlich anschwellen
läßt und das Mißverhältnis zwischen Stadt und Land zeitigt. Während
w früheren Zeiten gut dafür gesorgt war, daß die heutigen gefährlichsten
Kulturkrankheiten Tuberkulose und Syphilis die Landbevölkerung nicht durch¬
seuchten und diese daher in ihrer Majorität konstitutionell gesund blieb, und
auch der Alkoholismus früher keine sehr schädigende Rolle spielte, hat sich dieses
alles seit der Zeit, als durch die Eisenbahnen der allgemeine Verkehr zwischen
Stadt und Land außerordentlich zunahm, besonders aber durch die Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht, total verändert. Der nun einsetzende stärkere Verkehr
Zwischen Stadt- und Landbevölkerung hat aber auch stets einen stärkeren Bluts-
verlehr, wenn auch meist auf illegitimem Wege, zur Folge. Der Bauer hat nun
beste Gelegenheit, sich mit dem tuberkulösen und syphilitischen Gift zu infizieren.
Dazu kommt noch, daß die Fortschritte der Medizin und die strengen hygienischen
Maßregeln die scharfe Auslese der schwächlichen Kinder hemmen und heute viele
Schwächliche ins heiratsfähige Alter kommen lassen, die früher der natürlichen
Ausmerzung verfielen.
Die wichtigste biologische Folge der Durchseuchung ist aber die, daß die
Nachkommen solcher belasteten Familien einen viel schwereren Kampf mit der
Natur und dadurch ums Dasein zu kämpfen haben, als dies bei Nachkommen
ganz gesunder Familien der Fall ist. Die Individuen aus solchen belasteten
Familien werden ihrer ererbten schwächeren Konstitution wegen zu der harten,
schweren Arbeit, wie sie die Landwirtschaft zeitweise wenigstens verlangt, viel
untauglicher und dadurch leichter körperlich geschädigt. Kein Beruf verträgt
aber das Kranksein, und besonders das chronische, schlechter als der land¬
wirtschaftliche. So kommt es, daß, wenn zu solchen ungünstigen biologischen
Verhältnissen auch noch wirtschaftliche Schwierigkeiten hinzutreten, die körperlich
und wirtschaftlich Schwächeren der Versuchung verfallen dahin zu ziehen, wo
die Arbeit eine leichtere ist. Je mehr die Durchseuchung der Landbevölkerung
zunimmt, desto stärker wächst der Bevölkerungsstrom in die Städte und nimmt
selbst unter günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen eine Form an, die wir heute
Landflucht nennen. Den Nachweis für die stärkere Durchseuchung der Land¬
bevölkerung entnimmt Reibmayr den Berichten der staatlichen Gesundheitsämter
und den Forschungen einzelner Ärzte, ferner sei er, nach Reibmayr, gegeben
durch die Feststellung der wachsenden Untauglichkeit der Landbevölkerung bei der
Aushebung, die hauptsächlich mit der Verbreitung des phthisischen Habitus
zusammenhängt.
Diese neue Theorie Reibmayrs hat gewiß sehr viel Bestechendes für sich,
aber sie ruht, wie wir jetzt nachweisen wollen, sowohl in ihren Voraussetzungen
wie in ihren Schlußfolgerungen auf recht schwachen Füßen.
Reibmayr geht davon aus, daß erst mit den? Allgemeinerwerden der
Eisenbahnen und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die Konstitutions¬
verschlechterung der Landbevölkerung begonnen habe; damals habe die Durch¬
seuchung mit Tuberkulose und Syphilis Platz gegriffen und auch der Alkoholismus
habe erst seit den letzten Dezennien eine viel gefährlichere Form angenommen.
Derartige Behauptungen können aber nur bestehen, wenn sie durch zahlenmäßige
Unterlagen bekräftigt werden. Es müßte einwandsfrei durch die Statistik fest¬
gestellt werden, daß die Sterblichkeit der Landbevölkerung an Tuberkulose und
Syphilis vor etwa fünfzig bis sechzig Jahren sehr gering gewesen ist und dem¬
gegenüber in der Gegenwart sehr zugenommen hat. Auf derartige Zahlen
konnte sich Reibmayr nicht stützen und meines Wissens existieren auch keine solche,
abgesehen vielleicht für einzelne kleine Orte.
Was speziell die Tuberkulose anlangt, so spricht auch kein innerer Grund
dasür, daß dieselbe heute auf dem Lande verbreiteter ist wie in früheren Zeiten,
am allerwenigsten dürfte die Annahme gerechtfertigt sein, als ob die Tuberkulose
als primär städtische Krankheit erst von der Stadt auf das Land verpflanzt
wurde und hier die Bevölkerung infizierte. Man denke doch daran, wie das
Landvolk gerade durch die Viehzucht stets Gelegenheit hatte, die Tuberkulose
durch kranke Tiere und ihre Produkte zu akquirieren! Es läßt sich aller¬
dings nachweisen, daß in manchen ländlichen Distrikten die Tuberkulose neuerdings
gegenüber früheren Zeiten mit großer Vehemenz auftrat, da wurde sie aber nicht
durch die Stadtbevölkerung, vielmehr durch die sich ansässig machende Industrie
verpflanzt, wofür gewisse badische Distrikte mit starker Tabakindustrie ein
Beispiel bieten.
Von einer zunehmenden Verseuchung des Landes mit Tuberkulose kann man
aber schon deswegen nicht sprechen, weil diese Krankheit doch erwiesenermaßen,
wie in der Stadt so auch auf dem Lande, in ständigen Rückgange begriffen ist.
So betrug die Sterblichkeit an Schwindsucht in zehn deutschen Städten 1892
259.2, 1904 dagegen nur 204. Diese Abnahme läßt sich z. B. in Preußen
auch in den vorwiegend Landwirtschaft treibenden Regierungsbezirken von Jahr
zu Jahr verfolgen.
Die zunehmende Durchseuchung des Landes mit Syphilis läßt sich mit
steigendem Verkehre, wenn nicht zahlenmäßig erweisen, so doch plausibel machen,
weil die Syphilis eine in erster Linie städtische Krankheit ist. Hier mag man
Reibmayr recht geben, wenn er der allgemeinen Wehrpflicht verhängnisvolle
Folgen beimißt, wie denn überhaupt der zunehmende fluktuierende Verkehr
zwischen Stadt und Land der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten auf die
Landbevölkerung zweifellos sehr günstig ist.
Anderer Ansicht sind wir aber wieder bezüglich des Alkoholismus. Der
Annahme Reibmayrs, als ob der Alkohol auf dem Lande erst in neuerer Zeit
seine deletären Wirkungen geltend mache, steht hier die Tatsache entgegen, daß
die Trunksucht bereits in früheren Jahrhunderten in einem Maße verbreitet
war, daß sie der Gegenwart nichts nachzugeben hat. Dieses Faktum könnten
wohl die Gegner der Mäßigkeitsbewegung als Argument für sich benutzen,
indem sie darauf hinweisen, daß, wenn der Alkohol wirklich die mörderische
Wirkung auf die Volkskonstitution ausübte, wie sie ihm zugeschrieben wird, die
Menschheit schon längst ausgestorben sein müßte. Allerdings wurden frührer
wehr die leichteren alkoholischen Getränke, Wein, Bier und Obstwein, weniger
Schnaps konsumiert.
Als Argument für die zunehmende Verschlechterung der Gesundheit der
Landbevölkerung führt Reibmayr auch die Abnahme der Militärtauglichkeit auf
dem Lande ins Feld. Der Begriff Militärtauglichkeit ist aber auch von äußer¬
lichen, nicht in den Rekruten liegenden Momenten abhängig, so etwa von den
im Laufe der Zeit eingetretenen Änderungen in den Aushebungsvorschriften,
von dem subjektiven Ermessen der untersuchenden Ärzte, von der Zahl der zur
Auswahl stehenden Leute und schließlich von dem aufzubringenden Bedarf an
Rekruten. Daß alle diese Momente bei der Abfertigung der Rekruten ein
erhebliches Wort mitsprechen müssen, ergibt sich auch daraus, daß in gleicher
Weise wie auf dem Lande auch die „Tauglichkeit" der Stadtbewohner
abgenommen hat.
Aber lassen wir einmal die historische Genesis beiseite, prüfen wir einmal
die Frage, ob denn die Konstitution der Landbevölkerung in der Gegenwart
tatsächlich eine so schlechte ist, daß sie nicht mehr imstande ist, die schweren land¬
wirtschaftlichen Arbeiten zu verrichten, so daß die leichtere, ihren Körperkräften
angemessene städtische Arbeit sie in ihren Bann locken muß. Da es ein absolutes
Maß für die Konstitution nicht gibt, so wollen wir einmal die Konstitution des
Landbewohners mit der des Städters vergleichen unter Namhaftmachung der
Faktoren, an welchen die Konstitution gemessen werden kann.
Das Land zeichnet sich gegenüber der Stadt durch größere Fruchtbarkeit
aus, sowie durch eine größere Militärtauglichkeit, ferner durch eine bedeutend
geringere Sterblichkeit an Tuberkulose, wenigstens beim männlichen Geschlecht.
Wie wenig verbreitet die Geschlechtskrankheiten auf dem Lande im Vergleich zur
Stadt sind, ergibt die preußische Statistik, denn im Regierungsbezirk Köln wurden
an übertragbaren Geschlechtskrankheiten in den Krankenhäusern behandelt auf
1000 Einwohner 63, in Köln 33, in Wickede 28, dagegen in Altenstein 0,94,
in Höxter 0.84, in Sigmaringen 0,58.
Von einer Verseuchung des Landvolkes und von einer derart schlechten
Konstitution, daß sie nicht mehr den üblichen landwirtschaftlichen Arbeiten
gewachsen wäre, kann man daher wahrlich nicht sprechen. Analog müßten Tuber¬
kulose, Syphilis und Alkohol, die ja auch auf die Stadtbevölkerung einwirken,
und zwar in noch viel stärkerem Maße, auch deren Arbeitskraft soweit gelähmt
haben, daß auch sie die nicht immer leichte industrielle Arbeit nicht mehr
bewältigen könnte. Davon ist aber bis jetzt keine Rede gewesen. Gewiß ist
ja die landwirtschaftliche Arbeit im allgemeinen schwerer, dagegen ist sie keine
solch kontinuierliche wie die städtische Fabrikarbeit, sie hat dabei noch gegen
letztere in gesundheitlicher Hinsicht den Vorzug, daß sie im Freien ausgeübt wird.
Man sollte glauben, die wirklichen Gründe für die Landflucht lägen so
klar zutage, daß man nach geheim wirkenden gar nicht erst zu suchen braucht.
Es sind die bekannten sozialen Gründe: die Gebundenheit der Landarbeiter, die
Einschränkungen seiner persönlichen Freiheit, vielfach schlechte Ernährungs- und
Wohnungsverhältnisse, ungenügende Entlohnung. Natürlich trägt die schwere
Arbeit auch ihr Teil dazu bei, um dem Arbeiter das Landleben zu verleiden, aber
nicht an und für sich, sondern im Hinblick ans das ungenügende Äquivalent, das
ihm dafür geboten wird. Wenn demgegenüber die Vorzüge des städtischen
Lebens mit seiner Ungebundenheit und Freiheit ihn locken, so ist es mehr wie
begreiflich, daß er diesen Lockungen, auch wenn sie als trügerisch sich erweisen,
nicht widerstehen kann. Wenn nur der Umstand, daß seine Kräfte der land¬
wirtschaftlichen Arbeit nicht mehr gewachsen sind, den Landarbeiter verlockte,
dem Lande den Rücken zu kehren, dann müßte man fragen, warum nun
gerade der unselbständige Arbeiter von der Landflucht ergriffen wird, warum
nicht auch der ansässige Bauer, der doch unter der schweren Arbeit gar nicht
weniger zu leiden hat wie der Arbeiter.
Will man daher die Landflucht wirksam bekämpfen, so müssen in erster
Linie soziale Maßnahmen getroffen werden: Verbesserungen der Lebensbedingungen
des Laudarbeiters, Gewährung des Koalitionsrechts, Aufbesserung der Ernährung,
der Entlohnung, der ländlichen Wohnungen, Vermehrung der Volksbildung auf
dem Lande. Daneben soll die Landbevölkerung allerdings auch in sanitärer
Hinsicht gefördert werden, und sehr viel gibt es auch hier zu tun; so müßte
u. a. der Kampf gegen die Volkskrankheiten auf dem Lande, gegen Tuberkulose
und die Kindersterblichkeit viel energischer geführt werden; manche Unterlassungs¬
sünde ist hier gut zu machen.
n der satirischen Literatur alter und neuer Zeit spielen die Ärzte
eine wenig beneidete Rolle. Noch kürzlich hat Shaw die ätzende
Lauge seines Spottes über sie ausgegossen, und vor längeren
Jahren machte es die „Jugend" ebenso. Hiervon abgesehen
merkte man wenig von ihnen, sie führten ein stilles Dasein und
begnügten sich mit dem gleichen Trost wie die Frauen, von denen bekanntlich die
die besten sind, von denen man nicht spricht. Leider hat sich das in den letzten
wahren zu ihrem Nachteil geändert; sie werden in der Presse, richtiger in einer
gewissen Presse, häufiger erwähnt, als ihnen lieb ist, und zwar werden sie meist
mit Worten bedacht, die niemand als Schmeicheleien auffaßt. Das ist doch auf¬
fallend; denn das große Publikum pflegt sich um die Lage einzelner Stände
wenig zu bekümmern.
Was ist nnn der Grund dieser wenig erbaulichen Erscheinung? Als
Antwort hierauf sollen im folgenden die Veränderungen geschildert werden,
die die ärztliche Tätigkeit dem Publikum gegenüber in den letzten fünfzig Jahren
erlitten hat, und die von den Ärzten als Verschlechterungen empfunden werden.
Sie liegen zu einem großen Teil nicht im Gange der regelmäßigen Entwicklung,
sondern sind ihnen von außen aufgedrängt worden.
Wie immer bei solchen Umwälzungen wirkte dabei eine ganze Reihe ver¬
schiedener Umstände mit. Den Beginn bildete das Verschwinden des alten
Hausarztes mit einem nicht gerade hohen, aber meist festen Honorar. Ver-
drängt wurde er vorzugsweise durch das überhandnehmen der Spezialfächer
und die damit parallel laufende Industrialisierung des Betriebes; beides entspricht
freilich eben sowohl der Richtung der Zeit wie dem wachsenden Umfange des ärzt¬
lichen Könnens, welches durch die bedeutende Vermehrung des technischen Teils
den Zerfall in zahlreiche Spezialitäten notwendig gemacht hat. Aber die Schatten¬
seiten dieser Entwicklung, vor allem das starke Anwachsen ärztlicher Tätigkeit und
die damit gesteigerten Kosten, werden jetzt schon vom Publikum empfunden, wenn
letztere auch bei der allgemeinen Erhöhung der Lebenshaltung noch nicht drücken.
Jedenfalls wurde die große Rührigkeit der Spezialistin dankbar empfunden, und
niemand fragte zuerst, ob sie auch überall am Platze sei. In derselben Richtung
wirkte die stark anwachsende Inanspruchnahme von Heilanstalten aller Art, die
in manchen Kreisen einen solchen Umfang angenommen hat, daß deren
Hausarzt nur noch Lexikon für Anstalten und Spezialistin ist. Dafür danken
kräftige Naturen, sie suchen sich ein Feld intensiverer Tätigkeit und werden
der allgemeinen Praxis entzogen. — Verstärkt wurde diese Veränderung durch
die relative Zunahme der Zahl der Ärzte, welche das Wachstum des Volkes
überschritt. Sie mag dem erhöhten Bedürfnis nach ärztlicher Versorgung ent¬
sprochen haben. Da dieses Bedürfnis jedoch außer auf den erwähnten Umständen
auf der seit 1884 von der sozialen Gesetzgebung veranlaßten, überaus starken
Vermehrung der Krankenkassen beruhte, so wuchs zwar die Arbeit der Ärzte
entsprechend und sogar darüber hinaus, nicht aber in gleicher Weise das verdiente
Einkommen. Dieses Moment wurde verstärkt durch die verschlechterte Stellung
des Arztes als des Beauftragten der Kassen zu dem Rat suchenden Versicherten.
Während die zuerst erwähnten Veränderungen, die ihren Grund in der
Veränderung der Medizin selbst hatten, das Publikum wenig bekümmerten, sind
es diese letzteren, den Ärzten durch die Gesetzgebung aufgedrängten Neuerungen
gewesen, welche seit etwa fünfzehn bis zwanzig Jahren die Aufmerksamkeit der
Öffentlichkeit erregten. Denn die beteiligten Versicherungsorgane, die sich schon
früh eines Teils der Presse bemächtigt und sogar vielfach eigene Zeitungen
gegründet hatten, wandten sich bei den nun eintretenden Konflikten mit dem
eindrucksvoller Gebaren der beleidigten Unschuld an die Öffentlichkeit*), und das
Sensationsbedürfnis ließ sich einen so dankbaren Stoff auf sozialem Gebiet nicht
entgehen. Die Ärzte, ohne Verbindung mit der Presse und persönlichen
Weiterungen abhold, schwiegen fast ausnahmslos, was als ein Eingeständnis
des Unrechts ausgelegt wurde. Die Regierungen traten, der sozialen Tendenz
entsprechend, fast immer auf Seite der Versicherungsorgane; nur ausnahmsweise,
z. B. in Sachsen. Württemberg, Thüringen, haben sie sich neutral gehalten und
unter Umständen, nach allerdings oft lange dauernden Ermittlungen, zugunsten
der Ärzte entschieden. Andernorts, also vor allem in Preußen, haben sich die
Beamten auf die stärkere Seite gestellt.
Vom Beginn der Sozialgesetzgebung an, also seit mehr als fünfundzwanzig
Jahren, hatte der Deutsche Ärztevereinsbund, der etwa 95 Prozent aller Ärzte
umfaßt und sich jährlich in wenigstens einer Versammlung zusammenfindet, den
Behörden eine Eingabe nach der anderen übersandt und um Gehör gebeten
in einer Materie, in der er sachverständig zu sein glaubte. Aber er hat
niemals etwas anderes erreicht als das bekannte höfliche, aber folgenlose
Wohlwollen. Schon sehr bald zeigten sich die großen Lücken und Ungleich¬
heiten der einschlägigen Gesetzgebung, bei der die Arzte nicht gehört worden
waren. Die nächste Folge war eine unter Umständen unerhörte Herabsetzung
der Honorare, die hier und da Dienstmannslöhnen nahe kamen; das Minimum
der Staatstaxen (in Preußen seit 1815 gültig) wurde fast nie erreicht. Als
nun hierzu noch die schlechte Behandlung durch die Kassengewaltigen kam, gegen
die keine Abhilfe zu Gebote stand, sahen die Ärzte langsam ein, daß für sie
nur auf dem Wege der Selbsthilfe etwas zu erreichen war. Diesen Weg haben
sie vor zehn Jahren mit der Gründung des Leipziger wirtschaftlichen Verbandes
(L. W. V.) betreten. — Bei dieser Gelegenheit zeigte es sich deutlicher als wohl
jemals früher, wie groß die Unkenntnis nicht allein des großen Publikums,
sondern auch der anderen gelehrten Stände und besonders der Juristen betreffs
ärztlicher Dinge, ärztlichen Handelns war.
Die Medizin beruht auf einer ungeheuren Menge von zufälligen oder
absichtlich herbeigeführten Erfahrungen. Sie sucht sie zu Reihen zu ordnen und
leitet aus ihnen Regeln ab, die nur so weit und so lange Geltung haben, als
ihnen keine Erfahrungen widersprechen. Neue Methoden mit neuen Befunden
werfen daher nicht selten ältere Anschauungen über den Haufen, so daß im
ganzen systematische Ordnungen keinen großen Wert haben. Alle medizinische
Tätigkeit ist vielmehr auf Beobachtung der Tatsachen gerichtet und das ärztliche
Handeln trägt fast ausnahmslos den Charakter eines Versuchs, der sich freilich
auf ältere Tatsachen stützen muß. In ihm kommen mithin grundsätzliche Regeln
wenig zu Raum, die Anpassung älterer Erfahrungen an die jeweiligen Zustände
bildet vielmehr die Hauptsache. Demgemäß tritt die Persönlichkeit des Arztes,
der bis in die äußersten Kleinigkeiten hinein für alles haftet, in den Vorder¬
grund; darin ist seine Vertrauensstellung zu sehen, weit mehr als in der viel
besprochenen Geheimhaltung persönlicher Schäden. Das Verfahren des Arztes
ist im wesentlichen induktiv.
Ganz anders, im wesentlichen deduktiv, verfährt der Jurist. In allen
seinen Geschäften bildet die logische Entwicklung und Einordnung, bei der alle
zugehörigen Vorgänge berücksichtigt sein wollen, die Hauptsache. Die strenge
Logik kennt keine Verschiedenheit der Personen, der Charaktere, der Tempera¬
mente. Der Richter wie der Gesetzgeber können mithin auf einzelne Personen
keine Rücksicht nehmen, ihre Entscheidung soll unparteiisch sein. Alle diese
Erfordernisse bedingen ein vorsichtiges, daher langsames Handeln, bei dem jeder
Fehler, jede Lücke wegen der vielleicht zu fürchtenden Folgen vermieden werden
müssen; um das zu erreichen ist Zeit, mitunter langes Studium der Rechts¬
quellen, Herbeiziehung aller bekannten Hilfsmittel und Hilfspersonen unerläßlich.
Dabei verschwindet die Person des Richters hinter den: Gesetz, persönliche An¬
schauungen darf er nicht bemerken lassen; völliges Nichtansehen der Person,
Gleichheit vor dem Gesetz ist eine der ersten Voraussetzungen moderner Justiz.
Die Unterschiede dieser beiden Gedankengänge liegen auf der Hand. Die
Person des Rechtsverständiger soll ganz zurücktreten, während die des Arztes
in dem Verhältnis zum Kranken eine wesentliche Rolle spielt. Aber der
Unterschied hat noch eine weitere Folge; die Versuche, in das ärztliche Gebiet
durch Gesetze einzugreifen, treffen auf besonders große Schwierigkeiten. Auf
medizinischem Gebiete ist alles in fortwährendem Flusse, fortwährend bringen
sich neue Beobachtungen, neue Anschauungen zur Geltung, welche sich dem Gesetze
von gestern nicht einfügen wollen. Daher haben die Gesetzgeber eine gewisse
Scheu vor dieser Materie gezeigt, daher hat auch die alles angreifende Statistik
auf ärztlichem Gebiete keine Lorbeeren gepflückt. Wird dieses, dem sozialen Drang
folgend, in die Gesetzgebung einbezogen, so melden sich sofort die Klippen. Es zeigt
sich dies z. B. in der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts, in der vielfach
Erwägungen von Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten oft entferntester Art, un¬
sichere Vorhersagen verwendet werden müssen, denen die zivile wie kriminelle
Rechtsprechung in weitem Bogen aus dem Wege geht.") Auch in der neuen
R. V. O. ist diese Schwierigkeit zu bemerken. In ihr finden sich zahlreiche
äußerst dehnbare Begriffe (z. B. der Ausdruck „wichtiger Grund"), und statt
scharfer Begrenzung der Instanzen ist auffallend oft durch das Wort „kann"
dem Ermessen der Behörde eine Ausdehnung gegeben, wie sie sonst möglichst
vermieden wird. Ebenso deutlich hat sich diese Schwierigkeit bei der Beratung
des Knrpfuschereigesctzes gezeigt.
In der Verschiedenheit des ärztlichen und juristischen Denkens und Handelns
ist einer der Hauptgründe zu sehen, denen so oft Mißverständnisse und Streit
entstammen. Hieraus folgt die Abneigung beider Berufsarten, miteinander in
Verbindung zu treten; die eine Seite fürchtet die formalen Einwände der Para¬
graphen, die andere die Tatsachen, die sich den Paragraphen nicht fügen wollen.
Darin wird auch der letzte Grund zu sehen sein, warum beim Erlaß der sozialen
Gesetze das Ersuchen der Ärzte um Gehör so ganz erfolglos blieb; man glaubte
mit der Gesetzgebungsmaschine alles ordnen zu können. Die Erfahrung hat
erwiesen, daß das ein Irrtum war; auch abgesehen von dem mangelnden
Zusammenhange der drei Versicherungszweige sind zahlreiche Mißstände ent¬
standen, welche durch die Rechtsprechung des Reichsoersicherungsantts noch
keineswegs beseitigt sind. Es möge nur auf ein paar der wichtigsten Punkte
hingewiesen werden. — Eine häufige, sehr ärgerliche Erkrankung ist die Nerven¬
schwäche, die Neurasthenie. Die Medizin verlangt, daß die von ihr befallenen
Leute, mögen sie nun wirklich krank sein oder betrügen, allmählich wieder an
Arbeit gewöhnt werden, die Arbeit ist hier ein Heilmittel; wenn sie sich nicht
gutwillig dazu verstehen, so muß auf sie ein Druck ausgeübt werden, selbst durch
rücksichtslose Beschränkung der Geldbezüge. Das ist bei dem heutigen Gesetz
unmöglich, solange der Empfänger nicht für gesund oder arbeitsfähig erklärt ist.
Diese Erklärung kann der Arzt noch nicht abgeben, der Jurist zuckt die Achseln,
bezahlt weiter, und der Rentenempfänger geht weiter spazieren. Für diese Leute
hat das Gesetz die Formel nicht gefunden. — Nicht minder wichtig ist die
Schätzung der Arbeitsfähigkeit, welche das Gesetz den Versicherungsträgern ganz
überläßt. Diese schoben sie den Ärzten zu, die dafür nicht vorgebildet waren. Sie
konnten wohl Erkrankung und verringerte Gebrauchsfühigkeit eines Gliedes, eines
Organs bestimmen, zu dem Urteil jedoch, wie weit eine bestimmte Berufsarbeit
dadurch beeinträchtigt wäre, fehlte ihnen die Kenntnis der Technik. Es kam daher
anfangs zu den größten Differenzen in der Schätzung des Verlustes, und auch
jetzt, trotz der Erfahrung von fünfundzwanzig Jahren, ist dieses Kapitel noch
keineswegs in Ordnung.
Während diese Schwierigkeiten meist nur den einzelnen Fall treffen und
daher das große Publikum nicht interessieren konnten, erregte die wachsende
Zahl der Streitigkeiten mit den Krankenkassen auch die Menge, bald auch die
Presse. — In den ersten Jahren, als das Verhältnis zu den Arbeitern noch
relativ gut war, standen vorzugsweise Arbeitgeber an der Spitze der Kassen
und man vertrug sich. Ansprüche wie Leistungen waren noch mäßig, längere
Erfahrungen fehlten, die Verwaltungen gingen nur vorsichtig und tastend vor.
Später änderte sich das. In dem einen Hauptteil der Kassen, den Ortskranken¬
kassen, merkten die Arbeiter bald, daß sie die Gewalt an sich reißen konnten,
und brachten sie auch bald ganz in ihre Hände; bei dem anderen Hauptteil,
den Betriebskassen (die kleinen Innungs- und Gemeindekassen kommen wenig in
Betracht) hatte der Werksinhaber die Macht. Beide fingen sehr bald an, mit
Steigerung der Leistungen in die Höhe zu gehen. Um hierbei die Versicherten
Möglichst wenig zu beunruhigen, mußten die Kosten, wo es anging, beschütten
werden; so wurde namentlich auch auf die Ärzte gedrückt, die etwa 20 bis
25 Prozent der Einnahmen für ihren Dienst beanspruchten. Ihnen gegenüber
fühlten sich die Vorstände als Arbeitgeber und ließen sie ihre Macht fühlen.
Der letzte Grund dieser unerwünschten Entwicklung ist in der bedauerns-
werten Tatsache zu sehen, daß durch die sozialen Gesetze das natürliche Ver-
trauensverhältnis zwischen Arzt und Kranken bedenklich gestört ist. Dies ist durch
die Einschiebung einer dritten Partei, eben der Krankenkasse oder sonstigen
Versicherungsanstalt, geschehen, der die Aufbringung der Mittel sowohl für
die Bezahlung der Ärzte, als für die anderen Kassenleistungen und das
Krankengeld übertragen ist. Für sie ist nicht jenes Vertrauensverhältnis sondern
die finanzielle Seite der maßgebende Gesichtspunkt. — Daß das Verhältnis
zwischen Arzt und Kranken auf Vertrauen beruht, bedarf keiner Ausführung:
hinzuzusetzen ist nur, daß auch der Arzt' zum Kranken Vertrauen haben muß,
d. h. die Zuversicht, daß der Kranke nicht lügt und dadurch die Sicherheit der
Diagnose beeinträchtigt; auch darf der Kranke mit der Konsultation keine Neben¬
zwecke, z. B. finanzielle, verbinden.
Für den Versicherten ist die Krankheit aber oft eine Erwerbsgelegenheit
geworden; er wünscht sie möglichst auszunutzen, fängt daher an zu übertreiben
und zu lügen. Hieraus entstehen die alle Jersicherungszweige immer mehr mit
Arbeit und Kosten betastenden Betrügereien, denen der Beamtenorganismus mit
seinen Formeln wehrlos gegenübersteht, gegen die auch die Ärzte nicht genügend
gerüstet sind, und zwar nicht zum wenigsten deshalb, weil ihr Vertrauens¬
verhältnis zum Kranken gerade von dem Staat, der ihr Gutachten verlangt,
gestört ist. Der Kranke sieht im Arzte nur den Kontrolleur. Durch dies alles ist
ohne Zweifel die Stellung der Ärzte zu einer fortwährend wachsenden Anzahl
ihrer Kranken bedenklich verschlechtert, darüber können die guten Erfolge auf
medizinischem Gebiete nicht hinwegtäuschen. Diese Verschlechterung ist hervor¬
gerufen ohne ihr Zutun, ohne ihre Verschuldung, durch den Staat, der, ohne
sie zu hören, über sie verfügt hat. Eine letzte unerfreuliche Folge ist noch die
Beanspruchung ärztlicher Hilfe, die den Versicherten ja nichts kostet, bei gering¬
fügigen Erkrankungen, nach denen sonst kein Hahn krähen würde.
Auch den Ärzten sind diese Folgen der neuen Gesetze erst nach längerer
Erfahrung und namentlich unter den: Druck der zunehmenden Ausdehnung der
Versicherungen zum Bewußtsein gekommen. Früher wurden von jungen Ärzten
die Stellen der Kassenärzte als Beginn der Praxis trotz des geringen Honorars
gesucht, um später mit zunehmender Klientel wieder aufgegeben zu werden.
Das hat sich jetzt gründlich geändert. Jetzt muß die Mehrzahl der Ärzte die
Kassenpraxis bis ins späte Alter beibehalten und mancher ist in der Hauptsache
auf sie angewiesen; davon sind auch Spezialisten nicht immer ausgenommen. —
Selbstverständlich haben sie sich gegen diese Verschlechterung nach Kräften zu
wehren versucht. So erhob sich, und zwar schon vor der Gründung des L. W. V.,
der Ruf nach der sog. freien Arztwahl. Diese Forderung hat allgemach den
Rang eines Schlagwortes angenommen und verlangt eine Erklärung, weil von
der gegnerischen Seite ein bedenklicher Mißbrauch damit getrieben wird. Unter
freier Arztwahl verstehen die Ärzte, daß der Kranke die Wahl frei hat unter
den Ärzten, die sich den von der Kasse bekannt gemachten Bedingungen unter¬
werfen. Davon haben sowohl die Kranken wie die Ärzte Vorteil. Die Kranken
können unter einer größeren Zahl von Ärzten eine Wahl treffen als bei dem
System fixierter Kassenärzte; daß sie völlig frei auch internationale Autoritäten
und Spezialisten wählen könnten, wie von feiten der Kassen behauptet wird, trifft
nicht zu, denn solche Leute unterwerfen sich den Bedingungen nicht. Der Kranke
hat mithin die Möglichkeit, unter den gewöhnlichen Ärzten seinen Vertrauens¬
mann 'zu wählen; damit ist wenigstens ein Teil des richtigen Verhältnisses
wieder hergestellt. Der Arzt anderseits ist nicht mehr auf die Anstellung durch
den Kassenvorstand angewiesen; sind die Bedingungen einmal festgestellt, so
genügt für den Arzt die Erklärung der Annahme. Diese Regelung kommt
natürlich nur da zu Raum, wo eine größere Zahl von Ärzten wohnt; auf dem
platten Lande, wo nur vereinzelte Ärzte leben, ist kein Platz für sie. In der
Schweiz ist die freie Arztwahl im Februar 1912 durch Volksabstimmung ein¬
geführt. In Österreich und in England bereiten sich die Ärzte vor, die
durch die sozialen Gesetze bedingten Schädigungen mittelst Zusammenschlusses
abzuwehren. Es zeigen sich bei sozialer Überspannung überall dieselben Folgen.
Es leuchtet ein, daß unter dem System der fixierten Kassenärzte die Freizügigkeit
stark beschränkt ist. Denn der angehende Arzt findet wegen der großen
Ausdehnung der Kassen, die noch gesteigert werden wird, bei jenem System
nirgends freies Feld, alle Kassenpraxis vielmehr in festen Händen. Also muß
der Anfänger entweder Mittel haben, um warten zu können, oder er ist auf
Protektion, Nepotismus usw. angewiesen, d. h. er ist in der Hand der Vor¬
stände. Bei freier Arztwahl hingegen kann er sich den Platz zur Nieder¬
lassung wählen. Damit ist der eigentliche Grund der Feindschaft der
Kafsenvorstände gegen die freie Arztwahl aufgedeckt: sie nimmt ihnen die Herr¬
schaft aus der Hand über die Ärzte, die nicht mehr von ihnen angestellt
werden. Fixierte Kassenärzte sind in der Hand der Vorstände, sind ihre Beamten.
Fast alle Kassen sträubten sich daher aufs äußerste gegen die neue Forderung.
Es wurden zwei Behauptungen dagegen aufgestellt: die Kosten sollten zu stark
wachsen und die Selbstverwaltung sollte an die Ärzte übergehen. Letzteres würde
nur dann richtig sein, wenn die Verwaltung sich auf den ärztlichen Dienst
beschränkte; außer diesem umfaßt sie aber noch viele andere wichtige Dinge, auf
welche die Ärzte keinen Einfluß haben. Gegen eine bedenkliche Steigerung der
Kosten wurden von den Ärzten selbst Vorsichtsmaßregeln vorgeschlagen und auch
mit Erfolg durchgeführt, vor allem Kontrollkommissionen, unter Beteiligung der
Kassen. Diese haben eine erhebliche Steigerung der Kosten verhütet. Es gibt
daher schon jetzt große Bezirke, wo die freie Arztwahl zur Zufriedenheit aller
Parteien arbeitet. Die Vorteile, auch für die Versicherten, liegen auf der Hand,
aber die Versicherten sind heute mundtot und die Kassenrendanten wirtschaften
allein. Unter den nicht sozialdemokratischen Arbeitern fängt es jedoch an zu tagen.
So sagt der Gewerkverein, Zentralorgan des Verbandes deutscher Gewerk¬
vereine (Februar und März 1911): „Daß die organisierte freie Arztwahl die
Selbstverwaltung der Krankenkassen beeinträchtige, ist eine agitatorische Phrase.
Lediglich wenn man Selbstverwaltung und Willkür des Kassenvorstandes auf
einen Nenner bringt, erhält die Phrase einen Schein von Recht." Und weiter:
„Dagegen liegen viele Zeugnisse vor von Kassen, die die freie Arztwahl haben
und nur gut damit fahren." Auch die große Leipziger Ortskrankenkasse, Vor¬
steher Pollender, ist damit zufrieden.
Die Schwierigkeiten der auf diesem Boden erwachsenen Kämpfe, in denen
die vereinzelten Ärzte sehr oft den kürzeren zogen, führten dann, wie schon
gesagt, nach langem Tasten dazu, dasselbe Mittel anzuwenden, das den Gegnern
zum Siege verhalf, nämlich die Organisation. Es kam der von allen anderen
Seiten verdächtigte L. W. V. zustande.
Durch den Einfluß des L. W. V. begannen nun bald die Streitigkeiten mit
den Kassen ein anderes Aussehen anzunehmen. Das leichte Spiel einzelnen
Ärzten gegenüber war aus, die Ärzte hielten ebenso zusammen wie die organi¬
sierten Kassen, und nun kam es bald zu großen Kraftproben, bei denen die
Kassen noch immer günstiger standen, weil es sich bei ihnen nicht um Berufs¬
fragen, oder gar um die bürgerliche Existenz handelte wie bei den Ärzten.
Diese Kämpfe, von denen die größeren auch in die Presse gelangten, sind beiden
Teilen ohne Zweifel schädlich gewesen; aber aus dem Vorstehenden wird ersichtlich
sein, daß die Ärzte durch die Lage der Dinge den gesamten ärztlichen Stand
mit Recht gefährdet sahen. Daß sie sich dem nicht schweigend unterwerfen
wollten, wird ihnen kein billig Denkender verargen.
Darüber kann kein Zweifel sein: der L. W. V. war den sonstigen Beteiligten,
die sich in den Versicherungen nach Wunsch eingerichtet hatten, herzlich un¬
bequem. An Stelle eines durch Uneinigkeit und Konkurrenz zerrissenen Standes
war eine neue, kräftige, einheitlich geleitete Organisation getreten und verlangte
auch ihren Platz an der Sonne. Allgemeines Erstaunen, höchste moralische Ent¬
rüstung, stilles, oft auch recht lautes Zedern über den frechen Spatz I Alle Beord-
nungen, alle Berechnungen schienen zuschanden zu werden; eine neue, ärgerliche
Arbeit stand bevor. Und doch war die Absicht des L. W. V. nur auf friedliche
Arbeit gerichtet; wer seine Berechtigung anerkannte, fand ihn zu sachlicher Er¬
ledigung bereit. Er machte keineswegs die freie Arztwahl zur conclitio sine ama
non, sondern ließ alle alten Verhältnisse, soweit die Beteiligten zufrieden waren,
unberührt und störte keinen Besitz. Wurde freilich der Frieden gebrochen, so
stand er den Ärzten kräftig zur Seite und suchte dabei seine Organisation zur
Geltung zu bringen, unter Umständen die freie Arztwahl durchzusetzen.
Das Verhältnis zu den Berufsgenossenschaften war im ganzen von Anfang
an gut und blieb es. Mit den Invaliden- und Altersversicherungen sind einige
kleinere Zwistigkeiten vorgekommen; von der bureaukratischen Leitung dieser sehr
mächtigen Anstalten, welche den dringenden Wunsch haben, ihre Herrschaft auch
über die anderen Versicherungszweige auszudehnen, geht schon eine starke Strö¬
mung gegen die Ärzte aus. Der Hauptwiderstand wird von den Krankenkassen
geleistet. Sie sind in einigen großen Verbänden vereinigt, von denen der Verband
rheinisch-westfälischer Betriebskrankenkassen, Sitz Essen a. d. Ruhr, Leiter Dr. Hall¬
bach, und der Verband deutscher Ortskrankenkassen genannt sein mögen, in dem
Herr Fräßdorf in Dresden eine Hauptrolle spielt. Diese starken Körper drängten
nun mit Macht zur Gegenwehr. Sie versuchten, eine Vereinigung unter den
fixierten Kassenärzten in entgegengesetzter Richtung zu veranlassen, hatten damit
aber nur minimalen Erfolg.
In den Entwurf der R. V. O., der 1910 vorgelegt wurde, wurden in
dem Abschnitt, der von dem Verhältnis der Ärzte zu den Versicherungsträgern
handelt, nicht weniger als fünfundzwanzig Paragraphen eingefügt, welche be¬
zweckten, die jetzt einigen Ärzte in zwei Lager zu trennen und durch diese Zer¬
splitterung der geplanten Behördenorganisation zu unterwerfen. Zu dem Zweck sollte
u. a. die Anrufung der ärztlichen Ehrengerichte in Versicherungssachen verboten
werden. Diese Instanzen haben auch ehrenwörtliche Verpflichtungen zu kon¬
trollieren. Durch diese gerade suchte der L. W. V. bei nachgesuchter Hilfe in
Streitfällen zu wirken. Dieses Mittel sollte nun den Ärzten durch eine Bestimmung
des Entwurfs genommen werden. Aber es hat sich auch bei dieser Gelegenheit
gezeigt, wie schwer es ist, in die ärztliche Praxis mit Gesetzen eingreifen zu
wollen. Bei Beratung dieser langen und komplizierten Paragraphen wurde
weitgehende Unkenntnis der bestehenden Verhältnissen entdeckt. Der Entwurf
ignorierte viele die Beteiligten befriedigende Kontrakte, welche durch die geplante
Neuerung gefährdet, ja zerstört worden wären. Am Ende der langen Beratungen
wußte Staatssekretär Delbrück die Unbrauchbarst des Abschnittes zugestehen.
Nach manchen weiteren Versuchen hat dann die Kommisston eine Fassung
genehmigt, die von allen Vorschriften nichts übrig läßt, als die eines in
leben Einzelfall zu vereinbarenden schriftlichen Kontrakts zwischen den Ärzten
und den Verstchcrungsträgern; nur für den Fall gänzlichen Versagens der Ärzte
ist eine Bestimmung über den Ersatz eingefügt, die den Charakter der Notverord¬
nung an der Stirn trägt und nach Ansicht von Kennern schwere Gefahren für
Kassen wie Kranke befürchten läßt. Dabei muß gesagt werden, daß die Ärzte
nie gedroht haben, Kranken ihre Hilfe zu verweigern; sie machen nur einen
Unterschied zwischen Kranken und Krankenkassen, und halten beides für grund¬
verschiedene Dinge. — Gar sehr muß ferner auffallen, mit welch' verschiedenem
Maße die R. V. O. mißt. Auch die Verhältnisse der Apotheker zu den Kassen
sind darin geordnet. Das geschieht in einem einzigen, kurzen und klaren
Paragraphen (375), der den Apothekern alles das gibt, was den Ärzten ent¬
zogen werden soll, nämlich die freie Wahl durch den Kranken. Die Kassen
sind damit nicht zufrieden.
Ende 1911 ist nun die neue R. V. O. verabschiedet und wird binnen kurzem ins
Leben treten. Die zahlreichen Reibungsflächen zwischen den sozialen Instituten
und den Ärzten bleiben bestehen. Die Ärzte werden dementsprechend ihre Orga¬
nisation noch befestigen, sie werden sich nicht widerstandslos den Kassengewal.
ligen unterwerfen, deren Machtbewußtsein durch den Beistand der Beamtenschaft
sicher nicht vermindert ist. Wie sehr die Benachteiligung der Ärzte durch die
Ausführung der sozialen Gesetze empfunden wird, beweist auch die Anteilnahme
der gelehrten Mediziner. Fast alle nicht preußischen Fakultäten und einige siebzig
preußische Professoren haben im Sommer 1910 eine gemeinsame Denkschrift an
den Bundesrat gerichtet, in der sie auf die geschilderten bedenklichen Schäden
aufmerksam machen. Falls der Entwurf zur Annahme käme, würde — heißt
es dort — „der deutsche Ärztestand in der Ausübung seiner Tätigkeit, in seinem
Ansehen und in seiner materiellen Existenz auf das Schwerste geschädigt werden."
Außerdem haben sechs deutsche Ärzte von internationalem Ruf unter Führung
des greisen Erb eine Audienz beim Reichskanzler nachgesucht und sind auch „wohl¬
wollend" aufgenommen worden. Bemerkbare Erfolge hat beides nicht gehabt.
Durch die vom Reichstag noch kurz vor Torschluß angenommene Erhöhung
der Versicherungsgrenze auf 2500 Mark sind sämtliche Kontrakte der Kassen mit
Ärzten auf einen Termin, nämlich den der Einführung der R. V. O. hinfällig
geworden, weil sie die Grenze von 2000 Mark zur Voraussetzung haben.
Damit werden alle jetzt friedlichen Verhältnisse gestört und Streitigkeiten auf
der ganzen Linie heraufbeschworen. Früher ist von den Gegnern oft, wenn
auch grundlos, behauptet worden, die Ärzte drohten mit Generalstreik; jetzt
hat der Reichstag durch einen schlecht überlegten Beschluß eine solche Mög¬
lichkeit geschaffen.
Zu fürchten ist nunmehr, daß der Kampf sich ausbreitet, daß die Jnva-
lidenanstalten und auch die Berufsgenossenschaften, mit denen jetzt Frieden
besteht, hineingezogen werden. Denn der Einfluß der sich neubildenden Beamten-
organisation wird Unterwerfung verlangen. Diese dauernde Unsicherheit wird
auch den Ärzten Schaden tun, anderseits scheint jedoch auch die ruhige Ent¬
wicklung der sozialen Versicherung gefährdet; die Einfügung der bereits erwähnten
Bestimmungen über den Fall des Versagens der Ärzte läßt Böses erwarten.
Es werden in der Presse auch bereits Rufe nach Gegenmaßregeln laut: die
Freizügigkeit, die in Preußen seit 1815 besteht, soll wieder aufgehoben, die
Verweigerung der Hilfe soll bestraft werden, so wie es früher war, ohne daß
jemals ein Erfolg zu verzeichnen gewesen wäre, und dergleichen mehr. — Der augen¬
blickliche Stand ist nun nicht etwa der, daß im ganzen Vaterlande Streit zwischen
beiden Teilen wäre; im Gegenteil, die Parteien leben meist nebeneinander fort
wie früher und der Streit beschränkt sich auf eine Reihe von Einzelfällen; in
sehr großen Bezirken, z. B. bei den Knappschaften und in den meisten Staats¬
betrieben, besteht das System der fixierten Ärzte unangefochten weiter. Aber das
Gefühl der Unsicherheit, der Unzufriedenheit mit den vom Gesetz veranlaßten
Zuständen ist allgemein verbreitet; nun fürchtet man eine abermalige Ver¬
schärfung durch die neue R. V. O., welche zufolge der bedeutenden Vergrößerung
des Kreises der Versicherten in die notdürftig geflickten Zustände neue Unruhe,
neuen Streit zu bringen und daher eine ruhige Lösung der strittigen Fragen
zu gefährden droht. Schon jetzt kommt es vor, daß Ärzte wegen Ver-
Weigerung weiterer, zur Rentenerhebung nötiger Bescheinigungen laeues angegriffen
werden, daß aus demselben Grunde Boykott geübt und der Arzt auf das Pflaster
gesetzt wird; oft bitten Ärzte, ihr Gutachten den Versicherten nicht mitzuteilen,
um sie nicht deren Rache auszusetzen. Das sind auch Folgen der sozialen Gesetze.
Ein kurzer Blick möge noch auf die Zukunft geworfen werden. Wie lange
nach dem Einführungstermin der R. V. O. die zu fürchtende Periode der Kraft¬
proben dauern wird, weiß niemand. Unterliegen die Ärzte nach Zerstörung
ihrer Organisation, so bieten sich vornehmlich zwei Aussichten, die auch schon
in der Fachpresse genannt werden. Die eine besteht in der Anstellung der Ärzte
als Beamte; Ansätze dazu sind schon mehrfach vorhanden, die Negierung wird
sie wahrscheinlich begünstigen, die Kassenverbände suchen schon jetzt Anwärter
in Form von Kontrollärzten für die Zukunft zu werben. So war es vor
1866 in Nassau und Rheinhessen, in.weiten Teilen Rußlands ist es noch heute
so; es kann also angehen, daß der Arzt wieder einmal bei uns mit dem
„Lerchenspieß" an der Hüfte über Land wandert und vier Treppen hoch klettert.
Ob damit die Kranken zufrieden sind, ist eine andere Frage, geht dann aber
den Arzt wenig mehr an. — Der zweite Weg führt zur Sozialdemokratie.
Wenn die jetzige bedenkliche Lage von vielen Ärzten auch als Proletarisierung
empfunden wird, so sind doch bis heute unter ihnen nur ausnahmsweise
Sozialdemokraten; Utopien finden bei realistisch denkenden Leuten — und
das sind die meisten Ärzte — keinen rechten Boden. Aber es ist leicht möglich,
daß viele Ärzte meinen werden, sie würden bei den Sozialdemokraten mehr
Verständnis für ihre Bedürfnisse und mehr Entgegenkommen finden als bei
der Bureaukratie.
er Mann, über dessen Gruft sich nun die Frühlingsnebel des schwe¬
dischen Fjords niedersenken wie herbduftende Leichentücher, steht wie
ein Symbol inmitten der wirren Geistesziele unserer Zeit — ein-
Suchender und Vorläufer auf unerschlossenen Pfaden, die sein
beflügelter Fuß rascher als seine Zeitgenossen durchmessen hat bis
ans Ende — die unübersteigbare Schranke, hinter der der Diesseitsmensch das
Nichts vermutet. Dem anderen, der die leise Stimme in der tiefsten Brust noch
vernimmt und versteht, erscheint die Schranke des Geheimnisses wohl anderer
Gestalt: sie zeigt Umriß und Dimensionen einer gewaltigen Pforte, uns ver¬
schlossen, solange der Leib uns an die Erde und ihre engen Gesetze bindet,
Oster wohl als andere Sterbliche ist der Tote, dem sich jenseits nun die
Unendlichkeit geöffnet hat, der unüberschreitbaren Schwelle genaht. Er hat sich
tief geneigt, um durch die Spalten zu spähen, hat sich hoch aufgerichtet, um
an dem ehernen Gefüge zu rütteln und ist dann mutlos umgekehrt. Eine kurze
Spanne in Nacht und Verzweiflung, dann erhob sich die nimmermüde Seele
und suchte — einen neuen Weg. Weil aber Strindberg einer von den ganz
Großen war, hatte er immer eine Gefolgschaft, er hatte sie als Künstler wie
als Sozialist, als Gottesleugner wie als Wahrheitssucher, als Verneiner der
Wissenschaft wie als Mystiker, der aus den verachteten Traditionen des Mittel¬
alters eine neue Philosophie, eine neue Naturwissenschaft aufzubauen strebt.
Aber der Fittich des Geistes, der ihn so rasch über gewundene Pfade dcchin-
trug, war den Nachfolgenden versagt. So ging es zu, daß er ihnen oft schon
zu Beginn des Weges, mit seiner entmutigenden Botschaft zurückkehrend, ent¬
gegentrat. Sie aber schalten ihn als einen irreführender Wegsucher und haßten
ihn dasür, denn sie wußten nicht, daß er in späteren Stadien seiner Entwicklung
eine Richtung einschlagen konnte, die manch augenblicklich Enttäuschter wegsam
finden würde für seinen Fuß.
Eine Vielheit der Temperamente, die schwer übersehbare Zerklüftung der
modernen Lebensanschauungen findet sich bei Strindberg eingeschlossen in eines
einzelnen Hirn und Herz. Hieraus erklärt sich der Widerspruch der ver¬
schiedenen Meinungen über ihn. Hieraus erklärt sich auch die Unschlüssigkeit
des vorurteilsfreien Beobachters, der unwiderstehlich in den Bann dieses Feuer¬
kopfes gezwungen, seine Kometenbahnen berechnen will und sich immer wieder
zweifelnd fragt, ob er ihm Freund oder Feind ist. Ein Geist des Lichtes, der
die Tiefen der Verzweiflung und Sünde durchwandernd, uns den Weg der
Läuterung weisen soll oder ein Dämon der Tiefe, der sich höher und höher
schwingt, den blitzebergenden Wolken entgegen?
Hätten wir nur Strindbergs Dichtungen und seine philosophischen Schriften,
so wäre die Antwort noch sehr viel schwieriger, als sie es infolge der Viel¬
gestalt seines Wesens im Wechsel der einzelnen Perioden seiner Entwicklung ist.
Zu unvermittelt scheint er seine Stellung zu den geistigen Gesichtspunkten, zu
den bewegenden Mächten der modernen Zeitgeschichte zu ändern. Aber die
fünf Bände autobiographischer Schriften geben die Übergänge. Sie lösen so
manches Rätsel, um doch das größte, unlösbare in schärfere Beleuchtung zu
rücken, nämlich die merkwürdige, in diesem Grade wohl einzigartige Spaltung
der Persönlichkeit in ein schöpferisches und ein analytisches Ich. Nur jenes
scheint sich im brausenden Strom des Lebens zu bewegen, glücksuchend in der
Liebe, im dichterischen Schaffen, harmonieerstrebend im grübelnden Kampf mit
der Wissenschaft, mit den Religionen; von all dem unberührt steht das andere
Ich daneben, ein unerbittlicher Beobachter, deß Auge sich nie im Schlummer
schließt. Nicht das stolze Ahnen des werdenden Dichters von künftigem Ruhm,
nicht die ehrfurchtsvollen Regungen der ersten jungen Liebe, noch die Ekstase der
Leidenschaft sind vor der zersetzenden Analyse dieser Selbstbeobachtung sicher.
Sie zerrt unbarmherzig an den Einschlagsfäden dieses wunderlichen Lebens¬
gewebes, um zu zeigen, wie sich die Kämpfe um eine Weltanschauung vor¬
bereiteten im unbewußten Fühlen frühester Jugendjahre und achtet nicht der
bitteren Schmerzen über Erinnerungen, die nicht sterben wollen. Das analytische
Ich sieht hohnlächelnd der Wandlung des Gottsuchers in den Atheisten zu, und
sein Kommentar begleitet die Gebetsinbrunst des Vaters, der heilende Hände
auf feines Kindes siechen Leib legt. Als endlich für eine Zeit die Kraft dieses
Geistes gebrochen ist und er mit Augen, die der Wahnsinn verdunkelt oder
hellsichtig gemacht hat, die Dämonen des Abgrunds um sich versammelt sieht,
ist der unzertrennliche Begleiter dennoch dort und zeichnet mit glühendem
Griffel die quälenden Erlebnisse des „Inferno" auf.
Hier liegt der tiefste Punkt auf dem langen Leidenswege eines Geistes,
der nicht vergessen kann. Wie getreulich bewahrt dies erbarmungslose Gedächtnis
jede geringfügige Kränkung oder Zurücksetzung während des Knabenalters, wie
intensiv läßt uns die glänzende Darstellungskunst des auf der Höhe der Reife
stehenden Schriftstellers jenes sich in Zuckungen vollziehende Wachstum mit
erleben. Der bittere Titel des ersten Teils der Autobiographie „Der Sohn
einer Magd" klingt wie ein Motto: die Enge des Elternhauses, dessen Wohl¬
stand gesunken war, um sich erst mählich wieder zu heben, die Verständnis-
losigkeit der dem dienenden Stande entsprossenen Mutter, die zur Erziehung
eines so gearteten Knaben ganz außerstande war und ihm doch mit ihrem vor¬
zeitigen Tode noch größeres Leid zufügte, denn die Wiederverheiratung des
Vaters raubt Strindberg die Zuflucht ins Elternhaus, das in ihm, der fo oft
vergebliche Anläufe zu einer seiner Individualität entsprechenden Lebensstellung
macht, mehr und mehr den verlorenen Sohn sieht. Er ist ganz führerlos, ganz
auf die eigene Kraft gestellt, aber, nachdem er einmal seinen eigentlichen Beruf
gefunden, seiner selbst so sicher, daß keine ablehnende Kritik ihm den Glauben
an den Wert seines ersten bedeutenden Werks erschüttern kann. Im zweiten
Teil der Autobiographie „Die Entwicklung einer Seele" hat Strindberg die
Entstehungsgeschichte dieses Prosadramas erzählt, eine Tragödie des Glaubens
und des Zweifels, in deren Mittelpunkt einer der Träger der schwedischen
Reformation, „Meister Olaf" steht. Den erstrebten Ruhm brachte ihm das Stück
nicht, wie er auch daran feilte und arbeitete; vielleicht aber wohl eine kleine
Zeit des Ausruhens, die gleichwohl bald von einer neuen Krisis abgelöst wurde.
In das Leben des Mannes, der sich seinen äußeren Verhältnissen gemäß,
den unteren Volksklassen zurechnet, tritt zum erstenmal das aristokratische Weib.
Sie achtet ihn vertrauten Umgangs würdig und ihre vornehmen Formen füllen
seine Seele mit reinster Schönheitssreude, denn da sie als junge Mutter
Trägerin der höchsten weiblichen Würde ist, scheint sie seinem Begehren entrückt
7" so lange, bis sie selbst den Bann bricht und sich mit Liebeslockungen zu
ihm neigt. „Die Beichte eines Toren" verzeichnet die unsauberen Einzelheiten
der Scheidung und die Geschichte dieser beispiellos unglücklichen Ehe. Ihre
Vorgeschichte aber steht im ersten Teil der Biographie: Nur ein Jüngling, der
nie den Einfluß einer feinfühligen Frau kennen gelernt hatte, konnte sich über
das wahre Wesen der Erwählten täuschen. Er nahm die sinnliche Schönheit
als Manifestation der inneren und erwartete, als sich schon zu Beginn des
Verhältnisses vieles offenbarte, was ganz und gar von der Erde war, die
höchste Veredelung dieser Frauenpsyche von der Mütterlichkeit. Aber sie — wie
ihre Nachfolgerinnen — war nicht geschaffen, das Ideal eines von weiblicher
Vollkommenheit träumenden Dichters zu materialisieren — seinem fanatischen
„Alles oder Nichts!" auch nur entfernt Genüge zu tun. So hat denn eins
das andere tiefer und tiefer hinabgezogen in eine Hölle von Seelenqual. „Ich
mußte meinen Leichnam waschen, bevor er für immer in den Sarg gelegt
wurde," schreibt Strindberg im Nachwort. Bekanntlich lag das in französischer
Sprache geschriebene Manuskript fünf Jahre versiegelt bei einem Verwandten,
ehe sich der Verfasser zur Herausgabe entschloß, „um unerhörten Angriffen
entgegenzutreten", wie er sagt. Wie gewaltsam aber die Krise war, die dem
endlichen Entschluß zur Trennung folgte, lehren die Bekenntnisse des „Inferno",
eine Höllenwanderung grausiger wie jene des Florentiners, weil hier ein gebrochener
Geist wachen Auges in den Abgrund menschlichen Fühlens steigt und mit den
Schemen des Wahnsinns Zwiesprache hält.
In das erste Jahr von Strindbergs Ehe fällt das Erscheinen des Werks,
das ihn mit einem Schlage zum berühmten Manne machte, des Zeitromans
„Das rote Zimmer". Es ist eine unbarmherzige Satire auf die Korruption in
Beamtenschaft und Presse, aus der damals, wie Strindberg selbst berichtet, noch
mehr Porträts herausgefunden wurden, als wirklich darinnen waren. Die scharf
umrissene Charakterzeichnung ist viel bewundert worden, doch haftet der Roman,
gleich den späteren ähnlichen Genres, zu sehr am Lokalen, um für den diesen
Verhältnissen Fernstehenden von bleibendem Interesse zu sein.
Inzwischen aber wächst, aus dem Gift der leidvollen Strindbergschen Ehe
und dem Zynismus unlauterer Verhältnisse in jüngeren Jahren geboren, der
Frauentypus heran, dessen dämonisches Wirken den Knoten Schürze in manchem
Drama der naturalistischen Periode und später noch, bis ans Ende: Das Weib
als Verderberin, das flüchtige Züge der Weichheit und Güte nur als lockenden
Schmuck trägt, nicht aus innerem Bedürfnis, Liebe und Leben zu spenden.
Vielmehr löst sich all ihr Trachten in eine Gier nach Macht, zu deren Befriedigung
ihr jedes, auch das niedrigste Mittel, recht ist. Verwandte Züge scheinen von
diesen so gearteten Geschöpfen zu „Hedda Gabler" hinüber zu leiten, nur daß
Ibsen das Abnorme des Zerstörungstriebes immer noch menschlich erklären will.
Frauen hingegen wie die Laura im „Vater" oder die Mutter im „Scheiter¬
haufen" erscheinen wie Verkörperungen des absolut Bösen. Etwas Gespenster¬
haftes umschwebt sie. Sie scheinen nicht von dieser Welt, vielmehr als Botinnen
des Abgrunds vom Fürsten der Finsternis entsandt, zu martern und zu zer->
stören. Oft umkleidet sie diese geheimnisvolle Mission mit düsterer Hoheit
(„Nach Damaskus"); dann nähern sie sich dem Erinnyentypus der Antike. Aber
es fehlt sast überall eine befriedigende logische Begründung ihrer Wesensart
und ihres Handelns. Laura im „Vater" treibt den Gatten in Wahnsinn und
Tod, nur um über ihrer Tochter Erziehung verfügen zu können. Die Genußgier
der Mutter im „Scheiterhaufen" wird zwar mehrfach von den Mitspielern
besprochen, aber nicht lebendig vor unseren Augen charakterisiert. Der Haß des
Fanatikers ist in diese künstlerischen Formen gegossen, der durch die um jene
Zeit in Schweden lebhaft einsetzende Frauenbewegung noch unmäßig gereizt
war. Was dort als Programm aufgestellt wurde, widersprach so schneidend
seinen eigenen Erlebnissen; aus ihnen hat der sonst so gerechte Mann niemals
loslösen können, was eigenes Verschulden und Torheit hineingewoben hatte. Die
Wunde war zu tief, als daß sie je hätte heilen können.
Sonst aber vollzieht sich mit dem Näherrücken der Jahrhundertwende bei
Strindberg ein langsames Genesen, das sich schon in den biographischen Schriften
vorbereitet. Da hemmt der Wanderer zuweilen den Schritt, um den zurück¬
gelegten Weg zu überblicken und sich von seinem jeweiligen Standort zu
orientieren: „Hatte er nun sein Ich gefunden während dieser langen, trüben
Wanderung im Schattenreich der Erinnerungen? Nein! zu antworten hätte ihm
früher Verlegenheit bereitet, denn ein persönlicher Gott verlangt eine verant¬
wortliche Persönlichkeit; jetzt aber kümmert ihn das weniger, da er weiß, daß
das Ich die sehr gebrechliche Form einer kleinen in Bewegung befindlichen
Quantität Kraft ist, oder Materie, die sich unter den und den gegebenen Ver¬
hältnissen so und so entwickelt. Aber was hatte er damit gewonnen, da das
ihn ebensowenig anging wie die Fragen, ob es einen Gott gibt, ob die Sterne
leuchtende Punkte sind? Fand er nicht direkt, was er suchte, so entdeckte er auf
dem Wege andere unerwartete Dinge, die er vielleicht nicht gewünscht, auf die
ihn aber seine blinde Leidenschaft, den wahren Sachverhalt zu suchen, geführt hatte.
Aber das Ergebnis? fragt man. Wo liegt die Wahrheit, die er suchte? Die liegt
hier und dort in den tausend gedruckten Seiten; such sie auf, sammle sie und sieh
nach, ob sie zusammengefaßt werden kann; sieh nach, ob sie länger gültig ist als
ein Jahr, fünf Jahre____ Und vergiß nicht, daß die Wahrheit deshalb nicht zu
finden ist, weil sie sich, wie alles, in einer beständigen Entwicklung befindet."
„In einer beständigen Entwicklung!" Sollte diese im kleinen Menschen¬
leben wie im All wirklich nur das Spiel blinder Kräfte sein? Das war ein
Standpunkt, auf dem der unerschrockene Wahrheitsucher nicht lange beharren
konnte. Am Anfang der naturwissenschaftlichen Essays „Sylva S^lvarum",
deren Vorwort noch den Stempel der schweren Nervenkrankheit trägt, erzählt
Strindberg, wie ihm die vorübergehende Erkenntnis, die Wissenschaft habe alle
Rätsel des Universums gelöst, die tiefste Verzweiflung gebracht habe. Es gab
für ihn nichts mehr in der Welt zu tun, und er beschloß, sich mit Blausäure-
dämpfen zu vergiften. Aber als er sich über die Retorte beugte, stieg mit dem
süßherben Duft eine Kindheitserinnerung auf: ein blühender Mandelbaum und
die Stimme einer alten Frau, die da sagten „Aber glaub doch nicht daran,
Kind!" — Das war ihm wie die Osterbotschaft Fausts.
Im ^aräin ac3 plante? zu Paris hat er dann manche Stunde geträumt
oder geforscht, denn in seinem Forschen verleugnete sich der Dichter nie; er
beobachtete scharf und verglich, da sein außergewöhnliches Gedächtnis früher
Gesehenes bis in die kleinsten Einzelheiten festhielt. Ob er nun der Farbenskala
in Stengel, Blatt und Blüte der Cyclamen folgte oder in der Gestaltung der
Eisblumen die formgebenden Triebe des Wassers suchte, immer reichte sein letztes
Ziel weit über wissenschaftliches Sichbescheideu hinaus! Er wollte die Urenergie
im Leben der Elemente finden, und wo mathematisches Rechnen und analytisches
Beobachten versagten, ließ er sich von der Intuition tragen, in der Botanik wie
in der Chemie, wo er schließlich zu den Geheimschriften der Alchymisten griff,
um die verschütteten Pfade wieder aufzugraben, die am Ende vielleicht doch ins
Freie führen mochten.
Bekanntlich ist ja die wissenschaftliche Lösung manches alchymistischen Problems
inzwischen gelungen. Es sei nur an die Herstellung der künstlichen Edelsteine
erinnert. Strindberg aber eignete sich aus der Geheimwissenschaft des Mittelalters
viel mehr an: er übernahm die Dentungsversuche der Weltgeschicke im Sinne
der Astrologen und so schafft er denn als Fünfziger neben ergreifenden, an die
alten Mysterienspiele erinnernden Dramen („Advent", „Ostern") jene wunder¬
vollen Geschichtsdichtungcn, die er „schwedische und deutsche Historien" genannt
hat. Die „Folkungersaga" und „Gustav Wasa", der Nationalheld der Dalekarlen,
beginnen den Reigen. Ihnen folgen der wahnsinnige „Erik XIV." und
„Ehristine", die für ein Weib Strindbergscher Schöpfung merkwürdig sympathisch
ist, wiewohl ihr der Dichter eine historisch verbürgte Rehabilitierung versagt hat:
daß nämlich der nachmalige König, ihr Vetter, sie bis zuletzt, als sie ihr Land
verließ, zur Gemahlin begehrte, trotz aller ihrer Sünden. Mit „Gustav Adolf",
der in diesem Sommer nach Reinhardtschem Vorbild zu Stockholm im Zirkus
aufgeführt werden soll, schlüpft Schwedens Geschichte auf deutschen Boden hinüber.
Diese Aufführung wird lehren, wie sich eine szenische Darstellung mit den
panoramengleich vorüberziehenden Bildern jener stürmischen Zeit abfinden wird.
Eines ist Strindberg jedenfalls geglückt: die Gestalt des Königs als Mittelpunkt
festzuhalten — jenes Wasa, der in bizarren Launen und phantastischen Schwächen
das Erbe des kranken Bluts in sich trägt; unendlich liebenswürdig, doch kaum
ein Held des Glaubens. Heroenkult ist Striudbergs Sache nicht. Vielmehr will
er schildern, welch schwache Schultern Jahrhunderte hindurch das Schicksal eines
edlen Volkes trugen. Die Reihe der schwedischen Königsdramen endet mit
„Gustav III.", doch gehört in diese» Kreis auch das Lutherdrama „Die
Nachtigall von Wittenberg", in dem außer Luther auch Sickingen, Hütten,
Staupitz, Karlstadt und Hans Sachs auftreten. Als Schicksalskünder, an
Dimensionen alle anderen überragend, wird Doktor Faust eingeführt, und man
fühlt sehr wohl, wie dem Dichter beim Schaffen dieser Phantasiegestalt leichter
ums Herz war, als bei den anderen handelnden Personen. Ihr Wesen über¬
mittelt dem Deutschen eine gewaltige Fülle von Ouellenmaterial, dem der Aus¬
länder auch bei seinem außerordentlichen Fleiß kaum gewachsen war; im Faust
des Lutherdramas hingegen schuf Strindberg den Genius des Volkes, das er
liebte und liebend zu verstehen suchte.
Die Deutung der Weltgeschichte in diesen „Historien" ergänzt ein Überblick
der Richtlinien in den religiösen Geschicken der Erde: er ordnet das Christentum
ein als eine Offenbarungsreligion unter den übrigen, die sich in ihren Dogmen
vom höchsten Wesen und der Unsterblichkeit als gleichfalls göttlichen Ursprungs
erweisen. Vieles in den „Historischen Miniaturen" ist von größter dramatischer
Gewalt, anderes nur leicht angedeutet — gleich den Skizzen der alternden Großen
in der bildenden Kunst, die in flüchtigen Zügen ihren Gedanken wiedergaben
und die Ausführung, zu denen der sieche Leib die Kraft nicht mehr hergab,
dem nachschaffenden Geiste des verständnisvollen Beschauers überließen.
Zuzeiten aber wird es wieder dunkler um den Dichter. Die vor den
„Historischen Miniaturen" erschienenen „Schwarzen Fahnen" bringen wiederum
eine unerquickliche Abrechnung mit einstigen Freunden und Anhängern. Strind¬
berg sagt darüber: „Was ich nicht begreife, ist dies: ob man das Elend ver¬
bergen und den Menschen schmeicheln soll. Ich will heiter und schön schreiben,
darf aber nicht, kann nicht. Fasse es als eine schreckliche Pflicht auf, wahr zu
fein, und das Leben ist unbeschreiblich häßlich." Theosophische Betrachtungen
lösen gegen das Ende dieses Romans die persönlichen Bitterkeiten, die in
Stockholm wiederum das peinlichste Aufsehen erregten. Aber allerlei Spuk¬
gestalten bedrängen ihn auch in seinem dramatischen Schaffen und verkörpern
sich in einigen Gestalten der „Kammerspiele", die schon deutliche Spuren des-
Alterns tragen. Seine letzten Ansichten über Welt und Leben hat Strindberg
in den „Blaubüchern" gegeben. Sie sind Swedenborg gewidmet, „ein Kranz
aufs Grab bei der Heimkehr nach hundertjähriger Ruhe in fremder Erde,"
und der Verfasser nennt sie die „Synthese seines Lebens". Diese letzte Lese
aber zeigt, wie sich auch in Strindbergs Leben das unbewußte Fühlen der
frühen Jugend mit der Erkenntnis des Alters begegnen. Es ist der inbrünstige
Erlösungsglaube des Knaben, der dem Alternden die Kraft gibt, sich wunschlos
an fremdem Glücke zu freuen. Auch die Erleichterung, manches Schwere als
Sühne für vergessene Schuld hinzunehmen, fließt aus dieser Quelle — ein
Mystischer Strom, so stark und warm und tief, daß im Vergleich mit ihm eitel
erscheint, was dem ringenden Verstände in vergangenen Lebensjahren als köstlich
Gut von Menschenwitz und -fleiß entgegentrat. Die letzte Seite des zweiten
Blaubuches zieht das Fazit: Ein Prophet müßte geboren werden, der dem
Menschen den einfachen Sinn des Lebens in wenig Worten sagt, der doch
schon so gut gesagt ist: „Fürchte Gott und halte seine Gebote," oder: „Bete
und arbeite!"
Was weiter mit dem blinden Jörg und seinem Kind geschah, das steht
noch heute in den Nürnberger Ratserlässen zu lesen, die aus jenen bewegten
Tagen auf uns gekommen sind. Es war dem Jörg geglückt, ins Augustiner¬
kloster zu entkommen, noch ehe die Häscher, die es vielleicht nicht allzu eilig
hatten, sich seiner bemächtigen konnten. Und nun geschah das Unerwartete,
daß der hohe Nürnberger Rat, dem es ansonst an geheiligter Strenge nicht
sehlte, in diesem Fall des Jörg eine wunderliche Lauheit und Besinnlichkeit zur
Schau trug.
Im alten Ratsbuch steht zu lesen vom Tage (Zuinta post Innocentium:
„Zu erkundigen, wie die sach zwischen dem plindten Jörg und seinem
Haußwirt Hermann Unfug, stainmetzen, den er tödtlich verwundt hat,
ergangen sey.
Und darneben vleiß thun lassen, ob man Jörgen mög zu Handen pringen,
den knechten darumb ein trinkgeld versprechen."
Das gab zu denken. Es sollte den Häschern ein Trinkgeld versprochen
werden, und diese sollten sehen, ob sie des Jörgen habhaft würden. Diese
Milde erregte Verwunderung. Wir aber ahnen, wessen Einfluß hier am Werke
war. Hatten doch Herr Albrecht Dürer und Herr Willibald Pirkheimer am
Tage nach der traurigen Nacht im Rathaus vorgesprochen und ein vertrauliches
Wort mit dem Bürgermeister und den Schöffen gewechselt.
So verschwieg man den Jörg eine Weile im Kloster und ließ die Gerechtigkeit
sich besinnen. Aber selbst den friedlichen Augustinern schien die Heftigkeit ihres
Schützlings nicht ungefährlich, und es scheint, daß sie selbst die Häscher holen
ließen, damit der Jörg zum mindesten entwaffnet werde, denn wir lesen vom
Tage 8exw viZiliÄ Lircumeissionis ctomini: „dem plindten Jörgen Graff im
augustinercloster sein wehr nehmen lassen."
Doch wenn auch alle Welt zur Milde gestimmt war und eher an einen
unglücklichen Zufall als an die absichtliche Tötung des Meisters Unfug glaubte,
womit ja auch der Wahrheit zu Recht geschah, so war es nun die Witwe des
Erschlagenen, die ruhelos nach Rache schrie und den Jörg dem peinlichen Verhör
im Nürnberger Lochgefängnis ausgeliefert wissen wollte.
Indessen aber floh der Blinde, als das Asylrecht der Brüder Augustiner
abgelaufen war, in einer stürmisch dunklen Nacht zu den Karthäusermönchen,
die ihm nicht minder gastlichen Schutz gewährten. Dort sang der Jörg den
Vätern zum Dank gar manches geistliche Reuelied und wohl auch hin und wider
ein Sprüchlein voll lieblich prickelnder Wirklichkeit, so daß sich die würdige
Brüderschaft beim hohen Rat für ihn verwandte, der ihn wahrhaftig für ein
volles Jahr von aller Verfolgung lossprach.
So ward ihm reichlich Lohn für seine Kunst und genügend Verzeihung für
seine wilde Menschlichkeit.--
Es war am Tage als ihm die Botschaft seiner Sicherung überbracht wurde,
da ließ sich Jörg in aller Eile aus dem Kloster führen und hastete den Sehn¬
suchtsweg zu seinem Kind Felicitas.
Er wußte wohl, was mit Felicitas seit jener Unglücksnacht sich zugetragen,
denn sie hatte ihm Boten ins Kloster gesandt, die ihm alles berichteten.
Felicitas war in jener Nacht, nachdem sie den Vater ins Kloster gerettet
hatte, in Eile nach Hause zurückgekehrt, in bitterer Angst vor dem Weib des
Unfug und seinen Leuten.
Doch eh' sie noch zum Tor gekommen, vertrat ihr einer im Dunkel den
Weg und sagte, demütig bittend: „Ihr dürft nun nit nach Haus, Felicitas.
Man ist Euch dort nit gut gesinnt."
Da erkannte die Erschrockene den jungen Scherlin, der ihr hastig erzählte,
er habe sie hier erwartet und wolle sie nun zu seiner Mutter führen, die sie
schützen und pflegen werde wie ihr eigen Kind.
Felicitas schwieg eine Weile betroffen still. Wie gut und hilfreich sprach
dieser Mensch zu ihr, an den sie nie ein freundliches Wort verschwendet hatte.
Inmitten ihrer Not und Schmerzensmüdigkeit erfüllte sie die Hilfsbereitschaft des
guten Jungen mit wunderlicher Rührung.
„So will ich mit Euch geh'n, denn Ihr meint es gut," sagte sie dann
und ließ sich von ihm führen. Sie war unsäglich müde und wäre jedermann
gefolgt, der ihr ein Stündchen Ruhe verheißen hätte.
So kam Felicitas in das Haus der Witwe Scherlin, die wohl wußte, wie
es ums Herz ihres Jungen stand. Sie nahm daher die schöne, seltsamfeine
Jungfrau mit zärtlich scheuer Sorgfalt bei sich auf, als wäre sie ein flüchtiges
Prinzeßlein und nicht eines argverfemten Bänkelsängers Kind.
Felicitas aber lag bereits am nächsten Morgen in argen Fieberträumen
darnieder, und es ward von Tag zu Tag immer schlimmer mit ihr.
Der Scherlin saß an ihrem Lager und streichelte ihr die heißen Hände und
wollte mit dem Schicksal ringen um sein Glück.
Im Fieber sprach Felicitas von wunderlichen Dingen. Sie meinte, sie sei
die Jungfrau Maria auf himmlischem Thron und gebot den Engeln zur Rechten
und jenen zur Linken und hieß sie Körbe mit köstlichen Früchten und paradiesisch
leuchtenden Blumen bringen, wobei sie, einer guten Hausmutter gleich, die
Säumigen mit launigen Schelten antrieb, die Fleißigen aber liebreich belobte.
Die Witwe Scherltn erschrak nicht wenig über diese Verworrenheit und
meinte, das wäre der böse Fiebergeist, der die Jungfrau so hoffärtig reden
lasse, die ja ansonst ein „fromm lieb Ding" sei. Und sogleich ging sie daran,
nun ihrerseits mit frommem Gebete das sündige Gerede der Kranken ins
Unschädliche abzulenken.
Es war an einem Wintertage gleich jenem, da Dürer die Felicitas zum
erstenmal erblickt hatte, als der junge Scherlin am Bette der Kranken saß und
ihren Schlaf bewachte, wie er es nunmehr seit Wochen zu tun pflegte. Es war der
sanftberuhigte Schlummer einer Genesenden, und er hatte den blassen, fieber¬
verzehrten Wangen sogar einen zarten, rötlichen Schimmer verliehen.
Der junge Scherlin saß mit trotziger Miene da, wie einer, der nun weiß,
was es gilt. Er turnte in seinem Herzen all die verbitterten Tage seiner
Wartezeit auf und fand, es sei genug, die Zeche seines Glückes damit zu
bezahlen. In seinem Hause war Felicitas vom sicheren Untergange zu neuem
Dasein errettet worden. Wem anders durfte sie nun gehören als ihm allein?
Es war ein mildes, weißes Winterlicht in der Stube vom Widerscheine
des Schnees, der auf den hohen Dächern lag. Das leise Atmen der Felicitas
schien Frieden zu bringen und Frieden sich zu holen, als wäre nun hüben und
drüben das gleiche stille Land für sie.
Da lauschte der Scherlin empor — ein fremder Schritt ward auf der
Treppe laut. Und gleich darauf bewegte sich die Türe, die nur zugekehrt
gewesen, und es zeigte sich auf der Schwelle ein großer, vornehm gekleideter
Mann mit langen, sorgsam gewellten Schulterlocken, der betroffen innehielt, als
er die schlummernde auf dem Lager gewahrte. Seine großen, ernstbesorgten
Blicke gingen fragend hin und nieder.
Nach einer Weile flüsterte er: „Sie schläft?"
Der Scherlin war aufgesprungen, starrte den Unbekannten mißtrauisch
an und gab ihm keine Antwort.
Dieser aber nickte ihm gelassen zu wie einem, dem man nicht böse ist, und
zog, nach einem letzten langen Blick auf die Schlafende, die Türe wieder leise
hinter sich zu.
Der Scherlin besann sich und hörte die Schritte des Fremden auf der
Treppe sich entfernen. Da sprang er hinaus und lauschte ihm nach.
Nun kam auch seine Mutter herauf; die tat geheimnisvoll und sagte, der
fremde Herr sei wohl ein Gönner des blinden Jörg, und er habe sich auch nach
der Felicitas erkundigt und einen schwergewichtigen Beutel guten Silbers da¬
gelassen.
Der Scherlin schüttelte den Kopf, doch war das Silber ihm recht.
Felicitas aber erwachte bald darauf, und nun erzählte ihr der Scherlin,
was unterdes sich zugetragen.
Da wich ihr, als der argwöhnische Gesell den Fremden eingehend schilderte,
das bißchen keimende Röte aus den weißen Wangen und wollte darauf nicht
wiederkehren.
Der Scherlin bemerkte es wohl, doch wagte er nichts darüber zu sagen,
obgleich es ihm das Herz gewaltig zusammenzog. Er ahnte mit dem Instinkt
des Liebenden, es liege seit Anbeginn etwas Scheues, vielleicht Unüberbrück-
liches zwischen ihm und der Felicitas. Doch wollte er sich hüten, daran zu
rühren. Wenigstens vorderhand. Sein Schicksal hatte ihn mürbe gemacht, er
wollte mit allem zufrieden sein, auch mit dem Ungewissen.
Doch war Felicitas ihm einmal angetraut, dann wollte er alles beseitigen,
im Guten oder im Bösen, was fremd, geheimnisvoll und unbegreiflich an ihr
war. Dann durfte sie nichts mehr trennen von ihm. Sie sollte werden und
sein wie er, nicht höher und nicht geringer.
Es mochten anderthalb Jahre seither vergangen sein, da zog in einer
mondhellen Sommernacht ein wunderlicher Zug bachantisch erregter Leutchen
durch die Straßen der allgewaltigen Hansastadt Antwerpen in den Nieder,
landen. Eine tollverwegene Gesellschaft phantastisch bekränzter Männlein und
Weiblein war es, die bei Gesang und Lautenklang, flackernde Windlichter
schwingend, im Tanz- und Hüpfeschritt dahintrieb und sich gar nicht genug tun
konnte an drolligster Daseins- und Mondnachtfreude.
Antwerpener Malersleute, die es eben unternahmen, dem vielgeliebten und
vergötterten Meister, Herrn Albrecht Dürer, der jetzt allhier zu Gaste weilte,
nach einem köstlichen Festmahl, das sie ihm zu Ehren bereitet hatten, ein fröhlich
Geleit in seine Herberg zum „Jobst Plankfeld" zu geben.
Der Meister schritt voran, getragen vom Jubel der trunk- und tanzerhitzten
Jugend, einen Kranz aus wildem Weinlaub auf den schönen leichtergrauten
Locken. Und hinter ihm geleiteten zwei tolle Malersknaben sein würdig Ehe¬
weib, Frau Agnes Dürerin.
Man hatte sich kecklich zur Rechten und Linken in die sittsam verdutzte
Dame eingehängt und führte nun die Stattliche so leicht und schwebend dahin,
wie sie nie noch in ihrem Leben geschritten war.
Und selbst die treue Magd Susanne, die sich der Meister auf die Reise
w-itgenommen, war keineswegs ohne Unwert geblieben. Man hatte auch ihr
ein laubig Ungetüm zur Zier auf die Haube gedrückt und sagte dem guten, in
Ehren ergrauten Geschöpf manch neckisch vertrauliches Wörtlein ins Ohr, worüber
es fast ein wenig aus seinem dummen Gleichgewicht kam.
Der Rat zu Antwerpen hatte dem Meister im Laufe des Mahles vier
riesenhafte Krüge edelsten Weines gesandt, desgleichen der städtische Zinnner-
w-ann, Herr Meister Peter, zwei weitere Krüge aus besonderer Verehrung. Die
schleppte nun das lustige Malvolk im Zuge mit sich und füllte verstohlen manch
Becherlein daraus, wobei dem Meister, wie sie dachten, noch genug erübrigte.
So war man unversehens und allzufrüh zur Herberg gelangt, allwo nun
Dürer mit den Seinen von den frohgemuten Brüdern in Apelles Abschied nahm.
Sie riefen ihm noch lange vor dem Hause zu, und er mußte sich am
Fenster seines Stübchens zeigen. Dann zogen sie endlich mit Sang und
Klang vorüber.
Schon früher hatte der Wirt dem Meister mitgeteilt, es läge ein Brief für
ihn auf dem Tisch, der sei mit der Handelsfuhr aus dem Süden gekommen.
Er war an der schöngeschnörkelten Handschrift leicht zu erkennen: so schrieb
nur Willibald, der Vielgetreue. Was mochte es Neues in Nürnberg geben?
Die Zeiten dort unten waren schlimm genug.
Dürer erbrach den Brief mit Ungeduld. Gewiß — es mußte Unerfreu¬
liches sein, was Pirkheimer ihm mitzuteilen hatte, denn die sonst so schalkhafte
Anrede fehlte. Er nannte ihn heute bloß: „Mein Lieber."
Der Meister hatte nur allzu richtig vermutet! Nun hatte die Pest, die
unten in Nürnberg wütete, aufs neue zwei der lieben Getreuen hinweggerafft!
Nun war auch Steffen Paumgartner dahin, und der Peter Weisbecher, der
allzeit Unbekümmerte, hatte auch daran glauben müssen. Der Weisbecher hatte
ihn vor seiner Abfahrt nach den Niederlanden nicht wenig verhöhnt und ihn
einen Hasenschwanz genannt ob seiner Furcht vor der Pest. Der Gute konnte
ja nicht wissen, daß andere Dinge ihn aus Nürnberg fortgetrieben als die
Angst vor dem Tode.
Was schrieb der Pirkheimer weiteres?
„Item dem Jörgen Graff hat all sein groß Geschrey nit viel genützt. Ist
mir zwar gelungen, das peinlich Fragen von ihm abzuwenden, doch hat der
hohe Rath ihn auf ein Jahr im weißen Turm, so hinter dem Wildbad liegt,
zur Haft gesetzt. Indes, es war mein Bitten nit umbsunst, dieweil man ihn
vorzeit hat laufen lassen. Er hat nun Ursehd schwören müssen und ward mit
einer Zehrung gen Regensburg gefertigt, mit dem Verbot, für alle Zeit nit
wieder heimzukehren. Doch glaub' ich nit, daß dies ihn bessern wird. Es
geht betrüblich abwärts mit dem Jörg.
Item, es hat der Himmel ihn gar grausamlich vorausbestraft, dieweil sein
Kind Felicitas, müßt Ihr wissen, am Samstag nach Jakobi still und sanft in
Christo verschieden ist. Der allmächtig Gott sey ihr gnädig! Ihr wißt, sie
hat im Vorjahr schon den Bäcker Scherlin zum Mann genommen. Ist aber
kein vergnüglich Ehelied gewesen. Wie ziemt steh's auch, daß solch ein Maul¬
wurf ein Röslein schmauset oder solch ein Brummelbär den Schmetterling betazt?
Ja, ja, wie mag Euch jetzt zumute sein? Ich möcht Euch gern erheitern, wenn
ich's könnt, doch würgt's mir selbst ein weniges im Hals. Und immer frag'
ich schlimmer Sünder mich, und frag mich immer wieder: Habt Ihr auch recht
getan mit Eurem Wiesenzaun? Habt Ihr vielleicht die Lieb nicht von der Lust
ein wenig allzu streng getrennt? O Meister, lieber Meister, verzeiht, daß meinem
alten Hirn solch gotteslästerlich Zeug' entschlüpft. Wir sind ja all nur arme
Sünder und wissen nit aus noch ein. Wir glauben oft den besseren Weg zu
gehn mit starkem und gerechtem Schritt und tun vielleicht des Leidens mehr
an fremdem Blut, als uns dereinst fürs eigene Heil zugut gerechnet wird. —
Daß Gott uns helfen und raten möge!"
Soweit hatte Dürer gelesen, da entfiel der Brief seiner zitternden Hand.
Zugleich besann er sich, er trage den Kranz aus wildem Wein noch auf
dem Haupte. Er hob ihn leise ab und legte ihn sachte vor sich auf den Tisch.
Ta lag er nun, der grünverworrene Bote aus den tollen Stunden welt¬
vergessener Fröhlichkeit.
Da lag er stumm sür sich allein und schien nicht anders als ein Toten-
kränzlein.
Durchs offene Fenster wehte ein Windhauch fernen Gesang herbei. Der
Meister lauschte reglos, ob er nochmals wiederkehre.
Er tönte noch einmal leise zitternd zurück.
Und nun zum anderen Mal, wohl kaum noch hörbar.
Hierauf erlosch er wie ein mildes wunderliches Seufzen in weiter Ferne
für alle Zeit.
Ende.
Zum Gedächtnis Niebuhrs. 1811 ist der
erste Band von Niebuhrs Römischer Geschichte
erschienen, 1812 — bor hundert Jahren —
der zweite. Das Andenken großer Männer
sollte man weniger an den Daten ihres
äußeren Lebens wie Geburt und Tod feiern,
als an denen, die Marksteine ihres Wirkens
bezeichnen. Jene beiden Bände waren epoche¬
machend in der deutschen historischen Literatur
und zugleich in der internationalen Erkenntnis
der römischen Geschichte. Trotzdem wird man
heute dem Nichtfachmann ihre Lektüre nicht
mehr empfehlen dürfen, denn inhaltlich sind
sie von Mommsen längst überholt. Aber ins
Gedächtnis rufen soll man sich worin damals
die Bedeutung dieser Bände bestand. Nicht,
Kie viele Gebildete heute meinen, darin, daß
ste die Ungewißheit der älteren römischen
Geschichte, wie sie sich bei Livius findet, er¬
wiesen, das war bor Niebuhr längst geschehen,
sondern darin, daß durch sie — wie er selbst
sagt — zuerst gezeigt wurde, „weshalb und
wie jedes Einzelne erfunden ist". Dabei
irrte er freilich oft, aber er wies doch der
späteren Forschung den richtigen Weg. Auch
darin war er neu, daß er die Vergangenheit
aus der Gegenwart zu erklären bemüht war.
Was er in der Jugend von den Zuständen
der Bauern in seinen? heimischen Ditmarschen
kennen gelernt hatte, diente ihm zum Ver¬
ständnis und zur Erklärung der Zustände
des alten Rom, das er als eine rechte
Bauernrepublik zuerst erkannt und beschrieben
hat. Aber das Wichtigste ist etwas anderes:
die beiden ersten Bände seiner römischen
Geschichte leiteten „jene gewaltige historische
Strömung" ein, die das neunzehnte Jahr-
hundert im Gegensatz zu der rationalistischen
des achtzehnten kennzeichnet. Wie gleichzeitig
Jakob Grimm und Bopp in der Sprache,
Savigny im Recht, verfolgte Niebuhr in der
Geschichte eines Volkes das Werden: „das
Leben des Volkes war bei ihm in die Mitte
der Betrachtung gerückt, dieses Leben faßte er
zuerst als eine Einheit, die sich im Laufe der
Jahrhunderte organisch nach bestimmten Ge¬
setzen entwickelt." In dieser Auffassung der
Geschichte waren in ihm die Erfahrungen der
französischen Revolution fruchtbar geworden,
Phantasie und Divination beleuchteten ihm den
dunklen Pfad über die Trümmerhalden der
Überlieferung. „Ich hatte das Ziel erreicht",
sagte er auf das Werk zurückblickend in:
Jahre 1826, „wie ein Nachtwandler, der auf
der Zinne schreitet".
Aber nicht darum allein soll der Name
Niebuhr nicht ganz vergessen werden, sondern
auch, und vielleicht mehr noch, um seiner
Persönlichkeit willen, als Mensch, Patriot,
Politiker. Gelehrtentum, Wissenschaft nahm
doch nur einen kleinen Bruchteil seines tätigen
Lebens ein. Das hat er selbst zwar immer
als einen schmerzlichen Verlust, als Abirrung,
ja als tragisches Mißgeschick empfunden, aber
es ist die Frage, ob seine gelehrten Schriften
an Gehalt nicht gerade dadurch gewonnen
haben, daß er sich ihnen nicht ausschließlich
widmen durste. Abgesehen aber davon be¬
währte er sich im praktischen Leben überall
so, daß er verdient, immer als ein Vorbild
für handelnde Männer aufgestellt zu werden.
Bor allem deshalb, weil er seinen Amts- und
Tagespflichten immer einen höheren, auf das
Wohl der Gesamtheit gerichteten Bezug zu
geben mußte. So wenn er im Preußischen
Finanzdienst in erster Linie dem Beruf, den
er in sich fühlt, „die Not des armen Volkes
zu mildern", nachleben will, „wenn auch das
größte Übel keine Heilung zuläßt". „Mein
Wunsch und mein Plan geht dahin", schreibt
er von Königsberg im Dezember 1809 an
seinen Vater, „die armen StaatSgläubiger,
welche in der größten Not sind und seit Jahren
keinen Zins erhalten haben, zu retten, ohne
daß dem Volk müßten neue Lasten auferlegt
werden, die heiligsten Ansprüche von tausend
Unglücklichen zu befriedigen, die Provinzial-
fchulden mit einer großen Erleichterung des
armen Volkes zu regulieren, die Grund¬
eigentümer zu retten" usw. Er ging nicht
bloß darum als preußischer Gesandter noch
Rom, weil ihm diese Stadt wegen seiner
Studien zu kennen wichtig, ja notwendig war,
sondern auch weil er in den bevorstehenden
Unterhandlungen mit dem römischen Stuhl
für den kirchlichen Frieden in den neuge¬
wonnenen katholischen Landesteilen wirken zu
können hoffte. Und nicht zuletzt kann er uns
allen zum Vorbild darin dienen, wie willig er
sich noch als älterer Mann von den Zuständen
und Tatsachen belehren ließ, auch wenn sie
in sein Politisches Glaubensbekenntnis nicht
paßten. Er war, was wir heute konservativ
nennen, aber dies hinderte ihn nicht zuzugeben,
daß die Napoleonische Gewaltherrschaft für
den verrotteten Kirchenstaat ein Segen war,
daß die neuen süddeutschen Verfassungen nicht
gut an die früher bestehenden historischen
Institutionen hätten anknüpfen können, weil
die öffentliche Meinung allzusehr dagegen war,
daß es für die Bewohner der ehemaligen
geistlichen Fürstentümer am Rhein ein Segen
war, einem großen Staat einverleibt worden
zu sein. Der neuen Blüte ihrer Städte
konnte sich sein scharfes Auge nicht verschließen,
obwohl vorher seine Sympathie bei den zer¬
störten alten Kleinstaaten war. Die französische
Revolution war ihm von Jugend auf als die
Quelle alles Unheils, an dem die Zeit litt,
erschienen, aber als er ein Jahr vor seinem
Tod Mirabeaus Schriften wieder las, schlug
sein Herz „so laut für den Dämonischen, den
Gewaltigsten unter allen", deren Lebenszeit
die seinige berührt hatte, daß er sich um einen
Abguß von Houdons Büste des Revolutions¬
helden bemühte, um sie in seinem Studier¬
zimmer immer vor sich zu haben.
Von allen diesen Seiten lernt man ihn
in seinen zahlreichen Briefen kennen. Diese
sind schon vor mehr als siebzig Jahren in
drei Bänden erschienen. Eine Auswahl neu
herauszugeben wäre ein sehr verdienstliches
Unternehmen. Sollte heute, wo durch Neu¬
drucke so viele alte Bücher, die besser verschollen
blieben, zu einem zweiten Leben herausgerufen
werden, sich nicht ein Verleger finden, der es
damit wagen wollte?
eigentümlich, daß es nicht eine naturgegebene
Bahn nur einfach weiterverfolgt, sondern daß
es seine Hauptrichtung erst zu suchen, eine
Grundlage sich erst zu sichern hat: es ist ein
Kämpfen um sich selbst. Das Verhältnis zur
Natur, das den Menschen zunächst ganz ein¬
nimmt, genügt ihm nicht für die Dauer, das
Neue aber, zu dem es ihn drängt, ist nicht
ein bloßes Mehr, sondern etwas wesentlich
Anderes, das sich nur durch ein Abbrechen
und Unikehren erreichen läßt. Verlaufe zu¬
nächst unser Leben in lauter einzelnen Be¬
rührungen mit der Umgebung, so erfolgt
nunmehr eine Wendung zu einem Erfassen
der Welt von innen her und damit zugleich
ein Erleben im ganzen; das eben ist eS, was
wir Geistesleben nennen. Dieses Geistesleben
kann aber unmöglich eine Eigenschaft des
bloßen Menschen sein, d.h. insofern er in den
Naturzusammenhnng einbezogen ist, es muß
diesem gegenüber eine Selbständigkeit besitzen.
So wirkt denn das Geistesleben als selbst-
ständige und überlegene Macht in uns, und
indem es doch auch zugleich zu unserem eigenen
Leben, zu unserem eigentlichen Wesen werden
kann, ist es dasjenige, was^ vornehm¬
lich über den Charakter unseres Lebens ent¬
scheidet. Geistesleben ist eben Wirklichkeitbilden
und bannt allererst wahrhaftiges Leben. Denn
nur indem das Leben sich in sich selbst ver¬
tieft und von einem tragenden Grunde her
alle Mannigfaltigkeit der Betätigung umspannt,
kann es auf sich selber stehen, im eigenen
Bereich ein Sein entwickeln und sich so seine
Welt erzeugen. In diese Bewegung aber
mündet alle Verzweigung der Tätigkeit im
Guten, Wahren und Schönen ein, überall
gilt es, über die Leere bloß-subjektiver Er¬
regung und auch über die Äußerlichkeit aller
sich ablösenden Leistung hinauszukommen und
einen Punkt zu erreichen, wo das Leben zur
Selbstentfaltung wird und damit einen Inhalt
erzeugt. Einer solchen Selbstbetätigung wird
eine Freudigkeit innewohnen, die alles ge¬
wöhnliche Glück weit übersteigt. So fehlt es
an einem allumfassenden Ziel unserem Leben
wahrlich nicht. — Mes einige Grundgedanken
aus dem erwähnten glänzend geschriebenen
Buche, demi Eucken vor einigen Monaten eine
Schrift hat folgen lassen: „Können wir noch
Christen sein?" Veit u. Co., Leipzig 1911.
In seinem feinsinnigen Aussatze über
Rudolf Eucken (im August-Heft des Jahres
1908 dieser Zeitschrift) konnte Prof. P, Mein¬
hold schon davon sprechen, daß sich an den
Namen R. Eucken eine ganze, große Literatur
anschließt. Diese hat sich inzwischen nicht
unbedeutend vermehrt. Kurt Kesseler, dem
wir bereits eine kleine Schrift über „Die
Lösung der Widersprüche des Daseins durch
Kant und Eucken in ihrer religiösen Be¬
deutung" (1909) verdanken, hat seine Eucken-
Studien zu eineni wertvollen Buche zusammen¬
gefaßt, das er „Rudolf Euckcns Werk"
betitelt (Kreuschmer, Bunzlau, 1911, 131 S.,
2,50 M.) und in den: mit Recht besonders
Euckens geschichtliche und geschichtsphilo-
sophische Einsichten und seine kritischen Lei¬
stungen in den Vordergrund gerückt sind, da
sich ja erst auf dem Grunde dieser Einsichten
Euckens eigene tiefgehende systematische Über¬
zeugung erheben kann. Kann Kesselers Buch
als erste Einführung in das Denken und
Schaffen des Jenenser Philosophen gute
Dienste leisten, so wird man doch vor allem
das Bedürfnis empfinden, wenigstens eine der
Euckenschen Schriften selbst im ganzen zu
lesen. Dazu dürfte sich vor allem eignen das
jetzt bereits in dritter Auslage vorliegende
Werk: „Der Sinn und Wert des Lebens"
wie einen: Porträt. Quelle u. Meyer. Leipzig.
1911. 190 S. 3,60 M., dem das für eine Philo¬
sophische Arbeit sehr seltene Schicksal beschicken
ist, das erste Zehntausend des Absatzes in
wenigen Jahren erreicht zu haben. Es spricht
diese Tatsache dafür, daß heute doch in der
Philosophie wieder der erfrischende Hauch eines
«dem Idealismus weht, daß wir über den
bloßen Naturalismus und Materialismus
hinaus sind. Es ist nicht Euckens Art, seine
Darlegungen mit dem EntWurfe eines Bildes
der Welt um uns zu beginnen, um von da
"us Aufklärung über das Leben zu suchen,
sondern er sucht das Leben bei sich selbst zu
fassen und aus sich selbst zu verstehen, er
verfolgt es in seiner eigenen Bewegung und
Zwange so schließlich zu einem Gesamtbilde,
das zugleich eine Aufklärung über den Sinn
und Wert des Ganzen bringt. Den Inhalt
°°s Lebens gestaltet zunächst die Tatsache
2Z6 S,, die gerade in der Gegenwart mit
ihren religiösen Kämpfen besonders will¬
kommen geheißen werden wird, da hier ein
Philosoph sein freimütiges Glaubensbekenntnis
ausspricht, der rein für die Sache, nicht aber
für irgendeine Partei ficht. Eucken will die
Religion weder konfessionell binden, noch
stimmt er der heute so beliebten Verflüchtigung
zu subjektivem Pathos zu, vielmehr zeigt er
einen dritten Weg. Die Gegenwart mit ihrer
moralischen Schlaffheit bedarf dringend der
Aufrüttelung und Regeneration durch die
moralische Energie des Christentums; denn
in ihm schlummern unermeßliche Kräfte und
es haben sich diese noch keineswegs ausgelebt,
sondern sind noch immer imstande, wieder
hervorzubrechen und mit elementarer Gewalt
das menschliche Leben in neue Bahnen zu
treiben. Die Berührung von Göttlichen und
Menschlichem erzeugt dämonische Mächte, die
umwälzend und erneuernd, aber auch zer¬
störend und verheerend wirken können; sie zu
mäßigen und in fruchtbare Arbeit überzu¬
leiten, ist eine Hauptaufgabe der religiösen
Gemeinschaft. Aber freilich kann, ja muß im
Laufe der Zeit die besondere Fassung zur
Verengung und Erstarrung werden; dann
gilt es, von ihr an die Urkraft zu appellieren
und sie zu neuem Schaffen aufzurufen, so
gewiß eine große Weltreligion nicht ein ab¬
geschlossenes Faktum, sondern eine weltdurch¬
dringende Bewegung bildet. Das aber ist
die Lage in der Gegenwart. Demnach ist
die Frage des Titels dahin zu beantworten,
daß wir Christen nicht nur sein können, son¬
dern sein müssen. Aber wir können es nur,
wenn das Christentum als eine noch mitten
im Fluß befindliche weltgeschichtliche Be¬
wegung anerkannt und wenn es, aufgerüttelt
aus der kirchlichen Erstarrung, auf eine
breitere Grundlage gestellt wird. Hier liegt
demnach die Ausgabe der Zeit und die Hoff¬
nung der Zukunft.
Die Erziehung zum Rhythmus. „Er¬
ziehung zum Rhythmus" ist das allgemeine
Ziel der Bildungsanstalt Jaques - Dalcroze,
die im Jahre 1910 von Genf nach Dresden
verlegt worden ist und dort in der Garten¬
stadt Hellerau dank der tatkräftigen Unter¬
stützung der Brüder Wolf und Harald Dohrn
sich hat ein Heim erbauen können, das in
seiner Zweck- und Ausdrucksgestaltung einzig¬
artig genannt zu werden verdient. Über das
erste Unterrichtsjahr auf deutschem Boden be¬
richtet ein Jahrbuch, das bei Diederichs in
Jena erschienen ist. *) Dieses Jahrbuch wächst
aber weit über den Rahmen eines Schul-
berichteS hinaus und gibt in Aufsätzen von
or. W. Dohrn, Adolphe APPia und Jaques-
Dalcroze selber nicht nur Aufschluß über den
Ursprung und die Entwicklung der rhyth¬
mischen Gymnastik, sondern auch über die
Grundgedanken, auf denen die Erziehung zum
Rhythmus sich aufbaut, und über die Er¬
wartungen, die ihr Schöpfer an sie knüpft.
Dalcroze ist Musiker und kam von der
Musik her zur rhythmischen Gymnastik. Um
bei seinen Schülern die Fähigkeit, den musi¬
kalischen Rhythmus zu empfinden, auszu¬
bilden, ließ er sie den Rhythmus mit körper¬
lichen Bewegungen, zunächst der Arme und
Beine, begleiten, er lehrte sie, den musikali¬
schen Rhythmus „körperlich" zu empfinden.
Das zusammen, die Synthese von Musik
oder besser von Rhythmus und Körper¬
bewegung, macht Dalcroze nun zur Grund¬
lage eines ganzen Erziehungssystems und er¬
wartet von ihm nicht nur für die Musik und
die Gymnastik, sondern auch für die Willens¬
erziehung und die Erziehung zur Persönlich¬
keit sehr viel, ich möchte fast vermuten, zuviel.
In der Tat liefert die rhythmische Gym¬
nastik für die Musik nicht zu unterschätzende
Werte. Sie arbeitet nicht nnr der „Arhythmie"
unseres Zeitalters im allgemeinen entgegen,
von der Dalcroze häufig spricht; sondern da¬
durch, daß sie den Rhythmus auf Körper¬
bewegung stützt, ihn körperlich durch das In¬
dividuum selbst darstellen und empfinden läßt,
hat sie für die Erziehung des rhythmischen
Sinnes im Individuum ein Hilfsmittel ent¬
deckt und planmäßig verwertet, dessen Wich¬
tigkeit durch die erzielten Resultate illustriert
wird: Kinder, deren rhythmischer Sinn sich
erst verhältnismäßig spät entwickelt, gelangen
zur Wiedergabe, ja sogar zur unsymmetrischen
Wiedergabe schwieriger Rhythmen. Man hat
mir gesagt, daß auch das absolute Gehör
durch die rhythmische Schulung eine be¬
merkenswerte Ausbildung erfahre.
Dennoch muß darauf hingewiesen werden,
daß es bor allem die formalen Elemente der
Musik sind, die hier ihre Schulung, man
möchte beinahe sagen, einen gewissen Drill er¬
halten. Es erscheint uns schwierig, die Dal-
crozesche Methode an den Gehalt der Musik
heranzuführen.
Ferner hat Dalcroze recht, wenn er be¬
tont, daß durch die Übung in der Darstellung
von Rhythmen durch Körperbewegungen das
Individuum zur bewußten, willensmäßigen
Herrschaft über seine Körperbewegungen ge¬
lange, daß instinktive, unbewußte MuSkel-
innervationen dadurch in den Dienst des be¬
wußten persönlichen Willens gestellt werden.
DaS wäre dann der Vorteil, den die Gym¬
nastik als solche von der rhythmischen Gym¬
nastik ziehen könnte. Aber diese bewußte,
willenskräftige Herrschaft über deu Körper
erzielt die Gymnastik überhaupt, ihre rhyth¬
mische Schwester bringt ihr also nichts wesent¬
lich Neues. Dagegen findet die rhythmische
Gymnastik auf Grund ihres rein formalen
Charakters nur schwer wieder den Anschluß
an den anatomischen und hygienischen Gehalt
der eigentlichen Gymnastik und gerät in Ge¬
fahr, ein rhythmisches Exerzieren zu werden.
Allerdings sucht Dalcroze der rhythmischen
Gymnastik einen Gehalt zu geben, indem er
die rhythmisch ausgeführte Körperbewegung zur
Ausdrucksbewegung auszugestalten sucht, und
zwar nicht nur in der Weise, daß aus ihr
allein der Rhythmus spricht, daß sie rein
plastische Darstellung des Rhythmus wäre,
sondern er legt auch weiterreichende Gefühls-
komplexe rein menschlichen Gehalts, wie Ent¬
täuschung, Schmerz, Beschämung, Neugierde
usw. der Körperbewegung zugrunde.*) Er
will gewissermaßen rhythmische AuSdrucks-
thpen schaffen. Eine Station auf dem Wege,
den Dalcroze hier einschlägt, ist der rhyth-
misch ausdrucksvolle Tanz, das Endziel die
Begründung eines neuartigen Theaters, auf
dem die Bewegungen des Schauspielers bis
ins kleinste rhythmische Ausdrucksbewegungen
sind, die in dem rhythmisch erzogenen Zu¬
schauer einen Widerhall wecken, der uns
arhYthinischenMenschen noch unerhört erscheint.
Auch dieser Gedankengang läßt sich schlecht
Widerlegen, um so mehr, als es erst Sache
der Zukunft sein wird, seine Richtigkeit zu be¬
weisen. Hinweisen darf man aber auch hier
darauf, daß die mitreißende Gewalt der Aus¬
drucksbewegung nicht in ihrer rhythmischen Form
liegt, sondern vor allem in ihrem menschlichen
und persönlichen Gehalt und in der Art, wie
er in der Bewegung zum Ausdruck kommt.
Auch hier liefert die rhythmische Erziehung
nur die Form.
Und ans diese durchaus formale Natur
der rhythmischen Erziehung muß man auch
wieder hinweisen, wenn eS sich darum handelt,
ihre Ansprüche zu beurteilen, als eine Er¬
ziehung zur Persönlichkeit, als Willenserzie¬
hung, gewartet zu werden. Es ist unbestreit¬
bar, daß durch die Übung darin, Rhythmen
durch Körperbewegungen spontan zu reali¬
sieren, eine Willensübung, eine Übung in der
Exaktheit, der Planmäßigkeit und Spontaneität
der Willensinnervntiouen erzielt wird. Aber
auch diese Übung ist eine reine formale, sie
gibt keine Gewähr für die Bestätigung des
Willens, vor allein für die Richtung des
Willens, die dieser bei der Betätigung um
Praktischen Gegenständen, bei der Beschäftigung
mit Praktischen Werten einschlagen wird. Die
Willensleistung erfährt durch Nhythmisierung
nur eine quantitative, keine qualitative Förde¬
rung. Deshalb ist es verkehrt, daß Dr. Wolf
Dohrn in dem einleitenden Aufsatze des Jahr¬
buches von Büchners „Arbeit und Rhythmus"
sich Beweise für die bildende Kraft der
rhythmischen Erziehung zu holen sucht.
Die Erziehung zur Persönlichkeit muß auch
eine einheitliche und ständige Richtung des
Willens auf gewisse inhaltliche Werte des
menschlichen Lebens zu erwirken streben; denn
das Wesen der Persönlichkeit besteht in einem
solchen einheitlichen Willenstonus. Die rhyth¬
mische Erziehung dagegen beeinflußt auf
Grund ihres rein formalen Charakters einzig
die Form der Willensäußerung, sie übt
keinen Einfluß auf ihren Inhalt, ihre Rich -
tung aus.
Daher ist die Verknüpfung der rhyth
mischen Erziehung mit inhaltlichen, echten
Persönlichkeitswerten das Problem, das die
Vertreter der rhythmischen Erziehung jetzt in
erster Reihe zu lösen haben werden.
Flugmotorindustrie und Heeresverwal¬
tung. Zu den interessantesten Erscheinungen auf
demGebiete desFlugwesens gehört der Vergleich
der Leistungsfähigkeit zwischen deutscher und
französischer Motorenindustrie.
Den französischen Motorfabriken für Auto¬
mobile kann man den Nachteil nicht absprechen,
daß sie für Länder mit weniger entwickelter
Straßenkultur, als sie Frankreich aufweist, zu
empfindlich sind. Der deutsche Automobilmotor
fiel von vornherein etwas schwerer und wider¬
standsfähiger aus. Die Prinz-Heinrich-Auto¬
mobilfahrten wirkten ständig auf Erhöhung der
Sicherheit im Betriebe hin. So kam es, daß
sich die deutsche Automobilmotorindustrie schnell
einen beträchtlichen Teil des Weltmarktes er¬
oberte.
Aber gerade in diese Zeit siel die erste
Entwicklung der Flugapparate, und hierfür
war der feiner und leichter gearbeitete fran¬
zösische Automobilmotor geeigneter als der
deutsche. Während sich nun die französischen
Fabriken in den Jahren 1907 bis 1911 mit
Eifer der Vervollkommnung des Flugzeug¬
motors widmeten, wollte die mit Bestellungen
für Automobilmotoren noch reichlich versorgte
deutsche Motorenindustrie von einem SPezial-
motor für Lustfahrzeuge noch nicht allzuviel
Aussen.
Es wäre nun Aufgabe der berufenen Be¬
hörden gewesen, die Industrie sachgemäß zu
ermuntern. Das geschah aber nicht, und
konnte nicht geschehen, da sich einige ma߬
gebende militärische Luftfahrerkreise auf den
Standpunkt stellten, daß man die Entwicklung
der Flugzeuge getrost dem Auslande über¬
lassen könne, weil sie doch nicht viel mehr Wert
hätten, als etwa Akrobatenkunststücke. Die
Entwicklung des Flugwesens hat diese Stellen
gezwungen, ihre Ansichten in puncio Flug¬
zeuge zu revidieren. Wenn also jetzt der
Motorenindustrie der Vorwurf gemacht werden
soll, daß sie ihre Schuldigkeit nicht mit dem
genügenden Weitblick getan habe, so muß man
die Industrie mit der derzeitigen Lage des
Weltmarktes entschuldigen und lieber selbst
eingestehen, daß man die Industrie nicht recht¬
zeitig und weitblickend genug ermuntert hat.
Die Feststellung dieses Tatbestandes ist
eine Forderung der Gerechtigkeit besonders
deshalb, weil sich die Motorenindustrie aus
Rücksicht auf die Heereslieferungen nicht recht
gegen eine andere Auslegung wehren kann.
> Aus gleicher Rücksicht kann sie auch nicht zur
Sprache bringen, daß sie unter einem Druck
seufzt, welchen die Verstcindnislosigkeit der be¬
rufenen Behörden für das kaufmännische Wesen
hervorgebracht hat.
Zum Beweise sei folgendes angeführt!
Im Herbst 1910 schrieb die französische Heeres¬
verwaltung einen Wettbewerb für Flugzeuge
nebst Motoren zum Herbst 1911 aus und
machte gleichzeitig die Bedingungen bekannt.
Ein Jahr später, im Herbst 1911, schrieb die
deutsche Heeresverwaltung einen Wettbewerb
für Flugzeuge und Motoren zum Herbst 1912
aus, machte aber die Bedingungen nicht be¬
kannt. Jetzt, im Monat Mai, steht endlich
zu hoffen, daß die Bedingungen veröffentlicht
werden. Während also die entwickeltere fran¬
zösische Industrie ein volles Jahr für die Vor¬
bereitungen zum Wettbewerb Zeit hatte, kom¬
men für die auf diesem Gebiete weniger
fortgeschrittene deutsche Industrie höchstens vier
Monate in Betracht.
Solche Dinge sind zu ernst, um über¬
gangen zu werden; denn bisher kann man
noch keinen deutschen nationalen Wettbewerb
für Flugzeuge ausschreiben, ohne daß fran¬
zösische Motoren zugelassen werden müssen.
Damit ist aber weder dem militärischen Flug¬
wesen noch der späteren Konkurrenz auf dem
Weltmarkte gedient. Die Preisausschreibung
Seiner Majestät des Kaisers für den besten
Flugmotor ist ein Beleg dafür, daß die be¬
rufenen Stellen bisher nicht weitschauend genug
vorgegangen sind. Die Industrie braucht zu
gesunder Entwicklung Stetigkeit. Sie muß
auch einen ungefähren Überblick darüber haben,
wie groß der Mindestbedarf im Laufe eines
Jahres sein wird. Die Franzosen haben diesen-
Umstände dadurch Rechnung getragen, daß sie
unter Vermeidung jeglicher Geheimniskrämerei
bei der Reorganisation ihres Luftfahrtwesens
den Mindestbestand an militärischen Flug¬
zeugen zahlenmäßig festgelegt haben. Gleich¬
falls wurde bekanntgegeben, daß kein Apparat
mehr als ein Jahr auf die Feldbestände an¬
gerechnet werden darf. Damit ist die fran¬
zösische Industrie in die Lage versetzt, das
Absatzgebiet zu beurteilen. Sie kann sich einen
gute» Stamm von Arbeitern erhalten und
braucht nicht durch fortgesetzte Neueinstellungen
von Personal und zeitweise Entlassungen die
soziale Lage der Arbeiter zu beeinflussen.
Eine solche Berücksichtigung der über den
Rahmen des Augenblicksbedarfs hinausgehen¬
den Interessen fehlt bei uns noch gänzlich.
Über den Aufsatz „Bon unserer lieVcn
Muttersprache" in Ur. 16 dieser Zeitschrift
sind mir aus verschiedenen Orten Äußerungen
zugegangen, die von der in unseren gebildeten
Kreisen herrschenden Teilnahme an.deutsch¬
sprachlichen Dingen zeugen. Drei der Herren,
die so freundlich waren, an mich zu schreiben,
darunter ein Germanist von Fach, erklären
sich mit der befürworteten maßvollen Zulassung
von „Derselbe" durchaus einverstanden; einer
von ihnen, ein Philologisch hochgebildeter Mann,
weist darauf hin, daß sich in den gesamten
Denkmälern der altgriechischen Sprache kein
Fall der unmittelbaren Wiederholung des
nämlichen Wortes finde. Die Schreibweise
gieren" wird von einem Herrn hauptsächlich
aus sprachgeschichtlichen Gründen verteidigt.
Meine anerkennenden Worte über Engels
„deutsche Stilkunst" haben einen Herrn ver¬
anlaßt, mir auf vierzehn Seiten eine Liste der
Fehler mitzuteilen, die er in Engels Buch ge¬
funden habe. Ein großer Teil seiner Be¬
merkungen, wenn auch nicht alle, scheint mir
begründet zu sein. Sie sind meist formeller
Art, zum Teil beziehen sie sich auf Schreib¬
und Druckversehen, die allerdings berichtigt
werden sollten, zumal daS Buch, wie der
Kritiker hervorhebt, auch für den Gebrauch in
Schulen bestimmt ist. Eine nähere Be¬
sprechung dieser Zuschrift ist wegen ihres
sehr ins Einzelne gehenden Inhalts und
der Namenlosigkeit des Verfassers in diesen
Blättern ausgeschlossen. Da auch ein anderer
Herr sich mit einer Bemerkung gegen Engel
gewendet hat, glaube ich meine Stellung zum
Engelschen Buch in Kürze näher darlegen zu
sollen. Es ist mir nicht entgangen, daß es
an verschiedenen Ungenauigkeiten leidet, die
indessen größtenteils nicht erheblich und bei
dem Umfang des Stoffs und der außer¬
ordentlich großen Zahl der Zitate entschuldbar
sind. Z. B. werden Rückerts bekannte Verse
„Wenn die Rose selbst sich schmückt usw."
Goethe zugeschrieben. Dieses Versehen wird
auch von dem Herrn Kritiker gerügt, die
folgenden nicht. Von Goethe wird angeführt
„Entsagen sollst du, sollst entsagen", Wohl
statt: Entbehren sollst du, sollst entbehren.
S. 287 muß es statt „die schwer ausrottbare
Furcht von uns deutschen Schreibern" offen¬
bar heißen: „Die Sucht". Manche Sätze
scheinen eine gewisse Flüchtigkeit zu verraten
oder im Druck entstellt zu sein, so S. 238:
„Für wie hohle Wortmacherei klingt uns der
hohlgedunsene Satz in der Erklärung von
1889." S. 11: „Die Prosa unserer guten
Schriftstellerinnen übertrifft den größten Teil
der wissenschaftlichen Literatur." Erich Schmidt
und Maximilian Harden — eine vom Ver¬
fasser beliebte Verschwisterung, gegen die viele
Leser Bedenken haben dürften — scheinen mir
die geübte Kritik nicht immer zu verdienen.
Ich kann es nicht tadeln, wenn Hürden für
politische Wahlen das alte Wort „Kuren" ge¬
braucht; es wäre ja erfreulich, wenn es
gelänge, dieses Wort wieder zu beleben. (Auch
die Franzosen unterscheiden ja sure und
cnoisir, die Engländer elsct und clioose).
Ungeachtet dieser Bemängelungen halte ich
Engels Buch für ein verdienstliches Werk.
Durch seinen reichen Inhalt und seine wohl¬
tuende Frische und Lebendigkeit regt es zum
Lesen und Nachdenken an und veranlaßt
manchen, sich mit sprachlichen Fragen zu
beschäftigen, der sonst weder Zeit noch Sinn
Nach sechswöchentlicher Abwesenheit hat der Kaiser am Sonnabend, den
11. d. Mes., wieder deutschen Boden betreten, erwartet von der Ungeduld derer,
die sich von seiner Rückkehr die Entscheidung über verschiedene schwebende Fragen
der auswärtigen Politik versprachen. So hat denn auch sein erstes Zusammen¬
treffen mit den verantwortlichen Leitern der deutschen auswärtigen Politik, mit
dein Reichskanzler und dem Staatssekretär des Auswärtigen Amts, denen sich
Freiherr Marschall von Bieberstein, nunmehriger Botschafter in London, angeschlossen
hatte, eine ganz besondere Aufmerksamkeit gefunden. Was in Stuttgart im
einzelnen zwischen dem Monarchen und seinen obersten Vertrauensmännern be¬
sprochen wurde, entzieht sich naturgemäß unserer Kenntnis.
Von Stuttgart hat sich der Kaiser zunächst nach Straßburg begeben, wo
er durch eine unvorhergesehene Kundgebung die Aufmerksamkeit des gesamten Jn-
und Auslandes auf eine Frage gelenkt hat, die schon lange einen wunden Punkt
an Deutschlands innerer Politik bedeutet: auf die elsaß-lothringische. Vom
Kanzler, aber auch von den zuständigen kommandierender Gsneralen davon unter¬
richtet, daß die jüngste Entwicklung der Stimmung in den Reichslanden die
Warnungen aller derer rechtfertigt, die seinerzeit gegen die Einführung einer neuen
Verfassung Einspruch erhoben, unterrichtet von den Taktlosigkeiten gegen die Person
des Monarchen selbst, dessen Initiative die Elsaß-Lothringer doch in erster Linie
die neue Verfassung zu danken haben, hat der Kaiser seinem Unwillen in einem
Gespräch privaten Charakters mit dem Oberbürgermeister von Straßburg kräftigen,
seinem Temperament entsprechenden Ausdruck verliehen. Die laut gesprochenen
Worte des Kaisers sind auch von solchen Personen gehört worden, für die sie
vielleicht nicht bestimmt waren, und diese haben sie mit starken Übertreibungen an
die französische Presse weitergegeben.
Den Feinden eines auf Vertrauen beruhenden Verhältnisses zwischen Kaiser
und Nation kommen die Äußerungen des Monarchen naturgemäß sehr gelegen,
und Zentrum und Sozialdemokratie sind schon emsig an der Arbeit, sich als Hüter
der Verfassung gegenüber einem „staatsstreichlüsternen" Monarchen hinzustellen.
Wieder andere, denen daran gelegen ist, die verfassungsmäßigen Rechte der Krone
gegenüber dem Parlament einzuschränken, benutzen die Gelegenheit, um die Aus¬
führungen des Kaisers als Entgleisungen hinzustellen, wie sie seinerzeit zu den
Novemberdebatten des Jahres 1908 geführt haben. Wir möchten nicht
verfehlen, die Kaiserworte als überflüssig zu bezeichnen, es sei denn, es folgte
ihnen eine entsprechende Aktion auf dem Fuße. Wir wünschen nicht, daß Kaiser¬
worte als unerheblich beiseite geschoben werden könnten, wir würden es im
Interesse des Reiches und der Monarchie tief beklagen, wenn ein bedeutender
Volksteil aufhörte, Kaiserworte ernst zu nehmen. Das Kaisertum ist uns Deutschen
das Symbol der Einigkeit; dies Symbol wollen wir uns nicht herabsetzen lassen.
In der Sache selbst können wir unbedenklich an die Seite des Monarchen
treten. Wenn der Monarch im Hinblick auf die geradezu unglaublichen Zu¬
stände bei der Gravenstadener Lokomotivsabrik, im Hinblick auf die taktlose
Haltung der Kammer und im Hinblick auf das feindselige Benehmen der
französisch denkenden Bevölkerung während der letzten Manöver gegen
die einquartierten deutschen Soldaten, worüber haarsträubende Berichte vor¬
liegen, Zweifel über die Richtigkeit seiner versöhnlichen Politik ausspricht
und auf die Möglichkeit einer Revision dieser Politik hinweist, dann gibt
er nur dem Ausdruck, was Millionen Deutsche seit langem empfinden.
Was der Kaiser seinerzeit in England gesprochen, stand aber mit den
Empfindungen des gesamten deutschen Volkes in Widerspruch. Wenn jetzt
in der demokratischen, ultramontanen und einem Teil der liberalen Presse
andere Auffassungen verbreitet werden, so widersprechen sie den Tatsachen. Es
ist diesmal nicht nur der enge Kreis von Chauvinisten, denen der Kaiser aus dem
Herzen gesprochen hat. Die gesamte konservative und ein wichtiger Teil der
liberalen Presse in Nord und Süd würde die Reichsregierung freudig unterstützen,
wenn diese heute den Plan ernsthaft ins Auge fassen wollte, die Reichslande in eine
Preußische Provinz umzuwandeln. Die Frage wäre nur, ob ein solches Vorgehen
nicht zu spät käme und ob nicht der Preis, den Preußen sür das ihm eventuell
entgegengebrachte Vertrauen zu zahlen hätte, den konservativen Parteien zu hoch schiene.
Die Folgen der Kaiserworte haben Wirkungen erzeugt, die Wohl niemand
erwartet hat. Am Freitag hatte sich der Reichstag zur zweiten Lesung des Etats
zusammengefunden und sich darauf vorbereitet, beim Titel „Gehalt des Reichs¬
kanzlers" einen konzentrisch geführten Sturm gegen die Stellung des Herrn
von Bethmann zu laufen. Die Kaiserworte haben den Parteien gründlich das
Konzept verdorben. Der Sozialdemokrat Scheidemann hat sich erdreistet, eine
Rede zu halten, die alle Angehörigen der bürgerlichen Parteien bis in die Reihen
des Freisinns aufs tiefste beleidigte. Aller gegen den Kanzler angesammelte Zorn
wandte sich gegen die Sozialdemokratie und als Herr von Bethmann seine warmen
Worte zugunsten der Kaiserlichen Ausführungen gesprochen hatte, erhielt er den
Beifall aller bürgerlichen Parteien, deren linker Flügel doch ein Grauen ob der
roten Genossen bekam.
Es ist vielleicht kein Zufall, wenn gerade nach dem Auftreten Scheidemcmns
zwischen Zentrum und Nationalliberalen eine Verständigung über die
Deckungsfrage erzielt wurde, die vorher nicht recht von der Stelle kommen wollte.
Ob sie zu einer weiteren Verständigung aller bürgerlichen Parteien führen kann,
wie manche Optimisten hoffen, wird wohl in erster Linie von der Stellung
abhängen, die die Konservativen zu der neuen Formulierung einer Besitzsteuer¬
Die abgelaufene Woche gehörte in erster Linie der Besprechung der inter¬
nationalen Politik, da in ihr der Etat des Auswärtigen Amtes in der Budget¬
kommission und das Gehalt des Reichskanzlers im Plenum des Reichstages zur
Verhandlung stand. Wie bekannt, pflegen im Anschluß hieran alljährlich die
Aussprachen über Deutschlands internationale Lage stattzufinden und
die verschiedenen Parteien und Interessentengruppen Pflegen teils in der Kommission,
teils im Plenum durch mehr oder minder gut unterrichtete Abgeordnete ihre
besonderen Wünsche vortragen zu lassen und ihren Gefühlen des Unwillens, seltener
der Freude Ausdruck zu geben.
Wenn man von allem Beiwerk absieht, so darf man als den Mittelpunkt
der Verhandlungen die Erörterungen über die Unzulänglichkeit der Diplomatie
bezeichnen. Die Klagen, die darüber vorgebracht worden sind, dürfen indessen nur
zum Teil als berechtigt anerkannt werden. Nicht zu folgen vermag ich ven Aus¬
führungen der Abgeordneten, die auf eine intensivere Durchbildung der Diplomaten
in Richtung auf bestimmte kaufmännische und volkswirtschaftliche Spezialkenntnisse
hinzielen. Solche Spezialkenntnisse machen leicht einseitig und schwerfällig im
großen bei tatsächlicher Rührigkeit und scheinbaren Erfolgen in Einzelfragen. Der
deutsche Diplomat muß als Grundlage seines Könnens, neben einer ausgezeich¬
neten allgemeinen Bildung, eine unerschütterliche Staatsgesinnung haben, die
es ihm ermöglicht, stets den richtigen Abstand zu finden zwischen den Sonder¬
interessen Einzelner und dem Allgemeinwohl. Sie gibt ihm die nötige Festigkeit
bei den Verhandlungen, sowohl mit den auswärtigen Mächten, die das fremde
Staatsinteresse vertreten, wie mit den einheimischen Interessenten, die in erster
Linie für die Anerkennung privater Interessen kämpfen; sie gibt ihm auch den
Maßstab in die Hand zur Bewertung der Einzelansprüche der verschiedenen
Branchen und Gewerbe, die ihm durch die Fachorgane und die eigens dazu bestellten
Sachverständigen zugetragen werden. Ist der Diplomat fleißig und gewissenhaft
in der Sichtung des ihm zugehenden Materials, dabei wie ein tüchtiger Journalist
feinfühlig und scharfhörig für die Lebensregungen in seiner Umgebung, was
unbedingt erforderlich, auch unzugänglich persönlichen Schmeicheleien, mögen sie
nun in Ordensauszeichnungen, Promotionen zu Ehrendoktoren oder glänzenden
Festlichkeiten bestehen, dann haben wir den Typus, dessen wir als Vertreter unserer
Reichsinteressen im Auslande bedürfen. Alles andere, wie die Materialbeschaffung,
die Einrichtung des Nachrichtendienstes n. a. in. ist Sache der Organisation, die
immer weiter auszubauen wiederum Sache aller gesetzgebenden Faktoren einschließlich
des Reichstages ist.
Woher aber die tüchtigen Diplomaten nehmen? In allen Privat¬
unternehmungen der Industrie, des Bankgewerbes, der Verkehrsunternehmungen
befindet man sich dauernd auf derselben Suche nach „geeigneten" Männern und
doch ist es immer ein Zufall, wenn dort ein tüchtiger Direktor auch einen
entsprechenden Nachfolger findet. Wenn die Auswahl tüchtiger Männer für den
diplomatischen Dienst überhaupt erleichtert werden kann, so scheint es mir auf dem
Wege, den die Abgeordneten Heckscher und Freiherr von Richthofen vorgeschlagen
haben. Sie wünschen den Kreis für die Wahl dadurch zu erweitern, daß sie auch
die Herren aus der Konsularkarriere zur Konkurrenz herangezogen wissen wollen.
Dieser Weg ist seitens eines früheren Staatssekretärs, nämlich des Vaters von Richt¬
hofen verschiedentlich betreten worden. Aber meist scheiterten seine Bemühungen
an der finanziellen Seite der Frage. Unsere Konsularbeamten stammen zumeist
nicht aus jenen sehr vermögenden Kreisen, aus denen die Diplomaten entnommen
werden, und dem Auswärtigen Amt fehlt es an Mitteln, tüchtige aber unbemittelte
Herren im diplomatischen Dienst zu verwenden. Die Resolution Heckscher-Richt¬
hofen fordert nun, dem Staatssekretär sollen 400000 bis 500000 Mark lediglich
zum Zweck einer genügenden Besoldung von Beamten aus der Konsularkarriere,
die in den diplomatischen Dienst herüber zu nehmen wären, zur Verfügung gestellt
werden. So gut der Vorschlag ist, soll man seine Tragweite nicht überschätzen.
Schon bei der Besetzung der Gesandten- und Botschafterposten muß das vor¬
geschlagene Mittel versagen. In Petersburg, London, Washington setzen die
Botschafter erfahrungsmäßig erhebliche Bestandteile ihres Vermögens daran. Im
übrigen wird die Auswahl nach wie vor von der „glücklichen" Hand des Staats¬
sekretärs abhängen.
Aus dem Gesagten folgt aber auch noch etwas anderes: man wird den
gerade amtierenden Staatssekretär nicht verantwortlich machen können für die
Leistungsfähigkeit der ihm zur Verfügung stehenden älteren Diplomaten
wie Gesandten und Botschafter, sondern nur dafür, daß die geeigneten Persönlich¬
keiten auch auf den richtigen Platz gesetzt werden. Die Ausbildung hat gewöhnlich
in der Hand der oder des Vorgängers gelegen, die Auswahl liegt in der Hand
des amtierenden Leiters der Politik. Da aber die beste Erziehung das gute
Beispiel ist, so müssen wir uns darauf gefaßt machen, daß eine Periode un¬
geschickter, schwächlicher, Scheinerfolgen dienender Politik auch nur schwächliche,
Scheinerfolgen huldigende Diplomaten hervorbringt. Eine Epoche, in der der
Schein den realen Verhältnissen nicht immer entsprach, liegt hinter uns, und so
macht sich denn auch der Mangel an tüchtigen älteren Diplomaten recht fühlbar.
Wer aber mit den Personalverhältnissen des diplomatischen Dienstes einigermaßen
vertraut ist, wird die Wahrnehmung gemacht haben, daß seit drei Jahren doch
ganz energische Korrekturen in der Besetzung der verantwortlichen Stellen vor¬
genommen wurden, bei denen tatsächlich die Fähigkeiten den Ausschlag gegeben haben.
Einen Beweis für die Sachlichkeit des Vorgehens bei der Stellenbesetzung
bietet auch die Versetzung des Herrn Marschall von Bieberstein auf den
Botschafterposten nach London. Sie hat viel Staub aufgewirbelt. Angesichts
der deutsch-englischen Verhandlungen hat man von einsr besonderen, womöglich
geheimen Mission Marschalls gesprochen. Wenn man die Äußerungen der
Presse genau verfolgt, könnte man auf den Gedanken kommen, daß die aus¬
wärtige Politik Deutschlands nicht vom Reichskanzler nach den Intentionen des
.Kaisers in Berlin bestimmt wird, sondern in den einzelnen Botschafterpalais.
Die Vorstellung wäre falsch. In Deutschland gibt es, so lange tüchtige Männer
in der Wilhelmstraße sitzen, in der Tat keine Botschafterpolitik, die sich nicht nach
den Weisungen der Zentralstelle richtete. Und wenn die eine oder andere aus¬
geprägte Persönlichkeit sich in gewissen Fällen zu Eigenmächtigkeiten hinreißen
ließ, so erfolgte noch regelmäßig die sofortige Remedur nicht nur unter Bismarcks,
sondern auch unter Bethmanns Leitung. Die Botschafter und Gesandten sind
bezüglich der großen Richtlinien der Politik Figuren auf einem Schachbrett ver¬
gleichbar, die von der Hand des Spielers, in diesem Falle dem Leiter der
deutschen Politik, hin- und hergeschoben werden, je nach den Bedürfnissen des
Augenblicks, den Schachzügen des Gegners und nach der Eigenart der einzelnen
Figur. Und wenn eine bedeutende Figur ausfällt, so muß der Spieler den
Verlust durch Umstellung seiner Figuren wieder auszugleichen suchen. In der
Diplomatensprache nennt man dies reviremsntZ,
Nicht mehr bedeutete die kürzlich notwendig gewordene Versetzung des
Freiherrn von Marschall nach London. Graf Wolfs Metternich fällt aus.
Er zieht sich nach zwanzigjähriger erfolgreicher Tätigkeit als eine Hauptfigur vom
Schachbrett der Politik zurück. Mit Rücksicht auf äußere Umstände hatte der Graf
schon länger ausgehalten, als er es selbst gewünscht hatte und voraussehen mochte.
Aristokrat und Diplomat der älteren Schule, Junggeselle, und als solcher womöglich
noch zurückhaltender in seinem Auftreten wie seine Standesgenossen es so schon zu
sein Pflegen, hat der Tod Eduards des Siebenten und die damit verbundene Ver¬
jüngung der Hofgesellschaft zu Se. James Lücken in die Beziehungen des Diplomaten
gerissen, die dieser voll auszufüllen sich nicht elastisch genug fühlte. Und in
Erkenntnis dieser seiner Schwäche hat Graf Wolff Metternich schon im Frühjahr
des Jahres 1911 um seine Stellung zur Disposition gebeten. Auf Wunsch Seiner
Majestät des Kaisers und auch der ihm übergeordneten verantwortlichen Stellen
hat er aber doch noch auf dem schwierigen Posten ausgehalten, um während der
scharfen Zuspitzung der deutsch-englischen Beziehungen im vergangenen Jahre seine
reichen Erfahrungen nicht brach zu legen. Seit einiger Zeit sind die Dinge wieder
so weit in der Reihe, daß ein Wechsel in der Besetzung des Londoner Botschafter-
Postens ohne Nachteil für Deutschland vollzogen werden konnte. Bei der großen
Bedeutung Londons für die Weltpolitik war es natürlich, daß der Kaiser genau
Umschau unter seinen Diplomaten hielt und daß er sich nicht damit begnügte,
eine Repräsentantenfigur nach Se. James zu entsenden, sondern einen aktiven
Staatsmann, der neben dem Allerhöchsten Vertrauen auch das der englischen
Staatsmänner und, es darf offen ausgesprochen werden, auch das Vertrauen der
großen Welthandel treibenden Kreise Deutschlands besitzt. Erinnert man sich der
Geschäftstüchtigkeit des Herrn von Marschall, die er in seinem langen Kampf um
die Bagdadbahn bewiesen hat, erinnert man sich weiter, welch eine große
Umsicht dieser ehemalige Jurist (Marschall ist aus dem Richterstand hervor¬
gegangen) bei den Verhandlungen der Haager Konferenz bewiesen hat, so wird
man zugeben, baß die Wahl eine gute war. Einen Richtungswechsel in unserer
auswärtigen Politik aber bedeutet sie nicht. Ein solcher wäre doch nur möglich,
wenn auch der Reichskanzler und der Staatssekretär des Auswärtigen, die dem
neuen Botschafter Weisung zu geben haben, gewechselt hätten.
Aber auch von einer besonderen Mission Marschalls darf kaum
gesprochen werden. Unverantwortliche Blätter haben den neuen Botschafter als
den Engel mit der Friedenspalme hingestellt, wieder andere als den starken Mann,
der England endlich zur Liebe für Deutschland zwingen würde. Ich glaube, wer
so schrieb, der hat nicht nur ganz falsche Bilder von den schweren Aufgaben ent¬
worfen, die Marschalls in London harren, er hat auch die Durchführung der
tatsächlich vorhandenen Aufgaben erschwert. Durch die Äußerungen unserer Presse
ist nicht nur das Gefühl der englischen Nationalisten gereizt, sind nicht nur die
französischen Hysteriker in Schrecken gesetzt worden, man hat auch im Inland im
Publikum Hoffnungen geweckt, die nie erfüllt werden können und infolgedessen
Enttäuschung und Mißmut um so mehr nach sich ziehen müssen, je größer im
deutschen Volk das Bedürfnis nach einer vollständigen Verständigung mit England
vorhanden ist.
Beziehungen zwischen Nationen und Staaten können wohl durch
die Wirksamkeit einzelner Persönlichkeiten formell getrübt oder verbessert, aber nie¬
mals von Grund aus geändert werden. Mögen die Staatsmänner noch so hoch
gestellt sein, seit es eine Demokratie gibt, entscheidet ausschließlich der Nutzen, oder
richtiger: es entscheidet das, was die Völker für nützlich halten. Der einzelne kann
Stimmungen beeinflussen, das Interesse vorübergehend auf bestimmte Fragen
lenken, aber nur einigen wenigen glücklich Geborenen ist es vergönnt, Entwicklungs¬
epochen friedlich zum Abschluß zu bringen. Sie erscheinen dann als deren
Vollender, obwohl sie tatsächlich doch nur Werkzeuge der die Entwicklung bestim¬
menden, nicht jedermann bekannten Gesetze waren. Nicht anders wird es Marschall
in London ergehen. Ist die Zeit für eine Verständigung zwischen Deutschland und
England reif, so wird er Vollender einer Epoche deutsch - englischer Beziehungen
werden, kommt er zu früh, so wird er die große Zahl jener Redlichen vermehren,
die in treuer Hingabe einem großen Ziele zustrebten, ohne es je erreichen zu können.
Es betrug (in ä? ^ 100 IcZ)
Diese Zahlen können und sollen nichts anders zeigen als das Interesse, welches
der deutsche Getreidehandel an der russischen Getreideproduktion und an dem
ungehinderten Verkehr von und nach dem Schwarzen Meere hat. Dieser Verkehr
ist durch die Dardanellensperre vom 19. April bis 18. Mai gestört worden. Was
das besagen will, erhellt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß 1911 nach Deutsch¬
land aus Rußland eingeführt wurden (in 62-- 100 KZ):
Angesichts dieser Einfuhrziffern ist es verständlich, wenn aus der Sperre
Schwierigkeiten für den russisch-deutschen Getreidehandel entstanden sind. Diese
Schwierigkeiten hätten sich jedoch bei guter Absicht verhältnismäßig leicht über¬
winden lassen, statt dessen haben sie zu Mißständen geführt, da, wie es den Anschein
hat, auf deutscher wie auf russischer Seite versucht worden ist, in nicht einwand¬
freier Weise aus den ungewöhnlichen Verhältnissen Kapital zu schlagen. Daß
derartiges von kleinen russischen Abladern versucht wird, ist nicht verwunderlich —
sie suchen aus allen ungewöhnlichen Verhältnissen Vorteil zu ziehen, denn trotz
aller Bestrebungen, die Verhältnisse zu bessern, ist es eben bis heute immer noch
nicht gelungen, die Unreellität im russischen Getreidehandel zu beseitigen. Mit
anderem Maßstab aber muß der deutsche Getreidehandel gemessen werden. Wenn
es wahr ist, daß deutsche Getreidehändler kleinere russische Firmen veranlaßt haben,
nicht zu liefern, obwohl sie es konnten, um sich unter Berufung auf die Nicht¬
lieferung von ihren Kontrakten lossagen zu können; wenn es zutrifft, daß deutsche
Händler, obwohl ihnen hinreichender Schiffsraum zur Verladung zur Verfügung
stand, unter Berufung auf die Sperre ihre Verbindlichkeiten nicht erfüllten; wenn
es ferner zutrifft, daß Händler, die erklärten, die billigen Kontrakte nicht erfüllen
zu können, doch in der Lage waren, Aprilabladung zu den teueren Tagespreisen
zu verkaufen — alles mit der Absicht, aus der Nichterfüllung ihrer Kontrakte
einen mehr oder weniger großen finanziellen Vorteil zu ziehen —, so zeigt das,
daß auch im deutschen Getreidehandel nicht alles so steht, wie es im Interesse
seines Ansehens dringend geboten ist. Unzweifelhaft ist die Bestimmung des deutsch¬
niederländischen Kontraktes: „Wird die Verladung durch Ausfuhrverbot, Blockade
oder Feindseligkeiten verhindert, so ist dieser Vertrag oder jeder noch unerfüllte
Teil desselben aufgehoben," dehnbar, und es ist bedauerlich, daß man offenbar
bei Abfassung dieses Vertrages an einen Fall, wie er durch die Dardanellensperre
geschaffen wurde, nicht gedacht hat. Allein die Unklarheit, deren Bestehen gern
zugegeben wird, rechtfertigt nicht ein Verhalten, wie es einem Teile der Getreide¬
händler zur Last gelegt wird.
Klarheit in die Verhältnisse würde wahrscheinlich die vom deutschen Handelstag
in Aussicht genommene Internationale Getreidekonferenz gebracht haben. Sie ist
einstweilen aufgeschoben; von russischer Seite wurde erklärt, im gegenwärtigen
Augenblick nicht verhandeln zu können, da die Vorbesprechungen im russischen
Getreidehandel noch nicht abgeschlossen seien. So muß, falls nicht doch noch eine
Konferenz zustande kommt, das Ergebnis abgewartet werden, zu dem die Schieds¬
gerichte oder gegebenenfalls die ordentlichen Gerichte kommen werden. Es ist zu
wünschen, daß das Resultat eine Rechtfertigung des deutschen Getrsidehandels
Verantwortlich! der Heransgever George Cleinow in Schöneberg, — Manustriptsendungen und Buche werden
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Fernsprecher der Schristleitung: Amt Pfalzdurg 671«, des Verlags: Amt Liitzow 6ö10,
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in> b, H, in Berlin SV. 11.
Druck: „Der Reichsbote" G, in. b, H. in Berlin SV. II, Dessauer Strad- SK/S7.
le Altmark ist das Kernland der preußischen Monarchie. Hier
wohnen die Geschlechter, deren Namen durch die preußische Geschichte
berühmt und um den Erdball hin bekannt geworden sind: Bismarck,
Bülow, Schulenburg, Alvensleben. Aber nicht nur der Adel trägt
diese Namen. Auch der bürgerliche Besitzer, auch der Pferdeknecht
heißt hier Bismark und womöglich Otto Bismarck mit „et". Und zwar leiten sie
ihren Namen von eben daher, woher ihn der Adel genommen hat, von den alten
Ortsbezeichnungen. Das zeigt, wie bodenständig und wie alt das Volk der Märker
ist. Herr und Knecht sind einander blutsverwandt. In dieselben Garderegimenter
treten sie seit Jahrhunderten als Reiter und als Offizier ein und haben seit dem
großen Kurfürsten in denselben Schlachten geblutet. Sie sind einander wert
und einander ähnlich, so ähnlich, daß man scherzweise sagen könnte: Wenn
heute der Adel durch irgendein Unglück verschwände, so könnte man ihn aus
diesem altmärkischen Volk in einigen Generationen mit allen Tugenden und
Fehlern wieder entstehen lassen. Kurz, man könnte dies Land die Männerwiege
der preußischen Geschichte nennen. Um keine Eifersucht aufkommen zu lassen,
will ich gleich hinzufügen, daß es mit den anderen altpreußischen Provinzen
ähnlich steht, ähnlich auch in dem, was nun folgt.
- Als ich in die Altmark als junger Arzt einzog, sah ich schon im Jahre 1894
die schwarzen Horden russisch-galizischer Arbeiter Sonntags an den Straßenecken
stehen und alltags auf den Feldern ihr Tagwerk verrichten. Und ich meinte,
sie nähmen den Einheimischen das Brot weg und seien schuld an der Verödung
des Landes in volkischer Hinsicht. Mit Zorn sagte ich mir: Eines Tages wird
diese Männerwiege leer stehen.
Aber ich mußte bald einsehen, daß der Kausalzusammenhang umgekehrt ist.
Nicht das ist das erste, daß die Fremden kommen und den Einheimischen das
Brot nehmen. Sondern umgekehrt: erst ziehen die Einheimischen fort und dann
kommen die Fremden herein. Das Wegziehen der Einheimischen ist somit das
Wichtigste für uns. Darin liegt eigentlich das Unglück und die Gefahr.
Woher kommt diese Flucht?
In zwei Sätzen ist es verständlich gemacht.
Unsere Industrie hat sich ihren Anteil an der Weltbeute zu erobern gewußt
und zieht mit Macht alle verfügbaren, insbesondere aber die besten Arbeitskräfte an
sich, um ihre lohnende Arbeit bewältigen zu können. Darum branden aber auch,
wie von übermenschlicher Gewalt gesogen und gezogen, alle unsere Nachbar¬
völker über unsere Grenzen herein: Italiener, Holländer, Dänen, Czechen, Polen
und Ruthenen, um auch an dieser Vermehrung der Arbeitsgelegenheit teil¬
zunehmen.
Dieser Zusammenhang hat schon zur Vertrocknung der großen deutschen Aus¬
wanderung nach Nordamerika geführt; sie ist auf den geringsten Stand gesunken,
den sie nur erreichen kann: auf dreizigtausend Menschen jährlich. Soviel
werden immer auswandern, nichr aus Not, sondern weil die schon Ausgewanderten
sie nachziehen.
An Stelle dieser Auswanderung hat Deutschland eine Einwanderung bekommen
von einhunderttausend Köpfen solcher, die bleiben und von ungefähr neunhundert¬
tausend, die als Saisonarbeiter im Frühjahre kommen und im November wieder
gehen. Diese erhalten sozusagen einen Weihnachtsurlaub. Nebenbei gesagt
hat diese Entwicklung unsere Kolonialpolitik geradezu zu einem Anachronismus
gemacht, wenigstens wie sie vor zwanzig Jahren verstanden und begründet wurde,
nämlich unter dem Gesichtspunkt, daß wir um unseres Menschenüberschusses
Willen ein neues Deutschland suchen müßten. Wir haben keinen Menschenüberschuß
mehr, sondern Menschenmangel. Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden I
Und für das deutsche Volk Bauernkolonien außerhalb der Reichsgrenzen gründen
wollen, wäre ein Vergehen an der Nation zu einer Zeit, da das deutsche
Volk den Fuß aus seinen ältesten Koloniallanden, vom ererbten Boden zurückzieht.
Rein wirtschaftlich angesehen erscheint unsere Entwicklung als ein Glück. Sie
beweist, daß das deutsche Volk es verstanden hat, von dem Aufblühen der Welt¬
wirtschaft, von den vermehrten Gütern, welche die Eroberung der Erde den
Kulturvölkern zuweist, von der Weltbeute einen guten Teil an sich zu nehmen.
Darauf können wir stolz sein.
Aber dieser wirtschaftliche Fortschritt hat kulturelle und politische Nachteile.
Nun soll die wirtschaftliche Politik des nächsten Jahrzehnts nicht etwa sein: die
Entwicklung unserer Weltindustrie aufzuhalten. Im Gegenteil, möge sie wachsen!
Aber daneben müssen wir dafür forgen, daß wir im wirtschaftlichen Glück nicht
kulturell krank werden. Und darum müssen wir auch die Kehrseite unserer
wirtschaftlichen Blüte ernsthaft betrachten.
Unter ihnen ist die Flucht des deutschen Landvolkes zweifellos das wichtigste
Moment. Aber, wie wirtschaftliche Erscheinungen oft in Wechselwirkung miteinander
stehen, so auch hier. Während die Industrie den deutschen Arbeiter vom Lande
zieht, tut die ausländische Einwanderung auch das ihrige, die Anziehungskraft
der Industrie zu verstärken, den deutschen Arbeiter geradezu aus dem Lande zu
drängen und hinauszuschwemmen.
Nach den Gesetzen der Wirtschaft kann es auch kaum anders sein, weil die
ausländischen Arbeiter sich unter dem Preise der einheimischen anbieten können.
Die Unkultur ihrer Heimat und ihre persönliche Unkultur verlangt nicht die¬
jenigen Opfer, die die Aufzucht und Erziehung deutscher Kinder heute kostet,
wenn anders sie ihres deutschen Namens würdig und fähig sein sollen, an der
Kultur ihrer Heimat teilzunehmen. Das ist doch der ganze Sinn unserer
Volkskultur, unseres Schulzwanges, der Unentgeltlichkeit der Volksschule und
aller religiösen, sozialpolitischen und hygienischen Volkspflege, die Fürsten,
Kirchen und Parlamente seit Jahrhunderten aufgewendet haben, daß wir meinen,
es sei nötig auch die untersten Schichten des Volkes in den Stand zu setzen,
teilzunehmen gerade am besten, geistigsten, höchsten unserer Kultur und auch an
deren wirtschaftlichen Erfolgen. Was ist das nun für eine Politik, daß wir dies
mit soviel Kulturopfern erzogene und gepflegte Volk selber unterbieten durch den
Import roher, kulturarmer ausländischer Arbeiter?
Die paar Groschen Lohndifferenz sind indessen nicht das Schlimmste. Mehr
noch jagt den deutschen Arbeiter aus dem Lande die ästhetische und ethische
Unkultur der ausländischen Arbeiter. Die Söhne der sarmatischen Tiefebene
bringen Gewohnheiten des Essens, Schlafens, Redens mit sich, die es dem
Deutschen recht schwer machen, mit ihnen an einem Tisch zu essen und Arbeit
und Freude zu teilen. Das untere Volk ist gegen solche Kulturunterschicde
mindestens ebenso empfindlich wie die oberen Stände, aber wehrloser. So kommt
es. daß der unterste Stand auf dem Lande, nämlich der des besitzlosen Arbeiters
für den Deutschen geradezu minderwertig geworden ist. Das wirkt gewaltiger
noch als der Lohndruck. Denn es hat schwere Folgen für die nächstobere Schicht
im Landvolk, den Kleinbauernstand.
Der Kleinbauernstand muß neben sich einen geachteten Stand besitzloser
Landarbeiter haben, wenn er eine produktive Kulturschicht bleiben soll.
Fehlt diese Unterschicht, so fängt auch er an zu wanken. Ein Teil der
Kinder von Kleinbauern muß untertauchen können im Arbeiterstand, z. B. als
Knecht beim Nachbar oder auf dem Gute, ohne daß sie dadurch gesellschaftlich
sinken. Und wiederum muß sich der Kleinbauernstand durch Heirat von unten
her ergänzen können. Beide Stände, der Kleinbauernstand und der besitzlose Arbeiter-
stand, müssen Blutsbrüder, einer Sitte, einer Sprache, einer Rasse sein. Man
denkt sich wohl heute einen Kleinbauernstand aus, der die Arbeitskraft der
ganzen Familie auf dem eigenen Acker verbraucht. Aber das ist eben nur ein
ausgemachter Bauernstand. Jede Familie gerät in der Regel innerhalb eines
Menschenalters mehrmals in die Lage, daß sie entweder mehr Arbeitskräfte
braucht als sie selbst produziert oder daß sie Arbeitskraft abgibt infolge von
Überproduktion.
Ist nun der besitzlose Arbeiterstand in den Augen der nächst höheren Schicht
minderwertig geworden, dann gehen deren Nachkommen in die Städte als
Militäranwärter, Eisenbahner, Postbeamte, und es entsteht jene Lücke, die wir
gegenwärtig besonders im Osten des Vaterlandes zu beklagen haben. Die Lücke
reißt weiter und Scholle um Scholle geht verloren.
Der preußische Staat hat in den letzten Jahrzehnten eine großartige
Ansiedlungspolitik mit solchen Bauern getrieben, die ihr Land selbst bestellen
können. Die gewissenhafte Arbeit preußischer Beamten bringt viel fertig, und
sie hat gewiß die verausgabten 350 Millionen nützlich für die Zukunft verwendet.
Aber was nützt die sorgsame Anpflanzung neuer Bauern, wenn die alten, seit
vielen Generationen ansässigen Bauern in ihren Sitzen locker werden, wenn alte
deutsche Höfe in polnische Hände übergehen. Trotz unserer staatlichen Ansiedlungs¬
politik haben wir in elf Jahren 100000 Hektar mehr verloren, als gewonnen.
Man könnte spottweise sagen, wir haben 3500 Mark pro Hektar aufgewendet,
nicht um den Hektar zu gewinnen, sondern um ihn zu verlieren. Das ist das
Ergebnis unserer Politik. Wie kommt das? Nun, antworten die Gegner der
staatlichen Siedlungspolitik, dasselbe Geld, das aus der Hand des deutschen
Staates fließt, um zu germanisieren, hat an anderer Stelle polonisiert. Und
doch liegt der Grund gerade für das Elementare der Erscheinung tiefer.
Die Kraft der polnischen Kolonisation in ihrem Kampf gegen die deutsche
beruht gerade darin, daß sie die Arbeiter für sich hat, und der Fehler unserer
bisherigen Kolonisation ist, daß sie über dem Bauer den Arbeiter vergaß.
Soll es nun mit der Entvölkerung und Polonisierung unseres Landes so
weiter gehen und was kann dagegen geschehen? Ich wende mich zunächst an
die deutschen Landwirte in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber.
Wieviel kostet die Beschaffung des ausländischen Arbeiters pro Kopf? Vor
wenigen Jahren noch 4 Mark auf den Kopf, heute schon 20 bis 30 Mark.
In Zukunft mehr? Die Scharen, die jährlich nötig sind, um den Bedarf in
der deutschen Landwirtschaft zu befriedigen, wachsen beständig und so hat man
in der Feldarbeiterzentrale schon förmlich einen Menschenfang organisiert.
Auch die deutsche Industrie wird sich bald an dieser Menschenjagd be¬
teiligen. Woher soll sie auch die Menschen nehmen, wenn es einmal kein
deutsches Landvolk mehr in die Städte zu ziehen gibt? Immer schwieriger wird
es werden, diese Menschenmassen auszutreiben. Ist es da nicht strafbarer
Leichtsinn, wenn ein so gewaltiges Gewerbe, wie die deutsche Landwirtschaft,
sich so unberechenbaren Mächten wie etwa der russischen Bureaukratie in die Hand
gibt und ihr alle unübersehbaren Möglichkeiten solcher Versorgung überläßt? Oder
was wird aus der deutschen Ernte, wenn in Rußland und Galizien die Cholera
oder Pest ausbricht?
Wäre es nicht gewissenhafter und schließlich auch klüger, wir versuchten
wieder zu deutschen Arbeitern zu kommen, selbst wenn sie teurer wären? Aber
sie sind nicht einmal teurer. Wohl auf den Kopf berechnet erscheinen sie teurer,
genau wie der nordamerikanische Arbeiter, der englische und der deutsche Industrie¬
arbeiter teuer erscheinen; aber auf das Produkt berechnet sind sie billiger, genau
so wie die Arbeit der eben genannten hochbezahlten Industriearbeiter auf das
Produkt berechnet billiger ist, als die billigste Arbeit des Weltmarkts, die des
italienischen, japanischen oder indischen Arbeiters, welche nur 20 Pfg. den Tag kostet.
Ihre Arbeit ist fruchtbarer, weil sie intelligenter und gewissenhafter ist. Würden
nicht auch die deutschen Landwirte besser tun, ihr kostbares Vieh und ihre wertvollen
Maschinen lieber deutschen Nachbarssöhnen anzuvertrauen, als dem Fremden, —
vor allem solchen, die schon im Elternhause als Kinder durch eine kleine Vieh»
wirtschaft gelernt haben, was treue Arbeit ist? Die Treue in der Arbeit ist ein
Element von größter wirtschaftlicher Kraft. Darum liegt es im Interesse aller
deutschen Arbeitgeber, auch der großen Fabrikherren, daß es möglichst viel kleine
Eigentümer gäbe, deren Kinder zu Hause von Jugend auf Treue in der Arbeit
und nicht den Mietlingsgeist gelernt haben. Besonders aber müssen das die
deutschen Landwirte wünschen. Darum meine ich, sollten sie alles daran setzen,
solchen Arbeiternachwuchs wiederum zu erhalten und dazu das Werk der inneren
Kolonisation recht kräftig anfassen.
Aber aus der inneren Kolonisation kann niemals etwas werden, wenn der
Strom der ausländischen Arbeiter nicht unterbunden oder doch wenigstens ein¬
gedämmt wird.
Nun können die Landwirte einreden: es ist leicht die ausländischen Arbeiter
auszusperren, aber schwer den deutschen Arbeiter zu halten. Darin haben sie
recht. Eine Abwehr der Ausländer ohne gleichzeitige innere Kolonisation ist
unmöglich. Eins nicht ohne das andere. Darum verlangen wir eine gewaltige
innere Kolonisation zugunsten deutscher Landwirte. Auch ist das Leben oder
Sterben des arbeitenden deutschen Landvolkes nicht etwa nur eine Sache der
Landwirte. Es geht die ganze deutsche Nation etwas an. Ein Volk ist wie
ein Wald. Es wächst empor aus seinen Wurzeln: aus seinen untersten Ständen.
Seine höchsten Stämme freilich, seinen Adel, hebt es hinauf in die Sturmschicht
der redenden Geschichte und in das helle Tageslicht der Hochkultur. Aber seine
Dauer in die Zukunft, seine Lebenskraft, feine Ewigkeit, — denn ein Volk
braucht nicht zu sterben, so wenig wie ein Wald —, die hat es in seinen
untersten Ständen. Verdorren seine untersten Stände, seine Wurzeln, so stirbt
der Wald. Die alten Stämme freilich stehen noch eine Weile aufrecht,
vielleicht ein Jahrhundert oder länger. Aber es wird licht um die alten Riesen,
die alten Familien, und einmal fallen auch sie und vermodern an der Erde.
Dann ist der Wald gestorben. So ist in allen Kulturländern des Mittelmeeres
der Wald gestorben, und keine Klugheit der Menschen vermag ihn wieder
anzupflanzen. Auch das Ende eines Volkes und einer nationalen Kultur kann
keine Menschenweisheit aufhalten, wenn erst die Wurzeln, die untersten Stände
des Volkes, verdorrt sind. Der unterste Stand aber ist der des besitzlosen
arbeitenden Volkes auf dem Lande.
Sind aber die Wurzeln des deutschen Volkes auf dem Lande unserer
Ostmark vertrocknet, so muß das fremde Volk bleiben, das wir jetzt immer noch
mit einem Weihnachtsurlaub aus dem Lande schicken. Was dann folgt, ist
unschwer vorauszusagen: in unsere Schulen werden neben unseren eigenen
Kindern fremdsprachige einziehen, Kinder, deren Eltern als Ruthenen in Galizien
oder in Rußland geboren sind, Kinder, denen die deutsche Sprache in der Schule
erst beigebracht werden muß. Das verschlechtert die Schule zuungunsten der
deutschen Kinder, die nun das alte Ziel nicht mehr erreichen. Es ruiniert die
Schule, wenn sie mit so ungleichartigen Material arbeiten soll, und wenn sie
aus einem Erziehungsinstrument zu einem politischen Instrument gemacht wird.
Weiter werden wir neben unserem deutschen Heeresersatz fremdsprachige Rekruten
in erdrückender Zahl erscheinen sehen. Das vertreibt aus dem Heere den Geist
der gemeinsamen Vaterlandsliebe, der ein Heer besser zusammenhält als alle
Disziplin, das landsmannschaftliche Gefühl des gemeinsamen Blutes; in unsere
Reihen tritt ein unversöhnbar feindliches Volk ein. Zwar 1870 haben sich die
preußischen Polen noch gut und willig geschlagen. Aber es war ein kurzer
Krieg und ein siegreicher Krieg. Außerdem haben sich die Zeiten seitdem
geändert. Heute verlangt jeder kleine Volkssplitter eigene Schulen, eigene Gerichte,
eigene Kultur und einen eigenen Staat. Das-Zeitalter der nationaldemokratischen
Kultur ist angebrochen. Da bedeutet ein wachsendes Fremdvolk in unserem
Heere nur, daß wir die Rekruten und Unteroffiziere einer feindlichen Armee
einüben.
Ferner werden wir bei allen Wahlen in der Gemeinde, in den Kranken¬
kassen, im Staat und im Reich, neben den deutschen Wählern fremdsprachige
Wähler erscheinen sehen. Das wird unsere innere Politik vergiften und mit
Sprengstoffen für die Zukunft laden. Indem sie den Fremden ein Joch auf¬
erlegen will, wird die große deutsche Nation neun Zehntel dieses Gewichtes
selber tragen müssen und wird sich daran wund scheuern, bis sie es voll
Wut abwirft.
Endlich müssen wir uns darüber klar werden, daß die sozialdemokratische
Bewegung nichts anderes ist als die notwendige Begleitmusik der Zusammen¬
drängung besitzloser Massen in den Großstädten. Ein wenig ruhiger, ein wenig
wilder, das ist ziemlich gleichgültig; aufhören wird diese Musik, solange ihre
Ursache dauert, nie. Daraus folgt, daß es keine andere wirkliche Bekämpfung
der Sozialdemokratie gibt als die, daß man einem möglichst großen Teile des
Volkes den Weg zum kleinen Eigentum, dem eigenen Haus und der eigenen
Viehwirtschaft frei macht. Das ist aber in voller Breite nur möglich auf dem
Lande. Der Sozialdemokrat sagt: der Arbeiter muß los vom Boden, damit
er zu uns komme. Darum müssen wir sagen: hin zur Erde soll der deutsche
Arbeiter, damit er frei werde von den sozialistischen Irrlehren, der Politik des
unfruchtbaren Hasses, Neides, Klassenkampfes und der verwüstenden Streiks.
Nachdem nunmehr dreißig Jahre lang die deutschen Arbeiter versuchten, ihre
Lebenslage auf keinem anderen Wege zu bessern als auf dem Wege des
Klassenkampfes und der Streiks, wollen wir doch einmal die deutschen
Arbeiter fragen, ob sie wirklich glauben, daß der Arbeitslohn heute nur um
einen Groschen niedriger stehen würde ohne diese unendlichen Opfer sauer
ersparter Arbeitergroschen. Um keinen Pfennig würde er niedriger stehen, denn
der Ausgleich zwischen Kapitalgewinn und Arbeitslohn folgt anderen lautloseren
Gesetzen, als den wütigen Befehlen kurzsichtiger Streikführer. Wohl aber ist
die Konkurrenz ausländischer, kulturloser Arbeiter von großer Bedeutung für die
Höhe des Arbeitslohnes. Unter dem Druck der Unterbietung stehen auch die
hochbezahlten Arbeiter der Industrie, wenn sie ihn auch noch nicht fühlen und
erkennen. Darum wäre die vernünftigste Parole auch für deutsche Arbeiter¬
führer: Schutz der deutschen Arbeit gegen die Unterbietung des Auslandes.
Mit dieser Parole könnte man eine gewaltige Sprengwirkung ausüben in den
Reihen der internationalen Sozialdemokratie, und die Massen der deutschen
Arbeiter zurückführen zu einer Politik des Friedenhaltens mit dem Kapital und
zu einer Politik wirklicher nationaler Wohlfahrt und wirklicher Erhöhung des
Arbeitslohnes.
Alle deutschen Vaterlandsfreunde aber, denen in erster Linie gelegen ist an
der Zufriedenheit und sittlichen Gesundheit des Volkes, sie alle sollten um
dieser Zufriedenheit willen die Notwendigkeit der inneren Kolonisation einsehen
und sollten alles daransetzen, um demjenigen deutschen Manne, der eingesehen
hat, was der eigene Herd wert ist, zu eigenem Besitz zu verhelfen auf dem
Wege der inneren Kolonisation.
Nun könnte man aber einwenden: Ja ist es denn überhaupt noch möglich
und erreichbar, den großen Menschenbedarf an auswärtigen Arbeitskräften, den
wir zurzeit haben, diese neunhunderttausend Köpfe aus dem deutschen Volke selber
zu gewinnen. Demgegenüber möchte ich mit aller Zuversicht behaupten: ja, das
ist möglich. Die Vermehrungsfähigkeit eines Volkes ist ungemein beeinflußbar.
Das deutsche Volk hat trotz seines großen jährlichen Zuwachses noch nicht diejenige
VermehrungZziffer, die das englische Volk fertig bringt, angesichts der großen
Arbeitsgelegenheit, die dem Engländer überall auf dem Erdenrund winkt.
Noch viel weniger erreicht das deutsche Volk diejenige relative Vermehrungs-
Ziffer, welche die kolonialen Völker der Neuzeit, das nordamerikanische, das
australische*) und das Burenvolk, — ungerechnet die Zuwanderung selbst¬
verständlich — erreicht haben. Warum haben diese Völker die stärkere Ver-
mehrungsziffer? Nur darum, weil sie Existenzmöglichkeiten, Arbeitsgelegenheiten
reichlich vor sich sehen. Geben wir dem deutschen Volke nur Arbeitsgelegenheit.
Aber die haben wir ja. Sichern wir ihm nur diese Arbeitsgelegenheit. Machen
wir die deutsche Arbeitsgelegenheit zum Rechte der Besitzlosen, zum Erbe der
Enterbten, sichern wir dem deutschen Arbeiter die Existenzmöglichkeiten, die wir
jetzt an Fremde verschenken, so werden die Vermehrungsziffern sofort anschwellen.
Zwar nimmt die Arbeiterbevölkerung in den großen Städten, besonders die
zweite Generation nach der Einwanderung vom Land, die in den Stand der
hoch bezahlten Arbeiter, der Schriftsetzer, Maschinenarbeiter und ähnlicher auf¬
gerückt ist, leicht die Sitten des besitzenden Bürgertums an. Sie beschränkt die
Kinderzahl; in den Familien der besser bezahlten großstädtischen Arbeiter findet
man sehr häufig nur ein oder zwei Kinder. Und das ist begreiflich. Denn es ist
nun einmal in den Großstädten schwierig und entmutigend, die bleiche Jugend
auf den Höfen groß zu ziehen. Kinderzucht gehört, wie Viehzucht, auf das Land;
das gilt mindestens von den untersten Ständen und also von der Masse des
Volkes. In den Städten kostet jedes Kind bares Geld und nimmt den anderen
Brot und Luft. Auf dem Lande aber, wenigstens wo es so ist wie es sein
soll, da ist die Hauswirtschaft der kleinen Leute nicht bloß Konsumtivwirtschaft,
sondern auch Produktivwirtschaft, wenigstens zu einem Teil. Die aufwachsenden
Kinder verzehren nicht nur, sie produzieren auch sehr bald mit in der kleinen
Viehwirtschaft. Mindestens aber kostet dort die frische Luft, welche für die
Kinderzucht noch wichtiger ist als das Brot, kein Geld. Darum hängt die
Vermehrungsfähigkeit hauptsächlich davon ab, wie viel Herdfeuer, wie viel
Familienstätten es auf dem Lande gibt. Also vermehren wir nur diese Herd¬
feuer auf dem Lande. Aber zunächst müssen wir einmal die bittere Wahrheit
erkennen, daß es in unseren östlichen Provinzen solcher Herdfeuer auf
dem Lande heute weniger gibt als vor hundert Jahren, vor der
Hardenbergifchen Agrarreform! Durch die ungewollten Wirkungen dieser
Reform sind die Wohnstätten der besitzarmen Bevölkerung in unserm Osten
verringert worden. Es ist gerade der Vorteil Posens und der Polen, daß dort
die agrarische Entwicklung nicht so mit dem kleinsten Besitz aufgeräumt hat,
wie in unseren Provinzen. Also sollten wir diesen Verlust erst einmal aus¬
gleichen, und dann darüber hinausgehen, diese Herdfeuer zu vermehren, dann
werden wir auch um diese Wohnstätten genug blondköpfige Jugend herum¬
springen sehen, nicht nur genug, um die Arbeit zu bewältigen, die die wachsende
Kultur dem deutschen Volke stellt, industrielle und landwirtschaftliche, sondern
darüber hinaus noch einen Überschuß, einen ver 8acrum, eine Jungmannschaft
erster Qualität, womit wir unseren Anteil an der Erde wirtschaftlich erobern
wollen. Der Reichtum und die Zukunftskraft eines Volkes liegt
nicht in Kolonien oder Bergwerken oder Fabriken oder Kapitalien, sondern im
Menschennachwuchs, in der lebendigen Menschensaat, welche es i»
die Äcker der Zukunft werfen kann.
Aber der gute Wille allein ist ohnmächtig und nichts nütze ohne Erkenntnis
und Überwindung der Hindernisse; und derer sind viele. Es ist hier nicht der
Ort, auf die Einzelheiten der Hindernisse einzugehen. Das größte Hindernis
aber liegt bei unseren deutschen Landwirten sowohl als Arbeitsgebern, wie als
wirtschaftlich-politische Partei. So lange der deutsche Großgrundbesitzer nicht
erkannt hat, daß die Schicksalsstunde der deutschen Landwirtschaft gerade aus
der Arbeiterfrage heraus immer näher rückt, so lange er sich nicht besinnt auf
die nationalen Pflichten, die ihm die Zukunft seines Gewerbes auferlegt,
so lange wird es auch nicht möglich sein, die bessernde Hand an die Einzel¬
hemmnisse zu legen. Gehen die Dinge so weiter, wie in den letzten zwanzig
Jahren, so ist die Stunde nicht mehr fern, in der das deutsche Volk sagen wird:
Du Landwirtschaft bist kein deutsches Gewerbe mehr, du beschäftigst keine deutschen
Arbeiter, an den Herden deiner arbeitenden Bevölkerung wird nicht mehr deutsch
gesprochen, du stellst keinen deutschen Heeresersatz mehr. Nur das Geld, die
Rente, die Besitzer sind an dir noch deutsch. Darum sind wir nicht mehr
gesonnen, für dich Opfer zu bringen. .
s kann mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß
der italienisch-türkische Krieg zu einer in nicht allzufernen Zukunft
zu erwartenden Aufrollung der Dardanellenfrage erheblich beitragen
wird. Wir werden allem Anschein nach in den nächsten Zeiten
noch mancherlei über diese Angelegenheit zu hören bekommen, und
es ist daher nicht ganz überflüssig, die Geschichte der Dardanellenfrage, die als
ein Bestandteil der orientalischen Frage in der europäischen Politik seit mehr
als einem Jahrhundert den Gegenstand ernstester Sorge der Kabinette bildet,
in kurzen Zügen zu skizzieren.
Es gab keine Pontus- und keine Dardanellenfrage, solange nicht nur die
Dardanellen, das Marmarameer und der Bosporus, sondern auch das Schwarze
Meer vollständig von türkischen Territorien eingeschlossen waren. Sie tauchte
aber in demselben Zeitpunkt auf, in dem Rußland seine Grenzen von Norden
her bis an die Gestade des Schwarzen Meeres vorschob. Dieser Zeitpunkt wird
bezeichnet durch das Jahr 1774, in dem der russisch-türkische Friede von Kutschuck-
Kainardsche geschlossen wurde. Das Vordringen Rußlands an den Pontus hatte
zur Folge, daß dieser aus einem türkischen Binnensee und mare clausum zu
einem Teil des Weltmeeres und zu einem mare liberum wurde. Damit wurde
dem Handel der damaligen Zeit, so beschränkt er auch im Verhältnis zu dem
heutigen sein mochte, ein Gebiet erschlossen, das Schätze barg und dessen Reichtum,
namentlich an Naturalien, auf seine zukünftige große wirtschaftliche Bedeutung
schließen ließ. Die Voraussetzung für einen umfangreichen Handelsverkehr von
und nach dem Schwarzen Meere war jedoch die freie Durchfahrt durch die
Dardanellen und den Bosporus, zu denen die Türkei die Schlüssel verwahrte.
Mit Recht berief sich Nußland auf das seit den Tagen Hugo Groots anerkannte
Prinzip der Freiheit des Meeres und forderte für seine Schiffahrt ungehinderten
Verkehr durch die einzige zum Pontus führende Seestraße. Es ist verständlich,
wenn die Türkei nur widerstrebend und ungern zunächst Rußland (1774), in
der Folge dann auch Österreich, Frankreich, England usw. die freie Schiffahrt
durch die Dardanellen zugestand. Es blieb ihr jedoch wohl oder übel nichts
anderes übrig; sie machte jedoch von vornherein zum Schutze ihrer vitalsten
Interessen und ihrer Hauptstadt den Vorbehalt, daß allen nicht türkischen Kriegs¬
schiffen (mit Einschluß der russischen) die Einfahrt in die Dardanellen und der
Aufenthalt in ihnen verwehrt sein solle. Mit diesem Vorbehalt drang die Türkei
zunächst Rußland, in der Folge aber auch den übrigen Mächten gegenüber durch.
Allerdings hat England diesen Grundsatz nicht ohne weiteres akzeptiert, sondern
ließ in dem russisch-türkischen Kriege von 1807 seine Flotte unter Thomas
Duckworth in die Dardanellen einlaufen, um mit der Drohung, es. werde
Konstantinopel beschießen, die Türken einem Friedensschluß mit den Russen
geneigt zu machen. Die Furcht, im Marmarameer eingeschlossen zu werden,
veranlaßte Duckworth jedoch nach kurzer Zeit, sich und seine Flotte durch einen
schleunigen Rückzug in Sicherheit zu bringen. Allein zwei Jahre später, in dem
türkisch-englischen Vertrage von 1809, erkannte auch England das Recht der
Türkei an, den Bosporus und die Dardanellen allen nichttürkischen Kriegsschiffen
zu verschließen.
Die Vorgänge der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts führten dann
zur ersten internationalen Regelung der Dardanellenfrage. Mehemed Ali,
türkischer Vizekönig in Ägypten, erhob sich 1831 gegen den Sultan, besetzte in
kurzer Zeit Syrien und drohte, sich Kleinasien zu unterwerfen. Von ihren Freunden
verlassen, sah die Türkei aus ihrer Notlage keinen anderen Weg, als sich in die
Arme ihres alten Erbfeindes zu werfen. Nußland zögerte nicht, der Türkei seinen
diplomatischen Schutz zu leihen und ließ außerdem am 20. Februar 1833 trotz
des Protestes des französischen Gesandten in Konstantinopel seine Flotte in den
Bosporus einlaufen. Die Vorgänge führten zu dem russisch-türkischen Schutz-
und Trutzbündnis von Hunkiar-Skalessi (26. Mai / 8. Juli 1833), in dem
Rußland gegen die Pflicht der Hilfeleistung das Recht eintauschte, mit seiner
Flotte in den Bosporus und die Dardanellen einzulaufen. In einem geheimen
Zusatz verzichtete Rußland seinerseits auf etwaige Hilfeleistung durch die Türkei,
ließ sich jedoch folgendes zusichern: „Anderseits wird die Hohe Pforte an Stelle
der Hilfe, welche sie erforderlichen Falles den Prinzipien dieses Vertrages gemäß
zu leisten hätte, ihre Wirksamkeit zugunsten des Kaiserlichen Hofes darauf
beschränken, die Meerenge der Dardanellen zu schließen, d. h. den fremden Kriegs¬
schiffen unter keinerlei Vorwand die Einfahrt in sie zu gestatten." Durch diesen
Vertrag hatte sich der Sultan, wie Metterrnch es sehr zutreffend ausdrückte,
zum ,,8ub!ime portier as3 varäaneIlL8 an 8ervice an L?ar" gemacht. Es
war selbstverständlich, daß dieser Vertrag, in dem Rußland sich unter Aus¬
beutung der Notlage der Türkei Rechte zugestehen ließ, die ihm auf Kosten des
Einflusses der übrigen Mächte auf die orientalische Frage eine gefahrdrohende
Macht in die Hände gaben und die mit den politischen Prinzipien Europas
nicht in Einklang zu bringen waren, auf den entschiedenen Widerspruch der
westlichen Mächte stieß. Trotzdem bestand er fort, bis das Jahr 1838, das
einen neuen siegreichen Aufstand Mehemed Alis brachte, zu einer anderen
Gruppierung der Mächte führte. Dieses Mal fand Frankreich es geraten,
Mehemed Ali, aus dessen Genie es baute, in weitestgehender Weise zu unter¬
stützen, um vielleicht auf diese Art die Vorherrschaft im Mittelmeer zu erlangen
und damit das Wort des Korsen zu verwirklichen, daß das Mittelmeer ein
französischer See sein müsse. Ein europäischer Krieg schien unausbleiblich, wenn
es nicht gelang, dem Vorgehen Ägypten-Frankreichs Einhalt zu tun. Rußland
befand sich in eigentümlicher Lage. An und für sich hatte es zwar das lebhafteste
Interesse an einer Schwächung der Türkei und an einer entsprechenden Stär¬
kung des eigenen Einflusses in Konstantinopel. Nicht aber konnte es zugeben,
daß die Türkei einem Manne wie dem ägyptischen Vizekönig in die Hände fiel.
Daß es geschehen könne, darauf deuteten alle Zeichen. Die Westmächte, ins¬
besondere England, Österreich und Preußen, hatten hingegen keinerlei Interesse
an einer weiteren Schwächung der Macht des Sultans, die, wie die Dinge
lagen, nur zum Vorteil Rußlands ausschlagen konnte. Einig waren sie jedoch
mit Rußland, daß die herrschende Dynastie zu schützen sei. Österreich machte
daher im Januar 1840 den Vorschlag, eine internationale Konferenz einzuberufen.
Dieser Vorschlag fand die Zustimmung Englands, Preußens sowie Rußlands
und führte in seinem weiteren Verlauf zu der Ouadrupelallianz vom 15. Juli
1840. Nach weiteren hier nicht interessierenden Vorgängen kam der türkisch-
ägyptische Friede (Anfang 1841) zustande, dem der in London abgeschlossene
sogenannte „Dardanellenvertrag" vom 13. Juli 1841 folgte. In Artikel 1
dieser „Lonvention ac8 äötroit8" sprach der Sultan seine Absicht aus, „in
Zukunft das unabänderliche Prinzip, daß der Bosporus und die Dardanellen¬
straße den Kriegsschiffen aller Länder verschlossen bleiben sollen, als einen uralten
Grundsatz seines Reiches in Ausführung zu bringen"; in Artikel 2 wurden
besondere Bestimmungen über die zum Dienst der Gesandten bestimmten leichten
Fahrzeuge unter Kriegsflagge getroffen. „Das Gesamtergebnis war, daß statt
des russischen Einflusses der gesamte europäische entscheidend wurde für die
Lösung der orientalischen Frage. Unter den verbündeten Mächten aber hatte
England den Hauptgewinn, denn unter den neugeschaffenen Verhältnissen, die
lediglich die wiederhergestellten alten waren, besaß es wieder das unbestrittene
Übergewicht*)."
Im Jahre 1853 hielt Kaiser Nikolaus der Erste von Rußland den Zeit¬
punkt sür gekommen, die orientalische Frage ihrer Lösung entgegenzuführen und mit
der Türkei, von der „man nicht wisse, ob sie schon gestorben sei, oder ob sie
erst im Begriffe stehe zu sterben", eine Art polnische Teilung vorzunehmen.
Die Verhandlungen des Fürsten Menschikow mit der Hohen Pforte hinsichtlich
der heiligen Stätten, die den gesuchten ca8us belli bilden mußten, gaben das
Signal zu einem europäischen Krieg, der seinen Anfang nahm, als am 2. Juli
1853 zwei russische Armeekorps in die Donaufürstentümer einmarschierten. Die
Türkei beantwortete diesen Friedensbruch nicht ohne weiteres mit einer Kriegs¬
erklärung, um zunächst das Ergebnis der Vermittlungsversuche der Mächte
abzuwarten. Unter diesen lehnten insbesondere England und Frankreich auf
das entschiedenste die Absicht Rußlands ab, das europäische Gleichgewicht, das
ohne eine lebensfähige Türkei nicht aufrecht zu erhalten sei, zu stören. Da die
Vermittlungsversuche scheiterten, traten England und Frankreich auf die Seite
der Türkei. Noch bevor der Krieg von türkischer Seite offiziell erklärt war,
bat diese die beiden Mächte, die ausdrücklich erklärten, daß ihnen selbstsüchtige
Zwecke fernlägen und sie lediglich deshalb in ein Schutz- und Trutzverhältnis
zur Türkei getreten seien, um zum Zweck der Erhaltung des europäischen Gleich¬
gewichts einen dauernden Frieden zwischen der Türkei und Rußland herbeizu¬
führen ihre Flotten vorrücken zu lassen. Um die Mitte des September 1853
fuhren sie in die Dardanellen ein. Rußland sah darin eine Verletzung des
Vertrages von 1841 und ließ durch den Baron Brünnow in London gegen
dieses Vorgehen Protest erheben, der jedoch von Lord Clarenton in einer Note
vom 1. Oktober 1853 mit dem Bemerken zurückgewiesen wurde, daß von dem
Augenblicke des Einrückens der russischen Heereskörper in die Donaufürstentümer
die Türkei aufgehört habe, in Frieden zu leben; sie sei daher berechtigt gewesen,
die englische Flotte in die Dardanellen einfahren zu lassen, und England habe
das Recht gehabt, seine Flotte in die Dardanellen zu schicken. Die einzelnen
Phasen des Krimkrieges interessieren hier nicht, sondern nur sein Ergebnis in
bezug auf die Dardanellenfrage, wie es in dem Vertrage zwischen Preußen,
Österreich, Frankreich, Großbritannien, Rußland, Sardinien und der Türkei vom
30. März 1856 niedergelegt wurde.
Der Zweck dieses Vertrages war, das gestörte Gleichgewicht Europas
wiederherzustellen und es nach besten Kräften gegen eine neue Beeinträchtigung
möglichst lange zu schützen. Man glaubte dies am besten zu erreichen, indem
man nicht nur „die Hohe Pforte teilhaftig erklärte der Vorteile des öffentlichen
europäischen Rechtes und des europäischen Konzerts", sondern auch indem man
sich verpflichtete, die Unabhängigkeit und den Territorialbestand des Ottomanischen
Reiches zu achten, die genaue Beachtung dieser Verpflichtung zu garantieren,
dergestalt, daß jeder Akt, welcher dem entgegen wäre, als eine Frage des all¬
gemeinen Interesses angesehen werden sollte. (Art. 7.) Das Schwarze Meer
wurde neutralisiert. Der Handelsmarine aller Nationen geöffnet, sollten seine
Gewässer und Häfen förmlich und auf ewig den Kriegsflaggen der Uferstaaten
sowohl als aller anderen Mächte, vorbehaltlich geringer Ausnahmen, untersagt
sein. (Art. 11.) Diese Ausnahmen regelte eine Zusatzkonvention, auf die Art. 14
hinwies, in der Rußland wie die Türkei vereinbarten, nicht mehr als eine
bestimmte Anzahl kleiner Fahrzeuge unter Kriegsflagge auf dem Schwarzen
Meere zu unterhalten. Mit Rücksicht auf die Neutralisierung wurde die Auf¬
rechterhaltung oder Errichtung von militärisch - maritimen Arsenälen in diesem
Ufergebiet für unnötig und zwecklos erklärt, und Rußland und die Türkei
verpflichteten sich, kein derartiges Arsenal am Ufer des Schwarzen Meeres zu
errichten oder zu behalten. (Art. 13.) — Hinsichtlich der Dardanellen wurde
im Art. 10 gesagt, daß der Vertrag vom 13. Juli 1841 gemeinschaftlich revidiert
worden sei; im übrigen wurde auf eine weitere Zusatzkonvention hingewiesen,
die ausführt: Der Sultan einerseits, erklärt, daß er des festen Willens ist, in
Zukunft das als alte Regel seines Reiches unwandelbar festgestellte Prinzip,
nach dem es zu allen Zeiten den Kriegsschiffen der fremden Mächte untersagt
war, in die Meerenge der Dardanellen und des Bosporus einzulaufen, aufrecht
zu erhalten, und daß er, so lange sich die Pforte im Frieden befindet, kein
fremdes Kriegsschiff in die genannten Meerengen einlassen wird. Anderseits
verpflichteten sich die übrigen Signatarmächte, diese Willensbestimmung des
Sultans zu achten und sich das aufgestellte Prinzip zur Richtschnur zunehmen.
(Art. 1.) Wie in früherer Zeit behält sich der Sultan vor, denjenigen leichten
Fahrzeugen unter Kriegsflagge Passage - Firmane zu erteilen, welche, der
Gewohnheit gemäß, im Dienst der Gesandtschaften der befreundeten Mächte ver¬
wendet werden sollen. (Art. 2.)
Rußland war mit diesem Vertrage, insbesondere im Hinblick auf die
Neutralisierung des Schwarzen Meeres, wenig zufrieden; es sah in ihm ein
Instrument, das seine Interessen auf das schwerste gefährdete. Es suchte daher
nach Anlässen, die ihm ermöglichten, die ihm auferlegten Fesseln abzuschütteln.
Verletzungen des Pariser Vertrages in Rumänien und die Änderungen in den
politischen Verhältnissen Europas, die das Jahr 1870 mit sich brachte, boten
sie ihm. Am 31. Oktober 1870 teilte es den Mächten mit, daß es sich an die
Bestimmungen des Vertrages über die Neutralisierung des Schwarzen Meeres
nicht mehr gebunden erachte. Die Folge dieser einseitigen Kündigung war die
Einberufung einer Konferenz nach London, „in der man sich im Sinne der
Eintracht über die Revision derjenigen Bestimmungen des am 30. März 1856
abgeschlossenen Vertrages verständigen (wollte)', welche sich auf die Schiffahrt
im Schwarzen Meer und auf die Donau beziehen". Das Resultat der Ver¬
handlungen wurde in dem Vertrage vom 13. März 1871 niedergelegt, dessen
1. Artikel lautet: „Die Artikel 11, 13 und 14 . . . ebenso wie die zwischen
der Hohen Pforte und Rußland abgeschlossene und dem besagten Artikel 14
angefügte besondere Konvention wird aufgehoben. . . ." Zugleich aber durch¬
löcherte man das 1856 noch „unwandelbar festgestellte Prinzip", daß es „zu
allen Zeiten" den fremden Kriegsschiffen, so lange die Türkei in Frieden lebe,
verwehrt sein solle, in die Dardanellen einzulaufen, indem man (Art. 2) dem
Sultan die Machtvollkommenheit gab. die Meerengen der Dardanellen und des
Bosporus „in Friedenszeiten den Kriegsschiffen der befreundeten und alliierten
Mächte zu öffnen, falls die Hohe Pforte das für nötig erachten sollte, um die
Ausführung der Stipulationen des Vertrages vom 13. März 1856 sicher zu
stellen." Es war ein großer diplomatischer Erfolg, den Rußland mit dieser
Regelung erreichte, der um so höher anzuschlagen war, als er zeitlich mit jener
großen panslawistischen Bewegung zusammenfiel, die unter der Devise „Zu¬
sammenfassung aller Slawen unter Leitung Rußlands" die Balkankriege der
siebziger Jahre, insbesondere den Befreiungskrieg Bulgariens (1877/78), zur
Folge hatte.
Der russisch-türkische Krieg um Bulgarien wurde bekanntlich zum Abschluß
gebracht durch den Berliner Kongreß von 1878, auf dem Bismarck als „ehr¬
licher Makler" die orientalische Frage für eine geraume Zeit zu lösen suchte.
Obwohl der Kongreß sich auch mit der Meerengenfrage beschäftigte, hat er doch
davon abgesehen, eine andere als die in den Verträgen von 1856 und 1871
vorgesehene Regelung zu finden. Die Kongreßakte vom 13. Juli 1878 heben
in ihrem wichtigen Akte 63 hervor, daß alle diejenigen Bestimmungen des
Pariser und des Londoner Vertrages aufrecht erhalten bleiben, soweit sie nicht
durch den neuen Vertrag besonders aufgehoben werden. Da das in bezug auf
die Meerengen nicht der Fall ist, so gelten für sie heute — eine weitere inter¬
nationale Regelung ist nicht erfolgt — folgende Grundsätze: 1. der Verkehr
durch den Bosporus und die Dardanellen steht den Handelsschiffen grundsätzlich
jederzeit frei; dieser Grundsatz ist allerdings in keinem Vertrage formell aus¬
gesprochen; — 2. allen nichttürkischen Kriegsschiffen, mit Ausnahme der kleinen
für die Gesandtschaften bestimmten Fahrzeuge, ist die Einfahrt in die Meerengen
und der Aufenthalt im Bosporus, Marmarameer und in den Dardanellen in
Friedenszeiten grundsätzlich verboten; — 3. der Sultan kann, um den Inhalt
des Vertrages von 1856 sicher zu stellen, Kriegsschiffen befreundeter und alliierter
Mächte die Einfahrt in die Dardanellen gestatten.
Dieses die Rechtslage, soweit sie durch die erwähnten Verträge geschaffen
wurde. Nun hat das Bombardement, welches zwei Dutzend italienischer Kriegs¬
schiffe in der Nacht vom 18. zum 19. April auf die den Eingang der Darda¬
nellen schützenden Forts eröffnete, zur Folge gehabt, daß seitens der Türkei
eine Sperrung dieser Seestraße vorgenommen wurde, die den gesamten Handel
und die Schiffahrt von und nach dem Schwarzen Meer lahmlegte und den
Handel- und schiffahrttreibenden Angehörigen einer Reihe von Staaten einen
Schaden zufügte, der sich auf viele Millionen beziffert.
Allen voran dürfte Rußland durch die Dardanellensperre betroffen sein,
und es ist verständlich, wenn man dort die Vorgänge der jüngsten Zeit zum
Anlaß nimmt, die Meerengenfrage auf ihre wirtschaftliche Bedeutung hin zu
prüfen, wobei der militärische Gesichtspunkt im Augenblick durchaus in den
Hintergrund tritt. Vor allem ist es der südrussische Getreidehandel, der seine
Interessen ernstlich gefährdet sieht. Südrußland, die Kornkammer Rußlands,
ist auf die Ausfuhr seiner reichen Getreideschätze unbedingt 'angewiesen und jede
längere Zeit anhaltende Störung des Exportes ist geeignet, das südrussische
Wirtschaftsleben in empfindlicher Weise zu beeinträchtigen. Es ist eine immerhin
günstige Fügung, daß die Sperre zu einer Zeit geschah, in der das Export¬
bedürfnis weniger lebhaft hervortritt als es einige Monate später, sobald die
neue Ernte eingebracht ist, der Fall sein wird. Indessen ist der Schaden
angesichts der Bedeutung des Getreidehandels für Südrußland schon jetzt außer¬
ordentlich beträchtlich. Außer ihm sind es namentlich die südrussische Schiffahrt
und der Levantehandel, die besonders in Mitleidenschaft gezogen werden. —
In zweiter Linie sind es wohl England und Deutschland, die beide einen aus¬
gedehnten Schiffs- und Handelsverkehr mit den: Schwarzen Meer unterhalten,
auf deren Wirtschaftsleben die Sperre einen nachteiligen Einfluß ausgeübt
hat; ihnen folgen Österreich, Rumänien, Griechenland usw.
In Rußland sowohl wie in England ist die Frage aufgeworfen worden,
ob und wieweit die Türkei für den Schaden, den die Sperre verursacht hat,
ersatzpflichtig gemacht werden könne. Soweit bekannt, hat der russische Bot¬
schafter in Konstantinopel in der Tat die Frage des Schadenersatzes zur Sprache
gebracht, wenngleich die Hoffnung, mit einer derartigen Forderung durchzuringen,
bei der russischen Regierung selbst nicht besonders groß zu sein scheint.
Zur Beantwortung der Frage ist davon auszugehen, daß die die Darda¬
nellen betreffenden Verträge die Türkei an keiner Stelle exx>ressi8 verbig ver¬
pflichten, die Dardanellen unter keinen Umständen zu sperren. Ja mehr noch!
In keinem der Verträge wird ausdrücklich ausgesprochen, daß die Handelsschiffe
zu jeder Zeit die Meerengen passieren können und dürfen. Da besondere inter¬
nationale Vereinbarungen in bezug auf die Handelsschiffahrt in den Dardanellen
usw. nicht bestehen, so sind auf sie in dieser Hinsicht die allgemeinen Grund¬
sätze des Völkerrechts anzuwenden. Nach den Regeln des Völkerrechts sind
aber Meerengen, die zwei offene Meere miteinander verbinden, soweit nicht
ausdrücklich etwas anderes vereinbart ist, ebenso frei wie das Weltmeer selber;
sind diese Meerengen von den Territorien nur eines Staates eingeschlossen und
können sie von ihm von den Ufern aus beherrscht werden, so stehen sie zwar
unter der Herrschaft dieses Staates, er hat aber nicht das Recht, unter nor¬
malen Verhältnissen den Handelsverkehr und die Schiffahrt einzuschränken. Es
versteht sich danach von selbst, auch ohne daß ein Vertrag es ausspricht/ daß
die Handelsschiffahrt durch die Dardanellen, das Marmarameer und den Bos¬
porus grundsätzlich frei ist. Besondere Verhältnisse bestehen in Kriegszeiten.
Das vornehmste Recht des Staates ist das der Selbsterhaltung. Keine Macht
auf Erden, keine internationale Vereinbarung wäre in der Lage, einem Staat
die Verpflichtung aufzuerlegen, seine Selbsterhaltung hinter die Interessen anderer
Glieder der Völkerrechtsgemeinschaft zurückzusetzen. Wenn die Türkei die Darda¬
nellen sperrte und damit keine Rücksicht auf den neutralen Mächten dadurch
entstehenden Schaden nahm, so handelte sie lediglich nach diesem Prinzip, da
sie unter allen Umstünden eine etwaige Einfahrt der italienischen Flotte in die
Dardanellen und die daraus sich ergebenden unabsehbaren Folgen verhindern
mußte. Das Recht der Türkei, unter den gegebenen Verhältnissen die Meerenge
zu sperren, kann schlechthin nicht bestritten werden, woraus folgt, daß aus
der Tatsache der Sperre als solcher ein Schadenersatz nicht abgeleitet werden
kann.
Die weitere Frage aber ist: hat die Sperre etwa über die zur Abwehr
der italienischen Kriegsoperationen notwendige Zeit hinaus bestanden, bestand
sie ungerechtfertigt lange und ist daraus gegebenenfalls eine Schadenersatz¬
forderung abzuleiten? Grundsätzlich ist die Türkei, da die Dardanellen eine
für den Handelsverkehr freie Meerstraße sind, verpflichtet, sie solange offen zu
halten und so bald wieder zu öffnen, als keine unmittelbare Gefahr die
Sperrung erfordert. Es ist lediglich czuae8die> taeti wann eine solche Gefahr
beginnt, wann sie aufhört. Im vorliegenden Falle hat meines Erachtens die
Türkei ihre Verpflichtungen nicht verletzt, da die Operationen der italienischen
Flotte, die Besetzung einer Reihe von Inseln im Ägäischen Meere usw. in der
Türkei wohl die Überzeugung rechtfertigen konnten, daß die Gefahr eines An¬
griffes auf die Dardanellen und letzten Endes auch auf Konstantinopel nicht
beseitigt war. Anders würde der Fall zu beurteilen sein, falls Italien den
Mächten und durch diese der Türkei eine bindende Erklärung abgegeben hätte,
einen weiteren Angriff auf die Dardanellen unterlassen zu wollen. Hätte die
Türkei nach Eingang dieser Erklärung, der natürlich ein entsprechendes Ver¬
halten Italiens hätte folgen müssen, die Sperre aufrecht erhalten, so wäre
allerdings eine etwaige Schadenersatzforderung nicht unberechtigt gewesen. Eine
derartige bindende Erklärung ist aber, soweit bekannt, von keiner Seite von
Italien erbeten und von ihm auch nicht gegeben worden. Danach ist meines
Erachtens das Verhalten der Türkei durchaus korrekt gewesen, wenngleich nicht
verkannt werden kann, daß zwischen dem Zeitpunkt, in dem sie ihre Bereit¬
willigkeit zur Öffnung der Dardanellen erklärte, in dem also nach ihrer
Überzeugung eine unmittelbare Gefahr nicht bestand, und dem Zeitpunkt
der effektiven Öffnung ein recht langer Zwischenraum lag. Allein, wie es scheint
kann die Pforte die Verantwortung dafür mit Recht unter Hinweis auf die
Witterungsverhältnisse ablehnen, die es ihr nicht ermöglichten, die ausgelegten
Minen schneller zu beseitigen. Wie die Dinge lagen, halte ich den Standpunkt
der Türkei, die jede Forderung auf Schadenersatz ablehnt, für berechtigt.
Nun soll die Türkei darauf hingewiesen haben, man möge sich an Italien
halten; Italien trage die Verantwortung für die Sperre; hätte es nicht vor
den Dardanellen demonstriert, würden sie nicht geschlossen worden sein. Wie
steht's mit diesem Hinweis? Man mag sich zu dem italienisch-türkischen Kriege
stellen wie man will, niemand wird Italien unter den obwaltenden Umständen
verwehren können, seine Flotte ins Ägäische Meer und, wenn es nur die Macht
dazu hat, auch in die Dardanellen und vor Konstantinopel zu schicken. Irgend¬
eine Vereinbarung, die Italiens Freiheit beschränkte, liegt nicht vor. Was
Italien tat war in keiner Weise eine Verletzung des Völkerrechts oder internationaler
Konventionen; daß neutrale Mächte durch seine Maßnahmen geschädigt wurden,
brauchte es nicht davon abzuhalten, sein Recht auszuüben. Irgend welche Ein¬
wendungen kann es mit den Worten zurückweisen: L'sse la Zuerrs! Wenn es
trotzdem relativ schnell seine Demonstrationen vor der Meerenge einstellte und
(bis zum Augenblick) nicht wiederholte, so ist das eine freiwillige (und zwar
eine politisch kluge) Willensäußerung. Wollte es aber die Aktionen wieder¬
holen, so würden völkerrechtliche Bedenken auch dagegen nicht geltend zu
machen sein. Aus politischen Rücksichten jedoch würde es dabei vorsichtig zu
Wege gehen müssen, denn eines darf nicht verkannt werden: „Jeder dritte
Staat hat selbständig darüber zu befinden, bis zu welchen Grenzen er die
mittelbare oder unmittelbare Beeinträchtigung seiner eigenen Interessen ruhig
mit ansehen will" (Perels). Mit anderen Worten, jede Macht hat das Recht, zu
gegebener Zeit zum Schutze seiner Interessen die völlige Neutralität aufzugeben
und sich in den Zustand bewaffneter Neutralität zu setzen. Würden die Ver¬
hältnisse, mögen sie nun durch die Türkei oder Italien hervorgerufen sein, eine
der interessierten Mächte zwingen, diesen Schritt zu unternehmen, so würde der
Tripoliskrieg wahrscheinlich eine Wendung nehmen, die unter allen Umständen
vermieden werden muß.
Eine Schadenersatzforderung, von welcher Seite sie kommen mag, an wen
sie gerichtet sein mag, kann zur gegenwärtigen Stunde meines Erachtens mit
irgend welchen Grundsätzen des Völkerrechts oder irgend welchen vertraglichen
Stipulationen nicht begründet werden. Allein das hat die verhältnißmäßig doch
nur kurze Sperre der Dardanellen gezeigt, daß die Meerengenfrage nicht nur
eine militärisch, maritime Seite, sondern auch eine eminent wichtige wirtschaft¬
liche Seite hat. Die Frage: was soll werden, wenn die Verbindung mit dem
Schwarzen Meere einmal auf längere Zeit und dazu vielleicht in einem noch
viel ungünstigeren Zeitpunkt als dem jetzigen geschlossen wird? ist nicht
unberechtigt, wenn man berücksichtigt, welch' große wirtschaftliche Nachteile und
finanzielle Schädigungen die am 19. April vollzogene Sperre weit über die
kriegführenden Parteien hinaus sür viele Staaten gehabt hat. Angesichts dessen
ist die hier und dort erhobene Forderung, daß eine neue internationale Kon-
ferenz die Frage der Verhinderung derartiger Schädigungen, eventuell eine Neu¬
tralisierung der türkischen Meerengen prüfen müsse, eingehender Überlegung wert.
Wie es scheint ist namentlich Rußland, aus den Vorgängen der letzten Wochen
die Konsequenzen ziehend, nicht abgeneigt, den Kabinetten der Mächte dieses
Problem zu stellen.
in Jahre 1826 besuchte Heine in Hamburg, um die neuen Er¬
scheinungen zu besichtigen, die Buchhandlung von Hoffmann und
Campe und traf dabei mit deren Inhaber Julius Campe zusammen.
Aus dieser Begegnung erwuchs ein langjähriger geschäftlicher
Verkehr, über den wir mancherlei Zeugnisse besitzen. Neue, noch
ungedruckte Dokumente fand ich im Nachlaß Immermanns, dessen Benutzung
und Verwertung mir von der Direktion des Goethe- und Schiller-Archivs in
Weimar seit Jahren gütigst gestattet wird. Es sind Briefe Campes an Immer-
mann, die manche psychologisch und literarhistorisch interessante Mitteilungen
über Heine enthalten. Sie beleuchten in erster Linie sein Verhältnis zu Campe,
werfen aber auch Streiflichter auf seine Stellung zu bedeutenden Zeitgenossen,
wie Immermann, Platen, Gutzkow. Manche menschlich sympathische Züge
erfahren wir von dem vielumstrittenen Dichter, aber auch anderes, das seinen
Gegnern leicht zur Waffe in ihrem Verfolgungskampfe werden kann. Mögen
diese Zeilen möglichst unbefangene Leser finden!
Bald nachdem Heine mit Campe in Verbindung getreten war, hatte er
seinen neuen Verleger auf den von ihm hochverehrten Immermann aufmerksam
gemacht, in der Hoffnung, auch diesem, der für eine geplante Zeitschrift nach
einem Verlag suchte, damit einen Gefallen zu erweisen. Kurz darauf wandte
sich Campe mit folgenden Zeilen an Immermann, der damals noch in seiner
Vaterstadt Magdeburg lebte:
„Hamburg d. 17 Octobr 1826: Herr Dr. Heine gab mir den Auftrag
an Sie, mein verehrter Herr Criminalrichter! ein Expl. des 3^ Bandes der
Wiener Jahrbücher der Lid. 1826 zu senden.
Mit lebhafter Freude erfülle ich diesen Befehl u. wünsche Ihnen von Herzen
Glück dazu, daß Sie diesen Rezensenten gefunden haben; der stets mit Würde
und Sachkenntniß seine Jünger behandelt.
Heine erhielt einst von diesem Werke den Band von mir geschenkt, worin
seiner, von derselben Hand, gedacht wurde. Er freute sich damals sehr darüber;
er wünschtJhnen hiermit eine gleiche Freude zu bereiten. Auch klagt er sich an, solange
nicht an Sie geschrieben zu haben! — Bald will er das Versäumte nachholen.
Den größten Teil dieses Jahres lebte er hier und ging dann über Cux°
daven nach Nordernev: wo er der letzte Gast blieb*). Seit 3 Wochen wohnt
er in Lüneburg bei seinem Vater, gerne lebt er bei uns; es wird also nicht
lange mehr währen, so trifft er hier ein.
Der hoffentlich bald beginnende Druck des 2^°" Bandes der Reisebilder**)
verlangt auch gewissermaßen seine Gegenwart."
Die Wiener Jahrbücher enthielten im Jahrgang 1826 eine umfangreiche
Besprechung von Immermanns Jugendwerken aus der Feder des Herausgebers
Deinhardstein, mit welcher der Dichter zufrieden sein konnte. Ein Jahr früher
hatte dasselbe Journal ein Referat über Heines Tragödien und lyrisches Inter¬
mezzo gebracht. Heines Dankbarkeit für ein aufmunterndes Wort, das Immer-
mann 1822 im Rheinisch-Westphälischen Anzeiger über seine Poesien öffentlich
ausgesprochen hatte, gab sich immer von neuem kund, er wankte nicht in seinem
Bemühen, dem „hohen Mitstrebenden" zu nützen, besonders nachdem 1824 eine
persönliche Begegnung in Magdeburg seine Bewunderung vor Immermann noch
gesteigert hatte***).
Ein zweiter Brief Campes lautet:
„Hamburg d. 7 Decbr. 1826
sehr geehrtes Schreiben vom 1t°" Decbr. habe ich empfangen und freue mich,
daß Sie die freundliche Gabe Heines gern angenommen haben. Noch ist er
nicht hier; doch sagte er mir in einem eben empfangner ^nicht erhaltenen^ Briefe,
daß er meciio Januar hierher kommen wollte und dann sogleich den Druck
des 2^« Bandes der Reisebilder beginnen könnte: der 6 Wochen vor Ostern
nach seiner Meinung fertig werden soll. — Was von mir abhängt, soll geschehen,
um diese gute Absicht in Erfüllung zu bringen; doch fürchte ich, daß das gute
vorhaben durch Heines LorreLturen um ein Ansehnliches verlängert werden dürste.
Uebrigens befindet er sich wohl; klagt aber über Langeweile, die in Lüne¬
burg zu Hause ist. Heine ist zu gütig gegen mich gewesen. Er glaubt daß
ich für den Autor mehr thue wie andere Verleger; daher wünschte er längst,
daß Sie mir etwas zum Versuch übergeben mögten. So zimlich kenne ich das
belletristische Publicum mit seinen Eigenheiten. Gern war ich dazu willig, doch
hätte ich zum Anfang etwas von Ihnen erhalten mögen, worauf Sie einen
besonderen Werth legten. Ich glaube nicht, daß er Ihnen jemals darüber etwas
gesagt hat: da er für seine Freunde sorgt, ohne darüber zu sprechen."
Aus einem Briefe Heines an Friedrich Merkel (Lüneburg, den 1. Januar
1827)*) wissen wir, daß er inzwischen den auf ihn zurückzuführenden Entschluß
Campes, etwas von Immermann zu verlegen, vernommen hatte. Seine Freude,
dem „biedern" Immermann dadurch zu zeigen, wie sehr ihm seine „Interessen
am Herzen liegen", war „unsäglich", zumal da er zugleich auch in Campes
Interesse gehandelt hatte.
Am 8. Januar 1827 berichtet Campe:
„Heine ist noch nicht hier; er kommt aber in wenigen Tagen, wie er mich
sehr oft wissen läßt; Ihren Brief hat er empfangen; er theilte einem Freunde
die Wandernde Quadrille mit, worüber er sich freute."
Noch bevor Immermanns Kritik über den ersten Band der „Reisebilder"
im Druck erschien (Berliner Jahrbücher Ur. 95, 96 im Mai 1827), erhielt er
den zweiten Teil, für den er auf Heines Wunsch einige Epigramme verfaßt
hatte, mit folgendem Begleitschreiben des Verlegers:
„Hamburg d. 23 April 1827
empfangen anliegend den 2^°» Theil von Heines Reisebildern, der eben fertig
geworden ist. Ihre Xenien stehen in einem sehr wilden Buche: das leicht Ver¬
folgungen zu erleiden haben mögte!
Ihr freundliches Schreiben hat Heine bis zuni Tage vor seiner Abreise
bei sich behalten; er wollte und wollte immer an Sie schreiben, wird aber wol
nicht dazu gekommen seyn, denn er trug mir viele herzliche Grüße an Sie auf,
deren ich mich hierdurch entledigen will.
Am Tage (d. 12^" d.) wo ich das Buch hier ausgab, ging er mit dem
DampWoote nach London, wo er den 3'°« Bd ausarbeitet, der Michaelis
erscheinen soll."
Die Gegner Heines waren mit Immermanns Besprechung des ersten Reise¬
bilderbandes nicht einverstanden und meinten, der Verfasser habe Heine, indem
er ihn mit dem Romantiker Achin von Arnim zusammenstellte, eine unver¬
diente Ehre angetan.**) Schon vor dem Erscheinen des zweiten Bandes befürchtete
Varnhagen auf Grund von Hamburger Nachrichten, daß Heine die durch den ersten
Band erweckten Ärgernisse noch vermehren werde. Seine Befürchtung erwies
sich als berechtigt, und im dritten Bande steigerte der Dichter sie auf einen
noch höheren Grad. Die Fertigstellung dieses Bandes verzögerte sich zu Campes
Bedauern freilich erheblich. Am 18. August 1827 klagt der Verleger in einem
Schreiben an Immermann:
„Von Heine habe ich vor 8 Wochen einen Brief aus Brighton gehabt,
dorthin mußte ich ihm auch Ihre Addresse geben. Er befand sich schlecht (krank);
ob das mehr wie gewöhnlich war, weiß ich noch nicht, denn ich erhielt keine
Zeile später, obgleich ich mit dem ersten Dampfboote ein Mehreres bekommen
sollte, das nun 7 Mal leer für mich angekommen ist. Er klagt und singt nur
Klagelieder: .London, das übertriebene, das unmenschliche London habe ihn in
jeder Hinsicht ruiniert.' Nach Margate wolle er gehen, um die Seebäder zu
gebrauchen. Er wird sich sehr lästig dort befinden und mit Unannehmlichkeiten
aller Art zu kämpfen haben. In 8 Wochen wollte er über Holland zurück¬
kehren, dann hoffe er endlich feine Lieblingskarikaturen zu sehen (die Holländer.) *)
Ja, mit unserm lieben Heine habe ich große Noth, selbst um Kleinigkeiten von
ihm zu bekommen. Den 3°°" Theil der Reisebilder sollte ich bestimmt zu Michaelis
ausgeben können; ich rechne nicht darauf, ihn vor Ostern zu erhalten, was
wahrlich mir großen Schaden bringt."
Campe verstand sich als geschickter Verleger vortrefflich auf den Vertrieb
schriftstellerischer Produkte, hatte sich aber geschäftlich wenig generös gegen Heine
erwiesen, und infolgedessen war bei diesem allmählich eine Verstimmung ein¬
getreten, die ihn im Verein mit Geldmangel veranlaßte, mit Cotta anzuknüpfen.
Durch Varnhagen hatte er bei dem Stuttgarter Verleger anfragen lassen, ob
er ihn für sein Morgenblatt beschäftigen wolle. Cotta machte ihm darauf
glänzende Anerbietungen, aber noch mochte Heine Campe gegenüber davon
keinen Gebrauch machen: „Ich will beileibe Campe keinen Floh ins Ohr setzen.
Das wäre jetzt ohne Nutzen, und ich hab' ihn zu lieb, um ihn unnötigerweise
ZU prickeln. Er tut viel für meine Kinder, und ich bin dankbar. Aber auf
seine Generosität werde ich mich nie mehr verlassen." (An Friedrich Merkel
d- 1. Juni 1827**). Noch am 20. August erklärte Heine demselben Adressaten***),
er werde „in nichts" auf Cottas Vorschläge eingehen und wieder ein gutes
Buch für Campe liefern. In Hamburg scheint ihn aber Merkel umgestimmt zu
haben, denn, wie das folgende Schreiben an Immermann lehrt, hielt Heine
doch eines Tages Cottas Anerbieten Campe vor, und dieser fürchtete schon, den
Dichter, mit dessen „Reisebildern" er gute Geschäfte gemacht hatte, — von dem
ersten Bande, dessen dauerndes Verlagsrecht ihn nur fünfzig Louisdor kostete,
waren innerhalb eines Jahres fünftausend Exemplare abgesetzt worden — für
immer zu verlieren I
„5. Okt. 27 Hambg.
Seit 14 Tagen ist Heine hier; er will nach Leipzig u. dort den 3^" Reise¬
bilderband schreiben. Das Verbot der Reisebilder am Rhein, was ich als
eine Munizipal Angelegenheit betrachte, da im übrigen Preußen alles bei^
alte^ blieb, hat ihn unbegreiflich gekitzelt und eitel gemacht; einse^ Erscheinung,
die mich aufrichtig betrübt. Dieser Kitzel wird ihn der Poesie entrücken u. der
Politik zuführen, wo mehr Ruhm zu erlangen ist, wenigstens mit weniger
Mühe. Was der 3^ Theil daher bringen wird, ist keine Frage: den Libera¬
lismus in Cannings Gestalt, England, die Radicale etc.")
Er hat es mir versprochen, an Sie zu schreiben. Mir sagt er, daß Cotta
sich ihm genähet und frei gestellt habe: zu verlangen, was er möge. Mit C.
mag ich nicht wetteifern, der in H. nur den Bonapartisten erkennt u. deswegen
liebt. — Genug, Heine wird solcher Lockspeise nicht wiederstehen u. seine freie
Meinung behaupten können, die solchen Hebeln nicht gewachsen ist; so oft u. so
sehr er auch versichert nie von mir zu gehn. Was ich für H. und seine
Anerkennung that, wird nie ein Cotta thun. Der wirft ein^ Handvoll Gold
weg u. glaubt nun alles damit gethan zu haben, was man wünschen mag,
u. überläßt das Buch seinem Schicksal.
Ich bemerke das, damit es Sie nicht wundert, wenn unter einem Buche
von Heine gelegentlich eine andere Firma wie die meinige stände."
Am 1. Dezember konnte der Dichter Campe von München aus mitteilen,
daß er in der Tat in den Dienst Cottas getreten sei und bei den „Annalen"
und dem „Ausland" beschäftigt werde. Zugleich aber tröstete er: „Seien Sie
ohne Sorge, Campe, der dritte ,Reisebilder°°Band leidet nicht darunter, und
ihm sollen meine besten Stunden gehören."**)
Darauf bezieht sich Campe in seinen nächsten Briefen an Immermann:
„Hamb. 14. Januar 28.
Heine wird Ihnen aus München geschrieben haben. Mit seiner Stellung
ist er zufrieden und nun äußerst freundlich gegen mich; nie will er von mir
gehen u. was mehr. Er war kränklich und fürchtete sein Ende! Für den Fall
sollte ich seine Papiere haben. Wenn das Clima ihm lästig werden will, geht
er nach Italien. Ich habe 2 Jahre in diesem Lande zu Fuß herumgelaufen;
oft mit Heine darüber gesprochen u. den Wunsch dahin bei ihm belebt.
Unendlich würde es mich ergötzen, ihn dort zu sehen, mit seinem plastischen
Blick. Er würde uns Italien auf eine neue Weise eröffnen: des bin ich über¬
zeugt. Er giebt die polie. Annalen heraus und arbeitet am Auslande. Die
Stellung kann ihn nicht erfreuen; es ist also keinem Zweifel unterworfen, daß
er bald die Alpen überschreitet. Ich sehe ihn schon in Paestum dem alten
biedern Seume*) folgend, der ungebunden, aber am wahrhaftigsten schildert.
Einige 20 Jahre nach ihn Jsle^ folgte ich in Sicilien seinen Schritten, und
hätte ich die Gabe gehabt zu schreiben, ich würde nur dasselbe haben sagen
können. Heine ist ein guter Botaniker, der versteht überall die Blumen zu
finden, wo anders nur die Sträucher oder Blätter sehen, daher erwarte ich
von seiner IZxcursion viel."
„Hambg. ^Postst. 19. 4.)
Haben Sie von Heine Nachricht? Er geht, wenn der 3^° Reisebilderband
fertig ist, nach Italien. Die Reisebilder sind sehr gut abgegangen. Kommt
der 3'° Theil bald, wovon ich aber noch kein Blatt ^crpt. habe, so unter¬
liegt es keinem Zweifel, daß die 2^° Aufl. in diesem Jahre noch nöthig wird."
Anfang August brach Heine endlich nach Italien auf, da nach dem Ein¬
gehen der „Neuen politischen Annalen" seine Anwesenheit in München nicht
mehr erforderlich war und obenein mancherlei MißHelligkeiten ihm den Aufenthalt
dort verleidet hatten.**) Am 28. September schreibt Campe unwillig:
„Von Heine habe ich seit letzter Ostermeße nichts erhalten; ich höre jedoch,
daß er in Genua gewesen; ob er dort längere Zeit blieb oder noch dort ist,
weiß ich nicht, da er sein beliebtes Schweigen consequent durchzuführen scheint
und selbst an seine Eltern, die letzt hier leben, nicht schrieb.
An den Zt°n Reisebilderband, den er seit IV2 Jahren mir schon fest versprach,
ist nicht zu denken. Käme dieser Theil, so würde der Rest von den beiden
früheren Theilen schnell vergriffen seyn; kömmt er nicht, so kann ich noch einige
Jahre mit dem Vorrath Höckern.
Der sonst so schlaue, Weltkluge, Heine besitzt in dieser Hinsicht nicht den
rechten Tact, um sich der Lesewelt mehr zu bemeistern, das ihm so leicht werden
würde; mögte er sich nur etwas deren Ansprüchen fügen. Das muß der
Autor, der Schauspieler, der Kaufmann u. Gastwirt etc., wenn er schnell das
Ziel erreichen will. Der Weg gegen den Strom ist mühevoll u. läßt oft
erlahmen, da der Muth früher wie die Kraft sinkt."
In Genua war Heine am 16. August eingetroffen, fünf Tage geblieben
und dann über Livorno nach Lucca gegangen, von wo aus er am 1. Oktober
in Florenz anlangte. Hier hielt sich der Dichter sieben Wochen auf. Campe
berichtet an: 20. Oktober an Immermann:
„Von Heine erhielt ich gestern einen Brief aus Florenz, wo er den
Machiavell u. die Mediz. Venus studiert. Briefe treffen ihn noch dort, die
gleich u. Po8tre8wilde an ihn dahin gehn."
Die medizeische Venus erwähnt der Dichter auch in einem Briefe an
Eduard von Schenk, und zwar in einer für ihn sehr bezeichnenden Weise:
„Es war aber doch nicht die uralte zusammengeflickte Göttin der Liebe, die
mich so gewaltig erhob, vielmehr waren's die Augen einer Italienerin, die gar
andächtig an sie heraufsah — ich glaube, die alten Götter werden in Italien
noch immer angebetet."*)
In Hamburg, wohin Heine zunächst zurückkehrte, traf er mit seinem Ver¬
leger wieder persönlich zusammen. Dieser schrieb darüber an Immermann
(16. Februar 1829):
„Heine hat mich in dieser Zeit oft besucht u. Ihrer fleißig gedacht. Heute
bat ich ihn um einige Zeilen für Sie; er kann nicht. Er trug mir viel herz¬
liches auf, das ich nicht wiederholen kann. Aber auch, daß Platen eine Parodie
auf Sie geschrieben, ,Oedipus< betitelt, worin auch er vorkomme, Cotta hat
sie zum Druck u. Heine scheint dagegen gearbeitet zu haben. Genug, H. sagt,
wenn P. damit hervorträte, so würde er ihn verarbeiten, daß das Gräflein
seiner schmerzlich gedenken sollte. In Specia, zwischen Carara und Genua, sey
er vor seinem Hause vorbeigekommen; er, Heine, habe ihn nicht besucht. Ich
fragte, was P. dort mache? ,Er fräße Apfelsinen u. triebe viele Sodomite-
reien/ Hier ist Platens Geliebte W ich hielt es für griechische Nachbildungen,
und stoße auf solchen Schmutz.
Die Achtung für Pi. ist bei mir, wie soll ich sagen, gebrochen.
Heine habe ich so weit, daß er nun ernstlich zum Arbeiten gehen will,
aber wo, wo kann er arbeiten? überall will es nicht passen.
Ich schlug Hannover vor"*).
Er liebt die gesunden Knochen; die hannöverschen Junker mögten sich
etwas mit ihm zu schaffen machen, wenn er zu verwegen zwischen sie geriethe***).
Er will nach Berlin. Dort wird gewiß nichts aus den Arbeiten, daher
mögte ich ihn so gerne in sein altes Logie ^8le^ haben, wo der zweite Theil
öder Reisebilder^ zusammengefroren ist."
Platens Literaturkomödie „Der romantische Ödivus", die hier genannt
wird, war die Antwort auf Immermanns obenerwähnte Epigramme in Heines
Reisebildern, von denen einige durch ihren Spott über die neue orientalisierende
Literatur den höchsten Zorn Platens erregt hatten. Er schrieb im Sommer 1828
auf der Insel Palmaria bei Spezia seine aristophanische Satire, die Immer¬
mann, von dem Platen nur wenig gelesen hatte, ungerecht verspottete und die auch
schwere Angriffe gegen Heine enthielt.
Dieser ging am 20. Februar nach Berlin und von dort, Mitte April, um
zu arbeiten, nach Potsdam, wo ihn Campe, von der Leipziger Messe kommend,
Anfang Juni besuchte und mit dem „Odipus" Platens bekannt machte. Über
die Wirkung dieser Komödie auf Heine erzählt Campe (12. Juny 1329 — an
Immermann):
„Der Zt° Reisebilderband ist der Vollendung nahe, und Heine meinte, der
Graf wäre ihm eben so gekommen, wie ein Wild bei der Treibjagd die Reihe
der Schützen passirt; er würde ihm gehörig auf den Pelz brennen. Während
meiner kurzen Anwesenheit hatte er nicht Zeit die Lectüre zu vollenden, denn
wir waren meistens beisammen u. hatten besseres zu thun wie Platensche Misere
zu verarbeiten; daher kenne ich den ganzen Eindruck nicht, den es auf H.
gemacht hat, aber so viel ist mir klar geworden, daß er sich darüber u. die
Infamie, die so sehr nach Erbärmlichkeit schmeckt, sehr verletzt fühlte, u. besonders
Ihretwegen."*)
Ende Juli ging Heine nach Helgoland, um in der Nordsee zu baden. Hier
erhielt er Immermanns formal unbeholfene, aber in der Tonart würdige Ant¬
wort auf den „Ödipus", den ebenfalls bei Campe verlegten „Im Irrgarten der
Metrik umhertaumelnden Cavalier. Eine literarische Tragödie." Heine wollte,
wie ein Brief Campes an Immermann vom 12. August lehrt, den dritten Band
der Reisebilder nicht abschließen, bevor er den „Cavalier" gelesen. Campe
berichtet auf Grund von Andeutungen, die ihm Heine gemacht, dieser gehe
schmählich mit Platen um, „und was er auf diese Weise vermag, das wird er
uns zeigen". Endlich näherte sich der von Campe lange ungeduldig erwartete
Band der Vollendung.
Campe an Immermann Hamburg, den 25. September 1829:
„Seit 3 Tagen ist H. hier: in 11 Tagen geht der 3^° Reisebilderband in
die Druckeren u. wird bestimmt im Nov. fertig. PI. wird von H. nicht so
milde behandelt, wie Sie es gethan. Diese Abtheilung, Platen betreffend, wird
Ihnen dedizirt werden. H. hat eine Menge kindischer Ängstlichkeiten, daß über
seine Äußerung — im Voraus gesprochen würde, so daß ich im Ärger darüber
zu dem Entschluße kam, nicht einen Buchstaben des Mscrpts lesen zu wollen,
daher kann ich Ihnen nichts daraus mittheilen. Was er u. einer seiner Freunde
Mir mündlich mittheilten, so berechtigt das zu großen Erwartungen."
Das Thema der folgenden Briefe Campes ist Immermanns komisches
Heldenepos „Tulifäntchen". Heine hatte das Manuskript bei Campe gesehen
und an sich genommen. Er war der Meinung, es könne wegen der formalen
Schwächen nicht so in die Druckerei gehen, und machte dem Verfasser eine Reihe
von feinsinnigen Änderungsvorschlägen, welche dieser freudig annahm**). Bei
den Verlagsverhandlungen beruft sich Campe (12. Februar 1830) auf Heine.
Dieser, der ihn persönlich genau kenne, werde, obwohl sie oft verschiedener Ansicht
gewesen seien, auf Befragen seine Offenheit und Ehrlichkeit bestätigen und daß
„jeder gern mit ihm arbeite".
„Über den 3^°" Reisebilderband," fährt er fort, „den Sie doch haben werden?
schwiegen Sie. Heine wird für diesen Theil — wie ich es ihm zuvor sagte —
sehr viel aushalten müssen. Das große Publikum ist hier gegen ihn empört,
und er wird zu thun haben, die gute Meinung zu retabliren. So geht es im
deutschen Vaterlande; die deutsche Guthmüthigkeit kann es nicht leiden, daß
jemand zu viele Prügel, wenn auch noch so sehr er sie verdiente, bekömmt. —
Wenn man sich erst mehr mit der Neuheit abgefunden hat, wird es sich wol
zu einem beßern Verständniß bewegen laßen. Der 1^° Reisebilderband ist ver¬
griffen. Die Gedichte, welche darin enthalten sind, sollen wegfallen, da sie im
Buch der Lieder sämtlich sich befinden, folglich von vielen Leuten doppelt bezahlt
werden müssen. Dagegen wird England aufgenommen, wodurch das Buch
eine ganz neue Gestalt enthält u. besonders das Buch der Lieder gehoben
werden wird."
Durch seine maßlose, unvornehme Befehdung Platens in den „Bädern von
Lucca", über die auch der leidenschaftlichste Bewunderer Heines nicht hinweg¬
kann*), hatte sich dieser in der Tat sehr geschadet, und viele von denen,
die früher für ihn eingetreten waren, sich zu Gegnern gemacht**) Daß
Immermann Campe gegenüber sich noch nicht über den dritten Band der Reise¬
bilder geäußert hatte, erscheint begreiflich. Schon der Dankesbrief an Heine
selbst, der lange aufgeschoben wurde, mag ihm schwer genug geworden sein.
Bei aller Bewunderung für das Buch konnte er sich nicht enthalten, dem
Verfasser zu schreiben:
„Manch Einzelnes ist wohl, was man wegwünschte — das Gehnlassen!
Das Gehnlassen, mein lieber Heine! Doch ich will mir das Behagen an dem
guten Buche nicht verderben. Bei der Replik gegen Platen hätte vielleicht ein
Bischen gespart werden können. Gedichte sind re8 publicas, wenn sich Jemand
in seinen Versen zum Knabenschänder macht, so ist es erlaubt, die Saite zu
berühren, nur dünkt mich, kommt der Vorwurf zu oft." (Düsseldorf, 1. Fe¬
bruar 1830.)***)
Michael Beer gegenüber, den er im Namen Heines um Unterstützung in
der Platenschen Sache bitten sollte, erklärt Immermann im Hinblick auf den
dritten Reisebilderband (2. April 1830): „Seine Replik ist illealitor zwar schwer
zu vertreten, doch verdient er, als eine wahrhaft productive Natur, daß man
seinerseits thue, was man kann, um ihn zu halten. Und zweitens ist zu
erwägen, daß Platen ihn persönlich auf die gemeinste Weise zuerst angefaßt
hat."*) Beer versprach Immermann, in der Korrespondenz oder im münd¬
lichen Gespräch Heines Anwalt zu spielen, soweit es seine Ehrlichkeit zuließe,
setzte jedoch hinzu: „Wenn Heine Sie wiederum befragt, ob Sie Antwort von mir
erhalten, und auf welche Weise ich seiner erwähnte, so sagen Sie ihm, er sollte
sich erinnern, wie oft er mir gesagt, daß ich die meisten Dinge mit Glace¬
handschuhen anfaßte. Ich hätte mir diese Handschuhe bei Lectüre seines Buches
angezogen und wäre noch immer der alte Schwächling, der eine so derbe Kost
wie seine Satyre nicht ohne Indigestion vertragen könne. Mit einem Worte,
es wäre mir etwas übel dabei geworden. Übrigens grüße ich ihn aufs herz¬
lichste, und meine persönliche Neigung für ihn sei noch immer die alte."*'')
Immermann berichtete (3. Mai 1830) an Beer, was Heine sür „Tulifäntchen"
getan und suchte damit seine Stellungnahme zu rechtfertigen: „ich muß ihm
daher schon, wie Sie begreifen, aus Pietät die Stange halten."***)
Campes leichtfertige Auffassung von der Wirkung der „Bäder von Lucca"
wird nur verständlich durch die Heiterkeit, die Heine selbst seinen Tadlern gegen¬
über bewahrte. Immermann erzählt später in den „Düsseldorfer Anfängen":
„seine Briefe aus jener Zeit sind voll von drolligen Äußerungen über diesen
Krieg." f)
Die zweite Auslage des ersten Reisebilderbandes erschien 1830. Campes
Plan, die sämtlichen Gedichte im Hinblick auf das von ihm 1827 verlegte „Buch
der Lieder" auszumerzen, wurde nur zum Teil ausgeführt. Heine schreibt über
die zweite Auflage des ersten Bandes an Varnhagen (Wandsbek, den 16. Juni
1830): „Die Veränderung, die ich drin vornahm, ist gewiß ein Zeugnis meiner
inneren Demut und meiner Liebe für das Bessere: ich habe nämlich unter den
88 Liedern der „Heimkehr" diejenigen ausgeschieden, die den Schwachen im
Lande als anstößig erscheinen könnten, und ersetzte sie aufs tugendhafteste; die
folgenden spanischen Romanzen und die grellen Jamben unterdrückte ich ganz;
in der „Harzreise" habe ich ebenfalls alles Allzuherbe ausgemerzt; und somit
den gewonnenen Platz mit der zweiten Abteilung der Seebilder gefüllt. Das
Buch gewinnt dadurch an Symmetrie und Präsentierbarkeit."1's-)
Erst 1839 wieder wird Heine, der sich seit dem Mai 1831 in Paris befand,
in Campes Briefen an Immermann genannt. Auch in der französischen Haupt¬
stadt suchte Heine für den Freund zu wirken.fff) So stellte er dessen Verbindung
mit der „Lurvpe littöraire" her, für die Immermann auf Wunsch einen an-
sangreichen Aufsatz über die deutsche Malerei des neunzehnten Jahrhunderts
schrieb*), in dem er die „kühnen und sinnreichen Worte unseres genialen
Heine" über Peter Cornelius aus den „Reisebildern" zitierte.
In den folgenden Jahren scheint der Briefwechsel zwischen den beiden
Dichtern versiegt zu sein; Immermann zog sich zurück, weil ihm viele Empfin¬
dungen Heines nur als „willkürliche Aneignung" erschienen und dessen schillerndes
Wesen seiner Geradheit auf die Dauer nicht zusagte. Mit seinem Verleger
aber stand Heine in steter Korrespondenz, da er sich im Gegensatz zu Immermann.
der nach „Tulifäntchen" jahrelang nichts mehr bei Campe verlegte,**) ge¬
schäftlich nicht von ihm trennte.
Am 11. Februar 1839 schreibt der Hamburger Buchhändler wieder einmal,
an Immermann, nachdem dieser im Oktober des vergangenen Jahres von neuem
mit ihm angeknüpft hatte, und erzählt auch von Heine und dessen Werken:
„Heine's Buch der Lieder, 2'° Aufl., ward im Octbr. 1837, Auflage
1500 Expl., ausgegeben, heute ist diese bis auf 30 Expl. abgesetzt. O.M.***)
erscheint die 3»° Aufl. u. ein Nachtrag dazu, als 2»" Theil. Dieses Resultat
hat mich um so mehr überrascht, als ich an der ersten Aufl. volle 9 Jahre
gehöckert habe u. für dessen Absatz ich mir unendliche Mühe gab. Heine freut
sich mit mir des Erfolges, der ihn vielleicht zu neuen Gaben veranlaßt, da er
gewiß erkennt, daß dieses mehr als einen augenblicklichen Beifall anzeigt. Es
ist offenbar, daß das Buch der Lieder tief eingreift; das Schicksal der Gedichte¬
sammlung ist entschieden gemacht. Ich werde durch Parthiepreise dafür sorgen,
daß der günstige Augenblick erfaßt wird u. eine größere Verbreitung stattfindet,
was durch Parthiepreise, wo man die Buchhändler mit ins Jntereße zieht,
zunächst erzielt werden mögte, so das die 4^° Aufl. vielleicht in 18 Monaten
folgen dürfte.
Je mehr ein Buch unter die Leute gebracht wird, je sicherer ist der Ver¬
brauch im Handel gesichert. Heines Lieder sind nicht so populair, wie Uhland
u. Rückert, die meistens zu Geschenken für Mädchen u. Frauen verwendet
werden —, seine fleischlichen Tendenzen treten hinderlich in den Weg, — jene
sind ganz rein, dagegen ist er bei den Studenten förmlich ein Montierungsstück
geworden; jeder rechtschaffene Bursch muß seinen Heine haben.
Ich wage es nicht zu entscheiden, wer von den 3 Dichtern das beste
Publikum besitzt? Fast mögte ich für Heine entscheiden.
Haben Sie Heine's Shalspears Frauen u. Mädchen gelesen? ich meine
die Vorrede 12 u. 13); wenn nicht, thun Sie es, Sie finden ihn ganz
in seiner alten Weise."
Die zweite Auflage des „Buchs der Lieder" war 1837, „Shakespeares
Mädchen und Frauen mit Erläuterungen" Ende des Jahres 1833 bei Brock¬
haus und Avenarius erschienen. Ein anderes Werk Heines „Der Schwaben¬
spiegel", eine Antwort auf seine Brüskierung durch die schwäbischen Poeten*),
führte zu einer unerfreulichen Preßfehde, die Dichter und Verleger für einige
Zeit einander entfremdete. Im Frühling 1838 hatte Heine das Manuskript
als „Nachrede" zum zweiten Teil des „Buchs der Lieder" und mit der Bitte um
schleunigsten Abdruck nach Deutschland gesandt. Im Herbst, als er glaubte,
die Arbeit sei längst erschienen, meldete ihm Campe, „in einem süddeutschen
Staate, wo er das Manuskript zur Zensur gegeben, habe man ihn während
der ganzen Zeit mit dem Imprimatur hingehalten und er schlüge vor, die
Nachrede als besonderen Artikel in einer periodischen Publikation vorweg ab¬
drucken zu lassen." Zugleich eröffnete er ihm den Plan eines „Jahrbuchs der
Literatur", den er zusammen mit Gutzkow ausgeheckt habe, und fügte hinzu:
„Ihren Aufsatz hätte Gutzkow**) dafür gar gern." Dieser schrieb nun in
demselben Sinne an Heine, der infolgedessen seine „Nachrede" für das Jahr¬
buch bestimmte, nachdem er auch den von Gutzkow vorgeschlagenen Titel
„Schwabenspiegel" angenommen hatte, froh, endlich einmal auf eine unverkürzte
Wiedergabe einer seiner Arbeiten rechnen zu können, nachdem er sich jahrelang
die peinlichsten Verstümmelungen durch die Zensur hatte gefallen lassen müssen.
Aber er sollte sich täuschen!
Im Spätherbst verfaßte er eine Vorbemerkung zum „Schwabenspiegel",
in der er, anknüpfend an Campes Mitteilungen über den süddeutschen Zensor,
sich nicht enthalten konnte, Wolfgang Menzel, der 1835 durch seine Denun¬
ziation eine die jungdeutschen Schriftsteller in ihrer Existenz bedrohende behörd¬
liche Verfügung erwirkt hatte und dafür schon von Börne***) und von Heine
selbst gezüchtigt worden war, einen neuen Hieb zu erteilen.
Ende Dezember kam das Jahrbuch in Heines Hände, und er fand zu
seinem Ärger den „Schwabenspiegel" gründlich verstümmelt. Sofort stellte er
Campe deswegen zur Rede; da dieser aber seine Unschuld beteuerte, sah er
keinen andern Weg, als sich an die Öffentlichkeit zu wenden. In der Zeitung
für die elegante Welt (8. Februar 1839)f) gab er folgende vom 2. Januar 1839
datierte „Erklärung" ab:
„.Der Schwabenspiegel', ein mit meinem Namen unterzeichneter und im
.Jahrbuch der Literatur' von Hoffmann und Campe abgedruckter Aufsatz, ist
im Interesse der darin besprochenen Personagen, durch die heimliche Betrieb¬
samkeit ihrer Wahlverwandten, dergestalt verstümmelt worden, daß ich die
Autorschaft desselben ablehnen muß." Darauf teilte Campe im Telegraphen
(Ur. 34 vom 15. Februar 1839) mit, die Verstümmelungen fielen lediglich der
sächsischen Zensur zur Last, und setzte hinzu: „Wir bemerken dieses deswegen,
um den Gegnern Heinrich Heines deutlich zu machen, was sie unter der
heimlichen Betriebsamkeit ihrer Wahlverwandten zu verstehen haben." Heine
empfand in dem kategorischen Widerspruch Campes eine „rohe Beleidigung"
und fürchtete vor allem bedenkliche Auslegungen des angeführten Satzes, die
das Ansehen seines Wortes und „also auch jene heiligen Interessen", denen
sein Wort gelte, gefährden konnten, und ließ darum zur Aufklärung unter dem
Titel „Schriftstellernöthen" einen offenen Brief an Julius Campe in die Zeitung
für die elegante Welt (Ur. 75 bis 77)") einrücken, in dem er die Berechtigung
zu seinen Worten darzulegen suchte.
Seit den „Französischen Zuständen" (1333) hatte der Dichter beständig
Verstümmelungen seiner Werke über sich ergehen lassen müssen, und zwar nicht
ohne eine Schuld Campes, der aus Ängstlichkeit, „um großen Ungelegenheiten
vorzubeugen", selbst Werke, die über zwanzig Bogen enthielten und keiner
Zensur unterworfen waren, dieser überlieferte. Schon einmal war es deswegen
zu einem Zwist mit dem Verleger gekommen, dem aber bald die Versöhnung
folgte, da Heine damals Campes Furcht eine gewisse Berechtigung nicht
abstreiten konnte. Böse Erfahrungen aber hatte er dann wieder mit der
politisch ganz zahmen gegen Menzel gerichteten Vorrede zum dritten Teil des
„Salon"**) gemacht, da der Angegriffene sich damals, wie Heine erst später
erfuhr, des Schutzes einzelner Behörden erfreute und auch „eine Menge im
Dunkel einherschleichender Gehilfen" hatte. Heine hielt nun in seinem offenen
Brief Campe vor, daß er ihm selbst bei dieser Gelegenheit von den geheimen
Umtrieben der Menzelschen Wahlverwandten, die er jetzt leugnete, berichtet habe,
und führt mehrere diesbezügliche Stellen aus Campes Briefen während der
Jahre 1836 bis 1838 an. Er wies seinem Verleger nach, daß dieser selbst
nach seinem eigenen Eingeständnis bestimmten Befehl gegeben habe, Heines
Artikel, wenn die Zensur an ihm streichen wollte, „lieber gar nicht zu drucken",
und warf die Frage auf: „Wie kommt es nun, daß der Artikel dennoch trotz
diesem Befehl, fo entsetzlich zusammengestrichen und dennoch gedruckt wurde?"
An der Hand dieser und anderer Umstände legte Heine dar, wie er zu seiner
Behauptung gekommen war.
Auch Gutzkows, auf den, wie Heine erklärt, Campe ihn gern „anrennen"
lassen möchte, wird in dem offenen Schreiben Erwähnung getan. Wenn er
überhaupt gegen Gutzkow unmutig gewesen sei, so habe auch dazu Campe
„durch eine gewisse kindliche Redseligkeit" am meisten beigetragen, indem er ihn
auf Schmähartikel aufmerksam machte, die aus dem Kreise Gutzkows stammten.
In diesem Zusammenhange wird auch Dr. Ludwig Wihl genannt, von dem
Campe Heine gegenüber behauptete, er schreibe keine Zeile, die Gutzkow nicht
revidiert habe. Wihl hatte schon in Frankfurt a. M. zu den Mitarbeitern des
Gutzkowschen „Phönix" gehört und war Gutzkow als dessen „journalistischer
Adjutant" nach Hamburg gefolgt, wo er ihn gelegentlich in der Redaktion des
„Telegraphen" vertrat.*) Bevor Wihl nach Hamburg ging, war er in Paris
bei Heine gewesen und hatte sich dann bei Campe als dessen Intimus vorgestellt,
obwohl Heine ihm „aus ängstlicher Vorsorge"**) keine Zeile nach Hamburg
mitgegeben hatte. Auch bei der Mutter des Dichters hatte sich Wihl eingefunden
und durch „Entstellung und klatschsüchtige Verleumdungen" der Verhältnisse, in
denen ihr Sohn lebte, „viel Böses" gestiftet. Er schrieb ferner ohne Vorwissen
Heines einen Aussatz über ihn, in dem er den berühmten Dichter als „Piedestal
seiner Eitelkeit" benutzte. Die Arbeit, die in Gutzkows „Telegraphen" erschien,
enthielt überdies eine Fülle von Taktlosigkeiten und setzte Heine seiner Familie
gegenüber in eine peinliche Lage.
Diesem Schriftsteller, der später in einer Besprechung des „Schwaben¬
spiegels" Wolfgang Menzel und die schwäbischen Poeten gegen Heine in Schutz
nahm, hatte Campe, ohne durch den Verfasser dazu ermächtigt zu sein, und
obwohl er die literarische Unzuverlässigkeit Wihls kannte, das Manuskript des
„Schwabenspiegels" für mehrere Wochen anvertraut. Diese Handlungsweise des
Verlegers deckte Heine in seinem offenen Schreiben auf und beleuchtete sie grell
durch rücksichtslose Mitteilung eines Campeschen Briefes, der vernichtende Urteile
über Wihl enthielt.
In einem Privatbriefe vom 12. April***) erklärt Heine seinem Verleger in
naiver Aufrichtigkeit und Unverfrorenheit, er habe ihn nicht aus Gutmütigkeit
mit „so viel Mäßigung" behandelt, sondern nur in der Erkenntnis, daß ein
öffentlich derbes Wort seinerseits es diesem unmöglich gemacht hätte, künftig
etwas von ihm zu verlegen. Zugleich stellte er für einen weiteren geschäftlichen
Verkehr Campe Bedingungen, die dieser, geschäftsklug genug, annahm.
Der folgende Brief Campes an Immermann vom 31. Juli 1839 gibt
einen neuen Beitrag zu dem unerquicklichen Kapitel:
„Er fDutzkow^ räumte das Feld hier, ehe ich von Leipzig zurück kehrte
u. ließ mir einen Menschen, den I)r. Wihl, mit dem ich nichts, als Ebbe u.
Fluth, Tag u. Nacht, Regen oder Sonnenschein — gemeinschaftlich haben
will — als Stellvertreter zurück, womit er dem Blatt, sich, mir u. dem Publikum
einen schlechten Dienst erwiesen hat.
Unter den Umständen kann ich diesem Mann nichts übergeben; mit ihm
nicht verkehren, weil das Berührungen veranlassen müßte, die ich meide.
Ich danke diese Stellung der Inäi8crötion Heines, der ihn mir zuführte.
Eine zahllose Maße von Klatschereien braute er mir zusammen. Heine über¬
warf sich mit ihm, u. verlangte H. von mir: ich sollte ihm, wie er sich aus¬
drückte, einen Tritt in den A. geben u. vor die Thüre werfen. Damals theilte
ich aus Mangel näherer Kunde H.'s Ansicht nicht, ich vertheidigte ihn gegen
seine Beschuldigungen*). Nach u. nach erhielt ich eine andere Ansicht^); im
Unmuth schrieb ich an Heine, was ich von ihm empfunden u. was ich urtheilte.
Heine ließ meinen Brief in der eleg. Zeitung**") abdrucken, allerdings wol in
der Absicht: mich mit G. u. seinem......f), der die Agenda nachtragen
muß u. nachträgt, zu entzweien. Diesen Zweck erreichte er nur halb, nur in
soweit, wie es W. betrifft, der den geringsten Grad von Achtung bei mir genoß.
Bei G. hatte ich mir die Selbsthülfe zu verschaffen gesucht, u. mehr als ein
Dutzend Mal war das geschehen, dem Manne, der sich nach jüdischer Weise in
alles eindrängte: einen Maulkorb anzulegen, damit er schweigen lernte, wenn
er etwas, das zwischen uns auf dem Tapete war, gehört oder gesehen hatte.
Ihn selbst schonte ich nicht, sondern zu Zeiten laß ich ihm die Leviten.
Wie ich über ihn dachte, war ihm u. G. keine neue Zeitung; allein er
war durch den Abdruck auf das tödtlichste verletzt, eben weil ich den Nagel auf
den Kopf getroffen hatte ff).
Er, der bei mir nichts galt, der mir — geworden war, wollte den Be¬
leidigten, den Gekränkten spielen; machte wol gar die Ansprüche, ich sollte ihm
nachlaufen; er, der zwei Bücher bezahlt erhalten, aber noch nicht geliefert hatte
u. heute noch nicht geliefert hat. Der kannte mich vortrefflich! Genug, er hat
es durch seine Eitelkeit u. seinen Dünkel dahin gebracht, daß er mir eckelhaft
geworden ist u. bleiben wird. Heine that sehr Unrecht; doch wo ich zwischen
Heine ^u.^ W. zu wählen habe, weiß ich. was ich zu thun habe, so gut wie
der Wechsler, der zwischen Gold u. Blei, es stets mit dein Golde hält."
Heine hat Wihl zweifellos richtig beurteilt. Wenigstens machte Gutzkow,
der eine Zeitlang intim mit Wihl verkehrt hatte, und jetzt energisch für ihn
eintrat, später dieselben Erfahrungen mit ihm. Er atmete auf, als er ihn los
wurde, und bekannte in einem Briefe: „Mit Wihl ist mir der Verkehr zur Last
geworden. Was bindet ihn an uns? Liebe, Freundschaft? Nicht ein Funke
davon. Nur sagen will er können, daß er unser Vertrauter ist." Auch in
diesem Falle machte der Ente sich durch seine Bekanntschaft mit dem angesehenen
Schriftsteller wichtig und stellte Behauptungen über ihn auf, die völlig aus der
Luft gegriffen warenfff).
Durch Heines offenen Brief hatte aber auch Gutzkow sich verletzt gefühlt
und griff ihn nun im Telegraphen*) scharf an; hier erschien serner ein Jahr
später seine ebenfalls gegen Heine gerichtete scharf ablehnende Vorrede zu „Bornes
Leben". Campe hatte sein Heine gegebenes Versprechen, in einer bei ihm ver¬
legten Zeitschrift Angriffe gegen ihn nicht zuzulassen, nicht erfüllt, und dieser
mußte des Verlegers unglaubhafte Ausrede, er habe das Manuskript nicht vor
dem Druck gelesen, hinnehmen.**)
Der schon 1840 eingetretene Tod Jmmermmms bereitete dessen Korre¬
spondenz mit Campe, die zuletzt recht unerfreulich geworden war,***) ein Ende.
Die letzte Äußerung des „Münchhausen"-Dichters über Heine ist uns von
Gutzkow f) überliefert, den Immermann 1838 in Hamburg besuchte. Sie
lautet: „.....ist ein drolliger Kauz, aber ein heilloser Flunkerer, dem
man nichts glauben kann, und dessen neuere Sachen ich nicht mehr gelesen
habe." Bei aller gegenseitigen Wertschätzung ff) sind die beiden Dichter
einander nicht gerecht geworden. Immermann hat den Kern Heines nicht
erkannt, und ebenso wenig vermochte Heine in Immermanns Seele zu schauen,
wie eine Äußerung deutlich beweist, die er 1843 im Gespräch mit Hebbel über
den Tod seines langjährigen literarischen Bundesgenossen und dessen Ursachen tat.
An Campe fesselten Heine nur äußere Bande. Noch mehrfach kam es
zwischen ihnen zu Streitigkeiten, da der Verleger, obwohl er wußte, was er
an Heine besaß, es auch mit dessen Gegnern nicht verderben wollte und daher,
wo es darauf ankam, nicht Farbe zu bekennen wagte. Hebbel berichtet,
Heine habe Campe die eine gute Eigenschaft nachgerühmt, daß man bei ihm
ganz sicher wäre, er würde sich nicht aus Großmut ruinieren.
ir gingen am Kai Lemar entlang. Fest und kurz, wie junger
Leute Schritte klangs auf dem Kiese. Ich mußte ihn beglück¬
wünschen zu diesem Takte im siebenundfünfzigsten Lebensjahre:
ein stämmiger Berner ist Ferdinand Hodler, der einen schweren
Männerkopf von warmer Schönheit mit solider Genfer Eleganz
auf dem Martin-Luther-Halse zu tragen versteht. ,Ma8 je 8uis plus jeune
que jÄMiÜ8," antwortete er auf mein Kompliment, „je commence, je vou8
as8nie. que je commence!" Ich dachte an Marignano, an den Tell, an
das Jenenser Bild, an die Nacht, den Tag, die Liebe, das Lied aus der Ferne
und manches andere, und wollte kaum glauben, daß es wirklich noch Wege
geben könne, die von diesen Höhen fort irgend anderswohin führen sollten.
Sein „je commence" hat Hodler ernst gemeint. Auf Gipfeln, auf denen er
sich ausgelebt, leidet's ihn nicht, und auf die Gefahr hin, erst ins Tal steigen
zu müssen, sucht er neue Wege zu neuem Lande. Das ist das größte Opfer,
das ein schwer berühmt gewordener wie Hodler seinem künstlerischen Ernste
bringen kann.
Die Ausstellung von hundert Hodlerwerken, die im vergangenen Winter
unsere Großstädte Berlin, Frankfurt a. M., München bereist hat, umfaßt alle
Stufen, die der Meister durchlaufen: nicht gar viel versprechende Niederungen
des Anfangs, die reifen vollendeten Hodlers, die ihn in den Mittelpunkt der
heutigen Malerei stellen und Ausblicke in eine Zukunft, die noch reiche Möglich¬
keiten birgt.
Daß man sich bei Hodler vor einer einseitig malerischen I'art pour I'art
Anschauung ebensosehr, wie vor literarischer Symbolik zu hüten habe, scheint
mir bei der Betrachtung seines Gesamtwerkes erst recht klar geworden zu sein.
Denn die Selbständigkeit der Farbengebung, wie die Energie seines linearen
Ausdrucks haben ihm sein dreigeteiltes Reich: das Weib, die Historie und die
Landschaft unterworfen.
Hodlers Arbeitsweise, die im bezeichnenden Gegensatze zu der seines eben¬
falls sehr bedeutenden Landsmannes Cuno Amiet steht, wird dem Mißverständnis
und dem Unverständnis stets Nahrung genug geben. Aus einer eruptiven
Bewegungsempfindung setzt Hodler zuerst das Bild auf die Fläche. Er kann
daran nicht mehr rühren, denn sein Können stünde sofort im schärfsten Wider¬
spruche gegen die naturgemäße Notwendigkeit seines linearen Ausdrucks. Er
stellt eben das Bild weg und malt oder zeichnet das Problem auf eine neue
Fläche nochmal und nochmal, oft sechs, oft zehnmal. Die Gestalten des Jenenser
Bildes, des Tages, der Liebe, der Nacht haben wir in groben Anfängen vor
uns, und staunenerregend ist die Steile seines Aufstiegs. Zuweilen übertrifft
eine Zeichnung ein späteres, bereits gemaltes Mittelstadium in ungeahntem
Maße an Ausdruckskraft der Form, an Spannung der Linie, weil das Mittel¬
stadium vielleicht bloß einen Farbenton zu treffen hatte und eine letzte Fassung
plötzlich alle Lebensfunken aus zehn vorhergehenden an sich reißen wird. Bei
der sast bedenklichen Hodlerschwärmerei von heute werden alle die Frühgeborenen
dem Meister aus der Hand gerissen und wie mancher steht dann ratlos davor.
Denn es kommt bei dieser Arbeitsweise vor allem darauf an zu entscheiden,
ob der Meister hier oder dort auch sein letztes Wort gesprochen hat, wie beim Tell,
Marignano, oder aber ob er auf der Suche begriffen ist und der Fragen erst eine
beantwortet und welche? Letzterenfalls hat der bloß Genießende mit dem Bilde
nichts, aber auch gar nichts zu schaffen. Der Forscher und Kenner bloß kann
daran seine echte Freude haben, jenen Punkt vereinzelter Vollkommenheit heraus¬
zusuchen, der vielleicht in einer späteren Fassung verschwindet, um zuletzt in
einer höchsten Verkettung wieder zu erscheinen, oder auch nicht. So groß ist
sein Nibelungenschatz, daß selbst seine Riesenkraft kaum alles aus dem Flusse
heben, bergen und Speichern kann.
Wie anders Amiet! Wenn er an die Leinwand geht, ist das Bild fast
sertig und steht klar und scharf vor dem inneren Schauen, aber selbst wenn ihn
die Tücke der Materie unerwartet überfällt, so malt er die zehn Bilder Hodlers
wohl auf dieselbe Leinwand übereinander und was man zu sehen bekommt, ist
immer der fertige Amiet. Er wirft die Wucht seines Könnens nicht auf einen
einzelnen Punkt, um nur diesen über alle Vorstellung hinaus- und hinanzutreiben
und aus solchen Punkten der Vollendung Strahlen zusammenzufangen. Sein
Weg, nicht minder mühsam, bedingt eine ständige gleichmäßige Ausbreitung
des Könnens auf das Ganze der Aufgabe.
Die frühesten Spuren dessen, was Hodler jenseits und über dem weiblichen
Menschen aus dem Motiv der Frau geschaffen, finde ich im Frauenbildnis aus dem
Jahre 1874. Das Bild stellt eine junge Dame dar im schwarzgrauen Kleide, mit
gelblicher Gesichtsfarbe auf einem lediglich ausgleichenden Hintergrunde. Eine vor¬
nehme Anlehnung an die französische Schule ist in Zeichnung und Farbe unverkenn¬
bar; allein die Lichter, die auf Hand und Kopf die Knochenbildung heraus¬
treiben, deuten auf Kommendes. Es ist jetzt leicht ex un^us leonsm zu rusen.
Die uns heute bekannte Idealität des Hodlerschen Frauentypus besteht zeichnerisch
in einer nur ihm eigenen selbständigen Schönheit der Knochenbildung. Von
diesen Frauenbildnifsen bis zur Eva von 1900, zur Empfindung von 1908 bis
M den Figuren aus dem Tage, dem Entzückten Weib wird es in steigendem
Maße sichtbar: die dem Skelett innewohnende konstruktive oder architektonische
Schönheit weiblicher Form ist herausgezwungen. Dem inneren Gebilde der
Frau hat Hodler das Todesgrausige genommen. Die Wölbung der Stirn, die
scharfe, mit der Fingerspitze nachdrückbare Angenbrauenkante, der Nasenrücken
bewahrt unter Fleisch und Haut die architektonische Schönheit, ebenso Hüften¬
knochen und Kniekehle. Haut und Fleisch decken knapp und eng diese Form,
ohne sie zu bedecken. Erst im Frauenkopf von 1911 und im Mädchenkopf
verläßt Hodler diese Richtung, die ihn als Gestalter des Frauenleibes zu der
einsamen Höhe geführt hat, auf der man bereits gewöhnt ist ihn zu bewundern.
Was er augenblicklich will, ist wohl menschlichen Blicken derzeit unerkennbar.
Der Tizianisch üppige Mädchenkopf mit schweren, großen Haarschnecken im
wohligen goldblond, mit milchig schwelgenden Farben in hellgelb und rosa,
klingt an den ungebrochenen Liebesglauben zwanziger Jahre an und wagt eine
Nichtigkeit der Form, die tief unter dem Frauenbildnis von 1874 steht, weil Hodler
wieder ganz von vorn beginnt, um zu ganz neuen Zielen zu gelangen. Er
beginnt, gläubig wie ein Kind, stark und feuerig wie ein Jüngling in Liebe,
zäh wie ein Mann, weise und erfahren wie ein Greis.
Fleisch, Haut und Kleidung heben bei Hodler niemals die Funktion der
inneren Form auf; die Kleidung, das bekannte Hodlersche blaue Gewand, ist
von erstaunlicher Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, sowohl für sich betrachtet, wie
in seiner Wechselbeziehung zum bedeckten Körper. Bald schmiegt sich das Kleid
wie unlösbar an den Leib, wie ein lebendig Angewachsenes, das das Weib
ewig verhüllt, dennoch sein Wesen ahnen läßt, aber ein Rhodopegewand, das der
Sehnsucht selbst die Hoffnung nimmt, je die Wahrheit nackt zu schauen; bald
umwogt es sie im mächtigen Bausch und fliegt, ein leidenschaftlich Verlangender,
der Unerreichbarem ewig nach, oder es fließt hingegeben am Akt entlang von
ihrer Hand am Busen kraftlos festgehalten, oder es umspannt das Kleid der
schwellenden Jugend üppige Kraft, hält mühsam beisammen, dehnt und spannt
um Busen und Leib und droht im nächsten Augenblick erschöpft und vernichtet
drängender Gewalt zu weichen. Das blaue Tuch aus Hoblers Weberei kann
noch tausend andere Künste, den Erdgeist zu enthüllen oder zu verkleiden.
Jegliche historische Darstellung erstrebt die Versinnlichung der Wechsel¬
beziehungen zwischen Masse und Individuum. Volk und Held: das ist das
historische Problem, und dieses in Form und Farbe umgesetzt zu haben, ist die
Bedeutung von Marignano, vom Jenenser Bild, vom Tell, Näfels, Melchtal,
Winkelried. Hodler bewegt sich hierin, nachdem ihm dies gelungen, eher auf
ebener Höhe. Was er uns geboten, das große moderne Fresko, die erste echte
Epik neuzeitlicher Malerei, kann auch von ihm im Wesen nicht mehr überboten
werden; das „je commencs" dürfte in der Historienmalerei Hodlers doch nicht
wörtlich gelten. Die Komposition, die das Lineare wie das Koloristische gleich¬
mäßig umfaßt, ist und bleibt dabei das Grundlegende. Durch seine Raum¬
verteilung vermag Hodler das Wesen menschlicher Gebärdung menschlichen Tuns
überhaupt zweiteilig, in vereinzelte Typen des Vordergrundes einerseits (Prota¬
gonist) und in die Form zusammengefaßter Massen im Hintergrund anderseits
umzusetzen. Was er bietet ist nicht eigentlich Historie, sondern historische
Anschauung in Farbe und Linie verdeutlicht. Es ist nicht seine, sondern die
historische Weltanschauung, die auf dem rhythmischen Gefühl durchgreifender
Dualität beruht. Die Lebensbewegung des zweigegliederten historischen Materials,
Volk und Person, übersetzt Hodler in primäre, ornamentale Form. Die sich
ergänzende Zweiheit von Mann und Weib, Tag und Nacht, Ebbe und Flut
der allwaltenden Natur tritt als klarer Wille, als Weltanschauung und Kunst¬
absicht aus dem Marignanobild unmittelbar ins Bewußtsein des Schauenden.
Durch ein paralleles Gelb rechts und links, durch das einheitlich durchgehende
Stahlblau ist Getrenntes kraftvoll geschieden und im Kosmos des Bildes dennoch
verbunden, ornamentale Absichtlichkeit mit der überzeugenden Unmittelbarkeit
jeder Stellung und jeder Gebärde versöhnt.
Eines der gewichtigsten Probleme Hodlerschen Schaffens ist, den nackten
Menschen, neuerdings auch den schaffenden (Holzhauer, Mäher), in die Natur
hineinzustellen, ihn in Wechselbeziehung zur Landschaft zu bringen. Das Bild
„vialoZue intime" von 1887 ist daher von programmatischer Bedeutung und
enthält im Keim Aufgabe und späte Lösung. In einer recht wenig faßlichen,
konventionellen Landschaft geht ein nackter Jüngling einen rythmisch geschlungenen
Pfad. Die Profilstellung des Körpers, die beredte Armhaltung, das Zwie¬
gespräch mit Blumen und Vögeln ist von der rührenden Unbeholfenheit eines
Franziskus von Assise. Allein als Malerei ist die Landschaft müd, die Profil¬
stellung des Körpers nicht ganz folgerichtig durchgeführt, die Verkürzung der
Arme nicht überzeugend, der Akt weich. Von dieser Stufe ausgehend durchdringt
Hodler um 1900 Akt und Landschaft teils vereint, teils getrennt. Sein steiler
Weg führt ihn zuletzt zur vollkommenen Überwindung aller landschaftlichen
Realität, sie wird zur Einheit mit dem beseelten Menschen. Doch auch dies war
nur noch eine Durchgangsstufe für Hoblers landschaftliche Darstellung. Der
Hintergrund hat sich selbständig etabliert, bedarf des Figuralen nicht länger,
wird selber zum Motiv, behält aber die frühere ideelle unreale Subjektivität.
Die Landschaft bleibt, wie übrigens jeder Hodler, was er auch darstellen mag,
der bewußte, beabsichtigte, klar formulierbare Ausdruck eines menschlichen
Seelenzustandes. Weder bei der Schnnigen Platte, noch beim Genfer See,
noch bei der Stockhornkette oder beim Niesen ist betreffs der näheren Beschaffen¬
heit des landschaftlich symbolisierten Seelenzustandes eine Unsicherheit oder
Zweideutigkeit denkbar. Überall ist derselbe Hodlerismus ausgesprochen, dieselbe
klare Gegenüberstellung von Innerlichkeit und Oberflächlichkeit (will sagen:
Anschauung der Oberfläche), Auseinanderstreben von Erdmassen und Zusammen¬
halten durch eine Wolkenklammer oder eine Wolkenkette, dasselbe gegenseitige
Stützen von Leichte und Schwere, immer derselbe Dualismus, in den die Natur
selbst das All in Ruhe und Bewegung rhythmisch verteilt. Hodler, einer ihrer
eingeborenen Söhne, hat ihren monotonen Zweischritt, ihr endlos summendes
Kinderlied im Zweitakt ausgesprochen uns zur Ergebung ins schwierigste, zum
Wagnis des Unmöglichen, gewährend und versagend zugleich, wie die Natur,
wie die Liebe.
„Die Volkswirtschaft in Gcncnwart und
Zukunft" von Dr, Julius Wolf, Prof. der
Staatswissenschaften an der Schles. Friedrich-
Wilhelms - Universität zu Breslau, Leipzig,
A. Deichert, 1912.
Als Bismarck sich 1878 zum Schutzzoll
bekehrte und drei Jahre darauf die Versiche¬
rungsgesetzgebung einleitete, folgte er nur dem
Strome, der die leitenden Geister unseres
Volkes ergriffen hatte. Es waren nicht bloß
Nationalökonomen, überhaupt nicht bloß Pro¬
fessoren, sondern Männer aller Stände, dar¬
unter Männer der Praxis gewesen, die sich
1872 zum Verein für Sozialpolitik zusammen¬
geschlossen und dem Manchestertum Fehde
angekündigt hatten. Oppenheim, neben
Treitschke ihr leidenschaftlichster Gegner, hatte
ihnen den Spitznamen Knthedersozialisten
angeheftet. Sie waren jedoch nichts weniger
als Sozialisten, sondern wollten, ein Gedanke,
der in der berühmten Botschaft vom 17. No¬
vember 1881 Aufnahme fand, der Sozial¬
demokratie dadurch den Boden entziehen, dasz
sie den berechtigten Forderungen der Lohn¬
arbeiter Erfüllung verschafften. In der Kritik
des bestehenden GesellschaftSzustcmdeS stimmten
sie allerdings weithin mit den Sozialisten
überein. Gegen die pessimistische Beurteilung
dieses Zustandes wandte sich Julius Wolf,
damals Professor in Zürich, 1892 mit dein
Buche „Sozialismus und kapitalistische Gesell¬
schaftsordnung", in welchem er nachwies, daß
der wirtschaftliche Zustand gesünder, solider
und aussichtsreicher sei, als die „Katheder¬
sozialisten" annahmen. Wenige Jahre darauf
hat ihm die Entwicklung recht gegeben, vor¬
läufig und für Deutschland recht gegeben,
das sich seit siebzehn Jahren eines staunens¬
werten Aufschwungs erfreut, an dem jedoch
die Schutzzoll- und die Sozialpolitik, demnach
auch die kathedersozialistische Strömung nicht
unbeteiligt sein dürften. In den letzten Jahren
haben sich noch andere Stimmen gegen diese
Strömung erhoben. Ich lasse die Interessenten,
die über zuviel Sozialpolitik klagen, beiseite,
und nenne nur Ehrenberg, der „exakte" For¬
schung fordert. Dasselbe tut Wolf in seinem
1908 erschienenen Werke „Nationalökonomie
als exakte Wissenschaft". Doch hat das Wort
„exakt" bei beiden einen verschiedenen Sinn.
Ehrenberg meint damit Tatsachenermittlung,
und er entnimmt seine Tatsachen mit Vorliebe
der kaufmännischen Geschäftsführung, — wozu
ich an einem anderen Orte bemerkt habe,
daß sich das kaufmännische Interesse denn
doch nicht mit dem volkswirtschaftlichen voll¬
ständig decke, und daß seine Tatsachen mehr
in den kaufmännischen als in den staats-
wissenschaftlicher Unterricht gehören. Wolf
dagegen fordert Exaktheit in dem Sinne, daß
die Nationalökononne durch neue Unter¬
suchungen zu so sicheren, so wenig in Frage
zu stellenden Ergebnissen gelangen müsse, wie
die Mathematik; denn den vorhandenen Lehr¬
büchern fehle solche Exaktheit. Als dritter
Gegner gesellt sich diesen beiden Ludwig
Pohle zu mit seinem Buche „Die gegenwärtige
Krisis in der deutschen Volkswirtschaftslehre".
Dieser Autor spricht dem Kathedersozialismus
die Wissenschaftlichkeit ab; denn deren erstes
Gesetz sei: der Forscher dürfe keine andere
Absicht haben, als eben zu wissen um zu
wissen, dürfe nur Tatsachen ermitteln wollen
sine ira et stuciio; die Kathedersozialisten
verletzten dieses Grundgesetz: sie kritisierten
und forderten Reformen; was sie trieben,
das sei nicht Wissenschaft, sondern Politik.
Die Behauptungen Pohles habe ich an
einem anderen Orte geprüft, und den
Streit um die Exaktheit zu schlichten, überlasse
ich den Fachautoritäten; hier soll nur über
das neueste Buch von Julius Wolf berichtet
werden, eine sehr erfreuliche Erscheinung, die
freilich manchen Leuten gar wenig Freude
machen wird.
Die „Nationalökonomie als exakte Wissen¬
schaft" enthält nur strenge, trockene Theorie.
Einen Teil der darin aufgestellten Thesen nun
hat Wolf „vor einem Forum von Praktikern"
ausführlicher, in einer den Ansprüchen seines
Publikums entgegenkommenden Form ent¬
wickelt und mit einer reichen Fülle von Bei¬
spielen und statistischen Daten beleuchtet. Das
oben angezeigte Werk ist die Buchausgabe
dieser, für den Zweck erweiterten Vorträge.
(1. Aus der Geschichte der Nationalökonomie.
2. Die natürlichen Bedingungen der Pro¬
duktion. 3. Marktphänomene. 4. Einkommen
und Einkommcnberteilung. 6. Das Ver¬
mehrungsgesetz der Menschheit. 6. Die Zukunft
der Volkswirtschaft.) Einige der neuen Thesen,
die Wolf aufstellt, habe ich im Jahrgange
1908 der Grenzboten (IV S. SW ff.) erörtert.
Heut glaube ich zunächst die Aufmerksamkeit
auf eine Definition lenken zu sollen, deren
Kritik aktuelles Interesse beanspruchen darf.
„Einkommen in volkswirtschaftlichen Sinne
(oder Produktivität) ist der Unterschied der
Leistung gegen die Kosten wirtschaftlicher
Tätigkeit", oder „der durch wirtschaftliche
Tätigkeit realisierte Überschuß des Wertes
einer Leistung über ihre notwendigen Kosten".
Produktivität, eine Eigenschaft, gleich dem
Überschuß, also gleich einem Dinge, das scheint
mir nicht sehr exakt zu sein. Aber abgesehen
davon: eine Definition von Einkommen muß
auf die Privatwirtschaft so gut Passen wie auf
die Volkswirtschaft, und das gilt von der
alten Definition: Einkommen ist die Güter¬
menge, über die ein Mensch oder ein Volk
im Zeitraum eines JahreS zu verfügen hat.
Die Definition Wolfs Paßt höchstens auf den
Kaufmann und auf jeden anderen, der sein
Geschäft kaufmännisch betreibt, oder so weit
er es kaufmännisch betreibt. Der Südsee¬
insulaner, dessen Einkommen in den Früchten
seiner Palmen besteht, hat gar keine Kosten.
Und auch der heutige Kleinbauer mitten in
unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung hat
kaum nennenswerte Betriebskosten, so daß es
wenig Sinn hätte, den Ertrag seines Ackers
und seiner zwei Kühe als Überschuß über die
Kosten zu bezeichnen. Wolf deutet selbst die
Stelle an, von der aus seine Definition be¬
stritten werden kann. Er widerlegt die An¬
sicht, daß die Produktionskosten die untere
Grenze des Preises seien; diese Grenze liege
viel tiefer. Wenn der Unternehmer bei un¬
günstiger Preislage eine Zeitlang unter den
Kosten verkaufe, komme er meistens noch
billiger weg, als wenn er den Betrieb ein¬
stelle. Die deutschen Landwirte hätten von
1885 bis 190S den Weizen zu durchschnittlich
13,80 Mark den Doppelzentner verkaufen
müssen, während die Kosten, in Westdeutsch¬
land wenigstens, 17 Mark betrugen, sie
hätten aber nicht daran gedacht, den Betrieb
einzustellen. Wo wäre ein Fabrikant zu finden,
der zwanzig Jahre lang mit Verlust arbeitete!
An einem ganzen Jahre wird auch derBest-
situierte meistens genug haben. Die Land¬
wirte konnten es aushalten, weil ein großer
Teil, bei vielen der größte Teil ihres Ge¬
treides dem Kostengesetz gar nicht unterliegt,
da sie es selbst verzehren. Der Landwirt
bezieht Einkommen, auch wenn er gar nichts
verkauft. Der Kattuufabrikant kann seinen
Kattun nicht essen; verkauft er keinen, oder
verkauft er ohne Profit oder gar mit Verlust,
so hat er kein Einkommen. Der Landwirt
hat die beiden wesentlichsten Bestandteile des
Einkommens, Wohnung und Nahrung, auf
alle Fälle. Und er ist nicht, wie der Fabrikant,
auf eine Art von Produkten beschränkt. Wird
dein kleinen Landwirt in böser Zeit die Steuer
erlassen oder verzichtet er auf Kulturausgaben,
so kann er ein paar Jahre ganz ohne Geld
auskommen z aber er löst auch bei Mißwachs
des Getreides noch Geld aus Milch, Butter,
Kälbern, Schweinen, Obst und dergleichen.
Ich habe sogar einen Rittergutsbesitzer ge¬
kannt, der weder Getreide noch Kartoffeln
verkaufte, sondern alle Körner- und Hackfrüchte
auf seinem Hofe verfütterte; Geld löste er nur
ans Milch, Vieh, Wolle und Raps. Also daS
landwirtschaftliche Einkommen wird nur zum
Teil von der neuen Definition erfaßt, und
diese ist darum gefährlich, weil sie dazu ver-
leitet — der erste, der sich solcher Verleitung
schuldig gemacht hat, ist Thüren gewesen —,
die Landwirtschaft vorzugsweise oder rein kauf¬
männisch aufzufassen. Unsere „rationellen"
Landwirte tun das ja schon zumeist. Als sie
vor dreißig Jahren klagten, rief man ihnen
von links her zu: „Die Landwirtschaft ist ein
Geschäft wie jedes andere Geschäft und will
kaufmännisch betrieben werden; weil ihr das
nicht versteht, seid ihr in Not geraten," Sie
haben es seitdem gelernt, und nun ist es den¬
selben Herren wieder nicht recht. Als vor einem
Jahre eine landwirtschaftliche Genossenschaft
Maßregeln zur Hebung des Milchpreises vor¬
schlug, erklärte eine große und hochangesehene
demokratische Zeitung das für Wucher; Milch
sei ein VolkSnahrungSmittel, und Volksnah¬
rungsmittel dürften nicht so wie andere Waren
bloßnach kaufmännischen Grundsätzen behandelt
werden. Noch gefährlicher aber ist diese Be¬
Handlungsweise für die Volkswirtschaft. Eng¬
land hat den kaufmännischen Grundsatz: dort
kaufen, wo man am wohlfeilsten kauft, auch
auf die Nahrungsmittel angewandt, und ist
dadurch in die gefährliche Lage geraten, die
voriges Jahr der Transportarbeiterstreik grell
beleuchtet hat, und die der Grubenarbeiler-
cmsstand noch weiter beleuchtet.
Außer dieser Definition habe ich nur ein
paar Wendungen von untergeordneter Be¬
deutung gefunden, deren Exaktheit mir an¬
fechtbar erscheint. Das allermeiste in dem
Buche ist unanfechtbar, zum Teil neu, und
durchweg von höchster Wichtigkeit. Um nie¬
mandem die Mühe des Selbstlesens zu er¬
sparen, unterdrücke ich die Lust, ein ausführ¬
liches Referat zu liefern, und hebe nur die
drei Einsichten hervor, deren Erschließung mir
als das Hauptverdienst des Werkes erscheint.
Die eine gilt der technischen Idee, die Wolf
als vierten Produkiionsfaktor den altbekannten:
Natur, Kapital, Arbeit zugesellt, die ohne
jenen vierten tot sind. Das zweite hochver¬
dienstliche ist eine völlig genügende Behand¬
lung der Bevölkerungslehre, in welcher genau
angegeben wird, in welchem Sinne und wie
weit das Gesetz von Malthus gilt. Es gilt
auch heute noch (abgesehen von seiner mathe¬
matischen Fassung, nur als Tendenz des
Menschengeschlechts, sich rascher und stärker
zu vermehren als die Nahrungsmittel) in
ganz Asien und in Rußland, überall da, wo
noch der ungehemmte Naturtrieb waltet, im
Bunde mit Tradition und Religion. Es gilt
nicht mehr in den Kulturstaaten, bei deren
Bewohnern rechnerischer Rationalismus den
von Malthus empfohlenen moral restrsint
— meistens nicht gerade auf sehr moralische
Weise — schon übt. Besonders interessant ist
der in einem Anhang geführte Nachweis, daß
im Deutschen Reiche die Geburtenziffer ab¬
nimmt genau im Verhältnisse zur Zahl der
sozialdemokratischen Stimmen, die ein Wahl¬
kreis abgibt, und zunimmt genau im Ver¬
hältnis zur Zahl der Zentrumswühler des
Wahlkreises, (Dazu zwei kleine Ergänzungen.
Gury teilt in seinem Lmnponäiuml'KsoloAiÄe
morslis eine Anfrage des Bischofs Bouvier
von Sens mit, Wie sich die Beichtväter gegen¬
über den höchst verderblichen Praktiken Ver¬
halten sollten, die von fast allen jungen Ehe¬
männern zur Verhinderung der Zeugung geübt
würden. Weil die Beichtväter bisher danach
geforscht und dagegen geeifert hätten, mieden
die Männer den Beichtstuhl und drohe all¬
gemeine Unkirchlichkeit. Die Pönitentiarie ant¬
wortet darauf unterm 8, Juni 1842 mit Be¬
rufung auf Liguori: die Beichtväter hätten
nach solchen Dingen nicht zu fragen und nur
dann darauf einzugehen, wenn der Pönitent
oder die Pönitentin selbst davon spreche. Die
Franzosen schützt ihr Katholizismus nicht, weil
sie teils den Glauben verloren haben, teils
ihn, als Romanen, nicht ernst nehmen; der
Deutsche nimmt alles ernst, also, wenn er
Katholik ist, auch die ihm von seiner Kirche
auferlegten Gewissenspflichten; das macht die
Katholiken vorläufig noch, mit Wolf zu reden,
zum Pivot der Volksvermehrung in Deutsch¬
land. Und zum anderen: die Krankheit hat
auch die deutschen Juden ergriffen, deren Zahl
nicht mehr durch Geburtenüberschuß, sondern
nur noch durch Zuwanderung aus dem Osten
wächst oder wenigstens sich erhält; einer der
jüdischen Autoren, die darüber klagen, Dr, Felix
Theilhaber, seufzt: „es ist überhaupt schon faul,
wenn der Fortpflanzungstrieb so durch den
Intellekt geregelt werden soll.") Sehr schön
zeigt Wolf, wie die heutige Politische Lage von
dieser Entwicklung beherrscht wird und in
Zukunft noch mehr beherrscht werden wird;
die gelbe Gefahr sei keine leere Einbildung.
Das dritte allerwichtigste in dem Buche ist
Wolfs Zukunftsperspektive, welche die opti¬
mistischen Fortschrittsenthusiasten mit ganzen
Strömen kalten Wassers übergießt. Er zeigt,
daß wir mit dem technischen wie mit dem
wirtschaftlichen Fortschritt nahe an den Grenzen
angelangt sind, die von der Beschaffenheit
unseres Planeten gezogen werden, der nun
einmal zu klein ist für eine unbegrenzte Ver¬
mehrung des Menschengeschlechts, und daß
uns eben der reißend schnelle Fortschritt der
letzten anderthalb Jahrhunderte den weiteren
Fortschritt in gleichem Tempo verbaut hat,
Hunderte von packenden Beispielen führt er
an zum Beweise dafür. Um von ihnen nur
eins zu nennen: der Zentner Zucker kostete
zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts
60 Mark, vor kurzem nach Magdeburger
Notierung 8V2 Mark; um weitere 41V2 Mark
kann er also nicht mehr abschlagen, selbst wenn
er ganz umsonst geliefert wird. Alle Phan¬
tastischen Träume von unendlicher Vermehrung
der Nahrungsmittel, von Ersatz der zu Ende
gehenden Kohle, von weiterer Erleichterung
und Beschleunigung des Verkehrs werden teils
als technische, teils als ökonomische Unmög¬
lichkeiten nachgewiesen; wo etwa die Technik
noch weiter kaun, gebietet die Ökonomie Halt,
indem bei der Anwendung der neuen Technik
die Kosten den Ertrag übersteigen. (Das ist
z, B. bei weiterer Steigerung der Kunstdüngung
der Fall; hier tritt die kaufmännische Auf¬
fassung wieder als berechtigt hervor, abgesehen
davon, daß der Nutzen mit jeder Steigerung
kleiner wird und bei einem bestimmten Grade
in Schaden umschlägt.) Von den Aussichten,
die der optimistische Chemiker Ostwald er¬
öffnet, wird nur eine als haltbar anerkannt:
die auf bessere Ausnützung des Wärmegehalts
der Kohle. Wolf hebt ausdrücklich hervor,
daß die Ergebnisse dieser Untersuchung, die
anzunehmen uns Tatsachen zwingen, seiner
eigenen Natur, die jn, wie sein erstes bedeu¬
tendes Werk beweise, durchaus optimistisch
angelegt sei, nicht weniger unangenehm seien
als irgend einem anderen Menschen. Aber
diesen fatalen Tatsachen unerschrocken ins
Antlitz zu sehen, gebieten Vernunft und Pflicht,
denn nur wenn wir sie anerkennen, werden
wir mit deur Energievorrat unserer Erde
(dessen Geringfügigkeit auch Ludwig Brinkmann
im zweiten Bande des Jahrgangs 1911 der
Neuen Rundschau S. 1666 ff. nachweist) richtig
haushalten. Daß die Dämpfung des fröh¬
lichen Enthusiasmus den Fortschritt hemmen
werde, ist nicht zu befürchten: fortzuschreiten
bis an die Grenzen der Möglichkeit, dazu
zwingen uns die Nöte des Lebens.
Eine Lücke in unsrer Gesetzgebung. In
der Verfassung des Deutschen Reiches vom
16. April 1871 bestimmt Artikel 67: „jeder
Deutsche ist wehrpflichtig und kann sich in
Ausübung dieser Pflicht nicht vertreten lassen."
Von dieser Wehrpflicht sind bis jetzt nur aus¬
genommen die bor dem 11. August 1890 ge¬
borenen Helgoländer. Außerdem bestimmt
der H 31 des deutschen Strafgesetzbuches:
„die Verurteilung zur Zuchthausstrafe hat die
dauernde Unfähigkeit zum Dienste in dem
deutschen Heere und der Kaiserlichen Marine,
sowie die dauernde Unfähigkeit zur Bekleidung
öffentlicher Ämter zur Folge." Jn ß 34 des¬
selben Gesetzbuches heißt es: „die Aberkennung
der bürgerlichen Ehrenrechte bewirkt ferner
die Unfähigkeit, während der im Urteile be¬
stimmten Zeit, 1. die Landeskokarde zu tragen,
2. in das deutsche Heer oder die Kaiserliche
Marine einzutreten." Zwischen diesen Ge¬
setzen klafft eine Lücke. Die Reichsverfassung
bezeichnet es als eine Pflicht jedes Deutschen,
eine gesetzlich bestimmte Zeit die körperliche
Steuer des Heeresdienstes zu leisten. Da
diese Pflicht aber zugleich auch als die Ehre
aufgefaßt wird, des Königs Rock tragen zu
dürfen, so soll ehrlose Gesinnung, die Zucht¬
hausstrafe zur Folge hat, konsequenter Weise
von der Ehre des militärischen Dienstes aus¬
schließen. Wer Ehrverlust in Verbindung mit
Gefängnisstrafen erlitten hat, soll für diese Zeit
auch ausgeschlossen sein, da das Vaterland
sich seiner schämt und ihn deshalb nicht der
Ehre würdigt, seine Kokarde zu tragen. Wem
der Ehrverlust zuteil wird, nachdem er schon
Soldat geworden ist, der wird zwar nicht
unbedingt aus dem Heere ausgestoßen, aber die
Kokarde wird ihm genommen, damit er durch
denMangelderselben seinen übrigenKameraden
gegenüber gewissermaßen als warnendes und
abschreckendes Beispiel hingestellt wird.
Welche Praktischen Folgen ergeben sich
hieraus? Seit Jahren leiden wir darunter,
daß wir kein Volk mehr in Waffen sind; nur
noch 60 Prozent unserer militärtauglichen Be¬
völkerung wird alljährlich eingestellt, da wir
nicht genug Regimenter und Schiffe haben,
um alle Wehrfähigen und Tauglichen aus¬
zubilden. Dieser Prozentsatz wird noch verstärkt
durch die große Zahl der jungen Elemente, die
schon, ehe sie militärpflichtig geworden sind,
so viele Gefängnis- und Zuchthausstrafen er¬
leiden, daß sie infolge ihres Ehrverlustes ent¬
weder auf lange Zeit hinaus nicht oder wegen
vorgerücktenLebensalters nicht mehr einstellbar,
oder infolge Zuchthausstrafe dauernd unfähig
zum Militärdienst geworden sind. Dadurch
ist Gefängnis- und Zuchthausstrafe eine Prämie
für bewiesene Ehrlosigkeit geworden. Es gibt
Elemente, und sie sind nicht allzuselten, die
eine strafbare Handlung begehen und es auf
Ehrverlust und Zuchthausstrafe ankommen
lassen, um dem körperlich anstrengenden Mi¬
litärdienste zu entgehen. Die ehrenvoll ge¬
sinnten jungen Leute müssen ihrer Dienstpflicht
genügen, absichtlich unehrenvoll denkende aber
drücken sich mit Hilfe des Gesetzes und des
Zuchthauses um diese Pflicht gegen das Vater¬
land, gegen die Allgemeinheit herum. So
gut wie die ehrenhaften jungen Leute zwei
und drei Jahre ihrer für sie wertvollen wirt¬
schaftlichen Lebenszeit dem Vaterlande opfern
müssen, ebenso wäre es nur eine Forderung
der Billigkeit und der ausgleichenden Ge¬
rechtigkeit, daß die Drückeberger, die wegen
Ehrverlust und Zuchthausstrafe nicht in das
Heer eingestellt werden können, zwei oder
drei Jahre außer ihrer Strafe in Arbeiter¬
abteilungen des Militärs untergebracht wür¬
den, wo sie ini Dienste des Vaterlandes
genau so lange unentgeltlich arbeiten müßten,
als die anderen zu dienen verpflichtet sind
Heute lachen sie sich ins Fäustchen, weil
sie sich sagen, das Soldatsein und das Ar¬
beiten für den Staat ist „für die Dummen".
An eine Aufhebung der gesetzlichen Bestim¬
mungen, die den Ausschluß vom Militär
verlangen, darf man nicht denken, denn
der Staat ist es seinen guten Söhnen
schuldig, daß er sie vor der Berührung
mit diesen bösartigen, pestartigen Elementen
bewahrt.
Aber die Sache hat noch eine viel ge¬
wichtigere Seite. In den vergangenen Jahren
waren die Zeitungen immer voll von Ent¬
rüstung über die französische Fremdenlegion,
namentlich darüber, daß diese sich annähernd
zur Hälfte aus deutschen Landeskindern re¬
krutiert, die also unter Umständen gezwungen
Werden, auf ihr eigen Fleisch und Blut in
einem Kriege Frankreichs gegen Deutschland
zu schießen. Man hätte sich nicht allein über diese
französische Fremdenlegion aufregen sollen! In
der holländischen Kolonialarmee, in der bri¬
tischen Arniee und Marine begegnen uns eben¬
soviel deutsche Söhne, die abseits gekommen
sind und den Weg durchs Leben verloren
haben. Woher bekommt denn England immer
sein Menschenmaterial, um seine Flotte, die
doppelt so groß ist wie die unserige, zu be¬
mannen, trotzdem es an Menschenzahl uns
unterlegen ist, trotzdem es die allgemeine
Wehrpflicht als seiner unwürdig ablehnt? In
den Gefängnissen und Zuchthäusern Deutsch¬
lands begegnen uns unzählige zu Krüppeln
geschossene oder sonstwie invalid gewordene
Leute, die uns davon erzählen, wie unsere
halb erwachsene, einmal verbrecherisch ge¬
wordene Jugend es als ihre letzte Hilfe und
als ihr letztes Asyl betrachtet, als Söldner
in die Armeen dieser fremden Länder ein¬
zutreten und dort auf Jahre hinaus der Sorge
für Obdach, Kleidung und Nahrung enthoben
zu sein. Es wundert einen das um so we¬
niger, als ja unsere Fürsorgevereine, Ge¬
fängnisvereine, Gefängnisgesellschaften bei der
hochgespannter Konkurrenz, die im Angebot der
Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkte herrscht,
von Jahr zu Jahr es immer schwerer haben,
die Nachwirkungen und Folgen der bürger¬
lichen Hinrichtung aufzuheben, die nun einmal
die Verurteilung zu Gefängnis und Zuchthaus
ewig sein und bleiben wird. Deshalb wäre
es eine unendliche soziale Wohltat, wenn das
Deutsche Reich einen Teil der Fürsorge für
entlassene Gefangene auf seine Tasche nehmen
würde und eine aus Söldnern bestehende
Kolonialarmee schüfe, in der nicht ängstlich
nach polizeilichem Sittenattest und bürger¬
lichem Nationale gefragt würde, sondern wo
all den gestrandeten Elementen unseres Volks¬
körpers, die unter der Konkurrenz des mo¬
dernen Erwerbslebens unrettbar unter die
Räder kommen müssen, Gelegenheit gegeben
würde, im Dienste des Vaterlandes ihr Brot,
ihre Heimat und eine Lebensstellung zu
finden, die eS ihnen ermöglichte, ans Jahre
und Jahrzehnte hinaus ihr Leben zu ordnen.
Wir haben zu radikal mit dem Gedanken des
Söldnerheeres gebrochen. Wenn man an das
Ehrgefühl des alten deutschen Landsknechtes
appelliert, dann erwacht dasselbe auch in
manchem von Bureaukraten zu Ehrverlust und
Zuchthaus verurteilten Schelm, der besser ist
als sein Ruf und in seinem Leichtsinn die
Folgen seines Handelns nicht ängstlich zuvor
erwogen hat. England, Holland, Frankreich
machen sich unsere Volkskraft schadenfroh und
lachend zunutze und wir lassen sie aus bureau¬
kratischer Engherzigkeit und ängstlicher Syste¬
matik unbenutzt zugrunde gehen. Sind solche
Leute dann alt geworden und unbrauchbar,
dann schleudert man sie wie eine ausgepreßte
Zitrone auf die Gasse. Invalid und mürbe
tauchen sie dann wieder in den deutschen
Gefängnissen und Zuchthäusern auf. Ir¬
gendeine Verpflichtung gegen diese modernen
Landsknechte übernehmen die fremden Staaten
natürlich nicht, wir aber könnten aus solchen
Elementen, die als Kolonialarmee von un¬
bezahlbarem Werte sind, Pioniere machen, die
unsere kolonialen Gebiete wirtschaftlich er¬
schließen, wenigstens einige Hilfe dabei leisten
würden. Mit einer solchen positiven sozialen
Tat würde die Lücke des Gesetzes am besten
geschlossen und dem Vaterlande und vielen
seiner armen Söhne aufs beste geholfen sein.
Reiseberichte und ihre Verwertung für
die Kulturgeschichte. Die Sehnsucht in die
Ferne und die Lust am Wandern steckt dem
Deutschen im Blute. Ursprünglich Wohl allen
Germanen eigen, hat sich dieser Charakterzug
als ein Erbteil von Geschlecht zu Geschlecht,
von Jahrhundert zu Jahrhundert im deutschen
Volke ganz besonders lebendig erhalten. Die
Form, in der er zutage trat, hat freilich oft
gewechselt. Völkerwanderung, Römer- und
Kreuzzüge, Kriegs- und Pilgerfahrten des
Mittelalters sind Massenausdruck dieser
Wanderleidenschaft, die Fahrten der mittel¬
alterlichen Vaganten, die wie Heuschrecken-
schwärme manche Gegenden überfielen und
mitunter zur wahren Landplage wurden, das
„auf die Walze gehen" der Handwerksburschen,
in späteren Jahrhunderten die Studienreisen
der jungen Adligen nach Paris oder den
italienischen Universitäten: alles das zeigt
uns nur verschiedene Seiten dieser Wander¬
freude, zeigt uns aber auch, daß die ver¬
schiedensten Kreise, gebildete wie ungebildete,
hohe wie niedere, daran teil hatten. Wie die
Motte nach dem Lichte, so zog es die ger¬
manischen Stämme nach der südlichen Sonne;
wie jene in die lockende Flamme stürzt und
sich die Flügel verbrennt, so wurde im Laufe
der Jahrhunderte der Boden der südlichen
Länder immer von neuem mit deutschem
Blute getränkt.
Wanderfreude und Abenteuerlust, ein
Ausfluß überschüssigen Kraftgefühls vielleicht,
waren neben wirtschaftlichen und sozialen
ursprünglich stark treibende Motive; Lern¬
begierde, BildungSdrcmg, Wunsch nach Er¬
weiterung des wirklichen und dadurch auch
des geistigen Horizonts treten in späteren,
rationalistischeren und bewußteren Jahr¬
hunderten als neue hinzu. So machte der
junge Adlige, der wohlhabende Kaufmanns¬
sohn des siebzehnten oder achtzehnten Jahr¬
hunderts, wenn er seine Studien oder Lehrzeit
in der Heimat beendet hatte, gern seine große
Tour ins Ausland. Das gehörte so zum guten
Ton. Meist unter Leitung eines MentorS
ging er nach Italien, Frankreich oder Eng¬
land, um fremde Sitten und Gebräuche,
andere Nationen und Lebensverhältnisse kennen
zu lernen. Oft recht ins einzelne gehende
oder auch durch ihre naive Offenherzigkeit und
Beurteilungsweise amüsante Reiseberichte, sei
es in der intimeren Form des Tagebuchs
oder in der mehr oder minder vertraulicher
Briefe, legten von dem Erlebten und Gesehenen
Zeugnis ab. Poetisch oder nachdenklich ver¬
anlagte Naturen verschmolzen dann Wohl
Erlebtes mit Erdichtetem, und so entstanden
Reiseerzählungen und -romane, die in manchen
Zeiten zu einer richtigen Mode ausarteten.
Diese literarischen Produkte durch verschiedene
Perioden hindurch zu verfolgen, Individuelles
von dem für die betreffende Periode Typischen
darin zu scheiden, den wechselnden, bald
sentimentalen oder tendenziösen, bald re-
«Wischer oder subjektiven Charakter der Dar¬
stellung herauszuheben, das wäre gewiß eine
lohnende und interessante Aufgabe, die noch
zu erfüllen bleibt. Zu einer umfassenderen
Geschichte des Reifens selbst wie der Reise¬
berichte könnte damit ein wertvoller Beitrag
geliefert werden.
Was für Aufschlüsse können wir von solchen
Reiseberichten oder -erzählungen erwarten,
und welche Methode wäre bei ihrer wissen¬
schaftlichen Verwertung anzuwenden? — Un¬
bewußt trugen die Verfasser in ihre mannig¬
faltig gestalteten Reiseberichte bald nichr bald
weniger von ihrem eigenen Gefühls- und
Seelenleben, aus der Welt ihrer Ideale,
Vorstellungen und Anschauungen hinein. In¬
folgedessen werden uns diese Berichte nach
zwei Seiten hin Aufschluß geben: einmal
zeigen sie uns die äußeren kulturellen und
sozialen Verhältnisse bestimmter Epochen, also
z. B. das Volksleben, die Gasthofs, Preise,
Sitten und Gebräuche usw.; anderseits aber
offenbaren sie die Anschauungsweise des
Schreibenden selbst. Das erste könnte man
als das objektive, das zweite als das sub¬
jektive Element bezeichnen. In dem letzteren
wären wieder zwei Faktoren zu unterscheiden:
nämlich alles das, was dem Verfasser per¬
sönlich eigentümlich ist, und das, was er mit
seiner Zeit gemein zu haben scheint und
worin er uns nur als ein typischer Ausdruck
ihres Gesamtdenkens und -empfindens ent¬
gegentritt. Selbstverständlich sind diese drei
Elemente in den Berichten selbst zu einer
Einheit verschmolzen, und oft wird es recht
schwierig erscheinen, sie sauber zu scheiden.
Aber im allgemeinen wird doch daS eine oder
andere überwiegen oder klarer entwickelt und
stärker betont sein, und dies wird dem ein¬
zelnen Werk seine spezifische Färbung geben.
Die Aufgabe ist nun, es so zu analysieren, daß
diese Bestandteile klar heraustreten. Würde
dieses nun bei einer größeren Anzahl gleich¬
zeitiger Werke vorgenommen und das Ergebnis
mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen
früherer oder späterer Perioden verglichen,
so werden sich vermutlich gewisse Wandlungen
im literarischen und ästhetischen Geschmack, in
der Auffassung und Darstellung, vielleicht
sogar bestimmte Entwicklungslinien zeigen.
Im ganzen also Wäre eine solche „Ge¬
schichte deS Reiseberichts" von drei Gesichts¬
punkten aus zu liefern: Was ergibt sich aus
der Gesamtheit der Reiseberichte einer Zeit
Wie man eine Geschichte des Liebes-, des
Natur-, des religiösen Gefühls aus den
Literaturdenkmälern einer Epoche heraus-
destillieren kann, so wird das auch beiBenutzung
einer Geschichte des Reiseberichts möglich sein,
und man könnte damit einen sicherlich nicht
verächtlichen Beitrag liefern zur Geschichte des
menschlichen Kultur- und Geisteslebens über¬
haupt (der Jndividual- und Gescnntpsyche in:
Lamprechtschen Sinne).
Der Staatskommissar an der Berliner Börse hat sich veranlaßt gesehen, in
einem Schreiben den Börsenvorstand auf die Ausschreitungen aufmerksam zu
machen, welche seiner Ansicht nach sich die Spekulation am Kassamarkt der
Industrie werte zu Schulden kommen läßt und der Erwägung anheimzugeben,
ob nicht durch geeignete Maßnahmen, insbesondere durch eine Abänderung der
jetzt üblichen Notierungsweise, diesen Mißständen abgeholfen werden könne. Dieser
Schritt des Staatskommissars ist ein durchaus ungewöhnlicher und hat mit Recht
das allergrößte Aufsehen hervorgerufen. Was gab den Anlaß zu solch auffälligen
Vorgehen? Herrschen wirklich an unserer Börse so anarchische Zustände, daß ein
Eingreifen von Aufsichtswegen erforderlich ist, um Ordnung zu schaffen und schwere
Schäden abzuwenden? Nichts von alledeml Den äußeren Anlaß zu dem Eingreifen
des Staatskommissars gab der Umstand, daß an der Berliner Börse seit einiger Zeit
eine besonders lebhafte Spekulationstätigkeit am Kassaindustriemarkte zu beobachten
ist. Diese steht indessen in ausgesprochenem Gegensatze zu dem Verhalten der
Ultimomärkte, dem eigentlichen Tätigkeitsfeld der sogenannten Berufsspekulation.
Denn während mit wenigen Ausnahmen die Kurse der hauptsächlichsten Speku¬
lationswerte, insbesondere die Montanpapiere, eine Neigung zur Schwäche zeigen
und erheblich niedriger notieren, als zu Beginn des Jahres, geschweige denn als
zur gleichen Zeit des Vorjahres, sind unter den gegen Kasse gehandelten Werten
eine große Anzahl zu verzeichnen, deren Kurse in wilden Sprüngen nach oben
geeilt sind und in denen täglich die größten Schwankungen stattfinden. Schon
dieses verschiedene Verhalten der beiden Märkte läßt erkennen, daß die Vorgänge
am Kassamarkt nicht aus ein allgemeines Spekulationsfieber zurückgeführt werden
können. Denn wenn die Börse zu Ausschreitungen geneigt ist, so pflegt dies zu¬
nächst und hauptsächlich im Terminmarkt in Erscheinung zu treten. Ganz natürlich-,
denn Ultimopapiere sind die Aktien der größten Banken, der bedeutendsten industriellen
Gesellschaften. Ist die wirtschaftliche Konjunktur derart, daß sie eine aufsteigende
Börsentendenz rechtfertigt, so wird die letztere sich daher zunächst und am ent-
schiedensten in der Bewertung dieser Aktienkategorien geltend machen. Dies um-
somehr, als gerade der Terminhandel der Spekulation eine sehr bequeme Hand¬
habe bietet, die Preisgestaltung der wirtschaftlichen Beurteilung anzupassen, weil
er von der effektiven Ware losgelöst ist. Es können jederzeit ohne weiteres Käufer
eintreten, die nicht Willens sind, die gekaufte Ware effektiv zu beziehen, da sie bis
zum Abwicklungstag Zeit haben, ein Nealisationsgeschäft vorzunehmen, und es
werden auf der anderen Seite in der Regel sich immer Abgeber finden, die keine
Warenbesitzer sind und nur darauf rechnen, sich vor dem Stichtage einzudecken. Diese
Leichtigkeit des Handels verbürgt in normalen Zeiten eine gewisse Stetigkeit
der Kursbewegung; denn zur gegebenen Zeit muß der Haussier wieder als
Verkäufer am Markt erscheinen, wenn er nämlich realisiert, und umgekehrt der
Baissier als Käufer, wenn er sich eindeckt. Wilde, Sprunghafte Kursbewegungen im
Terminmarkte gehören daher zu den größten Seltenheiten und werden in der
Regel nur bei krisenhaften Erschütterungen der Börse vorkommen. Liegt aber der
Terminhandel brach, stagnieren die Umsätze und bröckeln die Kurse ab, so ist dies
ein sicheres Zeichen dafür, daß die Spekulation untätig ist, daß sie sich Zurück¬
haltung auferlegt, sei es nun, weil die gesamte wirtschaftliche Lage ihr keinen
Anreiz bietet oder sei es, daß besondere Gründe — politisches Unbehagen, schwierige
Geldverhältnisse und dergleichen — sie zur Vorsicht stimmen. Damit verträgt sich
nun aber gleichwohl, daß auf dem Markt der Kassawerte große Kurssteigerungen
Platz greifen. Denn dieser Markt ist der Tummelplatz der Außenseiter; hier
inszenieren Wissende und Mitläufer oft ohne Willen durch unlimitierte Aufträge
die größten Kursbewegungen. Dies erklärt sich daraus, daß hier der Handel und
die Preisbewegung von der effektiven Ware abhängig ist; Käufer kann nur sein,
wer die gekauften Stücke sofort abnehmen und bezahlen kann, Verkäufer nur, wer
die Ware zur sofortigen Ablieferung zur Verfügung hat. Daher ist auf dem Kassa-
markt ein bequemes Spekulieren aus die künftige Preisbewegung ausgeschlossen.
Es läßt sich für den außerhalb der Börse Stehenden schlechterdings nicht absehen,
welchen Einfluß auf die Preisgestaltung eine von ihm erteilte unlimitierte Order
zum Kauf oder Verkauf haben wird. Denn die Ausführbarkeit der Order und
die Kursbildung hängt ganz davon ab, ob und zu welchen Bedingungen sein
Auftrag eine Gegenpartei im Markte findet. Will er beispielsweise kaufen und
es ist kein Verkäufer im Markt, so ist der Auftrag unausführbar, der Kurs muß
gestrichen werden; ist aber nur ein Verkäufer da mit sehr hoch limitiertem Ver¬
kaufspreis, so wird ohne weiteres der unlimitierte Kaufauftrag zu diesem hohen
Kurse Ausführung finden. Ein preismilderndes Eingreifen der Spekulation, wie
am Terminmarkt, ist hier unmöglich, weil trotz noch so verlockender Kurssteigerung
niemand Ware zusagen kann, die er nicht hat und von der er nicht weiß, ob und
wie er sie sich beschaffen kann. Die Preisbewegung am Kassamarkt ist also in
einem hohen Grade von Zufälligkeiten abhängig, nämlich von dem Vorhandensein
von Käufern und Verkäufern. Diese Eigentümlichkeit wird nun noch verstärkt
durch die Art der Kursnotierung, die für Kassawerte gilt. Diese ist durchaus ver¬
schieden von der der Terminwerte. Im Ultimohandel können nämlich nur Ab¬
schlüsse über gewisse Minimalquantitäten gemacht werden, an den deutschen Börsen
über 15000 Mark nommat. Jeder solcher Schluß muß aber kursmäßig bekundet
worden. Daher besteht die Kursnvtiz für den Ultimohandel eines bestimmten
Papiers in einer Anzahl von Preisangaben, welche die Reihenfolge der Schwankungen
im Verlauf der Börse verzeichnen. Anders die Kursnotiz der Kassawerte. Diese
ist ein Kompensations- oder Einheitskurs. Es wird nur ein einheitlicher Kurs
notiert, der so beimessen wird, daß zu ihm alle unlimitierten Kauf- und
Verkaufsaufträge, ferner die limitierten Kaufaufträge, soweit sie gleich hoch
oder höher sind, die limitierten Verkaufsaufträge, soweit sie gleich hoch oder
niedriger sind, Ausführung finden müssen. Nun ist klar, daß für die Zahl der
Umsätze einer bestimmten Aktie die Gesamthöhe des Aktienkapitals von größtem
Einfluß ist. Bei kleinem oder sehr kleinem Aktienkapital wird in der Regel die
Ware am Markte fehlen und das Spiel der Zufälligkeit in der Preisbewegung
verschärft. Aus diesem Grunde ist ja auch die Zulassung einer Aktie zum Börsen¬
handel an ein Minimalkapital von einer Million, die Zulassung zum Ultimo¬
handel an ein solches von zwanzig Millionen Mark geknüpft. Angesichts dieser
Eigentümlichkeiten des Kassahandels leuchtet es ein, daß sich in einem oder meh¬
reren Wertpapieren große Wertverschiebungen vollziehen können, ohne daß die
Vörsentendenz dabei im Spiel ist, ja ohne daß auch nur die Summe der Umsätze
irgendwie erheblich zu sein braucht. Gesetzt, es liegen bei einer Gesellschaft Umstände
vor, die auf den Kurs voraussichtlich günstig wirken, etwa eine Kapitalserhöhung
mit sehr vorteilhaften Bezugsrechten, eine große Gewinnsteigerung, oder ein günstiger
Patentverkauf, so sind es naturgemäß zuerst die Mitglieder der Verwaltung und
die diesen nahestehenden Kreise, welche um diese Dinge wissen. Es ist menschlich,
daß sie diese Kenntnis auszunutzen suchen. Es werden, also Kaufaufträge am
Markte erscheinen. Diese müssen eine preissteigernde Wirkung ausüben. Geht
aber der Kurs in die Höhe, so meldet sich erfahrungsgemäß sofort eine Reihe von
Mitläufern, die in der Hoffnung auf schnellen Kursgewinn unlimitierte Orders an
den Markt legen. In dem Maße, wie der Kurs steigt, wird aber die effektive
Ware am Markte seltener. Denn es ist eine bekannte Tatsache, daß die Besitzer
— ganz im Gegensatz zur berufsmäßigen Spekulation — bei steigenden Kursen
ihre Papiere festhalten und nicht zum Verkauf bringen. Alls dieser Konstellation —
unlimitierte Kaufaufträge und Mangel an Ware — erklären sich dann die sprung¬
hafter, oft alles Maß überschreitenden Kurssteigerungen. Wenn also beispiels¬
weise die Aktien der Vogtländischen Maschinenfabrik — der Fall, der den unmittel¬
baren Anlaß zum Einschreiten des Staatsministers gegeben hat — an einem
einzigen Tage um 90 Prozent gestiegen sind, um in wenigen Tagen wieder
ebensoviel zu fallen, so läßt sich hier die Richtigkeit unserer Darstellung gleichsam
sa oculos demonstrieren. Es handelt sich hier um ein gut rentierendes Unter¬
nehmen, welches in den letzten drei Jahren seine Dividende von zehn aus dreißig
Prozent erhöht hat und Reserven besitzt, die noch über das Aktienkapital von
3,5 Millionen hinausgehen. Die Gesellschaft hat ein wertvolles Patent, eine
Erfindung ihres technischen Direktors, einen Stickautomaten, der in der Stickerei-
Industrie eine förmliche Umwälzung hervorgerufen hat. Der Kurs der Aktien ist
in Würdigung dieser besonderen Verhältnisse der Gesellschaft stark in die Höhe
gegangen. Nun verlautete plötzlich, daß ein Verkauf des Patentes nach
Amerika in die Wege geleitet sei, und daß der Gesellschaft daraus enorme
Gewinne in Aussicht ständen, welche zur Ausgabe von Gratisaktien Ver-
Wendung finden sollten. Was an diesen Gerüchten, die durch eine Reise des
Direktors nach Paris unterstützt wurden. Wahres sei, konnte außerhalb der Ver¬
waltung niemand wissen. Diese aber hüllte sich in Stillschweigen. Was ist also
natürlicher, als daß bei dem geringen Aktienkapital vielleicht Käufe von orientierter
Seite, noch wahrscheinlicher nur die Käufe des durch solche Gewinnaussichten
angelockten Publikums ein solches Emporschnellen des Kurses bewirkten? Und
wer will entscheiden, ob diese sich zunächst als zufälliges Resultat ergebende Kurs¬
bewertung mit den tatsächlichen Verhältnissen ganz außer Einklang steht? Die
Börse hat es doch kurz vorher erlebt, daß die Aktien der Gold- und Silber¬
scheideanstalt mit Berufung auf ähnliche Gerüchte bis nahezu an 1200 Prozent
in die Höhe sprangen und daß schließlich diese enorme Kurssteigerung sich als
gerechtfertigt herausstellte, weil die Gesellschaft ihren Aktionären junge Aktien zum
Kurse von 150 Prozent, also mehr als 1000 Prozent unter dem Marktpreis anbot.
Und ähnlich verhält es sich fast in allen anderen Fällen, auf welche man verweist,
um die Kurssteigerungen am Kassaindustriemarkt als das Resultat einer zügellosen
Spekulation zu kennzeichnen. Allenthalben handelt es sich um vorzüglich geleitete,
gut rentierende Gesellschaften, deren besondere Verhältnisse es wahrscheinlich machen,
daß den Aktionären Vorteile außergewöhnlicher Art winken. Die Zahl dieser
Gesellschaften ist immerhin beschränkt, es sind im Grunde doch nur wenige, wie
Hagen Akkumulatoren, Löweaktien, Höchster Farbwerke, Riedel und andere chemische
Aktien (Anilin Treptow, Elberfelder) und einige Maschinenfabriken. Bei allen
diesen Gesellschaften, auch bei denen mit hohem Aktienkapital, ist aber zu beobachten,
daß große Posten des Kapitals sich in festen Händen, sei es der Vorbesitzer, sei
es der Verwaltung selbst befinden. Auch hier spielt also bei der Kurssteigerung
das Moment des beschränkten Marktes eine erhebliche Rolle. Darf man nun
angesichts dieser Verhältnisse ohne weiteres ein Klagelied auf die Ausschreitungen
der Spekulation anstimmen und ganz nach dem Muster des alten Polizeistaates
sofort zur Reglementierung greifen? Wir meinen, nichts wäre ungerechtfertigter,
als ein solches Verfahren.
Wir sind überhaupt in Deutschland viel zu sehr geneigt, sofort mit behörd¬
lichen Maßnahmen dazwischen zu fahren, sobald irgendwelche Erscheinungen des
Wirtschaftslebens mit dem Kanon nicht übereinstimmen, nach dem man dasselbe
zu beurteilen gewohnt ist. Ganz besonders gilt das von der Börse, deren Daseins¬
bedingungen und deren volkswirtschaftliche Funktion weiten und zwar auch intelli¬
genten Kreisen unserer Bevölkerung ein Rätsel bleiben.
Im Ausland ist das anders. In Paris, in London oder New Jork wird
sich niemand darüber aufregen, wenn eine Aktie auf das Vielfache ihres Nominal¬
betrages steigt, bei uns waltet gleich der Verdacht ob, daß der Börsenunkundige
geprellt wird und daß Maßnahmen erforderlich seien, den ahnungslosen Hinter¬
wäldler zu schützen. Wir haben aus dem verfehlten Experiment des Börsengesetzes
vom Jahrs 1396 noch immer nicht genügend gelernt. Eine leistungsfähige Börse
ist für einen im Mittelpunkt des Welthandels- und Kapitalverkehrs stehenden
Staat eine unbedingte Notwendigkeit; schon die Rücksichtnahme auf den Staats¬
kredit, dessen Hebung und Pflege doch gerade augenblicklich unserer Regierung so
am Herzen liegt, macht eine verständnisvolle Behandlung und eine Förderung der
Verantwortlich: der Herausgeber George Cleinow in Schöneberg, — ManuslriPtscndungen und Briefe werden
erbeten unter der Adresse:
An den Herausgeber der Grenzboten in Frieden«» bei Berlin, Hcdwigstr. 1».
Fernsprecher der Schristl-itung: Amt Pfalzburg 6719, des Verlags: Amt Lützow 6S10,
Verlag: Verlag der Gr-nzSoten G. in. S. H> in Berlin SV. 11.
Druck: „Der Reichsbote" G. in. S. H. in Berlin SW. 11, Dessauer Strafze LK/Z7,
eit der chinesische Koloß in Bewegung geraten ist und in immer
stärker werdenden Äußerungen seine Energie zu selbständigem
politischen Leben kundgibt, wachsen die Besorgnisse Europas im
Hinblick auf die Frage, was aus seinen Völkern werden soll,
wenn jenen vierhundert Millionen Chinesen die Lust ankäme, die
alte Welt mit ihrer Masse und deren Fleiß und Anspruchslosigkeit zu erobern.
Noch hat kein Volk des Westens sich bemüht. Mittel zu finden, um die drohende
Gefahr abzuwenden. Im Gegenteil, allesamt: England. Deutschland und Frank¬
reich haben durch ihre fortgesetzten, zum Teil recht stürmischen Versuche, in
Chinas Wirtschaftsleben einzudringen und sich darin festzusetzen, nur dazu bei¬
getragen, die Aktivität seiner Bewohner zu wecken und sie zu wirtschaftlichem
Gegenstoß zu reizen. Nur Rußland, das auf mehr als 7000 Kilometer an
China angrenzt, ist mit praktischen Mitteln darangegangen, der vom fernen
Osten her einsetzenden neuen Völkerwanderung einen Damm entgegenzustellen.
Die Verschiedenartigkeit im Verhalten der europäischen Völkergruppen ist
natürlich und verständlich. Das Interesse der Westvölker an China beruht ans
rein händlerischen Erwägungen. Für sie kommt das sogenannte Land der Mitte
in erster Linie als Ausfuhrland in Frage, als Ausfuhrland im weitesten Sinne
für Waren, Kapital und Kopfarbeit. nationalpolitische Gesichtspunkte, die nicht
zugleich wirtschaftspolitische wären, spielen für den deutschen, französischen und
englischen Kaufmann um so weniger eine Rolle, als die nationalen Gefahren-
Momente dem Westen Europas noch nirgends greifbar entgegentraten. Der
chinesischen Kultur stehen wir trotz Nichihofen, Grube und verschiedener „Semi¬
nare für orientalische Sprachen" noch gänzlich verständnislos gegenüber. Die
chinesische Masse ist dem Westen so gut wie unbekannt; er empfindet ihr Dasein
darum auch nicht als Gefahr, wenn auch die verschiedenen Nassentheoreüker
warnend ihre Kassandrarufe ertönen lassen.
In Rußland liegen die Dinge wesentlich anders. Die Rassenfrage als
solche hat zwar für das Russische Reich keine rechte Bedeutung, nachdem Volks¬
stämme fast aller Rassen unter den Schutz des weißen Zaren getreten sind.
Sogar die nach preußischem Muster organisierte Armee weist unter den Offizieren
jüdische Karcmnen, buddhistische Mongolen und allerlei Farbige auf. Wirtschaftlich
ist China für Rußland niemals Exploitatiousobjekt gewesen und kann es in abseh¬
barer Zeit auch nicht werden, weil seine eigene wirtschaftliche und kulturelle Kraft
noch nicht entsprechend gewachsen ist. Wohl aber sind Chinesen und Russen Kon¬
kurrenten auf dem innerasiatischen Markte, wobei sich die Russen nicht immer als
die Stärkeren erweisen. Der von Osten in das russische Reich eindringende
Chinese bildet überdies als Feld- und Bergwerksarbeiter eine notwendige Er¬
gänzung des russischen Arbeiters, dem er in vielen Dingen überlegen ist.
Schließlich dringe:: die Chinesen aber auch schon als Landsucher in Russisch-
Asien ein und zwar nicht etwa losgelöst von der chinesischen Heimat, vielmehr
wie die Fangarme riesiger Seeungeheuer fest mit dem Leibe des Mutterlandes
verbunden. Der in großen Scharen auswandernde Chinese ist unbewußt und
bewußt Träger des chinesischen Kultur- und Staatsgedankens und darum bedeutet
sein Eindringen in das russische Reich zugleich eine friedliche Eroberung russischen
Bodens durch das Reich der Mitte. Hiergegen ist mit friedlichen Mitteln einst¬
weilen nicht anzukommen. Die Früchte einer mit größerem äußeren Erfolg
betriebenen Politik der Zaren könnten in wenigen Jahren vernichtet werden.
Gegenwärtig stehen die Dinge an der Nord- und Nordwestgrenze des
chinesischen Reiches so, daß die chinesische Einwanderung schon altes russisches
Gebiet bedroht, während die Nomadenvölker in der Mongolei und in der
Kirgisensteppe ihre Selbständigkeit zugunsten des chinesischen Großkapitals ver¬
loren haben. Die russische Regierung hilft sich zunächst damit, daß sie die
Ansiedlung von Chinesen in den von Rußland militärisch besetzten Gebieten,
wie im Amurgebiete und in Sibirien verbietet. Das Verbot steht indessen nur
auf dem Papier, solange die Russen genötigt sind, alljährlich Hunderttausenden
chinesischen Saisonarbeitern Einlaß zu gewähren, um die Kulturarbeiten, wie
Eisenbahnbauten zu bewältigen, aber auch um die regelmäßige Feldarbeit besorgen
zu können, die die Verpflegung der im Osten dislozierten Armee sicherstellen muß.
Was dort oben in Ostasien zwischen Rußland und China vorgeht, läßt
sich sehr wohl vergleichen mit dem was Westeuropa an den Ostgrenzen Deutsch¬
lands erlebt, wo es alljährlich über einer Million osteuropäischer Wanderarbeiter
Erwerb geben muß, um den Anforderungen des allgemeinen wirtschaftlichen Auf¬
schwungs gerecht werden zu können. Allen gesetzlichen Maßnahmen und polizei¬
lichen Vorschriften zum Trotz bleibt ein gewisser, wenn auch nur geringfügiger
Prozentsatz dieser Osteuropäer sitzen und erzwingt sich das Bürgerrecht.
Die russische Negierung sucht nun dem Vordringen der Chinesen dadurch
die angedeutete politische Bedeutung zu nehmen, daß sie an den astatischen
Grenzen einen breiten Gürtel ausschließlich der Kolonisation durch russische
Bauern zur Verfügung hält. Soweit die Wirksamkeit der transsibirischen Bahn
reicht, sind, wenn auch unter recht erheblichen Opfern, Erfolge erzielt worden.
Aber sie bedeuten Tropfen ini Meer gegenüber den ungeheuren Anforderungen,
die gestellt werden müssen. Die russischen Bemühungen werden vor allem beein¬
trächtigt durch die riesigen Entfernungen, die die bedrohten Gebiete vom russischen
Stammlande trennen. Sie bedeuten im Zeitalter des Verkehrs um so größere
Hindernisse für jede Entwicklung, je weniger sie selbst mit Verkehrsmitteln
ausgerüstet sind und je loser ihre Verbindung mit den benachbarten Verkehrs¬
netzen ist. Dieser Mangel zwingt die Regierung, an dem alten kostspieligen
Verfahren militärischer Kolonisation festzuhalten, doppelt unfruchtbar in heutiger
Zeit, als es die für Wegebau erforderlichen Mittel verschlingt und somit ein
wahres Hemmnis für eine Kolonisation nach modernen Gesichtspunkten bildet.
Von den sonstigen Nachteilen jeder militärischen Okkupation, wie übermäßig
starkes Vordrängen militärischer Gesichtspunkte zum Nachteil gewerblicher, sozialer,
rechtlicher und kultureller braucht nicht gesprochen zu werden.
Diese Beobachtungen haben in der russischen Regierung schon seit mehr als
einem Jahrzehnt die Frage immer wieder auftauchen lassen, wie die Kolonisation
und Ansiedlung russischer Bauern in Sibirien wirtschaftlicher und politisch wirk¬
samer durchgeführt werden könnte. Jetzt scheint man sich zu der Überzeugung
durchgerungen zu haben, daß dies nur dann erreicht werden könnte, wenn
Rußland seine Kolonien mit der Heimat durch gute Eisenbahnen verbindet. Und
so sind denn auch die führenden russischen Blätter voll von Projekten über die
Verlängerung der russischen Bahnen über die Wolga hinaus, über den Ausbau
der sibirischen Eisenbahn, über die Anlagen von Zweigbahnen usw. Alle solche
Projekte sind indessen von vorwiegend lokaler Bedeutung und kommen wohl den
Wünschen der einzelnen Gouvernements und Gebiete Sibiriens entgegen, aber
sie tragen alle den Todeskeim in sich: sie bieten für Jahrzehnte keine Aussicht,
rentabel zu werden, weil sie für viele Jahrzehnte nur einseitig Ausfuhrbahnen,
nicht aber zugleich Einfuhrbahnen sein können. Mit anderen Worten: sie weisen
gegenüber der militärischen Kolonisation nicht die ins Auge springenden Vorteile
auf, deren es bedürfte, um das System mit gutem Gewissen zu ändern.
Den Mangel der Unrentabilität beseitigt ein Projekt, das seit etwa drei
Jahren in Rußland von ernsthafter Seite bearbeitet wird, nachdem es in West¬
europa als Teil einer Linie Rotterdam—Peking—Shanghai schon vor mehr als
vierzig Jahren erörtert wurde"). Neuerdings soll ein entsprechender Plan auch das
Interesse der russischen Regierung gefunden haben. Es gilt das Herz Rußlands
mit dem Herzen Chinas zu verbinden und die Parole auszugeben: Moskau—
Peking in vier Tagen!
Das Projekt gründet sich auf den durchaus einleuchtenden Satz: eine Eisen¬
bahn, die rentabel sein soll, darf ihr rollendes Material nicht leer
laufen lassen, muß also Hin- und Rückfracht haben; solches ist aber
nur möglich, wenn sie Gebiete verbindet, zwischen denen ein Güter¬
austausch von der Größe möglich ist, der dem für den Bahnbau
aufgewendeten Kapital entspricht.
Wahrlich ein einfacher Gedanke! So schön aber und so sehr durchzogen
von ideellen Ausblicken, daß man fürchten muß, er sei angesichts der mensch¬
lichen Schwächen und des menschlichen Eigennutzes undurchführbar.
Immerhin sei es versucht, die Bedeutsamkeit des Problems und die sich
aus seiner Durchführung ergebenden Möglichkeiten aufzudecken.
Nach den mir bekannt gewordenen Vorschlägen soll die neue Eisenbahn, was
Schnelligkeit, Bequemlichkeit und Exaktheit der Beförderung anbetrifft, den größten
Ansprüchen Westeuropas genügen; ferner soll sie mit allen Hilfsmitteln der
Technik ausgerüstet sein, um die schnellste Beförderung der umfangreichsten
Massengüter zu gewährleisten.
Die Streckenführung soll auf möglichst grader Linie von Moskau nach
Semipalatins! (3450 Kilometer) erfolgen, und sich von dort aus den Gebirgs-
zügen des Altai, den Eigentümlichkeiten der südlichen Mongolei und der
chinesischen Gebirge anpassend, nach weiteren 3500 Kilometern Peking zuwenden.
Von der chinesischen Regierung erwartet man, daß sie die Forderung aufstellt,
die seit kurzem eröffnete Strecke Peking—Kalgan in die Linienführung auf¬
zunehmen, während von russischer Seite dahin gewirkt werden dürfte, die Linie
Moskau—Ssaratow einzuschließen. Die privaten Förderer des Gedankens
Moskau—Peking stehen einer solchen Möglichkeit nur mit gemischten Gefühlen
gegenüber: wenn auch die Hineinziehung bereits bestehender Bahnstrecken einige
Vorteile zu haben scheint, etwa die Verringerung des Kapitalaufwaudes, so soll
man diese nicht überschätzen. Die in Frage kommenden Bahnen sind nämlich
so minderwertig eingerichtet, daß es erheblicher Aufwendungen bedürfte, um sie
auf die gewünschte höchste Höhe der Leistungsfähigkeit zu bringen, und dann
bedeutet ihre Einfügung in jedem Falle eine Verlängerung der Fahrt und
somit auch eine Verteuerung für die Durchgangstransporte, die aber sind es,
auf deren Hereinziehung der größte Wert gelegt werden mußte, sofern die Bahn
die ihr zugedachte weltpolitische und kulturelle Bedeutung haben soll.
Die russische Strecke, wie sie einstweilen gedacht ist, würde von Moskau
in ostsüdöstlicher Richtung durch den nördlichsten Teil des getreide- und industrie¬
reichen Gouvernements Rjäsan gehen, dann durch die waldreichen, im übrigen
ebenso beschaffenen südlichen Kreise von Wladimir und Nischni-Nowgorod, also
auf einer Strecke von 500 Kilometern die am dichtest bevölkerten Teile Rußlands
durchqueren, alsdann die schwarze Erde des Gouvernements Ssimbirsk durch¬
schneiden, bei der Stadt Ssimbirsk selbst die Wolga überschreiten und weiter
durch das viehreiche Land der Mordwinen und Tschuwaschen, durch die Basch-
kirensteppe des südlichen Asa, dem Ural zueilen. Dort würde sie in der Nähe
des Tolkassees, 513 Meter über dem Meeresspiegel, ihre höchste Höhe erreichen.
(Zweiter Teil der Strecke 700 Kilometer.) Dann ist die Bahn durch die
Kirgisensteppe im südlichen Sibirien gedacht, deren nördlichster Streifen in einer
Breite von rund 200 Kilometern von hervorragender Fruchtbarkeit und Besiedlungs¬
fähigkeit ist. Bei Semipalatinsk (dritter Teil der Strecke 1750 Kilometer)
würde die neue Linie die eben in Angriff genommene Zweigbahn zur trans¬
sibirischen Bahn erreichen*).
Die in Aussicht genommene sibirische Teilstrecke kreuzt vier schiffbare Ströme,
auf denen schon gegenwärtig ein lebhafter Warenverkehr stattfindet, nämlich Tobol,
Abugan, Jschim und Jrtisch, die alle nach Norden, also auch zur transsibirischen
Eisenbahn, fließen. Der russische Teil der Strecke würde in der Nähe des schon gegen¬
wärtig industriereichen Altai endigen (vierter Teil der Strecke 400 Kilometer), gleich¬
viel ob er dem tief in das Felsgestein hineingesprengten Lauf des Schwarzen
Jrtisch zu folgen hätte oder, ob er sich, um bautechnische Schwierigkeiten zu
umgehen, südwärts in die Steppe um den Saissansee wagte.
Oberhalb Semipalatinsk beginnen von der einen Seite die Ausläufer des
Altai, von der anderen Seite allerhand kleinere Gebirgszüge sich mehr und
mehr dem Jrtisch zu nähern, bis sich die Berge bei Ast-Kamenogorsk zu einer
Felseuklamm schließen, die nicht einmal einen Fußpfad neben dem Flußbett zuläßt.
Aus diesem Grunde ist wohl auch anzunehmen, daß für die Linienführung der Bahn
von Semipalatinsk aus eine südliche Richtung, d. h. eine Umgehung der den Strom
einengendem Gebirge angenommen wird, etwa dem Wege Semipalatinsk—Kokpek-
tinsk folgend. Nach Überschreiten eines nicht allzuhohen Passes würde sie das Tal
des Kokpekty erreichen, eines Zuflusses des Saissansees, der oberhalb des
Jrtischdurchbruches in ein weites flaches Becken eingelagert ist und vom Schwarzen
Jrtisch durchströmt wird. Den See auf der offenen südlichen Seite umgehend,
würde die Bahn, die Stadt Saissansk berührend, die hier verhältnismäßig leicht
Zugängliche Grenze des chinesischen Reiches entweder unweit des Ausflusses des
Schwarzen Jrtisch oder unweit des Sees Ulungur und der an ihm gelegenen
chinesischen Grenzstadt Buluw-Tochoi überschreiten.
Die in Frage kommenden Gebiete gehören zu den wirtschaftlich aussichts¬
reichsten des ganzen Kirgisensteppengebiets: Der gebirgige Charakter dieses Teils
schützt die zum Landbau geeigneten Stellen der Täter und kleineren Ebenen vor den
Sandstürmen der offenen Steppe und wirkt somit der Austrocknung entgegen.
Dazu tritt das verhältnismäßig reichliche Vorhandensein von kleinen, von den
Gebirgen kommenden Flüssen, die Kulturen mit künstlicher Bewässerung möglich
wachen. Daher hat der Ackerbau trotz der geringen Niederschläge hier leidlich
günstige Aussichten. Zurzeit treten Ackerbauerzeugnisse allerdings noch hinter
Viehzuchterträgen zurück. Es handelt sich vor allem um Wolle, Haare,
Häute, Felle, Talg, Därme usw., die zurzeit in einer Wertsumme von 5 bis
10 Millionen Rubel jährlich nach und über Semipalatinsk hinaus gelangen
mögen, und die alle zu den Erzeugnissen gehören, die auf dem Weltmarkt zu
steigenden Preisen immer mehr gesucht werden.
Nach Inbetriebsetzung der Bahn würde dazu sicher ein ähnlicher Schlacht¬
betrieb treten, wie er jetzt an der sibirischen Bahn stattfindet, wo von Petropawlowsk
und Kurgan aus die Märkte Moskaus und Petersburgs mit Fleisch versorgt
werden. An der sibirischen Bahn werden jährlich rund hunderttausend Stück
Rindvieh aus der Kirgisensteppe geschlachtet und die Rumpfe beim ersten Frost
nach Rußland verfrachtet. Überdies ist die Kirgisensteppe imstande, jährlich
Hunderttausende von Schafen abzugeben.
Als steigerungsfähig wird sich auch der Butterversand und die Ausfuhr
von Geflügel und Eiern erweisen —, die schon jetzt, gestützt auf die Jrtisch-
schiffahrt in Semipalatinsk, Ast-Kamenogorsk und Saissansk Bedeutung gewonnen
haben. Günstig liegen auch stellenweise die Verhältnisse für die Bienenzucht.
Ausdehnungsfähig ist ferner die Fischerei.
Ein weiterer Reichtum des Gebietes besteht in Mineralschätzen. Die Berge
zwischen Ast-Kamenogorsk und Kokpektinsk sowie die nördlichen Randgebirge des
Saissansees sind schon jetzt als reich an Edelmetallen bekannt, obwohl die
geologische Erforschung nur eine oberflächliche ist. Goldfundstellen allein sind
an vierhundert erschlossen. Der Goldgehalt der Erze scheint an 20 Gramm
auf die Tonne heranzureichen. Vermutlich hätte der Erzgoldabbau schon jetzt
bedeutendere Fortschritte gemacht, wenn nicht die Betätigung von Ausländern
in diesen Gebieten an eine jedesmalige besondere Erlaubnis der höchsten Instanzen
gebunden wäre. Neben Gold verdienen Kupfervorkommen Beachtung.
Die Bahn würde die Abbauwürdigkeit mancher bisher ungenutzter Fundstellen
sichern. Ob die Eisenerze des Gebietes hochwertig genug sind, um eine Ausfuhr auf
weite Entfernungen zu lohnen, ist die Frage; eine Verhüllung an Ort und Stelle
hat mit Mangel an geeigneten Kohlen zu kämpfen. Kohlen sind in der Kirgisen¬
steppe, am Jrtisch und am Saissansee bisher nur in minderwertigen, zur Ver¬
kokung nicht geeigneten Qualitäten gefunden worden. Silber, Blei, Maganerz,
Graphit, Halbedelsteine sind weitere in dem Einflußbereich der Bahn vor¬
kommende Bodenschätze. An Arbeitskräften fehlt es nicht; Tausende und Aber¬
tausende von verarmten Kirgisen stehen als willige, wenn auch nicht besonders
leistungsfähige Arbeiter bei niedrigen Löhnen zur Verfügung.
Es ergibt sich also, daß das Gebiet, das zwischen Semipalatinsk und der
chinesischen Grenze von der geplanten Bahn durchlaufen werden würde, an sich
schon eine Oase von bemerkenswerten wirtschaftlichen Möglichkeiten darstellt
gegenüber den Steppen und Wüsten, die westlich und östlich die Bahntrace
begleiten. Dazu kommt aber noch die günstige Verkehrslage des Bezirks:
Nach Semipalatinsk laufen von Süden wichtige Karawanenstraßen aus
Russisch-Zentralasien, anderseits von Nordosten her Wege aus dem dicht¬
besiedelten, fruchtbaren nördlichen Steppenvorland des Altai. Große Dampf¬
mühlen in Semipalatinsk vermahlen schon heute 50000 Tonnen Getreide aus
diesem Gebiet und manche Getreidebarke wird von hier auf den Jrtisch ver¬
frachtet. Andere Wege führen aus dem gewaltigen Bergland des Altai mit
seinen noch vielfach ungehobener Mineralschätzen, seinen Weiden und Wäldern,
zum Jrtisch hinunter; endlich lausen wichtige Karawanenstraßen aus der Süd¬
westecke des chinesischen Reichs nach Scnssan und Semipalatinsk.
Zusammenfassend wird man sagen können, daß die geplante Bahn in dein
Gebiet zwischen Semipalatinsk und, der chinesischen Grenze eine Art Stützpunkt
erhält, der ihrer Rentabilität ein recht erfreuliches Prognostikon sein möchte.
Einmal dem Verkehr erschlossen und den Welthandelsstraßen angegliedert, muß
das Gebiet des oberen oder Schwarzen Jrtisch für Zentralasien ein neues
Handels- und Kulturzentrum werden, das seinen Einfluß weit nach Süden und
Osten geltend machen würde.-
Je mehr wir uns der chinesisch-russischen Grenzzone nähern, um so mehr
wird die Überzeugung lebendig, daß wir zu der Stelle gelangen, an die sich
die meisten Schwierigkeiten für den Bahnbau Moskau—Peking knüpfen. Es
sind das keine natürlichen Schwierigkeiten, obwohl auch deren genügend zu über¬
winden sein dürsten. Größer sind aber doch die politischen.
Die Linie der russisch-chinesischen Grenze, die etwa vom Saissangebiet über
das Tarbagatai-Gebirge südlich zum Barlik, zum dschungarischen Ala-Tam und
zum Tal des Ili, in dem Kultscha gelegen ist, läuft, gehört zu den hei߬
umstrittensten Gebieten der russischen und chinesischen Politik in Mittelasien.
Dort leben noch zahlreiche Nomadenstämme, die je nach der Jahreszeit und den
Regenverhältnissen ihre Standorte wechseln und die heute von den Russen als
Untertanen des Zaren, morgen von den Chinesen als Söhne des Reiches der
Mitte in Anspruch genommen werden. Meist sind diese sogenannten Nomaden
gar nicht mehr selbständige Volksstämme, sondern Hirten im Dienste chinesischer
Kapitalisten, denen die Herden, die Kamele, Pferde und Rinder gehören.
Anderseits aber ist der russische Handel aus dem Gebiete des Sieben-Ströme-
Landes sowohl wie aus dem Gebiete des Schwarzen Jrtisch von Semipalatinsk
aus auf das Hochland gestiegen und Kaufleute russischer Staatsangehörigkeit,
vielfach mohammedanische Armenier, vereinzelt auch echte Moskowiter, halten
ihn in ihren Händen. Diese Verhältnisse im Verein mit Wegelosigkeit bringen
es mit sich, daß die Grenzen dort nicht feststehen. Je nach der Lage der Weide¬
plätze in verschiedenen Jahreszeiten und klimatischen Perioden geben sie zugunsten
der Russen oder Chinesen nach und gewöhnlich benutzen die russischen Militär¬
behörden als die stärkeren solche Verschiebungen, um sich des einen oder anderen
besonders günstig gelegenen strategischen Punktes zu bemächtigen, woran sich
dann diplomatische Weiterungen schließen, die, wie im Jahre 1881 und 1911
manchmal ein recht ernstes Gesicht annehmen und die Sicherheit des Weltfriedens
bedrohen können.
Der Bahnban Moskau—Peking hätte somit zunächst eine Verständigung
über die strittigen Grenzen gerade in jenen Gebieten zur Voraussetzung.
Doch setzen wir den Fall, daß über diese Fragen eine Einigung erzielt
wird. Dann bekämen jene Gebiete für beide Länder eine größere Bedeutung,
als wie sie sie heute haben können. Beiden Ländern würde die Möglichkeit
gegeben sein, an jenen Grenzen Menschenbollwerke zu errichten, westlich russische,
östlich chinesische, die eine neuerliche Verwischung der Grenzen unmöglich machten:
die wichtigste Grundlage für geordnete Rechtsverhältnisse, nämlich fest gefügte
Besitzverhältnisse könnte geschaffen werden.
Im übrigen treten für China bezüglich des Bahnbaus dieselben wirtschaftlichen
Gesichtspunkte in Kraft, wie für Nußland. Die Bahn ist die beste Basis für eine
systematische Kolonisation. Und wenn auch die Strecke durch die Wüste zunächst
noch unwirksam ist, so hat menschliche Energie es doch immer noch verstanden,
dem geizigen Boden Reichtümer zu entlocken, von deren Existenz man vorher
noch keine rechte Vorstellung hatte. Wer sich über die wirtschaftlichen Aussichten
der Gebiete südlich des Altai in der südlichen und inneren Mongolei unter¬
richten will, lese die entsprechenden Abschnitte in dem großen Werke des
Geographen Ferdinand Freiherrn von Nichthofen, das dieser über China ver¬
öffentlicht hat. Es ist bemerkenswert, daß dieser ausgezeichnete Kenner Chinas
gleichfalls die Notwendigkeit einer Bahnverbindung zwischen Europa und Ostasien
durch Mittelasten betont und dabei sich auch für die Rentabilität eines solchen
Unternehmens ausspricht.
Hier sei nur auf die Möglichkeit für China hingewiesen, einen mächtigen
Strom derjenigen Bevölkerungsteile, die gegenwärtig in die Mandschurei und
darüber hinaus nach Norden drängen, von dort abzulenken und zur Besiedelung
der von der Bahn Moskau—Peking durchschnittenen Gebiete zu verwenden.
Damit würde auf einem anderen Gebiete der russisch-chinesischen Beziehungen,
wo es gegenwärtig dauernd zu Streitigkeiten zwischen den beiden Mächten kommt,
eine Entlastung geschaffen. Wie schon eingangs erwähnt, drücken gegenwärtig
die chinesischen Einwanderer auf das Amurgebiet, das Nußland mit Recht zu
seinem rechtmäßig erworbenen und kolonisierten Besitztum rechnen darf. Hört
dieser Druck auf, so wird Nußland dort in Ruhe sein Kolonisationswerk vollenden
können, ohne dauernd mit den chinesischen Grenzgebietern in Konflikt zu geraten,
und manche Quelle des Mißtrauens auf beiden Seiten würde versiegen.
Sehen wir von den politischen Differenzpunkten zwischen Rußland und
China ab und betrachten wir jetzt die geplante Bahnstrecke lediglich von weltwirt¬
schaftlichen Gesichtspunkten, so fällt uns grell ins Auge, welch einen ungeheuren
Wandel in der Bedeutung Chinas und Rußlands auf dem Weltmarkte diese
Linie nach sich ziehen muß. Der ferne Osten wäre mit einem Schlage ein
Bindeglied zwischen der alten Welt und Australien, das es erst rechtfertigte, wenn
die Chinesen ihr Land das Land der Mitte nennen. Der ferne Osten, den
wir gegenwärtig nur erreichen können entweder auf dem langwierigen Wege
über Sibirien mit seinem fast zweitausend Kilometer großem Umwege über
Tschita oder Chardin, der ferne Osten, den wir vor nicht langer Zeit nur
erreichen konnten nach einer beschwerlichen Fahrt durch die Siedeglut des
Roten Meers, um ganz Asten herum, mit den Schrecknissen des Taifun im
Gelben Meere, der ferne Osten wäre uns Westeuropäern näher gerückt, als
die Vereinigten Staaten von Nordamerika, und Reisen, die heute noch
vierzehn und mehr Tage in Anspruch nehmen, und Gütertransporte, die fünf¬
undvierzig Tage brauchen, um von Hamburg nach Shanghai zu gelangen,
würden von Hamburg, Rotterdam, London und Paris nur sechs bis sieben,
höchstens zehn Tage brauchen. Die neue Bahn und damit China und Rußland
würden den Durchgangsverkehr zwischen Europa und dem gesamten fernen Osten
an sich reißen. Ein großer Teil des Frachtenverkehrs mit Japan, den
Philippinen, den östlichen Sundainseln, mit Polynesien und Australien würden
unzweifelhaft diesen Weg zu Lande suchen, da die Verpackung der Waren, wie
etwa des Fleisches und der Butter, die Australien gegenwärtig durch das Rote
Meer zu uns kommen läßt, so teuer ist, daß dafür der an sich kostspieligere Land¬
verkehr bezahlt werden könnte. Hinzu träte noch der Postbetrieb, der der See¬
beförderung vollständig entzogen würde; es läßt sich sogar denken, daß die Post
Zwischen China und den Oststaaten Amerikas den Weg schneller über Europa
zurücklegen könnte, als über den Stillen Ozean.
Vierhundert Millionen Europäer würden in nahe Verbindung gebracht
mit vierhundert Millionen fleißigen nach Fortschritt strebenden Asiaten. Was
allein dieser Umstand für eine ungeheure Bedeutung für die ganze Erde
und ihre Kultur haben muß, kann hier leider auch andeutungsweise nicht
dargetan werden. Hervorgehoben sei nur die durch die Bahn geschaffene
Interessengemeinschaft unter den Völkern der alten Welt, das sicherste Mittel,
blutige, Kultur vernichtende Kriege zu verhindern. Denn wo eine Interessen¬
gemeinschaft besteht, da kommt auch der Wille leichter zum Vorschein, sich auf
friedlichem Wege über strittige Punkte zu einigen.
Die wahrscheinliche Rentabilität der Bahn kann hier im einzelnen nicht nach¬
gewiesen werden. Ganz abgesehen davon, daß die genauen Grundlagen dazu fehlen,
ist es auch nicht unsere Absicht gewesen dies zu tun. Um aber das Werk durch diese
Unterlassung in den Augen der Leser in seiner Bedeutung nicht zu schmälern, sei auf
die Entwicklung der Nikolaibahn und der amerikanischen Eisenbahnen hingewiesen.
Auch sie wurden einst durch menschenleere Gebiete und durch Urwald und Steppen
geführt; aber sie verbanden nicht zwei Wohn- und Produktionsstätten mit
je vierhundert Millionen Menschen, sondern nur immer je zwei aufstrebende
Städte mit Einwohnerzahlen von weniger als einer Million. Und doch stellen
sie für die Besitzer ganz bedeutende Einnahmequellen und für die Vereinigten
Staaten die Basis ihrer weltwirtschaftlichen Macht dar. Zieht man in Betrach
daß der Güteraustausch zwischen Rußland und China gegenwärtig nur deshalb
so geringfügig ist, weil die Verkehrsmittel zu primitiv geblieben, erinnert man
sich daran, daß jeder Kilometer Eisenbahn wenigstens hundert Bauernfamilien
neue Arbeits- und Siedlungsmöglichleiten, also auch neue Produktions- und
Konsumtionsmöglichkeiten eröffnet, so kann die Rentabilität der Strecke anch ohne
Angabe von Einzelzahlen nicht in Frage gestellt werden und somit ist auch die
Durchführbarkeit des Unternehmens, das beiläufig achthundert Millionen Rubel
kosten würde, als möglich erwiesen und wir können uns wieder den politischen
Konsequenzen des Planes zuwenden.
China, das heute nach einer Neugestaltung seiner Staatseinrichtungen
strebt und das zu seiner Modernisierung sich manches Pfropfreis aus Westeuropa
geholt hat, käme durch die ungeheure Steigerung des Personenverkehrs zwischen
Ost und West mit den führenden Geistern Europas in nähere Berührung, wo¬
durch ihm zweifellos eine große Beschleunigung seiner Reform ermöglicht würde.
Man denke allein an die neuen Möglichkeiten für die Führung mündlicher
Verhandlungen, die sich aus einer verkürzten Reisedauer ergeben. Wie heute
Amerikaner und Europäer regelmäßig den Atlantischen Ozean durchqueren, um
ihre Geschäfte hüben wie drüben abzuwickeln, so werden Westeuropäer und
Chinesen den verkürzten Weg durch die Mongolei gern benutzen, um in den
Handelszentren Westeuropas, Rußlands und Chinas mit den Geschäftsfreunden
persönlich Fühlung zu nehmen.
Der Einschluß Chinas in den Riesenweg der Weltwirtschaft, der von
Australien zu den britischen Inseln führt, muß aber auch Wirkungen rein welt¬
politischer Art nach sich ziehen, die wir heute vielleicht ahnen, die wir aber in
ihren letzten Konsequenzen nur spekulativ zu übersehen vermögen.
Schließlich aber dürfte der Bahnbau Moskau—Peking, sowohl für Nußland,
wie für die europäischen Weststaaten gewisse Folgen einer Eisenbahnpolitik
mildern, die sich in China durchsetzen muß. Die neue chinesische Regierung
wird, um die Staatsgewalt bis in die entlegensten Winkel des Reiches wirken
lassen zu können und um die Macht der Vizegouverneure und einzelner Fürsten
zu brechen, darauf angewiesen sein, gewaltige Magistralbahnen zu bauen, die
Peking und Harlan mit den einzelnen Provinzialhauptstädten verbinden. Diese
Magistralbahnen werden zum großen Teil durch hochkultivierte und dichtbevölkerte
Gegenden laufen, und sie durch Vermittlung der bisherigen von Europäern
gebauten Eisenbahnen mit dem Meere also auch mit dem Weltmarkt verbinden.
Diese in erster Linie als Einfalltore für den fremden Handel gedachten Bahnen,
werden dadurch zu Ausfallstraßen für die chinesischen Erzeugnisse. Es erscheint
uns selbstverständlich, daß diejenigen Nationen, die sich der Einfalltore bisher
am kräftigsten bedienen konnten, nur dann auf der Höhe ihres wirtschaftlichen
Einflusses in China verharren können, wenn sie es verstehen, den Bedürfnissen
des reichen chinesischen Marktes gerecht zu werden. Dazu aber wird wieder
eine möglichst schnelle und sichere Verbindung gehören, wie sie für Europa die
gedachte Linie Moskau—Peking zweifellos wäre.
Nach Lage der Dinge ist es in den letzten Jahren in steigendem Maße
die nordamerikanische Union gewesen, die aus der Eigenart des chinesischen
Eisenbahnnetzes Nutzen ziehen konnte. Das industrielle Nordamerika hat es
verstanden, trotzdem es bisher nur auf dieselbe Wasserstraße angewiesen war,
die auch Westeuropa zur Verfügung steht, nämlich auf den Suezkanal, zum
Beispiel die britische Konkurrenz ganz gehörig zu bedrängen und die russische
bis tief nach Sibirien hinein zu schlagen. Auch die deutsche Industrie steht im
fernen Osten mit Amerika in scharfem Wettbewerb.
Diese Verhältnisse müssen sich nach Eröffnung des Panamakanals noch
ganz erheblich zugunsten Amerikas ausgestalten. Und damit wird dann die
Frage lebendig, ob es denn Rußland allein ist, das ein Interesse am Bau
einer geraden Linie von Moskau nach Peking hat und ob sich nicht Deutschland,
Frankreich England und Belgien ebenso für den Bau der Bahn interessieren
müßten, wie das Reich der Zaren.
Es liegt nicht im Rahmen dieses Aufsatzes den Gedanken weiter auszu-
spinnen und die Bedeutung der neuen Linie für jedes einzelne Land und dessen
verschiedene Gewerbestände zu untersuchen. Vielleicht bietet sich dazu noch
Gelegenheit, sobald die schwebenden Verhandlungen weiter vorgeschritten sind.
Nur soviel soll nicht unerwähnt bleiben: Die einzelnen Völker und Staaten
werden je nach ihrer geographischen Lage und ihrer mehr agrarischen oder mehr
industriellen Entwicklung durchaus verschiedenartig Stellung zu dem Projekt
nehmen. Ernsterer Schwierigkeiten wird man sich aber wohl nur von seiten der
Amerikaner versehen dürfen, deren in der Fertigstellung des Panamakanals
liegender Sieg über Großbritannien durch eine direkte, gute Landverbindnng
zwischen Ostasien und Westeuropa erheblich an Bedeutung verlieren muß.
Dabei wird von der Voraussetzung ausgegangen, daß die Absicht der
Träger des genialen Gedankens zur Verwirklichung kommt, eine in Rußland
und China konzessionierte Privatgesellschaft zu gründen. Gegen den Bau
dieser Eisenbahn von Staats wegen erheben sicki naturgemäß schwere Bedenken,
da einerseits die Bauzeit erheblich verlängert würde und somit die unproduktiven
Lasten, die Bauzinsen, ungeheuerlich wachsen könnten. Anderseits lehren die
Erfahrungen, die man mit russischen Staatsbahnen gemacht hat, mancherlei, was
nach unserer Auffassung die Absicht der neuen Bahn, nämlich die kürzeste und
sicherste Verbindung zwischen Westeuropa und Ostasien, in Frage stellt.
Die Geldbeschaffung kann Schwierigkeiten nicht bereiten. Die gesamte Bau-
summe, die auf rund 800 Millionen Rubel geschätzt wird, ist nicht so gewaltig,
daß ihre Aufbringung in einem Zeitraum von vier bis fünf Jahren nicht leicht
erfolgen könnte. Solchen Ansprüchen ist der Geldmarkt Europas stets noch
gewachsen und das Kapital wird sich um so lieber dem Unternehmen zuwenden,
sobald die russische und chinesische Regierung für jede der auf sie entfallenden
Teilsummen eine Garantie übernehmen.
on den Zielen der Bäuerischen Gewerbeschau soll die Rede sein.
Da möchte ich nun gleich bitten, zu unterscheiden zwischen den
! ferneren Zielen, die in den Wolken zu schweben scheinen und den
nahen, von denen allein ein Teil bald erreicht werden kann. Für
jene werde ich nicht viele Worte aufwenden dürfen, habe ich doch
nur die Möglichkeit, von einem recht kleinen Ausschnitt aus einem sehr umfang¬
reichen Thema zu Ihnen zu sprechen und möchte sie nur ganz kurz bezeichnen.
Eine blühende, kräftige Industrie, die nicht mehr kniet und sich ängstigt vor
dem Götzenbild, das sie selber sich aufgerichtet hat und das heißt: Geschmack
oder eigentlich Ungeschmack des laufenden Publikums, sondern eine Industrie,
die mit dem vollen Bewußtsein ihrer Kulturaufgabe und mit Würde und
Sicherheit ihre Wege geht. Und daneben eine gesunde, starke Kunst, nicht
getragen von einigen Gruppen von Ästheten, die in ihren — ich darf wohl
sagen: häufig unehrlichen — Verstiegenheiten hauptsächlich damit beschäftigt sind,
zu zeigen, daß sie allein die letzten Sensationen voll zu erleben fähig sind,
sondern eine Kunst, die ihre Wurzeln überall im ganzen Volke, im ganzen
Lande hat und die, indem sie auch den Alltag mit schlichter Schönheit schmückt,
überall wo Fähigkeiten ihr entgegenkommen freudige Teilnahme weckt an allen
Fragen der Kunst.
Nur bitte ich, wenn ich das als ferneres Ziel der Gewerbeschau bezeichne,
nicht zu glauben, daß wir in München vom Größenwahn befallen sind. Wir
wissen sehr genau: zu diesem fernen Ziel kann nur ein Schritt getan werden,
es muß ein Schritt nach dem anderen gemacht werden. Und, nachdem die
Richtung angegeben ist, möchte ich auf den ersten wichtigen, notwendigen Schritt
hinweisen, den ich auch als das nächste Ziel der Bayerischen Gcwerbeschau
bezeichnen möchte: Es ist der Versuch, alle die Schwierigkeiten zu
beseitigen, die einem Zusammenarbeiten zwischeu Industrie und
Kunst entgegenstehen (wobei unter Industrie in diesem Zusammenhange
immer auch das gesamte Handwerk mit einbezogen zu denken ist).
Nun sei es mir erlaubt, noch ein Einschiebsel zu machen, das nicht hierher
zu gehören scheint, das aber erklärt, was ich weiter ausführen möchte. Hätte
ich heute vor einem Publikum von Lesern zu sprechen, die künstlerisch tätig sind,
so würde ich vor allem die Schwierigkeiten betonen, die von den Künstlern
ausgehen; da ich aber heute die Ehre und sehr seltene Gelegenheit habe, vor
einem Kreise von Männern der Industrie zu stehen, so begrüße ich sehr die
Möglichkeit, gerade über die Schwierigkeiten zu sprechen, die von Ihrer Seite
herkommen. Wohl habe ich vielfach Gelegenheit, mit Unternehmern in Berührung
zu kommen und solche Dinge zu besprechen. Aber in der Fabrik muß man
da oft Vorsicht walten lassen, darf man Klagen kaum andeuten, will man nicht
von vornherein seinen Zweck ganz verfehlen. Um so mehr bitte ich Sie heute,
die günstig sich bietende Gelegenheit ausnützen zu dürfen.
Nun also zu den Schwierigkeiten selbst! Ich glaube, die bedenklichsten liegen
zum großen Teil schon in den allgemeinen Anschauungen der Zeit: der ungeheuere
erleichterte Verkehr, das unheimlich beschleunigte Tempo, in dem zu leben wir uns
gezwungen finden, hat eine erschreckliche Verfluchung und Oberflächlichkeit zur Folge.
Aber die schönen, guten Dinge entstehen nicht in der Hast, sie müssen ihre Zeit
haben, um auszureisen. Die Möglichkeit dazu ist aber oft gar nicht gegeben. Wie
sollen wir darüber hinauskommen? Die Entwicklung von Eigenart, von starken
Persönlichkeiten, eine Voraussetzung für künstlerische Leistungen, ist unter solchen
Umständen auch aufs äußerste erschwert. Blicken wir weiter auf die Verwirrung,
die in unsere Zeit gebracht wird durch solche gewaltige Probleme, wie das
Erwachen der Massen zum Machtwillen, die Monopole und Trusts, die unheim¬
lichen Möglichkeiten, die aus der Maschine und der Technik uns erwachsen, wie
soll in einem solchen chaotischen Zustand ruhiges, ungestörtes Weiterarbeiten,
Verfeinern, Veredeln gelingen? Daneben die Schulen, die vielfach rein ver¬
standesmäßiges Lernen pflegen und die Bildung des Charakters und der Sinne
ganz vernachlässigenI Eine andere Erscheinung: Welcher Mangel an Fähigkeit,
edlen Luxus zu treiben, kennzeichnet unsere Zeit, — edlen Luxus, wie ihn die
Medici, wie ihn manches Patriziergeschlecht, manches Fürstengeschlecht auch bei
uns in früheren Zeiten getrieben hat —- während zugleich eine andere, ver¬
blüffend dumme Art von Luxus ekelhafte Auswüchse hervorbringt. Werfen wir
noch einen Blick aus die Unehrlichkeit und Unechtheit der Lebensauffassung, die
sich überall und vielleicht am auffälligsten darin bemerkbar macht, daß jeder
Stand, statt seine eigene Art zu vervollkommnen und stolz darauf zu sein, die
Lebensart des nächsthöheren Standes — natürlich ungeschickt und plump —
vorzutäuschen sucht.
Zu diesen allgemeinen Anschauungen, die das Gedeihen vornehmer, edler
Arbeit erschweren, kommt aber noch eine Reihe besonderer Anschauungen, die
in den Kreisen der Industrie selbst herrschen. Ist es nicht eigentlich eine selbst¬
verständliche Forderung, die jeder an sich stellen muß, der überhaupt in den
eigenen Augen und in den Augen anderer als anständig gelten will: Überall
auch nur anständige Arbeit zu leisten? Und ist das nun wirklich in der Industrie
überall eine Selbstverständlichkeit? Es sollten im Fabrikbureau nicht andere
Grundsätze gelten als in der Gesellschaft oder in der Familie. Ich glaube mich
nicht zu täuschen: Mancher Fabrikherr, der unbedenklich in seiner Fabrik Erzeug¬
nisse herstellt, von denen er sich eingestehen muß: „Wer das Zeug kauft, geht
ein dabei," würde die Zumutung mit Entrüstung von sich weisen, in seiner
Familie ein auf Täuschung berechnetes Wort zu sprechen. Es ist einer kein
naiver, schlechter Geschäftsmann, wenn er mit Schundproduktion Geld nicht
verdienen mag. Aber freilich heute gilt er nur zu oft noch dafür. Die Schuld
wird dann dabei auf das Publikum geschoben, vielfach nicht mit Recht. Das
Publikum will gut, wirklich vorteilhaft einkaufen. Aber allerdings ist es voll¬
ständig irre gemacht durch eine schlechte Industrie, die mit ihrer Ware darauf
hinzielt,^ scheinbar mehr zu bieten, als sür den Preis hergestellt werden kann.
Welche ungeheure Materialwerte werden nicht in der Industrie verarbeitet, und
welche unverantwortliche, durch keinen vernünftigen Grund zu rechtfertigende
Vergeudung liegt in der Schundproduktion und in der unseligen Hetze nach
Nouveautös. Daß solche Worte nicht einfach auf Übertreibung beruhen, das
mag ein kleines Beispiel beweisen. Bei der Geschäftsstelle der Gewerbe¬
schau liegt ein Brief, in dem ein Fabrikant mitteilt: (— es handelt
sich dabei nicht etwa um Waren, bei denen der Käufer von vornherein
auf Dauerhaftigkeit gar keinen Anspruch erhebt —) „Meine Sachen eignen
sich nicht sür Schauzwecke, da sie auf mehrere Monate Licht und Luft nicht
aushalten." Mit großen Kosten, großem Arbeitsaufwand entsteht eine Unmenge
von neuen Entwürfen, neuen Schablonen, Stanzen, Webkarten usw., nicht etwa
um etwas Schlechtes gegen Besseres auszutauschen, nein, nur um das Neue von
heute an die Stelle des Neuen von gestern zu setzen. Ist's nicht Wahnsinn?
Wie soll's da möglich sein, gute Arbeit zu leisten, sie weiter und weiter hinauf¬
zutreiben, mit Freude und mit Ernst um die Verbesserung sich zu mühen. Bei
vielen ist's ganz in Vergessenheit geraten, welcher Vorteil in solcher Arbeit liegen
würde, und daß, was heute wirklich gut ist, morgen nicht schlecht sein kann,
daß aber, was heute neu ist, morgen schon alt fein muß. Auch die Schuld
wird auf das Publikum geschoben. „Das Publikum verlangt's." Nein,
das ist nicht richtig, meistens nicht richtig. In der Unfähigkeit, Geschmackswerte,
die von Dauer sein werden, mit Sicherheit zu unterscheiden, liegt ein Grund
von entscheidender Wichtigkeit für diese Sucht nach Neuem und für diese Unter¬
ordnung unter die angeblichen Anforderungen des Publikums, die in den meisten
Fällen nur Anforderungen von bildungs- und geschmacklosen Zwischenhändlern
sind, welche in einem möglichst häufigen Wechsel der Mode ihren Vorteil zu
finden glauben. Die Ängstlichkeit und Unsicherheit in Geschmacksfragen ist es,
die den Geschmack des laufenden Publikums zum Richter erhebt, das in Wirk¬
lichkeit recht froh wäre, wenn es geführt würde, freilich aber von einem Führer,
der nicht selber unsicher auf Irrwegen herumsucht. So lange aber ein großer
Teil der Industrie auf dem Standpunkt steht, daß mit jeder neuen „Saison"
auch andere Formen, andere Farben, kurz das, was die letzte Mode fordert,
die Bezeichnung schön und geschmackvoll verdient, wird das Publikum nicht mit
Unrecht die Folgerung ziehen, daß einer, der alle Jahre einen anderen Geschmack
hat, überhaupt keinen eigenen Geschmack besitzt und also als sicherer Führer auf
schwierigem Gebiet nicht gelten kann. Ich bin überzeugt, es wäre nicht nur
unmöglich, sondern ganz falsch, alle diese Verhältnisse nun plötzlich umstürzen
und überall verbessern und reformieren zu wollen, aber möglich und zu wünschen
ist's, daß zunächst wenigstens neben dem bisher Gebotenen überall ganz gute,
gediegene, einfache, sachliche Arbeit geleistet werden möge und daß das Neue,
was eingeführt wird, zugleich auch immer eine Verbesserung bedeuten möge.
Allerdings wird da ein Glaubenssatz erst fallen müssen, der leider oft noch heilig
gehalten wird. Der heißt: „Die Kauflust des Publikums beweist, daß das
betreffende Ding geschmackvoll und gut ist." Das ist nicht richtig. Die
Kauflust beweist nur, daß das Ding verkäuflich ist, sonst gar nichts. Wollte
jemand vor einer zufällig zusammengeströmten Menge ein Kapitel aus
Wilhelm Meister und dann ein Kapitel etwa aus Buchholzens Reisen oder
einem ähnlichen „humorvollen" Erzeugnis vorlesen und dann aus dem größeren
Beifall, den sicherlich das zweite finden würde, den Schluß ziehen: „Das
ist also das bessere und wertvollere Werk", der würde denselben Fehler
machen, wie der Kaufmann, der mit dem Hinweis auf die Kauflust beweisen
will, daß diese Ware geschmackvoll und gut ist. Eine Schwierigkeit, eine
große Schwierigkeit bleibt, sie muß auch und soll auch bleiben. Die letzte
Entscheidung, ob der Vorschlag zur Ausführung bestimmt oder abgeändert, ob
er ganz abgelehnt werden soll, muß der Fabrikant haben, also mit anderen
Worten, er muß auch über Geschmacksfragen entscheiden, obwohl er den An¬
forderungen, die damit an ihn gestellt werden, meist nicht gewachsen sein kann.
Dieser Schwierigkeit wird aber nur wirksam begegnet werden können, wenn der
Unternehmer in diesem Fall sich des Rates eines auf diesem Gebiet Erfahrenen
richtig zu bedienen weiß und damit die Lücke in seinen Kenntnissen zu schließen
versteht. Er muß, will er das erreichen, anerkennen, daß der Künstler, an den
er sich wendet, ihm auf diesem Gebiet überlegen ist. Ist er's nicht, so hat er
sich eben nicht an den Rechten gewendet. Einer, der praktische und technische
Anforderungen als unwesentlich beiseite schieben will, ist zum Beispiel gewiß
nicht der Rechte. Darin liegt nun wieder eine neue große Schwierigkeit. Wie
soll's dem Fabrikanten gelingen, sich die rechten Mitarbeiter zu gewinnen?
Wir kommen damit zu einem recht unerfreulichen Kapitel.
Mit der Bezeichnung „Künstler" wird wissentlich und unwissentlich ein
großer, arger Mißbrauch getrieben. Der Besuch einer Akademie und genialische
Manieren beweisen noch nichts für's Künstlertum. Es gibt wohl Kennzeichen:
Ein lebhaftes Interesse für Materialfragen, ein lebendiger Sinn für den Zusammen¬
hang zwischen Erscheinung und dem Hergang bei der Produktion, dazu die
ungekünstelte Freude am Reiz der Farbe und der Form, das sind Kennzeichen.
Die rechten Künstler, die, welche Sie brauchen können, die sind — man wird's
betonen müssen — nicht Träumer und Phantasten, keine Romanfiguren, sondern
sie zeichnen sich aus durch scharfes Sehen und ein feines Fühlen, durch ein
sorgfältiges Eingehen auf alle zur Sache gehörigen Umstände und Bedingungen.
Aber, ganz darf ich nicht darüber weggehen: Die Künstler ihrerseits erschweren
auch oft auf unverantwortliche Weise ein glückliches Zusammenwirken. Zuver¬
lässigkeit und Pünktlichkeit lassen sie oft in ganz bedenklicher Weise vermissen, es
fehlt die klare Exaktheit bei geschäftlichen Verhandlungen, die für jeden In-
dustriellen selbstverständliche Voraussetzung ist. Es kommt öfter vor, daß mißmutig
die Arbeit hingeworfen wird, wenn sie sich nicht glatt durchführen läßt. Aber
Sie gestatten wohl, daß ich nach diesen flüchtigen Andeutungen gleich wieder
von dieseni Thema abgebe, sonst erreiche ich schließlich das Gegenteil von dein,
was ich erreichen möchte. Aber Tatsache ist, daß viele aus Ihren Kreisen schon
versucht haben, mit Künstlern zusammenzuarbeiten, und dabei Enttäuschungen
erlebt haben. Solche Erfahrungen wirken natürlich mehr abschreckend als alle
die andern drohenden Schwierigkeiten, von denen schon die Rede war, sie wirken
abschreckend aus die, welche die Erfahrung gemacht haben und weiter auf alle,
deuen davon erzählt wird. Aber eines darf ich einfügen, das beide Teile
trifft: Es wäre manche Enttäuschung zu vermeiden, wenn nicht auf beiden Seiten
die Überzeugung von der eignen himmelhohen Überlegenheit so groß wäre. Die
Enttäuschungen also von vornherein zu verhindern, ist vor allem wichtig, es
gelingt vielleicht am besten dadurch, daß versucht wird, Klarheit über die
einschlägigen Verhältnisse und einen Überblick über die drohenden Schwierigkeiten
zu verschaffen. Deshalb habe ich soviel davon gesprochen. Denn wenn zu solcher
Klarheit dann die Überzeugung tritt von der Notwendigkeit eines solchen Zusammen¬
wirkens, dann wird ein wahrer, wertvoller Fortschritt nicht lange auf sich warten
lassen. Diese Überzeugung kommt, wo sie noch nicht vorhanden ist. Fürs
bequeme behagliche Arbeiten ist die Zeit nicht geeignet, heute müssen alle Kräfte
zusammengefaßt werden, will einer in dem Strudel nach oben kommen. Wenn
einer glaubt, daß er müde werden, daß er sich ein Plätzchen zum Ausruhen
suchen darf, — es ist fraglich, ob er's finden wird, wahrscheinlicher ist's, daß die
anderen über ihn hinstürmen und ihn zertreten. Ist's nicht besser einen kräftigen,
jungen begeisterten Kampfgen offen zu gewinnen? Wäre es klug, ihn zu verschmähen?
Ein solcher Kampfgenosse kann aber der Künstler sür den Industriellen sein.
Ich glaube, es ist nur allzu deutlich geworden aus dem, worüber wir
gesprochen haben, daß es nicht leicht ist, zu einem glücklichen Zusammenwirken
zu kommen. Nur den Gescheitesten und den Fähigsten unter den Unternehmern
wird es gelingen, mit den Tüchtigsten aus dem Lager der Künstler zu einem
dauernden, immer fruchtbaren Zusammenarbeiten zu gelangen — ein Satz, der
beiläufig auch umgekehrt seine Geltung behalten wird. Mit Intelligenz und
Organisationstalent ist die technische Vollendung in vielen Dingen von der
Industrie erreicht; tritt noch die geschmackliche Vollendung dazu, dann wird sie
unüberwindlich.
Nun sollte ich eigentlich auch noch die Frage beantworten: Mit welchen
Mitteln sind denn alle diese Schwierigkeiten zu überwinden? Ich glaube, ich
kann das unbesorgt unterlassen. Denn Worte beweisen da wenig, nur die Tat
kann's. Und eben diesen Beweis durch die Tat möchte ich das nächste Ziel
unserer Gewerbeschau nennen. Und wenn sie auch leider sehr viele Mängel
hat, wenn auch — ich muß das mit einem gewissen Bedauern aus¬
sprechen — vielleicht nur zum zehnten Teil erreicht werden konnte, was unter
günstigeren Umständen und wenn die Zeit schon reifer wäre, hätte erreicht werden
können, so finden sich da draußen doch brauchbare Beispiele und manches
ist geglückt, das dürfen wir Ihnen morgen zeigen und wir freuen uns darauf.
as Militär-Luftfahrwesen umfaßt Freiballone, Fesselballone, Luft¬
schiffe und Flugzeuge. Als Hilfsmittel kommen drahtlose Tele-
graphie, - Brieftauben, Photographie und Photogrammetrie in
Betracht. Für kontinentale Kriegsverhältnisse muß man den
Ausmarsch, die Versammlung, die Feldschlacht, das Festungs¬
kriegswesen und die Küstenverteidigung ins Auge fassen.
Die Fesselballone werden nach wie vor in der Feldschlacht eine Rolle
spielen. Ihr Durchschnittsbeobachtungsbereich hat einen Radius von 7 Kilo¬
metern. Die Steighöhen schwanken zwischen 500 und 1000 Metern. Die
Meldungen werden telephonisch zur Erde übermittelt. Steht feindliche Artillerie
6 Kilometer entfernt, so ist der Fesselballon als gefährdet zu betrachten. Trotzdem
bildet der Fesselballon ein ideales Höhenobservatorium, namentlich für die
Beobachtung der Artilleriewirkung, so daß man seinen Einsatz nicht zu scheuen
braucht. Ein zweiter Fesselballon ist nach 20 Minuten beobachtungsbereit.
Während des Marsches mit angefülltem Ballon gleicht die Luftschifferabteilung
in Bewegungsfähigkeit, Marschlänge usw. einer Feldbatterie. Mit gefülltem
Ballon ist eine der Marschgeschwindigkeit der Infanterie annähernd entsprechende
Fortbewegungsmöglichkeit gegeben. Der Gasersatz wird nach dem Prinzip des
Munitionsersatzes geregelt. Abendbeobachtungen können zu schneller Feststellung
der feindlichen Biwaks führen.
Im Festungskriege werden Fesselballone von Angreifer und Verteidiger
verwendet, wobei die Chancen demjenigen zufallen, der die überlegene Artillerie
besitzt. Bis zur erfolgten Einschließung wird dies der Verteidiger, alsdann der
Angreifer sein. Im Festungskriege kommt die Photographie als wesentliches
Hilfsmittel hinzu. Auf großen Festungsfronten müssen Beobachtungen der
Artilleriewirkung und taktische Beobachtung von verschiedenen Fesselballon¬
abteilungen ausgeführt werden.
Erfahrungsgemäß vergrößert sich der Aufklärungsbereich nach der Küste zu.
Taktische Beobachtungen gelingen dort bis auf 20 Kilometer. Deshalb sind
Fesselballone mit besonderem Vorteil in der Küstenverteidigung zu verwenden.
Das Herannahen feindlicher Schiffe, Landungs- und Ausschiffungsversuche,
bilden ein dankbares Beobachtungsobjekt. Da wo ständig frische Winde wehen,
empfiehlt es sich Fesselballone durch bemannte, hintereinander gekoppelte Fessel¬
drachen zu ersetzen. Hiervon macht besonders die englische Küstenverteidigung
Gebrauch. Kriegsgeschichtlich ist bekannt, daß die Gefangennahme der Buren¬
abteilung unter General Cronje der Fesselballonerkundung zu danken ist, welche
überhaupt während des Burenfeldzuges den Engländern gute Dienste leistete,
um so mehr, als die klare durchsichtige südafrikanische Luft dieser Erkundungsart
günstig war.
Freiballone eignen sich für den Feldkrieg nur unter bestimmten Bedin¬
gungen des Stellungskrieges. Ihre vorzugsweise Verwendung werden sie zum
Entweichen aus belagerten Festungen finden. Beobachtungsergebnisse werden
durch Brieftauben, schriftlich oder photographisch, zurückgebracht. Auch der
Belagerer kann der Windrichtung entsprechend, Freiballone über eine Festung
hinwegfliegen lassen, und die dabei erhaltenen Erkundungsergebnisse direkt nach
der Landung auf der anderen Festungsseite auswerfen. Abfangen feindlicher
Balkone durch Automobilverfolgung kann hin und wieder zur Tageszeit gelingen.
In der Nacht ist die Automobilverfolgung vergeblich. Belagerte Festungen
können durch Freiballone und Brieftauben, unter Zuhilfenahme der Mikro¬
photographie, einen geregelten Luftpostdienst einrichten. Aus dem belagerten
Paris entwichen 65 Freiballone mit 164 Personen, 10675 Kilogramm Post¬
sachen und 381 Brieftauben. Letztere beförderten beim Nückflug (unter Aus¬
nutzung der Mikrophotographie) 60000 Telegramme aus der Provinz nach
Paris. Vier Fünftel der Tauben fand den Rückweg nicht oder ging durch
Raubvögel zugrunde.
Die Luftschiffe sind abhängig von ihrem „Hafen", der ein ständiger oder
provisorischer (transportabler) sein kann. Die wichtigste Vorbedingung für die
Verwendung der Luftschiffe ist das Vorhandensein von Wasserstoffgas in aus¬
reichender Menge. Ständige und provisorische Hallen müssen deshalb entweder
in der Nähe von Wasserstoffgasanstalten liegen, oder es muß ihnen auf dem
Schienen- oder Wasserwege leicht Gas in komprimierten! Zustande zugeführt
werden können. Letzteres bedingt einen großen Bestand an Stahlbehältern und
eine sorgfältige Regelung der Nachschubverhältnisse. Namentlich im Feldkriege
können hierdurch die Kolonnen und Trains und die Etappenorte sehr belastet
werden, wenn das Eisenbahn- oder Kanalnetz für den Gasnachschub nicht eng¬
maschig genug ist. Die Schwierigkeit des periodischen Vorschiebens provisorischer
Häfen macht die militärische Verwendbarkeit von Luftschiffer für die Feldarmee
von einer so großen Leistungsfähigkeit abhängig, daß eine Entfernung von zwei
Tagemärschen für die Luftschiffe keine Rolle mehr spielen darf. Hieraus ergibt
sich die Schlußfolgerung, daß die leistungsfähigsten Luftschiffe für Feldarmee¬
zwecke gerade gut genug sind. Hieraus ergibt sich ferner, daß die Anlage
militärischer Luftschiffhäfen ganz unabhängig vom Festungswesen sein muß.
Als Grundlage für eine militärische Betrachtung für die Leistungsfähigkeit
von Luftfahrzeugen mit Eigenbewegung brauchen wir ein Maß, namentlich für
die Beurteilung ihrer Verwendbarkeit im Stadium der Mobilmachung bzw. des
Aufmarsches; ebenso für die strategische Aufklärung während der Versammlung,
beim Vormarsch zur Schlacht, bei der Schlacht selbst und bei der Verfolgung.
Dieses Maß finden wir in dem vom Lustfahrzeuge beherrschten Feld, welches
wir unter dein Gesichtspunkt errechnen müssen, daß das Luftschiff stets zu seinem
Ausgangspunkt zurückkehren soll, und daß es während seiner ganzen Fahrt mit
Gegenwind zu kämpfen hat. Nehmen wir die Eigengeschwindigkeit der Zeppelin-
Luftschiffe gleich 21 Meter in der Sekunde und subtrahieren davon die durch-
schnittliche Windgeschwindigkeit in 1000 Meter Höhe gleich 10 Meter in der
Sekunde, so ergibt sich daraus eine Nutzgeschwindigkeit von 11 Meter in der
Sekunde oder 39,6 Kilometer in der Stunde. Setzen wir ferner die Fahrt¬
dauer der Parseval-Schiffe von 10 Stunden als Norm an, so wird der Radius
des beherrschten Feldes 396 Kilometer, rund 400 Kilometer. Da aber das
Luftschiff zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren soll und unterwegs noch Schleif¬
fahrten zur Erkundung machen muß, oder auch durch orographische und meteo¬
rologische Verhältnisse gezwungen werden kann, von seinem geplanten Kurs
abzuweichen, so müssen wir den Radius von 400 Kilometer zunächst halbieren
und dann noch 50 Kilometer für widrige Umstände absetzen. Hiernach ist unser
Aktionsradius für Luftschiffe gegenwärtig 150 Kilometer groß. Schlägt man
nun um den Ausgangspunkt des Luftschiffes mit 150 Kilometer einen Kreis,
so hat man dasjenige beherrschte Feld, innerhalb dessen militärische Aufgaben
erfüllt werden können. Soll das Luftschiff nicht zu seinem Ausgangspunkt
Zurückkehren, sondern über den Feind hin zu einer anderen Landungsstelle fahren,
so muß man um den Mittelpunkt des feindlichen Beobachtungsgebietes mit
150 Kilometer einen Kreis schlagen und nachprüfen, ob Ausgangspunkt des
Lustschiffes, Mittelpunkt des feindlichen Beobachtungsgebietes und Bestimmungsort
für das Luftschiff innerhalb des beherrschten Feldes liegen. Nehmen wir z. B.
die Lage des preußischen Heeres vom 5. Juni 1866 nach beendeten Eisenbahn¬
aufmarsch (siehe Skizze 1) und nehmen wir ständige oder provisorische Luftschiff¬
hallen an bei Torgau, bei Kohlfurt und bei Reiße, fo hätten aufklären können:
Hätte das Torgauer Luftschiff über Prag nach Görlitz fahren sollen, so hätte
es sich als weitesten Aufklärungspunkt nur Schlau nordwestlich Prag wählen
dürfen, wenn es innerhalb des beherrschten Feldes bleiben wollte; denn der
um Schlau mit 1ö0 Kilometer geschlagene Kreis berührt Torgau und Kohlfurt,
während der um Prag geschlagene Kreis Torgau außerhalb liegen läßt, so daß
die Aufgabe, bis Prag zu erkunden, zu groß gewesen wäre. Ebenso hätte das
Torgauer Luftschiff eine Schleifenerkundung über den Feind mit Reiße als Ziel
nicht ausführen können, da schon die direkte Luftlinie Torgau—Reiße größer
als der doppelte Radius unseres Feldes ist. Das Kohlfurter Lustschiff hätte bei
einer Fahrt nach Reiße bis hart östlich Kolin aufklären dürfen, und bei einer
Fahrt mit Torgau als Ziel, über Leitmeritz—Schlau. Die geschilderte Lage
ist besonders deshalb lehrreich, weil jede Erkundungsaufgabe mit Überschreiten
der Gebirge verbunden gewesen wäre. Somit hätten die Luftschiffe voraus¬
sichtlich außer mit orographischen Schwierigkeiten auch mit heftigen Gegenwinden
kämpfen müssen. Anderseits muß der Monat Juni als ein der Luftfahrt
besonders günstiger angesehen werden.
Strategisch ist bei dieser Lage wichtig, daß die Nachricht, der Gegner
versäumte sich nicht in Böhmen, sondern in Mähren, aus dem Ergebnis
der drei Luftschifferkundungen dem Hauptquartier voraussichtlich sehr viel schneller
bekannt geworden wäre, als es kriegsgeschichtlich der Fall war. Denn, in
gerader Richtung gemessen, hätte sich der vor der Linie Torgau-Reiße liegende
150 Kilometer breite Streifen vom Südwesthang des Erzgebirges bis an die
Beskiden aufklären lassen.
Am 18. Juni (siehe Skizze 2) hätte ein in Dresden stationiertes Luftschiff
bis zur Linie Pilsen-Kolin aufklären können. Es hätte die schwachen feindlichen
Kräfte Dresden gegenüber und die an der Jser festgestellt. Letztere wären auch
von dem Kohlfurter Luftschiff erkannt worden. Das Reißer Luftschiff hätte
dann die gesamte österreichische Armee innerhalb des Rechteckes, Gahl, Brünn,
Kremsier. Freudenthal, vorgefunden.
Am 26. Juni (siehe Skizze 3) hätten die aus Kohlfurt nach Reichenberg,
und aus Reiße nach Glatz vorgeführten Luftschiffe den gesamten 150 Kilometer
langen und 100 Kilometer breiten Kriegsschauplatz erkundungsmäßig beherrscht.
Das Dresdener Luftschiff hätte zunächst in Dresden verbleiben können und durch
negative Erkundungsergebnisse westlich der Linie Dresden-Prag wertvolle Dienste
geleistet.
Am 2. Juli (Skizze 4) waren die beiden Heere innerhalb eines Quadrates
von 40 Kilometern Seitenlänge versammelt, dessen südlichste Seite die Linie
Chlumetz-Hohenbruck bildet, so daß die Luftschifferkundung auch dann noch allen
Aufgaben gerecht werden konnte, wenn die Luftschiffe nicht — wie wir oben
angenommen haben — von Kohlfurt nach Reichenberg und von Reiße nach
Glatz vorgeführt worden wären. (Vgl. das Quadrat auf Skizze 2.)
In bezug auf die Lage zwischen dem 18. Juni und 3. Juli ist es interessant,
auszugsweise die Generalstabsstudie*) anzuführen, um anzudeuten, in welchem
„Nebel der Ungewißheit" sich die Entschlüsse des Großen Hauptquartiers voll¬
ziehen mußten:
„In der telegraphischen Weisung (Befehl vom 22. Juni für die 1. und 2. Armee zum
Einrücken in Böhmen) wurde von Berlin aus den Armeen die Richtung auf Gitschin (vgl.
Skizze 2) als diejenige bezeichnet, in der sie die Vereinigung zu erstreben hätten. Diese
Anordnung war ohne nähere Kenntnis von der augenblicklichen Aufstellung und den Absichten
der Österreicher, wenn auch unter der im allgemeinen zutreffenden Voraussetzung getroffen
worden, daß die Masse ihres Heeres sich noch in Mähren befand. . . . DaS Gros des öster¬
reichischen Heeres sollte sich noch bei Olmütz und Brünn befinden, Teile jedoch bereits den
Marsch in der Richtung auf Pardubitz angetreten haben, .. . In einem ein die Oberkommandos
erlassenen Schreiben des Generals von Moltke vom 22. Juni (zur Ergänzung obigen Tele¬
grammes) hieß es: Es ist nach allen hier vorhandenen Nachrichten durchaus unwahrscheinlich,
daß die Hauptmacht der Österreicher in den allernächsten Tagen schon im nördlichen Böhmen
konzentriert stehen könnte. .., dennoch bleibt die Vereinigung aller Streitkräfte in, Auge zu
behalten.... Da der schwächeren 2. Armee die schwierige Aufgabe des Debouchierens aus
dem Gebirge zufällt, so wird ... der 1. Armee um so mehr obliegen, durch ihr rasches Vor¬
gehen die Krisis abzukürzen____
In einem Schreiben Moltkes vom 24. Juni an den Chef des Generalstabes der
2. Armee, General von Blumenthal, heißt es: Mit den Nachrichten steht es trotz aller Mühe
schlecht. Bestätigt es sich, daß die Österreicher sich in Jung - Bunzlau (d. h. an der unteren
Jser) konzentrieren, so wäre die Vereinigung unserer Armee gesichert, wenn von beiden Seiten
rasch vorgegangen wird.. . .
Aus der Gruppierung der österreichischen Streitkräfte (die aber eben nicht bekannt war)
ergibt sich . .., daß es in der Tat möglich war, die Österreicher in der Trennung und mit
überlegenen Kräften anzugreifen, wenn folgerichtig und entschlossen auf preußischer Seite
gehandelt wurde. Moltke selbst hat die Vereinigung der preußischen Armeen im rechten
Augenblick nur als „die verständig angeordnete und energisch durchgeführte Abhilfe einer
ungünstigen, aber notwendig gebotenen ursprünglichen Situation" bezeichnet. . . . Einer im
nördlichen Böhmen bereits versammelten gleich starken österreichischen Armee gegenüber wäre
der Einmarsch in zwei räumlich getrennten Massen eine Verwegenheit gewesen, während die
Anordnungen Moltkes unter den obwaltenden Verhältnissen nur jener Kühnheit
Zuzurechnen sind, die mit Recht von jeher als das eigentliche Wesen aller Feldherrnkunst
gegolten hat.
Hierbei ist nicht außer acht zu lassen, daß Moltke zu der Zeit, da er von
König Wilhelm den Befehl zum konzentrischen Vormarsch auf Gitschin
erwirkte, auch nicht annähernd die Kenntnis über den Gegner besaß, die uns
jetzt nachträglich seinen Entschluß als ziemlich gefahrlos erscheinen läßt. . . .
Daß diese Vereinigung der preußischen Armeen (schließlich bei Königgrätz) erst in der
Schlacht selbst erfolgte, das hat Moltke nicht voraussehen können. . . .
Am 28. Juni. . . befanden sich die Truppen des Prinzen Friedrich Karl, da sie kon¬
zentrisch auf Münchengraetz (vgl. Skizze 3 M. S.) angesetzt worden waren, in sehr enger
Versammlung . . ., und mußten zu weiterem Vormarsch erst auseinandergezogen werden,
wobei sich das Wegenetz in der Richtung von Münchengraetz auf Gitschin als sehr ungünstig
erwies. . . .
Das Oberkommando der 1. Armee (Prinz Friedrich Karl) ließ freilich gerade jetzt die
ihm von Moltke vorgezeichnete Richtung auf Gitschin außer acht, da bei ihm die Ansicht
herrschte, daß die Hauptkräfte des Feindes sich von Münchengraetz auf Jung-Bunzlau gewandt
hätten (vgl. Skizze 3 I. B.). Erst erneute telegraphische Weisungen des Hauptquartiers, die
auf die Notwendigkeit hinwiesen, durch ein beschleunigtes Vorgehen der 1. Armee die Lage
der 2. Armee zu erleichtern, veranlaßten das Oberkommando, die Richtung auf Gitschin
wieder aufzunehmen. . . .
Feldzeugmeister Benedei befahl am 30. -Juni, 3 Uhr nachmittags, den Rückzug in die
Gegend nordwestlich Königgrätz, in eine Aufstellung zwischen Bistritz, Trotina und Elbe
(vgl. Skizze 4). . . .
Infolgedessen. . . wurden (von der 2. Armee) die Höhen des oberen (rechten) Elbufers
vom Feinde geräumt gefunden. Die Richtung seines Abzuges wurde indessen nicht festgestellt,
die Fühlung mit ihm ging hier ebenso verloren, wie bei der 1. Armee, welche am 30. Juni
den Befehl hatte: „Die 1. Armee rückt ohne Aufenthalt in der Richtung auf Königgrätz vor.
Größere feindliche Streitkräfte in der rechten Flanke dieses Vormarsches soll General von Her-
warth (Elbarmee) angreifen und von der feindlichen Hauptmacht abdrängen. . . (In der
rechten Flanke war aber nichts vom Gegner vorhandenI D. Red.)
Die vom General von Moltke für den 3. Juli*) entworfenen Direktiven bezeichnen es
zunächst als das Wichtigste, die verloren gegangene Fühlung mit dem Gegner wieder zu
gewinnen, um von der Aufstellung der feindlichen Hauptmacht Kenntnis zu erhalten, und
dementsprechend die Armee zum Angriff ansetzen zu können: „Die Meldungen über Terrain¬
verhältnisse und Stand des Feindes sind sofort (nach Gitschin) zu richten. Sollte sich aus
denselben ergeben, daß ein konzentrischer Angriff beider Armeen auf die zwischen Josefstadt
und Königgrätz vorausgesetzte Hauptmacht des Feindes"*) auf allzu große Schwierigkeiten
stößt, oder daß die österreichische Armee jene Gegend überhaupt schon verlassen hat (I), so
wird dann der allgemeine Abmarsch in der Richtung auf Pardubitz fortgesetzt werden."
Am 2. Juli (vgl. Skizze 4) wurde beschlossen, die Armeen auch am 3. Juli in ihren augen¬
blicklichen Stellungen zu belassen und nur Erkundungen vorzunehmen, um über die Aufstellung
des Feindes Klarheit zu gewinnen. Von dem Ergebnis dieser Erkundungen sollte abhängig
gemacht werden, welche von drei Operationsmöglichkeiten man wählen müsse. Im Großen
Hauptquartier verhehlte man sich nicht, daß jede der erwähnten Operationen einem kampf¬
bereit hinter der Elbe stehenden Gegner gegenüber nicht ohne Schwierigkeiten durchzuführen
sein würde____
Die vor der Front der 1. Armee im Laufe des 2. Juli vorgenommenen Erkundungen
brachten volle Gewißheit darüber, daß noch starke österreichische Kräfte . .. drei Armeekorps .. .
sich auf dem rechten Elbufer, hinter der Bistritz, befanden ..., doch schien es auch nicht aus¬
geschlossen, daß die gesamte österreichische (Nord)Armee hinter der Bistritz stand.«"*)
Durch den am 3. Juli vom Kronprinzen zum Hauptquartier zurückgekehrten Flügel¬
adjutanten Grafen von Finckenstein hatte man die Gewißheit von dein bevorstehenden Ein¬
greifen der 2. Armee und Kenntnis von den bei dieser getroffenen Anordnungen erlangt.
Ihrem Erscheinen konnte danach etwa um 11 Uhr entgegengesehen werden. Den Anmarsch
wahrzunehmen (vgl. Skizze ö), verhinderte die Geländegestaltung und die schwere trübe Luft,
die, auch nachdem der Regen aufgehört hatte, die Fernsicht behinderte und erst am Nach¬
mittage hellerem Wetter wich. Als sich dann das Eingreifen der 2. Armee Wider Erwarten
verzögerte, die österreichische Artillerie dagegen dauernd die Oberhand behielt, die Verluste
sich bei den jenseits der Bistritz entwickelten preußischen Divisionen zu häufen begannen, und
die 7. Division sich nur noch mit Mühe behauptete, gestaltete sich die Lage der 1. Armee
vorübergehend recht schwer. Um seinen Truppen in erster Linie Entlastung zu gewähren,
ließ Prinz Friedrich Karl gegen 1 Uhr auch die 6. und 6. Infanterie-Division die Bistritz
überschreiten. Von seiner Absicht, diese frischen Truppen zu einem Angriff auf die Höhen von
Lipa(-China) gegen die noch nicht erschütterte mächtige österreichische Artilleriestellung vor¬
gehen zu lassen, stand der Prinz jedoch infolge der vom General von Moltke erhobenen Ein¬
bände ab. Der Chef des Genernlstabes der Armee hatte soeben die Nachricht erhalten, daß
sich die Kolonnen der 2. Armee näherten.-s) Es konnte sich daher jetzt nicht darum handeln,
die noch verfügbaren Reserven der 1. Armee zu einem Frontalangriff einzusetzen, der in jedem
Falle Opfer gefordert hätte, die in keinem Verhältnis zu dem erreichbaren Gewinn standen.
Ein solcher mußte der 2. Armee um so reicher zufallen, je länger die Österreicher vor der
1. Armee standhielten, Aufgabe (der 1. Armee) war es sonach, den Feind in der Front fest¬
zuhalten. Um auch auf den: rechten preußischen Flügel eine ähnliche Wirkung zu erzielen,
wie sie jetzt durch die 2. Armee eintreten mußte, erging um 1,45 Uhr nachmittags an die
Elbarmee folgende Weisung! „Kronprinz bei Zizelowes. Rückzug der Österreicher nach Josef¬
stadt abgeschnitten. Es ist von größter Wichtigkeit, daß das Korps des Generals von Herwarth
auf dem entgegengesetzten Flügel vorrückt, während im Zentrum die Österreicher noch Stand
halten."
General von Herwarth ... hatte die Elbarmee von Nechanitz wieder vereinigt (vgl. Skizze S).
Wie bei der 1. Armee mußte auch hier der Bistritz-Übergang erst erkämpft werden. . ., und
erst die durch den Ober-Peimer-Wald ausholende Umfassung nötigte (das sächsische Korps). . .
zurückzugehen. Da die Kräfte (der Elbarmee) durch die bisherigen Gefechte in einen, schwierigen
Gelände in hohem Maße in Anspruch genommen worden waren, erlahmte ihre Verfolgung ...,
welche in wirksamster Weise . .. hätte erfolgen können, wenn . .. Truppen zur Hand gewesen
wären, um ... gegen die Königgrätzer Chaussee, die Hauptrückzugsstraße der Österreicher,
tätig zu werden."*)
Vorstehender Auszug beweist zur Genüge die Schwierigkeiten, denen das
Moltkesche Feldherrngenie im „Nebel der Ungewißheit" gerecht werden mußte.
In den Schlußbetrachtungen sagt die Generalstabsstudie:
„Nicht das getrennt Marschieren und vereint Schlagen an sich, wie so häufig behauptet
worden ist, bezeichnet den Fortschritt in der Heerführung Moltkes gegenüber derjenigen
früherer Zeiten, insbesondere Napoleons, sondern die von ihm zuerst geübte Kunst, die
vergrößerten Heeresmassen der neueren Zeit auch in der Teilung in mehrere selbständig
geführte Armeen von einer Stelle aus zu lenken und sie je nach der Kriegslage in weiterer
Trennung oder engerer Vereinigung zu halten."
Wenn das Feldherrngenie bei unseren, gegen die damalige Zeit um das
Dreifache vergrößerten Massenheeren, solche Schläge herbeiführen soll, welche
mit kurzer schneller Entscheidung die wirtschaftliche Lage der beteiligten Staaten
möglichst wenig beeinflussen, dann muß das neue Mittel der Lufterkundung der
Feldherrnkunst die erforderlichen Unterlagen schaffen. Denn bei den immer
größer werdenden Kriegsschauplätzen muß der Mangel an örtlicher Übersicht
durch umfassende Erkundung ersetzt werden, und diese umfassende Erkundung
kann und muß von den Luftfahrern und ihren Fahrzeugen gefordert werden.
Ebenso lehrreich ist es, die Lage der französischen und deutschen Armee
vom 3. bis 5. August 1370 mit dem Luftschiffermaß zu messen, wobei fest¬
zustellen ist. daß sich die Heeresbewegungen innerhalb eines gleichseitigen Dreiecks
vollzogen haben, dessen Spitze zwischen Mainz und Bingen liegt, und dessen
Grundlinie von Metz über Straßburg bis Appenweier reicht.**) Keine der Seiten
ist über 150 Kilometer lang, so daß bereits vierzehn Tage vor den August¬
schlachten eine ausgiebige Luftschifferkundung hätte einsetzen können. Am 2. August
abends hätte das Luftschiff der 1. Armee von Trier aus aufklären können bis
zur Linie Toul-Saarburg, das der 2. Armee von Mainz aus bis zur Linie
Saarburg-Straßburg, das der Z.Armee von Speyer aus zwischen Vogesen
und Schwarzwald bis zur Linie Sulzer-Belchen-Feldberg.
Die Entfernung von 150 Kilometer läßt sich sunkentelegraphisch vom Luft¬
schiff aus mit Sicherheit überbrücken. Trotzdem werden auch chiffrierte Brief¬
taubenmeldungen von Luftschiffer von Wert bleiben.
Wer sich mit den Schlußfolgerungen befaßt hat, welche das neue fran-
zösische Generalstabswerk über 1870/71 für eine Offensive aus der Aufstellung
ihrer Armeen Anfang August zieht, und wer die Nichtigkeit einzelner dieser
Schlußfolgerungen anzuerkennen geneigt ist, der wird sich nicht verhehlen können,
daß sie samt und sonders in ein Nichts zerstieben, wenn man die Lufterkundung
in Rechnung ziehen würde.
Kriegsgeschichtlich ist genugsam bekannt, daß die 3. Armee 1870 nach den
Schlachten von Weißenburg und Wörth die Fühlung mit der geschlagenen
Armee Mac-Masons gänzlich verlor, und daß sich daraus große zeit- und
kraftraubende Märsche ergaben, welche aber trotzdem im Verein mit den kühnen
und weitblickenden Maßnahmen des Großen Hauptquartiers zu dem unvergleich¬
lichen Erfolge von Sedan führten. Daß aber dieser unvergleichliche Erfolg
auch noch anderen, nicht immer wiederkehrenden Umständen zu danken ist, beweist
folgende Betrachtung der Generalstabsstudie:
„Immerhin ist zu beachten, daß nur die Unbewegliche des Gegners und seine unglücklich
gewählte Versammlung bei Sedan, wo jede Stunde längeren Verweilens am 31. August eine
Vermehrung der Gefahr bedeutete, es so weit kommen ließen. Daß die Verhältnisse sich in
dieser Weise günstig gestalten würden, ist denn auch von der deutschen Heeresleitung in keiner
Weise vorausgesehen worden. Ihre Maßnahmen konnten sich, sobald sie die Gewißheit gewann,
daß auf französischer Seite tatsächlich ein Marsch um den rechten deutschen Flügel herum zum
Entsatz Bazaines beabsichtigt sei, zunächst nur darauf richten, dem Feinde den Weitermarsch
zu verlegen. Als sich die Wahrscheinlichkeit herausstellte, ihn noch auf dem linken Maasufer
einzuholen und auch noch den linken Flügel der 3. Armee hierbei mitwirken zu lassen, ging
das Bestreben unausgesetzt dahin, trotz mehrfachen Wechsels der Marschrichtung möglichst starke
Kräfte zur Entscheidung heranzubringen. Hierbei ergab sich am 29. August die Notwendigkeit,
den nach vorwärts gestaffelten rechten Flügel zurückzuhalten und die in der Mitte der Gesamt¬
front befindlichen beiden bayerischen Korps an ihn heranschließen zu lassen. Hielt der Feind
stand oder versuchte er, sich gegen die versammelte Armee des Kronprinzen von Sachsen den
Übergang über die Maas bei Dur und Stenay zu erkämpfen, dann war am folgenden Tage
auch der linke Flügel der 3. Armee heran und zu umfassenden Eingreifen bereit. Wied der
Feind der Entscheidung aus und ging er in nordwestlicher oder westlicher Richtung zurück,
dann konnte dieser Flügel immer noch gegen seine Flanke wirksam werden."
Aus dem letzten Satz besonders geht hervor, wie bis zum entscheidenden
Augenblick auch hier der „Nebel der Ungewißheit" geherrscht hat und wie
dankbar jede Heeresleitung demjenigen strategischen und taktischen Hilfsmittel der
Erkundung sein würde, welches — wenn auch nur lageweise — diesen Nebel
zerstreuen und die Entscheidungsschlacht „in Kürze" herbeizuführen ermöglichen
würde.
Wir kommen damit zu den speziellen Aufgaben der Flugzeuge.
Den Flugzeugen darf man bereits jetzt eine Durchschnittsflugleistung von
100 Kilometer in zwei Stunden zumuten, also ein beherrschtes Feld von
50 Kilometer Radius bei Rückkehr zur Abflugsstelle. Der Radius der von
Flugzeugen beherrschten Felder ist mithin ^ ^3 derjenigen für Luftschiffe.
Nach den vorstehenden kriegsgeschichtlichen Betspielen, in denen der Erkundungs-
bereich der Luftschiffe, namentlich beim Vormarsch zur Schlacht, bereits weit
über das erforderliche Maß hinausreicht (vgl. die Rechtecke auf Skizze 2, 3
und Skizze 4), braucht nicht weiter auseinandergesetzt zu werden, welchen hohen Wert
die Flugzeuge auch für strategische Erkundung haben. Ihr Haupttätigkeitsfeld
wird aber die taktische Erkundung sein, wozu folgendes schematische Beispiel
eine Erläuterung abgeben soll. (Vgl. Skizze 6.) Die rote Armee ^ (drei
Armeekorps und eine Kavalleriedivifion) soll morgen in drei Kolonnen nach
Süden vormarschieren. Die blaue Armee L (drei Armeekorps und eine
Kavalleriedivision) soll morgen in nordwestlicher Richtung vormarschieren. Beide
Armeen stehen 50 Kilometer auseinander. Heute Abend, zwei Stunden vor
Anbruch der Dunkelheit, klären die blauen Flieger der Kavalleriediviston die
Linie X auf, und stellen fest, daß die Gegend vom Feinde frei ist. Die Flieger
des I., II. und III. Armeekorps klären die Linien a, b und e auf und stellen
große Biwaks bei a, b und L und ein Kavalleriebiwak bei ä fest. Sie bringen
ihr Erkundungsergebnis in zwei Stunden zurück. Vor Anbruch der Morgen¬
dämmerung erkundet je ein zweiter Apparat des I., II., III.' Armeekorps und
der Kavalleriedivision, und ermittelt den Vormarsch der Kolonnen a,, b, c und et
in der Pfeilrichtung. Aufgabe eines dritten Flugzeuges bleibt es dann, die
Zusammensetzung der Marschkolonnen zu melden, während später ein viertes
Flugzeug die Aufstellung der Artillerie erkundet. Jedes Armeekorps hat noch
das Flugzeug von gestern Abend in Reserve.
Es bedarf keiner Erörterung wie sehr die blaue Armee V durch ihre Flug¬
zeuge gegen die rote Armee ^ im Vorteil ist, welch letztere durch ihre Kavallerie¬
division wohl Nachrichten über das blaue I. Armeekorps, aber nicht über das
II. und III. Armeekorps haben wird.
In der Lage der blauen Armee würden sich zurzeit die Franzosen, in
derjenigen der roten Armee die Deutschen befinden.
Aus den obigen Darlegungen wird auch der nicht militärisch geschulte Leser
zu der Schlußfolgerung kommen, daß wir es mit einer neuen Erkundungstruppe,
ja mit einer neuen Waffe von besonderer Eigenart und von größter Bedeutung
zu tun haben. Die Franzosen haben daraus die letzte Konsequenz gezogen,
indem sie den Satz: „Lustfahrerdienst gleich Generalstabsdienst" zum Gesetz er¬
hoben. Ihre Reorganisation des Militärluftfährwesens gipfelt darum in dem
Bestreben, das Luftfahrwesen von anders gearteten technischen Einflüssen frei
zu machen, es auf eigene Beine zu stellen und von dem belebenden Hauche
der Truppenverwendung durchsetzen zu lassen. An die Reorganisation eines
Heeresbestandteiles ist noch selten eine Nation so großzügig, so weitblickend, so
feinfühlig herangegangen, wie die Franzosen an die Umbildung ihres Militär¬
luftfährwesens.
Wollen wir den Franzosen den großen Vorsprung auf dem wichtigen
Gebiet der strategischen und taktischen Aufklärung nicht kampflos einräumen, so
bedarf es, von der Herstellung zahlreicher kriegsbrauchbarer Lustfahrzeuge abgesehen,
auch einer gründlichen Reorganisation des militärischen Flugwesens in Deutschland.
Mehr als je zwingt heutzutage die Tendenz, keine dauernde wirtschaftliche
Krisis durch kriegerische Verwicklungen eintreten zu lassen, die an der
wirtschaftlichen Lage interessierten Kreise — also im weitesten Sinne die ganze
Nation — zum Nachdenken darüber, ob in der militärischen Luftfahrt nicht ein
wesentlicher „kriegkürzender" Faktor gegeben ist, den wir im Interesse der
Wohlfahrt des Reiches nicht wie bisher vernachlässigen dürfen.
Mehr als je wird darum die Frage der Reorganisation des Luftfahrwesens
zu einer Frage der ganzen Nation.
le Abwanderung immer größerer Massen des Publikums aus den
Theatern in die „Lichtspielhäuser" ist eine Erscheinung, die sich
jedem aufmerksamen Beobachter modernen Lebens aufdrängen muß.
Man hat anfangs behauptet, daß namentlich auf den billigen
Plätzen der Theater diese Abwanderung sich fühlbar mache, daß
es die minderbemittelten Klassen wären, die durch das Kinematographen-
cheater der Schaubühne entfremdet würden und daß auch ein großer Teil des
Publikums, das sich vor der belebten leuchtenden Leinwand versammelt, sich
aus Kreisen zusammensetze, die nie in ein wirkliches Theater kommen würden.
Die Abwanderung hat heute aber weiter um sich gegriffen, seit man die
Lichtbildbühne durchaus nicht mehr als das „Theater des armen Mannes"
bezeichnen darf, seit in den größeren Städten eigene prunkvolle Paläste für
kmematographische Vorstellungen gebaut worden sind und seit diese Institute
durch hochklingende Namen und luxuriöse Ausstattung auch die genießenden
oberen Schichten der Gesellschaft für sich zu gewinnen verstanden haben. So
schaut heute die elegante Gesellschaftsdame, in einen bequemen Sessel gelehnt,
genau denselben sensationellen Schauerfilm mit genau derselben atemloser
Spannung, wie einige Straßen weiter das Weib aus dem Volke, im rauch-
erfülltm, schmutzigen Raume, eng auf harter Holzbau! zusammengedrängt.
Und es wird nicht allzulange dauern, da wird man sich die Reform-
bestrebungen auf dem Gebiete der Kinematographie geschäftlich zunutze machen,
uürd sich die Reform als willkommenes Mäntelchen um die Schultern legen,
""d die „Reform-Lichtspielbühnen" werden auch deu intellektuellen Kreisen den
Vorwand geben, dessen sie bedürfen, um an den Lichtbildvorftthrungen teil¬
zunehmen, ohne sich und ihren Grundsätzen etwas zu vergeben. Auch dieses
letzte Studium der Entwicklung hat mancherorts schon begonnen.
Ihre wirtschaftlichen Folgen haben sich für das Theater aber schon überall
sehr fühlbar gemacht. Eine Statistik aus Österreich führte den Zusammenbruch
von weit über zwanzig kleineren Bühnen mit etwa sechzehnhundert Angestellten
auf die Konkurrenz des Kinematographentheaters zurück, und im engeren Deutsch¬
land würde eine gleiche Statistik ähnliche Resultate ergeben. In dem Konkurrenz¬
kampfe zwischen Theater und Kino erleidet das Theater böse Wunden, auf seiner
Seite gehen viele wirtschaftliche Werte — von den kulturellen Werten wollen
wir hier noch nicht reden — zugrunde; das ist unbestreitbar.
Anderseits ist es allerdings ebenso unbestreitbar, daß durch die kinemato¬
graphische Industrie eine Menge neuer wirtschaftlicher Werte geschaffen und an
die Stelle der auf der Gegenseite verlorenen gesetzt werden. Wenn durch den
Zusammenbruch von Theatern Tausende von Menschen brotlos wurden, so
finden in der blühenden kinematographischen Industrie und in den Lichtbild¬
theatern wieder tausend andere ihr Brot. Dennoch darf man diese neuen wirt¬
schaftlichen Werte nicht ohne weiteres als vollen Ersatz für die verlorenen
betrachten.
Es kann uns als Deutschen vor allen Dingen nicht gleichgültig sein, daß
diese neugeschaffenen Werte zum weitaus größten Teile dem Auslande zugute
kommen, weil die ausländische, die französische, englisch-amerikanische, italienische
und dänische Filmindustrie heute in der Produktion der sensationellen Film¬
dramatik an der Spitze marschiert und weil unsere deutschen Lichtbildtheater
den größten Teil ihres Programms mit diesen ausländischen Films ausfüllen.
Der Verdienst fließt also großenteils in die Taschen des Auslandes.
Aus diesem national-wirtschaftlichen Gesichtspunkte muß man daher zunächst
eine ziemlich intensive Besteuerung der ausländischen Films einerseits und eine
einsichtige Förderung der einheimischen Filmindustrie anderseits fordern. Man
braucht nicht zu fürchten, durch einen angemessen hohen Zoll auf ausländische
Films unserem Volke kulturelle Werte fernzuhalten. Die ausländische Film¬
dramatik weist einen so niederen Stand des Geschmacks auf"), daß es eher zu
begrüßen wäre, wenn ihre Produkte uns fernblieben. Allerdings bemühen sich
neuerdings auch einige deutsche Firmen mit einem höchst bedauerlichen Erfolge,
jenen Geschmacklosigkeiten Konkurrenz zu machen. Gegen diese Auswüchse in
der heimischen Industrie, die man auf die schlechten Einflüsse der ausländischen
sehr wohl zurückführen kann, vermag aber die Bewegung, die sich überall für
die Reform des Lichtbildwesens einsetzt, stärker und mit größerem Erfolge vor¬
zugehen, als sie es gegenüber den ausländischen Fabriken tun kann.
Die Reservierung des deutschen Filmmarktes für die deutsche Filmindustrie
und die dadurch bedingte Förderung der deutschen kinematographischen Industrie
muß also von vornherein mit der Reform des Lichtspielwesens überhaupt aufs
engste verknüpft werden.
Diese Reform hat nun allerdings zunächst eine negative Aufgabe. Sie muß
erst die Schäden beseitigen, die das heute so üppig wuchernde Kinematographen¬
unwesen auf mannigfachen Gebieten hervorgerufen hat. Kehren wir noch einmal
zurück zu den wirtschaftlichen Nachteilen, die dem Theater aus der Konkurrenz
der Lichtbildbühne erwachsen. Mit Recht machte Ludwig Fulda in einem Auf¬
satze der Woche*) darauf aufmerksam, daß das Kinematographentheater, dessen
Vorführungen von den Verwaltungsbehörden nicht als „theatralische Vor¬
stellungen" angesehen werden, dadurch von vornherein im Konkurrenzkampfe
viel freier und günstiger gestellt sei als das Theater. Das Aufwuchern der
Lichtbildinstitute ist mit dem Umstände zuzuschreiben, daß für sie weder der
Konzessionszwang, noch die strengen baupolizeilichen Vorschriften, noch die
geregelte Präventivzensur gelten, die für das bühnenmäßige Theater in strenger
Beachtung stehen.
Durch die Ausdehnung aller dieser Vorschriften und Beschränkungen auch
auf die Kinematographentheater wird man nicht nur dem bühnenmäßigen Theater
im Kampfe gegen den gefährlichen Konkurrenten die gerechte Grundlage liefern
und ihm einen gewissen Erfolg ermöglichen, sondern man wird durch sie auch
auf den kulturellen Tiefstand bessernd einwirken können, der sich im Kine¬
matographenwesen in so bedauerlicher Weise eingestellt hat. Man wird bei der
Konzessionserteilung für die Errichtung kinematographischer Theater nach be¬
stimmten Grundsätzen verfahren müssen, die dem kulturellen Gesichtspunkte
genügend Rechnung tragen. Man wird darauf ausgehen müssen, diejenigen
Stätten möglichst zu beschränken, an denen die sensationelle Schunddramatik eine
bevorzugte Pflege findet, und man wird dafür die Gründung solcher kinemato-
graphischer Institute erleichtern müssen, auf deren Leitung Vereine und Körper«
schaften einen Einfluß haben, deren Ruf für die Integrität der Darbietungen
bürgt. In Hamburg hat die Lehreroereinigung zur Pflege künstlerischer Bildung
Fühlung mit der Leitung eines Kinematographentheaters gesucht, in Hannover
beabsichtigt man. wenn die Zeitungen richtig melden, ein städtisches Kinotheater
Su gründen.
Auch diese Theater sollten aber sowohl einer allgemeinen Kinosteuer als
auch einer Prüventivzensur unterworfen werden. Die Zensur hätte dabei ihr
besonderes Augenmerk auf die Filmdramatik zu richten. Und man kann hoffen,
daß durch ein zielbewußtes Einschreiten gegen sensationell zugestutzte Stoffe und
auch gegen die sensationsbedürftige Reklame für diese Stoffe Platz geschafft
werden wird für das Gute, das hoffentlich aus der Tätigkeit und Wirksamkeit
jener kinematographischen Musterbühnen entspringen wird, auf die wir oben
hinwiesen und die hoffentlich bald an recht vielen Orten entstehen werden.
Denn nur durch positive Mitarbeit, durch die zielbewußte Verwendung und
Pflege aller der Werte, die der Kinematograph ja in der Tat in Fülle bietet,
kann das Gute an die Stelle des Schlechten gesetzt werden, kann eine erziehliche
Wirkung auf das Publikum und dadurch auf die Industrie ausgeübt werden.
Wir sind deshalb nicht einverstanden mit dem Kampfmittel, das auf An-
regung des Verbandes deutscher Bühnenschriftsteller der Deutsche Bühnenverem
^
und die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger anwenden wollen. Sie
wollen allen ihren Mitgliedern untersagen, bei der Darstellung eines kinemato¬
graphischen Films mitwirkend tätig zu sein. Dieses Verbot ist als wirtschaft¬
liches Kampfmittel sehr wohl zu verstehen. Man will es verhindern, daß zum
Beispiel Schauspieler, die ihre Kraft einer bestimmten Bühne kontraktlich ver¬
pflichtet haben, dank dem Umstände, daß die Gesetzgebung, die kinematographische
Vorführungen nicht als „theatralische Vorstellungen" wertet, sich gleichzeitig unter
der Fahne des wirtschaftlichen Konkurrenten betätigen.
Dieser Gesichtspunkt ist ja soweit richtig und muß anerkannt werden.
Endgültigen wirtschaftlichen Erfolg wird diese Maßregel aber dennoch nicht haben.
Was hindert die kapitalkräftige Filmindustrie daran, sich in noch weit
höherem Grade, als sie es schon bisher getan hat. einen eigenen Stab von
Schauspielern zu bilden? Wollen die Bühnenverbände alle diejenigen Kollegen
ausstoßen, die etwa ganz in den Dienst der Filmindustrie übergehen? Das
wäre sehr schade! Sehr schade vor allen Dingen mit Rücksicht auf die
kulturelle Förderung der Filmindustrie und des Kinenmtographenwesens. Auf
diese Weise würde es der Filmindustrie vielleicht nicht leicht werden, wirklich
gute Kräfte in ihren Dienst zu bringen, Kräfte, die vor allem der mimischen
Aufgabe, die ihnen die Filmindustrie stellt, gewachsen sind und die, ohne zu
karikieren, doch den Gedankengang und den Gehalt dessen zum Ausdruck bringen,
was sie spielen.
Wer die mimische Kunst, die uns heute auf den Films vorgeführt wird,
genauer und kritisch betrachtet, der wird gegenüber der mannigfachen Übertreibung
und dem häufigen völligen Versagen der Darsteller in der Mimik einsehen, daß
für die kinematographische Industrie eine enge und ständige Fühlung mit dem
berufsmäßigen Schauspieler unbedingt vonnöten ist. Nimmt man ihr die
Möglichkeit dazu, so wird eine Reform der Filmdramatik dadurch auf Jahre
hinaus verzögert, wenn nicht gar überhaupt unmöglich gemacht. Die Film¬
industrie ist dann genötigt, sich einen eigenen Schauspielerstand von unten herauf
neu heranzuziehen und dabei alle schon vorhandene mimische Erfahrung mühsam
neu zu erwerben. Inzwischen aber wird sie auf Auswege verfallen, die im
Interesse eines Fortschrittes sehr zu bedauern sind. Sahen wir doch neulich
den aristokratischen Helden eines Sensationsprozesses und seine Gattin hinterher
als Kinospieler auf der leuchtenden Leinwand vorgeführt. Was befähigte
sie zu dieser Rolle? Die Dame vielleicht ihr früherer Beruf, den Herrn — der
Ruf, den er durch seinen Prozeß erhalten hatte. Ich habe allerdings auch selten
so etwas Langweiliges und Eintöniges gesehen als das Handeln und Tun, das
ausdruckslose Kommen und Gehen der Figuren in diesem Filu.
Aus allen diesen Ausführungen geht nun klar hervor, daß wir durchaus
nicht einer unbedingten Knebelung und einer Einschränkung der Kinematographen¬
theater um jeden Preis das Wort reden wollen. Wir halten im Gegenteil
zwar die radikale Beseitigung aller Wucherungen und Auswüchse im Kinemato-
graphenwesen, seien sie wirtschaftlicher, seien sie kultureller Natur, für unbedingt
notwendig, wir wollen aber anderseits auch, daß der lebenden Photographie
die Möglichkeit gegeben und gewahrt bleibe, die ihr innewohnenden Werte
nach allen Seiten hin zu kultivieren und zu entwickeln. Ihre Entwicklung
nach einer wertvollen Seite hin zu lenken, das ist auch eine Kulturaufgabe
unserer Zeit.
Auf diese Weise, so glauben wir, wird man auch allen Ansprüchen gerecht,
die das Theater, jener Kulturfaktor, der durch das Aufblühen des neuen
Kulturerzeugnisses am meisten in Mitleidenschaft gezogen wird, billigerweise stellen
darf. Das Theater wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, gewisse
Teile seines bisherigen Herrschaftsgebietes dem neuen Eroberer halb gezwungen,
halb gutwillig abzutreten. Man wird die Notwendigkeit dieser Gebiets¬
regulierung vielleicht um so eher einsehen, wenn man beachtet, daß die Ent¬
wicklung unserer Schaubühne in den letzten Jahrzehnten in mancher Hinsicht
dem kommenden Kinematographen vorgearbeitet hat, daß durch manche Er-
scheinungen unserer dramatischen Literatur und durch die Darstellung, die diese
^f der modernen Bühne fanden, der Geschmack des Publikums langsam aber
sicher auf das vorbereitet worden ist, was ihm jetzt im Kinematographentheater
geboten wird.
- Oder ist das naturalistische Prinzip, die Naturtreue, mit der die naturali¬
stische Dramatik und die naturalistische Bühne arbeiten, ein anderes als jenes,
das im kinematographischen Filu seinen vollendetsten Ausdruck findet? Mit
der naturalistischen Kraft und Treue des kinematographischen Films kann aber
das Theater nicht mehr konkurrieren. Daher wird die moderne Bühne das
naturalistische Prinzip immer mehr und mehr aufgeben müssen, soweit sie es
uicht jetzt schon getan hat.
Aber nicht nur formal hat unser Publikum im Theater eine Erziehung
>Ur den Kinematographen erhalten. Unterscheiden sich denn die Stoffe moderner
Durchschnittsdramatik wirklich so außerordentlich stark von jenen Stoffen, die
wan in den besseren Films behandelt sieht? Gleichen die Durchschnittslustspiele
unt ihrer harmlosen Technik nicht vielfach dem amerikanischen Humor mancher
Nims, die Paprikaerotik mancher importierter schwanke den Stoffen kinemato¬
graphischer Sensationsfilms? Und steigt man erst gar zu jenen Bühnen herab,
die an der Grenze des Varietös stehen, so wird die Übereinstimmung noch
größer: man vergleiche gewisse Sketches mit Sensationsfilms, gewisse Burlesken
-Mit der Komik italienischer oder französischer Films.
Jemand, dem die Blüte und der Hochstand unseres modernen Theaters
als eines Kulturfaktors am Herzen liegt, der wird es sogar gar nicht einmal
ungern sehen, wenn das Theater auf den eben berührten Gebieten von dem
Kinematographentheater aus dem Felde geschlagen wird und wenn es deren
Bearbeitung in Zukunft vorzugsweise diesem überläßt. Wenn durch diese
Gebietsverschiebung manche „Theater" zugrunde gehen oder sich in Kinemato-
graphentheater umwandeln, so wird hierdurch in der Tat ein kultureller Verlust
kaum hervorgerufen werden. Auf dem Gebiete des bühnenmäßigen Theater¬
wesens wird aber durch eine solche reinliche Gebietsscheiduug eine andere heil¬
same Folgeerscheinung eintreten. Man wird die Kräfte, die bisher für den
Anbau jener untersten Gebiete des Theaters gebraucht wurden, sparen, und
man wird diese Suma^ von Energie jener Aufgabe dienstbar machen können,
deren Lösung allein dem Theater zum Siege, zum wirtschaftlichen sowohl,
wie zum kulturellen Siege über seinen Konkurrenten verhelfen wird, nämlich
der Reform des Theaters. Durch die Verdrängung des Theaters aus jenen
naturalistischen und realistischen Stoffgebieten von dem Kinematographen
wird auch allen denen, die es noch nicht gerne zugeben möchten, die
Erkenntnis aufgezwungen werden, daß die Reform der Schaubühne nicht
bei der Verfolgung naturalistischer Prinzipien formeller oder inhaltlicher Art
erreicht werden kann. Man wird sich hier vor den nackten Entwicklungs¬
tatsachen beugen müssen.
Verzichtet die Bühne dagegen freiwillig auf naturalistische Prinzipien zu¬
gunsten der Lichtbildbühne und kultiviert dafür die ihr bleibenden Ausdrucks¬
mittel, stilisiert ihre Formen- und Farbenwerte, pflegt die mimischen, sprach¬
lichen und dichterischen Mittel und Werte, die auf ihr zur Geltung kommen,
so wird das Publikum vor der Schaubühne immer noch vielerlei finden, was
ihm das Kinematographentheater bei weitem nicht bieten kann. Möglich, daß
dann in Zukunft nicht mehr so viel und an so vielerlei Orten Theater gespielt
werden wird! Hat man aber nicht längst schon Klage erhoben über das Zuviel
an dramatischer und bühnenkünstlerischer Produktion? Durch die Beschränkung
und Vertiefung zugunsten gewisser ihr allein eigentümlicher Probleme wird
unsere Bühnenkunst innerlich, und zuletzt schließlich auch äußerlich nur gewinnen,
und diese Beschränkung wird auch mit Rücksicht auf die Ausdruckskultur unserer
Zeit nicht einen Verlust, sondern einen Gewinn bedeuten.
Sie wird eröffnet durch eine überaus
bittere und charakteristische Briefstelle; leider
"ber erfahren wir weder an wen der Brief
gerichtet, noch wann er geschrieben ist. Der
Lebenslauf Almquists ist übrigens derart, dasz,
wenn ein anderer Dichter ihn uns als Roman
^'zählte, wir an der UnWahrscheinlichkeit
Anstoß nehmen würden. Geboren 1793 in
Stockholm, wendet er sich, wie die meisten seiner
Vorfahren, der Theologie zu, wird dann
Hauslehrer, später Bibliothekar, begiebt sich
°ber, dreißigjährig, aufs Land, um ein hübsches
Bauernmädchen zu heiraten und selbst richtiger
Bauer zu werden. Das ging nun so, so lang
^ ging. Im Jahre 182S kehrt er nach Stock¬
holm zurück und lebt von Abschreiben, Noten¬
schreiben (nicht der einzige Berührungspunkt
mit I. I. Rousseau), Privatunterricht, bis er
1829 Rektor einer „neuen Elementarschule"
wird, die auf das ganze Unterrichtswesen
Schwedens reformierend einwirken sollte. An¬
fangs ein vortrefflicher Lehrer, vernachlässigte
er dann unter einer ungeheuren Arbeitslast
— er mußte Lehrbücher für alle Fächer
schreibenI — den eigentlichen Unterricht, er¬
hielt einen langen Urlaub und reiste „ins
Ausland", nämlich nach Frankreich (1340 bis
1341). In Upsala hatte er inzwischen 1837
die Päpstlichen Weihen empfangen. Nach seiner
Rückkehr in die Heimat aber finden wir ihn
wegen seiner freisinnigen Ansichten in einem
mehrjährigen Konflikt mit den geistlichen Ober¬
behörden, bei dem beide Parteien eine äußerst
trübe Rolle spielen; doch setzt er es durch,
als Pastor angestellt zu werden. Und noch
unerquicklicher war ein Konflikt, in den er als
Mitarbeiter der liberalenZcitung„Aftonblerdet"
geriet und wobei er von dem Beleidigten
öffentlich, wie es scheint nicht ohne Grund,
jedenfalls ohne weitere Folgen, geohrfeigt
wurde. Die Chronologie der vorliegenden
Ausgabe ist übrigens, vielleicht auch durch
Druckfehler, S. 12 ff. der Einleitung, völlig
im argen. S. 12 heißt es, daß Almqnist
im Jahre 1846 zum Regimentspastor er¬
nannt worden sei, und S> 13: „Seit 1846
wurden die ökonomischen Verhältnisse immer
zerfahrener. Für den Gesellschaftsumstürzler
hatte die Gesellschaft kein Brot mehr." Jeden¬
falls kam es in den folgenden Jahren vom
Schlimmen zum Schlimmsten: Schulden,
Wechselfälschung, Anklage wegen versuchten
Giftmordes (an einem Wucherer). Es gelingt
Almquist im Juni 1861 nach Amerika zu
entfliehen. Von seinem späteren Leben aber
wird uns nur noch mitgeteilt, daß er (wann?)
nach Europa zurückgekehrt sei, als „Professor
Westermann" nach Bremen gezogen, hier
1866 im Allgemeinen Krankenhaus gestorben
und auf dem Armenfriedhof beerdigt worden
sei. „Er war Teufel und Heiliger, Held und
Feigling, Sophist und Fanatiker, Schwärmer
und kalter Rechner". (S. 39.)
Bei einem so unstäten Leben hat Almquist
eine wahre Unzahl von Büchern und AbHand-
Almquists Werke. Auswahl in zwei Bänden,
übertragen von A.Mens. Leipzig, Inselverlag.
1912. Geh. 8 M.. geb. 12 M.
Dies ist ein sehr merkwürdiges Buch, und
wenn das deutsche Publikum seit uralten
Zeiten ein Gewohnheitsrecht darauf hat, das;
ihm alles Merkwürdige, das irgendwo auf
Erden erscheint, vorgelegt wird, so durste ihm
eine Auswahl aus Almquists Werken gewiß
nicht vorenthalten werden. Doch machen wir
Zunächst dem kritischen Herzen durch einige
Ausstellungen an der Ausgabe Luft. Wozu
das Geheimnisvolle? Der Name Mens findet
sich nicht bei Kürschner und nicht bei Degener,
bei letzterem auch nicht unter den Pseudo¬
nymen, und ein solches liegt doch Wohl vor.
Die poetischen Stücke aber wurden „von
W. in die metrische Form übertragen".
Anonymität scheint uns bei Übersetzungen noch
weniger angebracht als bei Originalwerken.
Und die Übersetzer brauchten sich doch wahr¬
lich ihrer Arbeit nicht zu schämen. Auch die
biographische Einleitung läßt doch zu vieles
im Dunkeln und uns fiel dabei der einem
allzuviel räsonnierenden Literarhistoriker zu¬
gerufene Vers ein:
lungen geschrieben, von denen die zwei bor¬
liegenden Bände Wohl nur den kleinsten,
hoffentlich aber wertbollsten Teil enthalten.
Eröffnet wird die Sammlung (ob ganz glück¬
lich?) durch dramatische Szenen: „Immer
hübsch kritisch", in denen der Dichter sich,
Moliöres Lriiiquö ete I'üeole ach tsmmes
nachahmend,mit seinem Publikum auseinander¬
setzt. Auch Gogol hat sein Lustspiel „Der
Revisor" mit einem Nachspiel versehen, in
dem das natürlich meist gedankenlose und
törichte Publikum redend eingeführt und
Persifliert wird, und am Schluß eines klassi¬
schen Werkes läßt man sich eine solche Kritik
alberner Kritik Wohl gefallen. Als Einführung
wirkt sie doch etwas seltsam. Almcmists Haupt¬
werk ist das Dornrosenbuch, vielmehr: seine
Hauptwerke hat er unter diesem Titel mit¬
tels einer Rahmenerzählung zusammengefaßt.
Offenbar gehört dazu auch der größere Teil
der beiden deutschen Bände. Aber Genaues
über das Verhältnis erfahren wir leider wieder
weder aus der Einleitung noch aus dem
Inhaltsverzeichnis. Dieses enthält vielmehr
die Bezeichnung „Dornrosenbuch" gar nicht,
sondern bringt koordinierend die Titel von
sechzehn Erzählungen und Aufsätzen, und es
scheint, daß sie bis auf die fünf letzten dem
Hauptwerk angehören, das aber, wie es
wiederum scheint, im Original weit umfang¬
reicher ist. Um von der Art und Mannig¬
faltigkeit dieses Werkes eines bei uns noch so
ganz iunbekannten Dichters einen Begriff zu
geben, scheint es am besten, ihn mit bekannteren
Dichtern zu vergleichen, an die er erinnert.
Und solche Vergleiche drängen sich bei der
Lektüre vielfach auf. Damit soll aber Alm-
auist keineswegs die Originalität abgesprochen
werden; ist er doch vielfach der ältere. So
war Scina Lagerlöf erst acht Jahre alt, als
Almcmist starb, und wenn uns die einleitende
Erzählung „Das Jagdschloß" lebhaft an Gösta
Berling erinnerte, so mag das einfach an dem
gemeinsamen schwedischen Heimatboden liegen.
Die kleinen Stücke „Die Tränen der Schön¬
heit" und „Des Dichters Macht" würden wohl,
Wenn sie in Jean Pauls Werken ständen, als
für diesen besonders charakteristisch angesehen
werden. Die größere Erzählung „Es geht
an", durch die der Dichter ein unliebsames
Aufsehen erregte, wie wir, an schärfere Kost
gewöhnt, es uns kaum vorstellen können,
gleicht in der fabelhaft genauen und plastischen
Schilderung manchen Geschichten Adalbert
Stifters. Was ihren Inhalt so sKocKinZ
machte, war, daß hier das Problem der kor¬
rekten Ehe mit leisem Skeptizismus behandelt
wird. „Der Palast" ist, worauf schon Mens
in der Einleitung hinweist, tatsächlich durch¬
aus lui Stil der Schauergeschichten von Edgar
Allen Poe gehalten, und hier wäre es denn
nicht uninteressant, zu wissen, ob dem Schweden
oder dein Amerikaner die Priorität in dem
Genre zukommt. Noch schauriger beinahe ist
„Die Urne", bei der einen übrigens die
blutige Ironie der Schlußpointe voltaireisch
anmutet. Voltaireisch, ja übervoltaireisch ist
auch das Stück „Armuz und Ahoriman", das,
mit dem Herausgeber zu reden, ein böses
Spiel mit der Bureaukratie und mit jeder
ArtPharisäertums treibt. Das sizilische Drama
„Donna Luna" endlich, aus dem uns ein
kühles Grausen entgegenweht, würde unter
Victor Hugos Werken wie zu Hause sein.
Dies ist Wohl das letzte Stück, das zum
Dornrosenbuch gehört.
Nun folgen noch einige sehr originelle
Aufsätze über ästhetische und soziale Probleme,
so einer über „Die Zukunft der Musik".
Almquist war nämlich, was seine Vielseitigkeit
noch unheimlicher erscheinen läßt, auch Kom¬
ponist. Kurz, er war alles in allem, einer
der seltsamsten und begabtesten Menschen, die
je gelebt haben.
Zwei schneidige Broschüren liegen mir vor:
Julius Ruhla: Schulelend und kein Ende.
(Leipzig, Quelle und Meyer) und Wilhelm
Victor: Das Ende der Schulreform? (Mar¬
burg, Elwert). Ruskas Schrift ist eine Ab¬
wehr der Angriffe Ostwalds auf die Höheren
Schulen und ihre Lehrer; seit Jahren predigt
Ostwald seinenKreuzzug gegen unsere Bildungs¬
anstalten, und es wurde ihm schon häufig
seine Einseitigkeit gegenüber den Geisteswissen¬
schaften vorgeworfen; die beschränkte Ansicht,
daß nur von den Naturwissenschaften das Heil
für die zukünftigen Generationen zu erwarten
sei, hat auch bei denen Kopfschütteln erregt,
die Ostwalds Anregungen mit Freuden be-
grüßten. Nun kommt Ruhla hier mit dem
Nachweis, daß Ostwald, der große deutsche Ge¬
lehrte von Weltruf, mit den Quellen für sein
Buch „Große Männer" in der skrupellosesten
Weise umgegangen ist. Aus dem Leben einiger
großer Männer will Ostwald nachweisen,
daß viel mehr Genies aufwachsen könnten,
wenn sie nicht durch Hemmungen, meistens in
der Schule, in ihrer freien Entwicklung ge¬
hindert würden. Mag man dem Resultate,
daß die Schule eine Geniemörderin sei, zu¬
stimmen oder nicht, mag man die Auswahl der
großen Männer, einige Naturforscher des Jn-
und Auslandes, für glücklich halten oder nicht,
wie konnte ein deutscher Wissenschaftler sich zu
dieser tendenziösen Verarbeitung seiner Quellen
hergeben? Den Nachweis führt Ruhla so straff,
daß kein Zweifel an der Tatsache bleibt, und
es ist nur ein Rätsel und ein beschämendes,
daß mit Ostwalds Resultaten zwei Jahre lang
gegen die Höheren Schulen gearbeitet worden
ist. Angesichts der großen Verdienste Ostwalds
ist es tief zu bedauern, daß er sich um den
Ruf der Unbefangenheit gebracht hat. Aber
der Wahrheit gebührt die Ehre und Ruskn
der volle Dank, daß er in mühevoller Arbeit
den Sachverhalt klargelegt hat .
Wilhelm Victor bringt Positive Vorschläge
für Reformen', die er in richtiger Würdigung
der Neformanstalten in der konsequenten Ver¬
folgung von deren Zielen sieht. Der Unterbau
"uiß zu einer bis Untersekunda reichenden Ein¬
heitsschule erweitert werden. Fremdsprachen
beginnen mit Englisch in Quarta, Französisch
folgt in Obertertia, Latein in Obersekunda,
Griechisch, sofern es nicht ganz verschwinden soll,
fakultativ in Unterprima. Vietors Plan, bei dem
nebenbei eine Verminderung der Stundenzahl
um durchschnittlich fünf auf jeder Stufe, her-
"usspringt, wird hoffentlich eingehend diskutiert
werden. Die Broschüre ist frisch und über¬
zeugend geschrieben: Fortschritt im Einver¬
ständnis mit den Zeichen der Zeit. In dem
Sinne darf also die Schulresorm niemals auf¬
hören: Schulreform und kein Endet
Die Zukunftsschule des Goethelmndes.
Die acht Vorträge der Schulversammlung
des Berliner Goethevnndes liegen nun gedruckt
°"r, und man kann sich in Ruhe überlegen,
was von diesen leidenschaftlichen Ergüssen
bleibenden Wert hat. Im ganzen gewinnt
man nach Lektüre des Bündchens („Die
Schule der Zukunft", Berlin - Schöneberg
Hilfe, 1 M) den Eindruck, daß die gereizte
Stimmung, die die Auszüge in einem großen
Teil unserer Oberlehrerpresse erregten, nicht
ganz gerechtfertigt war. Ostwalds Über¬
treibungen und seine Unkenntnis der jetzigen
Schulverhültnisse dürfen uns doch nicht ver¬
hindern, seine zwar kraß ausgedrückten, aber
oft nur allzuwahren Vorwürfe gegen einzelne
Mißstände anzuerkennen. Den schwächsten
Eindruck machen Wilhelm Bölsches redselige
Ausführungen, ziemlich breitgetretene Gemein¬
plätze, bei denen man sich der boshaften Be¬
merkung nicht erwehren kann, ob der Professor,
der Bölsche einst sagte: „Du wirst am Schreiben
zugrunde gehn", doch vielleicht recht gehabt
hat. Trotzdem haben wir nicht das Recht,
die Anregungen, die von außen kommen,
rigoros abzuweisen, weil sie oft in einer für
uns persönlich beleidigenden Form erscheinen;
das ist Schwäche. Wir sollten darüber lachen
und das Gute begierig aufnehmen, wo es zu
finden ist, und hier ist viel Gutes zu finden,
z. B. Alfred Klnnrs Schlußworte: „Wir alle
stimmen in dein Wunsche überein, daß der
neue freie Geist, der schon lange um unsre
Schulen wirbt, mit Hilfe aller vorwärts
strebenden Kräfte sich ihrer bemächtige, daß
in unsren Schulen das Lebendige an Stelle
des Mechanischen, das geistige Können an
Stelle des toten Wissens, daß Liebe und
Vertrauen um Stelle von Furcht und Pein
trete, und daß die Bildung zu freier tüchtiger
Menschlichkeit an die Stelle der Ablichtung
gesetzt werde."
Ganz neu sind die Gedanken nicht;
Rousseau, der vor zweihundert Jahren geboren
Wurde, hat etwa dasselbe gesagt, ähnliches
kann man jeden Ostern in Reden und Erlassen
von Direktoren lesen, aber es ist für die Praxis
durchaus notwendig, daß die allgemeinen
großen Wahrheiten nicht in Vergessenheit ge¬
raten vor dem Kleinkram der täglichen Arbeit,
darum dem Goethebunde herzlichen Dank für
sein Interesse an der Mitarbeit für die Zukunft
Es muß ein herrliches Bewußtsein geben, auf eine Geschichte von einem
halben Jahrtausend zurückblicken zu können und sich zusagen: diese Geschichte
hat mein Haus, haben meine Väter geschrieben! Fünfhundert Jahre sind am
30. Mai hingegangen, seit der erste Hohenzoller in Brandenburg einzog, um seinen
Nachfahren den Boden zu bereiten für den stolzen Bau eines neuen Deutschen
Reiches. Fünfhundert Jahre ständiger Kämpfe im Innern und nach außen, fünf¬
hundert Jahre stetigen Aufstiegs!
Wenn es Kaiser Wilhelm dem Zweiten heute vergönnt ist, zusammen mit
dem deutschen Volk und als dessen berufener Führer auf diese ruhmreiche Geschichte
des Hauses Hohenzollern zurückzublicken, so dankt er es vor allem denen unter
seinen Vorfahren, die ihre Zeit verstanden und die darum auch befähigt wurden,
ihr den Stempel aufzudrücken. Die Mark und später Preußen sind den Hohen¬
zollern auch nicht kampflos zu dem geworden, was sie ihnen heute sind. Wie der
sandige Boden sich nur in mühseliger, beständig harter Arbeit fruchtbar machen
ließ, so stellten auch die Bewohner nur nach heftigstem Widerstande ihre herr¬
lichen Gaben in den Dienst der neuen Fürsten, die einst rein persönlich
den Staat, das Allgemeinwohl verkörperten. Der „Tand von Nüremberg"
mußte erst seine Überlegenheit über das märkische Junkertum erweisen, ehe
dieses den neuen Staatsgedanken annahm und zur eigenen, sorgsam gepflegten
Tradition erhob. Mit jenen blutigen Kämpfen, die den Individualitäten der
Köckeritze und Jtzenplitze galten, war es indessen nicht abgetan. Hat auch der
brandenbnrgisch-preußische Adel den preußischen Staatsgedanken zu dem seinigen
gemacht, so hat er es bis heute noch nicht vermocht, diesen Staatsgedanken
immer und unter allen Umständen über seine eigenen Interessen zu stellen.
Das soziale Moment, das Friedrich Wilhelm der Erste dnrch die Schaffung
des unvergleichlichen Beamtenkörpers und sein genialer Sohn durch sein
Bekenntnis, der erste Diener des Staates zu sein, in die preußische Staatsidee
hineingetragen, das soziale Moment, das die Botschaft Kaiser Wilhelms des Ersten
und die Sozialpolitik des gegenwärtig regierenden Herrschers so scharf betont, ist
dem brandenburgisch-preußischen Junkertum bis auf den heutigen Tag fast
unverständlich geblieben. Nicht etwa aus Bösartigkeit oder Torheit, wie die Demo¬
kraten und vor allen Dingen die Süddeutschen unter ihnen meinen. Nein! viel¬
mehr weil es diesen harten Menschen, die zwischen Elbe und Weichsel gerötet und
gegraben haben, die ihren heutigen Reichtum und ihre Macht ebenso wie die
Hohenzollern der persönlichen Tüchtigkeit ihrer Voreltern in erster Linie zu danken
haben, nicht in den Schädel will, daß neben ihnen im Laufe der Jahrhunderte
neue Menschen, breite Volksmassen entstanden sind, die, als Ganzes betrachtet, dem
modernen Staat und damit auch seinem Oberhaupt genau ebensoviel wert sein
müssen, wie sie selbst. Vor fünfhundert Jahren siegte die stärkere schwäbische Kultur
über die natürliche Urwüchsigkeit der Brandenburger, und aus der Paarung beider
sind die Schöpfungen entstanden, die wir unter dem Sammelbegriff des „Preußischen
Staates" bewundern, Schöpfungen, in denen brandenburgisch-preußische Urkraft
solange kulturfördernd bleiben konnte, solange sie bereit war, sich an den älteren
Quellen deutscher Kultur zu laben, — die aber immer noch zu verkümmern drohten,
wenn sie gegen den Einfluß des deutschen Westens abgesperrt wurden.
Nach der grandiosen Befruchtung, die uns die Zeit von 1860 bis 1880 etwa
brachte, befinden wir uns in Preußen seit einem Vierteljahrhundert wieder im
Zeichen zunehmender steriler Ablehnung und Auflehnung gegen alles, was nicht
ohne weiteres als von preußischer Herkunft erkannt wird oder gar aus dem
deutschen Süden kommt. Der preußische Partikularismus regt sich
mächtig; er hat bereits Formen angenommen, gegen die wir gerade als Preußen
nicht scharf genug protestieren können: Im konservativen Lager kennzeichnet er
sich durch den seit Kardorffs Tode vollzogenen Zusammenbruch der Reichspartei
und wird bemäntelt durch einen Antisemitismus, wie ihn Ahlwardt gepflegt
hatte, im liberalen Lager ist es ein Teil des reich gewordenen Unternehmer
tuas, das ihm huldigt, und zwar derjenige, der sich kürzlich innerhalb der
nationalliberalen Partei als altliberaler Verband organisiert hat.
Der neupreußische Partikularismus, wie ich die Erscheinung nennen möchte,
ist daher durchaus nicht eine Domäne des preußischen Junkertums. Er schöpft
sogar seine kräftigste Nahrung aus Ergebnissen einer Entwicklung, gegen die
unsere Junker stets angekämpft haben, für die sie somit auch nicht verant¬
wortlich zu machen sind: aus der Industrialisierung Preußens und aus dem
raschen Entstehen der großen Städte.
Das politische Ergebnis der Industrialisierung Preußens ist die sozialdemo¬
kratische Partei. Der Kaiser hat sie einst als eine vorübergehende Erscheinung
bezeichnet, — mit Recht, sofern es gelingt, das Milieu zu zerstören, in dem allein
sie nur gedeihen kann. Was aber ist bisher geschehen, dies Werk zu vollbringen?
Trotz des Widerstandes der im Zentralverbande deutscher Industrieller organisierten
Unternehmer wurde unsere Sozialpolitik eingeleitet, die den Arbeitermassen
mit Geld, durch indirekte Beteiligung am Unternehmergewinn, die Möglichkeit
geben wollte, sich das Milieu ihres Daseins gesunder zu gestalten. Der Erfolg
ist ausgeblieben und das politische Problem der Sozialdemokratie ist als eine
Kultur- und Lebensfrage für das preußische Volk drohender geworden als es je
gewesen; (s. Claaßen Heft 11 von 1912, S. 513.). Der Grund für diese
betrübende Erscheinung liegt auf der Hand: die gewährten Barmittel reichen nicht
nur nicht aus, um dem Arbeiter zu helfen, aus dem Milieu der Fabrikstadt heraus¬
zukommen, sie langen auch nicht zu, um es zu verschönern und gesunder zu
gestalten; wo solches dennoch möglich geworden, da sind es die viel gescholtenen
patriarchalischen Verhältnisse, da sind es freiwillige Leistungen humaner und weit¬
blickender Unternehmer gewesen, nicht die sozialen Gesetze des Staates, die das
Milieu verbesserten. Nun macht sich in den beteiligten Kreisen des Unter-
nehmertums die Erkenntnis breit, daß die gewährten Barmittel niemals
ausreichen werden und wenn auch die Arbeiterfürsorge die gesamten Unternehmer¬
gewinne verbrauchen sollte. Statt aber auf neue Mittel zu sinnen, beeilt man sich
das Kind mit dem Bade auszuschütten, und sich von der lästigen als unproduktiv
empfundenen Ausgabe für die staatliche Arbeiterschutzgesetzgebung nach Möglichkeit
zu befreien. Keinen anderen Sinn haben die Beschlüsse der Münchener Tagung
des Zentralverbandes deutscher Industrieller und die Sammlung der Rechts¬
liberalen gegen die sogenannten „Übertreibungen der Sozialpolitik" mit der Be¬
gründung, die ihnen Regierungsrat Dr. Schweighoffer, der Generalsekretär des
Verbandes, gegeben hat. Eine solche Behandlung der sozialen Fragen kann nicht
lebhaft genug bekämpft werden, denn sie stört den sozialen Frieden. Aber sie
zeugt auch davon, daß die in Frage kommenden Unternehmer wissenschaftlich nicht
gut beraten sind. Wenn die soziale Gesetzgebung bisher nicht den erhofften Erfolg
gezeitigt hat, so liegt das an Zusammenhängen, für die unsere Arbeiterschaft nicht
verantwortlich zu machen ist. Solange jede direkte oder indirekte materielle Auf¬
besserung sofort eine Steigerung der Mieter und daran anschließend der Bodenpreise
nach sich zieht, kann die soziale Fürsorge, wie sie heute betrieben wird, keinen
sozialen Frieden vorbereiten. Wir leiden an einer Überschätzung des Geldes, wenn
wir glauben mit Barzahlung alle sozialen und kulturellen Nöte ausgleichen zu
können, wie es eine Überschätzung des Geldes ist, wenn wir nationale Fragen
lediglich als Geldfragen behandeln wollen. Die Absichten unserer Sozialpolitik
können nie erreicht werden und unsere gesamte Sozialpolitik muß eine Sysiphusarbeit
bleiben, sofern es uns nicht gelingt, ihr neue Gesichtspunkte zuzuführen und dem Gelde
einen festen Wert zu geben. Das aber wäre nur möglich durch die Entziehung des
Bodens aus dem freien Verkehr. Ich wage es zu hoffen, daß wir auf dem Wege
über die Befestigung des bäuerlichen Besitzes auf dem Lande und durch die Wert¬
zuwachssteuer in den Städten in hundert Jahren zu diesem Ziel gelangen werden.
Aber damit wäre uns, die wir heute leben, nicht gedient. Denn wir bedürfen eines
Ausbaues der Sozialpolitik, die bereits die heranwachsende Generation berücksichtigt.
Pastor Rade hat auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß zu Essen das nächste Ziel
richtig angegeben, wenn er die moralische Kräftigung des Individuums verlangt.
Dazu aber gehört in erster Linie die Möglichkeit einer besseren Erziehung und
Bildung unserer Arbeiterjugend und eine auf Dezentralisation hinstrebende
Änderung in der Organisation der Fabrikbetriebe.
Es ist hier nicht der Ort, eingehend begründete Vorschläge auseinanderzu¬
setzen; ich habe zu berichten, welche Gedanken die Welt um mich bewegen und
darf meine eigenen nur nebenbei Hineinstrenen. Dennoch möchte ich angesichts
der völligen Ratlosigkeit, die sich bei unseren Unternehmern auf der letzten Jahres¬
versammlung des Zentralverbandes deutscher Industrieller zu München offenbart
hat, auf Entwicklungsmöglichkeiten hindeuten, die vielleicht hier oder da Beachtung
finden werden.
Oben wurde gesagt unserer Sozialpolitik müßten neue Elemente zugeführt
werden, sie dürfe sich nicht allein auf die Geldzahlung stützen. Es wurde dabei vor
allen Dingen an solche Maßnahmen gedacht, die sowohl die Anhäufung der
Menschen an den Fabrikstädten verringern, wie auch eine engere Fühlung¬
nahme mit der Landwirtschaft ermöglichen. Ich frage mich: ist es notwendig,
daß alle die Waren, die ausschließlich handwerksmäßig oder doch mit primitiven
Maschinen hergestellt werden können, unbedingt dort fabriziert werden müssen, wo
die Quadratrute Boden 1500 bis 2000 Mark kostet, während an anderen Stellen
die Quadratrute für 20 Pfennig nicht loszuschlagen ist? Ist es kaufmännisch und
betriebstechnisch z. B. unbedingt erforderlich, daß sämtliche Bügelriemen, Mündungs¬
kappen, Deichseln, gewisse Klempner- und Tapezrererarbeiten, die bei Krupp
gebraucht werden, auf dem teuren Boden Essens besorgt werden müssen? Ließen
sich nicht Betriebe mit Hunderten von Arbeitern ohne Nachteil für die Güte der
Ware und Exaktheit in der Lieferung irgendwohin nach Posen oder Pommern
aussiedeln? Sollte sich nicht im Zusammenwirken des Genossenschafts- (Urteil)
Prinzips für die Arbeitgeber mit Nberlcmdzentralen und ländlichen Siedlungs¬
gesellschaften eine Organisation schaffen lassen, die es zunächst wenigstens einem
Teil der Arbeiter ermöglichte, aus dein demoralisierenden Milieu der Fabrikstadt
herauszukommen? Weiter: bietet nicht eine veränderte Organisation der Lehrlings¬
ausbildung Möglichkeiten, bei denen die jungen Burschen wenigstens zum Teil
von den Fabrikarbeiterzentren ferngehalten werden können?
Der Zentralverband deutscher Industrieller hat auf seiner Tagung in München
in einer besondern Resolution scharf hervorgehoben, wie seine Mitglieder stets
bereit seien, den Anforderungen des Vaterlandes zu genügen, so begrüßten sie auch
freudig die Verstärkung von Heer und Flotte. Was aber ist unser Vaterland ohne
die Menschen darin, ohne unsere Volksgenossen? Ödland! Das Vaterland ist
die Nation und das Vaterland kann nur stark sei», wenn die Nation gesund ist.
Die Nation ist aber auf dem Wege zu innerlichen! Zusammenbrach, so lange mehr
als ein Viertel von ihr und ihre Jugend in steigender Zahl unter den gegebenen
Verhältnissen in den Fabrikzentren als Proletarier zusammengepfercht bleibt. Daß
in diesen Worten keine Übertreibung liegt, beweisen die Ausführungen Claaßens,
und der Zentralverband Hütte sich manche Sympathien im Lande erworben, wenn
er statt seiner durchaus negativen sozialpolitischen Resolution gezeigt hätte, daß er
ein Verständnis für die tieferen Zusammenhänge unserer sozialen Entwicklung besitzt.
Ob der heutige Markgraf von Brandenburg aus dieser Sachlage die Kon¬
sequenzen zieht? Seine Aufgabe deu modernen Brandenburgern gegenüber ist
ungleich schwieriger als die seines Ahnherrn. Die „faule Grete", die einst
Friesack in Trümmern legte, ist längst den geistigen Mitteln der Staatskunst
gewichen. Preußens völkliche Entwicklung stagniert in der Furcht vor politischen
Reformen, mit denen Süddeutschland uns vorangegangen ist und die die Süd¬
deutschen uns anraten. In den Städten ist es der Hausbesitzerfreisinn, der die
bestehende Städteordnung schirmt, auf dem Lande der Großgrundbesitz, der die
Kreisordnung nicht antasten lassen will, im Staat aber verbünden sich Konservative,
Liberale und Klerikale, um jede Änderung des Wahlrechts in demokratischen Sinne
zu hintertreiben. Ginge mit dieser Abwehr Hand in Hand ein zielbewußtes
Streben des Bürgertums zur Beseitigung der inneren Ursachen des Anwachsens
der Sozialdemokratie, so wäre dagegen nichts zu sagen. Auf die Form des
Wahlrechts kommts im Grunde genommen nicht an! Aber das ist ja gerade der
Grund für den politischen Starrsinn der in Preußen herrschenden Kreise, daß
man den Nährboden für die Sozialdemokratie nicht beseitigen will, weil damit
einige wirtschaftliche Opfer verbunden wärmt Und so wird die Negierung
des Markgrafen von Brandenburg die Widerstrebenden entweder wie vor fünf¬
hundert Jahren zu ihrem Glücke zwingen müssen und dadurch die Fundamente
des preußischen Staates und deutschen Reiches zweckmäßig ergänzen oder Preußen
wird durch die in ihm bestehenden Gegensätze und Widersprüche seine Bedeutung
für Deutschland einbüßen. (Vergl. Schiele: Die Schicksalsstunde der deutschen
Landwirtschaft in Ur. 22.) Sozialpolitik ist richtig angefaßt Nationalpolitik!
Gesandte senden und empfangen zu können, ist eine Eigenschaft, die die voll¬
berechtigter Glieder der Völkerrechtsgemeinschaft, d. h. die souveränen Staaten
auszeichnet. Die Staaten des Deutschen Bundes waren souveräne Staaten, und
als solche hatten sie das aktive und passive Gesandtschaftsrecht. Wenn man ihnen
dieses Recht beließ, auch als sie durch ihren Eintritt in den Norddeutschen Bund
bzw. in das Reich ihre Souveränität aufgaben, so war das eine achtenswerte
Rücksichtnahme auf bestehende Verhältnisse, die geeignet war, die Gewöhnung an
die staatsrechtlichen Umwälzungen von 1867 und 1870 zu erleichtern. Aus 1867
und 1870 aber wurde 1912, mehr als vier Jahrzehnte gingen ins Land und die
Gewöhnung trat längst ein, aber trotz alledem sind wir nicht viel weiter gekommen,
sondern sehen gerade, wie in den Zeiten des Bundes deutsche Staaten unter¬
einander dauernde diplomatische Vertretungen unterhalten. Die Erkenntnis, daß
es an der Zeit ist, dieses Residuuni einer früheren Periode unserer Geschichte zu
beseitigen, ist zwar seit langem in weiten Kreisen des Volkes vorhanden. Ein
Zeichen dafür sind Auseinandersetzungen, wie sie soeben in der zweiten Kammer
des württembergischen Landtags vor sich gingen, die die Frage erwog, ob es sich
nicht empfehlen möchte, die württembergische Gesandtschaft in Preußen, Bayern
und Baden aufzuheben zu Nutz und Frommen einer vereinfachten Staatsver¬
waltung und des Staatssäckels. Auch in Preußen, Bayern, Baden haben wir
derartige Verhandlungen gehabt. Einen beachtlicher Erfolg haben sie bisher
nur in Baden gehabt, wo die zweite Kammer die Aufhebung der badischen
Gesandtschaft in München, die zugleich in Stuttgart beglaubigt ist, beschloß.
Ob diesem Beschluß die Tat folgt, steht dahin. Die meisten Gesandtschaften
bei den deutschen Einzelstaaten unterhält Preußen: es hat Gesandte in
München, Stuttgart, Dresden, Karlsruhe, Darmstadt, Weimar, Oldenburg und
Hamburg, von denen verschiedene auch bei anderen Höfen bzw. Senaten beglaubigt
sind, so daß Preußen letzten Endes bei allen deutschen Staaten mit Ausnahme
von Waldeck, dessen Verwaltung es bekanntlich führt, vertreten ist. Umgekehrt
empfängt Preußen auch die meisten einzelstaatlichen Gesandten. Daraus ergibt sich,
.daß das Stück Partikularismus, das in dem Gesandtschaftsrecht der Einzelstaaten
liegt, in wirksamster Weise beseitigt würde, wenn Preußen sich zu dem Standpunkt
durchzuringen vermöchte, daß die Institution nicht mehr zeitgemäß ist. Und sie
ist nicht mehr zeitgemäß; sie paßt nicht mehr in eine Zeit, die so vielfältige
Möglichkeiten des Verkehrs und so leistungsfähige Kommunikationsmittel aufweist,
wie die unsrige. Unaufhörlich stehen die Regierungen der Einzelstaaten in persön¬
lichem Verkehr; dafür sorgen die Verhandlungen des Bundesrath, dessen Tätigkeits¬
gebiet einen 1870 nicht geahnten Umfang angenommen hat; dafür sorgen ungezählte
Konferenzen und Besprechungen der Vertreter einzelstaatlicher Ministerien, die
schon heute trotz der Gesandtschaften stattfinden. Sollte hier und da sich die
Notwendigkeit ergeben, gewisse Fragen nicht durch Verwaltungsbeamte zu erledigen,
sondern durch geschulte Diplomaten, so steht nichts im Wege, besondere
Gesandte zu den in Rede stehenden Verhandlungen zu entsenden. Dauernder
einzelstaatlicher Gesandtschaften bedarf es heute nicht mehr; die für sie aufgewen¬
deten, nicht unbeträchtlichen Summen dürften eine zweckmäßigere Verwendung
fi
Schwere Anklagen gegen die deutsche Eingeborenenrechtspflege enthält der
soeben erschienene, die Jahre 1903 bis 1911 umfassende Bericht der Handels¬
kammer für Südkamerun. Gemäßigt in der Form, scharf in der Sache,
bedeutsam durch ihren allgemeinen kolonialpolitischen Gehalt, verdienen sie zur
Kenntnis eines weiteren Forums zu gelangen, als es sich kolonialen Handels¬
kammerberichten im allgemeinen darzubieten pflegt.
Als Grundlage der Ausbildung einer Farbigenrechtsordnung
bezeichnet der Bericht „die vernünftige und in dauernder Rechtsprechung geübte
Anpassung des Eingeborenenrechts an das europäische Recht", fügt aber hinzu,
daß es zum schweren Schaden der Kolonie an praktischen und erfolgreichen
Versuchen auf dem bezeichneten Wege fehle, trotzdem die Gesetzgebung umfassende
Freiheit in der Rechtsanwendung gegenüber den Eingeborenen gewähre*). Die
gegenwärtige Rechtsprechung beschränke sich auf eine mehr oder weniger weit¬
gehende analoge Anwendung des europäischen Rechts, an dem man über-
ängstlich festhalte, obwohl es weder die Aufgabe noch die Fähigkeit habe, die
Beziehungen der weißen zur schwarzen Rasse oder der Angehörigen der schwarzen
Rasse untereinander zu regeln. Die Ursachen der überspannten Anwendung des
der Eingeborenenjustiz inadäquaten Europäerrechts erblickt die Handelskammer
zunächst in der mangelnden Kenntnis der Eingeborenensprache und des
Eingeborenenrechts bei der Mehrzahl der zur Rechtsprechung berufenen
Beamten. Diese Ausstellungen möchten wir uns freilich nicht in vollem Umfange
zu eigen machen. Denn gerade in den letzten Jahren ist für die Ausbildung
der Kolonialbeamten in den Eingeborenensprachen außerordentlich viel geschehen;
allerdings ist der Erfolg dadurch beeinträchtigt, daß die Verwaltung sich immer
noch nicht entschlossen hat, gegen die Verwendung des Negerenglisch seitens der
Behörden energisch vorzugehen. Und was die Kenntnis des Eingeborenenrechts
anbetrifft, so läßt sich diese, wie der Bericht selbst ganz richtig sagt, „erst durch
langjährige Erfahrungen und gründliche Kenntnis des Charakters der Ein¬
geborenen" erwerben. Das einzige, was die Kolonialverwaltung in dieser
Richtung tun kann, ist, daß sie den „Lehrgang" der Eingeborenenrichter nicht
durch vermeidbare Versetzungen von einem Ort zum anderen unterbricht.
Zustimmung dagegen verdient es, wenn es die Handelskammer als einen schweren
Mißgriff der Verwaltung bezeichnet, daß die Eingeborenenrechtspflege unter die
Oberaufsicht des Oberrichters, d. h. der höchsten Instanz der Weißenrechtspflege,
gestellt ist. Denn wenn das Gesetz die Eingeborenenjustiz als Verwaltuugs-
angelegenheit, deren oberstes Prinzip die kolonialpolitische Zweckmäßigkeit ist,
behandelt und sie deshalb dem Bezirksamtmann überträgt, dann ist es wider¬
sinnig, an ihre Spitze einen Beamten zu stellen, der mit der aktiven Verwaltung
keine berufliche Fühlung hat; dessen Hauptberufstätigkeit vielmehr gerade darauf
abgestellt ist, Erwägungen der politischen Zweckmäßigkeit nicht zur Geltung
kommen zu lassen.
Die nachteiligen Folgen der unzeitgemäßer Europäisierung der Eingeborenen¬
rechtspflege werden dann näher nachgewiesen. Namentlich in der Strafjustiz
mache sich unter dem Druck der Zentralstelle eine humanisierende Tendenz geltend,
die von den Eingeborenen als Schwäche oder gar als Furcht gedeutet werde,
die Aufgabe des Bezirksamtmanns, kriegerische und unruhige Stämme im Zaum
zu halten, nicht eben erleichtere und eine steigende Kriminalität zur Folge habe.
Charakteristisch ist auch die Mitteilung, daß, als im Jahre 1909 eine Reihe von
Angehörigen des Ngumbastammes wegen gewerbsmäßiger Begehung von Dieb¬
stählen, Betrügereien, Unterschlagungen und Hehlereien zu geringen Freiheits¬
strafen verurteilt worden waren, Unzufriedenheit unter den Angesehenen jenes
Stammes entstand, weil die verhängten Strafen zu — milde seien: die schuldigen
Landsleute müßten gehängt werden, weil auf andere Weise ihrem Treiben kein
Ziel gesetzt werde, und weil dieses Treiben den ganzen Stamm in Mißkredit
bringe. Auch wir glauben, daß diese Anschauung der Eingeborenen, welche die
deutsche Strafrechtslehre kurz als Abschreckungstheorie bezeichnet, von einer
vernünftigen Kolonialpolitik nicht plötzlich und unvermittelt preisgegeben werden
sollte, und stimmen der Handelskammer zu Kribi zu, wenn sie sagt: „Die
Anschauungen bei Kulturvölkern dürfen bei Erwägung derjenigen Mittel, mit
denen niedrig stehende Völker zur Erkenntnis der primitivsten Grundbegriffe des
privaten Rechts zu erziehen sind, nicht hervorgeholt werden, weil jene An¬
schauungen mit den Lebensverhältnissen und den entwickelten moralischen Eigen¬
schaften der Staatsbürger eines Kulturstaats rechnen." Dazu kommt, daß die
Eingeborenen, ihrer eigenen Strafgerichtsbarkeit überlassen, bis vor kurzem ein
System grausamer körperlicher Strafen angewendet haben und deshalb vorläufig
nur scharfe Strafen wirklich als Übel empfinden. Eine rein nach europäischem
Rechtsempfinden geübte Strafjustiz kann daher nicht als geeignetes Kampfmittel
gegen Zucht- und Gesetzlosigkeit Farbiger angesehen werden. Man darf nicht
vergessen, daß das Gefängnis dem Eingeborenen eine Reihe von Vorteilen bietet,
die er im gewöhnlichen Leben oft vermissen muß. so eine bequeme Unterkunft
und kräftige, wohlschmeckende Nahrung; und die Arbeiten, die er, übrigens
nicht im Gefängnis selbst, sondern in der freien Natur als Gefangener zu
verrichten hat, sind nicht schwerer als diejenigen, die einem freien Steuerarbeiter
obliegen. Und auf der anderen Seite hat die vom Europäer verhängte Strafe
für den Eingeborenen weder gesellschaftliche noch wirtschaftliche Nachteile zur
Folge. So wird es begreiflich, daß er deu Europäer, der sich scheut, die Ver¬
letzung des Eigentums und anderer Nechtsgüter mit der seinem Empfinden und
seiner Entwicklungsstufe angepaßten barbarischen Strenge zu ahnden, für schwächlich
und töricht hält und für wert, bestohlen zu werden.
Nach alledem muß — die Erfahrung bestätigt es — eine Eingeborenen-
strafrechtspolitik, für welche modernes europäisches Recht und nicht das Recht
der Eingeborenen mit seinen schärferen Strafen und mit seiner Gesamthaftung
der Stammes- oder Dorfgemeinschaft die Grundlage bildet, notwendig Fiasko
machen. In der Sitzung vom 26. November 1910, an welcher auch der
Gouverneur Dr. Gleim teilnahm, führte der Vorsitzende der Handelskammer im
Einverständnis mit deren Mitgliedern aus:
„Früher als wir hier noch nicht so viele beengende Verordnungen und Gesetze hatten, ging die
Praxis davon aus, in der Familie, der Dorfschaft und dein Stamm auf allen Gebieten des
Rechtes, auch des Strafrechts. Gesamtgläubiger und -Schuldner zu sehen. Den politischen
Vertreter dieser Verbände, den Häuptling, machte man bis zur Auslieferung des Haupttäters
für die Tat — und bis zur Bezahlung des Schadens für den Schaden verantwortlich. Der
Häuptling zog es vor. den Täter zu benennen, als selbst Gefangener zu sein, und die
geraubten Güter kamen Plötzlich wieder zum Vorschein. Weil diese Praxis nach unserem
heimischen Strafrecht keine gesetzliche Grundlage hat, hielt man in Berlin ihre Anwendung
für unzulässig und schüchterte die Beamten, die auf Grund der Kenntnis des Eingeborenen-
Hechts sich nach wie vor zu dem alten Verfahren bekannten, dadurch ein, daß man ihr Vor¬
gehen mit Nötigung, Freiheitsberaubung und Amtsmißbrauch auf eine Stufe stellte. Seitdem
'se von Jahr zu Jahr die Eingeborenenpolitik schwächlicher geworden, und man ging immer
weiter in dem gefährlichen Bestreben, der falsch unterrichteten öffentlichen Meinung zu Hause
Konzessionen an das Schlagwort Humanität zu machen. Hand in Hand damit ging die
Verminderung des Ansehens der Weißen Rasse und die zunehmende Gefährdung von Leben
und Eigentum der Europäer. . . , Die Angehörigen von Kameruner Urwaldstämmen sind
keine europäischen Staatsbürger. Man sollte die oberste Leitung der summarischen Gerichts¬
barkeit Männern anvertrauen, die sich durch lange und ständige Berührung mit den Ein¬
geborenen die unentbehrlichen Erkenntnisse und Erfahrungen gesammelt haben. . . . Man
fange an, den Eingeborenen als das zu behandeln, was er zurzeit ist, und nicht als das,
als was ihn juristische Fiktionen hinstellen."
Der Handelskammerbericht hebt noch ausdrücklich hervor:
„Auch der Vertreter der katholischen Mission in Kribi, der den Verhandlungen der
Kammer beiwohnte, sprach sich dahin aus, daß die Strafen an Eingeborenen auf eine Weise
vollstreckt würden, die mit dem Charakter der Strafe als eines Übels nicht zu vereinigen sei."
Die Handelskammer wendet sich weiter gegen
„die prozessuale Gleichstellung des Europäers mit dem Schwarzen vor dem Richter.
Obwohl der Eingeborene nicht beeidigt wird, schätzt der europäische Richter die Glaubhaftigkeit
seiner Aussagen nicht geringer ein als die eines beeidigten Europäers. Dieses Verfahren
trägt zur Überhebung der schwarzen Rasse viel bei. Schuld ist die oberflächliche Auslegung
des Grundsatzes von der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetze. Die Gleichbewertung
der gesetzlichen Rechte deckt sich nicht mit der Gleichbewertung der dem Richter vom Gesetz¬
geber überlassenen Hilfsmittel zur Erforschung der Wahrheit. Das Gesetz entschuldigt den
kolonialen Richter nicht, wenn er sich der Erkenntnis der besonderen physischen und moralischen
Unterschiede zwischen Angehörigen der schwarzen und denen der Weißen Rasse verschließt."
Mit Recht beansprucht auch die Handelskammer eine Benachrichtigung des
Strafantragstellers über das Ergebnis des Strafverfahrens und das Recht des
Geschädigten, gegen die Entscheidung der Lokalbehörde in Eingeborenenstrafsachen
Beschwerde an die höhere Instanz einzulegen. Mit Recht, denn der von den
lokalen Behörden hervorgehobene Mangel ausdrücklicher Vorschriften steht dem
nicht entgegen. Die entsprechende Anwendung der heimischen Bestimmungen ist
nicht begründet, weil diese Bestimmungen von der heimischen Institution einer
öffentlichen, zum Einschreiten verpflichteten Anklagebehörde ausgehen, die in der
Organisation der kolonialen Eingeborenenstrafrechtspflege nicht vorgesehen ist.
Die vorstehend mitgeteilten Klagen und Beschwerden aus der Kolonie
Kamerun erscheinen, wie angedeutet, der Beachtung, Prüfung und Berücksichtigung
wert. Mögen sie deshalb im Mutterlande nicht ungehört verhallen!
Verantwortlich: der Heraiisgeber George Cleinow in Schöneberg. — Mannskriplscndungen »ut Briefe werden
erbeten unter der Adresse:
An den Herausgeber der Grcnzbotrn in Friedenau bei Berlin, Hcdniigstr, t».
Fernsprecher der Schristleitung: Amt Pfalzbnrg 6719, des Verlags: Amt Lüyow S510.
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b. H. in Berlin SV. 11.
Druck: „Der Reichsbote" G. in. S. H. in Berlin SV. II, D-ssauer Strafe 3K/37.
n der Hochsaison der jungtürkischen Revolution, im Juli 1908,
war es — da hörte ich in Konstantinopel wie in Kleinasien in
frohen Volksversammlungen die mißtönigen Rufe: „Nieder mit
Deutschland! Es lebe England!" Deutschland, der „Freund des
alten Sultans", erschien damals der urteilslosen Masse als der
„Feind der jungen Türkei". Droben aber über Konstantinopel, im beherrschenden
Botschaftcrpalast, saß ruhig der deutsche Staatsmann Marschall von Biberstein,
lächelte still und wußte bestimmt, daß die Entwicklung der Dinge und die Logik
der Interessen auch jungtürkische Zweifler von der Tatsache werden überzeugen
müssen, daß die englische Politik sich nur scheinbar gegen die Person des Sultans
Abdul Hamid richtete und daß sie in Wirklichkeit eine Schwächung der Türkei
überhaupt zum Ziele hat.
Und abermals erlebte ich solche Szenen — drüben in Saloniki — ein Jahr
später, nach der Annexion Bosniens durch Österreich; wieder wollte das kaum
neukeimende Vertrauen zu Deutschland in Enttäuschung und Verdächtigung um¬
schlagen, gegen Deutschland, den „Freund Österreichs", dieses „Feindes der
Türkei", und wieder konnte in Konstantinopel Marschall von Biberstein die
fragende Erregung beruhigen und befriedigen.
Mit dem Barometer der unverantwortlichen Volksstimmung in Konstantinopel
ist in diesen vier Jahren seit dem Beginn der jungtürkischen Ära auch die
öffentliche Meinung in Europa parallel gegangen — gestiegen und gefallen:
bald klagten die literarischen Wortführer der englisch-französisch-russischen
Tripleentente über eine Hegemonie Deutschlands am goldenen Horn, bald
glaubten deutsche Patrioten den „Bankerott der deutschen Orientpolitik" in
Konstantinopel betrauern zu müssen.
Und zum dritten und — hoffentlich — letzten Male wiederholt sich seit
1911 das Schauspiel von 1903 und 1909 infolge des Tripoliskrieges, der
Deutschland wiederum in die gefährliche Situation zwischen dem türkischen Freund
und dem italienischen Verbündeten drängt — wie manche meinen, gar in das
Risiko dessen, der sich zwischen zwei Stühle setzt. Die Tatsache, daß Marschall
von Biberstein neben all seinen Kollegen in Konstantinopel der einzige Diplomat
gewesen ist, der allen Verwicklungen und Intrigen zum Trotz auf seinem Posten
bleiben konnte, als der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht — diese
charakteristische Tatsache hat das bisher über alle Zwischenfälle erhabene Ver¬
trauensverhältnis zwischen Deutschland und der Türkei im alten wie im neuen
Regime verkörpert und die Kontinuität der deutsch - türkischen Politik über alle
Stimmungen und Verstimmungen hinweg verbürgt. Die jetzt manche Politiker
überraschende Tatsache, daß Marschall von Biberstein Konstantinopel verläßt und
nach London geht, hat schon die Frage veranlaßt, ob dieser Wechsel auch
eine Änderung der deutschen Orientpolitik bedeuten soll, bedingt wiederum durch
einen Umschlag der türkischen Auslandspolitik. Englische Publizisten sprechen
bereits vom Programm einer deutsch-englischen Verständigung auf der Grundlage
einer „kommerziellen Teilung" der Türkei.
Nun ist gewiß, daß die Depesche, durch die der Kaiser von Korfu aus
nach des Kanzlers Ostervortrag Marschall von Biberstein nach London versetzt
hat, ihre Wurzel im Willen zur deutsch-englischen Verständigung hat, und daß
der siebzigjährige Botschafter mit der jugendlichen Frische eines suggestiven
Optimismus sich an seine Mission macht. Und ebenso ist gewiß, daß im Mittel¬
punkt der deutsch-englischen Auseinandersetzung das Orientproblem steht: bei der
Pforte in Konstantinopel liegt der Schlüssel auch zu seiner Lösung. London
aber hat nach einer Schlüsselgewalt gestrebt, die das türkisch - arabische Gebiet
zwischen Ägypten und Persien - Indien als englische Einheit schließen möchte.
Auf diese Gefahr hat vor drei Jahren jene Neujahrsansprache des Kaisers an
seine Generäle hingewiesen, als die Einkreisungstaktik weiland König Eduards
ihren Ring zu schließen drohte. Heute ist die offene Tür durch eine neue Pforte
gesichert, und so kann Marschall von Biberstein jetzt von Konstantinopel nach
London gehen, um sein Werk auf der Grundlage einer verjüngten und gestärkten
Türkei zu vollenden und zu krönen — trotz Tripolis!
Gerade der Tripoliskrieg kann als Beispiel und Beweis dienen. Man mag
nur fragen und sich vorstellen, was das Schicksal der alten Türkei in ihrer
Ohnmacht und Schwäche geworden wäre, wenn dieser lange Krieg den Sultan
Abdul Hamid, den „kranken Mann", getroffen hätte. Das Menetekel, gewogen
und zu leicht befunden zu werden, hätte das verwahrloste Reich dieses Despoten
sicherlich erreicht, und die Liquidation unter selbstsüchtig lauernde Erben wäre
schwer zu vermeiden gewesen. Heute hat die Türkei dank den deutschen Mitteln
die entscheidende Krisis bereits hinter sich und ist imstande, einen bald acht
Monate lang sich hinziehenden Krieg ohne große äußere und innere Schäden
zu überstehen und dabei noch moralische Eroberungen zu machen durch die Offen¬
barung jungtürkischer Kräfte, die in diesem Grad und in dieser Art weite Kreise
weder geahnt noch gekannt haben.
Wohl hat schon die jungtürkische Revolution für die Augenzeugen ihrer
geschichtlichen Einzigartigkeit das Bismarcksche Wort bestätigt, daß der Türke der
Gentleman des Orients ist; jetzt trägt der Tripoliswind solche Wahrheit in die
weite Welt und weht europäische Vorurteile und Falschurteile hinweg. Wo hat
sich der sprichwörtliche „Fanatismus des Mohammedaners" in blutigen Christen¬
massakers ausgetobt? Der Verfolgungswahn des Tyrannen Abdul Hamid hat
solche Methode praktiziert, aus den gleichen Motiven und mit den gleichen
Tendenzen, wie das christliche Nußland seine jüdischen Pogroms veranstaltet.
Aber jetzt predigt der türkisch-mohammedanische Geistliche in der Moschee, keinen
Racheakt an schuldlosen Italienern auszuüben, und tatsächlich ist während dieser
ganzen acht Monate noch keinerlei Exzeß vorgekommen. Türkische Besonnenheit
und Beherrschtheit vergreift sich an keinen: der 60000 Italiener in der Türkei,
und türkische Humanität und Kultur hat dieser Masse bisher Gastrecht gewährt.
Der arabisch - mohammedanische Kriegsminister erläßt einen Armeebefehl, feind¬
licher Grausamkeit gegenüber nicht gleiches mit gleichem zu vergelten, und er
gibt der tripolitanischen Truppe in zwölf Geboten noch besonders detaillierte
Befehle, die durch ihren Kulturgeist selbst den Kenner der türkischen Toleranz
überraschen. Der Major Enver Bey schreibt in einem seiner letzten Briefe,
deren Original ich kenne, daß er das den Leichen italienischer Offiziere ab¬
genommene Geld wiederholt ans italienische Kriegsministerium geschickt habe zur
Weiterbeförderung an die Familien der Gefallenen, daß er aber, da er keinerlei
Empfangsbestätigung erhalten habe, neuerdings solche erbeutete Summen direkt
an die fraglichen Familien adressiere, deren Namen er bisher durch die Papiere
der Gefallenen habe feststellen können.
Und militärisch: das türkische Jmprovisations- und Organisationstalent
erzwingt unter den widerlichsten Verhältnissen Erfolge gegenüber einer numerisch
und technisch überlegenen Armee und erinnert an den Ruhmestitel, mit dem
schon Luther den Türken charakterisiert hat, als er ihn ein Vorbild der Organi¬
sationsfähigkeit für die Deutschen nannte. Neulich hat Enver Bey in einem
Privatbrief aus der Cyrenaika eine genaue Skizze der türkisch-arabischen
Stellungen und der italienischen Verschanzungen mitgeschickt: der Eindruck ist der
einer förmlichen Belagerung der italienischen Truppen an der Küste, wo sie sich
nur unter dem Schutz der Schiffsgeschütze halten können. Nie ttnoäus, nie
salta: in Tripolis ist „Rhodus". dort ist der Tanz der kriegerischen Entscheidung
M wagen. Mag Italien die Insel Rhodus und der Reihe nach die Sporaden
besetzen — immer mit erdrückender Massenübermacht —, militärisch bedeuten
solche „Triumphe" nichts, noch weniger als der mißglückte Versuch einer Forcierung
der Dardanellen. Die Türkei ist und bleibt eine Landmacht und sie sehnt sich
danach, ihre militärischen Kräfte mit einer italienischen Armee messen zu können.
Wir können es dem Kavallerieoffizier glauben, der aus einer albanischen Gar¬
nison mir schreibt, daß seine tapferen Dragoner vor Schmerz weinen, nicht Aug
in Aug dem Feind gegenüber treten zu dürfen.
Die militärische Rüstung der neuen Türkei ist es auch, die den Balkan¬
frieden verbürgt und sichert. Auch dieser Erfolg der deutschen Ausbildung wäre
unter dem alten Sultan unmöglich gewesen, der selbst die deutschen Reformer
an einer fruchtbaren Arbeit gehindert hat. Der bulgarische Zar und der serbische
König haben sich in Konstantinopel mit eigenen Augen davon überzeugen können,
was die junge Türkei in drei Jahren vorangeschafft hat; und dem König von
Montenegro wäre eine gleiche äemon8tlÄtic> ack van>08 zu wünschen. Die
türkische Armee ist heute allen vier Balkannebenbuhlern, Bulgarien und Serbien,
Montenegro und Griechenland, zusammen quantitativ und qualitativ überlegen").
Die Türkei hat heute das durch nachbarliche Propaganda immer wieder durch¬
wühlte „Mazedonien" durch die neue Militürorganisation sich gesichert; sie hat
auch ein ethnisches und kulturelles Recht darauf. Gegenüber all den vielerlei
Märchen des antitürkischen Balkankomitees sei in diesem Zusammenhang nur an
die Feststellung erinnert, die selbst ein bulgarischer Abgeordneter, der Christ
Pantschedoreff von Monastir, im türkischen Parlament vorgetragen hat: er rechnete
sür Mazedonien 30 Prozent Bulgaren, 23 Prozent Griechen und 47 Prozent
Mohammedaner und schloß: „Mazedonien gehört also weder den Bulgaren,
noch den Griechen, sondern den Osmanen, vor allem den Türken." Auch die
„albanische Frage" wird in Europa in ihrer politischen Bedeutung überschätzt:
auch für das hinterwäldlerische Albanien mit seinem Brigantaggio ist die türkische
Politik — so wie die Dinge liegen — der Zivilisation bringende und Kultur
schaffende Faktor. Der Einwand, daß Albanien „vertürkt" würde und dies nicht
ertragen könnte, gleicht etwa dem Vorwurf, daß Deutschlands Politik im alten
Polen, in der neuen Ostmark „verpreuszend" wirke. Dieses Beispiel ist geeignet,
Licht und Schatten gerecht zu verteilen. Die türkische Hegemonie innerhalb
der Türkei läßt sich auch allen anderen Nationalitäten, sowie allen möglichen
Gruppierungen gegenüber numerisch wie dynamisch nachweisen und begründen.
Solcher militärischen und administrativen Zusammenschließung der türkischen
Gebiete dienen auch die neuen Bahnbauten, an erster Stelle in Kleinasien.
„Die Bagdadbahn ist das Rückgrat der Türkei" — so sagte mir einmal der
Kriegsminister gleichwie der Finanzminister. Die Bagdadbahn stützt gerade den
Rücken des türkischen Reiches, entlang der türkisch-arabischen Sprachscheide, und
sie wird, wenn sie in Aleppo in die Hedschasbahn übergeht, den ehedem
„kranken Mann" auch auf zwei tragfähige Beine stellen, daß er wachsen und
sich wehren kann. An fünf Stellen zugleich baut jungtürkische Energie und
Weitsicht zurzeit an der Bagdadbahn nach deutschen Plänen und mit deutschen
Ingenieuren, und in vier bis fünf Jahren sollen Konstantinopel und Bagdad
auf eine Entfernung von wenigen Tagen zusammengerückt sein. Geradeso strebt die
Hedschasbahn nach Mekka, um Konstantinopels leitenden Kopf und des Islams
heiliges Herz durch einen lebensvollen Nerv zu verbinden. Schon hat der
Tripoliskrieg zwischen Türken und Arabern eine Gesinnungs- und Kampfes-
gemeinschaft geschaffen, die jeden verblüffen kann, der den arabischen Kultur¬
hochmut gegenüber dem türkischen Eroberer kennt, und die gerade auch das
größte Hindernis für einen türkischen Verzicht auf das arabische Tripolis bilden
muß. Auch darüber hinaus hat die Kriegsgefahr langsam, aber sicher alle
Nationen um das Banner der Osmanen geschart: das gemeinsame Vaterland
siegt jetzt über den trennenden Partikularismus der Parteien und der Völker.
Das „Komitee für Einheit und Fortschritt" hat keinerlei Opposition mehr im
Parlament und macht seinem programmatischen Namen zurzeit Ehre. Diese
einigende Wirkung des Krieges flutet selbst über die türkischen Reichsgrenzen
hinaus und erfaßt mohammedanische Glaubensgenossen in Ägypten hüben wie
in Indien drüben: von da und von dort wie selbst aus dem fernen China
strömen Kriegsgelder, besonders Sammelbeiträge für den Bau einer Flotte in
Konstantinopel zusammen. Weit in die mohammedanische Welt und in ihren
ergebenen Fatalismus hinein dämmert mit wachsender Klarheit und zündet mit
anfeuernder Kraft jetzt der Gedanke, daß die Türkei noch die einzige Organisation
politischer Selbständigkeit uuter den bisherigen mohammedanischen Staaten ver¬
körpert. Einer erstarkenden Türkei wird die Anziehungskraft des größeren
Körpers so sicher zugute kommen wie das Gravitationsgesetz. Das sind aber
Tendenzen, die an die größte mohammedanische Macht der Welt stoßen und sie
stören: England.
Man mag sich die Ziffern in die Erinnerung zurückrufen: die Türkei zählt
etwa 20 Millionen Mohammedaner, England aber gegen 150 Millionen! Der
Zentripetalen Wirkung der deutschen Bahnen in der Türkei hat England die
zentrifugalen Versuche englischer Pläne gegenübergestellt — so hartnäckig wie
bisher erfolglos. Der türkisch-deutschen Bagdadbahn, die — wie gesagt —
das mesopotamische Gebiet wirtschaftlich und politisch nach Konstantinopel hin
Zentralisiert und sichert, will das Projekt einer englischen Bagdadbahn Kon¬
kurrenz machen die von Bagdad über Homs hinüber an die syrische Küste
führen sollte — in den Bereich des englischen Cypern. Billiger und rascher
als die türkisch-deutsche Peripherie wäre solch ein englisches Segment zu bauen
^ aber eben der Segmentcharakter warnt die Türkei: solch ein türkischer Kreis¬
ausschnitt zwischen englischen Grenzpunkten würde einmal auch einen politischen
Ausschnitt vorbereiten oder bedeuten können. Das Gleiche gilt für das eng-
Usche Projekt einer anderen Bahn, die ebenso die türkisch-arabische Einheit
durchkreuzen würde: von Suez nach Basra hinüber und durch Persien und
Belutschistan hindurch nach Indien hinein. Darum hat die Bagdadbahngesell¬
schaft auch gut daran getan, die einst englische Stichbahn Mersina-Adana —
wieder von Cyperns Nachbarschaft aus und wieder mit centrifugaler, segment-
artiger Tendenz — durch ein Finanzmanöver in ihren Besitz zu bekommen.
Nun ist die Bagdadbahn nicht mehr aufzuhalten, aber im Endpunkt kann sie
noch gesperrt werden: in Kuweit. Früher bis Bagdad, jetzt gar bis Basra
will England eine internationale Bagdadbahn laufen lassen, aber die letzten
hundert Kilometer Basra-Bagdad sollen englisch werden: so will es die eng¬
lische Türkensreundschaft. Es ist Sache der Türkei, ob sie auf ihr Recht und
auf ihre Staatshoheit in Kuweit am Persischen Golf verzichten will — unter
dem Druck von England, das in der Bagdadbahn am Persischen Golf die Mög¬
lichkeit einer Gefährdung seiner Position in Persien und Indien befürchtet und
das deshalb einer solchen Angriffswaffe für den Fall, daß sie die Türkei
oder eine mit der Türkei verbündete Macht aggresiv verwenden möchte, in
Kuweit einen Gewehrverschluß vorsetzen will. Man kennt das Wort eines
Orientpolitikers: hundert Kilometer Bagdadbahn können den Wert von zwei
deutschen Dreadnoughts haben! *) Für die innerpolitische Bedeutung der Bagdad¬
bahn genügt es der Türkei, wenn sie in Bagdad oder Basra steht.
So wie England die nächste Nähe der Bagdadbahn an der persisch-indischen
Grenze neutralisieren will, so hat es auch — auf der anderen Seite — bisher
eine Annäherung der Hedschasbahn an das ägyptische Gebiet gehindert:
die von der Türkei beabsichtigte Abzweigung der Hedschasbahn von Maar an
die ägyptische („englische") Sinaihalbinsel hinüber nach Akaba, eine Linie, die
England als strategische und kommerzielle Konkurrenz gegen den Suezkanal
empfunden und unter Abdul Hamid noch verboten hat. So richtig dieses Sultans
Ziele waren, so groß war im Grunde seine eigene Angst vor allen Reformen
und so schwach war sein Wille, sie durchzusetzen. Die jungtürkische Tatkraft hat
heute in den wenigen Jahren schon mehr geleistet und erreicht, als der alte
Sultan in langem Abwarten und nutzlosen Diplomatisieren. Die Türkei baut
sich aus und richtet sich ein, und England wird das auch in Ägypten spüren.
Durch Ägypten geht aber der Zentralnerv der englischen Weltherrschaft: Napoleon
schon hat England in Ägypten treffen wollen, um so auch das indische Regiment
Englands zu erschüttern. Lord Kitchener ist nach Ägypten gegangen und ver¬
mehrt und verstärkt die Garnisonen — und reicht der Türkei die „freund¬
nachbarliche" Hand. Da die linke Hand aber nicht wissen soll, was die rechte
tut, so gibt die eine Hand — die Zulassung des türkischen Waffentransportes
über die ägyptische Grenze nach Tripolis, und so nimmt die andere Hand —
das Vorrecht auf Kuweit drüben. Genau so wie das gleiche England die
Türkei in San Stefano geschützt und durch Cypern geschädigt hat — zur gleichen
Zeit und mit der gleichen Handlung. England tut türkenfreundlich, wenn die
Türkei von England abhängig sein will und wenn England in Konstantinopel
regieren kann. Andernfalls strebte es nach dem mohammedanischen Prestige in
Mekka und rührte die Kalifatsaspiration in Arabien an. Die Geschichtserfahrung
Wie die Jnteressenlogik muß die Türkei davon überzeugen, daß ein Bund mit
England eine echte 8vLieta8 leonina bedeutet, in welcher England wirklich einen
Löwenanteil verschlingen würde.
So wie der englische Löwe südlich und westlich der Türkei lauert, so drückt
der russische Bär nördlich und östlich von altersher. Zwar, das Testament
Peters des Großen, das den Halbmond auf der Hagia Sofia durch das Kreuz
hat ersetzen wollen, ruht still als verstaubtes Aktenstück und hofft wohl selbst
kaum auf eine Erfüllung. Aber seine traditionelle „Erbfeindschaft" hat da?
nachbarliche Nußland doch auch dem Sultan Abdul Hamid gegenüber bewiesen
und betätigt. Nußland hat die Intrigen- und Jnterventionspolitik Englands
gegen die Bagdadbahn mitgemacht — bis Potsdam; darüber später. Und
Rußland hat die Ausdehnung der Anatolischen Bahn über Angora nach Erzerum
an die russische Grenze heran und nach Samsun an das Schwarze Meer hin
dem allen Regime versagt durch einen Vertrag, dem sich die junge Türkei jetzt
dadurch entzieht, daß sie diese strategisch wichtigen Bahnen keinem fremden
Konzessionär übergibt, sondern in eigner Regie ausführt. Doch Rußland will
jetzt die Übergangszeit der Türkei und ihre Bindung durch den Krieg diplomatisch
ausbeuten, um an der türkischen Ostgrenze zwischen dem Schwarzen Meer und
dem Kaspischen Meer seine Position zu sichern und zu stärken, um die Türkei vom
Urmiasee wegzudrängen und um selbst mit breiterer Front nach Persien vor¬
zudringen — eine Taktik, die gleichfalls die militärischen und organisatorischen
Unterlassungssünden der Hamidschen Ära jetzt noch Rußland erleichtern. Immerhin
weiß man an zuständiger Stelle, daß auch die russische Rüstung zurzeit für
einen Krieg nicht ausreicht: weder sind seit dem russisch-japanischen Kriege die
notwendigen Bestände zu Lande ergänzt worden, noch besitzen die alten Kähne
der Schwarzen-Meer-Flotte einen besonders gefährlichen Gefechtswert. Darum
fehlt auch den bulgarischen, serbischen und montenegrinischen Vorposten Rußlands
auf dem Balkan jede ernsthaft aggressive Aktivität. Die russische Dardanellen¬
forderung wird aus den gleichen Erwägungen als diplomatische Bluffpolitik
gewertet. Das russische Verlangen nach einer Öffnung der Dardanellen ist aber
auch geeignet, die Divergenz der russischen und der englischen Interessen —
trotz aller Entente — anzudeuten: so wenig England durch eine russische Flotte
im Mittelmeer seine Seeherrschaft schwächen lassen will, so viel liegt Rußland
daran, aus dem Käfig des Schwarzen Meeres herauszukommen. Wohl null
eine „Demarkationslinie" auch im Osten, in Persien, dem russischen Bären und
dem englischen Löwen vorher vereinbarte Bissen zuweisen; aber England lugt
doch argwöhnisch hinüber und beobachtet ängstlich, wie Rußland zum Wasser
des Persischen Golfes hinabschleicht — auf der persisch-russischen AnschlußKme
der deutsch-türkischen Bagdadbahn: Teheran—Hannekin—Bagdad—Basra —
durch ein Tor, das Deutschland im Potsdamer Vertrag Nußland geöffnet hat.
Auch die russisch-französische Sentnnents-Entente wird im Orient durch die wider¬
streitenden Linien verschiedener realer Interessen gestört: Jswolski in Paris
treibt beunruhigende Bluffpolitik und Louis in Petersburg braucht eine stetige
Beschwichtigung. Oder: Nußland beklagt sich darüber, daß Frankreich die Türkei
durch Anleihen unterstützt, die zu Rüstungen auch gegen Rußland verwendet
werden sollen.
Frankreich aber hat das größte Kapital in der Türkei investiert und es
braucht für sein Milliardenguthaben eine prosperierende Türkei. Frankreich ist
ja das Land des „Orientprotektorats", seit Napoleon durch sein großzügiges
und weitblickendes Schulgründungssnstem mit Hilfe der geistlichen Kongregationen
den großen kulturpolitischen Einfluß Frankreichs in der Türkei geschaffen hat,
der auch wachsende wirtschaftliche Vorteile Frankreich vermittelt und sichert.
Der Revanchetraum und der Ententeköder haben Frankreich in das Schlepptau
der englischen Politik gelockt, so daß die französische Regierung die Einladung
zur Kapitalbeteiligung an der Bagdadbahn abgelehnt hat. Aber die Vernunft
der Interessen hat doch dazu geführt, daß das französische Privatkapital mit
30 Prozent an der Bagdadbahn partizipiert, mit der schweizerischen Beteiligung
zusammen sogar zu 60 Prozent. Die französischen und türkischen und deutschen
Interessen zeigen das gleiche Ziel einer Konsolidierung der Türkei: der gallische
Hahn ist mit dem preußischen Adler auch im Orient natürlicher und näher
verwandt als mit dem englischen Löwen.
Die Napoleonische Ära, die für Frankreich den Boden im Orient besonders
bereitet hat, ist auch das Geburtsdatum für die Entwicklung der deutsch¬
türkischen Politik. Unter dem Eindruck von sedem hat es der türkische Staats¬
mann Ali Pascha bereits ausgesprochen, daß nun Preußen-Deutschland in
Österreich einen Verbündeten gewinnen wird und daß sich dadurch für die Türkei
ein deutsch-österreichischer Schutz ergeben wird. Deutschlands Verhältnis zur
Türkei zeichnet sich durch eine Besonderheit aus, die keiner anderen Beziehung
eignet. Deutschland ist die einzige orientpolitische Macht, die keine Grenz¬
gemeinschaft mit der Türkei hat und darum auch keine Reibungsschwierigkeit;
ja auch die einzige Macht, die keine mohammedanischen Massen beherrscht.
(Unsere Kolonialinsassen sind nach Zahl und Art nicht ausschlaggebend.) Die
englische Ziffer ist schon genannt worden: gegen 150 Millionen Mohammedaner.
Rußland hat in Europa und in Asien etwa 18 Millionen Mohammedaner.
Frankreich unterwirft in Nord- und Mittelafrika Mohammedaner, auch in
Marokko, und Italien tat sich mohammedanische Lasten in Tripolis auf.
Deutschland bleibt die einzige Macht, die keine mohammedanischen Völker und
Länder vergewaltigt und zwingt. In dieser negativen Formulierung bleibt
das Wort des deutschen Kaisers, das er an Sultan Saladins Grab gesprochen
hat („Ich will der Freund der dreihundert Millionen Mohammedaner sein"),
bestehen — trotz Marokko und trotz Tripolis. Diese Tatsache hat selbst der
jungtürkische Saloniker Kongreß konstatieren müssen, wiederum trotz Tripolis.
Darum kann auch der Gedanke bestehen bleiben, den selbst der englische Kolonial¬
politiker Sir Johnston geschaut hat: „Wäre ich ein Deutscher, so würde ich
in meinen Zukunftsträumen ein großes österreichisch-deutsches Reich sehen, mit
vielleicht zwei Haupttemporien. das eine Hamburg, das andere Konstantinopel,
mit Hufen an der Ost- und Nordsee, an? Adriatischen, Ägäischen und am
Schwarzen Meere, ein Reich, oder vielmehr einen Staatenbund, der seinen
Einfluß durch Kleinasien und Mesopotamien geltend machen sollte. Dieses
ununterbrochene Imperium, das von der Mündung der Elbe bis an die des
Euphrats reichen würde, wäre doch gewiß ein so stolzes Ziel, wie es eine große
Nation nur träumen und anstreben kann." Der Engländer erstrebt eine
Territorial- und Kolonialeinheit, wo Deutschland nur Interessengemeinschaft
will, unter Wahrung und Stärkung der türkischen Selbständigkeit.
Eine österreichisch-deutsche Einheitspolitik ist Voraussetzung und Not¬
wendigkeit. Durch Österreich wird auch Deutschland Nachbar der Türkei und
mit Deutschland garantiert auch Österreich die Selbständigkeit der Türkei. Darf
ich an das Wort Moltkes erinnern, das er gegenüber England, Rußland und
Frankreich geprägt hat: „Österreichs Schwert ist es, welches einst in die Wage
der Entscheidung geworfen werden wird. Alle Flotten der Welt können weder
die Teilung der Türkei vollziehen, noch sie verhindern; Österreichs Heere können
das eine vielleicht, das andere gewiß!" Die Türkei verspürt mehr und mehr
die Wahrheit und Sicherheit der österreichischen Entscheidung allen Balkan¬
rivalen und allen Feindschaften gegenüber. Zwar spukt in manchen Köpfen
türkischer Staatsmänner noch ein starkes Mißtrauen gegen Österreich und gegen
seine angeblichen Absichten zum Vormarsch nach Saloniki, und die Ährenthalsche
Taktik (mit Bosnien und auch in Albanien) hat nicht gerade großes Vertrauen
erweckt. Aber schon das Programm des Grafen Berchtold hat wieder beruhigend
gewirkt, und ebenso die Berliner Besprechung zwischen Berchtold und Kiderlen-
Wächter. Die österreichische Politik bleibt in Gemeinschaft mit Deutschland
ehrlich konservativ für die Türkei. Österreich kann es seit dem Tripoliskriege
uoch aufrichtiger mit der Türkei meinen: seitdem der italienische Balkan-
konkurrent in der europäischen Türkei ausgeschaltet und für Generationen in
Tripolis festgelegt ist. Österreich selbst hat von einer wirtschaftlich erstarkenden
Türkei als Nachbarstaat größere Vorteile als durch die Vergewaltigung schwie¬
riger, nach Nasse und Religion gemischter Volksschichten, deren Einverleibung
die ohnehin nicht geringen Verdauungsstörungen der k. k. Monarchie noch
erhöhen würde. Darum hält Österreich, wie die Türkei im Innern von
Mazedonien, von außen her die Ruhe fest und verjagt zu Beginn des
Tripoliskrieges selbst den italienischen Herzog der Abruzzen von der
albanischen Küste.
Damit verschwindet auch — wie gesagt — aus dem österreichisch, italie¬
nischen Bundesverhältnis und weiterhin aus dem Dreibunde auf lange hinaus
die irritierende Rivalität zwischen Österreich und Italien in der Balkanpolitik.
Tripolis entlastet den Balkan für Österreich und für die Türkei, wie für Italien.
Nun ist kein Wort der Kritik zu scharf, das sich gegen Italiens Draufgängertum
in Tripolis richtet: gegen das angebliche Ultimatum, gegen die Art der Kriegs¬
erklärung, gegen die Form des Annexionsdekretes. Aber ebenso ist gewiß, daß
Italiens Imperialismus politischen und demographischen Gründen entspringt,
die eine Existenzberechtigung") beibringen können. Historisch betrachtet, ist
Italien zum Dreibunde gekommen, um sich gegen Frankreichs tunesischen Streich
zu schützen und um unter Deutschlands und Österreichs Schutz als Mittel¬
meermacht zu wachsen. Diplomatisch gesehen, hat Italien sich in seine „Extra¬
tour" mit England eingelassen, um als Morgengabe Tripolis zu erhalten. Und
England hat mit seinem Freibrief den Versuch wiederholt, der ihm in Bosnien
mißlungen ist: die deutsch-österreichisch-italienische Allianz oder die deutsch¬
türkische Entente durch den Tripoliskonflikt zu sprengen.
So erhob sich die Frage: gerät Italien jetzt in die Abhängigkeit von Eng¬
land und Frankreich, also in eine uns gegnerische Mittelmeerkombination? Man
weiß heute, daß diejenigen Recht behielten, die von Anfang an rechneten: Italien
wird in Tripolis Grenznachbar von Frankreich und von England und gerät in
Reibung mit seinen neuen Grenznachbarn. Die Zwischenfälle im französischen
Tunesien (mit seinen dreimal soviel Italienern als Franzosen) und der
Manubakonflikt haben die neue Situation so grell und so deutlich beleuchtet wie
die englische Besetzung des bisher tripolitanischen solum oder die jetzige Malta¬
konferenz Lord Kitcheners mit dem englischen Marineminister. Eine künftige
italienisch-österreichische Flottenkorporation im Mittelmeer schwächt die Triple-
entente und stärkt den Dreibund und — zieht die türkische Entwicklung in
ihren Interessenkreis.
Zu Land liegt die türkische Sicherheit auf der Linie der deutsch-österreichisch¬
türkischen Interessengemeinschaft; zur See wird der Kampf ums Mittelmeer auch
die Türkei einmal wählen lassen müssen zwischen Abhängigkeit von England
und Frankreich, oder Gleichberechtigung neben und mit Osterreich und Italien.
Die Antithese des Krieges wird — wie Nußland und Japan nach einem weit
mörderischeren und verlustreicheren Ringen — auch Italien und Türkei zur Synthese
einer Verständigung und Versöhnung führen müssen, im gemeinsamen Interesse
beider Völker, die eine Reihe gleicher Aufgaben zu lösen haben.
Der Tripoliskrieg ist schon als Produkt des deutsch-englischen Gegensatzes
bezeichnet worden, der in der Orientpolitik schon so oft kulturhemmend gewirkt
hat und der auch das türkische Pendel bisher nicht in das Gleichgewicht ziel¬
sicherer Ruhe hat kommen lassen. Vor wenigen Jahren noch galt es in
Konstantinopel als politische Weisheit, balanzieren zu wollen: ein jungtürkischer
Senatsdirektor suchte mir das einmal einzureden. Dann kam die türkische
Studienreise durch Deutschland, mit dem Ergebnis, daß ein vorher frankophiler
Jungtürke das stolze Urteil veröffentlichte: „Wenn heute die ganze europäische
Kultur durch irgendeine Katastrophe vernichtet würde und die deutsche Eigenart
allein bliebe übrig, so würde die deutsche Kraft genügen, die ganze übrige
Kultur Europas aus sich heraus wieder zu schaffen." Und schließlich umwölkte
der Hagelschauer des Tripoliskrieges die deutsch-türkische Freundschaft, und die
Andeutung des Großwesirs Said Pascha, die Türkei müsse und wolle Anschluß
und Allianz suchen, galt vielen als ein Fingerzeig nach England hin.
Heute ist das Bild gleich geblieben: noch keinerlei Bündnis. Der Krieg
hat bisher nur die vitale Interessiertheit aller Mächte an irgend einem Punkt
der Türkei geoffenbart und damit auch die Druckmöglichkeit aller Mächte auf
die Türkei. In der Kretafrage braucht die Türkei die Tripleentente und auf
dem Balkan die Dreibundspolitik. Eine generelle Entscheidung der Türkei für
die eine oder andre Gruppe würde die Gegenseite zur Gegnerschaft veranlassen
können, die wiederum Gefahren bringen könnte. Nur die deutschen und die
türkischen Tendenzen sind gleichmäßig und einheitlich und werden darum auch
ohne formelle Bindung im Ernstfall in der gleichen Richtung funktionieren. Doch
schon diese Eventualität belastet und erschwert die juugtürkische Renaissance.
Von einer vertrauensvollen Verständigung zwischen Deutschland und England
würde darum auch die Türkei nur gewinnen können.
Der größte Nationalökonom des vorigen Jahrhunderts, der „Bismarck des
Wirtschaftslebens". Friedrich List hat mit einer geradezu genialen Prophetie die
Revolutionierung der Türkei in ihrer Technik und Tendenz schon geschaut und
gezeichnet, genau wie wir selbst sie erlebt haben, samt dem türkischen Bagdad¬
bahnproblem und samt der deutschen Militärinstruktion, und ebenso auch die
englische Oricntpolitik mit ihren ägyptisch-arabisch-persisch-indischen Zusammen¬
hängen; er hat auch die deutsche Entwicklung gewollt und geahnt und die
englische Eifersüchtelei bereits gesehen, und er hat gegen solche Kleinlichkeit den
Kulturgedanken geschleudert:
„Wenn irgend etwas beweist, daß die höhere Politik noch in den Windeln
liegt, nämlich jene edlere Wissenschaft, jenes vernünftige Streben, daß — die
Interessen der gesamten kultivierten Menschheit gegenüber der Barbarei als
eines betrachtend — die Ausgleichung der Separatnationalinteressen und ihre
Vereinigung sich zum Ziele steckt, und welches zur herrschenden Politik, die nur
darauf auszugehen scheint, sich wechselseitig in den Fortschritten gegen die
Barbarei den Weg zu versperren, ungefähr in demselben Verhältnis steht, wie
die kurzsichtigste Munizipalpolitik zu der erleuchtetesten Staatspolitik; wenn, sagen
wir, etwas beweist, daß das, was man jetzt europäische Politik nennt, den
Bedürfnissen der europäischen Staaten und dem Kulturzustand der europäischen
Völker nicht entspreche, so sind es die Bewegungen der europäischen Diplomatie
im Orient, die wohl mit viel leichterer Mühe, als die Aufrechterhaltung der
Barbarei kostet, das westliche Asien der Kultur gewinnen könnte."
List hat damals (in den vierziger Jahren) gemahnt: „Die Engländer selbst
würden im Laufe der Zeit zur Einsicht gelangen, daß diese Weise unendlich
besser geeignet ist, ihre Handels- und Jndustrieinteressen zu befördern als ihr
Partikularismus." Und er hat geschlossen: „Eine künftige Allianz wird mit
England nicht ein Deutschland verbinden, wie es gegenwärtig (1846) ist, sondern
Deutschland, wie es sein sollte und wie es mit Hilfe Englands werden könnte."
Marschall von Biberstein geht von Konstanttnopel nach London. Wenn
nicht alle Zeichen trügen, beginnt wieder eine Listsche Prophetie sich zu erfüllen.
>er ganze Streit innerhalb der Zentrumspartei beruht im letzten
Grunde auf der zueinander in Gegensatz gebrachten mehr oder
minder einseitig schroff hervorgehobenen Betonung der Begriffe
„politisch" und „konfessionell" (katholisch).
Das Zentrum will nach seinem Programm und den partei¬
amtlichen Kundgebungen eine politische, nichtkonfessionelle Partei sein, die auf dem
Boden der Verfassung steht. Daran ändert nichts, daß die Verhältnisse, unter denen
seine Gründung sich vollzog, und die weitere Entwicklung es tatsächlich zur politischen
Organisation der deutschen Katholiken gemacht haben, der sich nur wenige Nicht-
katholiken angeschlossen haben. So hat das katholisch-religiöse Moment von
Anfang an im Parteileben eine starke Betonung erfahren, was vielfach in anderen
Parteikreisen zu der Auffassung führte, daß die Zentrumspartei eine vom
Papste abhängige, sogenannte „ultramontane" Partei sei. Es ist nicht die
Aufgabe der nachfolgenden Zeilen, gegen dies Vorurteil anzukämpfen, vielmehr
soll dargelegt werden, wie man auf der einen Seite im Zentrum sich bemühte,
den politischen, nichtkonfessionellen Charakter der Partei immer schärfer heraus¬
zuarbeiten, wie aber die Art und Weise, in der das mitunter geschah, in manchen
katholischen Kreisen Bedenken auflöste, die dann zu einer stärkeren, selbst über¬
mäßigen Betonung des katholisch-religiösen Moments im Parteileben führten.
Einen praktischen Ausdruck fand die stärkere Betonung des politischen
Moments in der Stellung zu den sogenannten interkonfessionellen Organisationen,
speziell zu den christlichen Gewerkschaften, sowie in der Umwandlung konfessioneller
Organisationen in nichtkonfessionelle, wie der Windthorstbunde; ferner in dem
Bestreben, die im Verbände katholischer Kaufleute organisierte Gehilfenschaft dem
gewerkschaftlich organisierten interkonfessionellen Verbände deutscher Handlungs¬
gehilfen zuzuführen, und in so manchem anderen. Das Schlagwort für alle
diese auf eine engere Arbeitsgemeinschaft der Katholiken mit den Nichtkatholiken
gerichteten Bestrebungen prägte Julius Bachem mit der Überschrift seines
bekannten Artikels in den Historisch-politischen Blättern (Heft 5, 1906): „Wir
müssen aus dem Turm heraus".
Die erste praktische Arbeitsgemeinschaft für Katholiken und Nichtkatholiken
in größerem Maßstabe bildeten die christlichen Gewerkschaften. Ihre Gründung
ging von katholischer Seite aus; schon dieser Umstand genügte, sie bei der
nichtkatholischen Arbeiterschaft verdächtig zu machen, und es dauerte manches
Jahr, bis dort das Mißtrauen gegen sie zu schwinden begann. Erst in den
letzten Jahren sind ihnen in einzelnen Revieren auch Nichtkatholiken in größerer
Zahl beigeireten. Dabei haben gerade die christlichen Gewerkschaften von Anfang
an alles getan, um ihren Charakter als neutrale Organisation zu wahren. In
diesem ängstlichen Bestreben, den Nichtkatholiken und den Nichtzentrumsanhängeru
keinen Anlaß zum Anstoß zu geben, sind einzelne Führer der christlichen Gewerk¬
schaften mitunter sogar so weit gegangen, daß sie auf katholischer Seite und in
Zentrumskreisen Anlaß zu Tadel geboten haben. Um von manchem anderen
M schweigen, genügt es hier wohl, an die Vorgänge auf dem Züricher Kongreß
zu erinnern.
Die Gründung der christlichen Gewerkschaften sollte, wie betont, vor allem
der Arbeitsgemeinschaft zwischen Katholiken und Nichtkatholiken auf sozialem
Gebiete dienen und mit dazu beitragen, die in nichtkatholischen Kreisen gegen
die Katholiken gehegten Vorurteile zu verscheuchen. Sie sollte mit ihrer Aus-
scheidung des spezifisch konfessionellen Moments in nichtkatholischen Kreisen werbend
für die sozialen katholischen Anschauungen wirken und gleichzeitig das gemeinsame
christliche Bewußtsein stärken. Das tat sie auch, aber zugleich wirkte sie zer¬
splitternd in den eigenen katholischen Kreisen. Nach dem Fuldaer Pastorale
vom 22. August 1900, dem Begleitschreiben des Erzbischofs Dr. Nörder von
Freiburg vom 1. Oktober 1900, der Kölner Resolution des Ausschusses des
Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften (8. November 1900) und dem
dritten Kongreß der christlichen Gewerkschaften zu Krefeld (1901), auf dem
deren prinzipielle Stellung festgelegt wurde, trat die sogenannte Berliner Arbeiter-
bewegung ins Leben, die im Gegensatz zu den christlichen Gewerkschaften eine
Organisation der katholischen Arbeiterschaft — auch in gewerkschaftlicher Hinsicht —
auf rein katholisch-konfessioneller Grundlage (in sogenannten Fachabteilungen)
verlangt.
Diese doppelte Organisierung der Arbeiterschaft in christlichen Gewerk¬
schaften und in katholischen Fachabteilungen führte naturnotwendig nicht nur
M einem schon durch die gegenseitige Konkurrenz gegebenen Kampf der beiden
Organisationen, ihrer Führer und Organe gegeneinander, sondern sie gab auch
den ersten Anlaß zur gegenseitigen Befehdung von Zentrumsangehörigen und
Zentrumsblättern. Dieser Streit zeitigte weiter, etwas im katholischen Deutschland
bis dahin ganz Unerhörtes, scharfe Angriffe katholischer Blätter gegen katholische
Geistliche, ja selbst gegen Bischöfe, das unwürdige Ausspielen einzelner Bischöfe
gegeneinander, und so manche andere häßliche Nebenerscheinung. Der in Wort
und Schrift, in der Tagespresse und in besonderen Broschüren geführte Kampf
der Katholiken und Zentrumsanhänger untereinander nahm dabei vielfach überaus
heftige Formen an. Und die Länge des Streites machte ihn nicht gelinder; sie
führte nur zu einer schärferen Betonung der einander gegenüberstehenden
Prinzipien. Im letzten Jahre sind die Auseinandersetzungen im allgemeinen
ruhiger geworden, ohne daß aber eine Annäherung der prinzipiellen Standpunkte
stattgefunden hätte. Der preußische Episkopat hat dazu durch seine Beschlüsse
auf der Bischofskonferenz in Fulda am 14. Dezember 1910, die in der Rhein.-
Westfülischen Zeitung veröffentlicht wurden (Ur. 448 vom 14. April 1912),
eine bemerkenswerte, der Versöhnung dienende Stellung genommen.
Der Streit um die gewerkschaftliche Organisation hat zuerst die Einigkeit
innerhalb der deutschen Katholiken nachhaltig gestört. Sein Werk ist es auch,
daß man sich daran gewöhnt hat, von „Richtungen" zu sprechen und den Kampf
dieser Richtungen gegeneinander als etwas Gegebenes hinzunehmen. Die Zentrums¬
partei hat es offiziell vermieden, in dem Streite Stellung zu nehmen. In der
Fraktion und den Parteiorganisationen sitzen Vertreter beider Richtungen neben¬
einander. Vom Parteistandpunkte aus ist es niemandem verwehrt, sich zu der
einen oder anderen Richtung zu bekennen, wie es auch jedem Katholiken nach
den autoritativen Äußerungen der kompetenten kirchlichen Behörden freisteht, der
einen oder anderen Organisation beizutreten.
Dementsprechend nehmen auch einzelne größere Zentrumsorgane den beiden
gewerkschaftlichen Richtungen gegenüber eine durchaus neutrale Haltung ein, so
die Germania, Schles. Volksztg., Saarbr. Volksztg.; andere stehen ausgesprochen
auf feiten der christlichen Gewerkschaften, so vor allem die Köln. Volksztg. und
die Blätter des Ruhrreviers; wieder andere bekennen sich als Anhänger des
Berliner Verbandes, so die Neunkirchener Ztg. und die Oberschles. Volksstimme.
Der Streit in der Gewerkschaftsfrage, bei der die eine Richtung das kon¬
fessionelle Moment ausgeschaltet, die andere berücksichtigt wissen wollte, führte
von selbst dazu, daß überhaupt die Frage der Religion und Konfession, ihr
Zusammenhang mit allen Fragen des öffentlichen Lebens mehr in die Erörterung
gezogen wurde. Auch hier gingen die Meinungen auseinander, je nachdem die
einen der Religion einen größeren, die anderen einen geringeren Einfluß auf
das öffentliche Leben eingeräumt wissen wollten. Das geschah, ganz abgesehen
von der Stellungnahme der einzelnen, im Gewerkschaftsstreit. Im Gegenteil,
gerade diejenigen, die sich sür eine innigere Verbindung von Politik und Religion
aussprachen, standen vielfach der Berliner Arbeiterbewegung ablehnend gegen¬
über, trotzdem ihre Bestrebungen gerade auf Berliner Seite lebhafte Förderung
fanden. Man hatte es hier also mit ganz verschiedenen Strömungen zu tun,
die sich teils berührten, teils ihre eigenen Wege gingen.
Dagegen machte sich der Gewerkschaftsstreit auch bei diesen Erörterungen
insofern unangenehm bemerkbar, als er in großen Kreisen eine mehr oder minder
große gegenseitige Gereiztheit und vor allem gegenseitiges Mißtrauen geschaffen
hatte. Die Folge davon war. daß bei der Erörterung solcher Fragen, die mit
der Gewerkschaftsbewegung an und für sich nichts zu tun hatten, gefürchtet
wurde, die Stellungnahme in ersteren könne doch auf die Beurteilung der
Gewerkschaftsfrage von Einfluß sein. Ja auf feiten der Anhänger der christ¬
lichen Gewerkschaftsbewegung innerhalb des Zentrums wurde vielfach die Be¬
fürchtung gehegt, die Kreise, die für eine stärkere Betonung des religiösen
Moments in der Öffentlichkeit eintraten, wollten auch die christlichen Gewerk¬
schaften bekämpfen und überdies gar noch das Zentrum zu einer konfessionellen
Partei umgestalten. Umgekehrt machte sich auf der anderen Seite der Argwohn
geltend, den Verteidigern der christlichen Gewerkschaftsidee sei es nicht nur um
die Verteidigung dieser, oder um die infolge der Angriffe aus anderen Partei¬
lagern notwendige Verteidigung des allerseits anerkannten politischen, nicht
konfessionellen Charakters der Zentrumspartei zu tun, sondern ihr Streben gehe
auf eine Zurückdrängung des religiösen Momentes im öffentlichen Leben über¬
haupt. Dazu trat die Furcht, es könne durch das gehäufte, ohne anscheinend
hinreichenden Anlaß immer wiederholte Betonen des nicht konfessionellen Charakters
der Zentrumspartei das Bewußtsein der katholischen Zentrumswählerschaft Schaden
leiden, daß das Zentrum als die politische Organisation der deutschen Katholiken
vor allem seine Wurzeln im katholischen Volke habe, und daß es daher auch
berufen sei. der katholischen Weltanschauung bei der Behandlung der einschlägigen
Fragen, soweit Verfassung und Parteiprogramm dies zulassen, den gebührenden
Einfluß einzuräumen.
So geschah es. daß oft an und für sich harmlose und belanglose Äuße¬
rungen durch die Deutungen der anderen Seite eine ganz verfängliche Aus¬
legung erhielten, was dann wieder neuen Anlaß zu oft scharfen Polemiken gab.
Dazu kam der Umstand, daß der katholische Volksverein, also eine ausgesprochene
konfessionelle Organisation, sich von Anfang an ausschließlich für die inter¬
konfessionelle christliche Gewerkschaftsbewegung betätigte. Das machte ihn in
manchen auf feiten der Berliner Arbeiterbewegung stehenden katholischen Kreisen
unbeliebt, und statt Förderung fand er dort eine sehr kühle Aufnahme, so daß
als weitere Folge des Gewerkschaftsstreitcs die Tatsache zu verzeichnen war, daß
ein von Windthorst ins Leben gerufener, für das ganze katholische Volk bestimmter
Verein gerade in jenen katholischen Kreisen auf Widerstand stieß, die nirgendwo
das katholische Moment ausgeschaltet wissen wollen.
Unter allen Zentrumsblättern war keines, das sich so entschieden und nach¬
drücklich der christlichen Gewerkschaften annahm, und weiter so andauernd und
energisch, in so konsequenter Weise für den politischen, nicht konfessionellen
Charakter der Zentrumspartei eintrat, wie die Kölnische Volkszeitung, meist in
geschickter Weise, mitunter aber auch weniger glücklich und hier und da direkt
verletzend, rücksichtslos selbst dort, wo Kleid und Würde des Gegners eine
andere Sprache erfordert hätten. Das erregte vielfach in katholischen Kreisen
Anstoß, speziell auch gerade dort, wo man in der Sache mit dem Blatte
völlig einer Meinung war. Es kam hinzu, daß viele mit der Haltung
des Blattes in einigen den Katholizismus direkt berührenden Fragen, so bei
dem Streit um Schelk, bei der Bewegung gegen den Index, der Gründung der
Münsterschen Kulturgesellschaft usw. nicht zufrieden waren. Weiter wurde es
unangenehm empfunden, daß bei der scharfen Sprache, die die Kölnische Volks¬
zeitung gegen jeden Verstoß auf katholischer Seite gegen den politischen Charakter
der Zentrumspartei und gegen Angriffe auf die interkonfessionelle Gewerkschafts¬
bewegung fand, Verstöße nach der konfessionellen Seite hin, vor allem, wenn
dieselben von christlichen Gewerkschaftlern in führender Stellung ausgingen,
vielfach so überaus zurückhaltend behandelt wurden. Ob zu dieser Haltung
berechtigte Gründe vorlagen oder nicht, kann hier außer Betracht bleiben. Es
kommt in diesem Zusammenhang lediglich auf die Feststellung der Tatsache
selbst an. So kam es, daß die Kölnische Volkszeitung bei manchen allmählich
in den, wenn auch unberechtigten, aber nicht ganz unverschuldbaren Verdacht
kommen konnte, als sei es ihr mit der Vertretung der katholischen Prinzipien
keine rechte Herzenssache mehr. Einzelne gingen soweit, in der Haltung der
Kölnischen Volkszeitung eine direkte Gefährdung des katholischen Glaubens zu
sehen und gaben dieser Ansicht auch offen Ausdruck. Es genügt in der Beziehung
an die bekannte Broschüre „Köln, eine innere Gefahr für den Katholizismus"
zu erinnern, die übrigens in der Zentrumspresse allgemeine Ablehnung fand.
Allmählich begann man von einer „Kölner Richtung" zu sprechen und
stellte in Gegensatz dazu die sogenannte „Berliner Richtung". Beide Begriffe
leiden daran, daß ihnen eine feste Umgrenzung fehlt, sie also bald in diesem,
bald in jenem, bald in engerem, bald in weiterem Sinne gebraucht werden.
Diese Unklarheit war natürlich auch nicht dazu angetan, die Auseinandersetzungen
versöhnlicher zu gestalten. Im Gegenteil, diese wurden dadurch noch verschärft,
indem gegen die eine oder andere „Richtung" erhobene Anklagen von Personen
auf sich bezogen wurden, auf die der Ankläger sie gar nicht bezogen wissen
wollte. Außerhalb des Zentrums machte sich gar die Auffassung geltend, als
ob das ganze Zentrum in zwei Richtungen, eine Kölner und eine Berliner,
zerfalle.
Den eigentlichen Anlaß zu den Auseinandersetzungen über den Charakter
der Zentrumspartei innerhalb derselben hat — abgesehen von dem entfernteren
Anlaß des Streites auf gewerkschaftlichem Gebiete — der schon vorher erwähnte
Artikel gegeben, den Justizrat Dr. Julius Bachem im Jahre 1906 (Heft 5)
der Historisch-politischen Blätter unter dem Titel: „Wir müssen aus dem Turm
heraus" veröffentlichte. In diesem Artikel findet sich folgende Stelle:
„Es muß unbedingt mit vermehrter Umsicht auf die Wahl von solchen Abgeordneten
"ichtkatholischen Bekenntnisses hingewirkt werden, welche gute Fühlung mit dem Zentrum zu
nehmen und zu unterhalten Willens und geeignet sind. Und zwar wird es meines Trachtens
gute Politik sein, solche Abgeordnete nicht nur in Wahlkreisen mit überwiegend Protestantischer
Bevölkerung zu unterstützen, sondern auch in einer Anzahl von Wahlkreisen, wo das Zentrum
nllein vielleicht die Mehrheit erlangen kann/'
lind weiter:
„Von solchen Kandidaten darf man kirchenpolitisch nichts anderes verlangen, als daß
sie jeder Beschränkung der kirchlichen Freiheit widerstreben, die staatsbürgerliche Gleichberechti¬
gung des katholischen Volksteils rückhaltlos anerkennen; im übrigen muß namentlich ihre
sozialpolitische Stellung entscheidend sciri"
Dieser Artikel stieß mit Ausnahme der Kölnischen Volkszeitung, deren geistiger
Leiter Herr Julius Bachem ist. wohl in der gesamten Zentrumspresse auf ent¬
schiedenen Widerspruch. So schrieb die Germania u. a.:
„Eine so eigenartige Zumutung, wie hier, ist Wohl noch niemals von einer Partei
ihren Anhängern gemacht worden: die Zentrumswähler sollen dort, wo sie einen Zentrums¬
mann haben können, jemand wählen, der nur mit dem einen Fuße auf dem Boden ihres
Programms, mit dem anderen aber in einem anderen Lager stehtI Das würde verwirrend
"uf die Wähler und zersetzend auf die Partei wirken."
Und in der Allgemeinen Rundschau schrieb der Zentrumsabgeordnete
L>r. Jäger u. a.:
„Würde man den Baadenschen Vorschlag in breiteren: Maße befolgen, so könnten Mi߬
griffe und Enttäuschungen nicht ausbleiben. Der Zustand, der in vielen Gegenden Deutsch¬
lands nach Niederwerfung der Aufstände von 1849 herrschte, daß die konservativen Männer
beider Konfessionen sich bei den Wahlen vereinigten, wobei die Katholiken die übergroße Zahl
der Wähler, die Protestanten aber zumeist die Abgeordneten stellten, dieser Zustand darf denn
doch als Endergebnis der Zentrumsbewegung nicht eintreten."
Ich selbst bin damals vor allem in den Historisch - politischen Blättern
(Heft 7, 1906) den Ausführungen von Julius Bachem entschieden entgegen¬
getreten. Von dem Zeitpunkt an nahmen aber die theoretischen Erörterungen
über das Zentrum in der Presse kein Ende mehr. Und auch die Zentrnms-
gegner beteiligten sich überaus lebhaft daran, sowohl in der Presse, wo die
Kölnische Zeitung als Wortführerin fungierte, wie in besonderen Broschüren.
Ich erwähne: Götz „Das Zentrum eine konfessionelle Partei", von Savigny
"Des Zentrums Wandel und Ende" und Muser „Der Ultramontanismus und
das Zentrum". Als Antwort auf Götz erschien im Jahre 1908 meine Broschüre:
"Ist das Zentrum eine konfessionelle Partei?" (Hamm, Breer u. Thiemann.)
Zu besonderer Heftigkeit entbrannte der Streit im Zentrumslager Ende
als am 4. Oktober 1908 in der Augsburger Postzeitung (Ur. 228) ein
Artikel „Ein Ausweg in peinlicher Verlegenheit" erschien, und die Kölnische
Volkszeitung darauf in ihrer Ur. 869 vom 9. Oktober 1908 mit einem Artikel
"Die .Koalitionsform' der Katholiken und Protestanten im weltlichen Leben"
erwiderte. Im Laufe dieser Polemik erschienen auch noch der Westfälische
Merkur und die Historisch - politischen Blätter auf der Bildfläche, die sich beide
auf die Seite der Augsburger Postzeitung stellten. Die Polemik nahm zeitweise
recht gereizte Formen an, und die Kölnische Volkszeitung fragte immer wieder:
„Wer steckt dahinter?" Da tagte am 13. April 1909 in der Bürgergesellschaft
zu Köln die sogenannte Osterdienstagskonferenz. Über ihren Verlauf hatte einer
der Teilnehmer, der auch der Einberufer der Konferenz war, sich Aufzeichnungen
gemacht und drucken lassen. Diese Aufzeichnungen waren durchaus lückenhaft
und enthielten, wie ich bereits in meiner Broschüre „Köln und Koblenz" (Hamm,
Breer u. Thiemann, 1909) dargelegt habe, neben Richtigen auch viel objektiv
Unrichtiges, ließen neben Anführungen von Unwesentlichen Wesentliches aus,
und gaben so ein falsches Bild über die Bestrebungen und den Verlauf der
Konferenz. Dem Ganzen hatte jener Teilnehmer die Überschrift gegeben:
„Piotokoll der kirchlich-sozialen Konferenz am Osterdienstag, den 13. April 1909,
in Köln." Ein Abzug hiervon gelangte in den Besitz der Kölnischen Volks¬
zeitung, wurde alsbald durch Maschinenschrift vervielfältigt und in zahlreichen
Exemplaren unter der Hand in ganz Deutschland verbreitet. Schließlich erschien
dieses „Protokoll" auch in Broschürenform mit einem längeren Kommentar im
Verlage der Universttütsbuchdruckerei Karl Georgi in Bonn. Der Vorsitzende
der Konferenz, Dr. Bitter, bezeichnete alsbald in einer öffentlichen Erklärung das
Protokoll als ein „privates Machwerk, das fälschlich als Protokoll ausgegeben,
nicht unterzeichnet und voll objektiver Unrichtigkeiten" sei. Auch von anderen
Teilnehmern der Konferenz wurde öffentlich gegen die Richrigkeit des „Protokolls"
Einspruch erhoben. Diese Dementis blieben aber bei dem weitaus größten Teile
der Zentrumspresse ohne Wirkung. Die Kölnische Volkszeitung glaubte augen¬
scheinlich in dem Protokoll die Antwort auf ihre wiederholte Frage: „Wer steckt
dahinter?" gefunden zu haben. In ihrer Ur. 526 vom 23. Juni 1909 ver¬
öffentlichte sie einen Artikel unter der Überschrift „Die anonymen Treibereien",
in dem es hieß: „Uns sind der bzw. die Urheber dieser Treibereien sehr wohl
bekannt. Am 13. April 1909, am Osterdienstag, hat hier in Köln eine geheime
Zusammenkunft von zehn Herren stattgefunden" usw. Die Kölnische Volkszeitung
hat es durch ihre Haltung fertig bekommen, daß sich sowohl in dem größten
Teile der Zentrumspresse und der Zentrumspartei, wie in den Kreisen der
anderen Parteien die Ansicht festsetzen konnte, die Osterdienstagskonferenz habe
es auf eine Konfessionalisierung des Zentrums abgesehen. Und so ist es denn —
aller geschichtlichen Wahrheit zum Trotz — sogar so weit gekommen, daß der
Begriff „Osterdienstagskonferenz" eine Verallgemeinerung erfahren hat dahin,
daß man unter ihm heute nicht nur alle Bestrebungen versteht, die auf eine
stärkere Betonung des konfessionellen Moments hinauslaufen, sondern sogar
solche, die eine direkte Umwandlung des Zentrums in eine konfessionelle Partei
zum Ziele haben. In diesem Sinne spricht man dann von „Kreisen", vom
„Lager" usw. der Osterdienstagsleute, trotzdem die betreffenden „Kreise" usw.,
um deren Bestrebungen es sich hier handelt, mit der Konferenz selbst absolut
nichts zu tun haben und hatten, ja den Teilnehmern der Konferenz in ihrer
überwiegenden Majorität völlig unbekannt sein dürsten, trotzdem auch, wie gesagt,
die Konferenz als solche auch nicht im allergeringsten an dem politischen, nicht
konfessionellen Charakter der Partei rütteln wollte. Jedenfalls sind dahingehende
Bestrebungen auf der Konferenz selbst nicht zutage getreten. Sie würden andern-
falls dort auch auf den allerentschiedensten Widerspruch gestoßen sein. Für das.
was einzelne Teilnehmer der Konferenz früher oder später getan haben, sind
diese allein verantwortlich, nicht aber die Osterdienstagskonferenz. Diese war
lediglich eine willkürliche, private Zusammenkunft zu privatem Meinungsaustausch
über die infolge der erwähnten Polemik zwischen der Kölnischen Volkszeitung
und der Augsburger Postzeitung usw. die Öffentlichkeit bewegenden Fragen.
Den einzelnen Teilnehmern war vorher auch nicht bekannt, wer sich an dieser
Aussprache beteiligen würde. Es lag der Konferenz auch durchaus fern, irgend
etwas am Charakter der Zentrumspartei ändern oder die Partei irgendwie
offiziell definieren zu wollen. Das sind alles Erfindungen der Kölnischen Volks-
Seitung. Die Konferenz hat überhaupt keine Definition der Zentrumspartei
aufgestellt. Der so viel angefeindete Satz über das Zentrum, wonach dasselbe
eine politische Partei ist, die sich zur Aufgabe gestellt hat. die Interessen des
gesamten Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens im Einklange mit
den Grundsätzen der katholischen Weltanschauung zu vertreten, ist auch gar nicht
von der Konferenz formuliert worden, sondern erst nachträglich von Herrn
L>r. Bitter. Diese Formulierung hat Anlaß zu vielen Mißverständnissen geboten,
sie wollte aber nach der späteren Erklärung Dr. Bitters und anderer Teilnehmer
der Konferenz, zu denen ich auch gehöre, nichts anderes besagen, als daß die
Politik des Zentrums nicht im Gegensatz zur katholischen Weltanschauung
erfolgen dürfe. Und in diesem Sinne ist der Satz Gemeingut des gesamten
Zentrums. So schreibt noch Dr. Armin Kaufen, der Herausgeber der Allgemeinen
Rundschau, in Ur. 14 der genannten Zeitschrift vom 6. April 1912 (S. 206):
«An dem Tage, an welchem das Zentrum sich irgendwie im Gegensatz zur katholischen
Weltanschauung stellen würde, hätte es das Vertrauen des katholischen Volkes verloren. Das
ist eine so klare Binsenweisheit, daß man über die Unterstellung, als ob dies jemals geschehen
könnte, förmlich erschrecken muß."
Das ist genau der Standpunkt der Osterdienstagskonferenz. Nichts anderes
hat sie jemals gewollt. Im übrigen verweise ich auf die erwähnte Broschüre
"Köln und Koblenz", die das ganze die Osterdienstagskonferenz und ihre Folge¬
erscheinungen betreffende Material enthält.
Zur Rechtfertigung der Bestrebungen der Osterdienstagskonferenz und um
allen Gelegenheit zur Aussprache zu geben, fand am 9. August 1909 im Gorresbau
w Koblenz eine von mehreren Teilnehmern der Osterdienstagskonferenz und
ewer Anzahl sonstiger Herren einberufene Versammlung statt, in der nach einem
längeren Referate des Herrn Dr. Bitter eine Resolution zur Annahme gelangte,
w der dagegen Verwahrung eingelegt wurde, daß die Osterdienstagskonferenz
beabsichtigt habe, das Zentrum zu einer einseitig konfessionellen Parte: zu
gestalten, und erklärt wurde, daß die Versammlung „unentwegt an dem durch
Programm und Tradition ein sür allemal feststehenden Charakter des Zentrums
festhält". In einem Artikel, der sich mit dieser Versammlung befaßte, schrieb
die Kölnische Volkszeitung (Ur. 673 vom 10. August 1909) u. a.:
„Mit dem Verlauf der Koblenzer Versammlung find wir im übrigen nicht unzufrieden.
Niemand will jetzt an dein politischen, nicht konfessionellen Charakter des Zentrums irgendwie
rütteln. Mehr verlangen wir ja gar nicht."
Und Justizrat Dr. Julius Bachem äußerte u. a. im Tag:
„Wenn das weitere Verhalten derer um die Abgeordneten Noeren und Bitter dem
entspricht, so hätte die ganze Auseinandersetzung ein sehr erfreuliches Ergebnis gehabt: eS
wäre dann der Politische, nichtkonfesfionelle Charakter des Zentrums stabiliere wie ein.Koclier
von bronce'."
Dennoch wollten die Auseinandersetzungen nicht verstummen. Am 18. August
1909 befaßte sich der Augustinusverein zur Pflege der katholischen Presse mit
ihnen und nahm eine aus sechs Punkten bestehende Resolution an, in der erneut
der politische, nicht konfessionelle Charakter des Zentrums betont und gesagt
wurde, daß dieser Charakter den katholischen Zentrumsmitgliedern vollste Freiheit
lasse, „in Weltanschauungsfragen nach den Grundsätzen ihres katholischen
Glaubens sich zu richten und für diese vom Boden der Verfassung und der
staatsbürgerlichen Parität unter aller gebotenen Rücksichtnahme auf die anders¬
gläubigen Volksgenossen einzutreten". Nicht lange darauf erschien in der
Zentrumspresse eine seitens der Vorsitzenden der Zentrumsfraktionen des deutschen
Reichstags und des preußischen Landtags Dr. Freiherrn von Hertling und Or.Porsch
„an die Mitglieder der Zentrumspartei" gerichtete Bitte, von jeder weiteren
Erörterung des Gegenstandes in der Presse und in Versammlungen absehen zu
wollen, da sich der Landesausschuß der preußischen Zentrumspartei, verstärkt
durch die süddeutschen Vorstandsmitglieder der Reichstagsfraktion, mit der zur
Diskussion gestellten Frage befassen würden. Diesem Ersuchen wurde indessen
nur teilweise stattgegeben.
Die angekündigte Sitzung des Landesausschusses sand dann am 28. November
1909 in Berlin statt. Nach eingehender Beratung erließ der Landesausschuß
eine offizielle Kundgebung, in der erneut der politische, nicht konfessionelle
Charakter der Zentrumspartei festgestellt und zugleich betont wurde, daß „abgesehen
von dem Programm" „die Tatsache der Zugehörigkeit fast aller ihrer Wähler
und Abgeordneten zur katholischen Kirche genügende Bürgschaft dafür" biete,
„daß die Zentrumspartei die berechtigten Interessen der deutschen Katholiken
auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens nachdrücklichst vertreten wird".
Aber auch diese Erklärung ließ die Streitigkeiten nicht verstummen. Das
um so weniger, als kurz vorher im Hochland (Heft 11, 1909) ein Artikel:
„Glossen zur katholischen Literaturbewegung" von Professor I)r. M. spähn
erschienen war, auf den am Tage vor dem Zusammentritt des Landesausschusses
ein in der Germania (Ur. 272 vom 27. November 1909) erschienener Auf¬
sehen erregender Artikel „Klarheit und Wahrheit" die Antwort brachte, an die
sich dann weitere Auseinandersetzungen knüpften.
Zu besonders lebhaften Debatten führte eine im Jahre 1910 erschienene
Broschüre des Kaplans Schonen „Köln eine innere Gefahr für den deutschen
Katholizismus", die zwar seitens des Abg. Roeren eine Empfehlung erhielt, im
übrigen aber, wie gesagt, fast von der gesamten Zentrumspresse abgelehnt wurde.
In dieser Broschüre sollte ursprünglich auch ein seitens des Herrn Kardinal¬
fürstbischofs Dr. Kopp an Frl. von Schalscha-Ehrenfeld in Berlin, die Vor¬
sitzende des Vereins erwerbstätiger Frauen und Mädchen, unterm 12. Januar
1910 gerichteter Privatbrief, der auch auf den erwähnten Hochland-Artikel Pro¬
fessor Spahns Bezug nahm, veröffentlicht werden. Dies unterblieb zwar auf
Intervention der von dem Verleger des Buches, Dr. Dietzsch, verständigten
Dr. Fleischer und Assessor von Scwigny; aber dennoch erschien der Brief, der
bekanntlich die Wendung von einer „Verseuchung des Westens" enthielt, bald
darauf im Berliner Tageblatt, von wo er dann seinen Lauf durch die gesamte
Presse nahm und hier endlose Debatten hervorrief.
Inzwischen hatte die Kandidatur spähn in Warburg-Höxter einen neuen
Streitfall hervorgerufen. Anläßlich des Augsburger Katholikentages veröffent¬
lichten vierzehn Zentrumsabgeordnete, darunter die Abgeordneten Erzberger und
Graf Oppersdorff, einen offenen Brief an Prof. Dr. M. Spahn, in dem sie
ihn unter Hinweis auf Einzelheiten seiner publizistischen Tätigkeit aufforderten,
von seiner Kandidatur zurückzutreten. Professor spähn hielt aber an seiner
Kandidatur fest, wurde gewählt und nachher auch in die Zentrumsfraktion auf¬
genommen. Eine von Graf Oppersdorff verfaßte, zunächst vertraulich versandte,
später auch im Buchhandel erschienene Broschüre „Ist Martin Spahn Zentrums¬
mann?" vermochte diese Aufnahme nicht zu hindern. Im übrigen beschäftigte
die Angelegenheit noch längere Zeit die Öffentlichkeit.
Viel Staub wirbelte alsdann eine am 25. September 1910 in Dortmund
gehaltene Rede des Verlegers der Tremonia, Lambert Lensing, gegen die
„Marodeure im eigenen Lager" auf, die einen „Notschrei" an die bischöfliche
Behörde in Breslau enthielt. Ein Teil der Zentrumspresse, vor allem die
Kölnische Volkszeitung, nahm hierbei scharf für Herrn Lensing, ein anderer, so
besonders die Germania und das Deutsche Volksblatt, gegen diesen Stellung.
Abg. Erzberger veröffentlichte in seiner Korrespondenz einen Brief des Abg.
Graf Oppersdorff.gegen Herrn Lensing und den ebenfalls in Dortmund als
Redner aufgetretenen Grafen Penschina. Auch in dieser ganzen Polemik, wie
im Falle spähn, ist das konfessionelle Moment der leitende Faden. Im Falle
Spahn haben wir — neben anderen Punkten — vor allem die Anzweiflung
der orthodox katholischen Gesinnung Professor Spahns, wogegen letzterer sich
zur Wehre setzt. Im Dortmunder Falle haben wir auf der einen Seite die
übermäßig scharfe Sprache Lensings, die nur aus der Befürchtung einer
Schädigung des Zentrums, des katholischen Volksvereins und der christlichen
Gewerkschaften, als der „festgefügten Organisationen der deutschen Katholiken",
zu erklären ist, und auf der anderen Seite die ernste Besorgnis, daß durch
derartige Ausführungen das kirchliche Empfinden des katholischen Volkes
Schaden leiden müsse.
Am 24. Oktober 1910 trat dann der Landesausschuß der preußischen
Zentrumspartei erneut zu einer Sitzung zusammen, die sich wiederum mit den
schwebenden Streitigkeiten befaßte. Der Abg. Noeren gab dabei eine Erklärung
ab, daß er unzweideutig und vorbehaltlos auf den Boden des Beschlusses des
Landesausschusses vom 28. November 1909 trete und die Empfehlung der
Schopenschen Broschüre zurückziehe. Der Landesausschuß selbst beschloß diese
Erklärung zu veröffentlichen und ersuchte gleichzeitig die Zentrumspresse, „die
Polemik über alle an die sogenannte Osterdienstagskonferenz sich anknüpfenden
Streitfragen von jetzt ab gänzlich einzustellen". Dieses Ersuchen hatte aber ebenso¬
wenig Erfolg, wie die ebendahin zielenden Bemühungen des Augustinusvereins.
Im Laufe der Jahre wurde auch der deutsche Episkopat wiederholt in die
schwebenden Streitigkeiten hineingezogen. Bekanntlich sind ja auch die deutschen
Bischöfe über die gewerkschaftliche Organisationsform geteilter Ansicht. Für die
Organisation auf rein katholischer Grundlage sind namentlich die Bischöfe Korum
von Trier und Kardinal Kopp von Breslau, während Kardinal Fischer und
die meisten übrigen Bischöfe der Organisation in christlichen Gewerkschaften den
Vorzug geben. Der katholische Volksverein unterstützt bekanntlich allein die
christlichen Gewerkschaften, auch der noch im Herbst 1909 geäußerte Wunsch des
Kardinals Kopp, sich für den Bereich der Diözese Breslau gleicherweise in den
Dienst der katholischen Fachabteilungen zu stellen (Hist.-pol. Blätter 1910 S. 651),
konnte den Volksverein nicht zu einer Änderung dieser Haltung bewegen. Daher
erklärt sich wohl auch mit der Erlaß des Herrn Kardinals vom 16. März 1910,
daß ihm vor der Gründung neuer Zweigvereine des katholischen Volksvereins
innerhalb seiner Diözese davon Mitteilung zu machen sei, was in anderen
Diözesen, z. B. Köln, nicht verlangt wird. Daher auch die unwillige Äußerung
des Herrn Kardinals über die Haltung des Volksvereins in dem erwähnten
Briefe an Frl. von Schalscha. Auf die Form des Ausdrucks ist in diesem
Briefe, da es sich um ein nicht für die Öffentlichkeit bestimmtes Privatschreiben
handelte, natürlich weniger Sorgfalt verwendet worden, was auch Kardinal
Fischer in einer am 23. Oktober 1910 in Düsseldorf auf der Generalversammlung
des katholischen Frauenbundes gehaltenen Rede ausdrücklich feststellte. Kardinal
Fischer betonte dabei gleichzeitig, zu der Erklärung autorisiert zu sein, daß Herr
Kardinal Kopp die in den Brief eingeflochtenen scharfen Ausdrücke bedaure
und durchaus nicht die Absichten habe, die man ihm unterstelle. Es ist ja auch
bekannt, daß Kardinal Kopp im übrigen ein warmer Freund des katholischen
Volksvereins und dessen Bestrebungen ist.
Aus dieser abweichenden Haltung der beiden Kardinäle der gewerkschaft¬
lichen Organisation — und in Verfolg hiervon dem katholischen Volksverein
gegenüber, wollten manche eine Gegnerschaft der beiden Kardinäle unter sich
konstruieren. Besonders geschah dies nach Veröffentlichung des erwähnten
Briefes des Kardinals Kopp an Fräulein von Schalscha. In einer am
16. Oktober 1910 in Köln stattgehabten Versammlung wies Kardinal Fischer
solche Behauptungen als „unsaubere Machenschaften" entschieden zurück und
betonte nachdrücklich die Einigkeit des deutschen Episkopats. Gleichzeitig bezeichnete
er es als eine „Gewissenspflicht für die deutschen Katholiken" geschlossene Einheit
zu bewahren. Bestehende Differenzen solle man „mit Klugheit, mit Mäßigung,
mit Liebe und Selbstverleugnung auszugleichen suchen". In gleichem Sinne
hat Kardinal Fischer sich bekanntlich wiederholt ausgesprochen. Zu den als
„unsaubere Machenschaften" gekennzeichneten Ausstreuungen gehörte auch die
von Osservatore Romano dementierte Meldung von einer angeblich in Köln
durch Msgr. Pardini angestellten kirchlichen Untersuchung, sowie die von der
Mailänder Perseveranza in die Welt gesetzte und in Deutschland verbreitete
Nachricht, Kardinal Fischer werde sich in Rom gegen die von Kardinal Kopp
gegen ihn erhobene Anklage des Modernismus zu verteidigen haben. Selbst
ein katholisches Blatt des Saarreviers machte sich die Behauptung zu eigen,
Kardinal Fischer werde sich in Rom „gegen den gegen ihn erhobenen Vorwurf
des Modernismus" verteidigen müssen und berief sich dabei auf „hochangesehene
Mitglieder des katholischen Klerus der Erzdiözese Köln" als seine Gewährs¬
männer. Am selben 16. Oktober 1910, an dem Herr Kardinal Fischer sich in
Köln so scharf gegen die „unsauberen Machenschaften" aussprach, sandte er der
Saarbrücker Volkszeitung, dem führenden katholischen Blatte des Saarreviers,
ein Telegramm mit der Bitte um Veröffentlichung, in dem er die Meldung des
betreffenden Blattes als „groben Unfug und von A bis Z erdacht" bezeichnete.
In dieselbe Kategorie gehört auch ein vor einiger Zeit in der Kreuzzeitung
(Ur. 84 vom 20. Februar 1912) erschienener Artikel „Die Kurie und der
deutsche Katholizismus", der angeblich von „hervorragender katholischer Seite"
des Auslandes stammte und Kardinal Fischer sowie auch Nuntius Frühwirth
in München in Gegensatz zur römischen Kurie stellen wollte. „Bei der Kurie
in Rom" hieß es dort, wüßten „die Denunzianten und Verleumder ihren
stärksten Rückhalt". In Rom habe man bisher leider „ausschließlich auf die
Stimmen der schlimmsten Feinde des Katholizismus gehört", und es sei daher
zu wünschen, daß man dort auch einmal auf den Kardinal Fischer höre, der
sich in seinem diesjährigen Fastenhirtenbriefe scharf gegen die in verschiedenen
in- und ausländischen katholischen Organen hervorgetretenen Verdächtigungen
des deutschen Katholizismus gewandt habe. Aber es sei möglich, daß dies dem
Kardinal Fischer den Thron des si. Maternus kosten könne. Er habe „das
Ansehen, das er vielleicht einmal in Rom genoß, längst ebenso verscherzt, wie
der Nuntius Frühwirth in München und alle, die das katholische Deutschland
gegen übertriebene und ungerechte Beschuldigungen in Schutz genommen
haben".
Der hier erwähnte Artikel der Kreuzzeitung stammte, wie das Blatt selbst
erklärte, aus dem Auslande. Die lebhafte Beteiligung des Auslandes an den
Streitigkeiten der deutscheu Katholiken ist überhaupt ein Moment, das nicht aus
dem Auge gelassen werden darf. Man sollte mitunter fast glauben, es bestehe
eine Art internationaler Konzern, der darauf ausgeht, die Einigkeit der deutschen
Katholiken systematisch zu untergraben. Es machen sich hier zwei ganz ver¬
schiedene Tendenzen bemerkbar, denen beiden die deutschen Katholiken die gleiche
Aufmerksamkeit schenken müssen. Die eine geht darauf aus, die Glaubenstreue
eines Teiles der deutschen Katholiken im Auslande zu verdächtigen; ob mit
Absicht oder nicht, sei dahingestellt. Jedenfalls ist das das Ergebnis ihrer
Arbeit, indem sie teils wirklich tadelnswerte vereinzelte Vorkommnisse verallgemeinern
und vergrößern, teils auch völlig Falsches über einzelne katholische Persönlich¬
keiten oder auch größere katholische Kreise, oder die Zentrumspartei verbreiten,
oder wirkliche Handlungen in einem unrichtigen Lichte darstellen und unhalt¬
bare, die Katholiken verletzende Folgerungen daraus ziehen. Daraus mag dann
im Auslande bei der dem Menschen anhaftenden Neigung, zu verallgemeinern,
die Ansicht entstehen — und dieser Ansicht wird auch Ausdruck gegeben —
daß es überhaupt mit dem deutschen Katholizismus nicht so beschaffen ist, wie
es sein müßte. Das hat natürlich in deutschen katholischen Kreisen die Gegen¬
wirkung, daß man gegen die betreffenden ausländischen Organe, die derartige
falsche Meldungen bringen, aufgebracht ist und ebenfalls nicht nur die betreffenden
einzelnen Artikel, sondern die betreffenden Organe überhaupt verurteilt. Und
so sehen wir denn, daß einzelne Persönlichkeiten — und das gilt auch vom
Inland auf beiden Seiten —, die an dem Kampfe der Meinungen in hervor¬
ragender Weise beteiligt sind, nicht nur, wie billig, für einzelne Ausschreitungen
verantwortlich gemacht werden, sondern daß überhaupt über sie der Stab
gebrochen wird.
Während sich so also auf der einen Seite Kräfte bemerkbar machen, die deutschen
Katholiken im Auslande, und speziell auch in Rom zu verdächtigen, sind umgekehrt
andere tätig, Rom, das ist die römische Kurie, bei den deutschen Katholiken in Mi߬
kredit zu bringen. Dahin rechne ich zunächst die immer wiederkehrende Behauptung,
Rom sei nicht richtig über die deutschen Katholiken informiert, die deutschen
Katholiken gälten weniger in Rom als die Katholiken anderer Nationen; dahin
rechne ich die Bestrebungen der Krausgesellschaft und des „NeuenJahrhunderts";
dahin gehören auch Artikel wie der erwähnte der Kreuzzeitung, den der Osservatore
Romo.no (Ur. 59 vom 28. Februar) als „verwerflich und beschimpfend gegen
den heiligen Vater und gegen die kirchliche Autorität" kennzeichnete, die Artikel
der Münchener katholischen Kirchenzeitung Die Wahrheit und der Augsburger
Postzeitung gegen Msgr. Benigni, welch letzteren Artikel der Kardinalstaatssekretär
Merry del Val durch den Bischof von Augsburg als „unwahr und ehrenrührig
für den si. Stuhl und dessen Funktionäre" bezeichnen ließ; dahin gehören die
erwähnten Verleumdungen gegen Kardinal Fischer und so manches andere.
Damit soll natürlich keineswegs gesagt sein, daß die erwähnten Blätter mit der
Veröffentlichung der betreffenden Artikel nun auch selbst die Absicht gehabt
hätten, die Kurie bzw. deren Beamte in den Augen der deutschen Katholiken
herabzusetzen. Ich will vielmehr gern annehmen, daß sie durchaus bona kiele
gehandelt haben. Aber es ist kennzeichnend für die gereizte Stimmung, in der
sich weite katholische Kreise zurzeit in Deutschland befinden, daß es überhaupt
Katholiken gibt, die derartige Artikel verfassen, und daß es nicht nur akatholische,
sondern auch katholische Blätter gibt, die solche Artikel veröffentlichen.
Dem liegt die Tatsache zugrunde, daß, wie bereits erwähnt, in einer Reihe
katholischer Organe des Auslandes, speziell auch in der Korrespondence de Rome,
Artikel erschienen sind, die geeignet waren, das Empfinden weiter katholischer
Kreise in Deutschland zu verletzen. Ihre Verfasser mögen von den besten Ab¬
sichten getragen gewesen sein, aber sie waren entweder nicht richtig informiert
über die deutschen Verhältnisse oder nicht in der Lage, die deutschen Verhältnisse
richtig zu beurteilen. Die politischen Führer der deutschen Katholiken, speziell
das Zentrum, haben vielfach äußerst schwierigen Situationen gerecht zu werden,
und sie können diesen nur gerecht werden, wenn sie sich von dem Vertrauen
der Gesamtheit der Katholiken getragen wissen; es ist auch nicht möglich, die
Allgemeinheit über die Einzelheiten aller Schritte stets genau aufzuklären.
Erscheinen nun in der Öffentlichkeit wiederholt falsche und darum verletzende
Darstellungen, Darstellungen, die sogar das katholische Bewußtsein des Betreffenden
anzweifeln, so ergibt sich daraus von selbst eine gereizte Stimmung und ein
Unwillen nicht nur gegenüber den einzelnen unkorrekten oder verletzenden Aus¬
lassungen, sondern gegenüber den betreffenden Blättern und schließlich gegen
deren leitende Persönlichkeiten im allgemeinen. Daraus mag sich dann auch die
Veröffentlichung von Artikeln der gedachten Art in katholischen Blättern erklären.
Während ans Anlaß der Osterdienstagskonferenz vor allem die Namen der
Abgeordneten Dr. Bitter und Roeren in Verbindung mit den Auseinander¬
setzungen innerhalb der Zentrumspartei genannt wurden — Dr. Bitter wurde
infolge seiner Beteiligung an der Osterdienstagskonferenz bei den letzten Reichs¬
tagswahlen nicht wieder aufgestellt —, trat in den letzten beiden Jahren mehr
der Abg. Graf Oppersdorff hervor. Nach den Affären Spahn und Lensirig wurde
sein Name namentlich in den Auseinandersetzungen innerhalb des schlesischen
Zentrums immer wieder genannt, zuletzt in Verbindung mit der in Ratibor
erfolgten Gründung der sogenannten katholischen Aktion, als deren Führer
zweifelsohne Herr Pfarrer Nieborowski anzusehen ist. Es kam schließlich so
weit, daß Graf Oppersdorff in dem bisher von ihm vertretenen Wahlkreise
Glatz-Habelschwerdt nicht wieder aufgestellt wurde, und daß Frhr. von Hertling
die Wahl des Grafen Oppersdorff in dem später von diesem eroberten Wahl-
kreise Fraustadt-Lissa als inopportun bezeichnete. Trotzdem auch Graf Oppers-
dorff in Berlin als offizieller Zentrumskandidat aufgestellt und in Fraustadt-
Lissa auf das Programm der Zentrumspartei gewählt worden war, erfolgte
dennoch nicht seine Wiederaufnahme in die Zentrumsfraktion. Es war darüber
allerdings kein Fraktionsbeschluß zustande gekommen, im Vorstande hatte die
Angelegenheit nur zur Beratung gestanden, und Abg. Roeren hatte sich dabei —
im Gegensatze zu den übrigen Mitgliedern — für die Aufnahme erklärt. Aber es
waren auf Anordnung des damaligen Vorsitzenden der Reichstagsfraktion des
Zentrums eine Reihe Handlungen erfolgt, aus denen Graf Oppersdorff seine
Nichtabnahme als geschehen erachtete. In einer in seinem kurz zuvor gegrün¬
deten Blatte Wahrheit und Klarheit veröffentlichten Erklärung äußerte er, die
Nichtabnahme als gegebene Tatsache hinzunehmen. Damit erübrigte sich für
die Fraktion eine weitere Stellungnahme.
Berechtigtes Aufsehen hat in allerletzter Zeit die Mandatsniederlegung des
Geheimrath Roeren hervorgerufen, der ein ganzes Menschenalter hindurch
unentwegt und treu für die Interessen der Zentrumspartei eingetreten ist. Herr
Geheimrat Roeren begründete seine Mandatsniederlegung damit, daß es ihm
nach Auseinandersetzungen in einer Fraktionssitzung der Zentrumspartei des
preußischen Abgeordnetenhauses am 14. Februar d. Is., die im Anschluß an
die von ihm geschehene Darlegung seines Standpunktes erfolgt sei, seiner Ansicht
nach in Zukunft nicht mehr möglich sei, innerhalb der Fraktion für den Grundsatz
einzutreten, daß das Zentrum bei den Fragen, bei denen die Weltanschauung
überhaupt in Betracht kommt, seine Politik in Übereinstimmung mit der katho¬
lischen Weltanschauung, d. h. nicht in irgend welchem Gegensatze zu dieser,
machen müsse. Justizrat Julius Bachem fügt in einem im Tag (Ur. 86 vom
13. April 1912) veröffentlichten Artikel hinzu, daß die Stellungnahme der
Fraktion in der betreffenden Sitzung infolge „öffentlicher Auslassungen" des
Herrn Geheimrath Roeren (wohl ein von diesem kurz zuvor im Aar veröffent¬
lichter Artikel) erfolgt sei. Ich kenne die in der Fraktion erfolgten Auseinander¬
setzungen nicht. Jedenfalls ist aber die von Herrn Geheimrat Roeren daraus
gezogene Schlußfolgerung, als ob das Zentrum jemals in Weltanschauungs¬
fragen feine Politik im Gegensatze zur katholischen Weltanschauung machen könne,
unzutreffend. Armin Kaufen hat, wie ich bereits angeführt habe, mit Recht
hierzu geäußert, man müsse über eine solche Unterstellung förmlich erschrecken.
Ich habe daher den Schritt Roerens nicht verstehen können, und wie mir dürfte
es auch vielen anderen so gegangen sein. Hinzukommt, daß der Austritt aus
beiden Zentrumsfraktionen Herrn Roeren von keiner Seite nahegelegt wurde,
vielmehr durchaus freiwillig erfolgt ist.
Endlich wäre noch ein Wort über einige in der letzten Zeit erfolgte Blatt¬
gründungen zu sagen, wobei speziell die von Graf Oppersdorff herausgegebene
Wochenschrift Wahrheit und Klarheit und das in Breslau als Organ der soge¬
nannten katholischen Aktion erscheinende Wochenblatt Das katholische Deutschland
in Betracht kommen. Zweifelsohne sind die dahinter stehenden Kreise von den
besten Absichten beseelt. Sie wollen lediglich der katholischen Weltanschauung
zum Siege verhelfen, die nach ihrer Meinung von einem Teile des Zentrums und
der maßgebenden Persönlichkeiten innerhalb der Zentrumspartei nicht gebührend
berücksichtigt wird. Aber abgesehen davon, daß sie sich in diesem Kampfe
um die katholische Weltanschauung wiederholt von ungerechten Urteilen und
von Maßlosigkeiten nicht fern gehalten haben, die nur allzu berechtigten Wider¬
spruch herausfordern müssen, und abgesehen davon, daß sie einseitig nur das
in ihren Augen Tadelnswerte der von ihnen bekämpften Richtung, nicht aber
auch das zweifelsohne Verdienstvolle erwähnen und so schon dadurch allein
vielfach ein falsches, der Wirklichkeit nicht entsprechendes Bild in ihrem Leser¬
kreise hervorrufen, muß auch an die alte Wahrheit erinnert werden, daß das
Bessere vielfach ein Feind des Guten ist. Das Zentrum hat in seiner vierzig¬
jährigen Tätigkeit bewiesen, daß es stets für die Interessen des katholischen
Volksteils eingetreten ist, daß es stets der katholischen Weltanschauung auch im
öffentlichen Leben den ihr zukommenden Platz gewahrt wissen will. Es besteht
daher auch für das katholische Volk absolut kein Anlaß, den erprobten Grund¬
sätzen des Zentrums untreu zu werden und sich zu einer katholisch-konfessionellen
Partei zusammen zu schließen. Eine solche aber erstrebt Das katholische Deutsch¬
land, wie es in seiner Ur. 7 vom 7. April 1912 ausdrücklich betont, indem
es das Zentrum ster „eine katholische politische Partei" erklärt. Daher lehnt
das Zentrum, und daher lehnen die Katholiken Deutschlands in ihrer Gesamtheit
die katholische Aktion als schädlich und die Einheit der Katholiken Deutschlands
gefährdend ab. Damit befinden sie sich auch in Übereinstimmung mit den
höchsten kirchlichen Würdenträgern Deutschlands, dem katholischen Episkopate.
Hat doch auch Kardinal Kopp laut Schlestscher Volkszeitung (Ur. 104 vom
5. März 1912) ausdrücklich erklärt, daß er „überhaupt keine Politik, die sich
gegen das Zentrum richtet", vertrete, und die Schlesische Volkszeitung bemerkte
dazu noch, sie sei „von berufener Seite" besonders ermächtigt zu erklären, „daß
von der maßgebenden Stelle die Neugründung des Wochenblattes der katholischen
Aktion, diese selbst und ihre Propagierung aufs schärfste verurteilt werden".
Die im März dieses Jahres in Berlin stattgehabte Generalversammlung des
Augustinusvereins, der auch zahlreiche Zentrumsabgeordnete beiwohnten, hat
bekanntlich denselben Standpunkt eingenommen.
Damit dürfte diese Angelegenheit sür die deutschen Katholiken erledigt sein.
Im übrigen darf diesen Dingen keine zu große Wichtigkeit beigelegt werden.
Dem Zentrum wird dadurch kein auch nur irgendwie nennenswerter Abbruch
geschehen; dagegen dürften sie insofern ihr Gutes haben, als sie ein Gegen¬
gewicht zu den hie und da in die Erscheinung tretenden Jnterkonfessionalisierungs-
bestrebungen bilden. Auch hier wird, wie immer, schließlich die gesunde Mitte
den Sieg behalten.
war zwischen Weihnachten und Neujahr. Mein Freund, ein
! junger Privatdozent für italienische Sprache und Literatur, saß
neben mir in dem Rauchzimmer des kleinen Hotels auf der
Engstlenalp. Wir waren die einzigen Skifahrer, denn die dreißig
Engländer, die ihre Ankunft angesagt hatten, waren des schlechten
Wetters wegen noch nicht erschienen, und so ließen wir die warmen Föhntage
ohne Glimpf und Schimpf verbrausen, hielten sie uns doch die lästigen Fremden
vom Halse.
Wir saßen oder lagen vielmehr mit langgestreckten Beinen in bequemen
Klappstühlen. Eine große Skitour auf einen der gewaltigen Felsköpfe der
Umgebung hatte uns bis in die Nacht zu schaffen gegeben. Zum Lesen war es
zu dunkel, da die Lampe rußte und flackerte. Der Wirt hing zwei Papierlaternen
an die Decke, meinte lächelnd, wir müßten nun mit venezianischer Beleuchtung
vorlieb nehmen und trug die Lampe mit dem schadhaften Brenner hinaus.
Nun war es noch dämmeriger im Saal. Mein Freund bestellte eine große
Flasche Glühwein, und bald versanken wir in stilles Träumen und lauschten
dem schrillen Pfeifen des Winoes, der den aufgewirbelten Schneestaub an die
Hauswart schmiß und im ersten Stock einen Laden hin und her warf. Nach
langer Pause erhob der Doktor den schönen Lockenkopf zu den Papierlichtern,
fuhr mit der Hand über die Stirn und sagte: „Dieses elende Geflimmer soll eine
venezianische Nacht vortäuschen. Haben Sie schon so ein Nachtfest mitgemacht?"
„O ja, schon mehrere," gab ich fröhlich zurück. „Am ersten August ist doch
jeder Biergarten venezianisch beleuchtet. Und als mein Schwager Hochzeit hielt —"
„Ich meine eine wirkliche venezianische Nacht in Venedig."
„Nein, das nicht. Die Lagunenstadt kenne ich nicht."
„Sie müssen einmal Hinreisen, im Frühling oder besser noch im Sommer.
Vor einem Jahre habe ich während der größten Hitze sechs herrliche Wochen
dort zugebracht — bis auf den Schluß, da brannte mir der Boden unter den
Füßen und ich dampfte schleunig ab."
„Herrgott, so reden Sie doch von Venedig. Lesen kann man bei diesem
Halbdunkel doch nicht."
„Dann muß ich Ihnen eine Herzensgeschichte ausplaudern. Also, meinet¬
wegen. Eigentlich passen die düsteren Laternen dazu nicht so übel." Er zog
die Uhr. „Es geht noch ein Stündchen bis Schlafenszeit. Wenn Sie zuhören
wollen."
Ich rutschte tieser in den Stuhl hinein, kreuzte die Beine und versetzte
lächelnd: „Jetzt können Sie erzählen, meinethalben bis Mitternacht. Ich werde
Sie nie unterbrechen."
„Die Calle Cristoforo," begann er, „ist eines jener dunklen müssiger
Gäßchen, die Venedig in feinem Geäder nach allen Richtungen durchziehen. Im
Winter treffen die Sonnenstrahlen nur das fünfte Stockwerk unter dem Dache.
Die Leute hocken daher um die Mittagszeit, wenn sie nichts besonderes zu tun
haben, auf den warmen Steinfliesen der Piazza dal Frari, deckeln die Augen
zu, neigen den Kopf und lassen die Sonnenwärme durch die Glieder rieseln.
Im Sommer guckt die Sonne jeden Tag einmal in den tiefen schmalen Häuser¬
schacht und belächelt den hemdärmeligen Zocchelimacher, der mit einem drei
Schuh hohen Lehrjungen auf offener Straße hämmert, nagelt und schmilzt. Im
Nu entschwindet sie hinter der Giebelreihe, als ob der unangenehme Geruch von
Gemüsen, faulenden Früchten, Frittüren und Schusterpech sie verscheuchte.
Unweit dieses Gäßchens steht in massiger Behäbigkeit der verwitterte
Marmortempel dal Frari, dessen Ccunpanile, himmelhoch thronend über dem
Tun und Lassen der Menschen, ins Firmament sich zu bohren scheint.
Über dem grautuchig verhüllten Eingang des Eckhauses an der Calle
Cristoforo, wo ein breiter, von Abfallstoffen und Meersand getrübter Kanal
in die Quere sich legt und beißenden Tanggeruch verbreitet, steht mit ver¬
waschenen Buchstaben geschrieben: Liquori e Sel. „Seitz", sollte es heißen, aber
der Kalkbewurf war stark zerbröckelt und die Schlnßlettern fehlten.
Nebenan hielt eine häßliche Alte, die fast den ganzen Tag den Rücken
dunkelte, selig duselte und schnarchte, schöne Früchte feil. Ab und zu bemerkte
ich vor den Fruchtkörben ein Dirnlein mit bernsteinfarbener Haarkrone, deren
Glanz und Fülle meine Augen ganz berauschten. Einmal verschwand das
Mädchen mit dem vollen Teller in der kleinen Trinkstube, in die sie offenbar
hineingehörte, obschon das saubere, jugendfrische Gesicht nicht in die schmutzige
Gasse und das ärmliche Haus zu passen schien.
Das Archiv, in dem ich während der heißen Mitsommerszeit arbeitete,
wurde um drei Uhr geschlossen. Auf dem Heimwege betrat ich gewöhnlich die
erste beste Bar, um den grimmigen Durst zu löschen.
Warum sollte ich nicht einmal in der Buvette der schönen Blonden mein
Tamarindo a Seitz trinken? Kurz entschlossen lenkte ich die Schritte eines Abends
in die benachbarte Calle Cristoforo, teilte den grauen Vorhang und trat in das
niedrige Lokal. Zwei verkerbte und abgescheuerte Tischchen, blankgespülte Gläser
und halbgeleerte Likörflaschen bildeten die Ausstattung der kleinen Stube. Ich
fühlte mich indessen rasch wohl und heimisch. Die blauen niedergezogenen
Gardinen an den beiden Fensterchen, das kühle Halbdunkel, der herbe Tama¬
rindensaft und die prachtvollen Zöpfe hinter dem Schenktisch ließen mich den
heißen Dunst der Archivräume und die verzwickten Schnörkelschriften der Perga¬
mente bald vergessen. Ich plauderte als einziger Gast mit der schönen Venezianerin
über das Viertelstündchen, das ich mir sonst gewährte, hinaus. Lange konnte
ich in dem Dämmer die Farbe ihrer Augen nicht herausfinden. Sie waren
groß und mandelförmig geschnitten und blitzten wie der fein geschliffene Kelch
auf dem Türmchen des Buffetto. Über ihre weichen Lippen sprudelten die Worte
so frisch und klar wie ein lauteres Schneebächlein, das durch blumige Alp¬
triften rieselt, und eine Stunde verging, ich wußte nicht wie.
Jeden Tag kehrte ich fortan bei der blonden nella ein, die ich als schlichtes
Kind der Markusstadt kennen lernte. Sie hauste mit einer häßlichen bogen-
nasigen Alten, deren Züge wie aus Erz gegossen schienen und die sie Mutter
nannte, obschon die beiden im Gesicht kein Strichlein und kein Tüpfelchen
gemein hatten. Im Benehmen der Tochter war bei aller Kindlichkeit eine
vornehme Grazie, etwas ungemein Sympathisches, das meine Blicke gefangen
nahm. In den Augen der Mutter, die sich uur selten zeigte, lag aber ein
grüner giftiger Glanz, so daß ich unwillkürlich vorbeischaute, wenn sie ein Wort
an mich richtete.
Ich bin im Grunde ein guter, einfältiger Kerl, buona pasta, wie die
Italiener sagen. Wenn ich mit einem unschuldigen Lämmchen scharmutziere, so
kommen mir immer Heiratsgedanken. Um die Schulbildung Nellas jedoch stand
es erbärmlich schlecht, wie man es bei einem Volkskinde Italiens nicht anders
erwarten durfte. Beim Lesen stockte sie häufig. Eine Zeitung hielt die Mutter
nicht und Bücher besaß sie keine. Die Stadt Venedig umfaßte in ihren kind¬
haften Vorstellungen die halbe Welt. Von dem, was zu beiden Seiten von
San Marco lag, jenseits des Lido und der Küste des Festlandes, hatte sie nur
eine verschleierte Vorstellung — hier das Meer, dort Getreideäcker und Mais¬
felder und ganz in der Ferne die waldigen Alpen.
„Haben Sie in der Schweiz auch Berge, wie man sie vom Markusturm
aus erblickt?" fragte sie einmal mit Heller Sopranstimme, oder „gibt es in der
Schweiz auch ein Meer mit großen Schiffen?"
„Nein, Donzella mia," erwiderte ich. „Wir haben wohl hohe Berge
mit Schnee und Eis darauf auch im Sommer, aber kein großes schönes Meer
wie die Adria."
„Prrr!" schnurrte sie, öffnete die lachenden Augen und schüttelte den
schweren Haarschopf. „Eis und Schnee auch jetzt noch bei der Hitze! In der
Schweiz möchte ich nicht wohnen. Und Sie sind doch so fröhlich wie wir und
haben Feuer in den Augen."
Ich streichelte die schmale weiße Hand und rückte den Stuhl näher, indem
ich sagte: „Die Schweizer sind sonst die reinsten Eiszapfen. Auf den Bergen
zum Exempel befinden sich große Weiden, wo im Sommer die Herden grasen.
Da sitzt am Abend der junge Hirte mit der Sennerin in der gleichen Stube,
raucht einen sündhaft schlechte:? Knaster und sagt alle Pfeifenlängen ein Wort
zu der Dirne. Und wenn es stockdunkel ist im Gemach, so wünscht er gute
Nacht und sie schlüpft in die Nebenkammer und schläft so sicher und ruhig, als
ob die Erzengel bei der Tür Wache ständen."
„Chö-ass," machte sie, stützte das Kinn in die Hand und schwieg. Ich
rückte wieder um eine Spanne näher und legte den Arm um ihren Hals.
„Weißt nella, die Älplerinnen sind keine zierlichen Markustäubchen wie du
eines bist. Die haben dicke rote Backen und ein winziges Schneckenzöpfchen,
und wenn einer sie anrührt, so fauchen sie wie die Katzen. Wenn aber am
frühen Morgen über den Bergen die Sonne emporsteigt und jedem Felskopf
eine goldene Krone aufsetzt und die Wildbachorgeln das Morgenlied anstimmen,
so vergißt man die hausbackene Sprödigkeit der Sennerinnen, corpo ti Banco,
so großartig ist es auf den Bergen."
„Aber lange nicht so schön wie eine venezianische Nacht," wandte sie ein.
„Die kennen Sie wohl nicht?"
„O doch, in den Städten haben wir auch venezianische Nächte. Man sitzt
an großen Festtagen im Gärtchen, hängt einige Papierlaternen aus, raucht eine
feinere Sorte Tabak und trinkt fünf, sechs Flaschen Pils dazu. Das nennen
wir bei uns venezianische Nacht."
„Ohne Gondeln und das leuchtende Meer und ohne den Mond, der sich
im Wasser badet? Nein, was seid ihr für komische Leute. Am elften, da ist
das große Fest, da werden Sie staunen! Sie machen doch auch mit? Da fährt
ja die ganze Stadt in der Gondel I"
„Natürlich," rief ich aus. Ich hatte meine Sinne schon längst auf dieses
sonderbare Volksfest gerichtet. „Da sitzt man wie ein Gott im Stern der Gondel
und preßt das Liebchen in den Arm."
„Da werden Sie halt das Ihrige auch mitnehmen," sagte sie kokett und
beugte den Kopf zur Seite.
„Wenn sie nicht nella heißt," gelobte ich stürmisch, „so pfeife ich auf die
ganze Herrlichkeit mit der Giudecca und den Lagunen. Kommst mit, Colombina?"
„Aber die Mutter — sie darf es nicht wissen. Ja, ich komme."
In ihren Augen sprühte es feuerheiß. Ein freudiges Lächeln ließ die
schneeweißen Zähne schimmern, dann flog ein Schatten über das reizende Gesicht.
Sie erhob sich rasch und starrte in jähem Schreck nach der Tür, unter der ein
hagerer Mensch mit schwarzen stechenden Augen erschien. Der vornehme Gast
musterte zuerst das Mädchen, dann mich mit einem Blick, in dem Hohn und
Verachtung lag. Ich war im Begriffe aufzubrechen, aber diesem blassen Fremd¬
ling zum Trotz blieb ich und bestellte noch einen Likör.
„Und mir bringst du nichts, Damigella?" ertönte die heisere Stimme des
unliebsamen Gastes. Er hatte sich ans andere Tischchen gesetzt, schlug jetzt die
Beine übereinander, zog die Handschuhe lässig von der schmalen Hand und
zupfte an seinem graumelierten Schnurrbärtchen. Es war das Alltagsgesicht
eines Tagediebes und Lebemenschen, in dem das Gemeine, ein grober Zug ins
Sinnliche scharf hervorstach.
„Commandi Signore," erklang die helle Stimme Nellas, durch die ein
leises Zittern ging.
Der Glatzköpfige leerte das Spitzglas in einem Zuge, erhob sich, schwenkte
um das Buffetto und schritt zur Tür hinaus, indem er noch die Worte hinwarf:
„Ich habe mit der Mutter zu reden."
„Was ist denn das für ein widerwärtiges Gespenst?" fragte ich das Dirnlein,
dessen Wangen noch eine leichte Blässe deckte.
„Ich kenne ihn weiter nicht," erwiderte sie mit verhaltener Scheu. „Meine
Mutter nennt ihn nur den Marchese. Er wohnt in einem stolzen Palast auf
der Giudecca und kommt seit einiger Zeit jede Woche, verlangt nach der Mutter
und läßt immer einen Notenschein zurück. Ich habe so Angst vor dem Menschen.
Nicht wahr, Ihnen darf ich es schon sagen. Sie meinen es gut mit mir?
Sie sind ja fremd hier und ziehen bald wieder fort. — Einmal kniff er mich
in die Wange, aber ich schlug ihm ins Gesicht, worauf er lachte und höhnend
rief: ,Warte nur, flügges Herzchen/ Die Mutter aber schalt mich und rühmte
den Unhold, wie er reich sei und Gefallen an mir finde. Wenn er kommt,
möchte ich fliehen, aber ich weiß nicht wohin."
Ich tröstete das verängstigte Kind, dem eine Träne in den Wimpern hing,
aber es war mir zumute wie einem Verirrten, der im Nebel herumtappt, tapfer
draus losschreitet und doch nicht ans Ziel kommt. Als ich gute Nacht wünschte,
drückte sie in tiefer Wehmut lange meine Hand und ließ sie erst unter der Tür
los, wo sie mir nachschaute, bis ich aus dem Gäßchen in die Piazza einbog.
Die Obstfrau mit den hundert Runzeln im Gesicht, die vor ihrem Fruchtstäuder
saß und den Tageserlös nachzahlte, überrannte ich beinahe.
Am nächsten Tage war ich früher als sonst mit der Arbeit zu Ende. Es
trieb mich zu dem blonden Mädchen, das auf mich wartete.
In der Buvette saß anstatt der Tochter die Alte im Winkel über einen
Papierbogen geneigt, den sie mühsam entzifferte. Bei meinem Erscheinen faltete
sie den Fetzen und schob ihn in die Tasche. Ans Tischchen heranhumpelnd
fragte sie mit süßlicher Unterwürfigkeit nach meinem Wunsche. Ich suchte ein
Gespräch über den Marchese anzuknüpfen. Die Alte verkniff jedoch die Augen,
riß sie wieder auf und bohrte den Blick in mich. „Er kommt diese Woche
nicht mehr und ich weiß nur, was alle Welt von ihm weiß," sagte sie aus¬
weichend, machte sich beim Schenktisch zu schaffen und klappte laut mit den
Gläsern, um weitere Fragen überhören zu können.
Da erschien nella mit einer Schale flaumiger Pfirsiche, die sie vor mich
hinstellte. „Ich habe der armen Obstfrau da drüben ein Kleines abgekauft.
Sie ist immer so lieb zu mir."
Als sie die Mutter bemerkte, schwieg sie. Die Alte zog den Vorhang, verjagte
mit einem Lappen das Fliegmgeschmeiß und schlürfte dann selber zur Tür hinaus.
nella sah blaß und müde ans, Die Goldkrone wölbte sich über der weißen
Stirne.
„Du hast wohl schlecht geschlafen, Bunda," redete ich sie an und zog sie
auf den Stuhl an meine Seite.
„Ich bin froh, daß du da bist," sagte sie traurig. „Ich habe die Nacht
zwischen Wachen und Weinen zugebracht. Die Mutter hat mir vor dem Zubette-
gehen gesagt, daß der Marchese mich zur Frau verlange. Du weißt schon — nur
so für eine Woche. Und da hat sie mir ein goldenes Ketilein um den Hals
gehängt — vom Signor Marchese, der mich liebe und mich grüßen lasse. Ich
habe die Kette in eine Ecke geschleudert, und dann hat die Mutter geschwiegen."
Der Zorn gegen den Schurken stieg mir zu Kopfe. Sollte sozusagen am
hellen Tage ein frevles Spiel mit dieser Unschuld getrieben werden. Und die
Mutter könnte um ein paar lumpige Hundertmarkscheine ihr eigenes Kind opfern!
Der Gedanke war entsetzlich.
nella verstand meine Aufregung. „Fürchte nur nichts für mich," fagte
sie mit gedämpfter Stimme. „Vorläufig ist die Gefahr nicht groß. Wenn er
sich unterstehen sollte, mich zu zwingen, so wird er mich nur tot in sein Hans
schleppen." Das sagte sie in ruhiger Ergebung. Aber das Kleid auf ihrer
Brust straffte sich und ein leises Wogen verriet, daß sie das Bangen auch nicht
mehr los werden konnte.
Ich stand auf und rief in voller Entrüstung: „Ich gehe noch heute auf die Polizei."
„O, wo denkst du hin, das wäre für uns — für meine Mutter ganz sicher
der Ruin. Schon einmal — nein, ich habe mir die Zukunft überlegt. Nächsten
Montag reise ich zu einer Freundin nach Padua. Dort bin ich in sicherer Hut
und dann komme ich nie mehr zurück. Morgen jedoch, da ist der elfte. Da
wollen wir zusammen gondeln. Die Garreggiante schwimmt schon auf dem
Wasser. Du kommst doch?"
„Um wie viel Uhr?"
„So zwischen acht und neun."
„Sagen wir um neun. Wo wollen wir uns treffen?"
Sie wies nach der Giuoecca. „Dort wo die Zattere in den großen
Kanal mündet."
„Und wenn du nicht dort bist —"
„Dann bin ich tot!" rief sie lächelnd und bot mir den Mund zum Kusse.
Als ich draußen zurückschaute, stand sie auf dem Sockel, doch nicht blaß wie
gestern, sondern mit purpurrotem Wangen. Es dämmerte schon in dem Gäßchen,
aber das korngelbe Haar schimmerte noch golden und leuchtete wie der ver¬
glimmende Schein der Abendsonne. Sie winkte mit der Hand und rief „felice molte".
(Schluß folgt)
le alte Generation unserer Pädagogen von Bedeutung hat in den
letzten Jahren drei Männer vom ersten Rang eingebüßt: Friedrich
Paulsen, Oskar Jäger, Wilhelm Münch. Bedeutet auch jeder
dieser Namen in gewissem Sinne ein besonderes Programm, zeigt
jeder seine charakteristischen Züge, so ist doch ihre Gemeinsamkeit
nicht minder auffallend, wenn wir sie gegen diejenigen heutigen Erzieher halten,
die auf grundstürzend neuen, oft nur vom Reiz der Neuheit empfohlenen Bahnen
neue Ziele zu erreichen streben. Wenn die Erziehungslehre jeder Zeit dem
sittlichen wie dem sozialen und kulturellen Ideal dieser Zeit sich anpassen mußte,
so ist das gegenwärtige lebhafte Schwanken auf demi Gebiete der Schule und
Jugendbildung nicht verwunderlich. Denn keine Zeit war, soweit wir sehen,
ähnlich gespalten in den Anschauungen von dem erstrebenswerten Ziel der
Erziehung wie die heutige. Keine aber hat auch gleichzeitig so sehr die Erziehung
und speziell die Schule für alles verantwortlich gemacht, was an Gutem und
besonders an Bösem aus den Menschen wurde. So kommt es, daß der Streit
um Erziehungsfragen fortwährend im Vordergrund des öffentlichen Interesses
steht, daß die heftigsten Rufer im Streit die zahlreichsten Gefolgsleute haben
und von den außerhalb der Schranken stehenden Zuschauern am meisten Beifall
und Aneiferung erfahren.
In diese Atmosphäre des Kampfes, in diese Zeit der Teilnahme aller, auch
der Leichtestbewaffneten, am Streite um die Jugendbildung, passen jene Pädagogen
der älteren Generation nicht mehr recht hinein. Sie stellen dem heftigen An¬
sturm von heute sichere Überzeugungen entgegen. Und wenn bei ihnen ab und
zu das Konservative etwas mehr überwiegt, als es selbst den Gemäßigten in
der heutigen Pädagogenwelt berechtigt scheinen kann, so haben sie sich doch nie
den neu herantretenden Anforderungen und Anregungen geradezu verschlossen.
Denn keine Überzeugung ist engherzig, die, wie es hier der Fall ist, auf dem
Grunde einer durch Studium des Vergangenen, eigene Erfahrung und scharfen
Blick in das Gegenwärtige erwachsenen Weltanschauung ruht.
Vielleicht dürfen wir in besonderem Maße Wilhelm Münch die Anerkennung
zollen, daß er bis zu seinem Ende den Erscheinungen des ihn umflutenden
Lebens gerecht wurde. Dies gilt nicht nur von seinem Spezialgebiet, dem
Schul- und Erziehungswesen, sondern von allen Gebieten, die wir im engeren
Sinne als Kulturgebiete zu bezeichnen pflegen. Allerdings war Münch Schul¬
mann in erster Linie und im Kern seines Wesens, und alles, was ihm ent¬
gegentrat, maß er — fast unbewußt — an seinem Einfluß auf das Gebiet der
Erziehung und Schule. Aber eben daß er diese Verbindungen auch da noch fühlte,
oder vielmehr, daß sein Inneres diese Verbindungen auch da noch herstellte,
wo andere, weniger weitschauende Geister längst keine Beziehungen mehr finden,
das zeigt, wie tief er den Wurzeln der Erziehungsfragen nachspürte. Seine
erzieherischen Prinzipien beruhten auf dem Unterbau einer Weltoffenheit, die
wir bei deutschen Gelehrten seines Zeitalters zu finden fast erstaunt sind. Es
scheint, als habe jede neue Erscheinung auf dem Kulturgebiet, wenigstens jede
neue Färbung des Milieus ihn geradezu genötigt, dazu Stellung zu nehmen,
sie in sich zu verarbeiten, mit seiner bisherigen Erfahrung zu verschmelzen und
das Ergebnis darzustellen. Die geschmackvolle Form seiner Aufsätze ist den
Lesern dieser Zeitschrift, deren Mitarbeiter er seit fünfzehn Jahren war, nicht
fremd. In kürzeren oder längeren Abhandlungen, die Münch in den ver¬
schiedensten pädagogischen, wissenschaftlichen und allgemeinen Zeitschriften ver¬
öffentlichte, hat er offenbar die ihm gemäße Darstellungsform gesucht und
gefunden. Der größte Teil dieser Arbeiten ist gesammelt nochmals erschienen
und füllt eine stattliche Reihe von Bänden, deren Titel den in ihm lebendigen
Zusammenhang zwischen Erziehung und Kulturströmung immer deutlicher dar¬
stellen: „Neue pädagogische Beiträge" 1893, „Vermischte Aufsätze über Unter¬
richtsziele und Unterrichtskunst", 2. Aufl., 1896. „Über Menschenart und
Jugendbildung" 1900, „Aus Welt und Schule" 1904. „Kultur und Erziehung"
1909, und endlich — wenige Wochen vor seinem Tode abgeschlossen: „Zum
deutschen Kultur- und Bildungsleben" 1912. Weitere Kreise werden Münch
mehr aus diesen geistreichen, auch stilistisch oft hervorragenden Essays kennen,
als aus seinen pädagogischen Hauptwerken: „Geist des Lehramts" 1903,
„Zukunftspädagogik", zweite stark umgearbeitete Auflage, 1908, „Gedanken
über Fürstenerziehung" 1909. Und in der Tat: die Vielseitigkeit der Interessen,
die lebhafte Teilnahme an dem Kulturleben des deutschen Volkes und seinen
Beziehungen zu dem anderer Völker, das geistvolle Urteil in diesen Abhandlungen
sprechen vielleicht alle die mehr an, die nicht gerade von Berufswegen auf
pädagogische Dinge aufmerksam sind.
Psychologisches Feingefühl, also das. was der Erzieher in erster Linie
braucht, ist ein Grundzug in Münchs Wesen. Entschiedener Vertreter des ein¬
fühlenden Begreifens der kindlichen Psyche, kann er in den gegenwärtigen
experimentell - psychologischen Bestrebungen nicht restlose Aufklärung suchen.
Persönliches Verständnis scheint ihm das Erforderliche; wer verständnisvoll an
ein Gebiet herantritt — sei es nun das pädagogische oder irgendein anderes —
der hat die Vorbedingung für alles praktische Handeln. Aber freilich ist neben
dem Verstehen das Wollen die andere Wurzel des richtigen Tuns. Da ist es
für Münch bezeichnend, daß er hie und da wie mit einem Ruck Halt macht,
wo die Grenze der verständnisvollen und verständniswirkenden Analyse und der
praktischen Stellungnahme liegt. Man könnte sagen: das tout comprenärs
ist sein Ziel, die feine geistvolle Analyse seine Domäne, aber eine gewisse Scheu
vor der Aktivität, vor der Offensive durchzieht alle seine Schriften. „Es ist
zwar nicht richtig," sagt er einmal, „daß alles Wirkliche vernünftig sei. Aber
das Gewordene und Bestehende ist niemals von Hause aus so unsinnig, wie
es wohl in dem Augenblicke erscheint, da es geschichtlich von Neuem abgelöst
wird." Aus diesem Wort läßt sich Münchs ganze Stellung gegenüber dem
Weltgeschehen verstehen. An anderer Stelle äußert er sich: „Ob alles zu ver¬
stehen wirklich schon verpflichte, alles zu verzeihen, sei dahingestellt. Aber
wirklich möglichst alles zu verstehen, ehe man verwirft und verurteilt, ehe man
Recht und Schuld nach der einen und der anderen Seite zuerkennt, ist jedenfalls
Pflicht. Eine Pflicht übrigens, die nur wenige sich zumuten und freilich auch
nicht allzuviele übernehmen können."
Diese Anschauung führt Münch natürlich zu vermittelnden Standpunkten
in allen Fragen, die ihn beschäftigt haben. Er ist sich bewußt, daß er berufen
ist, diese Standpunkte des überlegenen Verständnisses einzunehmen: „Natürlich
kommt es darauf an, ob man die Mitte sucht, weil man nicht den Mut hat
oder nicht die Klarheit, sich zu einer Partei zu schlagen, oder weil eine viel¬
umfassende Erfahrung, eine eingehende Kenntnis aller in Betracht kommenden
tatsächlichen wie psychologischen Verhältnisse aus der kampferfüllten Ebene hinweg
auf eine größere Höhe mit weiterem Umblick hat gelangen lassen." Auf diese
Höhe sucht Münch auch seine Leser zu führen. Und mag es ihm dabei auch
manches Mal nicht gelingen, den zu befriedigen, der praktische Anweisungen für
den Werktag aus den Schriften des Pädagogen schöpfen möchte, so wird er
doch jeden ernsten Menschen zum Nachdenken nötigen, ihm zu einer Sonntags¬
stimmung verhelfen, die ihre Früchte auch im Alltag zeitigt. Münch erkennt
eben die Schwierigkeiten des Erziehungswerkes in solcher Tiefe, daß er nur
schwer und zögernd und mit Vorbehalten an die Aufstellung allgemeingültiger
pädagogischer Regeln herangeht. Und wie auf dem Gebiete der Erziehung,
so anderwärts.
Aus der verstehenden Analyse der Erscheinung erwächst dem Denker natürlich
kritische Stellungnahme; aber sie ist bei Münch im wesentlichen defensiv, selten
offensiv. So ist auch seine Kritik nicht zersetzend, sondern ein überlegener Ein¬
blick in die Bedingungen der gegenteiligen Ansicht. Miene und Tonart des
Vortrags sind auch bei der Ablehnung leidenschaftslos. Gewiß, Münch scheut
sich nicht, die Wahrheit auszusprechen, aber kein flammendes Auge, kein Beben
der Stimme verrät den inneren Anteil. Kaum, daß wir im Geiste seine Mund-
Winkel, spöttisch oder etwas bitter, zucken sehen. Was er ablehnt, nennt er
wohl einmal „minder erfreulich", und selbst da fügt er wie entschuldigend
hinzu: „wenn auch nach Menschenart durchaus verständlich"; von einer falschen
Auffassung sagt er: „Ich möchte ihr weiter keine Worte widmen, denn bei
allein Streben nach Gerechtigkeit könnten es keine freundlichen seinl" Selbst in
Dingen, die ihm höchst zuwider sein müssen, und die ein anderer mit weniger
Geist, aber mehr Temperament behandeln würde, sieht er Auswirkung der
„Gesetze der Zeit". Warm werden sehen wir ihn höchstens gelegentlich bei der
Abwehr allzu törichter Vorwürfe gegen seine Schule.
Wer so wie Münch in die inneren Voraussetzungen der Erziehung (vgl. u. a.
den Aufsatz „Poesie und Erziehung", Grenzboten 1899, I.) und ihrer Methoden
eindringt, dem erscheint das pädagogische Gebiet nicht als ein ringseingehegtes
Gartenland, sondern ihm führen Wege nach allen Richtungen hinaus ins Leben.
Und wie er versteht sich in die Kindesseele einzufühlen, so zeigt er sich auch als
Meister des Verständnisses fertiger Charaktere. Man darf hier auf die Studien
über Jean Paul verweisen; die Grenzbotengemeinde aber kennt Münch auch aus
seiner Würdigung Miltons (1908, IV.) und — gleichsam am entgegengesetzten
Rande desselben Gebietes—aus der ausgezeichneten Studie überAlthoff(1909,IV.).
Oft aber erweitert sich ihm die psychologische Betrachtung auf das Gebiet
der Volks- (z. B. „Volk und Jugend". Grenzboten 1897, III.. „Neugier und
Wißbegier", Grenzboten 1905, I.) und Völkerpsychologie; auch zur Psychologie
der Masse hat Münch (besonders in den Aufsätzen „Volk und Jugend" und
„Der Einzelne und die Gemeinschaft") eine Reihe feiner Bemerkungen gemacht.
Es ist dem milden Wesen Münchs sehr angemessen, das Menschenleben
und seine Phasen als solche sinnig zu betrachten („Die Lebensalter", vgl. auch
„Ruhm und Lebensdauer", Grenzboten 1901, I.); besonders in seinen letzten
Lebensjahren lagen dem weithin rückschauenden, viel erfahrenen Greise solche
Betrachtungen nahe. Ja, in diesem Rückwärtsschauen schlägt die Neigung
Münchs, alle Lebenserscheinungen in ihre Bedingtheiten aufzulösen, in eine
künstlerisch anmutende Gabe des Zusammenschauens um. Und so hat er als
anspruchsloser Gestalter drei kleine Bände Erzählungen veröffentlicht; zumeist
etwas wehmütige Erinnerungen an Gestalten und Ereignisse seines reichen
Lebensganges, lebenswahre Porträts und Genrebilder aus dem Schatz des
Erfahrenen („Gestalten vom Wege", 1905, „Leute von ehedem". 1908, „Selt¬
same Alltagsmenschen", 1910).
Immer aber stehen diese Darstellungen wie die erwähnten Essays auf dem
Grunde einer sicheren Kulturbeurteilung. Nicht selten streift Münch mit kleiner
Wendung den Gegensatz von einst und jetzt, und ein resignierter Zug scheint
dann sein Antlitz zu verdunkeln. Ja es ist für uns Heutige von wesentlicher
Bedeutung, wie auch ein so milder Beurteiler zu dem verwirrenden Vielerlei
der gegenwärtigen Kulturerscheinungen Stellung nimmt. Gewiß sucht Münch
vor allem das Seiende als Gewordenes zu verstehen; aber an diesem Punkte
kann er ohne eine scharfe Scheidung zwischen dem sür seine Individualität
Annehmbaren und dem durchaus Abzulehnenden kaun: durchkommen. Natürlich
ist es zunächst das heutige Bildungsideal, dem seine Kritik gilt, und er hat —
neben seiner „Zukunftspädagogik" — in einer ganzen Reihe von Aufsätzen seine
kritische Auffassung von Wissen und Bildung, Bildung und Gesittung, Bildungs¬
und Lebensidealen ausgesprochen, auch ganz neuerdings noch in den Grenzboten
(1911, III.) den Kampf der Bildungsideale von hoher Warte gewürdigt.
Sodann aber hat er aus dem berechtigten Gefühle seiner Überlegenheit an
innerer Kultur zu vielen äußeren und inneren Gebresten der heutigen „Kultur¬
menschheit" immer entschiedener das Wort genommen (schon in dem Vortrage
„Zeiterscheinungen und Unterrichtsfragen", 1895). Als letzte, gewissermaßen
abschließende Kundgebung aus diesem Gebiete kann in dem soeben erschienenen
Bande „Zum deutschen Kultur- und Bildungsleben"*) der umfangreiche Aufsatz
„Kulturfortschritt und Gegenwart" gelten. Mit Entschiedenheit widerlegt er hier die
Behauptung vom allseitigen Kulturfortschritt, dem unaufhaltsamen Triumph des
menschlichen Geistes, legt die Elemente dessen, worauf unsere Zeit so sehr stolz zu
sein pflegt, in ihrer Fadenscheinigkeit bloß und kommt zu Ergebnissen, die nicht alle
schmeichelhaft für die Gegenwart sind. Ähnliches kann von den zahlreichen
Gedankensplittern gesagt werden, die Münch als einen Schatz von Lebensweisheit
sich gesammelt hat (veröffentlicht in dem eben erwähnten neuen Bande, in dem
Buche „Kultur und Erziehung", in den „Randbemerkungen zum Texte des
Lebens", 3. Aufl.). Was er da sagt, das wird für nachdenkliche Leute seinen
Wert behalten und ist vielleicht das Persönlichste, was wir von ihm haben.
Man mag bedauern, daß er seine Kulturauffassung und seine Lebensphilosophie
nicht zusammenfassend zu gestalten unternommen hat, gewiß wäre dann auch sein
Kulturbegriff noch schärfer herausgearbeitet und von mancherlei durch den Sprach¬
gebrauch Hineingetragenem losgelöst worden.
Die Ablehnung so mancher Seiten des heutigen Volkslebens hinderte Münch
aber nicht, bis an sein Lebensende verstehend, abwehrend, warnend seine Stimme
zu erheben. Doch klingt oft ein Ton der Resignation hinein, wenn der Pädagoge
die Begrenztheit und Relativität der Erziehungsmöglichkeiten erwägt, besonders
aber, wenn der Kulturphilosoph sich genötigt sieht, die Überzeugung auszusprechen,
daß der Höhepunkt der deutschen geistigen Entwicklung schon um ein Jahr¬
hundert hinter uns liegt, und daß wir uns in einer Periode der „Vergröberung,
Verrohung, Entgeistigung" befinden. Er hat dies, soviel ich sehe, in keiner
seiner Veröffentlichungen mit so scharfen Worten ausgesprochen, wie in einem
mir vorliegenden Privatbriefe*"):
„Die Völkerwanderung hat vielleicht weniger Werte vernichtet als die
gegenwärtige „Kultur" Werte zergehen läßt. seelisches Leben ist weithin
bloßem Nervenleben gewichen, Zentralität der Persönlichkeit wird kaum irgendwo
gesucht, Verantwortung. Pflicht, Selbstüberwindung usw. werden unbekannte
Begriffe. Das innere Elend des Großstadtlebens greift immer weiter. Gleich¬
wohl, wenn es unter diesen Verhältnissen schwerlich der Geisteskraft einer ein¬
zelnen Person möglich wird. Hemmung und Umkehr im Großen zu bewirken:
man darf auf die immanente Regenerationsfähigkeit der Menschheit hoffen; es
ist die einzige Möglichkeit, um überhaupt Hoffnung zu behalten."
Münch, der Pädagoge, Münch, der Lebensphilosoph, Münch, der Kultur¬
kritiker — hat uns noch etwas zu sagen. Seine stillen Worte werden
auch im Geräusch des heutigen Lebens hellhörige Ohren finden.
Zum vierten Male sind Windelbnnds
„Präludien" (Aufsätze und Reden zur Ein¬
leitung in die Philosophie. Verlag von I. C.
B. Mohr sPnul Siebecks, Tübingen) in die Welt
gegangen, auch jetzt wieder um einige wertvolle
Beiträge („Nach hundert Jahren" — zu Kants
hundertjährig ein Todestage —„Schillers trans-
cendentalerJdealismus", „Die Erneuerung des
Hegelianismus", „Pessimismus und Wissen¬
schaft", „WerWesen undWert der Tradition im
Kulturleben", „Bildungsschichten und Kultur¬
einheit", „Kulturphilosophie und transcenden¬
taler Idealismus") vermehrt, so daß eine Tei¬
lung in zwei Bände nötig wurde. Sie spiegeln
Gedanken eines der bedeutendsten Philosophen
der Gegenwart, die ihn ini Lause von fünf-
unddreißig Jahren bewegt haben. Die form¬
vollendeten Untersuchungen sind zum großen
Teil durch Ereignisse des akademischen Lebens,
durch geschichtliche Gedenktage usw. veranlaßt
worden. Deshalb sind ihre Gegenstände so
mannigfach. Der erste Band enthält Ab¬
handlungen historischen Charakters, während
der zweite Band mehr oder weniger syste¬
matische Untersuchungen vereinigt. Wo wir
hmgreifen, genießen wir die Frucht reifer und
tiefer Überlegung. Schlagen wir etwa den
Aufsatz über Hölderlin und sein Geschick auf,
so fesselt uns die geistvolle Durchführung des
Gedankens, daß des unglücklichen Dichters
Wahnsinn „das charakteristische Symptom
für eine soziale Krankheit ist, welche sich
aus den eigentümlichen Verhältnissen des
modernen Geisteslebens entwickelt hat und
immer gefährlichere und drohendere Ge¬
stalten annimmt". Die uns drohende
Gefahr liegt in dem widerspruchsvollen,
vielfältigen und verzweigten Charakter unsrer
Kultur, dem das einzelne Individuum hilflos
gegenübersteht Diese Notlage drangt auf
die Bahn des Dilettantismus, der heut¬
zutage auf allen Gebieten des geistigen und
öffentlichen Lebens, ja in den öffentlichen In¬
stitutionen (der Parlamentarismus!) sein Wesen
treibt. — Oder greifen wir zur Rede, die
Windelband aus Anlaß des Straßburger Denk¬
mals für den jungen Goethe gehalten hat:
wie fein sind da die Umrisse der Philosophie
Goethes gezeichnet! Uns packt der Zusammen¬
klang von Goethes Individualismus und des
tief in ihm wurzelnden religiösen Gefühls,
daS in der Ehrfurcht vor den uns umgebenden
Geheimnissen seinen Ausdruck findet, in der
Ehrfurcht, die er als den sittlichen Kern aller
Erziehung bezeichnet hat. — Und dann mag
uns wieder ein Aufsatz fesseln, der die wissen¬
schaftliche UnbeweiSbarkeit der Geltung des
Pessimismus und Optimismus dartut oder
der die Betrachtung unseres Lebens sub specie
seternitstis lehrt. „Das Licht der Ewigkeit
leuchtet mir nicht im Wissen, sondern im Ge¬
wissen," heißt es dort. Die Ewigkeit will nicht
erkannt, sie will erlebt sein, denn das Wan¬
dellose, Ewige erschließt sich uns in der Ge¬
stalt des Wertbewußtseins.
Keiner, welcher Geistesrichtung er an¬
gehören mag, wird beim Lesen der „Prä¬
ludien" völlig leer ausgehen. Hier leben
wundervolle Harmonien, die in einer synthe¬
tischen Verarbeitung zur dotieren Entfaltung
gelangen, nie aber ihren Eigenwert einbüßen
können. Die Sammlung ist allzu verbreitet,
als daß eine eingehendere Besprechung am
Platze wäre. So mag der Hinweis auf die
Neuauflage genügen, um recht viele zum Lesen
Seit längerer Zeit ist festgestellt, daß
der schlesische Berggeist Rübezahl erst im Ge¬
folg der deutschen Zuwanderung nach dem
Riesengebirge gelangte und ursprünglich im
Harz gehaust hatte. Er hat dort freilich den
charakteristischen Namen eingebüßt und sich in
den „wilden Mann" verwandelt, was aber
die Ähnlichkeit mit dem östlichen Ableger nicht
beeinträchtigte. Der Berggeist ist dämonischer,
also halbgöttlicher Art; er hütet die unter¬
irdischen Naturschätze, gibt zuweilen mild und
überreichlich davon her, hat aber häufig An¬
fälle von Bosheit und Grausamkeit. Dann
täuscht er die Menschen oder bringt sie gar
um. Kurzum, er Personifiziert die Extreme
des Bergmannsglücks. Richtig ist auch die
jetzige Deutung: Rübezahl Rübenzagel
iNübenschwanz). Aber es spricht vorweg vieles
dagegen, daß der ursprüngliche Sinn dieser
Bezeichnung Hohn und Schimpf enthielt,
wenn auch die jüngeren RiesengebirgSlegenden
des Geistes Empfindlichkeit gegen den ver¬
meintlich herabsetzenden Namen stark unter¬
streichen. Nun erfolgte die deutsche Koloni¬
sation des Riesengebirges, Glatzer Schnee¬
gebirges und des Geheules seit dem dreizehnten
Jahrhundert von Thüringen und Sachsen her;
sie entwickelte den Bergbau erst nach und
nach. Im Schneegebirge kam er höchstens
sporadisch in Angriff, es gibt dort auch keinen
Rübezahl. Wohl aber kennt diese Bevölkerung
eine Pflanze solchen Namens („Rübazehl" im
Dialekt), und zwar den buschigen Schachtel'
Halm (Lquisetum arvense), der meistens als
Unkraut zwischen Rüben, öfter noch im Flachs
und dann vorwiegend bei feuchtem Boden
auftritt. Die Ursache der Benennung ist klar:
der junge Schachtelhalm fingiert den Busch
der Rübe, enttäuscht aber beim Herausziehen.
Wenn sich Rübezahl also an sozusagen
neutraler Stelle als unverfänglicher Pslanzen-
name erhalten hat, dann scheint es erlaubt,
an die Möglichkeit zu denken, daß der Berg¬
geist erst durch eine Bezugnahme auf den
Schachtelhalm zum Rübezahl wurde. Da
fällt ins Auge, daß die örtlich so verschiedenen
Festtrachten der Bergknappen einen Federbusch
bevorzugen, der die Kopfbedeckung überragt.
Es sind immer ältere Kostüme, in denen
Paradiert wird, aber seltsam wäre doch, daß
man einmal gar mit Federbüschen in die
niederen Gänge der Tiefe fuhr, wo sie noch
um ein gut Teil schlechter hinpaßten, als etwa
Stiefelsporen auf ein Schiffsdeck. Vielleicht
ersetzt heut der kleidsame Federbusch ein
älteres Symbol — den Schachtelhalmbusch,
mit dessen Gestalt er in der Tat hinreichende
Ähnlichkeit besitzt. Dann wäre auch anzu¬
nehmen, daß dieser „Rübenzagel" als ein
notwendiges Schutzabzeichen für den Häuer
gedacht war, durch das er sich und sein Werk
dem Gebieter der Tiefe empfahl. Der letzte
Schritt, die Übertragung des Symbols in
Benennungsform auf den Berggeist selbst,
vollzog sich in diesem Falle unschwer, ge¬
fördert Wohl noch durch den Druck, den die
Kirche auf alle solche Vorstellungen ausübte.
Doch auch an freien Beispielen fehlte es dafür
nicht: neben Heinrich dem Löwen, Albrecht
demi Bären heißen andere Personen schon
einfach Plantagenet, Zipolla oder Weißer Eber.
Hiernach stände nur der Erklärungsversuch
noch aus, wodurch denn der Schachtelhalm
in Aufnahme kam. Wahrscheinlich wäre, daß
man in alter Zeit an gewissen Stellen im
Vorkommen des Schachtelhalms (neben an¬
deren Merkzeichen vielleicht) das entscheidende
Kriterium des verborgenen Bergsegens gesehen
hat. Die Rolle der Flora bei Muthungen ist
wohlbekannt. So verrät Viola LalAmmaria
Zinkerzlager, besonders Galmei - Schichten,
Lonvolvulus slttiaeoicles hingegen den
Phosphorit, und in Amerika gibt es ver-
schied me anerkannte Leitpflanzen für Blei¬
glanzadern (Gummibäume, Sumach - Arten
und ^morpba cansscens). Bei Siegen ini
Rheinland zeigt ein sonst isolierter Birken¬
bestand in langer Strecke den Lauf eines
EisenerzgangeS an, und IZriZonum ovsli-
tolium soll sich als Silberanzeiger bewährt
haben. In einer Zeit aber, die sich gern
dauernd an äußere Begleitumstände hielt,
wäre es ganz natürlich gewesen,, daß die
Leitpflanze gleichsam als Legitimation beim
Eindringen in das dunkle Erdreich aufgesteckt
wurde. Und es ist doch sehr zu beachten,
daß im Märchen wie in der Sage eine seltene,
dicht am Geschehnisort wachsende Blume
immerdar nötig ist, um Schatzhöhlen zu er¬
schließen/
Dafür, daß der Berggeist und sein Pflanzen¬
symbol weithin gemeinsam gefaßt worden
sind, zeugt der Geist „Riede" im Taurus, der
auch anderwärts spuken soll. Man hat ferner
schon auf Orte wie Rübenach (unweit Koblenz),
Rühmen (Erzgebirge) in: Zusammenhange
mit Rübezahl hingewiesen, und schon näher
ans Harzgebiet brächte- uns der Neustädter
Rübenberg im Hannöverschen, namentlich
wenn dort etwa Spuren alter Bergbaubersuche
b
Das große Werk der brandenburgischen
Landeskunde ist schon zweimal in den Grenz¬
boten — Heft 62, 1909, und Heft 29,1911 —
besprochen worden; ich kann mich deshalb bei
dem dritten Bande, der „Volkskunde", um so
kürzer fassen, als gerade dieses Gebiet der
Volkskunde, der Volksdichtung und der Vor¬
geschichte aus einer Reihe von Einzelheiten
besteht, die nur dem Inhalte nach angedeutet
werden können. Zunächst behandelt der Mit¬
herausgeber Robert Mielke das Gebiet der
äußeren Volkskunde, auf dem er wie Wohl
niemand sonst gerade für die Mark zu Hause
ist- Seit Jahrzehnten hat er die Lande durch¬
wandert und alles gesammelt, was sich auf
die Flur, die Dorflage, auf Haus und Hof,
auf die Hausinschriften, die Trachten, auf die
landwirtschaftliche Arbeit, aber auch auf die
Verhältnisse der Städte in der Mark bezieht.
Alles das ist hier geordnet zusammengefaßt,
durch Abbildungen erläutert und in außer¬
gewöhnlicher Sachkunde verarbeitet worden.
Es ist erstaunlich, wie viel volkskundliches auf
den Dörfern noch erhalten ist, wenn man es,
wie Mielke, zu finden und wissenschaftlich zu
gestalten versteht. Um nur eins herauszuheben,
so sind auf S. 66 allein zweiundsiebzig ver¬
schiedene hölzerne Stuhllehnen und S. 73 nicht
weniger als einhundertelf Giebelzeichen ab¬
gebildet. Dieser erste Abschnitt nimmt ein¬
hundertsechzig Seiten mit einhundertzweinnd-
zwanzig Abbildungen ein.
Im engsten Zusammenhange mit der
äußeren Volkskunde steht die innere, die in
dem bekannten Sagen- und Märchensammler
der Mark, Wilibald von Schulenburg, einen
tüchtigen Bearbeiter gefunden hat. Was an
Sagen, Märchen, Sitten und Gebräuchen noch
erhalten geblieben ist oder bis vor Jahrzehnten
im Volke umlief, hat der Verfasser auf nahezu
einhundert Seiten zusammengestellt und durch
Zeichnungen nach dem Leben erläutert. Da
ist die Rede von den Göttern, Nixen, Wasser¬
jungfrauen, den Kobolden, Hausdrachen, von
Hexen, Tod und Teufel, kurz von allen jenen
über- und unterirdischen Wesen, die je im
Leben unseres Volkes, insbesondere des mär¬
kischen eine Rolle gespielt haben.
Im Anschluß hieran wieder hat der Ober¬
lehrer Dr. Heinrich Lohre die Volksdichtung
in der Mark geschildert und den Bestand an
Volksliedern dargestellt. Er unterscheidet das
größere weltliche Lied in der Gestaltung der
Ballade, in der Schilderung der Natur und
des Menschenlebens (Liebeslieder) und im
Standesliede, zu dem die Soldaten-, Jäger-,
Handwerksburschenlieder gehören. Eine be¬
sondere Gruppe bilden die geistlichen Volks¬
lieder, ebenso die Kinderlieder, die zumeist
mit Kinderspielen verbunden sind. Am Schlüsse
gedenkt der Verfasser der Volksrätsel, Sprüch-
wörter und Zaubersprücke, die noch im Volke
umlaufen, aber doch im Verschwinden begriffen
sind und sich wenigstens der Beobachtung der
Gebildeten fast immer entziehen. Vielen
Liedern ist die Sangesweise in Noten bei-
Herausgegeben von Ernst Frirdel und Robert
Miclle, unter Mitwirkung von hervorragenden
Fachleuten. 3. Band. „Die Volkskunde." Mit
272 Abbildungen, 19 Tafeln, 1 Karte. Berlin
1912, Dietrich Reimer (Ernst Vohsen). 516
Seiten; brosch. 4 M.
gefügt, wodurch sie erst recht verständlich
werden.
Der dritte und letzte Abschnitt dieses
volkskundlichen Bandes führt uns in das weite
Gebiet der Vorgeschichte und der Führer ist
Dr. A. Kiekebusch, ein Beamter des Märkischen
Museums, der in vortrefflicher Weise den
gegenwärtigen Stand dieser jungen Wissen¬
schaft im Bereiche der Mark vor Augen stellt
und ebenfalls mitten in der Arbeit drinsteht.
Er legt die Ergebnisse der Forschung vor und
gibt ein überaus klares Bild über das, was
als gesicherte Tatsache gelten kann oder viel¬
mehr angesichts der Funde gelten muß, und
spricht unumwunden aus, was nur als Ver¬
mutung aufgefaßt werden darf und weiteren
Forschungen überlassen bleibt. In dieser
Weise behandelt der Verfasser an der Hand
vieler Abbildungen die Steinzeiten mit ihren
Dolmen und Riesengräbern, die verschiedenen
Bronzezeiten mit den wunderbaren Gebrauchs¬
und Schmucksachen und dem großen Seddiner
Königsgrabe, dem vorgeschichtlichen Dorfe bei
Buch, das er selbst ausgegraben und bestimmt
hat, und mit manchem sonstigen Fundorte.
Hieran schließen sich die Übergänge zu den
Eisenzeiten, die ebenfalls mit Beispielen belegt
werden, und die späteren Perioden'bis zu
den Wenden in die geschichtlichen Ereignisse
hinein. Die Vorgeschichte der Mark ist Wohl
noch niemals in so knapper und doch ver¬
ständlicher Form auch für Gelehrte dargestellt
worden, wie hier von Kietebusch, der die
neuesten Funde bis zur Drucklegung seiner
Arbeit berücksichtigt und lichtvoll schildert.
Sonnt reiht sich auch dieser Band den
beiden ersten über die Natur und Geschichte
der Mark vollkommen ebenbürtig an und
wenn die beiden letzten Bände über die Kultur
und die Sprache entsprechend tüchtige Be¬
arbeiter finden, wie Wohl zu erwarten ist, so
ist in der Landeskunde der Provinz Branden¬
burg ein Werk geschaffen, das für lange Zeit
als mustergültig angesehen werden wird und
in mancher Beziehung geradezu erschöpfend
ist, daS aber auch über die Mark hinaus
Beachtung verdient, da sich z. B. ihre Vor¬
geschichte vielfach mit derjenigen der Nachbar¬
gebiete berührt. Man kann dem weiteren
Fortgange und der baldigen Vollendung des
Werkes nur alles Gute wünschen.
Dieses Werk behandelt knapp, doch ohne
am Detail zu sparen, alle Seiten des politischen,
öffentlichen und Privaten Lebens der Bieder¬
meierzeit. Es ist sicher nicht nus irgendeiner
Schwärmerei oder Vorliebe heraus entstanden,
dafür sind die dunklen Seiten zu ehrlich, die
lichten zu objektiv behandelt, sondern aus dem
Bestreben des Historikers, eine recht kom¬
plizierte Epoche in allen ihren Äußerungen:
Politik und Handel, Kunst und Wissenschaft,
Mode und Sitte, anschaulich und lebendig zu
schildern. Alles steht übersichtlich gruppiert
um seinem Platze und ist mit der Frische des
scharf Ergreifenden und verständnisvoll Nach¬
fühlender wiedergegeben. Unterstützt wird die
klare und überall flüssige Darstellung durch
sehr reichliche und hübsch ausgewählte Illu¬
strationen. Schon die zahlreichen Repro¬
duktionen von Handzeichnungen Krügers, von
Modcbildern, aus den Fliegenden Blättern
und Berliner Redensarten werden manchem
Kunst- und Kuriositätenfreund Vergnügen be¬
reiten, den älteren auch Wohl das eine oder
andere Bilderbuch ihrer Jugend ins Gedächtnis
zurückrufen. Dankbar folgt man der Dar¬
stellung des Verfassers, auch wenn man der
Ansicht ist, daß die gute alte Zeit unserer
Väter oder Großväter im Grunde nicht besser
war als die heutige.
Die Deutsche Kolonialgesellschaft hat in den letzten Jahren einige deutlich,
wenn auch nur gelegentlich erkennbare Wandlungen durchgemacht. Es gab eine Zeit,
wo alles, was einigermaßen nach Politik aussah, in ihrem Kreise streng verpönt war.
Das war in den Jahren, da im Deutschen Reiche noch Zentrum Trumpf war und die
Kolonialverwaltung vorder katholischen Mission erzitterte. AuchdieKolonialgesellschaft
hatte damals kein leichtes Leben. Die Mitglieder murrten über die Untätigkeit
der maßgebenden Persönlichkeiten der Gesellschaft gegenüber den Vergewaltigungen
der Kolonien durch das Zentrum, und wie in der großen Politik der Volkswille
schließlich den vorletzten Reichstag hinwegfegte und einen kolonialfreundlichen
Reichstag an seine Stelle setzte, so gab es auch just um dieselbe Zeit innerhalb
der Kolonialgesellschaft eine Palastrevolution, die als ein reinigendes Gewitter die
Zentrumseinflüsse beseitigte und einen frischeren Zug in die Gesellschaft brachte.
Nun kamen ein paar Jahre, in denen die Propaganda der Gesellschaft für den
kolonialen Gedanken wenig gebraucht wurde. Dernburg war der Mann des
Tages und sein eigener Reklamechef. In neuerer Zeit ist die Kolonialbegeisterung
aber bedenklich abgeflaut und wenn nicht der Reichstag erst jüngst fast einstimmig seine
Kvlonialfreundlichkeit beteuert hätte, so könnte es einem wieder einmal bange
werden um die weitere Entwicklung der Kolonien, um so mehr, als derselbe
Reichstag in einem Atem mit diesen Beteuerungen sich einen Mehrheitsbeschluß
leistete, der schlimmer war, als ein halbes Dutzend abgelehnter Kolonialbahn¬
vorlagen. Wir meinen die jüngst schon erörterte Entschließung über die
Mischehen. Da konnte man nun neugierig sein, wie sich die Deutsche Kolonial¬
gesellschaft zu dieser Sünde gegen den Heiligen Geist des Rassenbewußiseins ver¬
halten würde. Würde sie sich wieder, wie einst, aus zarter Rücksicht gegen eine
gewisse Partei hinter ihren unpolitischen Charakter verschanzen und auch diesen
Skandal vornehm ignorieren, oder würde sie die rechten Worte finden, die erste
Voraussetzung jeder gesunden Kolonialpolitik, die reinliche Scheidung der Rassen,
mit Energie zu verteidigen? Erfreulicherweise hat die Kolonialgesellschaft die
Probe bestanden. Ihre bei der neulichen Hamburger Generalversammlung be¬
schlossene Resolution, in der sie dem Sinne nach die Reinhaltung der Rasse als
höchstes Gut eines Volkes pries und die Regierung aufforderte, für sie einzutreten,
mag manchen: zu zahm und der sittlichen Entrüstung entbehrend vorgekommen
sein. Aber das Entscheidende dabei und zugleich die schönste Rechtfertigung für
die Gesellschaft selbst war der Umstand, daß sie so gut wie einstimmig gefaßt
wurde. Für den nötigen Nachdruck, für die fehlende Schärfe werden unsere Lands-
leuie in den Kolonien selbst sorgen, nachdem ihnen dergestalt in der Heimat der
Rücken gestärkt worden ist. Der neue Mann an der Spitze der Kolonial-
verwaltung hat ja schon durch die Tat sich zu dem jetzt von der kolonialen öffent¬
lichen Meinung propagierten Standpunkt bekannt, und in unserer Siedlungs¬
kolonie Südwest ist die Diffamierung der Rassenmischung sogar längst öffentlich¬
rechtlich festgelegt. Wenn die dortige Verordnung über die Selbstverwaltung nicht
nur die mit farbigen Frauen verheirateten Siedler von der Bekleidung öffentlicher
Ämter ausschließt, sondern auch diejenigen, die mit farbigen Frauen außerehelich
zusammenleben, so zeigt sich daran, daß unsere Landsleute draußen sich ihrer
moralischen Pflichten wohl bewußt sind und die Einmischung einer Reichstags-
Mehrheit nicht brauchen. Nichtsdestoweniger schadet es nichts, wenn auch die
Kolonialgesellschaft in ihrer Resolution unseren jungen Leuten, die in den Kolonien
tätig sind, die Wahrung ihrer Rassenehre und Zurückhaltung farbigen Weibern
gegenüber ans Herz legt. Und die Gesellschaft zieht die weitere Konsequenz, indem
sie die Negierung auffordert, für die Alimentierung von unehelichen Mischlings¬
kindern nach Möglichkeit zu sorgen. Das wird zwar sehr schwierig sein, aber es
ist immerhin ein Weg, die Entstehung von Mischungen einzuschränken.
In Hamburg ist auch die Besiedlung der Kolonien in den Vordergrund der
Erörterung gerückt worden. Es ist auf diesem Gebiet, von Südwest abgesehen, bisher
noch wenig geschehen; schuld daran ist zweifellos der Widerstand Dernburgs. Es scheint
aber, daß Staatssekretär Sols auch in dieser Hinsicht den guten Willen hat, neue Wege
einzuschlagen, denn neulich verlautete, daß er auf seiner Afrikafahrt die Siedlungs¬
gebiete am Kilimandjaro und Meru kennen lernen will, mit dem ausgesprochenen
Zweck, gegebenenfalls Grundlagen zu deren Förderung zu gewinnen. Insofern
hat die Kolonialgesellschaft einen günstigen Zeitpunkt gewählt, wenn sie die
Negierung auffordert, zu Zwecken der Kleinsiedlung in geeigneten Gebieten,
zurächst in der Gegend des Meruberges, weiteres Land bereit zu halten. Nun
sind wir zwar auf Grund der bisher vorliegenden Erfahrungen der Ansicht, daß in
Ostafrika die besten Aussichten der „Gentleman-Farmer" hat, der etwa
unserem Gutsbesitzer entspricht. Aber anderseits scheinen sich auch die Klein¬
siedlungen am Meruberg recht erfolgreich zu entwickeln und zu weiteren Versuchen
zu ermutigen. Die Voraussetzung ist, daß man nicht, wie früher gelegentlich,
ungeeignete Elemente heranzieht, sondern selbstbewußte Bauern, die selbst mit Hand
anlegen, ohne sich deshalb auf eine Stufe mit den arbeitenden Negern zu stellen.
Die bäuerliche Siedlung wird vielleicht keine besonderen wirtschaftlichen Werte zu¬
tage fördern, aber sie ist geeignet, zu Hause für den kolonialen Gedanken werbend
zu wirken. Der freie Mann auf eigener Scholle ist nun einmal das Ideal des
deutschen Volkes.*)
Die Deutsche Kolvnialgesellschaft hat diesmal entschieden eine glückliche Hand
gehabt in der Wahl ihrer Verhandlungsgegenstände, deren Mehrzahl auf die
Entwicklung gesunden deutschen Volkstums und Ausschaltung monopolistischer
Bestrebungen bei der Erschließung der Kolonien gerichtet war. Was wir ver-
mißten, ist lediglich eine eingehende Stellungnahme zur Frage des landwirtschaft¬
lichen Bodenkredits. Nachdem das Großkapital es jüngst abgelehnt hat, sich an
der Organisation eines Kreditinstituts für Südwestafrika zu beteiligen,
bleibt nur die Staatshilfe. Aus diesem Grunde wäre ein kräftig Wörtlein an die
Adresse des Reichstags am Platze gewesen, denn ein längeres Zögern heißt die
Entwicklung der Farmerwirtschaft hintanhalten. Aber vielleicht nimmt sich im
kommenden Jahre, falls bis dahin noch nichts erfolgt ist, die Abteilung Breslau
der Frage an, wenn in den Mauern ihrer Stadt die Kolonialgesellschaft tagt.
In Breslau ist durch die Nachbarschaft der Ostmark vielleicht mehr Sinn für eine
Fürsorge im Interesse kolonisatorischer Kleinarbeit vorhanden, als in der Hafen¬
Seit der Staatskommissar an der Berliner Börse seine kürzlich besprochene
Warnung vor der Überspeknlation am Kassamarkt hat ergehen lassen und seit
Herr von Gwinner in einer viel kommentierten Parlamentsrede diese Warnung
noch durch den Hinweis auf die Möglichkeit eines Konjunktnrumschwunges und
die verschlechterte Aufnahmefähigkeit der Effektenmärkte unterstrichen hat, ist ein
sehr bemerkenswertes Nachlassen des vorher so ausgeprägten Optimismus
an der Börse zu konstatieren. Die Kurse eilen unaufhaltsam abwärts. Es
hieße freilich die Bedeutung jener Kundgebungen überschätzen, wollte man den
eingetretenen Umschwung lediglich auf solche gelegentlichen Äußerungen einer kom¬
petenten Persönlichkeit zurückführen. Der momentane Eindruck war allerdings ein
starker, ein so starker und unerwarteter, daß Herr von Gwinner sich zu einer
nachträglichen Abschwächung seiner Äußerung veranlaßt sah und sich auf eine
mißverständliche Auffassung seiner Worte berief. In Wirklichkeit hat erst sein
Hinweis vielen die Augen darüber geöffnet, daß die augenblickliche Situation
des Wirtschaftslebens in der Tat eine kritische genannt werden muß. Un¬
verkennbare Symptome einer Überhitzung treten von Tag zu Tag deutlicher in
Erscheinung. Man braucht sich nur die beträchtliche Liste der Zahlungsein¬
stellungen der letzten Monate zu vergegenwärtigen, um sofort zu sehen, daß
hier Krankheitserscheinungen zutage treten, welche auf allgemeine Ursachen zurück-
zuführen sind und sich nicht mit zufälligen oder individuellen Gründen erklären
lassen. Die überraschende Höhe der Gesamtverbindlichkeiten und die Tatsache,
daß so viele Institute als Kreditgeber fungierten, ohne daß eines etwas
vom anderen wußte, verfehlte nicht, wie schon in früheren Fallen, ein fast
naives Erstaunen auszulösen. Wenn aber irgend etwas, so ist gerade diese skrupel¬
lose Kreditinanspruchnahme an verschiedenen Stellen ein Zeichen nicht nur für eine
bedenklich laxe geschäftliche Moral, sondern vor allem auch für schwere Mängel in der
Kreditorganisation. Es ist in der Tat kaum zu verstehen, warum unsere Gro߬
banken nach so viel trüben Erfahrungen sich nicht dazu aufraffen, diesem Mi߬
brauch einen Riegel vorzuschieben. Bisher hat noch immer die leidige Konkurrcnz-
furcht und der gegenseitige Neid es verhindert, daß die Banken eine Einrichtung
getroffen haben, welche sie gegenseitig über die Kreditinanspruchnahme an mehreren
Stellen unterrichtet. Eine jede scheute sich bisher, irgend einer dritten Instanz
Einblick in ihr Geschäftsgebaren zu gewähren. Und doch sollte man meinen, daß
vor allein hier der Hebel anzusetzen wäre, wenn man dem Mahnruf der Reichs¬
bank nach heilsamer Einschränkung der Kredite Folge geben will. Es fehlt ja auch
keineswegs an einem geeigneten Vorbild. In Österreich haben die Banken,
welche die Diskontierung von Buchforderungen Pflegen, sich zur Einrichtung einer
Kreditkontrolle in der sogenannten Evidenzzentrale verstanden, welche
vertraulich über die Höhe der jeder Firma eingeräumten Kredite unterrichtet wird
und so imstande ist, die Mitglieder darüber aufzuklären, ob eine Kredit suchende
Firma schon an anderer Stelle engagiert ist. Diese Einrichtung hat sich durchaus
bewährt; sie ließe sich ohne weiteres auf unsere Verhältnisse übertragen, und zwar
um so leichter, als es dazu nicht einmal der Gründung eines besonderen Institutes
bedürfte. Es würde vollauf genügen, wenn mit den Funktionen einer solchen
Zentrale eine der bestehenden Treuhandgesellschaften betraut würde, die durch
ihre geschäftlichen Einrichtungen und Erfahrungen ohne weiteres zur Übernahme
eines solchen Mandates berufen sind. Eine solche vorbeugende Kreditpolitik wäre
um vieles besser not gesunder, als das System gewaltsamer Restriktionen, zu dem
die Banken gegenwärtig gegriffen haben. Die Kreditbeschränkungen und Ent¬
ziehungen, die jetzt plötzlich an die Stelle der offenen Hand getreten sind, gleichen
einer Eisenbartkur.
Allerdings kann man es den Banken nicht verübeln, wenn sie gegenwärtig
mit der Zurückführung ihrer Außenstände Ernst machen. Denn die Lage des
Geldmarktes hat sich derart ungünstig gestaltet, daß man nur mit Beklemmungen
dem Herbst mit seinen großen Anspannungen entgegensehen kann und allenthalben
die Überzeugung die Oberhand gewonnen hat, es bedürfe des ernstlichen Zusammen¬
wirkens aller Faktoren, um verhängnisvollen Schwierigkeiten vorzubeugen. Diese
Entwicklung der Geldverhältnisse ist allen Beteiligten recht unerwartet gekommen.
Noch am Anfang Mai rechnete man mit Sicherheit und einiger Ungeduld auf
eine Ermäßigung des Bankdiskonts. Die Lage des internationalen Geldmarkts
schien diese Erwartung auch zu rechtfertigen, besonders, nachdem die Bank von
England und bald darauf auch die Bank von Frankreich ihren Diskontsatz herab¬
setzten und damit das Signal zu geben schienen, daß die Periode der
Anspannung, die schon so ungewöhnlich lange in das Frühjahr hinein¬
gedauert hatte, endgültig vorüber sei, und daß man für den Sommer nun¬
mehr mit den so sehnlich erwarteten billigen Geldsätzen werde rechnen können.
Als nun die Reichsbank demungeachtet ihre zögernde Politik nicht aufhob,
fing man bereits an, einen gewissen Unmut über dieses Verhalten zu
zeigen und warf der Leitung vor, dem Lande unnötigerweise die schwere
Last eines fünfprozentigen Diskonts aufzuerlegen, der besonders von der Landwirt¬
schaft drückend empfunden werden mußte. Gar bald aber trat zutage, wie zutreffend
die Reichsbank die Situation beurteilte. Das Ende des Maimonats brachte
wieder Zinssätze, die für diese Jahreszeit ganz ungewöhnlich sind, und selbst nach
Verlauf der ersten Juniwoche zeigt der Priatdiskont keine Neigung, von dem Stand
von 4V« Prozent herabzugehen. Damit ist eine beträchtliche Spannung zwischen
den Zinssätzen Deutschlands und des Auslands eingetreten, die unter normalen
Uniständen ausreichen würde, den Zustrom fremden Geldes zu befördern und
dadurch auf eine Ausgleichung hinzuwirken. Aber, auffallend genug, diese Gelder
des Auslandes stellen sich nicht ein: es ist die politische Lage, die hier
störend eingreift. Wir müssen uns jetzt ohne die halbe Milliarde Auslandsgeldcr
behelfen, die noch voriges Jahr, vor der Marokkokrise, unsere heimische Volkswirt-
schaft alimentierten. Das ist ein beträchtliches Manko und erklärt ohne weiteres,
warum die Kurve der Zinsbewegung in Deutschland dieses Jahr so anormal
verläuft. Es ist uoch niemals dagewesen, dasz die Reichsbank vom September ab
an einem hohen Zinsfuß ununterbrochen den Sommer über hat festhalten müssen.
Wir haben wohl auel schon Jahre gehabt, in denen fünf Prozent den Minimalsatz
der Reichsbank darstellte, wie beispielsweise 1900 und 1907, in welch letzterem der
Zinsfuß sogar nicht unter 3Vz Prozent herunterging. Dies waren aber aus¬
gesprochene Hochkonjuukturjahre mit all den typischen Erscheinungen, deren Zu-
sammenwirken die dauernde Anspannung auf dem Geldmarkt erzeugt. Diese
Voraussetzungen liegen bei uns augenblicklich nicht vor. Und noch ein wichtiger
Unterschied: auch in diesen Jahren teuerster Zinssätze spiegelte die Zinsbewegung
den wechselnden Stand, der an den Geldmarkt gestellten Ansprüche wieder: der
Zinsfuß hat 1900 eine dreimalige, 1907 sogar eine viermalige Änderung erfahren-
er hat im ersteren Jahr zwischen 6V2 Prozent und 5, im letzteren zwischen
und 7Vz Prozent geschwankt. Daß aber die Reichsbank ein volles Jahr lang einen
Zinsfuß ununterbrochen festhielt, hat sich bisher nur zweimal ereignet: 1883 und
1884, wo ein vierprozentiger Zinsfuß länger als zwei Jahre in Geltung war.
Dieser letztere darf aber als ein normaler angesprochen werden, während fünf Prozent
schon das Vorhandensein außergewöhnlicher Spannung andeuten. Wir müssen
nun aber heute mit ziemlicher Bestimmtheit darauf rechnen, daß der Zinsfuß vor
den Herbstmonaten nicht mehr ermäßigt werden kann und daß eine dann eintretende
Veränderung nur in einer Erhöhung bestehen kann. Die Situation ist also außer¬
gewöhnlich, und es liegt nahe, nach den Gründen dieser auffälligen Geldteuerung
zu forschen.
Eine Hauptursache ist zweifellos in der Zurückziehung der ausländischen
Guthaben zu erblicken; es liegen aber noch andere Momente vor, welche die
Verengung unseres Geldmarktes begreiflich scheinen lassen. Unter diesen spielt die starke
Beanspruchung der Mittel durch die lebhafte Entwicklung von Industrie
und Handel die Hauptrolle. Der starke Expansionsdrang namentlich der schweren
Industrie, welcher zum Teil mit der Erneuerung der Verbände und der Quoten¬
jagd zusammenhing, hat erhebliche Investitionen erforderlich gemacht. Auf eine
Zurückdrängung dieser Ansprüche ist denn auch vornehmlich das Bestreben der
Reichsbank und wenn auch nicht überall gleichmäßig das der Großbanken gerichtet.
Daß in der Tat die Krcditansprüche erheblich gestiegen sind, läßt sich am besten an
den Ziffern der Wechselstempelerträgnisse ablesen. Diese zeigen im laufenden Jahr von
Monat zu Monat beträchtliche Zunahmen gegen das Vorjahr, die im April bis auf
acht Prozent angewachsen sind. Aber auch die Kreditansprüche können allein
die Geldteuerung nicht erklären; ein sehr wichtiges Moment bildet die Steigerung
der Warenpreise, die sowohl die industriellen Rohstoffe und Fabrikate als
sämtliche Lebensmittel umfaßt. Auf den Metallmärkten herrscht beispielsweise
gegenwärtig ein fieberhaftes Treiben; der Kupferpreis ist im Laufe dieses Jahres
um zirka 20 Pfund pro Tonne gestiegen; die Verteuerung der Rohmaterialien
hat jüngst die elektrische Industrie veranlaßt, eine allgemeine zehnprozentige Prns-
erhöhung zu diktieren; der Stahlwerksverband hat, namentlich seit Zustandekommen
der Verlängerung, Schritt für Schritt die Preise seiner Produkte anziehen lassen
und der gleichen Erscheinung begegnen wir überall bis in die kleinen Verhältnisse
des täglichen Lebens hinein, wo sie sich dem kleinen Mann am unmittelbarsten
fühlbar machen, und in dem Bestreben nach Lohnerhöhungen und Gehalts¬
aufbesserung wieder eine Rückwirkung auf die Vermehrung der Produktions¬
kosten ausüben. So wird für die Bewerkstelligung wirtschaftlich gleichwertiger
Umsätze eine erheblich größere Menge Geldes in Bewegung gesetzt, und diese
Tatsache muß zu einer Steigerung des Kapitalzinses führen, die nur durch eine
möglichst ausgedehnte Anwendung der Verrechnung und der bargeldlosen Zahlungs-
methvden hintangehalten werden könnte. Damit hapert es aber bekanntlich bei
uns noch immer und alle Bemühungen werden gegenüber den eingewurzelten
Zahlungsgewohnheiten nur langsam Erfolg erzielen. Wir werden uns also Wohl
oder übel, so lange jene Verhältnisse dauern, mit der Herrschaft eines hohen Zins¬
satzes abfinden und uns auf denselben einrichten müssen. Die Kehrseite dieser
Notwendigkeit ist natürlich ein entsprechender Preisfall der Renten. Unsere
Staatspapiere sind denn auch im Laufe der Woche auf einem Tiefstand angekommen,
den sie noch niemals eingenommen haben. Dreiprozentige notieren kaum höher
als M Prozent. Und dies alles trotz der systematischen Versuche der Staats¬
regierung den Kurs zu „heben"! Wir fürchten, auch das in Vorbereitung befind¬
liche Gesetz über den Anlagezwang der Sparkassen wird am Laufe dieser
Entwicklung nichts zu ändern vermögen. Fangen doch schon die Hypothekenbanken
an, die Konsequenz zu ziehen und zur Ausgabe von 4'/sprozentigen Pfandbriefen
zu schreiten. Die Preußische Hypotheken-Aktienbank hat den Anfang gemacht,
andere werden, wenn auch widerstrebend, folgen. Ein äV-prozentiger Pfandbrief
bedeutet aber, daß für allererste Hypotheken in Zukunft 5Vs Prozent zu zahlen
sein wird; denn unter einem Prozent Sperrung, mag sie sich auch nicht im Zinsfuß,
sondern zum Teil in Abschlußprovisionen und anderen Hebungen ausdrücken, kaun
auf die Dauer die Hypothekenbank nicht arbeiten. Man vergegenwärtige sich,
welche Erhöhung der Zinsenlast dem Grund und Boden durch eine solche Ver¬
schiebung der Verhältnisse erwächst. Handelt es sich doch um Milliardenbeträge
von Hypothekenschulden. Die Rückwirkung wird zunächst den städtischen Grund
und Boden treffen, da für den ländlichen Hypothekenkredit nicht die Hypotheken¬
banken, sondern die Landschaften in Frage kommen, und hier eine Verschiebung
sich langsamer zu vollziehen pflegt. Für die städtischen Verhältnisse kann aber
eine derartige Verteuerung des Hypothekarkredits, angesichts der schon ohnehin
schwierigen Situation des Terrain- und Baumarkts und der schon heute so pro¬
blematischen Beschaffung zweiter Hypotheken sich geradezu verhängnisvoll erweisen.
Verantwortlich: der Herausgeber George Cleinow in Schöneberg, — Maunslriptscnduugeu »ut Buche werden
erbeten unter der Adresse:
An den Hcrauöncbcr der Grciizboicir in Friedcnait lini Berlin, Hcdwinstr. 1«.
Fernsprecher der Schristlcitung: Amt Psalzburg K7tL, des Verlags: Amt Lützow Koko,
Verlag: Verlag der Grenzbote» G> in, b. H, in Berlin 5V, 11.
Druck: „Der Reichsbote" G, in, b. H, in Berlin 5VV, it, Dessauer Strafe 3«/Z7,
is im Frühling 1911 ein neues Quinquennat vom Reichstage
beschlossen wurde, ward in den Kreisen des Volkes, die ein schlag¬
fertiges Heer als sicherste Bürgschaft des Friedens und als stärksten
Faktor der Machtstellung des Reiches ansehen, manch unzufriedenes
Wort laut. Man schalt über die Zurückhaltung, die seitens der
leitenden Stellen des Heeres geübt worden war. Man wies auf die Anstren¬
gungen Frankreichs hin, das seine Volkskraft bis aufs äußerste in Anspruch
nimmt, während in Deutschland im Jahre 1910 noch sechsundachtzigtausend
Taugliche von der Ableistung der gesetzlichen Dienstpflicht im Frieden befreit
blieben. Frankreich stellt 84 Prozent seiner waffenfähigen Jugend ins Heer
ein, Deutschland begnügte sich auch bei dem Quinquennat von 1911 mit
53 Prozent. Und ebenso vermochte man auch vielfach Lücken in der Organisation
des Heeres nachzuweisen; von der Überalterung des Offizierkorps, namentlich
bei der Infanterie, ganz zu schweigen.
Die Heeresverwaltung war den? gegenüber nicht blind gewesen. Wenn sie
trotzdem nur die dringlichsten Forderungen stellte, so war dafür einerseits die
politische Lage, anderseits die Rücksicht auf den Stand unserer Reichsfinanzen
maßgebend. Diese hatten seit der mühsam errungenen Reform von 1909 eben
begonnen, sich etwas günstiger zu gestalten, d. h. man hatte endlich damit
anfangen können, die bestehenden Schulden zu tilgen. Staatliche Schulden¬
tilgung ist auch ein Stück Kriegsfürsorge, sogar ein sehr bedeutsames. Um neue
Einnahmequellen zur Deckung erheblicher Heeresausgaben zu gewinnen, hätte
man sich auf hartnäckige parlamentarische Kämpfe gefaßt machen müssen, deren
Ausgang mit Recht pessimistisch zu beurteilen war. Denn die internationale
Lage war 1909 keineswegs so gespannt und drohend, daß kostspielige Forderungen
zur Ergänzung und Füllung der bestehenden Lücken im Heeresorganismus
Aussicht auf Bewilligung gehabt hätten. Lebensfragen der Armee waren nicht
bedroht. So übte sich der Kriegsminister in Zurückhaltung.
Wenige Monate später nötigten Frankreichs Übergriffe in Marokko und
sein konsequentes provokatorisches Ignorieren der deutschen Rechtsansprüche die
deutsche Reichsregierung zu der Aktion von Agadir. Östlich und westlich der Vogesen
gerieten die Gemüter wieder einmal stärker in Wallung. England mischte sich in das
Spiel; ward abgewiesen. Und nun züngelte auch über den Kanal heftiger als je lang¬
gehegter Groll von hüben und drüben. Es gab Tage, da konnte man glauben, daß
es nur an einem Haare hing, ob sich die dräuende Wetterwolke in einem Kriege
entladen oder noch einmal verziehen werde. Klugheit und Festigkeit des deutschen
Staatsmannes, in dessen Händen damals die politischen Fäden zusammenliefen,
wahrten den Frieden zugleich mit dem Ansehen des Reiches. Aber in jenen stür¬
mischen Wochen des Sommers 1911 erwuchs die Erkenntnis, daß der politische
Optimismus, unter dem das Quinquennat zustande kommen konnte, ein Irrtum
war. Höhnend glaubte man in Frankreich schon mit einem Niedergang der
deutschen Wehrhaftigkeit rechnen zu können. Zügellos entbrannten unsere Nachbarn
im Westen in leidenschaftlichen Rufen nach Revanche. Hals über Kopf schuf
man den fehlenden Generalissimus (um ihn freilich alsbald wieder abzuschaffen)
und durch das weitgreifende Kadergesetz sollte die organisatorische Kriegs¬
vorbereitung Frankreichs eine gewaltige Überlegenheit über die deutsche erhalten.
Die Antwort Deutschlands war die Wehrvorlage, die der Reichstag jüngst
genehmigt hat. Die dadurch herbeigeführte Heeresverstärkung ist die umfang¬
reichste seit Bestehen des Reiches, die mit einem Schlage erfolgt. Und keine ist
bisher mit solcher Würde und Einmütigkeit vom Vertretungskörper des deutschen
Volkes beraten und beschlossen worden. Die Epoche des Marrokkostreites schloß
bei uns Deutschen mit einem gewaltigen harmonischen Akkord.
Die militärische Bedeutung der Heeresverstärkung ist gleichfalls hoch anzu¬
schlagen, wenn auch nicht alle Wünsche Erfüllung fanden und auch ein Teil der
Regierungsvorschläge leider Verstümmelung erfuhr. Zu den unerfüllten Wünschen
zählt vor allem, daß künftig auch die überschießenden, gegenwärtig nicht verwen¬
deten waffenfähigen Wehrpflichtigen, deren Zahl 70 000 Mann überschreitet, im
Frieden ausgebildet werden, die jetzt der Ersatzreserve überwiesen sind und als
solche erst in: Mobilmachungsfalle als Rekruten eingezogen werden, während
ältere Jahrgänge — Reservisten und Landwehrleute — sofort ins Feld müssen.
Die Bedeutung dieses Umstandes liegt allerdings mehr auf volkswirtschaftlichen
als auf militärischem Gebiete. Denn um diese Überschüssigen unterzubringen,
müßte entweder der Friedensstand der vorhandenen Einheiten erhöht oder deren
Zahl vermehrt werden. Ersteres könnte nur in beschränktem Maße geschehen,
denn sonst würde die Gründlichkeit der Ausbildung, namentlich aber die Erziehung
der Mannschaften, gefährdet.
Eine Friedensausbildung der Ersatzreservisteu hat in Deutschland früher
bereits stattgefunden, wurde aber abgeschafft. In Österreich-Ungarn besteht die
Einrichtung auch heute noch. Die Befürworter ihrer Wiedereinführung im
deutschen Heere gehen von der an sich zutreffenden Ansicht aus, es bedeute einen
erheblichen militärischen Borten, wenn die Ersatzreservisten eine, wenn auch stark
abgekürzte Ausbildungszeit im Frieden durchgemacht hätten und demnach im
Mobilmachungsfalle fofort in mobile Truppenteile eingestellt werden könnten, zum
mindesten aber bereits nach kurzer Frist volle Kriegsfertigkeit zu gewinnen vermöchten.
Demgegenüber sind aber zwei gewichtige Bedenken ins Treffen zu führen: einmal
die Frage des Ausbildungspersonals, sodann die Annäherung an das Milizsystem,
die meines Erachtens durch die „Krümperausbildung" der Ersatzreserve stattfindet.
Was die Frage des Ausbildungspersonals betrifft, so besteht wohl kein
Zweifel, daß bei den heutigen Anforderungen eine nennenswerte Heranziehung
von Offizieren und Unteroffizieren der bestehenden Einheiten zu jenem Sonder-
zweck unmöglich stattfinden kann: Das militärische Arbeitsjahr unterscheidet sich
heute in seinen verschiedenen Jahreszeiten nur durch die Art der Inanspruch¬
nahme aller Ausbildungsorgane, nicht mehr aber durch deren Umfang — es
gibt keinen „Winterschlaf" mehr und auch keine „Sommerruhe". Selbst während
des Ernteurlaubs wird mit den nicht beurlaubten Mannschaften rastlos geübt.
Außerdem bedingen ohnehin die Übungen des Beurlaubtenstandcs — die künstig
in stärkerem Umfange stattfinden werden, was an sich sehr zu begrüßen ist —
eine besondere Inanspruchnahme der Offiziere und Unteroffiziere. Eine Er¬
holungspause in der laufenden Heeresarbeit sind diese Übungen sür niemanden.
Die Übungen der Ersatzreserve würden besondere Ausbildungsorgane notwendig
machen, und zwar vor allem Unterorgane, Leutnants und Unteroffiziere. Für
die Leitung stehen ja in den Stabsoffizieren und Hauptleuten bei den Stäben
genügend Organe zur Verfügung. Wie für sie, so würde auch sür jene Unter¬
organe hinreichende Beschäftigungsmöglichkeit gegeben sein, auch außerhalb der
Übungstermine. Aber man würde durch Schaffung neuer Leutnants- und Unter¬
offiziersstellen neue Schwierigkeiten hinsichtlich der künftigen Verwertung des hier
investierten Menschenmaterials schaffen: Menschenwirtschaft ist nicht die gering¬
fügigste Seite der Heereswirtschaft. Wie aber soll man das Auslesematerial,
das namentlich die Offiziere darstellen, wirtschaftlich verwenden, wenn schon bei
den jetzigen Standesverhältnissen etwa 90 Prozent vorzeitig ausscheiden müssen
und nicht genügend für den Staatszweck ausgenutzt werden können? Solange
wir nicht zu einer anderen Organisation des Offizierkorps in der einen oder
anderen Form gelangen, die dem jetzigen Raubbau an dem wertvollsten Teil
unseres Volksganzen, nämlich an den nach Herkunft und Bildung zur Führer¬
schaft Berufenen, eine Ende und den Offizierberuf wieder für die große Mehr¬
zahl zu dem macht, was er heute nur für eine glückbesonnte Minderheit ist:
einen: Lebensberuf — solange können wir uns den Luxus nicht leisten, Aus¬
bildungskaders der unteren Grade sür Krümperausbildung aufzustellen.
Die vorgeschlagene Ausbildung der Ersatzreservisten im Frieden ist tatsächlich
nichts anderes als eine Wiederbelebung der vor hundert Jahren von Scharnhorst ins
Leben gerufenen Einrichtung der „Krümper". Nur darf man nicht Übersehen,
daß das Urbild der allgemeinen Wehrpflicht bei Scharnhorst von dem, was
wir heute darunter verstehen, in mehr als einer Hinsicht abwich. Was Scharn¬
horst wollte, ist eigentlich nichts anderes als eine Miliz, wie sie die Schweiz
heute besitzt — und wie wir sie nicht wollen. Wenigstens in absehbarer Zeit nicht,
weil die Aufgaben kriegerischer Natur, die das deutsche Volk in dieser und wohl
auch noch mindestens in der nächsten Generation zu lösen haben wird, nur
mit einem für scharfe Offensive geschulten, jeden Tag schlagfertigen und kriegs¬
bereiten Heere zu lösen sind. Daß die politische Atmosphäre des europäischen
Kulturkreises sich fortdauernd in einer elektrischen Hochspannung befindet, dürfte
nach den Ereignissen der letzten Jahre und insbesondere nach jenen seit dem
vorigen Sommer doch kaum mehr ernstlich bestreitbar sein. Wie stark die
chauvinistische Strömung seit Jahresfrist in Frankreich gewachsen ist — vielleicht
mit infolge unserer Zurückhaltung beim letzten Quinquennatsgesetz — kann man
sogar aus sozialdemokratischen Zeitungen ersehen. Chauvinismus und Volks¬
strömungen in anderen Ländern können aber einmal plötzlich zur Entladung
jener Hochspannung sühren. Und dann müssen wir über ein starkes, sofort
schlagbereites, unseren Gegnern an Zahl und Güte überlegenes Heer verfügen.
Denn so notwendig uns eine starke Flotte ist: das Schwergewicht unserer
Rüstungen beruht im Landheere. Die letzten und wichtigsten Entscheidungen
in einem künftigen Kriege werden auf dem Schlachtfelde, nicht auf der See
geschlagen werden.
Weil wir ein schlagfertiges Heer brauchen und weil ein solches nur möglich
ist, wenn hinreichend Zeit auf Ausbildung und Erziehung verwendet werden
kann, darf in absehbarer Zeit auch nicht an eine Herabsetzung der Dienstzeit
gedacht werden. Im Gegenteil wird zu erwägen sein, wie sich ein Ausgleich
treffen lassen könnte zwischen den unerläßlichen Anforderungen der Gegenwart
und der Vorzugsstellung der Einjährigfreiwilligen. Es wird hierauf in anderem
Zusammenhange näher zurückzukommen sein. Gelegentlich der zweiten Lesung
der Heeresvorlage kam auch der preußische Kriegsminister aus die Frage einer
Herabsetzung unserer Friedenspräsenzstärke zu sprechen, veranlaßt durch ver¬
schiedene, eine Verkürzung der Dienstzeit beantragende Resolutionen. Er erklärte
eine Verminderung der Präsenzstärke wie der Dienstzeit für unmöglich, solange
die politischen Verhältnisse Deutschlands sich nicht ändern. Dem ist durchaus
zuzustimmen; hingegen erweckt die daran anknüpfende Betrachtung Bedenken.
„Gehen wir aber zu einer geringeren Dienstzeit über, so vervielfältigen Sie die
jährlich einzustellenden Rekrutenquoten. Abgesehen davon, daß wir die Zahl
der Rekruten zurzeit nicht haben, so würden auch die volkswirtschaftlichen Vorteile,
die von einer Verkürzung der Dienstzeit erhofft werden, in diesem Umfange
nicht eintreten. Denn ob wir hunderttausend Leute zwei Jahre dienen lassen
oder zweihunderttausend ein Jahr, kommt schließlich auf dasselbe hinaus."
Diesem letzten Satze muß doch wohl ein Fragezeichen angefügt werden. Der
Staatsaufwand bleibt in beiden Fällen allerdings der gleiche und demgemäß
auch die Inanspruchnahme des Volksvermögens zu seiner Befriedigung. Während
aber im ersten Falle hunderttausend junge Männer zwei Jahre ihrer Erwerbs¬
tätigkeit entzogen und anderseits durch die Schule des militärischen Dienstes für
künftige volkswirtschaftliche Leistung ertüchtigt werden, bleiben andere hundert¬
tausend im ungestörten Broterwerb und werden der Schulung nicht teilhaftig,
die ihnen für das Volksganze einen höheren nationalökonomischen Wert verleiht.
Im zweiten Falle hingegen finden alle Wehrfähigen gleichmäßig Erwerbs¬
möglichkeit und Ertüchtigung; die zweihunderttausend werden gleichmäßig belastet
und gleichmäßig gefördert. Je mehr wir uns diesem gerechten Ausgleiche nähern,
desto mehr erreichen wir, was heute fehlt: eine wirkliche Durchführung der
allgemeinen Wehrpflicht. Damit kommt man allerdings wieder zunächst auf die
Forderung, wenigstens die Erscchreseroe zu Übungen heranzuziehen. Wenn die
Frage der Zukunftsaussichten der hierzu nötigen Leutnants und Unteroffiziere —
bei diesen ist zu berücksichtigen, daß heute schon erhebliche Schwierigkeiten für
Unterbringung der Militäranwärter bestehen — gelöst werden kann, dürfte auch
die Heeresverwaltung kaum mehr ernstlich widerstreben.
Eine Verstümmelung erfuhr die Heeresvorlage leider gerade in dem Punkt, den
der preußische Kriegsminister als den wesentlichsten der ganzen Vorlage bezeichnet
hatte: bei den neuen Osfizierstellen. Es wurden mehrere Landwehrinspekteure
und die Oberstleutnants bei den Stäben der „kleinen" Jnfanterieregimenter
gestrichen. Warum, ist eigentlich nicht zu ersehen, auch aus den Berichten über
die Verhandlungen der Budgetkommission nicht zu entnehmen. Besonders die
Beschränkung der Zahl der Landwehrinspekteure ist sehr zu bedauern. Einmal
wegen der hierdurch vereitelten Entlastung der Brigadekommandeure vom Kontroll-
und Aushebungsgeschäft; sodann im Hinblick auf die neuerdings verursachte
Enttäuschung bezüglich besserer Gestaltung der Beförderungsverhältnisse. Für
die unteren und mittleren Grade ergibt sich ja infolge der neuen Kaderstellen
bei den Stäben der Regimenter eine momentane Beschleunigung des Vorriickens —
aber nur für die vorne stehenden. In Preußen kommt die Heeresverstärkung bei
der Infanterie etwa 150 Hauptleuten und 360 Oberleutnants, bei der Feldartillerie
etwa 50 Hauptleuten und 120 Oberleutnants zugute. Eine dauernde Besserung
kann nicht eintreten, da der Abfluß in höhere Stellen fehlt. Die von mir wiederholt
betonte Verstärkung des Oberbauch hat nun leider infolge der Ablehnung zahl¬
reicher Stellen von Landwehrinspckteuren nur recht bescheiden erfolgen können.
Hier wird wohl bei der nächsten Vorlage ein besonderer Nachdruck erfolgen
müssen. Überhaupt ist die Verjüngung des Offizierkorps in den mittleren
Graden — Hauptleute und Majore — dringend notwendig. Es wird dies
einerseits dazu beitragen, daß auch die lange Leutnantszeit gekürzt wird, anderseits
daß die Stellung des Regimentskommandeurs früher erreicht werden kann.
Nicht minder wichtig als die militärische ist die politische Bedeutung der
Heeresverstärkung. Für unsere innere Politik läßt die Einmütigkeit, mit der
die bürgerlichen Parteien von der liberalen Linken bis zur äußersten Rechten
das als notwendig Anerkannte glatt und ohne lange Debatten bewilligten, hoffen,
Bassermann möge recht behalten mit seiner Erwartung, „daß die Zeit der
Kämpfe über solche Fragen in diesen Parteien der Vergangenheit angehört".
Nur die Sozialdemokraten, die Polen und die Elsässer stimmten gegen die
Bewilligung der Heeresverstärkung — vom Zentrum allein der bayerische General¬
major z. D. Kaspar Häusler. Welchen Eindruck die Endton-Annahme der Beschlüsse
der Budgetkommisston seitens des Plenums nach kaum zweistündiger Debatte gerade
bei diesem „roten" Reichstage im Auslande machte, läßt sich aus den ver¬
schiedenen Presseäußernngen entnehmen. Bei unseren Freunden und Bundes¬
genossen an der Donau lebhafte Freude, stellenweise gemischt mit ein bißchen
Wehmut ob der eigenen Misere in Sachen der so dringend nötigen und immer
wieder verzögerten Heeresverstärkung. Bei unseren gallischen Nachbarn aber
galliges Lärmen, der Ruf nach sofortiger rsprise — nur fehlt es an den
Mitteln, um Deutschlands Schachzug ebenbürtig zu begegnen. Rückkehr zur
dreijährigen Dienstzeit, vor allem bei den berittenen Truppen. Bündnis mit
England, Abschaffung der Militärmusiken, um die dortigen Leute in die Truppe
einstellen zu können, und Ja8t not Iea8t sofortige Aufstellung von zwei schwarzen
Divisionen in Nordafrika: das sind so die Hauptvorschläge, denen man bisher
begegnen konnte. Außerdem schlägt der frühere Kriegsminister Messimy angesichts
des neuerlichen Rückgangs der Geburtenziffer, die von der Sterbeziffer um ein
Erhebliches übertroffen wird, Prämiierung zahlreicher Kindererzeugung und
Besteuerung von Kinderlosigkeit, Kinderarmut und Ehelosigkeit vor. Praktischen
Wert für einen Ausgleich mit der deutschen Heeresverstärkung würde höchstens
die Schaffung großer schwarzer Truppenverbände haben — aber in Marokko
befindet sich Frankreich derzeit „in Feindesland" und auch in Algier scheint bei
den Eingeborenen eine Sympathie für die allgemeine Wehrpflicht nicht zu bestehen.
Die Verstärkung unseres Heeres bedeutet zugleich eine namhafte Verstärkung
unserer internationalen Machtstellung und durch diese gewinnt auch unsere volks¬
wirtschaftliche Entwicklung neuen Impuls und neue Kräftigung. Man hat im
Auslande während der Marokkowirren des vorigen Jahres vielfach bereits mit
einer beginnenden Schwächung des Reiches rechnen zu dürfen geglaubt. Man
meinte namentlich die finanzielle Kraft Deutschlands sehr gering einschätzen zu
dürfen. Ein Volk indessen, das solche Heeresverstärkung ohne jede Reibung
glatt zur Tat macht, ist weder schwach noch krank. Das haben unsere Gegner
nun wohl erkannt.
-O«^<rvV
»Muser protestantisches Kirchenwesen hat auf dem Kontinent ganz
andere Bahnen eingeschlagen als in England und Amerika. Der
kirchliche Zwang, durch den die anglikanische Staatskirche sich vor
drei Jahrhunderten als die allein berechtigte Kirche zu behaupten
suchte, hat zu einer verwirrenden Mannigfaltigkeit von Dissenter-
kirchen geführt. Dagegen haben die geistigen Strömungen, die seit der Re¬
formation unsere Landeskirchen getroffen haben, keine nennenswerten kirchlichen
Neubildungen erzeugt. Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung haben innerhalb
der Landeskirchen Anhänger wie Gegner gefunden. Nur der ausgehende
Rationalismus hat sich in den Lichtfrennden und Freien Gemeinden der wieder
einsetzenden strengeren Kirchlichkeit erwehrt. Aber diese Bewegung verlor ebenso
wie die der Deutsch-Katholiken sehr bald ihre Bedeutung; denn die sreireligiösen
Gemeinden leben noch heute fast ganz vom Kampf und von der Negation.
Ohne den Gegensatz eines großen, schwerer beweglichen Kirchenkörpers würden
sie von der Bildfläche verschwinden. Ebensowenig haben die durch den Druck
der gewaltsamen Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms des Dritten emporgekommenen
Alt-Lutheraner weitere Kreise gewinnen können. Die Sekten innerhalb des
Gebiets der deutschen Landeskirchen sind fremde Gewächse, von England und
Nordamerika importiert. Für den guten deutschen Staatsbürger gehört es zum
guten Ton, daß er der Landeskirche angehört.. Er mag im übrigen über Kirche
und Pastoren schelten; dennoch üben besonders die kirchlichen Handlungen der
Konfirmation, Trauung und Bestattungsfeier ihren stillen Einfluß aus. Diese
Feiern möchte fast niemand entbehren, auch wenn sie bei manchem fast nur den
Wert einer äußeren Dekoration haben. Der stille und nachhaltige Einfluß der
Kirche auf die Gemüter ist doch nicht leicht in seiner Bedeutung zu unterschätzen.
Immerhin sind die wachsenden Austritte aus der Landeskirche, teils zu pietistischen
Gemeinschaftskreisen, teils zu den Dissidenten hin doch beachtenswerte Zeichen,
die die Frage nahe legen, ob eine Reform unserer Kirchenkörper notwendig,
heilsam und möglich ist.
Sehr häufig wird die Ansicht vertreten, daß die kirchlichen Verhältnisse der
nordamerikanischen Union vorbildlich für uns seien. Die völlige Freiheit der
Kirchenbildung, die Selbständigkeit der Kirchen dem Staat gegenüber sei das
Ziel, dem wir zustreben müßten. Mir scheint aber, daß die dort herrschende
Mannigfaltigkeit und Freiheit für uns innerhalb des einen großen Kirchenkörpers
zu erreichen ist, der bisher so vielen Stößen standgehalten hat. Viel eher sollten
wir die kirchlichen Verhältnisse in der deutschen Schweiz uns zum Vorbild nehmen,
die bei uns leider zu wenig bekannt sind. Hier ist in viel weiterem Umfang?
die Freiheit durchgeführt, die unsere deutschen Kirchen, voran die größte und
schwerfälligste Landeskirche Preußens, gebrauchen.
Wie ein großer, zäher, die kirchliche Tradition unerbittlich festhaltender
Kirchenkörper aussieht, zeigt uns die römisch-katholische Kirche der Gegenwart
in deutlichem Licht. Viele der besten Glieder stehen in heimlicher Opposition
und haben mehr oder weniger Neigungen, die mit dem Schlagwort „Modernismus"
gebrandmarkt werden. Soll denn die preußische Landeskirche eine kümmerliche
Kopie dieser weltbeherrschenden Kirche werden? Ist es nicht möglich, daß alle,
die in der Reformation die geistige Heimat ihres Glaubens suchen, in einer
großen Kirche sich zusammenfinden, gleichviel wie sie sonst in vielen Glaubens¬
sätzen differieren? Ja im Grunde herrscht doch dieser Zustand schon tatsächlich,
nur daß er von der leitenden Kirchenbehörde offiziell noch nicht anerkannt wird.
Der Oberkirchenrat glaubt immer noch, hin und wieder Erlasse ausgeben zu
müssen, in deuen etwa gesagt wird, die übernatürliche Geburt Jesu oder seine
leibliche Auferstehung sei „noch immer" ein in der Landeskirche gültiger Glaubenssatz.
Würde denn die Landeskirche zerfallen, wenn der tatsächliche Zustand auch offiziell
anerkannt würde, daß es über diese wie über alle anderen Glaubenssätze jedem
Pastor wie Gemeindeglied frei steht, zu denken, was er nach seinem Gewissen
für recht hält? Dieser Zustand herrscht seit vierzig Jahren in allen Kantonen
der deutschen Schweiz. Er ist in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahr¬
hunderts nach erbitterten Kämpfen durchgeführt worden. Und heute fühlt sich jeder
dabei wohl. Es gibt kein Kirchenregiment, das Meister über den Glauben von
Pfarrern und Gemeinden zu sein sich erkühnte. Die Glaubens- und Gewissens¬
freiheit ist dort wirklich durchgeführt.
„Aber irgendeine Schranke muß doch sein? Es kann doch nicht lauter
Willkür herrschen? Wo würde eine Kirche hinkommen, wenn sie gar kein festes
Prinzip hätte? Sie würde sich auflösen und ihre Kanzel stünde jedem Agitator
für irgendeine selbsterdachte Zukunftsreligion offenI" Solche Einwendungen haben
zweifellos recht. Die Kantonskirchen der Schweiz vertreten keine schrankenlose
Willkür, Sie nennen sich zwar oft mit Emphase „bekenntnisfrei" gegenüber den
Bindungen an Bekenntnisse früherer Jahrhunderte, von denen die preußische
Landeskirche noch nicht abgehen zu können meint. Aber sie haben doch ein
grundlegendes Bekenntnis, das der Pfarrer als Beauftragter der Gemeinde bei
der Ordination ablegt. Er verpflichtet sich durch Handschlag, „die christliche
Religion nach den heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments im Gerste
der evangelisch-reformierten Kirche lehren und verkündigen zu wollen." (So die
Kirchenordnung von Se. Gallen; die der anderen Kantone lauten ähnlich.)
Derartige Ordinationsbekenntnisse scheinen mir für Deutschland vorbildlich zu
sein. Im Grunde ist mit solchen Gelöbnissen alles gesagt, was man für sein
Leben und Wirken versprechen kann. Weder zu viel, noch zu wenig. Was der
Pfarrer aus der Bibel ableitet und was er zurückstellt, wird seinem eigenen
Ermessen überlassen. Wenn er nur innerhalb der von der Reformation aus¬
gegangenen Bewegung stehen und nach seinen Kräften der evangelischen Kirche
dienen will, so wird er nicht weiter danach gefragt, was er für Lehrsätze im
einzelnen anerkennt und bestreitet.
So definiert auch die Verfassung der reformierten Kirche von Basel-Stadt
vom 21. November 1910 in Paragraph 1 das Wesen der Kirche:
„Die Grundlage ihrer Lehre ist Jesus Christus und sein Evangeliuni, das sie aus der
Bibel unter der Leitung des christlichen Gewissens, der christlichen Erfahrung und der Wissen¬
schaft erforscht, verkündet und im Leben zu verwirklichen trachtet."
Damit kommen wir zum wichtigsten Punkt. Der Schwerpunkt der Kirche
in der Schweiz liegt in der Einzelgemeinde, nicht in einem Kirchenregiment.
Das hat zur Folge, daß die Kirche in ganz anderer Weise volkstümlich ist als
in Norddeutschland. Die Kluft zwischen Pfarrer und Gemeinde besteht dort
nicht. Die katholische Trennung von Klerus und Laien ist in der Schweiz viel
gründlicher aufgehoben. Es war der größte Mangel in Luthers Organisation
des kirchlichen Lebens, daß er nicht der einzelnen Gemeinde Vertreter gab. Die
Folge war, daß die zur Aushilfe eingesetzte staatliche Beaufsichtigung der Pfarrer
zur dauernden Einrichtung wurde. So entstand das Mißgebilde des staatlichen
Kirchenregiments, das Konsistorium, das von Luther nur als Notbehelf für
einige Zeit gedacht war. Es wurde zur dauernden Institution. Hier haben
Zwingli und Calvin einen glücklicheren Griff getan. Die Kirchenältesten haben
sich seit der Reformationszeit in allen reformierten Ländern, in der Schweiz, in
Schottland, Nordamerika, aber auch in Westfalen und der Rheinprovinz als
segensreiche Institution eingebürgert. Es war der größte Fehler bei der Ein¬
führung der Union in Preußen.1817, daß man nicht dem Rate Schleiermachers,
ihres geistigen Vaters, folgte und überall Gemeindevertreter in den unierten
Gemeinden schuf. Man nahm dadurch den Gemeinden die einzige Möglichkeit,
durch die sie ihre Wünsche in geordneter Weise hätten aussprechen können. Was
war die Folge? Die Kirche wurde in Norddeutschland immer mehr Pastoren¬
kirche statt Gemeindekirche. Eine Gemeinschaft, in der man nicht selber mit¬
arbeiten kaun, verliert an Interesse. Kirche gleich Pastor und Konsistorium ist
noch immer die Ansicht, die in weiten Kreisen herrscht. Viel zu spät, erst 1873,
erhielt die preußische Landeskirche das, wessen sie längst bedürfte: eine Kirchen¬
organisation, die den Gemeinden ihre Vertretung schuf. Und auch diese wurde
durch ein ungeschicktes Wahlrecht sür die höheren Instanzen, Provinzial- und
Generalsynode, verdorben. So haben wir seitdem eine zwiespältige Kirchen¬
verfassung, ein staatliches Kirchenregiment und eine von unten aufbauende
Synodalvertretung.
Es wird kaum eine unpopulärere und schwerfälligere Behörde geben als
die Konsistorien. Im einzelnen mag manche wertvolle Arbeit in den Aktenstößen
schlummern, die in beängstigender Weise die Repositorien der konsistorialen Amts¬
zimmer bis zur Decke hin anfüllen. Aber das geistige Leben der Kirchen irgendwie
zu leiten oder auch nur heilsam zu beeinflussen, dazu haben sich diese Körper¬
schaften als ungeeignet erwiesen. Alle neuen Bewegungen haben sich im Gegensatz
zum landesherrlichen Kirchenregiment Bahn schaffen müssen, sind dann allmählich
kirchenregimentlich eingeordnet und eingeschnürt worden. Das eigentliche Leben
der Landeskirchen hat sich vielmehr in freien Vereinigungen Ausdruck geschaffen.
Dieser unerquickliche Zustand fehlt in der Schweiz. Es gibt kein Kirchen¬
regiment, sondern nur synodale Kirchenorganisationen. Das Schwergewicht der
Kirche liegt in der Einzelgemeinde. Die Einzelgemeinde wählt durch absolutes
Mehr ihrer Stimmberechtigten ihren Pfarrer. Daß einer Gemeinde, die mit
ihren: Pfarrer zufrieden ist, durch eine von außen einbrechende Instanz der
Pfarrer genommen würde, wie wir es in Köln erlebt haben und vielleicht auch
in Dortmund erleben werden, ist in der Schweiz ausgeschlossen. Es gibt in
mehreren Gemeinden Pfarrer, die ähnlich wie Jatho denken. Nicht alle von
ihnen haben dieselbe geistige Kraft und Beredsamkeit. Aber auch die mehr
orthodox denkenden Kreise sprechen es offen aus: „Geistige Bewegungen wie
diese lassen sich nicht mit Absetzungen aus der Welt schaffen. Wenn es in den
Gemeinden Menschen gibt, die einem in der Richtung auf Pantheismus hin
modifizierten Christentum huldigen, so mögen sie auch die entsprechenden Pfarrer
haben. Die Kirche geht damit nicht zugrunde, wenn es einige Dutzend Männer
wie Jatho gibt. Wenn diese nach aufrichtigster Überzeugung ihr Bestes geben,
so wirken sie immerhin viel Gutes, zumal es weit radikalere Strömungen gibt,
denen diese Männer einen Damm entgegensetzen. Nur gut, daß als Gegengewicht
und zur Korrektur auch viele Gemeinden und Pfarrer vorhanden sind, denen
der optimistische Idealismus eines Jatho und seiner Gesinnungsgenossen nicht
genügtl" Ich glaube, es ist nicht zu viel verlangt, daß diese Gedanken auch
in unseren kirchlichen Kreisen allmählich durchdringen. Der Protestantismus hat
es seit über hundert Jahren lernen müssen, daß er eine Fülle verschiedener
Typen in sich birgt. Ja sein Reichtum dem Katholizismus gegenüber besteht
gerade darin, daß er eine Mannigfaltigkeit religiöser Gestaltungen aufweist.
Soll denn der Zustand immer dauern, daß jeder nur bei sich die volle Wahrheit,
bei dem anderen nichts als Lüge und Unglauben sehen kann? Das Christentum
steht so hoch, daß es jedem, der auch nur ein wenig von seiner Wahrheit
erfaßt hat, zur läuternden Macht werden muß. Sollte der Protestantismus
gerade auch in seiner kirchlichen Ausgestaltung nicht einer Fülle religiöser
Individualitäten sich erfreuen? Wenn der eine mehr das allgemein Religiöse
vertritt, der andere das spezifisch Christliche, so hat jeder seine besondere Gabe,
mit der er teils ferner Stehende gewinnen, teils schon reifere Christen fördern
kann. Die Kirche geht noch nicht zugrunde, wenn in einigen Stadt- oder Land¬
kirchen ein allgemeiner ethisch-religiöser Idealismus gepredigt wird. Wahr¬
scheinlich ist dies immer noch wirksamer, als wenn andere Pfarrer Bibelsprüche
und Gesangbuchverse aneinander reihen oder durch die Schroffheiten altkirch¬
licher Lehrsätze viele aus der Kirche treiben.
Die am 21. November 1910 beschlossene „Verfassung der evangelisch¬
reformierten Kirche des Kantons Basel-Stadt" hat den Schritt gewagt, offiziell
anzuerkennen', daß in der Kirche die verschiedenen religiösen Auffassungen nicht
bloß geduldet werden sollen, sondern daß es auch heilsam ist, wenn sie sich
möglichst stark zur Geltung bringen. Sie hat, um auch die etwa vorhandenen
Minoritäten zu befriedigen, folgenden Paragraphen ihrer Verfassung einverleibt.
„§ 6. Wenn ein Teil der Angehörigen der evangelisch-reformierten Kirche, sei eS in
deren Gesamtbereich, sei es in einer oder mehreren Kirchgemeinden, seine religiösen Bedürf¬
nisse durch die Gemeindepfarrer und die offiziellen Gottesdienste nicht als befriedigt erachtet,
und daher Geistliche nach seinem Sinn anstellt und besoldet und besondere Gottesdienste und
religiösen Jugendunterricht einrichtet, ohne jedoch aus der Kirche nuszutreten oder sich sonst
den von ihr aufgestellten Pflichten zu entziehen, so steht es der Synode frei, auf ein an sie
gerichtetes, die Verhältnisse darlegendes Gesuch hin für jene Zwecke:1. unter Vorbehalt des Gegenrechts und unter Vorrang der offiziellen Gebranchszeiten
die Mitbenutzung der gottesdienstlichen Lokale und Geräte zu gestatten.4. einen Beitrag an die Besoldung der Geistlichen zu leisten.
Diese Bewilligungen erfolgen einzeln oder insgesamt auf Widerruf oder auf bestimmte
zwei Jahre nicht übersteigende Dauer. Sie sind an die Bedingung geknüpft, daß jene Geist¬
lichen sich in ihren Funktionen an die Bestimmungen der Kirchenordnung halten, sich den
kirchlichen Visitationen unterziehen und die in ihren religiösen Unterricht aufgenommenen
Kinder, sowie alle vollzogenen persönlichen kirchlichen Handlungen dem zuständigen register¬
führenden Pfarrer anzeigen."
Mit diesem Paragraphen wird nur auf faktisch bestehende Zustände Rücksicht
genommen. In Basel, Bern und einigen anderen Kantonen bestehen bereits
sogenannte Minoritätsgemeinden. Diese sind dadurch entstanden, daß eine
Minorität mit dem freieren Geist, der in den siebziger Jahren des neunzehnten
Jahrhunderts die alten Agenten und Kirchenordnungen revidierte, unzufrieden
war und engeren Anschluß an das Alte suchte. Diese Minoritätsgemeinden
wählten eigene Pfarrer. In Basel wurden von ihnen auch drei Kapellen gebaut,
da reiche Geldgeber hinter ihnen standen. Man hat nun mit Recht die Empfindung:
weil solche Minoritätsgemeinden aus persönlicher eigenartiger Gewissensüber¬
zeugung hervorgegangen find, soll man sie nicht mit bureaukratischen Formalismus
ertöten, sondern in möglichst engem Anschluß an die Landeskirche erhalten.
Damit ist das Recht des Protestantismus auf Mannigfaltigkeit der Glaubens-
Überzeugungen zur offiziellen Anerkennung gekommen. Hierzu führte auch die
Erkenntnis der Fehler, die man in der französischen Schweiz gemacht hatte.
Die unabhängigen Kirchen der Kantone Waadt, Genf, Neuenburg sind 1847.
1849 und 1873 aus ähnlichen Anlässen entstanden. Sie haben zu dem wenig
nachahmenswerten Ergebnis geführt, daß in Dörfern von sechshundert Ein¬
wohnern ein landeskirchlicher und ein freikirchlicher Pfarrer nebeneinander wirken,
ohne daß beide sich in ihrer Tätigkeit wesentlich unterscheiden.
Am meisten hat sich in Norddeutschland der Zustand überlebt, daß in
zahlreichen Gemeinden ein einziger Gutsbesitzer, der sogenannte Patron, den
Pfarrer der Gemeinde zu wählen hat. Dies führt natürlich zu den übelsten
Wirkungen. Zuweilen ist die Folge: entweder hält der Pfarrer zur Gemeinde;
dann hat er es mit dem Patron verdorben oder umgekehrt. Volkstümlich kann
eine Kirche nicht werden, so lange derartige Einrichtungen wie Privatpatronate
noch möglich sind. In der Schweiz hat sich das allgemeine, gleiche Wahlrecht
im Laufe der Jahrhunderte so eingelebt, daß keine Übelstände mit ihm ver¬
bunden sind. Jede Gemeinde bemüht sich, einen wirklich tüchtigen Pfarrer zu
bekommen, dem sie ihr Vertrauen schenken kann. Sogar die Einrichtung herrscht,
daß jeder Pfarrer nur auf eine bestimmte Amtsdauer gewählt wird. In den
meisten Kantonen sind es sechs, in Schaffhausen acht, in Glarus drei Jahre.
Nach Ablauf dieser Zeit findet entweder eine Wiederwahl statt, oder auch —
so ist es in Basel — es muß auf Verlangen einer bestimmten Anzahl von Ge¬
meindegliedern eine Neuwahl angeordnet werden. Diese Maßregel hat nicht zu
einer drückenden Abhängigkeit des Pfarrers von der Gemeinde geführt, auch
nicht zu einem falschen Haschen nach Popularität. Sie wird in der Schweiz
längst nicht als so übel empfunden wie etwa in Deutschland der Druck eines
engherzigen Kirchenregiments. Es herrscht vielmehr größere Popularität des
Pfarrers, mehr Fühlung zwischen Pfarrern und Gemeinden. Der Pfarrer steht
viel mehr im Volksleben darin; er nimmt sehr häufig an den kommunalen
Angelegenheiten des Orts den stärksten Anteil. Zuweilen wirkt er als Präsident
des Verkehrsvereins an der Hebung des Fremdenverkehrs mit. Übertritte von
Pfarrern in kommunale Tätigkeiten, z. B. in der Armenpflege, oder in politische
Wirksamkeit als Regierungsrat oder Nationalrat oder Redakteur sind durchaus
nicht selten und werden auch nicht als sonderbar betrachtet, da der Pfarrerstand
nicht kastenmäßig abgeschlossen ist.
Daher ist es nicht verwunderlich, wenn mehrere Pfarrer der sozialdemo-
kraüschen Partei teils nahestehen, teils als eingeschriebene Mitglieder für sie
wirken. Man hat in weiteren Kreisen die Empfindung: die Wahrheitsmomente,
die in der Sozialdemokratie liegen, müssen eine wirksame Vertretung haben;
darum ist es kein Schade, wenn es auch sozialistische Pfarrer gibt. Oft an¬
geführt ist das Wort des allgemein geachteten Züricher Pfarrers und Professors
der Theologie Conrad Furrer: „Danken Sie Gott auf den Knieen, daß es
noch eine Sozialdemokratie gibt!" Der „Weberpfarrer" H. Engster hat das
Verdienst, die schweizerischen Textilarbeiter organisiert zu haben. Er ist Vor¬
sitzender des Textilarbeiterverbandes und als solcher von der Sozialdemokratie,
aber auch voll vielen anderen, die ihn hochachteten, in den Nationalrat gewählt.
Freilich hat er auch ebensoviel Anfeindung erfahren. In Zürich, Winterthur,
Basel und anderen Städten wie Dörfern wirken, ohne irgendwie von oben
angefeindet zu sein, sozialistische Pfarrer mit mehr oder weniger Geschick. Pfarrer
Pflüger in Zürich, jetzt Regierungsrat, hat unangefochten nach einem Leitfaden
Unterricht erteilt, in dem folgende Fragen gedruckt stehen: „Was bist du, liebes
Kind? — Ein Arbeiterkind. — Was sagt Jesus zu den Kindern? — Er ladet
sie ins Sozialreich ein. — Willst du dieser Einladung Folge leisten? — Ja,
ich will der Einladung Folge leisten und ein tüchtiger Sozialist werden."
Manche von diesen sozialistischen Pfarrern haben das Vertrauen weiter Kreise
der Bevölkerung, andere sind ausschließlich Arbeiterpfarrer. Doch sammelt sich
um mehrere eine Gemeinde, die aus akademisch Gebildeten wie aus aufstrebenden
Arbeitern besteht. Infolgedessen haben sich auch „Vereine sozialdemokratischer
Kirchgenossen" gebildet, die bei den Pfarrwahlen ihre Wünsche geltend machen
und auch tatsächlich die Wahlen beeinflussen. Die Folge dieses Zustandes ist:
die schweizerische Sozialdemokratie ist weniger kirchenfeindlich als die deutsche.
Die schärfsten antikirchlichen Töne werden von Rednern angeschlagen, die aus
Norddeutschland verschrieben sind. Diese haben keine Ahnung von den schwei¬
zerischen Verhältnissen und schlagen auf kirchliche Zustände los, wie sie in ihrer
Heimat bestehen, in der naiven Voraussetzung, so sei es überall.
Da das politische Leben in einer Demokratie die Beteiligung aller Ein¬
wohner ganz anders in Anspruch nimmt als in einer Monarchie, ist es begreiflich,
daß die kirchlichen Richtungen bei den politischen Parteien ihre Stütze und
Vertretung gesucht haben. Der schweizerische „Verein für freies Christentum"
hat, unterstützt durch die'freisinnig-demokratische Partei, seit fünfzig Jahren große
Erfolge erzielt, weit mehr als der in Deutschland ihm gleichgefinnte „ Protestanten-
verein". In der Ostschweiz hat er die Mehrheit der Bevölkerung für sich.
Das konservativer gesinnte Basel, teilweise auch Bern, hat in seinen alteingesessenen
Geschlechtern einen scharfen Schnitt zwischen ihren vom alten Pietismus über¬
kommenen kirchlichen Gewohnheiten und den eingewanderten „windigen Ost¬
schweizern" gemacht, die meist zu den kirchlichen Reformern hielten. Jahrzehnte
hindurch gab es zwei sich befehdende Kirchenparteien, die fast nur noch nominell
in der Kirche unter einem Dach zusammenhielten. Doch hat die Hitze der Partei¬
kämpfe allmählich nachgelassen.
Auch in anderen Dingen hat der Individualismus gesiegt. Der Artikel 49
der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 steht nicht bloß auf dem Papier.
Er lautet:
„Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich.
Niemand darf zur Teilnahme an einer Religionsgenossenschnft oder an einem religiösen
Unterricht, oder zur Vornahme einer religiösen Handlung gezwungen, oder wegen Glaubens¬
ansichten mit Strafen irgend welcher Art belegt werden."
Die Konsequenz dieses Artikels für den Religionsunterricht wird in der
Praxis gezogen. Niemand ist gezwungen, sein Kind in den Religionsunterricht
zu schicken. Und zwar ist es ganz gleichgültig, ob er selbst*einer Kirchengemeinde
zugehört oder nicht. Falls der Religionsunterricht überhaupt oder die Art,
wie er erteilt wird, den Eltern nicht gefällt, können sie ohne Angabe von
Gründen ihrKind von denReligionsstunden dispensieren lassen. Eltern können so ihr
Kind ohne jeden Religionsunterricht aufwachsen lassen; oder sie können sich mit
Gleichgesinnten zusammenschließen und einen besonderen privaten Religions¬
unterricht gründen. Doch zeigt sich gerade auch hier: wenn jeder Zwang fehlt,
so ist die Folge durchaus nicht, daß die Religion in der öffentlichen Meinung
sinkt. Von jener Erlaubnis wird nur in äußerst seltenen Fällen Gebrauch
gemacht. Dadurch wird aber der Zustand vermieden, der in zahlreichen Familien,
etwa in Großstädten wie Berlin, herrscht. Die Kinder hören zu Hause Worte:
„Alles, was der Pfarrer sagt, ist Unsinn!" Und dieselben Kinder besuchen den
von der Kirche beaufsichtigten Religionsunterricht, und die Eltern lassen ihre
Kinder konfirmieren, um sich keinen Unannehmlichkeiten auszusetzen. Gerade
im Interesse des Christentums, das nur in der Luft der Freiheit gedeihen kann,
würde es liegen, allen schädlichen Zwang wegfallen zu lassen, zumal es eines
Kulturstaates unwürdig ist, die Dissidenten in kleinlicher Weise zu belästigen
und den Moralunterricht der Freireligiösen als Ersatz für den Religionsunterricht
nicht gelten zu lassen. Welche Früchte kann denn ein wider den Willen der
Eltern erzwungener Religionsunterricht bringen? Werden nicht dem Christentum
durch derartigen Zwang unheilbare Wunden zugefügt?
Der Religionsunterricht wird in den Kantonen mit gemischt-konfessioneller
Bevölkerung, wie Se. Gallen, ausschließlich von den Kirchen erteilt, denen aber
die Schullokale bereitwillig zur Verfügung gestellt werden. In den meisten
anderen Kantonen wird der Religionsunterricht die ersten sechs oder sieben
Jahre hindurch von der Schule gegeben. Und zwar ist es ein interkonfessioneller
Unterricht in biblischer Geschichte und Moral. Katechismusunterricht wird in
den Schulen nicht erteilt. Indessen ist der interkonfessionelle Unterricht tat¬
sächlich nicht durchführbar, denn die meisten katholischen Kinder in den Kan¬
tonen mit vorwiegend protestantischer Bevölkerung werden auf Verlangen der
katholischen Kapläne vom Religionsunterricht in der Schule dispensiert und
erhalten vom Pfarrer Religionsunterricht.
Unbekannt ist in der Schweiz auch die staatliche Bevormundung, die
Preußen bis vor kurzem gegen seine Einwohner ausübte, so daß innerhalb der
preußischen Landesgrenzen kein Krematorium errichtet werden durfte, ebenso
unbekannt auch die merkwürdigen Verfügungen von Kirchenbehörden, die den
Pfarrern früher die Beteiligung an Feiern bei Leichenverbrennungen unter¬
sagten. In den größeren Städten der Schweiz gibt es seit Jahren Krematorien,
die von Unkirchlichen wie Kirchlichen benutzt werden. Kein Pfarrer findet es
mit der christlichen Sitte unvereinbar, bei Einäscherungen Segen und Trost zu
spenden. Es ist eben selbstverständlich: wenn ein Bruchteil der Bevölkerung
die Kremation vorzieht, so wird ihn keine Behörde darin hindern. Vielmehr
kommen die größeren Kommunen diesem Bedürfnis entgegen.
Was wir von den schweizerischen Kirchen lernen können, ist: mehr Mannig¬
faltigkeit, weniger Uniformität; Verlegung des Schwergewichts der Kirche in die
Einzelgemeinde; größere Verantwortlichkeit der Einzelgemeinde und weniger
Hineinregieren von der Zentralbehörde aus. Die synodalen Vertretungen der
Kirche müssen möglichst gestärkt werden und die Gemeinde muß zu dem Zwecke
ein gesundes Wahlrecht erhalten. Vor allem braucht die evangelische Kirche
Gewissensfreiheit und Wahrhaftigkeit. Der Schein, als sei seit dem sechzehnten
Jahrhundert nichts geändert, muß abgetan werden. Sofern der Aufsatz von
Erich Förster über „Religionsfreiheit und Kirchenreform", in Ur. 48, 49, 51 der
Grenzboten 1911, hierauf drnuzt, ist er zweifellos im Recht.
Im vorstehenden wollte ich zeigen: es gibt bereits Kirchen, in denen diese
dringenden Forderungen der Gegenwart durchgeführt sind. Nicht Anarchie ist
die Folge größerer Gewissensfreiheit, sondern ein reicheres volkstümlicheres
Kirchenwesen.
n den Denkwürdigkeiten „Aus dem Leben König Karls von
Rumänien", die in knapper Umschreibung die eingehenden Tage¬
buchaufzeichnungen des Königs enthalten, findet sich unterm
25. Januar 1874 folgende Eintragung: „Maiorescu, Deputierter
und Professor an der Universität Jassn, wird in Audienz empfangen.
Ein Mann von großen Geistesgaben und deutscher Bildung, hat sich als Schrift¬
steller hervorgetan und ist das Haupt einer literarischen Schule, der sogenannten
neuen Richtung. Der Fürst spricht mit Maiorescu, der ihm für den vakanten
Posten des Kultusministers in Vorschlag gebracht worden ist, über Dinge des
öffentlichen Unterrichts, und ist überrascht durch seine geistige Gewandtheit und
die richtigen praktischen Anschauungen, die er an den Tag legt." Maiorescu.
der damals im vierunddreißigsten Lebensjahre stand und bald nach dem Empfange
den erwähnten Ministerposten erhielt, ist seit kurzem Chef der rumänischen
Regierung, durch das Vertrauen des Königs dazu berufen. Gelehrter, Depu¬
tierter, Minister, gelegentlich auch Tagesschriftsteller und mit besonderen diplo¬
matischen Missionen beauftragt, so spielte sich das reichangefüllte Leben des
heutigen rumänischen Ministerpräsidenten in buntem Wechsel ab. An Stürmen
fehlte es darin nicht, an leidenschaftlichen Erregungen, deren jähen Ausbruch mit
heftigsten persönlichen Angriffen nur der versteht, der einen näheren Einblick in
das auf- und niederwogende Parteigetriebe des jungen Donaureiches gewonnen;
aber er weiß auch, daß es nicht so schlimm gemeint ist, wie es sich anhört, und daß
die wildrauschende Flut oft ebenso rasch zurückebbt, wie sie gekommen. Maiorescu
hat selbstverständlich auch an jenen Kämpfen teilgenommen, als einer der Führer
der jungkonservativen Richtung; nie ließ er sich jedoch zu dem Fanatismus
mancher anderer Parteichefs hinreißen, trotz seines elastischen Temperaments
und seiner großen Beredsamkeit. Niemals vergaß er seinen eigentlichen Beruf
als Jugend- und Volkserzieher, hielt den Talar des Universitätsprofessors von
jedem Fleckchen frei, gab auch seinen leidenschaftlichsten Gegnern nicht den
geringsten Anlaß, seine Persönlichkeit zu verdächtigen: ein gerader Mann, ein
ehrlicher Charakter, ein offener Feind und treuer Freund, nie seine Macht, wenn
er sie in Händen hatte, mißbrauchend oder gar zu egoistischen Zwecken verwendend.
Ein Ziel hatte er von Anfang an als die Richtung seines Lebenspfades
erkannt: die Wohlfahrt des Staates, die er in erster Linie zu fördern trachtete,
durch Hebung der Volksbildung und damit der allgemeinen Gesittung, durch
Pflege des Idealismus in der studierenden Jugend, durch Erweckung und Ver¬
tiefung der Freude an der heimischen Literatur und Sprache. Ernste und ver¬
antwortungsvolle Aufgaben, zu deren Verfolgung und Erfüllung, außer tiefster
Vaterlandsliebe, eigener Idealismus, das Gefühl der Kraft und das Rüstzeug
des Wissens gehören.
Letzteres hatte sich Maiorescu auf deutschem Boden geholt, neben einer
Fülle bedeutsamer Eindrücke und Anregungen, die dem strebsamen Jüngling,
der im Wiener Theresianum seine Vorbildung erhalten, den inneren geistigen
Gehalt gaben. An der Berliner Universität lag der junge Rumäne in den Jahren
1858 und 1859 philosophischen und juristischen Studien ob, u. a. bei
Gneist, Rudorff, Trendelenburg, Werber und Michelet. Mit den drei zuletzt
genannten stand er auch in persönlichem und später brieflichem Verkehr.
In Gießen erlangte er dann das Doktorat der Philosophie mit der lateinischen
Dissertation „Oo t^eibaiti pluie>80pliia" und ging nach Paris, wo er 1861
„IlLenci6 en äroit" an der dortigen juridischen Fakultät wurde. Mehrfach
aber kam er nach Berlin zur Herausgabe seiner 1861 in der Nikolaischen
Verlagsbuchhandlung erschienenen Schrift: „Einiges Philosophische in gemein¬
faßlicher Form" und um ferner an den Sitzungen der „Philosophischen Gesell¬
schaft" als deren Mitglied teilzunehmen, wo er oft mit Ferdinand Lassalle
diskutierte. Bei einem solchen Berliner Besuche hielt er auch, am 10. März
1861 im Hotel de Russie, zugunsten des Lessing-Denkmals in Camenz einen
öffentlichen Vortrag über „Die französische Tragödie der Vergangenheit und die
deutsche Musik der Zukunft", wie er schon während seines früheren Berliner
Aufenthaltes eine Reihe von Vorträgen rein gesellschaftlicher Natur, — im Hause
des Geh. Rats Klemm, der Jacobischen Erziehungsanstalt usw. — gehalten hatte.
Des jungen Gelehrten geistige Regsamkeit, sein Verständnis für das deutsche
kulturelle Leben, seine Freude an wissenschaftlicher Forschung, wohl auch sein
gewinnendes Wesen hatten die Aufmerksamkeit der Berliner Universitätskreise auf
ihn gelenkt, so daß man ihm nahe legte, dauernd in Berlin zu bleiben und sich
der Gelehrtenlaufbahn zu widmen. Aber auch ihn trieb es, wie andere seiner
auf deutschen Hochschulen ausgebildeten Landsleute, so Demeter Sturdza und
P. Carp — um nur zwei tönende Namen zu nennen — nach der Heimat, um
sich in ihren Dienst zu stellen. In treuer Dankbarkeit jedoch bewahrte er
Deutschland wie dessen wissenschaftlichen Methoden und Geistesschätzen seine
anhängliche Liebe, und diese Liebe hat er bis heutigen Tags behalten, so oft sie
ihm auch verdacht worden sein mag.
Anfangs der sechziger Jahre finden wir den Heim gekehrten erst als Universitäts¬
professor in Bukarest, dann als solchen in Jassv, philosophische und geschicht¬
liche Vorlesungen haltend. Zugleich begann er in Wort und Schrift für eine
völlige Umänderung und Neugestaltung des Volks- und Mittelschulunterrichts,
sowie für eine weit stärkere Heranziehung des Lateinischen in den Gymnasien
energisch und planmäßig einzutreten. Er stieß zunächst fast überall auf taube
Ohren und fand für seine wichtigen Pläne nur ein geringes Verständnis; man
hatte, obwohl Fürst Kusa, unter dem die Moldau und Walachei ihre Vereinigung
erfahren, ein neues Unterrichtsgesetz erlassen, anderes zu tun, als sich — nach der
Meinung Vieler — um derartige nebensächliche Dinge zu kümmern. Denn in
dein mit Not und Mühe zusammengekitteten jungen Staat sah es arg aus; die
Politik beherischte alle Gemüter, die stets drückender werdende Sorge um die
Zukunft des Landes ängstigte die Besten. Fürst Kusa hatte, trotzdem er einzelne
wichtige Reformen eingeführt, die Hoffnungen der Patrioten mehr und mehr ent¬
täuscht; überall war Schlendrian eingerissen, das Protektionswesen blühte, man
dachte am Fürstenhöfe bloß noch an das Heute und kümmerte sich nicht um das
Morgen, die allgemeine Mißwirtschaft in den Regierungskreisen führte zur völligen
Leerung der staatlichen Kassen, ein Ministerium löste das andere ab, alles geriet
in Schwanken und Wanken. Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß unter diesen
Verhältnissen der öffentliche Unterricht besonders litt, und trostlos lautete denn
auch der Bericht, den C. A. Rosetti, der als Kultusminister dem ersten, vom
jungen Hohenzollernfürsten gleich nach seinem am 20. Mai 1866 erfolgten Ein¬
treffen gebildeten Ministerium angehörte, dem Fürsten Karl erstattet: die Lyceen
und Schulen standen auf niedrigster Stufe, die Räume, in denen sie sich befanden,
bedeuteten Ansteckung und Tod; von über dreitausend Dorfgemeinden besaßen
kaum dreizehnhundert Schulen, und diese, abgesehen von dem fragwürdigen
Unterricht, waren in Baracken untergebracht, meist ohne Licht und Luft,
ungehindert drangen Schnee und Regen ein!
Auch die beiden aus Fachkursen hervorgegangenen Universitäten, von denen
die Jafsyer 1860, die Bukarester 1863 begründet ward, ließen vieles zu wünschen
übrig. Hauptsächlich aus Mangel an Mitteln mußte man, wie es seitens
anderer Staaten geschehen, von der Berufung bewährter ausländischer Kräfte
absehen; man nahm seine Zuflucht zu jungen Rumänen, die auswärtige
Universitäten besucht, und räumte ihnen nach einer Prüfung den Lehrstuhl ein —
der gute Wille und ein recht gehobenes Nationalitätsgefühl mußten vielfach die
fehlenden Kenntnisse ersetzen. Auch an dem erforderlichen Unterrichtsmaterial
mangelte es anfänglich fast völlig; selbst die Professoren der auf Beobachtung
und Experimente gegründeten Wissenschaften waren genötigt, sich auf rein
theoretische Vorlesungen zu beschränken.
Man kann sich denken, wie bitter Titu Maiorescu, der erfüllt war von den
Vorzügen und Erfolgen der strengen preußischen Schulung, alles das empfand,
und mit welchem leidenschaftlichem Eifer er eine Umwandlung zum Besseren herbei¬
führen wollte. Um ihn scharten sich gleich ihm Denkende und Empfindende:
der Dichter B. Alexandri, Jakob Negruzzi, der als Romanschriftsteller Geltung
erlangt hat, der Geschichtsforscher A. D. Xenopol, der literatur- und sprachen--
kundige Scheletti und andere, die einen Verein: „^unimea" („Die Jugend")
bildeten und sich 1867 in den von Negruzzi geleiteten, noch heut bestehenden
„Lonvorbiri litorars" („Literarische Unterhaltungen") eine wirksame, viel-
gelesene Zeitschrift schufen. Die „Junimisten", wie sie bald genannt wurden und
deren Haupt Maiorescu war, strebten die geistige Hebung und Veredlung ihres
Volkes an. Sie suchten dies durch Herausgabe guter Schulbücher und Ver¬
öffentlichung trefflicher Übersetzungen ausländischer Klassiker, durch Hinweis auf
die Schätze der rumänischen Volkspoesie und den Wert der heimischen Sprache, die
sie von fremden Beimischungen zu säubern trachteten, herbeizuführen. Daneben
stritten sie mit frohen, Eifer gegen die falschen Götter, die sich in Literatur und
Wissenschaft einzuschmuggeln trachteten, warnten vor nationaler Überhebung
und einem zu hochgespannter Ehrgeiz, der mehr schaden wie nutzen konnte,
gleichzeitig aber auch vor der Bevorzugung des Fremden, besonders der
Französelei. Als wirksames Gegengewicht der letzteren — französische Einflüsse
jeder Art waren von früh an sehr stark und ausschlaggebend in Rumänien
gewesen — traten sie energisch für eine unifassende Berücksichtigung der deutschen
Bildung und Kultur ein, um die man sich an der Donau bisher herzlich wenig
gekümmert hatte, die nun aber einen stets tiefergehenden Einfluß gewannen.
Das Streben und Trachten der Junimisten wurde unterstützt durch die all¬
mähliche politische wie wirtschaftliche Gesundung des schwergeprüften Staates unter
der Regierung des Fürsten Karl, der langsam, unter denkbar ungünstigsten Ver¬
hältnissen, Ordnung zu schaffen wußte. Dem Unterrichtswesen, dessen beklagens¬
werten Tiefstand er sogleich erkannte — „es leidet an starrem Formelwesen,
mehr äußerlichen Auswendiglernen als innerlichem Beherrschen des Lehrstoffs",
lautet eine Tagebuchnotiz des Fürsten vom 13. Juli 1866 —, wandte er sein
spezielles Interesse zu; häufig wohnte er den Prüfungen bei, gab Anregung zur
Befolgung neuer Lehrmethoden und ließ auf seine Kosten, im Betrage von
300000 Franken, in Paris einen Atlas herstellen, den ersten, der in rumänischer
Sprache und für Rumänien erschien, und der an sämtliche Schulen unent¬
geltlich verteilt wurde. Mit Freuden begrüßte er die im August 1867 in
Bukarest stattgefundene Begründung der Literarischen Gesellschaft, aus der sich
alsbald die Akademie entwickelte, und versammelte häufig ihre Mitglieder, die
ihm das Ehrenpräsidium übertrugen, bei sich, um mit ihnen die Aufgaben der
neuen Gesellschaft, die Herausgabe einer einheitlichen rumänischen Grammatik
und eines rumänischen etymologischen Wörterbuches in eingehender Weise zu
besprechen.
Es war naiürlich, daß die Bestrebungen Maiorescus und dessen Anhänger
die lebhafte Teilnahme des Fürsten erweckten, der, wenn er auch vom Augen¬
blick des ersten Betretens rumänischen Bodens an Rumäne geworden, wenige
Jahre später vom Oxforder Max Müller mit Recht als „Markgraf europäischer
Kultur an der Donau" bezeichnet werden konnte.") Eine nähere persönliche
Fühlung zwischen dem Fürsten und dem Gelehrten, der unterdessen an die
Bukarester Universität berufen und mehrfach zum Deputierten, als solcher der
konservativen Partei angehörend, gewählt worden war, trat erst im oben
genannten Zeitpunkt ein. Als Minister versuchte nun Maiorescu, der sich weiten
wissenschaftlichen und literarischen Ruf erworben, seine Schulpläne tatkräftig zu
verwirklichen. Ein neues Unterrichtsgesetz wurde ausgearbeitet; es bestimmte
die Errichtung mehrerer Seminare zur besseren Vorbildung der Volksschullehrer,
ferner die Gründung von Real- und Gewerbeschulen, um jene jungen Leute, die
einen praktischen Beruf zu wählen gedenken, von den Gymnasien fernzuhalten und
sie mit geeigneten Vorkenntnissen zu versehen. Das Gesetz fand, mehr aus
innerpolitischen Gründen, eine heftige Gegnerschaft; Maiorescu gab im Frühling
1876 seine Entlassung als Minister und wurde durch Carp ersetzt, der die
Unterrichtsreform seines Vorgängers durchzuführen trachtete. Hierbei trennten
sich Jung- und Altkonservative, das Ministerium siel und machte einem liberalen
Platz, Carp aber ward von nun an Führer der „Junimisten" (Jungkonservativen),
die, auf Veranlassung von Lascar Catargius, bereits 1871 in die politische Arena
eingetreten waren.
Während dieser politischen Kämpfe daheim weilte Maiorescn in Berlin,
um die Vorverhandlungen für einen Handelsvertrag mit Deutschland zu
führen und eine Regelung der leidigen Eisenbahnfrage — Stroußbergschen
Angedenkens — anzustreben. Dieser beiden recht umständlichen und schwierigen
Aufgaben entledigte er sich mit glücklichem Geschick und knüpfte neben den alten,
nie unterbrochen gewesenen Berliner und sonstigen deutschen Beziehungen vielerlei
neue. In seiner Heimat wurde dann wieder der übliche Kreislauf: Universität,
Deputiertenkammer, Ministersessel, fortgesetzt, wobei oft die zur nationalen
Würde und Mäßigung mahnende Stimme des Gereiften, sich auch bei den
Gegnern Gehör erzwang. Gleich den literarischen Aufsätzen Maiorescus, der durch
seine umfassende geistige Tätigkeit einen tiefen Einfluß auf die ganze moderne
rumänische Literatur und Kultur ausübte, und als erster positive Ideen zur
Reorganisation heimatlichen Dichtkunst, die völlig dem Deklamatorischen verfallen
war, in die Tat umsetzte, sind diese parlamentarischen Reden in mehreren
Bänden gesammelt erschienen und bilden, ganz abgesehen von ihrer vollendeten
Form und ihrem geistigen Gehalt, einen wichtigen Beitrag zur neuesten geschicht¬
lichen Entwicklung Rumäniens.
Der siebzigjährige, der sich in erstaunlicher Weise jugendliche Frische in
geistiger wie körperlicher Beziehung und die echte, rechte Lebensfreudigkeit bewahrt
hatte, wurde bei der im Januar 1911 erfolgten Berufung der unter der Leitung
Carps stehenden, jung-konservativen Negierung mit dem Ministerium des Äußeren
betraut. Auch diesen verantwortlichen Posten wußte er umsichtig auszufüllen,
indem er gute Beziehungen zu allen Staaten, insbesondere zu jenen des Drei¬
bundes — bereits anfangs 1831 war Maiorescu in einer vielbeachteten deutschen
Veröffentlichung für die Annäherung Rumäniens an Österreich-Deutschland ein¬
getreten — unterhielt und geschickt Konflikte vermied, zu denen es im nahen
Ungarn sowie in anderer Nachbarschaft nicht an Stoff fehlte.
Auch jetzt als Ministerpräsident hat Maiorescu die auswärtigen Angelegen¬
heiten in seiner Hand behalten. Gelingt es ihm, die durch die letzten inneren
Kämpfe bis zur Siedehitze erregten Gemüter zu besänftigen, so wird seine Führung
der Regierung eine ersprießliche sein, zumal der glänzende Stand des Staats¬
budgets, das für das neue Geschäftsjahr mit einem Überschuß von etwa 70
Millionen Franken sicher rechnet, die Durchführung wichtiger Reformen ermöglicht
und auch für fernere militärische Rüstungen erhebliche Mittel erübrigt. Sollte,
was von einzelnen Stellen befürchtet wird, die nahe Zukunft ernstere Wirren am
Balkan bringen, so steht der neue Ministerpräsident unter einem kundigen, ent¬
schlossenen Kapitän, seinem Könige Karl dem Ersten.
Auras alles, was wir erleben und erfahren, geht ein tief ein-
^ schneidender Gegensatz: eine Scheidung, die jeder Mensch in der-
5 selben Weise erlebt, obgleich ein jeder die Grenze an anderer
Z! Stelle zieht: es ist der Unterschied zwischen dem, was zu unserem
-^Selbst und dem, was zur Außenwelt gehört, zwischen unserem
Ich und dem, was man im philosophischen Sprachgebrauche als Nicht-Ich
bezeichnet. Es gehört keine hohe Intelligenz dazu, um sich dieses Unterschiedes
bewußt zu sein; auch das niedrigste Geschöpf fühlt ihn unmittelbar^ „Der
getretene Wurm, der sich im Schmerze krümmt, unterscheidet sein eigenes Leiden
gewiß von der übrigen Welt, obgleich er weder das Ich noch die Natur der
Außenwelt begreifen mag." Nicht verstandesmäßiges Erkennen also, sondern
ein unmittelbares Selbstgefühl ist die Grundlage unseres Selbstbewußtseins; —
durch dieses Selbstgefühl verspüren wir die unser eigenes Wesen treffenden
Einwirkungen als eigenes Leid oder eigene Lust, im Gegensatz zu allem anderen,
was uns nicht unmittelbar trifft.
Fragen wir nun aber: „was ist dieses unser Selbst, unser Ich, das
wir so unmittelbar zu empfinden glauben?" so gibt uns die wissenschaftliche
Psychologie keine eindeutige Antwort auf dieses grundlegende Problem.
Die älteste philosophische Auffassung, die sich die Frage nach der Natur unseres
Ich, nach dem Wesen unserer Seele, ernsthaft vorlegte, erblickte darin eine
unzerstörbare, unveränderliche (denkende) Substanz. An dieser, auf Aristoteles
zurückgehenden, dogmatischen Auffassung hat zuerst der englische Empirismus
des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts (Locke, Hume) Kritik geübt: wir
finden in unseren: Geiste überall nur Inhalte und deren Verknüpfungen; einen
Träger dieser Inhalte, ein seelisches Subjekt aber finden wir nirgends.
Diesen beiden extremen Auffassungen stellt Kant eine dritte gegenüber:
Die grundlegendsten seelischen Tatsachen zwingen uus zwar, ein alle Bewußtseins¬
momente in sich hegendes Ich anzunehmen; aber die wahre Natur dieses unseres
Wesens muß unserem menschlichen Erkennen dauernd verschlossen bleiben. —
Durch diese typisch-verschiedenen Auffassungen ist auch die moderne Problem¬
lage im Grunde noch bestimmt. Die auch heut noch vorhandenen Versuche,
das Wesen der Seele aus dogmatisch-vorgefaßten Begriffen zu bestimmen, dürfen
wir, nach Kants Kritik unseres Erkennen«, freilich nicht mehr ernst nehmen.
Denn sie hat erwiesen, daß denknotwendiges Erkennen nur so weit Gültigkeit
hat, als Erfahrung reicht, daß wir also eine Wescnserkenntnis des den Erfah¬
rungen zu Grunde liegenden Realen nicht besitzen. Aber wir dürfen, ja wir
müssen — nach Kant — doch fragen: was haben wir auf Grund der Erfah¬
rungstatsachen, die uns gegeben sind, von ihren realen Grundlagen voraus¬
zusetzen, zu „postulieren"? Also, in Anwendung auf das Ich Problem: sind
unsere Bewußtseinserlebnisse so beschaffen, daß wir ein sie alle in sich hegendes
einheitliches Ich als Subjekt voraussetzen müssen?
Diese Frage nun findet — auch unter den heutigen Denkern — einerseits
eine Lösung, die, dem englischen Empirismus verwandt, unser Bewußtsein in
eine Mannigfaltigkeit von Inhalten und Funktionen, ohne Träger, ohne Subjekt,
auflöst. Der Hauptvertreter dieserAnsicht ist Wundt: die „Einheit des Bewußtseins",
die Tatsache also, daß wir eine Fülle der verschiedensten Bewußtseinserlebnissc im
einheitlichen Bewußtsein hegen, und daß wir uus — innerhalb der wechselnden
Fülle dieser Erlebnisse — als identisch vorkommen, — sie beruht für Wundt
nicht in der tatsächlichen Einheit und Identität irgend eines seelischen Subjektes.
Ein solches gibt es innerhalb des Seelischen nicht; jene Bewußtseinstatsache
beruht nur auf der Gesetzmäßigkeit und stetigen Wiederkehr gewisser Bewußt¬
seinsinhalte.
Dieser Auffassung aber stehen andere gegenüber, die ein identisches seelisches
Subjekt als grundlegende Bedingung alles psychischen Lebens fordern, weil der
Gedanke eines Fühlens und Wollens ohne ein fühlendes und wollendes Subjekt
unvollziehbar ist, und weil ihnen das Ich als die conciitio 8ins quü non
alles geistigen Lebens erscheint. In der Tat: wir müßten unsere gewohnte
Auffassung des Seelenlebens völlig modifizieren, wenn die Voraussetzung sich
als falsch erwiese, die der wechselnden Fülle unserer Eindrücke ein einheitliches
seelisches Subjekt zugrunde legt. Aber nicht nur theoretisch, auch praktisch
müßten wir auf Grund einer so veränderten Auffassung umdenken.
Ist mit dem Wechsel und Fluß der Bewußtseinserlebnisse unser ganzes
Wesen in beständigem Flusse, dann sind wir tatsächlich heute uicht mehr die¬
selben wie gestern und wie vor einem Jahre. Wo aber bliebe dann alle
Beständigkeit und Zuverlässigkeit alles menschlichen Wesens und Wollens?
Bedeutet nicht „Wollen", daß wir, im Gegensatz zu zufälligem Reagieren, in
unserem Handeln die Überzeugung und Billigung bekunden, die der Ausdruck
unseres innersten Wesens ist? Und ist „Charakter" etwas anderes, als Konsequenz
und Beständigkeit dieses unseres Wesens?
So ist es in der Tat eine grundlegende Frage, ob auch auf dem Boden
der modernen Psychologie die Annahme zurecht besteht, daß dem ewigen Fluß
der Erlebnisse ein sie alle in sich hegendes, identisches, oder doch konsequent sich
entwickelndes seelisches Subjekt gegenübersteht — oder ob alles Seelenleben in
eine bloße Mannigfaltigkeit von Erlebnissen aufzulösen ist. Wir wollen ver¬
suchen, diese Frage kurz zu erwägen.
Was ist zunächst unser Wesen, wie es sich unserer Erfahrung unmittelbar
darbietet, unser Ich, das wir von allein andern uns Fremden unterscheiden?
Wir werden bereit sein, zu antworten: unser Leib und unsere Seele. Aber
unser Körper — gehört er nicht zur Außenwelt? Steht er nicht unter denselben
Gesetzen wie die übrige Natur, und ist er nicht in allen Lebensbedingungen so
von ihr abhängig, daß wir ihn notwendig als ein Glied der Außenwelt auf¬
fassen müssen? Ja, empfinden wir nicht oft genug selbst unseren Körper als
etwas unserem eigentlichen Wesen Fremdes?
Aber wir kennen kein geistiges Leben ohne zugeordnetes körperliches; unser
.Körper mit seinen Sinnesorganen ist das Mittel, durch das die Außenwelt zu
unserem Bewußtsein gelangt; er ist das Instrument, das intakt sein muß, wenn unser
Geistesleben normal verlaufen soll. Die Einwirkungen und Funktionen, die sich
in ihm abspielen, empfinden wir als unsere Zustände; er ist das Werkzeug, an
das unsere Einwirkung auf die Außenwelt gebunden ist. So sind also Leib und
Seele mit tausend Fäden aneinander geknüpft. Aber nicht dieses Wechsel¬
verhältnis soll uns heut beschäftigen, sondern nur eine Seite unseres Seins, die
seelische. Worin besteht unser geistiges Selbst, unser Ich?
Unser Seelenleben offenbart sich uns in der Fülle der Bewußtseinsdaten, die
wir in uns rege finden. Auf die physikalischen Vorgänge der Lust- und Äther¬
schwingungen, auf Stoß oder Druck und die daran geknüpften physiologischen Vor¬
gänge im Nervensystem antwortet unsere Seele, indem sie etwas in diesen äußeren
Rcizprozessen ganz Unvergleichliches hervorbringt: Töne oder Farben, Geruchs- oder
Geschmacksempfindungen, die Wahrnehmung von Wärme, Kälte oder körperlichem
Schmerz. Aus diesen durch Sinneswahrnehmung vermittelten seelischen Elementen
baut sie kraft der ihr eigentümlichen Funktionen das Bild der Außenwelt auf:
die Spuren des einst Wahrgenommenen bleiben im Gedächtnis und verschmelzen
mit neuen ähnlichen Erfahrungen zu Vorstellungen, die sich nach bestimmten
Gesetzen im Bewußtsein verknüpfen und einordnen und fo die Grundlage für
ein Erkennen, Vergleichen und Unterscheiden, also für unser Denken schaffen.
So vermögen wir, der Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten, die in dem Gegebenen
walten, inne zu werden, denkend darüber zu urteilen, und aus dem Gegen¬
wärtigen Schlüsse auf die Vergangenheit oder Zukunft zu ziehen. Dieses ganze
seelische Erleben kann sich unwillkürlich, ohne unser Zutun in unserem Geiste
abspielen; es kann aber auch das Produkt aufmerksamer, zielbewußter geistiger
Arbeit sein. Konzentriertes, zweckbewußtes Arbeiten und Denken, unaufmerksame,
halbunbewußte Hingabe an das zufällig Dargebotene. — sie fließen, ebenso wie
die wechselnden Inhalte, in unserem Geiste beständig durcheinander, in mannig¬
fachsten, feiner- Übergängen.
Aber unser Seelenleben ist viel reicher: es birgt im Wechselspiel mit diesen
intellektuellen Momenten die Fülle der Regungen, in denen wir uns in eigen ^
tümlicher Weise unseres eigenen Zustandes oder des Wertes, den irgendein
Erlebnis für uns hat, bewußt werden: die mannigfache, fein differenzierte Skala
der organisch oder intellektuell bedingten Gefühle, der Stimmungen, der Affekte und
Leidenschaften. Alle diese Momente aber werden in besonderem Maße für uns
wirksam, indem sie, im Verein mit unserem Vorstellen und Denken, als Wünsche,
als Triebe und Neigungen, als Ziele, Grundsätze und Ideale — zu Beweg¬
gründen für unser Wollen und Handeln werden.
So kann man unser Seelenleben einem Strom vergleichen, in dem beständig
unzählige Wellen dahinfließen, einander bedingen und ablösen, entstehen und wieder
vergehen. Aber in diesem unendlichen Wechselspiel, in dem kein Moment dem vorigen
völlig gleicht — wo sind wir selbst? Wir sind es, so werden wir antworten, unser
Ich, dem alle die wechselnden Erlebnisse gegeben sind, die Subjekte des Vor-
stellens. Denkens, Fühlens und Wollens. Gewiß; aber was ist dieses Ich?
Ist es etwas anderes als wiederum ein Erlebnis, das in jedem Augenblick zu
der Fülle der anderen Erlebnisse hinzugefügt wird? Die seelischen Erlebnisse sind
in der Tat so beschaffen, als ob ein Subjekt es wäre, das sie alle auf sich bezieht. Aber
was bürgt uns dafür, daß dieser Beziehung, die eben zu den seelischen Funktionen
gehört, ein tatsächliches Verhalten entspricht. — daß der erlebten Einheit eine
wirkliche zugrunde liegt? Worin sollte auch die Identität eines innerhalb des bestän¬
digen Wechsels beharrenden seelischen Subjektes bestehen? Haben wir doch in der
gesamten übrigen Wirklichkeit kein Anologon für ein solches Verhalten. Ist
die erlebte Bewnßtseinseinheit nicht vollkommen erklärt, wenn wir sie — mit
hervorragenden modernen Psychologen — aus den Gedächtnistatsachen, ohne
Zuhilfenahme eines rätselhaften identischen Subjektes, abzuleiten versuchen?
Bleiben die Spuren des einmal Erfahrenen im Gedächtnis und beleben
sie sich bei neuen ähnlichen Erlebnissen wieder, dann entsteht eine Kontinuität
in unserem Bewußtsein, die die Erscheinung der Subjektseinheit hervorbringen
könnte.
Ist es schon schwer, im normalen Leben das Bestehen einer wirklichen
Subjektseinheit zu denken, so enthalten bestimmte psychopathologische Tatsachen,
wie es scheint, den wirklichen Beweis von der Uneinheitlichkeit unseres Seelen¬
lebens. Es sind die Fälle veränderten oder verdoppelten Bewußtseins, in denen
die Kranken sich tatsächlich in periodischem Wechsel als zwei oder mehrere
Persönlichkeiten vorkommen. Oft zeigt dabei das eine Persönlichkeitsbild einen
anderen Habitus als das andere; Erinnerungen reichen entweder überhaupt
nicht herüber und hinüber, oder es fehlt doch jedes Bewußtsein, daß die beiden
völlig verschiedenen Wesen etwas miteinander gemein haben. Anderseits gibt
es auch Fälle, in denen die Kranken sich zu gleicher Zeit als verdoppelt, als
gespalten vorkommen, wo z. B. die eine Seele beständig das tut, was die andere
quält, oder wo das eine Ich das andere als tot beklagt. Wir besitzen jetzt eine
zuverlässige, auch dem Laien zugängliche Darstellung und feinsinnige Analyse
dieser psychologisch höchst interessanten Krankheitserscheinungen in Konstantin
Oesterreichs Buch: „Die Phünomenologie des Ich in ihren Grundproblemen."
Man hat in diesen Krankheitserscheinungen den triftigsten Einwand gegen
jede Subjektspsychologie erblickt. Sprechen nun die Bewußtseinsstörungen,
die Doppelheitserscheinungen, so wie wir sie hier kennen lernen, tatsächlich
gegen die Einheit unseres seelischen Subjektes? Wir haben als Ursache dieser
Erscheinungen zunächst in allen Fällen starke Gedächtnisstörungen anzu¬
nehmen, die sich zuweilen so steigern, daß der Kranke seinen Namen und
sein ganzes bisheriges Leben vergißt. Dazu gesellen sich — vor allem in
den Fällen simultaner Spaltung — oft psychische Zwangsprozesse; sie können
zuweilen den beabsichtigten Betätigungen so stark entgegengesetzt sein, daß
die Kranken das Gefühl haben, als lebte in ihnen ein anderes Ich, das
z. B. Verwünschungen ausspricht, während sie beten wollen, oder das beständig
zwangsmäßig rechnet oder kritisiert. Die Besessenheitserscheinungen, die vor
allem in religiös-erregten und abergläubischen Zeiten häufig beobachtet werden,
sind psychologisch auf diesem Wege zu erklären. Auch unnormal starke Einfühlung
in das Seelenleben anderer Menschen kann zu der Illusion führen, als ob wir
ein Stück dieser anderen Persönlichkeit in uns trügen, und somit ein Doppeldasein
führten. In allen diesen Fällen also handelt es sich um eine Trübung des
gesunden Urteils, die durch Störungen im Seelenleben hervorgerufen wird.
Liegt nun aber dein scheinbaren Verlust oder der scheinbaren Verdoppelung
der Persönlichkeit eine wirkliche Verdoppelung oder eine entsprechende Veränderung
des seelischen Subjektes zugrunde? Ist der Gedanke auch nur faßbar, daß der
seelische Tatbestand wirklich der pathologischen Deutung, die die Kranken ihm
geben, entspreche? Fassen sie sich doch oft zu gleicher Zeit als verdoppelt und
als nicht mehr vorhanden auf! Wie will eine wörtliche Deutung diese wider¬
sprechenden Tatsachen reimen? Als elementarste Krankheitsursache müssen wir
in allen Fällen dieser Bewußtseinsstörungen krankhafte Veränderungen des
gesamten Lebensgefühls annehmen. Das Bewußtwerden einer solchen Veränderung
aber setzt voraus, daß der frühere Zustand — wenn auch noch so unklar —
erinnert, mit dem jetzigen verglichen, und die Veränderung daraufhin gespürt
werde. Setzt aber nicht jedes, auch das unklarste Vergleichen und das schwächste
Bewußtsein einer Veränderung wiederum voraus, daß dasselbe Subjekt es ist,
das einst jenes und jetzt dieses erlebt, und das darum die Veränderung bemerkt?
So scheint also die pathologische Bewußtseinsstörung gerade das Vorhandensein
eines inmitten aller Veränderungen identischen Subjektes zu beweisen.
Wir müssen uns auch vergegenwärtigen, daß bei aller Gedächtnisstörung
der Verlust des Gedächtnisses nirgends radikal ist. Sonst müßte ja das Sprechen,
das Erkennen, kurz jede Funktion und jedes Vorstellen und Denken neu erlernt
werden; denn für sie alle sind Gedächtnisspuren die Lonäitio sine qua non.
Wir müssen uns ferner klar machen, daß jede Möglichkeit eines Gedächtnisses
an eine Bedingung gebunden ist: dasselbe Subjekt muß es sein, das einst etwas
erlebt hat und das jetzt das einst Erlebte wieder in sich lebendig macht; nur
das ist der Sinn von Gedächtnis und Erinnerung. Darum setzen diese grund¬
legenden seelischen Verhaltungsweisen die Identität eines seelischen Subjektes im
Wechsel der Erlebnisse voraus. Niemals kann demnach umgekehrt das Subjekts-
Erlebnis aus dem Gedächtnis erklärt werden; immer bliebe ja bei einem solchen
Versuch die Frage ungelöst: wer erinnert denn das Vergangene?
Die Psychologie, die mit seelischen Erlebnissen ohne Subjekt auszukommen
versucht, übersieht, daß die elementarsten psychologischen Tatsachen nicht Wahr¬
nehmungen, Gefühle, Gedanken schlechthin sind, sondern stets die Tatsache, daß
ich denke, ich wahrnehme usw. Vermögen wir den Begriff eines Fühlens oder
Denkens ohne ein Subjekt, das fühlt oder denkt, überhaupt zu fassen? Und
können wir die Gesamtheit unseres geistigen Lebens tatsächlich als eine Reihe
von Vorgängen ohne ein Subjekt, an das sie alle gebunden wären, erklären?
Wir verglichen die Fülle der Bewußtseinstatsachen, die wir beständig in uns
erleben, einem Strom. Aber könnten wir uns dieser wechselnden Mannig¬
faltigkeit überhaupt bewußt werden, wenn die Voraussetzung nicht erfüllt wäre,
daß dasselbe Subjekt es ist, das zuerst eins und dann alle die anderen Glieder
der Reihe erlebt und sich darum des Wechsels in seinem Erleben bewußt ist?
Nicht der Wechsel, aber das Bewußtsein des Wechsels setzt, wie jedes Erfassen
einer Mannigfaltigkeit, ein im Wechsel beharrendes Subjekt voraus. Es ist eben
die Signatur alles Psychischen, daß alle seiue Regungen ein Ich voraussetzen,
als dessen Funktionen oder Inhalte sie allein gedacht werden können. Die
Tatsache aber, daß wir aufeinanderfolgende Erlebnisse im Gedächtnis behalten
und in einheitlichem Bewußtsein hegen, bekundet, daß unser seelisches Subjekt,
unser Ich innerhalb des Wechsels weitgehend identisch bleibt.
Die pathologischen Tatsachen widersprechen, wie wir sehen, dieser Subjekts¬
einheit nicht, sie setzen im Gegenteil eine solche voraus. Gewiß bleibt das
Wesen dieses identischen geistigen Subjekts, das wir fordern müssen, sür unseren
Verstand ein Rätsel. Aber gelingt es uns auf irgend einem Gebiete, alle
Rätsel zu lösen, und das Letzte noch zu erklären? Vermag jemand anzugeben,
was ein Atom oder ein Elektron seinem Wesen nach sei, und wie sie es
anstellen, die Wirkungen hervorzubringen, die wir erfahren?—jedenfalls führt
der Versuch, unser Seelenleben lediglich aus wechselnden Vorgangsreihen, ohne
ein allen zugrunde liegendes Erlebendes, zu erklären, zu noch größeren Schwierig¬
keiten. Denn er mutet uns, wie wir sahen, zu. Denkunmögliches zu denken:
ein Vorstellen, Fühlen oder Wollen, das niemandes Vorstellen, Fühlen oder
Wollen ist.
Im Gegensatz zu dieser Auffassung sehen wir das Wesen des Seelischen
durchweg in Ich-Erlebnissen bestehen. Dieser — von allem Physischen unter¬
schiedene Charakter des Seelischen — kommt uns zum Bewußtsein vor allem
im Fühlen, das stets das Bewußtsein unseres Zustandes, und im Wollen, das
der Ausdruck unserer Billigung ist. Müssen wir voraussetzen, daß das seelische
Subjekt im Wechsel seiner Erlebnisse im Grunde identisch bleibt, so ist eine
Entwicklung, eine Entfaltung damit natürlich nicht ausgeschlossen. Wir müssen
annehmen, daß Kontinuität und Gesetzmäßigkeit in dieser Entwicklung, die durch
die gegebene Anlage und die Summe der Einwirkungen und Erlebnisse bestimmt
ist, herrschen. Diese Annahme ist gerechtfertigt durch die Kontinuität der psychischen
Entwicklung, die wir tatsächlich sehen, und auf die z. B. alle pädagogische Arbeit
rechnet. Sie ist aber auch die unbedingte Voraussetzung für alle Zuverlässigkeit
menschlichen Wesens und Handelns überhaupt; sie gehört somit zu den Postulaten,
auf die alles wissenschaftliche und allgemein-menschliche Denken beständig baut.
Nach alter Tradition feiert der Venetianer am 11. Juli im Giudeccakanal
sein größtes Fest. Parallel mit den Fondamenta delle Zattere, den: Uferquai
des südlichen Stadtteils, erstreckt sich die von sieben Kanälen durchschnittene
Giudecca-Insel. In der Mitte, mit der Front gegen den Kanal erhebt sich die
Chiesa del Nedentor, die schönste der vier Giudeccakirchen. Im Pestjahre 1577
wurde sie einem Gelübde zufolge errichtet, und nun pilgerte der Doge alljährlich
am 11. Juli mit der Signoria zu dieser den Kapuzinern anvertrauten Stätte.
Dieser 11. Juli ist im venezianischen Staatskalender als der erste und feierlichste
Tag eingezeichnet.
Abends gegen vier Uhr, bevor die erfrischende Seebrise einsetzte, herrschte
auf dem Markusplatze reges Leben. An der Riva degli Schiavoni entstiegen
unaufhörlich Menschenmassen den kleinen Dampfern aus Trieft, Capo d'Jstria,
Fiume, Mestre, Torcello, Chioggia. Vor dem Dogenpalast schaukelte eine bunt
bewimpelte Dampferflotte, in der sogar die goldverzierte Jacht des Königs von
Griechenland nicht fehlte. Wären die starren Schlote mit Segeln verdeckt
gewesen, man hätte sich in die Zeiten eines Dogen Mocenigo, in die Periode
der venezianischen Großmachtstellung zurückversetzt geglaubt. Die schnellen
Schwalbendampfer des großen Kanals leuchten vom Bahnhof her schwerbeladen
mit Passagieren von Udine, Verona, Mailand und Florenz.
Graue Knie- und rote Pumphosen brachten in das alltägliche Bild der
Piazza angenehme Abwechselung. Montenegriner und Inselgriechen in ihren
rotseidenen Mützen kontrastierten mit dem gelben Strohhut des Florentiners und
dem federgeschmückter Filz des Österreichers. Venedig, das im Sommer nur
durch die teuern Preise die Fremdenstadt verrät, bot ein noch glänzenderes Bild
als im April und Mai zur Zeit der Hochsaison.
Gegen acht Uhr abends stand ich auf den Fondamenta delle Zartere, dem
diesseitigen Ufer des Giudeccakanals.
Da ich nella eine Stunde später erst erwartete, hatte ich noch Zeit, das
Treiben genauer anzusehen. Eine dreihundert Meter lange Schiffbrücke erleichterte
den Verkehr. Die Gondeln tanzten schon zu Hunderten auf dem Wasserspiegel,
als ich mich dem dichten Menschenstrom einreihte, der über die Barrenbrücke
flutete. Je näher man dem anderen User zurückte, desto lauter wurde ein
Gesumme vernehmbar, das sich zum dumpfen Getöse steigerte. Welch ein buntes
Leben und Treiben auf diesem schmalen Uferrande! Kopf an Kopf gedrängt
schon stand das Volk, und immer neue Menschenmassen ergossen sich in
erdrückender Menge von der Brücke. Lange Reihen von Lampions warfen einen
matten Dämmerschein auf das bunte Menschengewühl. In hohen und tiefen
Tönen klang es hinter den reichbesetzten Tischen und Schaubuden hervor: „Eis!
Kauft Eis!" — „Meine Herren, wer probiert, gewinnt!" — „Die schönsten
Fächer habe ich!" — „Zwei Soldi die Zuckermandel!" Gebratene Gänse mit
übelriechendem Fettgeruch lagen neben Glasperlen auf derselben Bank. Der
Limonadenschenk zerrieb sein Eis neben dem Medizinmanne, der seine staniol-
verpackten Wurzeln in unerschöpflichen Redewendungen an den Mann zu
bringen suchte.
Ich lenkte in einen Maulbeergarten ein, das heißt in einen engen gevierten
Raum, wo der Wirt mit prallen Maulbeeren aufwartete. Das Geschäft ging
flott. Vornehme, in Seide gekleidete Damen und dicke Fischerweiber setzten sich
auf die Fässer und Bretter, wo sie nur Platz fanden, spießten mit Zahnstochern
die vollen Beeren und schnabulierten drauf los, eine, zwei, drei Portionen,
daß dem emsigen Wirte ob all dem Hin- und Herwatscheln die dicken Schwei߬
tränen über die rotverstrichenen Wangen liefen.
Draußen war es dunkel geworden. Aus der Ferne erschollen weiche Klänge.
Jetzt war es Zeit, das Täubchen abzuholen. Ich bestieg eine Gondel und
fuhr aus dem Menschengewühl hinaus in die laue Sommerluft. Wie gespenstige
Schatten glitten die Fahrzeuge hin und her. In der Ferne leuchteten als rote
Punkte die Stearinlichter, die sich stetig zueinander verschoben. Am Uferrand
schimmerte in den drei Landesfarben ein lichtübergossener Pavillon, die Galleggiante
oder Garreggiante, wie sie der Venezianer in seinem Dialekt nennt. Eine leicht¬
gefügte Kuppel, aus tausend glitzernden Lichtlein aufgebaut, diente der Musika
cittadina als Konzertpodium. Wie das gleißte und glimmte und die Augen blendete!
Die Uhr ging auf neun, als die Gondel am Eingang der Zattere, wo
ich nella erwarten sollte, anhielt. Eine halbe Stunde floß dahin und sie kam
nicht. Ich spähte nach allen Seiten, umsonst!
Sollte sie mit einem anderen auf und davon sein und mich zum Besten
gehalten haben? Einer solchen Handlung hielt ich sie nicht sähig. Oder hatte
die Bestie vom Giudeccapalast vielleicht die Colombine in die Krallen gefaßt?
Das Herz schlug mir zum Halse empor.
„Calle Cristoforo!" rief ich dem Fährmann zu.
Ich wollte mir Gewißheit verschaffen. Das Ruder schnitt ein, und der
leichte Nachen trieb durch den dunkeln Kanal, vorbei an starrenden Häuser-
mauern. In wenigen Minuten waren wir am Ort.
Die Läden der Büvette waren geschlossen. Ich drückte auf die Klinke der
Tür; aber sie gab nicht nach. In der Nähe ließ sich kein Mensch erblicken.
„Da sitzt die ganze Stadt in den Gondeln," hatte sie gesagt, und nun fuhr es
mir wie ein Blitz durch den Kopf: wenn sie jetzt auf dich wartete!
Ich lief wieder der Gondel zu und gab das Zeichen zur Rückfahrt. Wo
die Zattere in den Giudeccakanal ausladen, wurde wieder angehalten und herum¬
gespäht; aber die Ersehnte erschien nicht.
Der Gedanke, der widerliche Glatzkopf habe heute abend den Bubenstreich
ausgeführt, stieg in mir auf und verflog. Warum denn gerade heute abend I
Und war es überhaupt sicher, daß er daran dachte? Unsinn! Weivermucken!
Wie, wenn die Blonde sich einen tollen Streich erlaubte, mich vom Stern einer
Gondel aus beobachtete, ein bißchen zappeln ließ und mich dann überraschte.
So wird es sein, also hinaus in das bunte, glänzende Lichtermeer!
Auf der weiten Wasserfläche herrschte tiefes Schweigen, nur vom Plätscher¬
schlag des Ruders unterbrochen, mit dem die leicht dahinschwebende Gondel
geleitet wurde.
Wir trieben den leuchtenden Girlanden der Galleggiante zu, welcher die
Klänge der Kapelle entströmten. Die Gondeln näherten sich von allen Seiten
in unabsehbarer Zahl, und wie die letzten Töne verbrausten, flogen sie wieder
auseinander gegen die Mitte des Kanals, wo sie von der Flutströmung ergriffen
wurden und still dahinschwammen. Mit der zunehmenden Dunkelheit mehrten
sich die Boote wie die Sterne am Himmel, die ihren fahlen Dämmerschein über
die glatten Fluten ergossen. Das Ruder tauchte nicht mehr wie am Tage in
schmutziggraues Lagunenwasscr; von den Papierlaternen bestrahlt, flimmerte der
Spiegel wie flüssiges Gold.
Ich sah scharf nach allen Seiten, obwohl es unmöglich war, auch in größter
Nähe jemand zu erkennen. Noch zweimal fuhren wir an die Zattere zurück,
und dann gab ich das Suchen auf. Was sollte ich tun? Heimkehren mochte
ich nicht und so überließ ich mich dem Fährmann und meinen trüben Gedanken.
Eine Gondel streifte leise unsere Flanke. Ein Baldachin, aus blumen-
durchflochtenen Grünzweigen erstellt, wölbte sich über einem weißgedeckten Tischchen,
auf dem ein Fiasco mit Gläsern und Eßwaren noch unberührt standen. Ein
blonder Mädchenkopf lehnte an der Brust eines jungen Mannes, den Blick in
die dunklen Schatten verloren.
Wenn das nella wäre! Das Blut schoß mir in die Schläfen. Das
stille Glück des fremden Kahnes, der wohlige Abendwind, die bekannten Melodien,
die uns aus der Galleggiante zurauschten, die blauen Augen Nellas, alles
zusammen verwob sich zu einem Bilde, das die Seele gefangen hielt. Eine
Kanonade schreckte mich aus den Träumen auf. Blitzende Raketen schössen
unter Donnerknall zum Sternenhimmel empor. Das Feuerwerk hatte begonnen.
Eine halbe Stunde lang knallte und sprühte es in wechselndem Farben-
glanze. Der dunkelrote Lichtschein der Papierlaternen erblaßte in der Glut
der künstlichen Lichtquelle. Rauschend wälzten sich die zischenden Garben, spieen
den Feuergischt nach allen Seiten aus und spritzten dann plötzlich in feuriger
Lohe zum Himmel empor, um in prächtiger Wölbung niederzusinken. Dazwischen
donnerte es fürchterlich, als ob die Panzerkanonen der Kriegsschiffe abgefeuert
würden. Die sausenden Geschosse zerstoben in tausend funkelnde Kristalle und
aufglühende Goldflocken, die herabrieselnd im Wasser verglommen. Jetzt aber
kam Leben in die Gesellschaft. „Quant' ö faiuosa! Brcwi! draoi!" schallte es
aus tausend Kehlen, und als im Schlußbild das Evviva l'Italia in riesigen
Lettern aus dem Feuermeer aufflammte, kannte die Begeisterung keine
Grenzen mehr.
Da geschah etwas, das mich in starren Schrecken versetzte.
Lautes Stimmengewirr drang auf einmal von der Giudecca her. Die
Menge drängte nach einen Punkt hin und verdichtete sich dort zu einem Knäuel.
Die Gondeln flogen Möven gleich derselben Stelle zu, wir mit, so daß die
eingepreßten Fahrzeuge ächzten und knarrten, als ob sie aus den Fugen gingen.
Was war geschehen?
Noch konnte es niemand sagen. „Es wird eben einer ins Wasser gefallen
sein", meinte der Gondeliere gleichmütig. „Das wird nicht der Letzte sein, der
hineinpurzelt". Ein weiteres Vordringen war nicht möglich. Wir warteten,
bis der Knäuel sich wieder löste, dann erfuhr ich, daß eine Dame verunglückt
sei, eine vornehme aus einem Herrenschiff. Man habe sie nicht mehr gefunden,
der rettenden Arme seien zu viele gewesen. Auch sei sie sofort in der Tiefe
verschwunden. Mir fuhr es eiskalt durch die Glieder. Die häßliche Gestalt
des Wüstlings stand vor mir. Ich sah - den lüsternen Blick, den er in der
Büvette auf das Mädchen geworfen und konnte den Gedanken nicht mehr los¬
werden: das war nella und sie ist tot! Die Mutter hat ihr Kind der rohen
Gewalt des Marchese ausgeliefert.
Sobald es Raum gab, fuhr ich zu der Unglücksstätte heran, wo noch
eifrig mit Stangen gefischt wurde, die aber den Meeresgrund nicht erreichten.
Nähere Auskunft erhielt ich keine.
Von der Galleggiante ertönten die Klänge eines Militärmarsches, die Gondeln
setzten ihre Spazierfahrt weiter fort und das Fest nahm seinen Fortgang.
Neapolitanische Volkslieder erschallten, Mandolinen- und Gitarrengezirpe summte
durch die Lust, oft übertönt von schallendem Gelächter.
Ich konnte meine schreckliche Ahnung nicht mehr niederkämpfen und befahl,
den Kiel zu wenden. Leise glitt die Gondel an hundert anderen vorüber der
Piazzetta entgegen. Der helle Jubel verbrauste allgemach und als ich das
Boot verließ, empfing mich mitternächtliche Stille, In düsterer Bangigkeit
legte ich mich zu Bette, schlief erst gegen Morgen ein und erwachte sehr spät.
Langsam schritt ich am halben Vormittag meinen gewohnten Weg der
Calle Cristoforo zu. Ich wußte ja, daß nella tot war.
Die Büvette war wie am Abend zuvor geschlossen. Auf ihrem Hock-
sesselchen duselte die alte Fruchthändlerin. Ich zupfte sie an der Schulter und
redete sie barsch an:
„Warum ist das Lokal zu?" Sie hob den Kopf und schaute mich an.
„Wieviel wünschen Sie?"
„Warum das Lokal da geschlossen ist."
„Sie sind der Herr, der immer dort drinnen saß?"
Ich nickte.
„Dio mio, wissen Sie nicht, daß die Bambina tot ist? In der Frarikirche
liest man für sie die Messe. Bezahlen tu ich sie, wenn sonst niemand das
Geld gibt."
„nella ist tot," versetzte ich tonlos. „Die Mutter hat sie an den Marchese
verschandelt."
„Die Mutter? Chö — ahn. Eine schöne Mutter. Das Mädchen hatte
keine Mutter. Man hat gestern die schöne Biondina zum Nachtfest abgeholt —
in der Herrengondel. Und geknebelt wurde sie, und drüben bei der Giudecca
hat sie sich ins Wasser geworfen."
„Und woher wissen Sie das alles?"
„Ich weiß es, ich weiß es," murmelte die Höckerin. „Ich habe ihr immer
gesagt, sie solle sich vor dem Marchese in acht nehmen."
„Und was wird nun die Polizei tun?"
„Die Polizei? Haha," klang es ganz trocken tief hinten im Halse. „Ich
habe nichts gesagt, und wer will es beweisen?"
Die Alte legte die Hände in den Schoß und schwieg.
Tief erschüttert machte ich mich davon. Vor dem hohen Portal der Chiesa
dal Frari, die mit dem schlanken Gipfel des Turmes so stolz in die Himmels¬
bläue ragt, blieb ich stehen. Am Altar wurde jetzt für die arme Seele der
Toten eine Messe gelesen. Sollte ich eintreten?
Schaudernd kehrte ich dem Tempel den Rücken und schritt von dannen."
Mein Fremid verstummte. „Die Kerzen flackern," bemerkte ich. „Stecken
wir neue an?"
„Ich mag diese papierener Leuchter nicht," erwiderte der Doktor bedrückt.
„Sie stimmen mich traurig. Ich gehe schlafen. Felice molte!"
Ende.
in 23. Juni sind dreihundert Jahre verflossen, seit in der süd-
hannoverschen Stadt Einbeck Justus Georgius Schottelius, der große
Sprachforscher des siebzehnten Jahrhunderts, der „Jakob Grimm
seiner Zeit", wie man ihn wohl genannt hat, geboren wurde.
Die Heimat der Familie Schottelius, deren Geschichte sich bis
ins sechzehnte Jahrhundert zurückverfolgen läßt, befindet sich im Herzen Nieder¬
sachsens, im Leinetal zwischen den Höhenzügen des Harzes und Solling; in
Einbeck, Markoldendorf und Dassel taucht der Name in alten Chroniken zu der
Zeit, als die Hammerschläge Luthers an die Wittenberger Schloßkirche durch die
deutschen Gaue und weit über Deutschlands Grenzen hinaus erschallten, zuerst auf;
der Geschichtsschreiber der Familie nimmt jedoch an. daß die Heimat der Familie
das Dorf Ahlshausen bei Gandersheim ist. Der Name tritt uns schon bei seinem
ersten Vorkommen als Schottelius entgegen; die früher wohl vertretene Ansicht,
er habe ursprünglich Schotte! gelautet und Justus Georg habe ihn, dem Zuge der
Zeit folgend, latinisiert, ist nicht richtig. Im Gegenteil, Justus Georg hat, was
ja auch viel mehr seinem Bestreben entspricht, der deutschen Sprache wieder zu
Ehre und Ansehen zu verhelfen, seinen Namen gelegentlich in „Schotte!" verdeutscht.
Diese Namensform hat sich aber doch nicht einzubürgern vermocht; seine Nach¬
kommen nennen sich vielmehr noch heute Schottelius.
Der älteste bekannte Träger des Namens Schottelius war der zwischen 1530
und 1630 geborene Großvater Justus Georgs, der Ratsverwandte Andreas
Schottelius in Einbeck. Dessen Sohn Johannes war schon der lutherischen Lehre
zugetan; er bekleidete zuletzt das Amt eines Predigers an der Neustädter-Kirche
in Einbeck, wo er am 12. September 1626 an der Pest starb. Außer Justus
Georg sind aus seiner Ehe mit Margarete, geb. Ilse, ein Sohn Johann und eine
Tochter hervorgegangen.
Justus Georg, der den Vuier im Alter von vierzehn Jahren verloren hatte,
sollte ursprünglich Kaufmann werden. Die Liebe zu den Wissenschaften führte ihn
aber nach kurzer Lehrzeit auf die Schule zurück. 1627 finden wir ihn auf dem
Gymnasium Andrecmum in Hildesheim und 1630 auf dem Gymnasium zu Hamburg.
1633 bezog er zum Studium der schönen Wissenschaften und der Jurisprudenz die
Universität Leyden, die damals nicht nur die erste Hochschule Europas für die
klassische Philologie war, sondern deren große Gelehrten zugleich den wärmsten
Anteil an dein Aufschwünge des niederländischen Staates und der niederländischen
Sprache nahmen und sich mit der Erforschung der deutschen Sprache befaßten.
Es war daher für Justus Georg nicht ohne Bedeutung, daß er seine Studien
gerade in Leyden fortsetzte und daß hier Daniel Heinsius, der große Philologe
und geachtete holländische Dichter, sein hauptsächlichster Lehrer wurde. 1636 ging
Schottelius nach Wittenberg, und blieb daselbst bis ihn die Stürme des Dreißig¬
jährigen Krieges vertrieben. Die ihm in seiner Vaterstadt angebotene Stelle eines
Konrektors schlug er aus und übernahm 1638 eine Stellung als Hauslehrer in der
Familie von Hahn in Braunschweig. Dort verstand er sich das Vertrauen einflu߬
reicher Männer in so hohem Maße zu erwerben, daß sie ihn dem in Wolfen-
büttel hofhaltenden regierenden Herzoge August dem Jüngeren von Braunschweig-
Lüneburg, dem Begründer der berühmten Wolfenbütteler Bibliothek, als Erzieher
und Lehrer für seinen Sohn, den Herzog Anton Ulrich, empfahlen.
Justus Georg erhielt diese ehrenvolle Berufung und leitete alsdann die Er¬
ziehung des Genannten sowie die seiner jüngeren Geschwister bis 1646. Zwischen¬
durch erwarb er sich in Helmstedt mit der Disputation „6e poenis juxta cuiuscunque
cielioti mentum juste asstimanäis" die Würde eines Doktors beider Rechte. Noch
während Schottelius als Fürstenerzieher tätig war, ernannte ihn der Herzog —
1642 — zum Assessor am Fürstlichen Hofgericht und — 1646 — zum Konsisiorialrat
und Beisitzer in der Ratsstube. Aber auch nach Beendigung seiner Erziehertätigkeit
blieb Justus Georg in braunschweigischen Diensten oder, wie wir heute sagen
würden, er trat völlig in den Staatsdienst über; 1653 folgte seine Ernennung
zum Hof-, Kammer- und Konsistorialrat. Er ist dann noch eine Reihe von Jahren
im Dienst gewesen und ist am 25. Oktober 1676 im Alter von vierundsechzig Jahren
hochgeehrt in Wolfenbüttel gestorben.
Schottelius hat mit seinem Hauptwerke, der 1663 erschienenen Schrift „Aus¬
führliche Arbeit von der Teutschen Haupt Sprache", unserer Muttersprache das erste
weithin ragende Denkmal gesetzt und den Grund zu der deutschen Sprachwissen¬
schaft gelegt. Darin liegt seine bleibende Bedeutung auch für uns Heutige. Sein
Bestreben ging dahin, der deutschen Sprache wieder zu Ehre und Ansehen
zu verhelfen, sie insbesondere von Fremdwörten und anderen Modetorheiten zu
reinigen und sodann ihr durch Schaffung fester Regeln eine geordnete Grundlage
M geben.
Indem er das erstere tat, betätigte er einen Grundsatz der Sprachgesellschaften
seiner Zeit. Es darf daran erinnert werden, daß zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges,
also zu den Zeiten traurigster innerer Zerrissenheit in unsern: deutschen Vater¬
lande, als die verschiedensten Fremdwesen sich hier breitmachten und fremde Sitten
und Gebräuche Eingang gefunden hatten, an vier verschiedenen Orten sogenannte
„Sprachgesellschaften" entstanden waren zu dem Zwecke, die deutsche Sprache,
vorläufig das einzige Band, das die deutschen Stämme umschloß, von dem Fremden,
das Krieg und modische Bestrebungen in sie hineingetragen hatten, zu reinigen
und sie zu neuem Glänze zu bringen. Als erste stiftete 1617 Ludwig vou Anhalt
die „Fruchtbringende Gesellschaft" oder den „Palmenorden", deren Sitz bis zu
ihrem Erlöschen um 1680 nacheinander Cöthen, Weimar und Halle war; 1643
gründete Philipp von Zehen in Hamburg die „Deutsch gesinnte Gesellschaft",
1644 Philipp Harsdörfer und Johannes Claius in Nürnberg die „Gesellschaft der
Pegnitzschöfer" oder den „Blumcnorden" — der übrigens als „pegnesischer
Blumenorden" noch heilte besteht —, und endlich schuf Johann Rist den „Elb-
schwanenorden". Justus Georg war seit 1642 (nicht, wie sich auch findet, seit
1634) Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft unter dem Namen „Der Suchende"
und seit 1646 Mitglied des Blumenordens unter dem Namen „Fontano der Erste".
Des Schottelius erster poetischer Versuch, die 1640 erschienene „I^amentatio
Qormaniae exspirantis" („Der nunmehr hinsterbenden Nymphe (Zernmnme Todes¬
klage"), zeigt ihn schon als glühenden Patrioten, der im bewußten Gegensatze zum
„Alamodismus" ein reines Deutsch zu schreiben sucht. Schärfer tritt dies Bestreben
noch in seinen weiteren Werken, sowohl religiösen wie poetischen Inhalts hervor.
Dazu gehören: „Eigentliche und sonderbare Vorstellungen des jüngsten Tages usw."
(Braunschweig 1668), „Grausame Beschreibung und Vorstellung der Hölle usw."
(Wolfenbüttel 1676), „Jesu Christi Namens-Ehr" (Wolfenbüttel 1666), „Frucht-
bringer Lustgarte, voller Geistlicher und Weltlicher Neuen erfindungen" (Wolfen¬
büttel 1647), „Neu erfundenes Freudenspiel genannt Friedenssieg" (Wolfenbüttel
1642). Sein ganzer unermüdlicher Eifer tritt aber in den rein sprachlichen
Werken hervor. Von ihnen seien genannt: die 1641 zuerst und 1631 in zweiter
verbesserter Auflage erschienene „Teutsche Sprachkunst, darinn die allerwortreichste,
prächtigste, reinlichste, vollkommene, uhralte Hauptsprache der Teutschen aufz ihren
Gründen erhoben, dero Eigenschaften und Kunststücke völliglich entdeckt und also
in eine richtige Form der Kunst zum ersten mahle gebracht worden"; ferner 1643
„Der Teutschen Sprache Einleitung, zu richtiger gewissen und grundmeßigem
vermugen der Teutschen Haubtsprache samt beygefügten Erklärungen", und
1646 und 1654 die „Teutsche Vers- oder Reim-Kunst usw."
Die Schriften find fast durchgängig ohne Verwendung von Fremdwörten
geschrieben und somit ein Muster von Sprachreinheit. So sind — um nur einiges
zu erwähnen — „Lyntaxis" durch „Wortfügung" ersetzt, „Verbum" durch „Zeit¬
wort", „praspositio" durch „Vorwort", „I)ipntonZu3" durch „Doppellaut",
„Kolon" durch „Doppelpunkt", „Komma" durch „Beistrich", „Qenus" durch
„Geschlecht", „Lompositio" durch „Doppelung" u. a. in.
Zudem hat er auch ausführliche Lehrsätze für die deutsche Rechtschreibung
aufgestellt, von denen hervorgehoben seien, daß alle die Buchstaben, „welche der
Rede keine Hülfe kühn und also überflüssig seyn", ausgelassen werden sollen, daß
die zusammengehörigen Silben und Worte „billig ungeteihlt also zusammen gelassen
und ungetrennet geschrieben werden", daß alle Eigennamen „und sonst diejenigen,
welche einen sonderbaren Nachdruk bedeuten" wie auch die, „so auf einen Punkt
folgen", mit einem großen Anfangsbuchstaben zu schreiben seien, wie endlich, daß
man, wenn man über die Schreibweise des letzten Buchstabens eines Wortes un¬
sicher sei, in dem Nennworte auf die „Geschlecht-Endung", d. h. den zweiten Fall,
„oder auf die mehrere Zahl, in dem Zeitworte auf die andern Zeiten und Zeit-
Endungen" achten müsse.
Aber so anerkennenswert die im vorstehenden kurz skizzierten Bestrebungen
des Schottelius auch gewesen sind, sie allein würden doch vielleicht nicht ausgereicht
haben, ihm den Platz zu sichern, den er in der Geschichte der deutschen Sprache
und Literatur heute einnimmt, wenn nicht seine Bedeutung als Grammatiker
hinzugekommen wäre. Zwar haben auch schon vor ihm Männer deutsche
Grammatiker geschrieben, so Jckelsamer, Clajus und andere. Aber ihre Werke
sind zumeist nur grammatische Hilfsbücher für praktische Schulzwecke gewesen, die
nach lateinischein Vorbilde die deutsche Sprache in kurzen Regeln darstellten-, sie
reichen jedenfalls bei weitem nicht an Justus Georgs Hauptwerk, an die 1663
erschienene „Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haupt Sprache" (Neuausgabe:
Hildesheim 1737) heran. Hier hat er die Summe seiner Lebensarbeit gezogen.
„Justus Georg hat zuerst in wissenschaftlicher Weise die deutsche Sprache für das
gesamte deutsche Volk, nicht sür die Jugend dargestellt," sagt F. E. Koldewey. „Er
hat ein Ohr für den leisen Herzschlag der Sprache. Er will den gesamten deutschen
Sprachschatz sammeln und sichten. Bon allen Gebieten, die in der heutigen Ger¬
manistik behandelt werden, finden sich bei ihm zuerst die Ansätze vor."
Aus dem ersten Teil dieses Buches ist es interessant festzustellen, daß Schottelius
es als erster versucht hat, die Geschichte der deutschen Sprache in „Denkzeiten"
(Epochen) einzuteilen, und so ein Vorbild für die moderne Literaturgeschichte ge¬
schaffen hat. Die erste Denkzeit geht nach ihm von der Bildung der deutschen Wörter
bis zu .Karl dem Großen, die zweite bis Rudolf dem Ersten, die dritte bis Luther.
Die vierte soll aufhören und die fünfte beginnen zu der Zeit, in der „das aus¬
ländische verderbende Lapp- und Flickwesen könnte von der Teutschen Sprache
abgekehret, und sie in ihrem reinlichen eingebornen schaukle und Keuschheit
erhalten werden". Nachdem dann die schon erwähnten Lehrsätze für die deutsche
Rechtschreibung gegeben sind, werden im zweiten und dritten Buche seine eigent¬
lichen grammatischen Arbeiten dargestellt. Die Sprachlehre teilt er in „Wort¬
forschung" und „Wortfügung" ein. Unter ersterer Überschrift behandelt er
Geschlechtswort, Hauptwort, Eigenschaftswort, „Bornennwort" (Pronomen), Zeit¬
wort, „Borwort" (Präposition), „Fügewort" (Konjunktion), „Zwischenwort"
(Interjektion) und schließlich die Zeichensetzung. Beim Hauptwort, von dem er
seltsamerweise nach lateinischen Vorbilde sechs Fälle kennt, nämlich neben der
„Nenn"- (Nominativ). „Geschlecht"- (Genitiv), „Geb". (Dativ) und „Klag"-Endung
(Akkusativ) uoch die .,Ruf"- und „Neben" - Endung, sind lange Ausführungen
über die Wortbildung und die Bildung zusammengesetzter Worte angefügt. Von
diesen Verdoppelungen, die er für einen sehr großen Vorzug der deutschen Sprache
hält, unterscheidet er vier Arten, nämlich erstens den Fall, daß das neue Wort
aus lauter Nennworten besteht, zweitens daß es durch Nennwort und Zeitnenn¬
wort gebildet wird, drittens daß dieses mit Hilfe eines Vorwortes und viertens,
daß es durch Verbindung eines Stammwortes mit einer Hauptendung geschieht,
und in Anschluß an diese Erörterungen stellt er dann alle Doppelungen, deren die
deutsche Sprache überhaupt fähig ist, nach diesen vier Klassen zusammen.
In dem Abschnitt über die Wortfügung wird alsdann zunächst die tunst-
gemäße Fügung des Geschlechtswortes, das dem Nennworte stets vorausgehen
soll, erörtert, dann die des Beiwortes, des Vorwortes, des Zeitwortes, der Mittel¬
worte, der ZuWorte (Adverbien) und endlich des Fügewortes.
Die „Hauptsprache" enthält ferner eine Sammlung von mehr als zweitausend¬
vierhundert Sprichwörtern, eine Theorie der Übersetzungskunst, in der er die auch
jetzt noch sehr beherzigenswerte Anweisung gibt, daß, wer aus fremder Sprache
ins Deutsche übersetzen will, „einen großen Vorrath teutscher Wörter in Bereit¬
schaft haben" muß und auch „so weit in der teutschen Sprache gekommen sein"
muß, „daß er dieselbe nach ihren Gründen und Vermögen anzusehen und rechte
deutsche Gerätschaft, je nachdem es sein Dollmetscher erfodert, heraus zu langen"
in der Lage sein muß, und endlich unter der Überschrift „Von Teutschlands und
Teutschen Skribenten" eine Art Literaturgeschichte, in der er römische Schriftsteller
und von deutschen u. a. Einhard, Otto von Freisingen, Luther, Albrecht Dürer,
Martin Opitz, Philipp Harsdörffer und Moscherosch erwähnt.
Schottelius hat eine ungeheuer große Arbeitskraft besessen und hat in mehr
als einer Beziehung bahnbrechend gewirkt, so daß es zu bedauern ist, daß seine
Lebenszeit nicht ausgereicht hat, um ein vom Palmenorden geplantes Lexikon der
deutschen Sprachkunst, zu dem er in der „Hauptsprache" Grundlinien angibt, zur
Ausführung zu bringen. Seine grammatischen Leistungen, auf deren Grundlage
hernach fast alle Grammatiker der nächsten hundert Jahre, wie Andreas Tscherning,
Ernst Stieler, Tobias Eifler, Hermann Wabe und andere weitergebaut haben,
sichern ihm aber einen unvergänglichen Platz in der Geschichte der deutschen
Literatur und Sprache.
Rechtsunsicherheit vor den Gerichten. In
den Grenzboten vom Juli vorigen Jahres
(Ur. 29) veröffentlichte ein gebildeter Nicht-
jurist, Professor Dr. Treck (München), einen
anklagenden Aufsatz unter der Überschrift:
„Das Recht als Ursache der Rechtsunsicher¬
heit." Er berichtete von zwei ihm bekannt
gewordenen Testamenten, die wegen ganz
nebensächlicher Formfehler vom Gerichte für
ungültig erklärt worden sind, wobei entgegen
jedem Laienverstand und entgegen der klaren
letztwilligen Verfügung des Erblassers Recht
zu Unrecht verkehrt wurde. Diese Anklage
ist berechtigt, und einer der Fälle hat be¬
sonders dazu beigetragen, die Lehren von
Professor Erich Danz in seinem Buche über
die „Auslegung der Rechtsgeschäfte" zu stützen.
Selbst das Reichsgericht ist zeitweise an solchen
merkwürdigen Buchstabeninterpretationen nicht
schuldlos gewesen, und Professor Dr. Senat
steht mit seiner Meinung durchaus nicht
vereinzelt da, wenn er an der genannten
Stelle sagte: „So segnet sich jeder Mensch,
wenn er nichts mit den Gerichten zu tun hat,
und der Laie ist nur zu leicht versucht, sie
nicht mehr für eine Quelle des Rechts, sondern
der Rechtsunsicherheit zuhalten." Dann fuhr
er fort: „Wie dem abzuhelfen ist, weiß ich
nicht zu raten..., daß das Recht jemals
wieder dazu gelangt, aus dem Empfinden
des Volkes hervorzuwachsen und dadurch ihm
auch verständlich zuWerden,aufdiesekühneHoff-
nung verzichten wir." Zu diesem resignierten
Verzicht liegt nun aber heute, knapp ein Jahr
nach jener Äußerung, kein Grund mehr vor.
Wir können mit Genugtuung sagen: die Dinge
haben sich bereits geändert; wenigstens ist
eine grundstürzende Änderung so in die Wege
geleitet, daß sie wie ein Sauerteig die ganze
Rechtspflege und die Rechtswissenschaft in ab¬
sehbarer Zeit durchziehen muß. Wir besitzen
heute in Deutschland, wie der Mehrzahl der
Leser vielleicht bekannt geworden sein wird,
eine große Vereinigung „Recht und Wirtschaft",
die in ihrer endgültigen Organisation unter
der Ägide des Oberlandesgerichts in Jena
ins Leben trat und die als machtvolle Um-
gestalten»! der Rechtspflege stolz und kühn ihr
Haupt erhebt. Unter den Schriften dieses
Vereins, die er als besondere programmatische
Arbeiten außer seiner Zeitschrift Recht und
Wirtschaft herausgibt (Verleger ist Carl Hey-
manns Verlag in Berlin), ist soeben als viertes
Heft eine Arbeit von Professor Danz erschienen,
die wie eine ausführliche Antwort auf jenen
erwähnten Grenzboten-Artikel (den er auch er¬
wähnt) anmutet. Die Arbeit heißt „Richter-
recht" und man darf mit Fug von ihr be¬
haupten, daß sie für die Kunst derRechtsprechung
neue Grundlagen wissenschaftlich feststellt, Danz
räumt mit den so unheilvollen Bildern von der
„Gebundenheit des Richters an das Gesetz",
mit dem resignierten und achselzuckenden „per-
e>ufm ciurum, seel lo Isx scnpra", mit dem
Bilde des Richters als dem „Wächter des Willens
des Gesetzgebers", mit der sogenannten logi¬
schen und grammatischen Interpretation der
Gesetzesworte und mit der Überschätzung der
vom Gesetze gegebenen Formvorschristen gründ¬
lich auf. Er zeigt, daß wir uns auf falschem
Wege befanden, da die Sprachwissenschaft uns
lehre, wie verschieden zu verschiedenen Zeiten
und unter verschiedenen Uniständen Worte zu
deuten sind. Er zeigt, daß die Stellung des
Richters, wenn er nicht automatische Ent¬
scheidungsmaschine ohne Wissen und Kunst sein
will, ganz anders zu dem geschriebenen Gesetze
steht, als es bisher angenommen wurde, und
er zeigt auch den Weg, wie selbst ein „ge-
setzestreuer" Jurist (also ohne sich über das
Gesetz hinwegzusetzen) Formvorschriften zu ver¬
stehen hat. Er stellt also neue Sätze der
Rechtsprechung auf, die bisher, wenn auch
mancher vernünftige Richter sie schon des öfteren
geübt hat, noch keiner gewagt hat, so theo¬
retisch zu fordern. Wenn die Anwendung
einer gesetzlichen Vorschrift auf einen bestimmten
Fall, sagt Danz, zu einem unvernünftigen
Resultate führt (nach dem Maßstabe des ver¬
ständigen Normalmenschen), so ist der Richter
verpflichtet, einen Ausnahmerechtsatz aufzu¬
stellen, daß die Vorschrift für diesen Fall nicht
gilt; denn er hat Recht zu sprechen, das ist
seine gesetzliche Pflicht. Anderseits hat er mit
seinen Richterrechtsätzen Lücken im Gesetze aus¬
zufüllen; denn er hat Recht zu finden I Ma߬
stab und Leitlinie hat ihm dabei der Zweck
des Rechtsgeschäftes zu sein, zu dessen Ver¬
wirklichung auf dein Boden des Rechts er
mitzuwirken hat, und die Verkehrssitle sowie
in erster Linie seine eigene Lebenserfahrung
haben ihm bei der Entscheidung zu helfen.
So allein kann er den Geist eines Gesetzes,
das dauernd Verhältnisse der Gegenwart
regeln will, erfassen und zum Leben erwecken.
— Man urteile nun über diese so verständig
erscheinenden und dein Juristen doch so kühn
klingenden Sätze dos Verfassers nicht, ohne
die Schrift von Danz selbst gelesen zu haben.
Tatsache ist, daß die Stellung des Richters
bei solcher Auffassung wesentlich gehoben wird
und daß sie dem Rechte wieder zum Vertrauen
im Volke verhelfen kann, weil unter der Herr¬
schaft dieser modernen Ansichten unvernünftige
Gerichtsentscheidungen nach der Art der vor¬
gekommenen (in den Schriften herangezogenen)
künftig ausgeschlossen sind — was ein un¬
geheuerer Segen für unsere Rechtskultur und
unser Wirtschaftsleben wäre.
„Zwang" und „Prüfung" als beein¬
flussende Prinzipien im höheren Unterricht.
In seiner Schrift „Zur Grundlegung des
Erziehungs- und Unterrichtsbetriebs an
unseren höheren Schulen" (Marburg in
Hessen, N.G.Elwertsche Verlagsbuchhandlung,
VI. und 113 S. 8°. Preis 2,60 M.) sucht
Dr. Hermann Büttner nachzuweisen, daß
„Zwang" und „Prüfung", zwei Faktoren, die
mit der Organisation unserer Schulen als
Zwangs- und Berechtigungsschulen eng zu¬
sammenhängen, auf die unterrichtliche Tätigkeit
gerade an den höheren Schulen einen außer¬
ordentlich schlimmen Einfluß ausüben.
Der Zwang, auf den sich das Verhältnis
des Schülers zur Schule gründet — wir
zwingen ihn zur Arbeit, auch zur Arbeit an
solchen Stoffen, für die er nicht gerade vor¬
wiegend interessiert und begabt ist —, ver¬
nichtet die Liebe zur Schule, er verhindert
das Entstehen eines näheren Verhältnisses
zwischen Schüler und Lehrer, er läßt auch die
sittlichen, die erzieherischen Werte, die aus
selbständigem, freiwilligem Handeln erwachsen,
nicht aufblühen.
Die Tatsache endlich, daß der Lehrer in
unserer heutigen Berechtigungsschule mit ihren
Schlußexamina im Unterricht neben der För¬
derung des Schülers gleichzeitig noch ein an¬
deres Ziel im Auge haben muß, nämlich das,
sich über die Leistungen des Schülers ein
Urteil zu bilden, sie zu prüfen, erhöht nicht
nur die „Schulangst" und die „Schulsorge"
bei vielen Schülern, sondern treibt sie auch
zur Unredlichkeit, zum Vorsagen, zum Be¬
nutzen unerlaubter Hilfsmittel, zum Betrügen
des Lehrers. Und dieser Folgeerscheinung steht
der Lehrer im Grunde ziemlich machtlos gegen¬
über, er kann es nur in sehr beschränktem
Maße kontrollieren, ob die häuslichen Ar¬
beiten, die schriftlichen Klassenarbeiten und der
deutsche Aufsatz selbständige Leistungen der
Schüler sind.
An diesen drei Arten von Schülerarbeiten
weist der Verfasser den schädlichen Einfluß
jener beiden Faktoren im einzelnen nach.
Es ist ohne weiteres klar, daß ein so
schlimmer Einfluß von „Zwang" und „Prü¬
fung" auf die unterrichtliche und die erzieh¬
liche Wirksamkeit unserer Schulen vielfach be¬
steht und daß der Verfasser ihn auch richtig
wertet.
Die Kritik Büttners richtet sich aber, Wie
mir scheint, nach einer falschen Seite.
Er stellt jene beiden Faktoren als not¬
wendig mit den Grundlagen unseres höheren
Unterrichtswesens verknüpft dar. Eine wirk¬
lich notwendige Verknüpfung beider besteht
aber nur da, wo die Organisation unserer
Schulen als starre, tote und lebenertötcnde
Form wirkt, wo ihr nicht das Pädagogische
Geschick, die erzieherische Persönlichkeit des
Lehrers Leben und Blut einflößt.
Diesen belebenden und mildernden Ein¬
fluß der erzieherischen Persönlichkeit schaltet
aber Büttner von vornherein bewußt aus,
für ihn soll, wie er selbst in der Einleitung
sagt, diese persönliche Seite der Sache nicht
Gegenstand der Erörterung sein, er will viel¬
mehr die fraglichen Erscheinungen „ausschlie߬
lich als Ausfluß der eigentümlichen Gestaltung
unseres Schulbetriebs" behandeln, obgleich er
sich bewußt ist, „daß auch tüchtige Lehrer die
in der Eigenart des Betriebes liegenden
Hindernisse zu überwinden und trotz ihrer
eine in jeder Hinsicht wahrhaft ersprießliche
Tätigkeit zu entfalten vermögen."
Das durfte der Verfasser aber nicht, ohne
von vornherein alle seine Ausführungen auf
eine falsche Grundlage zu stellen. Er setzt
jetzt Erscheinungen auf das Schuldkonto unserer
Schulorganisnlion, die er dem Pädagogischen
Ungeschick zuschreiben müßte.
Auch nach den offiziellen Vorschriften sollen
die Zeiten für uns vorbei sein, da der Ober¬
lehrer mit dem Notizbuch in der Hand jede
Klassenleistung des Schülers ängstlich wertete,
die Hausarbeiten jedes einzelnen aufs strengste
kontrollieren zu müssen glaubte, jeden über¬
eifriger lauten und — leisen Zwischenruf
eines Mitschülers als störend oder versuchten
Betrug kennzeichnete, da jede .Massenarbeit
sich zur Probe- und Prüfungsarbeit gestaltete.
Wo es dennoch geschieht, da liegt die Schuld
auf feiten des Lehrers.
Daß die Kritik Büttners sich in Wahrheit
gegen das Pädagogische Ungeschick richtet, das
zeigen auch die Positiven Vorschläge, die er
macht. Es sind alles keine solchen, die an
den Grundlagen unseres Unterrichtsbetriebes
rütteln, es sind alles vielmehr Ratschläge
eines guten Pädagogen an einen zu belehren¬
den und zu bessernden und zielen darauf ab,
jene beiden Faktoren „Zwang" und „Prü¬
fung" so viel als möglich zurücktreten zu lassen
und dafür die selbständige, interessierte und
freiwillige Arbeit des Schülers heranzuziehen,
daS Bildungsziel der Schule in den Vorder¬
grund zu stellen.
Zweifelhast erscheint es mir, ob das Ver¬
antwortlichkeitsgefühl des Schülers schon in
genügender Stärke vorhanden ist, oder ob es
möglich ist, eS bis zu einer genügenden In¬
tensität heranzuerziehen, so daß man die
häuslichen Arbeiten der Schüler für freiwillige
erklären und ihrem Verantwortlichkeitsgefühl
allein die Kontrolle über sie übertragen könnte.
Das Kind lebt ohne Verantwortlichkeit der
Gegenwart allein; das Verantwortlichkeits¬
gefühl ist der Segen oder auch der Fluch des
Erwachsenen.
Eine gewisse Kontrolle, ein gewisser Zwang,
eine leitende Hand auf feiten des Lehrers ist
eine erziehliche Notwendigkeit. Der Lehrer
darf nur nicht kontrollieren, ob der Schüler
„gelernt hat", sondern, ob er das betreffende
Stoffgebiet beherrscht. Das scheint ein Spiel
mit Worten, bedeutet aber eine grundlegend
veränderte und verbesserte Stellung des
Lehrers zum Schüler und seiner Arbeit.
Besonders wertvoll erscheinen die Bemer¬
kungen des Verfassers über den deutschen
Aufsatz. Er führt die „Aufsatznot" an unseren
Schulen auf eine falsche Zielsetzung für den
deutschen Schulnufsatz zurück und weist nach,
daß dieser in vielen Fällen heute nicht nur
auf eine Entwicklung der Denk- und NuS-
drucksfähigkeit abzweckt und formelle Selbst-
ständigkeit fordert, sondern daß daneben un¬
berechtigterweise vielfach bei den gestellten
Themen Forderungen an die inhaltliche Selbst-
ständigkeit, an eigene Produktion, sei sie künst¬
lerischer oder wissenschaftlicher Art, erhoben
werden.
Mit vollem Recht verurteilt der Verfasser
diese Forderung als zu weit gehend und ver¬
langt das völlige Ausscheiden des Momentes
der Produktion, der inhaltlichen Selbständig¬
keit, im Schüleraussatz. Dessen eigentlichen
Zweck, Übung der Denk- und Ausdrucksfähig¬
keit, können nur Stoffe erfüllen, die inter¬
essieren oder völlig beherrscht werden, das
heißt solche, die dem Schüler aus eigener
Erfahrung bekannt und interessant oder durch
den Unterricht durchaus vertraut gemacht sind.
Völlige inhaltliche Beherrschung deS Stoffes
allein kann auch zur Verdrängung der Phrase
aus dein Schnlaufsatz und zu einem einfachen,
sachlichen und wahrhaftigen Stil führen.
Inhaltliche Selbständigkeit will der Ver¬
sasser mit Recht freiwilligen, aus dem Inter¬
esse am Stoff entsprungenen Arbeiten älterer
Schüler vorbehalten wissen.
Der Wert des Buches liegt in diesen
Pädagogischen Borschlägen und Ratschlägen,
nicht auf dem Gebiete der Kritik.
mit
ungedruckten Briefen, persönlichen Aufzeich¬
nungen und Mitteilungen aus dein Nachlaß,
veröffentlicht zum 25. Juni, an welchem Tage
der Dichter seinen siebzigsten Geburtstag hätte
begehen können, sein Sohn H. Wolfgans, Seidel.
(Stuttgart und Berlin, I. G. Cottasche Buch-
handlg. Reichs. M 4.) In dem schönen Ab¬
schnitt „Unser Vater" sagt der Herausgeber
von sich: „Der Verfasser hat keinen biographi¬
schen Ehrgeiz; es genügt ihm, allerlei ver¬
gessene Halme und Blumen zum Kranze zu
winden und sie denen darzubieten, die daran
Freude haben." Und die nicht kleine Gemeinde
derer, die sich an Seidels gemütvollem Humor
und besonders um der so berühmt gewordenen
Figur des „Leberecht Hühnchen" labten, wird
diese Erinnerungen, die zugleich ein hübsches
Bild vom Wachsen der Reichshauptstadt in
den siebziger und achtziger Jahren bieten,
gern neben deS Dichters Selbstbiographie
^,Von Perun nach Berlin" stellen. Es ist nur
natürlich, daß der Sohn in Pietätvollem Ge¬
denken auch manches aus persönlichen und
literarischen Beziehungen ausnimmt, was das
große Publikum weniger angeht.
Trojan, mit dem Seidel tiefe Wesenszüge
gemeinsam hat und dem er in Freundschaft
verbunden war, kommt mit Briefen und Ge¬
dichten zu Wort, und manches Original aus
früheren Jahren, in denen alle noch so un¬
glaublich viel Zeit hatten, ersteht in diesen
Blättern.
Auf weiteres Interesse können besonders
die Kapitel über des „Tunnels an der Spree"
Entstehung und Ende rechnen, worüber bis¬
lang das Beste Fontane in seinem „Scheren¬
berg" und in seinen Lebenserinnerungen auf¬
gezeichnet hatte, sowie über den Nachfahr
dieser fröhlichen Dichtergesellschaft, den „All¬
gemeinen Deutschen Neimverein", dessen Ab¬
sicht, gegen den Dilettantismus zu wirken,
wie Theodor Storni schrieb, zwar gut war,
dessen Satire aber „zu zahm" auftrat, um
etwas auszurichten. Auch in den „Aus der
Werkstatt" mitgeteilten Spänen findet sich manch
bezeichnendes und humorvolles Wort, das uns
den aus vielen Erzählungen liebgewordenen
Toten wieder zurückruft, dessen Phantasie bei
seineni Einzuge in die Großstadt „Straßen
und Kanäle mit eisernen Brückenbogen über¬
spannte, über denen zu allen Zeiten eine Wolke
singender Lerchen stand." Diese singenden
Lerchen sind dem Dichter bis zuletzt treu ge¬
blieben, als er, nach Vollendung der AnHalter
Bahnhofshallo, an deren Bau er erheblichen
Anteil hatte, aus den« Häusermeer sich in
die stillere Vorstadt und in sein Häuschen im
blühenden Garten zurückgezogen hatte, und
sie werden besonders aus seinen Gedichten
und den Märchen, auf die der Sohn mit Recht
nachdrücklich hinweist, noch lange ihr an¬
h
Eine überaus
reizende Gabe, nicht nur für Berliner, ist die
Sammlung von Theodor Fontanes Berliner
Romanen, die der Verlag von F. Fontane
u. Co. in Berlin soeben herausgibt. In
vier schlanken, leichten Bänden enthalten
sie: „L'Adultera", „Schach von Wuthenow",
„Stine", „Irrungen Wirrungen", „Frau
Jenny Treibet", „Die Poggenpuhls", „Ma¬
thilde Möhring" und „Cecile". Wenn hier
die empfehlenden Worte lediglich der neuen
Aufmachung, wie man in Hamburg sagt, zu
gelten haben, so ist das in verstärktem Maße
bei der neuen Ausgabe von Fontanes auto¬
biographischen Roman „Meine Kinderjahre"
(im selben Verlage) der Fall. Das feine Werk
erscheint hier mit einer großen Anzahl wunder¬
hübscher Bilder, auf denen wir nicht nur Neu-
Ruppin und Swinemünde zu Fontanes Zeit
ganz und gar keimen lernen, sondern auch die
Bildnisse aller wichtigen Persönlichkeiten, mit
denen er in den ersten zwanzig Jahren seines
Lebens zusammenkam, insbesondere auch die
Swinemünder Familien Krause, Scherenberg
und Schöneberg, mit denen Fontane sein Leben
lang verbunden blieb. Das Buch ist in der neuen
Gestalt nicht nur zum Lesen, sondern auch
zum Blättern, zum Schustern wie geschaffen. —
Hermann Conradis Werke werden uns (im
Verlage von Georg Müller in München) durch
Paul Ssymank und Gustav Werner Peters
zum erstenmal gesammelt vorgelegt. Es sollen
fünf Bände werden, von denen bis jetzt drei
erschienen sind. Ungemein fleißig, wenn auch
etwas trocken ist Ssymanks Lebensbeschreibung
des Dichters, sie läßt noch einmal alle die jetzt
fast vergessenen Kämpfe der achtziger Jahre
vor uns aufleben, deren Klang wir dann noch
stärker durch Conradi selbst, zumal aus den
berühmten „Liedern eines Sünders" (im ersten
Bande), vernehmen. Sehr wertvoll für die
Geschichte der neuen deutschen Dichtung sind
die im zweiten Bande vereinigten Aufsätze,
die alle mitten aus dem Leben der Kampfzeit
geschrieben sind. Die Ausstattung der Aus¬
gabe ist vortrefflich.
Friedrich Spiel-
hagens Tod im Februar des vorigen Jahres
ist nicht ohne Bewegung der literarischen Welt
vorübergegangen, der er geraume Zeit aus
den Angen entschwunden war. Nicht teil-
ncchmslos ist Spielhagen den Neuen gegen¬
übergestanden; aber seine sonst so tätige Feder
war der müden Hand längst entglitten, als
er sein krankes Dasein still vollendete. Der
Parteien Gunst und Haß, die ihn reichlich
umstürmt hatten, waren schon lange gleich¬
mäßig verebbt; ihm ward das Los des ge¬
alterten Dichters zuteil: eine allgemeine, gar
blasse, allzu Platonische Verehrung, die ohne
tiefes Eindringen ganz gern lobt und einige
milde Bedenken nicht unterdrückt. Und doch
versagt Spielhagens gelegentlich etwas grob-
fasrige Technik ihre Wirkung auch dem neueren
Leser nicht, der durch die Schule der Natura¬
listen gegangen ist. Sie hat mehr als bloß
historischen Wert, wenn der auch gewichtig
genug ist, denn Spielhagens literargeschichtlich
nachweisbarer Einfluß, so gewaltig er für die
deutsche Literatur war, blieb nicht auf unsere
Sprache beschränkt. Mancher Romancier
unserer slawischen Nachbaren z. B. ist ohne
Spielhagen ganz undenkbar.
Ein Menschenalter vor Spielhagen ist
Berthold Auerbach (181S bis 1382) dahin¬
gegangen. Enge literarische Beziehungen und
persönliche Freundschaft hatte die beiden durch
zwei Jahrzehnte verbunden. Nun sind auch
über Auerbachs Werk die Fluten der neueren
Literatur hinweggerollt, haben viel abgeschliffen
und viel rin sich fortgerissen. Des jubelnden
Beifalls aber, der die ersten „Schwarzwälder
Dorfgeschichten" umrauschte, darf nicht ver¬
gessen werden:
„Das ist ein Buch l Ich kann es dir nicht sagen,
Wie minds gepackt hat recht in tiefer Seele,
Wie mir das Herz bei diesem Blatt geschlagen,
Und wie mir jenes zugeschnürt die Kehle,
Wie ich bei dem die Lippen hab' gebissen,
Und wieder dann hab' hell auflachen müssen",
sang damals Freiligrath. Und bis heute sind
die Dorfgeschichten die beliebtesten und be¬
kanntesten der Schriften Auerbachs geblieben,
neben ihnen die „Deutschen Volksbücher".
Nicht mit Unrecht; denn in diesem Kreise
scheint mir des Schriftstellers beste Begabung
und Betätigung beschlossen zu sein. Ihm lag
das Moralisch-Lehrhafte, das einem wahrhaft
edlen, wohlmeinenden Sinn entsprang; seine
Schriften sind voll von den Tendenzen der
Aufklärung. Er ist viel naiver als etwa
Anzengruber und künstlerisch sorgloser und
unbekümmert; er ist pedantisch, philiströs
dabei begeisterungsfähig in hohem Grade.
Seine jüdische Herkunft und Erziehung gab
seinen Schriften ihr Gepräge wie seinem
Leben, das er nicht leicht genommen; sie
brachte ihm Kränkung, inneren Zwiespalt und
Unruhe. „Es ist eine schwere Aufgabe, ein
Deutscher und ein deutscher Schriftsteller zu
sein und gar noch dazu ein Jude," schrieb er
einmal an Spielhagen, als er in Cannes im
Angesicht des sonnenbeglänzten rauschenden
Meeres dem nahen Tode fest ins Auge sah.
Die Stellung Auerbachs und namentlich
Spielhagens in der Geschichte des deutschen
Romans ist, nicht ohne Einseitigkeit, erörtert
und umgrenzt worden. Eine neue und reiz¬
volle Aufgabe wird eS sein, das Gemeinsame
in der Produktion der beiden Dichter auf¬
zuzeigen, nicht minder reizvoll, den inneren
Zusammenhängen der deutschen Kalender¬
geschichte nachzuspüren, etwa von Hebel bis
Anzengruber.
das im gleichen Verlag erschien. — In der
neuen wohlfeilen Ausgabe der Auerbachschen
Schriften sind sämtliche Dorfgeschichten, die
Volksbücher und einige Romane „Spinoza",
„Waldfried", „Auf der Höhe" und „Das
Landhaus am Rhein" enthalten. (Stuttgart
und Berlin, I. G. Cottasche Buchhandlung
Nachfolger, 12 Bände geb. 28 M.; die Bände
sind auch einzeln käuflich.)
Auerbach und Spielhagen liegen in neuen
guten und billigen Ausgaben vor. Die Volks¬
ausgabe der Spielhagenschen Romane in
sorgfältiger Auswahl und Ausstattung, ver¬
legt von L. Staakmann in Leipzig, umfaßt
in zwei Serien mit je fünf starken Bänden
die besten und wichtigsten Romane von den
„Problematischen Naturen" angefangen. (Jede
Serie geb. 20 M.). Über Spielhagens Leben
unterrichtet ein Büchlein von Hans Henning,
Die deutsche Feldarbeiterzentralstelle hat unlängst ihren Jahresbericht über
die Tätigkeit im Geschäftsjahr 1910/11 vorgelegt. Der diesjährige Bericht
stellt zum großen Teil einen Abwehrversuch gegenüber Kritiken dar. die seinerzeit
an dem vorjährigen Bericht aus nationalen Kreisen geübt worden sind.
Zunächst wollen wir das Tatsächliche aus dem neuen Bericht hervorheben,
der wiederum eine Steigerung der Tätigkeit der Zentralstelle ergibt, d. h. auf
eine fortgesetzte Vermehrung der Beschäftigung ausländischer Arbeiter in Deutsch¬
land schließen läßt. Die Haupttätigkeit der deutschen Feldarbeiterzentralstelle
besteht — auf Grund einer ihr von der Regierung erteilten Befugnis — im
Ausfüllen von Legitimationskarten für die ausländischen Arbeiter, zu welchem
Behuf an den Grenzstationen Kontrollämter eingerichtet sind. Neben der Legi¬
timierung der ausländischen Arbeiter betreibt die Zentralstelle in begrenztem
Umfange auch die Arbeitsvermittlung. Die Zentralstelle unterhält rund ein halbes
Hundert Abfertigungsstellen für die Legitimierung in den verschiedenen Grenz¬
ämtern. Die Kontrolle der ausländischen Arbeiter ist noch keine ganz vollständige.
Ursprünglich hat nur Preußen die Feldarbeiterzentralstelle mit dieser Kontrolle
beauftragt; dann aber haben sich auch andere Staaten, insbesondere Sachsen,
angeschlossen, und in jüngerer Zeit hat das Reichsamt des Innern bei den
einzelnen Bundesregierungen vorgeschlagen, daß sie sich vollzählig dem preußischen
Vorgehen anschließen mögen — ein Vorschlag, der jedoch noch nicht allseitige
Annahme gefunden hat. So ist denn die wirkliche Zahl der in Deutschland
beschäftigten ausländischen Arbeiter noch beträchtlich größer als die Zahl, die
sich aus den Legitimationskarten der Feldarbeiterzentralstelle ergibt; d. h. sie
wird im letzten Jahre die Höhe von 700000 Köpfen beträchtlich überschritten
haben. Die Zentralstelle ihrerseits berichtet:
An Legitimationskarten wurden ausgegeben an:
Aus diesen tabellarischen Übersichten ergibt sich, daß in erster Linie wiederum
die Einführung polnischer Arbeiter aus Rußland sich bedeutend vermehrt hat,
also gerade die unter nationalen Gesichtspunkten am wenigsten erwünschte Zu¬
wanderung. Die Zentralstelle klagt über verschiedene Schwierigkeiten, die ihr im
laufenden Berichtsjahr durch besondere Umstände bereitet worden sind. (Und
trotzdem die Zunahme!) Darüber besagt der Geschäftsbericht:
„Unsere Vermittlungstätigkeit hat in diesem Jahre mit erheblichen Schwierig¬
keiten zu kämpfen gehabt. Im frühen Frühjahre waren die Witterungsverhältnisse
in unseren wichtigsten Anwerbungsgeoieten der Abwanderung der Arbeiter sehr
ungünstig. Anfangs starke Kälte und hoher Schnee, dann plötzliches Tauwetter,
das Überschwemmungen herbeiführte und alle Straßen und Wege unpassierbar
machte. Die Folge davon war, daß wir in diesem Jahre bis in den März
hinein so gut wie gar kein Angebot in unseren Grenzämtern hatten, wo sich
sonst schon Tausende von Leuten zu den Verträgen zu drängen pflegten, und
daß es auch den Agenten nicht gelang, eine irgendwie erhebliche Zahl von
Arbeitern heranzuschaffen. Als dann die Abwanderung einsetzte, zeigte es sich,
daß zwar der Andrang in der kurzen, noch bis Ostern zur Verfügung stehenden
Periode ein gewaltiger war, so daß unsere Grenzämter die Arbeit kaum zu
bewältigen vermochten, daß aber der verstärkten deutschen Nachfrage nicht ein
ausreichendes ausländisches Angebot gegenüberstand. Schon in der zweiten
Hälfte des April setzte eine bedenkliche Knappheit an Arbeitskräften ein, die in
immer verstärktem Maße das ganze Vermittlungsjahr über anhielt. Ganz
besonders hatte hierunter die Nachfrage der Landwirtschaft zu leiden, und nur
der Umstand, daß in großen und für die Beschäftigung ausländischer Arbeiter
hervorragend in Betracht kommenden Teilen Deutschlands die große Trockenheit
des Sommers die Masse der zu leistenden landwirtschaftlichen Arbeit nach¬
träglich erheblich einschränkte, hat die Landwirtschaft vor einer sehr gefährlichen
Situation bewahrt."
Anderseits verzeichnet die Zentralstelle aber auch ihre lebhaften Bemühungen
um Erleichterung des Vermittlungswesens und die Erfolge, die sie damit erzielt
hat. Aus diesem Teil des Jahresberichts geht erneut hervor, wie lebhaft die
Zentralstelle auf den Ausbau ihrer Tätigkeit bedacht ist, deren Einschränkung
im nationalen Interesse wünschenswerter erscheinen muß als ihre beständige
Erweiterung.
„An dem Ausbau der Vermittlungsorganisation," fährt der Bericht fort,
„und der mit ihr in Zusammenhang stehenden Einrichtungen ist auch im Berichts¬
jahre eifrig gearbeitet worden. Diese ganze Organisation will und soll nichts
anderes sein, als ein möglichst einfaches und praktisches Instrument, mittels
dessen die beiden, den Arbeitsvertrag abschließenden Parteien über alle räum¬
lichen, zeitlichen und sonstigen Schwierigkeiten hinweg zusammengeführt werden.
Diese Schwierigkeiten liegen nicht nur diesseits unserer Grenze, von der der
Weg bis zur Arbeitsstelle nicht weiter ist, als der Weg von der Heimat des
Arbeiters bis zur Grenze. Die gemeinnützige und uninteressierte Arbeit im
Interesse der beiden Vertragsparteien darf daher nicht auf das Gebiet des
Zuwanderungslandes beschränkt bleiben. Auch in den Abwanderungsländern
harren ihrer wichtige Aufgaben. In dieser Richtung konnten wir im Berichts¬
jahre einen starken Schritt vorwärts tun. Die italienische Regierung hat der
Zentralstelle die Erlaubnis erteilt, in Italien selber tätig zu sein und unter
ihrer Aufsicht und Mitwirkung alle Maßnahmen zu treffen, welche den un¬
gehinderten Abschluß des Arbeitsvertrages zu fördern und ihn von störenden
und schmarotzenden Einflüssen zu befreien geeignet erscheinen. Wir hoffen und
glauben, daß die praktische Arbeit auf dieser Grundlage den Beweis dafür liefern
wird, daß es sich auf dem Gebiete der modernen Arbeiterwanderungen nicht
um unüberwindliche Interessengegensätze der Zu- und Abwanderungsstaateu
handelt und daß die zurzeit noch bestehenden und empfundenen Häßlichkeiten
nicht den Dingen innewohnende Notwendigkeiten, sondern von Eigennutz in sie
hineingetragene Begleiterscheinungen sind, die einer uneigennützigen verständnis¬
vollen Arbeit weichen müssen."
Aus dieser Darlegung ist hinlänglich ersichtlich, wie sich die Feldarbeiter¬
zentralstelle auch um das Anwerben ausländischer Arbeiter bemüht. Wenn man
die Mitteilungen über die Schwierigkeiten, die gerade im letzten Jahre der Ab¬
wanderung ausländischer Arbeiter in weiten Gebieten im Wege standen, vergleicht
mit diesen Angaben über die Bemühungen der Zentralstelle, die Arbeiter¬
anwerbung zu erleichtern, so liegt der Schluß nahe, daß ohne die ausgedehnte
Werbetätigkeit der Zentralstelle eine so starke Steigerung der ausländischen
Arbeiterzuwanderung kaum stattgefunden hätte. Die Zentralstelle ihrerseits
rechnet sich das als Verdienst an, sie wird es aber keinem nationalen Politiker
verdenken können, wenn er die gegen solche Steigerung des ausländischen
Arbeiterzustroms geltend zu machenden Bedenken in den Vordergrund stellt.
Nachdem die deutsche Feldarbeiterzentralstelle auch in ihrem diesjährigen
Bericht zunächst wieder den Nachweis führt, wie sehr sie um den Ausbau
ihrer Organisation bemüht ist, beschäftigt sie sich schließlich mit der bisher an
ihrer Tätigkeit geübten Kritik. Die Zentralstelle will es nicht gelten lassen,
daß sie der „mZe 6u nombre" verfallen sei und sich daran freue, möglichst
viele ausländische Arbeiter ins Land zu bringen. Sie bemerkt demgegenüber:
„Nicht an dem äußeren Anwachsen ihrer Vermittlungszahlen freut sich die
Zentralstelle, sondern an dem in ihnen zum Ausdruck gelangenden Wachstum
des Vertrauens zu ihrer praktischen gemeinnützigen Arbeit bei Arbeitgebern und
Arbeitnehmern." Nun, was wir in dem vorigen Abschnitt über die Bemühungen
der Zentralstelle, unmittelbar in den Herkunftsländern der ausländischen Zu-
wanderer eine rege Werbetätigkeit zu entfalten, gehört haben, und was wir in
ihrem vorjährigen Bericht an konkurrenzneidischen Ausfallen gegen die Aus¬
wandererwerbung der großen Reedereien jenseits der deutschen Grenzen gelesen
haben, das beweist denn doch, daß die Feldarbeiterzentralstelle nicht nur ihre
Freude hat an dem wachsenden Vertrauen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern,
sondern in recht erheblichem Grade doch auch schlechthin an dem weiteren Ausbau
ihrer Tätigkeit, ohne die wünschenswerte Sorge, wie diese Tätigkeit mit den
nationalen Interessen in Einklang zu bringen ist.
Dem vorjährigen Bericht der Feldarbeiterzentralstelle ist entgegengehalten
worden, daß die Zentralstelle eine umfangreiche Vermittlungstätigkeit ausübe
und ihren ganzen Apparat aus den für die Legitimierung erhobenen Gebühren
erhalte. Hieraus wurde gefolgert, daß die Zentralstelle, schon um sich fest zu
fundieren, auf die Einführung einer möglichst großen Zahl ausländischer Arbeiter
bedacht sein müsse. Dagegen sucht die Zentralstelle sich nun folgendermaßen
zu verteidigen:
„Legitimierung und Vermittlung sind zwei auch in dein Verwaltungsapparat
der Zentralstelle getrennte Dinge. Die Einnahmen aus der Legitimierung
dienen zur Erhaltung der hierfür etwa nötigen Einrichtungen. Etwa verbleibende
Überschüsse darf die Zentralstelle nur mit Zustimmung der königlichen Staats¬
regierung verwenden. Sie dienen zur Ansammlung eines Reservefonds, wie
ihn die große und kostspielige Legitimierungsorganisation unbedingt erfordert.
Die Gebühren für die Vermittlung werden unabhängig hiervon jedes Jahr unter
Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage und in Gemeinschaft mit den Vertretungen
der Interessenten neu festgesetzt. Sie sind so kalkuliere, daß die Selbstkosten der
Zentralstelle gedeckt werden. Von Überschüssen aus der Vermittlung ist daher
weder in Absicht noch in Verfolg die Rede."
Diese Verteidigung schießt daneben. Daß die Tätigkeit der Zentralstelle
auf das Erzielen von Überschüssen gerichtet sei, ist unseres Wissens nirgends
behauptet worden; man hat vielmehr nur gesagt, daß sie in der Sorge um eine
feste Fundierung an einer möglichst großen Zahl von Legitimierungen und
Vermittlungen Interesse haben müsse. Wird doch die Deckung der Selbstkosten
und die weitere Fortarbeit um so besser gesichert, je höher die Einnahmen
aus diesen Quellen sind. Die Verwahrung der Zentralstelle gegen den Vor>
wurf, daß sie der „ra^s ein nombre" verfallen sei, scheint uns demnach kaum
geglückt.
Interessant ist aber des weiteren, aus dem Bericht zu erfahren, daß die
Feldarbeiterzentralstelle sich bei dem Verbände deutscher Arbeitsnachweise jetzt
bereits dreimal vergebens um Aufnahme in den Verband bemüht habe. Für sein
ablehnendes Verhalten muß der Verband deutscher Arbeitsnachweise doch wohl
triftige Gründe haben, die wir in der Erkenntnis zu sehen glauben, daß die
Bemühungen der Feldarbeiterzentralstelle um immer weitere Ausdehnung ihrer
Tätigkeit in der Zufuhr ausländischer Arbeiter den Interessen deutscher Arbeits¬
nachweise nicht entsprechen, daß diese vielmehr in dem Streben nach Ausgleich
jeder eintretenden Arbeitslosigkeit sich durch die Feldarbeiterzentralstelle nur
behindert sehen.
Was sonst an nationalen, sozialen und volkswirtschaftlichen Bedenken gegen
die beständig wachsende ausländische Arbeiterzusuhr aus nationalen Kreisen
geltend gemacht worden ist, findet in dem vorliegenden Jahresbericht der Feld¬
arbeiterzentralstelle iveder Erwähnung noch Widerlegung. Es wäre interessant,
zu wissen, ob damit stillschweigend all diese schweren Bedenken als berechtigt
anerkannt werden sollen. So hat man die Frage aufgeworfen, ob es tatsächlich
notwendig ist, in solchen: Maße, wie es durch die Feldarbeiterzentralstelle geschieht,
die Einführung ausländischer Arbeitskräfte zu fördern, und ob es nicht möglich
wäre, in der Wahl der für diesen Zweck in Betracht kommenden Nationalitäten
zurückhaltender zu sein. Ferner sind starke Bedenken auf sittlichem Gebiet mit
dem massenhaften „Import" junger Leute fremden Volkstums verbunden, und
vor allen Dingen ist daran zu erinnern, daß die Landwirtschaft auch vom
Standpunkt ihrer eigenen Interessen aus mit dieser massenhaften Hineinziehung
fremder, überwiegend slawischer Arbeitskräfte, durch die das Übel des Arbeits¬
mangels auf die Dauer nicht verbessert, sondern nachhaltig verschlechtert wird,
nicht gut fährt. Wir können heute daran erinnern, daß selbst das preußische
Landesökonomiekollegium, als es zu Beginn des vorigen Jahres die Einsetzung
einer Kommission beschloß, die sich eindringlich mit der Landmbeiterfragz
beschäftigen sollte, auf einem Bericht fußte, der durchaus zutreffend zum Aus¬
druck brachte: die Landmirtschaftskammern dürften nicht so sehr nach dem
Gesichtspunkt arbeiten, wie sie den Landwirten, gleichviel woher, möglichst viele
und billige Arbeitskräfte beschaffen können, sondern wie sie, ohne die Besitzer
zu stark zu belasten, möglichst viele eingesessene Familien und ihren Nachwuchs
der Landwirtschaft erhalten. Je größer nun aber der Ersatz der deutschen
Landarbeiter durch slawische Wanderarbeiter ist, um so mehr wird die Erhaltung
der preußischen Volkskraft gefährdet, Der slawische Zuzug bedingt eine quali¬
tative Verschlechterung unseres Landvolkes, die im weiteren Verlauf auch auf
die Industrie schädlich zurückwirkt, indem diese aus dem ländlichen Kräfterestrooir
ihre Arbeiter bezieht.
Insbesondere der Umstand, daß der deutsche Geburtenüberschuß abzunehmen
begonnen hat, mahnt nachdrücklich an die Erhaltung und Vermehrung der
deutschen Landbevölkerung, die um so schwerer durchzuführen ist, je mehr die
Zufuhr slawischer Arbeitskräfte erleichtert wird. Es ist immer wieder mit
ernstem Nachdruck daran zu erinnern, daß das Programm des Schutzes der
nationalen Arbeit unvollständig ist, wenn es nicht auch den Schutz der nationalen
Arbeiter gegen stark anwachsende Konkurrenz fremdländischer Zuwanderer umsaßt.
Unsere Sorge muß nicht gerichtet sein auf die Vermehrung dieser Zuwanderung,
sondern auf die Vermehrung der eingesessener deutscheu Bevölkerung auf dem
platten Lande. Worauf es ankommt, das ist die Sicherung gegen das zuneh¬
mende Andrängen slawischer Arbeiter durch energische Förderung der deutschen
Besiedelung in den östlichen Provinzen. Auf diesem Wege ist die Erhaltung
des deutschen Volkswachstums sicherzustellen und nach und nach die slawische
Zuwanderung immer entbehrlicher zu machen. Das beständige Heranziehen
immer neuer slawischer Hilfskräfte läuft diesen übergeordneten nationalen
Interessen diametral entgegen. Wir können deshalb auch nach dem neuesten
Jahresbericht der Feldarbeiterzentralstelle nur dem lebhaften Wunsche Ausdruck
geben, daß die Tätigkeit dieser Zentralstelle sich allmählich verringere, die
Ansiedelungstätigkeit aber beständig weiter entfalte, anstatt daß gegenwärtig
nicht zum Frommen der nationalen Interessen gerade die umgekehrte Entwicklung
beobachtet werden muß.
Verantwortlich: der Herausgeber George Cleinow in Schöneberg, — Manuskriptscndungen und Briefe werden
erbeten unter der Adresse:
An den Herirusaelicr der Grcnzliotrn in Frieden»« lei Berlin, Hcdwinstr. 1->.
Fernsprecher der Schristleitung: Amt Psalzburg 571g, des Verlags: Amt Lützow Kolik,
Verlag: Verlag der Grenzboten G> in> b. H. in Berlin LV/. 11.
Druck: „Der Reichsbote" G, in, b, H, in Berlin S>V, 11. Dessauer Strase SS/37,
^Xwisonsn Wssssk» u. Wslcl Susssi'se xssunci Asif^su. —
Lsi'sieht fil»' fils LcnuNclasssn, ciss ^inj-irr-igsn-,
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G. »>. b.
V.>
ufmerksamer Betrachtung der Geschichte des europäischen Mächte-
gefüges wird nicht entgehen können, welche ganz besondere Wesens¬
art die Betätigung jeuer Staaten auszeichnet, die man mit den:
an sich farblosen, aber altgewohnten Sammelnamen Skandinavien
zu bezeichnen pflegt. Genieinsam nämlich ist ihnen allen dreien —
sobald sie ein einigermaßen ausgeprägtes staatliches Bewußtsein erlangen — das
Bestreben, die Ungunst ihrer abseitigen Lage wettzumachen und aktiven Anschluß
an das Leben des Kontinents zu gewinnen. In der Art aber, wie dieses
Bestreben zu Taten wird, zeigt sich von Anbeginn eine so tiefgreifende Ver¬
schiedenheit an Charakter und Temperament, daß es verwunderlich erscheint,
wie zusammenfassende Gebilde in der Art der Kalmarer Verbindung (1397) oder der
schwedisch-norwegischen Union überhaupt viele jahrzehntelang bestehen konnten.
Dänemarks Politik nämlich ist, sobald sie international wird, eine mit mehr
oder weniger gewaltsamen Mitteln betriebene Durchsetzung dänischer Volks¬
wirtschaft gegen ausländische, zunächst hanseatische Bedrückung; nachdem die
wikiughafte Frühzeit mit ihren Zügen nach England und nach dem baltischen
Osten vorüber ist, drehen sich die dänischen Kriege zumeist um Handelsprivilegien.
um Zölle im Sund, schließlich um Einhaltung der Kontinentalsperre, abgesehen
natürlich von denen, die aus Zwang zur Verteidigung unternommen wurden.
Die Eifersucht Dünemarks zunächst gegen die Handelsblüte der Hansa im Ostsee-
Gebiet, dann gegen die Hamburgs ist seit dem vierzehnten und fünfzehnten Jahr¬
hundert ein wichtiges Motiv seiner Politik. Sie kennzeichnet sich demnach als
nüchtern wagend, schrittmeis und ihren Mitteln gemäß vorrückend, als zweck¬
mäßig fundiert, praktisch und im besten Sinne bürgerlich/")
Von Norwegen erübrigt es sich zu sprechen, da dieses Land ja erst seit
sieben Jahren selbständig ist, und ihm zur Beeinflussung kontinentaler Ver¬
hältnisse bisher Wille, Fähigkeit und Gelegenheit fehlte.
Als voller Gegensatz zur Geschichte Dänemarks stellt sich die Schwedens
dar. Immer wieder im Ablauf der Jahrhunderte stoßen in abenteuerlich ver¬
wegenen Kriegszug Schwedenkönige in das Machtgefüge Europas und Asiens
hinein, tragen die drei Kronen ihres Wappens bis über die Donau und den
Rhein, durch Polen und Schlesien bis an die Grenzen der Türkei — und müssen
doch schließlich immer ihre ingrimmig kämpfenden, verbindenden Scharen zurück¬
ziehen und in den Waldtälern der Heimat einsam verharren, bis sie nach
wiederum hundert oder mehr Jahren ein neuer Sturm vorwärtsreißt. Die
Motive der schwedischen Politik sind fast nie Fragen des wirtschaftlichen Aus¬
kommens; oft liegen sie in vermeintlichen oder wirklichen Ehrenkränkungen, oder
im treuen Festhalten an geschlossenen Bündnissen, meist im reinen Willen zur
Tat und zur Macht; deshalb ist sie wagemutig, Gefahr verachtend, oft über-
schwänglich, stolz und repräsentativ, stets im besten Sinne adelig/)
Das Bezeichnendste an schwedischer Geschichte aber ist ihr wogenförmiger
Gang, ihr starkes Vorwärtsdrängen, das in nahezu regelmäßigen Abständen
mit Zeiten des Abschwellens und Zurücksinkens wechselt.
Heute nun, wo hundertzweiundzwanzig Jahre vergangen sind, seit Gustav
der Dritte, der Neffe Friedrichs des Großen, die russische Flottenübermacht im
Svenskasunde schlug, scheint sich eine neue tätige Anteilnahme Schwedens am
Leben Europas wieder anzubahnen.
Zwar besteht in den stilleren Bezirken der Wissenschaft und der Kunst, wie
auch in der Technik schon längst eine tiefer und tiefer dringende Verwachsenheit.
Nunmehr aber scheint auch die Zeit gekommen zu sein, in der der Schwede
das Wort „äußere Politik" nicht mehr meidet oder besten Falles mit saurem
Lächeln ausspricht. Den äußeren Anstoß, der diese innerliche Wandlung zum
Vorschein kommen läßt, bildet das Verhalten Rußlands Finnland gegenüber,
das nach der Revolution einen noch aggressiveren Charakter angenommen hat,
als es zur Zeit Plehwes und Bobrikows schon hatte. Man weiß ja, wie von
jeher das innigste Streben der Zaren auf den Weg zum offenen Meer gerichtet
war, wie er ihnen aber im Süden durch England-Indien und die Türkei, im
Osten nunmehr auch durch Japan versperrt worden ist. Es bleibt für Rußland
also nur der Vorstoß gegen Nordwesten übrig, und zu dem scheint es sich jetzt
zu rüsten. Von jeher hat man im schwedischen Volke von dieser chronischen
Bedrohung gewußt, hat sich aber — obwohl sie bereits nacheinander Ingerman-
land, Estland und Livland, Karelen und Finnland gekostet hat — darauf
verlassen, daß „England und Deutschland Einspruch erheben würden"; damit
hat man sich so an die Gefahr gewöhnt, daß man sie schließlich kaum noch sah.
Im Januar 1912 aber veröffentlichte der Forschungsreisende Sven Hedin eine
Flugschrift „Ete Varningsord",*) dem im April eine zweite „Svensk och
Nordisk Utrikespolitik"^) von Professor Pontus Fahlbeck in Lund folgte.
Beide Verfasser versuchten darzulegen, daß die so gut wie vollendete Rufsifizierung
Finnlands ziemlich sinnlos wäre, wenn sie nicht vor allem dem Zwecke diente,
eine russische Operationsbasis gegen Schweden zu gewinnen, und daß nunmehr
Rußland militärische Vorbereitungen treffe, durch die sich Schweden aufs schwerste
bedroht fühlen müsse.
In der Tat ist die Lage ja klar genug: was könnte im Fall eines Krieges
zwischen Deutschland und England Rußland hindern, Schweden und Norwegen
zu überfallen? An wen könnte Schweden sich anschließen? — Sein Verhältnis
zu den beiden anderen skandinavischen Reichen hat durch die hartnäckigen, von
Dänemark geschützten Trennungsbestrebungen Norwegens fortgesetzt an Innigkeit
verloren; überdies könnte wohl auch ein Bündnis der drei Staaten Rußland
gegenüber nur schwerlich auf kriegerischen Erfolg rechnen. Weiterhin hat die
nahe Verbindung Norwegens und Dänemarks mit England eine Anlehnung an
diese Großmacht für Schwedens Stolz unmöglich gemacht. Die traditionelle
Freundschaft mit Frankreich endlich war bei der räumlichen Entfernung beider
Länder stets schon zu einer mehr oder weniger platonischen Rolle verurteilt,
und hat nun durch die engen politischen und finanziellen Bande zwischen der
Republik und Nußland für Schweden an Wert beträchtlich eingebüßt. Wenn
man also in Allianzen das Heil des Reiches sieht, so erscheint keine andere
möglich, als die mit Deutschland; und eine solche in der Tat empfiehlt Professor
Fahlbeck. — Die zweite Waffe, die Schweden in der Hand hat, seine eigene
Wehrmacht, ist zwar nach sachverständigen! deutschen Urteil in bestem Stande,
die Festung Boden in Norrland, auf die ein russischer Angriff zunächst stoßen
muß, ist eine der gewaltigsten der Welt, zu deren Belagerung allein eine Truppen¬
menge von 50000 Mann erforderlich wäre. Dennoch erscheinen das schwedische
Heer mit seinen 35 000 Mann aktiven Mannschaften, 165000 Mann Landsturm
und seine 91 Fahrzeuge umfassende Flotte zu klein, als daß sie einer mit
russischer Zähigkeit durchgeführten Eroberung auf die Dauer Widerstand leisten
könnten. Daß endlich das sozialistische Allheilmittel, eine Neutralitätserklärung,
im Ernstfalle reine Einfalt wäre und nur den bindet, der sie abgibt, beginnt
man glücklicher Weise noch zur rechten Zeit zu begreifen.
Überhaupt werden, wenn nicht alles täuscht, die Hemmungen, die sich aus
der Volksstimmung heraus gegen eine großzügig vorgehende äußere Politik ergeben
könnten, immer geringer; des in Schweden allerdings auch übermäßig aus¬
gebildeten Parlamentarismus scheint man allmählich müde zu werden, und die
erfrischende Erkenntnis scheint aufzudämmern, daß wirklich maßgebende Er-
eignisse sich über die Köpfe einer Volksvertretung weg zu vollzieh?» pflegen.
Den besten Beleg dafür bildet jenes seltsame Schauspiel, das sich in den
ersten Monaten dieses Jahres vollzog, daß nämlich das schwedische Volk
innerhalb von zwei Monaten 14 Millionen Kronen zum Bau eines Panzer¬
schiffes sammelte, den der vorletzte Reichstag bewilligt, die gegenwärtige
radikal-liberale Regierung aber vorläufig aufgeschoben hatte, und so sich
gewissermaßen gegen den Willen seiner eigenen Vertretung einer freiwilligen
Wehrsteuer unterwarf. „Der Verteidigungswind, der in diesem Jahre der
Gnade über unsere Gebirge und durch unsere Wälder weht," sagt Sven Hedin
in der deutschen Ausgabe seiner Flugschrift, „hat während der letzten hundert
Jahre nicht seinesgleichen gehabt." Und es ist wohl nicht nur der Wille zu
einer notgedrungenen Verteidigung, der sich so gewaltig äußert, es ist wohl auch
im Grunde — und die Betrachtung der schwedischen Geschichte legte bereits diese
Vermutung nahe — das Erwachen einer neuen Tatkraft, einer neuen Gesinnung,
des Wunsches, wieder ein Glied Europas zu sein, von dem etwas abhängt.
Daß aber diese Neubelebung des schwedischen Volkes nicht wieder, wie so oft
schon, an der allzugroßen Übermacht der Gegner nutzlos verblute, das hängt
im wesentlichen von der Stellung ab, die Deutschland zu ihr nimmt. Daß
Schweden mit keiner anderen Großmacht sich verbinden kann, wurde gezeigt.
Daß es anderseits allein stehend trotz alles Opfermutes kaum Aussicht auf
dauernden Erfolg hat, erhellt ebenfalls aus dem Vorhergehenden. Daß es
endlich als Glied des Dreibundes zum mindesten vor der äußersten Gefahr, von
der Landkarte einfach getilgt zu werden, sicher wäre, ist ebenfalls klar; anzu¬
nehmen ist aber doch, daß die Verbündeten fähig sind, aller ihrer Feinde Herr
zu werden, oder daß das Bündnis an sich — wenigstens für Rußland — einen
Zwang zum Frieden bedeutet.
Zu bedenken bleibt nun noch, wie sich Deutschlands Lage durch eine Auf¬
nahme Schwedens in den Dreibund umgestalten würde, wenn also — abweichend
von Professor Fahlbecks Vorschlag — die Verpflichtung zum bewaffneten Beistand
sich ergäbe, sobald einer der Verbündeten von einer Großmacht angegriffen
wird; selbstverständlich kann nur unter dieser Bedingung das Bündnis für
Deutschland annehmbar werden. — Die Vorteile nun, die Deutschland durch
dasselbe im Fall eines Krieges mit der Tripleentente gewänne, wären etwa die
solgenden. Erstens: eine sehr fühlbare Lahmlegung Rußlands und damit Ent¬
lastung der Ostgrenze; — denn sichere Voraussetzung bei einem deutsch-schwedisch¬
russischen Krieg ist ein beispielloser Aufstand zum mindesten Finnlands, das
immer noch mit leidenschaftlicher Sehnsucht der schwedischen Zeit gedenkt. —
Dann: eine mindestens teilweise Entlastung der deutschen Ostseeflotte und damit
Stärkung des Nordseegeschwaders ließe sich erreichen, wenn Schweden durch den
Druck seiner militärischen Übermacht Dänemark zur Einhaltung der Ostsee¬
deklaration von 1908, d. h. zur Sperrung des Sundes und der Belte gegen
anßerbaltische Flotten nötigt; daß sich eine solche Sperrung auch gegen über-
legere Gegner mit Hilfe von Minen, schwedischer und dänischer Torpedoboote
und der älteren deutschen Schlachtschiffe durchführen ließe, zeigt heute das Beispiel
der Dardanellen. — Und schließlich: Deutschland wäre sicher davor, eines Tages
einem russischen Skandinavien, d. h. einer zum größten Teil russischen Ostsee¬
küste gegenüber zu stehen, und außerdem auch im nördlichen Atlantic künftig
mit den Flotten zweier Großmächte rechnen zu müssen, statt mit nur einer,
wie bisher.
Aber vielleicht bedeutete dieser Anschluß noch einen feinen geistigen und dabei
weiter reichenden Gewinn: Es ist ja gesagt worden, wie Schweden seine eigene
Geschichte gelebt hat; es ist eine Geschichte, die wesentlich denselben Gesetzen
folgt wie die des mittleren Europa, die aber ein langsameres Tempo hat, und
so stets hinter dieser um eine Spanne Zeit zurückgeblieben ist: als man den
heidnischen Upsalatempel verbrannte, gründete man in Deutschland den Dom
vonBamberg; die ersten Herrscher des Folkungergeschlechts, Zeitgenossen Rudolfs
von Habsburg, zeigen auffällige Ähnlichkeit mit den starken Gründern der
karolingischen Dynastie; der russische Krieg des Rokokokönigs Gustav des Dritten
erinnert seltsam an die Züge Kaiser Maximilians; die heutigen Zwistigkeiten
wegen der Landesverteidigung weisen Parallelen mit jenen Kämpfen auf, die
sich im jung-konstitutionellen Preußen an der Bismarck-Roonschen Heeresreform
entzündeten. So könnte man Schweden rückständig nennen, wenn man dies
Wort des schmähenden Nebensinnes entkleidet, den ihm unsere „fortschrittlich"
gerichtete Zeit angehängt hat, rückständig im Vergleiche zu uns, die wir im
Herzen Europas wohnen, in dem alle Ströme geistigen Geschehens sich kreuzen;
wir sind wohl mächtiger und erfahrener in den Händeln der Welt, aber auch
grüblerischer und zerrissener; das schwedische Volk wird in den nächsten Zeiten
so 'oll tatenlustiger, aufgesparter Jugendkraft sein, wie wir es waren, als
unsere neue Reichsgeschichte begann. Und deshalb ist die Meinung dieser Zeilen,
daß eine nähere Verbindung mit Schweden eine Blutauffrischung unserer
gesamten weltpolitischen Betätigung bedeuten könnte. Der Kreis unserer realen
Verantwortung würde erweitert sein, zugleich aber auch jener andere ideelle,
der vom Verwandtschaftsgefühl der germanischen Völker gebildet wird.
Die Form, in die sich das Bündnis Deutschlands mit Österreich-Ungarn
kleidet, scheint eine glückliche und vorbildliche zu sein; sie verbürgt jedem der
Verbündeten größtmögliche Handlungsfreiheit und bietet ihm doch stets ver»
läßlichen Rückhalt an der Treue des andern. Es läßt sich wohl mit Recht
behaupten, daß das Verhältnis der Habsburgischen Monarchie zum übrigen
Deutschland nie ein so gesundes, zweck- und sachgemäßes gewesen ist wie heute.
Es ist nicht einzusehen, warum sich das Bündnis in derselben Gestaltung nicht
auf Schweden ausdehnen lassen sollte. Jedenfalls soll hier keinem allzu engen
Anschluß, wie ihn Überspannung der deutschen Gesinnung fordert, das Wort
geredet werden. Die in sich selbst begründete Eigenart der Außenvölker ger¬
manischen Blutes, des schwedischen sowohl wie etwa des holländischen oder
schweizerischen, dürste nie einer Eingliederung als deutscher Bundesstaat geopfert
werden, die stets eine abschleifende Mechanisierung bedeuten würde. Aber vor
der Gefahr, vom Mammut Rußland erdrückt zu werden, sollte Schweden bewahrt
werden, vor einem Schicksal, das weit bitterer noch zu beklagen wäre, als das
des braven, aber im tiefsten doch unfruchtbaren Burenvolkes. Wie es die
Befreiung von diesem Alpdruck verdient und wie es sie vergelten könnte, ist
versucht worden darzulegen.
Entscheidendes vollzieht sich allerorten. Das neue Vordringen der roma¬
nischen Staaten in Afrika; das Auferstehen jener Völker, die man gewöhnt war,
als in Todesschlaf befangen anzusehen, der Osmanen, Chinesen, Inder; die
Selbständigkeitsgelüste anderer, die noch nie bisher Einfluß übten auf das
Schicksal der Welt, der Mischlinge von Südamerika, der Angelsachsen von
Kanada und Australien, der Neger schließlich im südlichen Afrika. Immer
deutlicher wird uns Heutigen die Gewißheit, daß wir Jahre erleben, in denen
die Fundamente einer tausendjährigen Zukunft gelegt werden. Der Umschwung
aber, der sich in diesem Zeitraum allgemeiner Wandlungen in Deutschlands
Geschick vollzieht, scheint der zu sein, daß nun auch mit dem letzten Segel in
das Fahrwasser großer Weltpolitik eingelenkt wird. Alle äußeren Bedingungen
zu ihr, wachsende Bevölkerungszahl, leistungs- und ausdehnungsfähige Industrie,
sind gegeben und auch die innerliche Grundbedingung, der allgemeine Wille zu
ihr, scheint sich nunmehr völlig entwickelt zu haben; man denke nur an die
Erregung bei Gelegenheit der Marokkoaffäre, an die cmstandslose Durchdringung
der neuen Wehrvorlagen.
Ein alle Weltteile durchdringender Imperialismus Deutsch¬
lands aber würde notwendige Vorstufen übersprungen haben, würde
Lücken in seinen Grundlagen aufweisen, wenn er die Randgebiete
germanischen Besitzes völlig sich selbst überließe, wenn er an ihrem
Bestehen und Vergehen nicht mehr Anteil nehmen wollte als etwa
an dem des Kaisertums Korea.
Die Politik der Zukunft wird Weltpolitik sein; Welten werden einander
lant und leise, blutig und friedlich bekriegen, Welten werden sich sammeln
müssen gegen gemeinsame Feinde. Von allen Seiten und mit Übermacht wird
Sturm gelaufen werden gegen das zahlen- und verhältnismäßig recht schwache
Germanentum. Das Deutsche Reich aber wird erst dann seinen wirklichen
welthistorischen Beruf erfüllen, wenn es innerster Kern und Vormacht alles
dessen geworden ist, was germanisch heißt. Ein erster Schritt wäre getan,
wenn es die Hand nicht übersähe, die ihm jetzt der äußerste Vorposten droben
im Nordosten bietet.
s muß ein tieferer Grund vorhanden fein, als etwa die bloße
soundsovielte Wiederkehr seines Geburtstages, wenn eines Mannes
von nicht nationaler Bedeutung in weiteren Kreisen gedacht wird.
Es müssen gewisse innere Beziehungen zwischen heut und damals
obwalten, durch die und mit denen zugleich auch die Gestalt und
das Wollen jenes Mannes wieder lebendig werden. Alsdann aber wird man
nicht nur an dem einen Zeitpunkte dies Lebendigwerden verspüren dürfen.
Und das ist bei Rousseau in der Gegenwart sicher der Fall. Zwar ist sein
Name, als der des großen „Beginners", gerade aus unserer Literatur niemals
ganz verschwunden gewesen, aber wir sind ihm doch etwa in den letzten zehn
Jahren wieder häufiger als zuvor begegnet, wenn auch in der Hauptsache nur
in pädagogischen Büchern und Abhandlungen und soweit die psychologische
Wissenschaft, die ja in der Gegenwart den größten Teil alles pädagogischen Denkens
gefangen nimmt, zu historischen Betrachtungen überhaupt Raum läßt. Und
diese Tatsache schon drängt einem das Vorhandensein jener Beziehungen ans.
Aus der Negation, oder wenigstens der bloßen Kritik sozialer Zustände ist man
gegenwärtig, wenn nicht alles trügt, zurückgekehrt zu positiver Arbeit. Und auf
keinem Gebiete unserer sozialen Arbeit ist man zurzeit so tätig, als auf dem
Gebiete der Erziehung, das Wort in seinem weitesten Sinne begriffen, daß nicht
eben viel historischer Sinn erforderlich erscheint, an die zweite Hälfte des acht¬
zehnten Jahrhunderts erinnert zu werden, wo man von der Erziehung nicht
viel weniger als schlechterdings alles erhoffte. Mögen nun in der Gegenwart
die Beweggründe dazu noch so mannigfaltiger Art sein: wieder hat man eine
Not der Zeit erkannt und versucht den Weg zu gehen, den einst ein Pestalozzi
als einzigen Weg zur Besserung erkannte und ihn beschritt, und den auch
Rousseau, um nur diese beiden zu nennen, die freilich von grundverschiedenen
Ausgangspunkten aus zu ihrem Erziehungswerke kamen, eines Tages blitzhell
vor sich liegen sah und den er in der Folgezeit wandeln mußte. Das unter¬
scheidet ja diese Männer der Erziehung, die doch vor allem eine Sache der Tat,
wenn auch, wie bei Rousseau, mehr der inneren ist, vor anderen, die in müh-
sauer Gedankenarbeit zu einem System gelangten, daß sie in ihrem Werke aus
ihrer Zeit herausgeboren und von ihr getragen wurden. Wir wollen jene
Gedankenarbeit nicht verachten oder auch uur verkleinern, aber die wahren
Erzieher der Menschheit sind doch nur diese.
Wer wird zweifeln, daß mit dem Tage, da sich Rousseau sein Lebensweg
enthüllte, jener Tag gemeint ist, an dem er im Mercure de France die von
der Akademie zu Dijon gestellte Preisfrage las: „3i le rstablissement clef
sciences et clef arts u ccmtribue ä epurer les mceurs!" „Wenn jemals,"
so schreibt er selbst an Malesherbes, „etwas einer plötzlichen Inspiration geglichen
hat, so war es die Bewegung, die in mir entstand. Mit einem Schlage fühlte
ich meinen Geist durch tausend Lichter geblendet, Massen von lebendigen Gedanken
boten sich mir dar mit einer Kraft und in einem Durcheinander, daß ich in
unaussprechliche Verwirrung geriet. Hätte ich damals den vierten Teil dessen
niederschreiben können, was ich schaute und empfand, mit welcher Klarheit hätte
ich daun die Widersprüche der gesellschaftlichen Ordnung darlegen können, mit
welcher Kraft hätte ich die Mängel unserer Einrichtungen auseinandergesetzt,
mit welcher Einfachheit hätte ich dargetan, daß der Mensch von Natur gut ist
und daß allein durch unsere Einrichtungen die Menschen böse werden. Das
wenige, was ich voll der Fülle der großen Wahrheiten festhalten konnte, findet
sich in abgeschwächter Form zerstreut in meinen drei Hauptschristeu, nämlich in
jener ersten Abhandlung, in der über die Ungleichheit und in dem Buche über
die Erziehung. Denn diese drei Werke sind untrennbar und bilden zusammen
ein Ganzes." Das ist die Geburtsstunde Rousseaus als Erzieher. Was vorher
liegt, illteressiert hier nur soweit, als es als eine Art innerer Vorbereitung
dazu dient.
Es ist eine müßige Frage, was aus Rousseau geworden wäre, wenn er
eine geordnete bürgerliche Erziehung in seiner Vaterstadt genossen Hütte. Gewiß
erscheint es zweifelhaft, ob er sich zu dem leidenschaftlichen Ankläger der Gesellschaft
entwickelt hätte, wenn er von je ein Teil derselben gewesen wäre, da er sich in
diesem Falle zum mindestens durch ein gewisses, wenn auch nur anerzogenes
Verantwortlichkeitsbewnßtsein gebunden gefühlt Hütte, von einer völlig rücksichts¬
losen Kritik abzustehen. Es ist sicher, daß das wechselvolle, bunte Leben die
Seite seines Wesens stark, ja allzu stark hat hervortreten lassen, aus der im
großen und ganzen der Rousseau der späteren Zeit erstand: das Empfindungsleben,
oder vielleicht noch besser, das Triebleben, das aber nur wieder einen eigen¬
tümlichen Gegensatz findet in dem ideenhaften Zuge seines Wesens, sagen wir
in seinem Prophetentum. Der übermächtige Freiheitsdrang, der nur eben vor jener
letzten Grenze Halt macht, die die Natur mit ihrem Zwange selber zieht, kann sich nur
in einem Vagabundenleben entwickeln, wie Rousseau es tatsächlich geführt hat. Kein
Beruf, keine Heimat, keine Seele, von deren dauernden Liebe oder Freundschaft
er überzeugt sein darf, während er sich doch mit aller Kraft seiner eigenen
überschwänglichen Seele nach einer solchen sehnt! Oft betrogen und die kom-
ventionelle Lüge um sich her gewahrend, zieht er sich in seinem Subjektivismus
immer mehr in sich selbst zurück, lebt sich selbst und seinen oft der Wirklichkeit
völlig abgekehrten Gedanken, die schließlich in Zeiten des Übermaßes der Em¬
pfindungen die Fähigkeit zu einer objektiven Betrachtung geradezu verlieren,
und findet in einen: solchen Leben Ersatz für einen ihm angeborenen Mangel an
Aktivität. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in einem derartigen Leben, das ja
sehr wohl einen gefährlichen Einfluß auf die ganze Charakterentwicklung haben
kann, eine der Ursachen zu den, später hervortretenden Verfolgungswahn sieht.
Von seinen Beschäftigungen sind sowohl die botanischen, als auch die musika¬
lischen unzertrennlich von jenem reichen Empfindungsleben, entstammen ihni
wohl unmittelbar, und sind also auch zur positiven Vorbereitung zu zählen, da¬
gegen hat seine praktische Erziehertätigkeit keine, oder doch nur ganz unter¬
geordnete Bedeutung in dieser Beziehung.
So findet man denn schon in der Art, wie er jene Preisfrage in dem
denkwürdigen Momente erfaßt, diesen Rousseau wieder. Ganz den über¬
wältigenden Empfindungen des Augenblicks hingegeben, erschließt sich ihm ideell
der Weg, der die Menschheit in die Irre geführt hat und der, der sie wiederum
zu wahrer Gesittung, zu Freiheit und Tagend zurückzuführen vermag. Sein
Denken ist das des Künstlers: er schaut, er schöpft intuitio aus sich heraus.
Diderot, der schärfere, systematischere Denker, muß einige Ordnung in die Ge¬
danken bringen, und trotzdem gesteht er selbst ein, daß es der Abhandlung noch
durchaus an Ordnung und Logik fehle. Aber Rousseau hat seinen Beruf gefunden.
Freilich hatte er vorher schon einige Male geglaubt, durch Verfolgung
ideeller Einfälle zu einem Berufe gekommen zu fein, wie man das häufig bei
Leuten ohne sicheren Beruf erfährt, und man hat auch hier den Eindruck, daß
er erst durch den Erfolg auf der nun gewählten Bahn festgehalten worden sei. Er
gesteht, daß er die Arbeit nach ihrer Ablieferung beinahe vergessen gehabt und
daß erst die freudige Nachricht von der Preiserteilung die Idee mit neuer Stärke
in ihm aufgeweckt hätte. Wenn man ihm aber daraus den Vorwurf gemacht
hat, daß es zum guten Teile Ruhmsucht und Eitelkeit gewesen wären, die ihn
die Rolle eines Weltverbesserers hätten spielen lassen, so bedenkt man nicht, daß
es bei einem so sprunghaft-ideenhaften Denken immer eines gewissen Anstoßes
von außen bedarf, um es in die eingeschlagene Richtung zu bannen.
Um nun Rousseaus Anklagen in der Abhandlung zu verstehen und um
Zugleich die Erklärung für deren ungeheueren Erfolg zu finden, ist es not¬
wendig, daß man sich den Zustand der damaligen französischen Gesellschaft ver¬
gegenwärtige, die eine Art Kultus mit all dem trieb, was doch nur als reine
Blüte aus ernster Arbeit hervorsprießen darf, wenn es einen inneren Wert haben
soll, nämlich mit den Künsten und Wissenschaften. Nun trügt aber jede Zeit
einer gewissen Überkultur auch zugleich das geheime Bewußtsein des Un¬
genügenden des Bestehenden in sich selbst, ja der in ihr sich immer breit-
machende Skeptizismus und der mit diesem verbundene Pessimismus sind im
Grunde nichts anderes, als das offene Zugeständnis eines Mangels. Da
aber der ernste Wille zum Besseren fehlt und alles Streben sich nur in unfrucht¬
barem Intellektualismus erschöpft, der natürlich nur das zweifelhafte Vorrecht
einiger schmaler Gesellschaftsschichten sein kann und schließlich in platteste Auf¬
klärung ausartet, wird das gesamte Leben einer solchen Zeit, also auch der in
Frage stehenden, von Grund aus unsittlich erscheinen, und das Ende wird immer,
wenn nicht besondere Kräfte eingreifen, eine totale Umwälzung in der Gesell¬
schaft sein.
Zwar fehlte es dieser einseitigen Verstandeskultur nicht an einer ethischen
Tendenz: man wollte durch sie zur Tugend und zur Glückseligkeit gelangen, von
denen die eine von der anderen nicht zu trennen sei. Aber diese Ethik lebte
nur noch in den Köpfen einiger bevorzugter Männer. Die Führenden in der
Gesellschaft waren im allgemeinen doch Philosophen, Literaten, Gelehrte von
zweifelhaftem Ernst und Charakter. In den Salons der Damen wurden zwar
die tiefsten Fragen abgehandelt, auch die der Tugend, aber nicht um der
Tugend zu dienen, das bewiesen ja alle diese Herren und Damen durch
die Tat: sie waren frivol und liederlich und aller Tugend bar. Es war ihnen,
wenn man die aus ähnlichen Zuständen der Jetztzeit uns allzu geläufig
gewordenen Begriffe verwenden will, nur eine Art Sport, eine Art Sensation,
sich geistreich mit jenen Dingen zu beschäftigen. Hatte also Rousseau nicht
recht, wenn er ausrief: „Betrachten wir das Wesen der Kunst und Wissen¬
schaft genauer, untersuchen wir näher ihre Motive, Zwecke und Wirkungen,
so können wir uns der Einsicht nicht verschließen, daß in ihrer Pflege Grund
und Quelle der sittlichen Korruption gelegen sind?" Denn das Verhalten zur
Kunst und Wissenschaft in seiner Zeit hatte Rousseau im Auge, wenn er so sprach,
über ihren Wert an sich hat er nicht geurteilt. „Wir gewöhnlichen Menschen,"
so fährt er am Schlüsse seiner Schrift fort, „wollen anderen die Sorge über¬
lassen, die Menschen über ihre Pflichten zu unterrichten, und uns darauf
beschränken, die unsrigen gut zu erfüllen. Um die Tugend, diese erhabene
Wissenschaft der einfachen Seelen, zu erkennen, bedarf es so vieler Mühe und
Umstände nicht ..." Als Spiegel trat Rousseaus Abhandlung vor die Gesell¬
schaft. Man erschrak, denn man sah sich selbst; die Begeisterung des Verfassers
und sein Ernst taten ihre Wirkung. Aber die Spannung wird auf der einen
Seite wieder nur literarisch ausgelöst, eine Flut von Gegenschriften erscheint,
auf der anderen Seite ist der augenblickliche Eindruck schnell verraucht, und nur
die Person des Verfassers bleibt der Gesellschaft als eine Art neuer Sensation
zurück. Von feiten seiner philosophischen „Freunde" aber, die den Begriff der
Freundschaft leider ganz anders auffaßten als er selbst, zeigen sich bereits jene
offenen und versteckten Angriffe, die freilich zu einem guten Teile in Rousseau
felbst ihre Ursache haben. Ein von der allgemeinen Norm abweichendes Wollen
und Leben, mit denen sich ein Mensch herauszuheben sucht, wirken immer
herausfordernd, um fo mehr aber dann, wenn dies andere, bessere Leben wieder
nur in einer Halbheit geführt wird, daß e? schließlich zu einer Art Farce wird.
Und das war bei Rousseau der Fall. Es wurde oben auf eine Zwiespältigkeit
der ganzen Zeit hingedeutet, Rousseau ist nun aber selbst ein Abbild dieser
Zwiespältigkeit: er hungert nach Einfachheit und Schlichtheit des natürlichen
Lebens und macht in seiner wirklichen Lebensführung denselben unreinen Eindruck
wie die Gesellschaft, die er fliehen möchte; er nennt sich einen Freund der
natürlichen Einfalt und gibt in den Salons gern einfältige Dinge zum besten,
um den übersättigten Seelen einen billigen Spott zu verschaffen, auch auf Kosten
seiner eigenen Frau; er fordert eine vernunftgemäße Erziehung durch die Mütter
und schickt seine Kinder ins Findelhaus. Man braucht die Gründe, die er
hierfür findet, noch nicht als bloße Sophismen anzusehen, und man wird doch
eine grenzenlose Gefühlsroheit darin erkennen müssen; der natürlich-objektive
Standpunkt, den der Mann vielleicht seinem Kinde bis zur Geburt gegenüber
einnimmt, weicht in diesem Augenblicke sicher in jedem Falle dem persönlich-
gefühlsbetonten. So aber hatten seine Gegner wenigstens den Schein eines
Rechts für sich, an seiner Ehrlichkeit zu zweifeln. Übrigens macht einiges in
seiner Lebensführung einen direkt pathologischen Eindruck.
Die zweite Abhandlung „Über die Ungleichheit unter den Menschen" hat
merkwürdigerweise nicht den Erfolg der ersten gehabt, obwohl Rousseau mit
ganz anderem Rüstzeuge ausgestattet an sie heranging. Sie verleugnet ihren
Urheber, der zuerst mit dem Herzen schreibt und überhaupt kein realistischer
Denker ist, nicht. Er tritt mit seinen Ideen an den Stoff heran und verfolgt
nun diese mit wunderbarer Ruhe bis in die letzten Konsequenzen; denn er ist eine
völlig sreie, subjektive Persönlichkeit, freier und vorurteilsloser als sogar ein
Voltaire, und stellt auch in dieser Beziehung etwas von einem Propheten einer
neuen Zeit dar. Aus seiner Art zu denken erklären sich auch die vielen Irrtümer,
die heute leicht als solche nachzuweisen sind. Unrichtig ist aber, aus seinem
Nachweise, daß „die Ungleichheit erst durch die Entwicklung der menschlichen
Anlagen und den Fortschritt der geistigen Bildung Leben und Wachstum gewinnt
und mit der Gründung des Eigentums und der Gesetze festen Bestand erhält",
zu schließen, er habe den Menschen tatsächlich in einen Naturzustand zurückführen
wollen, wenn auch aus seinen Schlußfolgerungen sicher ein gewisser Pessimismus
spricht, wie er immer die Kehrseite einer auf eudämonistischer Grundlage
ruhenden Ethik ist.
Was er unter dem Begriff „Natur" versteht, wird uns völlig deutlich erst
durch seinen „Emil".') Natur ist ihm immer das Ursprüngliche, dasjenige in
allen Erscheinungen, was nur aus den ewigen Grundgesetzen unmittelbar folgt,
und der Urheber der Dinge, Gott, ist zunächst nichts anderes, als diese Grund¬
gesetze insgesamt, die Vereinigung von Intelligenz und Wille, aus der alle
Erscheinungen entsprießen. Alles nun, was aus der Hand dieses Gottes hervor¬
geht, ist gut, d. h. dem ihm von Gott gegebenen Zwecke, oder den in ihm
liegenden Gesetzen entsprechend, also zweckmäßig. Um nun dem Menschen das
zu geben, was er erwachsen nötig hat, bedarf es der Erziehung, die aus einer
dreifachen Quelle stammt: „Die innere Entwicklung unserer Anlagen und Organe
ist die Erziehung durch die Natur, der Gebrauch, den man uns von dieser Ent¬
wicklung machen lehrt, die Erziehung durch die Menschen, der Inhalt unserer
eigenen Erfahrungen von den Gegenständen, welche uns affizieren, die Erziehung
durch die Dinge." Der Hauptfaktor, nach dem sich die beiden anderen zu
richten haben, ist die Natur. Ziel der Erziehung wäre somit das der Natur
selbst, also immer die Entwicklung zu dem durch die ursprünglichen Gesetze
gegebenen Zwecke. Innerhalb dieser Gesetze kann sich der natürliche Mensch
frei bewegen, alle seine Begierden hat er ihnen zu unterwerfen. Daraus allein
wird ihm das wahre Glück erwachsen. Die Quelle alles Unglücks ist ja doch
immer nur das Mißverhältnis zwischen unseren Bedürfnissen und den Kräften,
sie zu befriedigen. Also hat die Erziehung des natürlichen Menschen sich darin
zu erschöpfen, die Bedürfnisse den Kräften anzupassen; ihre Tätigkeit hat mithin
darin zu bestehen, einmal den Zögling an das Entsagen zu gewöhnen, und zum
andern, seine Kräfte möglichst zur Entfaltung zu bringen. Die Handhabung dieser
Erziehung aber soll ganz negativer Art sein, es soll, wie Rousseau es ausdrückt,
verhindert werden, daß etwas geschehe. Nicht der Erzieher erzieht, sondern die
Natur, der Erzieher hat nur dafür zu sorgen, daß die natürlichen Gesetze in
steter Wirksamkeit bleiben. Er läßt die Dinge auf den Zögling einwirken und
an ihnen seine Kräfte entwickeln. Wenn sich der Zögling einmal in diesen irrte
und in seiner Begierde über sie hinausging, dann hat der Erzieher die Wirkung
eintreten zu lassen, die wir pädagogisch als Strafe bezeichnen, die aber das
Kind immer nur als Folge des Versuchs erkennen soll, sich dem Zwange der
Naturnotwendigkeit zu entziehen. So wird der natürliche Mensch frei von
Begierden und Leidenschaften.
Die Kehrseite dieser Erziehungsmethode ist die Forderung an den Erzieher:
Tritt niemals mit einem Gesetz vor das Kind, das es noch nicht als Not¬
wendigkeit erkannt hat! Es soll ja durch eigene Erfahrung lernen, sich auf sich
selbst zu stellen, es soll sich frei entscheiden im Bereiche der Naturnotwendigkeit.
In diesem Sinne ist also der Begriff der natürlichen Freiheit bei Rousseau zu
verstehen. Würde mau den jungen Menschen unter Gesetze zwingen, deren
Berechtigung er nicht erkannt hat, dann sänke er herab zum bloßen Knechte.
Das gilt auch vor allem auf dem Gebiete des Sittlichen. Sein Tun ist über¬
haupt nie sittlich zu bewerten, er denkt und handelt nur physisch, eben jenen
Naturgesetzen entsprechend, die ewig gleichbleibend und nie willkürlich sind. Nur
der Mensch ist willkürlich in seinen Forderungen. Unter seinen Händen ist alles
entartet, weil er willkürlich, ohne die den Dingen der Natur einwohnenden
Entwicklungsgesetze zu beachten, alles nach seinem Belieben umzubiegen sucht.
Wenn Rousseau mit dem Hinweise auf diese Entartung sein Buch beginnt,
so beweist das nur, wie tief der Kulturpessimismus in ihm wurzelte, der ja
erfahrungsgemäß zumeist mit einem einseitigen Naturoptimismus verbunden
austritt. Aber auch in der ganzen Fassung, in der fast naturwissenschaftlich¬
exakten Formulierung der physischen Erziehung, die im Grunde das Gefühlsleben
als Erziehungsfaktor ganz ausschaltet, liegt eine gewisse Trostlosigkeit. Wie
völlig anders faßt den Begriff der Erziehung der Mann, der zwei Jahrzehnte
später seine ersten Grundsätze niederschrieb: Pestalozzi, der, weil er das Ver¬
hältnis zwischen Gott und den Menschen einzig auf Liebe gegründet sah, auch
in der Liebe das Grundprinzip aller Erziehung erkannte! Hier in der ersten
Grundlegung aller Erziehung scheiden sich Rousseau und Pestalozzi.
Handelt es sich in der ersten Lebenzeit allein um die Erziehung durch die
Dinge, so wird etwa vom zwölften Jahre ab auch die Erziehung durch die Menschen
einzusetzen haben. Der Zustand des Zöglings ist bis zu diesem Zeitpunkte der
eines vollkommen natürlichen Jungen: „Er spricht nur eine Sprache, aber er
versteht, was er sagt, und wenn er nicht so gut spricht, wie andere, so ist er
ihnen doch im Handeln entschieden überlegen." „Er folgt nie einer Formel,
sügt sich weder der Autorität noch dem Beispiel; er handelt und spricht immer
nur, wie es ihm passend erscheint." „Nicht unbekannt mit einigen wenigen
moralischen Begriffen, die sich auf seinen gegenwärtigen Zustand beziehen, sind
ihm dagegen die durchaus fremd, welche den gesellschaftlichen Beziehungen der
Menschen zugrunde liegen." Aber es kommt nun doch die Zeit, wo der junge
Mensch heraustritt aus seinem isolierten Zustande und ein Verhältnis zur
Gesellschaft gewinnen muß. Die erste Forderung, die ihm hier entgegentritt,
ist die Anerkennung des fremden Eigentums. Wahrscheinlich wird er zunächst,
da er bisher eine Beschränkung des eigenen Ichs nur in den Grenzen der Natur
kennen gelernt hat, in Kollision geraten mit den Interessen der anderen Menschen.
Aber bald erweitert sich ihm der Begriff der natürlichen Grenzen, die hier noch
die natürlichen Rechte des anderen Ichs in sich einschließen. Und es erwächst
ihm dann auch die Erkenntnis der Notwendigkeit der Gesellschaft wegen der mit
ihr verbundenen Arbeitsteilung. Damit geht ihm auch die erste Ahnung der
Rechtsbegriffe auf, denen die Gesellschaft und er selbst unterworfen ist. Das ist
auch die Zeit, da er sich in einem vom Erzieher unbemerkt geleiteten Unterricht,
der einzig die im Menschen liegenden Kräfte und Anlagen zu spontaner Lebens¬
äußerung zu bringen hat, die wichtigsten Kenntnisse aneignen wird. Immer wird
der Zögling dabei die Frage zu beantworten wissen: wozu nützt das?, die
Rousseau für diese Stufe geradezu als die oberste Erziehungs- und Unterrichts¬
maxime gilt.
Auf der vorigen Stufe mußte sich das Wollen innerhalb der natürlichen Not¬
wendigkeit bewegen, hier geschieht es innerhalb der Grenzen des sozial Nützlichen,
nun aber kommt die Zeit, da es sich richten soll nach den Gesetzen dessen, was
schicklich und gut ist, nach den Gesetzen der Tugend. Tugend beruht nach
Rousseaus Ansicht auf nichts anderem als auf der Kraft des starken Willens,
welcher die eigenen Begierden zu besiegen vermag. Bald aber wird ein hervor¬
brechendes inneres Gefühl es dem jungen Menschen als eine Pflicht des Gewissens
vorschreiben, was bis dahin Ergebnis der Erziehung war, und aus diesem
inneren Gefühl heraus wird er die Gesetze der Sittlichkeit in seiner Natur
begründet erkennen. Denn völlig nutzlos wäre es wieder, den Geist durch
haltlose Grundsätze und vernunftlose Vorschriften regieren zu wollen. Ebenso,
wie Rousseau den Zögling nichts wissen lassen will, als nur, was er in und
mit den Dingen selbst begriffen hat, da „alle unsere Perceptionen oder Ideen
aus einem aktiven urteilenden Grundvermögen herstammen", so will er ihn auch
nichts von moralischen Vorschriften hinnehmen lassen, als nur, was er selbst als
schicklich und gut erkannt hat, da „ihn in der Tiefe der Seele ein eingeborenes Prinzip
der Gerechtigkeit und Tugend die eigenen wie die fremden Handlungen für gut oder
schlecht zu erklären zwingt". Das Gute baut sich also auf einem eingeborenen
Gefühl für das Gute, dem Gewissen, auf, das Rousseau als den göttlichen Instinkt
bezeichnet. Aber nun ist freilich das Tun auf Grund jenes Gefühls noch nicht sittlich
gut, zur Sittlichkeit gehört vielmehr auch das Bewußtsein um die sittlichen Grund¬
sätze unseres Lebens. „Die Erkenntnis des Guten muß von der Liebe zu ihm
wohl unterschieden werden. Sie ist dem Menschen keineswegs eingeboren, sobald
ihn aber seine Vernunft das Gute kennen lehrt, treibt ihn das Gewissen, es zu
lieben." Der Mensch tut also erst dann das Sittlich-Gute, wenn er durch seine
Vernunft es erkannt hat. Die bestimmende Ursache liegt also immer in ihm
selbst, in seiner Intelligenz und in seiner Vernunft, er ist sein eigener Gesetz¬
geber im Denken und Handeln: Der Mensch wird sittlich frei! Wir verstehen
von hier aus, wie der „Emil" besonders in Deutschland, wo in der Zeit seines
Erscheinens gerade der Subjektivismus sich die Seelen eroberte, eine so gewaltige
Wirkung haben konnte.
Man hat den „Emil" das Naturevangelium der Erziehung genannt, aber
man würde ihn doch nur halb verstehen, wenn man nur die eine Mahnung aus ihm
heraushören wollte: Zurück zur Natur! Denn dies Zurück dient Rousseau nur
als Mittel, zu einer wirklichen Kultur zu kommen. Und wenn wir genau Hinsehen,
so erkennen wir in der Kultur, die ihm vorschwebte, unschwer sogar gewisse Grund¬
lagen, uni nicht zu sagen die Grundlagen der Kultur seiner Zeit wieder. Er
fordert Pflege und Ausbildung der Sinnestätigkeit, aber zuletzt doch wieder nur.
weil er in ihr die notwendige Grundlage jeder späteren geistigen Tätigkeit sieht.
Auf die Entwicklung der Intelligenz allein ist bewußt abgezielt, wenn er das Gefühl
als Erziehungsfaktor ausschaltet. Es ist einmal gesagt worden, daß das, was
Rousseau eigentlich gesucht hat, ein Paradies des Intellekts und nicht des Willens
gewesen sei, und es ist wohl in der Tat so, daß er trotz des idealen, aus dem
Naturzustande anscheinend herausgewachsenen Erziehungszieles sich von der ein¬
seitigen Verstandeskultur seiner Zeit nicht in dem Maße befreit hat, wie man das
gewöhnlich annimmt. Seine ideelle Kraft versagte hier in der letzten Zielsetzung.
Immerhin aber war es ein „Paradies", das ihm vorschwebte. Der Mensch
seiner gedachten Kultur ist der durch die Autonomie des Intellekts und der
Vernunft frei gewordene Bürger des auf Übereinkunft gegründeten Staates.
Mensch und Bürger sollten eins, Politik sollte Moral, sollte Tugend sein. Sein
Lehrbuch der Politik, das hier weiter ausbauen sollte, ist freilich nicht geschrieben
worden, was endlich erschien, ist der „Lontrat 8ociaI", ein fast rationalistisches
politisches Glaubensbekenntnis, das für uns nur noch historischen Wert besitzt.
Und doch ist es wahrscheinlich gerade der Persönlichkeit Rousseaus nicht zum
geringsten Teile zu verdanken, daß die Idee vom nationalen Staate in der
Folgezeit sich in der Psyche der Völker durchrang, wie es zuletzt auch seine
Persönlichkeit war, die seinem Buche von der Erziehung den Erfolg verschaffte.
Gegen die bestehende Unkultur kämpften auch andere, die subjektiven Rechte des
Menschen wurden auch schon vor ihm anerkannt und gefordert, der Unterschied
aber besteht darin, daß er aus der Macht des inneren Gefühls heraus jenes
Recht des Subjekts schöpfte. Andere kamen durch Nachdenken aus der Unzufrieden¬
heit mit den bestehenden Zuständen dazu, bei Rousseau ist alles inneres
Erleben. Und deshalb seine Wirkung! Man konnte sich der Persönlichkeit, die
aus seinen Büchern, und besonders aus seinem „Emil" sprach, nicht entziehen.
Freilich, was eine praktische Wirkung hatte, war nicht der tiefe Jdeengang,
der seinem Erziehungsroman zugrunde lag, praktisch hat er nur dadurch gewirkt,
daß durch ihn der Erziehung überhaupt eine erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet
wurde, und daß in dieser die Natur wieder zu ihrem Rechte kam. „Wenn die
Kindheit," gesteht Laharpe, einer seiner Gegner, „sich gegenwärtig jener milden
Freiheit erfreut, die ihr gestattet, ihre ganze Naivität, Munterkeit und Anmut
zu entfalten, wenn sie nicht mehr durch Hemmungen und Fesseln jeder Art ein¬
geschüchtert und beengt ist, so verdankt sie das dem Verfasser des Emil." Ein
schöneres Lob konnte Rousseaus Lebenswerk nicht gesagt werden. Und auch wir,
die wir uns doch in einer einhundertfünfzigjährigen Entwicklung längst zu eigen
gemacht haben, um was er kämpfte und was sich für uns als brauchbar erwies,
berufen uns wohl auch heute noch auf ihn, wenn es gilt, wieder einmal gegen
eine Unnatur in der Erziehung zu Felde zu ziehen.
Die weitestgehende erzieherische Anregung hat ja sein Buch überhaupt in
Deutschland gegeben. Am unmittelbarsten hat es da wieder auf die Philantropen
gewirkt, die vielleicht ohne Rousseau gar nicht zu denken sind. Nun ruht
freilich auch der Philantropismus, bei Basedow ausschließlich, noch auf
intellektualistischen Grunde, und wir sahen, wie auch Rousseau selbst in der
Zielsetzung sich noch auf den alten Bahnen bewegt. Ähnlich ist es aber auch
mit seiner psychologischen Begründung, soweit man von einer solchen überhaupt
reden darf. Der Bestimmungsgrund des Willens fällt nach ihm im wesentlichen
und dem des Urteils zusammen, und die Fähigkeit zu wollen erscheint dem
Vermögen zu urteilen „ähnlich oder von ihm abgeleitet". Hiernach dürfen wir
wohl annehmen, und er könnte in dieser Beziehung recht gut mit Diesterweg
verglichen werden, daß ihm die bewußte Erkenntnis von dem Willen als Zentrum
der Persönlichkeit noch nicht aufgegangen ist, obwohl die Art seines Unterrichts
durchaus voluntaristisch erscheint. So ist also auch seine Psychologie, wenn auch
tiefergehend als beispielsweise die Lockes, von welcher eine Abhängigkeit oft
nachgewiesen worden ist, im ganzen nicht über die seiner Zeit hinausgekommen.
Aber er hat, und in dem Maße doch zum ersten Male, die Erziehung in den
verschiedenen Lebensaltern auf eine ihnen entsprechende psychologische, oder besser
philosophische Grundlage gestellt und dadurch weiterhin anregend gewirkt. Das
Verhältnis ist hier ungesähr das gleiche wie in der Ethik: er geht direkt keine
neuen Wege, und doch hat er dadurch, daß er den Menschen auf sich selbst,
auf sein eigenes Inneres verweist, auch eine starke ethische Wirkung ausgeübt.
Wenn es nun auch um der Vielseitigkeit seiner Erscheinung willen nicht
angängig ist, Rousseau in die Reihe der Pädagogen im schulgemäßen Sinne zu
stellen, seine weitaus größte Bedeutung hat er doch auf dem Gebiete der
Erziehung gewonnen, der Begriff freilich in seiner weitesten Fassung verstanden.
Er war Musiker, aber seine Kompositionen haben nur für den Musikstudierenden
noch einen gewissen Wert; seine staatsrechtlichen Untersuchungen mögen den
Rechtslehrer historisch interessieren; er war vor allem auch Poet und Künstler,
und wir wissen, welchen Einfluß seine „Neue Heloise" und seine Bekenntnisse*)
auch auf unsere Literatur gehabt haben, im letzten Grunde aber war er doch
Erzieher, seine ideelle Kraft ist zuletzt immer auf erziehliche Einwirkung gewendet.
Es ist kein Zufall, daß gerade Schiller ihm in einem seiner Jugendgedichte
ein Denkmal gesetzt hat. So verschieden der Genfer Idealist und der idealistische
große Deutsche sein mögen, in dem ideellen Drange erzieherisch auf ihre Zeit
einzuwirken, der bei Rousseau wegen des fast krankhaften Mangels an Aktivität
nur wieder ganz innerlich verstanden werden darf, begegnen sich beide. Ihr aus
der Idee geschöpfter Glaube an das Gute im Menschen ist die Voraussetzung
für ihr Vertrauen an die Erziehungsmöglichkeit des Menschengeschlechts. Freilich
unterscheidet sich dann Schillers ästhetisches Erziehungsideal doch grundsätzlich
von dem Rousseaus, dem man wohl eher Tolstois religiös gewendetes Ideal
an die Seite setzen könnte, wie denn Tolstoi überhaupt als Kulturerscheinung
mancherlei mit Rousseau gemein hat.
Man hat anläßlich der Zweijahrhundertfeier Friedrichs des Großen auch
Rousseau neben den großen König gestellt, natürlich auf Kosten Rousseaus,
was aber selbstverständlich sehr billig ist. Wahrscheinlich aber waren Friedrichs
Erziehungsmaximen von denen des anderen gar nicht so weit entfernt, wie
man nachzuweisen versucht hat und wie er selbst glaubte, wenn er in seinen
späteren Zeiten einmal sagt: „Gute Sitten sind für die Gesellschaft mehr wert
als alle Beweise Newtons", und wenn er im sittlichen Egoismus eine Grundlage
für die Erziehung gefunden zu haben glaubt: „Tue nicht, wovon du nicht wünschest,
daß es dir die anderen täten." Ein freier und weiter Geist wie Friedrich war
auch Rousseau, nur daß der eine mit klugem realistischen Blicke das eben
Erreichbare auszumessen und seinem Wirken die notwendige Beschränkung
aufzulegen wußte, während der andere sich ideell über die Schranken des Jetzt
hinwegsetzte, ja sie in der Überschwänglichkeit seiner Seele wohl überhaupt kaum
kannte. So wies auch er in die Zukunft hinein und hat an dem Werden
unserer Kultur sicher nicht den letzten Anteil gehabt, daß ihm auch von uns
aus der Ehrentitel „Erzieher der Menschheit" gebührt.
ars ich mit einer geschichtlichen Reminiszenz beginnen? In einem
kürzlich in Österreich erschienenen Lesebuch für Gewerbeschulen ist
ein Aufsatz unter dem Titel „Deutsche Treue" enthalten, der
folgende historische Episode behandelt. Herzog Ludwig von Bayern
^und Friedrich der Schöne von Österreich stritten um die deutsche
Kaiserkrone; bei Mühldorf siegten die Bayern im Jahre 1322 und so entschied
das Schlachtenglück zugunsten Ludwigs. Friedrich wurde als Gefangener auf
die oberpfälzische Festung Trausnitz gebracht. Die Verbündeten des Herzogs
Friedrich, der Papst und andere, setzten den Kampf gegen Ludwig fort. Dieser
besuchte den gefangenen Herzog Friedrich und auf Grund seines Verzichtes kam
eine Aussöhnung und die Aufhebung der Gefangenschaft zustande. Friedrich
versuchte nun seine Parteigänger zum Aufgeben des Streites zu bewegen, und
als ihm dies nicht gelang, kehrte er in die Gefangenschaft freiwillig zurück.
Ludwig von Bayern, gerührt durch diese, „deutsche Treue" bewahrende Hand¬
lungsweise, nahm seinen früheren Gegner als Mitregenten an und beide Fürsten
herrschten gemeinsam über das Deutsche Reich bis zum Tode Friedrichs im
Jahre 1330.
Viele Jahrhunderte sind seither verflossen und mannigfaltig waren die
Geschicke Deutschlands und Österreichs in dieser langen weltgeschichtlichen Epoche,
aber mehr als je kennzeichnet heute die Beziehungen zwischen Deutschland und
Österreich die deutsche Treue.
Das deutsche Volk im großen Deutschen Reiche und die Deutschen in Öster¬
reich bilden mit ihren Stammesbrüdern in der Schweiz eine große Volks¬
gemeinschaft. Die Grenzen der Staaten durchschneiden zwar das weitausgedehnte
deutsche Besiedlungsgebiet, die Volksseele ist aber dies- und jenseits dieser Grenzen
die gleiche, wenn auch nicht geleugnet werden kann, daß sich manche Ideenkreise
infolge verschiedener staatlicher Einrichtungen und verschiedener wirtschaftlicher
Interessen eigenartig entwickeln. Unveräußerliches gemeinsames Eigentum sind
uus durch unsere Sprache und unser Volkstum unsere Geistesheroen; wir sagen
diesseits und jenseits des Jnn und des Bodensees unser Schiller, unser Goethe,
unser Lessing, unser Grillparzer.
Ebenso gemeinsam ist auf deutschem Boden die Wissenschaftspflege. In
Leipzig wurde mit Wien und München das deutsche Kartell der Akademien der
Wissenschaften gegründet, aus dem später der Internationale Verband der
Akademien der Wissenschaften hervorging. In der nächsten Woche findet hier
in München eine Tagung deutscher Bibliothekare statt. Auf den Wissenschafts¬
gebieten aller Fakultäten der Universitäten Deutschlands, Deutsch-Österreichs
und der deutschen Schweiz findet gemeinschaftliche, sich gegenseitig verstärkende
und ergänzende Geistesarbeit statt. Naturforscher und Ärzte, Philosophen,
Juristen und Nationalökonomen versammeln sich periodisch an verschiedenen
Emporien kulturellen Lebens zu freien Beratungen und diskutieren die Leistungen
der führenden Männer. Politischen Vorurteilen und Vorteilen ist es bis nun
nicht gelungen, diese Bande, die uns Deutsche fest verbinden, zu zerreißen oder
auch nur zu lockern, und die Bundesgenossenschaft der beiden Kaiserreiche sollte,
so meinen wir, ebenso unerschütterlich sein und bleiben, wie unser gemeinsames
Volkstum und die Zusammenhänge unserer geistigen Arbeit. Diese gedeiht nur
im Frieden, der seinerseits wieder durch das Staatenbündnis gewährleistet wird.
So bedingen sich gegenseitig Kultur und Staatsraison.
Um nur einen Faktor aus dem deutschen Geistesleben herauszugreifen,
jenen, auf dem in erster Linie die wirtschaftliche Kraft der Völker beruht, will
ich von den angewandten Naturwissenschaften und der Technik reden. Sie
fanden ihre erste Pflegestätte an den Universitäten und es wurden die Chemie
durch Wühler und Liebig sowie die Technologie durch Beckmann deutsche Wissen¬
schaften. Dann aber gründeten wir Deutsche in Österreich nach französischem
Vorbild in den ersten Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts die polytech¬
nischen Institute in Graz, Prag und Wien und brachten führende Männer hervor
für das deutsche Jngenieurwesen in Schule und Praxis. Wir lieferten den
Organisator des Polytechnischen Institutes in Hannover, Karmarsch, den
bedeutendsten Lehrer des Polytechnikums in Karlsruhe, den Begründer der
Maschinenbauwissenschaft Redtenbacher, die ersten deutschen Eisenbahningenieure
Gerstner, Vater und Sohn, und das geht so fort bis in die Gegenwart, denn
z.B. der Charlottenburger Hochschulprofessor Riedler ist ein Deutsch-Österreicher.
Und so gesellten sich Deutsche aus Österreich und der Schweiz zu Ihren Meyer,
Grashof, Zeuner, Reuleaux u. a.
Die moderne Großindustrie setzte in Österreich, der Schweiz und Deutsch¬
land in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ziemlich gleichzeitig
ein; wohl hat sie sich in Deutschland selbst rascher und mächtiger entwickelt,
aber die Zusammenhänge sind unverkennbar und werden dadurch nicht gestört,
daß in Deutschland die chemische Industrie, der Maschinenbau und die Elektro¬
technik vorangingen, in Österreich das Bergwesen und der Gebirgseisenbahn-
wagenbau. Es findet ein fortwährender Import und Export von Kapazitäten und
Potenzen über die Landesgrenzen statt und der große Vorzug dieses Verkehrs
ist, daß die Handelsbilanz auf dem Marktplatze der Intelligenz immer aktiv ist
und bleibt. Da wird ein Vorschuß gegeben, der dann mit Zinseszinsen zurück¬
erstattet wird. Lieferten wir z. B. die ersten Eisenbahnbauer, so bezogen wir
später von Ihnen hervorragende Organisatoren und Verwaltungsbeamte, wie
Max Maria von Weber aus Sachsen und die Schwaben Nördling und Etzel.
Im Wasserbau wurden Sie unsere Vordermänner, dafür erbauten wir die
größte Trinkwasserleitung vom Semmering nach Wien.
Der wichtigste neuzeitliche Behelf für die technische Forschung und Praxis
ist das technische Versuchswescn, das mit der Materialprüfung erfolgreich einsetzte
und sich von da aus auf alle Gebiete technischen Wissens und des Jngenieur-
wesens ausbreitete. Von den Anfängen der Experimentalforschung abgesehen,
kann man das technische Versuchswesen als eme Errungenschaft der deutschen
Techniker bezeichnen und es sei gestattet, einige Namen von unvergänglichen
Werte anzuführen. Bauschinger (München). Tetmajer (Zürich und Wien),
Mariens, Helmholtz, Siemers (Berlin), Bach (Stuttgart) usw. Deutschland im
engeren Sinne des Wortes hat in diesem modernen Fortschritte gegenüber allen
anderen Staaten einen beträchtlichen, wohl von keiner Seite mehr einzuholenden
Vorsprung gewonnen. Wir in Österreich machen die größten Anstrengungen,
wenn auch durch innerpolitische Verhältnisse arg behindert, nachzufolgen.
Besonders interessant und wirtschaftlich wichtig ist der Wettstreit, oder
richtiger Wetteifer, im gewerblichen Unterrichts- und Musealwesen, das ebenso
sehr der technischen Tüchtigkeit des Handwerks und der Kleinindustrie wie dem
künstlerischen Einschlag im gesamten Gewerbe zu dienen berufen ist. Dabei geht
die Kulturgeschichte nicht leer aus. In den Jahren 1861 und 1862 begann in
Bayern die Reformbewegung im gewerblichen Bildungswesen; wir in Österreich
überholten diese Anstrengungen in den siebziger Jahren. Während wir uns
der Organisatoren Eitelberger und Dumreicher berühmen, überließen wir Ihnen
für das Germanische Museum unseren Essenwein, der neben Steinbeiß, Lessing,
Hefner-Alteneck eine verdienstliche Rolle spielte, und bezogen später für das
Kunstindustriemuseum in Wien Jakob Falke und Bruno Bucher aus Deutschland.
Sie fanden in jüngster Zeit Kerschensteiner, der Lüders nachstrebt usw. Die
Wechselbeziehungen auf dem Felde der gewerblichen Jugendausbildung werden
immer verzweigter, der Austausch von Kräften immer vielfältiger und die
politischen Landesgrenzen sind völlig bedeutungslos.
Ein ähnliches Wechselspiel erfolgte auf dem Gebiete der sogenannten Gewerbe¬
förderung, das ist der individuellen Beeinflussung der bereits in der Berufs-
betätigung begriffenen Gewerbeunternehmer und Arbeiter. Der Gedanke der
Zuführung neuzeitlicher Arbeitsbehelfe und technisch vorgeschrittener Arbeits¬
verfahren sowie der wirtschaftlichen Stärkung der Gewerbeunternehmungen tauchte
zuerst in Westdeutschland, Württemberg und Baden auf und die Anfänge der
Verwirklichung dieses Gedankens waren Erfolg verheißend; die Aktion wurde
in Österreich von deutscher Seite zuerst in Wien im Jahre 1892 aufgenommen
und hat sich, dank der Enttäuschungen, die sich an die österreichische Gewerbe¬
politik knüpften, rasch und mächtig entwickelt. Unsere Einrichtungen fanden durch
ihre augenscheinlichen Erfolge in breitester Weise Nachahmung in allen deutschen
Ländern, Skandinavien, Irland usw. und so wurde die Gewerbeförderung das
wirksamste Requisit der sogenannten Mittelstandsbewegung, die insbesondere der
städtischen Bevölkerung in Deutschland und Belgien zugute kommt.
Die jüngste Großtat deutschen Geistes ist die Begründung des Museums
der Denkmäler der Naturwissenschaften und Technik, des Deutschen Museums,
durch den Bezirksverein deutscher Ingenieure in München, dessen bevollmächtigter
Minister unser Oskar von Miller ist. Der Vorschlag, ein historisches technisches
Museum ins Leben zu rufen, wurde in Österreich schon in den neunziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts von deutscher Seite lebhaft propagiert und in kleine
Einzelschöpfungen umgesetzt. Die Großtat erfolgte in München im ersten
Jahrzehnt unseres Jahrhunderts und wirkte auf Wien belebend ein. So werden
die Deutschen ihrem technischen und industriellen Geist bleibende Monumente
errichten und jenen Einrichtungen an die Seite stellen, die die Franzosen in
ihrem L0N8srvatoire ac8 erts et metier8 zu Paris und die Engländer in
ihren technischen Sammlungen in Kensington geschaffen haben.
Ungemein fesselnd wäre eine Betrachtung der Wechselbeziehungen der
Schöpfungen der schönen Künste auf deutschem Boden durch unsere deutschen
Meister. Wenn wir nur die Neuzeit ins Auge fassen, erscheint uns die deutsche
Baukunst als ein einheitliches Kulturelement von größter Bedeutung. Die lange
Reihe unsterblicher Künstler, von denen ich nur einige Namen herausgreifen
will, Fischer von Erlach, Semper, Friedrich Schmidt, Ferstel, Hansen, Hasenauer,
bis herab zu den jüngsten Gabriel von Seidl und Otto Wagner, sie bilden eine
deutsche Künstlergenossenschaft, ungeteilt durch staatliche Grenzen. Dasselbe gilt
von der Plastik und Malerei; hüben und drüben Rafael Donner, Fernkorn,
Ferdinand von Miller, dann die Lenbach, Kaulbach, Piloti, Makart.
Was die vervielfältigende Kunst anbelangt, die Typographie, die Photo¬
graphie, mit ihren Anwendungen und Ausbildungen, die Lithographie (eine
deutsche Erfindung von Senefelder), der Farbendruck usw., so kann man
behaupten, daß die Deutschen in den drei oft genannten Staaten ebenbürtig
einen von keinem anderen Volke überragten Hochstand der Leistungen erreicht
haben. Der große Aufschwung der Buchgewerbe ist ein charakteristisches Merkmal
der deutschen Leistungsfähigkeit in der Verbindung von Technik und Kunst.
Diese Verbindung von Kunst und Technik, für die alle leitenden Geister im
deutschen Volke seit mehr als einem halben Jahrhundert in Wort, Schrift und
Tat eintreten, für die sie als oberste Grundsätze Materialechtheit, Konstruktions¬
richtigkeit und Zweckdienlichkeit aufgestellt haben, ist in jüngster Zeit wieder in
den Vordergrund der öffentlichen Erörterung getreten und führende Männer, die
sich von der Fessel dogmatischer Überlieferungstreue befreiten, suchen neuerdings
das produzierende und konsumierende Bürgertum durch entzückende Taten für den
Gedanken der Qualitätsarbeit zu begeistern. Doch darüber wird Ihnen ein
Berufenerer, Professor Riemerschmid, Ausführliches sagen.*) Wir Österreicher
haben unser Interesse an diesen Bestrebungen ja dadurch offenkundig bezeugt,
daß wir hierher gekommen sind, Ihre bayerische Gewerbeschau zu studieren, uns
an ihr zu erfreuen und weiters dadurch, daß der Deutsche Werkbund demnächst
in Wien tagen wird.
Wenn bei der Besprechung der bildenden Künste in Deutschland die
romanischen Völker sich zum Worte melden könnten, um darauf hinzuweisen,
daß die klassischen Vorperioden ihr Verdienst seien, so ist die Hegemonie
Deutschlands auf dem Gebiete der darstellenden Kunst und der Musik unbestreitbar
und ich hebe das mit um so größerer Genugtuung hervor, als die Deutschen
in Österreich auf diesen Gebieten einen ganz besonders großen Anteil an der
heutigen Großmachtstellung haben. Haudn. Beethoven, Mozart und Schubert
einerseits, Richard Wagner andererseits sind die Beherrscher der Musikwelt und
an den Genius der heiteren Musik der Neuzeit knüpfen sich die unvergänglichen
Namen Strauß und Lanner. Im Reiche der Töne sind wir Deutschen ein
Volk, ein einiges, in seiner Größe einzig dastehendes. Unsere Sprache hat
eine besonders wertvolle Ausdrucksform im „deutschen Lied" gefunden, dessen
Wirkung auf die deutsche Volksseele nicht unterschätzt werden darf. So wie
das Nibelungenlied die Ufergelände des Rheins mit jenen der Donau als
zusammengehörigen Schauplatz der Heldensage verbindet, so ertönte das deutsche
Lied vor der Bildung der heutigen Staatenformen von den Rheinlanden bis
tief ins Donaureich hinab, das deutsche Volkstum umschlingend.
Machen schon die vorangehenden Andeutungen den Eindruck größter Un-
vollständigkeit, nur den eines Mosailbildes, das aus einer Reihe aphoristischer
Bemerkungen besteht, so würde der Vorwurf der Unzulänglichkeit meiner Dar¬
stellung noch weit mehr Berechtigung erlangen, wenn ich nicht noch eines
Arbeitsfeldes deutscher Gelehrsamkeit mindestens schlagwortweise gedächte.
Die Jurisprudenz und Sozialpolitik haben im letzten halben Jahrhundert
auf deutschem Boden vielfache epochale Leistungen aufzuweisen. Die neuzeit¬
lichen Gesetze zum Schutze des geistigen Eigentums an literarischen und kunst>
lerischen Produkten und auf industriellem Gebiete, der Zivilprozeß, die staatliche
Kranken- und Unfallversicherung, der sich in letzter Zeit die Alters- und Jnva-
liditätsvcrsicherung beigesellten, also das Gesamtgebiet der Sozialversicherung,
die Gesetze und Verwaltungsmaßregeln in der Richtung der Jugendfürsorge,
die Gesetzgebung in Beziehung auf das Genossenschaftswesen usw. sind Errungen¬
schaften Deutschlands, denen verwandte Schöpfungen in Österreich und der
Schweiz nachfolgten und nachfolgen werden.
Bis nun habe ich nachzuweisen versucht, daß der geistige Verkehr zwischen
allen Teilen des deutschen Volkstums ein lebhafter und die Beziehungen innig
sind. Aber auch der materielle Verkehr gleicht dieser Vorstellung. Kaiser
Maximilian war um die Wende des fünfzehnten Jahrhunderts der erste Be¬
gründer der Post; dann folgten in ununterbrochener Reihe weitere Organisatoren
vom Fürsten Taxis bis zum preußischen Postdirekror Stephan, dem Begründer
des Weltpostvereins, der auch gleichzeitig mit einem Österreicher die Post-
korrespondenzkarte ersann. Der deutsch-österreichische Eisenbahnverband, die
deutschen Wasserstraßenunionen und der deutsch-österreichische Telegraphenverband
sind Grundlagen und Hauptelemente des internationalen Verkehrswesens geworden.
Die staatlichen Grenzen bilden auch für den materiellen Verkehr, das ist der
Menschen und Güter, keine wesentlichen Hindernisse mehr. Nur in einer
Richtung sind die staatlichen Grenzen empfindlich fühlbar und je nach den:
Standpunkte, den der Wirtschaftspolitiker einnimmt, in hohem Grade nützlich
oder schädlich. Ein Redner von hervorragender Stellung, Handelskammer-
Präsident Pschorr, hat heute schon von der deutsch-österreichischen Zollunion,
das heißt einem gemeinsamen deutsch-österreichischen Zollgebiete gesprochen und
ich kann ihm versichern, daß es auch in Österreich viele Anhänger dieses Ideales
gibt und daß es auch, abgesehen von den Freihändlern und reinen Theoretikern,
nicht wenige in der Praxis stehende Wirtschaftspolitiker sind, die den hoch auf¬
gerichteten Zollschranken schon angesichts des Teuerungsproblems widerstreben,
deren Erniedrigung fordern und deren völliges Verschwinden an der deutsch¬
österreichischen Grenze für möglich und erstrebenswert halten.
Die mitteleuropäischen Wirtschastsvereine in Deutschland, Österreich und
Ungarn suchen Vereinheitlichungen und Erleichterungen im Geldverkehr und
Zollverfahren. Sie und wir alle stehen ja noch unter dem Diktat des sogenannten
Ausgleichs der Produktionsbedingungen und der heute herrschenden Vertrags¬
politik. Die vielen Anhänger eines gemeinsamen deutschen und österreichischen
Zollgebiets wagen sich noch nicht hervor, aber sie werden der industriell-agrarischen
Hochschutzzollbewegung entgegenarbeiten, zur Mäßigung mahnen und diese in
vielen Fällen erzwingen. Die hochqualifizierte Ware bedarf eines geringeren
Schutzzolles und darum wollen wir uns an der Bayerischen Gewerbeschau
ergötzen und erheben und stärken für den Kampf um die Erleichterung des
Warenaustausches zwischen Österreich und Deutschland. Die Gewerbeschau ist
somit nicht nur Ihre, sondern auch unsere Sache.
Es hat Berufspolitiker gegeben, die die deutschen Schützen, Turner und
Sänger, die nach dem Einheitsstaate riefen, belächelten; ebenso unterschätzt man
auch heute unsere sozialen Organisationen, die Deutschland mit Österreich ver¬
binden, obwohl sie mit der Zeit in fortgesetzter beharrlicher Gemeinschaftsarbeit
bei den verbündeten Staaten Grenzen überbrückende Bündnisse und Bildungen
darstellen und vervielfältigen werden: der deutsch-österreichische Naturforscher¬
und Ärzteoerband, der deutsche Geographentag, der Heuer in Innsbruck seine
Beratungen pflegt, der deutsche Juristentag, die Handelskammerkongresse, der
deutsche Sprachverein, die deutsche Schillerstiftung, der Verein deutscher Ingenieure,
der deutsche und österreichische Alpenverein. Der letztgenannte, der heute gegen
hunderttausend Deutsche zu seinen Mitgliedern zählt, entstand folgendermaßen:
im Jahre 1862 bildete sich der österreichische Alpenverein, im Jahre 1869 der
deutsche Alpenverein und beide verschmolzen zum deutschen und österreichischen
Alpenverein im Jahre 1874; er erlangte dadurch seine heutige Größe und
Bedeutung. Dies mag ein Vorbild sein!
Hier sei noch daran erinnert, daß dieser Verein in der Stadt der Museen
ein alpines Museum errichtet hat, auf einer Jsarinfel in dem Schlößchen
Jsarlust. München ist aber auch wie keine andere Stadt geeignet zu einem
Sammelpunkt von Museen, es ist eine Hochschule des Anschauungsunterrichtes
für das deutsche Volk und unsere Gäste aus der Fremde.
Unser deutsches Volksmassiv ist im Norden durch die See und die sie
beherrschenden Flotten geschützt und im Süden durch den Alpenwall begrenzt.
Einst überschritten wir die Pässe, um jenseits der Alpen zu siegen, zu erobern,
zu herrschen oder auch um zu unterliegen und uns zu demütigen. Wie anders
gestaltet sich jetzt der Alpenverkehr dadurch, daß wir das Gebirge durchbohrten,
um nach Italien zu wandern, das uns die Denkmäler der römischen und
medizäischen Kulturzeitalter aufbewahrt hat. Wir gehen nach Italien nicht
mehr wie einst als Feinde, sondern wir begrüßen dort ein geeinigtes Kultur¬
volk, das mit uns ein Bündnis zur Erhaltung des Friedens geschlossen hat.
Das deutsche Hochgebirge, die Alpen, erstreckt sich vom Herzen Österreichs
bis an die westliche Grenze der deutschen Lande. Unsere Alpen, die an
Schönheit von keinem Gebirge der Welt übertroffen werden, in denen viele
unserer großen Flüsse entspringen, aus denen die weiße Kohle mächtig hervor¬
quillt, als Energievorrat von ungemessenem Werte, zieht uns Deutsche und die
Fremden mächtig an und hält uns zauberhaft fest. In gemeinsamer Arbeit
haben wir über die Bergriesen und Pässe, über die Kämme und Hänge ein
Netz von modernen Kulturwerken gespannt, um uns den Genuß der Natur¬
schönheit zu ermöglichen oder zu erleichtern und die Gefahren zu mildern. Auf
dem Rücken der Bergriesen erblühen die bunten zierlichen Kinder der Flora,
sie sind auch ein Symbol unserer Gemeinsamkeit und Einheitlichkeit in den
deutschen Naturschätzen. Ich habe einen Strauß dieser Alpenblumen mitgebracht,
um sie als Zeichen unserer großen Verehrung und innigen Liebe darzubieten
Seiner königlichen Hoheit Ihrem Prinzen Ludwig, unserem deutschen Prinzen
Ludwig I
aß China eine Republik geworden ist, und daß sich in der großen
Umwälzung eine nationale Reaktion gegen die Fremdherrschaft
der Mandschu bekundet, sind zwei Sätze, die für den europäischen
Betrachter nahezu dogmatische Geltung haben. Versucht man aber,
die Hergange nach den Maßen der chinesischen Geschichte und des
chinesischen Staates zu beurteilen, so gilt für den ersten Satz: eine republikanische
Staatsform ist nach dem Wesen des chinesischen Staates für die Dauer kaum
denkbar; für den zweiten aber: er ist sicher ganz falsch und beruht auf Vor¬
spiegelung falscher Tatsachen.
Das allgemeine Interesse, das die chinesische Revolution in weitesten Kreisen
findet, ist mit einer gewissen Überraschung und Verwunderung gepaart. Wenn
irgendwo in der Welt die Verhältnisse in starrer Ruhe zu beharren und in
dauernder Gestaltung gefestigt schienen, so war es in China. Und gerade hier
vollzieht sich — scheinbar ganz unvermittelt — der Übergang aus der alter¬
tümlichsten Staatsform, dem patriarchalischen Absolutismus, zu der modernen
Gestaltung der demokratischen Republik.
In der Tat aber ist dies alles, was uns seltsam, fast unerhört erscheint,
sür China an sich nichts Neues. China hat im Laufe seiner Jahrtausende
umfassenden Geschichte viele Umwälzungen, gewaltige Revolutionen, völlige Auf¬
lösung des Einheitsstaates erlebt und immer wieder überwunden. Aus Jahr¬
hunderten anarchischer Zustände erhebt sich immer wieder in unerhörter Lebens¬
kraft das chinesische Volk als kulturelle und politische Einheit.
Um die Hergange der Gegenwart zu verstehen, ist ein Zweifaches erforderlich:
einmal muß man sich das Wesen des chinesischen Staates klarmachen, oder viel¬
mehr sich deutlich machen, wie der Chinese in seinem politischen Denken den
Staat auffaßt. Denn das innerste Wesen des Staates liegt nicht in der Form
seiner äußeren Einrichtungen, sondern in der Auffassung von den Aufgaben und
Zwecken, die eine menschliche Gemeinschaft zusammenhalten.
Für viele mag es überraschend sein, daß die Revolution in China eigentlich
keine neuen Gedanken bringt. Nicht nur die Idee, neben die Regierung eine
Volksvertretung, das Parlament, zu stellen, ist in China sehr alt; dieser Gedanke
tritt schon unter der ersten geschichtlich genauer erkennbaren Dynastie, unter den
Tscheu (1122 bis 225 v. Chr.) hervor. Aber auch die Republik ist eigentlich
nur die letzte Folgerung aus den politischen Grundsätzen, die in China die
politische Anschauung seit ältester Zeit beherrschen. Für den Chinesen ist der
Staat nicht eine über dem Volke stehende Macht, sondern die Verkörperung des
Volkes selbst. Schon im vierten Jahrhundert v. Chr. spricht die chinesische
Staatsreligion, der Konfuzianismus, die bis heute gültige Lehre aus: „Das
Wichtigste ist das Volk, darauf folgen die Götter des Landes, zuletzt kommt
der Fürst, er ist das Unwichtigste." Immer hat die Religion dem Volke das
Recht eingeräumt, schlechte Fürsten — d. h. solche, deren Regierung mit oder ohne
ihre Schuld durch allgemeines Mißgeschick unglücklich war — vom Throne zu stoßen.
Den: untüchtigen Herrscherhaus entzieht der Himmel sein Mandat durch das
Volk. Das Volk ist der eigentliche Souverän, indem es zum Vollstrecker des
göttlichen Willens wird.
Somit ist das Selbstbestimmungsrecht des Volkes — auch über seine
Negierung — ein alter Grundgedanke des chinesischen Staatslebens. Verbindet
man damit die Tatsache, daß die chinesische Entwicklung immer wieder, und so
auch heute, durch ein Aufsteigen der Volksmassen bestimmt ist, so liegt in dieser
demokratischen Tendenz ein gewisser Zug zur Republik.
Die absolute Monarchie Chinas ist also durch die tatsächlichen Kräfte des
Staatslebens in ihrer Gewalt stark begrenzt; neben ihr sind demokratische
Gewalten stets sehr wirksam gewesen.
Aber wir haben damit noch nicht den eigentlichen Kern des chinesischen
Staates, sein innerstes Wesen, erreicht. Das chinesische Reich ist in seiner
Urform nichts anderes als eine Bauerngemeinde, die in der Weise organisiert
ist, daß ein größeres Landstück, das quadratisch begrenzt wurde, in neun Felder
geteilt war. Das Mittelfeld behielt der Grundherr als seine Domäne, während
die umliegenden acht Felder an Frondienste leistende Bauern verpachtet wurden.
Diese uralte dörfliche Bauerngemeinde ist der Keim des chinesischen Staates; in
ihr schon wurzelt das demokratische Wesen. Diese Gemeinde aber bildete zugleich
eine religiöse Kultusgenossenschaft: die Gottheit des Gebietes hatte einen Kultus,
und die kultische Verehrung des Gottes war in erster Linie die Aufgabe dessen,
dem das Land gehörte, d. h. des Grundherrn. Hier liegt der Keim zur chine¬
sischen Monarchie, die etwas ganz anderes ist als die aus dem Kriegsleben
erwachsene Monarchie in Europa.
China ist in seinem innersten Wesen etwas ganz anderes als eine Demo¬
kratie oder Monarchie im europäischen Sinne; es ist beides zugleich und doch
zuletzt noch ein Besonderes. Die Verfassung und Verwaltung des chinesischen
Reiches ruht seit ältester Zeit bis heute auf dem Grundgedanken, daß die
menschliche Gemeinschaft von einer höchsten Weisheit, von einer göttlichen Macht
gelenkt werde. Die menschliche Gemeinschaft ist der Staat, die göttliche Welt¬
leitung tritt im Herrscher hervor, dem Vermittler zwischen Himmel und Erde,
dem die Gottheit den Auftrag gegeben hat, das Wohl der Gesamtheit sowohl
in materieller als auch in sittlicher Beziehung zu fördern und zu sichern. Dieses
Wohl der Gesamtheit ist geknüpft an die staatliche Ordnung; sie zu wahren ist
die Pflicht vor allem der Beamten. Der oft und mit Recht gerühmte soziale
Ordnungssinn der Chinesen und ihr Pietätsgefühl beruhen auf diesem politischen
Gedanken. Vor allem hat die Regierung, um dem Wohl des Ganzen zu dienen,
die Pflicht, die Untertanen zu belehren, sie sittlich zu erziehen, sie in ihrer
Arbeit zu fördern und zu schützen. Auch ein sozialistisches Element ist somit
im chinesischen Staatsgedanken eingeschlossen und ist gerade von den bedeutendsten
politischen und philosophischen Denkern Chinas — vor allem von Lao-the — oft
zum Ausdruck gebracht worden.
Der chinesische Staatsgedanke kennt ferner von vornherein keine nationalen
Grenzen. Wie die göttliche Weisheit die das Weltganze beherrschende Macht
ist, so kann sie auch nur in einem politischen Gebilde zum Ausdruck kommen,
das keine Schranken kennt, d. h. der chinesische Staat ist in der Theorie ein
Universalstaat, er umfaßt im Prinzip die ganze Menschheit. Da die chinesische
Regierung keine gleichberechtigten selbständigen Mächte neben sich kennen konnte,
sondern nur Vasallen oder Barbaren, die der Herrschaft des Himmels noch nicht
gewonnen waren, sind ihre Vertreter in China oft auf so große Schwierigkeiten
gestoßen.
Der chinesische Staat ist somit in seinem Wesen die Darstellung des höchsten
Weltgesetzes in der Form eines religiösen Weltstaates, an dessen Spitze der
absolute Herrscher, der „Himmelssohn", steht. Wir können also China —
freilich in einem besonderen Sinne — als eine „Theokratie" bezeichnen. Von
seinen höchsten Beamten umgeben bildet der Herrscher die Zentralgewalt; er
überweist die Teilgebiete des Reiches an seine Vasallen, um sie in seinem Namen
und nach seinen Weisungen zu regieren. Und diese höchste Vollmacht, die der
Himmel dem Kaiser verleiht, wird weiter geteilt und ausgebreitet durch die
Beamtenschaft. Jeder Beamte hat an dieser vom Himmel stammenden Macht
Anteil und soll sie im Bereich seiner Tätigkeit anwenden, um den Staatszweck,
das Wohl der menschlichen Gemeinschaft, zu erfüllen.
So sieht der chinesische Staat im politischen Denken der Chinesen aus.
Wir müssen darin ihr politisches Ideal erkennen; ob es freilich jemals in dieser
Gestalt Wirklichkeit gewesen ist, ist eine andere Frage. Die konfuzianische
Literatur behauptet zwar, daß von den ersten Herrschern im chinesischen Altertum
dieser Idealstaat als Vorbild für alle Zeit geschaffen sei. Die geschichtlichen
Urkunden aber, die aus der alten Zeit erhalten sind, beweisen, daß Herrscher
und Volk von diesem Ideal oft recht weit entfernt waren. Aber trotzdem
bedeutet solch Idealbild eine Macht, es wirkt auf Anschaumigen und Über¬
zeugungen, und an ihm werden Rechte und Pflichten gemessen.
Ein Zweites, was für das Verständnis des heutigen China von größter
Bedeutung' ist, sind die bewegenden und treibenden Kräfte der chinesischen
Geschichte.
Zwei Erscheinungen sind es, die immer wieder im Verlauf der chinesischen
Entwicklung die bestimmenden Mächte geworden sind:
1. der Gegensatz zwischen Nord- und Südchina — und
2. das Hereindringen fremder Volksmassen in den chinesischen Kulturstaat,
den sie anfangs als Eroberer gewonnen haben, in dessen Kultur und Geist aber
alle barbarischen Eroberer schließlich eingeschmolzen wurden.
Der Gegensatz von Nord- und Südchina ist schon durch die Landesnatur
gegeben. Im Norden dehnen sich die unendlichen Flächen der Lößebene und
das Schwemmland der chinesischen Riesenstrome aus. Das Land ist gleich¬
förmig, eintönig und arm an Reizen: nur vereinzelte Hügel, hier und da ein
Baum, kaum je ein kleiner Wald. Das ist der Boden, ans dem der arbeitsame
nordchinesische Bauer die Grundlagen der Kultur Chinas geschaffen hat. Und
der Mensch ist hier wie das Land: der Nordchinese ist nüchtern, anspruchslos,
ohne höheren Schwung der Phantasie und des Gesühls, demütig und aber¬
gläubisch, zugleich ganz der praktisch gerichtete Arbeiter, der sich den menschlichen
Herren ebenso unbedingt unterwürfig fügt wie den Gewalten der Natur, die
seine Arbeit so oft zerstören.
Ganz anders der Südchinesc. Sein Land ist ein abwechslungsreiches, oft
romantisch schönes Alpengebiet, und die Bewohner sind phantasiebegabt, selbst¬
bewußt, stolz und ehrliebend, kriegerisch und vor allem, im Gegensatz zum
ruhigen Nordchinesen, politisch stets zum Umsturz bereit. Der zähe nordchinesische
Bauer erträgt in Geduld auch die ärgsten Mißstände und selbst Mißhandlungen,
während der Südchinese sofort auflodert und in seinem stolzen Mute zum
Schwerte greift. In der Geschichte Chinas ist dieser Gegensatz des passiven
Nordens und des aktiven Südens häufig zur Geltung gekommen, und so ist
es auch heute: die Revolution geht vom Süden aus und trägt in allem die
charakteristischen Merkmale des stürmischen, schnell fertigen südchinesischen Wesens.
Den Norden hat sie innerlich kaum berührt.
So kann man den Anteil des Nordens und des Südens an der Ent¬
wicklung Chinas dahin bestimmen, daß Nordchina die Kulturgrundlagen des
Reichs in der zähen Arbeit des Bauern geschaffen, und daß der Süden die
umgestaltenden, vorwärts treibenden, vor allem die geistig führenden Kräfte
geliefert hat.
Die zweite, für die Gestaltung Chinas grundlegende Tatsache ist, wie
erwähnt, das Eindringen fremder Völker, die sich oft zu Herren des Landes
gemacht haben. Hier zeigt nun die chinesische Geschichte einen merkwürdigen
Rhythmus des Geschehens. Ich habe vorher ans die Urgestalt des chinesischen
Staates in der bäuerlichen Gemeinschaft hingewiesen. Die weitere Entwicklung
beruht darauf, daß der agrarische Kulturstaat seine Grenzen immer mehr
erweitert, er wächst von innen heraus, der Pflug des Bauern unterwirft das
umliegende Land der Kultur und gliedert es dem Staate an. Sobald ein
solcher Staat an seinen Grenzen mit barbarischen Nachbarvölkern zusammen¬
stößt, wird die Lage kritisch. Das fruchtbare Kulturland lockt oft genug die
räuberischen Nachbarn zu Einfällen. So kommt es zu einem andauernden
Kriegszustand zwischen dem chinesischen Kulturgebiet und den Nomadenvölkern
der Steppe im Norden und Nordosten Chinas, die als kriegerische Reitervölker
dem chinesischen Bauern oft überlegen sind. Durch diese Nachbarn wird China
zur Wehrhaftigkeit, zur Verteidigung und schließlich zur Ausdehnung seiner
Macht gezwungen. Die beste Verteidigung ist der Angriff; so ist China dazu
gekommen, die Nomaden zu unterwerfen. Das ist in der Tat in einer gro߬
artigen Expansion erfolgt. Aber dieses Ringen führte auch barbarische Völker¬
massen ins Reich, die Kraft genug hatten, die Herrschaft, das Kaisertum,
zu gewinnen. Die stärkste, allen Mächten überlegene Gewalt aber blieb
das chinesische Volkstum und die chinesische Kultur. Sie haben es vermocht,
alle diese fremden Massen der chinesischen Kultur zu gewinnen und in
das chinesische Wesen einzuschmelzen. Alle Eroberervölker — Türken, Tungusen,
Mongolen und Mandschu — sind in China zu Chinesen geworden.
Auch heute herrscht in China eine Dynastie, die nicht chinesischen Ursprungs
ist, sondern dem nordasiatischen Volke der Tungusen angehört. Aber diese
Dynastie und ihr Volk sind völlig in die chinesische Kultur eingegangen, ein
nationaler Gegensatz wird gar nicht empfunden. Die Mandschu als Fremd¬
herrscher zu vertreiben, ist ein ganz unchinesischer Gedanke. Er widerspricht der
konfuzianischen Lehre vom ethischen Universalstaat und der geschichtlichen Ent¬
wicklung Chinas. Von den vierzig Herrscherhäusern, die seit 180 n. Chr. in
China regiert haben, sind vierundzwanzig nicht-chinesischen Ursprungs, sondern
meist türkischer oder tatarischer Herkunft. Niemals haben sich die Völkermassen
Chinas als politisch einheitliche Nation gefühlt; niemals haben sie die Herr¬
schaft nicht-chinesischer Dynastien als Fremdherrschaft empfunden, sobald sich
diese Herrscher in das chinesische Denken und Kulturleben einfügten, was stets
geschehen ist. Die Chinesen haben fremden Herrschern dieselbe Treue erwiesen
wie einheimischen, sie haben sich im Falle einer Mißregierung gegen chinesische
Dynastien genau so energisch aufgelehnt wie gegen fremde. Der nationale
Gegensatz gegen die Mandschu ist erst 1893 vom Auslande her. von japanischen
Agitatoren, in die revolutionäre Bewegung hineingetragen worden. Die süd¬
chinesischen Reformer, die aus China oft hatten flüchten müssen, wurden erst in
Japan darauf hingewiesen, daß die ihnen verhaßte Regierung der berühmten
Kaiserin-Witwe eine Fremdherrschaft bedeute. Namentlich betonte die japanische
Presse, daß die volksfremden Mandschu als ein den Chinesen geistig und
kulturell weit nachstehendes Volk die chinesische Zivilisation elend verkommen
ließen und jeden Fortschritt, jedes Streben nach besseren Staatseinrichtungen
hemmten. Die Mandschu seien noch halbe Barbaren und Reaktionäre, die
kulturstolze chinesische Nation dürfe ihre Herrschaft nicht dulden. Eine Volks¬
vertretung allein, eine parlamentarische Regierung, werde alle Wünsche Chinas
befriedigen. Neben die japanische Agitation trat der Einfluß einzelner in
Europa und Amerika gebildeter Chinesen. Seit alters ist der Literatenstand
in China die geistig führende Macht. Er hat diese modernen, besonders die
japanischen Anregungen in sich aufgenommen und sich damit zum Stimm¬
führer der Revolution gemacht, während sie den weiteren Kreisen des Volkes
fremd geblieben sind. Der nüchterne und praktische Chinese erkennt aber, nach
altchinesischer Auffassung, den Willen des Himmels am Erfolg. Verfalle der
Staat, so ist seine Dynastie nicht mehr zur Herrschaft berechtigt und muß einer
besseren weichen.
Wie ist nun heute die Lage der Mandschu in Anbetracht dieser Denkweise
der Chinesen? — Zweifellos sehr schlecht. Es läßt sich nicht leugnen, daß das
Herrscherhaus an denselben Schäden erkrankt ist, an denen viele chinesische
Dynastien gestorben sind: Verweichlichung der Männer, Genußsucht, oft Trunk¬
sucht in argem Grade, Verschwendung in unerhörtem Luxus, Weiber- und
Beamtenintrigen am Hofe. Das alles aber würde noch nichts schaden, wenn
nicht im Laufe der letzten Jahrhunderte auch ein arger Verfall des Reichs ein¬
getreten wäre: die Verwaltung ist verwahrlost, das Volk in weitesten Kreisen
verelendet. Das war für den Chinesen schon um 1840 das untrügliche Zeichen,
daß diese Dynastie ihr vom Himmel zugewiesenes „Mandat" verloren hatte.
Man durfte sie also nach chinesischer Auffassung mit vollem Rechte beseitigen.
Der ungeheure Taipingaufstand hätte das auch bewirkt, wenn das Ausland
damals nicht eingegriffen hätte.
Um der Gerechtigkeit willen muß betont werden, daß die Mißstände in
China zum größten Teil nicht die Schuld der Dynastie, sondern darauf
zurückzuführen sind, daß der in ganz altertümlichen Formen lebende Staat mit
dem Ausland in Verbindung trat und ihm gegenüber völlig hilflos war.
Namentlich traten im Handel und Verkehrswesen ganz neue Ansprüche aus,
denen sich China nicht so rasch anpassen konnte. Vor allem fehlte eine Orga¬
nisation des Finanzwesens, das den neuen Ansprüchen gerecht wurde. Die
Europäer aber haben China oft nicht mit der nötigen Vorsicht und Schonung
behandelt, so daß die Stellung dieses auf seiue uralte Kultur stolzen Volkes
in der Welt recht schmählich erschien. Das empfanden die gebildeten Chinesen
sehr stark, während das Volk unter der Teuerung und der Steuerlast litt.
Nach altchinesischer Weise machte man für alles Unglück die Dynastie verant¬
wortlich. Ihre mandschurische Herkunft hat damit nicht das geringste zu tun;
einer chinesischen Dynastie würde es unter solchen Verhältnissen nicht besser
ergangen sein.
Ende der neunziger Jahre begann wieder im Süden Chinas die revolutionäre
Gärung, die natürlich auf einen Sturz der Dynastie hinzielte. Solche Pläne
wurden bekannt, eine Anzahl südchinesischer Revolutionäre flüchteten nach Japan,
von wo aus eine rege Agitation in China betrieben wurde. Unter den jungen
Chinesen, die in Japan studiert hatten, trat 1903 zuerst das politische Schlag¬
wort der Bewegung auf, der alte chinesische Ausdruck „Ko-ming", d. h. „das
Mandat entziehen" — also: Beseitigung der Dynastie und Einsetzung einer
neuen. Dieser Ausdruck traf die Sache genau, er entsprach durchaus der chine¬
sischen Auffassung, er wurde das Symbol, um das sich alle unzufriedenen
Elemente leicht sammelten. Dazu kam noch der alte Gegensatz zwischen dem
Süden und Norden. Es erhebt sich die Frage, ob China in ein Südreich und
ein Nordreich auseinanderfallen, was öfter geschehen ist, oder ob der Einheits¬
staat gerettet werden kann. Das ist das Problem des Bürgerkrieges, der China
bedroht.
Auf diese Bewegung sind dann künstlich die aus dem Auslande importierten
„nationalen Ideen" aufgepfropft worden. Das Volk weiß nichts davon. Ein
Volk von dreihundert bis vierhundert Millionen, das in den Jahrtausenden seiner
Geschichte den nationalen Gedanken niemals besessen hat, kann ihn nicht plötzlich
übernehmen. Daß in der chinesischen Revolution auch politische Probleme eine
entscheidende Rolle spielen, ist sicher; es sind zwei Fragen, um die es sich
handelt: die Verfassungsfrage und der Zentralisierungsgedanke. Auf diese
schweren Fragen der inneren Politik Chinas will ich hier nicht eingehen.
Die Revolution hat sehr verschiedene Ursachen und vor allem auch sehr
verschiedene Ziele, sie ist in sich nicht einheitlich. Alle Antriebe zur Revolution
aber laufen auf eines hinaus: auf den Kampf gegen die Dynastie. Die Massen
erheben sich, weil das Land in Verfall geraten und damit das „Mandat" des
Himmels für die Dynastie verloren ist. Die politischen Kreise des Südens
erheben sich gegen die Dynastie, weil sie dem Norden Chinas angehört. Der
hohe Adel der Provinzen ist gegen die Dynastie, weil sie die Idee des zentra¬
lisierten Einheitsstaates vertritt, der den Interessen des nach Selbständigkeit
strebenden Adels widerstrebt. Endlich die von ausländischen Ideen berührten
radikalen Demokraten wollen überhaupt keine Dynastie mehr haben, sondern die
Republik. Gerade diese Kreise, die die chinesische Republik angeblich ins Leben
gerufen haben, sind die schwächsten.
Was wird das Ende der Bewegung sein? Das ist schwer zu sagen; aber
die chinesische Geschichte gibt doch für die Fragen der Gegenwart sehr lehrreiche
Auskunft. Die auseinanderstrebenden Kräfte in der ungeheuren Völkermasse
Chinas sind stets sehr stark gewesen; nur wenigen ganz großen Herrschern ist
es zeitweise gelungen, diese Massen zusammenzuhalten. Ferner ist sicher, daß
China mit einer Verfassung, wie sie jetzt verkündet wird, nicht zu regieren ist.
Die große Masse des Volkes weiß von Verfassungsfragen garnichts und will
auch nichts weiter, als in geordneten Verhältnissen ihrem Erwerb nachgehen.
Die Erfahrungen in den chinesischen Provinzialtagen haben gezeigt, daß die
Chinesen noch Jahrzehnte der politischen Arbeit bedürfen, ehe sie politische
Aufgaben wirklich erfassen und ihre persönlichen Interessen unterordnen können.
Wenn aber die Dynastie wirklich völlig schwindet, dann tritt erst die
kritische Lage ein. Die revolutionäre Bewegung ist in ihren Zielen zu wenig
einheitlich. Schon jetzt treten die Gegensätze hervor. Ist der gemeinsame Feind,
die Dynastie, beseitigt, dann wird jede Richtung ihr besonderes Ziel verfolgen,
dann droht ein Kampf, bis schließlich der Stärkste Sieger bleibt. Welche Macht
die Republik China zusammenhalten, die Gegensätze der Interessen überwinden
soll, das ist nicht abzusehen. Der Kampf der Provinzen untereinander, der
China schon oft erschüttert hat, droht bereits heute.
Aber der Ausgang kann auch ganz anders sein. Schließt sich der Süden
zu einer Republik zusammen, so könnte sich der politisch besser organisierte
Norden zu einem monarchischen Staate zusammenfinden, der die revolutionäre
Bewegung im Süden sich selbst erschöpfen lassen kann. Die ganze Frage ist
an ein Unberechenbares, an das Hervortreten einer Persönlichkeit geknüpft, die
in den Ereignissen die Führung übernehmen kann. So jämmerlich sich der
einst stolze Kriegeradel der Mandschu und vor allem die Dynastie selbst benommen
hat, an der Festigkeit und Ruhe des Nordens kann sich der Staat wieder
aufrichten. Ob der kühne, eminent kluge und rücksichtslose Realist der Politik
Juan-fehl-kai diese Aufgabe löst, wissen wir heute noch nicht, die Fähigkeit
dazu hätte er.
Eine dauernde Republik China aber halte ich für eine Unmöglichkeit. Wie
ich ausgeführt habe, ist das chinesische Reich ein Universalstaat von religiösem
Charakter. Den Staat vertritt der Kaiser vor allem auch als Priester. Ohne
den Kaiser ist der ganze religiöse Grundcharakter des Staates undenkbar. Die
Republik würde nur dann möglich sein, wenn sich alle grundlegenden An¬
schauungen der Chinesen, vor allem das System des religiösen Denkens, völlig
ändern würden. Daß sich durch Jahrtausende gefestigte Überzeugungen so rasch
und tief wandeln sollten, ist aber für ein Millionenvolk unmöglich. Vielleicht
ist das Ende eine neue Dynastie in China; denn an dem Ende der Mandschu,
die offiziell die Abdankung, den Verzicht auf den Thron, ausgesprochen haben,
ist kaun, zu zweifeln. Die Möglichkeiten der künftigen politischen Gestaltung
Chinas sind so vielfältig und liegen noch so völlig im Dunkel, daß auch hier
Prophezeien ein gewagtes Unternehmen wäre. So viel scheint heute sicher zu
sein: nicht der Radikalismus des Südens, sondern die konservativen Kräfte
des Nordens werden die Zukunft Chinas bestimmen. Von geschichtslosen
Theorien und volksfremden Ideen kann auf die Dauer ein Staat wie China
nicht leben.
Wir haben damit nur die historische Bestimmtheit und Eigenart der
chinesischen Revolution berührt. Es fehlt noch eine, zu ihrer Ergänzung not¬
wendige Betrachtung, nämlich die Psychologie der Kreise, die an den Kämpfen
beteiligt sind. Auch hier ergibt sich ein höchst verwickeltes, vielfach abgestuftes
Bild der ringenden Kräfte, das vor allem durch wirtschaftliche und soziale
Zustände bestimmt ist. Seine Ausführung soll die Aufgabe einer späteren
Darstellung in diesen Blättern sein.
n dem furchtbaren „Memorial", das Hebbel Ende Mai 1840 an
seine „Wohltäterin" Amalia Schoppe, geb. Weisse, richtete, schildert
er unter anderem seine „Lage in Dithmarschen", wobei er zwischen
seinen Pflichten gegenüber den: Amt und gegenüber seiner dichterischen
Entwicklung unterscheidet; er hebt das Zeugnis seines „Prinzipals"
hervor, das ihm „nicht die gewöhnliche, sondern die ausgezeichnetste Pflichterfüllung
^bestätigte", und fährt dann fort: „Meine Stellung war bürgerlich gesichert, ich
konnte, um mich Ihres verletzenden Ausdrucks zu bedienen, ohne Sie bestehen,
und bei dem allgemeinen Vertrauen, das man mir in öffentlichen Geschäften
bewies, bei der Aufmerksamkeit, die ich noch ganz in der letzten Zeit durch einen
publicistischen Aufsatz erregte, durfte ich auch für die Zukunft auf eine ehrenvolle
Existenz rechnen."
Dieser Aufsatz war bisher nicht nachzuweisen und die Vermutung, daß es
sich um das Gedicht auf die Schlacht von Hemmingstedt handle, stimmte kaum
zu dem Ausdruck des „Memorials"; darum bezeichnete ich in meiner Hebbel-
biographie (S. 36) diesen „publizistischen Aufsatz" als unbekannt. Hebbel selbst
gedenkt seiner nicht wieder und aus den zugänglichen Quellen war nichts zu
schöpfen. Eine neue genaue Durchsicht des Dithmarscher und Eiderstedter Boten,
an dem Hebbel so eifrig mitarbeitete, ergab kein anderes Resultat als die frühere,
wohl aber machte sie mich auf zwei Zeitschriften aufmerksam, die damals in
Hebbels Vaterländchen erschienen: die Schleswig-Holsteinischen Anzeigen und
die Dithmarsische Zeitung. Nach gütiger Mitteilung der Königlichen Unwersitäts-
bibliothek in Kiel, sie befilzte die „Anzeigen" von 1750 bis 1911, die „Zeitung"
vom 1. —17. Jahrgang (1832 bis 1848), erbat ich und erhielt bereitwilligst
von beiden Zeitschriften die in Betracht kommenden Bände 1832 bis 1836
hierher. Die „Anzeigen" (Glückstadt, gedruckt bei Jos. Wilhelm Augustin)
enthalten nur amtliche Bekanntmachungen und bieten nicht den geringsten Anhalts-
punkt für eine Mitarbeit Hebbels. Die Dithmarstsche Zeitung, in „Heide, in
der Dithmarscher Buchhandlung" erschienen, von F. Pauly in Heide heraus¬
gegeben und verlegt, bei Bade u. Fischer in Friedrichstadt gedruckt, gleicht weder
den Schleswig-Holsteinischen Anzeigen, noch dem Dithmarscher und Eiderstedter
Boten, nimmt vielmehr eine Art Mittelstellung ein; sie bringt amtliche Bekannt¬
machungen nur an zweiter Stelle, vermeidet aber die Mitteilung von Gedichten,
Erzählungen und unterhaltenden Beiträgen, sucht vielmehr durch Aufsätze bessere
Kenntnis von Dithmarschen zu verbreiten, einen ernsteren Ton festzuhalten und
gebildeten Lesern zu entsprechen. In dieser Zeitung nun begegnet uns zwar
kein Aufsatz mit Hebbels Namen, wohl aber in Ur. 2 des „Vierten Jahrgangs".
Sonnabend, den 10.Januar 1835 einer, unterzeichnet: „Jorick"; dieses Pseudonym,
freilich mit dem Zusatz „Avrial-Sterne-Monarch der Alte" kennen wir aus
demi Boten als einen Decknamen Hebbels. Also wenigstens eine Möglichkeit,
daß er der Verfasser sei. Im „Memorial" schließt an die angeführte Stelle
über den „publizistischen Aufsatz" die Bemerkung: „Aber es kam mir vor, als
wenn der Aktenstaub in mir einen Dichter erstickte, und da es unbezweifelbar
ein Unglück ist, wenn der Mensch seine höchsten Kräfte zum Dünger der niedrigen
hergeben muß, so hatte ich ein Recht mich unglücklich zu fühlen." Daraus
konnte man schon schließen, daß der „publizistische Aufsatz" mehr an den Akten¬
menschen als an den Dichter erinnert habe; aber freilich außer dem Pseudonym
und dem Datum des Erscheinens „ganz in der letzten Zeit" vor seinem Scheiden
aus Dithmarschen (am 14. Februar 1835) hätten nur stilistische Gründe für
Hebbels Autorschaft angeführt werden können. Zufällig erhielt ich aber durch
Herrn Dr. Dietrich von Kraut in Wien Einblick in einige Blätter von Hebbels
Hand, auf denen weiteres Material zu seiner Selbstbiographie verzeichnet ist;
darin gedenkt Hebbel u. a. einer Szene mit seinem Prinzipal, dem Kirchspielvogt
I. I. Mohr „über den Aufsatz in der Diesen. Zeitung." bekennt sich also
selbst zur Mitarbeiterschaft an diesem Journal. Das erhöht natürlich die Wahr¬
scheinlichkeit ganz bedeutend, daß wir in nachstehendem Aufsatz den verloren
geglaubten, im „Memorial" erwähnten besitzen. Er steht: Dithmarstsche Zeitung.
Vierter Jahrgang. Ur. 2. Sonnabend, den 10. Januar 1835. Spalte 12 bis 15
(4°) und lautet:
Er ist kein Norderdithmarscher.
In Ur. 97 des Kieler Correspondenzblatts ist ein Aufsatz abgedruckt, dessen
Verfasser es sich eifrig angelegen seyn läßt, die Creditlosigkeit in Norderdith-
marschen durch Uebertreibungen aller Art zu vermehren. Der gute Mann ist
aber glücklicherweise des heiligen Eifers all zu voll gewesen, sein Aufsatz widerlegt
sich selbst, denn wer die zweite Periode, gleich im Anfange, nach welcher in der
Norderdithmarsischen Marsch keine Hypothek für irgend ein Capital (also z. B.
keine 100 Morgen für 100 Mk.) die geringste Sicherheit gewähren soll, gelesen
hat und dann nur so viel vom Dithmarschen weiß, daß es zum Königreiche
Dänemark gehört und sich daher doch wirklich nicht mehr in gesetzlosem Zu¬
stande befindet, der wird leicht ermessen, was er von des Verfassers übrigen
Anführungen zu halten hat. Er dürfte Solchemnach durch seine Aeußerungen
über Norderdithmarschens Creditlosigkeit höchstens die Creditlosigkeit seiner eigenen
Intelligenz befördert haben und es wird schwerlich einem Betheiligten ein¬
fallen, einen so unschuldigen Feind, der sich auf die ungeschickteste Weise in
seinem eigenen Schwert verwundet, zu bestreuen; ich wenigstens bin weit entfernt,
gegen diesen Schneemann, der am Sonnenschein von selbst zerschmilzt, zu kämpfen.
Aber es läuft ein Gerücht, wornach ein Norderdithmarscher Verfasser jenes Auf¬
satzes gewesen seyn soll und ich glaube meine Landsleute zu verbinden, wenn
ich einleuchtend zu machen suche, daß dies unmöglich der Fall seyn kann. Hiefür
aber habe ich zwei Gründe, die mir Beide der Art scheinen, daß es nicht der
Auffindung mehrerer bedarf. Einestheils pflegt jeder Mensch für das Land,
in welchem er geboren wurde und an welches sich seine liebsten Erinnerungen,
die Erinnerungen an die Kindheit, knüpfen, eine gewisse Anhänglichkeit — der
humane Verfasser des hier besprochenen Aufsatzes wird mir doch einräumen
müssen, daß ich mich gemäßigt über Sachen des Gefühls ausdrücke? — zu
empfinden. Diese Anhänglichkeit soll, wie man die Erfahrung gemacht haben
will, selbst in einer rohen Brust niemals erlöschen; sogar für den Scythen war
es eine schwere Strafe, aus seinem Vaterlande verbannt zu werden und edle
Seelen haben nie eine härtere gekannt. Wer aber annimmt, daß der Verfasser
des mehrberegten Aufsatzes, in welchem nicht etwa ein bestehender Mißbrauch
gerecht und würdig getadelt, sondern über den Credit jedes Einwohners in
ganz Norderdithmarschen auf eine wenig geziemende, über die Hindernisse
desselben auf eine schnöde und beleidigende Weise abgesprochen wird, ein
Norderdithmascher sey, der muß zugleich annehmen, daß es ihm an der gedachten,
doch so natürlichen Liebe zu seinem Vaterlande ganz und gar fehle und daß
ihn dagegen ein schwer zu erklärender Haß gegen dasjenige, was selbst der
Wilde liebt, erfülle. Dies anzunehmen, ehe und bevor es unwiderleglich erwiesen
ist, scheint mir eine große Unbilligkeit, wenn ich gleich wohl weiß, daß das
gegenwärtige Zeitalter nicht das Zeitalter des Patriotismus ist und wenn ich
gleich weit entfernt bin, mir von der Urbanität des Verfassers einen all zu
starken Begriff zu machen. Der Sohn, welcher seine Mutter nur bloß nicht
schmähen und schlagen soll, bedarf, um diese Tugend zu üben, auch doch eben
nicht eines ungewöhnlichen Grades kindlicher Liebe.
Den zweiten Grund dafür, daß der Verfasser kein Norderdithmarscher
seyn könne, nehme ich aus dem Beispiele her, welches er zum Beweise seines
Ausspruchs über Norderdilhmarschers Creditlosigkeit aufstellt. Er spricht von
einen: Fall, in welchem Jemand von 2000 Rthlrn., die in erster Priorität gegen
einen Hypothekenwert von reichlich 120000 Mark belegt waren, keinen Schilling
geborgen habe und will daraus die gänzliche Unsicherheit Norderdithmarsischer
Marschhypotheken folgern. Bei dieser Folgerungsweise dürste freilich keine
andere gänzliche Unsicherheit, als die des Schlusses, vorliegen; indeß scheint der
Verfasser, was seinem Scharfsinn keine Schande macht, dies selbst gefühlt zu
haben, indem er, um seinen Schluß etwas fester zu stellen, im Vorbeigehen
einer unzähligen Masse ähnlicher Thatsachen erwähnt, von denen er jedoch
großmüthig zugiebt, daß sie nicht völlig so eclatant seyen. Was diese unzählige
Masse ähnlicher Thatsachen anlangt, so hat der Verfasser es wohl nicht so genau
genommen, als er sie unzählig nannte, was aber den erstberegten Fall betrifft,
so hat er die besonderen Umstände, welche denselben begleitet haben, gewiß
nicht im Entferntesten gekannt, da er ihn sonst, wie ich zu seiner Redlichkeit
hoffe, sicherlich nicht zum Probirstein der Norderdithmarsischen Creditlosigkeit
gemacht haben würde, und hieraus darf ich mit allem Rechte schließen, daß er
kein Norderdithmarscher ist. In Norderdithmarschen gehörte und gehört jener
Fall nämlich — was die obige Behauptung des Verfassers, eine unzählbare
Masse ähnlicher Thatsachen zu kennen, nicht besonders unterstützen dürfte —
zum Tagsgespräch, und wenn der Verfasser von den bei Beurtheilung des¬
selben in Betracht zu ziehenden Verhältnissen nur so viel, wie sast jeder einiger¬
maßen gebildete Norderdithmarscher, gewußt hätte, so würde er sich nicht
gewundert haben, daß über 100 Morgen wüsten, durch Jahre lange schlechte
Bewirthschaftung gänzlich verwilderten und jeden Käufer abschreckenden Landes,
welches stets zu der geringsten Bodensorte im ganzen, betreffenden Kirchspiel
gehörte, bei den zur Zeit des Verkaufs so äußerst niedrigen Kornpreisen fast
umsonst weggeschlagen werden mußten.
Dies scheint mir zur völligen Widerlegung des Eingangs erwähnten
Gerüchts hinreichend. Der Verfasser ist vielleicht ein Mann, der selbst in Norder¬
dithmarschen bedeutende Capitalien verlor, und dann ist er entschuldigt. Die
Fabel spricht freilich von einem Bären, der vor Hunger aus einem Walde
weglaufen mußte und den Wald nun mörderlich schimpfte, allein, Fabeln erzählt
man den Kindern und dann — das war auch ja ein Bär! So viel ist
zwar gewiß, der Mensch schließt leicht von sich und seiner Lage auf Andere und
es soll Thoren gegeben haben, die sich, weil sie selbst in einem Lande oder
Ort keinen Credit hatten, durch ihre Eitelkeit zu dem Schluß verleiten ließen,
daß der Grund davon in der Localität liege und daß allgemeine Credit¬
Der Angriff des Kieler Correspondenzblattes regte die Norderdithmarscher
ungeheuer auf und rief eine ganze Reihe von Erwiderungen hervor. Avrial
war einer der ersten Verteidiger seines Vaterlandes, nur der Wesselburener
Advokat E. Knötel begann schon acht Tage vor ihm in der Ur. 1 der Dies-
marsischen Zeitung eine Artikelserie, die sich dann noch längere Zeit hinzog;
auch andere mischten sich ein und alle bestätigen, daß die von Dorick hervor¬
gehobenen Gründe stichhaltig seien. Für Hebbels Verfasserschaft kommt haupt¬
sächlich der Schluß des Aufsatzes in Betracht, das Verwerten einer Fabel,
wodurch die Auseinandersetzung, des trockenen Tones satt, sich plötzlich auf¬
schwingt. Auch die Art der Polemik stimmt mit dem, was wir in dieser
Hinsicht aus Hebbels Mitarbeit am Dithmarscher und Eiderstedter Boten kennen.
Es ist darum wohl kein Trugschluß, wenn ich hinter dem Pseudonym „Avrial"
auch hier Hebbel vermute und in dem vorstehenden Artikel jenen „publizistischen
Aufsatz" gefunden zu haben glaube, durch den Hebbel „noch ganz in der letzten
Zeit" seiner Wesselburener Jahre „Aufmerksamkeit" erregte. Es hat etwas
Versöhnendes, daß er von seinem Vaterland mit einem warmen Wort der
Verteidigung schied, wie sehr er sich auch freute, den engen Verhältnissen ent¬
fliehen zu können.
Der Grundgedanke des Verfassers würde
in wenig Worten etwa folgendermaßen zu
formulieren sein: Sämtliche bildenden, d. h.
im Raume schaffenden Künste, wie verschiedene
Ziele sie auch verfolgen und mit wie ver¬
schiedenen Mitteln sie arbeiten, die eine durch
Zeichnung oder Auftragen von Farben auf
einer Fläche darstellend, die andere die kör¬
perliche Gestalt von Objekten meist ohne
Farbe wiedergebend, die dritte überhaupt
nicht „darstellend", sondern räumliche Struk¬
turen, sei es zu Praktischen Zwecken, sei
es ihrer unmittelbaren, nicht imitativen Form¬
wirkung halber erzeugend, — sie alle haben
doch das gemein, daß sie eine bestimmte
Nnumanschauung, den Eindruck bestimmter
räumlicher Verhältnisse hervorbringen wollen.
Um diese Absicht zu erreichen, müssen sie ge¬
wisse Regeln befolgen, welche in den Psycho¬
logischen Gesetzen der Raumwahrnehmung be¬
gründet sind. Die Zahl der Regeln wird
aber dadurch eingeschränkt, daß auch der Archi¬
tekt und der Plastiker sich nicht begnügen können,
die intendierte Raumvorstellung und also den
Kunstgenuß für die allseitige, gleichsam am¬
bulatorische Betrachtung des Werkes zu er¬
möglichen, sondern daß sie die Pflicht haben,
Bauwerke und Skulpturen so zu gestalten,
daß von einem einzigen Punkte aus die Form
voll und richtig erfaßt wird. Die Füllungen,
Teilungen, Überschneidungen usw,, die uns
in Gemälden und flächenhaften Ornamenten
die ideellen oder wirklichen Raumverhältnisse
erkennen lassen, sind daher ebensogut beim
Anblick von architektonischen und plastischen
Gebilden als „Raumklärungs"- oder „Raum-
ablesungs"-Mittel von Bedeutung. Es wäre
kein Vorzug, sondern ein Fehler, wenn eine
Kunstschöpfung dieser Art, von allen Rich¬
tungen aus gesehen, gleich gut wirken würde.
Der Künstler muß sein Werk bilden mit Rück¬
sicht auf einen im vorhinein fixierten Stand¬
punkt des Beschauers oder es dürfen diesem
Beschauer höchstens einige wenige, sozusagen
gleichberechtigte Standpunkte angewiesen wer¬
den. Die wahrhaft künstlerische Impression
liefert das „Fernbild", bei dem man nicht
nur die Aufstellung gegenüber dem Kunst¬
werke, sondern sogar die Blickrichtung un-
verändert festhält und gleichwohl oder vielmehr
gerade durch Erfüllung dieser „Ansichtsforde¬
rung" der höchsten ästhetischen Wirkung teil¬
haftig wird.
Diese bedeutsamen Hauptideen, in welchen
jedenfalls ein nicht zu unterschätzender Wahr¬
heitskern steckt, heben sich nun bei Cornelius
von dem Hintergrunde noch weitergehender,
aber auch in viel höherem Maße anfechtbarer
Vorstellungen ab. Weil ein und derselbe
Gegenstand sehr vcrschiedenwertige Ansichten,
gute und sofort über seine Raumform orien¬
tierende wie schlechte, verzerrte und irreführende
gewähren kann, sieht der Verfasser die wahre
Aufgabe der bildenden Kunst darin, uns glück¬
lichere Bilder oder Gestalteindrücke von den
Dingen zu verschaffen, als die zufällige Be¬
gegnung in der Wirklichkeit häufig darbietet.
Auf diese Art verwandeln sich die im Grunde
bloß technischen Regeln der Schilderung räum¬
licher Formen in letzte kunstästhetische Prin¬
zipien: die eindeutige, nicht zu verkennende
Offenbarung einer bestimmten Gestalt ist das
Wertvolle, auch wenn die Gestalt weder an
sich schön ist, noch als die treffende, charak¬
teristische Darstellung eines natürlichen Vor¬
wurfes erscheint, und die tieferen Gründe
des Wohlgefallens an Kunstwerken, die frei¬
lich je nach der Gattung der Werke ganz
verschiedenen Bereichen angehören, hier die
Treue der Darstellung, dort der direkte For¬
menreiz, noch anderswo die unmittelbar auf¬
gefaßte Zweckmäßigkeit usw., werden bei dieser
Betrachtungsweise ignoriert, die eigentlichen
ästhetischen Faktoren also ausgeschaltet. Wie
es aber Cornelius unterläßt, die Technik der
Produktion von Gestalten, welche aus irgend¬
einem Grunde künstlerischen Reiz haben, von
eben diesen: Grunde zu sondern, so verschlägt
es ihm auch nichts, ob die Raumbilder, welche
die Kunst hervorruft, bloß geschickte Täu¬
schungen sind, wie z. B. der Eindruck man¬
cher architektonischer Bildungen, welcher ab¬
sichtlich von den objektiven Raumverhältnissen
der Werke nichr oder weniger differiert,
und wie gar das Raumbild der Gemälde¬
figuren, wo erst die Phantasie das zur tat¬
sächlichen Gleichheit mit dem gemalten Gegen¬
stande in räumlicher Beziehung Fehlende er¬
gänzen muß, oder ob einfach die Anschauung
der Form, welche das Kunstwerk als realer
Gegenstand besitzt, auch im Beschauer erweckt
werden soll. Diese Andeutungen müssen ge¬
nügen, auf das Bedenkliche in manchen Lehren
von Cornelius hinzuweisen, dessen Buch trotz
alledem zu den interessantesten und lesens¬
wertesten Erscheinungen unserer ästhetischen
Literatur zählt.
Das Verhältnis zwi¬
schen Dichter und Darsteller ist beim Theater
nicht immer das beste. Hat ein Stück Erfolg,
so liegt das am Stück, d. h, der Erfolg ist
das Verdienst des Dichters, fällt es durch,
haben es die Schauspieler in Grund und
Boden gespielt. In jenem Falle gibt der
Autor gnädig zu, daß die Darstellung unter der
„bewährten Leitung"desbetreffenden Regisseurs
den Erfolg mit herbeigeführt haben könne,
und spendet Darstellern und Leiter Körnchen
oder Scheffel Lobes, je nachdem. Der Ver¬
fasser eines durchgefallenen Stückes bedankt
sich Wohl nur selten für die „vorzügliche" Dar¬
stellung. Umgekehrt denken und reden die
Schauspieler; einen Erfolg haben sie gemacht,
einen Durchfall hat der Dichter verschuldet:
„Ich Hab's ja gleich gesagt, das war ja vor¬
auszusehen." Wo es doch beim Theater immer
„anders" kommt, und niemand weniger Kritik
hat als der Schauspieler! — Woher dieser
Gegensatz, dieses oft recht unerquickliche Ver¬
hältnis? Etwa daher, daß Dichter und Dar¬
steller verschieden zum Theater stehen, nicht
dasselbe suchen, und nicht immer jeder das
Seine findet? Ist das Theater als Begriff
und als Wirklichkeit um der Dichter oder um
der Schauspieler willen da? Ich behaupte,
seinein Wesen nach um der Schauspieler willen,
und muß versuchen, diese Behauptung zu be¬
gründen.
Die eigentümliche Aufgabe des Schau¬
spielers ist, kurz gesagt, die: aus zweien eins
zu machen. — Eins machen, eine Einheit, ein
Ganzes schaffen, soll doch aber jede Kunst?
Freilich, aber kein Komponist z.B., kein Dichter,
kein Bildhauer, kein Maler usw. bildet mit
seiner greifbaren Körperlichkeit einen wesent¬
lichen, ja den wesentlichsten Teil jenes einheit¬
lichen Ganzen, das als Kunstwerk des Ohren¬
oder Augenscheins hörbar oder sehvar werden
soll. Musiknoten sind willkürliche, sinnbild¬
liche Zeichen, und das in ihnen geschriebene
Tonstück löst sich eben dadurch vom Kom¬
ponisten ab; seine Person wird ganz gleich¬
gültig, und der Geübte bedarf zum Genusse
nicht einmal der tönenden Vermittlung von
seiner oder dritter Seite: er liest mit den
Augen und hört mit dem inneren Ohr. Ebenso
ist eS mit Dichter, Bildhauer und Maler:
was kümmert uns die wirkliche Persönlichkeit
des Dichters, wenn wir seine Werke lesen oder
lesen hören, was der soundso aussehende Bild¬
hauer A. oderMalerB., wenn wir ihre Plastiker
und Bilder betrachten? Auch die nachschaffenden
Künstler machen keine Ausnahme: es ist voll¬
kommen gleichgültig, ob dieser Klavierspieler
groß, jener klein ist, ob Violinist I einen Bart
trägt und II nicht, ob der Sänger A. blond,
der Vortragende B. braun ist usw. Ja, man
brauchte Künstler dieser Art überhaupt nicht
zu sehen; würde nur der Gehörszweck erreicht,
auf den Anblick ihrer Körperlichkeit könnten
wir verzichten, wenn — es ihnen und dem
Publikum auf die Sache und nicht auf die
Person und auf Persönliches ankäme! Zur
Hervorbringung des einheitlichen Kunstwerks,
der einheitlichen Leistung, müssen freilich alle
jene Künstler mit ihrer Person da sein oder
dagewesen sein, aber ihre Körperlichkeit bildet
keinen unabtrennbaren Teil. Die angeschla¬
genen Klavier-, abgestrichenen Geigentöne, die
gesungenen, gesprochenen, gelesenen Worte, die
Bilder und Plastiker lösen sich in ihrer Ge¬
säme- und Ganzheit vom Künstler ab, ver¬
selbständigen sich und treten zwischen ihn und
das Publikum. Schließlich hält der moderne
Phonograph den Klang der Instrumente und
die menschliche Stimme mit einer Vollkommen¬
heit fest, welche die Technik immer noch zu
steigern trachtet. Ich kann Klang und Stimme
in meinem Zimmer zu Gehör bringen; ich
brauche den betreffenden Künstler niemals ge¬
sehen zu haben, weder in Wirklichkeit noch im
Bilde, brauche nicht einmal zu wissen, wessen
Spiel oder Stimme aus dem Schalltrichter
tönt — vermag ich von: Mechanischen des
Ganzen abzusehen, kann ich sehr Wohl einen
Genuß haben, freilich nur einen stellvertreten¬
den, mittelbaren, einen Genuß aus zweiter
Hand. Nun gibt eS aber schon eine Ver¬
bindung von Phono- und Kinematograph,
sprechende, singende und sich bewegende
scheinbar „lebende Bilder", eine zeitlich-räum¬
liche Verbindung von Ton und Gebärde, eine
mechanische Schauspielkunst, denn was ist die
Schauspielkunst anderes als eine solche Ver¬
bindung? Aber diese Phono-kinematographische,
diese „biophone" Kunst, ist eine zweite „Schau¬
spielkunst" und ohne Voraussetzung der „ersten",
unmöglich.
Ist die Körperlichkeit der wesentlichste Faktor
bei der Schauspielkunst, so ist das Publikum die
wichtigste Boraussetzung zur Ausübung dersel¬
ben. Der Schauspieler „spielt zur Schau", er
will gesehen werden, sei es auch nur von einem
einzigen. Ein auf die „Schau" verzichtender
Schauspieler ist ein Widerspruch in sich; nicht
so der auf das Gelesen-, Gehört- und Be¬
trachtetwerden verzichtende Dichter, Komponist,
Maler und Bildhauer. Ihr Schaffen ist ein
„Hervorbringen aus dem Schatz des Herzens",
ein Sich-befreien und -entladen von Eigensten
und Allgemeinsamem. Liebäugeln mit dem
Publikum hat ihnen noch immer geschadet.
Der Schauspieler aber spielt für ein und vor
einem Publikum, und wenn er sagt, das
Spielen sei ihm nur Mittel und Form sich
auszusprechen, die wahre Bühne sei nicht die
Wirkliche, sondern sein einsames Zimmer und
das ideale Publikum die eigene Phantasie, so
ist er ein Jdeologe, ein guter Mensch, aber
ein schlechter Musikant. Man ist Schauspieler
für die Bühne und auf der Bühne, oder man
ist es überhaupt nicht riic kikoclusl Eine
bloß rhetorische Begabung genügt für den
Vortragskünstler, nicht für den Schauspieler.
Der Unterschied zwischen Vortragspodium und
Bühne darf nicht verwischt werden, Konzert¬
sänger und Rezitatoren sollen nicht Schau¬
spielern, und Bühnenkünstler machen im Kon¬
zertsaal nicht immer eine glückliche Figur.
Der Schauspieler macht sein Geistig-Körper¬
liches, seine Persönlichkeit, sich selbst zum Kunst-
Werk, ist Schöpfer und Geschöpf, Subjekt und
Objekt, Ich und Nicht-Ich, Eins und Zwei,
ganz und geteilt, oder wie man sich sonst
ausdrücken will. Und in dieser seiner Per¬
sönlichkeit ist seine sehbare Körperlichkeit schlecht¬
hin unentbehrlich. Sie ist das eine Element,
aus dem sein Genius das räumlich-zeitliche
Kunstwerk des Augen- und OhrenscheinS")
gestaltet. Das andere ist das Phantasie¬
scheinhafte Geschöpf des Dichters. Die Ge¬
fühle dieser ideellen Person sind natürlich nicht
die des Schauspielers; Furcht, Mitleid, Liebe,
Haß, Zorn, Stolz, Demut usw. hat er als
Mensch gewiß schon oft empfunden, ob erste
aber auch beim Studieren und namentlich beim
Spielen einer Rolle, d. h. als Künstler em¬
pfindet, darüber gehen die Meinungen bis zum
schroffsten Gegensatze auseinander. Hier sei
nicht weiter darauf eingegangen, sondern nur
bemerkt, daß vom Schauspieler nicht zu for¬
dern ist, er solle das was er ausdrückt wirk¬
lich fühlen; er soll nur den Schein erwecken,
als ob er das was er ausdrückt wirklich fühlt.
Nicht darin bestehen Kunst und Aufgabe, aus¬
zudrücken was er fühlt, sondern was er nicht
fühlt, sich nur in der Phantasie vorstellt
(Lange, „Das Wesen der Kunst" I, 107).
Das eigentliche „Schaffen" freilich geht auch
beim Schauspieler im Unbewußt-Bewußten vor
sich, nur sein Ergebnis wird als rann-zeitliche
Erscheinung seh- und hörbar, d. h. als im
wirklichen Raume, stetig doch unterbrechbar,
Moment nach Moment „Setzende" Tätigkeit,
die als solche eine ewige Gegenwart ist und
doch beständig zur Vergangenheit wird.
Ich hoffe nicht für einen Anwalt des
Schauspielergrößenwahns gehalten zu wer¬
den, wenn ich nach alledem behaupte: das
Werk auch des größten Dichters dient dem
Schauspieler als solchem nur als Material,
das mit seiner Körperlichkeit durch geistige
Synthese zur Plastik des schauspielerischen Kunst¬
werkes verarbeitet werden soll. „Hamlet",
„Tartüff", „Faust", „Wallenstein", als Stücke
wie als Rollen, sind für den Schauspieler nichts
als Gelegenheitsursachen, nichts als Mittel
zum Zweck. Und jede Phantasiegestalt eines
Dramatikers lebt ein sichtbares, wirklich-un¬
wirkliches Leben nur im bewegten, sprechenden
Leibe des Schauspielers. Insofern ist der
Schauspieler Herr über den Dichter, und ich
sehe nicht, wie diesem Schlüsse zu entgehen
ist, wenn man zugibt, daß die Schauspielkunst
eine spezifische Kunst ist. Vom Standpunkt
des Dichters ein „Diener am Wort", von
seinem eigenen ein Herr — das ist der Schau¬
spieler! — Wer Rang und Wert seiner Kunst
ist damit noch nichts gesagt, nur sein Wesen
scheint nur treffend ausgedrückt.
Man wird sagen, dieses „Erst komme ich"
und „Ich bin ich", sei die Losung des „Ko¬
mödianten". Aber erstens erkennen die Schau¬
spieler ihre Abhängigkeit vom Dichter im all¬
gemeinen sehr Wohl an, verlangen aber da¬
gegen, auf ihrem eigentümlichen Gebiete als
selbständig respektiert zu werden (Devrient,
„Geschichte der deutschen Schauspielkunst" I,
3S7); zweitens ist dies Verlangen durchaus
nicht dasselbe wie das eifersüchtige Streben
des „Stars", alles was „gut und teuer" ist
selbst zu spielen und jedes Stück mehr oder
weniger in Soloszenen und Monologe zu zer¬
pflücken; und drittens hat es noch keinen „Voll-
blut"Schauspieler gegeben, der nicht in dem
oben entwickelten Sinne „Komödiant" gewesen
wäre. Der Begriff ist überhaupt so wenig
einfach, daß er am Schlüsse eines zu anderem
Zwecke geschriebenen Aufsatzes nur gestreift
werden kann und künftiger Untersuchung vor¬
behalten bleibe. Dr. Max Büsing-Lriedenau
Hermann Kretzschmar: „Geschichte des
neuen deutschen Liedes." 1. Teil: von Albert
bis Zelter. Leipzig, Breitkopf u. Härtel, 1911.
In der Musikgeschichte mangelt es noch
immer an Büchern, die nicht nur den Fach¬
mann interessieren, sondern die auch dem kunst¬
freudigen Laien als Lektüre empfohlen werden
können. Unter den wenigen Musikhistorikern,
die für ein größeres Publikum schreiben, steht
Hermann Kretzschmar heute an erster Stelle.
Die besondere Anziehungskraft seiner Schriften
beruht neben einem ganz ungewöhnlich schönen
und klaren Stil darin, daß Kretzschmar das
musikalische Thema, das er behandelt, nie mit
einem pedantischen Pfahlzaun absteckt, sondern
im Gegenteil von seinem Gebiet nach allen
Seiten Umschau hält, wo sich etwa Beziehungen
zu jenem finden, und wo wiederum Einwir¬
kungen von ihn: zu bemerken sind. Neben
den anderen Künsten ist es besonders die
Politik, die Kretzschmar zur Beleuchtung seines
musikwissenschaftlichen Vorwurfes mit heran¬
zieht. Deshalb verschlägt es auch nicht viel,
Wenn ihm gelegentlich einmal ein historisches
Versehen unterläuft! die Art, wie Kretzschmar
seineThemata behandelt, sichert seinen Schriften
schon allein eine hohe und bleibende Be¬
deutung.
In dem vorliegenden Werke tritt dies be¬
sonders zutage. Eine Geschichte des neuen
deutschen Liedes scheint zunächst auf allgemeines
Interesse wenig Anspruch zu haben, zumal wenn
wie hier die Notenbeispiele bis aufs äußerste
beschränkt sind. DaS Lied, könnte man meinen,
nimmt wegen seiner, im Verhältnis zu den
anderen musikalischen Gattungen sehr kleinen
und beschränkten Form, in der Musikgeschichte
eine ziemlich untergeordnete Stellung ein, da
bei ihm von historischer Entwicklung sowie
prägnanten Stilperioden Wohl nur in beschei¬
densten! Maße die Rede sein kann. Kretzschmar
weist nun sehr anschaulich nach, daß dem keines¬
wegs so ist. Wie er schon bei früherer Ge¬
legenheit immer wieder betont hat, daß das
Lied als die ursprünglichste und volkstüm¬
lichste musikalische Form eine ganz besondere
praktische und auch wissenschaftliche Pflege er¬
fordere, so nennt er es auch zu Anfang dieses
Buches „den Hauptkanal, durch den höhere
Kunst ins Volk fließt" und macht „eine Ge¬
neration, die in hochmütiger Beschränktheit
drauf und dran ist, Musik mit .Konzert zu
identifizieren," an einer späteren Stelle ein¬
dringlich auf die Meisterschaft aufmerksam, die
auch das einfachste Lied enthalten kann.
Der erste große Förderer des deutschen
begleiteten Svloliedes findet sich in Heinrich
Schütz, der auch der Schöpfer des deutschen
geistlichen Konzertes und der deutschen Oper
ist. Dessen Neffen Heinrich Albert verdankt
das Lied seine feste Stellung, die es nun schon
fast dreihundert Jahre in der deutschen Kunst
behauptet. Bei etlichen Liedern Alberts zeigt
sich ein deutlicher Einfluß der polnischen Tanz¬
weise, die auch später neben dem französischen
Tanzlied wiederholt auf das deutsche Lied
einwirkte. Die verschiedenen Lösungsversuche
der Frage, ob dieses unbedingt volkstümlich
bleiben oder ob es mit der Entwicklung der
höheren Kunst Schritt halten solle, geben der
Liedkomposition des siebzehnten Jahrhunderts
ein bewegtes Aussehen. Daß die in Text und
Musik nach möglichster Einfachheit strebenden
Liedersammlungen Johann Rists große Ver¬
breitung fanden, ist „für das Kulturbild, das
Deutschland gegen Ende des Dreißigjährigen
Krieges bot, wichtig und günstig". Diese
Lieder enthalten vielfach getreue Schilderungen
des damaligen Volkslebens, so daß, „wer nach
älteren Beiträgen zur Dorfgeschichte sucht, fortan
die Hamburger Liedersammlungen nicht bei¬
seite lassen darf." In einigen dieser Samm¬
lungen trifft man „denselben Geist, der die
Kirmesbilder derTenierS, Brouwer und Ostade
belebt". Gegenüber den Hamburgern strebt
die sächsische Liederschule eine höhere Kunst
im Liede an. Einer ihrer besten Vertreter,
Christian Dedekind, erinnert in der Stimmung
seiner Lieder an Brahms und an Schubert,
Für die Beliebtheit des Liedes in der zweiten
Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts spricht
der Umstand, daß es gern als Einlage in
Moderomanen verwendet wurde. Am Aus¬
gang des Jahrhunderts erlebte das deutsche
Lied einen jähen Niedergang, der es schlie߬
lich in Vergessenheit geraten ließ. „Auch dieser
Fall beweist wieder, daß Kunstgeschichte nicht
bloß ein Segen, sondern eine ccmclitio sine
ama non für die Künste ist." Anläßlich der
Besprechung der Kompositionen von Karl Zelter,
„dem Bater einer neuen, freien und großen
Liedkunst," führt Kretzschmar auch den Positiven
Beweis, daß die Praktische Verwertung der
Musikgeschichte der schaffenden Kunst schon zu
wirklichem Heile verholfen hat.
Die Liedkomposition des achtzehnten Jahr¬
hunderts wird im allgemeinen mehr als die
des vorausgegangenen durch einzelne Dichter
beeinflußt; vor allem durch Günther, durch
Gottsched und durch Friedrich von Hagedorn.
Auf musikalischen Gebiete hat es neben Joh.
Ernst Bach, dem Vater der musikalischen
Ballade, Joh. Adam Hiller, dem Schöpfer
des deutschen Singspieles, und manchen an¬
deren Wohl das meiste Joh. Abraham Peter
Schulz zu verdanken. Er ist der Haupt-
repräsentant der Berliner Schule, der wich¬
tigsten dieses Jahrhunderts, deren Programm,
ähnlich dem der Hamburger, möglichsteKnapp-
heit und Gemeinverständlichkeit in der Melodie
verlangt. Schulz gesellte noch die Forderung
nach künstlerisch wertvollen Texten dazu. Neben
ihm steht Joh. Friedrich Reichardt, „der erste
große Goethekomponist und der geistig bedeut¬
samste Kopf in der Endzeit der Berliner Schule,
dessen Reformen der Ausgangspunkt für die
gewaltige Entwicklung des Liedes im neun¬
zehnten Jahrhundert geworden sind."
Die allgemeinen Grundlagen der Kultur
der Gegenwart. Teil l, Abteilung 1 der
Enzyklopädie „Die Kultur der Gegenwart",
herausgegeben von Paul Hinneberg. Zweite
verbesserte und vermehrte Auflage. Verlag
von Teubner, Leipzig 1912. 18 M.
Als vor sechs Jahren der stattliche Ein-
leitungsband des großen Sammelwerks zum
erstenmal erschien, hat Wohl niemand daran
gezweifelt, daß er schnelle Verbreitung finden
werde"). Wer das Buch in die Hand nahm,
hat es gewiß nicht so bald fortgelegt. Wem
wäre eS nicht Genuß, sich von den berufensten
Kennern ihres Fachs in knappen, klaren Zügen
ein Bild von den grundlegenden Faktoren
unseres Kulturlebens entwerfen zu lassen?
Entsprechend der von Wilhelm Lexis in seinem
einleitenden Aufsatze gegebenen Bestimmung
der Kultur als der Erhebung des Menschen
über den Naturzustand durch die Ausbildung
und Betätigung seiner geistigen und sittlichen
Kräfte, wird uns zur Kennzeichnung ihrer
allgemeinen Grundlagen eine Übersicht über
das moderne Bildimgswesen geboten, zunächst
in einer schönen allgemeinen Betrachtung von
Friedrich Paulsen, dann im einzelnen in Ab¬
handlungen über die verschiedenen Arten der
Schulen und Hochschulen, über die Museen,
die Ausstellungen, die Musik, das Theater,
das Zeitungswesen, das Buch, die Bibliotheken
als den wichtigsten Bildungsmitteln, um
schließlich in einer Arbeit von Hermann Diels
über die Organisation der Wissenschaft cius-
zuklingen.
Die zweite Auflage hat im Vergleich mit
der ersten dadurch eine Bereicherung erfahren,
daß die Artikel über das Volksschulwesen von
Schöppa, über die mathematische, naturwissen¬
schaftliche und technische Hochschulausbildung
von v. Dyck und über das Zeitungswesen
von Bücher erheblich erweitert wurden und
ein neuer Artikel über technische Museen aus
der Feder v. Dycks seine Stelle fand. Die
Litemturangaben weisen auch hie und da
Vervollständigungen auf. Da das Buch ein
ausführliches Register von Namen und Stich¬
worten enthält, wird seine Bedeutung als
Nachschlagwerk gesteigert. Seine Ausstattung
entspricht in ihrer Vornehmheit und Gediegen¬
heit dem Inhalt. So mag es allen, die es
noch nicht kennen, in jeder Beziehung aufs
wärmste empfohlen sein!
In zweiter Auflage erschien kürzlich
Friedrich Rahels politisch - geographische
Studie „Das Meer als Quelle der Völker¬
größe" (München und Berlin, 1911, R. Olden-
bourg). DaS Büchlein des verstorbenen Alt¬
meisters geographischer Wissenschaft ist in den
Jahren entstanden, da die Überzeugung von
der Wichtigkeit deutscher Seegeltung sich in
weiteren Kreisen eben durchsetzte. Heute, wo
das Problem der Herrschaft auf den Wellen
der Ozeane nach den Ereignissen des letzten
Jahrzehnts sich für die europäische und
europäisierte Staatengesellschaft immer mehr
zur Lebensfrage auswächst, darf die Neuauf¬
lage erst recht allgemeiner Aufmerksamkeit
empfohlen werden. Wer die Gedankengänge
kennt, mit denen Ratzel in seiner „Politischen
Geographie" das geographisch Gegebene und
das historisch-politische Werden verknüpft,
dem werden diese Blätter sachlich nichts Neues,
aber ein neudurchleuchtetes Bekanntes vor die
Seele führen. Ratzels Betrachtungsweise
bietet eine der wissenschaftlichen Grundlagen
für jede künftige völkergeschichtliche Gcsamt-
cmschauung. Durchgesehen und im Sinne
des Meisters behutsam ergänzt von Hans
Helmolt, dem bekannten Herausgeber der
nach geographischen Gesichtspunkten orien¬
tierten Weltgeschichte, ist das Schriftchen
weithin klärend zu wirken berufen; verstehen
wir doch noch immer nicht alle und nicht
ganz das Lied, das der Seewind uns in die
Ohren Pfeife.
Das erste Buch der Könige (in der katho¬
lischen Bibel heißt es das dritte) beginnt mit
der Geschichte von der schönen Abisag, die den
alten König David Wärmen sollte; vielleicht
das Widerwärtigste für unser verfeinertes Em¬
pfinden im ganzen Alten Testament. Der
Dichter dieses Versdramas (die Jamben wer¬
den nicht durch den Druck kenntlich gemacht)
hat es jedoch verstanden, die Begebenheit alles
Anstößigen in dem Maße zu entkleiden, daß
einer, der den Bibeltext nicht gelesen hat, es
nicht einmal ahnt, die willenlose Despoten¬
sklavin in eine reine, edle Jungfrau, ja in
die Heldin des Dramas umzusch äffen, zu
welchem die Erhebung des Prinzen Aoonja
in den letzten Tagen Davids und seine Er¬
mordung nach Salomos Thronbesteigung den
Stoff liefern. Manche Kritiker werden viel¬
leicht zu viel Modernes finden, sowohl in der
Liebe des unglücklichen Prinzen und Abisags
Gegenliebe, als auch in der kräftigen Ab¬
lehnung der Leute, welche den kriegerischen
Geist mit der Friedensschalmei und mit Schla¬
raffenlandsidealen einzuschläfern suchen, und
in Charakteristiken des Volkes wie der fol¬
genden: „Asa: DaS Volk steht auf Adonjas
Seite. Trabant: Das Volk steht nie. Asa:
So? Was tut's denn, du Schlaukopf? Tra¬
bant: Es torkelt rechts, es torkelt links, weiß
nicht, wohin. Halt' ihm zur rechten Zeit den
rechten Ködervor^die Nase, und hinterdrein rennt
dir der ganze Haufe." Allein, wer die Bibel
kennt, der weiß, daß in ihr solche Charakte¬
ristiken, solche Politische Gegensätze keineswegs
fehlen, und die romantisch-sentimentale Liebe,
die stärker ist als der Tod, findet ja ihre Ver¬
herrlichung im Hohen Liede, dem Gröden die
Wechselgespräche seines Liebespaares zum Teil
entnimmt. Ob sich diese Tragödie zur Auf¬
führung eignet, weiß ich nicht, weil ich von
Theatersachcn nichts verstehe! aber jeder nicht
durch naturalistische Marotten voreingenom¬
mene Leser wird ihr ein Paar Stunden der
Rührung und Erhebung verdanken.
Menschen von durchdringender Ein¬
sicht und zugleich von natürlichem Formtalent
haben zu allen Zeiten eine Vorliebe für den
Aphorismus, die schlagende Wahrheit in Ge¬
stalt eines kurzen Spruches, entwickelt, und
schon früh begegnen uns freie Sammlungen
solcher bunten Steinchen, gleich einer Fenster¬
auslage unorganisch, nur mit Rücksicht auf
Farbenwechsel zusammengestellt. „Was?" sagt
Haus Taps, dem's wohlgeht und der sich also
manchmal langweilt, „das imponiert den
Leuten? Mache ich ja alle Tage, habe bloß
noch nicht daran gedacht, daß man's auf¬
schreiben könnte." Nun tat er es und das
gab treffliche Büchlein, unwillkürliche Selbst¬
bekenntnisse von Wert für die künftig Wohl
einmal hellhörigere, nicht Philologisch verball¬
hornte Kulturgeschichte. Fangen wir zu kurzer
Auslese mit dem an, Was Hans Taps über
seine eignen Motive zur aphoristischen Schrift-
stellerei, über Eitelkeit, Stolz, Selbstbewußt¬
sein u. dergl. — an anderen beobachtet hat.
Wobei zu vermerken, daß hier keine etwa bös¬
willig ersonnenen Proben, sondern vom deut¬
schen Büchermarkt her belegbare „Denk¬
sprüche" mitgeteilt werden. Wohlan: Das
Freisein von Fehlern kann zur Größe eines
Mannes wesentlich beitragen. ^ Selbstüber¬
schätzung macht unzufrieden und erzeugt den
Wahn, zu Höherem geboren zu sein. —
Eitelkeit ist der Charakterfehler, der den
Schein über das Wesen stellt (wobei Mangel
an Urteil unter die Charakterfehler fiele). —
Eitelkeit leiht dem Schmeichler willig das
Ohr. — Wichtigtuerei ist eine Form der
Eitelkeit, die namentlich oft im öffentlichen
Leben in Erscheinung tritt. — Berechtigung
zum Selbstgefühl steht in direktem Verhältnis
zu den vorhandenen Leistungen. Verpflichtung
zur Bescheidenheit im umgekehrten. — Das
Mißtrauen, hinter anderen zurückgesetzt zu sein,
beruht häufig auf der Erkenntnis, daß man
es Wohl verdiente, so behandelt zu werden
(auf der „Erkenntnis" natürlich nie; das Ganze
ist Gewissenstrost eines Launischen). — Ein
echter Mann, der sich des eigenen Wertes be¬
wußt ist, will die Gunst einer Frau nur der
Anerkennung verdanken, auf die er Anspruch
hat (geschrieben von jemand, der erweislich
keiner Satire fähig war). — Wohl jenen, die
Macht wünschen, um Segen verbreiten zu
können. — Mache deinen schuldigen Dank
nicht von dem Erfolge abhängig, den jemandes
Bemühungen in deinem Interesse hatten (was
in der Praxis eine Strafe auf erfolgreiche
Bemühungen bedeutet hat). Hans Taps ist
hier schon bei der Weltweisheit im allgemeinen
angelangt. Er meint: Menschen vertragen
gute Behandlung oft weniger als Tiere;
jedenfalls sind Tiere weniger undankbar.
Denn, fügen wir hinzu, man kann alle Tage
auf den Hund, aber nur selten auf den Löwen
kommen. Volle Sympathie gebührt dem
„Aphorismus": Gerechten Vorwürfen, die
von berufener Seite kommen, mit Grobheiten
zu begegnen, ist roh. Armer Taps, hier
hättest du Wohl einmal lieber dem Schmeichler
das Ohr geliehen! Weiter: Unwillkürliches
Singen und Pfeifen, sobald man allein, be¬
kundet wahre Heiterkeit, die ein Lohn eines guten
Gewissens ist. Schon näher an des Lebens Un¬
verstand dringt die sinnige Betrachtung: Füllt
jemand die ihm durch Fügung anvertraute
Stellung nicht aus, so fehlt es ihm entweder
an Begabung oder an Pflichtgefühl. In ersterem
Falle ist er entschuldbar, im letzteren ist er eS
nicht. Demgegenüber bleibt es unbegreiflich,
wie so viele weit lieber ihren Charakter als
ihre Fähigkeit angezweifelt sehen. Allerdings,
allerdings. Wer wenn Hans Taps mich böse
schilt, schadet es eher ihm als mir; nicht so
jedoch, wenn er meine Fähigkeiten scheinbar
mit Grund anzweifelt. Er notiert ferner:
Die Urteile „Er ist auf idealem wie realem
Gebiete gleich tüchtig" und: „Seine Leistungen
entsprechen ganz seinein sittlichen und geistigen
Werte" sind zweideutig wie ein Delphisches
Orakel. — Meide die Leute, Hans, die sich
so ausdrücken l Dafür ist wiederum in einem
besonders dickvergoldeten Bande neben Gleich¬
wertigem zu lesen: Wer etwas leisten will und
an Ideen arm ist, muß diesen Mangel durch
Fleiß ersetzen. Ebenda: Der Glaube ist der
vornehmste Grundpfeiler der Wohlfahrt unseres
Volkes, denn er steht höher als alle Ver¬
nunft. Die Gesinnung in Ehren, aber ist das
für einen Grundpfeiler nicht eine allzuhohe
Stellung? Endlich schulden wir einem ziemlich
hochsituierten Aphorismendenker den Wahr¬
spruch: „Möchten doch hohle Schwätzer ihre
Gedanken ausschließlich auf dem Papier zum
Ausdruck bringen, da könnte man sich doch
vor ihnen retten." Es verstärkt nur die Ein¬
dringlichkeit, daß dieses Axiom das vierhundert-
siebenzigste unter rund sechshundert ist.
„Die psychologische
Grundlage, auf der meines Erachtens die
Abgrenzung von .VorbereitungS'- und .Aus¬
führung^ - Handlungen ruht, besteht also
darin, daß wir gezwungen, alle menschlichen
Tätigkeiten zu ihrer Würdigung unter den
Gesichtswinkel eines Erfolgs zu rücken, nicht
vermögen, die in Hinblick auf einen solchen
hier speziell mit verbrecherischen Charakter
entwickelten Tätigkeiten in ihrer Beziehung
auf diesen gleichmäßig mit solcher Unzwei¬
deutigst zu erkennen, daß wir einen Schluß
auf seine gerade verbrecherische Qualität und
damit auf ein ihm zugrunde liegendes ver¬
brecherisches Motiv wagen dürfen und deshalb
genötigt, von vornherein zwischen für uns in
ihrer Beziehung zum Erfolg und damit zu
einem Motiv unzweideutigen und zweideutigen
Tätigkeiten zu scheiden, zur Feststellung dieser
Beziehung den erfahrungsmäßig gewonnenen
Wert des aus der Tätigkeit selbst erzeugten
Eindrucks entscheiden lassen." Diese hundert¬
einundzwanzig vom Verfasser gesperrt ge¬
druckten Worte findet man in einen Satzband¬
wurm zusammengedrängt bei Amtsrichter Dr.
zur. Max Rudolf Senf in seinem neuesten Werke:
„Das Verbrechen als strafrechtlich - psycho-
logisches Problem." Hannover, Helwingsche
Verlagsbuchhandlung. Preis 4,50 M. 1912.
Seite 100. Wer schreibt einen grammatischen
Kommentar zu dieser juristischen Psychologie?
Ganz überraschenderweise hat sich die Reichsbank kurz vor dem Semester¬
schluß doch noch zu einer Ermäßigung ihres Diskontsatzes bewegen lassen.
Überraschend war dieser Entschluß nicht nur deshalb, weil er zu einem höchst
ungewöhnlichen Zeitpunkt erfolgt ist, sondern auch weil die verhältnismäßig
geringe Verbesserung des Bankstatus in der ersten Juniwoche kaum ein aus¬
reichender Anlaß war. von der so lange mit Zähigkeit festgehaltenen Diskont¬
politik abzuweichen, und endlich auch deshalb, weil in der Zinsherabsetzung
eine Maßregel erblickt werden muß, welche den vom Reichsbankprästdenten mit
so viel Nachdruck geförderten Bestrebungen auf Einschränkung der Kredit¬
ansprüche entgegenwirkt. Zwar hat der Präsident mit der an die Diskont¬
ermäßigung angeknüpften Mahnung zur Vorsicht in der Gelddisposition versucht,
die Berechtigung jener Kreditpolitik aufs neue einzuschärfen, aber da zwischen
Worten und Taten ein erheblicher Unterschied obwaltet, so kann er nicht ver¬
hindern, wenn aus der Tatsache der Zinsermäßigung der Schluß gezogen wird,
er habe vorher die Dinge zu schwarz gesehen und in der Herabsetzung des
Bankdiskonts sei eigentlich eine Desavouierung seiner früheren Haltung zu
erblicken. Indessen zeigt doch die Entwicklung des Geldmarkts seit der Diskont¬
ermäßigung, daß nur eine kaum bemerkbare Verminderung der Spannung ein¬
getreten ist. Der Privatdiskont hält sich jetzt in unmittelbarer Nähe der Bank¬
rate, Ultimogeld wird mit 6 Prozent bezahlt — also Zinssätze, die für die
Sommermonate ganz ungewöhnlich sind und nicht darauf schließen lassen, daß
sich am Geldmarkt einstweilen die Dinge zum besseren gewendet haben. Es ist
daher sehr wahrscheinlich, daß bei dem Entschluß der Reichsbank andere als
rein monetäre Gründe den Ausschlag gegeben haben. Dagegen ist auch insofern
nichts einzuwenden, als ja in der Tat eine geschickte Handhabung der Diskont¬
politik sich nicht damit begnügen kann, ihre Maßnahmen lediglich auf Grund
des Bankstatus zu treffen, sondern häufig andere Momente wirtschaftlicher, ja
sogar politischer Natur in Berücksichtigung ziehen muß. Man wird daher nicht
fehlgehen, wenn man in der Zinsfußermäßigung eine Maßnahme sieht, die in
erster Linie der trostlosen Marktlage unserer Staatsanleihen zu Hilfe
kommen soll. Der Kurs unserer Rentenwerte ist auf einen Tiefstand gesunken, welcher
offenbar der Regierung Besorgnisse zu erwecken beginnt. Hat doch der Handelsminister
den ungewöhnlichen Schritt getan, sich an eine Handelskammer zu wenden, in deren
Bezirk eine Bank industrielle Obligationen unter Hinweis auf deren bessere Ver¬
zinsung gegenüberStaatsanleihen empfohlen hatte. Der Minister wünscht mit Recht,
daß man der Bevölkerung stets von neuem einschärft, die absolute Sicherheit
der inländischen Staatsanleihen gegenüber allen anderen Anlageformen nicht zu
gering zu schätzen. Gewiß, unsere Staatspapiere sind sicher; sie sind, wenigstens
was die preußischen Konsols anlangt, sogar die bestfundierten Anleihen der Welt,
denn die preußische Staatsschuld von 9,7 Milliarden findet völlige Deckung schon
in dem Wert der Staatseisenbahnen, deren Erträgnis Jahr für Jahr die Zu¬
führung einiger Hundert Millionen für allgemeine Staatszwecke gestattet. Die
Zinsen sind also sicher gestellt — aber das Kapital? Kapital zahlt der Staat
ja nicht zurück — er kennt keine Tilgungsanleihen. Der Gläubiger hat daher
niemals Aussicht, vom schuldnerischen Staat den Nominalbetrag seiner Forderung
zurückgezahlt zu erhalten, sondern er ist lediglich auf den Verkauf der Titel
angewiesen. Insofern bedeutet daher ein dauerndes Sinken des Kursniveans
unter den Emissions- oder Ankaufskurs einen Kursverlust. Der Hinweis auf
die absolute Sicherheit der Kapitalsanlage in Staatspapieren ist also nur zum
Teil richtig; es ist das eine Sicherheit, die den Inhaber nicht vor großen
Kapitalseinbußen schützt. Und diese Verluste sind in den letzten Jahrzehnten so
erheblich gewesen, daß man getrost behaupten kann, kaum an irgend welchen
anderen Wertpapieren zusammengenommen sei so viel verloren worden, als an
diesen erstklassiger Anlagen. Die preußischen dreiprozentigen Konsols und die
dreiprozentige Reichsanleihe standen 1895 über Pari, heute unter 80 Prozent —
dazwischen liegt die Konversion von 1897, welche die damaligen vierprozentigen
Titel beseitigte und den Inhabern die drei- und dreieinhalb verzinslichen auf¬
zwang. Hierdurch haben die Staatsgläubiger die schwersten Kapitals Verluste
erlitten, denn der Rückgang des Kurses der vierprozentigen Titel ist ein weit
geringerer und beträgt gegen den Höchststand nur etwa 7 Prozent. Es hat also
der Staat durch die damalige Konversion, die sich als eine mit der wahren
Lage des Geldmarkts nicht übereinstimmende Maßregel erwies, seinen Gläubigern
die schwersten Verluste zugefügt — sie haben neben der Zinsverkürzung heute
noch den Verlust von einem Fünftel ihres Kapitals zu beklagen. Diese Be¬
trachtung zeigt, daß der Hinweis auf die absolute Sicherheit der Staatsanleihen
nur in einem beschränkten Sinne richtig ist. Es muß vom Standpunkt des
solidere Anlage suchenden Kapitalisten durchaus bestritten werden, daß
den Staatsanleihen, welche in Rentenform gekleidet sind, ein so
unvergleichlicher Vorzug vor anderen Anlagemöglichkeiten gebühre. Das
Gegenteil ist richtig. Die moderne Zeit hat eine Fülle von Anlage¬
möglichkeiten geschaffen, denen neben besserer Verzinsung ein geringeres
Kapitalrisiko innewohnt als den Staatsanleihen. Schon die Kommunal¬
anleihen verdienen vom Standpunkt des Kapitalanlegers in gewissem
Sinne den Vorzug. Sie sind sämtlich Tilgungsanleihen. Die Titel müssen
daher innerhalb der gewöhnlich sechsundfünfzig Jahre betragenden Amortisations¬
frist zum Nominalbetrag zurückgezahlt werden. Diese Gewißheit — die sogenannten
Verlosungschance, die um so größer wird, je mehr die Tilgungsfrist sich ihren:
Ende nähert, — verhindert begreiflicherweise ein Herabgleiten des Kurses. Für
diesen ist nicht, wie bei den Rentenanleihen, der Stand des Zinsfußes allem
entscheidend, sondern die Tatsache der Kapitalzurückzahlung. Ferner stehen dem
Kapitalisten in den Pfandbriefen unserer Landschaften und Hypotheken¬
banken, deren Gesamtumlauf sich auf etwa 13 Milliarden beziffern dürfte, und
in den Schuldverschreibungen erstklassiger industrieller Werke Anlagemöglich¬
keiten offen, die auch den subtilsten Anforderungen an die Sicherheit genügen
und zum Teil, namentlich was die letztere Kategorie anlangt, eine weitaus
bessere Verzinsung gewähren als die Staatspapiere. Was sollte wohl auch vom
Standpunkt der vorsichtigsten-Kritik gegen eine Anlage in Pfandbriefen unserer
ersten Hypothekenbanken oder in industriellen Schuldverschreibungen von Werken
wie Phönix, Gelsenkirchen, A. E. G. sich einwenden lassen? Sind dies doch
Unternehmungen, deren verantwortliches Kapital ja über 100 Millionen groß
ist, deren sachliche Unterlagen und deren Gewinnergebnifse dergestalt sind, daß
sie dieselbe Sicherheit für Verzinsung und Rückzahlung ihrer Schulden bieten,
wie die preußischen Eisenbahnen. Natürlich beginnt aber auf diesem Gebiet die
Grenze, wo die Sicherheit im einzelnen Fall genau geprüft werden muß. Aber
im allgemeinen ist es nicht richtig, wenn der Staat für seine Schuldtitel den
unbedingten Vorzug vor jeder anderen Anlageform in Anspruch nimmt. In
Wahrheit kommt in dem ständigen Kursrückgang der Nentenanleihen nur die
Tatsache zum Ausdruck, daß andere Anlageformen — nach dem Urteil der
Kapitalanleger — den Staatsanleihen überlegen sind, mehr Anreiz bieten, und
daß erstere sich um deswillen eine Minderbewertung gefallen lassen müssen.
Daraus erklärt sich nun auch, warum dieser Rückgang der staatlichen Renten-
anlehen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz gleicher Weise auch in Eng¬
land und Frankreich zu beobachten ist. Ja, das ehemalige Standardpapier des
Anlagemarktes, die englischen Konsols, haben unter allen hierher gehörigen Werten
die schärfste Kurseinbuße erlitten. 'Noch im Jahr 1897 notierten sie 113 Prozent —
heute ist ihr Kurs auf 76 Prozent angelangt, also ein Rückgang von nicht
weniger als 37 Prozent, der erschreckend ist, auch wenn man berücksichtigt, daß
der Zinsfuß der Konsols infolge der automatischen Konversion von 2^ auf
L^/z ermäßigt worden ist. Auch die französische dreiprozentige Rente
ist von 105 auf 92^/4 Prozent gefallen — obwohl doch Frankreich von jeher
das Land der niedrigen Rente ist und durch den Anlagezwang der Sparkassen
für einen ständigen Abfluß vom Markte gesorgt hat. Besonders ausfällig ist
nun die Erscheinung, daß dieser Kursrückgang sich besonders scharf in den letzten
zwei Jahren — und zwar überall gleichmäßig — markiert. Dies ist ein
Beweis dafür, daß unsere internen Geldverhältnisse in Deutschland nicht, oder
doch nur zum geringsten Teil an dem Kursstand unserer Anleihen Schuld
tragen. Denn es könnte sich sonst unmöglich die gleiche Erscheinung in Frank¬
reich zeigen, das von einer Geldklemme nur ganz vorübergehend heimgesucht
wurde und in dem der Zinsfuß im allgemeinen sich dauernd auf einem sehr
niedrigen Niveau bewegt. Es läßt sich angesichts der Gemeinsamkeit dieser
Erscheinung nicht daran zweifeln, daß sich hier ein Vorgang vollzieht, den man mit
einer Flucht des Kapitals vor den Rentenanleihen — und zwar vor
den niedrig verzinslichen — bezeichnen kann. Der innere Grund liegt offenbar
in dem Zwang, eine höhere Rente für das Kapital zu erzielen. Ein Zwang,
eine schmerzlich empfundene Notwendigkeit muß zweifelsohne vorliegen, wenn
so alte und eingewurzelte Anlagesitten wie die des französischen Volkes eine
Umwälzung erfahren. Diese Notwendigkeit ist mit der ebenfalls in allen Kultur¬
ländern gleichmäßig auftretenden Verteuerung aller Lebensverhältnisse
gegeben, wie diese Teuerung ja auch die Gehaltserhöhungen der Beamten und
die ständigen Lohnbewegungen der Arbeiter hervorgerufen hat. Ob beide
Erscheinungen aber noch eine tiefer liegende Wurzel haben, ob, wie Dernburg
es jüngst ausgesprochen hat, der wahre Grund für diese unser Wirtschaftsleben
umwälzenden Verschiebungen in einer Entwertung des Goldes zu suchen
ist, die mit der so außerordentlich stark gestiegenen Jahresproduktion des gelben
Metalls (gegenwärtig ca. 1800 Millionen jährlich) zusammenhängt, das zu
entscheiden ist auf Grund eines so unzureichenden Tatsachenmaterials nicht
möglich. Denkbar ist es immerhin und wäre die Vermutung richtig, so müßte
sich die Kulturwelt auf einen Umwertungsprozeß einrichten, der größere Um¬
wälzungen und Zerstörungen verursachen dürfte als ein Weltkrieg. Und gegen ein
solches wirtschaftliches Unglück gäbe es nicht einmal ein Heilmittel. Sxecwwr
Verantwortlich: der Herausgeber George Cleinow in Schöneberg, — Mamlslriptscndungen und Buche werden
erbeten unter der Adresse:
An den Hcrunsgebcr der Grcnzbotrn in Frieden«« bei Berlin, Hedwinstr. 1».
Fernsprecher der Schristleitung- Amt Pfalzburg K71S, des Verlags! Amt Lützow MIO,
Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b. H. in Berlin SV. 11.
Druck! „Der Reichsbote" G, in, S. H, in Berlin SV. 11. Dessauer Striche ZS/N,
^wiscnsn Wasssn u, Walci äusserst gssuncl ^sie^en. —
IZsrsitst für »>>s LcnuHcissssn, usf I^injänrigen-,
Primaner», Abiturienten »I^xsniön vor. Huck Damen-
Vorbereitung. — Kleine XIssssn. QruncHiober, mali»
vio°usiisr, slclsktiscner Untsrriont. lDsrum SLNnsIIss
l^rrsiebsn clef vieles. — Ltrsngs /-.utsicnt. — Quto
Pension. — Körperpflege unter Sritiivnsr l-situng.
Wal'Sil in IVIsoKIb.
am IVlür'le^sSS.
^_ sffL^-irr^ L^i
Einbanddeckel! für die Hrenzboten
Ausgabe ^: Halbfranz. Dunkelgrüner Lederriicken und
Ecken, gekörnter Bezug, Schrift in Goldpressung. M. 1.75.
Ausgabe L: Leincir. Dunkelgrünes Nohleinen, Pressung in
Schwarz mit Gold. M. 1.—.
Vielfach geäußerten Wünschen aus unserm Leserkreise entsprechend haben
wir uns entschlossen, eine Original-Einbanddecke für die Grenzboten in
geschmackvoller, solider Ausführung herstellen zu lassen. Für jeden
Jahrgang sind vier Decken erforderlich. Die Decken für 1911 sind sofort
komplett lieferbar, für 1912 und die folgenden Jahrgänge jemalig am
Schlüsse des betr. Vierteljahrs. Gegen einen entsprechenden Aufschlag
sind wir bereit, einzelne Decken mit den Jahres- und Bandzahlen älterer
Jahrgänge zu versehen.
Einen Prospekt mit Abbildungen der beiden Ausgaben nebst Bestellschein
sendet auf Wunsch der Verlag.
^^Se".5er-5a Wertag der Orenzv-den, G.in.b.s.
^
Wir bitten die Freunde der :: :: ::
Grenzboten
das Abonnement zum III. Quartal 1912
erneuern zu wollen. — Bestellungen Verlag der
nimmt jede Buchhandlung und jede ^«"in v s^"
Postanstalt entgegen. Preis 6 M. Berlin 3w.«i.
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