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]]> Die Grenzboten
Jahrgang- viertes Vierteljahr
Die
Zeitschrift für
Politik, Literatur und Kunst
Herausgeber:
George Cleinow
70. Jahrgang
viertes Vierteljahr
Berlin
Verlag der Grenzboten G. in. b. H.
er Frieden von Tilsit sah das preußische Heer, das ehemals so
stolze Instrument seiner Könige, am Boden liegen. Eine endlose
Reihe von Verfehlungen hatte die Niederlagen verschuldet. Wollte
man das Heer wieder aufrichten, so mußte es zunächst von den
Schuldigen gesäubert werden. Sie waren unter den unteren und
oberen Führern zu suchen. Von der Militär-Reorganisationskommission, mit
Scharnhorst an der Spitze, wurden Neinigungsgerichte eingesetzt, die ihre Arbeit
mit außerordentlicher Gründlichkeit besorgten. Das Vertrauen auf die Führer
und Erzieher des Heeres war aber zu tief erschüttert. Wie konnte man sich
künftig gegen einen Rückfall dieser in den Geist der Kraft- und Ehrlosigkeit
schützen, der sich soeben dokumentiert und der die Katastrophe gezeitigt hatte.
Die Reinigung war erfolgt, man fand es nötig, eine dauernde Einrichtung zu
schaffen, die über die Ehrenhaftigkeit der Offiziere zu wachen hatte. Ehren¬
gerichte wurden eingeführt. Die königliche Verordnung über diese erschien am
3. August 1808.
Dem preußischen Beispiel folgten andere Staaten. Bayern führte im Jahre
1823 Ehrengerichte ein. Ihre Wirkung erstreckte sich, im Gegensatz zu den
preußischen, auch auf die Militärärzte und Beamten.
In der preußischen Armee wurde unter dem 20. Juli 1843 eine Neuord¬
nung für die Ehrengerichte eingeführt. Als ihre Aufgabe wird bezeichnet, gegen
Offiziere bei Handlungen einzuschreiten, die zwar nicht unter den Strafparagraphen
fallen, die aber dem richtigen Ehrgefühl des Offiziers nicht entsprechen. Genauere
Bezeichnung der ehrengerichtlich zu verfolgenden Handlungen fehlt. Unterstellt
sind den Ehrengerichten die Offiziere der aktiven Armee und des Beurlaubten¬
standes, die Offiziere z. D., sowie die inaktiven Offiziere, soweit ihnen beim
Ausscheiden die Erlaubnis zum Tragen der Uniform verliehen ist. strafrecht¬
liche Verurteilung schließt spätere ehrengerichtliche Verfolgung nicht aus. Das
Verfahren ist den bürgerlichen Gerichten nachgebildet: den Vorsitz führt der
Truppenkommandeur, die Rolle des Untersuchungsrichters liegt in den Händen
des Ehrenrates. Die Verteidigung ist zunächst dem Angeschuldigten überlassen,
der aber auch einen Kameraden mit Anfertigung und Vorlage einer Verteidigungs¬
schrift betrauen kann. Ehrenrichter sind die Kameraden; jeder Offizier ist be¬
rechtigt, eine ehrengerichtliche Untersuchung gegen einen anderen Offizier, auch
gegen sich selbst, zu beantragen. Es bestehen Ehrengerichte für Hauptleute und
Leutnants, sowie für Stabsoffiziere. Die Berufung eines Ehrengerichtes über
einen General wird für jeden Fall besonders angeordnet. Die Ehrengerichte
können sich in der Spruchsitzung für unzuständig erklären, sie können auf Ver¬
vollständigung der Akten, sowie auf Freisprechung erkennen. Der Schuldspruch
kennt nur drei Strafarten: Warnung, Entlassung mit schlichtem Abschied (bei
inaktiven Offizieren Aberkennung der Uniform), Entfernung aus dem Offizier¬
stande (Aberkennung des Offiziertitels). Rechtskraft erhält der Spruch des
Ehrengerichtes erst mit der Bestätigung des Allerhöchsten Kriegsherrn, der das
Erkenntnis umstoßen oder mildern kann.
Der letztgenannte Umstand hat neuerdings, nachdem die rechtliche Natur
der Ehrengerichte angezweifelt worden ist, dahin geführt, in ihren Sprüchen
nur „gutachtliche Äußerungen der Standesgenossen" zu sehen, an die der Kon¬
tingentsherr in keiner Weise gebunden sei. Dein könnte allerdings entgegen¬
gehalten werden, daß die Erkenntnisse der früher gültigen Militärstrafproze߬
ordnung zur Erlangung ihrer Rechtskraft auch an die Bestätigung des Gerichts-
herrn gebunden waren und doch mehr als bloße Gutachten waren. Auch die
äußere Form, die man den Ehrengerichten gegeben, läßt vermuten, daß man
bei ihrer Einführung an mehr als an gutachtliche Äußerungen gedacht hat.
Weitere Nachweise, die diese Ansicht stützen, folgen unten.
Die preußischen Ehrengerichte vom 20. Juli 1843 wurden laut Artikel Ki
der Reichsverfassung in allen Bundeskontingenten, mit Ausnahme von Bayern,
eingeführt, in dessen Armee erst am 15. Februar 1870 neue ehrengerichtliche
Verordnungen erlassen worden waren.
In Preußen selbst wurden am 2. Mai 1874 neue Verordnungen über
Ehrengerichte erlassen, die auf Grund des Artikels 63 der Reichsverfassung in den
übrigen Bundeskontingenten, in Bayern unter dem 31. August desselben Jahres,
eingeführt wurden. Der Inhalt dieser Verordnungen deckt sich nahezu mit dem
der voraufgehenden. Der Ehrenrat, bisher aus den Ältesten der Charge bestehend,
wurde von jetzt ab gewählt. Die Sanitätsoffiziere, auch die der Aktivität, blieben
weiter von den ehrengerichtlichen Verordnungen unberührt. Erst im Jahre 1901
wurden für die aktiven Sanitätsoffiziere besondere ehrengerichtliche Bestimmungen
erlassen. Die Militärbeamten stehen auch heute noch außerhalb der Ehrengerichte.
Vermutlich hat der Umstand, daß der größere Teil von ihnen zu den Offizieren
des Beurlaubtenstandes gehört, die als solche den Ehrengerichten unterworfen
sind, zu dieser Ausnahmestellung geführt. Die Militärbeamten sind in dem-
selben Umfange wie die Zivilbeamten dem Beamtengesetz bzw. dem Disziplinar¬
verfahren unterworfen.
Nach Erlaß von einer Reihe von Zusatzbestimmungen erschien unter dein
15. Juli 1910 der Neuabdruck der Verordnungen über die Ehrengerichte, die
mit dem 1. Oktober des genannten Jahres in Kraft zu treten hatten. Auch
diesmal hatte man sich an die bestehenden Verordnungen angelehnt, wenngleich
eine Reihe von Änderungen eingeführt wurde. Der Verteidigung wurden weitere
Grenzen gezogen; zum Teil griff bei ihr mündliches Verfahren Platz. Offiziere a.D.,
die bisher nur als Angeschuldigte vor dem Ehrengerichte erscheinen konnten,
können an den Spruchsitzungen als Richter teilnehmen, wenn einer der ihrigen
angeschuldigt ist. Rechtskräftig gewordene Urteile der Militär- oder Zivilgerichts¬
barkeit müssen bei den Verhandlungen der Ehrengerichte als beweiskräftige
Tatsachen anerkannt werden. Wiederaufnahme des Verfahrens, das nach den
früheren Verordnungen ausgeschlossen war, kann mittelst Throngesuches bei
Erbringung von neuen Beweismitteln ermöglicht werden. Die anderen Ände¬
rungen sind weniger wesentlicher Natur.
Es hängt zweifellos mit dem in unserem Zeitalter stark zunehmenden
Rechtsbewußtsein zusammen, daß man neuerdings der rechtlichen Natur der
Ehrengerichte nachgeforscht hat. Man ist dabei zu sehr verschiedenen Resultaten
gekommen. Auf der einen Seite hat man ihnen jedes rechtliche Fundament
bestritten, auf der anderen dieses mittelbar oder unmittelbar aus anderen recht¬
lichen Faktoren deduziert. Die ersten Schritte gegen die rechtliche Anerkennung
der Ehrengerichte gingen von verabschiedeten Offizieren aus, die namentlich das
Recht der Aberkennung des Offiziertitels, sowie der Orden und Ehrenzeichen
den Ehrengerichten nicht zugestehen wollten.
Was sind die ehrengerichtlichen Verordnungen? fragte man sich. Die einen
antworteten: Armeeverordnungen, die der Kaiser auf Grund des Z 8 des Reichs¬
militärgesetzes vom 2. Mai 1874 zur Handhabung der Disziplin im Heere im
Verordnungswege erläßt. Gegen diese Auslegung läßt sich zunächst einwenden,
daß die gedachten Verordnungen sich an die Offiziere des preußischen Kontingents
wenden, der Ausdruck der Ausdehnung auf die Gesamtkontingente also fehlt.
Die Bestimmungen über Handhabung der Disziplin im Heere findet ihren
generellen Ausdruck in der Disziplinarstrafordnung vom 31. Oktober 1872, die
im Verordnungswege erlassen wurde. Die Disziplinarstrafordnung ist indessen
nach ganz anderer Richtung orientiert, als die Verordnungen über die Ehren¬
gerichte. Es füllt schwer, in diesen ein reines Disziplinarmittel zu erkennen.
Verabschiedete Offiziere unterstehen zudem nicht mehr der Disziplinargewalt des
Kaisers. Eigentümliche Folgen müßten eintreten, wenn man gegenüber der
Erlaubnis zum Tragen der Uniform von einer freiwilligen Unterwerfung der
verabschiedeten Offiziere unter die Disziplinargewalt des Kaisers reden wollte.
Andere sehen in den Verordnungen über die Ehrengerichte „Armeebefehle
des Königs von Preußen" und berufen sich dabei auf Artikel 63 der Reichs-
Verfassung, der am Schlüsse sagt, daß behufs Erhaltung der unentbehrlichen
Einheit in der Administration, Verpflegung, Bewaffnung und Ausrüstung aller
Truppenteile des deutschen Heeres die bezüglichen künstig ergehenden An¬
ordnungen für die preußische Armee den Kommandeuren der übrigen
Kontingente durch den Artikel 8 Ur. 1 der R.-V. bezeichneten Ausschuß
für das Landheer und die Festungen zur Nachachtung in geeigneter Weise
mitzuteilen sind. Unter den in Rede stehenden „Anordnungen" sind aber doch
wohl keine Armeebefehle im landläufigen Sinne verstanden — die An¬
ordnungen sehen hier nur administrative Fragen vor, die naturgemäß
einheitlich sür alle Heereskontingente gehandhabt werden müssen. Ehrengerichts-
verorduungen können kaum nnter die „Anordnungen" des Artikels 63 der
R.-V. gerechnet werden.
Ganz verfehlt erscheint die Auffassung, in den ehrengerichtlichen Verord¬
nungen nur einen Befehl zur gutachtlichen Äußerung der Kameraden zu erkennen.
Das Fehlen der ministeriellen Gegenzeichnung könnte diese Auffassung stützen;
sie könnte ferner aus Passus 60 der Verordnung vom 15. Juli 1910 gefolgert
werden, der besagt, daß sich der oberste Kriegsherr die Entscheidung auf Grund
des vorgelegten Spruches vorbehält.
Die rechtliche Unterlage der Ehrengerichte würde mit dieser Auffassung
aber noch mehr geschwächt werden, und es behielten diejenigen recht, die sich
ihrer Wirkung widersetzen. Der ganze Aufbau der ehrengerichtlichen Verord¬
nungen widerspricht dieser Auslegung, außerdem begegnet ihr die von den Ehren¬
gerichten beanspruchte Zeugnis- und Eidespflicht der Zivilpersonen, sowie die
prätendierte Mithilfepflicht der Gerichte, die für bloße Gutachten nicht in An¬
spruch genommen werden können.
Die erwähnte Zeugnispflicht wird aus einer Kabinettsorder vom Is.Juli 1844
gefolgert, während die Rechtshilfepflicht der Gerichte mit einer Verordnung von:
2. Januar 1349 begründet wird, nach der Gericht und Verwaltung sich gegen¬
seitig unterstützen sollen. Diesen: Anspruch wird entgegengehalten, daß die Ein¬
führungsorder für die Ehrengerichte vom 2. Mai 1874 ausdrücklich betont, daß
alle älteren Bestimmungen aufgehoben sind. Sind unter der Aufhebung auch
die vorerwähnte Kabinettsorder sowie die Verfügung gemeint, oder sind diese
in Kraft geblieben bzw. in die Verfassung mit übernommen worden? Wer die
Frage bejaht, kann sie nur für den Umfang der preußischen Monarchie gelten
lassen, und wir ständen also vor der Tatsache, daß schon innerhalb des preußischen
Heereskontingents die Ermittlung der Tatumstände im ehrengerichtlichen Ver¬
fahren ganz verschiedene Wege einschlagen müßte, da Zeugnis- und Mithilfe¬
pflicht der Gerichte außerhalb des Bundesstaates Preußen nicht mehr gewähr¬
leistet werden können. Für die uichtpreußischen Kontingente würde die genannte
Pflicht überhaupt nicht bestehen. Der Unterschied in dem Ermittlungsverfahren
würde sich zweifellos bei dem Ergebnis ausdrücken. Die Zeugnispflicht in oben
angedeuteten Umfang zugegeben, warum wird aber dann dem Offizier eine
besondere Stellung eingeräumt, da er die Wahrheit seiner Aussage im ehren¬
gerichtlichen Verfahren nur auf Pflicht und Gewissen zu versichern braucht,
während der Bürger sie auf seinen Eid nehmen muß. Die erörterten Ansprüche
zeigen aber doch, daß die Ehrengerichte sich stark an die bürgerlichen Gerichte
anlehnen, also doch mehr sein wollen, als nur gutachtende Körperschaften.
Den Gegnern der rechtlichen Geltung der Ehrengerichte wird eine Ent¬
scheidung des Reichsgerichts in Strafsachen vom 31. Januar 1902 entgegen¬
gehalten. Das Reichsgericht hat sich in dieser Entscheidung aber nicht über die
Rechtsgültigkeit der Ehrengerichte ausgesprochen, sondern es setzt diese bei Be¬
gründung seiner Entscheidung nur voraus. Eine in das Jahr 1905 fallende
Bestreitung der Rechtsgültigkeit der Ehrengerichte bzw. ihrer Wirkung führte
bei Durchlaufung des Jnstanzenzuges zu verschiedenen Ergebnissen; das Reichs¬
gericht wurde leider nicht angerufen. Man ivird sich also vorderhand mit den:
Urteil des Kanmiergerichts, als der zuletzt angerufenen Instanz, abzufinden
haben. Das Urteil des 2. Strafsenats vom 25. Februar 1908 erkennt das
Urteil des Ehrengerichts bzw. die Bestätigung dieses durch den König als bindend
und rechtsgültig auch für den verabschiedeten Offizier an, der sich durch die
Erbietung der Uniform beim Abschied ausdrücklich der königlichen Disziplinar¬
gewalt auch für die Zeit seiner Jnaktivität unterworfen hat.
Mit diesen: Urteil können natürlich noch nicht alle Zweifel als behoben
gelten; zeigen doch schon die voraufgehenden richterlichen Entscheidungen ein
merkliches Schwanken. Die letzte Instanz ist noch nicht angerufen worden. Diese
Unsicherheit erscheint den: Ansehen der Ehrengerichte wenig förderlich. Wenn
ihnen die soziale Stellung von Männern der gebildeten Stände in die Hand
gegeben ist, wenn die Wirkung eines ehrengerichtlichen Spruches die Existenz
von Familien treffen kann, so erscheint es geboten, die Ehrengerichte auf legale,
einwandfreie Grundlage zu stellen. Die Zweifel tauchen naturgemäß in den
Reihen der inaktiven Offiziere auf, die sich mit der Zeit freiere Anschauungen
und tieferes Rechtsbewußtsein aneignen. Es wird namentlich geltend gemacht,
daß Anlaß zur Entfernung aus dem Offizierstande (Aberkennung des Osfizier-
titels) und in Verbindung damit Aberkennung der Orden und Ehrenzeichen schon
in verhältnismäßig geringfügigen Tatsachen seitens der Ehrengerichte gefunden
werden kann, während unser Strafgesetz eine derartige Degradierung nur für
Vergehen oder Verbrechen vorsieht, die eine ehrlose Gesinnung dokumentieren.
Der Offizier würde dadurch wesentlich schlechter gestellt werden als jeder andere
Staatsbürger. Die Berechtigung zum Tragen der Uniform kann für diese
Ungleichheit in der Behandlung kaum als Äquivalent anerkannt werden. Gleich¬
heit vor dem Gesetze bedingt auch gleiche Behandlung.
In den Reihen der inaktiven Offiziere wird diese Unzuträglichkeit auch
stark empfunden und vielfach als Hindernis zur Ausübung eines neuen Berufs
oder einer Tätigkeit angesehen. Es läßt sich deshalb mehr und mehr die
Neigung erkennen, nachträglich auf das Recht zum Tragen der Uniform zu
verzichten, und die Fälle sind nicht selten, in denen Offiziere beim Ausscheiden
aus dem aktiven Dienst von der Bitte um Erlaubnis zum Tragen der Uniform
absehen. Anderseits sieht man in den Reihen der inaktiven Offiziere einen
ehrengerichtlichen Spruch nicht mehr mit der Strenge an, die ihm früher begegnete.
Dem ehrengerichtlich verurteilten inaktiven Offizier ist der Kreis seiner Kameraden
nicht ohne weiteres verschlossen, erst die Gründe der Verurteilung entscheiden
über den Ausschluß. Das müßte als bedauerliche Mißachtung anerkannter
Überlieferung aufgefaßt werden, wenn nicht vielfache Erwägungen ihr doch eine
Berechtigung zugestehen würden.
Es lohnt sich, bei dieser Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß ehrengericht¬
liche Verurteilung eiues Offiziers des Beurlaubtenstandes, selbst bei härterem
Spruche, ihn durchaus nicht immer als Beamten disqualifiziert. Der Beamtenstand
muß sich in seiner Autorität allerdings beträchtlich geschädigt fühlen, wenn seine
Ehre geringer eingeschätzt wird als die des Offizierstandes. Oder soll die Ehre
sür den Beamten noch als ausreichend erachtet werden, wenn sie für den Offizier
nicht mehr hinreicht? Es kann doch nur eine Ehre, eine Ehrenhaftigkeit geben.
Das ehrengerichtliche Verfahren kennt, wenn die Schuldfrage bejaht wird,
nur drei Sprüche: Erteilung einer Warnung, Entlassung mit schlichtem Abschied
(Verlust des Rechtes zum Tragen der Uniform), Entfernung aus dem Offizier¬
stande (Verlust des Offiziertitels). Das sind zu schroffe Abstufungen, um ein
präzises Abwägen zwischen Schuld und Strafe zu ermöglichen. Der Ehren¬
richter wird in den Fällen, die nicht von vornherein nach einer bestimmten
Seite drängen, oft in Gedanken zu würfeln haben, zu welchem Urteil er sich
entschließen soll; der mildere Spruch steht nicht im Einklang mit der Tat, der
schärfere erscheint ihm zu drakonisch. Mit dem Gutachten und der Abstimmung
des Ehrenrath wird dem jungen und unerfahrenen Ehrenrichter der innere
Kampf allerdings etwas erleichtert. Es kann aber Unstimmigkeit im Ehrenrate
selbst herrschen. Und es muß daran festgehalten werden, daß jeder frei nach
eigenem Gewissen urteilt. Die Anlehnung an ein anderes Urteil steht nicht im
Einklang mit der übernommenen Pflicht.
Es sollte deshalb auch vermieden werden, dein Spruchgericht eine Aller¬
höchste Willensmeinung voranzustellen. Der Fall tritt ein, wenn ein Spruch
die Bestätigung des Kontingentsherrn nicht gefunden hat mit dem ausdrück¬
lichen Vermerk, daß das Urteil als zu milde erachtet wird. Ein neues Ehren¬
gericht wird dann mit derselben Sache betraut. Der Grund der Nichtbestätigung
weist dann den Nachrichter auf mindestens den nächstschärferen Spruch hin. Hatte
das voraufgehende Ehrengericht den Spruch gefällt: Verletzung der Standesehre
und Beantragung der Entlassung mit schlichtem Abschied (Verlust des Rechtes,
die Militäruniform zu tragen), dann bleibt dem nachfolgenden Ehrengericht nur
übrig, sich auf „Schuldig der Verletzung der Standesehre unter erschwerenden
Umständen" auszusprechen und die Entfernung aus dem Offizierstande (Verlust
des Offiziertitels) zu beantragen. Sein eigenes Urteil kann dann der Ehren-
richter nicht mehr in die Wagschale werfen, sein Gewissen steht unter dem Zwang
der Allerhöchsten Willensmeinung.
Warum aber, muß man fragen, versagte man bis vor kurzem dem inaktiven
Offizier jede Teilnahme an den Ehrengerichten und gesteht ihm neuerdings den
Zutritt zu den Spruchgerichten nur in dem Falle zu, wenn diese über einen
inaktiven Offizier zu befinden haben? Der aktive Offizier bzw. der Offizier des
Beurlaubtenstandes darf ehrengerichtlich über den verabschiedeten Offizier urteilen,
nicht umgekehrt. Dem vorwurfsfrei gedienten und erfahrenen Offizier kam eine
bessere Bewertung zu, als sich in dieser Ungleichheit ausspricht. Der Ausschluß
bzw. die Beschränkung der Teilnahme muß Mißtrauen erwecken, das in schroffem
Widerspruch zu dem Vertrauen steht, mit dem man dem verabschiedeten Offizier
das Forttragen der Uniform gestattete. Oder fürchtet man die größere Unab¬
hängigkeit des inaktiven Offiziers und eine allzu freie Auffassung für Ehrbegriffe?
Es ist oft betont worden, daß sich in der Erlaubnis zum Tragen der Uniform
die Fortdauer der Teilnahme an der Standesehre aussprechen soll; in dem oben
bezeichneten Ausschluß bzw. in der Beschränkung der Teilnahme an den Spruch¬
gerichten läßt sich die Fortdauer allerdings schwer erkennen. Bei der großen
Zahl inaktiver Offiziere, die wir im Deutschen Reiche haben, könnte sogar die
Forderung erhoben werden, für diese besondere Ehrengerichte mit gleicher
Organisation und Kompetenz zu bilden, wie sie den bestehenden innewohnt.
Die aus der Aktivität übernommenen Überlieferungen bestehen ja fort. Man
übersehe nur nicht, daß dem Offizier mit dem Ausscheiden aus der Armee die
Allsübung der politischen Rechte zusteht, daß ein neuer Beruf auch neue Pflichten
mit sich bringt. Freie Aussprache und der Ausdruck der politischen Überzeugung
dürfen ebensowenig, wie bei den Offizieren des beurlaubten Standes, unter
ehrengerichtliche Anklage gestellt werden, sie sind das Recht des Staatsbürgers.
Es ist selbstredend, daß der inaktive Offizier mit der Erlaubnis zum Tragen
der Uniform gewisse Pflichten übernimmt und sich dementsprechend in manchen
Dingen eine Reserve aufzuerlegen hat. Man erleichtere aber dem inaktiven
Offizier den Verzicht auf das Recht zum Tragen der Uniform, wenn er später
die Notwendigkeit einsteht, um solchen einzukommen.
Es ist Eingangs der Betrachtung gezeigt worden, daß die Einführung der
Ehrengerichte einer nie geahnten Katastrophe folgte, die einen außergewöhnlichen
Tiefstand des militärischen Geistes, des Begriffs für Ehre und Pflicht verriet.
Das vortreffliche Offizierkorps Friedrichs des Zweiten, das dem großen Könige
zu unerhörten Erfolgen verhalf, kannte kein Ehrengericht. Auch heute bestehen
solche in vielen Heeren noch nicht. Weder das Offizierkorps der britischen
Marille, noch das des Landheeres ist einem Ehrengericht unterworfen. Es ist
unbekannt in den skandinavischen Heeren, im Türkischen und Japanischen. Das
russische Offizierkorps dagegen ist Ehrengerichten unterworfen, trotzdem zeigte es
sich in der Mandschurei dem japanischen weit unterlegen. Es muß bezweifelt
werden, daß Ehrengerichte einen Einfluß auf die Qualität des Offizierkorps
ausüben. Nicht ni Einrichtungen darf man eine Garantie gegen Herab-
minderung des Geistes der Ehre und Pflicht suchen, auch Strafparagraphen sind
eine unvollkommene Wehr dagegen. Die beste Gewähr für Hochhaltung der
Ehrliebe und des Pflichtbewußtseins bleiben Erziehung und Beispiel. Das
deutsche Offizierkorps soll und muß auf seiner Höhe erhalten werden. Die
besten Garantien hierfür bleiben sorgfältige Auswahl des Ersatzes, Beispiel der
Vorgesetzten, Gerechtigkeit, erkennbares Wohlwollen, Erziehung zur Selbstzucht,
Förderung edlen Strebens.
KMan kann sich fragen, ob denn der alte Kaiser mit der Kunst
während seiner Regierungszeit überhaupt etwas zu tun gehabt
hat; denn eigentlich hörte man nur: Se. Majestät besuchte heute
die große Kunstausstellung ini Glaspalast und kaufte die und die
Kunstwerke an, oder ähnliches. Von irgend einem persönlichen
Eingreifen in die künstlerischen Fragen seiner Zeit vernahm man niemals
etwas, kaum einmal von einer direkt erfolgten Bestellung. Der feinsinnige
Kunsthistoriker Herman Grimm, für den die Kunstgeschichte noch nicht aus nach
Schein« 1^ abgezogenen Künstlerbiographien, aber auch nicht aus üsthetisierenden
Kunstbetrachtungen vor begeisterten Hörerinnen bestand, unterhielt sich mit der
Kaiserin Augusta über literarisch-künstlerische Fragen — das war so ziemlich
alles, was seinerzeit vom kaiserlichen Hos her über die Beschäftigung mit der
bildenden und redenden Kunst verlautbar wurde. Allerdings trieb sich, aber ohne
behördlichen' Auftrag, „bei Hofe" ein kleiner Malersmann herum, der dort so
ein bischen königlich-preußische und kaiserlich-deutsche Weltgeschichte zu erfassen
und, auch ohne Wissen und Wollen, ein wenig Kulturgeschichte zu malen sich
unterfing. Er hatte allerdings das Glück, die Ansichten der maßgebenden
Herrschaften zu treffen, da er, ohne sich dessen bewußt zu sein, den überlieferten
Reichtum der verflossenen Kunstperioden, wenn auch nur als Maler, zu nutzen
verstand. Und doch ist Adolf Menzel unzweifelhaft einmal ein Sezessionist
schlimmster Gattung gewesen, allerdings ohne das schöne I'art pour I'me
programmatisch erkannt zu haben.
Also weshalb Kaiser Wilhelms verehrungswürdige Gestalt in die künst¬
lerischen Kämpfe seiner Zeit hineinziehen, wenn von unmittelbaren Einwirkungen
nicht die Rede sein kann? Es gibt Fürsten und staatliche Mächte, welche die
Fähigkeit besitzen, Kräfte ihrer Epoche zur Reife gelangen zu lassen, dadurch,
daß sie ihnen die Möglichkeit ruhiger Entwicklung gewähren. Das tat Kaiser
Wilhelm als Fürst wie als Staatenlenker. Er war einem vornehmsten Mäcenas
gleich, der einem Künstler alle materiellen Sorgen nimmt und sagt: „Schaffe,
wie es dein Genius dir eingibt." Wilhelm der Erste hatte hangend am Vor¬
abend der Erwählung zum deutschen Kaiser sich gefragt: Wird mein altes vor¬
nehmes preußisches Königtum nicht in dem jungen deutschen Kaisertum unter¬
gehen, der alte Adel einen: neuen weichen müssen? — Wir wollen nicht unter¬
suchen, inwieweit diese Weisheit eines Greises Recht behalten hat, sondern einzig
feststellen, daß der Monarch sich selbst nur unklar der Situation bewußt war,
an einem Wendepunkt der gesamten politischen Lage — dies Wort im weitesten
Sinne aufgefaßt — zu stehen. Gewaltige Kräfte hatten sich vor 1870 auf sämt¬
lichen Gebieten alles Schaffens in Deutschland angesammelt, dies Jahr brachte
eine Entladung, eine Befreiung, und überall regte sich neues Wirken. Es ist
eine alte Klage, daß diese große Zeit keine bodenständige Kunst gebracht habe.
Ist das wirklich wahr? Der ruhig zurückblickende Historiker — und dieser darf
heute bereits das Wort beanspruchen — wird jener Auffassung nicht mehr
zustimmen können. Allerdings darf sich nur der Kulturhistoriker im eigentlichen
Sinne Gehör erbitten. Es kann sich nämlich fast nie in der Kulturgeschichte
darum handeln, daß die Kunst den geschichtlichen Ereignissen einen gleichartigen
Ausdruck verleiht, sondern nur darum, daß die vorhandenen Triebkräfte sich
mittels der Kunst aussprechen. Und das hat die Kunst damals in vollen:
Maße vermocht und getan, dank Kaiser Wilhelms des Ersten weiser Zurück¬
haltung wie echter Fürstenklugheit, die mehr leiten als führen soll.
Die bildenden Künstler spiegeln zunächst ganz allgemein das Suchen der
Zeit nach bestimmten klar umrissenen Zielen wieder. Das vornehmste Wollen vor
1870 betraf die Wiedererrichtung des alten deutschen Kaisertums, aus allgemein
idealen wie aus sehr real-praktischen Gesichtspunkten heraus. Deutsches Kaisertum
verhieß beiden Gruppen Macht und Sicherheit. Gewalten der Vergangenheit
mußten beiden in der Gegenwart helfend an die Seite treten.
Es ist gar viel und mit herben Worten davon gesprochen, daß auch die
große Zeit von 1370 den Deutschen eine nationale Baukunst nicht geliefert
habe, sondern daß die alten Kunstperioden nur geplündert seien, daß das
Mühen um das „Eigene" einzig zu einer königlich bayerischen Nationalbaukunst
geführt habe. Ist das wahr? — Ich meine, hier sind doch jene beiden Macht¬
haber, von denen ich soeben sprach, recht innig vereint am Werke. Vergangen¬
heit und Gegenwart schufen damals eine Zukunft — wie Kaiser Wilhelm der
Erste auch. Gewiß erblickt das Auge, das die große Reihe aller Arten von
Bauten überschaut, sehr viel Überlieferung, aber auch mindestens ebenso viel
Neues. Dies Zeitgenössische findet sich nämlich im Grundriß, und der Grund¬
riß ist die Seele des Gebäudes — wie Körper und Seele sich aber zu einander
verhalten, wissen wir ja alle, trotz Jatho und Spruchkollegium. Wo fanden
die Architekten denn die Muster für Bahnhöfe, Museen, Bibliotheken, chemische
und andere Laboratorien, sür zeitgenössische Krankenhäuser, für Postgebäude,
die einem Weltverkehr genügen konnten, für Krystallpaläste u. a. in.? Nirgends!
Woher konnten die Bauherren und Baumeister die Vorlagen nehmen, als aus
dem Treiben, dem Müssen der eigenen schaffenden Stunde? Und diese Werke
waren vorbildlich, weil sie Pionierarbeiten waren, Gaben echter Kunst, trotz
des entliehenen Rockes, der zurechtgestutzt wurde, so gut es ging. Wer aber
von Schablone, von wiederaufgesagter Kunstgeschichte spricht, verkennt die ma߬
gebenden Gesichtspunkte; für einen solchen Beobachter hat der Hohenzoller mit
dem Lothringer-Habsburger auch nur die Rolle wie die Uniform getauscht.
Es lebt in Kaiser Wilhelms des Ersten Regierungszeit ein Wirklichkeitsstnn,
dem im allgemeinen ein gutes Augenmaß eigen ist. Es gilt das für das Leben
wie für die Kunst. Für jenes sei an die Tatsache erinnert, daß Moltke als
Major reif für das „a. D." erschien, aber man fühlte offenbar, daß etwas
mehr als ein Frontoffizier in dem Herrn Major stecke und ließ das Verhängnis¬
volle nicht geschehen. Für die Kunst gilt dieselbe Auffassung. Wenn wir von
dieser Warte aus die einzelnen Gebiete der Malerei überschauen, so mag unsere
Aufmerksamkeit etwa die religiöse Malerei in Anspruch nehmen. Es werden
sich zwei Namen vor allen andern vor uns hinstellen, Eduard v. Gebhardt und
Fritz »v. Abbe. Der erstere ist der Vertreter jener ideal gerichteten Menschen
vor 1870, die vergangene Großtaten heraufbeschworen, uni der Gegenwart neue
schöpferische Kraft einzuflößen. In Geohardts Malereien wird die schlichte
Bibelfrömmigkeit lebendig, die auch dem alten Kaiser stärkend innewohnte, als
ihm die schweren Tage von Blut und Eisen erstanden; aber Gebhardt borgt
sich das Gewand von damals, als Luther zu bibelstarkem Christentum rief.
Fritz v. Abbe wußte, daß selbst der Orthodoxie nicht mehr überall die Bibel
als wörtliche Inspiration einer transzendenten Welt erschien, er nahm die Person
des Heilandes als Dolmetscher ewiger Wahrheiten, die unabhängig von der
Zeiten Wechsel leben und wirken. Seine Heilandsfigur ist demnach nur ein zur
Verdeutlichung notwendiges Symbol von der Gotteskindschaft der Menschen zu
all und jeder Zeit. Sein Wirklichkeitssinn durfte deshalb ruhig aus seiner
Umgebung schlichtfromme Menschen schildern, die den Einfluß der Lehre des
Messias widerspiegeln, die ewigen Mächte im Alltage des Daseins, ohne Dogma,
aber voll lebensstarker Kraft. Ob wir auf Grützners Mönchsbilder einen
Blick werfen dürfen, in Erinnerung der anhebenden Kämpfe des jungen „pro¬
testantischen Kaisertums" mit den: ungesund konservativen Römertum, Kämpfe,
die so stark die Stützen der neuen und der alten Kaiserherrlichkeit kundtaten?
Wenn dabei ein Seitenblick auf den wundervoll sicheren Maler des „Herrgott¬
schnitzers" und ähnlicher Bilder, auf Mathias Schmidt, fallen darf, so sind
wir auch bei der Schilderung des Volkslebens angelangt. Wie Defregger und
Leiht jenen Triebkräften vor und nach 1870 entsprechen! Wie kühler, ruhiger
Besonnenheit und klarer Erkenntnis des Erreichbaren voll sind Bismarcks Worte,
daß die ganzen Balkanhändel ihm nicht die Knochen eines einzigen pommerschen
Soldaten wert feien! Von gleicher Art ist der für die Schilderung deutschen
Bauernlebens immer volltönender anerkannte Leiht, wirklichkeitswahr und nüchtern,
aber deswegen nicht phantasiearm. Er malte all das, was ihn umgab, mit
ehrfürchtiger Treue ab, aber gleichzeitig erlebte er seine Umgebung, er war in
ihr und sie in ihm. Er war, um modern zu reden, ein Körner und ein Schäffer.
In schroffem Gegensatz zu diesem Malermeister steht ein Malerstümper und
doch ein hochbedeutsamer Künstler für seine Gegenwart und für seine Folgezeit,
Hans v. Marsch. Als Marsch auftrat, schreibt Mulder in seiner sehr über¬
flüssigerweise überall zum alten Eisen geworfenen Geschichte der Malerei, gab
es in Deutschland noch keine „große Malerei" um der Malerei willen, sondern
nur eine Wanddekoration im Sinne des historischen Genrebildes. Marsch gab
ihr das Lebensprinzip, den heiteren Schwung zurück, indem er nicht mehr erzählte,
sondern nur malerisch wirken wollte. Auch Wilhelm der Erste und seine großen
Helfer redeten wenig, aber malten große Monumentalgemälde an die Wände
des Hauses, in dem das deutsche Volk wohnte — vielleicht waren auch sie nicht
überall Malermeister, aber der Sinn für echte Größe lebte in ihren Werken.
Gewiß ist es für Marsch eine zu große Ehre, in dieser Verbindung genannt
zu werden, aber er widerspiegelt besser das Ringen zur Größe im ganzen Volke,
als das Militärbild, das unmittelbar den großen Krieg schildert, und welches
die offiziell anerkannte Verdolmetschung des blutigen Kampfes um die Lebens¬
stellung des deutschen Volkes als „Nation" ist.
Aber die neue Nation hatte noch einen ganz anderen „blutigen Kampf"
auszufechten, den im eigenen Lande Bürger gegen Bürger auskämpften, ohne
daß herzerfreuende Feste, Lorbeerkränze und Fahnenschwenker winkten. Der
soziale Kampf, der Streit der Klassen untereinander und gegeneinander durch¬
tobte fast gleichzeitig mit dem Ringen um politische Freiheit das deutsche Volk.
In den vierziger Jahren war der Stoff schon künstlerisch faßbar geworden. In
den Jahren, als der große Kanzler den Fehdehandschuh den „Enterbten" hin¬
warf, mit „Blut und Eisen" soziale Forderungen erdrücken wollte, da war die
Saat für die Künstler reif geworden. Die Arme-Leute-Malerei erscheint
geradezu als ein Bekenntnis der Deutschen ihrer inneren Überzeugung von
der Gerechtigkeit der Forderungen der sozialen Frage. Die soziale Fürsorge¬
gesetzgebung Wilhelms des Zweiten hat den Künstlern aus der Zeit Wilhelms
des Ersten recht gegeben; sie waren wieder einmal Dolmetscher ihrer Volks¬
genossen gewesen.
Aber auch ohne diese immerhin etwas programmatische Tendenz erwuchs die
künstlerische „Einkehr ins Volk", anders wie sie von den Novelletten- und Tragödien¬
malern der Zeit vor 1870 geboten war. Der schlichte Wirklichkeitssinn — trotz
der Gründerzeit darf es gesagt werden — war überall zu tief eingedrungen, als
daß man nicht Wahrheit über alle anderen Rücksichten hinweg erreichen wollte.
Es war ja auch die Zeit, in der die Naturwissenschaft intensiver als je zuvor
Gottes Wort „Werde"' seines mystischen Schimmers entkleiden und von dem
Glänze bewunderungswürdigster Entwicklungsgesetze umleuchten lassen wollte.
Von Frankreich und von einem Lande, das von naiver Verehrung der Natur
erfüllt war, von Japan her, erzwang sich eine unvoreingenommene künstlerische
Schilderung der alltäglichen Umgebung Geltung, die ihrer wesentlichsten Eigenart
nach die Sache um der Sache willen, die Kunst um der Kunst willen ohne
besondere Nebenabsichten bieten wollte, womit sie den Grundtendenzen der Epoche
Wilhelms des Ersten durchaus entsprach. Allerdings litt das Gemütsleben, der
höhere Flug der Phantasie; aber vergessen wir nicht, es war auch die Zeit der
parlamentarischen und privaten Jnteressenkämpfe angebrochen. „Höhere" Gesichts¬
punkte schienen allerorten einigermaßen ausgeschieden zu sein.
Die deutschen Lande stehen voll Denkmäler, die Kaiser Wilhelm den Ersten
feiern. Ob dem Sinn des alten Monarchen diese Verherrlichung seiner Person
recht gewesen wäre, er, der im höchsten Siegerglück sagte: „Welche Wendung
durch Gottes wunderbare Fügung I" — Es ist diese Frage schwer zu beant¬
worten. Als Material dazu besitzen wir nur die Siegesdenkmäler, die unter
seiner Regierung gesetzt sind. Sie feiern entweder den todesmutigen Krieger
oder stellen Symbole anstatt der Herrschergestalt auf. Die Germania am Rhein,
das Hermann-Denkmal im Teutoburger Walde sind gewiß keine Kunstwerke
erstell Ranges, aber auch nicht protzenhafte Selbstverherrlichungen, sondern
von feinem Seelenadel, von gutem Taktgefühl eingegeben und beseelt von einem
Volksempfinden, das trotz der Mängel des einzelnen Kunstwerkes stark fühlbar
ist, jedenfalls intensiver als in dem Konglomerat von Menschen, Tieren und
Bauteilen, das zu Ehren Wilhelms des Ersten neben dem Schlosse zu Berlin
seine Stätte gefunden hat. Anderseits läßt sich nicht in Abrede stellen, daß
auch die prunkvollen Denkmäler, wie etwa das auf dem Kyffhäuser, ja selbst
das in manchen Punkten zu beanstandende Monument in Berlin, in gewissem
Hinblick aus der Zeit Wilhelms des Ersten hervorgegangen sind, insofern nämlich,
als sie die Periode der selbstbewußten, zielsicheren Männer war, die allerdings
nicht protzig, sondern ruhig und sicher auftraten.
Die Kunst der Regierungszeit Kaiser Wilhelms des Ersten ergibt als Gesamt¬
ergebnis, daß sie eine in sich geschlossene war. Die künstlerische Entwicklung
dieser Zeit — nur von einer solchen dürfen wir reden — ging ihren Weg ruhig
voran, weil außenstehende und gebietende Mächte sie nicht von sich selbst
abirren machten.
in Vorentwurf des zukünftigen deutschen Strafgesetzbuches ist die
gesonderte strafrechtliche Behandlung der sogenannten vermindert
Zurechnungsfähigen in Aussicht genommen. Das zurzeit geltende
Strafgesetz unterscheidet nur zwischen Menschen, die bei Begehung
einer strafbaren Handlung im Besitz der „freien Willensbestimmung"
und somit „zurechnungsfähig" waren, und solchen, bei denen infolge Bewußt¬
losigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit die freie Willensbestimmung
ausgeschlossen war. Eine Zwischengruppe kennt das heutige Strafgesetzbuch uicht.
Nach meiner Ansicht ist dieser Standpunkt eine durchaus logische Folgerung
aus der Voraussetzung, daß der Mensch über einen „freien Willen" verfüge.
Wenn die Willenshandlungen des Menschen frei sind, so kann das nur bedeuten,
daß sie sich nicht mit zwingender Notwendigkeit aus den jeweiligen äußeren
Umständen und der Beschaffenheit des Zentralnervensystems ergeben, sondern
hiervon unabhängig, also ursachlos sind. Ich selbst glaube nicht an die Mög¬
lichkeit ursachlosen Geschehens. Wer aber daran glaubt, kann meines Trachtens
im bestimmten Fall immer nur das Vorhandensein des unabhängigen Willens
annehmen oder ausschließen. Wie hier ein Zwischending gedacht werden kann,
ist mir unerfindlich. Der freie Wille kann nur vorhanden sein oder nicht.
Nimmt man an, daß irgendein Zustand das Wollen beeinflusse, so ist es eben
nicht mehr frei.
Aus solchen" und ähnlichen Gedankengängen sind der Aufstellung einer
strafrechtlich besonders zu behandelnden Zwischenstufe zwischen normalZurechnungs-
fähigen und Unzurechnungsfähigen manche Gegner entstanden. Soweit von
ihnen behauptet wird, daß die Fassung des Z 63, 2 des Voreutwurfs: „War
die freie Willensbestimmung. . . zwar nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem
Grade vermindert, fo . . ." unlogisch sei, kann ich nur zustimmen. Eine ver¬
minderte freie Willensbestimmung erscheint mir denkuumöglich.
Hiermit ist aber keineswegs die Frage entschieden, ob überhaupt die
Berücksichtigung einer Zwischengruppe zwischen geistesgesunden Rechtsverletzern
und solchen geboten ist, die wegen ihrer bei der Tat vorhandenen Geistesstörung
nicht strafbar sind. Die Mehrzahl der zuständigen Beurteiler hat, wie der
Vorentwurf zeigt, die Frage schon bejaht. Dadurch, daß die Bearbeiter des
Vorentwurss an dem Begriff der freien Willensbestimmung festhielten und ihr
Vorhandensein zur Voraussetzung der Strafbarkeit machten, konnten sie aber dein
schon hervorgehobenen Verstoß gegen die Logik nicht ausweichen, der in der
Aufstellung des Begriffs der verminderten freien Willensbestimmung liegt. Man
könnte diesen Verstoß als bedeutungslos betrachten und sich im übrigen von
Herzen darüber freuen, daß die von vielen Juristen, Kriminalisten und Psychiatern
seit langem erstrebte strafrechtliche Zwischenstufe überhaupt geschaffen werden soll,
wenn sich nicht überaus bedenkliche Folgerungen aus den: im Vorentwurf
niedergelegten Standpunkt ergäben, bedenklich deshalb, weil sie die Rechtssicherheit
gefährden. Der Vorentwurf bestimmt, daß bei Verminderung der freien Willens¬
bestimmung „hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch"
Anwendung finden, die Strafe also milder ausfalle. Nun kann allerdings kein
Zweifel darüber sein, daß für einen Teil der Menschen, die zu der in Aussicht
genommenen Zwischenstufe gehören, eine mildere Strafe am Platze ist. Das
Bedenkliche liegt darin, daß die Bestimmung über die mildere Bestrafung ohne
Einschränkung ausgesprochen ist. Dieses Fehlen eines einschränkenden Zusatzes
würde sich höchstwahrscheinlich als verhängnisvoll erweisen. Eine kurze Schilderung
der Elemente, auf welche der Begriff der „verminderten freien Willensbestimmung"
Anwendung finden würde, soll weiter unten gegeben werden. Nur das sei schon
vorausgenommen, daß sich darunter eine Reihe gefährlicher Verbrecher findet,
für welche die gesetzlich verbürgte Aussicht auf mildere Strafe manchmal geradezu
eine Ermutigung zur Begehung von Straftaten bilden würde. Zwar bestimmt
Z 63, 1 und 2: „Wird jemand auf Grund des Z 63, Abs. 2 zu einer milderen
Strafe verurteilt, so hat das Gericht, wenn es die öffentliche Sicherheit er¬
fordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt anzu¬
ordnen. — Im Falle des Z 63, Abs. 2 erfolgt die Verwahrung nach verbüßter
Freiheitsstrafe." Ich glaube aber, daß auch die Aussicht auf die Unterbringung
in einer „Heil- und Pflegeanstalt" auf die gefährlichen Verbrecher nicht genügend
hemmend wirkt, wenn die vorher zu verbüßende eigentliche Strafe unter allen
Umständen zu milde sein muß. Anderseits muß ich aber zugeben, daß die
Bearbeiter des Vorentwurfs bei dem Standpunkt, von dem sie ausgingen, eine
andere Bestimmung als die von ihnen getroffene gar nicht bringen konnten.
Sie gingen eben davon aus, daß die „freie Willensbestimmung" unerläßliche
Voraussetzung sür die Strafbarkeit sei. Daraus folgt logisch, daß auch die
Strafe unter allen Umständen vermindert sein muß, wenn die freie Willens¬
bestimmung vermindert ist.
Wir haben also auf der einen Seite die Tatsache, daß aus den Erfahrungen
der praktischen Rechtspflege die Aufstellung einer strafrechtlichen Zwischenstufe
gefordert wird, auf der anderen die bedenklichen Folgerungen, die sich daraus
ergeben müssen, daß die Bearbeiter des Vorentwurfs die „freie Willensbestimmung"
zur Grundlage der Strafbarkeit machten, daß sie sodann, um dem Verlangen
nach der Zwischenstufe nachzukommen, entgegen der Logik eine „Verminderung"
dieser freien Willensbestimmung annahmen und hieraus die mildere Bestrafung
ohne Einschränkung ableiteten.
In den Kritiken zum Vorentwurf wurde vielfach gerühmt, daß er sich nicht
einseitig auf den Boden einer Schule gestellt, sondern eine glückliche Vereinigung
mehrerer Richtungen erstrebt habe. Dieses Lob mag im großen und ganzen
begründet sein. Bei dem uns beschäftigenden Problem aber erscheint mir das
Ergebnis wenig glücklich, das aus einer Vermischung der an der „freien Willens¬
bestimmung" festhaltenden Anschauungen der sogenannten klassischen Schule mit
der in: wesentlichen aus der biologisch-anthropologischen Betrachtungsweise
abgeleiteten Forderung derer entstanden ist, die eine strafrechtliche Zwischenstufe
wünschen. Ich glaube gezeigt zu haben, daß diese Mischung nicht befriedigender
ausfallen konnte.
Es ist daher wohl lohnend, zu untersuchen, ob für die Beibehaltung des
Begriffs der freien Willensbestimmung zwingende Gründe bestehen, welche
Berechtigung ferner eine andere Auffassung vom Wesen des Willens hat, wie
das Strafrecht auf einer anderen Auffassung aufgebaut werden kann, und wie
man sich schließlich von dem so gewonnenen anderen Standpunkt unter Berück¬
sichtigung der zu erstrebenden möglichst großen Rechtssicherheit zu unserem Problem
zu stellen hat.
In den Motiven zum Entwurf heißt es, daß sich die Beibehaltung des
Ausdrucks „freie Willensbestimmung" durch den Mangel eines besseren rechtfertige,
daß er im Sinne des gewöhnlichen Lebens zu verstehen sei und durch lange
Gewöhnung überdies volkstümlich geworden sei.
Dieser Begründung ist entgegenzuhalten, daß „der Sinn des gewöhnlichen
Lebens" keineswegs ein klar umschriebener ist, und daß selbst solche Juristen,
die im übrigen durchaus die „freie Willensbestimmung" anerkennen, nicht aus¬
nahmslos für die Beibehaltung des Begriffs im Strafgesetzbuch eintreten. So
hat z. B. Geheimrat Prof. Dr. Kahl wiederholt ausgesprochen, daß der Begriff
unbedenklich fallen könnte. Es darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß
die Psychiater sämtlich von der Willensfreiheit des Menschen nichts wissen wollen.
Und doch sind sie es, deren sachverständiges Gutachten die Richter erst in den
Stand setzen soll, über das Vorhandensein der freien Willensbestimmung, ihre
Verminderung und ihr Ausgeschlossensein zu entscheiden. Man sollte meinen,
daß bei solcher Sachlage den Richtern wirklich nichts an der Beibehaltung des
vielumstrittenen Begriffs liegen könnte. Wenn wir schließlich bedenken, daß er
sehr wohl ersetzt werden kann — wie, wird unten gezeigt werden —, und daß
er zu der oben dargelegten bedenklichen Bestimmung über die unter allen Um¬
ständen mildere Bestrafung der „vermindert Zurechnungsfähigen" geführt hat.
so können wir nur wünschen, daß er nicht wieder in das neue Strafgesetzbuch
aufgenommen wird.
Ich will hier das Problem der Willensfreiheit nicht ausführlich behandeln.
Hierzu würde zunächst eine erschöpfende Erörterung des Seelenproblems gehören,
die zu weit führen würde. Der Kampf um die Willensfreiheit wird vielfach
mit Leidenschaftlichkeit geführt, und namentlich auf der Seite der Bekenner des
freien Willens, der Jndeterministen, scheint nur ein reichliches Maß von Entrüstung
gegen seine Verneiner, die Deterministen, vorhanden zu sein. Ich habe den
Eindruck gewonnen, daß diese Entrüstung zum Teil auf einer falschen Auffassung
des Problems beruht. Gar manche scheinen zu glauben, nach deterministischer
Anschauung bedinge das Gehirn die Handlungen des Menschen wie ein unbeein¬
flußbarer mechanischer Apparat. Eine derartige Ansicht ist aber keineswegs die
notwendige Voraussetzung des Determinismus. Nach meiner Ansicht erzeugt
das Gehirn nicht etwa das Geistesleben und somit das Wollen. Es ist viel¬
mehr nur das Organ, in welchem sich die mannigfaltigen Beziehungskomplexe
zwischen den Weltbestandteilen, die die Beziehung zum Bewußtsein schon von
vornherein in sich tragen, ordnen. In dem Weltgeschehen folgt ein Ereignis
nach den: anderen mit absoluter Notwendigkeit aus der Gesamtheit aller Be¬
dingungen und somit ist auch jede Handlung des Menschen das Ergebnis seiner
Anlage und aller der Einflüsse, die von jeher auf ihn gewirkt haben und im
Augenblick der Handlung auf ihn wirken. Nach meiner Ansicht ist diese Auf¬
fassung weit davon entfernt, beunruhigend zu wirken. Nur die skizzierte deter¬
ministische Auffassung berechtigt uns, von der Erziehung gute Erfolge zu erhoffen,
und nur sie gewährt meines Erachtens dem Strafrecht eine sichere Grundlage,
indem sie die Strafen und Strafandrohungen unter die das Wollen des Menschen
bestimmenden Einflüsse einreiht. Für die Mehrzahl aller Menschen ist die Tat¬
sache der Strafbarkeit gewisser Handlungen ein Faktor, der im gegebenen Fall
das Wollen ausschlaggebend mitbestimmt.
Aus dieser Anschauung folgt, daß nicht der Ausschluß der freien Willens¬
bestimmung an sich den Täter straflos machen kann, denn jede Handlung ergibt
sich naturgemäß und notwendig aus Milieu und Anlage des Täters. Wenn
er bestraft wird, so geschieht es, weil die Strafe ihn und andere zu beeinflussen
geeignet ist. Nicht strafbar ist vom Standpunkt des Determinismus nur der,
für den die Wirkung von Strafandrohungen nicht in Betracht kommt, also z. B.
der ausgesprochen Geisteskranke.
Auch wer den vorstehenden Ausführungen nicht bedingungslos zustimmt,
wird zugeben müssen, daß es nützlich ist, dem deterministischen Standpunkt der
Psychiater Rechnung zu tragen, ohne deren Mitarbeit der Richter in zweifel¬
haften Fällen nicht imstande ist, über Strafbarkeit oder Nichtstrafbarkeit eines
Rechtsverletzers zu entscheiden. Wenn vollends die Möglichkeit gegeben ist, an
die Stelle des Ausschlusses der freien Willensbestimmung eine Definition des
straffrei machenden Zustandes zu setzen, die dem Standpunkt des Indeterminismus
in keiner Weise zu nahe tritt, dürfte auch der überzeugteste Jndeterminist keine
Veranlassung haben, die Beibehaltung des Ausdrucks „freie Willensbestimmung"
zu fordern, der zu so vielen unerquicklichen Mißverständnissen und Meinungs¬
verschiedenheiten in loro geführt hat und auch in Zukunft führen würde. Eine
dem Determinismus gerecht werdende und den Indeterminismus nicht angreifende
Begriffsbestimmung zurKennzeichnung der die Strafbarkeit ausschließenden Zustände
gibt der österreichische Gesetzentwurf, der mit einer von Aschaffenburg vor¬
geschlagenen Änderung folgendermaßen lauten würde: „Nicht strafbar ist, wer
zur Zeit der Tat wegen Geistesstörung, Geistesschwache oder Bewußtseinsstörung
nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht
gemäß zu handeln." Ich wüßte nicht, warum nicht auch der Jndeterminist
diese Fassung annehmen könnte. Das Wesentliche an ihr besteht ja in der
Forderung, daß jene Unfähigkeit durch Geistesstörung, Geistesschwache »der
Bewußtseinsstörung hervorgerufen sein muß, um Straflosigkeit zur Folge zu haben.
Nach dieser Abschweifung, die aber zum Verständnis späterer Ausführungen
nötig war, wenden wir uns wieder zu unseren: eigentlichen Thema. Wiederholt
wurde darauf hingewiesen, daß die besondere strafrechtliche Behandlung der
Zwischenstufe zwischen den geistig Normalen und den Geisteskranken einem
praktischen Bedürfnis entspreche. Es erscheint daher angezeigt, darzulegen,
warum dieses Bedürfnis besteht. Am besten geschieht dies dadurch, daß ich in
möglichster Kürze die Menschen schildere, die zu der in Aussicht genommenen
Zwischenstufe gehören. Ich folge hierbei der Darstellung eines Kundigeren, des
bekannten Psychiaters Prof. Dr. Cramer (Göttingen).
Crcimer faßt mit anderen Autoren die in Betracht kommenden Individuen unter der
Bezeichnung „geistig Minderwertige" zusammen und unterscheidet unter ihnen mehrere Gruppen:
Erstens Menschen mit dauernder geistiger Minderwertigkeit. Hierzu gehören die leicht
Schwachsinnigen infolge Entwicklungshemmung des Gehirns, die in jedem Grade und in
jedem Alter die geistige Entwicklung zum Stillstand bringen kann. Ferner die chronischen
Alkoholisten und Morphinisten im Zustand der Charakterdegeneration, Epileptiker mit vor¬
geschrittenerer Charakterdegeneration, Patienten mit langsam sich entwickelnder arteriosklerotischer
Atrophie des Gehirns, die namentlich bei Greisen nicht selten ist; Degenerierte, Patienten
mit durch Verletzung hervorgerufener Gehirnveränderung, manche Hysteriker.
Zweitens geistig Minderwertige, bei denen zwar der zugrundeliegende krankhafte Zustand
auch dauernd ist, für gewöhnlich aber nicht deutlich Herbortritt. Bei diesen Menschen wird
die geistige Minderwertigkeit nur unter besonderen Umständen bemerkbar, z. B. nach Über¬
anstrengungen; nach Moholgenusz, bei Frauen während der Menstruation usw. Die krank¬
haften Zustände, die die geistige Minderwertigkeit bedingen, sind die gleichen wie bei der
vorigen Gruppe. Sie haben sich aber nicht so weit entwickelt, um einen unter allen Um¬
ständen zutage tretenden geistigen Mangel hervorzurufen.
Zu einer dritten Gruppe gehören nach Cramer die Fälle, bei denen ganz vereinzelte
krankhafte Symptome einer nervösen Konstitution nachweisbar sind. Bei ihnen können gelegent¬
lich Überanstrengungen, Alkoholgenuß, überstandene akute Infektionskrankheiten, eine Ver¬
letzung usw. ganz vorübergehende Zustände geistiger Minderwertigkeit herbeiführen. Cramer
gibt hierfür ein Beispiel: Ein gesunder kräftiger Mann stürzt mit dem Rade. Am folgenden
Tage, nachdem seine durch den Sturz verursachten Kopfschmerzen verschwunden sind, nimmt
er an einer Festfeier teil. Während er sonst alkoholische Getränke gut verträgt, gerät er jetzt
schon nach wenigen Gläsern Wein in einen Zustand großer Erregtheit, in welchem er heraus¬
fordernd und bald gewalttätig wird. Nach vierzehn Tagen hat er seine frühere Toleranz
gegen Alkohol wieder. Mit Recht macht Cramer darauf aufmerksam, daß der Mann, falls
er strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wäre, milder hätte beurteilt werden müssen.
Als eine für sich zu betrachtende Gruppe von geistig Minderwertigen nimmt Cramer
die Individuen heraus, die infolge eines krankhaft abnormen GehirnznstandeS sich durch
moralischen Schwachsinn, durch gänzlichen Mangel an Altruismus und die bei jeder Gelegen¬
heit hervortretenden antisozialen Instinkte unliebsam hervortun. In den meisten Fällen fehlen
bei ihnen auch mehr oder minder große Jntelligenzdefekte nicht, so raffiniert sie im übrigen
auch bei der Betätigung ihrer egoistischen gesellschaftsfeindlichen Neigungen manchmal vor¬
gehen mögen.
Was die Art und Weise betrifft, in der sich die sogenannte geistige Minderwertigkeit
kundgibt, so kann man eine allgemeine Herabsetzung der geistigen Fähigkeiten und eine
Schwäche einzelner oder mehrerer Komponenten der geistigen Tätigkeit unterscheiden. So
kann z. B. die Intelligenz im allgemeinen mangelhaft sein oder in einzelnen Zügen gut ent¬
wickelt und in den anderen herabgesetzt. Einzelne künstlerische Talente können hervorragend
entwickelt sein, während die Intelligenz im übrigen und das Gefühlsleben auf tiefer Stufe
stehen. In anderen Fällen ist die Intelligenz ziemlich gut entwickelt, während Selbstzucht
und Hemmung gegen egoistische Triebe fehlen.
Weiter will ich auf Einzelheiten nicht eingehen. Der Kundige mag sich die
Darstellung aus seiner Erfahrung ergänzen. Wer erkannt hat, daß wir nicht
mehr mit einem Strafrecht auskommen, das sich damit begnügt, jede Rechts¬
verletzung nach der Formel zu ahnden, wird sich der Einsicht nicht verschließen,
daß wir der Eigenart der geistig Minderwertigen nicht gerecht werden können,
wenn wir nur die Wahl haben zwischen der gewöhnlichen Strafe und der An¬
wendung der Unzurechnungsfähigkeit. So wäre es doch gewiß eine Härte, wenn
der von Cramer angeführte durch Sturz mit dem Rade verletzte Mann (s. oben)
für seine Gewalttätigkeit mit der ganzen Strenge des Gesetzes bestraft worden
wäre. Es wäre aber auch nicht angängig gewesen, ihn straffrei zu lassen.
Und wenn wir anderseits die geistig Minderwertigen betrachten, deren Unzu¬
länglichkeit vornehmlich durch ihre antisozialen Instinkte zutage tritt, so lehrt
die Erfahrung, daß wir die Gesellschaft mit Hilfe des jetzt geltenden Strafrechts
nicht genügend vor ihnen schützen können.
Wenn wir nun wieder darauf zurückkommen, wie wohl die strafrechtliche
Behandlung der geistig Minderwertigen am zweckmäßigsten gestaltet werden möge,
so möchte ich an die Spitze den Satz setzen, daß sie überhaupt straffähig sind.
Die Forderung ist zu erheben, daß der Begriff der geistigen Minderwertigkeit
nur auf solche Rechtsverletzer angewendet werde, für die Strafen und Straf¬
androhungen als ein das Handeln bestimmendes Moment noch in Betracht
kommen können. Ob im Einzelfall der geistig Minderwertige durch die Straf¬
androhung gehemmt wird oder nicht, tut dabei nichts zur Sache. Falls man
etwa alle geistig Minderwertigen straffrei lassen wollte, würde ein vielfach wirk¬
sames Hemmungsmittel aus dem Bereich der das Wollen dieser Menschen
bestimmenden Umwelt ausgeschaltet, und ihre Straftaten würden zunehmen. Ganz
anders dagegen steht es um einen wirklich Geisteskranken. Was hätte es z.B.
für einen Sinn, den Kranken zu bestrafen, der im Zustand völliger Bewußtseins¬
störung einen vermeintlichen Verfolger verletzt. Für ihn und ähnliche Kranke
gehört die Strafe überhaupt nicht zum Bereich der Wirkungsmöglichkeit.
Also der geistig Minderwertige ist straffähig. Vom geistig Normalen unter¬
scheidet er sich jedoch so, daß sich die Notwendigkeit herausgestellt hat, ihn straf¬
rechtlich besonders zu behandeln.
Dem Jndeterminist gegenüber befindet sich nun der Determinist in der
vorteilhaften Lage, daß ihn seine Anschauung vom Wesen der menschlichen
Willenshandlungen und von der Voraussetzung für die Straffähigkeit keineswegs
zwingt, in allen Fällen geistige Minderwertigkeit mit geminderter Zurechnungs¬
fähigkeit gleichzustellen. Die Anerkennung, daß ein Mensch geistig minderwertig
ist, d. h. daß seine Geistestätigkeit im ganzen genommen von geringerem Wert
ist als die eines normalen Menschen seines Kulturkreises, schließt keineswegs in
jedem Fall die Ansicht ein, daß dieser Mensch bei einer Straftat milder zu
bestrafen sei. Allerdings schließt sie diese Ansicht auch nicht immer aus, überläßt
vielmehr die Entscheidung von Fall zu Fall allen einschlägigen Erwägungen.
Die vom Vorentwurf beabsichtigte obligatorische Strafmilderung dagegen ist eine
unabwendbare Folge der Anschauung, daß das Vorhandensein der freien Willens¬
bestimmung Voraussetzung für die Strafbarkeit sei, und daß es eine „verminderte"
freie Willensbestimmung gäbe.
Es ist mir nicht unbekannt, daß auch einzelne Psychiater die obligatorische
Strafmilderung für die geistig Minderwertigen als etwas Selbstverständliches
betrachten. Folgerichtig ist solcher Standpunkt bei einem Deterministen ganz
und gar nicht. Denn der Determinist straft nicht, um zu vergelten, sondern im
wesentlichen, um vorzubeugen und abzuschrecken. Nichts hindert ihn also, bei
gewissen geistig Minderwertigen, bei denen die Strafe als Hemmungsmittel
leichter versagen kann, das Hemmungsmittel wirksamer zu gestalten. Mit anderen
Worten: der Determinist handelt folgerichtig, wenn er solche Menschen härter
bestraft, von denen er weiß, daß sie stärkerer Hemmungen bedürfen, um von
Rechtsverletzungen abgehalten zu werden. Er wird deshalb unter Umständen
für einen geistig minderwertigen Verbrecher, z. B. für einen der Gruppe der
moralisch Depravierten angehörenden, eine härtere Strafe fordern als für den
normalen bei gleicher Straftat. Nur unter Anerkennung der Vergeltungstheorie
kann der Determinist folgerichtig die obligatorische Strafmilderung für die
wünschen, die wegen ihres Geisteszustandes der Möglichkeit, eine Straftat zu
begehen, eher ausgesetzt sind als die Normalen.
Auch der auf indeterministischem Standpunkt stehende Leser wird, wenn er
an die gesellschaftsfeindlichen, moralisch Entarteten unter den geistig Minder¬
wertigen denkt, sich ernster Bedenken gegen die bisher mitgeteilten Bestimmungen
des Vorentwurfs über die strafrechtliche Behandlung der „gemindert Zurechnungs¬
fähigen" nicht erwehren können. Es ist daher wohl der Mühe wert, über eine
andere Fassung der Bestimmungen nachzudenken. Zunächst wäre es wünschens¬
wert, wenn der Begriff der „geminderten Zurechnnngssühigkeit" überhaupt fallen
gelassen würde. Er ist es, der die bedenkliche obligatorische Strafmilderung
zur Folge hat und dabei durchaus entbehrlich ist. Man kann sehr wohl alle
Menschen, die zu der in Aussicht genommenen strafrechtlichen Zwischenstufe
gehören, unter der Bezeichnung „geistig Minderwertige" zusammenfassen. Der
Ausdruck ist einfach und klar verständlich, ohne uns die Hände zu binden, und
ohne Beziehung zu einer bestimmten Weltanschauung.
Was nun die beanstandete Fassung des Z 63, Abs. 2 des Vorentwurfs
betrifft, so liegen selbstverständlich in den bisher veröffentlichten Kritiken schon
Verbesserungsvorschläge vor. Bevor wir uns mit diesen beschäftigen, sei der
Wortlaut des Vorentwurfs, der oben nur teilweise wiedergegeben wurde, noch¬
mals und vollständig angeführt. Nachdem im Abs. 1 des ß 63 bestimmt ist:
„Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Handlung geisteskrank, blödsinnig oder
bewußtlos war, so daß dadurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen
wurde", lautet der Abs. 2: „War die freie Willensbestimmung durch einen der
vorbezeichneten Zustände zwar nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem Grade ver¬
mindert, so finden hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch
(H 76) Anwendung. Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit sind hiervon aus¬
genommen." — Ganz abgesehen von unseren bisherigen Aussetzungen an dieser
Fassung, die zum Teil schon durch unsere Kritik an dem zugrunde liegenden
Abs. 1 bedingt waren, ist sie schon deshalb nicht annehmbar, weil sie die in
Betracht kommenden Individuen nicht richtig kennzeichnet. Wenn nämlich das,
was die Indeterminismen freie Willensbestimmung nennen, durch „einen der
vorbezeichneten Zustände", d. h. (s. Abs. 1) durch Geisteskrankheit, Blödsinn oder
Bewußtlosigkeit in hohem Grade vermindert ist, so liegt doch auch ein „hoher
Grad" von Geisteskrankheit, Blödsinn oder Bewußtlosigkeit vor, also ein Zustand,
der straflos macht. Die Fassung des Vorentwurfs kennzeichnet also gar nicht
die, die gekennzeichnet werden sollen. Sie würde zweifellos Verwirrung stiften,
und die Befürchtung derer, die da meinen, sie würde es dem Richter ermöglichen,
über das Gutachten des Sachverständigen hinweg Unzurechnungsfähigkeit zu
statuieren, wo nur geistige Minderwertigkeit vorliegt, oder umgekehrt auch bei
ausgesprochen Geisteskranken lediglich einen hohen Grad von Verminderung der
sogenannten freien Willensbestimmung anzunehmen, ist vielleicht nicht ganz un¬
begründet. Wird der Abs. 2 des Vorentwurfs in seiner jetzigen Fassung Gesetz,
so werden wir das Schauspiel erleben, daß Richter und Sachverständige über
hochgradige Verminderung oder Ausgeschlossensein der freien Willensbestimmung
uneinig sind, wobei die Aufgabe des Sachverständigen dadurch unendlich erschwert
wird, daß er sich über hochgradige Verminderung oder Nichtvorhandensein eines
Dings äußern soll, an das er ja überhaupt nicht glaubt. Er könnte von seinem
Standpunkt durchaus folgerichtig stets behaupten, daß die freie Willensbestimmung
ausgeschlossen war, und er muß sich immer gleichsam auf ein ganz anderes
Niveau begeben, um mit dem Begriff der freien Willensbestimmung gemäß den
Anforderungen der Praxis zu arbeiten.
Wir haben also eine Menge von triftigen Gründen, die eine andere Fassung
des Abs. 2 Z 63 wünschenswert erscheinen lassen.
Die Psychiater haben sich zum Teil für eine Anlehnung an den entsprechenden
Paragraphen des österreichischen Vorentwurfs ausgesprochen, der mit der von
Aschaffenburg (für die Kennzeichnung der Straflosigkeit bedingenden Zustände)
vorgeschlagenen Änderung lauten würde: „War die Fähigkeit des Täters, das
Unrecht seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln, zur Zeit
der Tat infolge eines andauernden krankhaften Zustandes wesentlich vermindert,,
so . .." — Ich selbst bin früher auch für eine ähnliche Fassung eingetreten.
Inzwischen sind nur aber Bedenken gekommen, ob sie allen berechtigten Ein¬
wänden standhalten kann. Zunächst kann ihr entgegengehalten werden, daß es
mit der Verminderung der Fähigkeit, das Unrecht einzusehen usw., ein eigenes
Ding sei. Entweder bestehe diese Fähigkeit oder nicht. Beim geistig normalen
Verbrecher besteht sie im Augenblick der Tat deshalb nicht, weil egoistische Triebe
und Begierden stärker sind. Und beim geistig minderwertigen Verbrecher besteht
sie zweifellos im Augenblick der Tat auch nicht, nämlich auch, weil die egoistischen
Begierden stärker sind und infolge der geistigen Minderwertigkeit noch weniger
mit Hemmungen zu kämpfen haben als bei einem Normalen. Eine Verminderung
jener Fähigkeit im Augenblick der Tat läßt sich streng genommen ebenso wenig
aufstellen wie eine Verminderung der sogenannten freien Willensbestimmung.
Man kann eigentlich nur sagen, daß die geistige Minderwertigkeit dem Aus¬
geschlossensein jener Fähigkeit im Augenblick der Tat Vorschub geleistet habe.
Sodann kann auch eingewendet werden, daß bei einer Verminderung der
Fähigkeit, das Unrecht einzusehen und demgemäß zu handeln, die Strafe unter
nlleu Umständen milder sein müsse. Dieser Einwand wäre allerdings vom
Standpunkt der Vergeltungstheorie aus erhoben; aber wir haben auch mit dieser
Theorie zu rechnen. Ich meine, daß wir im Hinblick auf die gefährlichen
Verbrecher unter den geistig Minderwertigen bei der Formulierung des sie
betreffenden Strafgesetzparagraphen alles vermeiden müßten, was notgedrungen
zu der bedenklichen obligatorischen Strafmilderung führt. Es würde nach meiner
Ansicht genügen, wenn dieser Paragraph deutlich und klar den eigenartigen
Geisteszustand der geistig Minderwertigen und dessen Einfluß auf die Tat zuni
Ausdruck brächte, und ich schlage daher folgende Fassung vor: „War der Täter
zur Zeit der Tat infolge eines krankhaften Zustandes geistig minderwertig, und
stand die Tat unter dem Einfluß dieser geistigen Minderwertigkeit, so..." —
Auch der Jndeterminist kann meines Erachtens mit diesen: Wortlaut einver¬
standen sein. Denn er widerspricht seinem Standpunkt nicht. Im übrigen
bezeichnet er deutlich diejenigen, die zu der strafrechtlichen Zwischenstufe gehören
sollen, ohne gleichzeitig einen Ausdruck zu enthalten, der die obligatorische
Strafmilderung aufzwingt. Die Psychiater insbesondere könnten den Wortlaut
billigen, da er die in Betracht kommenden Individuen so nennt, wie sie es in
ihrer überwiegenden Mehrzahl wünschen. Mit Leppmann und anderen habe
ich das Wort „andauernden" vor: „krankhaften Zustandes" vermieden (im
Gegensatz zu den Wünschen anderer), weil zweifellos auch vorübergehende
Krankheitszustände einen Zustand geistiger Minderwertigkeit schaffen können.
Ferner habe ich gemäß dein Vorschlage Leppmanns nur den krankhaften Zustand
in, allgemeinen als Grundlage der geistigen Minderwertigkeit gesetzt, nicht etwa
einen krankhaften Geisteszustand. Leppmann macht mit Recht daraus aufmerksam,
daß auch manche körperliche Krankheitszustände, z. B. Tuberkulose, Zuckerharn¬
ruhr usw. die Geistestätigkeit beeinträchtigen können. (Schluß folgt.)
MKriedrich der Große hat nicht nur seinem Staate, sondern auch
seiner Zeit den Stempel aufgedrückt; die letzten Jahre seiner
Regierung waren trotzdem mit gewissen Alterserscheinungen belastet.
Man kann Franz Josef den Ersten nicht mit Friedrich den Großen
^vergleichen; die eigenartige Struktur des österreichischen Staates
bringt es aber mit sich, daß auch die konstitutionelle Ära und die weit¬
gehendsten Errungenschaften der Demokratie, mit denen insbesondere Österreich
beglückt ist, den Einfluß des Monarchen auf die Staatsgeschäfte keineswegs
gemindert haben. In der Donaumonarchie wohnen die demokratischsten Ein¬
richtungen und der rückständigste Absolutismus gewissermaßen dicht beisammen.
Nicht nur der Form nach, sondern auch tatsächlich ruht die Entscheidung über die
folgenschwersten Entschlüsse beim Monarchen. Und da lassen sich in der letzten
Zeit die Rückwirkungen seines hohen Alters wohl nachweisen. Seit dem Jahre
1871 kennzeichnet die Politik Franz Josefs, der früher jähe Entschließungen nicht
fremd waren, etwas Zögerndes, Tastendes. Er hatte mit raschen Entscheidungen
zu üble Erfahrungen gemacht. So wurden denn jetzt Übergänge nur allmählich
vollzogen, wichtige Maßregeln auf die lange Bank geschoben; und um alle Hinder¬
nisse ist man lieber herumgeritten, als sie mit einem Sprunge zu nehmen.
Zögernd hat der Kaiser denn auch in den letzten Jahren dem Thronfolger
einen gewissen Einfluß auf die Geschäfte eingeräumt; er hört ihn wenigstens vor
wichtigen Entschlüssen insbesondere auf militärischem Gebiet. Hier tritt ihm um eine
unverbrauchte Kraft entgegen, die nach Betätigung drängt und radikalen Lösungen
sehr geneigt ist. Da aber der Kaiser die Entscheidung doch nicht aus der Hand
gibt, so ist das Ergebnis dann noch in höherem Maße das Leerlaufen der Mühl¬
gänge. In dieser Beziehung ist der Verlauf der Krise im Kriegsministerium
besonders typisch. Der Kriegsminister Baron Schönaich sucht die dringend nötige
Verstärkung der Wehrmacht durchzuführen; in der Tat ist seit fast einem Viertel¬
jahrhundert infolge der politischen Schwierigkeiten für die Armee und für die Flotte
wenig oder nichts geschehen; die Friedensstärke der Kompagnien beträgt bei der
Infanterie gegenwärtig infolge vieler Abkommandierungen zu neuen Formationen,
für die keine erhöhte Rekrutenzahl bewilligt wurden, durchschnittlich vierzig MannI
Nun hat Schönaich die Bewilligung sehr erheblicher Mehrforderungen für Heer
und Flotte bei den Delegationen durchgesetzt; das erhöhte Rekrutenkontingent und
was damit zusammenhängt, können aber nur die beiderseitigen Parlamente be¬
willigen. Um diese Bewilligungen nun durchzusetzen, mußte für jedes Parlament
die bittere Pille der militärischen Bewilligungen mit einer Zuckerhülle umgeben
werden: für Ungarn die Erfüllung der bekannten nationalen Forderungen, die
durch Zusagen des Kaisers an den Grafen Tisza im sogenannten Neunerprogramm
einigermaßen festgelegt waren, für Österreich die zweijährige Dienstzeit und die
Reform des Militärstrafprozesses, die übrigens auch für Ungarn die den Magyaren
wichtigsten Zugeständnisse in bezug auf ihr nationales Programm enthält.
Was nun dabei herauskam, mag ja vom rein militärischen Gesichtspunkt wie
ein übler Wechselbalg aussehen; die einen sagen, das unerfreuliche Äußere ent¬
halte den wertvollen Kern des für das Heer unbedingt Nötigen; die anderen be-
Häupten, das Erreichte lohne die Opfer nicht, die man dafür gebracht habe. An¬
scheinend stand der Thronfolger auf dem letzteren Standpunkt; jedenfalls war der
Kriegsminister seit dem Zeitpunkt, wo der Inhalt dieser Wehrvorlagen entschieden
war, bei ihm in tiefster Ungnade. Darüber, daß er mit dem Inhalt dieser Vor¬
lagen nicht einverstanden war, konnte nicht gut ein Zweifel herrschen. Nun gab
es natürlich zwei Wege: entweder der Monarch entschied sich für den Standpunkt
des Thronfolgers — und dann mußte Baron Schönaich gehen, bevor die Wehr¬
vorlagen das Licht der Öffentlichkeit erblickten; oder er entschied sich für die An¬
schauungen seines Kriegsministers — und dann mußte dieser auch gegen den
Willen des Thronfolgers solange in seinem Amte bleiben, bis die Wehrvorlagen
Gesetz geworden waren. Letzteres war natürlich kein erquicklicher Zustand; aber da
er doch nicht ewig zu dauern brauchte, konnte man sich wohl darauf einrichten.
Nun trat aber gerade das ein, was nicht kommen durfte: zuerst entschied sich der
Monarch für den Kriegsminister und dann wurde dieser, noch bevor die Wehr¬
vorlagen in einem der beiden Parlamente angenommen sind, entlassen. Nach
wochenlangem Schwanken wird schließlich der Kandidat des Thronfolgers. General
v. Auffenberg, zum Minister ernannt. In militärischen Kreisen ist natürlich längst
bekannt, daß er ein Gegner der Wehrreform in ihrer jetzigen Gestalt ist, ins¬
besondere ein Gegner der zweijährigen Dienstzeit; nun wird er zwar — Konzession
an den Thronfolger — Minister, aber gleichzeitig muß er die Wehrvorlagen als
Erbschaft von seinem Vorgänger, so wie sie sind, übernehmen. Alles das sind
öffentliche Geheimnisse, und so kommt der neue Kriegsminister sogleich unter Kreuz¬
feuer. Er wäre nicht der erste, der sich in solcher Lage die Gunst des Kaisers
wie des Thronfolgers gleichzeitig verscherzt hätte.
Auch in anderer Weise tut sich in der inneren Politik Österreichs eine gewisse
Unsicherheit bei der höchsten Stelle kund. Baron Bienerth mußte seine Stellung
der Wiener Wahlen wegen aufgeben, wegen eines politischen Ereignisses, das nur
gewisse Gefühlswerte berührte, aber keineswegs ein neues politisches Faktum von
Bedeutung schuf. Daß er selbst mit dem größten Vergnügen ging, tut wenig zur
Sache. An seine Stelle tritt Baron Ganthas; nicht etwa, weil er ein bestimmtes
politisches Programm verkörpert oder weil er gegenüber Baron Bienerth etwas
grundsätzlich Neues brächte, Grundsätze anderer Art als sein Vorgänger. Nein,
er ist, was er in einer langen, an äußeren Ehren und Erfolgen nicht armen
Laufbahn zur Genüge bewiesen hat. ein treuer Diener seines Herrn, jederzeit
bereit, sich ihm zur Verfügung zu stellen. Er tut auch jetzt sein Bestes; aber die
Grenzen seiner Fähigkeiten sind bekannt, er verfügt über alle Register liebens-
würdiger Überredung, erweckt Hoffnungen, verspricht dem einen und dem anderen,
um, wenn er an die Erfüllung gemahnt wird, entweder nichts zu halten oder
auf der einen Seite so viel zu verlieren als er auf der anderen gewinnt. So
lebt Baron Ganthas heute noch in bezug auf die allernächste Zukunft nur von
Hoffnungen, deren brüchige Unterlagen ohne weiteres zu erkennen sind. Die
Tschechen sind durch den Rücktritt Bienerths wieder üppiger geworden, und die
Deutschen haben infolge ihrer Erfolge bei den letzten Wahlen jedenfalls keinen
Anlaß, zurückzustecken. So kann man fast mit Sicherheit sagen, daß auch die
jetzigen Ausgleichsverhandlungen in Prag sich nur darum drehen, daß jede Partei
dem Gegner das Odium der UnVersöhnlichkeit zuschieben möchte. Und wenn man
Leute fragt, die es wirklich wissen könnten und müßten, was Baron Ganthas für
Pläne hat, wenn die Ausgleichsverhandlungen scheitern sollten, so erhält man die
sehr bestimmt klingende Antwort: überhaupt keine. Und jeder, der Ganthas als
Politiker kennt, wird es gerne glauben.
Inzwischen vergeht wieder kostbare Zeit; alles wird hinausgeschoben. Die
nächsten Monate werden ganz der Agitation wegen der Teuerung gehören und
der Weizen der Sozialdemokraten blüht. Die Regierung wird weder etwas Energisches
gegen die Teuerung tun, noch wird sie die Agitation energisch in ihre Grenzen
zurückweisen können. Ungeheure Redeströme werden sich im Parlament über den
Gegenstand ergießen, da natürlich auch die bürgerlichen Parteien nicht hinter den
Sozialdemokraten zurückbleiben wollen. Nach einigen Monaten wird das Mini¬
sterium Ganthas abgewirtschaftet haben und man erörtert schon — übrigens seit
dem Augenblick, wo Ganthas das Ministerium übernahm — die Frage der Nach¬
folgerschaft. Der frühere Finanzminister Bninski scheint die meisten Aussichten zu
haben: Pole, ein bißchen „verwienert" (eine besondere Spielart der Germanisation),
ebenso klug wie frivol. Er ist natürlich auch nicht der Mann, Österreichs Schäden
zu heilen, weil die Frivolität doch schließlich nicht den Mut der eigenen Meinung
ersetzen kann (obwohl sie manchmal damit eine äußere Ähnlichkeit hat). Es heißt,
daß der Thronfolger mit der Rückkehr Bienerths rechne, wogegen dieser sich freilich
selbst am meisten sträuben würde. Aber Bienerth hat nur eine Eigenschaft, die
ein Staatsmann wohl brauchen kann: gute Nerven; und die brachten es immerhin
mit sich, daß er sich wenigstens nicht vor seinem eigenen Schatten gefürchtet hat.
Zwei Dinge haben ihm aber gleichermaßen gefehlt: das „heilige Feuer" der
Schaffensfreudigkeit und, als Voraussetzung dazu, der Gedankenreichtum, der dieses
heilige Feuer erst entzündet.
Bis auf weiteres bedeuten Namen in der österreichischen Politik nichts; man
kann höchstens bedauern, wenn Leute, die noch Pulver zu verschießen haben sich
— i —
In diesem Jahre hielt der Freiherr v. Friemersheim darauf, daß der Sommer¬
weizen, wie es eine alte Bauernregel fordert, in der Marterwoche gesät wurde.
Und dabei fiel das Osterfest erst auf den 23. April. Früher hatte er immer nur
gelacht, wenn ihn der alte Gerhard bei der Frühjahrsbestellung an die bewährte
Regel erinnert hatte, aber diesmal meinte er selbst, er müsse doch einmal ver¬
suchen, ob was Wahres daran sei, und da er ja nicht viel Dünger zu ver¬
schwenden habe, so wolle er dem Weizen wenigstens den Segen zugute kommen
lassen, den die Aussaat in der Passionswoche nach dem Urteil erfahrener Leute
im Gefolge haben solle.
Der greise Knecht fühlte sich durch die späte Bekehrung seines Herrn nicht
wenig geschmeichelt und prophezeite eine Ernte, wie man sie auf Haus Rottland
noch niemals eingebracht habe, im stillen jedoch wunderte er sich darüber, daß
sein Gebieter, obgleich es noch so viel anderes zu tun gab, auf das Pflügen und
das Eggen des Ackers am Lambertsberge genau doppelt so viel Zeit wie sonst
verwandte.
Die beiden Gäule wunderten sich ebenfalls, denn sie hatten jetzt gute Tage.
Ihr Herr ließ sie mitunter eine geschlagene Stunde allein. Dann suchte sich der
steifbeinige Fuchs die Stelle am Waldrande, wo das Gras am saftigsten Sproß,
und der blinde Schimmel, der seinem Gefährten zu folgen pflegte und genau
beobachtete, wann dieser zu rupfen und zu kauen begann, brauchte nur den Kopf
zu senken und das Maul aufzutun, um die köstlichste Weide zu finden und über
den würzigen Waldkräutern für eine Weile alle Leiden seines lichtlosen Daseins
zu vergessen.
Das Merkwürdigste war jedoch, daß sich sogar der Freiherr selber wunderte.
Daß er den vermeintlichen Fremdling von den Molukkischen Inseln niemals wieder¬
sehen würde, wußte er ganz genau, denn einen lebenden Paradiesvogel sieht ein
sterblicher Mensch, zumal im Herzogtum Jülich, im günstigsten Falle nur ein
einzigmal auf seiner irdischen Pilgerfahrt. Trotzdem fühlte sich der alte Herr immer
wieder mit magischer Gewalt nach dem Orte hingezogen, wo sich das Wunder-
Wesen gezeigt hatte, und wo es so bald wieder seinen Blicken entschwunden war.
Daß er dabei zuweilen mit Merge zusammentraf, ließ sich nicht vermeiden und
schien ihm gar nicht so unangenehm zu sein. Fand er das Mädchen einmal nicht,
dann suchte er so eifrig nach ihr, als habe er ihr die allerwichtigste Mitteilung zu
machen, und wenn er sie dann endlich entdeckte, so stand der alte Weißkopf ver¬
legen wie ein Jüngling von siebzehn Jahren vor ihr und wußte nicht, wie er
ein Gespräch mit ihr anknüpfen sollte. Blieb auch sie dann stumm, so ärgerte er
sich, kam sie ihm jedoch zu Hilfe, so ärgerte er sich erst recht, denn sie machte kein
Hehl daraus, daß sie sich ihrer Überlegenheit dem zweiundfechzigjährigen Jungen
gegenüber bewußt war, und daß sie es höchst ergötzlich fand, daß er, obgleich sie
selten in Eintracht voneinander schieden, doch immer wiederkam.
Allmählich gewann er die Überzeugung, daß sie, die weit und breit jeden
Schlupfwinkel kannte, sich absichtlich vor ihm versteckte, und nun setzte er seine
Ehre darein, sie mit desto größerem Eifer zu suchen. Einmal entdeckte er sie auch
wirklich in einem hohlen Baum, und sie gab sich lachend gefangen; als er sie
jedoch, berauscht von ihrem heißen Atem, ihren blitzenden Augen und ihren roten
Lippen, um den Leib fassen und an sich drücken wollte, wurde sie böse und sagte,
angreifen ließe sie sich von keinem Manne, er müßte ihr denn ehelich an¬
getraut sein.
Ein andermal hatte er vergebens nach ihr gesucht und gedachte sie nun zu
überlisten, indem er die Kühe, die sich ziemlich weit im Walde zerstreut hatten,
zusammentrieb und sich bei den Tieren auf einen Baumstamm niederließ, in der
Voraussetzung, sie würde schließlich schon von selber kommen. Aber sie tat ihm
den Gefallen nicht, und als die Abenddämmerung einbrach, sah er sich wohl oder
übel gezwungen, die Kühe sich selbst zu überlassen und zu seinem Gespanne
zurückzukehren.
Er wünschte die spröde Dryade ins Pfefferland und stolperte, verstimmt über
seine Niederlage und die unnütz verlorene Zeit, durch das Unterholz dem Acker zu.
Aus dem Walde tretend, gewahrte er zu seiner höchsten Überraschung die Pferde
in voller Arbeit vor der Egge auf der entgegengesetzten Seite des Feldes, und
als er nun geduldig wartete, bis das Gespann sich ihm wieder näherte, erkannte
er in der hinter der Egge hergehenden Gestalt die Merge. Sie mußte ihn, obgleich
er sich hinter einen Weißdornbusch gedeckt aufgestellt hatte, längst wahrgenommen
haben, denn sie hielt gerade vor ihm die Gäule an und sagte: „Ich dächte, Herr,
wir machten nun Feierabend. Ihr werdet vom Kühehüten gewißlich so müde sein,
wie ich vom Ackern." Damit warf sie ihm Peitsche und Zügel zu und verschwand
in der Dickung. Ein dunkles Gefühl sagte ihm, daß er wieder einmal nicht gerade
die glücklichste Rolle gespielt habe, und es hätte gar nicht erst des in der Tiefe
des Waldes verhallenden hellen Lachens bedurft, um ihn mit einer wahren Wut
auf sich selbst zu erfüllen.
Aber je öfter er seine Lage überdachte, desto deutlicher wurde ihm, er wisse
jetzt wenigstens zweierlei: erstens, daß er in die Merge verliebt, und zweitens,
daß er ihr nicht völlig gleichgültig war, denn ihre Bemühungen, ihm zu ent¬
wischen und ihm einen Schabernack zu spielen, glaubte er zu seinen Gunsten
deuten zu dürfen. Und der Gedanke, es liege in seiner Hand, dieses junge blühende
Leben für den Rest seiner Tage an sich zu fesseln, indem er das Mädchen zu
seiner Eheliebsten machte, schmeichelte seiner Eitelkeit.
Freilich stiegen mitunter auch ernste Bedenken in ihm auf, ob ein Bund
zwischen Alter und Jugend nicht doch früher oder später zum Unsegen für beide
Teile ausschlagen müsse, und in solchen Augenblicken des Zweifels bemühte er sich
redlich, die Vorteile und die Nachteile einer Verbindung mit Merge gewissenhaft
gegeneinander abzuwägen. Aber dann kam dem weißköpfigen Liebhaber der
bedrängte Landwirt zur Hilfe, indem er schnell entschlossen in die sich langsam
hebende Wagschale vier glatte, wohlgenährte Kühe legte. Vier Kühe — in einer
Zeit, wo das Vieh im ganzen Lande so rar war, daß der alte Herr für schweres
Geld kaum ein einziges Stück hätte kaufen können, vorausgesetzt, daß er überhaupt
im Besitze von Geld gewesen wäre! Und als es ihn nun wieder einmal in den
Wald zog, da suchte er gar nicht erst nach dem Mädchen, sondern begnügte sich
damit, die vier Kühe mit liebevollen Blicken zu betrachten — eine Maßnahme,
die seine Achtung vor sich selbst bedeutend steigerte, sein Gewissen beruhigte und
das drückende Bewußtsein, daß er im Begriffe stehe, eine Torheit zu begehen,
von seiner Seele nahm.
Es hatte etwas ungemein Beruhigendes für ihn, zu berechnen, was ihm
diese Tiere an Milch, Butter, Käse und Dünger einbringen würden — von den
zu erhoffenden Kälbern ganz zu schweigenI —, und daß sie ihm auch noch zu
einer jungen schmucken Frau verhelfen sollten, durste er schon mit in den Kauf
nehmen. Nebenbei aber waren sie auch seine Anwälte vor dem Forum der Welt,
denn wer sie sah, dem mußte sich die Erkenntnis aufdrängen, daß nicht etwa eine
allzu späte Leidenschaft, sondern nur der Gedanke an eine Neubevölkerung seines
Stalles den alten Herrn zu einem Ehebündnis mit dem einfachen Bauernmädchen
bewogen habe.
So weit wäre also alles in bester Ordnung gewesen, und Herr Salentin
hätte sich bei dieser neuen Auffassung seiner Lage recht behaglich fühlen können,
wenn vor seinem geistigen Auge nicht immer wieder hinter den vier Kühen das
Doppelgespenst seiner Schwestern aufgetaucht wäre. Allerdings: den Heirats¬
permiß, wie sich Pater Ambrosius ausgedrückt hatte, trug er gleichsam in der
Tasche, denn wenige Tage nach dem Besuch des geistlichen Freundes war ein
Briefchen von diesem eingetroffen, worin er dem freiherrlichen Gönner die höchst
erfreuliche Mitteilung machte, daß seine Andeutung über die Absicht von monsieur
1s barvn, sich wieder zu verheiraten, bei mesäames zunächst eine gewaltige sur-
prise hervorgerufen habe, daß es ihm jedoch nach einer sehr lebhaften ciiscussion
gelungen sei, me-zciames von den Rücksichten, die sie auf die ivrtune ihres Herrn
Bruders zu nehmen obligiert seien, zu persuadieren. Sie hätten sich denn auch
allmählich mit der iciee von mcmLieur le baron vertraut gemacht und regardiert,
daß die allmriLL der v. Friemersheimschen Familie mit einem begüterte» ritter-
bürtigem Geschlecht auch für sie selbst von avanwZs sein werde.
Beim Lesen dieses Briefchens hatte der alte Herr zuerst sehr vergnügt ge¬
schmunzelt, dann aber desto wilder geflucht und den dienstfertigen Freund, der
sein Glücksschifflein aus der Scylla des Familienwiderstandes in die Charvbdis der
schwesterlichen Privatinteressen hineingesteuert hatte, mit einer Fülle nicht gerade
schmeichelhafter Bezeichnungen bedacht. Seitdem war es ihm im höchsten Grade
peinlich, mit den Schwestern zusammen zu sein, denn ihm war, als ob ihre Augen
immer mit dem Ausdruck der Spannung auf ihm ruhten, und als ob sie beständig
auf eine feierliche Verkündigung seines Entschlusses warteten. Obgleich die alten
Damen bei dem seltsamen Benehmen und dem beharrlichen Schweigen des Bruders
zu befürchten begannen, daß er der ihm durch den Pater übermittelten Anregung
doch nicht Folge leisten wolle oder in seinem Vorsatze wieder wankend geworden
sei, konnten sie es nicht über sich gewinnen, in dieser delikaten Angelegenheit das
erste Wort zu sprechen, da sie nicht gesonnen waren, die Verantwortung für den
Ausgang der Sache auf sich zu nehmen, und da sie auch vermeiden wollten, durch
eine voreilige Frage zu verraten, wie lebhaft interessiert sie an einer Wieder¬
verheiratung ihres Salentin waren.
Sie beklagten sich gegenseitig bitter über den Mangel an Vertrauen, den der
Bruder durch sein Betragen ihnen gegenüber bekunde, und dieser wiederum ärgerte
sich, daß die Schwestern gleichsam hinter seinem Rücken über ihn verfügten und
dann doch wieder nicht den Mut hatten, das Projekt zur Sprache zu bringen.
Er war schon entschlossen, dem unerquicklichen Zustande ein Ende zu machen,
mutig vor die beiden alten Damen zu treten und ihnen mit dürren Worten zu
erklären, daß er sich die Holzheimer Merge als Eheweib nach Haus Rottland
holen werde, da fiel ihm zur rechten Zeit ein, daß er ja noch gar nicht wußte,
wie das Mädchen seine Werbung aufnehmen würde. Und bevor er sein Verlöbnis
proklamieren konnte, mußte er sich doch Gewißheit verschaffen, ob die präsumtive
Braut ihm auch keinen Strich durch die Rechnung machte.
Am liebsten wäre er stehenden Fußes zu Merge geeilt und hätte ihr ohne
weitere Umschweife seinen Antrag gemacht; aber dazu fehlte dem alten Herrn
wieder ein ausreichendes Maß von Selbstvertrauen, und er fürchtete nicht ohne
jede Berechtigung, daß er als Freier in ihren Augen leicht eine komische Rolle
spielen könne. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich nach einem Braut¬
werber umzusehen. Zunächst dachte er an Pater Ambrosius, der ja als sein alter
Hausdiplomat ein Anrecht auf die heikle Mission gehabt hätte. Aber der gute
Pater hatte sich bei den Verhandlungen mit den Schwestern so wenig mit Ruhm
bedeckt, daß Herr Salentin Bedenken trug, ihn noch einmal ins Feuer zu schicken,
und außerdem traute er ihm zu, er würde als Parteigänger der alten Damen
seine Wahl mißbilligen und, wenn er vielleicht auch keinen Widerspruch wagte,
die Werbung doch nicht mit dem nötigen Nachdruck betreiben. Endlich schien ihm
der Pater für diese Angelegenheit auch zu vorsichtig und zu fein; er pflegte immer
wie die Katze um den heißen Brei zu gehen, das aber war bei der derben Bauern¬
dirne durchaus nicht angebracht.
Zum Glück stand dem Freiherrn noch ein anderer geistlicher Herr zur Ver¬
fügung: der Pastor zu Holzheim, der, obwohl die Pfarrei des Dorfes vom
Kollegiatstift Se. Georg in Köln besetzt wurde, doch zu der Rottländer Herrschaft
in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis stand, da er in deren Kapelle wöchentlich
dreimal Messe zu lesen hatte. Wenn irgend jemand auf Merge Einfluß aus¬
zuüben vermochte, so war es dieser schlichte Geistliche. Er kannte sie vom ersten
Tage ihres Daseins an, hatte die früh Verwaiste treulich beraten und sie während
des bösen Jahres, so oft es seine beschränkten Mittel zuließen, in ihrem Versteck
mit Brot versorgt. Zu ihm beschloß deshalb Herr Salentin zu gehen, um ihn zu
bitten, bei dem Mädchen den Fürsprecher für ihn zu machen.
An einem Spätnachmittage im Mai wanderte er nach Holzheim hinaus.
Die kleine graue Kirche lag gleich am Anfang des Dorfes, daneben bezeichnete ein
Trümmerhaufen die Stätte, wo einst das bescheidene Pastorat gestanden hatte.
Es war bei der Explosion eines französischen Pulverwagens in Flammen aus¬
gegangen und bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Der Geistliche war
zunächst in der Hütte des Gemeindehirten untergebracht worden, seit einem Jahre
jedoch bewohnte er einen ansehnlichen Hof in der Mitte des Dorfes, den die Pest
seiner angestammten Besitzer beraubt hatte.
Der Freiherr traf den Pastor im Baumgarten, wo er mit den Vorbereitungen
zum Einfangen eines Bienenschwarms beschäftigt war, der in beträchtlicher Höhe
an einem Zweige hing. Zu einem ungünstigeren Augenblicke hätte der Besucher
gar nicht eintreffen können, denn der Pastor hatte als leidenschaftlicher Inter in
dieser Stunde nur Sinn für die große, aus taufenden von erregten Lebewesen
bestehende Traube, die sich an einer so übel gewählten Stelle niedergelassen hatte,
daß er ihr sogar mit der längsten Baumleiter nicht beikommen konnte. Er hörte
deshalb Herrn Salentins Auseinandersetzungen mit sehr geteilter Aufmerksamkeit
an, ließ den Schwarm keine halbe Minute aus den Augen und fragte endlich
zerstreut, aus welchem Dorfe der Bursche denn sei, den der Herr Baron der Merge
als Ehemann zugedacht habe.
Der alte Herr sah ein, daß er bei dem Geistlichen auf Verständnis für seine
Angelegenheit nicht rechnen dürfe, bevor jener mit den Bienen zum Ziele gekommen
sei, und erbot sich deshalb, ihm die Leiter zu halten. Der Vorschlag wurde mit
Dank angenommen, man holte die Leiter herbei, stellte sie beinahe senkrecht unter
den Bienenschwarm, und während der Freiherr mit beiden Händen die Leiter¬
bäume packte und sich mit der ganzen Wucht seines Körpers dagegenstemmte, stieg
der Pastor mit seinem Jmkerrüstzeug die Sprossen empor. Zunächst ging alles
nach Wunsch, die Hauptmasse des Schwarmes war schon mit Hilfe des Fleder¬
wisches in den Korb befördert, aber der Weiser wollte mit den ihm umgebenden
Getreuen das Zweiglein, an dem er haftete, nicht fahren lassen, und so erhoben
sich die Bienen im Korbe, die das Fehlen ihres Oberhauptes bald bemerkten,
wieder in die Luft und umschwirrten mit allen Zeichen der Aufregung ihren
Pfleger. Einzelne, die in besonders gereizter Stimmung sein mochten, näherten
sich mit bedrohlichem Gesumme dem Kopfe und den Händen des Freiherrn, der
sich, wenn er seinen Karyatidenpflichten nicht untreu werden und das Leben des
Seelenhirten nicht gefährden wollte, weder gegen die kleinen Angreifer verteidigen,
noch sein Heil in der Flucht suchen konnte.
Da kam ihm gerade im rechten Augenblick der Gedanke, aus seiner ver¬
zweifelten Lage wenigstens einen Vorteil zu ziehen.
„He, Pastori" rief er, „seid Ihr denn noch nicht fertig? Eure vermaledeiten
Immen sitzen mir schon im Nacken."
„Habt nur noch ein kleines Weilchen Geduld, Herr BaronI" entgegnete der
Geistliche mit großer Gemütsruhe. „Und wenn sie Euch wirklich stechen sollten,
so seid deshalb unbesorgt. Ist kein besser remeäiurn dawider denn zerriebene
Blätter des Krautes OpIuoZIvssvn, zu deutsch Natterzünglein, und davon stehet
mehr denn genug auf der Wiese hinter dem Garten."
„Steigt herunter, Pastor, steigt herunter! Ich kann die Leiter nicht länger
halten I" stöhnte Herr Salentin.
„Erst müssen sie sich wieder angesetzt haben," klang es von oben zurück.
„Wenn ich sie jetzt turbiere, geht mir das ganze Volk davon."
„Wenn Ihr mir nicht versprecht, mir heut noch die Merge zu freien, laß ich
die Leiter Leiter sein und geh meiner Wege."
„Was —? Ihr selbst gedenket die Dirne zu Eurer Eheliebsten zu machen,
Herr Baron? Ihr mit Euren schlohweißen Haaren?"
„Versprecht Jhr's oder versprecht Jhr's nicht?" Und um dieser kategorischen
Frage mehr Nachdruck zu geben, schüttelte der Freiherr die Leiter, daß sich der
Pastor mit beiden Händen festhalten mußte.
„Ich verspreche alles, was Ihr wollt, aber tut mir den einen Gefallen und
harret noch ein Minütlein ausi" jammerte der Geistliche.
„Gut, ich will's versuchen," knurrte Herr Salentin, „aber das merkt Euch,
guter Freund, sobald mich eine sticht, laß ich die Leiter fallen und salviere mein
Fell." Und so blieb er mit dem Mute der Verzweiflung auf seinem Posten und
schleuderte jeder Biene, die sich seinem blühenden Antlitze näherte, drohende Blicke zu.
Endlich hatte der Pastor den Schwarm im Korbe und stieg rin seiner Last
wieder aus der luftigen Höhe auf den sicheren Boden herab.
„Hört, Herr Baron, daß Ihr da vorhin von vermaledeiten Immen geredet
habt, das war unrecht von Euch und eine große Sünde. Denn diese Tierlein sind
von Gott gesegnet, weil sie den Altar mit Wachs versorgen. Ohne ihren Fleiß
und subtilen Verstand könnte also kein Priester eine heilige Messe lesen. Wir haben
deshalb Anlaß, ihnen dankbar zu sein, daß sie uns das tunäamentum der Religion
erhalten, und ich bitte Euch, daß Ihr in Zukunft dessen gedenkt und sie nicht
wieder mit unziemlichen Worten tränket. Und nun sagt mir, was ich dem Mägdlein,
so Ihr zum Weibe begehret, ausrichten soll."
Der alle Hitzkopf steckte die Rüge des Geistlichen ohne Murren ein und setzte
ihm die Gründe für seinen Entschluß, Merge zu heiraten, auseinander. Der Pastor
hörte, ohne ihn zu unterbrechen, zu, äußerte dann aber mit Freimut seine Be¬
denken. Es sei immer ein mißlich Ding, wenn ein Alter eine junge Dirne freie,
und er wisse Exempel mehr denn genug von solchen Ehen, wo beide Teile nachher
ihre Unbesonnenheit mit bitterer Reue bezahlt hätten.
Herr Salentin erwiderte hierauf mit einiger Verstimmung, er sei gerade alt
genug, daß er die Verantwortung für seine Handlungen selber tragen könne, und
er sei nicht gekommen, sich gute Ratschläge, sondern Hilfe zu erbitten. Der Pastor
habe ihm versprochen, dem Mädchen seinen Antrag zu übermitteln, und er rechne
mit Bestimmtheit darauf, daß er diese einmal übernommene Verpflichtung nicht
nur in einer schicklichen Weise erfüllen, sondern der Merge das Vorteilhafte der
Verbindung mit ihm ins rechte Licht setzen und alles Günstige, was er aus red¬
licher Überzeugung von ihm berichten könne, nicht ungesagt sein lassen werde.
Der Geistliche erklärte, was er einmal versprochen habe, das halte er auch,
und er werde nur noch den Korb an seinen Platz im Jmmenstande bringen, dann
aber sogleich zu dem Mädchen hinübergehen und ihr das Anliegen des Herrn
vortragen.
Obgleich er sich nach Kräften beeilte und sich kaum die Zeit nahm, Jmker-
kappe und Handschuhe abzulegen, verging Herr Salentin vor Ungeduld, die sich
womöglich noch steigerte, als der Pastor den Hof verlassen hatte und in dem
schmalen Hcckengcmge, der nach Merges kleinem Anwesen führte, verschwunden
war. Nun ging der verliebte Weißkopf mit großen Schritten im Garten auf und
nieder, riß von einem Haselnußbusch eine Gerte ab und köpfte damit, nur um
sich ein wenig Beschäftigung zu machen, die saftigen Zweiglein der Holunder¬
sträucher und hielt von Zeit zu Zeit am Tore nach dem geistlichen Liebesboten
Ausschau. Wie lange der nur blieb I Wußte er denn nicht, daß seinem Auftrag¬
geber jede Minute zur Ewigkeit wurde? Daß ihm vor Erregung der Atem aus¬
ging und die Zunge am Gaumen klebte? Braucht man einen halben Tag, um
einem Bauernmädchen begreiflich zu machen, daß ein alter —nein! — ein älterer
Herr von Adel sich in den Kopf gesetzt hat, sie zu heiraten? Wahrhaftig, wenn
die Ungeduld ein Merkmal der Jugend ist, dann durfte der Pastor Merge getrost
berichten, daß ein junger Herr von Adel sie zum ehelichen Weibe begehret
Während er nun sein Gehirn mit der Frage zermarterte, ob das lange Aus¬
bleiben des Voden als ein gutes oder ein böses Zeichen für den Erfolg der Mission
zu betrachten sei, saß der Seelsorger in Merges einzigem Wohnraum neben dem
Butterfaß, sah zu, wie sein schmuckes Beichtkind mit kräftigen Armen den Stößel
handhabte, und schlürfte behaglich den Becher schäumender Milch, den ihm das
Mädchen zur Bewirtung vorgesetzt hatte. Seinem Versprechen gemäß entledigte
er sich seines Auftrags so gewissenhaft wie möglich, fügte auch hinzu, daß es kein
klein Ding und keine geringe Ehre für sie sei, daß der Freiherr v. Friemersheim
um sie anhalte, und fragte schließlich, welche Antwort er dem Wartenden über¬
bringen solle.
Merge hatte bei den Auseinandersetzungen des Geistlichen weder Über¬
raschung uoch Heiterkeit an den Tag gelegt, ein Zeichen jedenfalls, daß ihr die
Werbung des alten Herrn weder ganz unerwartet, noch auch ganz unerwünscht
kam, Sie hatte bei ihrer Tätigkeit keinen Augenblick innegehalten und -erwiderte
auf die ihr vorgelegte Frage mit vollkommener Ruhe, sie könne in dieser Stunde
weder ja noch nein sagen und müsse sich den Vorschlag reiflich überlegen. Sobald
sie mit sich im Reinen sei, werde sie den Pastor aufsuchen und ihm ihre Ent¬
scheidung mitteilen.
Der Brautwerber war mit Mergens Antwort zufrieden und betrachtete seine
Mission als beendet. Aber er hatte noch etwas anderes auf dem Herzen und fuhr
nach einer kleinen Pause fort:
„Was ich dir von dem Friemersheimer kundgetan habe, das habe ich in
seinem Auftrag und in seinem Sinne gesagt. Da aber ein jedes Ding zwei Seiten
hat, so ist es billig, daß ich dir als ein guter und getreuer Freund nicht ver¬
hehle, was ich selbst von der Sache halte. Und da muß ich dir den Rat geben:
Mägdlein, sieh dich port Ist nicht alles Gold, was glänzt, und wenn es dir auch
lustig erscheinen mag, dich über die anderen Dirnlein hier zu Holzheim zu erheben
und eine adlige Frau zu werden, so darfst du doch nimmer vergessen, daß das
Sprüchlein recht hat, das da sagt: Gleich und gleich gesellet sich wohl. Du aber
und dein Freier, ihr seid ungleich an Stand und Jahren, und ist nichts, das euch
zusammenfügen könnte, es sei denn deine Eitelkeit und seine Begierde."
„Ihr vergeht die Kühe, Herr Pastor." warf das Mädchen ein. „Auf die hat
er ein Auge geworfen. Das hab' ich wohl bemerkt, denn wenn ich in seinem
Wald am Lambertsberg gehütet hab' und er ist dazu gekommen, dann hat er sie
nicht weniger verliebt angeschaut als mich."
Der Geistliche konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.
„Also noch ein Grund, die Sache doppelt und dreifach zu bedenkenl" fuhr
er fort. „Was mich aber das Allerschlimmste dünkt, und weswegen der Antrag
nicht bloß zwei- und dreimal, sondern zum mindesten zehnmal bedacht werden
muß, das sind die zwo alten Weiber zu Rottland, die Obristin und die Nonne.
Mit denen ist nicht gut Kirschen essen, wie man gemeiniglich sagt, und wenn ihr
Herz auch nicht böse sein mag, so haben sie doch scharfe Zungen, und der Hochmuts¬
teufel sitzt ihnen im Nacken. Zudem haben sie schon etliche Jahre das Regiment
im Hause geführt, woraus leichtlich folget, daß sie es nicht gutwillig aus den
Händen lassen werden."
„Ich fürcht' mich vor niemand," erklärte Merge sehr bestimmt, „am aller¬
wenigsten vor den beiden alten Scharteken. Wißt Ihr noch, wie sich vor vier
Jahren am Pfingstmontag der Gemeindebulle losgerissen hatte und keiner sich
getraute, ihn einzufangen? Seht, mit dem bin ich damals fertig geworden und
war nicht älter denn sechzehn Jahre, und nun, da ich zwanzig bin, sollt' ich mit
den Rottländer Drutscheln nicht fertig werden?"
Der Pastor sah ein, daß er der jungen Dirne mit seinen guten Ratschlägen
ebensowenig gelegen kam wie dem alten Manne.'
„Gut, tu, was du willst," sagte er, „aber sieh zu, daß dus nicht zu bereuen
hast. Ich werde also dem Herrn künden, du bätest dir Bedenkzeit aus."
„Sagt ihm lieber, ich nähme mir Bedenkzeit," erwiderte sie, indem sie ihn
hinausgeleitete. Und als er dann zwischen den blühenden Dornhecken seinem Hofe
zuschritt, hörte er, wie sie mit ihrer hellen Stimme ein Lied anstimmte.
Der ungeduldige Freier erwartete ihn am Tor.
„Nun?" rief er. „Bringt Ihr gute Post?"
„Wie Jhr's nehmen wollt," antwortete der Bote. „Jedenfalls hat sie Euren
Antrag nicht abgewiesen."
„Also angenommen?"
„Ebensowenig. Sie nimmt sich Bedenkzeit und hat versprochen, Euch ihre
Entscheidung durch mich wissen zu lassen."
„Dann soll ich also morgen wiederkommen?" fragte der Freiherr ein wenig
enttäuscht.
„Morgen schon? Wenn Ihr da nur nicht zu früh kommt, Herr Baron! Mir
scheint, sie hat es mit dem Freien nicht so eilig wie Ihr?"
„Habt Ihr denn kein pregsentiment, wie die Antwort ausfallen wird?"
Der Pastor zuckte die Achseln. „Wer kann sich bei den Weibern auskennen!"
meinte er. „Ihr müßt Geduld haben."
Herr Salentin unterdrückte mit Mühe einen Fluch. Er sollte Geduld haben,
er, gerade er, bei dem Geduld noch rarer als das liebe Geld war!
(Fortsetzung folgt.)
or dem Hamburger Monistenkongresz hat Prof. Dr. Ostwald, der
Vorsitzende des Monistenbundes, in den Zeitungen einen Artikel
veröffentlicht, in dem der Glanz und die Bedeutung des Hamburger
Monistenkongresses schon vor seiner Abwicklung gepriesen wird.
Nach wie vor bewegt sich Ostwald in seiner alten Unklarheit, wenn
er behauptet, daß gegenwärtig die „Wissenschaft" statt der Religion die letzten und
höchsten Fragen zu beantworten habe. Ostwald meint, die Religion habe stets die
Tendenz, das einmal erworbene Weltbild als absolut wahr festzuhalten, während
die Wissenschaft umgekehrt die Weltanschauung immer von neuem revidiert. Das
umgekehrte Verhältnis ist gerade wahr: Das Weltbild der Wissenschaft ist andauernd
zu revidieren (wobei die Religion selbstredend nichts mitzusprechen hat), und die
Weltanschauung ist das Beständige. Die Geschichte hat dies genugsam erwiesen.
Auf dem gleichen Mißverständnis beruht es, wenn Ostwald von einem beständigen
„Kampf zwischen Religion und Wissenschaft" redet, in dem diese stets gesiegt hat
und jene stets zu Konzessionen gezwungen sein soll. Dabei handelt es sich gar
nicht um „Religion", sondern um die „Kirche" und deren Vertreter. Dies sind
doch alles Selbstverständlichkeiten, auf die man einen Mann wie Ostwald nicht
aufmerksam zu machen nötig haben sollte.
Kopfschüttelnd hört man dann ferner, daß nach Ostwald die Monisten nichts
in ihre Weltanschauung aufnehmen, was nicht mit der Wissenschaft in Einklang
steht, daß sie aber „von vornherein ihre gesamte Weltanschauung so einrichten, daß
sie stets fähig und bereit sind, die Fortschritte der Wissenschaft in sich aufzunehmen".
Man weiß nicht, worüber man mehr staunen soll: über diese kautschukartige Welt¬
anschauung oder über die Prophetengabe der Monisten, die schon von vornherein
alle Fortschritte der Wissenschaft kennen. Die Sache liegt aber in Wahrheit um¬
gekehrt: der Monismus ist eine Weltanschauung, welche der Wissenschaft einen
bestimmten Weg vorschreibt. Es fällt ihm gar nicht ein, sich nach der Wissenschaft
zu richten, sondern umgekehrt, er verlangt, daß sich die Wissenschaft nach ihm richte.
Der äußere Verlauf des Kongresses war über Erwarten glänzend: die Zeitungen
berichten von zweitausend Teilnehmern, allein schon die erschienenen Personen ent¬
sprachen der angekündigten Bedeutung nicht im geringsten. Die Namen der Redner
waren z. T. bedeutende Forscher: außer Ostwald der schwedische Astrophysiker Sparte
Arrhenius und der nordamerikanische Biologe Jacques Loch; aber unter den sonst
Erschienenen sucht man vergebens nach wissenschaftlichen Größen. Durch Otto
Ernst, der offenbar Dichter des Monistenbundes zu werden sich bestrebt, Helene
Stöcker, die Mutter des Mutterschutzes, R. Penzig usw. wird dafür denn doch
wohl kaum Ersatz geboten, ebensowenig durch die Ausländer, die erschienen waren,
um zu markieren, daß man auch anderwärts Haeckel und sein Werk schätzt.
Durch nichts läßt sich die Tatsache hinwegdisputieren, daß sich die deutsche
Wissenschaft vom Monistenbund absolut fern hält. Hier wäre einmal die Gelegenheit
gewesen für den Bund, mit seinen Wissenschaftlern zu glänzen, statt dessen fehlten
sie vollständig: die Isolierung des Monistenbundes und Haeckels, jetzt auch Ostwalds,
von der Wissenschaft ist damit vollzogen, und die wehmütige Klage Haeckels, daß
die Naturforscher sich dem Keplerbund anschließen und vom Monistenbund fern
halten, hat jetzt ihre volle Bestätigung gefunden. Die zweitausend Besucher aber
können jenen Mangel nicht gut machen, und wenn die Berichte immer wieder
von „stürmischem Beifall", ja sogar „unbeschreiblichem Jubel" dieser Menge reden,
so beweist dies nicht etwa den gewaltigen Inhalt des dort Gebotenen, sondern
die auffallende Kritiklosigkeit und Bedürfnislosigkeit der Zuhörer.
Bei der Art und Weise, wie der Kongreß in Szene gesetzt wurde, hätte man
erwarten sollen, daß er klare und exakte Prinzipien des Monismus, großzügige
Gesichtspunkte, weitschauende Perspektiven zutage fördern würde. Nichts von alle-
dem, nichts als banale Redensarten, unbewiesene, glatt materialistische Redensarten
und dazwischen eine unangebrachte Verhimmelung der „Wissenschaft".
Eine von monistischer Seite an die Zeitungen versandte Korrespondenz weiß von
dem Vortrag von Sparte Arrhenius, dem schwedischen Astrophysiker („Das Weltall"),
nur folgendes zu sagen: „Arrhenius entwickelte in seinemVortrag ein Bild des Sternen¬
raums, wie es dem neuesten Stande der Wissenschaft entspricht. Die leuchtenden Punkte
des Nachthimmels sind ungeheure Sonnen, die matten Schimmer an einzelnen
Stellen sind Nebelhaufen, werdende Welten, die unser sichtbares All an Größe
weitaus übertreffen." Das ist alles, und was soll dies auf einem derartigen
Kongreß? Andere Berichte beweisen, daß jener „neueste Stand der Wissenschaft"
sich offenbar auf die von der Wissenschaft abgekehrte, unbefriedigende Lehre von
der „Pcmspermie" bezieht, die Arrhenius aus der naturphilosophischen Rumpel-
kammer hervorgeholt hat und nach der das Leben im Weltall ewig ist, weil die
noch nie erwiesenen Kosmozoen, vom Strahlungsdruck der Sonnen getrieben, von
Welt zu Welt fliegen (in Wahrheit müßten sie sich in den indifferenten Zonen
zwischen den Sonnen ansammeln). Offenbar erscheint der monistischen Korrespondenz
nach ihrem eigenen Bericht dieser Vortrag denn doch wohl zu ärmlich; daher fügt
sie noch folgende höchst eigenartige Charakterisierung bei, wodurch sie aber in
Wahrheit die Sache noch viel schlimmer macht: „Ebenso interessant wie sein
Vortrag wirkte Arrhenius' Persönlichkeit. Er hat die vierschrötige Gestalt eines
dalekarlischen Bauern, dabei die unbeholfenen Bewegungen des Gelehrten (II) und
die Gemütsart eines bescheidenen Kindes, was zusammen alles unendlich anziehend
wirkt. Erdöhl wurde diese Empfindung noch dadurch, daß er mit der deutschen
Sprache etwas rang und von Zeit zu Zeit seine einfache Brille abnahm, um sich
in seinen Notizen besser zurecht zu finden." Wirklich, das muß alles „unendlich
anziehend" gewesen sein. — Ostwald nennt den Vortrag eine „monistische
Erbauungsstunde"!!
Haeckel selbst war vom Arzt die Reise nach Hamburg verboten worden; statt
seiner verlas sein Schildknappe Schmidt seinen Vortrag „Die Fundamente des
Monismus". Daß es sich hierbei nur um alte, abgestandene Redensarten aus
den „Welträtseln" handeln würde, war von vornherein sicher, und wirklich wurde
denn auch die andächtige Menge mit der „gesicherten historischen Tatsache" der
tierischen Abstammung des Menschen, mit dem endgültig zerstörten „Dogma von
der Unsterblichkeit der menschlichen Seele" und dein „Aberglauben" von der Freiheit
des menschlichen Willens usw. traktiert. Die Versammlung quittierte diese großen
Gedanken mit „stürmischem, langanhaltender Beifall" und Ostwald schlug für
„das geistige Testament unseres allverehrten Meisters" ein Dank- und^Huldigungs-
telegramm vor, das wieder „stürmisch-freudige Zustimmung" fand.
Mit besonderem Interesse mußte man den Vortrag von Jacques Loch „Das
Leben" erwarten. Loch ist Professor am Rockefeller-Institut in New Aork und
bekanntlich der Biologe, der unbefruchtete Seeigeleier durch gewisse chemische
Einflüsse zur Entwicklung brachte. Nach seinem Hamburger Vortrag ist das Leben
restlos chemisch-phystkalisch zu erklären; es besteht im Grunde genommen in einer
Oxydation, und die Lebewesen sind lediglich „chemische Maschinen". Diese glatt
mechanistische Anschauung, welche die wesentlichsten Eigenarten des Lebens einfach
ignoriert, setzt nun ja auf einem Kongreß des Monistenbnndes nicht weiter in
Erstaunen. Was soll man aber zu dem Schluß des Loebschen Vortrags sagen?
Er begab sich auf ethisches Gebiet und endete nach allen Berichten mit folgenden
Worten: „Die Grundlagen der Ethik sind chemisch und erblich in uns festgelegt
wie unsere Form und nicht durch die MetaPhysiker entdeckt oder erfunden." Die
Ethik eine chemische Erscheinung — das also ist eine neue große Entdeckung Loebs!
und Ostwald dankte ihm nachher dafür und meinte: es wäre den Tausenden wohl
so zumute gewesen, als wenn jemand, der noch nie auf dem Meere war, plötzlich
sich in schwankem Boot aus dem Ozean befände und keine Furcht sondern nur
gewaltiges Staunen empfindet. Ja wohl, Ostwald hat ganz recht mit diesem
„schwanken Boot", aber auch mit dem „gewaltigen Staunen"; denn auch wir, die
Nicht-Monisten, staunen gewaltig mit über diese auf dem Monistenkongreß ver¬
kündete Weisheit.
Nun kam Ostwald selbst an die Reihe mit seinem Vortrag „Die Wissenschaft",
den die monistische Korrespondenz als „Apotheose der Wissenschaft" und „eine sich
jagende Reihe von scharfen Beobachtungen, kulturhistorischen Rückblicken und Aus¬
blicken" nennt. In Wahrheit brachte dieser Vortrag nichts anderes als jenen bei
Ostwald so fest gewurzelten Irrtum von der Wissenschaft als Surrogat für die
Religion, den wir schon oben beleuchteten. Es genügt im übrigen hier zu
zitieren, was die Hamburger Nachrichten über Ostwalds Vortrag unter der Spitz¬
marke „Nachdenkliches zum Monistenkongreß" sagen: „Nun, die Wissenschaft ist
jedem innig teuer, der in ihren Dienst hat wirklich treten dürfen — deren sind
nicht gerade viele —, und von allen übrigen verdient sie nicht bloß aus ästhetischem
Wohlgefallen, sondern im eigenen Interesse dankbarst gehegt und gewürdigt zu
werden; sie ist die edelste und reichste Frucht unserer geistigen Kultur. Noch höher
aber schätzt sie Ostwald ein: Die Mühseligen und Beladenen, die Armen an Gut
und Geist, die von Gewissensnot Gefolterten, die Verfolgten und Geplagten, die
der Menschheit Jammer in seinen furchtbarsten Gestalten anfaßt, das Heer der
Tiefbekümmerten — auch sie haben nur an ihr eine Zuflucht, auch sie tröstet niemand
anders, als die Wissenschaft, denn „Gott" ist eine veraltete Fiktion und die Prä¬
dikate der Gottheit, die Ostwald, wie er mitteilte, im Katechismus seines Sohnes
aufgezählt gefunden: allmächtig, allgegenwärtig, ewig, allgütig, — sie sind in Wahr¬
heit die Prädikate der „Wissenschaft". Also — gehet hinaus auf die Schlachtfelder,
in die Gefängnisse, in die Hospitäler, betretet die stillen Kammern, wo die Kämpfe
des Herzens von einsam Ringenden ausgefochten werden und verkündet dort:
„Die Wissenschaft — Ihr wißt zwar nichts von dieser schwer zugänglichen Sache —
wird Euch helfen, trösten und stärkenl" Am Erfolge dieser Tröstung wird man dann er¬
kennen, ob HerrGeheimratOstwald, der so vielesweiß, über eines der wichtigsten Merk¬
male des Menschengeschlechts, über die Religion und ihre Geschichte auch etwas weiß."
Der Wiener Professor Fr. Jott sprach über den „Monismus und die Kultur¬
probleme der Gegenwart". Hier hätte es nun offenbar zu großzügigen Darlegungen
kommen können; aber auch dieser Redner bewegte sich in ausgetretenen Geleisen.
Um den ihm gebührenden Einfluß zu gewinnen, müsse sich der Monismus an die
Spitze der ethischen Bestrebungen unserer Zeit stellen. Sittlichkeit sei nur der
Richtweg vom Tier zum Menschen, vom Menschen zur Menschheit, vom Kampf
ums Dasein zum Kampf ums Recht, ohne andere Mittel, als sie in der natür¬
lichen Veranlagung des Herdentiers Mensch liegen. Jott erklärt, daß der Monismus
berufen sei, mehr Klarheit und Ehrlichkeit (I) in diese Dinge zu bringen. Weiterhin
identifizierte der Redner Monismus mit Sozialismus (Monismus ist nachgerade
der wahre ProteusI) weil seine Ethik sich nur auf das Diesseits und größtmögliche
Glücksbefriedigung aller erstrebt usw. Neu möchte hieran auch wohl nur sein,
daß Monismus Sozialismus ist.»)
Die übrigen Redner (Wahrmund, Horneffer) können wir nach diesen Leistungen
füglich übergehen.
Noch bedeutungsloser als die Reden waren aber die sonstigen Beratungen; da ver¬
dient nur die Reichstagsparole hervorgehoben zu werden, welche auf einer Delegierten¬
versammlung einstimmig angenommen wurde. Sie lautet folgendermaßen: „Die
in Hamburg tagende Hauptversammlung des Deutschen Monistenbundes richtet
im Hinblick auf die bevorstehenden Reichstagswahlen an ihre stimmberechtigten
Mitglieder und Anhänger die dringende Mahnung, nur solchen Abgeordneten ihre
Stimme zu geben, die sichere Gewähr bieten, daß sie sich mit allen Kräften ein¬
setzen werden, die in den Verfassungen der einzelnen Länder verbürgte Gewissens¬
freiheit auch endlich zur Durchführung zu bringen, die Bewegung für Trennung
von Staat und Kirche und Schule und Kirche lebhaft zu propagieren, vor allem
aber auch die unwürdige Vergewaltigung des Elternhauses in Form der konfessionellen
Zwangserziehung der Kinder mit den schärfsten Mitteln zu bekämpfen."
Damit hat sich also der Monistenbund auch auf politisches, ja sogar auf
parteipolitisches Gebiet begeben, und nicht ohne Unrecht sagt dazu die Leipziger
Volkszeitung: „Danach könnten die Monisten nur Sozialdemokraten ihre Stimme
geben." Sehr richtig bemerkt die Berliner Börsen-Zeitung: „Den Zwang, den
der Monistenbund verpönt, will er selbst ausüben und durchsetzen, daß alle Menschen
die Theorie der Selbstschöpfung und Entwicklung als heilige Wahrheit anerkennen.
Mit welchen: positiven Recht?"
Am Schluß der Tagung fuhren etwa zweihundert Teilnehmer nach Jena, um
Haeckel eine Huldigung darzubringen. Diese Tatsache verdient insofern besonders
hervorgehoben zu werden, als der Monistenbund trotz allem, was geschehen ist,
nach wie vor zu Haeckel hält. Das ist natürlich sein gutes Recht. Es klärt jeden¬
falls die Situation und beweist, was der Monistenbund ist. Und das kam auch
sonst zum Ausdruck, so daß jetzt doch wohl manchem die Augen aufgehen werden.
Vor dem Kongreß wurde nämlich in Hamburg ein Flugblatt verbreitet mit
dem Titel: „Was ist ein Monist?" Die Antwort lautet nicht etwa: ein Anhänger
des Monismus, also jener Weltanschauung, welche alles Weltgeschehen auf ein
einziges Prinzip zurückführen will. Allmählich ist man sich im Monistenbund doch
wohl klar geworden, daß dies die Theisten, die alles auf Gott zurückführen, auch
tun, daß sie also auch „Monisten" in des Wortes eigentlicher Bedeutung sind.
Diese Erkenntnis mag denn doch wohl manchen Monistenbündler erschreckt haben,
so daß jetzt dasselbe Manöver angewendet wird, das heute vielfach so sehr beliebt
ist — das Wort wird umgewertet: der „Monist" ist jetzt einfach soviel wie
„Atheist", Monismus soviel wie die Weltanschauung, daß alles mit natürlichen
Dingen zugehe. Dies geht soweit, daß jenes Flugblatt sogar erklärt, dem Monis¬
mus sei es gleichgültig, ob es nur eine Kraft oder nur einen Stoff gäbe, das sei
lediglich eine physikalische Frage.
Mit der Definition des Monismus seitens jenes Flugblattes stimmt es nun
vollständig überein, wie Prof. Ostwald auf dem Kongreß den Monismus bestimmte.
Er sagte nämlich: „Wir Monisten verhalten uns ablehnend gegen jeden Offen-
barungsglauben und gegen jede übernatürliche Vorstellung. Innerhalb dieses
Kreises bietet sich aber für jeden Einzelnen, so verschieden er seine Aufgabe auffassen
mag, Raum für freie Betätigung."
Aus alledem ergibt sich klipp und klar: Der Deutsche Monistenbund hat mit
Wissenschaft im Grunde genommen recht wenig menn. Er ist im Wesentlichen eine
Kampfesorganisation gegen die Religion; denn was einzelne Monisten, selbst Haeckel,
noch „Religion" nennen, ist wieder eine völlig unberechtigte Umwertung dessen,
was man seit alters so genannt hat.
Es ist ein großer Gewinn, daß dieses Ziel des Monistenbundes jetzt nach
dem Kongreß klar vor aller Augen liegt. Und aus diesem Ziel ist es auch zu
erklären, wenn der Kongreß äußerlich einen so glänzenden Verlauf genommen hat.
Jene Massen, die sich nicht genug tun konnten in Jubelausbrüchen und stürmischer
Begeisterung, sie waren suggestiv beeinflußt durch den Gedanken der Zerschmetterung
der Religion durch die Wissenschaft. Sie erwarten vom Monistenbund und seinem
Monismus einen Ersatz für den Gottesglauben und die Religion, die sie selbst
schon längst verloren haben.
Werden sie finden, was sie suchen? — Nun, die Monisten selbst sind offenbar
auf dem Kongreß wie in einem Rausch und im Siegestaumel gewesen, verstieg
sich Ostwald am Schluß doch zu den unbegreiflichen Worten: „Ich schließe den
ersten Monistenkongreß und eröffne das monistische Jahrhundert." — Es gehört
wohl nicht besonders viel Prophetengabe dazu, um vorherzusagen, daß sie beide,
die Massen und die Monistenführer, die sich offenbar in diesen Taumel gegenseitig
hineinsuggeriert haben, recht bald sehr enttäuscht und ernüchtert sein werden. Die
Wirklichkeit wird bald genug zeigen, in welchen Utopien diese Leute leben.
Jedenfalls ist das sicher: unser Volk hat noch gesunden Sinn genug, um den
sogenannten Monismus des Monistenbundes zu durchschauen und das Flittergold
seines Kongresses als das zu werten, was es ist. Zunächst wird dem Monisten¬
bund im großen und ganzen nur ein für seine „Wissenschaft" recht bedenkliches
Feld der Betätigung offen stehen: die großen Massen der religionslosen Sozial¬
demokratie und ihrer Mitläufer.
Das Lokalkolorit in Goethes „Hermann
und Dorothea". Vor einem Jahre ahnten
nnr wenige Menschen, daß Goethes Dichtung
mit dem sächsischen Vogtlande einen Zusammen¬
hang habe; jetzt im Sommer 1911 ist durch
ein „Hermann und Dorothea"-Festspiel und
durch die Weihe eines Goethe-Brunnens in
Bad Elster der Welt verkündet, daß in dein
südwestlichen Winkel Sachsens der Schauplatz
einer Goethescher Idylle gewesen sei. Skeptisch
muß man solchen Eröffnungen gegenüberstehen:
Was soll Adorf mit der Goethescher Fassung
zu tun haben, die uns doch in die sonnigen
Hügelketten eines Rheintales versetzt? Warum
nun eine kahle Erzgevirgsgegend, ein tristes
Klcinstädtchen vorstellen, von denen Goethe
Eindrücke für sein Epos genommen haben soll l
Doch die Schrift E. Trauers „.Adorf, Elster'
und Goethes.Hermann und Dorothea', Planen
1911" veranlaßte mich, an Ort und Stelle
nachzuforschen.
Die alteStadt Adorf liegt auf einemHügel.
Am Markte verkündet über dein Tore der Post-
halterei eine Tafel, daß hier Goethe auf einer
Reise nach Karlsbad 1796 eineNacht zugebracht.
Nebenan der Gasthof zum Löwen ist ein Neu¬
bau. Betritt man den älteren Teil, mahnt
über einer winzigen Pforte in dicker Stein-
Wand die Überschrift „Sälchen", daß hier
Goethesche Spuren gezeigt werden. Es ist
el>? Raum, ein Meter breit und doppelt so
lang; uralte Wände zeigen an den einge¬
brochenen Fenstern ihre Dicke. Alte Stiche,
Zinnsachen und Porzellan, kräftige Tische und
Bänke bilden die Ausstattung, gewiß jetzt zum
Dämmerschoppen ein gemütliches Sälchen, aber
sich da die langen Gespräche der drei Hono-
ratioren an den „runden, eichenen Tischen auf
mächtigen Füßen", da die Verlobung Hermanns
mit Dorothea vorzustellen, — unmöglich!
Breiter ist der Raum nicht gewesen, das lehrt
die Rückwand, aber länger, so sagte der Wirt,
bis an den alten Torweg habe er gereicht:
aber ein schmaler dunkler Gang.
„Lange, doppelte Höfe" durchschreitet Her¬
manns Mutter. Es hält schwer, sich dabei
etwas Rechtes vorzustellen. In Adorf sieht
man sie hinter dem Gasthof, wenn auch mo¬
derne Bauten den Eindruck stören. Heut tritt
man aus dem alten Tore hinaus auf eine
Straße; jenseits erst beginnt der Garten, der
nach Goethe „weit bis an die Mauern des
Städtchens reichte". Als die Mutter an sein
Ende gekommen, sieht sie in der Geißblatt-
laube nach Hermann, geht dann dnrch ein
Mauerpförtchen „bequem den trockenen Graben
hinüber"; drüben steigt sie den Laubengang
auf unbehauenen Steinstufen empor. Eine
Tür führt aus dein Weinberge ins Feld, Raine
gehen hindurch bis zum Birubnum „mitBänlen
von Steinen und Rasen". So erzählt Goethe.
Der Garten entspricht in der Größe dem
Sälchen, er bildete ein kleines Viereck; drinnen
befindet sich noch heute die Geißblattlaube.
Auch die Pforte durch die Mauer soll dort
gewesen sein, jetzt ist die Stadtbefestiguug sehr
zerfallen. Aber von da reicht in Adorf ein
ziemlich abschüssiger zweiter Garten, der nun
auch lang ist, hinab zum Graben. So heißt
noch heute der Weg, der parallel zur Mauer
unten in dem kleinen Tale führt. Auf der
anderen Seite steigt das Gelände an, Wiesen
und Baumpflanzungen sind da; und oben auf
dem Hügel erstrecken sich weithin fruchtbare
Felder. Auf Rainen konnte ich beqnem ent¬
lang gehen, doch den Birnbaum fand ich nicht.
Aber man erzählte mir, daß alte Leute sich
besinnen könnten, ehedem habe draußen auf
der Höhe einer gestanden; dortsollen sich die
Dorfjungen um die willkommene Erfrischung
geprügelt haben. Auch der Marktplatz mag
Goethe gefallen haben: in der Mitte stand
einst ein Brunnen, am unteren Ende die Weiße,
Wohl erneuerte Kirche; gegenüber dem Löwen
des reichen Kaufmanns modernes Haus und
die ältere anliegende Apotheke stimmen über¬
ein; ja selbst der im Gedichte erwähnte „be¬
schlossene Chausseebau" findet sein Analogon
in der Adorfer Stadtgeschichte jener Jahre.
Als das Wesentliche des Eindruckes sei
betont: Es kann kaum der Zufall diese über¬
raschende Gleichheit der Srtlichkeit gegeben
haben. Goethe war in Adorf kurz vor Ab¬
fassung der Dichtung, er sah den Markt, ver¬
kehrte im Löwen, durchwanderte das Grund¬
stück. Da blieben ihm die Eindrücke, und er
Verwandte sie beliebig umbildend zu seinem
Gedichte.
Ähnlich ist es mit dem Wege zwischen Adorf
und Elster. Die Entfernungen stimmen. Halb¬
wegs kommt quer zum Tal eine Straße —
heute — vom Bahnhof Elster; dort, wo sie
sich mit der Hauptstraße vereinigt, haben die
Städter mit ihren Hilfsgaben den Emigranten¬
zug erwartet, dort am Sommerwege. Die
Flüchtigen sind talauf gezogen, „den glück¬
lichen Winkel dieses fruchtbaren Tals und seiner
Krümmungen wandernd." Selbst ein Fußweg
ist da, nur darf man sich ihm nicht nach dem
Sinne der Dichtung vorstellen, denn er kürzt
wenig. Daraus Goethe besser erklären wollen,
ja Widersprüche lösen, wie Trauer versucht,
geht ohne Verdrehungen nicht ab. Die Emi¬
granten kommen zum Rastdorfe. Ein Anger
findet sich da mit einem säuerlichen Brunnen.
Wie soll man sich ihn nach Goethe vorstellen?
Eigenartig ist seine Fassung:
„Flach gegraben befand sich unter den Bäumen
ein Brunnen,
Stieg man die Stufen hinab, so zeigten sich
steinerne Bänke,
Rings um die Quelle gesetzt, die immer lebendig
hervorquoll,
Reinlich, mit niedriger Mauer gefaßt, zu
schöpfen bequemlich."
sich in alten Akten eine Brunnenzeichnung aus
dem Jahre 1795, die beinahe als Illustration
zu Goethe dienen kann. Wie man zu dieser
absonderlichen Form gekommen ist, läßt sich
auch aus alten Nachrichten begründen: die
alljährliche Überschwemmung des Tales ver¬
unreinigte das gute Quellwasser des Sauer¬
brunnens, so Plante man damals aus Prak¬
tischer Notwendigkeit der Errichtung eines
breiten Erdwalles rund um das „Mäuerchen"
des eigentlichen Brunnens. Und Goethe, der
sich für alles Geologische interessierte, sollte er
nicht von Adorf aus die Brunnenverhältnisse
in Elster studiert haben?
Soweit reichen die lokalen Übereinstim¬
mungen. Sie sind so überwiegend, daß ich
nicht mehr zweifle: Goethe hat von der Ört-
lichkeit Adorf—Elster in seiner Dichtung ver¬
wandt. Aber das Weitere, Teile der Hand¬
lung nun auch mit Adorf in Zusammenhang
zu bringen, ist abzulehnen. Trauer versucht
es, vielleicht angesteckt von den törichten Unter¬
suchungen Kullmers überPößneck in Thüringen.
Das, was über die Datierung des Brandes
das Alter des Geistlichen, die Emigrantenzüge
gesagt wird, ist wertlos. An dem Ergebnisse
der bisherigen Forschung ist nichts zu ändern
nötig: die Geraer Überlieferung vom Jahre
1732 ist die unmittelbare Quelle Goethes ge¬
wesen. Diese nun auch nach Elster verlegen,
heißt der Dichtung in kleinlicher Weise Gewalt
antun. Goethe hat die Fabel am Rhein spielen
lassen, er nahm Refugiös an Stelle der Salz¬
burger Vertriebenen, er gab der bürgerlichen
Dichtung den großen historischen Hintergrund
seiner Zeit, die Revolution.
Wenn Lokalgelehrte versuchen, das Große
an der Schöpfung zunichte zu machen, nur
um möglichst viel Gemeinsames für ihre Idee
herauszuschlagen und der neuen Auffindung
Sensation zu erhöhen, so kann das nicht scharf
genug zurückgewiesen werden.
Eine höchst interessante Idee ist durchgeführt
im Goethe-Kalender auf das Jahr 1912 (heraus,
gegeben von Carl Schiiddckopf. Leipzig, Die-
terichscheVcrlagSbuchhandlungTheodorWeicher.
Preis M. 1,60). Es ist der Versuch gemacht,
GoethesVerhältnis zu den bedeutendstenFrauen,
die in des Dichters Leben eine Rolle gespielt
„säuerlich" war das Wasser, „erquicklich und
gesund zu trinken die Menschen." Da findet
haben, mit seinen eigenen Worten aus Ge¬
dichten, Briefen oder Gesprächen klarzulegen.
Unter den Frauengestalten, die da in Goethes
Charakteristik an uns vorüberwandeln, erscheint
neben Frau Aja, Christiane, Frau von Stein
und vielen anderen auch die rätselhafte Offen-
bachcr Freundin aus dem Jahre 1775, die
Goethe „wie eine Frühlingsblume am Herzen"
trug. Einundzwanzig Frauen führt uns der
Kalender im Bilde vor. In einer umfassenden
Sammlung von besonders bemerkenswerten
Äußerungen Goethes über die Frauen im all¬
gemeinen bewährt sich von neuem die Kenner¬
schaft und der sichere Geschmack des verdienten
„Als die Römer frech geworden..."
Heute, an den Kalenden des Oktober 1911,
bedarf es keiner einleitenden Bemerkung zu
ein Paar Reminiszenzen aus dem alten Livius,
der offenbar als das Schicksalsnachschlagebuch
benutzt wird, seitdem die Sivyllinischen Bücher
verlorengegangen sind:
„Da bildete der römische Gesandte (vor
dem Senat von Karthago) einen Bausch aus
seiner Toga und sagte: Hier bringen wir euch
Frieden oder Krieg; nehmt, was euch beliebt.
— Darauf antwortete man ihm im gleichen
Tone: Gib was du willst. — Und als er nun
den Bausch fallen ließ und rief: So habt
dennKrieg! entgegneten sie alle: Angenommen;
wir werden ihn ebenso entschlossen führen wie
wir ihn hinnehmen. — Diese gerade Anfrage
und Kriegserklärung schien der Würde des
römischen Volkes angemessener als ein langer
Wortstreit über die Geltung der Verträge..."
„Eben war König Antiochus beiAlexandria,
als ihm die römischen Gesandten entgegen¬
kamen. Er grüßte die Nahenden und bot
dem Popillius die Hand; dieser aber reichte
ihm die Tafel mit dem Senatsbeschluß hin
und hieß ihn vor allem dies lesen. Antiochus
as und antwortete, er werde mit seinen
Räten überlegen, was zu tun sei. Allein
PoPilliuS, ganz seinem herben Sinne gemäß,
og mit dein Stäbe, den er trug, um den
König einen Kreis und sprach: Bevor du aus
iesen? Kreise trittst, sollst du antworten!
Betroffen durch einen so gewaltsamen Befehl,
tockte Antiochus zuerst und erwiderte sodann:
Ich werde handeln, wie der Senat es ver¬
angt. — Nun erst reichte Popillius dem
Könige die Hand und Antiochus räumte
Ägypten. Hierauf segelten die römischen
Gesandten nach Cypern, wo soeben die Flotte
es Antiochus einen Sieg über die ägyptische
rfochten hatte, und befahlen auch dieser die
Heimfahrt zur asiatischen Küste. Einen
roßen Namen erhielt diese Gesandtschaft bei
en Völkern, weil sie unstreitig dem Antiochus
as schon besetzte Ägypten aus den Händen
enommen hatte."
Es ist hinzuzufügen, daß in beiden Fällen
in Anlaß vorlag, der sich wenigstens hören
ieß. Denn die Karthager hatten die Stadt
Sagunt zerstört, obwohl sie des Schutzes der
Römer versichert war, und das Eingreifen
n Ägypten erfolgte auf den Hilferuf der be¬
rohten Dynastie. Aber hier wie dort stand
ie Rechtsbasis der römischen Einmischung
uf so schwachen Füßen, daß man jedesmal
en Hauptgrobian des Senats abschickte, um
o rasch wie möglich entweder eine Beleidi¬
ung der Würde Roms oder die Einschüchte¬
ung des Gegners zu bewirken. Auf solchen
und ähnlichen Wegen hat sich dann die
ömische Weltherrschaft durchgesetzt, deren ver¬
ockender Schlummer das ganze Mittelalter
och blendete. Und unter den Trümmern
es wieder aufgedeckten Forum Romanum ist
natürlich der geeignete Ort, sich abermals an
en Erzählungen des Livius zu begeistern.
Doch schon zu seiner Zeit gab es einen
Spruch, der begann: ()no6 licet ^ovi, . . .
Wohl selten ist die deutsche Presse so einmütig in der Beurteilung eines
Geschehnisses gewesen wie gegenüber dem Einbruch Italiens in türkisches
Gebiet. Die Blätter aller Richtungen haben herbe Worte gegen die italienische
Regierung gefunden und zutreffend Italiens Vorgehen als einen frechen Raubzug
gebrandmarkt. Auch die Freunde Italiens außerhalb des Dreibundes haben
an dem Vorgehen Anstoß genommen, aber, und das ist das charakteristische, sie
suchen die Verantwortung von den Italienern fort ans die anderen Dreibund¬
mächte, womöglich auf Deutschland, zu wälzen. So heißt es, Österreich-Ungarn
habe durch die Besetzung Bosniens das Signal zu dem Vorgehen Frankreichs
und nun zu dem Italiens gegeben, und Deutschland habe es gut geheißen.
Nun, der Vergleich hinkt. Österreich-Ungarn hat in Bosnien durch mehr als
ein Vierteljahrhundert eine Kulturarbeit verrichtet, die es moralisch schon lange
vor der formellen Inbesitznahme zum Herrn des Landes machte. Ähnlich ist
es mit Frankreich in Marokko. Auch die Franzosen haben seit 1880 unermüdlich
im Lande der Scherifen gewirkt und organisiert und erst dann den entscheidenden
Schritt getan, als sie tatsächliche Herren in Mauretanien waren. Was hat
dagegen Italien in Tripolis geleistet? Nichts! oder so gut wie nichts! Die
italienischen Kolonien in Tripolis haben kaum Zuwachs erhalten; der Handel
mit Tripolis beschränkt sich ans einige Millionen Lires und hat sich in den
letzten zehn Jahren nur um einige Hunderttausende vermehrt; eine Aus¬
wanderung von Jtalikern nach Tripolis hat nicht stattgefunden oder sich auf
Malteser beschränkt. Straßen- und Hafenbauten oder sonstige Kultur und Verkehr
fördernde Dinge, die nun vor irgendeinem drohenden Unheil geschützt werden
mußten, hat Italien in Tripolis nicht unternommen. Was Italien in Tripolis
zu besitzen glaubt, dankt es nicht eigenem Fleiß und eigener Energie, sondern
ausschließlich der Großmut Englands und Frankreichs, die, um selbst ungestört
schalten zu können, Italiens vermeintliche Rechte an Tripolis schon vor einigen
Jahren anerkannten. Um die Empfindungen der Türkei glaubte man sich nicht
kümmern zu brauchen. Italien hat es unter diesen Umständen seinen beiden
Bundesgenossen recht schwer gemacht, sich nicht auf die Gegenseite zu stellen; das
soll nicht verschwiegen werden.
Wenn trotz dieser Mißstimmung der öffentlichen Meinung gegen
Italien weder Österreich-Ungarn noch Deutschland Italien zur Ordnung riefen,
so ist daran wohl in erster Linie die strafwürdige Fahrlässigkeit und
Sorglosigkeit der türkischen Regierung schuld. Die häufigen Be¬
schwerden der italienischen Regierung bei der Pforte über angebliche Übergriffe
türkischer Beamten mußten der Negierung schon seit mindestens zwei Jahren
andeuten, daß irgend etwas gegen Tripolis im Gange sei. Vollends seit dem
Januar dieses Jahres mußte es den Türken klar sein, daß Italien in aller¬
nächster Zeit zur Realisierung seiner Abmachungen mit Frankreich und England
schreiten würde. Trotz allen bedrohlichen Anzeichen hat die türkische Regierung
keinerlei Schritte unternommen, um einen: kriegerischen oder auch nur diplo¬
matischen Handstreich gegenüber gerüstet zu sein. Im Leben der Staaten ist
es aber nur wenig anders als im Leben des Einzelmenschen: Freunde hat nur
der Starke, das ist derjenige, der zeigt, daß er seine Interessen selbst zu wahren
versteht.
Damit aber fällt auch ein guter Teil der Befürchtungen in sich zusammen,
der sich an die Stellung Deutschlands zu dem Streite knüpfte. Die
ganze Angelegenheit ist selbstverständlich nicht nur für die deutsche Diplomatie
ärgerlich, sondern birgt auch gewisse Gefahrenmomente für den deutschen Orient¬
handel in sich. Darüber ist kein Wort zu verlieren. Aber die Unterlassungen
und Verfehlungen der Streitenden machen es uns auch möglich kühl zu bleiben
und erst dann einzugreifen, wenn auf der einen oder anderen Seite wirtschaftliche
Interessen Deutschlands gefährdet werden sollten. Herr v. Kiderlen, der durch die
letzten Schritte Italiens und dessen rigorose Art vorzugehen wohl ebenso überrascht
worden ist, wie jeder andere Diplomat auf dem Erdenrund, hat sich denn auch sehr
schnell in die neue Situation gefunden. Seine Auffassung von den Pflichten
Deutschlands kommt wohl am deutlichsten dadurch zum Ausdruck, daß Deutsch¬
land nicht nur den Schutz der Italiener in der Türkei, sondern auch den der
Türken in Italien übernommen hat. Ins gemeinverständliche übertragen heißt
das: Ich gönne wohl beiden einen gehörigen Denkzettel, aber Unschuldige
sollen nicht leiden! Dafür werde ich sorgen! — Damit ist der Wunsch Deutsch¬
lands, die Angelegenheit zu lokalisieren, so deutlich zum Ausdruck gebracht wie
nur möglich, und den Feinden Deutschlands wird es einmal schwer fallen, den
Nachweis zu erbringen, daß die deutsche Negierung irgend etwas versäumt habe,
um deu Weltfrieden zu erhalten.
Über den Gang der kriegerischen Ereignisse möchte ich an dieser
Stelle nur insoweit berichten, als es zum Verständnis der diplomatischen Dinge
notwendig ist; ich wäre überdies der Tagespresse gegenüber nur ein hinkender
Bote. Für die diplomatische Entwicklung des Streites ist es, solange nicht dritte
mit hineingezogen werden, ziemlich gleichgültig, ob die kriegführenden Mächte
in: vorliegenden Falle mehr oder weniger Schlachten schlagen. Wenn alles
normal verläuft, d. h. wenn nicht gewisse ehrgeizige oder mißgünstige Regierungen
den Brand absichtlich ausbreiten, steht das Ergebnis des Krieges schon heute
fest: Italien bekommt Tripolis. Nur die Höhe des Preises, den es dafür
an die Türkei wird zahlen müssen, dürfte von der Zahl der gewonnenen Schlachten
abhängen. So liegt denn die Hauptgefahr nicht im Brandherde selber, sondern
an seinen Rändern.
Wenn es sich um türkische oder italienische Verwicklungen handelt, schweifen
die Gedanken nmvillkürlich nach Österreich-Ungarn. Allein schon das Karten¬
bild, in dem die Habsburgische Doppelmonarchie wie ein verbindender Anker
auf den beiden südlicheren Reichen liegt, lenkt die Blicke nach Wien und läßt
zunächst übersehen, daß dazwischen noch einige kleinere Gebilde liegen. Grenzten
die großen Reiche direkt aneinander, dann lägen aber die Dinge zwischen ihnen
einfacher. Zwei Mächtige respektieren einander gewöhnlich, aber steht zwischen
ihnen ein Schwacher, so ist es häufig genug dessen Haut, um deren willen die
Großen sich schlagen. Und in der Tat hängt Österreichs Haltung in der ferneren
Entwicklung des türkisch-italienischen Streites im wesentlichen davon ab, wie
Bulgarien, Serbien und Montenegro sich gegen die Türkei verhalten. Die aber
stehen alle drei in mehr oder weniger starker Abhängigkeit von den in Petersburg
herrschenden Anschauungen; Montenegro wird obendrein noch durch Familien¬
bande der beiderseitigen Herrscherfamilien mit Italien verbunden.
Wir haben alle Ursache, den Herrn der schwarzen Berge Nikolaus
mit dein größten Mißtrauen zu betrachten. Ehrgeizig, wie er ist, genügt ihm
der Talkessel nicht, der sein Reich bildet, wenn er sich auch zum Range eines
Königs erheben ließ. Sein Blick ist auf Albanien gerichtet. Ob und wie weit dort
eine Erhebung vorbereitet ist, läßt sich noch nicht mit Sicherheit behaupten.
Jedenfalls steht fest, daß Nikolaus während der letzten Unruhen in Verbindung
mit den Führern der Albanesen getreten ist und daß er diese Verbindungen
eifrig pflegt. Es liegt auf der Hand, daß Italien den Bundesgenossen jenseits
des Adriatischen Meeres nicht stören wird, sobald dieser seine Zeit gekommen
wähnt, und Nachrichten, die auf einen starken Verkehr zwischen Rom und Cetinje
hindeuten, dürfen nicht unbeachtet bleiben. — Anders liegt es mit dem zweiten
Protektor Montenegros, mit Rußland. Zwar hat Zar Nikolaus der Zweite
oft genug Gelegenheit gefunden, dem kleinen Bergvolk seine Sympathie praktisch
zum Ausdruck zu bringen, — Waffen, zuletzt eine Abteilung Artillerie, sind oft
genug aus den russischen Arsenälen nach Antivari verschifft worden. Aber diese
Sympathiebezeugungen hatten ihren Grund wohl vorwiegend in dem gespannten
Verhältnis zu Österreich und weniger in einer Feindseligkeit gegen die Pforte.
Montenegro ist gewissermaßen als der Brückenkopf gedacht, durch den eine Ru߬
land verbündete Westmacht, etwa Frankreich oder Italien, in die Herzegowina
oder in Bosnien einbrechen könnte. Im gegenwärtigen Augenblick aber steht
die Partie etwas anders. Zunächst hat Rußland überhaupt kein Interesse an
Tripolis, alsdann ist es durch Italiens schroffes Vorgehen ebenso peinlich über¬
rascht wie alle anderen Staaten, und schließlich ist es für die Auflösung der
europäischen Türkei im gegenwärtigen Augenblick ebensowenig vorbereitet, wie
sür einen europäischen Krieg überhaupt. Sollte aber der Krieg zur Teilung
sühren, dann wäre Rußland gezwungen, zuzusehen, was ihm England und
Österreich-Ungarn als die Führenden in dem Spiel übrig ließen. Diese Über¬
legung erklärt uns auch die Haltung der russischen, amtlich beeinflußten Presse.
Wir gehen auch nicht fehl, wenn wir annehmen, daß neben Montenegro auch
Serbien und Bulgarien von Petersburg aus zur Ruhe gemahnt worden
sind. Solange solche Mahnungen befolgt werden, darf man auch annehmen,
daß Österreich-Ungarn der Entwicklung auf dem Mittelländischen Meer mit
Gewehr bei Fuß, wenn auch mit aufgepflanzten Bajonett, zuschauen wird. Die
letzten Nachrichten aus Wien unterstützen diese Auffassung.
Einen zweiten Gefahrenherd neben Montenegro bildet Griechenland.
Dessen Ambitionen auf Kreta sind bekannt, ebenso bekannt ist, daß die Nationalisten
die Gelegenheit zu einem Feldzuge gegen die Türkei für gekommen erachten.
Wir glauben, daß hier eine Rechnung ohne den Wirt gemacht wird. Die
türkische Negierung würde ohne Zweifel durch einen griechischen Angriff in die
angenehme Lage kommen, einen schwerwiegenden Grund zum Friedensschluß
mit Italien und zur Preisgabe von Tripolis zu erhalten, und sich mit kon¬
zentrierter Gewalt auf die Griechen werfen. Ein Krieg gegen Griechenland
wäre populär in der Türkei und vielleicht für die gegenwärtigen Machthaber
am Goldenen Horn eine willkommene Ablenkung. Die Griechen aber müßten
aller Wahrscheinlichkeit nach die Rechnung an die Türkei begleichen.
Bei einiger ruhiger Überlegung stellt sich somit der italienisch-tripolitanische
Streit nur dann als eine europäische Gefahr hin, wenn durch das Vorgehen
Montenegros Österreich-Ungarn gezwungen werden sollte, zum Schutz seiner
Grenzen Nord-Albanien, also türkisches Gebiet, zu besetzen. Denn dann wäre
es nicht mehr zu berechnen, ob Rußlands Einfluß in Serbien und Bulgarien
ausreichte, um diese Staaten vor kriegerischen Schritten gegen die Türkei zu
bewahren.
Die Schuld an allen diesen Verwicklungen aber müßte der italienischen
Negierung zur Last gelegt werden, und wenn sie auch aus dem Abenteuer mit
heilen Gliedern herauskommt, hat sie sich doch nach innen und außen stark
kompromittiert. Italien gehörte zu den Staaten, die auf der letzten Haag er
Friedenskonferenz im Jahre 1904 in allen Fragen das größte Entgegen¬
kommen zur Schau trugen, und Italiens Bevollmächtigter, Graf Nigra, war,
wie Meurer sich ausdrückt, „sozusagen der Doyen zur Wahrung des diplomatischen
Herkommens und der internationalen Schicklichkeit.. ."*). Wie ernsthafte Nach¬
richten besagen, soll auch die Negierung nicht ganz freiwillig an die Tripolis¬
affäre herangegangen sein, sondern mehr unter dem Druck rationalistischer
und klerikaler Einflüsse. Wenn diese Auffassung begründet sein sollte, dann
freilich wäre die Gefahr der Ausbreitung des Brandes doch noch größer als
man sonst anzunehmen brauchte. Denn nicht die starken Staaten lassen sich zu
Abenteuern treiben, sondern die schwachen... Doch warten wir ab.
Über der Tripolis-Angelegenheit ist der Marokkohandel recht in den
Hintergrund geraten. Selbst die chauvinistischen Blätter, die Marokko gern
zum „Grabe der deutschen Ehre" gestempelt hätten, haben auffallend wenig
Raum dafür übrig. Kein gutes Zeichen für ihre Gesinnungstreue! Sollte
die Angelegenheit nicht mehr sensationell genug sein? . .. Wie es scheint, ist
der Entwurf zu einem deutsch-französischen Marokkoabkommen nunmehr in die
Hände der Juristen geraten, deren Aufgabe es bekanntlich ist, Präzision des
Ausdrucks und Klarheit in Verträge zu bringen. Diese langwierige Arbeit
Der zweiten Hälfte des Wirtschaftsjahres 1911 leuchtet kein günstiger Stern.
Die Friedensschalmeien werden plötzlich übertönt vom Donner der Kanonen.
Die Möglichkeit, vor der Monate lang die zivilisierte Welt gebangt hatte,
kriegerische Zusammenstöße zwischen europäischen Staaten, ist über Nacht Tat¬
sache geworden. Italien hat der Pforte den Krieg erklärt, weil diese nicht
binnen 24 Stunden einem kategorisch ausgesprochenen „öde-toi, que je in'y
molte" hinsichtlich ihrer Provinz Tripolis Gehorsam erwiesen hat. So vor¬
bedacht, schnell und rücksichtslos waren die Schritte Italiens, daß weder dem
angeblichen Gegner Zeit zur Überlegung, noch den übrigen Mächten Zeit und
Möglichkeit zur Vermittlung gelassen wurde, obwohl es sich doch um eine
Angelegenheit handelte, bei der sie, wenn auch nur indirekt, so doch erheblich
interessiert sind. Und die Folge des beinahe flibustierhaften Vorgehens unseres
italienischen Bundesgenossen ist die, daß das alte Europa plötzlich eine Lohe
aufflackern steht, an der gefährlichsten Stelle, ohne die Möglichkeit zu löschen,
ohne die Möglichkeit seine durch den Brand bedrohten Güter vorher zu retten
und zu sichern. Das Unheil ist so plötzlich, so unerwartet hereingebrochen, daß
es nicht möglich war, sofort das richtige Augenmaß für die Bedeutung und
Tragweite des Ereignisses zu gewinnen. Noch vor Wochenfrist schien die
Tripolisaffäre kaum eine Erwähnung zu verdienen, und heute schon haben die
Kanonen das Wort. In beinahe stumpfer Resignation hat die Börse und
die Geschäftswelt diese Ereignisse über sich hereinbrausen lassen; die monate¬
lange Spannung und Aufregung, in der sie hat leben müssen, hat ihr Empfäng¬
lichkeit und Elastizität geraubt. Sie hätte wohl auch noch einen größeren Schicksals¬
schlag mit anscheinender Gleichgültigkeit hingenommen. Indessen wird es doch
unvermeidlich sein, diese politische Katastrophe nach ihrer wahren wirtschaftlichen
Bedeutung für uns einzuschätzen. Da läßt sich denn nun nicht verkennen, daß,
auch ganz abgesehen von weiteren politischen Verwicklungen und deren möglichen
Folgen, der ausgebrochene Krieg, wenn er andauert, für unser Wirtschaftsleben
sehr schwere Schädigungen im Gefolge haben muß. Der Kriegszustand wird
zunächst einen sehr ungünstigen Einfluß auf den Geldmarkt ausüben. Es wird
ein scharfer Wettbewerb zwischen den einzelnen Ländern um die Aufrecht¬
erhaltung und möglichste Stärkung der nationalen Goldreserven entstehen; die
Geld- und Zinsanspannung wird also voraussichtlich nunmehr längere Zeit
andauern oder sogar noch eine Verschärfung erfahren. Soweit aber nicht die
Geldverhältnisse schon als Hindernis wirken, würden die politische Unsicherheit,
die Absatzstockungen und die Verluste, welche die Industrie aus ihren Beziehungen
zum Orient zu gewärtigen hat, ausreichen, der wirtschaftlichen Unternehmungs¬
lust einen wirksamen Dämpfer aufzusetzen. Sind wir in Deutschland doch
infolge der bekannten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, die wir zur
Türkei angeknüpft haben, jetzt eines der in: osmanischen Reich finanziell am
stärksten beteiligten Länder! Wir haben nicht nur eine ganze Reihe türkischer
Anleihen übernommen, zum Teil in siegreicher Konkurrenz gegen das französische
Kapital, sondern von noch größerer Bedeutung ist die Beteiligung unserer
Industrie und unserer Banken an den türkischen Eisenbahnbauten. Grund
genug, vor der weiteren Entwicklung der Dinge zu bangen! Es ist heute kein Sonn-
undFeiertagsvergnügen mehr für den deutschenBiedermann, „solch einGespräch von
Kriegsgeschrei, wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen".
Die Schläge, die es da absetzt, spüren wir unmittelbar an unserem eigenen
Leibe und an unserem Geldbeutel. Doch glücklicherweise sind wir nicht
allein die Beteiligten; noch mehr als Deutschland hat vielleicht Frankreich mit
seinem Milliardenbesitz an türkischen Werten, kaum weniger Österreich zu fürchten,
das dem nahen Orient durch Handels- und politische Beziehungen am engsten
verknüpft ist. Unter den Großmächten wird also der dringende Wunsch bestehen,
den ausgebrochenen Brand zu lokalisieren und ein Übergreifen desselben auf die
Balkanhalb lnsel zu verhüten. In richtiger Erkenntnis dieser Sachlage hat denn
auch Italien von vornherein erklärt, daß es nicht darauf ausgehe, die Türkei
in ihrem europäischen Bestand anzugreifen, sondern sich dafür einsetzen wolle,
den 8wen8 quo auf dem Balkan aufrechtzuerhalten. Es fragt sich nur, ob die
Verhältnisse nicht stärker sein werden als die Absichten. Denn das Unternehmen,
in welches Italien sich im Vertrauen auf seine unbedingte maritime Überlegen¬
heit eingelassen hat, ist ein in seinen Folgen unabsehbares und gefährliches. Es
ist uns noch in guter Erinnerung, wie die Annexion Bosniens und der Herze¬
gowina vor drei Jahren den Anlaß zu einem heftigen Boykott österreichischer
Waren und Schiffe im ganzen Orient gab, ohne daß die türkische Regierung
imstande gewesen wäre, durch aufklärende oder strenge Maßregeln diesen, spon¬
tanen Handeln der muselmännischen Bevölkerung zusteuern. Ein ähnliches Auf¬
flammen des islamitischen Patriotismus ist mit Sicherheit vorauszusehen und
wird Italien die schwersten wirtschaftlichen Schäden zufügen. Leben doch über
fünfzigtausend Italiener in den Städten der europäischen und kleinasiatischen
Türkei und ist deren Anteil an: Levantehandel ein so starker, daß dessen Ge¬
fährdung wirtschaftlich durch die Okkupation von Tripolis nicht ausgeglichen
werden kann. Indessen es ist ja Sache Italiens, die wirtschaftlichen Chancen
des Abenteuers und die möglichen Folgen für seinen Staatskredit abzuwägen.
Wir selbst in Deutschland sind glücklicherweise nicht mehr in erheblichem Maße
Besitzer italienischer Staatsrente. Seit der Konversion hat dieselbe ihre frühere
Beliebtheit verloren und ist in das Heimatland und nach Frankreich, welches
stets für die italienischen Werte sehr aufnahmebereit war, abgewandert. Unsere
sonstigen Handelsbeziehungen zu Italien werden durch den Krieg kaum geschädigt
werden, nur daß eine längere Dauer der kriegerischen Verwicklungen die italienische
Industrie selbst in starke Mitleidenschaft ziehen wird. Diese ist nämlich gegen
eine solche wirtschaftliche Kalamität nicht gut gerüstet. Die Baunnvollenindustrie
befindet sich in einer schweren Krise, das Seidengewerbe klagt, die Maschinen-,
Automobil- und Fahrradindustrie stockt. An dem Streitobjekt selbst ist wirt¬
schaftlich niemand, selbst die Türkei nicht, erheblich interessiert; fühlt daher
Italien den Beruf und die Kraft, diese afrikanische Sandwüste zu kolonisieren,
obwohl seiner im eigenen Lande, in Apulien, Katalonien und Sizilien,
die dringlichsten Kulturaufgaben harren, die anzugreifen es bisher weder
Mut noch Geschick besessen hat — so wird niemand hiergegen Einwürfe
erheben, vorausgesetzt, daß die Rechnung mit der Türkei in honoriger Weise
beglichen wird. Vielleicht gibt das von der Pforte an die Mächte gerichtete
Rundschreiben doch die Basis zu einer unter sanftem Druck sich vollziehenden
Verständigung. An der Hoffnung auf eine solche muß man jedenfalls so lange
als möglich festhalten; es wäre verderblich, wollte die Börse sich vorzeitig einem
Pessimismus überlassen, für den einstweilen kein Grund vorliegt und mit den:
sie in den vergangenen Wochen so schlimme Erfahrungen gemacht hat.
Der schwere Geldtermin ist vorübergegangen, ohne daß er bemerkenswerte
Erscheinungen gebracht hätte, obwohl doch die politischen Komplikationen recht
unangenehm mit dem Geldbedarf des Monatsendes zusammentrafen. Es war
aber allseitig so frühzeitig an die Versorgung gedacht worden, die Engagements
waren derart vermindert, daß die Abwicklung am Monatsende sich ohne Schwierig¬
keiten vollzog; ja, am letzten Tag war das Geldangebot schon wieder so über¬
wiegend, daß der Privatdiskont um V» Prozent zurückwich. Ultimogeld ist mit
ca. 6^ Prozent bezahlt worden, Darlehen über Monatsende mußten selbst¬
verständlich den bekannten Reichsbankaufschlag zahlen. Wie sich der Status der
Reichsbank gestalten wird, läßt sich heute uoch nicht übersehen; trotz der unzweifel¬
haften enormen Anspannung wird aber, wie schon die Entwicklung der letzten
Tage zeigt, mit Beginn des Oktober ein sehr kräftiger Rückfluß einsetzen, der
vielleicht nur durch die politischen Verhältnisse eine Hemmung erfährt. Bemerkens¬
wert ist, daß sich auch in Paris eine Entspannung am Geldmarkt fühlbar macht;
es darf daher die jüngst so bedrohlich erscheinende Geldklemme als überwunden gelten.
Mitten in die aufgeregten Tage fielen zwei Zahlungseinstellungen
von Banken, die unter anderen Umständen wohl Anlaß zu größerer Erregung
gegeben hätten. Ein großes englisches Institut, die Bank of Egypt, und ein
kleines deutsches Provinzinstitut, die Göttinger Bank, sind zusammengebrochen.
Der Fall der englischen Bank erregt deshalb besonderes Aufsehen, weil es sich
um ein altangesehenes Unternehmen handelt, in dessen Verwaltung die ersten
Namen vertreten sind; die Gründe für den Zusammenbruch sind in übermäßiger
Festlegung der Mittel im ägyptischen Grundstücksgeschäft zu suchen, also in einer
Verletzung der Grundsätze der Liquidität; das gleiche wird mutatis mutanäis
auch von der Göttinger Bank gelten, bei der nur zu beklagen ist, daß eine nicht
unbeträchtliche Zahl von Spareinlegern (die Depositen betragen ca. 4 Millionen
Mark) Verluste erleiden wird. Der Fall wird wohl wieder dazu dienen müssen,
die bekannten Angriffe auf das Depositengeschäft unserer Banken zu unterstützen.
In der Tat scheint ein Mißgriff des Instituts insofern vorzuliegen, als es seine
Betriebsmittel unter der Bezeichnung „Spargelder" von ländlichen Einlegern
aufsammelte. Das ist ein nicht zu billigender Mißbrauch, der aber auch ziemlich
vereinzelt dastehen dürfte. Die Banken pflegen mit Recht einer derart irre¬
führender Bezeichnung ihrer Einlagegelder aus dem Weg zu gehen, obwohl
doch, wie ziemlich sicher feststeht, auch unter diesen sich wirkliche Spareinlagen
Verantwortliche Schriftleiter: für den politischen Teil der Herausgeber George Cleinow-Schöneberg, für den
literarischen Teil und die Redaktion Heinz Amelung-Friedenau. — Manuskriptsendungen und Briefe werden
anSIchlieblich an die Adresse der Schriftleitung Berlin SV. 11. Bernburger Strasze 22a/23, erbeten, — Sprechstunden
der Schriftleitung: Montags 10—12 Uhr, Donnerstags 11—1 Uhr.
Verlag: Verlag der Grenzboten G.in.b.H. in Berlin SV. 11.
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>VIle preise verstellen sich lüll. Verpackung, Vir übernelimen volle Garantie lllr taclellose
Ksscnaklenlieit aller Marken uncl nennen alles etwa t>licbtgekallenile zurück, Lei Kestellung von
20 lÄ, an erlolgt postkreie ^usenclung. Der Verhau-I erlolgt gegen »acbnabme veter Voreinscnäung
clef Betrages. Kei Kestellungen bitten wir anüugeben, ob Iiell, Mittel veter climkel gewünscht wircl,
^ukrrägo sinnt ?.u richten an
„cMnll" lizllrrenvmüNllUM.Lerlin, MeäricK-Strasse 24Z.
I^ernsprcclier: ^me Via, I^o. lyüZY,
Iloin l-uilongescliiitt, nur Lllgro» »n>I Vorsanck. — ^anlroicdo Anerkennungen.5
„Nur Einseitigkeit und Oberflächlichkeit schaut überall Ideale im
Altertum. Betrachtet das Innere des hellenischen Lebens im Staate:
Ihr werdet selbst in Athen ein tiefes sittliches Verderben bis ins
lBöckhi innerste Mark des Volkes eingedrungen finden." Die Staats-
hnushaltuug der Athener.)
„Die meisten uns bekannten athenischen Staatsmänner und
Feldherrn begingen irgend eine Art Diebstahl am Staatsbermögen:
sie waren mit wenigen Ausnahmen bestechlich. Verrat am Baterlande
war ein tiefeingewurzeltes, beinahe ein tägliches Nationnlübel zu Athen.
Bei der geringsten Verletzung der Eitelkeit lief man ins Feindeslager."
(Julius SchUarcz: Die Demokratie von Athen).
! s ist sehr bezeichnend, daß ein Heitere (Aristoteles) das Wort ge¬
prägt hat, der Mensch sei von Natur ein politisches Wesen
(?0»n politikon); mit Politik muß man nämlich jede Be¬
trachtung über Hellas beginnen. „Die Athener sind neuerungs-
^ süchtig und rasch im Anschlage und in der Ausführung der
Sache. Wenn daher jemand behauptet, sie seien von Natur so geschaffen,
weder selbst Ruhe zu haben noch anderen Menschen Ruhe zu lassen, so würde
er sagen, was wahr ist". Dieses scharfe Urteil des Thukydides über die
Athener paßt auch heute noch vollkommen auf das politisch so unruhige
Hellenenvolk im allgemeinen. Hellas steht wieder einmal vor einer politischen
Krise, welche unter Umständen zu einer sehr notwendigen Regenerierung des
Staates führen kann.
Bei der Betrachtung der augenblicklichen Lage muß auf den letzten
Türkenkrieg 1897 zurückgegriffen werden. Wie des öfteren hatte sich König
Georgios bei der Einleitung desselben auf politisch einflußreiche Persönlichkeiten
des Auslandes verlassen, ihr Können aber doch vielfach überschätzt. Ein
Telegramm seiner Schwester, der Kaiserin Mutter von Rußland Maria
Feodorowna: „kaltes vns" hatte das Vorspiel beschleunigt. Zu früh für die
hellenischen Rüstungen landete der königliche Flügeladjutant und Oberst Vassos
mit einem kleinen Detachement aller Waffen auf Kreta (Februar 1897). Als
die Türkei schließlich über die ewigen Reizungen der von der Ethnike Hetairia
geschaffenen Aufstände in Mazedonien ergrimmt im April 1897 den Krieg erklärt
hatte, da stand Hellas gegen alles Erwarten ohne jeden Bundesgenossen
im Felde. Der Krieg wurde unglücklich geführt. Hört man die Er¬
zählungen der Teilnehmer desselben, durchblättert man den vom Kronprinzen
Konstantin veranlaßten, vom Hauptmann Dusmanis geschriebenen Rechenschafts-
bericht und die vielen von den Mitkämpfern, höheren Offizieren, verfaßten
Broschüren, so z. B. die von Makrys und Kaklamanos, so zeigt sich ein
geradezu unheilvoller Einfluß des Kriegsrates in Athen auf die Operationen
im Felde. Unrecht ist es, die schlechte Kriegführung, wie es später geschehen
ist, dem Kronprinzen Konstantin als Höchstkommmandierendem in die Schuhe
zu schieben. Auch über die hellenische Armee ist nur zu schnell der Stab
gebrochen worden. Man vergißt, daß Teile derselben Armee, die bei Larissa
in eine gewaltige Panik verwickelt waren, kurz vorher bei Turnavos, später
bei Welcstino unter dem energischen Obersten Smolenski tapferen Widerstand
geleistet, ja Erfolge davongetragen haben.
Dem hellenischen Volksempfinden hatte dieser Krieg schwere Wunden
geschlagen. Die Zahlung der für das kleine Land sehr hohen Kriegsentschädigung
von rund 100 Millionen Francs führte, da der hellenische Staatssäckel schon
unter normalen Verhältnissen stets notleidend zu sein pflegte, zur Einsetzung
einer internationalen Kommission zur Kontrolle der hellenischen Finanzen. Das
hellenische Prestige auf der ganzen Balkanhalbinsel hatte einen geradezu ver¬
nichtenden Schlag erhalten. Besonders war dies auf dem alten politischen
Kampffelde in Mazedonien zu verspüren. Rührig traten hier vor allem die
Bulgaren, dann die Serben und gar die Rumänen auf den Platz. Bulgarische
und türkische Übergriffe gegen das hellenische Element waren an der Tages¬
ordnung — aber nicht in Mazedonien allein. So wurde im Fürstentum
Bulgarien, wenn auch nicht unter tätiger Beihilfe, jedenfalls aber mit still¬
schweigender Duldung der Behörden, die Stadt Amchialos an der Bucht von
Burgas, Sitz eines griechischen Erzbischofs, mit ihren hellenischen Einwohnern
vollständig niedergebrannt. Auf hellenischer Seite griff man in Mazedonien
zu einem verzweifelten Rettungsmittel. Ein früherer aktiver Offizier, Paul
Mellas, Schwiegersohn des Ministers Dragumis, des Vorgängers des Minister¬
präsidenten Venizelos, organisierte Banden, die den Bulgaren mit den Waffen
in der Hand entgegentraten. Er selbst fiel bei einer derartigen Gelegenheit in
der Nähe von Kastoria. Andere traten an seine Stelle. Es scheint, daß die
Türkei zunächst diese Banden geschont und als willkommenes Element gegen
die Bulgaren auszuspielen versucht hat. Später trat sie dagegen mit rücksichts¬
loser Härte dem Hellenentum in Mazedonien und anderen Interessensphären
gegenüber.
Schmerzlich empfand die hellenische Nation, daß ihr das einzige Mittel,
sich politisch Gehör zu verschaffen, nämlich eine schlagfertige Armee, gänzlich
abging. Für die Mißerfolge des Krieges war die ganze Nation, vor allem
das Offizierkorps des Heeres, verantwortlich zu machen. Als Sündenbock wurde
aber die Dynastie bezeichnet. Die schon von den Philosophen der Altvordern
verlangte Selbsterkenntnis fehlte im Volke vollkommen. „Sie sollen alle verjagt
werden, nur die Kronprinzessin Sophia soll bleiben und sür ihren ältesten Sohn
Georg die Regentschaft übernehmen." Derartige Äußerungen waren alle Tage
zu hören. Ein auf den König Georgios auf der Straße nach Phaleron, in
der Nähe von Athen, ausgeführtes Attentat verbesserte indessen die Stimmung
so zu gunsten der Dynastie, daß man schon glaubte, es wäre bestellte Arbeit
gewesen. Reformen in der Armee, deren dringende Notwendigkeit der Krieg auch
für die Blödester erwiesen hatte, wurden wiederholt, aber vergebens, versucht.
Die Rolle, die das osmanische Offizierkorps bei der Absetzung des Sultans
Abdul Hamid (14. April 1909) gespielt hatte, machte auf das hellenische einen
gewaltigen Eindruck. Politisch hoffte man auf bessere Beziehungen zu dem
Nachbarstaate. Als die Kreter im Oktober 1908 ihre Vereinigung mit dem
Königreiche Hellas erklärt hatten, diese Bewegung aber einen gewaltigen Wider¬
stand des neuerwachten osmanischen Nationalgefühls hervorgerufen hatte, kam
in Athen die Ernüchterung und gleichzeitig die Erkenntnis, bei der Teilung des
türkischen Erbes wieder einmal zu spät gekommen zu sein. Diese verschiedenen
Gründe führten zu Gärungen in allen Kreisen des Königreichs. Das Ergebnis
war im Winter 1908/09 die Bildung der Offiziersliga. Das an sich schon
vielgestaltete hellenische Parteiwesen zeigte auch bei dieser Gelegenheit eine keines¬
wegs einheitliche Entwicklung. Die eine Partei der Unzufriedenen war aus¬
gesprochen dynastiefreundlich. Sie setzte sich zusammen aus den besten bürger¬
lichen Kreisen und aus höheren Offizieren; ihr Endziel war die Besserung aller
durch den letzten Krieg ans Licht getretenen ungünstigen Verhältnisse im Staats¬
wesen und in der Armee sowie die Ausrottung des Partei- und Günstlings¬
wesens. Die andere Partei war dagegen revolutionär mit nicht aufrichtig ein¬
gestandener antidynastischer Spitze. Ihr gehörten noch mehrere Offiziere an, die
mit dem Kronprinzen Konstantin dienstlich in Kollision geraten waren, wie
z. B. der Oberst Zorbas. Sie begriff die jüngeren Elemente vom Hauptmann
abwärts, hatte auch großen Zuzug aus Marinekreisen.
Der hellenische Augiasstall sollte auf allen Gebieten, nicht nur in der Armee
sondern auch im Justiz- und Schulwesen, von jeglichem Nepotismus gereinigt
werden. Die Prinzen mit ihrer Klique sollten in erster Linie aus der Armee
verschwinden. Anerkannt tüchtige Offiziere, wie etwa Smolenski, Dimopulos,
Limbritis, die nicht mit der Offiziersliga sympathisierten, sollten gleichwohl in
ihren Stellungen belassen werden. Die Regierung war über das Treiben der
Liga im großen und ganzen unterrichtet. Im Sommer des Jahres 1909 trat
die Offiziersliga in die Öffentlichkeit. In der Nacht vom 27. zum 28. August 1909
rückte die ganze Garnison von Athen unter dem Befehl des Obersten Zorbas
nach Gudhi, in die Nähe der Stadt, dieselbe dem Schutze der Gendarmerie
überlassend. Die königstreuen Kavallerieoffiziere Oberstleutnant Metaxas; Ritt¬
meister Kalinsky, Leutnant Vassos und Dimopulos wollten ihre Schwadronen
auf dem Marsche nach Gudhi wieder in ihre Kaserne an der Kephissiastraße
zurückführen. Auf Befehl des Obersten Zorbas wurden sie indessen verhaftet
und ihres Grades verlustig erklärt. Im nächsten Jahre aber sind diese Offiziere
wieder in ihren alten Rang und ihre Stellung eingesetzt worden. Am nächsten
Morgen überreichte ein Ordonnanzoffizier des Obersten Zorbas dem Ministerium
Ralli in Athen eine Reihe von Forderungen, darunter Abschaffung der Vor¬
rechte der königlichen Prinzen, Entfernung derselben aus den: Heere, Nicht¬
zulassung von NichtMilitärs zum Kriegsministerposten u. a. Der Minister¬
präsident war so wenig über die ganze Bewegung unterrichtet worden, daß er
einige Tage vorher Abgesandte der Liga schroff abgewiesen hatte. Jetzt mußte
er einem Kabinette Mawromichali weichen, das schlecht und recht mit der Liga
paktierte. Nach Niederlegung ihrer Stellungen im Heere gingen die Prinzen
samt und sonders ins Ausland. Ein königliches Amnestiedekret für die An¬
führer deckte über den Tag von Gudhi den Schleier des Vergessens. Am
7. Oktober 1909 fand auf dem Aresfelde bei Athen eine große Volksversammlung
statt, welche die patriotischen Absichten der Offiziersliga vollkommen würdigte.
Sie sprach dem Heere, das sich zur Beseitigung des Parteibetriebes und zur
Verstärkung der militärischen und maritimen Kräfte des Landes erhoben habe,
ihr volles Vertrauen aus.
An diesem Tage stand die Offiziersliga auf dem Gipfel ihrer Macht. Mit
der Zeit begannen aber die Sympathien des Volkes langsam zu erkalten.
Schuld daran war, daß sich in der Liga zwei verschiedene Parteien vereinigt
hatten. Zudem fehlte von vornherein eine straffe Oberleitung. Oberst Zorbas
war weit mehr ein Geführter, denn ein Führer. Die ganze Arbeit lag in den
Händen einzelner Sektionen. Die Mehrheit derselben entschied. Dissonanzen
waren unausbleiblich. Das von dem Korvettenkapitän Typaldos in Szene gesetzte
Gefecht von Salamis war ein Schlag gegen die Offiziersliga. Bei dieser
Gelegenheit beteuerte der alte Admiral Miaulis im Namen der von ihm befehligten
Schiffe dein König Georgios gegenüber seine Königstreue. Die Liga fing an
sich mit Fragen der Gesetzgebung und Verwaltung zu befassen, die ihrem mili¬
tärischen Charakter gänzlich fern lagen. Hier sowohl wie bei Einmischung in
Angelegenheiten rein persönlicher Natur bewies sie wenig Geschick. Auch begann
sie ihre Gesinnungsgenossen im Avancement zu bevorzugen, wodurch sie im
übrigen Offizierkorps böses Blut erregte. Das von der Liga unterstützte
Ministerium Mawromichali begann sich ihrem Einflüsse langsam zu entziehen.
Viele Offiziere der Liga selbst wünschten ihre Auflösung. In dieser Krisis
wandte sich der radikale Flügel der Offiziersliga an Venizelos, der durch die
Entfernung des Prinzen Georg nach dem Aufstande von Therison seine gleichen
antidynastischen Gesinnungen offenbart hatte. Der nach Athen Berufene
erklärte, daß nur eine Militärdiktatur die von der Liga begonnene Militär¬
revolution hätte krönen dürfen. Um die verfahrene Sache zum guten Abschlüsse
zu bringen, sei es notwendig, die Mißstände abzuschaffen, die Veranlassung zur
Revolution gegeben hätten. Zur Durchführung dieser von einer neuen Volks¬
vertretung durchzuführenden Maßregel müsse der nötige Druck auf Thron und
Kammer ausgeübt werden. Die Liga nahm: dies Programm an und ermächtigte
Venizelos, als ihr Vertreter mit den Parteien in ihrem Namen zu verhandeln.
Den Parteileitern gab die Liga ihr Programm durch briefliche Mitteilung im
Januar 1910 kund. Unter anderem führte sie auch aus, falls der König eine
Nationalversammlung nicht einführe, müsse er abdanken.
Die damalige gefährliche Lage der Dynastie ist im Auslande wenig bekannt
geworden. Die Athenische Zeitung Skrip brachte darüber im Februar 1910
einige Einzelheiten. Sie ließ über den revolutionären Charakter des Vorgehens
der Liga keinen Zweifel. Den Revolutionären hätte nur die Ehrlichkeit gefehlt,
gleich den Diktator, in diesem Falle Venizelos, aufzustellen. Dabei war die
Forderung der Nationalversammlung eine Art Falle, in der die Dynastie ge¬
fangen war. Jedenfalls konnte sie leicht den König und den Kronprinzen
entfernen. Die dritte Generation des Herrscherhauses, der älteste Sohn des
Kronprinzen, Prinz Georg, hätte dann wohl vor die Wahl gestellt werden
können, entweder wie sein Vater und Großvater das Land zu verlassen oder
als Gefangener des Diktators in Tatoi zu bleiben. Der König konnte sich lange
nicht entschließen. Er fürchtete das Eindringen radikaler, wenn nicht revo¬
lutionärer Elemente in die Nationalversammlung. Ralli suchte ihn dadurch zu
beschwichtigen, daß er versprach, seine und Theotokis Partei würden imstande
sein, das Eindringen dieser Elemente zu verhindern. (Sie kamen später doch hinein!)
Schließlich gingen Thron und Parteien auf die Forderung der Liga ein. Die
Nationalversammlung sollte unter Übertretung der in der Verfassung vorgesehenen
Formalitäten berufen werden. Hierzu wäre nämlich das Votum von zwei ver¬
schiedenen Kammern mit der einfachen Anzahl von Abgeordneten nötig gewesen.
Den nachherigen Auseinandersetzungen über die Gesetzmäßigkeit der Auflösung
der später einberufenen revidierenden Nationalversammlung gegenüber muß also
festgestellt werden, daß bei Einleitung dieser ganzen Verfassungsaktion von vorn¬
herein der verfassungsmäßige Weg von der Liga, den Parteien und dem Könige
verlassen worden ist. Für diese Konzession des Thrones und der Partei gab
die Liga das Versprechen, sie werde sich nunmehr offiziell auflösen. („Offiziell"
hat sie das auch getan!) Das Ministerium Mavromichali nahm, nachdem es diese
Arbeit getan hatte, seinen Abschied. Dmgumis wurde mit der Bildung eines neuen
Kabinetts beauftragt. ErwarderVorgüngerundPlatzhaltervonEleutheriosVenizelos.
Am 17. September erschien der hellenische Dampfer Spezzia, Staats¬
männer und sonstige Persönlichkeiten von Ruf an Bord, um Venizelos feierlich
von Kreta nach Athen zu geleiten. Kaum war er gelandet und im Grand
Hotel am Syntagma-(Verfassungs-)Platz angekommen, da begehrte ihn das
Volk von Athen zu sehen: ein von der Offiziersliga gut inszenierter erster Akt!
Venezilos trat auf den Balkon und riß in fesselnder Rede die Zuhörer hin.
Im Kabinett Dragumis hatte Oberst Zorbas, das Haupt der Offiziersliga,
das Kriegsministerium übernommen. Der Ministerpräsident berief dann eine
revidierende Nationalversammlung — eine solche zählt die doppelte Anzahl der
Abgeordneten — ein. Nachdem der Mohr seine Schuldigkeit getan hatte,
konnte er (Dragumis) gehen. Bei den Verhandlungen über ein neues Kabinett
hätte nach der parlamentarischen Überlieferung der Präsident der National¬
versammlung, Herr von Hoeßlin, mit der Bildung eines neuen Kabinetts be¬
traut werden sollen, da keine andere Majorität als die von ihm repräsentierte
Kammer existierte. Theotokis schlug Venizelos zur Bildung eines neuen Kabinetts
vor. Wunderbarerweise hat bei Lösung der Kabinettsfrage ausländischer Ein¬
fluß mitwirkt. Der in Athen akkreditierte englische Gesandte Elliot trat beim
Könige sehr warm für Venizelos ein, und der König entsprach seiner Meinung.
Offiziell wird allerdings angeführt, die maßlosen Angriffe der sozusagen in
Athen über Nacht auf Kommando entstandenen Venizelospresse auf Herrn
von Hößlin hätten den König dazu veranlaßt. Sozusagen mit der roten Mappe
unter dem Arm erschien dann Venizelos als Ministerpräsident vor der revi¬
dierenden Nationalversammlung. Nach viertägiger Ministerkrisis verlangte er
von ihr ein uneingeschränktes Vertrauensvotum ohne jeden Vorbehalt, also mit
einem Worte die Erklärung, das Parlament wolle mit einem wildfremden
Staatsmanne, der das Land ja doch noch gar nicht kannte, durch „dick und
dünn" gehen: ein Unikum in der Geschichte aller Parlamente! Nur in Athen
sind derartige Parlamentsfarcen möglich. Zu diesen gehört es auch, daß am
entscheidenden Abstimmnngstage Unteroffiziere von der Liga als Zuschauer in
den Sitzungssaal der Nationalversammlung kommandiert worden waren. Sie
waren parlamentarisch genug gebildet, um im gegebenen Augenblick auf die
Abgeordneten einen sanften Druck auszuüben. Trotzdem wurde das Vertrauens¬
votum nicht einstimmig abgegeben. Auf den entsprechenden Vortrag beim Könige
wurde am 25. Oktober die Nationalversammlung aufgelöst. „Das ist ein
Praxikopima, ein Staatsstreich!" schrieen die Gegner, die Häuptlinge der alten
Parteien. Das gesamte Volk nahm aber den „Staatsstreich" sehr ruhig hin
und verhielt sich den staatsjuristischen Erörterungen desselben in der Anti-
venizelos-Presse gegenüber sehr kühl. Theotokis, Ralli und Mavromichali er¬
klärten nach Auflösung der Nationalversammlung, sie wollten sich von den
Wahlen zu einer zweiten revidierenden Volksversammlung zurückziehen, weil
dieselbe ungesetzlich sei. Diese Erklärung ist nicht ohne Bedeutung, da, wie ja
auch schon früher, die Erhebung einer Untersuchung wegen verfassungswidriger
Geschäftsführung eines Ministeriums in Hellas — man denke an Bulgaris
1875 — kein Novum bedeutet. Die hellenischen Wahlen am 11. Dezember
haben, wie man voraussehen konnte, dein Ministerpräsidenten Venizelos einen
gewaltigen Erfolg gebracht.
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WW^!laton verlangte, damit das beste Staatswesen zustande komme,,
müßten entweder die Philosophen, d. i. die Denker und Forscher,
die Regierung übernehmen oder die Regierenden Philosophen
werden. Dieser Wunsch ist in Preußen nicht oft erfüllt gewesen.
Die beiden Perioden aber, in denen das einigermaßen der Fall
war, zeugen doch wohl für ihn: einmal, als König Friedrich eine preußische
Großmacht schuf, und weiter, als Stein und die Seinen den Staat Friedrichs des
Großen vor der Zerstörung bewahrten und innerlich umbildeten. Am meisten,
möchte man vermuten, wird derjenige Teil des öffentlichen Lebens den Segen
einer durchgeistigten Leitung empfangen haben, der selbst geistiger Art ist. Auf
Steins Veranlassung wurde Wilhelm v. Humboldt an die Spitze des Unterrichts¬
wesens berufen; und die in seiner kurzen Amtsführung gegebenen Impulse sind
für die gesamte Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts bestimmend gewesen.
Also auch sür die Bedrängnis und die Nöte, aus denen sich herauszuwinden
die moderne „Schulreform" immer noch bemüht ist? Für die Beantwortung
dieser Frage bietet sich seit kurzem in bedeutenden urkundlichen Publikationen das
zuverlässigste Material.
Blickt man von den Gutachten und Entwürfen des hohen Beamten zurück
auf das erste politische Bekenntnis des Jünglings, so zeigt sich freilich ein
gewaltiger Abstand. Humboldt gehörte zu den Deutschen, die, wie Klopstock
und Schiller, aufs lebhafteste von den Gedanken ergriffen wurden, mit denen
die französische Revolution anfing. Auf der anderen Seite trieb ihn das
Wöllnersche Regiment zunächst aus dem Staatsdienst hinaus. Unter diesen
doppelten Eindrücken entstanden im Jahre 1792 seine „Ideen zu einem Versuch,
die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen". Außerordentlich eng
zog der Fünfundzwanzigjährige diese Grenzen. Aller Sorgfalt für den positiven
Wohlstand der Bürger sollte sich der Staat enthalten und keinen Schritt weiter
gehen, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde
notwendig sei. Die Erziehung insbesondere schien dem Verfasser ganz außerhalb
der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit halten müsse.
Gewiß sei es wohltätig, wenn die Verhältnisse des-Menschen und des Bürgers
soviel als möglich zusammenfielen; aber nur alsdann, wenn das des Bürgers
so wenig eigentümliche Eigenschaften fordere, daß sich die natürliche Gestalt des
Menschen, ohne etwas aufzuopfern, erhalten könne.
Das berührt uns heute wie ein Klang aus einer fremden Welt — in die
hinüüerzulauschen und ihres Geistes einen Hauch zu verspüren doch gerade sehr
heilsam wäre in einer Zeit, da „staatsbürgerliche Erziehung" auf dem Wege ist,
ein Schlagwort, und also ein gefährliches Wort, zu werden. Die Übertriebenheit
freilich seiner idealen Forderung muß dem jugendlichen Propheten der Freiheit
selber bald zum Bewußtsein gekommen sein; bei seinen Lebzeiten sind nur ein¬
zelne Abschnitte jener Schrift veröffentlicht worden. Aber der Grundanschauung
blieb er treu, der Freude am einzelnen Menschen und seiner individuellen Ent¬
wicklung, die vor allem gepflegt werden müsse. Diese Anschauung hing aufs
innigste zusammen mit seinen: Kultus der Griechen, bei denen er Stärke der
intellektuellen, Güte der moralischen, Empfänglichkeit der ästhetischen Fähigkeiten
harnionisch verbunden fand. Humboldts Begeisterung für das Altertum erhielt
später besondere Nahrung in den sechs Jahren, die er, von 1802 an, als
preußischer Gesandter in Rom zu verleben hatte. Während eines Urlaubs in
der Heimat war es, daß ihm, eben auf Steins Betreiben, die Aufgabe angetragen
wurde, innerhalb der Neuorganisation der gesamten Staatsverwaltung die Sorge
für Kultus und Unterricht zu übernehmen.
Als er sich nach längerem Widerstreben — denn er liebte auch die eigene
Freiheit — Ende Februar 1809 bereit erklärte und in Königsberg in die Re¬
gierung eintrat, war inzwischen im Dezember 1808 auf Napoleons Befehl Stein
entlassen worden, so daß dieser starke Rückhalt jetzt fehlte. Trotzdem darf
man sagen: die beiden Haupterfordernisse für ein erfolgreiches Wirken — daß
man ein rechtes inneres Verhältnis zu den Dingen besitze, und daß man die
maßgebenden Entscheidungen zu treffen habe, — waren hier, was so selten ist,
in einer Person vereinigt. Humboldts gute Beziehungen zum Hofe, die aus
der Universitätszeit stammende Freundschaft mit seinem nächsten Vorgesetzten,
dem Minister Grafen Dohna, machten es ihm möglich, an der Verwirklichung
selbstentworfener Pläne mit einer Machtvollkommenheit zu arbeiten, um die ein
heutiger Minister ihn beneiden könnte. Und doch war Humboldt nur Chef einer
Sektion. Die nach dem Tilsiter Frieden grundsätzlich durchgeführte Gliederung
der obersten Verwaltung in Fachministerien reichte nicht sogleich bis zur Bildung
eines besonderen Ministeriums für Kultus und Unterricht; freilich hat es dann
nicht mehr lange gedauert, bis die Einordnung in das Ministerium des Innern
sich als unhaltbar erwies. Mehr Bestand hatte eine andere damals getroffene
Maßregel. Stein hatte die Absicht gehabt, geistliche und Unterrichtsangelegen-
heilen voneinander zu trennen. Männer von durchaus frommer Gesinnung
unterstützten den Vorschlag, während Humboldt, der Freund und Bewunderer
heidnischen Griechentums, widersprach und beides vereinigt halten wollte.
Dafür entschied sich auch der Minister Graf Dohna. So wurde dieser folgen¬
schwere Bund befestigt. Ihn zu lösen würde heute, nach hundertjähriger Dauer,
sehr viel schwieriger sein als in jener Zeit allgemeiner Neubildung; und wo
doch die Frage zur Diskussion gestellt werden sollte, würde das Für und
Wider zwischen Vertretern verschiedener religiöser Ansichten vielleicht umgekehrt
verteilt sein wie damals.
Humboldts Hauptberater in Sachen der höheren Schulen wurde Joh. Wilh.
Süvern, früher Gymnasialdirektor in Elbing, seit 1807 Professor der Philologie
und Geschichte in Königsberg. Außerdem aber wünschte Humboldt ganze Körper¬
schaften zur Seite zu haben, deren Aufgabe es wäre, neue Unterrichtsmethoden
und Erziehungstifteme zu begutachten, neue Lehrpläne zu entwerfen, die künftigen
Lehrer zu prüfen, Vorschläge aus dem Publikum entgegenzunehmen und zu
beurteilen, „womit jedoch keinerlei Verwaltungskompetenz verbunden sein sollte".
Dies wurden die „Wissenschaftlicher Deputationen für den öffentlichen Unter¬
richt" in Berlin, Königsberg und Breslau. Erster Direktor der Berliner Depu¬
tation wurde Schleiermacher, der dann von dieser Stelle aus wertvolle An¬
regungen gegeben hat. Im ganzen aber erwies sich das Programm der
wissenschaftlichen Deputationen, „ewig auf Verbesserungen zu spekulieren", als
nicht durchführbar; sie tränkten an der Schwierigkeit, daß ihnen keine greifbaren
Schwierigkeiten zu überwinden gegeben waren. Die kämpfende Berührung mit
der Wirklichkeit der Dinge, mit dem Publikum wie mit anderen Behörden,
fehlte, und damit der feste Anhalt für eigenes Wirken. Ihre einzige recht
praktische Aufgabe war die Prüfung der Lehrer, und an dieser Stelle hat sich
dann auch eine bestimmte Verwaltungskompetenz entwickelt. Die heutigen „Wissen¬
schaftlicher Prüfungskommissionen" sind eine etwas engbrüstige Nachkommen¬
schaft jener groß und frei gedachten Organisation.
Das Höchste, was Humboldt positiv geschaffen hat, war die Gründung der
Universität Berlin. Der Gedanke, daß der Staat durch geistige Kräfte ersetzen
müsse, was ihn: an physischen verloren war, hatte von vornherein den Beifall
des Königs. Aber zwei Vorfragen blieben: ob eine Universität alten Stiles zu
gründen sei? und, ob in Berlin oder einer kleineren Stadt. Für die Wahl
von Berlin gewann Humboldt die entscheidende Zustimmung des Finanzministers
v. Altenstein durch den Hinweis auf die schon vorhandenen wissenschaft¬
lichen Institute, die man doch weder aus der Hauptstadt wegverlegen noch
unvollständig lassen könne. Jnbezug auf den anderen, wichtigeren Punkt lag
aus den neunziger Jahren, aus der Amtszeit des Ministers v. Massow. ein
Plan vor, den Bestand wissenschaftlicher Fachschulen in Berlin zu erhalten und
zu ergänzen, sie aber nicht zu einer Universität zu verschmelzen und die Pflege
allgemein-wissenschaftlicher Bildung ganz den Gymnasien zu überlassen. Dieser
Vorschlag, der einen starken Zug zum Handwerksmäßigen hatte, beruhte auf
einer geringen Meinung von dem, was die Universitäten wirklich leisteten,
und die ungünstige Meinung war wohl nicht ganz unbegründet. Jedenfalls
wurde sie von einem Manne geteilt, der das Gegenteil eines Banausen
war: Fichte. Das Geschäft der Universitäten, so führte er im Jahre 1807 in
einer Denkschrift aus, sei seit Erfindung des Buchdruckes nur dieses: „das
gesamte Buchwesen noch einmal zu setzen und ebendasselbe, was schon gedruckt
vor jedermanns Augen liegt, auch noch durch Professoren rezitieren zu lassen."
Deshalb verlangte er eine ganz neue Veranstaltung zu gemeinsamer Arbeit
von Lehrern und Lernenden, eine „Kunstschule des wissenschaftlichen Verstandes¬
gebrauches", mit eigens dazu erfundenen Formen und Abstufungen. Gegen
diese künstliche Konstruktion wandte sich, schriftlich wie in mündlicher Beratung,
Schleiermacher; und für dessen Ansicht entschied Humboldt. „Man beruft
eben tüchtige Männer und läßt das Ganze allmählich sich ankandieren", so
lautete sein Beschluß. Humboldt war selbst ein Denker und Forscher und brachte
wie etwas Selbstverständliches die Einsicht mit, daß die ihrer Natur nach freieste
geistige Tätigkeit in der Einengung durch festumschriebene Aufgaben und Befug¬
nisse nicht gedeihen kann. Dabei war er fern von bequemem Gehenlassen. Je
mehr Vertrauen dem einmal Berufenen gewährt werden sollte, um so strengere
Vorsicht schien ihm bei der Auswahl geboten. Er erklärte geradezu: die Er¬
nennung der Universitätslehrer müsse dem Staat ausschließlich vorbehalten bleiben;
denn Antagonismus und Reibung zwischen den Professoren, an sich heilsam und
notwendig, würden in dieser Beziehung nur störend wirken und unwillkürlich
den Gesichtspunkt verrücken.
Das schrieb derselbe Mann, der achtzehn Jahre vorher so zuversichtlich
den: Staate jede positive Einwirkung auf das Bildungswesen abgesprochen hatte!
Doch die alte Überzeugung war in ihm noch nicht erstorben. In eben der
Denkschrift (von 1810), der die angeführte Forderung entnommen ist, schärft
er dem Staate die Pflicht ein, sich stets bewußt zu bleiben, daß er auf dem
Gebiete des höheren Bildungswesens eigentlich „immer hinderlich sei, sobald er
sich hineinmische, daß es an sich ohne ihn unendlich besser gehen würde". Seine
Mitwirkung sei nur ein notwendiges Übel. „Nicht etwa bloß die Art, wie er
die äußeren Formen und Mittel beschafft, kann dem Wesen der Sache schädlich
werden, sondern der Umstand selbst, daß es überhaupt solche äußeren Formen
für etwas ganz Fremdes gibt, wirkt immer notwendig nachteilig ein und zieht
das Geistige und Hohe in die materielle und niedrige Wirklichkeit herab. Daher
muß der Staat nur darum vorzüglich wieder das innere Wesen vor Augen
haben, um gut zu machen, was er selbst, wenngleich ohne seine Schuld, ver¬
dirbt oder gehindert hat".
Sonderbarer Schwärmer! mag man sagen; der Erfolg hat ihn doch gerecht¬
fertigt. Mit seiner vornehmen Gesinnung verband sich praktischer Sinn; das
bewährte sich in der Art, wie er die Geldmittel für das große Werk zu be-
schaffen wußte, wie er im einzelnen die Berufungsverhandlungen führte. Vor
allem aber: wäre Humboldt, der Staatsmann, nicht zugleich ein Mann der
Wissenschaft gewesen, so wäre es ihm nicht gelungen, Hausbackenheit auf der
einen Seite, Verstiegenheit auf der anderen von gewaltsamer Neugründung
zurückzuhalten. Denn die Universitäten des achtzehnten Jahrhunderts schienen
sich wirklich überlebt zu haben; ihr Verfahren, Lehrbücher zu erklären und Hefte
zu diktieren, forderte den Spott heraus. Was uns heute als selbstverständlich
und als der eigentliche Charakter der Universitäten erscheint, die Verbindung
von Unterricht und Forschung, ist damals geschaffen worden. Nachträglich ist
es ja leicht, zu sagen: es kam darauf an, überlieferte Formen zu bewahren
und mit neuem, lebendigem Inhalte zu füllen. Daß dies an der frisch erstehen¬
den Hochschule in der preußischen Hauptstadt wirklich geschah, war doch eine
gewaltige Leistung.
Auch Humboldt hatte nicht auf den ersten Blick die Richtung gefunden,
die er einschlagen wollte; in den Denkschriften der Jahre 1809 und 1810 läßt
sich eine Entwicklung seiner Ansichten erkennen. Anfangs war er geneigt, die
Aufgaben der Universität von denen der Akademie scharf zu scheiden, so daß
die eine zur Erweiterung, die andere zur Verbreitung der Wissenschaften bestimmt
wäre. Je tiefer er nachdachte, desto mehr erkannte er, daß hier eine Grenze
zu ziehen unnatürlich sein würde, daß es zum Wesen aller wissenschaftlichen
Anstalten gehöre, „die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und
nie ganz Aufzufindendes zu betrachten und unablässig sie als solche zu suchen" —
auch an den Universitäten, ja hier unter besonders günstigen Umständen. „Denn
der freie mündliche Vortrag vor Zuhörern, unter denen doch immer eine
bedeutende Zahl selbst-mitdenkender Köpfe ist, feuert denjenigen, der einmal
an diese Art des Studiums gewöhnt ist, sicherlich ebenso sehr an, als die ein¬
same Muße des Schriftstellerlebens oder die lose Verbindung einer akademischen
Genossenschaft. Die Wissenschaft läßt sich als Wissenschaft nicht wahrhaft vor¬
tragen, ohne sie jedesmal wieder selbsttätig aufzufassen, und es wäre unbegreiflich,
wenn man nicht hier, sogar oft, auf Entdeckungen stoßen sollte". — Es war
doch wohl kein ganz unpraktischer Mann, der vor hundert Jahren so schreiben
konnte. Damit waren, aus Anlaß der Neuschöpfung in Berlin, die grund¬
legenden Kräfte bezeichnet; aus ihnen ist der Segen erwachsen, den seitdem die
deutschen Universitäten dem Geistesleben der Nation gebracht haben. Es will
mir scheinen, als sei der Dank hierfür in der Jubelfeier des vorigen Jahres
doch nicht fo klar zum Ausdrucke gekommen, wie er verdient war.
Während Humboldt hier die Verwandtschaft und die inneren Beziehungen
äußerlich getrennter Institute zu würdigen wußte und zu schützen vermocht hat,
ist er an einer anderen Stelle bestrebt gewesen, die vor kurzem errichtete Schranke
stärker zu befestigen. Das im Jahre 1789 zuerst eingeführte Abiturientenexamen
hatte den ausgesprochenen Zweck, zwischen Universität und Gymnasium die bis
dahin vielfach gemeinsamen Aufgaben klar zu verteilen, die eine von elementarer,
nur vorbereitender Arbeit zu entlasten, dem anderen die Möglichkeit des Über¬
greifens in ein höheres Bereich abzuschneiden. Mit Entschiedenheit ist
Humboldt in dieser Richtung weitergegangen. „Eins der größten Gebrechen
unseres Schulwesens ist die Nachlässigkeit bei den Prüfungen der zur Universität
abgehenden jungen Leute," so schrieb er im August 1809 in einem amtlichen
Bericht. Mit Benutzung der Vorarbeiten, die dem Eifer des Ministers v. Massow
verdankt wurden, ging man daran, ein genaueres Reglement für die Prüfung
herzustellen, das dann zwei Jahre nach Humboldts Rücktritt wirklich erlassen
worden ist. Sollte es aber gelingen, im Examen gleichmäßige Forderungen
durchzuführen, so mußte an allen Schulen nach demselben Lehrplan gearbeitet
werden, woran es noch durchaus fehlte. Humboldt ließ auch hierzu die Vor¬
arbeiten machen; auch diese gelangten erst nach seiner Zeit zum Abschluß. Im
Jahre 1816 wurde eine „Anweisung über die Errichtung der öffentlichen all¬
gemeinen Schulen" von feiten des Ministeriums den Provinzialbehörden mit¬
geteilt, nicht als bindende Vorschrift, doch als eine „Richtschnur", der sie so viel
als möglich Geltung verschaffen sollten. Die formelle Redaktion hatte Sttvern
obgelegen, der als vortragender Rat noch lange im Ministerium verblieb;
sachlich darf der allgemeine Lehrplan den Denkmälern der Humboldtschen Amts¬
führung zugerechnet werden.
Die dritte große organisatorische Maßregel hat er noch selbst hinausgehen
lassen, das „Edikt wegen Prüfung der Kandidaten des höheren Schulamtes",
1810. Dadurch ist Humboldt der Schöpfer des höheren Lehrerstandes geworden,
und mit vollem Bewußtsein. Denn als das Bedenken erhoben worden war,
daß die staatliche Aufsicht über die Besetzung der Lehrerstellen, wozu ja das
Examen pro facultate cZoeenäi die Handhabe bieten sollte, zu einem „Zunft¬
zwange" führen würde, knüpfte Humboldt eben hieran sein eigenes Votum: Es
wird vielmehr ein Geist entstehen, „der, ohne Zunftgeist zu sein, eine feste und
sicher zum gemeinschaftlichen Ziele hinstrebende Richtung hat. Es entsteht eine
pädagogische Schule und eine pädagogische Genossenschaft, und wenn es wichtig
ist, durch Zwang bewirkte Einheit der Ansicht zu verhüten, so ist es ebenso
wichtig, durch eine gewisse Gemeinschaft (die nie ohne eine Absonderung des
nicht zu ihr Gehörenden denkbar ist) eine Kraft und einen Enthusiasmus hervor¬
zubringen, welche dem einzelnen und zerstreuten Wirken immer fehlen."
Auch hier erkennen wir den eindringenden Blick für das Wesentliche und
Lebendige, ja etwas wie einen prophetischen Blick, der das Ziel einer eingeleiteten
Entwicklung im voraus schaut. Und dabei bewegte sich Humboldt hier auf
einem Gebiete, das ihm ursprünglich vollkommen fremd war. Als er die Ver¬
waltung des preußischen Unterrichtswesens übernahm, hatte er noch nie eine
Schule gesehen, nicht nur als Lehrer oder als Aufsichtsbeamter, sondern auch
nicht als Schüler. Daß ihm damit etwas mangelte, wußte er nun doch und
war bemüht, sich von Zuständen und Vorgängen eine Anschauung noch zu ver¬
schaffen. In Königsberg, wo während der ersten, größeren Hälfte seiner
Amtszeit Hof und Ministerien ihren Sitz hatten, verbrachte er ganze Vormittage
mit Hospitieren, auch in Volksschulen. Gegen Pestalozzis Ideen hatte er zuerst
eine Abneigung; der Aristokrat, des Geistes wie des Blutes, machte sich geltend.
Doch überwand er dieses persönliche Moment und war selbst dafür tätig, die
neue Methode in Preußen einzuführen, indem er einen Schüler Pestalozzis
dorthin berief.
Mit dem allen ist Humboldt zu einem rechten Verständnis für das, was
den erwerbenden und gar den niederen Klassen des Volkes nottat, niemals
gelangt. Von dem eigenen Ideal einer allseitigen, in sich harmonischen Menschen¬
bildung war er so beherrscht, daß er jedem, auch dem Geringsten, einen Anteil
daran zu geben wünschte; nicht der Art, nur dem Grade nach sollte die Bildung
des genuinen Mannes von der des Gelehrten verschieden sein. So stellte die
Sektion den Grundsatz ans: „An Orten, wo es gelehrte Schulen (d. h. solche,
welche den Schulunterricht bis zu seinem Endpunkte führen) geben kann, müssen
keine abgesonderte Bürger-, sondern nur Elementarschulen sein, an Orten hin¬
gegen, wo dies nicht möglich ist, kann und muß es Bürgerschulen geben, welche
indes dann nur die unteren Klassen der von ihnen abgesonderten gelehrten sind."
Bei Durchführung dieses Grundsatzes war es nicht zu vermeiden, daß man
mit den Patronaten in vielfachen Widerspruch geriet, denen ohnehin die von
Humboldt geforderten Verbesserungen einen starken Aufwand nicht nur an Geld
mundeten, sondern auch an Selbstverleugnung. Denn er war nicht gewillt, erhöhte
Leistungen durch vermehrte Rechte zu belohnen. Die städtischen Schulkollegien,
etwa den heutigen Schuldeputationen und Kuratorien entsprechend, erschienen ihm
wie eine störende Zwischeninstanz zwischen der Negierung und den Schulen.
Aus Anlaß eines besonderen Falles schrieb er vertraulich an Friedr. Aug. Wolf:
„Ich denke darauf, die Rechte der Magistrate zu beschränken; es ist sonst kaum
möglich, daß etwas Vernünftiges aus den Gymnasien wird." Ebenso entschlossen
zeigte er sich, wo es darauf ankam, Sonderbestrebungen königlicher Behörden,
z. B. des Joachimsthalschen Schuldirektoriums, des Oberpräsidenten der Provinz
Schlesien, zu unterdrücken. Wenn er in dieser Richtung viel erreichte, so kam
es doch zum guten Teil daher, daß, wer mit ihm zu tun hatte, nicht bloß den
hochgestellten Beamten vor sich sah, sondern den überlegenen Geist empfinden mußte.
Eduard Spranger in seinem verdienstlichen Buche „Wilhelm v. Humboldt
und die Reform des Bildungswesens" (1910) äußert seine Genugtuung darüber,
daß Humboldt in den meisten Fällen mit seinen Ideen der Verstaatlichung und
Zentralisierung Sieger geblieben sei. Dieser Sieg sei um so größer, als er
ihn über sich selbst errungen habe; „der historische Staatsgedanke wußte sich
diesen größten Individualisten zum Diener zu schaffen." Ich vermag diese
Freude nicht ganz zu teilen. Es ist ja wahr: wem Gott ein Amt gibt, dein
gibt er auch bald eine bestimmte Art von Verstand. Aber nun kam es doch
so, daß Humboldt im Grunde ein anderer war, als er, vom staatlichen Getriebe
auch innerlich erfaßt, sich betätigte. Er selbst empfand diesen Widerspruch und
gab sich der Hoffnung hin, es werde ein Zeitpunkt kommen, wo die Sektion
für das Unterrichtswesen ihren Zweck erreicht hätte, wo sie ihr Geschäft gänzlich
in die Hände der Nation zurücklegen könnte. Freilich war es im Anfang seiner
kurzen Amtszeit, daß er, in einem Bericht an den Minister (Mai 1809), dies
aussprach. Ist er nachher zu der Erkenntnis gekommen, daß eine so schöne
Hoffnung unerfüllbar sei? War dies vielleicht der Grund sür seinen frühen
Rücktritt?
Daß es so gewesen sei, säbelnd vorJahren vermutet; aber das seitdem erschlossene
urkundliche Material spricht dagegen. Vor allem die Briefe an seine Frau
geben über Humboldts wirkliche Motive vollständige Auskunft. Er empfand es
bitter, daß er als Chef zweier wichtiger Verwaltungszweige nicht auch die formelle
Selbständigkeit eines Ministers hatte. Wenigstens hatte man ihm Aussicht gemacht,
daß in dem zu gründenden Staatsrate die Vorsteher der Sektionen nicht nur
beratende, sondern gleich den Ministern beschließende Stimme haben sollten.
Als der Entwurf der Organisation Humboldt bekannt wurde, sah er, daß die
Erwartung sich nicht erfüllte; und sofort bat er um feine Entlassung, Ende
April 1810. „Ich hätte gegen alle Gefühle der Ehre gehandelt", so schrieb
er an seine Frau, „wenn ich mich diesen Ministern hätte auf diese Weise unter¬
ordnen wollen. Ich kann jedem von ihnen dreist ins Gesicht sagen, daß es
keinem von ihnen nur einfallen wird, eine innere Geistes- oder Charakter-
superiorität über mich zu behaupten, und wollte es einer, möchte er schwerlich
viele Stimmen für sich haben." — Der König beantwortete das Abschieds¬
gesuch zunächst gar nicht, behielt sich auch, als es Ende Mai erneuert wurde,
den Entschluß noch vor. Da inzwischen eine allgemeine Ministerkrists eintrat,
so war es nahe daran, daß Humboldt seine Forderung doch noch durchgesetzt
hätte und daß schon damals, was dann erst 1817 geschah, ein besonderes
Ministerium sür Kultus und Unterricht, und zwar unter seiner Leitung, gegründet
worden wäre. Aber der neue Premierminister, Hardenberg, wünschte Humboldt
wieder im auswärtigen Dienste zu verwenden; so erhielt er unterm 14. Juni
seine Ernennung zum Gesandten in Wien.—
In einer Zeit von knapp sechzehn Monaten war eine Fülle schöpferischer
Arbeit geleistet, wovon hier nur die Hauptpunkte hervorgehoben werden konnten.
Und überall haben die von Humboldt gegebenen Direktiven Generationen hin¬
durch fortgewirkt. Dafür war es von größter Bedeutung, daß Johannes Schulze,
der nachher als vortragender Rat Süverns Erbschaft übernahm, aus voller
Überzeugung und mit natürlicher Geistesverwandtschaft das Begonnene weiter
bildete. Aber ist das nun alles zum Segen gediehen? Die Gründung der
Universität, die verständnisvoll freie Gestaltung ihres Verhältnisses zur Akademie,
gewiß. Die Trennung jedoch zwischen Universität und Schule, die dazu dienen
sollte einen geordneten Lehrgang zu sichern, hat tiefer gegriffen, als die Absicht
gewesen sein kann, indem sie zwischen dem letzten Jahre des Primaners und
dem ersten des Studenten eine unnatürliche Kluft befestigte. Allmählich ist das
geschehen, und noch allmählicher zum Bewußtsein gekommen. Heute aber geben
die künstlichen Vorschläge, die man gemacht hat, um durch äußere Veranstaltung
die Schroffheit des Überganges zu mildern, ein deutliches Zeugnis, wie hier
Übel geschaffen worden sind, die nun wieder bekämpft werden müssen.
Was Humboldt in dieser Beziehung getan hat, hängt mit einem allgemeinen
Zuge seines Wesens zusammen, mit dem, fast möchte man sagen, fanatischen
Eifer für Prüfungen. Nicht nur Schüler und Lehrer sollten mehr als einem
Examen unterworfen werden, sondern z. B. auch die Verwaltungsbeamten, immer
vor dem Aufrücken in eine höhere Stellung; und auch hierbei sollte außer dem
technischen Können die ganze Persönlichkeit ins Auge gefaßt werden. In seinem
Gutachten heißt es: „Nichts ist so wichtig bei einem höheren Staatsbeamten,
als welchen Begriff er eigentlich nach allen Richtungen hin von der Menschheit
hat, worin er ihre Würde und ihr Ideal im ganzen setzt, mit welchem Grade
intellektueller Klarheit er es sich denkt, mit welcher Wärme er empfindet." Dies
wird dann im einzelnen dargelegt, um den Hauptgedanken vorzubereiten, daß
ermittelt werden solle, „ob ein Mensch konsequent oder inkonsequent, hoher oder
gemeiner Natur, borniert oder liberal, einseitig oder vielseitig ist, ob er den
Feuereifer des Reformators hat oder nur den starken Willen treuer Pflicht¬
erfüllung, und zuletzt, ob es ihn: mehr auf den Gedanken oder auf die Wirk¬
lichkeit ankommt, oder ob er, was die Ansicht des großen Staatsmannes ist,
von der Überzeugung durchdrungen wird, daß das Ziel nur dann erreicht ist,
wenn der erstere der Stempel des letzteren geworden ist. Dies alles nun zu
erforschen" — damit wendet sich Humboldt der Frage der praktischen Ausführung
zu — „gibt es tausend und abertausend Mittel, und fast kein deutbares Gespräch,
von dem aus man nicht in wenig Wendungen dahin gelangen könnte, wo sich
bereits ziemlich klar sehen läßt."
Wir lächeln, wenn mir so etwas lesen; aber wir haben nicht immer recht,
wenn wir lächeln. In der Tat, so müßte man denjenigen prüfen, so müßte
man ihn prüfen können, der den Anspruch erhebt, ein Führer anderer, gar
erwachsener Menschen zu werden. Doch was ist in der Wirklichkeit daraus
geworden? Innerhalb des Examens pro lacultats ävcenäi ist ja ein Rest der
allgemeinen Prüfung erhalten, so kümmerlich und unerfreulich, daß vielfach schon
empfohlen worden ist, ihn auch noch fallen zu lassen, — was doch nur be¬
deuten würde: das Symptom einer Krankheit zudecken, damit es dem Auge
kein Ärgernis gebe; Engherzigkeit und Banausentum würden dann eben in
Zukunft ganz unbeobachtet hereinkommen. Aber etwas sehr Schwieriges ist dies
allerdings: nicht bloß ein Maß von Kenntnissen und Fertigkeiten festzustellen,
sondern die Zulänglichkeit des ganzen Menschen zu erforschen. Eine solche
Prüfung muß erstarren und unwirksam werden, wenn sie auf ein
Entweder—Oder, „Genügend" oder „Nicht genügend" eingestellt wird.
Davon liefert ja die allmähliche Degeneration unserer Reifeprüfung das
sprechendste Beispiel.
So bemerkenswert übrigens der Anteil ist, den Humboldt an dieser Ent¬
wicklung gehabt hat, so darf man doch nach dem Stande der Dinge, den er
schon vorfand, annehmen, daß sie auch ohne ihn eingetreten sein würde. Geradezu
bestimmend hat er an einer anderen Stelle eingegriffen: er ist der Vater des
nach Klassen abgestuften Berechtigungswesens. Paul de Lagarde schrieb im
Jahre 1881: „Schulen haben, die nach einer Idee, für einen bestimmten Zweck
eingerichtet sind, und dennoch nach dem Besuche bestimmter Klassen ihren An¬
gehörigen auszutreten erlauben, diese Erfindung der Geheimden Räte Schulze
und Wiese muß mit Besen ausgekehrt werden, und alle sie Verteidigenden und
Beschönigenden müssen mit ihr fort." Ein berechtigter Zorn; nur wußte Lagarde
nicht, was jetzt offen zutage liegt, daß die eigentliche Verantwortung für dieses
unselige System Humboldt zu tragen hat. Ansätze zu Mittelschulen, Bürger¬
schulen, Realschulen waren zu seiner Zeit schon vielfach vorhanden und wurden
z. B. von Schleiermacher richtig gewürdigt; Humboldt hat ihr Wachstum unter¬
drückt, und so das Aufkommen einer neuen Art mehr auf das Praktische ge¬
richteter Bildungsanstalten um Jahrzehnte verzögert. Gewiß in edelster Gesinnung
und Absicht; das Ideal einer einheitlichen, Hoch und Niedrig in der Nation
umfassenden, nur in ihrer Abstufung Unterschiede zulassenden Erziehungsschule
hielt ihn gebannt — dasselbe Ideal, das heute wie etwas Neues von der ent¬
gegengesetzten Seite her verkündigt wird.
Denn im Laufe von drei Menschenaltern hat sich hier eine seltsame und
doch natürliche Verschiebung vollzogen. Humboldt hielt es für richtig, die
Bildungsbedürfnisse der erwerbenden Klassen denen der höheren Berufstände
unterzuordnen; Joh. Schulze und Ludwig Wiese setzten das Werk fort: und
nur zu gut ist es gelungen. Um mit irgendeiner gewünschten Berechtigung aus
Tertia, aus Untersekunda, mit Primareife abzugehen, strömte den Gymnasien
und später auch den Realgymnasien und Oberrealschulen eine Menge von
Schülern zu, die gar nicht daran dachten, den neunjährigen Kursus bis zu Ende
durchzumachen. Daß sie zu einem für sie so ungeeigneten Bildungsgange ein¬
geladen, stellenweise genötigt wurden, war hart. Nach und nach aber kamen
sie in die Überzahl; und nun wandte sich das Blatt. Als man im Jahre 1890
den Tatbestand aufnahm, stellte sich heraus, daß von zweihundert Knaben, die
in eine höhere Schule aufgenommen waren, nur einundvierzig ihr Endziel
erreichten. Das war ein Mißstand, der Abhilfe erheischte; und nach dem Prinzip
der Majorität, das inzwischen ja auch in: politischen Leben zu Ansehen gelangt
war, schien es das einfachste, von jetzt an das Interesse derer, die zur Reife¬
prüfung gelangen, dem der früher Abgehenden unterzuordnen. Dieser Grundsatz
wurde in den Lehrplänen von 1891 geradezu proklamiert (III, 1), in denen
von 1901 nicht widerrufen. So ist der neunjährige Lehrgang zerstört worden;
erst in Obersekunda darf sich die höhere Schule ihres eigentlichen Berufes, auf
die Hochschule vorzubereiten, wieder erinnern: eine ungewollte, doch mit Not¬
wendigkeit eingetretene Konsequenz der Humboldtschen Schulpolitik.
Also hatte Platon doch wohl unrecht, und Philosophen gehören nicht in die
Regierung? Der routinierte Beamte, der geschickte Opportunist nützt mehr, oder
schadet doch weniger, als der staatsmännisch denkende? — Der Beitrag zur
Entscheidung dieses Zweifels, der sich aus Humboldts Wirksamkeit gewinnen
läßt, hängt davon ab, wie hoch man das einschätzen will, was er doch unan¬
fechtbar und nachhaltig Gutes, für die Universität wie für die Berufsbildung
der Lehrer, geschaffen hat. Ich meine, es muß sehr hoch geschätzt werden. Dann
aber dürfen wir nicht vergessen: weniger als anderthalb Jahre ist er im Amte
gewesen. Ein anderer von den kühnen Reformatoren jener innerlich reichen
Zeit, Scharnhorst, hat gesagt: „Zur Sicherung großer Erfolge gehört, daß eine
Seele den Plan entwerfe, den Entschluß fasse und diesen selbst ausführe." Das
blieb Humboldt versagt. Es ist nicht auszudenken, welche segensreichen Folgen
es gehabt haben würde, wenn er auch nur ein Jahrzehnt lang die Wirkung
seiner Maßregeln selbst hätte beobachten dürfen. Daß er die Fähigkeit besaß,
Tatsachen zu sehen und aus ihnen zu lernen, hat er durch die beispiellos schnelle
Einarbeitung in einen ihm ganz fremden Stoff aufs glänzendste bewiesen.
Doch wichtiger noch als der einzelne Mann ist uns die Sache, der er gedient
hat. Und da zeigt sich allerdings, wenn wir zurückblicken, ein trauriger Erfolg.
„Allgemeine Bildung", einst als etwas Schönes gedacht, ist zur übelsten und
nun mit Zähigkeit herrschenden Phrase geworden; über den Zudrang von Un¬
geeigneten zu den Universitäten und zu den höheren Berufständen wird heute
geklagt wie vor hundert Jahren; und wenn damals die Söhne von Handwerkern
und Kaufleuten, die dem väterlichen Berufe treu bleiben wollten, darunter zu
leiden hatten, daß sie dasselbe lernen mußten wie angehende Gelehrte und
Staatsbeamte, so ist heute die kleinere Zahl derer, die zu Führern der Nation
erzogen werden sollten, schlimm daran, weil ihnen nicht aus dem Vollen die
geistige Kost, die ihnen gemäß wäre, geboten werden kann, da der allen gemein¬
same Lehrplan dem bescheidneren Verlangen und Können der großen Menge
angepaßt ist. Welcher Schade der schwerere sei, bliebe noch zu erwägen.
Wer aus dem negativen Ertrag einer hundertjährigen Arbeit den Schluß
ziehen wollte, daß es wirklich das beste sei, auf eine planvolle, aus dem Denken
geschöpfte Leitung des höheren Bildungswesens zu verzichten, von Fall zu Fall
das Notwendigste zu besorgen, das Schlimmste gerade immer noch abzuwenden,
fortzuwursteln, wie der technisch gewordene Ausdruck lautet: wer so folgern
wollte, würde mit Gründen nicht widerlegt werden können. Denn der Glaube,
daß es doch zuletzt gelingen müsse, den Gang der Dinge anders zu führen, ist
eben ein Glaube, und der läßt sich überall nicht beweisen. Jeder Spätere hat
ja wenigstens den Vorteil, daß ihm Gelegenheit gegeben ist, die von den Vor¬
gängern schon gemachten Fehler aus ihren Folgen zu erkennen und danach zu
vermeiden. Im ganzen aber — die Lehre müssen wir allerdings aus der
Geschichte entnehmen — ist eindringende und andauernde Wirkung zum Guten
auf einem Gebiete geistigen Lebens, wie Erziehung und Unterricht es darstellen.
nicht leichter als anderwärts, sondern ungeheuer schwer, und kann nur durch
ein besonders günstiges Zusammentreffen von Umständen und Kräften vollbracht
werden. Daß solches Zusammentreffen einmal wiederkehre, darauf wollen wir
denn hoffen, und wollen in Gedanken den Mann grüßen, der irgendwoher und
irgendwann doch kommen wird, der uns, nicht bloß zum besten der Schule, den
Geist und die Staats kunst eines Stein und Humboldt erneuert.
Ein Goethescher Spruch lautet: „Der Mensch muß bei dem Glauben ver¬
harren, daß das Unbegreifliche begreiflich sei; er würde sonst nicht forschen."
Das ist vom Gelehrten gesagt; und etwas ähnliches gilt vom Staatsmann: er
muß an die Möglichkeit glauben, das Unmögliche wirklich zu machen; wie
sollte er sonst den Mut finden zu handeln?
Wie soll der Richter gegen den geistig minderwertigen Täter verfahren?
Da manchen geistig Minderwertigen gegenüber Strafmilderung unbedenklich
angebracht ist, liegt es nahe, den oben vorgeschlagenen Wortlaut des in
Rede stehenden Gesetzparagraphen zu ergänzen durch die Worte: „. . . so
kann der Richter die Strafe nach freiem Ermessen mildern". Ich glaube,
daß man im allgemeinen damit auskommen könnte, und daß die Mehrzahl
der Richter kaum Neigung haben würde, die Strafmilderung auch den
moralisch Entarteten unter den geistig minderwertigen Verbrechern zu
gute kommen zu lassen. Trotzdem ist es möglich, daß einzelne Richter, wenn
sie einerseits die Diagnose des Sachverständigen auf geistige Minderwertigkeit bei
einem schweren Verbrecher anerkannt haben, und anderseits ihre Weltanschauung
von Schuld und Sühne auf den Fall anwenden, die nach ihrer Ansicht ver¬
minderte Schuld auch unter allen Umständen milder strafen zu müssen glauben
werden. Für groß halte ich diese Gefahr zwar nicht. Daß sie aber besteht, wird
nicht zu leugnen sein. Ich wäre daher für einen Zusatz, der etwa lauten würde:
„Strafmilderung ist ausgeschlossen, wenn die Tat von großer Roheit zeugte,
oder wenn die geistige Minderwertigkeit des Täters sich im wesentlichen durch
Betätigung unmoralischer gesellschaftsfeindlicher Neigungen kundgibt." Durch
einen derartigen Zusatz würde vermieden, daß solche Individuen, die gerade
wegen ihrer besonderen Art von geistiger Minderwertigkeit besonders starker
Hemmungen bedürfen, durch die Aussicht auf gesetzlich verbürgte mildere Bestrafung
noch widerstandsunfähiger gegen den Anreiz zum Verbrechen würden.
Ich bin auf den Einwand gefaßt, daß bei dem etwaigen Inkrafttreten des
vorgeschlagenen Zusatzes unter Umständen auch die Todesstrafe an einem geistig
Minderwertigen vollstreckt werden müsse. Ja, gewiß! Und ein Unglück vermöchte
ich nicht darin zu erblicken, wenn man im übrigen dafür Sorge trägt, daß die
Todesstrafe nur für jene Bestien vorbehalten bleibt, die kaltblütig ihren Be¬
gierden ein Menschenleben opfern. Gerade von: deterministischen Standpunkt
braucht man keine Bedenken dagegen zu hegen. Denn von diesem Standpunkt
geschehen alle Handlungen mit Notwendigkeit, sowohl die der geistig Normalen,
als auch die der Geisteskranken und der geistig Minderwertigen. Und wenn
bei den letzteren eben die geistige Minderwertigkeit zu den kausalen Bedingungen
eines Mordes gehört, so haben wir als Deterministen, die wir nicht ängstlich
nach dem Grad der „Schuld" fragen, keinen Grund, die radikale Beseitigung
so gesellschaftsfeindlicher Elemente zu verhindern. Daß der ihrer geistigen
Minderwertigkeit zugrunde liegende Zustand als krankhaft im medizinisch-klinischen
Sinn anzusehen ist, dürfte daran nichts ändern, denn man muß diesen Krank¬
heitszustand richtig bewerten. Dem des wirklich Geisteskranken ist er doch nicht
gleichzustellen. Die geistig Minderwertigen haben ja, wie Leppmann treffend
ausführt, „nach mannigfacher Richtung hin genügende Hemmungen und Leistungs¬
fähigkeit, sie können noch manche ihrer Lebensinteressen selbständig versehen.
Sie würden sehr entrüstet sein, wenn man sie mit den Geisteskranken bürger¬
lichen Rechts gleichstellen und ihre Zurechnungsfähigst generell anzweifeln
wollte." Denkt man sich nun so einen Menschen, der eines jeden moralischen
Gefühls bar immer nur die Erfüllung seiner egoistischen Triebe und Neigungen
erstrebt und hierbei trotz etwa vorhandener Jntelligenzdefekte sogar eine gewisse
Raffiniertheit an den Tag legt, so ist wirklich nicht einzusehen, warum man,
wenn er selbst Menschenleben nicht schont, sich seiner nicht auf eine Weise ent¬
ledigen soll, die mit völliger Sicherheit die Menschheit für immer vor ihm schützt.
Weil seine Eigenart die Ursache seiner Tat war, wird man einwenden. Nun,
auch die Tat des geistig ganz normalen Mörders entspringt dessen Eigenart.
Wenn die Eigenart im ersteren Fall „krankhaft" war, so sollte diese „Krankheit",
die wohlverstanden keine nach dem gewöhnlichen, Mitleid zollenden Empfinden,
fondern nur eine vom wissenschaftlichen Standpunkt ist, sofern sie sich im wesent¬
lichen als moralischer Schwachsinn äußert, nicht vor Todesstrafe schützen.
Wer meine Ansicht so ungeheuerlich findet, möge bedenken, was geschehen
würde, wenn der mitgeteilte Wortlaut des jetzt vorliegenden Entwurfs Gesetz
würde. Er möge nicht außer acht lassen, daß eine nicht geringe Zahl der aller-
gefährlichsten Verbrecher, denen ein Menschenleben nichts gilt, zu den geistig
Minderwertigen gehört; und da sie ihre Laufbahn gewöhnlich nicht mit einem
Mord beginnen, sondern mit weniger schweren Delikten, würden sie, wenn sie
eines Tages wegen Mordes vor den Schranken stehen, ihre „geminderte Zu-
rechnungsfähigkeit" längst gerichtlich abgestempelt haben und als Schutzschild
vorhalten. Sie könnten dann nur nach den „Vorschriften über den Versuch"
bestraft werden. Todesstrafe wäre ausgeschlossen. Für den Kenner der Ver¬
hältnisse kann es gar nicht zweifelhaft sein, daß gar mancher Mörder von der
Todesstrafe nicht mehr zu erreichen wäre, und daß für zahlreiche Mitglieder des
allergefährlichsten Gesindels ein wirksames Hemmungsmittel fortfiele.
Ernste Bedenken wären gegen die Ausdehnung der Todesstrafe auf die
oben bezeichneten moralisch Entarteten unter den geistig Minderwertigen nur
unter dem Gesichtspunkt zu erheben, daß der Sachverständige sich in seiner
Diagnose irren und einen wirklich Geisteskranken lediglich als geistig minder¬
wertig begutachten könnte. Hierauf wäre zu erwidern, daß nach dem Urteil von
erfahrenen Psychiatern die Abgrenzung der „Zwischenstufen" gegen die aus¬
gesprochen Geisteskranken nicht so überaus schwierig ist. Selbstverständlich wären
in den Fällen, in denen Todesstrafe in Betracht kommt, nur die erfahrensten
Sachverständigen von anerkannter Bedeutung heranzuziehen. Wer im übrigen
die Vollstreckung der Todesstrafe an geistig Minderwertigen überhaupt nicht für
zulässig hält, übersehe nicht, daß ja nach dem zurzeit noch herrschenden Straf¬
gesetz die Individuen, um deren Kopf er so besorgt ist, größtenteils als zurech¬
nungsfähig betrachtet werden müssen, da wir die Zwischenstufe noch nicht haben.
Heute legt mancher seinen Kopf unter das Beil, der unter dem zukünftigen
Strafrecht zu der Zwischenstufe gehört. Ist's wirklich so schlimm, daß die
gefährlichsten Scheusale auch in Zukunft vernichtet werden sollen, selbst wenn
ihr Gehirn minderwertig ist?
Die Aussicht auf die ziemlich milde Strafe für die Versuchshandlung und
auf die im schlimmsten Fall darauf folgende lebenslängliche Verwahrung in
einer „Heil- und Pflegeanstalt" würde manchen nicht vom Mord zurückhalten,
der sich's bei ernsterer Gefahr doch anders überlegen würde. Die Sätze Bindings:
„Die großen Verbrecher müssen zum mindesten wissen, daß auch sie ihr Leben
einsetzen. Das Leben ihrer Opfer amtlich geringer zu werten als ihr eigenes,
wäre der denkbar größte Fehlgriff der Gesetzgebung", die so trefflich die Frage
der Berechtigung der Todesstrafe im allgemeinen beleuchten, müssen auch für die
geistig minderwertigen Mörder gelten, wenn anders dieser Strafe überhaupt
genügende Wirksamkeit gesichert bleiben soll.
Zu den Gründen, die manchen die Schaffung der strafrechtlichen Zwischen¬
stufe bedenklich erscheinen lassen, gehört in erster Linie neben dem eingangs
Mitgeteilten die Befürchtung, daß die Rechtssicherheit Not leide. Daß diese
Befürchtung durch die Formulierung des Vorentwurfs nicht gegenstandslos
geworden ist, wird nicht geleugnet werden können. Wird die Bestimmung des
Vorentwurfs Gesetz, so wird das vielfach jetzt vorhandene Mißtrauen gegen die
Psychiater wahrscheinlich noch vermehrt werden. Denn deren Sache ist es ja
nicht, sich um die etwaigen bedenklichen Folgen ihrer Gutachten zu kümmern.
Sie haben vielmehr lediglich die ihnen vorgelegten Fragen zu beantworten;
dürfen also nicht, wenn die Rechtssicherheit infolge ihres Gutachtens in Gefahr
gerät, darum von ihrer wissenschaftlichen Überzeugung abweichen. Wir können
dann vielleicht wieder erleben, daß von juristischer Seite vor den „Übergriffen"
der Psychiater gewarnt wird (wie es vor mehreren Jahren der Oberstaatsanwalt
Peterson tat), wenn sich die aus der Bestimmung des Vorentwurfs erwachsenden
Schäden herausstellen. Heute wird ja der Psychiater dem Strafrichter manchen
Verbrecher ganz überlassen, der geistig minderwertig ist, da er nur zwischen zwei
Möglichkeiten die Wahl hat. Wenn er aber nach der Bestimmung des Vor¬
entwurfs in Zukunft eine größere Zahl gefährlicher Verbrecher wenn auch nicht
ganz exkulpieren, so doch als „gemindert zurechnungsfähig" der obligatorischen
Strafmilderung zuführen wird, so wird der daraus hervorgehende Schaden von
manchen nicht der verfehlten Gesetzbestimmung, sondern den bösen Psychiatern
in die Schuhe geschoben werden, und zur Abwehr des Schadens werden Richter
und Geschworene nicht selten einfach das psychiatrische Gutachten ignorieren;
ebenso wie sie es heute manchmal tun, um einen geisteskranken Verbrecher sicher
hinter Schloß und Riegel zu setzen, der nach den ungenügenden administrativen
Bestimmungen nicht in wünschenswerter Weise verwahrt werden kann.
Mag der Leser auch nicht in allen Punkten mit mir einverstanden sein, so
wird er doch zugeben müssen, daß wir genügenden Grund haben, § 63, Abs. 2
des Vorentwurfs noch gründlich zu prüfen, bevor er seine endgültige Fassung
erhält. Die von mir vorgeschlagene Formulierung mit dem einschränkenden
Zusatz dürfte jedenfalls der Erwägung wert sein. Sie ermöglicht dem Richter,
da Milde anzuwenden, wo sie am Platz ist, und gegen solche geistig minder¬
wertige Verbrecher streng vorzugehen, bei denen nur besonders starke Motive
noch wirksam sein können.
Mit der einzigen einschränkenden Bestimmung des Vorentwurfs, nämlich
der, daß Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit von der Strafmilderung aus¬
genommen seien, wird man einverstanden sein können. Durchaus mit Recht
betont Kahl, daß diese Zustände, wenn sie auch klinisch völlig das Bild geistiger
Minderwertigkeit böten, mit Rücksicht auf die Rechtssicherheit nicht zur Milde
Veranlassung geben dürfen. Ich wäre demnach für Beibehaltung jener Bestimmung,
falls man nicht besondere Gesetzparagraphen schaffen will, welche die Beziehungen
des Alkoholismus zum Verbrechen regeln. Eine derartige gesonderte strafrecht¬
liche Behandlung aller unter der Einwirkung des Alkohols begangenen Rechts¬
verletzungen wäre aus manchen Gründen wünschenswert. Ihre Besprechung
möge einem späteren Aufsatz in dieser Zeitschrift vorbehalten sein.
Die Bestimmungen über den Strafvollzug an geistig Minderwertigen enthält
Absatz 3 des Z 63 des Vorentwurfs: „Freiheitsstrafen sind an den nach Slbs. 2
Verurteilten unter Berücksichtigung ihres Geisteszustandes und, soweit dieser es
erfordert, in besonderen, für sie ausschließlich bestimmten Anstalten oder Ab¬
teilungen zu vollstrecken." — Die Fassung hat ziemlich einmütige Zustimmung
gefunden. Sie regelt die Unterbringung der geistig minderwertigen Sträflinge
nicht schematisch, sondern gestattet die Rücksicht auf den Einzelfall. Unter den
geistig Minderwertigen finden sich zweifellos auch solche, die unbedenklich dem
gewöhnlichen Strafvollzug unterworfen werden können. Die anderen sollen ihre
Freiheitsstrafe in besonderen Abteilungen verbüßen. Vielleicht läßt man zweck¬
mäßig die Worte „Anstalten oder" fort und begnügt sich mit „Abteilungen",
die den bestehenden Strafanstalten angegliedert werden. Dem ärztlichen Sach¬
verständigen ist in diesen Abteilungen ein besonders weitgehender Einfluß ein¬
zuräumen, soweit hierdurch der Charakter der Strafe als eines zu fürchtenden
Übels nicht beeinträchtigt wird. Ich würde die besonderen Abteilungen an
bestehenden Strafanstalten den etwa eigens für geistig Minderwertige zu er¬
richtenden Strafanstalten vorziehen, weil die letzteren in der öffentlichen Meinung
leicht in gewissem Sinne als Krankenanstalten bewertet werden könnten, so daß
die Aussicht auf die dort zu verbüßende Strafe nicht genügende Hemmung
bewirk. Man darf eben nie aus dem Auge verlieren, daß gerade die geistig
Minderwertigen besonders starker Hemmungen bedürfen. Daher sollte man,
wenn man sie für straffähig hält, auch alles vermeiden, was die Wirkung der
Strafen mindern könnte.
Aus derartigen Erwägungen kann ich auch nicht die von vielen geäußerte
Befriedigung über Absatz 2 Z 70 des Vorentwurfs teilen, der bestimmt, daß Frei¬
heitsstrafen an geistig minderwertigen Jugendlichen in staatlich überwachten
Erziehungs-, Heil- oder Pflegeanstalten vollzogen werden können. Ich gebe zu,
daß die Bestimmung in einzelnen Fällen nützlich wirken könnte. Andererseits
aber ist nicht außer acht zu lassen, daß sie geeignet ist, den Charakter der Strafe
zu verwischen. Hält man einmal geistig minderwertige Jugendliche von einem
bestimmten Alter ab für straffähig — und die Rücksicht auf die Rechtssicherheit
verlangt, daß man es tut —, so sei man auch folgerichtig und sorge dafür,
daß Freiheitsstrafen, soweit sie nötig sind, voll und ganz den Charakter einer
Strafe haben. Das würden sie nicht in Erziehungs- usw. Anstalten, wenn anders
diese ihrem Namen entsprechen sollen. Den an sich durchaus berechtigten Er¬
wägungen, die zur Schaffung des Absatzes 2 H 70 geführt haben, trage man
dadurch Rechnung, daß man Freiheitsstrafen für Jugendliche möglichst selten
anwendet. Hält man sie aber für nötig, so gestalte man sie auch so, daß ihr
Wesen als ein zu fürchtendes Übel nicht im geringsten beeinträchtigt wird. Zu
bedenken ist, daß in die Erziehungsanstalten leicht ein dort nicht hingehörender
Geist getragen werden kann, wenn sie gleichzeitig als Erziehungs- und als
Strafverbüßungsstätten dienen. Werden sie von pädagogisch und psychologisch
(sowie auch psychiatrisch) gebildeten Männern geleitet, dann kommt in ihnen
nur der Grundsatz der Erziehung zur Geltung, und das Übel ist ausgeschaltet.
Die Strafe aber soll ein Übel sein. Man verschone also die Erziehungsanstalten
mit der Aufgabe, Strafen zu vollstrecken. Ganz ähnliche Erwägungen gelten
für die Heil- und Pflegeanstalten. Nach der Strafverbüßung soll man selbst¬
verständlich den Erziehungs- usw. Anstalten die Individuen überweisen, die ihrer
bedürfen. Die Strafen selbst aber möge man nicht mit Erziehungs-, Heil- und
Pflegemaßnahmen vermengen. Damit will ich natürlich nicht gesagt haben,
daß man sich beim Strafvollzug etwaiger erziehlicher Maßnahmen ganz enthalten
solle. Nur möge das, soweit es möglich und mit dem Strafübel vereinbar ist,
in den Strafanstalten geschehen, nicht in solchen Anstalten, die lediglich der
Erziehung usw. dienen sollten.
Nach Abs. 1 § 70 sollen unter allen Umständen „die voll zurechnungs¬
fähigen Jugendlichen von vermindert Zurechnungsfähigen" vollständig abgesondert
werden. Zu dieser Bestimmung bemerkt Kahl meines Erachtens mit Recht, daß
die obligatorische Absonderung unerwünscht sei, da nach psychiatrischen Urteil
eine Anzahl der geistig minderwertigen Jugendlichen ganz gut im gewöhnlichen
Strafvollzug mitgenommen werden könne, und es für manchen von ihnen sogar
vorteilhaft sei, nicht ständig mit anderen geistig Minderwertigen zusammen zu
sein. In der Tat dürfte es sich empfehlen, die Entscheidung über die Not¬
wendigkeit der Absonderung dem Strafanstaltsvorstand und dem Arzt der Straf¬
anstalt zu überlassen.
Was das Strafmaß bei jugendlichen geistig Minderwertigen betrifft, so
bestimmt § 69 des Vorentwurfs für Täter von 14 bis 18 Jahren ohnehin die
Anwendung der Versuchsstrafe für die vollendete Handlung. Im Sinn des
Vorentwurfs wäre also für die jugendlichen geistig Minderwertigen keine besondere
Bestimmung über das Strafmaß erforderlich. Ich würde empfehlen, sowohl
für die normalen als auch für die geistig minderwertigen Jugendlichen eine
Bestimmung zu treffen, nach der der Richter die Strafe mildern kann, und die
gleiche Beschränkung hinzuzufügen, die oben für die erwachsenen geistig Minder¬
wertigen vorgeschlagen wurde. Es erscheint mir nicht erwünscht, für alle Jugend¬
lichen die obligatorische Strafmilderung zum Gesetz zu erheben. Unter den
Jugendlichen von 14 bis 18 Jahren ist mancher, der es an Urteilsfähigkeit
und Willenskraft mit Zwanzigjährigen und Älteren aufnimmt. Wenn dem
Richter gestattet ist, abgesehen von den durch die vorgeschlagene Beschränkung
betroffenen Fällen Milde walten zu lassen, wird er allen berechtigten Rücksichten
Rechnung tragen können. Die Möglichkeit muß aber bleiben, im Interesse der
Vorbeugung auch den verbrecherischen Instinkten der Jugendlichen, wenn nötig,
ein energisches Hemmungsmittel entgegenzustellen. Ich erinnere z. B. an gewisse
dem Mob der Großstädte angehörende frühreife Bengel, deren Intelligenz vor¬
geschrittener ist als die manches älteren Bauernburschen. Im Interesse der
Rechtssicherheit liegt es nicht, sie selbst für die rohesten Delikte nur mit der
Versuchsstrafe zu belegen.
Ich wende mich nun zu einer schon gestreiften Bestimmung des Vorentwurfs,
die einen gewaltigen Fortschritt bedeutet, von dem hier dargelegten Standpunkt
aber einiger Änderungen bedarf, 65 Abs. 1 u. 2 seien nochmals angeführt:
„Wird jemand auf Grund des § 63 Abs. 2 zu einer milderen Strafe verurteilt,
so hat das Gericht, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert, seine Verwahrung
in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt anzuordnen." — „Im Falle des
Z 63 Abs. 2 erfolgt die Verwahrung nach verbüßter Freiheitsstrafe."
Nach den vorausgegangenen Ausführungen wird es der Leser verstehen,
wenn ich den zitierten Bestimmungen etwa folgende Fassung wünsche: „Wird
jemand als geistig Minderwertiger verurteilt, so hat das Gericht, wenn es die
öffentliche Sicherheit oder die Sicherheit einzelner Personen erfordert, seine Ver¬
wahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt anzuordnen. Die Ver¬
wahrung erfolgt nach verbüßter Freiheitsstrafe." Da ich mich gegen die obli¬
gatorische Strafmilderung bei geistig Minderwertigen aussprach, mußte lediglich
die Tatsache der Verurteilung als Vorbedingung für die gerichtliche Anordnung
der Verwahrung angenommen werden. Ferner wurde nicht nur die Rücksicht
auf die öffentliche Sicherheit, sondern auch ausdrücklich die Rücksicht auf die ein¬
zelner Personen gefordert. Die Anregung hierzu gab Leppmann, der darauf
aufmerksam machte, daß geistig Minderwertige unter Umständen nur einer ein¬
zelnen Person gefährlich werden können. Als Beispiel führt er folgenden Fall
an. Eine Frau behauptet, der Arzt habe ihr beim Untersuchen die Gebärmutter
auf die linke Seite gerückt. Sie belästigt deshalb den Arzt fortwährend und
bereitet ihm die peinlichsten Auftritte. Schließlich zur Anzeige gebracht, wird
sie zu einer Strafe verurteilt. Strafbar ist sie trotz ihrer Hysterie noch, da sie
nur geistig minderwertig und im übrigen soweit geistig leistungsfähig ist, daß
sie als Konfektionsleiterin zwanzig bis dreißig Arbeiterinnen sachgemäß beauf¬
sichtigt und ihre Berufsobliegenheiten ordentlich erfüllt. Man könnte sagen, daß
hier die öffentliche Sicherheit nicht gefährdet ist. Der Arzt hat aber Anspruch
darauf, vor den Belästigungen durch das radiale Frauenzimmer geschützt zu
werden, da sie ihm das Leben verbittern. Da nach Lage der Sache eine längere
Freiheitsstrafe kaum verhängt werden kann, müßte die Frau schließlich, wenn
sie auch durch eine wiederholte Strafe nicht von ihrem Tun abzubringen ist, in
einer Anstalt untergebracht werden. Es mag ja sein, daß die meisten Richter
in diesem Fall den Begriff der „öffentlichen Sicherheit" so auslegen würden,
wie es das Interesse des Belästigten fordert. Besser aber ist es, ausdrücklich
auch die „Sicherheit einzelner Personen" anzuführen.
Hiermit dürfte das Wesentlichste über die strafrechtliche Behandlung der
geistig Minderwertigen gesagt sein. Wünschenswert wäre noch eine Bestimmung,
die dem Gericht die Befugnis gibt, jedem verurteilten geistig Minderwertigen,
mag er die öffentliche usw. Sicherheit gefährden oder nicht, einen Vormund zu
geben. Der 27. Juristentag hat folgende ganz vortreffliche These aufgestellt,
von der man nur wünschen kann, daß sie zu entsprechenden gesetzlichen
Bestimmungen führe: „Geistig Minderwertige, welche nicht gemeingefährlich sind,
müssen nach Vollzug oder Erlaß der Strafe unter staatlich organisierter Gesund¬
heitspflege bleiben: daneben kann Unterbringung in eine Familie oder in eine
Privatanstalt verfügt oder die Stellung eines besonderen Pflegers vorgesehen
werden. Die Dauer einer solchen Aufsicht wird innerhalb der gesetzlichen Grenzen
durch das Urteil bestimmt." — Kahl hat durchaus recht mit seiner Ansicht, daß
ohne eine derartige Bestimmung die Sondervorschriften über die strafrechtliche
Behandlung der geistig Minderwertigen wertlos seien. Die These atmet einen
Geist, der weit über die Vergeltungstendenz des jetzt geltenden Strafrechts
hinausgeht. Sie begnügt sich nicht mit der „Sühne" für das „verletzte Recht",
sondern fordert die Behandlung einer bestimmten Gruppe von Rechtsverletzern
auf Grund der Erkenntnis ihrer eigenartigen körperlich-geistigen Beschaffenheit.
Zu den Ausführungsbestimmungen über die Verwahrung der „gemeingefähr¬
lichen" geistig minderwertigen Verbrecher noch einige Worte. Man wird nicht
umhin können, besondere Anstalten zur Unterbringung solcher Individuen zu
errichten, da ein Teil von ihnen in den Heil- und Pflegeanstalten für nicht
Kriminelle ein zu störendes Element bilden wird. — Gegen die Anordnung der
Verwahrung muß unter Umständen Berufung an eine höhere Instanz zulässig
sein. Die Entlassung aus der Verwahrung darf selbstverständlich nur unter
Mitwirkung des psychiatrischen Sachverständigen erfolgen. Dabei wäre sorgfältig
zu prüfen, ob die äußeren Lebensverhältnisse einige Gewähr gegen Rückfälligkeit
bieten. Auch sollte die Entlassung zunächst nur auf Widerruf angeordnet werden.
Zum Schluß seien noch einige Einwände besprochen, die von einem
Psychiater, Professor Dr. Straßmann, gegen die Einführung einer strafrechtlich
besonders zu behandelnden Zwischenstufe überhaupt erhoben worden sind.
Straßmann hält die Einbringung der hierauf bezüglichen Bestimmungen des
Vorentwurfs für einen Rückschritt, weil er in den geistig Minderwertigen eine
„Kategorie von Geisteskranken" sieht, die nach seiner Ansicht nicht Gegenstand
strafrechtlicher Verfolgung sein sollen. Er weiß nicht, „wie man Leute, die
später eventuell einer Behandlung in einer Heil- und Pflegeanstalt, d. h. in
einer Irrenanstalt, denn von anderen Anstalten ist weder im Entwurf noch in
den Motiven die Rede, die einer solchen Anstalt also überwiesen werden können,
anders bezeichnen soll wie als Geisteskranke". Nach Straßmanns Ansicht wird
die hauptsächliche praktische Folge des in Aussicht genommenen Gesetzes darin
bestehen, „daß Geisteskranke, sagen wir selbst Geisteskranke leichteren Grades,
die bisher als unzurechnungsfähig freigesprochen sind, nunmehr als nur ver¬
mindert zurechnungsfähig verurteilt und zunächst bestraft werden". Denn bei
der Dehnbarkeit und Deutbarkeit des Begriffs der freien Willensbestimmung
beruhe es ja auf „reiner Willkür", ob man ihren Verlust oder nur hochgradige
Verminderung annehmen wolle. Die Strafanstalten würden mit „geistig schwer
gestörten Personen" belastet werden, mit denen sie nicht fertig werden könnten.
Und diejenigen, die nach der Strafe noch in Verwahrungsanstalten kämen, würden
sehr erbittert werden über die verlängerte Freiheitsberaubung. Die Angehörigen
würden überdies empört sein, daß ihnen trotz „motorischer Geistesstörung" die
Schande der Verurteilung ihres Verwandten nicht erspart sei. Und schließlich
sei die ganze Bestimmung über die Zwischenstufe unnötig, da ja nach dem
Vorentwurf die wegen Unzurechnungsfähigkeit Freigesprochenen in Verwahrung
genommen werden könnten, somit im Interesse der Allgemeinheit alles Nötige
geschehen würde.
Meine vorausgegangenen Ausführungen nehmen zu den grundsätzlichen
Anschauungen Straßmanns schon zum Teil Stellung. In einigen Punkten trifft
er auch nicht im wesentlichen das hier zur Erörterung stehende Problem als
solches, sondern die oben besprochene unglückliche Fassung des Vorentwurfs.
So z. B., wenn er darauf hinweist, wie schwer es sei, zwischen Ausschluß und
hochgradiger Verminderung der freien Willensbestimmung zu unterscheiden. Auf
einiges möchte ich aber noch eingehen. Ich glaube zunächst nicht, daß das
Gesetz hauptsächlich auf „Geisteskranke" angewendet werden wird, die bisher
wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen worden sind. Das mag für einzelne
Fälle zutreffen. Ob es zu beklagen ist, daß einzelne von denen, die vielleicht
nach dem heutigen Strafgesetzbuch auf Grund des Z 51 Se. G. B. straflos
bleiben, in Zukunft zu einer Strafe verurteilt werden, steht dahin. Im übrigen
möchte ich viel eher annehmen, daß die Mehrzahl der Rechtsverletzer, die in
Zukunft der strafrechtlichen Zwischenstufe angehören werden, zu den Menschen
gehört, die heute als voll zurechnungsfähig betrachtet werden müssen.
Wenn Straßmann ferner argumentiert, daß die geistig Minderwertigen,
weil sie nach der Bestimmung des Vorentwurfs unter Umständen später in
„Irrenanstalten" kommen könnten, eigentlich Geisteskranke seien, deren Bestrafung
einen Rückschritt bedeute, so scheint er mir doch zu viel Wert auf einen Begriff
zu legen. Ich wies schon darauf hin, daß die Mehrzahl der geistig minder¬
wertigen Verbrecher in die Heil- und Pflegeanstalten für nicht Kriminelle nicht
hineingehört und der Unterbringung in besonderen Anstalten bedarf. Es ist nun
nicht unbedingt nötig, auch die letzteren als Irrenanstalten zu bezeichnen. Damit
ist das Argument Straßmanns schon zum Teil entkräftet. Im übrigen darf
man nicht übersehen, daß weder der Begriff der geistigen Gesundheit noch der
der Geisteskrankheit fest umschrieben und klar zu bestimmen ist. Die Geistes¬
kranken sind doch keineswegs eine aus dem Rahmen der übrigen Menschheit
herausgehobene Klasse, die von ihr so unterscheidbar wäre, wie etwa ein Neger
von einem Europäer. Zwischen der vollkommensten Ausgeglichenheit des geistigen
Geschehens und seiner tiefsten Störung gibt es eine Reihe von allmählichen
Übergängen. An welcher Stelle in dieser Reihe wir den wichtigen Faktor der
Strafandrohungen ausschalten wollen, hängt von Zweckmäßigkeitserwägungen ab.
Wenn wir es da noch nicht tun, wo nach unserer Überzeugung die Strafe noch
als ein die Willenshandlungen beeinflussender Faktor in Betracht kommen kann,
so wollen wir uns nicht durch dogmatische Festlegung auf einen Begriff
beirren lassen.
Die von Straßmann befürchtete Erbitterung der geistig Minderwertigen,
die nach verbüßter Strafe in Verwahrung genommen werden sollen, müssen
wir in den Kauf nehmen, desgleichen die Empörung ihrer Angehörigen. Die
Erbitterung der Verwahrten über die Freiheitsberaubung würde auch ohne vor-
ausgegangene Strafe nicht gering sein und ist überdies gegenüber dem allgemeinen
Interesse von nicht zu großer Bedeutung. Die Mehrzahl der von der Ma߬
nahme betroffenen Individuen entstammt einen: Milieu, in welchem die Strafe
als solche in moralischer Beziehung nicht zu tragisch genommen wird. Man
wird sich also mit der Empörung dieser Angehörigen abfinden können. Und
gegenüber den übrigen ist zu betonen, daß die Rücksicht auf das allgemeine
Wohl allen anderen voranzugehen hat. Die Angehörigen sind übrigens kaum
geneigt, außerhalb des Gerichtssaals einen Geisteszustand als krankhaft anzuerkennen,
der zu den „Grenzfällen" gehört. Sie werden es also auch ertragen müssen,
daß dieser Zustand nicht von Strafe befreit.
Acht Tage hintereinander war der Freiherr v. Friemersheim schon nach Holz¬
heim hinübergewandert, und jedesmal war er, ohne einen Bescheid erhalten zu
haben, nach Hause zurückgekehrt. Er grollte infolgedessen mit der ganzen Welt:
mit seinen Schwestern, die ihm immer auf eine so seltsame Art nachschauten, mit
dem Pastor, der seinen Ärger über die Verzögerung gar nicht zu teilen schien und
auf seine Frage, ob die Merge bei ihm gewesen sei, stets nur gleichmütig den
Kopf schüttelte, mit dem Mädchen, das ihn in so niederträchtiger Weise warten
ließ, und endlich mit sich selbst, weil er sich in die Rolle des schmachtenden Lieb¬
habers versetzt sah, der einem launenhaften Weibe Appetit und Schlaf opfert. Er
hätte am liebsten auf die ganze Freierei gepfiffen und die Bauerndirne, die nach
dem ihr dargebotenen Glück nicht gleich mit beiden Händen griff, mit Verachtung
gestraft, aber dazu war er nicht mehr stark genug, denn die Spannung des Hoffens
und Harrens hatte seine Verliebtheit gewaltig gesteigert.
Er wollte und mußte endlich Gewißheit haben und wenn er auch selbst zu
Merge gehen und die Entscheidung über sein Schicksal mit eigenen Ohren aus
ihrem Munde vernehmen sollte. Vor Ungeduld elend zugrunde zu gehen — dazu
verspürte er nicht die geringste Neigung.
Eines Vormittags bemerkte die Gubernatorin, als sie an der Schlafkammer
des Bruders vorüberkam und einen Blick durch die nur angelehnte Tür warf, wie
Herr Salentin in seinen Garderobevorräten kramte und längere Zeit gedankenvoll
vor ein paar galonnierten Röcken stand, die er über sein Bett gebreitet hatte. Sie
schlich sich weg und machte der Schwester von dem Gesehenen Mitteilung. Beide
waren davon überzeugt, daß sich ein großes Ereignis vorbereite, denn der Bruder
pflegte sonst nicht viel auf seine äußere Erscheinung zu geben und fühlte sich in
den abgetragensten Kleidern am wohlsten.
Um dieselbe Zeit brachte Gerhard den blinden Schimmel aus dem Stall,
striegelte ihn, wusch ihm die Hufe und flocht das Mähnenhaar in zwei Dutzend
dünner Zöpfchen, deren jedes mit einer kleinen Bandschleife geschmückt wurde.
Dann legte er ihm die pflaumenblaue Samtschabracke und den hochwulstigen Sattel
auf und führte den Klepper, der sich in diesem Aufputz gar nicht so übel präsentierte,
im Hofe auf und nieder.
Die beiden Damen standen am Fenster und spähten durch die Zweiglein des
Rosmarinstockes erwartungsvoll hinunter. Aber sie nutzten lange warten, denn
der Bruder brauchte heute zu seiner Toilette ungewöhnlich viel Zeit. Dafür wurden
sie denn auch, als er endlich aus dem Hause trat, durch einen Anblick entschädigt,
der ihnen Ausrufe ungeheuchelter Bewunderung abnötigte. In seinem hechtgrauen,
mit Silberborten besetzten Leibrock, der weinroten, bis zu den Knien herabfallenden
Weste, dem reichen Spitzenschmuck an Kragen und Ärmelaufschlägen, den Manschetten¬
stiefeln und dem mächtigen dreieckigen Federhut sah er in der Tat sehr stattlich
aus. Am breiten Wehrgehänge baumelte der lange Degen mit dem Korbgriff, den
schon sein Vater geführt hatte, und in der Hand trug er ein spanisches Rohr mit
einem Knopf aus Achat. Was aber noch mehr als alles das sein Aussehen völlig
verändert erscheinen ließ, war die Staatsperücke aus schwarzem Roßhaar, gegen
die der kurze weiße Zwickelbart und die schmalen Bartstreifchen über der Oberlippe
sehr auffallend abstachen.
„Vraiment, comme un jeune Komme!" sagte Frau v. Ödinghoven, als sich
Herr Salentin in den Sattel schwang. „Wenn er so aussieht, muß er ja Zucces
haben. Genau so sah er aus, als er Anno fünfzig auf die Freite nach Wachendorf
ritt, nur daß dazumal die Perücken noch nicht ä la moäs waren."
„Er reitet nach der Holzheimer Straße," bemerkte die Priorin, „es ist also
die von Meinertzhagen zu streut."
„Wenn er bloß bis streut wollt', hätt' er nicht zuvor einen halben Schinken
verspeist und zweimal Ahrwein zapfen lassen," meinte die Schwester, „^ttentivri.
ma euere! Er reitet gewißlich nach DreybornI"
„Zu der v. Harff?"
„Sans äouts! Ich habe so eine Ahnung. Er hätte auch gar keine bessere
Wahl treffen können."
„()uel irivon! Uns kein Wörtchen davon zu sagenI"
„Er will uns eine surprise bereiten. Nun, ich denke, wir können damit
content sein. Die Familie ist die älteste im Jülichschen."
„Und steht bei Hofe in großer kaveur. Übrigens ist der oncle Domkapitular
zu Trier und soll dem Kurfürsten sehr nahe stehen. Vielleicht könnte er ihn dazu
bewegen, in meiner alkaire den meäiateur zu machen. Wenn der Trierer an den
zu Köln schriebe, so müßte der schon aus Lomvlaisance die Sache wieder aufnehmen."
„Wenn die v. Harff nach Rottland kommt, wird sie gewißlich darauf per¬
siflieren, daß eine neue Kutsche angeschafft wird, und die haben wir nötiger als
alle connexion. Wenn ich bedenke, wie ich zu Lebzeiten des seligen v. Öding¬
hoven führt Da hatten wir eine Kutsche mit ledernen Polsterkissen und seidenen
Gardinen. Und die Rössel Vier Fliegenschimmel, einer wie der andere, mit
plattiertem Geschirr und himmelblauen Federbüschen!"
„Und wenn es nun gar nicht die v. Harff ist?" wandte Schwester Felizitcis
ein, die der Gubematorin die zu erwartende neue Kutsche schon mißgönnte.
„Wer sollte es sonst sein?"
„Die v. Warsberg zu Biers."
„Die Sophia Juliana?"
„Natürlich. Die andere ist ja schon verheiratet."
,Mon allen! Die Sophia Juliana kann doch allerhöchstens achtundzwanzig
Jahre alt sein. Eine so junge nimmt Salentin nicht, dazu ist er viel zu raisoinmblo."
Während die Schwestern so hin und herrieten und sich wegen der Wahl des
Bruders die allerunnützesten Sorgen machten, ritt dieser in Holzheim ein. Er
hatte seinen Gaul bis zu den ersten Häusern einen gemächlichen Schritt gehen
lassen, denn der Schimmel war ein Schenkelgänger, dessen harten Trab der beleibte
Reiter nicht lange aushielt. Jetzt aber setzte sich der alte Herr in Positur, nahm
den Klepper zusammen und trabte mit einem edlen Anstand, der auch dem Herzog
von Newcastle, dem großen Meister der Reitkunst, Ehre gemacht haben würde,
bis vor Mergens Behausung.
Das Mädchen war, wie der Freiherr es vermutet hatte, nicht daheim, und
ein Blick in den Kuhstall belehrte ihn darüber, wo er sie finden würde. Zum
Überfluß rief ihm eine Nachbarsfrau über die Hecke zu: „Wenn Ihr die Merge
sucht, Herr, so müßt Ihr wieder heimreiten. Sie hütet im Rottländer Busch."
Das war dem Freier gar nicht unlieb, denn auf dem eigenen Grund und
Boden fühlte er sich dem Mädchen gegenüber bedeutend sicherer. Er ritt also
langsam zurück und schlug gleich hinter dem Dorfe den Pfad ein, der durch die
Holzheimer Gemeindeflur nach seinem Walde führte.
Heute brauchte er nicht lange zu suchen. Er fand sie kaum hundert Schritt
vom Waldrande auf einer kleinen Wiese. Er hätte lieber noch ein wenig Zeit
gewonnen, denn von der wohlgesetzten Rede, mit der er sie zu begrüßen gedacht
hatte, war plötzlich jedes Wort aus seinem Gedächtnis entschwunden. Sie schien
auf ihn gewartet zu haben und hatte sich, wie er annahm ihm zu Ehren, mit
einem großen Maiglöckchenstrauße geschmückt. Über ihrem ganzen Wesen lag eine
sonnige Heiterkeit, der jedoch jede Beimischung von Spott fehlte. Das ermutigte ihn.
Er schwang sich aus dem Sattel, daß die straff gedrehten Locken seiner Perücke
beinahe über dem Hute zusammenschlugen, schlang den Zügel um den linken Arm
und näherte sich dem Mädchen mit der Förmlichkeit, zu der ihn sein Kostüm
verpflichtete.
Sie reichte ihm lachend die Hand.
„Ich wußte, daß Ihr kommen würdet, Herr," sagte sie, „und deshalb hab'
ich dem Pastor auch nicht Bescheid gesagt. Ein rechter Mann führt seine Sache selbst."
"
„Es dauerte mir zu lange, darum will ich mir den Bescheid selber holen,
gestand er. Und da sie schwieg, fuhr er fort: „Was hältst du nun von der
Sache, Merge?"
„Es läßt sich manches dafür und manches dawider sagen," meinte sie. „An
Euch selbst hab' ich nichts auszusetzen, es sei denn, daß Ihr schon ein wenig in
den Jahren seid."
„Ich bin noch lange nicht der Älteste," erwiderte er.
„Nein, noch lange nicht," pflichtete sie ihm bei. „Zu Roggendorf ist Einer,
der wird zu Jakobi hundert. Den fahren sie in einem Wägelein, und wenn er
essen will, müssen sie ihm das Brot vorkauen."
„Das hast du bei mir noch nicht nötig," sagte er ein wenig scharf. „Ich
bin noch gut auf den Beinen und kaue mein Brot selber."
„Ich glaub's, Herr, und wenn Ihr auch der Jüngste nicht seid, so seid Ihr
doch ein ansehnlicher Mann."
„Nun — und Haus Rottland? Ist das ein Pappenstiel?"
„Das Nenthaus wollt Ihr sagen, denn was ehedem das Haus Rottland
hieß, davon sind ja nur ein paar Mauern übrig geblieben."
„Ich meine das Gut," erklärte er. „Äcker und Wiesen, Wald und Hütung.
Und die große Scheune!" setzte er hinzu, fest überzeugt, damit einen Trumpf
auszuspielen.
„Die Scheune macht's nicht, Herr. Mein Vater selig sagte immer: Ein Gut
muß man nach der Miststätte taxieren. Und mit der Euren könnt Ihr nicht viel
Staat machen."
„Was nicht ist, kann noch werden," bemerkte er kleinlaut. „Der Stall ist
ja groß genug."
„Ihr meint, da paßten meine vier Kühe hinein?"
„Ich will nicht schien, daß ich dran gedacht hab'."
„Herr," sagte sie nach einer kleinen Pause, „würdet Ihr mich auch begehren,
wenn die Kühe nicht mein wären?"
Den: Freier wurde es bei diesem Examen zu warm. Er nahm den Hut ab,
riß sich die Perücke vom Kopf und stülpie sie über den vorderen Wulst des Sattels.
„Da tut Ihr recht," erklärte das Mädchen, „ohne den welschen Plunder seht
Ihr auch viel reputierlicher aus. Aber Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet."
„Ich kenn' dich nicht anders als mit den Kühen," sagte er ehrlich, „und
darum kann ich dich mir ohne sie gar nicht denken. Und wenn du selbst mir als
ein frisches und wackres Dirnlein auch über die Maßen gefällst, so will ich doch
nicht leugnen, daß mir deine Kühe auch ein wenig in die Augen gestochen haben."
„So hab' ich's hören wollen," erwiderte sie heiter. „Und da Ihr mir ja
wohl glauben werdet, daß ich nicht über die Maßen in Euch verliebt bin, so muß
ich Euch bekennen, daß mich nicht zum wenigsten die Eitelkeit verleitet, Euern
Antrag anzunehmen. Die Lena oben im Dorf, die vordem kein Hemd auf dem
Leibe hatte, hat, wie Euch wohl wißlich, vor zwei Jahren einen Tambour bei der
Kreiskompagnie geheiratet. Darob ist sie so hoffärtig geworden, daß sie mich nicht
mehr ansieht, wenn sie einmal nach Hause kommt. Der will ich zeigen, daß man's
noch weiter bringen kann als bis zur Frau Tambourin mit zween Reichstalern
Sold im Monat und täglich vier Pfund Kommißbrot. Und wenn Ihr Euch daran
nicht stört, Herr, so sind wir wohl miteinander im Reinen."
Sie hielt ihm ihre Hand hin und er schlug ein. Die Entscheidung war
gefallen, das Ziel erreicht: ein junges, blühendes Weib wollte die Seine werden.
Er dürfte zufrieden sein und war es auch, obschon er sich die Unterredung mit
Merge ein klein wenig anders vorgestellt hatte. Aber er fühlte sich von dem Drucke
des bangen Wartens befreit, und das allein schon genügte, ihn freudig zu stimmen.
Als er wieder im Sattel saß und langsam nach Hause ritt, mutzte er an
seine erste Brautfahrt denken. Wie anders hatte sich damals alles abgespielt I Wie
zierlich hatte er seine Worte setzen müssen, um Agnesens Eltern und dann ihr
selbst seine Werbung vorzutragen! Wie viele Bedenken waren zu zerstreuen, wie
viel wenn auch nur scheinbarer, aber von der Sitte gebotener Widerstand war zu
überwinden gewesenl
Dreißig Jahre waren seitdem vergangen. Ein ganzes MenschenalterI Und
heute ritt er wieder als Bräutigam heim, nicht minder glücklich als damals, ja
vielleicht noch ein wenig stolzer, denn dem Alter erscheint die Jugend als das
kostbarste Gut, und dieses hatte er sich heute errungen. Er mußte seiner Freude
Luft machen, und deshalb stimmte er ein Lied an, das einzige, das er zu
singen wußte:
Das Lied drückte zwar nur sehr unvollkommen die Gefühle aus, die ihn in
dieser Stunde beseelten, aber es war doch besser als nichts, und er war froh, daß
sein Gedächtnis die Strophen noch hergab. Seine Stimme war nie schön gewesen
und im Laufe der Jahre noch dazu ein wenig eingerostet, aber wenn er den Kehrreim:
hinausschmetterte, war ihm, als würde er jedesmal um zehn Jahre jünger. Und
da sich der Refrain sechsmal wiederholte, wäre er aller Wahrscheinlichkeit nach als
ein zweijähriges Büblein wieder zu Hause eingetroffen, wenn er nicht noch zur
rechten Zeit an die Schwestern gedacht hätte. Aber da brach er seinen Gesang
mitten im Verse ab, ließ den Schimmel noch langsamer gehen und begann zu
überlegen, wie er den beiden Alten die Pille — denn daß seine Nachricht für sie
kein Konfekt sein würde, mußte er sich selbst sagen! — versüßen könne. Je mehr
er sich dem Gutshöfe näherte, desto bänglicher wurde ihm zumute. Nicht, daß er
sich vor den Damen gefürchtet hätte! Aber er liebte den häuslichen Frieden über
alles und haßte jede lebhafte Auseinandersetzung, auch wenn er sich in seinem
Rechte wußte. Er hätte etwas darum gegeben, wenn das Renthaus samt den
Schwestern während seiner Abwesenheit von der Erde verschlungen worden wäre,
oder wenn der Abstand zwischen dem roten Ziegeldach und ihm bei jedem Schritt,
den sein Gaul vorwärts machte, um ein paar Klafter gewachsen wäre. Doch diese
allzu kühnen Wünsche gingen nicht in Erfüllung, die Erde schien keinen Appetit
auf adlige Damen zu haben, und Zeit und Raum machten keine Miene, ihre
ewigen Gesetze seinetwegen zu suspendieren.
Er sah ein, daß er doch nach Haus Rottland kommen müßte, und wenn sich
sein Schimmel auch in eine Schnecke verwandelt hätte. Und deshalb faßte er sich
ein Herz, legte die Schenkel an und trabte tapfer wie Sankt Georg, der Ritter,
da er gegen den Lindwurm ritt, in den Hof.
Gerhard, der gerade mit dem Fuchs vom Acker gekommen war. nahm seinem
Herrn den Schimmel ab und brachte beide Pferde in den Stall.
Das spanische Rohr in der Rechten, die Perücke in der Linken trat der Frei¬
herr in das Wohngemach. Die Schwestern saßen am Fenster, die Priorin in
beschaulichem Nichtstun, die Gubernatorin mit einer Filetstickerei beschäftigt. Beide
sahen den Bruder erwartungsvoll an.
„Schon wieder zurück, mon euer?" fragte Frau v. Ödinghoven, fest ent¬
schlossen, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. „Unsere imaZiimtion ver¬
mutete dich in Dreyborn."
„Was sollte ich in Dreyborn zu suchen haben, Netto.?" meinte Herr Salentin.
„Nun, wir sind doch nicht blind. Wenn du en Kahn ac paraäe wegreitest,
mußt du doch eine altare von importanLe vorhaben."
„Und da dachten wir, du würdest endlich unseren heißesten Wunsch erfüllen
und uns wieder eine belle-soeur ins Haus bringen," setzte die Priorin mit
flötender Stimme hinzu.
„So, so, das ist also wirklich euer heißester Wunsch?" fragte Herr Salentin,
indem er bald die eine, bald die andere der Schwestern prüfend ansah. „Nun ja,"
fuhr er fort, „ihr habt es mir ja deutlich genug zu verstehen gegeben, und da
habe ich denn resolviert, euch das LÄLnkiLe zu bringen." Er nahm bei diesen
Worten die Miene eines Märtyrers an.
Frau v. Ödinghoven legte ihre Stickerei aus der Hand und erhob sich.
„LKer fröre, laß dich ambrassierenl" rief sie, indem sie sich an seine Brust
warf, „cette journes est la plus fortunee 6e um vie."
Die Priorin, die sonst ein wenig bequem war, hatte sich mit Rücksicht auf
die Bedeutung des Augenblicks ebenfalls erhoben, mußte sich jedoch, da sie die
Vorderseite des Bruders schon besetzt fand, damit begnügen, sich von hinten an
seine Schultern zu hängen und ihr Glück an seinem breiten Rücken auszuweinen.
„Und wie heißt sie?" fragte die Gubernatorin endlich.
„Merge," antwortete er, ohne mit einer Wimper zu zucken.
„Merge? Nicht Jsabella?"
„Ich kenne keine Jsabella."
„l^riponl Du willst wieder deine plaissnterie mit uns treiben I Denkst du,
wir wüßten nicht, wie die v. Harff heißt?"
„Welche v. Harff?"
„Natürlich die zu Dreyborn. Oder sollte es die v. Meinertzhagen zu streut
sein? Die Irmgard?"
„Ich weiß nicht, was ihr wollt." sagte er, indem er den vergeblichen Versuch
machte, sich aus den Armen der Schwestern zu befreien. „Und damit ihr's wißt,
wen ich mir als Eheliebste nach Haus Nottland hole: es ist die Holzheimer Merge."
Es war für Herrn Salentins Gleichgewicht außerordentlich vorteilhaft, daß
ihn die beiden alten Damen genau in demselben Augenblick losließen, denn einer
einseitigen Belastung würde er bei seiner Gemütsverfassung kaum gewachsen
gewesen sein.
„Die Holzheimer Merge?" riefen die Schwestern wie aus einem Munde.
„Leite jeune planne? Aber, Salentin, das kann doch nicht dein Ernst seinl
l^ne personne sans kannte, sans wrtune, ssns öäuoationl"
„Ich zwinge euch nicht, unter einem Dache mit ihr zu wohnen," bemerkte
der Freiherr, entschlossen, gleich sein schwerstes Geschütz ins Feuer zu führen.
„Aber, liebster Salentin, wie kannst du supponieren, daß uns das Mädchen
nicht als KsIIe-soeur willkommen sein würde, wenn du sie für würdig erachtest,
deine epouLe zu werden?" erwiderte die Gubernatorin, der der Schreck in die
Glieder gefahren war.
„Wir hatten ja nur dein Glück im Sinne, teuerster Bruder," fügte Schwester
Felizitas hinzu, „und glaubten, du mit deinen admirablen Eigenschaften könntest
auf eine ganz andere mariaZe Anspruch erheben."
„Das ist meine Sache," sagte er, „und ich lasse mir von keinem Menschen
dreinreden."
„Gewiß, gewiß! Da tust du auch recht daran, mon ater, und ich wäre die
letzte, die leugnen würde, daß bei einer solchen Wahl nur das Herz zu entscheiden
hat," erklärte die Gubernatorin mit süßem Lächeln. „Aber hast du denn nicht
auch an die Familie gedacht?"
„Natürlich, besonders an meinen neveu zu Wachendorf," erwiderte er.
„Sie muß doch noch entsetzlich jung sein," meinte die Priorin.
„Das ist der geringste von ihren äeiauts. Wenn ich aber schon einmal in
den sauern Apfel beißen muß — aus LomMisanLe gegen euchl — so ist mir
ein rotbäckiger lieber als ein verschrumpelter," bekannte er freimütig.
Die beiden alten Damen bemühten sich nach Kräften, über den Scherz des
Bruders zu lächeln.
„Je jünger ein Mädchen ihres Standes ist," erklärte Frau v. Ödinghoven,
„desto leichter wird sie etiquette annehmen."
„Und desto ernster wird sie die Pflichten auffassen, die ihr das heilige Sakra¬
ment der Ehe auferlegt," ergänzte die Priorin mit Würde.
„Wir werden zu tun haben, dem lieben Kinde die eäucativu zu geben, auf
die sie als deine epvuZe Anspruch erheben kann. Du darfst jedoch persuadiert
sein, ater kröre, daß in diesem Stücke, soweit es an mir liegt, nichts negligiert
werden soll," versprach die Gubernatorin.
„Und ich werde ihr täglich einen kleinen ciisLours über die Aufgaben eines
christlichen Eheweibes halten," versicherte Schwester Felizitas, obgleich sie selbst
von diesen Aufgaben nur eine rein theoretische Kenntnis hatte.
„Vergiß auch nicht, sie zu instruieren, wie man Prünellen in Branntwein
einmacht und wie man holländische Moppen bäckt," sagte der Freiherr, der vor
den bewährten Klosterrezepten seiner geistlichen Schwester eine unbegrenzte Hoch¬
achtung hatte.
„Hast du schon bestimmt, wann die Hochzeit sein soll?" fragte die Gubernatorin.
„Je eher, desto lieber."
„Wird es ein großes losem werden?"
„Ich denke gar nicht daran. Wir werden ganz en iamille sein. Vielleicht
noch ein paar Freunde. Aber meinen ober neveu zu Wachendorf werde ich auf
alle Fälle invitieren."
„süperbe! Das ist eine excellente iäee," meinte Frau v. Ödinghoven. „Er
wird die invitaticm natürlich nicht annehmen."
, „Aber er wird vor inäiAnation platzen," äußerte Schwester Felizitas mit
Genugtuung.
„Jedenfalls soll er erfahren, daß sein calcul nicht stimmt."
Herr Salentin schmunzelte und verließ das Zimmer, um sich seines Staats¬
kostüms zu entledigen. Er hatte das Gefühl, auf der ganzen Linie gesiegt zu
haben, und nahm, während er die Treppe hinanstieg, die vierte Strophe seines
Leibliedes wieder auf.
Die beiden alten Damen lauschten, seufzten und sahen einander kopf¬
schüttelnd an.
„Was sagst du zu dieser desperaten resolution, liebe Netto.?" fragte die Priorin.
„Ich bin sprachlos, ma euere!" stöhnte Frau v. Ödinghoven. Aber es
mußte mit ihrer Sprachlosigkeit doch wohl nicht so schlimm sein, denn sie fuhr
fort: „Ich hätte Salentin alles zugetraut, nur das nicht, daß er uns eine simple
Bauerndirne als belle-soeur ins Haus bringen würde. Hat man je so etwas
gehört: ein Friemersheim heiratet ein Mädchen s-ins kamillel Es ist norriblsl
Wenn das unsere selige Mutter erlebt hätte! Der war eigentlich schon die
v. Pallandt nicht vornehm genug, denn sie hatte sich immer eine Comtesse als
belle-MIe gewünscht. Und nun das! Und er hätte doch jede äemoiselle von
ciistinction bekommen können! Hätte er uns doch nur vorher um unsere opinion
gefragt, wir würden ihm doch den allerbesten conseil gegeben haben! Bedenke
nur die elikkerenee im Alter! Er ist zweiundsechzig und sie? Sie kann höchstens
zwanzig sein. IVlon allen. mon allen!"
„Das ist die Begierde des Fleisches," jammerte Schwester Felizitas. „Das
Erschrecklichste ist, daß auch wir nicht frei von Schuld sind. Wir haben immer
nur für seine leibliche prosperits gebetet, nicht für sein Seelenheil. Nun schickt
uns Gott die Strafe."
Sie ging an den Wandschrank, holte die Karaffe mit dem Muskateller heraus
und schenkte sich mit bekümmerten Mienen ein Gläschen des süßen Trankes ein.
Und während sie den würzigen Trost mit zitternder Hand an die Lippen führte,
hörte sie, wie im oberen Stockwerk ein Paar schwerer Stiefel polternd und sporen¬
klirrend auf die Diele flog, und wie der Kehrreim:
mit triumphierender Gewalt durch das Haus dröhnte. (Fortsetzung folgt.)
er Zug zur Synthese, der durch das geistige Leben der Gegenwart
geht, bringt es mit sich, daß viele Gebiete ihre wichtigste Förderung
durch Köpfe erfahren haben, die zunächst in ganz anderen Kreisen
sich bewegten, als auf denen sie ihre Leistungen dann vollbrachten.
Die Erfahrungen, die Denkrichtung, die sie sich anderswo angeeignet
hatten, machte ihre Stärke aus.
Ein besonders unbefriedigendes, der Befruchtung entbehrendes Bild hat lange
Jahre hindurch die literarische Kritik geboten. Selbst wo der Kritiker weiteren
Gesichtskreis besaß, blieb er in den Schranken seiner zu einseitigen ästhetischen
Bildung stecken. So vermochte er auch der Öffentlichkeit oft kein volles Ver-
ständnis des dichterischen und künstlerischen Schaffens der Zeit zu vermitteln.
Dieses Schaffen suchte seit Beginn der achtziger Jahre selbst neue Wege. Bei
aller Größe waren Grillparzer und Hebbel so gut, wie in der bildenden Kunst
Feuerbach, Klassizisten gewesen. Nicht Leben und Natur waren die Gegenstände,
auf die ihr Auge allein gerichtet war, sie sahen auf die großen Vorgänger. Darin
liegt das Wesen alles Klassizismus. Am Ende des vergangenen Jahrhunderts kam
dann ein neues Geschlecht. In ihm regte sich Eignes. Der neue Most schäumte
und zersprengte die alten Formen. Radikal, wie jede Jugend, aus der etwas
wird, zeigte sie sich unbändig, trotzig. Sie hatte viel zu kämpfen. Noch heute ist
vielen das einst gefallene Wort „Rinnsteinkunst" aus der Seele gesprochen.
Aber immer stärker ist die Selbstbesinnung geworden, daß wieder einmal
Großes, Neues erstanden war, zu dem man kein Verhältnis des Verständnisses
finden konnte. In unserer schnell lebenden Zeit kommt auch die Gerechtigkeit
der Nachwelt schneller. Noch dieselbe Generation, die verdammt hat, nimmt jetzt
das Urteil zurück. Und auch hier, auf dem Gebiet der Literatur, haben Außen¬
stehende manches Verdienst an der Besserung der Lage, des Verhältnisses des
Publikums zur Kunst. Unter denen, die neuestens in diesem Sinne hervorgetreten
sind, ist die Stimme eines Juristen, Erich Wulffen, eine der gewichtigsten.
Erich Wulffen besitzt längst den Ruf, einer unserer hervorragendsten Kriminalisten
zu sein. Seine beiden großen Werke über den „Sexualverbrecher" und die „Psycho¬
logie des Verbrechers" sind internationale Zwnclarcl-vvorKs der Kriminalistik. Aller
Einsichten der normalen und pathologischen Psychologie Herr, hat er hier Für-
dauerte legen und sichern geholfen, auf denen die ganze Rechtsprechung der Kultur¬
länder sich von Jahr zu Jahr mehr aufbaut. Hinter uns liegt die Epoche, für
die das Verbrechen als Gesellschaftstatsache zuletzt unerklärlich blieb, weil es für
sie nichts als der Ausfluß eines indeterminierten freien Willensaktes gewesen ist, —
unter dem Einfluß der naturwissenschaftlichen Auffassung des Seelenlebens hat sich
das Dunkel von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gelichtet, und eine neue, fest und
unerschütterbar fundierte Wissenschaft der Kriminalistik ist entstanden, die die
Kausalität des Verbrechens aufgedeckt und die großen, mächtig wirkenden
Ursachen: Alkoholismus, Entartung, Psychose usw. enthüllt hat.
Zur selben Zeit, als diese neue Kriminalistik entstand, war in der Dichtung
der Realismus die herrschende Tendenz geworden. Vor allem machte es sich
Gerhart Hauptmann zur Aufgabe, in die Tiefen des menschlichen Daseins
zu steigen und das Geschick der Individuen nicht nach der älteren Fragestellung
von Schuld und Sühne zum Gegenstande von Dichtwerken zu machsn, sondern es
in seinen kausalen Verknüpfungen zu zeigen. Die großen Umwälzungs- und
Gärungserscheinungen am Boden der Gesellschaft fanden ihre Widerspiegelung in
künstlerischer Produktion.
Damals mußte sich die Kritik mit einer Beurteilung vom ästhetischen Stand¬
punkt der Zeit begnügen. Wie weit das Genie des Künstlers Realität zu erfassen,
wahr zu sein vermochte, diese Fragen bündig zu beantworten, ist erst jetzt die
wissenschaftliche Psychologie weit genug. Nur aus der Kenntnis der Wirklichkeit
selbst konnte die Antwort gegeben werden, und es ist Erich Wulffen, der es auf
sich genommen hat, diese Aufgabe zu lösen.
Er hat sie glänzend gelöst. Es ist ein wirklicher Genuß, unter seiner Führung*)
Gerhart Hauptmanns Dramen von „Vor Sonnenaufgang" an bis hin zur „Ver¬
sunkenen Glocke" zu durchwandern, in ihre Gestalten sich zu versenken und ihre
unvergleichliche Lebenspracht und Lebenswahrheit enthüllt zu sehen. Ich kenne keine
andere Würdigung jener Dramen, die psychologisch gleich tief wäre. Wie flach
und schief eine der bekanntesten von ihnen, die des Literarhistorikers Adolf Bartels,
gewesen ist, das zeigt Wulffen selbst an einigen klassischen Mißverständnissen, die
dem betreffenden Autor untergelaufen sind. Wenn man sieht, wie hier ein
vermeintlicher Kenner versagt hat, so muß man um so mehr anerkennen, wie tief
demgegenüber der Jurist von seiner größeren Kenntnis des Lebens aus in die
Schöpfungen des Dichters eingedrungen ist und wie treffend er zeigt, daß
Gerhart Hauptmann wirklich ein ganz großer Dichter ist, der Menschen der Gegen¬
wart im Kampfe mit den Lebensproblemen der Zeit in voller Wahrheit dar¬
zustellen vermag. Oft sind es pathologische Typen, teilweise Kriminal- oder
politische Verbrecher. Mit Meisterschaft wird von Wulffen bloßgelegt, wie überzeugend,
wie kausal zwingend überall die Entwicklung des Denkens, Wollens und Tuns
dieser Personen ist. Und mehr noch als das: auch über den ästhetischen Gehalt
dieser Werke gibt er feinfühligster Aufschluß, denn er hat selbst ein Verhältnis zu
den Lebensproblemen, die der große Dichter in seinen Schöpfungen zum Ausdruck
brachte/ Probleme, die zum Teil von ihm in eigenen Lebenskämpfen erlitten waren.
Gleich bedeutend sind die Studien Wulffens über „Shakespeares große Ver¬
brecher" (ebenfalls im Langenscheidtschen Verlage): Richard III., Macbeth und
Othello. Auch hier steht dieselbe leidenschaftliche Seele hinter der Darstellung,
die mit sich reißt in ihrem zielbewußt vorwärts drängenden Fluß. Die Shakespeare-
literatur ist unendlich, dennoch wirst dieses Buch ganz neue Lichter auf jenes
potenzierte Genie. Es ist keine Übertreibung, wenn Wulffen mit Stolz von der
Gestalt Desdemonas sagt: „Ihre wahre naturwissenschaftliche Seele zeige ich hier
als Erster". Man kann den Ausdruck „naturwissenschaftlich" beanstanden, aber
die Sache ist getroffen: die seelischen Kausalzusammenhänge in Desdemona, und
nicht nur in ihr, sind hier zum ersten Male in einer Weise bloßgelegt, die der
Einsicht der modernen Wissenschaft in das menschliche Seelenleben wirklich
entspricht. l
Immer noch geht die Historie der Literatur wie ebenso die der Geschichte
ihren alten Gang in den brüchig gewordenen Geleisen der Vulgärpsychologie, ohne
davon Kenntnis zu nehmen, daß ringsum heute eine neue sicher gegründete Wissen¬
schaft vom Seelenleben entstanden ist: Psychologie, Medizin, Jurisprudenz haben
sie gemeinsam geschaffen. Vornehm und kühl lehnen Philologen und Historiker es
ab, etwas von ihr zu lernen. Dennoch werden sie es müssen. Hier ist wieder ein
Buch, das in seiner Existenz unvernichtbar und unverschweigbar sein wird: weil
hier zum erstenmal eine Reihe von großen Gestalten aus der Shakespeareschen
Welt einer Analyse unterzogen worden sind, die ohne das ganze Rüstzeug der
modernen psychologischen Wissenschaften nicht geleistet werden konnte. Durch sie
erst ist es Wulffen möglich geworden, auch die innere Welt der Liebesgefühle der
Personen Shakespeares in ihrer Wechselwirkung mit ihrem Handeln ganz ver¬
stehen zu lassen. Es ist sein bewußtes Bestreben gewesen, die Ergebnisse der
Sexualwissenschaften mit jenen Gestalten der Dichtung zu konfrontieren. Das
Ergebnis war auch in diesem Fall eine glänzende Rechtfertigung des Dichters,
der übrigens auch in seiner Persönlichkeit und seinem Schaffen durch Heranziehung
wenig beachteter Sonette manche neue Beleuchtung erfährt.
In wesentlicher Übereinstimmung mit den Resultaten Wulffens befindet sich
ein unabhängig von ihnen entstandenes Buch des bekannten Psychiaters Wilhelm
Weygandt: „Abnorme Charaktere in der dramatischen Literatur", (Verlag von
Leopold Voß, Hamburg 1910) der eine Reihe von Gestalten Shakespeares, Goethes,
Ibsens und Gerhart Hauptmanns einer psychiatrischen Kritik unterzieht. Das
günstigste Prädikat sozusagen erhält Shakespeare, das ungünstigste Goethe, dem.
wie schon der verstorbene verdienstvolle P. I. Möbius gezeigt hat, ausgesprochen
pathologische Persönlichkeiten nicht lagen, wie er auch im Leben gegen sie stets
einen ausgesprochenen Widerwillen gehabt hat. Den Vergleich mit Wulffens beiden
Büchern halten Weygandts Vorträge jedoch nicht aus. Wulffens Studien, denen
freilich ein größerer Raum zur Verfügung stand, sind viel anregender und feiner
in der Analyse als die knappen und trockenen Gutachtenresümees Weygandts.
Am weitesten spannt der Karlsruher Privatdozent Willy Hellpach in seinen Be-
trachtungen über „Das Pathologische in der modernen Kunst" (Heidelberg, Karl
Winters Universitütsbuchhandlung, 1911) den Rahmen. Er fragt nach der Rolle,
die das Pathologische heute nicht nur in der Dichtung, sondern in der Kunst
überhaupt spielt.
Hellpach ist von Hause aus Psychiater. Aus der Schule Wundes hervor¬
gegangen, hat sich sein Blick schnell geweidet. Von der Fachpsychiatrie viel und
scharf angegriffen behält er doch das Verdienst, durch seine zahlreichen Schriften
feststehende Erkenntnisse der psychiatrischen Wissenschaft ins größere Publikum
getragen und ein Stück psycho-pathologischer Aufklärungsarbeit geleistet zusahen.
Übereifer, etwas als pathologisch zu erklären, das doch nur ungewöhnlich ist, liegt
ihm fern, wie denn überhaupt solcher Übereifer etwas weit selteneres ist, als
Außenstehende oft meinen. In bezug auf die vorliegende Schrift stehen wir sogar
vor dem merkwürdigen Tatbestand, daß der Psychiater Hellpach nicht selten Dinge
in der Kunst als durchaus unpathologisch erklärt, die der Laie unbedenklich
mit dieser Bezeichnung belegt. Hellpach bemerkt nicht ohne Recht, daß die Neigung
Pathologisches in Kunstwerken zu suchen, heute sehr groß geworden ist, so daß
das Publikum im Zweifel zwischen hocherregten Leidenschaften, etwa Verzweiflung,
und Irrsinn sich jetzt gern für den Irrsinn entscheidet. „Wohlgemerkt: in der
Kunst! Derselbe Betrachter wehrt sich vielleicht einen Tag später auf der Geschworenen¬
bank mit bekannter Energie gegen das Sachverständigenurteil, das eine lachende
Kindeszerstücklerin als geistesgestört hinstellt." In der Tat ist es ein seltsamer
Widerspruch, daß dieselben Personen, die in der Galerie überall Pathologisches
wittern, im Gerichtssaal krampfhaft die Augen davor schließen. In Wirklichkeit
aber ist die Sachlage genau die umgekehrte: in der Kunst ist weniger Pathologisches
vorhanden als der Laie oft meint, im Gerichtssaal dagegen unendlich viel mehr.
Vor allem tritt uns, wie Hellpach zu beweisen sucht, heute in der Kunst wie in
der Literatur nicht öfter und viel diskreter Pathologisches entgegen als in vielen
früheren Epochen. Weder auf dem Gebiet des Erotischen, des Verbrechens, geistiger
Gestörtheit oder auch rein körperlicher Mißbildung reichen die Wagnisse einzelner
Künstler der Gegenwart heran an das, was etwa das christliche Mittelalter uns
darin hinterlassen hat, ohne daß diesem — ihm gegenüber nicht selten nur allzu¬
berechtigte — Vorwürfe gemacht werden.
Es ist die alte Erfahrung, daß Historisches viel eher ertragen und viel objek¬
tiver gewürdigt wird als Zeitgenössisches. Die Kunst und Dichtung der Ver¬
gangenheit wird als Kunst und Poesie aufgefaßt und in diesem Sinne bewertet,
analoge Werke der Gegenwart entfesseln dagegen Aversionen, Neigungen, die ganz
außerhalb des Ästhetischen liegen und erfahren von ihnen aus dann nicht selten
eine Verwerfung, die doch nur auf der subjektiven Unfähigkeit des Betrachters
beruht, der nicht imstande ist, sich zu ihnen auffassend künstlerisch zu verhalten.
Gewiß ist das Verlangen, das heute so viele an die Kunst richten: eine neue
Erhebung des Lebens zu bringen, berechtigt als Ausdruck idealistischer Tendenzen
überhaupt. Aber dieses Verlangen sollte nicht blind und unempfänglich gegen daS
machen, was an großer Kunst auch uns umgibt!
Nietzsches Leidensweg zum Individualis¬
mus. Man ist daran gewöhnt, Briefe als
Dokumente einer Persönlichkeit zu betrachten
und zu werten. Wie weit eine solche Wertung
bei den Briefen Nietzsches berechtigt ist, das
erscheint aber recht zweifelhaft. Man muß näm¬
lich eine Eigenart des Briefschreibers Nietzsche
beachten, auf die Richard Oester in der Ein¬
leitung zu seiner Auswahl von Nietzsche-Briefen,
die im Inselverlag erschienen ist (1911, Preis
3 M,), hinweist. Er sagt: „ Freunde, Verehrer,
Berufsgenossen, Mitstrebende, Angehörige, sie
alle werden in der Tiefe ihrer indivionellen
Besonderheit auf eine so verbindliche Weise
(in Nietzsches Briefen) berührt, daß man be¬
greift, wie lebhaft sie sich immer wieder zu
dem Spender dieser Herzensgnben hingezogen
fühlen mußten."
Das ist unbedingt wahr. Nietzsche, der
Prediger des absoluten, des starrsten Jndivi-
dualismus, paßt sich mit ungeheurer Empfind¬
lichkeit für die gegenspielende Persönlichkeit
deren Eigenart an. In den Briefen an die
Mutter ist er der gute Sohn, der die Mutter-
sorge durch leicht humoristische Berichte über
sich und sein äußeres Leben zu beschwichtigen und
— von seinem inneren Leben abzulenken sucht,
in den Briefen um die Schwester der etwas
väterlich protegierende ältere Bruder, der
Wandlungsfähigste in den Briefen an die
Freunde: herablassend-belehrend an Deussen,
achtungsvoll anerkennend, wenn auch nicht
durchaus billigend an Gersdorff, rückhaltlos
hingebend an Erwin Rohde.
Die Briefe an die Freunde sind noch am
ehesten dazu geeignet, uns einen Zug in der
Persönlichkeit Nietzsches zu zeigen, der be¬
stimmend für sein ganzes Leben und für seine
ganze weitere Entwicklung geworden ist. Wir
lernen aus ihnen Nietzsche den Freundschafts-
ncher kennen. Dieser Untertan, das Suchen
nach dem Gleichgestimmten, dem Mitstrebenden,
dem Verstehenden, nach dein Freunde, klingt
aus allen Briefen, er ist der Grundton in
hnen, er muß daher echt sein ^ man mag
ich sonst zu dem dokumentarischen Wert der
Nietzsche-Briefe stellen, wie man wolle.
Die Briefe, die Oester zusammengestellt
hat, lassen nun genau die Phasen verfolgen,
n denen sich dieses Freundschaftsbedürfnis
ntwickelt, wie trotz dieses Freundschaftsbedürf¬
nisses Nietzsche allmählich aus dem Freundes¬
reise hinausgedrängt wird oder, durch seine
Entwicklung getragen, selbsttätig aus ihm
inaustritt — in die Einsamkeit.
Die goldene Zeit für Nietzsche, den Freuno-
chaftssncher, leuchtet in den Studienjahren zu
Leipzig, im Kreise gleichstrebender Philologen,
u Füßen des anregenden und innerlich wie
ußerlich machtvoll fördernden Lehrers Ritschl.
Alte Pfortaer Schulfreundschaften werden fort¬
esetzt, neue angeknüpft und entwickelt; im
Kreise LeipzigerFreunde lernt Nietzsche Wagner
ennen.
Als Leipziger Philologe fühlt sich der
rofessor der Philologie noch sehr, sehr lauge,
eit über die erste Baseler Zeit hinaus. Aus
em Fachkreise der Philologen tritt er erst
naus nach Veröffentlichung der „Geburt der
ragödie aus dem Geiste der Musik". Wie
hr ihn dieses Hinaustreten schmerzte, das
eweisen seine Briefe an Ritschl, an Gersdorff,
or allem an Rhode (Ur. 44,4ö, 48 bei Oester).
Dennoch erwächst das alles nur aus der
folgerichtigen Entwicklung von Nietzsches Ge¬
dankenwelt. Schon in Leipzig war das starke
Band des engsten Freundeskreises Schopen¬
hauers Philosophie gewesen. Dieses Band hält
die nächsten Freunde auch nach der Geburt
der Tragödie zusammen. Aus demSchopen-
hauerschen Gedankenkreise her tritt Nietzsche
aber in Basel in den benachbarten und geistes¬
verwandten Wagners.
Von nun an ist es dieser Boden Philo¬
sophisch-ästhetischer Gedankengänge, auf dem
Nietzsche mit Enthusiasmus Freunde sucht und
findet.
Auch diese Periode hat aber keine Dauer.
Seine Entwicklung treibt ihn auch über Wagner
hinaus, er muß sich auch aus diesem Kreise
loslösen. Mit welchem Schmerze er es getan
hat, ist bekannt, davon zeugt er selber in
seinen Briefen vielfach (vgl. z. B. Ur. 80 u. 84
unserer Ausgabe).
Dazu kommt, daß es nicht nur die Richtung
seiner Gedankengänge ist, die Nietzsche, den
Menschen, dem alles daran lag, Gleichgestimmte,
Gleichgesinnte, für seine Schriften zustimmen¬
den Widerhall und Beifall zu finden, zum
Einsamen macht; sein körperliches Leiden greift
immer mehr mir sich, verbannt ihn immer
häufiger aus der Mitte der Gesunden, der
Lebenden, und verdammt ihn zur Zurück-
gezogenheit oder zum Wandern, zum unsteten
Ziehen von Ort zu Ort, um das Klima zu
suchen, daß dein Leidenden ruhige Tage und
Rächte verspricht.
So klingen die Briefe ans der letzten Pe¬
riode, der italienischen Wanderzeit Nietzsches,
Wider von .Magen über seine Einsamkeit, her¬
vorgerufen durch diese zwei Ursachen: Krank¬
heit und Abfall der nicht mehr verstehenden
Freunde.
Ich glaube, man hat die Wirkung dieser
erzwungenen Einsamkeit auf die Entwicklung
der individualistischen Gedankengänge Nietzsches
bisher noch zu wenig beachtet und noch nicht
genügend hoch gewertet.
Gerade die individualistische Gedankenwelt
Zarathustras bildet die letzte, tröstende und stär¬
kende Zuflucht für den vereinsamten Nietzsche,
dessen ganze Seele dennoch auch jetzt noch
immer sucht und klagt nach zustimmenden
Freunden, der seine einsame Größe, von der
r selbst sich mit Gewalt überzeugt, auch aus
em Munde der Vielen anerkannt hören möchte.
Man denke an seine Frende über die Vorträge
von G. Brandes in Kopenhagen (vgl. Ur. 147,
49, 160 der Auswahl).
Von diesem Gesichtspunkte ans betrachtet,
rscheint Nietzsches extremer Individualismus
als die letzte Waffe des vereinsamten Zarcr-
hustra gegen die Verständnislosigkeit der Viel-
uvielen, den Abfall der Freunde; denn er
ührt zum Stolz, und er führt zur Verachtung.
Und dennoch klingen aus den Briefen dieser
etzten Zeit für den aufmerksamen Leser leise,
aber deutlich vernehmbar schon die ersten
grollenden Töne des nahenden Endes heraus,
der Geisteskrankheit, welche Nietzsches Indi¬
vidualismus in seinem Schoße trug. Man
darf die Psychischen Einflüsse und Erregungen,
die für Nietzsche mit seiner Vereinsamung zu¬
ammenhängen, in seiner Krankheitsgeschichte
nicht zu niedrig einschätzen. Man hat viel¬
eicht bisher die Physiologisch-organische Seite
bei den Forschungen, die sich mit der Patho¬
ogie Nietzsches beschäftigen, zu sehr betont
und einseitig berücksichtigt; ich möchte hier die
Wichtigkeit der psychischen Faktoren daher aus¬
rücklich betonen, sie tragen mit einen großen
Teil der Schuld am schließlichen Zusammen¬
ruch.
Mag es Zufall, mag es Absicht des Heraus¬
ebers gewesen sein: die vorliegende Auswahl
äßt uns die Wirksamkeit gerade dieser Motive
mit außerordentlicher Stärke fühlen, sie zeigt
ns das Zugrundegehen eines großen Menschen
n ihnen und bietet uns daher in engem
Nahmen und in dieser gedrängten Form um
o eindrucksvoller eine Tragödie in ihrenr
anzen Verlaufe dar, nämlich die Tragödie:
Friedrich Nietzsche.
Die Feier, die zu Wilhelm Naabes acht¬
igsten Geburtstage geplant war, verwandelte
ch in eine erhebende Gedächtnisfeier im Braun¬
chweiger Hoftheater, in deren Mittelpunkte eine
ormvollendete ergreifende Rede von Wilhelm
Brandes stand, die Wohl das Beste und Schönste
nthielt, was bisher über den großen Dichter
nd edlen Menschen gesagt und geschrieben
worden ist. Sie wird allen denen, die sie
ehört, unvergeßlich bleiben und wird, denk'
ich, manchen, der bisher noch abseits stand,
zu Raabe hinführen. Der „Eckart", der ja
schon immer so treulich für den Braunschweiger
Dichter eingetreten ist, wird diese Rede in
seinen nächsten Heften abdrucken, und sie wird
da hoffentlich auch in weiteren Kreisen ihre
werbende und begeisternde Kraft ausüben.
Zu dieser schönen Gabe, die Wilhelm Brandes,
der in die Tiefen und den Reichtum der
Persönlichkeit und des Lebenswerks von Wil¬
helm Raabe eingedrungen ist, wie kaum ein
zweiter, dem toten Freunde als Weihegruß
zum achtzigsten Geburtstage darbrachte, ge¬
sellten sich nun zwei Raabebücher, die mir in
hohem Grade geeignet scheinen, nicht bloß
der großen, treuen Naavegemeinde, sondern
auch noch dielen, dielen anderen als Führer
zu Raabe zu dienen: „Der junge Raabe"
von Hera. Anders Krüger und der „Wilhelm
Raabe - Kalender" herausgegeben von Otto
Elster und Halms Martin Elster. Hermann
Anders Krüger hat die feinsinnigen und ge¬
haltvollen Aufsätze über Raabe, die er im
Eckart hat erscheinen lassen, zu einem
schmucken Bändchen vereinigt (Leipzig, Xenien-
Verlag). Darin erzählt er zunächst höchst an¬
ziehend und auf beste Quellen gestützt des
Dichters äußeren Levensgang und schildert
seine innere Entwicklung bis zum Jahre 1859.
Auch die, die ihren Raabe zu kennen meinen,
worden darin manches Neue und Unbekannte
finden. Darauf würdigt er NaabeS Erst¬
lingswerke „Die Chronik der Sperlingsgasse",
„Ein Frühling", „Halb Mähr halb mehr",
„Die Kinder von Finkenrode", geht den
Quellen und Anregungen nach, ohne in die
jetzt vielfach übliche Sucht, Entlehnungen auf¬
zuspüren, zu verfallen, verbreitet sich über
des Dichters Sprache und Stil, Technik und
Charakteristik. Auch wird mit manchen schier
unverwüstlichen Irrtümern und falschen An¬
schauungen, wie z. B. Naabes sogenannte
Abhängigkeit von Jean Paul (hoffentlich
endgültig) aufgeräumt. Besonders lehr¬
reich ist der Vergleich der beiden Fassungen
von „Ein Frühling", der den lebhaften
Wunsch in uns erweckt, daß recht bald
eine neue Auflage der ganz verschollenen ersten
Ausgabe dieses köstlichen Buches erscheinen
möge. In einem umfangreichen Anhange
bietet Krüger ein vollständiges chronologisches
Verzeichnis alles dessen, was Raabe ge¬
schrieben, auch der nicht in Buchform er¬
schienenen Aufsätze und Gedichte, und eine
überaus reiche Zusammenstellung der bisher
über Raabe veröffentlichten Bücher und Auf¬
sätze. Das warmherzige, ehrliche Buch möge
recht viele empfängliche Leser und Käufer
finden.
mente von ihm, die Wohl geeignet sind, neben
dem Dichter auch den edlen, liebenswerten
Menschen ins rechte Licht zu stellen. Zu
diesem reichen Inhalt kommen noch feine
künstlerische Beigaben, zumeist zum erstenmal
veröffentlicht: Bildnisse bon Raabe, Zeich¬
nungen von seiner Hand, Bilder von Gedenk¬
stätten seines Lebens.
Raabes Erzählung „Unseres Herrgotts
Kanzlei" ist in der Creutzschen Verlagsbuch¬
handlung zu Magdeburg soeben in achter
Auflage erschienen (Preis M, 6.—.)
Ludwig Speidel als Feuilletonist. Ludwig
Speidel wurde am 11. April 1830 in Ulm
geboren, kam aber bereits 1853 nach Wien,
wo er im Jahre 1906 starb, nachdem er in
einigen Jahrzehnten eine kritische Berühmtheit
der Donaustadt gewesen war. Er war in¬
sofern Journalist, als er im Dienst der TageS-
Presse stand. Er schrieb keine dicken Bücher,
ließ vielmehr lose feuilletonistische Blätter in
das Leben des Tages hineinflattern. Diese
losen Blätter aber wirkten so stark, wie Bücher
nur selten zu wirken Pflegen. Nichtsdesto¬
weniger war Speidel selber nie dazu zu be¬
wegen, sie zu sammeln. Und wer müßte nicht
einräumen, daß seine Bedenken verständlich
waren?
Der Tngesschriftsteller braucht nicht — wie
der Schriftsteller im allgemeinen — das Inter¬
esse für seinen Gegenstand zu wecken, denn
sein Gegenstand ist der erste Punkt der Tages¬
ordnung, ist die aktuelle Angelegenheit, von
der sowieso alle Welt spricht. Es fällt ihn,
auch nicht schwer, ihn farbig darzustellen, er
braucht ihn im Grunde nur zu nennen, da¬
mit seine Leser ihn sofort lebendig vor sich
sehen. Denn seine Leser erleben ja den Gegen¬
stand wie er selber. Er ist der Schriftsteller
des gegenwärtigen Tages, und der gegen¬
wärtige Tag hat immer Farbe, während hinter
uns die Vergangenheit matter erscheint oder
in tiefes Dunkel versinkt. Er macht Eindruck
schon durch seine Stellungnahme, durch sie
schon ruft er Gegnerschaft, Haß, Freundschaft
und Zustimmung hervor. Der Tag trägt seine
Arbeiten schnell empor, aber darum verschwin¬
den sie auch so leicht mit dem Tage. Die
Zeit ist der Bundesgenosse und der gefähr¬
ichste Gegner des Feuilletons. Nach einigen
Jahren ist ein blühendes Feuilleton bereits
eine welke Blume. Die verschiedenen sachlichen
Standpunkte, um die man sich beim Erscheinen
erhitzte, sind von der Entwicklung hinweggefegt.
Was vormals kühn war, ist inzwischen selbst¬
verständlich oder gar lächerlich geworden. An¬
pielungen, die beim Erscheinen jeden kitzelten,
versteht niemand mehr. Nichtsdestoweniger aber
freuen wir uns doch, daß der Verlag Meyer
u. Jessen in Berlin alle Bedenken überwunden
und eine Speidel-Ausgabe veranstaltet hat,
von der bis jetzt vier Bände vorliegen.
In einem Aufsatz über d.en jetzigen Wiener
Burgtheaterdirektor Baron v. Berger sagt
Speidel: „Zum Kritiker bringt Berger die
geeigneten Naturgaben mit. Er ist ein Denker
und er ist fast ein Dichter. Dieses .fast' ist
viel. Nur der Kritiker, der wenigstens ein
Verwandter des Dichters ist, wird uns über
Werke der Dichtkunst mehr als oberflächlich
unterrichten können." Was Speidel mit diesen
Worten ausspricht, klingt sehr selbstverständlich,
st aber nichtsdestoweniger ein Problem. Es
st schon wahr, daß ein dichterischer Einschlag
m Grunde erst den Kritiker macht, aber ebenso
wahr ist, daß ein derartiger Einschlag einen
Kritiker völlig ruinieren kann. Es kommt ganz
auf die Art und Weise an, in der das dich¬
erische Element seinem Wesen beigemischt ist.
Es kann ihn vornehm, liebenswürdig und ver¬
tändnisvoll, es kann ihn aber auch unglücklich,
neiderfüllt und verächtlich machen. Speidel
st in dieser — wie übrigens in vielen anderen
Beziehungen — ein Glückskind gewesen. Auch
er ist „fast" ein Dichter, aber der poetische
Einschlag hat sich mit seinem ganzen gesunden
Wesen in glücklicher Harmonie vermählt. Was
an Poetischen Gehalt in seinem Wesen steckt,
st für ihn wie eine verborgene Sonne, die
eine Lettern mit Schönheit durchleuchtet. In
einigen Feuilletons ist er mehr Dichter als
Schriftsteller, und selbst wo er kein Dichter ist
und nach der Sachlage auch gar keiner sein darf,
fliegt oft noch ein feiner poetischer Schimmer
über die Linien. Der Dichter, der in ihm
teckt, hat es ihm auch unmöglich gemacht, in
die häßliche Manieriertheit zu verfallen, in die
onst Feuilletonisten (und nicht zum wenigsten
die Wiener Feuilletonisten) im Interesse der
„Wirkung" zu verfallen Pflegen. Es ist ent¬
setzlich, bis zu welcher Unnatur sich so ein
Feuilletonist verlieren kann, wenn er durch
Künsteleien zu verbergen sucht, daß keine Kunst
in ihm steckt. Er schneidet Grimassen, er ver¬
renkt seinen Sätzen alle Glieder, nur damit
sie „originell" aussehen sollen; er preßt die
Sprache zu Wortbildungen, die ihr völlig fremd
sind; er ersetzt den funkelnden Stich des Witzes
durch den Natternbiß der Infamie; er quält
sich redlich ab, um die dürftige Leere seiner
Natur zu verbergen, und erreicht doch nur,
daß uns in seiner Gesellschaft ein schlichter
stiller Mann als ein Geschenk des Himmels
erscheinen will. Von all diesen Talmikünsten
hat Speidel sich ferngehalten. Er ist, was
unter Feuilletonisten eine Seltenheit zu sein
scheint, eine deutsche Natur geblieben, eine
deutsche Natur, die aus den besten Brunnen
der deutschen Kultur getrunken hatte. Obwohl
ihm die feuilletonistische Pointe selbstverständ¬
lich nicht fremd ist, erkauft er sie doch nie
durch Unnatur. Wo sie ihn: kommt, kommt
sie ihm mühelos, gelassen, graziös. Und wenn
ihm keine kommen will, schreibt er seine reine,
echte, deutsche Sprache ruhig weiter, im festen
Vertrauen darauf, daß sein Deutsch auch
ohne feuilletonistische Pointen zu lesen sein
werde.
Ob es nun recht war, diese Feuilletons zu
sammeln? Ich sagte bereits: ja. Einmal zeigen
selbst Aufsätze, die in den sechziger Jahren ge¬
schrieben sind, noch heute frische Farben, was
an sich schon eine Leistung ist, vor der man
Achtung haben muß; zum anderen aber finden
sich eingesprengte kritische Wahrheiten, ein¬
gesprengte kritische Federzeichnungen, die auch
über den besonderen Anlaß hinaus ihren Wert
behalten. Speidels schriftstellerische Kraft ist
so groß, daß sie nicht der Vergessenheit anheim¬
fallen darf. Er verdient die Gesamtausgabe,
die ihm geworden ist; er wird auch seine Leser
erfreuen, wenn sie ihn lesen, wie er gelesen
werden muß. Man kann vier oder mehr Bände
gesammelter Feuilletons natürlich nicht in einem
Zug durchlesen; dann ist der Eindruck zu kalei¬
doskopartig. Wenn man aber bald dies und
bald jenes genießt, wird man oft und gern
in die Gesellschaft eines Mannes zurückkehren,
der unter allen Umständen ein vornehmes
schriftstellerisches Talent war, wie anfechtbar
eine kritische Haltung in manchen Punkten
auch gewesen sein mag.
„Eigentum ist
in rechtlicher Begriff, der am Entwicklungs¬
anfang des Rechts formalistischen Prozesses
tehend, sich historisch entwickelt hat. Es kann
ich nicht darum handeln, die evolutionistische
Grenze des Eigentums über das Vergeltungs¬
echt hinaus zu finden, denn auch das Tier
at einen snimus rem sib! Kabenäi, sondern
nur darum eine Entwicklungsmöglichkeit des
Eigentumsbegriffs aus dem Vergeltungsrecht
u versuchen. — Die These ergibt sich aus der
Geschichte eben jenes indogermanischen Rechts:
Das Eigentum ist eine historisch durch
ns Vergeltungsrecht irradiierende
Ideen gewordene Funktion des Dieb¬
ahl s ka in P f e s. Der embryonale Eigentums¬
egriff der Übergangsperiode ist die Funktion
iner formalen (d. h. unter Irradiation der
Hochgerichtsidee stehenden) Abart des ver¬
eltungsrechtlichen Diebstahlstreites. DieMög-
chleit der schlichten Klage — unterJrradiation
Weiterer Ideen geworden — bedeutet den Be¬
inn des Rcchtsrechtes: das Eigentum ist als¬
ann die Funktion der Übereignung —, in
em der Streit fingiert ist und zu einem Akt
reiwilliger Gerichtsbarkeit wird. — Die Fiktion
eht am Anfang des Rechts." So zu lesen
S. 32 in „Methodologische Vorstudien zu einer
ritik des Rechts" von Heinz Rogge, mit einem
Geleitwort von JosefKohler. Berlin und Leipzig
911. Verlag von Dr. Walther Rothschild.
reis 1,S0 M. Kohler sagt im Vorwort:
Die Gefahr einer jeden Jurisprudenz ist die
cholastik; man spricht auch von Begriffs-
urisprudcnz." Was ist nun obige Definition
es Eigentums?
ein Unrecht, daß in den großen Kliniken noch
nicht öffentlich amputiert und operiert wird.
Wer die Feinschmecker wissen etwas Besseres:
sie fahnden nach Zuhörerplätzen bei Sensations¬
prozessen. DaS gibt mit voller Sicherheit aus¬
verkaufte Häuser. Allerdings ist ein gewöhn¬
licher Fall von Einbruch oder Mord schon nicht
mehr unbedingt zugkräftig, aber dafür stieg
der Skandal im Liebhaberwerte. Eine zuvor¬
kommende Presse sorgt zwar, daß jedermann
am Abend tunlichst nacherleben kann, was sich
an den Schranken begab; doch das reizt sie
nur, die klatschhungrigen Seelen. Man müßte
selber mitgenießen, was für ein Gesicht der
oder die Angeklagte bei der oder jeuer Aus¬
sage machte, wie der Verteidiger sich benahm
und wie das Pikante so eigentlich herausgebracht
wurde. Ein alter Globetrotter hat einmal
behauptet, die Spanier würden nie auf Stier¬
gefechte verfallen sein, hätten sie immer ein
öffentliches Gerichtsverfahren gekannt. Nun,
wir dürfen auf den tierauälerischeu Sevillaner
stolz herabblicken, denn im Lande des Tier¬
schutzes interessiert eS natürlich weit mehr,
zuzusehen, wie Menschen bei der Qual be¬
stehen, wie ihre Nerven zucken und ihre Fassung
wankt. Das war ja gerade das Schöne an
den Altensteiner Prozessen: eine Angeklagte an
der Grenze des Irrsinns garantierte eben
vorweg die ersehnten Zwischenfälle. Wie kann
übrigens eine als wissenschaftlich berufene
Nation mit Bewußtsein human empfinden,
wenn sie nicht genau studiert, was jenseits
davon liegt, — nicht währ? Aber die in¬
telligenten Leser der Hunderttausendpresse, die
Ableger ihrer Tageslogik, wollen auch die mit
Recht beliebten Studien des sozialen Milieus
nicht versäumen. Man sorge dafür! Von;
ein schmieriger kleiner Prozeß, bei dein aber
ein geborener Graf auftritt und erzähle» kann,
wie man Schwiegersohn eines Millionenhauses
wird — oder auch nicht — das wäre z. B.
ganz der gesuchte Handel. Und so geht der
Kampf um die Plätze im stickig engen Raume
los. Ausverkaufte Häuser wegen eines Ein¬
blicks in Salons, deren Rang von vornherein
nur in der Hinterhausphantasie ernsthaft strittig
warI Diese Menschen mögen keiner Schonung
wert sein — verdienen sie aber Aufmerksam¬
keit? Der Grafenkalender zählt 1096 Seiten
engen Drucks und ist immer noch unvoll¬
ständig, die Liste der Hochbesteuerten hat eben¬
falls ziemlichen Umfang, aber beide schätzbaren
Verzeichnisse gewährleisten zunächst nichts weiter
als die äußere Eigenschaft, welche die Über¬
schrift nennt. Ob der junge Aristokrat seine
Wechsel auf Heiratsaussichten oder Pferdekäufe
hin prolongiert erhielt, ob es in Berlin XV.
gutes Essen und böse Mütter oder schlechtes
Essen und gute Töchter, mit weiteren .Kom¬
binationen ca intmitum, zu geben Pflegt, ob
die Lebedamen der öffentlichen Tanzsäle noch
mmer vor Gericht so aussehen wie bis zur
Langenweile bekannt, — das alles zusammen
liefert vielleicht soziale Katzenmusik, aber keinen
Stoff, der das geringste publizistische Interesse
daran rechtfertigen könnte. Selten ist so
deutlich hervorgetreten, wie hoch schon die
Fertigkeit ausgebildet worden ist, rein nach
Belieben ausverkaufte Häuser der Themis zu
bewirken. Sollte die schon gekennzeichnete
Tagespresse, deren Schuld das jedesmal ist,
hierbei nur die Vermittlerrolle spielen, dann
um so bedenklicher für den Charakter ihres
Betriebes I Merkwürdig genug, daß man in
den sonst so empfindlichen Kreisen wirtschaft¬
icher Potenz die nun schon tonangebende
Herrschaft der Sensationsblatler gleichsam als
Verhängnis betrachtet und alle Konsequenzen
miterduldet. Es mag billiger sein, als ein¬
mal energisch große Mittel im großen Stil
aufzuwenden, damit der Ochlokratie das Hände¬
eiben vergeht. Noch ist es nicht lange her,
daß auch der kleine Mann sich schämte, ge¬
wisse Blätter aus der Tasche zu ziehen und
Am 5. Oktober wurden die Forts von Tripolis durch italienische
Marineinfanterie besetzt. Die amtlichen Nachrichten bestätigen den ver¬
wahrlosten Zustand, in dem die türkischen Befestigungen angetroffen wurden.
Auf die Tüchtigkeit der tripolitanischen Artillerie wirft die Tatsache ein eigen¬
artiges Licht, daß die belagernde italienische Flotte auch nicht durch einen Granat¬
splitter erreicht wurde! Die Verteidiger verloren einige dreißig Mann an Toten
und Verwundeten. Sie haben sich wenige Kilometer südlich Tripolis verschanzt.
Italien ist somit Herrin im wichtigsten Küstengebiet und hat dadurch eine sichere
Basis für den zweiten, schwereren Teil seines Unternehmens gewonnen, sür die
Eroberung des Hinterlandes. Es wird sich nun zeigen, ob die Sieger
über die unvorbereitete offizielle Türkei auch die Kraft besitzen werden, das seine
Wohnstätten verteidigende Volk der Araber zu unterwerfen. Die Chancen Italiens
sind nicht ungünstig, sofern die Heeresleitung sich mit dein nächsten Vorstoß Zeit
läßt, zunächst aber genügend Kavallerie und leichte Artillerie nach Afrika ent¬
sendet und nicht vergißt, einen sür europäische Begriffe gigantischen Verpflegungs¬
und Etappentrain mitzugeben. War die Hauptstadt im Handstreich zu nehmen,
so wird die Eroberung des Hinterlandes viele Monate, vielleicht Jahre währen,
je nachdem es gelingt, die einheimische Bevölkerung mit Güte oder Gewalt
zu gewinnen.
Diese Sachlage schiebt die Frage nach den politischen Qualitäten des
Islam mehr in den Vordergrund der politischen Betrachtung. Wenn im
Islam wirklich die ungeheure Macht eines glaubenseisrigen Fanatismus orga¬
nisiert ist, wie' vielfach in der deutschen Presse zu lesen ist, dann müßte es um
die Zukunft der Türkei gut stehen, und wir müßten demnächst ein Feuer auf¬
flammen sehen, das nicht nur Vorderasien, sondern ganz Nordafrika, Indien
und große Teile Rußlands in Brand stecken dürfte. Seit ich indessen die achtzehn
Millionen Bekenner des Islam beobachten konnte, die hinter der russischen Re¬
volution standen, stehe ich der Macht des Islam skeptisch gegenüber.
Tiefere Kenner geben mir in meinem Skeptizismus recht und die Ereignisse der
letzten zwanzig Jahre auch. Der Zusammenhang unter den Bekennern des
Islam ist nicht größer als der unter den verschiedenen Völkern katholischen
Glaubens, und für die politische Betätigung der marokkanischen, tunesischen,
tripManischen, ägyptischen, arabischen, europäischen, persischen, indischen, russischen
und chinesischen Mohammedaner spielen Beweggründe die treibende Kraft, die,
wenn auch häufig mit religiösen Fragen bemäntelt, doch mit der Religion nichts
zu tun haben. Bei den arabischen Stämmen wird man als wichtigstes Motiv
für ihr Verhalten Freiheitsdrang, bei den mongolischen Mohammedanern Gewinn¬
sucht annehmen dürfen. Dementsprechend sind diese friedliebender und staat¬
licher Organisation zugänglicher als jene, — dementsprechend kämpfen die Araber
nicht nur gegen die „Ungläubigen", sondern mit dem gleichen Fanatismus auch
gegen den eigenen Sultan und gegen die türkische Regierungsgewalt! Einen
neuen Beweis für die Richtigkeit meiner Auffassung bietet das Sonntag bekannt
gewordene Rundschreiben der Pforte an die Mächte wegen Übernahme der
Friedensvermittlung.
Ich glaube, daß es falsch wäre, wenn unsere Diplomatie allein auf die
derzeitige Beliebtheit der Deutschen bei den Türken oder Arabern hin
die Richtung der Reichspolitik einstellen wollte. Diese Beliebtheit ist durchaus
negativer Art; sie beruht einstweilen nur auf der Tatsache, daß bisher Eng¬
länder, Franzosen, Spanier und Italiener die Herrschaft über jene ausgeübt
haben, während die Deutschen ausschließlich als Kaufleute auftraten und dem¬
gemäß nicht als Autoritäten sondern als Förderer aller der Neigungen, die
den- Absatz ihrer Waren erhöhen mußten. Bei der Korrektheit und Moralität
und damit Schwerfälligkeit unserer Verwaltungsprinzipien würden wir wahr¬
scheinlich viel schneller und gründlicher den Haß der Marokkaner erregt haben,
als es die Franzosen vermochten, die selbstverständlich bei den Freiheit liebenden
Araberstämmen gegenwärtig im Mittelpunkt der Feindschaft stehen. Aber damit
ist für die Weltpolitik wenig anzufangen. Es kommt für die Politik weniger
auf die Unzufriedenheit an sich an, als darauf, ob diese Unzufriedenheit für einen
bestimmten Zweck organisiert und in den Dienst einer bestimmten Politik gestellt
werden kann. In dieser Beziehung aber hat der sogenannte Fanatismus des
Islam vollständig versagt. Er hat nur in früheren Jahrhunderten organisatorische,
staatenbildende Kraft gezeigt, hat aber seit hundert Jahren in keiner Phase der
Unterwerfung Asiens oder Afrikas durch die europäischen Staaten sich befähigt
erwiesen, dem Ansturm von Norden Ansätze neuer Kulturkräfte entgegenzusetzen.
Die Deutschen haben, seit sie sich zum Deutschen Reiche zusammengeschlossen,
zwei Versuche gemacht, den staatlichen Rückgang des Islam aufzuhalten: in
Marokko und in der Türkei. Alle auf dies Fundament gestellten Verträge und
sonstige Unternehmungen sind in Marokko endgiltig, in der Türkei vorläufig
gescheitert; immerhin steht die unwiderrufliche Entscheidung in der Türkei noch
aus, aber nicht Deutschland, sondern die Türkei selbst muß zunächst beweisen,
ob sie noch genügend moralische Werte in sich hat, um diese vielleicht schwerste
Prüfung noch bestehen zu können.
In der alldeutschen Presse wird nun an die deutsche Regierung die Forderung
gerichtet, sie solle Italien den Laufpaß geben und sich offen auf die Seite
der Türkei stellen, um ihre großen wirtschaftlichen Interessen wirksam schützen
zu können. Der Vorschlag klingt namentlich in: Hinblick auf die durch keinerlei
Leistungen begründeten chauvinistischen Ausschreitungen der Italiener gegen
Österreich ganz einleuchtend, aber er stützt sich doch nur auf eine oberflächliche
Betrachtung der Geschehnisse. Die Geschichte des Dreibunds führt zu anderen
Ergebnissen. So paradox das folgende auf den ersten Blick klingen mag, soll
es ausgesprochen werden: Italiens Festsetzung in Tripolis liegt im Interesse
der Erhaltung des europäischen Gleichgewichts, wie es die Hauptaufgabe des
Dreibundes ist, und die Art des Vorgehens selbst kann für das türkische
Reich die heilsamsten Wirkungen haben, Wirkungen, die durchaus in der
Richtung auch des deutschen Interesses liegen.
Der Dreibund ist, solange er besteht, ein politisches Faktum, mit dem bis
auf weiteres gerechnet werden muß, sowohl von feiten Deutschlands wie von seiten
der anderen Italien befreundeten Mächte Frankreich und England. Italien seiner¬
seits wird aber den Dreibund um so mehr und um so länger schätzen, je
mehr er befähigt ist Italiens Tripolispolitik zu stützen, nachdem diese selbst,
wenn auch gegen den Willen der Dreibundmächte, ein neues kalt acLompIi
geschaffen hat. Deutschland und Österreich-Ungarn werden ihre weitere Haltung
gegen Italien auch der Pforte gegenüber verantworten können, da sie jeden
Versuch Italiens, in Albanien einzudringen, energisch abgewehrt und die Kriegs¬
gelüste der kleinen Balkanstaaten kräftig niedergehalten haben. Die Türkei
verliert zwar mit Tripolis ein Gebiet, aber doch nur ein solches, das sie kaum
noch besessen hat. Dagegen bekommt sie finanzielle und moralische Hilfsmittel
frei, die sie nun unter dem Schutz der beiden Reiche zur inneren Erstarkung
und zum Kampf gegen seinen gefährlichsten Gegner, gegen England, ver¬
wenden kann. Freilich ist hierbei eine Voraussetzung, die weiter oben erwähnt
wurde: Vorhandensein genügender moralischer und staatbildender Kräfte im Islam.
Die Bezeichnung Englands als Feind aller der Mächte, die mit
Deutschland gleichartige Interessen verbinden, ist so häufig angewandt worden,
daß sie schon mehr als Schlagwort anmutet und demgemäß für viele an Beweiskraft
verloren hat. Dennoch sind wir von neuem berechtigt, Englands Diplomaten
als Friedensstörer, wie überhaupt als diejenigen zu bezeichnen, die während
der letzten Monate am meisten dahin gewirkt haben, Unruhe zu stiften. Es wird
einmal von der Geschichte einwandfrei festgestellt werden, daß seit dem Bagdad¬
bahn-Abkommen vom 21. März d. Is. von britischer Seite kein Mittel un¬
versucht geblieben ist, die Aufmerksamkeit und die Kräfte Deutschlands von der
asiatischen Türkei abzulenken und es in allerhand Abenteuer zu verwickeln.
Solange das deutsch-russische Abkommen über Persien nicht veröffentlicht
war, setzte man seine Hoffnung auf Se. Petersburg. Als diese Versuche
mißglückter, wurde in Paris gewirkt. Dort war es leichter, weil die Fran¬
zosen sich ohnehin schon für ein schärferes Vorgehen in Marokko vorbereitet
hatten. Jetzt aber trieb England zur Eile, besonders unter Hinweis auf die schlechte
finanzielle Lage des deutschen Reichs, die nach außen hin durch die ungewohnt
sparsame Ausstellung des Heeresetats bestätigt wurde. Die deutschen Liberalen,
die auf die Haltung der Konservativen bei der Reichsfinanzreform als einen
der Gründe für das dreiste Auftreten Englands hinweisen, haben somit nicht
ganz unrecht. England wußte, daß Deutschland werde Einspruch erheben
müssen, um seine wirtschaftlichen Interessen in Marokko zu wahren, sobald
Frankreich Fez betrat. England hat auch die altdeutsche Presse richtig ein¬
geschätzt. Das deutsche Auswärtige Amt protestierte, die altdeutsche Presse
machte einseitig beeinflußt einen Skandal, als ginge es tatsächlich um Leben
und Sterben der Nation, aber — der Kaiser machte nicht mobil. Die eng¬
lische Intrige und Provokation wurde inBerlin rechtzeitig erkannt und ungeachtet der
Schmähungen, die die Regierung einschließlich der Person des Kaisers sich hat ge¬
fallen lassen müssen, ist es nicht zum Konflikt gekommen, vielmehr sind Frankreich
und Deutschland auf einen Boden getreten, der spätere tiefergehende Mißverständnisse
hoffentlich ausschließt. Erst als England das Scheitern seiner Intrige in Marokko
erkannt hatte, entschloß es sich, Italien für seine Pläne zu benutzen. Es muß betont
werden, daß England diesen Schritt nur höchst ungern getan haben dürfte, weil ihm
Italiens Nachbarschaft dort, wo es hoffte selbst einmal herrschen zu können, durchaus
nicht willkommen sein kann; doch auch dieser kühne Schachzug wurde von Berlin
aus zunächst unwirksam gemacht durch die Übernahme des Schutzes der An¬
gehörigen beider kriegführenden Länder sowie durch die Verständigung mitOsterreich-
Ungarn. Italien selbst, durch das besonnene Vorgehen der beiden Bundes¬
genossen zum Bewußtsein seiner eigenen prekären Lage gebracht, hat sich allem
Anschein nach entschlossen, der Türkei nunmehr nur an der afrikanischen Küste
entgegenzutreten oder auf hoher See. Wenn nicht zwischen Italien und Eng¬
land noch ein besonderes Geheimabkommen bestehen sollte, das die Auflösung
der Türkei zum Gegenstande hat, dürfte somit eine ernstere Gefahr vom Os-
manischen Reiche dank der Haltung Deutschlands und Österreichs einstweilen
abgewendet sein. — Doch die britische Diplomatie ruht nicht. Während die
Welt gespannt nach Tripolis und zur Küste Albaniens blickt, schwimmen indische
Truppen dem persischen Golf zu, angeblich, um die britischen Konsulatswachen
in Südpersien zu verstärken. Auf demi Wege nach Persien aber liegt linker
Hand am Persischen Golf Koweit, das Gebiet eines gegen die Pforte
aufsässigen Sehens und zugleich Schlüssel zum Südende der Bagdadbahn.
Sollte sich die Auffassung zutreffend erweisen, daß England sich anschicke,
Koweit zu besetzen, dann freilich erhielte die tripolitanische Angelegenheit eine
Belastung, die den Friedensglaubeu auch der hoffnungsfreudigsten Optimisten
erschüttern dürfte. Das Friedensbedürfnis der Pforte hat bis Montag einen
i^Zer 23. März 1911 war für die Bttrgerschaftsvertreter der alten
ehemals freien und Reichsstadt Frankfurt a. M. ein großer Tag.
Mein Gott! Es ist doch auch nichts Alltägliches und bringt etwas
Abwechselung, wenn zwischen der Bewilligung neuer Straßenbahn¬
laternen und der Konzession von Motoromnibussen eine Stadt¬
verordnetenversammlung sich auch einmal mit der Gründung einer Universität
zu befassen hat. Große kulturelle Probleme pflegen in diesen Grenier doch
überhaupt nicht allzuhäufig erörtert zu werden. Also — was Eingeweihte sich
schon längere Zeit zugeraunt haben, wovon schließlich immer mehr in der Öffent¬
lichkeit durchgesickert ist, im Februar d. I. ist es zur Tatsache geworden: Herr
Adickes überraschte die Bürgerschaft der guten Stadt mit dem fertigen Projekte
und einer Denkschrift, die nichts mehr und nichts weniger wie die Gründung
einer Stiftungsuniversität in Frankfurt a. M. im Auge hat.
Als Unternehmer zeichnen elf Firmen: der Magistrat selbst, die Akademie
für Sozial- und Handelswissenschaften, fünf Stiftungen, zwei Vereine, eine
G. in. b. H., ein Privatinstitut, lauter in finanzieller und wissenschaftlicher Hinsicht
im In- und Auslande wohl akkreditierte Namen.
Alle die von der Stadt und andern Stiftern errichteten Institute schrien
förmlich danach, wie Herr Adickes bei der Beratung der Vorlage in der Stadt¬
verordnetenversammlung ausführte, erweitert, ergänzt und zu einer Volluniversitüt
ausgebaut zu werden.
Auch die schärfsten Gegner der Universitätsvorlage müssen nun zugeben,
daß die Voraussetzungen für die Gründung einer Universität in Frankfurt in
unvergleichlicher Weise zutreffen.
Nirgends auf der ganzen Welt, auch in dein freien Amerika nicht, wird
man eine Stadt finden, die einen so reichen Kranz wissenschaftlicher, dem freien
Bürgersinn ihre Entstehung verdankende Anstalten ihr eigen nennt wie Frank¬
furt a. M. Diese tragen jetzt schon durchaus universitären Charakter und ihre
Leistungen können sich mit denen jeder Hochschule messen. Das läßt sich schon
daran erkennen, daß ständig von den Frankfurter Anstalten, der Akademie,
dem physikalischen Verein und dem städtischen Krankenhause Berufungen an
auswärtige Universitäten stattfinden, daß aber auch auswärtige Professoren sehr
gerne einem Rufe an die hiesigen Institute Folge leisten. Auch hat der Staat
die in Betracht kommenden Anstalten jetzt schon mit gewissen Berechtigungen
ausgestattet, so werden den Neuphilologen einige auf der Akademie verbrachte
Semester allgemein angerechnet. Auch die zahlreichen von den Instituten ver¬
anstalteten! Fortbildungskurse für bereits im Berufe wie in der Praxis stehende
Personen erfahren staatliche Anerkennung und Förderung.
Wie überraschend wenig zu einer Hochschule hiernach tatsächlich fehlt, ergibt
sich am besten, wenn wir einen Blick aus das werfen, was die Stifter der
neuen Universität als Morgengabe darzubringen gesonnen sind. Die Stadt
stellt vor allem ihr neues großes Krankenhaus zur Verfügung, das vor fünf¬
undzwanzig Jahren gegründet, sich heute zu einer kleinen Krankenstatt mit
fünfzehnhundert Betten entwickelt hat, dessen Einrichtungen natürlich völlig auf
der Höhe stehen und das sich auch als Forschungsinstitut einen hochgeachteten
Namen erworben hat. Es enthält neben der inneren chirurgischen und gynäko¬
logischen Abteilung noch zahlreiche Spezialabteilungen: eine große Klinik für
Haut- und Geschlechtskrankheiten, eine große Abteilung für chronisch Kranke,
eine Entbindungsanstalt, eine Augenklinik, ein hygienisches Institut, ein physio¬
logisch-chemisches Institut und ein Therapeutikum zur Pflege der physikalisch¬
medizinischen Heilmethoden. Während zahlreiche Universitäten heute noch einer
Kinderklinik entbehren, weist das Frankfurter Krankenhaus gleich deren zwei
auf, während zahlreiche Universitäten nicht einmal eine Klinik für Hals- und
Kehlkopfkranke, geschweige denn eine Ohrenklinik besitzen, verfügt Frankfurt
sowohl über eine Klinik für Halskranke als auch über eine solche für Ohrenkranke.
Natürlich wird auch die Irrenanstalt in den Kreis der Universitätsinstitute ein¬
bezogen. Die Stadt stellt ferner ihre altberühmte Stadtbibliothek mit dreihundert-
undfünfzigtausend Bänden zur Verfügung, sowie die städtischen Kunstsammlungen.
Die altehrwürdige, bereits im achtzehnten Jahrhundert begründete Senkenbergische
Stiftung wird in dein Konzern mit ihren: neu erbauten pathologisch-anatomischen
Institut, ihrem botanischen Institut und der neu erbauten Senkenbergischen
medizinisch-naturwissenschaftlichen Bibliothek vertreten sein. Chemisch-pharmakolo-
gischen Studien dient das unter Leitung von Paul Ehrlich stehende Georg
Speyerhaus, neurologischen Studien das Neurologische Institut von Professor
Edinger. Dem zahnärztlichen Studium wird die von der Nothschildschen Stiftung
errichtete Zahnklinik (Carolinum) zugänglich gemacht werden, die zugleich eine
Abteilung für Schulzahnhygiene aufweist. Die Naturwissenschaften werden von
den beiden altberühmten Instituten: dem physikalischen Verein und der Senken-
bergischen naturforschenden Gesellschaft gepflegt; ersterer kultiviert die exakten
Naturwissenschaften: Physik, Chemie, Elektrotechnik, Meteorologie, letztere die
deskriptiven: Zoologie, Mineralogie und Geologie und unterhält daneben das
prächtige naturhistorische Museum. Die herrlichen Neubauten dieser Vereine
bilden zusammen mit der Senckenbergischen Bibliothek und der Akademie für
Sozial- und Handelswissenschaften eine räumliche Zusammengehörigkeit, sie
repräsentieren das im schönsten Teil Frankfurts an der Viktoriaallee gelegene
Akademikerviertel. Die Akademie selbst stellt neben einer Handelshochschule eine
Ausbilduugsanstalt für Staatswissenschaften dar mit zahlreichen nationalökono¬
mischen und juristischen Lehrstühlen, außerdem gibt ihr die reiche Jügelstiftung
die Mittel an die Hand, Lehrsttthle für die Gebiete der Geschichte, Philosophie
und Germanistik zu unterhalten, so daß nur noch wenige Lehrstühle fehlen, um
die Akademie zu einer vollen juristischen und philosophischen Fakultät auszubauen.
Während die Akademie der Pflege der theoretischen Sozialwissenschaften
gewidmet ist, wird die praktische Sozialpolitik von dem Institut für Gemeinwohl
gepflegt, das mit seinen zahlreichen Tochtergründungeu und Rechtsauskunststellen,
der Zentrale für private Fürsorge, dem Sozialen Museum, der Gesellschaft für
wirtschaftliche Ausbildung weit über die Grenzen Frankfurts hinaus bekannt
geworden ist.
Damit ist die Reihe der wissenschaftlichen Anstalten Frankfurts, die ebenfalls
der Ausbildung der zukünftigen Studierenden nutzbar gemacht werden können,
noch lange nicht erschöpft. Da ist zunächst das Ehrlichsche Institut für
experimentelle Therapie, das doch sicherlich den Studenten nicht verschlossen
bleiben darf, ein privater Initiative seine Entstehung verdankendes biologisches
Institut, das Institut für Gewerbehygiene, eine Anzahl neuerbauter Kranken¬
häuser. Dazu kommen zahlreiche Museen und Sammlungen: das Städelsche
Museum zur Ausbildung in den Kunstwissenschaften, das Völkermuseum zum
Studium der Anthropologie und Ethnologie, das städtische historische Museum
und das historische Archiv, das freie deutsche Hochstift mit dem Goethemuseum.
Sehen wir jedoch von diesen zunächst ab und bleiben wir bei der Grundlage, wie
sie von Adickes in seiner Denkschrift für die Hochschule entwickelt wurde, so ergibt
sich, daß zurzeit bereits vorhanden sind an Stellen für hauptamtlich besoldete
Dozenten: vier juristische, zehn philosophisch-historische, neun mathematisch-natur¬
wissenschaftliche, fünfzehn Direktorenstellen an klinischen und medizinischenJnstituten.
Der Aufwand für diese Institute und klinischen Anstalten beläuft sich an Gehältern und
Verwaltungskosten schon jetzt auf mehr als 12/4 Millionen Mark jährlich, übersteigt
demnach den Etat der meisten preußischen Universitäten. Der neue Bedarf
bezieht sich in der juristischen Fakultät nur auf zwei Ordinariate und drei
Extraordinariate, in der philosophischen Fakultät auf neun Ordinariate und
vier Extraordinariate. In der medizinischen Fakultät sind im wesentlichen nur
Lehrstühle für Anatomie, Physiologie, Pharmakologie und gerichtliche Medizin
neu zu errichten, daneben naturgemäß Seminare, und es ist die Anstellung von
Assistenten erforderlich, soweit sie nicht bereits vorhanden sind.
Dazu sind als notwendige Neubauten vorgesehen: ein Kollegienhaus,
ein chemisches Institut, eine normale Anatomie, daneben Umbauten und Er¬
weiterungen der bestehenden Bauten zur Aufnahme der Poliklinik, des physio¬
logischen und pharmakologischen Instituts. Der Gesamtbedarf umfaßt nach der
Angabe der Denkschrift an einmaligen Ausgaben 1578000 Mark, während die
dauernden jährlichen Mehrausgaben sich auf 406000 Mark belaufen, was im
ganzen einem Kapital von über 11 ^MillionenMark entspricht, so daß die dauernden
Mehrausgaben für eine Frankfurter Universität sich neben den jetzigen Kosten
von 1^ Millionen Mark auf 2100000 M. belaufen werden.
Von den einmal zu deckenden Ausgaben fehlten bei Abfassung der
Denkschrift nur noch 500000 M. für ein chemisches Institut. Von der zur
Deckung der laufenden notwendigen Summe fehlen noch 130000 Mark jähr¬
liche Einnahmen, eine Summe, die sich seitdem durch weitere Stiftungen
noch mehr verringert hat.
Soweit Deckung der notwendigen Ausgaben bereits vorhanden ist, erfolgt
dieselbe durch die Stadt, die Stiftungen und durch eigene Einnahmen der Uni¬
versität (Kollegiengelder usw.); die Stadt ist allerdings bis jetzt nur in ganz
mäßigen: Umfange an den Ausgaben beteiligt, sie hat nur den Bauplatz für
die Anatomie und das Kollegienhaus herzugeben sowie eine Poliklinik in einem
schon vorhandenen Krankenhausgebäude einzurichten. Im übrigen sind sogar
gewisse Ersparnisse am Krankenhausbetrieb vorgesehen.
Man hätte nun glauben sollen, daß ein derartiges Universitätsprojekt
einmütige Zustimmung, helle Begeisterung und Jubel in der Bevölkerung aus¬
gelöst hätte, zumal die Hochschule die guten Frankfurter ja nichts kosten, sie
dieselbe vielmehr geradezu als Geschenk erhalten sollten. Gewiß, gegen die
Begründung, warum eine Universität gerade für Frankfurt eine Notwendigkeit
sei, und gegen die Vorteile, die sie der Stadt bringt, ließ sich nichts einwenden.
Herr Adickes will die Universität natürlich nicht nur aus Sympathie für die
Wissenschaft und weil ihn aus ästhetischen oder architektonischen Gründen die
mangelnde Abrundung unserer Institute zu einer Volluniversität schmerzt, er
hat mit der Propagierung seiner Lieblingsidee vielmehr als guter Stadtvater
auch recht praktische Zwecke im Auge. Die Denkschrift weist darauf hin, daß
die äußerlich glänzende Entwicklung Frankfurts seit 1871 nicht darüber hinweg¬
täuschen dürfe, daß der Hauptlebensquell der Stadt, das Börsen- und Bank¬
geschäft, unter dem immer stärker einsetzenden zentralisierenden Einfluß der Reichs¬
hauptstadt bedenklich zurückgegangen sei. Es werde daher immer allgemeiner
gefühlt, daß die vielfach erschwerte Entwicklung auf wirtschaftlichem Gebiet durch
umfassende Förderung geistiger Interessen ergänzt werden müsse. Dazu ist
Frankfurt infolge der geschichtlichen Entwicklung den konkurrierenden Städten
der Umgebung gegenüber in bezug auf staatliche Unterstützungen sehr ungünstig
gestellt, es ist ganz auf sich angewiesen. Dazu kommt, daß die Frankfurter
Akademiker auf die Dauer von ihrer Stellung nicht befriedigt sind, da sie
infolge der mangelnden Berechtigungen unter ihren Zuhörern nicht die Elemente
finden, welche hier längere Zeit bleiben, an ihren Arbeiten teilnehmen und
im eigentlichen Sinne ihre Schüler werden. Wolle man daher hervorragende
Gelehrte an Frankfurt fesseln, so müsse schon aus diesem Grunde eine Uni¬
versität begründet werden, deren Besuch die vollen Berechtigungen wie die
anderen Schwesteranstalten gewährt. Es erübrigt sich hervorzuheben, daß
auch der Hinweis, die Universität werde gewissen Erwerbskreisen in besonderem
Maße zum Vorteil gereichen, besonders unterstrichen wurde.
Alle diese Erwägungen waren jedoch nicht im Stande, eine scharfe Opposition,
die namentlich von sozialdemokratischer aber auch vou bürgerlicher Seite gegen
das Hochschulprojekt eingesetzt hat, zum Schweigen zu bringen. Es waren
namentlich drei Argumente, die hier ins Feld geführt wurden. Das erste
betraf die Organisation der Universität und ihre staatsrechtliche Gestaltung,
das zweite die finanzielle Sicherstellung, endlich wurden erhebliche Zweifel
darüber laut, ob die Frankfurter Institute nach Begründung der Universität
in derselben Weise der Fortbildung der Bevölkerung dienen könnten, wie
bisher.
Am heißesten ist der Streit hinsichtlich der Organisationsfrage entbrannt.
Die Sozialdemokraten bekämpften das Projekt, weil sie in ihm die Aus¬
lieferung der Frankfurter wissenschaftlichen Institute und Krankenhäuser an den
preußischen Staat und die preußische Universitätsreaktion sehen. Die Anstalten
würden ihre Selbständigkeit verlieren, die Stadt die Kosten zu tragen haben,
im übrigen aber in die Verwaltung der Universität nichts hineinzureden haben.
Unter Verwerfung einer Berechtigungsuuiversitüt wollen sie nur deu weiteren
Ausbau der Institute zu einer Forschungs- und Fortbildungsuniversität, die deu
Namen „Goethestiftung" tragen soll, konzedieren. Demgegenüber wird mit
Recht eingewendet, daß wir eine Forschungs- und Fortbildungsuniversität bereits
besitzen und daß ein wesentlicher Teil der neuen Stiftungen ausschließlich für
Universitätszwecke zur Verfügung gestellt werde.
Im übrigen sind die nach dieser Richtung geäußerten Bedenken gewiß nicht
leicht zu nehmen. Wenn der freie Bürgersinn einer Stadt dem Staate eine
Hochschule gleichsam zum Geschenk macht, ihm eine Aufgabe abnimmt, die bisher
unbestritten zu den ausschließlichen staatlichen Aufgaben gehörte, wenn eine Stadt
von sich aus ein derartiges monumentales Kulturwerk schafft, dann sollten aller¬
dings auch Garantien gegeben sein, daß ihm die Selbstverwaltung im weitesten
Maße gewährt werde, daß sich die staatlichen Aufsichtsrechte auf ein Minimum
beschränken, daß vor allem die Freiheit der Forschung und des Unterrichts
unangetastet bleibe, daß die häßlichen Begleiterscheinungen des preußischen
Universitätssystems, wie sie durch die lex Arons, die Strafprofessuren, die Zurück-
Setzung der Professoren wegen ihres religiösen Bekenntnisses charakterisiert sind,
von der Frankfurter Universität fern gehalten werden.
Man muß nun zugeben, daß der Frankfurter Magistrat und die Stadt¬
verordnetenversammlung bemüht sind, hier das Möglichste zu erreichen. Ob dies
genügt, und ob es gelingt, die Forderungen an den preußischen Staat auch
durchzusetzen, ist eine andere Frage. Die Denkschrift hebt zunächst hervor, daß
die durch Artikel 20 der Preußischen Verfassung gewährleistete Grundlage vor¬
aussetzungsloser freier Forschung und Lehre, unabhängig von konfessionellen
und politischen Richtungen vor allem festzulegen sei. Die Berufung der Pro¬
fessoren sollte wie bei den anderen preußischen Universitäten erfolgen. Hier ist
jedoch die Stadtverordnetenversammlung einen erheblichen Schritt weiter gegangen.
Sie verlangt, daß im Vertrage wie bei den Verhandlungen mit dem Staate
gefordert wird, daß das Vorschlagsrecht bei Ernennung ordentlicher und außer¬
ordentlicher Professoren in der Form, wie es bei der Akademie für Sozial- und
Handelswissenschaftcn gegeben ist, beibehalten werde, und daß die Ausübung
des Vorschlagsrechtes lediglich nach wissenschaftlichen Grundsätzen erfolge. Hier
wird nämlich nur ein einzelner Name für die zu besetzende Stelle präsentiert, und
die Ernennung erfolgt durch den Münster. Soll der zu Berufende zugleich Direktor
oder Dozent eines von den Stiftern für Universitätszwecke zur Verfügung
gestellten Instituts oder Krankenhauses werden, so erfolgt die Präsentation ^auf
Grund vorherige» Einverständnisses zwischen der Fakultät und der Verwaltung
des Instituts oder Krankenhauses. Unbeschadet der Selbstverwaltung der
Universität durch Senat, Rektor, Fakultäten und Dekane soll die Verwaltung
der Universität dnrch einen großen Rat und einen Verwaltungsausschuß wie
bei der Akademie erfolgen. In diesem Ausschusse sollen die Stifter, in erster
Linie natürlich der Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung, angemessen
vertreten sein.
Da das Bernfungsverfahren bei der Akademie bisher durchaus zur Zu¬
friedenheit fungiert hat, so dürften in der Tat, wenn es auch für die Universität
gewährt wird, die wichtigsten organisatorischen Schwierigkeiten behoben sein.
Ob allerdings der preußische Staat, was er einer Akademie ohne Berechtigungen
gewährt, einer Volluniversität zuzugestehen geneigt sein wird, das läßt sich
mit einiger Sicherheit nicht voraussagen.
Die härteste Nuß bei dem ganzen Hochschulprojekt ist aber die Finanz¬
frage. In weiten Kreisen der Bürgerschaft traut man den Versprechungen nicht,
daß esbeider geringen vorgesehenenBclastung für die Stadt bleiben wird, und glaubt,
daß vielmehr das Lieblingskind des Herrn Adickes die Stadt noch schwere Opfer
kosten wird. Man fürchtet, daß trotz aller feierlichen Beschlüsse der Stadt¬
verordnetenversammlung, daß für Universitätszwecke auch in der Zukunft keine
weiteren städtischen Mittel in Anspruch genommen werden dürfen als die bereits
in Aussicht genommenen, diese formelle Festlegung gegenüber dem Zwange der Ent¬
wicklung nicht verfangen würde, wenn erst einmal die Universität wachse und weitere
Mittel verlange. Man sagt sich, daß der Beschluß der städtischen Behörden nur
so lange gilt, als er nicht durch „neue Beschlüsse" aufgehoben wird, man
fürchtet außerdem, daß durch spätere Ausgaben für die Universität einmal
andere notwendige städtische Aufgaben leiden werden. Die Finanzfrage ist in
der Tat der wundeste Punkt des ganzen Projektes, da es sich hier völlig um
einen Sprung ins Dunkle handelt und man nicht mit Sicherheit sagen kann,
welche Ausdehnung die neue Universität annehmen wird. Für eine kleine Uni¬
versität reichen die Mittel aus und werden die Kosten wohl auch stets aufzu¬
bringen sein. Wie aber, wenn die Hochschule eine Großuniversität werden wird,
wie Berlin, München und Leipzig? Adickes legte seinen Berechnungen eine
Studentenzahl von fünfzehnhundert zugrunde. Die Stadtverordnetenversammlung
stellte sich mit gutem Grunde auf den Standpunkt, daß sie erst dann endgültig
ihre Zustimmung zu dem Universitätsprojekt geben könne, wenn die Deckung der
Kosten für eine Universität von achtzehnhundert Studenten nachgewiesen würde.
Wir glauben, daß auch diese Ziffer bald überschritten sein wird. Denn unbestritten
wird Frankfurt eine beispiellose Anziehungskraft auf die Studenten ausüben.
Denn es fehlt hier auch gar nichts, was die Studierenden anlocken kann,
denn Frankfurt wird eine Winter- und Sommeruniversität zugleich sein, die
reiche, elegante, schöne und gesunde Stadt wird Inländer und Ausländer in
gleicher Weise anziehen, im Winter wird das reiche wissenschaftliche, künstlerische
und gesellschaftliche Leben für viele ein unwiderstehliches Lockmittel sein, im
Sommer wird die herrliche Umgebung, die Gelegenheit zu Ausflügen, zu reicher
sportlicher Betätigung viele in ihren Bann locken. Dem Historiker werden die
Denkmäler einer reichen geschichtlichen Vergangenheit ebensoviel Anregung zum
Studium gewähren, wie dem Sozialpolitiker die musterhaften Einrichtungen einer
modernen Volksfürsorge. Dazu kommt die günstige Lage der Stadt im Mittel¬
punkt des Weltverkehrs und die sie kennzeichnende Verbindung süddeutschen und
norddeutschen Wesens. Der reiche Student kann sich für sein Geld hier viele
Genüsse verschaffen, aber auch der weniger Bemittelte kann sein Auskommen
finden, dafür sorgen schon die zahlreich vorhandenen Stipendien und Stiftungen,
denen sich gewiß noch neue anschließen werden. Wie für die Studenten wird
Frankfurt aber auch einen großen Anziehungspunkt für die Professoren bieten,
Frankfurt wird die besten Lehrer haben, was natürlich auch wieder für die
Frequenz von der größten Bedeutung ist.
So wird man mit einiger Sicherheit darauf rechnen können, daß Frankfurt
sehr bald über den Rahmen einer bescheidenen Provinzuniversität hinausgewachsen
sein und München und Leipzig ebenbürtig an die Seite treten wird, zumal
wir uns in der Periode eines ungeheuren Andranges zum Hochschulstudium
befinden. Die gute Stadt Frankfurt aber wird diese Entwicklung mit einem
heiteren und einem nassen Auge verfolgen. Denn mit zunehmender Studenten¬
zahl werden die Kosten des Betriebs immer teurer, woher aber die Mittel nehmen,
wenn dieselben nicht vorher durch reiche Stiftungen sichergestellt sind?
Die Denkschrift weist mit Recht darauf hin, daß ja, da alle Institute
neu errichtet sind, nicht sobald Neubauten und Reparaturen notwendig sein
würden, ferner, daß der bewährte Opfermut der Bürger, der sich schon seit
Jahrhunderten betätigt und namentlich in den letzten zehn Jahren so Hervor¬
ragendes geleistet hat, nun erst recht nicht erlahmen werde, wenn es sich um
die Erhaltung der Krone des Gebäudes, der Universität, handle. Dieser Wechsel
auf die Zukunft entbehrt allerdings der sicheren finanziellen Grundlage. Denn,
was die Zukunft bringt, weiß man nicht; es können schwere materielle Krisen eintreten
und es kann dadurch die Opferwilligkeit der Spender beeinträchtigt werden. Nun
aber machen nicht alle reichen Leute große Stiftungen; ein großer Teil der
in Betracht kommenden Personen ist auch bei den Stiftungen bereits beteiligt;
es wird auch nicht immer ein Adickes da sein, der es mit suggestiver Macht
versteht, Millionen flüssig zu machen. Aber abgesehen von all diesen Bedenken
muß mau doch die veränderten Verhältnisse berücksichtigen, unter welchen später
die Gelder verlangt werden gegenüber jetzt und früher. Die bisherigen
Stiftungen sind von Bürgern für Bürger gemacht, diesen in erster Linie zugute
gekommen, die Selbstverwaltung war in weitesten Umfange garantiert. Wenn
aber später wahrgenommen wird, daß diese Millionen doch in erster Linie staat¬
lichen Zwecken zugute kommen sollen, daß der Bürger nichts oder nur sehr
wenig in der Verwaltung mitzureden hat, dann wird vielleicht mancher die
Taschen zuhalten, der sie bisher weitgeöffnet hat; er wird sagen, es ist Sache
des Staates, die Universität zu erhalten, oder der Stadt Frankfurt, die sie aus
der Taufe gehoben hat, zumal der preußische Staat vielleicht doch einmal ver¬
suchen wird, trotz aller Festlegungen seine „bewährten" Universitätsgrundsätze auch
bei der Verwaltung der neuen Universität einzubürgern. Man sollte also unserer
Meinung nach entweder mit der Errichtung der Universität warten, bis ein
Reservefonds von etwa 1000000 Mark zur Verfügung steht, oder je nach Ma߬
gabe der vorhandenen und auch für die Zukunft gesicherten Mittel mit der
Errichtung der Hochschule nach dem Muster Münsters fakultätenweise vorgehen.
Noch ein drittes Bedenken hört man äußern, ob nämlich die bisherigen
Fortbildungsbestrebungen, wie sie von den Instituten seither gepflegt wurden
und weiten Kreisen der Bürgerschaft zugute gekommen sind, auch nach
Errichtung der Universität aufrecht erhalten werden können. Es wird dies
in Aussicht gestellt, aber ob die Professoren, nachdem sie tagsüber Vorlesungen,
Übungen und Prüfungen für die Studierenden abgehalten und Verwaltungs¬
geschäfte erledigt haben, noch Zeit und Kraft haben werden, allabendlich
populärwissenschaftliche Vorlesungen für die Frankfurter Bürger zu halten?
Wenn hier nicht die Publika einen Ersatz bieten sollen, dann werden für die
Fortbildungsvorträge doch wohl besondere Kräfte angestellt werden müssen.
Die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung hat sich aber in ihrer Majorität
von derartigen ängstlichen Vorstellungen nicht beherrschen lassen. Die gesamten
nichtsozialdemokratischen Parteien stimmten am 28. Juni 1911 — dieser Tag
wird in die Geschichte Frankfurts einzuschreiben sein — der Unioersitätsvorlage
unter den schon genannten Voraussetzungen im Prinzip zu. Ohne Hoffnungs¬
freudigkeit und Optimismus läßt sich allerdings eine derartige große Sache nicht ins
Werk setzen, und es ist erfreulich, daß die Frankfurter Stadtverordneten von einen:
solchen Optimismus beseelt sind, wozu die faszinierende Rede des Oberbürger¬
meisters zweifellos nicht wenig beigetragen hat, da sie geeignet war, die letzten noch
Wartenden umzustimmen. Allerdings soll man sich nicht verhehlen, daß eine
Universität einer Stadt nicht über Nacht in den Schoß sällt, sondern mit schweren
finanziellen, allenfalls auch politischen Opfern erkauft werden muß. Will man
also die Universität, so muß man sich auch diese Opfer gefallen lassen.
Das Wort hat nun der preußische Staat, und zwar kommt es zunächst
darauf an, ob die Universität durch eine königliche Kabinettsorder ins Leben
gerufen werden kann oder ob die Zustimmung des Landtags notwendig ist.
In letzterem Fall stehen die Chancen schlecht, da die augenblickliche Mehrheit des
Landtags einer kommunalen Universitätsgründuug zumal in Frankfurt nichts
weniger wie geneigt ist. Anderseits glaubt man, daß Herr Adickes sich nicht so
weit engagiert hätte, wenn er nicht für sein von langer Hand vorbereitetes
Projekt die Zustimmung des preußischen Kultusministers in der Tasche hätte.
Zur Zeit sind die Verhandlungen mit dem Minister bereits eingeleitet. Man
wird nunmehr sehen, was er für Bedingungen stellen, was er für finanzielle
Garantien fordern und wie weit er geneigt sein wird, der Universität eine den
besonderen Verhältnissen entsprechende Selbstverwaltung zu gewähren.
Franz Adickes Name aber wird, wenn es gelingt, seine Universität in den
sicheren Hafen zu bringen, der Geschichte angehören, wie der des Julius Echter
von Mespelbronn und des Gerlach von Münchhausen; und von Frankfurt wird
sich wieder einmal das Goethewort bewahrheiten: „Es geziemt Frankfurt nach
allen Seiten zu glänzen und nach allen Seiten hin tätig zu sein".
O Weimar! Dir fiel ein desund'res Los
Wie Bethlehem in Juda, klein und aroßl
Im 26. November 1842 hatte Liszt zum erstenmal in Weimar
gespielt. Der seit vielen Jahren in ganz Europa bejubelte Klavier¬
meister war erst mit einunddreißig Jahren nach der thüringischen
Residenz gekommen, die bald für sein Leben entscheidende Bedeutung
! gewinnen sollte. Bereits in: folgenden Jahre 1843 wurde er als
Hofkapellmeister zunächst „in außerordentlichen Diensten" an den Ort gefesselt,
der durch die Erinnerungen der größten Genies geweiht war. Liszt, der Klavier-
dichter, der vollendete Weltmann, der neben der umfassenden Beherrschung des
Gebietes seiner Kunst allen großen Ideen der Kultur und der Menschheit das
reichste Verständnis entgegenbrachte, mochte sich in seiner impulsiver Empfäng¬
lichkeit schon beim ersten Betreten des geweihten Bodens von dem Hauche der
Unsterblichkeit ergriffen fühlen, der um Weimars Mauern weht. Mit stolzer
Freude nahm er daher den an ihn ergangenen ehrenvollen Ruf an. Am
7. Januar 1844 leitete er die erste Musikaufführung. Bis 1859 führte er die
Oberleitung über die Oper, das Hoforchester und die damit verknüpften Ver¬
anstaltungen. Mit feinem Takt hatte Liszt gleich bei seinem Eintritt in die
Weimarer Stellung an die stolzen Erinnerungen angeknüpft. Die Gedenktage
der Großen Weimars wurden von ihm zu künstlerischen Festtagen gestempelt.
Die hehre Stimmung dieses Gedenkens aber wurde in tapferer Auffassung der
Aufgabe der Gewinnung neuen Kunstlandes dienstbar gemacht. Die Mitstreiter
Raff, Berlioz, Cornelius fanden bei Liszt reiche Förderung. Richard Wagner,
dessen „Rheingold" auch für Weimar geplant war, gewann in ihm den auf¬
opferndsten Bannerträger. Der Goethetag 1850 wurde durch eine entscheidende
Tat, die Erstaufführung von Wagners „Lohengrin" gefeiert und damit das
bisher nur in: stillen vorbereitete Bekenntnis zu der neudeutschen Kunst vor aller
Welt abgelegt.
Als Liszt, um eine geordnete Dirigententätigkeit in Weimar durchzuführen,
dort 1848 seinen ständigen Wohnsitz genommen hatte, wurde sein Wirken vor
die Aufgabe gestellt, den hundertsten Geburtstag Goethes durch seine Kunst
feiern zu helfen. Daß die Würde dieses Amtes den Meister dazu trieb, sein
Höchstes und Bestes in der Veranstaltung zu geben, ist natürlich. An:
28. August 1849 wurde das Goethesche begangen. Im Anschluß daran gab
Liszt ein „Festalbum" heraus, das einen „Festmarsch" für Orchester und die
Gesänge „Licht mehr Licht!", „Weimars Toten", „Über allen Gipfeln ist Ruh"
und den „Chor der Engel" aus dem zweiten Teil des „Faust" enthielt. Hatte
die Kunstverherrlichung Liszt schon längst zu den Werken Goethes, zu dem Ziele
ihrer Gewinnung für die Musik getrieben, so war hier doch der äußere Anlaß
zu ganz außerordentlicher Hingabe geboten. Und von diesem Zeitpunkt der
Jahrhundertfeier an gab der Gedanke, Goethe zu dienen, unsern Meister nicht
mehr frei. Unterstützt wurde er in seinen Bestrebungen von der aufopfernden
Hingabe der Fürstin Karoline von Sayn-Wittgenstein, die, eine zweite
Frau von Stein, seine Gedanken befeuerte und beschwingte. Sie war ihm, nach
seiner Weimarer Berufung, in die großherzogliche Residenz gefolgt und hatte
die auf waldiger Höhe gelegene „Altenburg" gemietet, deren einen Seitenflügel —
in der Richtung gegen Goethes Gartenhaus — Liszt als Gast der Fürstin bezog.
Sie begleitete ihn später auch auf seiner Reise nach Rom und bewahrte ihm in
Treue ihre Bewunderung und ihre Förderung.
Die Anregung, die von einer Berliner Gemeinschaft ausging, den nationalen
Gedenktag der Goethefeier zum Anlaß für eine in Goethes Geiste zu schaffende
nationale Kunstfache zu wählen, wurde von Liszt mit außerordentlichem Eifer
aufgegriffen. Am 5. Juli 1849 war der Aufruf in die Lande gegangen, das
Vermächtnis Goethes durch Gründung eines Institutes zu weihen, das bestimmt
sei, „die künstlerischen Produktionen in Deutschland zu fördern und zu beleben,
um ihren bildenden Einfluß auf deu moralischen Fortschritt der Nation zu ver¬
mehren." Unterzeichnet war der Aufruf von Männern wie Humboldt, Cornelius,
Maßmann, Rauch, Rungenhagen, Schelling, Teichmann, Varnhagen von Ense u. a.
Freilich war der Kreis der Goethe-Verehrer über die Art der zu gründenden
Stiftung noch nicht im klaren; nur darüber war man einig, daß Weimar der
Sitz dieses Instituts werden müsse. Ein von den Beteiligten zu erwählendes
Konntee sollte dann Entschließung fassen, „ob eine Schule für schöne Künste oder
ein Museum, eine Akademie oder ein anderes derartiges Institut zu gründen
sei". Man forderte „alle Gebildeten Deutschlands" aus, Vorschläge auszuarbeiten
und einzureichen. Man dachte nur an eine Kunststiftung aus literarischem,
musikalischen oder bildnerischem Gebiete. Der Musik brachte man ganz besonderes
Wohlwollen entgegen: Die Thüringer Lande, wo einst die Minnesänger gestritten,
schienen darauf hinzudrängen.
Unter den eingelaufenen Vorschlägen fand besonders der von K. Koch ein¬
gebrachte Plan, „daß am 28. August jeden Jahres zu Weimar ein Preis erteilt
werden solle, der abwechselnd für Poesie, Malerei, Skulptur und Musik zu
bestimmen sei", den Beifall des Ausschusses. Doch sollte diese Idee nur in
Verbindung mit dem weiteren Gedanken einer alljährlichen Musikfeier unterstützt
werden. „Die Kommisston ist der Ansicht, daß man allen Bedingungen einer
verständigen Gedenknisfeier des 28. August genügt haben würde, wenn man die
Musikfeste Thüringens wieder in das Leben riefe, begleitet von der Zuteilung
eines Preises für ein vorzügliches Kunstwerk." Man erinnere sich, in welcher
sturmbewegten Zeit die Vorarbeiten und Erwägungen zu Goethes hundertsten
Geburtstage geführt wurden, und man wird begreifen, warum die Kommisston
in dieser verhältnismäßig bescheidenen und harmlosen Form den berechtigten
Forderungen der Gebildeten zu genügen glaubte!
Mochten die Herren sich auch die Sache verhältnismäßig leicht machen, der
Führer Weimars, Liszt, griff den Gedanken mit Lebhaftigkeit auf und suchte
ihm in seiner durchdringenden, tiefgreifend begeisterten Art bis in die kleinsten
Einzelheiten Gestalt zu geben. Er arbeitete eine Denkschrift „Zur Goethestiftung"
aus, die er 18S0 der Öffentlichkeit übergab. Aus den über hundert große
Druckseiten umspannenden Ausführungen leuchtet das innige Streben hervor,
Goethe an dem geweihten Ort seiner Wahl ein lebendig fortwirkendes Denkmal
künstlerischen Nachschaffens zu setzen. In der Art, wie die Denkschrift voller
Großzügigkeit abgefaßt war, zeigte es sich, daß hier ein Musiker sprach, dem
nichts Menschliches fremd war, dessen geistige Regsamkeit das Wort eines Hegel
widerlegte, „keinen Musikern begegnet zu sein, die nicht sehr arm an Ideen
gewesen wären". In sachkundiger Gründlichkeit holte Liszt ziemlich weit aus,
gab zunächst einen kurzen Abriß von der Geschichte des Weimarer Fürstenhauses
und seiner Verdienste um Kunst und Wissenschaft, um die Goethezeit mit ihrem
gewaltigen Kreise eigengearteter Persönlichkeiten in besonderer Verklärung zu
malen und von dort aus eine Parallele zu dem damaligen Weimar (1849)
zu ziehen. Im zweiten Abschnitt wird dann die Jahrhundertfeier des Goethe¬
tages behandelt, der Aufruf an die Deutschen und die Vorschläge zur Ver¬
wirklichung einer Goethestiftung sowie deren Prüfung durch die Kommission
klargelegt. Der dritte Teil endlich bringt Liszts eigenen Vorschlag, der an das
von der Kommission befürwortete Kochsche Projekt anknüpft und eine bis in die
Einzelheiten durchgeführte Behandlung der zu gründenden Goethestiftung klar¬
stellt. Die Begeisterung reißt Liszt fort, die Musik für Goethes Gedächtnis
ganz besonders in Anspruch zu nehmen. Bedürfe es doch kaum noch des
Beweises, „daß keine Kunst mehr als die Tonkunst zu dem bildenden Einfluß
beiträgt, den die Künste sämtlich in so großem Maße verbreiten". Und so
freut er sich denn, an die Vorschläge der Kommission inbetreff der Musikfeste
anknüpfen zu können. Doch ändert er diese Pläne insofern, als er für ein
Wechseln des Orts der Veranstaltung und für ein Wiederholen der Musikfeste
uur in Zwischenräumen von vier Jahren eintritt. Er fürchtet, daß die Be¬
schränkung auf Musikfeste bei Verwirklichung der geplanten alldeutschen Goethe¬
stiftung die Gefahr bringe, mehr zur allgemeinen Verbreitung der Kunst bei¬
zutragen — was bei den germanischen Völkerschaften, bei denen Geschmack und
Liebe für Musik mehr als irgendwo verbreitet ist, überflüssig wäre — als ihr
stufenweise zur Erreichung eines höheren Standpunktes zu helfen. Und fo sucht
er eine geistige Anknüpfung an die historisch verklärten griechischen Olnmpien
sowie an das weit näher liegende Gedächtnis einer „Akademie zur Palme",
die in Weimar im Anschluß an eine Zusammenkunft von Fürsten und Edlen
am 24. August 1617 gegründet, aber freilich ohne stärkere Lebensäußerung
geblieben war. Sein Streben war, die hier gemachten Fehler zu vermeiden.
Und so kommt Liszt nach strenger Abwägung der einzubeziehenden Möglichkeiten
zu dem praktischen Vorschlag, im wechselnden Turnus der Literatur, der Malerei,
der Skulptur und der Musik alljährlich in Weimar die Preiskrönung einer ein¬
schlägigen Leistung zu bieten. Ein Direktorium von fünfundzwanzig Mitgliedern,
mit einem Weimarer Fürsten an der Spitze, solle die Ausschreiben überwachen
und unter den eingegangenen Arbeiten mit einem zu wählenden Künstler- und
Fachausschuß die jeweilige Entscheidung treffen. Am 15. August jeden Jahres
habe in Weimar die auszuwählende gemischte Kommission zusammenzutreten,
die über die Gestaltung der Krönungssitzung, über Verteilung der Preise, je
nach der Entscheidung im Betrage von 500, 1000, 2000 oder 3000 Talern,
ihre Verfügungen treffe. Und zwar solle die Krönung eines Preisträgers immer
an dem Goethetage des folgenden Jahres erfolgen, da die Wiedergabe eines
dramatischen Werkes, die Ausführung eines Bildwerkes nach Modell oder die
Vorführung eines Tonwerth in vollendeter Darstellung eine längere Vorbereitung
erfordere. Alle Einzelheiten über die Rechte der Goethestiftung und der Künstler
an den preisgekrönten Werken sind genau ausgeführt. Auch Diplome und
Medaillen sind vorgesehen.
Mit reicher Sach- und Fachkenntnis wird hier der ganze Plan einer
Preisverteilung für die vier Kunstreiche auf das genaueste, auch in den finanziellen
Einzelheiten, ausgearbeitet und mit Zuversicht nun das Projekt der Öffentlichkeit
unterbreitet. Aber das Publikum verhielt sich äußerst zurückhaltend. Selbst
Wagner äußerte sich sehr zweifelnd zu dem Lisztschen Vorhaben. In einem
warmblütig gehaltenen Schreiben sagt er seinem Freunde, daß er an die Ver¬
wirklichung der Idee in ihrer reinen Form nicht recht glauben könne. Schon
vorher hatte ein Aufsatz im „Deutschen Museum" den Fonds zur ausschlie߬
lichen Unterstützung für die bildenden Künste gefordert. Wagner meint aber,
da man vor allen: solche Werke fördern wolle, die ihrem Charakter nach nicht
auf den herrschenden Geschmack des Publikums als Lohngeber angewiesen sein
dürfen und daher besondere Anstrengungen von seiten der höheren Kunstintelligenz
zu ihrer Förderung nötig haben, so neige die Wahl entschieden mehr zu Dicht¬
kunst und Musik, „insofern als diese aus der Literatur heraus zum sinnlich
darzustellenden Kunstwerke sich anlassen". — „Dem Bildhauer, dem Maler und
dem Musiker (so lange dieser dem Theater fremd bleibt), stehen durch die
Mechanik oder durch die künstlerische Gesellschaft vollkommen die Mittel zu
Gebote, die ihm zur Verwirklichung seiner künstlerischen Absicht nötig sind."
Wagner stellt sich in diesem Falle als Realist dein Idealisten gegenüber und
beweist ihm, unter Beschwörung der Manen Goethes, daß die Zeit für Aus¬
führung dieses idealen Planes nicht reif sei. Er rät Liszt, die Goethestifter fahren
zu lassen, um desto sicherer und unbeirrter seine tonkünstlerischen Ziele zu erreichen.
Es hätte dieser Auseinandersetzungen gar nicht bedurft. Die Verwirklichung
blieb ohnedies ein frommer Wunsch. Liszt feierte den Geburtstag Goethes fortan auf
seine Weise. Die vertiefte Beschäftigung mit Goethes Geist und Vorbild hatte Liszt
nun auch außerhalb dieser besonderen Absicht wertvolle Bereicherung gebracht. Er
fühlte sich durch äußere und innere Vergleichsbeziehuugen berufen, Goethes Kunst¬
gottesdienst in Weimar zu überwachen, die hehre Kunstflamme in seinem Geiste zu
schüren und zu nähren und so gleichsam als Statthalter des Goetheweltgedankens zu
walten. Wir sehen Liszt auf den Pfaden des Goethescher Lebens wandeln. Seine
Worte geben ihmRichtung, seineWerke geben ihmJnhalt für sein Kunstwirken. Unter
den Dichtern, die seine Tonwerke befruchten, ist Goethe mit siebzehn Schöpfungen
vertreten. Es seien neben den Stücken für vierstimmigen Männergesang die Gesänge
mit Klavier „Mignons Lied" (auch in einer Ausgabe mit Orchesterbegleitung), „Es
war ein König in Thule", „Der du von dem Himmel bist", „Freudvoll und
leidvoll", „Wer nie sein Brot mit Tränen aß" (in zwei verschiedenen Fassungen)
und „Über allen Gipfeln ist Ruh'", genannt.
Die Gedenkfeiern Weimars bezeichneten die Richtpunkte auf diesen Wegen.
Und Liszt stand stets auf der Warte, ihnen die musikalische Verherrlichung zu
geben. Zur Enthüllung des Herder-Denkmals in Weimar am 25. August 1350
komponierte er den Festchor, die symphonische Dichtung „Prometheus" und Chöre
zum „Entfesselnden Prometheus"; zur Feier des hundertjährigen Geburtstags
Carl Augusts 1857 schrieb er die Gedenkschrist „Weimars Septemberfest", und
zum Schillerjubiläum 1859 komponierte er den „Künstler-Festzug" für Orchester
und das „Festlied". Das Fest von Carl Augusts hundertsten Geburtstag
wurde in besonders eindringlicher Weise gefeiert und ganz in Liszts Sinne mit
dem Andenken der Geistesheroen Weimars verknüpft. Hatte man doch an die
Grundsteinlegung des Denkmals für Carl August, die auf den 3. September
festgesetzt war, am 4. September die Enthüllung der Wieland-Statue und des
Rietschelschen Goethe - Schillerdenkmals vor dem Hoftheater angefügt. Am
2. September war im Theater Goethes „Iphigenie auf Tauris" gespielt worden.
Dem Gelegenheitsstück des 3. September folgte am 4., dem Dichtertage, eine
Bühncnvorstellung aus sechs den verschiedenen Dramen Schillers und Goethes
entnommenen Akten. Die Seebach, Devrient und Dawison waren unter den
Darstellern, und auch ein Herr Gemahl, der noch von Goethes Zeit her in
Weimar wirkte. Am 5. September kam die Musik zum Worte mit einem Pro¬
gramm, dessen Werke, bis auf zwei Schubertsche, von Liszt geschaffen waren.
Nachdem Liszt die Weimarer Stellung aufgegeben hatte, hielt er sich mit
besonderer Vorliebe in Rom auf. Und auch hier, in der Landschaft Tivolis,
begegnete er Goethes Genius, der sich an dieser Natur bereichert hatte, auch
hier fühlte und träumte er, wie der Weimarer Titane gefühlt und geträumt
hatte. Er setzte die Goethescher Dichtereindrücke in Töne um. Die Werke des
dritten Bandes der ,,/innees alö pölirinaZe", so Lyprö8 as ig, Villa
<l'Lste", „^eux el'eaux Ä la Villa ä'l?8es" bezeugen es.
Hatte Liszt die Gedenktage der Weimarer Unsterblichen durch die Macht
seiner Kunst, durch die Macht seiner Persönlichkeit verherrlichen helfen, so stattete
ihm Weimar seinen Dank in freigebiger Weise ab mit verwandten künstlerischen
Huldigungen. Am 23. Mai 1884, am Vorabend der Tonkünstlerversammlung
des „Allgemeinen Deutschen Musikvereins", der Liszt soviel verdankte, bezeugte
man ihm seine Verehrung in einem von Adolf Stern verfaßten Festspiel, das
die Musen der Dichtkunst und der Musik mit der „Nymphe der Ilm" zusammen¬
führte. Die Dichtkunst empfiehlt der Gunst der Nymphe neben ihren verklärten
Jüngern auch die Kämpfer der Töne. Und die Ilm bekränzt Liszts Büste mit
den Worten:
Es folgte die szenische Aufführung der „Heiligen Elisabeth". Im dritten
Konzert dirigierte Liszt zum letztenmal in Weimar: Hans v. Bülows „symphonisches
Stimmungsbild" Nirwana und sein eigenes eben vollendetes Orchesterstück „Salve
polonia", ein „Jnterludium" des unvollendet gebliebenen Oratoriums Stanislaus.
So klang das Musikfest des Allgemeinen Musikvereius, in dessen Konzerten Liszt
unerschütterlich für alle Vertreter der neudeutschen Kunst, an erster Stelle für
Wagner, gekämpft hatte, in eine Huldigung für ihn aus, wie es begonnen.
1885 und noch in seinem Todesjahr 1886 erschien der ewigjunge Meister
wiederum in Weimar. Und Weimar erhielt die Führung, als in Leipzig zur
Verbreitung seiner Werke der Liszt-Verein gegründet wurde, in dem der Gro߬
herzog Carl Alexander das Protektorat übernahm.
Von der Goethestadt aus- besuchte Liszt die 23. Tonkünstlerversammlung
des Allgemeinen Musikvereins in Sondershausen. Hier waren zwei Konzerte
ausschließlich seinen Kompositionen eingeräumt. Und wie ein Fürst zog er im
bekränzten Salonwagen wieder zu seinem geliebten Weimar zurück.
Zwei Monate später lief die Trauerkunde von Liszts Tode von Bayreuth
aus durch die Lande. Ganz Deutschland nahm daran ergreifenden Anteil. Und
nun trat Weimars Fürst mit warmer Begeisterung vor, um für seinen toten
Freund ein Zeichen der Liebe und Verehrung aufzupflanzen, wie dieser es einst
für den Dichtergenius in der Goethestiftung erträumt hatte. Er schrieb dem
zur Leichenfeier nach Banreuth entsandten Intendanten Baron vonLoen: „Das
traurige Ereignis, das Sie nach Banreuth gerufen, die Allgemeinheit des
Anteils, dessen Ausdruck an mich herantritt, haben in mir die Sorge erstehen
lassen, ob der Augenblick nicht der günstigste wäre, der Erinnerung Liszts ein
Denkmal zu errichten. Nicht ein lebloses aber, sondern ein lebendes. Den
neuen deutschen Musikverein hatte der Meister gegründet, um seiner Kunst neue
Bahnen zu öffnen; mich hatte er zum Protektor gemacht; in des Meisters
Richtung weiter seine Kunst zu fördern, ist also meine Pflicht. Deshalb möchte
ich eine Lisztstiftung zur Förderung der neuen deutschen Musikrichtung gegründet
sehen, durch welche Schüler und Schülerinnen unterstützt würden (durch Prämien,
Stipendien usw.), welche würdig befunden würden, jenem Zwecke zu dienen".
Und was damals für Goethe in der Zeiten Lauf verkümmerte, sollte hier für
seinen Ruhmeskünder erstehen: am 22. Oktober 1887 trat die Lisztstiftung unter
dem Weimarer Großherzog ins Leben.
Gar manches Mal hatte Liszts Sinnen vor dem Goethe-Schiller-Denkmal
in die Vergangenheit zurückgestreift, vor dem Goethe-Schiller-Denkmal, dessen
symbolische Gliederung ihm zu phantasievollen Äußerungen Anlaß gab. Der
Blick konzentrierte sich auf das Bild Goethes. „Seine Hand, deren feste Um¬
risse die Kraft verraten, lehnt sich aus die rechte Schulter Schillers — fast
unbewußt, möchten wir sagen —>, als triebe ein innerer Zug geheimer Ver¬
brüderung ihn an, sich mit demjenigen zu verbinden, der, leidenschaftlicher,
glühender im Drange der Jugend, schmerzlicher von den Enttäuschungen der
Wirklichkeit versehrt, zum Teil auch herber verkannt, dessen ungeachtet nur
Schmerzen litt, die auch ihm vertraut waren, nur Ideale träumte, die auch sein
Blick erschaut hatte, nur an Wunden krankte, an denen auch er geblutet, wenn¬
gleich er sie zu heilen verstand, nur Tränen weinte, deren Quelle auch ihm
geflossen, nur daß er sie zu stillen vermocht."
Mochte der sinnende Betrachter vor dem Denkmal in der Ferne ein lockendes
Traumbild aufsteigen sehen? — Ein Nachtrag zu seinem Testament enthält den
deutungsvollen Abschnitt: „Es gibt in unserer zeitgenössischen Kunst einen Namen,
der jetzt schon ruhmreich ist und der es immer mehr und mehr werden wird —
Rich. Wagner. Sein Genius ist mir eine Leuchte gewesen; ich bin ihr gefolgt —
und meine Freundschaft für Wagner hat immer den Charakter einer edlen
Leidenschaft beibehalten. Zu einem gewissen Zeitpunkt hatte ich für Weimar
eine neue Kunstperiode geträumt, ähnlich wie die von Carl August — wo Wagner
und ich die Koryphäen gewesen wären, wie früher Goethe und Schiller —,
aber ungünstige Verhältnisse haben diesen Traum zunichte gemacht."
Mn der Landwirtschaftlichen Wochenschrift für Pommern ist am
18. März 1910 ein Aufsatz erschienen von Amtsrat Kavser-Kahl-
.mirsburg. Darin heißt es wie folgt: „Warum verläßt der
deutsche Landarbeiter das Land? Weil er auf der einen Seite
von Stadt und Industrie stark gesucht wird, und weil er auf der
anderen Seite durch die ausländischen Wanderarbeiter unterboten wird." —
„Will man den deutschen Landarbeiter nicht ganz verlieren, so muß man ihn
schützen, wie man die Industriezweige und den Getreidebau geschützt hat, also
durch einen Zoll, den der Ausländer am Arbeitsort zu zahlen hat, oder der für
ihn vom Arbeitgeber zu zahlen ist." — „Die Seßhaftmachung des Arbeiters im
großen ist unter den heutigen Verhältnissen vergebene Liebesmüh. Denn sein
Konkurrent, der ausländische Schnitter, läßt ihn nicht hochkommen. Der — hat
ja gerade unsere freien Arbeiter verdrängen helfen. Ich bin der Überzeugung,
daß wir heute noch wie früher eine Menge freier Arbeiter hätten, wenn uns
die Möglichkeit gefehlt hätte, Ausländer zu beziehen. Die Seßhaftmachung kann
unter den jetzigen Umständen nur gelingen, wo sie mit großen Opfern der
Gründer ins Werk gesetzt wird, oder ausnahmsweise günstige Bedingungen vor¬
liegen. Sie wird aber ganz vorzüglich gelingen, wenn man erst den deutschen
Landarbeiter auf irgendeine Weise konkurrenzfähig gemacht hat. — Das kann
aber nicht durch den guten Willen und die höheren Lohnzahlungen einzelner
Landwirte erreicht werden, sondern nur durch ein Gesetz, welches die Landarbeiter
im Vergleich zum Städter und zum ausländischen Wanderarbeiter auf eine bessere,
konkurrenzfähigere Basis bringt." — „Was soll aus dem deutschen Landarbeiter
werden, wenn man ihn gegen seinen Konkurrenten nicht schützt, sondern im
Gegenteil seinen schon überlegenen Konkurrenten noch subventioniert?" (nämlich
durch die Getreidezölle, die diesseits der Grenze die Lebensmittel des Arbeiters
verteuern, jenseits verbilligen). — „Was würden wir Landwirte denn dazu
sagen, wenn man nicht unsere Produkte geschützt hätte, sondern die Produkte
des Allslandes subventioniert hätte?" — „Der Großgrundbesitz wird nur
bestehen bleiben, wenn er dafür sorgt, daß ihm tüchtige, zuverlässige Arbeits¬
kräfte zuwachsen und erhalten bleiben, und darum darf er nicht dulden, daß aus¬
wärtige Arbeitskräfte durch Subventionierung in die Lage gebracht sind, die
Einheimischen zu vertreiben und zu verdrängen." — „Es ist auch unsere
Pflicht, für unsere Arbeiter die Geschäfte zu besorgen, wer soll es wohl sonst
tun?" — „Nationalpolitisch hat mein Vorschlag den allergrößten Wert. Darüber
noch zu schreiben, führt mich zu weit; ich möchte aber alle Landwirte bitten,
sich meinen Vorschlag recht ernstlich durch den Kops gehen zu lassen."---
Also so kann ein ostelbischer Agrarier aussehen! Ja, wenn sie alle so
wären! Nun, im Vertrauen gesagt, ich weiß, daß es noch mehr solche gibt,
die ebenso denken. Jedenfalls könnte es die erfreulichsten Folgen haben, wenn
dies wichtigste Problem unserer politischen Zukunft ins Rollen gebracht würde
durch solchen Anstoß von agrarischer Seite, und wir wollen uns ein Verdienst
daraus machen, ihm noch einen Stoß zu geben. Aber halt, da kommt noch
eine Stimme zu demselben Thema von einem ganz anderen Instrument und aus
einem ganz anderen Lager, nämlich aus dem Lager der „Gelben".
Die Gelben sind diejenigen deutschen Arbeiter, die es müde sind, unter
dem Joch der roten sozialdemokratischen Gewerkschaften zu seufzen. Sie sind
bekehrt von dem Glauben an die Notwendigkeit des prinzipiellen Klassenkampfes,
an die Nützlichkeit ewiger Streiks, nicht für einen unentbehrlichen Gewinn,
sondern nur um der Bewegung, um der Organisation willen angezettelt. Sie
wollen mit ihren Familien nicht beständig in der Angst vor einer Hungerkur
stehen, die unruhige politische Führer für nötig halten. Sie wollen nicht unter
der beständigen Gefahr wirtschaftlicher Vernichtung leben, sobald sie einmal
gegen ihre roten Einpeitscher sich auflehnen, sondern sie meinen, daß der Friede
mit den Unternehmern auch zuweilen sein Recht und seine Vorteile hat. Diesen
Leuten hat man den Spottnamen „die Gelben" angehängt, und sie haben ihn
als Feldgeschrei angenommen.
Zwar unsere Intellektuellen verkennen diese Bewegung. Unsere Studierten
leben selber noch unter der Herrschaft des sozialistischen Dogmas, daß der Klassen¬
kampf zwischen Arbeiter und Arbeitgeber eine wirtschaftliche, ja eine kulturelle
Notwendigkeit sei, und halten ihn für eine „großartige Kulturbewegung zur
Hebung des vierten Standes". Sie glauben, es gäbe ohnedem keine Ver¬
besserung der Lebenshöhe des Arbeiterstandes und somit des Volkes, und darum
sehen sie unter Streikbrechern und Arbeitswilligen nur rückständige, moralisch
und intellektuell minderwertige Elemente, blinde oder böse Verräter der guten
Sache. Mit dieser Meinung sind sie allerdings mehr als eine Tagereise hinter
der Wirklichkeit zurück.
Gerade in der Aristokratie der deutschen Arbeiterschaft, bei den groß-
industriellen Belegen unserer berühmtesten Unternehmungen, die den Weltruf der
deutschen Industrie begründet haben, an welchem Weltruf neben den Unter¬
nehmern auch die Arbeiter ihr gut Teil Verdienst haben, nämlich in den Krupp¬
werken und Siemenswerken ist die gelbe Bewegung entstanden, und zwar ohne
Anstoß von feiten der Unternehmer lediglich als eine Notwehr der älteren
Arbeiter, der Familienväter gegen die ruinöse unverantwortliche Streikunruhe
der roten Gewerkschaftsführer.
In der Wehr, dem Zeitungsorgan der Gelben in Augsburg, ist nun ein
Aufsatz erschienen, worin es ungefähr heißt, wie folgt:
Seit einem Menschenalter suchen die deutschen Arbeiter ihre Lebenslage
zu bessern auf keinem anderen Wege als auf dem des prinzipiellen Klassen¬
kampfes und ewiger Streiks. Ob sie daran recht tun? Ob wohl der deutsche
Arbeitslohn heute auch nur um einen Groschen niedriger stände, wenn alle diese
unendlichen Opfer sauer verdienter Arbeitergroschen erspart geblieben wären?
Wir glauben, daß er um keinen Groschen niedriger stände, eher höher. Denn
zur wirtschaftlichen Blüte einer Volkswirtschaft gehört ein gewisser Optimismus.
Wie können die Unternehmer Herangehen an das, was doch ihre volkswirtschaft¬
liche Aufgabe und Pflicht ist, nämlich neue Auslandsmärkte zu eröffnen, neue
Arbeitsmethoden und Maschinen einzuführen, zu versuchen, zu verbessern und
zu wagen, wenn sie doch immer fürchten müssen, gerade dann überfallen zu
werden, wenn sie mitten in: Wagnis am schwächsten sind. Friede nährt, Un¬
friede verzehrt. Verlieren die Arbeiter den Streik, so sind immer beide geschädigt,
Unternehmer und Arbeiter, und mit ihnen die gesamte Volkswirtschaft. Gewinnen
die Arbeiter den Streik, so steigt bestenfalls der Arbeitslohn etwas, aber doch
nur scheinbar; nach einiger Zeit steht er niedriger als er ohne Streik gestanden
haben würde, — wegen des Druckes, den die beständige Streikgefahr ausübt
auf die erreichbare Höhe der Fruchtbarkeit der Arbeit. Die Höhe des Arbeits¬
lohnes entsteht eben aus der Fruchtbarkeit und Menge der Arbeitsgelegenheit,
also auf natürliche Weise und aus natürlichen Ursachen, nicht aber aus Streit
und Neid. Neid und Streit können ihn in der Regel nur mindern, aber
nicht erhöhen.
Wohl aber hat die Konkurrenz der kulturürmeren ausländischen Arbeiter
den allergrößten Einfluß darauf, wie hoch der deutsche Arbeitslohn und der
Lebensstand des deutschen Arbeiters steigen kann. Die Mitarbeit dieser roheren
Elemente hält die Kulturhöhe der deutschen Arbeit, die Intensität der Maschinen-
kultur auf einer niederen Stufe fest. Manche Verbesserungen der Arbeitsmethoden
können nul der Mitarbeit dieser sprachfremden und schlechtgeschulten Kräfte willen
nicht eingeführt werden. Ohne sie würde der deutsche Arbeitslohn höher stehen,
und zwar nicht zum Schaden der Unternehmer. Denn die deutsche Arbeit würde
wohl auf den Arbeiterkopf berechnet teurer, aber auf das Produkt berechnet
billiger sein. Also könnten wohl die Unternehmer auf eine Einschränkung,
Besteuerung der ausländischen Arbeiter eingehen, wenn sie dafür nur von der
ewigen Streikgefahr befreit würden. Sie würden mit dem letzteren mehr
gewinnen, als sie mit dem ersteren verlieren können.
Darum meint das Blatt, es gäbe „für die nächste Neichstagswahl keine
bessere Wahlparole als diese: Friede zwischen den Unternehmern und der
deutschen Arbeiterschaft. Schutz der deutschen Arbeit in Stadt und Land, aber
Schutz auch der deutschen Arbeiterschaft gegen die Konkurrenz der ausländischen
Arbeiter und Kopfzoll auf jeden fremdsprachigen Wanderarbeiter oder Einwanderer I
Wenn Nordamerika, Australien, Dänemark die Einwanderung im Interesse der
Hochkultur ihres Arbeiterstandes einschränken, warum sollte das bei uns nicht
möglich sein? In Deutschland, dem Lande, das auf seine allgemeine Volks¬
bildung stolz ist, soll erst recht jeder einzelne ein würdiger Sohn und voll¬
wertiger Vertreter seines Volkstums sein".
Nun aber findet sich noch eine dritte Stimme zu diesem Thema, und zwar
wiederum aus einem ganz anderen Lager, aus dem der industriellen Unter¬
nehmer. Die Deutsche volkswirtschaftliche Korrespondenz wird von ihren Feinden
als Unternehmerblatt und Scharfmacherorgan bezeichnet. In dieser heißt es in
Ur. 83 und 84: „Wir brauchen ein Arbeitswilligengesetz. Wenn streiklustige
Arbeiter ihre arbeitswilligen Kameraden terrorisieren, verrufen, um ihre wirt¬
schaftliche Existenz bringen, ja körperlich so sehr bedrohen, daß Polizeihilfe nötig
ist und daß diese nicht einmal genügt, weil sie doch nicht allgegenwärtig sein
kann, so ist der Bürgerkrieg schon da, und die blutigen Vorgänge auf der
Straße sind nur die unabwendbare späte Folge, die den Bürgerkrieg für die
Unbeteiligten offenbar macht. Der Friedensstand ist da schon verkehrt. Die
wilden Leidenschaften sind da schon mächtiger als Gerechtigkeit und Vernunft.
Die Wilden. streitsüchtigen sind dann den Ruhigen, Geordneten über, die
Jungen den Alten, die Unverheirateten oder Schlechtverheirateten jeden: ordent¬
lichen Familienvater, die Nowdies, die Feinde menschlicher Gesittung, jeder
Ordnung und Kultur. Diese haben dann das größte Recht auf die Straße
und vou da aus über jeden Herd einer unter ihnen wohnenden Familie. Es
ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit derer, die ein öffentliches Amt haben,
die Arbeitswilligen zu schützen, und derer, die die Gesetze geben, die Gesetze so
zu gestalten, daß ihr Schutz ausreicht."
Also ein Arbeitswilligengesetz! Dies Verlangen ist von jener Seite nichts
Neues. Nun aber kommt folgende Einschränkung: „Der Arbeitermangel in
Deutschland hat in steigendem Maße zur Einführung fremder Arbeitskräfte
geführt. Zu leugnen ist es nicht, daß diese zum Teil minderwertigen fremden
Arbeitskräfte auf die Löhne der heimischen Arbeiter drücken. Es läge nahe,
diese fremden Arbeiter in großer Zahl bei umfassenden Streiks heranzuziehen,
wie Rom die Germanen für seine Kriegsdienste heranzog." (Womit Rom sich
selbst umbrachte.) „Sollten dann diese fremden Arbeiter auch unter den Schutz
eines Arbeitswilligengesetzes gestellt werden? Wir glauben das verneinen zu
müssen. In allen Lohnkämpfen, wo der Schutz der Waffen für die Arbeits¬
willigen eintreten soll, dürfen nicht ausländische Arbeiter unter diesem Schutz
herangeholt werden. Wenn ein solcher Streik deutscher Arbeiter durch galizische
oder tschechische Arbeiter auch nur einmal gebrochen würde, so wäre das Arbeits-
willigengesetz und jeder Schutz der Arbeitswilligen für alle Zeiten gerichtet.
Denn allerdings gegen die Konkurrenz dieser kulturfremden, minderwertigen
ausländischen Menschenware braucht der deutsche Arbeiter unter Umständen ein
Streikrecht, wenn anders der deutsche Arbeiter seine Kulturhöhe, die mühsame
Volksarbeit vieler Jahrhunderte, bewahren will. Wir setzen dabei voraus, daß
es deutsche Arbeiter sind, nicht nur internationalisierte, vaterlandsfreie Arbeiter-
füuste. Streikterror auf der Straße wäre schließlich gerechter als das Leiden
solcher Arbeitskonkurrenz bei inneren Lohnkämpfen. Darum kein Arbeitswilligen-
gesetz ohne einschränkende Paragraphen über die Konkurrenz der ausländischen
Arbeit. Anders wäre es vor dem deutschen Volke nicht zu verantworten." So
die sogenannten Scharfmacher.
Diese drei Stimmen sind, in Anbetracht der Lager, aus denen sie stammen,
nämlich dem der Agrarier, der industriellen Arbeiter und der industriellen
Unternehmer, und in Anbetracht des Geistes, den jede von ihnen atmet, ein
Beweis, daß es in Deutschland in allen Parteien doch noch mehr gibt als
bloße Jnteressenpoliük, daß es auch noch Gewissenspolitik gibt, und darauf bauen
wir unsere Hoffnung, daß mit Hilfe dieser Gewissenspolitik auch noch ein wahrer
Fortschritt unseres Volkes möglich ist; denn das Sittliche ist auch in der materiellen
Welt und auch in der politischen Welt doch zuletzt das Siegreiche.
Diese drei Stimmen der Agrarier, der Arbeiter und der Unternehmer
kommen mir vor wie die drei Weisen aus dein Morgenlande, die prophezeien
von einer neuen Idee als von einem Kindlein, das noch in den Windeln liegt,
aber mal ein starker Held werden kann. Wir können solch eine Idee brauchen,
die über den allgemeinen gedankenlosen Kampf aller gegen alle wie ein Schlachtruf
hinfährt, nach dem die Scharen von neuem in zwei Fronten sich ordnen zum
ehrlichen Kampf auf grünem Feld.
Unser politisches Leben gleicht einem polygonalen Duell, einer vieleckigen
Schießerei. Aber in keinem Programm der vielen Parteien und Parteichen, die sich da
im Kampf mit zwei und mehr Fronten abmühen, hat diese Idee „Schutz dem Arbeiter"
einen festen Platz, und das mit Recht; denn sie ist mehr als eine Parteiidee.
, Diese Idee hat keinen rein agrarischen Charakter. Im Gegenteil, es sieht
ja aus, als wenn sie sich gegen das Agrariertum wendet, indem sie von diesem
Opfer verlangt; — und sie ist doch im besten Sinne des Wortes agrarisch.
Der Agrarschutz würde ein Ende mit Schrecken nehmen an dem Tage, wo die
deutsche Landwirtschaft sich zum größeren Teile oder auch nur zum sehr großen
Teile von ausländischen Arbeitern bedienen läßt. Sie ist dann keine deutsche
Landwirtschaft mehr. Sie kann nicht mehr für sich anführen, daß sie die Kraft¬
quelle und Gesundheitsquelle des deutschen Volkes und die Mutter des deutschen
Heeres sei. Das Wort vom Schutz der nationalen Arbeit wird dann zur Lüge.
Die deutsche Landwirtschaft legt sich mit der Einfuhr der fremden Arbeiter einen
Strick um den Hals, mit dem sie von ihren Feinden erdrosselt werden wird.
Diese Idee hat auch nicht im alltäglichen Sinne des Wortes konservativen
Charakter. Im Gegenteil, parteitechnisch am bequemsten hat es die konservative
Partei, wenn es in Ostelbien nur Rittergutsbesitzer und allenfalls noch Pastoren
gibt. Alle kleineren Eigentümer und noch mehr alle grundbesitzenden Arbeiter
haben auch demokratische und liberale Instinkte und sind darum für die kon¬
servative Partei unsichere Mitglieder. — Und doch ist diese Idee im innersten
und besten Sinne des Wortes konservativ. Auf dem kleinen Eigentum baut
sich die Familie auf und auf der Familie der Staat. Gegen das traditionslose,
eigentumslose, familienverachtende, radikale, ungläubige, von den oberflächlichsten
Tagesideen genasführte ungebildete und gebildete Proletariat unserer großen
Städte, die ja ins unheimliche wachsen, gibt es kein besseres Gegengewicht als
eine zahlreiche grundbesitzende Landbevölkerung. Je voller das Land von kleinen
Eigentümern, um so fester steht der Staat, je öder das Land, um so mehr nähert
sich das Gleichgewicht dem Umsturz.
Die Idee hat auch nichts gemein mit dem Sozialismus, weder dem roten,
noch dem Staatssozialismus oder Kathedersozialismus. Im Gegenteil; indem
man das kleine Eigentum auf dem Lande erreichbar macht, nimmt man dem
Schwammpilz Sozialismus seinen Nährboden. Der Sozialdemokrat sagt: Los
von Grund und Boden muß der Arbeiter, wenn er zu uns gehören soll, und
darin hat er recht. Aber eben darum sagen wir: Macht dem Arbeiter das
Eigentum am Boden erreichbar, so verschwindet der Sozialismus, das ist das
neidische Schielen nach anderer Leute Eigentum.
Und doch ist diese Idee wiederum in einem höheren Sinne des Wortes
sozial. Denn sie will der Konstitution der deutschen Gesellschaft diejenige Ge¬
sundheit geben, die ihr noch fehlt. Irgendwo muß es in einem Volke eine
sichere Leiter sozialen Anstiegs geben, die auch dem einfachen Fleiß mit wenig
Glück erreichbar ist. Zwar glückt es in unseren Städten und in unserer in¬
dustriellen Kultur vielen Leuten, sie werden wohlhabend, werden sogar reich.
Aber das ist Zufall, Glück, Ausnahme. Auf dem Lande muß es ein sicheres
regelmäßigeres Aufsteigen geben. Diese Eigenschaft hat die Scholle, daß, wenn
sie der kleine Mann nur lange genug mit seinem Schweiße düngt, sie ihn wenn
auch nicht reich so doch wohlhabend und außerdem frei und seine Kinder an
Leib und Seele gesund macht. Das amerikanische Volk hat an seinem großen
Kontinent noch Arbeits- und Existenzmöglichkeit für viele, das englische Volk
hat dasselbe an seinen großen Kolonien Kanada, Australien, Südafrika. Das
deutsche Volk hat nichts dergleichen, denn unsere Kolonien bieten das nicht und
es wächst doch ebenso stark wie jene. Weil jeder Amerikaner die Zuversicht hat
und haben darf, daß es ihm gelingen muß, reich oder wenigstens wohlhabend
zu werden, daher der Optimismus der Amerikaner, der sie uns überlegen macht
trotz unserer größeren Schulung, und daher auch das Fehlen einer mächtigen
revolutionären Arbeiterbewegung. Wir Deutschen haben es schwerer und müssen
durch größere geistige Anstrengung ersetzen, was uns an natürlichen Vorteilen
fehlt. Wir haben nur den einen allerdings auch wertvollen Vorteil, daß wir
im Herzen von Europa sitzen, dem wundervollen Erdteil, der bis auf unab¬
sehbare Zeit der zentrale Markt und die Hauptstadt der Welt bleiben wird,
und daß wir also mit der Weltwirtschaft wachsen werden. Damit unserem hart
arbeitenden Volk die Gesundheit des Gemüts, die Zufriedenheit erhalten bleibt,
muß es auch für seine besitzlosen Söhne die Möglichkeit sichern, daß sie wenn auch
nach mühevollem Erwerb die wirtschaftliche Selbständigkeit, die Freiheit vor sich
fehen. Das wichtigste Arbeitsinstrument des Menschen ist der Boden. Gebt
dem Menschen nur ein kleines Fetzchen Boden und er wird mit dem Sonnenlicht
zusammen darauf eine wunderbare Ernte hervorzaubern, vielleicht eine Obstzucht oder
Geflügelzucht, vielleicht ein kaufmännisches Geschäft, das immer weitere Kreise zieht,
vielleicht eine Fabrik, die sich beständig vergrößert, vielleicht auch nur eine Kinder¬
stube blondköpfiger Jugend, die es ihrerseits unternehmen wird, die Erde zu erobern.
Nun aber liegen große Felder deutschen Bodens unlösbar fest miteinander
verschnürt, teils durch Besitz der toten Hand, teils durch das Fideikommißrecht
und endlich, was das allgemeinste und darum schlimmste ist, durch unser
Hypothekenrecht. Wenn dies deutsche Land dem Volk geöffnet würde, so würde
das uns ähnlichen Gewinn bringen, wie einst die Eröffnung der großen
Getreideprovinzen und des wilden Westens dem nordamerikanischen Volke. Die
Landstände ist zwar hundertmal kleiner, aber dafür der Boden hundertmal wert¬
voller, weil ganz Deutschland, weltpolitisch angesehen, den Wertcharakter von
städtischem Boden hat. Diese Landöffnung heißt innere Kolonisation. Sie ist
die wichtigste Aufgabe unserer Zukunft. Sie wird aber nicht gelingen, solange
der deutsche Arbeiter auf dem Lande mit der Konkurrenz der ausländischen
Arbeiter ringen muß. Darum Schutz dem deutschen Arbeiter!
Diese Idee hat auch nicht eigentlich antipolnischen Charakter. Im Gegenteil;
wenn das deutsche Volk erst nicht mehr das beängstigende Schauspiel vor Augen
sieht, daß die polnische Flut Scholle um Scholle vom deutschen Lande reißt,
sich dabei stärkt durch Zuzug von jenseits der Grenze und immer tiefer nach
Pommern, Brandenburg, Westfalen sogar hineinzüngelt, wenn es nur noch zu
tun hat mit dem Polentum, soweit das nun einmal in den Reichsgrenzen wohnt,
und das doch schließlich zu ertragen ist, so wird das deutsche Volk auch die
quälende Bedrängungspolitik gegen dieses Polentum aufgeben.
Und diese Idee gibt doch die einzig wirksame Fortsetzung unserer Polenpolitik,
die ja doch zweifellos am Ende ihrer Kräfte angekommen ist. 330 Millionen
Mark haben wir ausgegeben und der Erfolg ist, daß wir 100000 Hektar
verloren haben. 3500 Mark für den Hektar, um ihn zu verlieren? Wie
kommt das?
Das kommt daher: Wo der deutsche Arbeiter nicht mehr leben kann, da
kann auch der deutsche Kleinbauer sich nicht mehr halten. Zum Gedeihen des
Kleinbauernstandes gehört, daß der Nachwuchs vorübergehend oder dauernd
unterkommen kann in einem anständigen freien Tagelöhnerstande. Der Sohn
des einen Bauern dient beim andern als Knecht, und ebenso die Mägde. Kleiner
Besitzer und Tagelöhner, beide müssen Blutsbrüder sein, die an einem Tische
miteinander essen. Wo aber kulturfremde, minderwertige Tagelöhner einziehen,
da wird dies Verhältnis gestört. Der Arbeiterstand in seiner untersten Lage
wird unanständig. Der Nachwuchs der kleinen Besitzer geht in die Städte, und
endlich kommen die leergestorbenen Höfe an das eingewanderte Volk. So ver¬
schieben sich die Grenzen. Nun kann man wohl eine gewisse mittlere Sorte
Bauen:, die gerade mit der eigenen Arbeit auskommt, mühsam anpflanzen. Sie
lassen sich vielleicht auch erhalten, obwohl es keine Besitzgröße gibt, die niemals
fremde Arbeit brauchte, weil die Arbeitskraft einer Familie im Laufe eines
Menschenlebens bedeutend schwankt. Zu gleicher Zeit aber verschwindet der
urständige Bauernbesitz in eine andere Gegend und wir wissen, daß dasselbe Geld,
mit dem der preußische Staat hier gekauft hat, dort benutzt wird, um den
deutschen Kleinbesitz auszulaufen. Die Moral davon ist, daß es in der heutigen
wirtschaftlichen Welt keine bloße Bauernkolonisation geben kann, daß der wichtigste
Mann in der Kolonisation der besitzlose Arbeiter ist. Wo er einzieht, da folgt
der Kleinkaufmann, der Kleinbesitzer, schließlich auch der Arzt und der Rechts¬
anwalt, und es entsteht endlich ein vollständiges Volk mit allen Ständen. Darum:
wenn wir kolonisieren wollen, so dürfen wir den deutschen Arbeiter nicht ver¬
gessen. Ohne ihn wird es nichts.
Ferner: Muß diese Idee etwa-dem Zentrum feindlich erscheinen? Müssen
etwa die deutschen Katholiken es mit Sorge ansehen, wenn in unseren Ostprovinzen
statt polnischer Katholiken etwa pommersche Protestanten die Schulen füllen?
Werden dadurch die Machtverhältnisse der Konfessionen verschoben zu Ungunsten
der Katholiken? Im Gegenteil; wenn die deutschen Katholiken nur mit sich zu
tun haben, so wird ihnen niemand ihr Recht nehmen können. Obwohl eine
Minorität, werden sie ebenso viel bedeuten als die protestantische Hälfte des
Volkes. Weil sie nur Glieder des deutschen Volkes sind, so werden sie unbesiegbar
sein. Wenn sie aber sich verbinden mit einem feindlichen Volkstum, so werden
sie es büßen müssen und werden für die Freiheit ihres Glaubens und ihrer
Kirche nichts gewinnen, sondern verlieren.
Endlich: Wie steht diese Idee zum Programm eines starken deutschen
Liberalismus? Ist sie ihm feindlich?
Allerdings, insofern diese Idee als eine Folgerung, Erweiterung und Be¬
festigung des Agrarschutzes, insbesondere auch der Kornzölle und Viehzölle
erscheint, mag sie manchen! Liberalen fremd und verdächtig vorkommen. Auch
solchen liberalen Parteien, die ihre Hauptstütze in den beweglichen großstädtischen
Massen und in deren Unzufriedenheit suchen, die gern mit der Sozialdemokratie
konkurrieren möchten, mag sie gleichgiltig oder unsympathisch erscheinen. Aber
einem wahren Liberalismus sollte sie hochwillkomner sein. Wirkliche Freiheit
und Selbstverwaltung sind nur möglich in einem Volke, dessen verschiedene
Stände, wenn auch durch Reichtum geschieden, doch durch Bildung, Erziehung,
Famtliensitten, Schule, Glaube, Sprache und Nasse möglichst ähnlich einander
sind, so daß die Verschiedenheiten der Standeshöhe nur mehr als äußerliche
Zufälligkeiten vergänglichen Glücks erscheinen. Rassenkämpfe und Klassen¬
kämpfe sind die größten Feinde der wirklichen Freiheit des Volkes. Wenn erst
ein innerer Feind z. B., ein rassefremdes Volk im Staate aufmarschiert, so werden
alle Freiheiten unmöglich, z. B. Gemeindefreiheit, Freiheit des Unterrichts und
der Erziehung, Vereinsfreiheit, weil sie sofort ausschlagen zu Begünstigungen
des inneren Feindes. So wird das deutsche Volk noch an allen schon erwor¬
benen Freiheiten und an allen zukünftig möglichen irre werden, wenn es in
seinem Staate ein wachsendes Polentum aufsteigen sieht. Außerdem aber wohnt
die wirkliche Freiheit eines Volkes überhaupt nicht in den großen Städten, wo
das Volk immer den Charakter einer nur ab und zu wilden, zumeist bezähm¬
baren, knechtschastswilligen Herde hat. Die wahre Freiheit eines Volkes wohnt
nur in der Unzahl der kleinen freien Gemeinden, besonders auch auf dem Lande.
Dort wenigstens sollte sie wohnen. Darum ist die innere Kolonisation auch
eine Forderung des wirklichen Liberalismus. Ohne Aussperrung der auslän¬
dischen Arbeiter aber gibt es keine innere Kolonisation.
Nun aber gibt es bei uns noch die große Partei der Jnteressenpolitiker,
die in allen Lagern zu Hause sind und die sich mit Vorliebe Realpolitiker
nennen. Sie meinen, in der Politik handle es sich immer nur um die materiellen
Interessen, um den Geldbeutel. Sie werden über diese neue Idee den Kopf
schütteln und sie für reine Ideologie erklären. Es gewinnt ja keine Partei
daran, ja von manchen, nämlich den Agrariern, verlangt sie Opfer. Und es
ist wahr, es hieße Übermenschliches von den Agrariern verlangen, wenn man
erwarten wollte, sie sollten sich freiwillig solche Opfer auferlegen. Der Idealismus
allein ist in der Politik nur zu oft hilflos schwach. Kluge Politiker versuchen
darum immer, wenn sie den schweren Lastwagen einer guten Sache durch
den zähen Dreck der Hindernisse schleppen lassen wollen, kräftigeres Zugvieh
davor zu spannen, materielle Interessen, blinde Leidenschaften und Vor¬
urteile. Aber das ist blindes Rindvieh, das nicht weiß, wohin es zieht, Lenker
bleibt immer der reine Idealismus auch in der Politik. Aus dem Zank der
materiellen Interessen, die immer mannigfach sind, kann immer nur Zwietracht
entstehen, niemals die Eintracht, die ein großes Volk zu einer siegreichen Tat
bringt. Der Egoismus genügt vielleicht als Führer für das Alltagsleben,
mancher glaubt auch, daß er für ein Menschenleben ausreicht. Aber über das
Menschenleben hinaus reicht er nie, und darum reicht er nicht aus zur Lenkung
der Taten eines Volkes. Hier herrscht allein der Idealismus. Das möchte ich
noch belegen mit einem Ausspruch, der von einem großen Manne des Geistes
und der Tat stammt, von Gneisenau.
Was war wohl materieller, als der Druck, den Napoleon nach Jena auf
das niedergeworfene Preußen ausübte, und was war wohl realpolitischer als
die Aufgabe, diesen Druck des Blutsaugers abzuwerfen. In einer Denkschrift
darüber schrieb Gneisenau an den König, man solle die Geistlichen auffordern,
in ihren Kirchen über die Makkabäer zu predigen und dadurch das Volk zum
Befreiungskampf aufzurufen. Der König schrieb dazu an den Rand: „als
Poesie gut." Darauf antwortete Gneisenau an seinen König: „Religion, Gebet.
Treue zum König, Liebe zum Vaterland und zur Jugend, alles das ist Poesie.
Auf Poesie ist die Festigkeit der Throne gegründet." Ebenso wie die Festigkeit
der Throne ist auch die wirtschaftliche Zukunft eines Volkes auf Poesie gegründet.
Die tausend Eisenbahnschienen, die ein großes Volk legt, um damit das Land
der Zukunft zu befahren und wirtschaftlich zu erobern, sind auch Poesie. Aus
dichten wird trachten. In der Politik sind die Ideen gewaltige Realitäten,
welche wirken, Mächte der Wirklichkeit.
Der Holzheimer Pastor war, was das Predigen anlangte, weder ein Bour-
daloue noch ein Abraham a Santa Clara, und wenn er in der Rottländer Kapelle
nach der Messe die Kanzel bestieg, durfte er bei der kleinen Gemeinde nur auf
ein sehr bescheidenes Maß von Aufmerksamkeit rechnen. Heute — es war am
Sonntag nach des Freiherrn glücklicher Brautfahrt, — gab er sich ganz besondere
Mühe, und doch hätte man unter den Teilnehmern am Gottesdienste wohl nicht
einen einzigen gefunden, dem ein Gedanke oder auch nur ein Wort aus der
Predigt im Gedächtnis haften geblieben wäre.
Denn heute gab es in der Kapelle etwas zu sehen, was wunderbarer war
als alle Mirakel des Alten und des Neuen Testaments: im Gestühl der Patronats¬
herrschast saß zwischen den beiden alten Damen die Merge aus Holzheim I Die
Männer betrachteten sie mit einer Art von heiterem Wohlwollen, denn sie kannten
die Schwäche ihres Gebieters für glatte Gesichter und rote Wangen und ahnten
den Zusammenhang, die ehrbaren Frauen schauten sie mit Mißbilligung an, die
jungen Dirnen mit Neid. Anfangs hatte man seinen Augen nicht recht trauen
wollen, aber es war wirklich weder ein Spuk noch ein Traumbild, und wie man
die ungewöhnliche Erscheinung auch zu deuten versuchen mochte: es war und
blieb die Holzheimer Merge.
Übermäßig wohl schien sie sich in ihrer Umgebung gerade nicht zu fühlen.
Sie starrte auf das Betbüchlein, das ihr die Priorin in die Hand gedrückt hatte,
obwohl dem Mädchen die Kunst des Lesens fremd war, und ließ dann wieder
ihre Blicke ein wenig unsicher durch die Kapelle und über die Gemeinde schweifen.
Wenn ihr die Gubernatorin den Blumenstrauß reichte, nahm sie ihn mit einer
demütigen Neigung ihres Kopfes in Empfang, vergrub ihr Stumpfnäschen in die
Rosen und Rosmarinzweiglein und gab den Strauß dann mit einer nicht minder
demütigen Kopfneigung an die Priorin weiter, die unter dem Schutze des Buketts
ein Stückchen Konfekt zum Munde führte und, während sie die Näscherei behutsam
von einer Backe in die andere schob, ihre junge Nachbarin mit kritischen Blicken
musterte. Nach einer Weile wanderte der Strauß dann durch Merges Hände zur
Gubernatorin zurück, und nun fühlte die Braut, obwohl sie geflissentlich geradeaus
schaute, wie sich auch von rechts her prüfende Augen an sie hefteten.
Herr Salentin saß heute wider seine Gewohnheit ganz hinten im Gestühl,
wo ihn, wie er glaubte, der Schatten des Gewölbes den neugierigen Blicken seiner
Untertanen verbarg. Aber sein weißer Zwickelbart leuchtete hell genug durch den
Dämmer und ließ deutlich erkennen, daß sein Antlitz nicht dem Geistlichen auf
der Kanzel, sondern dem seitwärts vor ihm sitzenden Mädchen zugewandt war.
Und wenn er von ihr auch nicht viel mehr sah als die Rundung der linken Wange,
das unter dem dunkeln Kraushaar halbverborgene Ohr, die schweren Flechten und
ein kleines Stückchen des von Wind und Sonne gebräunten Nackens, so schienen
diese Dinge ihn doch für die ganze Dauer der Predigt ausreichend zu beschäftigen.
Nach dem Gottesdienst blieb der Patronatsherr, während sich die Kapelle
leerte, mit Schwestern und Braut noch eine Weile im Gestühl zurück, um un¬
behelligt durch Gaffer den Heimweg antreten zu können. Aber die Rottlnnder
Bauernschaft hatte offenbar gerade heute das Bedürfnis, in stillem Gedenken an
den mit schlichten Holzkreuzlein geschmückten Grabhügeln zu verweilen, die das
kleine Gotteshaus auf allen Seiten umgaben, und so kam es, daß, als die Herr¬
schaft endlich ins Freie trat, noch zum wenigsten zwei Dutzend Männer und Weiber
auf dem Kirchhofe umherstanden. Der Freiherr hatte Merge den Arm gereicht
und führte sie mit ebensoviel Verlegenheit wie Würde und Stolz durch die scheu
grüßenden Bauern nach dem Renthause. Von Mergens heißer Hand, die breit
und fest auf dem gewaltigen Ärmelaufschlage seines Sonntagsrockes lag, Mußte
wohl ein wenig Jugend auf den weißköpfigen Bräutigam überströmen, denn er
schritt, sobald er das Kirchhoftor hinter sich hatte, noch rüstiger aus als sonst, und
die beiden alten Damen bemühten sich vergebens, dem Paare in angemessener
Entfernung zu folgen.
Als Herr Salentin mit dem Mädchen den Hof betrat, kamen die beiden
Hunde, ein Saupacker und eine Bracke, die sonst jeden Fremden, auch wenn er
sich in Gesellschaft ihres Herrn befand, wütend anbellten, schweifwedelnd herbei,
beschnupperten Mergens Gewand und Hände und ließen sich von ihr willig
streicheln und krauen. Es war, als hätten die Tiere in dem Mädchen schon die
neue Hausfrau erkannt, und der Freiherr nahm das Vertrauen, das sie seiner
Braut entgegenbrachten, als ein gutes Vorzeichen. Er warf am Tore noch einen
Blick nach den Schwestern zurück, ergriff, als er sah, daß diese noch in weiter
Ferne waren, Mergens Hand, zog sie nach der Haustür und küßte ihr herzhaft
Stirn, Wangen und Mund. Dann schlang er seine Arme um ihre Knie, hob sie
empor und trug sie trotz ihres Sträubens mit fröhlichem Lachen über die
Schwelle. ,
Als er sie dann aber mitten auf der Diele auf den Boden gleiten ließ, über¬
raschte es ihn, auf ihrem Antlitz keinen Widerschein seiner Freude zu finden. Die
heiße Leidenschaft des alten Mannes schien sie verwirrt und geängstigt zu haben,
und es kam ihm beinahe so vor, als ob in ihren Blicken etwas Feindseliges
gelegen hätte. Es verdroß ihn, daß sie seine Zärtlichkeiten so gar nicht erwiderte,
sondern sich von ihm abwandte und mit kindischem Staunen die Amsterdamer
Kastenuhr betrachtete, über deren Zifferblatt ein Schiff mit geblähten Segeln takt¬
mäßig auf blauen Emaillewogen schaukelte.
Jetzt traten auch die beiden alten Damen ins Haus, erhitzt vom schnellen
Gehen und ein wenig ärgerlich über das Betragen ihres Bruders, der auf die
Gesetze der Schicklichkeit niemals Rücksicht nahm. Sie fühlten jedoch, daß es geraten
sei, in einem solchen Augenblick ihren Groll zu unterdrücken und lieber an das
Mädchen, in dem sie wohl oder übel die künftige Schwägerin sehen mußten, einige
Worte des Willkommens zu richten. Und da sie sich mit der unabänderlichen Tat¬
sache, daß ein Friemersheim eine simple Bauerndirne zu seiner Eheliebsten machen
wollte, nun einmal abgefunden hatten, so wurde es ihnen gar nicht so schwer,
einen herzlichen Ton anzuschlagen, der die junge Braut über die wahren Ge¬
sinnungen der Damen zu täuschen vermochte, so daß sie deren Absicht, sie über
die von ihr im Hause einzunehmende Stellung gleich in der ersten Stunde auf¬
zuklären, gar nicht durchschaute. Beide Schwestern betonten einstimmig, daß Merge
verpflichtet sei, Gott und den lieben Heiligen für das unschätzbare Glück, das ihr
zuteil geworden, auf den Knien zu danken, und daß es fortan ihre Lebensaufgabe
sein müsse, sich dieses Glückes würdig zu zeigen. Wenn man den Worten der
alten Damen Glauben schenken durfte, so hatte sich hier die alte Geschichte vom
Aschenbrödel wiederholt: ein Prinz, nicht gerade in der ersten Jugend, sondern
in den besten, aller Unbeständigkeit abholden Jahren, der nur die Hand hätte aus¬
zustrecken brauchen, um an jedem Finger eine Demoiselle vom ältesten Adel und
von märchenhaften Reichtum zu haben, stieg von seiner Höhe herab und erhob
ein Stiefkind des Glückes zu seiner Gemahlini Und die Schwestern dieses Prinzen,
weit entfernt, die Wahl des geliebten Bruders zu mißbilligen, standen bereit, die
junge Braut ans Herz zu drücken, ihr den Weg zu der schwindelnden Höhe mit
sorgenden Händen zu bahnen, ihr mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, ihre
guten Anlagen zu Pflegen, sie in der Übung der Tugenden wie in den Sitten der
vornehmen Welt zu unterweisen und ihr nach Kräften die schwere Last zu
erleichtern, die der verantwortungsvolle Beruf der Hausfrau einem jungen
Weibe auferlegt.
Kein Zweifel, die Holzheimer Merge stand an der Pforte des Paradieses,
und zwei Engel, ein geistlicher und ein weltlicher, ergriffen ihre Hände, um sie
liebreich auf die blumigen Auen zu geleiten, wo Milch und Honig fließt, und wo
die Glückseligkeit nie ein Ende nimmt!
Das Mädchen war von dein Empfang, den ihr die Damen bereiteten,
wirklich gerührt und begann dem Pastor, der sich über die „zwo alten Weiber zu
Rottland" in so gehässiger Weise geäußert hatte, ernstlich zu zürnen. Und als sie
dann an der festlich gedeckten Tafel saß und das spiegelblank gescheuerte Zinn —
denn dafür hielt sie die aus den Stürmen des Krieges geretteten letzten Stücke
des Friemersheimschen Familiensilbers I — bewunderte, kam sie sich in der Tat
wie eine Prinzessin vor. Die drei alten Leute wetteiferten darin, ihr Aufmerk¬
samkeiten zu erweisen: die Gubernatorin, der das Amt zugefallen war, den etwas
mageren, dafür aber um so sorgfältiger zubereiteten Zickleinbraten zu tranchieren,
legte ihr die besten Stücke vor, die Priorin versah sie mit Dörrobst, und Herr
Salentin füllte das Glas, das sie anfangs zaghaft, dann aber mit einem beinahe
leichtfertigen Behagen zum Munde führte, unverdrossen mit dem feurigen Ahrwein.
Sie konnte ja nicht dafür, daß der stark gewürzte Braten durstig und daß
der ungewohnte Wein gesprächig machte, sie merkte auch nicht, daß ihr Bräutigam
halb belustigt, halb entschuldigend lächelte, und daß die beiden Damen immer
einsilbiger wurden. Sie merkte ebenso wenig, daß die Augen der Gubernatorin
sehr, sehr kritisch auf ihren derben roten Händen ruhten, die mit dem Besteck so
ungeschickt umgingen und die säuberlich abgenagten Knochen einfach unter den
Tisch warfen, wo Packan, der Saurüde, und Schelle, die Bracke, deren Freund¬
schaft ihre Grenzen hatte, sich die Leckerbissen unter Knurren und Fauchen streitig
machten. Sie merkte noch weniger, wie die Priorin bei jedem allzu deutlichen
Ausdruck, der dem Munde der zukünftigen Schwägerin entfuhr, wie hilfesuchend
um sich schaute oder in stummer Verzweiflung den Blick zur Decke wandte, und
sie merkte am allerwenigsten, wie geringschätzig die alte Billa, die bei Tisch auf¬
wartete, die Lippen verzog, als sie in ländlicher Unbefangenheit das Mundtuch
dazu benutzte, den vermeintlichen Zinnteller nach dem Gebrauch gründlich zu reinigen.
Die arme Merge wollte so gerne Liebe mit Liebe vergelten und ein wohl¬
gemessenes Teil zur Unterhaltung beitragen. Sie fragte ihren Bräutigam, warum
er nicht Soldat geworden wäre, da er es alsdann doch gewißlich bis zum Kapitän
gebracht haben würde, und sie fragte Schwester Felizitas, warum sie, anstatt
geistlich zu werden, nicht lieber geheiratet hätte. Sie befühlte mit prüfenden Fingern
den Stoff von Frau v. Ödinghovens Kleid — es war das Kostüm, das diese
Anno sechzig bei der Taufe des Prinzen Ludwig Anton getragen hattet — und
erkundigte sich, wieviel Albus die Brabanter Elle davon gekostet habe.
Nach Tisch wollte der Freiherr seiner jungen Braut die Naturalienkammer
zeigen, denn er hatte sich schon lange darauf gefreut, ihre erstaunten Augen zu
betrachten, wenn er ihr gleichsam die Wunder der Schöpfung erschließen würde,
sie verlangte jedoch zu allererst in den Stall geführt zu werden und meinte, wo
sie selbst Streu und Futter finde, das wisse sie nun, nun wolle sie aber auch
sehen, wo ihre Kühe ein Unterkommen fänden, das sei ihr beinahe noch wichtiger
als ihr eigenes künftiges Schicksal.
Herr Salentin war ein zu tüchtiger Landwirt, als daß er die Berechtigung
dieses Wunsches nicht anerkannt hätte. Er bot also dem Mädchen galant den Arm
und führte sie über den Hof zum Stalle. Er hatte die Empfindung, daß sie nicht
ganz sicher auf den Füßen war, und wunderte sich, daß sie das geräumige Gebäude
mit den gutgepflasterten, leider schon so lange verwaisten Ständen trotzdem so
sachverständig zu prüfen und so richtig zu beurteilen vermochte.
In einem Winkel des Stalles standen die beiden Ziegen. Die eine, schwarz
wie die Nacht, erkletterte die Krippe und schaute mit ihren wasserhellen Augen
die fremde Besucherin in stummer Verwunderung an, während die andere, eine
weiße, deren Zicklein den Festbraten abgegeben hatte, ihrer Sehnsucht nach dem
geraubten Kinde in kläglichem Gemecker Luft machte. Merge hatte Mitleid mit
dem Tiere, kniete, unbekümmert um ihr Sonntagsgewand, neben ihm auf die
nicht gerade saubere Streu nieder und legte ihren Arm liebkosend um seinen Hals.
Die Ziege vergaß ihren Schmerz, rieb ihren Kopf an Mergens Wange und fuhr
mit ihrer rauhen Zunge über das glatte Gesicht der Trösterin. Da mußte das
Mädchen lachen, verlor bei der Bemühung, sich den ungestümen Freundschafts¬
bezeigungen des Tieres zu entziehen, das Gleichgewicht und ließ sich der Länge
nach auf die Streu fallen. Dort blieb sie liegen, reckte und dehnte sich und meinte,
nun, da sie eine gute Freundin gefunden habe, fühle sie sich in Rottland erst
völlig daheim. Sie machte auch keine Miene, sich zu erheben, als der alte Ger¬
hard, der auf einer Strohschütte seinen Mittagsschlaf gehalten hatte, den Stall¬
gang hinunterkam und halb neugierig, halb mißbilligend über die Planke schaute.
Der Freiherr bekam vor Ärger und Verlegenheit einen roten Kopf und ver¬
wies seiner Braut ihr kindisches Gebaren mit ernsten Worten. Da sprang sie auf,
sah ihn betroffen an und sagte mit verhaltenen Tränen, wenn sie ihm noch zu
jung und leichtfertig sei, dann möge er sich lieber eine Alte suchen, bei der er
sicher sein könne, daß sie ihm keine Schande machen werde. Bei diesen Worten
begann sie vor Zorn zu schluchzen, er aber nahm es für Reue und bemühte sich,
sie zu beruhigen. Sie merkte sogleich, daß sie gewonnenes Spiel hatte, und
während die Tränen noch über ihre Wangen rannen, strahlte aus ihren Augen
schon wieder die sorglose Heiterkeit, die ihn immer wieder mit ihrem unberechen¬
baren Wesen aussöhnte.
Sie legte zutraulich ihre Hand in seinen Arm, ließ ihn jedoch gleich wieder
los und eilte ihm voran auf den Hof und an den Brunnen, dessen Schöpfeimer
sie aus der Tiefe emporhaspelte und ohne jede Anstrengung, als sei es ein Trink¬
becher, an die Lippen setzte.
„Ich muß doch wissen, wie das Wasser schmeckt, das meine Kühe in Zukunft
sausen sollen," meinte sie lachend.
„Von diesem Wasser trinken wir im Hause auch," erklärte Herr Salentin.
„Ich nicht," entgegnete sie sehr bestimmt. ,,Wenn ich erst Eure Frau bin,
trink' ich nur noch Wein. Wasser kann ich auch daheim zu Holzheim haben."
Der Bräutigam wußte nicht recht, ob er diese Bemerkung als Ernst oder
als Scherz auffassen sollte, sagte aber vorsichtigerweise: „Gewißlich wirst du nichts
anderes trinken als dein Eheherr."
Sie hörte kaum darauf, denn die Ruine des Burghauses, die auf einer kleinen
Anhöhe hinter dem Hofe lag, hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie raffte ihren
Rock und eilte den Hügel hinan. Der Freiherr versuchte ihr zu folgen, aber sie
war, noch ehe er die vom Brande geschwärzten Mauern erreicht hatte, seinen
Blicken entschwunden. Als er den öden Vorsaal betrat, durch dessen halbzerstörte
Decke die warme Sonne des Maitages in den Schutt hinunterbrannte, hörte er
Mergens Stimme. Er suchte sie eine Weile vergebens, bis ihm ein Stückchen
Mörtel, von unsichtbarer Hand auf die breite Krempe seines verwitterten Hutes
geworfen, auf die rechte Spur hals. Er schaute empor und sah mit Schrecken,
wie sie leichtfüßig über einen verkohlten Balken dahinschritt und jubelnd vor Lust
in die gähnende Nische eines Fensters trat.
„Mach' keine Torheit, Merge," sagte er mit mühsam unterdrückter Erregung,
„das Gesims ist schmal und die Steine sind locker. Dazu ist dir der Wein zu
Haupt gestiegen, woraus folgt, daß du dich auf deine Füße nicht verlassen kannst.
Komm behutsam herunter, hörst du?"
„Mir behagt's hier oben," erklärte sie, sich aus der Fensteröffnung weit
hinausbiegend, „ich kann von hier Gilsdorf und Nöthen sehen und ganz weit gen
Mittag ein Dorf oben auf der Höhe, das muß Roderath sein. Nicht wahr, Herr,
Roderath hat doch ein Kirchlein mit einem spitzen Turm?"
„Komm nur herunter!" befahl er.
„Erst müßt Ihr mir sagen, ob das Dorf auf dem Berge Roderath ist."
„Ja, in Dreiteufelsnamen I"
„Nun weiß ich's doch," entgegnete sie, ohne von seinem Ärger Notiz zu
nehmen. „Von Roderath war meine Mutter gebürtig, ich aber bin nie über Pesch
hinausgekommen. Müßt mir darum die Frage zugute halten."
„Merge," bat er jetzt, durch ihr Interesse an dem fernen Dorfe gerührt,
„tu's mir zuliebe und komm' herab."
„Ich komm' schon, aber zuvor müßt Ihr mir versprechen, daß wir hier oben
im Burghaus unsere Hochzeit feiern."
„Hier in den Trümmern?" fragte er. erstaunt über ihr seltsames Ansinnen.
„Ja, Herr, hier in den Trümmern. Will Euch auch künden, weshalb. Seht,
als ich ein Mägdlein von vierzehn Jahren war, hat mir ein heidnisch Weib, dem
ich für ihr Kind ein Tröpflein Milch gab, prophezeit, ich würd' dereinst in einem
Schlosse Hochzeit machen. Und wenn das Burghaus hier auch zerstört und ver¬
brannt ist, ein Schloß bleibt's darum doch. Von dem zu Düsseldorf machen sie
immer so viel Wesens, aber ich wette, das hier ist tausendmal höher und luftiger,
denn es hat den Himmel zum Dach und die liebe goldne Sonne zum Turmknaus.
Wollt Jhr's mir versprechen, Herr?" >
„Du bist ein närrisch Mägdlein, Merge," sagte er, indem er wider Willen
über die etwas gewaltsam herbeigeführte Erfüllung der Weissagung des Zigeuner¬
weibes lächeln mußte, „aber, da dir so viel daran liegt, will ich dir versprechen,
daß hier oben das Hochzeitsmahl gehalten werden soll."
„Gut," erwiderte sie, „nun will ich auch wieder vernünftig sein." Und mit
katzenartiger Gewandtheit kletterte sie von ihrem gefährlichen Anflug hinab.
Er konnte sich nicht enthalten, ihr wegen ihres Leichtsinns ernstliche Vor-
stellungen zu machen, sie aber hing sich lachend an seine Schultern, sah ihm in
die Augen, daß ihm ganz wunderlich zumute wurde, und sagte schmeichelnd: „Herr,
wolltet Ihr mir nicht die Naturalienkammer weisen?"
Da war er entwaffnet.
In wahrhaft gehobener Stimmung erschloß er ihr das Allerheiligste des
Hauses. Sie streifte seine Schütze mit flüchtig-neugierigen Blicken, die weder
tieferes Interesse noch Erstaunen verrieten. Er vermutete, daß die Fülle der Merk¬
würdigkeiten sie verwirre, und entnahm den Schränken ein paar erlesene Stücke,
von denen er voraussetzen zu dürfen glaubte, daß sie auf ihr unbefangenes Gemüt
Eindruck machen würden. Bei der Erklärung, die er dazu gab, holte er weit aus
und begann gleichsam mit der Schöpfungsgeschichte. Aber er mußte die schmerz¬
liche Wahrnehmung machen, daß Merge nur mit halbem Ohre zuhörte und die
Augen mit dein unverkennbaren Ausdruck des Gelangweiltseins auf irgendeinen
anderen Gegenstand richtete, der mit seinem Vortrag in gar keinem Zusammen¬
hang stand.
Für die fliegenden Fische hatte sie ein überlegenes Lächeln, denn daß die
Fische im Wasser und nicht wie die Vögel in der Luft leben, hätte sie sich von
niemand, nicht einmal von ihrem Bräutigam, ausreden lassen. Mit ihrem Ver¬
trauen auf Herrn Salentins Gelehrsamkeit war es nach dieser Stichprobe also
gründlich vorbei, und ihr Skeptizismus machte weder vor den Hummerschalen
noch vor den Kokusnüssen Halt, denn sie vermochte nicht einzusehen, weshalb
gerade die Krebse und die Nüsse in anderen Ländern so viel größer sein sollten
als im Herzogtum Jülich. Daß die See auf ihrem Grunde Sterne berge, klang
auch nicht gerade übermäßig wahrscheinlich, und daß diese Sterne noch obendrein
Tiere wären, obschon sie weder Kopf noch Schwanz hatten, wollte ihr noch weniger
in den Sinn. Und was sollte sie endlich zu versteinerten Fischen sagen I Als ob
ein toter Fisch, der, wenn man ihn nicht bald verzehrte, doch nichts Eiligeres zu
tun hatte, als in Fäulnis überzugehen, zu Stein werden könnte! Es war wirklich
ergötzlich, was ihr der alte Herr alles für bare Münze zu nehmen zumutete!
Das Einhorn wollte sie schon eher gelten lassen, denn ein Pferd mit einem
gewundenen Horn auf der Stirn hatte sie auf dem Bilde der heiligen Barbara
in der Stiftskirche zu Münstereifel gesehen, und die Pfeile aus Guinea fanden
ebenfalls Gnade vor ihren Augen, denn sie wußte, daß die bösen Heiden mit
solchen Geschossen den heiligen Sebastian ums Leben gebracht hatten. So recht
warm wurde sie freilich auch dabei nicht. Als ihr Herr Salentin jedoch die Schale
einer Perlmuschel zeigte, in der vier kleine Perlen von birnförmiger Gestalt zu
sehen waren, leuchteten Mergens Augen plötzlich in so warmer Begeisterung auf,
daß der Bräutigam endlich gewonnenes Spiel zu haben glaubte und ihr mit
erneutem Eifer auseinandersetzte, unter wie unsäglichen Mühen und Gefahren die
Perlmuscheln an den Küsten Indiens aus den tiefsten Tiefen des Meeres ans
Tageslicht geholt würden, und wie selten die Geduld der armen Perlenfischer
durch eine edle Perlen bergende Muschel belohnt werde.
Das Mädchen hörte der sehr ausführlichen Auseinandersetzung wirklich mit
einer Geduld zu, die der der indischen Taucher nichts nachgab, dann aber fragte
sie, strahlend vor Glück, ob ihr der Freiherr aus den vier Perlchen nicht zur
Hochzeit ein Paar Ohrringe machen lassen wolle, denn wenn die Dinger in der
Tat so kostbar wären, so sei es doch jammerschade, daß man sie aus den finsteren
Tiefen des Ozeans heraufgebracht habe, nur um sie in einem ebenso finsteren
Schranke wieder zu verschließen. Dabei strich sie das schwarze Kraushaar empor,
damit er ihre zierlichen Ohren betrachten und sich von der Wirkung der schimmernden
Kügelchen an ihren rosigen Ohrläppchen schon im voraus einen Begriff machen
könnte.
Der alte Herr, dem bei diesem Ansinnen ein Stich durchs Herz gegangen
war, lächelte nachsichtig und brachte seine Muschel schleunigst in Sicherheit. Er
wußte jetzt, daß er, wenn er Mergens Verständnis für die Wunder der Schöpfung
wecken und ausbilden wollte, ein weites Feld vor sich hatte, und daß es seine
Aufgabe sein würde, diesem Kinde mehr ein Vater als ein Gatte zu sein.
(Fortsetzung folgt)
AZNSle literarische Generation von heutzutage erscheint, aus größerer
Entfernung gesehen, durchweg etwas schmächtig im Format. Die
Gesichter, die sie dem Beschauer zukehrt, zeigen immer wieder jene
von ungesunder Stubenluft zeugende Blässe, die man im besseren
! Kolportageroman als „interessant" zu bezeichnen pflegt. Sie fesseln
durch die intellektuellen Werte, die sich in ihnen ausprägen, und durch die ganz
sympathische psychische Delikatesse, mit der sie den Schleier von unausgesprochenen
und nur halb erfühlten Dingen dieses Lebens zu ziehen trachten. Aber sie lassen
den, der ihnen gutwillig in ihre Labyrinthe gefolgt ist, fast jedesmal auf halbem
Wege im Stich. Sie enttäuschen, weil sie nicht robust genug sind, die theoretisch
errechneten Lebensenergien auch praktisch und tatensreudig zu erhärten. Und sie
geben ihren Jüngern am letzten Ende nichts als jene große, beklommene Rat¬
losigkeit mit auf den Weg. die zu allen Zeiten wie ein Fluch über den Dilettanten
und verirrten Problematikern dieser wunderlichen Welt gelegen hat.
Am bösesten treten die Ergebnisse dieser Ratlosigkeit naturgemäß im Drama
zutage. Die dramatische Kunstform verlangt lebhafter als jede andere nach einem
Willen, der die Tat gebiert, und nach starken und festen Baumeisterhänden. Das
Destruktive hat auf dem Theater nichts zu schaffen. Der Sinn der Tragödie und
des Dramas überhaupt ist Kampf — heute vielleicht mehr denn je. Und das
Kämpferische der dramatischen Form läßt sich nicht künstlich züchten, läßt sich nicht
durch den heute beliebten kampflosen und knechtischen Fatalismus ersetzen.
VestiM terrene. So sollte man meinen. Die häßlichen Verwesungsprozesse,
die sich in jedem Winter auf unseren großstädtischen Bühnen abspielen, reden eine
Sprache, die deutlich genug ist. Aber wie der Nachtfalter um die Lampe, so jagt
der Ehrgeiz unserer Schriftsteller immer wieder um das suggestive Zauberreich
des Theaters.
Verdrossen blickt das Auge über das dramatische Trümmerfeld der letzten
Jahre. Enttäuschung steht neben Enttäuschung, Katastrophe neben Katastrophe.
Halbheit, klägliche Halbheit auf der ganzen Linie ist das deprimierende Merkmal.
Und unsere reduzierten Hoffnungen konzentrieren sich auf die paar grünen Zweige,
die aus der Dürre und Trockenheit dieses Landschaftsbildes noch hier und da
hervorschimmern.
Ein solcher grüner Zweig war bis vor einigen Jahren der junge Dramatiker
Herbert Eulenberg — ein sympathisches, frisches Gesicht, daS bei seinem ersten
Erscheinen auf das angenehmste aus dem Gros des hoffnungslos in Literaten-
Mquen verkapselten deutschen Schrifttums hervorstach; eine künstlerische Physiognomie,
auf die das immer bedenklich stimmende Schlagwort „literarisch" zum ersten Male
nicht recht passen wollte; ein ganzer Kerl, wie es schien. Und dazu einer, der ein
paar so aparte und wundervoll echte Töne auf seiner Leier hatte, wie wir sie
seit Jahr und Tag nicht gehört zu haben glaubten.
Er begann mit einigen Dramen, die selbst den Indifferentesten aufgerüttelt
hätten, wenn — ja wenn unsere Theaterdirektoren nicht neuerdings in einer so
seltsamen Angst vor aller wertvollen inländischen Produktion befangen wären.
Ich meine die Dramen „Dogenglück", „Leidenschaft" und „Ein halber Held"/') die
bis auf den heutigen Tag von den entscheidenden deutschen Bühnen hartnäckig
geschnitten worden sind. Diese Jugendwerke sind unreif in manchem, abhängig
von größeren Vorbildern, verstiegen in ihrem Gefühl und in ihrer Leidenschaft,
und doch mit Blut und Leben gefüllt bis in die Fingerspitzen, beseelt von einem
männlich schönen Klang, der in den Ohren haften bleibt, in bunten Farben schillernd
und vibrierend, verwegen und prächtig in ihrer Bilderfülle und dabei dramatisch
akzentuiert von Anfang bis Ende. Man sehe sich „Dogenglück", das erste Stück
aus dieser Dramenfolge, etwas näher an. Ein sehr jugendlicher, aber auch sehr
begabter Shakespeareschüler macht hier seine ersten Schritte ins Leben; ein Shake¬
speareschüler, aber kein Shakespeareepigone.
Da wird die oft gehörte Geschichte von dem Manne im grauen Haar erzählt,
der auszog, ein junges Weib zu freien. Antonio Falieri, Doge von Venedig,
„der Sitte Spiegel und der Bildung Muster," hängt die Müdigkeit und den Ernst
seiner sechzig Jahre an die junge Marietta Dandolo, die das Bild eines anderen
im Herzen trägt und dem Gatten nichts sein kann als demütig dienende Tochter.
Und wenn auch ihre Wünsche und ihre Sehnsüchte schlafen gegangen scheinen, wenn
sie die tiefe Unruhe ihres Blutes auch durch harte Worte wie Pflichterfüllung
und Sich-Bescheiden zu beschwichtigen trachtet — draußen tobt die ungebärdige
Leidenschaft des anderen, des jungen, strahlenden Cesare, der von Unterwerfung
und kampflosen Verzicht nichts hören mag, der auf dem Rechte der Jugend besteht,
und dem Sohnesehrfurcht, Vasallentum und Freundschaft für nichts gilt, wo das
höhere Gebot verzehrender Liebe waltet und den stürmischen Trotz seiner zwanzig
Jahre in die Schranken fordert. Dieser mit echter Jugendlichkeit erfühlte Konflikt
geht dann seinen üblichen Gang! Verschwörung und Sturz des Dogen, ein kurzes
Liebesidyll zwischen Marietta und Cesare, und dann ein in wildem Schrecken aus¬
klingendes Ende im Irrenhaus. Auf den äußeren Lauf der Begebnisse kommt es
hier weniger an. Da ist manches konventionell, manches verstiegen, manches in
breit ausgesponnenen Episoden stecken geblieben. Die Bedeutung dieser Jugend-
arbeit, die, wie alle ihresgleichen, augenfällige Schwächen natürlich nicht verleugnen
kann, liegt weniger in dem zufällig gefundenen Vorwurf, als vielmehr in dein
persönlichen Klang, der sie durchströmt, und in der konzentrierter dichterischen
Atmosphäre, die sie umwittert. Das „Dogeuglück" war ganz gewiß keine Er¬
füllung, aber ebenso gewiß eine starke Verheißung, ein zuversichtliches Versprechen,
das aufhorchen ließ und nachdenklich stimmen mußte. In diese von Leben und
Farbe strotzenden Dialoge, in diese fast überreich mit prachtvollen Bildern und
glitzernden Metaphern beladenen Szenen hatte sich wirklich eine Flocke aus dem
Hermelin des Shakespeareschen Königsmantels verirrt. Dahinter stand nicht die
Ohnmacht und Hohlheit des Epigonen, sondern das echte Selbstbewußtsein eines
vorwärtsstürmenden dichterischen Willens. Ein dramatisches Talent, das nur seine
eigenen Wege noch nicht gefunden hatte, goß da neuen Wein in alte Schläuche.
Ob da die wohlbekannten Gesichter der kupplerischen Amme, des melancholisch
weisen Narren oder der ehrsamen Frau Hurtig auftauchten, ob man in dem Neben¬
einander von pathetischer Tragik und grotesker Derbheit die deutlichen Züge eines
Größeren wiederfand — die Klischees und Schablonen waren in diesem Nahmen keine
Klischees und Schablonen mehr. Sie waren zu neuem, eigenem Leben erwacht,
und dies Leben pulsierte so stark und verheißungsvoll, daß man über die letzten
Shakespeareschen Reminiszenzen mit Vergnügen hinwegsah. Dazu kam ein anderer,
bisher kaum gehörter Klang. In der stärksten Szene seines Stücks, in dem Akt,
der ein Irrenhaus mit den zwischen Narrentum und menschlicher Weisheit einher¬
pendelnden Gesprächen seiner Insassen malt, hatte Herbert Eulenberg einen ent¬
schlossenen Schritt aus der Realität des Dramas hinüber in die Doppelbodigkeit
der romantischen Groteske getan. Da gespensterte in unsicherem Lichte allerhand
Seltsames vorbei. Da hatte ein melancholischer Ton aus der Tollheit des Welt¬
getriebes Leben und Rhythmus gewonnen. Und da war, alles in allem, aus
eigener dichterischer Intuition ein Mikrokosmos geboren, der tiefer Blickende durch
seine beseelte Farbigkeit fesselte und nicht wieder losließ.
Wir haben dem wohl schon halb verschollenen „Dogenglück" diese Ausführ¬
lichkeit gewidmet, weil es die ursprünglich so reichen dichterischen Möglichkeiten
des Eulenbergschen Talents sozusagen in Reinkultur widerspiegelt. Das nächste
Drama, das dreiaktige Trauerspiel „Leidenschaft", ist reifer und mehr losgelöst
von größeren Vorbildern, ja, ist überhaupt wohl das reifste und geschlossenste
Werk, das uns Eulenberg bis heute gegeben hat. Etwas von dem holdtraurigen
Duft des deutschen Volksliedes liegt darüber. „Es hatte ein Knabe ein Mädchen
lieb ..." Dazwischen klingen balladeske Akzente an. Wuchtig und stark dröhnen
sie in eine rührende Welt von Kleinbürgerlichkeit und Liebe, von verhaltener
Sehnsucht und seligster Hingabe. Etwas Kleist ist darin, etwas vom jungen Schiller
und sehr viel verstohlene Romantik. Eulenberg knüpft an die Tradition des so¬
genannten bürgerlichen Trauerspiels an, wie es sich von Schillers „Kabale und
Liebe" bis zu Hebbels „Maria Magdalena" entwickelt hatte. „Das Stück spielt
in Deutschland, wo und wann ihr wollt." So steht es in seinen eigenen szenischen
Bemerkungen zu lesen. Die Geschehnisse der „Leidenschaft" sind von der Realität
der Dinge, von Ort und Zeit vollkommen gelöst. Sie verlassen den Boden des
naturalistischen Dramas. Sie sind in eine aparte dichterische Atmosphäre hinein¬
komponiert, in der die Menschen sich anders geben, als unser Alltag sie kennt,
in der sie ihre eigene Sprache sprechen und trotzdem, im Sinne einer höheren
künstlerischen Wahrheit, wahr und lebensecht und gegenwärtig erscheinen. Sie
sind von einem bewußten künstlerischen Willen ins Unwirkliche stilisiert, ohne
doch im letzten Grunde auch nur einen Augenblick lang unwirklich zu sein. Sie
sind von einer leisen Melancholie überschattet und werden, was das Wichtigste ist,
von einem heißen dramatischen Atem vorwärts getrieben und vorwärts gehetzt. Erst
gegen Schluß läßt das, was man die innere Dynamik der Tragödie nennen könnte,
ein klein wenig nach. Da scheint es, als ob Eulenberg müde geworden wäre, als
ob ihn eine plötzliche Furcht vor der Ungeheuerlichkeit seines Wagnisses erfaßt
hätte. Er verliert die Zügel aus der Hand und irrt nun notgedrungen in den
Niederungen einer banalen Theatralik umher.
Auch hier kommt wenig oder nichts auf den Gegenstand als solchen an. „Sie
flohen beide von Hause fort... Es wußt's weder Vater noch Mutter..." Das
möge zur Kennzeichnung genügen. Auch in diesem Falle macht der Ton die Musik.
Und der Ton ist so metallisch, so klar und von so lauterster Schönheit umspielt,
daß man nur noch einmal die Teilnahmlosigkeit bedauern kann, mit der unsere
großen Bühnen dem blut- und glutvollen Leben dieser echten Tragödie gegenüberstehen.
Das dritte Drama, das in diesem Zusammenhange zu nennen wäre, ist „Ein
halber Held".
Herbert Eulenberg, der sich selber zu kommentieren liebt, hat diese Verse seiner
Tragödie vorangestellt. Es kommt ihm hier, stärker als bisher, darauf an, eine
abstrakte Idee dramatisch und folgerichtig zu gestalten. Er hat in sich das Bild
eines Mannes erlebt, an dem Mutter Natur, als sie ihn zum Helden schaffen
wollte, eine Stümperarbeit verrichtete. Kurt von der Kreith, Hauptmann beim
Grenadierregiment des großen Königs, geht daran zugrunde, daß er den Mut zur
Tat, der hier gleichbedeutend mit dem Mute zum Verbrechen ist, nicht findet. Er
ist eine Hamletnatur, in tausend Hemmungen und Skrupeln und Verzagtheiten
befangen. Er kommt über das, was ihm Elternhaus und Erziehung und Preußen¬
tradition und primitive Vaterlandsliebe und soldatische Disziplin eingeimpft haben,
in den entscheidenden Stunden seines Lebens nicht hinaus. Der Konflikt zwischen
den Hemmungen seiner Natur und den lauter und lauter werdenden Wünschen
seines hundertfach gedemütigten Stolzes zerbricht und zerreibt ihn. Und wenn ihn
am Schluß die preußischen Grenadiere wie einen tollen Hund niederschießen, so
ist das nichts als der logische Abschluß eines längst vollendeten Menschenschicksals,
der leise, in dumpfer Resignation endende Ausklang einer armseligen Donquichote-
Existenz.
Das Morbide, Problematische tritt hier zum ersten Male in die Welt der
Eulenbergschen Dramatik. Die Helden seiner bisher besprochenen Tragödien zeigen
im großen und ganzen jene robuste Gradlinigkeit der Empfindung und jene nach
aufwärts gerichtete Kurve kämpferischer Gläubigkeit und Leidenschaft, wie sie der
überlieferte Begriff von tragischer Verkettung und vom Wechselspiel zwischen Schuld
und Sühne nun einmal verlangt. Im „halben Helden" erscheint zum ersten Male
die gebrochene Linie. Dieser Kurt von der Kreith trägt von Anfang an eine
kranke, von bösen Zweifeln angefressene Seele als heilloses Erbteil mit sich umher.
Er ist eine jener problematischen, mit dem Leben niemals recht fertig gewordenen
Naturen, wie sie gerade die Literatur der letzten zwanzig Jahre vorzugsweise zu
gestalten liebt. Die Zwiespältigkeit und Differenziertheit modernen Empfindens,
der verderbliche Widerspruch zwischen Wollen und Vollbringen, zwischen Traum
und Wirklichkeit, zwischen seelischer Größe und physischer Kleinheit — all das hat
in diesem „halben Helden" Leben und Gestaltung gewonnen. Schwäche und Halbheit
ist seines Wesens melancholisches Merkmal, und das Leben stößt ihn aus, wie
es eben, nach einem uralten Naturgesetz, Schwäche und Halbheit jedesmal aus¬
zustoßen pflegt.
Und diesen im Sinne unserer Zeit wahrhaft tragischen Typus stellte Herbert
Eulenberg, aus Gründen künstlerischer Reziprozität, mitten hinein in die erbitterte
Mannhaftigkeit des siebenjährigen Krieges. Die hellen Fanfaren preußischen Helden¬
tums, die ihn umklingen, der Paradeschritt friderizianischer Bataillone, der in die
fünf Akte hmeintönt, und die ganze primitive gläubige Melodie, die dies robuste,
niemals zweifelnde, niemals sentimentale Geschlecht in suggestiven Akkorden um¬
rauscht — dieser Gegensatz gibt dem Schicksal des in unseliger Halbheit fest¬
gehaltenen preußischen Hauptmanns erst seine eigene erschütternde Note. Vielleicht
ist auch diese Tragödie im Sinne dramatischer Architektonik und Geschlossenheit
nicht ganz fertig geworden. Auch sie irrt mehr als einmal vom rechten Wege ab.
Auch sie arbeitet häufig eher mit den Mitteln des lyrischen Gedichts und der
Ballade als mit den stahlharten Akzenten dramatischer Vorwärtsbewegung. Aber
sie bleibt, trotz alledem, als ein Klang voll seltenster Schönheit, von Schwermut
und dunkler Leidenschaft verklärt, im Ohre haften. Und sie erweckt ein lebendiges
Echo, weil sie menschliche Untergrunde und Zusammenhänge aufdeckt, die ein
Dichter gesehen und als Dichter gestaltet hat.
Es muß an dieser Stelle mit aller Entschiedenheit ausgesprochen werden, daß
Herbert Eulenberg die dichterische Gedrungenheit und suggestive Kraft der drei
genannten Dramen niemals wieder erreicht hat. Wer es ehrlich mit dem Dichter
des „Dogenglücks" und der „Leidenschaft" meint, wer es seit Jahren mit Schmerzen
erleben muß, wie sich Eulenbergs reiche Begabung mehr und mehr in eine un¬
fruchtbare Einöde verrennt, der wird um diese Feststellung beim besten Willen
nicht herumkommen. Die Wege dieses Dramatikers, den man, solange er gesund
und stark und zukunftskräftig war, in unbegreiflicher Kurzsichtigkeit totgeschwiegen
hat, sind mit einer langen Reihe böser Mißerfolge gepflastert. Die frohe Ver¬
heißung, die er uns gewesen ist, droht immer mehr in dem Strudel bitterster
Enttäuschungen zu versinken, und fast mit jedem neuen Werke, das sein Fleiß uns
vorweist, mehren sich die Zeichen eines rapiden künstlerischen Verfalls. Hinter
allen redlichen Anstrengungen lugt immer wieder die Grimasse plattester Ohnmacht
hervor. Aus allen seinen mit fast nervöser Hast auf den Markt geworfenen
Werken klingt lauter und immer lauter die erschütternde Klage eines Taubstummen,
der verzweifelt um Ausdrucksmöglichkeiten ringt. Mag sein, daß ihn seine noch
immer gesunden Instinkte eines Tages doch wieder herausfinden lassen und ihm
die Sprache seiner Jugend wiedergeben. Bis dahin aber ist die melancholische
Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen, daß er sich in unheilvolle Labyrinthe
verstrickt hat, die sein Helles Bild von Tag zu Tag mehr zu verdunkeln drohen.
Das bleibt im einzelnen kurz zu begründen. Die mehr nebensächliche Jugend¬
arbeit „Künstler und Katilinarier", über die zunächst ein paar Worte zu sagen
wären, gibt dem oben skizzierten Bilde des jungen Eulenberg keine neuen Nuancen.
Sie ist banal, im guten wie im schlechten Sinne. Ihr Motiv, das der Titel schon
andeutet, ist der uralte Kampf des Höhenmenschen mit dem sogenannten Normal¬
empfinden des Philisters. Mit viel schöner Begeisterung, mit viel Glauben und
mit den immer wiederkehrenden sprachlichen Reizen, die Eulenbergs ureigenster
Besitz sind, wird dieser Konflikt in vier breitgesponnenen Aufzügen abgehandelt.
Frische ist darin und eine große, sympathische, jugendliche Unverbrauchtheit. Aber
die aparten, aus der Schablone herausfallenden Merkmale der drei genannten
Jugendtraum wird man in diesem etwas zahm geratenen Aufrührerstück vergeblich
suchen. Die Unreife des „Dogenglücks" versprach eine goldene Zukunft. Die Unreife
der „Künstler und Katilinarier" verspricht so gut wie nichts und bleibt die gleich-
giltige Angelegenheit ihres geistigen Vaters.
Den Eulenberg, der die hoffnungsvollen Gaben seines Talentes weiterzubilden
trachtet, finden wir erst in der „Anna Walewska" wieder. Hier wird, wenigstens
in einem äußeren Sinne, an die Traditionen des „halben Helden" angeknüpft.
Auch die handelnden Menschen dieser Tragödie sind unfrei, wurmstichig und Sklaven
dunkler, unterirdischer Instinkte. Auch um ihre Schicksale weht jener schwermütig
herbe Volksliedton, den Eulenberg wie kein anderer meistert, und den eben nur
der wirkliche Dichter findet. Aber schon hier wird für feinere Ohren ein unerfreulicher
Nebenklang hörbar, und man kann den leisen Verdacht nicht mehr von sich weisen,
daß Eulenberg den ungewöhnlichen Vorwurf der „Anna Walewska" wählte, nur,
weil er eben ungewöhnlich war und abseits von Natur und Norm und Her¬
kommen lag. Die sündige Liebe eines Vaters zu seinem Kinde ist das Motiv
dieser Tragödie. Gewiß wird niemand dem Künstler das gelegentliche Erörtern
derartiger Dinge ernstlich verwehren. Aber ebenso gewiß wird man in solchem
Falle auf die allerpeinlichste psychische Delikatesse und Reinlichkeit halten müssen.
Und da muß denn der „Anna Walewska" der Vorwurf gemacht werden, daß
ihre Geschehnisse nicht aus künstlerischer Notwendigkeit emporwachsen, daß sie von
einem abstrakten Gedanken regiert werden, der nicht ins Leben umgesetzt wurde,
und daß sie sich mehr oder weniger als müßige Konstruktionen eines nach ab¬
seitigen Dingen schielenden Kopfes darstellen. So bleibt der Konflikt, der wirklich
ins Elementare gesteigert fein müßte, wenn er nicht jedem gesunden und
natürlichen Empfinden ins Gesichtschlagen soll, am letzten Ende im. Theoretischen
stecken und entläßt den Zuhörer weniger mit dem Gefühl einer tragischen Er¬
schütterung, als vielmehr mit dem Bewußtsein, eine große Peinlichkeit erlebt zu
haben, die ihm besser erspart geblieben wäre. Es bleibt der Eindruck eines nicht
notwendig gewesenen artistischen Experimentes, einer lebensfremden Schreibtisch-
konstruktion, über deren Geschmack und Takt im Grunde nur eine Ansicht
möglich ist.
Was an der „Anna Walewska" befremdet und den Eulenbergfreund einen
Schritt zurücktreten läßt, konnte natürlich die spielerische Laune eines schlechten
Augenblicks sein. Der Dichter konnte sich besinnen und seinem Talente, das auch
in dieser Maskierung nicht zu übersehen war, neue, bessere Möglichkeiten öffnen.
Aber diese Hoffnung hat sich leider bis auf den heutigen Tag nicht erfüllt. Das
Chaotische, Unausgegohrene, Sprunghafte und Ungeberdige in ihm, das wir für
inneren Reichtum ansahen, entpuppt sich mehr und mehr als Ohnmacht und
Dekadence und dramatische Hilflosigkeit. Sein sympathisches Gesicht ist blaß
geworden, seine Stimme hat alles Metall verloren, und sein Talent, das noch
immer, fleißig und ehrgeizig, um die Bühne irrlichteriert, wird von einem Theater¬
skandal in den anderen gehetzt.
Die lange Kette dieser dramatischen Mißerfolge beginnt mit dem „Münch-
hausen" und endet — vorläufig — mit der in diesen Wochen gespielten Tragikomödie
„Alles um Geld". Dazwischen liegen, auch sie durchgängig mit schwarzen Kreuzen
gekennzeichnet, die Dramen „Ulrich, Fürst von Waldeck", „Ritter Blaubart", „Alles
um Liebe", „Der natürliche Vater" und „Simson". Wir fassen sie kurzerhand
zusammen, weil aus ihnen die gleiche Physiognomie oder, besser gesagt, die gleiche
Physiognomielosigkeit spricht. Hier und da blitzt freilich hinter allem toten Gestein
ein Körnchen echten Goldes auf. Hier und da verdichten sich die Geschehnisse zu
seltsam eindringlichen Impressionen und rufen Erinnerungen an den alten, besseren
Eulenberg wach. Hier und da flattern noch einmal abgerissene Fetzen echtester
Poesie auf. Aber alles in allem genommen, bleibt diese Kunst Stückwerk von
Anfang bis Ende, Chaos, aus dem kein Stern sich gebären will, und Zuchtlosigkeit,
die uns keine Verheißung mehr sein kann. Eulenberg liebt es, mit hundert mühsam
erlernten Stilarten zu tändeln, ohne im Grunde doch auch nur eine meistern zu
können. Zwischen Jean Parischen Reminiszenzen tauchen Shakespearesche Schatten¬
gestalten, zwischen Shakespeareschen Schattengestalten Wedekindsche Harlekinaden
und Bocksprünge auf. Seine ehemals so kristallklar sprudelnde Sprache ist all-
mählich zu einer künstlichen Plastik hinaufgeschraubt worden, und sein aus hundert
erborgten Kunstformen zusammengeflicktes Gewand verrät an keiner Stelle auch
nur einen leisen Ton von wirklich eigener Klangfarbe.
Ein Chaos toter Sachen, soweit man nur sehen kann. Und doch: Inmitten
dieser Öde klingt ab und zu wieder allerlei Echtes und Erfühltes an und läßt
erkennen, daß hinter diesen Dingen schließlich doch immer noch ein un¬
antastbarer dichterischer Wille ringt. Die Umrisse des alten, sympathischen
Eulenberg-Kopfes können sich auel in seinen verfehltesten Schmerzenskindern nicht
gänzlich verleugnen. Trotz aller Enttäuschungen, die sein in die Irre gegangenes
Talent uns bereitet hat, kommen wir mit unseren menschlichen Sympathien auch
jetzt noch nicht von dem Autor der „Leidenschaft" und des „Halben Helden" los.
Und wenn sich in diesen Zeiten dramatischer Dürre ein Herzenswunsch auf die
Lippen aller redlich Denkenden drängt, dann ist es der, daß Herbert Eulenberg
endlich aus seinem bösen Traum erwachen und zu den lauteren Quellen seiner
Jugend zurückfinden möge. Ihm selber und uns wäre dann mit einem
Schlage geholfen.
Seinen Verdiensten um die historisch-psycho¬
logische Forschung hat Max Dcssoir ein neues
hinzugefügt, indem er einen Abriß einer Ge¬
schichte der Psychologie (Heidelberg, Carl
Winters Universitätsbuchhandlung, Pr. 4 M.)
veröffentlichte. Die Schwierigkeit des Unterneh¬
mens, die fortschreitende Erkenntnis des Psy¬
chischen Geschehens in engen Raum zu banne»,
kann nur der Verfasser voll ermessen, der Leser
mag sich, durch die gefällige Form des Berichts
verführt, leicht darüber hinwegtäuschen lassen.
Dies würde zwar für das Buch, aber gegen
den Leser sprechen; deshalb ist lebhaft zu
wünschen, daß Dessoir den ihm gebührenden
verständnisvollen Dank ernten möge.
Die ganze Schilderung wird von der Ein¬
sicht getragen, daß es einen einfachen, gerad¬
linigen Werdegang der Seelenlehre nicht gibt:
metaphysische Konstruktion und e.rakteS Forschen
haben sich neben und auch gegeneinander um
die Lösung der Probleme bemüht. Dieser
Zweiklang läßt sich bis zu noch junger Ver¬
gangenheit verfolgen, deren Arbeit abgeschlossen
vor uns liegt und die Dcssoir historisch ein¬
zureihen unternehmen konnte — bis zu den
Tagen Gustav Theodor Fechncrs. Freilich hat
unsere Wissenschaft neben dem ursprünglich
durch religiöse Bedürfnisse bedingten Bemühen
um die Seele und der Erfahrung, daß im
menschlichen Körper Kräfte wirksam sind, die
sich in Empfindung und Bewegung äußern,
»och einen dritten Kristallisationspunkt gehabt,
nämlich die praktische Menschenkenntnis, deren
erster greifbarer Niederschlag in Sprüchwörtern
und dichterischen Äußerungen zu finden ist.
Diese Erkeuiitnisquelle spielt in der geschicht¬
lichen Entwicklung der eigentlich wissenschaft¬
lichen Psychologie eine verhältnismäßig geringe
Rolle und tritt erst in der Forschung der
Gegenwart stärker hervor, wovon namentlich
zahlreiche umfassende Darstellungen der In¬
dividualität in der Form sogenannter Psycho-
grnphien Zeugnis ablege». '
Im Altertum fohlt zunächst die deutliche
Vorstellung der Seele als eines selbständigen
Trägers der Bewußtseinstatsache». Während
sie in der religiösen Vorstellung zum Dämon
wurde, der aus einer anderen Welt stammend
in de» Leib gebannt ist, reihte sie natur-
philosophische Betrachtung in die Körperwelt
ein und beschrieb sie als etwas Flüssiges,
Warmes, Luftsörmiges. Erst Plato, der bereits
die synthetische Kraft des Bewußtseins erkannte,
und Aristoteles sichren über diese Primitiven An¬
fänge hinaus, wenngleich die Vorgeschichte der
Psychologie sich auch in ihren Lehren geltend
macht. Namentlich Aristoteles hat Tatsachen
der Selbstbeobachtung zum Gegenstand seiner
Betrachtungen gemacht, in die Mannigfaltigkeit
des Wahrnehmungslebeus zum erstenmal Ord¬
nung gebracht, Lust und Unlust als Zeichen
einer Förderung oder Hemmung in der Funktion
seelischer oder körperlicher Anlagen zu erklären
gesucht — kurz: der empirischen und syste¬
matischen Psychologie den Boden bereitet. Ent¬
scheidende Gesichtspunkte für den Fortschritt
der Seelenforschung finden wir dann später,
ini sechzehnten Jahrhundert bei Ludovicus
Vives. Sein Grundsatz war: nicht zu unter¬
suchen, was die Seele sei, sondern welche
Eigenschaften sie habe und wie sie wirke. Mit
langsam wachsender Einsicht "wird die Zer¬
gliederung der Bewußtseinstatsachen und die
Erforschung der ursächlichen Beziehungen einer¬
seits zwischen der Innen- und Außenwelt,
anderseits zwischen den Elementen des Be¬
wußtseins als Aufgabe der wissenschaftlichen
Psychologie erfaßt. Das Emporblühen der
Naturwissenschaften fand auch in der Psycho¬
logischen Forschung Widerhall. Sie bildeten
den Ausgangspunkt für Malebranche, der je¬
doch die Gefahren jener Annäherung zu um¬
schiffen wußte und die Beziehungen des see¬
lischen Geschehens zum Leib und zur Außen¬
welt als methodologische Notwendigkeit er¬
kannte; ein Parallelismus zwischen seelischen
und körperlichen Vorgängen, so sagt er, ist
nicht metaphysisch zu begründen, sondern er
besteht als ein in der Psychologie unentbehr¬
liches Hilfsprinzip. Auch eine Auflösung der
psychologischen Probleme in eine zur Meta¬
physik erweiterten Erkenntnislehre hat Male¬
branche vermieden. Nunmehr waren die trag¬
fähigen Grundlagen für die psychologische
Wissenschaft gewonnen. In der Folgezeit geht
manches wieder verloren, und somit wieder¬
holt sich das bekannte Spiel geschichtlicher Ent¬
wicklung — ein ewiger Wechsel von Fortschritt
und Rückschritt, aber zuletzt das unaufhaltsame
Durchdrungen fruchtbarer Aussaat. In der
Schilderung dieses Prozesses, wie er sich auch
weiterhin bis an die Schwelle der Gegenwart
verfolgen läßt, ist Dessoir Meister. Sicher
weist er uns die Stufen siegreicher Erkenntnis
und in der Durchsichtigkeit der Darstellung
greifen wir die ganze Schwere der Aufgabe,
die der Mensch sich stellte, als er seine Seele
zu erforschen unternahm.
Wer als Laie einmal den Wunsch gehegt
hat, sich von der modernen Psychologischen
Forschung in gröbsten Umrissen ein Bild zu
gestalten, dem dürfte Hermann Ebbinghaus
nicht fremd sein, stammen doch aus seiner
Feder der geschickte Überblick über die Psycho¬
logie in der „Kultur der Gegenwart" und
ein „Abriß der Psychologie", der für eine all¬
gemeine Orientierung gute Dienste zu leisten
vermag. Daß dieser verdienstvolle Forscher
im besten Mannesalter hinweggerafft wurde,
ohne sein Hauptwerk, „Grundzüge der Psycho¬
logie", vollendet zu haben, wird jeder aufs
tiefste bedauern, der sich seiner Führung je
anvertraut hat. Wenn wir hier zur Anzeige
bringen, daß Ernst Dürr die dritte Auflage
des hinterlassenen ersten Bandes in einer Neu¬
bearbeitung besorgt („Grundziige der Psycho¬
logie^ von Hermann Ebbinghaus. Erster
Band, dritte Auflage, bearbeitet von Ernst
Dürr. Leipzig, Verlag von Veit u. Co., 1911.
Preis 18 M.) und die Fortführung des Werks
begonnen hat (der zweite Band gelangt in
ieben bis acht Lieferungen zur Ausgabe. Bis
etzt erschienen: erste Lieferung— von Ebbing¬
haus — 1908, zweite Lieferung — Fortfüh¬
rung von Dürr — 1911 Ä 1,80 M), so muß
gleich bemerkt werden, daß es sich hier nicht
um eine für weite Kreise bestimmte Arbeit
handelt. Das Buch ist allerdings als eine
Einleitung gedacht, aber als eine Einleitung
n das Studium der Psychologischen Dinge
und nicht bloß in eine erste und all¬
gemeine Kenntnis von ihnen. Daß es sich
hierfür vorzüglich eignet und zu den besten
Darstellungen der Psychologie gehört, die wir
besitzen, ist in Fachkreisen längst anerkannt
worden und wir werden eS Ernst Dürr Dank
wissen, daß er sich der schwierigen Aufgabe
unterzogen hat, das wertvolle Vermächtnis
zu verwalten und zu mehren. Eingriffe in
den wissenschaftlich gesicherten Bestand des ab¬
geschlossenen ersten Bandes hat Dürr selbst¬
verständlich unterlassen, aber dem Fortschritt
der Forschung hat er Rechnung getragen, in¬
dem er neue Feststellungen der letzten fünf
Jahre zu Berichtigungen und Ergänzungen
benutzt hat. Natürlich haben seine eigenen,
von Ebbinghaus gelegentlich abweichenden
Grundanschauungen mancher Problemlösung
eine neue Fassung gegeben. Es ist hier nicht
der Ort, die von Dürr vorgenommenen Um¬
gestaltungen im Einzelnen anzuführen und
ritisch zu betrachten, dies muß der Fachpresse
vorbehalten bleiben, wir möchten jedoch nicht
versäumen, das Ergebnis sachkundiger, gründ¬
icher Vertiefung in mühseliger Arbeit der
Beachtung aller derer zu empfehlen, denen
die wissenschaftliche Psychologie an? Herzen
Dr. Adolf Matthias, Wirt. Geheimer Re¬
gierungsrat: Wie werden wir Kinder des
Glücks? 3. Aufl. München, C. H. Beck.
Die dritte, „stark veränderte und er¬
weiterte" Auflage des Gegenstücks zum wohl-
berufeuen „Benjamin" erschien just zu einer
Zeit, da der Verfasser stolz dem Geheimrats¬
essel den Rücken kehrte, während er doch
des Vertrauens und der Anerkennung weit
über den Kreis der Fachgenossen hinaus im
seltenen Maße sich erfreute. Wer aber des¬
halb einen besonderen Reiz davon erwartet,
der kommt nicht auf seine Kosten. Wir
müssen es dem Verfasser glauben, daß es
„Glücksstimmung" war, in der er sein Buch
vollendete: „in den Wochen, als ich vorzeitig
den Entschluß zur Reife brachte, aus mir lieb
gewordener amtlicher Tätigkeit zu scheiden."
Immerhin klingt etwa aus dem neu eingefügten
Kapitel „Glück und Politik" eine gewisse
Aktualität durch, das Bekenntnis einer wahr¬
haft liberalen Lebensauffassung, wie man sie
dem Herzen aller Regierenden nnr wünschen
kann, bei aller unbeirrten Zielbcwußtheit: wir
kennen auch diese an dem Manne, der es mit
glücklicherJronie ertrug, daß über„humanistische
Bildung alljährlich derselbe Redner dieselben
abgedroschenen Phrasen aufmarschieren" lioßl
Behaglich spricht in diesem Glückslehrbuche
ein vir veie Irumsnus; nichts von dem Leben
unserer Zeit scheint ihm fremd, außer der ner¬
vösen Hast! Mit leichtem Geist und Takt, wie
sie nicht vielen moralischenSchriftstellernbeiuns
eignen, führterüberHöhcnund durchTiefen des
persönlichen und sozialen Lebens und findet dabei
Gelegenheit, selbst zur Psychologie der Mode
höchstfeineBeobachtungen anzubringen. Hie und
da geraten wir in etwas pädagogische Breite,
doch nirgends in den Predigtton. Beileibe kein
spießbürgerlich Philisterglück empfiehlt uns ja
der Verfasser; er ist beseelt von lächelndem
Optimismus und diesscitsfreudiger Lebens¬
bejahung, doch er ist darum nichts weniger als
ein Prophet des „Sich-aus-lebens". Aus dem
Hintergrund der plaudernden Darstellung tritt
das Ich nur selten und bescheiden hervor.
Gern und doch nicht zu oft bietet der Ver¬
fasser aus dem Schatz weiter Belesenheit edle
Früchte dar; seine liebsten Zeugen aber sind
Fritz Reuter, das Glückskind Goethe und seine
glückliche Mutter.
So ist dies Buch eine Feiertagslektüre,
die man aus der Hand legen kann und zu der
man doch gern zurückkehrt; es will nicht an¬
spruchsvoll neue Pfade dem Glücksjäger ent¬
decken, uns nur bestätigen, daß wir allzeit
auf dem Weg zum Glücke sind, und uns die
Blumen daran freundlich weisen.
Das ist die schwere Zeit der Not. „Und
es ward eine Teuerung in allen Landen, die
drückte sehr und laut erklang der Ruf .Schaffe
uns Brot'," so erzählt der Pentateuch von
Ägypten zu Josefs Zeiten. Auch in unseren
Tagen ist dieser Notschrei zu vernehmen, wo
die wachsende Verteuerung der Lebenshaltung
im Verein mit der außergewöhnlichen Dürre
des verflossenen Sommers einen Notstand ge¬
schaffen hat, unter dem weite Bevölkerungs¬
schichten seufzen. Eine Prüfung soll uns da¬
mit nach der Meinung vieler der Himmel
zugedacht haben, die ein christlich religiöses
Gemüt ertragen müsse. Die Mehrzahl des
Volkes teilt aber diesen Glauben nicht, sie ist
vielmehr der festen Überzeugung, daß die
Teuerung in erster Linie durch eine falsche
Wirtschaftspolitik verschuldet ist, die in ihrer
Wirkung allerdings durch abnorme Witterungs¬
verhältnisse erheblich verschärft worden ist. Die
Staatsregierung hat den Ruf von allen Seiten
vernommen, alle „im Bereich staatlicher Mög¬
lichkeit liegenden Maßnahmen zur Bekämpfung
des Rotstandes zu ergreifen", und sie hat den
ersten Schritt zur Linderung der Teuerung
am 26. September d. Is. getan, indem sie
Ausnahmctarife für Düngemittel und Roh¬
materialien der Kunstdüngerfabrikation, für
Kartoffeln, für bestimmte frische Feld- und
Gartenfrüchte, für verschiedene Hülsenfrüchte,
Futter- und Streumittel, sowie für Seefische
chaffte. So dankenswert auch der Wille zur
Hilfe ist, so muß es doch ausgesprochen wer¬
en, daß von allen diesen Maßnahmen eine
wirksame Bekämpfung der Teuerung nicht er¬
wartet werden kann. Die hohen Frachten
sind an dein Notstände nicht schuld, sondern
er Mangel an Ware, und der kann durch
Tarifherabsetzuugen nicht beseitigt werden.
Zudem ist es ja auch eine bekannte Tatsache,
aß dergleichen Tarismaßnahmen nur eine
Erleichterung in der Güterverteilung bewir¬
en, fast niemals aber dem Kleinkonsumentcn
ugute kommen, immer vielmehr dem Pro¬
uzenten der Ware einen vorteilhafterer Ver¬
auf seiner Artikel ermöglichen.
Mit der Herabsetzung der Tarife scheinen
ie im Bereich staatlicher Möglichkeit liegenden
Kampfmittel gegen die Teuerung erschöpft zu
sein, denn vor kurzem ist regierungsseitig den
Kommunen empfohlen worden, Maßnahmen
zur Verbilligung der Lebensmittel, insbe¬
sondere für die Fleischversorgung zu treffen.
Abgesehen dabon, daß eine Verbilligung der
Lebensmittel nicht mit einem Schlage durch¬
geführt werden kann — nur auf eine all¬
mähliche Minderung der Preise vermag hin¬
gewirkt zu werden —, kann es durchaus nicht
als im Rahmen städtischer Aufgaben liegend
betrachtet werden, sich in dieser Weise zu be¬
tätigen. Wenn auch die beim Ankauf und
Verkauf ohne Verdienst von Nahrungsmitteln
sich fürStadtverwaltungen ergebenden Schwie¬
rigkeiten überwunden werden, so wird der
für die Verteilung der Waren an den Konsum
notwendige Beamtenapparat so mancherlei
Ausgaben und Weiterungen mit sich bringen,
die im Interesse des städtischen Säckels und
der Steuerpflicht der Bürger besser vermieden
werden. Zudem wird eine Stadt durch den
in eigene Regie genommenen Warenabsatz den
Zwischenhandel bedeutend schädigen, gleich¬
zeitig eine Minderung der Steuerkraft nicht
kleiner Kreise bewirken und so die Steuer¬
kasten der übrigen Bürger vergrößern. Wenn
auch eine größere Anzahl von Kommunen
das von der Regierung zur Bekämpfung des
Notstandes empfohlene Mittel zur Anwendung
gebracht hat, so kann man darin noch nicht den
Beweis für die Brauchbarkeit des Vorschlags
erblicken, da die Angelegenheit über das Sta¬
dium des Versuchs doch noch nicht heraus¬
gekommen ist.
Das eine muß betont werden: nicht für
die Kommunen besteht die Möglichkeit und
die Pflicht, die vorhandene Teuerung zu be¬
kämpfen, nein, der Staat allein ist dazu im¬
stande und gehalten, alle ihm zustehenden
Mittel anzuwenden, damit endlich einmal der
Notstand gelindert wird. Allerdings ist dies
ohne durchgreifende Änderung der Zollpolitik
nicht möglich, denn gerade die Artikel, bei
denen sich der Notstand am ehesten und am
schärfsten spüren läßt — Brodgetreide und Fleisch
— können nicht verbilligt werden, wenn um der
seitherigen „bewährten" Wirtschaftspolitik fest¬
gehalten wird.
Deutschland mit seinen ca. 66 Millionen
Einwohnern vermag das zur Ernährung
seiner Bevölkerung notwendige Brodgetreide
elber nicht zu erzeugen; ein Sechstel bis ein
Fünftel seines Bedarfs muß immer vom Aus¬
ande besorgt werden. So kommt es, daß
die 1910 in das deutsche Zollgebiet eingeführte
Roggemnenge sich auf 967861 t beides. Trotz
dieses so erwiesenen Mangels an deutschem
Roggen bildet der Getreideexport in Deutsch¬
and einen großen Handelszweig, der im
vergangenen Jahre von der genannten Körner¬
art 10611160 t über die deutschen Grenzen
nach den: Auslande sandte. Der Grund für
diese an sich unverständliche Exportpolitik, die
m Inlande unbedingt notwendige Getreide¬
mengen um große Bestände zugunsten des
Auslandes vermindert, ist folgender:
Eine Rückvergütung gezählten Eingangs¬
olles ist in der Zollgesetzgebung nur dann
gewährleistet, wenn eine in das deutsche Zoll¬
gebiet eingeführte Ware wieder ausgeführt
wird. Voraussetzung dabei ist, daß die wieder
auszuführende Ware mit der eingeführten
dentisch ist. Von der Beibringung dieses
Identitätsnachweises wurde» 1882 die Mühlen
befreit bezüglich des von ihnen zu exportie¬
enden Mehls, und 1894 wurde im Zusammen¬
ang mit dem deutsch-russischen Handels¬
ertrag bestimmt, daß bei der Ausfuhr von
Weizen, Roggen, Hafer und Gerste aus dem
reien Verkehr des Zollinlandes dem Waren¬
ührer — sofern die auszuführende Menge
mindestens 600 KZ beträgt — auf Antrag
Bescheinigungen (Einfuhrscheine) erteilt werden,
ie den Inhaber berechtigen, innerhalb einer
om Bundesrat auf längstens sechs Monate
u beniessenden Frist eine dem Zollwert der
Einfuhrscheine entsprechende Menge der näm¬
ichen Wareugattung ohne Zollentrichtung
inzuführen. Begründet wurde diese Ma߬
nahme damit, daß den östlichen Provinzen
ine Entschädigung für die durch den deutsch¬
ussischen Handelsvertrag erleichterte Kon¬
urrenzmöglichkeit des russischen Getreides
ewährt, der Landwirtschaft damit eine bessere
Ausfuhrmöglichkeit von Getreide und damit
ine Preiserhöhung gesichert werden sollte.
Der Zweck wurde vollkommen erreicht!
Während 1893 noch Weizen, Spelz, Roggen,
Hafer und Gerste im Werte von zusammen
,76 Millionen Mark ausgeführt wurden,
ieg dieser Wert nach Freigabe des Ilrsprungs-
nchweises 1894 auf 27,67 Millionen Mark,
el» schlagender Beweis für die seinerzeit vom
Abgeordneten Engen Richter aufgestellte Be¬
hauptung, daß jede Einschränkung des Iden¬
titätsnachweises eine bermehrte Getreideausfuhr
zur Folge haben müsse. Indes die Nachgiebig¬
keit der Regierung gegenüber agrarischen
Wünschen sollte noch weitere Blüten treiben.
Das Zolltarifgesetz bon 25. Dezember 1902
gestattete von 1906 ub auf Einfuhrscheine nicht
nur Getreide der nämlichen Art, sondern
überhaupt Getreide wiedereinzuführen und
außerdem die Scheine bei der Einfuhr von
Kaffee und Petroleum zur Verrechnung zu
bringen.
Diese Erlaubnis im Verein mit der Er¬
höhung der Getreidezölle ließ den Getreide¬
export ins ungemessene wachsen. Wenn dies
auch zwar 1906 noch nicht sofort geschah —
man mußte sich erst an die neue Maßnahme
gewöhnen — so zeigte sich doch, daß in der
Zeit von 190» bis 1910 der Roggen¬
export von 260177 t auf 826046 t
stieg. Die Einfuhrscheine also reizten den
Export ganz gewaltig und tun es auch heute
noch. Erreicht ist also das, was der Herr
Reichskanzler in seiner dem Reichstag 1910
unterbreiteten Denkschrift, betr. den Umfang
und die Wirkung der Ausfertigung von Ein¬
fuhrscheinen für ausgeführtes Getreide, ge¬
sagt hat, daß „je weniger die Verwendbarkeit
der Einfuhrscheiue beschränkt Ist, um so mehr
die Ausfuhr erleichtert wird, zumal wenn
wie seit dem 1. März 1906 infolge einer
Erhöhung der Zölle der in Betracht
kommenden Waren auch die Einfuhrscheine
in? Werte steigen." Die Einfuhrscheine sind
somit bares Geld geworden und werden
mit geringer Bnnkierprovision gehandelt.
Die Wirkung dieses Systems ist schon
oft beleuchtet worden. Gutes deutsches Brod¬
getreide wird im Auslande billiger gekauft
als im Jnlnnde, Roggen deutscher Pro¬
venienz, nach den: sich alle Hände strecken,
dient geschrotet russischen Schweinen zum
Futter. Auch die Preise für sonstiges Getreide,
vor allem Weizen, sind in Deutschland bedeutend
höher als an vielen Auslnndsplätzen. Sieben
den Einfuhrscheinen sorgen dann noch billige
Exporttarife dafür, daß das Ausland auf
Deutschlands Kosten mit Getreide versorgt
wird, während vom Auslande gegen gutes
Geld oft minderwertiges Getreide in das
heimische Zollgebiet eingeführt werden muß.
Wird aber auch dieses noch möglich sein,
wenn Kriegszeiten eintreten, oder wird dann
das Ausland sich Deutschlands Abhängigkeit
im Bezug von Brodgetreide zunutze machen?
Wenn nach jüngsten Feststellungen der Ber¬
liner Handelskammer inländischer Weizen
pro Tonne am 1. September 1910 199 Mark
kostete, am gleichen Tage 1911 dagegen auf
207 Mark gestiegen ist, während Roggen in der
genannten Zeit von 149,S Mark auf 180,SMark
in die Höhe getrieben ist, so kann man sehen, daß
die Klagen über eine Brotteuerung berechtigt
sind. Hier muß der Staat einen Wandel
schaffen und sich zu einer Aufhebung der
villigen Exporttarife und zu einer Ein¬
schränkung des Gctreideexports durch Wieder¬
einführung des Identitätsnachweises ent¬
schließen. Unmöglich darf die Regierung
fernerhin ihre Hand dazu bieten, den breiten
Volksschichten das wichtigste Nahrungsmittel
zu verteuern, damit jedem einzelnen größere
Ausgaben zu verursachen und so weit¬
gehende Erbitterung zu wecken. Wohin soll
es denn führen, wenn von Jahr zu Jahr der
Lebensunterhalt verteuert wird, wenn immer
wieder Lohnerhöhungen gefordert werden,
die Handel und Industrie nur mit An¬
strengung erfüllen können, wenn sie in der
Wettbewerbsmöglichkeit nicht völlig beschränkt
werden wollen? Soll der Kreislauf der Ver¬
teuerung der Lebenshaltung, der höheren
Forderungen und der höheren Steuern sich
jedes Jahr wiederholen? Darum fort mit
einer Wirtschaftspolitik, die dem das Brod¬
getreide unumgänglich gebrauchenden Inlande
den Vorrat zugunsten des Auslandes auf
Kosten der Bürger verringert! Die Ein¬
schränkung des Getreideexports durch Wieder¬
einführung des Identitätsnachweises wird
sicherlich das Brot verbilligen und damit ein
gutes Stück zur Bekämpfung der jetzigen
Teuerung beitragen!
Aber der Mensch lebt nicht vom Brot
allein, auch andere Waren, vor allem Fleisch,
gehören zu seiner täglichen Nahrung. Auch
dieses Nahrungsmittel ist von Jahr zu Jahr
m Preise gestiegen und beinahe zu einem
Genußmittel geworden. Mögen bei der un¬
eugbar bestehenden Fleischtcuerung auch einige
Nebenfaktoren mitgewirkt haben — Futtcr-
mittelnot, Viehseuchen und infolgedessen eine
geringere Vieh- und Fleischprodukiion —, so
kann doch das eine allen Ernstes behauptet
werden, daß in erster Linie auch hier staat¬
liche Maßnahmen eine allmähliche Steigerung
der Fleischpreise bis zur gegenwärtigen,
drückenden Höhe verschuldet haben. Auch das
ist nicht zu vergessen, daß der Effekt dieser
Maßnahmen vor allein der Landwirtschaft zu
gute kommt. Ganz gewiß kann dem Gesetz
vom 30. Juni 1900, betr. die Schlacht- und
Fleischbeschau, seine Bedeutung in sanitärer
Beziehung nicht bestritten werden, trotzdem
aber muß von ihm gesagt werden, daß es die
Volksernährung ganz bedeutend erschwert und
damit den Fleischpreis in die Höhe getrieben
hat. Auch der am 1. März 1906 mit er¬
höhten Vieh- und Fleischzöllen in Kraft ge¬
tretene Zolltarif hat nach der Richtung seine
Schuldigkeit getan. Ist das amerikanische
Büchsenfleisch, das früher von Tausenden mit
Behagen verzehrt worden ist, ohne der Ge¬
sundheit zu schaden, denn wirklich so schlecht
geworden, daß es deutschen Mägen von Staats-
wegen vorenthalten werden muß? Weshalb
ist denn der Staat für die Gesundheit seiner
Bewohner Plötzlich einem Nahrungsmittel
gegenüber so ängstlich geworden, das erwiese¬
nermaßen in ganz wenigen Ausnahmefällen
gesundheitlich zu beanstanden gewesen ist?
Auch bei deutschem Fleische kann es vor¬
kommen, daß es nicht ganz einwandfrei istl
Warum ist denn die Einfuhr von lebendem
Vieh und Fleisch aus Ländern verboten,
die notorisch einen gesunden und qualitativ
vorzüglichen Viehbestand haben? Ohne Zweifel
würde durch eine derartige Erlaubnis der
knappe Mischbestand im Inlande vermehrt
und durch das erhöhte Angebot von Ware
ein Sinken des hohen Preisstandes bewirkt
werden. Mag vielleicht auch das vom Aus¬
land importierte Fleisch vom Konsumenten
eine gewisse Gewöhnung des Geschmacks ver¬
langen, gesundheitsschädlich soll eS nicht sein
und daher als NotstandsnahrungSmittel sehr
Wohl zu gebrauchen sein. Die Qualität des
von Argentinien, den Vereinigten Staaten
von Amerika, von Australien und Neuseeland
nach England eingeführten gefrorenen Flei¬
sches soll nach Auskunft der die Untersuchung
vornehmenden Behörden gut sein; es wird
dies darauf zurückgeführt, daß es sich größten¬
eils um Fleisch von Rindvieh handelt, das
den Krankheiten weniger ausgesetzt ist, als
Tiere, die in engbevölkerten Ländern mit
Stallfütterung aufgezogen worden sind. Die
einerzeit vom deutschen Handelstag in Ge¬
meinschaft mit dem deutschen Städtetag nach
England entsandte Kommission, die in London
und Liverpool die in? Verkehr mit gekühltem
und gefrorenem ausländischem Fleisch ge¬
machten Erfahrungen an Ort und Stelle
geprüft hat, hat feststellen können, daß Eng¬
land auf diese Weise 40 Prozent seines
Fleischkonsums aus dein Auslande deckt,
ndem es teils lebendes Vieh, größtenteils
aber gefrorenes und gekühltes Fleisch, daneben
gesalzene und gepökelte Ware einführt, ohne
daß zu irgendwelchen sanitären Bedenken
ein Anlaß vorliegt. Gerade das ausländische
Fleisch hat dazu beigetragen, daß die eng¬
ischen Fleischpreise im Laufe der Jahre sich
nur wenig geändert haben. Warum wollen
wir in Deutschland nicht von diesem Bei¬
piele Englands lernen? Man wende nicht
ein, daß das importierte Fleisch von der Be¬
völkerung nicht gern werde gekauft werden,
wie es die Vorgänge in Österreich-Ungarn
bewiesen. Daß dort dem Fleische mit Wider¬
willen begegnet worden ist, steht zweifellos
est, der Grund liegt aber darin, daß das
Fleisch nicht in der richtigen Weise beim
Transport usw. behandelt worden ist. In
England genügt das importierte Fleisch
erwiesenermassen allen Ansprüchen, die ge¬
rechterweise daran gestellt werden können.
Bei einer gehörigen sanitären Überwachung
der Fleischeinfuhr — wie sie in England ja
vorhanden ist — wird sicherlich gekühltes
und gefrorenes Fleisch aus dem Auslande
n Deutschland während dieser Zeit der Not
Absatz finden und zu einer Milderung der
Fleischteuerung beitragen. Diese Linderung
muß aber mit allen Mitteln erstrebt werden,
darum sollte der Staat doch wenigstens den
Versuch machen mit der Einfuhr ausländischen
Fleisches. Diese Maßnahme, die im Bereich
taatlicher Möglichkeit liegt, zu ergreifen und
hre Wirkung zu versuchen, muß in unserer
Zeit von der Negierung verlangt werden!
Die Verhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich wegen Marokko
sind soweit gediehen, daß die künftige Stellung der beiden Mächte in Marokko
keiner Erörterung zwischen den Unterhändlern mehr bedarf. Gegenwärtig steht
ausschließlich die Frage zur Besprechung, welche Gebietsflächen in Äquatorialafrika
fortab deutschen Besitz bilden sollen. Die Zeichnung des ersten Teiles des Ver¬
trages vor Feststellung des zweiten scheint lediglich den Zweck zu haben, zu ver¬
hindern, daß immer wieder auf längst erledigte Fragen zurückgekommen wird,
wodurch diese leicht Opfer einer augenblicklichen Stimmung werden könnten. Wie
notwendig die Maßnahme war, zeigt die seit etwa vierzehn Tagen einsetzende
Agitation gegen Herrn Caillou wie gegen die gegenwärtige Regierung in Frank¬
reich überhaupt. Die weiteren Verhandlungen sind durch die getroffene Ma߬
nahme erheblich entlastet, was um so angenehmer ist, als von ihrem befriedigenden
Ausgange das Gelingen des ganzen Abkommens abhängt. Die speziellen Be¬
sprechungen wegen des Kongogebietes haben zwischen den Herren Cambon und
v. Kiderlen Sonntag abend begonnen. Wir müssen uns somit noch immer mit
Geduld wappnen.
Die Ungeduld in den deutschen Landen und in den besten und
von den edelsten Motiven erfüllten Kreisen des Volkes hängt nun nicht allein
zusammen mit dem Geschick des deutschen Handels in Marokko. Viel tiefer
nagt in allen die Unruhe wegen der unbegreiflichen Zurückhaltung der Re¬
gierung in der inneren Politik und wegen der kommenden Reichstagswahlen.
Je länger, um so mehr wird es offenbar, daß die beiden Parteien, die
von einem großen Teil der gebildeten und besitzenden Kreise als die Feinde der
Nation bezeichnet werden, die größte Aussicht haben, bei den nächsten Wahlen
Erfolge zu erzielen. Sozialdemokratie und Zentrum werden, so fürchtet man,
den Nutzen von der allgemeinen Unzufriedenheit und aus der Tatenlosigkeit der
Regierung ziehen. Sozialdemokratie und Zentrum würden, so kann man es in
allen konservativen und liberalen Blättern lesen, eine Macht aufrichten, der der
deutsche Michel sich werde unterwerfen müssen. Die Furcht, die in solchen Auf¬
fassungen liegt, ist durchaus begründet, und doch werden weder seitens der
Parteien noch seitens der Neichsregierung Mittel angewandt, um dem nahenden
Verhängnis zu begegnen. Man hat den Eindruck, als ständen Regierung und
Bürgertum hypnotisiert und starrten bewegungslos auf den heranstürmenden roten
Teufel. Es macht sich ein solcher Mangel an großen politischen Ideen bemerkbar,
daß man fragend auf die Männer und Parteien blickt, die immerhin bisher in
den Kämpfen um den nationalen Fortschritt Achtung verdienten. Von der
Regierung im Stich gelassen (auch sie scheint keinerlei Programm zu haben) tappen
die der Selbständigkeit entwöhnten bürgerlichen Parteien umher und greifen gierig
nach jeder Sensation, die den Anschein erweckt, als könne sie zur Wahlparole
gemodelt werden.
Besonders sind es zwei Dinge, die in dieser Beziehung Erfolge zu versprechen
scheinen: die Teuerung aller Lebensmittel und die Haltung unserer Regierung
während der nun schon seit dein März währenden internationalen Krisis (über
die Teuerung stehe die Bemerkungen des Herrn Handelskammersyndikus Beutel
auf S. 137).
Einer allgemeinen Stimmung folgend, ziehen besonders die Liberalen, aber
auch die Freikonservativen und viele Konservative, gegen alle die Institutionen des
Reiches ins Feld, die irgend etwas mit der auswärtigen Politik zu tun haben.
Die auswärtige Politik ist ja, so meint man, derart in Mißkredit
geraten, daß es am leichtesten ist, unter ihrem Schutz im Lande auf den Gimpel¬
fang zu gehen. Was haben nicht die deutschen Sozialdemokraten vor Ausbruch
der russischen Revolution getan, um die Diplomatie, insbesondere die deutsche,
als ein schmutziges Handwerk der Nation verächtlich zu machen. Die Liberalen
haben eine Formel gefunden, wonach das ganze Unglück in der Bevorzugung des
Adels und der Diplomaten liege. Sie denken wohl an das, was Bismarck
Imponderabilien nannte, und spekulieren nun auf die Gefolgschaft der Altdeutschen
bei den Wahlen. Die Konservativen vermissen bei unserer Diplomatie ein frisches,
frohes Draufgängertum, das mit der ständig wachsenden Armee und Flotte im
Einklang stände. Sie erinnern sich bei ihrer Agitation wohl auch an Bismarcks
Worte von den Gefahren eines langen Friedens und des Vorhandenseins
einer großen Armee in langer Friedenszeit. Sie meinen, ein „kräftiger Aderlaß"
würde die Nation von ihrer Zersplitterung gesunden lassen und sie wieder zur
Vereinigung ihrer Kräfte auf ein großes Ziel führen. Solche Auffassungen klingen
uns, die wir des Königs Rock getragen haben, sehr plausibel, und doch haben sie
kaum einen größeren Wert als den von Schlagworten. Gewiß werden am Tage
einer Mobilmachung alle Verhältnisse im weiten Vaterlande gezwungen, sich einer
einzelnen Idee unterzuordnen. Gewiß werden alle Unternehmer von der Stunde
des Erscheinens der Mobilmachungsorder ab darauf gestoßen, ihre Gedanken dafür
arbeiten zu lassen, wie sie der großen Aufgabe des Vaterlandes in ihren Betrieben
am besten gerecht werden, doch nicht nur die Unternehmer. Jeder Beamte, Lehrer,
Pastor, jeder Arbeiter ist im Augenblick der Kriegserklärung Soldat, gleichgültig
ob er dazu des Königs Rock anzieht oder nicht. In diesem Gleichklang aller
Seelen und Gedanken liegt zweifellos auch etwas Großartiges und Verlockendes.
Und doch wird bei dieser Überlegung gewöhnlich ein wichtiges Moment übersehen.
Von der Mobilmachung werden nämlich gerade diejenigen Kreise nicht ergriffen,
die wir in erster Linie dafür verantwortlich machen müssen, daß unser öffentlich
politisches und kulturelles Leben stagniert. Der „Aderlaß" durch einen Krieg würde
wohl unter unseren besten Kräften Verheerungen anrichten und der Nation un¬
glaubliche und unersetzbare Schädigungen für Jahrzehnte zufügen, nicht würde
er die Polypen unseres Volkslebens ausbrennen. Dazu gehören andere Mittel,
über die die Nation auch verfügt, wenn sich ihrer die Führer nur bedienen wollten.
Der angedeuteten Alternative sollte sich jeder bewußt sein, der auf der nun
einmal, vorhandenen Entwicklungsstufe der Nation es wagt zum Kriege zu raten,
in einem Falle, in dem es sich ausschließlich um materielle Güter handelt, die
auf friedlichem Wege zu erobern sind, nicht aber um Existenz- und Ehrenfragen
der Nation. Es ist darum ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, Kriegsgelüste
in den Massen zu erregen unter dem Hinweis auf die Untüchtigkeit der Regierungs-
organe, doppelt gefährlich, wenn auch die Person des Monarchen mit in die
Agitation gezogen wird.
Die Kriegsgelüste, einmal geweckt, sind eine Kraft, die unbedingt an anderer
Stelle wieder hervorbrechen muß, und da die Monarchie in Deutschland, Gott sei
Dank, wohl noch lange über die Machtmittel verfügen dürfte, um sich selbst vor
dem Ansturm Unzufriedener zu wahren, so wird die entfesselte Feindschaft sich
gegen die Störer des inneren Friedens richten, die die Post und ähnliche Organe
zum Sprachrohr für ihre Gefühle machen.
Der Feldzug gegen unsere Auswärtige Politik scheint mir um so gefährlicher,
je mehr er geeignet ist, die Aufmerksamkeit der gebildeten Kreise von den Problemen
der inneren Politik abzulenken, und je weniger die agitierenden Parteien im
Augenblick befähigt sind, wirklich vorhandene Fehler in der Organisation des
Auswärtigen Amts mit den ihnen eben zur Verfügung stehenden Mitteln zu be¬
seitigen.
Um mit dem letzten Punkte, als dem durch die bevorstehenden Interpellationen
im Reichstag aktuellsten, anzufangen, sei ohne Einschränkung zugegeben, daß sowohl
die Organisation des Auswärtigen Amtes wie die des auswärtigen Dienstes dem Ideal
einer Behörde wenig entspricht. Die Organisation beider beruht im wesentlichen
auf Bestimmungen, die seit dem Jahre 1868 in Kraft sind und die teilweise schon
längst hätten von modernen abgelöst werden können. Auch das Presseburau, eine neuere
Einrichtung, versagt nicht nur bei internationalen Vorgängen, sondern auch in Dingen
der inneren Politik recht häufig.*) Schließlich wird man nicht ganz unrecht haben, wenn
man von einem gewissen Nepotismus spricht, besonders wenn man den Aus¬
druck bezüglich seiner unangenehmen Seite nicht ganz wörtlich nimmt. Das starke
Vorwiegen persönlicher Beziehungen gerade in der Diplomatie liegt in der ganzen
Art des Metiers. Daß aber die angedeuteten Verhältnisse sich seit vierzig Jahren
und unter den verschiedensten Reichskanzlern und Staatssekretären unverändert
gehalten haben, muß als das Ergebnis einer historischen Entwicklung und
im engen Zusammenhange mit der Gesamtentwicklung des Reiches hingenommen
werden. Welche Veranlassung hätte schon der Leiter eines großen Privatinstituts,
das auf eine viele Jahrzehnte währende Tradition zurückblickt, seine Beamten aus
anderen Kreisen zu nehmen, als aus denen, die ihm bekannt sind. Man sehe sich
in den Jnteressenorganisationen der Gewerbe und in den Kommunalverwaltungen,
ja selbst unter den Vertretern der Presse um: überall dasselbe Bild augenscheinlicher
Kliauenwirtschaft. Dabei sind die Privatinstitute, in denen sogenannte Vettern¬
wirtschaft herrscht, in der glücklichen Lage, auf alle Posten stets auch die richtigen
Männer setzen zu können, sei es als kaufmännische Direktoren, sei es als Konstruk¬
teure, weil sie nicht nur über unbeschränkte Mittel, sondern auch über zwei
Reservoire verfügen, aus denen sie ihren Bedarf decken können, die den Reichs¬
und Staatsbehörden gegenwärtig nicht offen sind. Der Nachwuchs für die
leitenden Stellen in Industrie, Handel, Verkehr und Interessenvertretung wächst
den einzelnen Firmen und Organisationen kostenlos bei der Konkurrenz und in
den staatlichen Behörden heran. Der Staat muß sich seine höchsten Beamten
selbst heranbilden und läuft obendrein Gefahr, daß ihm das Recht der Auswahl
zuguderletzt verkümmert wird, weil eine große Zahl tüchtiger Beamter, ehe sie
reif für leitende Posten sind, von Privatunternehmungen angeworben werden.
Während nun aber alle anderen Behörden des Reichs und der Einzelstaaten
wenigstens eine gewisse Konkurrenz untereinander haben und mit ihren Beamten
austauschen können, fehlt diese Konkurrenz dem Auswärtigen Amt voll¬
ständig. Abgesehen von der Armee, die hin und wieder tüchtige Diplomaten
liefert, ist das Auswärtige Amt ausschließlich auf seinen eignen Nachwuchs
angewiesen, und solange die Nation nicht befähigt wird, den zünftigen Diplomaten
eine Konkurrenz zu schaffen, die die Reichsleitung in den Stand setzte, fähige Leute
in den Reichsdienst zu übernehmen, solange müssen wir uns mit der Hoffnung
vertrösten, daß das Reichsoberhaupt immer eine glückliche Hand habe, um die
richtigen Diplomaten und Leiter der auswärtigen Politik aus dein kleinen ihm
zur Verfügung stehenden Kreise zu finden.
Anfänge einer Konkurrenz für unsere zünftigen Diplomaten sind tatsäch¬
lich vorhanden. Es gibt schon heute eine private Diplomatie, die nicht geringen
Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Weltpolitik nimmt. Aber sie steht vor
uns als eine bestimmte Organisation nur da, wo sie nicht rein deutschen, sondern
eigenartigen auf internationaler Basis ruhenden Interessen dient. Der Ultra¬
montanismus, die Sozialoemokratie und die Alliance Israelite haben je einen Kreis
von Personen herangebildet, die mit diplomatischen Funktionen ausgerüstet die Welt
umspannen und die entsprechenden Teile der deutschen Presse mit Nachrichten und
Auffassungen versorgen. Sollte der Teil des deutschen Volkes, der an diesen Orga¬
nisationen keine Freude haben kann, nicht befähigt sein, eine seinen nationalen Zwecken
entsprechende Organisation zu schaffen? Sollte die kapitalistische Gesellschaftsord¬
nung gerade auf diesem für die Nation wichtigen Gebiet versagen? Gegenwärtig
bestehen in Deutschland zwei Privatunternehmungen, die es versuchen, etwas
einer Auslandsvertretung ähnliches zu schaffen: der Verlag der Kölnischen
Zeitung und August schert. Die Kölnische Zeitung hat bereits in der langen Zeit
ihres Bestehens einen Stab von Journalisten herangebildet, die sich neben die
erfolgreichsten Diplomaten stellen dürfen und die im Auslande bezüglich ihrer
Tätigkeit mit dem gleichen Respekt behandelt werden wie die offiziellen Diplomaten.
Auch der Verlag August schert beginnt in dieselben Fußstapfen zu treten, be¬
günstigt durch außerordentliche Mittel. Wenn seine Vertreter nicht gleichmäßig
behandelt werden, so liegt das zum Teil in der Notwendigkeit für sie begründet,
dem Sensationsbedürfnis des Berliner Publikums mehr Rechnung tragen zu
müssen, als es mit ernster politischer Berichterstattung verträglich ist. Der Voll¬
ständigkeit halber muß neben den beiden Verlagen noch die Organisation der als
Wölfisches Telegraphen-Bureau bekannten Firma erwähnt werden. Auch sie hat
einen Stamm von diplomatischen Journalisten hervorgebracht, der hervorragende
Leistungen aufzuweisen vermag, doch werden diese Herren mit wenigen Ausnahmen
nicht ihrer Bedeutung entsprechend mit Mitteln ausgestattet. Infolgedessen erscheint
die Frage des Nachwuchses hier nicht durchaus gesichert.
Nun ist aber die Frage der Bezahlung nicht das einzige Moment, an dem
die Heranbildung eines geeigneten Nachwuchses für den auswärtigen Dienst
außerhalb der amtlichen Diplomatie bisher gescheitert ist. Wichtiger ist die große
Unsicherheit der Stellung und die geringe Aussicht, mit der Ver¬
größerung der Kenntnisse und Erfahrung entsprechend umfassendere
Wirkungskreise zu erhalten. Wer als Journalist voran will, muß immer
wieder in die Heimat zurückkehren und sich dort Beziehungen schaffen, damit er
auf seinem Auslandsposten nicht vergessen werde. Aber viele auswärtige
Korrespondenten wollen auch garnicht bei der Journalistik bleiben, sondern be¬
nutzen die Presse lediglich, um bei Studienreisen oder wissenschaftlichen Arbeiten
ihre Auslagen zu verringern. Und hier ist die Stelle, wo die einheimischen Or¬
ganisationen politischer und gewerblicher Natur einspringen könnten, wenn sie ein¬
mal die von ihnen empfundenen Mängel des amtlichen diplomatischen Dienstes
ausgleichen und wenn sie ferner die internationale Politik des Reiches verständnis¬
voll beurteilen wollen.
Die Möglichkeiten liegen in zwei Richtungen. Die rein wirtschaftliche
Berichterstattung wird zweckmäßig in die Hände von solchen volkswirtschaftlich
und sprachlich durchgebildeten Personen gelegt werden, die von einem Verbände
der Handelskammern abhingen und die durch die Handelskammern und wirt¬
schaftlichen Jnteressenverbände Aussicht erhielten, auch im Inlands verwendet zu
werden, sei es als Sekretäre, Syndizi oder auch als Leiter von gewerblichen Unter¬
nehmungen. Die rein politische Berichterstattung wäre zweckmäßig an die politischen
Parteien anzulehnen unter Benutzung des Vorbildes, das uns für die Organisation
der Presse die deutsche Sozialdemokratie und neuerdings auch die Zentrumspartei
liefern. Die Notwendigkeit für die Parteipresse, sich von der amtlichen und halb¬
amtlichen Berichterstattung zu befreien, ist sowohl von den Konservativen wie
von den Liberalen längst erkannt worden, und es sind auch Schritte unternommen,
um sich zu emanzipieren. Doch die angewendeten Mittel haben sich oft
als falsch, ja gefährlich erwiesen. So wird zur Kontrolle der Wolfischen Depeschen
von Berliner Blättern die Agentur „Preßtelegraph" (P'I'.) benutzt. Diese Agentur
meldete vor etwa vierzehn Tagen, und die Blätter veröffentlichten die Nachricht
zum Teil unter London (eigner Drahtbericht), der englische Marine-Staats¬
sekretär habe eine höchst agressive Rede gegen Deutschland gehalten. Die Nachricht
war falsch. Wie aber kam sie zustande? Das Berliner Bureau des Preßtclegraph
bezieht die „Londoner Telegramme" zu einem großen Teil gar nicht direkt aus
London, sondern telephonisch aus Paris nach der dortigen Ausgabe der Deutschland
feindlich gesinnten Daily Mani Auf solche Quelle stützt sich die Auffassung der
internationalen Lage gewisser Blätter, die sich keine eignen Korrespondenten halten
können, aber doch mit Rücksicht auf die drückende Konkurrenz beim Leser den
Eindruck erwecken wollen, als hätten sie ausschließlich ihnen fließende Nachrichten¬
quellen. Natürlich kommen solche „Versehen" besonders leicht in kritischen Zeiten
vor. Und eben darum müssen sie unmöglich gemacht werden. Das einzige Mittel
aber ist der oben angegebene Zusammenschluß der geistig einander verwandten
Blätter und Schaffung eines Stammes von Auslandsreferenten, die, diplomatisch
geschult, später im Inland sei es als Redakteure oder Abgeordnete oder Partei¬
sekretäre das ausländische Referat für die Parteien zu bearbeiten hätten.
Ich schreibe diese Zeilen nicht ohne eine gewisse Wehmut nieder. Denn ich
bin mir bewußt, daß innerhalb der Parteien sich gegen den Vorschlag starke
Widerstünde erheben würden, vielfach rein persönlicher Natur, so daß sich in den
Vorständen wohl niemand finden dürfte ihn zu vertreten. Man wird das Feld
dem Ultramontanismus, den Sozialdemokraten und der Alliance Israelite über¬
lassen und wird fortfahren auf die Juden und Offiziösen zu schelten, da solches
billiger, leichter und womöglich auch einträglicher ist.
Die Presse aller Parteien und Schattierungen beschäftigt sich in langen
Leitartikeln mit einer Angelegenheit, die als solche kaum Beachtung verdiente,
wenn nicht künstlich daraus eine Sensation ersten Ranges gemacht worden wäre,
mit dem Prozeß Wolf Metternich. Schuld haben die beiden Verteidiger, die
durch ihr Verhalten nicht Anwälte des Rechts, sondern Knechte der Sensationslust
geworden sind, die den guten Ruf, den der Anwaltsstand sich in langen Kämpfen
erworben hat, schwer gefährdet haben. Die Verteidiger haben das Vertrauen eines
Richters mißbraucht. Daraus ist dann alles weitere entstanden. Das Gericht mußte,
um auch nur den geringsten Schein der Befangenheit zu vermeiden, der Ver¬
teidigung größeren Spielraum gewähren als die Sachlage es erforderte und so
konnte der Angeklagte an allen denen seine Rache kühlen, die ihn gehindert hatten
Dolly Pincus zu freien. Neben diesem Akt der Rache verschwanden im Prozeß die
Delikte, Hochstapelei und wenig gewandter Betrug vollständig, und der Staatsanwalt
mußte immer wieder darauf hinweisen, daß es sich bei der Anklage um gemeinen
Betrug und sonst nichts handele. Dennoch hat es der Angeklagte durch die
Methode der Verteidigung möglich gemacht, für sich Interesse und Mitleid und
daraus hervorgehend auch unter Berücksichtigung seiner Frau, der Schauspielerin
Vallentin, Sympathie zu erwecken. Das Milieu, in dem sich der Angeklagte vor
seinem vollständigen moralischen Zusammenbruch bewegte, war auch durchaus
angetan Interesse an ihm zu erregen. Doch was nun? Soll das Opfer der Frau,
die das Zeug zu haben scheint, aus dem jungen Grafensproß einen brauchbaren
Menschen zu machen, umsonst dargebracht sein? — Graf, Neffe eines deutschen
Botschafters von besondern diplomatischen Fähigkeiten, von der verarmten Familie,
die ihn „standesgemäß" erzogen hatte, halb verstoßen, weil er nicht arbeiten ge¬
lernt, die ihn aber höchstwahrscheinlich in Gnaden aufgenommen, wenn er den
Mangel an gutem Willen dnrch eine reiche Heirat ausgeglichen hätte. Mit
wem, wäre gleichgiltig geblieben I Dann die Familie Wolf Wertheim mit der
eigenartigen Hausfrau, die die Würde des Hauses und die Person ihrer Tochter
nach elf Uhr nachts heute dem zweiundzwanzigjährigen Grafen, morgen dem
Gardeleutnant anvertrautI Schließlich die seitlichen Ausblicke: Herr von Fetter,
der sich von Frau Wertheim heimlich Darlehn geben ließ und der doch noch
immer des Königs Rock — freilich ohne die Gardelitzen — trägt!----
Metternich wird nach Verbützung seiner Strafe wahrscheinlich ver¬
suchen, ein rechtschaffenes Leben zu beginnen. Aber er wird es damit
schwerer haben als hundert andere, die auch in der Jugend entgleisten und
dann doch achtbare Mitglieder der menschlichen Gesellschaft werden konnten.
Der gute Name, an dem er sich so schwer versündigt, lastet jetzt auf ihm und
bleibt ihm ein Brandmal fürs ganze Leben. Vermutlich wird er deshalb
beantragen, seinen Namen wechseln zu dürfen, und seine Familie wird das Gesuch
unterstützen. Der betrügerische Graf wird hinter einem bürgerlichen Namen ver¬
schwinden, und die Adelsgenossenschaft wird sich glücklich schätzen, dieses mi߬
geratenen Standesgenossen ledig zu sein. Im Interesse der Rettung eines durch
die Verhältnisse Entgleisten sei solcher Lösung der Frage zugestimmt. Aber wird
nicht das gute Bürgertum dadurch empfindlich berührt, daß es für die Fehler
einer priviligierten Klasse den Abfallbehälter darstellen soll? Vor einigen Monaten,
es kann auch länger her sein, ging die Nachricht durch die Zeitungen, in Süd¬
deutschland sei ein Graf X. aufgefordert worden, die Grafenwürde für sich und
seine Nachkommen aufzugeben, weil seine soziale Stellung als kleiner ländlicher
Schankwirt nicht dem gräflichen Stande entspräche. Weist uns diese Meldung
nicht auf den Weg, wie der Adel und damit die Nation vor solchen trüben
Erfahrungen zu schützen wären, wie sie sich aus dem Werdegang des Graf Wolf-
Metternich ergeben?
Das Schicksal Metternichs steht in der jüngsten Geschichte des deutschen
Adels nicht vereinzelt da. Leider I Im Gegenteil: es mehren sich die Fälle in
erschreckender Weise, wo Angehörige des Adels wegen ähnlicher Vorgänge auf die
Anklagebank geraten, und die Ursache ist immer dieselbe: Unzweckmäßige Erziehung
bei völliger Mittellosigkeit. Diese Erscheinung ist dem Ansehen des Adels im
Volk, das den Adel als solchen schätzt, nicht dienlich, wenn sie auch nur eine
notwendige Folge unserer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ist. Der Adel,
der sich zulange von gewinnbringender Beschäftigung außerhalb des Staatsdienstes
ferngehalten hat, verarmt. Die Fideikommisse kommen nur wenigen zugute und
fördern die Verarmung der Mehrzahl. Die Führung des Adelsprädikats aber
legt Opfer pekuniärer Art und Zurückhaltung in der Wahl des Berufes auf,
denen die Mehrzahl der Adligen nicht mehr gewachsen ist. Läge es nicht im
Interesse des Adels, in dieser Hinsicht eine Einrichtung anzustreben, die geeignet
wäre, den veränderten sozialen Verhältnissen entgegenzukommen? Manches un¬
würdige dem Schein leben könnte vermieden werden, mancher tüchtige Mann sich
freier entwickeln, manche unsittliche Ehe würde nicht geschlossen, aber dem Prinzip
der Entwicklung und Erhaltung einer Aristokratie könnte besser gedient werden als
bei der gegenwärtigen Adelspolitik. Würde nicht damit auch ein Reiz gegeben
werden, die Hervoragenden in den alten Familien schlummernden Kräfte besser und
vielseitiger zu entwickeln, als es bisher unter den Beschränkungen möglich ist?
Sollten Goethes Worte
Was du ererbt von deinen Vätern seist,
Erwirb es, um es zu besitze!?,
nicht mit neuem Inhalt für den Adel zu füllen sein?
Mit bemerkenswerten Gleichmut schauen die Weltbörsen dem Satyrspiel zu,
das sich italienisch-türkischer Krieg betitelt. Die Gefahr, welche aller Welt drohte,
als das italienische entlud terrible plötzlich anfing, mit dem Schießgewehr zu
spielen, ist abgewendet; nun mag es zusehen, wie es sich allein mit Anstand aus
der Affäre zieht, die ihm wenig Ruhm, keinerlei wirtschaftliche Vorteile, wohl aber
riesige Kosten, unfruchtbare Mühen und als erstes und sicheres Ergebnis einen
Boykott des italienischen Handels in der Levante in Aussicht stellt. Die Türkei
ist politisch und wirtschaftlich in einer augenscheinlich besseren Situation als der
Angreifer. Wenn sie, wie es immer mehr den Anschein hat, Tripolis einfach sich
selbst überläßt, kann dieser Krieg im Frieden so lange dauern als Italien es
aushält. Denn dieses hat allein den Schaden zu tragen. Die Türkei auf dem
Balkan angreifen will es nicht und wagt es nicht, sei es auch nur aus Scheu
vor der dann unvermeidlichen Intervention der Mächte. Also wird Handel und
Wandel auf dem Balkan, in Kleinasien und im Ägäischcn Meer durch den Krieg
kaum gestört; nur Italien wird daraus ausgeschaltet und muß zusehen, wie die
Konkurrenz, bereit zum Zugreifen, seinen Platz am Tische einnimmt. Mit diesem
Verlauf der Dinge können die Staaten, welche in erster Linie wirtschaftlich in der
Türkei interessiert sind, durchaus zufrieden sein. Ob Tripolis schließlich italienisch
oder türkisch, ob souverän oder Suzerän ist, wird für absehbare Zeiten vom wirt¬
schaftlichen wie vom politischen Standpunkte aus ziemlich gleichgültig sein. Auch Italien
wird aus diesem durch tausendjährige Mißwirtschaft verödeten Lande keine Korn¬
kammer machen und es auch rein militärisch nicht zu einem solchen Stützpunkt
umgestalten, daß dadurch eine Verschiebung in der Machtverteilung im Mittelmeer
einträte. Solche Aufwendungen zu ertragen, ist der italienische Staatskredit außer¬
stande, wenn nicht von neuem Unordnung in die Finanzen einziehen soll. Die
Einverleibung von Tripolis wird daher an dem wirtschaftlichen und politischen
Status gar nichts ändern. Diese Auffassung der Dinge prägt sich deutlich in der
Haltung der Börsen aus. Denn nachdem der erste Schrecken über den unver¬
muteten Kriegsausbruch überwunden war, ist allenthalben eine auffällige Gleich¬
gültigkeit gegen den weiteren Verlauf des Konfliktes zur Herrschaft gekommen. Ja,
in der Überzeugung, daß eine Fortsetzung des Kampfes eigentlich sinnlos sei,
brachte die Börse sogar ihre Friedenshoffnungen durch eine förmliche Hauffe zum
Ausdruck. Indessen zum Feste-feiern sind die Zeiten nicht angetan; auch der ein¬
gefleischte Optimist mag einstweilen die rosenrote Brille, durch welche er die Welt
sonst anzusehen liebt, beiseite legen. Es herrscht eine heilsame Unruhe in der
Welt. Allenthalben Interessenkonflikte, Gärungen, Aufstände. Die Ereignisse
überstürzen sich förmlich: Marokko, Tripolis, Portugal, China — bei solchem
Wirrwarr und Waffengetöse muß die friedliche Kulturarbeit Schaden erleiden. Die
in den letzten Tagen zur Schau getragene Zuversicht steht daher auf schwachen
Füßen. Der gefahrdrohenden Möglichkeiten sind zu viele, als daß man heute ein
zuverlässiges und günstiges Urteil über die wirtschaftliche Gestaltung der nächsten
Zukunft fällen könnte.
Allerdings ist vorerst der gefürchtete Oktobertermin günstig abgelaufen.
Nicht einmal Fallissemente bedeutender Art hat es gegeben, wenn man von der
InsolvenzeinerMaklerfirmaabsieht, derenZusammenbruchcharakteristischerweisedarauf
zurückgeführt wurde, daß sie an Spekulationen von Bankangestellten außerordentliche
Verluste erlitten habe. Die Geldansprüche des Ultimo waren, wie vorausgesehen
wurde, enorme, noch nie dagewesene. Um nicht weniger als dreiviertel Milliarden
Mark hat sich der Status der Reichsbank in einer einzigen Woche verschlechtert;
trotz des erhöhten Kontingents von 750 Millionen ergab sich ein steuerpflichtiger
Notenumlauf von 304 Millionen, während eine Woche zuvor noch eine steuerfreie
Reserve von 70 Millionen vorhanden war. Der Hauptanteil der Inanspruchnahme
fällt auf das Wechselkonto, das in der letzten Septemberwoche eine Zunahme von
über eine halbe Milliarde erfahren hat. Dagegen haben sich die bekannten
Quartalsrestriktionen der Reichsbank auch diesmal wieder insofern wirksam er¬
wiesen, als das Lombardkonto nur um ca. 40 Millionen gegen 109 Millionen im
Vorjahr gewachsen ist. Die starke Abnahme des Metallbestandes hat die Gold¬
deckung des Notenumlaufs, der die Rekordziffer von 2295 Millionen erreichte,
bis auf 31 Prozent sinken lassen. Indessen hat sich auch an diesem Quartalstermin
die frühere Wahrnehmung wieder bestätigt, daß diese außerordentlichen Inanspruch¬
nahmen solche des Zahlungsverkehrs, nicht des Kreditbedarfs sind. Denn schon in
der ersten Oktoberwoche ist eine Zurückflutung von Mitteln im Betrage von nicht
weniger als 260 Millionen erfolgt, und die folgenden Ausweise werden aller
Wahrscheinlichkeit nach eine weitere Kräftigung des Status bringen. Gleichwohl
aber ist die augenblickliche monetäre Lage doch mit Vorsicht und Reserve zu
beurteilen. Die unsicheren politischen Verhältnisse und die vorangegangenen
Verschiebungen in den Geldbedürfnissen der Kulturländer machen sich an den
großen Geldzentren doch sehr fühlbar, vor allem in Paris, das wohl den
größten Geldbedarf aufzuweisen hat. Ist doch der Notenumlauf der Bank
von Frankreich so enorm gestiegen, daß das Institut eine Erhöhung
seiner Marimalumlaufszisfer in Antrag gebracht hat. Bekanntlich ist in
Frankreich, abweichend von dem deutschen System, der zulässige Notenumlauf
absolut begrenzt und zwar in Höhe von 5800 Millionen Franken. Diese vor
etlichen Jahren auf diese Summe erhöhte Festsetzung erschien damals weit genug
gegriffen, daß die Bank niemals der Gefahr ausgesetzt werden könnte, diese Grenze
überschreiten zu müssen. Und doch wird jetzt schon die Kammer eine abermalige
Erhöhung der Umlaufsgrenze zu votieren haben. Wir haben uns an dieser Stelle
schon wiederholt mit den Gründen dieses außergewöhnlichen französischen Geld¬
bedarfs beschäftigt. Diese dauern noch immer an und wirken selbstverständlich auf
die anderen Geldmärkte zurück. Vor allem ist die Bank von England durch
dauernde Goldentnahmen bedroht, wenn auch direkte französische Goldbezüge infolge
der Veränderung des Devisenkurses einstweilen verhindert sind. Aber Ägypten,
die Türkei, Südamerika stellen starke Ansprüche an den Londoner Geldmarkt, und
diese dauernden Entnahmen können die Bank von England leicht zu einer weiteren
Diskonterhöhung veranlassen. Es wird hauptsächlich darauf ankommen, inwieweit
Nordamerika in der Lage ist, für die ausfallende Unterstützung des Pariser Marktes
in die Bresche zu treten. Eine englische Diskonterhöhung müßte aber unweigerlich
den gleichen Schritt der Reichsbank nach sich ziehen. Denn bei ihrem augen¬
blicklich geschwächten Stand könnte die letztere einem Steigen des englischen Zins¬
fußes um so weniger ruhig zusehen, als die Devisenkurse London und Paris
bereits den Goldpunkt nahezu erreicht haben. Es ist daher durchaus im Bereich
der Möglichkeit, daß uns ein sechsprozentiger Diskont beschert wird.
Angesichts der allgemeinen Unsicherheit kann es fast überraschen, daß kürzlich
Stimmen laut geworden sind, welche sich über die Konjunkturaussichten unserer
Industrie hoffnungsvoll äußern. In der Generalversammlung des Hasper
Eisen- und Stahlwerks hat eine führende Persönlichkeit der rheinisch-westfälischen
Industrie erklärt, daß weder Marokko noch Tripolis bisher der Eisenindustrie
Abbruch getan hätten, sondern daß die Beschäftigung in den letzten Monaten
immer besser geworden sei, hauptsächlich dank den Aufträgen aus Argentinien,
Brasilien. Kanada. Man dürfe auch die Aussichten der nächsten Zukunft günstig
ansehen und die Hoffnung hegen, daß hinsichtlich der Erneuerung der Verbände eine
Verständigung erzielt werde. Diese optimistische Auffassung der Lage hat gewissermaßen
eine Unterstreichung durch die günstigen Abschlußresultate der montanindustriellen
Gesellschaften gefunden, von denen die Bochumer und Harpener jüngst ihre Geschäfts¬
berichte haben erscheinen lassen. Hält man sich aber nicht an die ziffermäßigen Resultate,
die für die Gegenwart nichts besagen, sondern an die Äußerungen der Ver¬
waltungen, so klingen diese, insbesondere die der Harpener Gesellschaft, bedeutend
weniger zukunftssicher. Die Harpener Gesellschaft ist eines der bedeutendsten reinen
Kohlenbergwerke; von diesem Gesichtspunkt aus erscheint die Stellungnahme zur
Erneuerung des Kohlensyndikats bemerkenswert und programmatisch. Sie ist aber
eine intransigente, denn sie fordert schlechtweg: Einschränkung und Anlage auf
gleicher Grundlage für alle Syndikatszechen, das heißt also Beseitigung des
Vorrechts der Hüttenzechen. Für diese Forderung wird sich niemals im Kohlen¬
syndikat eine Mehrheit finden, und da es sich anderseits, wie man nicht verkennen
kann, um eine Lebensfrage der reinen Zechen handelt, so scheinen sich einstweilen
der Erneuerung des Syndikats fast unüversteigliche Hindernisse entgegenzutürmen.
Auch in diesen so wenig günstigen Zeiten hat die deutsche Industrie sich nicht
aller Unternehmungslust begeben. Beweis dessen ist die neue Expansion, durch welche
dieDeutsche Erdölaktiengesellschaft ihr Kapital behufs Erwerb der rumänischen
Petroleuminteressen der Diskontogesellschaft und S. Bleichröders ans 20 Millionen
Mark erhöht. Es ist hier früher über die Transaktionen berichtet worden, durch
die im Frühjahr dieses Jahres aus der Deutschen Tiefbohrgesellschaft die jetzige
Deutsche Erdölaktiengesellschaft hervorging. Der Erwerb jener in der Allgemeinen
Petroleum-A.-G. zusammengefaßten Interessen soll einen weiteren Schritt auf
dem Wege bedeuten, die Petroleumversorgung des deutschen Marktes zu kon-
zentrieren. Indessen macht der Erwerb dieser rumänischen Rohölunternehmungen
fast den Eindruck, als diene er mehr den Interessen der Banken, welche lästig
gewordene Beteiligungen auf gute Art abstoßen, als dem Interesse der Gesellschaft
selbst. Wenigstens läßt sich durchaus nicht verstehen, wie bei dieser starken Kapitals-
erhöhung (in einem Jahr nunmehr von 8 auf 20 Mill.) der bisherige Dividenden¬
satz von 2,3 Prozent auch nur annähernd aufrecht erhalten werden soll. Denn
die Allgemeine Petroleum-A.-G. hat bisher für die letzten beiden Jahre keine
Dividende gezahlt. Es ist daher auch die Vermutung laut geworden, daß bei
dieser Transaktion noch ein der Öffentlichkeit vorenthaltener Beweggrund bestimmend
sei, vielleicht der, daß es bei dieser Zusammenfassung von Peiroleuminteressen in
einer Hand sich um vorbereitende Schritte zu einer definitiven Verständigung mit
der Standard Oil handele. Unwahrscheinlich wäre das nicht, nachdem sich die
letztere kürzlich mit der holländisch-englischen Gruppe verständigt hat, und da
auch heute schon zwischen der deutschen Gesellschaft und der Standard Oil gewisse
Beziehungen bestehen, aus die wir früher bereits hingewiesen haben. Es wird gut
sein, die Weiterentwicklung dieser Angelegenheit im Auge zu behalten, namentlich
wenn das Reich in der Tat dem Gedanken nähertreten will, durch ein Staats¬
Verintwortltche Schriftleiter! für den politische» Teil der Herausgeber George Cleinow-Schöneberg, für den
literarischen Teil und die Redaktion Heinz Amelung-Friedenau. — Manuskriptseudnngen und Briefe werden
ausschließlich an die Adresse der Schristleitung Berlin SV. II, Berndurger Strasze 22s/23, erbeten. — Sprechstunden
der Schristleitung: Montags 10—12 Uhr, Donnerstags 11—1 Uhr.
Verlag: Verlag der Grenzboten G.in.S.H. in Berlin SV. 11.
Kistler ?WSI LotllagSPl^eKIssi'lzon-
Slzi'timore
^ Se^t einigen ^abren lassen wir alle bei
lädierten Cigarren edle sogenannten Kuld-
eer) ansammeln und mit einem leinen
LumalradecKer neu überrollen, trüber
wurden diese Cigarre» wenig beachtet
und als rZaucbüigarren an die Arbeiter
verteilt, aber da es hier liauptsäcblick
um bessere und beste Qualitäten handelt,
landen wir diese Verwendung ?u schade.
VerpacKnnx in Kisten onno Aus-
»tsttnox mit dein vrandi
Ki-Mer preis IVIK. 6g pro Mille.
Da in den einnelnen Kisten alle ver-
schiedenen passons und yualitäten ver-
treten sind, eignen sich diese Cigarren
besonders tur I?a»aber, die Abweclislung
lieben, vor preis ist im Verniiltnis ?u
den keinen ynolitliten ein » o n r b i l I i x v r.
^wiscbonräumen vorhanden und da zür-
nen nicbt grvlZ, bitten mit Bestellung
nicbt 2u Zögern.Von S besseren milden 8mo-.er»,'
Nsviiilnii-^larKen
Preislage lVIK. W bis IK0
für lOOi) Stück, baben sich wieder I^ebl-
larben angesammelt, die wir in Kisten
a 50 Stück ohne Ausstattung verpacken
lieLen und die wir nu dem sehr billigen
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1. Januar 1Si2, f. 3 Quartaner, Schlesien.
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M2, Stadtrat, vint. tendu, g-bild. (K000M.),Sold.Ostpr,
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KK4, Hauslehrerin, gcpr, (Mao., Zeich,), bald, Ungarn.
KW, Lehrerin, °rf„ f. Mädch-nprivotschnle (lMO M,),
bald lSprachen, Gesang, Turnen), Ostpr.
NSUSS l^SÜVSk'faKl'SN.
Wir turkelt wohl als bekannt voraussetzen, dass unter allen lebenserkaltenden
Faktoren der Lauerstokk der bei weitem wichtigste und unentbekrliekste ist. Ver¬
armung des Linkes an Lauerstokk ist von der WissenscKait längst als eine Haupt-
ursaeke clsr versckiedensten KrsnKKeitsi?ustÄnde naekgswiesen worden; denn sie bat
cur unausbleiblicken polge, class die aufgenommene l>Isbrung in unvollkommener
Weise -ersetzt (verbrannt, oxväiert) wird, und «lass sich clsber giltige LtoktveeKssl-
rückstände, insbesondere barnssure Lalce, bilden, welche alle Läktemssse verunreinigen,
die Llutbewegung ersckweren uncl <lie (Zewebs in einen pei?2ustand versetzen. Die
^ukukr Koncentrierten Lsuerstokks cum Linde uncl somit die Verwendung dieses
lebenswicbtigsn Qases ?u Heilzwecken gekört an den Aufgaben, welche lange ?eit
tur unlösbar gebaltsn wurden. IZrst der modernen LKemie ist es gelungen, in (Zestalt
eines weiss ausssbenden und leicht eincunebmenden Pulvers ein Präparat beizustellen,
welckes den Lauerstokk in chemischer Limburg enthält und ihn vom /klagen aus an
das Link abgibt. IZine mehr als -ebnjäkrige IZrksKrung, die ass Institut tur 8suerstotk-
rleilverkaliren, Lerlin 81V.II, mit diesem neuen lVlittsl gesammelt bat, bat den unwider-
leglicher Levveis erdrsebt, dass die Erwartungen, die man in die Heilkraft des
Lsuerstokks gesetzt batto, durchaus berechtigt waren. Das völlig ungittigs Präparat
bat sich bei individueller Dosierung nack är-tlieker Vorscbrikt in der Praxis gan?
ausgeceicknet bewübrt. Lei allen l^ervenleiden und LtokkweebselKranKKeiten (OicKt,
PKeumatismus. Mucker-, klagen-, Nierenleiden, Oarmtrsgbeit, lkämorrboiden, Arterien-
Verkalkung, Llutarmut usw.) sind, selbst häutig noch in sehr schweren und ver-
altetsn palier, ganz vorxvglicke und überrssekende rieilerkolge erhielt worden. Lei
längerem OebrsueK der Präparate Konnte Käuiig eine vollständige pegeneration des
Körpers mit all den erkreulieben Lvmptomen des wiedererwachenden WoKIbebagens,
der l^ebenskreude und des Letätigungstrisbss Konstatiert werden, ^aKIreiebe Ar?te
Kaden die Kur su sich selbst versucht und sie ihren Patienten empkoblen. 8cliliesslicll
(1907) wurde das Mittel auen in die ^rsneiveroränung der Könixliclien Universität
»uixenommon und bat sich seitdem in steigendem lViasse die V/ertscKätcung denkender
Ar-te erworben. I^Skeren ^uksebluss über das Verkabren erteilt sine Lroscbüro,
welche das oben erwähnte Institut Kostenlos versendet.
Wir bringen diesen Aufsatz um so lieber, als er von einem
bewährten Vorkämpfer ver alldeutschen Idee stammt und somit eine
doppelt wirksame Kritik an den letzten Beschlüssen des alldeutschen
ir haben seit bald einem Jahre die vierzigjährige Jubelfeier der
großen Siegesfreude von .1.870 hinter uns, und doch sind wir Heuer
mehr fast als vor einem Jahre an die ungeheuern Empfindungen
jener unvergleichlichen Zeit erinnert worden — aus der Absicht der
IL^^M^ ^ politischen Taktik, den kuror tLutomeu8 zu entfesseln, um unserer
Regierung den Nacken zu steifen bei den Verhandlungen um Marokko und um
den Widerstand der französischen Unterhändler zu brechen.
Man sagt, die Geschichte sei eine Lehrerin, und man setzt zuweilen hinzu:
aber man hört sie nicht. In Deutschland wenigstens ist heute in weiten Kreisen
die allgemeine Empfindung, daß Frankreich der Lehren von 1870 nicht mehr
eingedenk sei, daß es vergessen hat, daß geeinter deutscher Kraft und einheit¬
lichem deutscheu Wollen keine Nation Europas gewachsen sei. Wir aber denken
daran, daß es ein vergebliches Mühen der Diplomatie und der Kriegskunst des
dritten Napoleon war, den Sinn der Weltgeschichte nicht verstehen zu wollen,
die in Mitteleuropa neben dem Habsburgischen noch ein zweites Kaisertum
deutscher Nation brauchte, um die europäische Staatenfamilie erst vollkommen
in sich zu gliedern und zu entfalten. Es war die Übereinstimmung des natio¬
nalen Einheitsdranges mit der geschichtlichen Notwendigkeit, die bei Sedan den
Sieg davontrug, und es war die Unfähigkeit, die Prestigesucht des nationalen
Egoismus zum Schweigen zu bringen vor denk Veränderungstrieb im Staaten¬
system, die den französischen Kaiser nach Kassel in die Gefangenschaft führte.
In den vier Jahrzehnten des Friedens, den uns der Frankfurter Vertrag
gebracht hat, schien es zeitweilig, als ob Frankreich der Lehren des für Deutsch¬
land so glorreichen Krieges nicht eingedenk sei. Aber anderseits läßt sich nicht
verkennen, daß gerade die besten Männer der dritten Republik den französischen
Machtwahn von Mitteleuropa nach außereuropäischen Gebiet zu leiten suchten.
Die Ausbreitung der Franzosen in Asien und Nordafrika fand Bismarcks leb¬
hafteste Unterstützung. Und das ist die dritte Lehre, die unsere Nachbarn aus
der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen ziehen sollten, daß Verträg¬
lichkeit mit Deutschland einer der Baumeister des neuen französischen Kolonial¬
reichs gewesen ist. Die Revanchards freilich sahen in der Unterstützung, die
Bismarck der kolonialen Ausbreitung der Republik angedeihen ließ, nur einen
Ailsfluß der Angst unseres Neichsgründers vor dem LÄULrismar as3 coalitionZ.
Gewiß, es ist wahr, Fürst Bismarck hat, fast schon am Ende seiner gesegneten
Laufbahn, noch das hinreißende Wort geprägt: „Wir Deutsche fürchten Gott
und sonst nichts in der Welt." Aber den wror teutomeus wirklich zu ent¬
fesseln, daran dachte er doch nur, wenn das Leben der deutschen Volkseinheit,
deren Freiheit und Ehre bedroht war. Nur wo die Lebensnotwendigkeit und
die Würde der Nation auf dem Spiele standen, kannte die Bismarcksche Politik
keine Konnivenz, so sehr sie im übrigen zu Konzessionen bereit war.
Ein Menschenalter ist freilich nur zu sehr dazu angetan, die Söhne die
bitteren Erfahrungen der Väter vergessen zu lassen. Falsche Schlüsse aus der
Bismarckschen Praxis und allzu große Nachgiebigkeit der ersten Nachfolger des
Reichsgründers haben in der französischen Presse den Wahn genährt, daß sich
unser Lebensinteresse auf das europäische Festland und das wirtschaftliche Gebiet
beschränke. Heut weiß man in Paris, daß sich die nationale Energie des
Deutschen Reichs immer noch auch in Gebietserwerbungen auf kolonialen Boden
zu betätigen strebt, und daß sich die deutsche Gegensätzlichkeit, wenn nötig, auch
außerhalb des europäischen Festlandes bemerkbar zu machen weiß. Wir Deutsche
unserseits sollten wissen, daß der Gedanke eines gallischen Weltreiches rings um
das Westbecken des Mittelmeeres herum eine nationale Idee ist, die die heutigen
Franzosen mit fast derselben Lebendigkeit erfüllt, wie vor vierzig Jahren der
Wunsch nach der deutschen Einigkeit die Stämme vom Fels zum Meer. Was
Frankreich mit der Gründung seines europäisch-nordafrikanischen Einheitsreiches
erstrebt, ist zuletzt die Wiedergeburt des ungeheueren Gedankens der ehemals
hasdrubal-hannibalischen Politik, ein Ringreich von der Stätte des alten Karthago
bis an die Tore des Herkules zu errichten. Es unterliegt ja keinem Zweifel,
daß dieser neufranzösische Imperialismus, so sehr er sich nach dem Süden in
das afrikanische Festland hinein zu verbeißen scheint, zu allerletzt doch nur auf
afrikanischer Grundlage seine Spitze in. das europäische Festland richten möchte.
Insofern sich eine solche chauvinistische Weltpolitik zu der Hoffnung versteigt.
mit den Hilfsmitteln Nordafrikas noch nach vierzig Jahren Revanche an uns
zu nehmen, wird sie sicher an der Überspannung der Vergeltuugsidee zugrunde
gehen. Ebenso wenn sie sich darauf kapriziert, mit dem nordafrikanischen Menschen¬
material die Lücken der eigenen Wehrkraft auszufüllen, um uns den Groß- und
Weltmachtkitzel auszutreiben. Das Sträuben gegen die geschichtliche Entwicklung,
die sich im Bunde mit nationalem Idealismus fühlt, hat der dritte Napoleon
als einen Verstoß gegen die Realpolitik mit dem Verlust seines Thrones gebüßt.
Es mag uns Deutschen schwer fallen, in dem Versuch der Franzosen, um
das westliche Mittelmeer ein europäisch-aftikanisches Einheitsreich zu legen, eine
geschichtliche Notwendigkeit zu spüren. Aber der Gang der Entwicklung, die
uns nach Algeciras führte und dort auf den Widerstand fast aller Großmächte
stoßen ließ, sollte uns klar machen, daß unsere Status quo-Politik am Mittel¬
meer, die in dem nationalen Schwung der französischen Ausdehnungspolitik, in
der diplomatischen Mächtegruppierung und in der geographischen Nachbarschaft
Frankreichs und Marokkos einen Dreibund von Gegnern fand, in Wirklichkeit
eine reaktionäre Politik bedeutete. So stark auch der Algecirasvertrag die
Souveränität des Sultans betont, tatsächlich war schon dieser Vertrag die Denk¬
schrift auf dem Grabe der Unabhängigkeit Marokkos. Und mit dem Marsch
nach Fez schritten die französischen Truppen achtlos über Grab und Grabmal
hinweg.
Trotzdem gibt sich unsere nationalistische Presse, indem sie dem Entweder
(einer Abtretung Südwestmarokkos an Deutschland) das Oder (des Rückzuges
der Franzosen) gegenüberstellt, den Anschein, als könne sie die Mumie der
Souveränität des marokkanischen Sultans wieder lebendig machen. In Wahrheit
weiß sie sehr wohl, daß dieser künstliche Wiederbelebungsversuch nur eine Episode
bilden würde, der die amtliche Todeserklärung bald folgen würde. Indem sie
für den Fall des Bleibens der Franzosen in Marokko mit dessen Teilung zufrieden
ist, verrät jene Presse, daß sie ja selbst nicht mehr an die Möglichkeit glaubt,
den Gang der Ereignisse zurückschrauben zu können. Indem sie mit dem Vor¬
schlag, Marokko zu teilen, der Republik den nördlichen Teil anbietet — wird
da das angeblich so fürchterliche europäisch-nordafrikanische Einheitsreich Frank¬
reichs etwa weniger Wirklichkeit?
Frankreich zu hindern, jemals an ein europäisch-nordafrikanisches Weltreich
zu denken, wäre vielleicht damals, als sich die Republik in Tunis einfchlich,
noch möglich gewesen. Wenn Bismarck freiwillig, aus guten Gründen der
europäischen Politik, Frankreich die Wege in Nordafrika chüele, so haben seine
Nachfolger in Algeciras sein Werk gezwungen fortgesetzt. Es kann nicht unsere Auf¬
gabe sein, das Beispiel Napoleons nachzuahmen und etwas, das wir selbst als
unaushaltbar erkannt und gefördert haben, kurz vor seinem Schluß rückgängig
machen zu wollen. Ich habe, als Llond George und Asquith ihre Drohreden
hielten, aus der Angst des Schatzkanzlers vor einer Störung des englischen
Budgets gefolgert, daß Frankreich bei einem Kriege mit Deutschland an Eng-
land keinen Helfer würde gefunden haben. Aber geeignet, die Republik unter
unbesonnener Führung in einen Krieg mit uns hineinzusetzen, waren die eng¬
lischen Ministerreden nur allzu sehr. Und den Vorteil hätte bei einem LaiZnsr
ü blane der beiden größten Militärmächte des europäischen Festlandes die eng¬
lische Wirtschafts- und Weltpolitik mit ein paar Kanonenschüssen der britischen
Flotte gehabt.
Nun habe ich wie jeder patriotische Deutsche natürlich so viel Ehrgefühl,
um selbst einen Krieg nicht zu scheuen, wenn Lebensnotwendigkeiten oder die
Ehre der Nation auf dem Spiele stehen. Aber daß eine Lebensnotwendigkeit
des Deutschen Reiches durch die Gründung des europäisch-nordafrikanischen
Reiches Frankreichs auch dann gefährdet sei, wenn Deutschland für den Macht¬
zuwachs der Republik entschädigt werde, das behauptet auch die nationalistische
Presse bei uns nicht. Denn sonst könnte sie überhaupt nicht den Vorschlag
machen, gegen Abtretung des Susgebietes an uns Frankreich Nordmarokko zu
überlassen. Gegen ein Handelsgeschäft in Landgebiet hat jene Presse also grund¬
sätzlich nichts einzuwenden. Nur versteift sie sich auf die Entschädigung gerade
in Marokko. Und da frage ich mit allem Ernst: Ist denn das Susgebiet in
der Tat eine Lebensnotwendigkeit für Deutschland? Sind wir ohne es in unserem
Bestand, in unserer nationalen und politischen Unabhängigkeit bedroht? Kein
richtig Denkender wird darauf mit einem Ja antworten, und ebenso wenig
auf die Frage: Bedeutet der Verzicht auf das Susgebiet eine Beeinträchtigung
unserer nationalen Ehre, wenn wir dafür anderen Ersatz bekommen? Man hat
gesagt, wir seien durch die englischen Drohungen von Marokko zurückgetrieben
worden. Aber die deutsche Regierung hat erklären lassen, daß sie im offiziellen
Verkehr mit Frankreich niemals, auch zu Anfang nicht, das Susgebiet gefordert
habe. Auch der bekannte offiziöse Artikel der Kölnischen Zeitung, der frühzeitig auf
die Forderung der Entschädigung im französischen Kongo vorbereitete, spricht
mit seinem zeitlichen Erscheinen gegen jene Behauptung. Man mag es als
Unehrlichkeit eines Großmoguls tadeln, wenn England durch seine Minister¬
reden den Eindruck hervorzurufen suchte, als habe die britische Diplomatie
Deutschland aus dem Sus verjagt. Aber bloß um sich gegen englisches Protzen-
tum aufzulehnen, das Verlangen nach dem Susgebiet bei Frankreich nachträglich
durchzudrücken, das wäre Sucht nach Prestige ü, Is Napoleon III. und nicht
Bismarcksche Realpolitik.
Es gab nur eine Möglichkeit, die für uns zur Notwendigkeit geworden
wäre, das Schwert zu ziehen: die nämlich, daß sich Frankreich oder Gro߬
britannien überhaupt jeglicher deutschen Forderung, uns für das Gleich¬
gewicht in Europa verschiebende Wachstum der Republik zu entschädigen, ent¬
gegengestemmt hätte. Die Entschädigung selbst war eine Lebensnotwendigkeit
sowohl wie ein Gebot der nationalen Ehre, nachdem sich Frankreich über die
Pflichten, die die Algecirasakte auferlegte, hinweggesetzt hatte. Dieser Lebens-
notwendigkeit wie unserem Ehrgefühl nach seinen Kräften gerecht zu werden,
hat sich das offizielle Frankreich unter erzwungener oder klug-freiwilliger
Zustimmung Englands durch das Angebot territorialer Entschädigung
bereit erklärt. Wo diese Entschädigung liegen solle, das war eine Frage der
Zweckmäßigkeit.
Und da frage ich weiter: Hat das Susgebiet wirklich die politische Be¬
deutung für uns, die ihm unsere nationalistische Presse zuerteilt? Man verweist
auf die Möglichkeit Frankreichs, sein Heer aus Marokko zu ergänzen. Ganz
abgesehen davon, daß unsere Militärs die Bedeutung und Stärke dieser farbigen
Truppen nicht sehr hoch anschlagen — aber die Möglichkeit, in Marokko zu
rekrutieren, hat Frankreich ja, einerlei ob uns das Susgebiet gehören wird
oder ob wir am Kongo entschädigt werden. Jedoch, vom Sus aus, so behauptet
mau, kann Deutschland in einem Krieg mit Frankreich ganz Nordafrika revol¬
tieren. Das ist eine Behauptung, der sich die andere gegenüberstellen läßt,
daß uns das Sus, mitten im französischen Kolonialgebiet gelegen, bei seiner
notgedrungen schwachen Besatzung sofort entrissen wird. Gewiß, beim Friedens¬
schluß erhalten wir es wieder. Aber seine Aufgabe, ein Revolutionsherd für
Französisch-Nordafrika zu sein, dürfte es während des Krieges schlecht genug
erfüllt haben.
Das Susgebiet, so wird freilich weiter gesagt, hat aussichtsvolles Ansiedlungs-
gebiet. Die Kenner sagen's, also ist es wahr. Und das ist etwas, was gerade
mich, der ich in so zahlreichen Aufsätzen der „Altdeutschen Blätter" als Haupt¬
mangel der auswärtigen Politik Bülows dessen zu geringes Streben nach
Ansiedlungsgebiet aufgedeckt habe, reizen mußte. Ich verzichte deshalb auf den
Einwand, daß das Deutsche Reich augenblicklich Menschen nicht aus-, sondern
einführt, daß im besonderen der Deutsche, wenn er auswandert, amerikanischen
Boden bevorzugt, daß auch unser Südwest und der Kilimandscharo keineswegs
von Ansiedlern überlaufen werden. Ich setze sogar den Fall: die Möglichkeit, den
Auswandererstrom über den Atlantischen Ozean zurückzulenken, wäre vielleicht
gegeben, wenn uns in unseren Kolonien besseres Ansiedlungsland zu Gebote
stände. Aber wer verbürgt sich, daß Marokko mit seiner heißen Sonne trotz der
kühlenden Nähe des Atlas wirklich sür die Mehrzahl unserer bäuerlichen Aus¬
wanderer etwas Lockendes hätte? Auf jeden Fall aber (und das schlägt in. E.
die ganze Politik unserer nationalistischen Presse) mit ihrem: Entweder zieht
sich Frankreich aus Marokko zurück oder wir nehmen das Susgebiet, bestätigen
die Herren vom Altdeutschen Verband neuerdings, daß ihr Glaube an das Sus¬
gebiet als eine deutsche Lebensnotwendigkeit nicht allzu groß ist. Gesetzt, Frank¬
reich täte ihnen den Gefallen und verließe Marokko wieder — wo bliebe dann
für Deutschland dort das doch angeblich so unsagbar notwendige Ansiedlungsgebiet?
Und selbst angenommen, das Susgebiet wäre ein Stück Erde, auf das
unsere Bauern erpicht wären, daß sie seinetwegen lieber einen Krieg riskieren
als auf es für Kongoland verzichten würden. Ist denn der Landhunger des
deutschen Bauern für die auswärtige Politik Deutschlands allein maßgebend?
Hat denn das Kongoland vor dem Susgebiet gar keine Vorzüge?
Ich spreche nicht von dem Unterschied des Flächeninhalts. Die nationalistische
Presse wiegt diesen Vorzug der Kongoentschädigung mit großer Leichtigkeit durch
den Vorwurf auf, daß es sich ja nur um Tschadsümpfe handele. Von geographischer
Kenntnis ist dieser Vorwurf ja nicht allzusehr angekränkelt. Ich bin nicht zu¬
ständig, zweifle aber, ob das Susgebiet lauter Ackerboden und nicht manche
Steinwüste enthält. Niemand streitet, daß es an Erzfunden einen Vorsprung
hat, von demi man freilich noch nicht wissen kann, ob er in den: noch so herzlich
wenig erforschten Kongoland nicht sollte eingeholt werden können. Schließlich
ist doch der Gummireichtum des Kongolandes auch ein Vorteil, und wenn das
Susgebiet als Baumwollland gepriesen wird, so sei doch mit allem schuldigen
Respekt daran erinnert, daß es noch nicht viele Jahre her sind, daß auf Mittel¬
afrika von den Baumwollkonsumenten ganz ansehnliche Hoffnungen gesetzt wurden.
Allerdings, wenn man heute die nationalistische Presse liest, so wundert man
sich, mit welcher despektierlichen Handbewegung jetzt selbst Kamerun beiseite
geschoben wird im Vergleich mit dem herrlichen, dem einzigen, dem unerreich¬
baren Susgebiet. Und doch wurde bis zum Auftauchen der Suffrage unser
Kamerun auch in der nationalistischen Presse stets als aussichtsreichste unserer
Kolonien ausgegeben. Heute ist das anders. Es steckt eben auch in der Politik
viel Eigensinn.
Ein Etwas aber, das der Entschädigung am Kongo einen unschätzbaren
Wert gibt, das ist ihre Fähigkeit, das Bindeglied zu werden für die Konso¬
lidierung unseres afrikanischen Kolonialreiches. Das Susland würde zu dem zer¬
stückelten Herrschaftsbesitz in Afrika noch ein weiteres Stück zusammenhangslos
hinzufügen. Gewiß, für die militärische Behauptung einer etwaigen Suskolonie
macht deren Entfernung vom Hauptstock unseres kolonialen Besitzes nichts aus.
Dieser wird ja nicht auf afrikanischer Erde verteidigt, sondern in Enropa und im
Indischen Ozean. Aber für die Verwaltung, für die wirtschaftliche Ausnutzung,
für die Verkehrserschließung und die agrarische und industrielle Ausbeutung ist
es ein Unterschied, ob unser Kolonialgebiet in einzelnen Stücken über ganz
Afrika zerstreut liegt oder ob es sich zu einer großen Herrschafts- und Verkehrs-
cinheit zusammenfügen läßt. Sicherlich: auch die Abtretungen am Kongo machen
Deutsch-Ost- und Westafrika noch zu keinem zusammenhängenden Kolonialreich,
und zwischen der Mitte des schwarzen Erdteils und dem Südwesten klafft noch
die Angolalücke. Aber die Entwicklungsmöglichkeiten zur Vereinheitlichung sind
mit der Abtretung am Kongo gegeben. Wir können schon dann eine dem
Einfluß der Weltmächte entrückte Bahnverbindung zwischen Ostafrika und dem
vergrößerten Kamerun durch das den Wechselfällen des Krieges entzogene neu¬
trale Belgisch-Kongo führen. Und der Zuknnftsentwicklung sind leine Grenzen
gesetzt. Koloniale Erwerbungen sind, wenn sie nicht durch Friedensschlüsse be¬
dingt werden, Handelsgeschäfte, also ohne Beeinträchtigung des nationalen Ehren-
punktes auch im Frieden möglich. Wer will heute, wo wir sogar von der
Großmacht Frankreich im Frieden ein mittelafrikanisches Gebiet von der Größe
der Republik erhalten können, zu leugnen wagen, daß sich Möglichkeiten einer
Besitzveränderung auch im Belgisch-Kongo erdenken lassen, durch die die terri¬
toriale Verbindung zwischen dem deutschen Osten und Westen Afrikas könnte
hergestellt werden? Die Kongoakte bietet für solche Veränderungen ebensowenig
unübersteigbare Hindernisse wie die ebenso internationale Algecirasakte. Auf
Angola aber haben wir seit reichlich einem Dutzend Jahre die erste Hypothek.
Auch da sind Liquidationen möglich, die Deutsch-Südwest eng an unseren
mittelafrikanischen Besitz fügen und so die Konsolidierung unseres afrika¬
nischen Kolonialreiches vollenden können. Es ist noch nicht Kiderlen-
Wächter, der uns die koloniale Einheit beschert hat, aber er will uns
zu dem beträchtlichen Landgewinn der Kongoentschädigung auch die Entwicklung
zu einem einheitlichen Kolonialreich bieten. Er hat damit in unsere auswärtige
Politik neben dem Trachten nach einem bloßen realen Vorteil auch die Be¬
geisterung durch eine Idee wieder eingeführt. Gerade die nationalistische Presse
operiert so gern mit dem Bismarckschen Wort von der Bedeutung der Im¬
ponderabilien. Die Weckung des deutschen Idealismus ist ein solches Imponderabile.
Jedoch, der Verlust der wirtschaftlichen Kraftbetätigung in dem an Boden¬
schätzen so reichen Marokko wäre ein schwerer Schlag für unsere industrielle
Entwicklung! Aber das zähe Feilschen um Sicherungen gegen einen solchen
Verlust ist doch zunächst ein Grund zur Hoffnung, daß die wirtschaftlichen
Interessen in Marokko nicht leichtfertig geopfert werden. Zur Klage über
mangelnde Fürsorge sür unsere Industrie kann ernstlich erst Anlaß fein, wenn
der Vertragsabschluß unsere Hoffnungen nach dieser Richtung hin nicht gerecht¬
fertigt hat.
Im übrigen hat das deutsche Volk zu Klagen allzeit Anlaß genommen.
Heute heißt es, ein Bismarck würde so nicht gehandelt haben wie Kiderlen-
Wächter. Mit Verlaub: als Bismarck noch im Amte war, ist ihm das Lob
gerade von den nationalen leider nicht so vorbehaltlos gespendet worden, wie
heute behauptet wird. 1864 nicht, als ihm Wrangel vorwarf, mit der Feder
verdorben zu haben, was das Schwert errungen habe (übrigens eine alte
Phrase, die schon 1814 und 1815 abstrapaziert wurde). 1866 nicht, als König
Wilhelm und seine Generale dem Ministerpräsidenten zu einem Nervenchok ver-
halfen, weil sie nur mit höchstem Widerstreben auf den Einzug in Wien ver¬
zichteten. 1867 nicht, als der Nationalverein wegen der Nachgiebigkeit in der
Luxemburger Frage grollte. 1871 nicht, als Kaiser Wilhelm seinem Reichs¬
kanzler nach der Proklamation in Versailles die Hand verweigerte. Zur selben
Zeit, als die nationalliberale Mehrheit des Reichstages Bismarcks Nachgiebigkeit
gegen die bayrischen Reservatforderungen nicht begriff. Im gleichen Jahr, nach
dem Frankfurter Frieden, als die Militärs den Verzicht Bismarcks auf Belfort
nicht billigten. 1875 nicht, als Moltke nur widerstrebend von dem Gedanken
eines Präventivkrieges abließ. 1884 nicht, als die Kolonialfreunde dem Kanzler
seine zögernde Haltung beim Erwerb Ostafrikas verargten. 1885 nicht, als
der Reichsgründer im Streit mit Spanien um die Karolinen dem Papst das
Schiedsrichteramt übertrug. 1888 nicht, als die freisinnige Presse über Bismarcks
bulgarische Politik jammerte. 1889 nicht, als der Samoavertrag mit dem Tadel
begrüßt wurde: Es gelingt nichts mehr.
Es ist das Schicksal des Diplomaten, Konzessionen machen zu müssen und
dafür die Unzufriedenheit seiner Zeitgenossen zu ernten.
!it Leidenschaft und vieler, wenn auch nicht völliger Berechtigung
verteidigt Grillparzer mehrfach seine „Ahnfrau" gegen den Vor¬
wurf, eine Schicksalsdichtung zu sein; denn als Vsrwurf empfindet
er die Meinung, wonach er Menschen zu Spielbällen der Willkür
^ gemacht habe. Ein inneres gesetzmäßig waltendes Schicksal, das
Gesetz der Vererbung, um dessen Entschleierung die Gegenwart ringt, stand dem
jungen Dichter von 1816, schwankend und verhüllt allerdings, vor Augen. Etwa
drei Menschenalter später, die übervoll sind vom Streben nach naturwissenschaft¬
licher Erkenntnis, hat wieder ein Wiener Schicksalsstück auf vielen deutschen
Bühnen großen Erfolg, und diesmal waltet das Schicksal mit so grenzenloser
Willkür, wie wohl in keiner Dichtung irgendeiner früheren Epoche.
Zwar „Der Graf von Charolais" (Berlin, S. Fischer Verlag), der den
spärlich produzierenden und vorher durch einige Novellen kaum bekannt gewordenen
Richard Beer-Hofmann mit einem Schlage berühmt machte, enthält auch jene Idee
der schicksalsmäßiger Erbbelastung. Der jüdische Gläubiger, an dessen Hartherzig¬
keit alles Flehen des Grafen abprallt, kann nicht Menschlichkeit üben, weil er
unter dem Bann der UnMenschlichkeiten steht, die seinem Vater und seinen Ahnen
angetan wurden:
Und Charolais selber erklärt als Erbschaft vom Vater, woraus sein viel¬
fältiges Erwägen der Dinge und weiter das stimmungshaft Jähe seines immer
halb widerwilligen Handelns hervorgeht: der Vater, trotzdem er ein weiser Feld¬
herr gewesen, habe keinen stürmischen Tatendrang besessen, habe niemals das
Soldatengefühl gehabt, mit zufahrender Klinge, zugreifender Faust alles erobern
zu können — „der Faust, die zugreift! Anderes Blut als meins, als meines
Vaters Blut muß durch sie fließen." (Worin denn das österreichische Leitmotiv:
„Nichts teurer ist hier Lands als der Entschluß" wieder einmal deutlich genug
aufklingt.)
Aber das Schicksal betätigt sich doch auch in einer viel willkürlicheren Form.
Der milde General, dem Krieg kein „fröhlich Handwerk" war, sondern nur „das,
wohinter Friede lag", ist kaum eigentlich noch in der Ausübung seiner Pflicht
gefallen, vielmehr einer Sinnlosigkeit erlegen, denn ein letzter, unberechtigter
Schuß traf ihn, als der Friedensvertrag bereits unterzeichnet war. Und das
Kupplerwirtshaus, in dem sein Sohn mit den unerbittlichen Gläubigern ver¬
handelt und später die schwerste Stunde erlebt, gehört einem Manne, den der
sinnlose Zufall zum Kuppler gemacht hat; er war ein gefeierter Sänger, da
„blies ein Wind, ein Frühlingswind, und nahm die Stimme mir, und mit ihr
alles", — und nun erst aus Verzweiflung und Trotz ergriff er das schmähliche
Handwerk. Und der alte Gerichtspräsident, der über den seltsamen Fall ent¬
scheiden soll — die Gläubiger haben nach altem Rechtsbrauch die Leiche des
Feldherrn, der zur Löhnung seiner Truppen Schulden machte, in den Schuld¬
turm gesperrt und geben sie dem mittellosen Sohn nicht zur Bestattung frei —,
der Gerichtspräsident muß gerade am Tage dieses Falles an einem äußerlichen
Anlaß entdecken, daß seine Tochter aus einem Kind zum Weibe geworden ist,
und weil ihn nun ihr künftiges Frauenschicksal quält, und weil er an Charolais'
Sohnesliebe die tiefe Güte des jungen Menschen erkennt, so löst er selber die
Leiche des Feldherrn und schenkt den: von Verzweiflung befreiten Jüngling
zugleich mit dem Lösegeld die Hand seiner Döströe.
Doch dies alles sind schließlich Zufalls- oder Schicksalsfügungen, denen
man in mancher Dichtung begegnet. Nun aber tritt ein, was Beer-Hofmann
als etwas Neues und Unerhörtes für sich in Anspruch nehmen darf. Man hat
das zumeist in seiner Neuheit nicht richtig erkannt. Das Stück wurde gelobt,
weil es in den bisher berichteten Akten mit wundervoller Sprachkunst eigenartige
Charaktere zeichnet und diese Gefühle ausdrückt, weil es auch in den beiden Schlu߬
akten eine Überfülle von Sprach- und Gefühlsschönheiten aufweist. Doch tadelte man
fast immer, daß zwischen diesen beiden Dramenteilen ein Bruch klaffe, und ent¬
schuldigte den Dichter nur mit seiner Abhängigkeit von einer stofflich rohen,
unpsychologischen Vorlage, dem 1632 erschienenen Stück von Massinger und Mett
»Ille tatal Es ist auch wirklich ein Bruch vorhanden, denn Döströe,
die rein und edel ist und ihren Gatten liebt, begeht plötzlich unter den wider¬
wärtigsten Umständen einen überaus gemeinen Verrat an Charolais. Aber
gerade dieser Bruch, diese Sinnlosigkeit bildet das, worauf der Dichter hinstrebte,
bildet den eigentlichen Kern des Stückes. Die Persönlichkeiten des Dramas
nämlich sind zwar überzeugt, daß sie einer Schicksalsfügung unterstehen, aber
eine Sicherheit haben sie doch: ihrer selbst glauben sie sicher zu sein, sie glauben
bestimmt nichts tun zu können, was ihrem eigenen inneren Wesen widerspräche.
An: stärksten drückt das Charolais mit diesen Worten aus:
Und so wie Charolais, denken der Präsident und Deftrse, und nun —
dies ist die bruchlos folgerichtige Entwicklung eines Schicksalsfanatikers — zeigt
ihnen das Schicksal, daß es buchstäblich über allen Dingen Herr ist und aus¬
nahmslos über allen, daß es auch die Persönlichkeit dem eigenen Selbst zu
entfremden vermag. Dösiree begeht im Taumel einer verführenden Stunde
schändlichen Ehebruch, der Präsident muß sie selber des Todes schuldig erklären,
und Charolais tut als leidenschaftlicher Rücher seiner Ehre, was ihm nun doch
Reue auf die Stirn und Ekel auf die Lippen legen wird. Und Desiröe sagt,
sie wisse nicht, was sie zu ihrer Tat veranlaßt habe, und Charolais lehnt die
Verantwortung am Tode seiner Gattin ab:
Dies also ist der letzte Sinn des Stückes, der vielleicht manchem anders
gerichteten als ein Unsinn erscheinen mag, zumal ja Desiröes Verhalten auch
in den physiologischen Einzelheiten fast unerklärlich bleibt, aber doch, wie gesagt,
ein mit bruchloser Folgerichtigkeit herausgearbeiteter Sinn: daß Schicksal noch
mehr sei als vererbte Anlage und äußerer Zufall, dem ein noch so belastetes
und gebundenes Ich doch immerhin irgend etwas entgegenzusetzen hat, daß es
vielmehr die allmächtige, in der Außenwelt wie in der menschlichen Seele
unumschränkt herrschende Sinnlosigkeit sei, der gegenüber der Mensch nicht als
Persönlichkeit, sondern als Spielball bestehe.
Dieses Furchtbare, das Beer-Hofmann im „Charolais" wenigstens als ein
Tragisches hinstellt, suchte er in einer früheren Dichtung, der lyrisch ver¬
schwimmenden Erzählung „Der Tod Georgs" gar als etwas beinahe Erfreu¬
liches zu bezeichnen. Dort ist dein Einzelnen die Verantwortung für sein Tun
und Lassen abgenommen, alles, was ihm geschieht, ist Schicksalsspiel, und alles,
was ihm geschieht, hat Bedeutung, weil es zugleich Schicksal für andere bildet,
weil er gar kein einzelner, sondern nur ein Mosaikstein im Weltgefüge ist.
Und dieses verantwortungslose und verschwimmende Leben birgt dreifachen
Genuß, denn zu dem tatsächlichen Dasein des Tages tritt, vielleicht als aus¬
gleichende Gerechtigkeit, das möglicherweise nicht minder tatsächliche Leben des
Traumes, und weiter das Ahnungsleben, das Ahnen nämlich von dem geheimnis¬
vollen Zusammenhang des schwankenden, des imaginären Ichs mit dem ganzen
Gefüge des bunten, unendlichen Lebens. Hier ist die Bindung gegeben zwischen
Beer-Hofmanns Schicksalsfanatismus dem einzelnen gegenüber, dessen Indivi¬
dualität er ja verneint, und jener Philosophie des Impressionismus, die Hermann
Bahr verkündet und die sich als ein Einbruch des Alls in die Schranken der
Persönlichkeit darstellt.
Wer Blumen betrachtet, schenkt den ersten Blick gewöhnlich der grellsten
Blüte (die bisweilen die größte Schönheit und das meiste Gift in sich vereinigt);
danach verweilt er bei den minder auffälligen, dann erst gleitet das Auge stengel-
abwärts, und zuletzt wird ein wissenschaftliches Interesse am Wurzelwerk und
Boden rege werden. Zu den minder auffälligen Blüten der gleichen Art gehören
einige Dichtungen Hugo v. Hofmannsthals, nicht deshalb, weil er dem Schicksal
eine geringere Macht, dem Ich eine größere Sicherheit zuschreibt als Beer-
Hofmann, sondern weil er zum mindesten den psychologischen Unmöglichkeiten
aus dem Wege geht und die einzelnen Charaktere bruchlos darstellt. Aber
die Grundanschauungen beider Dichter gleichen sich völlig, und man darf wohl
in Hofmannsthal, trotzdem der 1874 Geborene fast acht Jahre jünger ist als
Beer-Hofmann, den Meister des „Charolais"-Dichters, ja den eigentlichen
Begründer dieses ganzen österreichischen Literaturgebietes sehen. Frühzeitig
von der impressionistischen Kunst der französischen und belgischen, italienischen
und englischen Moderne genährt, hat er dem so überkommenen europäischen
Gesamtgut doch ein eigenes — vielleicht weiches Gefühls-, sicherlich schwelge¬
risches Sprachgepräge zu geben vermocht").
Ihn lockt es zu der Verhängnisdichtung der Antike; er verdeutscht den
Sophoklcischen „Ödipus", denn Jokastes Worte:
enthalten ja im Kern alles, was Hofmannsthal selber bewegt. Aber schließlich
bietet ihm die Antike doch nur knappe Andeutungen und maßvolle Hinweise,
und so bemächtigt er sich ihrer Stoffe und schaltet mit ihnen in zügelloser
Freiheit. Die Tragödie „Ödipus und die Sphinx" ist ganz Hofmannsthals
eigenes Werk. Ein mächtiger erster Akt zeigt den plötzlich um die Sicherheit
seines Jchempfindens gebrachten, plötzlich von den Ahnungen ererbter Bestimmung
gefolterten Jüngling. Ein berauschter Gefährte hat in Ödipus Zweifel an seiner
Herkunft erweckt, das delphische Orakel sollte ihm Gewißheit geben und schenkte
den: Entsetzten statt der erbetenen Antwort den Ausspruch, er werde den Vater
töten und die Mutter freien. Nun flieht er vor seinen: Geschick und fühlt es
doch über sich. In der bedrückenden Einsamkeit des Tempels ist ihm das
Dunkle und Tiefe der eigenen Seele ins Bewußtsein gedrungen, er spürte:
„hier ist kein Grund: dem Weltmeer ist ein Grund gesetzt — ihr nicht," und
dann hat ihn das Orakel so getroffen, daß er mit dem frohen Ödipus von
ehedem nichts mehr gemein hat:
Wiederum macht sich dies „Gestern" fürchterlich bemerkbar, denn aus dem
Sturm klingen die Stimmen der Ahnen, deren Leidenschaften seinen Weg hervor¬
rufen :
Alle diese Schicksalsdinge sind von geheimnisvollen Worten und Rhythmen
umschleiert, aus denen sie um so gespenstischer hervorleuchten. Daß Hofmannsthal
— freilich sehr ausnahmsweise — auch das einfacher Menschliche mit hinreißender
Lyrik darzustellen vermag, beweist er in demselben Akte, in dem er schildert, wie
sich Odipus auf der Flucht vor seinem Schicksal von Heimat und (den vermeint¬
lichen) Eltern losreißt. In Versen, die von der Klangschönheit als einzigem
Gesetz geregelt sind, beauftragt der Verstörte seinen alten Diener:
Aber schließlich müssen sich der lyrische Erguß, besonders der sprachprunkende,
und die mystische Verschleierung immer als Feind des klares Handeln fordernden
Dramas zeigen. Wenn sich die Andeutung des Gespenstischen in ständigen
Variationen wiederholt und dabei ein rüstiges Fortschreiten der klaren Ge¬
schehnisse, eine kräftige Fortentwicklung der Charaktere unterbleibt, wird das
erst überreizte Interesse des Hörers eingeschläfert. Solch eine einschläfernde
Wirkung üben die späteren breiten und dunklen Akte des Dramas, das den
Schicksalsverfolgten allzu langsam und allzu lyrisch bis zu seiner Vermählung
mit Jokaste geleitet.
Und Hofmannsthal kann diesem Verharren im Mystischen und sprach¬
schwelgerisch Lyrischen nicht entgehen, weil es ihm Sache des Prinzips ist. In
seinen „Prosaischen Schriften" sagt er einmal: „Wir sind reicher an Gedanken
als der endlose Meeresstrand an Muscheln. Was uns nottut, ist der Hauch.
Wovon unsere Seele sich nährt, das ist das Gedicht, in welchem, wie im
Sommerabendwind, der über die frisch gemähten Wiesen streicht, zugleich ein
Hauch von Tod und Leben zu uns herschwebt, eine Ahnung des Blühens, ein
Schauder des Verwesens, ein Jetzt, ein Hier und zugleich ein Jenseits, ein
ungeheures Jenseits." Da hat man also wieder die Geringschätzung, wenn nicht
Negierung der Klarheit im Individuum, die Sehnsucht nach der Berührung mit
dem geheimnisvollen Wogen der Ganzheit des Lebens und dazu die Meinung,
daß die letzte Aufgabe des Dichters darin bestehe, die Ahnung solcher Zusammen¬
gehörigkeit mit dem fließenden Ganzen hervorzurufen. Es mag mit dieser
Geringschätzung des einzelnen ^und dieser Verehrung des mystischen Ganzen
zusammenhängen, daß Hofmannsthal der Sprache eine übergroße Bedeutung
beilegt; sie ist ihm nicht nur Gefäß des Gedankens, sondern auch die Trägerin
der Bezauberungen, die dem Menschen jenes eigentümliche Gefühl, dem ganzen
Leben eingefügt zu sein, aufzwingen, sie lebt fast unabhängig vom einzelnen
Dichter eine Art eigenen mystischen Lebens. Nun könnte man einen Augenblick
meinen, ein so auf lyrische Mystik Gestellter habe der Bühne völlig zu entsagen;
aber tatsächlich erwächst aus dem Bemühen, den Menschen nicht nur durch klaren
Gedanken und klares Gefühl zu erheben, ihn vielmehr durch das Ahnenlassen
geheimnisvoller Zusammenhänge zu bezaubern, in eine Art Rausch zu versetzen,
mit Notwendigkeit das Verlangen nach Bühnenwirkung. Gewiß, den stärksten
Zauber sollen das Wort und sein Rhythmus selber ausüben: aber welche Hilfs¬
kräfte strömen dem, der bestrickende Wirkungen erzielen will, aus dein Klang
des gesprochenen Wortes, aus der Gebärde des Sprechenden, aus Form und
Farbe eines plastisch dargestellten Ortes, aus dem Wechsel seltsamer Beleuchtungen,
kurzum aus dem ganzen, vielfältigen Apparat der Bühnenkunst. Es läßt sich
diese auf Verzückung der Sinne und Verwischung des scharfumgrenzten Denkens
ausgehende Theaterkunst, wie sie am stärksten auf deu Reinhardtschen Bühnen
ausgebildet wurde, mit den schwelgerisch schönen Formen katholischer Kirchlichkeit
vergleichen, woraus sich denn zur Genüge erklärt, daß solches Bühnenwesen
den einen als etwas sehr Heiliges, den anderen als etwas sehr Unheiliges
erscheinen muß.
Daß Hofmannsthal von solcher Bühne herab auch als Dramatiker un¬
mittelbare Wirkung ausüben kann, hat er zum mindesten durch eines seiner der
Antike entnommenen Stücke bewiesen, durch seine „Elektra". So eng sich die
Handlung zumeist der Sophokleischen anschließt, so ganz gehört dies Stück dem
modernen Dichter. Der Schicksalsgedanke tritt diesmal zurück, obwohl auch
hier von des „dunkeln Schicksals finsterm Baum" die Rede ist, an den der
Pfeil der Götter das Geschöpf nagele. Was herrscht, ist das von Sophokles
nur leise und teilweise angedeutete, von Hofmannsthal breit und mit schauerlicher
Bildkraft ausgeführte Kranksein der Gestalten. Krank ist Klntemnestra, die in
einem halb unbewußten Augenblick zur Gattenmörderin wurde und nach dem
Geschehnis (das ihr kaum Tat war) immer tiefer in Krankheit sank; krank, ja
eine Wahnsinnige, ist Elektra, die das Wissen um das Entsetzliche, ein ent¬
würdigtes Leben und die Maßlosigkeit jahrelangen Rachedurstes zerrütet haben;
und etwas krankhaft Überreiztes liegt auch schon in der blühenden Chrysothemis,
deren Begehren nach Mann und Kind zu lange der Befriedigung harrt. Man
kann das Stück eine Krankheitsgeschichte nennen und kann wohl die Frage auf¬
werfen, ob es Sache des Dichters sei, Krankheit um ihrer selbst willen darzu¬
stellen; aber die gewaltige Kraft, mit der Hofmannsthal auf diesem Wege,
vielleicht einem Irrwege, hinschreitet, ist unmöglich zu verkennen.
Richtet man den Blick auf das Krankhafte in Hofmannsthals „Elektra",
so hat man die Bindung zwischen den Schicksalsdichtungen und den anderen
geistigen Erscheinungen der Zeit: es tritt das naturwissenschaftliche Element als
Kittung zutage. Naturwissenschaft dürfte es gewesen sein, die im Ausgang der
siebziger Jahre die „Neuen" zur exakteren Lebensdarstellung trieb. Natur¬
wissenschaft führte aus der Betrachtung des äußeren Lebens ins Psychologische,
wo man denn auf jene grundlosen Tiefen stieß, vor denen Ödipus schaudert.
Und von da aus ging es eben in die Zweifel an der Einheit des Ichs und
weiter in die neue Fatalistik — eine Entwicklung, die Hermann Bahr, der
„gute Kamerad" der Schaffenden und besonders der Impressionisten, frühzeitig
zu einem großen Teil vorausgesagt hat. In dieser Entwicklungslinie, aber an
einem verzweifelt späten Punkte, setzt Hofmannsthals Schaffen ein. Dem
siebzehnjährigen Dichter des dramatischen Einakters „Gestern" fehlt bereits jeder
Glaube an die Einheit des Ichs:
Und dieser Glaube an die Einheit des Ichs ist ihm nicht nur durch Anempfindung,
durch die Lektüre der ausländischen Dekadenten abhanden gekommen, sondern
auch dadurch, daß ihm fehlt, worin sich das Ich am stärksten und vielleicht
einzig fühlt und beweist: das Handelnkönnen und selbst der Wille zum Handeln.
Der Held des Stückes sagt:
Und von entschlußfähigeren Freunden sprechend, meint er: „O. wie ich sie
beneide um ihr Wollen!" Aber in diesem Neid des Willenlosen steckt Koketterie,
denn ihm ist in seinein Zustand wohl. Gibt er sich doch ohne alles lästige
Gefühl der Verantwortlichkeit und Pflicht jeder Stimmung und dem Genuß
jeder Stunde hin, übt sich darin, alles was ihm das Leben bietet, auch das
Schmerzliche, auch das Ungeheure, als Genuß, als ein ihm bereitetes Fest zu
betrachten und macht aus solcher Schwelgerei ein System und gar eine Art
Sittengesetzes.
Den hastigen, schwankenden Genießer zu zeigen, der jede Stimmung ganz aus¬
beutet, unbekümmert um das Schicksal der ins Spiel gezogenen Mitmenschen,
wird fortan eine Hofmannsthalsche Hauptaufgabe. So ist der Mädchenjäger
Florindo in den: possenartigen Lustspiel „Cristinas Heimreise", so ahnt die
Feldmarschallin, die von sich selber her den Maßstab nehmen mag, ihren blut¬
jungen Octavian, so — nur ins Derbstoffliche übertragen — ist in derselben
Komödie: „Der Nosenkavalier" Ochs von Lerchenaus falstasfisches Wesen gerichtet,
und so greift der Baron in dem Versspiel „Der Abenteurer und die Sängerin"
das Leben an, wobei sein Ausschöpfen des Daseins auch wieder zumeist auf
„Frauen, Frauen, Frauen wie Wellen! wie der Sand am Meer! wie Töne in
einem Saitenspiel!" hinauskommt. Aber schwelgerischer als im Darstellen solcher
Genießer erscheint Hofmannsthal dann, wenn er ein Tragisches aufrollt zu dem
offenkundiger Zweck, durch die Stimmung des Ganzen, durch seine malerischen
und rhythmischen Werte zu reizen. Er hat dann nicht die Objektivität des
Dramatikers, der allen Dingen ihren Lauf läßt, fondern etwas von der
wollüstigen Anteilnahme eines Nero an demi von ihm angeordneten grausame»
Spiel liegt in der sehr deutlich zu spürenden Stellung des Autors etwa zu dem
mit äußerstem Raffinement auf stimmungshaftes Wirken hinarbeitenden Einakter:
„Die Frau im Fenster". Von Sympathien des Dichters für seine Menschen,
die er allzu oft zu bloßen Farben und Klängen gestaltet, kann im wesentlichen
nur da die Rede sein, wo er die Schwachen und Haltlosen zeichnet. Das hat
er im „Geretteten Venedig", der nach Otways Vorlage ausgeführten hcmdlungs-
bunten Geschichte einer mißlingenden Verschwörung, in mehrfacher Variation
getan, und so mag dieses Stück den schlichterer Geschmack am menschlichsten
berühren. Wiederum enthüllt sich bisweilen gerade da, wo Hofmannsthal am
grausamsten scheint, blitzartig das, was man seine Religion nennen könnte: man
fühlt, daß die so künstlich und so skrupellos gewonnene Stimmung den Weihrauch
bedeutet, der die Sinne in die Ahnung jener Gemeinsamkeit alles Lebens hinanf-
verzücken soll.
Aber was für Hofmannsthal eine Erlösung bedeutet: dies vollkommene
Zusammenfließen des Einzelnen mit dem Ganzen, dürfte manchem als eine
Erniedrigung erscheinen. „Du bist nichts als ein schwindeln, in einen dünnen
Schleier eingehüllt", heißt es von Vittoria im „Abenteurer und der Sängerin",
und solches schwindeln sind alle Gestalten des Dichters — und immer werden
Menschen leben, die etwas anderes und doch auch etwas besseres sein wollen
als solch ein „schwindeln" und es durch dies bloße Wollen schon wirklich sind,
und die durch manches persönlich geprägte Werk auf irgend einem Gebiet mensch¬
licher Tätigkeit auch den Beweis für ihr individuell umgrenztes, im Kern ein¬
heitliches Leben erbringen. All diesen auf ihr Ich Stolzen, die deshalb noch
längst nicht gegen das fließende Wesen der Natur verblendet zu sein, noch längst
nicht das den Menschen umgebende Geheimnis zu leugnen brauchen, all diesen
kräftigeren Persönlichkeiten vermag die zur Schicksalsdichtung fortgediehene
Stimmungskunst kaum mehr zu bieten als ein großes Mißbehagen, als dessen
letzten Grund man vielleicht den Verdacht angeben könnte, daß diese Welt¬
anschauung den einzelnen in ein mystisches Schicksal ----- bewegtes Ganzes nur
deshalb einfließen lasse, um ihn damit der Verantwortlichkeit und Pflicht gegen
die übrige Menschheit zu entbinden, um ihm den unbeschränkten und verzärtelten
Genuß seines philosophisch ja regierten Ichs zu ermöglichen.
Eine Bereicherung des dichterischen Gebietes konnte diese Stimmungskunst
nur da bedeuten, wo sie nicht in ihrer Ausschließlichkeit geübt, wo das Ich
zwar in seinen Bedrohungen gezeigt, aber doch nicht ganz verneint wurde, wo
man es nicht bloß in ein verschwimmendes All einfließen ließ, sondern auch
mit Pflichten und Verantwortlichkeiten gegen die Mitwelt stellte, wo man den:
Schwindel zum mindesten den Wunsch nach Festigkeit beigab und die Welt nicht
nur im geheimnisvollen Schimmer der Mondnacht, sondern auch im Tageslicht
abschilderte. Und darin scheint mir Arthur Schnitzlers noch nicht genug gewür¬
digtes eigentümliches Verdienst zu bestehen, daß die gern auf ihn angewandte
Bezeichnung eines „Stimmungsdichters" sein Schaffen eben keineswegs völlig
umfaßt, daß er auch dem Festeren, Älteren, Irdischeren nicht aus dem Wege
geht, daß ihm die neue Kunst nur zur Vertiefung des Psychologischen, zur
Nuanzierung der Farbentöne verhilft, aber nicht zu dem schillernden Deckmantel
der Ich-Verneinung, unter dem sich die von aller Verantwortung gelöste In¬
dividualität einen: bequemen Schwelgen hingeben kann. Durch seine öster¬
reichische Willensschwäche und durch sein naturwissenschaftliches (medizinisches)
Studium der neuen Lehre zugeführt, wird er von einer großen Menschenliebe
vor ihren äußersten Folgerungen bewahrt. Er kann sich nicht den: bloßen
Stimmungsgenuß überlassen, sühlt sich immer wieder den Menschen, den
„Irrenden, Leidenden, Sterbenden" verkettet, vermag so das Ethische nicht ganz
dem rein Ästhetischen aufzuopfern, was einige wohl für ein künstlerisches Manko
erklären dürften, was aber doch nicht nur dem Menschen, sondern auch dem
Dichter Schnitzler zugute kommt, weil es seinen Gestaltungen einen Halt gewährt.
Zwar der Anfänger scheint den um ein Dutzend Jahre jüngeren Hofmanns¬
thal willig als Führer anzuerkennen. Ihm sind die „Anatol"-Szenen gewidmet.
Sehnsüchtiges Hasten nach persönlichem Lebensgenuß, der vorderhand auch noch
allein auf „Frauen, Frauen, Frauen" herauskommt, eine Art naiv-koketter Freude
am Aufsuchen der Stimmung und der interessant krankhaften Seelenzustände
herrschen vor. Aber schon in der „Liebelei", die aus den Anatolszenen
herauswächst und gewöhnlich als „Stimmungsdrama" abgestempelt wird, findet
sich ein rein menschlicher, fest in sich ruhender Charakter: die ergreifende Gestalt des
einfachen Musikers, der alles daran setzt, seiner Tochter Christine Glück zu verschaffen.
Gewiß, auch hier ist Streben nach Genuß über die üblichen Moralschranken hin¬
aus; aber es bleibt doch ein Unterschied, ob jemand der eigenen auserlesenen
Seele auserlesene Genüsse oder dem schlichten anderen schlichtes Glück schenken will.
Dieses menschlicher gerichtete Streben Arthur Schnitzlers wandert eine Zeit¬
lang Wege, die seiner dichterischen Eigenart nicht entsprechen, und die er dennoch —
wenn man sein Werk als Gesamtheit übersieht — nicht vergeblich betreten hat.
Schnitzler müht sich in Dramen wie „Märchen", „Vermächtnis", „Freiwild"
um die allgemeingültige Lösung allgemeiner Fragen, wobei es im letzten Grunde
immer um die Freiheiten und Glücksmöglichkeiten des einzelnen geht. Ihn: ist
in solchen Thesenstücken der Erfolg versagt, weil er innerlich nie Partei ergreifen
kann, weil er die Berechtigung aller gegeneinander Streitenden sieht und alle
mit gleichem Mitleid umfaßt. Dennoch ist sein Bemühen kein vergebliches; denn
es übt ihm Blick und Hand für ein Gebiet, auf dem ihm bisher schon manches
geglückt ist, und das noch weit vor ihm ausgebreitet liegt: für das Historische.
„Stimmungsbild" nennt man die Novelle „Leutnant Gustl", und sie ist doch
ein Stück Historie; als neuromantisches Spiel wird der „Grüne Kakadu"
bezeichnet, und doch weht der Atem der Geschichte hinein; eine Geschichte der
gegenwärtigen jüdischen Strömungen ist in dem Roman „Der Weg ins Freie"
gegeben, und das Drama „Der junge Medardus" läßt das Wien von 1809
erstehen und spiegelt das Heute im Vergangenen. Man wende nicht ein, dies
seien stoffliche Betrachtungen, die mit dem eigentlich Ähstetischen nichts zu
schaffen hätten; denn es sind doch Andeutungen, wie Schnitzler aus dem Gebiet
des Verschwimmenden ins Feste, aus dem nur Genießerischen ins Menschliche
hinüberstrebt. Und jeder dieser Versuche, ob er nun glücklich oder minder gut aus¬
fällt, und ob er auch nicht ohne die Kunstmittel der Hofmannsthalschen Richtung
unternommen sei, macht Schnitzler reicher als die ausschließlichen Stimmungsdichter.
Freilich, es ließe sich das alles als bloße Abschweifung in diesem Schaffen
hinstellen, und die individualistischen Dichtungen — Novellen, Gegenwartsdramen,
Märchenspiele —, die den Kern des Schnitzlerschen Schaffens bilden, stehen so
stark unter dem Einfluß jenes Impressionismus, daß der Dichter dennoch auch
in diesen Zusammenhang gehört. Die Unsicherheit des Ichs, das zwischen Spiel
und Ernst, Wirklichkeit und Traum nicht unterscheiden kann, gibt die leitende
Idee des tiefsinnigen Lustspiels „Paracelsus"; Heißhunger nach Glück, quälender
gemacht durch das folternde Bewußtsein der Willensschwäche, führt im „Schleier
der Beatrice" zu einem Ausspruch, der auch in „Gestern" Platz hätte:
Wahn ist nur eins: das nicht verlassen können,
Was uns nichts ist, ob Freund, ob Frau, ob Heimat —
Und eins ist Wahrheit: Glück woher es kommt!
Und in der „Frau mit dem Dolch" heißt es gar von einer noch gegen
den Ehebruch Kämpfenden, die visionsartig ein Gleichnis ihres Zustandes ge¬
träumt hat: es drücke sich „in ihren Zügen allmählich die Überzeugung aus,
daß ein Schicksal über ihr ist, dem sie nicht entrinnen kann". Aber das sind
doch sozusagen nur vorübergehende Betäubungen, und nie erliegt Schnitzler völlig
den: gefährlichen Gift. Pauline wird durch kein Schicksal willenlos in den Ehe¬
bruch getrieben, sondern begeht ihn mit einiger Gemütsruhe, weil sie der geringe
menschliche Anteil ihres Gatten an ihrem Wesen unbefriedigt läßt; und Filippo,
dem Lebensdurstigen im „Schleier der Beatrice", der früh und friedlos endet,
stehen zwei gleichgerichtete Männer eines Gegenwartsdramas gegenüber, die
nach jenem Grundsatz gelebt und dennoch das Glück nicht errungen haben.
Das Stück heißt sehr bezeichnenderweise „Der einsame Weg", enthält vieles
von der Stimmungskunst und einiges von der Mystik der Hofmannsthalschen
Art und enthält doch diesen Ausspruch des einen der einsam gewordenen Lebens¬
künstler zum anderen: „Lieben heißt für jemand anders auf der Welt sein.
Ich sage nicht, daß es ein wünschenswerter Zustand sei, aber jedenfalls denke
ich, wir waren beide sehr fern davon. . . Glauben Sie, daß wir von einem
Menschen — Mann oder Weib — irgend etwas zurückfordern dürften, das
wir ihn: geschenkt hatten? Ich meine keine Perlenschnur und keine Rente und
keine wohlfeile Weisheit, sondern ein Stück von unserem eigenen Wesen."
Hierin liegt, was Schnitzler bei aller Zugehörigkeit zur Stimmungsdichtung doch
über diese hinausträgt. Wer Liebe als ein Für andere-da-sein zu erklären vermag,
bleibt den anderen, bleibt der Menschheit verbunden und verschwärmt sich nicht
ins Verschwimmende; wer diese Erklärung gibt, kennt Aufgaben und Lebens¬
inhalt und gewinnt an ihnen das Gefühl der Persönlichkeit, des umgrenzten
Ichs; und wer aus solchem Gefühl heraus dichtet, schenkt in jedem Werke ein
Stück seines warmen eigenen Wesens her — und nicht bloß kalte „Perlen¬
schnüre", zu denen sich schließlich doch die schillernden Kunstgebilde Hofmanns¬
thalschen Gepräges manch einmal aufreihen.
<^! s sind nunmehr drei Jahre verflossen, seit in den Beratungen der
Bankenquetekommission die wichtigsten Fragen unserer Bank¬
organisation einer eingehenden Erörterung im Kreise hervor-
! ragender Sachkenner unterzogen worden sind. Bekanntlich bot den
^ äußeren Anlaß zur Veranstaltung der Enquete die Erneuerung
des Reichsbankprivilegiums; der tiefere Grund aber lag in dem Wunsche, an
Hand der Erfahrungen, die man in dem Krisenjahre 1907 gemacht hatte, die
Einrichtungen unseres Bankwesens zu überprüfen und die mannigfachen Klagen
und Abänderungsvorschläge auf ihre Berechtigung hin zu untersuchen. Das
praktische Ergebnis dieser Beratungen ist bekanntlich ein sehr bescheidenes ge¬
wesen. Die Reformen der Bankverfassung haben sich auf gewisse Einzelheiten
von untergeordneter Wichtigkeit beschränkt. Die bedeutsamsten Änderungen
betrafen die Erhöhung des steuerfreien Notenkontingents und die Ausstattung
der Reichsbanknoten mit dem Rechte der gesetzlichen Zahlkraft. Die Wieder¬
eröffnung des Reservefonds der Neichsbank und die Erhöhung der Gewinn¬
beteiligung des Reichs sind für die Verfassung und die Wirksamkeit der Reichs¬
bank von so nebensächlicher Natur, daß es zur Vorbereitung dieser Reformen
sicherlich nicht des umständlichen Apparates einer Enquete bedurft hätte. Der
Schwerpunkt des Ergebnisses dieser Untersuchung liegt also auf der negativen
Seite: er ist darin zu suchen, daß man vorbedachtermaßen von allen tief-
eingreifenden Änderungen der Bankoerfassung Abstand genommen hat. Wünsche
nach dieser Richtung waren genug laut geworden; die radikalsten, auf Verstaat¬
lichung der Reichsbank gehenden, waren indessen schon von der Regierung selbst
durch die Formulierung des Fragebogens zurückgewiesen und von der Erörte¬
rung ausgeschlossen. Aber auch solche von geringerer Tragweite sind schließlich
zu Boden gefallen. Das Gesamtergebnis der Diskussion ging doch schließlich
dahin, daß die Neichsbank ihre gesetzliche Aufgabe, den Geldumlauf im Reich
zu regeln und für die Nutzbarmachung verfügbarer Kapitalien zu sorgen, auf
Grund ihrer bisherigen Verfassung in vollkommener Weise gelöst habe, und
daß nicht die Reichsbank und die von ihr befolgte Diskontpolitik dafür verant-
wörtlich zu machen sei, wenn das Jahr 1907 dem deutschen Wirtschaftsleben
eine Krisis so ernsthafter Natur und Zinssätze von unerhörter Höhe beschert
hatte. Dabei wurde indessen nicht verkannt, daß in unserer Geld- und Kredit¬
organisation gewisse Übelstände und Fehler vorhanden seien, denen gesteuert
werden müßte. Es herrschte eine vollkommene Einigkeit der Ansichten darüber,
daß der Goldvorrat der Neichsbank für die Bedürfnisse unserer ausgedehnten
Kreditorganisation zu klein sei und daß mit Ernst und Energie dahin gestrebt
werden müßte, ihn zu erhöhen und dauernd auf einem Stand zu erhalten, der
dem ständig wachsenden Bedürfnis entspreche. Die überwiegende Meinung ging
aber dahin, dieses Ziel durch Maßnahmen administrativer und bankgeschäftlicher
Natur, insbesondere durch eine kräftige Devisenpolitik, Begünstigung der Gold¬
einfuhr und Ersparung des Goldumlaufs im inneren Verkehr, nicht aber durch
gesetzgeberische Experimente zu erreichen. So ist man denn bei der Erneuerung
des Bankprivilegs mit der allergrößten Behutsamkeit verfahren. Selbst von
einer Erhöhung des Grundkapitals der Reichsbank hat man Abstand genommen.
Die gleiche Vorsicht trat in der Behandlung der Frage des Depositen¬
wesens, das mit der Bankverfassung nur indirekt zusammenhängt und darum
auch einer besonderen Erörterung unterzogen wurde, zutage. Auch hier waltete
eine große Scheu ob, in den lebendigen Fluß der wirtschaftlichen Entwicklung
reglementierend einzugreifen. Freilich machten sich gerade in dieser Spezialfrage
Wünsche und Forderungen nach abändernder gesetzlicher Regelung mit größerer
Lebhaftigkeit und Entschiedenheit geltend. Schließlich aber war das Ergebnis
insofern ein absolut negatives, als die in der Enquetekommission nahezu ein¬
hellig empfohlene Einrichtung einer ständigen Bankkommisston, welche der Reichs¬
bank als beratende Behörde in Bankfragen zur Seite treten sollte, nicht den
Beifall der letzteren gefunden hat. So bleibt als eine nur indirekte Folge¬
wirkung der Kommissionsverhandlungen lediglich die Publikation der zweimonat¬
lichen Zwischenbilanzen übrig, zu der sich die Berliner und die größeren Provinz¬
banken freiwillig im Wege der Verhandlung mit der Reichsbank verstanden
haben. Das ist nicht gerade viel, doch darf die Tragweite dieser Neuerung
nicht unterschätzt werden. Das vom nächsten Jahre ab in Kraft tretende Schema
der Bilanzveröffentltchungen wird durch seine weitreichenden Spezialisierungen
die wertvollsten Aufschlüsse über die Beschaffenheit der liquiden Mittel, ins¬
besondere die Zusammensetzung des Wechselkontos und der Effektenbestände geben
und auf der anderen Seite auch einen besseren Einblick in das Wesen der kurz¬
fälligen Verbindlichkeiten ermöglichen. Damit werden der Kritik sichere Hand¬
haben gegeben und eine Grundlage geschaffen, von der aus eine Beurteilung
wichtiger Streitfragen des Depositenwesens mit größerer Zuverlässigkeit erfolgen
kann. Dies ist um deswillen von außerordentlicher Bedeutung, weil die Zweifel
an der richtigen Organisation unseres Geld- und Kreditwesens durch den Aus¬
gang der Enquete keineswegs verstummt sind, sondern aufs neue Prüfung
erheischen.
Der größeren Öffentlichkeit ist das Bestehen solcher Zweifel jüngst dadurch
wieder zum deutlichen Bewußtsein gekommen, daß die Verwaltung der Reichs¬
bank besondere Maßregeln für erforderlich gehalten hat, um der übermäßigen
Inanspruchnahme des Instituts an den Ouartalsterminen zu begegnen. Schon
Ende März, als der Status der Reichsbank in einer Woche eine Verschlechterung
um 700 Millionen Mark erfuhr, nahm der Präsident Gelegenheit, in der
Sitzung des Zentralausschusses darauf hinzuweisen, daß diese Erscheinung
unerfreulich und bedenklich sei. Sie setze die Bank der Gefahr aus, plötzlich
die Grenze der Dritteldeckung erreicht zu sehen und zwar in einer Periode
ruhiger durch keinerlei Komplikationen gestörter wirtschaftlicher Weiterentwicklung >
Es seien die Banken, welche die Schuld an dieser ganz ungewöhnlichen, und
von Quartal zu Quartal sprunghaft wachsenden Beanspruchung der Reichsbank
treffe. Der Konstatierung dieser Tatsache hat die Reichsbank dann eine Abwehr¬
maßregel auf dem Fuße folgen lassen. Sie hat die Lombardentnahmen an
den Quartalsterminen dadurch erschwert, daß sie die kurz vor oder nach dem
Monatswechsel aufgenommenen Darlehen einem Zinszuschlag von zehn Tagen
unterworfen hat, sofern das Darlehn den Betrag von 30000 Mark übersteigt.
Die Maßregel sollte also nicht den kleinen Geldleihern das Kapital verteuern,
sondern sie war im Einklang mit den obenerwähnten Äußerungen des Präsidenten
gegen die Großen gerichtet. Für diese bedeutet die Maßregel eine erhebliche
Kreditverteuerung und demzufolge auch eine Krediterschwerung. Für ein Dar¬
lehn auf die Dauer von zwei, drei Tagen hat ja der Entleiher Zinsen für
zwölf oder dreizehn Tage zu entrichten. Indem aber die Reichsbank die Be¬
dingungen für ihre normale Kreditgewährung, den Wechseldiskont, unverändert
läßt, weist sie die Befriedigung der Kreditbedürfnifse auf diesen Weg, auf dem
sie ohne Mehraufwendung erfolgen kann. Die Banken pflegten bisher bei ihren
Entnahmen am Ouartalstermin das Lombardkonto zu bevorzugen, weil diese
Geldbeschaffung sich sür sie billiger stellte als die Diskontierung länger laufender
Wechsel. Die Hergabe großer Summen als Darlehn gegen Unterpfand (Effekten
oder Wechsel) hat aber für die Reichsbank den Nachteil, daß diese Unterlagen
nicht als Deckung für die ausgegebenen Noten in Betracht kommen. Je stärker
sich also die Inanspruchnahme des Lombardkontos gestaltet, um so schlechter
muß das Deckungsverhältnis der Noten werden. Dagegen dienen die von der
Reichsbank angekauften Wechsel als Notendeckung und bei gleicher Gesamt¬
beanspruchung erweist sich daher eine Vermehrung der Wechselanlage auf Kosten
der Lombarddarlehn für die Reichsbank von unmittelbarem Vorteil.
Hieraus ergibt sich, daß die Verteuerung des Lombardkredits nicht eine
Maßregel war, die sich gegen die Beanspruchung der Neichsbank überhaupt
richtete, sondern eine solche, die eine gewisse Art derselben treffen sollte. Eine
vom Standpunkt der Bank unerwünschte und ihr nachteilige Form der Geld-
dispofition sollte dadurch beseitigt oder eingeschränkt werden. Zugleich durfte man als
erwünschte Nebenwirkung einen schnelleren Rückfluß nach dem Termin erwarten.
Wie hat sich nun die Maßregel, über deren Berechtigung und Notwendig¬
keit ein lebhafter Streit entbrannte, in der Praxis bewährt? Zunächst ist der
hauptsächlich beabsichtigte Erfolg in der Tat erreicht worden: die Inanspruch¬
nahme des Lombardkontos ist beträchtlich gesunken. Während sonst an den
Quartalsterminen der Lombardbestand um 200 Millionen anzuschwellen pflegte,
trat Ende Juni nur eine minimale Zunahme von acht Millionen, Ende September
von 29 Millionen ein. Mit den Ziffern der vorjährigen Parallelmoiiate
verglichen ist daher die Lombardanlage erheblich kleiner. Aber um so höher
ist der Wechselbestand. Die Gesamtansprüche sind also nicht zurückgegangen,
sondern sie sind nur vorwiegend im Wege der Wechseldiskontierung befriedigt
worden. Die Verschlechterung des Status war sogar in diesem Jahre noch
größer, da sie sich im Juni auf 633,6 gegen 628,7 Millionen, im September
auf 774 gegen 664 Millionen berechnet. Andererseits ist die Metalldeckung der
Noten eine etwas bessere geworden als im Vorjahr, doch ist der Prozentsatz
in der letzten Juniwoche von 83,4 auf S7, Ende September sogar auf 44,9
Prozent gesunken.
Aus alledem ergibt sich, daß den restriktiven Maßregeln der Neichsbank
nur ein bedingter Wert für den Status beizumessen ist. Sie haben sich als
wirksam erwiesen, insofern als die Geldentnahme auf den Weg der Wechsel¬
diskontierung gedrängt worden ist, sie haben dagegen versagt, insoweit eine
Erleichterung der Reichsbank im ganzen in Frage kommt. Nun ist der Vorteil,
welcher der Bank aus der rationelleren Art der Kreditgewährung durch Wechsel¬
diskontierung erwächst, gewiß nicht zu unterschätzen. Indessen wird er dadurch
erheblich beeinträchtigt, daß sich Begleiterscheinungen gezeigt haben, die als
höchst unerfreulich zu bezeichnen sind. Die Geldgeber am offenen Markt haben
sich nämlich die Situation zunutze gemacht und für Darlehn über den Monats¬
schluß gleichfalls den Zinszuschlag der Reichsbank in Anrechnung gebracht.
Hierdurch sind Zinssätze von 15 und 17 Prozent entstanden, die mit der Geld¬
marktlage in schreienden Widerspruch standen. Es ist begreiflich, daß solche
Zinssätze von den Geldnehmern als eine Ausbeutung empfunden wurden, um
so mehr als im Sommer infolge der ungewöhnlich starken ausländischen Guthaben
große Geldflüssigkeit am Markte herrschte, die sofort nach dem Quartalswechsel in
einem rapiden Rückgang des Privatdiskonts zutage trat. Diese Wirkung entsprach
sicherlich nicht den Absichten der Reichsbank. Man kann aber den Banken kaum
einen Vorwurf aus ihrem Vorgehen machen. Denn wenn die Neichsbank
den Leihpreis des Geldes in dieser Weise fixiert, muß nach den Gesetzen
des Marktes diese Preisfestsetzung sich zur allgemeinen Norm gestalten.
Das Odium trifft also die Reichsbank. Sie wird es sich daher zu überlegen
haben, ob der Vorteil, - den sie erzielt, nicht durch die außerordentliche
Beunruhigung des Geldmarktes, die Sprunghafte Bewegung der Zinssätze
und Devisenkurse und die starke Belastung der Geldnehmer nicht zu teuer
erkauft ist.
Dies ist aber nicht das einzige Bedenken, welches die Verteuerung der
Lombardkredite wachruft. schwerwiegender ist vielleicht noch die Verminderung
der Lombardfähigkeit unserer Staatspapiere, die infolge dieser Maßregel eintritt.
Der Anreiz, Bestände von erstklassiger Wertpapieren zu unterhalten, um im
Falle vorübergehenden Bedarfs hierauf Geld entnehmen zu können, muß stark
vermindert werden, wenn diese Art der Geldbeschaffung gerade an den Terminen
größten Bedarfs durch prohibitive Zinssätze unmöglich gemacht wird. Unter
den Vorschlägen zur Hebung des Kurses unserer Staatspapiere hat bekanntlich
auch der viele Anhänger gesunden, die Staatspapiere wie früher durch einen
Vorzugszinssatz in der Lombardfähigkeit zu stärken. Wollte man annehmen,
daß dies ein brauchbares Mittel für den beabsichtigten Zweck sei, so bedeutet
die Lombardverteuerung eine Maßregel, die nach der entgegengesetzten Seite
wirken muß.
Unter diesen Umständen kann das Gesamturteil über die neue Art der
Kreditbeschränkung nicht günstig ausfallen. Die Reichsbank wird prüfen müssen,
ob sie hier nicht einen Versuch mit untauglichen Mitteln unternommen hat.
In welcher Weise wäre nun aber dem beklagten Übel des übermäßigen
Ansturms an den Quartalsterminen abzuhelfen?
Um diese Frage zu beantworten ist es erforderlich, den Ursachen dieser
Erscheinung nachzugehen.
An sich scheinen diese nun klar genug zutage zu liegen. An den Quartals¬
terminen drängen sich nach unseren Gewohnheiten eine außerordentliche Menge
periodischer Zahlungen zusammen. Hypothekenkapitalien und Zinsen, Mieter
und Gehälter werden fällig und müssen auf den Tag beglichen werden. Zu
diesen Bedürfnissen der privaten Wirtschaft gesellen sich die Ansprüche des
Geschäfts- und Erwerbslebens; im Frühjahr müssen Mittel für die Bezahlung
der Aussaat, im Herbst für die der Ernte flüssig gemacht werden. Das ist
keine neue Erscheinung; einen erhöhten Ouartalsbedarf hat es immer gegeben.
Er ist etwas durchaus reguläres, ein bedenkliches Moment wohnt ihm nicht
inne. Diesem gesteigerten periodischen Bedarf nach Zahlungsmitteln soll und
kann die Reichsbank unter normalen Umständen durch Hergabe von Noten vollauf
entsprechen. Die Notenausgabe als die elastische Ergänzung unseres Geldwesens
hat den wechselnden Bedarf an Zahlungsmitteln auszugleichen. Während nun
aber früher dieser Quartalsbedarf sich in angemessenen Grenzen bewegte, hat er
in der jüngsten Zeit einen Umfang angenommen, der auffällig erscheint und auf
besonderen Ursachen beruhen muß. In den Verhandlungen der Bankenquete
war diese Erscheinung noch keineswegs Gegenstand der Erörterung. Man hat
sich zwar auf das eingehendste unter dem frischen Eindruck der Krisis mit den
Ursachen der Kreditüberspannung in den Jahren 1906 und 1907 befaßt und
eingehend die Mittel erwogen, die der Wiederkehr ähnlicher Zustände vorbeugen
könnten; daß aber in normalen Zeiten die Ansprüche an die Reichsbank Anlaß
zu Besorgnissen erwecken könnten, lag ganz außerhalb des Nahmens der Be-
trachtung. Offenbar handelt es sich also um eine Erscheinung, deren Ursachen
in gewissen Verschiebungen unseres Wirtschaftslebens zu suchen sind, Verschiebungen,
die erst in allerjüngster Zeit sich in verstärktem Maße fühlbar machen. Dies
wird auch durch die Ausweisziffern der Reichsbank belegt. Das Krisenjahr
hatte am 31. Dezember den bis dahin höchsten Wechselbestand der Reichsbank
mit etwa 1445 Millionen gebracht. Es war dies nach allgemeiner Auffassung
eine durch die damalige Geld- und Kreditnot bedingte Ausnahmeerscheinung.
Wer hätte vermuten sollen, daß schon am 30. September 1909 unter ganz
normalen Umständen und bei einem Zinsfuß von 4 Prozent der Wechselbestand
etwa 90 Millionen höher sein und der Notenumlauf auf mehr als 2 Milliarden
ansteigen werde?
Die Gründe für diesen außerordentlich gesteigerten Bedarf nach Zahlungs¬
mitteln liegen nun nicht — wie man vermuten könnte — in der Ausdehnung
und dem Aufschwung des Erwerbslebens, insbesondere nicht in einer Zunahme
dauernder Kreditbedürfnisse. Dagegen spricht schon der normale Stand des
Zinsfußes; dem widerspricht auch der nach Überwindung des Zahlungstermines
regelmäßig eintretende rasche Rückfluß und die in den Zwischenzeiten normale
Inanspruchnahme der Reichsbank. Die Durchschnittsziffern der Wechsel- und
Lombardanlage und des Notenumlaufs bewegen sich zwar von 1908 bis 1910
aufwärts, bleiben aber hinter denen des Jahres 1907 zurück. Dabei ist zu
berücksichtigen, daß der Durchschnitt durch die außerordentlich hohen Posten der
Quartalsausweise ungünstig beeinflußt wird. Es liegt also — verglichen mit
früheren Perioden — eine außergewöhnliche Anspannung an den Quartalsterminen
vor, welche nicht auf Gründe allgemeiner wirtschaftlicher Natur zurückzuführen
ist. Diese Anspannung ist so bedeutend, daß sie die prozentuale Notendeckung
um mehr als ein Drittel sinken läßt. In der letzten Märzwoche hat sich die
Bardeckung von 89,5 Prozent auf 56,7 Prozent, in der letzten Juniwoche von
90,2 Prozent auf 60,4, in der letzten Septemberwoche von 69,3 auf 44,9
Prozent ermäßigt, in früheren Terminen ist die Bardeckung sogar noch stärker,
bis auf 40,3 Prozent, gesunken. Setzt sich also die Steigerung des Quartals¬
bedarfs in der gleichen Weise fort, so liegt die Gefahr nahe, daß die Grenze
der gesetzlichen Dritteldeckung erreicht werden könnte. Dann bliebe nur die
Wahl, die Tätigkeit der Reichsbank ausgeschaltet zu sehen, oder das Bankgesetz
zu verletzen oder zu suspendieren, Möglichkeiten, die ohne schwere wirtschaftliche
Erschütterungen nicht denkbar sind. Es gilt also in der Tat hier vorzubeugen.
Der Freiherr v. Friemersheim halte geglaubt, mit der Erziehung seiner jungen
Braut so früh wie möglich beginnen zu müssen, und hatte deshalb den Holzheimer
Pastor gebeten, das Mädchen täglich eine Stunde im Lesen und Schreiben zu
unterrichten. Merge war für diese Künste anfangs Feuer und Flamme gewesen,
ihre Begeisterung hatte jedoch bald wieder nachgelassen, als ihr zum Bewußtsein
gekommen war, daß man sich solche Fertigkeiten nicht von heute auf morgen
aneignet, und daß die bösen Buchstaben ihrerseits nicht das geringste dazu taten,
mit ihr in ein engeres Verhältnis zu treten.
Sie verlor also schon bei der zweiten Stunde die Lust, und als ihr geistlicher
Präzeptor am dritten Tage danach bei ihr erschien, um zu fragen, weshalb sie
sich nicht mehr zum Unterricht bei ihm eingestellt habe, erklärte sie kurz und bündig,
sie habe von den Wissenschaften schon genug, und wenn ihr Freiherr sie nicht
nehmen wolle, wie sie nun einmal sei, so möge er's getrost bleiben lassen, denn
sie mit ihren zwanzig Jahren, ihren vier Kühen und ihrem glatten Gesicht könne
ohne besondere Mühe und ohne daß sie sich erst mit Lesen und Schreiben ab¬
zuplagen brauche, auch einen Grafen bekommen.
Der Pastor hielt es für seine Pflicht. Herrn Salentin von diesem Rückfall
Mergens in die Barbarei Mitteilung zu machen, und ließ dabei durchblicken, daß
seiner Meinung nach ein junger Kavalier, der vor ein paar Tagen im Jagdkostüm
durch das Dorf geritten sei und sich nach der Behausung des Mädchens erkundigt
habe, diesem den Kopf verdreht haben müsse. Die beiden alten Damen, in deren
Gegenwart der geistliche Herr seinen Bericht erstattet hatte, bekamen wieder Ober¬
wasser, jammerten über dieses Zeichen von Undank und Widersetzlichkeit und zeigten
Neigung, ihre hochadligen Verehelichungsprojekte wieder zum Vorschein zu bringen.
Der Freiherr faßte die ganze Angelegenheit weniger ernst auf, beschloß aber
doch, seine Braut ins Gebet zu nehmen, und besuchte sie gleich am nächsten Tage
in Gesellschaft des Pastors. Sie spielte die Unschuldige, lachte über die Behauptung,
daß eine Freifrau v. Friemersheim, die weder lesen noch schreiben könne, undenkbar
sei, blieb aber auf das entschiedenste bei ihrer Weigerung, sich jetzt schon mit
diesen Künsten vertraut zu machen, und meinte, dazu habe sie noch Zeit genug,
wenn sie erst verheiratet wäre und sich nicht mehr von früh bis spät um ihre
Kühe zu bekümmern brauchte.
„Glaubt Ihr, mit der Hand könnt' ich die Feder halten?" fragte sie, indem
sie Herrn Salentin ihre in der Tat recht abgearbeitete Rechte hinhielt.
Er mußte zugeben, daß sie nicht so ganz unrecht hatte, obwohl er selbst,
wie er behauptete, eine ganz zierliche Hand schriebe, trotzdem er wie ein tüchtiger
Knecht in der Wirtschaft arbeite.
„Aber wie steht es um mit dem Besuch, so du vor etlichen Tagen empfangen
hast?" fragte er dann ziemlich unvermittelt.
„Welchen Besuch meint Ihr, Herr?"
„Nun — keinen anderen als den mvngieur im Jagdhabit."
Sie gab sich den Anschein, als müsse sie sich auf eine schon halb vergessene
Sache besinnen.
„Ach — den!" sagte sie endlich. „Nennt Ihr das Besuch, wenn Einer sich
verrieten hat und kommt auf den Hof, den Weg zu erfragen?"
„Ist er nicht abgestiegen?" fragte der Pastor.
„Nicht bei mir. Als er bei mir vorsprach, führte er sein Roß schon am Zügel."
„So, so! Hat also bei dir Rast halten wollen," bemerkte Herr Salentin.
„Kann ich dafür, daß ihm die Beine steif geworden waren vom langen Reiten?"
"
„Hat er keinerlei Verlangen an dich gestellt?"
„O ja, Herr, er hat um einen Trunk gebeten.
„Und du hast ihm Wasser gereicht?"
„Wasser für sein Roß und einen Becher Milch für ihn selber."
„Wie sah er aus?"
„Ja, Herr, wenn ich das noch wüßte! Aber wie hätt' ich ihn so genau
anschauen dürfen, da ich doch eine verlobte Braut bin? Eine Braut soll für keinen
anderen Augen haben als für ihren Bräutigam. Hab' ich nicht recht?"
Sie trat einen Schritt von Herrn Salentin zurück und betrachtete ihn auf¬
merksam von Kopf bis zu Füßen.
Er mußte wider Willen lachen und gab es auf, noch mehr aus ihr heraus¬
zubekommen. Aber das stand für ihn fest: mit der Hochzeit durfte nicht gewartet
werden. Er war Mergens nicht eher sicher, als bis er sie auf Haus Rottland und
in der Obhut seiner Schwestern hatte.
Mit den Vorbereitungen zur Hochzeit allein war es freilich nicht getan. Es
galt auch, das Renthaus, mit dessen nicht gerade zweckmäßig angeordneten Räumen
sich die drei alten Leute bisher notdürftig behalfen hatten, zur Aufnahme der
jungen Frau umzugestalten und in wesentlichen Teilen neu herzurichten. Man
merkte es dem Gebäude doch gar zu sehr an, daß während der letzten hundert¬
undfunfzig Jahre kein Handwerker darin tätig gewesen war. Die Treppenstufen
waren ausgetreten, im Getäfel der Wände nagte der Holzwurm, und durch das
undicht gewordene Dach fanden Regen und Schnee an manchen Stellen beinahe
ungehinderten Einlaß zu dem mit allerhand Gerümpel vollgepfropften Boden.
Ein großes Gemach im Oberstock, das nicht einmal heizbar war und deshalb nur
im Sommer bewohnt werden konnte, mußte durch Einziehen einer Wand in zwei
Kammern geteilt und durch den Anbau eines Kamins an die Außenmauer wohn¬
licher gemacht werden. Dazu brauchte man aber auch Möbel, und wenn auch
noch manches aus dem Brande gerettete alte Stück vorhanden war, so bedürfte
es doch der gründlichen Auffrischung durch die Hand eines geschickten Tischlers.
Alles das kostete aber Geld, und daran hatte der Freiherr v. Friemersheim
keinen Überfluß. Da mußte denn wieder einmal der Wald herhalten, der in den
letzten Jahren schon so oft Herrn Salentins Zuflucht gewesen war. Diesesmal
blieb ihm nichts andres übrig, als eine ansehnliche Parzelle am Lambertsberge
zu verkaufen. Es war ein Glück, daß an den größeren Orten im Lande die
Baulust langsam wieder zu erwachen begann, und daß man drunten in Zülpich
endlich ernstliche Anstalten traf, die Quartiere wieder aufzubauen, die im vorletzten
Jahre des großen Krieges in Flammen aufgegangen waren.
Die beiden alten Damen hatten andere Sorgen. Daß Merge nicht ein ein¬
ziges Kleid besaß, das sie als Freifrau von Friemersheim hätte tragen können,
verstand sich von selbst. Mit der Wäsche und dem Schuhwerk sah es nicht minder
bedenklich aus. Sie selbst machte sich freilich keine Gedanken darüber, sondern
erwartete einfach, daß Herr Salentin ihr vor der Hochzeit alles Nötige kaufen
werde. Aber der hatte für dergleichen Dinge weder das wünschenswerte Ver¬
ständnis, noch die erforderlichen Mittel. Was war also natürlicher, als daß die
Schwestern die Sorge für die Beschaffung von Mergens Ausstattung auf ihre
Schultern nahmen?
Anfangs hatten sie weidlich geseufzt und geäußert, wenn sich der Bruder für
die v. Hersel oder die Robillard entschieden hätte, könnten sie jetzt ruhiger schlafen.
Nachdem sie sich aber eine Weile mit dem schwierigen Problem, gleichsam aus
Nichts eine wohlassortierte Garderobe zu schaffen, vertraut gemacht hatten, begannen
sie der Sache Geschmack abzugewinnen. Sie saßen jetzt stundenlang vor den
Nummern des Neroure galant, die ihnen Frau v. Syberg geliehen hatte, betrachteten
die Modekupfer und überlegten, wie man ohne sonderliche Kosten die allerältesten
Stücke aus dem Kleiderbestande der Gubernatorin in Toiletten nach der aller-
neuesten französischen Mode verwandeln könne. Den kühnen Gedanken, einen
Frauenschneider aus Köln zu verschreiben, hatten sie bald wieder verworfen, denn
ein solcher Künstler wollte nicht nur gut beköstigt, sondern noch besser bezahlt
sein, und so machten sie sich unter Billas Beihilfe daran, ein paar Roben zu zer¬
trennen, deren unverwüstlicher Stoff die wechselnden Moden guter und böser
Zeiten überdauert hatte.
Diese Tätigkeit bereitete Frau v. Ödinghoven ein eigentümlich wehmütiges
Vergnügen. Es war, als hätte die kleine spitze Messerklinge, die wie ein nagender
Mausezahn durch die Nähte fuhr, tausend Erinnerungen zur Freiheit verholfen,
denen eine allzu lange Haft zwischen dem weichen Kammertuch und dem Futterstoff,
zwischen der geblümten Seide und dem Atlasbesatz, zwischen Saalbändern, Rüschen,
Falbeln und Borten beschieden gewesen war. Aus dem Chaos von Bahnen,
Lappen und Schnitzeln stiegen die mannigfaltigsten Bilder und Szenen der Ver¬
gangenheit auf: Assembleen und Redouten, Paraden und Lustlager, Maskeraden
und Prozessionen, Einzuge und Huldigungen, Hoffeste und Siegesfeiern, Kriegs¬
nöte und Friedensschlüsse, Hochzeiten, Kindtaufen und Begräbnisse.
Dann aber drängte sich zwischen die Schemen der Vergangenheit die körper¬
hafte Gegenwart in Gestalt des derben Bauernmädchens, das mit unverhohlener
Ungeduld die Manipulationen der Anprobe über sich ergehen ließ und doch wieder
mit kindischer Eitelkeit an seinem Leibe hinunterschaute, dessen gesunde Fülle die
ungewohnte Schnürbrust zu sprengen drohte. Diese Stunden, wo Merge durch
Stöhnen, Gähnen und gewaltsame Gliederverrenkungen gegen die Zumutung pro¬
testierte, sich in eine steife Modepuppe zu verwandeln, wo die alte Villa knurrend
zu ihren Füßen hockte und beständig in Gefahr schwebte, eine Handvoll Steck¬
nadeln zu verschlucken, und wo die Gubernatorin mit schmerzlich verzerrten Zügen,
kritischen Blicken und dem Ausdruck hoffnungsloser Verzweiflung ihr Opfer um¬
kreiste, hier eine Heftnaht wieder aufriß und dort eine Falte legte, waren für alle
Beteiligten alles andere als erquicklich. Sogar Schwester Felizitas war schlechter
Laune. Ihr war die Aufgabe zugefallen, den Leinwandvorrat, zu dem man den
Flachs vor Jahr und Tag selbst gesponnen hatte, und der infolge des langen
Liegens schon ein wenig gilblich geworden war, zu Leibwäsche zu verarbeiten.
Aber sie konnte sich dieser Tätigkeit nicht mit voller Hingebung widmen, denn
Frau v. Ödinghoven verlangte jeden Augenblick von ihr, daß sie ihr Urteil über
den Sitz des Rockes, des Mieders oder des Manteaus abgebe, und zudem mußte
sie ein wachsames Ohr auf jedes Geräusch im Hause haben, denn sie hatte die
betrübende Erfahrung gemacht, daß der geliebte Bruder immer gerade in dem
Moment das Bedürfnis verspürte, die Schneiderstube zu betreten, wo Mergens
brauner Nacken und weiße Schultern unverhüllt und deshalb für Männeraugen
nicht präsentabel waren.
Der Brachmond und die erste Hälfte des Heumonds gingen unter solchen
Vorbereitungen dahin — den alten Damen zu rasch, dem Bräutigam, der den
Tag der Hochzeit kaum erwarten konnte, viel zu langsam. Es war ihm jetzt lieb,
daß er Merge das Versprechen gegeben hatte, das Festmahl in der Ruine des
Burghauses abzuhalten, denn über dem notdürftigen Herrichten und Säubern der
öden Gemächer verging wenigstens die Zeit. Der Freiherr hatte sich ein halbes
Dutzend seiner Rottländer Bauern zur Hilfe genommen, wirtschaftete jedoch mit
Hacke und Spaten selbst am eifrigsten, und die grauen Staubwolken, die aus den
Fensterhöhlen quollen, konnten den Anschein erwecken, als wenn hier nicht der
holden Venus, sondern dem grimmen Mars ein Opfer zugerüstet werde.
Für den alten Gerhard begann eine anstrengende Zeit. In seiner verschossenen
Livree, die er sich mit neuen Tressen hatte besetzen dürfen, mußte er Tag für Tag
den Fuchs besteigen und als Hochzeitsbitter in die Stadt, nach Holzheim und auf
die Güter in der Umgegend reiten, wo Freunde oder Verwandte des Bräutigams
wohnten. Man hatte sich anfangs nur aus einige wenige Einladungen beschränken
wollen, aber aus diesen wenigen war schließlich doch eine ganze Anzahl geworden,
denn wenn man den einen lud, durfte man den andern nicht übergehen, und so
wurde die Liste von Tag zu Tag länger.
Gerhard unterzog sich seiner Aufgabe mit ebenso viel Eifer wie Würde. Wenn er
auf seinem Klepper davonritt, den mit einem Blumenstrauß und flatternden
Bändern geschmückten Stab auf den Sattelknopf gestemmt und einen kleineren
Strauß an der Brust, sah er zugleich festlich und vornehm aus, und wenn er
abends heimkehrte, saß er — abgesehen von den verwelkten Blumen! — noch
genau so prächtig und würdevoll im Sattel wie bei seinem Ausritt. Nur einmal —
leider muß es gesagt seinl — fiel er gründlich aus der Rolle, und zwar an dem
Tage, wo ihn Herr Salentin zu seinem Neffen nach Wachendorf gesandt hatte.
Als altes Inventarstück des Hauses kannte Gerhard das gespannte Ver¬
hältnis, das zwischen seinem Herrn und dem jungen Pallandt bestand, und war
in seiner begreiflichen Parteilichkeit geneigt, in dem Wachendorfer Rittersitze die
Brutstätte aller irdischen Verderbtheit und Tücke, in Herrn Mathias aber den leib¬
haftigen Satan zu sehen. Mit finsteren Mienen ritt er deshalb auf den Schloßhof,
band den Fuchs an das Eisengitter der Treppe und fragte mit einer Stimme, die
eher die Vorladung zu einer hochnotpeinlichen Gerichtsverhandlung als die Ein¬
ladung zu einem frohen Feste in Aussicht zu stellen schien, nach dem Hausherrn.
Wie erstaunte er jedoch, als Herr v. Pallandt ein paar Minuten später in den
Hof trat, mit eigener Hand das Pferd in den Stall führte und ihn selbst mit
sanfter Gewalt in ein getäfeltes Gemach geleitete, dessen Kühle wohltuend gegen
die Glut des wolkenlosen Julitages abstach! Es half dem greisen Diener nichts,
daß er sich sträubte: er mußte sich auf einem mit Leder bezogenen Stuhle nieder¬
lassen und dem mächtigen mit Wein gefüllten Apostelkruge zusprechen, den ihm
der junge Herr auftischen ließ. Und wie leutselig der so arg verkannte Neffe seines
Gebieters mit ihm sprach! Wie angelegentlich er sich nach dem Befinden des
Oheims und der beiden alten Damen erkundigte! Und wie lebhaft er seiner Freude
darüber Ausdruck verlieh, daß auf Haus Rottland wieder eine junge Hausfrau
einziehen sollte!
Der gute Gerhard traute kaum seinen Ohren, gab auf jede Frage bereit¬
willig Bescheid und zeigte sich aufrichtig erfreut, als Herr v. Pallandt nicht nur
die Einladung mit Dank annahm, sondern auch die Erwartung aussprach, daß
ihm als dem nächsten männlichen Verwandten des Bräutigams die Ehre zuteil
werde, diesem beim Gang zur Trauung zur Seite gehen zu dürfen. Das Bewußt¬
sein, durch die geschickte Erledigung seiner Mission den Familienzwist glücklich
beigelegt zu haben, stieg dem Hochzeitsbitter gewaltig in die Krone, der gute
Wein tat das Übrige, und so kam es, daß sich Herr Mathias schließlich genötigt
sah, dem alten Manne unter dem Beistand eines Knechtes wieder in den Sattel
zu helfen.
Es mochte gegen fünf Uhr des Nachmittags gewesen sein, als Roß und Reiter
den Schloßhof verließen. Drei Stunden später langte der Fuchs mutterseelenallein
auf Haus Rottland an, und erst am nächsten Morgen stellte sich der Reiter ein —
etwas kleinlaut und nicht völlig klar darüber, wo und wann er sich von dein
Gaul getrennt und wie er die warme Sommernacht verbracht hatte. Seine Bot¬
schaft, daß er zu Wachendors die zuvorkommendste Aufnahme gefunden, und daß
der Herr neveu die Einladung mit Freuden angenommen habe, begegnete des¬
halb sowohl bei Herrn Salentin wie bei den alten Damen starkem Zweifel. Man
war geneigt, in der Behandlung des Boten und in der angeblichen Zusage eine
neue Tücke des unberechenbaren Neffen zu sehen, und Gerhard hatte einen schweren
Stand, als er sich mit edlem Eifer für den so schnöde Verläumder ins Zeug legte.
Welche Genugtuung für ihn, als schon am Vorabend des Hochzeitstages
Herr v. Pallandt auf Haus Rottland einritt! Die Mädchen aus dem Dorfe, die
es sich nicht hatten nehmen lassen, den kahlen Festsaal droben in der Ruine des
Burghauses zu schmücken, saßen gerade im Hofe und wanden unter fröhlichem
Gesang Fichtenreiser und bunte Blumen zu Girlanden. Merge, die heute noch ihr
ländliches Gewand trug, eilte leichtfüßig von der einen zur anderen und füllte die
zinnernen Becher der Arbeitenden mit Hansbier, während ihr Bräutigam an der
Tür lehnte, seiner Tonpfeife blaue Wölkchen entlockte und mit behaglichem
Schmunzeln dem Treiben der jungen Welt zuschaute.
Da ließ sich hinter der Scheune Pferdegetrappel vernehmen, und gleich darauf
bog ein Reiter, schlank und stattlich wie Sankt Georg, auf einem schweren
flandrischen Gaul in den Hof ein.
Die Mädchen ließen ihre geschäftigen Hände sinken und starrten den Gast
bewundernd an. Merge errötete bis zu den Schläfen und beugte sich mit prüfendem
Blick auf die Girlande nieder, als hinge ihr Wohl und Wehe von der Regel¬
mäßigkeit ab, mit der die Blumen über das grüne Gewinde verteilt waren. Der
Freiherr nahm die Pfeife gelassen aus dem Munde, stieg die Stufen hinab und
ging dem Neffen mit vortrefflich gebenedeiten Gleichmut ein paar Schritte entgegen.
Herr v. Pallandt schwang sich aus dem Sattel, eilte auf den überraschten
Oheim zu und umarmte ihn mit einer Herzlichkeit, als wären sie immer die besten
Freunde gewesen. Vielleicht war er wirklich des langen Zwistes überdrüssig,
vielleicht wollte er sich aber auch nur den Anschein geben, als fühle er sich durch
den Streich, mit dem der alte Herr alle seine Pläne zu durchkreuzen gedachte,
nicht im geringsten getroffen.
Der Freiherr rief Merge herbei und machte Anstalten, sie dem Neffen als
seine künftige Hausfrau vorzustellen. Aber der junge Kavalier streckte dem Mädchen,
noch ehe der Bräutigam zu Worte kommen konnte, lachend die Hand entgegen,
drückte auf die ihre, die sie ihm zögernd reichte, galant einen Kuß — es war das
erstemal, daß Merge eine solche Huldigung erwiesen wurdeI — und sagte, indem
er mit der Linken Herrn Salentin vertraulich die Schulter klopfte:
„Sie kommen mit Ihrer prsZentation zu spät, ater oncle. Die Jungfer
Braut und ich haben schon Bekanntschaft gemacht."
„So, so!" knurrte der Freiherr, indem er das aufs neue errötende Mädchen
scharf anstarrte. „Und davon erfahre ich erst heute was?"
„Es war der Herr, der im Jagdkleid durch Holzheim geritten kam und bei
mir nach dem Wege fragte," erklärte Merge, aufgebracht über das Mißtrauen
ihres Bräutigams und die ihrer Meinung nach höchst überflüssige Offenherzigkeit
des Neffen.
„Sie werden verstehen, daß ich begierig war, mit eigenen Augen die Jungfer
zu sehen, in der ich meine zukünftige Frau tente verehre, und von der man mir
so viel Aimables berichtet hat," sagte Herr v. Pallandt, ohne von den unmutigen
Blicken des Oheims Notiz zu nehmen. ,Mes compliments, oller onole! Hätte
ich übrigens ahnen können, daß Sie mir die Ehre antun würden, mich zu Dero
Hochzeit zu invitieren, so würde ich der Jungfer Braut in aller Form eine visite
abgestattet haben, anstatt so en passant aus dem Sattel vorzusprechen. Nun aber
muß ich um die permission bitten, mesäames meine Aufwartung machen zu
dürfen." Und ohne eine Antwort abzuwarten, trat er ins Haus.
Der Freiherr hatte die Empfindung, von seinem Neffen gründlich über¬
rumpelt worden zu sein. Er machte seinem Ärger Luft, indem er mit einem ganz
unnötigen Aufwand von Stimme nach dem alten Gerhard rief und ihm den Befehl
erteilte, das Pferd des Gastes in den Stall zu bringen. Dann aber schien er es
doch für angebracht zu halten, selbst einmal nachzusehen, ob das schwere Roß auch
nicht zu sehr erhitzt sei und zu seiner Abkühlung eine Weile auf dem Hofe umher¬
geführt werden müsse. Er ging in den Stall und blieb eine gute halbe Stunde
unsichtbar. Er hatte offenbar das Verlangen, sich der Gesellschaft des Neffen
so lange wie möglich zu entziehen.
Dieser war von den beiden Schwestern mit kalter Förmlichkeit empfangen
worden. Aber er war nicht der Mann, sich durch gesprochene Eiszapfen abschrecken
zu lassen, und war überdies mit den kleinen Schwächen der beiden Matronen
genügend vertraut, um sie für seine Zwecke ausnutzen zu können.
„Heute sind gerade vierzehn Tage vergangen, daß mich der Graf v. Öttingen
nach mackame und Dero Befinden zu fragen die Gnade hatte," wandte er sich,
nachdem die Begrüßungsformalitäten erledigt worden waren, an die Gubernatorin.
„Der Oberhofmeister?"
„Ebenderselbe."
,Monsieur le comte erinnert sich meiner noch?" Frau v. Ödinghovens
Antlitz verklärte sich.
„Er sprach mit großer corclmlite von Ihnen und dem seligen Herrn Gubernator."
„Wirklich? Erzählen Sie, Herr v. Pallandt, je vous prie, erzählen Sie!
Waren Sie denn zu Hambach?"
„Ich war auf dem Landtage und sprach auf der Heimreise bei Hofe vor."
„Haben Sie die Fürstliche Durchlaucht selbst gesprochen?"
„Die Durchlaucht beehrte mich allerdings mit einer gnädigen Ansprache.
Aber — Sie wissen ja, MAäame, die Durchlaucht liebt lange conversation mit
Leuten ohne Meriten nicht! — es waren nur etliche wenige Worte. Dafür war
monsieur le comte um so gesprächiger. Er hat — aber es muß durchaus entre
nous bleiben I — darüber geklagt, daß sich die Fürstliche Durchlaucht wie auch
w xrineesse nereäitaire in Jülich gar nicht mehr wohl fühlten. Vous com-
prene?: der neue Herr Gubernator! Ein guter Soldat sans cloute, aber kein
Komme ac oourl Ach mein lieber Pallandt, sagte der Graf zu mir, ich glaube,
die Durchlaucht gäbe das halbe Land darum, könnte man den v. Ödinghoven
wieder aus der Erde kratzen. Und msclame sa epouse! I^a belle ^ntoinette!
toujours LnarmÄNte, toujours spirituelle, toujours nospitaliere!"
„NosMaliere!" seufzte die Gubernatorin. „Vielleicht darf ich dieses Lob
akzeptieren. Sie wissen ja selbst, mein Lieber: der nosMalite haben wir unsere
ganze kortuns geopfert."
„Das Opfer war nicht vergeblich, nmäame, Sie haben sich damit im Herzen
Serenissimi und des durchlauchtigsten Erbprinzen ein monument gesetzt," tröstete
der junge Edelmann.
Bei der Erwähnung der Gastlichkeit war es Frau v. Ödinghoven eingefallen,
daß es ihre Pflicht sei, sich nach den leiblichen Bedürfnissen des Gastes zu erkundigen.
"
„Sie werden nach dem weiten Ritt appetit haben, liebster Herr v. Pallandt,
bemerkte sie, indem sie sich erhob, „was darf ich Ihnen präsentieren lassen?"
„Ich bitte, nmäame, machen Sie sich keine Jnkommoditätenl Ich kann ja
bis zum Nachtmahl warten. Oder — nein! — ich möchte um keinen Preis
immoäests erscheinen.""
„Aber so reden Sie doch. Herr v. Pallandt! Reden Sie sans gsne!
"
„Ja, wenn ich wüßte, daß es mesclames keine indigne bereitete!
„Aber nicht die geringste!"
„Nun, da mesciames von so großer amabilits sind, so will ich's gestehen:
ich habe seit langem einen äösir sräent nach den kleinen braunen Küchelchen, die
die Frau Priorin immer selbst zu backen pflegte. Ich glaube, es war eine
ürianäisö nollanä^ise."
„Moppenl" rief Schwester Felizitas, eine Träne der Rührung zerdrückend,
„er meint die Moppenl Ja, die backe ich immer noch, und alle, die bei uns
visite machen, rühmen sie. Nein, liebster Mathias, daß Sie sich noch an die
Moppen erinnern! Warten Sie, warten Sie! Ihr achir aräent soll gestillt werden!"
Damit erhob sie sich und ging an den Wandschrank.
Und als er dann mit wahrem Heißhunger die ganze Schale des knusperigen
Gebäcks leerte, sahen ihm die beiden alten Damen mit inniger Befriedigung zu
und suchten sich Aufklärung darüber zu verschaffen, wie man diesen charmanter
jungen Herrn so lange hatte verkennen können. (Fortsetzung folgt)
MM
M^ ^ >Hom sogenannten „modernen" deutschen Kunstgewerbe spreche ich
natürlich. Das ist ein mit Begriffen schwer zu umgrenzendes Ge¬
biet, aber fühlen tut ein jeder, was gemeint ist. Darin offenbart
sich die Berechtigung der ganzen Bewegung, so viele Ausschreitungen
und Mißgriffe im einzelnen ihr auch anhaften mögen. Man fühlt
hier ein Streben, die Gebrauchsgegenstände unseres Lebens aus einem neuen
Geiste heraus künstlerisch zu gestalten, aus einem Geiste heraus, der diesem Leben
entspricht und darum Formen sucht, die unser heutiges Sein zum Ausdruck bringen.
Man begnügt sich nicht mehr mit einer rein formelhaften Überlieferung, sondern
verlangt nach einer Durchgeistigung der Arbeit. Dieses Losungswort des deutschen
Werkbundes ist eine urdeutsche Losung, viel deutscher, als wenn gesagt würde:
„Wiederaufnahme altdeutscher Formen" oder „Pflege deutscher Bauernkunst".
Denn es ist urdeutsche Eigenart, die Form der Kunst aus dem Geiste heraus zu
gewinnen, so daß dieser Geist die gestaltende Kraft ist, die Formgebung dagegen
nur Ausdruck eines geistigen Wollens. Weil dieser Geist immer lebendig und da¬
mit in steter Bewegung ist, hat die Formgebung deutscher Kunst zu allen Zeiten
einerseits einen individualistischen Charakter getragen, andererseits sich dauernd vor
Probleme gestellt gesehen. Denn nur die Form ist überlieferbar, der Geist muß
immer aufs neue geboren werden.
Ein derartiges deutsches Kunstgewerbe ist auf dem Weltmarkte eine neue Er¬
scheinung. So mag es mit großer Genugtuung erfüllen, daß dieses deutsche
Kunstgewerbe in den letzten Jahren eine Reihe starker moralischer Siege erfochten
hat. Der Kampfplatz waren die Ausstellungen in Brüssel, Paris, Nancy, Turin. Die
Ausstellungen im eigenen Lande wollen wir dabei nicht in Betracht ziehen. Das
deutsche Kunstgewerbe hat an allen diesen Orten einen starken Eindruck gemacht, so daß
man ihm zugestehen mußte: 1. Eigenart der Gesamterscheinungen; 2. Gediegenheit
im Material und Verarbeitung desselben; 3. hohe Gebrauchsfähigkeit, schmiegsame
Anpassung an die jeweiligen Bedürfnisse und Verhältnisse des Raumes; 4. gestand
man, wenn auch viel widerwilliger, den deutschen Barbaren sogar „Geschmack"
und einen gewissen, wenn auch schwerfälligen Schönheitssinn zu.
Diesen moralischen Siegen hat aber bislang nirgends der praktische Erfolg
entsprochen. Die Erzeugnisse des modernen deutschen Kunstgewerbes werden auf
diesen Weltmärkten anerkannt, vielleicht sogar bewundert, aber nicht gekauft. Wohl
verstanden: die deutsche kunstgewerbliche Industrie, also die Massenfabrikation von
Möbeln in historischen Stilen, sowie die kleingewerbliche Bazarware, kann nach
wie vor auf glänzende Ausfuhrziffern verweisen. Jenes künstlerische deutsche
Kunstgewerbe jedoch, das wir oben zu charakterisieren strebten, hat kein Absatz¬
gebiet auf dem Weltmarkt. Wenn nun schon für die. freie Kunst die Absatzver¬
hältnisse von ausschlaggebender Bedeutung sind, so sind sie für die angewandte
Kunst, eben das Kunstgewerbe, schlechthin die Lebensfrage. Es ist also von höchster
Wichtigkeit, sich über die Ursachen der geschilderten Erscheinung klar zu werden.
Sie zerfallen in nationale, geschichtliche und sachliche.
Es ist schlimm genug, daß uns Deutschen für die nationalen Ursachen das
rechte Verständnis abgeht. Es liegt ja gewiß ein Wahres in der Mahnung, daß
man das Gute anerkennen soll, wo es sich findet. Aber wie für den Einzelnen
die zufriedene Anerkennung der Leistungen eines anderen keinen Gewinn bedeutet,
wenn diese große Leistung nicht zum eigenen Wettbewerb anstachelt, nicht vor
allen Dingen die Wirkung ausübt, daß man selber alle Kräfte anspannt, um
Gleichwertiges zu erreichen, so gilt das in schier noch höherem Maße von der Nation.
Wenn das Ausland aus den Ausstellungen die guten Leistungen des deutschen
Kunstgewerbes sieht, so zieht es daraus nicht die Folgerung: wir wollen uns
diese Erzeugnisse kaufen, sondern die andere: wir müssen die Gediegenheit dieser
Arbeitsleistung ebenfalls erreichen. Das nationale Empfinden ist bei den fremden
Völkern eben so stark, daß sie einen natürlichen Gegensatz gegen das Fremde, je
charakteristischer dieses ist, empfinden und also das Gute an diesem nur die Wir¬
kung hat, die nationale Arbeit zum Wettbewerb anzustacheln. Bei uns in Deutsch¬
land ist das bekanntlich leider anders. Da ist man so empfänglich für das Fremde, so
gierig nach seinem Besitz, daß man die eigene Art nur allzu leicht sogar ver¬
leugnet, um das Fremde sich zu eigen zu machen. Auf etlichen Gebieten ist diese
Fremdsüchtelei überwunden, in der Kunst und vor allen Dingen in den Gebrauchs¬
formen des Lebens, stecken wir noch mitten darin. Hier wirken die geschichtlichen
Verhältnisse eben viel stärker und zäher nach als auf anderen Gebieten.
Geschichtliche Tatsache ist es und Erbschaft der Vergangenheit, daß zurzeit,
als sich die neue europäische Gesellschaft bildete, Frankreich im geistigen und kultu¬
rellen Leben des europäischen Kontinents die Führerrolle innehatte. Es war die
Zeit des Absolutismus, und der Hof Frankreichs war das Vorbild für sämtliche
Höfe Europas. Den Höfen aber ahmte überall wieder der Adel nach, dem Adel
das Bürgertum. Im Zeitalter des Absolutismus entwickelte sich das, was wir
als „Geschmack" zu bezeichnen gewohnt sind, natürlich nicht die Fähigkeit, Geschmack
zu haben; die ist so alt wie die Menschheit selbst und immer eine ganz persönliche
Begabung gewesen. Dieser persönliche Geschmack hat auch gar nichts zu tun mit
dem, was „man" als Geschmack bezeichnet. Geschmack in diesem Sinne ist nur
eine Form der Etikette, übertragen vom menschlichen Leben auf die Gegenstände
dieses Lebens. Dieser Geschmack ist darum genau so sachlich objektiv und deshalb
genau so lernbar wie die Etikette. Mit der Persönlichkeit haben beide nichts zu
tun. Und wie — die Memoirenliteratur des siebzehnten und achtzehnten Jahr¬
hunderts beweist es uns auf jeder Seite — jene absolutistische Gesellschaft, die
sich der höchsten Ausbildung gesellschaftlichen Formenlebens rühmte, hinter diesen
schönen Formen eine ganz unheimliche Roheit des Geistes- und Empfindungs¬
lebens verbarg, so kaun auch ein künstlerisch ganz barbarischer Geist die Gesetze
dieses Geschmackes vollkommen erfüllen. Dieser Geschmack ist nicht nur erlernbar,
sondern sogar einfach käuflich. (Die hohe Schule des Geschmackes war im sieb¬
zehnten und achtzehnten Jahrhundert der Pariser Hof. Was dort oft genug aus
der Laune des Kammerdieners heraus oder in Verbindung mit elenden Gebrechen
maßgebender Mitglieder der Hofgesellschaft eingeführt wurde, ward ein Teil dieser
geschmackvollen Lebensform und gewann damit gesetzgeberische Geltung für die
übrige Welt. Die Mode zeigt uns ja auch heute noch, wenn auch nicht so
schroff, ein ähnliches Bild. Damals war es eben so, daß sich mit dem Namen
der Könige eine Form der äußeren Lebensgestaltung verband, die zum Stilgesetz
erhoben wurde.)
Für Frankreichs Handel und Industrie brachten diese Verhältnisse so günstige
Lebensbedingungen, daß es auch ohne den formalistisch-konservativen Sinn der
Franzosen leicht erklärlich wäre, daß sie an den so bewährten Stilformen der
Vergangenheit festhielten und in gleicher Art die Neuwandlungen des Geschmacks
zu vollziehen suchten. So hat denn die bürgerliche Gesellschaft, die in Frankreich
nach der großen Revolution emporkam, bis auf den heutigen Tag nichts Besseres
zu tun gewußt, als seine Wohnungen in den Stilen der alten Könige auszu¬
statten. Nur das Kaiserreich (Empire) wußte dieses republikanische Volk noch
stilistisch auszunutzen. Und Frankreich hat bis auf den heutigen Tag nicht nur
in den romanischen Ländern, sondern auch bei uns in Deutschland für diese
Empfindung treue Gefolgschaft gefunden, bei aller Betonung der subjektiven Lebens¬
gestaltung, trotz alles demokratischen Dünkels. Wo nicht ein ausgesprochen starkes
Volksbewußtsein ist, das mit jener Demokratie gar nichts zu tun hat, da bleibt
in den Menschen die sklavische Achtung vor der hohen Stellung stecken. Weil die
und die in den hohen Stellungen sind, müssen sie den Geschmack haben. Was
die Leute in den hohen Stellungen tun, ist vorbildlich für den Geschmack. Es ist
meistens persönliche Unsicherheit und nicht etwa starke persönliche Liebe zu einer
bestimmten Periode der Vergangenheit, auf der die Vorliebe für historische Stile
beruht; es ist das Gefühl, daß hinter diesen historischen Stilen eine große
Autorität stehe, die die Verantwortung für ihren Wert trägt. Man braucht selber
nicht dafür einzutreten. Der eigene Geschmack ist gedeckt durch die historische
Geltung des gewordenen Stils.
Es ist dabei nicht zu verkennen, daß die bekannten historischen Stilformen,
vor allen Dingen auch die nach französischen Königen benannten, niemals dem
Wesen des Bürgerhauses entsprechen, daß das immer eine fremde Pracht ist, daß
solche Einrichtungen im Bürgerhause immer wirken, als ob sie dort nur zu Besuch
seien, als ob sie bei Gelegenheit eines Schloßausverkaufes erstanden worden seien.
Sie erheischen eine andere Umgebung, als das Bürgerhaus sie bietet, eine andere
Gesellschaft, als sich in ihm bewegt. Das ist in Frankreich genau so gut der Fall,
wie bei uns. Der Salon ist darum dort genau so steif, unwohnlich und un¬
natürlich wie bei uns. Aber wenn Frankreich an diesen Verhältnissen festhält, so
handelt es immerhin klug für seinen Wohlstand und auch im Sinne seiner inter¬
nationalen künstlerischen Geltung.
Viel höher steht das englische Verhältnis, weil der Engländer sein Iiome aus
seinen: bürgerlichen Empfinden und Bedürfen heraus gebildet hat. Dieses eng¬
lische Heim ist Ausdruck des englischen Wesens. Zudem besitzt der Engländer sein
stolzes Volksgefühl', kein Wunder also, daß er sein Heim mitzunehmen trachtet in
die fernsten Teile der Welt. So steht das englische Kunstgewerbe vor der glück¬
lichen Lage, überall dort sichere Abnehmer zu haben, wo Engländer sind. In der
entferntesten Kolonie ist unbedingter Empfehlungsbrief, daß der und der Gegen¬
stand jetzt in der englischen Heimat ins Haus aufgenommen worden ist. Die
deutsche Industrie liefert viel Möbel nach englischen Kolonien; sie kann das nur,
indem sie diesen englischen Wohnungsstil getreu zu kopieren strebt.
So liegen die Verhältnisse für das englische und das französische Kunstge¬
werbe. Das erste hat dank der geschichtlichen Entwicklung einen sicheren Markt
überall dort, wo Engländer sind; das andere hat dank der Geschichte die Geltung
des internationalen feinen Geschmacks.
Wie steht dagegen das deutsche Kunstgewerbe? Daß uns die Geschichte in
dieser Hinsicht nichts gegeben, sondern höchstens Vorhandenes zerstört hat, braucht
nicht immer wieder von neuem gesagt zu werden. Im fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhundert hatten wir in Deutschland eine hohe Wohnungskultur. Dann wurde
sie durch den dreißigjährigen Krieg vernichtet, und seither hat es kein Land gegeben,
daß ängstlicher nach dem französischen Vorbilde schielte, als eben Deutschland.
Selbst als es unserem Bürgertum gelang, im Biedermeierstil das französische
Empire dem eigenen Wesen gemäß umzugestalten, sah man es doch als das
höchste an, wenn man sich neben die der eigenen Art getreue Wohnstube einen
Salon in irgendeinem der Louis-Stile einrichten konnte. Buckle das Volk bei
uns auf das Gehaben der Vornehmen, der Fürsten, des Adels, so sah es über¬
haupt nur französische Einrichtungen. Als dann endlich in der zweiten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts die großen politischen Taten auch das geistige Selbst¬
bewußtsein des deutschen Volkes aufstachelten und man zur stolzen Überzeugung
kam, die Art dieses sieghaften deutschen Volkes müsse doch so wertvoll sein, daß
es sich kulturell dem eigenen Wesen gemäß ausdrücken dürfe, suchte mau bei jener
Vergangenheit anzuknüpfen, die diese deutsche Lebenskultur besessen hatte. So
kam man auf die ältesten historischen Stile und verpflanzte die Gotik in unsere
heutigen Wohnstuben, verkoppelte das dreizehnte und vierzehnte Jahrhundert mit
den aus so ganz anderen Lebensbedingungen gewachsenen Einrichtungen der Gegen¬
wart. Daneben hatten noch Lutherstühle und Luthertische Platz, und eine Lampe,
die Dürer für Kerzen geschaffen, wurde jetzt für Gas zurechtgebogen. Da man
sich auf diese Weise keinen Ausdruck seines Gegenwartslebens zu schaffen vermochte
und bei der Geschichte das Heil suchte, ist es leicht erklärlich, daß man ebenso
rasch wieder den anderen fremden historischen Stilen verfiel.
Nun ist uns aus Mühe und Not, strenger Selbstzucht und unter schweren
Kämpfen ein neues deutsches Kunstgewerbe herangewachsen. Ja, es ist deutsch,
dieses Kunstgewerbe. Man mag dagegen sagen können, was man will: die ganze
Bestrebung bleibt deutsch und wird überall als deutsch empfunden. Gerade das
Verhalten des Auslandes kann uns das beweisen. Wir können darum auch gar
nicht erwarten, daß dieses Ausland die Erzeugnisse unseres modernen Kunstge¬
werbes — ich denke jetzt vor allem an die Möbel — kauft. Dazu müßte es ja
seine eigene Art hintan setzen. Für das Absatzgebiet unseres Kunstgewerbes ist
das auch garnicht nötig. Wir brauchen das Ausland ebenso wenig, wie England
es braucht. Wenn die Deutschen der ganzen Welt so an ihrem deutschen Heime
hängen, wie der Engländer an seinem Kome, wenn vor allen Dingen das deutsche
Bürgertum in Deutschland selbst so deutsch zu wohnen sucht wie der Engländer
englisch und der Franzose französisch, so hat unser Kunstgewerbe ein ganz riesiges
Absatzgebiet.
Gibt es für die Tatsache, daß wir von diesem Zustande noch so weit entfernt
sind, keine anderen Gründe als das schwach ausgebildete deutsche Volksgefühl? —
Doch; wir haben ein deutsches Kunstgewerbe, insofern wir seit einem Jahrzehnt
zahllose Arbeiten von Kunstgewerblern gesehen haben, die deutschen Charakter
tragen, denen man ansteht, daß sie Werke deutscher Künstler sind. Aber wir
haben darum noch lange nicht einen deutschen Wohnungsstil. Hinter jeder
einzelnen dieser Wohnungseinrichtungen steht ein subjektiver Künstler, hinter keiner
steht das deutsche Volk. Nicht einmal irgend ein deutscher Stand steht dahinter.
Am nächsten scheint mir bezeichnenderweise das Studierzimmer, das Arbeitszimmer
des deutschen Gelehrten einer solchen mehr typischen Lösung nahegekommen zu
sein, obwohl auch da noch die tollste Phantastik waltet.
Gewiß, unser Kunstgewerbe ist noch zu jung. Aber davon abgesehen, lebt
in ihm vielfach ein Geist, der, wenn er auch noch so alt wird, niemals zur
Schöpfung eines volklichen Stils gelangt. Die deutschen Kunstgewerbler fühlen
sich zu sehr als Künstler, zu wenig als Erfüller eines Verlangens. Sie wollen
alle Gestalter desselben sein. Auch wenn sie frei sind von einer ganz aus der
Aufgabe herausfallenden Originalitätssucht, die natürlich äußerlich werden muß,
wenn sie vielmehr echte Eigenart haben, so verkennen sie leicht die ganze Stellung,
in der sie sich zur Welt befinden. Sie schaffen aus subjektiver Willkür heraus,
sie schaffen eigentlich lauter Wohnungen für sich selbst: sie denken sich dabei allen¬
falls in irgendeine Rolle hinein und suchen für diese die Umrahmung.
Der Unterschied gegen früher ist außerordentlich groß. In jener deutschen
Vergangenheit, die ihre eigene Wohnungskultur hatte, versuchte selbst der freie
Künstler aus dem Geiste des Bestellers, des Abnehmers heraus zu schaffen. Man
vergleiche daraufhin die Briefe Dürers. Der Künstler stand eben viel mehr im
Volke, er einPfand volklicher als heute. Man hat den meisten heutigen Wohnungs¬
einrichtungen unseres neuen deutschen Kunstgewerbes gegenüber das Gefühl, daß
diese nur für eine ganz bestimmte Wohnung passen und nur dem Geschmack eines
bestimmten Auftraggebers entsprechen könnten. In der Regel ist aber kein Auf¬
traggeber vorhanden, sondern der Käufer soll erst gesucht werden. Das ist in
jedem Fall, auch wenn die Lösung noch so künstlerisch erscheint, nicht der Weg,
auf dem sich ein Allgemeinbefitz entwickeln kann. Niemals wird es zu erreichen
sein, daß die Allgemeinheit zu ihrem Lebensausdruck Formen wählt, die ihr den
Eindruck des Subjektiven machen. Da müßte eine ungeheure Autorität dahinter
stehen, so wie es eben für die historischen französischen Stile die Person des
Königs, damit die ganze königliche Gesellschaft, die ganze vornehme Welt tat.
Ob jemals wieder ein fürstlicher Hof eine so starke gesellschaftliche Geltung
gewinnen könnte, daß sein Vorbild allein dem ganzen Bürgertum gewissermaßen
als Geschmacksgewähr dienen könnte, bleibe dahingestellt. Die große Bedeutung,
die das Eintreten des Großherzogs von Hessen für das moderne Kunstgewerbe
gehabt hat, zeigt, daß jedenfalls ein von oben gegebenes Beispiel außerordentlich
segensreich wirken könnte. Ob wir freilich gerade von unseren Fürsten eine so
starke Betätigung für deutsche Lebenskultur erwarten dürfen, ist nach der ganzen
Erziehung und historischen Beeinflussung dieses Standes sehr zweifelhaft. In
jedem Fall aber wird das deutsche Kunstgewerbe sich bemühen müssen, von seiner
subjektiven Willkür loszukommen und zunächst einmal aus dem gründlichen
Studium der deutschen Volksart heraus für die wichtigsten Gebrauchsgegenstände
unseres Lebens Typen zu schaffen. Das Kunstgewerbe wird dann gut tun, sich
mit der Industrie zu Verbunden, auf daß diese Typen zum Massenabsatz gelangen.
Es ist gar nicht einzusehen, weshalb die Industrie nicht gute Arbeit und geschmack¬
volle Formen liefern sollte, wenn sie dafür Abnehmer findet. Doch müssen wir
Geduld haben. Im jüngeren Geschlecht ist schon heute das Gefühl für die
Qualität der Arbeit viel lebendiger als im älteren. Ohne dieses Qualitätsgefühl
ist aber überhaupt eine Umwandlung unserer bestehenden Verhältnisse nicht denkbar.
Mit diesem Qualitätsgefühl zusammen hängt dann auch das selbständige
Empfinden. Es regen sich die eigenen Wünsche, so daß der Besteller den Kunst¬
handwerker aufsucht und mit diesem gemeinsam an der Lösung arbeitet. Wenn
das tausend- und tausendmal an den Gebrauchsgegenständen des Alltags für unsere
Arbeits-, Wohn- und Schlafzimmer geschieht, so wird sich allmählich ein Typus
des deutschen Möbels herausstellen. Diese Möbel sind es und die Gebrauchs¬
gegenstände, die das Heim schaffen, ein charakteristisches deutsches Heim, dessen
innere Vorstellung der im Ausland wohnende Deutsche überallhin mitnimmt, wo¬
hin er geht. Es wird dann sein Wunsch sein, in der Ferne dieses Heim um sich
zu haben. Und ich glaube bestimmt, daß unsere Auslandsdeutschen dann treuer
der heimischen Art bleiben werden, wenn sie immer ein solches Stück Heimat um
sich haben. Ob danach die anderen Völker eine solche deutsche Lösung der
Wohnungsfrage als so sachlich und schön, als so stilvoll empfinden werden, daß
sie derartige Einrichtungen nach deutschem Stile so aufnehmen, wie wir bislang
ihre historischen Stile, ist im Vergleich zur Bedeutung eines solchen Stils für die
eigene Nation gleichgültig. Unser Kunstgewerbe hätte eine ungeheure Aufgabe er-
füllt, wenn es ihm gelänge, einen wirklich volklichen Ausdruck des deutschen
Heimempfindens zu schaffen, und auch der Markt für das deutsche Kunstgewerbe
wäre dann groß genug.
Hans Holbeins Initial-Buchstaben mit
dem Totentanz. Mit erläuternden Denkversen
und einer geschichtlichen Abhandlung über die
Totentänze von or. Adolf Ellissen. Göttinnen
im Verlag der Dieterichschen Buchhandlung
1849. — Manul-Neudruck mit einem Vorwort
von Professor Vr, O. A. Ellissen. Leipzig, Die-
terichsche Verlagsbuchhandlung (Th, Welcher).
2 M.
Diese Worte Leutholds hat Adolf Ellissen
nicht beherzigt, und er hat es gebüßt mit gänz¬
licher Vergessenheit, die keineswegs verdient ist.
Ellissen(1816—1872),seinerzeit der „beliebteste
Bürger" Göttingens, ein furchtloser Vorkämpfer
der deutschen Einheit, zurZeit derhannoverschen
Verfassungsstreitigkeiten zum Kultusminister
vorgeschlagen, Mitglied des konstituierenden
Reichstages und des Preußischen Abgeordneten¬
hauses, der gefeierte Gelehrte, in Athen zwar
berühmter als im Vaterland, Freund Goedekes
und Hoffmanns v. Fallersleben, der sprach¬
schöpferische Übersetzer chinesischer und neu¬
griechischer Poesien, ein Redner, an dessen
Kraft alte Hannoveraner noch mit Entzücken
und tiefem Erschauern denken — dabei ein
Charakter von seltener Reinheit, weich wie ein
Mädchen und doch von harter zäher Energie
des tiefüberzeugten Mannes — eine edle Blüte
vom Stammbaum einer alten hannoverschen
Gelehrtenfamilie — er ist für die Nachwelt
verloren, weil ihm die „goldene Rücksichts¬
losigkeit", die „eigenen Ellenbogen" fehlten.
Aber hoffentlich doch nicht so ganz. Der Sohn
hat den liederreichen, zu früh verschlossenen
Mund des Vaters wieder geöffnet, indem er
einen Neudruck der packenden Verse zu Hol¬
beins Totentnnzalphabet veranstaltete. Die
Verse sind 1347 gedichtet, aber erst nach der
Revolution gedruckt.
Ellissen, der gelehrte Studien über die
Geschichte der Totentänze gemacht und die
Früchte seiner Forschungen in einer Abhand¬
lung den Versen beigefügt hat, gab mit
Heinrich Loedcl, der 1842 (die Stöcke waren
natürlich nicht mehr vorhanden) die Initialen
den Originalholzschnitten im Dresdener Kabi¬
nett nachgeschritten hatte, das Buch heraus.
Ellissen nahm an, daß die Initialen ursprünglich
einem sinnverwandten Text als Schmuck dienen
sollten; dieser Text ist aber verloren gegangen
oder niemals ausgeführt worden, und die Ab¬
sicht Ellissens war eS, einen Text im Stil der
Holzschnitte herzustellen. Dazu war der fein¬
fühlige Uebersetzer ganz besonders befähigt.
Die wuchtige Kernkraft derben Humors, wo¬
durch die schauerliche, immer wiederholte
Vorstellung des Knochenmannes zugleich er¬
hoben und gemildert wird, hat Ellissen so
prachtvoll herausgefühlt und in Worte um¬
gegossen, daß Wort und Bild geradezu un¬
heimlich ineinanderpassen. Es ist ein Rätsel,
daß diese klassische Interpretation trotz der
Beliebtheit der Bilder unbekannt geblieben
ist. Die höhnisch grinsende Fratze des Todes
verwandelt sich in den milden Tröster, den
Tod als Freund, für die Nonne:
Der Säufer wird tüchtig ausgelacht, aber
auch für ihn hat der Tod noch einen ein¬
leuchtenden Trost bereit:
Furchtbar erhaben geht der Tod mit dem
Kaiser ins Gericht-
Überall trifft Ellissen den ursprünglichen
volkstümlichen Holzschnittstil, wie ihn von
seinen Zeitgenossen in Worten vielleicht
niemand, im Bilde nur Rethel getroffen hat.
Das kleine Buch ist von der Verlags¬
handlung in stilvollen Einband wieder in
die Welt geschickt worden, wo es hoffentlich
bessere Aufnahme finden wird als bei seiner
Das TischgcsprKch im Dienst der J»n,e»d-
bildung. Unter den mancherlei Bildungs¬
möglichkeiten, die eine besonders enge Be¬
rührung zwischen Schule und Haus ausweisen,
könnte das tägliche Familiengespräch bei Tisch
einen hervorragenden Platz einnehmen. Warum
tut es das nun nicht in Wirklichkeit? Das
ist ein weites Feld, könnte man darauf mit
Fontane mich hier antworten. Aber das
„c>uieta non movers" ist erfahrungsmäßig
immer da am ersten zur Hand, wo eine nähere
Untersuchung Grundschaden unserer ganzen
heutigen Lebensweise würde sichtbar werden
lassen. Nun, wem es ernsthaft um das Wohl
der künftigen Generation zu tun ist, darf davor
doch nicht zurückschrecken.
Die Hast und Unrast, mit der sich nament¬
lich in Großstädten das Berufsleben der
Männer und das ganze gesellschaftliche Leben
abspielen, hat die Zeit, die für das Beisammen¬
sein der Familie zu Tisch aufgewendet werden
darf, mindestens an den Wochentagen immer
mehr zusammenschrumpfen lassen. Und auch
an Sonn- und Feiertagen beeinträchtigt nicht
selten in bürgerlichen Familien die Rücksicht
auf die Freiheit der Dienstboten die Ge¬
mütlichkeit bei Tisch. So ist es dahin ge¬
kommen, daß die schleunige Erledigung der
Speisenznfuhr für den Körper vielfach auch
schon zu einem reinen Geschäft, zu einer bloßen
Notwendigkeit herabgesunken ist. Und doch
könnte hier, wenn irgendwo, die Notwendig¬
keit mit Amrne umkleidet werden. Schon
von: rein hygienischen Standpunkt aus müßte
eingesehen werden, daß, wenn die Seele ent¬
laden vom Druck der Geschäfte freier spielt,
dieser Zustand auch für die gedeihlichere Wir¬
kung der Physischen Nahrungsaufnahme unver¬
hältnismäßig günstiger ist. Besonders traurig
aber liegt der Fall dann, wenn der Beruf
des Familienvaters es kaum je oder doch nur
unregelmäßig gestattet, mit den schulpflichtigen
Kindern zusammen zu speisen. Von feiten der
Schule ist deshalb hier schon ein weites Ent¬
gegenkommen gezeigt worden. Denn für die
Abschaffung oder gehörige Einschränkung des
Nachmittagsunterrichts nnter Einführung der
Knrzstnnden ist gerade auch der Gesichtspunkt
maßgebend gewesen, daß die Gemeinsamkeit
der Familienmahlzeiten in größerem Umfange
rmöglicht werde. Rum unterliegt es gar
einem Zweifel, daß in sehr weiten Kreisen
unseres Volkes, und zwar mit ganz beson¬
erer Betonung des norddeutschen Teiles, das
Problem, das in dem Abwägen der Berufs¬
nd der Familienpflicht besteht, unbedingt zu¬
unsten der Berufspflicht entschieden wird: der
ategorische Imperativ der Kantischen Pflichten¬
ehre ist nicht umsonst ein Ergebnis norddeutsch-
reußischer Kultur. Indessen jenes Abwägen
t doch eben ein Problem, und wenn sich
eigen sollte, daß unter der dauernden Be¬
inträchtigung der Familienpflichten in weiten
Berufskrcisen — in unseren: Fall ist es also
er dauernd behinderte Verkehr mit der
genen schulpflichtigen Nachkommenschaft —
ie Beschaffenheit der ganzen künftigen Ge¬
eration leidet, so bedarf es doch Wohl des
hr eindringlichen Nachdenkens darüber, wie
em gesteuert werden könnte. Durch weit¬
usgedehntes genieinsames Vorgehen der Be¬
ufsgenossen muß eine Änderung herbeigeführt
erden können. Es wird freilich zunächst
darauf ankommen, sich von dem ganzen Ernst
der voraussichtlichen Schädigung der eigenen
Kinder gründlich zu überzeugen. In allen
.Fällen dagegen, wo die hochgesteigerte Er-
werbslust, die die günstige Konjunktur nicht
versäumen will, wo die Pflege sogenannter
gesellschaftlicher Verpflichtungen, die auf Be¬
friedigung der Eitelkeit, auf Anknüpfung von
„Konnexionen" u, a, hinauslaufen, die Ursache
der Vernachlässigung der Familienpflichten
werden, ist durch eine bloße Sinnesänderung
das Übel aus dem Grunde zu heilen. Denn
unser deutsches Volk, das nach langer, langer
Zeit des Denkens und des Dichtens endlich
wieder ein Volk der Tat wurde und als Er¬
gänzung zu seinem Weltruhm in Kunst und
Wissenschaft sich auch als Handels- und Jn-
dustrievolk durch die Erzeugung materieller
Werte zu einem besonders gefährlichen Neben¬
buhler auf dem Weltmarkt emporschwang,
dieses Volk kann doch nicht wollen, daß dieser
neue Weltruhm erkauft werde mit der Ver-
kümmerung eines seiner allerherrlichsten und
allerwertvollsten Vorzüge, des Familiensinns.
Daß in allen den Fällen, wo die Um¬
stände sonst nur eine seltene Berührung der
Familienglieder während des Alltags gestatten,
das Tischgespräch in erster Linie die eigent¬
lichen Familienangelegenheiten zum Gegen¬
stand haben wird, ist nur natürlich. Aber
für ebenso natürlich halte ich es, daß gegen¬
über der Jugend, die den Vormittag über in
der Schule gewesen ist, dieses ihr Haupt¬
erlebnis am Tage auch als ein Hauptthema
eingeräumt wird. Vorausgesetzt wird dabei,
daß die Eltern im Laufe der Zeit den Kin¬
dern den Takt anerziehen, nicht im Übeln
Sinne „aus der Schule zu plaudern". Ja,
Goethe, der überall einen unerschöpflichen
Erfahrungsreichtum bedeutet, meinte sogar:
„Man könnte erzogene Kinder gebären, wenn
nur die Eltern erzogener wären." Sonst
aber ist es durchaus erwünscht, daß das Kind
möglichst viel von dem äußeren und inneren
Leben in der Schule berichtet. Soll doch
jeder Lehrer so unterrichten, als ob die Eltern
beständig zugegen wären, denen er ja auf
alle Fälle verantwortlich ist. Was aber der
Schüler, auch der der höheren Lehranstalten,
von Sexta an bis hinauf nach Prima, auch
nur von einem einzige» Vormittag berichten
önnte, enthält eine so erdrückende Fülle von
Bildungsstoffen, daß, wenn auch nur ein ge¬
ringer Teil davon zum Gegenstand des Ge¬
prächs wird, dies sehr ftuchtbareFolgen haben
kann. In der wünschenswertesten Weise wird
dadurch auch bei den Eltern wieder so manches
lebendig gemacht, was lange unter der Schwelle
des Bewußtseins gelegen, so manches angeregt,
was Veranlassung gibt, sich weiter danach
umzutun und die eigene Bildung zu ergänzen.
Mit dieser eigenen Allgemeinbildung steht es
nämlich heute gar nicht so besonders glänzend,
eine traurige Folge der frühen Zersplitterung
in Fachwissen und Berufswissen und der in¬
folge der Rastlosigkeit und Oberflächlichkeit
des Lebens mangelnden Zeit.
Die Befürchtung aber, es brächte die
Jugend aus den gelehrten Schulen, zumal
aus dem humanistischen Gymnasium, ein ver¬
altetes Bildungsideal ins Haus, ist nicht ge¬
rechtfertigt. Auch auf dem Gymnasium und
gerade in den altsprachlichen Fächern wird
heute in einen: erfreulich hohen Grade die
Fühlung mit der Gegenwart hergestellt. Wenn
das große Publikum, auch das der sogenannten
Gebildeten, das noch nicht weiß, so liegt das
ganz wesentlich daran, daß es die Gelegenheit
nicht gehörig benutzt — eben etwa in: Tisch¬
gespräch — sich davon zu überzeugen. Gewiß
werden in der Regel bei einer Fmnilientisch-
unterhaltung nicht der binomische Lehrsatz
oder die verallgemeinernden Relativsätze aus
der griechischen Grammatik den fruchtbarsten
Schulstoff abgeben. Dafür tun es aber bei
hundertfältiger Gelegenheit die alte wie die
moderne Schriftstellerlektüre, die Geschichte und
Erdkunde, die Religion und Naturkunde, nicht
zu vergessen die sogenannten technischen Fächer,
wie Singen, Turnen und Zeichnen.
Es ist jetzt, und zwar mit vollem Recht,
so viel die Rede von der Notwendigkeit, die
heranwachsende Jugend in die Staatsbürger¬
kunde einzuführen. Wenn sie geradezu als
Unterrichtsgegenstand gefordert wird, so liegt
das, wie in so sehr vielen Fällen, daran, daß
das Haus nicht mehr eine ihm zufallende
Pflicht erfüllen kann oder will. Ich sehe da
nun in dem Tischgespräch eine ganz hervor¬
ragende Gelegenheit, dem gerecht zu werden.
Wenn die Eltern nur nicht die Mühe scheuen,
sich der dahingehender zahllosen Anregungen,
die beinahe in jedem Schulfach geVoten wer¬
den, zu vergewissern und damit dann in Ver¬
bindung bringen, was das Berufsleben des
Vaters, was die täglichen Erlebnisse und bor
allem auch die Zeitungsnachrichten an Stoff
bieten, dünn ergibt das eine wünschens¬
werteste Förderung staatsbürgerlicher Erzie¬
hung. Durchaus auch die Mutter mit ihrer
Pflicht der Wirtschnftsversorgung und der ein¬
schlägigen Warenkenntnis vermag ihr voll¬
gemessenes Teil dazu beizutragen. Denn alle
Weltwirtschaftsfragen gehen immer zurück auf
Fragen der Hauswirtschaft, so sicher, wie
die Gesundheit des Staatsorganismus von
der Gesundheit des Familienlebens abhängt.
Wofern nur die Neigung der Erwachsenen
selbst sich nicht vorzugsweise demjenigen zu¬
wendet, was nur „Sensation" macht, wird
die Erörterung von Parlamentsverhmidlungen,
Gerichtsverhandlungen, Tagungen von Kon¬
gressen, wird des Vaters eigene Tätigkeit in
Stndtberordnetensitzungen, in Schöffen- und
Schwurgerichts-, in Kirchenratssitzungen, seine
Teilnahme an VereinSvestrebungen und hun¬
derterlei Ähnliches in Verbindung mit dem aus
der SchuleMitg«brachten dem Heranwachsenden
reiche Frucht bringen für sein Verständnis vom
Wesen des Staates und der Tätigkeit des
Staatsbürgers.
Allerdings sind alle diejenigen Schüler
übel daran, die schon in dem eingeschlagenen
Schülbildungsgange sich von dem Bildungs¬
kreise der eigenen Familie entfernen oder die,
selbst aus höheren Schichten stammend, durch
die Umstände genötigt, in Pensionen bei
kleineren Leuten untergebracht sind. Auf die
Erörterung ästhetischer oder wissenschaftlicher
Fragen wird hier natürlich verzichtet werden
müssen, aber Staatsbürgerkunde ist doch keines¬
wegs ausgeschlossen. Denn dem Sohn des
großstädtischen Bankiers oder des Großgrund¬
besitzers kann es nur dienlich sein, wenn er
das Leben des staatlichen Organismus sich
auch im Urteil sozial niedriger stehender
Schichten spiegeln sieht. Was freilich sonst
dagegen spricht, junge Leute, die eine höhere
Schule besuchen, in Familien mit nicht gleich¬
wertiger Bildung aufwachsen zu lassen, gehört
nicht hierher, es ist aber nicht wenig.
Immer aber soll auch in den Familien
der höher Gebildeten bei Tisch »in Himmels-
willen kein Bildungsdrill getrieben werden.
Und wenn es auch jeweilen ganz angebracht
st und der Jugend reichlich Vergnügen macht,
neu erlernte Sprachen auch im Tischgespräch
zu üben, die Herrschaft der französischen
Mademoiselle oder der englischen Miß will
ich uns für die deutsche bürgerliche Familie
bei Tisch doch gar nicht ziemen. Mit ihren
hundertfach verschiedenen Interessen soll die
chulpflichtige Jugend da zur Geltung kommen:
der Quintaner soll so gut von dem Ver¬
eidigungsplan seiner Burg schwärmen, die
er sich im Garten errichtet und die er
gegen den Feind verteidigen will, wie der
sekundärer von seiner Fußwanderung am
nächsten Sonntag mit den unerläßlichen An¬
sichtspostkarten und erst recht der Primaner
von den Aussichten für die nächste Tanzstunde
und der Wirkung seiner neuen Krawatte.
Für unvermerkte Förderung der Bildung im
Anschluß an die Schulerfcchrungcn bleibt noch
Raum genug.
Das peinliche Thema. Professor Karl
Lamprecht hat es wieder einmal angeschnitten,
und auf dem Hochschüllehrertage noch dazu,
nämlich das Thema vom wissenschaftlichen
Durchschnittshavitus des heutigen Universi¬
ätslehrers, vom steigenden Überwuchern
eben dieses Durchschnitts und von der darin
iegenden Gefahr für das Gesamtniveau und
die künftige Geltung deutschen Wissenschafts-
betrieves. Man kann nicht leugnen, daß die
Pausen zwischen den einzelnen Vorstoßen
gerade nach dieser Richtung hin immer
ürzer werden, und daß die Sprache der
unwilligen Warner an Deutlichkeit zunimmt.
Noch weniger läßt sich bestreiten, daß in der
Tat die deutsche Universität durch nichts so
ehr von ihren ursprünglichen Zwecken nach
und nach abgedrängt worden ist als durch
hre Belastung mit der speziellen Aufgabe,
unser höheres Beamtentum in Staat und
Gemeinde, Kirche und Schule auf die an¬
rkannte Basis zu bringen. Vielleicht ist es da
iel zu spät, mit Reforinbestrevungen, die einer
ängst historisch gewordenen Entwicklung gleich¬
am das erwünschte stille Plätzchen abzwacken
ollten, jetzt noch Umstände zumachen. Wenn die
deutsche Hochschule oder Universität heute Posi¬
tive Aufgaben von praktischen: Nutzen für die
geregelte Laufbahn des einzelnen Hörers in
einem Umfange zu leisten hat, der diese Auf¬
gabenotwendig weit in den Vordergrund rückt,
dann sollte vielmehr von hier aus die Fol¬
gerung gezogen werden. Die Sache steht
Wirklich schon so, daß wir nur noch unseren
überkommenen Legriff von der Hochschule zu
ändern oder, richtiger, den: damit bereits
gegebenen anzupassen brauchen, um nunmehr
entschlossen nach einer künftigen Freistatt für
die Förderung uninteressierter Forschung aus¬
zuschauen.
Gewiß hält eS jedesmal schwer, eine zum
Aberglauben gewordene Konvenienz als sol¬
chen anzuerkennen, und diese saure Notwen¬
digkeit macht das Thema im letzten Grunde
so Peinlich. Ist es doch nur ein Quidproquo,
allerdings mit besonderem deutschen Heimats¬
recht, daß irgendeine Schule, hoch oder nieder,
die Forschungen des Menschengeistes über
den letzten Bestand hinaus an sich ketten müßte.
Weder Cremona noch Mittenwald haben sich
als Sitze der Kompositionslehre aufgetan, und
die moderne Wirtschaftskunde erwuchs weder
im Schatten der Fugger noch der Rotschild;
auch Ricardo stellte nur, wie heut eingeräumt
wird, den sutor ultra crepicwm in die Börsen¬
sphäre übersetzt dar. Er philosophierte etwa
in dem Sinne, wie Gott bei Erschaffung des
Menschen sich Agio, Diskont und Marktpreis
gedacht habe, — wir aber empfangen, längst
durch Gewöhnung besänftigt, jahrein und jahr¬
aus lauter Hochschulforschungen, dessen
Horizontsegment ganz analog verläuft.
Ja, der gebildetere Laie ist sogar durch
Erziehungseinflüsse vielfach dahin gefördert
worden, daß er die kommenden Kritiken
des Gremiums über ein „wildes" Werk,
dessen Horizont unbescheidene Dimensionen
zeigt, richtig vorempfindet und dann auf
atmend billigt.
Frühere Generationen haben sich bereits
dem Peinlichen Thema mit Bewußtsein gegen¬
übergestellt und suchten ihm, weniger befan¬
gen als die Urenkel, durch Errichtung von
wissenschaftlichen Akademieen beizukommen.
Allein sie unterschätzten dabei die Neigung
zur Kurve in der Entwicklung. Heute setzen
sich alle älteren und dotierten Akademieen
aus „Berufenen" zusammen, nämlich aus
Männern in Hochschulämtern; sie bilden
den angenehmen Pluralismus der fortge¬
chrittenen äußeren Laufbahn, gemeinhin die
ergänzende Sinekure des sinkenden Abends.
Das war nicht die ursprüngliche Absicht ge¬
wesen. Der Mißbrauch erinnert an den der
Würzburger Domherren des ausgehenden
Mittelalters, die Walter von der VogelweideS
Stiftung „zur Weide für die Vöglein" in einen
Fonds zur Beschaffung ihrer Frühstückssem-
mel umdeuteten. In absehbarer Zeit wer¬
den die Staatsverwaltungen ernstlich zu Prüfen
haben, ob sie nicht den: Pensionsfonds die
Sorge für das Taschengeld nunmehriger Auf-
ichtsrate, Jndustriedirektoren und dergleichen
mehr abnehmen sollen. Erwacht erst der
rische Luftzug, der ohne Rücksicht auf Podagm
weht, dann wird Wohl auch einmal erwogen,
ob die großen Akademieen, nächst entsprechen¬
der Reform, nicht besser aus reinen Mitglie¬
dern bestehen sollten, ohne deshalb Alters¬
heime zu werden, und ob die gewissermaßen
dann extinguierende Würde der Mitgliedschaft
nicht auf Wegen vergeben werden kann, die nach
menschenmöglichen Ermessen zugleich zweck¬
dienlich und einwcmdsfrei wären. Übrigens hat
man bisweilen bei brennenden Bedarfsfragen
ieber zu ganz neuen Schläuchen gegriffen.
Und tritt das Peinliche Thema ernsterer
Pflege unserer Forscherinstinkte, das Fürsorge-
gcsetz deutscher Wissenschaft, in die allgemeine
Erörterung ein, so wird sich allerdings auch
Vorsicht gegen wurmstichverdächtiges Material
Die Volksboden sind an Dienstag wieder aus allen deutschen Gauen nach
Berlin gekommen, und der Reichstag hat seine Arbeiten nach vierundeinhalb-
monatlicher Pause wieder aufgenommen. Nicht gern, — sogar widerwillig!
Allen Abgeordneten liegt bereits die bevorstehende Wahl in den Gliedern, und
da von den bürgerlichen nur wenige mit bestimmter Sicherheit auf die Wieder¬
wahl rechnen dürfen, so ist man mit den Gedanken weniger bei den trockenen
Dingen der Gesetzgebung, als draußen bei den Wählern, und noch weniger als
sonst schon ist alles Trachten und Reden durch die Rücksicht auf die Sache als
auf den Eindruck im Wahlkreise beeinflußt. So stellt denn die Versammlung
im Wallotbau — einst das Ziel der heißesten Kämpfe der Nation — einen so
wenig erfreulichen Anblick dar, daß man leicht zu der Frage gelangen kann,
ob sie, die kostspielige und unproduktive Quelle so vieler Mißverständnisse und
so vielen Streites in ihrer heutigen Verfassung noch den Bedürfnissen
entspricht. In dem quirlenden Durcheinander von persönlichen Zielen und
Auffassungen, Ängsten und Verstimmungen scheint alles höher strebende,
auf das Allgemeine gerichtete Wollen untergegangen. Kleinlicher Eigennutz
triumphiert. Über dem Vaterlande die Partei und über der Partei das Ich!
Nur zwei Gruppen bewahren eine ruhigeHaltung und bringen dadurch zum Ausdruck,
daß sie sich als die Matadore des Heute und als Sieger des Morgen fühlen.
Sozialdemokraten und Zentrum, — diese von allen beneidet und von rechts
achtungsvoll behandelt, jene würdelos umbuhlt von den Gruppen der bürgerlichen
Linken. Von der Mitte her aber spinnen sich wieder Fäden nach rechts, und
von rechts zieht's schmeichelnd zur Mitte, und wie im Vorjahr sieht man
bestimmte Herren bald mit einem konservativen Abgeordneten bald mit einem
nationalliberalen eindringlich verhandeln. Was die mißlungene Neichsfinanz-
reform trennte, soll vor der Wahlschlacht noch zusammengeführt werden, dem
Ansturm der Noten zu begegnen. Das andere, tiefer gehende, das das Volk
in Herz und Gefühl trägt, wird als belanglos beiseite geschoben. Aber das
„Wirtschaftssystem", das ist wichtig!
Die Frage der Aussöhnung zwischen Nationalliberalen und
Konservativen ist viel zu ernst und von viel zu großer Tragweite für die
Entwicklung Deutschlands über die nächsten Wahlen hinaus, als daß man sie
mit einigen Worten wie „Wahlfurcht", „Schacher" u. a. in. abtun dürste. Es
handelt sich bei dieser Versöhnung nicht allein um die Übernahme von Garantien
für die kommenden Wählen; es handelt sich darum, ob die auf dem Boden der
Bismarckschen Gesetzgebung aus der Nation herausgekommene demokratische
Richtung noch einmal zurückgebannt werden oder ob man ihr zunächst bei den
kommenden Wahlen die Möglichkeit geben soll, emporzufluten und vielleicht über
die Ufer zu schäumen. Doch auch solche Erwägung erschöpft nicht die
Fülle der sich bietenden Gesichtspunkte. Hinter den Reichstagswahlen
lauert auch die Frage, die formell zwar nichts mit den? Reichstag zu tun hat.
die aber materiell um so schwerer auf die Stimmung im Lande drückt, die
Frage, ob Preußens Negierung eine Reihe von als notwendig empfundenen
großzügigen Reformen zu inaugurieren bereit ist, oder ob es lediglich der Reichs¬
regierung darum zu tun ist, einen solchen Reichstag zusammen zu bekommen,
der die Annahme eines auf dem Schutzzollsystem basierenden Zolltarifs garantiert.
Nachdem aber der Herr Reichskanzler im Dezember vorigen Jahres erklärt hat,
er werde ohne die Zentrumspartei nicht arbeiten, und da die Zentrumspartei im
preußischen Landtage das Haupthemmnis für einen ruhigen nationalen Fortschritt
bildet — wenn es sich zurzeit auch ungemein national gebürdet —, so liegt eben die
Gefahr nahe, daß eine Aussöhnung zwischen Nationalliberalen und Konservativen
eine Verschärfung der geistigen Reaktion in Preußen nach sich ziehen würde, weil
die wirtschaftliche Stärkung der preußischen Machthaber durch das Reich deren Sinn
für zeitgemäße Reformen auf kulturellen Gebiet nicht empfänglicher machen dürfte.
Könnte die preußische Regierung die wenn auch nur teilweise begründete, aber
doch weite Kreise beherrschende Furcht vor der kirchlichen Reaktion bannen, die
Neichsregierung hätte es verhältnismäßig leicht, einen schutzzöllnerischen Reichstag
zu erhalten und damit eine Grundlage für die Verständigung der Konservativen und
Nationalliberalen zu gewinnen. Es ist nicht das Sattsein, das die Mensch¬
heit voran bringt. Die größten Segnungen verdanken wir Zeiten der
Not: das Christentum, die Reformation, die Reformen Steins und Hardenbergs
und W. v. Humboldts und zuletzt das Reich. So urteilt man in den weiten
gebildeten Kreisen der Nation, in denen die Wirtschaft wohl als die Grundlage
der Volkswohlfahrt anerkannt wird, in denen man aber auch überzeugt ist, daß
der Mensch nicht vom Brot allein lebe und daß der Deutsche insbesondere auch
noch höhere Güter zu verteidigen habe als Getreide- und Eisenzölle.
Ich will selbstverständlich nicht der Abschaffung der Zölle das Wort reden.
Eine Entscheidung darüber, ob das Freihandels- oder Schutzzollsystem
vorzuziehen sei, läßt sich generell überhaupt nicht treffen. Die deutsche Volks¬
wirtschaft ist beim Schutzzollsystem mächtig emporgeblüht. So lehrt das
Ergebnis, daß das System gut ist. Nebenbei geht freilich eine andere Beobachtung:
der Reichtum wächst nicht in allen Schichten gleichmäßig, und da er einige
bevorzugt, wirken seine Folgeerscheinungen um so drückender auf die Mehrzahl.
Einsichtige haben diese Tatsache längst erkannt und mit Recht gefolgert: wenn
das System die nationale Volkswirtschaft sich entfalten läßt, so ist es für den
Staat nützlich und bedarf keiner Änderung; da aber ein erheblicher Teil der
Nation darunter zu leiden beginnt, so sind Maßregeln am Platze, die einen
Ausgleich herbeiführen könnten. Darum die Reichsfinanz- und Steuerreform
Bülows, darum die Bestrebungen des Justizrath Bamberger und des Landrath
v. Dewitz. Einem Aufsatz des letzteren in Ur. 240 des Tag entnehme ich, daß
in dem Zeitraum von 1895 bis 1911 sich die Vermögen in der Größe von
einer halben bis zu einer Million um 65,27 Prozent, von einer bis zwei um
72,43 Prozent und von mehr als zwei Millionen gar um 109,21 Prozent ver¬
mehrt haben, während sich die Vermögen von sechs- bis hunderttausend Mark
nur um 46,8 Prozent vermehrten. Das Bild wird im Hinblick auf die Be¬
völkerung noch bedeutsamer, wenn man berücksichtigt, daß die Zunahme von
109,21 Prozent oder 9.5 Milliarden nur 1598 Steuerzensiten betrifft, während
sich in die Zunahme von 46.8 Prozent oder 11,9 Milliarden Mark 555901
Steuerzensiten teilen müssen; bei den Millionären beträgt der Vermögenszuwachs
in sechzehn Jahren auf den Zensiten 5904000 Mark, bei den kleinen Kapitalisten
21400 Mark! — Seit dem Scheitern der Reichsfinanzreform des Fürsten Bülow
ist der Ruf nach billigen: Brot und Fleisch lauter geworden, und da die Steuer¬
gesetzgebung den Ausgleich nicht bewirken konnte, so schwebt nicht nur den un¬
gebildeten Massen das Freihandelssnstem mehr denn je als Ideal vor. Dies
nur zur Beleuchtung des Hintergrundes. Es sind große, tiefschneidende Wirt¬
schaftsfragen, die zur Entscheidung drängen, und die am meisten interessierten
Schichten des Bürgertums suchen die politischen Parteien für die Wahrnehmung
ihrer Interessen zu gewinnen.
Wie so oft schon seit der Reichsgründung ist es auch diesmal die national¬
liberale Partei, die in schicksalsschwerer Stunde den Ausschlag geben soll für die
Wahl des Weges. Die Entscheidung aber mag ihrem Führer heute noch schwerer
dünken als jener Schritt Bennigsens, der die Partei gleich nach ihrer Gründung an
die Seite Bismarcks führte. strömten nicht damals aus allen Parteien die Ein¬
sichtigsten dem genialen Staatsmanne zu? Waren es nicht gewaltige nationale
Fragen, die jeden Parteifanatismus niederwarfen und Konservative, National-
liberale, königliche Prinzen und Handwerker sich um die Regierung scharen
ließen? Das war damals, 1867. Mit dem werdenden Reich wuchs auch die
Partei heran. Heute scheint eine einende Losung nicht vorhanden. Wirr tönt
es durcheinander. Hier Eisenzoll, dort Einfuhrscheine, Differenzialtarife, koloniale
Erwerbungen! Alles das und noch manches andere hemmt kühne Ent¬
schlüsse. Die Aussichten der Nationalliberalen im kommenden Wahlkampf sind
in keinem Falle sehr glänzend, gleichgültig, ob sie für die Konservativen
oder für den Freisinn optieren. Am besten werden sie als Partei wahrscheinlich
fahren, so lange sie keinerlei generelle Abkommen für das ganze Reich schließen,
sondern die Entscheidung von Fall zu Fall treffen. Sie blieben damit ihrem
historischen Grundsatz treu. Den Forderungen des Augenblicks aber entsprächen
sie am besten, wenn sie den Ausgleich finden könnten zwischen den Bedürfnissen
des Staates und denen der einzelnen Staatsbürger. Ein solcher Ausgleich aber
wäre nur denkbar, wenn die Konservativen, besser wie es geschieht, den Erforder¬
nissen der Zeit entgegenkämen und wenn sie ihren Widerstand an durchgreifenden
Wirtschaftsreformen aufgeben wollten. Das ist aber nicht der Fall. Nicht
persönliche Gegensätze zwischen den Herren v. Heydebrand und Bassermann trennen
die Parteien, wie verbreitet wird, sondern die tiefgehende Verschiedenheit der
Auffassungen über die Bedürfnisse der Nation. Vielleicht aber lehrt der Ausgang
der Wahlfchlacht die Notwendigkeit der Aussöhnung, die dann freilich auch im
Interesse der Gesamtheit läge.
Nun höre ich den Einwand: aber die Ostmark! Es ist das in der Tat
der wundeste Punkt der uationalliberalen Stellung. Das Auftreten der National¬
liberalen in Posen und Westpreußen mit eigenen Organisationen war geeignet,
in die gegen das Polentum geeinten Deutschen Unfrieden zu tragen. Besonders
schmerzlich wird solches von allen denen empfunden werden, die für die Aus¬
breitung des Deutschtums in der Ostmark kämpfen. Dennoch scheint es, als
müsse auch diese Störung mit in Kauf genommen werden, nachdem die national-
liberale Partei sich als diejenige erwiesen hat, die von allen bürgerlichen Par¬
teien am konsequentesten an den Mitteln festhält, die zur Germanisierung des
Ostens notwendig erscheinen. Der Freisinn hat die Ostmarkenpolitik durch über¬
große Rücksichtnahme auf die städtische handeltreibende Bevölkerung gehemmt,
die Konservativen Endellscher Färbung haben zu häusig und gezwungen durch
die Schwierigkeit, Landarbeiter zu erhalten, das Interesse des Großgrundbesitzes
über das der deutschen Nationalität gestellt. Die Nationalliberalen allein —
wenn von den Parteilosen abgesehen wird — haben den national und volkswirt¬
schaftlich gleich einwandfreien Standpunkt eingenommen, daß es die Zahl der
deutscheu Bewohner ist, die vor allen Dingen darüber entscheidet, ob die Ost¬
mark deutsch bleiben soll oder nicht. Unter dem Druck chauvinistischer Regungen
ist man leider ini Jahre 1903 zur Annahme des Enteignungsgesetzes gekommen,
das, obwohl unter konservativer Mitwirkung geboren, die Konservativen beun¬
ruhigen mußte, sobald diese einigermaßen kühl über alle Konsequenzen dieser
Durchbrechung des Eigentumsprinzips nachdachten. Jetzt steht dies Gesetz
trennend zwischen den Konservativen und Nationalliberalen der Ostmark, weil
die Nationalliberalen für seine Anwendung eintreten, während die Konservativen
es unter Führung der Majoratsbesitzer perhorreszieren. Nun scheint es aber
doch in der Ostmark eine Brücke des Verständnisses zu geben. Die Negierung
glaubt einen Weg gefunden zu haben, auf dem das Ziel der Ost marken-
Politik sicherer erreicht werden soll als durch das Mittel der Enteignung.
Wenn nicht alle Anzeichen trügen, will die Regierung die Bevölkerungsfrage
nicht so sehr als eine nationale, sondern als eine wirtschaftliche, vom
Chauvinismus befreite Frage lösen, übrigens ein Weg, auf den ich schon vor
drei Jahren hingewiesen habe. Die Losung „Verdrängung der Polen"
scheint aus dem amtlichen Programm verschwunden und an ihre Stelle
„Vermehrung der Landarbeiter" getreten zu sein. Die Regierung hofft
damit den Großgrundbesitz zu beruhigen und überhaupt dem Ostnmrkenproblem
seine gefährliche, auch den konfessionellen Frieden störende Spitze zu nehmen.
An und für sich ein erstrebenswertes Ziel, scheint es mir aber doch nur
erreichbar, sofern die Großgrundbesitzer sich dazu entschließen könnten, selbst
Arbeiterkolonien mit guten Wohngelegenheiten und ausreichenden Verdienst-
Möglichkeiten einzurichten. Ob die politische Nebenabsicht, die Aussöhnung
der Deutschen untereinander, erreicht wird, dürfte aber wohl davon abhängen,
wie weit es dem neuen Oberpräsidenten von Posen, Exzellenz Schwartzkopff,
gelingen wird, den Gegensatz zwischen den konservativen Majoratsherren, die
Herr v. Heydebreck um sich geschart hat, und dem Ostmarkenverein auszugleichen.
Einstweilen sieht sich die Situation leidlich günstig an, da dem neuen Ober¬
präsidenten von beiden Seiten mit Vertrauen begegnet wird. Auch das am
Sonnabend zustande gekommene Wahlkompromiß zwischen den deutschen Parteien
deutet auf Versöhnung unter den Deutschen.
Der internationale Horizont hat sich durch die weitere Ausbreitung der
Revolution in China während der abgelaufenen Woche wieder um eine
Nuance verdunkelt. Die Nachrichten aus China lassen noch nicht erkennen, auf
welcher Seite die Übermacht liegt, bei den Mandschu des Nordens oder den
Rebellen des Südens. Bemerkenswert ist, daß ein Südchinese Duar Shih-Kai,
dessen Reformeifer unsere Leser bereits aus Heft 37 des Jahrgangs 1910 näher
kennen, sich der Dynastie zur Verfügung gestellt hat. Freilich zögert er einst¬
weilen uuter Hinweis auf seine Krankheit mit der Übernahme der Vollmachten,
und das läßt darauf schließen, daß er mit der Mandschuregierung über Reform¬
garantien verhandelt, ohne die er es nach seiner ganzen Entwicklung kaum auf
sich nehmen dürfte, die Ruhe im Lande wieder herstellen zu wollen. Die Stellung
Deutschlands zu den Vorgängen in China kann nur abwartend sein; gelänge es
einer Persönlichkeit wie Man Shih-Kai sich durchzusetzen, dann dürfte unser
Handel mit China keine erhebliche Störung erfahren.*)
Noch unfreundlicher gestaltet sich das Bild am Mittelländischen Meer. Je
länger der Krieg zwischen Italien und der Türkei währt, um so größer
ist die Gefahr seines Übergreifens auf europäisches Gebiet. Italien beginnt die
Fehlerhaftigkeit seiner Voraussetzungen, in Tripolis leichtes Spiel zu haben, zu
erkennen. Durch die Lokalisierung des Kriegsschauplatzes auf die Sorte ist es
recht eingeschränkt und kann seine militärische Bereitschaft nicht voll zur Ent¬
faltung bringen. Unterdessen sind die Türken befähigt, die Küste des Adriatischen
Meeres in verteidigungsfähigen Zustand zu setzen und Italien erfolgreich Wider¬
stand zu leisten, falls dieses ungeachtet der Warnungen seiner Freunde einen
Landungsversuch in Albanien machen sollte. Doch soweit brauchen wir heute
kaum schon zu denken, wenn auch die italienische Presse einen starken Druck auf
die Regierung ausübt. Deutschlands Haltung im Falle einer Landung Italiens
in Albanien wäre abhängig von dem Verhalten Österreich-Ungarns und Ru߬
lands. Jedenfalls dürfte es kaum in die Lage kommen, zugunsten eines der
kriegführenden Teile das Schwert zu ziehen.
Das gleiche darf auch hinsichtlich Koweits angenommen werden, das schon
seit den achtzehnhundertachtziger Jahren das Ziel englischer Begehrlichkeit ist.
Wenn die Türkei sich dieses Gebiets entäußert, so steht es keiner dritten Macht
an, sie daran hindern zu wollen, es sei denn, sie böte bessere Bedingungen.
Daß aber Deutschland in Vorderasien Kolonien erwerben wolle, geht aus seinem
bisherigen Vorgehen in keiner Weise hervor.
Die Friedens aussichten sind während der abgelaufenen Woche nicht besser
geworden. In Konstantinopel ist man kriegerischer denn je, und was von Nach¬
richten über angestrebte und angebotene Friedensvermittlung verbreitet wird,
bericht zumeist wohl auf Kombinationen derer, die ein Interesse an baldigem
Friedensschluß haben. Besonders scheint die Deutschland zugeschriebene Rolle
nicht ganz mit den Tatsachen übereinzustimmen. Die deutsche Diplomatie hat
keine Veranlassung, eine Initiative in irgend einer Richtung zu entwickeln; sie
sammelt Nachrichten, beobachtet die Stimmung, wahrt im übrigen die Interessen
des Reichs und wartet, ob Türken oder Italiener ihrer Mitwirkung zum Friedens¬
n den anderthalb Jahrzehnten voll großer politischer Ereignisse
und Pläne, die zwischen dem Krimkriege und dem deutsch-fran¬
zösischen Kriege liegen, haben die Polen, wenn man den Geschichts¬
werken glauben will, nur einmal, und zwar durch den Aufstand
von 1863 in Russisch-Polen, einen tiefgehenden Versuch zur Ver¬
wirklichung ihrer nationalen Ideale gemacht. Wenn man weiß, wie trotz der
mannigfaltigen und mitunter sehr grausamen Enttäuschungen, die mehr als ein
Jahrhundert hindurch den polnischen Hoffnungen und Bemühungen beschieden
gewesen sind, der Schatten des bald aristokratischen, bald demokratischen polnischen
„Nationalkomitees" noch heute durch die diplomatischen Kanzleien Europas huscht
und namentlich im Vatikan unablässig sein Wesen treibt, muß man indes daran
zweifeln, daß die Polen in besagtem Zeitraum so enthaltsam gewesen sind, wie
die vorhandenen Berichte es lehren. Ich danke Herrn George Cleinow die
Anregung, in Verfolg dieses Zweifels nachgeforscht zu haben, ob und gegebenen¬
falls wie die Polen vornehmlich in Gemeinschaft mit Rom sich bemüht haben,
die polnische nationale Sache sei es direkt, sei es durch Förderung der einen
oder Hemmung der anderen internationalen Konstellation mit friedlichen und
kriegerischen Mitteln in die Höhe zu bringen.
Der päpstliche Stuhl hatte, nachdem das Königreich Sardinien aus Grund
seiner erfolggekrönten Beteiligung am Krimkriege in die Lage gekommen war,
auf dem Pariser Kongreß von 1856 „die italienische Frage" zu stellen, allen
Grund, der internationalen Politik nicht mehr bloß sorgsam zuzuschauen, sondern
auch an ihr tätigen, möglichst fundamental bestimmenden Anteil zu nehmen.
Denn die italienische Frage bedeutete eine Gefährdung des Kirchenstaates und
Roms selbst und barg in Anbetracht der ausgesprochenen Pläne Cavours auch
eine Bedrohung der kirchlichen Interessen zugunsten der weltlichen zunächst in
Italien und indirekt dann auch in der übrigen Welt. Die Lösung der italienischen
Frage bedingte eine Schmälerung der Macht Österreichs und Frankreichs an sich
wie auch als Schützer des Papsttums und hatte damit eine Mehrung der
Macht der nicht römisch-katholischen Staaten Europas zur Folge. Mit den
Mitteln geistlicher und diplomatischer Kunst allein vermochte der päpstliche Stuhl
unter den gegebenen Verhältnissen, in denen die materielle Kraft für den
Sieg national- oder machtstaatlicher Bestrebungen ausschlaggebend war, nicht viel
auszurichten. Er mußte sich bemühen, gleichfalls mit beachtlicher materieller
Kraft für seine Ziele manövrieren zu können. In diesen: Sinne waren ihn: die
Bestrebungen und Mittel der Polen willkommen, und er konnte für eine Neu¬
bildung eines großpolnischen Staates nur wohlwollendes Interesse haben, — so
sehr er auch den Schein zu wahren hatte, daß er die Revolution grundsätzlich
und in jedem Falle verurteile. (Die Revolution verurteilen, heißt nach vatikanischer
Logik nicht auch das Ergebnis der Revolution verurteilen; von dieser Logik gibt
es nur eine Ausnahme, wie Kardinal Rampolla erklärt hat, und die betrifft
die weltliche Macht des Papstes.)
Der Vatikan hatte dabei nicht nötig, nach irgendeiner Seite hin seine Karten
völlig aufzudecken. An: wenigsten sollten die Polen selbst in der Lage sein, ihn
zu kompromittieren. Denn der Vatikan hatte, indem er mit ihnen Fühlung
nahm, stets religiöse Beweggründe und geschichtliche Anknüpfungspunkte. Man
vergegenwärtige sich, daß der Papst sogar auf die Vergebung der polnischen
Krone Rechtstitel für sich in Anspruch genommen hat.
In der Verfassung des reorganisierten Polens von 1791 wurde die römisch¬
katholische Religion ausdrücklich als Staatsreligion erklärt, es wurde für andere
religiöse Kulte nur die Duldung ausgesprochen, und es wurde festgesetzt, daß
der König römisch-katholisch sein müsse. War die Liebesmühe dieser Verfassungs¬
bestimmungen vergeblich, weil Staat und Königtum Polen alsbald vollends in
die Brüche gingen, so blieb dem Vatikan doch immerhin ein Stück Papier, das
ihm Rechte zusicherte, für die es keine Verjährung gibt. In der Tat hat der
Vatikan, wiewohl er in polnischen Dingen nun mit drei weltlichen Größen zu
tun bekam, bis zum heutigen Tage nicht aufgehört, von Polen zu sprechen, als
sei es die alte, einheitliche politische Wesenheit, die Polen von den Preußen,
Österreichern und Russen zu unterscheiden, obwohl das unter den: Gesichtspunkte
der diplomatischen Formen, auf die der Vatikan sonst so großes Gewicht legt,
nicht einwandfrei ist. Der Vatikan hat des weiteren bis zum heutigen Tag,
trotzdem oder vielmehr weil von jenen drei weltlichen Größen die eine der
Exponent protestantischer und die andere der Exponent orientalisch-orthodoxer
Religionsauffassung war und ist, das Seine getan, um polnische und römisch¬
katholische Interessen, wo es irgend anging, zu identifizieren. Der Erfolg dieses
vatikanischen Verhaltens springt noch heute in die Augen: einerseits haben die
Polen weder Lockungen noch Zwangsversuchen von orthodoxer oder protcstau-
tischer Seite nachgegeben und sind der römisch-katholischen Kirche treu geblieben;
anderseits haben die Polen den Katholizismus so mit ihrem Denken und Trachten
verschmolzen, daß sie die polnische Sprache als liturgische betrachten und sich
ihrer in der Kirche nahezu ausschließlich bedienen, daß sie das polnische National¬
lied ipso facto als Kirchenlied betrachten und es ohne weiteres beim Gottes¬
dienst in den Kirchen singen, daß sie es für selbstverständlich halten, daß die
Feinde des polnischen Nationalismus auch die Feinde der katholischen Kirche
sind und somit von den Heiligen mit besonderem Eifer bekämpft werden müssen.
Der Papst hatte also nach der „weltlichen" Teilung Polens seine Hand
ebenso in der „Kirchenprovinz Polen" wie vor der Teilung. Paßte ihm, was
die Teilungsmächte taten oder ließen, so war er, soweit es seinem gegen¬
wärtigen und künftigen Interesse entsprach, für oder wenigstens nicht gegen sie;
paßte es ihn: nicht, so kompromittierte er zwar nicht in greifbarer Weise seine
Grundsätze in betreff der Gehorsams- u. s. w. Pflichten der Untertanen gegen
die Obrigkeit, aber merkwürdigerweise folgten dann allemal mehr oder minder
ausgedehnte polnische Revolten oder Intrigen. Das zu beobachten gab Rußland
die beste Gelegenheit. Die russische Negierung entzog den katholischen Kirchen
und Klöstern in Polen viel von ihrem Besitz, um es der orthodoxen Kirche zu
überweisen, und tat noch mancherlei anderes, um die katholische Kirche in Nu߬
land überhaupt und in Polen im besonderen zu ruinieren. Es wurden Bischöfe
und Geistliche ausgewiesen, die Freiheit kirchlichen Unterrichts und kirchlicher Er¬
ziehung aufgehoben, die Administration der Sakramente gestört u. tgi. — Als
Folgeerscheinung dieser Maßnahmen wurde im Februar 1846 Krakau das Zentrum
revolutionärer Bewegungen von so großer Gefährlichkeit, daß Rußland, Preußen
und Österreich es gemeinsam besetzten und es unter österreichisches Regiment
stellten. Das hat freilich die galizischen Polen nicht gehindert, die Polen in
Preußen und namentlich in Rußland immer wieder mit Haß gegen ihre Re¬
gierungen zu erfüllen und gegen diese zur Gewalttat aufzureizen. Krakau ist
der Herd polnischer Agitation geblieben, vornehmlich darum, weil die den Polen
hier gegebene Autonomie die anderswo unmögliche enge Fühlung mit Rom
und die Dienstwilligkeit für päpstliche Schachzüge unbeschränkt erlaubte. Es ist
bezeichnend, daß ein Mann wie Graf Alex Ignaz Wielopolski-Myszkowski
(1803 bis 1377), der in der Revolution von 1830 von der Größe seines
polnischen Nationalgefühls die entschiedensten Proben abgelegt hatte, von pol¬
nischer Seite die heftigsten Proteste erntete, als er 1846 in einem offenen Brief
an Metternich das Heil der Polen in der vollständigen Verschmelzung des pol¬
nischen und des russischen Elements zugunsten eines Panslavismus erklärte.
Denn nicht auf slavische Interessen an sich, sondern auf slavische Interessen,
insoweit sie römisch-katholische waren, hatten es die polnischen Revolutionäre
abgesehen. Als Papst Leo der Dreizehnte im Interesse seiner weltpolitischen
Kombinationen und des diplomatischen Glanzes seines Pontifikats Rußland das
Zugeständnis machte, daß die religiöse Sache von der polnisch-nationalen getrennt
zu werden verdiene, mußte er sich vou den Polen sagen lassen, daß eine solche
Scheidung an sich unmöglich und praktisch undurchführbar sei, daß der Gedanke
an die Scheidung aber ein Beweis dafür sei, daß der Papst die polnischen
Interessen denen Rußlands, des Stärkeren, verraten habe!!
Durch die persönliche Neigung des Zaren Nikolaus des Ersten kam am
3. August 1847 ein russisch-vatikanisches Konkordat zustande, von dem sich Rom
eine ihm günstige neue Ordnung der religiösen Verhältnisse und einen direkten
freien Verkehr mit Bischöfen und Gläubigen in Polen versprach. Tatsächlich
folgten diesem Konkordat nur neue Vergewaltigungen der Katholiken durch
ungerechte Gesetze, Reglements und Einzelmaßnahmen. Das Konkordat blieb
toter Buchstabe, und von einem freien Verkehr des Vatikans mit Geistlichen
oder Laien in Rußland war keine Rede. Auch als Nikolaus starb und Alexander,
der durch persönlichen Ausenthalt in Rom wohlwollend für die Kurie eingenommen
war, den Thron bestieg, mußte Papst Pius der Neunte erfahren, daß die russische
Regierung nach wie vor willkürlich der katholischen Kirche unzuträgliche Ma߬
nahmen traf. Der Verkehr zwischen dem Papst und den katholischen Geistlichen
und Laien in Nußland wurde seitens der russischen Regierung in jeder Weise
völlig unterbunden. 1859 beschwerte sich der Papst in einem Privatbriefe beim
Zaren, ohne indessen einen effektiven Erfolg zu haben. Daraufhin begannen
die Polen mit öffentlichen Unruhen gegen die russische Regierung und verlangten
Achtung ihrer religiösen Gefühle. Der Vatikan wollte an diesen Unruhen nicht
beteiligt sein und ließ die aufrührerischen Polen sogar den Vorwurf aussprechen, er
bekümmere sich nicht um ihre geistlichen Bedürfnisse und ihre beklagenswerte Lage.
Es ist auf diesen „ungerechten Vorwurf" zurückzuführen, daß sich der Papst
am 6. Juni 1861 — also zwei Monate nach dem Votum der italienischen
Nationalversammlung in Turin, daß Rom die Hauptstadt des geeinten König¬
reichs Italien sein solle, und sieben Monate, nachdem vom Kirchenstaate in
Italien nur noch das engere Patrimonium Petri übrig geblieben — entschloß,
einen Brief an den Erzbischof von Warschau zu senden, um diesem und durch
ihn „dem polnischen Volke" seine päpstlichen Bemühungen für die polnische
Kirche und das polnische Volk eindringlichst zu vergegenwärtigen. Dieser Brief
erregte bei der russischen Regierung Mißfallen, gleich als ob der Papst beabsichtigt
hätte, die politischen Aspirationen der Polen anzuspornen und zu begünstigen.
Die Prälaten der „Kirchenprovinz Polen" vereinigten sich indessen im November
1861 in Warschau, um gemäß den Einflößuugen des Papstes die Ansprüche
„des erregten Volkes" auf „die Freiheit seiner angestammten Religion" zu
betonen und die Behebung dieses „einen Hauptgrundes" der Volksunzufrieden¬
heit zu verlangen. Die Prälaten waren sogar so „loyal", dieses ihr Verlangen
in einer Adresse an den Zaren kundzugeben. Form und Inhalt hielten indes
den Generalstatthalter Grafen Lambert ab, sie entgegenzunehmen.
Hatte die russische Regierung Unrecht mit ihrer Vermutung, daß der päpst¬
liche Brief nach Warschau und die darauf folgende Schilderhebung der Polen
politisch gemeint war? Um diese Frage zu beantworten, wollen wir davon
absehen, daß die katholischen Interessen dem Polonismus immer nur der Deck¬
mantel, die äußere Schale seiner politischen Ziele gewesen sind, und einen Blick
werfen auf einige Tatsachen und Personen, die den damaligen politischen Ver¬
hältnissen das Gepräge gaben. Zunächst sei erinnert an den Kardinal Antonelli,
den damaligen Staatssekretär des Papstes, der es nie geliebt hat, sich wegen
geistlicher Dinge zu kompromittieren, um so entschiedener aber in weltlichen und
vornehmlich in diplomatischen Dingen gewesen ist. Zu Seiten Antonellis waren
an der Kurie mit diplomatischen Geschäften zwei Polen betraut: Monftgnor
Ledochowski, der 1861 als päpstlicher Nuntius nach München geschickt wurde
und den später Preußen als Erzbischof von Posen-Gnesen, als „Primat Polens"
näher kennen lernen sollte, und Monsignor Wladimir Czacki, ein besonderer
Günstling Antonellis, später Pariser Nuntius und Kardinal. Ferner gab es
in Rom ein Korps polnischer Adliger zum persönlichen Schutze des Papstes.
Dem Aufkommen Italiens hatte allerdings Frankreich oder genauer Napoleon
der Dritte den wirksamsten Vorschub geleistet. Aber an der Entstehung und
Konsolidierung eines geeinten großstaatlichen Italiens war niemand in Frank¬
reich etwas gelegen und konnte niemand etwas gelegen sein. An Frankreich
hatte der Papst einen natürlichen Verbündeten: noch am 26. November 1861
verlangte Frankreich in einer diplomatischen Note, daß der König von Italien
die Souveränität des Papstes im gesamten ehemaligen Kirchenstaate anerkennen
solle; Kardinal Antonelli weigerte sich, mit Italien wegen Roms zu paktieren —
„quant ^ paetiser avec Je8 8poliateul8, non8 ne le keron8 jamai8", waren
seine Worte zum französischen Botschafter in Rom de Lavallette. So hielt
Frankreich seine Soldaten zum Schutze des Papstes in Rom; trotz der damit
gegebenen Vereitelung des Bündnisses mit Italien und Österreich war Napoleon
der Dritte noch am 3. August 1870 (!) entschlossen, in der römischen Frage den
italienischen Wünschen nicht nachzugeben. In Frankreich war überdies bis 1860
Graf Walewski, der natürliche Sohn Napoleons des Ersten und einer Polin
(in Walewica, Nußland), Minister des Äußeren. Walewski war als junger Mann
für die Befreiung Polens sehr rührig gewesen und hatte namentlich in London
einflußreiche Personen für die polnische Sache zu gewinnen gewußt. Später
war er Adjutant des polnischen Generalissimus und mit manchen delikaten
Missionen von und zu der „polnischen Negierung" betraut. 1849 kam er als
bevollmächtigter Minister in Florenz und 1850 in Neapel mit den italienischen
Dingen in Fühlung und hatte 1859 als Vorsitzender des Pariser Kongresses
das Ob und Wie der „italienischen Frage" maßgebend zu beeinflussen. Cavour
schrieb damals in Briefen an Salmour aus Paris über Walewski: „Sage
Gramont, daß er sehr Recht hat in betreff Walewskis, denn es ist unmöglich,
mit einem falscheren, leichtherzigeren und ungeeigneteren Minister zu tun zu
haben, als er ist. . . auch die Preußen, die er getäuscht hat, sind wütend". —
„Ich gebe es nicht auf, die italienische Frage behandeln zu lassen ... der Kaiser
ist wohl geneigt, es zu tun ... er hat mich eingeladen, ihm direkt zu schreiben,
ohne die Vermittlung Walewskis ... diese Art des Kaisers mir gegenüber hat
Walewski zu einer maßlosen Liebenswürdigkeit gegen mich gestimmt--."
Walewski war also ein Mitarbeiter des Papstes in Paris. Er sollte für seine
kundigen Dienste gegen Italiens politische Einigung entschädigt werden durch
das päpstliche Bemühen für sein polnisches Ideal. Wenn ein päpstliches Be¬
mühen für Polen noch eines besonderen Ansporns bedurft hätte, war es durch
die Denkweise Rußlands und durch den Umstand gegeben, daß Rußland, vor¬
nehmlich um Österreich damit zu schaden und es in Schranken zu halten, das
Emporkommen eines starken geeinten italienischen Staatswesens förderte. Nu߬
land begegnete sich in dem Bestreben, das Aufkommen eines starken Italiens
zu begünstigen, um damit nachteilig auf Österreich zu wirken, mit Preußen.
Wollte der Papst durch eine polnische Erhebung der russischen Regierung
Schwierigkeiten bereiten, so sah er sich keinesfalls durch eine Rücksicht auf Preußen,
auf das zudem protestantische Preußen veranlaßt, es zu unterlassen. Daß er
sich Österreich gegenüber kompromittieren könnte, brauchte der Papst kaum zu
fürchten, denn die österreichischen Polen hatten große Bewegungsfreiheit und
waren von Wien aus schwer zu kontrollieren. Graf Cavour, in dessen Nähe
sich ab und zu polnische Gestalten bewegten, und seine Nachfolger in der
Regierung Italiens interessierten sich überdies für die Polen — wenn auch in
geringerem Grade und mit viel mehr Vorbehalt als für die Ungarn. Gegen
Österreich spielte der Papst also ohne Gefahr den loyalen Freund.
Im Februar 1861 sandte der österreichische Botschafter in Rom, Bach, einen
Bericht nach Wien über die italienisch-vatikanischen Einigungsvorschläge. Aus
dem Bericht ist zu ersehen, daß der Kardinal-Staatssekretär Antonelli dein
österreichischen Botschafter gegenüber eine Transaktion als unmöglich bezeichnete,
weil die weltliche Macht notwendig sei für die Ausübung der geistlichen. Er
hoffe auf einen Krieg, der die weltliche Macht in ihrem ganzen Um¬
fange wiederherstellen würde; und Antonelli beauftragte Bach, in Wien
anzufragen, was Österreich tun könne, um die Ernennung des Papstes zum
piemontesischen Bischof zu verhindern. Das Wiener Kabinett erweckte in der
Tat in Rom Hoffnungen auf ein gemeinsames Vorgehen der katholischen Staaten
zu dem Zwecke, die weltliche Macht des Papstes zu restaurieren. Österreich
stimmte überein mit Spanien, erhielt aber von Frankreich keinen schlüssigen
Bescheid. Als nun Spanien mit seinen Versprechungen ernst machen wollte,
hinderten die Gefahren in Ungarn und auf dem Balkan, sowie die durch
Preußens Aspirationen gegebenen mißlichen Verhältnisse in Deutschland Österreich
daran, energisch sich zu beteiligen.
1862 sah sich das Warschauer polnische Zentralkomitee durch einen Mas
Wielopolskis über die militärische Aushebung veranlaßt, die Revolutionsminen
spielen zu lassen. Wie verfrüht und unzweckmäßig das war, zeigte die Sympathie
nationalgesinnter Italiener für die polnische Bewegung. In Italien kam es zu
öffentlichen Kundgebungen für die Polen in großer Zahl, ja zu Werbungen von
Hilfstruppen für die Polen. Die italienische Negierung aber mußte eigens einen
Gesandten nach Petersburg schicken, um sich selbst von aller Schuld an jenen
Kundgebungen reinzuwaschen und die eben erst wiederangeknüpften guten diplo¬
matischen Beziehungen zu Rußland zu salvieren. Das gelang ihr nicht ganz,
und Nußland quittierte die italienische Zweideutigkeit durch eine Annäherung an
Rom. Es trat den französischen Begünstigungen für die Sache des Papstes bei
und ließ offiziös aussprechen, daß Italien sich eine andere Hauptstadt als Rom
suchen müßte. Ferner gab es dem Papste anheim, einen Nuntius in Petersburg
zu bestellen.
An diesem unverhofften Erfolge sollte der Papst indessen nur mäßige Freude
haben, denn die russische Regierung traute ihm nicht und gestattete keinerlei
freien Mitteilungsverkehr zwischen der katholischen Geistlichkeit und dem Nuntius.
Ein direkter Verkehr mit den: Hi. Stuhl blieb natürlich erst recht nach wie vor
ausgeschlossen, „um nicht mit jener freien Korrespondenz die hohen politischen
Interessen zu kompromittieren". Zudem richtete die russische Regierung eine
Kommission für Kulte und öffentlichen Unterricht in Polen ein, die im Wider¬
spruch stand mit der Verfassung der römischen Kirche und den bisher gültigen
Vereinbarungen.
So sehen wir 1863 Polen in erneutem und verstärktem Aufruhr. Die Ereignisse
nahmen bald eine verhängnisvolle Wendung. Rußland ging mit größter Strenge
vor, desgleichen Preußen, das in der Provinz Posen den Kriegszustand erklärte.
Beide Regierungen lehnten einen Jnterventionsversuch Österreichs, Frankreichs
und Englands, die sogar eine internationale Konferenz für Polen vorschlugen,
rundweg ab. Während diese Mächte sich mit der Ablehnung abfärben und
Österreich sich sogar bereit fand, auf russisches Ersuchen hin die polnischen
Patrioten in Galizien aufs Korn zu nehmen, hielt es der Papst für zeitgemäß,
einen Brief an den Zaren zu richten. „Erschüttert von dem Unheil, welches
das polnische Volk heimsucht, und von dem religiösen Ruin, welcher ihm droht"
und aus Liebe zum polnischen Volke glaubte der Papst den Zaren daran
erinnern zu dürfen, daß die Hauptursache der häufigen Agitationen in Polen
die religiöse Unterdrückung wäre, unter der seit Jahrzehnten „jene ruhmreiche
und edle Nation" seufze, deren Geschick eng verbunden mit dem Katholizismus.
Hieran schloß der Papst die Bitte, daß zur „Beruhigung der tief erregten Seelen"
der Kirche ihre Autorität und den Gläubigen die Freiheit, ihre ererbte Religion
zu bekennen, wiedergegeben würde.
Die Antwort der russischen Negierung bestand darin, daß der Erzbischof
von Warschau von seinem Bistum entfernt und nach Jeroslaw verbannt wurde,
wo er mit feinen Diözesanmitgliedern auf keinem anderen Wege als durch Ver¬
mittlung der Regierungskanzlei Verbindung erhielt; daß zahlreiche katholische
Geistliche verbannt oder ins Gefängnis geworfen oder getötet wurden wegen
Handlungen, die der russischen Regierung verdächtig bzw. verräterisch erschienen;
daß Klöster durch Soldaten entweiht wurden; daß der Gottesdienst und die
Administration der Sakramente in vielen Parochien gehemmt wurden; daß das
Vermögen der Bischöfe und Domkapitel zu besonderen Steuern herangezogen
wurde. Der Senat in Petersburg sprach, nach Ablehnung ihm unterbreiteter
Reformen, zum Überfluß den Wunsch aus, daß in den polnischen Landesteilen
einfach russische Gesetze und Einrichtungen eingeführt würden. Der Papst hatte
also keinen Anlaß, zufrieden zu sein, und in Polen dauerte der Aufruhr fort
bis in das Jahr 1864 hinein.
Am 24. April 1864 glaubte der Papst, wieder einmal seine Stimme für
die Polen erheben zu sollen, und zwar gelegentlich einer kurialem Feierlichkeit.
Als freilich im Vertrauen auf die Ansprache hin flüchtige Polen nach Rom
kamen, um sich der päpstlichen Fürsorge unmittelbar zu erfreuen, gab der Papst
ihnen deutlich zu verstehen, daß sie sich in der Annahme eines polnischen
Charakters der römischen Kirche getäuscht hätten. Eine päpstliche Enzyklika vom
30. Juli 1864 an die katholischen Bischöfe „Rußlands und Polens" löste auf
feiten der russischen Regierung nur einen Ukas aus, der den größten Teil (110)
der polnischen Klöster als „Herde des Aufruhrs und der sakrilegen Anstiftung zu
verbrecherischen Blutvergießen" unterdrückte, ihre Güter konfiszierte und die übrigen
Klöster der Staatsaufsicht unterstellte. Daraus entwickelte sich eine Folge von
päpstlichen Protestnoten und weiteren russischen Gewaltmaßnahmen gegen polnisch¬
katholische Interessen, die sich bis über das Jahr 1865 erstreckten, ohne eine
starke Volksreaktion auszulösen. Als am 27. Dezember 1865 Papst Pius der
Neunte in einer Unterredung mit dem russischen Geschäftsträger Baron
v. Meyendorff abermals Beschwerden äußerte, konnte dieser sich nicht enthalten,
dem Papste zu sagen: „I^'ö8t-Le pas vous, 4>of Lame pere, qui fomentex
la clisLoräe et n'apporte^-vous M8 me? non8 I'e8put as revolte, as
revolution et ac ac-zoräre?" Der Papst verlor die Geduld und wies ihm
die Tür: „Lorte^, Monsieur, sorte? sur-Je-eligmp, mais 8g,enex eme es
n's8t Pas Is representant as I'empereur, eme je eonZöäie, c'est M. as
Ms^enäcirK." Die russische Regierung hatte kein Wort der Mißbilligung für
Meyendorff, nahm im Gegenteil trotz aller „Aufklärungen" des Kardinal-Staats¬
sekretärs Antonelli seine Partei, berief ihn alsbald von Rom ab und kassierte
damit die diplomatischen Beziehungen mit dem Vatikan.
Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit dem Papste hinderte die
russische Negierung nicht, den Polen aus politischen oder aus orthodox-fanatischen
Gründen in ihren katholischen Interessen zu schaden. Die Handlungsfreiheit
des Papstes war indes durch den Mangel der diplomatischen Beziehungen und
das dadurch erweckte allgemeine Mißtrauen empfindlich eingeschränkt. Daß der
Papst unter den neuen Umständen erst recht keinen Anlaß sah, den Polen
Loyalität gegen ihre Regierungen zu empfehlen, liegt auf der Hand. Mit
tiefem Kummer sah er, wie unablässig polnische Besonderheiten durch russische
und deutsche absorbiert wurden, wie anderseits Preußen sich gegen Österreich
immer gewaltiger zur Geltung brachte, wie das Königreich Italien die Unter¬
stützung Preußens erhielt und demzufolge auch von den katholischen Dynastien
Bayern und Sachsen anerkannt wurde, wie endlich die Lösung der „römischen
Frage" von italienischer Seite sowohl gegenüber Frankreich wie gegenüber
Österreich im Nahmen einer Bündnisfrage konkret und mit teilweisen Erfolg
auf die diplomatische Tagesordnung gesetzt wurde. So überließ er denn die
Polen zunächst sich selbst, wie er für sein eigen Teil nachgerade passiv das
Schicksal erwartete, das am 20. September 1870 durch die Bresche der Porta
Pia in Rom einzog.
er die Theorien der heute maßgebenden Kritiker kennt, der weiß,
daß augenblicklich religiöseMalerei keineswegs in hohemAnsehen steht.
Es liegt dies weniger an dem Umstand, daß unsere Zeit weniger
religiös wäre, weniger auch an dem relativ geringen Wert der
auf diesem Gebiete geschaffenen Durchschnittsleistungen, vielmehr
ist die letztere Tatsache schon wieder eine Folge der Hauptursache: der stilistischen
Entwicklung, welche die deutsche Malerei seit etwa den letzten fünfzig Jahren
genommen hat. Noch während der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
waren die religiösen Werke der bedeutendsten Nazarener, wie sehr man auch
heute sie absprechend zu beurteilen geneigt ist, für die allermeisten eine Offen¬
barung. In den folgenden Epochen jedoch der Düsseldorfer Romantik, Pilotys
Kostümmalerei, Makarts rauschenden Festen und endlich des Realismus und
Impressionismus war für die Probleme der religiösen Malerei kein Raum.
Ein notwendiges Zeichen, wenn nicht überhaupt aller großen, doch mindestens
aller klassisch gewordenen Kunst ist Einheit des künstlerischen Problems. Wo daher,
wie in den erwähnten Epochen, Theatralik herrscht oder sprühende, doch in der
Mache frivole Dekoration, wo der Künstler lediglich mit Problemen ringt, die
von der äußeren Erscheinungswelt gestellt werden, oder im Genießen der
Phänomene dieser Erscheinungswelt aufgeht, muß das, was wir religiöse
Empfindung nennen, verdrängt werden. Und eben darum konnten auch die
Schüler und Enkelschüler der Nazarener, wollten sie in ihrer eigentlichen Do¬
mäne, der religiösen Malerei, bleiben, im allgemeinen nichts von den technischen
und stilistischen Errungenschaften der fortschreitenden Generationen brauchen; ja
durch die seit den deutschen Klassizisten bestehende Entfremdung zwischen Kunst
und Leben, die es noch heute manchem Älteren schwer macht, ein realistisch
durchgeführtes religiöses Bild zu würdigen, waren sie geradezu genötigt, jene
Errungenschaften zu meiden. Nun beobachtet aber der Historiker — und dies
ganz allgemein auf allen Gebieten der Kunst —, daß die bedeutendsten Künstler
wohl auf zeitlich entfernte Vorgänger zurückgreifen, aber, was die künstlerischen
Probleme betrifft, stets modern sind (das Wort nicht nur im Sinne momentaner
Sensation genommen, sondern vor allem in dem, daß sie alles, was die am
meisten vorgeschrittenen Geister beschäftigt, lebhaft ergreifen und zu gestalten
suchen). Da jedoch die während der zweiten Hälfte des vergangenen Jahr¬
hunderts auftauchenden Probleme die religiöse Malerei ausschlossen, so gingen
die bedeutendsten Künstler an dieser vorüber, sie den Zurückbleibenden, den der
nazarenischen Kunstübung Folgenden überlassend. Unter den Händen dieser an
sich meist schon unbedeutenden Persönlichkeiten, dieser in der Entwicklung Rück¬
ständigen, wenig Entwicklungsfähigen mußte jene KunMbung, zumal bei einer
vou Haus aus unzulänglichen Schulung, natürlich immer charakterloser, immer
schwächlicher werden, so daß es endlich schien, als doziere man mit Recht, religiöse
Malerei sei unmodern und unmöglich. Dazu kamen noch die, beiläufig gesagt,
auch von den Fanatikern nicht immer befolgten Theorien der Modernsten, die
da lehrten, nicht auf den dargestellten Gegenstand komme es an, sondern auf
die Art der Darstellung, oder wie man es kurz formuliert hat, uicht auf das Was,
sondern auf das Wie. Da jedoch religiöse Malerei nach der allgemeinen
Annahme Vorgänge oder Geschichten darstellt, ohne die sie eben keine religiöse
Malerei sein könnte, so mußte sie wie jede andere „literarische" Malerei erst
recht als ästhetisch verwerflich, als gattungunmöglich erklärt werden.
So lagen die Dinge noch vor ungefähr zehn Jahren, und breiteren Schichten
des Publikums werden solche Sprüche gerade jetzt als unfehlbare Weisheiten
verkündet. Aber in der immer stärker sich äußernden Sehnsucht nach Religiosität,
in der mit merkwürdiger Gewalt um sich greifenden Schätzung van Goghs, der
zwar nicht „literarisch", aber doch auch alles andere als ein reiner „Artist" ist,
und nicht zum wenigsten in dem nur scheinbar geringfügigen Umstände, daß der
deutsche Vorkämpfer der reinen Formalisten, der selbst Böcklin aufs heftigste
befehdet hat, Julius Meyer-Graefe, unversehens gegen Velasquez, den Schutz¬
herrn der Vertreter des I'art pour l'art, zu Felde zog, um an seiner Statt
einen das Gegenständliche so stark betouenden, noch dazu religiösen Maler wie
Greco auf den Schild zu heben, können wir u. a. gewisse Anzeichen eines nahen
Umschwungs erblicken. Gar manchem kommt heute auch wieder zum Bewußt¬
sein, was eine Zeitlang vergessen schien, daß nämlich sowohl Giotto wie Roger
van der Wenden, sowohl Dürer wie Rentbrandt religiöse Maler gewesen sind,
welche Erzählungen der Bibel oder Legenden keineswegs nur dazu benutzt haben,
um realistische Kenntnisse oder die Schönheit der Objekte vorzuführen, oder um
Farbenräusche und Linienklänge zu geben, sondern um die eigentümliche Art des
Geschehens, wie sie vor ihrem geistigen Auge stand, zum Ausdruck zu bringen.
So gar verächtlich kann also religiöse Malerei nicht sein, auch wenn die Gründe,
mit denen man sie zu bekämpfen sucht, stärker wären. Voraussetzungslos ist
nämlich streng genommen überhaupt keine Kunst, vielmehr verlangt jede ein
gewisses Niveau menschlicher Erfahrung, und überdies hat es religiöse Kunst
gar nicht ohne weiteres mit Darstellung von rein Objektiven: Vorgängen oder
Personen zu tun, sondern mit Empfindungen, die an jene geknüpft sind und
durch die Anschauung angeregt und bestimmt werden. Wo aber steht geschrieben,
daß Empfindung nicht durch Malerei ausdrückbar wäre? Und wer will es
übernehmen, den Beweis zu erbringen, daß die Darstellung solcher Empfindungen
nicht Gegenstand der bildenden Kunst sein könne, wenn solche Kunstwerke für
Tausende und wieder Tausende zu tiefen Erlebnissen werden? Auch an diesem
Punkte wird die Ästhetik wie stets nachkommen und ein sich äußerndes Bedürfnis
theoretisch zu begründen suchen, wobei es gleichgültig ist, ob diese Begründung
auf philosophischem, psychologischem oder was sonst für einem Wege erreicht wird.
Der Ausdruck religiöser Empfindung nun gelingt heute keinen: Maler so
überzeugend wie Wilhelm Steinhausen. Man hat ihm Abbe oder Gebhardt an
die Seite stellen wollen, aber mit Unrecht. Denn beide vermögen nicht so rein
und unmittelbar durch die Mittel des bildenden Künstlers das, was man
religiöse Stimmung nennen könnte, wiederzugeben. Gebhardt erreicht mit seinen
aufgeregten Ensembles scharf charakterisierter, aber meist im Augenblick erstarrter
Einzelempfindungen selten mehr als Bühnenbilder, die freilich mit wohlgeschulter,
an die Meininger und an Lutherfestspiele lebhaft erinnernder Regiekunst äußerst
effektvoll gestellt sind; und Abbe, dessen Verdienste um die Entwicklung der
malerischen Technik in Deutschland nicht geleugnet werden sollen, kommt, von
der falschen theoretischen Überlegung ausgehend, daß Menschen des neunzehnten
Jahrhunderts zu den heiligen Geschichten dasselbe Verhältnis haben wie solche
des fünfzehnten, selten über eine novellistische Wirkung hinaus. Man wird
noch Thoma anführen wollen, aber dessen Hauptbedeutung liegt auf einem
anderen Gebiete. Für Steinhausen dagegen ist religiöse Stimmung Anfang
und Ende der künstlerischen Absicht; dies ist der Gesichtspunkt, aus dem er
betrachtet und — wenn man durchaus will — beurteilt werden muß.
Eines seiner ergreifendsten und zugleich für des Künstlers Art bezeichnendsten
Bilder ist jenes, das den Spruch des Deuterojesaias zum Vorwurf hat: „Den
glimmenden Docht wird er nicht auslöschen." Wörtlich illustriert ergeben diese
Worte einen Mann, der sich bedenkt, eine Lampe auszulöschen; aber niemand,
der nicht den Spruch in: Ausstellungskatalog oder unter dem Bilde liest, würde
die Darstellung verstehen, immer vorausgesetzt natürlich, daß das angestrebt ist,
was wir religiöse Kunst nennen. Ein Historienmaler könnte noch an das dem
Spruch zugrunde liegende Geschichtliche anknüpfen, etwa einen jüdischen Priester
oder Propheten zeigen, der den im Exil trauernden Volksgenossen unter dem
Bilde des glimmenden Dochtes Mut und Vertrauen einspricht. Was tut aber
Steinhaufen? Er erfindet eine Situation, auf die der Spruch Anwendung
findet. Doch vermeidet er es, eine Illustration zu geben, und erschafft statt
dessen einen Vorgang ähnlich dem, der dem alten Propheten vorgeschwebt haben
mag. In einem Zimmer, das, um die Aufmerksamkeit nicht abzulenken, so
einfach wie nur möglich gehalten ist, ist ein Mann am Kopfende seines Bettes
in die Knie gesunken. Seine Haltung verrät verzweifelte Gebrochenheit; der
Kopf liegt dumpf und schwer auf den krampfhaft gefalteten Händen. Er mag
vom Hausflur heraufgekommen sein mit der Nachtlampe, die seitab auf einem
kleinen Tisch steht. Alles schläft gewiß schon, und die nachtverhüllte Berg¬
landschaft, die wir durch das offene Fenster gewahren, erhöht noch den
Eindruck der Einsamkeit. Da ist auf einmal Christus eingetreten, unhörbar,
mit gerafften Mantel, hat sich sacht dem Zusammengebrochenen genähert,
und nun, verstehend und mitleidig, beugt er sich herab, um ihn: mit einer
ganz linden, unendlich trostreichen Handbewegung die Schulter zu berühren.
Es ist fast nur ein Antippen, so wie ein Kind kommt, wenn es sieht, daß die
Mutter weint, ganz zart und sanft. In dieser Handbewegung, die formal die
Verbindung zwischen den beiden Figuren herstellt, liegt aller Sinn des Bildes:
die trostreiche Empfindung, daß im höchsten Leid der Tröster nah und gegen¬
wärtig ist. Und nur Eigensinn wird leugnen wollen, daß hier eine Empfindung
durch Mittel der bildenden Kunst schlagender, einfacher und damit überzeugender
zuni Ausdruck gebracht ist, als es durch alle Worte geschehen könnte. Das
eigentlich Literarische, den Spruch, deutet nur diskret die Lampe an, der Vor¬
gang ist ohne weiteres verständlich und erlebbar.
Religiös sind solche Bilder wegen der durch sie vermittelten Stimmung,
dennoch sind sie nicht eigentlich Kirchenbilder. Für große, verhältnismäßig
spärlich beleuchtete Räume würden sie sich sowohl wegen der düsteren und
trüben Färbung als auch ihrer leisen, nur eingehender und naher Betrachtung
vernehmlichen Sprache wegen nicht eignen. Daß aber der Künstler auch breiter,
ins Große gehender Wirkungen fähig ist, zeigen seine Wandbilderzyklen in der
Grabkirche zu Se. Veit bei Wien und in der Kaiser Friedrich-Aula in Frank¬
furt am Main. In einer durch ruhige Größe sehr eindrucksvoller Liniensprache
sind hier einfache typische Handlungen gewählt, um die sieben Werke der Barm¬
herzigkeit und biblische Sprüche zur Anschauung zu bringen. Bezeichnend für
Steinhausen ist hier wieder die ernste Art, mit der Sprüche wie „Niemand
kann zween Herren dienen", „Sorget nicht" und andere ausgedrückt sind. Nicht
die dekorative Wirkung ist für den Künstler die Hauptsache gewesen, sondern
die geistige Bedeutung der den Spruch zur Anschauung bringenden Handlung,
und in den Dienst dieser Aufgabe sind Linien und Flächen gestellt; mahrer,
schlichter Ernst, gläubiges Vertrauen, aber auch gedankenvolles Grübeln liegt
in ihrer Sprache. Von Steinhausen dem Grübler reden auch manche anderen
Werke, wie die beiden großen Wandbilder der Stuttgarter Hospitalkirche oder
das Bild „Christus und die Griechen".
Diesen grüblerischen Zug seines Wesens verraten abgeschwächt auch seine
Landschaften. Ohne sich an das Wesen von einzelnem zu verlieren, schweift
der Künstler sinnierend seines Weges dahin, sich allein dem Zusammenklang
des eigenen Herzens und der leisen Natur hingebend. Besonders liebt er ver¬
borgene, von einem Sonnenstrahl getroffene Waldwiesen und Lichtungen, ein
Stück Kornfeld oder feuchte Buschwinkel am Bach und die verborgen geheimnis¬
volle Stimmung dämmer- und nebelverhüllter Landschaften. Da ist alles un¬
endlich still und ruhig, und alles ruft sehnsüchtige Erinnerung wach nach den
schönen Dingen, die des Künstlers Pinsel uns zeigt. Freilich fehlt ihm bei
aller Klarheit der räumlichen Anschauung die große, sicher formende und über¬
legen gestaltende Meisterschaft der besten Landschaften Hans Thomas, auch
vielleicht die reiche Erfindung Moritz von Schwinds, aber dafür ist der Zauber
des stimmungsvollen bei Steinhausen der größeren Mehrheit zugänglicher.
Und gerade bei einem aller Gefühlsverschwommenheit so stark abgeneigten
Künstler macht es Freude, einmal wieder auf die Schönheit des sonst zu
manchem Unfug verwendeten Stimmungsmomentes hinweisen zu können.
Das Supplement zu diesen rein malerisch gesehenen Dingen geben die
Zeichnungen. Lange bevor unsere neueren Vuchillustratoreu die Brauch¬
barkeit der Federzeichnung entdeckten, hat Steinhausen in der Geschichte
der Geburt Christi die Zeichnungsweise Ludwig Richters weitergebildet.
Reine Federzeichnungen sind im Grunde auch die Illustrationen zu
Clemens Brentanos „Chronika eines fahrenden Schülers". Diese zeigen
auch schon seine Neigung zum Spielen und zu heiterer Improvisation, wie sie
uns später noch in zierlichen Randleisten und allerliebsten Tanzkarten (eine
Reihe davon im Berliner Kupferstichkabinett) entgegentritt. Sehr verbreitet sind
seine Bibellesezeichen, aber das Schönste, was dem Zeichner gelungen ist, sind
doch die siebenunddreißig Madonnenstudien in ihrer großen Schlichtheit und
Einfachheit, ihrer stillen Innigkeit und ihrer leisen, eigentümlich an die Madonnen
der Robbia erinnernden Melancholie.
Die Zeichnungen führen uns dann zur Graphik, der Steinhausen vor allem
seine Popularität verdankt, oder sagt man eher: verdanken sollte? Denn obwohl
die Vorkämpfer guter religiöser und volksmäßiger Kunst Jahr um Jahr für
diese Blätter eintreten, gibt es noch immer eine Menge Pfarrhäuser, Konfirmanden¬
säle und Kindergärten, in denen Steinhausens Lithographien fehlen. Wie schön
wäre es, wenn alle Kinder statt der oft so geschmacklosen, minderwertigen An¬
denken an die Einsegnung jenes schöne Gedenkblatt mitbekamen, das der Künstler
ursprünglich zur Konfirmation der eigenen Tochter gezeichnet hat. Bewunderns-
wert ist hier die Art, wie auf die Bedürfnisse derer, für die das Blatt bestimmt
war, eingegangen ist. Die großen Momente vermögen wir uns nur selten zu
vergegenwärtigen, ihre Darstellungen sind auch mehr zu einmaligem tiefen Er¬
leben als zu öfterer Mahnung und wiederholten: Betrachten geschaffen. Mit
gutem Bedacht ist darum hier die Auferstehung nicht als ein rauschender Triumph
wiedergegeben, vielmehr steht der Auferstandene in stiller Größe auf dem Grabe.
Kein lauter Jubel geht durch das Blatt, aber ein stillfreudiges Ja-sagen; und
selbst der Teufel am Boden hat nichts Knirschendes, nur etwas aus Gebrochen¬
heit dumpf Grollendes. So kann dies Blatt wirklich als Wandschmuck dienen,
ohne die schlichte Freundlichkeit eines Mädchenzimmers zu unterbrechen. Gerade
dieser trotz aller eindringlichen Bestimmtheit leisen und schlichten Sprache wegen
sollten Steinhausens Lithographien als Wandschmuck verbreiteter sein. Gewiß sind
auch technisch unschöne, eigentümlich verschwommene Blätter darunter, wie der
Christus im Weinberg, dessen liebevoll und sachte prüfende Handbewegung
immerhin so eigentümlich suggestiv wirkt; aber auch so schlichte überzeugende
Darstellungen finden sich, wie Christus und der Blindgeborene, wo der Zu¬
sammenklang der glatten Seeflächen mit der sanften Gebärde des Heilands eine
so beruhigende Wirkung ausübt, oder das Blatt Christus und der reiche Jüng¬
ling, der hier weder ein vornehmer, kostümtreu hingestellter Römer oder Grieche,
noch ein moderner Gutsbesitzer- oder Fabrikantensohn ist, wie ihn Abbe kon-
seauenterweise hätte darstellen müssen, sondern der richtige schöngelockte Märchen¬
jüngling in kostbarem Brokat und Pelzwerk. Und besonders hingewiesen sei
noch auf das monumentale, leider in vielen unzulänglichen Reproduktionen ver¬
breitete Blatt „Christi Seepredigt", oder auf jene ernste Mahnung an Erwachsene
„Der Größte im Himmelreich", mit den groß charakterisierten Vertretern der
Lebensalter, dem milden Christus und dem Kindlein, das ohne zu ahnen, welch
ernste Wahrheit es den Erwachsenen zur Anschauung bringt, getrost und harmlos
zum Bilde hinaussieht.
Zum Schluß noch einige Worte, um Steinhausens Realismus zu ver¬
teidigen. Nicht als ob er an sich der Verteidigung bedürfte, sind doch Dürer
und Rembrandt ebenfalls Realisten gewesen, aber gerade in den Kreisen, in
denen Steinhausens Kunst am ehesten Aufnahme finden sollte, besteht gegen
realistische Bilder noch immer ein starkes Vorurteil, das allerdings zum Teil
durch wirklich abstoßende Übertreibungen ungereifter oder der bloßen Sensation
nachgebender Künstler hervorgerufen sein mag. Aber es ist ein großer Unter¬
schied, ob man das Häßliche aufsucht oder es als etwas Selbstverständliches
behandelt. Das letztere tut Steinhausen. Er liebt die Welt, wie sie ist, er
lehnt es in echt christlicher Demut ab, irgend etwas schöner machen zu wollen,
als Gott es geschaffen hat; und er hat selber das bedeutungsvolle Wort
gesprochen: „Wer nicht das Sichtbare heiß und innig liebt, kann es nicht zum
Träger der Geistigen machen". Und dient nicht das Vorhandensein des Hä߬
lichen erst recht dazu, die große, allumfassende Liebe dessen, der die Mühseligen
und Beladenen zu sich berief, der mit Zöllnern und Sündern an einem Tische
saß, zum siegreichen Ausdruck zu bringen? Auch liegt es nicht im Wesen des
Deutschen, zu dem siegbringenden Gott zu beten, der Deutsche braucht Christus,
den leiderfahrenen, aber eben deshalb alles verstehenden starken Freund. Und
darum sei uns Steinhausens Kunst als echter und wahrer Ausdruck christlicher Em¬
pfindung gepriesen.
er geneigt ist, dem Sprichwort: „Was lange währt, wird gut"
einige Berechtigung zuzubilligen, der darf auf das zukünftige
deutsche Staatsangehörigkeitsgesetz die besten Hoffnungen setzen.
Das bestehende Jndigenatsgesetz, das den etwas langatmigen Titel
„Gesetz über den Erwerb und den Verlust der Reichs- und Staats¬
angehörigkeit" führt, stammt aus dem Jahre 1870. Es wurde bereits zur Zeit
des Norddeutschen Bundes geschaffen und ist dann neben vielen anderen Gesetzen
nach der Gründung des Reiches zu einem Reichsgesetz gemacht worden.
Wenn auch das Urteil, dieses Gesetz gehöre zu den „hilfsbedürftigsten"
Gesetzen, mit welchen das Deutsche Reich belastet worden sei, etwas zu scharf
ist, so darf doch gesagt werden, daß trotz des mehr als vierzigjährigen Bestehens
des Gesetzes weder die Theoretiker des Staatsrechts, noch die Verwaltungs¬
beamten, noch die nationalen Politiker eine reine Freude an ihm gehabt haben.
Die Theorie hat bereits in den siebziger Jahren gewisse Bedenken gegen das
Gesetz geltend gemacht und hat sie in der Folge durch eine Anzahl vortrefflicher
Arbeiten in allen ihren Einzelheiten erörtert. Ihr folgte die Praxis, die sich
auf Schritt und Tritt vor schwierige Entscheidungen über Jndigenatsverhältnisse
gestellt sah. An: meisten und lebhaftesten wurde das Gesetz jedoch von Politikern
und Patrioten angegriffen, die in wichtigen grundsätzlichen Bestimmungen eine
direkte nationale Gefahr sahen. Seit dem Jahre 1894, d. h. seit dem Jahre,
in dem der Altdeutsche Verband zum ersten Male die entschiedene Forderung
nach einer Umgestaltung des Gesetzes erhob, ist eine Jnterpellation nach der
anderen an den Reichskanzler gerichtet, ein Antrag nach dem anderen im Reichstage
eingebracht worden, um die im nationalen Interesse notwendige Reform herbei¬
zuführen. Obgleich sich der Reichstag in der Zeit von 1894 bis 1900 fast in
jeder Session mit dem Staatsangehörigkeitsrecht beschäftigte, hatte die Regierung
sich nach außen völlig passiv und abwartend verhalten. Daß aber die alljährlich
wiederkehrenden Debatten über diesen Gegenstand doch nicht spurlos an ihr
vorübergegangen waren, ergaben die Worte des damaligen Staatssekretärs des
Innern, mit denen er an: 21. Januar 1901 eine erneute Anfrage des Abg.
Dr. Hasse, eines Hauptrufers im Streite, beantwortete. Dr. Graf Posadowsky-
Wehner konnte die allerseits sehr beifällig aufgenommene Mitteilung machen,
daß ein Gesetzentwurf über ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz fast fertiggestellt
sei. Seit diesem Tage sind wiederum zehn Jahre ins Land gegangen, ohne
daß eilr Entwurf vorgelegt wurde. Zwar ist ini Reichstag alle zwei Jahre die
Einbringung des bereits am 21. Januar 1901 fast fertiggestellten Gesetzentwurfs
gefordert worden, aber die große Schwierigkeit der Materie hat immer wieder
die Erfüllung dieser Forderung verhindert. Wenn man den fast in der gesamten
Presse verbreiteten neuesten Mitteilungen Glauben schenke,: darf, wird die
Regelung der Staatsangehörigkeitsgesetzgebung eine der ersten Aufgaben des
neuen Reichstages sein. Es ist zu wünschen, daß die gehegten Hoffnungen nicht
abermals enttäuscht werden und daß die Frage der Staatsangehörigkeit in einer
Weise erledigt wird, die des Deutschen Reiches würdig ist.
Bevor die wichtigsten Anforderungen, die an das neue Gesetz zu stellen
sind, erörtert werden, sei in wenigen Sätzen das geltende Recht dargestellt.
Das Deutsche Reich ist ein aus Staaten zusammengesetzter Staat. Dem¬
entsprechend hat jeder Deutsche grundsätzlich mindestens zwei Staatsangehörig¬
keiten: er ist vorab Angehöriger irgend eines Einzelstaats (Preuße, Braun¬
schweiger, Hamburger usw.) und ist ferner als solcher Angehöriger des Reiches.
Nach dem geltenden Rechte wird die Reichsangehörigkeit durch den Erwerb der
Staatsangehörigkeit in einem deutschen Einzelstaate erworben und erlischt mit
deren Verlust. Der Erwerbsgründe kennt unser Recht fünf: a) die Abstammung
(eheliche Kinder erwerben die Staatsangehörigkeit des Vaters, uneheliche Kinder
erwerben die Staatsangehörigkeit der Mutter), b) die Legitimation eines unehe¬
lichen Kindes, e) die Verheiratung (eine Ausländerin erwirbt die Staats¬
angehörigkeit ihres deutschen Mannes und damit natürlich auch die Reichs¬
angehörigkeit; eine Württembergerin erwirbt die Staatsangehörigkeit des Sachsen,
den sie eheliche), et) die Aufnahme (eines Deutschen in einen anderen Einzel¬
staat; z. B. ein Hesse läßt sich, weil er dauernd in Bayern wohnen wird, in
Bayern „aufnehmen"), e) die Naturalisation (eines Ausländers, d. h. die Auf¬
nahme eines nichtdeutschen in die deutsche Staats- und Reichsangehörigkeit).
Durch den Wohnsitz in irgendeinem Einzelstaate allein kann die Staatsangehörigkeit
dagegen nicht erworben werden. Ein Mecklenburger, der nach Lübeck über¬
siedelt, bleibt Mecklenburger, auch wenn er Jahrzehnte in Lübeck wohnt, es sei
denn, daß er sich ausdrücklich aufnehmen läßt. — Den fünf Erwerbsgründen
stehen fünf Verlustgründe gegenüber. Die Staatsangehörigkeit wird verloren:
a) durch Entlassung auf Antrag, b) durch Ausspruch der Behörde (wenn ein
Deutscher im Auslande bei Krieg oder Kriegsgefahr einem Zurückberufungs¬
befehl des Kaisers keine Folge leistet oder wenn ein Deutscher ohne Erlaubnis
seiner Negierung in fremde Staatsdienste tritt), c) durch zehnjährigen ununter¬
brochenen Aufenthalt im Auslande, ohne in die Matrikel eines Konsuls ein¬
getragen zu sein, c!) dnrch Legitimation eines unehelichen Kindes (sofern der
legitimierende Vater eine andere Staatsangehörigkeit als das Kind besitzt), und
endlich e) durch Verheiratung (wenn die Verlobte eine andere Staatsangehörigkeit
als der Verlobte besitzt). — Das ist der wichtigste Inhalt des heutigen Staats¬
angehörigkeitsgesetzes. Der Mängel, die es aufweist, sind viele; zwei der
schwersten Übelstände sollen in Nachstehendem erörtert werden.
Ganz überwiegend wird, so bald die Rede auf die Reform des Staats¬
angehörigkeitsrechtes kommt, an eine Beseitigung der soeben erwähnten Be¬
stimmung gedacht, daß die deutsche Staatsangehörigkeit durch zehnjährigen
Aufenthalt im Auslande verloren gehen kann. So eminent wichtig diese Frage
in nationaler Hinsicht auch ist, so wäre es doch verfehlt, sie als allein aus¬
schlaggebend behandeln zu wollen und andere reformbedürftige Bestimmungen
des Gesetzes zu übersehen.
An erster Stelle möchte ich auf eine Forderung hinweisen, die meines
Wissens zuerst von Prof. Laband (Straßburg) erhoben, jedoch in den beteiligten
Kreisen viel zu wenig erörtert worden ist. Wie bemerkt, gibt das Gesetz jedem
Deutschen die Möglichkeit, sich in einen anderen Einzelstaat „aufnehmen" zu
lassen. Ein Hesse kann die bayerische, ein Sachse die preußische Staatsangehörig¬
keit erwerben usf. Mit den: Erwerb der neuen Mitgliedschaft in einem Staate
wird jedoch keineswegs die alte Staatsangehörigkeit verloren. Es würde also
möglich sein, daß ein Deutscher die Staatsangehörigkeiten sämtlicher fünfund¬
zwanzig Einzelstaaten erwirbt. Wenn solche Fälle auch kaun: vorkommen werden,
so sind jedoch Fälle, in denen jemand drei, vier und mehr Staatsangehörig¬
keiten besitzt (oft ohne es zu wissen), keine Ausnahmen. Nach dem geltenden
Recht erwirbt z. B. ein Beamter, ohne daß es einer förmlichen Aufnahme bedarf,
in der Regel die Staatsangehörigkeit des Staates, in dem er angestellt wird.
Die Bestallungsurkunde vertritt in solchen Fällen die Aufnahmeurkunde. Zur
Jllustrierung möchte ich folgenden Fall anführen: Ein bekannter akademischer
Lehrer, der von Haus aus Preuße war, wurde über Rostock und Jena an eine
Universität Süddeutschlands berufen. Da Rostock und Jena von mehreren
Staaten unterhalten werden und der Professor jeweils die Angehörigkeit in
allen „Unterhalterstaaten" erwarb, so ist er zurzeit der glückliche Besitzer von
acht Staatsangehörigkeiten. Allein damit hat es nicht sein Bewenden. Unser
Gesetz befolgt das Prinzip der Abstammung (jus 8ariAuini8): d. h. der Vater
vererbt seine Staatsangehörigkeit auf die Kinder. Die Kinder, Enkel usf. erben
also ohne weiteres die acht Staatsangehörigkeiten ihres Vaters, Großvaters usw.
Man vergegenwärtige sich, in wie viele Einzelstaaten sie auf ihrem Lebensweg,
sei es Beamte, sei es aus irgend einem anderen Anlaß noch verschlagen werden
mögen, und man wird sich fragen, ob diese Kumulation von Staatsangehörig¬
keiten nicht ein Farce ist, die mit einem Faschingsscherz große Ähnlichkeit besitzt.
Es soll auf die unter Umständen unangenehmen Konsequenzen dieses Verhält¬
nisses nicht näher eingegangen werden. Nur eins sei berührt. Will ein
Deutscher, der mehreren Staaten angehörig ist, seine deutsche Neichsangehörig-
keit aufgeben, so muß er sich aus allen Staaten entlassen lassen, denen er
angehört. Das wird den meisten Deutschen völlig unbekannt sein. Ja, man
darf weiter gehen und sagen, die meisten Deutschen wissen gar nicht, welche und
wie viele Staatsangehörigkeiten sie besitzen. Sie werden sich als Angehörige des
Staates ansehen, in dem sie sich seit Jahren befinden, in den: sie vielleicht sogar
geboren wurden und den sie nie verlassen haben. Das kann ein großer Irrtum
sein. Der Wohnsitz ist für den Erwerb der Staatsangehörigkeit völlig unma߬
geblich, von Einfluß auf sie sind nur die familienrechtlichen Verhältnisse der
Abstammung, der Verheiratung, der Legitimation, ferner die Aufnahme und
die Naturalisation. Wer wollte bezweifeln, daß das geltende Recht an dieser
Stelle in höchstem Grade reformbedürftig ist?
Es wäre nun unzweifelhaft das Beste, wenn das zukünftige Gesetz die
Einzelstaatsangehörigkeit völlig beseitigte, so daß es keine Preußen, Bayern usf.,
sondern nur noch „Deutsche" geben würde. Allein ein solcher Schritt würde
nicht nur auf die Gegnerschaft aller partikularistisch gesinnten Kreise stoßen,
sondern er würde auch ungeheuren praktischen Schwierigkeiten begegnen. Es
sei nur daran erinnert, daß nach den deutschen Verfassungen das Wahlrecht zu
den Parlamenten (den Landtagen) allein den Angehörigen der einzelnen Staaten
zusteht. Würde dem soeben geäußerten Wunsche Folge gegeben, so wären
Änderungen der Verfassungen aller deutscher Staaten unter keinen Umständen
zu umgehen. Eine solche Attacke auf die deutschen Staatsgrundgesetze würde
jedoch für absehbare Zeit die Zustimmung der verbündeten Regierungen nicht
finden. Trotzdem ist eine Änderung des bestehenden Rechtes dringend not¬
wendig. Den gangbaren Weg hat Laband gewiesen, indem er vorschlug, daß
jeder Deutsche, welcher nach zurückgelegtem einundzwanzigsten Lebensjahr zwei
Jahre lang in einen: Einzelstaate ununterbrochen wohnt, die Staatsangehörig¬
keit dieses Einzelstaates erwirbt, während er damit gleichzeitig seiner bisherigen
Staatsangehörigkeit verlustig geht. Die Verwirklichung dieses Vorschlages würde
klare Verhältnisse schaffen und einen Zustand beseitigen, der nicht nur lächerlich
ist, sondern auch zu recht unangenehmen Folgen führen kann.
Weit bekannter als die soeben erörterte ist die andere Tatsache, daß das
Deutsche Reich im Laufe der letzten Jahrzehnte Millionen treuer deutscher
Staatsbürger verloren hat, die — zum großen Teil aus Unkenntnis des Ge¬
setzes — seine Bestimmungen nicht befolgten. Unser Gesetz sieht in seinem § 21.
vor, daß ein Deutscher, der ins Ausland geht, nach zehnjährigen ununter¬
brochenen Aufenthalt seine deutsche Staats- und Reichsangehörigkeit verliert, es
sei denn, daß er sich in eine bei dem nächsten deutschen Konsul geführte Matrikel
eintragen läßt. Wie schützen wir das Reich in Zukunft vor so unersetzlichen
Verlusten, wie es sie bisher erlitten hat? Das ist die wichtigste Frage, die es
zu beantworten gilt. Ihre schon oft versuchte Lösung erschwert sich jedoch durch
den Umstand, daß wir nicht allein auf die nationalen Bedürfnisse und Interessen
Rücksicht nehmen dürfen, sondern auch zwei wichtige Forderungen mehr inter¬
nationalen Charakters beachten müssen. Es ist daher weiter zu fragen: wie
verhindern wir in Zukunft ein weiteres Anwachsen der außerordentlich großen
Zahl der heimatlos gewordenen Deutschen, d. h. derjenigen Personen, die ihre
deutsche Staatsangehörigkeit verloren, aber eine andere nicht erworben haben,
und wie verhindern wir eine allzu starke Zunahme des großen Heeres der 8ujet8
mixte8, d. h. derjenigen Individuen, die neben ihrer deutschen eine andere —
ausländische — Staatsangehörigkeit besitzen? Ich bemerke schon hier, daß es
in. E. völlig ausgeschlossen ist, diese drei Fragen so zu beantworten, daß das
Resultat restlos befriedigt. Das ist mit Rücksicht auf die außerdeutschen Jndi-
genatsgesetze unmöglich. Wir müssen uns daher genügen lassen, eine Lösung
zu finden, die dem gewünschten Ziele, soweit angängig, nahe kommt.
Würde es sich lediglich darum handeln, dem Reiche so viele Angehörige
wie nur möglich zu erhalten, so wäre es das einfachste, den alten englischen
Grundsatz, daß die Staatsangehörigkeit unverlierbar sei, aufzunehmen. Dieser
an sich idealen Forderung können wir jedoch deshalb nicht zustimmen, da sie
notwendig zu einer ungeheuren Zunahme der 8ujet8 mixts8 sichren müßte.
Hinzu kommt, daß dem Satze once a 8ubject, aI^v-^8 a 8ubjeLt eine gewisse,
unangebrachte Härte anhaftet. Scharf durchgeführt würde er nämlich die
Möglichkeit, die jemandem ursprünglich zukommende Staatsangehörigkeit aufzu¬
geben, ausschließen. Es ist aber nicht einzusehen, warum eine Person, die den
Wunsch hat, einem Staatsverbande nicht mehr anzugehören, zwangsweise an
ihn gefesselt bleiben soll. Das englische Prinzip ist daher aus diesen und anderen
Gründen abzulehnen. M. E. müssen wir überhaupt davon absehen, die ganze
Angelegenheit durch eine Formel erledigen zu wollen. Das Leben bietet so
außerordentlich mannigfaltige praktische Fälle dar, daß wir sie nicht in einem
Satze meistern können, sondern uns anschicken müssen — allerdings unter Fest¬
haltung einer grundsätzlichen Idee — eine verschiedene Regelung für die ver¬
schiedenen Fälle zu finden. Ich bin weit davon entfernt, hier alle nur erdenklichen
Kombinationen aufzustellen; ich beschränke mich vielmehr auf einige prinzipielle
Ausführungen.
Unser heutiger § 21 beruht auf der allerdings unausgesprochenen, aber
tatsächlich unverkennbaren Annahme, daß „der Verlustwille und die Nichtunter-
brechung der (zehnjährigen) Frist die Regel, der Verbleib beim Reiche aber und
die Eintragung die Ausnahme sei" (Ratjen). Diese Annahme war schon in den
sechziger Jahren falsch, sie ist aber ganz unhaltbar geworden zu einer Zeit, die
eine Verkehrsentwicklung wie die heutige aufweist. Statt von der „Vermutung
des Verlustwillens" müssen wir in Zukunft von der gegenteiligen Annahme
ausgehen: der Deutsche, der sein Vaterland verläßt, will mit dem Überschreiten
der Landesgrenze im allgemeinen weder seine persönlichen Beziehungen zuni
Heimatland abbrechen noch das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit, das
ihn mit dem Reiche verbindet, zerschneiden. Das muß die leitende Idee sein,
die unser zukünftiges Staatsangehörigkeitsgesetz beherrscht. Aus ihr würde sich
als erster und wichtigster Satz ergeben: Die deutsche Staatsangehörigkeit bleibt
im Prinzip so lange bestehen, bis ein im Ausland lebender Deutscher mit seinem
eigenen Willen eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt. Mit dem auf eigenen
Willen beruhenden Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit geht die deutsche
Staatsangehörigkeit grundsätzlich verloren. Die Folge der Annahme dieses Satzes
würde sein: 1. daß dem Reiche Tausende seiner Bürger erhalten werden, da ja
bei weitem nicht alle Auswanderer eine fremde Staatsangehörigkeit erwerben
und Auslandsaufenthalt von irgendwelcher Dauer allein nicht hinreicht, das
deutsche Bürgerrecht zu verlieren; 2. daß die Zahl der Heimatlosen wesentlich
eingeschränkt würde, da jeder so lange Deutscher bleibt, als er nicht durch eigenes
Zutun eine fremde Zugehörigkeit erworben hat; 3. daß die Zahl der sujet8
mixte8 eingeschränkt wird, da mit dem auf beantragter Naturalisation im
fremden Staat verbundenen Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit das
deutsche Bürgerrecht verloren geht; und 4. daß eine zwangsweise Beibehaltung
der deutschen Staatsangehörigkeit vermieden wird. — Dagegen, daß derjenige,
der auf eigenes Betreiben in einen fremden Staatsverband aufgenommen wird,
seine deutsche Zugehörigkeit verliert, wird im allgemeinen nichts einzuwenden
sein. Stärker läßt sich die Absicht, die deutsche Zugehörigkeit aufgeben zu
wollen, kaum dartun als durch die beantragte und erfolgte Aufnahme in einen
fremden Staat.
Dabei ist allerdings in Rücksicht zu ziehen, daß nicht alle Personen, die
durch eigenes Zutun eine fremde Staatsangehörigkeit erwerben, damit auch die
Zugehörigkeit zum Deutschen Reiche verlieren wollen oder auch nur verlieren
möchten. Die Ursache der beantragten Naturalisation kann unter Umständen
auf rein wirtschaftlichen Gründen, z. B. auf der Notwendigkeit, in einem fremden
Staat Grundbesitz erwerben zu müssen, beruhen. Die starre Befolgung des
obigen Satzes würde aber notwendig Deutsche, die sich ans einem derartigen
Grunde im Ausland naturalisieren lassen, aus dem Kreise der deutschen Staats¬
angehörigen ausschließen. Diese Härte gilt es dadurch zu vermeiden, daß die
Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit durch mündliche oder schriftliche
Erklärung ermöglicht wird. Um die Nachteile der bestehenden Matrikel zu um¬
gehen, wären die Formalien dieser Erklärungen auf das geringste Maß zu
beschränken. Keineswegs dürften nur die Konsuln zuständig sein, sie entgegen¬
zunehmen. Vielmehr müßte dazu jede deutsche Reichsbehörde im In- und
Auslande, aber auch jede Staats- und Kommunalbehörde berechtigt und ver¬
pflichtet sein. Am Auswärtigen Amt wäre im Zusammenhang damit eine
Zentralstelle zu bilden, der sämtliche Staatsangehörigkeitserklärungen zu über¬
mitteln sein würden. — Diese Möglichkeit, die deutsche Staatsangehörigkeit trotz
der Naturalisation im fremden Staate beizubehalten, würde allerdings eine
Vermehrung der 8ujets mixte8 zur Folge haben. Ich glaube aber in diesem
Falle keine allzugroße Bedeutung darauf legen zu sollen. Mir scheint der
nationale Gesichtspunkt gegenüber dem internationalen der wichtigere zu sein.
Im übrigen versteht es sich von selbst, daß diejenigen Reichsangehörigen, die
ausdrücklich erklären, Deutsche sein zu wollen, vom Standpunkt unserer Negierung
aus, in erster Linie als Deutsche anzusehen sind. Und es ist ferner selbstver¬
ständlich, daß die Folge der abgegebenen Erklärung sein muß, daß der Erklärende
ebenso wie er die Rechte eines Deutschen erwirbt, auch die Pflichten eines
Deutschen in vollem Maße auf sich zu nehmen hat. Er würde demgemäß seinen
militärischen Pflichten nachzukommen haben, er würde gegebenenfalls einem
Rückberufungsbefehl des Kaisers in Zeiten von Krieg oder Kriegsgefahr zu ent¬
sprechen haben u. tgi. in. Eine gröbliche Verletzung dieser und anderer Pflichten
würde naturgemäß den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit und alle sich
daraus ergebenden Konsequenzen im Falle einer Rückkehr nach Deutschland zur
Folge haben. Zu erwägen würde serner sein, solchen Personen, die eine doppelte
Staatsangehörigkeit besitzen, die Verpflichtung aufzuerlegen, bei ihrer dauernden
Rückkehr nach Deutschland und soweit sie aus Staaten kommen, die eine Ent¬
lassung auf Antrag kennen, sich aus dem fremden Staatsverbande entlassen
zu lassen.
Es ist bisher nur von solchen Personen die Rede gewesen, die auf Grund
eigenen Zutuns eine fremde Staatsangehörigkeit erworben haben. Was wird
nun aus denjenigen Deutschen, die ohne ihre Absicht Bürger eines fremden
Staates geworden sind? Brasilien, Argentinien und viele andere Staaten sind
Anhänger des jus 3»Il, d. h. des Grundsatzes, daß ein auf ihrem Gebiet
geborenes Kind ihre Staatsangehörigkeit erwirbt. Das deutschen Eltern in den
genannten Staaten geborene Kind ist also ein geborenes 8ujet mixte, d. h. es
ist nach deutschem Recht (ju8 8ÄNZuiru8) Deutscher, nach brasilianischen Recht
(jus 8o>i) Brasilianer. Soll ein derartiges Verhältnis dauernd bestehen bleiben?
Oder sollen diejenigen Deutschen, die ohne ihr Zutun eine fremde Staats¬
angehörigkeit erwarben, die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren?
Ich halte eines für so unerwünscht wie das andere. M. E. würde eine
Regelung dieser Fälle in dem Sinne zu erfolgen haben, daß Deutsche, die durch
die Geburt eine fremde Staatsangehörigkeit erwerben, bis zum vollendeten
einundzwanzigsten Lebensjahre unter allen Umständen neben der fremden ihre
deutsche Staatsangehörigkeit beibehalten. Nach der Vollendung des einund¬
zwanzigsten Lebensjahres bis zum vollendeten fünfundzwanzigsten Lebensjahre
würden sie sich darüber zu entscheiden haben, ob sie Deutsche bleiben wollen
oder nicht. Wird eine Erklärung, für deren Entgegennahme natürlich ebenfalls
jede Reichs-, Staats- und Kommunalbehörde zuständig sein müßte, des Inhalts
abgegeben, datz auf die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich kein Wert gelegt werde,
so würde sich an diese Erklärung ein formelles Entlassungsverfahren zu schließen
haben. Eine formellere Behandlung dieser „Verzichts"erklärungen gegenüber
den inhaltlich auf das Gegenteil lautenden „Beibehaltungs"erklärungen wäre
deshalb angebracht, um durch Hinweis auf die Folgen der Entlassung auf solche
Personen einzuwirken, die sich einfach aus dem Grunde gegen ihre Zugehörigkeit
zum Reiche aussprechen, um sich der Militärpflicht zu entziehen. — Lautet die
Erklärung hingegen auf den Willen, deutscher Angehöriger bleiben zu wollen,
so würde die Behandlung dieser sujets mixte8 völlig derjenigen entsprechen,
von der oben die Rede gewesen ist.
Es bleibt die Frage offen, was soll geschehen, wenn bis zum vollendeten
fünfundzwanzigsten Lebensjahr eine Erklärung nicht erfolgt ist? Ich bin der
Ansicht, daß in diesen Fällen ein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit
eintritt. Darin liegt unzweifelhaft eine Härte; sie ist jedoch nicht ungerecht¬
fertigt. Wer fünfundzwanzig Jahre lang im Ausland gelebt hat, wer, trotz-
dem die Abgabe einer Erklärung in der einen oder der anderen Richtung in
Zukunft keinerlei formelle Schwierigkeiten mehr machen wird, vier Jahre hindurch
nicht Zeit fand, sich auf sein deutsches Staatsbürgertum zu besinnen, wer vielleicht
die Abgabe einer Erklärung absichtlich vermied, um sich nicht den Pflichten eines
Deutschen zu unterwerfen, der mag ruhig aus dem Kreise der deutschen Staats¬
angehörigen ausscheiden. Er würde damit natürlich auch die Konsequenzen auf
sich zu nehmen haben und gewärtigen müssen, bei seiner Rückkehr nach Deutsch¬
land als Ausländer behandelt zu werden. — Den übrigen Ursachen, aus denen
ein Deutscher ohne sein Zutun eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt, kommt
keine so große Bedeutung zu, so daß ich sie hier übergehen kann.
Die hier gegebenen Leitsätze werde ich mit Rücksicht auf den mir hier zur Ver¬
fügung stehenden Raum an anderer Stelle weiter ausarbeiten. Auf eines jedoch
möchte ich zum Schlich noch hinweisen. Auch das praktisch und theoretisch beste
Staatsangehörigkeitsgesetz wird solange keinen Erfolg haben, als nicht Mittel
und Wege gefunden werden, seine Kenntnis in weiteste Kreise, namentlich in
die Kreise derjenigen zu tragen, die ihr Vaterland verlassen. Eines dieser Mittel
scheint mir zu sein, daß sich die großen deutschen Schiffahrtsgesellschaften, die
selber ein lebhaftes Interesse an der Erhaltung und Förderung des Deutschtums
im Auslande haben, in den Dienst der Sache stellen. Sie könnten in ihren
Prospekten (Umschlagseiten), die in die Hände Tausender kommen, seine ent¬
scheidenden Bestimmungen veröffentlichen; sie könnten an geeigneten Stellen ihrer
der Personenschiffahrt dienenden Dampfer, namentlich in den Zwischendecks,
diese Bestimmungen im Abdruck aushängen. Es ist eine unbestreitbare Tat¬
sache, daß Tausende deutscher Staatsbürger ihre Staatsangehörigkeit verloren
haben einerseits wegen der formellen Schmierigkeiten, die sich aus der Ein¬
tragung in die Konsulatsmatrikel ergaben, anderseits aber aus Unkenntnis der
gesetzlichen Bestimmungen. Der letzte Grund dürfte der wichtigere sein; sorgen
wir dafür, ihn, so weit angängig, zu vermeiden.
Der Schüler des Jesuitenkollegiums zu Münstereifel, der in seiner Unschuld,
wie Pater Ambrosius mit besonderem Behagen zu erzählen pflegte, die lateinische
Wendung „alsen supremum obire" mit „Hochzeit machen" übersetzte, hatte wirklich
nicht so ganz unrecht. Sterben und heiraten bedeuten in gewissem Sinne dasselbe,
nämlich einen Sprung ins Ungewisse unternehmen. Dabei haben die, die bei der
Ausführung dieses Sprunges die erstere der beiden Methoden einschlagen, vor
den anderen den doppelten Vorteil voraus, daß ihnen die Kirche auch dann noch
zur Seite steht, wenn sie den sicheren Boden ihrer bisherigen Existenz verlassen
haben, und daß sie sich des Trostes erfreuen können, ein Schicksal zu erleiden, das
keinem Sterblichen erspart bleibt. Auch zum Heiraten bietet die Kirche dem Menschen
hilfreich die Hand, sie geleitet ihn segnend bis hart an den Rand des Abgrundes,
dann aber überläßt sie ihn seinem Geschick, und er muß zusehen, wie er sich im
Jenseits der Ehe zurechtfindet.
Solchen Erwägungen mochte sich der Freiherr v. Friemersheim in der schwülen
Julinacht hingegeben haben, die seinem Ehrentage voranging, denn er war am
anderen Morgen auffallend ernst gestimmt und mußte sich geradezu dazu zwingen,
den Hochzeitsgästen, die in den ersten Vormittagsstunden von allen Seiten ein¬
trafen, ein freundliches Antlitz zu zeigen. Jetzt, wo er so nahe am Ziele seiner
Wünsche stand, war seine Ungeduld plötzlich verflogen, und das bedachtsame Alter,
dem er so lange Widerstand geleistet hatte, forderte gebieterisch sein Recht.
Genau das Umgekehrte war bei Merge der Fall. Sie hatte den Hochzeitstag
durchaus nicht herbeigesehnt, vielmehr im glücklichen Leichtsinn der Jugend die
immer kürzer werdende Spanne Zeit, die sie von diesem Tage trennte, für eine
kleine Ewigkeit gehalten. Und nun war die Ewigkeit doch vorbei; die ersten Strahlen
der Morgensonne fielen durch das winzige Fenster der Hütte, in der das Mädchen
zum letztenmal geschlafen hatte, und wie sie sich nun im wohligen Behagen des
Erwachens auf ihrem Lager wälzte und reckte, lachte ihr verheißungsvoll von der
Wand das rosenrote Seidenkleid entgegen, das vor mehr als vierzig Jahren die
damals noch so schlanke Gestalt der bräutlichen Antonetta v. Friemersheim um¬
hüllt hatte.
Merge wollte schon, wie es bisher ihre Gewohnheit gewesen war, aufspringen
und sich ankleiden, um so früh wie möglich das Vieh zu versorgen. Da siel ihr
noch rechtzeitig ein, daß die Kühe ja schon am Tage zuvor nach Haus Rottland
gebracht worden waren. Nun kam sie sich wirklich wie eine Freifrau vor, und sie
freute sich zum erstenmal auf die Stunde, wo der Segen des Priesters sie vor
aller Welt in die ihr nun so begehrenswert erscheinende Würde einsetzen sollte.
Nach einer Weile schlüpfte sie doch aus dem Bett, aber nur, um das Braut¬
kleid zu holen und es, während sie sich selbst noch einmal auf das Lager streckte,
über die zerschlissene Decke zu breiten. So lag sie da, weidete die Augen an dem
milden Glanz der Seide, an den Rüschen, Bändern, Schleifen, Paspeln und
Spangen und fuhr mit der Hand liebkosend über das glatte Gewebe, dessen feine
Fäserchen unter ihren abgearbeiteten Fingern leise knisterten.
Es war bezeichnend für Merge, daß der Schritt, den sie zu tun im Begriffe
stand, für sie mehr einen Wechsel des Gewandes als eine Wandlung ihres inneren
Menschen bedeutete. Was da tot und stumm auf dem Schemel neben ihrem Bette
lag, der kurze braune Rock aus grobem Wollenstoff und das Leibchen aus grauem
Zolles, war für sie die Vergangenheit, und was hier unter ihren Händen
schimmerte und rauschte, erschien ihr in seiner rosenfarbenen Pracht als ein Symbol
der verheißungsvoller Zukunft, deren Pforte sich ihr heute auftun sollte.
Sie wußte selbst kaum, wie lange sie so gelegen und mit offenen Augen
geträumt hatte, als sich vor ihrer Tür ein Chorgesang Heller Stimmen vernehmen
ließ. Sie richtete sich auf und lauschte eine Weile, ehe sie sich erhob und den
Riegel zurückschob. Draußen standen die Mädchen aus dem Dorfe, die gekommen
waren, die Freundin zum Feste zu schmücken. Sie brachten die Krone aus ver¬
goldetem Messingblech, die das Muttergottesbild in der Kirche an solchen Tagen
Herleihen mußte, und den Brautstrauß aus Buchs, Rosmarin und Rauschgold.
Die kleine Schar drang lärmend und lachend in die Kammer. Nur das „Vor-
bräutchen", ein zehnjähriges Dirnlein, das eine Krone aus Draht und Seiden¬
blumen auf dem straffgescheitelten Haar trug, sah so ernst und feierlich aus, als
ob alle diese Vorbereitungen ihm selbst gegolten hätten. Merge beugte sich zu dem
Kinde nieder, hob es empor und küßte es. Da vermochte die Kleine ihre Rührung
nicht mehr zu bemeistern, und dicke Tränen rannen ihr unaufhaltsam über
die Wangen.
„Mußt nicht kreischen, Libu," versuchte die Braut ihr kleines Ebenbild zu
trösten, „ich geh' ja nicht aus der Welt. Mußt mich zu Rottland fleißig besuchen,
willst du?"
„Ist nicht darum, daß ich kreisch'," schluchzte das Dirnlein.
„Was ist's denn?" fragte Merge.
„Ich sag's nicht," erklärte das Kind, indem es sich mit beiden Handrücken
die Augen zu trocknen bemühte.
„Wenn du es sagst, darfst du auch nach Rottland kommen und die Birnen
abtun helfen."!
Libu kämpfte einen schweren inneren Kampf. Endlich faßte sie sich ein Herz
und sagte:
„Mir ist leid, daß du einen so Steinalten bekommst."
Da lachten die Mädchen laut auf, aber Merge blieb stumm und wurde ernst.
Sie ging an den Brunnen und wusch sich, während die Freundinnen sich über
das Brautkleid hermachten und die schwere Seide bewundernd betasteten.
Als die Braut wieder in die Kammer trat, begannen die Mädchen sie
anzukleiden und zu schmücken. Ihre schweren Flechten wurden gelöst, und das
schwarze Haar wurde solange gekämmt, bis es wie ein weicher, leichtgewellter
Mantel über Schulter und Rücken niederwallte. Da man mit dem städtischen
Gewände und allem, was dazu gehörte, nicht recht umzugehen verstand, zog sich
die Zeremonie des Ankleidens sehr in die Länge. Merge, die ohne die Beihilfe
der Mädchen schneller fertig geworden wäre, ließ die Tortur geduldig über sich
ergehen. Sie beteiligte sich nicht an den derben Scherzen der Freundinnen, aber
sie weinte auch nicht, wie es die Sitte eigentlich forderte. Das machte den Mädchen
Sorge, und mehr als eine dachte an die alte Regel, daß die Tränen, die nicht
vor der Hochzeit geweint werden, nach der Hochzeit fließen müssen.
Die Toilette der Braut war kaum beendet, als sich der Bräutigam mit den
männlichen Gästen auf dem Hofe einstellte. Herr Salentin sah in seinem Staats-
kleide festlich und würdevoll aus, und der Ernst, der auf seinem blühenden Antlitz
lag, entsprach durchaus der Bedeutung des Augenblicks. Aber die Hitze des
Julimorgens machte ihm zu schaffen, und der Schweiß perlte in schweren Tropfen
unter der schwarzen Roßhaarperücke hervor.
Die vier Musikanten, die man aus der Stadt verschrieben hatte, stimmten
den „Stillen Jakob" an, und während sich die Gesellschaft zu Paaren ordnete,
pochte Morgens Pate und Vormund, ein vierschrötiger Bauer, der sich unter den
adligen Kavalieren wie ein Sperling in einem Fluge Goldammern vorkam, an
die Tür. Die Mädchen öffneten und Merge trat hinaus: strahlend schön und
frisch wie eine eben erblühte Rose. Die vielen fremden Gesichter, die sie mit mehr
Neugier als Wohlwollen betrachteten, verwirrten sie, und sie blieb einen Augen¬
blick unschlüssig, wohin sie sich wenden sollte, auf der Schwelle stehen. Da wandelte
sich die Stimmung der adligen Verwandten zu ihren Gunsten, und die meisten
der Männer waren geneigt, Herrn Salentin den „aux-pss", den er zu tun im
Begriffe stand, zu verzeihen. Der junge Herr v. Pallandt nickte ihr vertraulich
zu, sie erwiderte den Gruß jedoch nur durch ein Erröten und reichte ihrem Paten,
dessen Amt es war, sie zur Kirche zu führen, die Hand.
Die Musikanten spielten eine getragene Weise und setzten sich nach dem Hof¬
tore zu in Bewegung, das Vorbräutchen trippelte mit der Brautkerze hinterher,
die Brautleute folgten: Merge an der Seite ihres Paten, der Freiherr von seinem
Neffen geleitet, und die Gäste schlossen sich an.
An der Tür der Holzheimer Kirche, in der die Trauung vor sich gehen sollte,
hatte in Ermangelung heiratsfähiger Burschen eine Schar Knaben Aufstellung
genommen, denen sich die beiden Hagestolzen des Dorfes, der Gemeindehirt und
ein hochbetagter Knecht, zugesellt hatten. Sie wollten nach altem Brauche die
Braut „fangen", hielten ein Band ausgespannt und präsentierten Merge einen
Strauß, wobei sie „den Spruch taten":
Der Freiherr, der darauf vorbereitet war, daß er seine Braut loskaufen
mußte, griff in die mächtige Pattentasche seines Leibrocks und warf eine Handvoll
Münzen nach rechts und nach links, nicht anders wie der Erbschatzmeister des
heiligen Römischen Reichs bei der Kaiserkrönung zu Frankfurt, nur daß dort der
metallene Regen etwas reichlicher und daß die Tropfen silbern, anstatt, wie hier,
kupfern zur Erde zu fallen pflegten. Aber die Wirkung konnte auch auf dem
Römerberg kaum großartiger sein: die wegelagernden Gratulanten drängten, stießen
und wälzten sich als zwei wirre Knäuel zu beiden Seiten der Kirchentür, und
über das zur Erde gefallene Band hielt die Hochzeitsgesellschaft ihren Einzug in
das kleine Gotteshaus.
Dort saßen neben den wenigen Damen, die zu dem Feste erschienen waren,
die Schwestern des Bräutigams in der vordersten Bank und warfen Merge, als
sie vor den Altar trat, kritische Blicke zu. Und sie sagten sich mit einer gewissen
Befriedigung, daß das Mädchen, was das Aussehen anlangte, dem Bruder und
sum gerade keine Schande machte, wenn man ihr natürlich auch anmerkte, wie
wenig wohl sie sich in dem ungewohnten Kleide fühlte.
Die Trauung nahm ihren Verlauf, und wenn die Ansprache, die der Pastor
an das Brautpaar hielt, auch kein oratorisches Meisterwerk war, so verfehlte sie
doch keineswegs ihre Wirkung. Als sich Herr Salentin nach der Einsegnung
wieder von dem Kissen, auf dem er gekniet hatte, erheben wollte, versagten ihm
die Beine den Dienst, und er bemühte sich vergebens, auf die Füße zu kommen.
Da sprang ihm seine junge Frau entschlossen bei, und ehe noch ein anderer zur
Stelle war, faßte sie ihren Eheherrn unter die Achseln und half ihm empor.
Dieser kleine Zwischenfall machte auf manche der Hochzeitsgäste einen peinlichen
Eindruck, weil er gar zu deutlich den Altersunterschied der Neuvermählten dartat;
die meisten jedoch sahen darin eine gute Vorbedeutung und meinten, es habe sich
schon in der ersten Minute der Ehe gezeigt, wie wohl der alte Herr daran getan
habe, sich in dem jungen Weibe eine Stütze für die bösen Tage, die ja früher
oder später doch einmal kommen müßten, zu sichern.
Pater Ambrosius war es, der diesem Gedanken bei der allgemeinen Beglück¬
wünschung Ausdruck gab. Aber der junge Ehemann wollte von einem solchen
Ausblick in die Zukunft nicht viel wissen.
„Mit den bösen Tagen hat's bei mir noch gute Wege, me>n oker," sagte er.
„Sie freilich, der Sie das halbe Leben im prie-aufn verbringen, können sich nicht
imaginieren, daß unsereinem das lange Knien inLommocke ist. Ich wette, wenn
Sie einen halben Tag ä clievsl sein müßten, würden Ihnen die Knochen auch
steif, obschon Sie zum mindesten zwanzig Jährlein jünger als ich sein mögen."
Man merkte es ihm an, daß er jetzt, wo er eine junge Frau sein eigen
nannte, um jeden Preis für einen Jüngling gehalten sein wollte.
Von der Kirche aus zog die Hochzeitsgesellschaft nach Haus Rottland. Jetzt
wurde Merge von Mathias geführt, während an Herrn Salentins Seite der Pate
einherschritt. Die Sonne stand schon hoch, keine Wolke und kein Baum spendeten
Schatten, und unter den taktmäßigen Tritten der unermüdlich spielenden Musikanten
stieg der Staub der arg verwahrlosten Straße in weißen Schwaden empor und
legte sich als eine dicke Puderschicht auf die schwarzen Gewänder der Priorin, des
Paters und des Pastors, wie auf die farbige Kleiderpracht der Weltkinder. Der
junge Ehemann hatte seine Perücke über den Degenkorb gestülpt, Merge quälte
sich mit ihrer Schleppe ab, die Herren fluchten über die Hitze, und die Damen
stöhnten, seufzten und jammerten. Der einzige, dem Sonnenglut und Staub nichts
anzuhaben schienen, war Herr v. Pallandt. Seine Späße ließen die Gesellschaft
auf kurze Augenblicke alle Beschwerden vergessen, und mehr als einmal gelang es
ihm, der jungen Tante ein fröhliches Lachen zu entlocken. Bald erbot er sich, ihr
die schwere Schleppe zu tragen, bald fächelte er ihr mit seinem Hute Kühlung zu,
bald sang er ihr einen lustigen Text vor, den er, ohne sich lange zu besinnen,
improvisiert hatte und der Melodie der Musik unterlegte. Jetzt kam auch Merge
zu der Erkenntnis, daß der Wachendorfer Neffe keineswegs so ungeraden und
verabscheuungswürdig war. wie man ihn ihr immer geschildert hatte.
Als sich der Hochzeitszug dem Gutshöfe näherte, wurde er mit Pistolenschüssen
empfangen. Es war eine Veranstaltung des alten Gerhard, der ein paar mit
Faustrohren ausgerüstete Bauern auf den Taubenschlag postiert hatte und sich auf
diesen Einfall viel zugute tat.
Die Sitte verlangte, daß man, bevor das Mahl aufgetragen wurde, in der
Scheune den Brandkauz tanzte, und das Gebot der Sitte war stärker als alle
Bedenken wegen der Hitze des Julimittags. Die Musikanten kletterten auf den
Hahnenbalken, ließen die Beine hinunterbaumeln und spielten auf. Herr v. Pallandt
führte Merge an den Fingerspitzen in die Mitte der Tenne, trat selbst ein paar
Schritte zurück, verneigte sich vor ihr, als sei sie eine Prinzessin von Geblüt,
ergriff ihre Hand und führte sie mit gemessenen Schritten im Kreise herum. Als
dann die Musik in ein schnelleres Tempo fiel, faßte er die junge Frau um den
Leib, und nun schwebten beide eng aneinandergeschmiegt im Rhythmus des
Tanzes dahin.
Der Freiherr sah mit Erstaunen und Befriedigung, wie gut seine Eheliebste,
der er diese Kunst gar nicht zugetraut hatte, zu tanzen verstand, und die Gäste
bewunderten das schöne Paar, das für einander geschaffen schien, und das in
seinem Eifer Hitze, Staub und Zuschauer vergaß. Plötzlich kam es einigen der
Gäste, die den Tanzenden gerade zunächst standen, so vor, als habe Herr Mathias
seinen Mund dem Ohre seiner Partnerin genähert und ihr etwas zugeraunt. In
diesem Augenblick brach Merge den Tanz ab, machte sich aus den Armen des
Neffen los und sah ihn mit flammenden Blicken an, während ihr Antlitz sich mit
dunkler Glut überzog. Er aber ließ sich nicht aus der Fassung bringen, verneigte
sich vor ihr und sagte lachend:
„Sie haben recht, rrmäame la baronne, es ist nicht anders, als ob man in
einem Backofen tanzte." Damit geleitete er sie an das weit geöffnete Tor und
befestigte das Schnupftüchlein, das sie aus ihrem Gürtel losgenestelt und ihm
nach altem Brauche als Andenken überreicht hatte, an seinem Hute.
Mittlerweile war das zweite Paar auf den Plan getreten: Mergens Pate
und die Gubematorin. Es war ein köstlicher Anblick, wie der lange hagere. Bauer
und die beleibte alte Dame sich langsam und gravitätisch drehten und mit den:
Schweiße ihres Angesichts das neue Band besiegelten, das Holzheim und Rottland
verknüpfte. Die schmalen Lippen fest zusammengekniffen, die grauen Äuglein fest
auf den nickenden Federstutz seiner Partnerin gerichtet, drehte der wackere Ackers¬
mann seine prächtige Last; blaurot vor Anstrengung und in der Erwartung, jeden
Augenblick einem Schlaganfall zu erliegen, aber dennoch sich zu einem unendlich
leutseligen Lächeln zwingend folgte Frau v. Ödinghoven den ruckweise erfolgenden
Antrieben — ein erhebendes Doppelbild aufopfernder Pflichterfüllung und heroischer
Todesverachtung.
Alle Festteilnehmer gewannen die Überzeugung, daß mit diesem Opfer den
strengen Geboten der Sitte Genüge geschehen sei, und es wollte wenig bedeuten,
daß der Bräutigam die noch immer zierliche und bewegliche Frau v. Syberg im
Tripeltakt zwei oder dreimal um die Tenne führte. Er fand mit seinem Beispiele
keine Nachahmer, denn in der Gesellschaft fehlte das junge Volk, und die älteren
Herrschaften waren sehr einmütig der Ansicht, daß Speise und Trank für Leib
und Seele zuträglicher seien als ein Tanz in der Mittagshitze des Heumonds.
Man zog zu der Ruine des Burghauses hinauf. Das Portal mit dem
Pallanotschen Wappen war festlich bekränzt und die kahlen, von Schutt und Staub
gereinigten Räume sahen im Schmuck der Blumengewinde wirklich ganz heiter aus.
Über das Gebälk, soweit es dem Brande nicht zum Opfer gefallen war, hatte man
junge Maibuchenstämmchen mit vollen Blätterkronen gelegt, und wenn das Laub
auch schon schlaff und ein wenig welk herunterhing, so sah die grüne Decke, die
an das Dach einer Riesenlaube gemahnte, doch anheimelnd und lustig genug aus.
Daß der blaue Sommerhimmel hier und da durch die Zweige lugte, war kein Fehler.
Auf dem geräumigen Vorsaal standen die Tische für die Gäste aus den beiden
Dörfern, die mit einem bescheideneren Mahle, mit Bier und Branntwein bewirtet
werden sollten, dahinter, im ehemaligen Speisegemach, war eine lange Tafel für
die eigentliche Hochzeitsgesellschaft gedeckt. Das junge Paar nahm in der Mitte
Platz, zu Mergens rechter Seite Mathias, zu Herrn Salentins linker der Pate.
Die Musikanten hatten Schürzen vorgebunden, zapften fleißig Wem und trugen
unter allerlei Possen die Speisen auf. Ein steifer Hirsenbrei eröffnete die Folge
der Gerichte; er stillte den ersten Hunger und war das Fundament, auf dem sich
weiter bauen ließ. Man löffelte schweigsam aus den tiefen Näpfen, froh über
den kühlen Luftzug, der durch die Fensterhöhlen fächelte, und über den noch
kühleren Wein, mit dem die lustigen Mundschenken Becher und Gläser füllten.
Merge, die trotz ihres gesunden Appetits der Meinung huldigte, daß eine
Braut am Hochzeitstage wie ein Vöglein essen müsse, war mit dem Brei zuerst
fertig und ließ verstohlen ihre Blicke über die Gesellschaft schweifen. Da kam ihr
so recht zum Bewußtsein, daß die ganze Tafelrunde, von ihr selbst und Herrn
v. Pallandt abgesehen, aus lauter Alten bestand. Der Pater mochte als ein Mann
in den besten Jahren ja schließlich auch noch passieren, aber die anderenI Lauter
behäbige oder gar schon ein wenig verfallene alte Herren, lauter sehr ehrwürdige
Damen, deren Kleiderpracht weder über die Runzeln und Hängebacken noch über
die auseinandergelaufenen oder spindeldürr gewordenen Figuren hinwegzutäuschen
vermochte. Viel Noblesse und viel Verdienst, viel edler Anstand und viel Welt¬
erfahrung, viel Distinktion und viel Herablassung, aber allzu wenig Schönheit und
Kraft, allzuwenig Wagemut und Leichtsinn, allzuwenig Tollheit und übersprudelnde
Lebenslust! Es war nur gut, daß an ihrer Seite der kecke Mathias saß, sonst
wäre sie sich in diesem Kreise als ein Eindringling erschienen.
Der Neffe schien ähnlichen Gedanken nachzuhängen wie seine junge Tante.
Ihre Blicke begegneten sich verständnisvoll, als den greise Erbmarschall v. Nessel¬
rode, der den Ehrenplatz gegenüber den Neuvermählten innehatte, mit zitternder
Hand einen Löffel Brei anstatt in den Mund in den Westenausschnitt beförderte.
Und jedes erkannte im Blicke des anderen das Bewußtsein der Überlegenheit, das
ein Merkmal der Jugend ist, und dem es unbegreiflich erscheint, daß Leute, die
ihrer Glieder nicht mehr mächtig sind, noch das Recht haben wollen, zu leben
und den blühenden Nachwuchs durch ihr bloßes Dasein an die Vergänglichkeit
alles Irdischen zu erinnern. So schien es, als hätte das Schicksal sich eines der
allerwohlfeilsten Mittel bedienen wollen, um ein geheimes Einverständnis zwischen
zwei Menschen anzubahnen, die sich bis dahin innerlich fremd gewesen waren,
und die sich immer hätten fremd bleiben sollenI
Das Mahl zog sich in die Länge, denn in den Pausen zwischen den einzelnen
Gerichten hatten die Musikanten mit dem Weinzapfer zu tun, und der Weg von
der Tafel bis in den halbverschütteten Keller, wo das Faß lag, war weit und
beschwerlich. Zwischen dem „Sous", einer starkgewürzten Brühe mit gehacktem
Fleisch, und dem „grünen" Rindfleisch brachte der Erbmarschall die Gesundheit
der Neuvermählten aus, und nun folgte ein Trinkspruch dem andern. Als die
Spanferkel, die den Höhepunkt des Mahles bedeuteten, aufgetragen waren, erhob
sich Pater Ambrosius, bat um die Erlaubnis, ein paar Worte an seinen Gönner
und Freund, den Freiherrn, richten zu dürfen, und entwarf eine mit allerlei An-
spielungen gewürzte Schilderung des Paradieses, die freilich weniger dem Berichte
der Genesis als den Darstellungen der niederländischen Maler entsprach. In diesem
Paradiese, so führte er aus, sei monsieur le baron als ein, wenn auch ein wenig
betagter, so doch ewig jugendlicher Adam schon lange daheim, stehe auch nach dem
Gebote des Schöpfers mit aller Kreatur auf Erden, im Wasser und in der Luft
auf einem amiablen Fuße, — „insonderheit mit den Spanferkeln, die hat er zum
Fressen lieb!" rief Herr v. Pallandt dazwischen, — weshalb denn auch Gott
resolviert habe, ihm aufs neue eine Gehilfin beizugesellen.
„Gedachte Eva", so schloß er, „sehen wir anjetzt lieblich und frisch, als sei
sie eben erst aus einer Rippe formiert worden, an seiner Seite, und ist wohl
keiner unter uns, der ihm sein Glück nicht von ganzem Herzen gönnte. Nun ist
aber meine Meinung, daß auch wir schwachen Menschlein, da Gott selbst unserm
Freunde das Paradies durch Beisteuerung des vornehmsten Stückes so wunder-
barlich komplettieret, nicht tardieren sollen, auch unsererseits sein Glück ein weniges
zu vermehren, weshalb ich mir die kranLniss nehme", — bei diesen Worten bückte
er sich und holte unter dem Tische einen Gegenstand hervor, den das weitherab¬
hängende Tafeltuch bisher allen Augen verborgen hatte, — „ihm dieses Kästlein
als ein kleines Hochzeitspräsent zu überreichen."
Der Redner wanderte um den Tisch herum und stellte ein sorgfältig umschnürtes
Kistchen vor Herrn Salentin hin. Dieser schmunzelte, denn er hatte von dem
Inhalte schon eine Ahnung, zerschnitt die Schnur und schlug den Deckel zurück.
Der Balg eines Paradiesvogels kam zum Vorschein, ein Prachtstück, wie es eben
nur die frommen Väter der Gesellschaft Jesu mit ihren den ganzen Erdball
umspannenden Missions- und Handelsverbindungen zu beschaffen vermochten.
„Nimm das Tierlein heraus!" wandte sich der Freiherr an seine junge
Frau, „deine Hand soll die erste sein, die es berührt."
Merge gehorchte zögernd. Aller Blicke hingen staunend an dem wundersamen
Geschöpf, dessen fein zerschlissene gelbe Schulterfedern wie ein goldener Schleier
über den farbenprächtigen Körper niederwallten.
„Weißt du auch, was du da in Händen hältst?" fragte Herr Salentin.
Sie nickte, aber über ihrem Antlitz lag etwas wie Trauer.
„Es ist der Glücksvogel", antwortete sie leise.
„Ja, Merge, und er kommt, uns das Glück ins Haus zu bringen."
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich glaub' nicht dran", sagte sie. „Ja, wenn er noch lebte! Aber daß ein
totes Vöglein Glück bringen sollt', das glaub' ich nie und nimmer."
(Fortsetzung folgt)
äst ein Vierteljahrhundert trennt uns bellte schon von den Begebnissen
! der ersten Hälfte des Jahres 1888, ein Zeitraum gleich der frideri-
^ zianischen Periode nach dem Hubertsburger Frieden, die ihren Mit-
lebenden so lang erschien und die noch jetzt in den historischen Dar-
l Stellungen diesen Eindruck erweckt. Aus der Ferne haben sich die
Empfindungen und Meinungen, vor dreiundzwanzig Jahren so heftig erregt, wohl¬
tätig beruhigt; die Macht des Lebens, ausgedrückt durch eine rastlose, ungeahnte
Entwicklung auf allen Gebieten, wob den Schleier pietätvoller Erinnerung auch
über großes Leid und ungestüme Trauer. Doch nur ungern versetzt sich, wer
immer jene bangen Monate deutsckier Geschichte mit Bewußtsein verfließen sah, in
ihre wiedererweckte Folge von Furcht und Hoffnung zurück. Zum Schmerzgefühl
eines alten Wundmals gesellt sich dann die Scheu vor dem Heraufbeschwören einer
Düsternis, die noch nach Generationen nicht verblaßt sein wird. Helligkeit zuvor
und hernach, sie vertieft einen Schatten mitteninne um so mehr.
Am 2ix März 1907 starb Ernst v. Bergmann, reich an verdienten Ehren, der
Doyen deutscher Chirurgie und einer der Hauptträger ihres Weltruhms. Die
Familie, im Besitz eines eigenen Archivs und des gesamten handschriftlichen
Nachlasses — Bergmann führte die Feder mit hervorragendem Geschick —, faßte
den Entschluß, schon jetzt ein Lebensbild des Hingeschiedenen zur Darstellung und
Veröffentlichung zu bringen. Angesichts der günstigen Vorbedingungen, unter denen
dies geschehen konnte und durchgeführt worden ist, darf man Wohl aussprechen,
daß damit einmal ein schlagendes Beispiel aufgestellt wurde gegen sonst herrschende
wissenschaftliche Bedenken. Steht doch ohnehin der generalisierenden Warnung vor
„verfrühten" Biographien die Erfahrung gegenüber, daß mit sozusagen kaltgewordenen
Arbeiten, denen binnen fünfzig oder noch mehr Jahren nur Zweifelsfragen nach¬
wuchsen, eigentlich der Erwartung weit seltener entsprochen werden kann. Und
wenn auch bereitwillig zuzugeben ist, daß Taktfragen bei Publikation der Erlebnisse
und Aufzeichnungen Jüngstverstorbener wiederum ihre Rolle spielen, wodurch gewiß
manche Angabe konventioneller werden mag als sie aussieht, so gewinnt dafür der
Zusammenhang doch an Klarheit — vorausgesetzt, daß der Bearbeiter über die
entsprechend nötigen Fähigkeiten gebot. Das war hier der Fall. Dr. Arend Buchholtz,
der Berliner Stadtbibliothekar, hat die Ausgabe mit seinem soeben erschienenen
Buche: „Ernst von Bergmann" (Leipzig. Verlag von F. C. W. Vogel. Preis
13,75> M.) höchst ansprechend gelöst. Er wußte den scheinbaren Nachteil, nicht der
medizinischen Fakultät anzugehören, durch die hier in der Tat weit notwendigeren
Vorgaben des geschulten Historikers überschießend auszugleichen. Als Landsmann
und Verwandter des großen Klinikers hat er vielleicht den schwereren Stand gehabt,
aber gerade weil seine Bewunderung — hier homogen und der Freude am Werk —
so echt ist, verlief sie sich nirgends in eine Haltung, an der nicht auch der Ferner¬
stehende teilnehmen könnte.
Mit impulsiver Begier wird, daran ließ sich vorweg keinen Augenblick zweifeln,
zuerst das Kapitel mit der Überschrift: „Die Krankheit Kaiser Friedrichs" aufgesucht
und gelesen werden. Geheimrat v. Bergmann hat in den anderthalb Jahren des
Leidens, das zuletzt den Helden fällte, eine so Wechsel-, mühe- und verantwortungs¬
volle Aufgabe wahrzunehmen gehabt, wie sie einem Manne seines Rufes selten
nahegetreten ist. stützte ihn hierbei zu Lebzeiten Kaiser Wilhelms des Ersten das
unbedingte Vertrauen des greisen Monarchen und seiner Berater, so empfand der
Leidende selbst ganz richtig, von welcher Bedeutung Bergmanns Bemühungen um
ihn waren. Wider eigenes Erwarten auch nach dein Regierungsantritt und der
Heimkehr Kaiser Friedrichs von neuem herzuberufen, mußte der Vertreter deutscher
Chirurgie schwere Wochen hindurch nicht nur den Fortschritten einer hoffnungs¬
losen Krankheit, sondern auch Angriffen ihm abgeneigter Methodiker und der wild
erregten öffentlichen Meinung trotzen. „Es war eine Zeit, in der man von einem
Extrablatt zum anderen lebte," sagt Buchholtz, und Bergmann hatte schon von
San Remo her unterm 16. Februar in einem Briefe an die Gattin den Stoßseufzer
einfließen lassen: „Ach, es ist schwer, wenn man ein verwöhnter Arzt gewesen ist,
an dein das Vertrauen der Patienten hing, nun einmal die Rolle eines gegen-
sätzlich beleumundeten Doktors zu spielen!"
Unscheinbar, in Gestalt einer zuerst katarrhalischen, dann trockenen Heiserkeit,
hatte das Leiden des Kronprinzen im Januar 1887 begonnen. Als der Leibarzt
Dr. Wegner zu Anfang März die sonst wirksamen Arzneimittel erschöpft sah, wurde
der Geheime Medizinalrat Professor Gerhardt zugezogen. Er fand eine kleine
Geschwulst am linken Stimmbande vor, stellte sie als das Hindernis der normalen
Tonbildung fest und versuchte die operative Entfernung. Sie gelang erst durch
Zerstörung mittels glühenden Platindrahtes und widerstand auch hierbei noch
hartnäckig. Die Stelle wurde aber endlich geebnet, heilte jedoch nicht, während
die Stimme nun klangreicher und das Allgemeinbefinden vortrefflich war. Eine
Kur in Eins sollte durch ihren Verlauf die weitere Beurteilung des Falles ent¬
scheiden. Das geschah denn auch, freilich zu Ungunsten. Denn bei der Rückkehr
des Kronprinzen nach Potsdam am 15. Mai erwies sich die Stimme heiserer, die
Geschwulst größer als zuvor, das linke Stimmband leicht gehemmt, und nunmehr
brachte Gerhardt die Zuziehung noch anderer Laryngologen sowie v. Bergmanns
in Vorschlag. Schon am 10. Mai untersuchte dieser den hohen Patienten und
sprach sich, wie Gerhardt dann berichtete, sofort dahin aus, daß wegen möglicher
Bösartigkeit, jedenfalls wegen hartnäckigen Wiederwucherns der Geschwulst, eine
Spaltung des Kehlkopfs und gründliche Ausrottung des Gewächses auf diesem
Wege vorgenommen werde. Buchholtz kann jetzt auch die genaueren Erwägungen
mitteilen, von denen Bergmann hierbei geleitet war. „Wenn die Neubildung am
Stimmbande", so lautete die Notiz, „krebsiger Natur ist, dann dürfte die Ent-
fernung derselben mittels endolarvngealer Operationen vom Munde aus nicht
gelingen, wenigstens nicht in dem für die Entfernung bösartiger Gewächse not-
Wendigen Umfange. Es ist bei Sitz eines Krebses am Stimmbande notwendig,
das ganze Stimmband und einen Teil der noch gesunden, an das erkrankte
Stimmband stoßenden Schleimhaut wegzunehmen, ja, bei tieferer Ausbreitung
desselben sogar unerläßlich, einen Teil der Kehlkopfknorpel zu entfernen. Diese
Operationen sind nur durch einen Schnitt vom Halse aus in den Kehlkopf —
Laryngotomie — auszuführen. Gegenüber der großen Gefahr, welche das Stehen¬
lassen einer Krebsgeschwulst hat, mußte ich auf eine möglichst bald vorzunehmende
Operation dringen. Denn nur kleine Krebse der Kehlkopfschleimhaut sind bis jetzt
durch die erwähnte Operation — Laryngoftssur und Laryngoresektion — erfolgreich
behandelt worden; bei größeren ist, selbst wenn die verstümmelnde Operation der
Totalexstirpation des Kehlkopfs gemacht worden war, in der Regel ein Rezidiv
der Geschwulst eingetreten. Ich riet also: eine sofortige Operation auszuführen,
sowie Spezialärzte von der Bedeutung und Erfahrung eines Gerhardt erklärt
hätten, daß der Verdacht einer Krebsgeschwulst gerechtfertigt sei. Gerhardt gab
diese Erklärung ab; er wünschte aber gleich mir, daß der von uns aufgenommene
Befund von einem oder mehreren hinzuzuziehenden Laryngologen zu bestätigen
sei." — Eine größere Konsultation am 18. Mai, woran Gerhardt, v. Bergmann,
Wegner, Oberstabsarzt Schrader und, von Kaiser Wilhelm entsandt, Generalstabs¬
arzt v. Lauer und Geh. Rat Tobold teilnahmen, der seinerseits den Kehlkopf des
Kronprinzen vorher untersuchte, entschied sich für baldige Operation. Sie wurde
auf den 21, Mai morgens anberaumt, und es ist aus V.Bergmanns Aufzeich¬
nungen zu ersehen, daß sowohl Kronprinz Friedrich Wilhelm wie die Kronprinzessin
Viktoria lebhaft einverstanden waren.
Unter die zu befragenden Laryngologen von anerkannter Bedeutung war
nach Vorschlag Dr. Wegners auch Dr. Morett Mackenzie in London aufgenommen
worden, dessen Herbeikunft jetzt beschleunigt werden mußte. Er traf am 20. Mai
nachmittags ein, untersuchte und nahm den Bericht der deutschen Ärzte entgegen.
Sein Votum widersprach jedoch dem ihrigen; er bezweifelte die Krebsdiagnose und
hielt eine Operation für mindestens verfrüht. Daher seien zunächst der kranken
Stelle Gewebeteile zu entnehmen und diese mikroskopisch zu prüfen, was auch
ohne Zeitverlust geschah, aber nichts ergab. Mackenzies weitere Versuche, aus
dem Kehlkopf ein geeignetes Stück zu entfernen, führten einen ersten Konflikt mit
Gerhardt herbei. Auch Bergmann ist seinem Berliner Kollegen darin beigetreten,
daß Mackenzie sich schwer vergriffen und vielmehr das gesunde rechte Stimmband
verletzt habe. So kam der 8. Juni heran, bis der englische Arzt unter Fern¬
haltung Gerhardts zwei Stückchen der Geschwulst exstirpierte, über die ein neues
Gutachten Virchows eingeholt wurde. Hiernach hätte es sich um eine dickhäutige
Warze gehandelt, wobei Virchow hinzusetzte, aus beiden Stücken sei nicht sicher
zu ersehen, ob das Urteil sich auf die gesamte Erkrankung ausdehnen lasse. Allein
Mackenzie, der schon am 10. Juni nach London zurückreiste, legte sich dort einem
Interviewer gegenüber auf den positiven Teil dieser Erklärung fest mit dem Zusatz,
er selbst übernehme wegen der Natur des Gewächses keine Verantwortung; diese
trage Virchow gänzlich. Gleichzeitig wäre er (Mackenzie) überzeugt, daß im Halse
des Leidenden nichts vorhanden sei, was das Aussehen eines Krebsgeschwürs habe.
Schon aus dieser Verlautbarung bemerkt man, daß nach außen hin die englische
Beraterschaft der Krankheit des deutschen Kronprinzen einer ungewöhnlichen
Form entgegenzustreben anfing. Vergleichsweise harmlos war gewesen, daß Mackenzie
schon in Berliner Hofkreisen einen Kuraufenthalt in England eifrig propagiert hatte.
Dann würde der Kronprinz binnen wenigen Wochen wieder völlig bei Stimme
und während des Herbstmanövers in der Lage sein, zu kommandieren. Wie sehr
aber ein Arzt, der zu kritischer Stunde als Mann der beruhigenden Verheißungen
und Bringer der angenehmsten Hoffnungen auftritt, wohl jeden Kranken und mit
ihm die Angehörigen fasziniert, das bedarf auch in diesem besonderen Falle keiner
Herleitung. Und wenn auch, soviel zu sehen, nirgends ausgesprochen wird, daß
der im Umgang sehr gewandte Mann seinen frühzeitigen Streitfall mit Gerhardt
vor der kronprinzlichen Familie als einen zu seiner geschwinden Entfernung
angestellten taktischen Versuch beurteilt habe, so muß doch der entsprechende Ein¬
druck irgendwie hervorgerufen worden sein. Bereits am 10. Juni lag also
Kaiser Wilhelm die Bitte des Kronprinzen vor, sich nach England begeben zu
dürfen, unter Anführung der von Mackenzie betonten klimatischen Motive. Jetzt
widersprachen die Berliner Autoritäten, um ihre Meinung befragt, mit Ent¬
schiedenheit; in jedem Falle sei ein deutscher Spezialist, und zwar Gerhardt, dem
englischen dann an die Seite zu setzen. Aber die Bedenken gegen eine solche Ver¬
fügung lagen auf anderem Gebiete. Kronprinz Friedrich Wilhelm lehnte vielmehr
Gerhardts Begleitung ab und trat die Überfahrt an in Begleitung Dr. Wegners
und des Stabsarztes Dr. Landgraf, bisher Assistenten der Gerhardtschen Klinik.
Bald nach der Ankunft auf Wight wurde dem letzteren durch Dr. Wegner eröffnet,
„daß Se. Kaiserliche Hoheit sich ganz in die Behandlung des Herrn Dr. Mackenzie
gegeben habe und nicht wünsche, daß wir an der Behandlung teilnahmen".
Den Hochsommer hindurch dauerte der wechselnde Aufenthalt in England und
Schottland, bis die nahende rauhere Jahreszeit zu Anfang September die Rückkehr
zum Kontinent nötig machte. Aus dieser Zeit stammt Mackenzies sich nach und nach
organisierende Verbindung mit der Tagespresse, die später einen Umfang annahm
und zu Erörterungen führte, über deren Angemessenheit heute so wenig Zweifel
herrschen kann wie über ihre schweren Nachteile. Vorläufig dienten die angesponnenen
Beziehungen zur Verherrlichung der angeblichen Erfolge, die Mackenzie errang.
Er selbst sandte, bevor er den Leidenden aus der Behandlung entließ, eine Art
Genesungsanzeige nach Deutschland, der Dr. Wegner jedoch auf eigenen Antrieb
einen kurzen warnenden Zusatz beifügte. In der späteren Darstellung nach amt¬
lichen Quellen heißt es: „Erinnert man sich daran, daß die Meldungen der
gesicherten Herstellung mit der Erhebung Sir Morells zur Würde eines Baronets
zusammenfielen, so ist es begreiflich, daß das gesamte deutsche Volk dem englischen
Arzte seine Bewunderung und Verehrung auszudrücken bereit war, begreiflich auch,
daß die Zeitungen, die ihn als den einzig richtig urteilenden und erfolgreich
behandelnden Arzt feierten, für die im Mai hinzugezogenen deutschen Ärzte nur
Worte des Unwillens und schärfsten Tadels hatten. Jubelnd erwartete Berlin die
Rückkehr des endlich genesenen Kronprinzen, überall sich für seinen festlichen
Empfang vorbereitend. Da kam die erste Enttäuschung." Der sehnlich Erwartete
mied die Hauptstadt, wo der alte Kaiser seiner harrte, und begab sich über Frank¬
furt a. M. nach Toblach, später nach Baveno. Ein jüngerer englischer Arzt aus
der Schule Mackenzies, Dr. Hovell, überwachte sein Befinden. Beunruhigenden
Gerüchten über den Anlaß dieses Ortswechsels und zu der weiteren Übersiedlung
nach San Remo wurde in der Presse kein Glaube beigemessen; von offiziellen
oder sonstigen Berichten nach Berlin wird aus diesen zwei Monaten nichts erwähnt.
So wirkte es als jähe Schreckenskunde zu Beginn des November, daß Sir
Morett Mackenzie schleunig aus London nach der Riviera berufen worden sei, die
Krankheit für bösartig erklärt und die Hinzuziehung noch anderer Ärzte verlangt
habe. Die Katastrophe war im Anzüge, und den Vertretern der allzu lange fern¬
gehaltenen deutschen Wissenschaft stand jetzt eine Aufgabe bevor, deren Schwierig,
leiten sich ebenso vermehrt hatten, wie die Hoffnung auf schließlichen Erfolg nun
vermindert war.
Auch aus der Entfernung ließ sich in Berlin erkennen, daß Sir Morett in
San Nemo die Situation völlig beherrschte, wiewohl sie all sein früheres Tun
und Lassen doch schlagend dementieren mußte. Man entsandte daher zunächst
Fachleute, die Mackenzie nicht als befangen ansehen konnte: einen Wiener und
einen Frankfurter Laryngologen. Beide sicherten die Bösartigkeit der seither um¬
fassend aufgetretenen Neubildung und ließen die Wahl zwischen Entfernung des
ganzen Kehlkopfes, jetzt zu einer Operation nicht völlig sicheren Ergebnisses
geworden, und dem Luftröhrenschnitt als Erleichterung. Mit seinem wackeren
Gleichmut, fast heiter nahm der hohe Kranke diese leider unvermeidliche Eröffnung
entgegen. Er lehnte die Totalexstirpation ab und beauftragte nunmehr, im Ein¬
verständnis mit der Kronprinzessin und den versammelten Ärzten, Bergmann mit
der vielleicht nötig werdenden Tracheotomie. Dieser dankte für das Vertrauen
und erklärte sich bereit, dem Rufe zu folgen. Da der Zeitpunkt vorerst nicht
abzusehen war, die Möglichkeit unerwarteter Komplikationen aber bestand, so
wurde auf kaiserlichen Befehl Mitte November der erste Assistent der Bergmmmschen
Klinik, Dr. Bramann, nach San Remo abgefertigt, damit inzwischen ein sicherer
Operateur dort zur Hand war.
Es ist bekannt, daß diese Maßnahme sich angesichts der Taktik Mackenzies
als heilsame Vorkehrung erwiesen hat. Bramann wurde tunlichst ferngehalten und
mußte sich durch die Mitteilungen der beiden deutschen Mediziner am Kranken¬
lager, Dr. Schröder und I)r. Krause, auf dem Laufenden zu erhalten suchen.
Schon hatte er Bergmann vorbereitet, als am Mittag des 9. Februar 1888
Mackenzie die sofortige Operation für geboten erkannte. Nach allerlei Schwierig¬
keiten von seiner Seite, über die man sich angesichts der drängenden Lage wundern
durfte, erhielt Dr. Bramann Überblick und freie Hand. Binnen zwanzig Minuten
war der Eingriff glänzend durchgeführt, die Erstickungsgescchr abgewendet. Am
11. Februar trafen Bergmann und der Oberhofmarschall des Kronprinzen, Graf
Radolinski, zusammen ein. „Der Kronprinz war froh, Professor v. Bergmann
wiederzusehen." Und nach viertägigem Aufenthalt schreibt dieser nach Hause,
unter Hinweis auf bereits erlebte Widerwilligkeiten: „Der Kronprinz bleibt
unverändert gütig, ja fast zärtlich gegen mich; das ist mir Lohn vollauf und
richtet mich, wenn ich mich gekränkt und verachtet sehe, gleich hoch auf."
Bis zum 7. März ist Bergmann dann in San Remo verblieben, wo sich
jetzt alle näheren Angehörigen der kronprinzlichen Familie eingefunden hatten.
Der Patient atmete seit der Operation durch eine Kanüle, ein nach anatomisch¬
technischen Beobachtungen entworfenes und gegliedertes Silberrohr, dessen Gebrauch
die Respiration vom Zustande des Kehlkopfes unabhängig machte. Sir Morett
Mackenzie, wie immer die teilweise noch nicht durchsichtig gewordenen Beweg¬
gründe zu seinem Verfahren als Mensch und Arzt sich gruppiert haben mögen,
hielt jetzt offenbar einen Streit um die beste Kanülenkonstruktion für ein Mittel,
seine auch vor der Außenwelt trotz gesteigerter Tätigkeit des „Pressedienstes" in
Zweifel geratene Autorität zu festigen. Es gehörte die vollendete Nachsicht und
Geduld eines Kranken von Kaiser Friedrichs schönen Eigenschaften dazu, auch hier
um manchmal überflüssiger Bedenken willen zu leiden, ohne zu klagen. Der
Kanülenstreit hat sich später in Charlottenburg fortgesetzt und, nach einer öffent¬
lichen Jnvektive Mackenzies und Hovells, Bergmanns Antrag herbeigeführt, ihn
seiner Pflichten als regelmäßig mitbehandelnder Arzt zu entlassen. Mit dem
30. April 1888 ist darin Professor Bardeleben für ihn eingetreten, und seine
Berichte, in möglichster Kürze abgefaßt, reichen bis zum Tode des Kaisers am
15. Juni. Sie bilden ein ergreifendes Dokument, aus dem uns der Schritt des
unentrinnbaren Verhängnisses dumpf entgegenhallt.
Soweit Arend Buchholtz die Briefe Bergmanns aus San Remo neben anderen
Mitteilungen im Auszug oder Zitat wiedergegeben hat, läßt sich diesem Material
doch mancher Zug und manche Einzelheit entnehmen, die bisher höchstens einem
kleineren Kreise von Personen bekannt gewesen sind. Trotz reichlicher Anlässe zur
Mißstimmung und trotz des peinlichen Umstandes, daß er die mit seiner delikaten
Mission verbundene Zwangslage hier eher unterstrichen als gemildert sah, sucht
der berühmte Kliniker namentlich dem Charakter und den von Liebe zum Gatten
getragenen Beweggründen der Kaiserin Friedrich gerecht zu werden. Ihre Ent¬
schiedenheit bei den Audienzen war, wie sich hier hinzufügen ließe, oft weit größer
als angedeutet worden ist. Mackenzies unberechtigt heroische Pose gegenüber dem
„jungen Mann" aus Berlin, nämlich Dr. Bramann, war in eine nicht angenehme
Norm übergegangen und kam alsbald nach der Operation, wo dankbare Gefühle
vorherrschen durften, auf gleichsam harmlose, aber doch entschieden satirische Weise
zum Vorschein. Bergmann hingegen mußte den Widerspruch, zu welchem Mackenzie
sich selbst entweder garnicht oder nicht nochmals bekennen mochte, häufig aus
dem Munde der hohen Frau vernehmen, und es ist vorgekommen, daß energische
Zeichen ihrer beeinflußten Ansicht mit unterliefen. Wenn Bergmann zugibt, daß
die Kronprinzessin ihm am 27. Februar eine klare Absage Mackenzies über¬
mittelte mit dem Bedeuten, San Remo doch zu verlassen, so bildete diese Wendung
nur den Abschluß einer Skala ähnlicher Winke. Sie waren etwa nach dem Muster
gehalten, das der alte Fritz gegen Verwandtenbesuch anwendete, dessen Dauer ihm
genügend schien: je I'spprencis aveo mille reZrets votrs avis as partir cM
marcii procnAin; jedoch ohne die zopfige Umschreibung. Worauf Bergmann in
San Remo bisher nichts übriggeblieben war, als die matzgebende Instanz hervor-
zukehren, die ihn entsandt hatte. Als er endlich, vom Kronprinzen mit gewohnter
Huld und dem rührenden schriftlichen Ausdruck des Dankes für sein Kommen und
getreuliches Aushalten entlassen, am 9. März in Berlin eintraf, war Kaiser
Wilhelm dem Kummer der letzten Monate eines langen und gesegneten Lebens
entrückt; Kaiser Friedrich aber, selbst den Tod im Auge und der Sprache beraubt,
stand im Begriff, sich ebenfalls in die Mitte seines trauernden Volkes zu begeben.
Während der neunundneunzig Tage blieb Sir Morett Mackenzies Vertrauens¬
stellung, die er nun auch vollends betonte, wohl im ganzen unerschüttert! von den
letzten Tagen in Potsdam 'hat allerdings sehr wenig verlautet. Immerhin ist
interessant, daß nach Bergmanns Briefen aus San Remo die Qualität des eng¬
lischen Spezialisten bisweilen sogar von der Kronprinzessin angezweifelt wurde.
Bergmann hatte ein „wichtiges Aktenstück" darüber bewahrt, einen Brief der hohen
Frau, worin es heißt: „Die chirurgische Behandlung der Wunde ist längst beendet;
ich habe schon seit acht Tagen Mackenzie gebeten, seine Kehlkopfbehandlung streng
durchzuführen, damit er Zeit hat, sich zu überzeugen, daß sie nichts hilft." Aller¬
dings ist dies eben nur ein Bruchstück, für dessen Tragweite es auf den allgemeinen
Zusammenhang ankäme. Der Brief gehört übrigens zu dem Abschnitt über Prof.
Kußmauls Besuch Ende Februar, wozu gleichfalls viele noch unbekannte Einzel¬
heiten beigesteuert sind.
Den Abschluß der im Juli 1888 veröffentlichten amtlichen Darstellung über
die Krankheit Kaiser Friedrichs des Dritten bildete der Sektionsbefund. Er brachte
nach allem, was vorausgegangen und worüber leider vor dem Publikum so unnütz
breit debattiert worden war, den als notwendig erkannten Austrag. Erst ans
der neuen Bergmann-Biographie aber erfahren wir, wie die Maßnahme zustande
kam. „Die Sektion der Leiche sollte anfangs unterbleiben, aber da sie das einzige
Mittel war, der mißhandelten Wahrheit zum Siege zu verhelfen, wandte sich
Bergmann durch Schweningers Vermittlung an Bismarck mit der Bitte, die Sektion
zu veranlassen. Mitten in der Nacht wurde Bergmann in das Reichskanzlerpalais
beschieden. Er traf den Kanzler und Schweninger jeden vor einer Maß Bier
sitzen. Bismarck war anfangs nicht dazu zu bringen, hier einzugreifen: er habe
schon genug Schwierigkeiten; da die Kaiserin Friedrich die Sektion nicht wünsche,
so wolle er ihr darin nicht entgegenhandeln. Da warf Schweninger die Frage
dazwischen: .Sind denn aber nicht alle Hohenzollern seziert worden?' — .Herbert
soll kommen!' befahl Bismarck. Er kam, und sehr schnell wurde festgestellt, daß
nach den Bestimmungen des Königlichen Hausgesetzes die Todesursache des
Monarchen unter allen Umständen authentisch festzustellen sei. Jetzt erst erklärte
sich Bismarck bereit, namens des Staatsministeriums die Genehmigung des Kaisers
zur Vornahme der Sektion zu erbitten. Nachdem Bergmann auch noch am Morgen
des 16. Juni Gelegenheit gehabt hatte, dem Kaiser mündlich die Bitte zu wieder¬
holen, willigte er ein, doch sollte sie sich nur auf diejenigen Teile beschränken, die
zur Feststellung des Leidens, dem Kaiser Friedrich erlegen, unerläßlich waren." —
Bergmann gesteht, er habe während der letzten Leidenszeit des Kaisers unter dem
Einfluß eines Schauders bei jedem Gedanken daran gestanden, und erst die Er¬
lösung des edlen Dulders habe auch ihm die innere Fassung wiedergebracht.
Ein verwandtes Gefühl beschleicht wohl auch den Laien von Empfindung
für menschliches und nationales Leid noch immer, wenn er sich in die näheren
Berichte darüber abermals vertieft hat. Keins der ragenden Denkmäler aber, die
treue Pietät und Verehrung Kaiser Friedrich in deutschen Landen errichtet haben,
betrachten wir ohne vorwaltende Trauer um den schmerzlichen Abschied des recken¬
haften Fürsten von seinem Leben und Wirken.
Unsere Vorliebe für die nordische Literatur
verhilft auch dem (trotz einiger Reklanchefte)
seit langem bei uns vergessenen Dänen Adam
Oehlenschliiger zu einer fröhlichen Urständ.
Es gab eine Zeit, wo der „Goethe des Nordens"
und der Heraufführer der Romantik in Däne¬
mark Heimatrecht bei uns genoß, wo seine
Dramen auf unseren Theatern gespielt wurden,
er selbst mit den Größen der deutschen Lite¬
ratur — ich erinnere nur an Goethe und
Tieck — freundschaftlich verkehrte, wie ihm
auch unvergessen ist, was er an dem jungen
armen Hebbel in Kopenhagen Gutes getan.
Aber wer kennt, außer den Zunftgelehrten,
heute noch die meistens vom Verfasser selbst
in ein nicht immer einwandfreies Deutsch
übertragenen Einzelwerke, wer die zweimal
(Breslau 1329/30 und erweitert 1838) heraus-
gekommene große deutsche Gesamtausgabe?
Es mag sein, daß der unbekannte Verlag mit
dazu beigetragen hat, den Dichter bei uns
in Vergessenheit geraten zu lassen, aber in der
Hauptsache lag der Grund doch auf anderem
Gebiete: Die Zeit war eine andere geworden;
Ibsen, Björnson, Strindberg, überhaupt die
Moderne, verdrängten ihn.
Da ist es nun zu begrüßen, daß der
Holbein-Verlag in Stuttgart es unternimmt,
aus den Werken des einst von Tegner zum
Dichter gekrönten Poeten in Neuausgaben zu
bringen, was ihm davon noch heute voll
Leben und von Wert scheint. In einer ge¬
diegenen, ja kostbaren Ausstattung liegen
bislang „Die Inseln in: Südmeer" und
„Waulundur" vor. Das erste ist ein, wie
Richard M. Meyers treffliche Einleitung des
näheren ausführt, auf Grund der Schnabel-
schen „Insel Felsenburg" entstandener Aus¬
wanderer- und Abenteuerroman, auch heute
uoch recht lesbar, vielleicht gerade infolge
seines altväterlichen Stiles uns behaglich an¬
mutend, breit, voll geistreicher Unterhaltungen,
voll Fülle der Lebensgestaltung. Er gibt in
seinen in großer Anzahl in eine Nahmen¬
geschichte eingefügten Novellen und Erzählungen
ein anregendes Bild des sechzehnten bis acht¬
zehnten Jahrhunderts, deren hervorragendste
Vertreter, Kolumbus, Luther, Shakespeare,
Peter der Große u. a. in. uns vorgeführt
werden. — Das andere, eine nordische
Heldensage, zu der Hugo L. Braune eine
große Anzahl charaktervoller prächtiger
Schwarzweißbilder geschaffen hat, ist die
Wielandsage in Oehlenschlägerscher roman-
tischerBearbeitnng. Auch diese Unternehmungen
Oehlenschlägers waren durch die gelehrte
Richtung der Folgezeit, die die Sagenwelt
unserer Altvordern in der Urgestalt und nicht
in Bearbeitungen kennen lernen wollte, in den
Hintergrund gerückt; in dieser neuen Ausgabe
aber wird Waulundur, der kunstgeübte Finnen¬
jüngling, der die Walküren-Schwanenjungfrau
heiratet und vom König Nidudr so grausam
gequält wird, bis er blutige Rache an ihm
und seiner Familie nehmen kann, seinen Platz
in der Jugendbücherei wiedergewinnen, für
den er empfohlen zu werden verdient. Einige
kurze , Erklärungen nordischer Namen, wie
Eyr, Hnos, Siofn, Hlidskialf, Walaskialf u. a.
wären bei einem Neudruck für diesen Zweck
Die besten Romane der Gegenwart und
Vergangenheit Deutschlands und des Aus¬
landes zu vereinigen, ist das weitgesteckte
Ziel einer neuen Bibliothek der Romane,
die Paul Ernst im Inselverlag zu Leipzig
herausgibt. Die bisher erschienenen Bänve
enthalten folgende Werke: „Die letzte Recken-
burgerin" von Louise von Fran?vis, „Ricks
Lyhne" und „Frau Marie Grnbbe" von I, P.
Jacobson, „Ivanhoe"und „DcrTalisman" von
Walter Scott, „FrcmBovary" von Flaubcrt,
„Die Hosen des Herrn von Bredow" von
Willibald Alexis, „Die Bohöme" von Murger,
„Väter und Söhne" von Turgenjeff, „Wie Ali
der Knecht glücklich ward" von Jeremicis Gott¬
helf. In jedem Jahre sollen zehn Bände
herausgegeben werden, die schlicht-vornehm
ausgestattet in Leinen je 3 M, in Leder 5 M,
kosten. — Das Ausland ist, wie man sieht,
stark bevorzugt, wobei gern anerkannt sei,
daß die Übersetzungen, soweit ich bei Stich-
Proben sehen konnte, sorgfältig und dem Geist
der deutschen Sprache gemäß ausgeführt sind.
Aber gibt es nicht genügend deutsche Romane
der nahen und ferneren Vergangenheit, die
es verdienen, in die Sammlung aufgenommen
und so uns wieder nahe gebracht und
leicht zugänglich zu werden? Ähnliche
Schätze, wie Gotthclfs „Ali der Knecht",
die nur den Literarhistorikern — und dann
auch oft bloß dem Namen nach — bekannt
sind, harren noch reichlich der Wiedererweckung.
Dabei braucht man gar nicht an die Werke
der „großen und kleinen" Klassiker zu denken.
Hoffentlich wird sich dieser Mangel der Bi¬
bliothekin den nächsten Jahren ausgleichen. —
Der Herausgeber hat den meisten Romanen
ein kurzes Nachwort beigefügt. Dagegen wäre
natürlich durchaus nichts einzuwenden, wenn
darin etwa eine kurze Biographie des Autors
und eine knappe Einführung in sein hier neu¬
gedrucktes Werk gegeben würde, wie es bei
Turgenjeffs „Väter und Söhne" geschehen ist.
Paul Ernst aber berichtet z. B., daß Walter
Scott sich durch seine Schriftstellerei bald ein
bedeutendes Vermögen erworben habe, und
daß es wenige Dichter geben dürfte, die so
viel verdient hätten wie er. Von Willibald
Alexis dagegen erfährt man, daß er nußer
zu redaktioneller und journalistischer Tätig¬
keit zu einer gewissen Vielschreiberei gezwun¬
gen gewesen sei, da es ja für einen guten
Dichter in Deutschland nur selten möglich
wäre, von dem Ertrage seiner Arbeiten zu
leben. Ist das Hervorheben dieser Tatsachen
wirklich so wichtig in einem Nachwort, das
kaum vierzig Zeilen lang ist? Doch nicht
darauf kommt eS an, was uns der Heraus¬
geber zu sagen hat, sondern was uns die
orliegenden Romane selbst bieten. Und da
rscheint es mir besonders glücklich, daß das
eue großzügige Unternehmen des JnselverlagS
mit Luise von FranyoiS Meisterwerk „Die letzte
Reckenburgerin" eingeleitet wird, von dem
Gustav Freytag vor nunmehr vierzig Jahren
agte: „Es ist echte Dichtergäbe. Die Leser
werden mit der Empfindung von dein Werke
cheiden, daß sie eine sehr ungewöhnliche
Gabe empfangen haben. Der Roman soll,
o hoffen wir, sich in den Herzen einbürgern
und seine Bedeutung in unserer schönen
Vor kurzen: brachten die Zeitungen die
Nachricht, daß die Preußische Regierung dem
Berliner Phonogramm-Archiv für das Jahr
911/12 einen Beitrag von 6000 Mark be¬
willigt habe. Damit hat der Staat ein neues
Wissensgebiet offiziell anerkannt, das heute
noch von vielen als ein ziemlich nutzloser
wissenschaftlicher Sportplatz angesehen wird.
Der Grund dieser bösen Verkennung ist Wohl
n dein Umstand zu suchen, daß es den meisten
bis jetzt schwer möglich war, sich eingehend
über das Wesen der vergleichenden Musik¬
wissenschaft zu unterrichten. Denn wenn deren
Materie auch in gelegentlichen Aufsätzen einem
größeren Publikum vorgeführt wurde (auch
ie Grenzboten enthielten in Heft Is einen
Artikel über exotische Musik), so fehlte es doch
an einem Werke, das durch eine genaue und
übersichtliche Zusammenstellung aller wesent¬
ichen Punkte sowie der bisherigen Forschungen
und Ergebnisse dem Leser die junge Wissen¬
chaft in allgemein verständlicher Form nahe¬
gebracht hätte. Dieser Mangel ist nun be¬
hoben durch das kürzlich im Verlage von
I. A. Barth in Leipzig erschienene Buch:
„Die Anfänge der Musik" von Carl Stumpf,
dem das Berliner Phonogramm-Archiv be¬
anntlich seine Entstehung zu verdanken hat.
„Alle Dokumente, die Licht auf die Ur¬
geschichte und die noch bestehenden tieferen
Kulturstufen unseres Geschlechtes werfen kön¬
nen, verdienen genaueste Analyse. Untersuchen
wir gewissenhaft prähistorische Töpfe und Scher¬
ben und jede Kante eines Eolithen, ... so
müssen wir auch den musikalischen Produkten
primitiver Völker ein objektives und eindrin-
gentes Studium widmen ... Es ist vorläufig
nicht möglich und wird vielleicht auch später
nicht möglich sein, aus den sämtlichen musi¬
kalischen Produkten der Menschheit eine ein¬
deutig fortschreitende Reihe aufzustellen, weil
der Fortschritt vou Anfang an in sehr ver¬
schiedenen Richtungen erfolgt. Dagegen wer¬
den wir allmählich bei den geographisch benach¬
barten oder ethnologisch zusammenhängenden
Völkergruppen auch immer mehr zusammen¬
hängende oder verwandte musikalische Zustände
finden und so ein großes einheitliches Bild
der musikalischen Leistungen gewinnen/'
bemerkt und sich zunutze gemacht haben; mit
anderen Worten: sie verwendeten bei mehr¬
stimmigen Signalrufen mit Absicht die Oktave
und auch die Quinte und Quarte. Nachdem
diese Intervalle aber erst einmal Beachtung
gefunden hatten, versuchten Wohl einzelne, dem
Spieltrieb folgend, ihre beiden Töne auch nach¬
einander zu singen. Kleine Tonschritte sind
allerdings nach Stumpfs Annahme auch ohne
vorhergehendes gleichzeitiges Singen ent¬
tanden, aber sie brauchten den musikalisch
ausgezeichneten Stufen (Ganzton, Halbton)
nicht zu entsprechen; diese sind in ihrer festen
Abgrenzung erst auf Grund der konsonanten
Intervalle möglich.
Das Stumpfsche Werk, dem diese Sätze ent¬
nommen sind, weist aber nicht nur die Existenz¬
berechtigung des neuen Forschungsgebietes
uach, sondern legt auch in äußerst ansprechen¬
der Weise dar, wie viel allgemein Interessantes
und Anregendes dieses birgt. Die Frage nach
dem Ursprung der Musik beantwortet Stumpf,
nachdem er die betreffenden Theorien von
Darwin und Spencer sowie die heilte sehr
verbreitete Annahme, daß die Musik uns dem
Rhythmus entstanden sei, widerlegt hat, mit
dem Faustischen Wort: „Im Anfang war die
Tat." Nach seiner Ansicht verdankt die Ton¬
kunst biologischen Bedürfnissen ihr Entstehen.
Einen der wichtigsten Zeugungsfaktoren glaubt
er im akustischen Signnlwesen zu erblicken.
Will man sich ans weite Entfernungen durch
Zuruf verständigen, so verweilt die Stimme
deS Rufenden naturgemäß auf einem hohen
Ton, wie er seiner Stimmlage bei stärkster
Lautgebung gerade am angemessensten ist.
Rufen nun der Signalverstärkung wegen
mehrere Individuen zusammen, die verschie¬
denen Geschlechtes und Alters sind, so ent¬
stehen, da aus physischen Gründen nicht alle
die gleiche Tonhöhe zu erzeugen vermögen,
mannigfache Zusammenklange, die zunächst
Wohl nicht eben harmonisch find. Das Be¬
streben, den nämlichen Ton zu singen, mag
dann allmählich zu einer Auswahl geführt
haben. Bestimmte Zusammenklange zeichnen
sich nämlich durch ihre einheitliche Wirkung
aus, wie bereits in: Altertum erkannt, von
Stumpf aber auch experimentell nachgewiesen
wurde. Diese Eigenschaft mögen nun die
Urmenschen an den betreffenden Intervallen,
nämlich der Oktave, Quinte und Quarte, wenn
sie sie beim Zusammensingen zufällig trafen,
Die theoretische Untersuchung über den Ur¬
prung der Musik nimmt aber nur einen geringen
Teil des Stumpfschen Werkes in Anspruch.
Die dazu gehörigen Anmerkungen freilich
üllen in ihre», Kleindruck einen größeren
Raum, wie der Haupttext, von dem sie ge¬
ondert stehen. Ihre genaue Lektüre sei be¬
onders empfohlen, weil in ihnen manche
musikpsychologischen Fragen von großer Be¬
eutung, die und der in dem Buch behandelten
Materie irgendwie in Verbindung steht, be¬
prochen wird.) Der größere Teil des Buches
st der Untersuchung der heute uoch erhaltenen
Dokumente primitiver Musik: der Instrumente
nd Melodien der sogenannten Naturvölker,
ewidmet. Nachdem noch im ersten Teil ein
Kapitel von den primitiven Tonwerkzeugen
etliche von ihnen werden in guten Abbil¬
ungen gebracht), deren Entstehen, Be¬
chaffenheit und Einfluß auf die musikalische
Entwicklung, und ein zweites von Mehrstim¬
migkeit, Rhythmik und Sprachgesang handelt,
werden im zweiten Teil zahlreiche Gesänge
er Naturvölker in Noten mitgeteilt und ein¬
ehend analysiert. Die Auswahl dieser in
ezug auf rhythmische und melodische Ge¬
altung meist äußerst lehrreichen musikalischen
Stücke — sie sind zum größten Teil der um¬
angreichen Sammlung des Berliner Phono-
ramm-Archivs entnommen — ist eine aus¬
ehmend glückliche: ein ansprechenderes und
ugleich übersichtlicheres Bild von dem heutigen
Stand der vergleichenden Musikwissenschaft,
weit sie sich init primitiver Tonkunst be¬
chäftigt, könnte wohl nicht gegeben werden.
Das ist die schwere Zeit der Not. So
betitelt Herr Handelskammersyndikus Beudel-
Fmnkfurt a, O. einen Artikel in Ur. 42 der
Grenzboten. Es sei gestattet darauf zu ent¬
gegnen, denn die Leser, die in diese Fragen
nicht eingeweiht sind, werden durch den Artikel
nicht richtig instruiert. Den Hauptgrund der
Fleischteuerung verschweigt der Verfasser näm¬
lich. Und da er ihn verschweigt, so ist er
natürlich auch nicht in der Lage, das Haupt¬
mittel zur Abhilfe anzugeben. Der Herr Land¬
wirtschaftsminister hat in den Teuerungs¬
debatten im Reichstage folgendes Zahlenbild
gegeben:
pro Doppelzentner.
Von 1891/95 betrug also die Spannung
32 Mark, von 1906/10 43 Mark, und trotzdem
der Schweinepreis 1911 um 16 Mark zurück¬
ging, blieb der Schweinefleischpreis auf 165
Mark stehen und die Spannung betrug 57 Mark.
Dies Zahlenmaterial sollte dem Städter zu
denken geben. ES muß ihn? doch dabei ein
Licht aufgehen, Vasz nicht, wie es dem Kon¬
sumenten in der Stadt vorgeredet wird, die
Landwirtschaft, sondern ganz andere Kreise
an der Fleischteuerung schuld sind. Nicht sind
es die kleinen Fleischer, aber der Großhandel
ist es, der das Fleisch verteuert, und zwar in
ganz überflüssiger Weise, nur um einen großen
Gewinn für sich zu erzielen. Vom Landwirt
verlangt man, er solle auf die Geldverhält¬
nisse der Konsumenten Rücksicht nehmen, be¬
sonders die linksstehende Großstadtpresse ver¬
langt es auf heftigste. AVer erst recht vom
Großhändler eS zu verlangen, daran denkt
man nicht. Wenn aber die Städter erst trotz
der Presse zu dieser Überzeugung gekommen
sein werden, dann werden sie auch erkennen,
wie allein Abhilfe geschafft werden kann. Das
kann^ur geschehen, indem sich die Konsumenten
zu Genossenschaften zusammenschließen, die das
Vieh unter Umgehung des Handels direkt von
der Landwirtschaft, von landwirtschaftlichen
Genossenschaften kaufen. Die Konsumenten
werden sich Wundern, wie billig sie dann zu
utem Fleische gelangen werden. Und wenn
ie Genossenschaften dann Lieferungsverträge
chließen, so wird sich auch der Viehbestand auf
emi Lande noch bedeutend vermehren, da die
Viehzüchter dann die Gewißheit haben, ihr Vieh
bestimmt zu einem annehmbaren Preise los¬
uwerden, während sie heute den Geschäftsrück¬
ichten der Händler auf Gnade und Ungnade
verkauft sind. Wenn der Landwirt bestimmt
weiß : das Vieh, was ich heute zur Mast auf¬
telle, werde ich nach einer bestimmten Zeit
u einem annehmbaren Preise los, so stellt
r auch eine Menge auf. Heute, wo er nicht
weiß, wie seine Chancen dann sein werden,
ann er das natürlich nicht riskieren. So
wird also auf diese Weise beiden Teilen ge¬
holfen. Der Konsument erhält billiges Fleisch
und der Produzent kann auf sichern Gewinn
echnen und deshalb auch seinen Viehbestand
bedeutend vermehren, was dann indirekt dem
Konsumenten auch wieder zu gute kommt.
Wozu Büchsenfleisch, wenn wir gutes frisches
Fleisch erhalten können? Aber das ist eben
nur möglich, nicht, wenn man auf die Land¬
wirte schimpft,sondernwenn man dem Zwischen¬
handel zu Leibe geht. Zu denken möge dem
Konsumenten auch folgendes geben. Woher
ommt es, daß die meisten Jagdpächter
der Gemeindejagden Viehhändler und Grosz-
chlächter sind? Wer gibt ihnen das Geld
dazu, diese Jagden zu Preisen zu pachten,
die nicht annähernd dem wirklichen Werte ent¬
prechen? Woher kommt eS, daß gerade diese
Kategorie so viel Geld übrig hat? Woher?
Und glaubt der Konsument, die Händler
würden das Fleisch auch wirklich billiger ver¬
aufen, wenn es möglich sein sollte, aus dem
Auslande billiges Fleisch zu bekommen?
Nehmen wir an, sie erhielten es 1911
tatt wie jetzt vom Landwirt für 108 Mark
vom Auslande für 100 Mark, dann wür¬
den die Fleischpreise vielleicht, um einen
alschen Schein zu erwecken, von 165 auf
163 Mark heravsinten, die Spannung würde
aber statt 57 Mark 63 Mark betragen. Oder
glaubt der Konsument, der Zwischenhandel,
der sich nicht geniert, eine Spannung von
57 Mark hervorzurufen, werde sich genieren,
Die Vorgänge im Reichstag während der abgelaufenen Woche haben ein
grelles Schlaglicht auf die Bestrebungen geworfen, die versuchen werden sich bei
den nächsten Wahlen durchzusetzen: Freihandel und Parlamentarismus.
Der Herr Reichskanzler hat unzweideutig sowohl durch seine Rede wie durch die
norddeutsche Allgemeine Zeitung zum Ausdruck gebracht, daß er weder für das
eine noch für das andere zu haben sei. Er und nach ihm zwei Ressortminister
haben zum Schutz des bestehenden Wirtschaftssystems und zum Schutz der nationalen
Arbeit aufgerufen. Die Ausführungen der Herren Minister über die
Teuerung stützten sich auf ein sachlich einwandfreies Material und sind wohl
geeignet, alle die von der Unabänderlichkeit der wirtschaftlichen Verhältnisse zu
überzeugen, die die Reden im Zusammenhange lesen oder hören konnten. Aber,
und das ist ihr schwerwiegender Mangel, sie können niemanden, der unter den
herrschenden Zuständen irgend leidet oder sich bedrückt fühlt, bewegen, die Hoffnung
fahren zu lassen, durch eine Änderung des Systems zu besseren Tagen zu ge¬
langen. Dazu entbehrten die Reden denn doch zu sehr der Wärme und des
Mitgefühls mit den Kreisen, die am meisten unter der Notlage zu leiden haben.
Und weil sie dessen entbehrten, erhielten sie für die breite Öffentlichkeit den
Stempel einseitiger Parteinahme für die Agrarier. Daß solche Auffassung un¬
richtig ist, kann die Wirkung der Reden auf die Stimmung im Lande leider nicht
ändern. Infolgedessen dürfen wir zwar von einer Klärung der politischen Lage
sprechen, nicht aber von einer Beruhigung. Im Gegenteil: nach dem
ehrlichen, aber nicht zweckmäßigen Bekenntnis des Herrn Reichskanzlers, daß die
Negierung Abhilfemittel nicht kenne, werden sich viele, die noch unschlüssig da¬
standen, an die Demokraten wenden, die behaupten, in dem Freihandel das
Allheilmittel gefunden zu haben.
Das Verhalten der Reichsregierung in der Teuerungsfrage ist nur
dann recht verständlich, wenn sie mit absoluter Sicherheit auf die Nachfolge der
Rechtsparteien, des Zentrums, der Nationalliberalen und eines Teiles der Frei¬
sinnigen rechnet. Das scheint mir aber doch eine zu optimistische Auffassung der
Lage. Selbst gesetzt den Fall, daß die nächsten Wahlen im Reichstage eine
Mehrheit aus Konservativen, Zentrum und Nationalliberalen zustande kommen
lassen, was durchaus nicht sicher ist, glaube ich, daß die Rechnung mit dem
Zentrum und den Liberalen nicht ganz stimmt. Die Reden des Zentrums¬
mannes Heim und der liberalen Abgeordneten deuten schon bei der jetzigen
Zusammensetzung aus tiefere Meinungsverschiedenheiten in den Fraktionen gerade
in der wichtigsten Frage über das Maß des Schutzes der nationalen Arbeit.
Im neuen Reichstage aber dürften diese nach allgemeiner Auffassung noch stärker
hervortreten als gegenwärtig, und die Regierung ebenso wie die Rechtsparteien
werden große Konzessionen aus anderen Gebieten machen müssen, wenn sie es
nicht zu ernsten innerpolitischen Konflikten und Versassungskämpfen kommen
lassen wollen. Wo die Konzessionen liegen, ist in den Grenzboten schon von
Autoren der verschiedensten Parteirichtnng gezeigt worden. Nur die Befreiung
des Grund und Bodens aus den Händen der Spekulation im Zusammenhang
mit einer gerechteren Verteilung der Steuern kann das Reich und die Einzel¬
staaten dauernd aus den allmählich chronisch werdenden Wirtschaftskrisen und damit
die Bevölkerung aus der Unzufriedenheit mit allen Einrichtungen des Staates
hinausführen. Ich kann mir denken, daß mancher Bekümmerte, der heute mit
der Freihandelsparole liebäugelt, sich den Argumenten des Herrn Reichskanzlers
gern fügen würde, wenn sich ihnen eine Art Wirtschafts- und Steuerprogramm
aus bodenreformerischer Grundlage angefügt hätte.
Zielscheibe der heftigsten Angriffe waren bei den Teuerungsdebatten vor allem
die Einfuhrscheine. Die sichtliche Ungerechtigkeit dieser Einrichtung liegt in der
Tatsache, daß es möglich ist, deutsches Getreide im Auslande, besonders in Ru߬
land, billiger zu verkaufen als in Deutschland selbst. Es scheint somit, daß die
deutschen Verbraucher seitens der Landwirte um die Differenz, die das deutsche
Getreide in Deutschland teurer ist als z. B. in Rußland, übervorteilt werden.
Nun muß vorausgeschickt werden, daß den sichtbaren Vorteil an der Differenz
nicht so sehr der Landwirt, als der Getreidehändler hat, woraus es verständlich
wird, warum die liberalen Agitatoren in Ostpreußen das Wort Einfuhrscheine
nicht in den Mund nehmen. Schon diese Tatsache allein sollte lehren, wie bedenklich
es ist, Einzelerscheinungen zu verallgemeinern. Die Gegner des Schutzzolles auf
landwirtschaftliche Erzeugnisse kommen in diesem Falle nicht dazu, das Kind mit
dem Bade auszuschütten, wenn sie die Abschaffung der Einfuhrscheine fordern.
Denn dadurch würden sie ein System zerstören, das den Kanal darstellt, durch
den die deutsche Volkswirtschaft jährlich Millionen aus Rußland zieht. Um sich
diesen Nutzen recht vergegenwärtigen zu können, tut man gut, zu prüfen, was
der ausländische Kontrahent über die Wirkungen des Zolltarifs und seiner Einzel¬
bestimmungen zu sagen hat.
In Rußland hat der Kampf um den neuen Zolltarif bereits vor
einem Jahre unter Führung der Moskaner Fabrikanten begonnen. Herr
Timirjasew, ihr Wortführer, fordert die Erhöhung aller Zölle auf ausländische
Jndustrieerzeugnisse, und sein Leiborgan „Industrie und Handel" schreibt, es
bestünde kein Zweifel darüber, daß für Rußland die Grundlage aller Wirtschafts¬
politik im unentwegter Festhalten am Schutzzollsystem ohne die geringste Ab¬
weichung zu suchen ist. Die amtliche „Handels- und Industrie-Zeitung" meint
zwar, eine derartige Politik sei ohne Schaden für das Land, das sie befolgt, nicht
denkbar, zeigt aber, daß die russische Regierung durchaus nicht geneigt ist, den
bestehenden Zolltarif weiter anzuerkennen. „Wenn wir, so heißt es dort, die
Zölle auf Rohmaterial und Halbfabrikate heruntersetzen, bringen wir zahlreiche
deutsche Industrielle in unserm Kampf gegen die Ansprüche der deutschen Agrarier
auf unsere Seite." Was aber unter den „Ansprüchen der deutschen Agrarier" in
Rußland verstanden wird, lehrt ein langer Aufsatz von W. P. Drosdow, der zeigt,
welchen Nutzen Deutschland aus seinem Handelsvertrage mit Rußland insonderheit
aus seinen Getreidezollen und dein Einfuhrscheinsystem zieht. Das Einfuhrschein¬
system wirkt auf die Preisbildung in Libau, Odessa, Königsberg und Antwerpen
derart, daß Deutschland allein am russischen Roggen, Hafer und Weizen während
der Jahre 1906 bis 1909 jährlich 51,9 Millionen Rubel oder rund 110 Millionen
Mark gewonnen haben soll, die der russischen Volkswirtschaft durch eine Abänderung
des Systems leicht wieder zugeführt werden könnten"). Allein diese Angaben sollten
geeignet sein, die deutschen Gegner des Schutzzollsystems zu recht eingehender Prüfung
der freihändlerischen Vorschläge zu veranlassen. Auch sie zeigen, daß die Haupt¬
aufgaben unserer Wirtschaftspolitik gegenwärtig nicht so sehr auf dem Gebiet der
Zölle als auf dem der Steuern liegen. Nicht unsere Wirtschaftspolitik bedarf
einer Änderung, aber der Modus, wie die durch sie eingeheimsten Gewinne zur
Verteilung kommen. Die Ausführungen des amtlichen russischen Blattes lehren
uns aber auch, wie nötig wir die Einigkeit im Innern haben, wollen wir bei
den kommenden Verhandlungen über den Zolltarif in Ehren bestehen.
Am Sonnabend wurde bekannt, der .Herr Reichskanzler beabsichtige, dem
Reichstage das Material über den Marokko- und Kongo-Vertrag mit Frank¬
reich am 1. November zuzustellen, so daß die Abgeordneten eine volle Woche
Zeit haben sich auf die Besprechung im Reichlag am 8. November vorzubereiten.
Diese Haltung dem Reichstage gegenüber ist die logische Konsequenz ihrer Haltung
während des ganzen Sommers, wo sie sich trotz der heftigsten und ungerechtesten An¬
griffe weder zu Mitteilungen noch Erwiderungen hat hinreißen lassen. Ein Teil der Na¬
tionalliberalen hat dies Verhalten als eine bewußt zur Schau getragene Mißachtung
der Volksvertretung aufgefaßt und danach seine Taktik eingerichtet. Schon im
Sommer wurde die Einberufung des Reichstages gefordert, um „der Regierung
zu helfen, die Verantwortung vor dem Lande zu tragen", und jetzt ist der unglück¬
selige Antrag der nationalliberalen Fraktion beim Seniorenkonvent des Reichstages
geboren worden, der noch in letzter Stunde der Entwicklung in die Speichen
greifen wollte. Die Parteileitung hat ihre Kräfte überschätzt und muß sich nun
gefallen lassen, daß sie von den Gegnern wenn auch ungerechterweise einer un¬
würdigen Verquickung von Wahlagitation und nationalen Fragen geziehen wird.
Die „Anregung" im Seniorenkonvent war ein Schlag ins Wasser.
In der Presse und wohl auch in der Gesellschaft beginnt eine ruhigere
Auffassung von dem Marokkoabkommen einzutreten. Nicht ohne Bedeutung
für den Fortgang der Beruhigung sind wohl auch die Berichte Emil Zimmer-
manns über das Kongogebiet. Der verdiente Kolonialpolitiker hält zwar das als
Kompensationsgebiet in Aussicht genommene Land zwischen Kamerun und dem
Kongofluß an sich für nicht sehr wertvoll, aber doch für eine bedeutungsvolle und
zukunftreiche Erweiterung unseres Kolonialbesitzes. Was Herr Mehrmann in Heft 43
der Grenzboten andeutete, belegt Zimmermann mit konkreten Hinweisen. Er
schreibt u, a.:
„Der belgische Kongo wird in wenigen Jahren eine Gllterbewegung von mehreren
hunderttausend Tonnen haben; große Handels- und Verkehrsmöglichkeiten sind da. Das
wissen die Engländer sehr Wohl, die uns durchaus voni Kongo fortdrängen wollten; das
weiß jeder, der sich mit zentralafrikanischen Wirtschafts- und Verkehrsfrageu befaßt. Wenn
irgend eine Möglichkeit gewesen wäre, den französischen Kongo ganz zu erhalten, wir hätten
die Möglichkeit ergreifen und selbst Opfer dafür bringen sollen. . . . Am Kongo haben wir
leider nicht das erreicht, was wir wollten und wollen mußten. ... Unsere öffentliche Meinung
hat nicht erkannt, um was es sich handelte. Es sind Resolutionen zugunsten des Hinter¬
landes von Agadir gefaßt worden, wo sich keine Aussicht auf eine Kolomalpolitik mit großen
Zielen geboten hätte; verächtlich schreiben heute noch deutsche Zeitungen von den wertlosen
Kongosümpfen, in demselben Tone, in dein einst ein Eugen Richter von den .wertlosen
Sümpfen und Steppen' in Deutsch-Ostafrika sprach. Diejenigen, die auf den Kongo heute
immer noch schelten, haben kein Verständnis für große Verkchrsfragen und ihre Rolle in
der Geschichte der Menschheit: auch die Verständnislofigkeit in Deutschland ist schuld an dem
Ausgange der Kongo-Marokko-Affäre, der nicht ganz befriedigt. Das deutsch-französische
Abkommen ist in seinen Einzelheiten noch nicht bekannt; aber was man von den Grundzügen
hört, läßt die Hoffnung zu, daß wir wenigstens einen Teil des für uns Erstrebens¬
werten erreichen werden. Wir kommen — soviel man hört — an den Kongo und
auch an den Ubcmghifluß; vom Kongo aus können wir die Schiffahrt den Sangnfluß auf¬
wärts in die Hand nehmen und die südwestliche Ecke von Kamerun entwickeln, die bisher
schwer erreichbar war, auch an der Kongoschiffahrt können wir teilnehmen. Wenn wir weiter
am Ubanghi eine größere Station für drahtlose Telegrciphie errichten, können wir das in
Luftlinie 1S00 Kilometer entfernte Bukoba oder das 1800 Kilometer entfernte Mucmza
erreichen; die Möglichkeit, mit allen unseren Kolonien in von England unabhängige Ver¬
Es sind recht schwere Sorgen, die Handel und Wandel in diesem Spätherbst
bedrücken. Wohin sich auch der spähende Blick wendet, kein Hoffnungsstrahl eines
besseren Tages will aufglimmen; der Horizont bleibt umdüstert, und zu allem Unheil
gesellt sich Woche um Woche neues. Die Zuversicht auf eine schleunige Beendigung
der italienisch-türkischen Wirren ist längst zu Grabe getragen; ein lang¬
wieriger Verlauf des Krieges und tiefgehende Störungen des Handels in der
Levante scheinen heute unabwendbar. Freilich hat die größten Nackenschläge Italien
selbst zu ertragen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Krieg dem italienischen
Wirtschaftsleben schon heute die schwersten Schädigungen zufügt. Insbesondere
leidet die Baumwoll- und Seidenindustrie, die im Orient ihr hauptsächlichstes
Absatzgebiet besitzt. Dazu macht sich eine unangenehm empfundene Geldknappheit
geltend, die in den wirtschaftlichen Kreisen Italiens doch allmählich Bedenken
darüber entstehen läßt, ob das Land finanziell gut genug gerüstet sei, um die
ungeheuren Kosten des Abenteuers, die heute schon auf etwa eine Milliarde Lire
geschätzt werden, ohne die größten Schwierigkeiten tragen zu können. Kurz, so
wenig anfänglich der Kriegsausbruch für den internationalen Handel zu bedeuten
schien, so große Bedenken erweckt der zögernde und schleppende Verlauf des Feld¬
zuges. Und mittlerweile ist eine noch größere Sorge dem deutschen Kapital im
fernen Osten durch die Wirren in China erwachsen, die anscheinend die bestehende
Verfassung und die Mandschudynastie ernstlich bedrohen. Eine lange Dauer des
Aufstandes und ein politischer Umsturz kann von unabsehbaren wirtschaftlichen
Folgen begleitet sein, denn es stehen nicht nur die direkten Beziehungen der
Exportindustrien, sondern vor allem auch die europäischen Kapitalinvesti¬
tionen in Frage. Allerdings hat China seine sämtlichen äußeren Anleihen mit
besonderen Sicherheiten, durch Verpfändung der Seezölle oder innerer Abgaben
ausgestattet. An diesen chinesischen Staatsschulden ist Deutschland sehr erheblich
beteiligt, wenn auch in den letzten Jahren Frankreich und Amerika mehr und
mehr als Geldgeber in den Vordergrund getreten sind. Noch kurz vor Ausbruch
der Unruhen hat eine große internationale Finanzgruppe, an der auch Deutsch¬
land zu einem Viertel beteiligt ist, mit der chinesischen Regierung ein Abkommen
über eine Währungsanleihe von 200 Millionen Mark getroffen. Alles in allem
dürfte Deutschland, dessen Interesse durch den Besitz der Schantungbahn besonders
akzentuiert ist, mit nicht viel weniger als einer halben Milliarde investierten
Kapitals beteiligt sein, also einem sehr erheblichen Betrage. Allerdings sind nun
aber die Anleihen wie gesagt durch besondere Einnahmen gesichert und diese letzteren
großenteils, wie die Seezölle, einer besonderen Verwaltung unterstellt; man wird also
kaum den Zinsendienst als gefährdet betrachten können, auch wenn die Revolution
sich noch weiter ausbreitet oder Erfolg haben sollte. Auch während des Boxer¬
aufstandes sind ja die vertragsmäßigen Rimessen pünktlich eingegangen. Gleichwohl
aber haben die chinesischen Werte und zwar vornehmlich die Schantungaktien
erhebliche Kursverluste erlitten. Im übrigen aber fand sich die Börse mit den
Ereignissen in ziemlicher Ruhe ab; der ohnehin schon sehr eingeschränkte Geschäfts¬
gang ist noch stiller geworden, und von einem gelegentlichen Aufflackern abgesehen,
zeigt die Spekulation keine Neigung zu neuer Betätigung. Verwunderlich ist das
nicht, wenn man sich die Verluste vergegenwärtigt, die in den letzten Monaten
eingetreten sind und sich ohne Unterlaß wiederholen. Eine besonders schlimme
Überraschung bot in den letzten Wochen die Kursentwicklung der Otavi-
anteile, durch welche die traurige Liste der kolonialen Enttäuschungen durch eine
neue Nummer bereichert wurde. Die Begleitumstände des Kursrückgangs haben
eine nicht geringe Erregung hervorgerufen. Man beschuldigte die Verwaltung und
die ihr nahestehenden Kreise ihre Kenntnis von der ungünstigen Gestaltung der
Erzaufschlüsse zu Verkäufen ausgenutzt zu haben, ehe die Öffentlichkeit über den
Stand der Dinge aufgeklärt wurde. Es wird sich schwer feststellen lassen, ob diese
Vorwürfe richtig sind, wenn es auch auffällig bleibt, daß die South West Africa Co.
im Frühjahr plötzlich ihren Besitz von 35000 Otavicmteilen an ein Konsortium
abgestoßen hat, und daß kurz vor der Mitteilung der Verwaltung, welche von der
Verwertung des Erzganges in der Tsumebgrube Kenntnis gab, Hamburger Ver¬
käufe in den Anteilen einen starken Kursdruck ausgeübt haben. Die Erbitterung
der Besitzer, welche die Anteile mit enormem Agio gekauft haben, ist begreiflich;
aber anderseits weiß jeder Sachkenner, daß diese Ausnutzung besonderer Kennt¬
nisse durch die Verwaltungen gerade bei Kolonialwerten außerordentlich häufig
ist. Wichtige Nachrichten über Geschäftsgang, Aufschlüsse, Produktion sind längst
in den Händen der Verwaltung, ehe sie von anderer Seite aus der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht werden können, wenn dies bei den weit entlegenen Produktions¬
stätten überhaupt möglich ist. Es besteht also für die Wissenden immer die Ver¬
suchung, auf Kosten der anderen in die Kursbewegung einzugreifen, Gewinne ein¬
zuheimsen oder einem Schaden zu entgehen, der dann die auf den Papieren sitzen
bleibenden doppelt schwer trifft. Diese Möglichkeit vermehrt und verstärkt das in
dem Erwerb derartiger Papiere liegende Risiko. Und dieses ist an sich wahrlich
schon groß genug. Man sehe sich nur die Liste der Kolonialwerte an! Welcher
Katzenjammer nach dem Begeisterungsrausch zur Zeit des Diamantstebers! Deutsche
Kolonialanteile wurden damals mit 2000 Prozent bewertet und finden heute zu
600 nur schwer einen Käufer. Und mit den übrigen damals so heiß begehrten
Werten steht es nicht viel besser: South West Africa, South Africa Territories,
Kolmanskop, Kaoko, Otavi — an allen hat das kolonialbegeisterte Publikum riesige
Summen verloren. Nicht weil die Unternehmungen schwindelhaft waren oder das
Publikum irreführten, sondern weil man in blindem Eifer trotz aller Mahnungen
die Entwicklungsmöglichkeit und die Gewinne maßlos überschätzte. Nunmehr
kommen die Rückschläge und Verluste, die nicht nur sehr bedauerlich sind, sondern
auch die unerwünschte Folge haben, das Kapital von einer Beteiligung an
kolonialen Unternehmungen abzuschrecken. Es ist also gerade das Gegenteil von
dem erreicht worden, was Dernburg beabsichtigte, als er es unternahm, durch
Vortragsreisen das deutsche Publikum den kolonialen Interessen zu gewinnen. Ihn
trifft an der Entwicklung vielleicht keine Schuld, indem er vor allzu phantasie¬
vollen Beurteilungen gewarnt hat, aber der Optimismus ist doch schließlich seiner
berühmten Dattelkiste entwachsen.
Die Entwicklung der Geldverhältnisse im Monat Oktober war recht
befriedigend. Der Rückfluß zur Neichsbank war außerordentlich stark und höher
als im Vorjahr. Am offenen Markt herrschte zunächst große Flüssigkeit, bis gegen
Mitte des Monats die Sätze wieder anzogen. Die starken Rückzahlungen an das
Ausland sind am Geldmarkt selbstverständlich nicht spurlos vorübergegangen, und
diese jetzt fehlenden Beträge hätten wohl sicherlich schon früher eine fühlbarere
Wirkung ausgeübt, wenn nicht Amerika uns in doppelter Weise zu Hilfe gekommen
wäre. New Uork hat für die Bedürfnisse des Marktes und der Staatskasse zugleich
gesorgt, indem es größere Guthaben, angeblich 60 bis 70 Millionen Dollars,
hierher gelegt und durch Vermittlung der Handelsgesellschaft einen Posten preußischer
Schatzscheine übernommen hat. Die Stagnation im amerikanischen Wirtschafts¬
leben bewirkt, daß New York nicht Mr für die Ernte im eigenen Lande aus¬
reichende Mittel flüssig machen kann, sondern daß es noch von seinem Überfluß
nach Europa abzugeben vermag. Die Begehung von Schatzscheinen nach Amerika
ist ein interessantes Ereignis; es bringt in Erinnerung, daß schon einmal, gelegent¬
lich des Chinafeldzuges, eine Schatzanleihe en bloc nach Amerika begeben wurde.
Indessen fand diese gar bald ihren Weg über den Ozean zurück, und man hat
seit jener Zeit nicht wieder versucht, das New Jorker Kapital für deutsche Staats¬
bedürfnisse zu interessieren. Freilich hätten sich solchem Beginnen wohl auch die
wirtschaftlichen Verhältnisse in Amerika hindernd in den Weg gestellt. Wenn nun¬
mehr wiederum auf die finanzielle Hilfe Amerikas zurückgegriffen wird, so darf
man nicht übersehen, daß diese Begehung von Schatzscheinen tatsächlich nur ein
Jnterimistikum darstellt. Denn es ist beabsichtigt, sie aus der im Frühjahr nächsten
Jahres zur Emission gelangenden Anleihe einzulösen, und sie lauten daher auch
bis etwa Mitte April. Immerhin kommt diese Art der Deckung der Staats¬
bedürfnisse dein Markt sehr gelegen, da sonst entweder er selbst die Mittel hätte
aufbringen müssen oder die Neichsbank in Anspruch genommen worden wäre.
Deren Bestand ist aber ohnehin mit etwa 130 Millionen groß genug.
Die hier neulich erwähnte Stellungnahme der Harpener Bergbaugesellschaft
zur Erneuerung des Kohlensyndikats hat auf den Kurs der Aktien eine
eigentümliche Wirkung ausgeübt: er ist sprungweise um beinahe zehn Prozent
gestiegen. Allerdings wurden zur Motivierung wieder Fusionsverhandlungen mit
der Rombacher Hütte und andere Kombinationen ausgesprengt, das heißt also, der
Gesellschaft eine Aufgabe ihres prinzipiellen Standpunktes und die Bekehrung zur
Hütienzeche angedichtet. In Wirklichkeit ist davon nicht die Rede, sondern die
Gesellschaft scheint in der Tat entschlossen, den Kampf für die reinen Zechen durch¬
zuführen, weil sie mit einem Siege rechnet. Denn es liegen Anzeichen dafür vor,
daß die Hüttenzechen ihren bisherigen ablehnenden Standpunkt in der Umlage¬
frage nicht aufrecht erhalten werden, sondern zu Konzessionen bereit sind. Mag
diese Schwenkung nun von einer Besorgnis vor einem eventuellen Eingriff des
Staates oder bloß von dem — nicht sehr wahrscheinlichen — Wunsche nach einer
Verständigung diktiert sein, jedenfalls würde ein Nachgeben der Hüttenzechen eine
Verlängerung des Syndikats gewährleisten und damit den reinen Kohlenbergwerken,
die unter dem gegenwärtigen Zustand die alleinigen Leidtragenden waren, erheb¬
liche Vorteile bringen. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint es daher nicht so
ungereimt, das Auftreten Harpens als Motiv für eine Kurssteigerung anzusehen,
obwohl es dem Anschein nach geeignet ist, einer Verlängerung des Syndikats
entgegenzuwirken.
In New Aork ist die Entscheidung, vor welcher man so lange gebangt hat
und die ohne Zweifel die geheime Ursache mancher der letzten Erschütterungen des
Marktes gewesen ist, ganz plötzlich und unvermutet gefallen: die Regierung hat
den Skeet Trust unter Anklage gesetzt und verlangt seine Auflösung. Ein
solches Vorhaben war schon mehrfach angekündigt, dann aber wieder in Abrede
gestellt worden. Noch jüngst hatten sich Gary, der Leiter des Trusts, und Morgan
in sehr zuversichtlicher Weise über den Fortbestand des Unternehmens geäußert.
Und plötzlich zeigt sich, daß die Regierung doch nicht gewillt ist, mit den Finanz¬
magnaten zu verhandeln, sondern daß sie den Stier bei den Hörnern packt und
die neben der Standard Oil mächtigste und einflußreichste Monopolgesellschaft auf¬
zulösen versucht. Es kann kaum zweifelhaft sein, daß sie ihren Willen durchsetzen
wird, denn der Skeet Trust trägt unzweideutigen Monopolcharakter. Wie aber die
Auflösung einer so gigantischen Kombination, der allein dreizehn große Fabrikations¬
konzerne angehören, die Werte in Höhe von 1486 Millionen Dollars in Umlauf
gesetzt hat, sich vollziehen soll, — ob sie überhaupt denkbar ist, darüber wird weder
die Negierung noch selbst ein Eingeweihter ein Urteil haben. Man erinnert sich,
daß, als im Frühjahr dieses Jahres die Auflösung des Tabaktrusts ausgesprochen
wurde, man diese in New York auf die leichte Achsel nahm und sogar als Ant¬
wort eine Börsenhausse inszenierte. Jetzt aber stellt sich heraus, daß die mit der
Auflösung verbundenen Schwierigkeiten fast unlösbar sind. Um wieviel mehr nutz
das von dem Skeet Trust gelten, der so viel verwickeltere tatsächliche und finanzielle
Verhältnisse aufweist! Man kann es verstehen, wenn der Kurs der Steelaktien
einen Sturz von nahezu .10 Prozent an einem Tage erlitt. Dem amerikanischen
Verantwortliche Schriftleiter: für den politischen Teil der Herausgeber George Cleinow-Schöneberg, sür den
literarischen Teil und die Redaktion Heinz Amelung-Friedenau. — Manuslriptsendungen und Buche «erden
ausschließlich an die Adresse der Schriftleitung Berlin SV. II, Bernburger Strasze 22 a/23, erbeten. — Sprechstunden
der Schriftleitung: Montags 10—12 Uhr, Donnerstags 11—1 Uhr.
Verlag: Verlag der Gr-nzboten G.in.S.H. in Berlin SV. 11.
KV4. Pfarrer, 1. Dez. d. Is. (3VM M.), Pommern.
KK5. Pfarrer, hof. (Poln. Sprache ers.), Posen. Stellennachweis. (Aus der Tages- und Fachpresse.)
Anfragen zu richten unter Beifügung von Rückporto an
die Geschäftsstelle der Grenzboten, Berlin SW. 11. V. Für Damen. KS3. Erzieherin, mus., co.. 1. 1.12, f. g-jähr. Mädchen,
Mecklenburg. KkN. Erzieherin, alt.. gepr., mus., 1. 1.12, Anhalt.
KS7. Erzieherin, 1. 1. 12, gepr., co.. Pommern.
KW. Erzieherin, gepr., f. 7jähr. Mädch., Thüringen.
KM. Erzieherin, gepr., ers., co. (Frz., Latein), mus.,
Wests. ^. Ktlr Akademiker. KW. En. Hauslehrer, bald, Hannover. KS9. Ev. Kandidat (Theol. od. Phil.), Baden. 670. Erzieherin, co., gepr., 1. 1. 11 (Frz. K. erw.),
Pommern. KW. Hauslehrer, (Theol. od. Phil.). 1. November od. 1. Januar 1912, f. 8 Quartaner, Schlesien.
KKl. Hauslehrer, bald, f. 2 Kinder, Pommern.
662. Stadtrat, akad. t-ehr. gcbild. (K00V M.), bald.Osipr. K71. Erzieher!», ers., gepr., alt., f. IKjiihr. Mädchen,
Meckl.
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^ok>nvpi Koluzs»- F^me I, 103S, 2S19.
Wie die Verwaltung der Reichsbank selbst konstatiert hat, ist es die Bank¬
welt, welche das Hauptkontingent der Quartalsansprüche stellt. Diese Tatsache
führt uns zur Erkenntnis des wahren Grundes sür die gesteigerten Kapitals¬
bedürfnisse. Auf dem Gebiete des Bankwesens haben sich im Laufe des letzten
Jahrzehnts wichtige Verschiebungen vollzogen. Die Struktur unserer Bank¬
organisation ist von Grund aus verändert, zentralisiert worden. Um die Mitte
der neunziger Jahre hat, befördert durch den Einfluß des Börsengesetzes, die
Konzentrationsbewegung im Bankgewerbe begonnen, die seitdem ununterbrochen
fortgesetzt worden ist und auch heute noch nicht 'ihren Abschluß gefunden hat.
Der Stand der mittleren und kleinen Bankiers ist nahezu ausgemerzt, die
Provinzbanken sind der Reihe nach verschwunden und in Filialen umgewandelt
worden, oder sie haben doch in der einen oder anderen Form so engen Anschluß
an eine Großbank genommen, daß ihre Selbständigkeit nur eine äußerliche
geblieben ist. So haben die Großbanken das ganze Land mit einem dichten Netz
eigener Filialen oder von ihnen abhängigerWanken übersponnen. An Stelle der
früher im Bankgewerbe herrschenden Dezentralisation' ist eine straffe Zentralisation
getreten. Abgesehen von allen anderen Wirkungen hat diese Organisation einen
tiefgreifenden Einfluß auf das Depositenwesen ausgeübt. In der Heranziehung
und Nutzbarmachung fremder Gelder erblickten unsere Großbanken eine ihrer
wichtigsten Aufgaben. Sie konnten dieser nur in vollem Umfange gerecht
werden, wenn sie den bezeichneten Weg beschritten und sich bemühten, die müßigen
Gelder im Lande durch einen geschickt organisierten Saugapparat, wie ihn ein
ausgedehntes Filialsystem darstellt, an sich zu ziehen. Man weiß, in welchem
Maße ihnen dies gelungen ist. Sind doch im Laufe von zwanzig Jahren die
Depositen und Kreditoren der deutschen Banken um das Sechsfache gestiegen.
Die Zentralisation hat bewirkt, daß die von den Annahmestellen im Lande
herangezogenen fremden Gelder sich hauptsächlich bei den Berliner Großbanken
konzentrierter. Soweit die Gelder nicht unmittelbar im Geschäftsbetrieb Ver¬
wendung fanden, wurden sie an die Zentrale oder das befreundete Institut zur
Gutschrift und Verzinsung überwiesen, meist in laufender Rechnung, zum Teil
auch zum Zwecke der Anlage als Reportgeld, oder sonst mit längerer Kündigungs¬
frist. Im Falle eintretenden Bedarfs werden die Guthaben zurückgezogen oder
das Mutterinstitut wird im Wege des Vorschusses in Anspruch genommen. So
konzentriert sich die Gelddisposition schließlich in vorwiegenden Maße bei dem
letzteren. Die Filialen mit der Rückendeckung des Zentralinstituts disponieren
natürlich nicht unter dem Gesichtspunkt eines selbständigen Bankgeschäfts; sie
überlassen die Sorge für die Unterbringung überschüssiger Gelder und für die
Geldbeschaffung im Bedarfsfalle durchaus der Zentralstelle und beschränken sich
darauf, selbst so viel an barer Kasse, Reichsbankguthaben und Portefeuille zu
halten, wie ihr unmittelbarer Geschäftsbetrieb es erfordert. Hierdurch wird nun
eine starke Verminderung der Barreserven herbeigeführt. Denn es sinken nicht
nur die Bestände an Kasse und Reichsbankguthaben bei den Filialen weit unter
den Stand, den sie einnehmen müßten, wenn es sich um selbständige Betriebe
handelte, sondern sie werden auch bei der Zentralstelle geringer, als es dem
Gesamterfordernis entspricht. Denn die Überweisungen und Abhebungen der
Filialen machen die Gelddispositionen bei der Zentrale schwierig und unüber¬
sehbar; bald strömen die Gelder in einem Maße zusammen, daß deren Ver¬
wendung und Unterbringung schwierig wird, bald häufen sich die Ansprüche der
Filialen und affiliierten Banken derart, daß die Flüssigmachung bedeutender
Mittel erforderlich ist, um ihnen zu genügen. Solche sprunghafter und unüber¬
sehbaren Gelddispositionen lassen Zinsverluste unvermeidlich erscheinen; die
Zentralstelle muß daher im eigenen Interesse darauf sehen, möglichst große
Bestände anzulegen und keine Mittel brachliegen zu lassen. Sie wird daher ihre
bare Kasse und ihr zinsloses Reichsbankguthaben auf dem tunlichst niedrigen
Stand halten und im übrigen die ihr zufließenden Mittel verzinslich anlegen,
insbesondere ein starkes Wechselportefeuille halten, da dies die liquideste Anlage¬
form darstellt. Freilich bedeutet diese häufig ein Verlustgeschäft, da bei großer
Geldfülle der Privatdiskont meist unter den Satz sinkt, welchen die Zentralstelle
für die Guthaben zu zahlen hat. Wenn nun Ansprüche der Filialen an sie
herantreten, so ist sie darauf angewiesen, einen Teil ihrer Anlagen wieder flüssig
zu machen. In letzter Linie wird es sich dabei immer darum handeln, die
erforderlichen Mittel bei der Reichsbank durch Diskontierung von Wechseln und
Lombarddarlehen zu beschaffen. Namentlich an den großen Zahlterminen wird
dies ausschließlich der Fall sein müssen, da dann der offene Markt von Mitteln
entblößt ist und eine anderweite Geldbeschaffung wenn nicht unmöglich so doch
teurer ist als die Inanspruchnahme der Reichsbank.
Nun ist es vollkommen klar, daß der Rückgriff auf die Neichsbcmk seitens
der Bankwelt um so stärker wird, je mehr es den Banken gelingt, Depositen¬
gelder an sich heranzuziehen. Diese Gelder stellen die Kassenreserve der Einzel¬
wirtschaften dar; sie werden mit der Verbreitung der Sitte, ein Bankkonto zu
fuhren, nicht mehr wie früher thesauriert, sondern der Bank zur Verzinsung
solange überwiesen, bis die Bedürfnisse der Einzelwirtschaft ihre Heranziehung
zu Ausgabezwecken erforderlich machen. In der Hauptsache handelt es sich bei
den Depositen um Gelder privater Natur, nicht um solche geschäftlicher Pro¬
venienz: die Einkommen der Beamten, Privatangestellten, der liberalen Berufe,
der Rentner und Hauseigentümer, welche vorwiegend dem Unterhalt und Konsum
zu dienen bestimmt sind. Daneben spielen auch zeitweise müßige Kapitalien
geschäftlicher Unke, nehmungen eine gewisse Rolle, also wirkliches Betriebskapital,
das über kurz oder lang wieder seiner Bestimmung als werdendes Geschäfts¬
kapital zugeführt werden soll. Genau genommen fallen solche Kapitalien theo¬
retisch nicht unter die Kategorie der Depositengelder, sondern uuter die Konto-
Korrent-Guthaben. Die Grenzen zwischen diesen beiden Arten der fremden
Gelder sind aber flüssig und im Einzelfall nicht immer genau zu bestimmen.
Indessen, so wichtig eine genaue Unterscheidung ist^ wenn es gilt, die Depositen¬
gelder einer besonderen rechtlichen oder wirtschaftlichen Behandlung zu unter¬
werfen, so ist sie doch für die hier interessierende Frage vollkommen gleich¬
gültig. Banktechnisch sind kurzfällige Depositen und Kreditoren identisch; sowohl
hinsichtlich der notwendigen Bedeckung durch liquide Mittel als hinsichtlich ihrer
Wirkung auf den Geldmarkt waltet zwischen ihnen kein Unterschied ob.
Die Bedürfnisse! der Einzelwirtschaften nach barer Kasse machen sich nun
infolge der erwähnten Zahlungssitten in außerordentlich starkem Maße geltend.
Soweit daher die Banken die Kassenführung für diese Einzelwirtschaften über¬
nommen haben (und das geschieht eben durch Führung eines Depositen-Kontos),
wirkt dieser auftretende Bedarf zentripetal, er konzentriert sich am Mittelpunkt
unserer Kreditorganisation und belastet durch das Medium der Banken am
letzten Ende die Reichsbank.
Soweit wäre alles in Ordnung. Es entspricht durchaus der Stellung der
Reichsbank in unserer Kreditorganisation, wenn dieser vermehrte Bedarf an
Zahlungsmitteln an den Ouartalsterminen von ihr durch Ausgabe von Noten
gedeckt werden muß. Dafür ist sie da, das ist ihre ureigenste Aufgabe. Es
wäre grundfalsch, eine petitio principii, den Grundsatz aufzustellen, die Reichs¬
bank muß „geschont" werden. Da wo eine solche Schonung am Platze ist, bei
einer allgemeinen Kreditüberspannung, erzwingt sie die Reichsbank selbst durch
eine Diskonterhöhung. Bei diesen Quartalsanspannungen handelt es sich aber
nicht um die Inanspruchnahme, sondern um die Abwicklung von Krediten; nicht
Leihkapital, sondern Zahlungsmittel werden gefordert, weil ein Teil der Kassen-
bestände, welche den Banken und damit der Volkswirtschaft zur Nutzbarmachung
überlassen sind, vorübergehend wieder in die Form barer Kasse überführt werden
müssen, nämlich so lange bis die wirtschaftlichen Vorgänge, zu deren Abwicklung
die baren Mittel erforderlich sind und von Hand zu Hand gehen müssen,
beendigt, der Besitzwechsel vollzogen ist und eine Wiedereinzahlung der frei¬
gewordenen Beträge bei der Bank erfolgen kann. Diese Zahlungsmittel muß
die Reichsbank durch Notenausgabe zur Verfügung stellen. Sie ist das große
Reservoir, aus dem der Verkehr im Bedarfsfalle schöpft, und zwar nach der
ganzen Struktur unseres Geldwesens das einzige Reservoir, das zur Verfügung
steht. Das heißt, unser Geldwesen ist auf dem Einreservesystem aufgebaut.
Der Metallschatz der Reichsbank, auf Grund dessen sie Noten ausgibt, stellt die
nationale Betriebsreserve dar. Alles Metallgeld, insbesondere alles Gold, dessen
der interne Verkehr nicht unbedingt zur Zirkulation bedarf, in dieses Reservoir
zu leiten und ihm dort dreifache wirtschaftliche Kraft zu verleihen, ist die wich¬
tigste Aufgabe der allgemeinen Geld- und Bankpolitik. Nicht darauf kommt es
an, daß große Bestände an barer Kasse sich in den Einzelwirtschaften oder bei
den Banken häufen, sondern darauf, daß diese Kassenbestände in die Keller der
Reichsbank geleitet werden. Freilich hat man gegen dieses Einreservesystem
mancherseits gewisse Bedenken erhoben. Man macht geltend, daß dasselbe zu
einer zu starken Belastung der Zentralbank führt, weil eben das Bedürfnis nach
Kasse dann ausschließlich durch sie befriedigt werden muß, während große
Kassenbestände in den Händen der Banken eine zweite Betriebsreseroe darstellten,
deren Vorhandensein eine Entlastung des Noteninstituts bedeute. Ferner seien
die Goldbestände in den Händen der Reichsbank für jedermann gegen Ein¬
reichung von Noten greifbar und daher dem Abfluß in das Ausland ausgesetzt,
was bei den Kassebeständen der Banken nicht zutreffe. Einen: Abfluß des
Goldes müsse die Reichsbank in der Regel durch eine Diskonterhöhung zu
begegnen suchen, daher vermehre sich hierdurch die Gefahr häufiger Zins¬
steigerungen und einer Belastung der Volkswirtschaft.
Diese Einwendungen sind nur mit Einschränkungen zutreffend. Sie haben
nämlich nur dann eine gewisse Berechtigung, wenn die in den Händen der zen¬
tralen Notenbank befindliche Goldreserve an sich, gemessen an den Bedürfnissen
der heimischen Volkswirtschaft, zu schmal ist. Ist das der Fall, so kann aller¬
dings eine auch nur vorübergehende starke Inanspruchnahme zu einem gefährlichen
Rückgang der Notendeckung führen und den Wunsch nach einer gewissen
„Schonung" der Bank wachrufen. Nur unter der gleichen Voraussetzung kann
ferner der Abfluß von Gold nach dem Ausland der Bank gefährlich werden und
sie zu raschem Anziehen der Diskontschraube zwingen, um ihren Goldbestand zu
schützen. Offenbar ist dann aber dieser geringe Metallbestand auf einen ander¬
weiten Fehler in der Organisation des Geldwesens zurückzuführen. Dann ist
die Aufgabe die, diesen Fehler zu erkennen und ihm mit allen zu Gebote
stehenden Mitteln abzuhelfen, nicht aber eine Unvollkommenheit durch eine andere
zu verdecken. Alle Maßnahmen, die darauf ausgehen, die normale Inanspruch¬
nahme der Reichsbank einzuschränken, beeinträchtigen ihre notwendige Funktion
als Regulator des Geldumlaufs und werden an anderer Stelle Störungen und
Hemmnisse hervorrufen.
Der^ Metallvorrat unserer Reichsbank, insbesondere der Goldschatz derselben,
ist nun aber in der Tat zu klein. Er ist der niedrigste aller großen zentralen
Notenbanken, wenn man von dem der Bank von England absieht. Im Krisenjahr
1907 war er auf ein beängstigend tiefes Niveau gesunken; er hat sich dann ein
Jahr darauf, hauptsächlich durch eine kräftige Devisenpolitik der Reichsbank und
energische Mittel zur Beförderung der Goldeinfuhr, um etwa 200 Millionen
gehoben und schwankt seitdem mit einer Spannung von etwa 150 Millionen
zwischen Niedrig- und Höchstziffer um den Betrag von etwa 750 Millionen.
Die Durchschnittsziffern des Goldbestandes betrugen in Millionen Mark:
Dagegen hatten Ende 1910 Goldbestünde in Millionen Mark:
Vergleicht man die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands, wie sie schon
allein in den Ziffern seines auswärtigen Handels in Erscheinung tritt, der mit
16,6 Milliarden Mark nur von dem Englands übertroffen wird, mit der jener
anderen Länder, so ist klar, daß die im Besitz der Reichsbank befindliche Gold¬
reserve in der Tat zu niedrig ist. Dies erscheint besonders auffallend, weil der
Überschuß der jährlichen Goldeinfuhr (1908 310.8, 1909 28,6, 1910
181,6 Millionen) nicht unbedeutend ist. Wenn es trotz dieser Mehreinfuhr
und trotz der Bemühungen der Reichsbank, Gold aus dem Auslande an sich
zu ziehen, ihr nicht gelungen ist, ihren Goldbestand dauernd und progressiv zu
vermehren, so bleibt nur die Erklärung übrig, daß der Überschuß der Einfuhr
in den inneren Verkehr abströmt, soweit er nicht vom industriellen Verbrauch
absorbiert wird. (Allerdings beläuft sich der letztere allein auf jährlich 80 bis
100 Millionen Mark.) Es ist ja auch eine bekannte und oft beklagte Tatsache,
daß der Goldumlauf Deutschlands ein unwirtschaftlich hoher ist. Er ist von
mancher Seite auf nicht weniger als 3 bis 4 Milliarden Mark geschätzt worden;
nach einer neuerlichen Berechnung Arnolds soll er etwa 2300 bis 2400 Millionen
betragen. Verglichen mit dem Bestand der Neichsbank ist diese Zirkulations-
mcngc viel zu groß; daher die vielfältigen Versuche, sie einzuschränken und auf
ein angemesseneres Maß herabzudrücken. Jede Ersparung an Hartgeld-
umlauf wird letzten Endes dem Metallbestand der Reichsbank zu gute
kommen. Die Methoden des bargeldlosen Zahlungsausgleichs, Scheck-,
Abrechnungs-, Reichsbankgiroverkehr, dienen ebenso wie die Ausgabe kleiner
Banknoten diesem Zwecke, und mit vollem Recht geht das Bestreben
der Bankwelt dahin, sich dieser Mittel in erster Linie zu bedienen,
ihre Anwendung immer mehr zu verallgemeinern. Es liegt indessen in der
Natur der Sache, daß Fortschritte in dieser Richtung bei einen: an Hartgeld
gewöhnten Verkehr nur langsam zu erreichen sind. Die Einbürgerung der
kleinen Banknoten ist weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Versuche,
die man mit der Einführung eines Hypotheken-Abrechnungsverkehrs gemacht
hat, sind gleichfalls gescheitert. Die im besten Zuge befindliche Ausbreitung des
Scheckverkehrs ist durch die Einführung des Scheckstempels gehemmt worden.
Es geht also auf diesem Wege nur langsam vorwärts. Es fragt sich, ob nicht
andere Mittel gefunden werden können, die eine raschere Zuführung von Gold
aus dem inneren Verkehr in den Gewahrsam der Reichsbank gewährleisten.
Nur um eine Ausbeutung dieser „inneren Goldminen", wie sie servil in den
Verhandlungen der Enquete-Kommission treffend bezeichnet hat, kann es sich
handeln, da einer verstärken Heranziehung von Gold aus dem Ausland in der
Regel die ungünstige Zahlungsbilanz Deutschlands entgegensteht. Die Frage ist
üm so dringender, als in den letzten Jahren, während der Metallbestand der
Reichsbank im wesentlichen stabil geblieben ist, die Summe der von den Banken
verwalteten fremden Gelder ein außerordentliches Wachstum erfahren hat. Es
haben nämlich allein bei den Berliner Banken die fremden Gelder einschließlich
der Akzepte zugenommen:
Dies ist ein ganz außerordentlich rasches Tempo. Dagegen ist nicht nur der
Goldvorrat der Neichsbank stabil geblieben, sondern es haben sich sogar auch
die liquiden Mittel der Banken an Kasse, Bankguthaben und Wechseln von
41,96 Prozent am 31. Dezember 1908 auf 37,7 Prozent im Durchschnitt 1910
vermindert; das Deckungsverhältnis hat sich also nicht unwesentlich verschlechtert.
Die Inanspruchnahme der Reserve der Reichsbank mußte daher konform der
wachsenden Anhäufung dieser fremden Gelder ständig wachsen und wird anscheinend
auch in Zukunft immer weiter steigen.
Das Bankgesetz schreibt bekanntlich der Neichsbank die sogenannte Drittel¬
deckung vor, d. h. die ausgegebenen Noten müssen mindestens zu einem Drittel
in bar gedeckt sein, wobei Reichssilbermünzen, Reichskassenscheine und die Noten
der Privatnotenbanken zur Bardeckung gerechnet werden. Diese letztere Ver¬
günstigung ist genau genommen schon eine Modifikation des Prinzips der Drittel¬
deckung. Denn wenn eine Bardeckung in irgendwelcher Höhe vorgeschrieben
wird, um die Vollwertigkeit der Noten zu verbürgen, so muß diese Deckung
konsequenterweise in Währungsgeld, also in Gold bestehen, da die Reichsbank
ihre Noten in Gold einzulösen hat. Nun sind in letzter Zeit die Bestände der
Reichsbank an Silber und Reichskassenscheinen usw. nicht unerheblich gewachsen;
sie haben im Durchschnitt der beiden letzten Jahre sich von 251 auf 278 Millionen
erhöht. An sich ist diese Erscheinung, die mit der vermehrten Ausprägung von
Scheidemünze zusammenhängt, nicht erfreulich. Denn wenn sich die Scheide¬
münze im Besitz der Bank anhäuft, so ist dies ein ziemlich sicheres Zeichen
dafür, daß die (auf 20 Mark für den Kopf der Bevölkerung festgesetzte) Aus¬
prägung der nnterwertigen Münzen das Bedürfnis des Verkehrs übersteigt und
daß der Verkehr diese Münzen abstößt. Um so näher liegt die Besorgnis, daß
dieses Übermaß von Scheidegeld eine inflationistische Wirkung ausübt, mithin
den Abfluß des vollwichtigen Geldes nach dem Ausland befördert. Eine
dauernde Vermehrung des Bestandes an Silbergeld ist also in Wahrheit eine
Schwächung der Neichsbank, wenn auch vielleicht das Prozentverhältnis der
Bardeckung infolge der Berücksichtigung der Silbermünzen sich rechnerisch
günstig stellt.
Nun hat man die Frage aufgeworfen: warum sich so sklavisch an die
Dritteldeckung binden? Tatsächlich ist die Reichsbank ja schon jetzt nicht ver¬
pflichtet, ihre Noten zu einem Drittel mit Währungsmetall zu decken, sondern
nur mit etwa 22 Prozent, da ein Drittel ihres Barvorrats aus Silber besteht!
Nur die Vorschrift der Dritteldeckung, so argumentiert man, ist daran schuld,
wenn eine plötzliche starke Vermehrung der Notenausgabe Ängstlichkeit und
Nervosität erzeugt. Man könnte dein Übel mit Leichtigkeit dadurch steuern,
daß man den Deckungszwang ganz oder wenigstens an den Quartals¬
terminen beseitigte, wie man an letzteren ja bereits eine Erhöhung des steuer¬
freien Kontingents eingeführt hat. Eine ungünstige Rückwirkung auf die Voll¬
wertigkeit der Reichsbanknoten sei von einer solchen Änderung nicht zu besorgen,
da der Bedarf an Zahlungsmitteln an den Quartalsterminen kein Kapitalbedarf,
sondern ein Bedarf nach Rechnungsmünzen sei, der nach wenigen Tagen seine
Ausgleichung finde"). Darauf ist zu erwidern: Die Festsetzung der Drittelgrenze
ist an sich freilich bis zu einem gewissen Grade willkürlich. Daß die Bar¬
deckung sich gerade auf ein Drittel belaufen müsse, um die jederzeitige Ein-
lösbarkeit der Noten zu verbürgen, läßt sich weder theoretisch noch praktisch
begründen. Aber das gleiche gilt von jedem anderen Prozentsatz, den man
vorschreiben wollte. Ob man nun 20, 25 oder 30 Prozent wählt, immer
wird die Festlegung eine arbiträre und ihre Richtigkeit nicht zu erweisen sein.
Es kommt hier allein auf das Prinzip an. Als das deutsche Bankgesetz
geschaffen wurde, stand die Mehrzahl der Bankpolitiker unter dem Eindruck
der vorhandenen regellosen Zettelwirtschaft und man strebte, beeinflußt durch
die Theorie und Praxis Englands, dahin, durch möglichst große Garantien die
Vollwertigkeit und die Einlösbarkeit der Reichsbanknoten sicherzustellen. So
kam man zu dem Grundsatz der modifizierten Dritteldeckung. Ohne sich für
die Unanfechtbarkeit des gewühlten Prozentverhältvisses einzusetzen, wird man
doch schwere Bedenken haben müssen, an dieser Deckungsvorschrift etwas zu
ändern. Eine Bardeckung in irgendwelchem Verhältnis gesetzlich vorzuschreiben
ist durchaus nützlich und ratsam. Die gesetzliche Vorschrift gibt der Bank¬
verwaltung eine sichere Grundlage und beseitigt die Gefahr, daß sie entweder
zu leichtsinnig oder übermäßig vorsichtig verfährt. Eine Kollision mit der
Drittelgrenze hat bisher noch niemals stattgefunden; wollte man letztere daher
jetzt beseitigen oder beschränken, wo die steigende Inanspruchnahme der
Reichsbank einen solchen Fall für die Zukunft eher denkbar erscheinen läßt,
so wäre ein solcher Schritt den größten Mißdeutungen namentlich im
Ausland ausgesetzt und könnte die übelsten wirtschaftlichen Folgen haben.
Wir haben ja erst jüngst erfahren, welcher absprechender und übelwollenden
Kritik die Geld- und Kreditverhältnisse Deutschlands von ausländischer Seite
unterzogen worden sind. Allerdings können wir unser Geldwesen nach unserem Er¬
messen und nach unserem Gutdünken regeln, ohne nach der Meinung des Auslands
zu fragen. Auf der anderen Seite aber sind unsere Interessen so eng mit
denen des letzteren verknüpft, daß wir alles vermeiden müssen, was den
Glauben an die Vollwertigkeit unserer Noten und die Stabilität unserer
Währung erschüttern könnte. Es würde aber mit Recht das größte Aufsehen
erregen müssen, wenn Deutschland jetzt, im Jahr der Erneuerung des Bank¬
privilegs, zu einer so einschneidenden Änderung der Grundlagen der Noten¬
ausgabe schritte.
Von einer dauernden Beseitigung oder Beschränkung der Dritteldeckung
kann also nicht die Rede sein. Ebensowenig aber kann einer Aufhebung der
Decknngsvorschrift für die Quartalstermine das Wort geredet werden. Praktisch
würde dies auf eine gänzliche Aufhebung hinauslaufen. Denn wenn die
Vorschrift gerade dann außer Funktion gesetzt werden soll, wenn die Möglichkeit
einer Kollision droht, während sie nur dann in Kraft ist, wenn eine solche
nicht besteht, so entbehrt eine solche Regelung jeder vernünftigen Grundlage.
Die Bremswirkung, welche der Zwang zur Dritteldecknng ausüben soll, wird
gerade im kritischen Moment ausgeschaltet. Man darf sich zur Unterstützung
dieses Vorschlages auch uicht darauf berufen, daß die Millionen, welche an den
Qnartalsterminen in Form von Noten in den Verkehr strömen, keine Kapitalien
seien, die in der Volkswirtschaft arbeiten, sondern „Wertzeichen, die dazu dienen,
Geschäfte abzuwickeln')". Das ist irrtümlich. Die Noten, welche von der
Rcichsbank gefordert werden, sind selbstverständlich Kapital und keine „Rechen¬
pfennige". Nur sind sie umlaufendes Kapital, solches, das'Inest dauernd
investiert wird, und sie sind kein Leihkapital, dessen die Volkswirtschaft bedarf,
um im Wege des Kredits ein Minus an Betriebskapital zu decken. Für die
Neichsbank besteht aber zunächst kein Unterschied darin, ob die Note» ihr
dauernd oder vorübergehend entzogen werden; sie kann den baldigen Rückfluß
vermuten oder auf Grund der allgemeinen Wirtschaftslage als wahrscheinlich
voraussetzen; sicher ist sie dessen aber nicht, zumal die Noten nicht direkt, sondern
auf Umwegen an sie zurückströmen. Der endgiltige Rückfluß ist das Ergebnis
einer großen Anzahl von Kapitalsübertragungen und -Verschiebungen; an seiner
Größe läßt sich ermessen, ob per salto das ganze Kapital flüssig geblieben
ist oder zum Teil zu Anlage- und Betriebszwecken Verwendung gefunden hat.
Daher sehen wir denn auch, daß in Perioden starken Konjunktnraufschwunges,
die ein wachsendes Bedürfnis nach Betriebs- und Anlagekapital zeitigen, der
Rückfluß nach den starken Terminen sich immer schwächer gestaltet, so daß also
die dauernde Inanspruchnahme der Bank wächst. Es ist eben ein Teil des
ihr entzogenen Kapitals investiert worden.
Der Gedanke, die Dritteldeckung anzutasten, erscheint daher unannehmbar.
Wenn man zu der Einsicht gelangt ist, daß die starken Quartalsansprllche
lediglich eine Folge der Konzentration im Bankwesen und der gewaltigen Zu¬
nahme der von den Banken verwalteten fremden Gelder sind, so liegt der
Gedanke nahe, die Stärkung der Barreserven der Neichsbcmk durch eine Heran¬
ziehung der Banken zu versuchen. In der Tat ist ein derartiger Vorschlag auch
bereits gemacht worden und zwar von dem Präsidenten der Preußischen Zentral-
genossenschaftskasse, Heiligenstadt. Dieser hat den Gedanken zuerst in einem
Aufsatz in Schmollers Jahrbüchern, sodann in der Bankenquetekommission ver¬
treten. Seine Ideen sind von anderer Seite befürwortet worden, haben in der
Kommission selbst aber nur Widerspruch erfahren.
Der Vorschlag Heiligenstadts geht dahin, jeden, der gewerbsmäßig fremde
Gelder annimmt oder verwaltet, um sie wieder auszuleihen, gesetzlich zu ver¬
pflichten, 1 bis 2 Prozent von dem jährlichen Durchschnittsbetrag dieser Gelder
bei der Reichsbank als eine Barreserve zu hinterlegen. Dieser Verpflichtung
sollen also nicht nur Banken, sondern auch Sparkassen und Genossenschaften
unterworfen sein.
Der grundlegende Gedanke ist der, die Betriebsmittel der Reichsbank zu
stärken; es werden daher weiter als parallele Maßnahmen zu gleichem Zweck
eine beträchtliche Verstärkung des eigenen Kapitals der Reichsbank und eine
allgemeine Erhöhung des Mindestguthabens im Giroverkehr empfohlen. Heiligen¬
stadt ist der Ansicht, daß in der deutschen Volkswirtschaft eine Vermehrung des
Anlagekapitals in übermäßiger, dagegen eine Vermehrung des Betriebskapitals
in ganz unzureichender Weise stattfinde. Den Grund dieser Erscheinung sieht
er in der Geschäftspolitik der Banken, welche die ihnen anvertrauten Summen,
durchweg „nationales Betriebskapital", in übermäßiger Weise fest investieren,
anstatt in der Anlageform dein Charakter eines jederzeit greifbaren Betriebs¬
kapitals Rechnung zu tragen. Den Beweis dafür findet er in der Tatsache,
daß in der Periode von 1896 bis 1905 die Banken nur 37 Prozent der ein-
gelegten Summe in Kasse, Wechseln und Lombardforderungen angelegt hatte»,
so daß also volle 63 Prozent auf „feste Anlagen" entfielen. Im Einklang
hiermit habe sich der Barvorrat der Reichsbank von 1897 bis 1906 nur um
1,7 Prozent vermehrt, während in der gleichen Zeit, wie im einzelnen nachzu¬
weisen versucht wird, alle Verkehrsvorgänge eine Steigerung um 60 bis 70 Prozent
erfahren hätten. In diesen Erscheinungen sei die Quelle für die Beunruhigung
des Geldmarktes und die teueren Zinssätze zu suchen.
Bei dieser Argumentation hatte Heiligenstadt offenbar die außergewöhnliche»
Verhältnisse der Hochkonjunktur von 1906/07 vor Augen, und er hat sich ver¬
leiten lassen, aus diesen verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen.
Mit seinem Vorschlag der Bildung einer Barreserve befindet er sich auf
dem richtigen Weg: die Begründung ist unzutreffend und mittlerweile durch die
Tatsachen selbst widerlegt.
Zunächst ist es nicht richtig, daß die Banken einen so hohen Prozentsatz
der fremden Gelder investiert hätten. Man darf für die Berechnung der
Liquidität sich nicht auf die drei von Heiligenstadt in Betracht gezogenen
Kategorien, Kasse, Wechsel und Lombard, beschränken. Zum mindesten gehören
dazu noch die Reports, die bedeutende Summen umfassen, und die Effekten,
soweit sie jederzeit realisierbare Werte, also namentlich Staatspapiere sind.
Die letzteren nur deshalb außer Betracht zu lassen, weil theoretisch der Erwerb
von Staatspapieren flüssiges Betriebskapital in feste Anlage, eine Forderung
an den Staat, verwandelt, ist eine Subtilität. In der Praxis muß diese
Anlageform als eine der liquidesten angesehen werden. Es ist nicht uninteressant
zu konstatieren, daß die Preußische Zentralgenossenschaftskasse unter der Leitung
Heiligenstadts von demselben Gesichtspunkt ausgeht; hat sie doch im Interesse
ihrer Liquidität ihr gesamtes Grundkapital in mündelsicheren Werten angelegt.
Wendet man aber für die Berechnung der Liquidität der Kreditbanken hiernach
modifizierte Grundsätze an, so gelangt man zu stark abweichenden Resultaten.
Es ergibt sich nämlich dann, wie eine Anzahl voneinander unabhängiger Unter¬
suchungen dargetan haben (vgl. darüber die Zusammenstellung in dem von Rießer
der Bankenquetekommission erstatteten Giltachten S. 199 des stenogr. Berichts),
daß mit geringen Schwankungen die Verpflichtungen der deutschen Kreditbanken
zu zwei Dritteln durch liquide Mittel gedeckt sind. Dies ist aber ein durchaus
befriedigendes Ergebnis, angesichts dessen man nicht an der Behauptung
festhalten kann, es sei ein übermäßiger Betrag der fremden Gelder fest
angelegt.
Die Jrrtümlichkeit der Heiligenstadtschen Auffassung ergibt sich ferner aus
der Erwägung, daß selbst, wenn die Banken einen beliebig hohen Betrag der
fremden Gelder, also zwei Drittel oder gar drei Viertel in Wechseln angelegt
hätten, diese so überaus liquide Anlage nicht das geringste an der Inanspruch¬
nahme der Reichsbank an den Terminen zu ändern imstande wäre. Denn diese
kann eben nur durch Barreserven reduziert werden.
Ferner hat die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre, ganz besonders
drastisch aber die des laufenden, bewiesen, daß die Beunruhigung des Geld¬
marktes und die zeitweilige außerordentliche Inanspruchnahme der Reichsbank
nicht auf ein dauerndes Mißverhältnis zwischen Anlage- und Betriebskapital
im Sinne Heiligenstadts zurückzuführen ist. Bestände ein solches Mißverhältnis,
wäre das Betriebskapital dauernd zu klein, so müßten notwendigerweise teuere
Zinssätze herrschen und eine Anspannung am Geldmarkt ähnlich wie in den Jahren
1906 und 1907 zu bemerken sein. Wie liegt es aber in Wirklichkeit? Wir haben
eine außerordentlich lebhafte Tätigkeit in Industrie und Handel, unsere Roheisen¬
produktion und Kohlenförderung, um nur diese zu nennen, sind größer als zu¬
zeiten der letzten Hochkonjunktur, die Ziffern des auswärtigen Handels steigen
von Jahr zu Jahr, die Industriellen vergrößern dauernd ihre Betriebe, ein
starkes Börsengeschäft und eine lebhafte Emissionstätigkeit bei ausgesprochener Hausse¬
tendenz beanspruchen bedeutendes Kapital — und wir haben cun offenen Markte
Zinssätze von 1 bis 1^/-> Prozent, einen Privatsatz von 2^ und bis zum Herbst
einen Reichsbankdiskont von 4 Prozent gehabt. Trotz dieser außerordentlichen Geld-
flüsstgkeit, die allerdings durch starke Guthaben des Auslandes vermehrt wurde, ist
die periodische Inanspruchnahme der Reichsbank nicht geringer, sondern größer
geworden. Der klarste Beweis dafür, daß nicht etwa Betriebskapital in Form
von Anlagekapital übergeführt worden ist und nun das Manko im Wege des
Kredits beschafft werden muß, sondern daß es sich bei jener Inanspruchnahme
der Reichsbauk um ganz andere Dinge als um die Beschaffung von Leihkapital
handeltl — Man wird also die Grundanschauung, auf der sich der Heiligen-
stadtsche Vorschlag aufbaut, sich nicht zu eigen machen können. Gleichwohl
aber erscheint der angedeutete Weg auch von dem hier vertretenen Standpunkt
aus zum Ziele zu führen. Dieses Ziel ist das gleiche: Die Barreserven der
Reichsbank zu stärken, um sie in den Stand zu setzen, den erhöhten Anforde¬
rungen an den Quartalsterminen zu entsprechen. Es wäre also zu prüfen, ob
eine von den Banken unterhaltene Zwangsreserve eine solche Verstärkung der
Barmittel zur Folge haben würde.
Von feiten der Banken ist das lebhaft bestritten worden. Insbesondere
bemüht sich das Rießersche Gutachten den Nachweis zu führen, daß eine solche
Maßregel den erhofften Erfolg nicht haben und eher nachteilig wirken müsse.
Denn, so lautet die Schlußfolgerung, die Banken würden eine solche Reserve
durch Abschreibung von ihrem Giroguthaben oder dnrch Kreditinanspruchnahme
bilden, mithin werde die Reichsbank zu einer vermehrten Kreditgewährung
gedrängt und der Zweck der Maßregel vereitelt.
Diese Einwürfe sind nicht stichhaltig. Guthaben bei der Reichsbank können
letzten Endes nur auf dreifache Weise gebildet werden: durch bare Einzahlung,
durch Einreichung von Noten oder Diskontierung von Wechseln. Das durch
den Verkauf von Wechseln gebildete Guthaben verwandelt sich aber durch den
Einzug bei Fälligkeit in ein durch bare Kasse gedecktes; bei der Eiureichung
von Noten vermindert sich zunächst sofort der umlaufende Betrag im Verhältnis
zum Barbestand, die Notendeckung wird also eine bessere. Außerdem hat ja
die Reichsbank für jede ausgegebene Note eine Deckung in Händen, die zum
mindesten zu einem Drittel in bar, für den Nest in Diskontwechseln besteht.
Auch diese wandeln sich bei Fälligkeit in einen Barbestand um. Man kann
diese Erscheinung bei jedem Bankausweis verfolgen. Ist der Wechselbestand
und der Notenumlauf am Ouartalstermin stark angeschwollen, so ist der dann
eintretende Rückgang des Wechselportefeuilles und des Notenumlaufs stets von
einer beträchtlichen Vermehrung des Metallbestandes begleitet. Es ist also ganz
gleichgültig, auf welche Weise die Bildung eines Zwangsguthabens erfolgt, ob
durch Abschreibung vom Girognthaben, Noteueinreichung oder Wechseldiskon¬
tierung, immer wird die Folge eine Vermehrung der Barreserve der Reichsbank
sein müssen.*)
Eure dauernde Erhöhung der Kreditinanspruchnahme der Reichsbank ist
dabei nicht zu befürchten, jedenfalls nicht in einem Umfange, der den Wert der
Verstärkung der Barmittel wieder aufhöbe. Denn es ist nicht zu vergessen, das;
der Barbestand in der Hand der Neichsbank eben eine ganz andere wirtschaft¬
liche Kraft besitzt als in der Hand eines Privatinstituts; reicht doch für jene
der Barvorrat zur Deckung eines dreifachen Betrages ausgegebener Noten aus.
Selbst eine dauernde Erhöhung der Kredite um den vollen Betrag der Reserven
würde daher noch ein sehr günstiges Verhältnis zwischen Bardeckung und Noten¬
umlauf bestehen lassen. Eine solche dauernde Erhöhung darf aber als aus¬
geschlossen gelten; in der Regel wird sich ein solches vermehrtes Kreditbedürfnis
wohl nur in besonderen Fällen und namentlich an den Quartalsterminen geltend
machen. Hier steht aber einer Befriedigung desselben nichts in: Wege. Es ist
dann nicht nur möglich, sondern auch notwendig, daß die Neichsbank dem ver¬
mehrten Bedürfnis durch erweiterte Diskontierung Rechnung trägt. Es wird
also gar nichts dagegen einzuwenden sein, wenn die Kredite allgemein um den
Betrag der Zwangsreserve eine Erhöhung erfahren. Im Gegenteil, eine solche
Erhöhung ist das notwendige Korrelat der Neservestellung. Damit erledigt sich
auch ein weiterer Einwand, der von feiten der Banken erhoben worden ist. Er
betrifft die Inanspruchnahme der Reserve.
Man hat hervorgehoben, daß eine solche Reserve den Banken ihrer Natur
nach im Falle besonderer Bedürfnisse zur Verfügung stehen müsse; dann aber
habe sie keinen Wert für die Reichsbank. Im anderen Falle, wenn sie unan¬
greifbar sein sollte, wäre sie keine Reserve für die Banken und diese müßten
trotz dieser Reservestellung und gerade durch dieselbe in eine schwierige Lage
kommen.
Hier waltet ein Mißverständnis ob, das durch den Doppelsinn des Wortes
„Reserve" veranlaßt ist. Diese Zwangsreserve ist keine Reserve in dem Sinne,
daß es den Banken freistehen könnte, nach Belieben darauf zurückzugreifen. Sie
ist vielmehr in erster Linie eine Barreserve für die Reichsbank, bestimmt, dieser
eine erweiterte Notenausgabe zu ermöglichen. Über dieses Zwangsguthaben ist
ebensowenig eine Verfügung möglich, als über das gegenwärtig von der Reichs¬
bank vorgeschriebene Mindestguthaben auf Girokonto. Eine Beschränkung in der
Verfügung über eigene Mittel zum Nachteil der hinterlegenden Bank tritt aber
nicht ein, wenn sie nach unserem Vorschlag jederzeit durch Wechseldiskontierung
über eine Summe verfügen kann, die dem vollen Betrag des Guthabens ent¬
spricht. Es entsteht dann für sie nur eine Zinsausgabe, aber ihre Aktions¬
und Zahlungsfähigkeit wird nicht im mindesten tangiert.
Eines freilich ist richtig: die Stellung einer zinslosen Zwangsreserve legt
den Banken ein materielles Opfer auf und zwar ein um so größeres, als die not¬
wendig werdende Inanspruchnahme von Diskontkredit die Zinseinbuße vermehrt.
Die Höhe dieses Zinsverlustes darf auch nicht als gering veranschlagt werden.
Sie richtet sich zunächst natürlich nach der Höhe der Zwangsreserve. Hält sich
diese aber in mäßigem Umfang, so genügt schon eine minimale Herabsetzung
des Zinsfußes für Einlagen, um diesen Verlust zu decken. Geht man von einem
Zinsfuß von 3 Prozent aus, so würden 10 Prozent Reserve eine Reduktion
von 0,30, 5 Prozent eine solche von nur 0,15 Prozent auf den Einlagezinsfuß
notwendig machen, um für die Bank den 8tatu8 quo ante wieder herzustellen.
Sie kann also das ihr auferlegte Opfer durch eine minimale Verkürzung der
Einleger im Zinsenbezug wettmachen; sie hat natürlich daneben auch noch den
anderen Ausweg, ihre Schuldner durch eine Erhöhung der Debetzinsen heran¬
zuziehen. Gleichviel nun aber, ob sie einen dieser Wege einschlägt oder ob sie
vorzieht, den Verlust selbst zu tragen (wobei daran zu erinnern ist, daß sie ja
auch jetzt bei der üblichen Gelddisposition erhebliche Zinsverluste mit in Kauf
nehmen muß), so sind die Opfer, welche den am Geldverkehr Beteiligten auf¬
erlegt werden, so minimale, daß sie gegen den gewaltigen Vorteil einer besseren
Organisation unseres Zahlungswesens und einer Stärkung der Reichsbank nicht
ins Gewicht fallen. Man darf doch auch eines nicht vergessen: ein großer Teil
dieser Einlagegelder, nämlich die wirklichen Depositen, sind ihrer Natur nach
Kassenbestände, d. h. nicht bestimmt, Zinsen zu tragen. Wenn nun durch eine
Ausbildung der bankmäßigen Organisation eine nutzbare Verwendung dieser
Gelder möglich gemacht wird, so dürfen sich doch auf der einen Seite weder die
Einleger darüber beklagen, daß der Zinsfuß, den sie für diese Gelder erhalten,
ein niedriger ist, noch die Banken darüber, daß es ihnen verwehrt wird, dieselben
bis zum letzten Pfennig verzinslich anzulegen. In England werden Zinsen
auf Depositen überhaupt nicht vergütet; der Vorteil, den der Einleger
durch die Kasseführung der Bank hat, die damit verbundene Sicherheit und
Bequemlichkeit wird für ein ausreichendes Äquivalent betrachtet. So sollte auch
bei uns, unbeschadet der im übrigen abweichenden Verhältnisse, es den Einlegern
sowohl als den Banken dauernd gegenwärtig sein, daß diese Gelder ihrer Natur
nach nicht dazu bestimmt sind, Zinsen zu tragen, und daß es daher schon ein
außerordentlicher wirtschaftlicher Gewinn ist, wenn der Einleger niedrige Zinsen
empfängt und der Bankier uur einen Teil der Gelder gewinnbringend anlegt.
Leider ist dieses Bewußtsein hierzulande auf beiden Seiten stark geschwunden.
Unzweifelhaft werden vielfach, namentlich in der Provinz, unter dem Einfluß
des Konkurrenzkampfes um die Depositengelder, Einsätze vergütet, die jedes
berechtigte Maß übersteigen. Es wäre eine sehr erfreuliche, von den Banken
wahrscheinlich willkommen geheißene Nebenwirkung, wenn die Zwangsreserve
hier Abhilfe schaffte.
Nun bleiben noch zwei Fragen offen: die Höhe der Zwangsreserve und
die Art und Weise der Durchführung der Maßregel.
Für die Größe der Zwangsreserve muß das Stärkungsbedürfnis der Reichs¬
bank entscheidend sein. Ungerechtfertigt und falsch wäre es, eine solche Reserve
in übermäßiger Höhe festzusetzen. Das wäre ein nutzloses Beginnen, das beiden
Teilen zum Schaden gereichen müßte, den Banken, weil es ihnen unnötige
Opfer auferlegt, der Neichsbank, weil eine übermäßige Bardeckung zur Zirkulation
überdeckter Noten und zu einer empfindlichen Gewinnschmälerung führen müßte.
Nun läßt sich aber dieses Stärkungsbedürfnis der Neichsbank wohl für einen
gegebenen Augenblick, aber nicht für die Zukunft ziffernmäßig veranschlagen;
es schwankt nach den Entwicklungsperioden der Volkswirtschaft und ist von
Umständen abhängig, die sich nicht voraussehen lassen. Schon das spricht gegen
die mechanische Festlegung der Neservestellung nach Prozentsätzen und gar gegen
eine solche im Wege des Gesetzes. Ein solches wäre gegenwärtig ohnedies nicht
zu erreichen, nachdem man mit Fug und Recht davon Abstand genommen hat,
irgendwelche grundlegende Änderung an dem gegenwärtigen Zustand unseres
Depositenivesens vorzunehmen. Es ist aber ein gesetzlicher Eingriff auch nicht
erforderlich. Die Reichsbank hat es vollkommen in der Hand, das gewünschte
Ziel auf administrativen Wege, durch eine Erhöhung der Guthabengrenze auf
Girokonto, zu erreichen. So vielerlei Bedenken einer gesetzlichen Regelung ent¬
gegenstehen, soviel Vorzüge weist die durch keinerlei Vorschriften beengte, nur
durch die Rücksichtnahme auf das Notwendige geleitete Ordnung im Verwaltungs¬
wege auf. Die Neichsbank ist bei Festsetzung der Mmdestguthaben frei; sie hat
es vollkommen in der Hand, diese so zu normieren, wie es ihr mit Rücksicht
auf ihre Leistung und Aufgabe» notwendig erscheint. Bisher sind nun für die
Forderung der Mindestguthaben nur privatwirtschaftliche Rücksichten maßgebend;
die unverzinslichen Guthaben sollen ein Äquivalent für die Kosten und Mühen
der Bank bei Einrichtung und Führung des provisionsfreien Giroüberweisungs¬
verkehrs darstellen; sie sind daher abgestuft nach Maßgabe der Leistung der
Neichsbank für den einzelnen Kontoinhaber, zum Teil auch nach Maßgabe von
dessen Gegenleistungen. Nach unserem Vorschlage würde für die Bestimmung
der Mindestguthaben der Banken nunmehr ein volkswirtschaftliches Prinzip an
die erste Stelle rücken: die Rücksicht auf die Ordnung des Zahlungswesens.
Die Reichsbank selbst ist die berufene Stelle zu entscheiden, welche Barreserve
sie von den Banken im Hinblick auf dieses Ziel verlangen muß. Sie wird
dabei nicht weitergehen, als es ihr unbedingt erforderlich scheint; dafür bürgen
nicht nur die sich ihrer Pflichten gegen das Gemeinwohl stets bewußte Leitung
des Instituts, sondern auch der Regulator des Eigeninteresses. Die Reichsbank
kann daher die Festsetzung des Prozentverhältnisses je nach dem Maß des
Bedürfnisses vornehmen. Eine gute Unterlage geben ihr die von den Berliner
und den größeren Provinzbanken veröffentlichten Zweimonatsbilanzen, namentlich
nach den: vom nächsten Jahre ab in Kraft tretenden ausführlichen Schema.
Da wo solche Nachweise über den Durchschnittsbestand der Kreditoren und De¬
positen nicht veröffentlicht werden, kann sie dieselben einfordern, sie werden ihr
nicht verweigert werden. Denn so wenig es den Banken vielleicht zunächst
behagen würde, wenn sich die Neichsbank zu einer solchen Ordnung der Dinge
entschlösse, mehr als ein Protestieren mit — möglicherweise energisch klingenden —
Worten ist nicht zu befürchten. Die Stellung der Reichsbank in der Orga¬
nisation unseres Bankwesens ist eine so überragende und so gefestigte, daß die
Banken widerspruchslos sich in alle Maßregeln fügen müssen, die die Neichsbank
im Interesse des Gemeinwohls zu treffen für gut befindet. Sie können die
Reichsbank nicht entbehren. Auf der anderen Seite darf man der festen Über¬
zeugung sein, daß die Banken sich mit einer solchen Neuordnung der Dinge
sehr bald abfinden und die außerordentlichen Vorteile, welche mit dieser Regelung
verbunden sind, auf das lebhafteste anerkennen würden. Meiner Meinung nach
werden 5 Prozent des jährlichen Durchschnittsbetrages der Kreditoren und De¬
positen als Zwangsreserve ausreichen. Bei einem Bestand von 7 bis 8 Milliarden
Mark ergibt dies für die Reichsbank eine Verstärkung der Guthaben von 350
bis 400 Millionen Mark, so daß ihre Leistungsfähigkeit die ansehnliche Steigerung
von 1200 Millionen erfährt. So erheblich diese Summen für die Reichsbank
ins Gewicht fallen, so wenig wollen sie bei Lichte betrachtet für die einzelne
Bank bedeuten. Hat doch in den letzten Jahren die jährliche Steigerung der
fremden Gelder diesen Prozentsatz weitaus übertroffen, so daß es für die Banken
ein Leichtes ist, sich durch eine veränderte Geschäftspolitik den neuen Verhältnissen
anzupassen.
Fassen wir das Ergebnis der Erörterungen in den Hauptpunkten kurz
zusammen, so lautet es folgendermaßen:
Die starke Inanspruchnahme der Reichsbank an den Quartalsterminen auch
in Zeiten geringer Anspannung am Geldmarkt ist eine Folge der vermehrten
Anhäufung fremder Gelder in den Banken und der Zentralisation unseres
Bankwesens. Diese Inanspruchnahme wird bedenklich dadurch, daß der Bar¬
vorrat der Reichsbank ein zu geringer ist. Es muß daher die Aufgabe sein,
diesen zu stärken. Als ein geeignetes Mittel hierfür erscheint es, wenn die
Neichsbank die Erhöhung der von den Banken unterhaltenen Mindestguthaben
auf Girokonto foroert und zwar um eine mäßige, von ihr jährlich nach dem
Durchschnittsbetrag der fremden Gelder prozentual festzusetzenden Summe.
Auf diese Weise würden die Bedenken gegen eine verstärkte Inanspruchnahme
der Reichsbank an den Quartalsterminen beseitigt und alle Vorteile erzielt
werden, welche mit einer starken Bardeckung der Noten verbunden sind.
Mes gibt Menschen, die zu Leid und Einsamkeit vorbestimmt erscheinen.
Das sind jene seltenen, feinen Künstlernaturen, die mit einer idealen
Forderung an die Welt herantreten, um an den Schroffen und
Härten der Wirklichkeit zu verbluten. Keine Menschen der Tat,
^aber Helden des Gedankens und Märtyrer des Gefühls, gehört
ihnen nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft: ihre tiefe Innerlichkeit scheut
den Lärm des Alltags, und ihr Schaffen reift erst in der kühlen Lust der Ge¬
schichte. Es ist ein eigentümlicher Zug der menschlichen Seele, der vielleicht das
Geheimnis aller Tragik birgt, daß sie erst angesichts des Todes die Kraft zur
Gerechtigkeit findet — der Mensch und die Menschheit brauchen die Abgeschlossen¬
heit eines Vergangenen, um Werte richtig zu erkennen und zu bemessen.
Als an einem Julitage des Jahres 1908 der Hügel sich über Wilhelm
Grube wölbte, wußten nur wenige, daß der Besten einer von uns gegangen
war, ein großer Gelehrter und ein großer Mensch. Sein Forschungsgebiet
hatte von dem Interessenkreis der Allgemeinheit weit ab gelegen, da war es
kein Wunder, daß er dem großen Publikum ein Unbekannter geblieben war,
wenn er auch in reizvoller Weise in einigen populären Aufsätzen von den
Chinesen und ihrer so eigenartigen Sprache erzählt und als außerordentlicher
Professor der Berliner Universität über ihre Religion und ihren Kultus für
eine weitere Hörerschaft berechnete Vorlesungen") gehalten hatte. Von amtlicher
Seite wurden seine wissenschaftlichen Leistungen nicht in dem Maße gewürdigt,
wie sie es verdient hatten. Der Mann, den der Geograph Freiherr v. Richt-
hofen den besten Kenner des chinesischen Volkes genannt hat und der die Auf¬
merksamkeit des Prinzen Heinrich in hohem Maße auf sich gelenkt hatte, wurde
zur Amtszeit Althoffs nicht „entdeckt". Die Sinologie ist bei uns lange, sicherlich
zu unserem eigenen Schaden, stiefmütterlich behandelt worden. Von 1892 bis
1911 hat Preußen keine ordentliche Professur für Chinesisch besessen. Erst nach
Althoffs Tode wurde der verdienstvolle Holländer de Grooth gewonnen, unsere
Kenntnisse der chinesischen Kultur zu erweitern.
Wenn wir heute mit der Veröffentlichung einer Sammlung von Briefen
beginnen, die Grube, auf einer Studienreise in China begriffen, in den Jahren
1897 und 1898 in die Heimat sandte, so glauben wir unseren Lesern in zwei¬
facher Weise zu dienen: einmal muß es gegenwärtig, da China sich wieder
einmal politisch stark betätigt, besonders wertvoll erscheinen, Momentaufnahmen
aus seinem Leben an sich vorüberziehen zu lassen, um auf diese Weise ein uns
in seiner Eigenart so fremdes Volk besser erfassen und beurteilen zu lernen.
Da diese Skizzen von einem unserer hervorragendsten Kenner Chinas gezeichnet
wurden, verdienen sie in hohem Maße die Beachtung aller, die zu den Chinesen
in irgend welcher Beziehung stehen. Wem aber das Land der aufgehenden
Sonne in seiner Unzugänglichkeit keinerlei Teilnahme abzuringen vermag, dem
mag es Freude bescheren, die durch und durch vornehme, geistvolle und liebens¬
würdige Persönlichkeit des Briefstellers kennen zu lernen.'
Wilhelm Grube wurde als Jüngster einer kinderreichen Familie am 17.August
1855 in Se. Petersburg geboren. Sein Vater war aus Schleswig-Holstein nach
Rußland eingewandert und betätigte sich als Kaufmann. Grubes Kindheit durch¬
zieht ein Hauch tiefer Schwermut. Da ihm die Mutter früh gestorben und sein
Vater schon bejahrt war, lag seine Erziehung ganz in den Händen seiner ein¬
zigen Schwester, deren Fürsorge er sein Leben lang mit rührender Liebe und
Dankbarkeit vergolten hat. Die Brüder wandten sich sämtlich dem Kaufmanns¬
stande zu, und auch Wilhelm wurde für den ihm im Innersten verhaßten Beruf
bestimmt. Der Fürsprache seines Schuldirektors May gelang es, den Vater
umzustimmen, und 1874 durfte er die Universität Petersburg beziehen, um
Philosophie und Sprachwissenschaften zu studieren. Sein Sehnen ging aber
nach Deutschland, und 1878 wurde es ihm möglich, nach Leipzig überzusiedeln,
um den Unterricht des damals bedeutendsten Kenners der chinesischen Sprache,
Sans Georg v. d. Gabelentz, zu genießen. Hier verlebte er glückliche Tage.
1880 promovierte er mit einer Arbeit über einen chinesischen Philosophen glänzend
zum Dr. Mi. und ließ sich schon im nächsten Jahre neben seinem Lehrer als
Privatdozent nieder. Um des Erwerbs willen glaubte er einem Rufe nach
Petersburg als Konservator am Asiatischen Museum der Kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften folgen zu müssen, aber er konnte sich in der alten Heimat,
der er immer als Fremder gegenüber gestanden hatte, nicht einleben, und trotz
glänzender Anerbietungen verließ er schon im folgenden Jahre die Stadt Peters,
um sich dauernd in Deutschland anzusiedeln. Er wurde in Berlin Direktorial¬
assistent am Museum für Völkerkunde und zugleich Privatdozent an der Friedrich-
Wilhelm-Universität, die ihn 1892 zum außerordentlichen Professor ernannte.
Im Frühling 1897 gelang es ihm endlich, seinen heißesten Wunsch, China mit
eigenen Augen zu sehen, zu verwirklichen, und in Begleitung seiner Frau
verlebte er dort fast zwei volle Jahre — wohl die glücklichsten seines Lebens.
Bald nach seiner Rückkehr gab er seine Tätigkeit im Museum für Völkerkunde
auf und widmete sich ganz seinen tiefgründigen Studien, seinen Schülern und
einem durchgeistigten Lebensgenuß. Grube war trotz der Fremdartigkeit seines
Wissensgebietes kein einseitiger Gelehrter. Die Kunst, namentlich die Musik
und die Literatur, gehörten zu seinen Lebensbedürfnissen, und wer nur ein
wenig über die Forderungen des Tages hinaus Ausschau zu halten vermochte,
fand sich sicher zu ihm. Er war ein heiterer Genosse, ein warmherziger Freund
und Helfer. Mitten in der Arbeit, auf der Höhe seines Schaffens ereilte ihn
der bittere Tod in seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahre.
Peking, 28. Juli 97.
»
, . ^
An seine Schwester.
Du sollst, wie sich's gehört, das erste Lebenszeichen aus Peking erhalten ...
Am 26. d. Mes. verließen wir Tientsin, um das letzte Stück unserer Reise
mit der erst ganz kürzlich fertiggestellten Eisenbahn zurückzulegen, eine Strecke,
die man jetzt in sieben Stunden zurücklegt, während man früher drei bis vier
Tage unterwegs war.
Nachdem wir die trostlose Lehmwüste, in der Tientstn liegt, hinter uns
hatten, konnten wir uns wieder an dem langentbehrten Anblick frischen Grüns
laben. Soweit das Auge reichte, sah man allenthalben wohlbestellte Getreide-
(meist Mais) Felder, dazwischen zahllose Erdhügel mitten in den Ackern: das
waren Gräber, die nach dem Gebot der Pietät nicht bebaut werden dürfen,
mithin der Nutzbarmachung entzogen werden — ein kaum aufzuwiegender Schaden
in einem so dicht bevölkerten Lande wie China.
Unsere Mitreisenden waren natürlich zum überwiegend größten Teile
Chinesen, und obwohl wir ein besonderes Coups hatten, waren wir doch bestänoig
teilnehmender Beobachtung ausgesetzt. Am schlimmsten war es jedoch auf einer
Station, wo wir eineinviertel Stunden Aufenthalt hatten; da wurde unser Wagen
förmlich belagert, und wir wurden kritisch gemustert und angestarrt, als wenn
wir zu den geschätztesten Mitgliedern der Hagenbeckschen Menagerie gehört hätten.
Schließlich sah ich mich genötigt, die Fensterläden zu schließen, um uns den
Blicken dieser schmierigen, halbnackten und schweißduftenden Gesellschaft zu
entziehen.
Die Endstation heißt Ma-chia°pu und ist ungefähr eine halbe Stunde von
Peking entfernt. Hier angelangt wurden wir vom Ma-fu (Kutscher) der deutschen
Gesandtschaft empfangen, der mir einen Brief von Dr. F. überbrachte und
zugleich Sänften für uns bereit hielt. So hielten wir denn unter den sengenden
Strahlen der Julisonne unseren Einzug in Peking. An der Spitze des Zuges
ritt der gravitätische Ma-fu, dann folgte Lillys Sänfte, von vier Tragen
getragen, dann die meine. Flankiert wurde der Zug von weiteren acht Kukis, die
sich mit den Trägern abzulösen hatten, und schließlich noch von einem halbwüchsigen
Burschen, der mir aber nur einen rein ornamentalen Zweck zu haben schien. Wie
Du Dir vorstellen kannst, machte der Zug einen außerordentlich feierlichen Ein¬
druck, und abgesehen von dem fehlenden Hutknopf, fühlte ich mich bereits als
Mandarin. Eine halbe Stunde lang bewegte sich der Zug auf engen, winkligen
Fußpfaden zwischen doppeltmannshohem Mais, jedoch mit einer drastischen
Unterbrechung; es kam uns nämlich so von ungefähr ein Mann auf einen:
Eselein entgegen. Mit dem diesen Tieren eigenen Standesbewußtsein hielt der
Esel es für unsere Sache auszuweichen und stellte sich, als das nicht geschah,
quer in den Weg, uns sein interessantes Profil zuwendend. Als kein Zureden
half, versuchten die Träger es mit Prügeln, und als auch diese nicht fruchteten,
wurde statt des vierbeinigen der zweibeinige Esel, der Reiter nämlich, als
Prügeljunge behandelt. Das wirkte, und nun konnten wir den Weg wieder
fortsetzen. Es dauerte nicht lange mehr — da tauchte dicht vor unseren Augen
eine mächtige, unabsehbar lange Mauer mit einem imposanten turmgekrönten
Tore auf. Das war das Aung-klug-Tor, eines der zahlreichen Tore, die in die
Chinesenstadt führen. Wir waren in Peking I Mir traten vor Bewegung die
Tränen in die Augen, als wir das Tor passierten. Ich sah nach der Uhr, es
war gerade halb vier. Dieser Moment wird zu denen gehören, die mir un¬
vergeßlich bleiben fürs ganze Leben; denn es ist doch ein eigen Ding, die Welt,
in der man sich im Geiste heimisch fühlte, nun endlich mit leiblichen Augen vor
sich zu sehen. Jetzt erst waren wir wirklich in China, denn alles, was wir
bisher gesehen, war doch nicht unbeeinflußt geblieben von europäischem Wesen;
hier erst war echtes, unverfälschtes Chinesentum, das mit voller Macht auf
Augen, Nase und Ohren eindrang, mir aber auch den ganzen inneren Menschen
erfüllte. Wie neu war alles — und doch: wie allbekannt! Ich war erstaunt,
wie in allen Einzelheiten richtig und der Wirklichkeit entsprechend die Vorstellung
war, die ich mir bloß durch Studium und Lektüre von dieser merkwürdigsten
aller Residenzen der Welt gebildet hatteI
Die Stadt besteht aus drei Teilen. Durch das Tor Uung-klug-men kommt
man in die Chinesenstadt, und aus dieser durch das Tor Ts'im-men in die
Mandschurenstadt, in deren Mitte die sog. „verbotene Stadt", d. h. der Kaiserliche
Palast mit seinen zahlreichen Gebäuden und Parkanlagen, sich befindet. Jeder
dieser Stadtteile ist von einer hohen und dicken Mauer umgeben. In die ver¬
botene Stadt ist, wie schon der Name besagt, gewöhnlichen Sterblichen der
Zutritt bei Todesstrafe untersagt. Die deutsche Gesandtschaft befindet sich in der
Mandschureustadt in der Nähe des Tores Tf'im-men.
29. Juli. Eigentlich sollte heute die Übersiedlung nach dem Tempel erfolgen,
und unser Gepäck ist bereits gestern dorthin expediert worden. Aber leider hat
der Regen diesen Plan vereitelt, denn ein Tag Regenwetter genügt, um die
Wege völlig unpassierbar zu machen; es kann uns also blühen, daß wir hier
noch acht Tage sitzen müssen. Von der Stadt selbst bekommt man auf diese
Weise natürlich auch nichts zu sehen, da man auf den Straßen im Kot versinkt.
Ich benutzte gleich den ersten Nachmittag, um mit Dr. M. einen kleinen Spazier¬
gang auf der Mauer zu machen, von der man einen hübschen Blick auf die
Stadt hat, die sich durch das viele Laub (besonders der kaiserlichen Gärten)
von oben sehr viel hübscher ausnimmt, als von innen. Sehr stattlich treten
besonders die gelben Ziegeldächer der kaiserlichen Paläste hervor. Ich habe mir
bereits einen chinesischen „Lehrer" engagiert, der mit nach dem Tempel kommt
und dort immer zu meiner Verfügung sein muß. nachgerade sehnen wir uns
wirklich nach den Bergen, denn auf die Dauer ist die Hitze angreifend und auf
die Nerven gehend. Ich bin fortwährend in Schweiß gebadet — und durch
Flöhe, Fliegen und Mosquitos wird die Hitze auch nicht gerade erträglich
gemacht----
Kloster Ta-chiao-sse, 8. August 97.' n > » ,
, .^
An seine Schwester.
... Der Ritt, den ich vor einigen Tagen mit Herrn und Frau v. P.
unternahm, war recht interessant, er führte uns durch mehrere stark bevölkerte
Dörfer nach einer chinesischen Kohlenmine, die malerisch in den Bergen gelegen
ist. Die Gegend mit ihren meist baumlosen, nur grasbedeckten Bergen, die sich
bis zu einer Höhe von 4000 Fuß erheben, ist ja ganz hübsch, entbehrt jedoch
ganz des poetischen Zaubers, der unser geliebtes Japan verklärt. Hier ist es
die Kultur, und sie allein, was mich fesselt und interessiert. Wer dieses Interesse
nicht hat und auch kein Verständnis für das Chinesentum besitzt, auf den kann
China, nach meinen bisherigen Erfahrungen, nur einen abstoßenden Eindruck
machen. Unwirklich, einförmig, kahl und entsetzlich unsauber ist alles, was man
zu sehen bekommt. Selbst die mancherlei schönen Bauwerke, Zeugen einstigen
Glanzes, bieten ein Bild traurigen Verfalls und trostloser Verkommenheit.
Dennoch glaube ich fest an die Zukunft Chinas: die Nation besitzt ein un¬
erschöpfliches Material an Intelligenz und physischer Kraft, zwei Faktoren, die
sie vor dem Untergang bewahren werden. Was weder Missionen noch europäische
Lehranstalten zuwege bringen, werden die Eisenbahnen bewirken. Dazu ist durch
die Bahn von Tientsin nach Peking endlich der erste Schritt getan, dem sicherlich
weitere folgen werden.
Kloster Ta-chiao-sse, 1. Sept. 97.
An seinen Paten Dr. William Higginbotham.
In Gedanken schicke ich Dir zu Deinem Wiegenfeste eine Schildkröte, einen
Kranich, eine Kiefer und eine Pfirsich — lauter Dinge, die hier zu Lande als
Embleme langer Lebensdauer gelten, und füge noch ein halbes Dutzend Fleder¬
mäuse hinzu, auf daß es Dir im neuen Lebensjahre auch an Glück nicht fehlen
möge. Das gäbe doch einmal einen Geburtstagstisch, wie er nicht jedes Jahr
vorkommt!
Gestern sind wir von einem sehr interessanten und genußreichen sieben¬
tägigen Ritt durch das Gebirge zurückgekehrt. Wir hatten den Ausflug mit
Herrn und Frau v. P. zusammen unternommen. Da man alles, Proviant,
Betten usw. mitnehmen muß, bestand unsere stattliche Karawane aus zehn Maul¬
tieren und sechzehn Menschen. Unterwegs schlugen wir unser Nachtquartier
zumeist in Tempeln auf; einmal logierten wir in einen: katholischen Dorfe
(Sang-pu) in dem recht sauberen und nett eingerichteten Hause eines wohl¬
habenden chinesischen Bauern. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich
dort Leonardo da Vincis Abendmahl an der Wand hängen sah — Leonardo
da Vinci in einem weltentlegenen kleinen chinesischen Gebirgsdorfe!
Das Ziel unserer Reise war der Po-doa-öden (Hundertblumenberg), ein
etwa 7000 Fuß hoher Berg, auf dem sich ein elender, ganz verfallener Wall¬
fahrtstempel befindet. Die Aussicht von dort war großartig: in weiter Ferne
sahen wir die Konturen der großen Mauer auf einem hohen Gebirgskamm;
doch hoffen wir, dieses grandiose Werk demnächst in nächster Nähe bewundern
zu können, da wir einen Ausflug an die in der Nähe der Mauer gelegenen
Grabmäler der Ming-Kaiser planen. Ich schrieb eben an Weinande, daß man
sich wohl hier in China an alles übrige leichter gewöhnen könne, als an das
fortwährende Angeglotztwerden. Sobald wir irgendwo Rast machten, sahen wir
uns von einer unabsehbaren Menschenmenge dicht umdrängt, die uns oft stunden¬
lang anstierte, ohne ein Wort zu reden. Ich kann den Duft, den diese Leute
ausströmen, nur als 5Ieur ac mitis eninois bezeichnen, es ist ein geradezu
sinnbetäubendes Gemisch von Schweiß, Knoblauch und Fäkalien. Suche Dir
nach diesem Rezept eine Vorstellung davon zu bilden — oder tu es lieber
nicht! Die Leute gingen nicht eher auseinander, als bis wir uns zur Ruhe
zurückgezogen — und selbst dann noch lugten zahllose schwarze Augen durch die
Löcher im Fensterpapier (falls solche zufällig nicht vorhanden, werden sie durch
Durchstechen mit dem Finger hergestellt), um sich kein Detail unserer Toilette
entgehen zu lassen. Doch konnten wir uns nirgends über Unfreundlichkeit oder
gar Animosität beklagen.
Unser Weg führte uns zumeist durch Kohlenreviere, die einen recht wohl¬
habenden und kultivierten Eindruck machten. Ich mußte oft die Kunststraßen
bewundern, die mit unendlichen Schwierigkeiten angelegt sind. Es ist überhaupt
viel leichter, alles in China schlecht zu finden als so manches Gute, das die
fleißigen und beharrlichen Chinesen trotz der verrotteten Beamtenwirtschaft zuwege
gebracht haben, anzuerkennen. In dem Volke steckt unleugbar ein guter Kern,
viel Intelligenz und physische Kraft, und wenn erst ein Eisenbahnnetz das
gewaltige Reich umspannt (der Anfang dazu ist ja jetzt endlich gemacht), wird
eine Umwälzung auf allen Gebieten unausbleiblich fein.
Die chinesischen Dörfer machen meist einen recht netten Eindruck, die soliden
stattlichen Steinhäuser nehmen sich bisweilen wie kleine Burgen aus, und geradezu
bewundernswert ist es, wie der chinesische Bauer den Boden auszunutzen weiß.
Kein Fleckchen Land, das ertragfähig ist, bleibt unbenutzt, und auf bergigen
Terrain legen sie terrassierte Äcker an, um auf diese Weise die Ackerfläche zu
vergrößern. Wie hoch steht doch der chinesische Bauer z. B. über dem russischen!
Hier ist Kultur, eine alte, stehengebliebene Kultur, aber immerhin eine solche,
vor der man den Hut ziehen kann. Und diese ihre Kultur verdanken die
Chinesen sich selbst allein und ihrer eigenen Kraft und Intelligenz.
Wenn Du Zeit und Lust hast, etwas über China zu lesen, so kann ich
Dir zwei gute Bücher empfehlen: Arthur Smith, „Chinese Characteristics"
und Holcombe, „The Real Chinaman". Beide Verfasser sind Amerikaner und
gute Kenner Chinas.
Was hätte aus China werden können, wenn man die Jesuiten, die so
unendlich viel für die Hebung der Kultur und für die Einführung der abend¬
ländischen Kultur in China getan haben, bei der Arbeit gelassen hätte und wenn
die humanen und bibelfesten Engländer nicht das Volk, wenigstens die höheren
Stände, durch das Opium physisch, intellektuell und sittlich zu Grunde gerichtet
hätten I (Weitere Briefe folgen)
IMvelde lebt im Urteil vieler sogenannten Gebildeten nur als der
Olympier, der Geheimrat und Staatsminister von Weimar, der
formgewandte Hofmann und Aristokrat, der in seinem Verkehr sich
ausschließlich auf die vornehmen Kreise beschränkt habe*). Nichts
ist schiefer als dieses Urteil. Vielleicht gilt es noch am ersten
Goethe der letzten Lebensjahre, doch auch da nur mit der Ein-
daß dem Alter überhaupt der Zug nach Abschließung eigen ist.
Aber von jeneni Goethe, der auf seinen Wanderungen sich mit Vorliebe in ein
Gespräch mit Handwerksburschen und Landarbeitern einließ, der bei dem Se.
Rochusfest zu Bingen noch im Jahre 1814 mitten unter dem fröhlich feiernden
und pokulierenden Volk saß, von dem Goethe, dem das Leben in seiner kleinsten
und einfachsten Gestalt bedeutend und der Erkenntnis wert war, gilt es höchstens
in sehr bedingtem Sinne, durchaus aber nicht, wenn man es fällen wollte vom
Standpunkt einer politischen Partei aus und in feindseliger und verurteilender
Absicht.M
von dem
schränkung,
Wenn das Wort gültig ist: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! so
am ersten bei Goethe. Nirgends sonst läßt sich so beinahe lückenlos der Zusammen¬
hang zwischen Leben und Werk nachweisen. Man denke an die Werke der Sturm¬
und Drangperiode, man denke an seine klassischen Dramen Tasso und Iphigenie.
Seine innerste Gesinnung, sein Herzblut tritt hier immer zutage.
Wer Goethes soziale Stellungnahme kennen lernen will und wie weit er
von dem Begriff einer einseitigen Aristokratie sich fern hielt, der nehme Wilhelm
Meisters Lehrjahre und Wanderjahre zur Hand. Das Ergebnis wird zweifellos
ein anderes sein, als das landläufige Urteil über feine starre aristokratische
Lebensrichtung uns weismachen will.
Dieser Roman— oder soll ich sagen: die Geschichte einer Persönlichkeit? —
gibt eine Fülle von Gedanken zu der wichtigsten Forderung der Zeit, sich mit
der sozialen Frage auseinanderzusetzen und den Versuch zu ihrer Lösung zu
machen. Dabei mag gleich bemerkt werden, daß man gerade in dieser Geschichte
einer Persönlichkeit den Schlüssel zur Lösung findet. Denn von Person zu Person
und durch die Mächte der Persönlichkeiten und nicht durch noch so vortreffliche
Gesetzesmacherei können die sozialen Gegensätze überbrückt, kann der soziale
Friede erreicht werden; und darauf kommt es doch wohl jedem an, dem nicht wie
einigen Agitatoren der politischen Parteien der Kampf alleinige Lebensquelle ist.
Grafen und Gräfinnen, Barone, Marquis, Abbös, Großgrundbesitzer und
höhere Offiziere sind der Umgang des jungen bürgerlichen Mannes mit dem
schlichten deutschen Namen Wilhelm Meister. Es ist zweifelhaft, ob heute die
„Gesellschaft" so bereitwillig einen jungen Menschen „ohne Namen", „ohne
Familie" mit offenen Armen in ihren Kreis aufnehmen würde, noch dazu wenn
er in der Gesellschaft herumvagierender Schauspieler und Zirkusleute in ein
vornehmes Haus schneien sollte.
Wilhelm Meister nimmt seinen selbstgewählten Beruf als Dramaturg und
Regisseur ernst, so ernst wie Grafen, Abbös und Offiziere ihren Stand und
Beruf nur immer nehmen können. Er treibt die Kunst nicht spielerisch genug,
wie es in gewissen Kreisen guter Ton ist, und er ist nicht Streber genug, um
sich zum brauchbaren Werkzeug der Launen großer Herren herzugeben. Er ist
eine „Persönlichkeit" und wagt, seine Persönlichkeit als etwas Selbverständliches
auszuspielen. Und das alles tut er als Neuling und Fremdling in der vor¬
nehmen Welt. Das verschnupft, das ist gegen den Hofton, das widersteht dem
Willen und Gefallen derer, die zu befehlen gewohnt sind. Und man wird stets
geneigt sein, sich gegen solche Leute abzuschließen, von denen man sich eines
demokratisch rücksichtslosen Benehmens versehen muß — es sei denn, daß ihnen
eine amerikanische Herkunft, eine goldene Dollarverbrämung eine „interessante
Note" verleihe.
Freilich, jene Grafen und vornehmen Herrschaften des Goethescher Romans,
die sich den jungen Mann, so wie er ist, gefallen lassen, würden samt und
sonders in der „Gesellschaft" unserer Zeit keine Gnade finden. Sie bewegen
sich so natürlich, wie nur immer ein Goethe sie sich bewegen lassen kann. Sie
lieben und hassen ehrlich, wie nur immer rechte Menschen tun können. Sie
kokettieren allerdings nicht mit demokratischen Grundsätzen, denn überzeugtere
Anhänger des Aristokratismus kann es nicht geben. Und doch halten sie es
nicht unter ihrer Würde, recht menschlich vertraulich mit dem Volk zu verkehren,
von einem Barbier sich Märchen erzählen zu lassen und bei Garnspinnern und
Webern, sogar frommen Webern, in deren Hausindustrie sich zu unterrichten.
Der aristokratischste aller Aristokraten, Jarno, heiratet sogar ein einfaches, von dem
Geliebten verlassenes Mädchen, und fühlt sich, wie es scheint, ganz wohl dabei.
Was die äußere Kultur betrifft, so ist die Kleidung, die jene Herren und
Damen tragen, vornehm genug, und in ihr könnten sie eine recht gute Figur
machen auch in unserer Zeit. Gelegentlich ist auch die Rede von wertvollen
Schmuck, von vortrefflichen Kunstgegenständen und mancherlei angenehmen
Dingen, die zum Leben gerade nicht notwendig sind, die aber das Leben recht
verschönern können.
Es fragt sich, ob ein Romanschriftsteller, der sich mit den Gesellschafts¬
menschen unserer Zeit herumplagen muß, um sie in den Rahmen seiner Fabel
zu zwingen, nach hundert Jahren noch so jugendfrisch und ursprünglich auf die
späten Enkel wirken wird, wie Goethe noch heute auf uns, selbst wenn er mit
einem so lebendigen Stil zu uns redete wie Goethe. Denn heute fehlen die
originellen Originale der Goethescher Zeit. Man findet die „persönliche Note"
der Menschen nicht mehr so in ihrer Ausdrücklichkeit wie damals. Die Per¬
sönlichkeit ist unter der langweilig tyrannischen Herrschaft technischer und
mechanistischer Weltanschauungspfaffen fast zugrunde gegangen. Wo aber Per¬
sönlichkeit ist, da ist Leben und da ist das wahrhaft Moderne, trotz Monismus,
trotz Sozialismus, trotz der Fixigkeit der Massenmenschen unserer Zeit, die als
Räder und Räderchen im Getriebe nur einen Kreislauf, nur einen Gedanken
kennen.
Wilhelm Meisters Persönlichkeit offenbart sich darin, daß er trotz seines
bezeichnenden Namens nie fertig ist und nie eine vollendete Meisterschaft erringt.
Er steht gerade hier im ausgesprochenen Gegensatz zu vielen Menschen unserer
Zeit und zur allgemeinen oberflächlichen Ansicht vieler Zeitgenossen. Goethe
hat eben das als Meisterschaft bezeichnen wollen, daß man stets lebendig bleibe
und in der Entwicklung stehe, daß man immer wachse, organisch, regelmäßig,
stetig, nicht wie ein Musterknabe, der emporschießt. Goethe selbst war solch ein
Wachsender bis in sein höchstes Greisenalter. Und das soll's sein: in den
Lebensformen und im Gestalten kein Stillstand, kein fertiges Meistertum, aber
die immer sich erneuernden Früchte sind die Meisterschaften und die Meister¬
werke. Das sollte uns eine Lebensweisung sein in unserer selbstbewußten, stets
auf Erfolge und fertige Resultate pochenden Zeit. Glücklich ist der zu nennen,
den die verdammte Nützlichkeitsmoral noch nicht so verwirrt hat, daß er noch
das Faustwort versteht:
Ein guter Mensch, in seinem dunkeln Drange,
Ist sich des rechten Weges Wohl bewußt —
und dasWortShakespeares: Der kommt am weitesten, der nicht weiß, wohin es geht!
Es scheint, als ob die Zeit vorüber sei, wo man in keiner „gebildeten"
Gesellschaft sein konnte, ohne einige Male das Wort Weltanschauung hören zu
müssen, und wo man kein würdiges Mitglied dieser Gesellschaft war, wenn man
sich nicht auf eine der vielen, natürlich modemen Weltanschauungen hatte fest¬
legen lassen. Zwar einige Bildungsfanatiker spuken wohl noch, und es klingt
uns noch die Forderung in den Ohren, man müsse sich die Weltanschauung des
Monismus aneignen, wenn man nicht zu den Dummköpfen, Heuchlern und
Finsterlingen gezählt werden wolle. Heute tritt „die Forderung des Tages"
wieder an uns heran, und das Leben ruft uns in die Schranken. Da können
und wollen wir uns nicht von einer Lehrmeinung gefangen nehmen lassen, käme
sie nun von Rom oder von — Jena. Wir wollen das tausendfältige Leben
nicht in irgend eine Schablone pressen lassen, und würden uns die schulmeister¬
lichen Methoden noch so eindringlich gepriesen.
Das aber ist auch Wilhelm Meisters Meinung, und selbst da zeigt sie sich,
wo Goethe seine Erziehungsmethode" niederlegt in jener Schilderung der
Erziehungsanstalt, in der der junge Felix, — der Glückliche! — Aufnahme
findet: Nur nicht schablonisieren! nur nicht irgend einen Weg als den einzigen
durch das Leben gelten lassen!
Es scheint geboten darauf hinzuweisen, daß die Kunstform des Romans
ein vortreffliches Hilfsmittel sei, uns die Lehren und Weisungen zu geben, die
uns Führer und Lebensbegleiter sein sollen. Dabei freilich sei gleich ausdrücklich
bemerkt, daß wir in dieser Darstellung die Bibel durchaus beiseite lassen müssen,
die ja allerdings im höchsten Sinne nicht dogmatisierend, sondern praktisch unsere
Lehrmeisterin sein könnte. In Erwägung des Prophetenwortes: Aber wer glaubt
unserer Predigt, und wem wird der Arm des Herrn offenbar? und obgleich
auch Goethe gelegentlich die Bibel das beste Volksbuch genannt hat, würde man
leicht auf unüberwindliches Mißtrauen stoßen, wenn man sie modernen Menschen
gegenüber als ein Erziehungs- und Lebensbuch empfehlen wollte. Im Roman
wird uns das mannigfaltig sich gestaltende Leben in immer neu variierenden
Formen und Bildungen vor die Augen gerückt, und es bedarf nur des klaren
Blickes eines Künstlers, der gerechten Beurteilung eines guten Menschen (gut
im Goethescher Sinne), der Lebenserfahrung einer charakterfester Persönlichkeit,
daß die Schöpfungen einer Romanwelt uns etwas sagen und unsere Meister
sein können, indem sie unsern: Charakter einen stets sich erneuernden Halt und
unseren Neigungen nicht zwar einen endgültigen Abschluß, aber eine feste
Richtung geben.
Wilhelm Meister ist eine solche Schöpfung. Und zumal in der neuesten
Zeit, die uns weniger Weltanschauungsfragen als Kulturforderungen vorlegt,
mag er deutlich zu uns reden.
Da ist seine reine Menschlichkeit. Nicht überwachsen und überrankt ist sie
von Vorurteilen und Bedenklichkeiten und Äugstlichkeiten kurzsichtiger Menschen,
welchen Ständen und Kasten sie auch angehören mögen. Die Gestalten des
Romans bewegen sich und handeln nach menschlich reinen und klaren Grund¬
sätzen, Vorlieben und Widerwillen und nicht wie ein verzerrter Kulturzustand
es vorschreibt. An jenen vornehmen Herren und Damen, in deren Kreis
Wilhelm Meister sich hineinlebt, haben wir das bereits gesehen. Und Wilhelm
Meister selbst! In seiner Knabenzeit schon flößt ihm, dem Sohn wohlhabender
Bürgersleute, zuerst ein armer Fischerknabe freundschaftliche, liebevolle Gefühle
ein. Weiterhin lebt er vorurteilslos und ohne Bedenken mit „unmöglichen"
Menschen, mit einem Harfenspieler und einem Gauklerkinde, unmöglich trotz
ihres wahrhaft adligen Wesens und ihrer adligen Abstammung, die sich schlie߬
lich herausstellt. Man muß sich nur klar machen, wie gerade ein Parvenu
ängstlich jeden Schein und jede Berührung mit der Plebs meidet, um nur ja
nicht sich bei den Vornehmen verächtlich und unmöglich zu machen, und dann wird
man die ganze Größe seiner Vorurteilslosigkeit erkennen, ebenso aber auch die
wahre Vornehmheit jener Grafen und Barone, die ihn trotzdem, ja gerade des¬
wegen hochachten und in ihre Kreise aufnehmen.
Es scheint, daß Wilhelm Meister uns gerade in dieser Beziehung recht viel
zu sagen hätte. Das gegenseitige Abschließen der Stände voreinander, die hoch¬
mütige Nichtachtung des Lebens anderer Kreise ist in unserer Zeit nachgerade
eine Gefahr geworden, die unsern gesellschaftlichen Bestand auss schwerste
bedroht. Und nicht das Anwachsen der „roten Flut", die „Begehrlichkeit der
großen Masse", die „verderblichen Lehren einer vaterlandslosen Sozialdemokratie",
und wie alle die schönen Schlagworte lauten mögen, stören den Frieden im
Innern so sehr wie jenes unnatürliche hochmütige Abschließen der höheren
Stände vor dem Volk. Als ob es eine Schande wäre, wenn jemand den
arbeitenden und erwerbenden Ständen angehört, als ob man eine schlimme
Beleidigung sage, wenn man dem handgeschickten, aber weniger intellektuell
begabten Sohn eines Regierungsrates den Rat gebe, er möge doch Handwerker
oder Gärtner werden! Diese einseitige Anschauung ist freilich auch in anderen
Kreisen, insbesondere auch dort zu beobachten, wo man gern „nach oben" und
vorwärts strebt und wo man auf sich etwas hält.
Ist es etwa verächtlich, wenn ein Beamter in der Öffentlichkeit mit einem
Arbeiter in längerem Gespräch verweilt? Kann man nicht Meister bleiben
und nach oben wie nach unten ein angesehener und selbständiger Charakter und
nützlicher Lebensgefährte seines Kreises sein, wenn man Mensch unter Menschen
ist, ob diese nun einen groben Arbeiterrock oder einen seidengefütterten Frack
tragen sollten? Das ist's aber: eine Sozialaristokratie tut uns not, und wenn sie
eine Macht geworden ist, wird die Gefahr der Sozialdemokratie verschwunden sein.
Was Goethes Wilhelm Meister uns nach der Seite des religiösen Lebens
hin zu sagen hat, ist nicht minder beherzigenswert. Hier freilich möchte aus
Gründen der Rücksicht auf ängstliche Gemüter — um der Schwachen willen —
ein vorsichtiges Prüfen und Behandeln am Platze sein. Man kann leicht in die
Gefahr der Verketzerung kommen, wenn man auf einer kleinen Strecke abseits
von dem herkömmlichen Wege einer konfessionellen Richtung sich bewegt, und
wenn man hier insbesondere den „großen Heiden", den „unmoralischen" Goethe
als Zeugen aufruft. Immerhin kann man sich, wenn man eine gewisse Position
erlangt hat, getrost selbst einem Goethe anschließen — ich meine das gar nicht
ironisch —, zumal da er sicher mehr Menschenkenntnis und Weltkenntnis besessen
hat als mancher Theologe und hier es doch weniger auf die reine Lehre als
auf das Leben ankommt. Wunderlich genug mutet es an, daß gerade Goethe
uns die Ehrfurcht vor dem Dogma eindringlich lehren kann.
Es ist doch merkwürdig, daß wir bei soviel Verständnis des äußeren Lebens,
bei soviel Fortschritt aus dem dunkelsten Aberglauben heraus und anderseits
bei soviel vortrefflichen Leistungen aller theologischen Disziplin so wenig Fort¬
schritte sehen in der Erkenntnis der religiösen Gegenstände, in der Anerkennung
des christlichen Glaubens unter der großen Masse unseres Volkes. Es ist auch
merkwürdig, daß selbst die Macht der Inneren Mission bei allem Segen, den
sie gestiftet hat, das nicht leistet, was man von ihr erwartet hat, und was sie
verheißt: eine religiöse Wiedergeburt Deutschlands. Man hat sich von den
gesellschaftlichen Verkehrtheiten, von denen vorhin die Rede war, anstecken lassen
und von dem Kastenwesen der Stände auch auf dem Gebiete des religiösen
Lebens sich nicht ganz frei gehalten.
Auf dem Wege sind wir noch weit entfernt von der ersehnten Volkskirche,
zumal man gerade da, wo man doch am wenigsten von weltlichen Einflüssen
berührt sein will, und wo das Volk noch am ersten zur Geltung kommt, inner¬
halb der Sekten und der Gebetsgemeinschaften, fehr oft allzu menschlich sich
imponieren läßt von hohen Dingen, nach denen man nicht trachten soll.
Bedenken wir dabei die ungeheuere Fülle des religiösen Stoffes, mit dem
alljährlich das deutsche Volk überschüttet wird! Denken wir an die unzähligen
Zeugnisse der Wirksamkeit der Kirche in unseren Tagen, d. h. aber wie so viel
gemacht wird, und wie man vor lauter Machen zuletzt gar nicht mehr zur
Verinnerlichung kommt, und wie deshalb die Religion weniger die Beziehung
zu Gott als vielmehr eine neue gesellschaftliche Form zur Befriedigung eines
sentimentalen Gefühls geworden zu sein scheint. Ist das wohl gesund? Ent¬
spricht das wohl der Bedeutung des Christentums? Wilhelm Meister und
besonders die „Bekenntnisse einer schönen Seele" lehren uns, daß etwas weniger
Religion mehr Religion sein kann. Die göttlichen Dinge sollten mit etwas
mehr Keuschheit getragen und verkündigt werden. Von dem, was selbstver¬
ständlich ist, sollte man nicht so viel und mit so gewaltigem Pathos reden,
damit man nicht die zarten Kräfte des Gemütslebens mit Keulen erschlage.
Anderseits scheint man gerade in den kirchlich interessierten Kreisen bei
aller Rechtgläubigkeit die Rechtgläubigkeit ein wenig allzu sehr beiseite zu
setzen. Es scheint, als ob man das Dogma gültig sein lasse, aber die leben¬
digen dogmatischen Kräfte, die gerade in den suchenden Seelen unserer Zeit
nach einem Ausdruck ringen möchten, außer Kurs setzen wolle. Auf der einen
Seite sucht man das Dogma ängstlich zu hüten, indem man es als ein unan¬
tastbares Idol betrachtet, nach dem Grundsatz: (Zuista, non movere, auf der
anderen Seite verwirft man es gerade deswegen und schüttet also das Kind
mit dem Bade aus. Und selbst sehr rechtgläubige Theologen sind der Meinung,
die Lehre tue es nicht, man solle Praktisches Christentum treiben, zu welcher
Meinung ein hartes, in seiner Härte freilich ungerechtes Urteil Eduard v. Hart¬
manns angeführt sei: „Die Beiseiteschiebung des Glaubensinhaltes zugunsten
der sozialen Liebeswerke schließt den Irrtum ein, Früchte des Geistes zu
erwarten, wo der Geist fehlt."
Angesichts der Tatsache, daß die religiöse Verworrenheit in unserer Zeit
eine recht weite Verbreitung gefunden hat, trotz der Wirksamkeit der Kirche,
trotz aller Predigt von Jesu, empfiehlt es sich, doch einmal zu überlegen, ob
nicht noch andere Möglichkeiten vorhanden sind, eine Religiosität, die im Volk
latent ist, zu neuem Leben zu bringen. Und hier ist ein zweifaches zu bemerken
und nach Goethes Wilhelm Meister zu beherzigen. Einmal: Weg mit dem
philologischen und historischen Christentum, und man schränke etwas die Jesus¬
verkündigung ein! Dagegen mehr immanentes Christentum, wie es jene
„schöne Seele" besaß, und mehr Verkündigung „der Christusidee als der Idee
der in jedem Menschen zu realisierenden Gottmenschheit, die der Kern der
Religion ist" (Eduard v. Hartmann). Dabei ist es ganz und gar nicht not¬
wendig, ja auch nicht klug, wollte man das Dogma beiseite setzen oder gar
für veraltet erklären. Gerade Goethe will es am wenigsten entfernt wissen.
Man möchte es nur in seiner einfachsten Gestalt, im Credo, als Grundstimmung
und Quelle des immanenten göttlichen Lebens beibehalten. Man möchte den
religiösen Ausdruck etwas einfacher gestalten, etwa wie — ich nehme keinen
Anstand das zu erklären — es in den besten Zeiten des Rationalismus, wenn
auch sehr verwässert geschah, wo doch noch dem Volke die Religion erhalten
blieb. Ob das wohl nicht eine Frucht des religiösen Lebens ist, wie sie reifer
die Jesusanbeter wohl nicht zeitigen können, wenn der Oheim auf seinem
Sterbelager, ohne Jesus zu bekennen, mit Heiterkeit spricht: Wo ist die Todes¬
furcht hingekommen, die ich sonst noch wohl empfand? Sollt' ich zu sterben
scheuen? Ich habe einen gnädigen Gott, das Grab erweckt mir kein Grauen,
ich habe ein ewiges Leben.
Und das andere: Weniger Predigt, und wenn sie triefen sollte nach
Mitternachtsöl, und mehr Kultus! Gerade die Erneuerung der äußeren
symbolischen Formen und ihre Pflege — ich scheue mich durchaus nicht, hier
auf das Beispiel der katholischen Kirche hinzuweisen — kann das immanente
Christentum, die geistig lebendige Religion, zum äußeren Leben bringen. Nur
ein Beispiel aus Wilhelm Meister: In jenem Kapitel, wo von der Erziehung
die Rede ist und wo der Satz von der dreifachen Ehrfurcht aufgestellt wird,
von der Ehrfurcht vor dem, was über uns, vor dem, was unter uns, vor dem,
was in uns ist, läßt Goethe in einer dreifachen Gebärde die Schüler ihr
religiöses Bekenntnis ausdrücken, also nicht in Worten! Es ist bezeichnend für
Goethes Stellung zur Religion, daß er darauf hinweist, dies Bekenntnis der
Gebärde werde bereits von einem großen Teil der Welt, wenn auch unbewußt,
ausgedrückt, nämlich im Credo, im apostolischen Glaubensbekenntnis.
Wilhelm Meister kann uns zeigen, das Gute auch in anderen kirchlichen
Konfessionen zu finden. Wie sehr kann er deshalb im Interesse des konfessionellen
Friedens dienen! Die Gestalt des Abb6 ist doch sympathisch genug, selbst einem
überzeugten Lutheraner, und es ist, man beobachte das wohl, nicht eine Laune
des Goethescher Genius, daß er gelegentlich diesen Ubbo mit einem lutherischen
Land geistlichen vergleichen und verwechseln läßt. Es soll einer Vermengung
und Vermischung der religiösen Gestaltungen durchaus nicht das Wort geredet
werden. Und man kann ganz auf dem Boden der Konkordienformel stehen,
deren Grundstimmung bei aller Schärfe des Ausdrucks das Schiedlich—Friedlich
ist. Aber man kann und soll doch eine Form der religiösen Lebensäußerungen
zu erreichen suchen, auf deren Grund ein friedlicher Verkehr möglich ist.
Religiöser und sozialer Friede — ist das eine Utopie? Wäre das der
Fall und wir stimmten dieser Meinung zu, dann würden wir den Bankerott
jeder menschlichen Gemeinschaft angeben können. Es wird aber höchste Zeit,
daß wir uns einmal wieder besinnen ans die einfachsten Lebensbedingungen
und auf eine möglichst vereinfachte soziale und religiöse Kultur, wie sie uns
Goethe in seinem Wilhelm Meister darstellt.
„Liebe Merge," sagte Frau v. Ödinghoven zu ihrer jungen Schwägerin,
„ich habe die observation gemacht, daß du mit den Mägden immer einen langen
cZisevurs hältst, anstatt ihnen mit kurzen Worten deine oräres zu erteilen. Man
soll mit den Domestiken keine kamiliaritö haben, denn dann werden sie inäolent
und negligieren ihre obliMion. Du darfst mir das nicht en mal nehmen, aber
ich kann es nicht mit ansehen, wie du dich um allen respect bringst."
„Und dann noch eins, liebe Merge," setzte die Priorin hinzu, „ein christliches
Eheweib soll ihrem Herrn nicht immer replizieren, sondern seine Gebote ohne
replique und mit comMisanLe erfüllen, als ob sie von Gott selber kämen. Das
aber muß dir um so leichter fallen, als du unserem Bruder doch zur allergrößten
reconnaissanLe obligiert bist."
Die beiden alten Damen brachten solche Ermahnungen immer in einem so
milden und herzlichen Tone und mit so wohlwollendem Ausdruck vor, daß die
gutmütige Merge sich stets beschämt fühlte und kein Wort des Widerspruches wagte,
obschon sich ihre Natur oft gegen die unausgesetzte Bevormundung auflehnte.
Mit ihrem Manne kam sie weit besser aus. Er behandelte sie mit liebe¬
voller Nachsicht und Geduld, und wenn er sich wirklich einmal genötigt sah, ihr
ein wenig den Kopf zurechtzusetzen, so tat er es mit einer Art von heiterer Grob¬
heit, die ihrer eigenen Derbheit weit mehr entsprach, und die trotz alles Polterns
nichts Verletzendes an sich hatte. Die Schwägerinnen dagegen sparten sich ihre
Strafreden und Belehrungen immer bis zu einem geeigneten Zeitpunkt auf und
bemühten sich gar zu deutlich, die Pillen, die sie ihr dann verabreichten, zu über¬
zuckern. In der Zwischenzeit aber wandelten sie mit Mienen umher, die zugleich
Gekränktsein, Ergebung und Nachsicht verrieten.
Fielen die Predigten über vornehme Zurückhaltung, Standesverpflichtungen
und Gehorsam gar zu lang aus, so verschwand die junge Frau unter irgendeinem
Vorwande aus dem Zimmer und protestierte draußen auf der Diele gegen alle
guten Lehren durch lauten Gesang und ein stark herausforderndes Schütteln ihres
Schlüsselbundes. Gelang es ihr auch hierdurch nicht, ihre Gelassenheit wieder¬
zugewinnen, so eilte sie in den Stall, warf sich zu ihren Kühen auf die Streu
oder hing sich an den Hals der geliebten Schenke. Dann geschah es zuweilen,
daß sie die Entdeckung machte, man habe dem Vieh den Klee viel zu naß in die
Krippen geschüttet, und die Magd, mit der sie vielleicht noch eine Stunde zuvor
gescherzt und gelacht hatte, bekam sehr böse Worte zu hören. Nachher rente Merge
ihr Zorn jedoch, und sie schlich sich ins Haus, um in einem unbewachten Augen-
blick eine Handvoll Konfekt aus dem Wandschrank zu nehmen und mit dieser
Näscherei die alte Seele, deren Obhut die Kühe anvertraut waren, wieder zu ver¬
söhnen. Es war kein Wunder, daß von dieser Zeit an der Klee sehr häufig naß
war, und daß die junge Frau infolgedessen sehr oft schelten und ebenso oft an
den Wandschrank gehen mußte.
Sie wunderte sich im Stillen, daß die Priorin, die den Wandschrank als ihre
eigene Domäne betrachtete, den Abgang des Konfektes gar nicht zu bemerken schien.
Hätte sie nur ahnen können, mit wie lebhaftem Interesse und wie inniger Freude
nicht nur Schwester Felizitas, sondern auch die Gubernatorin das Verschwinden
jeder Moppe, jeder Printe, jedes Zuckerbrezelchens beobachteten!
„Wir dürfen uns gratulieren, aber kröre," vertraute Frau v. Ödinghoven
eines Tages ihrem Bruder an, „deine Ehe ist gesegnet, denn die Merge hat schon
ihre Gelüste. Sie ißt das Backwerk scheffelweise."
„Ihr müßt inäulMnce mit ihr haben," meinte Herr Salentin, „und ihr.
wenn sie entantillaMg macht, ein weniges durch die Finger sehen. Bei ihrem
Zustande kann ihr jeder cliÄZrin schaden."
So kam es, daß man der jungen Frau mehr Freiheit verstattete und ihr
unzählige kleinere und größere Verstöße gegen die Gepflogenheiten eines adligen
Hauses durchgehen ließ. Sie hätte sich wirklich wohl fühlen können, wenn ihr
nicht immer wieder die traurige Erkenntnis gekommen wäre, daß ihre Umgebung
ihr im Grunde genommen nach wie vor fremd blieb, und daß sie auf Haus Rott¬
land keinen Menschen hatte, der sie verstand, und dem sie sich ohne Zurückhaltung
mitteilen konnte. Aber da war niemand, der nicht mehr als vierzig Jahre älter
gewesen wäre als sie selbst. Ihr Gatte, die beiden Schwägerinnen, der Knecht,
die Mägde — alles Menschen, die auf dem Lebenswege schon abwärts wanderten,
für die alles das, was ihr junges Herz bewegte, längst überwunden war, und
die nicht zu begreifen vermochten, daß jemand unter ihnen lebte, der sich weder
an den Friedensschluß zu Münster und Osnabrück, noch an das große Wasser
vom Jahre einundsechzig erinnerte.
Etwa fünf Wochen nach der Hochzeit — man fuhr gerade den letzten Hafer
ein — kam Mathias v. Pallandt auf den Hof geritten, um sich, wie er sagte,
danach zu erkundigen, ob der Hagelschlag, der einige Tage vorher über Wachen¬
dorf niedergegangen war, auch auf der Rottländer Flur Schaden getan habe.
Der Oheim war mit Gerhard und einigen Leuten aus dem Dorfe auf dem Felde;
die beiden alten Damen kochten unter Billas Beihilfe in der Waschküche Apfel¬
kraut, und Merge, der man zu ihrer eigenen Verwunderung durchaus keine Arbeit
gestatten wollte, spielte, auf der Haustreppe sitzend, mit den Hunden, als der
Neffe aus dem Sattel sprang. Die junge Frau eilte ihm entgegen und begrüßte
ihn mit ehrlicher Freude, denn sie hatte den immer lustigen Taugenichts, mit dem
sich so gut plaudern ließ, und der an ihren bäuerischen Manieren so gar keinen
Anstoß nahm, schon längst einmal herbeigewünscht.
Er band seinen flandrischen Rotschimmel am Brunnen an und fragte, als
er vernahm, daß der Freiherr nicht daheim sei, nach mesäames. Merge geleitete
ihn in die Waschküche, aus deren Tür ihm schon ein süßlich-brenzlicher Brodem
entgegenquoll. Den beiden alten Damen kam der Besuch ein wenig ungelegen.
Ihr Groll gegen den jungen Edelmann war seit der Hochzeit verflogen, und Herr
Mathias wäre ihnen an jedem anderen Tage herzlich willkommen gewesen; aber
daß er gerade heute vorsprechen mußte, wo sie alle Hände voll zu tun hatten,
das hätten sie ihm beinahe übel genommen. Ihre Tätigkeit fesselte sie an die
Waschküche, denn das kochende Apfelkraut durfte nicht einen Augenblick unbeauf¬
sichtigt bleiben, und da sie bei der beschwerlichen Arbeit des Rührens alle paar
Minuten einander ablösen mußten, so konnte sich keine von ihnen dem Gaste widmen.
Herr Mathias fand die Situation sehr belustigend, nahm auch der Priorin
mit sanfter Gewalt das Rührholz aus den Händen und machte Miene, sich an
dem Werke zu beteiligen. Aber das wollten die Damen unter keiner Bedingung
zugeben, und sie bestanden darauf, daß er einstweilen ihrer Schwägerin Gesellschaft
leiste und im Hause oder im Garten, wo es ihm beliebe, die Rückkehr ihres
Bruders erwarte. Herr Salentin, so erklärten sie, müsse jeden Augenblick mit dem
letzten Fuder auf den Hof gefahren kommen.
Der Neffe gab nach und verließ die Waschküche. Er zeigte Neigung, mit
der jungen Tante in den verwilderten Garten zu gehen, wo eine laubenartig
gezogene Esche, die von einer runden Bank umgeben war, ein lauschiges Ruhe¬
plätzchen bot. Aber Merge hatte die dunkle Empfindung, daß es geratener sei,
mit Mathias unter den Augen der Schwägerinnen zu bleiben, denn sie wußte
schon, daß er nach Soldatenbrauch etwas zutäppisch war und in seinen Huldigungen
leicht über das Maß hinausging, das ein Neffe seiner Tante darzubringen berechtigt
ist. Und sie selbst fühlte sich nicht fähig, solche kleinen Übergriffe in die Rechte
ihres Eheherrn mit dem nötigen Nachdruck zurückzuweisen. Hatte sie sich doch zu
ihrem Schrecken schon einmal über dem Gedanken ertappt, daß es ihr leichter
sein würde, Herrn Salentin eine gehorsame Nichte als eine gehorsame Gattin
zu sein.
Herr v. Pallandt war dreist genug, ihr zu verstehen zu geben, daß er ihre
Weigerung, mit ihm den Garten aufzusuchen, nicht gerade als eine Schmeichelei
auffasse, und meinte, wenn es ihr lieber sei, so könne er ja auch dem Oheim ent¬
gegengehen. Sie antwortete nicht darauf, sondern wandte sich seinem Gaule zu,
der mit dem langen Schweif unermüdlich nach den Fliegen schlug.
„Ihr habt ein schönes Rotz," sagte sie, indem sie den Hals des Tieres klopfte,
„es muß eine Lust sein, darauf zu reiten."
„Haben Sie Lust, es einmal zu versuchen, maclame ma laute?" fragte er.
Sie sah ihn überrascht an.'
„Hab' noch nie im Sattel gesessen," bekannte sie.
„Alsdann ist es an der Zeit, datz Sie es lernen. Sie wären die erste
v. Friemersheim, die nicht reiten könnte."
Ihre Augen leuchteten vor Verlangen, das stolze Tier zu besteigen.
„Wie sollt' ich hinaufkommen?" erwiderte sie zögernd. „Das Roß ist
ja so hoch."
„Wenn Sie weiter kein scrupule haben, euere laute!" sagte er lachend.
„Soll ich Sie hinaufsehen?"
Sie sah ihn unschlüssig an und warf dann einen Blick nach der Tür der
Waschküche. Da fühlte sie sich plötzlich von starken Armen emporgehoben und saß,
ehe sie es noch recht begriff, auf dem breiten Rücken des Gaules.
Der Neffe legte ihr Gewand zurecht, schnallte den linken Bügel hoch und
schob ihren Fuß hinein. Dann band er das Pferd los und gab ihr die Zügel
in die Hand.
Sie hätte vor Wonne aufjauchzen mögen, aber die Furcht vor den Schwäge¬
rinnen verschloß ihr den Mund. Mathias faßte das Roß beim Kopf und führte
es langsam um den Brunnen. Merge konnte das Lachen nicht unterdrücken; die
schaukelnde Bewegung kam ihr zu sonderbar vor.
„Sie haben eine gute tenue," bemerkte er anerkennend, „Sie sitzen nicht
anders im Sattel wie eine prineesLe 6u sang."
„Laßt doch einmal los," bat sie, durch sein Lob ermutigt, „ich muß doch
auch allein reiten können."
Er tat es und überließ das Pferd der Reiterin. Es ging vorwärts, näherte
sich aber, da sie mit dem Zügel nicht recht umzugehen verstand, immer mehr der
Waschküche. Sie versuchte es zurückzuhalten, das Tier jedoch, das eine stärkere
Hand gewöhnt war, sprang zur Seite, strauchelte ein wenig und schlug mit den
Eisen seiner mächtigen Hufe helle Funken aus dem Pflaster.
„Non älen, quelle ötouräerie!" ließ sich in diesem Augenblick die Stimme
der Gnbernatorin vernehmen, „hat man so etwas schon erlebt! Merge, würdest
du nicht die cvmMisanee haben und einmal herkommen?"
Der Neffe hatte sich schon der Zügel bemächtigt und ließ die junge Frau
aus dem Sattel gleiten. Mißmutig über die Störung ihres unschuldigen Ver¬
gnügens begab sie sich in die Waschküche.
Als sie nach einer kleinen Weile zurückkam, war ihr Antlitz mit einem dunklen
Rot übergössen.
„Nesäames haben wohl gescholten?" fragte er teilnehmend.
„Ach nein, es war nicht gar so schlimm," erwiderte sie lachend, „die beiden
Alten haben sich nur Sorge um mich gemacht - und es war ganz unnötig,"
setzte sie hinzu.
Er sah ihr ins Gesicht, daß sie den Blick zu Boden schlagen mußte, und
lachte ebenfalls.
Am Abend jedoch, nachdem Herr v. Pallandt belagernden war, nahm Frau
v. Ödinghoven den Bruder beiseite und sagte mit bekümmerter Miene:
„Salentin, wir haben zu früh jubiliert. Es war eine Musion."
„Was war eine MuZivn?"
„Das mit deiner öpcmse. Es ist noch nichts. Ich habe sie selbst gefragt."
Von da an wurde auf Merge und die Heiterkeit ihres Gemüts nicht mehr
so viel Rücksicht genommen, und Schwester Felizitas hielt es für geraten, den
Schlüssel zum Wandschrank abzuziehen und in das Körbchen zu legen, worin sie
ihr Bremer, ihr Schnupftuch und das Flakon mit dem Melissengeist aufbewahrte,
dessen sie sich bei Schwächeanwandlungen als eines erprobten Stärkungsmittels
zu bedienen pflegte.
Daß sie von jetzt an häufiger als je zuvor zu diesem Stärkungsmittel greifen
mußte, war Mergens Schuld. Die Nachsicht, die man bisher der jungen Frau
gegenüber zu üben für nötig gehalten hatte, war dieser ein wenig zu Kopf
gestiegen, und die strengere Zucht wollte ihr nun nicht recht gefallen. Sie lehnte
sich in mehr oder minder scharfer Form gegen die Bevormundung durch die
Schwägerinnen auf, es kam zu erregten Szenen, bei denen Tränen des Zornes
und des Kummers vergossen wurden, und der arme Freiherr mußte beinahe jeden
Tag Klagen anhören und Frieden stiften.
An einem Oktobermorgen — Herr Salentin war schon zeitig auf die Jagd
gegangen — wurde Merge im Hause vermißt. Man suchte sie im Hof, im Garten
und bei den Kühen, aber sie war und blieb verschwunden. Als die Priorin, die
sich, von bösen Ahnungen erfüllt, am eifrigsten an der Suche beteiligte, am Pferde¬
stall vorüberkam, wurde sie auf einen seltsamen Lärm aufmerksam, der sie ver¬
anlaßte, stehen zu bleiben und zu lauschen. Es hörte sich an, als ob jemand in
kurzen aber regelmäßigen Zwischenräumen mit der Faust auf einen Tisch schlüge,
dazwischen mischten sich Flüche aus rauhen Kehlen und Helles Lachen. Dieses
Lachen machte, daß der guten geistlichen Dame das Blut in den Adern erstarrte,
denn es konnte nur von Mergens Lippen kommen.
Mit einer Entschlossenheit, über die sie sich selbst wunderte, stieß die Priorin
die Tür auf. Welch ein Anblick bot sich ihr dar! Die junge Schwägerin saß
auf der Haferkiste und spielte mit Gerhard und zwei Dreschern aus dem Dorfe
„Landsknecht"!
Der mater reverencia zitterten die Kniee, sie brachte keinen Laut über die
Lippen. Aber sie fühlte sich wenigstens noch fähig, der Sünderin einen Blick
zuzuschleuderu, von dem sie sich die Wirkung eines Bannstrahls versprach, und
sie durch eine Kopfbewegung, die keinen Widerspruch aufkommen ließ, zum Mit¬
gehen aufzufordern.
Die beiden Drescher drückten sich geräuschlos in die Scheune, der alte Gerhard
griff nach dem Stallbesen und summte, als habe er die Erscheinung in der Tür
gar nicht bemerkt, das Leiblied seines Herrn vor sich hin, Merge aber blieb noch
eine kleine Weile auf der Kiste sitzen und versuchte, dem Basiliskenblick der
Schwägerin standzuhalten. Aber das ging doch über ihre Kraft; sie warf die
.Karten weg, rutschte von ihrem Sitz, zerriß sich dabei an dem verrosteten Beschläge
ihr Kleid und folgte, doppelt und dreifach gedemütigt, der Priorin ins Haus.
„Hier bringe ich unsere bslle-sveur, liebe Netto.", sagte Schwester Felicitas
triumphierend, „und ich wette, du kannst dir keine inulZination machen, in welcher
Situation ich sie gefunden habe."
„Man sollte es nicht für möglich halten, daß eine von Friemersheim so die
eontenÄNLe verlieren könnte," bemerkte die Gubernatorin sehr ernst, nachdem sie
den Bericht der Priorin kopfschüttelnd angehört hatte.
„Man muß sie bei einem jeu ac Iiasarä ertappen! Es ist unerhört!" fuhr
Schwester Felicitas fort. „Konnte sie, wenn sie clösir nach einem petit jeu hatte,
nicht zu uns kommen und uns zu einem jeu ac commerce bitten, par exsmple
zu einer Partie ele I'Irvmbre oder piczuet?"
„Ich kann nur Landsknecht", versuchte sich Merge zu entschuldigen.
„Das ist ein peccables, ein sündhaftes Spiel, ma otrere", sagte die geistliche
Dame streng.
„Und das Schlimmste ist, daß du es mit den äomestiezues gespielt hast",
setzte Frau v. Ödinghoven hinzu.
„Ach was!" sagte die junge Frau trotzig, „der alte Gerhard und ich sind doch
Verwandte. Seine Mutter und mein Großvater waren Geschwisterkinder."
„Das ist ja eine charmante äeoouverte, die du da gemacht hast!" bemerkte
die Gubernatorin. „Aber ich kann dir sagen, daß es weder Salentin noch uns
aZreadle sein wird, wenn du sie an die große Glocke hängst."
„Dummes Zeug!" rief der Freiherr plötzlich aus dem Nebenzimmer, „Lands¬
knecht ist nicht ärger als l'iwmbre, und wenn sie mit den äomesticjues ein jeu
machen will, so hab' ich nichts dawider. Aber sie soll es nach Feierabend tun
und mir die Leute nicht von der Arbeit abhalten. Und wenn der Gerhard ihr
onels ist. so soll er von nun an Sonntags mit am Tisch essen, denn Familie ist
Familie, und Blut bleibt Blut, und das soll man nicht verleugnen."
Die beiden alten Damen bekamen rote Köpfe und sagten kein Wort mehr.
Sie waren über die Einmischung des Bruders empört. Was nützten alle ihre
Bemühungen um Mergens Erziehung, wenn er in so törichter Weise ihre Absichten
durchkreuzte?
Sie nahmen sich ernstlich vor, sich in Zukunft so wenig wie möglich um die
junge Schwägerin zu kümmern. Mochte Salentin zusehen, wie er mit ihr fertig
wurde, und wie er sich aus den Verlegenheiten zog, in die ihn ihre Unbedachtsam-
keiten brachten! Ihnen — den Schwestern — durfte keiner eine Schuld beimessen.
Sie hatten das Beste gewollt und sich der undankbaren Aufgabe, ein gutherziges,
aber leichtsinniges und jeder ernstlichen Ermahnung unzugängliches Geschöpf zu
einem würdigen Mitgliede der Familie zu machen, mit wahrer Selbstverleugnung
unterzogen.
Merge hatte also wieder einmal eine Zeitlang Ruhe. Man ließ sie gewähren,
und sie freute sich der wiedererlangten Freiheit. Aber sie war von Haus aus an
Arbeit gewöhnt, und der Müßiggang, zu dem sie sich verurteilt sah, wollte ihr auf
die Dauer nicht munden. Sie sann darüber nach, wie sie sich im Hause hätte
nützlich machen können. Da gab man ihr zu verstehen, daß man ihrer nicht
bedürfte. In der Küche schaltete die Priorin, in den Wohnräumen die Gnberna-
torin, im Kuhstalle, wohin ihr Herz sie am meisten zog, die alte Magd. Ja,
wenn es noch > Frühling gewesen wärel Dann hätte sie im Garten Ordnung
schaffen können. Das wäre jetzt, wo der Winter vor der Tür stand, zwecklos
gewesen.
Ihr Selbstgefühl widersetzte sich dagegen, daß man sie unbeachtet ließ. Sie
klagte ihrem Gatten ihr Leid, der aber meinte, er könne ihr nicht helfen, sie müsse
sich eben mit seinen Schwestern besser zu stellen suchen. Das könne doch nicht so
schwer sein, da diese doch so viel älter und erfahrener wären als sie und ihr vom
ersten Tage an Beweise ihres Wohlwollens gegeben hätten. Der gute Freiherr
schien gar nicht zu begreifen, daß es gerade das Alter und die Erfahrung seiner
Schwestern war, was die Kluft, die sich zwischen ihnen und seiner jungen Frau
aufgetan hatte, unüberbrückbar machte. Sie mußte immer wieder an den Pastor
in Holzheim denken, der sie vor den „zwo alten Weibern zu Nottland" gewarnt
hatte. Wie genau hatte er vorausgesehen, was nun wirklich eingetreten war!
Sie kam sich einsam und verlassen vor, tausendmal einsamer als in dem
bösen Kriegsjahre, wo sie mit ihren Kühen in dem Stollen gehaust hatte. Wenn
nur wenigstens ab und zu einmal Besuch gekommen wäre! Nicht etwa Frau
v. Syberg oder eine der anderen alten Damen, mit denen die Schwägerinnen
gelegentlich verkehrten, sondern irgendeine junge Person, ganz gleich, welchen
Standes und Geschlechts. Am liebsten freilich, das verhehlte sie sich nicht, hätte
sie es gesehen, wenn Herr Mathias wieder einmal erschienen wäre, der sich seit
jenem Septembertage nicht mehr hatte blicken lassen. Ob er gar nicht mehr an
seinen alten Oheim dachte? Ob er krank war, oder ob er vielleicht, wie das seine
Art sein sollte, einer Liebschaft nachging?
Auf die Dauer hielt sie den unerquicklichen Zustand, worin sie lebte, nicht
ans. Sie entschloß sich, so schwer es ihr auch wurde, den ersten Schritt zur
Versöhnung mit den beiden Alten zu tun. Aber es dauerte lange, bis sich eine
Gelegenheit dazu fand.
Eines Abends, als die Priorin allein in dem gemeinsamen Wohngemache
saß und ihr Brevier las, trat Merge, die sich bis dahin in der Gesindestube auf¬
gehalten hatte, ein, blieb hinter dem Stuhle der geistlichen Dame stehen und schaute
über deren Schulter hinweg in das kleine, vom langen Gebrauche recht abgegriffene
Buch. Dabei seufzte sie ein paarmal tief auf.
Schwester Felicitas, die wirklich ein gutes Herz hatte, und die es nicht ertrug,
einen Menschen ernstlich bekümmert zu wissen, wandte sich langsam nach der jungen
Schwägerin um und schaute ihr in das blühende Antlitz.
„Nun, Merge, was gibt's?" fragte sie teilnehmend. „Du stöhnst ja zum
Erbarmen. Fühlst du dich mawcZe?"
„Nein, Frau Priorin", erwiderte die junge Frau stockend, „ich dachte nur
dran, wie schön es sein muß, so gelehrt zu sein wie Ihr und alles Geschriebene
und Gedruckte lesen zu können."
Die mater reverenäa lächelte nachsichtig.
„Daß du nicht auch zu lesen und zu schreiben verstehst, ist deine Schuld, ins
onöre," sagte sie. „Hat Salentin nicht den Pastor um die oomMisanLe gebeten,
dir Lektionen zu erteilen? Nun? Aber eine gewisse Jungfer war zu Lvmmocle,
sich Mühe zu geben, und prätendierte, die Wissenschaften sollten ihr wie gebratene
Tauben in den Mund fliegen."
„Dazumal war ich auch noch dumm", meinte Merge.
„Aber jetzt bist du wohl gescheit?"
„Ach nein, gescheit noch lange nicht. Aber ich sehe doch bei Euch und Eurer
Schwester, wozu es gut ist, wenn man lesen und schreiben kann."
„So, sol Wenn dir diese Einsicht nur früher gekommen wäre!"
"
„Glaubt Ihr, daß es jetzt zu spät ist?
„Zum Lernen ist es nie zu spät. Man muß nur mit applieation daran gehen."
„Ach, Frau Priorin, wenn Ihr mich im Lesen, sonderlich aber im Schreiben
unterweisen wolltet! Ich würde mir auch die größte Mühe geben."
„Ich? Warum denn gerade ich?" fragte Schwester Felicitas überrascht.
„Wenn man etwas lernen will, soll man sich immer zum besten Meister in
die Lehre geben."
Diesem Beweisgründe vermochte die alte Dame nicht zu widerstehen. Sie
gab der Schwägerin das Versprechen, sie mit der Kunst des Lesens und Schreibens
vertraut zu machen. Da sie jedoch selbst von der Sache ein kleines Vergnügen
haben wollte, nahm sie Merge das Wort ab, ihre Studien vor aller Welt geheim
zu halten und erst, wenn sie es bis zu einer gewissen Meisterschaft gebracht haben
würde, Salentin und Frau v. Ödinghoven mit ihren Kenntnissen zu überraschen.
(Fortsetzung folgt)
i bu Notrms, Arabiens größter Dichter, dessen Lieder die Krieger zum
Kampfe begeisterten und die Frauen zur Liebe, hatte sich, dem
rosigen Lächeln des Lebens zum Trotz, eine überaus pessimistische
und ironische Anschauung von Welt und Menschen zurecht gemacht.
^Jn seine feurigsten Lieder schlich sie sich ein, und oft genug endete
ein selig begonnener Hymnus in schneidender Satire. Güte, Liebe, Treue galten
dem Dichter selten für echt, meist hielt er sie für Deckmantel häßlicher Gelüste.
Seit jungen Jahren durchzog er auf seinem königlichen Hengste kreuz und quer das
ganze Arabien und hatte da vieler Menschen Art und Weise kennen gelernt.
Unter denen, die den Dichter Abu Nowäs glühend verehrten und sich stets
in seiner Nähe hielten, befand sich auch ein schöner Jüngling, dessen sonnigem
Gemüte des Meisters skeptische Lehren nicht zuzusagen vermochten. Er war im
Gegenteil der Ansicht, alle Menschen seien von Natur aus gut, und versuchte in
sich ständig wiederholenden Gesprächen vergeblich, den reiferen Sänger zu seiner
jugendlichen Ansicht zu bekehren.
In eines dieser Gespräche verloren, waren sie eines Tages vor die Tore
Bagdads hinausgepilgert. Sei es, daß Abu Nowäs des nutzlosen Streites müde
war, oder daß er seine helle Freude am Enthusiasmus des Jüngers hatte, jeden¬
falls hörte er ihm ohne Widerspruch zu, während er sonst alle Gründe mit einem
kühlen und treffenden Witzworte niederzuschlagen wußte. Schon begann der Jüngling
zu hoffen, daß seinem Eifer die Bekehrung gelingen möchte, und seine Worte
warben dringender.
Da kam ein seltsames Paar auf die beiden zu. Ein blinder Mann wurde
durch die Ebene von einem blendend schönen Weibe gleichen Alters an der Hand
geführt. Man sah den beiden an, daß sie verehelicht waren. Als der Jüngling
das schöne Weib erblickte, stockte seine Rede plötzlich, und seine Augen schauten
brennend auf die Frau. Und auch dieser gefiel offenbar der wohlgestaltete
Jüngling aufs beste. Beider Blicke bohrten sich in innigem Verständnisse inein¬
ander, und plötzlich fanden sich ihre Hände in heißem Druck. Dann sagte das
Weib leise:
„An der großen Zisterne morgen mittag!"
Und das seltsame Paar zog weiter, nicht ohne daß das Weib sich noch einmal
umgedreht und dem Jüngling einen verzehrenden Blick zugeworfen hätte. Der
stand eine Minute wie traumverloren. Dann wandte er sich zu dem Meister:
„Wovon sprachen wir doch? — Ja, richtig — willst du nach all meinendem
Koran und den Dichtern entnommenen Argumenten noch immer, o Meister, nicht
bekennen, daß die Menschen von Natur aus gut sind?" —
Abu Nowäs antwortete nicht. Er warf einen seltsamen Blick nach dem
Horizont, wo gerade die groteske Gestalt des Blinden verschwand, und dann sah
er seinem Jünger plötzlich ernst und tief in die Augen. Der aber senkte, von tiefer
Scham ergriffen, die Blicke, und eine heiße Röte ergoß sich purpurn über sein
ganzes Antlitz. — Und er hat es nie wieder versucht, den Nowüs zu bekehren. —
Maler Müller. Der alte Dichter Friedrich
Müller in Rom, der Fremdenführer und
königlich bayerische Hofmaler, war noch immer
eine originelle Figur. Wir wissen mich, wie
er aussah: Ludwig Grimms Radierung läßt
aus dem sonst nicht unschönen Gesicht des
Alten einen verschmitzten Teufel heraus¬
sehen, und Genelli zeichnet ihn ganz offen
als dcrbsinnlichen Faun, dem ein stachliger
Lorbeerkranz den dicken Schädel umgibt.
Längere Berichte über das Treiben und die
Art des einstigen Stürmers und Drängers
geben uns ein ähnliches Bild. Philipp Joseph
von Rehfues, der Verfasser des rühmens¬
werten Romans „Scipio Cicala", verkehrte
in Rom mit Müllerz er preist seinen Kunst¬
verstand, seine treffenden Urteile, seine
Erzählergabe, mit der er einen Kreis täglich
stundenlang ergötzt und gefesselt habe, aber
er weiß daneben auch Züge eines mi߬
trauischen Dämons zu überliefern. Glauben
möchte man auch an jene durch Rehfues mit¬
geteilte Erzählung von dem großen Karton
eines Gemäldes, mit dem Müller jahrelang
geheimnisvoll zurückgehalten habe, bis keiner
mehr an die Existenz glauben mochte.
Schließlich hätten sich die Freunde dann doch
von der Wahrheit seiner Behauptung über¬
zeugen können; aber, statt ein Urteil zu geben,
sei nach einer stummen Pause Thorwaldsen,
den Kopf voran, durch den Karton durch¬
gesprungen, die übrigen, unter ihnen schlie߬
lich Müller selbst, seien gefolgt. Verwandtes
wußte Ludwig Tieck von dem alten Dichter
Müller zu erzählen, der in einer verbittert
renommistischen Art, ohne Glauben zu finden,
davon berichtet habe, daß er eine „Iphigenie"
geschrieben, die Goethes Werk weit hinter sich
lasse. Und doch war auch dies Werk, das
Tieck selbst sür ein Phantom hielt, wirklich
vorhanden, und bellte, wo es teilweise ver¬
öffentlicht ist, will man immerhin mehr darin
finden, als die römischen Künstler in jenem
Karton fanden.
Dieser Mann und Greis, der vielen als
komische Figur galt und doch von Ludwig dem
Ersten von Bayern der Freundschaft und des
brieflichen Verkehrs gewürdigt wurde, war einst
eine große Hoffnung gewesen, nicht so sehr
als Dichter, denn als Maler — wie der
Poet sich ja selber Maler Müller nannte.
Doch sollte sein Hanptruhm auf jene dichterischen
Werke seiner Jugend beschränkt bleiben, die
er vollendet oder entworfen hatte, ehe er
1778 als Stipendiat nach Rom gegangen
war. Die späteren Werke und das spätere
Treiben des Mannes erwecken hauptsächlich
Interesse, weil er eine der charakteristischen
Gestalten im Frühling unserer Dichtung ge¬
wesen war. Manches von seinen ungedruckten
Frühwerken ist leider dauernd verloren —
Rehfues sowohl als Heinse stellten Arbeiten,
die ihnen handschriftlich bekannt waren, weit
über die uns geläufigen. Eine der antiken
Idyllen Müllers, „Der Faun Molon", wird
noch im Frankfurter Goethemuseum be¬
wahrt und soll bald der Öffentlichkeit über¬
geben werden. Was wir kennen, genügt
jedenfalls, um den Dichter dauernd interessant
zu machen. Sein größter Ruhm hängt an
seinen Faunenidyllen. Darum stellte auch
Genelli den Alten in Rom als Faun dar.
Als Dichter dieses Stoffkreises wird der selt¬
same Poet und noch seltsamere Maler von
Genelli in Heyses „Letzten Centaur" herauf¬
beschworen, an diesen Werken wird sich vor
Noch einen dritten Stoffkreis, den der
biblischen Idyllen, vermochte der Dichter zu
beleben. Aber trotz dieser Triumphe seiner
Urkraft fehlte diesem großen Talent eins:
zu der Fülle einer sinnlichen Natur die feste
geistige Richtung und die großen Ziele.
Zwischen Dichtung und Malerei hin und her
gezogen und allzu leicht am äußerlich
Charakteristischen klebend, ist er versandet und
trotz späterer Werke ohne die rechte Ent¬
wicklung geblieben. Darum zögert man
natürlich schließlich doch, Namen wie den
Böcklins neben dem seinen zu nennen, und
läßt Müller nur als ein Unikum gelten. Das
war er freilich auch, und nicht nur an Selt¬
samkeit, sondern an Kraft und Fülle. Wir
dürfen uns seiner als eines interessanten
Mannes erinnern, der in der Jugend ein
echter Poet und im Alter jedenfalls noch eine
originelle Gestalt war. Kein Zweifel, daß
die Gegenwart, die andere Stürmer und
Dränger zu Ehren bringt, sich auch seiner
wieder bemächtigen wird.
allem Böcklin erfreut haben. Auch die Lyrik
Müllers bringt engverwandte sinnenfreudige
Bilder, das Liebestreiben des Meergesindes
hat schon er in übermütigen Versen realistisch
geschildert. Das war eine Welt, die er mit
der Vollkraft seines Naturells erfüllen konnte
wie kein deutscher Dichter vor ihm und
nach ihm.
Bei Böcklin erscheinen nicht nur Faune
und Meernixen, sondern auch der deutsche
Landsknecht, der auf der Heimkehr sein
abendlich besonntes Dorf sinnend betrachtet.
So kennen wir Müller auch als deutschen
Romantiker und nicht nur als Dichter des
antiken Stoffkreises. Er ist hier wieder
Jdyllendichter und Lyriker, dann auch
Dramatiker. Die Werke des jungen Müller
sind nicht so zahl- und umfangreich, als daß
er den betretenen romantischen Stoffkreis
einigermaßen erschöpfen könnte. Warum nun
wirken bei ihm Motive, die später von
anderen tausendfach variiert sind, wie etwa
in der Idylle „Die Schafschur" die kurze
Schilderung eines sommerlichen Liebesabends
auf einer alten Burg, so stark und unver¬
geßlich? Wohl weil das erste literarische
Aufkommen solcher Stimmungen und Tnt¬
sachen fühlbar aus einem Urerlebnis hervor¬
quillt, mit allem Reiz ersten Schaffensduftes.
Auch die kunstvollste spätere Schilderung
erreicht das nicht wieder. Ebenso rühmliches
ist von der düsteren kleinen Dorfgeschichte zu
sagen, die neben anderen Erzählungen in die
Idylle „DaS Nußkernen" eingeflochten ist.
Und voll von Szenen, auf die unsere Worte
„volkstümlich, deutsch, romantisch" Passen, ist
auch Müllers großes Schauspiel „Golo und
Genoveva", das gegen den Schluß an Poesie
und Kraft mehr und mehr gewinnt. Nur
als Bruchstück auf uns gekommen ist Müllers
in der Jugend verfaßtes romantisches Prosa¬
drama „Fausts Leben" — es ist nicht so zu
loben wie die „Genoveva", obwohl sich
einzelne Szenen und Situationen sehen lassen
können und der Dichter sein Werk mit einer
äußerst blutvollen Borrede in die Welt sandte.
Aber hier ist alles zu breit. Bühnendramatiker
ist Müller überhaupt in keiner Weise, auch
die „Genoveva" kann nicht aufgeführt
werden, obwohl sie Müllers schönstes
Werk ist.
Die Zeit, da Goethe jung war und so
häufig mit den anderen „Genies" verwechselt
wurde, die im Jahrzehnt 1770 bis 1780 als
stürmende Revolutionäre eine neue Zeit herauf¬
führen wollten, jene „inhaltsreiche Epoche",
für die das schattenhafte Klingersche Schauspiel
„Sturm und Drang" das Schlagwort hergab,
läßt uns der Verfasser des vorstehenden Auf¬
satzes wieder lebendig werden in seiner zwei¬
bändigen Sammlung „Sturm und Drang.
Dichtungen aus der Geniezeit". (Mit sechs
Porträts und zahlreichen Vignetten. Goldene
Klassikerbibliothek. Berlin, Deutsches Verlags¬
haus Borg u. Co. Preis 5 M.) Es war eine
gute Idee, Gerstenberg, Leisewitz, Lenz, Wagner,
Klinger und den Maler Müller so zu ver¬
einigen, daß sie nur mit den Werken, die für
sie als Stürmer und Dränger charakteristisch
sind, vertreten waren. Auf diese Weise ergab
sich ein umfassendes Bild der Geniezeit, in
dessen Verständnis Karl Freyes feinsinnige
Einer, der das Gruseln lehrte. Schon i»
der Zeit, als Lukian schrieb, besaß man in
Griechenland zahlreiche kräftige Gruselinärchen,
so daß der Spötter es für seine Pflicht hielt,
gegen den Unfug aufzutreten. Nicht besser stand
es seit alters in Mittelitalien, wo die etrus-
kische Kunst beinahe den Eindruck erweckt, als
habe sie ihr' Sach ans Graus gestellt. Unsere
deutschen Märchen und Sagen lassen sich, wie
bekannt, diesen Effekt gleichfalls nicht entgehen,
und man hat bereits die Überzeugung ge¬
wonnen, daß die früheren Fassungen darin
noch weit mehr leisteten. Wichtig hierfür ist
immer der um 1220, lange vor der letzten
Umgestaltung des deutschen Märchenschatzes,
niedergeschriebene Oialogus ^Vursculorum des
Zisterziensermönchs Caesarius b, Heisterbach
gewesen. Der fromme Mann besaß sowohl
ein hübsches Plaudertalent wie den starken
Glauben, der alles Wundervare beherzt mit¬
nahm, und seine Oberen ermutigten die Schrift-
stellerei des Ordensbruders um so mehr, als
allerlei Politisch nützliche Geschichtchen in den?
Buche unterliefen, das sich ausdrücklich an die
heilige Einfalt wendet. Mit Einfalt trägt Cae¬
sarius selber vor, was er erlauscht hat; und
wird ein Märchenstoff einmal bedrohlich heid¬
nisch, dann muß eben die Gottesmutter ein¬
greifen, — auf die Gefahr hin, sich dabei gegen
alle christliche!: Voraussetzungen zu betätigen.
Gleichsam zur Entschuldigung muß dienen, daß
der Teufel noch apokalyptische Macht und Herr¬
lichkeit besitzt, daß die Welt der Dämonen noch
recht unabhängig in den Alltag hineinragt.
Will die Kirche den düsteren Fratzen aus dem
Schwefelpfuhl, die bei Bedarf nahezu jedes
Glaubenswunder nachahmen, streitbar begeg¬
nen, dann heißt es manchmal die Gnaden¬
mittel in einer Weise anwenden, als seien sie
dicke Keulen, Aus dieser Charakteristik läßt
sich aber schon schließen, daß der vergleichenden
Mythologie hier ungemein reiche Ausbeute
erwächst, und deshalb hat Dr. Ernst Müller-
Holm eine verdienstliche Arbeit mit seiner Ver¬
deutschung des größeren und bedeutsameren
Teils der Wundergeschichten geliefert (Berlin;
Karl Schnabel Verlag; Preis M, 7.—).
In gutem Stil und mit Liebe zum Gegen¬a
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sk
usgestattete Erneuerung des Quellenwerkes
Dr, Carl Franke schreibt hundertzwölf Seiten
rößeren Oktavs voll über „Die mutmaßliche
Sprache der Eiszeitmenschen" (Verlag Hera.
Locke, Leipzig und Zürich, 1911). Er bezeichnet
as Werk als die Durchführung einer Hypo¬
hese, aber einer, die sich auf positive Tatsachen
tütze. Leider muß der Verfasser einräumen,
aß die Reihe seiner Positiven Tatsachen „ge¬
waltige Lücken" aufweise, doch er besiegt dieses
Hindernis durch Aufzählung der Titel eigener
prachwissenschaftlicher Arbeiten — sie haben
mit denen des Herkules gemein, daß eS gerade
hrer zwölf sind. Im übrigen baut sich die
Darlegung an Beobachtungen über die Laut-
bildungSfolge bei modernen Kindern und über
deren Sprechenlernen auf. Denn die kümmer¬
ichen Schädelfunde vom Neandertal u. tgi.
haben vorläufig nur Wert als Aufputz, und
die sog. „Tiersprachen", nämlich die Verstän-
digungsmittel niederer Geschöpfe, erlauben
nicht den gesuchten Anschluß. Es wird bald
lar, wo der Fehler steckt. Nicht beim Nach¬
wuchs alter Kulturen, sondern bei Kindern
der Tschuktschen, Eskimos oder Feuerländer
ieß es nach Analogien forschen, und dann recht
vorsichtig sein. Daran, daß man dies tuu
önnte, hat Prof. Franke, soviel zu sehen, über¬
haupt nicht gedacht. Er benutzt vielmehr Sta¬
istiker oder Einzelbeispiele aus bequemem Um¬
reise und überträgt mit „daher" auf die Eis¬
eitmenschen, was ihm irgend recht und billig
däucht. Merkwürdigerweise wagte er nicht, die
Eiszeitsprachen zu rekonstruieren, so daß seine
Schrift im Titel irreführt; sie behandelt nur
das etwaige Sprachvermögen der Eiszeitler.
Vielleicht aber ist ein guter Rat befolgt wor¬
den, die schon fertigen Proben der Glazial¬
prache lieber zu unterdrücken. Wir haben
eine schöne wissenschaftliche Normalarüeit ge¬
nossen, die „methodisch", d. h. bei Ausschluß
der unphilologischen Realkritik, alles Lob ernten
ann. Nur die Kurage wird übertrieben.
stand wiedererzählt, kann die ansprechend
Das elsaß-lothringische Volk hat durch die Wahlen vom 22. und 29. Ok¬
tober bestätigt, daß an dem positiven Gange der politischen Entwicklung des
Landes auch der zu Beginn dieses Jahres plötzlich wieder schärfer auflodernde
Oppositionsgeist einer zahlenmäßig beschränkten, in Phrase- und Wortschwall aber
starken Clique im großen und ganzen nichts mehr zu ändern vermag.
Die antideutsche Bewegung, die sich in der Gründung des „verewigten"
Nationalbundes unverhüllt kundgab, war zwar ein unnötiger Umweg, hat aber
letzten Endes doch dazu gedient, das verwegene Spiel zu enthüllen, welches die
geistigen Urheber dieses Anachronismus mit den Landesinteressen stets gespielt
haben und auch in Zukunft haben spielen wollen. Nun liegt der stolze und
gepriesene Bau des Nationalbundes trotz aller Stützversuche der letzten Stunde
ganz und gar in Trümmern, und unter diesen liegen seine verwegensten Baumeister
begraben, als erster der „Bundespräsident" Preiß, für den bereits der Präsidentensitz
in der Zweiten Kammer in Aussicht genommen war; ferner sein „alter eZo"
Daniel Blumenthal, der wandelbare klerikale Demokrat, Dr. Hettner und
schließlich Laugel, der „gesinnungstüchtige" Führer des elsaß-lothringischen Zentrums,
obgleich er je nach Bedarf seine Zugehörigkeit zum Nationalbunde ableugnete,
anderseits aber auch wieder die Verbindung mit dem deutschen Reichszentrum
kühn von der Hand wies. Froh über die eigene Rettung finden wir nur die
einstigen Mitbegründer Wetterls und Dr. Pfleger auf der festeren Planke des
Zentrums wieder.
Wirkungslos verpufft ist also die letzte große „Zuckung der Tradition", durch
die in Wirklichkeit noch einmal ein Neufrankreich auf dem Boden des deutschen
Elsaß-Lothringen künstlich belebt werden sollte. Geboren aber ist erstmalig unter
reichsdeutscher Herrschaft eine aus dem allgemeinen, gleichen, geheimen Wahlrecht
hervorgegangene Volksvertretung, die in ihrer Zweiten Kammer folgende solide
und aussichtsreiche Zusammensetzung aufweist: Zentrum 24 (im ersten Wahl¬
gänge 17 -i- im zweiten 7), Sozialdemokratie 11 (im ersten 5 > im zweiten 6),
Lothringer Block 10 (im ersten 9 -i- im zweiten 1), Liberale 9 (im ersten 1 -t^- im
zweiten 8), unabhängige Liberale 4 (im ersten 1 -I- im zweiten 3) und unabhängiges
Zentrum 2 (im ersten). Unter den gewählten sechzig neuen Abgeordneten befinden
sich neunzehn Mitglieder des alten Landesausschusses.
Das Zusammengehen der antiklerikalen Parteien hat zwar nicht alle Möglich¬
keiten restlos ausgeschöpft; aber abgesehen davon und daß die sämtlichen nationa¬
listischen Kandidaten durch das liberal-demokratische Vorgehen zu Falle gebracht
wurden, sind die Liberalen mit größerer Stärke in den ersten Landtag eingezogen,
als sie im verflossenen Landesausschuß vertreten waren; und die ganz neue sozial-
demokratische Fraktion (elf Mann) wird nicht selten dazu berufen sein, ihre Sto߬
kraft gegen den klerikalen Imperialismus zu mehren.
Im übrigen zeigen die Zahlen der Wahlstatistik ganz unwiderleglich, wie sehr
das Zentrum, der „eigentliche Träger des Reichsgedankens" (?I), hierzulande
die Nationalisten wenigstens im zweiten Wahlgänge durchzubringen versucht hat,
und wie der „Block der Linken" eine unbedingte Notwendigkeit zur rationellen
Bekämpfung und endgültigen Vernichtung des Nationalismus nationalbündlerischer
Provenienz war. Dieser Erkenntnis werden sich wohl nunmehr, nachdem die
Tatsachen ihre klare Sprache gesprochen, auch jene altdeutschen Blätter nicht gut
verschließen können, die ihre Abneigung gegen die Idee des Großblocks ungeachtet
der lokalen Verschiedenheiten auch auf die reichsländischen Verhältnisse glaubten
ausdehnen zu sollen.
Der liberale Gedanke hat in Elsaß-Lothringen stark gewonnen, der stolze
Bau des Zentrums nun auch hierzulande seine Mehrheitsstellung eingebüßt, die
Pariser Zeitung Le Siecle nennt das Wahlresultat geradezu „den Sieg des
Deutschtums"; die klerikal-konservative Majorität von im Höchstfalle 36 Stimmen,
welche sich im gegebenen einzelnen Falle gegen die Minderheit von 24 Stimmen
der vereinigten Linken durch einen Anschluß des Lothringer Blocks ergeben
würde, dürfte doch mit Rücksicht auf die heterogene Zusammensetzung des Blockes
(aus zentrum-freundlichen, -feindlichen und liberalen Elementen) problematischer
Natur, jedenfalls keine so unbedingte sein. Außerdem scheint nicht ausgeschlossen,
daß der Lothringer Block mit seinen vielfachen Sonderinteressen unter Voranstellung
der Devise „I^orraine avant tout" die landsmannschaftliche Zugehörigkeit seiner
Mitglieder in den Vordergrund stellen wird, um sich damit ebenso wie im alten
Landesausschuß die Bedeutung des „Züngleins an der Wage" zu erhalten.
Wahlanfechtungen werden nicht ausbleiben; über einige wird bereits
berichtet, da zum Teil sehr geringe Mehrheiten erreicht wurden (12, 32 usw.
Stimmen). Bei dieser Gelegenheit wird es interessant sein, zu erfahren, ob das
Oberlandesgericht in Kolmar, welches auf Grund der Beschlüsse der Reichstags¬
kommission für derartige Anfechtungen zuständig ist, ob sich also dieses unabhängige
Gericht die Anschauungen zu eigen machen wird, die der Reichstag bei den Wahl¬
anfechtungen zum Teil aus parteipolitischer Erwägungen heraus vertreten hat.
Einen Treppenwitz der Weltgeschichte könnte man es schließlich nennen, daß
der biedere Nationalbundgründer und klerikal-demokratische Bürgermeister von
Kolmar, Daniel Blumenthal, im Gemeinderat seines kommunalen Machtbezirks
noch einmal die nötigen klerikalen Intelligenzen als Majorität gefunden hat, um
aus dem Trümmerfelde seines Wahlfiaskos heraus als berufenster Vertreter der
Wenn diese Zeilen den Lesern der Grenzboten zu Gesicht kommen, tobt
wahrscheinlich schon die Redeschlacht im Reichstage wegen des am 4. November
endgültig unterschriebenen Abkommens zwischen Deutschland und Frankreich über die
marokkanischen Angelegenheiten und die Neuregelung der Grenzen zwischen Deutsch-
Kamerun und Französisch-Kongo. Fast fünf Monate haben die nunmehr ab¬
geschlossenen Verhandlungen gewährt, und es ist heiß gestritten worden bis zur
letzten Stunde. Die Unterhändler hüben und drüben haben einander an Zähigkeit
zu übertreffen gesucht und sich gegenseitig nichts geschenkt, aber es ist ihnen auch
nichts geschenkt worden von denen, die berufen waren das Werk zu fördern.
Das äußerliche Ergebnis der Verhandlungen ist der vierzehn Artikel um¬
fassende Entwurf über die Ergänzungen des Marokkoabkommens vom 9. Februar 1909,
der am 11. Oktober gezeichnet (paraphiert) wurde, und der Entwurf eines Vertrages
über die Gebietsabtretungen im französischen Kongo, der am 2. November paraphiert
wurde. Der Vertrag als Ganzes ist vom Sonnabend, den 4. d. M, gezeichnet
worden. Vorweg sei bemerkt, daß der Vertrag irgendwelche Abmachungen über
Togo nicht enthält; die Besprechungen über Grenzregulierungen zwischen Togo
und Dahome sind im letzten Moment fallen gelassen worden.
Der Vertragsteil über die Neuordnung der Marokkoangelegenheit
behandelt in seinen drei ersten Artikeln die Verpflichtungen Deutschlands gegenüber
Frankreich, in den Artikeln 4 bis 8, 10 und 11 die Pflichten Frankreichs gegenüber
den in Marokko interessierten Mächten und in Artikel 9 und 12 bis 14 alles
Gemeinsame, wie Konsulargerichte und die Beziehungen der Algecirasmächte zu
Marokko.
Die Verpflichtungen Deutschlands bestehen im wesentlichen darin, daß es
Frankreich freie Hand läßt in Marokko zu schalten, soweit Interessen der anderen
Mächte nicht dadurch berührt werden, und indem es wiederholt versichert, keine
anderen als wirtschaftliche Ziele in Marokko zu verfolgen. Die deutsche Regierung
erklärt in Artikel 1, sie werde die Handlungen Frankreichs nicht stören, die darauf
gerichtet sind, der marokkanischen Negierung bei der Einführung der dieser not¬
wendig erscheinenden Reformen der Verwaltung, der Rechtsprechung, der Wirtschaft,
Finanzen und des Heerwesens zu Hilfe zu kommen; ebensowenig werde sie sich einer
genauen Präzisierung und Ausdehnung der französischen Kontrolle und deren Hilfe-
leistung (Protektion) widersetzen, solange Frankreich die in früheren Verträgen fest¬
gelegte Handelsfreiheit aufrecht erhält; dabei wird ausdrücklich hervorgehoben, daß
die durch die Algecirasakte festgelegten Rechte und Freiheiten der Marokkanischen
Staatsbank unter keinen Umständen verstümmelt werden dürfen. Artikel 2 gesteht
den Franzosen das Recht zu, nach entsprechender Vereinbarung mit der marok¬
kanischen Regierung Landesteile militärisch zu besetzen, soweit solches zur Aufrecht-
erhaltung der Ordnung und der Sicherheit notwendig erscheint; ebenso wird
Frankreich die Ausübung der Polizeigewalt überlassen. In Artikel 3 verpflichtet
sich Deutschland keinen Widerspruch dagegen zu erheben, falls der Sultan der
französischen Regierung den Schutz seiner Untertanen und Interessen im Auslande
anvertraut, sowie falls der Sultan Franzosen zu seinen Unterhändlern mit Ver¬
tretern anderer Mächte bestellt.
Somit wird Frankreich zum Eckstein der marokkanischen Re¬
gierungsgewalt erhoben und in Marokko wird eine Macht eingesetzt, die
den ausländischen Interessenten für Rechtssicherheit und Handelsfreiheit ver¬
antwortlich ist. An die Stelle einer Scheinregierung, mit der die Algecirasakte
rechnete, wird eine wirkliche, greifbare und angreifbare gesetzt, die auf der einen
Seite im Namen des Sultans und nur mit dessen Einverständnis handeln darf,
und die auf der anderen sich nicht mehr hinter der Untreue oder Untüchtigkeit
marokkanischer Beamter verstecken darf, sofern Interessen fremder, nicht französischer
Staatsangehöriger verletzt werden.
Angesichts dieser Bestimmungen, die Frankreich außerordentlich weitgehende
diskretionäre Gewalt einräumen, entsteht die Frage, wie Frankreichs Tätigkeit
und Handhabung des Vertrages wirksam zu kontrollieren sein werde,
da es ja nur zu menschlich wäre, wenn die französische Regierung gerade angesichts
der ihr eingeräumten Machtbefugnisse das Bestreben hätte, diese noch auf Kosten
der Gegenpartei zu erweitern. Hier galt es um so mehr einen Riegel vorzuschieben,
als irgend welche Hilfsmittel, die Tätigkeit der Franzosen zu kontrollieren und ihre
unsern Unternehmern schädlichen Maßnahmen zu verhindern, nicht bestanden.
Ein Parlament besteht in Marokko ebenso wenig wie eine unabhängige Presse,
und so dürften nach Lage der Dinge die einheimischen Behörden bald ebenso
kenntnislos dem Treiben der Franzosen gegenüberstehen wie das Ausland, sofern
es nicht gelang die Abmachungen entsprechend zu ergänzen. Aus diesem Dilemma
sollen nun die Bestimmungen der Artikel 4 bis 8, 10 und 11 herausführen. Sie
enthalten zunächst eine Art Marschroute für die Tätigkeit der französischen Behörden
in Marokko, soweit sie mit wirtschaftlichen Dingen in Berührung kommen, und schaffen
ein Kontrollsystem, das es den nichtfranzösischen Marokkointeressenten möglich
macht, die wirtschaftlichen Pläne der Negierung dauernd verfolgen und rechtzeitig
erkennen zu können. Den Mittel- und Ausgangspunkt des Systems bildet die
auf der Grundlage des französischen Rechts organisierte Aktien-Gesellschaft
Marokkanische Staatsbank.
Im einzelnen betrachtet, besagen die Bestimmungen des neuen Vertrages folgendes:
die französische Regierung verpflichtet sich, keinerlei Ungleichheiten zwischen den in
Marokko Handel treibenden Nationen zuzulassen, sei es im Zusammenhang mit der
Organisation des Zollwesens, der Steuern oder sonstiger Abgaben, sei es bei Tarifen
aus irgendeiner Art von vorhandenen oder noch zu bauenden Verkehrswegen. Das
Gleiche gilt für den Durchgangsverkehr. Ferner hat die französische Regierung eine
differenzierende Behandlung der verschiedenen Nationalitäten zu verhindern. Ins¬
besondere darf sie den Erlaß von keinerlei Verordnungen, z. B. über Maße und
Gewichte, Aichungswesen, Anbringung von Stempeln auf Bijouteriewaren dulden,
die geeignet wären, die Waren irgendeiner Macht in ihrer Konkurrenzfähigkeit zu
beeinträchtigen. Um den Mächten einen Einblick in das Zollwesen zu verschaffen,
soll die Marokkanische Staatsbank gehalten sein, sich in der „Lommission ach
vsleurs äouamerss" und in dem „Lomite permanent ach äouanes" der Reihe
nach durch die verschiedenen Mitglieder ihrer Tangerer Direktion vertreten zu
lassen, die sich jährlich abwechseln (Artikel 4). Auf auszuführendes Eisen darf kein
Zoll gelegt werden; auch die Minenindustrie darf bezüglich ihrer Produktion und
Arbeitsmittel mit keinerlei besonderen Steuern belegt werden. Sie hat lediglich
allgemeine Steuern zu tragen, die den Bestimmungen der Artikel 35 und 49 des
Entwurfs zu einem marokkanischen Berggesetz vom 7. Juni 1910 entsprechen und
sich auf eine Flächensteuer sowie eine Abgabe vom Bruttogewinn beschränken (Artikels).
Die Vereinbarungen über öffentliche Bauten und Arbeiten (Artikel 6) knüpfen an die
Bestimmungen der Algecirasakte an, tragen aber den inzwischen gemachten unlieb¬
samen Erfahrungen Rechnung durch die Klausel, wonach einmal die Marokkanische
Staatsbank den ihr zustehenden Platz in der „Lornmission Zenerale ach ÄäjuäiLÄtivns
et msrekes« abwechselnd der Reihe nach mit einem ihrer Tangerer Direktions¬
mitglieder zu besetzen und serner die marokkanische Regierung einen der ihr zustehenden
drei Delegierten in dem „Lomitö specis! ach trevmix publics" einer in Marokko
vertretenen fremden Macht zu übertragen hat, solange Artikel 66 der Algecirasakte
in Kraft bleibt. Um die Erschließung Marokkos zu erleichtern, gestattet Artikel 7
allen Eigentümern von landwirtschaftlichen oder industriellen Betrieben, ohne Unter¬
schied der Nationalität, Eisenbahnen aus eigenen Mitteln zu bauen, die ihre
Betriebe mit den nächstgelegenen Häfen oder öffentlichen Eisenbahnen verbinden
können; freilich haben sie sich dabei nach den Reglements zu richten, die unter
Anlehnung an die französische Gesetzgebung erlassen werden sollen. Artikel 8
bestimmt die jährliche Berichterstattung über das öffentliche Eisenbahnwesen durch
ein Mitglied des Direktoriums der Marokkanischen Staatsbank. Artikel 10 will
den Ausländern die Ausübung des Fischereirechts und Artikel 11 die Eröffnung
weiterer Häfen sichern. Artikel 9 sieht die Schaffung eines Schiedsgerichts vor,
das neben dem Konsulargericht so lange bestehen soll. bisMide durch ordentliche
Gerichtsinstitutionen nach französischem Muster ersetzt sein würden. Schließlich
verkündet Artikel 13 die Ungültigkeit aller der bisher zu Recht bestehenden
Bestimmungen, die der obigen Abrede widersprechen, während in Artikel 14 die
vertragschließenden Teile sich verpflichten, von den Unterzeichnern der Algecirasakte
das Einverständnis zu obigen Vereinbarungen zu erbitten.
Dies ist der Inhalt des Marokkovertrages; ich gebe ihn an der Hand des
französischen Textes.
Was bringt er uns?
Solche direkte Frage ist bei der Art des Vertragsobjekts nicht leicht direkt zu
beantworten. Es handelt sich nicht um greifbare und meßbare Dinge, die ganz selbst¬
ständig und unabhängig von äußeren Einflüssen einen gewissen Wert darstellen,
sondern mehr um Formen, die erst unter bestimmten, allerdings vorhandenen
Voraussetzungen zu materiellen Werten für uns werden können. Hier ist gewisser¬
maßen nur der Tummelplatz für die wirtschaftlich Kämpfenden neu abgesteckt und
ein neues Reglement für die Handhabung ihrer Waffen gegeben. Darum fragt es sich
zunächst, ob die Neuerungen für das deutsche Wirtschaftsleben eine Besserung bedeuten
oder nicht. Selbst jene, die nur durch eine Besitzergreifung zufrieden gestellt werden
könnten, werden, soweit sie überhaupt noch ruhig zu denken vermögen, diese Frage
nicht verneinen dürfen. In dem Vertrage ist das Prinzip der offenen Tür in
einer Weise mit praktischen Garantien umgeben, wie wir es bisher noch in keiner
ähnlichen internationalen Vereinbarung gefunden haben. Frankreich ist durch die
Einzelheiten der Bestimmungen allem menschlichem Ermessen nach so fest gelegt,
daß es sie wohl nur dann umgehen könnte, wenn unsere Interessenten Trottel
wären oder aber wenn es Frankreich einfiele, sich mit Gewalt der loyalen Durch¬
führung der Vertragsbestimmungen zu widersetzen. Es liegen keine Anzeichen vor,
die etwas ähnliches in Aussicht stellen. Die Zustimmung einer Großmacht, wie
Frankreich es ist, zu solchen weitgehenden Bindungen spricht dafür, daß sie auch
für Frankreich vorteilhaft sind, und daß darum die ehrliche Absicht zu friedlichem
Zusammenwirken vorhanden ist.
Wie weit die deutschen Kaufleute befähigt sein werden, die neue Situation aus¬
zunutzen, darüber brauchen wir uns angesichts ihrer Tüchtigkeit kaum die Köpfe
zu zerbrechen. Sofern sie es verstehen, den ihnen eingeräumten Einfluß in der
Marokkanischen Staatsbank und deren Kommissionen auszunutzen, werden sie auch
diejenige Kontrolle über die wirtschaftlichen Absichten der Franzosen in Marokko
behalten, die ihnen der Vertrag zugesteht.
Das neue Abkommen erweitert die Bewegungsfreiheit der deutschen
Marokkointeressenten ganz außerordentlich und sichert die Früchte ihrer
Arbeit gegen den früheren Zustand in recht erheblichem Maße. Vor allen Dingen
wird man diese Sicherung in der Beseitigung der Fiktion von einer marok¬
kanischen Regierungsgewalt erblicken dürfen. Nachdem der Sultan selbst
seine Macht um französisches Gold preisgegeben, bildete seine Regierung wohl den
Schleier, die Maske für die französischen Unternehmungen, nicht aber eine Stelle,
an die sich die geschädigten nichtfranzösischen Marokkointeressenten mit Aussicht auf
Berücksichtigung halten könnten. Jetzt wird zwar, wie in allen früheren Verträgen,
die Souveränität des Sultans formell anerkannt, aber die Verantwortung gegen¬
über den Algecüasmöchten soll nicht mehr die marokkanische Regierung, fondern
an ihrer Statt die französische tragen. Darum heißt es in jedem Artikel des
neuen Vertrages: „le (Zouvernement kranyais veilleiÄ, cieolsre, s'enMM,
s'emploiera. usera ac son inkluence, cKarZera" usw. usto. . . . Frankreich ist
verantwortlich für die Handlungen der Kaids ebenso wie für die seiner Offiziere
und Zollbeamten. Für die Bestechlichkeit der marokkanischen Beamten verant-
wortet fortab nicht der machtlose Sultan, sondern Frankreich, das in Marokko
bisher von allen Mächten allein im Trüben fischen durfte, und das bisher die Unter¬
nehmungslust der deutschen Kaufleute zu hemmen versuchte, — übrigens ohne sie zu
hemmen.
Nun wird es den Unterhändlern kaum gelungen sein, alle Reibungsslächen
zwischen Frankreich und Deutschland zu beseitigen, aus dem einfachen Grunde,
weil solches ein Ding der Unmöglichkeit ist, solange bei Seiden Schaffenslust und
Selbsterhaltungstrieb vorhanden sind. Bei aufmerksamer Prüfung des neuen Ver¬
trages wird man aber das Bestreben erkennen, eine Gemeinsamkeit der Inter¬
essen beider Länder herbeizuführen. Wie solches geschehen, lehrt das Studium
der Gründungsgeschichte sowie der Statuten der marokkanischen Staatsbank, wie
auch der wichtigen Rolle, die dem Direktorium dieser Bank durch den. neuen Ver¬
trag zugewiesen ist. Damit aber werden auch die großen Richtlinien des Vertrages
in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht offenbar, denen die Unterhändler gefolgt
sind. Es ist richtig erkannt, daß, wie die Dinge nun einmal zwischen Deutschland
und Frankreich liegen, eine Gemeinsamkeit von deutschen und französischen Inter¬
essen nur durch Vermittlung des internationalen Großkapitals hergestellt werden
konnte, daß es somit galt, deutsche und französische Kapitalien sür einen Zweck
zusammenzubringen und ihren Besitzern dadurch die Solidarität ihrer Interessen
praktisch vor Augen zu führen. Dies Ziel verfolgte Herr v. Kiderlen auch, wenn
er den Herren Mannesmann zuredete, sich den internationalen Finanzierungs¬
unternehmungen anzuschließen, diesem Ziel dienten die Krupp und Mendelssohn,
die bereitwilligst jeder Anregung zur Kapitalbeteiligung folgten, mochte sie vom
Fürsten Bülow oder vom Staatssekretär von Richthofen ausgehen. Dadurch er¬
hält die Stellung der Staatsbank einen ganz besonderen Wert für die Zukunft
unseres Handels in Marokko und der wirtschaftliche Teil des Vertrages darf als
ein Fortschritt gegenüber dem bisherigen Zustande betrachtet werden, wenigstens
im Hinblick auf alle die, die bereit sind, ihre egoistischen Ziels dem Wohle des
Ganzen unterzuordnen.
Wir kommen damit zur politischen Seite des Vertrages.
Darf man auch sie als einen Fortschritt bezeichnen?
Für eine einwandfreie Beantwortung dieser Frage ist die Heranziehung so
vieler Momente notwendig, die auf subjektiver Bewertung der Tatsachen und Neben¬
umstände beruhen, daß wir uns zunächst einmal vor Augen führen müssen, welche
Verhältnisse denn überhaupt durch den Vertrag berührt werden. Zunächst seien
wir uns klar darüber, daß hier ein internationaler Vertrag vorliegt, der belastet
wird durch die Interessen von zwölf Staaten, wenn wir Marokko selbst
nicht rechnen. Sodann handelt es sich um den ersten Schritt, mit dem die deutsch¬
französischen Annäherungs- und Verständigungsversuche auf eine praktische Basis
geraten, und drittens geht es um eine Verschiebung der Machtverhältnisse
am Mittelländischen Meer, die nicht ohne Rückwirkung aus die weltgebietende
Stellung Großbritanniens bleiben kann. Zwei Dinge hat Herr v. Kiderlen
faktisch erreicht. Frankreich ist auf die praktische Basis getreten und zwar in einer
Form, die uns den weiteren Zielen der deutschen Friedenspolitik weit sicherer zuführt,
wie etwa interparlamentarische Verbrüderungen oder sozialistische Friedensdemonstra¬
tionen, und dann hat er neun Mächte, nämlich Österreich-Ungarn, Belgien, Spanien,
Großbritannien, Italien, Holland, Portugal, Nußland und Schweden als Aktien¬
zeichner der Marokkanischen Staatsbank hinter die deutschen Marokkointeressentm
gestellt, solange diese für die offene Tür auf der Grundlage des Vertrages ein¬
treten; man erinnere sich der Konstellation in Algeciras und man wird zugeben,
daß es Herrn v. Kiderlen um einen Schritt mehr gelungen ist, aus dem Ringe
herauszukommen, mit dem Eduard des Siebenten Politik uns zu erdrosseln hoffte.
Wegen der künftigen Stellung Großbritanniens genüge der Hinweis; eine Erörte-
rung darüber beansprucht einen Artikel für sich, der alle Kräfteverhältnisse am
Mittelmeer zu untersuchen hätte.
Nun Wird mir entgegengehalten: aber um welchen Preis wurden diese
angeblichen Fortschritte erzielt!? Aus den Kommentaren eines Teiles der Presse
könnte man glauben, wir seien schon einmal Herren in und von Marokko gewesen
und hätten nun den Franzosen wohlerworbene Rechte kampflos hingegeben.
Deutschland hätte somit nach Abschluß dieses Vertrages alles Ansehen verloren
und sei nunmehr aus der Reihe der Großmächte ausgeschieden. Warum? Weil
der Kaiser Marokko nicht militärisch besetzen ließ, und weil er weder an Frankreich
noch an England den Krieg erklärt hat. Diese Auffassung wird in weiten Kreisen
geteilt, und weder die besonnenen Ausführungen des Professors Harms, noch des
alldeutschen Schriftstellers Mehrmann, noch des Hauptmanns Hutter finden Be¬
achtung. Was die Kölnische oder Frankfurter Zeitung schreiben, die doch wirklich
mit Mitteln nicht sparen, um sich selbständig und allseitig zu orientieren, wird als
Ausgeburt seniler Offiziösentums mit Achselzucken beiseite geschoben.
Tatsächlich waren wir niemals Herren in Marokko. Niemand, der das
Gegenteil behauptet, dürfte imstande sein, authentisch nachzuweisen, daß wir in
irgend einer Phase des Marokkostreites die Absicht gehabt hätten, uns dort
politisch festzusetzen. Wir haben eine Zeitlang versucht, in Nordwestafrika einen
gesunden, selbständigen Staat von neuem aufleben zu lassen, sind aber davon
wegen Untauglichkeit des Objekts abgekommen. Niemals, auch als der Kaiser
uach Tanger ging, sind wir daraus ausgegangen, uns in Marokko festzusetzen.
Nach dem Besuch schrieb Jacoby in den Grenzboten (Bd. II 190S S. 54),
„Deutschland will in Marokko keinen Fuß breit Land, sucht auch keineswegs
dort ein zweites Kiautschou zu etablieren, das jeder feindlichen Flotte
preisgegeben sein oder die Abwesenheit der teuschen Schlachtflotte von den
heimischen Küsten erheischen würde. Wir wollen in Marokko nichts weiter als
die offene Tür, für uns wie für alle anderen Nationen." Jacoby aber war
über die politischen Absichten der Regierung besonders gut unterrichtet. Wenn
also heute allgemein geglaubt wird, der Vertrag bedeute einen Rückzug vor
Frankreich, so liegt das in einer falschen Auffassung unserer Absichten.
Es wäre ganz lehrreich, einmal zu untersuchen, wie sich diese irrige Auf¬
fassung, die wie eine schleichende Krankheit den inneren Frieden Deutschlands zu
untergraben sucht, so tief, wie es geschehen, in die Gedankenwelt der Nation ein-
graben konnte. Viele psychologische Momente sprechen da mit. Eine sehr schwere
Schuld trifft die Regierung, die, anders als zu Bismarcks und Bülows Zeiten,
es verschmäht hat, sich der Presse in dem Maße zur Aufklärung des Publikums zu
bedienen, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. Doch davon ein andermal.
Die Gründe für unser friedliches Verhalten während des jüngsten
Marokkostreites sind bereits in Heft 82 näher dargelegt. Heute sei nur
auf einen Grundpfeiler der Reichspolitik hingewiesen, der anscheinend in
Vergessenheit geraten ist. „Wir übernehmen", so heißt es in der Proklamation
vom 18. Januar 1871, „die kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht, in
deutscher Treue die Rechte des Reichs und seiner Glieder zu schützen, den Frieden
zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines
Volks, zu verteidigen." Nach diesem Leitspruch ist die deutsche Regierung auch
während des abgelaufenen Sommers verfahre»: sie hat, als die Franzosen sich
anschickten, Marokko zu besetzen, um „die Interessen der Algeciras - Mächte zu
schützen," durch die Entsendung des „Panther" nach Agadir deutlich zum Ausdruck
gebracht, daß sie imstande und bereit sei, das Interesse und das Leben der Deutschen
selbst zu verteidigen-, sie hat serner die erste günstige Gelegenheit ergriffen, die sich
bot, eine auf falschen Voraussetzungen beruhende und darum als untauglich erkannte
Daseinsbasis durch eine neue zu ersetzen, und schließlich hat sie, als England den
Versuch machte, bei den Verhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich
mitzuwirken, dieses würdevoll in die Schranken gewiesen und diese unter
vier Augen auf friedlichem Wege zu dem Ende geführt, das sie erreichen wollte
und mußte und — durfte.
Eine andere Behandlung der Marokkoangelegenheit während des Jahres 1911
als wie sie stattgefunden — von einzelnen Mißgriffen, deren Ursachen wi-r nicht
zu übersehen vermögen, wird hier abgesehen —, hätte einen Bruch mit unserer
traditionellen Politik seit der Reichsgründung bedeutet und uns zu russischen
Methoden in der Handelsexpansion geführt. Rußland dehnt seinen Handel aus,
indem es zunächst „wissenschaftliche Expeditionen" unter starker Bedeckung von
Kosaken und Artillerie über seine asiatischen Grenzen schiebt, die sich mit dem
Vordringen der Expedition automatisch weiten. Dann bewilligt der Finanzminister
(so war es wenigstens bis 1905) einen namhaften Kredit zur „Förderung des
russischen Handels", und schließlich kommt der russische Kaufmann, der gewöhnlich
einen deutschen Namen trägt oder Jude ist, und macht das Geschäft für die russische
Volkswirtschaft. Ähnlich machen es die Franzosen. Unsere Welthandelspolitik
beruht auf anderen Faktoren. Erst kommt der Kaufmann, dann das Privatkapital,
dann die diplomatische Unterstützung, und erst lange danach erscheint das Kriegs¬
schiff, meist nicht als Drohung, sondern als Träger von Grüßen aus der Heimat
an die wackeren Pioniere der deutschen Kultur!
Bisher wurde die deutsche Handelspolitik getragen von der Tüchtigkeit, der
Intelligenz, dem Anpassungsvermögen und der anerkannten Ehrenhaftigkeit der
deutschen Kaufleute im engen Zusammenhang mit der Leistungsfähigkeit unserer
Industrie. Und seit dreißig Jahren dringen die deutschen Kaufleute in alle Do¬
mänen der älteren Welthandelsvölker ein und können der Heimat die Reichtümer
aus beiden Hemisphären zuführen.
Einer militärischen Unterstützung bedurften sie dazu bisher nicht. Zum ersten¬
mal in der Geschichte des neudeutschen Welthandels sehen in Marokko deutsche
Unternehmer sich an den Grenzen ihres Könnens, aber nicht, weil sie von irgend-
jemand im Stich gelassen worden wären, sondern weil sie das Vorhandensein
älterer, historisch begründeter Rechte sowie einer unabänderlichen historischen
Entwicklung ignorierten und darum einen falschen Weg gingen.
Ich halte es für einen moralischen Sieg der deutschen Regierung,
daß sie allen inneren und äußeren Schwierigkeiten zum Trotz dem Drängen der
Herren Mannesmann nicht nachgegeben und damit den friedlichen Charakter
aller ihrer internationalen Bestrebungen in einer, besonders in ihren innerpolitischen
Rückwirkungen äußerst heiklen Situation unterstrichen hat. Verschiedene Blätter
halten den Zeitpunkt für geeignet, um durch Hinweis auf die Haltung Bis-
marcks im Jahre 1882 dem Kaufmann Lüderitz gegenüber darzutun, wie schwächlich
das Verhalten unserer Regierung sei. Bismarck hat damals dem deutschen Reichs-
angehörigen nicht ohne weiteres den Reichsschutz zugesagt, sondern nur unter der
Bedingung, daß nicht ältere Besitztitel von dritter Seite rechtmäßig geltend gemacht
würden. Die älteren Rechte Englands in der Walstschbai hat Bismarck auch
respektiert, wenngleich sie einen Pfahl im Fleisch der deutschen Kolonie bedeuten, und
wahrscheinlich hätte er ebenso wie jetzt Herr v. Kiderlen auch das Recht des Sultans
von Marokko anerkannt, sein Land und seine Macht nach Gutdünken an die Franzosen
zu verschachern, solange damit nicht deutsche Interessen verletzt wurden. Die Wahr¬
scheinlichkeit hierfür ist um so größer, als Bismarck das Eindringen der Franzosen
in Afrika gerne sah (vgl. Hohenlohe, „Denkwürdigkeiten" Bd. II S. 291 u. 321).
In den voraufgegangenen Ausführungen habe ich mich darauf beschränkt, auf
der Grundlage einer näheren Kenntnis der deutschen auswärtigen Politik seit dem
Herbst 1903 und an der Hand sowohl der amtlichen wie privaten Veröffent¬
lichungen über den Marokkohandel darzustellen, was Herr v. Kiderlen an neuen
Werten durch den Marokkovertrag in unsere internationalen Beziehungen getragen
hat. Der Kritik habe ich mich enthalten, wo nicht augenscheinliche Mißgriffe oder
Unterlassungen nachgewiesen werden können. Ebenso wenig habe ich an der
Vergangenheit gerüttelt, obwohl gerade in ihr die meisten Ursachen für die schlechte
Aufnahme zu finden sind, die die Presse heute dem Vertrage bereitet. Die Ent¬
wicklung des Marokkohandels konnte bei der einmal gegebenen Reichsverfassung
nicht unberührt bleiben durch das Versagen Holsteins im September 1905, durch
den plötzlichen Tod des Staatssekretärs v. Richthofen und schließlich durch das
Erscheinen zweier Männer am Reichssteuer wie der Herren v. Tschirschki und
v. Schön. Die daraus entstandenen Friktionen sollten nun eigentlich nicht dazu
führen, die heutige Regierung in der Weise zu verunglimpfen, wie es geschieht.
Sehen wir von der Agitation der Altdeutschen und der Herren ManneSmann
ebenso wie von der Ignorierung der Presse durch die Regierung ab, so
hätte das Abkommen auch wohl die verdiente Würdigung gefunden, wenn
es nicht mit Kolonialfragen verquickt worden wäre. Ich schicke voraus,
daß ich keinen andern, als den gewählten Weg kenne, der hätte beschritten
werden müssen, habe auch nirgends bei den Kritikern der Regierung eine
entsprechende Angabe gefunden; Frankreich, einmal zum verhandeln gebracht,
durfte nicht eher losgelassen werden, als bis auch die andern zwischen ihm und
uns wegen Afrika schwebenden Fragen erledigt waren. Diese Verquickung hat
es notwendig gemacht, das Koloniairessort mit in die Verhandlungen zu ziehen.
Als die Notwendigkeit auftauchte, zur Regulierung der Grenzen alten Kolonial¬
besitz gegen neuen auszutauschen, da streikte das Kolonialamt und scheint dem
deutschen Unterhändler solche Schwierigkeiten in den Weg gelegt zu haben, daß
dieser von einem bestimmten Zeitpunkt ab es vorgezogen hat, seinen Weg allein
zu gehn. Es sei dahingestellt, ob solches Verfahren am Platze war. Das aber
sehen wir deutlich, daß hier ein Fehler in der Organisation der Reichsämter
zutage getreten ist, der unbedingt ausgebessert werden muß. Bei der neben¬
geordneten Stellung, die die Reichsverfassung deutschem Kolonialland anweist,
erscheint ein selbständiges Kolonialamt als Anachronismus. Da das Reich bisher
bewußt keine Siedlungskolonien eingerichtet hat, hat auch das Kolonialland nur
die Bedeutung von Handelsgut, und wenn die Reichsleitung den Augenblick für
gekommen erachtet, dieses Gut zu verkaufen oder anderes dafür einzutauschen, so
sollte es nicht möglich sein, daß das Kolonialressort imstande ist, solche Absichten
zu durchkreuzen. Im vorliegenden Falle scheint die Kolonialgesellschaft, die in
einer Resolution den Standpunkt der Herren Mannesmann verteidigte, und ihr
hoher Präsident sich hinter den Rücken des Kolonialamts gestellt zu haben. Auf dem
Wege über die Kolonialgesellschaft scheinen denn auch Nachrichten in die Presse
gelangt zu sein, die seitens des obersten Reichsbeamten als Indiskretionen
empfunden werden mußten.
Herr v. Lindequist, der sonst so zurückhaltende Mann, hat sich einen drama¬
tischen Abgang bereitet. Nachdem er noch wenige Tage vorher sein Ausharren
auf dem Posten versprochen, mußte die plötzliche Wandlung seiner Ansichten uner¬
hörtes Aufsehen erregen und die Stellung der Regierung vor dem Lande noch
prekärer machen wie sie schon so ist. So endet denn der Marokkohandel, dessen
Abschluß die internationale Lage tatsächlich zu unsern Gunsten verschiebt, mit einem
häßlichen Mißklang, der alle harmonischen Stimmen ertötet.
Über den wirtschaftlichen Wert der Kongokompensationen zu urteilen, bin
ich nicht in der Lage; was über sie in politischer Hinsicht zu sagen ist, bitte ich
in Herrn Mehrmanns Ausführungen in Heft 43 nachzulesen; über die wirtschaft¬
liche Bedeutung wird im nächsten Heft ein Sachverständiger, Rudolf Wagner, das
W
Die Neubesetzung des Staatssekretärpostens im Reichskolonialamt
macht Schwierigkeiten. Angesichts der neugeschaffenen Lage ist es dringend notwendig,
daß die Kolonialverwaltung einen Leiter bekommt, der geschäftliche Gewandtheit
mit politischer Zähigkeit verbindet. Die Ernennung des Gouverneurs von Samoa,
I)r. Sols, zum einstweiligen Stellvertreter deutet darauf hin, daß man ihn an
maßgebender Stelle für den geeignetsten Nachfolger hält. Wie unsere Leser
wissen, haben wir ja sehr oft etwas an der Solfschen Politik auf Samoa auszusetzen
gehabt, und wir sind auch heute noch der Ansicht, daß er der vornehmsten Aufgabe
eines deutschen Gouverneurs, dem Deutschtum in der Kolonie die unbedingte Vor¬
herrschaft zu sichern, nicht gerecht geworden ist. Anderseits verkennen wir aber keines-
wegs, daß Samoa der schwierigste Posten im Rahmen unseres Kolonialbesitzes ist,
weil diese Kolonie im Grunde genommen eben ganz aus diesem Rahmen herausfällt.
Sie gehört Verkehrs- und handelspolitisch zu Australien, weil sie vom Mutterland
soweit abliegt, daß die geschäftlichen Beziehungen mit diesen sehr erschwert sind.
Tatsächlich sind denn auch von achtzig Schiffen, die Deutsch Samoa durch¬
schnittlich jährlich anlaufen, nur drei deutsche, die anderen englische, und von dem
Handel der Kolonie entfällt knapp ein Drittel auf Deutschland. Viele Ansiedler
sind Engländer, viele auch stark anglisiert oder ausgesprochene Abenteurer, viele
sind sogar mit farbigen Frauen verheiratet; dazu kommt eine starke Mischlings-
bevölkerung, die sich energisch vordrängt. Wenn trotz dieser schwierigen Verhält¬
nisse sich Dr. Sols zwölf Jahre an der Spitze der Kolonie halten konnte, so spricht
dies dafür, daß gewisse für einen Kolonialmann wichtige Fähigkeiten vorhanden sind.
Er ist denn anch ein umgänglicher Mann, der ein offenes Wort nicht übel nimmt,
aber anderseits mit hartem Kopf das durchzusetzen versteht, was er für richtig
hält. Im fernen Samoa, direkten Einflüssen entzogen, bekam sein Wirken einen
stark autokratischen Anstrich, aber in der Heimat, auf dem Posten des Staats¬
sekretärs, ist ja dafür gesorgt, daß seine Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Freilich mag Dr. Sols durch seine lange Amtszeit auf dem abgelegenen Samoa
etwas einseitig geworden und von .seinen früheren ostafrikanischen Erfahrungen
wird wohl kaum viel hängen geblieben sein. Anderseits will es uns scheinen, daß
er nachgerade doch eingesehen hat, wie wenig Samoa dem Ideal einer deutschen
Kolonie nahe kommt, und daß er durch diese Erfahrung am eigenen Leibe das
richtige Verständnis und Augenmaß für eine bewußt nationale Kolonialpolitik
gewonnen hat. Herr I)r. Sols war bisher keineswegs als ein Freund der
Besiedelung mit Landsleuten bekannt; er war entschieden gegen den
Zuzug"von Ansiedlern nach Samoa. Es muß allerdings anerkannt werden, daß
er sich dabei etwas gedacht hat, er wollte nicht die Verantwortung übernehmen,
daß deutsche Siedler in größerer Zahl in das seiner Ansicht nach ganz ungeeignete
Milieu verpflanzt würden. Und darin liegt vielleicht manches Richtige, wenn auch
me"bereits vorhandene Ansiedlerschaft auf Samoa gegenteiliger Ansicht ist. Herr
v. Lindequist verdankte seine Volkstümlichkeit in erster Linie seinen Siedlungsplänen.
Er konnte sie nicht verwirklichen, sondern hat sie als Erbteil seinem Nachfolger
Verantwortliche Schriftleiter: für den politischen Teil der Herausgeber George Cleinow-SchöneSerg, für den
literarischen Teil und die Redaktion Heinz Amelung-Friedenau. — Manuflrivtfendungen und Briefe werden
«»»schliMch an die Adresse der Schriftleitung Berlin SW. 1!, Vernbnrger Stralze Ws/2S, erbeten. — Sprechstunden
der Schriftleitung: Montags 10-12 Uhr, Donnerstags 11-1 Uhr.
Verlag: Verlag der Gr-nzboten G.in.b.H. in Berlin LV, 11.
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er Kongovertrag mit Frankreich hat uns an der Ost- und Süd¬
grenze von Kamerun einen Landzuwachs von 275000 Geviert¬
kilometern, viermal so groß wie das Königreich Bayern, gebracht,
wogegenDeutschland den Franzosen den sogenannten „Entenschnabel",
das Gebiet zwischen dem Schari und Logone (12000 Geviertkilo¬
meter) abgetreten hat. Die neuen Grenzen Kameruns, wie sie in dem Über¬
einkommen in großen Zügen festgelegt sind, dürfen wohl als bekannt voraus¬
gesetzt werden; sie umfassen eine Fläche von 761000 Geviertkilometer. Zum
Verständnis ihrer Wirtschafts-geographischen Bedeutung gelangen wir aber erst,
wenn wir das neue Kamerun zusammen mit dem alten betrachten.
In den Presseerörterungen der letzten Wochen über den Wert oder Unwert
der neugewonnenen Gebiete und in den Verhandlungen des Reichstags treten
fast durchweg falsche Vorstellungen über deren geographische Verhältnisse zutage.
Es ist da vielfach generell von „Kongosümpfen" und „Wüsten" gesprochen
worden, und man konnte den Anschein gewinnen, als ob das ganze lang¬
gestreckte Gebiet, das wir von den Franzosen bekommen haben, einen gleich¬
artigen Landschaftscharakter aufweise. Das ist ganz und gar nicht der Fall.
Unsere Kolonie Kamerun gehört zwei grundverschiedenen geographischen
Regionen an. Das südliche Viertel gehört zu dem Urwaldgelnet des Kongo¬
beckens, das übrige zu der großen Steppenregion, die sich vom westlichen Sudan
quer durch ganz Afrika bis an die Ostküste und an den Sambesi hinzieht, in
seinen Formen aber wesentliche Verschiedenheiten zeigt, vom lichten Wald oder
der Parklandschaft bis zur trockenen Grassteppe. Natürlich darf man sich nun
nicht vorstellen, daß die Waldgrenze scharf ausgeprägt W und die Steppe da
beginnt, wo der Urwald aufhört. Von der Nordwestgrenze beginnend ist die
ganze Küste von Kamerun durchschnittlich 100 bis 150 Kilometer landeinwärts
bis hinauf an den Rand des Hochlandes mit Urwald bedeckt. Vom Sanaga-
Strom an verläuft die Urwaldgrenze ungefähr in östlicher Richtung ins Innere
des Landes, hinüber über die Grenze der Kolonie auf den Ubangi, einen
der Hauptzuflüsse des Kongo, zu, der mit seinem Oberlauf im Kongobecken
etwa die nördliche Grenze des Waldlandes bildet. Wo sich Waldland und Steppe
begegnen, greifen beide Formen ineinander, der Urwald wird lichter und ist
immer häufiger von Savannen unterbrochen, während in der Übergangszone
die Steppe da und dort noch Urwaldkomplexe oder einzelne charakteristische
Urwaldbäume aufweist. Im allgemeinen kann man sagen, daß das Land
nördlich einer zwischen der deutschen Station Jaunde und der französischen
Station Baugi gedachten Linie der Steppenregion angehört, demnach nur etwa
die Hälfte des deutsch-französischen Kompensationsgebiets in den regenreichen
und stellenweise sumpfigen Kongo-Urwald fällt.
Das Innere von Kamerun bildet ein 600 bis 1000 Meter hohes Hoch¬
land, das 50 bis 100 Kilometer hinter der Küste in zwei, teilweise allerdings
stark zerlegten Stufen aufsteigt. Der nördliche Rand des Hochlands ist zu
wildzerklüfteten, bis zu 3000 Meter hohen Gebirgen aufgewulstet und schroff
gegen das darunter in 200 bis 300 Metern Meereshöhe liegende Flachland,
die Landschaft Adamaua, abgesetzt. Im Osten und Südosten dacht es sich fast
unmerklich in das Kongobecken ab; ein Steilabsturz ist nicht zu beobachten,
vielmehr löst sich das Hochland hier in kleinere Höhenzüge auf, in welche die
Flußläufe tief eingeschnitten sind. Südwärts setzt es sich in einer Höhe von
400 bis 700 Metern bis zum Kongo und darüber hinaus fort.
Die Entwässerung des Hochlandes von Jnnerkamerun ist durch vier Ab¬
dachungen bedingt, die westlich nach den: Atlantischen Ozean, östlich und südlich
nach dem Kongo, nordöstlich nach dem Logone, Schari und Tschadsee und nördlich
und nordwestlich nach dem Venus-Niger führen.
Das Charakteristik»»:: unserer Kolonie als Wirtschaftsgebiet ist nun, daß es
zwischen zwei gewaltigen Stromsystemen liegt, die wichtige Wasserstraßen nach
der Küste bilden, ohne daß wir verstanden haben, bei der Erwerbung des Landes
uns einen Anteil an diesen Wasserstraßen zu sichern. Erst durch den jetzigen
Kongovertrag mit Frankreich ist dieses Versäumnis bis zu einem gewissen Grade
für den Süden der Kolonie nachgeholt worden. Der Benus-Niger-Wasserweg,
der uns die Nutzbarmachung Adamauas und der Tschadseeländer ungemein
erleichtert hätte, ist uns verloren. Die Folge davon ist, daß wir gezwungen
sind, mit gewaltigen Kosten eine Eisenbahn nach dem Norden zu bauen, da
sonst der Handel dauernd auf dem Venus in englisches Gebiet abfließen würde.
Betrachten wir uns zunächst einmal die Gesamtlage des vergrößerten
Kamerun zu diesen Stromsystemen, so werden wir bei einem kurzen Blick auf
die Karte erkennen, daß unsere Kolonie durch den jetzt vollzogenen Anschluß an
den Kongo erst ihre natürliche Gestalt erhält, freilich nur unvollkommen, denn
wir werden ja nicht schlechtweg Anlieger des Kongo und seines großen Neben¬
flusses, des Ubangi, sondern strecken nur gewissermaßen zwei Fühler nach
diesen Strömen aus. Immerhin können wir an diese Wasserstraßen heran
und erhalten außerdem die Ufer des aus unserer Kolonie kommenden Sanga-
Snstems fast ganz.
Nun darf man allerdings die Vorteile des Anschlusses an den Kongoweg
nicht überschätzen, und ich kann jedenfalls dem im Reichsspiegel des vorletzten
Hefts Gesagten nicht in vollem Umfange beistimmen, namentlich nicht den Aus¬
blicken des Herrn Emil Zimmermann. Das Stromsystem des Kongo ist gewiß
ein Wirtschaftsgebiet mit gewaltiger Bedeutung für die Menschheit — ob aber
gerade für uns Deutsche, ist wieder eine andere Frage. Ich habe schon im
letzten Jahrgang bei Erörterung der damals aktuellen Revision der Kongoakte
darauf hingewiesen, daß nur derjenige das Wirtschaftsleben nachhaltig beein¬
flussen kann, der im Lande die politische Macht in Händen hat. Und ich habe
damals auch authentisches amtliches Material belgischer Herkunft dafür bei¬
gebracht, daß die Belgier gar nicht daran denken, die Handelsfreiheit am Kongo
in vollem Umfange praktisch werden zu lassen, sondern daß sie nur gezwungener¬
maßen papierene „Garantien" gegeben haben. Hervorragende Belgier in ma߬
gebenden Stellungen haben dieser Anschauung deutschen Unternehmern gegenüber
sogar unverblümt Ausdruck gegeben. Die paar „Konzessionsschulzen", die
natürlich auch nicht fehlen und da und dort ins Feld geführt werden, besagen
gegenüber der Macht der Tatsachen, wie sie das Gesamtwirtschaftsleben des
Kongobeckens bietet, herzlich wenig. Natürlich wünschen wir, daß der moralische
Einfluß des Anschlusses des deutschen Gebiets an den Kongo dem deutschen
Unternehmungsgeist mit der Zeit einen recht regen Anteil an der Aufschließung
der reichen Gebiete des Kongobeckens bescheren möge, aber das ist und bleibt
eine Sache für sich; der Kongohandel wird in der Hauptsache den Kongo hinabgehen,
und es ist kaum anzunehmen, daß ein wesentlicher Teil davon jemals auf spätere
deutsche Verkehrswege übergehen wird. Großafrikanische Verkehrsideen sind über¬
haupt noch Zukunftsmusik; vorläufig haben die Kolonialvölker auf lange hinaus
mit der Erschließung des eigenen Landes zu tun, wobei sie natürlich suchen
müssen, sich die Sache dadurch zu erleichtern, daß sie sich einen Anteil an den
großen natürlichen Wasserstraßen sichern.
Für uns ist also der Sinn des Kongoweges zunächst der, daß er uns
ermöglicht, an die südöstlichen Teile unserer Kolonie, zu denen wir direkte Ver¬
kehrswege noch nicht haben, heranzukommen und sie in weiterem Umfange zu
bearbeiten. Bisher schon ging der Verkehr mit der Südostecke Kameruns,
namentlich der Postverkehr, über den Kongo in den Sanga und seine Neben¬
flüsse. Nun ist dieser Weg, wenigstens insoweit, als der Durchzug durch fran¬
zösisches Gebiet in Wegfall kommt, in unseren Händen. Trotzdem kann es sich
im wesentlichen doch nur um ein Provisorium handeln, weil keine Möglichkeit
vorhanden ist, auf deutschen Verkehrswegen den Ozean zu gewinnen. Da der
Unterlauf des Kongo nicht schiffbar ist, so muß unser Handel wieder fremdes
Gebiet betreten und auf fremden Eisenbahnen, von einem fremden Hafen aus
in die Welt gehen. Ein kurzer Blick auf die Karte läßt erkennen, daß der
Handelsverkehr aus Südost-Kamerun über den Kongo einen bedeutenden Umweg
macht. Abgesehen von den Kosten mehrfacher Umladung hat dies den weiteren
Nachteil, daß wir natürlich auf die Tarifpolitik fremder Bahnen keinen Einfluß
haben, während doch gerade in einem Lande, dessen Produktionskräfte zum Teil
erst geweckt werden müssen, die Rücksichtnahme der Verkehrseinrichtungen auf
die Konjunktur eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.
Das Ziel unserer Erschließungspolitik wird also sein, die Rolle umzukehren,
indem wir einen direkten Verkehrsweg von der Küste nach der Ostgrenze unserer
Kolonie und weiter an den Ubangi und Kongo schaffen, der den Handelsverkehr
der Kolonie und womöglich auch der fremden Nachbargebiete vom Kongo ab¬
zieht und durch Kamerun leitet. Ein Ansatz dazu ist bereits vorhanden. Es
wird gegenwärtig an der Kameruner Mittellandbahn von Duala nach Widi-
menge am Njong gebaut. Von Widimenge ist der Njong aufwärts bis
Abong Mbang schiffbar. Baut man nun von hier nordöstlich nach dem schiff¬
baren Dumefluß eine etwa 50 Kilometer lange Bahn, so hat man einen
Verkehrsweg bis nahe an die alte Kameruner Grenze, denn auch der Kadee, in
den der Düne fällt, ist auf seinem Oberlauf schiffbar. Wenn ein derartig kom-
binierterVerkehrsweg wegen der ewigen Umladungen für einen entwickelten Handels¬
verkehr auch unzulänglich ist, so wird er doch bei der ersten Erschließungsarbeit
wertvolle Dienste leisten. Abgesehen von den militärisch-politischen Vorteilen
einer raschen Verbindung mit dem unerschlossenen Osten und den angrenzenden
neuen Landschaften ist der Transport auf diesem Verkehrsweg immer noch
billiger als der Trägertransport. Inzwischen wird dann entweder die Mittel¬
landbahn bis zur Vereinigung des Dscha und Sanga verlängert oder, was
noch besser wäre, von dem Haupthandelsplatz Südkameruns Kribi eine besondere
Bahn dorthin gebaut werden müssen.
Was ist nun in Südkamerun einschließlich der neu dazukommenden Gebiete
zu holen? Bis jetzt bildet das Hauptprodukt, das zur Ausfuhr gelangt,
Kautschuk, der aus den im Urwald des Kongobeckens in ungeheuren Mengen
wild vorkommenden Kautschukpflanzen gewonnen wird. Allein in Kribi ist in
den Jahren 1905 bis 1910 zusammen für rund 30 Millionen Mark Kautschuk
verschifft worden, der aus dem Hinterland stammte. Nun wird seit Jahren
behauptet, das Land sei mittlerweile durch Raubbau ausgesogen, und doch
nimmt die Kautschukausfuhr von Jahr zu Jahr zu. Die Sache ist eben die,
daß in Wirklichkeit nur die leicht erreichbaren Gegenden ausgesogen sind. Wenn
man sich vorstellt, daß in einem Urwaldgebiet in der Größe des Deutschen Reichs,
in dem man Tagereisen weit überhaupt keinen Menschen antrifft, einige tausend
Neger Kautschuk sammeln, so kann man unmöglich glauben, daß das ganze
Gebiet ausgesogen ist. In der Tat werden immer neue Distrikte erschlossen, in
denen bis jetzt noch kein Mensch Kautschuk gesammelt hatte. Außerdem ist
neuerdings die interessante Beobachtung gemacht worden, daß in küstennahen
Gegenden, deren Bestände an Kautschuk liefernden Pflanzen früher gründlich
vernichtet worden sind, sich inzwischen wieder neue Bestände entwickelt haben,
und so wird es auch in andern Gegenden gehen. Übrigens wird jetzt nicht
mehr so sinnlos wie früher gewüstet; die Neger werden von den Behörden
angehalten, die Kautschukpflanzen beim Abzapfen des Saftes zu schonen, und zur
Belehrung der Eingeborenen sind sogar besondere Kauschukkommissare angestellt.
Nun !noch eins: in einem Lande, wo der Kautschuk in solchen Mengen wild
vorkommt, muß er sich auch in großem Umfang pflanzen lassen.
All' dies gilt gleichermaßen für den französischen Kongo und die Teile,
die wir davon bekommen. Es mag ja wohl sein, daß das Land an einigen
Stellen mehr ausgepauvert ist, als in manchen Gegenden Südkameruns.
Aber — fragen wir — werden denn unsere Kolonien lediglich zu dem Zweck
erworben, damit wir Raubbau treiben können? Wir meinen doch, das; wir
daneben mit den Kolonien auch kulturelle Zwecke verfolgen! Es wäre freilich
vom finanziellen Standpunkt viel angenehmer, wenn wir unser Stück Kongoland
in jungfräulichen Zustande bekommen hätten, aber das Entscheidende bei dem
ganzen Handel ist dies nicht. Wenn augenblicklich wenig wilder Kautschuk mehr da
sein sollte, so ist dies nur eine vorübergehende Entwertung. Übrigens ist das
nicht überall der Fall; ich weiß z. B. von einem Landeskundigen, daß es am
Kaden und Sanga, westlich von Baltia noch sehr viel Kautschuk geben soll.
Schließlich wird es doch wohl einmal im Laufe späterer Entwicklung dahin
kommen, daß der Wald und mit ihm die Kautschukbestände, der natürliche Reichtum
des Landes, in geregelter Forstwirtschaft ausgenützt, sich immer wieder erneuern
werden. Inzwischen wird man noch andere Produkte einzubürgern versuchen,
z. B. Ölfrüchte, Reis und dergleichen mehr. Man weiß ja noch gar nicht, wozu
das Land, wenn es planmäßig erschlossen ist, gut fein wird. Also das
Gebiet, das wir im Süden und Südosten bekommen haben, ist sicherlich nicht
schlechter, als unser Südkamerun, und unsere Südkameruner Handelsfirmen sind
sehr vergnügt über den Zuwachs; von einer Firma, zufällig einer englischen,
habe ich neulich einen Brief gesehen, aus dem die Freude darüber spricht, daß
das Land aus der faulen französischen Verwaltung in die solide und gerechte
deutsche übergeht.
Schade ist ja, daß ein erheblicher Teil des Gebiets in Händen französischer
Konzessionsgesellschaften sich befindet; ihre Verträge laufen von 1899 auf 30 Jahre
gegen eine Gebühr und 15 Prozent Gewinnanteil für den Fiskus. Die Gesell¬
schaften verpflichten sich, innerhalb einer bestimmten Frist das Land zu erschließen.
Um nun den letzteren Punkt kontrollieren zu können, müßte man mehr Material
haben, als uns gegenwärtig zur Verfügung steht. Aber soviel läßt sich schon
jetzt erkennen, daß es bei einiger Energie gelingen dürfte, uns einige der Gesell¬
schaften billig vom Halse zu schaffen.
Der mittlere Teil des Gebiets, das uns zufällt, ist noch ganz unerschlossen
und, soviel bis jetzt bekannt ist, ziemlich menschenarm. Da ihm vorläufig, wie
dem entsprechenden Teil von Kamerun, schwer beizukommen ist, so können wir
es zunächst bei der Eröterung der Eatwicklungsmöglichkeiten unserer Kolonie
füglich außer Betracht lassen. Unsere Kolonialwirtschaft hat zunächst im Süden
und Norden des Landes ein weites Feld der Betätigung.
Der Norden von Kamerun, Nord-Adamaua und die Tschadseeländer, gelten
als außerordentlich zukunftsreich. Das Gebiet ist im wesentlichen ein trockenes
Steppenland, das aber strichweise fruchtbaren Alluvialboden aufweist, auf dem
schon lange von den Eingeborenen Baumwolle, Reis und Tabak gebaut wird.
Verschiedene Reisende, so z. B. der verstorbene Major Dominik, erzählen, daß
sie tagelang durch Baumwollfelder geritten seien. Außerdem wird hier eifrig
Vieh- und Pferdezucht getrieben, und die Viehbestände sollen außerordentlich
groß sein. Die Bewohner sind mohammedanische Fulla, ein hamitisches Neiter-
volk, das einst den ganzen Westsudan und Kamerun bis zum Sanaga beherrschte.
In Kamerun reichen ihre Wohnsitze von Süden her über den Berne hinüber
und um das Mandaragebirge herum. Die große Fullastadt Marua, östlich
vom Mandaragebirge ist eine der blühendsten Siedlungen in ^der Kolonie.
Dann kommt eine Region, in der mohammedanische Negerstämme wohnen, und
um den Tschadsee herum liegen die Araberstaaten von Bornu, die nur ^noch
dem Namen nach existieren, aber einst unter Rades in höchster Blüte standen
und ein echt islamitisches Kulturzentrum waren. Nachdem diese Reiche zerfallen
sind, hat auch der früher rege Handelsverkehr mit dem Sudan bis nach Tri-
politanien wesentlich nachgelassen. Eine Eisenbahn könnte ihn zu neuem Leben
erwecken und nach unserer Kuste leiten. Im Osten der Tschadseeländer, im Strom¬
gebiet des Logone, wohnen Negerstämme, die vermöge ihrer unzugänglichen Wohn¬
sitze mit Erfolg den Angriffen der sklavenjagenden Fulla zu widerstehen vermochten.
So primitiv diese Menschen, die noch ganz nackt gehen, aussehen, so haben sie doch
unter demZwang der Not ihrLand intensiv bebaut. Jeder Fußb reite Boden ist aus¬
genützt und sogar gedüngt, was in Afrika eine Seltenheit ist. Überdies verfügen
diese heidnischen Neger, die Musgum, über gewaltige Viehherden. Es ist wohl
das am dichtesten bevölkerte Gebiet in ganz Kamerun. Das Land östlich vom
Logone, der sogenannte Entenschnabel, fällt jetzt an Frankreich, dagegen bekommen
wir südwärts das ganze Land westlich vom Logone, das ebenfalls außerordentlich
reich an Vieh ist. Da die Hauptsitze der am Logone wohnenden Negerstämme,
die beiden Städte Musgum und Maia auf dem Ostufer des Logone liegen, so
wird es in nächster Zeit eine Hauptaufgabe unserer örtlichen Verwaltungsbehörden
sein, die Leute zum Übertritt auf deutsches Gebiet zu bewegen, wie wir dies
seinerzeit bei der Grenzregulierung mit Erfolg bei der benachbarten Stadt
Binder getan haben. So eine Negerstadt ist ja schnell abgebrochen und an
anderer Stelle wieder aufgestellt und die Umfassungsmauern von Lehm sind ja jetzt
unter deutscher Herrschaft nicht mehr nötig, denn die Fulla sind von uns gebändigt.
Sehr bedauerlich ist gerade jetzt, daß unsere Kameruner Nordbahn noch
nicht weiter als 160 Kilometer gediehen ist. Freilich wird gegenwärtig der
Weiterbau anscheinend ernstlich erwogen, aber es wird noch eine Reihe von
Jahren ins Land gehen, bis die Lokomotive am Venus oder Mandaragebirge
pfeift. Einstweilen sollte man mit Energie Vorbereitungen zum rationellen
Betrieb der Baumwollkultur, der Vieh- und Pferdezucht treffen.
Einen Punkt aus dem Kongovertrag muß ich noch berühren, der schärfste
Aufmerksamkeit erfordert. An verschiedenen Stellen der Kolonie Kamerun und
LonZo krÄneai8 haben sich die Kontrahenten gegenseitig das Dnrchzugsrecht
bei militärischen Expeditionen, ja sogar das Recht zum Bau von Straßen und
Eisenbahnen aus zu pachtendem Grund und Boden eingeräumt.
So freundlich das klingt, so ernst können die Folgen dieser Abmachung
werden, da sie die Quelle von tausend Unzuträglichkeiten und Mißverständnissen
bilden kann; namentlich gilt dies für das Tschadseegebiet und Adamaua, das
den Franzosen an verschiedenen Stellen offen stehen soll. Das mißliche ist, daß
diese Zugeständnisse trotz der Versicherung der Gegenseitigkeit sehr einseitiger
Natur sind, denn nach Lage der geographischen und Verkehrsverhältnisse werden
wir wohl kaum je dazu kommen, unserseits davon Gebrauch zu machen. Die
Sache hat zwei Seiten, eine wirtschaftliche und eine politische. Wirtschaftlich
kann es uns ja recht angenehm sein, wenn ein reger Durchgangsverkehr den
an sich betriebsamen Eingeborenen Gelegenheit zum Absatz ihrer Produkte gibt
und sie damit zu erhöhter Tätigkeit anspornt. Denn solange wir z. B. nach den
Tschadseeländern keinen direkten Verkehrsweg haben, können wir selbst in dieser
Richtung nicht viel tun. Die politische Seite verdient aber ebenfalls ernste
Beachtung. Man vergegenwärtige sich einmal, was es für einen Eindruck auf
die Eingeborenen machen wird, wenn wir jetzt nach Negeranschauung über den
Logone zurückweichen, und einige Zeit später marschiert eine französische Kompagnie
ungehindert durch deutsches Gebiet, requiriert wohl gar Lebensmittel u. tgi.
Wir werden einem Negerschädel schwer beibringen können, daß dies auf freund¬
schaftlicher Vereinbarung beruht. Schärfste Beaufsichtigung französischer Durchzüge
und rechtzeitige Belehrung der Eingeborenen werden jedenfalls fehr vonnöten sein.
Ich habe mit diesen Darstellungen versucht, die Kritik am Kongovertrag
auf ein den Tatsachen entsprechendes Maß zurückzuführen. Ein Urteil darüber,
ob die uns zugefallenen Kompensationen für ein volles Äquivalent, für die von
uns aufgegebenen Ansprüche anzusehen sind, möchte ich nicht abgeben; dies ist
überhaupt schwerlich abzuschätzen. Es kann jedenfalls keinem Zweifel unter¬
liegen, daß die neuen Gebiete*) eine für die fernere Zukunft sehr wichtige Ab-
rundung Kameruns bilden werden, wenn wir verstehen, alle Vorteile richtig
auszunutzen, um bei etwaigen späteren Besitzverschiebungen in Zentralafrika
unsere Rechte mit Energie zu vertreten.
us der Schweiz war Heinrich v. Kleist mit Wielands ältestem
Sohne, dem unsteten Ludwig, nach Deutschland heimgereist und
dem Vater zugeführt worden. Nicht zur glücklichsten Stunde. Der
bald siebzigjährige trauerte der vor Jahresfrist gestorbenen Gattin
nach, sein Landgut in Osmcmstätt, ihm seit ihrem Tode verleidet,
sollte, auch zur Erleichterung der wirtschaftlichen Lage, veräußert werden. Die
treue Muse wurde angerufen, den Sinn von der bedrückten Gegenwart abzulenken
und goldenen Lohn zu spenden. Der allzeit bewegliche Dichter gab hart nach
dem Abschluß des meisterhaft stilisierten, aber in: Wesen altmodischen Brief¬
romanes „Aristipp" wirksame Anregung zu neuer Novellendichtung und bewies
noch einmal, daß Antikes und Gegenwärtiges, Klassisches und Romantisches den
gleichen Platz in seiner Bildung, in seiner Neigung inne hatten.
Da trat Kleist bei ihm ein, vom Sohne, zu dessen Talent und Urteil der
Vater jetzt neues Zutrauen gewann, als Genius angekündigt und darum will¬
kommen. Gewiß war Kleists Zurückhaltung der erste Grund, daß es nicht
sogleich zu offener Aussprache über dessen dichterische Pläne kam. Der große
Wurf sollte geschehen, der Aufstrebende scheute das Gericht des reifen Künstlers,
bevor er sich selbst genug getan. Aber auch Wielands eigene Verstimmung und
ablenkende Geschäftigkeit mögen Mitschuld haben, daß der Freund des Sohnes
zunächst mehr der Jugend im Hause überlassen blieb. Doch der Milde und
immer Teilnehmende konnte sein Herz nicht dauernd verschließen, da er den
Gast bedrückt sah. Und die beredte Liebenswürdigkeit seiner Natur umschmeichelte
Kleist wie alle Besucher: er verriet das Geheimnis vom Guiskard. Nicht nur
die Augenblicksbegeisterung, die Wieland in dankbarer Erinnerung an Bodmers
fördernde Aufnahme dichtenden Anfängern oft entgegenbrachte, entlockte das
eifrige Lob, das Tränen der Freude in Kleists Augen trieb. Wieland, der einst
auch das Genie des ursprünglich so weit von ihm entfernten Goethe sicher und
willig erkannt und anerkannt hatte, mochte spüren, daß die Mischung von
Klassizität und Romantik, die sein eigenes Wesen in wechselnden Farben erscheinen
macht, hier in natürlicher Einheit ihm entgegentrat, er ahnte die Größe Kleists,
Geschlechtern voraus. So genoß Kleist den stolzesten Augenblick seines Lebens
bei Wielands Beifall, wie er noch nach einem Lustrum bekannte; so gewann
er, „ungewöhnlich hoffnungsreich", das Vertrauen, daß sein Schicksal sich glücklich
entscheiden werde.
Wer nicht nur der warmsinnige Zuspruch des Kenners hat seine sich wund
ringende Seele geheilt. Es waren drei Töchter in Wielands Haus, zwei Frauen,
ein Madchen. Dieses, Luise, fand er so hübsch, daß er um ihretwillen fast
Bedenken trug, aus dem häufigen Tagesgast der Mitbewohner Osmanstätts zu
werden. Er folgte aber doch der Einladung des Vaters, und schreibt dann an
seine Schwester Ulrike: Ich habe mehr Liebe gefunden, als recht ist, und muß
über kurz oder lang wieder fort. Und später: Ich habe Osmanstätt wieder
verlassen ... ich mußte fort und kann Dir nicht sagen, warum? Ich habe das
Haus mit Tränen verlassen, wo ich mehr Liebe gefunden habe, als die ganze
Welt zusammen aufbringen kann, außer Dir! — ! Aber ich mußte fort! — Die
Worte lösen die Erinnerung an Goethes Beichte über Friederike aus: Sie hatte
mich ehmals geliebt schöner als ich's verdiente; ich mußte sie. . . verlassen.
Und doch wie anders hat der frohsinnige Student das Erlebnis gekostet! Es
fiel mir nicht ein, klagt er zurückblickend sich an, daß ich gekommen sein könnte,
diese Ruhe zu stören: denn eine aufkeimende Leidenschaft hat das Schöne, daß
sie keinen Gedanken eines Endes haben und nicht ahnen kann, daß sie wohl
auch Unheil stiften dürfte. Kleist aber, der Selbstpeiniger, entschließt sich, nach
Osmanstätt zu ziehen „trotz einer sehr hübschen Tochter Wielands", und war
sich klar, als er Liebe gewann, daß er fort müsse.
Luise war das jüngste von Wielands Kindern. Im Alter am nächsten
stand ihr die sieben Jahre ältere Julie, damals als Stichlings Gattin in Weimar
lebend. Ihre Hausgenossinnen Karoline und Amalie waren neunzehn und
sechzehn Jahre älter. Beim Tode der Mutter zählte sie zwölf Jahre. So
begreift sich das Gefühl der Vereinsamung. Als Kleist zum Vater kam, maß
ihr Leben dreizehn einhalb Jahre. Das in der Familie wenig beachtete Kind
mag doppelt empfänglich gewesen sein für den Blick, den der seltsame Gast auf
ihr liebliches Antlitz heftete.
Sein Herz war frei; vor einen: halben Jahre hatte er die Braut von sich
gestoßen in einer Verzweiflung, die keinen anderen Wunsch hatte als bald zu
sterben. Jetzt fielen wieder Sonnenstrahlen in sein Leben, beleuchteten die
gesuchte Bahn zum Ruhm; der Vater verhieß die Siegespalme, die Tochter gab
bewundernd sich hin. War sie das Weib, das der Mann sich zubilden konnte,
wie Kleist sich's forderte? Er hat wohl nie an ein dauerndes Band gedacht,
die liebe Gegenwart befing ihn; die Wintermonate auf dem Lande bei dem
weisen Patriarchen und seinen guten Kindern waren reichere Idylle als die
Wochen auf der Aar-Insel. Er empfing mehr als er gab. Er genoß den
Frieden, der ihn heilte. Daß er dabei Wünsche aufregte, die er nicht aufregen
wollte, sah er und wollte es doch nicht sehen. Er hat seiner Schwester gegenüber
nicht übertrieben, er fand wirklich mehr Liebe, als die ganze Welt zusammen
aufbringen konnte, und er wußte, daß er dieser Liebe entfliehen müsse.
Ein Brief Luisens an ihre Schwester Charlotte, die Kleist im Verkehr mit
ihrem Gatten Geßner in der Schweiz gesehen hatte, berichtet ehrlich von ihren
Gefühlen. AIs fast Zweiundzwanzigjährige, ein halb Jahr vor Kleists Tod,
hat sie ihn geschrieben, gereift durch das Erlebnis, das abgeschlossen, aber
nicht verwunden hinter ihr lag. Ich glaube mich nicht zu täuschen in der
Vermutung, daß ihres Vaters Herz gerade um dieses Erlebnisses willen das Kind
näher an sich herangezogen hatte. Seinen aufmerksamen Scharfblick verrät die
Novelle „Menander und Glycerion", die er während Kleists Besuch niederschrieb:
er zeichnete Porträtzüge Kleists und Luisens hinein. Ohne Groll; er hatte selbst
Dichterliebe gekostet und schätzte die jugendseligen Gefühle als währenden Genuß
und Gewinn für sich und die Geliebten; er hatte dann doch reines Eheglück
gefunden und schenkte auch seiner Glycerion für den untreuen Menander einen
zuverlässigen Gatten, gewiß mit dem Wunschgedanken gleichen Loses für Luise
und ihr zur zarten Mahnung, am Glück nicht irre zu werden. Sie war nun
seine Lieblingstochter geworden.
Das alles ist Voraussetzung sür die Selbstcharakteristik, mit der Luise in
dem Briefe das Geständnis der Liebe zu Kleist erklärend umrahmt. Es ist nichts
Gemachtes dabei, sie hatte vom seelenkundigen Vater gelernt, sich zu beobachten.
Gerade darum ist es von Wert, den Brief, aus dem bisher nur einzelne Stellen
veröffentlicht sind, kennen zu lernen, soweit er erhalten ist. Erst am Ganzen
wird sichtbar, was in dem Mädchen steckte, das Kleist seine Liebe entgegentrug.
Luise schreibt:
Weimar den 19ten April 1811.
17 März — wie glückselich machten mich die vielen Beweiße Deiner Liebe
und Deines herzlichen Antheils für mein gegenwärtiges und zukünfftiges Wohl
und Wedel — wie gut, ausnehmend gut und vortheilhaft berathe Du von
mir, und wie unendlich viel bleibt mir noch zu thun und zu arbeiten übrig
um Deine Liebe und das Lob zu verdienen daß Du mir giebst. — O thue
Deiner Einbildungskraft Einhalt die fo beschäftigt zu seyen scheint Dir Deine
Luise so liebenswürdig vorzustellen; wie sehr stehe ich gegen Dein Ideal im
Schatten — und wie muß ich bei dieser guten Meinung verlieren, wenn
einst unsere Wünsche erfüllt werden uns wieder zu sehen und nach so langer
Zeit unserer Trennung zu besitzen. Hast Du niemahls daran gedacht daß
ich bedeutende Fehler haben toute die nicht nur mir schaden, auch denen die
mit mir leben müssen, und die mit welchen ich Einst leben werde unerfreulich
sind und seyen werden? Erst seit zwey Jahren habe ich recht mit Ernst an
mir gearbeitet zwey unter ihnen zu beherschen: der eine ist ein Erbtheil der
Wielandischen Familie! — der zweyte eine zu große Empfindlichkeit, die mir
meine gütigen Eltern nachgesehen haben, weil das zärtliche Kindchen einen
Verweis nicht ertragen konte. In den Jahren wo ich den Vorzug eine so
vortreffliche Mutter zu besitzen erst fühlen und schätzen lernte und wo sie mir
unentbehrlich wurde, hatten wir das Unglück sie zu verlieren— unser Vater
zu sehr beschäftigt, überhaupt von seinen jüngern Kindern im höheren Grad
verehrt als geliebt, konte mir ihren Verlust in den nächstfolgenden Jahren
nicht ersetzen: und so kam es daß ich mich*) als ich in das jungfräuliche
Alter trat, die erwachenden Gefühle, meine Freuden und Leiden, mit einen
Wort mein ganzes Selbst in mich verschloß; auch die Geschwister verstanden
mich nicht oder wollten es nicht. In dieser Zeit in meinen 14 Jahr, wo
ich, weil wir auf den Lande lebten s^und^ wenig oder beinah gar nichts für
meine moralische Ausbildung gethan werden konte, also im Ganzen vernach¬
lässigt war; aber völlig phisisch ausgebildet und vieleicht in meinen Äußeren
einiges Interesse erregen konte — wiewohl ich keineswegs Schön genant
werden kann, wie Du zu glauben scheinst. In dieser für mich, ich glaube
für alle jungen Mädchen gefahrvollen Zeit, kam Bruder Ludwig wieder zu
uns, und mit ihm sein Freund Heinrich von Kleist den Du auch persönlich
kenst. Eine Beschreibung von diesen eignen Sterblichen brauche ich Dir daher
nicht zu machen. Dieser Freund eines Bruders den ich liebte machte von
den Augenblick an wo ich ihn sah einen Eindruck auf das Herz Deiner ganz
unerfahrenen Schwester der noch jetz nach 8 Jahren nicht ganz verwischt ist.
Es ist schwehr alle die anscheinenden Kleinigkeiten zu beschreiben die aber
alle von so großen Einfluß waren daß er durch die Umstände begünstiget
mir glauben machte ich sey wieder geliebt — und ich war zu schwach an
ihr zu zweifelen. Ludwig war ernstlich aufgebracht gegen KpeisH und es
hat, wie ichs erst spät erfuhr, manchen unangenehmen Wortwechsel zwischen
ihnen gegeben. Schwester Amalie haste ihn von ganzer Seele, und dieser
Haß war allein hinreichend mich von ihr zu entfernen: Caroline war selbst
zu sehr von ihm eingenommen um mich zu beobachten; im Ganzen war das
Benehmen aller Drey gegen mich unverzeihlich. Ich hatte Verstand genug
die unglücklichen Folgen dieser Leidenschaft zu begreifen wenn sie mir mit
Verstand und Theilnahme wären vorgestellt worden, was aber nicht geschah. —
Der Vater wüste Anfangs nicht von ihr — wie er sie aber erfuhr hatte sich
Ksieish schon auf mein und der Caroline Wunsch entschlossen uns zu ver¬
lassen. Er reiste auch würklich ab — und ich blieb zurück! mein Gemüths¬
zustand mußte nothwendig auch auf meinen Körper einigen Einfluß haben
da ich ohnehin schwächlich war. Jetz erscheint Mir MeiW Betragen gegen
mich freilich in einen Hellem**) Lichte: doch wünschte ich nicht daß Du schlimm
von ihm dachtest. — Wenn er auch nicht zu den ganz edlen Menschen gehört,
die ja ohnehin eine Ausnahme machen, so ist sein Caracter doch gut; und
er würde sich dieses Leichtsinns gegen mich nicht schuldig gemacht haben, wenn
er weniger Adeliches Blut (oder vielmehr unadeliches) in seinen Adern hätte. —
Bald nach seiner Abreise zogen wir nach Weimar*); als ich da ein Jahr
still und höchst eingezogen gelebt, aber leider weder Muth und Kraft gehabt
hatte etwas mehr zu wollen und zu werden: erschien dieser zauberische Kleist
wieder. Noch ganz derselbe liebenswürdige Mensch der durch seinen Geist,
dazumahl noch sehr bescheidenen stillen Caracter und Benehmen, so interessant
war. Mein Vater empfing ihn als einen alten lieben Freund, und ich mit
einer Fassung die ich mühsamen errungen hatte. So erhielt ich mich in dieser
Stimmung auch wie ich mit ihm allein war: bis zu seiner Abreise die wenige
Tage ^später^ erfolgte. Nach diesen kurzen Besuch schrieb Kpeist^ zwey Briefe
an Vater die aber unbeantwortet blieben und so haben wir von ihm selbst
nichts wieder gehört. Hier hast Du meine Charlotte die kleine Geschichte
meiner frühen Liebe die meinen Caracter einen noch ernsthafterer Anstrich
gegeben hat als er wahrscheinlich sonst erhalten hätte, weil ich von Natur
sehr heiterer Gemüthsart bin, die auch zulezt den Sieg über sie getragen;
und was das Beste ist, vor vielen jungend ^ Thorheiten bewahrt hat. Ich
weis nicht hast Du Etwas von Meiste gelesen? ich habe ein Lustspiel von
ihm hier aufführen sehen welches aber gänzlich durchfiel**). Diesen Winter
bekam ich Gelegenheit wieder ein Schauspiel, Käthchen von Heilbronn und
3 Erzählungen von ihm zu lesen. Ich dächte man könte keinen von diesen
seinen Werth absprechen, aber es kann sehr viel an alle getadelt werden,
so wie viel fehlt bis sie vollendet genant werden tönten. Er ist aber einer
von den ausgezeignenden ^ Poetischen Genien dieses Zeitalters gegen die
aber jeder Vernünftige Mensch viel einzuwenden hat: hauptsächlich daß sie
selbst mit ihren Werken so vollkommen zufrieden sind — und gröstentheils
die verachten die sich anmaßen ein gescheites Urtheil über sie zu fällen. —
Habe die Güte wenn Du mir über diese Eröffnung Deine Gedanken und
Gefühle schreibst, sie allein auf ein Papier zu sagen. Dieser Gegenstand
ist bei uns schon so verjährt als daß ich wünschen könte ihm beim Vater
und besonders bei den Übrigen in Erneuerung zu bringen. — Wenn Du
nicht schon ermüdet bist, so folge mir wieder nach diesen kleinen Vorsprung
zu der Fortsetzung meiner eignen Beschreibung zu der Du mich nach nieinen
Gefühl in Deinem Brief aufmunterst — ohne die freimüthigste Mittheilung
gegen die die ich liebe möchte ich nicht leben. Also so zurück im allen
was zur weiblichen Bildung gehört machte ich nur sehr langsamen Fortschritte,
es würde mehr für mich gethan worden seyn wenn es nicht an vielen Mitteln,
und mir an Entschluß gefehlt hätte. Wodurch ich mehrere Menschen für
mich einnahm weis ich nicht, genug ich wurde geliebt und diese Liebe erweckte
vieleicht zum ersten mahl eine Aufmerksammkeit auf mich selbst die nur höchst
nothwendig war. Schwester Julie die dazumahl meine einzige Freundin
war, fing ernstlich an zu tränkten, ich nahte mich auch auf diesen neuen
Verlust gefast machen den wir alle voraushaben. Die Erwartung der Rein¬
holdischen Familie*), die Freude des Wiedersehens mit dem Schmerz über
meine Julie würkten vereinigt zu gewaltsamen auf mich und sie fanden mich
deswegen schwächer als ich sonst war. Durch Reinholds Hierseyn machte
ich die Bekantschaft von der Schiller, Griesbachs**) und ihresn^ Haus¬
freundinnen alle so vorzügliche und liebenswürdige Menschen zu denen ich
mich sogleich hingezogen fühlte —. So wurde mir ein neuer Genuß des
Lebens aufgeschlossen, über den ich leichter die erlebten Leiden verschmerzen
konte. Schon früher hatte ich meinst angebohrne Schüchternheit durch die
zärtlichste Liebe für Dich überwunden und schrieb Dir: — Dein Herzliches
ermuntemtes Entgegenkommen brach mit einen mahl die Schrancken die zwischen
Dir und mir lagen***), und ich fühlte mich in Deinen Besitz ganz
glücklich! — Gern möchte ich Dir einen klaren anschaulichen Begriff von
meiner gegenwärtigen Lage in den Verhältnissen worin ich mit Vater und
den wenigen im Haus stehe, geben: mündlich würde es mir eben so leicht
werden als es mir schriftlich schwer ist. Wir viere leben ganz verträglich
und vergnügt zusammen wie wohl wir mit den einen und andern sehr wenig
Berührungspunkte haben, also im Ganzen wenig Einheit und Harmonie
herschen kann. Eine jede besitzt ihre Eigenthümlichkeit die zusamen einen
wunderlichen Contrast bilden der aber den Einzeln mehr nüzlich als schädlich
ist. Ein Mittelpunkt ist es immer worinn wir völlig zusammen treffen —
er ist die Liebe und der Genuß vereinnigt mit unseren Vater leben zu können,
und vieleicht, mehr oder weniger von Einfluß für ihm zu seyn. Aber das
beneidenswürdigfteLoß hat auch schlimmen Seiten und auch unser gewöhnlich
heiterer Himmel hat trübe Wolken die sehr nah an uns vorüberziehen und
zuweilen nicht unsanft s^lies: sanft^ berühren —! Diese Seite ist so zart
daß ich über sie nichts weiter zu sagen nöthig habe Du wirst Dich dennoch
leicht an unsere Stelle versetzen können. Ich freue mich mit Dir daß ich
wie Du vermögend bin den ganzen hohen Werth unseres Vaters zu fühlen
und zu erkennen.
Vielleicht schließt hier ein undatiertes Brieffragment an, das zunächst von
Luisens Verhältnis zu Schillers Witwe spricht (gedruckt Euphorion 12, 451),
dann anknüpfend an die Bemerkung, daß die adelige Gesellschaft sich über den
herzlichen Umgang Lottens mit ihr wundere, also fortfährt:
Es liegt etwas ungemein komisches in der Verlegenheit in die die Menschen
kommen, wenn sie ihre Meinung, die sie für unbetrüglich halten, anderen
sollen. Ich komme oft in Versuchung wenn mir ähnliche Dinge auffallen,
kleine Anmerkungen zu machen, die ein ganz klein wenig Bosheit, oder wie
man das Ding nennt (Witz) mit sich führen. Besorge nichts Böses, liebe
Charlotte, diese überflüssige Ader wird sich bald genug verbluten. —
Der Brief bezeugt, daß Luise — ich wähle die Ausdrücke, die Wieland für
seine Glncerion gebraucht — daß das mit sich selbst unbekannte Kind durch
Erfahrung und Nachdenken zum besonnensten Gefühl seiner selbst gereift war.
Der Ernst des Briefes, seine Klarheit, seine Tiefe und Wärme, die treffende
Ausdrucksfähigkeit, durch kleine Entgleisungen des Stiles des gewiß in innerer
Bewegung verfaßten Schreibens als natürliches Gut, nicht als Bildungserwerb
gekennzeichnet, lassen verstehen, was Kleist in dem Kinde ahnte, dessen Seele
ihm ihre Blüte öffnete. —
Über den zweiten Besuch, den Kleist nach dem April 1804 in Weimar
abstattete, ist mir näheres nicht bekannt. Daß der Vater später noch Briefe mit
Kleist wechselte, wurde Luisen wohl verschwiegen, um schlummerndes Leid nicht
aufzujagen. Denn Luise behielt, nach Charlotte Schillers Beobachtung, die
Neigung zu schmerzlicher Aufregung und Bitterkeit. Wie sie die Nachricht von
Kleists Tod aufnahm, ist unbezeugt; sie war damals in langsamer Erholung
von einem Sturze mit dem Reisewagen begriffen, mußte noch auf Krücken gehen,
betrug sich aber auch bei dieser Prüfung „wie eine echte Pythagorische Jungfrau",
schrieb der Vater. Frau Schiller zog das Mädchen mit herzlichster Freundlichkeit
an sich, wie ihre Briefe, im Schillerjahrgang des „Euphorion" veröffentlicht,
zeigen, und hielt ihre Hand beim Verlust des Vaters. Besorgt sah sie der
Vermählung der Schwächlichen mit dem guten und klugen Dr. Gustav Emminghaus
in Jena entgegen, nicht ohne Grund: nach fünfvierteljähriger Ehe starb Luise
im Jahre 1815.
Und Kleist--Als er fünf Jahre nach den gastlichen Monaten Wieland
zum Phöbus warb, schrieb er: Mein Herz ist bei dem Gedanken an Sie noch
eben so gerührt, als ob ich, von Beweisen Ihrer Güte überschüttet, Osmanstätt
gestern oder vorgestern verlassen hätte. . . . Was macht Ihre vortreffliche Tochter
Louise? Das Beiwort klingt uns kühl und ist es doch nicht; denn auch seine
Herzens-Ulrike sprach Kleist wiederholt als vortreffliche Schwester an. In seiner
Dichtung aber sehe ich keine deutliche Spur der Liebenden; vielleicht daß Helenas
Wacht über den alten Vater Guiskard Luisens Verhältnis zu Wieland wider¬
gespiegelt hat; vielleicht daß sie bei dem vierzehnjährigen schlichten Kätchen mit
vorschwebt, das Wetters Zauber unterliegt, wie die gleichaltrige unverbildete
Luise „diesem zauberischen Kleist" sich hingibt; beide Mädchen erkranken nach dem
ersten Abschied des Geliebten. Und auf ein Drittes sei verwiesen: darf angenommen
werden, daß Krug nicht richtig vermutete, die Fabel von den beiden Tauben
beziehe sich auf seine Frau Wilhelmine, Kleists einstige Braut? sie gelte vielmehr
Luise? Der Ausdruck „des lieben Mädchens Laube", falls er mehr als eine
prägnante Übersetzung des Lafontainischen hol8 sein sollte, scheint freilich auf
den Frankfurter Garten der Zeuge hinzuweisen und nicht auf eine Osmanstätter
Laube, darin zu weilen der Winter nicht gestattet hätte. Aber daß Kleist die
Reise von Luise weg im Frühjahr antrat, mag ihm den Eingang der fran¬
zösischen Erzählung wahr gemacht haben. Unter Tränen schied er von ihr, wie
der Täuber bei der Erinnerung an den Abschied weint, in der von Lafontaine
unabhängigen und gar nicht fabelmäßigen Stelle des Gedichtes. Und eben da
wird weiter erzählt, daß der Täuber die Reise fortsetzend in eines Städters
reiche Wohnung einkehrt, wohin ein Freund ihn warm empfohlen; das kann
auf Kleists Fahrt nach Leipzig deuten, wo er ein warmes Empfehlungsschreiben
Wielands bei Göschen abzugeben hatte. „Viel Höflichkeit, um dessen, der ihn
sandte, wird ihn: zu Teil, viel Gut' und Artigkeit". Und wie der Täuber zum
blonden Täubchen kehrte Kleist unselig und sehnsüchtig zurück zu Luise, „noch
ganz derselbe liebenswürdige Mensch", der ausgezogen war. Doch „die junge
liebliche Gestalt war an ihm vorübergegangen", „die Zeit der Liebe war ihm
entflohen", klagt der Schluß der Fabel.
ach meiner früheren Ankündigung") hab ich jetzt zu zeigen, welche
Folgen das Stümpertum und die Günstlingswirtschaft in unserer
Verwaltung gehabt haben. Man kann es mit einem Wort sagen:
sie sind die Totengräber des alten preußischen Beamten¬
staats geworden. Und ich fürchte, daß sie auf dem besten Wege
sind, auch unseren heutigen Staat zu verderben.
Bevor ich dazu übergehe, dies im einzelnen darzutun, muß ich darauf hin-
weisen, daß man die Bezeichnungen „Beamtenstaat" und „Militärstaat" — die
übliche und notwendige Ergänzung dazu — nicht allzu wörtlich nehmen darf.
Sie bedeuten keine besonderen Staatsformen, sondern die besonderen Formen
der Betätigung eines bestimmten Staats. Dieser Staat war der alte preußische
Patrimonialstaat. Er war eng verknüpft mit der Person des Herrschers und
beruhte auf dem Gegensatz zwischen Herrscher und Untertanen. Nur der Herrscher
und seine Gehilfen waren die Träger und die Verwirklicher des Staatsgedankens.
Der Staat war, wie es Prof. O. Hintze, dem ich auch sonst hier folge, nennt,
eine den Untertanen auferlegte Ordnung, ein System von Einrichtungen zur
Beherrschung der Menschen, an dem die Untertanen keinen Anteil hatten. Die
Gehilfen des Herrschers waren aber die Beamten und die Armee, und deren
Bedeutung besteht darin, daß sie überall da, wo es galt, den Staatsgedanken,
namentlich den staatlichen Machtgedanken, zu verwirklichen und die daraus
erwachsenden Aufgaben zu erfüllen, im innern und nach außen, auf
politischem, wirtschaftlichem, gesellschaftlichen und militärischem Gebiet, die
alleinige und unbestrittene Führung behaupteten. Beamtenstaat und Militär¬
staat besagen also nichts anderes, als die Führung des Volksganzen durch
Beamtentum und Heer. Am wichtigsten war dabei offenbar das Beamtentum.
Zwar war das Heer ebenso durchdrungen von einem lebhaften und kraftvollen
preußischen Staatsgedanken wie das Beamtentum, und zur Durchführung dieses
Gedankens nach außen hat es sogar das Meiste beigetragen. Aber es ist klar,
daß ohne die vorhergehenden politischen, wirtschaftlichen und vor allem finan¬
ziellen Leistungen des Beamtentums Heer und Militärstaat niemals hätten
geschaffen werden können.
Der Patrimonialstaat wurde später überwunden, zuerst von Haroenberg,
der nach dem Ausdruck eines jüngeren Historikers den Staat als Gesamtpersön¬
lichkeit vom Herrscher gelöst hat, später und vollständiger durch die Ereignisse
von 1848. Unser heutiger Staat beruht nicht mehr auf dem Gegensatz zwischen
Herrscher und Untertanen. Er ist vielmehr eine große Gesamtpersönlichkeit, eine
die ganze Bevölkerung umfassende einheitlich organisierte Gesamtheit, deren
einzelne Angehörigen in immer weiteren Umfang und immer stärker vom Staats¬
bewußtsein, vom Gedanken der staatlichen Zusammengehörigkeit durchdrungen
wurden und Anteil am staatlichen Leben verlangen. Aber es war offenbar
weder begrifflich noch praktisch nötig, daß mit dem alten Patrimonialstaat auch
der Beamtenstaat und der Militärstaat oder, anders ausgedrückt, die führende
Stellung des Beamtentums und des Heers verschwanden. Auch im neuen
Staat sind Führer unentbehrlich, die sich immer und unter allen Umständen bei
ihrer Tätigkeit für den Staat nur vom Staatsgedanken, von der Sorge für
das Wohl der Gesamtheit, leiten lassen. Ja, man kann behaupten, daß das
Bedürfnis nach solchen Führern jetzt größer ist als früher, da jetzt durch die
Erweiterung des Kreises der Staatsträger und deren Rechte, namentlich aber
durch die in dieser Tatsache begründete Vermehrung des Einflusses der gesell¬
schaftlichen Bestrebungen auf den Staat die Gefahr, daß nach einem Wort
Rudolf v. Greises die Gesellschaft den Staat überwindet, bedeutend gewachsen
ist. Die Wandlungen im Wesen unseres Staats hätten also die Stellung und
die Bedeutung des Beamtentums und des Heeres im Staat eher heben und
verstärken als vernichten müssen. In der Tat hat sich auch der Militärstaat
zum Heil unseres Volks bis in unsere Tage hinein erhalten. Daß es mit dem
Beamtentum nicht ebenso gekommen ist, daß dieses vielmehr seine Führerstellung
verloren hat, haben eben Stümpertun: und Günstlingswirtschaft verschuldet,
indem sie an und in den Beamten die Grundlagen zerstörten, auf denen die
Führerschaft des Beamten im alten Staat erwachsen war und mit diesen Grund¬
lagen das Gebäude selbst in Trümmer stürzten. —
Wir haben die vierfache Grundlage der Führerstellung des alten Beamten¬
tums früher kennen gelernt: geschlossene Einheit der Verwaltung in jeder
Hinsicht — Stellung der Beamten über den einzelnen Landesteilen, Ständen
und Klassen — hervorragende Tüchtigkeit der einzelnen Beamten, namentlich
auch ein lebendiges Staatsgefühl — ein unerschütterliches Ansehen und ein
gewaltiges Maß von Vertrauen beim Volke.
Die erste dieser Grundlagen, die Einheit in der Verwaltung, wurde schon
durch die bunte Zusammensetzung der Beamtenschaft bedenklich geschwächt, indem
man unter dem Einfluß des aufkommenden Stümpertums neben geschulten Ver¬
waltungsbeamten unzähligen Juristen und Laien den Zutritt in die Verwaltung
eröffnete und so der Verwaltungslaufbahn das Gepräge eines abgeschlossenen,
in sich einheitlichen Berufs nahm, das ihr auch in langer, mühsamer Lebensarbeit
zwei große Herrscher verliehen hatten.
Verhängnisvoller ist freilich die Zerstörung der Einheit der Verwaltung,
die von der Günstlingswirtschaft ausging. Diese hat, wie es nicht anders sein
konnte, zu einer ganz verschiedenen persönlichen und dienstlichen Behandlung
der einzelnen Beamten geführt und so verschuldet, daß jetzt eine tiefe und
breite Kluft durch die Beamten geht und sie in zwei scharf geschiedene Gruppen
trennt. Zur einen, die bei weitem die Minderheit der Beamten umfaßt,
gehören die Beamten, die durch ihre Beziehungen oder durch sonstige glückliche
Zufälligkeiten aus der herrschenden Günstlingswirtschaft Vorteil haben. Die
andere, weit zahlreichere Gruppe wird von den Beamten gebildet, denen der
Zufall nicht hilft. Je nach der zufälligen Zugehörigkeit zur einen oder zur
anderen dieser beiden Gruppen sind das persönliche Schicksal und die dienstliche
Laufbahn der einzelnen Beamten so verschieden, daß man jetzt von Verwaltungs-
beamten erster und zweiter Klasse sprechen kann.
Die Angehörigen der glücklichen Minderheit haben es überall besser als
die anderen. Schon ihre Aufnahme in die Verwaltung ist sicher oder doch
mindestens wesentlich erleichtert. Auch später werden sie immer bevorzugt. Sie
kommen in die Gegenden und Orte mit angenehmen Lebensverhältnissen, und
hat man hierbei einmal ihre Wünsche nicht getroffen, dann ist man gern bereit,
die Entscheidung abzuändern. Ferner werden sie allein oder doch vorweg berück¬
sichtigt bei der Besetzung der Behörden und der Dezernate, die besonders gesucht
werden, weil sie an sich eine angenehme Tätigkeit gewähren, oder weil sie die
Möglichkeit geben, Kenntnisse und Erfahrungen auf wichtigen Verwaltungsgebieten
zu sammeln oder die Brauchbarkeit für schwierigere Stellungen und Aufgaben
zu erweisen, oder schließlich auch schon deshalb, weil sie Gelegenheit bieten, dort,
wo über das weitere Fortkommen der Beamten entschieden wird, bekannt und
empfohlen zu werden. Dabei greift man ihnen zuliebe gelegentlich auch in das
sonst heilig gehaltene Bestimmungsrecht der Regierungspräsidenten ein. Besonders
tritt die Bevorzugung der Minderheit natürlich bei Beförderungen hervor. Ihre
Befähigung dazu wird, wenn überhaupt, mild und wohlwollend geprüft. Die
Hauptsache ist jedoch, daß sie allein die Verwaltungsstellen erhalten, die wirklich
regieren und demgemäß ihren Inhabern eine persönlich oder dienstlich angenehme
und angesehene Stellung sowie eine selbständige, vielseitige und befriedigende
Tätigkeit gewähren, wie die Stellen der Landräte, Regierungspräsidenten, Ober¬
präsidenten u. tgi. Sind sie aber selbst bei wohlwollendster Beurteilung für
eine solche regierende Stellung von vornherein nicht geeignet oder ergibt sich
dies im Laufe ihrer Dienstführung in einer solchen Stellung dann findet sich
für sie immer etwas, womit sie entschädigt werden können.
Bezeichnend für die bevorzugte Stellung dieser Auserwählten ist es weiter,
daß sie sich ruhig und ungestraft und ohne sonstige Nachteile dienstlich und außer¬
dienstlich Sachen erlauben können, die anderen ohne weiteres den Hals brechen,
und daß man ihnen zuliebe mit Leichtigkeit Grundsätze über Bord wirft,
die allen anderen Beamten gegenüber unverbrüchlich festgehalten werden. Dies
gilt namentlich von dem Grundsatz, daß bei der Auswahl für höhere Stellen
zwischen gleichgeeigneten Bewerbern das Dienstalter maßgebend sein soll, was dann
gelegentlich zu recht auffallenden Entscheidungen führt. Während z. B. der Re¬
gierungsrat sonst frühestens mit einem Assessordienstalter von zwanzig Jahren
darauf rechnen kann, Oberregierungsrat zu werden, wurde vor einiger Zeit ein
Regierungsrat, der nur ein Assessordienstalter von etwa zehn Jahren hatte und
infolgedessen noch nicht einmal eine etatsmäßige Regierungsratsstelle bekleidete,
aber sich besonderer Beziehungen erfreute, in eine Oberregierungsratsstelle befördert.
Sein Nachfolger in dieser Stelle mußte dafür wieder zwanzig Jahre auf die
Beförderung warten. Ähnlich ist es zu beurteilen, daß man bei der Beförderung
der Landräte in höhere Stellen der allgemeinen Verwaltung nicht von ihrem
Assessordienstalter ausgeht, sondern von ihrem Patent als Rat vierter Klasse. Da
die Landräte diese Rangstufe in der überwiegenden Mehrheit der Fälle mehrere
Jahre früher erreichen als ihre Dienstaltersgenossen, die nicht Landräte werden, so
bedeutet dieses Verfahren eine besondere Bevorzugung der Kreise, aus denen die
Landräte hervorgehen, für die ein sachlicher Grund nicht erkennbar ist. Der
Bruch eines feierlichst verkündeten Grundsatzes war es auch, daß man im vorigen
Jahr fast gleichzeitig nicht weniger als drei Landratsämter mit Juristen, einem
Konsistorialrat, einem jungen Amtsrichter und einen: ganz jungen Gerichtsassessor,
besetzte. Bis dahin hatte man nach dem Vorgang des verstorbenen Ministers
v. Hammerstein lange Jahre hindurch die Juristen von den Landratsämtern
grundsätzlich ausgeschlossen, weil man dieses Amt den eigentlichen Verwaltungs¬
beamten vorbehalten wollte, damit diese wenigstens auf einem Gebiet etwas vor
den juristischen Eindringlingen in die Verwaltung voraushätten. In den erwähnten
drei Fällen scheinen allerdings gewisse, auf Besitz oder Wohnsitz gegründete
persönliche Beziehungen zum Kreis bestanden zu haben. Aber man hat früher
niemals gezögert, über solche Beziehungen ohne weiteres hinwegzugehen, wenn es
darauf ankam, unerwünschte Bewerber um Landratsämter zu beseitigen. Man
kann daher ruhig annehmen, daß hier ganz andere Beziehungen den Aus¬
schlag gegeben haben. Jedenfalls haben in dem erstaunlichsten dieser drei
Fälle nach meinen Nachrichten auch besondere persönliche Beziehungen zu einem
hohen Staatsbeamten bestanden, die sicherlich einen größeren Einfluß auf die
Entscheidung gehabt haben als etwaiger Grundbesitz oder Wohnsitz im Kreis.
Daß endlich auch entgegenstehende gesetzliche Bestimmungen kein Hindernis bilden,
sobald es sich darum handelt, einen Beamten mit guten Beziehungen zu fördern,
hat der in meinem zweiten Artikel schon erwähnte Fall gezeigt, wo ein
Konsistorialrat Oberregierungsrat einer Schulabteilung wurde, obwohl er die
gesetzlich für dieses Amt vorgeschriebene Befähigung nicht hatte.
Ganz anders ergeht es den Beamten der zweiten Gruppe. Für sie ist
schon die Aufnahme in die Verwaltung schwierig zu erreichen; sie hängt davon
ab, daß sich zufällig nicht genug gut empfohlene Anwärter finden. Ihr späteres
Schicksal ist ebenso unsicher. Sie können jetzt nur damit rechnen, daß sie
nicht weggejagt werden, solange sie ein gewisses, übrigens geringes Maß
von Arbeit leisten, keine silbernen Löffel stehlen und nicht Sozialdemokraten
werden. Alles andere steht dahin. Beispielsweise können sie nicht erwarten,
daß ihnen ganz bescheidene persönliche Anliegen erfüllt werden, etwa der Wunsch,
nach jahrzehntelanger Tätigkeit in kleinen Orten einmal Gelegenheit zu erhalten,
die Annehmlichkeiten und die geistigen Anregungen einer großen Stadt zu
genießen. Sind sie aber doch zufällig einmal in angenehme Verhältnisse gekommen,
dann müssen sie sich gefallen lassen, plötzlich herausgerissen zu werden, wobei für
sie nicht die Möglichkeit besteht, eine solche Versetzung rückgängig zu machen.
Ähnlich verhält es sich mit ihrer dienstlichen Laufbahn. Es ist nur ein Zufall,
daß sie bei der Zuweisung an die einzelnen Behörden oder bei der Verteilung
der Dezernate einmal weniger schlecht abschneiden. Gewöhnlich drücken sie
sich in kleinen, unerfreulichen Nestern, womöglich in „Grenzgarnisonen" Heruni
und müssen sie sich mit den Dezernaten begnügen, die von den bevorzugten
Beamten gemieden werden. Werden diese Beamten überhaupt etwas, dann
erreichen sie höchstens die erste Stufe, die Stelle des Oberregierungsrats einer
der beiden Kollegialabteilungen der Regierungen oder des Verwaltungsgerichts¬
direktors, und außerdem ist gewöhnlich bei einer solchen Beförderung ein Haken,
indem sie sich etwa verpflichten müssen, auf immer oder doch auf lange Jahre
in ein kleines Nest zu gehen oder in einem solchen zu bleiben. Dazu
kommen noch manche andere Gelegenheiten, wo sie hinter der begünstigten
Minderheit zurücktreten müssen: Verleihung von Auszeichnungen, Nebenämtern,
sogenannten Kommissorien u. tgi. Man kann also die geschilderte Entwicklung
kurz dahin zusammenfassen, daß alle Annehmlichkeiten und Vorteile der Ver¬
waltungslaufbahn einer verhältnismäßig kleinen Minderheit der Verwaltungs¬
beamten zufallen, während die Mehrheit auf Schritt und Tritt den bittersten
Enttäuschungen, den schwersten Kränkungen, den größten Schädigungen aller
Art ausgesetzt ist.
Es konnte nicht ausbleiben, daß infolge der geschilderten Entwicklung im
Lauf der Jahre auch der persönliche Zusammenhalt unter den Beamten immer
mehr gelockert und schließlich fast ganz gelöst wurde. So spürt man von dem
Gefühl der Zusammengehörigkeit und dem damit verbundenen lebhaften Standes¬
bewußtsein und Standesgeist, die unsere Vorfahren beherrscht haben, nichts mehr.
Man weiß sich jetzt längst nicht mehr, wie jene, eins im Dienst für den Staat.
Das tritt schon im persönlichen Verkehr, in den geselligen und gesellschaft¬
lichen Beziehungen deutlich hervor; von einem Zusammenhalten ist hier nicht
mehr die Rede. Selbstverständlich müssen sich in einem größeren Kreis, je nach
den verschiedenen Interessen oder den sonstigen persönlichen Beziehungen kleinere
Kreise herausbilden, innerhalb derer ein engerer Verkehr stattfindet als in dem
großen Kreis. Auch verliert mancher durch eigene Schuld den Zusammenhang
mit seinen Amtsgenossen; es kann nicht geleugnet werden, daß sich auch hier die
Günstlingswirtschaft gelegentlich unerfreulich geltend macht. Aber alles dies erklärt
das, was ich meine, nicht ausreichend. Es handelt sich hier vielmehr um die bewußte
Absonderung eines kleinen Kreises von den anderen, darauf gegründet, daß
man sich für vornehmer und besser hält. Man kann diesen Beweggrund nament¬
lich daraus erkennen, daß diese Absonderung nicht bloß gegen Untergebene
und Gleichgestellte gerichtet ist, sondern auch gegen Vorgesetzte, die man nicht
für voll ansieht. Außerdem fällt diese gesellschaftliche Scheidung fast genau
zusammen mit der Scheidung der Beamten in solche erster und zweiter Klasse
und hat demnach ihren Hauptgrund in dieser.
Bezeichnend für die Lockerung der persönlichen Beziehungen und für das
Verblassen des Standesgefühls unter den Verwaltungsbeamten ist ein kleiner
Zug. Noch vor einem halben Menschenalter war es selbstverständlich, daß sich
ein neu ernanntes Regierungsmitglied im Anschluß an die Meldung bei den
Vorgesetzten den anderen Mitgliedern vorstellte, um mit ihnen möglichst bald
persönlich bekannt zu werden. Jetzt verfahren so nur noch wenige Leute aus
der alten Schule, die meisten schicken durch einen Boten Karten herum und über¬
lassen die persönliche Bekanntschaft dem Zufall. Schon die Herren Referendare
machen es so. Die Folge ist dann nicht selten, daß man Wochen, Monate
oder, wie es mir mit einem Referendar vorgekommen ist, jahrelang fremd an¬
einander vorübergeht. Warum sollte man sich auch die mit der persönlichen
Vorstellung verbundene Mühe machen? Man ist ja jetzt nicht mehr der Ver¬
waltungsbeamte, der Angehörige eines großen Organismus mit ausgesprochenem
Standesbewußtsein, sondern schlechthin der Baron X oder der Sohn des millionen¬
schweren Kommerzienrath 3) oder der Träger gewichtiger Korpsbeziehungen und hat
also nicht den geringsten Anlaß, sich mit den vielen unerfreulichen Kerlen, denen
man in der Verwaltung leider begegnet, näher abzugeben. Die Ablehnung
der Gemeinschaft mit den Berufsgenossen geht bei dem einen oder dem anderen
Verwaltungsbeamten so weit, daß er auf seine Besuchskarten nur seinen Namen
schreibt und jeden Hinweis auf seine Beamtenstellung unterläßt.
Diese persönliche und gesellschaftliche Scheidung unter den Beamten greift
indessen auch auf das dienstliche Gebiet über und stört oder hemmt dort das
einheitliche dienstliche Zusammenarbeiten. Hierher gehört beispielsweise der
früher erwähnte, vom Herrn Regierungspräsidenten Kruse in Düsseldorf in einer
Besprechung der ersten Abschnitte meiner jetzigen Artikelreihe (Preuß. Verwaltungs¬
blatt 1910 S. 385) bestätigte Dezernatsfanatismus, der jede Berührung mit
den Nachbar dezern ater von sich weist. Vor allem aber stecken hier die Wurzeln
des unerquicklichen Verhältnisses zwischen den Landräten und den Regierungs¬
dezernenten, namentlich den Regierungsräten, das weit verbreitet ist und nach¬
gerade zu einer schweren Schädigung der Verwaltung und des Staats führen
muß. Den Landrat trennt heute eine ganze Welt vom Regierungsrat. Das
kann auch nicht anders sein. Wer Landrat geworden ist, wird, wie sich die
Sachlage bei uns unter der Herrschaft der Günstlingswirtschaft einmal entwickelt
hat, schon dadurch allein aus den übrigen Verwaltungsbeamten heraus- und
über sie emporgehoben. Außerdem hat man den Landräten so oft und so lange
vorerzählt, daß sie allein etwas von der Verwaltung verstünden, daß sie es
schließlich glauben mußten. Dazu kommt endlich, daß ein Regierungsdezernent
in einer ernstlichen Meinungsverschiedenheit mit einem Landrat von den Vor¬
gesetzten niemals gestützt wird. Sind diese selbst Landräte gewesen, was immer
mehr der Fall ist, dann stehen ihnen natürlich die Landräte näher als die
Negierungsdezernenten. Sonst aber scheuen sie sich, es mit diesen einflußreichen
Untergebenen, die so häufig höchst nützliche und ernst zu nehmende Beziehungen
nach oben haben, zu verderben. Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen. Sachliche
Meinungsverschiedenheiten werden und müssen immer vorkommen. Hier handelt
es sich aber in unzähligen Fällen nicht! um solche, sondern um den Aus¬
druck einer nur zu deutlich erkennbaren Geringschätzung der Person des
Gegners.
Gefördert wird die geschilderte Auflösung der Beamtenschaft der Verwaltung
dadurch, daß die Vorteile und Annehmlichkeiten der Verwaltungslaufbahn jetzt
fast ausnahmslos den Angehörigen zweier bestimmter Bevölkerungskreise zugute
kommen, die an sich schon geneigt sind, sich von anderen Kreisen fernzuhalten,
sich untereinander aber schnell und innig zusammenfinden. Die Zufälligkeiten
und Beziehungen, durch die man heutzutage die Vorteile und Annehmlichkeiten
der Verwaltungslaufvahu erlangt, sind mannigfaltig, wie wir früher gesehen
haben. Mer zwei bestimmte Beziehungen, die auf derselben Grundlage, dem
Zufall der Geburt, erwachsen, wirken doch besonders kräftig, nämlich die Zu¬
gehörigkeit zum Adel, namentlich zum östlichen Grundadel, und zu den mit
dieseni durch dieselben wirtschaftlichen Bestrebungen und parteipolitischer An¬
schauungen oder sonst persönlich verbundenen Kreisen des bürgerlichen Gro߬
grundbesitzes, und sodann die Herkunft aus den Kreisen des Großgewerbes, des
Großhandels oder überhaupt des Großkapitals. Es sind dies im all¬
gemeinen dieselben Kreise, aus denen sich gewisse Korps mit dem Rufe
besonderer Vornehmheit und die Reserveoffiziere der Kavallerie in der Haupt¬
sache ergänzen.
Ich habe hierauf bereits früher hingewiesen. Inzwischen hat auch Freiherr
v. Zedlitz (im Tag vom 29. November 1910) meine Ausführungen bestätigt.
Später spielte bei den erregten Auseinandersetzungen über die politische Stellung
und Tätigkeit der Landräte im Abgeordnetenhaus im Beginn der letzten Tagung
die Bevorzugung der Adligen und der konservativen Kreise bei der Besetzung der
wirklich regierenden Stellen in der Verwaltung eine große Rolle. Auch bei
diesen Erörterungen hat man vom Regierungstisch aus wieder, wie bei allen
früheren Gelegenheiten, alle derartigen Behauptungen ins Reich der Fabel ver¬
wiesen. Aber ich glaube, die Tatsache der Bevorzugung der genannten Kreise
in der Verwaltung kann wirklich nicht bestritten werden. Sie wird schon
bewiesen durch die Zahlen über die Herkunft der höheren Verwaltungsbeamten,
die man im Zusammenhang mit den ebenerwähnten parlamentarischen Erörterungen
in dankenswerter Weise amtlich selbst veröffentlicht hat, obwohl diese Zahlen kein
ganz treffendes Bild geben. So sind anscheinend alle Zentralbehörden und alle
ihre Beamten, auch die technischen, berücksichtigt; es kommt hier aber nur auf
die Zentralbehörden an, die mit Geschäften der allgemeinen Landesverwaltung
befaßt sind, und auf die nichttechnischen Beamten. Außerdem unterscheiden die
amtlichen Angaben bei den Zentralbehörden nur zwischen adligen und bürger¬
lichen Beamten und geben den Beruf der Väter nicht an. Indessen zeigen auch
schon diese lückenhaften Zahlen, daß da, wo es auf entsagende Arbeit im stillen
Amtszimmer ankommt, der Adel auffallend zurücktritt; von 28 Ministerial¬
direktoren waren nur 6 und von 45 Oberverwaltungsgerichtsräten nur
4 adlig!
Bei den Beamten der Proviuzialbehörden vermißt man eine Angabe, wie¬
viele bürgerliche Beamten aus Großgrundbesitzerfamilien stammen, da diese Kreise
infolge ihrer übereinstimmenden politischen und wirtschaftlichen Anschauungen
und Bestrebungen hier ohne weiteres und ausnahmslos dem Grundadel
und überhaupt dem Adel hinzugerechnet werden müssen. Ferner entspricht
es nicht den wirklichen Verhältnissen, daß man die sämtlichen Ober¬
regierungsräte zusammengefaßt hat. Man hätte vielmehr die Oberregierungs¬
räte bei den Oberpräsidenten und die Oberregierungsräte, die Stellvertreter
der Regierungspräsidenten sind, von den anderen Oberregierungspräsidenten
trennen müssen.
Aber auch schon jetzt wird die nachstehende Zusammenstellung, die ich auf
Grund der amtlichen Angaben wenigstens für die Provinzialbehörden habe
anfertigen können, meine Behauptung rechtfertigen, daß ein kleiner, aus bestimmten
Kreisen stammender Teil dieser Beamten von der Mehrheit entschieden bevor¬
zugt wird.
Ich bemerke noch, daß ich in der Querspalte 7 die in den Querspalten 2
bis 6 aufgeführten Beamten zusammenfasse. Grundsätzlich gehörten hierher noch
die Oberregierungsräte bei den Regierungspräsidenten und den Oberpräsidenten,
da auch diese zu den regierenden, jedenfalls aber zu den bevorzugten Beamten
gerechnet werden. Im übrigen will ich nur auf folgendes hinweisen:
Während nur 37 Prozent aller Provinzialbeamten dem Adel überhaupt
angehören, hat er über 57 Prozent der regierenden Stellen inne. Zieht man,
was unbedingt nötig ist, um ein richtiges Bild von unseren Verhältnissen zu
erhalten, noch die Beamten aus den Kreisen des Großkapitals hinzu, dann sind
die entsprechenden Zahlen etwa 55 und 72 Prozent. Noch stärker tritt die
Bevorzugung des Adels und des Reichtums bei den einzelnen Beamtengruppen
der Ouerspalten 2 bis 6 hervor, z. B. bei den Oberpräsidenten und den Polizei¬
präsidenten. Ihre richtige Bedeutung erhalten aber alle diese Zahlen erst bei
einem Vergleich mit den Zahlen in den Querspalten 8 bis 10. Endlich muß
man für eine zutreffende Würdigung der Nachweisung beachten, daß sie nur eine
einzelne zufällige Beziehung wiedergibt, die der Geburt. Um ein vollständiges
Bild vom Umfang der Günstlingswirtschaft zu erhalten, müßte man noch die
anderen nützlichen Beziehungen berücksichtigen können — Verwandtschaft*), Schul¬
freundschaft, Korpsbrüderschaft und dergleichen mehr.
Aber auch schon jetzt muß die Nachweisung den Eindruck machen, daß die
regierenden Stellen in unserer Verwaltung, also die Verwaltungsstellen, deren
Inhaber der ganzen Verwaltung das Gepräge verleihen, in den Händen eines
bestimmten Kreises, man kann auch sagen, einer Klique, sind, der, durch ein
ganzes Netzwerk von hin- und hergehenden Fäden zu einer Einheit verbunden,
im Innern straff zusammenhält und sich nach Außen gegen alle Mitbewerber,
die nicht dazu gehören, reinlich abschließt. Da die Angehörigen dieser regierenden
Klique jedenfalls in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit, sei es von Haus aus,
sei es durch Anpassung an die neue Umgebung, die Anschauungen und Be¬
strebungen der konservativen Partei und der ostelbischen Agrarier vertreten, so
erhält diese ganze Entwicklung allerdings eine Bedeutung, die über das Gebiet
der Verwaltungspersonalien, ja über die Verwaltung selbst, weit hinausgeht.
Dennoch muß ich auch hier wieder in voller und ehrlich überzeugter
Übereinstimmung mit den vielfachen älteren und neueren Regierungserklärungen
mit allem Nachdruck behaupten, daß konservative Gesinnung und Partei¬
zugehörigkeit die Ursache der Begünstigung der bevorzugten Beamten nicht sind.
Dieser besonderen Ursache bedarf es gar nicht mehr. Die sonstigen persönlichen
Beziehungen, die diesen Herren zur Seite stehen, reichen vollkommen aus, um
die vielen merkwürdigen Vorkommnisse in unserer Personalienverwaltung voll¬
ständig zu erklären. Welche Bedeutung in unseren Kreisen allein Korpsbeziehungen
haben müssen, lehrt schon die Beobachtung, daß so mancher Verwaltungsbeamte
seinen Sohn, der für die Verwaltung gestimmt ist, nicht dem eigenen Korps
zuführt, sondern einem anderen, das wirksamere Beziehungen zu einflußreichen
und maßgebenden Kreisen vermitteln kann. Außerdem wird die Richtigkeit meiner
Behauptung auch durch die tägliche Erfahrung sattsam bestätigt. Ich habe früher
schon einige Fälle angeführt, wo man Beamte, die keineswegs konservative
Gesinnung und Parteizugehörigkeit geltend machen konnten, in der Verwaltungs¬
laufbahn auffallend bevorzugt hat. Hier will ich noch darauf hinweisen, daß.
begünstigt durch ähnliche persönliche Beziehungen, viel mehr Beamte rein jüdischer
Abstammung oder doch mit einem kräftigen Einschuß jüdischen Blutes in die
allgemeine Verwaltung gekommen und darin bis in die höchsten Stellen auf¬
gestiegen sind, als sich gewisse Zeitungen und Politiker bei ihrem Schimpfen auf
das ostelbische Junkerregiment in der Verwaltung auch nur träumen lassen.
Parteitaktisch mag es bequem sein, die falsche Behauptung on einem
amtlich geförderten konservativen Junkerregiment bei uns immer wieder in
den politischen Kampf hinauszurufen. Wer es nicht schon gewußt hatte.
konnte es durch den früher erwähnten Ansturm gegen die Landräte erfahren,
daß nicht bloß die Absicht, die Verwaltung zu bessern, hinter diesem Vorgehen
steckt. Wahlmache und der heiße Wunsch, Angehörige der eigenen Partei auch
einmal an die Krippe zu bringen, sprechen mindestens ebenso kräftig mit. Diesen:
Streben kann es nur nützen, daß die Verwaltung jetzt angeblich in den
Händen einer bestimmten Partei ist. Der Verwaltung und dem Staat wird
damit nicht gedient. Für sie bedeutet diese Verschleierung des Bildes nur, den
Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Wer der Verwaltung und dem Staat
helfen will, muß jede Günstlingswirtschaft, einerlei, welcher Partei oder welchen
Bevölkerungskreisen sie zugute komnrt, nach Möglichkeit ausrotten.
Die geschilderte Zerreißung der Einheit der Verwaltungslaufbahn und der
Beamtenschaft selbst hat auch Folgen für den Verwaltungsdienst gehabt, indem
auch dort die Einheit zerstört wurde. Wie wir in der Verwaltung jetzt Beamte
erster und zweiter Klasse haben, so gibt es dort jetzt auch Ämter, Behörden,
Geschäftsgebiete, Dezernate erster und zweiter Klasse. Das entscheidende Merkmal
ist, ob sie der begünstigten Minderheit vorbehalten sind oder ob sich Beamte
ohne Beziehungen mit ihnen begnügen müssen.
Deshalb ist heute das Landratsamt angesehener, vornehmer und gesuchter
als die Regierung. Viele Assessoren ziehen jetzt ein Landratsamt im traurigsten
Nest dem schönsten und wichtigsten Dezernat einer Regierung in der angenehmsten
Großstadt unbedingt vor. Früher war es umgekehrt. So sah z. B. der Landrat
Juncker, der spätere Regierungspräsident Freiherr v. Juncker, als er 1849 nach
überaus geschickter und erfolgreicher Bekämpfung des Polenaufruhrs im Kreise
Czarnikau als Regierungsrat nach Düsseldorf versetzt wurde, darin eine Aus¬
zeichnung und Belohnung, die ihn hoch erfreute. Jetzt würde man in einer
solchen Versetzung eine capitiZ eliminutio erblicken. Freilich ist inzwischen das
Landratsamt wichtiger geworden; indessen ist anderseits aber auch die Bedeutung
der Negierung nicht zurückgegangen; außerdem gewährte auch schon früher das
Landratsamt als die Domäne des angesessenen Adels seinem Inhaber jedenfalls
eine sehr angesehene persönliche und gesellschaftliche Stellung. Ein sachlicher
Grund für die jetzige Geringschätzung der Regierung liegt also nicht vor; sie
erklärt sich nur durch die erwähnte höhere Bewertung des Landratsamts.
Aus demselben Grunde steht unter den Regierungen so manche in schlechtem
Geruch, nicht nur bei den Beamten, sondern auch im Lande. Unbegreiflicher¬
weise hat man hier von oben noch nachgeholfen. Man hat nämlich solche
ohnehin schon übel berüchtigte Regierungen mit Vorliebe als Strafkolonien
benutzt, indem man ihnen die Regierungsbeamten überwies, die für irgendeine
Missetat bestraft oder kaltgestellt werden sollten. Ein solches Verfahren war
natürlich nicht geeignet, das Slnsehen und die Beliebtheit dieser Behörden
zu heben.
Noch schlimmer ist die Scheidung der einzelnen Geschäftsgebiete und Dezernate
in der erwähnten Richtung, weil sie durch die ganze Verwaltung geht. Auch
wird dadurch die Verwendung der Beamten Nur nach Befähigung, Kenntnissen
und Leistungen erschwert oder vereitelt. Infolge dieser Scheidung gelten nun
manche Geschäftszweige in den Beamtenkreisen als nicht vornehm. Es handelt
sich dabei um recht wichtige Geschäftszweige: z. B. Steuer- und Schulsachen,
den Bezirksausschuß, das Kassenratsdezernat, das Militärdepartement, das
Schiedsgericht für Arbeiterversicherung u. tgi. Niemand will mehr auf diesen
Geschäftsgebieten tätig sein und jeder strebt danach, ihnen zu entgehen.
Gesucht sind dagegen besonders das Polizei- und das Kommunaldezernat,
denn diese Angelegenheiten unterstehen dem Ministerium des Innern, in dem
auch über das persönliche Schicksal der Beamten entschieden wird. Eine
Ironie des Schicksals ist es übrigens, daß man manche jener allgemein
gering geschätzten Geschäftszweige und Dezernate mit einem besonderen Glanz
umgeben mußte, um die unglückselige Erfindung der „gehobenen" Stellen durch¬
führen zu können. Ich werde auf diese Einrichtung noch zurückkommen.
Peking, 15. Sept. 1897.
An seine Schwester.
... Da es jetzt angenehm kühl ist, arbeite ich täglich vier bis fünf Stunden
mit meinem Chinesen und dann noch für mich allein, und ich kann wohl sagen,
daß ich noch nie ein solches Glück in der Arbeit, im freien, durch keine äußeren
Hindernisse gehemmten Forschen gekannt habe. Dreimal glücklich sind diejenigen,
denen solches ihr Lebelang beschieden ist — und nur wer dieses Glück wie ich
sein ganzes Lebenlang entbehren mußte, weiß es voll zu würdigen. Ich befasse
mich jetzt ganz speziell mit den Pekinger Volksbräuchen*) und habe an meinen:
I^ettrs für dieses Gebiet gerade den rechten Mann gefunden. Jeder Tag bringt
mir neues, und ich komme mir oft vor wie ein kalifornischer Goldgräber, von
der fehlenden Romantik abgesehen. . . .
Peking, 30. Sept. 1897.
An feinen Bruder Carl.
Erst heute komme ich zur Beantwortung Deines lieben Briefes, für den
ich Dir auch in Lillys Namen herzlich danke.
Solange wir in Ta-chiao-sse waren, lebte ich ganz meinem Studium und
behielt dadurch für Briefschreiben wenig Zeit übrig; daher mußt Du mir schon
meine Saumseligkeit zugute halten. Wie nicht anders zu erwarten war, bietet
mir der Aufenthalt in China so mächtige Anregung nach den verschiedensten
Richtungen hin, daß es mir oft schwer wird, mich zu konzentrieren. Wie ich
Dir, glaube ich, schon geschrieben habe, gehe ich in erster Linie darauf aus, die
Pekinger Volksbräuche zu studieren, durch die überhaupt erst eine intimere und der
Wirklichkeit entsprechende Anschauung der Lebensauffassung und Denkweise dieses
eigenartigsten aller Kulturvölker zu erlangen ist. Zum Glück habe ich für diesen
Zweck in meinem I^clere die denkbar geeignetste Persönlichkeit gefunden und bereits
eine reiche Fülle interessanten, zum größten Teile völlig unbekannten und daher
verwertbaren Materials gesammelt. Ich lasse den Mann in seiner Weise alles
erzählen, was er über den Gegenstand weiß, und schreibe mir, was er mir
chinesisch vorträgt, nahezu Wort für Wort deutsch nieder. Auf diese Weise erhalte
ich ein anschauliches und dabei ziemlich vollständiges Bild des chinesischen Lebens,
wie sich's in seinen typischen Erscheinungsformen von der Wiege bis zur Bahre
abspielt. Ich wundere mich, daß keiner vor mir hier in Peking auf diesen doch
recht naheliegenden Gedanken verfallen ist. Es gibt vielleicht kein zweites Volk,
dessen Lebensäußerungen auf allen Daseinsgebieten derart durch zahllose kodi¬
fizierte Vorschriften eingeengt und in feste, unverrückbare Grenzen gezwängt wäre,
wie das chinesische. Daher der marionettenhafte Zug in seiner ganzen Art zu
sein und sich zu geben, daher so oft gänzlicher Mangel wirklicher Individualität
des Einzelnen, während es vielleicht keine zweite, so charakteristisch und scharf
geprägte Volksindividualität gibt, wie gerade die chinesische. Ein solches Volk
soll entweder auf Grund eingehender Kenntnis oder gar nicht beurteilt werden.
Ein Buch wie das Obrutschewsche schadet im ganzen mehr als es nützt, denn
es ist unverantwortlich seicht und oberflächlich belletristisch. Der Mann ist sich
ja nicht einmal über das klar, was er mit eigenen Augen gesehen zu haben
behauptet. Erzählt er doch z. B., daß der schlafende Buddha im Tempel
Wo-fo-sse, den wir neulich auch besucht haben, eine stehende Figur sei, die nur
einfach umgestülpt worden, während sie in recht guter Ausführung den Buddha
in liegender Stellung, auf den rechten Ellbogen gestützt, darstellt. Um das zu
sehen, bedarf es wahrlich keiner Vorstudien!
Mich erinnern die Chinesen in vielen Stücken an die Russen: sie haben
eine außerordentlich rasche Auffassungsgabe, sind dabei unzuverlässig und finden,
ganz wie der russische Bauer, eine brutale Behandlung selbstverständlich und in der
Ordnung; wie die Russen, sind auch sie konsequente Fatalisten, und ihr Ver¬
hältnis zu ihrem Beamtentum bietet auch viele Vergleichspunkte mit den russischen
Zuständen. Was die Unsauberkeit betrifft, so bin ich mir noch nicht ganz klar
darüber, wem die Palme gebührt — ich glaube jedoch den Russen. Wenigstens
sind wir auf unseren bisherigen Ausflügen oft überrascht gewesen, wie ver¬
hältnismäßig sauber die Nachtquartiere doch meist waren. Soweit Unterschiede
zwischen beiden Nationen in Betracht kommen, dürften diese wohl in vielen
Beziehungen den Chinesen zum Vorteil gereichen. Der chinesische Bankier steht
noch immer im Rufe musterhafter Ehrlichkeit. Der Fleiß, die Ausdauer und die
Nüchternheit der Chinesen sind sprichwörtlich, und mit Recht. Die hierzulande
bekanntlich nicht ganz leichte Kunst des Lesens und Schreibens ist ungleich weiter
verbreitet als in Rußland. Als ich auf unserem Ausfluge nach dem Po-doa-shan
in einem Tempel eine Inschrift kopierte, stand einer der Kukis, die Lillys Stuhl
trugen, dabei und als ich ein stark verwittertes Zeichen (das beiläufig bemerkt,
durchaus kein ganz gewöhnliches war) nicht auf den ersten Blick zu entziffern
vermochte, kam er mir darin zuvor, indem er das Zeichen mit dem Finger auf
den Stein schrieb. Überhaupt fiel mir bei diesen einfachen Tagelöhnern und
unserem übrigen Dienstpersonal auf, wie sehr sie sich für historische Denkmäler,
besonders Inschriften interessierten. Im Tempel Pi-pur-se bewunderte ich eine
herrliche CIoisonn6vase; der Ma-fu (Orovm) von Herrn v. P. musterte sie
ebenfalls mit Kennerblick, und als ich dann die Vermutung aussprach, daß sie aus
der Zeit der K'im-lung stammte, meinte er, sie werde doch wohl noch älter sein
und vermutlich aus der Zeit der Ming-Dynastie herrühren. Der Mann wußte
auch ganz genau, daß der Tempel während der Ming-Dynastie erbaut und
später unter K'im-lung restauriert worden war.
Noch eine charakteristische Episode muß ich Dir erzählen. Als wir nämlich
von Ch'a-tao nach Nan-k'on zurückritten, ging mein Maultier mit mir durch,
so daß ich schon zwanzig Minuten vor den übrigen am Ziele angelangt war. Ich
hatte mich eben im Hofe der Karawanserei auf eine Bank gesetzt, als ein
Chinese mit einen: Buch in der Hand auf mich zutrat und mich bat, ihn: über
einige Fragen Aufschluß zu geben. Das Buch erwies sich als eine englische
Grammatik in chinesischer Sprache, und die erbetene Auskunft betraf den Laut¬
wert der englischen Buchstaben. Natürlich tat ich ihm mit Freuden den Gefallen.
Am nächsten Morgen überbringt mir einer der Diener ein Schreiben des Gast¬
wirts, adressiert an S. Exzellenz Herrn Ko (so lautet mein Name chinesisch),
in welchem er mir in höflicher Weise mitteilt, keine Bezahlung von mir an¬
nehmen zu wolle«. Aufs höchste erstaunt, frage ich, was das zu bedeuten habe,
und höre nun, daß mein wissensdurstiger Interpellant eben der Wirt selber
gewesen war! Die Chinesen werden bei jeder Gelegenheit von den Europäern
schlecht gemacht und als Gauner verschrieen. Daher dürfen hübsche Züge wie
dieser nicht verschwiegen werden.
Das letzte Ziel unseres Ausfluges, der Tempel Pi-pur-sse, ist wohl nächst
der großen Mauer die Krone von allem, was wir bisher in China gesehen haben.
Durch ein Marmortor mit herrlichen Reliefs blickt man auf den in indischen:
Stile gehaltenen Marmortempel, der, von immergrünen Bäumen umgeben, am
Abhang eines Berges liegt. Zahlreiche andere Tempelbauten, die dazu gehören,
sind zwar aus weniger kostbarem Material gebaut, enthalten dafür jedoch um
so wertvollere Kunstschätze an Cloisonne, Bronze und wundervollen Schnitzereien.
Wir logierten dort in den schönen, luftigen, aber gänzlich prunklosen Räumen,
in denen die Kaiserin-Witwe auf ihren Wallfahrten zu nächtigen pflegt. Ich
gewann das Herz des freundlichen Abtes im Sturm dadurch, daß ich ihm meine
Brille zur Probe auf die Nase setzte und ihm zugleich einen lehrreichen Einblick
in das innere Getriebe meiner Uhr gewährte. Dafür lud er uns in sein Zimmer
ein, das von musterhafter Sauberkeit und voll der herrlichsten Kunstschätze war.
Er wurde zum Lohn dafür inmitten seines mit duftenden Oleanderbäumen und
Lotosblumen geschmückten Tempelhofes photographiert. Glücklicher Alter, der
sich in seinem wonnigen Erdenwinkel in süßem Nichtstun ans das Nirwana
vorbereitet! . . .
An seine Schwester.
Shanghai, 8. Okt. 1897.
Nun bin ich Dir ja noch den versprochenen Bericht über unseren letzten
Ausflug schuldig. Also los! — Du weißt, daß Herr und Frau v. P. eine kleine
Reise in die Mongolei unternommen und uns dabei das Versprechen abgenommen
hatten, ihnen auf ihrem Rückwege bis Ch'a-tao entgegenzukommen. So zogen
wir denn an dem verabredeten Tage von Ta-chiao-sse ab, Lilly im Tragstuhl,
ich auf einem Maultier. Bis Nan-k'on war der Ritt durch die Ebene, abgesehen
von kleineren und größeren Dörfern, ziemlich einförmig, so daß wir froh waren,
nach fünf vollen Stunden ununterbrochenen Reitens endlich Nan-k'on erreicht zu
haben. Hier gönnten wir uns eine halbe Stunde Rast, die wir zum Futtern
benutzten. Dann ging es wieder weiter, und jetzt änderte sich das Bild, denn
nun betraten wir das landschaftlich sehr schöne Tal, durch welches die große
chinesisch-russische Handelsstraße von Peking über Kalgcm nach Kiächta führt.
Hier sahen wir lange Karawanenzüge von meist mit Tee beladenen Kamelen,
die meist von Mongolen geführt werden. Bei dem Tore Pa-ta-ling erreichten
wir die Paßhöhe (etwa 2000 Fuß), über welche die große Mauer führt. Das
war wieder einer der unvergeßlichen Eindrücke unserer an interessanten Ein¬
drücken so reichen Reise! Wie hier in dieser unwirklich rauhen Berglandschaft
sich eins dem andern fügt, Natur und Menschenwerk sich zu schaurig-großartiger
Harmonie vereinen, ist eigenartig und bewältigend. Von Gipfel zu Gipfel
klimmt die gezackte Mauer, unabsehbar weit, um auf einer Strecke von weit über
1000 Kilometern das Reich gegen die Einfälle der wilden Horden des Nordens
zu schützen. Ihren Zweck hat sie ja freilich nicht erreicht, denn China ist zu
wiederholten Malen von jenen Horden nicht nur überfallen, sondern auch erobert
worden; aber dafür ist die Mauer ein Bauwerk von wunderbarer Kühnheit und
von einer Größe, die von keinem anderen erreicht wird. Die ganze Szenerie
trägt in ihrer schaurig öden Kahlheit und der Rhythmik ihrer zahllosen scharf¬
gezackten Gebirgszüge ein echt balladenhaftes Gepräge.
Endlich kamen wir nach einem Ritt von weiteren fünfeinviertel Stunden
in Ch'a-tao an, wo wir mit Herrn und Frau v. P. ein frohes Wiedersehen
feierten. Wir logierten dort in einem sehr netten und sauberen chinesischen
Gasthofe. Am nächsten Morgen ritten wir nach Nan-k'on zurück, machten jedoch
zweimal längere Station: zuerst an der Mauer, die wir erklommen; sie ist so
breit, daß auf ihr bequem zwei Zweispänner nebeneinander fahren könnten.
Natürlich wurde fleißig photographiert, und hinterdrein frühstückten wir unter
freiem Himmel am Fuße der Mauer. Dann machten wir noch einmal Halt bei
Kiü-yung-tuam, wo Frau v. P. malte. Unsere Maultiere mit dem Gepäck, Koch
und Boys schickten wir nach Nan-k'on voraus und ritten selbst erst nach eineinhalb
Stunden weiter. Kaum hatte ich dann später mein Maultier bestiegen, als es
auch sofort mit mir durchging: es sehnte sich offenbar nach seinen lieben An¬
gehörigen. Da half kein Zureden: offenbar verstand es mein Chinesisch nicht,
auch waren mir die Laute damals noch unbekannt, durch die man Maultiere
zum Stehen bringt, denn unser heimatliches „Prrr" hat hier wie alles die ent¬
gegengesetzte Bedeutung. So gab ich denn als der Klügere nach, und in sausendem
Galopp ging es weiter bis Nan-k'on, wo das Tier dann auch gleich den Gasthof
herausfand, wo die Seinen eingekehrt waren. Ich war ganz zufrieden mit
meiner Husarenleistung und fühlte mich reif für den Zirkus.
Am Morgen brach ich mit Frau v. P. und Lilly nach den Ming-Gräbern
auf, während Herr v. P. nach Peking zurückritt. Diese Gräber sind kolossale
Tempelbauten, eines wie das andere, und leider fast alle in ganz deplorablem
Zustande. Grandios ist aber die Anlage des Ganzen. Es ist ein halbkreis¬
förmiges Tal, amphitheatralisch von mäßig hohen kahlen Bergen umrahmt, an
deren Fuße die Grabstätten liegen. Die Größenverhältnisse sind so kolossal,
daß die Gräber, dreizehn an der Zahl, ungefähr je einen Kilometer voneinander
entfernt sind; eine mehrere Kilometer lange Straße führt in dieses Tal des
Todes, die mit prachtvollen Marmortoren mit schönen Reliefs geschmückt ist,
und zu beiden Seiten desselben sind überlebensgroße Marmorstatuen von
Mandarinen, Pferden, Kamelen, Elefanten und allerhand Fabeltieren aufgestellt.
Es fiel uns auf, daß einer der Elefanten mit zahllosen kleinen Steinchen bedeckt
war, und daß unsere Kukis und Boys ebenfalls damit beschäftigt waren, ihn
mit Steinen zu bombardieren. Ich fragte also unseren Boy, was der tiefere
Sinn dieser Zeremonie sei, worauf er mir im reinsten ?in!Zu-enZ1i8k ant¬
wortete: „suppose xvÄntclieö LateKso baby". Das war also des Pudels Kern,
und daraufhin beteiligten wir uns natürlich auch daran. Hinterdrein konnten
Lilly und Frau v. P. sich nicht darüber einigen, wieviel jede von ihnen
„geworfen" hatte. Ich finde, man darf weder Störchen, noch Elefanten vor¬
greifen. Übrigens machte ich meinen Boy etwas stutzig, indem ich ihm zu
bedenken gab: „Lud LUppc>8ö LatcKss little elsx>laut8?"
Von den Ming-Gräbern, wo abermals viel gemalt und photographiert
wurde, ging es am nächsten Tage nach T'eng-shan, wo genächtigt wurde, und
von dort nach dem einzig schönen Tempel Pi-pur-sse, der landschaftlich und
architektonisch zu dem Schönsten gehört, was wir überhaupt an Tempelbauten
gesehen haben. Von Pi-pur-sse ging es dann nach Peking zurück.
(Weitere Briefe folgen)
Merge gab sich als Schülerin wirklich redliche Mühe. Jeden Morgen, wenn
ihr Gatte schon draußen auf dem Felde oder im Stall und Scheune tätig war,
oder wenn die Gubernatorin noch schlief, fand sie sich bei der Priorin ein und
buchstabierte mit heißen Wangen aus einem alten Bande der Frankfurter Relationen
den „Wider-Abzug deß Königs in Polen aus der Statt Dantzig" oder den „Feldzug
deß Fürsten in Siebenbürgen, Herrn Georgii Ragoczy, ins Königreich Polen".
Schwester Felicitas sprach und schrieb ihr jedes Wort vor und hatte die Genug¬
tuung, daß sich ihre Methode auss beste bewährte. Seltsamerweise fand die jung
Frau das Schreiben leichter als das Lesen, und wenn sich in ihrer ungelenken
Hand der Gänsekiel auch manchmal etwas widerspenstig zeigte, so gelang es ihr
doch, sich die Schriftzeichen schneller und fester einzuprägen als die verschnörkelten
Druckbuchstaben.
„Glaubt Ihr, daß ich bald einen Brief zustande bringe?" fragte sie eines
Tages ihre Lehrerin.
„Wenn du weiter so fleißig bist, wird es nicht mehr lange dauern," meinte
die geistliche Dame, glücklich über Mergens Eifer.
„Ach, das wäre herrlich I Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie ich mich
darauf freue," sagte die junge Frau mit strahlenden Augen.
„Du möchtest wohl deinem Manne zum neuen Jahr eine lettre cZo isliLitation,
will sagen: einen Gratulationsbrief schreiben?"
„Ja — das wohl auch," antwortete Merge etwas gedehnt, „aber die Haupt¬
sache ist doch, daß ich bald einen richtigen Brief schreiben kann."
„Und an wen möchtest du so einen richtigen Brief schreiben?"
„An den Mathias zu Wachendorf."
Sie sagte es ein wenig unsicher, und ihre Unsicherheit wuchs, als sie die
Augen ihrer Lehrerin mit dem Ausdrucke des höchsten Erstaunens auf sich
gerichtet sah.
„So, so, also ein Kittel an den neveu! Und was willst du ihm mitteilen?"
Merge errötete bis zu den Schläfen, aber sie faßte sich ein Herz rend
sagte keck:
„Ich will ihm schreiben, er soll uns bald einmal wieder besuchen. Hier zu
Rottland ist es gar zu langweilig," setzte sie zur Entschuldigung hinzu.
Die Priorin war sprachlos. Es währte eine ganze Weile, bevor sie ihre
Fassung wiederfand. Dann aber bemerkte sie sehr diplomatisch:
,Ma clere, mit dem Buchstabenmalen allein ist es nicht getan. Man muß
auch lernen, wie man einen Brief in schicklichen Worten abfaßt. Und das ist das
schwierigste."
„Ich möchte schreiben, was mir gerade in den Sinn kommt. Er wird's schon
verstehen," erklärte die junge Frau.
,Mon allen, quelle Intuition etrangel" seufzte Schwester Felicitas, entsetzt
über die Zähigkeit, mit der Merge bei ihrem Plane beharrte. Und als der Bruder
am Mittag aus dem Walde heimkehrte, nahm sie ihn beiseite und machte ihm unter
Preisgebung des mit ihrer Schülerin verabredeten Geheimnisses Mitteilung von
der Absicht seiner Frau, mit den: Neffen brieflich in Verbindung zu treten.
Ganz wider ihre Erwartung hörte Herr Salentin ihren Bericht sehr gelassen an.
„Sie hat recht, wir müssen den v. Pallandt einmal invitieren," sagte er,
nachdem sie geendet hatte. „Ich begreife gar nicht, warum er nicht schon
längst einmal gekommen ist. Er hat sich bei meiner Hochzeit so brav be¬
nommen, und hat sich außerdem mit der ganzen akiaire, ich meine mit der
marine, so convenablement abgefunden, daß ich ihn wirklich estimieren nutz und
mich aufrichtig freuen würde, ihn öfter bei uns zu sehen. Und der Merge ist er
vom ersten Tage an mit großem respect begegnet und hat sie die Standes - cMerence
auch nicht im Geringsten fühlen lassen. Das vergeß' ich ihm mein Lebtag nicht.
Daß er ein bischen commerce mit ihr hat, kann gar nicht schaden, denn erstens
hat sie dadurch ein wenig Diversion, und zweitens hat er eine excellente taevn,
ihr gute Manieren beizubringen, und das hat sie noch sehr nötig. Du würdest
mich also obligieren, ensre soeur, wenn du dem v. Pallandt ein paar aimable
Zeilen schreiben und ihn in meinem Namen bitten wolltest, uns am nächsten
Sonntag durch seine visite zu erfreuen."
Die Priorin war wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte von der Klugheit
der Männer nie eine besonders hohe Meinung gehabt, daß aber ihr eigener Bruder
so unsagbar verblendet hätte sein können, daS wäre ihr niemals in den Sinn
gekommen. Nun — sie hatte ihre Schuldigkeit getan; wenn er durchaus in sein
Verderben rennen wollte, so war das. seine Sache. Mehr als ihn warnen konnte
sie nicht.
Sie sollte den jungen Pallandt einladen! Sie sollte mit eigener Hand dem
Verhängnis noch Vorschub leisten, das sie unaufhaltsam herannahen sah! Nicht,
daß sie etwas gegen Mathias auf dem Herzen gehabt hätte! Im Gegenteil: sie
schätzte ihn, seit die Verbindung zwischen Haus Rottland und Wachendorf wieder
hergestellt worden war, nicht weniger als ihr Bruder. Er mochte seine Fehler
haben, gewiß! Aber diese Fehler waren die Fehler der Jugend, über die man
mit liebevoller Nachsicht leicht hinwegkommen konnte. Sein Herz jedoch war gut,
das stand für sie fest, denn ein junger Mensch, der sich jahrelang nach holländischen
Moppen gesehnt hatte, mußte sich das Gemüt eines Kindes bewahrt haben.
Dennoch, das wußte sie nur zu genau, waren ihre Bedenken gegen seinen
Verkehr mit Merge durchaus berechtigt. Die Jugend fühlt sich eben zur Jugend
hingezogen, und daß sich dieses Elementargesetz der Natur zu allen Zeiten stärker
erwiesen Hut als alle Gebote der Sitte, war der alten Dame trotz ihrer klöster¬
lichen Vergangenheit nur zu bekannt. Sie suchte in ihren Nöten Beistand bei der
Schwester und hatte die Genugtuung, daß die Gubernatorin ihre Besorgnis teilte.
„Ich habe es schon lange kommen sehen," sagte Frau v. Ödinghoven, „aber
Salentin ist so incurablement verliebt in sie, daß sie ihn um den Finger wickeln
kann. Das weiß sie nur zu gut. und daher stammt auch ihre obstination gegen
uns. Aber was können wir tun? Es ist unser Unglück, daß wir auf seine Korne
nurneur angewiesen sind. Wir müssen uns fügen, aber wir wollen die Augen auf¬
halten, denn zu einem eolat darf es nie und nimmer kommen."
So mußte sich Schwester Felicitas also wohl oder übel hinsetzen und die
Einladung an Herrn v. Pallandt schreiben.
Er kam und wurde von dem Friemersheimschen Paare mit wahrer Herzlichkeit
empfangen. Die beiden alten Damen zeigten sich zunächst ein wenig zurückhaltend,
das Eis, womit sie ihren Busen umpanzert hatten, schmolz jedoch vor der Sonne
seiner Liebenswürdigkeit bald dahin. Sie bemerkten mit innigem Vergnügen, daß
er die junge Frau mehr wie ein Kind behandelte und ihre Versuche, ihn für sich
in Anspruch zu nehmen, jedesmal mit einem Scherz vereitelte. Mit dem Oheim
sprach er sehr gesetzt und verständig über die neue Türkensteuer und über die
Überrumpelung Straßburgs durch den König von Frankreich, gegen den er einen
gewaltigen Haß zu hegen schien. Immer aber wußte er die beiden Damen ins
Gespräch zu ziehen und dieses auf Gebiete hinüberzuspielen, für die er Interesse
bei ihnen voraussetzen durfte. Er kannte auf das Genaueste die Familienverhältnisse
der beiden Fräulein, die am Sankt Katharinentage zu Marienstern Profeß getan
hatten, und wußte alle Einzelheiten von der Hochzeit im Hause Metternich-Bourscheid
zu berichten. Und als er am späten Abend wieder heimritt, waren sich die Schwestern
darüber einig, daß ihre Befürchtungen ganz unbegründet gewesen waren, und daß
die Schwägerin in der Tat viel, sehr viel von dem Wachendorfer Neffen lernen
könne.
Sie ließen sich nicht einmal durch das Schneetreiben der dunkeln Winter¬
nacht abhalten, den charmanter Kavalier beim Abschied bis in den Hof zu geleiten,
und vereinigten ihre Bitten, daß er seinen Besuch recht bald wiederholen möchte,
mit denen Salentins und Mergens. Er gab die Zusage, zu kommen, so oft es
ihm möglich sein würde, und hielt sein Wort. Selten verging eine Woche, wo
er nicht in Haus Rottland vorsprach. Blieb er einmal länger als gewöhnlich aus,
so fühlten sich die Verwandten beunruhigt, wenn auch keiner mit den anderen
darüber sprach. Aber jeder machte sich seine besonderen Gedanken über die Ver-
anlassung seines Fernbleibens: der Oheim vermutete, er könne vielleicht Kriegs¬
dienste gegen die Franzosen oder die Türken genommen haben, die junge Tante
argwöhnte eine Liebschaft, die Priorin fürchtete, er möchte erkrankt sein oder einen
Unfall mit dem Pferde erlitten haben, und die Gubernatorin erging sich in Mut¬
maßungen, ob man den jungen Herrn, der eine so gute Figur machte und der
sich so gewandt und sicher zu benehmen verstand, etwa an den Hof des durch¬
lauchtigsten Regenten gezogen habe.
Niemand wartete sehnlicher auf ihn als Merge. Ihr scharfes Ohr erkannte
den Hufschlag seines Rotschimmels auf der hartgefrorenen Straße lange, bevor
der Reiter sichtbar wurde. Wenn sie dann sagte: „Nun kommt Herr Mathias,"
bemächtigte sich der anderen eine freudige Bewegung, obgleich jeder sich den Anschein
zu geben suchte, als zweifle er an der Fähigkeit der jungen Frau, die Ankunft
des Neffens so bestimmt vorauszusagen.
Eines Tages kam das Gespräch aus die Musik, und Herr v. Patiente fragte
Merge, ob sie nicht zu singen verstehe. Als sie zögernd zugab, daß sie vor ihrer
Verheiratung hin und wieder bei der Arbeit ein Liedchen gesungen habe, bestand
er darauf, eine Probe ihrer Kunst zu hören. Sie weigerte sich anfangs; ihr Gatte
gebot ihr jedoch, sich nicht zu zieren und dem Neffen den Gefallen zu tun. Da
stimmte sie eine einfache Weise an, wie sie die Holzheimer Mädchen beim Spinnen
zu singen pflegten. Mathias lobte ihre Stimme, der man freilich den Mangel
jeder Schulung anmerke, und erbot sich, ihr Gesangunterricht zu erteilen. Er sei
zwar selbst gerade kein Meister in dieser Kunst, habe aber, da er beim Leibregiment
zu Düsseldorf gestanden, bei dem Tambour seiner Kompagnie, einem Italiener,
der ehedem Virtuose bei der Opera zu Venedig gewesen, Lektionen genommen.
Merge ging auf das Anerbieten des Neffen mit großer Bereitwilligkeit ein,
und ihre Freude kannte keine Grenzen, als die Gubernatorin bemerkte, daß auf
dem Boden eine Laute liege, auf der sie früher selber ein wenig geklimpert habe,
und daß sie dieses Instrument der Schwägerin gerne zur Verfügung stelle.
Die beiden jungen Leute eilten die Treppe hinauf und machten sich auf die
Suche. Sie warfen das Gerümpel durcheinander, kramten in Kisten und Kasten,
lachten über den Hausrat der Vergangenheit und fanden auch eine Schachtel mit
Saiten, die Laute selbst wollte sich jedoch nirgends entdecken lassen. Man gab
die Hoffnung auf, und Merge schickte sich an, eine Kiste, die man aus einem
Winkel unter dem Dache hervorgezogen hatte, wieder an ihren Platz zu rücken.
Als sie sich nach Mathias umwandte, stand dieser in einem seltsamen Aufzuge
hinter ihr: er hatte sich einen alten Stechhelm über den Kopf gestülpt und versuchte,
sie durch kriegerische Gebärden zu erschrecken. Sie ließ sich jedoch nicht ins Bockshorn
jagen, sondern ergriff ein Mangelholz und schlug damit so wacker auf seine
eiserne Kopfbedeckung los, daß ihm die Ohren dröhnten. Er wollte sie entwaffnen,
aber sie war schneller als er, entwischte ihm und fiel ihm in den Rücken. Der
schmale Augenspalt des Helmes verhinderte ihn, ihre Bewegungen zu verfolgen,
sie huschte, wenn er sie greifen wollte, an ihm vorbei, duckte sich in einen Winkel
und bombardierte ihn aus dem Hinterhalt mit dem Plunder, der gerade in den
Bereich ihrer Hände geriet. Endlich glaubte er, sie in die Enge getrieben zu
haben, und stürmte mit ausgebreiteten Annen auf sie ein, da stieß er mit dem
Helme an einen Gegenstand, der bei der unsanften Berührung einen langgezogenen
wimmernden Laut von sich gab. Es war die Laute, die gänzlich verstaubt und
verstimmt an einem Balken über ihren Köpfen hing.
„Man sieht doch, wozu Kindereien gut sind," sagte er, indem er sich des
schweren Helmes entledigte, „ohne unsre Narrenspossen hätten wir das Ding da
nun und nimmer gefunden. Nun aber lassen Sie uns Frieden schließen, cdörs
tante."
Er hatte sie in die Ecke zwischen dem steil abfallenden Dache und einem
Bretterverschläge gedrängt und versperrte ihr mit seiner mächtigen Gestalt den Weg.
„Ja, wir wollen Frieden schließen," erwiderte sie ein wenig befangen.
Er faßte ihre Hände, machte aber keine Miene, sie freizugeben.
„Nun ist's genug, laßt mich gedul" bat sie mit gepreßter Stimme.
„Nein, soweit sind wir noch nicht," flüsterte er, „Sie haben den ersten
Schlag getan, daraus folget, daß Sie das Gewelle zahlen müssen."
„Was soll ich Euch geben?" fragte sie betroffen.
„Einen Kuß."
Sie lachte laut auf.
„Ihr seid von Sinnen, Herr! Wie käm' ich dazu, Euch einen Kuß zu geben?"
Sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, er hielt sie jedoch mit eisernem
Griffe fest.
„Hat man je so etwas erlebt!" rief er mit komischer Entrüstung, „eine
tante, die ihren neveu nicht küssen Willi"
Sie mußte Wider Willen lachen.
„Ja, wenn Ihr ein artig Büblein wäret, dann tat' ich's," erwiderte sie.
„So aber seid Ihr mir schon zu groß dazu."
Er ließ ihre Hände los, bückte sich, hob sie empor und stellte sie auf eine Kiste.
„Sehen Sie, maäame," rief er triumphierend, „jetzt haben Sie, was Sie
wollen: der neveu reicht Ihnen gerade bis an den Gürtel!"
„Um Gotteswillen, nicht so laut!" stammelte sie, „die Alten haben noch
scharfe Ohren."
Jetzt wußte er, daß er gewonnenes Spiel hatte.
„Bekomme ich nun bald meinen Kuß?" fragte er herrisch.
Sie schaute ihn prüfend an. Und da sie die Entdeckung machte, daß sein
Antlitz wirklich das eines großen wilden Jungen war, strich sie ihm das Haar
zurück und berührte mit ihren Lippen ganz leicht seine Stirn. Da glitten seine
Hände an ihr empor, legten sich wuchtig auf ihre Schultern und drückten sie
nieder, daß ihr die Knie einknickten. Sie gab sich Mühe, ihm Widerstand zu
leisten, aber es war umsonst: sie fühlte plötzlich, daß sie doch nur ein schwaches
Weib sei, demi das Schicksal bestimmt hat, schweigend zu dulden. Und so duldete
sie denn, daß er seinen Mund zu einem langen Kusse auf den ihren preßte.
Endlich gelang es ihr, sich aus seinen Armen loszumachen. Sie sprang von
der Kiste herab und eilte nach der Treppe hin. Dort blieb sie stehen und sah
sich nach ihm um.
Er nahm gelassen, als sei nichts geschehen, die Laute von dem Balken,
stäubte sie ab und begann, während er an Mergens Seite die Treppe hinunter-
ging, die Wirbel anzudrehen.
Das Antlitz der jungen Frau glühte, als sie mit Mathias wieder in das
Wohngemach trat. Es war ihr peinlich, daß die Augen der Schwägerinnen mit
einem so seltsamen Ausdruck auf ihr ruhten,
„Du siehst ja entsetzlich echauffiert aus, ma euere," wandte sich die Guber-
natorin an die junge Frau, die vor Verlegenheit beinahe umkam.
„Sie hätten aber auch scheu müssen, wie maä-uns ma tante gearbeitet hat,"
antwortete statt ihrer der Neffe, „Kisten und Kasten haben wir ausgeräumt, und
wo glauben Sie, daß wir das Ding schließlich gefunden haben? Es hing zu
unsern Häupten, gleichsam als hätte es Sankt Caecilia selbst vom Himmel
herabgelassen."
Die alte Dame schien sich bei diesem Bescheid zu beruhigen, und Schwester
Felicitas fand die kühne Wendung sogar ungemein poetisch.
An diesem Tage wurde mit dem Unterricht noch nicht begonnen, denn das
Instrument mußte erst neu bezogen und gestimmt werden. Und dazu brauchte
Herr v. Pallandt viel Zeit.
Als er das nächste Mal wiederkam, brachte er ein Buch mit, Herbstens
Nusioa praLtlLa, die er seinen Lektionen zu Grunde legte. Merge, die darauf
gerechnet hatte, gleich ein schönes Lied einstudiert zu bekommen, und die sich nun
dazu verurteilt sah, "stundenlang Ansatz- und Treffübungen zu machen und sich
mit der messa al voce abzuquälen, war von seiner Methode nicht gerade entzückt,
kam jedoch den Anweisungen ihres Lehrmeisters mit einem Eifer nach, der diesen
selbst in Erstaunen setzte.
Die alten Herrschaften hatten dem Unterricht anfangs mit Interesse bei¬
gewohnt, hielten es aber bald für geratener, sich für die Dauer der Lektionen in
die Naturalienkammer zurückzuziehen und die jungen Leute allein zu lassen. Der
Freiherr fand hier bei seinen Schätzen natürlich die angenehmste Zerstreuung, die
Schwestern jedoch, die sich in dem Raume nie recht zuhause fühlten, saßen
mit einem gewissen Unbehagen über ihrer Handarbeit, lauschten wachsam auf die
gedämpften Töne, die aus dem Untergeschoß zu ihnen heraufdrangen, und wunderten
sich über die immer länger werdenden Pausen zwischen den einzelnen Übungen.
„Salentin, unten ist wieder alles traue>uille," sagte bei einer solchen
Gelegenheit Frau von Ödinghoven zu ihrem Bruder. „Machst du dir denn gar
keine Sorgen?"
„Weshalb?" fragte er erstaunt.
„Nun — man sollte die jungen Leute doch nicht allein lassen. Ich will ja
nichts gegen Merge und thu v. Pallandt sagen, aber sie sind eben beide jung,
und in der nuisiqus steckt ohnehin un psu as maczuerellaZö."
„Nennst du das wirklich ausi^no, was die da unten machen?" fragte der
Freiherr heiter. „Ich habe bisher immer nur ein wenig Dudelei gehört. Und die
kommt mir gar nicht söäuisantö vor. Aber wenn du Angst hast, wir könnten
eine betiZS erleben, so Will ich dir nicht verwehren, dich als sentinsUs dazu-
zustellen."
Dazu sollte es jedoch zunächst nicht kommen, denn bei der jungen Frau
machten sich einige Tage später allerlei Unpäßlichkeiten bemerkbar, die sie, die bis
dahin immer kerngesund gewesen war, für die Anzeichen einer schweren Krankheit
hielt. Mangel an Appetit wechselte bei ihr mit einem wahren Heißhunger,
Gerichte, die sie sonst immer gern gegessen hatte, flößten ihr Widerwillen ein, sie
klagte über Hauptweh, Schwindel und Mattigkeit, und ihre frischen Farben
wichen einer Blässe, die ihr Aussehen völlig veränderte. Sie verlor ihre Heiter¬
keit, wurde reizbar und weigerte sich, den Neffen, als dieser zur gewohnten
Stunde erschien, zu sehen.
Frau v. Ödinghoven, die ihn empfing und ihm über Mergens Zustand einige
Aufklärung gab, deutete an, daß sie es für ratsam halte, die Lektionen auf einige Zeit
zu unterbrechen, da ihre Schwägerin zunächst der Ruhe und Schonung bedürfe.
Fühle sie sich erst wieder wohler, so könne der Unterricht, der ja auf ihr Gemüt
vom günstigsten Einfluß sein müsse, getrost wieder aufgenommen werden.
Mit dieser Anordnung war Merge keineswegs einverstanden. Sie schien
ganz vergessen zu haben, daß sie selbst gewünscht hatte, mit dem Besuch verschont
zu werden, und erging sich in bitteren Anklagen gegen die alten Domen, die Tag
und Nacht darüber nachsännen, wie sie sie um jedes unschuldige Vergnügen bringen
könnten. Zu ihrer Verwunderung blieben die Schwägerinnen jedoch bei solchen
Beschuldigungen heiter und freundlich, bemühten sich, sie zu trösten, und gingen
auf ihre oft recht sonderbaren Wünsche und Fragen mit einer wahren Engels¬
geduld ein.
Ihr Gatte, der sich sonst eigentlich nie viel um sie gekümmert hatte, betrachtete
sie jetzt häusig mit Blicken, in denen zarte Teilnahme und innige Freude lag,
erkundigte sich liebevoll nach ihrem Ergehen und suchte sie durch kleine Auf¬
merksamkeiten zu überraschen. Das mochte dazu beitragen, daß sie sich langsam
wiederfand, ihren Zustand mit mehr Gelassenheit ansah und für die Aufgaben,
vor die sie sich jetzt gestellt sah, allmählich immer mehr Verständnis gewann.
Nur eins empfand sie als einen überlästigen Zwang: die fortwährende
Beaufsichtigung durch die beiden alten Damen. Wenn sie einmal eine rasche
Bewegung machte, wenn sie sich nach einem Garnknäuel bückte, wenn sie die
Treppe hinausstürmen wollte, wenn sie einen Krug vom Wandsims herabzulangen
versuchte, wenn sie sich anschickte, ohne eine warme Jacke über den Hof zu gehen:
immer mußte sie sanfte aber! eindringliche Worte der Ermahnung hören und, was
das Schlimmste war, auch befolgen I
So kam der Sommer ins Land, und mit den Saaten, die sich schon gelb
zu färben begannen, reiften auch die frohen Hoffnungen der Bewohner von Haus
Rottland ihrer Erfüllung entgegen.
Es war an einem Juliabend, als der Freiherr am Fenster seiner Naturalien¬
kammer stand und gedankenvoll in den Garten hinunterschaute, in dessen mit
Unkraut überwucherten Wegen Merge gerade auf- und niederwandelte.
Die Gubernatorin, die draußen auf dem Vorsaal Wäsche eingeräumt hatte,
gesellte sich zu ihm.
„Es wird doch wohl nicht zu lmmicZe im Garten sein?" sagte sie mit einem
besorgten Blick auf die junge Schwägerin. „Und dann fürchte ich immer, sie
ißt zuviel von den Stachelbeeren. Siehst du, Salentin, da steht sie schon wieder
bei den Büschen! DasIann doch nicht saluwire für sie sein."
Der Bruder antwortete nur mit einem tiefen Seufzer. Er hatte den Arm
aus den Fensterwirbel gelegt und stützte die Stirn in die Hand.
Frau von Ödinghoven betrachtete ihn prüfend von der Seite. Sie fand,
daß er in der letzten Zeit stark gealtert hatte.
„Fühlst du dich nicht wohl, euer fröre?" fragte sie teilnehmend. „Du kommst
mir jetzt immer so affligiert vor."
„Ich bin nicht malscte. Netto," entgegnete er mit einem schwachen Versuche,
zu lächeln, „aber du wirst dir doch denken können, daß ich mir Sorgen mache."
„Aber Salentin! Deine öpouse ist jung und robuste, wie kannst du dir da
Sorgen machen I In ihren Jahren und bei ihrer constitution ist es eine baZatelle.
Und an prevo parce lassen wir es doch auch nicht fehlen."
„Nein, nein, das ist es nicht," sagte er hastig. „Ich denke nur an das Kind.
Wenn die alte Familienmisere wiederkäme! Du weißt doch: unsere beiden vneles
waren taubstumm."
„Schwester Felicitas und ich haben auch schon daran gedacht," gestand die
Gubernatorin kleinlaut. „Aber muß es denn wiederkommen? Du bist gesund, und
die Merge ist gesünder als alle, die je in unsre Familie hineingeheiratet haben.
Und die Schwester und ich sind doch auch nicht taubstumm."
Der alte Herr mußte trotz der Sorge, die ihn bedrückte, lachen.
„Weiß Gott, das stimmt!" sagte er. „Ihr beide seit alles andre als taub¬
stumm. Uns drei hat es verschont, aber das Geschlecht, das nach uns kommt, ist
wieder an der Reihe."
„Wir können nichts tun als hoffen und beten," bemerkte die Schwester leise.
Dann aber drängte sie den Bruder energisch von seinem Platze weg, riß das
Fenster auf und rief:
„Liebe Merge, wenn du deinem Mann eine recht große complaisance
erweisen willst, dann sei raisonnable und iß keine Stachelbeeren mehr!"
(Fortsetzung folgt)
!le ein Blitz in plötzlichem Aufleuchten eine Gegend, die im
Dunkel lag, erhellt und entschleiert, so kann ein Wort ein ganzes
Gebiet unseres Erkennens aufklären. Ein menschliches Erlebnis,
sagte einer der besten Dozenten für Kunstgeschichte, sührt uns oft
tiefer in alles Kunsterkennen als jahrelanges Bemühen und
Forschen. Dieses Wort, das mich sogleich tief ergriff, belegte er durch das
Beispiel, daß vielen die Schönheit eines Platzes, wie des vor S. Annunziata in
Florenz, nicht eher klar aufgeht, bis irgend ein Erleben sie aus dem Gleis all¬
täglichen Fühlens wirft. Dann scheinen wie durch ein Wunder die Augen auf¬
getan, und mit dem Gefühl der Lust über das Schöne verbindet sich die Einsicht
in die Anregung zu dieser Empfindung, die in den Verhältnissen der Gebäude,
in der Geschlossenheit des Platzbildes ihren Ursprung hat. Seitdem habe ich
erkannt, daß die Vorbedingung, die Voraussetzung jeden Kunstempfindens das
Erlebnis sei. Um so mehr mußte ich mich als Kunstfreund darüber ereifern, als
man in der Erkenntnis, daß die Kunst bei der Ausbildung der Jugend nicht ver¬
nachlässigt werden dürfe, um dies Versäumnis mehrerer Jahrhunderte wettzu¬
machen, den Unterricht der Kunstgeschichte in unsere Schulen einführte. Nur
wenige leitet eine Wissenschaft (das ist Kunstgeschichte) zur Kunst selbst, die ein
eigenes Gebiet unserer Auseinandersetzung mit dem Unendlichen bedeutet. Und
außerdem ist Kunstgeschichte, wie sie zumeist getrieben wird, eine Geschichte des
Lebensganges des Künstlers und der Stile, die einer willkürlichen Trennung der
ununterbrochenen Kette künstlerischen Formens ihre Namen danken. Wenn man
durchaus eine Wissenschaft in den Schulen zu dem Zwecke der Einführung in die
Kunst wollte, dann eine Kunstgeschichte ohne Namen, eine Geschichte der Kunst¬
werke selbst. Nur auf diesem Wege kann die Aufmerksamkeit auf das Kunstgebilde
konzentriert werden, das hinter den Ereignissen des Lebens seines Schöpfers all¬
zuleicht zurücktritt. Das Menschliche fesselt, da wir entdecken, wie im Allzumensch¬
lichen die Großen unserer Art sind. Aber auch der Unterricht in der Geschichte
der Kunstwerke birgt Nachteile. Die Geschichte der Kunstwerke ist keine Darstellung
eines stetig aufwärtsführenden Entwicklungsganges. Der Weg geht über Abgründe
und Höhen in wechselvollem Lauf, und ehe noch die Freude am Entdecken der
Schönheit eines Kunstwerkes geboren wurde, ist die Kritik erwacht. Man findet
Mängel leichter als Vorzüge. Schließlich, wer sich aus seiner Schulzeit der
Lektüre Schillerscher und Goethescher Dramen entsinne, wer zagend in späteren
Jahren wieder zum Tell greift, um jetzt erst seinen Wert zu entdecken, der wird
ein Gegner davon sein, ein neues Kunstgebiet in die Schule einzuführen. Es
wird mehr verdorben, als gewonnen. Auch der Gesangsunterricht (sollte er nicht
durch die neue Methode des Tomvortes umgeschaffen werden) gibt einen Beleg
dafür, die Einführung des Unterrichts der bildenden Kunst in den Schulen mit
Recht abzulehnen. Dennoch bleibt die Forderung bestehen, die bildende Kunst bei
der Erziehung nicht zu vernachlässigen. Sie können wir erfüllen, wenn wir uns
des Erlebnisses als Mittler zur Kunst bedienen. Nicht in einem Unterricht bei
gefalteten Händen in enger Schulbank, beim Spiel muß das Kind der Kunst,
der Tochter des Spieltriebes, zugeführt werden. Aus Frenssens Roman „Jörn
Abt" bleibt mir die Stelle unvergeßlich, wo die Heldin am Goldsoot den Körper
des badenden Jünglings betrachtet, und ihr zum ersten Mal die Schönheit des
menschlichen Leibes aufgeht. Die Augen, die fo mit Ergriffenheit das Wunder¬
werk der Natur erfaßt haben, sind reif, die Kunst Polyklets zu verstehen. Liegt
hierin nicht ein Wegweis für den Kunsterzieher? Beim Turnen, beim Schwimmen
sollte der Lehrer ganz unauffällig, wenn sich die Gelegenheit bietet, am Körper
eines Einzelnen oder beim Reigen vieler auf die Schönheit von Bewegungen und
Verhältnissen die Aufmerksamkeit lenken. Alle Bildhauerkunst beruht auf dem
nackten menschlichen Körper. Tausende wollen diese Kunst genießen, ohne je mit
Bewußtsein oder ohne sexuelle Empfindung einen nackten Körper gesehen zu haben.
Die Kinder können wir ohne Gefahr, sie erotisch zu beeinflussen, beimBaden am eigenen
Spiegelbild im Wasser, an anderen zum verständnisvollen Betrachten des Körpers
bringen, wodurch, und das ist eine achtenswerte Beigabe, der Wunsch zur Ausbildung
des eigenen Körpers zu schönem Gleichmaß der Glieder geweckt wird. Bei einem
Schulspaziergang tat ein Bach zum Baden ein. Einige Knaben sitzen noch am
Ufer in der Sonne, andere tummeln sich schon im Wasser in ungezwungenen
Bewegungen frei von drückender Bekleidung. Ein Knabe, besonders gewandt, ist
beim Spiel den andern entwischt, steht still mitten im Wasser, und ein Sonnen¬
strahl, das Dach des Laubes durchbrechend, spielt über seine Brust, die sich nach
der Anstrengung des Laufes senkt und hebt. Der Lehrer bittet ihn, die Stellung
beizubehalten, und ohne durch Lob über seine Körperformen Stolz oder Eitelkeit
zu wecken, zeigt er den andern das Spiel des Lichtes auf der Brust des Knaben.
Sollte es dann nicht manchem ergehen, wie dem Mädchen am Goldsoot? An
diesem Tage wird nicht weiter darauf eingegangen, Fragen darüber unauffällig
zurückgewiesen, wie man ja Kinder durch ein neues Ziel für ihre Aufmerksamkeit
leicht ablenken kann. Nach einiger Zeit führt man sie in ein Museum vor die
Figur des Jdolino oder des betenden Knaben, bespricht die Art der Behandlung
im Material, und bald werden Fragen aus dem Kreise der Knaben selbst die
Erinnerung an die Begebenheit beim Baden wachrufen. Wenn es dann dem
Lehrer glückt, unter Benutzung dieses Eindrucks, das Kunstwerk gleichsam mit
Worten liebevoll abtastend in die Art künstlerischen Formens d. h. Übertragens
des Natureindrucks in die Sprache des Materials einzuführen, dann haben diese
zwei Tage, wenn nicht allen, so doch einigen, für die Kunst mehr gegeben, als
jahrelanger Unterricht in Kunstgeschichte. In ähnlicher Weise führt der Lehrer die
Schüler in das Erleben einer Landschaft ein. Das eigentliche Landschaftsbild ist
in den Niederlanden entstanden. Da daS Porträt zum Schmuck der Bürgerwohnung
und das Heiligenbild nicht mehr ausreichten, und man eine Parallele zum Historien-
bild schaffen wollte, das neben dem Fürstenbild die Säle der Schlösser schmückte,
das die Ereignisse, d. h. Erlebnisse der Staaten festhielt für die Erinnerung, erfand
man das Landschaftsbild. Äußere Erlebnisse von Bedeutung, außer Geburt, Ehe
und Tod, die allen gemeinsam sind, kennt das Bürgerleben kaum. Inneres Er¬
leben bildet das Eigenste eines Jeden. Dieses knüpft meist an äußere Eindrücke
an, daher beginnt das Erleben einer Landschaft künstlerischen Ausdruck zu suchen.
Wir lieben die Landschaftsbilder, die Erinnerungen an empfundene Stimmungen
wecken. Diese Erkenntnis muß der Lehrer benutzen. Wieder wird ein Spaziergang
(wie wichtig ist er als Erziehungsmittel, da er den Lehrer in zwanglosem Verkehr seinen
Schülern menschlich nahe bringt) zum Vorwand genommen. Ein Laubwald nimmt
bald in seinen Schatten die Schülerschar und ihren Leiter auf. Man wandert,
bis man sich müde in einer Lichtung niedersetzt. Allmählich beim wohligen Genuß
des Waldesfriedens, nach rüstigem Wandern, verstummt das frohe Geplauder in
stiller Betrachtung. Plötzlich weist der Lehrer, den Finger zum Zeichen des
Schweigens auf den Mund gelegt, nach einer Stelle hin, wo aus den dicht¬
gedrängten Buchenstämmen mit leichten Schritten, nach der Lichtung äugend, ein
Hirsch hervorlugt. Nur ein Augenblick, dann flieht der König des Waldes in
schnellen Sprüngen. Wenige Tage darauf stehen die Kinder unter Führung des
Lehrers vor Böcklins „Schweigen im Wald".
Am schwierigsten ist es, Kinder, überhaupt der Kunst Fernerstehende, empfäng¬
lich für die Werte der Architektur zu machen. Obwohl die Baukunst die Mutter
der bildenden Künste genannt wird, obwohl keine andere Kunst zur Zeit in
Deutschland soviel Eigenart und innere Bedeutung besitzt, dem Laien ist sie die
fremdeste. Er empfindet nicht, wie erst der Zusammenklang von Innenraum und
Fassade das Nutzgebäude zum Kunstwerk erhebt. Die Seele eines Kunstwerks ist
seine Zweckbestimmung, sein Antlitz die Fassade, die damit, wie unser Gesicht, Ausdruck
der inneren Bestimmung sein muß. Raumgefühle und Freude an schönen Verhältnissen
verleiht bei Architektur den Genuß. Diese Verhältnisse aber stehen in allem inBeziehung
zum Menschen, gewinnen erst,,durch ihn, im Zusammenhang mit ihm, die Bedeutung. In
dieser Kunst, wie in keiner anderen, ist der Mensch das Maß der Dinge, was um
so interessanter wirkt, da die Formen der Bauwerke freie Schöpfungen sind, nichts
vom Äußeren eines Naturvorbildes zeigen. Mit einfachen architektonischen Gebilden
muß der Lehrer beginnen. Die Einfassung einer Quelle, nachdem man vorher
mühsam sich bückend aus dem Waldbach getrunken hat, bietet Anlaß. Man stellt
die ordnende Menschenhand im Gegensatz zur Natnrschöpfung und zeigt, wie doch
ihr Werk sich der Natur einfügt, die wir so erkennen, weil wir Menschen sind.
Dann wählt man, wenn recht viel Kinder mitwandern, den Besuch irgendeines
historischen, möglichst engen, niederen Gewölbes aus. Sollte es darin dunkel sein,
um so besser. Die Kinder werden ein wenig ängstlich, beengt und bedrückt. Im
Herausgehen gibt der Lehrer dieser Empfindung selbst Ausdruck. Der Besuch
eines hohen, sonnenhellen Raumes wird dieser Besichtigung angeschlossen, der
Unterschied der Gefühle in den beiden Räumen, gegen die niemand stumpf bleibt,
klargelegt. Sind dann die Schulgebäude selbst noch gut gebaut mit großer Aula
und Turnsaal, so kann man gelegentlich des Unterrichts auf die Verhältnisse von
Höhe, Breite und Länge hinweisen, die dnrch den aufrechten Gang des Menschen
und seine Fortbewegung in einer Richtung bestimmt sind. Ferner zeigt man in
geschickter Auswahl an kleinen Modellen und Photographien, daß die konkreten
Maße, nicht allein die Proportionen, in der Architektur ausschlaggebend für die
Wirkung sind.
Diese Andeutungen müssen genügen. Die Ausführung kann nur durch
jahrelange Übung bei rechter Auswahl der Lehrenden zum Erfolg führen. Worauf
es mir ankommt, das ist gegen die Einführung der Kunstgeschichte in unserer mit
Unterrichtsfächern übergenug belasteten Schule als neue Disziplin ein Wort zu
reden.") Dennoch verkenne ich die Gründe nicht, die zu diesem Vorschlag geführt
haben. Man wählte ein Wissenschaftsgebiet, das die Kunst zu ihrem Inhalt hat,
um Kunst den Kindern nahe zu bringen, da man sich bewußt war, nur eine
Wissenschaft läßt sich durch Begriffe der Erkenntnis der Einzelnen zuführen. Die
Kunst und das Geschmacksurteil sind dem Begriffe unzugänglich. Wohl dem Be¬
griffe sage ich, aber was der Begriff für die Erkenntnis, für die Wissenschaft
bedeutet, das ist der Wert des Erlebnisses für die Kunst. Zum Erlebnis, mag
es bald tiefer, bald schwächer die Seele rühren, ist jeder befähigt. Nutze und
pflegt man die innere Resonanz unserer Gefühle, predigt man nicht mehr, daß
es männlich und würdig sei, das Fühlen zu verbergen (denn auch Achill weint
im Schmerz), dann schaffen wir fruchtbaren Boden für das Erlebnis. Die Kunst,
das Kunstempfinden, an sich umkehrbar, weil sie dem Begriff nicht zugänglich,
können auf diesem Wege herangezogen werden zur Bildung des Menschengeschlechts,
damit das Wort von der Erziehung zum Guten, Wahren und Schönen nicht nur
ein totes Wort bleibe, sondern lebendig wirke.
Die spanische Literatur hat während der
letzten Jahrzehnte in Deutschland kein Glück
gehabt. Die wenigen Versuche, das sehr be¬
schränkte herkömmliche Repertoire klassischer
spanischer Schauspiele zu erweitern, scheiterten
am Unverständnis der Kritik und des Publi¬
kums (vgl. Reinhardts Versuch, den „Arzt
seiner Ehre" zum Erfolg zu führen), und die
moderne spanische Produktion, unter welchem
Ausdruck wir die des ganzen neunzehnten
Jahrhunderts mitverstehen dürfen, erwarb sich
noch weniger Anklang, Einzelne Schauspieler
fanden gelegentlich dankbare Rollen in spa¬
nischen Stücken Mainz in „Galeotto", Wiene
in „Wahnsinn oder Heiligkeit"), aber deren
Auftauchen ans dem Repertoire blieb an das
Auftreten jener Größen gebunden, und wohl¬
gemeinte andere Unternehmungen, die dem
deutschen Publikum .Kenntnis spanischer Büh¬
nenwerke zuführen sollten, wie ein Zyklus im
Berliner Neuen Theater im Winter 1906 er¬
litten Schiffbruch, In letzterem brachte es nur
PSrez Galdüs' „Der Großvater" dank Schild¬
krauts Kunst zu einem Erfolg, — Daß ein
spanischer Roman in Deutschland Eingang
findet, ist noch seltener, und man kann sagen,
daß nach wie vor nur der Don Quijote dem
deutschen Leser beweist, daß die Spanier auch
eine Romankunst haben. Daß der bedeutendste
spanische Romanschriftsteller des neunzehnten
Jahrhunderts in Wahrheit eine halbe Lands¬
männin von uns ist, blieb den meisten Deutschen
ebenso unbekannt wie die Schriften eben dieses
Fernau Caballero, des Pörez Galdüs und an¬
derer in ihrer Art sehr achtungswerter Talente,
Diese einleitende Klage über die Vernach¬
lässigung der neueren Produktion der iberischen
Halbinsel mag dazu beitragen, einem spa¬
nischen Roman Aufmerksamkeit zu erbitten,
der neuerdings in deutscher Übersetzung er¬
schienen ist: Es ist dies Blasco Jbanez' Stier¬
fechtererzählung „Lsngre ^ Imrsna" (Blut
und Sand), unter Vereinfachung des markt¬
schreierischen Titels in „Die Arena" in deutsch
übertragen.
Man braucht da nun keine nationale Kunst,
keine in spanischen Traditionen wurzelnde hei¬
mische Technik des Aufbaus und der Charak¬
terisierung zu erwarten: die spanische Literatur
hat seit dem siebzehnten Jahrhundert den mäch¬
tigen Einfluß der benachbarten französischen
bald mehr bald minder zu verspüren be¬
kommen, und so beschreitet auch der zeit¬
genössische Roman im ganzen die von den
großen Franzosen vorgeschrittenen Pfade der
Naturalisten, speziell Zolas, Blasco Jbanez
mit vielleicht am meisten Glück unter seinen
Landsleuten; damit ist von vornherein gesagt,
daß der deutsche Leser, sei der künstlerische
Wert des Romans welcher er wolle, hier sehr
viel Tatsächliches lernen kann, Blasco Jbanez
führt uns mitten in alle Eigenheiten seines
Volkes ein, indem er dessen leidenschaftlich
geliebte, ihm allein eigentümliche Sportübnng
und Vergnügungsweise, den Stierkampf, in
den Mittelpunkt des Romans stellt. Wie etwa
Zola die sämtlichen Spielarten und Möglich¬
keiten der Lourdespilgerschaft erschöpft, so gibt
Jbanez ein umfassendes Bild der Stellung¬
nahme sämtlicher spanischer Bevölkerungs¬
schichten zu dem Nationalschauspiel: Von dem
leidenschaftlichen vornehmen „Aficionado", der
selbst prachtvolle Kampfstiere züchtet und die
Matadore protegiert, bis zu dem stumpfsinnigen
Banderillero oder Picador, der der gefährlichen
Bestie mit demselben Gleichmut das rote Tuch
cntgegenschwingt, wie er in den Freistunden
in seiner Schenke den Gästen Wein verzapft;
von der vornehmen Dame, die ihre Nerven
durch das blutige Schauspiel aufpeitscht, bis zu
dein Banditen, der sich mit Lebensgefahr in
die Großstadt wagt, »in über einen neuen
Torero ein Gutachten abgeben zu können,
sehen wir die spanische Nation mit gleicher
Leidenschaft an dein Stierkamps hängen. Nur
ein Typus fehlt in der von dem Dichter vor¬
geführten Schar: der Gegner des StiergefechtS,
und der Wohl aus dem Grunde, weil die Be¬
strebungen eines solchen nach wie vor in
Spanien nicht aufkommen zu können scheinen.
Auch der Dichter ist weit entfernt, sich auf
dessen Standpunkt zu stellen; er verzichtet auf
jede abfällige Kritik und erteilt sogar Freunden
des Stierkampfs zu langen Apologien das
Wort. (Wie wahr ist dabei die Bemerkung,
daß, wenn etwa in England der Stierkamps
Nationalsport wäre, eine Reihe von Ländern
ihn nachäffen würden!) Man gewinnt den
Eindruck, daß ein Abstollungsversuch bei der
tiefen Eingewurzeltheit dieser Vorliebe ganz
fruchtlos wäre. Durch die in Jbcmez' Roman
aufgehäuften Schilderungen der oft grausigen,
immer aufregenden Stiergefechte wird sich der
in diesen Sport vernarrte Spanier ebenso¬
wenig von der Überzeugung abbringen lassen,
daß die Besichtigung einer „Corrida" eben doch
das interessanteste und kavaliersmäßigste Ver¬
gnügen ist, das man sich denken kann, wie der
auswärtige Leser zögern wird, dem Dichter
darin beizustimmen, daß die blut- und schau¬
gierige Menge die eigentliche „brüllende Bestie"
beim Stierkampf ist. — Von dem Torero¬
handwerk wird in diesem Roman der Nimbus
der Ritterlichkeit gründlichst hinweggefegt: der
„Espada" erscheint als roher Athlet, als Gla¬
diator und in vieler Hinsicht täppischer Poseur.
Wie handwerksmäßig, konkurrenzneidisch, gunst-
buhlcrisch verfahren diese Helden der Arena!
Einen von ihnen in seiner ganzen, oft be¬
dauernswerten Menschlichkeit darzustellen, ist
die künstlerische Aufgabe des Romans, die der
Dichter mit feinem Eindringen in die seelischen
Wallungen und Wandlungen dieser äußerlich
so glänzend gestellten Gladiatoren löst. — Der
Held der Erzählung ist einer jener in Spanien
nicht seltenen niedriggeborenen Gesellen, die
durch ihre Verwegenheit im Stierkampf von
früher Jugend an aufsehenerregende Erfolge
erringen und sich zu ersten Matadoren auf¬
chwingen. Die ergötzliche Schilderung der
Kindheitsstreiche des armen Teufels ist eine
Modernisierung der altberühmten spanischen
Picaro-(Schelmen-) Novellen; später gelangt
Juan Gallardo zu kolossalen Vermögen, von
dem er nicht den richtigen Gebrauch zu machen
weiß, wenn er auch von den gewöhnlichsten
Parvenuunarten freibleibt. Psychologisch an:
indringendsten weiß Jbcmez zu schildern, wo
s sich um die Darlegung der Furchtgefühle
dieses professionell furchtlosen Menschen han¬
delt: ein Gefühl des Unbehagens beschleicht
hn, so oft er zur Arena fährt und macht ihm
ein Handwerk gelegentlich peinvoll. An dieser
einer Angst geht er schließlich zugrunde: Er
hatbei einem Gefecht eine langsam vernarbende,
chwere Wunde empfangen; indes heilt diese
gut aus und alles kehrt ihm wieder, Kraft,
Gewandtheit, Schnelligkeit — alles bis auf die
Hauptsache, den Mut. Er beginnt nun ernst¬
ich, die Tiere zu fürchten, denen er gegenüber¬
estellt wird, er greift zu feigen, früher ver¬
achteten Kniffen, um sich ihrer zu entledigen,
r läßt sich von der Menge auspfeifen und
ritt doch immer wieder von neuem auf. Das
Bewußtsein seiner Mutlosigkeit und seines ge¬
unkenen Ansehens veranlaßt ihn schließlich zu
inem tollkühnen Manöver, das ihm den Tod
bringt: Tapferkeit läßt sich eben nicht er¬
wingen und geheuchelter Mut bringt nicht zu¬
wege, was dem wahren ein Kinderspiel ist. —
Das ist der psychologische Grundgedanke der
Jbanezschen Dichtung, die als Sitten- wie
als Seelengemälde gleiche Beachtung verdient
und dein Leser manche neue Seite des spa¬
nischen Volkslebens wie ganz im allgemeinen
der menschlichen Natur nahebringen wird.
In diesem Erstlingswerk, das im großen
Wurf und in der Poetischen Grundstimmung
in starkes Talent verrät, liegt viel von dem
igenen Erleben der Verfasserin, und damit
hängt, wie mir scheint, el,: kleiner Schönheits¬
ehler zusammen: Die Heldin Damajanti,
gewiß aus Teilmodellen entstanden, zeigt
inmal unverschweißte Nähte ihrer Entstehung.
Sind es Schlacken aus dein eigenen Wesen
der Verfasserin, oder ungünstige Momente der
Phantasie, oder vielleicht nur der sonst so
kunstvoll bewußten Wortgebung? Gleichviel!
Damajanti durfte an jener stark exponierten
Stelle auf dem Ball in Trinidad, wo ihr
Herz hoch erglühte, den Geliebten nicht so —
sagen wir's geradeheraus: backfischhaft kokett
abfertigen. Hier erscheint eine andere Dama¬
janti als das weiche kunstbeseelte Mädchen
(„Sie ist wie ein banges Vögelchen voll Sehn¬
sucht nach der Mutter"), mit dem wir es sonst
zum Glück zu tun haben. Das ist aber auch
alles, was wir an dem Roman etwa zu be¬
mängeln hätten.
Im übrigen bedeutet Annie Boysens Buch
einen wertvollen Beitrag zu den wirklich weib¬
lichen Frauenbeichten des neuen Jahrhunderts.
Die Tendenz — in welchem Erstlingswerk
eines deutschen Dichters steckt nicht die Tendenz
seiner Lebensperiode? — ist so tief in Poesie
getaucht und so menschlich einfach gelöst, daß
wir sie nicht als sozialverwendbare Tendenz
empfinden, sondern mit ihr immer nur auf
dein individuellen Interesse für die Gestalten
des Romans verharren, obwohl Damcijcmtis
Schicksal typische Bedeutung haben mag. —
Dcnnajanti, in Indien geboren, wie die Ver¬
fasserin, durch exotische Erinnerungen aus der
Sphäre ihrerAltersgenossinnen herausgehoben,
fühlt den Beruf zur Sängerin als einzigen
lebensstarken Trieb in sich. Schicksalsmächte,
die von weither ihre Lebensfaden spinnen,
führen ihr auf Trinidad den vorbestimmten
Geliebten zu. Halgrimur, zwar begeistert
von dem Gesang Damcijcmtis, verlangt, daß
die Geliebte die Künstlcrlaufbahn aufgebe.
Stolz Pralle auf Stolz. Jähe Trennung ist
die Folge. Aber das Mädchen lernt in schweren
Prüfungen Weib zu werden und die Kunst
rin in ihre Liebe zu nehmen. Kunst und
Leben stehen ihr nicht mehr getrennt gegen¬
über: „Ich bin so dankbar ein Mensch zu
sein," sagt sie nicht resignierend, sondern sieg¬
reich in endlichem Verständnis des tieferen
Sinnes ihrer Kunst.
Die farbensatten Schilderungen der in¬
dischen Natur, die humorvollen Beschreibungen
des trägen Lebens der Europäer auf Trinidad
zeigen eine packende Gestaltungskraft. Die
Verfasserin, die als Missionarstochter das
Zauberland des Ostens, Zentralamerika und
verschiedene Länder Europas kennen gelernt
hat und eine stattliche Anzahl fremder Sprachen
pricht, verfügt über einen Wort- und Begriffs¬
chatz, der namentlich in den Naturschilderungen
oft berauschend auf uns einströmt.
Daß die ältere Generation um derent¬
willen, die nach ihr kommt und der die Zu¬
unft gehört, die herbsten Opfer bringen kann
und muß, daß eine Mutter um ihrem über
alles geliebten Sohn die Zukunft zu ebnen
nicht nur Geld und Gut sondern die eigene
Persönlichkeit opfert und sich in ehrloser Leib¬
eigenschaft einem verhaßten Manne hingibt,
st ein ernstes und dankbares Romanproblem.
Thea von Harbvu versteht Wohl, es zu stellen, aber
nicht, es zu lösen: bei ihr bringt die Mutter
das Opfer, um dem Sohn das Studieren zu
rmöglichen, aber es ist umsonst, da dies Ziel
bald aus den Augen verloren wird; und eben¬
o unnötig ist die Seelenangst der Muttor,
hr Sohn könne eines Tages den Kaufpreis
rfahren, den sie gezahlt hat: denn als er
davon erfährt, gibt er sich trotz anfänglichen
Grimms bald zufrieden. Eine Menge Seiten¬
motive werden angeschlagen, um gleich wieder
u verklingen, die Verfasserin schaltet eine
Schülcrtragödie, einen Feldzug in Südwest
und andere Episoden ein, die für unbefrie¬
igende Behandlung des Hauptthemas keinen
Ersatz bieten. — Einer modernen realistischen
Schriftstellerin — um eine solche zu sein, ge¬
nügt es nicht, das Leben der Bauern ein
wenig zu beobachten und einige zeitgenössische
Probleme anzuschlagen — sollte es nicht
assieren, daß sie den Namen ihres Helden
alsch angibt: Hollander und Murten leben
n wilder Ehe, also kann ihr Sohn unmöglich
Mut Hollander heißen. —
Eine gewisse verhaltene Kraft und unge¬
ünstelte Schlichtheit zeichnet die gedrängte,
ber stimmungsreiche Darstellung der Vorge¬
chichte des eigentlichen Konflikts aus, so daß
man diese ersten hundert Seiten nicht ohne
Genuß liest. Aus ihnen darf man vielleicht
Hoffnung schöpfen, daß die Verfasserin in den
Büchern, die nach diesem kommen, die hier in die
Augen springenden Fehler vermeiden wird.
Die Kriegskonterbande-Erklärungen im
italienisch-türkischen Kriege. Obgleich auf
der Londoner Seekriegsrechtskonferenz 1909
ausdrücklich festgestellt worden ist, daß die in
der „Londoner Deklaration" enthaltenen Be¬
stimmungen über die Kriegskonterbande ohne
weiteres gelten und keiner besonderen Ver¬
öffentlichung in: Kriegsfalle bedürfen, haben
doch die beiden kriegführenden Parteien des
italienisch-türkischen Krieges wenige Tage nach
der Eröffnung derFeindseligkeiten Erklärungen
darüber abgegeben, welche Gegenstände von
ihnen als Kriegskonterbande behandelt werden.
Diese Liste wird eingeleitet durch eine Er¬
klärung der türkischen Regierung, in der sie
sich im allgemeinen ans den Standpunkt der
Londoner Deklaration 1909 stellt, obwohl die
Türkei nicht zu den unterzeichneten Mächten
gehört habe. Trotzdem weicht die Liste in
einigen Punkten von der Londoner Deklaration
ab. Zunächst sind relative und absolute Kriegs¬
konterbande ohne Unterschied in der Liste ver¬
einigt, so daß man annehmen muß, daß die
türkische Regierung die relative Konterbande
ebenso streng wie die absolute behandeln will;
ferner ist die Liste bedeutend erweitert und
endlich sind darin Stoffe aufgenommen wor¬
den, die nach Artikel 28 überhaupt nicht als
Kriegskonterbande erklärt werden dürfen, näm¬
lich Hanf, rohe Felle, Kalk und Harz. Die
sinngemäße Erweiterung der Kriegskonter¬
bandelisten ist nach der Londoner Erklärung
gestattet, wenn eine entsprechende Bekannt¬
machung erlassen wird. Die Aufnahme von
Gegenständen, die im Artikel 28 ausdrücklich
erwähnt sind, in die Konterbandeliste ist aber
ein Verstoß gegen die Londoner Deklaration,
der besonders ausfallend ist, weil die Türkei
sich in der Einleitung zu diesem Vertrage
bekennt und sogar hinzufügt, die Zahl der
Gegenstände sei im Interesse des allgemeinen
Handels möglichst beschränkt worden. Im
Gegensatz dazu spricht die sehr allgemein ge¬
haltene Erklärung der italienischen Regierung
überhaupt nur von der absoluten Konterbande
und enthält somit den Verzicht auf die re¬
lative Konterbande.
Die Verschiedenheit der Bekanntmachungen
erklärt sich aus der Lage der beiden krieg¬
führenden Parteien. Italien hat von der
Einführung relativer Konterbande, d. h. von
Gegenständen, die nicht lediglich zu Kriegs¬
zwecken dienen, nach Tripolis wenig zu be¬
fürchten; eS muß nur die Einfuhr von Waffen
verhüten und ist dazu dank seiner wirksamen
Blockade leicht imstande. Sein Hauptinteresse
aber ist es, den neutralen Handel möglichst
wenig zu belästigen und sich durch äußerst
humane Kriegführung die Sympathien der
europäischen Staaten wieder zu erwerben, die
es durch sein Vorgehen in Tripolis zum Teil
verloren hat. Deshalb verzichtet es freiwillig
auf Rechte, die ihm als zeichnende Macht der
„Londoner Erklärung" ohne weiteres zustehen.
Die Türkei dagegen, die in wirtschaftlicher Be¬
ziehung weit weniger abhängig vom italieni¬
schen Markt ist als umgekehrt — der italienische
Export nach der Türkei ist über doppelt so
groß als die Einfuhr von dort — ist in militä¬
rischer Beziehung durch das Fehlen einer starken
Seemacht zu einer passiven Rolle verurteilt. Sie
hat mit Italien keine gemeinsamen Grenzen,
um zu Lande kämpfen zu können, und kann
die mit unvergleichlicher Opferwilligkeit des
Volkes — gegen ganz andere Feinde — ge¬
schaffene junge Flotte nicht aufs Spiel setzen.
Es ist daher natürlich, daß sie wenigstens den
nicht unbedeutenden italienischen Handel mit
der Levante zu schädigen sucht, wenn sie es
auch vorläufig nur in den eigenen Häfen, im
Schwarzen Meere und in den türkischen
Meerengen vermag. Immerhin ist es der
Türkei auf diese Weise möglich, einen nicht
unerheblichen Druck auf den Gegner auszu¬
üben, da der italienische Außenhandel nach
der Türkei größer ist als selbst der russische
oder deutsche. Aus diesen Gesichtspunkten
heraus erklärt sich die über die Londoner
Deklaration hinausgehcndeKriegSkonterbande-
liste der türkischen Regierung. Gleich zu
Beginn des Krieges wurde die Frage des
Getreidetransportes aus den Häfen des
Schwarzen Meeres durch die Dardanellen
akut. Gegen das Verbot jeglicher Getreide¬
durchfuhr durch die Dardanellen, das die tür¬
kische Regierung Anfang Oktober erließ, legte
Nußland, dessen Schiffahrt hierdurch besonders
hart getroffen war, unter Bezugnahme auf
den Artikel 33 der Londoner Deklaration
sofort energisch Protest ein, da in den russi-
scheu Hafenplätze» Batna, Noworossisk, Niko-
lajew und Odessa für Hunderte von Millionen
Mark Getreide aufgespeichert und zum Teil
in Dampfer verladen waren. Es handelt sich
hier um rund 300 Dampfer mit je 5000 t
Ladefähigkeit. Die türkische Regierung hat
denn auch dem russischen Drängen nachgegeben
und ihren zunächst eingenommenen Stand¬
punkt dahin modifiziert, daß russische Getreide-
frachten nach neutralen Häfen den Bosporus
passieren dürfen. Für Italien bestimmte
Sendungen werden aber nur dann durch¬
gelassen, wenn sie nicht zum Gebrauch für die
bewaffnete Macht oder die königliche Regie¬
rung bestimmt sind. Dieser Fall ist als bor¬
liegend anzusehen, wenn die Fracht entweder
an die Regierung selbst oder an Händler
adressiert ist, von denen bekannt ist, daß sie
für die Regierung liefern, oder endlich, wenn
die Frachtsendung für die folgenden für die
Marine wichtigen Plätze bestimmt ist: Spezia,
Civita-Vecchia, Neapel, Tarent, Bari, Brindisi,
Ancona, Catania, Syrakus und Castel la
Mare ti Se. Bia. Daß diese der russischen
Regierung gemachte Konzession einem völligen
Aufheben des Verbots der Durchfahrt der
Getreideschiffe durch die Dardanellen etwa
gleichkommt, liegt auf der Hand.
In die Tat umgesetzt haben die beiden
kriegführenden Mächte ihre Absicht, von dem
Seebeuterecht Gebrauch zu machen, bisher
nur im geringen Maße. Die Italiener
haben, soweit bekannt geworden, im Laufe
des Oktober 4 feindliche Dampfer und 2 Segler,
die Türken 3 Dampfer, 2 Segler und etwa
75 kleinere Fahrzeuge aufgebracht, von denen
aber ein Teil auf Grund der Urteile der
beiderseitig eingesetzte!! Priscngerichte wieder
freigelassen worden sind.
Welchen Einfluß der Krieg und die er¬
lassenen Kriegskonterbandeerklärungen bisher
auf die Schiffahrt im Mittelmeer gehabt
haben, zeigt die Wirkung auf die Seeversiche¬
rung. Da die gewöhnliche Seeversicherungs¬
police nur für den Frieden Gültigkeit hat, so
sind die Reedereien im Falle eines Krieges
genötigt, den Versicherungsgesellschaften be¬
sondere Prämien zu zahlen, deren Höhe, so¬
weit die Gesellschaften das Risiko überhaupt
übernehmen wollen, von Fall zu Fall und je
nach der politischen Lage festgesetzt wird. Im
Oktober haben diese Prämien von Vu bis
10 Prozent geschwankt, je nachdem welche
Flagge die Ware deckte, welches Gebiet die
Schiffe berührten und an welchen Bestim¬
mungsort sie die Waren abliefern sollte».
Bemerkenswert ist hierbei, daß, wie die Frank¬
furter Zeitung vom S. Oktober 1911 mitteilt,
die griechischen Schiffe nicht als neutrale Schiffe
angesehen werden, sondern in der Frage der
Kriegsversicherung den türkischen und italieni¬
schen Schiffen gleichgestellt werden. Die zu
Beginn des Krieges zum Teil außerordent¬
liche Höhe der Prämien (10 Prozent) erklärt
sich daraus, daß über die Auslegung des
Seekriegsrechis zunächst völlige Unsicherheit
herrschte. Es ist anzunehmen, daßdie inzwischen
erlassenen Kriegskonterbandeerklärungen die
zum Teil übertriebenen Versicherungsforde¬
rungen auf ein den tatsächlichen Verhältnisse»
rechnungtrngendes Maß bringen werden; der
neutralenMittelMeerschiffahrtunddeni gesamten
Levantemarkt wäre damit wesentlich gedient.
Kapitänlcntuaut v. Selchoiv-lvilhelmshaven
Es gibt Gewitter, die in wenigen Minuten die lechzende Natur erquicken, und
es gibt solche, die die lastende Schwüle selbst nach Stunden währendem Toben nicht
zu beseitigen vermögen. Sie vermehren nur das Angstgefühl und ihre Blitze beleuchten
ferne Sturmeswolken, die den Frieden bedrohen, aber auch wohl den lichten Streifen
am Horizont, von dem aus das gute Wetter zu erwarten ist. Ein solches Gewitter
tobte in der zweiten Hälfte der abgelaufenen Woche im Reichstage. Kühlung hat
es nicht gebracht; aber seine Blitze offenbarten mit grellem Licht die gefahr¬
drohenden Wolken, die gegen die innere Politik des Reichs heranstürmen; was sie
enthalten und das Maß ihrer Stärke läßt sich noch nicht ganz abschätzen. Alle
Anzeichen deuten jedenfalls darauf hin, daß noch viele Gewitter zu erwarten sind, ehe
sonnige Tage wiederkommen. In der Politik nennt man solche Gewitterperioden
„kritisch" und bezeichnet sie, wenn die Krise tiefer geht, als Konfliktszeit. Politische
Krisen gelten aber als tief, wenn sie gleichzeitig Versassungs- und Finanzfragen
in Mitleidenschaft ziehen. Diese beiden Fragen aber bilden den drohenden Hinter¬
grund unserer politischen Verhältnisse.
Die Rede des Kanzlers war wie alle seine großen, vorbereiteten Reden
ein Meisterstück der Objektivität. Wenn sie die gewünschte aber kaum wohl
erhoffte Wirkung auf die Parteien nicht gehabt hat, so liegt das sowohl am Stoff,
den sie verarbeitete, wie an der Stimmung der Zuhörer aber auch an gewissen
Mängeln in der Rede selbst, wie am Redner. Der fünfte Kanzler mutet in seiner
Sachlichkeit als Parlementsredner an, wie ein Wahrheitsverkünder der zu Wahrheits¬
suchern spricht, nicht wie ein Politiker, der widerspenstige Hörer bezwingen will.
Der gelehrte Forscher wird später in den Reden ein klares Spiegelbild von den
Dingen finden wie sie tatsächlich sind, aber kein Bild von der Stimmung, die sie
veranlaßt haben. Die Stimmung wird völlig ignoriert, die ganze Arbeit und
aufgewendete Kraft gilt der speziellen zur Verhandlung stehenden Materie. So
unterbleibt denn auch jede Anknüpfung an die Dinge außerhalb, die nicht sachlich
direkt mit der Materie zusammenhängen. Ich habe aus diesen Mangel der
Kanzlerreden schon öfter, zuletzt gelegentlich der Fleischteuerungsdebatte hingewiesen,
und was ich damals konstatierte, muß ich heute wieder tun: die Rede hat besonders
in ihrem ersten Teil kalt gelassen und bei der Behandlung der Affäre Lindeauist
gar den Kanzler zum Anwalt seines Gegners gestempelt. Konkret gesprochen, muß
es als Fehler der Rede aufgefaßt werden, daß sie auf die beiden Schlagworte
der Altdeutschen „Siedlungsgebiet" und „schwarze Macht" nicht eingegangen ist.
Das schwarze Gespenst konnte ja Herr v. Kiderlen noch näher beleuchten, nachdem
Herr v. Liebert es aus seiner Gespensterkammer hervorgeholt hatte, aber die
Siedlungsutopie mußte unter dem Tisch bleiben, weil sich doch kein Abgeordneter
fand, der sich der Negierung zuliebe lächerlich machen wollte. Und doch hätte
gerade die Erwähnung des Wunsches nach Siedlungsland dem Herrn Reichs¬
kanzler Gelegenheit zu manchem Exkurs ins innerpolitische Gebiet gegeben und
einige theoretische Bemerkungen über Weg und Ziel der deutschen Kolonialpolitik
gestattet, wie sie z. B. in der kleinen, sehr lesenswerten Schrift von Hildebrand,
„Sozialistische Auslandspolitik""), enthalten sind. Die Rede hätte dann freilich
eineStunde länger gedauert, — das aber wäre keinFehler gewesen. Auch die Broschüre
von Claß „Marokko Deutsch" hätte eine Erwähnung verdient, und dem Redner
bei entsprechender Behandlung einen Heiterkeitserfolg eingetragen. — So aber hat
sich der Kanzler durch seinen Ernst und seine Gewissenhaftigkeit und nicht zuletzt
durch den sachlichen Respekt, mit dem er den Parteileuten im Reichstage begegnet ist,
das Regierungsgeschäft nur unnötig erschwert.
„Ein Mann, der recht zu wirken denkt,
Muß auf das beste Werkzeug halten.
Bedenkt, ihr habet weiches Holz zu spalten,
Und seht nur hin, für wen ihr schreibt!"
Die Marokkodebatte hat eine besondere Bedeutung für die Parteipolitik er¬
halten durch die überaus scharfe Abfuhr, die der Reichskanzler dem Führer der
Konservativen erteilte, und durch das Verhalten des Kronprinzen in der Hof¬
loge des Reichstages. Es wird seitens der nationalistischen und demokratischen
Presse so hingestellt, als habe der künftige Träger der deutschen Kaiserkrone osten¬
tativ gegen das Verhalten der Regierung seines Vaters demonstriert und beide
wärmen an dem dadurch vielfach erregten Unwillen ihre dünnen Parteisuppen.
Ich möchte den Vorgang, so verletzend er für die Vertreter des Kaisers im
Reichstage sein konnte, nicht gar so tragisch nehmen. Es ist ein Zeichen
unserer Zeit, daß man in dem Benehmen des Kronprinzen nur eine negative
Seite sehen will; daß der Thronfolger, der nur sehr selten Gelegenheit hat,
politische Reden zu hören, sich an dem ästhetischen Genuß der Rede Heydebrands
begeistern und berauschen und hinreißen lassen konnte, das kommt niemand in den
Sinn. Und doch haben sich ältere und härter gesottene Besucher des Reichstags
dem Eindruck des konservativen Führers nicht entziehen können. Auch sie haben
ihm Beifall geklatscht, selbst wo sie politisch ganz anders denken, lediglich weil er
so überaus warm das nationale Empfinden zur Schau zu tragen verstand. Also
mache man daraus keine Staatsaktion und beginne nicht schon heute damit, dem
Kaisersproß die künftige Stellung im Lande zu untergraben.
Herr v. Heydebrand hat begeisternd gesprochen, das müssen wir ihm lassen.
Die nationalen Töne, die er in seiner Rede angeschlagen hat, hätten wahrschein¬
lich in noch weiteren Kreisen des deutschen Volkes Widerhall gefunden, wenn er damit
nicht so augenscheinlich sein Ziel betrieben hätte, auf die Wahlen zu wirken und
die Stellung des Kanzlers zu erschüttern. Herr v. Bethmann hat wider Erwarten den
ihm hingeworfenen Fehdehandschuh aufgenommen und Heydebrands magere sachlichen
Ausführungen unbarmherzig zerpflückt. Diese, den Konservativen erteilte Abfuhr
aber ist es, die die gesamte politische Lage im Augenblick auf den Kopf gestellt
hat. Ob Herr v. Bethmann doch ein geschickterer Regisseur ist, als man allgemein
annimmt? Er hat mit einem Schlage die Marokko- und Kongoverträge in der
Versenkung verschwinden lassen und statt ihrer die innere Politik, der Parteikon¬
stellationen, den Wahlkampf in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Ein Urteil
darüber abgeben zu wollen, wie sich die nächste politische Entwicklung abspielen
könnte, wäre vermessen.
In sachlicher Beziehung ist aus den dreitägigen Verhandlungen über die
deutsch-französischen Verträge nur wenig herausgekommen. Weitergehendes Interesse
beanspruchen Wohl nur die durch das Abkommen berührten staatsrechtlichen
Fragen. Die Verfassung weist gerade bezüglich der Stellung der Kolonien Lücken
auf, die beseitigt werden müssen, und über die Organisation des Kolonialamts
sowie seine Einfügung in das System der Reichsämter dürfte auch noch manches
Wort gewechselt werden.
Seit einigen Tagen rühren sich die von mir als „ManneSmannpresse"
bezeichneten Zeitungen und spannen ihre Abonnenten auf eine Sensation, die sie
ihnen mit Hilfe des Prozesses der Grenzboten in einer PrivatbeleidigungSsache
bereiten wollen. Ich habe dazu bisher geschwiegen, einmal weil ich in ein schwebendes
Verfahren nicht eingreifen möchte und zweitens, weil ich hoffte, meine Gegner würden
klug genug sein, die Angelegenheit auf dein Gebiet der persönlichen Beleidigung
zu belassen. Wie ich sehe, denken meine Gegner anders darüber. Die Nheinisch-
Weflfälische Zeitung hat vier Punkte politischer Art aufgestellt, deren Wahrheit
eidlich erhärtet werden soll. Die Tägliche Rundschau aber schreibt in Ur. 533
vom 12. November:
Herr v. Kiderlen und die Presse. Der Staatssekretär des Auswärtigen
Amtes v. Kiderlen-Waechter hat sich in der heutigen ReichStagssitzung mit einer
kollegialen Zusammenkunft beschäftigt, die Anfang Juli in: Berliner Schriftsteller¬
klub stattfand und die schwebende marokkanische Frage erörterte. Was er über
diese Zusammenkunft zu berichten wußte, war, soweit es richtig war, nicht neu,
und soweit es neu war, nicht richtig. Wir haben schon gegenüber der Rheinisch-
Westsälischen Zeitung, die falsch unterrichtet war, bemerkt, daß jene Ver¬
sammlung vom Auswärtigen Amte weder beeinflußt noch veranlaßt
war, und baß sie auch keine Beschlüsse faßte, Sie war eine Fortsetzung der
Marokkobesprechungen in jenem Kreise, an dem auch freisinnige Abgeordnete
teilnahmen, und hatte eine Klärung der Meinungen zum Zweck. Es ist nie¬
mandem eingefallen, die Annektion von Marokko zu beschließen, und ebenso ist
es unrichtig, daß das Auswärtige Amt den „Hauptmatadoren" gesagt habe:
„Seien Sie vorsichtig, Sie allein werden es nicht machen." Das Auswärtige
Amt hat lediglich den Vorsitzenden des Klubs ersucht, von der Einberufung einer
öffentlichen Versammlung abzusehen, worauf die Form einer vertraulichen Aus¬
sprache ohne besondere Einladungen gewählt wurde. Was die Marokkopläne
der Regierung vor dem 1. Juli anlangt, denen der Staatssekretär ein rundes
Dementi bezüglich der Landerwerbungen entgegensetzte — von Einflußsphären
und Häfen sprach er nicht —, so wollen wir uns heute mit der Erklärung
begnügen, daß wir unsere Behauptungen in dem Artikel „Marokkobilanz II"
Wort für Wort aufrechterhalten. Da in dem Prozesse der Grenzboten gegen
die Rheinisch-Westfälische Zeitung — die Klagen gegen die Post und die Täg¬
liche Rundschau sind abgewiesen worden — zeugeneidliche Vernehmungen aller be¬
teiligten Personen beantragt sind, so wird die Feststellung derWahrheit bald erfolgen.
In dieser Mitteilung ist zunächst falsch die Behauptung, daß meine Klage
gegen die Post zurückgewiesen sei; unzutreffend ist ferner die Auffassung, daß meine
Klage gegen die Tägliche Rundschau endgültig abgewiesen sei, denn ich habe gegen
einen solchen Beschluß Beschwerde eingelegt. Die Tägliche Rundschau dürste somit
doch Gelegenheit finden, das mir zugefügte Unrecht wieder gut zu machen.
Doch zur Sache.
Die Tägliche Rundschau schreibt: „Wir haben schon bemerkt, daß jene Ver¬
sammlung vom Auswärtigen Amte weder beeinflußt noch veranlaßt war.. ."
Wie kam doch jene Versammlung im Schriftstellerklub zustande?
Ich wurde am Nachmittag des betreffenden Tages angeklingelt, und es wurde mir
folgendes im Auftrage des Herrn Rippler (Herausgeber der Täglichen Rundschau und
Vorsitzender des Schriftstellerklubs) übermittelt: Abends finde im Klub eine Be¬
sprechung über die politische Lage im Anschluß an die Marokkoaffäre statt. Die
Besprechung erfreue sich des Interesses des Auswärtigen Amts; einer der Herren
Mannesmann werde wahrscheinlich an ihr teilnehmen. — Abends fand ich denn
auch etwa vierzig bis fünfzig Herren, meist Angehörige der Presse, im Klub vor,
die das interessante Programm gelockt hatte.
Bald eröffnete Herr Rippler die Besprechung: Leider träte die Versammlung
unter etwas anderen Voraussetzungen zusammen, als es die Einladung an¬
gekündigt habe. Aber das Auswärtige Amt habe die Sache verdorben, es habe
sich zurückgezogen; erst wollte es eine Rückenstärkung, dann wolle es überhaupt
nichts wissen. „Na, meine Herren, wie das so ist." (Heiterkeit!) Herr Mannesmann
halte es unter diesen Umständen nicht für taktvoll, herzukommen. (Daß statt des
Herrn Mannesmann dessen Berliner Vertreter, Herr von Reibnitz, erschienen war,
davon sagte uns Herr Rippler nichts I) Aber der hervorragende Kenner Marokkos,
Herr Generalleutnant v. Wrochem, werde als Gast des Klubs entschädigen durch
einen Vortrag. Und Herr v. Wrochem begann seine höchst dürftigen Kenntnisse
mit der Stimme eines Reiterführers auszupacken. Zum Schluß teilte er Marokko
unter die beteiligten Völker aus und vergaß auch Deutschland nicht.
Eine Resolution wurde nicht gefaßt; aber aus dem Schlußwort des Herrn
Generals klang ein gewisses Programm heraus, das lautete: keine Kompen¬
sationen außerhalb Marokkos. Auf dies Programm wurden die Anwesenden
festgelegt, indem Herr Rippler in die Versammlung rief: es wird angenommen,
daß niemand gegen das Programm schreibe.
Aus den Mitteilungen, die Herr Rippler der Versammlung gemacht hatte,
hatte ich den Eindruck, als sollte uns glauben gemacht werden, die Regierung
habe noch am selben Tage die Absicht gehabt, ein Stück Marokko in Besitz zu
nehmen, sei aber dann vor der „Tat" zurückgeschreckt; weiter mußte aus der
ganzen Art, wie Herr Rippler den Bescheid des Pressedezernenten vortrug, gefolgert
werden, daß dem Auswärtigen Amt eine Rückenstärkung durch die Presse sehr
willkommen sein werde. Diese Ausführungen widersprechen aber durchaus den
Anfordernissen meiner, wie ich heute sagen darf, näheren Kenntnis der Lage, die
die zarteste Behandlung nötig machte, wenn nicht ein Krieg entbrennen sollte. Die
Regierung war damals schon durchaus klar darüber, was sie fordern dürfe, ohne
die Verhandlungen mit Frankreich scheitern zu lassen. Das war, wohl bemerkt,
noch lange vor der Cartwrightaffäre und der Rede Lloyd Georges. Mein Erstaunen
über den Verlauf der Sitzung habe ich sofort mit einem dort anwesenden Ge¬
neral z. D. ausgetauscht, der sich später bereit erklärt hat, mir gegebenenfalls
als Zeuge zu dienen. Im übrigen habe ich die Verhandlungen nicht so ernst
genommen, wie sie es nach dem Ausgang der Marokkoagitation eigentlich verdient
hätten, sondern trat bald eine mehrwöchige Reise an.
Nach Rückkehr von der Reise bemerkte ich mit Schrecken in der nationalen
Presse auf Schritt und Tritt die Spuren jener Versammlung. Eingedenk
der Tatsache, daß es sich um eine private Aussprache in einem privaten Klub
handelte, habe ich jedoch so lange dazu geschwiegen, bis die Presse sich nicht mehr
begnügte, das Auswärtige Amt anzugreifen, sondern höher hinauf griff. Erst da
vergewisserte ich mich in der Presseabteilung darüber, welche Rolle das Auswärtige
Amt in den Tagen vor Agadir gespielt hatte, und fand meine frühere Annahme,
daß es nämlich von Anfang an gegen die Veranstaltung des Herrn Rippler im
Klub Einspruch erhoben habe, bestätigt. Angesichts der wachsenden Erregung hielt
ich es nun auch für meine Pflicht als Publizist, den Leuten in den Arm zu fallen,
die uns die politische Atmosphäre vergifteten und so viele materielle Verluste ver¬
ursachten. Infolgedessen erschien mein Angriff in Heft 36 der Grenzboten.
Ich bin mir selbstverständlich keinen Augenblick darüber im Unklaren gewesen,
daß meine Andeutungen eine scharfe Zurückweisung erfahren würden. Ich hätte
diese Zurückweisung vermutlich auch auf den Grenzboten sitzen lassen, wenn der
Ton der Presse in den Marokkoangelegenheiten besonnener geworden wäre. Es
lag mir nichts daran, mich herumzustreiten, auch hatte ich damals keine Ahnung
davon, daß die Post bei den Herren Mannesmann finanzielle Anlehnung gesucht
hatte. Mir kam es auf die Beruhigung an. Wäre eine ruhigere und sachlichere
Auffassung nicht eingetreten, dann hätte ich mich allerdings dazu bequemen müssen,
nachzuweisen, in welcher Weise es den Herren Mannesmann gelungen war, die
öffentliche Meinung für ihre privaten Unternehmungen mobil zu machen, und wie
die drei Blätter (ob bewußt oder unbewußt, habe ich nicht untersucht) die Geschäfte
der Herren Mannesmann besorgten.
Doch die angegriffenen Blätter sind mir gar nicht auf das sachliche Gebiet
gefolgt. Ja, sie haben mir die Waffe des Journalisten durch einen Überfall ans
der Hand geschlagen, indem sie nicht den „Herausgeber der Grenzboten" allein,
also den Journalisten, zur Verantwortung zogen, sondern den Offizier, den
„Hauptmann" Cleinow. Dies Verfahren entspricht etwa dem, wenn bei einem
Säbelduell einer der Duellanten plötzlich die Pistole zöge, um seinem Gegner den
säbelführenden Arm zu zerschmettern. Der Angriff auf mich als Offizier hat mich
auch veranlaßt, die Rh. Wests. Ztg. ebenso wie die Post und die Tägliche Rund¬
schau wegen Beleidigung zu verklagen, was ich unterlassen hätte, wenn man
meinen Osfiziertitel nicht hervorgezogen hätte. Als Journalist habe ich dieselben
Waffen wie meine journalistischen Gegner zur Verfügung und kann sie in der
Presse gebrauchen, ohne die Gerichte zu behelligen.
Auch denjenigen Lesern, die mit der Haltung der Grenzboten in der Marokko¬
frage nicht einverstanden waren, wird es nach den vorstehenden Darlegungen
leicht sein, die Gründe meines Angriffs auf die „Mannesmannpresse" zu finden;
und ich überlasse es ihrem Urteil, ob es nicht angebracht war. die „Fäden" auf¬
zudecken, die von den Herren Mannesmann zu einem gewissen Teil der Presse
(Brief Wotterlös vom 7. Juni 1905)
Ein früherer Diplomat, Freiherr v. Eckardtstein, erzählt in der Täglichen
Rundschau über seine Mission beim Kaiser im Jahre 1903. Damals sollte er im
Auftrage eines Franzosen, des Bankiers....., Kaiser Wilhelm den Zweiten
bewegen, ans der Hand der Franzosen das Kongogebiet anzunehmen gegen voll¬
ständigen Rückzug aus Marokko. Als historisches Dokument ist in diesem Zu¬
sammenhange ein Brief des deutschen Reichstagsabgeordneten Wetterle an einen
hohen Gönner in Berlin von Interesse. Er lautet:
Euer.....
teile ich ergebenst mit, daß ich heute eine Depesche aus Paris erhalten habe,
durch welche ich gebeten werde mich sofort dorthin zu begeben. Rouvier und
D..... möchten gern sich über die Stimmung in deutschen Regierungs- und
Parlamentskreisen orientieren lassen. Ich werde morgen schon von den Herrn
empfangen werden. Was nnn? Eusrer.....wäre ich äußerst dankbar, wenn
Sie auf irgend einem Wege mich über die Wünsche der deutschen Diplomatie
orientieren könnten. In Prioatnnterredungen, die jeden offiziösen Charakters
entbehren würden, und in welchen ich nur meine Person engagierte, wäre es
vielleicht nicht so schwer, der ganzen marokkanischen Angelegenheit eine günstige
Wendung zu geben, besonders wenn anscheinend die annehmbaren Vorschläge
von Frankreich her kämen.
In dieser Frage muß nämlich, nach meinem bescheidenen Dafürhalten,
vor allem die „cliZnite nationale" geschont werden; was nur geschehen kann,
wenn keine Entschlüsse dem Minister Nouvier von Deutschland aufgenötigt werden.
Falls Euer.....geneigt wäre, mir irgend welche praktische Anweisung
(unter Wahrung der strengsten Diskretion) zu erteilen, wird man mir dieselben
an folgende Adresse zukommen lassen können (L. Wetterle, Grand Hotel Victoria,
Cite d'Autin 10. Paris-Opera).
Ich verbleibe nur Donnerstag und Freitag in Paris, falls Ihrerseits eine
Verzögerung meines Aufenthalts nicht erwünscht wird.
Es würde mir zur größten Freude und Genugtuung gereichen, wenn ich
nur in kleinem Maße dazu beitragen könnte, den Frieden, und zwar einen
dauernden, einen bis zu Freundschaft reichenden, zwischen zwei Ländern, die mir
gleich wert sind, herzustellen. Der Augenblick ist jetzt, nach dem Sturze
Delcassös, äußerst günstig.
Eolmar, den 7. Juni 1905.
Einen unverhältnismäßig breiten Raum in den Erörterungen über die dies¬
jährige Teuerung hat die Frage der Getreideeinfuhrscheine eingenommen. Ein
großer Teil der linksstehenden, namentlich der sozialdemokratischen Presse benutzt
die Gelegenheit, um die alten, oft widerlegten Angriffe gegen das ganze System
der Einsuhrscheine zu erneuern. Sie werden Ausfuhrprämien gescholten, die zur
Verschleuderung des deutschen Getreides ins Ausland verlocken, eine Entblößung
des inländischen Getreidemarktes bewirken, wucherische Preistreibereien an den
deutschen Getreidebörsen begünstigen, das Nationalvermögen im allgemeinen und
die Reichskasse im besonderen um Millionen schädigen. Die gegenwärtige Lage
soll die Abschaffung dieses „skandalösen Prämiensystems" besonders dringlich
machen.
Inwiefern gerade die bedauerliche diesjährige Teuerung durch das Einfuhr¬
scheinsystem verschärft werden soll, ist schwer einzusehen. Diejenigen Erzeugnisse,
an denen Knappheit herrscht: Kartoffeln und Futtermittel, werden gegen Einfuhr-
scheine entweder überhaupt nicht oder doch nur in ganz verschwindenden Mengen
ausgeführt. Eins der wichtigsten Futtermittel, die Gerste, wird vielmehr in großen
Mengen gegen Einfuhrscheine zollfrei eingeführt. Ihre Einfuhr in Austausch
gegen Roggen, ein in diesem Jahre zweifellos wirtschaftlich rationeller und im
allgemeinen Interesse erwünschter Tausch, wird also gerade durch das Einfuhr-
scheinsystem begünstigt. Die diesjährige Getreideernte aber war normal, die an
Roggen — der hauptsächlich gegen Einfuhrschein ausgeführten Frucht — sogar
besser als im Vorjahre. In Preußen allein wird der diesjährige Ernteertrag an
Roggen um mehr als 400000 t, an Brodgetreide überhaupt um rund 350000 t
höher geschätzt als im Jahre 1910. Dementsprechend sind die gegenwärtigen Ge°
treidcprcise keineswegs übermäßig hoch. Der Weizenpreis hält sich in diesem
Monat mit 199-206 Mark unter den gewöhnlichen Herbstpreisen früherer Jahre.
Wenn der Roggenpreis das Mittel etwas übersteigt, so hat das seinen Grund in
der geringeren Ernte des wichtigsten Roggenproduktionslandes Rußland, deren
Ergebnis nicht ohne Einfluß auf den Weltmarkt und damit aus den deutschen
Markt bleiben konnte. Auch die Noggenpreise bleiben jedoch erheblich unter der
z. B. im Herbst 1907 erreichten Höhe. Ebensowenig liegen abnorme Ausfuhr-
Verhältnisse vor. Die Handslszeitungen berichten im Gegenteil von Aberfüll ung
der inländischen Lager. Wenn auf die große Roggenausfuhr der letzten Woche
hingewiesen wird, so ist zu berücksichtigen, daß ihr auch eine große Einfuhr an
Roggen sowohl, wie besonders an Weizen gegenübersteht. Die Mehrausfuhr von
Roggen (einschließlich Roggenmehl) betrug seit der letzten Ernte in der Zeit vom
1. August bis 10. Oktober d. Is.: 178842 t, die Mehreinfuhr von W-izen:
370628 Tonnen. Die Nettoausfuhr an Roggen ist in diesem Jahre um 10000
bis 40000 t kleiner, die Nettoeinfuhr an Weizen um mehr als 100000 t größer
als in der gleichen Zeit der Jahre 1908 und 1910, die eine geringere Ernte so¬
wohl an Roggen wie an Brodgetreide überhaupt hatten.
Bietet hiernach die gegenwärtige Lage keinerlei Anlaß zu Besorgnissen vor
den Folgen des Einfuhrscheinsystems, so beweisen die Preßangriffe gegen dies
System von neuem, mit welcher Oberflächlichkeit über diese schwierige volkswirt¬
schaftliche Frage abgeurteilt wird, auf welchen fundamentalen Irrtümern über die
allerdings ziemlich komplizierte Natur und die nicht leicht zu übersehenden
Wirkungen des Systems die erhobenen Vorwürfe beruhen.
Der Irrtum und die Vorwürfe gipfeln gleichermaßen in der Behauptung,
daß das Einfuhrscheinsystem eine Prämiierimg der Getreideausfuhr enthalte. Das
ist eine völlige Verkennung seines Zwecks und seines Wesens. Daß der Einfuhr¬
schein, der bei Ausfuhr von Getreide erteilt wird, keine Ausfuhrprämie ist, kommt
schon darin zum Ausdruck, daß er unter keinen Umständen in bar ausgezahlt
wird, sondern nur zur zollfreien Einfuhr ausländischer Erzeugnisse berechtigt und
zwar — mit einer, wie später nachzuweisen sein wird, völlig belanglosen Aus¬
nahme — nur zur Wiedereinfuhr ausländischen Getreides. Tatsächlich handelt
es sich bei der deutschen Getreideausfuhr überhaupt nur um einen durch die
Verkehrsverhältnisse bedingten Austausch deutschen Getreides gegen ausländisches,
wobei die Ersatzeinfnhr die Ausfuhr alljährlich um ein Beträchtliches übersteigt.
Dieser Austausch dient letzten Endes dem Ausgleich zwischen dem Getreideüber¬
schuß im Osten und dem Getreidebedarf im Westen des Reichs. Diese beiden
Reichshälften weisen hinsichtlich der Getreideproduktion und des Getreideverbrauchs
bekanntlich völlig verschiedene Verhältnisse auf. Im Osten wird erheblich mehr
Getreide geerntet, als die Bevölkerung verbraucht; der Westen mit seinen stark
bevölkerten Industriebezirken bedarf großer Getreidezufuhr. Räumlich aber sind
beide Gebiete so weit voneinander entfernt, daß die Deckung des Mehrbedarfs
im Westen durch den Überschuß des Ostens unter den obwaltenden Frachtverhält¬
nissen unmöglich ist.
Die Eisenbahnfracht für 10 t (Waggon) Getreide beträgt:
Es liegt auf der Hand, daß das mit solchen Transportkosten belastete ost¬
deutsche Erzeugnis auf den Märkten des Westens mit dem ausländischen Getreide,
das den billigen Wasserweg benutzt, nicht konkurrieren kann.
Zur Überwindung dieses geographischen Hindernisses gibt es zwei Mittel:
einmal die Ermöglichung direkten Ausgleichs durch Verbilligung der Fracht, so¬
dann die Eröffnung eines indirekten Ausgleichs auf dem Umwege über das Aus¬
land durch Wegräumung der Zollschranken. Beide Wege sind nacheinander be-
schritten worden: im Jahre 1891 wurden auf den preußischen StacitSbahnen die
sogenannten Staffeltarife für Getreide eingeführt. 1894 wurden sie wieder be¬
seitigt und statt dessen unter Aufhebung deS sogenannten Identitätsnachweises
der Einfuhrscheinverkehr zugelassen.
Es verdient hervorgehoben zu werden, daß diese letzte Neuerung keineswegs
von den Getreideproduzenten des Ostens ausgegangen ist. Die östliche Land¬
wirtschaft war mit den Staffeltarifen wohl zufrieden und verhielt sich gegen die
Einfuhrscheine zunächst skeptisch, meist sogar ablehnend. Noch heute werden die
Staffeltarife vielfach zurückgewünscht. In der Tat kann die Landwirtschaft des
Ostens auf die Ausfuhr wohl verzichten, wenn ihr die Möglichkeit gegeben wird,
durch billige Frachten ihr Erzeugnis im deutschen Westen angemessen zu verwerten.
Anfechtung fanden die Staffeltarife im Westen und namentlich in Süddeutschland.
Die Aufhebung des Identitätsnachweises aber war eine Forderung des Getreide-
Handels an der Ostsee und ihr Vorkämpfer der freisinnige Abgeordnete Rickert.
Die Verhandlungen in den städtischen Körperschaften von Königsberg und Danzig
und die Stellungnahme auch der liberalen Presse der baltischen Provinzen haben
noch jüngst gezeigt, welcher Wert in diesen Hafenplätzen auf jene Errungenschaft,
d. i. auf die unveränderte Beibehaltung des Einfuhrscheinsystems gelegt wird.
Der Jdentitätsnachweis hatte bekanntlich den Ausfuhrhandel dieser
Plätze auf ausländisches (russisches) Getreide beschränkt, das im Transitverkehr
durch Deutschland nach der Ostsee gesandt wurde. Nur für solches Getreide wurde
bei der Ausfuhr, wenn die „Identität" mit der Einfuhrmenge nachgewiesen
wurde, der Zoll erlassen oder erstattet. Das inländische Erzeugnis war von dieser
Vergünstigung und dadurch vermöge der Spannung zwischen Inlands- und
Weltmarktpreis im allgemeinen von der Ausfuhr ausgeschlossen. Nun wurde
geltend gemacht, daß es ein jener Durchfuhr wirtschaftlich ganz analoger Vorgang
ist, wenn das eingeführte ausländische Getreide im Lande bleibt und statt seiner
die gleiche Menge inländischen Produkts ins Ausland geht. In Anerkennung
dieser Analogie ist im Jahre 1894 — wie gesagt, auf das Drängen des Getreide¬
handels in den Ostseehäfen — der Jdentitätsnachweis aufgehoben und der
Einfuhrscheinverkehr zugelassen worden, welcher auch im Falle der Ausfuhr
inländischen Getreides eine zollfreie Ersatzeinfuhr aus dem Auslande gestattet.
Dadurch sind für den Austausch deutschen Getreides gegen fremdes die Zoll¬
schranken weggeräumt. Dem inländischen Getreide ist die Möglichkeit eröffnet,
trotz der Spannung zwischen Inlands- und Weltmarktpreis die Zollgrenze zu
überschreiten, was ihm bis dahin wegen der Zollpflicht bei der Wiedereinfuhr,
nicht einmal zur Benutzung des billigeren Seeweges nach den: deutschen Westen
möglich war. Jetzt wird in diesem Falle der Zoll bei der Wiedereinfuhr durch
den Einfuhrschein beglichen. Im Falle des Exports nach dem Auslande (z. B.
nach England oder Skandinavien) kann der Unterschied zwischen Weltmarkts- und
Inlandspreis durch die Verwertung des Einfuhrscheins bei der Ersatzeinfuhr
wettgemacht werden, sei es, daß der Exporteur dies selbst vornimmt, sei es, daß
er — was die Regel ist — den Schein zu diesem Zwecke an einen Importeur
verkauft. Daß die Eröffnung des Seeweges für den Getreidetransport aus dem
deutschen Osten nach dein deutschen Westen in jeder Beziehung ein Gewinn ist,
wird niemand bestreiten. Aber auch der indirekte Ausgleich zwischen dem Getreide¬
überschuß des Ostens und dem Getreidebedarf des Westens: der Austausch des
ostdeutschen gegen ausländisches, überseeisches Getreide, ist ein volkswirtschaftlich
völlig einwandfreier Vorgang. Er ist lediglich ein Ersatz für den durch die
Frachtverhältnisse verhinderten direkten Ausgleich und hat diesem gegenüber sogar
gewisse Vorzüge. So ist es bei der fortschreitenden Gewöhnung weiter Kreise
der Bevölkerung an Weizenbrod nur zweckentsprechend, wenn auf diese Weise
gegen Roggen Weizen eingetauscht wird. Auch der Verwertung der besonderen
Vorzüge jeder, der inländischen wie der fremden Crescenz sowie der gerade von
feiten des Handels stets als besonders wünschenswert bezeichneten Mischung des
deutschen und fremden Erzeugnisses wird auf diese Weise der Weg geebnet.
Nur wer diese wahre Sachlage völlig verkennt, kann die Getreideausfuhr
aus dein deutschen Osten als einen Verlust für das Nationalvermögen
und für den inländischen Konsumenten beklagen*). Die einfache Tatsache, daß es
sich lediglich um die Unterbringung eines örtlichen Überschusses handelt, dem der
Weg nach dem deutschen Westen durch die Höhe der Transportkosten versperrt ist,
beseitigt jeden Zweifel daran, daß es volkswirtschaftlich durchaus rationell ist, diesen
Überschuß im Auslande zu verwerten und dafür den Westen aus dein Auslande zu
versorgen. Sie läßt einen solchen Austausch geradezu als eine volkswirtschaftliche
Notwendigkeit erscheinen, solarge eben jene Transporthindernisse bestehen. Es
lären keinem Zweifel unterliegen, daß im Falle der Aufhebung der Getreidesolls
dieser Austausch, als die noch Lage der NerkehrSverhöltnisse naturgemäße
Regelung des Absatzes, von selbst eintreten würde. Mit vollem Rechte hat man
daher das Einfuhrscheinsystem, das ihn unter der Herrschaft des Schutzzolles
ermöglicht, ein „Stück Freihandel im Protektionismus" genannt. Es ist eine
Anomalie, wenn die geschworenen Anhänger des Freihandels es zu beseitigen
trachten.
Nun wird eingewandt, daß es bei diesem legitimen Austausch nicht bewenden
bleibe. Es wird auf die schon angedeutete Ausnahmebestimmung hingewiesen,
nach der d^e Einfuhrscheine nicht zur zollfreien Einfuhr von Getreide, sondern
auch zur Begleichung des Zolles für Petroleum und Kaffee verwertet werden
dürfen. Der Einfuhrschein, der statt zur Wiedereinfuhr von Getreide als Zollgeld
für Petroleum oder Kaffee verwendet wird, dient — so wird gefolgert — nicht
mehr dem volkswirtschaftlich gerechtfertigten Austausch deutschen und fremden
Getreides, sondern fördert als Exportprämie die einseitige Ausfuhr. Dieser
Einwand wäre zutreffend, wenn in Deutschland eine einseitige, durch Ersatzeinfuhr
nicht gedeckte Getreideausfuhr überhaupt denkbar wäre. In Wirklichkeit ist sie
durch die wirtschaftliche Lage völlig ausgeschlossen. Der Einfuhrbedarf im Westen
ist unter allen Umstünden beträchtlich größer als der Geireideüberfluß im Osten.
Wurden doch in den letzten Erntejahren allein an Brodgetreide regelmäßig über
2000000 t mehr nach Deutschland ein- als ausgeführt. (Wohlgemerkt, es handelt
sich hier nicht um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die deutsche
Landwirtschaft den Bedarf der Bevölkerung zu decken imstande ist. Das ist eine Frage
für sich. Hier kommt es nur auf die unbestreitbare Tatsache an, daß unter den
obwaltenden Umständen die Jnlandernie für die Versorgung des Volkes mit
Brodgetreide nicht voll ausreicht, sondern eine Zufuhr von etwa 2000000 t
aus dem Auslande erforderlich macht.) Bei dieser Sachlage gewährt der Zwang
der wirtschaftlichen Verhältnisse die unbedingte Sicherheit dafür, daß jede Getreide¬
aussuhr durch eine mindestens gleiche Einfuhr ersetzt wird. Ist aber diese Gewähr
ohnehin gegeben, so ist es völlig gleichgültig, wofür der einzelne Einfuhrschein
verwendet wird. Seine Verwertung als Zollgeld für Peiroleum oder Kaffee hat
lediglich die Folge, daß statt dessen derjenige Teil des Getrcidezolles, der sonst
durch den Einsuhrschcin beglichen worden wäre, in barem Gelde gezahlt wird.
Es liegt auf der Hand, daß eine solche Verschiebung nicht den geringsten Einfluß
auf die Wirkung des Einfuhrscheinverkehrs üben kann. Die Verwertbarkeit der
Einfuhrscheine bei der Einfuhr von Kaffee und Petroleum dient lediglich der
Bequemlichkeit im börsenmäßigen und Zollverkehr. Für das System als solches
ist sie gänzlich belanglos, leicht entbehrlich und wegen der scheinbaren Durch¬
brechung des Prinzips, wenn man will, ein Schönheitsfehler.
HM man sich dies vor Augen, daß jede Getreideausfuhr mit Natur¬
notwendigkeit eine Ersatzeinfuhr nach sich zieht, dann fallen auch alle anderen
Einwendungen gegen den Einfuhrscheinverkehr in sich zusammen.
Zunächst der Vorwurf einer empfindlichen Schädigung der Reichs¬
kasse. Die Auffassung, als ob die Verwertung von Einfuhrscheinen bei der
Einfuhr von Kaffee und Petroleum einen besonderen Verlust für den Neichssäckel
bedeute, ist bereits durch den Nachweis widerlegt, daß diese Verwertung eine
entsprechende Mehreinnahme beim Getreidezoll zur Folge haben muß. Für die
Reichsfinanzen bleibt es sich natürlich gleich, ob 100 t Weizen gegen Einfuhrschein
zollfrei eingeführt werden, oder ob der Zoll hierfür mit 5500 Mark bar bezahlt
und statt dessen ein gleicher Betrag an Kaffeezoll durch den Einfuhrschein beglichen
wird. Auch in finanzieller Hinficht kommt es nicht auf die Verwertung des
einzelnen Einfuhrscheins an, sondern darauf, daß die Ausfuhr überhaupt durch
eine ihrem Zollwerte entsprechende Einfuhr ersetzt wird. Zweifel hieran können
nur beim Hafer aufkommen. Wenn die Haferausfuhr die Einfuhr übersteigt, so
besteht die Wahrscheinlichkeit, daß die Lücke durch zollfreie oder niedriger verzoll¬
bare Futtermittel, namentlich durch Fuitergcrste ausgefüllt wird. Eine Überausfuhr
von Hafer hat jedoch bisher nur in zwei Erntejahren stattgefunden. 1907/8
überstieg die Ausfuhr die Einfuhr um 226669 t'. 1909/10 nur um 22281 t.
Nur das hinsichtlich der Anbau- und Ernteverhältnisse ganz außerordentliche
Jahr 1907 weist also bisher eine nennenswerte Mehrausfuhr an Hafer auf. Ob
mit einer Wiederholung dieser Erscheinung zu rechnen ist, kann einstweilen dahin¬
gestellt bleiben. Für das laufende Jahr besteht jedenfalls nicht die geringste
Gefahr- seit Beginn des Kalenderjahres sind bisher 3353347 und seit der Ernte
(1. August) 978133 mehr ein- als ausgeführt worden. Anders liegt die
Sache beim Roggen. Die Roggenausfuhr hat die Einfuhr in den letzten Jahren
regelmäßig und zwar um erhebliche Mengen (bis zu 600000 t) überstiegen. Ihr
steht aber in kausalen Zusammenhange die alljährlich um das Vielfache sie über-
steigende Mehreinfuhr an Weizen (meist über 2000000 t) gegenüber. Roggen
ist als Brodgetreide nur durch Weizen ersetzbar. Jede RoggenauSfuhr zieht also
eine entsprechende Weizeneinfuhr nach sich, die als überflüssig unterbleiben würde,
wenn der Roggen im Lande bliebe. Da aber der Weizenzoll den Roggenzoll um
6 Mark für die Tonne übersteigt, so hat die Reichskasse bei diesem Austausch
nicht nur keinen Schaden, sondern sogar einen baren Gewinn!
Die Behauptung, daß der Einfuhrscheinverkehr eine Entblößung des In¬
landes von Getreide zur Folge habe, wirkt eigentümlich, wenn man sich ver¬
gegenwärtigt, ein wie geringer Teil der inländischen Ernte überhaupt zur Ausfuhr
kommt. Die Nettoausfuhr an Roggen betrug im Durchschnitt der letzten drei
Erntejahre nur etwa vier Prozent des Ernteertrages und in dem Hauptausfuhr¬
jahre 1908/9 nur rund sieben Prozent. Die Klage über „Forcierung" der Aus¬
fuhr infolge des Einfuhrscheinsystems beruht ebenso wie die über „Verschleuderung"
des deutschen Getreides im Auslande auf der falschen Vorstellung, daß das deutsche
Getreide mit Hilfe des Einfnhrscheinverkehrs im Auslande zu besonders günstigen
Bedingungen angeboten werden könne. In Wirklichkeit stellt der Einfuhrschein¬
verkehr, wie vorhin dargetan, für den Getreideexport lediglich die natürlichen
Bedingungen her, die im Falle der Aufhebung der Getreidezölle eintreten würden.
Indem er die Spannung zwischen Inlands- und Weltmarktpreis durch die Ge¬
währung der Zollfreiheit für die Ersatzeinfuhr ausgleicht, ermöglicht er das
Angebot deutschen Getreides gerade zum Weltmarktpreise und auch das nur bei
günstiger Preiskonjunktur. In einem Doppelartikel des „Vorwärts" vom
15 bis 17. Oktober, der im Gegensatze zu anderen Darstellungen der Frage in
diesem und ihm nahestehenden Organen eine gewisse Sachkenntnis und in seinem
historischen Teile sogar ein gewisses Streben nach Objektivität erkennen läßt, ist
ein ganz zutreffendes Bild dieser Arbitrage, wie man es wohl nennen darf,
gegeben. Auch die sozialdemokratische Zeitung muß anerkennen, daß die Getreide¬
ausfuhr aus Deutschland nur solange dauert, bis Angebot und Nachfrage auf
den ostdeutschen Märkten ausgeglichen sind, d. h. solange als Ostdeutschland einen
Überschuß von Getreide ans Ausland abzugeben hat. Es ist in der Tat nicht
abzusehen, was den Exporteur veranlassen sollte, seine Ware über See ins ferne
Ausland zu schicken, wenn er auf dem heimischen Markte lohnenden Absatz findet.
Ebensowenig ist ein Grund erfindlich, weshalb er sie an ausländische Abnehmer
zu Schleuderpreisen abgeben sollte. Er verlangt und erhält selbstverständlich
den Weltmarktpreis, denselben Preis, zu dem in der Regel die Ersatzeinfuhr
angekauft wird.
In der gegnerische,, Presse wird es freilich mit Vorliebe so hingestellt, als
ob das deutsche Getreide regelmäßig zu den billigsten Preisen exportiert, das aus¬
ländische später zu viel höherem Preise zurückgekauft würde. Die Blätter, die
diese Behauptung aufstellen, sind sich kaum bewußt, welche außerordentlich niedrige
Meinung von der Voraussicht und Dispositionsfähigkeit unseres Großhandels und
von dem ausgleichenden Einfluß des Börsenverkehrs sie im Gegensatze
zu ihrer sonst mit so großem Nachdruck betonten Überzeugung von dem unfehl¬
baren Funktionieren dieser Organe mit einer solchen Annahme bekunden. Börse
und Handel sind es doch und nicht die Landwirte — nicht einmal die viel¬
verlästerten Großgrundbesitzer die den Export vornehmen. Wenn der Groß-
Handel wirklich in seiner Gesamtheit regelmäßig oder auch nur in größerem
Maßstabe den groben Dispositionsfehler begehen sollte, Getreide zu exportieren,
das im Inlande gebraucht wird und später zu höheren Preisen zurückgekauft
werden muß, so würde er damit seine völlige Unfähigkeit zur Lösung der ihm
obliegenden Aufgaben bekunden. Er verdient indes, gegen eine solche Unterstellung
in Schutz genommen zu werden. Die Behauptung, die ebenso bestimmt wie
beweislos aufzutreten pflegt, scheint sich auf die Tatsache zu gründen, daß der
deutsche Getreideexport im Osten im allgemeinen bald nach der Ernte einsetzt,
während die Einfuhr im Westen hauptsächlich im Spätwinter und Frühling statt¬
findet, zu einer Zeit also, in der die Getreidepreise regelmäßig höher sind als im
Herbst. Dies hat seine natürliche Ursache in der Wochen- und selbst monatelangen
Reise, die das Jmportgetreide aus dem Innern Rußlands, Argentiniens und
Nordamerikas bis an die See und über See nach den deutschen Hafenplätzen
zurückzulegen hat. Es ist aber ein Trugschluß von überraschender Naivetät,
anzunehmen, daß dies Getreide zu den im Augenblicke seiner Ankunft maßgebenden
Preisen gehandelt worden sei und nicht vielmehr zu demjenigen Kurse, der beim
Abschluß der (meist ebenfalls kurz nach der Ernte getätigten) Geschäfte galt.
Sonderbar nimmt sich in börsenfreundlichen Blättern auch die Behauptung
aus, daß die deutschen Getreidevorräte geflissentlich ins Ausland verbracht würden,
um auf deu inländischen Märkten die Preise künstlich in die Höhe zu treiben.
Sonst kann von dieser Seite nicht entschieden genug die bloße Möglichkeit bestritten
werden, durch solche Börsemnanöver die Marktlage nachhaltig zu beeinflussen.
Und im vorliegenden Falle sollte es denkbar sein, daß der gesamte Handel sich zu
einem derartigen Manöver regelmäßig und mit Erfolg vereinigt? Richtig ist nur
das eine, daß der Getreideexport gegen Einfuhrscheine die Wirkung hat, die
Spannung zwischen Inlands- und Weltmarktpreis auch im Osten dauernd etwa
auf der Höhe der Zollsätze zu halten. Damit wird jedoch nur ein — nicht ein¬
mal vollständiger — Ausgleich der Getreidepreise im Osten und Westen Deutsch¬
lands erzielt. Noch jetzt stehen die Preise in Mannheim regelmäßig für die Tonne
um mehr als 10 Mark höher als in Königsberg. Vor Aufhebung des Identitäts¬
nachweises und vor Einführung der Staffeltarife gab es Unterschiede bis zu
40 Mark für die Tonne. Selbst Gegner des Schutzzolls auf Getreide können die
Wiederkehr dieses Zustandes nicht wünschen, unter dessen Herrschaft die Haupt-
masse der Konsumenten (der Westen) für die Brotfrucht so ungleich höhere Preise
zahlen mußte, als der größte Teil der deutschen Produzenten (im Osten) dafür
erhielt.
Dieser Zustand würde aber mit Notwendigkeit wieder eintreten, wenn das
Einfuhrscheinsystem — ohne Ersatz durch starke Frachtermäßigungen — beseitigt
würde. Die Getreideausfuhr aus dem deutschen Osten wäre damit unterbunden.
Der vorhandene Überschuß müßte, soweit er nicht gar an das Vieh verfüttert
würde, wohl oder übel mit Verlust im Westen abgesetzt werden. Dann würde er
naturgemäß die Einfuhr des ausländischen Getreides namentlich auch des Weizens
zurückdrängen, so daß die Reichskasse an Weizenzoll um 10 Prozent (Spannung
zwischen Weizen- und Roggenzoll) mehr einbüßte, als sie an Noggeneinfuhrscheinen
ersparen könnte. Der Konsument im Westen würde davon nicht den geringsten
Vorteil haben, da das deutsche Getreide, mit der hohen Eisenbahnstacht belastet,
den Preis des seewärts eingehenden Auslandsgetreides dort keinesfalls unterbieten
könnte. In: Osten würden freilich die Preise stark herabgehen. Die östliche Land¬
wirtschaft hätte einen schweren, der Getreidehandel der preußischen Ostseehäfen
einen vielleicht vernichtenden Schlag zu erleiden. Und das alles, wie gesagt, ohne
daß die Hauptmasse der Konsumenten, der gesamte Westen, davon den geringsten
Vorteil hat. Auf die Dauer winde natürlich unter dein Druck der Absatzschwierig¬
keiten der Getreidebau im deutschen Osten eingeschränkt werden. Dann würde,
als Folge der Aufhebung des Einfnhrscheinsystems, tatsächlich eine Verringerung
der inländischen Getreidevorräte eintreten, unsere Abhängigkeit von der ausländischen
Getreidezufuhr würde verschärft und, namentlich für Kriegszeiten, die Gefahr der
Getreideknappheit zur Wirklichkeit.
So stellt sich, bei Licht betrachtet, das Ergebnis der angeblich im Interesse
der Browersorguug des Volkes verlangten Wiederherstellung des Identitätsnach¬
weises dar. Ganz ähnliche Folgen würden eintreten, wenn der Einfuhrschein¬
verkehr nicht aufgehoben, sondern nur, wie von anderer Seite verlangt wird, die
Verwertbarst der Einfuhrscheine auf die gleiche Getreideart beschränkt würde.
Dadurch würde nicht allein der, wie eingangs erwähnt, wirtschaftlich rationelle
Ersatz von Roggen durch Weizen unterbunden. Auch der unentbehrliche Austausch
des ostdeutschen Roggens gegen den nach Westdeutschland eingehenden überseeischen
(russischen) Roggen würde gestört. Sobald nämlich, wie seit einigen Jahren
regelmäßig, die Gesamtroggenernte Deutschlands den inländischen Bedarf übersteigt,
würde in diesem Falle die Verwertung eincZ Teiles der Roggeneinfuhrscheine un¬
möglich. Da nun von vornherein nicht feststeht, welchen Teil diese Unverwert-
barkeit treffen würde, so müßte diese Unsicherheit eine allgemeine Entwertung aller
Roggeneinfuhrscheine lind damit eine Erschwerung, unter Umständen die Unmög¬
lichkeit der Ausfuhr zur Folge haben.
In der öffentlichen Diskussion sind dann noch einige Vermittlungsvorschläge
laut geworden, die sich darauf beschränken, unter Aufrechterhaltung des Einfuhr-
schcinsysiems als solches dessen vermeintliche „Auswüchse" zu beseitigen. So wird
angeregt, die Umlaufdauer der Cinfuhrscheine abzukürzen und ihre Verwertbarkeit
zur Begleichung des Zolles auf Kaffee und Petroleum auszuschließen. Die Um¬
laufdauer von sechs Monaten wird schon jetzt nur ganz ausnahmsweise ausgenutzt.
Nach der Statistik in der Denkschrift des Neichsschatzamts laufen die Einfuhrscheine
durchschnittlich nur einen Monat. Die vorgeschlagene Abkürzung der Frist auf
drei Monate würde also an den gegenwärtigen tatsächlichen Verhältnissen so gut
wie gar nichts ändern. Daß die Ausscheidung von Kaffee und Petroleum aus
den Verweudurgsmöglichkeitcn der Einfuhrscheme ohne jeden Einfluß auf die wirt¬
schaftliche Wirkung sein würde ist schon oben nachgewiesen. Aus diesem Grunde
würde sie allerdings auch keinerlei sachlichen Einwendungen begegnen. Im Interesse
der Sache wäre es sogar erwünscht, wenn diese Ausnahme beseitigt würde, die
zu den allerheftigsten und am wenigsten leicht zu widerlegenden Angriffen Anlaß
gegeben hat. Gleichwohl muß der Bundesrat Bedenken tragen, eine von diesen
Maßregeln durchzuführen oder vorzuschlagen, weil er sich dadurch dem Vorwurfe
aussetzen würde, zur Beschwichtigung unberechtigter Beschwerden Scheinmaßregeln
von nachweisbarer Wirknngslosigkeit ergriffen zu haben. Ähnlich verhält es sich
mit einem dritten Neimittlungsvorschlcige, der die Beschränkung der Einfuhrscheme
auf die Wiedereinfuhr der gleichen Getreideart in ihrer Wirkung dadurch zu
mildern und für den Roggenabsatz unschädlich zu machen sucht, daß er Roggen
und Weizen (Brodgetreide) als eine Gstreideart gelten läßt. Eine solche Ein¬
schränkung würde nur für die Haferausfuhr praktische Folgen haben. Sie würde
einerseits die Schädigung der Reichskasse durch Überausfuhr von Hafer unmöglich
machen, könnte aber anderseits auch den unentbehrlichen Austausch von deutschem
gegen fremdländischen Hafer durch Unsicherheit über die Verwendung und daraus
folgende Entwertung des Einfuhrscheins leicht in bedauerlicher Weise beeinträchtigen.
Die gegenwärtige Lage bliebe auch durch eine solche Maßregel völlig unberührt.
Will man eine praktische Wirkung, so kann nur die Wiedereinführung des Identitäts¬
nachweises in Frage kommen oder die unbedingte Beschränkung auf die Wieder¬
einfuhr der gleichen Getreideart. Die Folgen solcher Maßregeln sind oben
dargelegt: schwere Schädigung des östlichen Getreidebaues und des baltischen
Getreidehandels ohne Nutzen für die Reichskasse und für die Hauptmasse der.Kon¬
sumenten. Wer sich diese Folgen vor Augen hält, kann über die Uuannehmbarkeit
Die Wolken, welche noch vor kurzem so drohende Schatten über das Wirt¬
schaftsleben warfen, haben sich plötzlich verzogen. So düster man jüngst über die
Entwicklung der nächsten Zukunft urteilte und so tiefgehend der Pessimismus war,
der das allgemeine Urteil beherrschte, ebenso zuversichtlich und hoffnungsfreudig
Präsentiert sich heute der Rundblick auf die wirtschaftliche Lage. Freilich sind noch
nicht alle Gefahren überwunden; noch tobt der Krieg in Tripolis, noch wühlt die
chinesische Revolution die Verhältnisse des fernen Ostens auf, aber zwei der
schwersten Sorgen sind hinweggenommen: Die endliche Beilegung des Marokko¬
streites hat jede Möglichkeit ernsterer Konflikte in Europa auf absehbare Zeit
beseitigt, und die Situation in Amerika hat einen durchgreifenden Umschwung
zum Bessern erfahren. Die Beendigung der Marokkoaffäre befreit das Wirtschafts¬
leben von außerordentlich schweren Fesseln. Noch ist unier dem Druck der allgemeinen
Politischen Unzufriedenheit mit dem Verlauf und dem Abschluß dieser diplomatischen
Aktion das Gefühl für die ungeheure Bedeutung, welche die friedliche Beilegung
des Streits für unsere wirtschaftliche Entwicklung hat, nicht überall zum Durch¬
bruch gekommen. Aber der Mahnruf, welcher von einer Anzahl der bedeutendsten
unserer industriellen Kapitäns an die Öffentlichkeit gerichtet worden ist, nunmehr
des Haders zu vergessen und sich wieder auf die gemeinsame Arbeit zu besinnen,
wird seinen Eindruck nicht verfehlen. Die Folgen werden und müssen sich bald
zeigen. Denn die Wurzeln unseres Wirtschaftslebens sind gesund und stark, wie
sich in den Zeiten nun überstandener Fährlichkeiten ermiesen hat — sie werden
jetzt, da äußere Hemmnisse nicht mehr im Wege stehen, kräftige Schößlinge treiben.
Die allgemeine Überzeugung an der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer flott
aufwärtsstrebenden Entwicklung hat denn auch zu einer Erholung und Befestigung
der Märkte geführt, die schon einsetzen konnte, ehe die äußern Auspizien einen so
günstigen Anblick gewährten wie heute. Zwei Tatsachen bilden dabei die Grundpfeiler
der Hoffnungen: Die Gestaltung der Geldverhältnisse und die starke
industrielle Beschäftigung.
Mit der Entwicklung des Geldmarktes darf auch ein ausgeprägter Skeptizismus
zufrieden sein. Es ist richtig, der herbstliche Quartalswechsel hat der Reichsbank
Ansprüche gebracht, wie sie in dieser Höhe noch niemals zu verzeichnen waren.
Die Lage war durch die unsicheren politischen Verhältnisse, die damit zusammen¬
hängende Zurückziehung ausländischer Guthaben und den allenthalben auftretenden
Geldbedarf recht kompliziert. Aber es ist der Reichsbank gelungen, aller
Schwierigkeiten Herr zu werden, ohne daß sie zu einer weiteren Erhöhung des
Zinsfußes zu greifen brauchte, hauptsächlich dank der von ihr befolgten Devisen¬
politik, deren Jnciugurierung ein Verdienst der gegenwärtigen Leitung der Bank
ist. Nur mittels dieser großzügigen Geschäftsführung, welche ohne Rücksicht auf
die notwendigen Opfer in jener Zeit starker internationaler Geldbewegung durch
Abgeben aus ihren Beständen fremder Wechsel einer übermäßigen Steigerung der
Devisenkurse entgegenwirkte, war es möglich, die Goldreserve der Bank ohne Zins¬
erhöhung zu sperren und den Geldmarkt vor schweren Zeiten zu bewahren.
Trotzdem wäre aber eine so leichte Überwindung der Schwierigkeiten nicht denkbar
gewesen, wenn nicht unser Geld- und Kreditwesen im Grunde gesund wäre. Eine
Überspekulation an der Böise lag freilich vor und hatte auch, da ihr von den
Banken nicht entgegengearbeitet wurde, zur Investierung bedeutender Mittel geführt.
Aber die Entwicklung der politischen Verhältnisse und der Zusammenbruch in
Ameni'a hatten hier eine zwar sehr schmerzhafte aber doch heilsame Operation
vorgenommen; die Spekulationskredite und Verpflichtungen waren schon lange
vor dem Herannahen des Herbfltermins sehr eingeschränkt. Der Kreditbedarf der
Industrie aber war zwar, dem Stand der Produktionstätigkeit entsprechend, ein
recht bedeutender, aber doch kein gesunder, kein auf Überproduktion und forcierte
Vergrößerung der Werke abzielender. Ein großer und steigender Geldbedarf für
die Zwecke industrieller Investition hätte sich unweigerlich in einem scharfen
Anziehen der Leihsätze geltend machen müssen. Das war bekanntlich durchaus
uicht der Fall; der Geldmarkt bewahrte sogar eine überraschende Flüssigkeit,
und die kräftige Erholung des Neichsbcinkstatus beweist, daß die Quartals¬
anspannung nur auf den bekannten vorübergehenden Ursachen beruhte. Unter
diesen Umständen war es etwas auffallend, daß der Reichsbankpräsident Anlaß
nahm, in einer Sitzung des Zentralausschusses vor einer zu ausgedehnten Kredit-
gewährung zu warnen, und gewissen Bedenken hinsichtlich des Standes der Kredit¬
verpflichtungen Ausdruck gab. Man wird aber, auch wenn man diese Beurteilung
vielleicht zu pessimistisch findet, mit der Tendenz und der Nützlichkeit einer solchen
Warnung sehr einverstanden sein können. Gerade ein Zeitpunkt, in welchem, nach
Überwindung gefahrdrohender Schwierigkeiten, die wirtschaftliche Tätigkeit einen
neuen energischen Anlauf nimmt, scheint sehr geeignet, eine solche Mahnung
auszusprechen. Denn allzu leicht schießt dann die Unternehmungslust über das
Ziel und verkennt die Grenzen, die kühle Beurteilung und eine verständige Ab¬
wägung des Risikos ziehen müssen. Indessen, die Erfahrungen der vergangenen
Krisen sind erfreulicherweise weder bei unserer Industrie noch bei unseren Banken
vergessen. Unbeschadet aller Fehler, die im einzelnen gemacht werden und die sich
nie und nimmer werden vermeiden lassen, darf man die Überzeugung haben, daß
gerade der Kreditbedarf der Industrie heute auf einer gesunden Grundlage beruht,
und daß von ihm unserm Wirtschaftskörper keine Gefahr droht. Es wäre daher
mehr als verwunderlich gewesen, wenn sich das Gerücht bewarheitet hätte, daß
dem Reichstag ein Bankdepositengesetz vorgelegt^ werden sollte, obwohl
man doch vor kaum drei Jahren ausdrücklich darauf verzichtet hatte, der indu¬
striellen Tätigkeit der Banken zugunsten einer problematischen höheren Sicherheit
der Depositengläubiger Fesseln anzulegen. Das wiederauftauchende Verlangen
nach einem gesetzgeberischen Eingriff mag durch die verschiedenen Bankzusammen¬
brüche dieses Sommers, denen sich in letzter Woche der der alten Berliner Firma
Hermann Paasch angereiht hat, erzeugt sein, es ist aber jetzt noch weniger gerecht¬
fertigt als zur Zeit der Bankenquete. Mit dem Jahr 1912 beginnt die von den
Banken freiwillig übernommene Verpflichtung zur Publikation von Zwischenbilanzen
nach dem erweiterten und detaillierten Schema. Erst dann wird man die ziffer¬
mäßigen Nachweise dafür in Händen haben, daß die Liquidität unserer Banken in
der Tat eine ausreichende ist und eine gesetzliche Reglementierung nicht erfordert.
Die industrielle Produktionstätigkeit, deren Lebhaftigkeit und Inten¬
sität die andere Hauptstütze für das Wiedererwachen des Vertrauens abgibt, läßt
sich an einem schlagenden Beispiel an den Versandberichten über die L-Produkte
des Stahlwerksverbandes (Stäbchen, Walzdraht, Bleche. Röhren usw.) verfolgen.
Schon der August hatte die höchste je erreichte Produktionsziffer der Eisen- und
Stahlindustrie gebracht, aber der September hat diese Nekordziffer mit einem
Versand von über 550000 t noch überboten, das sind etwa 70000 t mehr als
im Parallelmonat des Vorjahres und etwa 8 Prozent mehr, als die Gesamt¬
beteiligung aller Werke an den L.Produkten beträgt. Eine ganz überraschende
Entwicklung, die um so mehr Beachtung verdient, als sie sich trotz aller äußeren
Störungen des Wirtschaftslebens vollziehen konnte. Und das gleiche glänzende
Bild einer aufs äußerste gesteigerten Produktionstätigkeit und Prosperität zeigen
uns die Spezialindustrien der Maschinen- und Waggonfabriken, der chemischen
und vor allem der elektrischen Industrie. In dieser günstigen Lage spiegelt sich
die allgemeine Besserung der Konjunktur am Weltmarkt wieder, die nur durch die
bisher so unbefriedigende Situation in Amerika getrübt wurde. Bezeichnend für
die Unternehmungslust und die zielbewußte Expansionspolitik unserer großen
Montanindustriellen ist die Tatsache, daß in großem Stil und unter Aufwendung
bedeutender Kapitalien die Ausbeutung der Eisenerzlager in der Normandie von
ihnen in die Hand genommen worden ist. Der Schwerpunkt der Eisenindustrie
hat sich in den letzten Jahren allmählich nach dem Westen verschoben; wenn jetzt
unsere Industrie ihre Fühler über die Lothringer Grenze auf französischen Boden
ausstreckt, so ist das an sich bemerkenswert genug, aber doppelt bedeutsam in einer
Zeit, in der die Frage des Einvernehmens mit Frankreich, vielleicht die schwierigste
der deutschen Politik, in befriedigender Weise gelöst worden ist.
Der Umschwung in Amerika ist mit der ganzen Plötzlichkeit eingetreten,
die das Kennzeichen von Veränderungen im Wirtschaftsleben der Union zu sein
pflegt. Die drohende Auflösung des Skeet Trust hatte, wie berichtet, die Börse
so heftig erschüttert, daß der Anfang vom Ende und ein völliger Zusammenbruch
gekommen zu sein schien. Wie so oft in Amerika ist just das Gegenteil von dem
eingetreten, was alle Welt erwartet und befürchtet hatte. Nach dem ersten
Schrecken über den von der Bundesregierung gegen die größte Trustgesellschaft
geführten Schlag besann man sich; die Gewißheit, daß ein Prozeß in den Ver¬
einigten Staaten jahrelang durch alle Instanzen gezogen werden könne und also
auf absehbare Zeit hinaus das Schicksal des Trust noch gesichert sei, ließ die
Hoffnung wieder aufglimmen und, kaum geschehen, wandte sich das Blatt völlig.
Mit einemmal schlugen die Berichte über den Eisenmarkt einen zuversichtlicheren Ton
an und, sah man bisher alles grau in grau, so schien plötzlich, den Außenstehenden
unverständlich genug, der Himmel voller Geigen zu hängen. Widerstandslos, wie
vorher die Deroute, sah die Börse eine Hauffe über sich hereinbrechen, getragen,
wie die riesenhaft anschwellenden Umsätze zeigen, von einer solchen Teilnahme aller
Kreise und von einer solchen Kraft und Schnelligkeit der Bewegung, daß ihre
Wucht fast elementar erschien. Vorerst freilich scheint es an einem sachlichen Grund
für eine so völlig veränderte Beurteilung der wirtschaftlichen Lage völlig zu fehlen.
Diese letztere ist in Amerika zweifelsohne nicht glänzend; mau braucht nur die
Monatsausweise etwa des Skeet Trust zur Hand zu nehmen und mit den früheren
Ziffern zu vergleichen. Die Reinüberschüsse wie der Auftragsbestand zeigen ein
bedenkliches Zmückglciien. Die fünfprozentige Dividende für die Stammaktien ist
zwar aufrechterhalten worden, aber ganz offensichtlich nur aus Gründen der
Demonstration. Man darf aber nicht vergessen, daß der Zusammenbruch der
letzten Monate auch nicht das Resultat rein wirtschaftlicher Momente, sondern zum
guten Teil das gewollte Ergebnis eines Feldzugs der Finanzmagnatcn gewesen
ist. Jetzt dürften die gleichen Kräfte am Werke sein, die Hauffe zu fördern. Dann
aber ist es in Amerika, wenn nicht die Regel, so doch sehr häusig, daß der Gang
der wirtschaftlichen Beimgung von der Börse in starkem Maße beeinflußt wird.
„Die Börse macht die Konjunktur", dieser an sich paradoxe, aber unter gewissen
Voraussetzungen doch richtige Satz beansprucht in dem Land der unbegrenzten
Verantwortliche Schriftleiter: für den politischen Teil der Herausgeber George Tlcinow-Schüueberg, für den
literarisch-n Teil und die Redaktion Heinz Amelung-Friedens». — Mauuskriptsenduugen und Briefe «erden
»uSichli-ehlich an die Adresse der Schristleitung Berlin SV. II, Ver»b»rger Strasze 22i>/28, erbeten, — Sprechstunden
der Schristleitung: Montag« 10—12 Uhr, Donnerstags 11—1 Uhr.
Berlag: Verlag der Grenzbot-n G.in.S.H. in Berlin SV. 11.
MslleMNhWeis.
lAus"der Tages- und Fachpresse.)
Anfragen zu richten nnter Beifügung von Rückporto an
die G-schitstSstelle der Grenzbote», Berlin SW. U.
^. Mr Ä.k«v>-miK,?!,
MI. Pfarrer, 1. Dez d, Is. (SM> M.). Pommer»,
679, 1. Bürgermeister, bald (>2NVV M,), Wests,
580, Bürgermeister iMltt M,), bald. Hnn»,
581, Vorsitzender (4»M M,), t. 1 >S, Pommer»,
582, C-Mil. nun. od. «neol. f. 2-3 Sed, tagt, f, Ober-
tert,, Pommer»,
N. LLx DttMeA«
es». Erzieherin, mus,^ co„ l! 1.12, f. 9-jiihr, Mädchen,
Mecklenburg,KM, Erzieherin, all„ gepr,, mus„ 1.1.12, A»halt,
567, Erzieherin, 1,1, i2, gepr,, co„ Pommern.
5V8, Erzieherin, gepr,, s, 7jähr, Mädch,, Thüniigcn,
570, ^zichcrin, co,, gepr,, I. 1, 12 (Frz, K, erw,1,
Pommer»,
575, Erzieherin, sie,, gepr,, s, 2 Mädch,, 1.1.12, A»halt,
57l>, Erzieherin, hos,, co„ gepr,, n>»s„ Mccklbg.
577, Erzieherin, gepr,. co,, 1,1,12, Pommern,
578, Erzieherin, co,, jn»g, (»ins,, c»g>,, sianz,), 1,1, 12,
Attmork,
KW, Erzieherin, >»us, (Sprnchk-mit,), 1.1.12, s, II jähr,
Mädch,, Pommer»,
584, Lehrerin, co,, gepr,, in»s„ f. S Mädch,, I, I, 12,
Thüringe»,
585, Erzieherin u, Lehrerin zugleich s, «'/-jähr, Maseh,,
Hannover.
le Wandlung der politischen Verhältnisse Europas war 1870/71
so einschneidend, daß der Papst fürs erste der Hoffnung, feine
weltliche Macht wiederherstellen zu können, wenig Raum gab.
Zugleich erlahmte naturgemäß sein unmittelbares Interesse an den
nationalpolitischen Aspirationen der Polen.
Jedoch dem Papste blieb nicht lange Zeit zur Resignation. Die Hebung
seiner Autorität und Machtfülle in geistlichen Dingen und mittelbar in allen
persönlichen und bürgerlichen Verhältnissen der Katholiken, welche die Festsetzung
des Unfehlbarkeitsdogmas mit sich brachte, wurde der Ausgangspunkt heftiger
und nachhaltiger Angriffe gegen die Einrichtung des Papsttums. Dieser Angriffe
mußte Pius der Neunte sich kämpfend erwehren, wo es anging auch mit den
Mitteln der Offensive. Solange die Angreifenden geistliche oder weltliche
Katholiken waren, die mit Vernunftgründen agitierten, war die Sache für Rom
nicht übermäßig tragisch; denn letzten Endes stand nicht mehr auf dem Spiel,
als daß der „Häretiker" und Exkommunizierten etliche mehr wurden, und daß
zu den vielen schon bestehenden Sekten sich noch eine neue gesellte. Tragisch
war für Rom nur, daß die Staaten sich ihm entgegenstellien und sich nicht
begnügten, jede Überlegenheit der geistlichen über die weltliche Macht zu bestreiten
und die Kirche dein Staate wenigstens nebenzuordnen, sondern vielmehr die
Unterordnung der Kirche unter den Staat und damit die Preisgabe der auto¬
nomen Hoheit und Internationalist Roms heisesten. Frankreich freilich hielt
sich vorerst zurück, wie es auch als Republik dabei verblieb, das päpstliche Recht
auf Rom nicht als verfallen anzusehen und des öfteren eine Lanze für seine
Verwirklichung zu brechen. Aber der Besteger Frankreichs und Unterstützer
Italiens, Preußen, legte sich nicht die geringste Zurückhaltung auf. Dem
preußischen Kampfe mit Rom folgten nach verschiedenen Gesichtspunkten und in
verschiedener Ausdehnung ein russischer, österreichischer, italienischer, französischer.
Der preußische Kulturkampf hatte seine gehässigsten Erscheinungen in den
polnischen Landesteilen. Hier trug nämlich Roms Tat, die religiösen Vor¬
stellungen und Vetätigungen römisch-katholischen Rezepts mit dem nationalen
und politischen Denken der Polen organisch verknüpft zu haben, volle Früchte.
Hier war es auch, wo Rom die beste Handhabe erhielt, den Kampf mit der
preußischen Regierung wirksam zu führen. Keine verborgene oder offene,
chronische oder akute Auflehnung gegen die Negierung in den polnischen Landes¬
teilen, an der Rom nicht wenigstens mit seiner Sympathie beteiligt gewesen wäre!
Im Jahre 1872 erklärte Bismarck, daß die Staaten nicht damit einver¬
standen sein könnten, wenn der Papst kraft der Stabilierung der Unfehlbarkeit
und der Inanspruchnahme höchster, ordentlicher und unmittelbarer Jurisdiktion
seine Macht an die Stelle der bisher diözesanbischöflichen Kompetenzen setze, da
die Bischöfe alsdann nichts als päpstliche Instrumente darstellen würden und hiermit
eine Beeinträchtigung wesentlicher Interessen und Rechte des Staates herbeigeführt
wäre. Hiervon ausgehend unternahm Bismarck einen radikalen Angriff gegen
Rom und forderte zunächst, daß „die Staaten" auf das Konklave für
die Papstwahl einen mitbestimmenden Einfluß erhalten sollten. Das war eine
Forderung, welche die anderen Staaten, die diesen Einfluß traditionell bereits
ausübten, zu unterstützen keinen Grund hatten. Pius der Neunte war um so
weniger geneigt. Verständnis für diese Forderung zu zeigen, als er die gegen
ihn gerichtete Demonstration in der ersten Sitzung des Deutschen Reichstages
noch nicht verschmerzt hatte. Ferner hatte Viktor Emanuel der Zweite bei
seinem persönlichen Besuch in Berlin im Jahre 1873 eine so gute und den
politischen Status Italiens so festigende Aufnahme gefunden, daß noch vor dem
Abschlüsse des Bündnisvertrages Deutschland und, auf seinen Antrieb, auch
Österreich-Ungarn förmliche Garantien der Unversehrtheit Italiens übernommen
zu haben schienen, wodurch sie sich gewissermaßen als dauernde Gegner der
päpstlichen Rechte auf Rom erklärten.
Als nun Bismarck im Jahre 1873 mit den Maigesetzen und einer Anzahl
weiterer gesetzgeberischer, administrativer und strafrechtlicher Maßnahmen seinem
Standpunkt eine praktische Form zu geben begann, als man allenthalben den
Eindruck einer Provokation gegen das Papsttum hatte, mußte auch der Papst
aus der Zurückhaltung heraustreten. Es erschien jene in heftigster Sprache
geschriebene päpstliche Enzyklika an die preußischen Bischöfe, die am 5. Februar
1875 veröffentlicht wurde. Der Papst erklärte hier rund heraus die Entsetzung
der Bischöfe von Posen-Gnesen und Paderborn als im Widerspruch zu allen
geschriebenen und natürlichen Gesetzen stehend. Er erhob „mit aller Kraft
und aller göttlichen Autorität seine anklagende Stimme gegen jene unbilligen
Gesetze und Aktionen und gegen die scheußliche Mißhandlung der Freiheit der
Kirche" und „teilte der ganzen katholischen Welt und jedem, den es angeht,
öffentlich mit", daß jene Gesetze null seien, weil sie absolut im Gegensatz zur
göttlichen Verfassung der Kirche stünden. Die Bischöfe seiner Kirche seien, was
ihren heiligen Dienst betrifft, nicht „den Mächten der Erde", sondern Petrus
und seinem Nachfolger in Rom unterstellt und könnten von keiner weltlichen
Macht ihrer Würde entkleidet werden.
Pius der Neunte hatte somit genug gesagt, um seinen Getreuen verständlich
zu sein und seinen Gegnern keine Waffen in die Hand zu geben. Das schloß
nicht aus, daß er noch anderes plante, tat und tun ließ. Er ernannte im
Konsistorium vom 15. März 1375 den Erzbischof von Posen-Gnesen, Ledochowski,
zum Kardinal, trotzdem dieser wegen gesetzwidrigen Verhaltens vom Staate
seines Amtes entsetzt und mit zwei Jahren Gefängnis bestraft worden war.
Was dies bedeutete, hat Ledochowski selbst im geheimen Konsistorium im April
1876 in einer Dankansprache an den Papst dargelegt: „. . . Und da die Ver¬
folgung der Kirche heftiger war in jenem Teile Polens, welcher sich jetzt unter
der preußischen Besetzung befindet, weil die katholischen Traditionen und der
glühende Glaube unserer Nation sie den Feinden der Wahrheit verhaßter machten,
darum geruhte Ew. Heiligkeit, mich, der ich ihr Hirte bin, auszuzeichnen, um
der ganzen Nation den Beweis Ihrer souveränen Befriedigung zu geben. Die
Ehre dieses heiligen Purpurs fiel wie ein himmlisches Manna auf mein unter¬
drücktes und zuspruchbedürftiges Vaterland, und sie dürfte ihm ohne Worte zu
vollem Bewußtsein bringen, daß es, wenn auch vergessen und verlassen von
der Welt, doch immer geliebt und gesegnet ist von Gott, dessen Vikar Ew.
Heiligkeit ist."
War, um mit Ledochowski zu sprechen, die päpstliche Befriedigung über
das Verhalten der Polen gegen die preußische Regierung wirklich begründet?
Ein Überblick über die lange Reihe der in den Jahren 1873 bis 1877 im
Posenschen geführten und durch Verurteilungen abgeschlossenen Strafgerichts¬
prozesse wegen Landfriedensbruchs, Widerstandes gegen die Staatsgewalt, Amts¬
mißbrauchs usw. und wegen Aufreizung hierzu, bezeugt in der Tat, daß es die
Polen an gutem Willen und Eifer nicht haben fehlen lassen, um direkt und
indirekt den römischen Wünschen zu genügen. Um gerecht zu sein, wird man
freilich einräumen müssen, daß die preußische Regierung als Erwiderung auf
die leidenschaftlichen Empörungen und Ausschreitungen der polnischen Bevölkerung
keine Milde walten ließ und in der Provinz Posen schärfer vorging als in den
anderen Provinzen. Zur Erhaltung der Regierungsautorität wurden die Mai¬
gesetze verschärft, die Berechtigung der Kirchen zum freien Verkehr mit ihrem
römischen Oberhaupte wurde aufgehoben (1875), und als weitere Folge ergab
sich eine Reihe von Maßnahmen gegen widerspenstige Geistliche, von denen bald
nicht weniger als achtzig, sämtlich aus der Diözese Posen-Gnesen, zu gleicher
Zeit im Gefängnis waren. Keiner der Geistlichen hatte dem Drängen der
Behörden und der Gerichte nachgegeben und den Namen des päpstlichen geheimen
Delegaten, der die Diözese Posen-Gnesen tatsächlich in: geheimen verwaltete,
bekannt gegeben. Prälaten, Dekane, einfache Geistliche zogen mehrmonatliches
Gefängnis der Preisgabe des Geheimnisses der römischen Herrschaft vor. Als
Ledochowski, der sich auf wiederholte Aufforderung hin unbeirrt geweigert hatte,
seine Absetzung als Erzbischof von Posen-Gnesen zu unterschreiben, am 3. Februar
1876 das Gefängnis verließ, wurde er sofort polizeilich außer Landes begleitet.
Eine große polnische Demonstration, wie sie nachher bei Ledochowskis
Eintreffen in Krakau stattfand, wurde in Östrowo vereitelt. Ledochowski nahm
von Rom aus, wo ihm von der vatikanischen und der polnischen Welt ein
glänzender Empfang bereitet wurde, sofort die Verbindung mit seinen Posen-
Gnesener Diözesanen auf. Er spornte sie an, in ihrer Treue zu Kirche und
Papst zu verharren und mit ihm verbunden zu bleiben vermittels des geheimen
Delegaten, dessen Namen und Aufenthaltsort sie kannten. Im September 1876
hatte Ledochowski den Mut, gegen das Gesetz vom 7. Juni 1876 über die
staatliche Überwachung der Verwaltung der Kirchengüter beim preußischen Mini¬
sterium zu protestieren und einen Monat später diesen Protest sogar zu ver¬
öffentlichen. Wenige Zeit darauf mußte das Gericht von Jnowrazlaw ihm
2V4 Jahre Gefängnis und 300 Mark Geldstrafe auferlegen wegen Majestäts¬
beleidigung, Verletzung der Maigesetze, Attentates gegen die öffentliche Ord¬
nung u. tgi., begangen in Form von Briefen aus Rom an mehrere Priester
des Bezirks Jnowrazlaw. Kurz: die Agitation, die Ledochowski von Rom aus
betrieb, wurde so empfindlich, daß die preußische Regierung durch die Botschaft
des Deutschen Reiches beim Quirinal bei der italienischen Regierung vorstellig
wurde, ihr Ledochowski auszuliefern. Als die italienische Regierung Neigung
zeigte, dem Wunsche Preußens zu willfahren, verlegte Ledochowski seine Woh¬
nung auf Befehl des Papstes in den Vatikan selbst und wurde somit für die
italienischen Behörden unerreichbar. In der katholischen Welt und in ganz
Polen besonders hieß es nun, daß Ledochowski jetzt ebenso wie der Papst zur
Gefangenschaft im Vatikan verurteilt sei und beide der Befreiung von ihren
religiösen und politischen Unterdrückern harren.
„Unterdrücker" waren nun in diesen Jahren außer Preußen, wo Bismarck,
„die neue Geißel Deutschlands", „der neue Attila" der deutschen Katholiken,
Ministerpräsident war und blieb, und außer Italien, dessen Beziehung zu Deutsch¬
land im Interesse einer eventuellen Bekämpfung Frankreichs und des Katholizismus
sich zu einem Bundesverhältnis zu konsolidieren begann, nochÖsterreich und Nußland.
Österreich nur glimpflich. Seine polnischen Landesteile waren zwar auch
usurpierte Stücke des Königreichs Polen, aber sie waren immerhin mit so viel
Freiheiten ausgestattet, daß die großpolnische Agitation hier ihr Hauptquartier
halten und die Fahnen frei entfalten konnte. Allein Österreich bedürfte Deutsch¬
lands für seine Pläne in Bosnien und in der Herzegowina. Man war in Rom
nicht zufrieden, daß die österreichische Negierung sich nicht für eine feine, von
den Jesuiten mit Kunst organisierte Unternehmung des Wiener päpstlichen
Nuntius Jacobini zu erwärmen vermocht hatte. Jacobini hatte nämlich just,
als die vatikanischen Beziehungen zu Rußland in die Brüche gegangen waren,
eine Reise nach Starowics in Galizien unternommen, „um in einer dortigen
Kirche ein Madonnenbild zu krönen"; in Wahrheit aber war der Zweck der
Reise nur die Veranstaltung glänz- und stimmungsvoller Feste in Starowics,
in Leopoli und in Krakau, die den galizischen Ruthenen die Reize des römischen
Katholizismus nahe bringen und sie vom Schisma fort in den Schoß der
römischen Kirche führen sollten. Nebenbei gaben diese Feste Gelegenheit, die
polnische Aristokratie Galiziens nachdrücklich für die kirchlichen Interessen ihrer
Volksgenossen in Nußland zu erwärmen.
Mit den Russen war die Kunst Roms in polnischen Geschäften auf ein
totes Geleise gelangt. Nach den vielen Beschwerden über einzelne Maßnahmen
der russischen Negierung gegen katholische Geistliche, Einrichtungen und Besitz¬
tümer und nach der brüsten päpstlichen Auseinandersetzung mit dem russischen Ge¬
schäftsträger ging es der römischen Kirche noch'schlimmer als zuvor. Auch in
Rußland unternahm man nach dem Vorbilde Preußens, mit dem man sich
damals übrigens in der äußeren Politik sehr gut stand, mit Rom einen „Kultur¬
kampf". Man bedürfte in Rußland nur eben einer oberflächlichen Erwägung
des Ergebnisses des vatikanischen Konzils, um Frontstellung gegen Rom ein¬
zunehmen. Es war der russischen Orthodoxie willkommen, Rom einmal zu
zeigen, wer von beiden in Rußland Herr sei.
Wie namentlich aus einer, in einem Notbuch der Vereinigten Staaten von
Nordamerika enthaltenen objektiven Sammlung amtlicher Materialien erhellt, befahl
1872/73 der Prokurator des si. Synods und Minister des öffentlichen Unter¬
richts, Graf Tolstoi, seinen untergeordneten Organen, dahin zu wirken, daß die
230 000 Griechisch-Nnierten, welche noch in Litauen lebten, baldigst zur griechischen
Orthodoxie „zurückkehren."
In einer Enzyklika vom 23. Mai 1874 an die ruthenischen Bischöfe brand¬
markte Pius der Neunte die Ereignisse von Chelm. Einen Monat zuvor hatte
Tolstoi ein Rundschreiben erlassen, welches dem römisch-katholischen Klerus verbot,
an sogenannten Missionen teilzunehmen und mit Katholiken von „slawischen"
l?nu3 in 8ÄLN3 zu kommunizieren. Man erkannte jedoch bald, daß man gro߬
zügigere Mittel ergreifen mußte, um zum Ziele zu kommen. Der damalige
„Administrator der Diözese Chelm" und Apostat Popiel war sich klar, daß eine
Regulierung der Grenze Polens einen Hauptschritt zur RussifMtion der Unierten
bedeuten würde. War doch namentlich der Bezirk Chelm im Jahre 1839 dem
Ruin der griechisch-unierten Kirche in Litauen nur darum entgangen, weil er
ein Teil des Königreichs Polen war und als solcher dessen Privilegien, an die
die Polen nicht ruhig rühren ließen, mit genoß! In dem Versuch, diesen östlichen
Teil, in dem die Unierten ihre Wohnsitze hatten, vom polnischen Gebiete abzu¬
trennen und dem eigentlichen Rußland einzuverleiben, fand Popiel die Unter¬
stützung des Generalgouverueurs Berg, der aber zu rasch verstarb, um das Ziel
erreicht zu sehen. Im Jahre 1875 war man soweit gekommen, daß der Über-
gang der Griechisch-unierten zur russischen Orthodoxie in Massen vollzogen werden
konnte. Im Bezirk siebten gingen 50 000 Personen, d. h. 45 Parochien mit
26 Geistlichen^ die im Rufe besonderer Treue zu Rom gestanden hatten, über,
im Bezirk Chelm 128 Parochien und Priester, im Bezirk Labiin eine ähnlich
große Menge, und dies in voller Form. Die Übertretenden erklärten^ ihren
Entschluß schriftlich, und die Parochialgeistlichen unterbreiteten für sich und ihre
Herden Gesuche, wieder zurückkehren zu dürfen in den Schoß der orthodoxen
Kirche, Gesuche, die durch eine Deputation unter Führung des braven Popiel
vom Zaren entgegengenommen wurden. Und an dem Tage der Audienz dieser
Deputation beim Zaren, der die „Rückkehrenden" mit offenen Armen in den
Schoß seiner Kirche aufzunehmen erklärte, wurden vom russisch-orthodoxen Erz-
bischof von Warschau „auf ihren Wunsch" noch 42 Parochien mit 80 Geistlichen
in denselben Schoß aufgenommen. Die kirchliche Vereinigung Chelms mit Ru߬
land war erreicht, die griechisch-unierteKirche von Chelm hatte aufgehört zu bestehen.
Es ist gewiß nicht verwunderlich, daß Rom angesichts dieses Verhaltens
und in Voraussicht eines ähnlichen Vorgehens auch gegen den lateinischen Ritus,
gegen die eigentliche römisch-katholische .Kirche in Rußland sich nach wirksamen
Waffen umsah. Der Vatikan hintertrieb zunächst das Gelingen einer Versöhnungs¬
und Verbrüderungsbewegung zwischen Russen und Polen, welche im Namen der
slawischen Idee betrieben wurde und deren Zweck es war, die Polen zur Auf¬
gabe ihrer politischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu bestimmen gegen das Ver¬
sprechen, daß der „Eintritt der Polen in die slawische Gemeinschaft" den Verzicht
der Russen auf ihre Russifizierungsversuche Polens mit sich bringe. Der Vatikan
nahm sodann entschiedene Stellung in der großen diplomatischen und kriegerischen
Komplikation, die ihr vorläufiges Schlußstück in der Berliner Konferenz von
1878 hatte.
1876 war die Lage in groben Zügen die, daß Rußland mit mehr oder minder
passiver und bedingter Unterstützung Deutschlands und Österreichs sich gegen die
Türkei wandte, während England sich bemühte, Rußland dabei zu keinem kapitalen
Erfolge gelangen zu lassen. Rom war also der natürliche Verbündete Englands, und
Rom und England arbeiteten in der Tat planmäßig zusammen. Für Rom gab es
da zuvörderst allerdings ein heikles Vorurteil in der öffentlichen Meinung zu
überwinden. Rußlands erklärter Grund zum Kampfe gegen die Türkei war nämlich
der, der Unterdrückung der balkanischen Christen durch den Sultan ein Ende zu
machen und dem Kreuze gegen den Halbmond zum Siege zu verhelfen. Daß nun
just der „Vikar Christi" sich einem solchen Unternehmen, einem wahren Kreuzzuge,
widersetze, mußte befremden. Offen auszusprechen, daß das Vordringen Ru߬
lands in der europäischen Türkei und sein Festsetzen in Konstantinopel-Bnzanz
eine äußere und moralische Machtvergrößerung der russisch-orthodoxen Kirche
darstellen würde, die Rom gefährlich werden und den alten Kampf des
Orientalischen gegen das Lateinische neu beleben müßte, ging für den Papst nicht
gut an. Er begnügte sich mit einer offiziösen Auslassung voller Hohn über Ruß-
land als Vorkämpfer des Kreuzes. Der Zar solle doch, sagte er, bevor er, das
Schicksal der dem Türken Untertanen Christen zu „bessern" beginne, lieber das
> der acht Millionen katholischen Christen des eigenen Reiches bessern, die er
schlimmer mißhandle als der Türke seine Untertanen. Der Zar solle, anstatt
seine „väterliche Liebe" an „alle Mitglieder der großen christlichen Familie der
Balkanhalbinsel" zu verschwenden, sie lieber den eigenen Polen zuwenden.
Er ließ, während im Winter 1876 die ergebnislosen diplomatischen Konferenzen
in Konstantinopel stattfanden, den Bevollmächtigten durch Priester slawisch-
unierter Riten, die ans Rußland wegen der Verfolgung ausgewandert waren,
eine Denkschrift überreichen, in der alle russischen Taten gegen die Sprache, die
politische, religiöse, persönliche und wirtschaftliche Freiheit und Wohlfahrt der
Polen und der Unierten eindrucksvoll aufgezählt und als im Widerspruch hingestellt
waren gegen die Versprechungen Rußlands zugunsten der Serben, Bulgaren usw.,
Versprechungen, die nur zur captatio benevolentiAe dieser wie der Mächte
dienen sollen und doch nicht gehalten werden, sobald Rußland erst der Herr sei.
Wenn die Konferenz dem Orient Frieden gebe und von der mohammedanischen
Türkei Freiheit und Reformen für die Slawen des Türkenreiches erlange, so
müsse sie gleiche Freiheiten und Reformen für die polnische Nation durchsetzen,
die der christlichen russischen Regierung unterstehe.
Was der Papst tat, war Wasser auf die Mühle Englands. Die Stimmung
Englands war seit der aggressiven Rede Disraelis von 1875 ohne Zweifel
russenfeindlich und blieb es auch, nachdem England dem diplomatischen russischen
Vorgehen gegen die Türkei nach vielem Widerstreben eine verklausulierte Zu¬
stimmung gegeben hatte. England mußte im Interesse seiner asiatischen Macht-
, Stellung das Steigen eines Einflusses Rußlands in und gegenüber der Türkei
verhindern. Stieg der Einfluß Rußlands dennoch, so durfte England nicht ver¬
säumen, mit denselben Mitteln wie Nußland zu arbeiten, um ihm keinen Vor¬
sprung zu lassen, und das hieß vor allem, daß auch England religiöse Motive
mit heranzog. England könne zwar nicht zulassen, daß Rußland die Türkei
erwürge, aber es sei darum beileibe uicht ein Komplice der Türken zur Unter¬
drückung der Christen, sondern ganz im Gegenteil gewähre England den Türken
überhaupt nur seine Gunst, insofern sie Englands Rechte zum Schutze der
Christen anerkennen durch Zugeständnisse an diese. England ließ sich natürlich
nicht dadurch anfechten, daß es solchermaßen Urheber des revolutionären und
kriegerischen Orientbrandes wurde, sondern ging mit allen Mitteln vor, um
feinen Interessen zu dienen und den russischen Interessen wie den Freunden der
russischen Interessen, und zwar natürlich in erster Linie den Deutschen, zu
schaden. Ich begnüge mich hier mit der Angabe zweier bezüglicher Daten, die
sehr hübsch veranschaulichen, wie sich England und Rom in dem gleichen Be¬
mühen begegneten.
Im Jahre 1875 sandten die Bischöfe Englands zum zweiten Male eine
Adresse an die preußischen Bischöfe, um ihre vollkommene Solidarität mit den
deutschen Katholiken zu versichern; wenn die Engländer nicht gleich die Rezepte
und Geld zu einem regelrechten Aufstande der Katholiken gegen die Regierung
anschickten, so lag das nicht an ihnen. Ja, just die Bischöfe des anglikanischen
Englands machten sich Kummer um die deutschen Katholiken. Eigentümlich,
daß gleichzeitig Kaiser Wilhelm eine Adresse der „Royal Orange Institution"
aus dem katholischen Irland erhielt, die seine Kirchenpolitik lobte; freilich war
Irland dazumal wohl Glied, aber nicht Freund Englands. Als nun Bismarck
bei der englischen Regierung vorstellig wurde, daß sie solche gegen die Hand¬
lungen einer fremden Regierung gerichteten Kundgebungen nicht unterdrücke, war
die für ihre Motive höchst bezeichnende Antwort der Bischöfe Englands die, daß
sie in Form eines Hirtenbriefes (!) an ihre Diözesanen die briefliche Korrespondenz
zwischen dem Papste und den preußischen Bischöfen veröffentlichten. Das englische
Volk reagierte darauf mit dem erregten Rufe nach Waffenrüstung gegen Deutsch¬
land, das ohnehin verdächtig schien, die Affäre Duchesne (Attentatsplan auf
Bismarck) zum Ausgangspunkt eines Angriffs auf Belgien zu nehmen.
Das englische Blaubuch von 1877 enthielt als Nummer 1 die Korrespondenz
der diplomatischen und konsularen Agenten Englands in Rußland über die den
Gliedern der griechisch-unierten Kirche zuteil gewordene Behandlung. Es enthielt
des weiteren die obenerwähnte Denkschrift der unierten Priester an die Kon-
stantinopeler Konferenz, die außer England kein einziger Staat amtlich zur Kenntnis
nehmen zu dürfen geglaubt hat. Die Vorlegung solcher Aktenstücke über innere
Angelegenheiten Rußlands an das englische Parlament durch die englische Ne¬
gierung hatte man allen Anlaß in Rußland als einen „politischen Skandal" zu
bezeichnen. Man erkannte, daß er Machinationen diente, an denen außer England
noch der Papst und die Polen beteiligt wären.
Unter Hinweis auf dieses englische Blaubuch, „ein unparteiisches Zeugnis,"
veranstaltete der italienische Kanonikus Picchi mit Unterstützung von Kardinälen
und Bischöfen öffentliche Geldsammlungen zugunsten der polnischen Geistlichen
in Rußland und Preußen. Als 1878 die russischen Erfolge die Austeilung der
Türkei wahrscheinlich machten, agitierte man von Rom aus mit dem englischen
Blaubuchmaterial, indem man die Gefahren für die orientalischen Katholiken aus
dem Schicksal der Polen und der unbilligen Handlungsweise Rußlands gegen
den „Vikar Christi" demonstrierte. Rom tat sodann das Seine, um Österreich-
Ungarn zu verpflichten, zugunsten einer Verselbständigung den Balkanstaaten
eine größere Bewegungsfreiheit einzuräumen und in diesen wieder eine Abneigung
gegen Rußland großzuziehen. Endlich veröffentlichte im Januar 1878 Rom
das im August des Vorjahres ergangene Rundschreiben des päpstlichen Kardinal¬
staatssekretärs Simeoni an alle päpstlichen Vertreter bei europäischen Regierungs¬
kabinetten sowie die dazu gehörenden Dokumente, die besagten, daß dem diplo¬
matischen Agenten Rußlands beim Vatikan, Prinzen Urussoff, die Beziehungen
zum Papst und Staatssekretär aufgesagt worden seien. Eine lange Aufzählung
der russischen Vergehen gegen die kirchlichen Verhältnisse in Polen gab der
Katastrophe des Abbruchs der Beziehungen zwischen Rom und Rußland Hinter¬
grund und den für den praktischen Effekt wichtigsten Akzent.
Doch PapstPius der Neunte starb im Jahre 1878, und nach seinem Hinscheiden
wurden seine Waffen stumpf. Allerdings ließ man in Preußen wie in Rußland
auch nach mit der Bekämpfung Roms und seiner Einrichtungen. Der Sozialismus,
der Terrorismus, der Nihilismus hatten ihr Haupt erhoben. Die Katholiken
konnten ihre passive oder oppositionelle Haltung, welche sie in innerpolitischen
Dingen befolgten, aufgeben, da man diese im großen ganzen als Elemente der
Ordnung anzusehenden Volksteile zum positiven Schutz der sozialen Verfassung
heranziehen wollte.
Papst Leo der Dreizehnte hatte keine Neigung, den wenig erfreulichen
Nachlaß seines Vorgängers politisch weiter zu verfolgen. Leo sah seine Haupt¬
aufgabe in der Regelung der römischen Frage. Er legte in diesem Sinne den
diplomatischen Vertretungen der Mächte beim päpstlichen Stuhle sehr große
Wichtigkeit bei und machte sich, unter voller Ausnutzung des neuen persönlichen
Moments, daran, zunächst mit Preußen und Rußland die diplomatischen Be¬
ziehungen wiederherzustellen. Das gelang ihm und war jedenfalls eine öffent¬
liche und eklatante Mehrung des Prestiges des Papsttums.
Nun war den Mächten, so geschickt Leo der Dreizehnte sich ihnen auch zu
nähern und sie an sich zu ziehen vermocht hatte, doch vor allem daran gelegen,
für ihre inneren kirchlichen Anliegen den Papst zu Willen zu haben. Leo der
Dreizehnte zeigte hierbei wenigstens den guten Willen, Er verhandelte konziliant
und suchte nach einem praktischen mockus vivencki, wo er grundsätzlich nicht
entgegenkommen konnte. Auf die polnische Sache kam er Preußen gegenüber
möglichst wenig zurück; als im Oktober 1878 das Gericht in Birnbaum den
Kardinal Ledochowski wieder einmal verurteilen mußte wegen seiner von Rom
aus begangenen Verletzung der Maigesetze und „mißbräuchlicher" Jurisdiktion
gegen Geistliche der Diözese Gnesen-Posen, legte Leo der Dreizehnte wenige
Wochen später auf die verletzten Gefühle der preußischen Regierung ein Pflaster,
indem er die Enzyklika gegen die revolutionären Bestrebungen schrieb. Hin¬
gegen kam er der russischen Negierung, als diese von ihm forderte, daß die
religiöse Sache von der polnisch-nationalen um jeden Preis in Polen gesondert
gehalten werden müsse, hierin grundsätzlich und später auch praktisch entgegen.
Galt es doch die im Jahre 1882 tatsächlich abgeschlossene Konvention zugunsten
einer Reorganisation der katholischen Kirche in Rußland durchzubringen und
mit Nußland jene Fühlung zu gewinnen, die Kardinal Rampolla bei einer
Audienz, die Leo der Dreizehnte einmal gleichzeitig dem Botschafter Frankreichs
und dem Gesandten Rußlands (Jsvolski) gewährte, in die Worte kleidete: Das
ist unser Dreibund, Rußland. Vatikan. Frankreich. Leo lag allerdings nichts
daran, die Polen, deren Ärger wegen des Paktierens des Vatikans mit den
Regierungen Rußlands und Preußens sich sehr bald auch in Kritiken am Papste
Luft machte, zu verstimmen. Als 1883 ein päpstlicher Delegat, der heutige
Kardinal Vincenzo Vannutelli, zirr Krönung Alexanders des Dritten nach Moskau
ging, wußte er sich die Erlaubnis zu verschaffen, auf der Rückreise Warschau
und andere Städte Polens zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit wurde dann
deu Polen die Allgegenwart und väterliche Fürsorge Roos wieder zum Be¬
wußtsein gebracht. Des diplomatischen Verständnisses ermangelnd, kamen aber
noch im selben Jahre russische Ruthencn nach Rom, um dem Papste
in einer Adresse höchste Verehrung, zugleich aber lebhafte Klagen gegen den
Zaren und die russische Regierung auszusprechen. Leo der Dreizehnte glaubte,
daß die Adresse geheim bleiben werde, und nahm sie entgegen, natürlich ohne
jeden durch die diplomatischen Regeln gebotenen Protest. Das Journal de Rome
veröffentlichte jedoch die Adresse, und ein Protest der russischen Regierung ließ
nicht auf sich warten. Es folgte eine starke Abkühlung der russisch-vatikanischen
Beziehungen, die ein Jahrzehnt, bis zu der päpstlichen Enzyklika von 1894 an
die „polnische Nation", anhielt. Diese Enzyklika empfahl den preußischen,
österreichischen und vorzugsweise den russischen Polen die Achtung der stabilierten
Autorität und den aufrichtigen Gehorsam gegen die weltlichen Mächte und stellte
hierfür eine fortschreitende Besserung ihrer religiösen Verhältnisse in Aussicht.
War diese Enzyklika im Grunde nichts weiter als der Rat an die Polen, eine
effektive Übermacht nicht durch eine ebenso irritierende wie sterile Opposition
gefährlich gegen sich einzunehmen, war sie — mit anderen Worten — keineswegs
eine Verurteilung der polnischen Gedanken und Hoffnungen auf nationalpolitische
Wiederauferstehung, so war sie doch eine bedeutsame Scheidung zwischen polnisch¬
kirchlich und polnisch-politisch, die ins Gewicht fiel und die man namentlich in
Petersburg mit gutem Grunde Rom hoch anrechnete. Und Rom hatte mit dieser
Scheidung auch weit über die augenblicklichen diplomatischen Interessen hinaus
ein vorzügliches Geschäft gemacht. Es hatte die Bewegungsfreiheit erlangt, um
bei Minderung der Angriffe gegen die katholische Kirche deren Besitzstand zu
festigen und auszudehnen und um in den ihr 1875 genommenen Unierten die
Anhänglichkeit an Rom nicht ersterben zu lassen, die nach Erlaß des Toleranz-
ukases sich in der Tat durch zahllose RückÜbertritte aus der Orthodoxie zum
Katholizismus glänzend offenbarte und es dahin kommen ließ, daß heute u. a.
die religiöse und politische Lage in Chelm für die russische Negierung wieder
ein offenes und ernstes Problem darstellt. (Die Beziehungen zwischen Polen
und Rom vor 1870 siud in Heft 44 dargestellt. Die Schriftltg.)
er in den letzten Jahren den Fortschritt der psychologischen
Forschung und der Verwertung ihrer Ergebnisse für die Theorie
und Praxis der Erziehung aufmerksam verfolgt hat, muß bemerkt
haben, daß sich das Thema „Jntelligenzprüfungen an Schul¬
kindern" einer dauernd zunehmenden Beliebtheit erfreut. Noch
vor zwanzig Jahren gab es etwas derartiges überhaupt nicht, und heute wird
dieses Thema in psychologischen und pädagogischen Zeitschriften, auf Ver¬
sammlungen und Kongressen, in Kursen und Seminaren erörtert. Durch welche
Faktoren ist diese Entwicklung bestimmt worden, und zu welchen Resultaten
hat sie bis jetzt geführt? — Wir werden gut tun, diese beiden Fragen in der
angegebenen Reihenfolge zu beantworten, wenn wir uns ein klares Bild von
dem gegenwärtigen Stand des Jntelligenzprüfungs-Problems machen wollen.
In der Praxis der psychiatrischen Klinik sind schon seit langem
psychologische Untersuchungen an Erwachsenen üblich, die den Zweck haben,
Desektzustände auf intellektuellem Gebiete festzustellen. Derartige Untersuchungen
zur Diagnose auf angeborenen oder erworbenen Schwachsinn hatten freilich
und haben auch im allgemeinen jetzt noch mehr den Charakter einer gelegentlichen
Unterhaltung als den eines wissenschaftlichen Experiments. Die ganze Art der
klinischen Beobachtung sowie der Zweck, den man dabei verfolgt, bewirken es,
daß man durch eine gewöhnliche Exploration des Patienten über seine
Jntelligenzdefekte in der Regel ebensoviel, wenn nicht mehr, erfährt als durch
eigentliche psychologische Experimente. Im Laufe der Zeit hat man sich allerdings
bestrebt, das Verfahren exakter und systematischer zu gestalten, hauptsächlich
dadurch, daß man der Diagnose ein psychologisches Schema zugrunde legte.
Man stellte eine Art System der intellektuellen „Fähigkeiten" des Menschen auf
— z, B. Orientierung, Wahrnehmung, Auffassung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit,
Urteilsvermögen usw. — und ordnete jeder dieser Fähigkeiten einige Fragen
Zu, aus deren Beantwortung man auf das Vorhandensein oder Fehlen der
betreffenden geistigen Funktion im einzelnen „Falle" einen Rückschluß zog.
Obwohl eine solche Prüfungsmethode in den Händen eines routinierten Unter¬
suchers befriedigende Resultate zu liefern vermag, lassen sich zwei Einwände
gegen sie erheben. Erstens wechseln die Auswahl und die nähere Formulierung
der einzelnen Fragen vielfach nicht bloß von einem Schema zum anderen,
sondern, je nach dem Verhalten des Geprüften, oft auch von einer Prüfung
zur anderen; zweitens ist die Entscheidung über den Ausfall der Prüfung, die
Beurteilung der Antworten, gänzlich von dem subjektiven Ermessen des Unter¬
suchers abhängig. Daß hierdurch die Verwertbarkeit der Ergebnisse solcher
Prüfungen über den einzelnen Fall hinaus sehr beeinträchtigt werden muß, ist
leicht einzusehen. Besonders ernst werden aber diese Bedenken, wenn es sich
um Kinder handelt, da bei ihnen die Verschiedenheit des Alters eine weitere
Komplikation bedeutet. Wir werden später sehen, auf welchem Wege man
gerade von hier aus die Methodik der Jntelligenzprüfung zu vervollkommnen
gesucht hat. Vorher wollen wir uns klar machen, wie man von nichtmedizinischer,
nämlich von pädagogisch-psychologischer Seite dazu gelangt ist, sich mit dem
Problem der Jntelligenzprüfung zu beschäftigen.
Zunächst waren es, namentlich in Amerika, einzelne Psychologen, die mit
ihren im Laboratorium ausgedachten Experimenten hinauszogen auf die Suche
nach einer größeren Anzahl von Personen, mit denen sie ihre Versuche an¬
stellen konnten. Daß sie hierbei sehr bald in den Volksschulen landeten, war
ganz natürlich: hier verfügten sie über beliebige Mengen von Versuchspersonen,
mit denen sehr leicht umzugehen war. Die Experimente selbst, jetzt allgemein
mit den: englischen Worte ,,^L8es" (Prüfungsmittel) bezeichnet, waren meist
sehr einfacher Art und hatten mit der Intelligenz wenig oder gar nichts zu
tun, z. B. Messung der Unterschiedsempfindlichkeit für verschiedene Sinnes¬
eindrücke, der sogenannten Reaktionszeit (Zeit, die vergeht, bis auf eine
Empfindung möglichst schnell mit einer Bewegung reagiert wird), der
Geschwindigkeit oder der Sicherheit, mit der bestimmte Bewegungen ausgeführt
werden können und dergleichen mehr. Um nun in die hierbei erhaltenen
Versuchsresultate eine Ordnung zu bringen, gruppierte man, was ja sehr nahe
lag, die untersuchten Kinder nach verschiedenen Gesichtspunkten, so auch nach
ihrer Begabung, indem man sie etwa in gute, mittelmäßige und schlechte teilte.
Es ergab sich dann natürlich meistens, daß die „guten" Kinder die höchsten,
die „schlechten" die niedrigsten Testleistungen aufwiesen. Aus verschiedenen
Gründen - ungeeignete Tests, ungenaue Schätzung der Begabung, zu kleine
Zahl von Versuchspersonen usw. — war die Ausbeute an sicheren und
verwertbaren Ergebnissen bei dieser Art von Experimenten äußerst geringfügig.
Ein wesentlicher Fortschritt wurde erst erreicht, als man dazu überging, die
Methodik solcher Untersuchungen in doppelter Beziehung auszubauen und
exakter zu gestalten.
Erstens nämlich bemühte man sich, statt solcher Tests wie die vorhin
erwähnten, bei deren Ausführung die Intelligenz kaum eine Rolle spielt, andere
aufzufinden, die geeigneter wären, als Proben auf die höheren geistigen
Funktionen zu dienen. So kam z. B. Ebbinghaus auf Grund des Gedankens,
daß die Kombinationsgabe — die Fähigkeit zum Ergänzen eines lückenhaft
gegebenen Materials zu einem sinnvollen Zusammenhange — ein wesentlicher
Faktor der Intelligenz sei, zu folgender Versuchsanordnung. Er legte den
Schülern einer Klasse einen gedruckten Text vor, in dem einzelne Worte und
Silben allsgelassen waren, und verlangte nun, daß diese Lücken im Text
sinnvoll ergänzt würden. Von anderen Autoren, die es sich angelegen sein
ließen, zur Jntelligenzprüfung geeignete Methoden auszuarbeiten, muß besonders
der französische Psychologe Binet genannt werden, der leider, erst vor wenigen
Wochen, der psychologischen Wissenschaft durch den Tod entrissen worden ist.
Von den von ihm ausgedachten Tests werden wir weiter unten einige kennen
lernen.
Die zweite Vervollkommnung, die man der Methodik der Jntelligenz¬
prüfung angedeihen ließ, hat ihren Ursprung in England und bezieht sich nicht
auf die Tests selbst, sondern auf die Art der Verarbeitung ihrer Resultate.
Die oben erwähnte Einteilung der Schüler einer Klasse in gute, mittelmäßige
und schlechte ist natürlich ein sehr rohes und ungenaues Verfahren, und es ist
nicht möglich, aus der Verschiedenheit der durchschnittlichen Testleistungen, die
sich für jene drei Gruppen ergeben, genauer zu ersehen, welches Maß von
Zuverlässigkeit dem dabei benutzten Test für die Beurteilung der einzelnen
Schülerintelligenzen zukommt. Auch gestattet eine derartig allgemeine Fest¬
stellung — bei Unterscheidung von nur drei Gruppen — kaum eine praktisch¬
pädagogische Anwendung. Durch den englischen Psychologen Spearman ist
nun folgendes sinnreiche Verfahren in die Untersuchungstechnik eingeführt
worden. Man ordnet die Versuchspersonen nach der Güte ihrer Testleistungen
in eine Reihe von der besten bis zur schlechtesten. Hat man also z. B. mit
den Schülern einer Klasse den Ebbinghausschen Ergänzungsversuch gemacht, so
nimmt derjenige Schüler, der die meisten richtigen Texergänzungen geliefert
hat, den ersten Rang in der Reihe ein, der Schüler mit der zweitbesten Leistung
den zweiten Rang und so fort, der Schüler mit der schlechtesten Leistung den
letzten Rang. Dann läßt man für dieselben Schüler von ihren Lehrern eine
analoge Reihe aufstellen auf Grund des Urteils, das sie, nach längerer Unterrichts¬
erfahrung und unabhängig von den Schulzensuren, über die Begabung ihrer
Schüler gewonnen haben: von dem begabtesten Schüler, der den ersten Rang
in dieser Reihe, bis zum unbegabtesten Schüler, der den letzten Rang einnimmt.
Stellt man jetzt die beiden Rangordnungen einander gegenüber, so ist ohne weiteres
ersichtlich, daß sie verschieden gut miteinander übereinstimmen können, präziser
formuliert: daß die Summe der Nangdifferenzen in beiden Reihen verschieden
groß sein kann; je kleiner sie ist, desto besser die Übereinstimmung. Je besser
diese in unserem Beispiele ist, desto vollkommener wird also auch — richtige
Urteile der Lehrer vorausgesetzt — in dem Ergänzungsversuch die wirkliche
Begabung der einzelnen Schüler in ihrer Stärkeverschicdenheit zum Ausdruck
kommen, kurz: desto geeigneter wird jener Versuch als Jntelligenzprobe sein.
Mit Hilfe eines einfachen mathematischen Kunstgriffes, der sogenannten
Korrelationsformel, kann man aber das Maß der Übereinstimmung leicht
zahlenmäßig ausdrücken. Ergibt die Korrelationsformel den Wert -I- 1, so
ist, wie man zu sagen pflegt, die Korrelation zwischen Intelligenz und Test¬
leistung eine vollkommene (positive); der Wert 0 bedeutet nicht vorhandene
Korrelation, also Fehlen jeder Beziehung zwischen Intelligenz und Testleistnng;
der Wert — 1 vollkommene negative oder umgekehrte Korrelation. — Hat
man so einmal durch eine sorgfältige Untersuchung festgestellt, daß ein bestimmter
Tests zur Jntelligenzprüfung taugt, indem man einen „Korrelationskoeffizienten"
nahe an -j- I erhielt, so kann man daran denken, ihn in der Schulpraxis zu
verwerten. Ein Lehrer wird also z. B. durch einige Versuche mit geeigneten
Test leicht in der Lage sein, sich in wenigen Stunden von den Begabungs¬
unterschieden der Schüler einer Klasse, die ihm noch neu ist, ein annähernd
richtiges Bild zu machen, was ihm sonst erst nach mehreren Monaten, und im
allgemeinen nicht ohne Schwierigkeit, gelingt.
Eine solche Verwertbarkeit psychologischer Forschungsergebnisse in der Schul¬
praxis ist gewiß sehr erfreulich. Es ist aber leicht zu sehen, daß das, was die
eben geschilderte „Rangmethode" der Jntelligenzprüfung zu leisten vermag, nur
einem recht beschränkten pädagogischen Bedürfnis entgegenkommt. Zunächst:
man erhält ja durch eine Rangordnung immer nur sozusagen ein relatives Urteil
über die Intelligenz eines Individuums, relativ zu den Intelligenzen der jeweils
mit ihm verglichenen anderen Individuen. Ein Knabe, der unter den fünfzig
Schülern der Klasse, in der er gerade sitzt, den fünfundzwanzigsten Rang ein¬
nimmt, würde vielleicht in der entsprechenden Klasse einer anderen Schule den
zwanzigsten oder den dreißigsten Rang einnehmen; unter den gleichaltrigen
Schülern einer Hilfsschule würde er gar den ersten Rang erhalten. Und
zweitens: da eine Rangordnung als solche nur in einer Nummerierung besteht,
so gibt sie keine Auskunft über die Größe der Begabungsunterschiede zwischen
den einzelnen Schülern. Ob also z. B. der Unbegabteste, der den letzten Rang
einnimmt, sich sehr bedeutend oder nur eben merklich vom vorletzten unter¬
scheidet, und namentlich ob seine Intelligenz um ein bestimmtes Maß hinter der
Durchschnitts- oder Normalintelligenz zurückbleibt, hierüber erfährt man durch
die Rangmethode gar nichts. Gerade dieser zuletzt berührte Punkt, die Fest¬
stellung eines Jntelligenzdefektes von bestimmter Größe bei einem einzelnen
Individuum ist es aber, worauf ein dringendes pädagogisches Bedürfnis sich
richtet. Denn die ausgesprochen schwachbefühigten und die schwachsinnigen Kinder
verlangen heutzutage vielfach spezielle praktische Erziehungsmaßnahmen, die erst
auf Grund genauer Untersuchung dieser Kinder inbezug auf ihre geistige Schwäche
ergriffen werden können oder doch sollten. Vielleicht kommen wir später einmal
dazu, auch den übernormalen, hervorragend befähigten Kindern eine gesonderte
Behandlung angedeihen zu lassen, — vorläufig sind es jedenfalls nur die Unter¬
normalen verschiedener Kategorien, deren Erkennung, Absonderung undBehandlung
das Interesse und die Mitwirkung des Fachpsychologen beanspruchen. Man
braucht nur an folgende Einrichtungen zu denken: Förderklassen für schmach¬
befähigte, Hilfsschulen für schwachsinnige, Asyle für idiotische Kinder, Fürsorge-
anstalten für verwahrloste, Jugendgerichte für kriminelle Jugendliche, um zu
sehen, in welchen! Umfange heute psychologische Untersuchungen an geistig minder¬
wertigen Kindern in Betracht kommen. Überall nun, wo es sich darum handelt,
zu entscheiden, ob ein Kind wegen eines Jntelligenzdefektes einer der genannten
Spezialanstalten zu überweisen ist, oder etwa ob ihm die erforderliche Einsicht
in die Strafbarkeit seiner Handlungsweise gefehlt hat, — in allen diesen Fällen
würde eine Jntelligenzprüfung vorzunehmen sein. Soweit dies bisher bereits
üblich war, sah man sich darauf angewiesen, das Verfahren der klinischen
Diagnose auf Schwachsinn, wie es eingangs geschildert wurde, anzuwenden.
Indem man also der Prüfung ein psychologisches Schema zugrunde legte, suchte
man festzustellen, welcher Grad des Schwachsinns, Idiotie, Imbezillität oder
Debilität, dem betreffenden Kinde zuzuschreiben sei. Die Mängel dieser Methode
sind oben auseinandergesetzt, und es wurde auch schon darauf hingewiesen, daß
gerade das Problem der Untersuchung abnormer Kinder der Punkt ist, von dem
aus man die Methodik der Jntelligenzprüfung gründlich zu reformieren versucht hat.
Der bereits genannte französische Forscher Alfred Binet hat das Verdienst,
hier den entscheidenden Schritt getan zu haben. Er betonte zunächst, daß man
doch, um eine bestimmte Abweichung von der Normalität genau zu erkennen,
diese Normalität selbst genau kennen müsse. Da man ferner Kinder verschiedenen
Alters inbezug auf ihren intellektuellen Zustand sehr verschieden beurteilen müsse,
so sei es vor allem nötig, erst einmal zu ermitteln, welche Jntelligenzleistungen
man von normalen Kindern verschiedenen Alters verlangen könne. Indem er
also eine große Anzahl von Tests an normalen Kindern durchprobierte, gelang
es ihm, zunächst für jede der elf Altersstufen von drei bis dreizehn Jahren eine
kurze Serie von Tests zusammenzustellen, die insofern als eine Art Normalmaß
für das betreffende Alter gelten konnte, als die große Mehrzahl der Kinder dieses
Alters die als Tests benutzten Aufgaben richtig zu lösen imstande war. Diese
kürzeren Serien ergaben aber zusammen eine größere, abgestufte Testserie, die
Binet als LLlielle mölnquL as I'mtsIIiAenLL, als „Stufenmaß der Intelligenz",
bezeichnete. Und damit verfügte seine Methode der Jntelligenzprüfung über
einen objektiven, festen Maßstab, der den früheren Methoden fehlte, nämlich die
intellektuelle Entwicklung des normalen Kindes auf den verschiedenen Altersstufen.
Ein weiterer Vorteil, der sich hieraus sofort ergab, ist aber der, ebenfalls neue,
daß man ein „Jntelligenzalter" des geprüften Kindes berechnen kann. Aus
dessen Vergleich mit seinem physischen Alter ergibt sich dann zahlenmäßig, um
wieviel es hinter der normalen Entwicklung zurück oder ihr voraus ist, z. B. um
Zwei Jahre zurück, um ein Jahr voraus usw. Natürlich bedeutet ein solcher
Unterschied des physischen Alters von: Jntelligenzalter nicht auf allen Alters¬
stufen eine gleich große Abweichung von der jeweiligen Jntelligenznorm. Eine
Rückständigkeit um zwei Jahre ist bei einem achtjährigen Kinde ein wesentlich
stärkerer Defekt als bei einem zwölfjährigen. Aber das schadet nichts. Denn
hat man z. B. einmal empirisch festgestellt, daß sich unter den achtjährigen
Kindern, die in der Volksschule fortkommen, keines findet, das um zwei Jahre
oder mehr zurück ist, ein Jntelligenzalter von sechs Jahr oder darunter hat, so
kann man jedenfalls sagen, daß alle achtjährigen Kinder, die einen Defekt von
dieser Stärke zeigen, nicht imstande sein werden, in der Volksschule fortzukommen,
folglich einer Hilfsschule zu überweisen sind.
So viel von dem Grundgedanken der Binetschen Methode. Über die
konkrete Ausgestaltung der Testserie selbst möge folgendes mitgeteilt werden.
Zunächst ist zweierlei hervorzuheben. Erstens: Binet denkt sich seine Intelligenz-
Prüfung als einen Teil einer umfassenderen Untersuchung, die in drei Abschnitten
verläuft. Den Anfang macht eine Beurteilung des Kindes vom medizinischen
Standpunkte, also Aufnahme des gesamten körperlichen Befundes mit besonderer
Rücksicht auf etwa vorhandene nervöse Störungen, Feststellung von Degenerations¬
zeichen, Sinnesdefekten usw. Darauf folgt eine pädagogische Prüfung unter
Berücksichtigung der Art des bisherigen Schulbesuches des Kindes, also Fest¬
stellung seiner Kenntnisse im Schreiben, Lesen und Rechnen. Hierbei werden
sich meist schon wertvolle Daten für die Beurteilung seines geistigen Niveaus
ergeben; vielfach begnügt man sich ja überhaupt mit einer solchen pädagogischen
Methode der Jntelligenzprüfung. Erst wenn die pädagogische Prüfung ungünstig
ausgefallen ist, soll eine rein psychologische Jntelligenzprüfung vorgenommen
werden. — Was nun speziell diese anbetrifft, so ist zweitens zu bemerken, daß
sie nicht bezweckt, eine systematische Analyse der geistigen Fähigkeiten des Kindes
zu geben. Infolgedessen kann es sich hier nicht darum handeln, die zur An¬
wendung kommenden Tests irgendeinem psychologischen Schema anzupassen. Die
Tests sind vielmehr lediglich vom Standpunkt der experimentell-technischen Brauch¬
barkeit ausgearbeitet, jedenfalls aber sind sie so gedacht, daß durch sie wirklich
die „eigentliche" Intelligenz geprüft wird. Hier scheint sich die Schwierigkeit
zu erheben, daß man, um die Intelligenz prüfen zu können, vorher genau
wissen müsse, was sie ist. Allein, diese Sorge ist überflüssig. Man kann nicht,
um eine Sache zu untersuchen, immer erst warten, bis man ihr Wesen ergründet
hat; man mißt ja auch die elektromotorische Kraft, ohne zu wissen, was sie
eigentlich ist. Analoges gilt für die Intelligenz: man kann sie prüfen, ohne sie
vorher definiert zu haben, und es wird für den vorliegenden Zweck genügen,
wenn man als Tests solche Fragen oder Aufgaben vermeidet, die auf Grund
von schulmäßigen Wissen, von mechanischem Gedächtnis, von äußerlicher Sprach¬
gewandtheit, von reiner Sinnesschärfe gelöst werden können. Es würde zu
weit abseits führen, die Frage näher zu erörtern, welche positiven Forderungen
man an eine gute Jntelligenzprobe und ihre praktische Anwendung zu stellen
hat. Es mag genügen, einige der Binetschen Tests zu nennen, wobei zu
beachten, daß die Zuordnung zu bestimmten Altersstufen für Volksschulkinder,
also nicht für Kinder aus gebildeten Ständen gilt: 1. Ein dreijähriges Kind
reagiert auf ein ihm vorgelegtes Bild lediglich mit der Aufzählung einzelner
Personen und Gegenstände; ein siebenjähriges beschreibt, indem es sagt, was
die Personen tun; ein zwölfjähriges erklärt, indem es die Gesamtsituation erfaßt;
2. ein fünfjähriges Kind erkennt, welches von zwei gleich aussehenden Kästchen
das schwerere ist; ein neunjähriges kann eine Serie von fünf Kästchen ihrer
Schwere nach in eine Reihe ordnen; 3. ein sechsjähriges Kind definiert einen
Begriff naiv durch Angabe des Zwecks (Puppe — zum Spielen); ein neun¬
jähriges durch Angabe eines übergeordneten Begriffs (Spielzeug für Mädchen);
4. ein achtjähriges Kind kann leichte „Verstandesfragen" beantworten (Was
muß man tun, wenn man etwas entzwei gemacht hat, was einem nicht gehört?);
ein zwölfjähriges schwere Verstandesfragen (Was muß man tun, ehe man etwas
Wichtiges unternimmt?); 5. ein achtjähriges Kind kann den Unterschied zwischen
konkreten Gegenständen (Holz — Glas) angeben; ein elfjähriges abstrakte Be¬
griffe (Neid, Mitleid) erklären, — und noch vieles andere.
Gehen wir nun dazu über, einige der wichtigsten Ergebnisse zu besprechen,
zu denen die Untersuchungen nach der Methode von Binet bisher geführt haben.
Zunächst an normalen Kindern. Hier sind es namentlich zwei Fragen, die der
Beantwortung wert erscheinen: nach dem Einfluß des Erziehungsmilieus und
nach der Verteilung der Begabungsunterschiede auf die Kinder. Was die erste
Frage betrifft, so ist von vornherein zu erwarten, daß die Kinder gebildeter
Eltern bei der Jntelligenzprüsung im allgemeinen besser abschneiden werden als
die Kinder aus den Kreisen der arbeitenden Bevölkerung. In der Tat ist dies
der Fall, und zwar ist der Unterschied bezeichnenderweise auf den niederen
Altersstufen, etwa zwischen drei und sechs Jahr, am größten, nämlich zwei bis
drei Jahre im Durchschnitt. Man sollte nun vermuten, daß er dann später
noch größer ist; das Umgekehrte ist aber der Fall: der Vorsprung der Schüler
aus höheren Lehranstalten vor den Volksschülern wird immer geringer. Wir
befinden uns mit dieser Erkenntnis in der Nähe mehrerer Probleme, die nicht
bloß psychologischer, sondern sozialpädagogischer und sozialethischer Natur sind.
Denn es läge nun u. a. nahe, es als experimentell erwiesen zu betrachten, daß
die soziale Bevorzugung, die einem Kinde von „gebildeten" Eltern für sein
späteres Leben in Aussicht steht, nicht auf seine bessere Veranlagung, also größere
Eignung für die höheren Kulturaufgaben, sondern nur darauf gegründet werden
kann, daß es „zufällig" nicht in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen ist und des¬
halb auch nicht bloß Volksschulwissen, sondern Gymnasialwissen erworben hat.
Natürlich können wir auf diese und ähnliche Fragen hier nicht eingehen, zumal
das empirisch gewonnene Material bisher doch noch nicht reichhaltig genug ist.
Begnügen wir uns damit, auf die Ursachen der in Rede stehenden Erscheinung
hinzuweisen: 1. In höheren Kreisen beschäftigen sich die Eltern viel intensiver
mit ihren Kindern als in niederen Kreisen und bringen ihnen vielerlei bei.
was sie, sich selbst überlassen, erst viel später verstehen würden; 2) diese Kinder
besitzen auch eine viel größere Sprachgewandtheit und können daher ihre Ge-
danken leichter und verständlicher ausdrücken; 3) Schulbildung ist hauptsächlich
Übermittlung von Wissen, Unterschiede in der Schulbildung berühren daher die
eigentliche Intelligenz kaum.
Zu der zweiten Frage, der Verteilung der Begabungsunterschiede, ist folgendes
zu bemerken. Wenn man eine größere Anzahl, d. h. mehrere hundert Kinder
geprüft hat, so findet man, daß die Zahlen der Kinder, deren Intelligenz normal
oder um bestimmte Maße (Jahre) über- oder unternormal ist, in ihrer Ver¬
teilung einer gewissen Gesetzmäßigkeit folgen. Es zeigt sich, daß auf jeder
Altersstufe die genau normalen Kinder, bei denen physisches und Jntelligenzalter
gleich sind, die Majorität bilden, daß diese Majorität aber mit zunehmendem
Alter sich vermindert. Wichtiger als dies, was eigentlich zu erwarten war, ist
folgendes: Man erhält auf jeder Altersstufe außer den genau normalen Kindern
gewisse Prozentsätze von Kindern, die um ein, um zwei Jahr zurück, oder um
ein, um zwei Jahr voraus sind; größere Abweichungen von der Norm sind in der
Volksschule sehr selten. Wenn man nun jene Prozentsätze miteinander vergleicht,
so findet man — bei großen Versuchszahlen! — daß sie sich symmetrisch um die
Mitte des Normalen herum verteilen, d. h. das Resultat „um ein Jahr zurück"
ist etwa ebenso häufig wie das „um ein Jahr voraus", „um zwei Jahre zurück"
etwa ebenso häufig wie „um zwei Jahre voraus". Je größer die Beträge des
Zurück und Voraus werden, desto unsicherer wird eine solche Feststellung natürlich,
denn die Prozentsätze werden schnell kleiner, und dazu kommt noch die Tendenz
zur Abwanderung aus der Volksschule, einerseits zur Hilfs-, andererseits zur
höheren Schule. Dieses Resultat ist in verschiedenen Hinsichten nicht ohne
Interesse. Hier sei nur erwähnt, daß es in Übereinstimmung steht mit einer
einst von Francis Galton gemachten Annahme über die Verteilung der Be-
gabuugsgrade, nämlich, daß sie analog sei der Häufigkeitsverteilung von
Messungsdaten auf körperlichem Gebiet, wie sie z. B. iubezug auf die Körperlängen¬
maße festgestellt ist. Galton berechnete demgemäß eine der sogenannten Gaußscheu
Fehlerkurve (für die Häufigkeit von Beobachtungsfehlern geltend) entsprechende
Häufigkeitskurve der Begabungsgrade und knüpfte hieran gewisse Erwägungen,
die seine Beobachtungen über das Auftreten genial begabter Menschen verständlich
machen sollten.
Zum Schluß einiges von den Ergebnissen der Untersuchung abnormer
Kinder, unter denen in der Hauptsache zwei Kategorien zu unterscheiden sind.
Erstens solche, die nach längerem erfolglosen Besuch der Volksschule einer Hilfs¬
schule überwiesen werden: sie sind zum größten Teil acht bis neun Jahr alt.
Zweitens solche, meist ältere, die wegen sittlicher Verwahrlosung einer Fürsorge¬
anstalt zugeführt werden. Es wurde weiter oben bereits darauf hingewiesen,
daß man der Entscheidung, ob ein acht- bis neunjähriges Kind in die Hilfs¬
schule gehört, die Tatsache zugrunde zu legen hat, daß sich unter den in der
Schule fortkommenden Kindern dieses Alters keines befindet, dessen Intelligenz-
alter um zwei Jahre oder mehr hinter seinem physischen Alter zurückbleibt. Die
Untersuchung einer großen Zahl von neuaufgenonunenen Hilfsschulkindern hat
nun ergeben, daß sie zum größten Teil in der Tat eine Rückständigkeit um zwei
Jahre oder mehr zeigen, aber nicht alle ohne Ausnahme. Hier liegt also ein
gewisser Mangel der Methode vor, aber dies ist kein Wunder. Alle mensch¬
lichen Erfindungen sind nun einmal unvollkommen, und die Unvollkommenheit
erklärt sich in unserem Falle daraus, daß bei manchen Kindern andere als rein
intellektuelle Defekte bestehen, die es nötig machen, auf sie die individualisierende
Unterrichtsmethode der Hilfsschule anzuwenden: nervöse Reizbarkeit, Störungen
des Affekt- und Willenslebens, pathologische Ermüdbarkeit u. tgi. Dieser Umstand
beeinträchtigt jedoch die allgemeine Verwertbarkeit der Methode nicht, da man
ja während der gesamten Prüfung das Vorhandensein der erwähnten patholo¬
gischen Erscheinungen sowieso feststellen wird. Vorläufig stehen wir ja auch erst
im Anfange unserer Untersuchungen, und es ist zu hoffen, daß die allmähliche
Verbesserung der Methode gewisse Mängel ihrer Anwendung beseitigen wird.
Von dem, was die Versuche an älteren verwahrlosten Kindern bis jetzt
ergeben haben, möge folgendes erwähnt werden. Bei solchen Kindern sind die
Milieu- und Erziehungseinflüsse oft besonders ungünstig. Dies führt zu häufigem
Schulwechsel, häufiger Schulversäumnis wegen Krankheit oder wegen Ausnutzung
der Kinder als Arbeitskraft, zur Vernachlässigung der Schularbeit und zum
„Schwänzen", so daß sie auch in der Schule nicht ordentlich fortkommen, selbst
wenn sie keinen wesentlichen Defekt auf intellektuellem Gebiete zeigen. Im Ein¬
klang hiermit steht nun das, was sich über das Verhältnis des Jntelligenzalters
der angehenden Fürsorgezöglinge zu ihrem Schulalter hat feststellen lassen, dieses
letzte bestimmt durch das Normalalter der Kinder in derjenigen Klasse, in der
sie sitzen, so daß also z. B. das Schulalter eines zehnjährigen Kindes, das
zweimal sitzen geblieben ist, acht Jahr beträgt. Bei einem großen Teil der
Zöglinge stimmte nämlich Schul- und Jntelligenzalter ungefähr überein; es
waren dies die Kinder mit wirklichem Jntelligenzdefekt. Bei vielen aber, und
zwar gerade den besonders schlechten Milieueinflüssen ausgesetzten, fehlte jene
Übereinstimmung; sie zeigten ein normales oder nur um wenig zu niedriges
Jntelligenzalter, während ihr Schulalter erheblich zurückblieb. Und damit war
erwiesen, daß moralische ohne, oder doch ohne entsprechend große, intellektuelle
Defekte vorkommen.
Auch zur Untersuchung erwachsener Schwachsinniger kann man sich natürlich
der Binetschen Methode bedienen, doch erfordert dies einige Vorsicht. Wir
gehen hierauf nicht mehr näher ein. Nur das mag noch als wichtig für die
Beurteilung jugendlicher und erwachsener Schwachsinniger angeführt werden, was
Binet über die Zuordnung der verschiedenen Schwachsinnsgrade zu bestimmten
Stufen seines „Stufenmaßes der Intelligenz" festgestellt hat, nämlich folgendes.
Die Idiotie entspricht einem Jntelligenzalter von höchstens zwei Jahr, die
Imbezillität einem solchen von höchstens sieben Jahr, die Debilität endlich
eineni solchen von höchstens neun bis zehn Jahr. Diese letzte Zuordnung ist
wichtig mit Rücksicht auf die strafrechtliche Bestimmung, nach der Personen unter
zwölf Jahren der Bestrafung nicht unterworfen sind, da bei ihnen vorausgesetzt
wird, daß ihnen die zur Erkenntnis der Strafbarkeit notwendige Einsicht bei
Begehung der Straftat gefehlt hat*). Sollte mithin eine Jntelligenzprüfung
bei einem strafrechtlich verfolgten, der Debilität verdächtigen Erwachsenen tatsächlich
Debilität, nämlich ein Jntelligenzalter von höchstens zehn (also unter zwölf)
Jahr feststellen, so würde daraufhin von seiner Bestrafung abgesehen werden
müssen. — Bei einem solchen wie bei jedem anderen Vergleich wirklichen Schwach¬
sinns mit den Stufen der Jntelligenzentwicklung des normalen Kindes darf man
jedoch nicht zu weit gehen: eine defekte, mangelhaft entwickelte Intelligenz ist
nicht dasselbe wie eine gesunde, aber noch unentwickelte Intelligenz. Ein noch
nicht ganz fertig gebautes Haus und ein sehr schlecht gebautes Haus gleichen sich
ja auch durchaus nicht, obwohl sie inbezug auf Bewohnbarkeit einige Mängel
gemein haben mögen.
An seine Schwester.
Shanghai, 20. Okt. 1897.
. . . Auf dem Diner beim Taotai war wenigstens eine Persönlichkeit, die das
Interesse aller auf sich lenkte, und das war der Koch. Doch ich will nicht vor¬
greifen, sondern lieber in chronologischer Reihenfolge berichten, was wir erlebt
und gegessen haben.
Vor dem Hause des Taotai war ein ganzes Regiment Soldaten als Ehren¬
wache aufgestellt, die vor allen Gästen das Gewehr präsentierten, während jeder
von ihnen zugleich mit einer schönen roten Papierlaterne bewaffnet war. Gerührt,
wie Faure in Petersburg, erwiderte ich die Honneurs, indem ich die Hand an
den Zylinder legte. In der Haustüre stand S. Exzellenz, ein behäbiger, sehr
freundlicher Herr, und bewillkommnete, von seinem Sekretär und Dolmetscher,
Herrn Fung, unterstützt, seine Gäste. In galantester Weise führte er jede der
Damen am Arme in den prachtvollen, ganz chinesisch eingerichteten Salon, wo
man sich bis zur Futterstunde aufhielt. Die Gesellschaft war nicht zahlreich,
nur sechzehn Personen, um so zahlreicher die Gänge, deren Quantität jedoch
noch bei weitem durch ihre Qualität übertroffen wurde. Zum Glück lagen
außer den Eßstäbchen aus Ebenholz mit silberner Spitze auch heimatliche Eß-
utensilien neben jedem Kuvert. Ich versuchte zwar zuerst, auch mit den Stäbchen
zu turnen, aber das ist eine Kunst, die, wenn auch nicht mit der Muttermilch
aufgesogen, doch von Jugend auf geübt sein will. Ich gab es also auf. Das
Fest- und Freßprogramm, durch das man sich hindurchzuarbeiten hatte, setzte sich
aus folgenden Nummern zusammen:
Wie Du siehst, hatte man schließlich, wie die Arche Noahs, fast das ganze
Tierreich in sich aufgenommen, und mit all' den Vogelnestern, Hühnern, Gänsen,
Wachteln, Fasanen und Taubeneiern im Magen, kam ich mir vor, wie eine
wandelnde Voliöre.
Mein Nachbar zur Rechten war ein sehr fein und vielseitig gebildeter
Chinese mongolischer Abstammung, der englisch sprach, wie ein Engländer, und
französisch mit gleicher Vollendung. Der Taotai selbst spricht vollkommen
fließend spanisch, leidlich englisch und ein wenig deutsch. Entzückend waren die
kleinen silbernen Suppenschalen, in denen jedem der Gäste die verschiedenen
Suppen vorgesetzt wurden. Es waren lauter Nachbildungen altchinesischer Opfer-
und Weihrauchgefäße von den verschiedensten Formen, eine immer schöner als
die andere.
Der Taotai (Stadtpräsekt) von Shanghai ist ein steinreicher Mann, der
sich seinen Posten erst vor kurzem für die Kleinigkeit von 500000 Taels
1500000 Mark gekauft hat, und zwar für die Dauer von vier Jahren. Wenn
er so lange am Leben bleibt, macht er ein gar nicht zu verachtendes Geschäft,
denn sein Amt wirft ihm jährlich das Sümmchen von 360000 Taels, also
720000 Mark ab. Sein Vorgänger beging die Unvorsichtigkeit, bereits nach
einer Amtstätigkeit von dreiviertel Jahren diese Welt mit jener zu „verwechseln".
Das darf man natürlich nicht tun.
Gestern, also am darauffolgenden Tage, waren wir auf einem Diner bei
dem Grafen Buttler, ebenfalls H.'s zu Ehren. Ich war ungebildet genug,
die Trüffeln im ersten Moment für Kastanien zu halten, merkte aber meinen
Irrtum noch rechtzeitig und ließ sie ungeschält. Es hat eben nicht jeder die
Erfahrung eines Trüffelschweins. Besagter Graf Buttler ist ein Nachkomme
des Wallensteinschen und Vertreter der Firma Krupp. Während also jener mit
Kanonen machte, macht dieser in Kanonen — 8in trsn8it Zlorm muncZi. Aber¬
mals wurde der Magen satter als der Geist, der hier überhaupt eine quantitö
nöAliZeable zu sein scheint.
Gestern am Tage besuchten wir die mit Recht weltberühmte Missionsstation
der Jesuiten in Sikawei, und was ich dort mit eigenen Augen gesehen habe,
überstieg alle meine Erwartungen. Was hier geleistet wird, ist nicht nur gro߬
artig, sondern groß, menschlich groß. Die meisten der Patres und Schwestern
sind Franzosen, und es ist nur ein Deutscher unter ihnen, ein Pater v. Bodmann,
der sich in seiner chinesischen Tracht (alle Patres gehen chinesisch gekleidet, die
Schwestern nicht) mit seinem stattlichen blonden Zopf recht seltsam ausnahm.
Er führte uns drei Stunden lang mit unermüdlicher Liebenswürdigkeit herum,
doch ist die Anstalt so riesengroß, fast eine ganze Stadt für sich, daß wir nur
einen Teil, und auch diesen leider nur ziemlich flüchtig besichtigen konnten.
In der Frauen- und Mädchenabteilung wurden wir von der Gehilfin der
mörL 8upeneurs herumgeführt, einer schon ältlichen Französin, die mich in
ihren: Äußeren und in ihrem ganzen Wesen ungemein an Mama erinnerte.
Sie hatte in ihrer schlichten und dabei so herzlichen Freundlichkeit, in ihrem von
Sentimentalität und Süßlichkeit gänzlich freien Wesen etwas unbeschreiblich'An-
ziehendes und zugleich Ehrfurchtgebietendes. Und ergreifend war es anzusehen,
mit welch' mütterlicher Freundlichkeit sie alle behandelte, und mit welch' ehr¬
erbietiger kindlicher Liebe und Vertraulichkeit sich alle, Groß und Klein, an sie
schmiegten. Nicht weniger als sechshundert weibliche Insassen beherbergt
dieser Teil der Anstalt. Da sind Findet- und Waisenkinder, eine Abteilung
für meist hoffnungslos kranke Kinder, die aufopfernd gepflegt werden, eine Ab¬
teilung, wo Krüppel, Blinde und Taubstumme (Mädchen, Frauen und Kinder)
spinnen, flechten und weben. Mehrere taubgeborene Kinder wurden uns
vorgeführt, bei denen es mit dem besten Erfolge geglückt war, das Sprach¬
vermögen herzustellen. In einem besonderen Hause waren ausschließlich Stickerinnen
beschäftigt, die bewundernswert schöne Stickereien anfertigten, wiederum andere waren
mit Teppichfabrikation und Anfertigung künstlicher Blumen beschäftigt usw. Auch die
Mädchen- und die Knabenschule haben wir besichtigt und den Unterricht unter
der Leitung chinesischer Lehrer und Lehrerinnen angesehen. Peinlich sauber
waren die Schlafsäle. Die Männerabteilung konnten wir der Kürze der Zeit
wegen nur teilweise besichtigen. Hier erhalten die Zöglinge eine vollkommen
chinesische Ausbildung, und den Befähigteren unter ihnen ist die Möglichkeit
gegeben, einen höheren Lehrkursus durchzumachen, nach dessen Absolvierung sie
sich zu den öffentlichen Staatsprüfungen melden können. Selbstverständlich gibt
es auch in der Männerabteilung eine ganze Anzahl von Gewerbeschulen, in
denen Handwerker aller Art herangebildet werden. Diese hoffen wir bei Ge¬
legenheit unseres nächsten Besuches genauer kennen zu lernen. Fürs erste haben
wir nur die wissenschaftlichen Institute, die großartige Bibliothek, für die jetzt ein
eigenes Gebäude errichtet wird, das meteorologische Institut und das Observatorium
für Erdmagnetismus, in dem die magnetischen Strömungen im Innern der
Erde ununterbrochen durch einen automatisch arbeitenden Apparat graphisch
fixiert werden, besichtigt. Durch diese beiden Beobachtungsstationen werden
Erdbeben und Taifune vorausgemeldet, wodurch nicht nur Millionen an
Geld, sondern auch Millionen Menschenleben vor dem Untergange bewahrt bleiben.
Das ist praktisches Christentum im edelsten Sinne und einer christlichen Mission
würdig. Im nächsten Jahre soll auch eine große Sternwarte errichtet werden.
In Summa: ehe man kurzerhand über die katholischen Missionen als rein
äußerlicher Natur aburteilt, wie das leider sehr oft in protestantischen Kreisen
geschieht, sollte man doch lieber erst hingehen und sich mit eigenen Augen von
dem überzeugen, was hier geleistet wird. Die Jesuiten haben eben den sehr
wichtigen Grundsatz, daß ihre Missionare sich selbst erst ins Chinesische über¬
setzen, sich eine chinesische gelehrte Bildung und ein gewisses chinesisches Wesen
in ihrem ganzen Benehmen und Auftreten aneignen müssen, ehe sie an ihre
Tätigkeit gehen dürfen. Die Publikationen der gelehrten Patres, die hier unter
dem Titel „Variötö8 Zinolosique8" erscheinen, enthalten so manche wissen¬
schaftliche Arbeit ersten Ranges...
Shanghai, 24. Okt. 1897.
An seine Schwester.
.
. . . Garmisch muß nach der Ansichtskarte, die Du uns schickst, wohl schön
gelegen sein, und über die Alpen geht doch nichts von allem, was wir bisher
gesehen. Auch das Felsengebirge nicht; denn Wildnis allein, selbst die gro߬
artigste, kann wohl ergreifend und bewältigend wirken, aber niemals anheimelnd,
auf mich wenigstens nicht. Die Natur wirkt nicht durch ihre sichtbaren Reize
allein, sondern zum mindesten ebenso sehr durch das unsichtbare Zaubergewand.
womit Sage und Geschichte sie umwoben haben: dadurch erst wird der toten
Natur Leben eingehaucht, und die Steine reden. Was man mit den Augen
sieht, erblickt man doch erst durch das Gemüt und schafft dadurch ein neues
verklärtes und dennoch ebenso wahres Bild dessen, was durch äußeren Reiz
die Netzhaut darbot. Wie hätte sonst die Kunst entstehen können, die doch nicht
reproduzieren, sondern produzieren soll? denn sonst stünde ja die Photographie
höher da als die Malerei.
Ich frage mich immer: warum suchen unsere Maler nie den fernen Osten
auf? Statt nach japanischer Manier zu malen, was ja manche tun, um doch
nichts als Karrikaturen zu liefern, sollten sie doch lieber selbst in Dichters Lande
gehen und was sie mit eigenen Augen sehen, nachdichten. Welche unerschöpf¬
liche Fülle von neuen Motiven und Ideen würde sich ihnen hier bieten, während
sie daheim aus Mangel an beiden und aus Überfluß an Schaffensdrang nach¬
gerade soweit gediehen sind, selbst vaterländische Mistbeete so naturgetreu durch
ihren Pinsel zu verewigen, daß man daran nur noch den Duft vermißt. . . .
Shanghai, 2. November 97.
An seine Schwester.
Heute sind wir wieder von unserem Ausfluge heimgekehrt und waren recht
enttäuscht, kein Lebenszeichen von Dir vorzufinden. Hoffentlich entschädigt uns
die nächste Post dafür. Obwohl wir vom Wetter nicht gerade sonderlich begünstigt
waren, haben wir die kleine Reise doch sehr genossen und uns auch mit unseren
beiden Reisegefährten sehr gut vertragen. Außer dem Vizekonsul Z. hatte sich
uns nämlich noch ein hier lebender deutscher Kaufmann, Herr M, angeschlossen,
was um so angenehmer war, als derselbe ein Hausboot besitzt und auf diese
Weise Z. bei sich beherbergen konnte. Wir fuhren auf einem anderen Haus¬
boot, das uns durch Z.'s Vermittlung von seinem Besitzer in liebenswürdiger
Weise zur Verfügung gestellt worden war. Die Mahlzeiten wurden immer
gemeinsam eingenommen, wobei wir stets während der Fahrt über ein Brett
auf das andere Boot hinübervoltigieren mußten. Die Fahrt bis Hang-chow
war höchst interessant, da wir auf derselben zahlreiche malerisch gelegene Ort¬
schaften und Städte passierten, die in ihrer Bauart an Venedig erinnerten. Die
Häuser waren oft ins Wasser hinein gebaut, die Gassen bestanden aus Neben¬
armen des Kanals, und wir fuhren unter zahlreichen hochgewölbten und graziös
gebauten Brücken hindurch, die sich den Ponte ti Rialto zum Vorbild genommen
zu haben schienen. Die an sich so finsteren und einförmigen Stadtmauern
waren meist mit so üppig wucherndem Schlinggewächs umrankt, daß sie malerisch
und freundlich aussahen.
Bis Hang-chow ließen wir uns von einer Steam-launch bugsieren, um
rascher vom Fleck zu kommen. Kaum hatten wir an einer Vorstadt von Hang-
chow angelegt, als wir auch sofort unsere Entdeckungsreise antraten. Volle
dreiviertel Stunden lang ging es zunächst durch eine endlos lange enge Straße
der Vorstadt, bis wir das Tor der eigentlichen Stadt erreichten. Und wie wir
nun aufs Geratewohl unseren Weg fortsetzten, sahen wir uns nach einer weiteren
halben Stunde plötzlich vor einem Hause, ans dessen chinesischer Inschrift ich
ersah, daß es ein protestantisches Missionshaus war. Durch die nach der
Straße weit geöffnete Tür sahen wir in einen Schulraum hinein, der zwar
klein war, aber leicht die zehnfache Zahl der Schüler fassen konnte, die gerade
darin waren. Wir blieben natürlich stehen und warfen einen Blick hinein, und
in demselben Augenblick kam auch schon ein freundlich aussehender älterer Herr
heraus, der sich uns als Mr. P. vorstellte und uns fragte, ob er uns irgend
wie nützen könne. In freundlichster Weise gab er uns Ratschläge, wie wir die
Zeit am lohnendsten ausnützen sollten, und ging sogar gleich mit uns, um Sänften
für uns zu engagieren, damit wir mit möglichst geringem Zeitverlust die Stadt
besichtigen könnten. Leider waren jedoch keine mehr aufzutreiben. Die Prüfungs¬
kommission hatte nämlich gerade an diesem Tage die Stadt verlassen, und sämt¬
liche Mandarine Hang-chow's hatten den Herren das Geleite gegeben. So
konnten wir denn der vorgerückten Zeit wegen nichts Größeres mehr unter¬
nehmen, verabredeten aber dafür mit Mr. P. für den nächsten Tag eine gemein¬
same Wanderung, die uns denn auch viel Genuß bereitet hat. Dabei vergesse
ich ganz, zu erzählen, daß wir bereits am Vormittage desselben Tages eine
sechsstündige Wanderung (von acht bis zwei) hinter uns hatten — den Missionar
lernten wir also erst bei Gelegenheit des zweiten Spazierganges, also am Nach¬
mittag, kennen. Wie waren wir überrascht und entzückt, als wir, nachdem wir
die Stadt durchquert hatten, aus den: Mauertore tretend, einen herrlichen,
großen See vor uns erblickten, der, von malerischen Inseln belebt und von
schönen Bergen umgeben, den Vizekonsul so sehr an den Lago Maggiore
erinnerte, daß er meinte, man brauche wahrlich nicht nach Italien zu reisen,
da man das Schöne so nahe habe. Hier besichtigten wir zunächst einen schönen
buddhistischen Tempel, wo uns ein freundlicher Priester alle Sehenswürdigkeiten
zeigte. Als ich ihm hernach eine kleine Gabe für seine Mühe anbot, lehnte er
diese dankend ab. Darauf besuchten wir die am Ufer des Sees gelegene ent¬
zückende Villa des verstorbenen Fu-t'al (Gouverneurs) Chang von Hang-chow.
Villa ist eigentlich nicht das Wort dafür, denn es waren eine ganze Anzahl
Phantastisch gebauter Lusthäuser und Pavillons. Der Garten selbst war aller¬
liebst angelegt und höchst charakteristisch für den chinesischen Gartenstil: über
Lotoskelche führten zierliche Holzstege in rechtwinklich gebrochenen Linien, die
künstlichen Felseninseln, die meist mit graziösen Pavillons geschmückt waren,
verbindend. Von dem höchstgelegenen dieser Pavillons genießt man einen
köstlichen Blick auf den See. Nicht weit von diesem Tuskulum sahen wir aus
einem der Hügel eine schlanke Pagode, verfallen im Laufe der Jahrhunderte
und vielfach mit Gesprüpp bewachsen. Dorthin zog es uns jetzt. Dicht neben
der Pagode steht ein nüchternes zweistöckiges Haus in europäischem Stil, durch
seine protzig herausfordernde Geschmacklosigkeit die Harmonie des Bildes störend.
Eine chinesische Tafel, am Eingangstore des Hauses, verkündet der staunenden
Mitwelt stolz, daß es ein „Sanatorium" ist. zum Andenken an das Diamond
Jubilee errichtet. Tatsächlich ist es eine mit allem Komfort ausgestattete Villa
für die Herren englischen Misstonare, die hier von der Last und den Mühen
ihrer anstrengenden Tätigkeit während der Sommermonate ausruhen. Es ist
doch gut, daß man auf diese Weise erfährt, wo das für die Mission gespendete
Geld bleibt. Durch die Einführung des Opiums und der Bibel hat die Königin
Viktoria ein so edles Denkmal wohl verdient!
Nachdem wir uns in dem Garten des „Sanatoriums" an der schönen Aus¬
sicht erfreut hatten, stiegen wir wieder hinab und gingen eine Strecke am Ufer
entlang, bis wir an eine Brücke kamen, die auf die nahe gelegene Insel hin¬
überführte. Mit den schönsten Bäumen bewachsen, beherbergt dies reizend
idyllische Eiland eine Anzahl schöner Tempel. An der Stelle, wo sich einst der
Sommerpalast der sung-Dynastie erhob, befindet sich jetzt eine Halle, die zur
Erinnerung an die Vollendung des großen, 120 Bände umfassenden Kataloges
(im vierzigsten Jahre der Regierung K'im-lung, 177L) errichtet worden ist. Sie
enthält eine reiche Bibliothek in dunklen Holzschränken, auf denen in goldener
Schrift die Titel der in ihnen enthaltenen Werke prangen. In nächster Nähe
davon befindet sich ein dem Andenken des großen Philosophen und Historie¬
graphen Chu-Hi geweihter Tempel. Die einfach schöne Tempelstelle enthält
nur die Tafel mit dem postHumen Ehrennamen des Weisen, aber an der Rückseite
der Hinterwand ist eine große Schiefertafel angebracht, die in kräftig gemeißelten
Strichen sein Bildnis in Lebensgröße trägt. Von hier aus traten wir den
Rückweg an, jedoch nicht wieder durch die Stadt, sondern auf allerhand gewundenen
Pfaden, die uns zumeist durch Reisfelder führten.
Am nächsten Morgen waren wir bereits um 8 Uhr bei Mr. P. und traten
in fünf Sänften die Reise an. Wir besuchten mit ihm zwei sehr interessante
buddhistische Tempel, die außerhalb der Stadt auf bewaldeten Höhen unweit des
Sees sehr malerisch gelegen sind. Einer derselben ist ein vielbesuchter Wall¬
fahrtsort. Zu beiden Seiten des Weges bildeten Bettler, größtenteils mit den
abschreckendsten Krankheiten behaftet, förmlich Spalier. Es war ein geradezu
ekelerregender Anblick. In der Stadt selbst besichtigten wir die prächtige Haupt¬
straße, deren meist zweistöckige Häuser mit herrlichem Schnitzwerk und bunten
Schildern einen überaus malerischen Anblick gewähren. Mir fiel unter anderm
ein Apothekergeschäft auf, das durch besonderen Glanz und Reichtum der Aus¬
stattung hervorragte. Begierig, die dort aufgestapelten seltsamen Rohmaterialien
der chinesischen Pharmakopöe etwas näher anzusehen, traten wir hinein, wurden
jedoch mit einer gewissen, unverkennbaren Zurückhaltung aufgenommen. Da
fiel mein Blick zufällig auf eine rotlackierte Holztafel, die über einer der Türen
hing und in goldenen Schriftzeichen ein Zitat aus dem Meng-tsze trug. Kaum
aber hatte ich verraten, daß mir nicht nur das Zitat selbst, sondern auch der
Zusammenhang, in dem es zu verstehen ist, bekannt war, als der Inhaber des
Ladens plötzlich wie Butter an der Sonne schmolz. Wir wurden mit der größten
Liebenswürdigkeit durch alle Räumlichkeiten des Geschäftes geführt, dann mit
Tee bewirtet und schließlich unter vielen Verbeugungen und Komplimenten
entlassen. Jeder Besucher Chinas, der in eine ähnliche Lage gekommen ist,
wird Beispiele dieser Art zu Dutzenden anführen können. Ein klassisches Zitat,
richtig verstanden oder gar bei einer passenden Gelegenheit geschickt eingeflochten,
kann Wunder wirken.
Wir bestiegen dann den City Hill, der, mitten in der Stadt gelegen, ihre
Heiligtümer birgt. Hier ist der Tempel des Stadtgottes und eine Menge anderer
Tempel, die nahezu das ganze chinesische Pantheon enthalten. Überall wurden
wir mit größter Zuvorkommenheit behandelt. Der Blick, den man vom Gipfel
dieses Hügels auf die Stadt und ihre Umgebung hat, ist einzig schön.
Leider änderte sich von jetzt an das Wetter, und während wir über den
herrlichen T'al-Hu-See (kurz vor Su-chow) segelten, goß es leider ununterbrochen,
sodaß wir uns aus Verzweiflung die Zeit durch „Sechsundsechzig" vertrieben.
Dieser inselreiche, zum Teil von Bergen umrahmte See ist so riesengroß, daß
man das gegenüberliegende Ufer selbst bei klarem Wetter nicht sehen kann.
Als wir nach langer Fahrt endlich in Su-chow angelangt waren, gingen
wir Vier sofort auf gut Glück ohne jegliche Begleitung in die Stadt: Ich
wollte hier den Dr. D.B. von der Presbyterian Mission aufsuchen, da er sich
eingehend mit der chinesischen Volksreligion beschäftigt hat. Wir wußten, in
welcher Richtung der Stadt sein Haus gelegen war, und siehe da: nach einer
ungefähr einstündigem Wanderung begegnete uns ein langbärtiger Europäer, der
zufällig kein anderer war, als der Gesuchte. Es war gerade Sonntag und er
hatte fünf Gottesdienste abzuhalten, so daß er den ganzen Tag besetzt war; für
den nächsten Tag stellte er sich uns aber mit Freuden zur Verfügung. So
entschlossen wir uns denn, einen Tag zuzugeben, während unsere Reisegefährten
bereits am selben Tage ihre Heimreise nach Shanghai antraten.
Da Dr. D. B. uns dreimal nachdrücklichst mitgeteilt hatte, daß um halb
fünf Uhr English Service in der Wohnung des Dr. P. im Missionshospital
standfinde, blieb uns natürlich nichts anderes übrig, als hinzugehen. Dr.D.B. selbst
hielt die Predigt, die sich ausschließlich mit der l'ögurrectivn ok tus doa^
befaßte — von, Geist war nicht weiter die Rede, er kam offenbar nicht in Betracht
und schien, soviel ich sehen konnte, unter den Anwesenden auch nicht einmal vertreten
zu sein. Erbanlich war es also nicht, rührend aber war es zu sehen, wie diese
kleine Gemeinde — wir waren vielleicht zwanzig Personen — zusammenhält. Die
Gottesdienste finden jeden Sonntag abwechselnd bei den verschiedenen Familien
statt. Wir wurden allen Anwesenden vorgestellt, und alle kamen uns mit größter
Herzlichkeit entgegen.
Am nächsten Morgen holten wir Dr. D. B. um 8 Uhr ab und wanderten
dann volle achtStunden unter seiner sachkundigen Führung in der Stadt umher, wo
es verschiedene für mich besonders interessante Tempel zu sehen gab. Su-chow, das
einstmalige Paris Chinas, hat durch die Taiping-Revolutwu arg gelitten, und
Zahlreiche wüste Plätze mitten in der Stadt sind bis auf den heutigen Tag die
stummen Zeugen jener Schreckenszeit geblieben. Die Stadt macht mit ihren
endlosen langen, engen, gedrängt vollen und übel riechenden Straßen heutzutage
keinen anziehenden, geschweige denn eleganten Eindruck mehr. Handel und
Wandel sind noch immer rege, aber der ehemalige Glanz ist hin.
Hier in Shanghai ist augenblicklich alles durch die Races außer Rand und
Band. Während der Renntage sind nachmittags alle Geschäfte geschlossen. Dabei
regnet es fast beständig. Wir schreiben heute den 3. November, und dennoch
herrscht hier eine tropische Schwüle, daß man sogar im leichten Sommeranzuge
nicht aus dem Schwitzen herauskommt.
Eben erhalten wir vom Taotai eine Einladung zu einem großen Balle,
den er morgen zur Feier des Geburtstages der Kaiserin Witwe gibt. Wir
wollten eigentlich absagen, werden aber von allen Seiten beredet, hinzugehen,
da das Fest seenhaft werden soll. Es sind sechshundert Einladungen dazu
ergangen. Jedenfalls werden wir wohl nur eine Stunde dableiben, da wir
uns am nächsten Morgen schon um 6V2 Uhr einschiffen müssen, um mit der
„Sachsen" nach Hongkong abzudampfen. Von dort gehen wir gleich nach Canton
weiter. Hoffentlich ist uns nur dort das Wetter günstiger. Wir werden dort
wohl etwa vierzehn Tage bleiben und dann nach kurzem Aufenthalt in Shanghai
nach Peking Weiterreisen. (Weitere Briefe folgen)
Das lang ersehnte Glück war da! Als k^ercZinanäus Salentinus. nobilis
ckvmini Sglentini üben baronis 6o ^nemersneim Mus vriclie natus, war es
am 20. Oktober in das Taufbuch der Holzheimer Kirche ordnungsgemäß ein¬
getragen worden und lag nun fest gewickelt in der Wiege, die im dämmerigen
Alkoven des Schlafgemaches neben dem Bette der jungen Mutter stand.
Wenn Ferdinand Salentin auch nur die Hälfte der Hoffnungen erfüllen
wollte, die sein Erscheinen in dieser Welt wachgerufen hatte, so wartete seiner keine
leichte Aufgabe. Frau v. Ödinghoven sah in dem hilflosen Bündel, das vorläufig
die kostbare Zeit noch mit Trinken und Schlafen hinbrachte, schon den künstigen
Hofkavalier, Schwester Felicitas dagegen einen geistlichen Würdenträger, einen Abt
oder einen Domkapitular. Herr v. Patiente meinte, das energische Kinn des Neu¬
geborenen verrate einen der größten Feldherrn des achtzehnten Jahrhunderts, und
Pater Ambrosius vermutete, daß unter der schöngewölbten Stirn der wekenen-
spannende Geist eines Gelehrten schlummere. Auf alle Fälle aber werde das Kind
zu einer Leuchte des Glaubens heranwachsen, denn wer am Ferdinandstage geboren
sei und in der heiligen Taufe den Namen so vieler erlauchter Schirmherren der
Religion erhalten habe, der sei zu großen Dingen berufen.
Die Wehmutter, die natürlich auch ihr Urteil abgab, erklärte, seit zwanzig
Jahren sei in der ganzen Gegend kein so starkes und schweres Kind zur Welt
gekommen, wie der junge Herr Baron, und daß er gleich in der ersten Minute
ihren Daumen in die Faust genommen und nicht wieder habe loslassen wollen,
das sei ein Zeichen, daß er seinen Kopf für sich habe und anders werden würde
als sonst die Menschen.
Dieses Wort gab dem Vater zu denken. Anders als sonst die Menschen!
Es schnitt ihm durchs Herz, wenn er sich vorstellte, daß das unendliche Leid, das
schon so viele Mitglieder der Familie heimgesucht hatte, auch diesem Knäblein
beschicken sein könne. Herrn Salentins Wünsche für den Sohn verstiegen sich
nicht bis zum Hofkleid oder zum Abtstab, nicht bis zum Lorbeer des Feldherrn
oder des Gelehrten; was er für ihn erhoffte, waren fünf gesunde Sinne und ein
zufriedenes Gemüt. Und immer wieder zog er behutsam den Vorhang der Wiege
zurück, beugte sich über das kleine Menschenbild und versuchte, aus dem runden
Gesichtlein die Antwort auf die bange Frage zu lesen, die ihn jetzt unausgesetzt
beschäftigte. Wenn der Kleine einmal leise zu wimmern oder gar zu schreien
begann, klopfte des Vaters Herz. Sollte der Mund, der diese Laute hervor¬
zubringen fähig war. nicht einst auch Silben und Worte bilden zu lernen imstande
sein? So kam es, daß dem alten Herrn das Geschrei seines Sohnes und Erben
holder als Sphärenmusik klang, und daß er mit einer Aufmerksamkeit darauf
lauschte, als handle es sich um eine Offenbarung.
Alle Besucher fanden, daß das Kind der Mutter gliche. Das verdroß den
Freiherrn ein wenig, denn er hätte gar zu gern gehört, daß man wenigstens die
Friemersheimsche Nase in dem kleinen Antlitz wiedergefunden hätte. Er wußte
freilich, wie spät eine Nase die charakteristische endgültige Form annimmt, und er
Zweifelte nicht, daß sich Ferdinand Salentin nach etwa zwanzig Jahren durch
einen scharf markierter Höcker unterhalb der Nasenwurzel als ein echter Sprosse
des Geschlechts legitimieren werde, aber es wäre doch hübsch gewesen, wenn man
jetzt schon einen, natürlich nur ganz geringfügigen, Ansatz zu jenem Höcker wahr-
genommen hätte. Das eine stand für den Vater allerdings fest und freute ihn
gewaltig, obgleich er sich gegen niemand darüber aussprach: wenn der kleine
Ferdinand schlechter Laune war und sich zum Weinen anschickte, erschienen in
seinem bräunlichen Gesichtchen Runzeln und Falten, und dann konnte nur ein
Böswilliger noch behaupten, daß er der jungen blühenden Mutter gliche.
Merge war die einzige, die weder nach den Zukunftsaussichten des Kindes
noch nach Ähnlichkeiten fragte. Für sie genügte die Tatsache, daß das Bündel
da in der Wiege ihr gehörte. Das war des Glückes genug — mehr brauchte sie
nicht. Und von den Befürchtungen, die ihren Gatten quälten, hatte sie keine
Ahnung.
So verflossen ihr die ersten Tage der Mutterschaft in eitel Seligkeit. Das
kleine Wesen, das da hinter der Gardine schlummerte oder mit weitgeöffneten
Augen an ihrer Brust lag oder unter den Händen der Wehmutter im Bade
zappelte und strampelte, erschien ihr tausendmal merkwürdiger als alle Wunder
der Naturalienkammer, den Paradiesvogel nicht ausgeschlossen, und das Herrlichste
dabei war, daß es ihr, der Holzheimer Merge, sein Leben verdankte.
Wenn nur die beiden Schwägerinnen nicht so oft ihre süßen Träume gestört
hätten! Sie meinten es ja gewiß gut mit ihr und dem Kinde, aber sie taten
gerade, als ob es ihr Verdienst sei, daß es lebte und so groß und kräftig war.
So geschah es, daß, als Frau v. Syberg kam, um sich den Friemersheimschen
Stammhalter anzuschauen, die Gubernatorin die Frage an sie richtete: „Nun,
ins amore, was sagen Sie zu meinem Ferdinand?"
Das war mehr als die gutmütige Merge vertragen konnte. Sie richtete sich
ein wenig in ihrem Bette auf und bemerkte gereizt: „Wo habt Ihr denn Euern
Ferdinand, maäame? Ich sehe nur einen, und das ist meiner."
Die beiden Damen lachten, und Frau v. Ödinghoven erwiderte ruhig: „Liebe
Merge, wie kann man nur so jaloux sein! Ich dächte, das Kind hätte mir drei¬
viertel Jahr lang mehr Sorge gemacht als dir, und deshalb hätte ich wohl ein
Recht, es auch als das meine zu regardieren."
Dergleichen ärgerliche Zwischenfälle kamen von nun an täglich vor. Die
Priorin ging sogar so weit, die Behauptung aufzustellen, daß der kleine Ferdinand
nur ihren heißen Gebeten sein Dasein verdanke. Sowohl sie als auch die Guber¬
natorin, die selbst nie Kinder gehabt hatte, erklärten, Merge sei die leichtsinnigste
junge Mutter, die sie je gekannt hätten, und es sei nur ein Glück, daß ihr zwei
Schwägerinnen mit so reichen Erfahrungen hilfreich zur Seite stünden. Und um
ihre Hilfsbereitschaft durch die Tat zu beweisen, kochten sie aus Schweineschmer,
Haferstroh, Tausendgüldenkraut, Lorbeerblättern und Schwefel eine Salbe und
bestrichen damit einen halben Finger dick das Köpfchen des Säuglings, um, wie
sie sagten, zu verhüten, daß er den „Ursprung" bekomme, ein Übel, von dem alle
im Oktober geborenen Kinder heimgesucht würden.
Sie huldigten überhaupt der Ansicht, daß es ratsamer sei, Krankheiten zu
verhüten als sie, wenn sie erst da seien, zu heilen, und prophezeiten mit einer Be¬
stimmtheit, die die junge Mutter erschütterte, dem Kleinen das „böse Wesen" oder
die „Gichter", wogegen kein Mittel wirksamer sein sollte als ein Pulver aus Mistel¬
stengeln, Päonienkörnern, Baldrianwurzel und Anissamen. Von diesem Pulver
bereiteten sie denn auch einen Vorrat, der ausgereicht haben würde, sämtliche Säug¬
linge in den Ländern Jülich und Berg vor dem bösen Wesen zu bewahren. Sei
es nun, daß der kleine Neffe an dem Fehler der meisten Kinder litt, die klüger
sein wollen, als die erfahrensten Tanten, sei es, daß er vor dem bösen Wesen keine
Angst hatte, oder daß er an die Wirksamkeit des Mittels nicht glaubte, sei es endlich,
daß er von seiner Mutter den Hang zur Widersetzlichkeit geerbt hatte, genug, er
weigerte sich zu Mergens heimlicher Freude standhaft, das bittere Pulver zu nehmen,
und gab es, wenn man ihm unter unsäglichen Mühen ein Pröbchen davon über
die Lippen gebracht hatte, prompt wieder von sich.
Die beiden alten Damen waren hierüber nicht wenig bekümmert und meinten,
zu ihrer Zeit wären die Kinder noch ganz anders gewesen; dem kleinen Ferdinand
müsse man freilich seinen Unverstand zugute halten, denn es sei schließlich kein
Wunder, daß ein Kind, dessen Mutter jede gute Lehre in den Wind schlage und
die bewährtesten meckicamenta verachte, als ein bockbeiniges Geschöpf auf die Welt
gekommen sei.
Da sie mit dem Neffen so schlechte Erfahrungen gemacht hatten, wandten sie
ihre Sorge nun wieder der Schwägerin zu, schulmeisterten sie von früh bis spät,
nötigten sie, Speisen zu essen, die ihr widerstanden, und verboten ihr andere, auf
die sie gerade Appetit hatte. Ihrer Meinung nach hatte Merge zum Kinderwärter
nicht das geringste Talent, sie schnürte die Wickelbänder nicht fest genug und ließ
den Kleinen nach dem Baden viel zu lange unbekleidet. Nicht einmal ihn richtig
zu tragen verstand sie, denn sie hielt das Bündel zum Entsetzen der beiden alten
Damen entweder zu senkrecht oder zu wagerecht, so daß man fortwährend mit der
Gefahr rechnen mußte, Ferdinand würde krumme Beine oder einen übermäßigen
Blutandrang nach dem Kopf bekommen.
Die junge Mutter suchte sich mit Geduld zu wappnen und die Drangsale,
denen sie sich ohne Unterbrechung ausgesetzt sah, um des Kindes willen mit Er¬
gebung zu ertragen. Aber oft erwies sich ihr Temperament doch stärker als alle
guten Vorsätze, und dann empfand sie es als einen wahren Hochgenuß, ihren
Kopf durchzusetzen und die beiden Alten durch aktiven oder passiven Widerstand
zur Verzweiflung zu bringen. Es kam soweit, daß sie sich des unschuldigen
Wesens, das ja die Ursache ihres Martyriums war, uicht mehr so recht freuen
konnte.
Die einzigen Lichtblicke in ihrem Dasein waren die Tage, wo sich Mathias
v. Pallandt zum Besuche einfand. Er war der einzige Mensch, der sie nahm, wie
sie nun einmal war, der nicht an ihr herumerzog, und von dem sie gerade des¬
halb mehr lernte als von ihren näheren Verwandten. Sie hatte die Lektionen
wieder aufgenommen, und der Gesang begann jetzt, nachdem die Anfangsgründe
des Unterrichts überwunden waren, ihr aufrichtiges Vergnügen zu machen. Aber
auch diese Freude wurde ihr durch die Wahrnehmung beeinträchtigt, daß die
Schwägerinnen sie nie mehr mit Mathias allein ließen, und das Mißtrauen, das
sie hierin zu erkennen glaubte, kränkte sie tödlich. Sie wußte ja, welcher Art die
Gefühle waren, die ihr der Neffe ihres Mannes entgegenbrachte, aber sie traute
sich jetzt, wo sie die Mutter eines Sohnes war, mehr als je die Kraft zu, jene
Gefühle in den Grenzen des Erlaubten zu halten.
An einem milden Sonntag im März stellte sich Herr v. Pallandt seltsamer-
weise nicht zur gewohnten Stunde ein. Merge, die kurz vorher mit der Guberna-
torin eine heftige Auseinandersetzung gehabt hatte, erwartete ihn mit Ungeduld,
da sie heute des allzeit fröhlichen Trösters ganz besonders zu bedürfen meinte.
Sie stand, das Kind auf den Armen, am Fenster und spähte über den Hof und
durch die Pfeiler des Hoftores nach der Straße, von der sie ein kurzes Stück
übersehen konnte. Sie war allein im Gemach, Herr Salentin saß in der Naturalien¬
kammer, und die beiden Damen legten in der Küche die letzte Hand an das
Mittagsmahl.
Die Sonne schien warm durch die kleinen Fensterscheiben, und die jungen
Schößlinge des Rosmarinstockes verbreiteten einen starken aromatischen Duft. Es
war beinahe wie im Sommer.
Man hatte den kleinen Ferdinand bisher noch nie ins Freie gebracht, denn
die Frühlingsluft war nach der Ansicht der Schwägerinnen für kleine Kinder noch
schädlicher als die Winterkälte. Heute aber, wo sich kein Lüftchen regte, und wo
es die Sonne so gut meinte, dachte die junge Mutter, dürfe sie es schon einmal
wagen, das Bürschchen mit hinaus 'zu nehmen. Sie hüllte das Bündel in ein
Tuch, trat auf den Vorsaal, überzeugte sich davon, daß die beiden Alten noch in
der Küche umherwirtschafteten, und huschte geräuschlos und schnell wie ein Wiesel
über den Hof.
Sie hatte schon das Tor erreicht und warf noch einen besorgten Blick nach
dem Hause zurück, als das Küchenfenster mit großer Hast aufgerissen wurde.
,Mon allen, czuelle irivolitö!" ließ sich die Stimme der Gubernatorin ver¬
nehmen. „Merge, was soll das heißenl Weißt du denn nicht, daß die Märzlust
für Kinder Gift ist? tout cke suite trägst du unseren Ferdinand wieder ins Haus,
du — du Kindsmörderin tut"
Das Geleise der alten Dame hatte Gerhard aus dem Pferdestall gelockt, und
in demselben Augenblick kam auch Villa, die man in das Hühnerhaus geschickt
hatte, um frische Eier zu holen, wieder zum Vorschein.
Angesichts der dienstbaren Geister, die Zeugen einer so schweren Anschuldigung
geworden waren, glaubte sich die junge Frau rechtfertigen zu müssen.
„Es ist ja heut' so warm wie im Heumond, nmäsme", sagte sie, „da kann's
meinem Kinde nicht schaden, wenn's einen Augenblick an die Luft kommt. Ich
will auch nur bis vor's Tor und nachschauen, wo der Herr Mathias bleibt."
„So sol Also darum bringst du unseren Ferdinand an den Rand des Grabes I"
schrie Frau v. Ödinghoven, krebsrot vor Zorn. „Was gilt dir das Kind, wenn
du nur deinen Galan sahet Brauchst dir nicht zu imaginieren, wir wüßten nicht
längst, wie's mit euch steht. Vom ersten Tag an, ja noch vor der Hochzeit, hast
du deinen Eheherrn betrogen, du falsche KröteI Aber das kommt davon, wenn
einer, so vom Adel, eine freche Bauerndirne zu seiner epouse macht!"
Der jungen Frau drohten die Sinne zu schwinden. Ihre Knie zitterten,
und sie fühlte sich unfähig, auch nur einen Ton über die Lippen zu bringen.
Sie rang nach Luft, faßte das Kind fester und wankte ins Haus. Mühsam,
als seien ihre Füße aus Blei, stieg sie die Treppe empor, ging in das Schlaf¬
gemach und legte den Säugling in die Wiege. Dann riß sie sich das Gewand
vom Leib, trat an den Kleiderschrein und suchte aus dem hintersten Winkel den
kurzen braunen Rock und das Leibchen aus grauem Zolles hervor, die sie einst
daheim in Holzheim getragen hatte. Die Sachen paßten ihr längst nicht mehr,
denn sie war in den zwanzig Monaten ihrer Ehe noch üppiger geworden, aber
sie zwängte ihren Körper hinein. Bis jetzt waren ihre Augen trocken geblieben.
Nun aber kam das Schlimmste: der Abschied von dem Kinde. Sie kniete an der
Wiege nieder und bedeckte das Antlitz des kleinen Geschöpfes mit Küssen. Es sah
die Mutter mit großen Augen an und lächelte. Da stürzten ihr die heißen Tränen
unaufhaltsam über die Wangen.
Sie wurde in ihrem Vorsatze, alles zurückzulassen, worauf ihr Mann Anspruch
erheben konnte, wankend und dachte ein paar Minuten daran, das Kind mitzu¬
nehmen. Aber durfte sie, wenn die Märzlust wirklich so verderbenbringend war,
den Kleinen, der die fünf Monate seines Daseins bisher nur in der warmen
Stube verbracht hatte, einer solchen Gefahr aussetzen?
Sie raffte sich auf und eilte aus dem Gemach, als ob sie der Versuchung
hätte entfliehen wollen. Draußen auf dem Vorsaal hielt sie an und lauschte.
Unten, in der Wohnstube, wurde mit Tellern geklappert. Ihr Gatte, die
Schwägerinnen und der alte Gerhard, der Sonntags bei der Herrschaft speiste,
hatten sich also schon zu Tisch gesetzt. Sie wartete, bis die Magd mit dem Braten
aus der Küche kam und im Wohngemach verschwunden war. Dann aber flog sie
die Treppe hinab, schlüpfte aus dem Hause, drückte sich unter den Fenstern vorbei und
lief, so schnell die Füße sie zu tragen vermochten, den Pfad zum Lambertsberge hinan.
„Wo mag nur die Merge stecken?" fragte Herr Salentin, während er seine
Portion Feldsalat mit Essig begoß.
„Sie wird in der onambre ä LvuLner sein," erwiderte die Gubernatorin
gleichmütig. Und als die Magd wieder weg war, setzte sie hinzu: „Die leZers
Person war mit dem Kinde draußen — denke nur, Salentin, mit dem Kindel —
Da habe ich mir permittiert, sie ins Haus zu schicken."
„Was wollte sie denn draußen?" fragte Schwester Felicitas, als ob sie von
dem Auftritte nicht das Geringste bemerkt hätte.
„Ja, da magst du wohl fragen, ma onerel Sie wollte sehen, ob der
v. Pallandt noch nicht käme. Nun, da habe ich natürlich die occasion benutzt, ihr
meine opinion zu sagen."
Der Freiherr legte den Löffel aus der Hand und seufzte. Er war des ewigen
häuslichen Krieges längst überdrüssig.
„Man soll die Merge rufen," gebot er. „Ich will nicht, daß sie um solcher
Querellen halber fastet."
Frau V. Ödinghoven seufzte nun ebenfalls, erhob sich und klingelte. Die Magd kam.
„Geh hinauf und rufe msclame la bsronne!" befahl die alte Dame.
Die Magd ging und kam nach einer geraumen Weile mit dem Bescheid zurück,
daß msclame la bsronne im ganzen Hause nicht zu finden sei.
Man sah sich betroffen an.
„Ist das Kind da?" fragte die Gubernatorin, in deren Seele eine bange
Ahnung aufstieg.
„Es liegt in der Wiege und schläft, maäsine."
„Qraee s aient" stöhnte Frau v. Ödinghoven.
Der Freiherr war aufgestanden. Sein Antlitz war kreidebleich und seine
Hand umklammerte mit eisernem Griff den Arm der Gubernatorin.
„Wo ist mein Weib?" schrie er. „nella, wenn du sie mir nicht herschaffst,
so weiß ich nicht, was ich tuet"
„Bin ich die Korne deiner epouso?" entgegnete sie gekränkt. „Willst du
mich für jede 8odei8e, die diese saubere Person anrichtet, rospongable machen?"
„Du schaffst sie mir sert" brüllte er, „denn du mit deinem bösen Maul hast
sie aus dem Hause getrieben."
„Quelle ctceusation envrmel" jammerte die Priorin. „Wie kannst du so
ungerecht sein, SalentinI Du darfst doch nicht gleich das Ärgste denken. Vielleicht
ist sie in den Garten gegangen oder in den Kuhstall. Wir wollen doch erst einmal
ordentlich suchen."
Diese Mahnung verfehlte ihre Wirkung nicht. Der Freiherr stürzte hinaus,
und die Damen und der alte Gerhard folgten ihm.
Man suchte eine volle Stunde. Es war umsonst. Da entdeckte man auf
Mergens Bett außer ihrem Schlüsselbunde das Gewand, das sie kurz vor ihrem
Verschwinden noch getragen hatte. Man durchwühlte den Kleiderschrank und
bemerkte, daß nur die Stücke aus der Mädchenzeit der jungen Frau fehlten. Das
gab einen Anhalt. Man durfte nicht mehr daran zweifeln, daß Merge entwichen
war, und daß sie diesen Schritt mit voller Überlegung getan hatte.
Wohin konnte sie sich gewandt haben?
Herr Salentin, dessen Erregung jetzt einem stillen Schmerz gewichen war,
begab sich ins Dorf und entsandte die Bauern nach allen Richtungen. Der Tag
war noch lang genug, und man hatte einige Hoffnung, die Spur des Flüchtlings
aufnehmen zu können,
Um die Vesperzeit kam ein Bursche zurück, der die Meldung brachte, die
junge Frau sei bei der Heistartburg, einem festen Hause vor Holzheim, gesehen
worden, habe jedoch nicht die Straße nach ihrem Heimatsdorfe, sondern den gen
Mitternacht führenden Weg eingeschlagen. Sie müsse also wohl nach Eschweiler.
Rißdorf oder gar noch weiter, vielleicht nach Wachendorf, gewandert sein.
Die Gubernatorin triumphierte, denn für sie stand es jetzt fest, daß Merge
nur in Wachendorf sein konnte. Sie machte dem Bruder gegenüber aus ihrem
Verdachte, daß es sich um eine abgekartete Sache handle, und daß das Ausbleiben
seines Neffen mit Mergens Flucht in irgend einem Zusammenhang stehn müsse,
kein Hehl. Er widersprach ihr nicht, bat sie jedoch, darüber zu schweigen, bis man
die Bestätigung ihrer Vermutungen in Händen habe.
Am nächsten Morgen mußte Gerhard nach Wachendorf reiten und anfragen,
ob Merge dort eingetroffen sei. Herr v. Pallandt empfing den alten Diener
seines Oheims mit gewohnter Freundlichkeit und gab ohne Umschweife zu, daß
sich nmäsmo w dsronne unter seinen Schutz gestellt habe. Sie sei in seinem
Hause und habe erklärt, nicht wieder nach Rottland zurückkehren zu wollen.
Übrigens bedaure er sehr, daß er gestern nicht habe kommen können, weil sein
Gaul am Abend vorher lahm geworden sei.
Gerhards Botschaft wirkte auf den Freiherrn wie ein Donnerschlag. Er
hörte kaum zu, als ihm die Schwestern mit großer Zungenfertigkeit auseinander¬
setzten, sie hätten schon lange Unheil gewittert und es an Warnungen nicht fehlen
lassen. Er wäre jedoch jeder vernünftigen Vorstellung unzugänglich gewesen und
habe ihnen ihre Sorge um sein eheliches Glück übel genug gelohnt. Als sie sich
aber in bitteren Schmähreden gegen die pflichtvergessene Schwägerin ergehen wollten,
fuhr Herr Salentin auf und sagte:
„Es ist meine Schuld und nicht die ihre. Wenn ein Zweiundsechzigjähriger
eine junge Dirne freit, so ist's kein Mirakel, daß der Handel ein böses Ende
nimmt. Die Natur läßt sich nicht meistern, denn Jugend hängt sich an Jugend.
Es ist gekommen, wie es kommen mußte. Will sie deshalb auch nicht condemnieren.
vielmehr inckuIZenLö mit ihr haben und ihr gute Worte geben, daß sie wieder
herkommt. Nicht meinethalben, sondern um des Kindes willen. Denn es ist nichts
betrüblicher als so ein Würmlein, das ohne Mutter aufwächst."
Er sagte das alles mit einer solchen Entschiedenheit, daß die beiden alten
Damen darauf verzichteten, ihm zu widersprechen, und es geschehen lassen mußten,
daß Pater Ambrosius mit dem Auftrage nach Wachendors entsandt wurde, der
jungen Frau ins Gewissen zu reden und sie zur Rückkehr nach Haus Rottland
zu bewegen.
Der Pater war froh, seinem Gönner wieder einmal einen Dienst erweisen
zu können, denn bei der Geburt des Sohnes hatte der Freiherr dem Kollegium
zu Münstereifel ein ansehnliches Stück Waldes zur immerwährenden Nutznießung
überwiesen. Außerdem hatte es für den geistlichen Herrn einen eigenen Reiz, in
die Höhle des calvinistischen Löwen zu dringen und ihm seine Beute gleichsam
aus den Krallen zu reißen. Gelang es ihm, Merge zu sprechen, so durfte er, wie
er meinte, des Erfolges sicher sein, denn er wußte, welche Macht seine eindringliche
Beredsamkeit auf weibliche Gemüter ausübte.
Es kam jedoch anders. Die junge Sünderin weigerte sich auf das Entschiedenste,
ihn zu sehen, und ließ ihm durch Herrn Mathias sagen, es sei ihr herzlich leid,
ihren guten Eheherrn, der ihr nie ein böses Wort gesagt, durch ihr Entweichen
gekränkt zu haben. Solange jedoch die Schwägerinnen im Hause seien, könne sie
nicht daran denken, zu ihm zurückzukommen. Daß es für das Kind nicht gut sei.
wenn es ohne Mutter aufwachse, wisse sie selbst am besten, und sie bäte deshalb,
es ihr, je eher desto lieber, wohlverwahrt mit der Kutsche zu schicken.
„Sie sehen selbst, man pere," schloß Herr v. Pallandt, „daß macksms ma
laute ihre rösvlution gefaßt hat. Ich habe kein Recht, mich in die akkairs zu
mengen, und kann Ihnen nur die assurance geben, daß der kleine Ferdinand in
meinem Hause keine schlechtere Aufnahme finden würde als seine Mutter."
Er zuckte unter verbindlichem Lächeln die Achseln und geleitete den enttäuschten
Pater bis an das Hoftor.
Die Antwort, die der geistliche Vermittler heimbrachte, ließ an Deutlichkeit
nichts zu wünschen übrig. Herr Salentin wurde sich jetzt der ganzen Schwere
seines Unglückes bewußt, war jedoch entschlossen, sich um keinen Preis von dem
Kinde zu trennen. Die Zumutung, er solle den Knaben herausgeben, schien ihm
beinahe mehr Schmerz zu bereiten als alles übrige.
Nach den Gerüchten, die in der Gegend umgingen, und die natürlich auch bis
nach Haus Rottland drangen, durfte man leider nicht mehr daran zweifeln, daß
die Beziehungen, in denen die beiden jungen Menschen in Wachendorf zueinander
standen, doch wesentlich anderer Natur waren als das Verhältnis eines Schirm¬
herrn zu seiner Schutzbefohlenen."
„Nun muß ich mich doch wohl davon persuadieren, daß ich sie verloren habe.
bemerkte der Freiherr, als wieder einmal das Gespräch auf Merge kam, wehmütig
SU den Schwestern. „Ich will aber Gott dafür danken, daß er mir wenigstens
meinen Sohn gelassen hat," setzte er hinzu, indem er an die Wiege trat und mit
feuchten Angen das friedlich schlafende Kind betrachtete.
„Bist du sicher, daß es dein Sohn ist?" fragte die Gubernatorin mit
bedeutsamem Lächeln.
Der alte Herr zuckte zusammen. Dann sagte er bitter:
»Weiß Gott, nella. du bist schuld daran, wenn ich in Versuchung komme.
SU hoffen, er möchte doch taubstumm sein!" (Schluß folgt)
egas (geb. 1834) nimmt innerhalb des modernen Impressionismus
eine Sonderstellung ein. Sun Ausgangspunkt und die Bedingungen
für seine Entwicklung waren andere als fürMonet oder Renoir.
Er begann als Schüler der öools clss Keaux-^res und hat sich
gegen die strenge formale Schulung, die er dort erhielt, nicht auf¬
gelehnt. Zu Ingres fühlt er sich besonders hingezogen. Er steht zunächst ganz
im Banne der Tradition. Seine ersten Bilder behandeln antike Vorwürfe. Was
streng in der Form und im Aufbau ist, hat am meisten Reiz für ihn. Während
seines Aufenthaltes in Rom 1857 besitzt er schon eine erstaunliche Formbeherrschung.
Man kennt aus dieser Zeit einige Figurenbilder nach dem Leben, die in ihrer
schlichten Natürlichkeit, Klarheit der Anlage und Subtilität der Durchführung etwas
Fesselndes haben. Er zeigt sich als ein genau beobachtender Formzergliederer,
ohne dabei in Kleinigkeiten aufzugehen. Durch Analyse der Sichtbarkeiten sucht
er sich eine gründliche Naturkenntnis zu verschaffen. Wie er durch das „realistische"
Verfahren Ingres', das dieser bei seinen Porträtgemälden und -Zeichnungen anwendet,
beeinflußt wurde, tritt hier und da zutage. Im ganzen ist man über das frühe
Schaffen von Degas nicht gut unterrichtet.
Zwei Faktoren sind dann vornehmlich für seine weitere Entwicklung bedeut¬
sam geworden: das Bekanntwerden mit Marcks Kunst und das Studium der
Japaner. Durch Manet wurde er auf den spezifisch modernen Darstellungskreis
gewiesen: auf die Vorgänge der Straße, in Cafes, Theatern, Kabarets, Konzerten,
auf Nennplätzen und Tanzböden. Er stellt sein Auge jetzt auch auf die Reize
dieser Art von Aktualität ein. Sein Beobachtungsfeld wurde in das durch Manet
erschlossene Gebiet verlegt. Und auch in der Art, wie er seine Beobachtungen
registriert, finden sich um die Wende der sechziger und siebziger Jahre manche
Anklänge an Manet.
Zu einer bildmäßigen Zusammenfassung seiner Beobachtungen gelangte er
unter Benutzung von Erfahrungen, die er an der ostasiatischen Kunst gemacht
hatte. Das Prinzip einer dekorativen Flächenfüllung im Sinne der Japaner ver¬
tritt er vielleicht am konsequentesten. Die dekorativen Elemente, die er sich aneignet,
hat er von dort übernommen und paßt sie einer europäischen Auffassung an. Ein
an Ingres geschultes Liniengefühl und der linear dekorative Stil der Japaner
kommen zu einer höchst eigenartigen Verschmelzung. Daß ein neuer ungemein
reizvoller Rhythmus gewonnen wurde, liegt aber vornehmlich darin, daß Tegas
ein ganz persönliches Verhältnis zu den Naturerscheinungen hatte und eine durch,
aus originale Sehbegabung war. Er ist neben Menzel wohl der eindringlichste
Beobachter des neunzehnten Jahrhunderts.
Von einer Reise nach Amerika brachte er ein kleines Bild mit. „Das Innere
eines Baumwollkontors in New Orleans" (1873), das wegen seiner packenden
Anschaulichkeit auf der Pariser Weltausstellung von 1900 großen Eindruck machte.
Er hat das verwickelte Ensemble zweier nebeneinonderliegender Geschäftsräume,
von Tischen mit Baumwollproben, von Prinzipalen, Kommis und Käufern in
erstaunlicher Weise klargelegt. Die Charakterisierung der einzelnen Typen ist meister¬
haft. Und wie ist die „Stimmung" dieses Raumes, das echte Bureaumilieu
getroffen. Es gehört die ganze sachliche Nüchternheit eines solchen Beobachters
dazu, um sich in den Mechanismus Stück für Stück so zu vertiefen. Man hat
die Empfindung, daß alles bis auss letzte verstanden und künstlerisch durch-
empfunden ist. Die Helligkeit der Wirkung des Innenraums zeigt ihn in Marcks
Bahnen schreitend. Wie er ein ganz gewöhnliches Stück Wirklichkeit in ein über¬
zeugendes künstlerisches Gebilde zu verwandeln und den Pulsschlag des Lebens
SU treffen weiß, darüber kann man sich vor solch einem Werke Rechenschaft
geben.
Eine realistische Ausführlichkeit, wie sie hier noch herrscht, verläßt er später
mehr und mehr und legt auf den Rhythmus als solchen das Hauptgewicht. Es
ist ihm nicht um einen Vorgang an sich zu tun. sondern wie sich aus Wirklichkeits-
elementen ein dekoratives Ensemble gewinnen läßt, das wird sein Problem. Die
Linie ist wie für die ostasiatischen Maler ein Hauptausdrucksmittel seiner Kunst.
Sie erhält ihren eigenen Schönheitswert. Auf diesem Wege kommt er zu anderen
Gestaltungsmöglichkeiten als die Impressionisten Monetscher Richtung.
Nachdem er an den ersten Ausstellungen der gegen den Salon protestierenden
Künstler teilgenommen hatte, trennte er sich von ihnen, als sie den Namen
InwressioniswZ annahmen. Er zog sich ganz zurück, lebte für sich und galt als ein
menschenfeindlicher Sonderling. Daß er die völlige Formauflösung, zu der die
Impressionisten strengster Observanz schließlich gelangten, nicht billigen konnte,
ergibt sich aus der ganzen Art seiner Veranlagung. Er hatte von ihrer Freilicht-
Malerei gelernt, nahm davon an, was er brauchen konnte, sah aber nicht in dem
Scheinhaften eines vielfältigen Spiels von Reflexen das letzte Ziel der Kunst.
Szenen im Freien treten bei ihm auch zurück hinter Vorgängen in Innenräumen.
Da nur die rein artistische Ausgestaltung sein Interesse beherrscht, so schränkt
er den Kreis seiner sujets immer mehr ein. Auch darin berührt er sich mit der
ostasiatischen Kunst, daß er ein Höchstmaß von künstlerischem Ausdruck in einem
sehr engen Motivenschatz zusammendrängt. Ein ungeheurer Reichtum an formaler
Phantasie entfaltet sich innerhalb eines begrenzten Gebietes von Gegenständen.
Er greift ein Thema auf, das ihm die ausgiebigsten Möglichkeiten zur Ver¬
wirklichung seiner künstlerischen Absichten bietet, und variiert es dann nach den
verschiedensten Seiten.
Was er schildert, hat jene besondere Note von Modernität, wie wir sie bei
Guys und Manet finden. Sein Weg führt ihn dahin, wo das moderne Leben in
ausgesprochener Eigenart pulsiert. Er steht immer über den Dingen. Seine
Leidenschaftlichkeit spricht sich nicht in einer inneren Anteilnahme an seinen Gestalten
und Vorgängen aus, sondern in der Handhabung der künstlerischen Mittel. Es
gibt keinerlei Beschönigungsversuche bei ihm. Er ist ein harter und kalter Beobachter.
Für das Groteske zeigt sich seine Sehbegabung besonders empfänglich.
Umgeben von einer raffinierter weltstädtischen Kultur, vertraut mit ihrem
Luxus und all ihrem angefaulten Wesen, blickt er mit einem gewissen Sarkasmus
darauf hinab. Mit raffinierter technischen Mitteln schildert er die, welche die
Vorteile der äußeren Kultur genießen, bei geistiger Stumpfheit, die elegante Welt,
und die, welche sich für ihre Zerstreuung, ihr Vergnügen und ihre Lüste hergeben,
die Talmi-Eleganz. Oder er wendet sich denen zu, über welche die Zivilisation
hinweggeht, die im Elend stehen und von ihrer Hände Arbeit leben, die im Trott
des einförmigen alltäglichen Daseins verblöden. Das sind die Pole, um die seine
Darstellungsprobleme kreisen. Für keine Menschenklasse verrät er ein inneres
seelisches Interesse. Der Mensch berührt ihn nur insoweit er durch Bewegungs¬
und Farbenerscheinungen seine bildnerische Phantasie anregt. Tiefere psychologische
Probleme existieren für seine Kunst nicht, Wo ihn ein Eindruck fesselt, da greift
er zu. Es ist, als lebte er bloß mit dem Auge. Die ästhetische Welt, in der er
sich bewegt, entzieht sich jeder moralischen Wertung. Mit der Grisette und Kokotte,
die er malt, verbinden ihn keinerlei innere Beziehungen. Der Dögoüt, den sie
ihm einflößt, drängt sich uns auch aus ihrem Bilde auf. Ein Zug großer Satire
geht durch seine Kunst wie bei Daumier.
Es entspricht dem Charakter seiner Aufscissungs- und Darstellungsweise, daß
er sich fast ganz auf kleine Formate beschränkt hat. Es gibt nur wenige Ölbilder
von ihm. Seine eigentliche Domäne ist das Pastell. Dieses hat, nachdem es seit
dem achtzehnten Jahrhundert fast völlig zurückgedrängt worden war, nach der
Mitte des neunzehnten eine neue Blüte erlebt durch Künstler wie Degas, Manet,
Whistler. Indem Degas von der Zeichnung ausgeht, wird der Pastellstift für ihn
ein gemäßes Ausdrucksmittel. Er hat dem Pastell aber auch eine reiche Farbigkeit,
Tiefe und Glanz zu verleihen gewußt, wodurch er alles, was das achtzehnte
Jahrhundert auf diesem Gebiete geleistet hatte, hinter sich läßt. Sein Schaffen
bewegt sich zwischen vorwiegend gezeichneten Blättern mit nur wenigen eingesetzten
Farbenflecken und koloristisch voll durchgeführten Arbeiten. Er will sich mit seiner
Malerei nicht so an den Natureindruck klammern wie die Impressionisten. Sie
soll vor allem dekorativ auch durch die Farbe sein. Es liegt schon in dem Wesen
des Pastells, daß es den Gegenstand einer gewöhnlichen Realität mehr entzieht
als eine andere Technik. Der banalste Vorgang erhält bei Degas durch die Art,
wie er künstlerisch erlebt ist, einen bestrickenden Phantasiewert. Man kennt seine
Pastelle, deren Oberfläche zu stammen und in den buntesten Tönen zu irisieren
scheint. Die Farbe ist auch für ihn ein stimmunggebendes Element.
Drei Kategorien von Vorwürfen hauptsächlich haben seine Gestaltungskraft
gereizt: Jockeiszenen, Balletteusen, nackte Frauen bei der Toilette. Bewegungs¬
vorgänge regen seine schöpferische Tätigkeit besonders an. Er geht von dem momen¬
tanen Eindruck aus, sucht aber die bewegten Gegenstände ihrem Formumriß nach
zu vergegenwärtigen, die körperliche Struktur voll zur Geltung zu bringen. Der
Bewegungsakt, als ein die Gesamtheit der Masse einheitlich durchflutender und
ihre Erscheinung bestimmender Verlauf aufgefaßt, kommt in Liniengebilden zum
Ausdruck. Es gilt nicht, diese oder jene bestimmte Situation in naturalistischem
Sinne zu reproduzieren, sondern aus der Phantasie entsprungene Bildvisionen mit
der Eindringlichkeit impressionistischer Erlebnisse in die Erscheinung treten zu lassen.
Die Jockei- und Rennszenen ziehen zuerst, seit dem Anfang der siebziger
Jahre, sein Auge auf sich. In kleinen Ölbildern und Pastellen hat er seine
Beobachtungen niedergelegt. Wir sehen, was ihm zum künstlerischen Erlebnis wird:
die mannigfachen interessanten Bewegungsmomente der Reiter am Start und auf
dem Felde, die Elastizität und das Spielen der Körper von Mann und Roß, die
Verteilung der beweglichen Gebilde auf der Fläche, ihre Beziehungen zueinander,
ihr Verhältnis zu der Umgebung und zum Raum. Vergleicht man Rennbilder
von Manet mit Jockeiszenen von Degas, so bemerkt man, wie dieser dem Form¬
mechanismus der Einzelgebilde in ganz anderer Weise gerecht zu werden sucht.
In die verschiedenen Gangarten und Stellungen der Pferde hat er sich ganz ein¬
gelebt. Jedes Muskelspiel, das einen Bewegungsvorgang begleitet, ist ihm vertraut.
Er deutet das Schauspiel sozusagen zu gleicher Zeit von außen und von innen.
Nicht ein bloßer flüchtiger und zerflossener optischer Ferneindruck, sondern ein
Komplex der charakteristischsten Bewegungsnuancen, dem Strukturzusammenhang
und der Erscheinung nach aufgefaßt, ist das Problem, um das es sich immer für
ihn handelt. Das Verhältnis von leerem und mit Figuren gefülltem Raum, die
Rhythmik in der Variation der Stellungen spricht für die Gesamtwirkung bedeutsam
mit. Man weiß nicht, ob man bei einem Bilde von Degas die Sicherheit der
Formbeherrschung oder die Fein fühlig keit der dekorativen Flächenfüllung mehr
bewundern soll.
Zu einer Freilichtwirkung gelangt er bei den Ölbildern, durch einen milden
kühlen silbergrauen Gesamtton, während die formauflösenden Reflexe, auf welche
die Jmpressionistes ihr Hauptaugenmerk richten, nur bis zu einem gewissen Grade
und innerhalb der Umritzbegrenzung Berücksichtigung finden. Die Landschaften der
siebziger Jahre haben zum Teil etwas Corotsches in der Farbenstimmung. Seine
Kunst mündet aber nicht in die pleinairistische Strömung ein. Er wendet sein
Interesse viel mehr der künstlichen Beleuchtung der Innenräume zu.
Auf Beobachtungen im geschlossenen Raum fußen die Darstellungen von
Ballettänzerinnen, die wohl den größten Umfang in seinem Schaffen einnehmen.
Er führt uns nicht in eine Welt von Gestalten, die mit einer besonderen Anmut
und Schönheit ausgestattet und von einer geheimnisvollen Romantik umwoben
sind, wie sie sich in der Phantasie des Bourgeois darstellen, sondern er kenn¬
zeichnet sie als Geschöpfe einer inferioren Klasse, geschminkt und ausgeputzt, in
der Brutalität einer Auge und Sinne herausfordernden Erscheinung. Ihre Reize
liegen in der ausgebildeten Elastizität ihrer Körper. Die Modelle nimmt er, wie
er sie findet. Keine Gemeinheit in Blick und Ausdruck wird gemildert. Da gibt
es genug häßliche Wesen und solche, bei denen sich durch das, was sie sind und
das, was sie scheinen wollen, ein grotesker Kontrast ergibt. Über das den Laien
vorwiegend anziehende Naturschöne setzt sich diese Kunst, die sich ihrer ästhetischen
Mittel so stark bewußt ist, souverän hinweg.
Das ganze Ballettwesen ist Degas von Grund aus vertraut. Er beobachtet
die Elevinnen bei ihren langwierigen geisttötenden Übungen unter der Leitung
des Tanzmeisters, belauscht die Mädchen in den Garderoben bei der Toilette,
läßt Prima Ballerina und Chor mit ihren Pas über die Bühne gleiten. Mit
einem gewissen Zynismus legt er oft alle die Manipulationen, die das Ballett¬
wesen und -leben mit sich bringt, bloß. Das, was die Keime einer künstlerischen
Idee für ihn birgt, ist eine momentane Stellung, Bewegung oder Gruppensituation,
worin er einen ihn befriedigenden Linienrhthmus entdeckt. Die Körperbewegung
ist bei Degas nicht wie etwa für Michelangelo der Funktionsausdruck einer
inneren Erregung oder Seelenstimmung, sondern viel mehr ein mechanischer
Verlauf, an den gewisse ästhetische Erlebnisse geknüpft sind. Sie wird in Linien¬
gebilden gesammelt, deren Schönheitscharakter etwas Dekoratives, Kalligraphisches
hat, ähnlich wie in der ostasiatischen Kunst. Er bearbeitet deshalb oft eine Figur
oder einen Gestaltenkomplex nur so weit, bis der gewollte Rhythmus hergestellt
ist, beschneidet Köpfe oder Glieder, wie es ihm für die dekorative Flächenfüllung
wünschenswert erscheint. Die Art zu komponieren hält sich von jeder konventionellen
Gewöhnung fern. Ein sicherer und kapriziöser Geschmack bekundet sich in den
asymmetrischen Arrangements, deren Reiz auf den Wirkungen freier Linien- und
Farbenspiele beruht. Das Interesse wird durch nichts Gedankliches in Anspruch
genommen, sondern heftet sich ganz an die formale Gestaltung. Die Wesen, die
man vor sich sieht, haben nichts Liebenswertes, nichts Mitleidwürdiges, nichts
Dämonisches. Sie sind interessant nur durch den Augenblick, in dem sie für den
Maler zum künstlerischen Objekt werden.
Daß Degas das Ballettkorps als Beobachtungsfeld wählte, hat jedenfalls
darin seinen Grund, daß es einen solchen Reichtum an Bewegungsmotiven bot.
Hier fand er gleichsam Bewegung an sich, mechanische Bewegung, die nicht von
irgendeinem inneren Affekt getragen wurde. Es wurde für ihn das, was für die
Antike die Palästra war.
Auch seine Farbenphantasie wurde durch das Ballett- und Theaterleben
stark angeregt. Die vom Rampenlicht grell beleuchtete Bühne, die auf- und
abschwebende Tänzerin, die Kulissen, zwischen denen Körperteile des wartenden
Personals sichtbar werden, das verschmilzt sich ihm zu einem Bilde, dem er
durch eine klare Disposition der wesentlichen Anschauungselemente und pikante
Verteilung von Farbenflecken fesselnde malerische Reize und eine sprühende
Lebendigkeit verleiht. Für diese Kunst, die sich nur an die Wirkungen der
sichtbaren Erscheinungen hält, werden Schminke, Kostüme, der ganze Flittertand
und die bunten Beleuchtungen der Bühne Ausdruckswerte, die für das koloristische
Ensemble besondere Funktionen erhalten. Aus den Farbenspielen, die durch die
Kompliziertheiten des Lichts und die vielfältigen Reflexe hervorgerufen werden,
gewinnt sie Effekte von starker dekorativer Gesamtwirkung.
Er hat aber auch die Säle, in denen bei Tageslicht die Tanzstunden statt¬
finden, in ihrem besonderen Raum- und Lichteindruck zur Geltung zu bringen
gewußt. Wie sich die Gestalten mit den zitternden Musselinröcken in ein von
Licht und Schatten durchfurchtes Zimmer eingliedern, das hat er verschiedentlich
mit vollkommener Meisterschaft anschaulich gemacht. Er zeigt sich völlig Herr des
Lichtproblems, wie es die Moderne aufgestellt hat.
Degas ist unter den neueren Malern vielleicht derjenige, der den weiblichen
Körper am eindringlichsten kennt und beherrscht. Dafür zeugen die zahlreichen
Akte, die er geschaffen hat. Frauen, die ins Bad steigen, sich waschen, abtrocknen,
frisieren. Die Funktionsbedingungen des Mechanismus bei jeder Haltung und
Bewegung des Körpers werden zu bewunderungswürdiger Klarheit gebracht. Das
ganze Körpergebilde fügt sich gleichsam der den Moment bestimmenden Gebärde.
Die Empfindung für die Einheitlichkeit der Aktion ist ungemein stark. Deshalb
wirken seine Impressionen so suggestiv. In seinen Frauenalter ist mehr Modulation
als in Mcmets Olympia. Aber er hat auch niemals einen lebensgroßen Akt
geschaffen.
Es gibt in der Kunst von Degas keine Ausdrucksmomente, mit denen wir
seelisch Fühlung nehmen. Ihr fehlt der heiße Atem eines Delacroix oder
van Gogh. Man hat ihm vorgeworfen, daß er ein bloßer Verstandesmensch sei.
Einer solchen Sinnlichkeit des Schauens gegenüber ist dieser Vorwurf gewiß nicht
berechtigt. Romantisches Gefühl und Sentimentalität ist bei ihm allerdings nicht
zu finden. Seine Kunst arbeitet nicht mit heimlichen Gedanken und Empfindungen.
Sie verschmäht jede literarische Allüre und sucht ihre Wirkung nur in den
Sichtbarkeiten. Sie ist reinste Augenkunst. Er ist ein mathematischer Geist in
dem Sinne, wie sich Robim einmal einen mathematischen Geist genannt hat.
Auch in ihm ist eine stilsuchende Kraft lebendig wie in Cözanne. Über einen
bloßen Naturalismus hat er sich erhoben. Die Elemente, die ihm für seine
Stilschöpfung dienten, hat er in selbständiger Arbeit gewonnen. Da sein Stil in
der Linie seinen Halt hat, so hat er auf die vorwiegend zeichnerisch sich betätigenden
Künstler der nächsten Generation eingewirkt, einen Toulouse-Lautrec, einen Forum.
Der Impressionismus von Degas ist umfassender als der von Monet und Renoir,
weil er sich nicht daraus kapriziert, alles an erster Stelle aus der Qualität des
optischen Scheins zu deuten, sondern weil er zugleich mit der Sinnlichkeit des
Farbenschauspiels dem Ausdruckswert des Linienbaus mit den sich daran knüpfenden
Assoziationen eine höhere Bedeutung zuerkennt.
Dieser Stil ist nicht durch Annäherung der Formen an irgend ein Ideal
der Vergangenheit gewonnen. Degas' Akte entfernen sich so weit als möglich
von der sogenannten klassischen Schönheit, die immer eine Schönheit der Ruhe
ist, auch wo Bewegung zur Wiedergabe kommt. Es ist etwas anderes: Bewegung
als Darstellungsmotiv, als Bildinhalt, und Bewegung als künstlerisches Ausdrucks-
Mittel. Die malerische Technik kann durch die Art ihrer Behandlung einen
bewegten Gegenstand als ruhig und einen ruhigen als bewegt erscheinen lassen;
denn der Rhythmus, den sie schafft, ist unabhängig von dem Sujet. Degas hat
seine Kunst auf Beobachtungsmomenten aufgebaut, deren Charakter die ihm vor¬
schwebende Schönheit barg. Der Rhythmus, den er aus seinen Impressionen
ableitet, gibt seinem Stil das Gepräge.
Bolkskultnr nud Persönlichkeitskultur.
Sechs Vorträge von Dr. Paul Natorp, Prof.
der Universität Marburg. Verlag von Quelle
und Meyer in Leipzig. Preis 3,60 M.
Professor Natorp hat fünf von seinen
sechs Vortrügen in der „Volksakadcmie" ge¬
halten, die der Rhein-Mainische Verband für
Volksbildung im Herbst 1910 zu Wetzlar
veranstaltet hatte. Der ausführliche Bericht
über diese dritte Rhein-Mainische Volks¬
akademie ist übrigens, von Alexander Burger
bearbeitet, als Heft 12 der Sammlung „Die
Volkskultur" im Verlage von Quelle und
Meyer, Leipzig 1911, zum Preise von 2,— M.
erschienen. Für die gesonderte Herausgabe
seiner Vorträge muß man Natorp sehr dankbar
sein; denn es ist ihm gelungen, in ihnen, wie
Bürger in dem oben angeführten Bericht sagt,
„die gesamte Volksbildungsarbeit auf eine
breite geschichtliche und theoretische Grundlage
zu stellen". Er geht dabei aus von den sozial¬
pädagogischen Gedanken und Bestrebungen
Pestalozzis. Im ersten Vortrag betrachtet
er das Lebenswerk des großen Schweizers
vom sozialerzieherischen Standpunkt und er¬
reicht dadurch zweierlei. Einmal erhält hier¬
bei — rein historisch geurteilt — das Wirken
Pestalozzis einen Grundgedanken, der uns
die Zwecke, die Konsequenzen und die Be¬
deutung seines Auftretens in eindrucksvoller
Klarheit durchschauen und erkennen läßt,
zweitens aber läßt sich nachweisen, daß die
Art, wie Pestalozzi seinen sozialpädagogischen
Grundgedanken in die Wirklichkeit umzusetzen
versuchte, auch für die Bedürfnisse der Gegen¬
wart bis zu einem gewissen Grade vorbildlich ist.
So verlangt denn in den folgenden Vor¬
trägen Natorp in Pestalozzis Geiste als
Fundamente der volkserzieherischen Arbeit
und der Volkskultur eine Haus- und Schul¬
erziehung, die in ausgesprochener Richtung
auf das Wirkliche des täglichen Lebens durch
Selbsttätigkeii, Selbstverwaltung und Selbst¬
kontrolle in Gcmeinschaftsformen den Menschen
zu einer freien Persönlichkeit heranbildet,
einer Persönlichkeit, die ihren vollsten Aus¬
druck findet in dem freien Wirken für die
Gemeinschaft, im Dienste der Gemeinschaft.
In diesem Sinne zieht dann Natorp weiter¬
hin die Leitlinien für die Erziehungs¬
arbeit auch an der schulentwachsenen Jugend
und für die Bildungsarbeit an den Er¬
wachsenen in intellektueller und technischer,
in sittlicher, ästhetischer und religiöser Hinsicht,
um dann ini Schlußvortrag „Über Freiheit
und Persönlichkeit", der außerhalb der Volks¬
akademie, in Marburg, gehalten worden ist,
das Verhältnis des Individuums, der Per¬
sönlichkeit, zur Gemeinschaft ausführlicher dar¬
zustellen. Die Idee der persönlichen Freiheit
ist nicht unsozial, sie verlangt kein Zurück¬
ziehen von der Gemeinschaft, sie verträgt sie
nicht nur, sondern fordert sie sogar unbedingt.
„Zur Vollbildung des Individuums gehört
ein gesundes Verhältnis zur Gemeinschaft,
wie zu echter Gemeinschaft die volle, freie
und eigene Bildung der Individuen", dieser
am Anfang des Buches (S. 16) ausgesprochene
Gedanke klingt aus demSchlußnbschnitt wieder
heraus und ist der Grundgedanke des
Ncitvrpschen sozialpädagogischen Systems.
Ein solches System ist min nicht nur von
grundlegender Bedeutung für die allgemeine
volkserzieherische Arbeit überhaupt, sondern
es erhält eine besondere Beleuchtung noch
durch die Art, wie Natorp zu einer schwebenden
Bildungsfrage Stellung nimmt, nämlich zu
der Errichtung freier Universitäten in Frank-
furt ni, M. und Hamburg, In einem Artikel
„Die Frankfurter Universität und die Volks¬
bildung" in der Frankfurter Zeitung (Ur, 261,
20. Sept. 1911) weist er darauf hin, daß
gerade solche Bildungsstätten bon unbedingter
wirtschaftlicher, politischer und geistiger Un¬
abhängigkeit, wie sie in diesen beiden Zentren
des deutschen Wirtschaftslebens sich organisch
entwickelten, besonders geeignet dazu seien,
bei der „Durchdringung der wissenschaftlichen
Forschung und Lehre mit dem Geiste und
der Energie des modernen Kulturlebens"
mitzuwirken und Hochschulen sozialwirtschaft¬
licher, sozialpolitischer und sozialpädagogischer
Ausbildung zu werden. Auch hier aber legt
Natorp nicht nur auf den Bolksunterricht
Nachdruck, sondern vor allem auf die
„Weckung und Pflege sozialen Wollens und
Arbeitens". Es ist mit gutem Grunde zu be¬
fürchten, daß die Frankfurter Universität durch
die Preisgabe eines guten Teiles ihrer Eigen
art, nämlich gerade ihrer freiheitlichen und un¬
abhängigen Stellung, die Ideen Natorps
nur in einem geringen Maße wird ver¬
wirklichen können. Dafür darf man aber
Wohl die Hoffnung aussprechen, daß bei dem
Ausbau der Hamburger Universität von den
maßgebenden Stellen die Leitsätze Nniorps
mit berücksichtigt werden möchten.
Gerichte und öffentliche Meinung. Herr
Landgerichtsrat Kulemann erklärt in der Anti¬
kritik, mit der er in Ur. 37 der Grenzboten
auch auf meinen unter demselben Titel er¬
schienenen Aufsatz (Grenzboten 1911 Ur. 31)
erwidert, daß seine von mir bekämpften Aus¬
führungen in der Presse ungewöhnliche Be¬
achtung und weit überwiegende Zustimmung
gefunden haben. Ich möchte deshalb aus¬
führlicher entgegnen, als mir ohne diese Zu¬
stimmung notwendig erscheinen würde.
streitet man darüber, ob ein Einfluß der
öffentlichen Meinung auf die Rechtsprechung
wünschenswert ist, so wird es zunächst darauf
ankommen, was denn der Wert eben der
öffentlichen Meinung an sich ist. Der Richter
soll, meint K., alle überhaupt ernst zu nehmen¬
den Ansichten hören und würdigen. Meinet¬
wegen, aber was ergibt diese Betrachtung für
die Frage, auf die es hier ankommt: ob näm¬
lich die öffentliche Meinung Trägerin ernst zu
nehniender Ansichten ist? Den Versuch eines
Beweises für die Bejahung kann ich bei meinen:
Herrn Gegner nicht finden. Er erklärt es für
verfehlt, „wertvolles Prüfungsmaterial" zurück¬
zubehalten, bis nur noch „retrospektive Be¬
trachtungen" möglich seien. Nun gut! Über
erledigte Prozesse wird doch, in Versammlungen
und Parlamenten wie in der Presse, häufig
genug geredet und geschrieben. So erbringe
er doch erst einmal den Beweis, daß hier Er¬
gebnisse gewonnen werden, die bei der Urteils¬
fällung gekannt zu haben dem Gericht nützlich
gewesen wäre, und die es trotz pflichtmäßiger
Sorgfalt ohne solche Unterstützung nicht hätte
haben können! Das Gold, das die öffentliche
Meinung aus dem tiefen Schacht des Gesamt¬
denkens — „öffentliche Meinungen — Private
Faulheiten" war vielleicht ein Fehlspruch
Nietzsches — zutage fördert, kann ja bon
seinem Glänze nichts dadurch verlieren, daß
es dem Auge des Richters einstweilen ver¬
borgen blieb.
Ich habe in meinem früheren Aufsatz be¬
tont, daß die öffentliche Meinung weniger durch
Gründe als durch moralischen Zwang wirkt,
und daß dies besonders für die Unparteilich¬
keit von Zeugen gefährlich sei. Aber, heißt
es in der Erwiderung, die öffentliche Meinung
„besteht ja begrifflich aus den Ansichtsäuße-
rnngen der allerverschiedensten Richtungen und
Parteien, die sich gegenseitig kontrollieren und
korrigieren".
Also die verschiedenen Richtungen der öffent¬
lichen Meinung kontrollieren sich gegenseitig:
ehr schön vielleicht in der Theorie, aber wie
ieht's in der Praxis aus? In der Tat: wer
die Frankfurter Zeitung hochschätzt, ist regel¬
mäßig auch auf die Kreuzzeitung abonniere,
um sich eine selbständige Meinung zu bilden,
ob denn die bösen Konservativen wirklich so
arg sind; dasselbe gilt natürlich im umge¬
ehrten Fall. Und jeder Unternehmer liest
neben seinem großkapitalistischen Leiborgan die
Soziale Praxis", um nicht einseitig unterrichtet
u sein!
Im Ernst gesprochen: beruht nicht die
Herrschaft der Phrase gerade darauf, daß der
Spießbürger, der Träger der öffentlichen Mei¬
ung, über die Schranken seiner Klasse, seines
Berufs weder hinaussieht noch hinaussehen
will? Auf sein Parteiprogramm ist er ein¬
gedrillt, und was darüber ist, das ist vom
Übel!
Und es ist nicht einmal richtig, daß die
öffentliche Meinung nur theoretisch aus einander
kontrollierenden Ansichtsäuszernngen besteht.
Wenn in Frankreich ^ der Bevölkerung für
den Rachekrieg gegen Deutschland, V» für
den Frieden und V« vielleicht für Krieg gegen
England sind, so gibt es nicht drei öffentliche
Meinungen, sondern eine - öffentlich wird eben
diejenige Meinung, die in dem Kampf der
Meinungen zur herrschenden wird. In der
Konfliktszeit war es öffentliche Meinung, daß
Bismarck ein Unglück für Preußen sei, heute,
daß er der deutsche Nationalheld ist. Damals
gab es und heute gibt es Bevölkerungskreise,
die anders urteilen, aber kein Mensch wird
sagen, daß es deshalb zwei oder acht öffent¬
liche Meinungen über Bismarck gab und gibt.
Diese wird von den Wenigen geschaffen und
beherrscht die Vielen. Herrschende Meinung,
der sich die Masse fügt, eben weil sie herrscht,
dies hat man bisher öffentliche Meinung ge¬
nannt. Weist Kulemann »ach, daß diese Macht
trotz ihres moralischen Zwanges die Unpartei¬
lichkeit der an der Rechtspflege als Richter,
Zeugen usw. beteiligte» nicht gefährdet, so
wollen wir weiter sehe»! aber dies ist das
Problem, das mir bisher nicht gelöst scheint.
Nun soll allerdings nach meinem Herrn
Gegner das Gericht Tatsachen ohne Unter¬
stützung der öffentlichen Meinung feststellen,
aber schon in Rechtsfragen soll diese, wenn
auch nicht in erster Linie, mitwirken. Rechts¬
fragen sind Fragen der Rechtswissenschaft, die
nicht weniger schwierig ist als andere Wissen¬
schaften. Öffentliche Meinungen über Rechts¬
fragen haben deshalb gerade so viel Wert,
wie solche etwa über die Richtigkeit der Marx-
schen Mehrwertstheorie (vielleicht Volksabstim¬
mung?) oder die Zweckmäßigkeit der Torpedo¬
schutznetze. Aber die öffentliche Meinung vor
allem soll, so heißt es, den Richter aufklären
über politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle
Gesichtspunkte.
Vielleicht liegt hier der Gewinn? Unsere
Richter gehören nach ihrer Vorbildung zu den
öchstgebildeten Kreisen. Was ihnen recht ist,
muß anderen billig sein. Warum also Ärzten,
Chemikern, Nationalökonomen, Politikern die
efruchtende Einwirkung der öffentlichen Mei¬
nung nicht auch gönnen? Allgemeine Gesichts¬
punkte, so müssen wir annehmen, werden am
besten durch die allgemeine Meinung gefunden.
In der Tat: so wenig Kulemann darlegt,
wie und weshalb die öffentliche Meinung im
allgemeinen weise entscheidet, so wenig deckt
r den besonderen Grund auf, weswegen sie
gerade bei gerichtlichen Urteilen finden soll,
was den Richtern, den Rechts- und Staats¬
anwälten wie den Parteien verborgen blieb.
Bedürften unsere Richter dieser Unter¬
stützung, so müßte man schleunigst ihre Vor-
bildung verbessern: denn sie sollen ja auch ent¬
cheiden, wenn die öffentliche Meinung einmal
chweigt!
Ganz ins unbestimmte klingt Külemcmns
Artikel aus: jedes Recht habe einen „geschicht¬
ich und national bedingten Charakter". Da
der nicht juristisch gebildete Leser vielleicht
annehmen könnte, daß irgend ein Jurist dies
bestreite, sei die Unrichtigkeit solcher Annahme
hier betont. Was folgt aber aus jenem Satz
ür unsere Streitfrage? Und was aus Küle¬
mcmns Schlußsatz: „Unvollkommen bleiben
alle menschlichen Einrichtungen, aber es ist schon
viel gewonnen, wenn die UnVollkommenheiten
möglichst wenig als solche empfunden werden"?
Dieser Satz Paßte genau so gut an den
Schluß einer Abhandlung über die deutsche
Heeresverfnssung oder das englische Parlament
und beweist deshalb hier nicht mehr, als er
dort beweisen würde.
Zweierlei, scheint mir, mußte mein Herr
Gegner darlegen: negativ, daß die öffentliche
Meinung nicht als moralische Macht den Willen
beeinflußt und so die Einsicht trübt; positiv,
daß sie als intellektuelle Macht mit Wahrschein¬
ichkeit wertvolle, sonst nicht zu gewinnende Er¬
gebnisse liefert. Ich kaun nichtfinden,daßderVe-
weis nur in einem dieser Punkte erbracht ist.
Die amtlichen Mitteilungen über Inhalt und Verlauf der deutsch-
französischen Verhandlungen beginnen doch allenthalben Eindruck zu machen.
Nicht nur in den Kreisen der Großbanken und des Handels, auch aus Industrie
und Landwirtschaft mehren sich die Stimmen, die das Marokkoabkommen „eine
anerkennenswerte Leistung" nennen. (Deutsche Tageszeitung, Kölnische Zeitung.)
Auch über die Gebietserwerbungen in Äquatorialafrika mehren sich optimistische
Stimmen. Daneben beginnt sich auch die Tatenlust zu regen, und allerhand
Pläne über intensive Durchforschung der Kongo- und Ubangiufer liegen in der
Luft. Das sind um so erfreulichere Tatsachen, als sie von neuem zeigen, wie
sehr bei uns Deutschen alles zu positiver Arbeit drängt und wie im Herzen
zuwider uns tatenloses Nörgeln ist. An diesen Tatsachen aber kann man auch
ermessen, wie schwerwiegend die Fehler der Regierung sind, wenn sie auf eine
Mitwirkung der Nation an den großen Fragen der Politik leichten Herzens ver¬
zichtet und die Bearbeitung und Leitung der öffentlichen Meinung privaten
Kreisen überläßt.
Die staatsrechtlichen Fragen, die besonders mit dem Austausch von
Kolonialland akut geworden sind, haben in der Kommission eine schnelle Er¬
ledigung gefunden. Abgesehen von den Konservativen stimmten alle Parteien
mit der Regierung darin überein, daß die Verfassung eine Lücke aufweise, die
durch den Übergang des Reichs zu kolonialen Erwerbungen hervorgerufen ist.
Daher ist denn auch der Zentrumsantrag auf Ergänzung der Verfassung ohne
erheblichen Widerstand angenommen und zu einem Gesetzentwurf umgewandelt
worden, der lautet:
„Paragraph 1 des Schutzgebietsgesetzes vom 10. Dezember 1902 erhält
folgenden Absatz 2: .Zum Erwerb und zur Abtretung eines Schutzgebietes oder
von Teilen eines solchen bedarf es eines Reichsgesetzes. Diese Vorschrift findet
auf Grenzberichtigungen keine Anwendung.'"
Die Verhandlungen boten (abgesehen von dem zur Erörterung stehenden
Thema) auch rein politisch betrachtet ein hohes Interesse. Aus der Gruppierung
der Parteien, aus Anlaß der liberalen Anträge, die auf eine nachträgliche
Genehmigung der neuen Abkommen durch die gesetzgebenden Faktoren hinzielten,
läßt sich ungefähr erkennen, auf welche Parteien die Regierung sich auch fernerhin
in staatsrechtlichen Fragen gegenüber den Wünschen der Linken wird stützen
können. Während alle Liberalen und die Sozialdemokraten für die erwähnten
liberalen Anträge eintraten, lehnten die Konservativen und das Zentrum sie
gemeinsam ab. Somit darf gefolgert werden, daß auch der demokratische Flügel
des Zentrums einstweilen darauf verzichtet, der Regierung irgendwelche Schwierig¬
keiten zu bereiten, so daß diese in allen ernsteren Fragen über eine feste
Mehrheit verfügen dürfte, trotz des heftigen Zusammenstoßes zwischen dem
Herrn Reichskanzler und dem Führer der Konservativen. Das muß man im
Auge behalten, wenn man sich ein Urteil über die innerpolitische Lage bilden will,
und diese Tatsache werden vor allen Dingen die Nationalliberalen im Hinblick
auf die Wahlen sehr berücksichtigen müssen; sie sind vor die Entscheidung gestellt,
ob sie an der Spitze der vereinigten Linken das Land durch eine Ära von
Reformen führen oder alsAnhängsel der konservativ-klerikalen Gruppe „dasZünglein
an der Wage" spielen wollen. Der am Sonntag abgehaltene Parteitag, dessen
Verlauf ich aus technischen Gründen hier noch nicht zu berücksichtigen vermag,
dürfte darüber einige Aufklärung bringen. So viel aber darf man heute schou
als feststehend annehmen: wenn die Parteileitung angesichts der Situation nicht
eine ganz unzweideutige Haltung bezüglich der brennenden Fragen der inneren
Politik einnimmt, kann sie mit absoluter Sicherheit darauf rechnen, daß ihr die
Wählermasfen nach rechts und links auseinander laufen. Man glaube nicht,
die Massen mit Flottenagitation oder Heeresvermehrung ködern zu können. Der
Schuh drückt anderswo: Bodenreform, Wohnuugsreform, Steuerreform, das sind
Das Kolonialamt ist noch nicht volle sechs Jahre alt, und doch gehört
es zu den größten Sorgenkindern der Reichsregierung. Kein Ressort
unter den Reichsämtern hat einen so lebhaften Wechsel bei den leitenden Männern
und so häufig unangenehme Auseinandersetzungen mit der Volksvertretung wie
eben das Kolonialamt. Ein Wunder ist es eigentlich auch nicht. Gehört es
doch zu den jüngsten Ergebnissen der wirtschaftspolitischen Entwicklung des
Reichs und ist es doch mehr oder weniger eine Experimentieranstalt, in der
ehrgeizige Diplomaten, Soldaten, Verwaltungsbeamte, Gelehrte oder Kaufleute
ihr Wesen treiben können. Neuland, Versuchsland, wie die Kolonien selbst I
In sechs Jahren drei Staatssekretäre und sechs Kandidaten dazu: ein Prinz,
ein Kaufmann, ein Diplomat, — auf Hohenlohe Dernburg; dann Lindequist,
gewählt vor Götzen, Grumme, Wiegand und Helfferich (Paasche kam ernsthaft
wohl kaum in Frage), die die Last und Verantwortung des neuen Amtes in
weiser Abschätzung ihres gewiß großen Könnens nicht zu übernehmen wagten.
Und wieder wird der Posten ausgeboten, und neben Helfferichs klangvollen
Namen werden Dr. Sols und Freiherr v. Rechenberg genannt. Vor Rechenberg
bewahre uns der Herr Reichskanzler, — ein Mann für SpezialMissionen
geringeren Umfangs beim Großfürsten Ssergej in Moskau oder beim Warschauer
Generalgouvemeur wohl geeignet, kein Organisator großen Stils. Dr. Sols,
ein Mann, der Feinde hat, offene Feinde — das deutet auf einen offenen
Kämpfer. Für unsere Zeit eine Seltenheit, die man schon deshalb nicht ans
den Augen verlieren sollte. — Helfferich ist unter den Dreien der Musterknabe:
Bülows und Richthofens Vertrauensmann, ein wissenschaftlich fein durchgebildeter
Kopf, dessen „Finanzkräfte Rußlands" diesseits und jenseits unserer Ostgrenze
berechtigtes Aufsehen erregte, und dessen diplomatischem Geschick es wohl in erster
Linie gelang, den widerstrebenden Herrn v. Lindequist in das durch den General
v. Trotha devastierte und terrorisierte Südwestafrika zu ziehen, — der auch
wertvolle Dienste bei der jüngsten Regelung der Bagdadbahn- und Marokko¬
frage leistete. Ob dieser Fachkundige den Posten übernimmt? Oder wird er
gleich Wiegand antworten: „Daß ich an dieser Stelle (an der Spitze des Bremer
Lloyd) glücklich und mit Erfolg gearbeitet habe, darf für mich nicht als Beweis
gelten, daß ich auch imstande bin, die außerordentlich schwierigen Aufgaben zu
lösen, welche der Hand des Staatssekretärs harren..."
Als damals imNovember1905 die Umwandlung derKolonialabteilung
in das Kolonialamt vollzogen werden sollte, geschah es unter dem Druck des Zentrums
und nicht als konsequente Folge einer inneren Entwicklung. Der Augenblick zur
Loslösung der Kolonialabteilung vom Auswärtigen Amt war deshalb auch so un¬
glücklich wie nur möglich gewählt. Herr v. Stubet, der Kolonialdirektor, war durch
den aufreibenden Kampf gegen Trotha und Leutwein nur unter Anspannung seiner
letzten Energie imstande, den Geschäftsgang aufrecht zu halten. Graf Götzen,
der — vom Zentrum willkommen geheißen — ihn entlasten und später beerben
sollte, wurde durch unvermutet ausgebrochene Aufstände in Afrika festgehalten;
General v. Trotha kümmerte sich bei seinem Vorgehen gegen die „Kapitäne"
um keinerlei Weisung, gleichgültig von wem sie kam, und warf eine Million nach
der andern in den afrikanischen Busch. Der Generalstab forderte den sofortigen
Bau der Bahn Lüderitzbucht—Kubub; Unterstaatssekretär Twele aber hielt die
Taschen zu und blickte sorgenvoll auf den Reichstag. Zivilbeamte und Offiziere
standen einander in zwei feindliche Lager gespalten gegenüber.
Angesichts dieser Verhältnisse, die dem verstorbenen Generaldirektor des
Norddeutschen Lloyds nicht unbekannt gewesen sein mögen, hat dieser an
den Vermittler geschrieben, der ihm das dornenvolle Amt wiederholt anbot:
„Nach Abgang meines heutigen Briefes empfing ich Ihre so überaus liebens¬
würdigen Zeilen vom gestrigen Tage, die mir das Herz recht schwer gemacht
haben; ist mir doch beim Lesen derselben noch einmal der schwere Konflikt zum
vollen Bewußtsein gekommen, in welchem ich mich in den Pflichten gegenüber
dem Rufe des Reichskanzlers einerseits, dem Lloyd und den lokalen Interessen
andererseits befinde, mit denen ich hier nach allen Seiten verwachsen bin. Die
Entscheidung in diesen: Konflikt zu treffen, würde für mich unendlich schwierig
sein, wenn ich nicht gleichzeitig die Überzeugung hätte, daß ich das, was Seine
Durchlaucht Fürst v. Bülow von mir in Erfüllung der Pflichten des Postens,
wohin er mich berufen möchte, erwartet, doch nicht zu leisten vermag. Die
Pflichten des Amtes würden meiner Überzeugung uach die Kräfte übersteigen,
die ich zur Verfügung stellen kann, und dieser Überzeugung gegenüber kann ich
nur die Antwort wiederholen, welche Sie in meinem heutigen Briefe finden.
Was würde es mir helfen, ein Amt zu übernehmen, wenn mir der Glaube fehlt,
daß ich es auszufüllen vermag? Je wichtiger und bedeutungsvoller das neue
Amt wird, um so mehr ist es notwendig, daß seine Leitung in Händen eines
Mannes liegt, der mit vollem Vertrauen zu sich selbst die Anforderungen erfüllt,
welche das Amt stellt. Ich hoffe von ganzem Herzen, daß es Seiner Durch¬
laucht gelingen wird, den richtigen Mann für den Posten zu finden, aber ich
selbst sehe mich außer Stande, ihm diesen Mann in eigner Person zu bieten.
Indem ich nochmals meinen tiefempfundenen Dank für das Übermaß des
Vertrauens, daß mir aus Ihrem Briefe entgegenspricht, zum Ausdruck bringe,
In den sechs Jahren, die seit der Niederschrift dieses Briefes vergangen
sind, ist ja in den Beziehungen der Ressorts zueinander manches besser geworden.
Immerhin wird nicht jeder tüchtige Mann sich gern bereit finden, das Erbe der
Herren Buchka, Dernburg, Lindequist ohne bestimmte Zusicherungen zu über¬
nehmen. Das Kolonialamt als Behörde hat sich noch nicht so weit konsolidiert, daß
man bei ihm die Herrschaft altpreußischer Tradition schon durchgehends feststellen
könnte. Es wehen dort gar starke Brisen von der Kolonialgesellschaft herüber, die
es sich angelegen sein läßt, die Wünsche der einzelnen Kolonialinteressenten energischer
zu vertreten, als es immer für das Gesamtwohl wünschenswert erscheint. Mehr
Widerstandsfähigkeit gegen diese „Brisen" wird wohl das wichtigste sein, was
der neue Staatssekretär seinem Apparat zuführen müßte. Dazu gehört aber
zweierlei: rücksichtslose Energie bei weitem Blick und unerschütterlicher Rückhalt
beim Reichskanzler gegen jedermann. Bei Sols und Helfferich soll beides vor¬
handen sein, nur mit dem Unterschied, daß dieser im Auswärtigen Amt und in
den Großbanken die diplomatischen Methoden schätzen gelernt hat, während bei
as Thema „Religionsfreiheit und Kirchenreform" findet den
Katholiken und Protestanten von vornherein in sehr verschiedener
Lage. Für den Katholiken ist es selbstverständlich, daß dies
Angelegenheiten sind, deren Ordnung zur Zuständigkeit der kirch¬
lichen Autorität gehört. Obendrein kann für ihn Religionsfreiheit
nur den Sinn einer Forderung an den Staat haben, der katholischen Kirche
innerhalb seiner Grenzen freie Bewegung zu gewährleisten. Eine Religions¬
freiheit des einzelnen Katholiken innerhalb seiner Kirche widerstreitet dem
katholischen Prinzip. Fühlt er sich in der Kirche nach irgendeiner Seite beengt
und bedrückt, glaubt er die Mangelhaftigkeit und Rückständigkeit bestehender
kirchlicher Ordnungen zu erkennen, so kann er den Weg einer Bitte an die
berufenen Träger der Kirchengewalt einschlagen, aber er muß willens sein, sich
deren Urteil und Entscheidung zu unterwerfen. Sonst verletzt er eine religiöse
Pflicht. Denn der katholische Glaube schließt in sich die Anerkennung einer von
Gott geordneten Regierung der Kirche und eines auf Offenbarung beruhenden
göttlichen Kirchenrechts. Protestanten werden gut tun, diese Tatsache einfach
anzuerkennen und die innerkirchlichen Verhältnisse des katholischen Bevölkerungs¬
teils mit strenger Zurückhaltung sich selbst zu überlassen. Auch deshalb, weil
jeder Eingriff in die Geltung des katholischen Kirchenrechts die Katholiken an
einer besonders empfindlichen Stelle trifft, und weil der moderne konstitutionelle
Staat dem verletzten Empfinden der Katholiken die Mittel energischer und wirk¬
samer Abwehr in die Hand gegeben hat und nicht entziehen kann. Es ist im
Interesse des Staates, die Reibungsmöglichkeiten zwischen katholischer Kirchlichkeit
und Staatstreue aufs äußerste zu vermindern und nur da Schranken auf-
zurichten, wo zwingende Rücksichten es unmöglich wachen, das katholische Kirchen¬
recht und die katholische Kirchenregierung gewähren zu lassen. Solche Punkte,
wo niemals mehr erreichbar sein wird, als ein leidlicher IVWdu8 vivsnäi zwischen
Staat und Kirche, sind die Ordens- und die Schulfrage. Denn hier kommen
Interessen der Volkswohlfahrt und der nationalen Einheit in Betracht, die der
Staat nicht fahren lassen darf. Dagegen scheint die Zeit gekommen, wo der
Staat ohne Schaden, ja sich selbst zur Erleichterung die letzten Reste der Polizei¬
aufsicht fallen lassen kann, die er aus der Vergangenheit übernommen hat: also
jede Art Plazet oder Genehmigungsvorbehalt für Regierungshandlungen der
kirchlichen Autoritäten, jede Einflußnahme auf die Besetzung der Bischofsstühle,
jede Einwirkung auf die Berufsvorbildung des Klerus, jede Hinderung der
kirchlichen Strafgewalt, soweit sie sich nicht auf das bürgerliche Gebiet begibt.
Die Katholiken haben das Recht auf ihrer Seite, wenn sie alles dies ablehnen,
und sie sind mächtig genug, Versuche in dieser Richtung unwirksam zu machen.
Unter Religionsfreiheit wird der Katholik immer den Kampf gegen derartige
staatliche Maßnahmen verstehen; sobald sie aufgegeben sind, ist für ihn Re¬
ligionsfreiheit hergestellt. Nur wird der Staat darüber hinaus die Freiheit
des Einzelnen schirmen müssen, aus der katholischen Kirche auszutreten, und
jeden direkten oder indirekten Zwang verweigern müssen, als Katholiken Geborene
in der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche zu erhalten. Es muß durchaus
dem freien Entschluß des Einzelnen überlassen bleiben, ob er sich der kirchlichen
Autorität unterwerfen will, und es muß der katholischen Kirche überlassen bleiben,
mit welchen Mitteln sie, ohne Hilfe des Staates, das katholische Kirchenrecht
ihren Gliedern gegenüber zur Geltung bringt.
Im folgenden werde ich das Problem der Religionsfreiheit lediglich vom
Standpunkt des Nichtkatholiken behandeln.
Aber auch der Protestant wird gegenüber Überlegungen, wie wir sie im
folgenden anstellen wollen, schon an der Schwelle einen gewichtigen, freilich sehr
andersartigen Einwand ins Feld führen können, nämlich diesen: Eine voll¬
kommene Kirchenverfassung gibt es nicht; für Protestanten sind Verfassungen
immer nur Mittel zum Zweck, Notdächer des Lebens. Das Bett ist nicht der
Strom. Ein kräftiger Strom muß an den Ufern anprallen, sich an ihnen
stoßen, zuweilen über sie hinwegschäumen. Es genügt, wenn die Verfassung die
Arbeit der Theologie und das Zeugnis des Evangeliums in Wort und Tat
nicht hindert, wenn sie Raum gibt für die Betätigung evangelischen Glaubens
in der Gemeinschaft. Und dazu ist ja im allgemeinen Raum. Wir sind unserer
Kirche dankbar, daß sie uns die äußere Möglichkeit dazu schafft; und wir verkennen
nicht, daß dies eine große Leistung ist. Es ist doch Tatsache, daß es in unserer
Kirche lebendige Gemeinden und freie Predigt des Evangeliums gibt. Es ist ebenso
Tatsache, daß der evangelische Glaube noch heute auf dem Boden der Landeskirchen
herrliche Früchte zeitigt. Dies geschieht vielleicht unter Schranken, die uns
unbequem sind, und unter Lasten, die uns drücken; aber die Tatsache ist damit
nicht aus der Welt geschafft. Schönheitsfehler. Zöpfe, Altertümlichkeiten
kann man tragen. Fehler und Mißgriffe in der Leitung find bei keiner
Institution dieser Welt zu vermeiden. Kommen sie vor, so wollen wir
uns wehren, protestieren, kämpfen, leiden. Aber bedenken wir die großen,
unzweifelhaften Vorteile, die wir durch die Landeskirche genießen, so scheinen
uns die Bürden und Bedrängnisse gering. Opfer fordert jede größere
Gemeinschaft.
In solcher Gelassenheit können uns drei weitere Momente bestärken.
Zunächst: der Gedanke einer Kirche, einer großen umfassenden, dauerhaften
religiösen Gemeinschaft hat eine Gewalt über die Seele, der sich niemand ent¬
ziehen kann. Um der Kirche willen, sollte man da nicht viel tragen können?
Ist es nicht wirklich viel mehr wert, solch einen großen religiösen Körper zu
erhalten, als jedem Subjektivismen und Individualisten Raum zu geben? Es
ist also ein ideales Motiv, das die Erhaltung der Landeskirche fordert. Mit
diesem Gedanken kann die Kirchenregierung wohl rechtfertigen, wenn sie die
Altgläubigen auffordert, auf konsequente Geltendmachung ihrer Maßstäbe und
Ausprägung ihrer Eigenart zu verzichten, und wenn sie radikale Stürmer und
Dränger ausscheidet. Die faszinierende Kraft dieses Gedankens erklärt es, wenn
auch freigestnnte Geister dabei auf ihre Seite treten. Das Dogma von der
Kirche entfaltet immer wieder seine wunderbare Kraft, alle anderen Fragen der
Theologie und der Praxis in den Hintergrund zu drängen. Läßt sich aber eine
solche große Idee jemals anders als unvollkommen und halb in die Wirklichkeit
übersetzen, müssen wir nicht um die Größe der Idee willen die Schwächen und
Mängel ihrer empirischen Erscheinung tragen?
Sodann: es ist kein Zweifel, daß die Wichtigkeit der Kirche innerhalb
des Volkslebens auch für die Pflege christlicher Frömmigkeit zurückgeht. Im
Anfang des achtzehnten Jahrhunderts war die Kirche, war das Tun des Pfarrers
in Abhaltung des Gottesdienstes, in Kirchenzucht und Jugendlehre, wozu der
Pietismus die spezielle Seelsorge gefügt hatte, das einzige Organ der Evan¬
gelisation und Christianisierung. Der Polizeistaat gestattete kein freies Vereins-
leben, gewährte keine Versammlung^- und Redefreiheit, hielt das gedruckte Wort
unter strenger Zensur. Und dieses erreichte nur eine unglaublich dünne Schicht.
Das ist heute anders geworden. Auf hundert Wegen kann heute jeder, dem
es um evangelische Frömmigkeit zu tun ist, ins Volk dringen, auf hundert
Wegen jeder seinem religiösen Bedürfnis genügen. Diese Wege stehen offen.
Und sicherlich, was heute durch weit verzweigte literarische Tätigkeit, durch
Vereinsbildung. Versammlungen und Vorträge getan wird, ist kirchliche Arbeit
«eben und außerhalb der Kirche. Der Stand des religiösen Lebens in unserem
Volke ist vielleicht mehr davon abhängig, als vom Tun der organisierten
Kirche, an deren Gottesdiensten sich nur noch ein Bruchteil von höchstens
20 Prozent der Bevölkerung beteiligt, deren Handlungen als dekorative Akte zur
Gesinnungsbildung so gut wie nichts beitragen, deren Konfirmandenunterricht
seine Wirkung im Gedränge mit den Ansprüchen der Schule und des Berufs¬
lebens so oft verliert, deren Seelsorge immer nur einzelne beeinflußt.
Drittens: es gibt wohl keine Institution, in der der Weg von Gesetz
und Anordnung des Regiments zur Verwirklichung in der Praxis so weit ist,
wie die Kirche. Die allermeisten Gesetze und Verordnungen werden in der
Kirche gar nicht ausgeführt. Sie bleiben in Amtsblättern und Synodalproto¬
kollen stecken. Rahmen wir alle Ordnungen unserer Kirche buchstäblich ernst,
so wie es in jedem anderen rechtlichen Organismus selbstverständlich ist, also
die Bekenntnisverpflichtung, die agendarische Ordnung, alle Vorschriften über
Feuerbestattung, über den Konfirmandenunterricht usw., über die Beteiligung
am sozialen Leben, über die Grenzen der Redefreiheit der Geistlichen, so könnten
wohl nur wenige moderne Menschen Diener der Kirche sein. Aber wir nehmen
sie eben nicht ernst, wir fragen nicht viel danach, wir haben uns daran gewöhnt,
Abstriche und Erweichungen daran vorzunehmen; und mir scheint, daß auch die
Kirchenregierungen es gar nicht so ernst damit nehmen. An eine nachdrückliche
Aufsicht und Kontrolle denkt niemand. Nur ausnahmsweise, explosiv, erfolgt
ein Eingreifen, über das sich dann alle Welt wundert. Ob diese Haltung sittlich
ganz einwandsfrei ist, lasse ich dahingestellt, sie ist jedenfalls gang und gäbe
und die einzig mögliche. An mindestens dreihundert Tagen des Jahres und
bei 90 Prozent seiner Geschäfte denkt der theologisch und praktisch tüchtige
Pfarrer gar nicht an die Kirche. Noch weniger das Gemeindeglied. Es ist
klar, daß auch unter diesem Gesichtspunkte das Interesse an der Verfassung der
Kirche, in der wir leben, an ihrem Recht und Gesetz, gering sein muß.
Das Verlockende dieser Erwägungen empfindet niemand mehr als ich.
Warum sollte ich mich nicht auf theologische Arbeit in Rede und Schrift, auf
Predigt und Unterricht, auf Jugendpflege und die Gänge zu den Einsamen und
Angefochtenen beschränken und Kirche Kirche sein lassen? Ich persönlich fühle
mich kraft meiner geschichtlichen Denkweise fähig, alles, worin ich von der Über¬
lieferung und Kirchenlehre abweiche, nur als peripherisch zu betrachten; ich schätze
das Maß innerer Übereinstimmung mit einem frommen Altgläubigen trotz aller
Differenzen so hoch, daß es mich keine Überwindung kostet, mit ihm in einer Kirche
zu leben, und ich weiß auch, wie viel bleibender Gewinn mir von solchen Altgläubigen
zugeflossen ist. Dazu kommt, daß ich") unter einer Kirchenordnung lebe, die mich
nicht im geringsten beengt, in keinerlei Gewissenskonflikt drängt. Wie mir, wird es
sehr vielen gehen. Wir müssen uns nur fragen, ob es sittlich erlaubt ist, diese
großen Fragen allein vom Standpunkt der persönlichen inneren Lage zu entscheiden.
Für uns Protestanten erscheint die Behaglichkeit, mit der wir in der Kirche
wohnen und die Dinge laufen lassen, in dem Augenblick in einem anderen
Lichte, wo das Gewissen das Wort ergreift.
Wo das Gewissen zu klagen anfängt, wacht der Bußruf der Reformation
auf: „Weg mit allen den Propheten, die da sagen: Friede! Friede! und ist
kein Friede; Einheit! Einheit! und ist keine Einheit." Und zwar handelt es
sich dabei nicht allein um unser Gewissen. Die großen Kämpfe der Gewissens¬
freiheit in der Geschichte sind nicht gekämpft für das eigene, fondern für die
fremden Gewissen. Von dem größten Helden der Gewissensfreiheit, von Roger
Williams, gilt dies unzweifelhaft. Ein echter Jesus- und Paulusjünger darf
keine Anklage schwerer nehmen als die, daß eines Menschen Gewissen nicht zu
seinem Rechte kommt. So unbedingt ist die göttliche Forderung der Ehrfurcht
vor dem Gewissen, daß alles ruhige Behagen in uns zerstört wird, wenn sie
irgendwo und irgendwie im Namen des Christentums und unter dem Vorgeben
der Frömmigkeit verletzt wird. So eifersüchtig ist Gott auf seine Ehre, daß
jeder Versuch, seine Alleinherrschaft über die Seelen zu beschränken, alle Gottes-
gläubigcn beleidigen und ergrimmen muß. Wer das nicht mitempfindet, steht
nicht auf der vollen Höhe der christlichen Persönlichkeitsreligion.
Ich behaupte nun das: die heutige Ordnung des religiösen Gemeinschafts¬
lebens in unserem Volke ist eine Gewissensnot für weite Kreise. Wenn sie als
solche nur von Einzelnen empfunden wird, so ist das erst recht ein Zeichen einer
tiefgreifenden Erkrankung unseres Volkskörpers. Das Bestehen dieser Not und
der Mangel an Feingefühl dafür ist eine Anklage wie für die Jesusjünger im
Lande, so auch für den modernen Staat.
Nach den letzten Veröffentlichungen der preußischen") Statistik gibt es in
Preußen auf 1000 8,39 Personen „anderer und unbekannter Religion", auf
100 000 839, in ganz Preußen rund 337 000. Die Zahl ist seit 1905 um
80 Prozent gestiegen, von 190 000 auf 337 000. Nun stecken in dieser Zahl
auch die Angehörigen kleiner Sekten ohne Korporationsqualität, aber diese sind
seit 1905 schwerlich bedeutend gewachsen. Die Steigerung ist durch die Austritts¬
bewegung hervorgerufen. Wir haben heute mit mindestens 150 000 Dissidenten
Zu rechnen. Und es ist kein Zweifel, daß diese Zahl noch weiter anwachsen wird.
In welcher Lage sind diese Dissidenten? Wir betrachten zuerst diejenigen,
denen es bloß um den Austritt aus der Kirche zu tun ist, und die keinerlei
religiöses Gemeinschaftsbedürfnis für sich und ihre Kinder haben. Vielerlei
lastet schwer auf ihnen: der Eid bei dem Namen Gottes, der Zwang zur Teil¬
nahme dissidentischer Kinder am Religionsunterricht, die peinlichen Vexationen
beim Militärdienst, der Mangel eines Anspruches auf Bestattung auf einem
konfessionellen Friedhofe, vielerorten dem einzig vorhandenen, und der Ausschluß
von allen öffentlichen Ämtern. So stark ist dieser Gewissenszwang, daß es sich
gewiß hieraus erklärt, wenn die Zahl der Austretenden aus der Oberschicht so
minimal ist, weil diese gerade die letztgenannten Konsequenzen besonders bitter
empfindet. Denn es ist ja doch nur ein Schein, als ob die Oberschicht religiöser
und kirchlicher wäre als die Masse. — Wir betrachten sodann die Lage der frei¬
religiösen Gemeinden. Nach der preußischen Verfassung können neue Religions-
gesellschaften Korporationsrechte nur durch besonderes Gesetz erhalten. Diese
Wohltat ist den freireligiösen Gemeinden versagt worden. Sie sind an¬
gewiesen auf den Weg der bloßen freien Vereinsbildung. Aber, und nun
kommt das Schlimmste: die religiösen Vereine unterstehen Beschränkungen,
die kein Sport-, Turm- und Gesangverein erfährt. Jeder dieser Vereine
kann sich ins Vereinsregister eintragen lassen und damit die Rechtsfähigkeit
erlangen, das einzige Mittel, das es gibt, einem Verein Konsistenz und
Dauer zu verleihen. Gegen die Eintragung religiöser Vereine aber steht der
Verwaltungsbehörde ein Einspruchsrecht zu, und dieser Einspruch wird in Preußen
scharf und rücksichtslos ausgeübt. So sind die freireligiösen Gemeinden behindert,
Grundeigentum zu erwerben (ein Hindernis, das sich schlechterdings nicht um¬
gehen läßt), Verträge zu schließen, Beamte anzustellen, Prozesse anzustrengen,
Schenkungen und Vermächtnisse zu empfangen. Noch in frischer Erinnerung ist
die allgemeine Mißbilligung über die versagte Erlaubnis zur Annahme des
Müllerschen Legats an die freireligiöse Gemeinde in Breslau. „Es ist das nicht
wesentlich anders, hat Kahl gesagt (Die Errichtung von Handelsgesellschaften
durch Religiöse; Berlin 1900. S. 22), als wenn im Gebiete des natürlichen
Lebens zwar dem Menschen die Erlaubnis, zu sein und zu leben, eingeräumt,
ihm aber die Möglichkeit, die zum Atmen nötige Luft und die zum Leben
notwendige Nahrung aufzunehmen, versagt würde."
Ich kann es weiterhin auch nur für eine berechtigte Beschwerde der Dissi¬
denten ansehen, wenn sie es als ein offenbares Unrecht beklagen, daß sie mit
ihren Steuern zur Leistung von Subsidien an Religionsgesellschaften heran¬
gezogen werden, aus denen sie ausgetreten sind. Die aus allgemeinen Steuer¬
mitteln fließenden Subventionen des Staates für die evangelische und katholische
Kirche betragen in Preußen zurzeit an „ordentlichen Ausgaben" etwa 39,3 Millionen
Mark, darunter 4^ Millionen, die teils auf rechtlicher Verpflichtung beruhen, teils
zur Speisung solcher Unterstützungsfonds dienen, die nicht nur Geistlichen, sondern
auch Lehrern, Kirchenbeamten usw. zugute kommen. Von dieser Summe abgesehen,
erhält die evangelische Kirche vom Staate 25, die katholische 9^ Millionen
Mark. Auf den Kopf einer Bevölkerung von 34 Millionen entfällt also als
Beitrag für Kirchenzwecke rund eine Mark. Daher fließen aus den Steuern
der Dissidenten in die Kassen der beiden christlichen Kirchen und hauptsächlich
in die Taschen der evangelischen und katholischen Geistlichen, ihrer Pensionierten
und Relikten, roh gerechnet 337000 Mark. Rechnet man aber hierbei auch die
Juden mit, die ja gleichfalls für ihre religiösen Organisationen vom Staate
nichts empfangen, und erwägt, welche Steuerkraft sie bedeuten, so ergibt sich,
daß mindestens eine Million zu den Bedürfnissen der beiden christlichen Kirchen
von Andersgläubigen herfließt.
Das Gewicht dieser Zahlen wächst, wenn man erfährt, daß alle diese
staatlichen Subventionen erst im neunzehnten Jahrhundert entstanden sind.
Dreihundert Jahre lang hat die evangelische Kirche Preußens vom Staate
finanziell unabhängig dagestanden; der Landesherr unterhielt nur die Behörden
und gewährte hin und wieder aus seiner Schatulle Geschenke. Zum ersten Male
im Jahre 1819 erscheint eine Staatsausgabe von 100000 Talern für Auf¬
besserung der Geistlichkeit. Für die katholische Kirche ergaben sich dann staat¬
liche Aufwendungen aus der Zirkumskriptionsbulle vom Jahre 1821. Im Jahre
1879 betrug die gesamte Ausgabe für die evangelische Kirche rund vier Millionen,
erst in den letzten dreißig Jahren ist sie auf die jetzige Höhe angewachsen,
also merkwürdigerweise erst von dem Zeitpunkt ab, da der Kirche das Recht,
Steuern zu erheben, gewährt worden war, — ein Recht, von dessen Gewährung
man vorher gerade die volle Selbständigkeit der Kirche erwartet hatte. Je mehr
der Staat seinen konfessionellen Charakter abstreift, desto höher steigen seine
Leistungen für die christlichen Kirchen.
Fassen wir zusammen: der Staat setzt seinen Zwang ein, um die Leute
zu hindern, daß sie aus der katholischen oder evangelischen Kirche austreten;
er knüpft daran die empfindlichsten bürgerlichen und gesellschaftlichen Nachteile,
er erschwert die Bildung von Gemeinden außerhalb der Landeskirche, er zwingt
den Kindern der Dissidenten einen Religionsunterricht auf, den die Eltern ver¬
abscheuen, er zwingt sie zu Abgaben an Institutionen und Ämter, die sie ver¬
achten. Ist das Gewissensfreiheit?
Und, nur mit einem flüchtigen Seitenblick will ich das berühren: diese
Nachteile treffen doch nicht nur die freireligiösen Gemeinden und die Freidenker; sie
treffen mehr oder minder auch die sogenannten christlichen Sekten. Und nun
denke man sich hinein in die Seelen der schlichten engen Leute, aus denen die
Sekten zusammengesetzt zu sein pflegen, und frage sich, ob nicht diese Unfreund¬
lichkeiten des Staates, diese Rechtlosigkeit, unter der sie leben, als Verfolgung
und Drangsal empfunden werden muß.
odnen ist ein wunderliches Land. Seit Jahrhunderten von den
mannigfachsten, sich gegenseitig oft bis aufs Blut bekämpfenden
Rassen, Nationen und Bekenntnissen bevölkert, kann es mich heute
nicht zur Ruhe kommen. Mehr als dreiundeinhalb Millionen sind
Tschechen, mehr als zweiundeinhalb Millionen Deutsche. Der
jüdische Volksstamm, überwiegend in den Städten, wie Prag und Pilsen, von
alters her ansässig, ist früher stets mit den Deutschen gegangen. Erst in letzter
Zeit, seitdem die Tschechen Herren im Lande sind, macht sich ein Abrücken der
Juden ins tschechische Lager bemerkbar. Ihre Intelligenz aber spricht, denkt und
fühlt in der Mehrzahl immer noch deutsch. Die in der Prager „Lesehalle"
organisierten deutschen Juden können es mit den Zionisten reichlich aufnehmen.
Aber auch die christlichen Deutschen bilden keine Einheit. Eine Strecke nördlich
von Eger beginnt das geschlossene ostmitteldeutsche Sprachgebiet, während südlich
an den Rändern des Landes, vorwiegend im Böhmerwald, alles bereits dem
bayerischen Stamm gehört. Auch konfessionelle Unterschiede machen sich bemerkbar.
Die Gegend um Asch ist protestantisch, Wernsdorf bildet eine Hochburg der
Altkatholiken, während die übrigen deutschböhmischen Gebiete kirchlich vom Erz¬
bistum Prag und vom Bistum Budiveis abhängen. Politisch sind die Wahl¬
kreise fast ausschließlich entweder deutschnational oder sozialdemokratisch vertreten.
Die klerikale Partei hat wenig Anhänger im Lande.
Diese eigenartigen Verhältnisse und ihre Entwicklung — der ausgesprochene
Kampf zwischen Deutschen und Tschechen, der im Zeitalter der Ausklärung ein¬
geschlummert war, tobt eigentlich erst seit 1848 wieder in hellen Flammen —
finden ihr getreues Spiegelbild in der Literatur Böhmens. Fassen wir an dieser
Stelle nur die deutschböhmische der Gegenwart ein wenig ins Auge! In ihrer
Gesamtheit ist sie reich genug, ein starkes Kapitel der deutschen Literatur¬
geschichte überhaupt zu bilden. Ihr großer Klassiker heißt Adalbert Stifter.
Zu Stifters Zeiten war es schwer, die böhmischen Schriftsteller nach ihrer
Nationalität zu unterscheiden. Viele Tschechen schrieben damals noch deutsch.
Und unter den bodenständigen deutschen Dichtern gab es umgekehrt viele, die
sich von einer Vermischung aller das Land bewohnenden Völker das Heil der
Zukunft versprachen und für böhmischen Patriotismus, für die altböhmische
Vorzeit, für Libussa und Wlasta schwärmten. Sogar Brentano, der gleich Kleist
und anderen Romantikern eine Zeitlang in Böhmen Aufenthalt genommen hatte,
schrieb eine „Gründung Prags", ausgehend von der slawischen Mythologie.
Alfred Meißner verherrlichte „Ziska". Über die (deutsche oder tschechische) Ab¬
kunft Herloßsohns, Uffo Horns u. a. gehen die Meinungen heute noch aus¬
einander. Entschieden sehr beachtenswert ist die Teilnahme der Juden am deutsch¬
böhmischen Geistesleben des vorigen Jahrhunderts. In der Literatur ragen
Moriz Hartmann nud L. A. Fränkl hervor. Sonst trat außer Prag nur noch
der Böhmerwald literarisch bedeutsam in Erscheinung. Denn neben Stifter haben
sich auch die Böhmerwäldler Meßner und Rank einen Namen erworben.
In der jüngsten deutschböhmischen Literatur machen sich zunächst zwei
Strömungen bemerkbar. Der Prager Kreis, der vorwiegend aus Schriftstellern
jüdischer Abkunft zusammengesetzt ist, vertritt wesentlich die modernsten Tendenzen
der Kultur, die freisinnigsten der Politik, gewissermaßen im Anschluß an die Zeit
um 1848. Mehr oder minder konservativ dagegen, von der Heimatscholle
abhängig, urwüchsig, wenn auch ab und zu ungelenk, überzeugt deutschvölkisch
sind die aus der Provinz stammenden Literaten. Manche haben sich im Aus¬
lande eine neue Helmstädt errichtet. Allen aber schaut der kernige Deutschböhme
aus den Augen, begegnet man ihnen auch auf der Wiener Ringstraße oder
Unter den Linden in Berlin. Blut ist nicht Wasser. Und den deutschböhmischen
Typus kann niemand loswerden, der ihn einmal empfangen hat. Beginnen
wir mit Prag!
Der jugendliche Nestor der Prager Dichter ist Friedrich Adler. Eine
durchaus lyrische Ader eignet ihni. In seinen „Gedichten". „Neuen Gedichten"
und „Vom goldenen Kragen" (1893 bis 1907 bei Fontane in Berlin,
C. H. Meyer in Leipzig und bei Bellmann in Prag) steckt der Kern seines
ganzen dichterischen Wesens. Ein gutmütiger Spötter und ehrlicher Idealist
spricht aus ihnen, ein gewandter, an romanischen Mustern geschulter Formkünstler
ringt hier um den höchsten Kranz. Adlers Übersetzungen und freie Bearbeitungen
des Tschechen Jaroslav Vrchlicky, des Jtalieners Fusinato, der Spanier Jriarte
und Molina zeigen seine virtuose Begabung in Hellem Licht. Bedeutsam sind
alle seine dramatischen Versuche. Calderons Einfluß macht sich in ihnen deutlich
bemerkbar. Mehr oder minder auf das Gebiet der Lyrik beschränkt zeigen sich Hugo
Salus und Emil Faktor. Beide lieben den klassischen Faltenwurf, die klassische
Pose. Ihre Verse fließen tadellos dahin. Selbst in der Novelle verrät Salus seinen
lyrischen Ursprung, der ihn für das Märchen begabt. Im „Ehefrühling" (bei
Eugen Diederichs in Jena), dem Hohelied des friedlichen Herdglücks, begrüßen
wir nicht nur den erfolgreichen Dichter, sondern auch den herzensguter Menschen,
in beiden Eigenschaften von Wilhelm Raabe hochgeschätzt. Auch ihm sitzt der
Schalk im Nacken, so wenn er nach Art der italienischen Renaissancehumoristen
den Rosenkranz des si. Antonius zum Gegenstand einer harmlos-pikanten Szene
macht oder den Lieblingsdichter Goethe zum Nebenbuhler in der jungen Ehe.
Soeben hat Salus (bei A. Langen in München, eine Sammlung seiner Lyrik
seit 1908 unter dem Titel „Glockenklang" herausgegeben, ein frisches, tapferes,
lebensvolles Buch, im Schatten Goethes und C. F. Meyers erwachsen.
Oskar Wiener wieder verfügt über den köstlichsten Plauderton in Prosa.
Sein letztes reifes Werk „So endete das schöne Fest" (1911 bei Juncker in
Charlottenburg) führt uns mitten in die Schönheitswelt der hunderttürmigen
goldenen Stadt Prag und seiner Umgebung. Auch er kommt von der an¬
geborenen Lyrik nicht los, auch er schwärmt und träumt. Wieners Gedichtbuch
„Das hat die liebe Liebe getan" (1905 bei Bruns in Minden) knüpft unmittel¬
bar ans Volkslied, an „Des Knaben Wunderhorn" an. Tendenzen hat er keine,
Masken trägt er nicht. Er benutzt die Feder zu keinem Kampf wie etwa sein Lands¬
mann, der hochbegabte Stürmer und Dränger Max Brod. Im modernen Roman
(„Schloß Nornepygge" 1908 und „Jüdinnen" 1911), in der novellistischen Skizze
(„Ein tschechisches Dienstmädchen") 1909 und in satirischen Gedichten („Tagebuch in
Versen" 1911, alles bei Axel Juncker in Charlottenburg), ja selbst als Über¬
setzer stellt dieser seinen Mann. Voll Witz und Ironie, reich an Weltkenntnis,
geistsprühend eigenartig. Im Gegensatz zu den bisher genannten Prager Dichtern
ist Brod noch gar nicht abgeklärt, allem Epigonenhaften dabei spinnefeind, ein
Denker und Poet zugleich, ein vielversprechender Schilderer unserer Kulturzustände
in diesem Jahrhundert. Ihn bindet die Scholle nicht, und doch kehrt er immer
wieder nach Prag zurück, geht er immer wieder von Prag aus, von seinem
schmutzigen und verschämten Gäßchen mit den unverschämt naiven Menschen, die
darin wohnen bis zum Riegerpark, bis nach Rüste. Sein „Tschechisches Dienst¬
mädchen" bedeutet in jeder Hinsicht ein prächtiges Seitenstück zur mährischen
„Bozena" der Freifrau von Ebner-Eschenbach. Mitunter erinnert Brod an den
Galgenhumoristen Christian Morgenstern, vor allem sein „Tagebuch in Versen"
gehört zur ergötzlichen Poesie der Groteske.
Neben dem deutschjüdischen Element sind in der Prager Literatur der Gegen¬
wart anch noch andere Kreise vertreten: der leichtlebige Galliertypus eines Paul
Leppin, dem das Skizzenhafte zur zweiten Natur wird, der auch als Roman¬
schriftsteller, als Novellist Kritiker bleibt, ein fröhlich die Geißel schwingender
Rezensent des Lebens; die dem besten deutschen Bürgertum entsprossene An¬
gehörige einer bekannten Gelehrtenfamilie Hedda Sauer, deren lyrisches Haupt¬
werk „Wenn es rote Rosen schneit" (1904 bei Bellmann in Prag) den Geist
der „veralteten" Geibel und Saar in neuen blühenden Formen nicht veralten läßt,
die uns eine Sammlung ihrer kräftigen Balladen und fein abgetöntem Novellen in
Buchform schon seit langem schuldet; und endlich die Vertreterin des böhmischen
Hochadels Christiane Gräfin Thun-Salm, die stolz darauf ist, in der deutschen
Literaturgeschichte ihres Landes eine Rolle zu spielen. Ihr schönes Buch „Der
neue Hauslehrer und andere Novellen" (1909 bei Fromme in Wien) hat von
der tendenziösen Mache der ebenfalls österreichischen Gräfin Salburg nichts an
sich. Das Leben und Treiben auf den alten Schlössern daheim wird mit
einer Frische und Anmut erzählt, die amüsiert ohne zu kränken oder gar zu
verletzen. Dabei wird nirgends Süßholz geraspelt. Die Künstlerin weiß, was
sie sich selbst schuldet. Und wer zwischen den Zeilen zu lesen vermag, kann da
und dort auch einen Hauch von Ironie verspüren, freilich nicht mehr. Die Er¬
zählungen der Gräfin Thun-Salm verdienen, mehr als bisher, auch im Deutschen
Reich gewürdigt zu werden. Wenn wir sie lesen, dann sind wir eigentlich schon
auf dem Lande, in der Provinz.
Von den deutschböhmischen Provinzschriftstellern wäre eine ganze Reihe zu
nennen. Erzählungen und Gedichte in der Mundart des Riesen- oder Erzgebirges,
des Egerlands, des Böhmerwalds usw. sind in Menge vorhanden. Die Verfasser
gehören zumeist dem Lehrerstand an. Auch ihr bekanntester Vertreter, der Böhmer-
wäldler Anton Schott, ist ursprünglich Lehrer gewesen. Aus den Schöpfungen
dieses bändereichen Autors hebe ich nur eine hervor, den autobiographischen
Roman „Notwebers Gabriel" (1910 bei Habbel in Regensburg), sein Bestes.
DieKraftfülle des böhmischen Urwaldes lebt in der Sprache und in den Charakteren
des trefflichen, urwüchsig bodenständigen Schilderers auf. In jede deutsche
Volksbücherei gehört, wenn irgend ein ländlicher Schriftsteller unserer Tage, Schott.
Seine tapfere deutschnationale Gesinnung liebt keine Phrasen, um so tiefer rührt
sie an unser Herz.
Der Karlsbader Erich Guido Kolbenhever und der Warnsdorfer Hermann
Wagner leben zwar nicht in der böhmischen Hauptstadt, aber sind Städter durch
und durch. Sie lieben das Land, die Natur, die Freiheit der Wälder und Berge,
allein der Künstler in ihnen, der Kulturmensch überwiegt. In dem wundersam
zarten, fast krankhaft sensiblen, an Novalis' Dasein und Dichten erinnernden Roman
Wagners „Das Lächeln Maria" (1910 bei Axel Juncker in Charlottenburg),
offenbart ein stimmungreicher, phantasiebegabter Meister das Innenleben zweier
Seelen, denen der Alltag nichts nehmen und nichts geben kann. Kolbenheyers
großangelegte epische Schöpfungen in ungebundener Rede lassen sich nicht mit
ein paar Sätzen charakterisieren. Und ich gestehe, daß ich ihnen im Zusammen¬
hang mit den vielen anderen hier erwähnten Werken am wenigsten gerecht werden
kann, so turmhoch überragt schon sein Erstling, der Spinoza-Roman „Amor Dei"
(1908 bei Georg Mutter in München), die zeitgenössische Literatur. Gelehrter
und Künstler, Dichter und Mensch sind hier eins geworden. Spinoza und Rem-
brandt, orthodoxes Judentum und moderne Welt, die verschiedensten Bekenntnisse,
Völker und Rassen spiegeln sich in dem grandiosen Zeitgemälde wieder. Plastische
Massenszenen wechseln mit intimen Seelenbildern. Das erschütternde Ereignis wird
von der lieblichsten Episode abgelöst. Und über all den Irrungen und Wirrungen,
die in dem Amsterdamer Zauberkessel garen, waltet beschwörend die starke, ordnende
Hand eines echten Gestalters, eines wahrhaftenDichters. Kolbenheyers zweiterRoman
',MeisterJoachimPausewang"(1910beiGeorgMüller in München) spielt im gleichen
Zeitalter wie Handel-Mazzettis „Arme Margret" und Schönherrs „Glaube und
Heimat", aber unter anderen Menschen, in einem andern Land, in Schlesien. Warum
wohl ist diesem tiefer angelegten Werk eines Mannes, der mit dem Luthertum
nicht kokettiert, sondern von den Ahnen her es ererbt hat, der rauschende Erfolg
der Genossen bisher versagt geblieben? Vielleicht übersieht es der Tag. weil
die Ewigkeit darauf wartet. Die Sprache des Jakob Böhme und seiner Zeit¬
genossen, die geheimnisvolle Mystik jener gedankenschwerer Ringer um des Lebens
Licht und Brot, machen die Selbstbiographie Meister Pausewangs zu keiner leichten
Lektüre. Wer sich aber in den Roman eingelesen hat, liest ihn mit verhaltenem
Atem bis zu Ende, um dann wieder von vorn zu beginnen. Kolbenheyer bildet
ein neues Glied in der Kette großer Erzähler seit Grimmelshausen, deren letztes
Wilhelm Raabe gewesen ist. Wir dürfen auf seine kommenden Leistungen
gespannt sein.
Kolbenheyer verbringt einen Teil des Jahres in Wien, dort, wo auch
andere deutschböhmische Dichter eine Helmstädt gefunden haben. Ich nenne da
bloß den religiösen Lyriker Franz sichert, den Ästhetiker Richard v. Kraut, das
Haupt der antimodernistischen katholischen Literatur, der sich in allen Dichtungs¬
arten betätigt, den jungen Rudolf Haas, dessen Bildungsroman „Der Volks¬
beglücker" (1910 bei Axel Juncker in Charlottenburg) den entgegengesetzten
Ton anschlägt, Camill Hoffmann, dem wir ein reizendes Gedichtbuch „Die Vase"
(1911 ebenda) verdanken, Karl Ginzkey und Josef Gangl.
Ginzkeys Liederbuch „Das heimliche Läuten" (1906 bei Staackmann in
Leipzig) zeigt deutlich romantisches Gepräge. Nach der Feeninsel Avalun mit
des Gralkönigs Artus heiligem Grab verlangt des Dichters Seele. Der Welt
Weisheit sucht er nicht in Büchern, sondern in Gottes freier Natur. Eichen-
dorffsche Klänge und Uhlandsche Motive begegnen uns. Wie ein schlichtes,
scheues Waldmärchen aus der nordböhmischen Heimat der Ahnen blicken die
rätseltiefen Augen dieses erfreulichen Poeten fragend in unser Herz, und wir
stimmen ihm entschlossen zu trotz Stefan George und Hugo v. Hofmannsthal*)
und Rainer Maria Rilke, der zwar aus Prag stammt, aber in Paris zum
Unterschied von allen seinen Landsleuten seinen deutschböhmischen Charakter völlig
verloren hat. Volkstümlichen Wendungen erweist sich Ginzkeys Sprache natur¬
gemäß hold. Und wir würden auch ohne sein herrliches Gedicht auf Walter
von der Vogelweide wissen, woher er sie hat. Ginzkeys Phantasie liebt humor¬
volle Einfälle. Auch das Volk kann ja ohne sie nicht leben. Konfus und
verträumt, weise und kindisch zugleich kommt es uns vor. Und doch versteht
es der Dichter, am rechten Ort ernst, tiefernst zu sein. Das soziale Ringen der
Gegenwart rührt auch an seine Seele, und dann strömen männlich-stolze Lieder
von seinen Lippen.
Der Böhmerwäldler Gangl dagegen ist ausschließlich Erzähler. Wie Thomas
Mann in seinen „Buddenbrocks" den Verfall eines reichen norddeutschen Handels-
Hauses schildert, so zeigt uns Gangls „Letzter Baum" (1908 bei I. Habbel in
Regensburg) den Niedergang einer altansässigen Familie im Böhmerwald. Aber
dieser Niedergang ist nur scheinbar. Derjenige, dessen Erziehung und Entwicklung
sich vor unseren Augen abspielt, bis der letzte Baum seines Vätererbes gefällt
wird und er mit seiner Mutter in die Fremde zieht, kann nicht untergehen.
Er hat die Welt erkannt und gelernt, sich an ihr zu erfreuen. Aus aller Not
und allem Ungemach geht er seelisch geläutert hervor. An ihm erscheint nichts
Falsches und Schwächliches, er gehört zu den stillen „Helden des Alltags", zu
denen, die nicht umzubringen sind. Es geht in dem Buch oft recht lebhaft und
leidenschaftlich zu, dennoch ist es im Grunde eine ruhige feine Dichtung für
nachdenkliche und gemütswarme Leser. Die Schwäche des Werkes beruht in
seinem Schluß. Aber diese Schwäche ist recht liebenswürdig. Wir suchen nach
der Fortsetzung. „Und sie liebten sich doch" heißt Gangls folgendes Buch
(1909 bei I. Habbel in Regensburg), eine Sammlung von Böhmerwaldgeschichten,
die der Dichter viel früher als den „Letzten Baum" niedergeschrieben hat, die
meisten, als er noch „in der Wildnis lebte, wo ihm selten ein Tisch, meist
nur ein Stein oder der Rücken eines Stieres als Schreibunterlage gedient".
Was für prächtige Blumen hat er aber da tief in seinem heimischen Wald auf¬
gelesen! Gleich die Titelnovelle bezaubert uns durch ihren tiefen Stimmungs¬
gehalt. Keine füße Liebesgeschichte, deren faber Geschmack einem das Weiterlesen
verleiden könnte, sondern ein herbes Ehestandsbild, Bauernhumor, ehrlicher,
kräftiger, deutscher und deshalb wahrhafter Realismus! Den üblen „Erdgeruch
der Scholle", den wir schon alle nachgerade satt haben, das gequälte Spielen
mit der Mundart, naturalistische Übertreibungen finden wir bei Gangl nicht.
Zwanzig Geschichten enthält die Sammlung, aber noch viel mehr Menschen¬
porträts und Anregungen für Geist und Gemüt. Dem Pfarrherrn, dem Lehrer
und jedem, der mit dem Volk umgeht, ist die eine oder andere ähnliche Gestalt
im Leben längst begegnet. Mit der festen, sicheren Hand eines im wirklichen
Kampf ums Dasein geläuterten Künstlers hat sie Gangl festgehalten. Seine
seither entstandenen großen Romane sind in Buchform noch nicht erschienen.
In Dresden lebt der Deutschböhme I. I. Horschick wie der Held seines
Künstlerromans „Johannes Lister" (1908 bei Amelang in Leipzig). Allein
Lister hört nicht ohne Grund den Eilzug nach Böhmen sausen, denn in ihm
verkörpert sich mehr als ein Stück vom innersten Wesen seines Dichters.
Horschicks Herzblut schlägt für die alte Heimat. Lister ist Künstler, ist Dichter,
ist der moderne Mensch mit aller Sehnsucht der Gegenwart. Er liebt die Bibel
und Hölderlin und Giorgione, „das Stille und Feine, das Vibrierende und
die leidenschaftslose besonnene Kraft". Er hat eine komplizierte Seele, eine
kritische, eine vorwärtsdrängende, voll ungewöhnlicher Pläne, ähnlich wie Maler
Rollen und Ricks Lnhne. Eine Gesellschaft von Männern und Frauen umgibt
ihn, ein Kreis von Künstlern und Kunstfreunden und Schollen Menschen. Alle
sind Kinder der Natur und lieben sie mit geradezu pantheistischer Inbrunst.
Der si. Franz von Assisi könnte nicht schöner schwärmen und schwelgen. Lister
weiß oft nicht mehr, was Traum und Wirklichkeit ist, so tief versenkt er sich
in das Leben der Natur. Seine andere Liebe aber heißt Elisabeth. Die
Menschwerdung beider im höheren Sinn bildet den Inhalt des köstlichen Buches:
Eine wunderbar innige Naturanschauung, Führich und Schwind vergleichbar,
eine berauschende Sprache voll ossianischer Gewalt, ein Hymnus auf Leben,
Liebe und Schönheit! Ein anderes Werk, Horschicks Novellen und Skizzen
„Reif ini Frühling" (1907 bei Amelang in Leipzig), beweist eben so sehr den
eigentlich lyrischen Charakter unseres Dichters, der mit romantischen „Lieder»
des Wanderers" im Sinne Hardenbergs begonnen hat. Sein Stoff ist immer
nur das Psychische, aber dessen Umkreis kennt ja keine Grenzen. Dunkel und
schwerfällig erscheint uus manchmal sein Stil. Dann aber leuchtet wieder wie
ein blendender Blitz die überraschendste Klarheit im Ausdruck aus dem phan¬
tastischen Labyrinth seiner Sprache hervor. Novalis hat ähnlich geschrieben,
Musik in Worte gegossen. Man muß Horschick laut lesen, wenn man ihn
genießen will. Er ist ein Tonkünstler der deutschen Sprache. Ju den Novellen
ist einigemal von Prag und von Böhmen die Rede. Eine Schilderung der
heimischen Landschaft wird uns darin nicht gegeben, obwohl viele eingestreute
Naturbilder beseelt und voll Farbenglut Horschicks Stimmungen erfüllen. Aber
die eigenartige Seele des alten Prag, die schwärmerische Melancholie, die aus
Steinen und hängenden Gärten, vom stolzen Hradschin, vom fliederumbuschten
Laurenziberg und aus der langsam leise rauschenden Moldau zu jedem flüstert,
der diese Sprache versteht, also Heimatkultur der Seele lebt und webt in dem
Neuromantiker Horschick. In der Novelle „Wenn die Blätter fallen" vernehmen
wir den vollen Nachhall jener wehmütig schönen Empfindung. Und wie Naabes
„Alter Proteus" etwa ein wunderlicher Kauz ist mit seinen Schnurren und
Märchen, die der selige Jean Paul nicht herrlicher hätte träumen können, ebenso
freundlich und liebenswürdig weist uns Horschicks pensionierter Waldheger
Wunibald Strumpel irgendwo im Deutschböhmischen den märchenhaften „Weg
zum Prinzen Jgilo". Aber Horschick vermag auch den sozialen Masseninstinkt
der Gegenwart zu begreisen. Er ist kein bloßer Träumer. „Morgen werden
sie siegen", schreibt er als Titel über eine andere Novelle. Und er meint damit
die Arbeiter, die Arbeiter des Geistes nicht minder als die Tagwerker der
allmächtigen Industrie. Und dann wird er wieder ganz altmodisch. „Malvi",
dem getreuen Hund, widmet er eine Geschichte. Darin kommt kein modernes
Problem zur Austragung. Die Liebe zur Tierwelt ist alt, uralt, aber darum
auch ewig neu. „Malvi" bedeutet eine Perle der ganzen Sammlung. Stimmungen
und Gestalten aus Stifters „Mappe meines Urgroßvaters" tauchen wieder auf.
Die tiefe Wirkung der dramatisch knappen Sprache erinnert an dessen „Berg¬
kristall".
Von den deutschböhmischen Schriftstellern außerhalb Böhmens verdienten
viele an dieser Stelle charakterisiert zu werden: Anton Ohorn, Viktor Hadwiger,
Grete Meisel-Heß, Auguste Hauschner u. a. Nur eines jungen Landsmanns sei
noch gedacht, des Komotauers Victor Fleischer in Berlin, der unter dem jüngsten
literarischen Nachwuchs neben Kolbenhener das Meiste verspricht. Seine Erzählung
„Die Handschrift des Bruders Engelbert" (1909 bei AxelJuncker in Charlottenburg)
hat lyrische Einzelschönheiten aufzuweisen, verrät jedoch durchaus nicht Eigenart,
eher noch die anspruchslose Geschichte aus dem Erzgebirge „Das Steinmetzendorf"
(1906 Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart). Um so mehr überrascht Fleischers
jüngstes Werk, der Erziehungs- und Kulturroman „Wendelin und das Dorf"
(1911 bei Meiler und Jessen in Berlin). Er spielt teilweise in der Heimat des
Verfassers, teilweise in Wien. Die großen politischen, konfessionellen und Rasse¬
gegensätze, der Kampf zwischen Dorf und Stadt, zwischen Gemeinsinn und Egoismus,
das Um und Auf unseres Zeitalters verdichtet Fleischer zu einem Charaktergemälde
der Gegenwart, schlicht und einfach in Anlage und Ausführung, freilich dadurch
erst recht packend. Der heiße Boden des deutschböhmischen Erdenwinkels, in dem
der Dichter daheim ist, dampft förmlich unter dem Streit der Parteien, aus dem
Wendelin hervorgeht, besiegt, verkannt, vertrieben, allein ungebrochen, sich selbst
getreu, der Beste seiner Gemeinde. (Vgl. auch die Besprechung dieses Buches
in Heft 29, Jahrgang 1911 der Grenzboten.)
Das deutschböhmische Schrifttum hat seit etwa einem Jahrzehnt entschieden
einen mächtigen Aufschwung genommen. Die hartbedrängten Deutschen des Landes
sind eben zur Überzeugung gekommen, daß sie zwar politisch zurückgedrängt werden
können, nicht aber kulturell. Als Seitenstück zur tschechischen „Akademie der
Wissenschaften" ist ebenfalls in Prag die „Gesellschaft zur Förderung deutscher
Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen" entstanden. Ihre Zeitschrift, die
soeben im elften Jahrgang stehende „Deutsche Arbeit", ursprünglich von Professor
Adolf Hauffer, später von Professor August Sauer geleitet, sammelt alle Denker,
Dichter und Künstler Deutschböhmens um ihre stolze Standarte. Der geschäfts¬
führende Schriftleiter Ferd. Madras, ein Neffe des berühmten Komikers, ist selbst
Dichter. Sein Stück „Die Studentenschwester" (1909 bei Bellmann in Prag),
aus den Märztagen des blutigen Jahres 1848, ist ein echtes Volksschauspiel.
Mögen die Würfel über Böhmen fallen so oder so! Ein Stamm, der geistig
in der ersten Reihe der europäischen Kulturpioniere steht, seit Jahrhunderten und
heute erst recht, ein solcher Stamm kann nicht untergehen.
in Tage nach der Unterzeichnung des deutsch-französischen Marotto-
Kongoabkommens befand ich mich in einer Gesellschaft französischer
Herren, die teils der Pariser Börsenwelt angehörten, teils den Kreisen
der Intellektuellen, die aber gleichzeitig fast sämtlich alte Soldaten
waren und in der Mehrzahl noch vor kurzer Zeit Reserveosfizier-
übungen durchgemacht hatten. Im allgemeinen ist unter uns die Politik streng
verpönt; an jenein Abend aber war es ja schlechterdings unmöglich, sich um das
große Thema des Tages — Marokko, Kongo und die deutsch-französischen Be¬
ziehungen — herumzudrücken und schließlich kamen wir sogar auf die feuergefähr¬
liche Frage des Krieges. Unter guten Bekannten legt man sich keinen Zwang auf
und die Herren versicherten mir schließlich in aller Freundschaft, aber auch mit
imponierender Kaltblütigkeit, daß Deutschland von Frankreich ganz jämmerlich
verhauen wäre, wenn es sich auf einen Wassergang eingelassen hätte. Das schien
mir denn doch etwas stark und ich antwortete mit einer Schärfe, die ein kurzes,
peinliches Schweigen dem lauten Stimmengewirr folgen ließ. Dann gab
man mir aber mit jener Höflichkeit und Liebenswürdigkeit, durch die der
wirklich fein gebildete Franzose sich so auszeichnet, alle wünschenswerten
Erklärungen und ich zögerte nicht, mich durch diese geschmeidigen Bitten
um Entschuldigung versöhnen zu lassen. Selbstverständlich änderte das aber an
den Überzeugungen der Herren nichts: sie glaubten und glauben noch heute,
uns gewaltig überlegen zu sein. Diesem naiven Größenwahn, wie er sich seit
etwa einem Jahr hier entwickelt hat, kommt nur die Verwunderung darüber
gleich, daß der Deutsche an die Sicherheit des Sieges für Frankreich nicht glauben
will. Freilich müssen wir hier dazusetzen, daß der Franzose selbst leicht aus An¬
fällen von maßloser Selbstüberschätzung in Perioden pessimistischer Verzweiflung
an der Zukunft seiner Nation fällt. Wenn man diese Stimmungssprünge im
französischen Charakter kennt, nimmt man die chauvinistischen Ausschweifungen
hier nicht mehr so tragisch.
Als sich unsere Gesellschaft trennte, schloß sich mir auf dem nächtlichen
Heimgange einer der Herren an, die durch ihre hohe allgemeine Bildung
und ihre weiten Reisen am meisten in die Lage gekommen waren, sich von engen,
blauweißroten Vorurteilen frei zu machen. Anderseits ist er als Angehöriger einer
Offizierfamilie und ehemaliger Dragonerleutnant über den Verdacht erhaben, schlechter
Patriot zu sein. „Sie haben mir," sagte er im Laufe unseres Gespräches, „heute
wieder einmal bewiesen, wie recht ich mit meinen Beobachtungen während meines
langen Studienaufenthalts in Deutschland und während meiner zahlreichen späteren
Reisen in Ihr deutsches Reich gehabt habe. Es gibt heute kaum ein Volk, das
rationalistischer und bei jeder Kritik empfindlicher ist wie das deutsche. Trotz des
Geschreis der chauvinistischen Radanbläiter in Paris, der Hetzbroschüren und der
Brandreden in Versammlungen der Patriotenliga, trotz auch der Fehler Ihrer
Staatsmänner und Ihrer .Pangermanisten', die die öffentliche Meinung hier
gelegentlich aufreizen — glauben Sie mir, trotz aller dieser Dinge ist das Kenn¬
zeichen des heutigen Frankreich der in'en linke', d. h. zu deutsch: die
.Wurschtigkeit' in allen Fragen der Politik im allgemeinen und der äußeren Politik
im besonderen. Ich sage keineswegs, daß diese Gleichgültigkeit zu loben ist. Aber
ich selbst kann mich offen gestanden für alle diese Geschichten mit Marokko, Kongo,
Tripolis, ja auch sogar um Elsaß - Lothringen beim besten Willen nicht leiden-
schaftlich aufregen. Sie dagegen, obwohl Sie älter sind als ich und obwohl Sie
seit zehn Jahren fast fern von Deutschland leben, fahren auf wie bei einer persön¬
lichen Beleidigung, wenn man in irgendeiner Beziehung das .Deutschland über
alles!' nicht so wörtlich anerkennen will. Dabei werden Sie doch nicht leugnen
können, daß man in Frankreich die staunenerregenden Errungenschaften und Fort¬
schritte Deutschlands vielleicht williger anerkennt als sonst irgendwo in der Welt.
Aber kriegsgerüstet sind Sie nun einmal nach unserer Meinung nicht in genügendem
Maße, um mit Aussicht auf Erfolg einen Feldzug gegen uns unternehmen zu
können. Ich sage das ohne die mindeste verletzende Absicht, denn ich bin der
größte Freund und Bewunderer Deutschlands — aber Tatsachen lassen sich doch
nun einmal nicht wegleugnen. Ihr Heer steht heute nicht auf der Höhe des
unseligen, weder in der Ausbildung der einzelnen Teile, noch in der höheren
Führung. Wir sind Ihnen in der Bewaffnung überlegen, und unsere Aeroplane
allein würden genügen. Ihnen eine Überschreitung unserer Grenze unmöglich zu
wachen, während wir, wenn wir wollten, diesmal unter dem Schutz unserer
Kriegsvögel den Marsch über deu Rhein wagen könnten. Deutschland wäre
außerdem in einer Woche bankerott. Wir haben das ja bei der September-Panik
gesehen. Die Kriegserklärung wäre ein Zusammenbruch des Deutschen Reiches
^ und zwar nicht nur in finanzieller Beziehung. Sozialistische Revolten
würden die Mobilmachung aufs äußerste erschweren. — Und dann noch eins:
bei meinen Reisen in Süddeutschland habe ich die Überzeugung gewonnen,
daß Bayern. Württemberger und Badenser nur auf eine Gelegenheit warten,
um sich von dem preußischen Joch befreien zu können. Die Norddeutschen
verschließen vor dieser Gefahr absichtlich die Augen. Ich und meine
Landsleute haben da einen unbefangenen Blick: Süddeutschland bleibt nur unter
Druck und Zwang im Hohenzollernreich und wartet auf seinen Befreier. Was
die internationalen, diplomatischen Kombinationen anlangt, so wissen Sie ja besser
Bescheid als ich. Deutschland kann Frankreich, Rußland und England in Wahr¬
heit nur einen Bundesgenossen entgegensetzen. Österreich, und was es mit diesem
Bundesgenossen auf sich hat. habe ich an Ort und Stelle studieren können. S,e
sehen, es ist nicht Voreingenommenheit gegen Ihr Land - es ist einfach nüchterne
Betrachtung der Wirklichkeit, die mich zu der Schlußfolgerung führt: Deutschland
würde bei einem Kriege mit Frankreich einer sicheren Niederlage entgegengehen."
Ich habe mir in Frankreich längst das Erstaunen über Deduktionen dieser
Art abgewöhnt. Ich habe hier die Gedanken meines Bekannten ausführlich
wiedergegeben, weil sie charakteristisch sind für die Anschauungen in den fran¬
zösischen Kreisen von Bildung und Besitz. So wie er betrachten heute Hundert¬
tausende von französischen Bourgeois die Kriegsfrage. Eine Kritik können wir
uns sparen; der Leser weiß ja selbst am besten, wo die gröbsten Fehler in dieser
französischen Rechnung sitzen. Man möchte die Pariser von heute immer wieder
mit den Parisern vom Sommer 1870 vergleichen und dann mit dem „Nichts
gelernt und nichts vergessen!" schließen.
Aber mein Franzose hatte mir noch mehr zu sagen — und zwar etwas, was
abermals sehr bezeichnend ist für Stimmungen in weiten französischen Volkskreisen
und was mir fast als Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung der französischen
Gedanken und Gefühle uns gegenüber erscheinen möchte. Ich fragte meinen
Bekannten, weshalb denn Frankreich, das in den letzten Monaten seinem Haß
und seiner Rachsucht so wilden Ausdruck gegeben hat, diesen Krieg nicht führe,
der bei der gewaltigen Überlegenheit Frankreichs doch ein ganz sicheres Unter¬
nehmen sei. Ein leichter Sieg, ohne Risiko und mit unerhörten Triumphen und
glänzendster Beute in Aussicht: Wie kann da Gallien nur einen Augenblick zögern?
Und mein Weggenosse sprach das große Wort gelassen aus: „Wir führen keinen
Krieg, weil wir eben keinen Krieg wollen; weil wir zu verträglich und zu
versöhnlich sind und vielleicht auch, weil wir es für unwürdig unserer heutigen
Kultur halten, Meinungsverschiedenheiten, die sich auf andere Weise beseitigen
lassen, mit bewaffneter barbarischer Gewalttätigkeit zu ordnen." Das war ohne
Ziererei und Prahlerei gesprochen — im schlichten Tone ruhiger Überzeugung. So
etwas bekommt nur ein Franzose fertig.
,,Von Ihrem .konzilianten' Verhalten haben uns die französischen Zeitungen,
die säbelrasselnden und Bücher schreibenden Generäle, die Reden haltenden Minister
und sonstigen Politiker angenehme Kostproben gegeben," wandte ich ein.
„Halten Sie daneben, was in Deutschland in den letzten Monaten gesagt und
geschrieben ist. Ich habe das alles sorgfältig verfolgt. Das hat mich nicht nervös
gemacht, wie Sie; aber bei einem Vergleich muß ich sagen, daß Ihre Pangermanisten
in Herausforderungen und Beleidigungen weit mehr geleistet haben als unsere
Chauvinisten. Lassen wir doch aber diese Art Literatur ganz beiseite. Sie wissen,
daß weniger als in irgend einem anderen Lande die hauptstädtische Presse bei uns
in Frankreich die wahre Volksmeinung wiedergibt. Der Konkurrenzneid der
Sensationsblätter, Börsenmanöver, Käuflichkeit, lichtscheue Spekulationen spielen
bei den meisten dieser neuboulangistischen und sonstigen deutschfresserischen Pre߬
erzeugnissen eine große Rolle. Die einen werfen ihren Gegnern vor, in deutschem
Solde zu stehen; die anderen behaupten von ihren Widersachern, sie seien bezahlte
Domestiken Englands. Ich gebe zu, daß in der berechtigten Erregung über das
Verhalten Deutschlands auch von ernsthaften Franzosen manches zu scharfe Wort
geschrieben oder gesagt ist. Von einem Haß und von einer kriegslustiger Rachsucht
des französischen Volkes gegen Deutschland kann aber nur der sprechen, der die paar
überspannten Revancheschreier und die beschränkten Fanatiker für die einzig wahren
Vertreter Frankreichs ansiehtund die neunhundertneunundneunzig ruhigen von tausend
Franzosen böswillig übersieht. Nein, das ist keine „Blague": Frankreich will keinen
Krieg mit Deutschland, weil es erstens überhaupt keinen Krieg will und zweitens, weil
es gerade mit Deutschland in Frieden leben möchte. Es werden wieder ruhige
Zeiten kommen, und dann werden wieder diejenigen ihre Stimme erheben können,
die, wie ich, Deutschland kennen und lieben gelernt haben. Nach unserer Meinung
gibt es nur zwei Kulturmächte, die würdig sind, im Bunde mit einander die
Welt zu beherrschen, das sind Frankreich und Deutschland. Der Tag für dieses
einzig wahre Bündnis für uns ist noch nicht gekommen — aber er wird kommen!
Man muß nur nicht zu schnell marschieren wollen. Gewisse Dinge müssen erst
verjährt sein. Warten wir ab — und Fragen, die heute unlösbar scheinen, werden
eine befriedigende Antwort finden. Einstweilen kommt alles darauf an, durch
unnötige Zänkereien die naiürliche Entwicklung nicht zu stören und dadurch auf¬
zuhalten. Tanger, Casabianca, Agadir haben uns um ein Jahrzehnt zurück¬
geworfen — aber das Versäumte läßt sich ja wieder einholenl"
Es ist ja wohl kaum nötig, zu sagen, daß ich diesen Optimismus des Friedens
bei meinem französischen Freunde ebenso wenig teile wie seinen kriegerischen
Optimismus. Aber er spricht nur aus, was unzählige Franzosen heute denken.
Heute, nach dem mühseligen Zustandekommen des Marokko—Kongo-Kompromisses
beherrscht hier trotz aller sonstigen internationalen und inneren Schwierigkeiten die
Frage alle Gemüter: was wird weiter aus uns und Deutschland werden? Die
Freunde der Politik Caillaux-Cambon und Bethmann-Kiderlen rechnen auf eine
wohltätige Rückwirkung des Abkommens für die allgemeinen deutsch-französischen
Beziehungen und sehen hierin geradezu den Hauptwert der Vereinbarung. Die Wider¬
sacher jener Politik behaupten im Gegenteil, daß von allen Fehlern des Vertrages
der schlimmste der sei, daß er das so wie so durch die Erregungen der letzten Monate
arg verschlechterte Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich in der nächsten
Zeit durch unausbleibliche Zwischenfälle und Reibungen einer gemeingefährlichen
Prüfung aussetze. Man muß sich hüten, bei Problemen von so tiefgreifender
Wichtigkeit in der durch die Tagesereignisse hervorgerufenen flüchtigen Stimmung
eine sofortige Antwort geben zu wollen. Erst nach Jahren wird sich übersehen
lassen, welche Bedeutung dem Vertrage vom 4. November für die Geschichte der
deutsch.französischen Beziehungen zuzuschreiben ist.
Zum zweitenmal seit Mergens Weggang hatte der Frühling die alten Apfel-
bäume im Garten des Hauses Nottlcmd mit Blüten geschmückt. Die Sonne brannte
wieder so heiß hernieder, wie an jenem unseligen Märztage, und man durfte es
wirklich wagen, den kleinen Ferdinand, der nun doch schon zwei und ein halbes
Jahr zählte und ein recht stämmiges Bürschlein geworden war, ins Freie zu führen.
Die beiden alten Damen, die sich der Pflege des Kindes mit großem Eifer
widmeten und es in jeder Weise verhätschelten, nahmen den kleinen Neffen in die
Mitte und führten ihn auf den Hof zu den Hühnern, die er schon seit Wochen
vom Fenster aus immer mit so lebhaftem Interesse betrachtet hatte. Schwester
Felicitas zog aus dem weiten Ärmel ihres Hahns eine Düte mit Brotkrumen und
andern Resten von der Tafel, lockte die Hühner herbei und streute ihnen el» wenig
von dem Futter hin. Dann gab sie die Düte dem Kleinen, in der Erwartung,
daß er ihrem Beispiele folgen und seine gefiederten Lieblinge nun selbst füttern
werde. Das Kind schien zu verstehen, was man von ihm verlangte, nahm die
Düte ganz geschickt in die Linke und griff „ä'une nmnisre trof raisommble", wie
die Tante Gubernatorin anerkennend bemerkte, mit der Rechten hinein. Es brachte
die kleine Faust auch wohlgefüllt wieder zum Vorschein, aber anstatt sie nun zu
öffnen und die Brosamen auszustreuen, führte es sie blitzschnell zum Munde.
Die beiden alten Damen hatten keine leichte Arbeit, die harten Bröcklein mit
ihren dicken Fingern wieder ans Licht zu befördern, als jedoch das Werk geglückt
und jede Gefahr beseitigt war, konnten sie sich nicht enthalten, herzhaft zu lachen.
Der Kleine stimmte in ihre Heiterkeit nicht mit ein, sah vielmehr bald die eine,
bald die andere der Tanten sehr ernsthaft an und verzog die Mundwinkel zum
Weinen. Man wollte ihn auf andere Gedanken bringen und führte ihn in den
Garten.
Ein bunter Schmetterling saß auf der Buchsbaumeinfassung eines Weges und
lüftete die Schwingen. Man machte das Kind daraus aufmerksam. Es streckte die
Händchen danach aus, aber zugleich fiel der Schatten der kleinen Gestalt über das
Insekt, so daß sich dieses in die Luft erhob und sich ein paar Schritte weiter gaukelnd
auf den Boden niederließ. Der Kleine wurde unwillig darüber, daß sich das bunte
Ding nicht von ihm greifen lassen wollte, und stieß einen unartikulierten Laut aus,
der deutlich genug seinen Ärger verriet.
Man hatte schon mehrmals bei dem Kinde Wutanfälle beobachtet, die meist
von ungünstiger Nachwirkung ans sein Befinden gewesen waren. Die Tanten waren
sich deshalb klar darüber, daß sie dem Neffen um jeden Preis zu dem Besitze des
Schmetterlings verhelfen mußten. Sie eilten also dem Tierchen nach, so gut es bei
ihrem Alter und ihrer Körperfülle gehen wollte, stiegen über die Einfassungen,
zwängten sich durch die Stachelbeerbüsche und versuchten, den kleinen Gaukler,
wenn er sich auf einer Erdscholle, einem Steine oder einer Pflanze ausruhte, mit
spitzen Fingern zu fassen — ein Bestreben, dem natürlich kein Erfolg beschicken
sein konnte.
Der Priorin, die alljährlich im Frühjahr vom Zipperlein heimgesucht wurde,
fiel die Schmetterlingsjagd besonders sauer, sie verbiß jedoch den Schmerz und
lachte sogar über den Eifer ihrer Schwester, deren Antlitz wie ein Purpurapfel
durch das junge Grün der Sträucher leuchtete. Aber das Sprichwort „Wer zuletzt
lacht, lacht am besten" bewahrheitete sich auch hier, denn als sich die geistliche
Dame einmal nach dem Insekt bückte, konnte sie nicht wieder in die Höhe, und
Frau v. Ödinghoven erschien dieses Bild so belustigend, daß es lange währte, bis
sie die Kraft fand, der Schwester Beistand zu leisten.
Es war eine seltsame Szene: zwei Greisinnen, die für ein paar Augenblicke
Jahre, Rang und Würde vergessen hatten und in dem Bestreben, ein Kind zu
erheitern, selber zu Kindern geworden waren, und ein kleines Vüblein, das ohne
eine Miene zu verziehen dabeistand, und auf dessen müden, ältlichen Gesichtchen
nicht einmal der Schimmer eines Lächelns zu erkennen war.
Der ungewöhnliche Lärm hatte die beiden Hunde in den Garten gelockt. Sie
kamen in lustigen Sätzen und mit lautem Gebell den Weg hinuntergestürmt. Der
kleine Ferdinand, der mit dein Rücken nach dem Pförtchen zu stand, zuckte erschrocken
zusammen, als sie an ihm Vorbeischossen. Da wurden die alten Damen plötzlich
ernst, und die Gubernatorin sagte:
„Voila la preuve. ins euere! Er hat von dem bruit keinen Ton gehört.
Daß er kein Wort spricht, will wenig signifizieren, der kleine v. Orsbeck hat es
auch erst zu Ende des dritten Jahres gelernt, aber daß er immer zusammenfährt,
wenn etwas par ckerriere an ihm vorbeikommt, das gibt mir die persuasion, daß
er wirklich taubstumm ist. Le pauvre erkaltet Man muß Miö mit ihm haben.
Aber wir wissen doch wenigstens, daß wir keinen jungen Kuckuck aufziehen."
Diese Erkenntnis war für die Tanten ein Grund mehr, das Kind zu der-
hätscheln. Sie glaubten es zu lieben, hielten sich für fähig, ihm die Mutter zu
ersetzen, und merkten nicht, daß sie in ihm doch nur ein Spielzeug sahen, mit
dem sie ihre vielen müßigen Stunden verbringen konnten. Nebenbei hatten sie
noch das angenehme Bewußtsein, sich den Bruder zu Dank zu verpflichten und
einen Gotteslohn zu verdienen. Sie ließen dem kleinen Neffen in allem und jedem
seinen Willen, fanden seineUnarten äußerst drollig und schritten nur dagegen ein, wenn
sie übler Laune waren, oder wenn ihnen die Angewohnheiten des Kindes lästig
wurden. Dann war es jedoch meist zu spät, das arme Geschöpf begriff nicht,
weshalb es nun plötzlich unterlassen sollte, was man vielleicht schon wochenlang
geduldet hatte, und das Ende vom Liede war ein wilder Wutausbruch, durch den
sich die bedauernswerte kleine Seele Luft zu schaffen versuchte. Solche Auftritte
wiederholten sich immer häufiger, obgleich die Nachgiebigkeit der Tanten mit der
Widersetzlichkeit des Neffen wuchs.
Es war kein Wunder, daß der Kleine nicht recht gedieh, und daß der anfänglich
ungewöhnlich kräftige Kinderkörper unter der Einwirkung der fortwährenden seelischen
Erregungen in seiner Weiterentwicklung zurückblieb und schließlich einem Siechtum
verfiel, über dessen ernsten Charakter sich auch die beiden Pflegerinnen auf die
Dauer nicht zu täuschen vermochten. Das Kind wurde mit jedem Tage teilnahmloser
und matter, seine bräunliche Hautfarbe wich einem fahlen Gelb, die Augen verloren
ihren Glanz, die einst so stämmigen Glieder fühlten sich welk an, und die Beinchen
erwiesen sich für den aufgedunsenen Körper zu schwach. Sein Gang wurde unsicher,
es fiel bei jedem Schritt und machte kaum Miene, wieder auf die Füße zu kommen.
Saß es auf dem Boden, so lehnte es das Köpfchen an die Wand oder an irgend
ein Möbel, schloß die Augen und schlief ein.
Man war anfangs geneigt gewesen, den Zustand des kleinen Ferdinand aus
das Durchbrechen der Backenzähne zu schieben, aber auch nachdem dieses Stadium
des Zahnens überwunden war, trat keine Besserung ein. Die alten Damen waren
geradezu ungehalten, sie sahen sich ihres Spielzeugs beraubt und glaubten in der
Krankheit des armen Wesens einen neuen Beweis seiner Böswilligkeit zu erkennen.
Denn ein Kind, das so treu und sorgsam gepflegt worden war, hatte ihrer Über¬
zeugung nach wirklich kein Recht, krank zu werden. Sie hatten ihre Pflicht getan,
mochte nun kommen, was da kommen wollte. Gewiß, bei Tage wollten sie ja
gern auf den kleinen Neffen, der müde und mißlaunig in den Kissen lag und
jeden, der sich ihm näherte, mit gleichgültigen oder gar feindseligen Blicken betrachtete,
achtgeben, aber daß sie dem trotzigen Kinde auch ihre Nachtruhe opfern sollten,
das konnte niemand verlangen. So saß denn der Freiherr selbst bis zum ersten
Morgengrauen am Bettchen seines Sprößlings und schaute beim matten Lichte der
Nachtlampe besorgt und gedankenvoll auf das unglückliche kleine Geschöpf, das in
der Nacht keinen tiefen Schlaf zu finden schien und sich schwer atmend und stöhnend
von einer Seite zur andern warf.
Der Vater hatte das Elend drei Nächte lang mit angesehen, als er zu der
Überzeugung gelangte, daß es, wenn das Kind am Leben bleiben solle, so nicht
weitergehen dürfe. Er gebot Gerhard, die Gäule vor die Kutsche zu spannen, und
fuhr dann selbst nach der Stadt, um Meister Simon, den jüdischen Arzt, zu holen.
Drei Stunden später saß dieser am Bette des kleinen Patienten, strich sich
mit der schmalen Hand, deren Zeigefinger ein schwerer Goldring schmückte, den
schwarzen Bart und heftete die klugen Augen forschend auf das entstellte Antlitz
des Kindes.
„Nun, maitre Simon, was fehlt unserm Ferdinand?" fragte Frau v. Öding-
hoven, die hinter ihm stand.
„Was soll ihm fehlen, madame?" erwiderte der Jude, indem er sich zur
Gubernatorin umwandte, „wenn es erlaubt ist, zu sagen die Wahrheit: es fehlt
ihm die Mutter."
Er verordnete Kräuterbäder, meinte aber, daß, wenn die Natur hier nicht
selbst helfend eingriffe, von menschlicher Kunst nicht viel zu erhoffen sei.
Herr Salentin nahm den Bescheid mit männlicher Fassung auf, die Schwestern
jedoch, denen der hoffnungslose Zustand des Kindes jetzt erst so recht zum Bewußt-
sein kam, zeigten sich untröstlich. Besonders der Priorin ging das traurige Geschick
des armen Kleinen nahe, sie wurde aus lauter Mitgefühl ebenfalls krank und
mutzte sich noch an demselben Tage zu Bett legen.
Frau v. Ödinghoven unterzog sich der Mühe, das Kind zu baden, mit grotzem
Eifer. Was getan werden konnte, sollte gewissenhaft getan werden, und ihr durfte,
wenn das Befürchtete wirklich eintrat, niemand den Vorwurf machen, sie habe es
an der nötigen Sorgfalt fehlen lassen. Trotzdem konnte der Arzt, als er seinen
Besuch wiederholte, kein Anzeichen der Besserung feststellen. Im Gegenteil: der
kleine Patient wurde von Stunde zu Stunde hinfälliger, weigerte sich, Nahrung
zu sich zu nehmen und stieß den Löffel, der seinem Munde genähert wurde, zornig
und mit einem erstaunlichen Aufwand an Kraft von sich.
In ihrer Angst entsann sich die Gubernatorin, daß der kleine Neffe früher
eine besondere Vorliebe für stark gesüßten Hirsebrei gehabt hatte. Sie eilte in die
Küche, bereitete das Gericht mit eigener Hand und trug ein Näpfchen voll davon
in das Krankenzimmer, überzeugt, daß das Kind diese Speise sicherlich nicht ver¬
schmähen werde. Im Stillen freute sie sich schon auf den Triumph, dem Bruder
und der Schwester melden zu können, daß ihr Pflegling endlich wieder Nahrung
über die Lippen gebracht habe.
Aber auch diese Hoffnung erwies sich als trügerisch: der Kleine streifte den
ihm dargebotenen, zur Hälfte gefüllten Löffel mit einem matten Blick und wandte
sich widerwillig ab.
Die Tante versuchte noch einmal, dem Kinde ein wenig Brei in den Mund
zu schieben, da schlug es nach ihrer Hand und sank aus dem stützenden Arme
erschöpft in die Kissen zurück.
Die alte Dame war der Verzweiflung nahe. Sie stellte das Näpfchen aus
den Stuhl neben dem Bett und begab sich völlig entmutigt in das Wohngemach
hinunter, um den Geschwistern ihren Mißerfolg zu berichten.
„Ich fürchte, wenn Gott kein Mirakel tut, werden wir den kleinen Ferdinand
nicht mehr lange behalten," schloß sie. während sie ihre Augen mit dem Spitzen-
tüchlein betupfte.
„Wir dürfen die Hoffnung noch nicht aufgeben, oliöre 8peur," bemerkte tre
Pnorin, indem sie in ihrem Körbchen nach dem Flakon mit dem Melissengeist
suchte, „ich kann nicht glauben, daß der Himmel so cruel sein wird, ihn uns zu
nehmen. IVion älen, wie sollte ich eine solche äisMce überleben! Man hat sich
doch so an das Kind attachiertl"
Sie nahm ihre Tropfen, seufzte und griff zum Brevier. Nach einer Weile
wandte sie sich an den Bruder und fragte:
„Willst du es nicht einmal mit einem Gelübde versuchen, lieber Salmen?
Als die kleine von Firmont, die Rosalie, vor drei Jahren auf den Tod lag, tat
der Vater die promesse solennelle, er würde, wenn das Mädchen am Leben
bliebe, einen pelerinaM nach Kevelaer machen. Das hatte einen herrlichen sucLös,
denn von Stund an ging es dem Kinde besser."
Der Freiherr wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick stimmten die
Hunde im Hofe ein Freudengewinsel an, wie man es seit langem nicht gehört hatte.
„Was mögen sie nur haben?" fragte die Gnbernatorin, die der Lärm gerade
in dieser ernsten Stunde peinlich berührte.
„Sie werden eine Ratte attrapiert haben," meinte Herr Salentin, indem er
sich erhob und ans Fenster trat. „Es ist nichts zu sehen," sagte er nach einer
kleinen Weile, „Gerhard wird sie wohl in den Stall gesperrt haben."
Dann ließ er sich wieder auf seinen Stuhl fallen, stützte das Haupt in die
Hand und gab sich seinen trüben Gedanken hin.
Plötzlich stand er auf und verließ mit raschen Schritten das Gemach. Das
untadige Warten und Trauern widersprach seiner kraftvollen Natur. Er wollte zu
seinem Kinde hinaufgehen und selbst noch einen letzten Versuch machen, ihm Nah¬
rung einzuflößen.
Auf der Schwelle des Krankenzimmers blieb er wie gebannt stehen. Er
mußte sich mit beiden Händen an den Türpfosten festhalten, um dem freudigen
Schrecken, der ihn jäh überkam, nicht zu erliegen.
Durfte er seinen Augen trauen? War es kein Trugbild, kein toller Spuk,
was sich seinen überraschten Blicken darbot? Nein, nein, es war Wirklichkeit,
wahre und wahrhaftige Wirklichkeit! Seine durch die Nachtwachen geschwächten
Sinne täuschten ihn nicht: dort am Bette saß Merge, hatte die Linke unter den
Pfühl des Kindes geschoben, führte den Löffel bald an die eigenen Lippen und
bald an die des kleinen Patienten und warf von Zeit zu Zeit den beiden Hunden,
die aufgerichtet und begehrlich schwänzelnd auf der anderen Seite des Bettes
standen, ein Klümpchen Brei zu, das sie geschickt auffingen.
Und das Wunder war geschehen: der kleine Ferdinand hatte seinen Wider¬
stand aufgegeben und aß. Der Appetit der fremden jungen Frau, die ihn so
liebevoll anlächelte, und die Gier der Hunde, die so lustig nach der süßen Speise
schnappten, hatten auch seinen Hunger geweckt. Nun lehnte er bleich und schwach
im Arm der Mutter, sah sie mit seinen matten Augen gedankenvoll an, öffnete die
blassen Lippen, wenn sich der Löffel näherte, kaute und schluckte.
„Mergel" stieß der alte. Mann mit gepreßter Stimme hervor, gleichsam als
fürchte er, durch einen lauten Ruf die Erscheinung zu verscheuchen.
Sie zuckte zusammen, sah sich jedoch nicht nach ihm um.
Er trat ein paar Schritte näher und beugte sich auf sie hinab. Da schlang
sie beide Arme um das Kind und preßte ihr Antlitz in seine Kissen.
„Merge," stammelte er, „dich nutz die Gottesmutter selbst gerufen haben.
Du hast ihm zum zweiten Male das Leben gegeben I"
Sie richtete sich auf und schüttelte den Kopf.
„Meister Simon ist bei mir gewesen und hat mir kund getan, wie es mit
dem Kinde steht," sagte sie. „Da hat mich's zu Wachendorf nicht mehr gelitten.
Ich hab' hergemutzt, ob er mich auch hat halten wollen."
„Wer hat dich halten wollen?"
„Er — der v. Pallandt. Nun bin ich hier, Herr, und bitt' Euch: jagt mich
nicht aus dem Hause. Laßt mich hier, nicht als Euer ehelich Weib, denn dessen
bin ich nicht mehr wert, sondern als eine Magd. Will Euer Söhnlein auch warten
und pflegen, als ob's noch meins wär'."
„Du hast übel an mir gehandelt, Merge," erwiderte er ruhig, „aber ich will
dir verzeihen um des Kindes willen."
„Nein, Herr, verzeihen dürft Ihr mir nicht, denn, ob ich's schon möchte, so
kann ich doch nicht bereuen, was ich Euch hab' antun müssen. Es zog mich zu
ihm, wie es mich jetzt wieder zu dem Kinde gezogen hat. Hier zu Rottland war
mir das Leben zur Qual geworden, aber bei ihm war es eitel Freude und Lust."
„So willst du wieder zu ihm zurück?" fragte Herr Salentin mit bekümmerter
Miene.
„Nun nicht mehr," antwortete sie. „Er hat mich halten wollen, mit Gewalt,
als ob er ein Recht auf mich hätte. Da bin ich ihm gram geworden."
Sie ließ sich vom Stuhle gleiten und lag vor ihm auf den Knieen.
„Nicht wahr, Herr," flehte sie, „Ihr weist mich nicht vom Hofe? Laßt mich
wenigstens hier, bis Euer Kind wieder gesund ist. Dann will ich gern von selber
gehen und mir einen Dienst suchen. Das Arbeiten hab' ich noch nicht verlernt,
ob ich schon die zwei Jahre ein arges Lotterleben geführt habe."
Er schaute sie lange an und kam in Versuchung, seine Hand auf ihr schwarzes
Haar zu legen. Aber er bezwang sich und sagte, seine Bewegung niederkämpfend:
„So mag es denn sein, Merge. Ein anderer hat dich hergesandt, da darf
ich dich nicht wieder wegschicken."
Als er ein paar Augenblicke später zu den Schwestern in das Wohngemach
trat, strahlte sein Antlitz im Glänze weihevoller Freude.
„Hätte nie und nimmer gedacht, daß eine promssse solennelle so schnelle
Wirkung tut," erklärte er. „Vorhin, bevor ich in die Schlafkammer hinaufging,
hatte ich in meinem Herzen eine Reise nach Kevelaer gelobt, und nun ist das
Mirakel schon vollbracht. Wir dürfen unsere Sorge fahren lassen, denn das Kind
hat den Brei gegessen."
„Es hat sich von dir füttern lassen?" fragte die Gubernatorin mit einem
leisen Anflug von Eifersucht.
„Nicht von mir. Als ich die Tür öffnete, saß jemand bei ihm und gab ihm
zu essen."
„()noite mervöille!" rief die Priorin, das Brevier aus der Hand legend.
„Es kann nur ein Engel gewesen sein!"
Dem alten Herrn war es peinlich, daß er den frommen Glauben der Schwester
zerstören mußte.
„Für das Kind ist es ein Engel — sans äoute," sagte er, „für uns freilich
ist es ein Mensch — ein sündiger Mensch."
'
„Salentin, ich bitte dich, torquier uns nicht länger I" jammerte Frau
v. Ödinghoven, die vor Ungeduld verging. „Sprich doch endlich: wen hast du
oben gefunden?"
„Die Merge."
„Was?" schrie die Gubernatorin, „diese möonante Person hat es gewagt,
das Haus zu betreten, das sie durch aäultöre diffamiert hat?"
„Quelle ekkrontsriöl" stimmte Schwester Felicitas bei, „zwei Jahre ist sie
weggewesen, und nun, da ihr Galan ihrer überdrüssig geworden ist, kommt sie
»urück, als ob nichts geschehen seil"
„Ihr tut ihr unrecht," entgegnete der Freiherr ernst, „es sind die sentiments
mstsrnels, die sie wieder hergeführt haben."
„Ich hoffe, du hast ihr die Tür gewiesen, Salentin," sagte Frau v. Öding-
hoven mit einem argwöhnischen Blick.
„Nein, das hab' ich nicht getan," antwortete er fest, „es ist auch gar nicht
meine intention, es zu tun. Will vielmehr Gott auf den Knien danken, daß sie
wieder bei uns ist."
„nella, versteh' ich ihn recht?" stöhnte Schwester Felicitas, „er will uns den
skkront antun, sie im Hause zu behalten?"
„Du hörst es ja. Er will uns zwingen, mit dieser Dirne unter einem Dache
zu wohnen. Das ist seine reconnaissÄNLe für die Liebe und Application, die wir
dem Kinde erwiesen haben."
„Ich zwinge niemand," erklärte er mit vollkommener Ruhe. Wem's nicht
ÄMeAble ist, der mag seiner Wege gehen. Es sollte mir leidtun, wenn's dazu
käme, aber das Leben meines Sohnes gilt mir mehr als jede andere consiclörsticin."
„IZK bien, er kündigt uns die Gastfreundschaft auf," sagte die Gubernatorin
eisig kalt und entschlossen, den letzten Trumpf auszuspielen, „und ich dächte, oköre
soeur, wir wissen, was wir zu tun haben."
„Es ist aiZre, auf seine alten Tage in die Fremde zu müssen," jammerte
die Priorin, „aber es ist nun einmal sein Wille, da müssen wir uns akkomodieren."
Als Frau v. Ödinghoven merkte, daß ihre Drohung auf den Bruder keinen
sonderlichen Eindruck machte, empfand sie zugleich Reue, Angst und Zorn. Aber
der Zorn überwog jedes andere Gefühl, und so sagte sie mit bebender Stimme:
„Ich bleibe keinen Tag länger in diesem Hause. Die v. Syberg wird uns
wohl aufnehmen, bis wir einen anderen ciomicile gefunden haben. Du gehst doch
mit, Schwester?"
Die Priorin nickte unter Schluchzen.
„Wann soll Gerhard mit der Kutsche vorfahren?" fragte der Freiherr kühl.
Nun erfolgte auch bei der Gubernatorin ein Tränenausbruch. Der Rückweg
war ihr abgeschnitten, und sie mußte nun wohl oder übel ihre Drohung, Haus
Rottland zu verlassen, wahr machen.
„Je eher, desto lieber," sagte sie. „Wir wollen dich keine Minute länger
mit unserer prösenes molestieren, als unbedingt nötig ist."
Eine Stunde später saßen die beiden alten Damen mit feuchten Augen in
der Kalesche. Der Bruder selbst schloß den Wagenschlag und sagte gelassen:
„Ich hoffe, ihr werdet wieder zur raison kommen und euer Unrecht einsehen.
Ihr dürft persuadiert sein, daß mein Haus euch jederzeit offen steht."
Dann zogen die Gäule an und die Kutsche rumpelte aus dem Hofe.
Am nächsten Tage kam ein Geschirr aus der Stadt, um die Habseligkeiten
der beiden Alten abzuholen. Das war ein Zeichen, daß man auf die Rückkehr
ihrer „raison" fürs erste nicht zu rechnen brauchte.
Einen Monat danach erhielt der Freiherr von den Schwestern ein sehr kühles
Schreiben, worin ihm die Gubernatorin mitteilte, sie habe die Stelle einer como
cZ'nonneur bei der Erbprinzessin Maria Anna Josepha, der Gemahlin des
Regenten und nunmehrigen Kurprinzen Johann Wilhelm, angenommen, während
Schwester Felicitas dem Bruder kundtat, daß sie sich entschlossen habe, vor ihrem
Ende mit Äbtissin und Konvent zu Marienstern Frieden zu machen und sich durch
Annahme des weißen Prämonstratenserinnenhabits eine Ruhestätte unter den
alten Birnbäumen des Klostergartens zu erkaufen.
„Sie sind nun doch zur rmson gekommen," sagte Herr Salentin, nachdem
er den Brief zu Ende gelesen hatte, „aber auf eine andere msniöre, als ich bei
ihrer pisäileLtivn für Haus Rottland supponieren mußte."
Es war in dem alten Renthanse still und einsam: geworden, seit die beiden
Damen, die bis dahin den Verkehr mit der Welt und dem Himmel aufrecht
erhalten hatten, von bannen gezogen waren. Ein Tag verlief jetzt wie der andere.
Wären Saat und Ernte nicht gewesen, so hätte der Freiherr gar nicht gemerkt,
wie ein Jahr nach dem andern dahinging. Freilich: einen Maßstab für den
raschen Flug der Zeit hatte er doch nocht Er brauchte nur den kleinen Ferdinand
anzuschauen, der jetzt als ein sechsjähriges Bürschlein in Haus und Hof sein
schweigsames Wesen trieb, und dessen Gebrechen sich auf alle Mitbewohner von
Haus Rottland übertragen zu haben schien. Denn der Kleine war nun einmal
die Hauptperson, um die sich im Grunde genommen alles drehte, und wenn die
Hauptperson stumm war, wozu brauchten da die andern noch Worte zu machen?
Merge vermied es nach Möglichkeit, mit ihrem Gatten zusammenzukommen.
Sie hauste mit dem Kinde in dem ehemaligen Gemache der Schwägerinnen und
griff, wenn der Knabe schlief oder im Garten spielte, bei der Arbeit der beiden
alten Mägde wacker mit zu. Aber sie sprach kaum ein Wort, und in ihrer Nähe
verstummte auch das Gesinde, dem es nicht in den Kopf wollte, daß es in der
einstigen Herrin und Hausfrau nun seinesgleichen zu sehen hatte.
Das Kind war unter der aufopfernden Pflege der Mutter körperlich trefflich
gediehen, aber seine verkümmerte Seele entfaltete sich nur langsam. Allmählich,
ganz allmählich lernte Merge, sich mit dein unglücklichen Geschöpf zu verständigen,
dann aber erkannte sie von Tag zu Tag deutlicher, daß der Geist des Kindes für
die mannigfachen Eindrücke empfänglich zu werden begann, die ihm durch das
Gesicht und das Gefühl vermittelt wurden. Durch einen Zufall war der Kleine
auf die Laute aufmerksam geworden, die seit langem wieder an ihrem alten
Platz auf dem Boden hing, und deren Anblick die junge Mutier immer peinlich
berührte. Die kleine Hand streckte sich begehrlich nach dem Instrument aus, und
die dunkeln Kinderaugen hefteten sich so eindringlich auf Mergens Antlitz, daß
sie ihren Widerwillen bezwang und die Laute herablangte.
Sie setzte sich auf die Bodentreppe, zog die Wirbel an und ließ die Saiten
^ise schwingen. Der Knabe, der neben ihr hockte, sah dem Tun der Mutter
verwundert zu und legte, einer inneren Eingebung folgend, die Spitzen seiner
Nngerchen auf den Schallkasten des Instruments.
Eine ganze Weile verharrte er wie versteinert, dann überflog sein Gesichtchen
ein Schimmer ungeahnten Glücks, er kletterte eine Stufe höher, schlang seine
Ärmchen in einer Aufwallung von stürmischer Zärtlichkeit um den Hals der
Zauberin, die ihm eine neue, fremde Welt erschlossen hatte, und bedeckte ihr
Antlitz mit heißen Küssen. Es war die erste Äußerung einer unendlichen Dank-
barkeit.
Von nun an zog das Kind die Mutter täglich nach dem Boden hinauf und
ruhte nicht eher, als bis sie, die Laute im Arm, auf der Treppe saß.
Sie hatte die alten Lieder wieder hervorgesucht und richtete, während sie
ihren Gesang begleitete, den Schall der Stimme aus das Instrument, das die
Schwingungen der eigenen Seele zugleich mit denen der ihren dem Tastsinn des
Kindes vermittelte. Die dunkeln Augen hingen aufmerksam an den Lippen der
Mutter, und diese fühlte beglückt, wie die Töne, obwohl ihnen das Ohr des
Kleinen verschlossen blieb, ein neues, festes Band um ihn und sie webten.
Allsonntäglich, wenn Herr Salentin nach den: Gottesdienst in der Naturalien¬
kammer saß, mußte ihm das Söhnchen Gesellschaft leisten. Dann wurden die
glitzernden Erzstufen, die geschliffenen Achatsteine, die wasserhellen, glattseitigen
.Krystalle und die bunten Muscheln aus den Schrankfächern geholt und auf dem
Tische im Sonnenschein ausgebreitet. Der alte Herr ergötzte sich immer von neuem
an den wundersamen Gebilden der Natur, aber mehr noch freute er sich jetzt über
das Interesse, das sein Sprößling an diesen Herrlichkeiten bekundete. Und weil
sich Ferdinand sehr verständig benahm und mit den merkwürdigen Dingen äußerst
behutsam umging, wurde er mit dem Amte betraut, die einzelnen Stücke, wenn
der Augenschmaus vorüber war, wieder in den Schrank zu räumen.
Es war an einem Sonntag im Spätherbst des Jahres 1688. Der kleine
Bursche dürfte heute ganz allein in den väterlichen Schätzen herumkramen, denn
der Freiherr hatte den Kopf voll Sorgen wegen der dem Lande drohenden
Kontributionen. Es war eine böse Zeit, die Franzosen standen gleichsam vor der
Tür, und jeder Tag brachte neue Hiobsposten aus den pfälzischen Stammlanden
des Regenten, wo die zuchtlosen Truppen des Allerchristlichsten Mordbrenners
ärger als die Vandalen wüteten.
Die Kastenuhr unten auf der Diele verkündete die Mittagsstunde. Da trat
Merge leise in die Kammer, um das Kind zu Tisch zu rufen. Aber der Kleine
leistete ihrem Winke nicht gleich Folge und deutete auf die Muscheln, die er, bevor
er sich vom Vater verabschieden konnte, erst wieder an ihren Platz legen mußte.
Die Mutter blieb an der Tür stehen und wartete. Sie mochte schon ein
paar Minuten so gestanden haben, als Villa erschien und dem Freiherrn einen
Brief überreichte.
„Ein Knecht aus Wachcndorf hat ihn gebracht," sagte die alte Magd. „Er
ist abgestiegen und wartet in der Gesindestube."
Herr Salentin erbrach das Schreiben und las. Dann sah er nach Merge
auf, deren Antlitz auffallend bleich geworden war.
„Eine schlimme Zeitung!" sagte er ernst. „Der Vogt schreibt mir, daß sein
Herr, mein nsveu, nicht wieder aus der campaZne zurückkehren wird. Er hat
in den Gräben vor Philippsburg einen Musketenschuß durch die Brust erhalten
und ist tagsdrauf eines seligen und bußfertigen Todes verblichen."
Die junge Frau blieb merkwürdig gefaßt.
„So einen Tod hat er sich immer gewünscht," bemerkte sie ruhig. „Es ist
ein Glück für ihn. Und auch für mich," setzte sie nach einer Pause hinzu, „denn
so lange er lebte, war ich meiner selbst nicht sicher."
Herr Salentin sah ihr fest in die Augen, aber sie hielt seinem Blicke stand.
„Gedulde dich ein weniges, Merge," sagte er, indem er sich erhob, „ich bin
gleich wieder hier." Damit verließ er die Kammer.
Nach einer kleinen Weile kam er zurück und gab ihr schweigend den Schlüssel-
bund, der all die Jahre über seinem Bette gehangen hatte.
Sie nahm ihn wortlos und befestigte ihn an ihrem Gürtel. Aber ihre
Hände zitterten dabei, und ihre Augen leuchteten.
Und als sie dann beide nach dem Kinde sahen, bemerkten sie, wie es sich
mit staunenden Blicken über einen Kasten beugte, den es in einem unbewachten
Moment aus dem Schranke genommen und geöffnet hatte. Es wandte sich scheu
nach den Eltern um, da diese ihm aber ermutigend zunickten, griff es behutsam
hinein und zeigte ihnen glückstrahlend den Paradiesvogel.
Ende.
Zu der in Heft 14 des Jahrgangs 1910 der Grenzboten angeregten
und jetzt in Preußen behördlich aufgenommenen Sammlung von Briefen
und Tagebüchern aus Kriegszeiten wird uns nachstehender Brief zur
Kriegstagebuchs Ihres verewigten Bruders zu bestätigen, daß ich
der Kgl. Bibliothek übergeben habe. Tief ergriffen habe ich diese
treuen, nicht einen einzigen Tag unterbrochenen Aufzeichnungen
gelesen, bis sie am Morgen des 30. Oktober fast in dem Augenblick
abbrechen, wo dieser herrliche Mann bei le Bourget den Heldentod fand. Ich
habe aber auch von diesem schlichten, nur in den Höhepunkten über die Erlebnisse
und Sorgen eines Kompagnie-Chefs hinausgehenden Tagebuch einen starken künst¬
lerischen Eindruck erhalten; die große Anschaulichkeit, die starke seelische Spannung,
die Einheit zwischen Darstellung und Darsteller haben etwas homerisches. Ihre
Patriotische Darbringung verdient den höchsten Dank; Ihre Trennungswehmut
wie andrerseits Ihre Freude, das Buch nun in sicherster Hut zu wissen, muß
man von Herzen mitfühlen!
Sie betätigen Ihre Teilnahme für die vom Herrn Kultusminister angeordnete
Sammlung der Briefe und Tagebücher aus Kriegszeiten weiter dadurch, daß Sie
einige Zweifel behoben wünschen, zu denen der in Ihrem heimischen Kreisblatt
enthaltene Aufruf geführt hat. Dieser Aufruf ist allerdings, wie viele andere auch,
SU unvollständig ausgefallen. Ich beantworte Ihre Fragen:
1. Diese als wichtige zeitgenössische Quelle erkannten Schriftstücke aus Kriegs¬
zeiten sollen gesammelt werden, damit sie nicht allmählich verloren gehen. Kann
später das hierfür geeignete Material der Forschung zugänglich werden, so wird es
mit jener archivmößigen Vorsicht geschehen, die Indiskretionen ausschließt. Be¬
denken also, daß mit dem oft vertraulichen Inhalt der Briefe Mißbrauch getrieben
werden könnte, find hinfällig. Die Geber werden auch selbst zu bestimmen haben,
ob ihre Schriftstücke noch 1t), 20 und mehr Jahre geheim gehalten werden sollen. Offen¬
bar ist durch die Aufbewahrung an staatlicher Stelle die meiste Sicherheit gegeben, daß
vertrauliche, für die Gegenwart ungeeignete Mitteilungen nicht in die Öffentlichkeit
gelangen, wie es so oft geschieht. Um private Aufzeichnungen vor allen
Zufälligkeiten eines Besitzwechsels und unzuständiger Behandlung ganz sicher zu
stellen, mußte man sie bisher vernichten. Mir ist auch bekannt, daß ein aus¬
gezeichneter Offizier, dessen Feldzugssäbel bei den vaterländischen Kriegsandenken
im Zeughause steht, seine Papiere von 64—71 verbrannt hat, damit sie nicht später
in unrechte Hände kommen. Dieser Fall wird nun hoffentlich nicht mehr vorkommen.
2. Unter „Drucksachen" find alle in Buchform oder Zeitungen abgedruckten
Briefe, Tagebücher, Kriegslieder usw. gemeint. Was in Tagesblättern und Vereins¬
schriften von je veröffentlicht wurde, ist heute ohne Hilfe der Beteiligten gar nicht
mehr aufzufinden, und die Urschriften selbst werden auch schon vielfach verloren
sein. Grundsätzlich soll daher an Drucksachen alles genommen werden, wobei es
ruhig dem sachverständigen Urteil der Fachbehörde überlassen bleiben kann, ob
später dies oder jenes als unwesentlich oder doppelt vorhanden ausgeschieden und
zurückgegeben wird.
Z. Das ,,provinzweise Einsammeln" wurde lediglich angeordnet, damit die
Abgaben dadurch erleichtert würden. Wie Sie selbst ganz richtig bemerken, kann
damit aber keineswegs gemeint sein, daß die Provinzsammelstelle nur die Schrift¬
stücke der Angehörigen der eigenen Provinz annehmen, alles andere aber ablehnen
soll. Für eine nationale Sache gibt es heute Gott sei Dank keinen Unterschied
mehr zwischen Preußen oder Sachsen, Süd und Nord. Alles soll gebracht,
niemand darf zurückgewiesen werden. Der von Ihnen erwähnte Fall, daß eine
Sammelstelle die Feldzugsbriefe eines aus Bayern gebürtigen Arbeiters nebst den
Briefen seiner Mutter zurückgewiesen hat, ist unverständlich und deshalb höchtz
betrübend, weil dieser schlichte Mann, der, weil er ein guter bayerischer Soldat
war, auch ein guter Deutscher ist, die Zurückweisung gar nicht verstanden haben
kann und die Briefe, für die er in seinem Kasten vielleicht gar keinen Platz mehr
hat, nun im Unmut vernichtet haben könnte.
4. Es handelt sich natürlich nicht bloß um die Kriegsschriften von 1864 bis
1871, sondern um solche aller Zeiten, vor allem doch auch der Befreiungskriege.
Wie wichtig würden gerade jetzt solche Zeugen sein, wo die hundertjährigen Gedenk¬
tage diese furchtbar schönen und schweren Zeiten, in denen die Grundlagen des
neuen Reichs erkämpft wurden, dem Volke hoffentlich recht nahe bringen werden.
5. Die Frage, wie die Abgaben fließen, kann ich nur für Berlin beantworten.
Hier ist viel und höchst wertvolles abgegeben. Ganz wichtiges fehlt aber noch, so
die Briefe und Tagebücher der Geistlichen und Beamten, der Ärzte, freiwilligen
Krankenpflegerinnen, Johanniter usw. sowie der Zivilbesucher, den beglückten und
beglückenden Bringern der Liebesgaben. — Nicht selten habe ich von den Besitzern
auch gehört, ihre Sachen seien für die Abgabe zu unbedeutend. Das ist viel zu
bescheiden, denn alles kann wichtig sein, hat persönlichen Wert, auch ergänzen sich
allemal die Briefe der verschiedenen Angehörigen einer Familie, sei es nun die
große Familie des Regiments oder der Blutsverwandten. Nur dürfen bei Ab¬
schriften die Namen nicht unterdrückt werden. Wo diese nur durch Buchstaben
angedeutet sind, müssen sie am Rande voll ausgeschrieben werden, wie Sie es
schon gemacht haben.
6. Sie fragen endlich, ob die Behörde gegebenenfalls Abschriften von
Kriegsbriefen usw. auf ihre Kosten und Gefahr besorgt. Da es sich bei diesen Ab¬
gaben nur um ein patriotisches, ganz freiwilliges Opfer handelt, der Staat also
nichts fordert, sondern sich nur erbietet, Familiendokumente aus Kriegszeiten in
sichere Verwahrung und Pflege zu nehmen und dadurch für das allgemeine Interesse
wie für die Familienerinnerung zu erhalten, müssen die Abschriften, wie natürlich
auch alle Originalschriftstücke und Drucksachen, kostenlos abgegeben werden. —
Ich kann nur wünschen, daß sich überall dieselbe feine Stimmung finden
möge, von der Sie, hochgeehrte Frau, durchdrungen sind. Unser Volk sollte der
wohl erwogenen guten Absicht der Behörde entgegenkommen und im Original oder
in Abschriften alles in Verwahrung geben, was nicht in Privatarchiven oder anderswo
sicher untergebracht ist. Uebrigens war ich sehr erfreut, daß grade eine Frau mir
so, wie hier geschehen, geschrieben hat. Hier wie in manchen anderen Dingen
vertraue ich unsren Frauen weit mehr als den Männern. Als Hüterin der Schätze
des Hauses ist die deutsche Frau auch in erster Linie berufen, den Gedanken der
Abgabe aufzunehmen. Es ist eine Sache, bei der sich unser ganzes Volk wieder
einmal zusammenschließen kann, und zwar im Reinsten und Treuesten, was es hat,
nämlich in seinen Erinnerungen aus großen, schweren Hoffnungs- und Opferzeiten.
Aus dem großen Reichtum von Bilder¬
büchern, den auch dieses Jahr wieder gebracht
hat, seien die folgenden herausgehoben. Zu¬
nächst eine schöne Auswahl aus den all¬
bekannten Kinderliebem Gnlis, die der Verlag
von I, F. Schreiber in Eszlingen für 80 Phe
unter dem Titel „Kinderlnst" mit buntfarbigen
Bildern von Mander herausgebracht hat. Das
Buch wird Kindern und Müttern gleiche Freude
machen. Von Mander ist dort auch ein humor¬
volles Tiervildcr-Malbuch erschienen (76 Pf.),
dem weite Verbreitung zu wünschen ist. Ein
alter Bekannter ist Lothar Meggendorfer, der
sich mit den „Bubenstreichen" (1 M.) und
einem Aufstellbilderbuch „Das Puppenhaus"
(4,60 M.) einstellt. Für den gewallten Humor
des ersteren kann ich mich nicht erwärmen;
das „Puppenhaus" wird den Kleinen Spaß
machen, die mit wenigen Handgriffen eine
ganze Zimmerflucht mit Vorgarten, Kaufladen,
Küche und Musikzimmer vor sich entstehen lassen
können. Im „ABC mit schwarzen Bildern"
gibt L. Müller-Heintze größtenteils, besonders
in den Tierbildern, ansprechende Proben der
in letzter Zeit wieder mehr gepflegten Sil-
houettierkunst; den Text würde man gern
entbehren. Unter die Sternkinder Versetztuns
A. v. Lewinski in „Weißt du wie viel Stern-
lein stehen"; die Bilder sind in einfachen
Farben demi Verständnis des Kindes angepaßt,
die Verschen schlicht (2 M.). Mehr will
M. Friinberger in der „Waldnacht" geben
(Text von G. I. Kiele), die die Abenteuer eines
im Walde verirrten Knaben uns vorführt
(3,60 M). Die spukhafte Stimmung kommt
nicht recht zum Ausdruck; man muß oft an
Kreidolf denken, aber was bei ihm natürlich
und in leuchtenden Farben erscheint, bleibt
hier matt und gewollt. (Alles bei Schreiber
in Eszlingen).
Seinen bekannten, weitverbreiteten „Blu-
menmärchen" läßt Ernst Kreidolf bei Schaff¬
stein in Köln einen neue» Teil „Der Garten¬
traun»" folgen (6 M.), eins der prachtvollsten
Bilderwerke dieses Jahres. Wie ist auf diesen
sechzehn großen farbigen Tafeln die Garten¬
flora zum Leben erweckt, wie Persönlich treten
uns die vielen Blumenarten in Liebe und
Kampf nahe l Eine echte tiefe Märchenstimmung
webt in dem Phantasievollen Werke, und was
Künstleraugen gesehen und Künstlerhand ge¬
schaffen, möge nun in vielen Herzen einen
frohen Widerhall wecken.
Gertrud Caspar! I Ich sehe die Augen
der Mütter leuchten, wenn der Name genannt
wird. Es gibt Wohl keine Kinderstube, wo
nicht eins ihrer Bücher Ware. In „Guten
Morgen" (Verlag von Alfred Hahn in Leipzig,
2,80M.) lacht wieder der ganze heitereSonnen-
schein der Kinderwelt, den sie über die drolligen
Szenen aus alten Volksreimen und modernen
Kinderliedern scheinen läßt. Ein entzückendes
Bilderbuch I
Aus dem Verlag von I. Scholz in Mainz,
der uns schon manch Prächtiges Bilderbuch ver¬
mittelt hat, kommt als Büchlein für die Aller-
kleinsten: „Mein erstes Buch", Zeichnungen
von Hans Schrödter, Verse von A. Holst.
Unzerreißbar (auch in Leporello) 2 M. —
In schönen Farben hat der Künstler alles im
Bilde festgehalten, was dem Kind zuerst in
seiner Umgebung auffällt: Milchflasche und
Spielzeug, Eßgerät und Badewanne usw. Die
Verschen sind leicht zu behalten. Für größere
Kinder berechnet und beide mit farbigen,
lustigen Bildern von dem bekannten Zeichner
„Jugend", Arpad Schmidhammer, ge¬
schmückt, sind „Drei Helden", Berse von
Gustav Falke (3 M.) und „Lustige Verslcin"
(aus alten Kinderversen), zusammengestellt von
Nie. Henningsen. Viel Spaß ist in diesen
Büchern aufgesammelt, die eines dankbaren
jungen Publikums gewiß sein dürfen. Mit
„Schneewcißchcn »ut Rosenrot" bringt der
Verlag den zwölften seiner Märchenbände zu
1 M. Lena Bauernfeind hat die Bilder in
zarten Farben gehalten, doch wirken sie leicht
etwas nüchtern. Eine ganz prächtige Gabe hat
der Zügelschüler Eugen Oswald in dem Bilder¬
buch „Ticrlevrn der Heimat" (4M.) geschaffen.
Liebevoll hat er sich in das Studium der
Tierwelt versenkt, und was nun mit modernen
malerischen und technischen Mitteln aus dem
reichhaltigen Buch zu uns spricht, ist hohen
Lobes wert. Schöne Landschaftsbilder im
Hintergrund erhöhen die Stimmung. In
gar seltsame Länder führen uns „Gullivers
Reise»", die W. Kotzde nach Swift für die
Kleinen einfach erzählt, und zu denen Hans
Schroedter eine Anzahl farbiger Bilder ge¬
liefert hat, daß die Jugend gern uach dem
Phantasievollen Buche greifen wird. Den Vogel
aber schießt Otto Ernst, der Vater APPel-
schnuts, ab, indem er uns in „Der Kinder
Schlaraffenland" (3 M.) geleitet. Was er
dort erlebt, ist so lustig und von Hans
Schroedter in so kongenialen farbigen Bildern
festgehalten, daß ich das Buch, dem der Verlag
eine prachtvolle Ausstattung gegeben hat,
jeden? Buben und auch den Mädeln auf
den Gabentisch wünschte. (Alle Sei Scholz
in Mainz.)
Eine „wunderbare und ergötzliche Historie"
ans früherer Zeit lernen wir in den „Fahrten
und Abenteuern des Herrn Steckcllicin",
"ach Zeichnungen von Rudolf Töpsser, in
Reimen von Jul. Keil, kennen. (Brockhaus,
Leipzig. 3 M.) Was der geplagte Schmetter-
lingsfänger im Walfischbauch und am Nordpol
erlebt, wie er erfriert und wieder anstand,
sein Abenteuer mit dem Löwen und die
schwereren mit seiner Schwester Ursula: es ist
eine drollige Komik in den hundertfünfzig
farbigen Bildern, die uns der Verfasser der
«I^ouvelles Qenevoises" vorführt und der
Verlag im neuen Gewände präsentiert. Der
Beifall aller nicht von der Moderne nnge-
ränkelten lachlustiger Seelen kann dem Buche
nicht fehlen.
Von Bilderbüchern in Verbindung mit
Noten liegen mir zwei schöne Publikationen
or. „Der Kleine» Sang und Spiel" nennt
ich eine Sammlung von alten und modernen
Kinderliedern, Reimen und Spielen, die Jos.
LiPP besonders für Kindergärten gesammelt
at, die aber in jeder Familie, wo Mütter
mit ihren Kindern singen und spielen, will¬
ommen geheißen werden wird. (Verlag der
Jugendblätter, C. Schnell, München. 3,80 M.)
Das Hauptgewicht liegt hier ans Text und
Noten, die für den natürlichen Stimmumfang
vier- bis sechsjähriger Kinder sich von 6' bis
i" bewegen und möglichst einfach gesetzt sind,
o daß sie ohne Schwierigkeit gespielt und
gesungen werden können. Farbige Bilder und
Vignetten von M. Wechsler, schlichte, dein
Kinderverstündnis gut angepaßte Motive er¬
öhen den Wert der Gabe, deren überaus
eicher Inhalt (140 Seiten gr. 4°) allen
Kinderfrcnnden auf Jahre hinaus Anregung
eben wird.
In „Sang und Klang fürs Kinderherz.
Neue Folge" bringt der Verlag Neufeld u.
Henins in Berlin eine Sammlung schönster
Kinderlieder für den Weihnachtstisch, für die
die Namen der Herausgeber ein Programm
bilden. Die Auswahl hat E. H. Strasburger
übernommen, und Engelbert Humperdinck,
er geliebte Meister und Schöpfer -der
Märchenopern „Häusel und Gretel" und der
Königskinder", hat die Herausgabe besorgt.
Der ausgezeichnete Kontrapunktiker hat auch
n diesen kleinen Liedern den Satz in ent¬
ückenden Wohlklang gestaltet; dabei ist er
o einfach gehalten, daß er von Anfängern
espielt werden kann. Wundervolle farbige
Bilder hat Paul Hey, der bekannte Münchner
Maler, dazu geschaffen und im Borsatzpapier,
n vielen kleineren und der großen Anzahl
anzseitiger Bilder sein Bestes gegeben. Der
Preis von 4,60 M. ist in Anbetracht des
Gebotenen nicht hoch. Freude muß in das
Haus einkehren, wo Mütter und Kinder aus
olch schönem Liederbuch singen! Dr. S.
Wenn ein Dichter, ein Maler und ein
Musiker, drei namhafte Künstler, sich zusammen¬
nden, um den Kindern ein Bilderbuch zu
chenken, darf man auf die Frucht solch gemein-
samen Schaffens begierig sein, zumal wenn
man weiß, das; jeder der drei auf seinem Ge¬
biete mit höchstem Erfolg schon für die Jugend
gearbeitet hat. Im vorigen Jahre legten
Älbett Sergel, Hans v. Bdlkinann und Engel¬
bert Humperdinck unter dem lustigen Titel
„Didcldumdci" (Reutlingen, Enßlin u.Laiblin,
Preis 2,50 M.) das erste derartige Buch auf
denWeihnachtstisch. Die jubelnde Zustimmung,
die sie überall gefunden, hat sie bestimmt,
'nun das zweite Werk in die „Bunte Welt"
(im gleichen Verlage zu demselben billigen
Preise) zu senden, wo es der gleichen herz¬
lichen Aufnahme sicher sein darf. Albert
Sergels Verse Prägen sich dem kindlichen Ge¬
müte spielend ein, Huinperdincks Melodien
sind flüssig und leicht erlernbar, an Volkmanns
Bildern wird auch jeder Erwachsene seine helle
Freude haben. Mögen die prächtigen Bücher zu
Weihnachten recht vielen Kindern als hochwill¬
kommenes Geschenk dargeboten werden. "
Henri Poincarös Auffassung von der
Wissenschaft. Die überwiegende Mehrzahl
der deutschen Erkenntnistheoretiker der letzten
Jahrzehnte schloß sich eng an Kant an und
gab deshalb den Versuch einer apriorischen
Deduktion gewisser allgemeinster Naturgesetze,
wie des Prinzips der durchgängigen Kausalität
alles Wirklichen oder des Satzes der Erhaltung
der Kraft, nicht auf. Denn das war ja das
Streben Kants auf dem Gebiete der Natur¬
philosophie gewesen, zu zeigen, daß die Grund¬
struktur der Wirklichkeit, wie etwa jene zwei
Sätze sie wenigstens in zwei Punkten charak¬
terisieren, aus dem wahrnehmenden Subjekt
stammt; die Natur ist eine Erscheinung im
Bewußtsein, sie steht also auch unter den Be¬
dingungen desselben, sie muß sich seinen For¬
men fügen, wie eine Flüssigkeit in einem
Röhrensystem sich dessen Form anpassen muß.
Gegen diese Auffassung haben sich ein¬
sichtige Naturforscher seit Jahrzehnten nach¬
drücklich gewehrt. So wenig sie geneigt waren,
jene allgemeinsten Sätze, wie die Prinzipien
der Erhaltung von Masse und Kraft fallen
zu lassen, so wenig haben sie sich damit ein¬
verstanden erklärt, daß sich solche Sätze apriori
deduzieren lassen. Hermann v. Helmholtz hat
es in seiner letzten Epoche ausgesprochen, daß
elbst das Prinzip der Kausalität zuletzt nichts
als eine Hypothese sei, die sich zwar bisher
n der Physik noch stets bewährte, die
aber dennoch eines strengen Beweises nicht
ähig ist.
Dem herrschenden Neukantianismus gegen¬
über blieb diese Einsicht im wesentlichen ein¬
lußlos. Sie fand innerhalb der Philosophie
einen hervorragenden Vertreter. Überall, wo
ie zur Geltung kam, fehlte der Stimme, die
ür sie eintrat, das Gewicht. Es ist dem
ranzösischen Mathematiker und Physiker Henri
Pvincarö vorbehalten geblieben, mit der ganzen
Autorität seines Forscherrufes sie zur Geltung
u bringen. (Wissenschaft und Hypothese.
Deutsch von Weber. 2. Aufl. Berlin, Teubner,
191V.) Seine Philosophie läuft nicht auf einen
lachen Empirismus alten Stils heraus. Sie
eigt selbst, wieviel derVerstaud in aller Wissen¬
chaft zu leisten hat, daß das erkennende Ab¬
ilden der Wirklichkeit im Geiste keine so ein¬
ache Aufgabe ist. Auf der anderen Seite weist
Poincarö aber zwingend nach, daß das letzte
Kriterium überall die Erfahrung bleibt und
aß die Annäherung der Erkenntnis an sie
uch zunehmend größer wird. So viel sich
uch in ihr ändert, es geht immer ein ge¬
wisses und zunehmend größeres Quantum von
Sätzen in die weitere Entwicklung der Wissen¬
chaft über.
Deshalb wendet sich Poincarö auch mit
Nachdruck gegen eine im letzten Jahrzehnt so¬
wohl in Frankreich wie bei uns hervorgetretene
Auffassung, die in aller Wissenschaft nur eine
Spielregeln vergleichbare Regel des Handelns
rblickt: ein gemildert Pragmatistischer Stand¬
unkt. PoincarS entgegnet ebenso einfach wie
chlagend: Spielregeln kann man so oder so
ufstellen, in der Wissenschaft, die als Regel
es Handelns Erfolg haben soll und ihn hat,
st es nicht so.
Das sind die großen Hauptrichtungen, in
enen sich das Denken PoincarLs bewegt.
Daneben gibt es noch eine Menge Einzel¬
eiten, wo er den mathematisch und phy¬
kalisch hinreichend geschulten Leser durch geist¬
olle Bemerkungen zu fesseln weiß, so in bezug
uf die geometrischen Ariome und die mehr¬
imensionale Geometrie, die Wahrscheinlich¬
eitsrechnung, die in den Physikalischen Grund¬
egriffen von Masse, Kraft und Beschleunigung
enthaltenen logischen Schwierigkeiten und an¬
deres mehr,
Die Kriegskoittervande-Erklärungen im
italienisch - tur löcher Kriege. Nachtrag zu
dem Artikel in Ur. 4S der Grenzboten. Die
Türkei hat ihre erste Erklärung vom 14. Ok¬
tober d. I. außer Kraft gesetzt und sich in
einer neuen Konterbande-Erklärung darauf
beschränkt, lediglich Waffen, Munition und
solche Gegenstände als Kriegskonterbande an¬
zusehen, die ohne Verarbeitung zu Kriegs¬
zwecken verwandt werden können. Diese Ver¬
öffentlichung deckt sich im allgemeinen mit der
im Beginn des Krieges erlassenen Kriegs¬
konterbande-Erklärung der italienischen Re¬
gierung. Zu dieser Änderung ihres Stand-
Punktes wird die türkische Regierung einmal
durch die Schwierigkeiten veranlaßt worden
sein, auf die sie bei der Durchführung ihrer
ersten Erklärung gestoßen ist. Der weitere
und Wohl wesentlichere Grund für den Verzicht
auf die relative Kriegskonterbande ist aber
wahrscheinlich der günstige Umschwung der
Kriegslage. Die Türkei kann jetzt der Zu¬
kunft ruhiger ins Auge blicken, nachdem sich
herausgestellt hat, daß es den Italienern schon
schwer wird, sich in den Hafenplätzen von Tri¬
polis zu halten, während die Hauptschwierig¬
keiten erst bei der Eroberung des Hinterlandes
beginnen werden. Die Einfuhr von Kriegs¬
konterbande nach dem eigentlichen Kriegsgebiet
ist ziemlich bedeutend. Über beide Landgrenzen
werden Waffen und Munition eingeschmuggelt,
woran die Proteste italienischer Blätter gegen
Frankreich einerseits und die von der ägyp¬
ischen Regierung beabsichtigte Einsetzung einer
Grenzwache anderseits nicht viel ändern wer¬
en. Besonders werden die Türken in Tri¬
olis durch Lebensmittel aus Ägypten unter¬
ützt. Auch sind bedeutende Geldsendungen,
ie durch freiwillige Beiträge aufgebracht
wurden, aus Ägypten an das Kriegsministerium
n Konstantinopel abgegangen.
Die Deutschen sind wirklich gemütliche Leute.
Am Montag, den 27. November abends, also gerade zu der Zeit wo diese
Zeilen in die Druckerei gehen, hält in London Sir Edward Grey eine Rede,
die die englische amtliche Antwort auf die Ausführungen des deutschen Staats¬
sekretärs des Auswärtigen Amtes in der Budgetkommisston des Reichstags
enthalten dürfte. Was diese Rede im einzelnen bringen wird, läßt sich natürlich
nicht mit Bestimmtheit voraussagen. Aber die Erwartung ihres Inhalts beherrscht
die politische Stimmung hüben und drüben, wenngleich sie in erster Linie
eigentlich von innerpolitischer Bedeutung sowohl für England wie für Deutsch¬
land ist. Diesseits und jenseits des Kanals kann die Rede nur dazu dienen.
Angriffe auf die Regierungen zu verschärfen oder zurückzuhalten. Auf die
internationale Lage, besonders auf die deutsch-englischen Beziehungen, vermag
sie ändernd kaum noch einzuwirken. Sir Edward Grey hat am 21. Juli und
in den darauffolgenden Tagen die Stellung der derzeitigen britischen Negierung
zu deutlich enthüllt, als daß es bis auf weiteres möglich wäre, nach anderen
als nach den Tatsachen des Sommers die Beziehungen beider Länder zueinander
zu bewerten. Jetzt könnten nur Taten beweisen, daß das englische Volk ernst¬
haft bestrebt sei, neben seinem deutschen Vetter in Frieden leben zu wollen,
nicht Reden.
Mit gewisser Bestimmtheit ist vorauszusehen, daß Sir Edward Grey sich
bemühen wird, alle Schuld an der Zuspitzung vom Juli auf den deutschen Kollegen
abzuwälzen. Und es wäre unnatürlich, wenn es anders wäre. Er wird es
seinen englischen Hörern gegenüber auch verhältnismäßig leicht haben. Denn wer,
wie Kiderlen, sich erkühnte, die Maschen zu zerreißen, mit denen die Politik
Eduard des Siebenten den Erdball zu umspinnen und die deutsche Entwicklung
aufzuhalten trachtete, wird in England unschwer als Störer des Friedens,
wie die Briten ihn sich wünschen, hingestellt werden können. Für die augen¬
blickliche Lage wichtiger dürfte es sein, was Herr Grey sachlich zu den deutsche
französischen Abmachungen zu sagen hat. Sollten die übrigens am Sonntag
bereits widerrufenen Blättermeldungen sich bestätigen, wonach die englische Re¬
gierung gegen eine Besitznahme von Spanisch-Guinea durch Deutschland protestieren
wolle, dann bekäme die Sache ein ernsteres Gesicht, dann lieferte Gro߬
britannien einen neuen Beweis für sein Streben, unsere Entwicklung aufhalten
zu wollen. Ob es darum einen Krieg führen würde, wäre freilich eine andere
Frage.
Interessant und lehrreich zugleich ist die Haltung der englischen Presse
während des eben ablaufenden Zwischenakts. Trotz der scharfen Angriffe, die
Herrn v. Kioerlens Ausführungen auf die englische Politik enthalten, und obwohl
Sir Edward Greys Politik in England selbst zahlreiche Gegner hat, tönt kein
lautes Wort herüber, das irgendwie geeignet wäre, den Minister zu kränken und
seinem deutschen Gegner zu zeigen, daß die Nation nicht geschlossen hinter ihm
stände. Man hat den Eindruck, als hätten sämtliche Publizisten und Journalisten
der vereinigten Königreiche, die über deutsch-englische Politik schreiben, die Feder
fortgelegt, um sich für die Ausnahme der bevorstehenden Rede des Leiters der
auswärtigen Politik gehörig vorzubereiten. Kein Drohwort an Deutschland,
keine Kombinationen, kein Sturm auf Downingstreet! Der Minister hat das
Wort. Es handelt sich um eine Frage der auswärtigen Politik; die gesamte
Presse ist mit einem Schlage „offiziös". Diese Haltung imponiert um so mehr,
je mehr sie mit der der deutschen Presse kontrastiert. Ähnliches ruhiges Schweigen
und Abwarten kann in Deutschland eigentlich nur bei der Presse beobachtet
werden, die mit dem Klischee „offiziös" belegt wird, ohne es zu fein. Die
sogenannte „unabhängige" und „nationale" Presse kennt solche versammelnde
Ruhe nicht. Sie schlägt blind darauf los, und da sie in ihrer Raserei den
wirklichen Gegner bald aus dem Blick verliert, fällt sie unter dem Vorgeben, ihr
den Rücken stärken zu müssen, mit Knütteln über die eigene Negierung her.
Wir erleben es sogar, daß ein Blatt, das sich eines ganz besonders fein ent¬
wickelten nationalen Bewußtseins rühmt, daß die Tägliche Rundschau dem
Staatssekretär droht: na warte, nach der Rede Grens da gibts was! Solange
solche Dinge, die in der Psyche der Beteiligten, aber auch in der historischen
Entwicklung unserer nationalen Presse begründet sind, möglich bleiben, dürfen
wir uns nicht wundern, daß der Leiter der auswärtigen Politik mit der
Information gewisser Blätter zurückhaltender ist, als es vielleicht notwendig
erscheint. Setzt er sich doch womöglich der Gefahr aus, im gespanntesten Augen¬
blick einen' Stoß in den Rücken zu erhalten und seinen kunstvoll gefügten
diplomatischen Schleier zerrissen zu sehen.
Herr Paul Cambon, Frankreichs Botschafter zu London, mag es im November
1906 nicht für möglich gehalten haben, daß schon fünf Jahre später sein Bruder
Jules mit Deutschland Abreden treffen könnte, die den von ihm gefeierten Ver-
trag vom 8. April 1904 zu einem Gegenstand des Streites zwischen Frankreich
und England machen würden. Das aber ist eingetreten. Nachdem in Frankreich,
zunächst freilich nur von der Presse, erklärt worden ist, das deutsch-französische
Abkommen hebe alle übrigen Vereinbarungen bezüglich Marokkos, insbesondere
auch die französisch-spanischen Verträge vom Z.Oktober 1904 und vom
1. September 1905 auf, hat die britische Regierung die bisher geheim gehaltenen
Artikel des französisch-englischen Abkommens von 1904 veröffentlicht und ihnen
eine Auslegung beigefügt, die mit der in Frankreich geläufigen in direktem
Widerspruch steht. Die so viel gefeierte enteilte cvlcZiale hat einen Sprung
bekommen. Wie ist er hineingekommen?
Als England anfing, Afrika auszuteilen, ging es selbst darauf aus, alle
wichtigen Küstenplätze, die es noch nicht innehatte, in Besitz zubekommen. Das
Teilungswerk, durch den Burenkrieg unterbrochen, wurde bald nach dem Friedens¬
schluß wieder aufgenommen und fand seinen vorläufigen Abschluß in dem Vertrage
vom 8. April 1904 mit Frankreich, der den Franzosen die Vorherrschaft im
Nordwesten, den Engländern die Herrschaft im Osten garantierte. England nahm
das Protektorat über Ägypten, Frankreich begann die Tunifizierung Marokkos.
Deutschland fand in dem Abkommen keinerlei Berücksichtigung, nachdem es ein
von Chamberlain gemachtes Angebot, sich in Südmarokko eine Einflußsphäre zu
sichern, abgelehnt hatte. Die Ablehnung scheint damals aus zwei Gründen erfolgt
zu sein: einmal glaubten wir, der marokkanische Staat sei lebenskräftiger, als er
es tatsächlich war, und dann wollten wir Frankreichs politischen Bestrebungen nicht
in den Weg kommen, solange sie unsere wirtschaftlichen Interessen nicht störten.
Durch unsere Weigerung sah England sich um die Hoffnung betrogen, mit unserer
Hilfe den Hafen von Tanger besetzen zu können. Was auf direktem Wege
nicht gelang, sollte auf Umwegen erreicht werden. Konnte England nicht an
der Nordküste Marokkos herrschen, so durfte dort wenigstens kein starker Freund,
sondern höchstens ein schwächerer sitzen. Dieser aber war Spanien. Auf Be¬
treiben Englands wurde Spaniens Interesse an der Nordküste Marokkos der¬
gestalt sichergestellt, daß Frankreich sich verpflichten mußte, die Schritte gutzu¬
heißen, die Spanien unternehmen würde, um die Umgebung der spanischen
Presidios bis zum Gebirge am rechten Sebuufer der Autorität des Sultans zu
entziehen. Herr Delcassö erklärte sich um so leichter mit dieser Klausel ein¬
verstanden, als er Spaniens Bundesgenossenschaft auf der durch Deutschland
bewirkten Konferenz von Algeciras gegen Deutschland bedürfte, das bekanntlich
die Internationalisiern»^ Marokkos betrieb.
Algeciras stellte sich der Öffentlichkeit als eine Niederlage Deutsch¬
lands dar oder besser gesagt: wurde von Deutschlands Gegnern als Triumph
der enteilte corcUale und der durch Frankreich und England getragenen Friedens¬
idee gefeiert. Wie seinerzeit in den Grenzboten von sachkundiger Seite nach¬
gewiesen werden konnte, war aber Algeciras ein Erfolg unserer Diplomatie, da
durch die Akte tatsächlich die Internationalisierung erreicht wurde und Deutsch-
land infolgedessen als Interessent in Marokko durch die Ententemächte anerkannt
werden mußte. Die deutsche Diplomatie aber erhielt einen Hebel in die Hand,
mit dem sie in der Marokkofrage wirken konnte. Wie solches geschehen, ist
bekannt. Wenn der Sieg zunächst nicht voll und in einer bestimmten Richtung
überhaupt nicht ausgenutzt werden konnte, so lag das an der fehlerhaften, jetzt
von der deutschen Diplomatie selbst als solche anerkannten Bewertung der
Scherifischen Macht. (Vergl. Grenzboten 1911, Ur. 45 S. 292.) ^ , .
Spanien begann seine ihm durch Frankreich eingeräumten Rechte geltend
zu machen, nachdem Frankreich, entsprechend seinem Vertrage mit England,
angefangen hatte, sich Marokkos zu bemächtigen. Im Jahre 1909 führte es den
Krieg im Rifgebiet und eroberte Melitta, und als die Franzosen nach Fez
zogen, gingen die Spanier nach Larasch und El Ksar, an der westlichsten
Peripherie der ihnen eingeräumten Zone. Die Franzosen protestierten gegen
das Vorgehen der Spanier, da sie aber den Protesten keinen Nachdruck gaben,
so wurden diese mehr als eine Aktion zur Verschleierung der bestehenden Verträge
aufgefaßt. ° ^ . ^
Jetzt, nachdem Frankreich sich mit Deutschland verständigt, glaubte es,, ans
die Freundschaft Englands bauend, den Spaniern Halt gebieten zu können.
Spanien berufe sich mit Unrecht auf die Verträge von 1904 und 1905. Zwar
sei ihm dort das Recht, sich in Nordmarokko festzusetzen, eingeräumt, aber doch
nur unter gewissen Bedingungen. Spanien habe sich einerseits mit dem Sultan
verständigen müssen und andererseits sei es gehalten gewesen, den Franzosen
Nachricht zu geben, sobald es eine militärische Aktion beginne. Beides sei
unterblieben. Ergo, habe Spanien Marokko unverzüglich zu räumen; Marokko
gehöre gemäß dem mit Deutschland abgeschlossenen Vertrage vollständig den
Franzosen. Dies die Sprache der französischen Presse. Die spanische antwortet
nicht minder entschlossen: nicht einen Schritt zurück! Von den beiderseitigen
Regierungen verlautet noch nichts.
Doch es geschehen Wunder und Zeichen. ^
Frankreichs Freund, Sir Edward Grey, erklärt unaufgefordert: Spanien
hat Recht! und unwillkürlich erinnert man sich der Worte, die Balfour am
6- Mai 1904 dem Aprilvertrage auf dem Banquet der?rimro8e I^saM widmete:
„Es ist ein Tausch, bei dem derjenige, der gibt, wenig oder gar keine Opfer
bringt, während derjenige, der empfängt, dasjenige erhält, was für ihn von
enormer Bedeutung ist." Sollte Spanien der tsrtiu8 xauäens sein? Dann
wäre Frankreich von England hintergangen. Aber auch England dürfte end¬
gültig darauf verzichten müssen, sich gegenüber von Gibraltar auf afrikanischen
Boden festzusetzen. Denn die Algecimsakte besteht, und die Mehrheit ihrer
Unterzeichner hat heute genau dieselben Interessen an Marokko wie Deutschland.
Die Vertrauensmänner der Altdeutschen holen nach, was der Herr Reichs¬
kanzler in seiner Rede am 9. November versäumt hat: sie geben sich jetzt selbst
der Lächerlichkeit preis, und das muß als Dokument der Geschichte unserer Zeit
festgehalten werden. Herr Rechtsanwalt Heinrich Claß, Vorsitzender des
Altdeutschen Verbandes und somit alleinberechtigter und. ausschließlich befähigter
Wahrer der deutschen Ehre und Leiter von Deutschlands Weltallpolitik, korrigiert
die Auslassungen des Herrn v. Kiderlen in der Budgetkommission des Reichs¬
tags, die da lauteten: „Die Broschüre (Marokko deutsch) ^würde übrigens
anders beurteilt worden sein, wenn sie vollständig erschienen wäre, denn weiter
habe darin gestanden, wir sollten nicht nur Marokko,'sondern auch das Rhone-
Departement uns friedlich aneignen."
Herr Claß meint, das stimme nichts Er hatte nämlich, wie er selbst sagt,
geschrieben: „Als Friedenspreis solle manWandabtretungen von Nancy nord¬
westlich bis zur Mündung der Somme, südwestlich !von da bis Toulon ins
Auge fassen..... Diese im Entwurf stehenden Ausführungen waren so gemeint,
daß sie der Erhaltung des Friedens dienen sollten..."
Es ist unglaublich, daß einem Manne mit so miserablen geographischen
Kenntnissen, dem es nicht stets gegenwärtig ist, daß Toulon nicht im Rhone-
Departement, sondern im benachbarten Departement Var liegt, die Leitung der
deutschen auswärtigen Politik anvertraut werden konnte. Wie konnte der Kaiser
auch nur Herrn Rechtsanwalt Heinrich Claß aus Mainz übersehen?!
Die Magdeburgische Zeitung ist anderer Ansicht. Sie schreibt zu dem
Briefe des Herrn Claß: „Kann man es danach Herrn v. Kiderlen verdenken,
wenn er hier seiner Neigung, Witze zu machen, nicht zu widerstehen vermag?"
Die Regelung unseres Zollverhältnisses zum Britischen Reiche ist bisher durch
Reichsgesetz in der Regel ans die Dauer von zwei Jahren erfolgt. Das letzte Gesetz
datiert vom Dezember 1909 und läuft am 31. Dezember 1911 ab. Durch das
Gesetz wird jeweils dem Bundesrate die Ermächtigung erteilt, Großbritannien und
seinen Kolonien und Besitzungen die Meistbegünstigung einzuräumen. Zurzeit
genießen das Mutterland und sämtliche britischen Kolonien die Meistbegünstigung
in Deutschland; bis zum Frühjahre 1910 war bekanntlich Kanada davon aus¬
geschlossen. Die Regelung ist auf deutscher Seite eine völlig autonome; der
Bundesrat kann jederzeit das eine oder andere britische Kolonialland oder auch
Großbritannien selbst von der Meistbegünstigung ausnehmen. Da in nächster
Zeit voraussichtlich über den kanadisch-amerikanischen Neziprozitätsvertrag
entschieden sein wird, so wird die Frage entstehen, ob bei Inkrafttreten
dieses Vertrages Kanada weiterhin die Meistbegünstigung in Deutschland gewährt
werden soll oder nicht. Die Lösung der Frage hängt davon ab, ob Kanada
Deutschland den Mitgenuß der den Vereinigten Staaten eingeräumten Zoll¬
begünstigungen zugestehen wird. Am besten wäre es, wenn bis dahin ein end¬
gültiger Handelsvertrag zwischen dem Deutschen Reiche und Kanada zustande käme.
Ein Handelsvertrag zwischen Deutschland und England besteht bekanntlich
nicht mehr, nachdem der frühere Meistbegünstigungsvertrag, der sich auch auf
den Handel zwischen Deutschland und den englischen Kolonien bezog, im Jahre
1897 von der englischen Negierung gekündigt morden ist. Den unmittelbaren
Anstoß zu der Kündigung hatte der damals neu geschaffene Vorzugstarif gegeben,
durch den Kanada dem Mutterlande weitgehende Zollbegünstigungen einräumte.
Da nach dem deutsch-britischen Handelsvertrage deutsche Waren in den Kolonien
nicht höher besteuert werden durften als englische Waren, so nahm natürlich
Deutschland, solange der Vertrag in Geltung war, an den nur dem Mutter¬
lande zugedachten Vorzugszöllen teil. Um diesem Zustande ein Ende zu machen,
hat England den Vertrag gekündigt, und dieser trat im Sommer 1893 außer
Kraft. An seine Stelle ist das inzwischen wiederholt erneuerte Reichsgesetz
getreten, das den Bundesrat ermächtigt, „den Angehörigen und den Erzeug¬
nissen des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Irland, sowie den
Angehörigen und den Erzeugnissen britischer Kolonien und auswärtiger Besitzungen,
diejenigen Vorteile einzuräumen, die seitens des Reichs den Angehörigen oder
den Erzeugnissen des meistbegünstigten Landes gewährt werden."
In der Handelspolitik des Deutschen Reiches war das ein Novum; es
blieb indes ein anderer Ausweg nicht übrig, weil der Abschluß eines neuen
Handelsvertrages mit England nicht zu erreichen war, der britische Handel aber
von dem Mitgenusse der deutschen Vertragszölle nicht ausgeschlossen werden
sollte. Man hat sich daran gewöhnt, dieses nun schon seit beinahe vierzehn
Jahren bestehende, rein autonome Handelsverhältnis als deutsch-britisches Handels¬
provisorium zu bezeichnen. Nur Kanada gegenüber hat bisher der Bundesrat
von der ihm erteilten Ermächtigung keinen Gebrauch gemacht: kanadische Waren
unterliegen daher seit 1898 beim Eingange in Deutschland den Sätzen unseres
allgemeinen Tarifes.
Der Außenhandel Großbritanniens und der britischen Kolonien und Besitzungen
wacht ungefähr ein Viertel des gesamten internationalen Handels aller Länder
der Erde aus. In den Jahren 1900 und 1910 betrug der Wert der Einfuhr
und Ausfuhr der einzelnen Teile des britischen Weltreiches in Millionen Mark:
Während der letzten zehn Jahre ist mithin die Einfuhr um 4,8 Milliarden Mark
und die Ausfuhr um 5,6 Milliarden Mark gestiegen; die Zunahme beträgt im
ganzen etwa 42 Prozent. Indien und Australien haben eine aktive Handels-
bilanz; für die meisten übrigen Kolonien ist, ebenso wie für das Mutterland,
die Handelsbilanz passiv.
Der deutsche Handel mit England ist in den letzten Jahren nicht in dem
Maße gestiegen, wie unser Handel mit dem übrigen Auslande. In den fünf
Jahren von 1905 bis 1909 hat unsere Einfuhr und Ausfuhr von und nach
dem Vereinigten Königreiche an Wert betragen:
Im Jahre 1905 hatten Einfuhr und Ausfuhr zusammen einen Wert von
1760 Millionen Mark, im Jahre 1909 nur einen solchen von 1736 Millionen
Mark; dabei ist unser gesamter Außenhandel in der gleichen Zeit von 1286^
auf 1512 Millionen Mark gestiegen, und zwar die Einfuhr von 7129 auf
8520 Millionen Mark, die Ausfuhr von 5732 auf 6592 Millionen Mark.
Bemerkenswert ist der starke Rückgang unserer Einfuhr aus England, der sich
von 1907 auf 1908 vollzogen hat; er betrifft in erster Linie Steinkohlen, außer¬
dem aber auch Baumwollgarn, Wollgarn, Kammzug, Roheisen, Eisenblech,
Heringe, Felle usw. Unsere Ausfuhr nach England ist in den letzten Jahren
zwar etwas gewachsen, aber hinter den Jahren 1905 bis 1907 noch immer
zurückgeblieben. Im Jahre 1906 scheint die Ausfuhr nach England ihren
Höhepunkt erreicht zusahen; damals war auch der Absatz von deutschem Zucker
uach England dem Werte nach am größten. Großbritannien liefert nach Deutsch¬
land hauptsächlich Spinnstosse und Waren daraus, mineralische und fossile Roh¬
stoffe, Erzeugnisse der Land- und Forstwirtschaft und andere tierische und pflanz¬
liche Naturerzeugnisse, Nahrungs- und Genußmittel, unedle Metalle und Waren
daraus, Maschinen, elektrotechnische Erzeugnisse, Fahrzeuge, Leder und Leder¬
waren, Kürschnerwaren, chemische Erzeugnisse. Die deutsche Ausfuhr nach Gro߬
britannien umfaßt hauptsächlich folgende Waren: Erzeugnisse der Landwirt¬
schaft usw., darunter insbesondere Zucker, Spinnstosse und Waren daraus,
unedle Metalle und Waren daraus, chemische Erzeugnisse, Leder und Leder¬
waren. Kürschnerwaren, Maschinen, elektrotechnische Erzeugnisse usw., Papier,
Feuerwaffen, Uhren, Tonwerkzeuge und Kinderspielzeug.
Der Handelsverkehr mit den britischen Kolonien zeigt im allgemeinen die
gleiche Entwicklung wie der Verkehr mit dem Mutterlande. So ist die Einfuhr
im Jahre 1908 gegenüber 1907 zurückgegangen aus Britisch-Ostindien von
401,1 auf 306,9 Millionen Mark, aus dem Australischen Bunde von 228 auf
185,9 Millionen Mark, aus Britisch-Westafrika von 73,3 auf 58.9 Millionen
Mark. Die Ausfuhr hat sich vermindert nach Britisch-Ostindien von 99 auf
95,5 Millionen Mark, nach Australien von 61,1 auf 57,9 Millionen Mark,
nach Kanada von 29,6 auf 20,3 Millionen Mark. Eine Ausnahme bildet nur
die Ausfuhr nach Südafrika und nach Neuseeland, die von 28,9 auf 32 Millionen
Mark bzw. von 5.3 auf 5,9 Millionen Mark gestiegen ist.
Die amtlichen statistischen Veröffentlichungen Großbritanniens weichen zum
Teil von den deutschen ab; die Umschreibungen sind vielfach von anderen Gesichts¬
punkten aus erfolgt, als die der deutschen Handelsstatistik, sodaß die Zahlen in
ihrer absoluten Höhe mit den deutschen Angaben nur in beschränktem Maße
vergleichbar sind. Für den Verkehr mit Großbritannien ist besonders beachtens¬
wert, daß die englische Statistik beträchtliche Mengen deutscher Waren, die ihren
Weg über niederländische und belgische Häfen nehmen, dem Verkehr dieser
Länder zurechnen. Zutreffendere Zahlen finden sich für die Einfuhr nach Gro߬
britannien in den vom Board of Trade für die Jahre 1904 bis 1907 heraus¬
gegebenen Ergänzungsbänden zur britischen Handelsstatistik, aus denen sich die
Herkunfts- und Bestimmungsländer ersehen lassen. Danach wurden:
In der Ausfuhr Großbritanniens sind die Unterschiede zwischen der eigent¬
lichen Handelsstatistik und der Ergänzungsstatistik unbedeutend.
Der Schiffsverkehr hat sich im Jahre 1907 folgendermaßen gestaltet:
In deutschen Häfen sind angekommen:
Ans deutschen Häfen sind abgegangen:
In den Häfen des britischen Mutterlandes sind angekommen:
Aus den Häfen des britischen Mutterlandes sind abgegangen:
Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß es im Interesse beider
Länder geboten erscheint, für den ungestörten Fortgang der bedeutenden beider¬
seitigen Handels- und Verkehrsbeziehungen nach Möglichkeit Sorge zu tragen.
Bis zum Jahre 1907 stand Großbritannien an der Spitze aller Länder, mit
denen Deutschland Handelsbeziehungen unterhält, und erst im Jahre 1908 ist
es hinter den Vereinigten Staaten von Amerika zurückgeblieben. Der Gesamt¬
warenumsatz mit Großbritannien erreichte 1908 den Betrag von 1494,3 Millionen
Mark gegenüber 2037 Millionen Mark im Jahre 1907, während der Güterumsatz
mit den Vereinigten Staaten von Amerika 1907 einen Wert von 1971,5 Millionen
Mark und 1908 einen Wert von 1790,1 Millionen Mark hatte. In der Einfuhr
stand Großbritannien mit 9,1 Prozent der deutschen Gesamteinfuhr hinter den
Vereinigten Staaten (17,6 Prozent), dem europäischen Rußland (12,3 Prozent)
und Österreich-Ungarn (9,8 Prozent) an vierter Stelle; in der Ausfuhr nahm
es mit 15,6 Prozent die erste Stelle ein. Dabei ist jedoch zu beachten, daß
aus und über Großbritannien weit mehr Waren bezogen werden, als die deutsche
Einfuhrstatistik nachweist, weil ein großer Teil der in London, Liverpool usw.
gekauften Waren in überseeischen Ländern erzeugt oder hergestellt und daher
nach den bestehenden Vorschriften für diese angeschrieben wird; dies ist namentlich
der Fall bei Wolle aus dem Australischen Bunde und Neuseeland, bei Kautschuk
aus Brasilien usw. Für das Jahr 1910 ist in der deutschen Handelsstatistik
die Ausfuhr aus Großbritannien und seinen Kolonien und Besitzungen auf
1733 Millionen Mark dem Werte nach angegeben worden, das sind 19 bis
20 Prozent unserer gesamten Wareneinfuhr. Unsere Warenausfuhr nach Gro߬
britannien und seinen Kolonien und Besitzungen betrug 1393 Millionen Mark an
Wert und erreichte damit 18 bis 19 Prozent unserer gesamten Warenausfuhr.
Deutschland ist Englands bester Kunde in Europa, und der Verlust des
deutschen Marktes würde für die englische Volkswirtschaft geradezu verhängnisvoll
sein. Eine englische Zeitschrift, der Economist, schrieb darüber vor einiger Zeit
verständnisvoll: „Wir brauchen Deutschland als Kunden und Deutschland braucht
uns, und wenn es einer der beiden Nationen gelingen würde, die andere zu
benachteiligen, so würde sie selbst schwer darunter zu leiden haben." England
hat in der Tat allen Grund, mit der Entwicklung, die der deutsch-englische
Handelsverkehr in den letzten Jahren genommen hat, zufrieden zu sein, und
wenn in der englischen Presse seinerzeit der neue Zolltarif und die neuen
Handelsverträge Deutschlands als für den englischen Handel nachteilig bezeichnet
wurden, so haben die Ergebnisse des beiderseitigen Handels gezeigt, daß diese
Meinung völlig unzutreffend ist; der Handelsverkehr zwischen den beiden Ländern
folgte im wesentlichen den Bahnen, die die Weltwirtschaft überhaupt durchlaufen
hat: während das Jahr 1907 unter dem Einflüsse der angespannten Tätigkeit
aller wirtschaftlichen Kräfte stand, machte sich im folgenden Jahre der fast auf
allen Gebieten einsetzende Rückgang geltend; demgemäß weist auch der deutsch¬
britische Verkehr fast durchweg für 1908 geringere Zahlen auf als für 1907.
Die weitere Entwicklung ist bereits gekennzeichnet worden.
Ob und wann es zu einer endgültigen handelsvertragsmäßigen Regelung
der deutsch-britischen Handelsbeziehungen kommen wird, steht dahin; ebenso läßt
sich noch nicht absehen, ob und wann eine Besserung der deutsch-kanadischen
Handelsbeziehungen eintreten wird. Seit etwa einem Jahre ist wiederholt in
der Presse die Rede davon gewesen, es seien Verhandlungen zwischen Deutschland
und Kanada wegen des Abschlusses eines Handelsvertrages im Gange. Bei
Neuregelung des deutsch-britischen Zollverhältnisses würde sich eine geeignete
Gelegenheit bieten, zu einem besseren zollpolitischen Verhältnisse mit Kanada zu
gelangen. Die zukünftige Gestaltung des handelspolitischen Verhältnisses zwischen
den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada bieten einen doppelten Anlaß
dazu, auch diese Frage endgültig zu regeln; aus den interessierten Handels¬
und Jndustriekreisen sind dem Neichsamt des Inneren bereits verschiedene aus¬
führlich begründete Eingaben zugegangen, die auf die Notwendigkeit normaler
Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Kanada hinweisen.
Ist die Kunst des Maßhaltens schon für das Individuum eine schwere, so
scheint sie ganz und gar nicht von der Masse gehandhabt werden zu können.
Nichts ist weniger meßbar, schwieriger zu ergründen und zu beurteilen als die
kollektive Psyche. Sieht man das Treiben an der New Yorker Börse, wo
sprunghaft die Kurse in die Höhe eilen, beobachtet man den im Ausdrucke
gemäßigten, aber doch unbeirrten Optimismus unserer Jnlandsmärkte und ver¬
gleicht damit die verzweifelte Stimmung, die vor einigen Wochen in den Börsen¬
sälen herrschte, so fragt man sich zunächst vergebens nach den Gründen eines
so jähen Wechsels in Auffassung und Urteil. Die Erledigung der Marokkofrage
braucht gewiß nicht gering eingeschätzt zu werden, aber sie galt doch schon lange
vor ihrer tatsächlichen Beilegung als überwunden; die politische Konstellation
hat im übrigen eine Besserung — und gar eine solche, die Grund zu Freuden¬
feuern für die Börse abgeben könnte — durchaus nicht erfahren. Noch immer
ist die Welt völlig im Unklaren, wie das tripManische Abenteuer Italiens
endigen soll, welche Verwicklungen ernsthafter Natur es noch gebären, welche
Schädigungen von Handel und Wandel es noch herbeiführen wird. Schon
melden sich in Ägypten als direkte Folge des Tripoliskrieges die Vorboten
einer schweren Wirtschaftskrisis; große Insolvenzen, Geldknappheit, das Aus¬
bleiben des Fremdenstroms, schlechter Ausfall der Baumwollernte lassen eine
Katastrophe befürchten und haben die deutschen Konsulatsvertreter in Kairo und
Alessandrien veranlaßt, vor Kreditgewährung nach Ägypten zu warnen. Durch
die angedrohte Verlegung des Kriegsschauplatzes nach dem Ägäischen Meer
würden ähnliche krisenhafte Zustände unzweifelhaft für die ganze Levante herauf-
beschworen werden, Grund genug, die gegenwärtigen und die möglichen Folgen
des Krieges nicht zu gering einzuschätzen.
Auch die chinesischen Wirren haben bisher keinen für den Handel ermutigenden
Verlauf genommen. Ganz gegen alles Erwarten ist bereits die Einstellung des
Zinsendienstes für die russisch-französische Anleihe von 1895 angekündigt worden;
die Fremdenmassakres und die Kämpfe an den Hauptstapelplützen des aus¬
wärtigen Handels stellen der nächsten Entwicklung kein günstiges Prognostikon.
Also in den äußeren Verhältnissen des Weltlaufs ist kaun: ein Grund für eine
leichtherzige Zuversicht zu finden. Aber die Reaktion gegen das überwundene
Stadium des Kleinmuth ist stark genug, die Börse über alle Bedenken weg¬
zutragen, die sich dem Glauben an einen nachhaltigen Aufstieg noch entgegen¬
stellen könnten. Und dieser Glauben findet allerdings eine nicht abzustreitende
Basis in der augenblicklichen Gunst der Weltmarktlage in der Eisenindustrie.
Diese kommt zum unverkennbaren Ausdruck in der starken Steigerung der
deutschen Eisen- und Stahlausfuhr, die im Oktober wieder derart in die Höhe
geschnellt ist, daß nach den Rekordziffern des Juli dieser Monat die bedeutendste
Ausfuhr in der Geschichte der deutschen Eisenindustrie aufweist. Welchen Auf¬
schwung Produktion und Ausfuhr in der schweren Industrie genommen haben,
zeigt eine Begleichung der Oktoberzahlen für die Mehrausfuhr der drei letzten
Jahre: die Kurve geht von 296 000 über 375 000 auf 441 000 Tonnen.
Eine in der Tat ganz außerordentliche Steigerung, deren Bedeutuug für die
Industrie erst dadurch in das rechte Licht gerückt wird, daß gleichzeitig die
Preise in den letzten Wochen ein scharfes Anziehen offenbaren. In London
und Brüssel sind die Exportpreise für Stabeisen und Stahl in den verschiedenen
Sorten und ebenso für Halbzeug derart erhöht worden, daß nunmehr die seit
Juni eingetretene Preisaufbesseruug für Rohstahl sich auf 8 bis 9 Schilling für
die Tonne, also auf 10 Prozent beläuft. Diese Preisentwicklung spiegelt sich
natürlich auch auf den inländischen Märkten wieder: an der Düsseldorfer Montan¬
börse wie im Berliner Eisengroßhaudel wird der Aufwärtsbewegung ein kräftiger
Nachschub verliehen. Diese Zahlen trügen nicht; sie beweisen, daß auf dein
Weltmarkt, ungeachtet der kriegerischen Störungen, eine Nachfrage herrscht, stark
genug, um unserer Eisenindustrie die Unterbringung solch außerordentlicher
Produktionsmassen zu guten Preisen zu ermöglichen.
Dem entspricht denn nun auch die Konjunktur im Inland. Der sicherste
Gradmesser für dieselbe ist in dein Stand der Eisenbähneinnahnren gegeben.
Diese weisen aber in der preußisch-hessischen Gemeinschaft im Monat
Oktober eine Steigerung von 3,74 Prozent im Personen- und nicht weniger
als 6,2 Prozent im Güterverkehr auf. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß
die Einnahmen des letzteren durch die angeordneten Tarifermäßigungen für
Futter-, Ncchrungs- und Düngemittel eine erhebliche Beeinträchtigung erfahren
haben. Es tritt also mit ganz unzweifelhafter Klarheit zutage, daß die wirt¬
schaftliche Konjunktur nicht nur eine gesunde, sondern auch rasch ansteigende ist.
An dieser Tatsache war schon im Frühjahr dieses Jahres nicht zu zweifeln, nur
daß die vorhandene Überspekulation an der Börse und später die politischen
Verwicklungen dem Aufstieg starke Hemmungen bereiteten, ja sogar die Gefahr
eines Umschwunges hervorriefen. Ist doch von mehr als einer Seite bei den
starken .Kursrückgängen dieser wirtschaftliche Umschwung schon als eine voll
endete Tatsache angesehen worden! Und doch zeigt sich, daß die wirtschaftliche
Entwicklung stark und gesund genug war, selbst eine so gefährliche Krisis zu
überwinden!
Aus diesem Gefühl heraus erklärt sich der an der Börse zur Schau
getragene Optimismus, die geflissentliche Nichtbeachtung etwa noch vorhandener
Gefahren. Haben wir so schwierige Verhältnisse wie die des letzten Sommers
ohne Schaden überwunden, welche Nachteile sollen uns aus dem Pseudokrieg
im Mittelmeer erwachsen können? Ist nicht der Geldmarkt in günstiger Ver¬
fassung, zeigt sich nicht allenthalben wieder vermehrte Unternehmungslust, wie
sie in den Fusionsprojekteu der Eisenindustrie Aumetz-Mannstädt und Hösch-
Wittener Stahlröhrenwerke zutage tritt? — Alles das ist unzweifelhaft richtig,
und doch ist gerade vom Standpunkt der Börse ein großes Fragezeichen hinter
die Schlußfolgerung zu setzen, daß nunmehr ein unbesorgtes und lustiges Kurs¬
treiben beginnen könne. Man vergißt, daß die Kurse nach der inzwischen voll¬
zogenen Erholung bereits wieder ein Niveau erklommen haben, das auch die
günstigste Konjunktur des nächsten Jahres eskomptiert. Es besteht also die
Gefahr, daß die Börse den kaum gebüßten Fehler wieder begeht, durch eine
maßlose Haussespekulation sich selbst und vielleicht auch der Konjunktur das
Grab zu graben. Schon zeigt sich bei der Ultimoprolongation, wie sehr die
spekulativen Haussepositionen gewachsen sind; eine weitere Vermehrung müßte
bei der noch unsicheren politischen Lage trotz aller Gunst der Konjunktur un¬
mittelbar wieder zu kritischen Zuständen führen.
Einstweilen darf man über die günstige Situation des Geldmarktes auf-
richtige Befriedigung empfinden. Die Erleichterung ist eine internationale und
besonders deshalb allenthalben fühlbar, weil die fatale Geldnot in Paris sich
wieder in einen Überfluß verwandelt hat. Freilich wird der Strom des letzteren
einstweilen nur zögernd in das alte Bett nach Deutschland zurückgeleitet; aber
indirekt auf den Weg über London und Wien sind schon recht ansehnliche Beträge
wieder an den Berliner Markt gelangt und auch der unmittelbare frcundnachbar-
Uche Verkehr, kraft dessen Deutschland seine Wechsel in französische „Pension" zu
geben pflegte, beginnt sich wieder herzustellen. Hoffentlich beherzigt aber unsere
Finanzwelt die bittere Erfahrung, welche sie mit diesen ausländischen Guthaben
in dem verflossenen Sommer des Mißvergnügens hat machen müssen und mi߬
traut einer scheinbaren Flüssigkeit des Geldmarkts, die nur aus fremden, leicht
versiegbaren Quellen gespeist wird. Die fremden Gelder haben unzweifelhaft
dazu beigetragen, am offenen Markt den Rückgang der Zinssätze zu beschleunigen.
Der Satz für tägliches Geld hat sich in der letzten Woche auf einen Stand von
2 bis 2^2 Prozent bewegt, der Privatdiskont auf einem solchen von 4^ bis
4^/2 Prozent, und Schiebungsgeld stellte sich kaum teurer als der Reichsbanksatz.
Vermutlich wird daher auch das Institut am Monatsende nicht sehr erheblich
in Anspruch genommen werden, wenn auch die kleine steuersreie Reserve dabei
verloren gehen dürfte. Jedenfalls ist,amStandderNotenreserve gemessen, dieReichs-
bank für die Ansprüche des Jahreswechsels nicht sonderlich gerüstetund man darf billig
bezweifeln, daß der Monat Dezember ihr noch wesentliche Zuflüsse bringen wird.
Eine Überraschung — und zwar aus vielen Seiten eine wenig erfreuliche —
bot die Bekanntgebuug der Quotenbeteiligung am Kaligesetz, die von der staat¬
lichen Verteilungsstelle aufgestellt worden ist. Diese Verteilung ist eine abfällige
tatsächliche Kritik der früheren Quotenzuteilung des Kalisyndikats, bei der offen
von „Erpresserquoten" gesprochen werden konnte. Durch die neue Tabelle,
welche, nach Erledigung der Berufungen, für fünf Jahre lang Geltung haben
wird, sind ganz erhebliche Verschiebungen gegen die früheren Beteiligungen ein¬
getreten. Den Rahm schöpft der preußische Fiskus ab, dessen Quote sich von
54 auf 90 Tausendstel erhöht, ein Mehrbetrag, der die ganze Be¬
teiligung des anhaltischen Fiskus, des nächstbedeutenden Teilnehmers,
übertrifft und das Übergewicht Preußens im Kalibergbau zu einem
ganz erheblichen gestaltet. Dagegen haben beispielsweise die Sauergruppe
und Heldburg eine beträchtliche Herabsetzung der Betätigungsziffer erfahren, und
das gleiche gilt, wenn auch in geringerem Maße, von anderen Werken, so daß
die Zahl der Berufungen wohl eine recht große fein wird. Manche Werke
werden sich in ihren Rentabilitätshoffnungen stark enttäuscht sehen, bei vielen
mit schwachen Quoten bedachten wird die Neigung zum Anschluß an größere
Konzerne vermehrt werden. So wird aller Vermutung nach die Konzentrations¬
bewegung einen neuen Anstoß erhalten. Für die Neugründungen zeigt es sich
aber, daß in der amtlichen Einschätzung eine starke Korrektur spekulativer Über¬
schreitungen liegen kann, die von den Gründern wie von den Beteiligten und
Verantwortliche Schristletter: sür den politischen Teil der Herausgeber George CleinowSchöneberg, sür den
literarischen Teil und die Redaktion Heinz Amelung-Friedenau. — Mmmslriptfendungcn und Briefe werten
auSschlietzlich an die Adresse der Schriftleitung Berlin SV/. 11. Vernburger Strasze Wa/23, erbeten. — Sprechstunden
der Schrtftleitung: Montags 10—12 Uhr, Donnerstags 11—1 Uhr.
Verlag: Verlag der Wren,t>oder G.in.b.H. in Berlin SV. 11.
Stellennachweis.Pommern.
677. Erzieherin, gepr., co., 1. 1.12, Pommern.
L7S. Erzieherin, co,, jung. (aus., engl., franz.), 1. 1. 12,570. Erzieherin, °v., gepr., 1. 1. 12 (Frz. K. erw.).
(Aus der Tages- und Fachpresse.)
Anfragen zu richten unter Beifügung von Rückporto an
die Geschäftsstelle der Grcnzvotcn, Berlin SV. 11.Altmark.
6SS. Erzieherin, »ins. (Sprachkennt.), 1.1.12, f. 11 jähr.
H.. Kür Akademiker.Mädch., Pommern.
K81. Lehrerin, co., gepr., in»s., f. » Mädch., I. 1. 12,
Thüringen.
K8K. Erzieherin n. Lehrerin zugleich f. 0V-i"hr. Mädch.,57S. 1. Biirgcrmcistcr, bald (12000 M.), Wests.
S82. c-nil. plin. -i>. tlieol. f. 2—ü Sed. tagt. s. Oder-Hannover.
KS7. Erzieherin, co., in»s., sira eng., franz., 1.1.12.,tert., Pommern.
K8K. Hauslehrer, ers. alt., der Studium vcendet hat,
s. Sextaner, Schlesien.
6Si. I. Beigeordneter,hult(12000—1K000M.), Rheinl.Schlesien.
K88. Erzieherin, co., aus., s. gjähr. Mädch., 1.1.12.,
g. Für Damen.
W7. Erzieherin, 1. 1.12, gepr., co., Pommern.Mecklbg.
58S. Erzieherin, aus., co., gepr., 1. 1. 12, Schlesien.
M2. Erzieherin, co., mus., 1 1.12., Schlesien.
KS3. Erzieherin, co., gepr.. 1.1. 12., Posen.
ir wenden uns zur Lage unserer jüdischen Mitbürger; so nenne
ich sie, denn die Verfassung kennt kein jüdisches Volk inmitten des
deutschen Volkes, sondern nur Staatsbürger jüdischen Glaubens.
An der jüdischen Religion hat der preußische Staat bisher die
schwersten Unterlassungssünden begangen. Es ist nicht wahr, daß
unsere jüdischen Mitbürger überall Religionsfreiheit in dem Sinne hätten, daß
sie die Möglichkeit besäßen, die zur Erhaltung einer Religionsgemeinschaft
erforderlichen Einrichtungen und Ämter zu haben. Der preußische Staat, un¬
ähnlich dem württembergischen und badischen, ist den Juden bis heute jede
zusammenfassende Organisation schuldig geblieben, in der die schwächeren Glieder
Rückhalt finden könnten, und die verantwortlich wäre für den Religionsunterricht
des jüdischen Nachwuchses. Alles, was in dieser Beziehung besteht, ist frei¬
willige Leistung jüdischer Bruderliebe. Sie ist groß. Aber sie kann nicht ver¬
hindern, daß Hunderte und Tausende mangels eines verbindenden religiösen
Gemeinschaftslebens, mangels eines regelmäßigen Religionsunterrichts in volle
Religionslosigkeit versinken. Seit Jahrzehnten schweben darüber Verhandlungen,
ob sie jemals zum Ziele kommen? Aber was will diese Vernachlässigung besagen
gegen den fortgesetzten religiösen Druck, dem die Juden persönlich ausgesetzt
sindt Es handelt sich um vierhunderttansend Personen, die zum guten Teile
der Oberschicht angehören. Aber sie sehen ihre Söhne, die Lust und Begabung
^dem, in den Staatsdienst zu treten, vor fast lauter verschlossenen Auren,
^hre Töchter gelten für unwürdig, einen Offizier oder Beamten oder gar einen
Adligen zu heiraten. Sprache sich hierin ein Urteil über die Unverträglichkeit
germanischer und jüdischer Nasse aus, so würde darin wenigstens keine Ver-
letzung der religiösen Gewissensfreiheit erblickt werden können. Aber es ist
nicht so. Es ist nicht die Rasse, es ist die Religion, um derentwillen dieser
Druck geübt wird. Den Beweis liefert die Taufe. An den: Tage, wo der
chnstliche Taufschein präsentiert werden kann, öffnen sich alle bisher ver¬
schlossenen Türen; können Söhne alle Stufen der Beamtenlaufbahn erklimmen
und den Rock des Offiziers anziehen, sind die Töchter würdig, Offizieren,
Geheimräten und Grafen die Hand zu reichen; hindert nichts mehr, den
Adelsbrief zu erlangen. Bedeutet das nicht, daß der Staat die Juden zum
Übertritt einladet und verlockt?
Geht dies die evangelische Kirche und ihre Diener nichts an? Selbst wenn
sie sich auf den Standpunkt stellten: Da siehe du zu! — und Dissidenten und
Juden sind ja wohl nicht so schwach und einflußlos, um nicht einmal eine
Änderung dieser Verhältnisse zu erzwingen, — sie werden wollend oder nicht
wollend in diese Dinge hinein gezerrt und für diese Praxis des Staates
verantwortlich gemacht, ohne ausweichen zu können.
Wir stehen noch unter dem Eindruck der regen Agitation, die Arthur
Drews entfesselt hat, und die die Kreise der Freidenker und Freireligiösen auf¬
genommen haben. Da sind viele evangelische Geistliche in die Lage gekommen,
in öffentlichen Versammlungen Rede zu stehen und mit den Leuten zu dis¬
putieren, die sich dieses Fündlein zu eigen gemacht hatten und damit die Un¬
verständigen und zu eigenem Urteil nicht Fähigen aufsetzten. Nun, wie pflegten
denn die Sachen zu laufen? War es nicht überall so, daß dem Kampf um
die Christusmythe eben dies mit zündender Wirkung beigemischt wurde: die
tausenderlei Erfahrungen gefesselter und gekränkter Gewissensfreiheit? Die Ver¬
teidiger des historischen Christentums mochten sagen, was sie wollten, mochten
die besten sachlichen Gründe auf ihrer Seite haben, — sowie einer verstand,
die Behandlung der Dissidentenkinder in der Schule, die Versagung der Be¬
stätigung von Dissidenten für Ämter der Selbstverwaltung, die Bedrückung frei¬
religiöser Gemeinden aufs Tapet zu bringen, sowie dies Verhalten des „christ¬
lichen Staates", diese Praxis, „um dem Volke die Religion zu erhalten", in
die Versammlungen hineingeworfen wurden, so hatten sie verloren, so standen
sie da als Anhänger einer schlechten Sache, als Angeklagte. Und für alle
Schwankenden und Umreisen war damit die Frage entschieden, sie mußten
Unrecht haben. Denn was kann eine Sache wert sein, die sich solcher Stützen
bedient?
Aber viel peinlicher noch wird die evangelische Kirche durch die Lage der
Juden berührt. Ich stehe durchaus nicht auf dem Standpunkte, daß Juden,
die zur christlichen Kirche übergehen, ein Makel anhafte. Ich habe Proselyten
in die christliche Religion eingeführt, bei denen ich erleben und erfahren durfte,
daß, was sie trieb, Überzeugung und inneres Verlangen nach voller Heimat¬
berechtigung in der religiösen Welt war, aus der Luther und Bach, Kant und
Goethe stammen. Wo solche Motive wirksam werden, haben wir sie zu achten
und dienen ihnen gerne. Aber wer kennt die Fälle nicht, da jüdische Väter
und Mütter kommen: Herr Pfarrer, mein Sohn möchte gern studieren, und.
um ihm Unannehmlichkeiten zu ersparen, möchten wir ihn laufen lassen. Oder
jene Offiziere und Regierungsbeamte: Ich habe mich mit einem jüdischen Mädchen
verlobt, und Sie wissen, ich kann nicht Offizier bleiben, oder ich habe Schwierig¬
keit in meiner Karriere, wenn meine Braut sich nicht taufen läßt. Wozu dann oft
genug noch die Bitte kommt, ihnen diesen Schritt nicht zu erschweren und die Sache
so schnell wie möglich abzumachen. Besonders hart ist mir einmal der Fall
einer jungen Oberlehrerin gewesen, deren ganzes Herz an ihrem Berufe hing
und in dem Konflikt, entweder auf diesen Beruf verzichten zu müssen oder die
Taufe anzunehmen, obgleich sie keine religiösen Bedürfnisse hatte, fast zerrieben
wurde. Man denke doch, wie die evangelischen Geistlichen dann dastehen!
Zwingt sie der Staat nicht, als reine Formsache und leere Zeremonie zu
behandeln, was doch Überzeugung und ernster Entschluß sein sollte? Oder
hätten sie die Freiheit, Nein zu sagen? Sie haben sie um den Preis einer
ungeheuren menschlichen Härte; sie haben sie nur in der Theorie. Wie viele
vornehmste adelige Familien, wie viele Offiziere und hohe Beamte müssen im Stillen
Gott danken, daß die Pfarrer bereit waren, die Taufe und den Übertritt nicht ernst zu
nehmen, nicht von der Überzeugung abhängig zu machen, sondern als Formsache zu
behandeln. Es macht dabei keinen Unterschied, ob man das Apostolikum fordert oder
nicht. Der Täufling, der vor der Hochzeit steht, oder dem ein befriedigender Lebens¬
beruf winkt, sagt zu allem Ja. Man kann wohl versuchen, die Form mit
etwas Inhalt zu erfüllen, man kann auch in solchen Fällen zarter und feiner,
oder oberflächlicher und mechanischer verfahren. Ich habe nie verstanden, wie
Pfarrer ohne längeren Unterricht taufen konnten. Aber es bleibt dabei, der
Staat zwingt sie. eine heilige ernste Sache zur leeren Form zu machen. Er
Zwingt sie, auf ein Verlangen einzugehen, das nicht Verlangen nach Taufe
oder religiöser Heimat ist, sondern lediglich Verlangen nach dem Taufschein.
Wem die Religion eine ernste Sache ist, der muß das als eine Entwürdigung
der Stellung und des Amtes eines evangelischen Pfarrers, ja noch mehr: als
em Spiel mit dem Namen Gottes empfinden.
Aber was bei den Juden wie bei den Dissidenten so besonders grell
und deutlich ans Licht tritt, wiederholt sich ja hundertfältig innerhalb
der zur evangelischen Kirche gehörigen Bevölkerung, nämlich dies: wir
haben in Preußen keine religiöse Freiheit, denn religiöse Freiheit ohne
die Freiheit, den Dienst der Kirche zu verschmähen, ist sinnlos. Für Tausende
von Protestanten ist die Frage: sollen wir unsere Kinder taufen, konfirmieren
und am Religionsunterricht teilnehmen lassen, sollen wir uns trauen
lassen, soll der Pfarrer mit zu Grabe gehen? überhaupt keine Frage mehr, die
ernsthaft überlegt wird, sondern es ist standesgemäß, es ist durch die Verhält¬
nisse geboten; — die kirchliche Handlung ist wiederum eine leere Form. Man
Seht zum Pfarrer, wie man zum Standesbeamten oder zum Jmpfarzt geht, in
Erfüllung einer selbstverständlichen Pflicht, die absolviert werden muß. Die
innere Stellung, auch die des Pfarrers, kommt nicht in Betracht. Es handelt
sich eben gar nicht um innerliche Angelegenheiten, sondern um Ordnung und
bürgerliche Korrektheit. Wie könnte ein Staatsbeamter, ein Oberlehrer, ein
Reserveoffizier wagen, in dieser Beziehung inkorrekt zu sein? Ist doch sogar
schon einem Universitätsprofessor einmal ein Strick daraus gedreht worden.
Ganz besonders kleinlich wirkt in dieser Beziehung auch der vielerorten noch
bestehende Parochialzwang, der die Bewohner einer Ortsschaft oder eines Stadt¬
teiles an einen bestimmten Pfarrer bindet, ganz gleich, ob dieser das Vertrauen
der betreffenden Personen besitzt oder nicht. Wir haben in Preußen sogar —
es ist ein fast lächerlicher Zustand — eine Stadt, durch die mitten hindurch die
landeskirchliche Grenzlinie geht, so daß die Bewohner des einen Stadtteiles zu
einer anderen Landeskirche gehören wie die der anderen. In den beiden Landes¬
kirchen bestehen verschiedene Gottesdienstordnungen und Katechismen; ja auch das
Bekenntnis ist verschieden. Zieht also in den Grenzstraßen jemand von einer
Straßenseite auf die andere, so wechselt er nichtsahnend sein Bekenntnis, und
geht er nun nach einiger Zeit zu dem Pfarrer, mit dem er vielleicht durch
jahrelangen Zusammenhang vertraut war, um ihn um irgend eine geistliche
Funktion zu bitten, so erfährt er mit Staunen, daß dieser nicht mehr das Recht
hat, ihm zu dienen, mit noch größerem Staunen, daß er nunmehr — über
Nacht — lutherisch oder reformiert geworden sei.
Vor Jahren habe ich einmal in einer kirchlichen Zeitschrift, der „Christlichen
Welt", aus der geringen Zahl der Taus-, Konfirmations- und Trauversäumnisss
den Beweis zu führen gesucht, daß die Kirche bei uns immer noch Volkssache
ist. Diese Zahlen haben mich seitdem oft beschäftigt. Ich gestehe, ich sehe sie
heute sehr anders an. Ich finde sie schrecklich, nicht weil sie sich inzwischen
wesentlich verändert hätten (abgesehen von Berlin), sondern weil sie so niedrig
geblieben sind. Diese Zahlen offenbaren, wie unser Volk zur Taufe, Trauung
und Konfirmation steht, nämlich vollständig gedankenlos. Diese Zahlen dürften
nicht so niedrig sein, wenn sie als Beweis noch bestehenden Zusammenhanges
mit der Kirche gelten sollten. Daß auf der einen Seite die Unkirchlichkeit in
der Teilnahme am Gottesdienst so groß ist, der Atheismus so furchtbar anschwillt,
jeder noch so niedrige und rohe Angriff auf Christentum und Kirche bei Tau-
senden ein Echo findet, und auf der anderen Seite doch fast alle Leute taufen,
konfirmieren, trauen lassen, ist ein Widerspruch, dessen Erklärung darin liegt:
man tut das nur, weil man muß, aus Scheu vor Nachteilen und Chikanen.
Am härtesten, weil am unausweichlichsten, wirkt hierbei der Zwang zur
Teilnahme am Religionsunterricht in der Staatsschule. Es sind ja nicht nur
die Dissidenten, die gegen diesen Zwang streiten, es sind viele durchaus religiöse
Eltern, die in diesem obligatorischen Unterricht kein geeignetes Mittel sehen,
ihren Kindern die Religion lieb und wert zu machen. Aber sie können diesem
Zwange nicht entrinnen.
Wie anders in England! Daß in England das Christentum Volksreligion
ist, viel tiefer greifend als bei uns, das sollte niemand wegdispntieren. Und
doch wachsen in England die Kinder heran, ohne jeden Zwang zur Teilnahme
am Religionsunterricht und zur Konfirmation, nimmt niemand Anstoß an Be¬
gräbnissen ohne geistliches Geleit, gibt es keine Kontrolle der Trauung (sie ist
bei den dortigen Verhältnissen geradezu unmöglich). Dort sind Taufe, Konfir¬
mation, Trauung, was sie eigentlich sein sollen, religiöse Handlungen, die der
nachsucht, der danach verlangt, deren Wirkung sich darauf beschränkt, dem Herzen
und Gemüt etwas mitzugeben. Bei uns ist das alles verrechtlicht, es sind
schwerwiegende Staats- und kirchenrcchtliche Folgen daran geknüpft. Schon die
zopfige Beurkundung erweckt den Schein, als ob diese Handlung noch etwas
anderes bezweckte, wie eine religiöse Wirkung, als ob ein öffentlicher Akt vollzogen
werden sollte, der seinen Wert auch dann hat, wenn die Seele dabei bis zum
Grunde kalt und gleichgültig geblieben ist.
Ich führe aus einen: tüchtigen modernen „Kirchenrecht" ein paar Sätze an,
um dies zu belegen: „Als ordentliche Bestandteile des Taufaktes sind in den
Agenten regelmäßig vorgesehen: (Folgen die einzelnen Stücke.) . . . Wesentlich
sind von diesen einzelnen Handlungen, so daß, wenn sie fehlen oder unvollkommen
vollzogen werden, eine Taufe überhaupt nicht vorliegt, aber nur zwei: das
Begießen des Täuflings mit Wasser und das Aussprechen der trinitarischen Tauf¬
formel bei dieser Handlung; alle übrigen sind für dogmatische Bedeutung und
rechtliche Gültigkeit des Taufaktes unwesentlich." Dazu die Anmerkung: „Wesentlich
ist nur die Nennung der drei Personen der Trinität in einer Verbindung, die
auf ihre Einheit hindeutet, und die Erklärung, daß es sich um einen Taufakt
handelt. Also eine gültige Taufe würde auch vollzogen werden mit den Worten:
N. N., ich erteile dir die Taufe im Namen des Vaters, des Sohnes, des heiligen
Geistes. ... Ob der Taufende an die Trinität glaubt oder nicht, ist irrelevant.
Es ist nach evangelischer Auffassung überhaupt gleichgültig, was der tausende
Geistliche mit der Vollziehung der Taufe bezweckt, indem nach evangelischer
Auffassung die Kraft des Sakraments lediglich davon abhängt, daß es der Ein¬
setzung Christi gemäß verwaltet wird. Diesem Erfordernis ist aber genügt, wenn
der Geistliche das Sakrament in der von der Kirche vorgeschriebenen Form
spendet, denn indem er als Organ der Kirche in dieser Form handelt, wird
durch seine Handlung stets der Erfolg herbeigeführt, den die Kirche durch sie
herbeigeführt wissen will." Oder: „Die Trauung ist Anerkennung der Ehe¬
schließung als einer christlichen durch die Kirche oder, was dasselbe bedeutet,
kirchliche Legitimation der Ehe. Die Nachsuchung der Trauung ist eine kirchliche
Pflicht, die jeder Angehörige der Kirche, der eine Ehe schließt, wie jede andere
Rechtspflicht ohne Rücksicht auf sein religiöses Bedürfnis zu erfüllen hat." Und
diesen Theorien entspricht die Praxis. Hat doch der Senat der Freien Stadt
Bremen die Taufen eines Pastors ohne trinitarische Formel für ungültig erklärt,
die Württembergische Kirchenregierung die Eintragung der Taufe eines Kindes
in das Kirchenregister versagt, well die agendarische Ordnung verletzt war, das
Nassauische Konsistorium entschieden, daß ein Glied einer streng christlichen Sekte,
die die Kindertaufe ablehnt, als umgetauft nicht kirchlich getraut werden dürfe.
So-überwuchert die Form den Inhalt, schiebt das Recht die Gesinnung beiseite.
Wird die Religion dadurch nicht um allen Ernst gebracht, wird sie nicht zum
Spiel und zur Attrappe?
Aber das alles, wird man einwenden, sind peripherische Dinge, es trifft
nicht die große Masse, den Kern der evangelisch Geborenen, die auch heute noch
in der evangelischen Kirche bleiben und in ihr irgendwie, inniger oder loser,
eine geistliche Heimat haben wollen. Um ldiese ist es uns allerdings zumeist
zu tun. Sind sie im Besitz einer ungeschmälerten Gewissensfreiheit?
Vergegenwärtigen wir uns, von wie mannigfaltigen Denk- und Empsindungs-
weisen diese Masse erfüllt ist. Die Reformation hat ihre Söhne und Töchter
sozusagen nackt und ungedeckt durch eine schirmende priesterliche Obrigkeit in die
Welt hinausgestellt und ihnen die Aufgabe mitgegeben, selbst mit Wind und
Wetter fertig zu werden und ihre Frömmigkeit mit den wechselnden geistigen
Strömungen des Lebens auseinanderzusetzen. Ob dies die bewußte Absicht der
Reformation oder nur eine Folge ihres Bruches mit der katholischen Kirche
gewesen ist, kann uns gleichgültig sein. Jedenfalls ist es seitdem die Ehre und
die Lust des protestantischen Glaubens gewesen, sich in immer neuem Ringen
inmitten der Welt zu behaupten. Der Protestantismus hat jetzt eine Geschichte
von vier Jahrhunderten hinter sich. Man sagt: er ist so jung, daß er gleichsam
noch in den Kinderkrankheiten steckt. Aber darüber darf nicht übersehen werden,
daß diese vier Jahrhunderte eine Fülle von tiefsten Erlebnissen und Wandlungen
in sich schließen. Im Laufe dieser Zeit ist die protestantische Frömmigkeit immer
neue Verbindungen und Vermischungen eingegangen, hat sie sich zur lutherischen
Orthodoxie, zum Presbyterianismus, zum Pietismus, zum Nationalismus, zur
idealistisch-ästhetischen Lebensanschauung, zur Romantik ausgewachsen. Und Gott
sei Dank! ihre Lebenskraft ist noch nicht erstorben, sie ist eben im Begriff,
sich mit den Gedankenkreisen des Sozialismus zu verbinden und die Welt¬
anschauung der modernen Naturwissenschaft christlich umzubilden. Zu einem
richtigen Verständnis der Gegenwart gelangt man nun nur so, daß man sich
dies zeitliche Nacheinander als ein räumliches Nebeneinander vorstellt. Alle
diese Entwicklungsphasen sind lebendige Größen und Gestalten unserer Gegen¬
wart, existieren innerhalb des protestantischen Volkes von heute nebeneinander.
Wir haben noch heute lutherische Orthodoxe, die unbeirrt von aller Erweiterung
des geistigen Horizontes seither am Weltbilde und Geschichtsbilde des sechszehnten
Jahrhunderts festhalten und es ruhig ihren Theologen überlassen, ob und wieweit
sie dies mit der Wissenschaft der Gegenwart ausgleichen können. Wir haben
echten und abgemilderten Pietismus, der aller modernen Entwicklung in Technik,
Politik, Kunst und Wissenschaft scheu und verschlossen gegenübersteht, und dessen
Kraft gerade in dieser Zurückhaltung besteht. Wir haben ungezählte Rationalisten,
denen das Christentum Tugendlehre und Vergeltungsglaube, Gewissensfreiheit
und Menschenliebe ist und weiter nichts. Wir haben eine Bildungsreligion,
der das geschichtliche Evangelium nur ein Bild und Symbol ewiger Wahr¬
heiten und Werte ist neben andern. Wir haben Romantiker, deren Sehnsucht
nach einer Erneuerung des alten Kultus mit seinen reichen Andachtsmöglichkeiten
und der alten Autoritätsverehrung ausgreift. Nicht zu vergessen, daß auch von
außen her, durch die Einflüsse des Jndependentismus und Methodismus die
Frömmigkeit eines großen Volksteiles ihr eigenes Gepräge empfangen hat, und
daß unterhalb all dieser Arten von Protestantismus noch ein naturwüchsiger
Volksglaube an krasse Wunder, an die Wirkung heiliger Zauberformeln und
Handlungen, an Besprechungen und Zukunstsdeutungen in christlichen Formen
fortlebet.
Man kann sich diese Mannigfaltigkeit gar nicht groß genug denken. Ich
bestreite nun natürlich nicht, daß auch unter dieser Masse eine Einheit besteht. Dafür
sorgt die Lutherbibel und das Kirchenlied, das Unser Vater und die Taus- und
Trausitte. Auch ist ein Grundstock gemeinsamer Gedanken und Stimmungen
vorhanden. Irgendwie ist doch aller Blick auf Jesus gerichtet, sind alle anti-
katholisch. Aber wer daraus schnellfertig eine Gesinnungseinheit macht, mi߬
braucht dies edle Wort. Was ich behaupte, ist, daß diese in der Mannigfaltigkeit
enthaltene Einheit nicht hinlangt zur Kirchenbildung und zur Erhaltung großer
religiöser Gemeinschaften. Diese brauchen einen tragfähigeren Grund und
ein festeres Band. Eine einigermaßen soziologisch geschulte Betrachtung zeigt
uns, daß alle Kirchen seit der Reformation hervorgegangen sind aus viel tiefer
greifenden und reicheren Gemeinsamkeiten. Aus gemeinsamer Auffassung von
Lehre und Geschichte, aus gemeinsamen Verfassungs- oder Kultusidealen, aus
gemeinsamen sozialen Zielen, aus gemeinsamer Verehrung schöpferischer Personen,
aus gemeinsamen Nöten und Leiden z. B. unter politischem Druck. Erst wo
solche Motive wirksam werden und mit ihrer Macht alle daneben vorhandenen
Differenzen verschlingen, erst da entstehen religiöse Gemeinden und Kirchen¬
bildungen, erst da ist die Möglichkeit gemeinsamen religiösen Erlebens, gemein¬
samen Gottesdienstes, gemeinsamen Handelns, kurz die Möglichkeit charaktersoller
Eigenart und Entwicklung gegeben.
Beherzigen wir dies, so muß es uns als ein unbegreifliches Unterfangen
erscheinen, eine so in sich verschiedene Masse von einundzwanzig Millionen an
dieselbe Art Verfassung, dieselbe Gottesdienstordnung, dieselbe Norm zu binden
und ihnen eine gleiche Stellung zu sozialen Problemen aufzuzwingen. Das
kann um keinen anderen Preis durchgeführt werden, als um den fortwährenden
Verzichts auf Charakter, Überzeugung und Energie des Handelns.
Und doch ist dies die Stellung des preußischen Staats. Der preußische
Staat hat ein Organ aus sich herausgesetzt und mit dem Monopol der evan¬
gelischen Gemeindebildimg ausgestattet: das landesherrliche Kirchenregiment. Dies
Kirchenregiment ist die einzige Instanz, die evangelische Gemeinden bilden kann.
Und — es ist fast unbegreiflich — auch es bedarf dazu noch in jedem einzelnen
Falle der Mitwirkung einer rein staatlichen Behörde. Eine Gemeindebildung
von unten her, ohne Genehmigung des landesherrlichen Kirchenregiments, ohne
Anerkennung der vou ihm aufgestellten Normen, ist verboten. Wohl können die
einzelnen austreten und dann einen religiösen Verein bilden unter der Lebens¬
behinderung, wie ich sie oben geschildert habe, aber sie sind für den Staat dann
Dissidenten, nicht evangelische Christen, und ihre Gemeinde entbehrt aller der
Sicherungen und Schutzwehren, die die landeskirchliche Gemeinde besitzt.
Wir sind das einzige Land der Welt, in dem ein solches Monopol noch
besteht. Daß in England mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Gemeinden
lebt, die aus eigener Initiative, von unten her, gebildet sind, daß deren
Gliedern auch nicht der geringste staatsbürgerliche Nachteil erwächst, daß ihre
Organisationen, ihre Diener, ihre Gebäude in allen öffentlich rechtlichen Beziehungen
denen der Limren ol Lu^lana gleichgestellt siud, ist bekannt. Weniger vielleicht,
wie leicht selbst innerhalb der Kirche von England jede Privatperson Kirchen
bauen und Geistliche berufen kann, freilich unter äußerer Anerkennung des
Lomrnon Präger Look, aber eben doch mit einer herrlichen Freiheit in der
Gestaltung des Gottesdienstes und der sozialen Betätigung. In Holland aber
und in den nordischen Reichen ist das Monopol der Staatskirche durch blühende
Freikirchen, durch Freigemeinden, Wahlgcmeinden, Grundtvigianismus und
Innere Mission (die dort etwas anderes bedeutet als bei uns) längst durch¬
brochen. Nur in den deutschen Staaten behauptet die Landeskirche noch dies
Monopol der Bildung evangelischer Gemeinden in der Form, daß sie die evan¬
gelische Kirche des Landes ist, die zu ihr gehörigen Gemeinden die evangelischen
Gemeinden des Staatsgebietes darstellen.
Der Staat behandelt hierbei die evangelische Kirche genau so wie die
katholische, ohne auf den Wesensunterschied zwischen beiden Rücksicht zu nehmen.
Wie er als katholische Gemeinden nur die anerkennt, die sich mit der Hierarchie
in Einklang finden (abgesehen von einem leisen Schwanken gegenüber den alt¬
katholischen Gemeinden nach dem Vatikanum), so gewährt er die Privilegien
einer evangelischen Gemeinde nur denen, die das landesherrliche Kirchenregiment
als solche beglaubigt. Und doch ist diese Haltung dort und hier vou sehr ver¬
schiedener Bedeutung. Wenn der Staat von den katholischen Gemeinden die
Unterwerfung unter die Hierarchie verlangt, so behandelt er sie nach deren
eigenem Lebensgesetz, nach einem Gesetz, das sie als katholische Christen kraft
ihrer Religion verpflichtet. Für die evangelischen Gemeinden aber gibt es kein
göttliches Kirchenrecht, keine im Glauben begründete Verfassung, keine moralische
oder religiöse Pflicht zur Unterordnung unter das landesherrliche Kirchcn-
regiment. Wie kommt also der Staat dazu, die Anerkennung einer evan¬
gelischen Gemeinde an diese Bedingung zu knüpfen? Das ist ein viel weiter
gehender Eingriff in ihre Freiheit, als sich ans Rücksichten der Staatswohlfahrt
rechtfertigen läßt.
Wie verhängnisvoll dieses Monopol wirkt, das haben ja nun wieder ein¬
mal die Vorgänge dieses Sommers gezeigt. Der einzig natürliche Weg war
verschlossen: der Weg der Bildung einer neuen evangelischen Personalgemeinde
in Köln. Aber was hier einmal ans Licht getreten ist, das ist derselbe drückende
Notstand, der an hundert anderen Orten herrscht. Keineswegs nur an solchen,
wo freie oder moderner gerichtete Protestanten unter einer allein herr¬
schenden Orthodoxie seufzen, wie das z. B. vom Wupverthal der einzige im
Jathoprozesse vernommene Zeuge, Landtagsabgeordneter Dr. Hintzmann. bezeugt
hat. Ähnliche Verhältnisse bestehen an vielen Orten. Natürlich, persönliche
Tiefe und Güte kann auch sie erträglich machen; wahre, warme Menschlichkeit
läßt auch über die größeste theologische Einseitigkeit und Wunderlichkeit hinweg¬
sehen. Aber solche Menschlichkeit ist nun einmal nicht Vielen gegeben, und, wo
sie fehlt, wird die Bindung an den von der Mehrheit der Minderheit auf¬
gezwungenen Pfarrer zur Bedrückung. Wir müssen durchaus auch an
unsere Altgläubigen und ihre Beschwerden denken. Ehe der Fall Jatho
in sein letztes Stadium getreten war, zu einer Zeit, als die Kirchen¬
behörde durch ihr Vorgehen einem feinen Empfinden noch nicht unmöglich gemacht
hatte, Jatho anzugreifen, habe ich den Satz niedergeschrieben: „Lebte ich in
Köln, so würde ich als evangelisches Genieindeglied mir Jatho nicht gerne zu
meinem und meiner Kinder Seelsorger erwählen." Je mehr ich seitdem von
Jatho gelesen habe, desto weniger vermag ich diesen Satz zurückzunehmen. Und
nun frage ich mich: Wenn ich, der ich doch durchaus in der modernen Theologie
meine Heimat habe, einen so starken Widerspruch empfinde, — wie kann man
dann von einem Altgläubigen verlangen, daß er es nicht als eine unerträgliche
Zumutung ansehe, mit einem Manne dieser Denkart zusammen in einer reli¬
giösen Gemeinde zu leben? Oder ein anderes Beispiel. Einer der bekanntesten
und bedeutendsten Führer der Bewegung für evangelische Freiheit, Pfarrer
Trcmb in Dortmund, hat soeben ein Schrift geschrieben über „Staatschristentum
oder Volkskirche". Diese Schrift enthält sehr viel Beherzigenswertes, auch sehr
viel religiös positives Gut. Bei näherem Zusehen erkennt man leicht, daß der
Verfasser durchaus auf dem Grunde des ethischen Optimismus steht, der im
Evangelium seine sieghafteste Gestalt gewonnen hat. Aber am Anfange der
Schrift, gleich auf der ersten Seite, stehen folgende Sätze: „Was glaube ich?
Vor mir liegt das sogenannte Apostolische Glaubensbekenntnis. Ich lehne dieses
Bekenntnis der katholischen Reichskirche als mein Glaubensbekenntnis vollständig
ab. Ich höre das Wort vou der Dreieinigkeit. Ich benutze es nie. Man
hält mir die sogenannten Heilstatsachen (Jungfrauengeburt, Auferstehung, Himmel¬
fahrt) entgegen. Ich kenne nur geschichtliche Tatsachen, zu deren geduldiger
Erforschung uns der Geist des Verstandes gegeben ist und in welchen wir das
Walten eines allumfassenden Geistes ahnen. Heilstatsachen, wie sie sich die
Theologie zurechtgelegt hat. sind mir fremd. Man erinnert mich an die Sakra¬
mente. Ich feiere keine Sakramente, sondern freue mich an Feierstunden
seelischer Stille." Das sind Sätze, die viel mehr als die Jathos, die Durch¬
schnittsmeinung der modernen Theologie widerspiegeln. Können wir es dann
aber nicht verstehen, daß vieler Altgläubiger Herzen bluten, wenn sie so etwas
lesen, daß nicht der Fanatismus, sondern das Gewissen sich sträubt, Theologen
der Art als Sprecher der Gemeinde anzunehmen, zu der man gehört?
Aber es ist vielleicht kein Zeichen von Tiefe, daß wir diese Not gerade
nur in den Fällen erkennen, wo es sich um verschiedene Arten des religiösen
Denkens handelt. Dieselbe Not ist es doch schließlich gewesen, die in dem
tapferen Kampfe der Altlutheraner wider die Agende von 1821 ihren Ausdruck
fand, — dem Kampfe für ein eigentümliches Kultusideal wider das Monopol
des Kirchenregimentes, die Gottesdienstordnung zu bestimmen. Und das
Schlimmste und Bielersee ist, daß dies Monopol die Bildung christlich-sozialer
Gemeinden unmöglich gemacht hat. Im Vergleich hiermit wiegt der Fall Jatho
leicht. Ein Blick auf die englische Arbeiterbewegung mit ihrem starken reli¬
giösen Einschlag zeigt uns, welch' unsagbarer Schaden unserer vaterländischen
Entwicklung durch den Mangel an Religionsfreiheit zugefügt ist.
Unter diesem Drucke des Staates, unter der Herrschaft dieses Monopols
ist jede gesunde kirchliche Initiative in der protestantischen Bevölkerung verkümmert
und erstorben. Aber wie? Was im sechszehnten Jahrhundert hundertfach geschehen
ist, unter den denkbar schwierigsten politischen Verhältnissen, in einem armen
Volke, unter dem Mangel staatsbürglicher Rechte und verbindender Verkehrs¬
mittel, was heute noch hundertfach in der Diaspora geschieht, eine solche Bildung
von Gemeinden von unten her, das sollte nun unmöglich sein, in einer Zeit,
da unser Volk gewöhnt und geschult ist, für alle möglichen Zwecke Vereine zu
bilden und Versammlungen zu halten? Woher kommt dieser furchtbare Un¬
glaube? Nein, es liegt nur an dem Drucke des Staates, daß das nicht möglich
ist. In dem Augenblick, wo der Staat diesen Druck fallen läßt, wo er mit dem
Monopol der Landeskirche, Gemeinden zu bilden, bricht, sie nicht mehr in
dem Ansprüche stützt, den evangelischen Gemeinden des Landes einerlei Normen
der Lehre, des Kultus, der Verfassung aufzulegen, oder doch die Mitwirkung
der Landeskirche auf eine bloße Aufsicht und Normierung gewisser rechtlicher
und wirtschaftlicher Bedingungen beschränkt, wo er die Organisation evangelischer
Gemeinden auf Grund des Umlagerechtes gewährt, — werden solche Gemeinden
auch entstehen.
Was heute statt dessen geschieht, ist etwas anderes. Der Staat hat zwar
die Macht, die Absplitterung und Bildung neuer Gemeinden zu verhindern.
Aber er hat nicht die Macht, die Einzelnen, die sich von der geltenden Kirchen¬
ordnung gedrückt fühlen, zur Teilnahme am kirchlichen Leben anzuhalten. Was
tun sie nun? Sie beschränken sich auf ein rein äußeres Verhältnis zur Kirche,
zahlen mehr oder minder widerwillig ihre Steuern und benutzen die Kirche
lediglich als Dekorationsinstitut bei Familienfesten. Dem Monopol der Landes¬
kirche entspricht die Unkirchlichkeit der Massen. Das ist heute die Stellung
von Tausenden: unwürdig ihrer, weil nur die Unklarheit die innere Unwahrheit
dieser Stellung verbirgt, — unwürdig auch der Kirchen, an deren Existenz und
Entwicklung sich diese Tausende wie ein Ballast hängen.
Man kann ein Monopol auf verschiedene Weise verwalten. Ein guter Kauf¬
mann, dem ein solches zugefallen, wird dabei so verfahren, daß er die Be¬
dürfnisse und Wünsche der auf ihn angewiesenen Kundschaft nach Möglichkeit
befriedigt. Denn er weiß, es läßt sich nur solange aufrechterhalten, als dies
gelingt. Wir urteilen nicht unbillig, wenn wir sagen, daß unsere Kirchen¬
regierungen sich der Verantwortung, die ihnen dies Monopol der Bildung und
der Normierung evangelischer Gemeinden auferlegt, nicht genug bewußt sind.
Wir bewegen uns zwar unter diesem Monopol in relativer Freiheit. Aber es
ist dabei keine rechte Offenheit und Klarheit. Wir genießen diese Freiheiten, wie
ein Knabe, der sich vom Apfelbaum heimlich einige Früchte stiehlt. Wir genießen
sie nur infolge einer Schwäche, infolge eines fortwährenden Übersehens und
Gehenlassens, nicht auf Grund einer prinzipiellen Selbstbeschränkung des Kirchen¬
regimentes. Immer wieder werden Versuche gemacht, Normen aufzustellen, wie
über die Beerdigung von Selbstmördern, die Beteiligung an Feuerbestattungen,
die Trauung Geschiedener, die politische Betätigung der Geistlichen; und immer
wieder scheitern diese Versuche, weil sie eben Eingriffe in die Gewissenssphäre
von Gemeindegliedern und Pfarrern sind. Welch eine peinliche und bedauerns¬
werte Rolle spielt dabei das Kirchenregiment, welche dialektischen Künste werden
zur Begründung derartiger Maßnahmen und der dann unvermeidlichen Rückzüge
verschwendet, — nur deshalb, weil man sich auf den einzig gesunden und einzig
imponierender Standpunkt der Gewissensfreiheit nicht stellen will! Und in was
für unnötige Konflikte werden die Diener der Kirche dadurch gedrängt!
Die gerechte Verwaltung jenes Monopols aber wird der Kirchenregierung
noch durch ein weiteres Moment erschwert. Es erschien als ein großer Fort¬
schritt, als in den siebziger Jahren die Synodalverfassung eingeführt, das Kirchen¬
regiment in seiner absoluten Machtfülle beschränkt, den Gemeinden des Landes
ein Anteil am Regiment gewährt wurde. Das Kirchenregiment teilte wichtige
Rechte und Befugnisse mit den Synoden. Aber auch diese Schöpfung wurde
durch den mangelnden Respekt vor dem Gewissen geschädigt. Die Verfassung
war von vornherein darauf zugeschnitten, der Mehrheit alle Macht in die Hand
ZU spielen. Die Unterdrückung der Minderheit aber mußte um so verhängnis¬
voller werden, als in den Umkreis der kirchenregimentlichen Geschäfte, an denen
die Synode beteiligt wurde, auch die zartesten und innerlichsten Fragen des
kirchlichen Lebens einbezogen wurden, die nach protestantischen Grundsätzen
niemals durch bloße Stimmenmehrheit entschieden werden dürfen. In der Ver¬
fassung fehlt fast jede Einschränkung der Machtbefugnisse des durch die Synoden
verstärktenKirchenregimentes,gegenüberdenGcmeindenwiegegenüberden Geistlichen.
Es ist aber ein Unterschied, ob die Mehrheit ihre Macht dazu gebraucht,
die Höhe einer Abgabe durchzusetzen, oder dazu, eine zwingende Lehr- und
Gottesdienstnorm aufzuerlegen. Für diesen Unterschied fehlt in den Synoden
das Verständnis. So hat die Synodalverfassung den Druck des landeskirchlichen
Monopols nur verschärft, die charakterlose Vereinerleiung gefördert, daran ge¬
wöhnt, ernste Überzeugungsfragen auf dem Wege von Kompromissen oder von
Formeln zu lösen, bei denen sich jeder Beteiligte etwas anderes denkt. So
segensreich ein Verband aller evangelischen Gemeinden des Staates auf wirt¬
schaftlichem und juristischem Gebiete ist — die besten Früchte der Synodal-
verfassung sind auf diesem Felde gereift —, so unerträglich ist ein solcher Verband,
der sich anmaßt, seiner rechtlichen Gewalt das innere Leben und dessen Äußerungen
zu unterwerfen.
Rudolf Gucken hat einmal für die christliche Religion den schönen Ausdruck
geprägt: die charakteristische Religion. Das Landeskirchentum, wie wir es haben,
ist der Ausdruck einer charakterlosen Religion. Das ist unsere Not. Unter dem
System der monopolistischen obrigkeitlichen Religionspflege ist die Persönlichkeits¬
religion zum Einschlafen gekommen. Hin und wieder regt sie sich, wie eine
Träumende, dann wird sie von ihren Wärtern mit begütigenden oder unwirschem
Worte wieder zur Ruhe gebracht. Aus Fragen des Gewissens, der Überzeugung,
der persönlichen Entscheidung wird Konvention, Handwerk, Zeremonie, beamten¬
mäßiger Betrieb. Die Religion kommt dabei um ihren Ernst und um ihre
Würde. Man läßt sie sich gefallen, über sich ergehen, mehr oder minder willig,
mehr oder minder kalt. Das ist die gegenwärtige Lage unserer evangelischen
Kirche.
An seine Schwester.
Canton, 14. November 1897.
Seit ich Dir zuletzt aus Shanghai schrieb, haben wir wieder so viel
Interessantes und Schönes erlebt und gesehen, daß es wirklich schwer hält,
Anfang und Ende des Erzählens zu finden.
Nachdem wir noch am letzten Abend in Shanghai uns eine halbe Stunde
lang das Ballfest bei den: Taotai angesehen hatten, schifften wir uns am nächsten
Morgen in aller Frühe auf der „Sachsen" vom Norddeutschen Lloyd nach
Hongkong ein. Von den: Ball ist nicht viel zu berichten, denn abgesehen von
den vielen Chinesen und einigen Chinesinnen, die sich aber natürlich nicht am
Tanzen beteiligten, war der Ball ungefähr wie jeder andere. Kaum waren wir
hingekommen, als plötzlich Herr v. C., der österreichische Gesandte, der eben aus
Peking eingetroffen war, auf uns losgestürzt kam, und nun wurde ein frohes Wieder¬
sehen gefeiert. Er ist ein sehr netter Mann, einfach und gemütlich und ganz
ohne die üblichen diplomatischen Podagra-Allüren.
Die Fahrt von Shanghai nach Hongkong war trotz der großen Hitze doch
sehr angenehm und die Reisegesellschaft ganz nett. Unter unseren Mitreisenden
befand sich u. a. ein deutscher Kaufmann namens W., der sein Hauptgeschäft in
Hongkong, aber außerdem Filialen in Shanghai und Canton hat. Dieser war
nun so freundlich, uns eine Empfehlung an seinen hiesigen Vertreter, Herrn P.,
mitzugeben, bei dem wir jederzeit Geld aufnehmen können. Auf diese Weise
brauchten wir nicht gleich die ganze Summe, die wir hier eventuell nötig hätten,
in Hongkong aufzunehmen.
Am Freitag Morgen hatten wir das öde Shanghai verlassen und kamen
bereits am Sonntag Abend in dem unbeschreiblich schönen Hafen von Hongkong
an, der nach Bildern zu urteilen dem Golf von Neapel ähnlich sein muß. Die
Insel, auf der Hongkong liegt, erhebt sich bis zu einer Höhe von 1800 Fuß,
und dieser vor fünfzig Jahren noch völlig kahle Felsen mit seinem mörderischen
Klima ist jetzt durch die Energie der Engländer in ein wahres Eden umgewandelt
worden. Allenthalben herrlicher, bereits an die Nähe der Tropen erinnernder
Baunuvuchs, mundervolle Parkwege, von denen aus der entzückte Blick über die
weite, inselbedecktc See schweift, palastähnliche Häuser, die sich den Berg hinan-
Ziehen, und deren prächtigste von Deutschen bewohnt sind. Den Engländern
wird nämlich dort auf ihrem eigenen Grund und Boden von den Deutschen eine ganz
gefährliche Konkurrenz gemacht, und schon gibt es in Hongkong mehr deutsche
Firmen als englische, wie mir Herr W. erzählte.
Wir suchten in Hongkong zunächst den Bizekonsul H. auf, der sehr liebens¬
würdig war und sich uns von 1^/2 Uhr ganz zur Verfügung stellte. Es wurde
verabredet, daß wir uns oben im Peak-Hotel treffen sollten, wo er wohnt und
das durch eine Zahnradbahn mit der Stadt verbunden ist. Das Hotel liegt
200 Fuß unterhalb des Gipfels, und die Aussicht, die man unterwegs vom
Wagen aus genießt, ist wirklich entzückend schön. Ich fuhr mit Lilly voraus,
um noch den Gipfel erklimmen zu können, der übrigens in der bequemsten Weise
auf sanft ansteigenden, schön asphaltierten Wegen erreicht wird. Um 1^ Uhr
trafen wir verabredetermaßen mit dem Vizekonsul im Hotel zusammen und machten
nach dem Tiffin") einen wundervollen dreistündigen Spaziergang mit ihm.
Es lag mir sehr viel daran, meinen alten Freund Ao, der früher Lehrer
am Berliner Orientalischen Seminar gewesen ist, wiederzusehen, und da mir
niemand seine Adresse angeben konnte, entschlossen wir uns, uns noch am Abend
nach dein Findelhause der Berliner Franemnission tragen zu lassen, denn da
Ao Protestant ist, hoffte ich. dort allenfalls Auskunft zu erhalten. Zum Glück
wurden meine Erwartungen hier nicht getäuscht. Pastor N., der dortige Missionar,
hatte zufällig gehört, daß an jenem Abend gerade eine Versammlung in der
nahegelegenen chinesischen Kirche stattfand, und meinte, daß Ao höchstwahrscheinlich
dort sein werde. So gingen wir denn, vom Pastor geleitet, dorthin, und richtig:
der erste, den wir sahen, war Freund Ao! Seine Freude, als er mich plötzlich
vor sich sah, war wirklich rührend. Er ist augenblicklich bei einem Beamten
der englischen Regierung, Mr. Lockhart, in Hongkong angestellt und erzählte
mir, wie Mr. Lockhart schon seit Monaten täglich die Schiffskisten durchsehe, in
der Hoffnung, ihm daraus meine Ankunft mitteilen zu können. Er hatte nämlich
durch den Berliner chinesischen Lehrer Hsüeh von meinen Reiseplänen gehört.
Da wir nun bereits am nächsten Morgen nach Canton fahren wollten, beredete
ich ihn sehr, sich doch für ein paar Tage beurlauben zu lassen und auch hinzu¬
kommen, was er mir auch zu versuchen versprach.
Die Kirche, in der wir Ao trafen, besteht aus einer selbständigen chinesischen
Gemeinde und wird von chinesischen Geistlichen geleitet. Wir lernten dort auch
Aos Schwiegersohn kennen, einen ungemein sympathisch aussehenden jungen
Mann, der an einem englischen Hospital in Hongkong als Arzt angestellt ist
und vollkommen fließend englisch spricht.
Das Personal der Berliner Mission besteht aus dem Pastor und einigen
Damen, die während wir dort waren, der Reihe nach auf der Bildfläche
erschienen. Es mögen ja alles gute und brave Menschen sein, aber es scheint
wirklich, als wäre nach protestantischer Auffassung Geschmacklosigkeit und Nach¬
lässigkeit in der Kleidung der einzig würdige Ausdruck wahrer Frömmigkeit.
Warum können denn diese Damen nicht ebenso wie die katholischen Schwestern
eine einfach würdige schwarze Ordenstracht anlegen? Müssen sie durchaus wie
stellenlose Köchinnen aussehen, um Gott wohlgefällig zu erscheinen? Ihrem
Bildungsstände schien freilich die äußere Erscheinung zu entsprechen.
Am Dienstag Morgen um 8 Uhr verließen wir Hongkong und kamen bereits
um 2^/2 Uhr hier an. Die Fahrt durch den Hafen und auf dem Perlenfluß
ist hübsch und abwechslungsreich. Schon eine Stunde bevor man Canton erreicht,
steht man in der Ferne die fünfstöckige Pagode und die gotischen Türme der
katholischen Kathedrale — letztere zu dieser Umgebung passend wie die Faust
aufs Auge. Je mehr man sich der Stadt nähert, um so lebhafter gestaltet sich
das Leben auf dem Flusse, der von zahllosen Booten und Dschunken aller
Arten und Größen bedeckt ist. Unter anderem sahen wir auch jene ganz eigen¬
tümlichen Nadboote — 8tern-xvKeel-boat8 nennen sie die Engländer —, die nur
hier vorkommen, und wie der Name besagt, an ihrem Hinterteil mit einem
Rad versehen sind, das aber nicht durch Dampf-, sondern Muskelkraft, nämlich
durch Treten, in Bewegung gesetzt wird. Vom Dampfschiff aus wurden wir
auf einem der zahllosen kleinen Boote an Land gebracht. Die „Bemannung"
dieser Boote besteht zumeist aus Weibern und Kindern, die sich mit fabelhafter
Gewandtheit und Flinkheit den Weg durch das Gewirr von Booten zu bahnen
wissen. Der Teil der Bevölkerung, der ganz auf Booten auf dem Flusse lebt,
wird auf etwa dreihundertausend Seelen geschätzt. Die Männer sind meist als
Kukis in der Stadt beschäftigt.
Der Konsul K., Schwiegersohn von Jul. Eckardt, ist uoch nicht aus
Japan zurück und wird einstweilen durch seinen Dolmetscher Herrn L. ver¬
treten, dem wir also gleich unseren Besuch machten, ohne ihn jedoch zu treffen.
Nach Hause zurückgekehrt, empfingen wir den Besuch des Herrn P., eines noch
sehr jugendlichen Herrn, der mich in seinem Äußeren sehr an Adolphs Georges
erinnert. Er war so liebenswürdig, uns gleich zu demselben Tage zu sich zu
bitten. Dann unternahmen wir einen höchst interessanten Ausflug in die Stadt,
von dessen Eindrücken wir ganz berauscht zurückkamen. Für den nächsten Tag
erbot sich Herr L. eine größere Rundtour durch die Stadt mit uns zu unter¬
nehmen, aus der jedoch nichts wurde, weil Ao sich freudestrahlend am nächsten
Morgen einstellte: er hatte den erbetenen Urlaub von drei Tagen erhalten. So
machten wir mit Herrn L. nur eine kleine Ausfahrt uach dem nahegelegenen
buddhistischen Kloster Hai-chuang-sse. Von dort zurückgekehrt, wurden wir von
Herrn Ao und einem chinesischen Lehrer abgeholt, um das Kwang-pa-puer zu
besichtigen. Es ist dies eine Art freier Hochschule, die von dem ehemaligen
Vizekönig Chang Chi-t'ung, einem der größten Gelehrten Chinas, vor einigen
Jahren gegründet worden ist, um jungen Gelehrten, die die erste der drei
Staatsprüfungen bestanden haben, die Möglichkeit zu gewähren, kostenfrei ihre
Studien fortzusetzen. Das großartige Institut besteht aus einer ganzen Anzahl
von schönen Gebäuden, die in einer prächtigen Parkanlage in chinesischem Ge¬
schmack verstreut liegen und einen ungeheuren Flüchenraum einnehmen. Da
ist u. a. eine große nach vorn offene Halle, wo die Vorträge gehalten werden,
die sich übrigens ausschließlich auf Geschichte und Literatur Chinas beziehen.
Ein anderes großes Gebäude enthält die ungemein reiche Bibliothek, die den
Studierenden ganz zur Verfügung gestellt ist. Als die dort arbeitenden Studenten
sahen, daß ich etwas von der Sache verstehe, kamen sie herbei und zeigten mir
mit dem freundlichsten Entgegenkommen all' die Schätze, die hier aufgespeichert
sind. Die Professoren leben ganz in dem Institut, desgleichen ist da ein
ganzer Gebäudekomplex, der die Wohnräume der ungefähr zweihundert Stu¬
dierenden enthält. Jeder der jungen Leute bewohnt einen hohen luftigen Raum,
der einfach, aber doch mit allem Erforderlichen ausgestattet ist. An das Arbeits¬
zimmer schließt sich hinten ein alkovenartiges Schlafgemach an. Wir besuchten
einen Studenten in seiner „Bude", die einen sehr sauberen und netten Eindruck
machte und jedem deutscheu Musensöhne alle Ehre machen würde.
Am Abend dieses Tages (Mittwoch, den 10.) waren wir bei L. zu Tische,
wo wir u. a. den Inhaber der bedeutendsten deutschen Firma in Canton, Herrn B.,
einen Verwandten von Se. und B., kennen lernten. Er gehört zu den sehr
wenigen deutschen Kaufleuten in China, die Interesse und Verständnis für das
Land, in dem sie leben, haben. Seine Frau ist eine reizende junge Amerikanerin,
die recht gut deutsch spricht. Sie machten uns tags darauf einen Besuch und
luden uns zu gestern (Sonntag) Mittag ein.
Am Donnerstag Vormittag besichtigten wir den Tempel des Pät-tai (des
Gottes des Polarsterns) und das Gildenhaus der Swatauer Kaufleute, zwei
herrliche Gebäude, mit so herrlichem Schmtzwerk, wie ich noch nie und nirgends
etwas ähnliches gesehen habe. Von da besuchten wir den berühmten Hinrichtungs¬
platz, wo so viele Hinrichtungen vollzogen worden sind und noch vollzogen werden,
daß er vielleicht in der ganzen Welt keinen Rivalen hat. Für gewöhnlich sind
dort Töpfer bei der Arbeit, die ihre Waren nur beiseite zu rücken brauchen, so oft
dort eine Exekution stattfindet. Wir hatten die Freude, den Herrn Scharf¬
gerichtsrat oder Henker kennen zu lernen, einen jovial dreinblickenden, behäbigen
Mann, dem ich zu verstehen gab, daß ich seine Dienste fürs erste noch nicht
in Anspruch nehmen wolle. Er prüfte meinen Nacken kritisch und lächelte dabei
verständnisinnig.
Nachdem wir dem Richtbeil auf diese Weise glücklich entronnen waren,
ließen wir uns nach der geistigen Richtstätte tragen, nach der großen Examinations-
halle, wo alle drei Jahre die zweite der drei großen Staatsprüfungen abgehalten
wird. Die zwölftausend Zellen, in denen die unglücklichen Kandidaten ihre
Klausurarbeiten zu machen haben, sind in parallellaufenden Reihen untergebracht.
Jede Zelle ist ungefähr 1^/2 Meter tief und 1 Meter breit und nach vorn offen,
auf einen schmalen Gang mündend, der die eine Reihe von der anderen trennt.
Die ganze Ausstattung besteht aus einem Sitzbrete und einem Schreibbrett,
beide von Wand zu Wand gehend, so daß der schwergeprüfte sich buchstäblich
nicht rühren kann. Das Brett vor dein Kopfe wird, falls nicht vorhanden,
symbolisch durch die Mauer ersetzt, die zugleich die Rückwand der vorderen
Zellenreihe bildet.
Am Nachmittag holte uns Ao zu einem Spaziergang durch die Stadt ab
und führte uns u. n. zu einem seiner Freunde, der dort als Porträtmaler und
Photograph tätig ist. In seiner ersteren Eigenschaft leistet er so hervorragendes,
daß ich nur gern eine Reihe feiner Porträtköpfe gekauft hätte. Leider waren
sie jedoch nicht käuflich, aber Herr Li, so heißt der Künstler, war so freundlich,
mir einen davon zu schenken. Darauf bewirtete er uns mit Tee, und schließlich
ließen wir uns zu dritt photographieren, wofür er erst uach langem Zureden
meinerseits Bezahlung annahm. Er ist ein prächtiger alter Mann mit einem
Charakterkopf und drei Frauen und — notabene — Christ dabei. Dieprotestantischen
Missionare drücken nämlich in diesem Punkte bisweilen ein Auge zu, um einen
„mehrfach verheirateten" Mann nicht in die Lage zu bringen, seine Frauen
auszustoßen, um Christ zu werden. Man mag darüber denken wie man will.
Die Katholiken lassen unter keiner Bedingung Polygamie zu. Welches Verfahren
das richtigere ist, darüber läßt sich, wie gesagt, streiten.
Zu 7 Uhr hatte uns Ao auf ein sogenanntes Blumenboot gebeten, wo er
uns mit einem opulenten chinesischen Diner regalierte und an dem sich noch drei
Freunde von ihm beteiligten, darunter der erwähnte Porträtmaler Li und noch
ein anderer Herr Li, der uns im reinsten Schweizer Deutsch anredete. Hätten
wir nicht gewußt, daß er Chinese ist, so hätten wir ihn unbedingt sür einen
ehrsamen Bürger der Stadt Basel halten müssen — trotz Zopf und chinesischer
Gewandung. Besagter Herr hat nämlich von seinem siebzehnten bis zu seinem
vierundzwanzigsten Jahre auf der Baseler Missionsschule studiert und ist jetzt
bereits seit achtzehn Jahren in seiner Heimat als Prediger und Missionar tätig.
Zum Glück ist er bei all seiner Frömmigkeit nicht in: geringsten muckerhaft und
einseitig. Er und Ao erzählten mir von einer hochinteressanter geistigen Be¬
wegung, die hier augenblicklich im Schwange ist und deren Seele — erschrick
nicht! — ebenfalls ein gewisser Herr Li ist, der aber mit seinen beiden erwähnten
Namensvettern nichts als den Namen gemein hat. Es handelt sich um nichts
geringeres als um die Gründung einer wissenschaftlichen chinesischen Zeitschrift,
der ersten dieser Art, die sich speziell an die Gelehrten wenden soll, um sie mit
den Resultaten der europäischen Wissenschaft bekannt zu machen. Zugleich soll
sie aber Originalartikel wissenschaftlichen und literarischen Inhalts bringen. Das
erforderliche Kapital hat nun besagter Herr Li zur Verfügung gestellt. Dieser
Li ist ein noch junger Mann von einigen zwanzig Jahren, der aber bereits
das zweite Staatsexamen bestanden hat und im nächsten Frühjahr nach Peking
gehen will, um sich dort der letzten und höchsten Prüfung zu unterziehen. Sein
verstorbener Vater war Präfekt von Tientsin. und er ist als einziger Sohn
alleiniger Erbe des ungeheuren Vermögens, das er nun in der hochherzigsten
Weise und mit fürstlicher Freigebigkeit in den Dienst der geistigen Aufklärung
seines Vaterlandes stellt. Er besitzt eine großartige Bibliothek, die er eben
durch Neuanschaffungen im Betrage von 20 000 Dollars 40 000 Mark
vervollständigt hat. Für diese Bibliothek hat er außerhalb der Stadt ein
Grundstück erworben, wo er ein massives, feuersicheres Gebäude errichten läßt.
Und das Ganze stellt er dem Staate zur Verfügung unter der Bedingung, daß
die Bibliothek jedermann zugänglich seil — Er hatte durch Ao und den Pastor
Li (er selbst ist nicht Christ, sympathisiert aber mit der europäischen christlichen
Kultur) von meinem Hiersein gehört und ließ mir sagen, daß er den dringenden
Wunsch habe, mich kennen zu lernen. Zugleich ließ er anfragen, ob er uns
ein Diner anbieten dürfe und zwar im Hause der Berliner Mission bei dem
Pastor K., da er es nicht wagen dürfe, uns bei sich aufzunehmen. Das
war nun wieder echt chinesisch: da sich Damen nicht mit Herren zugleich an
einem Diner beteiligen dürfen, so hätte er Lilly nicht mitbieten können, und um
aus diesem Dilemma herauszukommen, verlegte er das Diner in ein europäisches
Haus. Ich nahm: das Anerbieten natürlich mit Dank an und erhielt darauf¬
hin am nächsten Tage eine feierliche chinesische Einladung, die an uns beide
adressiert war.
Ein so reges geistiges Leben, einen so frischen Idealismus hatte ich hier nicht
im entferntesten erwartet. Ich war ganz ergriffen von allein, was ich gehört
hatte, und rief ganz begeistert: „Canton hat es mir angetan, hier möchte ich
bleiben I"
Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, als der Pastor Li sofort erklärte:
„Herr Professor, wenn das Ihr Ernst ist und Sie den Entschluß fassen sollten,
so verspreche ich Ihnen, daß wir hier sofort eine Universität gründen! Das
Geld ist bereit, davon ist mehr als genügend vorhanden, uns fehlen nur die
Kräfte — aber wenn wir Sie haben, macht sich alles übrige von selbst!"
Ja — wenn ich nur könnte! Aber zwei Dinge machen es mir unmöglich:
Du und das Klima. Es ist hier augenblicklich noch so glühend heiß, wie bei
uns in Berlin nur in den heißesten Julitagen, es wäre also nicht daran zu
denken, daß Du herlänft, und auch ich selbst könnte es hier wohl kaum auf die
Dauer aushalten — Lilly noch eher.
Aber nun muß ich Dir ja noch über das Diner selbst berichten. Das
hübsch eingerichtete Blumenboot enthielt zwei Räume. In dem ersten stand der
Tisch mit dem Imbiß, in dem Hinteren Raum die eigentliche Mittagstafel. Die
Gäste bestanden aus Pastor Li, dem Porträtmaler Li, dessen Gehilfen und uns.
16. XI. Zum Imbiß gab es Tee, warme Mandelmilch, die wie Suppe
mit Löffeln gegessen wurde, Persimmon*), Orangen, Melonenkerne, Wassernüsse,
Marmelade und Zuckerrohr, aus dem nur der Saft herausgesaugt wird. Das
Diner selbst bestand aus einer Legion von Gängen, zwischen denen die Diener
von Zeit zu Zeit mit warmem Wasser angefeuchtete kleine Handtücher herum¬
reichten, mit denen man sich den Schweiß abwischte — ein Genuß, dem sich
nur die Chinesen Hingaben, die sich auch hin und wieder die Wasserpfeife reichen
ließen, um einen oder zwei Züge daraus zu tun. Der Gerichte gab es, wie
gesagt, so viele, daß ich weder im Magen noch im Kopfe für alle Platz finden
konnte. Hier einige davon: Huhn in verschiedener Art zubereitet, Froschkeulen,
Haifischflossen, Nudeln, Kürbis not Schinken schnitten darin, Schweinemagen,
Ente (gebraten und gekocht), Fischsuppe, Hühnersuppe, Taschenkrebse, Süßig¬
keiten usw., und zum Schluß Reis. Es wurde eifrig Morra gespielt, und wer
verlor, mußte sein winziges Weinschälchen auf einen Zug pro poena leeren, was
eine ganz angenehme Strafe ist, denn der chinesische Wein schmeckt sehr gut.
Am darauffolgenden Tage unternahmen wir vormittags, wie gewöhnlich,
einen Streifzug durch die Stadt und machten am Nachmittage unseren Besuch
bei deur reichen Mäcen Herrn Li. Er ist! ein reizender Mensch von äußerst
sympathischen Aussehen, sein Wesen vornehm und bescheiden zugleich. Der
Etikette gemäß standen wir, an der rechten Wand des Empfangszimmers, als
er hereinkam, worauf er uns nötigte, die beiden Ehrenplätze an der Rückwand
einzunehmen, Ao und Pastor Li saßen als die im Range folgenden Gäste an
der linken Wand, und er selbst nahm den letzten Sessel an der rechten Wand
als den niedrigsten Platz ein. Nachdem ein wenig Konversation gemacht worden
war, führte uns Herr Li in seine prachtvolle Bibliothek, die in einem anderen,
auf der gegenüberliegenden Seite der Straße gelegenen Hause untergebracht ist.
Schließlich verabschiedeten wir uns, um noch einige Tempel zu besichtigen,
darunter den berühmten Tempel der fünfhundert Lohans, in dem fünfhundert
lebensgroße vergoldete Statuen dieser buddhistischen Patriarchen aufgestellt sind.
Einer von ihnen soll ein Bildnis des Marco Polo sein.
Schließlich ließen wir uns in das Berliner Missionshaus tragen, wo Herr
Li uns bereits in einem schönen Gewände aus weißem Atlas erwartete. Die
Gäste waren außer dem Missionar K. und seiner Frau, die für diesen
Zweck ihre Wohnung hergegeben hatten, die Missionare Z. und N., ersterer
mit Frau, Ao, Pastor Li, der Redakteur der erwähnten chinesischen Zeitschrift,
die unter der Ägide unseres Gastgebers erscheinen soll (natürlich ein Chinese,
sehr intelligent, den Namen habe ich nicht behalten), und ein chinesischer Missions¬
lehrer. Das Diner war eine vermehrte und verbesserte Auflage des vorigen.
Es gab u. a. noch Bogelnestersuppe, Lotoskerne und Bambusschößliuge, die sehr
zart schmeckten. Ich bemerkte dabei, daß der Bambus auf der Zunge leichter
zu ertragen sei als auf dem Rücken — ein Kalauer, der von den Chinesen sehr
goutiert wurde. Gegen 8 Uhr brach man auf, und unser freundlicher Gastgeber
brachte uns in seinem reizend eingerichteten Boote ins Hotel zurück, wo die vier
Herren (der Gastgeber Li, der Pastor Li, der Redakteur und Ao) noch eine
Tasse Tee mit uns tranken. Das war der gemütlichste Teil des Abends, denn
nun brauchte man nicht mehr im Schweiße seines Angesichts mit Eßstäbchen zu
turnen und konnte sich in zwangloser Unterhaltung über allerlei, meist wissen¬
schaftliche, Fragen aussprechen. . . .
(Frühere „Briefe aus China" sind in den Heften 46, 46, 47 erschienen.
Weitere Briefe werden folgen. Die Schristltg.)
^le Tagespresse, genötigt, die unbedeutenden, typisch sich wieder¬
holenden Ereignisse aus ihrem Stoffe auszuschalten, hat in weiten
Kreisen die Meinung aufkommen lassen, als ob es sich bei jugend¬
lichen Angeklagten meist um früh verdorbene, besonders dreiste
-oder raffinierte Individuen handele, die mit ihren verbrecherischen
Unternehmungen eine Gefahr für die Öffentlichkeit bildeten. In Wirklichkeit sind
^ fast nur jene seltenen, vor den Strafkammern zur Aburteilung gelangenden
Taten einzelner besonders gearteter Jugendlichen oder auch wohl einer unter
solcher Führerschaft entstandenen Bande, welche zu den aufsehenerregenden Berichten
das Material liefern und nicht ohne Grund die Aufmerksamkeit auch der Fern¬
stehenden auf sich lenken.
Ein wesentlich harmloseres Bild erhält man von dem jugendlichen Rechts brecher
— mag auch der soziale Hintergrund stets ernst genug bleiben —, sobald man die
weit häufigeren Straftaten an sich vorüberziehen läßt, mit denen sich tag¬
täglich die Jugendgerichtsabteilnngen der Schöffengerichte zu beschäftigen
haben. Die Menge der Delikte, die allein vor den Abteilungen des Jugend¬
gerichts Berlin-Mitte, allerdings dem größten Jugendgerichtsforum, zur Ver¬
handlung stehen, beläuft sich auf mehr als siebzehnhundert im Jahre 1910.
Handelt es sich dabei auch in nahezu der Hälfte der Verurteilungen um das gewiß
nicht leicht zu nehmende Vergehen des Diebstahls, so liegen doch den Anklagen
häufig genug einfache, an und für sich die Öffentlichkeit wenig berührende, oft
recht unbedeutende oder gar kleinliche Tatbestände zugrunde. Weder die Anklage-
noch die Strafbehörde vermag nach geltendem Gesetz hierin Wandel zu schaffen.
Mit Recht aber wendet sich Wilhelmine Mohr") an die Bürgerschaft selbst und
klagt in ihrer warmherzigen Schrift, „um welcher Bagatellen willen das Volk
seine Kinder vor Gericht führt." Die sozialen Gründe für die Häufigkeit der
Straftaten im allgemeinen, die Gründe für die vielfach beobachtete „kriminelle
Reizbarkeit"^) des Publikums können an dieser Stelle unerörtert bleiben; sowohl
im neuen „Entwurf einer Strafprozeßordnung" (Z 3K5), wie im „Vorentwurs
zu einem Deutschen Strafgesetzbuch" wird mehrfach dieser Sachlage Rechnung
getragen. Ebenso vermögen wir hier nicht den sozial- und individualpsycho-
logischen Ursachen nachzugehen, die den Diebstahl zur hauptsächlichen Straf¬
handlung der Jugendlichen stempeln. Nur wenige allgemeine Gedanken hierüber
seien vorausgeschickt.
Gerade in dem Vergehen des Diebstahls und in dem hierin nicht zu
trennenden Vergehen der Unterschlagung tritt die Eigenart der Jugendlichen
besonders in Erscheinung, und schon aus diesem Grunde lag es nahe, an
das Diebstahlsdelikt meine psychologische Untersuchung anzuknüpfen. Gerade
hierbei überrascht uns so oft die Impulsivität des Handelns und das geringe
Maß an vorausschauenden Bedenken, gerade hier zeigt sich die leichte Ver-
führbarkeit durch die Gunst des Augenblicks, durch Beispiel oder Kameradschaft,
und schließlich macht sich auch hier der natürliche Optimismus geltend, kraft
dessen die jungen Missetäter wie selbstverständlich auf einen glücklichen Ausgang
ihrer Taten und Streiche, sei er auch noch so unwahrscheinlich, ihre Hoffnung
setzen. Immer wieder begegnet uns bei der Zergliederung eines solchen ein¬
zelnen Falles die tiefgehende Verschiedenarttgkeit der Gedankengänge und Gemüts-
bewegungen des Jugendlichen gegenüber dem Erwachsenen, und wir empfinden
oft genug die grundsätzliche Schwierigkeit, sich in die Weltbetrachtungsweise der
Jugendlichen einzufühlen. Von einem besseren Verstehen, einer fortschreitenden
Erkenntnis ihres Seelenlebens hängt aber in erster Linie die Wahl der Mittel
und der Erfolg jener vielseitigen Reformbestrebungen ab, welche eine sittlich-
erzieherische Höherentwicklung der künftigen Generation sich zum Ziele gesetzt
haben. In der Tat berühren und stützen sich in diesen Bestrebungen wechselseitig
die mannigfaltigsten wissenschaftlichen und praktischen Gebiete, wie die Forschungen
der Psychologie und Psychiatrie, die Aufgaben der Pädagogik und Rechtsprechung,
die Interessen des Staats und der Allgemeinheit. Und so darf jeder Weg, von
welcher Einzeldisziplin immer er ausgehen mag, auch für weitere Kreise will¬
kommen erscheinen, wenn er einen neuen Einblick in das Dichten und Trachten
der werdenden Persönlichkeiten gestattet.
An dem schon erwähnten Jugendgericht des Amtsgerichts Berlin-Mitte
wurde, auf Anregung des ersten Berliner Jugendgerichtsarztes Dr. W. Fürsten¬
heini und dank der Bemühungen des Amtsgerichtsrats Dr. Köhne, im Oktober
1909 die Einrichtung getroffen, daß jeder jugendliche Angeklagte vor der Haupt¬
verhandlung einem psychiatrisch geschulten Arzte zur Begutachtung überwiesen wird.
Eine kleine, nach Vorschlägen des Geh. Med.-Rat Ziehen gegründete Ärztegruppe
hat seitdem diese Untersuchungen nach vereinbarten wissenschaftlichen Prinzipien in
freiwilliger Helferschaft übernommen. Auf Grund der jeweiligen ärztlichen Mit¬
teilung verm ag jetzt der Jugendrichter in jedem Einzelfall, sei es als Vormund¬
schaftsbehörde Maßnahmen allgemeiner Art für den Jugendlichen anzuordnen, sei
es als Strafrichter die Anhörung des Sachverständigen in der Hauptverhandlung
herbeizuführen und sein Gutachten bei der Urteilsfindung in Anschlag zu bringen.
Dem mir selbst in dieser Gutachtertätigkeit zugegangenen Material der letzten
Zwei Jahre habe ich hundert Untersuchungsprotokolle entnommen und sie den
vorliegenden Betrachtungen zugrunde gelegt.
Von diesen jugendlichen Angeklagten hatten zur Zeit meiner Beobachtung
das schulpflichtige Alter überschritten: 71, zwischen dem zwölften und vierzehnten
Jahr einhebt. standen somit: 29. Es befanden sich darunter 88 Knaben und
12 Mädchen, während nach Köhnes") Statistik die Zahl der im ganzen
abgeurteilten Mädchen im Jahre 1910 rund ein Drittel der jugendlichen An¬
geklagten ausmachte. Des Diebstahls angeklagt waren 74, der Unterschlagung 10,
den Rest bildeten Hehlerei, Betrug, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Tier¬
quälerei, Mundrand, Erregung öffentlichen Ärgernisses und Verletzung des Brief¬
geheimnisses. Seelische Abweichungen konnte ich in 35 Fällen erkennen, jedoch
waren nicht alle von der Art und Erheblichkeit, daß sie gerichtlich in die
Wagschale fallen mußten. Der wichtigste und häufigste Befund in dieser
Hinsicht wurde durch die leichteren Formen des Schwachsinns dargestellt. — Eine
Auslese fand nur insofern statt, als Diebstahlsfälle vorwiegend von mir heran¬
gezogen wurden.
Mein besonderes Interesse hatte sich von Beginn an daraus gerichtet, ein
Bild von der sittlichen Reife der jungen Missetäter zu erhalten, die Entwicklung
ihrer ethischen und sozial-ethischen Anschauungen kennen zu lernen und weiterhin
auch ihre Ansicht über den Zweck der Strafe zu erforschen; freilich können an
dieser Stelle nicht alle diese Punkte in Betracht gezogen werden. Waren nun auch
meine Feststellungen für die gerichtsärztliche Aufgabe nicht unmittelbar verwertbar
und erforderlich, so stehen sie doch in engem theoretischen Zusammenhange mit
den vielfachen Erörterungen, welche sich an die im geltenden Recht vorgesehene,
im Vorentwurf des künftigen ausgeschaltete Freisprechung knüpfen, falls der An¬
geschuldigte bei Begehung der strafbaren Handlung die zur Erkenntnis der Straf¬
barkeit erforderliche Einsicht nicht besaß (Z 5(> Strafgesetzbuch). Bei strenger
Auslegung dieses für das weitere Schicksal des Jugendlichen so bedeutsamen
Paragraphen wird lediglich der Besitz der kriminellen Einsicht, wie man sie
zutreffend der sittlichen gegenübergestellt hat,*) berücksichtigt und zu
erforschen gesucht. Für die bloße kriminelle Einsicht, d. h. ein Wissen von
polizeilich-gerichtlichen Folgen beim Erwischtwerden genügt aber bei den meisten
Straftaten ein so niedriges Maß von Intelligenz, daß strenggenommen selbst
für Schwachsinnige dieser Freisprechnngsgrund oft nicht ausreichen kann. Wenn
nun auch teilweise die Jugendrichter eine weitherzigere Auslegung der
„Einsicht" vertreten zu können glauben, so war doch diese gerichtliche Frage für
das hier erstrebte Ziel nicht als Grundlage geeignet. Es mußte mir insbesondere
gleichgültig sein, ob die häufige, mehr oder weniger suggestive Frage des Richters:
Wußtest du nicht, daß darauf Strafe steht? von dem jungen Angeklagten bejaht
oder verneint wurde. Schon der Eindruck des Tribunals, die feierliche, oft nicht
einmal verstandene Verlesung der Anklage, die Wirkung des Auditoriums, die
Protokollierung, oft noch die Form der Frage selbst lassen die bejahende oder
verneinende Auskunft des Jugendlichen über seinen Standpunkt zur Zeit der
Tat, geschweige über den gar nicht maßgeblichen augenblicklichen, so beeinflußt
erscheinen, daß wir ihr einen psychologischen Wert nicht beimessen können. Sie
dürfte auch dem Richter selbst in den meisten Fällen gleichgültig sein, wenn er
bedenkt, was alles die dazwischen liegenden polizeilichen Vernehmungen, Ver-
mahnungen, Belehrungen von Eltern, Rektoren, Geistlichen, dem voruntersuchenden
Arzt und anderen in der Erinnerung verwischt und neu eingepflanzt haben können.
In dem schon erwähnten Buche von Prof. E. Schnitze sind all diese Be¬
denken in anschaulicherer Weise dargelegt als es hier möglich ist. „Ungünstiger",
sagt er zusammenfassend, „könnte die Versuchsanordnung, wollte man die Frage
der Einsicht gewissermaßen experimentell prüfen, nicht gut getroffen werden."
Wenn um auch die Situation im ärztlichen Sprechzimmer und die Art
meiner eigenen Methode solche Versuchsfehler ausschaltete, so habe ich mir
doch nicht die grundsätzlichen Schwierigkeiten verschwiegen, die einer jeden
Moralprüfung in Form der Ausfrage anhaften, und bin mir der Bedeutung des
Schopenhauerschen Wortes bewußt geblieben: „Allein die Tat ist der harte
Probierstein aller unserer Überzeugungen". Es mußte mir genug sein, wenn
es gelang, in einem begrenzten ethischen Gebiete, in der Stellungnahme zum
Diebstahle, ein bestimmtes, als Kriterium verwendbares Ergebnis für den
Stand der sittlichen Reife der Jugendlichen zu erhalten. Gegenüber anderen
Untersuchern stand mir hierbei der besondere Vorteil zur Seite, daß der Ge¬
sinnungsprüfung, die ich vornahm, stets ein konkreter Vorgang, eine in den
allermeisten Fällen uneingeschränkt zugestandene Straftat zugrunde gelegt
werden konnte.
Das von mir eingeschlagene Prüfungsverfahren nahm folgenden Ver¬
lauf: Nach vorausgegangener Vernehmung der Angehörigen und nachdem im
Laufe des ärztlichen Verhörs unter vier Augen eine gewisse persönliche Ver¬
traulichkeit mit dem Untersuchten gewonnen war, wurde ihm gewissermaßen als
Schluß der Jntelligenzprüfnng die auch im offiziellen Schema vorgesehene
allgemeine Frage vorgelegt: Warum darf man (denn) nicht stehlen?
Wiewohl diese Formulierung der Frage eine gewisse Unbestimmtheit und
Vieldeutigkeit in sich trägt, so erweckte sie immerhin in für mich zweckmäßiger
Weise das kindliche Kansalitätsbedürfnis und löste tatsächlich mit verschwindenden
Ausnahmen stets eine entsprechende Antwort aus. In den meisten Fällen ließ
sich dabei das Vorherrschen der durchaus egozentrischen, mehr oder weniger
egoistischen Auffassungsweise ohne weiteres erkennen, wie sie für das Kindes¬
alter allgemein charakteristisch ist. In offener, mehr oder weniger naiver Weise
wird diese Stellungnahme, namentlich von den weniger intelligenten und leicht
schwachsinnigen Prüfungen, kundgegeben. Derartige Antworten von fünf geistig
Zurückgebliebenen lauteten z. B.:
„Weil man erwischt wird/'"
„Wells auf die Polizei angezeigt wird und Schläge zu Hause gibt.
"
„Weil das sonst die Eltern gesagt wird und weil man wegkommt.
„Weil man dann Gefängnis kriegt."
"
„Weil ich drauf Strafe kriege.
Die folgenden Angaben wurden von Normalen (mehr oder weniger In¬
telligenten) geliefert.
„Weil drauf Strafe steht."
„Weils doch raus kommt."
„Wells für seinen eigenen Nutzen ist, nicht zu stehlen, und schlimme Folge» hat."
"
„Wenn man stiehlt, bekommt man nicht so gut eine Stellung.
"
„Well das fürs spätere Leben schlecht ist.
In einer zweiten kleineren Gruppe, die fast uur Vollsinnige enthält, wird
die Achtung vor dem Eigentum des Nächsten und die durch den Diebstahl
gesetzte Schädigung in den Antworten geltend gemacht, z. B.:
„Woils sein Eigentum ist."
„Weils dem andern seine Sache ist."
„Weils einem nicht gehört."
„Weil man andre um Hab und Gut bringt."
„Weil mans andre wegstiehlt und nicht mein ist."
„Weil man andre Menschen arm macht."
„Wenn sie alle wollten stehlen, was sollte das werden!"
Eine dritte Gruppe jugendlicher Angeklagter, die etwa den vierten Teil
aller Fälle umfaßt, beruft sich in der Beantwortung der Frage auf ein mehr
oder weniger allgemein formuliertes Gebot, oder Verbot, sei es ein gesetzliches,
religiöses oder moralisches. Die häufigste, Kindern wohl auch Nächstliegende
Art dieser Begründung lautet:
„Weils verVoten ist" oder auch „Es ist verboten" oder „Stehlen ist verboten."
Viel seltener sind die folgenden Formen:
„Es geht gegen Gottes Gebot."
„Weil es Sünde ist."
„Weil das siebente Gebot übertreten wird und es bestraft wird."
„Weil das Gesetz es verbietet."
„Weil es ein Gesetz ist — und wenn man ein Gesetz übertritt, so wird man bestraft."
„Das verbietet sich schon von selbst."
"
„Weil es ein Verbrechen ist.
Schließlich sei noch eine besondere Antwort erwähnt:
„Es ist 'ne Schande, da wird man eingesponnen."
In dieser dritten Gruppe befinden sich ebenfalls nur ganz vereinzelt geistig
Zurückgebliebene; das vorletzte Beispiel stammt charakteristischerweise von einem
Knaben mit hysterischen Zügen, das letzte von einem schwachsinnigen dreizehn-
einhalbjährigen Mädchen.
Es wäre sicher verfehlt, wenn wir in allen Antworten der beiden letzten
Gruppen ohne weiteres den Ausdruck einer bewußten sittlichen Achtung vor
göttlichen, staatlichen oder moralischen Gesetzen erkennen wollten. Wiewohl die
genauere Nachforschung bei einzelnen eine solche Annahme rechtfertigte, so ergab
es sich doch weit häufiger, daß auch hier, nicht anders wie in der ersten Gruppe,
das Schreckgespenst der Strafe, die Sorge um das eigene Wohl, den eigentlichen
„moralischen" Hintergrund bildet, oder daß doch nur ein blindes, gefühls¬
mäßiges, an sich ja nicht unlöbliches Gehorchen aus den Begründungen spricht.
Bisweilen kann sogar nicht gezweifelt werden, daß es sich lediglich um das
Wiederholen einer gehörten oder eingepaukten Redensart, ohne tieferes Erfassen
des Sinnes, handelte. Denn auch an dieser Stelle müssen wir uns erinnern,
wie sehr die Äußerungen der Prüflinge durch häusliche und anderweitige Vor¬
besprechungen beeinflußt sein können.
Ebenso wäre es freilich voreilig und gewiß nicht immer zutreffend, aus
den stark egozentrischen, grobegoistischen Äußerungen der ersten angeführten
Gruppe schon den Mangel jedes höheren sittlichen Beweggrundes zu folgern.
Was aber beim Überblicken dieses vorläufigen Ergebnisses auffüllig erscheinen
muß, ist die negative Tatsache: Diejenigen Antworten, welche bei Jugendlichen
in nächster Bereitschaft liegend vermutet werden sollten, die Berufung auf Gott,
auf das religiöse Gebot, auf die Sündhaftigkeit des Stehlens gehören zu den
weitaus seltenen Erscheinungen. Sie ließen sich zweifelsfrei nur in 12 Prozent
aller Fälle erkennen und, unter ihnen befindet! sich noch einzelne geistig Zurück¬
gebliebene, die zu phrasenhaftem Antworten geneigt sind.
Wollten wir auf unserem Wege ein von zufälligen Einflüssen unabhängigeres,
psychologisch zuverlässigeres Bild der Ethik unserer jugendlichen Angeklagten
erhalten, wollten wir die wirklichen Triebfedern aufdecken, die sie gegebenenfalls
von einem Diebstahl abhalten könnten, so mußten sie vor allen Dingen in eine
Lage versetzt werden, in welcher sie selbständig ein Urteil abzugeben hatten über
einen ihnen nahegelegten Konflikt zwischen dem natürlichen Trieb der persön¬
lichen Bereicherung und dem Verbote, zu stehlen. Sie mußten veranlaßt werden,
für ihre begreiflicherweise fast stets behauptete sittliche Entscheidung, nämlich, daß
sie der Versuchung widerstehen würden, die Gründe im einzelnen darzulegen;
sie mußten, allmählich in die Enge getrieben, sich dabei genötigt sehen, alles,
was ihnen an vermeintlich guten Beweggründen zu Gebote stand, im eigenen
Interesse, zur Verteidigung ihrer angeblichen Stellungnahme vorzubringen.
So kompliziert und klippenreich in psychologischer Hinsicht derartige Aussage¬
experimente, besonders den suggestiblen Unerwachsenen gegenüber, erscheinen, so
vermochte ich doch, dank besonderer Umstände, mit einiger Ausdauer fast aus¬
nahmslos ausreichende, wissenschaftlich verwertbare Angaben zu erzielen; selbst
unter den geistig Zurückgebliebelten fanden sich nur wenige, deren mangelhaftes
Verständnis die Beantwortung meiner Fraget! nicht ganz gelingen ließ. Es
kamen mir neben dem lebhaften Interesse der Kinder an dem für sie aktuellen
Thema und der für sie neuartigen Erörterungsweise mancherlei äußere Bedingungen
zu Hilfe, um die Lösung meiner Aufgabe zu begünstigen. So mußte die im
Hintergrunde schwebende Anklage, gleichgültig ob schuldig oder unschuldig, die
Bemühung der Befragten verstärken, ihre besten Gesinnungen an den Tag zu
legen, und ebenso vermochte der, wiewohl nicht immer zutreffende Gedanke und
die von den Angehörigen oft gestützte Auffassung, daß der Arzt sie vor der
Strafe bewahren könnte, ihre Bereitwilligkeit zu möglichst guter Auskunft nur
zu erhöhen.
Zwei sehr verschiedenartige konkrete Beispiele werden am ersten die ungefähre
Art meines Verfahrens veranschaulichen. Es ist nur nötig, vorauszuschicken,
daß von Fall zu Fall die Einkleidung der Fragen und das ganze Vorgehen
der Situation, der Straftat, dem Verständnis und demi Gefühlsleben des Be¬
fragten, mit einer gewissen Diplomatie angepaßt werden mußte.
Beispiel I. Ein zwölfeinhalbjähriger, der Hehlerei beschuldigter, vollauf
geständiger Knabe, von ungleichmäßig entwickelter Intelligenz, der vor der Ver-
Setzung in die dritte Klasse einer Volksschule stand, gab folgende Antworten auf
die einzelnen Fragen:
Beispiel II. Zwei Brüder aus armer Familie, die in einer Bäckerei tätig
waren, hatten von dort, angeblich durch Beispiel verführt, wiederholt Backmaterial
in kleinen Mengen nach Hause genommen. Beide bekannten sich des Diebstahls
schuldig. Die Prüfung des älteren, siebzehnjährigen, recht intelligenten An¬
geklagten spielte sich folgendermaßen ab:
Sehen wir von den mancherlei interessanten Zügen des immer wieder
individuell gefärbten Einzelfalles notgedrungen an dieser Stelle ab, so ergibt
sich bei einem zusammenfassenden Überblick folgendes Bild.
Alls der Gesamtzahl der hundert Fälle stechen zunächst drei Prüflinge da¬
durch ab, daß sie die in den obigen Fragen liegende Unterstellung eines unehr¬
lichen Verhaltens nicht schlankweg verneinen. Es gehörten zu ihnen ein siebzehn-
einhalbjähriger leicht Schwachsinniger, aus schlecht beleumdetem Milieu, der nach
richtigem Verständnis der Frage lächelnd zugab, wieder zu stehlen, wenn er sicher
nicht erwischt werde; ferner ein dreizehneinhalbjähriges, geistig noch tiefer stehendes
Mädchen, das auf die Frage 2 des ersten Beispiels antwortete: „Dann darf man's."
Der dritte Fall schließlich betraf einen siebzehneinhalbjährigen Psychopathen aus
bürgerlicher Familie, ohne eigentlichen Jntelligenzdefekt, dagegen mit mangelhafter
Gefühls- und Willensbildung. Er erklärte bei dem wie oben gegebenen kon¬
kreten Diebstahlsbeispiel: „Wenn ich ehrlich sagen soll — ich würde es nehmen
(nämlich ein fremdes Portemonnaie), nur uni mir wieder einen vergnügten Tag
zu verschaffen." Zu seiner Verteidigung versuchte er die moralische Berechtigung
des geltenden Eigentumsbegriffs und der herrschenden Staatsgesetze anzuzweifeln
und zu bestreiten.
Im übrigen habe ich, wie ich hier vorwegnehme, auch bei den meist dem
Arbeiterstand entsprossenen Kindern ähnliche, etwa sozialistisch gefärbte An¬
schauungen in den Motivierungen nicht beobachten können.
Ein Sitllichkeitsbewußtsein im höheren Sinne dürfen wir wohl unbedingt
erkennen in den Fällen, in welchen der Diebstahl verworfen wird, nicht im Hin¬
blick auf die Folgen der Handlung, sondern lediglich aus unmittelbarer Achtung
vor dem Gebot; in reinster Form da, wo das Gebot des eigenen Gewissens
als einzige und höchste Instanz den zugrunde gelegten Konflikt entscheidet. Eine
solche ethische Höhe kommt unzweifelhaft nur ganz vereinzelt in unseren Ant¬
worten zum Ausdruck, z. B. bei einem siebzehnjährigen Laufburschen, der des
Diebstahls beschuldigt wurde. Er antwortete auf Frage 1: „Das verbietet
sich schon von selbst"; auf Frage 2: „Es bliebe trotzdem Diebstahl"; auf
Frage 3: „Das Gewissen, das Bewußtsein, einen Diebstahl begangen
zu haben".
Die Seltenheit einer so hohen sittlichen Auffassung kann uns bei unseren
Prüfungen nicht Wunder nehmen; schon darum nicht, weil sie auch eine rein
intellektuelle Entwicklung zur Voraussetzung hat, wie sie in diesem Alter selten
vorhanden sein kann. Auch Erwachsene erreichen gewiß nur vereinzelt, ungeachtet
Kants Lehre, die Stufe der autonomen Sittlichkeit. Sagt doch Schopenhauer in
seiner sarkastischen Art: „Es gibt in der Tat wahrhaft ehrliche Leute — wie es
auch wirklich vierblätterigen Klee gibt."
Etwas sittlich Wertvolles müssen wir immerhin auch den Hinweisen der
Prüflinge aufs Gebot zuerkennen, in welchen die Motive nicht autonom, sondern
einem anerzogenen oder gefühlmäßigen Gehorsam gegen Gott, gegen die Staats¬
hoheit, die Eltern oder andere Autoritäten entsprungen waren. Sie sind eine
häufigere Erscheinung; es bleiben aber auch von ihnen nur wenige übrig, wenn
wir diejenigen ausschließen, bei welchen die Befolgung des Gebots sich als nichts
anderes darstellte als Furcht vor Strafe im Falle des Ungehorsams. Selbst
die Angabe „Mein Gewissen verbietet es mir" enthüllte sich in einem Fall
lediglich als Angst vor der dauernden künftigen Bedrohung und der dadurch
erzeugten inneren Unruhe.
Im weitaus größten Teil der Untersuchten, nämlich in Vierfünfteln der
hundert Fälle, spielen lediglich Erwägungen des Nutzens oder Schadens, sei es
für die eigene Person, sei es für die Mitmenschen, eine Rolle. An überragender
Stelle stehen die egoistischen Beweggründe in ihrer ursprünglichsten persönlichen
Form, wie sie für das Kindesalter bekannt sind. Trotz des bestimmt zu¬
gesicherten Schutzes vor Entdeckung und Erfaßtwerden tritt hier immer wieder
nur die eine Erwägung zutage: „Es kann doch einmal rauskommen, man könnte
doch auf die Spur kommen oder erwischt werden", und es enthüllt sich somit als
eigentliches Motiv doch nur: Furcht vor Polizei, Gefängnis, Gericht, vor der
Strafverschärfung wegen des Rückfalls, die Angst vor der Fürsorgeerziehung und
bisweilen auch vor elterlicher Strafe und etwa noch vor künftiger innerer Unruhe.
In einem Teil der Fälle ließen sich bei tieferer Sondierung neben solchen
Äußerungen oft noch andere, ethisch höher zu bewertende Begründungen feststellen.
Vielleicht hat auch hie und da unser Verfahren manches im Grunde der Seele
schlummerndes nicht ans Licht zu bringen vermocht; jedenfalls betrug die Zahl
derer, die ausschließlich vom Egoismus in dieser ursprünglichsten unmittelbaren
Form geleitet zu sein schienen, kaum mehr als ein Drittel der Gesamtheit.
In einer etwas höheren Form tritt diese „Ethik" des rein individuellen
Nutzens und Schadens auf, wenn sie sich als Sorge um künftige soziale Nachteile
in materieller oder ideeller Hinsicht kundgibt. Derartige Begründungen lauteten
beispielsweise:
„Daß ich niemals Meister werden kann.""
„Weil einen doch niemand in Arbeit nimmt,
"
„Die öffentliche Schande,
Ferner kam die Sorge um die eigene und die Familienehre in folgenden
Angaben zum Ausdruck:
„Man blamiert sich, es wird in ein Buch geschrieben, wenn man Gefängnis bekommen hat,"
„Weil es ein Schandfleck auf mir ist,"
„Ich mach' meinen Eltern zu große Schande."
„Der Ruf der Familie und der gu!e Name,"
Es ist gewiß nicht Zufall und leicht verständlich, daß solche nicht gerade
häufigen Bedenken fast ausschließlich von Knaben stammen, die sich schon in
beruflicher Stellung befanden und fast alle über fünfzehn Jahre alt waren.
Sittlich weit höher zu bewerten sind natürlich alle die Argumente gegen den
Diebstahl, welche dem Mitleid, dem Gerechtigkeitssinn und der altruistischen Ein¬
fühlung in die Lage des Geschädigten, sei es ganz allgemein oder im konkreten
Beispiel entsprungen sind. Sie finden sich freilich noch nicht bei einem Zehntel
der Befragten, z. B.:
„Es würde mir leid tun, daß ein anderer unschuldig in Verdacht käme."
„Wenn mir's so ginge, wäre mir's auch nicht recht."
„Der Mann hatte kein Fahrgeld für nach Hause und vielleicht nichts zu essen."
„Der Mann hat auch Schaden."
„Die Nächstenliebe. Ich würde den andern schädigen."
Noch seltener sind die Fälle, in denen sozialaltruistische Beweggründe und
allgemeine Bedenken, etwa die Gefährdung der Staats- und Gesellschaftsordnung,
gegen den zugemuteten Diebstahl vorgebracht werden, wie in den folgenden
Äußerungen:
„Ich denke daran, niemandem einen Schaden zuzufügen."
„Weil man dadurch dem Eigentum der andern schadet."
„Sonst könnte jeder stehlen und könnten die Leute verarmen."
Nicht ohne Interesse M es, daß auch die Antworten der beiden letzten
Gruppen mit Ausnahme eines Vierzehnjährigen allesamt von Jugendlichen
gegeben wurden, die das fünfzehnte Lebensjahr vollendet und meist um ein bis
zwei Jahre überschritten hatten. So klein auch relativ die Zahl dieser ethisch höher
Entwickelten ist, so sehe ich doch in ihrer fast ausschließlichen Rekrutierung
aus den letzten Jahrgängen der Jugendlichen eine volle Bestätigung der Auf¬
fassung Ziemkes, die er in seiner schon erwähnten Abhandlung darlegt, daß
nämlich in der Regel erst im sechszehnten bis siebzehnten Lebensjahr sich ein Sittlich¬
keitsbewußtsein im strengeren Sinne entwickelt hat. Mit Recht hat daher auch der
in den Motiven des Vorentwurfs zum neuen Strafgesetzbuch vertretene Stand¬
punkt eine fast allgemeine Anerkennung gefunden, daß nämlich Kinder in: Alter
von zwölf bis vierzehn Jahren fast durchweg sittlich und geistig noch dergestalt
in der Entwicklung begriffen und unfertig sind, daß sie strafrechtlich am besten
nicht verantwortlich gemacht werden.
Eine gesonderte Betrachtung erforderte die schon im ersten Teil berührte
Frage, in wie weit religiöse Vorstellungen in den Gründen anklingen, mit denen
unsere Prüflinge das ihnen nahegelegte unehrliche Verhalten zurückweisen.
Tatsächlich sind ja schon die zwölfjährigen Angeklagten der verschiedenen Be¬
kenntnisse in jahrelanger religiöser Unterweisung über den Inhalt des siebenten
Gebotes, über die Autorität, die Allwissenheit und Allgegenwart Gottes, über
den Begriff der Sünde belehrt worden. Dieses theoretische Wissen praktisch
anzuwenden, dazu bot jede einzelne Frage unseres Schemas (vgl. Beispiel I und II)
Gelegenheit genug. Es wurden auch wirklich durch diese eindringlichere Be-
fragung einige religiöse Motivierungen zutage gefördert', die bei der einfachen
Frage: Warum darf man nicht stehlen? verborgen geblieben waren, z, B.
„Gott sieht es doch."
„Weils der liebe Gott sieht."
„Weil das siebente Gebot übertreten wird."
„Stehlen ist eine Sünde."
„Gott ist ja überall und würde es sehen."
„Ich denke, wenns keiner sieht, der liebe Gott sieht es."
Überblicken wir aber das Gesamtergebnis dieser Feststellungen im zweiten Teil,
so überrascht uns auch hier die ungewöhnliche Seltenheit solcher religiöser Ge¬
dankengänge. Es fanden sich nämlich einschließlich der im ersten Teil gewonnenen
Aussagen in noch nicht 25 Prozent der Fälle religiöse Anklänge in den Moti¬
vierungen. Selbst in der Frage 5, nach dem Urheber des Verbots, wurde der
religiöse Gesichtspunkt in kaun: mehr als der Hälfte der Fälle geltend gemacht,
und auch hierbei gelang es öfters erst durch meinen eindringlichen Hinweis auf
den Schulunterricht, die Erinnerung zu erwecken. Bisweilen vermochte selbst die
Frage nach dem Religionsunterricht diese Gedankenverknüpfung nicht herzustellen.
So erklärte z. B. ein Fünfzehneinhalbjähriger auf Vorhalt: „Da haben wir
weiter nichts gemacht wie gesungen." Die Autorität Gottes erschien somit
zurückgedrängt gegenüber der der Polizei, des „Polizeipräsidenten", des
„Magistrats", des „Kaisers", des „Lehrers" usw.
Anderseits läßt sich in den die Konfirmation umschließenden Jahren recht
wohl der belebende Einfluß der religiösen Unterweisung auf die Vorstellungen
erkennen. In dem Alter von dreizehn bis fünfzehn Jahren war nämlich der
prozentuale Anteil der „Religiösen" mehr als doppelt so groß als der durch¬
schnittliche Anteil der übrigen Altersklassen.
Wer gewohnt ist, in der Religion die wichtigste Stütze der Moral zu
sehen, wird sich dem auffälligen Befund gegenüber schwer des Gedankens
erwehren, daß die Hingabe an die verbrecherischen Neigungen bei unseren
Angeklagten eben aus jenem Mangel an religiösen Hemmungen hervorgegangen
sei; er wird vielleicht darin nichts anderes erkennen als ein Symptom der all¬
gemeinen Unmoral, nach den Worten der Bergpredigt: „An ihren Früchten sollt
ihr sie erkennen".
Und wirklich könnte es wie eine Bestätigung erscheinen, wenn man die
kompetenten Beobachtungen hinzunimmt, die Pastor Metz") über jugendliche
Gefängnisinsassen veröffentlicht hat. Neben dem allgemeinen Wissensmangel
fand er an seinen über vierzehn Jahre alten Gefängnisschülern eine solche Un¬
kenntnis in der Religion, daß er sie „als einfach ganz unglaublich" bezeichnen
mußte. „Keiner von ihnen," erwähnt er als Beispiel, „konnte noch die zehn
Gebote, das Glaubensbekenntnis auswendig."
Wenn nun auch echte Frömmigkeit zweifellos einen starken Schutz gegen
unmoralisches Handeln in sich trägt, so wäre es doch recht voreilig und un¬
wissenschaftlich, die mangelhaften Kenntnisse an religiösem Lernstoff oder die
mangelhafte Bereitschaft an religiösen Gedanken in unmittelbaren ursächlichen
Zusammenhang zu bringen mit der Straffälligkeit der Jugendlichen. Denn auch
abgesehen davon, daß ein Teil unserer Angeschuldigten wegen Schwachsinns und
aus anderen Gründen von der Schuld notorisch freigesprochen wurde, sahen wir
keineswegs das Maximum der „Religiosität" mit den Jahrgängen der höchsten
allgemein ethischen Motivierungen zusammenfallen.
Eine noch ganz andere Beleuchtung aber erfährt unser Ergebnis, wenn
wir es unter dein strengeren Gesichtspunkt der neuzeitlichen Aussageforschungen
betrachten. Es muß genügen, zwei solcher tatsächlichen Feststellungen hier kurz
anzuführen, die weder an Sträflingen noch an Angeklagten, sondern an einem
kriminell durchaus nicht befangenen Material gewonnen wurden.
Es ist einmal die von Lobsien, Stern und späteren Forschern bestätigte
statistische Tatsache, daß gerade der Religionsunterricht zu den am wenigsten
beliebten Fächern gehört und somit am häufigsten der gefühlsmäßige Anteil des
Interesses fehlt, ohne den aber eine tiefere Verankerung alles Erlernten psycho¬
logisch unmöglich ist. Daß aber ferner die festgestellte Unfähigkeit unserer jugendlichen
Rechtsbrecher, die Religion auf die Vorgänge des praktischen Lebens anzuwenden,
für sie nicht spezifisch ist, nicht pathognostisch, wenn ein ärztlicher Fachausdruck
erlaubt ist, ja nicht einmal sür das Berliner Arbeitermilien, dem sie meist
entstammen, charakteristisch ist, das sehe ich erwiesen durch die interessanten Ver¬
öffentlichungen des Mannheimer Stadtoikars R. Enkeln*). Das von ihm an
Volksschulkindern der siebenten und achten Klasse am Tag vor der Schulent¬
lassung eingeforderte schriftliche Urteil über den Wert der Religion ergab für
den mit seinen Schülern offenbar sehr vertraut stehenden und beliebten Geist¬
lichen ein Resultat, welches er als „wahrhaft erschreckend" bezeichnet. Von
104 Knaben begannen 66: „Die Religion hat überhaupt keinen Wert. . ., denn
für unser Geschäft können wir sie nicht brauchen." Andere erklärten sie für
nützlich „wenn man alt ist", „wenn es einem schlecht geht" oder „wenn man
in der Fremde ist".
Die Wechselwirkung zwischen sittlicher Entwicklung und Religionsunterricht
ist — von Kant angefangen — ebenso viel bestritten wie verteidigt worden.
Die Forderung eines selbständigen Moralunterrichts wird auch bei uns in
neuerer Zeit dringlicher erhoben und bildet deu Gegenstand lebhaftester
Erörterungen.
Wenn NUN auch Psychologie und Psychiatrie ernstlichen Anteil Mi diesen
Problemen nimmt, so würde ich mit einem weiteren Eingehen darauf Raum
und Kompetenz gewiß überschreiten. Sind es doch Fragen, die mit allgemeineren
öffentlichen religiösen Bewegungen in engster Beziehung stehen und die erst vor
kurzem hervorragende Theologen und Pädagogen uuter Prof. Rein zur Gründung
eines „Bundes für Reform des Religionsunterrichts" veranlaßt haben. Sie
aber zu lösen sind nicht nur die verschiedenen Zweige der Wissenschaft unberufen,
sondern es ist auch die Mitarbeit der Kirche selbst, der Schule, des Elternhauses
unentbehrlich und, wie der den Lesern dieser Zeitschrift nicht unbekannte Adolf
Matthias*) hinzufügte, in gleicher Weise die Mitwirkung „der fünften Gro߬
macht, der Presse".
aß der Reichskanzler Dr. Theovcild v. Bethmann-Hollweg dem Stamme
^ nach ein Hollweg ist und kein Bethmann, daß er mit anderen Worten
von Vaters Seite her dem Geschlechte Hollweg entstammt, dürfte
allgemein bekannt sein. Der nähere Zusammenhang ist folgender:
! Der älteste, bisher bekannt gewordene Stammvater der Hollweg ist
Johannes Helwig Holweg oder Hollweg, der in der zweiten Hälfte des sechzehnten
Jahrhunderts Bürger zu Gießen war. Aus diesem Geschlechte stammte Johann
Jakob Hollweg. geboren 1748, gestorben 1808, beides zu Frankfurt a. M.. Kauf¬
mann von Beruf, der sich am 15. August 1780 mit Susanne Elisabeth Bethmann,
aus dem bekannten Frankfurter Bankherrengeschlechte der heutigen Freiherren
v. Bethmann, der Schwester von Simon Moritz (von) Vethmann, vermählte,
welcher Simon Moritz im Jahre 1808 den österreichischen Ritterstand erhielt.
Johann Jakob Hollweg, Gesellschafter der Firma „Gebrüder Bethmann" zu
Frankfurt a. M, nahm infolge dieser Ehe das Bethmcmnsche, altüberlieferte
Familienwappen und den Namen „Bethmann--Hollweg" an. Aus dieser Ehe
stammte Moritz August Beihmann-Hollweg, geboren 1795, der 1819 Privatdozent
an der Berliner Hochschule, 1820 daselbst außerordentlicher, 1823 ordentlicher
Professor für bürgerliches und Prozeßrecht wurde und 1829 als Ordinarius an
die Rheinische Hochschule nach Bonn kam. Am 15. Oktober 1840 erhielt er bei
Gelegenheit der Erbhuldigung zu Berlin von König Friedrich Wilhelm dem Vierten
den erblichen Adel unter dem Namen: „v. Bethmann-Hollweg". Es ist hier ein¬
zuschalten, daß der Bindestrich zwischen den beiden Namensbestandteilen „Bethmann"
und „Hollweg" diplomsmäßig, folglich die Schreibweise des Namens mit dem
Bindestrich für die wissenschaftliche Genealogie die allein maßgebende ist. Wenn
die Mitglieder des Geschlechtes „Bethmann-Hollweg" ihren Geschlechtsnamen, wie
ein bekannter rheinischer Familiengeschichtsforscher sich ausgedrückt hat, „gerne"
ohne den Bindestrich schreiben, wenn vor allem der Reichskanzler dieses regel¬
mäßig tut, so ist das eine Privatangelegenheit der betreffenden Personen, durch
die die alleinige, amtliche Richtigkeit der Schreibweise mit dem Bindestrich nicht
berührt wird.
August v. Bethmann-Hollweg wurde 1842 Kurator der Rheinischen Friedrich-
Wilhelms-Universität zu Bonn (bis 1848), 1845 war er außerdem Mitglied des
Staatsrates geworden. 1849 bis 1851 war er Mitglied der Ersten, 1852 bis
1855 Mitglied der Zweiten Kammer. 1358 wurde er Minister der geistlichen,
Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, von welchem Posten er 1862 zurück¬
trat. Im Jahre 1877 ist er auf seinem Schlosse Rheineck bei Andernach gestorben.
Aus seiner Ehe mit Auguste, geborenen Gebser, gestorben 1882, hatte er
fünf Kinder: zwei Söhne und drei Töchter. Der zweite Sohn war Felix Karl
Moritz, geboren 1824, gestorben 1900 auf seiner Herrschaft Hohenfinow im Kreise
Oberbarnim, zuletzt Königlich Preußischer Wirklicher Geheimer Rat, vermählt seit
1853 mit Jsabella v. Rougemont, die ihrerseits am 3. Juni 1908 zu Hohenfinow
gestorben ist. Der zweite Sohn aus dieser Ehe ist der fünfte Kanzler des
Deutschen Reiches.
Das Geschlecht Bethmann stammt ursprünglich aus Goslar am Harz. Ur¬
kundlich kommen in Goslar bereits vor: Heinrich Bethmann 1416, Tile Bethmann
1447 bis 1469, Bartold 1458 bis 1474, Hans 1463 bis 1476, Bartold (der
Jüngere) 1479 bis 1509. dessen Bruder Hans (II.) 1497 bis 1502, Tile (der
Jüngere), Mitglied des Rates, 1492 bis 1521. Albrecht 1477, Henning 1470 bis
1502, Albrecht (der Jüngere) 1511 bis 1532, Heinrich 1507, Hans (III.), Mitglied
der Kaufmannsgilde im Jahre 1525, gestorben 1551, Bethmann Bethmann, Bürger
und Hausbesitzer, 1614. Die urkundliche Stammreihe des Geschlechtes bis auf
den Spezialstammvater des Frankfurter Bankherrengeschlechtes, den Kaiserlich
russischen Staatsrat und Generalkonsul Simon Moritz Ritter v. Bethmann und
seine leibliche Schwester Susanne Elisabeth (siehe oben), die Urgroßmutter des
Reichskanzlers, ist folgende: Henning (der Jüngere) Bethmann war 1512 Mit¬
glied der Kaufmannsgilde zu Goslar, bis 1552 war er Ratsherr daselbst. 1555
ist er gestorben. Von den Kindern dieses Henning kommt hier als Stammfort¬
pflanzer Heinrich Bethmann in Betracht, Mitglied der Kaufmannsgilde 1554, bis
1584 erwähnt. Dessen ältester Sohn war Hieronymus, Mitglied der gleichen
Gilde seit 1590, Ratsherr von 1625 bis 1629, gestorben 1632. Hieronymus hatte
drei Söhne, davon war der zweite, Andreas, seit 1626 Mitglied der Kaufmanns¬
gilde. Er vermählte sich, wie besonders hervorgehoben werden soll, mit der
Pfarrerstochter Anna Schönermarck aus Goslar und starb als Ratsherr um 1679.
Mit seinem Sohne Konrad, seinem siebenten Kinde, setzt das Aufsteigen des Ge¬
schlechtes ein. Konrad ist am 28. Januar 1652 zu Goslar geboren. Er wurde
1676 Münzwardein zu Dönitz, 1633 Fürstlich Nassau-Holzappelscher Münzmeister
Zu Kramberg, 1687 Münzmeister des deutschen Ordens zu Friedberg in der
Wetterau, 1692 Münzmeister des Kurfürsten von Mainz zu Aschaffenburg (später
Zu Mainz) und ist im Jahre 1701 in der letzgenannten Stadt gestorben. Dieses
Konrads sechstes Kind, der vierte Sohn, war Simon Moritz, der erste Träger
dieser Vornamen in dem Geschlechte, die er höchstwahrscheinlich in Erinnerung an
den Apostel Simon und an den Heiligen Moritz, als die Schutzpatrone eines alten
Stiftes zu Minden, erhalten hat. Konrad Bethmanns Frau, die Mutter dieses
Simon Moritz, Anna Elisabeth, geborene Baumann, stammte nämlich aus Minden,
und ein anderer Grund für die Beilegung der Vornamen „Simon" und „Moritz"
ist nicht ersichtlich. Weder fällt der Geburtstag des Knaben auf die Tage „Simon"
oder „Moritz", noch führte einer der Paten diese Vornamen. Simon Moritz
starb 172V als Nassau-Jdsteinscher Amtmann. Sein ältester Sohn Johann Philipp
heiratete eine Frankfurterin, Katharina Margaretha Elisabeth Schaaf, wurde mit
seinem jüngsten Bruder Simon Moritz (II.) Bürger von Frankfurt, und beide sind
die Begründer des dortigen Bankgeschäftes „Gebrüder Bethmann" (1748). Vor¬
genannter Johann Philipp hatte mehrere Kinder, darunter Susanne Elisabeth, die
älteste Tochter, und Simon Moritz (III.), den ältesten Sohn. Susanne Elisabeth
ist die schon erwähnte Gattin von Johann Jakob Hollweg, Simon Moritz (III.),
der spätere erste „Ritter von Bethmann". Letzterer wurde zum weltbekannten Chef
des Frankfurter Bankhauses und Ahnherr aller späteren Freiherren v. Bethmann.
Nach dem Vorstehenden ist also die Ansicht irrig, die sich auch noch in der
sechsten Auflage von Meyers Großem Konversationslexikon (II, 7K8) wiedergegeben
findet, die Vorfahren des Geschlechtes Bethmann hätten aus den Niederlanden
gestammt und seien von dort zur Zeit der Religionsverfolgungen vertrieben worden.
Im Jahressupplement 1909—1910, dem zweiundzwanzigsten Bande des Gesäme
Werkes (S. 112), ist deshalb auel eine entsprechende Berichtigung vorgenommen
worden, zugleich mit dem Hinweise, daß das Geschlecht Hollweg der Stadt Butzbach
mehrere evangelische Pfarrer geliefert hat.
Um die Mitte des Jahres 1909 fand sich in Zeitungen verschiedener Partei¬
richtungen wiederholt die Mitteilung und ging von da aus auch in die aus¬
ländische Presse über, der Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg sei von der väter¬
lichen Seite her jüdischen Ursprungs und, da sich dieser jüdische Ursprung, wie
jeder auch nur einigermaßen Unterrichtete ohne weiteres einsieht, von dem Gießener
Bürger Johannes Hollweg der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts und
dem Butzbacher Pfarrergeschlechte des gleichen Stammes nicht behaupten läßt,
weil es einen Bürger von Gießen und evangelische Pfarrer aus jüdischem Stamme
zu den in Betracht kommenden Zeiten nicht gab und nicht geben konnte, so wurde
er wenigstens dem Geschlechte Bethmann angedichtet. Daß der Glaube an den
jüdischen Ursprung der Bethmann unhaltbar und geradezu unsinnig ist, hat das
Vorstehende ergeben.
Zu einem sehr durchsichtigen Zwecke hat nun ganz neuerdings ein ver¬
breitetes Berliner Blatt die Mär von der jüdischen Abstammung des Reichskanzlers
wiederum aufgetischt. Dieses Mal ist es das Geschlecht Rougemont, dasjenige der
Mutter des Reichskanzlers, das herhalten nutz. Das Blatt schreibt: „Die Mutter
des Kanzlers war Denise Louise Jsabelle de Rougemont, 1833 zu Paris geboren
als Tochter eines schweizerischen Bundes-Artillerie-Majors Abram Denis Alfred
de Rougemont, der 1802 geboren war, Sophie de Pourtales zur Frau hatte und
1868 starb. Dieser wiederum war ein Sohn von Denis de Rougemont du
Löwenberg (geb. 1759, geht. 18:'>9), Chef des Bankhauses ,de Rougemont' in
Paris und preußischer Agent. Dieser Nougement du Löwenberg war noch un¬
gemischter Israelis man kann das Geschlecht bis 1528 zurückverfolgen.
Kanzler Theobald von Bethmann Hollwegs Großvater mütterlicher
Seite war somit Jude." (Das vorstehend Gesperrte ist auch in der UrVorlage
in Sperrdruck I)
Demgegenüber ist folgendes festzustellen: Die Rougemont sind ein vornehmes
Geschlecht der Schweiz, stammend aus dem Jura. Das Geschlecht besitzt das
„Burgerrecht" in Bern, Murten und Neuenburg. Seine Stammreihe läßt sich bis
Hugomini Colon dictus Rogemont zurückverfolgen, der um 1628 lebte. Dessen
Sohn Pierre Rougemont, sein Enkel Claude Rougemont und sein Urenkel Guillaume
Rougemont stehen urkundlich vollkommen fest. Ein Sohn dieses Guillaume war
Jean Rougemont, der 1630 als Richter- zu Se. Aubin nachgewiesen ist. Der
Sohn von Jean: Fran?vis° Antoine Rougemont, geboren 1617, gestorben 1694,
war von 1658 bis 1694 evangelischer Pfarrer zu Se- Aubin. Hier ist der Punkt,
bei dem die Tatsachen die Annahme einer jüdischen Abstammung der Rougemont
völlig unmöglich machen. Ein Richter und ein evangelischer Pfarrer jüdischen
Blutes sind zu jeuer Zeit und in jener Gegend (Se. Aubin liegt im Jura) völlig
ausgeschlossen!
Der Pfarrer zu Se. Aubin hatte einen Sohn namens Jean. Dieser wurde
1695 Bürger zu Neuenburg (NeuclMel). Aus seiner Ehe mit Anne-Marie de
Merveilleur, stammte Fran?vis-Antoine, geboren 1675, der es bis zum Staatsrat
brachte. Er heiratete Beatrix Ostervald aus einem angesehenen Neuenburger
Geschlechte, das dieser Stadt im Anfange des siebzehnten Jahrhunderts einen
Bürgermeister gegeben hatte. Der Staatsrat Rougemont hatte einen Sohn: Jean-
Jacques, geboren zu Neuenburg im Jahre 1705, der zu Paris ein Bankgeschäft
begründete und 1762 starb. Als er starb, war sein Sohn Denys im zartesten
Kindesalter (geboren 1759; s. oben). Er erbte vom Vater das Bankgeschäft und
war später dessen Chef. Außerdem wurde er später zu Paris „Königl. Preußisch.
Agent". In dieser Eigenschaft erhielt er am 19. März 1784 vom Könige Friedrich
dem Großen den preußischen Erbadel, und zwar in Form einer „Anerkennung
und Erneuerung", die eigentlich eine „Übertragung und Neuverleihung" war. Ein
Seitenverwandter eines seiner Vorfahren nämlich: FrSderic Rougemont, hatte im
Jahre 1688 den Adel erhalten und war daraufhin noch im gleichen Jahre in die
Neuenburger Adelsmatrikel aufgenommen worden, aber im Jahr 1704 ohne
Nachkommen verstorben, und diesen erloschenen Adel „übertrug" König Friedrich
der Große auf seinen Agenten Denys. Wenn Denys de Rougement dieseni
Namen den Zusatz „du Löwenberg" hinzugefügt hat, so hat es sich, wie schon das
„du" ergibt, offenbar um einen Grundbesitz, ein Landgut gehandelt, das ihm
gehörte. In der Tat ist „der Löwenberg" ein altes Landgut der Rougemont am
Murtener See in der Schweiz, das dem Geschlechte noch heute gehört. Eben
dieses Denys Mutter war Marie-Marguerite Masson. Er selbst war vermählt
mit Adelaide de Montesuy. Beider Sohn ist Adam - Denys - Alfred, der mit
Sophie de Pourtalös vermählt war. Er ist es, der Schadau bei Thun am
Thuner See, einen uralten Herrensitz des Hauses Bubenberg, zu einem herrlichen
Schlosse gestaltete, indem er es in französischem Geschmack umbauen und mit
.prächtigen Gartenanlagen umgeben ließ.
Mit diesen Feststellungen dürfte die Behauptung der angeblichen israelitischen
Herkunft des Geschlechtes Rougemont auch erledigt sein. Es ist aber noch ein
Wort über die methodisch falschen Voraussetzungen zu sagen, die zu dieser irrigen
Behauptung geführt haben. Weil ein „Bankgeschäft" vorhanden ist, der Vater der
Jsabella v. Rougemont u. a. den biblischen Vornamen Abram (Abraham) führte
und ein Wort wie „Löwenberg" vorkommt, wurde gleich eine jüdische Abstammung
„gelindert". Es muß demgegenüber einmal deutlich ausgesprochen werden, daß
dieser Weg in die Irre führen muß. Die Herkunft und Abstammung eines
Geschlechtes kann man ausschließlich auf dem Wege der genealogischen
Ermittlung der Abstammungstatsachen feststellen. Es gibt Träger klangvoller
Adelsnamen, denen es äußerlich niemand anmerkt, daß das Geschlecht aus jüdischem
Stamme ist; es gibt umgekehrt durchaus jüdisch klingende Geschlechtsnamen, deren
Träger durchaus christlichen Stammes sind. Aus biblischen oder gar alttestament-
lichen Vornamen ist vollends an sich gar nichts zu schließen, aus dem Berufe
endlich nicht viel.
Zum Abschluß nur noch Folgendes. Die „Ahnen" des Reichskanzlers
Dr. Theobald v. Bethmann-Hollweg sind seit seiner Übernahme dieses hohen Amtes
von eifrigen Familiengeschichtsforschern so eingehend untersucht worden, wie fast
von keinem anderen lebenden Menschen, es sei denn, daß er ein gekröntes
Haupt oder wenigstens ein Mitglied eines regierenden Hauses wäre. Über die
Bethmann liegt eine umfangreiche Veröffentlichung vor: „Simon Moritz von
Bethmann und seine Vorfahren", verfaßt von Dr. Heinrich Pallmann, erschienen
1898 in Frankfurt a. M. Die Genealogie der Hollweg ist im „Gothaischen
Genealogischen Taschenbuch der briesadeligen Häuser", Gotha 1907 ff. zwar
etwas knapp behandelt. Dafür hat aber der Frankfurter Genealoge Karl Kiefer
„Die väterlichen Ahnen des fünften deutschen Reichskanzlers" im Deutschen Herold,
Jahrgang 1909. S. 223 ff., sehr genau festgestellt. Der rheinische Genealoge
Hera. Friedr. Macao schrieb über „Die Abstammung des V. deutschen Reichs¬
kanzlers usw. von Aachener Patrizierfamilien des 15. Jahrhunderts" in der
Aachener Allgemeinen Zeitung, Ur. 426 vom 28. August 1909. Endlich hat der
durchaus zuverlässige Genealoge Dr. Bernhard Koerner in dem gleichen Blatte
wie Kiefer (Jahrgang 1910, Ur. 20, S. 118) über die Ahnen der Jsabella
v. Rougemont ausführliche Mitteilungen gemacht, denen die vorstehenden Angaben
über die Rougemont-Stammreihe entnommen sind. Es kann versichert werden,
daß nirgends unter diesen vielen Ahnen eine Stelle erkennbar ist, an der ein
Einströmen jüdischen oder, allgemeiner gefaßt, semitischen Blutes in die Ahnen¬
tafel des Reichskanzlers l)r. Theobald v. Bethmann-Hollweg erkennbar wäre.
le süditalienische Tarantella ist offenbar ein uralter Volkstanz. Die
gleichnamige Tanzkrankheit im vierzehnten und fünfzehnten Jahr¬
hundert und ähnliche Erscheinungen, wie sie mimisch durch die
„Tanzdichtung" einer Rita Sacchetto oder musikalisch durch hervor¬
ragende Klavier-, Violin- oder Cellovirtuosen dargestellt werden,
kommen hier nicht in Betracht; ebensowenig die als Tarantella bezeichneten
prunkhaften Ballette in der Scala zu Mailand oder in den großen Fremdensälen
zu Rom.
Einen ganz eigenen Zauber, für den vor dreißig Jahren selbst ein beredter
Italiener im „Piccolo" kaum Worte findet, scheint jedoch die Muse der Tanzkunst
der Tarantella von Capri verliehen zu haben. Jedenfalls übertrifft sie jene
äußerlich verfeinerten Kunstvorführungen durch natürliche Anmut und Leidenschaft,
vor allem aber durch eine gewisse „klassische" Ursprünglichkeit. Stimmen doch
verschiedene Stellungen und Bewegungen vollkommen mit entsprechenden Fresken
in Pompeji überein! Ja, nach einer auf Capri erzählten Sage haben die Grazien
selbst die Tarantella erfunden. Als die von Odysseus überlisteten Sirenen ein
stärkeres Betörungsmittel als den durch das Wachs machtlos gewordenen Zauber¬
sang begehrten, erdachten die Huldgöttinnen diesen Tanz und lehrten ihn, weil die
sußlosen Sirenen ihn selbst nicht ausführen konnten, den Schönen der Insel. Über
Neapel, das den Capresen den Zauberreigen bald abgelauscht hatte, eroberte er
sich dann ganz Süditalien bis nach Tarent und Sizilien, wo er überall noch heute
den Fremden in freilich oft recht fragwürdiger „Ausmachung" als Nationaltanz
vorgeführt wird. Sollte aber die Sache sich zufällig umgekehrt verhalten und das
schaufreudige Tarent die eigentliche Heimstätte der Tarantella sein, so bleibt eins
dabei doch als wahrscheinlich erwiesen: ihr antiker Ursprung. Daher rührt Wohl
auch das mimisch-symbolische Gepräge des Tanzes, der in seinen acht bis zehn
Figuren ein bald neckisches, bald ernstes und schließlich mit Erfolg gekröntes
Liebeswerben ausdrückt und darum in Capri auch als „ballo per apertura all gala
öello 8posali2lo« getanzt wird.
Zur musikalischen Begleitung, d. h. zur eigentlich ziemlich unmusikalischen
Markierung des Taktes, wird gewöhnlich nur das Tamburin, die bekannte kleine
Handschellentrommel, von einer die Gunst der Grazien meist nicht mehr genießenden
Alten geschlagen. Früher wurden, und im Hause einer einst durch ihre Schönheit
berühmten Taraniellatänzerin (deren Kinder man jetzt tanzen sieht) werden dazu
"und jetzt noch, kurze volkstümliche Lieder gesungen, dem Sinne des Tanzes gemäß
natürlich Liebeslieder, die aber gleich den mancherlei Vorkommnissen im Liebes-
leben der Abwechslung durchaus nicht ermangeln. Pittrs unterscheidet in seiner
umfassenden Sammlung sizilianischer Volkslieder nicht weniger als achtzehn Arten,
die er unter entsprechenden Überschriften anführt, wie: Schönheit der Frauen,
Verlangen und Hoffnung, Lieben und Küssen, Erklärungen und Versprechungen,
Grüße und Geschenke, Eifersucht. Groll und Versöhnung, Trennung und Abschied,
Verlassensein, Unglück und Tod, gute Lehren und Sprüche, Spott- und Scherzlieder.
Metrisch betrachtet stellt diese zur Tarantella gesungene Kanzone meist eine
Strophe von acht fünffüßigen Jamben mit vorwiegend weiblichen, gekreuzten,
manchmal aber auch gepaarten und umschlingenden Reimen oder Assonanzen dar.
Statt Achtzeiler trifft man, namentlich in Schelmenliedchen, häufig auch Vier- und
Sechszeiler an, und in ernsteren, kunstreicheren Gesängen, wie in stimmungsvollen
Ständchen und Werbeliedern, auch zehn-, zwölf- und mehrzellige Strophen. Die
erste Hälfte, oder auch der größte Teil der Kanzone knüpft gewöhnlich an All¬
gemeines, besonders an bekannte Zustände und örtliche Verhältnisse an, während
zum Ende hin eine bestimmte Anwendung hervortritt, der dann eine oft über¬
raschende, witzige Schlußwendung folgt, ähnlich wie im deutschen Minne- und
Meisterlied Stollen und Abgesang.
Die für alle Texte gleichlautende Melodie ist reizlos; vielfache Wiederholungen
gestalten sie eintönig. Jede erste Verszeile wird zweimal und der erste Teil der
dazugehörigen zweiten Zeile dreimal gesungen, wie auch bei jedem folgenden
Verspaar. Wer sollte solchen Singsang, zumal in der plärrenden, aufdringlichen
Art, wie ich ihn zuerst von einer alten „Zia" in breitesten neapolitanisch-capresischen
Dialekt vernahm, beachten oder gar Schönheiten dahinter vermuten? Und doch
sind sie, verborgen wie kostbare Perlen in rauher Schale, in reicher Fülle vor¬
handen. Eine wahre Geduldprobe war freilich das Sammeln, wobei besonders
die echte Fassung in der fremden Mundart anfangs Schwierigkeiten bereitete. Da
mich dies aber (dank langjähriger Erfahrung beim Forschen nach heimischen
Dialektreimen) nicht abschreckte, gelang es, nach und nach über hundert alte, vielfach
schon halb vergessene, nur durch langes Überlegen wieder im Gedächtnis auf¬
tauchende Tanzlieder aufzuzeichnen. Die meisten und schönsten verdanke ich unter
teilweiser Mithilfe eines jüngeren Tarantellisten zwei früheren Tänzerinnen, einer
Vierzigerin und einer Siebzigerin, deren besonderes Vertrauen ich gewonnen, und
die mir auch versicherten, daß die Lieder sehr alt, wohl schon „so alt wie die
Welt", aber gewiß noch niemals aufgeschrieben worden wären. Letzteres bezweifelte
allerdings ein jüngerer Caprese, den ich manchmal um Rat fragte. Soweit ich
mich jedoch auf meiner Rückreise in den großen Bibliotheken zu Neapel und Rom,
sowie neuerdings noch in Bologna, Florenz, Siena und Perugia davon überzeugen
konnte, liegt noch keine derartige Sammlung aus Capri vor. Nur einige Kan-
zonen — wahrscheinlich Gemeingut aus den goldenen Tagen wandernder Volks¬
sänger — finden sich schon bei Pittrs, Jmbricmi, Fasulo u. a.
Wie ich dazu kam? „Ich ging in Capri so vor mich hin, und nichts zu
suchen war mein Sinn", eigentlich auch nichts zu hören, bis mich zufällig Keinmal
der Anfang einer Tarantella-Kanzone an ein altfranzösisches Volkslied erinnerte:
aequa, I'scquA ri ig, fontanella". Und damit bescherte mir der Zufall gleich
ein Musterbeispiel, das die folgende kleine Auswahl eröffnen mag. Zwar zeigt
die Liebesglück atmende Strophe zum Teil nur mangelhaft assonantische Gleichklänge,
dafür aber inhaltlich kunstgerechtes, zum Teil auch mpresisches Gepräge. Bloß die auf
Capri nicht vorhandene „Fontanella" deutet auf eine mit „Brünnlein" gesegnete
Urheimat: wahrscheinlich in der Gegend von Neapel, wo das Liedchen früher auch
gesungen wurde. Die eingeklammerten Verbalendungen hört man bloß bei der
jedesmaligen Schlußwiederholung.
(/^cielo allclove ans ope clove; on> ^ voglio; ebiu ----- piu; Sta ists; »Wo lat.
Iiabeo; mmiexo ---- in MLii?o; ntuorno intorno)
Ursprünglich wohl ein von Liebesverlangen erfülltes Ständchen zur Laute
haben wir hier vor uns:
lM----lare; eiaräino-----Aisräino ^ moLLo-^netto; pv — per; Lsrclillo csro'LlIino'
c>usnno -qu»n<Zo)
Vorgehalten wird der Geliebten das Schwinden und Wiedergewinnen der
Schönheit als Folge von Liebesgroll und Versöhnung:
(.Iro ----- cri; succulillo ----- mÄZro).
seliges Lieben und Küssen besingt ein reizender Sechszeiler, der im Gegen¬
satz zu den übrigen, dem Volke meist schon fremd gewordenen Liedern noch allgemein
bekannt und beliebt ist:
(Ksto ----- lZ-zto; si ----- sei: rami ----- ela ini; vaso ----- baeio; rasts ----- da quests)
Poetisch wirkt die Umschreibung des bekannten Wortes: „Die Sterne, die be¬
gehrt man nicht, man freut sich ihrer Pracht":
<?isri ----- piecli; avito ----- fidei; ponnci ----- possono)
Noch höher versteigt sich die Einbildungskrast eines Verliebten in spielenden
Übertreibungen, die namentlich durch ihre unerwartete Schlußwendung den Beifall
der Hörer herausfordern:
lSLÄleilÄ sesletta)
Zum Himmel möcht' ich, wenn ich könnte, steigen
Auf einer Leiter von dreihundert Stiegen!
Und sollte brechend oben sie sich biege»,
Möcht' unten ich in Liebchens Annen liegen I
Man beachte hier den gleichen Reim der letzten drei Verse! So auch im
folgenden drei gleiche: a a b a.
Murm monclo; rsrio — ctaiLi; ekisti — questi)
Etwas bescheidener im Schenken bez. Versprechen ist ein offenbar noch blut¬
junges Ding, das dem weinenden Geliebten beim Abschied die rührenden Trostes¬
worte zuruft:
Mueoaturomoccickino; möcht-imsöstrs; sciumofiume; Isone Stern¬
bild des Löwen im Juli)
Ein halb schüchternes, halb schalkhaftes Geständnis kleidet ein Verliebter
anmutig in den assonantischen Vierzeiler:
(^ello ---- altes Jmpcrf. von ire; spianno spi-lnuci; rice ^- aine)
Unverhohlener äußert sich die überschwängliche Huldigung eines anderen,
und zwar in vollen reinen Reimen, was auf höheren Bildungsgrad hindeuten
dürfte, trotz des selbst beigelegten „povero amante":
^incl cerneLeliio; Haarlocke um den Schläfen; sponto emporsteigt)
Feineres Wesen, gepaart mit vornehmer Bescheidenheit, ziert auch den Sänger
des folgenden Zehnzeilers, der schon durch die geschickte Handhabung dieser seltener
auftretenden, schwierigeren Versform geschulleres Kunstverständnis verrät, wenn
auch die mangelhafte, offenbar im Volksgedächtnis verwischte Überlieferung dem
zu widersprechen scheint:
(Oiesummino ---- gelsomino ^ssmin; runnintaiio - ^ cloimentsrio; edle cnieue
von enieäere, begehren)
Zum Schluß ein recht eigentliches Tanzlied, das der Freude an der Tarantella
selbst seinen Ursprung verdankt und beim Tanzen von den Zuschauern, deren
Schaulust es ausdrückt, gesungen wurde:
si'ureseo ^-'I sclesLO; 'usw ^ uns sltra; imbiett----in petto; Lumpietti----eonketti;
vgrelie bsrclie)
Wohl erfreut sich die mundartliche Kanzonendichtung in ganz Unteritalien
noch heute großer Beliebtheit; wohl strebt darin namentlich das weithin herrschende
Neapolitanische immer noch neue Weisen zu erfinden, die man aus den heiseren
Kehlen „fahrender Sänger" oft genug auch in Sorrent und Capri vernimmt, aber
vergebens sucht man darin die ans der Tiefe der Volksseele entspringende naive
Kraft und Frische und den unerschöpflichen Reichtum an wahrhaft volkstümlichen,
wenn auch mitunter ziemlich derben Motiven, Gedanken und Bildern, wie sie uns
gleich einem teuren Vermächtnis vergangener Tage erhalten blieben in jenen älteren,
bloß von wenigen pietätvollen Seelen noch treu bewahrten Tarantella-Kanzonen.
An Goethes bekannte Erzählung vom Hufeisen erinnert eine anmutige Legende, die
diesen Teil meiner Mitteilungen in schlichtemdentschenVersgewandeabschließen mögen.
n den „Lebensbüchern der Jugend" (Verlag von George Wester¬
mann in Braunschweig, Preis des Bandes 2,50 bis 3 M.) ver¬
wirklicht ihr Herausgeber Dr. Friedrich Dusel ein schönes Programm.
Bücher soll die Sammlung enthalten, „die dauernden Lebensgehalt
haben, die man aus der Kinderstube gern mit hinausnimmt auf
den eigenen, selbständigen Lebensweg, die eine wertvolle Bereicherung des Gesühls,
der Phantasie, des Herzens zu bieten vermögen, die unserer Jugend sittliche und
künstlerische Werte vermitteln." Aus den sechzehn vorliegenden Bänden sehen wir,
daß die Sammlung keine tendenziösen Gesichtspunkte einengen. Als eine Art
erweiterter Fibel für die Kinderjahre ist „Tausendschön, ein Märchen-, Vers- und
Fabelbuch", von Dusel und Sergel gesammelt, gedacht; das „Tierbuch" von Braeß
erweitert diesen Vorstellungskreis auf die reale Umwelt; für die heranwachsende
Jugend folgen dann „Romantische Märchen von Hoffmann", geschichtliche Er¬
zählungen wie Aleris' „Hosen des Herrn v, Bredow", Erckmann-Chatrians „Ge¬
schichte eines Soldaten von 1813", „Magister Laukhards Leben und Schicksale,"
alle in guten Bearbeitungen, die nur unnötige Längen und überflüssigen Ballast
ausmerzen; treffliche Biographien, wie die der „Königin" Luise von Rehtwisch,
„Friedrichs des Großen" von Pansegrau, des Grafen „Zeppelin, Werden und
Schaffen eines Erfinders" von Biedenkapp stellen leuchtende Vorbilder auf; auch
ein moderner Roman von Albert Geiger „Roman Werners Jugend" fügt sich gut
der Sammlung ein. „Robinson Crusoe," Gerstäckers „Abenteuergeschichten",
Jrvings „Astoria" werden dem Verlangen der Jugend nach spannenden, Außer¬
ordentlichen gerecht, und über die deutsche Sprachgrenze hinaus, wie bei Defoe
und Irving, hat der Herausgeber mit sorgsam wählender Hand mock Thackerays
.Kose und Ring", Kingsleys „Wasserkinder" und Dickens' „Oliver Toise" dem
Bestand der „Lebensbücher" einverleibt. Als Schmuck dient eine Anzahl bunter
und schwarzweißer Bilder moderner und älterer Künstler; für die geschichtlichen
Bände beruhen die Bilder sehr häufig auf zeitgenössischen Stichen. Der Druck ist
klar und deutlich, der Einband dauerhaftes Leinen.
Alfred Hahns Verlag in Leipzig bringt die zweite Folge der von Carl
Ferdinands herausgegebenen Prosa-Anthologie „Aus der goldenen Schmiede"
(3 M.), in der John Vrinckmann, Potenz, Fontane und lebende Erzähler wie
Otto Ernst, Will). Schäfer u, a. mit trefflichen Geschichten vertreten sind. Bunte
und schwarze Bilder von C, Mickelcnt, E. L. Stahl u. a. fügen sich dem Buche
ebenso gut ein, wie die Buntbilder von Walter Caspari und E. Rehm-Victor
dem Gegenstück, den von E. Geißler für die weibliche reifere Jugend ausgewählten
Erzählungen „Vom Baum des Lebens" (3 M), das neben vollwichtigen älteren
Namen wie Potenz, Wilh. Fischer, Chart. Niese solche modernsten Klanges wie
Nylander aufweist. Beide Werke sind recht geeignet, der heranwachsenden Jugend
gesunde, kräftige Kost zu vermitteln.
Charlotte Niese läßt auch im Verlage Neufeld u. Henius in Berlin zwei
reizende Erzählungen für junge Mädchen erscheinen: „Eine von den Jüngsten" und
„Die Allerjüngste" (in Leinen geb. 3,50 M.), die unsern Backfischen nicht nur eine
amüsante Stunde bereiten, sondern ihnen auch zeigen werden, wie ein echtes
deutsches Mädchen mit offenem Herzen und helfender Hand ihren geraden Weg
geht, an dessen Ende das Glück winkt. „Neufelds Knabenbuch" (5 M.) sagt schon
im Titel, an wen es sich wenden möchte. Ein großer, stattlicher Band, unter dessen
Mitarbeitern wir u. a. Albert I., Fürsten von Monaco, Trinius, Carus Sterne finden,
und den sieben große farbige Bilder (von Stöwer u. a.) und zweihundert schwarze
Abbildungen schmücken. So recht ein Geschenk für unsere Jungen, das sie mit
seinem reichen Inhalt von Flotte und Kaisermanöver, Indianern und Seeräubern,
Sagen, Märchen und Humoresken, Berichten über die neuesten technischen und
wissenschaftlichen Errungenschaften immer von neuem packen wird.
Auf eine Erneuerung alter Sagenstoffe gehen einige Bücher des Verlages
Enßlin u. Laiblin in Reutlingen aus, dessen empfehlenswerte „Bunte Bücher" und
„Bunte Jugendbücher" (zu 10 Pfennig das Heft) den Kampf gegen den Schund
erfolgreich aufgenommen haben. Den von Kotzde erzählten Sagen von „Wode
Brausebart" (3 M.) und „Herzog Wittekind" (3 M.) läßt G. Krügel sein „Buch
von den Meerleuten" folgen (3,50 M), das alte Seesagen und -Märchen in
schlichter, eindrucksvoller Sprache erneuert. Die farbigen Illustrationen und der
übrige reiche Buchschmuck von Ernst Liebermann rücken diese drei Bände unter die
schönsten Jugendschriften der letzten Jahre. R. Münchgescmg hat im selben Verlage
Schwabs „Deutsche Volksbücher" (4 M.), „Münchhausens Reisen und Abenteuer"
und „Onkel Toms Hütte" von der Bescher-Stowe bearbeitet (jedes 3 M.), zu
denen allen F. Müller-Münster farbenfreudige Bilder beigesteuert hat. Max
Geißler erzählt der Jugend „Die Bernsteinhexe", den „interessantesten aller Hexen¬
prozesse", und hätte als Autor der Geschichte ruhig den 1M1 verstorbenen Pfarrer
Meinhold nennen dürfen; die Druckausstattung ist sehr schön, besonders die Schwarz¬
weißbilder von A. Felix-Schulze. Der Gang der Handlung wird viele teilnehmende
Kinderherzen erschauern und am Ende über die glückliche Lösung aufjubeln lassen.
(Preis 3 M.). Zu den schönen, ein Herz voll Güte und Milde verratenden Er¬
zählungen unsers lieben Dichtermannes Gustav Falke „Das Schützenfest. Im
Fischerdorf" (3 M), nach denen besonders kleine Mädchen gerne greifen werden,
hat Paul Hey eine Anzahl bunter und schwarzer Zeichnungen geschaffen, die wie
eine leise schöne Melodie sich dem Text anschmiegen. In der von R. Trache
illustrierten „Robinsonade auf den Patan-Inseln" (3 M.) führt uns V. Schulz, in
freier Bearbeitung nach Sempers Buch, auf eine unserer Kolonien, wo wir mit
einem Naturforscher richtige Robinsonerlebnisse durchmachen. Besonders Knaben
wird das Buch viel Interessantes bringen. Nicht minder gern werden diese in der
kommenden Erinnerungszeit sich in W. Spechts „Um Vaterland und Freiheit"
vertiefen, das in einer zu Herzen gehenden, einfachen Sprache fesselnde Bilder aus
den Jahren 1809 bis 1815 vor uns aufrollt und die heldenhafte Zeit der Freiheits¬
kriege wieder erstehen läßt. Des bekannten Geschichtsmalers Knötel farbige Bilder
geben packende Szenen aus der Zeit meisterlich wieder. Das Buch wird in der
Flut der Literatur über 1813 einen ehrenvollen Platz behaupten (3,50 M.).
Die „Wunderbaren Reisen und Abenteuer des Freiherrn v. Münchhausen"
erleben auch in einer von Mitgliedern des Dresdner Jugendschriften-Ausschusses
bearbeiteten Ausgabe eine fröhliche Auferstehung (Verlag A. Köhler, Dresden,
3.50 M.). Die Auswahl der Anekdoten ist gut getroffen. Was dem Buch aber
ein besonderes Gepräge verleiht, sind die prachtvollen bunten Bilder, Vignetten und
Seitenumrahmungen von W. Krause, der mit glücklicher Hand und feinem Ver¬
ständnis für den Humor der Szenen und den Geist der Zopfzeit den überlegenen,
tollen Aufschneider uns im Bilde nahe bringt.
Moderne deutsche Dichter und Erzähler zur Schaffung der Jugendlektüre
heranzuziehen, gehört zum Programm der „Mainzer Volks und Jugendbücher"
(Verlag Jos. Scholz in Mainz) wie der „Ullstein-Jugend-Bücher" (Verlag Ullstein
u. Co. in Berlin). Für die ersteren haben Männer wie Falke, Ferdinands, Kotzde
(in dessen bewährten Händen auch die Herausgabe liegt) und Erzählerinnen vom Ruf
einer Charlotte Niese Originalbeiträge geliefert. Neu liegen „DerTucher von Köln" von
Joseph Laufs, „Die Doktorskinder" von Trude Bruns, „Götterdämmerung" von
R.Walter, „Der Dombaumeister von Prag" von E. König und „Aus schweren Tagen"
von Ch. Niese vor. Wie die früheren, spielen auch die Begebenheiten der letzten Bände
größtenteils in der deutschen Geschichte; die Bücher können, auch wegen ihrer drucktechnisch
sauberen Ausführung und ihres stimmungsvollen Bildschmucks, warm empfohlen
werden. Von dem ebenfalls von Kotzde herausgegebenen „Deutschen Jugendbuch"
(3 M.) erscheint der dritte Band, mit Bildern von Bossert. Es ist wieder ein
schönes Sammelbuch von Älteren und Modernen, von Märchen, Geschichten, Liedern
und Rätseln geworden und reiht sich seinen Vorgängern würdig an.
Die Ullstein-Jugend-Bücher legen uns alte Erzählungen und Sagen vor, die
moderne Dichter in ein neues Gewand gekleidet haben. Alles Veraltete ist aus¬
geschieden, und manch lustiger eigener Einfall des neuen Erzählers macht das
kleine Publikum, für das sie bestimmt, hell auslachen. Wir treffen da beliebte
Namen, wie Rudolf Herzog, der die Sage von „Siegfried dem Helden" zu neuem
Leben erweckt; Gustav Falke ist mit dem Märchen „Die neidischen Schwestern"
aus 1001 Nacht vertreten; Fedor v. Zobeltitz führt uns in den „Kampf um
Troja"; mit Otto Ernst erleben wir „Gullivers Abenteuer in Liliput" und Ernst
v. Wolzogen macht uns mit des Erzlügensacks „Münchhausens Abenteuern" bekannt.
Keine Geringeren als Stassen, Koch-Gotha und E. Fürst haben treffliche Bunt
und Schwarzweißbilder beigegeben. Die Bändchen bringen eine besondere Note
in die Jugendliteratur; eine große Verbreitung ist ihnen um so mehr zu prophe¬
zeien, als sie in handlichem Format, auf leichtem Papier, kartonniert nur 1 M.
der Band kosten.
Zwei Sammlungen billigster Jugendbücher endlich sind die „Blauen und Grünen
Bändchen" aus dem Verlage von Schaffstein in Köln, und die „Quellen" im
Verlage der Jugendblätter (C. Schnell) in München. Die Schaffsteinschen Bücher-
folgen sind als Hausbücherei gedacht, deren Inhalt auch als Lesestoff in den Schulen
Verwendung finden kann. Die Herausgeber I. v. Harten und Karl Henniger,
deren Namen wir schon auf mancher mit künstlerischem Verständnis ausgewählten
Sammlung von Sagen, Schwänken und Liedern angetroffen, bringen in den
„Blauen Bändchen" eine feine und reiche Auswahl literarischer Stoffe: alte und
moderne Kinderlieder, Tier-, Pflanzen- und Schalksmärchen, der gekürzte Simpli-
zissimus, Eddasagen, Erzählungen von Eyes. Lienhard, Rosegger. Schmitthenner
Stifter u. a. liegen in der bislang auf sechzehn Bändchen angewachsenen Samm¬
lung vor, deren jedes mit reizenden kleinen Federzeichnungen von Künstlern wie
Slevogt, Ubbelohde, Kiep geschmückt ist. Dieselben Künstler und noch einige andere
wie Erker, v. Hapel und Neuenborn, haben den Bildschmuck zu den „Grünen
Bändchen" beigesteuert, die in gleicher solider Ausstattung und ebenfalls jedes an
die hundert Seiten stark von Nie. Henningsen herausgegeben werden. Sie ent¬
halten in der Hauptsache Chroniken, Beschreibungen von Reisen, Entdeckungsfahrten
und Kriegszügen und bilden so eine prächtige Ergänzung der ersten Sammlung
nach der realen Seite hin. Auch hier liegen sechzehn Bändchen vor, die uns „Aus
germanischer Zeit" bis in die „Schlachten von 1870/71" geleiten und farben¬
prächtige Bilder aus den Kolonien, der Fremdenlegion, dein brasilianischen Urwald,
dem Transhimalaja, dem südlichen Eismeer u. a. vor uns ausrollen. Der Preis
für die schön gedruckte und sauber in Karton gebundene Nummer beider Serien
beträgt nur 30 Pf. (in Leinenband 60 Pf.); es wäre zu wünschen, daß durch eine
weite Verbreitung Jugend und Volk Segen davon hätte und den Herausgebern
und dem Verlage ihre Mühe vergolten würde. Vielleicht findet sich auch einmal
in Deutschland ein Mäcen, der diese Bändchen in Tausenden von Exemplaren an
die ärmere Schuljugend verschenkt.
Im Inhalt mit den vorstehenden Sammlungen sich nahe berührend, sollen
die „Quellen, Bücher zur Freude und zur Förderung", herausgegeben von dem
auf dem Jugendschriftengebiete bestens bekannten Heinr. Wolgast, ebenfalls zur
Bekämpfung der Schundliteratur dienen und die Klassenlektüre allen Schülern
ermöglichen. Denn im Lesebuch, wie der Herausgeber ausführt, lernt das Kind
nur Lesestücke, aber keine Bücher lesen, daher der schnelle Abfall zur Schundliteratur
trotz der vielen aufgewandten Mühe. Darum sollen Bücher in die Lesestunde
kommen, die ein gemächliches Einleben in den Stoff, ein Untertauchen in gleich¬
mäßig andauernde Stimmung und womöglich auch ein Liebgewinnen des Autors
ermöglichen. Mit den „Quellen" hat Wolgast diese Bücher selber geschaffen; die
Auswahl (Goethe, Schiller, Kleist, Humboldt, Grimm, Hauff, Simrock u. a.) ist
gut, und die schlichte Ausstattung, zum Teil mit Bildern von Winkler und anderen,
wird bei dem billigen Preise von 25 Pf. für das kartonnierte und 50 Pf. für
das gebundene Bändchen, dem Unternehmen Freunde und werktätige Helfer gewinnen.
Seit der „Kunstwart" durch seine „Meister-
vilder" die Schätze eitler wie moderner
bildender Kunst den weitesten Schichten des
Volkes in guten und wohlfeilen Nachbildungen
zugänglich machte, hat die Produktion auf diesem
Gebiete, dein steigenden Interesse des Publi¬
kums folgend, alljährlich zugenommen. Die
ersten Publikationen legten das Hauptgewicht
auf die Bilder, während der Text mit Recht
nur die notwendigsten Notizen brachte; galt
es doch zunächst einmal die Freude am Bild
als solchen: wieder zu erwecken. Den Einzel¬
bildern folgten dann Bildwerke und Tafel¬
bände mit und ohne Einleitungen, folgten
Einzelabhandlungen und endlich in jüngster
Zeit umfangreichere zusammen fassen d ere Dar¬
stellungen. Dabei hat das Publikum das große
Glück, daß die Vertreter der exakten Forschung
sich der bedeutenden Aufgabe, dem Laien die
Ergebnisse ihrer Wissenschaft in anregender
und leichter Form zugänglich zu machen,
selber unterziehen, wodurch der Einfluß der
stets bereiten, aber mehr Verwirrung als
Nutzen stiftenden Menge von Unberufenen
>ab seichten Popularisatoren in heilsamer
Weise zurückgedrängt wird. Zu solchen, für
den gebildeten Laien bestimmten, aber wissen¬
schaftlich und ästhetisch einwandfreien Werken
gehören nun auch die beiden vorliegenden.
Jos. Neuwirths Illustrierte Knnstneschichtc
(Berlin , Allgemeine Verlags - Gesellschaft,
vollständig in zwanzig Lieferungen, Preis
je M. 1.—), von der bis jetzt die ersten
Zwölf Lieferungen vorliegen, will weder ein
Bilderwerk mit verbindenden Text mock ein
bloßer „Abriß" oder eine „Einführung"
s°>", sondern ein richtiges Lshrduch für
solche Leser, die sich, ohne Vorkenntnisse
zu besitzen, über die Entwicklung der Kunst,
über das eigentlich Epochemachende, die
treibenden Gedanken im Wirken der ein¬
zelnen Künstler ernsthaft und gründlich unter¬
richten wollen. Von ähnlichen Unternehmen
unterscheidet sich dieses vornehmlich dadurch,
daß erstens das Kur^tgewerbe ausführliche
Berücksichtigung findet, und zweitens, daß
nicht nur der ägyptischen und assyrischen
Kunst, sondern auch der indischen, vorder¬
asiatischen, chinesischen und japanischen be¬
sondere Abschnitte gewidmet sind, eine Er¬
weiterung des Stoffgebietes, die man bei
dem gegenwärtig sehr lobhaften Interesse für
diese Dinge gewiß freudig begrüßen wird.
Die Darstellung zeichnet sich durch Lebendig¬
keit, Knappheit und strenge Sachlichkeit aus;
Phrasen, gewagte Hypothesen und Polemik
irgendwelcher Art werden mit Glück ver¬
mieden, nur feststehende Resultat« dein Leser
mitgeteilt. Die gut ausgewählten, zwar
meist kleinen aber im allgemeinen recht
scharfei? Abbildungen unterstützen den Gang
der Darlegungen in vortrefflicher Weise.
Ausführliche Register, die die sofortige
Orientierung über jede Person und jeden
Gegenstand ermöglichen, verspricht der Prospekt.
Man kann also dies Werk warm empfehlen,
zumal es auch von jeder subjektiven Bevor¬
zugung einzelner Epochen oder Meister frei
ist, vielmehr alles Wichtige in gleicher Weise
berücksichtigt. Von anderer Art ist ein zwei¬
tes, die deutsche Kunst des neunzehnten
Jahrhunderts behandelndes Werk von Richard
Graul, „Deutsche Kunst in Wort und Farbe"
(Leipzig, E. A. Seemann. 13 M), daS man
einen kunsthistorischen Atlas nennen kann.
Aber -- das ist das Erstaunliche! dieser s»hr
wohlfeile Atlas enthält nicht nur schwarze,
sondern der Hauptmasse nach farbige und zwar
fast durchweg sehr gute Reproduktionen, so das;
auch derjenige, der fern von Galerien und Aus¬
stellungen weilt, sich an der Hand dieses Buches
von der modernen Kunst eine Vorstellung bilden
kann. Hinzukommt, daß auch der Text vortreff¬
lich ist. Besonders verdienstvoll ist es, daß
durch das vortreffliche Aufklärungsarbeit
leistende Buch auch die moderne Kunst den:
Leser nahe gebracht und verständlich gemacht
wird; gewiß wird es dem Verfasser ge¬
lingen, manches Vorurteil in: Publikum zu
zerstören und manchen Mißtrauischen zu be¬
kehren. Ohne Einschränkung also: ein Buch,
Neue Kleist-Literatur. Kleists Erscheinung
hat fast ausnahmslos alle, die sich wissenschaft¬
lich mit ihm beschäftigt haben, so tief er¬
schüttert, hat auch die Kleinarbeit so von innen
heraus beseelt, daß man namentlich im Hin¬
blick auf die Arbeit des letzten Jahrzehnts
sagen darf: Wer Kleist anfaßt, veredelt sich.
Von der übertriebenen Betonung des Patho¬
logischen in Kleists Natur, die anknüpfend an
Goethes Abneigung eineZeitlang Mode war, sind
wir durch die überzeugenden Untersuchungen
und Darstellungen des Arztes S. Rasener
(„Das Kleist-Problem", 1902, und „Heinrich
v. Kleist als Mensch und Dichter", 1909, beide
im Verlag von Georg Reimer in Berlin) und
durch Servaes' bereits 1900 geschriebene,
1902 erschienene Biographie hoffentlich für
immer erlöst. Servaes hat zum erstenmal in
größerem Zusammenhang auf die einzig da¬
stehende künstlerische Genialität Kleists auf¬
merksam gemacht. Auch Noetteken mit seiner
entschiedenen Abwehr von Krafft-Ebings Diag¬
nose muß hier erwähnt werden.
Zweimal ist der Versuch gemacht worden,
Kleist aus seinen Briefen reden zu lassen. Das
schöne Beispiel der Buchnerschen Freiligrath-
Biographie konnte dazu ermutigen. Arthur
Eloesser hat im fünften Bande der Tempel-
auSgabe, die in Ur. 9 des laufenden Jahr¬
gangs der Grenzboten schon besprochen worden
ist, eine ganz ausgezeichnete, vollständige Bio¬
graphie gegeben, in der er jeden Abschnitt
durch eine geschickte Auswahl der sprechendsten
Briefe erläutert. Neuerdings hat Ernst Schur
„Heinrich v. Kleist in seinen Briefen", Schiller-
Verlag, Charlottenburg, M. 2) den Versuch in
etwas anderer Weise wiederholt. Er schickt
einer Briefauswahl eine Abhandlung über
den Charakter und die Bedeutung der Briefe
voraus, die er eigentümlicherweise „reflexions¬
los" nennt und darum höchstens neben den
Werther stellen könnte. Werther reflexions¬
los I — Dann folgt eine kurze Übersicht über
die Lehmstaken, und im übrigen sollen die
Briefe für sich selbst sprechen. Die Auswahl
ist gut getroffen; aber die übertriebene Ge¬
reiztheit gegen die philologische Kleist-Arbeit,
die selbst die Bemühungen um Aufklärung der
Würzburger Reise als „Philologismus" em¬
pfindet, ist undankbar gegenüber den Leistungen
der Kleist-Philologie. Das dilettantische Ko¬
kettieren mit dem Abseitsstehen von der Zunft
und dienütallenMittelnderPhilolvgiebewirkte
Glanzleistung der Ausgabe von Erich Schmidt,
die eben durch die völlige Beherrschung des Klein¬
krams in sicherer Führung zu den Höhen der
Philologie emporsteigt— was sür ein Unter¬
schied! Um Erich Schmidt und seine Mit¬
arbeiter: Minde-Ponce, den feinfühligen Unter¬
sucher des Kleistschen Stils und Herausgeber
der Briefe — eine Leistung philologischen
Fleißes, der Schur alles verdankt -— und
Reinhold Steig, der Kleists Berliner Kämpfe
aufgeklärt hat, um die Kleist-Ausgabe dieser
drei Fachleute (Leipzig, Bibliographisches In¬
stitut) gruppiert sich dieneuereKleist-Forschung;
alle späteren Ausgaben sind ihr mehr oder
minder verpflichtet. Neben der vollständigen
sechsbändigen Ausgabe des Jnsclverlags zu
Leipzig, die Wilhelm Herzog besorgt hat, ist
noch die zweibändige, sür weitere Kreise be¬
rechnete Sammlung der Goldenen Klassiker-
Bibliothek (Berlin, Borg 5 Co., Preis M. 3.60)
zuerwähnen. Eine sehr glückliche und auf gründ¬
licher Kenntnis beruhendeBiographie bietet das
Bändchen von Hubert Roettelen (Leipzig,
Quelle u. Meyer, 1907). Gustaf Wethly
(Heinrich v. Kleist, der Dramatiker, Straßburg,
Ludolf Beust) überrascht zunächst durch man¬
gelnde Sachkenntnis. Typisch ist es, daß der
Verfasser behauptet, die Schroffensteiner (1802)
stünden „im Banne der romantischen Schicksals¬
tragödie"! Aber das ist eine alte Geschichte:
Kleist kommt später als Schiller und Goethe
und ist Romantiker! Siebe» Jahre nach den
Schroffensteinern erschien die erste romantische
Schicksalsiragödie. Übrigens versöhnt Wethlys
Schrift in c>> durch eine vorzügliche Analyse
der Penthesileia und eine etwas primitive,
in ihrer Art aber klare „Betrachtung über das
dichterische Schaffen/' Das umfangreichste Werk
liegt in Meyer-Benfeys Buch „Das Drama
Heinrich v. Kleists" (1. Band, Göttingen, Otto
Hapke, 1911) vor. Der Verfasser will, was noch
nicht genügend geschehen sei, „das Verständnis
der Dichtungen als Kunstwerke nach Inhalt und
Form" kennen lehren. Das grundgelehrte,
nur etwas weitschweifige Buch kann nicht mit
ein paar Worten erledigt werden. Mit ein¬
zelnen herausgegriffenen Urteilen würde man
dem Verfasser Unrecht tun. Nur dies eine:
Mit aller Entschiedenheit betont Meyer-Benfey,
daß Kleist als Künstler alle deutschen Dichter
überragt, Hat man bei Meder- Benfey mehr
den Eindruck einer verstandesmäßig überzeugten
Begeisterung für den Dichter, so fühlt man
bei der Lektüre der Neubearbeitung von Otto
Brechens Kleistbiographie (4. Auflage, Berlin,
Egon Ueischel u. Co., 1911) in jedem Satze
dem nachempfindenden Künstler, der intuitio
durch den dichten Schleier um Kleists Seele
hindurchblicken durfte. Seit mehr als fünf¬
undzwanzig Jahren besitzen wir Brechens herr¬
liches Buch, die Arbeit eines begeisterten,
schon männliche Kraft bändigenden Jünglings;
und nun hat ihm ein guter Geist die Kraft
verliehen, den eigenen Jugendschwung zu
übertreffen mit einer Leistung, die auch jetzt
wieder, wie einst bei ihrem ersten Erscheinen,
in der vordersten Reihe steht. Was sind
die kunstvollsten Romane gegen eine solche
Schilderung eines Menschenschicksals I
Erst in den letzten Tagen ist das Buch
erschienen, das vorläufig den Höhepunkt der
Kleistforschung darstellt: Wilhelm Herzog,
Heinrich von Kleist (München, Beck, 1911.
M. 7.S0). Von allen andern Biographien
unterscheidet sich Herzogs Buch durch die
Gründlichkeit, mit der hier der Dichter in
seine Zeit hineingestellt wird. Wie Wir uns
aus den Anmerkungen und der zum ersten
Mal in einiger Ausführlichkeit gebrachten
Biographie überzeugen, steht der Verfasser
auf sicherer Höhe deS Forschers und Weiß
das wissenschaftliche Rüstzeug zu führen, wie
einer; aber in der Darstellung drängt sich
nirgends der Gelehrte hervor. In Herzog
glüht die siegesbewußte Brust, seinen Leser zu
überzeugen; er setzt seine Ansicht mit Leiden¬
chaft auseinander, seine Begeisterung verleiht
hm einen Reichtum um Worten und Begriffen,
den wir mit Erstaunen genießen. Seine
Charakterisierung des Kleistschen Wesens, die
Gegenüberstellung Kleistscher und Schillerscher
Dichtung sind Bereicherungen unseres Wissens
von der Poesie. Und auch, was Herzog der
Vorarbeit anderer verdankt, wird in ihm neu
lebendig. Das tiefe Gefühl für die erschütternde
Tragik in Kleists Schicksal durchzittert das
Buch von der ersten Seite bis zur letzten.
Hebbels Verse bilden daS Grundmotiv, daS
der Verfasser in der dithyrambischen Einleitung
anschlägt; sie klingen untertänig durch das
ganze Buch und werden im Ausklang wieder
zur beherrschenden Melodie.
Er war ein Dichter und ein Mann wie einer,
Er brauchte selbst den Höchsten nicht zu weichen,
An Kraft find wenige ihm zu vergleichen,
An unerhörtem Unglück, glaub ich, keiner.
Verstaatlichung derSchiffahrt. DasSchiff-
ahrts - Abgabengesetz wird von verschiedenen
Seiten heftig bekämpft, obwohl es zweifellos
inen großen Nutzen haben wird, da dadurch
rst die Möglichkeit geboten wird, ohne die
Steuerschraube anziehen zu müssen, große
Stromgebiete der Schiffahrt zugänglich zu
machen. Sollte man zu diesen? Ziele aber nicht
besser auf anderem Wege gelangen können?
Die Eisenbahnen hat man verstaatlicht. Will
emand behaupten, daß das dem Staat, der
Allgemeinheit geschadet hat? Warum nicht auch
die Schiffahrt verstaatlichen? Verteuert würde
dadurch der Verkehr sicher nicht, in? Gegenteil,
r würde verbilligt werden können, und trotz¬
dem würden ganz gewaltige Summen ein¬
ehen, die zum weiteren Ausbau der Ströme
erwendet werden könnten, bis dann, wie bei
en Eisenbahnen, auch noch ein Überschuß für
en Staatssäckel erzielt werden würde. Bei den
Eisenbahnen hat man seinerzeit die schwierige
Aufgabe gelöst. Sollte es bei der Schiffahrt
icht auch gelingen? DaS Reich müßte die
Verstaatlichung durchführen. Reichsschiffahrt,
as ist das größte Ziel, das wir auf verkehrs¬
Die Reden und Erklärungen der verantwortlichen Leiter der auswärtigen
Politik in Berlin, London und Paris während der abgelaufenen vierzehn Tage
haben den Abstand zu den Ereignissen des letzten Sommers geschaffen, dessen wir
bedurften, um uns selbst Rechenschaft davon zu geben, ob die Haltung der deutschen
Regierung und ihrer diplomatischen Organe während der jüngsten Phase des Marokko¬
streites dem Ansehen des deutschen Reiches und den wirtschaftlichen Interessen der
deutschen Nation entsprach oder nicht.
Wie die wirtschaftliche Seite des deutsch-französischen Abkommens bei ruhiger
Überlegung zu bewerten ist, wurde in Heft 45 und 46 näher dargetan. Heute sei
das politische Ergebnis unter die Lupe genommen und zwar unter Ausschaltung
der kolonialpolitischen Gesichtspunkte lediglich das rein weltpolitische.
Die tiefere Bedeutung der Kämpfe um Marokko liegt nicht in den
zwischen Deutschland und Frankreich behandelten Streitfragen, wenn auch die
deutsch-französischen Beziehungen allgemein betrachtet hineinspielen, sondern in der
Aufgabe, der von England gegen Deutschland beliebten Politik entgegentreten zu
müssen. Marokko bildete und scheint auch weiterhin eins der Gefechtsfelder bilden
zu sollen, auf denen darum gekämpft wird, ob Großbritannien allein über die
Ausbreitung und Verteilung der Welthandelsinteressen zu befinden hat oder ob auch
andere Staaten, insbesondere auch Deutschland, dabei ein Wort mitzureden haben
sollen. Dementsprechend mußte die deutsche Diplomatie ihre Verhandlungen mit
Frankreich dauernd mit einem auf England gerichteten Auge führen, während
Frankreich sich bis zu einem gewissen Punkte der Hilfe Englands gegen Deutsch¬
land bedienen konnte. Aus diesem Zusammenwirken beider Faktoren aber werden
auch gewisse Maßnahmen Deutschlands verständlich, die ohne Berücksichtigung der
Faktoren zum wenigsten eigenartig erscheinen. Gleich die Sendung des „Panther"
nach Agadir konnte bei Fernerstehenden den Eindruck erwecken, als sollte auf
Spatzen mit Kanonen geschossen werden. Sie war lediglich als Einleitung fried¬
licher Verhandlungen auch dann ungewöhnlich, wenn andere Gründe, etwa die
Notwendigkeit deutsche Interessen an Land zu schützen, vorhanden waren. Dieses
Ziel wurde bekanntlich in den Vordergrund geschoben, erregte aber im eigenen
Lande ebenso wie in Frankreich Zweifel, da keine Truppen gelandet wurden. Die
englische Diplomatie mag den tieferen Sinn der Demonstration, wenn nicht erkannt,
so gefühlt haben. Deutschlands These lautete: wir wollen keinen Krieg, fangen
auch nicht an; wollt aber ihr anfangen, — gut, dort steht der „Panther".
Diese Stellungnahme Deutschlands ist seitens deutscher nationaler
Kreise vielfach mißverstanden worden. Es wurde so hingestellt, als wenn
dadurch von vornherein Rückzugsstimmung zum Ausdruck käme, wodurch die
Begehrlichkeit der Gegner noch besonders gereizt worden sei. Tatsächlich lag die
Sache doch ein wenig anders.
Wie inzwischen bekannt geworden ist, wurde das deutsche Aktionsprogramm
bereits am 14. Mai festgelegt und zwar endgültig in Wiesbaden, wo der Herr
Reichskanzler Seiner Majestät dem Kaiser in Abwesenheit des Herrn v. Kiderlen
Vortrag über die in Aussicht genommenen Maßnahmen hielt. Das war also kurz
vor der Reise des Kaisers nach London. Dies Programm enthielt drei Teile:
Die Sicherstellung der deutsch-französischen Verhandlungen vor Einmischung Dritter,
die Sicherstellung der deutschenWirtschastsinteressen bei völligem Verzicht auf politische
Rechte in Marokko und den Austausch von Kolonialgebiet in Afrika. Die beiden
ersten Punkte sind durchgesetzt worden; daran zweifelt heute nach den Eröffnungen
im Reichstag und der Rede Sir Edward Greys kein Einsichtiger und wenn die
deutsche Regierung wegen dieser Punkte getadelt wird, so eigentlich nur deshalb,
weil sie angeblich falsche Mittel angewandt, insbesondere sich nicht rechtzeitig mit
England verständigt habe.
Bismarck lehnte es einmal nach seinem Rücktritt ab, sich über Einzelheiten
einer aktuellen Frage zu äußern, weil er „die Akten" nicht kenne. Ich meine,
wenn selbst ein mit soviel Erfahrungen ausgestatteter Staatsmann, wie der erste
Kanzler es war, sich ängstlich an die Akten klammerte, um eine politische Frage
beurteilen zu können, dann sollten Politiker, die diese Aktenkenntnis nicht haben
können, nicht glauben machen wollen, den einzuschlagenden Weg besser zu kennen.
Über das Ziel können die Meinungen zwischen Regierung und Privatleuten
auseinandergehen, — die Wahl der Mittel muß den verantwortlichen Männern
überlassen bleiben, solange nicht das Parlament darin mitzureden hat.
Doch wie steht es mit den falschen Mitteln? Die Kreuzzeitung meint,
die deutsche Diplomatie hätte „vor der Inszenierung der Agadir-Demonstration
England über unsere wirklichen Absichten aufklären und zur Unterstützung unserer
Wünsche veranlassen" sollen, weil „die deutschen Interessen von vornherein voll¬
ständig identisch mit den englischen" waren. Hierin liegt doch eine Verkennung
des Tatbestandes. Ganz abgesehen davon, daß England von dem Vorgehen
Deutschlands unterrichtet worden war, konnten wir von dem Bundesgenossen
Frankreichs, der obendrein durch einen feierlichen Vertrag zu einer ganz bestimmten
Haltung verpflichtet war. nicht gut fordern, er sollte an unserer Seite gegen Frank¬
reich operieren. Außerdem glaubte man in England, Frankreich sei bereit und
willens, gegen Deutschland vom Leder zu ziehen. Doch waren die Franzosen
höflich genug, den Engländern bei Entsendung eines Kriegsschiffes nach Agadir
den Vortritt lassen zu wollen. Wohl aus übergroßer Höflichkeit gegen einander
verzichteten dann beide. Einiges Licht auf die Treibereien jener Tage wirst
ein Artikel der Londoner Wochenschrift Nation vom 25. November:
Die Wochenschrift konstruiert einen Zusammenhang zwischen der Rede, die
Lloyd George im Mansion House gehalten, und einem am Tage vorher, am
30. Juli, in der Times veröffentlichten Artikel, in dem der Charakter der zwischen
Deutschland und Frankreich schwebenden Verhandlungen, betreffend den französischen
Kongo, absichtlich falsch wiedergegeben worden sei, um den Anschein zu erwecken,
als ob Deutschland unerfüllbare Forderungen und damit letzten Endes ein Ulti¬
matum an Frankreich gestellt hätte. Es werden dann im einzelnen eine Reihe
gewichtiger französischer Stimmen dafür angeführt, daß in der Tat die deutschen
Forderungen bezüglich einer Kompensation im französischen Kongo in keiner Periode
der Verhandlungen derartig hochgeschraubt gewesen seien, daß dadurch eine Einigung
von vornherein ausgeschlossen worden wäre. Die Rede Lloyd Georges sowie
auch die am selben Tage von Sir Edward Grey dem deutschen Botschafter gegenüber
gemachte Erklärung seien somit aus einer falschen, wenn nicht gefälschten Auf¬
fassung der Lage entstanden. Ob hierbei die Times das Foreign Office oder
letzteres die Times inspiriert habe, will die Nation unentschieden lassen. Den Ur¬
sprung des bewußten Times-Artikels findet die Wochenschrift aber in der Anfang
Juli in Paris herrschenden Lage. Das französische Kabinett sei sich damals über
die zu befolgende Taktik nicht einig gewesen. Neben dem aufrichtig friedliebenden
Ministerpräsidenten habe Delcasss an der Spitze der Mehrzahl seiner Kollegen
eine weniger versöhnliche Haltung gezeigt, die durch ungünstige Berichte über den
Zustand der deutschen Armee, nicht unwesentlich beeinflußt worden sei. Die innerlich
wenig gefestigte Lage des Kabinetts zu stärken, möglichst viel bei den Verhandlungen
herauszuschlagen und gleichzeitig möglichst wenig dafür aufzugeben, sei naturgemäß
das Ziel der französischen Regierung gewesen. All das glaubte man am besten
durch eine offene und unzweideutige Demonstration Englands zugunsten Frank¬
reichs erreichen zu können. Zu diesem Zwecke habe man zuerst daran gedacht, ein
englisches und ein französisches Kriegsschiff nach Agadir zu senden. Diesen Schritt
habe aber das englische Kabinett trotz der Begünstigung desselben durch das Foreign
Office und der dringenden Befürwortung durch die Times abgelehnt. Den Erfolg
des zweiten in dieser Richtung unternommenen Schrittes müsse man in dem Times-
Artikel vom 20. Juli und der Rede Lloyd Georges vom 21. Juli erblicken.
Die deutsche Regierung war über die Arbeit der englischen Germanophoben
durch den Botschafter Grafen Wolff-Metternich stets sehr gut unterrichtet worden,
und so war es nur ein Akt der Klugheit, wenn sie Franzosen und Engländer als
Gegner identifizierte und England über seine Schritte im einzelnen nicht einweihte.
Wegen des dritten Punktes, wegen der Kompensationen, könnte man
eher bei flüchtigem Zusehen zu dem Glauben kommen, daß Deutschland mit
seinen Forderungen vor irgendeinem äußeren Druck zurückgewichen sei. Das
Zusammentreffen einiger Daten wird den Pessimisten sogar einen Schein des
Rechtes geben. Dennoch kann aber auch hier zunächst formell von einem Zurück¬
weichen überhaupt nicht die Rede sein. Das Programm ging darauf aus, in
Zentralafrika soviel als irgend möglich zu erhalten, nicht aber mindestens das
ganze Gebiet des französischen Kongo. Nun scheinen seitens des deutschen Kolonial¬
amts Forderungen gestellt worden zu sein, die weit über das Maß dessen hinaus¬
gegangen sind, was Herr v. Kiderlen glaubte, ohne die ganzen Verhandlungen
zum Scheitern zu bringen, vertreten zu können. Daneben haben sich auf beiden
Seiten Widerstände erhoben, die sowohl Herrn Jules Cambon wie Herrn v. Kiderlen
zwangen, den Rahmen des in Aussicht genommenen Tauschgeschäfts erheblich zu
verringern. Die französische öffentliche Meinung mochte unter keinen Umständen
etwas von der Hingabe Gabuns wissen, während die deutsche nicht an Togo
rühren lassen wollte. Mit diesen Stimmungen nutzten die Unterhändler hüben
und drüben rechnen, und da sie es beide taten, so könnte im besten Falle von
einem beiderseitigen, nicht aber von einem deutschen Zurückweichen die Rede sein.
In Wirklichkeit haben sowohl Herr Cambon wie Herr v. Kiderlen einander ledig-
lich als ehrliche und erfahrene Kaufleute nur solche Preise gestellt, die von
der Gegenseite bezahlt werden konnten.
Fassen wir das politische Gesamtbild ins Auge, so dürfen wir feststellen:
Die französisch-englische Koalition hat eS trotz dreifacher Überlegenheit der Marine¬
mittel nicht gewagt, dem Schritt Deutschlands in den Weg zu treten, obwohl die
unglaublichsten Anschauungen über die innere Festigkeit des Deutschen Reichs und
seine Kriegsbereitschaft verbreitet wurden; ferner mutzte England zusehen, was die
beiden Mächte miteinander zustande brachten, ohne selbst mitreden zu können.
Hieran rüttelt auch die sehr arrogante Rede Greys nicht I Eine bessere Aner¬
kennung unserer Stärke und Kriegstüchtigkeit aus Feindesmund konnte uns nicht
werden. Die Früchte dieser Anerkennung deuten sich auch schon an durch die grotze
Zahl von versöhnlichen Stimmen, die nun von den britischen Inseln zu uns
hmüberschallen. Die deutsche Politik ist wieder frei von dem Druck, den Eduards
des Siebenten Einkreisungspolitik auf uns legtel Die weiteren Folgen unseres
Sieges über die englischen Machenschaften sind noch nicht recht greifbar, aber sie
deuten sich schon an. Wohin die französisch-spanischen und russisch-persischen
Streitigkeiten oder die Rußland voraussichtlich gewährte Erlaubnis zur Durchfahrt
durch die Dardanellenstratze führen können, liegt noch im Schoße der Götter. Datz
es daraus zum Heile Deutschlands emporwachse, wird die wichtigste Aufgabe der
deutschen auswärtigen Politik für die nächste Zukunft sein.
Möge die Regierung nun aber auch die Mittel ergreifen, die notwendig sind,
um bei der Nation Verständnis für ihre Ziele und Wege und dadurch Vertrauen
in ihre Handlungsweise zu wecken. Wenn es möglich geworden ist, datz ein Werk
von so eminenter Tragweite wie das eben durchgeführte, das obendrein noch un¬
bedingt als ein Erfolg der Regierung in das Buch der Geschichte einzutragen ist,
derart bei der Nation in Mißkredit gebracht werden konnte, so trägt daran in
allererster Linie dieselbe Regierung die Schuld, die ihre Organe nicht besser, als
es geschehen, für ihren Zweck genutzt hat. — Und hiermit sei das Kriegsbeil
begraben. Neue Aufgaben stehen vor uns, Aufgaben, die Zielsicherheit, Charakter¬
stärke und Opferfreudigkeit in höchstem Maße beanspruchen werden, Aufgaben, die
den Zusammenschluß und die Einigkeit aller der Elemente erfordern, die für eine
starke, von allen außerdeutschen Einflüssen freie Monarchie und für die Freiheit
all
Die ostafrikanische Zentralbahnvorlage, die den Ausbau dieser großen
Überlandbahn bis zu ihrem natürlichen Endpunkt, dem Tanganjikasee, zum Gegen¬
stand hat, ist vom Reichstag sowohl im Plenum wie in der Kommission wohl-
wollend aufgenommen worden und dürfte, wenn diese Zeilen erscheinen, bereits
verabschiedet sein. Die Volksvertretung hat verständnisvoll die Augen zu dem
„Überfall", den die Art der Einbringung der Vorlage darstellt, zugedrückt. Sachlich
ist gegen die Vorlage ja auch nichts einzuwenden, die Bahn muß bis zum
Tangcmjika geführt werden, denn die Linie bis Tabora ist ein Torso, der bedeutende
tote Strecken zu überwinden hat und wohl nie allein rentieren würde. Aber zur
Regel wollen wir dieses Verfahren denn doch nicht werden lassen. Vorlagen, die
für die wirtschaftliche Zukunft einer Kolonie von entscheidender Bedeutung sind,
dürfen nicht durchgepeitscht, müssen vielmehr um so eingehender überlegt werden,
da, wie bei der Zentralbahn, mancherlei Sonderinteressen mit hereinspielen, die
mit den Interessen der Allgemeinheit in Einklang zu bringen sind. Die Kolonial¬
verwaltung hat doch wohl schon seit längerer Zeit gewußt, daß die Strecke bis
Tabora vorzeitig fertig und die Bewilligung des Weiterbaus zu Ende dieses
Jahres nötig werden würde, um einerseits die Auflösung der Bauorganisation
zu verbieten und der Konkurrenz des belgischen Kongowegs rechtzeitig zu begegnen.
Im Zusammenhang mit der Zentralbahnvorlage ist nun in einem Teil der Presse
andeutungsweise für die weitere Ausgestaltung des ostafrikanischen Verkehrsnetzes
in einer Richtung Stimmung gemacht worden, die Bedenken erregt.
Verantwortliche Schriftleiter: für den Politischen Teil der Herausgeber George Eleinow-Schöneberg, fiir den
literarischen Teil und die Redaktion Heinz Amelung-Friedenau. — Manustriptsendungen und Briefe werden
ausfckMszlich an die Adresse der Schriftleitung Berlin SV. 11, Bernburger Strasje 22 a/23, erbeten. — Sprechstunden
der Schriftleitung: Montags 10—12 Uhr, Donnerstag« 11—1 Uhr.
Verlag: Verlag der Grenzboten G.in.b.H. in Berlin SV. 11.
Stellennachweis.
(Aus der Tages- und Fachpresse.)
Anfragen zu richten unter Beifügung von Rückporto an
die Geschäftsstelle der Grenzboten, Berlin SV. 11.
^. Kür Akademiker.
SSI. I. Beigcordncter.paid (12000—1K000M.), Rheinl.S. Für Damen.
K37. Erzieherin, co., mus., sira eng., franz., 1.1.12.,
Schlesien.
KW. Erzieherin, co„ mus., f. gjiihr. Mädch., 1.1.12.,
Mecklbg.
KM. Erzieherin, mus., co., gepr., 1.1.12, Schlesien,.
KS2. Erzieherin, co., mus., 1.1.12., Schlesien.
K93. Erzieherin, co., gepr., 1.1. 12., Posen.
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n Ur. 42 dieser Zeitschrift hat unter dein Titel „Schutz dein
deutschen Arbeiter" Dr. Schiele-Naumburg a. S. in einem packenden
Artikel von neuem die nationale, volkswirtschaftliche und sozial¬
politische Bedeutung der Anftedlung und Seßhaftmachung deutscher
Arbeiter angeregt. Die Kronzeugen, die er aus dem Großgrund¬
besitzer-, dem industriellen wie dem Arbeiterstande anführt, sind seines Geistes.
Schutz dem deutschen Arbeiter steht auf ihrer Fahne, Schutz des Arbeitslohnes
gegenüber einer völkisch minderwertigen Konkurrenz des ausländischen Arbeiters,
Schutz gegen ihn auch im Falle des Streiks trotz der Forderung eines Arbeits-
willigengesetzes, Schutz dem Landarbeiter gegen die Konkurrenz der Russen,
Galizier und Nuthenen, die ihm diejenigen Lohnbedingungen versagt, aus denen
heraus er in die Lage versetzt werden könnte, eine eigene Scholle zu gewinnen.
Wenn man mit dein Autor der Devise „Schutz dem deutschen Arbeiter" in der
üblichen Auffassung der Arbeiterfrage einen wunden Punkt der inneren Ent¬
wicklung Deutschlands und noch dazu in ihrer Betrachtungsform als einer reinen
Lohnfrage eine schwere Unterlassungssünde vieler Arbeitgeber sieht, so wird man
sich seiner Forderung anzuschließen haben, ohne daß man damit genötigt ist,
sich der Wahl seiner Mittel zu bedienen, die zum Ziele führen sollen. Denn
das kann keinem Zweifel unterliegen, daß wenigstens im Osten der Monarchie
der ausländische Arbeiter ein großes Hemmnis sür eine gesunde Arbeitsverfassung
bildet, die mit der natürlichen Entwicklung der kulturellen und landwirtschaft¬
lichen Verhältnisse Hand in Hand gehen sollte. Es ist verständlich, aber trotzdem
doch tief zu bedauern, daß der von der Sozialdemokratie geschürte und mit
allen Mitteln der Leidenschaft rege gehaltene Klassenhaß allmählich auf die
Maßnahmen der Arbeitgeber seine Wirkung nicht versagt und bei ihnen den
freien Willen, sich mit dem Los und den Wünschen ihrer Arbeiter zu beschäftigen,
in eine nur durch Zwangslagen bedingte Unlust verwandelt. Das ist so tief
zu bedauern, weil es vergeblich sein dürfte, ein anderes Mittel zur Wiederher¬
stellung einer im nationalen und politischen Interesse liegenden Harmonie aus¬
findig zu machen als das Streben und den immer wieder zu belebenden Versuch
zum Aufbau einer greifbaren Solidarität zwischen ihm und dem Arbeitnehmer.
Auf dem Wege der reinen Lohnabfindung wird das nie möglich sein, wenn
auch die Befriedigung materieller Interessen der Arbeitnehmer den Schlüssel
geben wird, die überspannten Saiten auf den erwünschten Akkord einzustimmen.
Nur voll deur Staat und staatlichen Maßnahmen ist in dieser Beziehung
wenigstens zurzeit nichts Entscheidendes zu erwarten. Ein jäher Übergang, wie
er in dem Vorschlag einer Besteuerung des Arbeitgebers für die Beschäftigung
ausländischer Arbeitnehmer liegt, würde, abgesehen von den handelsvertraglichen
Bestimmungen, die dem widersprechen, um deswillen ausgeschlossen sein, weil
unsere Volkswirtschaft eine solche Belastung nicht verträgt, und weil wenigstens
in der Landwirtschaft der beabsichtigte Zweck nicht erreicht werden würde. In¬
dustrie und Landwirtschaft können anderseits zurzeit die eine Million übersteigende
Anzahl ausländischer Arbeitskräfte überhaupt uicht entbehren, weil die inländische
Arbeiterkraft nicht ausreicht. Der Staat wird sich daher für den Augenblick
auf sein ruhmvolles Werk der sozialpolitischen Gesetzgebung beschränken müssen.
Als Arbeitgeber aber zeigt er der Industrie und der Landwirtschaft in bemerkens¬
werter Weise die Wege, wie das Los der Arbeitnehmer zu verbessern und ihr
Interesse an das Unternehmen zu fesseln ist. Der Eisenbahnfiskus z. B. baut
nicht nur jährlich für seine Arbeitnehmer Häuser, er dotiert sie stellenweise anch
mit Land und er zahlt jährlich außer den gesetzlichen Beiträgen zur Jnvaliditäts-
kasse in Höhe von etwa 2,4 Millionen Mark noch einen erhöhten Beitrag von
etwa 8,5 Millionen Mark für den gleichen Zweck, um die Renten der Berechtigten
entsprechend zu erhöhen. Scheidet ein Arbeitnehmer durch eigene Schuld aus
der Arbeitsgemeinschaft aus, so erlischt sein Kassenanspruch. Auf diese Weise
ist, ohne das heikle Problem der Gewinnbeteiligung anzuschneiden, eine außer¬
ordentlich wirksame Solidarität der Interessen hergestellt, die sich auch schon
vereinzelt die Industrie, soweit sie sogenannte gelbe Arbeiter beschäftigt, nutzbar
gemacht hat. Es ist dies ein Weg, der, richtig ausgebaut, sicher den industriellen
Arbeitern gegenüber einen Erfolg verspricht. Denn es rührt in ihnen eine
psychologische Seite an, wenn der Arbeitgeber sich im freien Vertrage bereit
erklärt, gemeinschaftlich mit ihnen noch eine zweite Kasse zu dotieren, und die
Zusatzrenten zu den gesetzlichen Renten gezahlt werden. Letztere betrachtet der
Arbeiter als Ausfluß eines Rechtsanspruches, bei dessen Festsetzung er nur im
niederen Maße beteiligt ist, erstere, einerseits von der Gewinnhöhe des Unter-
nehmens, anderseits von der eigenen Lohnhöhe abhängig gemacht, würde ihm
das Bild der Prosperität des Unternehmens wiederspiegeln, an der er mitgewirkt
hat. Wer sich das Innenleben des industriellen Arbeiters zu erforschen die
Mühe gibt, wird als Grund seiner Unzufriedenheit immer besonders bezeichnet
hören, daß er an den: aufsteigenden Gewinn seines Werkunternehmens keinen
sichtbaren Anteil habe, und daß im Falle der Krankheit oder der Invalidität
nicht genügend für ihn gesorgt sei. Daß die gesetzlichen Renten nur geringe
sind, wer wollte es leugnen? Aber daß es unmöglich war, sie allgemein zu
erhöhen, steht ebenso fest. Es gibt zu viele Unternehmungen, die ohne Gewinn,
ja mit Verlust arbeiten, denen man höhere sozialpolitische Beiträge nicht auf¬
lege» kann. — 1909 hatte« 498 Aktiengesellschaften bei «36 Millionen ein¬
gezahltem Aktienkapital einen Verlust von 102 Millionen Mark. — Wohl aber
scheint es nach dem Vorgang des preußischen Eisenbahnfiskus als Arbeitgeber
für alle die Werke, die, sagen wir, mehr als 5 Prozent Dividende verteilen,
möglich, einen Bruchteil des Überschusses an die Pensionskasse L, wie sie von
dem Eisenbahnfiskus bezeichnet wird, abzuführen. Was verschlägt es materiell
für die Aktionäre, wenn sie statt 10 Prozent Dividende nur 9^ Prozent erhalten
und Prozent an die Kasse der Arbeitnehmer abgeführt wird, was werden
sie aber ideell dafür eintauschen? Meistens wird leider geantwortet werden, daß
damit auch nicht ein Funke derUnzufriedenheit gelöscht werde. Das mag heute bei der
herrschenden Spannung vielfach der Fall sein. Dauernd trifft es sicher nicht zu. Das
psychologische Moment ist zu beachten, daß der Arbeiter nirgends so empfindlich,
aber auch nirgends so empfänglich ist wie hinsichtlich seiner Unterstützungskasse.
Wäre denn sonst seine Opferwilligkeit für die Gewerkschaftskafsen zu erklären?
Aber es kommt hier auch, wie schon erwähnt, sein Bewußtsein in Betracht, daß
er wenigstens indirekt gerade an der Hand seiner liebsten Institution Anteil an
den: steigenden Gewinn erhält. Freilich nicht alle Unternehmungen können
mangels hinreichender Überschüsse diesen Weg sofort gehen. Das ist auch nicht
nötig. Unsere großen Unternehmungen arbeiten aber fast alle mit Neingewinnen
von mehr als 5 Prozent, und sie sollten wenigstens dem Preußischen Eisenbahn¬
fiskus folgen. Sie würden, je mehr sie eine Parallelkasse V ausbauen, unter
allen Umständen das Interesse der Arbeiter an das Unternehmen fesseln und
einen Wall gegen leichtsinnigen Streik aufrichten, der vielleicht in zwanzig
Jahren im Hinblick auf den angewachsenen Pensionsfonds unübersteigbar ist.
Die Grundidee der gelben Arbeiter läust auf denselben Gedanken hinaus. Sie
pflegen die guten Beziehungen zur Werkverwaltung und suchen sich deren tat¬
kräftige Gunst für ihre Kasseneinrichtungen zu sichern. Besonders die ver¬
heirateten Arbeiter sind es, die in ihrem Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber
ihren Familien den Ausbau der Versorgungskassen anstreben und in ihrer Be¬
günstigung durch den Unternehmer das Unterpfand vertrauensvoller Beziehungen
zu sehen geneigt sind. Der Staat kann als Arbeitgeber mit gutem Beispiel
vorangehen, eine gesetzliche Aktion aber nach dieser Richtung ist ausgeschlossen.
Nur bei der Besteuerung könnte er zulassen, daß derartige Ausgaben zur Ver¬
besserung der aus der sozialpolitischen Gesetzgebung sich ergebenden Renten der
Arbeiter von dem Einkommen des Unternehmers in Abzug gebracht werden.
Wie weit man manchmal in industriellen Kreisen noch von einen: derartigen
Gedankengang entfernt ist, dafür nur ein Beispiel: Ein größeres Werk mit mehr
als dreißigtausend Arbeitern weist in seiner Bilanz für das Jahr 1909 eine
Ersparnis an Arbeitslohn von 5,1 Millionen Mark nach. Abgelegt waren nur
etwa tausend Arbeiter. Die Ersparnis stammte also im wesentlichen aus der
Reduktion des Lohnes und der Einlage von Feierschichten. Das wäre unter
Umständen verständlich. Aber nicht verständlich vom sozialen Gesichtspunkt aus
ist es, daß es nur mit Hilfe der ersparten 5,1 Millionen möglich war, trotz
schlechter Konjunktur dieselbe hohe Dividende wie im Vorjahr zu verteilen.
Bemerkenswert wäre der Einwand, daß die von den Unternehmern ver¬
langten neuen Opfer auch den ausländischen Arbeitern zugute kommen würden,
und daß dazu keine Veranlassung vorliege. Momentan ließe sich das vielleicht
schwer vermeiden. Aber doch nur momentan. Denn die Zahl der Inländer
wächst jährlich um mehr als achthunderttausend Köpfe. Andererseits ist eine
Ausdehnung der Industrie in dem bisherigen Maße nicht zu erwarten. Denn
die heimische Kaufkraft läßt sich nicht ins Unendliche steigern und die Zunahme
des Exports hat ihre Grenzen in den Weltmarktpreisen. Somit kann man mit
ziemlicher Sicherheit auf das allmähliche Verschwinden der Ausländer rechnen.
Es würde aber auch den Unternehmern nicht verschlossen sein, von derartigen
Kasseneinrichtungen die ausländischen Arbeiter schon jetzt auszuschließen und
somit den deutschen Arbeitern einen besonderen Schutz zu gewähren.
An seinen Bruder Carl.
Macao, 21. November 1897.
. . . Besonders genußreich war unser zehntägiger Aufenthalt in Canton,
dieser interessantesten aller Städte, die wir bisher gesehen haben. Wer Canton
nicht kennt, kennt China nicht. Besonders interessant war es mir, dort mit den
Kreisen des jungen China, wenn ich es so nennen kann, in persönliche Beziehungen
zu treten. Dieser frische Idealismus, dieser mutige Kampf gegen das feit Jahr¬
tausenden Althergebrachte hat wirklich etwas Erhebendes und Ergreifendes zu¬
gleich; und das Merkwürdigste daran ist, daß diese fortschrittliche Richtung den
Vorsitzenden der Examinationsbchörde für die Provinz Knäng-tung zu ihrem
Hauptvertreter hat, während die Leiter der Staatsprüfungen sonst gerade und
mit Recht als die typischen Repräsentanten des altchinesischen Konservativismus
angesehen werden. Gewiß ein lehrreiches Zeichen der Zeit. Sollte China
wirklich eine Wiedergeburt erleben, woran ich nach allem, was ich hier erlebt
und gesehen habe, felsenfest glaube, so wird sie sicherlich vom Süden ausgehen,
wo das Volk viel regeren Geistes und leichteren Temperaments und daher sür
neue Ideen viel leichter zugänglich ist, als im Norden. Die Mandschudynastie,
die sich im Norden vollkommen eingebürgert zu haben scheint, ist im Süden
allgemein verhaßt und das Verhältnis zwischen der chinesischen Bevölkerung und
den dort garnisonierenden Zivil- und Militärbehörden das denkbar schlechteste;
daher wohl auch die zu erwartende Umwälzung auf geistigem Gebiet von einer
politischen Revolution begleitet sein wird. Freilich gut Ding will Weile haben;
w China gilt dies noch weit mehr als anderswo, und lange genug wird es
noch dauern, ehe der Wellenschlag der neuen geistigen Bewegung das ungeheuere
Reich überflutet und den Thron der fremden Machthaber mit sich fortschwemmt —
aber man müßte blind sein, wollte man nicht schon jetzt das Grauen des
kommenden Tages sehen. Ein Volk, das mit seiner jahrtausendelangen Ge¬
schichte gleichsam wie ein Denkmal aus grauer Vorzeit dasteht, als ein Beispiel
ohnegleichen in der Geschichte der Menschheit, das aus eigener schöpferischer
Kraft und fast ohne jeden fremden Einfluß eine Kultur hervorgebracht hat, die
uns bei all ihren Mängeln und Absonderlichkeiten Achtung und Bewunderung
abnötigt — ein Volk, das so Großes vollbracht hat, dem kann und muß noch
Größeres gelingen!
Gestern (20. Nov.) früh um 8 Uhr verließen wir Canton, das uus in
unvergeßlich schöner Erinnerung bleiben wird, und kamen gegen 3 Uhr nach¬
mittags hier an. Mit einem Schlage waren wir in einer neuen Welt. Macao,
diese dreihundertfünfzig Jahre alte Gründung der einst glorreichen Portugiesen,
hat seinen portugiesischen Charakter bis auf den heutigen Tag treu bewahrt, ob¬
wohl die einstigen Eroberer durch vielfache Blutmischung mit Chinesen zu einer
verluderten und verkommenen Mischrasse degeneriert sind. Durch ihre entzückend
schöne Lage auf einer felsigen kleinen Halbinsel, die durch eine flache und schmale
Landzunge mit dem Festlands verbunden ist, erinnert die Stadt an Monte Carlo,
nicht minder aber auch dadurch, daß fast jedes dritte Haus eine Spielhölle in
sich birgt. Unser Vizekonsul H. in Hongkong, der mehrere Jahre in Brasilien
gelebt hat, sagte mir, daß man sich hier in Brasilien wähnen könnte. — Heute
ist Sonntag, daher machten wir das Hochamt in der Kathedrale mit, um etwas
von der portugiesischen Bevölkerung zu sehen, — denn auf den toten Straßen
mit ihren zum Teil stolzen Bauten, die von vergangener Pracht reden, sieht
man nur selten hier und da einen Menschen. Punkt 11 Uhr zog die Garnison
mit klingendem Spiel vor der Kathedrale auf, und gleichzeitig erschien der
Gouverneur mit seinen Damen und sonstigem Gefolge in schönen Galasänften.
Jetzt begann der Gottesdienst, wie ich noch keinen ähnlichen erlebt habe. Die
Musik (Orgel und Regimentsmusik) schien ein Opernpotpourri zu sein, wenigstens
erkannte ich unter anderem eine Arie aus der „Traviata". Dazwischen gab es
auch eine Art Zigeunermnsik mit Kastagnettenbegleitnng, und den Schluß bildete
ein ausgelassener lustiger Walzer. Getanzt wurde uicht, obwohl man es den
zahlreich erschienenen Nonnen anmerkte, daß ihnen die Beine juckten, und ich
hätte mich gar nicht gewundert, wenn sie, wie ihre Kolleginnen in „Robert dem
Teufel", plötzlich die Kutte abgeworfen und als Balletteusen einen Cancan auf¬
geführt hätten! Trotz alledem möchte ich glauben, daß der liebe Gott daran
mehr Vergnügen hat, als an den steifleinenen Engländern, wenn sie allsonntäglich
dreimal mit meterlangen Schritten und ellenlangen Gesichtern ihrem frommen
Kirchensport nachgehen, doch will ich Guillot") nicht ins Handwerk pfuschen —
er muß dergleichen ja besser wissen.
An seine Schwester.
Peking. 17. Dezember 1897.
... Sir Robert Hart verdient es, daß man ihm den schuldigen Respekt
entgegenbringt — weit mehr als alle übrigen Europäer in Summa. Er erinnert
äußerlich sehr an Geheimrat Schöne. Es ist merkwürdig, daß dieser Manu,
dessen grandiose Zollverwaltung, die sich über das ganze chinesische Reich erstreckt
und ein Heer von dreitausend Beamten beschäftigt, von einer solchen Schüchternheit
ist, daß er jeden Augenblick vor Verlegenheit errötet. Er lebt so ausschließlich
seiner Arbeit, daß er fast für nichts anderes Sinn hat. Er hat noch nie die
große Mauer gesehen und ist neulich, wie er mir erzählte, bei Gelegenheit
eines Tiffins. das der österreichische Gesandte im Gelben Tempel veranstaltete,
seit sieben Jahren zum ersten Male aus den Mauern Pekings heraus¬
gekommen. Die letzte Reise, die er vor zwölf Jahren gemacht hat, war eine
Dienstreise nach Hongkong. In England ist er seit zwanzig Jahren nicht gewesen —
und er ist schon seit vierundvierzig Jahren in China. Seine Frau lebt seit
sechzehn Jahren in England, und während dieser ganzen Zeit hat er sie nie
gesehen, „ste rirekörs I^ni-ope v/itkout a liusb-mal to Lturm viel Ä Kusbancl,"
sagte er zu Lilln. Seine Lebensweise zeichnet sich durch die Regelmäßigkeit eines
Uhrwerkes aus. Er frühstückt jeden Tag um 7 Uhr, spielt danach eine Stunde
lang Cello und geht dann an die Arbeit. Um 1 Uhr ist Tiffin; danach hält
er ein Schläfchen von 10 Minute» und geht wieder an die Arbeit. Um 5 Uhr
trinkt er Tee und geht dann noch auf einen Augenblick ins Bureau, für deu
Fall, daß etwas Wichtiges vorliegen sollte. Dann gibt er der Tochter eines
seiner Beamten. Mr. Campbell, täglich eine Violinstunde, ißt um 8 Uhr Mittag
und verbringt den Abend mit leichter Lektüre. Kein Zweiter hat für China so
Großes, so Ungeheueres geleistet wie er. Die Einnahmen durch die Seezölle
sind die einzigen sicher geregelten Einnahmen des Reiches. Seine Wohnung
zeichnet sich durch puritanische Einfachheit aus: Fenster ohne Gardine», Türen
ohne Portieren, Möbel in weißen Überzügen, im Tanzsaal zwei einfache Bücher¬
regale. An den Wänden einige Stahlstiche und Photographien, nirgends auch
nur ein einziges Stück chinesischer Kunst und Industrie. Ich bewundere und
ich bedauere ihn.
Um die Mittagszeit ist unser Haus stets belagert von Händlern aller Art,
die dann einer nach dem anderen ins Vorzimmer kommen und ihre Schätze aus¬
breiten. Die Kerle sind von einer unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit und ihre
Waren oft derart, daß einem das Stoßgebet: „Führe uns nicht in Versuchung"
auf die Lippen kommt. Nur gute Seidenstickereien haben wir bisher leider nicht
auftreiben können — die werden immer seltener und die Preise immer unerschwing¬
licher. Dagegen habe ich mir eine Büchersammlung, besonders Mandschudrucke,
die jetzt sehr rar sind, angelegt, die sich sehen lassen kann, und noch dazu für
einen Spottpreis. Vor mehreren Jahren wurde der Berliner Königlichen Bibliothek
eine Sammlung von Mandschndrucken angeboten, die kaum den Wert der meinen
hatte. Der Preis betrug 12000 Mark, während ich für meine Bücher 500 Mark
bezahlt habe. Wenn man mir eine vernünftige Summe angewiesen hätte, könnte
ich hier für unser Museum sür wenig Geld herrliche Sachen kaufen. Mit
6000 Mark kommt man natürlich nicht allzu weit. Dem Preußischen Staate
in untertänigen Gesuchen meine Dienste anzubieten, habe ich nun aber nicht die
mindeste Veranlassung nach allem, was ich ihm verdanke. Wünscht man etwas
von nur, so mag man mich bitten. Ich brauchte jetzt nur einen Schritt zu tun,
so könnte ich hier eine Stelle, die mir gar nicht übel zusagen würde, mit einem
Jahresgehalt von 20000 Mark bekommen, statt pour le roi cle prusss zu
arbeiten, wie mir noch vor wenigen Tagen gesagt wurde. Geistige Arbeit wird
in China nicht wie im Rechtsstaate Preußen als Kuliarbelt geschätzt, auch gibt
es hier miaute keine Wirkliche Geheime Ober-Regiernngsräte, von denen sich
Professoren wie Kukis behandeln lassen müssen . . .
An seinen Paten Dr. William Higginbotham.
Peking, 2. Januar 1898.
Das war wieder einmal ein reizender Einfall von Dir, uns — wenn auch
in ekkiZie — in Peking zu besuchen, und wenn Du am Weihnachtsabend meine
Freude darüber Hüttest sehen können, hättest Du Dich gewiß für die Strapazen
der Reise und des Briefschreibens belohnt gefühlt. Dein Konterfei, das übrigens
gar nicht ähnlicher hätte ausfallen können, ist nachgerade eine Art Neklameartikel
bei uns geworden, ich renommiere mit Dir gegen jedermann und habe sogar
neulich meinem Chinesen einen regelrechten chinesischen Vortrag über Dich gehalten.
Ich bin wirklich stolz darauf, in der Wahl meiner Taufeltern so vorsichtig
gewesen zu sein, denn dazu gehörte doch eine Menschenkenntnis, die in so zartem
Alter ziemlich selten vorzukommen pflegt.
Neulich habe ich eine halbstündige Audienz bei Li-Hung-chang gehabt. Ein
Herr Bauer aus Tientsin, Agent bei Krupp, den ich von Berlin her flüchtig
kannte, hatte ihm von mir erzählt, und daraufhin bat Li-Hung-chang ihn, mich
am folgenden Tage mitzubringen. Ich glaube, er hatte mich nur zu sich bitten
lassen, in der Hoffnung, daß ich die Vermittlerrolle zwischen ihm und Herrn
v. H. übernehmen würde. Der Gimpelfang mißglückte ihm indessen, und ich
erklärte kurzweg, ich befaßte mich nur mit wissenschaftlichen Dingen und verstünde
nichts von Staatsgeschäften. Er meinte, ich wäre ihm als deutscher Minister
lieber als Herr v. H., und richtete seiner Gewohnheit gemäß lauter indiskrete
Fragen über meine Verinögensverhültnisse an mich und schien es gar nicht begreifen
zu können, wie jemand chinesisch studieren könne, ohne irgend einen praktischen
Zweck damit zu verbinden. Sicherlich Hütte ich im stillen die Absicht, bei
Kiaochou Grundbesitz zu erwerben. Als ich ihm beim Abschied sagte, daß sein
Besuch bei Bismarck in Deutschland allgemein die größte Freude hervorgerufen
habe, strahlte er übers ganze Gesicht und fragte mich, ob ich auch schou einmal in
persönliche Berührung mit dem Fürsten gekommen wäre. Leute, die dem alten
Fuchs persönlich sehr nahe stehen, versicherten mir, daß Bismarck der einzige
Mensch in der Welt sei, für den er eine aufrichtige und geradezu abgöttische
Verehrung und Bewunderung hege. In seinem eben erschienenen Reisetagebuch
erzählt er auch, daß sein Besuch in Friedrichsruh die einzige Gelegenheit gewesen
sei, bei der er die gelbe Jacke angehabt habe. Ganz scheußlich war übrigens
der Champagner, den er kredenzen ließ, statt des sonst üblichen Tees. Da man
nach den Vorschriften der chinesischen Etikette nur ein wenig am Glase nippen
darf, werden offenbar später die Reste wieder in die Flasche zurückgegossen, mir
bei ähnlichen Gelegenheiten anderen Ehrengästen vorgesetzt zu werden. Ilonn^
8vit qui mal ^ psnse.
Herr v. H. hat mich in liebenswürdiger Weise eingeladen, an der Neu¬
jahrsaudienz, die im Februar stattfindet, teilzunehmen, sodaß ich also vielleicht
noch den Himmelssohn von Angesicht zu Angesicht zu sehen bekomme. Fataler¬
weise findet just am chinesischen Neujahrstage eine Sonnenfinsternis statt, die,
wie es scheint, nicht auf einen anderen Tag verschoben werden kann, da Struve
nicht hier ist. Zum Glück kennen die Chinesen ein probates Mittel, Sonnen¬
finsternisse unschädlich zu machen: sie schießen einfach auf den Hund, der die
Sonne frißt — ein Hund, auf den die europäische Astronomie noch immer nicht
gekommen ist.
Es wird Dich vielleicht interessieren, daß Herr v. H. auch Livone ist und
neulich durch sein Telegramm: „Gott schütze Livonia" die russischen Zeitungen
in die größte Aufregung versetzt hat. Wie kann man aber auch den lieben Gott
Pobedonoszeff gegenüber so kompromittieren?! Unbegreiflich. . , .
An Frau Clara Curtius.
Peking, 4. Januar 1898.
... Ich kann mich für eine Religion der Resignation nicht begeistern und ziehe
die der Tat vor. Die Religion ist Leben und Leben — Handeln. Daher bin ich für
meine Person auch noch recht weit von der gepriesenen Wunschlosigkeit entfernt. Wie
oft z. B. wünsche ich mich an Ihren gemütlichen runden Tisch, um mich wieder
einmal nach Herzenslust über dieses und jenes, was den: Alltagsleben ferne liegt,
mit Ihnen auszusprechen. Und ist es nicht seltsam, so oft meine Gedanken bei
Ihnen weilen (und das ist gar oft der Fall), stelle ich Sie mir immer in der
altgewohnten Umgebung in der Matthäikirchstraße vor. Deshalb begreife ich
auch sehr wohl, daß Sie sich in den neuen Räumen noch immer nicht recht
heimisch fühlen. Es gibt eben Äußerlichkeiten, die durch so zahllose Fäden mit
dem innern Sein des Menschen verwoben sind, daß sie dadurch aufhören bloße
Äußerlichkeiten zu sein und schließlich einen Teil unseres eigenen Selbst bilden.
Wenn Herr v. Richthofen meint, ich sollte meine Anschauungen und Er¬
fahrungen frisch und bald schriftlich niederlegen, so ist das leichter gesagt als
getan. An guten: Willen fehlt mirs nicht; allein ich bin der Ansicht, daß
eigentlich nur diejenigen interessant, anregend und unterhaltend über China
schreiben können, die es nur oberflächlich kennen. Das klingt zwar paradox,
aber das ist bei so manchem, was wahr ist, der Fall. Wer gewissenhaft und
auf Grund eingehender Kenntnisse der Sprache, Geschichte und, soweit das über¬
haupt möglich ist, des Geisteslebens, dieses eigenartigste aller Kulturvölker, dessen
innerstes und äußeres Leben darstellen will, stößt auf Schritt und Tritt auf die
größten Schwierigkeiten, die ihn immer wieder stutzig machen, und kann daher
eines den Leser auf die Dauer ermüdenden Ballasts an allerhand Kleinkram beim
besten Willen nicht entraten. Es liegt in dem Wesen jeder uralten Kultur, daß
gewisse, immer wiederkehrende Bräuche und auch Redewendungen, denenursprünglich
im Volksbewußtsein ein lebendiger Sinn innewohnte, allmählich im Laufe der
Jahrhunderte und Jahrtausende erstarren und ihren ursprünglichen Vorstellungs¬
und Begriffswert einbüßen. So entstehen im äußeren Leben tote Formen, in
der Sprache tote Formeln. Tot und auch wieder nicht tot! denn mißverstanden
oder unverstanden, beeinflussen sie das Geistesleben der Nation, indem sie es
entweder in falsche Bahnen teilen oder in seiner Entwicklung hemmen. Je alter
eine Kultur ist, je reicher sie an toten Satzungen und Formeln wird, um so
näher rückt die Gefahr des nationalen Marasmus, weil Vorstellungen und Begriffe,
die ihres Inhalts beraubt sind, dem sozialen Körper keinen Nahrungsstoff zuführen
können. Zu neuem Leben, zu einer nationalen Wiedergeburt kann ein fernes
Volk erst dann gelangen, wenn es erstens den eigenen Zustand sich klar zum
Bewußtsein bringt und zweitens die als leer erkannten Formen mit neuem Leben
füllt. Seit ich in Canton gewesen bin und gesehen habe, welch herrlicher,
jugendlicher Idealismus dort gerade in solchen Kreisen herrscht, denen sonst die
typischen Vertreter krassester Reaktion und des glühendsten Fremdenhasses
anzugehören pflegen, zweifle ich nicht, daß China seiner nationalen Wieder¬
geburt entgegengeht. Ebenso wenig zweifle ich auch daran, daß wenn es zu
einer solchen kommt, diese vom Süden ausgehen muß, wo das Volk regeren
Geistes, lebhafteren Temperaments und daher auch neuen Ideen leichter zugänglich
ist, als im Norden, wo das ohnehin etwas dickflüssige Blut der Chinesen infolge
vielfacher Vermischung mit Mandschuren und Mongolen nur noch träger fließt.
Ich habe in Canton ziemlich viel mit dein „jungen China" verkehrt und mich
an dem jugendlichen Übereifer erfreut, der womöglich mit dein Dach den Anfang
macht, um das Haus zu bauen.
Ob diese vielversprechende, geistige Bewegung je zur Reise gelangen und
die erhofften Früchte tragen wird, hängt vielleicht wesentlich von den hemmenden
und fördernden Einflüssen ab, die ihr aus dein Kontakt mit der westlichen
Kultur erwachsen. Nach den bisherigen Erfahrungen fürchte ich freilich, daß die
gepriesenen Segnungen der europäischen Zivilisation mehr dem eigenen Vorteil
als der Kulturförderung Chinas gelten werden. Wenn Herr v. Richthofen wirklich
gesagt hat, daß ich das Land kenne wie kein anderer, so hat er damit sowohl
mir wie meinen Briefen an Sie zu viel Ehre angetan. Es gibt sehr viele,
die China besser kennen als ich, aber freilich unter diesen vielen leider nur sehr
wenige, die es richtig beurteilen. Die meisten unterschätzen die chinesische Kultur,
und die übrigen überschätzen sie. Ich bin der Ansicht, daß auf dem Gebiete
der historischen Forschung der Forscher nicht wie auf dem der exakten Wissen¬
schaften seinem Gegenstand nur ein rein theoretisches Interesse entgegenbringen
darf, sondern mit menschlich warmem Interesse an ihn herantreten muß; er
darf nicht Richter allein, sondern muß auch Anwalt zugleich sein. Darin liegt
wieder eine große Schwierigkeit, zu deren Überwindung nicht nur ausreichende
Beherrschung des Stoffes, sondern zugleich feines historisches Taktgefühl erforderlich
ist. Und selbst wenn alle diese Notwendigkeiten erfüllt sind, muß, wer den Stoff
künstlerisch gruppieren und anschaulich darstellen will, über eine gewisse
dichterische Veranlagung und eine gewandte Feder verfügen. Beides fehlt
mir leider.
Nichtsdestoweniger beabsichtige ich selbstverständlich die Früchte meiner Arbeit
dereinst zu veröffentlichen, um so mehr, als ich durch den speziellen Charakter
meiner Studien auch wirklich tiefer in die Volksseele blicken konnte, als viele
andere, die sich mehr mit der politischen oder rein literarischen Seite der Ge¬
schichte Chinas befaßt haben. Auch habe ich viel neues, bisher unbekanntes
Material zutage gefördert, das nicht im Pulte begraben bleiben darf. Die über
Erwarten reiche Ausbeute veranlaßte mich auch, wie Sie wohl inzwischen schon
gehört haben, um eine Verlängerung meines Urlaubs einzukommen, und zwar
für die Dauer eines halben Jahres. Zu meiner größten Frende habe ich die
Genehmigung bereits auf telegraphischem Wege erhalten. ...
An seine Schwester.
Peking, 16. Januar 1898.
. . . Gestern war nach chinesischer Zeitrechnung der dreiundzwanzigste Tag
des zwölften Monats, das ist ein großer Festtag, denn an diesem Tage steigt
der Küchengott, der in jedem Hause verehrt wird, gen Himmel, um dort über
die seiner Obhut anvertraute Familie Bericht zu erstatten. Ich machte allein
einen Spaziergang durch die Chinesenstadt, in der Hoffnung, etwas von den
Vorbereitungen zu dem Feste zu sehen. Es herrschte auch ein sehr reges Treiben
auf den Straßen, und allenthalben wird ein sehr süßes und sehr klebriges
Naschwerk aus Reiszucker verkauft, das dem Gotte geopfert wird. Wenn er
das genossen hat, sührt er im Himmel nur „honigsüße Reden" oder, was oft
noch erwünschter ist, er kann den Maud überhaupt nicht auftun, weil ihm die
Lippen zusammengeklebt sind. Habe ich nun etwa nicht recht, wenn ich sage,
daß die Chinesen ehrliche Gauner sind? Ich finde diesen kindlichen Glauben,
der sie lehrt, ihre Götter in kritischen Augenblicken übers Ohr zu hauen, ganz
allerliebst. Gestern nachmittag wurden zu Ehren des Gottes stundenlang kire-
craelcers abgebrannt, und das Geknatter ringsumher nahm gar kein Ende.
Nächsten Sonnabend ist Neujahrstag — da wirds noch schöner. Peking ist doch
reizend, und ich werde mich noch oft hierher zurücksehnen. . . .
An seinen Bruder.
Peking, 29. Januar 1893.
... Du fragst mich, was ich von Eugen Wolff halte. Ich kenne nur
wenige seiner Berichte, und diese haben mich angeekelt. Wenn man wie er
darauf ausgeht, die Lacher auf seine Seite zu bekommen, indem man alles schlecht
und lächerlich macht, ohne die Fähigkeit oder auch nur den guten Willen zu
besitzen, die Erscheinungen und Lebensformen, die man kritisiert, zu verstehen,
so hat man leichtes Spiel. Wenn Wolff über die Beschimpfung des Christentums
in sittliche Entrüstung gerät, so wirkt das einfach komisch. Nichts liegt den
Chinesen ferner als religiöser Fanatismus. Als Religion läßt sie das Christentum
kalt, sympathisch ist es ihnen selbstverständlich nicht, weil es in seiner Sitten¬
lehre dem Konfuzianismus in manchen Punkten straks zuwiderläuft, und weil
sie eine Abneigung gegen alles Fremde überhaupt haben. Daß hin und wieder
Exzesse vorkommen, ist kein Wunder, wohl aber, daß sie sich nicht viel öfter
wiederholen. spontan sind solche Exzesse in den seltensten Fällen, sondern
meist durch das Beamtentum, dem ich durchaus nicht das Wort reden will,
hervorgerufen. Und dann richten sie sich in der Regel weniger gegen das
Christentum als gegen das Ausländertum. Die Herren Missionare sind wohl
auch oft nicht gerade angetan, Achtung für sich und ihre Lehre zu erwecken.
Selbst wenn sie, was keineswegs immer der Fall, in entsagungsvoller Aus¬
übung ihres Amtes durch ihr lebendiges Beispiel wirken, müssen die Chinesen
doch ihre nicht ganz unberechtigten Skrupel betreffs einer Lehre haben, die
durch anderthalb Dutzend Sekten vertreten ist, von denen jede den Alleinbesitz
der lauteren Wahrheit für sich beansprucht und allen übrigen Sekten gegenüber,
die doch auch unter dem Namen „Christentum" auftreten, christliche Liebe —
christliche Liebe sein läßt. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg'
auch keinem andern zu", hat bereits Konfnzius gelehrt. Und daß die Chinesen
die Fremden nicht gerade inbrünstig lieben, nimmt mich nicht wunder, seit ich
gesehen habe, wie sie die Chinesen behandeln und sich als Herren im Lande
gebärden. Dagegen sind die reisenden Engländer, die unseren Kontinent durch
ihre Gegenwart verunzieren, noch die reinen Waisenknaben. Als ich z. B. neulich
mit F. spazieren ging, wich ihm ein Chinese nicht, wie er es erwartet hatte,
nach links, sondern nach rechts aus (in bester Absicht natürlich), da packte er ihn
ohne Umstände beim Kragen und schleuderte ihn mitten auf die Straße. Was
würde man denn sagen, wenn sich in Berlin ein Chinese derartiges gegen einen
Berliner erlauben würde? Man soll doch um Gotteswillen europäisch und
zivilisiert nicht für gleichbedeutend halten. Noch heute konnte ich die beschämende
Beobachtung im Tsungli-Aamen (Auswärtiges Amt) machen, wieviel vornehmer,
anstandsvoller und zivilisierter sich die Chinesen zu benehmen wußten, als all
die schön uniformierten Herren Diplomaten und sonstigen Vertreter der „west¬
lichen Zivilisation".
Neulich machte ich mit Lilln und Frau v. P. einen Spaziergang durch
die Chinesenstadt, wo kein einziger Europäer außer einigen Missionaren wohnt.
In dem Straßenlabyrinth verirrten wir uns und gerieten schließlich in eine
ziemlich menschenleere Sackgasse. Dort begegnete uns ein Chinese; es war ein
einfacher Mann aus dem Volke. Ich fragte ihn nach dem Wege, und er gab
uns nicht nur in freundlichster Weise die gewünschte Auskunft, sondern führte
uns bis an eine Ecke, wo wir nicht mehr fehl gehen konnten. Ähnliches haben
wir in Hang-chow und Su-chow dutzendfach erlebt — überall die gleiche Höf¬
lichkeit. Nirgends wurden wir, wenn wir auch ohne jegliche Begleitung unter
lauter Chinesen waren, auch nur in der geringsten Art belästigt.
Und wird denn etwa das Christentum im christlichen Europa nicht alle
Tage und vor aller Augen von Juden und Sozialdemokraten beschimpft und
lächerlich gemacht? Da sollten die Herren Korrespondenten des Berliner Tage¬
blattes doch lieber erst vor ihrer eigenen Türe fegen, ehe sie China mit ihrer
Säuberungsarbeit beglücken. Es gibt auch zu Hause Unrat genug, — und
jeder Mistkäfer bleibe auf seinem Misthaufen.... (Weuore Briefe folge»)
cum schon ein Urteil über das, was Frankreich und Deutschland in
Marokko und am Kongo erreicht haben, heute unmöglich ist, so ist
es noch viel gewagter, prophezeien zu wollen, was aus den deutsch-
französischen Beziehungen werden wird. In Afrika sowohl wie in
Europa sind in jeder Beziehung Entwicklungsmöglichkeiten geschaffen.
Es kommt alles darauf an, diese Entwicklungsmöglichkeiten auszunutzen. Wir sehen
weder zu großen Hoffnungen noch zu großen Befürchtungen eine besondere Ver¬
anlassung. Was vom deutschen Standpunkt über diese Dinge zu sagen, wird hier
schon von anderen Beurteilern hervorgehoben sein. Wie sehen aber diese selben
Dinge, von Frankreich betrachtet, aus?
Auf den ersten Blick ist der Eindruck hier sehr unerfreulich. Wir haben schon
früher (in Heft 48 S. 428 ff.) aus den Äußerungen eines Freundes gesehen, daß
gebildete Franzosen diese Ausbrüche von Deutschenhaß, deren Zeuge wir gewesen
sind, nicht ernst nehmen wollen. Nach unserer Meinung täte man aber Unrecht,
sich so rasch mit diesen Fieberanfällen abfinden zu wollen. Es handelt sich da nicht
um Tageslaunen, nicht um gelegentliche Heldentaten gewissenloser Demagogen.
Wir haben im Laufe von zehn Jahren gesehen, daß die Stimmung Frankreichs
gegenüber Deutschland statt versöhnlicher, immer gereizter geworden ist. Natürlich
spielt die Marokkokrise mit ihren unaufhörlichen Erschütterungen bei dieser rück¬
läufigen Entwicklung der deutsch-französischen Annäherung die Hauptrolle. Eine
ganze Reihe von hervorragenden Politikern und Schriftstellern, die bis 1905 warm
für eine Verständigung mit Deutschland eintraten, sind danach ganz anderer
Meinung geworden und predigen die Abneigung gegen alles Deutsche und offenen
Kampf gegen den deutschen Einfluß. Andere Freunde eines deutsch-französischen
Zusammenarbeitens sind ganz verstummt, da sie die einstweilige Aussichtslosigkeit
aller Bemühungen in dieser Richtung erkannt haben.
Zwei Umstände haben dazu beigetragen, die Deutschfeindschaft gewisser Kreise
neuerdings deutlicher werden zu lassen. Das ist vor allem das Gefühl, kampf¬
gerüstet zu sein, das man 1905 noch nicht hatte. Dann aber machen die
Franzosen die Beobachtung, daß auch in Deutschland, wo eine Abneigung
gegen den alten Gegner fast ganz unbekannt geworden war, sich augenscheinlich
der Zorn über die jahrelangen Herausforderungen und Beschimpfungen des
deutschen Namens zu regen anfängt. Französische Reisende erzählen von
Theatervorstellungen von Frankreich beleidigenden Charakter, von Verhöhnungen
Frankreichs in Wort und Bild. Wir lassen dahingestellt, wieweit diese Dar-
stellungen richtig sind. In Frankreich haben die Berichte von derartigen Vor¬
gängen den Erfolg, die Citoyens noch mehr zu empören, gegen diese Deutschen,
die es müde sind, für alle ihre Höflichkeiten und ihr, oft übertriebenes Entgegen¬
kommen sich mit Rüpeleien und Schmutzanwürfen belohnt zu sehen, und die nun
auf einen Schelmen anderthalben setzen und den verwöhnten Franzosen mit
erfrischender Deutlichkeit einmal ihre Meinung sagen.
Nach alledem sind wir in der Beurteilung der weiteren Entwicklung der
deutsch-französischen Beziehungen von Optimismus sehr weit entfernt. Die deutsch¬
feindliche Bewegung ist durch eine gewisse Clique von Politikern, von gewohn¬
heitsmäßigen oder berufsmäßigen, von innerhalb und außerhalb Frankreichs
unterhaltenen Radaumachern und Unheilstiftern vorbereitet und zwar seit
langen Jahren. Es gibt noch zuviel Leute in der Welt, die ein ehrlich-politisches
oder ein schmutzig - eigensüchtiges Interesse daran haben, die deutsch - französische
Annäherung, die sich um die Jahrhundertwende in so überraschender Kraft zu
zeigen begann, wieder zu stören. Ein Krieg wäre nicht nur den englischen Jingos
willkommen, sondern auch den französischen Bonapartisten, Orleanisten und anderen
Parteien, die auf eine Staatsstreichgelegenheit lauern. Es gibt hier viele sonst
ruhig und nüchtern urteilende Politiker, die einen Krieg mit Deutschland binnen
zwei bis drei, spätestens vier Jahren für unvermeidlich halten. Wir unsererseits
halten diesen Krieg nicht nur für vermeidlich, sondern glauben auch, daß er ver¬
mieden werden wird — wenn England nicht einen Weltkrieg herbeiführen will.
Das französische Volk will keinen Krieg — darin hat unser französischer Freund
durchaus recht. Wenn es der Hetz- und Wühlarbeit der Revcmcharde und der
Geschäftsdemagogen sechs, sieben Jahre lang widerstanden hat, wird es, wie wir
hoffen, ihr auch weiter siegreich widerstehen. Der Haß, der sich unleugbar in den
letzten Jahren hier gegen das Deutsche Reich und seine Politik angesammelt hat,
wird gewiß nicht von heute zu morgen wieder verschwinden, aber er hat sich doch
noch nicht tief genug in die Volksseele eingefressen, um als unheilbar angesehen
werden zu müssen. Nach der Erregung dieses Sommers wird langsam eine Beruhigung
und dann sogar eine gewisse Reaktion gegen die alles Maß übersteigende Ver¬
hetzung gegen Deutschland eintreten. Fast möchte es uns scheinen, als wenn schon
heute hier und da Symptome einer Besserung zu bemerken sind. Wenn keine
neuen Störungen eintreten, werden wir nach Jahr und Tag wieder zu normalen
Verhältnissen zurückkehren.
Dies ist aber nicht die Ansicht der Franzosen, die politisch milderten und
mitarbeiten in der Republik. Sie meinen — und die deutsche Aufnahme des
Marokkoabkommens hat sie in dieser Auffassung bestärkt —, daß mit dem neuesten
Vertrag nur ein Provisorium geschaffen ist, sowohl in Afrika wie in Europa.
Weder in Marokko noch am Kongo schaffe die deutsch-französische Vereinbarung
Zustände, die Dauer versprechen — und noch weniger für die deutsch-französischen
Beziehungen in Europa, mit denen wir es hier ganz allein zu tun haben. In
Deutschland war die Genugtuung darüber groß, daß zwischen zwei Mächten, deren
Beziehungen so eigenartiger und überempfindlicher Art sind, überhaupt eine so
schwierige und gefährliche Frage zu einem guten, d. h. friedlichen Ende geführt
werden konnte. Diese Genugtuung wurde an maßgebenden französischen Stellen
geteilt — nicht aber in den Kreisen der Intellektuellen und Boulevardwelt —
und vor allem nicht in den Kreisen der Führer des wirtschaftlichen Lebens. In
diesen Schichten ist man durch die Krise dieses Sommers zu der festen Überzeugung
gekommen, daß das deutsch-französische Verhältnis, so wie es heute ist, als unhaltbar
angesehen werden muß, und daß Frankreich den seit etwa zehn Jahren ein¬
gehaltenen Kurs verlassen muß, wenn es eine Katastrophe vermeiden will. Dreißig
Jahrs lang konnten die beiden alten Gegner wie die cmiens cle mienne neben¬
einander leben. Seit zehn bis zwölf Jahren haben sie aber neben ihrer arg¬
wöhnisch und ängstlich behüteten europäischen Grenze auch noch überseeische Grenzen
bekommen, und im Getriebe der Weltpolitik berühren und durchkreuzen sich die
deutschen und französischen Interessensphären fortwährend.
So meinen die Franzosen, daß wir uns dem verhängnisvollen Augen¬
blick nahen, wo beide Völker zu der Überzeugung kommen, daß es so, wie
in den letzten zehn Jahren, zwischen Deutschland und Frankreich nicht weiter
geht. Da man auch nicht zu dem Verhältnis der ersten drei Jahrzehnte nach
dem Kriege zurückkam, muß man einen Schritt vorwärts tun. Dem heutigen
Zustande muß, koste was es wolle, ein Ende gemacht werden. Die seit vierzig
Jahren immer vorbereitete, aber auch gefürchtet« und stets aufgeschobene Aus¬
einandersetzung mit Deutschland wird sich nicht mehr vertagen lassen. Frankreich
ist heute stark genug, um mit ruhigem Selbstbewußtsein die große Frage an
Deutschland richten zu können, aus der der Krieg oder ehrliche Versöhnung hervor¬
gehen kann. Der Gedanke einer Verständigung mit Deutschland war aus den
Erörterungen der öffentlichen Meinung in Frankreich verschwunden, und allen
Augen war klar geworden, daß man auf ein völlig unlösbares Problem hinaus¬
komme. Deutschland erklärte, eher den letzten Mann seines letzten Armeekorps
zu opfern, als auch nur eine Handbreit elsaß-lothringischen Bodens zurückzugeben;
Frankreich verkündete, daß es nicht ruhen könne, bis nicht mit der Wiedereinfügung
der geraubten Provinzen in das Vaterland Frankreichs Ehre wieder hergestellt
und der verstümmelte Volkskörper wieder lebensfähig gemacht sei. Da man keinen
Krieg mit Deutschland riskierte, suchte mau es durch ein System von Bündnissen
und Erdeulen einzuengen, zu isolieren, diplomatisch zu ersticken, um es so gefügig
zu machen oder im Falle kriegerischen Widerstandes unter der Übermacht der
gegen ihm vereinten Heere und Flotten zu zerschmettern. Daneben behielt man
die Hoffnung, daß das mit dem Kriege gegen eine unüberwindliche europäische
Koalition (womöglich gar auch noch gegen die Vereinigten Staaten und Japan)
bedrohte Deuischlcmd es schließlich vorziehen werde, den Franzosen Elsaß-Lothringen
als Preis für ein deutsch-französisches Bündnis zu zahlen als seine ganze nationale
Existenz aufs Spiel zu setzen.
Auch dieser Traum ist aus. Deutschland ist nicht isoliert und eingekreist. Es
hin sich so wenig von der Drei-Entente einschüchtern lassen, daß es sogar — nach
französischer Anschauung — seinerseits zu Herausforderungen und Angriffen über¬
gegangen ist. Also auch auf dem Wege dieses Neu-Delcassismus ist anscheinend
Deutschland nicht beizukommen. Der Zweifel an der Wirksamkeit des ganzen
Ententesystems greift in Frankreich immer weiter um sich. In demselben Maße
aber ist das Vertrauen Frankreichs in seine eigene Kraft gewaltig gestiegen.
Es braucht die Erdeulen und Bündnisse nicht mehr. Es kann auch ganz
allein mit Deutschland ein ernstes Wort reden. Dieser Fortschritt ist eine Folge
der letzten Krise. Eine zweite Folge dieser Krise ist die Auffindung eines neuen
Mittels, sich mit Deutschland verständigen zu wollen. Man glaubt dieses Mittel
im System der „Kompensationen" gefunden zu haben. Zuerst erschien dieser
Gedanke nur als eine Spielerei; heute tritt man ihm ernster näher. Man sagt
sich: Deutschland braucht Geld, Deutschland braucht Erz für seine Industrie,
Deutschland braucht Absatzgebiete für seinen Handel, Deutschland braucht über-
seeisches Siedelungsland für seine überschüssige, daheim erstickende Bevölkerung;
Deutschland braucht den Frieden in Europa und neue diplomatisch - militärische
Stützen für die herannahenden großen Weltkrisen. Es gibt eine Macht, die den
Deutschen alles, was sie begehren, gewähren kann und auch gewähren will.
Der Preis dafür ist das Vogesenland, 14 500 Quadratkilometer mit einer Be¬
völkerung, die sich doch niemals germanisieren lassen wird und die eine ständige
Gefahr für Deutschland bleibt. Dies Land, das heute nur ein Ballast für die
deutsche Entwicklung ist und das Deutsche Reich fortwährend in Kriegskrisen
bringen kann, würde die Brücke der Vermittlung und Versöhnung zwischen Deutsch¬
land und Frankreich werden, die Grundlage eines ganz neuen stolzen Aufstieges
Frankreichs und Deutschlands. Weshalb das System der Kompensationen nur
auf das armselige Kongoland anwenden? Gebt uns Metz und Straßburg und
nehmt euch dann, was ihr wollt, von unseren Kolonienl General Thomasstn,
einer der Vertreter dieser neuen deutsch-französischen Idee, schreibt in einem offenen
Brief an Deutschland und seinen Kaiser: „Verstehen Sie die Folgen dieses gro߬
artigen Plans. Kein Krieg mehr unter uns! Mehr noch, wir können im Ein¬
vernehmen leben und dies Einvernehmen kann sich in ein Bündnis verwandeln.
Welch' eine Machtfülle dann! Wer könnte sich uns dann noch in den Weg stellen
und uns hindern, einen auf solchen Grundlagen gebauten Frieden aufrecht zu
erhalten? Was wir wünschen, ist von unschätzbarem Werte für uns. Was wir
geben, ist es in gleicher Weise für Sie." Heute, sagt Thomassin, kommt man
immer nur auf kleinliche Verhandlungen und demütigende Kompromisse hinaus.
stachliche Beziehungen und neue Kämpfe sind die Folgen unvernünftiger und
widerwillig unterzeichneter Abmachungen.
Diese neue Partei in Frankreich schließt aber ihr Programm mit einer
Drohung. Nutze auch dieser letzte Appell an Deutschland nichts, scheitert dieser
letzte Versuch einer ftiedlich-freundschaftlichen Lösung der deutsch-französischen
Frage, dann ist das französische Volk entschlossen (so behaupten wenigstens die
Apostel der neuen Lehre), ein Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne Ende
vorzuziehen. Frankreich wird siegreich sein und Deutschland wird Elsaß-Lothringen
ohne Entschädigung herausgeben müssen, — wahrscheinlich noch viel mehr! —
das es heute als Preis für äußerst vorteilhafte Kompensationen zahlen könnte,
ohne seiner Ehre zu nahe zu treten.
Wir sparen uns auch an diesen: Gedankengang die für jeden deutschen Leser
selbstverständliche Kritik. Die Herren übersehen — um nur zwei Punkte hervor¬
zuheben — den hartnäckigen Widerstand Englands gegen jede deutsche Macht¬
erweiterung in überseeischen Gebieten und übersehen zweitens, daß, so lebhaft
unser Wunsch nach einer Verständigung oder gar einem Bündnis mit Frankreich
sein mag, und so ehrlich unser Wunsch, einen europäischen Krieg zu vermeiden,
Elsaß-Lothringen uns doch immer als ein viel zu hoher Preis für die Erfüllung
dieses Wunsches erscheinen wird. Solange die Franzosen nicht einsehen, daß
Elsaß-Lothringen auch von ihnen als ein untrennbarer Bestandteil des Deutschen
Reiches zu betrachten ist, kann von keiner Verständigung die Rede sein. Der ganze
schöne Friedens- und Freundschaftsplan der neuen Schule kommt also schließlich
(mit dem Motto: „Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag' ich Dir den
Schädel ein") auf den Krieg hinaus.
Diese Franzosen begehen heute mit allem ihren guten Willen denselben
Fehler, der jahrelang von deutschen Politikern begangen ist, die die Entwicklung
der deutsch-französischen Beziehungen ebenso brüskieren wollten. Man sollte
begreifen, daß die Kunst der Diplomaten und Staatsmänner hier versagt; man
sollte begreifen, daß auch ein neuer Krieg das Problem nicht lösen könnte, wie er
auch ausfiele. Unsere Auffassung bleibt die, die wir schon vor Jahren an dieser
Stelle vertreten haben: Man muß die Zeit ihr Werk tun lassen und sich darauf
beschränken, den langsamen, ach! sehr langsamen Verjährungs- und Heilungsprozeß
nicht zu stören. Gegen diesen Grundsatz ist seit einigen Jahren hüben und drüben
arg gesündigt. Es ist zu hoffen, daß man nun zu ersprießlicheren Methoden
zurückkehrt.
Man muß bescheiden sein und darf nicht vergessen, daß heute noch immer
ein glücklich vermiedener Krieg schon als ein großer Erfolg für Deutschland und
Frankreich angesehen werden muß. Die Hoffnung, auch künftig Zusammenstöße
vermeiden zu können, wird dadurch gestärkt. Man vergesse auf beiden Seiten der
Vogesen nicht, daß neben den unruhigen Elementen, die nach Krieg schreien, die
große Mehrheit der verstündigen Leute sitzen, die meinen, daß die Deutschen und
Franzosen heute Wichtigeres zu tun haben, als sich zur Freude Dritter zu raufen.
Die Stunde vor Sonnenaufgang ist die dunkelste. Dunkel genug ist es heute
wieder an den Vogesen geworden. Vielleicht zeigt uns diese Finsternis nur die
nahe Morgenröte an. Die Hoffnung ist auch jetzt noch nicht aufzugeben. Neben
den Politikern und unternehmungslustigen Generälen, deren einzige Weisheit in
dem „ckelencke Qermania" liegt, gibt es genug Männer, die trotzdem und alledem
eine Annäherung an uns suchen und als das Grundübel aller französischen Politik
das Prinzip ansehen, immer zuerst daran zu denken, wie man Deutschland am
meisten schaden kann, und nicht daran, wo der ^ ohne Rücksicht auf alle Empfind¬
lichkeiten zu suchende — wahre und praktische Vorteil Frankreichs liegt. Ohne die
Herausforderung Deutschlands 1904 hätte man auch die ganze Marokkokrise erspart.
Ohne die kindischen Schikanen gegen die deutsche Orientpolitik hätte man sich mit
Deutschland zu einem glänzenden Geschäft in Kleinasien vereinigen können. Wir
wissen aus Börsen- und Finanzkreisen von Paris, daß da der eigensinnige Wider¬
stand gegen ausgedehnte Zusammenarbeit französischen Kapitals und deutschen
Unternehmungsgeistes keineswegs gebilligt wird. Vom deutschen Standpunkt
bezweifeln wir, daß eine allzu enge Verbindung unseres Wirtschaftslebens mit dem
französischen unbedingt zu empfehlen ist. Gerade die Erfahrungen des Sommers
und Herbstes sprechen dagegen. Dabei bleibt es aber eine Wahrheit, daß sich auf
diesem Gebiet die beiden Nachbarn ganz gewaltige Vorteile bieten könnten und da
die Völker nicht von Gefühlen, sondern von Geschäften leben, so eröffnen sich hier
Ausblicke in eine bessere Zukunft. Die Männer des deutsch-französischen Wirt¬
schaftskomitees haben das erkannt. Mögen sie sich hüten, hohe Politik zu machen
und ebenso hüten, sich von wirtschaftspolitischen Parteien in einem der beiden Länder
ins Schlepptau nehmen zu lassen. Hier und da zeigen sich dazu bedenkliche Neigungen.
Das wäre bei dem Herannahen neuer zollpolitischer Auseinandersetzungen in
Deutschland verhängnisvoll für diese Annäherungsbestrebungen. Die französischen
Finanz- und Geschäftsleute wissen, wie unsinnig das Geschwätz von den Bankerotten
Deutschland ist. Um die Pariser Place de la Bourrö schätzt man die Wirkungen
des deutsch-französischen Abkommens für das Wirtschaftsleben sehr hoch ein und
rechnet auf einen zuerst langsamen, dann aber immer rascheren und glänzenderen
Aufschwung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen. Die Herren spekulieren
so gewiß nicht aus reiner Liebe zu Deutschland, sondern weil sie wissen, daß eine
solche Entente für Frankreich von größtem Vorteil wäre. Trotzdem stimmen wir
— mit einiger Vorsicht — im allgemeinen diesen Tendenzen zu, da sie erstens auch
dem deutschen Handel und Wandel nützlich werden können und zweitens eine Aus¬
sicht eröffnen, die politische Krise rascher zu beseitigen. Ist die Finanz bei der
Herabminderung der Spannung interessiert, wird sie auch die von ihr abhängige
Großpresse zur Einstellung der wüsten Dentschenhetze veranlassen und damit wäre
schon viel gewonnen. Kann man auf diesem Gebiet der deutsch-französischen An¬
näherung nicht mit großen Mitteln arbeiten, muß man auch mit den kleinen zufrieden
sein. Alles in allem: die Lage ist ernst, aber keineswegs so verzweifelt, wie die
Pessimisten glauben machen wollen, die im Krieg den einzigen Ausweg suchen.
MW!is die kaiserliche Verordnung vom 16. Januar 1909 betr. den
! Handel mit südwestafrikanischen Diamanten den Förderern dieser
^ Edelsteine die Verpflichtung auferlegt hatte, ihre gesamte Produktion
dem Fiskus zwecks Vermittlung einer möglichst günstigen Ver-
^ wertung zur Verfügung zu stellen, schlössen sich alle an der Diamant¬
gewinnung im Schutzgebiet interessierten Gruppen, mit Allsnahme der Colmcmskop-
Gesellschaft und der kleinen Förderer, zusammen und bewirkten durch Vermittlung
ihrer Bankiers die Errichtung der „Deutschen Dianlantregie-Gesellschaft", welcher
der Vertrieb der deutschen Kolonialdiamanten auf der Grundlage der erwähnten
Verordnung*) übertragen wurde. Diese Regiegesellschaft ist eine Kolonialgesellschaft
im Sinne des Schutzgebietsgesetzes, sie hat keine Erwerbszwecke und erhebt lediglich
eine Gebühr in Höhe von 5 Prozent vom Werte der verkauften Steine; ihre Kon¬
struktion bildet demnach eine Vereinigung der Bergbauinteressen auf der einen
und der fiskalischen und Schutzgebietsinteressen auf der anderen Seite.
Es ist nun eine an sich seltsame Erscheinung, daß die deutsche Diamanten¬
regie den Handel in den deutsch-südwestafrikanischen Diamanten nicht von deutschen
Handelsfirmen besorgen läßt, sondern ein Antwerpener Händlersyndikat mit dem
Vertriebe betraut hat. Obgleich die junge deutsche Diamantenproduktion vergleichs¬
weise sehr große Mengen darstellt und der ständig wachsende Reichtum Teutsch¬
lands die Basis für einen ausgebreiteten deutschen Tiamantenhandel zu bieten
scheint, wandern dennoch die deutsch-südwestasrikanischen Diamanten kurz nach
ihrer Ankunft in Berlin über die Grenze, um in Antwerpen oder Amsterdam auf den
Markt gebracht zu werden. Diese Entwicklung ist hauptsächlich durch die Ver¬
hältnisse bedingt und zeigt ganz auffallende Parallelen mit der Entwicklung des
englischen Diamantenhandels, so daß sich daraus beachtenswerte Schlüsse für die
Beeinflussung der weiteren Entfaltung des deutschen Diamantenhandels durch die
zuständigen Faktoren ziehen lassen.
Vor Entdeckung der südafrikanischen Diamanten war Paris die Zentrale
des Weltdiamantenhandels, wo die damals wichtigste Produktion der brasilianischen
Diamanten auf den Markt gelangte; denn der einzige andere Diamantenproduzent
— Indien — kam wegen der geringen Zahl seiner Steine nicht in Betracht.
Auch die englisch-südafrikanischeDiamantenproduktion schloß sich an den französischen
Diamantenmarkt an. Erst mit der wachsenden Bedeutung der Produktion
der südafrikanischen Diamanten, die unter scharfem Preisdruck den Markt zu
beherrschen begannen, interessierten sich englische Handelsfirmen sür das Geschäft
und verlegten allmählich den Markt nach London, das sich hierdurch zur Diamant-
Handelsmetropole entwickelte. Später wurde dann die südafrikanische Produktion in
dem großen englischen Diamantsyndikat zusammengefaßt, das auch durch die
Entdeckung der Premiermine und deren Outsiderstellung keine wesentliche
Erschütterung erfahren hat; vielmehr hat sich diese Politik ganz besonders
bewährt bei der großen Finanzkrisis von 1907, als die allgemeine Geld¬
kalamität den Absatz dieses Luxusartikels besonders nachhaltig beeinflußte.
Entsprechend den Anfängen in England hat bis jetzt auch der deutsche
Handel keine Organisation geschaffen, um einen wirklichen Diamantenmarkt in
Deutschland auszubilden, und die Monopolorganisation der Diamantenregie für
das südwestafrikanische Schutzgebiet, die in dem ersten Jahre ihrer Tätigkeit
mit den besonderen Schwierigkeiten des Diamantenmarktes zu kämpfen hatte,
hat schließlich den Vertrag mit dem Antwerpener Händlersyndikat geschlossen,
weil er das geringste Risiko zu bieten schien.
Es liegt nun die Frage nahe, ob die Möglichkeit oder Notwendigkeit besteht,
das bisherige Verkaufssystem der deutschen Diamantenregie aufzugeben und ob
sich die Annahme des englischen Systems des Diamantenverkaufs empfiehlt.
Der Hauptunterschied der Systeme liegt nicht allein darin, daß für die eng¬
lischen Diamanten die Zentralhandelsstelle in der Heimat, für die deutschen aber
im Auslande ist, sondern er liegt vor allem darin, daß die englischen Diamanten
prinzipiell nicht an eine bestimmte Händlergruppe verkauft werden. Gewiß
mag es zweckmäßig erscheinen, einen, wenn auch ausländischen, so doch neutralen
Zwischenhändler zu haben, der die deutsche Produknon zu ihrem allergrößten
Teile aufzunehmen und an den Kleinkonsum abzusetzen vermag. Dennoch hat
das zentralisierte Verkaufssystem der deutschen Diamantenregie auch seine großen
Nachteile.
Zunächst wird durch die dauernde Verkaufsverbindung mit dem Antwerpener
Syndikat die Bildung eines wirklich deutschen Diamantenmarktes vereitelt. Dann
aber kann die Regie in eine derartige Abhängigkeit von dem Antwerpener
Syndikat gebracht werden, daß bei schlechter Konjunktur das Syndikat die deutsche
Produktion nur weniger willig und auch nur zu einem niedrigeren Preise über¬
nehmen könnte, als es der Marktlage entspräche. Die deutsche Regie muß
aber mit solchen kritischen Zeiten rechnen. Auch die südafrikanische Premier¬
mine hatte ursprünglich mit einer bestimmten Handelsfirma einen General¬
vertrieb so ertrag abgeschlossen, ist aber in der Folge von diesem System
abgekommen. Gerade eine dezentralisierte Vertriebsorganisation hat den großen
Vorzug, daß ihr ein Stamm einer größeren Anzahl Handelsfirmen, von denen
jede auch in Zeiten schlechter Konjunktur einen gewissen Bedarf hat, in seiner
Gesamtheit die Abnahme einer erheblichen Menge zu leidlichen Preisen garantiert.
Endlich ist noch ein weiterer sehr erheblicher Nachteil des zentralisierten deutschen
Systems zu betonen: Die Konkurrenz und die zur Aufbietung gelangenden
Serien sichern der Regie eine bessere Kontrolle über den Wert der Steine als
der zentrale Verkauf an ein bestimmtes Syndikat! Mit Rücksicht auf die Klagen,
die von einzelnen Diamantengesellschaften dauernd erhoben werden, dürste der
deutschen Diamantenregie solche Wertkontrolle durch den freien Wettbewerb sehr
erwünscht sein, zumal ihre eigene Arbeits- und Sortierorganisation doch erst in
der Ausbildung begriffen ist.
Es darf die Erwartung ausgesprochen werden, daß die Regie bestrebt sein
wird, allmählich einen deutschen Diamantenhandel zu entwickeln, der sie von
der Vormundschaft der Antwerpener Händlergruppe befreit, und zwar müßten
die zweckentsprechenden Vorkehrungen so zeitig wie möglich getroffen werden,
da eine eintretende Krisis am Diamantenmarkt jeden Systemwechsel wesentlich
erschweren würde. Der Vertrag der Regie mit dem belgischen Händlersyndikat
läuft bis Mitte des Jahres 1912, so daß es an der Zeit wäre, der Frage
der Bildung eines deutschen Händlersyndikats näher zu treten. Es hat denn
auch kürzlich in Hanau eine wichtige Besprechung dieser Angelegenheit statt¬
gefunden, wobei der Unterstaatssekretär des Reichskolonialamts Dr. Conze und
der Reichskommissar für die Deutsche Diamantregie-Gesellschaft Dr. v. Jakobs
anwesend waren, um sich über die Verhältnisse der Hanauer Diamantschleifereien
und 'über ihre Wünsche hinsichtlich der Erwerbung der deutsch-südwest-
afrikanischen Diamanten zu informieren. Im Anschluß an eine Besichtigung
der Schleifereien fand mit dreißig Firmenvertretern eine eingehende Beratung
statt, in der der Unterstaatssekretär ein Bild gab von der Organisation der
Verwaltung der deutschen Diamantenfelder und über die für sie maßgebenden
Gesichtspunkte, während anderseits die Interessenten ihre Wünsche äußerten, die
gegenüber der Diamantregie-Gesellschaft gellend zu machen seien. Diese Wünsche
gingen besonders dahin, daß die deutschen Diamantschleifereien zu gleichen Be¬
dingungen wie das Antwerpener Händlersyndikat die deutschen Steine von der
Regie kaufen könnten,- auch die Bildung eines deutschen Händlersyndikats an
Stelle des belgischen wurde erörtert, wobei der Unterstaatssekretär eine wohl¬
wollende Prüfung der Wünsche in Aussicht stellte. Sowohl die Regie wie das
Neichskolonialamt wird mit der Syndikatsbildung einverstanden sein, wenn das
Syndikat gewisse Verpflichtungen übernimmt, die für die Wahrung der Interessen
der südwestafrikanischen Felder und des Reichsfiskus als unerläßlich bezeichnet
werden. Im übrigen würden die bei einer Systemänderung etwa zu erwartenden
Verkäufe der zweiten Hand einen Druck auf den Diamantenmarkt kaum ausüben,
da einerseits der Zwischenhändler im Interesse seines Verdienstes auf Preise sehen
muß und anderseits die Regie durch die ihr gesetzlich zustehende Befugnis zur
Herbeiführung von Prodvktionseinschränknngen sowie durch die Möglichkeit, Ware
zu stapeln, in der Lage ist, Angebot und Nachfrage am deutschen Diamanten¬
markt zwecks Sicherung des Preisniveaus dauernd zu regulieren.
ollkommener und vielseitiger als in den alten Liedern*) spiegelt sich
in den volkstümlichen Erzählungen, besonders in den Märchen und
Sagen der Zauberinsel, die süditalienische Volksseele mit ihrer färben-
freudigen Phantasie, ihrem frischen Naturempfinden. ihrer kindlichen
Weltanschauung, ihrem rücksichtslosen, oft sogar grausamen Rechts¬
gefühl. Und hierzu redet lauter und deutlicher zu uns auch die Seele der Landschaft
mit ihren von Einsiedlern, Zauberern und Feen bewohnten Bergen, Tälern, ver¬
schwundenen Wäldern, volkreichen Städten, ärmlichen Hütten, schimmernden
Marmvrpalästen und dem von Sirenen belebten, überall vom Lande aus sichtbaren
Meere. Treten uns in diesen Wundergeschichten und Legenden, und zumal in den
hier ausgewählten Märchen, auch kaum wesentlich neue Erscheinungen entgegen,
so vielfach doch gar seltsam umgewandelte, mit eigenartigen Zügen ausgestattete
und dadurch zuweilen überraschend neu wirkende Gestalten und Zustände, die den
naiven Leser wie den wissenschaftlich vergleichenden Forscher anziehen und fesseln.
Da glauben wir zunächst Goldmarie und Pechmarie oder Aschenbrödel leibhaftig
vor uns zu sehen, bloß mit anderen Namen und verschiedener Umgebung. Plötzlich
aber wechseln wie im Traume Personen und Umstände: Goldmariechen muß als
Hirtin hinaus in den Wald, um beim Hüten zu spinnen; und die Kühe besorgen
(auf welch sinniger Beobachtung beruht nicht dieses doch vielleicht neue Motiv I)
mit ihren Hörnern die sonst unausführbare Aschenpuddelarbeit. Schließlich wird
sie zur Meerjungfrau, bis der Königsohn kommt und sie aus den Fesseln der
Sirene befreit.
Doch möchten wir keineswegs vorgreifen und weiteres Vergleichen lieber dem
Leser überlassen. Die deutsche Wiedergabe der Märchen habe ich, so gut ich ver¬
mochte, bei treuem Festhalten der ursprünglichen Form, auf den Grimmschen
Volksmärchenton zu stimmen versucht.
Es war einmal ein Witwer. Der hatte eine sehr schöne Tochter. Die hieß
Katharina. Und er nahm sich zur Frau eine Witwe, die eine häßliche Tochter
mitbrachte. Und weil diese noch obendrein faul und schmutzig war, mochte niemand
sie leiden. Nicht einmal ihren Namen begehrten die Leute zu wissen. Sie wurde
nur „I^a brutta" (das Scheusal) genannt. Die andere aber, die sich ebenso durch
Tugend als Anmut auszeichnete, war weit und breit als die schöne Katharina
bekannt. Und sie wurde von Tag zu Tag schöner, trotzdem sie als Aschenpuddel
alle grobe Arbeit im Hause verrichten mußte und sonst noch allerlei Drangsal von
ihrer bösen Stiefmutter erfuhr, die oft Unmögliches von ihr verlangte. Eines
Tages wurde Katharina mit drei Rocken Flachs in den Wald geschickt, wo sie die
Kühe hüten und dabei bis zum Abend drei Strähne Garn spinnen sollte. Sie
spann und spann, aber die Rocken wollten nicht leer und die Spulen nicht voll
werden. Da wurde ihr bange, und sie fing an zu weinen. Ein ehrwürdiger
Greis, der des Weges daherkam, grüßte sie freundlich und riet ihr, nachdem er
die Ursache ihrer Tränen erfahren, die Spindeln auf die Hörner der Kühe zu
stecken, die alsbald nun den ganzen Flachs aufspannen und auch noch das Weisen
besorgten.
Auf dem Heimwege sah Katharina unter einem großen Baume drei schöne
Frauen. Die schliefen. Aber die Sonne, die schon schräg stand, schien ihnen
gerade ins Gesicht, und der Schatten, den der Bann anfangs gespendet, war von
.ihnen gewichen.
Da schnitt das mitleidige Mädchen geschwind ein paar dicht belaubte Zweige
vom Baume, breitete sie behutsam über die Schläferinnen und entfernte sich
leise, ohne zu ahnen, daß es drei Feen waren, denen sie den Liebesdienst er¬
wiesen hatte.
Wie die Feen erwachten, riefen sie die schöne Wohltäterin zurück und schenkten
ihr aus Dankbarkeit drei Wundergaben: Öffnete sie den Mund, um Gutes zu
sagen, quollen Blumen hervor. Kanale sie ihr seidenes Haar, rollten Perlen
hernieder. Wusch sie ihre Hände, schwammen prächtige Fischlein, rote, blaue,
grüne und goldene im Wasser.
Als nun Katharina mit dem tadellosen Garn nach Hause kam und außerdem
noch so herrliche Geschenke mitbrachte, ärgerte sich die boshafte Stiefmutter im
stillen, da sie keinen rechten Grund zum Schelten fand und all dies Glück nicht
ihrem Liebling zuteil geworden war.
Gleich am nächsten Tage mußte nun die Faule frühzeitig mit drei noch
größeren Flachsrocken in den Wald. Aber weil sie träge und ungeschickt war,
wurde nichts fertig. Zuletzt stach sie sich gar noch in die Finger, daß dicke Bluts¬
tropfen hervorquollen. Und sie weinte vor Schmerz und Verdruß.
Da kam wieder des Weges daher der gute Alte und grüßte sie wohlwollend.
Doch sie dankte ihm kaum. Und als er ihr riet, die Spindeln an die Hörner der
Kühe zu stecken, schalt sie ihn einen Narren, sprang auf und ließ die Arbeit
im Stich.
Auf dem Heimwege sah auch sie die drei Frauen im Sonnenbrand liegen.
Aber anstatt sie mit schattigen Zweigen zu bedecken, lachte sie laut über die törichten
Schläferinnen und ging weiter.
„Wart' nur ein wenig I" riefen diese ihr nach. „Wir möchten dir doch auch
ein Andenken mitgeben." Das war nun freilicki kein schönes: wenn sie den Mund
zu häßlicher Rede auftat oder ihr unsauberes Haar kämmte, kamen nur garstige
Dinge zum Vorschein. Und wenn sie sich wusch, wurde das Wasser wie Tinte so
schwarz. Und ihre Mutter wurde vor Zorn beinahe noch schwärzer und peinigte
die unschuldige Katharina dafür um so ärger.
Eines Tages fuhr der Prinz durch die Stadt. Alle Leute wollten ihn sehen»
und steckten die Köpfe aus den Häusern oder liefen auf die Straße und riefen:
„Lvviva!", „Es lebe der Prinz!"
Die schöne Katharina schaute vom Fenster einer Schneiderin herab. Und als
er vorüberfuhr und sie in den Hochruf der anderen einstimmte, steten ihm die
Blumen ihres Mundes gerade ins Gesicht, so daß er ganz beleidigt emporblickte
und rief: „Wer wagt es, mich mit Blumen zu beWerfen, da ich es doch aus"
drücklich verboten? Bin ich ein Harlekin?"
Er ließ die Schneiderin zu sich kommen, die nun nicht müde wurde, die
Schönheit und die Wundergaben der erschrockenen Katharina zu rühmen. Und
nachdem der Prinz sich bald selbst davon überzeugt hatte, erkor er sie zur Gemahlin.
Wie er sie aber in goldener Brautkarosse nach seinem Palaste abholen ließ,
setzte sich auch die Stiefmutter mit ihrer häßlichen Tochter in den Wagen. Und
als sie über eine Brücke fuhren, warfen sie die schöne Katharina ins Wasser, damit
der Prinz nun die Häßliche heiraten sollte. Zum Glück aber wartete er damit
noch ein Weilchen. Und Katharina war inzwischen eine Nixe der Meerfrau
geworden, die sie aufgenommen hatte und ihr zwölf goldene Ketten um den Leib
legen ließ.--
In der Hauptstadt des Prinzen, der nunmehr als Kaiser regierte, lebte auch
ein sehr kluger Hirt, der täglich seine Herde zur Meeresküste trieb, wo an sonnigen
Tagen eine schöne Jungfrau emportauchte. Und hatte sie dort lächelnd ihr Haar
gestrahlt, verschwand sie wieder in den Wogen und ließ auf dem Sande Blumen
und Perlen zurück.
Jedesmal, wenn der Hirt am Kaiserpalast vorbeikam, riefen seine Gänse
und Puten:
Der Kaiser, der sehr ungehalten war, dieses Geschnatter alle Tage vernehmen
zu müssen, ließ den Hirten zu sich rufen und sprach: „Ich habe genug von dem
Lärm, der mich täglich im Morgenschlaf stört und vom Regieren ablenkt. Könnte
man wenigstens verstehen, was sie sagen!"
Da berichtete der Hirt getreulich, was das Quaquarra bedeute, und was er
am Strande gesehen. Zum Beweise zeigte er die Blumen und Perlen, die er
gefunden. Der Kaiser lauschte ihm staunend und ahnte, was heimlich geschehen
war, und wie man ihn betrogen hatte. Er befahl dem Hirten, das nächste Mal
die Nixe zu fragen, wie sie aus den Ketten der Meerfrau befreit werden könnte,
um wieder zum Erdenleben zurückzukehren. Der Hirt tat, wie ihm befohlen.
„Um mich zu befreien," sagte die Schöne, „müssen zwölf starke Männer die
zwölf goldenen Ketten mit zwölf scharfen Messern in einem Augenblicke durch-
hauen. Wenn das nicht gelingt, werde ich niemals erlöst."
Am nächsten Morgen begab sich nun der Kaiser mit zwölf wehrhaften Rittern
zum Strande, wo die Jungfrau sich sonnte. Auf seinen Befehl zogen die Ritter
ihre Schwerter, und in einem Augenblicke fielen die Fesseln zu Boden und die
Schöne war wieder zur Erdenjnngfrau geworden. Der Kaiser gab ihr als Kleid
seinen Mantel und führte sie als Gemahlin mit sich in seinen Palast. Die böse
Stiefmutter aber und die ihrer würdige Tochter ließ er verbrennen.
Eine schnöde Jungfer hatte zwölf Brüder. Und niemand begehrte sie zur
Frau aus Furcht vor den Brüdern.
Endlich nahm sie einer, der ein wenig einfältig war. Aber bald genug bereute
er seine Torheit; denn er wurde von der bösen Sieben gar übel behandelt.
Während sie den ganzen Tag sich nur müßig herumtrieb oder vor der Tür saß
und mit den Nachbarinnen klatschte oder lieber noch mit guten Freunden schmauste
und scherzte, mußte er sich bei kärglichster Kost von früh bis spät im Weinberg
plagen. Und wenn er vor Hunger und Müdigkeit einmal in der Arbeit nachließ
oder gar zu klagen begann, erhielt er von den braven Brüdern, die sie herbeirief,
noch obendrein eine Tracht Prügel.
Als er nun so eines Tages ganz trübselig zwischen den Mauern dahinschlich,
begegnete ihm ein Mütterchen. Das grüßte ihn lächelnd und sprach: „Was fehlt
dir, mein Sohn, warum bist du so traurig? Erzähle! Vielleicht kann ich dir
helfen oder guten Rat geben."
Da klagte er ihr nun all sein Leid.
„Sei ruhig, mein söhnt Schon weiß ich ein treffliches Mittel. Wenn du
morgen zum Feste gehst und jemand schöne Rohrstocke feilbietet, so kaufe dir einen
recht starken, schmücke ihn zierlich mit buntseidenen Bändern und schenke ihn dann
deiner Frau! Und fragt sie, wie das Ding heißt, so antworte nur. Recht heißt
eS. Und gibt sie dir dann wieder so wenig zu essen oder fängt an zu keifen, so
Prügle sie nur gehörig mit diesem StockeI"
Der Rat wurde befolgt und das Geschenk mit Freude und Bewunderung
entgegengenommen. Als die Frau bald darauf aber die erste Tracht Prügel
erhielt und ihren Brüdern heulend erzählte, wie ihr Mann sie geschlagen, und
die Brüder fragten: womit, antwortete sie nur: „Mit Recht hat er mich geprügelt,
mit RechtI"
„Nun, dann ist es ja gut und ganz in der Ordnung," sagten die Brüder
und gingen.
Und von dem Tage an hatte der arme Mann Frieden,
Der meist kirchlichem Wunderglauben entsprossenen Legende nahe verwandt
ist die vorwiegend im heidnischen Aberglauben wurzelnde Sage, der blütenreichste
Wildling der Volksdichtung, auch in Capri, freilich wie alles Unkraut nur ganz
im Verborgenen wuchernd. Denn der alte Aberglaube ist bei der gut kirchlichen
Zucht der Bevölkerung und dem über sie durch die Ohrenbeichte ausgeübten
Gewissenszwang scheinbar ganz verschwunden oder hat, äußerlich wenigstens, Gott
wohlgefällige Formen angenommen. Er ist in den Dienst der Kirche getreten,
die ihn sozusagen als Monopol ausnutzt. Glückbringende und gefahrabwendende
Bräuche, wie sie z. B. unsere Landleute bei der Aussaat oder Ernte beobachten,
sind daher in den Augen der strenggläubigen Ccipresen nicht nur sündhaft, sondern
vor allem auch vollkommen überflüssig. Die Heiligen und ihre Siegelbewahrer,
die Geistlichen, besorgen schon alles. An sie allein braucht man sich ja nur zu
wenden, zumal an die Schutzheiligen der Insel, San Costcmzo und Se. Antonio,
die Fluren, Menschen und Tiere beschützen. Ihre Ehrentage werden großartiger
gefeiert als die drei höchsten Feste der Kirche, Weihnachten, Ostern und Pfingsten,
ähnlich auch der 8. September, der Tag von Se. Andrea und Pasquale, den
Beschützern der Fischer und Schiffer. Die Andreaskapelle steht darum auch nahe
dem Strande an der „kleinen Marine". Das Bilo von Pasquale mit den ihm
geweihten Schiffsmodellen befindet sich hoch oben am Monte Solaro in der meist
verschlossenen, malerischen kleinen Einsiedlerkirche Santa Citrella.
Am glänzendsten sind die Umzüge zu Ehren des heiligen Konstanz, der zu
seinem Tage, am 14. Mai, aus seiner alten Kirche an der Marina Zranäe in fest-
licher Prozession unter Gesang, Glockenläuten und Böllerschüssen nach der Haupt-
kirche, dann durch die Hauptstraßen Capris und schließlich wieder zurückgebracht
wird. Wenn der Heilige dabei lächelt — das tut er seltsamerweise nur, wenn
die Sonne scheint —, darf man auf gut Wetter und gute Ernte hoffen. Sein
jetziges Bild aus getriebenem Silber läßt ihn aber auch wirklich sehr würdig
erscheinen, weniger wohl seine frühere Darstellung aus wurmstichigem Holz, wie
ihn einst die Fischer an der großen Marine aufgefischt und mit einer eigenen
Kapelle bedacht haben, weil er ihnen auf dem Wege nach der Hauptkirche von Capri
durch übernatürliches Schwerwerden zu verstehen gab, daß er nicht weiter wolle.
Der Schutzheilige von Anacapri ist der heilige Antonio. Sein Gedenktag,
der 13. Juni, ist das größte Volksfest der Solaroortschaften, mit ähnlichen kirch¬
lichen Umzügen wie die San Costcmzos. Außerdem veranstaltet man mit Se.
Antonio an den ersten drei Maitagen große Bittgänge durch alle Straßen und
Fluren, soweit man die mit Wein, Obst- und Ölbäumen und zugleich mit Getreide,
Lupinen, Bohnen, Erbsen, Kohl und Kartoffeln bepflanzten kleinen, terrassenartigen
Erdfleckchen Fluren benennen kann. Zuweilen wird aber der heilige Antonio auch
bei besonderen Heimsuchungen als Nothelfer aus seiner kirchlichen Beschaulichkeit
herausgerissen. Als z. B. vor vier Jahren im Herbst große Trockenheit herrschte,
wurde er zur Anrufung in der Hauptkirche ausgestellt, und sofort fiel der erbetene
Regen. Und ein ähnliches Wunder vollbrachte er vor drei Jahren, als ein bös¬
artiges Fieber viele Kinder dahinraffte.
So scheint alles Böse dem Bann der Kirche unterworfen und die fromme
Capresenschar von aller unchristlichen Furcht und Zauberei befreit zu sein. Und
doch, und doch: „In der Nacht kam der Feind und streute Unkraut zwischen den
Weizen". Ganz im Geheimen huldigt man zum Teil denselben alten Bräuchen
wie unsere Landbevölkerung: Erbsen werden am Freitag gesät, aber ja nicht bei
zunehmendem oder vollem Monde (prima luna), weil sie dann immerzu nur blühen.
Freitags darf man nicht scheuern. Bei gewissen Krankheiten, besonders der Augen,
Zähne und des Magens, streicht und drückt man die betreffenden Körperteile,
indem man gewisse Worte dabei murmelt. Die Augen streicht man, um sie
vor Erkrankung zu bewahren, gern mit srischgelegten, noch warmen Eiern. Ein
gut Stück unausrottbares Heidentum wuchert also doch noch hier und da in der
Seele des Volkes.
Und nun erst alle die Grotten und Höhlen, die unheimlichen Winkel und
Schluchten, die Felszacken und Mauerwerke, letztere zum Teil noch aus der Zeit
der Griechen und Römerl Sollten sie so ganz unbewohnt sein? fragte ich mich
oft und erfuhr denn schließlich auch, daß meine Vermutungen, die man füglich
als schon erworbenes Wissen bestätigte, richtig waren. So erfuhr ich zunächst,
daß die kleine Antoniokapelle an der antiken Treppe von der großen Marine nach
Anacapri (die mir immer schon verdächtig vorgekommen) nach dem Volksglauben
nur gegen dort hausende boshafte Geister, die manchmal sogar mit Steinen
geworfen haben sollen, errichtet worden sei. In Wirklichkeit wurde sie, da etwas
Wahres ja immer an dergleichen Geschichten ist, von einem in Amerika reich
gewordenen Anacapresen erbaut, um bei dem Heiligen Schutz gegen die Gefahr
der manchmal vom Barbarossafelsen herabrollenden Steine zu suchen. Außerdem
aber erzählt man sich von allerlei männlichen und weiblichen Gestalten, die zu
mitternächtlicher Weile Kisten. Körbe, Säcke usw. die Treppe hinaustrugen, mög¬
licherweise Schmuggler, die sich diese Sage zum ungestörteren Betrieb ihres un¬
gesetzlichen Gewerbes zunutze machten. Doch will man auch noch ganz anderen
Erscheinungen begegnet sein, z. B. einmal einer Henne, deren Küchlein im Mond¬
schein wie goldene Eier erglänzten. Ein Mann verfolgte sie, blieb aber zum Glück
einige Schritte vor dem Abgrunde noch stehen, wo die Verfolgten verschwanden.
Auch am Tiberiusberge haben sich ehedem dergleichen Gespenster gezeigt,
sogar einmal so zahlreich und gefahrdrohend, daß die Geistlichkeit vor etwa dreißig
Jahren eine Prozession dagegen veranstaltet haben soll. Ein junger Geistlicher,
den ich befragte, bestritt es zwar, aber das Volk hält daran fest. Auch in Sizilien
sind, wie I)r. Rumpelt in seinem Buche „Sizilien und die Siziliciner" berichtet,
derartige Geisterbeschwörungen bezeugt und sogar heutzutage noch üblich. Allgemein
fürchtet man auch in Capri — wie überall in Italien — selbst die Gebildeten, den
bösen Blick (mslocolno), d. h. die manchen Menschen verliehene Kraft, vermöge
übelwollender oder neidischer Blicke und gelegentlich noch dabei gesprochener Worte
anderen Leuten oder ihrem Eigentum zu schaden. In Süditalien nennt man eine
solche Person „getwtore", Blickwerfer, und die Behexung „Zettatura".
Die schon im Altertum als Schutzmittel gebrauchten Amulette, Formeln und
Handlungen (Ausspucken und gewisse Geberden) haben sich mit merkwürdiger Beharr¬
lichkeit in der Hauptsache bis heute erhalten, besonders das vom griechisch-römischen
„kgscinum" abstammende Hörnchen, das in den verschiedensten Ausführungen (aus
Korallen, Perlmutter, Silber, Gold usw.) gleichzeitig als Schmuck an der Uhr-
oder Halskette getragen wird.
Einer der namhaftesten Folkloristen Italiens, Professor Giuseppe Bellucci in
Perugia, der mir übrigens auch meine anderweitigen Beobachtungen und Auf¬
zeichnungen bestätigte, besitzt in seinen bedeutenden, historisch geordneten Samm¬
lungen mehrere Tausend sehr verschiedenartige Amulette, von denen viele nament¬
lich gegen den bösen Blick und Hexenglauben, außerdem aber auch gegen unheil¬
drohende Naturgewalten, wie Blitz und Hagel, oder als Heilmittel gegen allerlei
Krankheiten und als glückbringende Anhängsel schon seit Jahrtausenden betrachtet
und gebraucht werden. Sehr bezeichnend ist es doch, daß bei einigen Meistern
der Malerschulen von Siena und Perugia sogar das Christuskind den schützenden
Korallenzweig am Halse trägt. In Capri werden sie heute noch den leider meist
verständnislosen Fremden von wohlwollenden Korallenverkäuferinnen oft vergeblich
angeboten.
Sogar zum Schutze für das Vieh verwendet man Hörner, natürlich viel
größere, weithin sichtbare. Während man an den Stalltüren, wie auch hier zu
Lande, oft Hufeisen bemerkt, so in Capri und Anacapri außerdem noch unter der
Dachecke über dem Stalle einiger abseits stehender Häuser ein paar Ochsen- oder
Kuhhörner, die der Fremde, der davon keine Ahnung hat, kaum bemerkt.
Nicht weniger gefürchtet waren die eigentlichen Hexen, die oft in Abwesenheit
der Eltern in die Häuser eindrangen und kleine Kinder zu Krüppeln machten.
Daher wohl auch der italienische Name Strega (von griechisch-lateinisch striM,
aus Strix), bei den Alten ein sagenhafter Nachtvogel, der den Kindern, wie auch
der Vampir, in der Wiege das Blut aussaugte und dafür Gift einflößte. Anderer-
seits zeigten sich die Hexen dankbar, wenn man ihnen Gutes erwies, oder harm¬
los, wenn man sie in Ruhe ließ und namentlich in ihren nächtlichen Vergnügungs¬
fahrten nicht störte-, feindlich und rachsüchtig bloß, wenn man sie verfolgte und
mißhandelte. Sie setzten sich gern auf Nußbäume, die darum gemieden werden.
Früher hauste wohl manche Strega auch in Capri, jetzt nur noch in den benach¬
barten Gegenden, besonders in Sizilien, von wo sie, durch die Luft fliegend,
(daher auch „irmria" genannt), oft in großen Scharen nach den nördlichen Inseln
Ischia und Procida zogen, mehr aber nach dem Festlande, besonders Benevento,
dem ursprünglichen Maleventum, das für Italien eine Art Blocksberg zu bedeuten
scheint, zumal seine fruchtbaren Berghänge reich an großen, sagenberühmten
Nußbäumen sind, deren im Lande sehr begehrte Früchte vielfach drei Nähte
zeigen.
Ein alter Seemann an der Großen Marine soll nachts in den Wolken ganze
Scharen von Hexen gesehen haben, was man wohl begreifen kann, wenn man
einmal eine richtige Schirokko-Sturmnacht auf Capri erlebt hat und sich dabei an
den Wetterzauber der Hexen im germanischen Volksglauben erinnert, wie ich ihn
z. B. noch in Heiligenblut vorgefunden, wo die Hexen am Fuße des Pasterze¬
gletschers Hagelwetter bereiten, entsprechend der auch bei uns noch hier und da
verbreiteten Redensart vom „Schloßenquirlen" der alten bösen Weiber nach dein
Tode. Zuweilen sind aber solche Wolken in Capri auch am Tage gesehen worden.
Man kann die „Jnaria" zum Herniedersteigen zwingen, wenn man laut ruft:
„Verbbun cake kalt' acht". Diese scheinbar einer ganz unbekannten Sprache
entlehnten Worte sind aber schließlich nur verderbtes Meßlatein aus dem Anfang
des Johannes-Evangeliums: „Verbum oaro modum sse". Freilich büßen die
Luftfahrenden beim Herniedersturz, der auch durch Glockengeläut beim Fliegen
über eine Kirche verursacht werden kann, das Leben ein. Bekanntlich wurden die
Glocken bei den deutschen Hexen „bellende Hunde" genannt.
riefen sie, wenn sie sich eingesalbt hatten und die Luftreise antraten.
Schlimmer ging es einst dem Ehemann einer Jnaria, der diese Worte nicht
ganz richtig verstanden hatte. Er hatte nämlich nachts wiederholt die Abwesenheit
seiner Frau bemerkt und schließlich einmal beobachtet, wie sie aufstand, ein Fläschchen
aus dem Wandschrank nahm, sich mit der darin befindlichen Flüssigkeit bestrick),
dann auf den Altan trat und zum Besen greifend sich den schreiend vorüber¬
ziehenden Gefährtinnen anschloß, indem sie laut rief:
(oder richtig capresisch IVUnuvenZo Lenevento.)
Der Mann, der ihr aus Neugierde folgen wollte, traf dieselben Vorbereitungen,
rief aber: „Lotto gLqua e vento", d. h. „Unter Wasser und Wind!" und wurde
nun unbarmherzig durch Dick und Dünn, Dornen und Disteln am Boden hin¬
geschleift. Er kehrte vor seiner Frau zurück, sagte ihr aber nichts, sondern füllte
nur heimlich das Fläschchen mit Wasser. Als sie dann in der folgenden Nacht
wieder anreiten wollte, stürzte sie zur Erde nieder und starb.
Manchmal galten diese nächtlichen Besuche auch bloß den zum Korallenfischer
fernweilenden Männern, denen sie allerlei Schlimmes zutrauten. Einmal wurde
dabei eine solche Spürhexe von gerechter Strafe ereilt. Sie fand ihren Mann in
fröhlicher Gesellschaft beim Abendessen, schlich als Katze in die Wirtsstube, bekam
aber statt Fleisch nur eine glühende Kohle zu kosten. Wie der Mann nach einiger
Zeit nach Hause kam, sah er am verbrannten Munde seiner Frau, wer die Katze
gewesen war.
Ein beliebter großer Hexentcmzvlatz befand sich am Wege zum Tiberio hinter
der kleinen Kirche San Michele, ist aber, weil jetzt vollständig mit Rasen bedeckt,
kaum noch aufzufinden. Dort sah einst ein spät nachts heimkehrender Contadino
eine ganze Schar lustiger Frauen, denen er nun bis Sonnenaufgang Musik machen,
d. h. das Tamburin zum Tanze schlagen mußte. Nach einer anderen Quelle mutzte
ein Fischer sogar selbst mittanzen und singen. Er kam von der Kleinen Marine
herauf und traf ein solches Hexentanzchor da, wo die Straße von einer Marine
zur anderen und von Capri und Anacapri sich kreuzen, und wo früher auch ein
umfangreicher öffentlicher Aro gewesen sein soll. — Als er nach längerer rastloser
Teilnahme schließlich aufhören wollte und die Schönen ihm zuriefen: „Kalla e ahuta!"
(„Tanze und singeI"), antwortete er ganz erschöpft:
Sehr bezeichnende Worte, die uns beweisen, wie früher beim Tanzen gesungen
wurde I
Außer den somit in mannigfacher Gestalt auftretenden Hexen, die aber als
Menschen ihre Verwandlungskünste nur dem Teufel, ihrem Oberhenn, verdanken,
gibt oder gab es nun aber auch noch allerlei in Menschen- und Tiergestalt
erscheinende Vertreter der eigentlichen Geisterwelt, echt mythische Gesellen der
heidnischen Vorzeit, und zwischen beiden das unglückliche männliche Wechselwesen
des Werwolss (lupo mammro), der nur zu gewissen Zeiten nachts auf allen Vieren
durch die engen Seitengassen von Capri und in die Häuser schlich, um Schlafende
zu überfallen. Wollte man sich vor ihm schützen, mußte man einen Eimer Wasser
vor die Kammertür setzen. stach man ihn mit einer Nadel ins Rückgrat, wurde
er wieder Mensch.
Ebenfalls auf einer Mittelstufe des Geisterreiches stehen die Seelen der Toten,
namentlich der eines unnatürlichen Todes verstorbenen, deren unheimlich nächt-
liches Erscheinen gefürchtet wird. Sogar von Geistermessen in der Hauptkirche
und Geisterprozessionen nach Anacapri, wobei Menschenknochen als leuchtende
Kerzen getragen werden, weiß man zu erzählen.
Von mythischen Tieren hat man besonders Hunde mit feurigen Augen,
gelegentlich aber auf einer der ältesten treppenartigen Römerstraßen auch ein
gewaltiges Roß mit Reiter gesehen.
Der Teufel, nach katholischem Volksglauben der Herrscher aller Dämonen,
erscheint zuweilen selbst auch, z. B. einmal als Einsiedler, der sich als Belohnung
für seinen Beistand die Seele eines Armen mit Blut verschreiben läßt.
Den sogenannten halbmythischer Wesen oder Elementar- und Erdgeistern
gehören wohl die in den Grotten des San Michele und der Großen Marine
hausenden, zum Hüten der dort verborgenen Schätze berufenen Schreckgestalten.
In der Grotte des Castello ist es allerdings ein lesender Mönch, dein man erst
das Buch zuklappen und die Kerzen ausblasen muß, ehe man zum Schatze gelangt.
Dem Geschlechte der Zwerge und Hausgeister zugehörig, etwa unseren Heinzel¬
männchen nahestehend, erscheint in Anacapri der gute Ambriano, der einer armen
Frau nachts die am Webstuhl angefangene Arbeit vollendet.
Endlich gesellen sich zu den geizigen Erd- und gütigen Hausgeistern auch
noch hilfreiche Wasser- und Brunnennymphen, deren Vorhandensein mir ebenfalls
in Anacapri verbürgt wurde: Eine arme Alte wußte einst nicht mehr, woher sie
die Miete bezahlen sollte. Da fand sie eines Tages beim Wasserschöpfen ein
Goldstück im emporgezogenem Eimer. Das ging eine Weile so fort, bis die hab¬
gierige Wirtin, die gern das Geschäft selbst übermhmen wollte, ihr kündigte. Als
sie zum letzten Male Wasser schöpfte, hob sie einen großen goldenen Apfel mit
aus dem Brunnen empor, und eine Stimme rief aus der Tiefe: „Kello, bello,
dollo reMlo! ti c!c> un buon ricorcZo!" (Schönes, schönes, schönes Geschenk!
Nimm es von mir als gutes AndenkenI)
Auch mir schien am Ende meiner Sammelarbeit eine Stimme aus der Tiefe
der Volksseele zu rufen: „Nimm, was du gefunden, und bring es deinem —
und meinem Volke!"
le hundertjährige Wiederkehr von Kleists Todestag hat uns nicht
nur eine unübersehbare Flut von Zeitschriften- und Zeitungsauf¬
sätzen gebracht, sondern auch eine große Zahl mehr oder minder
wertvoller Bücher. (Vgl. das Referat über die neuere Kleist-Literatur
in Heft 49 der Grenzboten, Seite 510.) Daß sich in anderthalb
Jahren der Geburtstag Friedrich Hebbels zum hundertsten Male jähren wird,
macht sich bereits bemerkbar, aber bis jetzt in durchaus erfreulicher Weise.
Zwei große Ausgaben des lange verkannten, heute aber so kritiklos gelobten
Dichters, daß sich mancherorts Widerspruch dagegen erhebt, treten auf den Plan:
in dritter Auflage beginnt die bewährte, vortreffliche historisch-kritische Gesamt¬
ausgabe der Werke, Tagebücher und Briefe Hebbels, die glänzende Leistung Richard
Maria Werners, als „säkular-Ausgabe" zu erscheinen (B. Behrs Verlag zu Berlin,
bis jetzt drei Bände); daneben stellt sich nun eine zweite, von Paul Börnstein
besorgte Gesamtausgabe, die sich den Klassikerausgaben des rührigen und kräftig
aufblühenden Verlags von Georg Müller in München würdig anschließt. Die
beiden Ausgaben wollen nicht miteinander konkurrieren; denn die Anordnung ist
in ihnen völlig verschieden. Werner hat an der alten Einteilung festgehalten,
natürlich aber berücksichtigt er in seinen klaren und knappen Einführungen die
neuen Ergebnisse der Forschung. Börnstein dagegen bringt die Werke in chrono¬
logischer Reihenfolge und fügt in jedem Bande zu den Dichtungen die dazu
gehörigen bedeutsamen Briefe und Eintragungen der Tagebücher. Auch Briefe an
Hebbel werden dankenswerterweise hinzugezogen. Der vorliegende erste Band führt
bis zu dem heiß ersehnten Abschied aus Wesselbnren. Das Prinzip der chronologischen
Anordnung, das gerade bei Hebbel höchst interessante und aufschlußreiche Beob.
achtungen ermöglichen wird, ist bereits mit Erfolg angewendet in den großen
Goethe- und Schiller-Ausgaben des Verlags Georg Müller, der auch eine von
Paul Ernst besorgte, geschmackvoll ausgestattete Eichendorff-Ausgabe herausbringt.
Zwei der vorgesehenen fünf Bände sind bislang erschienen. Eine historisch-kritische
Ausgabe sämtlicher Werke, Briefe und Tagebücher des Freiherrn Joseph v, Eichen¬
dorff veranstalten Wilhelm Kosch und August Sauer in Verbindung mit Philipp
August Becker (Regensburg, I. Habbel. Preis jedes Bandes 4.60 M.). Sonder¬
barerweise sind zuerst die drei letzten Bände ausgegeben, zwei Bände Briefe von
und an Eichendorff und ein Band Tagebücher mit reichen Anmerkungen. Auf
die Ausgabe werden wir später näher eingehen. — In Meyers Klassiker-Ausgaben
(Leipzig, Bibliographisches Institut) hat Georg Witkowski Lessings Werke in sieben
Bänden neu bearbeitet (Preis 14 M). Die von Prof. Ernst Elster für diese Aus-
gaben aufgestellten Prinzipien sind auch von Witkowski durchgeführt, dessen Ge¬
lehrsamkeit und tiefe Kenntnis Lessings in der Biographie und den Einleitungen
zu den einzelnen Werken, besonders zu den kritischen und theologischen Schriften,
deutlich aber nicht aufdringlich zum Ausdruck kommt.
Der Reclamsche Verlag gibt seine bekannten Klassiker-Ausgaben zu erstaunlich
billigem Preise in neuen Einbänden als „Helios-Klassiker" heraus; der sechsbändige
Lessing (herausgegeben von Robert Riemann) kostet in Leinen 5 M., in Leder 9 M,,
der vierhändige Eichendorff nur 3 M. Aber warum vereinigt man zwei oder gar noch
mehr getrennte Teile in einem Bande? Von dieser Unsitte sollten die Verleger
doch abgehen; denn der Gebrauch einer derartig angeordneten Ausgabe gestaltet
sich schwierig, da die Seitenzählung in einem Bande mehrere Male mit 1 beginnt.
Noch auf einen anderen Mißstand, der häufiger als der eben gerügte anzutreffen
ist, aber ebenfalls die schnelle Benutzung erschwert, sei bei dieser Gelegenheit auf¬
merksam gemacht; Bei allen mehrbändigen Dichter-Ausgaben sollte auf dem Rücken
neben der Bezeichnung „Band 1, 2 usw." stets kurz der Inhalt angegeben sein.
Die Ausgaben des Tempel-Verlags zu Leipzig verzichten grundsätzlich auf
Einleitungen und Anmerkungen, sie bieten also lediglich die Dichterwerke in den
von den Herausgebern sorgfältig hergestellten Texten. Vollständig liegen nunmehr
vor die Schiller-Ausgabe in zwölf Bänden, Uhlcmds poetische Werke (zwei Bände
Gedichte und Dramen mit einem Anhang „Aus Uhlcmds Briefen"), Mörike (drei
Bände, ein vierter soll noch folgen) und Goethes Gespräche mit Eckermann (zwei
Bände, besorgt von Monty Jacobs mit wertvollen Personen- und Sachregister).
Jeder der einfarbigen, vornehm schlichten Leinenbände ist zum Preise von 3 Mark
einzeln käuflich.
Daß als Krone der Goldenen Klassiker-Bibliothek (Deutsches Verlagshaus
Borg u. Co., Berlin) eine Gesamtausgabe Goethes erscheint, bedarf eigentlich kaum der
Erwähnung. Aber diese von Prof. Dr. Karl Alt in Verbindung mit mehreren
Gelehrten unternommene „vollständige Ausgabe in vierzig Teilen" hat vor anderen
ihre wesentlichen Vorzüge: sie wird sämtliche Werke Goethes in wissenschaftlich
bearbeiteten Texten (nicht nur eine Auswahl), dazu Bilderbeilagen und in zwei
gesonderten Bänden reiche Anmerkungen sowie vor allem ein Register bringen,
das in jeder Beziehung vollständig und unbedingt zuverlässig sein soll. Zudem
wird es so angelegt werden, daß es auch für einige andere Goethe-Ausgaben ohne
weiteres benutzt werden kann. (Angezeigt sei im Anschluß hieran die im Verlag
von Quelle u. Meyer zu Leipzig soeben erschienene flott geschriebene Goethe-
Biographie von Karl Alt.) Aus der geschickt redigierten und rasch in Aufnahme
gelangten Goldenen Klassiker-Bibliothek, die jetzt das „Goldene" in den Einbänden
nicht mehr so stark betont, liegen noch vor: Lenaus Werke, herausgegeben von
Carl August v. Bloedau, ein Band 2 Mark, Jean Pauls Werke von Karl Freye
in Verbindung mit Eduard Verend, fünf Bände 10 Mark, Wielands Werke von
Bernhard v. Jacobi, drei Bände 6 Mark, und Homers „Ilias" und „Odyssee" in
der Übersetzung von Johann Heinrich Voß mit Einleitungen über Homer und
Voß, einem Namenregister und einer Darstellung der Homerischen Welt heraus¬
gegeben von Eduard Stemplinger, zwei Bände 4 Mark.
Der Insel-Verlag zu Leipzig hat im letzten Jahre wieder außerordentlich
fruchtbare Arbeit geleistet. Von seinen zu Geschenkzwecken sehr geeigneten 2- und
3-Mark-Bänden war in diesen Blättern wiederholt die Rede, auch die Roman-
Bibliothek ist bereits in Heft 44 angezeigt worden. Besonders verdienstvoll ist
die Herausgabe der „Volks-Klassiker", die mit der von Erich Schmidts Meister¬
hand ausgewählten und eingeleiteten Goethe-Ausgabe vielversprechend sich ein¬
führten und mit Eichendorff und Arnim fortgesetzt wurden. Innerhalb eines
Jahres sind von dem Volks-Goethe, dessen sechs reizvolle Pappbände nur 6 Mark
kosten, mehr als dreitzigtausend Exemplare abgesetzt — der Beweis für die Be¬
rechtigung, ja Notwendigkeit des Werkes ist damit ohne weiteres gegeben. Dieser
Goethe sollte wirklich in keinem Hause fehlen, auch da nicht, wo eine größere
Ausgabe vorhanden ist. „Dichtung und Wahrheit" z. B. werden die meisten Leser
erst hier mit vollem Genuß in sich aufnehmen, da Erich Schmidt bedachtsam starke
Kürzungen vorgenommen hat. — Der über alle Erwartung große ouchhändlcrische
Erfolg hat den Insel-Verlag, wie es scheint, ermutigt, auf dem eingeschlagenen
Wege fortzuschreiten; denn er legt nun auch in der gleichen geschmackvollen Aus¬
stattung Joseph v. Eichendorffs Dichtungen (zwei Bände 3 Mark) und Ludwig
Achin v. Arnims Werke (drei Bände für 3 Mark) vor. Die von Franz Schultz,
einem der besten Kenner der deutschen Romantik, feinsinnig getroffene Auswahl
aus Eichendorffs Werken stellt in der Tat eine „Auslese" aus den Dichtungen des
volkstümlichen Sängers dar. Die Biographie sollte wohl möglichst wenig gelehrtes
Beiwerk enthalten, ist so aber ein wenig skizzenhaft geworden. Für die im Auf¬
trage und mit Unterstützung der v. Arnimscheu Familie besorgte Arnim-Ausgabe
konnte als Herausgeber nur Reinhold Steig in Betracht kommen, der seine Auf¬
gabe mustergültig gelöst hat. Vielen Gebildeten ist der märkische Junker heute
nur als Mitherausgeber von „Des Knaben Wunderhorn" bekannt; man nehme
diese Bände vor und lese zunächst den großen Roman „Die Kronenwächter", dann
wird man erkennen, daß Arnim als Dichter mehr war als „ein freiherrlicher
Dilettant". Von derLenau-Ausgabe des gleichen Verlages (herausgegeben von Eduard
Castle) liegen bislang drei Bände vor, drei weitere werden das Werk beschließen.
Der letzte Band soll sämtliche Briefe sowie alle überlieferten Gespräche Lenaus
bringen. Die zehnbändige Heine-Ausgabe gibt im ersten Band aus Walzels
Feder eine klare, abgerundete Biographie und Charakteristik des Dichters. Die
französischen Schriften Heines und seine Briefe sollen sich der Ausgabe anschließen.
In Hans Sachsens Werken (zwei Bände 10 Mary ist die Poesie des Meister¬
singers (Gedichte, Fastnachtsspiele, Komödie und Tragödie) und seine Prosa (Dis-
putation zwischen Chorherrn und Schuhmacher) vertreten. Goethes Prolog leitet
die Sammlung festlich ein; ein biographisches Nachwort hat Paul Merker, der
Herausgeber, angefügt. Im Text hat er die moderne Orthographie eingeführt,
„doch unter Schonung der besonderen Wort- und Lautbildungen des Dichters."
Dadurch entsteht nun freilich ein Zwitterding, das zwar den alten Hans Sachs
nicht verdirbt, ihn aber auch nicht erneut, was seinerseits nicht übel gewesen wäre.
Das dankenswerte Wortverzeichnis am Ende der Ausgabe Hütte auch wohl den
alten Text genügend erklärt. Etwa sechzig Holzschnitte, nach Amman, Beham,
Dürer, Schäufelin u. a. prächtig reproduziert, begleiten die Worte und vereinigen,
wie das in den Erstdrucken geschehen war, wieder Bildwerk und Wortwirkung.
Die dem ersten Bande beigegebene „Silberweise" hat Hugo Löbmann für eine
Singstimme mit Klavierbegleitung eingerichtet. So erstand Hans Sachs von neuem,
und noch immer gelten von ihm Goethes Worte- „Ein Eichkranz, ewig jung
belaubt, den setzt die Nachwelt ihm aufs Haupt: in Froschpfuhl all das Volt
verdammt, das seinen Meister je verkannt." — Hohes Lob verdient die mit den
Illustrationen der Originaldrucke, der so selten gewordenen, weil völlig zerlesenen
Nomanhefte des geliebten „Voz", geschmückte Dickens-Ausgabe, deren handliche,
leichte Leinenbände (auf Dünndruckpapier je über tausend Seiten! Preis 6 Mark)
bis heute den „David Copperfield", den „Raritätenladen" und die „Pickwickier"
in guter Übersetzung bringen. Was Stefan Zweig in einem dem ersten Bande
vorangestellten Essay sagt, ist das Schönste, was ein Deutscher über den lieben
alten Boz geschrieben hat.
Noch auf zwei Prachtwerke des Jnselverlags muß hier hingewiesen werden,
die wahre Leckerbissen für Bibliophilen sind: die wunderbar echt dem besten
Geschmack der Entstehungszeit nachgebildete Werther ° Ausgabe und Gobinecms
Renaissance. „Die Leiden des jungen Werther" erscheinen hier mit elf Kupferstichen
Chodowieckis und der Wiedergabe einer im großherzoglichen Schlosse zu Weimar
befindlichen Rötelstudie illustriert und ganz in Leder mit Goldpressung gebunden
(10 M.). — Vor mir liegen ein völlig zerlesencs Reclam-Bändchen und ein umfang¬
reicher Prachtband-, beide enthalten die historischen Szenen vom Grafen Gobineau
»Die Renaissance". Ein größerer Unterschied in der Ausstattung der beiden Ausgaben
läßt sich kaum denken. Auch der innere Wert des Werkes ist für uns Deutsche gestiegen.
Zwar hat die alte Übersetzung Ludwig Schemanns unbestritten ihre großen Verdienste;
durch sie ist ja auch Gobineau erst bei uns eingebürgert. Aber die neue Übertragung
von Bernhard Zolles wird doch noch mehr zugleich dem Geiste des Originals und der
deutschen Sprache gerecht. Dreiundzwanzig meist fast unbekannte und unveröffent¬
lichte Bildnisse der in den Szenen auftretenden Hauptpersonen bilden eine organische
Ergänzung zum Text. Zu den in Lichtdruck reproduzierten Bildern hat Emil
Schäffer in einer Ikonographie dankenswerte Erklärungen gegeben (Preis 11 M).
Daß die Freude an schönen Büchern während der letzten Jahre in Deutsch-
land stark gewachsen ist, daß bibliophile Neigungen auch in wenigbemittelten Kreisen
sich bemerkbar machen, ist zum guten Teil der zielbewußter Arbeit weniger mer-
s'scher und von tüchtigen Künstlern beratener Verleger zu danken. Diesen hat sich
jüngst Ernst Rowohlt in Leipzig zugesellt. Seine aus der Offizin W. Drugulin
hervorgegangenen „Drugulin-Drucke" stellen typographische Musterleistungen dar.
Da finden wir z. B. die Briefgedichte des jungen Goethe in großer alter Fraktur
ohne irgendwelchen Buchschmuck auf gelblichem Büttenpapier gedruckt, in braunen
Pappband gebunden für 2,80 M., oder Goethes Tasso und Iphigenie in einem
zweifarbigen Antiquadruck für 3,80 M. Jedes der Bücher ist in Format, Type,
Druckanordnung und Papier dem Charakter des Inhalts gemäß behandelt. Da¬
durch sind die Bände zu Kunstwerken geworden, deren Besitz des erstaunlich billigen
Preises wegen für jeden erreichbar ist. Außer den genannten Dichtungen sind in
dieser Sammlung erschienen: Platens „Sonette an Freunde" und „Venezianische
Sonette" (je 2 M.), Kleists „Anekdoten" (2 M.), Anakreontische Oden und Lieder
(3 M.), EulenbergS „Sonette" (6,50 M,), im englischen Urtext Shakespeares
..sources" (3,80 M.) und in französischer Sprache Verlaines ..Vers" (12 M.),
Molieres „l.es preoieuses riciicules" (3 M.), Baudelaires „l^es ileurs an mal"
(8 M), sowie Prövosts .Marion l.6sLaut" (6.60 M.).
Mehr oder minder gute Einzelausgaben von Dichterwerken sind natürlich noch
in sehr großer Anzahl auf den Büchermarkt gelangt. Aus Amelangs Taschen-
Bibliothek für Bücherliebhaber (C. F. Amelangs Verlag, Leipzig) liegen vor: Heines
„Buch der Lieder", Goethes „Hermann und Dorothea", eine charakteristische Aus¬
wahl von Liselottes kulturhistorisch wichtigen und menschlich so sympathischen
Briefen, Shakespeares „Romeo und Julia" mit einer Einleitung von Max I. Wolff,
die altfranzösische Liebesmär von Aucassin und Nicolette in einer Übertragung von
F. v. Oppeln - Bronikowski und eine von Wilhelm Kosch eingeleitete Auswahl
„Martin Greiff Liedertraum" aus dem „Buch der Lyrik". Die zierlichen Bücher
sind auf federleichtem Papier gedruckt und in zartfarbiges Leinen gebunden. (Preis
1 M.) — Der Verlag Fritz Heyder zu Berlin gibt eine Sammlung „Bücher als
Gefährten" heraus, in der der erste Teil des „Faust", eine Auswahl von Goethes
Gesprächen mit Eckermann und sieben Gesänge der „Odyssee" in gutem Druck
und ansprechender Ausstattung erschienen sind. Aber gibt es vom „Faust" nun
nachgerade nicht überreichlich Ausgaben? und ist nicht eine Auswahl aus Goethes
Gesprächen und aus Homer ganz abhängig von dem subjektiven Geschmack des
Herausgebers? — Eine Sammlung der Gedichte Platens hat Albert H. Rausch
bei Schirmer u. Madian zu Frankfurt a. M. herausgegeben und durch einen Aufsatz
über „Die geistige Haltung Platens" eingeleitet. —
Das unsterbliche Hauptwerk des Meisters Franz Rabelais „Gargantua und
Pantcigruel" hat in Deutschland schon 1575, zweiundzwanzig Jahre nach dem
Tode dieses größten französischen Schriftstellers im sechzehnten Jahrhundert, durch
Johann Fischarts Übersetzung, die freilich durch zahllose Zusätze erweitert ist, Ein¬
gang und Verbreitung gefunden. Hamann, Wieland, Goethe, Tieck, Chamisso,
E. T. A. Hoffmann, Immermann, Gottfried Keller, sie und viele andere Dichter
sind von der kräftigen Komik und der scharfen Satire des Franzosen nachhaltig
beeinflußt worden. Besonders ausgeprägt zeigt sich dieser Einfluß bei Jean Paul,
der sich von Rabelais vor allem die „humoristische Paraphrase" angeeignet hat.
Von „Gargantua lind Pantagruel" hat Johann Gottlob Regis eine moderne Über¬
tragung geliefert, die nun in neuer würdiger, vornehm ausgestatteter Ausgabe
Wilhelm Weigand vorlegt (München, Georg Müller 1911. ZweiBünde. Preis 12 M.).
Regis, der bis zu seinem 1854 erfolgten Tode ein stilles, emsiges Gelehrtendasein
führte, ist als mustergiltiger Übersetzer des Rabelais, des Bojardo, der Sonette
Shakespeares und Michelangelos nur einem recht kleinen Kreis von Literatur-
freunden bekannt geworden. „Man wird nicht fehlgehen, sagt Weigand im Vor¬
wort, wenn man annimmt, daß der ungeheure Kommentar, mit dem Regis seine
Arbeit belastete, — er nimmt in zwei Bänden eintausendfünfhundertsechzig eng-
gedruckte Seiten ein — seiner Übersetzung den Weg versperrte.. . Ein Kommentar,
dessen Text umfangreicher ist als das Werk, kann auf die ganze Welt eingehen,
deren Verhältnisse Rabelais streift; denn ein Buch, daS nicht nur die Antike,
sondern auch das französische Mittelalter und die Zeit des ersten Humanismus
in Frankreich berührt, ist unerschöpflich an Beziehungen, wie es die neueste Blüte
der Rabelaisforschung beweist: es mag einem ganzen Leben Inhalt geben, weil
es den Forscher mit einer unendlich reichen Vergangenheit verbindet und überall
das beziehungsreichste Walten und Wägen schöpferischen Geistes verrät." Was
zum Verständnis des Werkes unbedingt notwendig erschien, hat Weigand größten¬
teils dem gelehrten Apparat R?gis' entnommen und in Fußnoten auch räumlich
dem Text nahegebracht. Mit einem tiefgreifenden und aufschlußreichen Essay über
Rabelais leitet der Herausgeber die Ausgabe ein, mit liebevollen Worten über
Regis und die Geschichte seiner Rabelais-Übersetzung sowie einer höchst wertvollen
Bibliographie des Romans beschließt Dr. Georg Pfeffer das Werk, das in unserer
llbersetzungsliteratur einen Ehrenplatz zu beanspruchen hat und nun hoffentlich
dauernd behalten wird. —
Man kann immer wieder die Beobachtung machen, daß Leute, die aus der
Provinz nach Berlin kommen und allmählich auch die nähere und weitere Um¬
gebung der Reichshauptstadt kennen lernen, selbst wenn sie Theodor Fontanes
„Wanderungen durch die Mark Brandenburg" gelesen und Bilder Leistikows
gesehen haben, im höchsten Grade von den Schönheiten der vielverschrienen
„märkischen Sandwüste" überrascht sind. Natürlich findet der Wanderer heute
vieles nicht mehr so, wie es Fontane um 1870 beobachtet und beschrieben hat.
Da wird es gewiß manchen interessiren, daß in einer von Fedor v. Zobeltitz
herausgegebenen Neuausgabe von Fontanes „Havelland. Die Landschaft von
Spandau, Potsdam, Brandenburg" (Stuttgart, I. G. Cotta. Preis 10 Mark) der
ursprüngliche Text durch Bilder illustriert wird, die die geschilderten Örtlichkeiten
so zeigen, wie sie sich heute dem Auge darbieten. Fontane selbst hatte, wie er
Zobeltitz gegenüber gelegentlich äußerte, die Absicht, die „Wanderungen" auf den
neuen Stand der Dinge zu bringen. Er ist nicht dazu gelangt, den Plan aus¬
zuführen. Daß nun des Dichters Familie gerade Zobeltitz mit der Neuausgabe
der prachtvollen lebendigen Schilderungen, „wie er es sah", betraut hat, ist dem
Werke sehr zustatten gekommen; seine Berichtigungen und Ergänzungen zum Text
erhöhen den Wert des schönen Buches. — Andere Werke Fontanes sind neu
herausgekommen in Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane (S. Fischer Verlag.
Berlin, Preis je 1 Mary: „L'Adultera", „Cecile", „Irrungen Wirrungen",
„Frau Jenny Treibel". Diese billigen Ausgaben mögen der großen Gemeinde
Fontanes viele neuen Freunde zuführen.
In Wildes „Dorian Gray" spricht sich der
Titelheld über den berühmten Schöpfer seines
Bildnisses, Bnsil Hallward, mit folgender Ein¬
schränkung aus: „O, Basil ist der beste Mensch,
doch, wie mir scheint, etwas Philiströs an¬
gelegt/' Der vollendete Lebenskünstler Lord
Henry unterrichtet darauf „den lieben Jungen"
über die äußere und innere Lebenshaltung des
Künstlers: „Basil gibt allen Zauber, der ihm
eigen ist, seiner Kunst. Die Folge ist, daß
ihm für das Leben mir seine Vorurteile, seine
Grundsätze und sein platter Menschenverstand
übrigbleiben . , , Gute Künstler leben nur in
ihren Werke», und sie sind daher als Persön¬
lichkeiten völlig uninteressant. Ein wirklich
großer Dichter ist das unpoetischste Wesen ans
der Welt, aber untergeordnete Dichter find
höchst anziehend , , . Diese leben in einer
Poesie, die sie nicht ausdrücken können; die an¬
deren dagegen bringen die Poesie muss Papier,
die sie nicht zu leben wagen." Wie jedes
Paradoxon ist auch dieses anfechtbar, und doch
ist es auf Henrik Ibsen leicht anzuwenden.
Denn Ibsen ist ein äußerster Fall, wie ihn
das Paradoxon erfordert. Goethes Briefe an
Fran v. Stein, Schillers um Körner, Kleists
an seine Schwester und Hebbels um Elise
Lensing — sie lassen uns diese Männer, un¬
geachtet ihrer Künstlertaten, erleben, Ibsens
Briefe sind stumm, dürr. Keine Leidenschaft
bedrängte den Beamten der Poesie auf seinem
gut bürgerlich geregelten Lebenswege, eine
eiserne Tür verschloß das Laboratorium, in
dem er nach dem Ausdruck seines Berufs¬
genossen Fontane „apothekerte"; und arbeitete
er mit gefährlichen Erplosivstoffen, sein Wohn¬
haus war gesichert vor jeglicher Gefahr an¬
gelegt. Ein Buch „Leben und Werke Ibsens"
würde in seinein ersten Teile mager und un¬
befriedigend ausfallen, und in der Tat be¬
fassen sich fast alle Ibsenbücher nicht mit der
Biographie, sondern mit der „Poesie, die er
nicht zu leben wagte".
Das bedeutendste Werk dieser Art ist Roman
Wocrners „Henrik Ibsen", dessen zweiter
Band nach neunjähriger Pause dem ersten
folgte. (München, C. H. Becksche Verlags¬
buchhandlung. M. 9.) Der erste Band, der
soeben in zweiter Auflage herausgekommen
ist, umfaßt, mit „Kaiser und Galiäer" ab¬
schließend, die Jahre 1823 bis 1873, der
zweite die Jahre 1873 bis 1900; doch ist der
180!) erschienene „Bund der Jugend" als
modernes Werk in den zweiten Band herüver-
genommen. Woerner erörtert in ihm die
Dramen des europäischen Ibsen „so eingehend,
wie der frühere Band die des norwegischen
in allen ihren literarischen und biographischen,
Psychologischen und ästhetischen Voraussetzungen
Prüft und beleuchtet". Die vier Bände des
Jbsenschen Nachlasses standen ihm dabei schon
zur Verfügung, während für den ersten Band
die zweite Auflage nachholt, was aus deu in¬
zwischen veröffentlichten Briefen und Ent¬
würfen hinzuzufügen ist. Die Erweiterung
beträgt fünfzehn Seiten, der alte Text ist an
nur wenigen Stellen geändert worden, brauchte
es auch nicht bei diesem gediegenen Werke.
So genügt eS für den ersten Band, auf die
Besprechung von Carl Jentsch in den Grenz¬
boten Jahrg. 69 (190N) Ur. 44 zu verweisen.
Die Konsequenz in Ibsens Entwicklung
darzutun, nachzuspüren der Einheit der Ideen,
zu erkennen das unveränderliche intelligible
Ich in der empirischen Entfaltung, bezeichnet
Woerner als seine vornehmste Aufgabe. Er
erfüllt sie, indem er immer aufs neue einzelne
Stücke in ihren Grundgedanken und einzelne
Personen als Trüger derselben Idee zusam¬
menrückt und in solcher Gruppierung die
Wiederkehr »ur weniger Probleme zeigt, zu¬
gleich aber auch ihre Weiterbildung und Ver¬
tiefung, ihre Erneuerung in feinsten Spielarten
(Ibsen Stute, Ibsen Julian, Ibsen --^
Solneß. HjördiS---- Rebekka ^ Hilde, Hjördis---
Heddn, Daguy-^THea). — In literarischen
Vergleichen ist der Verfasser sparsam; auf
Holberg wird hingewiesen, Augiers Vernouillet
neben Stensgaard gestellt, der Einfluß der
Frauenrechtlerin CcimillaCollett erwogen. Mo¬
delle werden kurz gestreift, so das Urbild der
Nora und des Volksfeindes, die Ehe des
Grafen Blank in ihrem Einfluß auf den Gruud-
Plcm von RosmerSholm, die Plimsollsche»
Sorge als die Todessegler in den Stützen
der Gesellschaft, Gerhart Hauptmann als
Nngnar im Solneß. Neben solchen gelegent¬
lichen Ausblicken mußte es dem ausgezeichneten
Gelehrten in der Hauptsache darauf ankommen,
dem Dramatiker und deinProblemntiker gerecht
zu werden, dem Künstler und dem Denker,
dein Manne, der neue Menschen in neuer Form
darstellte. Woerners Analysen beweisen, daß
er den ästhetischen, Psychologischen und sozialen
Problemen auf den Grund gegangen ist, daß
er sie durchgefühlt und durchgedncht, daß er
jahrelang mit den Personen der Stücke zu¬
sammengelebt hat. Ein leuchtendes Beispiel
für alte derartigen Untersuchungen ist nament¬
lich die meisterhafte Analyse vonRosmershvlm.
Wie hier das Allgemeine im Besonderen nach¬
gewiesen wird: Rofners Sphäre — der Zu¬
stand, des germanischen Christentums in seiner
fortgeschrittensten ethischen Verfeinerung, Re-
bettas Schicksal — das wichtigste Erlebnis
der germanischen Menschheit, ihre Zähmung
und Bekehrung zum Christentum, das bezeugt
die Höhe des Standpunktes, der hier gewonnen
wurde, und die Schärfe des Blickes, der den
weitesten Umkreis des Horizontes wie das
kleinste Psychologische Detail gleich sicher wahr¬
nimmt.
Die Analyse der Dramen nach Rvsmers-
holm leidet vielleicht für manchen unter einer
gewissen Voreingenommenheit Woerners gegen
Ibsens symbolische Alterskunst, aber auch hier
ist der Standpunkt mit großer Feinheit be¬
gründet »ud besonders der Epilog, jene Ab¬
rechnung des Dichters, der die Poesie nicht
zu leben wagte, mit sich selbst, meisterlich er¬
läutert. — Otio Arnstein steuerte eine alle
wichtigen Erscheinungen nmfnssende Ibsen-
Bibliographie bei.
Schon
m Jahre 1ö>>6 fand es der englische Friedens¬
richter Harman dienlich, das englische Rvt-
wälsch — er nennt eS „Peddelarsfrench", hente
st „Slang" dafür üblich — zum Gegenstand
einer systematischen Studie zu machen. Im
Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts erschien
eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen
über die Gaunersprache, aber erst vor kurzer
Zeit hat Haus Groß in seinen, „Handbuch für
Untersuchungsrichter" (München, G. Schweitzer)
unchgewieseu, daß sie keine ersonnene Geheim-
prnche, sondern eine Berufssprache (Jargon)
st. Wie es dein Jäger unmöglich däucht,
von Hasenohren und Auerhnhnschwänzeu zu
eden, wie der Student unter einem Kamel,
die Schriftsetzer nnter Speck etwas ganz an¬
deres verstehen, als das Lexikon vermuten
äßt, so fühlte sich auch der Verbrecher an¬
etrieben, für seine Begriffe eigene Wortwerte
u ersinnen und diese zu gebrauchen. Hierbei
ntwickelt sich denn freilich der Jargon ganz
ach dem Wesen seiner Schöpfer und Benutzer.
Selbst der Verkommenste mag die schlechte
Tat nicht mit dem Ausdruck bezeichnen, den
er Ehrlichdentendc dafür hat; die bekannten
Folgen aber werden erst recht umschrieben,
wobei Galgenhumor das Abschreckende zu ver¬
hleiern trachtet. Schließlich wurden auch die
ähere» Umstände, die Arten des Borgehens,
ie Beuteobjekie ustv. verrotwölscht, und wie
ie Sportsprache das Englische, der Student
as Latein für seinen Jargon heranzogen, so
ehen an sieben Achtel der Gnnnervokabeln
uf Hebräisch und die Zigenncridiome zurück.
ls entscheidend gilt die kriminalistische Beob¬
chtung, daß kein Gauner gern vor einem
remden seine Sprache anwendet.
Die Entlehnungen der allgemeinen Ver¬
hrssprache aus dem Wörterbuch des Rot¬
elschen sind an Zahl keineswegs gering.
einahe niemals handelt es sich um Aus-
drücke besserer Klasse, wenn auch einige darunter,
Wie „meistern" (ursprünglich betrügen, die
Aufmerksamkeit ablenken), „Paschen", möglicher¬
weise sogar „rodeln" (-^mitschleppen), dieses
Avancement zurückzulegen vermochten. Ganz
nahebei steht die Redensart, eine Sache oder
Person habe „den rechten Schmiß". Denn
in der Gaunersprache bedeutet Schmiß tat¬
sächlich „Anzug, Tracht"; das gleichlautende
Wort der Studentensprache hat also nnr die
Aufnahme erleichtert. Sonst allerdings sind
wiederum Beispiele einer Bereicherung des
burschikosen Jargons aus dem Rotwälsch vor¬
handen. „Putz" ist nicht Einkürzung von
Polizist, sondern ein altes Gauuerwort, das
früher den Bettelvogt ausschließlich bezeichnete,
heute jedoch abstrahierend eine Ausrede be¬
deutet.
Leicht ist der Nachweis, daß das Rotwälsch
als Jargonbildung älter sein muß als die
übrigen heute noch im Schwange gehenden
Berufssprachen. Der Kaufmann redet ohne
Bedenken von „Rausch"; er weiß nicht, daß
das Wort die noch ungelenke Diebesbeute
meint. „Ptene gehen" heißt eigentlich, der
Polizei in die Hände fallen, und „Dalles"
bedeutet bei den Gaunern zwar auch Armut,
gewöhnlich aber einen lüstigenVerdachtsgrund.
Selbst der „Nassauer", d. h. einer, der einen
Vorteil mit erschleicht, kommt dieses Weges,
denn der Spitzbubenjargon behielt daneben
noch daS Zeitwort „rasselten" schenken. Der
Zeitvertreib „Meine Tante, deine Tante" leitet
sich wirklich von der „Tante" ab; so nennt
der Gauner die Obdachgeberin für falsches
Spiel. Und wenn wir hören, irgendwo sei
„der ganze Bau" versammelt gewesen, dann
lohnt die Bemerkung, daß Bau schlechtweg
im Rotwälsch eine Menschenansammlung ist.
Oftmals hat jedoch der Volksmund dem über¬
nommenen Wort eine völlig andere Richtung
gegeben. Während die Gaunerunter „Marsche!"
einen oberen Richter oder Polizeichef verstehen,
gilt sonst ein ärmlicher Jude als Mauschel.
Aber der Verbrecher bleibt sprachgeschichtlich im
Vorteil: dasWort (hebräisch inaschal----Spruch)
zeigt den Spruchrichtcr an. Bezeichnet der Mime
eine geringe Provinzbühne als „Schmiere", so
ist das eine Anleihe beim Rotwälsch: dort
draußen spielt höchstens ein „Scheiner" (näm¬
lich „Wächter", ^ Statist) in allen Rollen.
Indessen ist nicht jeder der Ausdrücke, die den
igentümlichen Geruch des Roiwälschen tragen,
wirklich dieser Herkunft.
Ungemein befruchtend für den volkstüm¬
ichen Eintausch von Gaunerworten hat die
Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens seit Mitte
es neunzehnten Jahrhunderts gewirkt. Ge¬
auer nachweisbar war eS im Falle des
Prozesses Dickhoff zu Anfang der 1830erJahre.
Damals wurden Ausdrücke wie „baldoweru",
fallmachen" (eigentlicheBedeutung: in falsches
Spiel locken), „Leine ziehen" (ursprünglich das
Verfahren der Dirnen auf der Straße be¬
eichnend), „Kassiber", „schärfen" (Gestohlenes
bsetzen) populär, und sind es geblieben. Auch
Schränkzeug — eine hybride Bildung übrigens;
er richtige Einbrecher sagt „Schränlschurich"
— und Pfeifen für verraten, Chnbrusche
Llmwl'uffe, ----- Diebesgesellschaft), Kümmel-
lättchen, Massematten (---- Schwindel), ferner
euerdings „kiebig" (---- frisch) und die Inter¬
ektion „Stiele"! (----- Phe! vor Uneingeweihten)
at der Gaunerjargon zum gemeinen Besten,
Die Berufs- be¬
onders Handwerkorschelten und Verwandtes
on Dr. Heinrich Klenz. — Ein fleißig zu-
ammengestelltes Büchlein, das viel aber allzu
isparcites Material verwertet. Schimpf- und
Scherznamen aller Art sind zusammengetragen
us literarischen Quellen, aus der lebenden
Sprache und dem Zeitungsdeutsch; reichlich ist
ie Gaunersprache herangezogen, für die der
Herausgeber vielfach hebräische Herkunft auf¬
eigt. Allerlei Zeitläufte sind ohne weiteres
ebeneinander gestellt, vielerlei Sprachgebiete
erücksichtigt, das niederdeutsche mit besonderer
Vorliebe. Die Auswahl ist recht bunt; so
nden wir unter Schriftsteller ebenso die Aus¬
rücke Pamphletist, Polygraph, Pornograph,
ie uns jedes Konversationslexikon erläutern
mag. Die Anordnung geschah nach alphabetisch
eordneten Schlagworten, die nicht immer
eicht zu finden und manchmal willkürlich ge¬
rennt sind. So ist das Werklein zum Nach¬
chlagen nicht sehr bequem. Gleichwohl ist es
ut lesbar und oft herzhaft ergötzlich. Verlegt
at das Buch Karl I. Trübner in Straßburg,
in Verlag, der seit langem der Erforschung
er deutschen Sprache freundliche Heimstätte
Die Arbeit stellt sich die Aufgabe, den
Begriff der Vermögenssteuer zu erforschen.
Es werden zu dem Zwecke die Steuern be¬
sprochen, die in Deutschland auf dem Platten
Lande bis zum vierzehnten Jahrhundert und
in den Städten im Mütelalter bestanden. Auf
dem Lande wurde die „Bete" vom Grund
und Boden erhoben, nach der Hufe oder dem
Morgenmaß. Bewegliches Vermögen wurde
nur ergänzend besteuert. So mußten in
Brandenburg nur die Untertanen von ihrer
Fnhrhabe steuern, die nicht eine Hufe besaßen.
In Böhmen wurde dagegen eine allgemeine
Vermögenssteuer von, beweglichen und unbe¬
weglichen Gut erhoben, mit Selbsteinschätzung
und strengen Strafen.
Auch in den Städten waren die Steuern
der herrschenden Ansicht nach ursprünglich Jm-
mobiliarsteuern, bemessen nach dem Kapitals¬
wert, nur ausnahmsweise nach dem Ertrage.
Allmählich greift aber auch Mobiliarbesteuerung
in den Städten Platz, in Verbindung mit den
Abgaben auf Handel und Gewerbe. So haben
nach der Nördlinger Erwerbssteuer Viehhändler
für jede verkaufte Kuh 2 Pfennig, Fleischer eine
Schlachtsteuer von 4 Pfennig für die Kuh, ge¬
wisse Handwerker schlechthin eine Steuer von
mehreren Pfennigen wöchentlich zu entrichten.
Häusig findet sich neben der Vermögens- noch
eine Kopfsteuer. Allmählich aber treten Ab¬
gaben ans, die nach dem Arbeitseinkommen
beimessen sind; so betrug die Türkensteuer in
Magdeburg bei Dienstboten 2 Prozent ihres
Jcchreslohncs. Ebenso muß nach der Naum-
burger Ordnung derjenige, der keine 6 Mark
besitzt, von seiner „Nahrung" steuern. Das
sind die ersten bedeutsamen Ansätze einer Steuer
vom Einkommen.
Der Verfasser hat ein umfangreiches Ma¬
terial herangezogen und gründlich bearbeitet.
Seine Schrift bildet einen wertvollen Beitrag zur
wissenschaftlichen Erkenntnis der Vermögens¬
steuer.
Die Abhandlung, die zuerst in der „Zeit¬
schrift für die gesamte Stnatswissenschnft" von
Bücher erschien, beschäftigt sich mit den finan¬
ziellen Schwierigkeiten, unter denen in Oster¬
reich Staat, Länder und Gemeinden zu leiden
haben. Zur Kennzeichnung der Finanzlage
führt der Verfasser an, daß Zuschlage von
mehreren Hundert Prozent in Stadt und Land
nicht zu den Seltenheiten gehören und daß in
Südtirol solche von über 1009 Prozent vor¬
kommen. Er erörtert eingehend die Mittel
zur Abhilfe und bespricht insbesondere fünfzehn
Vorschläge einer Landessteuer, n. a. auf Zünd¬
hölzchen, Zucker, Licht, Wein, Mineralwasser,
auch „die jetzt in Mode kommende Wertzu¬
wachssteuer". In der Kritik der staatlichen
Finanzvorschläge billigt Schmid die Wein- und
Branntweinsteuer, verwirft hingegen eine Tan¬
tiemesteuer für Vorwaltuugsräte und eine
Zusatzsteuer für Aktiengesellschaften. Mit Un¬
recht wendet er sich in. E. gegen eine Erhöhung
der Einkommensteuer von 29999 Kronen auf¬
wärts. Ich halte es für gleichgültig, ob diese
Steuer nur den Charakter einer ErgänzungS-
steuer hat, wie der Verfasser anführt; der
Hinweis auf die Zurückhaltung, die man in
Preußen bei den höheren Einkommen übe, ist
um so weniger beweiskräftig, als man genötigt
sein wird, diese Zurückhaltung bei der nahe
bevorstehenden preußischen Reform aufzugeben.
Auch der von Schmid bekämpfte Vorschlag einer
Junggesellensteuer erscheint mir recht erwägens¬
wert. Die Regierung will nämlich die Ein¬
kommensteuer für Einzelpersonen um 16 Pro¬
zent, für zu zweit lebende Familienglieder um
19 Prozent erhöhen. Das entspricht als Regel
nur der Billigkeit, auch wenn es in einzelne»
Fällen zu einer Härte führen sollte. Mit der
Reform der Erbschaftssteuer ist Schund grund¬
sätzlich einverstanden, doch hat er Bedenken
gegen Steuersätze von 16 und 18 Prozent und
verweist auf die erbitterten Kämpfe, die die
Erbschaftssteuer in Deutschland hervorgerufen
habe. Diese Kämpfe drehten sich indessen uur
um die Ausdehnung der Steuer auf Kinder
und Ehegatten, nicht um die Frage, ob weitere
Verwandte nachdrücklich besteuert werden dür¬
fen, wenn ihnen eine Erbschaft als müheloser
Gewinn in den Schoß fällt; deswegen bestehen
n Deutschland wie in anderen Ländern je
nach der Entferntheit der Verwandtschaft und
der Höhe der Erbschaft Steuersätze, die noch
über 18 Prozent hinausgehen.
Daß die Schmidsche Arbeit eine Fülle von
Anregungen bietet, bedarf nach den obigen
Beispielen keiner weiteren Darlegung,
Der Verfasser gibt mehr, als er verspricht.
Er erörtert das Wesen und die Bedeutung
der Steuer bon Wertzuwachs und die dagegen
vorgebrachten Einwendungen, Mit Recht macht
er geltend, von Konfiskation könne man nicht
bloß bei dieser, sondern bei jeder Steuer sprechen;
ob es erlaubt sei, den Wertzuwachs überhaupt
zu besteuern, müsse am letzten Ende das Ge¬
fühl entscheiden. Daß auch der Gewinn bei
Mobilien besteuert werden könne, spreche nicht
gegen die Heranziehung vonJmmobilien. Wird
die Spekulation durch die Auslage gehemmt,
so wird auch eine Preissteigerung verhindert.
Gleichwohl räumt v, Weißdorf ein, daß boden¬
politische Wirkungen von ber Maßregel schwer¬
lich zu erwarten sind (S, 23), Eingehend
schildert er sodann die Entwicklung der kom¬
munalen Besteuerung des Wertzuwachses im
Königreich Sachsen. Am 1, April 1910 hatten
siebzig Gemeinden die Steuer eingeführt, dar¬
unter elf Städte, Nach den bisherigen Er¬
fahrungen in diesen Gemeinden hat sich die
Abgabe als kommunale finanziell gut bewährt,
eine Abwälzung der Steuer ist nicht erfolgt,
Miet- und Bodenpreise sind nicht gestiegen,
weder der Grundstücksverkehr, noch die Bau¬
tätigkeit hat gelitten. Freilich ist der Wert
derartiger Beobachtungen kein unbedingter!
es ist schwer zu bestimmen, welche Verhältnisse
eingetreten sein würden, wenn die Steuer
nicht auferlegt wäre. Diesen Bedenken ver¬
schließt sich der Verfasser nicht. Seine ganze
Arbeit zeichnet sich durch volle Beherrschung
des Stoffes und durch eine erfrischende Un¬
befangenheit und Klarheit des Urteils aus,
Der Führer der nordhannoverschen Li¬
beralen schildert den Streit um die Finanz-
resorm von 1909, Er führt »us die Finanz¬
age des Reiches vor Augen, die Vorschläge
der Regierung und demnächst die Beschlüsse
des Reichstags. Amtsgerichtsrat Herz hat sich
mit den in Betracht kommenden Steuerfragen
eingehend beschäftigt und versteht eS, in leben¬
diger Schilderung den Leser in den heftigen
Streit jener Tage zurückzuversetzen. Mit Nach¬
druck bekämpft er die Einwendungen, die gegen
die Ausdehnung der Erbschaftssteuer aufKiuder
und Ehegatten erhoben wurden. In bezug
auf den Regierungsentwurf über die Erbrechts¬
reform ist ihm ein Irrtum untcrgelaufe». Die
Regierung hat ihn nicht fallen lassen; in der
Sitzung des Reichstags vom 5, Juli 1909
vereinigte er hundertsechsuuddreißig Stimmen
auf sich. Die nativualliberale Partei stimmte
unter Führung der Abgeordneten Junck und
Bassermann geschlossen dafür. Eine Mehrheit
von hundertnennzig Stimmen lehnte jedoch
die Vorlage ab.
Daß in einer politischen Streitschrift auch
scharfe Wendungen vorkommen, ist nur natür¬
lich; aber auch diejenigen, die auf anderem
Standpunkte stehen, wie der Verfasser, werden
seinen temperamentvollen Ausführungen mit
Interesse folgen.
Bom Handwörterbuch der Stnatswisscn-
schaften. iJena, Verlag von Gustav Fischer,)
Das monumentale Werk ist nun vollendet;
im Juli war der siebente, im August der
fünfte Band fertig geworden, und nun liegt
der achte, der Schlußband, vor uns. Auch in
diesen drei Bänden finden sich eine Anzahl neue
Artikel, während andere bedeutend erweitert,
manche völlig umgearbeitet worden sind, Bon
den 171 Artikeln des fünften Bandes seien
nur folgende genannt, deren Überschriften für
sich allein schon vom Wert und der Wichtig¬
keit dieser Enzyklopädie einen Begriff geben:
Gewinnbeteiligung; Giroverkehr; Gold und
Goldwährung; Gotenburger Ausschanksnstem;
Grenznutzen (sehr ausführlich; auch wie der
Greuznntzen im Staatshaushalt schon berück¬
sichtigt worden ist, ehe seine Theorie formuliert
war, wird dargestellt); Grundbesitz (Boden¬
rechtsordnung von Adolph Wagner, Geschichte
des Grundbesitzes von Lamprecht, Stellung
des ländlichen und des städtischen Grund-
vesitzes in der Volkswirtschaft von Conrad,
Statistik von Wirminghnus); Handel und
Handelsbilanz; Handelsgenossenschaften (ihre
Formen von Laband, die volksivirtschaftliche
Bedeutung von Ehrenberg); Handelspolitik;
Handelsrecht; Handelsstatistik; Hnndelsunter-
richt; Handwerk (von Stieda); Haushaltung;
Heiinstädtenrecht; Hilfskassen; Hypotheken¬
banken; Hypothekenschulden; Hypotheken- und
Grundbuchweseu; Jdentitätsnachweis; In¬
dustrieausstellungen ; Innere Kolonisation;
Innungen; Invalidenversicherung; Irren-
recht; Kapitalrentensteuer: Kaufmannsgerichte;
Kleinbahnen. Der letzte und längste Artikel:
Kolonien und Kolonialpolitik von G, ^oepfl -
er ist 234 Spalten lang; das Literaturver¬
zeichnis allein füllt 11 Spalten — dürfte
Schuld daran gewesen sein, daß sich die Boll¬
endung des fünften Bandes so lange verzögert
hat. Der steigenden Bedeutung der Kolonien
für den Ausfuhrhandel der Mutterländer wird
darin durch ausführliche statistische Nachweise
Rechnung getragen. Auch wird die Polemik
der deutschen Theoretiker der Svzialdemo-
Iratie gegen den Erwerb von Kolonien dar¬
gestellt und über die Kritik berichtet, welche
diese Polemik von den Führern des revisio¬
nistischen Flügels der Partei erfährt. Unter
den 199 Artikeln des siebenten Bandes finden
wir: Rabattsparvereine; Reblaus; Recht (von
Stammler); Recht auf Arbeit (von Georg
Adler und Gustav Mayer); Reichsfinanzen
(von v. Eheberg, mit der ausführlichen Ge¬
schichte der Finaiizreform von 1909); Re-
ligionSstatistik; Rentengüter; Rittergut; Säug¬
lingsfürsorge; Schankgewerbe; Scheck; Schiff-
fnhrt (Politik und Statistik von Lexis,
Seeschiffahrt und Völkerrecht von Loening);
Schuldverhältnisse; Schulhygiene und Schnl-
arztwesen; See- und Binnenfischerei; Seide
und Seidenindnstrie; Sicherheitsmänner (im
Bergbau); Sicherung der Bauforderungen;
¬
zialdemokratie: Sozialismus und Kommu¬
nismus; Sozinlkonservntive Bestrebungen;
Sparkassen; Spekulation; Spiel; Spiritus¬
ring; Staat (Allgemeine Staatslehre von
Loening, der Staat in nationnlökvnvmischer
Hinsicht von Adolph Wagner); Staatsschulden;
Städtevereinignng; Statistik (die amtliche
Statistik des Deutschen Reiches, Preußens,
der übrigen deutschen Bundesstaaten, des
Auslands, die städtischen statistischen Unter
werden jedes in einem besonderen Artikel
behandelt); Stellenvermittelung und Arbeits¬
nachweis; Steuer(poro.Eheberg); Stiftungen;
Submissionswesen; Snezknnal; Syndikate;
Tabak und Tabaksteuer; Tarifvertrag; Theater¬
recht; Tierhalterhaftung; Transport; Trusts
Über alle diese Gegenstände und drängenden
Probleme und viele andere von nicht gerin¬
gerer Wichtigkeit erhält der Benutzer des
Handwörterbuchs die deutbar zuverlässigste
Auskunft. Unter den Männern, denen be¬
sondere Artikel gewidmet sind, findet sich dies¬
mal auch John RuSkin als „Vertreter der
ethischen Schule der Nationalökononne aus
englischem Boden". Weit ausführlicher als
in der ersten Ausgabe wird Thomas v. Aquin
behandelt in vier Haupt- und zwölf Unter¬
abschnitten. , Die Überschriften der Haupt¬
abschnitte lauten: Verhältnis der Scholastik
zum mittelalterlichen Wirtschaftsleben; die
Arbeit nach thomistischer Auffassung; Thomas'
Stellung zum Privateigentum; Thomas und
der wirtschaftliche Verkehr. Da die stärkste
unserer Parteien auf den Agninaten schwört,
so kann der Politiker die Kenntnis seiner
Lehre» und Grundsätze nicht entbehren. —
Der Schlußbnnd enthält ein Sachregister und
ein Verzeichnis der Autoren. Mehr als drei¬
hundert Gelehrte, Größen ersten Ranges von
internationaler Bedeutung, haben an dem
großen Werke gearbeitet.
Silber und Silberwährung; Sklaverei; So
Der seit zweieinhalb Jahren „sterbende" Reichstag ist am 6. Dezember
endlich eines natürlichen und sanften Todes entschlafen. Recht froh sind wir
seiner, an dessen Wiege so viel nationale Hoffnungen standen, nicht geworden,
und den gesetzgeberischen Ergebnissen seiner Tätigkeit haben wir alle Ur¬
sache mit Skepsis gegenüberzustehen. Meist sind es Produkte einer durch nichts
gehemmten Kompromißpolitik, deren oberster Grundsatz lautet: irgendetwas
muß zustande kommen! Unter solchem Grundsatz leiden naturgemäß wissen¬
schaftliche und politische Prinzipien, und in den Gesetzen selbst finden wir keinen
logischen Zusammenhang der Emzelbestimmungen, sondern ein Mosaik von Einzel¬
interessen, die sich während der parlamentarischen Behandlung zur Geltung bringen
konnten. Solange Konservative und Liberale zusammengingen, wurde noch einiges
Einheitliches erzeugt: Das Reichsvereinsgesetz, das Börsengesetz und die Novelle
über- Majestätsbeleidigungen bedeuten gegenüber den früheren Zuständen recht
anerkennenswerte Fortschritte. Aber mit dem Zusammenbruch der „großen"
Reichsfinanzreform begann eine Ära der Gesetzmacherei, die den verbündeten
Regierungen noch manche harte Nuß zu knacken geben dürfte. Die elsaß-lothringische
Verfassungs- und Wahlrechtsreform, die Reichsversicherungsordnung, das Privat-
beamtenversicherungsgesetz und das Gesetz über die Reichswertzuwachssteuer — alle
diese Gesetze tragen in vielen Punkten die Einwirkungen einer in den Sitzungssaal
des Reichstags verpflanzten Wahlagitation an der Stirne. Gerichte, Polizei und
Verwaltungsbeamte werden ebenso wie die einzelnen Staatsbürger die Mängel
aller dieser Gesetze bald zu spüren bekommen, diese durch vermehrte Unbequemlich¬
keiten und Kosten, jene durch vermehrte überflüssige Arbeit.
Für diese geringen Ergebnisse die Parteien des Reichstages allein oder auch
nur in erster Linie verantwortlich machen zu wollen, hieße indessen ihnen Unrecht
tun. Selbst das Versagen der Konservativen bei der Reichsfinanzreform, das wir
lebhaft bedauern, wird man verstehen, ja entschuldigen können, wenn man dem
Übel auf den Grund geht. Unser deutsches Regierungssystem, die Reichsver-
fassung und mit ihr die Zusammensetzung des Reichstags bezüglich der in ihm
vertretenen Parteien entspricht nicht mehr den Anforderungen einer an vielen
Segnungen reichen Entwicklung von vierzig Friedensjahren. In der Volksvertretung
kommen nicht mehr die wahren Anschauungen der Nation zum Ausdruck, sondern
die einiger mächtiger gutorganisierter wirtschaftlicher Gruppen (bisher Gewerk¬
schaften, Zentralverband deutscher Industrieller, Bund der Landwirte), denen als
einziger bedeutsamer Vertreter ideeller Werte der im Zentrum organisierte Ultrcunon-
taniSmus gegenüber steht. Die Zahl der mächtigen wirtschaftlichen Verbände mit poli¬
tischen Zielen hat sich inzwischen vermehrt um den Hansabund und Bauernbund, und
es fehlt nur noch eine Organisation der geistigen Arbeiter (Beamten, Gelehrten,
Ärzte usw.), um die Auflösung der Nation in die neuen Stände vollständig zu
machen.
Wir haben keine Ursache, zu hoffen, daß der neue Reichstag wesentlich
anders aussehen wird wie der alte. Ein Blick in die Wahlaufrufe der politischen
Parteien, eine flüchtige Durchsicht der Nachrichten über den Gang des Wahl¬
kampfs lehren, daß eigentlich nicht die Parteien, sondern die großen Wirtschafts¬
verbände kämpfen. Die Zugehörigkeit zu einer Partei bildet eigentlich nur das
fadenscheinige Mäntelchen, unter dem die Jacke des Landbundes oder der Gürtel der
Hansa oder sonst einer wirtschaftlichen Interessengruppe schimmert. Darum dürfen
wir uns von den neuen Wahlen auch keinen wesentlich neu gestalteten Reichstag
versprechen, gleichgültig, ob er ein wenig mehr ins bläuliche oder rötliche spielt.
Auch hierfür sollte kein Verständiger die Parteien tadeln; sie sind, wie alles um
Kürzlich hat Pius der Zehnte sich wieder einmal bemerkbar gemacht, und sein
nettester Erlaß beginnt die Aufmerksamkeit immer weiterer Kreise zu erregen, und
das mit vollem Recht. Denn das vom 9. Oktober datierte und in dem Heft der
-^Lo Äpostolicae sectis vom 10. November publizierte Uotu proprio bedeutet
einen geradezu ungeheuerlichen Eingriff in die Rechte des modernen Staates. Wir
setzen die Hauptstelle daraus hierher: „Jeder Privatmann, sei er weltlichen oder
geistlichen Standes, männlichen oder weiblichen Geschlechts, der irgendwelche geiht.
liebe Personen, sei es in einer Kriminal- oder Zivilsache, ohne Erlaubnis der
kirchlichen Behörde vor das weltliche Gericht zieht und zu öffentlichem Erscheinen
dort nötigt, verfällt der speziell dem Papste vorbehaltenen LxLommuniLatio laws
Lententme. Was aber hiermit verordnet ist, soll, so wollen wir's, volle Gültigkeit
haben, ohne daß irgendwelche gegenteilige Entscheidungen im Wege stehen." Was
bedeutet dieser Erlaß? Er bedeutet ein Zurückkehren zu den schärfsten Theorien
des Mittelalters über das Verhältnis von Staat und Kirche, wie sie in den
wrialistischen Publikationen von Pseudo-Jsidor an bis zu den Erlassen Bonifazius
des Achten ausgesprochen. Was man da gewollt, will auch Pius der Zehnte:
den Priester über alle staatlichen und bürgerlichen Verhältnisse erheben, und ihm
"n Interesse der Weltherrschaft der Kirche, beziehungsweise des Papsttums eine
einzigartige Stellung zuweisen. Wir wollen dem Papst dankbar sein, daß er so
offen seine Karten darlegt, und die Völker sollen sich das merken.
Jene bekannten Ansprüche der mittelalterlichen Kirche waren in neuerer Zeit
schon wiederholt worden. Pius der Neunte hatte in seiner Bulle ^postolic^le
focus von 1869 alle diejenigen mit dem großen Kirchenbann bedroht, welche
bewirkten, daß ein staatlicher Richter einen Geistlichen vor Gericht zog. Jene
Bestimmung Pius des Neunten wurde jedoch durch den diplomatischen Leo den
Dreizehnter in einem Rundschreiben der Jnquisitionskongregation von 1M6 dahin
erklärt und eingeschränkt, daß von jener Exkommunikation der Privatmann nnbetroffen
bleibt, der irgend ein Einschreiten des staatlichen Richters gegen einen Geistlichen
veranlaßt, wohl aber der Gesetzgeber erreicht wird, der Gesetze erläßt, ohne auf
den besonderen Gerichtsstand der Geistlichen Rücksicht zu nehmen. Dieser Stand¬
punkt war also ein wesentlich milderer; er wahrte in der Theorie den Anspruch
Roms auf einen besonderen Gerichtsstand der Geistlichen, griff aber so gut wie
gar nicht in die Praxis des Rechtslebens der Staaten ein. Von irgend welchem
Konflikte z. V. in Deutschland ist auch nichts bekannt geworden.
Ganz anders ist der Zustand, der durch das ^ven proprio Pius des Neunten
geschaffen worden ist. Jetzt wird mit der Forderung, .daß der Geistliche einen
besonderen Gerichtsstand, das Privilegium kori des kanonischen Rechts, besitzen müsse,
voller Ernst gemacht. Jede Privatperson, die einen Geistlichen vor Gericht bringt,
ohne zuvor die Erlaubnis des Bischofs eingeholt zu haben, begeht ein gott-
schänderisches Verbrechen und verfällt ohne weitere formelle Erklärung durch die
Kirche der großen Exkommunikation.
Was bedeutet das in der Praxis? Nun, jeder Stnatsanwalt, der einen
Geistlichen wegen einer vor dem Gesetz strafbaren Handlung verfolgt, ohne den
Bischof vorher um Erlaubnis zu fragen, ist co ipso erkommuniziert. Gesetzt auch,
er wollte als eifriger Katholik diese Forderung erfüllen, würde nicht durch die
Nachfrage und die dadurch bedingte Verzögerung die im Strafverfahren oft nötige
Schnelligkeit einfach illusorisch? Jeder Richter?, der einen Prozeß gegen einen
Geistlichen einleitet, ob ein Straf- oder Zivilverfahren ist gleichgültig, verfällt der
Exkommunikation, wenn er nicht vorher beim Bischof die Erlaubnis eingeholt hat.
Man bedenke, in welche Konflikte diese Anordnung die Beamten bringen muß,
die zugleich treue Diener des Staates und treue Katholiken sein wollen. Ferner:
jede Privatperson, die von einem Geistlichen beleidigt worden ist, darf ihn ohne
Erlaubnis des Bischofs nicht verklagen. Bedenken wir, wie viele Beleidigungen
gerade von Zentrumskriegern in der Soutane in den Wahlkämpfen gegen Anders¬
denkende abgestoßen zu werden pflegen! Jeder Privatmann, der von einem
Geistlichen oder einer geistlichen Korporation sich übervorteilt fühlt oder von ihnen
Schulden einzuklagen hat, wird exkommuniziert, wenn er sich zu der Klage nicht
die Erlaubnis des Bischofs vorher eingeholt hat. Bei der regen Beteiligung der
katholischen Geistlichen und geistlichen Kongregationen an Handelsgeschäften dürfte»
derartige Konflikte oft genug vorkommen. Wird der Bischof diese Erlaubnis immer
geben, wird er sie von seinem Standpunkt aus nicht in den meisten Fällen ver¬
weigern müssen, um des Ansehens der Kirche willen? Wohin man sieht, also eine
Menge von Zündstoff und Reibungsflächen, so daß der Streit sehr leicht ent¬
brennen kann.
Werden die Völker, wird unser Deutsches Reich sich das gefallen
lassen? Wie verlautet, rüstet man sich in dem Landtage des Königreichs Sachsen,
dessen wackerer König schon einmal den Übergriffen des Papstes mannhaft entgegen¬
getreten ist, zu einem engergischen Auftreten gegen den Papst, Aber wird Sachsen
das einzige Land bleiben, wird Preußen, wird das Reich sich das alles stillschweigend
gefallen lassen? Wie viel hat sich schon das Reich von Rom in neuester Zeit bieten
lassen und hat den zweidrittel Protestanten seiner Bewohner die stärksten Be¬
lastungsproben für ihre Geduld zugemutet! Soll auch jetzt an den offiziellen
Stellen stillgeschwiegen werden? Das deutsche evangelische Volk, und nicht nur
dieses schweigt nicht. In seltener Einmütigkeit haben die Blätter aller Richtungen
von rechts nach links das Vorgehen des Papstes auf das Schärfste verurteilt, nur
die Deutsche Tageszeitung hat es wegen ihrer engen Beziehungen zum Zentrum
Die endgültige Lösung des politischen Wirrsals, dessen letzte verschlungene
Fäden die kürzliche Auseinandersetzung über die deutsch-englischen Beziehungen
bloßlegte, hat wie die Befreiung von einem Alpdruck gewirkt. Mit welchem
Optimismus die Börse daran ging, ihre Auffassung zu revidieren, ist bereits in
der letzten Übersicht an dieser Stelle geschildert worden. Früher aber, als man
erwartet haben mochte, wird jetzt die Quittung für den an den Tag gelegten Über¬
eifer präsentiert und zwar in Gestalt einer recht empfindlichen Geldverteuerung,
die anscheinend der Hoffnung den Garaus machen wird, das Ende des Jahres werde
keine weitere Diskonterhöhung bringen. Nachdem die Geldversorgung am Ultimo
sich noch zu verhältnismäßig leichten Sätzen vollzogen hatte, ist im Anfang des
Monats der Privatdiskont in bedenkliche Nähe der Bankrate gerückt. An sich kann
diese Geldverteuerung nicht Wunder nehmen. Die lebhafte Börsentätigkeit, das
Wiedererwachen des Spekulationsgeistes, die stark gestiegenen Kurse absorbieren
schon an der Börse bedeutende Mittel. Noch mehr aber fällt in das Gewicht der
Einfluß, den die lebhafte und stark zunehmende Beschäftigung der Industrie, die
Preissteigerung der Lebensmittel und landwirtschaftlichen Produkte, die Ver¬
teuerung wichtiger Rohmaterialien, wie Roheisen, Kupfer, Zink auf den Geld¬
markt ausüben. Es ist ganz unvermeidlich, daß unter diesen Umständen ein
starkes Wachstum der Kapitalsnachfrage und ein Steigen des Zinsfußes eintritt.
Und wir haben mit letzterem um so eher zu rechnen, als die recht belangreichen
amerikanischen Guthaben, welche auf etwa 200 Millionen Mark geschätzt
werden, unseren Bedarf kaum auf die Dauer alimentieren werden. Denn in den
Vereinigten Staaten spielte sich der gleiche Vorgang ab wie hier: das Wieder¬
erwachen der Effektenspekulation, Hauffe an der Börse, größere Regsamkeit in der
Industrie und vor allem die Finanzierung der richtigen Baumwollernte haben die
Geldflüssigkeit schnell versiegen lassen. So werden aller Voraussicht nach die
Gelder Wallstreets noch in diesem Monat ihren Rückweg über den Ozean antreten
und wir werden, da die übrigen ausländischen Guthaben kaum die Höhe der
amerikanischen Gelder erreichen, in der Hauptsache unsere Bedürfnisse aus eigenen
Mitteln bestreiten müssen. Daher wird frühzeitig zum Sammeln geblasen und
vor Überspannung des Kredits und Überspekulation gewarnt. Indessen darf man
billig bezweifeln, ob Mahnungen allein das Ziel erreichen werden und ob es
dazu nicht des viel stärkeren Zwangs der Verhältnisse bedarf. Man darf nicht
übersehen: für die Entwicklung des Geldmarktes ist die Effektenspekulation von
ungleich geringerem Einfluß als die anderen Komponenten des Wirtschaftslebens,
vor allem die Industrie. Dieses mächtige Schwungrad, einmal in Gang gesetzt,
läßt sich aber nicht nach Belieben aufhalten oder verlangsamen. Monat um
Monate steigen die Produklionsziffern von Kohle und Eisen. Der Monat November
bedeutet mit einem Tagesdurchschnitt von nahezu 44000 Tonnen das Maruuum der
bisherigen deutschen Roheisenproduktion; die Versandziffern des Stahlwerksverbandes
wiesen namentlich für Halbzeug nie gesehene Rekordleistungen auf, die Kohlen¬
förderung und der Absatz sind so rege, daß das Kohlensyndikat seine Zechen weit
über deren natürliche Beteiligung hinaus beschäftigen kann: solche Entwicklung,
solche fieberhafte Anspannung der Leistungsfähigkeit müssen mit Naturnotwendig¬
keit zu einem starken Kapitalbedarf und vor allem auch zu starker Investition
führen. Der Einzelne ist solcher Bewegung gegenüber machtlos, er wird mit¬
gerissen und auch die Bankwelt kann, wie vielfältige Erfahrung zeigt, uur schwer
die Grenze erkennen, wo weitere Kreditzufuhr eine Überhitzung des Kessels
bedeutet.
In der Tat, die augenblickliche Lage der schweren Industrie ist glänzend:
der Jahresabschluß unseres größten Montanunternehmens, der Aktiengesellschaft
Friedrich Krupp, beweist zur Genüge, wie einträglich schon die Verhältnisse des
letzten Jahres, das doch wahrlich recht viel Unsicherheit in seinen: Schoße barg,
sich für die Stahlindustrie gestaltet haben. Welche Gewumziffern! Um volle
sieben Millionen, mehr als ein Drittel ist der Reingewinn gegen daS Vorjahr
gestiegen und hat damit den höchsten Stand in der Geschichte des Unternehmens
erreicht. Gleichwohl aber wird die Dividende auf dem bisherigen Niveau gelassen
und das stattliche Mehrergebnis ganz zur inneren Kräftigung verwandt. Man
sieht, die Verwaltung rüstet sich bei Zeiten gegen die Veränderlichkeiten der Kon¬
junktur. Das scheint fast übertriebene Vorsicht, aber gerade die Lehren des letzten
halben Jahres haben, wie sie die Veranlassung zu so behutsamer Geschäftspolitik
gaben, so auch deren Nichtigkeit in Helles Licht gesetzt. Ist doch, ganz abgesehen
von den Überraschungen der Politik, die Industrie stets auch Fährlichkeiten anderer
Natur ausgesetzt. Der große Metallarbeiterstreik in Berlin, der schon zur
Aussperrung von sechzigtausend Arbeitern geführt hatte, ist glücklicherweise noch
im letzten Augenblick durch eine Verständigung beigelegt worden. Damit wurde
eine Gefahr beseitigt, die schon vor einigen Monaten von Thüringen und Sachsen
aus der Metallindustrie gedroht hatte, eine Gefahr, die bei der Größe und Stärke
des Verbandes der Metallarbeiter nicht unterschätzt werden darf und trotz des
augenblicklichen Friedensschlusses jeden Augenblick wieder auftauchen kann. Gährt
es doch auch in anderen Industriezweigen: auch in der Berliner Konfektion
tobt ein Kampf zwischen Arbeitgebern und Heimarbeitern um bessere Arbeits¬
bedingungen, eine ständige Begleiterscheinung günstiger geschäftlicher Konjunktur.
Die Gunst der Lage wird durch die Großindustrie in weitschauender Weise
ausgenutzt. Schon früher habe ich gelegentlich darauf hingewiesen, wie die deutsche
Eisenindustrie ihren Schwerpunkt nach und nach immer mehr nach Westen ver¬
schiebt, wie an der deutsch-französischen Grenze auf deutschem Boden gewaltige
Anlagen von süddeutschen, luxemburgischen und rheinischen Firmen, insbesondere
von Thyssen und der Gute Hoffnungshütte errichtet worden sind, und wie die
rheinische Großindustrie sich Einfluß bei der Ausbeutung der reichen französischen
Erzvorkommen im normannischen Becken zu sichern bestrebt ist. In gleicher Weise
sind nun an der Grenze auch bedeutende Unternehmungen der französischen Stahl¬
industrie entstanden, so daß sich dort bereits zehn große französische und sechs
bedeutende deutsche Stahlwerke gegenüber liegen. Diese überraschende Entwicklung
basiert hauptsächlich auf dem reichen französischen Erzrevier, dessen Ausbeutung
durch die deutsche Saarkohle ermöglicht wird. So erwächst dort ein Jndustrie-
bezirk, welcher die gleiche wirtschaftliche Basis, daher völlig homogene Interessen
hat, aber durch die Landesgrenze in zwei Lager geteilt ist. Diese Eigentümlichkeit
der Lage drängt dazu, die nationalen Unterschiede gegenüber der Gleichheit der
bedeutenden wirtschaftlichen Interessen zurückzustellen und eine Verständigung
zwischen den beiden Gruppen in die Wege zu leiten. Ansätze und Versuche zu
einem solchen Hand-in-Hemd-gehen französischen und deutschen Kapitals haben sich
bereits gezeigt; eine Herstellung festerer und dauernder Beziehungen, die von der
politischen Entspannung beider Länder vielleicht erhofft werden darf, würde für
dieses mächtige und doch erst im Anfang seiner Entwicklung stehende Industrie¬
gebiet von der allergrößten Tragweite sein.
Wenn man sich solchen Hoffnungen aus die wirtschaftliche Verständigung
zwischen Deutschland und Frankreich hingibt, darf man freilich nicht übersehen,
daß auf einem anderen Gebiet der Versuch einer solchen soeben von französischer
Seite vereitelt worden ist. Es handelt sich dabei um die Konzessionsgesell¬
schaften in dem Deutschland zugefallenen Teile des Kongogebietes. Diese
Konzessionsgesellschaften betreiben die Ausbeutung jener Gebiete in Äquatorial¬
afrika in einer Weise, welche nicht das Programm unserer Kolonialregierung sein
kann. Es liegt daher im Interesse einer verständigen Kolonialpolitik, dem deutschen
Kapital eine Einflußnahme auf diese Gesellschaften zu ermöglichen. Dieser Versuch
ist aber hinsichtlich der bedeutendsten dieser Unternehmungen, der Sociöte Forestiöre
Sangha-Oubanghui, welche aus der Zusammenfassung von elf französischen Kvn-
zessionsgesellschaften entstanden ist, vorerst gescheitert. Denn das Bestreben ein¬
flußreicher deutscher Finanzkreise und Banken, sich an diesem Unternehmen, soweit
deutsches Kongogebiet in Frage kommt, zu beteiligen, ist durch das Dazwischen¬
treten eines Konsortiums vereitelt worden, welches einen erheblichen Teil des
Aktienkapitals einer Pariser Bautengruppe verschafft hat, so daß diese mit einer
ihr zustehenden Option über die Majorität verfügt. Damit ist der Einflußnahme
deutschen Kapitals ein Riegel vorgeschoben, denn die deutschen Banken werden
nicht ein Agio von 230 Prozent für Aktien einer Gesellschaft zahlen wollen, auf
deren Geschäftsgebaren sie keinen Einfluß haben. Man wird daher wohl die
Socius Forestiöre ihrem Schicksal überlassen, das sich unter dem Einfluß der zu
erwartenden deutschen Verwaltungsmaßregeln gegen den Raubbau kritischer ge¬
stalten wird, als wenn deutscher Einfluß in der Gesellschaft einer Verständigung
mit der Regierung die Wege geebnet hätte. An dem Prosperieren dieser oder
anderer Gesellschaften in den neuen Gebieten hat Deutschland kein Interesse, aber
es ist zu bedauern, daß der naturgemäße Weg, durch eine Verständigung die vor¬
handenen Gegensätze zu versöhnen, durch eine kurzsichtige oder übelwollende
Geschäftspolitik der Franzosen verlegt worden ist.
In Budapest ist nach langwieriger Verhandlung ein herbes Urteil über einen
der berüchtigten ungarischenAnimierbankiers gefällt worden, der seineOpfer haupt¬
sächlich in den Kreisen des deutschen Publikums gesucht hat — mit welchem Erfolg,
beweist die Tatsache, daß er in drei Jahren 800 000 Kronen verdienen konnte,
ohne überhaupt ein nennenswertes Geschäftskapital zu besitzen. Die Methode, nach
der dieser Winkelbankier arbeitete und mit der er die Vertrauensseligen in das
Garn lockte, war die altbewährte der Herausgabe eines anscheinend unabhängigen,
in Wahrheit ausschließlich in seinem Interesse redigierten Finanzblattes, welches
wöchentlich in einer Million (!) Exemplaren verschickt wurde. Es ist kaum zu
glauben, daß eine so grobe Art des Bauernfangs in Deutschland immer wieder
Erfolg haben kann. Welche erschreckende Unkenntnis in den elementarsten Dingen
des Finanz- und Geldwesens muß doch in weiten Kreisen des deutschen Publikums
und zwar eines Kapitalistenpublikums verbreitet sein! Denn dieser Übeltäter ist
doch nur eiuer unter Hunderten. Tag für Tag kann man in der Tagespresse
Warnungen vor ausländischen Schwindelfirmen lesen, der Zentralverband deutscher
Banken und Bankiers bemüht sich, das libet wenigstens im Inland durch Straf¬
verfolgung und Aufklärung auszurotten, aber alle Mühe ist anscheinend vergebens.
In Deutschland und zwar fast ausschließlich in Deutschland findet jenes Gauner-
tum ein lohnendes Arbeitsfeld, und anscheinend in den letzten Jahren in steigendem
Maße. Wie ist das zu erklären? Doch wohl nur damit, daß hier der Wohlstand,
der Besitz verfügbarer, wenn auch kleiner Kapitalien sich stärker vermehrt hat, als
die Fähigkeit, mit dem Gelde zu wirtschaften und es nach den Regeln verständiger
Vermögensverwaltung anzulegen. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit zu ver¬
richten. Kaufmännischer Geist und kaufmännisches Wissen zum Gemeinbesitz eines
ganzen Volkes zu machen, erfordert Mühe und Zeit, die Arbeit von mehr als
einer Generation. Diese Arbeit ist aber unerläßlich für ein Volk, das, wie das
deutsche, Anspruch auf eine führende Rolls in der Volkswirtschaft erhebt.
Verantwortliche Schriftleiter: für den politischen Teil der Herausgeber George Cleinow-Schöneberg, für den
literarischen Teil und die Redaktion Heinz Am elung'Friedenall. — Manuslriptsendungen und Buche werden
ausschließlich an die Adresse der Schriftleitung Berlin SV/. 11, B-rnburger Strasze 2S->/23, erbeten. — Sprechstunden
der Schriftl-itung: Montags 10-12 Uhr, Donnerstags 11-1 Uhr.
Verlag: Verlag der Gr-nzboten G.in.b.H. in Berlin SV. 11.
Stellennachweis.v. Für Damen.
(Aus der Tages- und Fachpresse.)
Anfragen zu richten unter Beifügung von Rückporto an
ti« Geschäftsstelle der Gr-nzboten, Berlin SXV. 11.692. Erzieherin, co., aus,, 1.1.12., Schlesien.
69». Erzieherin, co., gcpr,, 1.1.12., Posen.
694. Erzieherin, ers., aus., 1.1.12. (Latein.), Pommern.
696. Erzieherin, vo., aus., 1.1.12., Pommern.
H.. Wr Akademiker.
Mi. I. Balge-rdnctcr,bilib(12000-15000M.), Rheinl.
693. Hauslehrer, evang., ers., 1. 4. l2., Sachs.697. Erzieherin, gcpr., ers,, auf., 1.1.12., Pommern.
699. Erzieherin, co., gepr., mus., l. 1. l2., Schlesien.
as Wesen und die Bedeutung des Adels beruht in der Edelzucht,
Edelzucht aber heißt Veredlung oder Edelwahrung des Individuums
durch die Geschlechter hindurch; das ist, auf die Menschen im
Verhältnis zu ihrer Volksgemeinschaft angewandt. Streben nach
^-is»» möglichst hohem Aufsteigen der Familie innerhalb der Gemeinschaft
von Geschlecht zu Geschlecht, oder nach möglichstem Beharren in der erreichten
Höhe, Pflege oder Wahrung einer edlen Familientradition. Nicht sich
als einziges Zentrum der Schöpfung betrachten, das nur für sich selbst zu ver¬
antworten, aber auch nur für sich selbst zu sorgen und sich zu befriedigen hat.
Vielmehr sich als Zwischenglied in der Kette der Geschlechter fühlen,
mit dem Blick nach rückwärts über die Reihe der Vorfahren hin — in Sorge,
das Überkommene zu wahren oder zu mehren und in Freude über die eigene
Mehrleistung —, und den Blick nach vorwärts gerichtet auf das kommende
Geschlecht — im Gefühl der Verantwortung, daß es erzogen und vorbereitet
werde für seine künftige Aufgabe, aber auch im Gefühl der Freude und oft auch
des Trostes: Mein Sohn soll es weiter bringen als ich, das Rüstzeug dafür
habe ich ihm mitgegeben nach besten Kräften. Man sagt es dem deutschen Volke
nach, daß es unter den Völkern in besonderem Maße ausgestattet sei mit diesem
Gefühl der Verantwortung für die Nachkommen, daß deutsche Eltern ganz
besonders das Bestreben zeigen, ihre Kinder gut zu erziehen und sie mehr werden
zu lassen als sie selbst sind. Segen darüberl Denn es gewährt ihnen Lebens¬
inhalt und Zukunftsfreude, aber auch Halt und Trost im eigenen Mißlingen.
Und glücklich das Volk, dem dieses Streben innewohnt! Es gibt ihm Lebens¬
drang und Kraft, fortzuschreiten auf dem Wege der Kultur und der Herrschaft
der Menschen über die Erde, aber auch Stetigkeit und Ruhe auf seinen Wegen
bei dem Verantwortlichkeitsgefühl seiner Glieder für Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft. Darum hat auch der Staat ein Interesse daran, ja sogar die
dringende und unabweisbare Pflicht, die Edelzucht, das Streben der Familien,
in die Höhe zu gelangen, nach Möglichkeit zu pflegen und zu fördern. Solche
Förderung kann aber nur bestehen in der sichtbaren Anerkennung und Aus-
Zeichnung derer, die es auf diesem Wege am weitesten gebracht haben, auf daß
ihre Auszeichnung ein Beispiel darstelle für die übrigen, ihnen nachzustreben,
und für sie selbst ein Ansporn, sich und ihre Nachkommen auf dieser Höhe zu
halten. So liegt die Kennzeichnung der Edelsten der Nation, also die Schaffung
eines Adels, durchaus im Interesse des Staates, der Allgemeinheit.
Freilich bedeutet Edelzucht nicht allein edle Abstammung. Daran, daß die
Abkömmlinge von Tüchtigen, ohne Rücksicht auf ihre eigene Tüchtigkeit oder
Untüchtigkeit, in alle Ewigkeit als die wertvollsten Glieder der Nation anerkannt
und geehrt werden, hat die Allgemeinheit kein Interesse, vielleicht manchmal eine
Regierung, um sich mit den durch solch unverdientes Geschenk Beglückten eine
Gefolgschaft durch Dick und Dünn zu verschaffen. Aber das ist ein schlechtes,
ein schädliches Interesse, und das Schwert verwöhnter Prätorianer wendet sich
überdies oft gegen den eigenen Herrn, wenn er ihrem Geschmack nicht immer
Rechnung trägt. Nein, die Ehrung von Abkömmlingen allein um der Verdienste
weit und immer weiter zurückliegender Vorfahren willen und ohne daß Verdienste
der Abkömmlinge selbst hinzutreten, kann keine Volksgemeinschaft auf die Dauer
dulden. Denn solche Ehrung maß mit der Zeit als ungerecht empfunden werden
und aus diesem Grunde sowie auch, weil die so Ausgezeichneten zur Wahrung ihrer
wesenlos gewordenen Höherwertung diese nach Möglichkeit betonen müssen, zur
Unzufriedenheit und zu Spaltungen führen. Diese Folgeerscheinung ist bei uns
bereits in erschreckendem Maße eingetreten. Unter den Begriffen des Kasten¬
geistes und der Exklusivität macht j,sie sich überall breit und vergiftet unser
gesamtes Volksleben. — Edelzucht heißt eben nicht schlechthin Abstammung
von Edlen. Sie bedeutet vielmehr Vervollkommnung des Individuums an
sich durch die Geschlechter, und sie ist erkennbar nicht lediglich an der
Herkunft, sondern in erster Linie an den Eigenschaften, an der Leistung.
Wer wird ein Roß aus edelstem Blut hoch bewerten, wenn es nicht auch die
hervorragenden Leistungen seiner Vorfahren aufweist, sondern verkümmert ist
und nicht mehr leistet als andere Pferde? — Die Fähigkeit, die Leistung also muß
in erster Linie das Entscheidende sein, und grundsätzlich darf nur zu den aus dem
Durchschnitt Hervorragenden gezählt werden, wer in seinen Leistungen, in seinem
Wert für die Volksgemeinschaft den Durchschnitt auch wirklich überragt. Von
diesem Grundsatz gibt es freilich — ich betone dieses, um keine falschen Schlu߬
folgerungen aufkommen zu lassen — eine Ausnahme: der Monarch. Denn sür
seine Stelle ist allein der Gesichtspunkt maßgebend und muß es bleiben, daß
die höchste Gewalt stetig und unverrückt an einem Punkte zu ruhen hat. Alle
übrigen aber haben ihren Standpunkt einzunehmen oder angewiesen zu bekommen
oben oder unten, nach ihrem Wert für das Ganze.
Und weiter: Die Ersten, die Besten der Nation sollen es sein, die als ihre
Edlen geehrt werden. Darum sorge man dafür, daß der Besitz des Adels nicht
billige, von vielen verschmähte Münze werde, sondern ein hohes Ziel, jedem erreich¬
bar und erstrebenswert für sich oder seine Kinder oder Kindeskinder, aber erreichbar
nur für den, der seinem tatsächlichen Wert für die Gemeinschaft nach wirklich
zu den Ersten der Nation gerechnet werden kann. Daher gebühren den auf
diese Weise Geadelten hohe Ehren, nicht allein banale gesellschaftliche Bevor¬
zugung, die von Ernster belächelt, von Eiferern bestritten wird, sondern Ehren,
die von jedem anerkannt werden müssen und anerkannt werden, vor allem die
Ehre, bei der Leitung des Volkes eine Rolle spielen und auf diese Weise seine
Geschicke mit lenken zu können. Hohe Anforderungen find darum aber auch an
die Träger des Adels zu stellen; daß kein Unwürdiger ihn trägt, also daß er
keinem Unwürdigen verliehen wird, und daß er jedem Adligen, der sich der
Ehre unwürdig erweist, wieder genommen wird, dafür ist ernstlich zu sorgen.
Und da Edelzucht durch die Geschlechter hindurch, d. h. hohe Leistung mehrerer
Glieder einer Familie nacheinander, im allgemeinen höher zu bewerten ist als
das sporadische Emporsteigen eines Einzelnen, so wird es zwecks Pflege der
Familientradition vernünftig und auch nur billig sein, wenn man den Besitz des
Adels mehrere Generationen hindurch belohnt durch Verleihung eines höheren
Grades von Ehren. Kennen wir doch fünf Adelsgrade, vom niederen Adel
an bis zum Fürstenstande hinauf. Es kann nicht schwer halten, diesen ver¬
schiedenen Graden durch Abstufung der ihnen zuzubilligenden Vorrechte einen
geringeren oder größeren Wert zu verleihen. Das wäre dann in der Tat
Pflege wahrhafter Edelzucht. Wobei natürlich nicht ausgeschlossen bliebe, daß
ein besonders hohes Verdienst gleich durch Verleihung eines höheren Adelsgrades
belohnt wird. Auf diese Weise hätte man — nach menschlicher Möglichkeit —
die Gewißheit, daß unter dem Begriff des Adels sich wirklich die Würdigsten,
die Führer der Nation vereinigen. Und keine Scheidewand inhaltlosen Hoch¬
mutes und Neides könnte sie von der übrigen Welt trennen. Denn ihre Größe
wäre nicht losgelöst von der Allgemeinheit ihresVolkes, sondern nur eine Stichflamme
auf der Oberfläche eines Feuermeeres, die wieder zurücksinke in das allgemeine
Niveau, wenn die Kraft, die sie emportreibt und ihre Fähigkeit vervielfacht, sie
wieder verläßt. Und beugen würde sich jeder vor ihr, nicht innerlich wider¬
strebend vor Drohnengröße, sondern freudig und stolz vor der Größe des Ver¬
dienstes, das seine Krone trägt, eine Krone, die auch der eigenen Tüchtigkeit
winken kann.
Freilich wird, wer von hervorragenden Eltern geboren und erzogen und
auf den Höhen der Menschheit aufgewachsen ist, eher dazu befähigt sein,
über die Menge emporzuragen, als der Niedriggeborene; denn sich selbst den
Weg von den Tiefen zu den Höhen zu bahnen, das gelingt nur wenigen.
So muß man der Abstammung doch in gewissem Maße Rechnung tragen.
Es gälte also einen Weg zu finden, bei dem die Würdigung der eigenen
Fähigkeit im Vordergrunde steht und doch dem Moment der edlen Abstammung
bis zu einen: gewissen Grade Rechnung getragen wird. Vielleicht ließe sich das
auf die Weise erzielen, daß Kinder von Adligen stets einen Grad niedriger zu
stehen kommen als ihre Eltern, also Kinder eines einfach Adligen bürgerlich,
die eines Barons einfach adlig, die eines Grafen Barone usw. werden, solange
sie nicht die Voraussetzungen der höheren Stufe erfüllen. So würde das Ver-
dienst eines einfach Adligen nur für sich selbst, das eines Barons noch für seine
Kinder, das eines Grafen für zwei Generationen usf. reichen. Natürlich bedeutet
dieser Vorschlag ein Zugeständnis zugunsten der gegenwärtigen unerfreulichen Er¬
scheinung eines entwurzelten Adelspröletariats. Aber ich glaube, daß man
dem alten Wort: „Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser" bis zu
diesem Grade ohne große Gefahr seine Geltung belassen kann. Denn da auf diese
Weise nur beim Vorliegen höherer Adelsstufen Adlige ohne jedes eigene Ver¬
dienst geschaffen würden, so würde deren Zahl bei ordnungsmäßiger, durch
sichere Kautelen gewährleisteter Handhabung der ganzen Standesfrage nicht groß
sein. Außerdem bliebe für den Grundsatz der Bewertung der eigenen Leistung
auch für diese adligen Abkömmlinge, deren Adelsherrlichkeit schon in den nächsten
Generationen ein Ende finden kann, noch genügend Platz übrig.
Wäre es nun im Hinblick auf die bei uns bestehenden, oben kurz an¬
gedeuteten und wohl allgemein anerkannten Mißstände nicht angezeigt, eine
Umgestaltung unseres Adels nach den angeführten oder auch nach anderen,
jedenfalls die gegenwärtigen Übelstände beseitigenden Grundsätzen in die Hand
zu nehmen? Anregungen oder wenigstens Andeutungen nach dieser Richtung
sind schon wiederholt laut geworden. Ich verweise z. B. auf die Ausführungen
des Jndividualaristokraten Kurt Breysig über dieses Thema, die, wenn sie auch
noch nicht bis zum Stadium positiver Vorschläge gediehen sind, doch die Tendenz
nach einer Reform des Adels unter höherer Bewertung der persönlichen Leistungs¬
fähigkeit erkennen lassen. Ich denke ferner an einen Aufsatz von Oberstleutnant
v. Sommerfeld in Ur. 35 der Grenzboten, Jahrgang 1910: „Vom Adel in der
Armee und vom Adel überhaupt". Was der Verfasser über die gebührende Be¬
deutung und die Aufgaben des Adels ausführt, hätte hier fast wörtlich wiederholt
werden können. Freilich zieht er aus seinen Ausführungen nicht die allein
logische Folgerung, daß diese rein auf den Wert des einzelnen Menschen
zugeschnittenen Aufgaben sich mit der Reservierung des Adelsprivilegs für die
Angehörigen einer uns aus früheren, andersgearteten Zeitläuften überkommenen
Kaste nicht mehr zusammenreimt, und daß mit dem Adelsbegriff auch die Ein¬
richtung an sich einer Umgestaltung bedarf. Im Gegenteil, von einer Umgestaltung
will er durchaus nichts wissen. Er begnügt sich zur Hebung der bestehenden
Unzulänglichkeiten vielmehr damit, dem Adel Moral zu predigen und ein rück¬
sichtsloses Abstoßen aller schädlichen Triebe des heutigen Adels zu empfehlen.
Auf die Ermahnung zum Guten brauchen wir nicht weiter einzugehen. Und
die Abstoßung schädlicher Triebe? Der Laraeter mäelsdili8 des heutigen Adels
trägt allerdings wesentlich zur Förderung des Kastengeistes bei und müßte daher
bei einer Reform des Adels beseitigt werden. Glaubt Herr von Sommerfeld
wirklich, daß das bei heutigen Verhältnissen genügt, ja auch ohne weiteres
möglich ist? So wie heute die Verhältnisse liegen, da Avliger und Bürgerlicher
Menschen verschiedener Art sind, würde sich die bürgerliche Gesellschaft stark
dagegen sträuben, die entarteten Adligen bei sich aufzunehmen. Nein, dazu müßte
erst das Bürgertum in dem Adel Fleisch von seinem eigenen Fleisch sehen und
wirklich zu ihm emporblicken als zu einer Oberschicht, die die Wertvollsten aus
seiner Mitte enthält, und nicht zu ihm hinüberschauen wie in eine andere
Welt, die von ihm getrennt ist durch eine chinesische Mauer von historischen
Reminiszenzen, Anmaßungen und Vorurteilen. Das Rezept Sommerfelds ist
kein gutes; denn ihm mangelt das Quentchen sozialer Gerechtigkeit, dessen
Fehlen uns das Ragout der Adelsfrage heute so ungenießbar macht. Und
ohne dieses Quentchen dürste es in Zukunft nicht abgehen. Auf deutsch: man
wird wohl nicht.umhin können, den -Adel allgemach durch Beseitigung oder
Milderung der aus der Ständeverfassung überkommenen Abstammungstheorie
und größerer Berücksichtigung der eigenen Leistungsfähigkeit auf eine andere Grund¬
lage zu stellen, will man nicht bei dem heutigen gewaltsamen Aufwärts¬
dringen von Können und Haben Gefahr laufen, die Abkömmlinge der alten
Feudalität allmählich in die Rolle der letzten Azteken zu drängen. Es wird
sich also im wesentlichen darum handeln, die Zugehörigkeit zum Adel an gewisse,
genau zu bestimmende Voraussetzungen zu knüpfen, die in der Person des
Betreffenden vorliegen müssen, vielleicht in der Art, daß die Größen aller Zweige
unseres Volkslebens, also etwa der Landwirtschaft, der Industrie, des Handels, der
Wissenschaft, der Kunst, des Beamtentums, der Armee usw. den Edelsten der
Nation zugerechnet werden. Eine solche Einrichtung würde natürlich zur Folge
haben, daß, je immobiler das den Adel bedingende Erfordernis, desto sicherer
die Bewahrung des Adels innerhalb derselben Familie ist, so daß also der
bodenständige Landadel am besten abschneiden würde. Das dürste wohl aber
auch im staatlichen Interesse liegen.
Übrigens sind Beispiele einer Regelung der Adelsfrage, die den vor¬
stehenden Ausführungen in mancher Hinsicht Rechnung tragen, schon vorhanden.
Man denke z. B. an das englische System mit der Entadelung nachgeborener,
landflüchtiger Kinder, das allerdings durch Auswüchse aller Art fast in fein
Gegenteil verkehrt worden ist. Ja, auch in Preußen sind im Jahre 1840
mehreren Personen die Prädikate „Graf", „Freiherr" und „von" verliehen
worden, mit der Maßgabe, >daß diese Prädikate nur auf denjenigen unter den
Deszendenten übergehen, der in den alleinigen Besitz des väterlichen Grund¬
eigentums gelangt, ferner nur alsdann, wenn dieses ererbte Grundeigentum
das gegenwärtige oder mindestens dem letzteren an Umfang und Rechten gleich
und in der Monarchie gelegen ist, und nur für die Dauer dieses Grundbesitzes
gelten, mit dessen Verlust in der Person des letzten Besitzers aber erlöschen
sollen (Preuß. Staatsanzeiger 1840, Ur. 57). Ferner wurden in 'demselben
Jahre eine Anzahl Adelsprädikate mit der Bedingung erteilt, daß sie auf die
männliche und weibliche Deszendenz ersten Grades übergehen, in den weiteren
Graden aber nur insofern vererbt werden, als die Söhne des Begnadeten in
in den rittermäßigen Grundbesitz des Vaters sukzedieren oder selbst einen solchen
Grundbesitz im preußischen Staat erwerben (Preuß. Staatsanzeiger 1840. Ur. 287).
Hatte man damals schon das Gefühl, daß ein Adel ohne reale Voraussetzungen
ein Unding ist?--
Wie aber auch immer eine etwaige Revision der Adelsfrage gestaltet sein
soll, jedenfalls drängen heute die Verhältnisse darauf hin, und jedenfalls muß
es ihr Ziel sein, zu bewirken, daß diejenigen, die heute in dem längst ver¬
flogenen Schall und Rauch eines ehemals mehr oder weniger großen Namens
das^ einzige Mittel finden, um sich über ihre gleichgearteten Mitmenschen zu
erheben, nicht befugt sein sollen, die Kieselsteine in dem Strom unseres gesell¬
schaftlichen Lebens zu bilden und das Gift des Kastengeistes und der Exklusivität
zu nähren und zu verbreiten, das bei uns leider so wenig Widerstand findet
und so große Wirkungen ausübt.
ernhard Rudolf Abeken, der den Freunden der Goethe-Schiller-
Literatur wohlbekannte Philologe und Literarhistoriker, Oheini des
preußischen Diplomaten Heinrich Abeken, starb im Alter von
86 Jahren am 24. Februar 1866 als Direktor des Rats¬
gymnasiums seiner Vaterstadt Osnabrück. In seinem viele Jahr¬
zehnte hindurch sorgfältig geführten Tagebuch findet sich unterm 5. Juli 1846
folgende Bemerkung: „Da sich mein Leben zum Ende neigt, gewährt es mir
Interesse, die 66 Jahre mit ihren vielen merkwürdigen Begebenheiten 'vor
meinem Geiste vorübergehn zu lassen. Geboren während des Amerikanischen
Freiheits-Krieges (1780), zur Zeit Friedrichs II., fiel mein frühester bewußter
Blick in die Französische Revolution; dann Universitäts-Jahre in Jena während
dessen glänzender Periode (1799—1802) — in Berlin um die Zeit der Napo¬
leonischen Herrschaft (1802—8) — Weimar, wo Goethe und Wieland noch
lebten (1808—10). in Schillers Hause — Napoleon oft gesehn, in Berlin,
Erfurt, Weimar — Die Freiheits-Kriege - - In die Heimath zurück nach der
Schlacht bei Waterloo — Nach hergestellten! Weltfrieden Gährungen im Innern:
politische, religiöse, sociale". Begleitete Abeken die politischen Ereignisse seiner
Zeit auch mit lebhaftester Anteilnahme, so lag doch der Schwerpunkt seines
Interesses nicht, wie es nach dieser Tagebuchnotiz scheinen möchte, auf diesem
Gebiet, sondern auf dem der Ästhetik, insbesondere der Dichtkunst. Dante,
Cnlderon, Shakespeare, Goethe, diesem Viergestirn geistiger Größen war sein
unablässiges Studium gewidmet; Goethe trat mit deu Jahren immer mehr als
Zentralsonue herrschend in den Mittelpunkt seines inneren Lebens, dergestalt,
daß die Lieblingsbeschäftigung der stillen Stunden seines Alters ein Werk wurde,
dem er die sehr wohl passende Aufschrift gab .Goethe in meinem Leben'. Dieses
Werk sollte ein Dankopfer werden seiner Freude, daß die Natur ihn befähigt
hatte, ihr nachzudenken „den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich auf¬
schwang": Goethe; er schloß es ab mit dem Bekenntnis: „Welche menschliche
Schwächen und Fehler sich in seinem Leben kund geben mochten, — immer
blieb das Bild des für die großartigsten Zwecke ausdauernd thätigen Mannes
lebendig fest in mir und wird es bleiben; des Mannes, der nach Schellings
Ausdruck in allen inneren und äußeren Verirrungen der Zeit wie eine mächtige
Säule dastand, an der viele sich aufrichteten, wie ein Pharus, der alle Wege
des Geistes beleuchtete."
Zwanzigjährig, als Student, hatte Abeken im Septeniber 1800 Goethen
und Schillern in Jena bei Griesbachs persönlich kennen gelernt; 1308—10
lebte er als Hauslehrer von Schillers Söhnen in Weimar; und durch seine
1812 erfolgte Verheiratung mit Christiane v. Wurmb, einer nahen Verwandten
des von Lengefeldschen Hauses in Rudolstadt, wie durch seinen ununterbrochenen
Briefwechsel mit dem Calderon-Übersetzer Gries in Jena, blieb er, nach Osna¬
brück zurückgekehrt, doch dauernd in enger Verbindung mit Weimar, Jena und
Rudolstadt.
Abeken entwickelte neben der Ausübung seines Amtes als Gymnasiallehrer
eine reiche schriftstellerische Tätigkeit. Und auch bei dieser trat Goethe, die
Erforschung seines Lebens und seiner Werke, mit den Jahren immer mehr in
den Vordergrund. Schon einer seiner ersten Versuche auf dem literarhistorisch¬
kritischen Felde hatte das Glück, Goethes wärmsten Beifall zu finden; es war
die Anfang 1810 im Morgenblatt' anonym erschienene Besprechung des Romans
.Die Wahlverwandtschaften'. Goethe fand, daß der unbekannte Versasser, unter
dem man in Weimar eine Zeitlang Schelling vermutete, durchaus den „rechten
Fleck" getroffen habe, und versandte den durch Riemer besorgten Sonderabdruck
mit Vorliebe an seine Freunde. Das feinsinnige, von allem Schulmeisterlichen
freie, rein menschliche Wesen Abekens war es, das, in jener Besprechung voll
zum Ausdruck kommend, Goethen gewonnen hatte. Diese Vorzüge zeichnen
aber, mehr oder minder, alle Schriften Abekens aus und geben insbesondere
seinen beiden Hauptwerken zur Goethe-Literatur: dem 1845 erschienenen Schriftchen
.Ein Stück aus Goethes Leben' und dem umfangreichen Buche .Goethe in den
Jahren 1771 bis 1775' (1. Auflage 18K1, 2. 1865 erschienen) auch für die
Zukunft dauernden Wert. Goethes Wort über Winckelmann: „In der Gestalt,
wie der Mensch die Erde verläßt, wandelt er unter den Schatten", d. h. für
uns: in der Erinnerung der Menschen, es bewahrheitet sich an Goethe selbst;
die Nachwelt sieht, insbesondere sah die erste Generation nach 1832 Goethen
wesentlich als Greis im Silberhaar, als den Weisen, den Vollender des .Faust',
wie Eckermann ihn uns geschildert hat und Schwerdgeburths Zeichnung ihn
darstellt. Um so beachtenswerter und größer ist das Verdienst Abekens, daß
er, so viel ich sehe, als erster (nach Goethe selbst) den Versuch wagte, auf
Grund des damals vorliegenden Briefmaterials das Bild des „jungen" Goethe
zu zeichnen.
Auf die kleineren, Goethe und seine Zeit betreffenden Arbeiten Abekens kann
hier nicht näher eingegangen werden, ihre bloße Aufzählung würde einen großen
Raum einnehmen. Wie er selbst manche Briefe Goethes zum ersten Mal ver¬
öffentlicht hat (an Justus Mösers Tochter Jenny v. Voigts, an die Marquise
Branconi u. a.), so würdigte er die großen Briefwechsel Goethes mit Schiller,
mit Zelter, mit Knebel und das Briefbuch Kestners .Goethe und Werther' alsbald
nach deren Erscheinen in ausführlichen, gehaltvollen Besprechungen, ebenso die
Ausgabe letzter Hand von Goethes Werken, den Zweiten Teil des.Faust' und
Falls nachgelassene Schrift,Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt'.
Ob Abeken noch die Absicht gehabt hat, die reichen Schätze seiner Familien¬
papiere, seiner Autographen-Sammlung, seine Briefwechsel mit Freunden und
andere, zumeist aus der Goethe-Schiller-Epoche stammende oder auf sie sich
beziehenden Handschriften für eine Veröffentlichung zu verwerten, ist mir un¬
bekannt; jedenfalls ist er nicht dazu gekommen, und so blieb diese Aufgabe den
Besitzern seines Nachlasses anheim gegeben.
Leider ist dieser wertvolle litterarische Nachlaß in beklagenswerter Weise
zersplittert worden. Einen der wichtigsten Teile: die Briefe der Freunde Heinrich
Voß und Johann Dieterich Gries an Abeken, hat die Königliche Öffentliche
Bibliothek zu Dresden durch Kauf erworben; aus den Voß-Briefen hat zuerst
der Freiherr Woldemar von Biedermann einiges in sein großes Werk .Goethes
Gespräche' aufgenommen; sodann konnte ich selbst manches für mein Büchlein
.Goethe und Schiller in Briefen von Heinrich Voß' (Leipzig, Neclcnn ^1896^)
benutzen. Ein zweiter Teil: die Briefe von Heinrich Vossens Mutter Ernestine
an Abeken (der jetzige Besitzer ist mir unbekannt), sind von Friedrich Polle
1882/3 in den Programmen des Vitzthumschen Gymnasiums zu Dresden ver¬
öffentlicht worden. Ein dritter Teil: Abekens Autographen-Sammlung, befindet
sich im Besitz des Großkaufmanns Herrn Friedrich Broicher in London; aus ihr
hat Albrecht Wagner Briefe des Kanzlers von Müller an Abeken und anderes
bekannt gemacht (Beilage zur Allgemeinen Zeitung, München 1905 März 29/30,
Ur. 74/5; Euphorion 12, 435). Ein vierter Teil: Handschriften, auf Schiller,
dessen Familie und die Familie von Wolzogen bezüglich, bildet eine Abteilung
der Culemannschen Autographen-Sammlung im Kestner-Museum zu Hannover;
aus diesen Beständen hat Karl Ende 1905 (im Euphorion 12, 364) einige
Briefe veröffentlicht. Einen fünften Teil besitzt das Goethe- und Schiller-Archiv
zu Weimar als Geschenk der Frau von Olfers; und ein sechster Teil endlich
befand sich im Besitz des 1910 verstorbenen Schulrath Dr. Heuernrann in Osnabrück,
eines Großneffen Abekens.
Adolf Heuermann, der verdienstvolle Direktor der städtischen höheren
Mädchenschule und des Lyceums in Abekens Vaterstadt, mit dem ich vierzehn
Jahre lang in freundschaftlichem Briefwechsel und persönlichem Verkehr gestanden
habe, und dem ich für mannigfache literarische Förderung zu herzlichem Dank
»erpflichtet bin, hat aus dem in seinem Besitz befindlichen Teile des Abeken-
Nachlasses mehreres veröffentlicht: so 1893 im Osterprogramm Ur. 147 der ihm
unterstellten Mädchenschule Auszüge aus Abekens Briefen an Heinrich Voß, so¬
dann 1895 in der Festschrift zur dreihundertjährigen Jubelfeier des Rats¬
gymnasiums zu Osnabrück .Erinnerungen B. R. Abekens aus den beiden letzten
Jahrzehnten des vorigen und dem ersten dieses Jahrhunderts'. Leider sah sich
der an rastlose Tätigkeit Gewöhnte nicht nur durch seine umfangreichen Berufs¬
arbeiten, sondern auch durch ein langwieriges Augenleiden an der raschen
Förderung seiner literarischen Pläne gehindert, doch gelang es ihm noch, die
längstvorbereitete Herausgabe von Abekens schon genanntem Lieblingswerke .Goethe
in meinem Leben', durch reiche Beigaben vermehrt, zu bewirken; es erschien
1904 (Weimar, Hermann Böhlaus Nachfolger), und ich hatte die Freude, ihm
dabei die Mühe der Drucklegung und der Anfertigung des Registers abnehmen
zu können. Dieses, von der Kritik mit vieler Anerkennung aufgenommene Buch
ist auch dadurch wertvoll, daß es die Aufzeichnungen der Gespräche Schillers
mit Abekens späterer Gattin Christiane von Wurmb (die Caroline von Wolzogen
in ihrem Werke .Schillers Leben' mit willkürlichen Abänderungen herausgegeben
hatte) zum ersten Male in getreuem Wortlaut vorlegt.
Gern gestattete Heuermann auch anderen die Benutzung seiner Abeken-
Papiere. So konnte Werner Deetjen Auszüge aus Jugendbriefen Karl Immer-
manns an Abeken veröffentlichen (Hannoverland 1909, Oktober bis Dezember);
ich selbst durfte zu Schillers hundertjährigem Todestage jenes merkwürdige Blatt
faksimiliert vorlegen, auf dem Caroline von Wolzogen über Schillers letzte Tage
und Stunden berichtet (Privatdruck, Weimar 1905). Nach Heuermanns Tode
entschloß sich dessen Witwe, Frau Schulrat Luise Heuermann, in uneigennützigster
Weise, den handschriftlichen Abeken-Nachlaß ihres Gatten als Geschenk dem Goethe-
und Schiller-Archiv zu überweisen. Von der Stifterin mit der wissenschaftlichen
Verwertung desselben betraut, halte ich es für meine Pflicht, derselben den Dank
der Wissenschaft für diese wertvolle Schenkung hier öffentlich auszusprechen. Die
Papiere enthalten unter anderen,: Abekens Tagebücher, umfangreiche Teile der
Familien-Korrespondenz und andere Familienpapiere aus dem Ende des acht¬
zehnten und dem ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, sowie eine Fülle
von Briefen, unter diesen solche von Abeken selbst, von Graf Wolf Baudisstn,
Sulpiz Boisseröe, Griesbach, Immermann, Georg Kestner, Gustav von Loeper,
Luden, Prinzessin Marianne von Preußen, Elisa von der Recke, Fürstin Caroline
von Schwarzburg-Rudolstadt, Solger, Ernestine Voß, Caroline von Wolzogen
und anderen. Eine Auswahl dessen, was von allgemeinerem Interesse sein dürfte,
soll hier in zwangloser Folge vorgelegt werden.
Die leise Hoffnung, es möchte beim Ordnen der zum Teil in beträcht¬
licher Verwirrung befindlichen Manuskripten - Masse eines oder das andere Un¬
gedruckte der vier Weimarer Großen auftauchen, hat sich leider nicht, oder doch
nur in äußerst bescheidenem Maße erfüllt. Wieland ist der einzige, der mit
einem Briefe vertreten ist; da dieses besonders liebenswürdige Schreiben des
Sechsundsiebzigjährigen bisher nur unvollständig, ungenau und an sehr ab¬
gelegener Stelle veröffentlicht wurde (Zeitgenossen, Dritte Reihe I, 8, 54), so
möge es, wie billig, diese kleine Publikation eröffnen. Von Herder fand sich
gar nichts vor. Schillers Name leuchtete uns auf einem einzelnen Blatt über¬
raschend entgegen; es enthält, in Abschrift von unbekannter Hand, mit der
Bemerkung „Das Original im Besitz der Cottaischen Buchhandlung und noch
ungedruckt," mit der Unterschrift „10. Novbr. 1786. Friedrich Schiller", ein
mir bisher ganz unbekanntes, nicht betiteltes Gedicht von 7 Strophen, deren
erste lautet:
Da ich das Gedicht weder in der vortrefflichen, neuesten, historisch-kritischen
Ausgabe von .Schillers sämtlichen Werken' (herausgegeben von Otto Gürtler
und Georg Witkowski, Leipzig Max Hesses Verlag ^1910Z), noch in der Cottaschen
Säcular-Ausgabe fand — die Cottasche Buchhandlung teilte mir mit, das
Gedicht befinde sich nicht in ihrem Besitz —, glaubte ich schon, ein Jneditum
vor mir zu haben, bis Albert Leitzmcmn mir den Druck der Verse in Goedekes
Ausgabe 11, 430 nachwies; Goedeke hat sie, den Titel durch .Glaube' ergänzend,
als Ur. 6 in die Abteilung .Zweifelhafte und unechte Gedichte' aufgenommen und
bemerkt dazu (11, 420): „Ur. 6 wurde mir mitgeteilt jvon wem?^ und hatte
sich in Abschrift unter Briefen von Buchhändlern an Schiller gefunden. Ich
halte es für unecht. Das Gedicht scheint ein Gegenstück zu Armbrusters
Schilderung des menschlichen Lebens („Wahrlich, wahrlich, arme Jammersöhne z
Sind wir höchst gepriesne Herrn der Welt —") zu sein." Die Tatsache, daß
das Gedicht in den genannten, neuen Gesamtausgaben fehlt, beweist, daß deren
Herausgeber es mit Goedeke für unecht halten; wenn ich mich dieser Ansicht
auch nicht unbedingt anzuschließen vermag, so möchte ich doch, mit Rücksicht
auf das Urteil jener Spezialforscher, einen Wiederabdruck an dieser Stelle
unterlassen, würde es aber für nicht mehr als billig halten, wenn man, wie
bei Goethes Gedichten geschieht, in wissenschaftlichen Gesamtausgaben von
Schillers Werken auch den wenigen zweifelhaften oder von einzelnen Forschern
als unecht betrachteten Gedichten einen Platz gönnte/')
Als bescheidenen Ersatz für dieses preisgegebene Gedicht Schillers möge man
die zum Schluß mitgeteilten Bruchstücke eines unbekannten Gelegenheitsgedichtes
von Goethe hinnehmen, die Abeken seinem ehemaligen Studiengenossen, dem
Justizcommissartus F. C. Krause in Berlin brieflich mitteilt,
Wieland an Friederike Juliane Griesbach, geb. Schütz.")
Weimar, den 29sten Juli 1809.
Ich kann mir die Befriedigung nicht versagen, Ihnen, wiewohl mit zitternder
Hand, für den herrlichen Brief, den unsere Luise"") so eben von Ihnen erhalten
hat, meinen innigsten Dank so warm, als er nach Lesung desselben aus meinem
Herzen kömmt, darzubringen. — Die Wohlthat, die Sie meinem für alles Gute
empfänglichen Liebling dadurch erwiesen haben, ist größer, als ich Ihnen
beschreiben oder Sie sich selbst vorstellen können: denn ganz gewiß wird sie
jedes Wort dieses liebevollen Briefs in ihrem stillen Herzen wie ein Heiligthum
bewahren — und dieß um so mehr, da er zugleich ein so schönes Denkmal —
der Liebe und Achtung ist, deren Sie die unvergeßliche Mutter""") und den Vater
des guten Mädchens gewürdigt haben. — Doch ich muß abbrechen, mein Herz
ist zu voll, als daß ich nur den kleinsten Theil dessen, was ich fühle und Ihnen
so gern sagen möchte, zu Worte bringen könnte; aus eben dieser Ursach will
ich Ihnen anch mein dankbares Verlangen — Sehnsucht hätt' ich sagen sollen —
vor Ihre gütige Einladung in Ihr Elysium (das ist es im eigentlichsten Sinn
des Worts für mich) Gebrauch zu machen, nicht durch Worte, sondern dadurch
zu beweisen, — daß ich mich so bald nur möglich wieder in die Arme meiner
geliebtesten Freunde werfe — denn wahrlich! meine ganze Seele sehnt sich,
wieder bei und mit Ihnen, theure Freundin! und mit Ihrem und meinem
Griesbach zu leben, Ihm, in welchem ich einen Bruder liebe und — obschon
ich sein ältrer bin, einen Vater verehre —. So bald die seit einigen Tagen
sehr veränderliche Witterung einige anhaltend schöne heitre Tage hoffen läßt —
wird Ihnen die Wahrheit dieses Verlangens durch seine persönliche Erscheinung
beweisen
N.S. Alles soll so eingerichtet werden, wie Sie in Ihrem Brief an Luise
angeordnet haben — ich komme mit unserer guten Schorchten*), die ich dadurch
glücklich mache, und der Wagen, der uns von Jena zurückbringt, soll Ihnen
Ihre treuliebende Tochter Luise Wieland zuführen.
Tausend herzlichen Gruß an alle, die Ihnen mit Leib und Seele, Geist
und Herzen angehören.
Darf ich, theuerste Freundin! meiner eigennützigen Zusage noch eine kleine,
aber ernstlich gemeinte Bedingung anhängen? so ist es diese: mich künftig nicht
mehr wie einen vornehmen Gast — Mitglied der Ehrenlegion und des Sanct-
Annen-Ordens, Ritter von der 2ten Classe pp. pp., sondern wie ein ordent¬
liches Mitglied Ihres Hauses zu betrachten und zu behandeln wie einen
alten Hausfreund und Spiritus kamiliaris, der sich's in den Kopf gesetzt hat,
daß alle Decorationen, womit ihn alle Scheichs, Sultane, Kaiser und Selbst¬
herrscher der Welt beehren können — tief unter der Ehre sind, von Ihnen
unter die Ihrigen gezählt zu werden, und als solcher mit Ihnen zu leben
und zu weben.
Luise bittet um Entschuldigung, daß sie erst morgen schreiben kann —
heute wurde sie durch eine musikalische Lehrstunde daran gehindert.
Abeken an Krause. 1810 April 8. Weimar.
Da fällt mir ein Gedicht in die Hände, was Göthe vorige Woche zum
Geburtstage gemacht hat. Hier ein paar Strophen:**)
Welche schöne Tmesis! —
elgien wird durch seine von den Mächten gewährleistete Neu¬
tralität in ganz eigenartiger Weise in bezug auf die Anordnung
seiner Landesverteidigung beeinflußt. Diese Gewährleistung be¬
deutet keineswegs eine Entlastung des Landes von der Sorge
um seine Sicherheit, legt ihm vielmehr neben den nationalen auch
internationale Pflichten auf und beschränkt bis zu einem gewissen Grade seine
Selbständigkeit. Die 1831 in London versammelten Diplomaten erklärten, daß
Belgiens Neutralität aufhören werde, ein Element der Sicherheit für seine
Nachbarstaaten zu sein, wenn es nicht in der Lage sein werde, ihr selbst Achtung
zu verschaffen. Auch Moltke sagt, der eigene Widerstand sei die Hauptsache,
„denn die fremde Hilfe wird nur in dein Maße erfolgen, als das unmittelbare
Interesse der Garanten dabei beteiligt ist**)." Allerdings fordert das Völker¬
recht auch von jedem anderen nur in einem bestimmten Kriegsfalle neutralen
Staate, daß er „sich jeder aktiven Unterstützung einer der kriegführenden Par¬
teien, selbst jeder nur mittelbaren", enthält, und spricht bei jeder Verletzung
dieser Pflicht, gleichviel ob aus Absicht oder aus Schwäche, der geschädigten
Macht das Recht zu, „ihn ohne Kriegserklärung feindlich zu behandeln***)."
Jene Erklärung im Londoner Kongreß schließt aber außerdem noch gewisser-
maßen einen Anspruch auf Kontrolle der Maßnahmen Belgiens zur Landes¬
verteidigung ein. Auch liegt es auf der Hand, daß die belgische Regierung
darauf angewiesen ist, die Erregung von Mißtrauen seitens der Nachbarn durch
einseitige Anordnungen zu vermeiden.
In der ersten Zeit wurde versucht, die vorhandenen zahlreichen alten Be¬
festigungen zur Verteidigung auszunutzen. Eine besondere Bedeutung beanspruchte
von jeher Antwerpen, das bei der Abtrennung des neuen Königreichs von den
Niederlanden im Jahre 1832 durch die Franzosen im Einverständnis mit den
Engländern für Belgien erobert worden war, ein außerordentlich merkwürdiger
Fall, weil gerade diese beiden Mächte früher so ernst um diesen Platz gestritten
hatten und auch in der Folge das Auge darauf gerichtet behielten. Durch ein
Gesetz vom 8. September 1359 wurde die bereits seit acht Jahren ernstlich
geplante Neubefestigung Antwerpens als große zentrale Stellung beschlossen.
Die Schaffung eines solchen verschanzten Lagers konnte nicht ohne Einfluß auf
die Organisation des kleinen Heeres bleiben; es mußte, abgesehen von den
Besatzungen der unbedeutenden Festungen, in zwei Teile geteilt werden: die
mobile Armee und die Armee von Antwerpen. Erstere trat dann während des
deutsch-französischen Krieges 1870/71 als Observationsarmee an der Grenze auf.
Die Kriegsstärke ist von 80000 Mann immer mehr angewachsen und betrag:
seit 1908 (nach dem /mnuaire 8tali8tiqus as öelAique von 1910) 173 681
Köpfe, wovon 102 509 (einschließlich 2713 Offiziere) auf die Feldarmee kommen.
Das Militärbudget war von dem vor 1853 festgestellten „Maximalbudget" von
25 Millionen Franken für 1910 bereits auf 56 630291 Franken gestiegen —
ausschließlich der Kosten der großen Festungsbauten*).
Antwerpen beherrscht die untere Scheide und verwehrt einer feindlichen
Flotte das Einlaufen in belgisches Gebiet und das Landen von Truppen, selbst
wenn die Niederlande die Fahrt durch die Wester-Scheide nicht hindern sollten.
Beide Ufer beherrschend, ist es außerdem eine Manövrierfestung im größten
Stile, die einer in ihr verschanztes Lager aufgenommenen Armee volle Be¬
wegungsfreiheit nach drei Seiten gewährt. Von der offenen Südgrenze liegt
es nur unerheblich weiter als von dem durch die Maaslinie gegen Süd-Süd-Ost
gebildeten Abschnitt. Zu der hohen militärischen Bedeutung kommt der große
wirtschaftliche Wert des Platzes, bedingt durch einen lebhaften See- und Binnen¬
schiffahrtsverkehr. Im Jahre 1909 kamen zu See 6770 Schiffe mit 10758114
Registertonnen ein (gegenüber 12657000 Registertonnen in Hamburg**). Sehr
frühzeitig wurde die Wichtigkeit Antwerpens erkannt, von niemand aber
mehr gewürdigt als von Napoleon, der den Hafen für eine Kriegsflotte aus-
baute. In seinen Händen bildete der Platz nunmehr eine ständige Bedrohung
Englands, eine, wie er selbst es nannte, „gegen das Herz Englands gerichtete
geladene Pistole". Darum richteten die Engländer ihr Augenmerk auf Ant¬
werpens Eroberung. Ihre 1809 zunächst gegen die Insel Walcheren gerichtete
Unternehmung mißglückte. 1814 griffen sie den Platz an, mit der aus¬
gesprochenen Absicht, den dort befindlichen Teil der französischen Flotte zu zer¬
stören; diese lediglich ein englisches Sonderinteresse verfolgende Verwendung der
Kräfte diente nicht der schnellen Erreichung des gemeinsamen Endzieles der Krieg¬
führung der Verbündeten. Für England geöffnet wird Antwerpen zum Brückenkopf
für eine Invasion auf dem Kontinent und zur Basis für weiteres Vordringen
nach beliebiger Richtung. Jede Trnppenmacht, die durch Belgien marschieren
will, muß mit dem verschanzten Lager rechnen, gleichviel ob sie über See kommt
oder die Landgrenze überschreitet; immer wirkt es als Flankenstellung, voraus¬
gesetzt, daß es ein mobiles Heer beherbergt. Voraussetzung hierfür war wieder
der Bau detachierter Forts in weitem Umfange. Der große Ingenieur Brialmont
fand hier ein weites Feld zur Verwirklichung seiner Gedanken. Um Zersplitterung
der Kräfte zu vermeiden, mutzte eine Einschränkung der Zahl der alten kleinen
Befestigungen mit dem Ausbau des großen Platzes Hand in Hand gehen. Die
Maaslinie wollte man nicht aufgeben; schon in den letzten siebziger Jahren
entschied man sich für die Erhaltung der Zitadellen von Lüttich und Namur.
Außerdem verblieben die Festungen Termonde an der Dendre und Diest an
dem Deiner bestehen. Für den Ausbau von Lüttich und Namur wurden schon
1887 beträchtliche Mittel bewilligt. Sie sollten keine zusammenhängende Um-
wallung erhalten und auch nicht zu verschanzten Lagern ausgestaltet werden,
sondern zu strategischen Brückenköpfen, Sperren der großen Bahnlinien Paris—
Charleroy—Aachen—Cöln und Luxemburg—Brüssel und Antwerpen, sowie zu
„Manöverpivots". 1891 war der Bau soweit vorgeschritten, daß die alten
Zitadellen aufgegeben werden konnten. Sehr bemerkenswert ist eine Äußerung
Moltkes über diese Anlagen in einem Gespräche mit dem belgischen Oberst
Lahure*): „In den Bedingungen, in welchen sich die belgische Armee befindet,
werden sämtliche Kräfte, welche sie zu mobilisieren vermag, von Anfang an
durch die Befestigungen in Anspruch genommen werden. Es wird keine Feld¬
armee geben oder eine äußerst geringe. Und doch sind es die Feldarmeen,
welche das Schicksal und die Ehre der Staaten mehr entscheiden als die be¬
festigten Stellungen. Die Befestigungen an der Maas werden für Belgien
solange eine Last sein, als es nicht 70000 Mann mehr mobilisieren kann. Und
es wird dies nur bei Rekrutierungseinrichtungen zu tun vermögen, die unserer
Epoche entsprechen." Seit.1906 wandte man den Maasfestungen noch erhöhte
Aufmerksamkeit zu. Die artilleristische Armierung für eine mobile Verteidigung
wurde verstärkt, und das Vorschieben von Befestigungen mehr nach der Grenze
zu wurde in Vorschlag gebracht. 1910 löste man die 9. Jnfanteriebrigade
(die 8 anderen sind zu je 2 in Armeedivisionen vereint) auf und überwies
schon im Frieden je eins ihrer Regimenter (zu Z aktiven und 1 Neservebataillon)
Lüttich und Namur nebst je einen: halbaktiven Festungs-Pionierbataillon. Außer¬
dem gehören zur Besatzung je 2 Festungs-Jnfanteriebataillone, und an Festungs¬
artillerie zu Lüttich 4 Bataillone (mit 12 aktiven, 4 Reserve- und 1 Depot¬
batterie), zu Namur 3 Bataillone (mit 9 aktiven, 3 Reserve- und 1 Depot¬
batterie). Die beabsichtigte Neubefestigung von Termonde mit vier Forts wurde
wieder aufgegeben und die Schleifung der alten Werke beschlossen.
Auch zum Umbau Antwerpens entsprechend den modernen Anforderungen
entschloß man sich im Jahre 1900: Beseitigung der Umwallung; ihr Ersatz
durch die Brialmontsche Fortlinie — die alten Forts 1 bis 8 sollten durch
Eisengitter verbunden werden und so eine Umfassung von 45 Ku Umfang
bilden; Herstellung eines neuen Gürtels, bestehend aus schon vorhandenen fünf
Forts und drei Zwischenwerken, sowie aus um zu bauenden elf Forts und
zwölf Zwischenwerken. Dieser Gürtel soll auf dem rechten Scheide-Ufer den
alten in einem Abstände von 4 Ka im Norden bis zu 12 Ka im Süden mit
einem Umfange von 100 Ku umgeben. Auf dem linken Ufer ist vorläufig
nur die Ausführung von zwei Forts und zwei Zwischenwerken von den ge¬
planten sechs bzw. fünf beabsichtigt; eins dieser Forts war bereits 1909 vollendet.
Die Bauzeit wurde 1909 auf 39 Monate festgesetzt. Dazu wurden bereits
1906 und 1907 etwa 50 Millionen Franks bewilligt, wozu noch 15 Millionen
aus dem Verkauf der alten Festungsgelände von Antwerpen und Termonde
kommen. Für Ausrüstung und Munition sollen außerdem 32 Millionen in
Aussicht genommen sein. Die Gesamtkosten dürfen auf 100 Millionen geschätzt
werden. Die Besatzung des äußeren Fortgürtels wird auf mindestens 80000
Mann berechnet. Da aber die Maaslinie 30000 Mann bedarf*) und die
Feldarmee mindestens 100000 Mann stark sein soll (nach dem Etat sogar
stärker), so fehlen bei einer Gesamtstärke von rund 180000 Mann noch 30000
Mann an der Besatzung der äußeren Forts, während für die innere Linie und
zur Reserve nichts bleibt. Man sieht, wie sehr Moltke Recht behielt. Die
dauernde Fesselung wenigstens eines Teils der Feldarmee in Antwerpen ist
unter diesen Umständen unvermeidlich. Mit alledem ist noch nichts zum un¬
mittelbaren Schutze der Küste zwischen der niederländischen und französischen
Grenze geschehen; eine Flotte fehlt bekanntlich. Ob ernstlich 5Alstenbefestigimgen
in Aussicht genommen sind, ist nicht bekannt. Eine englische Landung kann
hier bei der Unfreiheit der Feldarmee nicht verhindert werden.
Die sonnt stets wachsenden Anforderungen an die militärischen Rüstungen
des Landes mit der garantierten Neutralität können mit größerem Rechte als
eine „Schraube ohne Ende" bezeichnet werden als die entsprechenden Forte-
rungen in Ländern, die ganz auf eigenen Füßen stehen. Jene Neutralität hat
auch mich eine andere Schattenseite, auf die man in der gleichfalls neutralen,
auf ihre Unabhängigkeit und Wehrhaftigkeit mit Recht stolzen Schweiz bereits
aufmerksam zu werden anfängt. Der eidgenössische Oberstkorpskommandant und
Chef der Generalstabsabteilnng v. Sprecher äußerte sich hierüber in einem im
Frühjahr 1910 in Bern vor einer Versammlung von Offizieren gehaltenen sehr
bemerkenswerten geistvollen Vortrage^): „Es hat wohl Zeiten gegeben, wo die
Defensive als leitendes Prinzip unserer Landesverteidigung hingestellt wurde,
und es ist nicht zu bestreiten, daß die besondere Art der Neutralität unseres
Landes uns den Zugang zur Offensive erschwert. Trotzdem dürfen wir nicht
zweifeln, daß im gegebenen Momente, und wenn die Not es gebietet, die Mittel
sich finden werden, eine Wohltat, die zur Plage geworden ist, zurückzuweisen,
eine schädliche und unleidliche Fessel zu sprengen und diejenige Strategie zu
ergreifen, die unseren guten militärischen Überlieferungen und, wie wir glauben,
auch heute noch dem Geiste und Charakter unseres Volkes entsprechen, und die
allein uns die Aussicht eröffnen, mit Ehren zu bestehen."
In Belgien gestattet die Lage nicht, so mannhafte Zukunftspläne anzudeuten,
indessen läßt sich doch erkennen, daß mau dort in weiten Kreisen die Unerträg-
lichkeit der Fortdauer des gegenwärtigen Zustandes empfindet. Anfang November
dieses Jahres hat nämlich die Redaktion des „Le soir", des „meistgelesenen
Blattes Belgiens", eine Umfrage über die Landesverteidigung veranstaltet. Die
auch dem Verfasser, der sonst keinerlei Beziehungen zu jenem Lande hat, zu¬
gegangene „ausschließlich objektive" Fragestellung ist für das bezeichnend, was
man als Bedürfnis fühlt, und erscheint geeignet, unser Interesse in Anspruch
zu nehmen, wenn auch die positive Beantwortung nicht unsere Sache ist. Der
Fragebogen lautet in Übertragung aus dem Französischen:
„Zur Verteidigung Belgiens.
Voraussetzungen:
1. Ein Land wie Belgien mit einem Flächenraum von ungefähr 30000
Quadratkilometer, mit einer Bevölkerung von über sieben Millionen Einwohnern,
übervölkert im größten Teile seiner Ausdehnung (ein nördlicher Streif von
25 Ka Breite macht allein eine Ausnahme) und durchzogen von äußerst zahl¬
reichen Wasser- und Landverbindungswegen.
2. Dieses Land muß sich infolge internationaler Verträge im Falle einer
Verletzung seines Territoriums auf eine defensive Haltung beschränken.
3. Auf beiden Ufern jedes der beiden großen Flüsse (Scheide und Maas),
die das Land in ziemlich parallelen Richtungen durchströmen, so daß zwischen
ihnen eine Region mit fast ebenem Gelände und großer Wohlhabenheit in einer
Breite von 80 Ka verbleibt, ist ein Festungssnstem hergestellt.
4. Dieses Festungssystem bildet ein Dreieck. An seiner Spitze befindet
sich ein ausgedehntes verschanztes Lager (Antwerpen) zu beiden Seiten des
einen der beiden großen Wasserläufe (Schelde). Die Basis des Dreiecks bildet
der andere Strom (Maas) mit 40 Ku seines Laufes zwischen zwei starken
Brückenköpfen (Lüttich und Namur).
5. Die Werke sind nach den Regeln der Kunst gebaut, stark armiert und
mit Munition und dem zur Verteidigung erforderlichen Material versehen.
Folgende Werke (vgl. die Skizze) sind vorhanden:
Verschanztes Lager (Antwerpen).
1. Brückenkopf (Lüttich).
7 große und 5 kleine Forts in einer Entfernung von 7 bis 8 Ku vom Platze.
2. Brückenkopf (Namur).
5 große und 4 kleine Forts in einer Entfernung von 5 bis 8 Ka vom Platze.
6. Die Entfernung zwischen den am weitesten vorgeschobenen Werken des
verschanzten Lagers (Antwerpen) einerseits und den am weitesten vorgeschobenen
des nächsten Brückenkopfs (Namur) beträgt 65 bis 70 Ku.
Unter diesen Voraussetzungen sind zu veranschlagen:
1. Die zur Verteidigung der Werke und ihrer Zwischenräume erforder¬
lichen Kriegsstärken jeder Waffe und jedes Dienstzweiges:
2. Die für die mobile Besetzung eines jeden dieser festen Plötze erforder¬
lichen Kriegsstärken,
3. Die zur Bildung eines Feldheeres, das in Verbindung mit den ge¬
nannten festen Plätzen operieren soll, nötigen Kriegsstärken.
4. Die Friedensstärke eines jeden dieser grundlegenden Elemente der
nationalen Verteidigung."
Mit anderen Worten: es wird die Berechnung der durch die vorhandenen
Befestigungen bedingten Heeresstärke in allen Einzelheiten, sowie der Stärke
gefordert, die danach die Friedcnskadres haben müssen. Ob das seit 1909
gültige Wehrgesetz zur Aufbringung einer solchen Stärke genügt, kommt dabei
nicht in Froge, auch nicht, ob die belgische Bevölkerung der sich ergebenden
Anforderung wirtlich gewachsen sein wird. Die Küstenverteidigung (abgesehen
von Antwerpen) findet keine Erwähnung, vielleicht aus zarter Rücksicht auf
England. Dagegen ist auf einer zweiten (hier nicht wiedergegebenen) Skizze
der harmlose deutsche Übungsplatz Elsenborn als „Lsmp" besonders bezeichnet,
wie er ja auch schon in der ausländischen Presse als angeblich gefahrdrohend
gespukt hat. Um den objektiven schulmäßigen Charakter der Fragestellung zu
wahren, wurden die Namen der Orte und Ströme fortgelassen*), obwohl
die letzterwähnte Skizze jeden etwaigen Zweifel beseitigt. Bemerkenswert ist
endlich die eingeschränkte Zahl der Antwerpener Außenforts. Man wird daraus
Schlüsse auf den gegenwärtigen Stand der Befestigungsarbeiten ziehen können.
Die Umfrage stellt sich als völlig private Veranstaltung eines politischen
Blattes dar. Die gewählte Form rein wissenschaftlicher Erörterung läßt die
Absicht vermuten, der eigenen Regierung zu nützen und ihr keine Schwierig¬
keiten zu bereiten. Der leitende Gedanke scheint die Erkenntnis zu sein, daß
Befestigungen ohne die Möglichkeit einer aktiven Verteidigung keinen Wert haben.
Vielleicht erinnerte man sich an Moltkes Ausspruch. Die Beantwortung der
gestellten Fragen erfordert Kenntnis aller einschlägigen Verhältnisse des Landes,
sie kann nicht einfach rechnungsmäßig erfolgen. Die Einzelheiten der Lösung
werden keine internationale Bedeutung gewinnen, wohl aber, falls die Regierung
an diese Anregung anknüpfen sollte, die Entscheidung, ob jener leitende Gedanke in
die Praxis übersetzt werden soll. Teutschland kann mit einer Stärkung der belgischen
Wehrkraft, solange sie keine einseitige Richtung annimmt, nur einverstanden sein.
An seine Schwester.
Peking, den 12. Februar 1898.
Am Dienstag machte ich eine recht interessante Exkursion nach einen: großen
außerhalb der Stadt gelegenen taoistischen Tempel, Po-nur-tuam geheißen. Es
war dort gerade ein großes Tempelfest, verbunden mit einer Art Jahrmarkt.
Herr sah. von der russischen Gesandtschaft hatte sich mir angeschlossen. Nach
einem Ritt von ungefähr dreiviertel Stunden war das Ziel erreicht. Der Tempel
besteht aus einer großen Anzahl von Gebäuden, die durch Höfe und Garten¬
anlagen voneinander getrennt sind. Das Ganze nimmt ein sehr umfangreiches
Grundstück ein, das von einer Mauer umgeben ist. Es befinden sich dort außer
Tempel- und Priesterwohnungen auch noch Logierhäuser, wo fromme Besucher
des Tempels nächtigen können. In diesen herrschte ein buntes Leben, denn
die bevorstehende Nacht hatte viele Besucher angelockt. Das Tempelfest danert
nämlich mehrere Tage lang, und in der Nacht, die auf den letzten Tag (an
dem wir gerade da waren) folgt, bleibt der Tempel ununterbrochen geöffnet
und ist festlich mit bunten Lampen illuminiert. In dieser Nacht pflegt stets
eine der taoistischen Gottheiten in menschlicher Gestalt in der Menge zu erscheinen,
infolgedessen ist die Spannung und Aufregung der Anwesenden immer sehr groß.
Vor einigen Jahren soll dort, wie mir ein Chinese erzählte, in jener Nacht
plötzlich ein Bettler von abschreckender Häßlichkeit aufgetaucht sein, der, eine
kleine Schale in der Hand, um Almosen bat. Fast jeder gab ihm eine Kleinigkeit,
aber so viel man auch gab, wurde der Napf, trotzdem er so klein war, nicht
voll. Das fiel manchen auf, aber ehe sie die Sache genauer untersuchen konnten,
war der rätselhafte Bettler plötzlich spurlos verschwunden. Danach unterlag
es natürlich keinem Zweifel, daß er kein anderer war als einer der sogenannten
acht Genien namens Li T'ich-kuai, der immer als hinkender Bettler dargestellt
wird. Welche Gottheit den Tempel dies Jahr mit ihrem Besuch beehrt hat,
habe ich noch nicht erfahren können. Übrigens waren nur dort die Menschen
fast noch interessanter als die Götter. Ich hatte noch nie vorher in China eine
solche Menschenmenge beisammen gesehen. Es mögen innerhalb des eigentlichen
Tempelreviers gewiß an zehn- bis zwanzigtausend Menschen gewesen sein, und
wir beide waren die einzigen Europäer unter all den Chinesen, hatten auch
keinerlei Begleitung mit. Und dennoch war uns dabei selbst im ärgsten Ge¬
dränge nicht einen Augenblick auch nur im mindesten unheimlich zumute. Wir
gingen so ziemlich in alle Tempel hinein und wurden überall von den Priestern
in zuvorkommendster Weise empfangen. In jedem Tempel, den wir betraten,
boten uns die Priester Tee an und nötigten uns zum Sitzen. Einer der
Priester meinte sogar, als wir das Anerbieten dankend ablehnten, wir sollten
doch seinen Tee einmal kosten, das sei öden-hier es'a-ne, „Göttertee." Du siehst
daraus, daß es in chinesischen Tempeln sehr gemütlich zugeht: an den Altären
werden die Götter gespeist, und an den Tischen daneben die Menschen. In
den einzelnen Höfen standen zahllose Verkäufer umher, die allerhand Spielsachen
und Naschwerk feilboten. In einem der Höfe waren zwei von einer Marmor¬
brüstung umrahmte trockene Bassins. In jedem derselben hing in einer Mauer¬
nische eine große chinesische Münze aus vergoldeter Pappe, die, wie alle chinesischen
Kupfermünzen, ein viereckiges Loch in der Mitte hatte, und in diesem Loch hing
eine kleine Glocke. Die zahllosen Menschen, besonders auch Kinder, die die
Marmorbrüstung umdrängten, warfen mit Kupfermünzen nach jener Glocke und
wer sie traf (ein Fall, der in meiner Gegenwart nicht eintraf), hatte dafür die
Freude, sie erklingen zu hören. Die Münzen bleiben natürlich auf dem Boden
des Bassins liegen, und dieses kindliche Spiel ist bei all seiner Harmlosigkeit
gar kein so übles Geschäft für die Priester. Einer der Priester sah von seinem
Tempel aus, daß wir gern an das Bassin herantreten wollten, uns aber nicht
hindurchdrängen konnten; da kam er hinzu und bat die Leute, uns doch Platz
zu machen, was auch sofort geschah, worauf der Priester uns höflich aufforderte,
näherzutreten und sich dann mit einem Gruß entfernte. Ich habe überhaupt
noch keinen unhöflichen Chinesen zu sehen bekommen.
Auf dem Rückwege begegneten wir einer geradezu unübersehbare« Menschen¬
menge, die nach dem Tempel unterwegs war, und im Tore, das in die Chinesen¬
stadt führt, gerieten wir mit unseren Eseln derart ins Gedränge zwischen zahl¬
losen Karren, Pferden, Eseln, Fußgängern, Lastenttägem aller Art usw., daß
ich meine Füße, da sie nicht in die Tasche gingen, auf den Sattel legen und
gewissermaßen mit untergeschlagenen Beinen sitzen mußte. Es dauerte wohl
eine gute halbe Stunde, bis wir aus dieser drangvoll fürchterlichen Enge befreit
waren. Aber die enge Gasse zu passieren, durch die wir jetzt hindurch mußten,
war auch mit einiger Lebensgefahr verbunden. Der Staub dabei war geradezu
entsetzlich, und ich brachte die ganze nähere Umgegend Pekings in Nase, Ohren,
Augen, Mund und Lungen mit nach Hause.
Aber interessant war es doch, und nicht minder interessant der Ausflug,
den ich gestern mit einigen Herren von der russischen Gesandtschaft nach dem
berühmten Lamatempel Jung-ho-kung unternahm. Dieser Tempel ist Europäern
so gut wie unzugänglich, höchstens gegen schweres Geld (neulich wurden
25 Dollars für eine Person verlangt) wird man hineingelassen und dann in
solcher Hast hindurchgejagt, daß man nichts zu sehen bekommt. Die nahezu
tausend Lamas, die in dem zum Tempel gehörenden Kloster wohnen, meist
Tibetaner und Mongolen, sind ein wahres Ränbergesindel, und es ist, wenn
Europäer auf eigene Faust hineinzubringen suchten, schon manchmal zu einer
regelrechten Schlägerei gekommen.
Der verstorbene Bruder des hiesigen russischen Postmeisters Gombojew war
als „lebender Buddha" und geistliches Oberhaupt der chinesischen Lamaisten
seinerzeit zugleich das Oberhaupt dieses Tempels (Gombojew ist nämlich Mon¬
gole von Geburt). Dadurch hat auch der Postmeister, obwohl selber Christ,
noch mancherlei persönliche Beziehungen zu den dortigen Lamas, und da gerade
jetzt ein mongolischer Lama als Gast in seinem Hause logiert, so wurde der¬
selbe gebeten, uns den Besuch des Uung-ho-kung zu vermitteln. So wurden
wir denn dort als Gäste mit größter Zuvorkommenheit empfangen und zuerst
mit mongolischein Ziegeltee und allerhand Naschwerk, das gar nicht so übel
schmeckte, bewirtet. Der Tempel selbst war ursprünglich der Palast des Kaisers
Uung-cheng (1722 bis 1732) und wurde von dessen Nachfolger, dem großen
K'im-lung, in einen Tempel umgewandelt. Er besteht aus einer ganzen Anzahl
großartiger Bauten, eine immer schöner als die andere, und alle, wie das
immer bei kaiserlichen Bauten der Fall, mit gelben Kacheln gedeckt. Diese
Tempel bergen einen derartigen Reichtum der herrlichsten Kunstwerke — Cloi-
sonnss, Bronzen, Schnitzereien, Gemälde — aus der Blütezeit der chinesischen
Kunst, daß man nicht aus dem Staunen herauskommt. Als die Lamas merkten,
daß ich nicht nur Chinesisch, sondern auch Mandschu, Mongolisch und Tibetisch
lesen konnte, waren sie natürlich nicht wenig erstaunt und wurden nur um so
liebenswürdiger. Das war wirklich ein Genuß, um den mich manche der
hiesigen Europäer beneiden können.
Von dem Uung-ho-kung ritten wir nach dem Pei-tuam, der russischen
Mission, um dem Archimandriten einen Besuch abzustatten. Dieser, ein noch
junger, fein gebildeter Mann mit einem klassisch schönen Johanueskopf, empfing
uns sehr freundlich und stärkte uns mit vorzüglichem Tee. Er war früher
Rektor des Petersburger Priesterseminars und ist erst seit einem Jahre hier.
Zu tun hat er nichts und bekommt dafür 20000 Rubel jährlich. Er hat den
Posten angenommen, um ungestört seinen theologischen Studien leben zu
können. Die Russen haben in ihrer Misston eine sehr wertvolle chinesische
Bibliothek, aber unter den jetzigen Mitgliedern ist leider niemand, der sie benutzen
könnte. ...
An seine Schwester.
Peking, den 16. Februar 1898.
. . . Gestern und heute waren wieder einmal recht interessante Tage —
besonders der gestrige, der heutige weniger. Gestern fand nämlich endlich die
langerwartete Audienz im Palaste statt. Man war zu 10 Uhr befohlen worden,
und aus allen Gesandtschaften bewegten sich feierliche Sänftenkarawanen, sämtlich
von chinesischem Militär eskortiert, nach der Richtung des kaiserlichen Palastes.
Auf den Straßen bildete eine große Menschenmenge Spalier. Nachdem das
Palasttor passiert war, verließ man die Vehikel und ging zu Fuß durch einige
große Höfe, bis man ein kleines Haus erreicht hatte, wo wir fast eine Stunde
lang in zwei engen, sehr dürftig ausgestatteten Zimmern, deren Wände und
Decken mit einfachem weißen: Papier tapeziert waren, zu antichambrieren hatten.
Es wurde Tee gereicht und geraucht, wobei verschiedene chinesische Minister,
die uns bereits am Tore empfangen und begrüßt hatten, die Honneurs machten.
Endlich wurde das Signal zum Aufbruch gegeben und der Zug setzte sich
in Bewegung. Nachdem wir das Tor Wen-doa-men passiert hatten, sahen wir
eine Halle mit drei großen geöffneten Türen vor uns: das war die Audienz¬
halle, Wen-doa-lieu. Entblößten Hauptes stieg man die wenigen Stufen hinan
und machte, oben angelangt, eine Verbeugung, nach weiteren drei Schritten eine
zweite und nach noch drei Schritten eine dritte Verbeugung.
Die Halle war ziemlich geräumig, ohne gerade sehr groß zu sein, der
Fußboden war mit einem gelben chinesischen Teppich belegt. Im übrigen ent¬
behrte sie jeglichen Schmuckes: sie war ganz kahl, und von „orientalischer Pracht"
war nichts zu merken. An der Rückwand der Halle erhob sich eine breite
Estrade, auf der ein großer, mit gelbem Brokatstoff bedeckter Tisch stand, und
auf dem Tische lagen verschiedene Schreibutensilien und das kaiserliche Siegel —
lauter herrliche Sachen, meist Cloisonns. Hinter diesen: Tische saß auf einem
gelbgepolsterten Thronsessel der Himmelssohn; rechts und links von ihm waren
zwei Leibwächter postiert, und an der Rückwand, zu beiden Seiten des Thron¬
sessels, standen zwei Pfauenwedel. Der Kaiser, der jetzt siebenundzwanzig Jahre
zählt, sieht aus wie ein Jüngling von höchstens achtzehn Jahren; er ist sehr
schmächtig und kränklich, hat wunderschöne große dunkle Augen und leider statt
eines offenen Kopfes nur einen stets offenen Mund. Sein Gesicht ist auffallend
oval und gar nicht dem gewöhnlichen chinesischen Typus entsprechend, dabei,
ohne hübsch zu sein, doch sehr sympathisch. Der Gesamteindruck seiner Persön¬
lichkeit ist mitleiderweckend. Mit einem Ausdruck kindlichen Erstaunens musterte
er die seltsame Gesellschaft und schien seine Freude daran zu haben, so zahl¬
reiche und meist wohlerhaltene Exemplare der westlichen Barbaren vor sich zu sehen.
Der Doyen des diplomatischen Korps, Mr. D., hielt eine kurze An¬
sprache, die P. als ältester unter den Dolmetschern ins Chinesische über¬
setzte. Darauf begab sich der alte Prinz Kuug. ein Onkel des Kaisers, auf die
Estrade und kniete neben dem Thron nieder'. Der Kaiser neigte sich zu ihm
nieder und sprach, zum Prinzen gerichtet, frei die Antwort aus die Glückwunsch¬
adresse in mandschurischer Sprache. Nachdem er geendet, verneigte sich Prinz
Kürg, stieg von der Estrade herab und trat an die Seite des russischen Dol¬
metschers, um diesem die Worte des Kaisers nach einem Konzept, das er in
der Hand hielt, in chinesischer Sprache zu wiederholen. Aus der jammervoll
unbeholfenen französischen Übersetzung P.'s ging u. a. hervor, daß der
Kaiser den Vertretern der fremden Mächte Glück und Erfolg in ihren Bestrebungen
wünsche. Das ist zwar rührend gut von ihm, aber er darf sich nun auch nicht
wundern, wenn jetzt daraufhin jeder von ihnen sein Kiao-chou verlangen wird.
Damit war die Feierlichkeit aus, und man ging nunmehr rückwärts, seine Süd¬
seite immer dem Antlitze des Himmelssohnes zukehrend, unter drei Verbeugungen
zurück. Diese Prozedur erinnerte mich lebhaft an die Schlußszene unserer Possen
und Operetten, wo alle Beteiligten Hand in Hand erst bis vor die Rampe und
dann wieder nach dem Hintergrunde der Bühne hüpfen. Die ganze Audienz
währte wohl kaum über fünf Minuten.
Vom Palaste selbst, d. h. von den zahllosen Palastbauten und Parkanlagen,
die eine ganze Stadt für sich bilden, bekam man leider so gut wie nichts zu
sehen. Aber die riesenhaften und dabei doch schönen Größenverhältnisse der
Höfe ließen immerhin die Großartigkeit der ganzen Anlage erkennen. Hier in
Peking ist eben alles morsch und verfallen, und auch der kaiserliche Palast
scheint keine Ausnahme von dieser Regel zu bilden; aber großartig und auch
schön muß hier vieles einst gewesen sein, da das ungeheure Reich noch auf der
Höhe seiner Macht stand. So manche Zeugen längst verschwundener Pracht
finden sich unter den Trümmern. Ob jemals wieder junges Leben aus den
Ruinen blühen wird?
17. II. Die traditionelle Nachfeier der Audienz besteht in einem Bankett,
das im Namen des Kaisers im Tsungli-Uamen (dem Auswärtigen Amte) gegeben
wird. Es fand dann auch gestern um 12 Uhr statt und verlief recht animiert.
Leider war nur das Menu in diesem Jahre ganz europäisch, während es früher
immer halb europäisch und halb chinesisch zu sein pflegte. Der Billigkeit wegen
hatten es die Herren dies Jahr dem hiesigen französischen Hotelier Taillen
übertragen. Der nahm 20 Dollar (40 Mary a Couvert, was ihnen unglaublich
billig vorkam. Daraus kann man ersehen, was für Preise der, allerdings
berühmte, chinesische Koch des Tsungli-Uamen genommen haben mag. Wie mir R.
sagte, werden für die Banketts von Staatswegen 20000 Taels (^ 60000 Mary
verausgabt — natürlich ein glänzendes Geschäft für die Beteiligten. Das
Tsungli-Damen stiftet alljährlich einen Rennpreis für das große Rennen, das
die Europäer zu veranstalten pflegen, und diesen Rennpreis (das ist ein offenes
Geheimnis) mußte bisher immer der besagte Koch aus seiner Tasche bestreiten.
nett, nicht wahr? . ..
An seine Schwester.
Peking, den 23. Februar 1898.
. . . Heute sitze ich mit meinem Schnupfen allein zu Hause, während Lilly
auf einem Diner bei H.'s ist. Ich habe im letzten Moment abgesagt, aus Furcht,
daß bei dem beständigen Schnäuzen, Schnaufen und Schniefen meine übrigen
gesellschaftlichen Reize nicht gebührend zur Geltung kommen würden.
Herr v. H. war übrigens so liebenswürdig, sich gestern persönlich nach
meinem werten Befinden zu erkundigen und ganze zwei Stunden bei uns zu
sitzen. Wenn man mit ihm allein ist, legt er seine Diplomaten-Allüren ganz
ab und gibt sich wie er ist, gemütlich und ohne Ziererei. Er sprach viel über
Dorpat und seine dortige Studentenzeit, auch manches andere über Politik;
klagt, daß man ihm jetzt, nachdem die Chinesen alles, und weit mehr als
ursprünglich von ihnen verlangt worden, bewilligt hätten, von Berlin aus die
Arbeit erschwere, indem man nachträglich fortwährend mit neuen Forderungen
angerückt komme.
H. hat wirklich mehr Glück als — andere Leute und kann mit seinem
Coup zufrieden sein, und das muß man den beiden katholischen Missionaren
lassen: sie hätten keinen geeigneteren Zeitpunkt wählen können, um sich abmurksen
zu lassen, als sie es eben getan haben. Unser Prestige hier im Osten ist durch
diesen energischen Schritt geradezu emporgeschnellt. Die Engländer jubilieren —
natürlich nicht aus Liebe, sondern erstens, weil Rußland den Hafen nun hoffentlich
nicht bekommt, und zweitens, weil sie nun in einem ähnlichen Falle ähnlich
vorzugehen hoffen und bereits sehnsuchtsvolle Blicke nach einem begehrenswerter
Stückchen Festland gegenüber Hongkong hinüberwerfen, das sie aus strategischen
Gründen auch wirklich haben müssen, um ihre Insel dauernd behaupten zu
können. Jetzt heißt es aber auch: „Halte, was du hast!" und wenn die deutsche
Regierung diesen Grundsatz nicht mit aller Energie versieht und befolgt, dann
ist es ein für allemal um unser Ansehen in Ostasien geschehen.
Der alte Li Hung-chcmg soll neulich in einer Sitzung die bitteren Be¬
merkungen gemacht haben, man scheine in Berlin Shautung als eine deutsche
Provinz behandeln zu wollen. Das ist soweit alles ganz schön, nur soll man
dann wenigstens die Rolle des Tartüffe aufgeben und nicht von den armen
chinesischen „Heiden" verlangen, daß sie sich den Segnungen der christlichen
Kultur katholischer oder protestantischer Observanz kopfüber in die Arme werfen.
Der Chinese ist Praktiker, und wo sich Theorie und Praxis so wenig decken
wie in den Lehren und Erscheinungsformen des Christentums, da gilt ihm die
Theorie herzlich wenig. Wenn der liebe Gott pfeifen kann, was ich ja nicht
weiß, dann pfeift auch er jedenfalls auf die sogenannte christliche Kultur.
Jedenfalls lacht er sich eins ins Fäustchen und beschließt im stillen, auf
hunderttausend heidnische Chinesen je einen christlichen Diplomaten in den Himmel
aufzunehmen.
Vertraulich sagte mir H., daß er wegen des Prinzen Heinrich in Sorge sei.
Programmäßig hätte er bereits vor vierzehn Tagen in Hongkong sein müssen;
statt dessen sei man ganz ohne Nachrichten und wisse nicht einmal, ob ihn: etwas
zugestoßen sei. Die „Deutschland", mit der er kommt, soll bereits im Nord¬
ostseekanal und im Noten Meer stecken geblieben sein — hoffentlich kein böses
Omen für die deutsche Politik in Ostasien. Kiao in Kiao-chow bedeutet übrigens
„Leim" — wer auf ihn gegangen, muß die Zukunft lehren.
Ich lese jetzt zwischen der Arbeit Thackerans „Newcomes" und habe einen
großen Genuß davon. In seiner köstlichen Menschenverachtung steckt wahrer Humor,
der stets ernst ist. Je mehr Arten dieser Gattung vernunftbegabter zweibeiniger
Lebewesen man unter verschiedenen Himmelsstrichen kennen lernt, um so sicherer
nähert man sich diesem Standpunkte, und die beste Gelegenheit, den Jahrmarkt
der Eitelkeiten zu studieren, bietet sich vielleicht gerade an einem Ort wie Peking,
wo eine kleine, dabei zum größten Teil aus Diplomaten, besonders angehenden,
bestehende Gesellschaft beisammen ist. Frau v. H. sagt, der einzige Mensch,
mit dem man sich interessant unterhalten konnte, sei der bisherige französische
Gesandte G. gewesen. Von den Damen scheint eigentlich nur Lady M. und
die Frau des amerikanischen Gesandten in Betracht zu kommen. Am unmöglichsten
sollen die russischen Damen sein, über die Frau v. M. eine köstliche Geschichte
von G. erzählte. Voriges Jahr fand am Silvesterabend ein La! co8tuas
auf der englischen Gesandtschaft statt. Die russischen Damen standen in slawischen
Kostümen beisammen und schienen selbst zu empfinden, daß sie eigentlich nicht
in die Gesellschaft gehörten. Eine war häßlicher wie die andere, dabei alle
gleich ungebildet und ohne Manieren. Da sagte G. zu Frau v. M.: „Voyex
avra, maäame, c'sZt la nation ac I'avsnir; 8v^on8 Koureux, et'avoir voeu
nmintsnantl" — Ich glaube, der liebe Gott hat sich den Menschen nicht zum
Ebenbilde, sondern zur Folie geschaffen, vielleicht auch, damit die Theologen
einen Broterwerb finden. Sich vom Himmel aus das Treiben der Menschen¬
kinder ansehen zu können, muß eine Quelle heitersten Genusses sein, — wie
da der Widerstreit zwischen dem Endlichen und Unendlichen bald traurig oder
komisch, bald tragisch und erhebend endet. Und Humor ist ja nichts anderes,
als dieser Widerstreit inkommensurabler Gegensätze, die dennoch aneinander
gemessen werden, obwohl sie sich nicht aneinander messen lassen. . . .
(Weitere Briefe folgen)
^xZNsMZ^
UM
AsMach dem Adagio sah Herr Gottfried Haberkorf rasch nach der Wanduhr,
ob er noch Zeit habe, seine Sonate zu Ende zu spielen, und ließ
dann das ^Ilogro sssai wie einen Gewitterregen über die Tasten
prasseln, ließ den Donner noch einmal verhalten grollen, ein paar
> ferne Blitze über die Landschaft zucken und erstickte die ausjubelnden
Vogelkehlen im Tropfenfall, der aus dichten Baumkronen kam. Nach dem letzten
Donnergrummeln des Schlußsatzes schmolz er das Calando so weich und tröstlich
ins Zimmer, als hätte aus irgendeinem offenen Fenster liebevoll eine Geige
dazu gesungen.
Und bann schwieg die Frühlingssonate auf dem Klaviere, und die da draußen
vor den Fenstern war gleichfalls im Verklingen. Die Luft war noch schwül und
prall mit Blütenduft gesättigt. Aus den Obstbäumen tropfte es in den Rasen,
und die Drossel sang im Birnbaum.
Herr Gottfried Haberkorf meinte, es sei nun wohl an der Zeit, sich zur Sing¬
übung fertig zu machen, griff seinen Geigenkasten, stülpte den Hut auf und stieg
die Treppe hinunter. Unten fiel ihm ein, daß er die Fenster der Schulstube
wieder öffnen könne, damit die heiße, trockene Staubluft entweiche. Dann schloß
er ab und ging die Dorfstraße hinunter. Das war ihm der liebste Weg, wenn
er des Abends seine Straße entlang stapfte und bei der Schmiede in den Heckenweg
bog, der ihn nach dem Weißen Roß führte. Er ging ihn Abend für Abend.
Natürlich nicht immer zur Singübung. Denn so singwütig waren selbst die Herren-
dorfer nicht, die doch als sangeslustige Gesellen auf allen Sängerfesten im Umkreis
von einigen Stunden bekannt waren. So singwütig war auch Herr Gottfried
Haberkorf nicht, trotzdem ihm erst Gesang und Saitenspiel das Leben wertvoll
machten. Aber diese wöchentliche Singübung am Freitag Abend war doch die
Veranlassung geworden, daß er seit dem letzten Winter fast jeden Abend ins Weiße
Roß wanderte. Und das kam so. Eines Abends, als Haberkorf mit seinen
Sängern wie gewöhnlich nach der Übung in die Gaststube biegen wollte, um bei
Bier und Zigarren so lange in der Gesellschaft seiner Herkendorfer zu verbleiben,
bis die Pointen ihrer Witze einen Stich ins Saftige bekamen, stand Mutter Neutter,
die Krügersche, vor ihrer Wohnstube und bat ihn, doch einen Augenblick mit in
die Stube zu kommen, sie habe ihn schon immer mal etwas fragen wollen. Das
war dann ein sehr gemütlicher Abend geworden. Und er blieb nicht der einzige,
Mutter Reutters Geplauder hatte etwas Behagliches. Es ging allen Problemen
aus dem Wege, oder es löste sie mit der liebenswürdigen hausfraulichen Unver¬
frorenheit, die manchen Müttern und Hausfrauen eigen ist, die es verstehen, das
Schlimme, Arge und Rätselhafte der Welt mit energischem Strickstrumpfstoß bei¬
seite zu schieben, oder aber es so angenehm zu wattieren, daß man sich nicht daran
stößt. In solches Gespräch warf dann Anna, die älteste Tochter, ihre ruhigen,
etwas trockenen Bemerkungen, fragte nach Gottfried Haberkorfs Leben und Tun,
nach seiner-Heimat und Familie und bekundete sogar für seine Zukunft ein freund-
liches Interesse. Liselotte, die Jüngere der beiden Rcuttermädchen, verhielt sich
weniger interessiert. Sie musterte den Schulmeister spöttisch, widersprach ver¬
schiedentlich, ja Gottfried meinte sogar, sie habe zu einer seiner Bemerkungen ver¬
stohlen eine Fratze geschnitten. Doch konnte er sich da auch geirrt haben. Jeden¬
falls wurde nach dem zweiten und dritten Abend in der Wohnstube das Ver¬
halten aller freier und ungezwungener. Und bald gab sich auch die spröde Liselotte
munter der friedlichen, spätabendlichen Anregung hin, die Gottfrieds Erscheinen
und das gemütliche Gespräch mit sich brachte. Und wieder eine Zeitlang darauf
gab Herr Gottfried Haberkorf eines Abends, als er die ruhige, freundliche Anna
allein traf, seinem Herzen einen Stoß und ließ es der Schlanken, Blonden in den
Schoß fliegen. Die tat erst ein wenig schüchtern, wandte es verlegen hin und
her, und wurde sehr rot. AIs Gottfried dann aber mit einer Eindringlichkeit,
worüber er sich hernach selbst wunderte, liebevoll ein paar Fragen tat, da sagte
Fräulein Anna nicht nein dazu. Und die beiden Alten sagten auch nicht nein,
obgleich die Mutter die Tochter lieber bei einem Bauern gesehen hätte. Aber diese
Sache hatte nach ihrer Meinung auch allerlei für sich. Anna würde einmal die
Hände nicht so zu rühren brauchen, wie sie, die Mutter, es getan hatte und noch
tat. Dazu hatte sie sich — das war man schließlich dem Glück der Tochter
schuldig — genauer nach Haberkorfs Verhältnissen erkundigt, und das Ergebnis
war durchaus günstig ausgefallen.
Das Verhältnis zwischen Gottfried und dem Weißen Roß wurde also familiär.
Daß es nicht zu familiär wurde, ließ der Lehrer seine Sorge sein. Er hatte in
diesem Punkte seine Grundsätze. Er bemerkte bald, daß seine Verlobte sehr
sparsam — er unterdrückte in sich das Wort knauserig — war. Und als sie ihn
eines Abends bat, in Zukunft seine Mittagsmahlzeiten im Weißen Roß ein¬
zunehmen, da wehrte er freundlich entschieden ab und blieb bei dem älteren,
bäuerlichen Ehepaar, das ihn bis jetzt mittags verpflegt hatte. Man soll sich von
den Eltern seiner Braut in keiner Weise abhängig machen, dachte Gottfried. Seinen
Kaffee kochte er sich auf seiner Spiritusmaschine selber und besser, als er ihn
irgendwo im Dorfe gekriegt hätte. So ging er auch, wenn er nachmittags das
Reuttersche Haus besuchte, möglichst erst nach dem Kaffee hin. Das fiel keinem
auf. Nur Liselotte sagte eines Mittags, als der zukünftige Schwager vorbei kam
und sie just die Fenster putzte: „Du, kannst gleich hier bleiben, ich werde heute
mal den Kaffee kochen." Worauf Gottfried Haberkorf rot wurde und nach einer
Ausrede suchte. Aber die kleine Hexe blinzelte mit den Augen: „Ich beiße 'ne
Bohne mehr durch. Riskier es also getrost!" Seit der Zeit war es ihm mitunter,
als mache sich die Schwester seiner Anna heimlich über ihn lustig. Sie machte
bald über seine schiefen Stiefelabsätze, bald über eine etwas faserige Kravatte
kleine, lustig-spitze Bemerkungen. Das war ihm peinlich, und er kleidete sich
sorgsamer. Anna bemerkte das und fragte ihn nun, ob er nicht eigentlich für
seine Kleidung reichlich Geld ausgebe. Das war ihm noch peinlicher und er
antwortete, er könne es ohne Sorge bezahlen. Ja, sparsam war die Anna. Und
Gottfried wurde eines Abends unfreiwilliger Zuhörer eines Gesindegespräches,
woraus hervorging, daß Knecht und Magd ihr Essen ungern von Anna zubereitet
nahmen. Allein — wer war auf dieser Welt ohne Schwächen und Fehler!
Wie Gottfried Haberkorf so durch die tropfenblinkeuden, duftenden Garten¬
becken ging, dachte er mit Freude an die stille, schlanke Anna. Ob sie heute abend
wohl ihr weißes Kleid trug? Das stand ihr besonders gut. Aber leider sah er
sie nicht oft darin. Sie kleidete sich immer sauber und ordentlich, aber darüber
hinaus ging es kaum. Liselotte dagegen velstand es, sich gut anzuziehen. Waren
die Schwestern auch überein gekleidet, so gab die jüngere ihrer äußeren Erscheinung
durch eine Schleife, eine Gürtelschnalle oder farbige Stiefel stets ein Besonderes.
Übrigens sahen sich die beiden zum Verwechseln ähnlich, den Altersunterschied von
drei Jahren merkte man nicht. Nur war der Jungerett blondes Haar etwas
dunkler, und der Schein ihrer Augen spielte mehr ins Veilchenfarbene, während
Annas Augen vergißmeinnichtblau waren. Von Größe und Gestalt waren sie
ziemlich gleich. Beide Mädchen hatten in der nahen Kleinstadt eine bessere Schule
besucht. Aber nach der Konfirmation war Liselotte lange Zeit bei einer verwitweten,
wohlhabenden Verwandten in Hannover gewesen, halte dort Theater und Konzerte
wie eine feinere Geselligkeit kennen gelernt. Das halte sie fürs Land verdorben,
meinte die Mutter, aber Vater Reutter schmunzelte dazu. Er war Gemeinde¬
vorsteher, hatte die Nase schon ein wenig tiefer in die Welt gesteckt und wußte,
daß sie nicht nur aus Bauern bestand.
Ein verständiger Mann, der Alte! sprach Gottfried vor sich hin, indem er
einen plitschnassen Zweig zurückbog, der über die Hecke in den schmalen Pfad hing.
Da sah er auch den weißen Giebel des Wirtshauses „Zum weißen Roß" mit
seinem silbergrauen Gebälk durchs Grüne schimmern, klinkte die Heckenpforte auf
und trat in den Garten. Anna kam ihm entgegen. Nun hat sie das weiße Kleid
doch nicht an! dachte Gottfried.
„Einen Kuß!" bat er.
„Aber nein, die Sänger sind schon in der Gaststube."
„So komm rasch in die Laube."
„Ja, das wäre! Nachher, wenn's paßt. Hast du mir den Nähmaschinen¬
katalog mitgebracht?"
„Ach nein, wieder vergessen!"
„Du bist einer. Woran du wohl immer denkst!"
Sie wandte sich schmollend ab.
„Na — ich denke morgen dran. Bist du noch im Garten, wenn ich vom
Singen herunterkönne?"
„Ja."
„Also bis nachher."
Während der Singstunde war Gottfried zerstreut und wenig bei der Sache.
Einmal, als es draußen wieder grummelte, sah einer der Sänger aus dem Fenster
und sprach vom Gewitter, das noch kommen könne. So sitzt nur also die Ge¬
witterluft im Blute und den Leuten auch! dachte Gottfried, als er den Baß gar
nicht dazu kriegen konnte, sich mit der gehörigen Weichheit und zartem Pianissimo
der friedevoller Nachtsümmung des Liedes hinzugeben. Und er nahm sich zu¬
sammen und plagte den Baß mit dem Pianissimo, daß den Sängern die Schwei߬
tropfen auf die Stirn traten. Endlich ging es leidlich, die Stimmen klangen
schön zusammen, und Gottfried sah wieder den nachtblauen Bau des Himmels¬
gewölbes mächtig schwellen, sah Sterne glänzen und fühlte in seiner Seele goldene
Sehnsuchtsflämmchen sprießen. Als aber die Sänger im zweiten Verse von den
Harfentönen der himmlischen Sphärenmusik sangen, da vernahm Gottfried nichts
mehr von der himmlischen Liebe, sondern er dachte an eine andere Liebe, dachte
so inbrünstig daran, daß ihm eine rote Welle vom Herzen in den Kopf fuhr und
er den Schlußsatz zur Verwunderung der Sänger hastig und gewaltsam ausklingen
ließ. Schnell klappte er den Geigenkasten zu und ging hinunter.
Hinter ihm drein polterten die Schritte der Sänger. Sie gingen, sich
räuspernd und die feuchten Stirnen trocknend, in die Gaststube, um rasch noch ein
paar eisgekühlte Biere zu haben. Gottfried hörte die Stühle scharren, die Gläser
klappern und merkte an einer plötzlich eintretenden Stille, daß alle tranken. Er
stand an den einen der vier Lindenbäume gelehnt, die vor dem Hause wuchsen,
und ihm war seltsam bedrückt und doch selig zumute. Da löste sich aus dem
Dunkel des Lindenschattens eine lichte Gestalt, kam ihm nahe, legte die Hand auf
seine Schultern und sagte: „Schön habt Ihr heute gesungen."
Es war Liselotte.
„Schön? Na — es muß noch kommen."
Und er wußte wohl, daß er sich an dem Liede versündigt hatte. Sie
schwieg und stand eine Weile neben ihm. Weshalb kommt nun Anna nicht?
dachte er.
„Ist Anna im Garten?"
„Ja, mit der Mutter."
Da gingen sie beide in den Garten, wo es nach nassem Buchs, Syringen
und Goldlack roch. Die Mutter und die Braut saßen auf der Bank bei dem
Goldlackbeete und hatten die Hände im Schoße.
„Mach dir gleich einen Knoten ins Schnupftuch, daß du morgen den Katalog
nicht vergißt."
„Ich denke schon daran," sagte er kurz und griff die Hand seiner Verlobten,
da sie einmal auf dem Wege dazu war.
Ein sparsames Gespräch sickerte in die Gartenstille. Es wollte keine Stimmung
aufkommen. Die Gewitterluft schien alle zu bedrücken. Nur Liselotte überlegte
bei sich, wem sie wohl die Tropfen von einem nassen, hängenden Zweige ins
Gesicht schnellen möchte. Und sie nahm den Zweig und ließ die Tropfenreihe
auf die Schwester spritzen.
„Dul Was sollen die Dummheiten!" rief sie.
Liselotte lachte hell und klingend auf. Und Gottfried wurde von der Musik
ihres Lachens mitgenommen und lachte gleichfalls herzhaft.
„Einer muß doch Dummheiten machen. Ihr seid ja so vernünftig."
„Was dabei nun bloß zu lachen ist," sagte Anna ärgerlich.
Aber Gottfried streichelte begütigend ihre Hand.
„Heute war der Vetter Brennecke da," meinte die Mutter.
Gottfried besann sich, wer es sei.
„Der mich einmal haben wollte," sagte Anna.
„So? Und weshalb wolltest du ihn nicht?" forschte Gottfried.
„Er patzte mir nicht. Aber ein netter Mensch ist er doch."
„Und hat einen schönen Hof," fügte die Mutter hinzu.
„Er s—p—p—richt ein b—b—löcher l—angsam," meinte Liselotte.
„Ach das ist nicht so schlimm," wehrte Anna ab. „Du findest bei jedem etwas."
„Du hast doch sicher auch bei ihm was gefunden, sonst hättest du ihn ja
nehmen können. Oder warst du damals schon auf Gottfried gespannt?"
„Ich? Gottfried ist zu mir gekommen und nicht ich zu ihm."
„Hahal" lachte die Mutter, sich an Gottfried wendend, „als du zuerst zu
uns kamst, wußte ich nicht, ob du die Älteste oder die Jüngste meintest."
Gottfried schwieg.
„Gute Rachel" sagte Liselotte und sprang auf, „ich bin müde."
Die anderen hörten, wie ihr Schritt auf dem Mergel des Weges knirschte,
und sahen sie weiß aus dem Garten auf den Hof gehen, wo bald ein Licht aus¬
schien und eine Stalltür klappte.
„Die Küken! Die Kükenl" sagte die Mutter, „wenn sie nach denen nicht erst
jeden Abend sieht, kann sie nicht schlafen."
Gottfried rückte näher an Anna, spürte die Wärme ihres Körpers und den
Duft ihrer Haare. Er wünschte, daß die Mutter, wie sie es öfter tat, noch ein
Weilchen in die Stube gehen und die beiden allein lassen möchte. Sie stand auch
auf. Aber gleichzeitig erhob sich Anna, reckte sich und gähnte.
„Auch müde?" fragte er zärtlich und drängte sich an sie.
„Ja. Gehst du morgen nach der Stadt?"
„Vielleicht. Wolltest du mit?"
„Ach nein. Aber du könntest mir einige Rollen Garn und auch ein paar
Docken Seide mitbringen."
Er schwieg.
„Tust du es nicht gern?"
„NeinI" sagte er verstimmt. „Das kann ja schließlich die Botenfrau auch
besorgen."
„Na, dann gute Nacht!" gab sie zurück und ging strammen Schrittes ins Haus.
„Willst du nicht noch ein Glas Bier trinken?" fragte die Mutter, „ich hatte
es vorhin ganz vergessen. Aber daran sollte Anna eigentlich denken."
Aber Gottfried dankte, nahm seinen Geigenkasten und ging fort. Er blieb
aus der breiten Straße, weil es zwischen den Hecken dunkel und naß war. An
einer Biegung blieb er stehen, um in Annas Kammer Licht zu sehen, auch viel¬
leicht ihren Schatten zu erspähen. Aber alles war dunkel. Nur aus den Fenstern
der Gaststube quoll es gelb und rauchig in die Nacht, und man hörte fernes
Stimmengewirr.
Entweder ist sie noch nicht oben, oder sie steht im Dunkeln und sieht mir
nach! dachte Gottfried. Aber daran glaubte er doch nicht recht. Mißmutig schritt
er an den dunklen Häusern und Gärten entlang und kam ans Schulhaus. In
seinem Zimmer war es dumpf. Da öffnete er Fenster und Türen und schaffte
Durchzug. Dann fiel ihm ein, er könne noch ein wenig ins Feld gehen und die
Nachtkühle aufsuchen.
Das Schulhaus lag an einer Ecke des Dorfes und nach wenigen Schritten
war Gottfried Haberkorf im Felde. Leise rieselte das Korn durch die große Stille
der Nacht und roch stark und würzig. In der Nähe war ein weites Rapsfeld.
Der süße Duft kam in schweren Wellen herüber. Er stand still, atmete tief und
ritz die Weste auf, daß ihm die feuchte Luft die Brust kühle. Er schaute zum
Himmel hinauf und fand nach längerem Suchen in einer schmalen Wolkenbucht
ein paar grüne Sternlein. Heilige Nacht, o gieße du Himmelsfrieden in dies
Herz! Und er summte Beethovens weihevolle Melodie. Aber gleich dünkte es
ihm unpassend, denn es war nichts Weihevolles in dieser Nacht. Sie lag viel¬
mehr stumm und lauernd auf den Feldern. In der Ferne brummte es, zuckte
es wie qualmiger Fackelschein. Wo der Feldweg bei einer Brücke auf die Land¬
straße stieß, standen vier hohe Pappeln wie Riesen, die in der Dunkelheit flüstern,
auf wen sie sich stürzen wollen.
Da setzte er sich auf die Steinmauern der kleinen Brücke, hörte das Wasser
sacht gegen die Ufer spülen und fühlte die Mauerkühle angenehm in den Körper
ziehen. Vor ihm lag die Landstraße. Und so dunkel die Nacht auch war, so
konnte sie doch nicht das mattweiße Glimmen der blühenden Obstkronen ersticken.
In den Flachskuhlen, die in der Nähe waren, quarrten die Frösche. Er nahm
Steine und warf sie in die Wasserlöcher. Da plumpste es und wurde still.
„— aus der Liebe Wonnemeer," sang Gottfried Haberkorf, bückte sich und
warf nach den Fröschen, die sich wieder hervorwagten. Er empfand eine heftige
Sehnsucht nach Anna und wünschte nichts sehnlicher, als daß die Verstimmung
erst überwunden wäre, die sich heute Abend zwischen sie gestellt hatte. War er
nicht derjenige, der den Anstoß dazu gegeben hatte? Er wußte, daß sie eine
ruhige, praktische Natur war, ja, er liebte diese Ruhe an ihr. Weshalb war er
kurz geworden? Er hatte keine Ursache dazu.
Und Gottfried Haberkorf stieg in sich herum und überdachte das Leben, das
er geführt hatte, seitdem er in Herkendorf war. Und als er eine Zeitlang gegrübelt
hatte, überkam ihn eine Scham, daß er in der letzten Zeit sich und seine Musik
arg vernachlässigt hatte. Als er vor acht Jahren nach Herkendorf kam, sah er
das nur als eine Durchgangsstation zum Konservatorium in Berlin an. Und er
spielte Klavier und Geige, übte Stunde um Stunde, studierte dickleibige Kom¬
positionslehrbücher, komponierte Präludien und Lieder, wagte sich selbst an Fugen
und schrieb Blatt für Blatt. Der Gesangverein sang Lieder, die er gesetzt hatte,
sie klangen nicht schlecht. Und als er einst nach Stunden qualvoller Mutlosigkeit
ein Päckchen zusammengenommen und es seinem früheren Musiklehrer zugetragen
hatte, da hatte der ihn nach einigen Wochen besucht und gedrängt: Mensch. Mensch,
daß Sie nach Berlin kommen! Noch am selben Abend hatte er dann seine Kom¬
positionen schön verschnürt und die Adresse eines bekannten Berliner Musikprofessors
darauf geschrieben. Als dann aber der nächste Morgen kam und in seiner dörf-
lichen Frische und Naturfreudigkeit durch die Fenster seiner behaglichen Stube
schaute, da hatte ihm vor Berlin gegraut. Die Briefe, die er schon geschrieben
hatte, blieben liegen, wurden im Winter verbrannt, und das Paket lag seit Jahren
wohlverschnürt im Schreibtische. Er hörte eine lange Zeit auf zu musizieren, lag
Tage und halbe Nächte auf dem Sofa und las. Dann kamen wieder Zeiten, wo
er Stunden am Klavier saß, zu einem Kollegen des benachbarten Kirchdorfes ging
und ganze Nachmittage vor der Orgel zubrachte. Auch einige Lieder setzte er
wieder in Musik. Aber es lag über allem der Reif einer gewissen Zwecklosigkeit.
Und dann kam die Verlobung I
Seitdem dachte er nicht mehr ans Konservatorium. Er würde nun auf dem
Dorfe bleiben und sein stilles Leben weiter führen. Vielleicht war es schade, daß
es so gekommen war. Aber — konnte er nicht auch fortan musizieren so viel er
Lust hatte? Es kam doch nur darauf an, daß es ihm Freude machte. Allein es
stand im Hintergrunde seines Sinnens noch eine kleine Frage, die sprach: Und
die Vervollkommnung deines musikalischen Fühlens und Erkennens? Gottfried
Haberkorf drängte sie zurück hinter das Bild seiner Liebsten. Das erschien ihm —
nicht wie es heute abend gewesen war — sondern in der Lieblichkeit der ersten
Brauttage. Und seine in der Schwüle der Nacht wach gewordenen Sinne machten
es lockend und umgaben es mit einer Sinnlichkeit, die dem Original fremd war.
Es quälte ihn, daß er sie heut verstimmt verlassen hatte, und er hätte ihr gern
etwas Liebes erwiesen.
Da trug der Wind leise den Duft der Obstblüte herbei. Gottfried Haberkorf
kam eine Erleuchtung. Wie — wenn er einen schönen Blütenzweig vor der
Liebsten Fenster brächte? Sie würde morgen früh gleich versöhnt und freudig an
ihn denken. Und er sprang hoch, trat auf die Landstraße und bog einen weiß-
schimmernden Zweig nieder, daß ihm die Tropfen aufs Gesicht und in den Ärmel
fielen. Da mußte er an Liselotte denken, wie sie der Schwester die Tropfen ins
Gesicht spritzte. Ein frohes Gefühl kam in ihm auf. Dann nahm er vom nächsten
Baume auch einen Zweig und trug beide behutsam durch die Felder ans Dorf.
Das war still. Nur die Tropfen tippten noch immer von den Blättern,
und die Gärten flüsterten. TuutI rief am anderen Ende des Dorfes das Horn
des Nachtwächters. Vom Nachbardorse wanderte ein einzelner Glockenklang ver¬
traulich über die schlummernden Felder. Gottfried wußte nicht, ob es Halbeins
oder eins geschlagen hatte. Er lauschte und schritt dann durch den verschwiegenen
Heckenweg bis an den Garten, da klinkte er leise die Pforte auf und kam auf den
Zehen bis an die Hauswart. TuutI rief das Horn wieder. In den Ställen
brummte eine Kuh. Tell kam vom Hofe, schnüffelte an Gottfrieds Beinen, reckte
sich, gähnte und schüttelte sich, daß die Ohren klappten und das Metall des Hals-
bandes klang. „Geh Tell! Marsch!" rief Gottfried flüsternd. Der Hund gähnte
wieder und trottete nach dem Hofe.
Gottfried spähte nach dem Fenster, das war dunkel. Er rüttelte an dem
Weinspalier. Das hatte Vater Neutter selbst genagelt, und was der arbeitete,
war dauerhaft. Gottfrieds Herz klopfte, er überlegte rasch noch einmal, ob er auch
nicht zu viel wagte. Aber es hätte ihm keine Ruhe gegeben, wenn er seine Zweige
nicht angebracht hätte. So klomm er hinauf. Das Fenster stand weit offen. Er
schwang sich auf das Fensterbrett, saß schwer atmend und lauschte. Plötzlich
legten sich ein paar straffe Arme um seinen Hals, eine warme Wange schob sich
an seine bärtige, und er fühlte einen Kuß auf seinen Lippen.
Gottfried Haberkorf stieg das Herz in die Kehle. Dann aber küßte er wieder,
heiß und verlangend, und eine unerhörte Seligkeit durchrieselte ihn.
„Dies wollt' ich dir bringen", flüsterte er und umschlang die Liebste wieder,
die sich weich und warm an ihn schmiegte. Sie antwortete nichts, sondern küßte,
küßte ihn, wie sie ihn nie zuvor geküßt hatte. Herrgott! wie sie küssen konnte!
Ein Schritt klang auf der Straße.
Tune! schrie das Horn drohend durch die Dunkelheit.
Da schob Gottfried Haberkorf seine langen Beine rasch in die Kammer.
Und wieder überfielen ihn ihre Küsse. Er taumelte unter deren süßer Kraft,
taumelte und fiel ins Weiche. Neben ihm lag es warm und duftend. Und er
griff nach ihr und preßte sie an sich, daß sie leise stöhnte. Dann war ein
mächtiges, jubelndes Brausen vor seinen Ohren, und durch diesen klingenden Auf
rühr tat Gottfried Haberkorf einen tiefen, seligen Sturz.
Als ihm die Sinne wieder kamen, hörte er eine bebende Stimme dringend
flüstern: „Geh, bitte, geh rasch!" Und wie er noch ganz verwirrt sich erhob,
fühlte er sich ans Fenster gedrängt, und die Stimme aus dem Dunkel sagte fremd
und tonlos: „Bitte, geh!" Noch einen Kuß fühlte er auf der Stirn, während
seine Beine schon wieder im Weinlaub raschelten.
Dann stand er unten, fuhr sich mit der Hand über die heiße Stirn und
tappte sich durch die Wohlgerüche der Gärten, die überall lauerten, nach Hause.
Da schob er den glühenden Kopf ins Waschbecken und fühlte, klar werdend, eine
starke Freude in sich.
Es sang und klang in ihm — er sprach trunkene Worte vor sich hin und
merkte plötzlich, daß es Verse waren. Da schloß er die Fenster, setzte sich an sein
Klavier, ließ die Tasten leise klingen und schrieb mit fiebernden Händen Wort
und Ton auf ein Notenblatt. Dann lag er auf dem Sofa und schlief, bis die
Kinder des Morgens an der Schultür rüttelten. (Schluß folgt)
st eine neue
Sammlung illustrierter Werke in Großquart
genannt, von denen der Herausgeber H. A.
Wichmann die beiden ersten Bände „Stim¬
mungsbilder uns der Heide" und„Stimmungs-
ailder aus dem Moor" gerade rechtzeitig zu
Weihnachten vorlegt. (NordwestdeutscherKunst¬
verlag, Goslar a, H, Leicht geht, L M,, in Lbd,
6,50M.) Sie enthalten je50Bildernnd 12 Kunst-
beilagen von kaum sagbarem Stimmungs-
zaubcr. Es klingt aus ihnen in die Mauern
der Großstadt ein tiefes Geläut von Frieden
und Ruhe, Erinnerung weckend an die Tage
voll Sonne oder wallender Nebel, da wir die
weiten Flächen durchwanderten, und tiefe
Sehnsucht nach ihrem roten Glanz und säßen
Dust und ihrer traumstillen Einsamkeit. Von
den Worpswedern her vertraute Stimmungen
umfangen uns: silberleuchtende Birken und
drohende Wachholderbänme; endlose Heide¬
strecken, ans denen ein Hünengrab aufdämmert;
dunkle Moorflächen, von Kanälen mit einsamen
Boten durchzogen; stille, einfache Menschen
nnter strohvedecktoin Dach oder bei Schafen
und Pferden auf dem heidebewnchsenen Sand¬
wege, fern vom haftenden Getriebe, wie es
uns nmbrandet, „Kein Klang der aufgeregten
Zeit drang noch in diese Einsamkeit." Und
zu den Bildern bilden Gedichte älterer und
moderner Dichter und kleinere Skizzen die
Begleitmelvdie: so schön sie much ausgewählt
sind, dieser so mächtig von den Bildern her-
strömenden Stimmung gegenüber müssen sie
sich bescheiden. Es ist herzlich zu wünschen,
daß die folgenden Bände dieser zu den schönsten
Anthologien zu zählenden Scnnmlnng recht
bald erscheinen; ein großer Erfolg kann ihnen
in den Zeiten, wo die Schnsinng deS Natur¬
schutzparkes in der Lüneburger Heide Ereig¬
nis geworden, nicht ausbleiben. Ein Wcrbe-
band mit vierundzwanzig Bildern und acht
Knnstbeilngen nebst Gedichten (Preis 3 M.)
zeigt in etwas kleinerem Format alle Vorzüge
der großen Bände und ist sehr geeignet, in
die „Heimat der Menschen" (so heißt der Titel)
einzuführen.
Eine Samni-
lnng der schönsten Sagen und Schwänke ans
dem südlichen und nördlichen Riedcrsachsen,
ausgewählt und zusammengestellt von K. Hen¬
niger und I. v. Harten. Hildesheim, August
Lax. Zwei Bände in Ganzleinen (2,80 n. 3 M.).
Wenn bislang Niedersachsen als sagenarmes
Land galt, so haben die Herausgeber des
Sagenborns den Beweis erbracht, daß es
reicher an Sagen, Volksmärchen und Schwan¬
ken ist als irgendein anderes Gebiet unseres
Vaterlandes. Ein schönes Vorwort leitet jeden
der beiden stattlichen Bände ein, von denen
der erste das Gebiet des Harz-, Leine- und
Weserberglandes umfaßt, während der zweite
die Sagen des niedersächsischen Tieflandes bis
zur Nordseeküste enthält. Nicht nur ans den be¬
kannteren sowie aus fast verschollenen Sagen¬
büchern, wie Harrhs, Kühn und Schwartz,
Colshorn, Schambnch und Müller haben die
Herausgeber das Beste gewählt, sondern auch
aus bisher noch nicht veröffentlichten heimat¬
lichen Sammlungen. Die ursprüngliche Fassung
ist durchweg gewahrt; wo das nicht angängig
war, zeigt die geringe Überarbeitung fein ab¬
wägende Künstlerhand. Der heimische Dialekt
ist dankenswerter Weise öfters beibehalten wo»
den; wo Sngenstoffe in poetischer Form vor¬
lagen, wurden sie aufgenommen, soweit sie
künstlerischen Wert besaßen, und fügen sich
dem Urgut harmonisch ein. Daß der Volks¬
humor zu vollem Recht kommt, sei besonders
hervorgehoben. Mögen diese Sagen eingehen
in den großen Sagenschatz des deutschen Volkes,
dem sie entstammen und dem sie nun wieder
von EmilSadLe.
I. Teil: Wanderungen und Angriffskriege der
Germanen vom Kimbernzug bis zu Cäsars
Tod 113 bis 44 v, Chr. Mit 16 Abbildungen
und 8 Karten. II. Teil: Die Kriege der Römer
und Germanen zur Zeit des Augustus und
Tiberius 44 v. Chr. bis 17 n. Chr. Mit 60 Ab¬
bildungen im Text und 12 Karten. Berlin-
Wilmersdorf, Hermann Paetel Verlag, 1911.
Preis jedes Bandes 2,— M.
Diese beiden Bücher gehören einer Samm¬
lung belehrender Unterhaltungsschriften für die
deutsche Jugend an, die begründet und heraus¬
gegeben wird von dem Oberlehrer lie. tkeol.
Hans Vollmer in Hamburg. In dem Kampfe
gegen die Schund- und Schmutzliteratur will
sie die Aufgabe übernehmen, durch quellen¬
mäßige Darstellungen weite Kreise unseres
Volkes für eine ideale Auffassung seiner Ge¬
schichte, seiner Kultur zu gewinnen. Unter den
Autoren begegnen uns Männer wie Otto
Ehlers, der uns Samoa, den Osten Asiens,
Jndochina beschreibt, Dove, der uns Südwest¬
afrika schildert, Biedenkapp, der Deutschlands
Urzeit, Hermann Meyer, der die Kriege
Friedrichs des Großen, Wilhelm Kapelle, der
die Freiheitskriege, Wolfgang Meyer, der uns
das Leben Friedr. Jahns erzählt. In der
Wiedergabe der Sagen des klassischen Alter¬
tums und der deutschen Vergangenheit ringt
Johannes Dietze mit Gustav Schwab um die
Palme. In zwei Prachtvollen Bändchen erzählt
uns der von der Urania her bekannte Professor
Meyer von der Entstehung der Erde. Die
Sammlung ist bis jetzt auf 33 Bändchen an¬
gewachsen. Als ganz besonders gelungen
müssen wir diesen 37. und 38. Band hervor¬
heben, die aus der Feder EmilSndöeS stammen.
Thomas Carlyle sagt: „Die eigentliche Uni¬
versität unserer Tage ist eine Büchersnmmlung.
Bücher sind unsere Kirche, die Literatur ist
unser Parlament." Deshalb muß auch die
Geschichtswissenschaft zum Schutze des Idealis¬
mus die weiten Volksmassen, die sonst dem
Schund und Schmutz verfallen würden, auf¬
suchen und ihnen quellenmäßig erzählen, wie
unsere Geschichte geschehen ist. Bücher wie
diese sind Bundesgenossen unserer Schulen,
der höheren, die Cäsar und Tacitus lesen, und
der mittleren und Volksschulen, die diese Ge¬
schichte auch kennen lernen sollen. Hier reden
Deutsche zu Deutschen. Für die Einheit, die
wir im Herzen tragen, sehen wir von den
Kimbern an bis zu Arminius herab unsere
Vorfahren kämpfen. Der Zug unserer Zeit
ist ein individualisierender, der das Detail
liebt. Deshalb beschreibt Sadöe sehr genau
auch die Ausgrabungen bei Haltern, die erst in
neuester Zeit allgemeines Interesse beanspruchen
und sich neben den bekannteren der Salbnrg
durchzusetzen beginnen.
von Klara
Hcpner. Mit 4 Tafeln von W. Planck und
zahlreichen Textbildern von B. Körting. Verlag
Kosmos (Franckhsche Verlagshandlung) Stutt¬
gart. In Leinenbd. 3,60 M.
Die von ihren Märchenbüchern („Sonnen¬
scheinchens erste Reise" und „Neue Märchen")
her vorteilhaft bekannte Jngenddichteriu hat
in diesem Buch aus Literatur, mündlicher
Erzählung und eigener Beobachtung eine
Reihe von Tiergeschichten gesammelt, die des
Interesses und des Beifalls aller kleinen und
großen Naturfreunde sicher sein dürfen. Vogel¬
welt und Säugetiere, Insekten, Amphibien
und Reptilien lernen wir in ihren geheimsten
und für ihr Seelenleben bezeichnendsten
Regungen kennen: das fliegt und kriecht und
freut sich und spielt und leidet und mordet
und erfrecht sich und rächt sich um uns herum,
daß wir uns fast in der Menschenwelt wähnen
könnten, nur daß die ergreifenden Züge von
sich aufopfernder Treue, Freundschaft und
Liebe bei uns seltener anzutreffen sind. . . .
Die Erzählerin wird zur Dichterin, und ihr
selber dürfen wir zurufen, was sie als Motto
aus dem „Fünft" ihrem Werke vorsetzt:
„Du führst die Reihe der Lebendigen
An mir vorbei und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, inLuft und Wasser kennen."
Die beigegebenen Tafeln und die zahl¬
reichen reizvollen Text- und Randbilder er-
Höhen den Wert der geschmackvoll aus¬
gestatteten Veröffentlichung, die auf vielen
Weihnachtstischen als froh begrüßte Gabe zu
Mit Zeppelin nach Spitzbergen. Bilder
von der Studienreise der deutschen arktischen
Zeppelin-Expedition. Herausgegeben von
A. Miethe und H.Hcrgcsell. Mit zweihundert¬
einundzwanzig Textillustrationen, sechzehn
schwarzen Tafeln nach Naturaufnahmen und
zweiunddreißig farbigen Tafeln nach Photo¬
graphischen Aufnahmen in natürlichen Farben.
Berlin, Deutsches Verlagshaus Borg n. Co.
Weniger von der wissenschaftlichen Aus¬
beute der Expedition als von den Erlebnissen
der einzelnen Mitglieder liest man im vor¬
liegenden Band. Fast alle Teilnehmer der
Fahrt kommen hierbei selbst zu Worte. Den
Reigen eröffnet Prinz Heinrich von Preußen,
der im Vorwort die Veranlassung zu dieser
Nordlandsfahrt kurz charakterisiert. Professor
Hergesell gibt eine kurze Abhandlung über den
Zweck und die Aufgaben der Expedition und
in einem späteren Abschnitt eine Darstellung
der Fahrten des Begleitschiffes „Fönix", sowie
Aufschlüsse über die nerologischen und meteo¬
rologischen Ergebnisse. Prof. v. Drygalski
schildert die Vereisung Spitzbergens, die in
der neuesten Zeit, wie er durch Glctscherunter-
suchungen feststellte, einen bemerkenswerten
Rückgang ausweist. Aufsätze der übrigen Teil¬
nehmer über deren Spezialgebiete schließen sich
um. Den Kern des Buches bildet die prächtige,
mit einem erquickenden Humor gewürzte Schil¬
derung der Fahrt aus der Feder Prof. Dr.
Miethes. Wohl kaum jemals vorher ist eine
so gut ausgestattete Expedition in den Ge¬
wässern des hohen Nordens gewesen. Professor
Miethe sagt darüber: „Es geht uns dank aller
neuzeitlichen Hilfsmittel so gut, daß wir oft mit
einem gewissen Schamgefühl daran denken, was
hier im Norden schon Tausende von Menschen
gelitten und geduldet haben, während wir,
umgeben vom Behagen, ja Überfluß, unter
strahlendem Himmel und warmem Sonnen¬
schein,, diese unbeschreibliche Natur genießen."
Im Schlußkapitel nimmt Graf Zeppelin das
Wort, um mit Befriedigung die Möglichkeit
der Erforschung arktischer Länder mit Hilfe
von Luftschiffer seines Systems zu konstatieren
und solche Forschungsfahrten für nicht zu ferne
Zeit in Aussicht zu stellen. Einen besonderen
Schmuck deS Werkes bilden die zahlreichen
Abbildungen, vor allem die Tafeln mit den
wundervollen farbigen Naturaufnahmen, die
zum weitaus größten Teil der Meisterhand
Miethes entstammen.
Aus dem Leid um dieLage der evangelischen
Landeskirche ist eine Schrift erwachsen, die ich
vor ein Paar Wochen veröffentlicht habe, und
die dem Herrn Herausgeber dieser Zeitschrift
Veranlassung gegeben hat, mir die Spalten der
Grenzboten (Heft 48 und 49) zu öffnen. Die
Schrift trägt den Titel: „Entwurf eines
Gesetzes betreffend die Religionsfreiheit im
Preußischen Staate" (Tübingen 19t 1, I. C.
B. Mohr, 1,60 M,). Sie ist nicht etwa ein
Produkt der Erregung über den Fall Jatho.
Ihre Wurzeln liegen tiefer. Der Verlauf
dieses Falles hat nur die Richtigkeit der An¬
sicht bestätigt, die sich mir in jahrelanger kirch¬
licher Praxis gebildet hat,, nämlich, daß der
Mangel an Religionsfreiheit im Preußischen
Staate allmählich zu einer schweren Gefahr
für die Religion selbst wird. Ich habe den
Weg gewählt, einen in Paragraphen geglie¬
derten, bis ins einzelne ausgeführten Entwurf
eines Staatsgesetzes vorzulegen, obwohl ich
mir natürlich bewußt war, welche schweren
Bedenken einem solchen Unternehmen von der
Hand eines nicht juristisch geschulten Fach¬
mannes entgegenstehen. Ich muß es in den
Kauf nehmen, daß die Fachleute eine solche
Arbeit als Dilettantenwerk gering schätzen. Es
ist Dilettantenwerk. Der Entwurf verhält
sich zu einem brauchbaren Gesetz nicht anders
als die Skizze eines Mannes, der sich ein
neues Haus bauen möchte, zu dem durch¬
geführten Grundriß des Architekten, der den Bau
selbst ausführen soll. Aber, wie es schwerlich
einen anderen Weg gibt, dem Architekten die
Bedürfnisse des Auftraggebers klarzumachen,
so wußte ich keinen anderen Weg, um den
zur Gesetzgebung berufenen Faktoren die Be¬
dürfnisse der Religion anschaulich vor Augen zu
stellen. ES muß fallen die staatsbürgerliche
Benachteiligung der Dissidenten und Juden und
um deswegen der obligatorische konfessionelle
Religionsunterricht, der religiöse Eid, der kon-
fessionelle Friedhof und drinn auch dieSub-
vcntionierung privilegierter Kirchen aus all¬
gemeinen Steuermitteln, sowie die politische
Beaufsichtigung ihrer mannigfachen Lebens-
äußerungen. Es musz offen zugestanden
w e r d e n die volleFreiheit der katholischen Kirche
in der Verwaltung ihrer innerkirchlichen^An-
gelegenheiten und die Freiheit der Gemeinde-
vildung und der Kircheubildung und Kirchen¬
ordnung innerhalb der protestantischen Re¬
ligionsgesellschaft. Es mich die rechtliche Sicher¬
heit und Existenzmöglichkeit wie der jüdischen
so jeder anderen nichtchristlichen religiösen
Körperschaft gewährleistet werden.
Ich hätte mich begnügen können, diese
Forderungen der Religion auszusprcche» und
dem Staatsmanne zu überlassen, wie erahnen
gerecht werden will, und niemand hätte mich
darob schelten dürfen. Ich hätte damit immer
noch etwas Besseres,!und Tieferes getan als
die, die einfach die Fahne „Trennung vonKirche
und Staat" an ihren Flaggenmast bißen und
nun jedem es anheimgeben, dies vieldeutige
Wort mit einem konkreten Inhalt zu erfüllen.
Über mir schien eben hier die Grenzlinie zu
liegen zwischen Agitation und Reform, daß der
Agitator lediglich die Forderungen der Zukunft
ins Auge faßt und seinen Beruf erfüllt, wenn
er dafür eine heiße Stimmung erzeugt, der
Reformer aber im Auge behalten muß, wie er
solchen Forderungen Genüge bieten kann, ohne
überlieferte Güter zu gefährden oder Preiszu¬
geben. Mit allgemeinen verschwommenen Aus¬
blicken und mit der Ausgabe nicht näher be¬
stimmter Schlagworte kann die große Sache
nicht gefördert werden, nur in der Erörterung
über konkrete Ordnungen und über die Ge¬
staltung im einzelnen und bei dem Versuche,
das undeutlich Gefühlte und Ersehnte in Formeln
zu gießen, kann die Einsicht in das, was werden
soll und wie es durchführbar ist, wachsen. Die
Stimmung der Verärgerung und Verbitterung
tut sich genug in Entrüstungskundgebungen,
Protesten und Parolen; aber wir müssen zur
Besinnung und zur Arbeit kommen.
Und wir haben wertvollste Güter zu wahren,
oder, wenn dies Wort zu hoch ist: wir haben
Notwendigkeiten zu berücksichtigen, die sich aus
unserer Geschichte und aus der eigentümlichen
Struktur unseres Volrskörpers gebildet haben.
Unser deutscher Staat war nicht auf dem Irr.
Wege, als er eine Verpflichtung gegenüber dem
religiösen Gemeinschaftsleben anerkannte und
übernahm. Wir bleiben dabei, von unserem
Staate Achtung zu fordern vor der Religion,
vor jeder Religion als der edelsten und
zartesten Betätigung geistigen Lebens. Wir
scheuen uns gar nicht vor dein Ausdruck, daß
der Staat der Religion zu dienen habe, nur
eben, gut lutherisch, in den Schranken seines
Berufes. Irgend eine Menschheitsnngelegenheit
für völlig beziehungslos zum Staate erklären,
heißt ihr den Wert für das Volksleben ab¬
sprechen. Wie? Handel und Landwirtschaft,
Handwerk und Arbeiterschaft, Kunst und Wissen¬
schaft, Schule und Literatur, Individuum und
Svzinlismus dürften vom Staate Ordnung
ihrer rechtlichen Verhältnisse und Garantien
für ihre Existenz- und Entwicklungsmöglichkeit
verlangen und die religiösen Gemeinschaften
dürfen es nicht? Sollten sie nicht sagen können:
„Sind wir denn nicht viel mehr denn sie?"
Haben sie kein inneres Anrecht zu dem Stolz,
im Haushalt des Volkes unentbehrlich zu sein?
Wir wollen weiter den Zusammenhang der
evangelischen Gemeinden des Landes, wie der
katholischen und jüdischen, nicht zerstört sehen.
Nicht eine Einheit zu schaffen, fordern wir
vom Staate: das kann er nicht. Aber einen
Zusammenhang, in dem die schwächeren Glieder
Rückhalt finden an den stärkeren und in dem
das Recht herrscht und nicht die Willkür. Ein
solcher Zusammenhalt ist ein Segen, und wir
wünschten Wohl, er wäre kräftiger und wirk¬
samer als jetzt, und wir brauchten die Scherf-
lein der Witwe und die Groschen der Kirchen¬
opfer nicht, um durch Gustav Adolf-Vereine
und ähnliche Hilfsvereine die Lücken dieses
Zusammenhanges auszustopfen. Ich begreife
nicht, wie man ernstlich das Unabhängigkcits-
Prinzip der Einzelgemeinde als Ideal auf¬
stellen kann. Die so denken, bitte ich doch
einmal im'^Sommer die Großstadtluft zu ver¬
lassen und durch die Dörfer dos Preußischen
Ostens zu wandern und sich dabei die Grau¬
samkeit dieses Programms zu überlegen. Ich
bitte sie, sich einmal nüchtern zahlenmäßig
klar zu machen, wie gering die Opferwilligkeit
des städtischen Bürgertums ist, und sich zu
fragen, ob man nicht zahlreiche bäuerliche
und kleinstädtische Gemeinden einfach dem
Untergange Preisgibt, wenn man sie Mein
auf die Stütze freier Liebestätigkeit anweist.
Ich bitte sie, nicht zu bergessen, daß selbst in
den Bereinigten Staaten, deren Bevölkerung
zu viel größerem Prozentsätze in Großstädten
lebt, die kirchliche Versorgung der Farmer¬
distrikte den allergrößten Schwierigkeiten be¬
gegnet. Ein solcher Zusammenhang ist auch
ein Segen für die Geistlichen. Wahrlich, ich
weiß mich frei von Geringschätzung des Laien¬
elementes, aber der Geistliche ist nicht schlecht¬
weg Diener der Gemeinde, sondern Diener
eines Ideals, Diener einer geschichtlichen Tra¬
dition an der Gemeinde. Er hat auch Rechte
gegenüber der Gemeinde, er hat unter Um¬
ständen die Pflicht, ihr zu widerstehen. Er
bedarf eines Rückhaltes, er bedarf auch wie
jeder Stand der Aufzucht und der Zucht.
Das Prinzip der Unabhängigkeit drückt auf
den geistlichen Stand, es gewährt den Ein¬
flüssen des Nepotismus, des Partikularismus,
des Geldsacks viel zu viel Raum. Sind doch
gerade die Pfarrer der Kongregationalgemein-
den in England die lebhaftesten Befürworter
eiues organischen Zusammenschlusses der Ge¬
meinden dieses Systems. Der geistliche Stand
steht in sozialer Beziehung und in gesellschaft¬
licher Achtung Wohl nirgends so niedrig wie
in Deutschland, — soll er denn noch tiefer
herabgedrückt werden?
Ich habe versucht, diesen Zusammenhang
zu garantieren durch die staatsrechtliche Kon¬
struktion eiues Verbandes sämtlicher evan-
gelischer Gemeinden des Staates, der sich selbst
verwaltet und mit Umlagerechton ausgestattet
ist. Diese Form ist uns bereits geläufig, sie
bietet die sichersten Garantien gegen die Wieder¬
kehr staatlicher Eingriffe, und sie liegt für die
evangelische Kirche auf der Linie ihrer bis¬
herigen Entwicklung. Der Verband würde
sozusagen ein Gustav Adolf-Berein im großen
mit ohne Beschränkung ans die Notlage der
Diaspora sein. Wie in diesem schon bisher
Protestanten allerRichtnngen gemeinsame wirt¬
schaftliche Interessen erfolgreich fordern, so
würde auch der Verband die äußere Fürsorge
für den Bestand und die Ausdehnung evan¬
gelischer Gemeindeorganisation in die Hand
zu nehmen haben. Daß er dies nur kann,
wenn ihm das Recht der Selbstbesteuerung
seiner Glieder und einer Aufsicht über die
Bermögensverwaltung wie über alle Unter¬
nehmungen und finanzieller Rückwirkung ein¬
geräumt wird, ist selbstverständlich.
Eine Frage kann nur sein, ob ein solcher
Verband auch für die katholischen Gemeinden
desLandes möglich ist, oder ob er an der Eigen¬
art des katholischen Kirchenrechtes scheitert.
Mir scheint dies nicht der Fall zu sein. Wenn
es dem katholischen Kirchenrechte nicht wider¬
streitet, daß hente über die der katholischen
Kirche zu gewährenden Subventionen, über
die Höhe der Pfarrgehälter und der Pfarr¬
pensionen, über die leistungsunfähigen Ge¬
meinden zu gewährenden Beihilfen Bestim¬
mungen von dem konfessionslosen Staat und
dem konfessionslosen Landtage getroffen werden,
wenn sich die katholische Kirche heute schon
eine staatliche Aufsicht über ihre Bermögens¬
verwaltung gefallen läßt: was sollte sie hin¬
dern, diese Funktionen von einem Verband
wahrnehmen zu lassen, der ausschließlich aus
Katholiken besteht?
Wir haben weiter zu wahren die Stärke
des Staates. Ein starker Staat ist uns
deutschen Protestanten Lebensnotwendigkeit,
um unserer Weltlage willen und um der kon¬
fessionellen Zerrissenheit unserer Nation willen.
Verbünde von solchem Umfange und mit einer
so tiefgreifenden Zuständigkeit, wie mein Ent¬
wurf sie Plant, wird kein seiner Verantwortung
bewußter Staatsmann zulassen, ohne wirk¬
same staatliche Aufsicht und Kontrolle, ohne
Handhaben des Eingreifens und derHemmung.
Und wenigstens wir Protestanten sollten nichts
dagegen haben: wir wollen doch kein Ferment
der Zersetzung bilden, sondern ein Salz deS
Volkslebens sein. Der Staat kann daher auch
zwingende Normen über die religiöse Kinder¬
erziehung und vor allem die Schule nicht aus
der Hand geben. Ich bin zwar der Meinung,
daß das staatliche Schnlmonopol eine gewisse
Erweichung Wohl vertragen könnte, schon um
Pädagogischen Reformbestrebungen mehr Ent¬
faltungsmöglichkeit zu geben. Aber auch die
Privatschule muß unter seinen Augen bleiben,
und in die Staatsschule darf keine fremde
Hand hineingreifen.
Hier bietet nun der Religionsunterricht
eine ganz eigentümliche Schwierigkeit. Die
Lösung dieser Schwierigkeit kann man in ver¬
schiedener Richtung versuchen: entweder so,
baß der Staat auf jeden Religionsunterricht
verzichtet, die Staatsschule auf dem Grundsatze
der Religionslosigkeit aufbaut und dafür be-
stimmte Wochenstunden frei laßt zum Unter¬
richt in der Religion durch die von den Eltern
frei zu wählenden Religionsgesellschaften.
Hiergegen spricht, daß die Staatsschule damit
auf ein eminent wichtiges Mittel der Geistes¬
und Charakterbildung verzichten würde, und
daß die Seelen der Kinder damit einem voll¬
ständig unkontrollierten Einflüsse ausgesetzt
würden. Oder man kann den bisherigen von
den Kirchen abhängigen und nach Konfessionen
gegliederten Religionsunterricht durch einen
konfessionslosen, lediglich von der Religions¬
wissenschaft bestimmten, zwangsweise,! Reli¬
gionsunterricht ersetzen. Dies ist sicherlich der
idealste Weg. Auf diese Weise könnte der
Staat die reichen Schätze für Geist, Gemüt
und Willen, die die Religionsgeschichte bietet,
für die Schule nutzbar machen, ohne in irgend¬
welche Abhängigkeit von den Kirchen zu ge¬
raten. Aber würden dadurch nicht schwere
Konflikte der Gewissensfreiheit herbeigeführt
werden? Wenn schon die Protestanten sich
bereit finden lassen sollten, einen solchen Unter¬
richt anzunehmen, der katholischen Kirche würde
damit eine Verleugnung ihrer Grundsätze zu¬
gemutet und aufgezwungen werden, die einen
erbitterten und anhaltenden Kampf wachrufen
müßte. So scheint mir doch nur der Weg
zu bleiben, baß der Staat um dem konfessionell
gegliederten Religionsunterricht festhält, ihn
aber des Zwangscharalters entkleidet und die
Leitung der RoligionSgesellschaften auf das
Maß einer fachmännischer Beratung herab-
drückt. Ich wenigstens weiß bei der Lage
unseres Volkes keinen anderen Weg, der den
Postulaten der Gewissensfreiheit entspricht.
der Protestantismus braucht Kirchen, um¬
fassende Körper voll innerlicher religiöser
Einheit. Und der Staat muß die Möglichkeit
zur Bildung von solchen Kirchen, d. h. von
Gemeindeverbänden geben, die nach der Über¬
zeugung ihrer Mitglieder, unbeengt durch
kirchenpolitische Rücksichten, sich selbst Ord¬
nungen der Lehre und des Gottesdienstes
schaffen und gemeinsame Liebes- und Missions¬
werke treiben können. Nun eben: ohne Hilfe
des Staates, durch die Kraft ihres Gemein-
geistes, durch ihre Arbeit und Leistung. Es
kann kein Zweifel sein, daß das Bedürfnis
nach geistlichem Rückhalt, die Einsicht in die
Gefahr der Isolierung, der Drang nach ge¬
meinsanier Aktion die allermeisten Gemeinden
unter Führung ihrer Geistlichen treiben wird,
sich zu größeren Verbänden zusammenzu¬
schließen, auch wenn kein Staat sie dazu
zwingt, wenn er es ihnen nur erlaubt. Und
ich Wage die Prognose, solche Kirchen werden
auch ohne Staatsgewalt bald sehr mächtig
sein. Man fürchte nicht, daß sie Stätten träger
Stagnation werden; schon allein das Interesse
an Macht und Ausdehnung wird ein wirksames
Motiv gegen Verengerung und Verhärtung
sein. Kirchen, wenn sie wirklich sind, was
der Name besagt, werden immer voller Kampf
sein, immer in Gefahr, auseinander zu
brechen; aber kirchliche Kämpfe müssen reine
Kämpfe sein und die Gefahren dazu dienen,
ihre Lebendigkeit zu wahren und zu stärken.
Bei dem Versuch, den ich der Öffentlichkeit
vorgelegt habe, handelt es sich nicht um for¬
male Freiheiten, sondern Um die Religion.
Harnack hat in den letzten Kämpfen einmal
folgendes beherzigenswertes Wort geschrieben:
„Es gibt noch etwas Wichtigeres als die
Freiheit, das ist die Wahrheit, die Eigenart
und die Kraft einer Sache. Erst kommt sie,
denn wenn sie schwindet, schwindet der Kern
und nur Hülsen und Worte bleiben übrig,
dann erst kommt die Freiheit." Aber eben
die Eigenart und die Kraft unserer Fröm¬
migkeit, oder, wie ich lieber sagen möchte, ihr
Charakter kann sich nur entfalten in Freiheit.
Endlich sind Wir voller Sorge um die
Bewahrung der Kontinuität auch in der inneren
Entwicklung der Religion. Nur freilich kann
diese nicht Sorge des Staates sein. Hierzu
sind Kirchen nötig. Für die katholische Be¬
völkerung sorgt die Hierarchie. Welchem
Organe soll diese Aufgabe zufallen innerhalb
des Protestantismus, der ein von vornherein
gegebenes Organ dazu nicht besitzt? Auch
Nach Heimgang des alten Reichstags haben die Wahlkämpse für den neuen
mit einer Schärfe eingesetzt, wie sie schon lange nicht beobachtet worden ist.
Bei allen Parteien ohne Ausnahme besteht die Überzeugung, daß im nächsten
Vierteljahr nicht nur um die Mandate für eine Legislaturperiode gekämpft wird,
daß vielmehr von der Zusammensetzung des nächsten Reichstags unbedingt die
Orientierung der inneren Politik Deutschlands für Jahrzehnte abhängen muß.
In der Zusammensetzung des nächsten Reichstags wird aller Wahrscheinlichkeit
nach die ganze Unzufriedenheit ihren Ausdruck finden, die sich im Lande seit
vielen Jahren aufgespeichert hat, sei es aus nationalen, sozialen, wirtschaftlichen
oder persönlichen Gründen. Aus dieser Unzufriedenheit erwächst auch das starke
Bedürfnis nach politischer Betätigung, das allenthalben in bürgerlichen Kreisen
zu beobachten ist, und nach politischen Taten, die nicht nur von der Regierung,
sondern auch von den Parteiführern gefordert werden.
Die Negierung erweckt, je näher der Wahltermin heranrückt, um so mehr
den Anschein, als wolle sie sich in den Streit der Parteien um teilten Preis
mischen. Sie beschränkt sich lediglich darauf, möglichst exakte Zahlen und Daten
über den Stand der Reichsfinanzen und die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung
zu verbreiten: ack usum äelMni. Mögen die Parteien damit machen, was
sie wollen! Daneben sind die Behörden in den einzelnen Wahlkreisen nur an¬
gewiesen, Angriffe auf und Entstellungen von Negierungsmaßnahmen zurück¬
zuweisen beziehungsweise richtig zu stellen. Man gewinnt den Eindruck, als
wolle die Reichsregierung zunächst einmal das Volk sprechen lassen, um an dem
Ergebnis der Wahlen die wirkliche Stimmung kennen zu lernen. Herr v. Beth¬
mann erscheint uns dem von Wahlagitatoren erhitzten Lande gegenüber wie ein
Alchimist, der aufmerksam das Brodeln in einer über Feuer gesetzten, mit
tausend heterogenen Dingen gefüllten Retorte beobachtet, um zu sehen, was unter
der Einwirkung der Siedehitze herauskommt. Falls die Regierung, wie hier
und da gemunkelt wird, die Durchführung weitergreifender Pläne in ihrem
Programm hätte, mit denen sie gegenwärtig nur zurückhält, dann könnte man
sich mit ihrer abwartenden Haltung, nachdem diese zweieinhalb Jahre hindurch
geübt wurde, auch den Wahlkämpfen gegenüber einverstanden erklären. Fehlen
aber solche Pläne, dann sähe der Wahlkampf einem Plebiszit verteufelt ähnlich,
dessen Ergebnis — gleichgültig wie es aussähe — für das Reich die schwersten
Folgen nach sich ziehen müßte.
Die Aufgaben der Parteien stehen unter Berücksichtigung obiger Begleit¬
umstände für den Wahlkampf fest und sind wenig kompliziert. Jede Partei¬
richtung muß danach trachten, zunächst die Zahl ihrer Abgeordneten so stark
als möglich zu vermehren, ohne Rücksicht darauf, ob der einzelne Mandattrüger
wirklich genau auf dem Boden der einzelnen Partei steht oder nicht. Diesem
Prinzip ist nun nach langen Mühen der beteiligten Parteien Rechnung getragen
durch die Parteigruppierung in bürgerliche Rechte und Linke sowie Demokratie,
wobei jede Gruppe gestützt ist auf die entsprechenden Wirtschaftsverbände: Bund
der Landwirte, Zentralverband, Christliche Gewerkschaften als Stütze der ver¬
bündeten Konservativen und Ultramontanen; Hansabund, Bauernbund, Beamten¬
vereine und Bund der Industriellen als Stütze der verbündeten Nationalliberalen
und Freisinnigen; die freien Gewerkschaften als Stütze der Demokraten. Je
nachdem, ob der Landbuud, der Hansabund oder die freien Gewerkschaften —
das sind die drei Angelpunkte, um die sich alles bei den Wahlen dreht — sich
als die Mächtigeren erweisen, wird die Parteikonstellation im nächsten Reichstage
ausfallen und werden die liberalen Mittelparteien stärker oder schwächer sein.
Darauf aber kommt es an für die Entscheidung der Frage, ob wir einen im
nationalen Sinne arbeitsfähigen Reichstag erhalten oder nicht. Wer somit das
Zutrauen zu den liberalen Parteien hat, daß sie bei genügender Stärke das
Reich aus dem krisenähnlichen Zustande, in dem es sich befindet, hinausführen
können, der wird auch dann einen liberalen Stimmzettel in die Urne werfen,
wenn er seiner Weltanschauung nach ein Konservativer ist. Wer dies Zutrauen
nicht hat, wird entweder konservativ oder gar nicht wühlen und im letzteren
Falle andeuten, daß er sich Heilung nur von einem radikalen Schritte, nämlich
durch einen Sieg der Sozialdemokratie über alle anderen Parteien verspricht.
Hinge das politische Leben eines Volkes lediglich von mechanischen Wir¬
kungen und Gegenwirkungen der Parteistärken ab, so könnte man wohl einer
Radikalkur das Wort reden. Aber neben dem Verhältnis der Zahl spielen
wichtigere, weil weiter wirkende Momente eine Rolle. Gewiß, ein Sieg der
Sozialdemokraten auf der ganzen Linie würde dem dauernd uneinigen
Bürgertum einen heilsamen Schreck in die Glieder jagen, würde vielleicht zur
Bildung einer neuen großen konservativen Partei nationaler Schutzzöllner führen,
die imstande wäre, der Fahrt des Reichsschiffes einen festen Kurs in der inneren
und äußere» Politik zu geben. Mit diesen vagen Möglichkeiten aber wären
die Vorteile erschöpft, und es bliebe als sicher nur der eine Nachteil zurück: die
Untergrabung aller Autorität und die Verwirrung der politischen Anschauungen
auf viele Jahre hinaus. Dieser Preis scheint aber doch zu hoch, um damit
die durchaus nicht sicher stehende Heilung zu erkaufen. Und damit fallen auch
alle Erörterungen in sich zusammen, die darauf hinzielen, uns die Stärkung
der Sozialdemokratie, sei es direkt oder indirekt, schmackhaft zu machen.
Die neueste Gesetzgebuugsarbeit des Vatikans hat uns wieder vor
Augen geführt, daß es neben der Sozialdemokratie auch noch einen
andern Feind zu bekämpfen gibt, den Ultra montanismus. Die
politischen Methoden der Sozialdemokratie sind ohne Frage abstoßender
und durchaus geeignet, uns mit Ekel zu erfüllen; die Methoden der Ultra¬
montanen dagegen sind wegen ihrer Feinheit häufig gar nicht zu durchschauen
und vermögen sogar dem kühlen Beobachter einen ästhetischen Genuß zu bereiten.
Die Sozialdemokratie wühlt gegen die Monarchie und den bürgerlichen Staat
mit rohen, offenkundiger Mitteln, denen ein gesundes und politisch reifes Bürger¬
tum leicht begegnen könnte. Die Ultramontanen unterwühlen dauernd in zäher
Minierarbeit die Grundmauern des Kaiserstaates, stets maskiert durch angebliche
Pflichten der Religiosität. Ihnen beizukommen ist ein schweres, wenngleich
interessantes Studium, das uns nur dann alle die tausend Kanäle, auf
denen sie ihren Internationalismus in das Volksdenken einflößen, kennen lehrt,
wenn wir die Tätigkeit der Römlinge mit unausgesetztem Mißtrauen betrachten.
Unter der Maske einer staatserhaltenden Partei wirkt der Ultramontanismus
durch das Zentrum und die christlichen Gewerkschaften. Unter der Maske
der Wissenschaftlichkeit werden Geschichtswerke über das Werden
des deutschen Volkes verfaßt, die darauf ausgehen, die römische Kirche als den¬
jenigen Faktor der Weltgeschichte hinzustellen, dem die Deutschen allein ihre
heutige Kultur und politische Macht verdanken. Welche Gefahren damit für
das Reich und die Nation verbunden sind, soll im Laufe der nächsten Monate
an zwei Publikationen des Herderschen Verlags zu Freiburg von Fachmännern
eingehend dargetan werden. Heute sei nur hingewiesen auf das dreibändige
Werk des Jesuiten Hartmann Grisar „Luther", in den: der Reformator syste¬
matisch mit einem großen, scheinbar streng wissenschaftlichen Apparat aller der
großen Eigenschaften und Gedanken entkleidet wird, die ihn in unseren Augen
zum Helden erheben, ferner auf das gleichfalls dreibändige Werk von I)r. Johannes
B. Kißling „Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche", in dem wir die
Hohenzollern als eine seichte Gesellschaft von Oportunisten hingestellt finden, die
ihre Politik der römischen Kurie gegenüber nicht von großen nationalstaatlichen
Gesichtspunkte» leiten ließen, sondern von kleinlichen, geschäftlichen Interessen, —
der eine aus Liebe zu seinen Soldaten, der andere um die Einnahmen der
Akzise zu vergrößern. Wenn die „ultramontane" Wissenschaft nicht ganz bestimmte
politische, dem deutschen Kaiserstaat feindliche Ziele verfolgte, brauchte weder
Grisars „Luther" noch Kißlings „Geschichte des Kulturkampfs" in dieser Zeitzu er¬
scheinen. Beide Werke sind Vorboten neuen, schweren Kampfes um die deutsche Kultur.
Die ultramontane Gefahr erscheint aber bei näherem Zusehen auch
aus anderen Gründen größer als die sozialdemokratische. Der Ultramontanis-
mus ist eine geistige Macht, deren Kraftquelle außerhalb der Grenzen des Reichs
liegt, deren Weiterentwicklung in nur sehr geringem Maße beeinflußt wird durch
die Entwicklung der kulturellen Kräfte bei den deutschen Katholiken. Unabhängig
von den Bedürfnissen und häufig im Gegensatz zu dem Bedürfnis der deutschen
Katholiken, wie das letzte motu propno zeigt (vgl. Heft 50), entwickelt sich auch
die vatikanische Gesetzgebung so, daß sie den deutschen Katholiken öfter und öfter
vor einen schweren Gewissenskonflikt stellt als katholischen Christen und deutschen
Staatsbürger. Die deutsche Sozialdemokratie ist dagegen eng verbunden mit
der breiten Unterschicht des deutschen Volkes und schöpft ihre Kraft hauptsächlich
aus der Befriedigung der Bedürfnisse deutscher Arbeiter. Sie kann nur so
lange als politische Partei Einfluß nehmen, als sie den Bedürfnissen nicht der
Hefe im Volk, sondern der gewissenhaft arbeitenden Masse gerecht zu werde»
sucht. Dort, wo zurzeit noch ihre Hauptkraft liegt, ist sie auch überwindbar.
Von dem Augenblick an, wo die Gründe für das Entstehen einer Klassen-
kampfpartei mit kosmopolitischen Zielen beseitigt sind, von diesem Augenblick
an beginnt auch die Quelle zu versiegen, aus der sie ihre Kräfte schöpft, und
nur eine Frage der Zeit kann es dann sein, wann die Quelle vertrocknet und der
Baum der sozialdemokratischen Organisationen verdorrt. Und weiter: während
wir Deutsche die Macht haben, der Sozialdemokratie das Wasser abzugraben
durch eine zweckentsprechende Schul-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, stehen wir
dem Ultramontanismus aus wiederholt genannten Gründen so lange machtlos
gegenüber, als es keine deutsch-katholische Kirche gibt, deren Mitglieder sich
die Gesetzgebers vom Auslande her verbitten. Also: auf der einen Seite
positive Aufgaben mit Aussicht auf Erfolg, auf der andere» eine Sisyphusarbeit.
Nun wird mit Recht eingewendet: Die ultramontane Zentrumspartei hat
seit einer Reihe von Jahren an der Durchführung großer nationaler Aufgaben
bei der Bewilligung der Mittel für Heer und Flotte mitgewirkt; die Sozial¬
demokraten haben dagegen in allen großen nationalen Fragen bis in die jüngste
Zeit hinein versagt. Bei näherer Untersuchung der einschlägigen Verhältnisse
erscheint indessen die Rechnung doch nicht so glatt, wie sie auf den ersten Blick
aussieht. Die Zentrumspartei wurde zu ihrem Einlenken in nationalen Fragen
gezwungen durch die Tatsache, daß viele deutsche Katholiken sich von ihr abwandten
und für das Reich optierten. Es ist das nicht ein Zeichen sür einen Wechsel
der Ziele des Ultramontanismus, sondern lediglich ein solches für den gesunden
nationalen Sinn der deutschen Katholiken, der stark genug ist, den Wagen
der Zentrumspartei wenigstens in den Lebensfragen des Reichs auf den
nationalen Strang zu schieben. Diese Erscheinung läßt uns hoffen, daß der
Ultramontanismus vielleicht einmal ganz aus den Reihen der deutschen Katho¬
liken verschwindet, nicht aber aus denen der Zentrumspartei, solange darin der
von Rom abhängige Klerus die Macht hat. Dasselbe, was wir von unseren
katholischen Mitbürgern erwarten, dürfen wir auch von den deutschen Arbeitern
erhoffen, die gegenwärtig als sozialdemokratische Wähler am republikanischen
Karren ziehen. Auch sie werden Verständnis für die Bedürfnisse des Reichs
geroinnen, sobald sie erkennen, daß diese Bedürfnisse sich mit ihren eigenen
Vorteilen decken. Graf Posadowsky hat kürzlich ausgeführt, die Sozial¬
demokratie sei vor allen Dingen gefährlich, weil sie die deutsche Geschichte
ignoriere; sobald sie zur Mitarbeit am Staat herangezogen würde, sei sie
aber gezwungen, mit den durch eine geschichtliche Entwicklung belasteten Tat¬
sachen zu rechnen, und werde damit dem Radikalismus entfremdet. Nun
dürfte die Entfremdung vom Radikalismus nicht arg schnell gehen. Gewiß.
Aber Graf Posadowsky zeigt mit seinen Ausführungen doch den Weg, auf
dem die Sozialdemokratie allmählich zu überwinden wäre. Der Weg führt
In der auswärtigen Politik liegen Veränderungen wesentlicher Natur nicht
vor. Die Marokkofrage hat nunmehr auch vor der französischen Kammer
ihren Abschluß gefunden, und Herr de Selves hat mit großem Geschick seine
Politik verteidigt. Neues haben die Kammerverhandlungen den Lesern der
Grenzboten nicht gebracht. An den bekannten feststehenden Tatsachen vermag
auch ihre Darstellung in französischer Beleuchtung nichts zu ändern. Bedeutungs¬
voller sind schon die Auslassungen des Herrn Ssasonow, der kürzlich in
Paris weilte und das Bedürfnis hatte, sich einem Vertreter des halbamtlichen
russischen Telegraphenbureaus gegenüber auszusprechen. Rußland wird besonders
von England wegen seines Vorgehens in Persien mit Mißtrauen betrachtet, und
Frankreich fürchtet von dieseni Vorgehen eine Gefährdung seiner Ententepolitik.
England möchte unter allen Umständen die Integrität des persischen Staates
erhalten wissen, um die andernfalls eintretende nachbarliche Berührung mit
Rußland zu vermeiden. Eine lange russisch-englische Grenze ist den englischen
Politikern gleichbedeutend mit einer ständigen Bedrohung Indiens durch Rußland.
Hierzu und über angebliche Schritte Rußlands wegen der Dardanellenfrage hat
Herr Ssasonow den Franzosen beruhigende Erklärungen gegeben, die natürlich
den Lauf der Tatsachen nicht aufzuhalten vermögen.
Die Lage der Italiener in Tripolis ist während der abgelaufenen
Woche nicht günstiger geworden, wohl aber die der Türkei, die die Zeit emsig
genutzt hat, das Landheer zu rüsten und ihre kleine Flotte gefechtsbereit zu
machen, so daß es mit dem Friedensschluß noch einige Weile haben dürfte.
In China gewinnt eine ruhige Reformpartei, ermutigt und gestärkt durch
Unan Shih-Kais politische und militärische Maßnahmen, wennauch langsam, an
Boden. Wie es gegenwärtig im Lande der Mitte noch aussieht, davon gibt die
nachstehend abgebildete Dollarnote der „Republik" China einige Auskunft.
Diese Ntote gehört nicht zu den Fälschungen, mit denen geschäftstüchtige
Japaner das Land überschwemmen, soll vielmehr ein gangbares Zahlungsmittel
in Schanghai bilden.
Deutschland leidet augenblicklich stark unter dem Ungeziefer englischer
Spione. Es erklärt sich daraus eine gewisse Nervosität, der wir allerorten in
der Presse begegnen. Lassen wir uns in diesem Zustande nicht zu Mißgriffen
verleiten, sondern trachten wir danach, wirksame Mittel zur Bekämpfung des
englischen Spionagesystems ausfindig zu machen. Vorschläge dafür in der Presse
machen zu wollen wäre unmöglich. Denn zumeist fehlt die genügende Detail
keuntnis, um wirklich nützliche Maßregeln vorschlagen zu können, und, wo solche
vorhanden, dürste von ihr aus nahe liegenden Gründen kein öffentlicher Gebrauch
Die Tägliche Rundschau hat ihren Lesern wieder einmal von einer angeblichen schaudert
der Grenzboten berichtet: In ihrer Ur. 577 hat sie es als möglich und wahrscheinlich hin¬
gestellt, ich hätte in den Neuen Militärischen Blättern einen Artikel über auswärtige Politik
geschrieben, der die Haltung der Grenzboten in der Marokkofrage — also meine eigene —
herausstreicht. Ferner hat die Tägliche Rundschau behauptet, in jenem Artikel der N. Mil. Bl.
sei Herr v. Kiderlen dem Publikum als neuer Moltke vorgeführt worden. Beides ist unwahr.
Das Blatt hat es für angebracht gehalten, eine entsprechende Berichtigung des Artikelschreibers,
nämlich des Hauptmanns z. D. Dr. Fritz Roter, abzulehnen. Es handelt sich hier somit um
einen Fall bewußter Irreleitung der Leser durch die „unparteiische, nationale" Tägliche
H^IMS»
'Ä^^WMer Schutz des deutschen Arbeiters auf dem Lande") liegt vorzugsweise
in der Eröffnung freier Bahn zum Erwerb einer Haus-und Landstelle
mit theoretisch freiem Selbstbestimmungsrecht über die Verwertung
der eigenen Arbeitskraft. Die Ansiedlung selbständiger Arbeiter ist
^ seit Jahren von Theorie und Praxis allgemein gefordert worden.
Überall wird anerkannt, daß dieLandfluchtder Arbeiter in dieStädte und industriellen
Bezirke nicht weniger eine Schwächung der Volkskraft und Volksgesundheit wie eine
zunehmende Trübung des nationalen und sozialen Empfindungslebens in den
Arbeiterkreisen nach sich ziehe. ManmaltdenkritischenMoment für dieLandwirtschaft,
in dem der Zuzug ausländischer Arbeiter unterbunden wird, mit den grellsten
Farben an die Wand. Der ländliche Arbeitgeber beklagt sich bitter, wenn er
seine Ernte aus Mangel an Arbeitskräften nicht bewerkstelligen kann, und weist
mit Ingrimm auf die Nichtstuer hin, die arbeitslos in den Städten herum¬
lungern. Es wird auch die Berechtigung der Freizügigkeit angezweifelt, ja die
extremen Vertreter des eigenen Geldbeutels würden selbst nicht vor Zwangs¬
maßregeln anderer Art zurückschrecken, wenn sie nicht fürchteten, als töricht
beurteilt zu werden. Da ist es verdienstvoll, wenn die Frage der Seßhast-
machung der Arbeiter wieder von Dr. Schiele und seinem sachverständigen
Kronzeugen, dem Amtsrat Käufer, angeregt worden ist. Es gibt unter den
heutigen Verhältnissen keinen größeren Fehler in politischer wie sozialer Rich¬
tung als die Vernachlässigung dieser Frage. Lasse man einmal das Interesse
des Arbeitgebers ganz beiseite; er könnte ja persönlich vorgehen, obgleich
anzuerkennen ist, daß ihm eine solche Absicht durch Rechts- und Privatverhält-
nisse sehr erschwert ist. Aber im Interesse der Allgemeinheit liegt es doch
sicher, wenn der Sozialdemokratie in den Städten ein Widersacher auf dem
Lande aus gleichem Stande erwächst, im kulturellen Interesse liegt es nicht
minder, wenn einem unserer wertvollsten und opferwilligsten Berufsstände die
Aussicht eröffnet wird, wenigstens den Lebensabend auf eigener Scholle beschließen
zu können. Das kann im großen Maßstabe überhaupt nicht, in: kleinen nur
vielleicht in Gestalt eines Häuschens dem industriellen oder städtischen Arbeiter
gewährt werden. Ihm würde aber Acker, Wiese und Vieh fehlen, die not¬
wendigen Requisiten als Zubehör zum Hause, um sich mit dem Boden des
Vaterlandes vereint zu fühlen. Dem Ruf der Sozialdemokratie „Los vom
Boden" wird hier ein ebenso entschiedenes „Halt fest am Boden" entgegen¬
halten, es sei denn, daß der ländliche Arbeitgeber aller Einsicht bar wäre und
sich den freien Arbeiter durch unfreie Behandlung zum Feinde machte. Es ist
zuzugeben: man fürchtet manchmal den freien Arbeiter bis zu einem gewissen
Grade seiner Unabhängigkeit wegen. Es ist ja so viel bequemer, nur Jnseen,
Tagelöhner und Ausländer in der Arbeit zu haben und ihn nach Willkür zu
ersetzen. Aber die so rechnen, bedenken dabei nicht, daß es in absehbarer Zeit
unmöglich erscheint, nur freie Arbeiter zu beschäftiget!. Sie können zunächst nur
wenig zahlreich sein. Aber gerade dadurch möchten sie unbezahlbar sein sowohl
im Betriebe selbst, weil sie die intelligenteren sind, wie um deswegen, weil sie
den anderen als Sporn dienen, sich durch Sparsamkeit und Fleiß zu gleicher
Stellung durchzuarbeiten.
Wie kommt es nun aber, daß die Seßhaftmachung der ländlichen Arbeiter
nicht vorangeht, wenn ihre Notwendigkeit doch allerseits hervorgehoben wird?
Der Staat hat doch den nervus rerum mobil gemacht; er zahlt als Zuschuß
für jede Arbeiterstelle, wenn auch in verdeckter und vielleicht nicht zweckmäßiger
Form in den Ostmarken 1000 Mark, in Ostpreußen 800 Mark und in anderen
Siedlungsprovinzen 600 Mark. Aber es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß
mit Geld allein die Sache zu fördern ist. Die Schuld des mangelnden Fort¬
schrittes, der sich noch mehr und mehr herausstellen wird, liegt einmal in der
unglücklichen Organisation, die der vorige Landwirtschaftsminister zur Begründung
von Arbeiterstellen geschaffen hat, und zweitens in dem theoretisch und praktisch
unzulänglichen Aufbau, der als Norm für die Begründung solcher Arbeiter¬
stellen aufgestellt worden ist. Die großzügige Idee des Generallandschafts¬
direktors Kapp in Ostpreußen, mit Hilfe der Landschaft eine zweckmäßige Kolo¬
nisation durchzuführen, und das verständnisvolle Anerbieten der Landschaft selbst,
ihre Arbeitskräfte und erhebliche Geldmittel in den Dienst der Sache zu stellen,
hat der vorige Landwirtschaftsminister verworfen. Zwar trat die Arbeiter-
ansiedlung dabei nicht in den Vordergrund, vielleicht um nicht der Engherzig¬
keit Spielraunr zu umveisen Befürchtungen zu geben. Immerhin war auch
ihrer lebhaft gedacht. Es sollten neben Bauern auch Arbeiter angesiedelt
werden, um dem benachbarten Grundbesitz Arbeitskräfte zu schaffen. Einer
Persönlichkeit, wie dem Generallandschaftsdirektor, sind aber weitere Ziele und
Zwecke der Scßhaftmachung der Arbeiter sicher nicht verschlossen geblieben, und
man kann bestimmt annehmen, daß sie bei der geplanten Durchführung der
Kolonisation eine hervorragende Rolle gespielt hätten. So viel erscheint sicher,
daß es keine Organisation gibt, die an sich so geeignet zur Kolonisation ist,
wie die Landschaft. Denn in ihr konzentriert sich einmal der gesamte Gro߬
grundbesitz mit unbegrenztem Kolonisationsobjelt, zweitens hat dieser gerade den
dringendsten Bedarf an Arbeitern und müßte daher auf die Dauer auf ihre
Ansiedlung den größten Wert legen, und drittens ist die Landschaft die geborene
Vermittlerin in der Regelung der Hypotheken, sei es, daß nun ganze Güter
oder Gutsteile aufgeteilt werden sollten. Gerade dieser letzte Umstand, der es
heute deur Einzelbesitzer sehr erschwert, Gutsteile an selbständige Arbeiter aus¬
zulassen, war allein von so hervorstechender Wichtigkeit, daß dahinter die Frage
der öffentlich-rechtlichen oder privat-rechtlichen Institution, um die es sich zur¬
zeit handelte, in den Hintergrund zu drängen gewesen wäre.
Statt dessen wies der Landwirtschaftsminister das Anerbieten der Landschaft
Ostpreußens zugunsten einer auf privatrechtlichen Grundsätzen aufgebauten An-
siedlungsgesellschaft ab. Auch diese wird nebenher die Seßhaftmachung der
Arbeiter betreiben; für das gesamte Gebiet der östlichen Monarchie hat der
Minister aber diese Aufgabe vornehmlich den Kreisen überwiesen. Das ist wohl
eine der verkehrtesten Maßregeln, die sich die preußische Verwaltung in neuester
Zeit in ihr Schuldbuch zu schreiben hat. Denn niemand ist ungeeigneter für
die ihm zugemutete Funktion als der Kreisausschuß mit dem Landrat an der
Spitze. Schon der eine Gesichtspunkt genügt zuni Beweis, daß die Arbeiter-
ansiedlung vielfach zu Kontroversen mit den Gemeinden Veranlassung gibt, deren
Lösung, wenn sie zuungunsten der Gemeinde erfolgt, die Unzufriedenheit gegen
die Behörde begründet, deren Wirksamkeit in erster Linie auf Vertrauen beruht.
Es kollidieren da so viele Interessen, daß es unbedingt erforderlich ist, ihre
Vertretung den Behörden zu entziehen und sie gemeinnützigen Gesellschaften oder
höchstens Instituten zu überweisen, deren Aktionen nicht direkt der staatlichen
Aufsicht unterliegen. Aber dieser falsche Aufbau, durch den die ganze Frage zu
einem gelegentlichen Spielzeug herabgedrückt wird, ist nicht die einzige Untat.
In der Provinz Posen hat man die Tätigkeit der gemeinnützigen Genossenschaften,
deren Mitglieder ihren Geldbeutel aus nationalen Motiven in den Dienst der
Seßhaftmachung von Arbeitern stellten, in ihrer Wirksamkeit eingeengt und auch
hier die Kreise zu den Trägern der Aufgabe bestimmt. Man stelle sich nur
vor. daß der Kreisausschuß in einer polnischen Gemeinde deutsche Arbeiter an¬
siedelt, und man wird zugleich ein Bild von der Zahl und der Größe der Konflikte
haben, die sich mit Naturnotwendigkeit ergeben und den Frieden stören müssen.
Hier gerade war es leicht, die vorhandenen achtzehn Genossenschaften in einem
Verbände zusammenzufassen und unter Mitwirkung der im Hintergrunde stehenden
Ansiedlungskommission ini großen Stil die Kleinsiedlung unter Wahrung technisch
festgestellter Grundsätze zu betreiben. Damit hätten sich die gegen die ein¬
zelnen Genossenschaften hinsichtlich ihrer Tätigkeit erhobenen Vorwürfe leicht
beseitigen lassen.
Zunächst sind also die Aussichten der Förderung von Arbeiteransiedlungen,
soweit sie mit Organisationsfragen zusammenhängen, nicht vielversprechend. Nicht
viel anders steht es hinsichtlich der Rezepte, die von seiten der Wissenschaft
verschrieben worden sind. Da heißt es, nur in Landgemeinden ist der Arbeiter
anzusiedeln, aber dazu noch nur in solchen, in denen ihm mehrfache Gelegenheit
zur Arbeit gegeben ist. Die gleißende Farbe, mit der hier die öffentliche Meinung
gefangen genommen wird, kennzeichnet die Idee, daß ein seßhafter Arbeiter vor
allen Dingen unabhängig sein soll. Sehr schön! Aber gibt es denn überhaupt
eine völlige Unabhängigkeit? Steht sie überhaupt dem Beamten, dem Angestellten,
dem Eisenbahn- oder Bergarbeiter zur Verfügung, wenn ihm die Mittel zur
Herstellung eines eigenen Hauses gewährt wurden? Sicher nicht in höherem
Maße, als dem auf eigener Scholle sitzenden Arbeiter, der einen nicht un¬
bedeutenden Teil seines Einkommens aus ihr und nicht von fremden Leuten
bezieht. Nicht auf die Unabhängigkeit, nicht auf die Möglichkeit seiner kommunalen
Betätigung kommt es in erster Linie an, sondern auf die Sicherheit eines
dauernden Verdienstes. Die Freiheit der Arbeitsstätte, die Freiheit, sein Besitztum
gegebenenfalls zu veräußern, soll und muß ihm theoretisch bleiben, aber wenn sich
ihm durch eine, wenn auch unbequeme Abhängigkeit des praktischen Lebens eine
sichere Aussicht auf den Unterhalt der Familie und seine wirtschaftliche Prosperität
ergibt, so wird er damit noch nicht anders gestellt wie hunderttausend andere
Staatsbürger. Und ein Moment wird vorliegend viel zu wenig berücksichtigt.
Wenn man davon ausgeht, daß zu einer selbständigen Arbeiterstelle unbedingt
die Kuhhaltung gehört, so ist ihre Größe dadurch bedingt. Wer soll aber die
vier Morgen Acker pflügen, eggen usw., wer soll die Gespannarbeiten ver¬
schiedenster Art leisten? Etwa der Lohnfuhrmann? Das würde viel zu teuer
sein. Es ist nur der Arbeitgeber, der hier in Frage kommt, und zu dem der
Arbeiter daher auch in ein gewisses Abhüngigkeitsverhältnis tritt. Wo diese
Voraussetzung nicht zu erfüllen ist, da sollte man einen ländlichen Arbeiter nicht
ansiedeln. Der Wert dieses Verhältnisses, das letzten Endes auf Gegenseitigkeit
beruht, ist aber zugleich die Vorstufe einer Solidarität beider Interessenten, die
dem Klassengegensatz die Spitze abbricht. Und fragt man, wo demnach der
geeignetste Platz zur Kleinsiedlung ist, so kann nur die Antwort sein: da wo
der Großgrundbesitzer und der Großbauer vorherrscht, weil nur da sichere
Arbeitsgelegenheit für Winter und Sommer vorhanden ist. Über die Befürchtung,
mit der Anweisung einer natürlichen Arbeitsstätte eine Gebundenheit zu kon¬
struieren, lohnt es sich hinauszusehen und den Blick auf die Entwicklungs¬
möglichkeit und -Wahrscheinlichkeit zu lenken. Der Gedanke, daß der selbst im
Großgrundbesitz angesiedelte Arbeiter zum Bauer wird, liegt bei der Mobilisierung
des Grund und Bodens, an deren Anfangsetappe im Osten wir erst stehen.
wirklich nicht so fern. Liegen Gut und Gemeinde im räumlichen Zusammen¬
hang, so ist die Ansiedlung der Arbeiter mit Rücksicht auf die Hypotheken-
Verhältnisse in letzterer meistens leichter. Es ist dagegen auch nichts einzuwenden.
Nur muß dann Gutsbezirk und Gemeinde vorher zu einem Zweckverband hin¬
sichtlich der Armen- und Schullasten vereinigt werden, damit nicht etwa der
Gutsbezirk den Vorteil, die Gemeinde den Nachteil hat. Aber auch die Siedlung
im Gutsbezirk selbst sollte mit allen Mitteln betrieben werden. Erfahrungs¬
mäßig liegt der Schwerpunkt für ein gutes Verhältnis mit dem Arbeiter, der
sich für die Erntezeit gegen die Leistung der Gespannarbeiten für seinen Besitz
bindet, in der rechtzeitigen Ausfühlung derselben und in dem zielbewußter
Streben des Arbeitgebers, seinem Mithelfer eine gute Ernte zu schaffen. Da
dauernd Arbeitsgelegenheit vorhanden ist, ergibt sich dann von selbst ein dauerndes
Arbeitsverhältnis, das geschriebener Verträge kaun: mehr bedarf. Es soll hier
besonders betont werden, daß derartige Vorgänge nicht Mutmaßungen entspringen,
sondern dem wirklichen Leben in verschiedenen Variationen entnommen sind.
Also Bahn frei für lebensfähige Organisationen, die die Seßhaftmachung
der Arbeiter betreiben, und fort mit allen Bedenken und Erwägungen, von
denen nur eine wirkliche Berechtigung hat, d. i. die ^Voraussetzung sicherer
Arbeitsgelegenheit!
Wie aber ist aus der zerfahrenen Lage herauszukommen und welche Wege
können zum Ziele führen? Siedlung der Arbeiter ist Kleinarbeit. Kleinarbeit
erfordert besondere Liebe und Sorge. Am besten erfüllt diese Bedingungen die
Genossenschaft, auch um deswillen, weil mit der Übergabe der Siedlung durchaus
nicht immer die Fürsorge für den Siedler abgeschlossen ist und es noch oft der
Nachsorge bedarf, um dem oft hart kämpfenden übernehmer den Mut und die
Tatkraft zu stählen. Als Genossenschaften kommen in Betracht der Staat als
größter Großgrundbesitzer für seine Domänen. Alljährlich werden solche pacht¬
frei. Die Aussonderung von Land für eine Reihe von Familien sowie die
Geldbeschaffung machen keine Schwierigkeiten. Das Abgeordnetenhaus winde
jede Summe zu Versuchen bewilligen.
Eine zweite Genossenschaft, die all der Sicherung von Arbeitskräften außer¬
ordentlich interessiert erscheint, ist die Landschaft. Sie gerade müßte und könnte
das Werk auf den Großgütern in Angriff nehmen, weil sie leicht die Hypotheken-
Verhältnisse regulieren und den Kredit beschaffen kann, bis die Umwandlung
der Siedlungsstellen in Ncntengüter erfolgt ist. Denn es wird sich empfehlen,
den Siedlungsbewerber zunächst auf drei Jahre als Pächter einzusetzen und erst
dann vielleicht ihm die Stelle als Eigentum zu übergeben. Die Landschaft
könnte aber auch den Zusammenschluß der Großgrundbesitzer zu einer Genossen¬
schaft ita IroL veranlassen und dieser nur indirekt ihre Unterstützung leihen.
Für die Landgemeinden werden sich freiwillige Genossenschaften bilden
lassen. Hier handelt es sich einmal um den Bau- und Einrichtungskredit und
denn um die Resthypotheken. Männer, die mit Liebe an die Sache heran-
gehen, finden sich, unter Umständen gegen mäßige Entschädigung, leicht. Die Geld¬
beschaffung werden die Kreise eher übernehmen als die Siedlungen selbst. Auch
der Staat wird unter Bürgschaft der Kreise ebensogut Kredit eröffnen müssen,
wie er den provinziellen Ansiedlungsgesellschaften solchen zur Verfügung stellt.
Im Verband der Genossenschaften regelt sich die Technik schnell, so daß Fehler
der einzelnen Genossenschaften vermieden werden. Dabei wird die Landfrage
namentlich in den Gegenden mit zahlreichen Fideikommissen oft eine Rolle spielen.
Die Gebundenheit derselben ist nach dieser Richtung hin auf die Dauer
unerträglich. Dem stückweisen Abverkauf von Land bis zu einer Mindestgrenze
muß ohne Schwierigkeiten die Bahn eröffnet werden. Es ist unzulässig, daß
in volkreichen Gegenden in dieser Beziehung die Entwicklung verschlossen wird.
Ein neues Fideikommißgesetz, welches hierin nicht Spielraum schafft, würde
einen wesentlichen Teil seiner Aufgabe verfehlen. Anderseits würde es sich
unter dieser Perspektive in hohem Maße die Aussicht auf Erfolg sichern. In
der Provinz Posen hat die Siedlung der Arbeiter noch eine besondere politische
und nationale Bedeutung. Es steht fest, daß mit der Besiedlung des gesamten
polnischen Großgrundbesitzes durch deutsche Bauern die nummerische Überlegenheit
des Deutschtums nicht erreicht würde. Die große Anzahl der Häusler und
Büdner verhindert dies. Art ist nur durch Art zu überwinden. Ein politisches,
nicht in erster Linie ein wirtschaftliches Übergewicht über das Polentum — das
verständige, aber auch begrenzte Endziel einer gesamten Staatsraison — ist
nur möglich durch Massenansiedlung von deutschen Arbeitern.
Da darf man auch nicht zurückschrecken vor der Ansiedlung deutscher Sachsen¬
gänger. Was ist denn aus den von Friedrich dem Großen angesiedelten
Arbeitern im Oder- und Warthebruch geworden? Entweder sind sie Bauern
oder sie sind heute noch gern gesehene und hochbezahlte Sachsen gänger. Trotz¬
dem ihr Akkord viel teurer als der der Ausländer, nimmt sie der Großgrund¬
besitzer gern, weil ihre Arbeit „wohl auf den Arbeiterkopf berechnet teurer,
aber auf das Produkt berechnet billiger" ist. Damit fällt auch zum Teil die
Meinung, daß der ausländische Arbeiter wegen billigerer Lohnbedingungen vor¬
gezogen werde. Er wird in der Hauptsache deshalb genommen, weil keine
Wahl bleibt. Wären deutsche Qualitätsarbeiter vorhanden, manch einer würde
sie trotz höheren: Lohn vorziehen. Nur siebte man in Posen und Westpreußen
nicht einzelne Arbeiter in exponierten Gegenden an. Nur in größeren Massen
sind sie widerstandsfähig und müssen darin durch stete Nachsorge der Genossen¬
schaft gestärkt werden. Man kann heute polnische Güter kaum mehr erwerben.
Polnische Bauernhöfe sind öfter feil. Ist der Gedanke nicht tragfähig, daß man
mit deutschen Arbeitern ganze polnische Gemeinden majoristert? Dreißig bis
vierzig deutsche Arbeiter an einem Fleck, zwei Bauern mit Pferdegespann
dazwischen, die von der Genossenschaft vertraglich zu den Gespannarbeiten ver¬
pflichtet werden, Organisation der eigenen Bestellungs- und Erntearbeit durch
einige zurückbleibende Partner und Übernahme von Arbeit durch die übrigen
im Westen nach Maßgabe eines von der Genossenschaft abgeschlossenen Ver¬
trages. Das ist doch eine Entwicklungsmöglichkeit, hinter der der Ausblick auf
Begründung einer Sachsengängerei zurückstehen muß und der sich der Gedanke
anschließt, daß einst aus deutschen Sachsengängern deutsche Bauern werden
können. Es wird nichts anderes geschaffen, als schon in vielen Teilen Deutsch¬
lands, z. B. in der Eifel und auf dem Hunsrück, besteht. Zum Teil ist auch
die Sachsengängerei aus betriebstechnischen Rücksichten, z. B. für Rübenbau,
ganz unvermeidlich und wird eine dauernde Institution bleiben, solange und
soweit in der Landwirtschaft ein intensiver Betrieb herrscht. Man fragt wohl
in oberflächlicher Besorgnis auch hier, wo das für die Anstedlung von Arbeitern
geeignete Menschenmaterial hergenommen werden soll, und übersieht dabei, daß
es sich, abgesehen von den zurückströmenden Deutschrussen, zunächst darum
handelt, die ländlichen Arbeiter, welche jährlich sonst in die Städte und Jndustrie-
bezirke abströmen, zurückzuhalten und daß sür die Zukunft der Menschenüberschuß
in Deutschland reichliche Auswahl gestatten wird. Es darf nur nicht von heute
auf morgen, sondern es muß mit zwanzig Jahren und mehr gerechnet werden.
Die Ansicht, daß die Seßhaftmachung der Arbeiter heute „verlorene Liebes¬
müh" sei und durch den ausländischen Schnitter verhindert werde, ist demnach
doch nur bedingt als richtig anzuerkennen. Möglich nicht nur, sondern auch
ohne erhebliche Schwierigkeiten ist die Anstedlung der Arbeiter durchführbar.
Nur kommt es auf den geeigneten örtlichen oder provinziellen Organisator und
auf die Befreiung der Ansiedlungsidee von einem unfruchtbaren Maß theo¬
retischer Rücksichten gegenüber dem Siedlungslustigen an. Ist ihm Sicherheit
sür dauernde Arbeit gewährleistet, so mag man das Übrige ruhig der Entwick¬
lung überlassen. Sie ist oft viel einfacher und natürlicher, als es sich die
Lehrmeister in ihrer Voraussage träumen lassen. Der beste Schutz des deutschen
ländlichen Arbeiters liegt in seiner Seßhaftmachung.
er nachstehende Aufsatz bedarf zur Einführung beim deutschen Lese¬
publikum einiger erklärender Bemerkungen. Stanislawski, der
Gründer und Leiter des Moskaner „Künstlerischen Theaters", ist
allerdings für das westliche Europa und insbesondere für Deutsch¬
land kein Unbekannter mehr. Es sind vier oder fünf Jahre her,
eit er wie ein Triumphator durch unsere großen Theaterstädte zog und bei^
allen, denen die Entwicklung der Bühne am Herzen liegt, Gegenstand aller-
lebhaftester Diskussion war. Aber die Erinnerung an sein flüchtiges Gastspiel
ist in unserer schnellebigen Zeit von anderen, vielleicht wichtigeren Dingen rasch
in den Hintergrund gedrängt worden. Und für viele mag schon heute der Name
Stanislawski ein mystisches Fragezeichen, ein Wort ohne Inhalt und eine große
Gleichgültigkeit mehr sein. Da muß denn, zum Verständnis und zur Würdigung
von Meschings Ausführungen, auf die starken und überraschenden Eindrücke
zurückgegriffen werden, die das russische Gastspiel seinerzeit bei allen Beteiligten
auflöste. Es handelte sich dabei schlechthin um eine Sensation. Das Ent¬
scheidende war das Noch-nicht-Dagewesene der Veranstaltung. Der ethno¬
graphische Reiz überwog vom ersten Augenblick an den künstlerischen und entschied
bei Publikum und Kritik den Massenerfolg. Ein Stück Rußland war uns über
Nacht lebendig geworden, ein Teil aus jenem Riesenorganismus, von dem wir
abgeschliffeneren Menschen nicht viel mehr als den Namen wußten und der, wie
wir meinten, als ein seltsam vorweltliches Ungeheuer, in halber Barbarei und
zügelloser Jnstinktgrausamkeit besangen, irgendwo weit hinten im nebligen Osten
lag. Was kannten wir bis dahin von russischen Dingen, von den unerhörten
Zuckungen, die durch den Leib dieses Niesen wüteten, von seiner Kultur, seiner
Kunst, seinem Theater? Gewiß, Namen wie Dostojewski und Gogol, Turgenjew
und Tolstoi, Puschkin und Gorki waren schon längst in die Schatzkammern einer
großeuropäischen Literatur eingegangen. Aber unser Verhältnis zu ihnen kam
selten über rein platonische Beziehungen hinaus. Wir spürten den
Hauch einer wunderlich großen, uns aber innerlich fremden Welt. Wir traten
jedesmal, wie erschreckt, einen Schritt zurück, wenn wir in die Gesellschaft dieser
wühlenden Geister, dieser ungebrochenen Instinkte, dieser grandiosen Zertrümmerer
und Melancholiker gerieten. Wir kamen nicht über die Kluft hinweg, die unser
konzilianteres, zu Kompromissen neigendes Westeuropa von dem grimmigen
al fresLO dieser rätselhaften Urwelt schied. Und unser Eindruck war, unter
zehn Fällen neunmal, ein jähes, mit Furcht gemischtes Erstaunen, aber nicht
die restlos reine Genießerfreude des künstlerisch Empfangenden. Mit Stanislawski
und seinem „Künstlerischen Theater" schien die Kluft zum ersten Male überbrückt.
Da war das, was wir nur vom Hörensagen kannten, urplötzlich leibhaftige
Wirklichkeit geworden. Da sahen wir den Begriff „modernes Rußland" von
dem suggestiven Rampenltcht der Bühne bestrahlt. Da standen ein paar
russische Menschen, redeten ihre schwere, wehmütig schöne Sprache, ließen uns
durch den Spiegel einer erlesenen Schauspielkunst ihre Temperamente und
Sehnsüchte und Leidenschaften, ihr Weinen und Lachen sehen, und spielten uns
die Tragödien und Komödien ihres Volkes mit der eindringlichen Kraft des
mitlebenden Rassegenossen. Wenn noch irgend etwas zur Erhärtung der Tat¬
sache nötig wäre, daß die moderne Bühne — wenigstens in ihrer erstrebten Jdeal-
gestalt — am reinsten und unbestechlichsten die Zeit und die Ängste der Zeit wider¬
spiegelt, dann hätte das Gastspiel dieser Russen den letzten schlüssigen Beweis geliefert.
Was uns fremd und rätselhaft und im letzten Grunde unbeseelt erschienen
war, hatte mit einen: Male Leben und Gestalt gewonnen, griff uns an die
Sinne und zog uns mit geheimnisvoller Macht in seinen Bann. An die
Stelle des kühl-nüchternen Danebenstehens trat jetzt die warme, hitzige Anteil¬
nahme, die uns das Blut in die Wangen jagte und unsere Pulse schneller
klopfen ließ. Das Rußland von heutzutage, mit seinen großen Traurigkeiten
und seinen jauchzenden Festen, seinen schnapstrinkenden Bauern und himmel¬
stürmenden Weltverbesserern, seinen schwermütigen Liedern und farbigen Tänzen,
seiner fiebernden Erotik und seinem unversöhnlichen Haß, seiner verzehrenden
Skepsis und seiner kindlichen Gläubigkeit — das heilige Rußland in all
seiner schillernden Pracht und Buntheit war uns erstanden, hatte sich zum
plastischen Bilde verdichtet und warb mit fordernden Ernst um unsere
Liebe. Ob Stanislawski und seine Leute den „Zaren Feodor" des Grafen
Tolstoi, den „Onkel Wanja" von Tschechow oder das „Nachtasyl" von Gorki
spielten, es war immer die gleiche suggestive Melodie, die uns in vollen und
reinen Akkorden entgegenrauschte: die Melodie des russischen Volkes, die keusch
und lasziv, aufreizend und beruhigend, melancholisch und jauchzend sich in die
Ohren des überraschten Europas drängte. Natürlich war es nicht aus¬
schließlich der ethnographische Reiz, der Eindrücke von der eben geschilderten
Intensität hervorrief. Es kam hinzu, daß das Ensemble durch seine unerhört
konzentrierte Arbeit auch schauspielerisch verblüffte. Wir sahen eine bis dahin
kaum erlebte völlige Hingabe des Regisseurs und Darstellers an den zufällig
gewählten Gegenstand, eine bis ins Kleinste beseelte Farbigkeit des Milieus und
eine bis an die Wurzeln des Kunstwerks greifende Detailregie, für die es
Nebensächlichkeiten und Ruhepunkte einfach nicht gab. Und wir sahen schließlich
darüber hinaus aus den: musterhaft geschulten Ensemble den klugen und feinen
Kopf des Schauspielers Stanislawski hervorragen, der sich, auch im Sinne
unserer entwickelten Bühnenkunst, als einen von zufälligen Rasseeigentümlichkeiten
gelösten Menschendarsteller der seltensten Art präsentierte. Aber im letzten und
höchsten Sinne spielten diese Dinge gegenüber der wunderbaren ethnographischen
Suggestion doch eine mehr untergeordnete Rolle, und es ist in diesem Zu¬
sammenhange ganz charakteristisch, daß Stanislawski für meinen Geschmack zum
ersten und einzigen Male da scheiterte, wo er an die Interpretation eines
nichtrussischen Dichters ging und dem deutschen Publikum den Doktor Stockmann
aus Ibsens „Volksfeind" zeigte. Ich kann in dem Punkte Edgar Meschings
Auffassung nicht teilen, glaube vielmehr nach wie vor, daß Stanislawski dem
uns wohlbekannten Gesicht des Doktor Stockmann fremde, durchweg interessante,
aber im Sinne einer redlichen Ibsen-Ästhetik nicht zu rechtfertigende Züge gegeben
hat. Hier sprangen eben die Grenzen, die slawisches und germanisches Kunst¬
empfinden notwendig trennen, bis zur Überdeutlichkeit heraus, und wer sich als
Deutscher vor der Leistung dieses Mannes seine Unbefangenheit bewahrt hat,
wird bei allem Respekt mit Entschiedenheit betonen müssen, daß der Russe
Stanislawski nur da wahrhaft groß erscheint, wo er die Sprache seines Volkes
Seit den Zeiten Katharinas der Zweiten wurde in Rußland die Schauspiel¬
kunst mit Liebe und häufig auch großem Verständnis gepflegt; unter Nikolaus
dem Ersten bereits erreichte sie eine Höhe, von der man sich in Westeuropa
keine Vorstellung machen konnte, bekam man doch hier infolge der Ungunst der
äußeren Verhältnisse nichts von ihr zu sehen oder zu hören. Mit Ausnahme
weniger Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts, als Se. Petersburg deu
Ruhm, die erste Bühne des Landes zu besitzen, für sich in Anspruch nehmen
durfte, war es Moskau, das über die glänzendsten schauspielerischen Kräfte ver¬
fügte. Mit Moskau sind die Namen der großen russischen Bühnenkünstler aufs
engste verknüpft, hier haben ganze Schauspielergenerationen, wie die Samoilows,
Sadowskis und andere, gewirkt und Ruhm geerntet. Es entspricht also der
Tradition, wenn auch das moderne russische Theater hier zu Hause ist, wenn
auf der Bühne des Moskaner „Künstlerischen Theaters" und in der Person
seines Schöpfers Stanislawski höchstes mimisches Können sich offenbart.
Stanislawski und sein „Künstlerisches Theater" sind nicht mehr voneinander
zu trennen. Das sah man deutlich im vorigen Herbste, als er lebensgefährlich
am Typhus erkrankte. Es schien damals nicht nur dem großen Publikum,
sondern auch seinen Mitarbeitern und Schülern, daß mit seinem Fortgang auch
sein Werk, wenigstens in der bestehenden Form, zusammenbrechen müsse. So
heißt denn auch Stanislawskis Leben beschreiben die Geschichte des Moskaner
Künstlerischen Theaters erzählen, obgleich er selbst persönlich und grundsätzlich,
im Gegensatz zu anderen berühmten Mimen, niemals bestrebt gewesen ist, in
den Vordergrund zu treten, sondern immer nur als ein Glied in der Kette
von Kameraden wirken wollte, die in geeinter Kraft gemeinsamem, hohem künst¬
lerischen Ziele zustreben.
Stanislawskis bürgerlicher Name lautet Alexejew. Sein Großvater väter¬
licherseits war ein Bauer aus dem Gouvernement Jaroslaw, dessen Bewohner
wegen ihrer Tüchtigkeit und Begabung bekannt sind. Seine Mutter
stammte von einer Französin, die als Schauspielerin an der französischen Bühne
des kaiserlichen Michaeltheaters in Se. Petersburg wirkte, auf der auch heute
noch eine französische Truppe auftritt. Vou dieser Großmutter rührt augen¬
scheinlich die schauspielerische Begabung her, die sich auf drei der zahlreichen
Enkel vererbt hat: Stanislawskis ältester Bruder wirkt als begabter Regisseur
an der hervorragenden Siminschen Privatoper in Moskau, seine verheiratete
Schwester Smalte leitete viele Jahre mit größtem Erfolge auf dem Gute ihres
Gatten ein Theater, auf dem einfache russische Bauern für ihre Dorfgenosfen
spielten. Nachdem Stanislawski das Gymnasium absolviert hatte, an das er,
wie so viele Russen, nicht ohne Haß zurückdenken kann, mußte er auf Wunsch
seines Vaters in eines von dessen Fabrikkontoren als Kaufmann eintreten. Die
Alexejews hatten unterdessen den in Moskau nicht ungewöhnlichen Weg vom
einfachen Bauern zum Großhändler und Großindustriellen zurückgelegt. Einer
der Brüder von Stanislawski wurde als Stadthaupt, d. i. Bürgermeister, aus
kommunalpolitischen Gründen erschossen. Die aufgenötigte kaufmännische Lauf¬
bahn behagte Stanislawski so wenig, daß er tat, was so viele Moskaner Kauf¬
mannssöhne tun: er begann gehörig zu bummeln, um sich über die grauen
Kontorstnnden hinwegzutäuschen. „Mich rettete damals," so erzählte er selbst
einmal in einer öffentlichen Rede, „das kaiserliche .Kleine Theater' zu Moskau,
seine großen künstlerischen Individualitäten, wie die Jermolowa, Lenski und
andere." Gar bald regte sich in Stanislawski das Verlangen, selbst auf der
Bühne mitzuspielen. Er besaß eine gute Stimme und ließ sich daher von den:
berühmten Sänger und Gesanglehrer Kommissarshewski ausbilden. (Fjodor
Kommissarshewski starb nach einer glänzenden künstlerischen Laufbahn kürzlich in
Italien, das ihm eine zweite Heimat geworden war. Er ist der Vater von
Wera Kommissarshewskaja, einer der rührendsten Gestalten der russischen Bühne,
einem erklärten Liebling des gesamten russischen Theaterpublikums. Auf einer
Gastspielreise im asiatischen Rußland wurde die hochbegabte junge Künstlerin
beim Einkauf orientalischer Teppiche von den schwarzen Pocken befallen. Ihr
Leichenzug gestaltete sich zu einer glänzenden Huldigung des ganzen gebildeten
Rußlands.)
Nach Ausbildung seiner stimmlichen Mittel sammelte Stanislawski einen
Kreis von Liebhabern um sich, der zuerst mir in Privathäusern, dann auch in
Vereinen und Klubs sich bemühte, Opern und Operetten künstlerisch zu inszenieren.
Stanislawski selbst sang bei diesen Aufführungen, bei denen, wie gesagt, bereits
das künstlerische Element in den Vordergrund gerückt wurde, Baritonpartien, so
den Ruslan in Glinkas Oper „Ruslan und Ludmila". Diese dilettantischen
Bemühungen allein vermochten aber den unruhig suchenden Stanislawski nicht
lange zu befriedigen; er rief deshalb mit seinem Lehrer Kommissarshewski und
mit Fedotow, dem Gatten der berühmten Schauspielerin gleichen Namens, eine
„Gesellschaft für Literatur und Kunst" ins Leben, in der die ersten Versuche
zur Umgestaltung des Theaterbetriebes gemacht wurden. Vor allein sollte der
Bühne ein Zug des wirklichen, pulsierenden Lebens aufgeprägt werden. Die
Schauspieler wollte man wieder zu wahrer mimischer Kunst erziehen. Die neu¬
gegründete Gesellschaft bildete sich allmählich eine ständige Truppe heran, die
vorwiegend aus Liebhabern bestand. Man spielte damals in einem Privattheater
des Ochotny Rjad. Stanislawski hatte in dieses Unternehmen den größten Teil
seines Vermögens hineingesteckt, allein alle ernsten Bemühungen blieben lange
Zeit erfolglos. Die Aufführungen fanden einstweilen vor leeren Häusern statt,
ohne beim großen Publikum Beachtung zu finden. Nur einzelne kunstverständige
Persönlichkeiten vermochten den Ernst richtig zu werten, mit dein die Bühnen¬
mitglieder an ihre künstlerischen Aufgaben herantraten. Diese Wenigen veranlaßten
schließlich den damaligen Generalgouvemeur von Moskau, den Großfürsten
Sergej Alexandrowitsch, zu einem Besuche des Theaters am Ochotnv Rjad.
Die Handelsstadt Moskau hat in mancher Beziehung Ähnlichkeit mit Ham¬
burg. Es sitzen in Moskau „Patrizier", wie in Hamburg' Moskau wetteifert
mit Se. Petersburg, wie Hamburg mit Berlin; wie Hamburg besitzt die Kreml¬
stadt einen stark ausgeprägten Lolalpatriotismus. Ein Großfürst, der General¬
gouvemeur von Moskau ist, ist gewissermaßen ein „Lokalzar", und wie
gewisse Petersburger Kreise sich nach dem Hofe des „großen" Zaren richten,
wandeln die Moskaner oberen Zehntausend auf den Spuren des großfürstlichen
Hofes. So verfehlte man nun auch nicht, das vom Großfürsten ausgezeichnete
Theater zu besuchen und — man war entzückt. Damit war die Entwicklung
des Theaters glücklich entschieden. Mit Stanislawskis Privatvermögen ging es
zu Ende; da konnte man die offene Hand einiger Moskaner Millionäre gebrauchen.
Die Geberlaune der Moskaner Kapitalisten, von der Hunderte gemeinnütziger
Anstalten Zeugnis ablegen, ließ auch die Kunst nicht im Stich, die Morosows,
Tarassows und einige andere haben jahrelang das aufwärtsstrebende Theater
bereitwilligst unterstützt. Zu dieser Zeit spielte Stanislawski tragische und
heroische Rollen, wie den Othello, den Ferdinand in „Kabale und Liebe".
Aber schon damals suchte er, wie später nach Tschechows frühem Tode,
einen interessanten russischen Dramatiker, ohne einen solchen finden zu können.
Einmal unternahm er sogar selbst eine Dramatisierung von Dostojewskis „Dorf
Stepantischikowo". Dabei verfolgte er unentwegt das Ziel, ein ernst zu
nehmendes, zu künstlerischer Gestaltung befähigtes Ensemble zusammenzubringen
und heranzuziehen, das frei wäre von jeglicher Theaterroutine, die Stanislawski
mit der ganzen Kraft seines Temperamentes haßte. Die Truppe, von der er
träumte, sollte die Fähigkeit besitzen, in den Geist des darzustellenden Stückes
einzudringen, in gemeinsamer Arbeit den geistigen Inhalt des Dramas aufzu¬
decken, den letzten Sinn, den der Dichter in sein Werk hineingelegt hat, gleichsam
herauszuschälen.
Im Jahre 1898 lernte Stanislawski Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko
kennen, der damals Professor an der „Dramatischen Schule der Philharmonischen
Gesellschaft zu Moskau" war. Gleich bei der ersten Begegnung dieser beiden
Männer, die denselben Gedanken, ein künstlerisches Theater zu schaffen, ver¬
folgten, einer Begegnung, die — echt russisch — sich zu einem Gespräch ent¬
wickelte, das einen halben Tag und eine ganze Nacht dauerte, wurde die Frage
des künstlerischen Theaters entschieden. Selten mögen zwei Männer zu künst¬
lerischem Vollbringen sich so glücklich vereinigt haben, wie diese beiden, selten
hat eine Unterhaltung, die ein gegenseitiges Herzausschütten war, so weittragende
Folgen gehabt. Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko paßten vorzüglich
zu einander. Jener ist ein vorwiegend intuitivschaffenderKünstler, dieser ein begabter
Lehrer, ein feiner deduktiver Kopf und dazu ein ausgezeichneter Administrator.
Dieses Paar war zu gemeinsamem Schaffen gleichsam vorausbestimmt. Aber
eine ernsten Aufgaben gewachsene Truppe zusammenzubringen, die in geistiger
Beziehung etwas harmonisch Abgeschlossenes darstellte, war nicht leicht. Die
Schauspieler wurden zuerst aus den Liebhabern, die Stanislawski herangebildet,
und den von „praktischer Erfahrung" noch unverdorbenen Schülern, die
Nemirowitsch geschult hatte, gewählt. Da dieser Personalbestand nicht aus¬
reichte, zog man noch einige Schauspieler aus der Provinz heran, die zwar
begabt waren, aber doch erst die tote Routine verlernen mußten, die sie natür¬
lich mitbrachten. Einen Sommer lang bereitete man sich in harter Arbeit für
den Beginn des neuen „Öffentlichen künstlerischen Theaters" vor. Im
Herbst wurde ein Privattheater gemietet, das mit dem historischen Drama
„Zar Fjodor" von Graf Alexej Tolstoi eröffnet wurde. Das historische Milieu,
das keine besondere psychologische Vertiefung erforderte, sollte den Schauspielern,
die sich noch nicht genügend eingearbeitet, noch nicht endgültig „zusammengespielt"
hatten, ihre Aufgabe erleichtern. Der Erfolg der Aufführungen war groß,
allein er erstreckte sich wiederum nur auf einen Teil des Publikums. Das
Theater füllte sich selten. Man mußte verhältnismäßig häufig das Repertoire
wechseln. In der ersten Saison wurden zehn Stücke einstudiert. Zu diesen
gehörten die „Antigone" des Sophokles, Hauptmanns „Versunkene Glocke", in
der Stanislawski den Heinrich gab, „Wenn wir Toten erwachen" von Ibsen
und seine „Hedda Gabler", in der Stanislawski die Rolle des Lövborg über¬
nommen hatte. Der talentvolle Regisseur des Theaters der oben erwähnten
Frau Wera Kommissarshewskaja gehörte zu jener Zeit der Stanislawskischen
Truppe an. Er erzählte mir, welchen Eindruck Stanislawski-Lövborg bei der
Generalprobe in der Szene gemacht habe, wo er in der durchzechten Nacht sein
Manuskript verloren hat und betrunken, halb wahnsinnig, bei Hedda erscheint.
Stanislawski, der sonst stets sein mächtiges Temperament bändigt und verbirgt,
ließ ihm in dieser Szene freien Lauf; gleich bei seinem Erscheinen auf der
Bühne machte er einen so tiefen Eindruck auf die Zuschauer, daß alle sich von
ihren Plätzen erhoben. Und schon bei der Probe wurde ihm eine begeisterte
Ovation bereitet. Sonow, auf dessen Urteil man sich verlassen kann, schloß
seinen Bericht mit den Worten: „Ich habe Salvini in allen seinen Glanzrollen,
ich habe die meisten hervorragenden Mimen der Gegenwart gesehen, aber was
ergreifende, erschütternde Kraft des Temperamentes anbetrifft, so ist jene General¬
probe ein in meinem Leben einzig dastehender Eindruck geblieben". Sonow
sagte, „bei der Generalprobe", denn bei den Aufführungen, deren künstlerischer
Eindruck durch eine herzlich schlechte Hedda, welche Frau Andrejewa, die jetzige
Gattin Maxim Gorkis, gab, beeinträchtigt wurde, dämpfte Stanislawski, wie
gewöhnlich, den Durchbruch seines Temperaments, vermied er fast ängstlich jeg¬
liche Betonung seiner künstlerischen Individualität, um nur ja nicht vor den
übrigen Schauspielern abzustechen und in den Vordergrund zu treten. Das ist
für Stanislawskis Persönlichkeit ebenso charakteristisch, wie für das künstlerische
Glaubensbekenntnis, das er mit seinem Theater ablegt. Auf der Bühne soll
sich auch die stärkste künstlerische Individualität nicht auf Kosten der Gesamt¬
wirkung, des Zusammenspiels zur Geltung bringen, ja, sie soll womöglich vor
diesem zurücktreten, um dem Ganzen zu um so größerer Wirkung zu verhelfen.
Jene Periode seiner Wirksamkeit gab dem „Künstlerischen Theater" erst
seine eigentliche Physiognomie. Tschechow hatte damals sein Schauspiel „Die
Möwe" dem kaiserlichen Alexandratheater in Se. Petersburg gegeben. Die
kaiserlichen Theater in Nußland sind ein Kapua sür mimische Kräfte, die in
ihnen leider allzubald Sinekuren erblicken und so für die wahre Kunst abstumpfen.
Was sollten diese Komödianten mit einer Kunst machen, die zart, in halben
Tönen gehalten, einen Ausschnitt des russischen Lebens gibt, der damals die
Gegenwart war! Sie haben Tschechows Stück zerrissen, zerhackt, statt con
sorctino des Dichters Welt wiederzugeben. Ihre eigene, nicht des Dichters
Auffassung haben sie hinausposaunt. Die „Möwe" fiel glänzend durch. Tschechow,
ganz aus der Fassung gebracht, verschwor sich, nie wieder ans Theater zu denken.
Nun stieß Stanislawski auf seiner bisher erfolglos gebliebenen Suche nach
einem gehaltvollen russischen Drama auf die „Möwe", und trotz ihres schein¬
baren Mißerfolges an der Petersburger Bühne betrieb er mit Feuereifer ihre
Einstudierung in seinem Theater. Er selbst spielte den Trigorin. Auf die
Inszenierung war die größte Mühe verwandt worden. Man mochte empfinden,
daß man mit Tschechow an einer entscheidenden Wendung stand, und man
versprach sich unbedingten Erfolg. Aber als der Vorhang nach dem erstell
Akt niederging, herrschte im Publikum Grabesstille. Hinter dem Vorhang hielt
man alles für verloren. Da brach plötzlich ein wilder Sturm der Begeisterung
los, der kein Ende nehmen wollte. Das Schicksal des Dramatikers Tschechow
war entschieden. Aber auch sür das „Künstlerische Theater" bedeutete dieser
Erfolg einen Wendepunkt: es wurde von da ab im besten Sinne das Theater
Tschechows, und dankbar hat es die fliegende Möwe zu seinem signee gemacht.
Durch diesen Erfolg ermuntert, kehrte Tschechow wieder zum Drama zurück.
Es entstanden die Schauspiele „Onkel Wanja", „Drei Schwestern", „Kirsch¬
garten", die der Dichter schon für das „Künstlerische Theater" schrieb, und die
dieses mit einer künstlerischen Vollendung inszenierte und darstellte, wie kein
anderes Theater sie jemals seine Zuschauer erleben lassen wird. Tschechow
bedeutet den Höhepunkt der Leistungsfähigkeit der Moskaner Künstler. Damit
soll nun keineswegs gesagt sein, daß ihre übrigen Leistungen niedrig einzuschätzen
wären. Tschechow gab Rußland, gab jenes Milieu von Rußland, dem die
Künstler selbst angehörten, wen sollten sie wohl besser verstehen und erfassen
können, als ihn, wessen Gestalten trefflicher verkörpern als die seinen, die
Blut von ihrem Blut und Fleisch von ihren: Fleisch waren! Außerdem war
der Dichter durch seine Vermählung mit Olga Kniper, die zu den begabtesten
und temperamentvollsten Mitgliedern des „Künstlerischen Theaters" gehört, dem
Theater auch menschlich immer näher getreten. Dichter und Darsteller hatten
sich so ineinander eingelebt, wie es nur in seltenen Ausnahmefällen vorkommt.
Es ist also kein Wunder, wenn da gerade Tschechows Stücke zur größten Voll¬
kommenheit geführt wurden.
Auch Stanislawski selbst steht in den Rollen, die er in Tschechows
Stücken spielt, auf der Höhe seines künstlerischen Schaffens und Könnens.
Sein Werschinin in dem Drama „Drei Schwestern", sein Gajew im „Kirch¬
garten" sind lebenzuckende Gestalten, die man nicht wieder vergißt, wie man
sie nicht vergessen hätte, wenn man ihnen auf der Straße des Lebens
begegnet wäre.
Nächst den Tschechowschen Rollen scheint mir die bedeutendste, die Stanis¬
lawski einstweilen geschaffen hat, die des Dr, Stockmann in Ibsens „Volksfeind".
Die Charaktere des Helden und seines Darstellers sind so nahe miteinander
verwandt, daß man glaubt sagen zu dürfen, sie seien einander auch äußerlich
ähnlich. Und hat nicht auch Stanislawskis Werdegang eine gewisse Ähnlichkeit
mit dem Schicksal des „Volksfeindes"? Steine könnte er genug sammeln. Die
Artikel der „Nowoje Wremja" allein würden eine stattliche Sammlung abgeben.
Das Suworinsche Blatt, das hinter dem Petersburger „Kleinen Theater" steht,
hat gesinnungslos, wie immer, nur deshalb Stanislawski mit geifernden! Munde
bekämpft, weil das „Kleine Theater" von einer bedeutenden Bühne zu einem
Vorstadttheater herabgesunken ist. Und beruhte der Kampf, den die übrige
Presse gegen Stanislawski geführt hat, nicht auf ganz ähnlichen Gründen?
Die deutsche Presse darf es sich zum Ruhme rechnen, fast ausnahmslos die
Bedeutung des Moskaner „Künstlerischen Theaters" bei seinem Siegeszuge durch
Deutschland und Österreich richtig erkannt und dargestellt zu haben. In der
traumhaft schönen Inszenierung, die die Moskaner Theaterkünstler Shakespeares
„Julius Cäsar" mit dem genialen Katschalow in der Titelrolle bereitet haben,
erlebten wir in Brutus-Stanislawski eine poesieverklärte, rassige Gestalt, die
wie lebendig gewordener Marmor wirkte, in Hamsnns „Lebensdrama" verhalf
Stanislawski der Figur des Kareno zu Leben, in Gribojedoffs klassischer Komödie
„Weh dem Klugen" machte er einen vorzüglichen Famussow. Das Moskaner
„Künstlerische Theater" weicht bei der Inszenierung und Einstudierung klassischer
Stücke, wie „Weh dem Klugen", „Der Revisor" von Gogol und des Sitten-
schilderers Ostrowski erheblich von der Tradition ab, in der diese Stücke seit
jeher von den kaiserlichen Bühnen zur Aufführung gebracht werden. Man hat
den Moskauern diese „Pietätlosigkeit" häufig zum Vorwurfe gemacht, dabei
freilich ganz übersehen, daß in diesem Falle die Überlieferung nur aufgegeben
wurde, um den Stücken zu künstlerisch bewegteren Leben zu verhelfen. Noch
zwei von Stanislawskis Bühnengestalten seien erwähnt: der alte General in
Ostrowskis „Auch der Klügste besitzt Einfalt genug", in dem Stanislawski
geradezu ein Symbol des reaktionären Geistes schafft, und der Rakitin aus
Turgenjeffs „Ein Monat auf dem Lande", in dem der Dichter sich selbst por¬
trätiert, seine eigene Lebenstragödie geschildert hat, was Stanislawski durch
Maskierung nach Turgenjeffschen Jugendporträts andeutet. Er führt hierin ein
unvergleichlich fein abgetöntes Bildnis eines rassigen Aristokraten vor, dessen
tiefes Leiden er mit meisterhaft gedämpftem Spiel uns miterleben läßt.
In fast allen Aufführungen, die hier erwähnt sind, hat sich Stanislawski
als Regisseur bewährt, der originelle Erfindungsgabe mit auserlesenen Geschmack
verbindet. Dabei hat er es verstanden, auch die richtigen Maler zur Beteiligung
an der Ausstattung heranzuziehen, und hat sich selbst ans Ausland gewandt,
wenn er sich von dort Anregung und Unterstützung versprach. So ist Gordon
Craigh mehrere Jahre für das „Künstlerische Theater" tätig gewesen. Die
künstlerische Ausstattung haben die Moskaner zu einer Vollendung gebracht, die
nicht selten das Publikum zu stürmischer Anerkennung zwingt. Da ist nicht
nur die von realistischen Stücken verlangte viel befehdete „Echtheit", da sind
nicht nur Wunder von Farbenabtönnngen und -effekten, da wird wirklich die
Stimmung geschaffen, die in den Rahmen des Stückes gehört. Aber nicht nur
den Anforderungen des realistischen Schauspiels wird das „Künstlerische Theater"
gerecht, obgleich es nicht zu leugnen ist, daß gerade in ihnen eine hohe
Vollendung erreicht ist, sondern auch für das symbolistische Drama, ja für das
Märchen haben diese feinsinnigen Künstler den Rahmen gefunden. „Der blaue
Vogel" von Maeterlinck, der seine Uraufführung bei den Moskauern erlebte,
fand eine Inszenierung, die das „leibhaftige" Märchen war.
Immer neuen Zielen zustrebend, wandten sich die Moskaner auch der
stilisierten Bühnenkunst zu. Mit einem Aufwande von 35000 Rubel gründete
Stanislawski seine „Studia" (Studio, Atelier), das „Theater der Versuche",
das den: Publikum überhaupt nicht zugänglich gemacht wurde. Die erzielten
Resultate befriedigten Stanislawski nicht, so daß er bald von weiteren Ver¬
suchen Abstand nahm. Allein ein paar von seinen Mitarbeitern wußten
Kapital aus jenen Versuchen zu schlagen und traten, wie z. B. Meyer¬
hold in Se. Petersburg, mit den aus der Studia geschöpften „eigenen Ideen"
als „Theaterreformatoren und -novatoren" nicht ohne Erfolg an die Öffentlichkeit.
Während Stanislawskis Erkrankung im vorigen Herbst wurden die am
meisten dramatisch wirkenden Szenen aus Dostojewskis „Die Brüder Karamasow"
auf der Bühne zur Darstellung gebracht, während ein Schauspieler bei herab¬
gelassenen Vorhang die Stellen des Romans vorlas, die den Zusanmienhang
zwischen den dramatisierten bildeten. Die ganze Aufführung nahm zwei Abende
in Anspruch und hatte auch einen gewissen Erfolg. Als gelungen ist dieser
interessante Versuch nicht zu bezeichnen; immerhin hat er aber die Möglichkeit
solcher Aufführungen gezeigt, die vielleicht auf das altchinesische Theater zurück¬
greifen müßten.
Einen großen Teil seiner Arbeitskraft verwendet Stanislawski auf die
Schule des „Künstlerischen Theaters", die seinem Herzen ganz besonders nahe
steht, und die er ans eine künstlerische Höhe gebracht hat, die kaum eine Lehr¬
anstalt in Rußland erreicht. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß der körper¬
lichen Ausbildung der Theaterschüler, die Tanz- und Reitstunden erhalten,
besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Von den einstweilen ans dieser Schule
hervorgegangenen jungen Kräften haben sich die Korenewa, die Koonen und
Mass-Minoff hervorgetan und versprechen für die Zukunft bedeutende Leistungen.
In diesem Winter hat das „Künstlerische Theater" Leo Tolstois „Lebenden
Leichnam" zur Erstaufführung gebracht, dein dann eine seit Jahren betriebene
Neueinstudierung des „Hamlet" folgen soll, der wahrscheinlich ohne Dekora¬
tionen auf einem Hintergrunde von schwarzem Samt vorgeführt werden wird. Im
nächsten Jahre treten die Moskaner Künstler eine längere Gastspielreise nach England
und Frankreich an. Unterdessen soll ihr neuer Theaterbau fertiggestellt werden.
So hat sich das Moskaner „Künstlerische Theater" aus einer bescheidenen
Liebhaberbühne in harter gemeinsamer Arbeit zu einem großen künstlerischen
und kulturellen Werke hinaufgearbeitet, dessen Bedeutung sich in seiner ganzen
Tragweite einstweilen noch gar nicht absehen läßt.
le vor einigen Monaten so bedrohlich in den Gesichtskreis getretene
abermalige Schulreform ist durch eine Erklärung der Regierung
zunächst wieder aus ihm verbannt worden. Aber es wäre töricht,
zu glauben, daß sie damit endgültig sür absehbare Zeit abgetan
sei. Es ist ja alles noch im Fluß; vergegenwärtigt man sich nur
das eine, daß wir fünf Arten von Vollanstalten nebeneinander haben, nämlich
Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule, Reformgymnasium, Neformreal-
gymnasium und die letzteren sogar noch in zwei verschiedenen Systemen, dem
Altonaer und Frankfurter, so liegt aus der Hand, daß-das kein Dauerzustand
sein kann; die Übelstände bei Schulwechseln sind unerträglich. Man läßt der
Entwicklung der Reformanstalten ganz freie Hand, aber die Absicht kann doch
nur sein, die Erfahrungen schließlich zu dauernden Reformen zu nutzen. Das
rechte Verhältnis zwischen humanistischer und realistischer Bildung ist noch nicht
gefunden, der Ansturm auf das Griechische wird sich immer wiederholen, die
obligatorische Einführung des Englischen immer wieder gefordert, die Über-
bürdungsfrage mit deutlichem Seitenblick auf die klassischen Sprachen immer wieder
angeschnitten werden. Die Forderungen jener Frankfurter Ärzte sind vorläufig
von der Tagesordnung abgesetzt, aber sie werden wiederkommen. Die folgenden
Erwägungen wurden unter dem Eindruck der abermaligen Forderung einer Re¬
form, die auf eine Verminderung der Unterrichtsstunden und auf Ersatz des
Griechischen durch das Englische abzielte, niedergeschrieben; sie sind aber unter
den gezeichneten Umständen vielleicht auch jetzt noch nicht überflüssig.
Zunächst ein Wort über die Überbürdung mit Unterrichtsstunden. Im großen
Publikum ist vielleicht die Meinung verbreitet, daß jetzt mehr Unterrichtsstunden
gegeben werden als früher. Dem ist aber nicht so. Die Zahl der wissenschaft¬
lichen Lehrstunden ist immer die gleiche gewesen, nämlich dreißig bis zweiund¬
dreißig wöchentlich; früher kamen dazu zwei Turnstunden und zwei Gesangstunden,
jetzt allerdings drei Turnstunden. Wollte man zur Entlastung die dritte Turn¬
stunde streichen, so würde wahrscheinlich niemand etwas dagegen haben, aber die
Meinung ist, daß am wissenschaftlichen Unterricht gestrichen werden soll, ins¬
besondere bei den Gymnasien an den klassischen Sprachen. Wir müssen uns
daraufhin die drei Schularten in ihrem Verhältnis zu einander einmal ansehen.
Zuvor aber noch eine ketzerische allgemeine Bemerkung. Der Eindruck der
Überbürdung wird, wie es scheint, durch die Häufung von fünf, sechs, zum Teil
sogar sieben Lektionen auf den Vormittag hervorgerufen. Das ist in gewissem
Sinne berechtigt: denn daß die letzten Lektionen die Schüler in bedenklichem Er¬
müdungszustande finden, ist nicht verwunderlich. Ich bin der ketzerischen Ansicht,
daß die frühere Verteilung auf vier Vormittags- und zwei Nachmittagsstunden an
vier Tagen und vier Vormittagsstunden Mittwochs und Sonnabends der
körperlichen und geistigen Gesundheit zuträglicher war als diese Überlastung des
Vormittags zugunsten des freien Nachmittags und würde wahrscheinlich als
Direktor in einer kleineren Provinzialstadt zu der früheren Ordnung zurückkehren,
auch die Turnstunden wieder auf freie Nachmittage legen, damit sie wieder Er¬
holungsstunden werden und nicht, wie jetzt, Ermüdungsstunden, wenn sie, wie
oft, in die ersten Stunden des Unterrichts fallen und die Frische der Schüler
für den wissenschaftlichen Unterricht beeinträchtigen, oder in die letzten, wenn die
Schüler durch den vorangegangenen vier- und fünfstündigen Unterricht schlapp
geworden sind^ Freilich, die Großstädte, voran Berlin mit seinen monströsen
Gebilden von Schulen und den oft unsinnig weiten Schulwegen, lassen keine
Wahl. Ein viermaliger doppelter Schulweg in der Woche bei nicht selten drei¬
viertel- und ganzstündigen Entfernungen unter Benutzung der nervenfressenden
elektrischen Bahn ist unmöglich. Allerdings liegen die Verhältnisse auch hier nicht
ganz so schlimm, wie es aussieht. Der Besuch weit entfernter Schulen ist bei
der Fülle der vorhandenen, besonders in den Vororten, sehr oft gar nicht not¬
wendig, und die Gelegenheit, die Knaben in Provinzialstädte zu geben — wozu
die neuerdings so begünstigten und von der Behörde empfohlenen Familien¬
alumnate besonders einladen — wird auch von bemittelten Familien viel zu
wenig ins Auge gefaßt. Von der Überfüllung der höheren Schulen durch ungeeignete
Elemente unter dem Zwange des unglückseligen Bercchtigungswesens und der
dadurch bedingten Erschwerung der Unterrichtsarbeit und übermäßigen Belastung
zu schwacher Anlagen wollen wir hier gar nicht reden. Immerhin besteht für
die Großstädte eine Zwangslage, aber das ist eben einer in der langen Reihe
von Übelständen, die diese überhaupt mit sich bringen, und muß ertragen werden.
Eine Milderung bringt gerade hier die neuerdings offiziell eingeführte
Kurzstunde. Ein Grund zu einer Beschränkung der Unterrichtsstundenzahl über¬
haupt kann aus diesen besonderen Verhältnissen nicht abgeleitet werden.
Sehen wir uns nun einmal die drei Schularten, Gymnasium, Real¬
gymnasium und Oberrealschule, im einzelnen hinsichtlich der Überbürdung mit
Unterrichtsstunden an, so ergibt sich, daß das Gymnasium gerade am wenigsten
zu leiden hat. Es hat tatsächlich in den oberen Klassen durch den Wegfall
des Zeichnens eine Stunde weniger als die anderen beiden Schularten; was
aber noch wesentlicher ins Gewicht füllt, ist die mindere Belastung mit fakul¬
tativen Stunden. Das Gymnasium hat sechs fakultative Stunden in den oberen
Klassen, nämlich Zeichnen, Hebräisch und eine neuere Sprache; diese sind aber
auch wirklich fakultativ und kaum einer wird mehr als zwei nehmen, die meisten
wohl die zwei neusprachlichen. Das Realgymnasium und die Oberrealschule
aber haben als fakultative Stunden vier naturwissenschaftliche Arbeits- und
Übungsstunden, die tatsächlich nicht fakultativ sind, weil sich niemand ausschließen
kann, wenn er nicht hinter den anderen und den durch diese Stunden
ermöglichten Zielforderungen zurückbleiben will. Dazu kommen noch eine
Stunde geometrisches oder perspektivisches Zeichnen und schon von 0III an
zwei Stunden Linearzeichnen, und mit Nachdruck tritt auch noch die Biologie
in Konkurrenz. Bei der Oberrealschule im besonderen nehmen, wie ich höre,
die naturwissenschaftlichen Aufgaben der Oberklassen die Kräfte der Schüler in
ganz unverhältnismäßiger Weise in Anspruch. Es gilt nicht bloß die erlernten
Elemente zu befestigen, die Kenntnisse zu erweitern und zu vertiefen, sondern
es beginnt von 011 an ein ganz neues Arbeitsgebiet, in dem auch das Ge¬
dächtniswerk einen gewaltigen Raum beansprucht. Spricht man also von Über¬
bürdung, so betrifft das in erster Linie die Oberrealschulen, dann die Real¬
gymnasien. Wie aber wäre zu entlasten? Bei den Oberrealschulen ist das am
schwersten, weil die Belastung gerade auf dem ihnen eigentümlichen Gebiete liegt, den
Naturwissenschaften. Bleibt also nur die Frage zu erörtern, ob derBetriebderNatur-
wissenschaften in diesen: Umfange, auch wenn die mathematisch-naturwissenschaftliche
Vorbildung die Richtungslinie bleibt, wirklich notwendig ist. Ich wage darüber
kein Urteil abzugeben, da ich nicht Fachmann bin, aber ich bin persönlich überzeugt,
daß eine Entlastung nur in dieser Richtung gesucht werden kann.
Bei den Realgymnasien liegt die Frage günstiger. Eine Beschränkung
der Mathematik und der Naturwissenschaften unterliegt hier in. E. gar keinem
Bedenken. Man mache doch auch bei dieser Schulart Ernst mit dem weisen
Grundsatze, der beim Gymnasium durchgeführt wird, daß es auf die akademischen
Studien vorbereiten, nicht aber schon in diese hineinführen soll. Es sind gewiß
nicht viel weniger Gymnasiasten, die Mathematik, ja selbst Naturwissenschaften
studieren, als Realgymnasiasten. Reicht die gymnasiale mathematische Vorbildung
dazu aus — und das tut sie erfahrungsgemäß —, so braucht man auch auf
dem Realgymnasium nicht darüber hinauszugehen, wenn man auch den besonders
für das Fach Interessierten Gelegenheit gibt, sich über das Schulmaß hinaus
zu betätigen. Das kann aber das Gymnasium auch und tut es bereits da,
wo in den Oberklassen eine Gabelung vorgenommen wird. Es würde also gar
keinem Bedenken unterliegen, die fünfte Stunde Mathematik in den Oberklassen
zu streichen und vielleicht auch die dritte Stunde Physik. Wenn dann die
angeblich fakultativen Übungsstunden grundsätzlich auf zwei beschränkt würden,
so wäre in der Tat eine Entlastung erzielt, die sich hören läßt.
In anderer Richtung aber darf sie nicht gesucht werden, weder in Be¬
schränkung der Sprachen noch in der Geschichte oder Religion, so lange die
letztere obligatorisches Lehrfach ist. Das Realgymnasium hat in den Ober¬
klassen vier Stunden Latein, vier Stunden Französisch, drei Stunden Englisch.
Es liegt auf der Hand, daß von einer Gründlichkeit sprachlicher Studien, wie
sie auf dem Gymnasium auch noch bei den (schon reduzierten) dreizehn alt¬
sprachlichen Stunden erreicht werden kann, hier nicht die Rede ist, weder im
Lateinischen noch in den neueren Sprachen. Diese Stundenverteilung trägt den
Charakter der Halbheit an der Stirn. Will man nun aber etwa noch eine
Stunde bei jeder Sprache abstreichen, so würde das bittere Gefühl der Danaiden¬
arbeit, das jetzt schon besteht, vollends unerträglich werden. Lust und Liebe
würden Lehrern und Schülern vollends verloren gehen, und Oberflächlichkeit würde
der Charakter dieser sprachlichen „realgymnasialen" Vorbildung sein — es müßten
denn die Anforderungen der Reifeprüfung auf dasjenige Maß herabgesetzt werden,
das zuni „Einjährigen" erforderlich ist. Dann kann aber von der Befähigung
zu wissenschaftlicher Arbeit keine Rede mehr sein.
In den Gymnasien ist die Überbürdungsfrage, wie oben gezeigt, gegen¬
standslos, so lange nicht erhöhte Ansprüche in den Naturwissenschaften gemacht
werden, über die freilich zu reden wäre. Dann kann aber auch von einer
Beschränkung in den alten Sprachen oder einer Beseitigung des Griechischen
keine Rede sein, wenn man dem Gymnasium nicht gerade seine Stärke, die um
einen Hauptgegenstand konzentrierte Arbeit, die geschlossene Einheitlichkeit der
Vorbildung, nehmen will. Schließlich, wer von Überbürdung mit Unterrichts¬
stunden spricht, der hat zu zeigen, wie die einmal gesteckten Ziele mit einer
geringeren Stundenzahl zu erreichen sind, oder wie die Zielforderungen einzu¬
schränken sind, ohne die zweckmäßige Vorbildung zu akademischen Studien zu
gefährden. Daß dies unter Umständen bei Realgymnasien und Oberrealschulen
möglich ist, ist oben gezeigt worden.
Alle diese Erwägungen aber rücken aufs neue die Frage nahe, ob nicht
eine Vereinfachung der Schularten überhaupt, insbesondere die Beschränkung
auf zwei Arten, eine mehr realistischen und eine mehr humanistischen Charakters,
mit im ganzen gleicher Belastung zu erzielen wäre.
Bei der Reform von 1891 faßte man den Gedanken, die Realgymnasien
mit ihrem halben Latein eingehen zu lassen, um nnr zwei Schularten zu haben,
das humanistische Gymnasium mit etwas verstärkten Realien und die lateinlose
Oberrealschule. Die Entwicklung der Dinge hat diesem Gedanken, so zweckmäßig
er im Prinzip war, nicht Recht gegeben, denn die Realgymnasien haben unzweifel¬
haft einen großen Aufschwung genommen, und die Mehrzahl der neugegründeten
Anstalten sind Realgymnasien. Der Grund dafür kann uur darin liegen, daß
man einerseits zwar die Realien und neueren Sprachen stark betont wissen,
anderseits aber doch das Latein nicht missen wollte. Hätte man mit diesem
Lateinbedürfnis bei der Konferenz von 1891 gerechnet, so wäre man vielleicht
auf eine» anderen Modus zu der Beseitigung der Realgymnasien als besonderer
Schulart gekommen, nämlich nicht auf ihre Aufhebung, sondern auf ihre Ver¬
schmelzung mit den Gymnasien und Oberrealschulen. Man hätte den natur¬
wissenschaftlichen Unterricht in den Gymnasien bedeutend verstärken und von
Tertia an Parallelklassen mit Englisch und verstärktem Französisch statt des
Griechischen einrichten und in die Oberrealschulen das Lateinische zwar nicht als
eigentliches Bildungsmittel, aber doch als Hilfswissenschaft und wirkliches Nebenfach
aufnehmen sollen. Gerade diese letztere Forderung hat jetzt der Allgemeine
deutsche Realschulverein aufgestellt. Einige Erläuterungen hierzu sind notwendig.
Das heutige Realgymnasium verlangt im ganzen bis U II dieselbe Sicherheit
in der lateinischen Gramatik wie das Gymnasium, und doch stehen von Quarta
an eine, von UIII an sogar drei Stunden weniger zur Verfügung. Die dadurch
herbeigeführte Unsicherheit in der Gramatik ist so auffallend, gedeihlicher Unter¬
richt dabei so erschwert, daß die Behörde anheimgibt, die Lektüre zugunsten der
Grammatik einzuschränken. Wie ist das mit der glücklich errungenen Erkenntnis,
daß die Einführung in den Geist des klassischen Altertums durch ausgiebige
Lektüre die Hauptsache sei, zu vereinen? Die Lehrpläne sagen mit Recht: „In
der I der Realgymnasien gehört fast die ganze Zeit der Lektüre; für ein
sicheres Verständnis ist hier ganz besonders Sorge zu tragen. Tastendem
Raten wird am wirksamsten durch Gründlichkeit der Ausbildung bei langsamem
Fortschreiten des Unterrichts vorgebeugt." Das langsame Fortschreiten ist bei
der geringen Stundenzahl freilich selbstverständlich, aber die Gründlichkeit der
Ausbildung, wozu doch in erster Linie grammatische Sicherheit gehört, ist aus
gleichen, Grunde unmöglich, und der Lateinunterricht des Realgymnasiums wird
dadurch zur unerfreulichsten aller Unterrichtsdisziplinen. Will man dieser Schulart,
ihrem Namen entsprechend, den gymnasialen Charakter erhalten, so muß man
ihr auch das Rückgrat aller gymnasialen Vorbildung, das Lateinische, im vollen
Umfange geben, nicht aber die Schüler, wie es jetzt ist, nur mit dem Lateinischen
bekannt machen und das „tastende Raten", den Todfeind aller wirklichen Bildung,
geradezu großziehen. Soll das Lateinische wirklich Bildungsmittel sein, so braucht
es die acht oder sieben Stunden des Gymnasiums, wobei nicht undenkbar wäre, daß
davon eine Stunde zurLektüre griechischer Werke in gutenUbersetzungenbenutzt würde.
Mit der Einführung des gleichen Lehrplanes im Lateinischen wäre der
wichtigste Schritt zur Verschmelzung mit dem Gymnasium geschehen. Ein zweiter
würde darin bestehen, daß die je fünf Stunden Mathematik und Naturwissen¬
schaften in den Oberklassen des Realgymnasiums auf je vier beschränkt würden,
was nach den obigen Ausführungen denkbar ist, und daß anderseits für das
Gymnasium noch zwei Stunden Naturwissenschaft, d. h. Chemie und Biologie
in den Oberklassen gewonnen würden. Diese müßte dann allerdings das
Griechische hergeben, und das dürfte auch angängig sein, wenn man das Haupt¬
gewicht auf die Lektüre legt und diese sorgfältig auswählt. Die sechs Wochen¬
stunden in den mittleren Klassen müssen schon jetzt sür die grammatische Grund¬
legung ausreichen; es kann sich also in den Oberklassen nur um die Ausdehnung
und die größere oder geringere Schwierigkeit der Lektüre handeln. Und da läßt
sich ein Modus finden, z. B. wenn einige schwierigere Werke des Plato oder des
Thukydides in guten Übersetzungen gelesen werden.
Demnach könnte sich ein Lehrplan ergeben, der sür Gymnasium und Real¬
gymnasium in Religion, Deutsch, Latein, Geschichte, Erdkunde, Rechnen, Mathe¬
matik und Naturwissenschaften völlig gleich wäre; die Verschiedenheit würde mit
U III einsetzen derart, daß Parallelklassen errichtet werden, von denen die gym¬
nasialen in den Mittelklassen sechs Stunden Griechisch, die realgymnasialen statt
dessen etwa vier Stunden Englisch und zwei Stunden mehr Französisch, in den
Oberklassen die gymnasialen vier Stunden Griechisch, drei Stunden Französisch
bzw. Englisch, die realgymnasialen vier Stunden Französisch und drei Stunden
Englisch (oder umgekehrt) erhalten. Diese Verfassung müßte, wenn möglich,
jede gymnasiale und realgymnasiale Anstalt erhalten, dann wäre die unerfreu¬
liche Zwitterstellung des Realgymnasiums beseitigt und die Notstände des
Schulwechsels hörten wenigstens für Gymnasium und Realgymnasium auf.
Natürlich wäre es auch denkbar, daß Gymnasien und Realgymnasien mit dieser
Verfassung für sich existierten; dann wären die Wechselnöte zwar nicht ganz
beseitigt, aber doch auch außerordentlich gemildert.
Neben diesem vereinigten Gymnasium und Realgymnasium gäbe es dann
nur noch die Oberrealschule, die in ihrer ebenfalls einheitlich durchgebildeten
Eigenart insbesondere der Vorbereitung auf technische Berufe dient und das
Latein nur als praktisches Hilfsmittel aufnimmt, was allerdings die oben berührte
Entlastung der Naturwissenschaften notwendig machen würde.
Vorstehende Ausfährungen find für die Anstalten alten Stils gemacht.
Sie lassen sich aber auch auf die Neformanstalten anwenden, und wenn vor¬
geschlagen ist, die Vereinfachung der Schularten durch obligatorische Einführung
der Reformanstalten für Gymnasien und Realgymnasien herbeizuführen, so würde
ich nur den Wunsch hinzufügen, daß eben nur eine Reformschule geschaffen
würde mit der Gabelung in Griechisch und neuere Sprachen*).
An seine Schwester.
Peking, den 22. März 1898.
. . . Über das Geburtstagsdiner bei H.s hat Dir Lilly berichtet, aber sie hat
Dir nicht erzählt, wer seine Schnauze in Baron Czikanns Glas steckte, als er
gerade an seinem Toaste maikäferte, nämlich niemand anders als das Schwein,
das Du als LOLtion cZo lait auf dem einliegenden Menu verzeichnet findest.
Es war nämlich ein komplettes Schwein, dem nicht einmal, wie vielen anderen
Schweinen und auch Menschen, der Kopf fehlte. Sein freundliches Profil nahm
sich höchst eigenartig aus, während es der Reihe nach zwischen den erlauchten
Tischgenossen hindurchguckte, als wollte es sagen: Wo die Diplomaten in meinem
Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen! Übrigens waren da
nicht nur Diplomaten, sondern auch Menschen, so z. B. der Maler, der aber
nicht Atys, sondern Obst heißt und ein netter Mann ist. Er zeigte uns nach
Tisch seine Reiseskizzen, die recht hübsch waren. Er reist mit dem Schriftsteller
Paul Lindenberg aus Berlin zusammen, der auch ganz nett ist und mich auf¬
gefordert hat, mich an den Donnerstagabenden, an denen die Mitarbeiter am
Kladderadatsch zusammenzukommen pflegen, zu beteiligen. Die beiden machen
eine Reise um die Erde und wollen von hier nach Japan und dann über
Amerika nach Deutschland zurückkehren.
Gestern besuchte ich einen steinreichen amerikanischen Globetrotter, der ganz
in unserer Nähe in einem chinesischen Hause wohnt, das er sich mit dem Aus¬
erlesensten, was chinesische Kunst und Industrie bieten, ganz entzückend ein¬
gerichtet hat. Der Mann, ein Mr. Grccham, genießt als vernünftiger Mensch seine
Millionen, die er sich als Bankier erworben hat, indem er die ganze Welt
bereist. Trotz seinem Reichtum und prosaischen Beruf ist er nichts weniger als
blasiert und interesselos, sehr belesen, zitiert seinen Pope und Chaucer aus¬
wendig, hat Sinn und Verständnis für alles. Er sagte neulich zu Lilly, er
habe bis jetzt nur drei Städte kennen gelernt, die ganz einzig in ihrer Art
und mit nichts anderem zu vergleichen seien: Moskau, Venedig und Peking.
Solchen Leuten kann mau ihren Reichtum gönnen. . . .
An seine Schwester.
Peking, 8. Mai 1898.
Gestern sind wir glücklich und sehr befriedigt von unserer Reise nach Jehol
henngekehrt. . . .
Wir haben unseren Ausflug sehr genossen und die schönsten Erinnerungen
heimgebracht. Doch ich will nicht vorgreifen, wie Paula Erbswurst sagt, und
alles in chronologischer Reihenfolge berichten. Unsere Karawane bestand aus
drei Karren mit je zwei Maultieren, lang gespannt, und drei Eseln. Lilly
machte die ganze Reise auf dem Karren — ein Kunststück, das ihr wohl nicht
leicht jemand nachmachen wird. Im Karren zu sitzen, vermag nur ein Chinese,
andere Menschen geben nach wenigen Stunden des Herumgeschleudertwerdens
ihren Geist auf, wenn sie welchen haben. So saß denn Lilly die ganze Zeit
draußen und ließ die Beine stillvergnügt herunterbaumeln. Ihr gutes natür¬
liches Polster und ein Kissen, das ihr Frau v. P. geliehen hatte, unterem
einigermaßen die Stöße. Immerhin war die Fahrt, die teils durch tiefen Sand,
teils, und oft stundenlang, über große Steinblöcke ging, eine anerkennenswerte
Leistung. Wir hatten jeden Tag fünfzig bis sechzig Kilometer zurückzulegen und
waren somit täglich zehn bis elf Stunden (die Frühstückspause nicht mitgerechnet)
unterwegs. Unser Gefolge bestand aus Mr. Gradaus Boy, der, nebenbei
bemerkt, ein Mandarin der fünften Rangklasse ist und die Leitung des Ganzen
versah, unserem Boy und einem Koch. Dazu kamen noch die drei Kutscher
und zwei Eseltreiber. Proviant, soweit man solchen nicht unterwegs bekommen
konnte, hatten wir mitgenommen. Alles übrige bestand aus milden Gaben,
die wir uns erbettelt hatten. Frau Kierulff hatte uns Betten, Herr Kierulff
mir seinen Sommerhut und Frau v. P. Geschirr und verschiedenes andere
geliehen. So brachen wir denn heute vor vierzehn Tagen bei herrlichem Wetter
um Uhr morgens von hier auf. Der Weg selbst war wenig genußreich,
da er meist durch ausgetrocknete Flußbetten inmitten völlig kahler und baum¬
loser Hügel und Berge führte. Nur hin und wieder wurde die Einförmigkeit
dieser furchtbaren Öde durch ein schönes Landschaftsbild unterbrochen, so z. B.
bei Ku-pei-k'on, wo wir die große Mauer passierten. Der Ort liegt sehr malerisch,
von schön geformten Bergen umgeben; doch fand ich, daß die Mauer selbst bei
Ch'a-tao, wo wir im Herbste waren, einen viel großartigeren Eindruck machte,
weil man das gigantische Bauwerk besser überblicken und weiter verfolgen konnte.
Am fünften Tage langten wir auf der Paßhöhe Knäng-jeu-klug an, von wo
wir das malerische Tal von Jehol zu unseren Füßen liegen sahen. Den steilen
und steinigen Weg bergab mußten wir zu Fuß zurücklegen. Bald hatten wir
die Stadt Ch'eng te-fu erreicht, neben der Jehol liegt. Da sich selten Europäer
hierher verirren, war unser Gasthof sofort von einer unabsehbaren Menschen¬
menge umringt. Am nächsten Morgen schickten wir Mr. Gradaus Boy, der
zu diesem Zweck Staatstracht und eine Mütze mit dem Knopfe seiner Rangklasse
angelegt hatte, auf die Präfektur, um dem Gouverneur unsere Karten abzugeben.
Der letztere war noch nicht aufgestanden, aber einer der anderen Beamten sagte
dem Bon, daß meine Ankunft bereits vom Tsungli-Damen (dem Ministerium
des Auswärtigen) angezeigt worden war. Mein Paß war nämlich vom Tsungli-
Damen ausgefertigt worden, während Mr. Graham nur einen einfachen Gesandt¬
schaftspaß hatte.
Während der Bon auf der Präfektur war, machten wir einen Spaziergang
durch die Stadt und photographierten. Natürlich waren wir stets von einer
hundertköpfigen Schar begleitet. In den Gasthof zurückgekehrt, erfuhren wir
durch den Bon, daß es geraten wäre, noch einen persönlichen Besuch bei dein
Präfekten zu machen, was wir denn auch sofort taten, d. h. Mr. Graham und
ich in Begleitung des Boy. Da der hohe Würdenträger, der Opiumraucher
sein soll, noch immer in Morpheus' Armen lag, ließ ich ihm durch einen der
diensttuenden Beamten sagen, wir seien nur gekommen, um ihm unsere Auf¬
wartung zu machen und ihn zu bitten, uns womöglich Zutritt zu den Tempeln
zu vermitteln, worauf er uns sagen ließ, er wolle sein Möglichstes tun und uns
Bescheid zukommen lassen.
So zogen wir denn wieder ab und ritten sofort, um keine Zeit zu ver¬
lieren, nach Jehol.
Kaum hatten wir den von einer hohen Steinmauer umgebenen und nie¬
mand zugänglichen kaiserlichen Jagdpark hinter uns, als sich uns ein Bild von
ganz überraschender Eigenartigkeit bot. Wir sahen eine niedrige Hügelkette vor
uns, auf der aus dem frischen Grün der Bäume goldene Dächer und hohe
palastartige Bauten, wie man sie sonst in ganz China nicht steht, hervorragten.
Das waren die berühmten Lamatempel. Ohne Zeitverlust ging es sofort aus
Photographieren. Darauf ritten wir etwas näher an die Tempelbauten heran.
Bald wurden wir von einem älteren mongolischen Lama eingeholt, der desselben
Weges ritt. Ich begrüßte ihn mongolisch und schrieb ihm darauf das buddhistische
Gebet Omi man pacime nun in tibetischer Schrift auf ein Blatt Papier. Die
Wirkung übertraf meine Erwartung; er starrte bald mich, bald das Blatt offenen
Mundes an, drückte darauf das Blatt voll Ehrerbietung an seine Stirn und
hielt mir den Daumen hin. Diese Geste bedeutet so viel wie .Mimbsr One".
Allmählich kamen noch verschiedene andere Lamas hinzu, und als ich ihnen
verschiedene buddhistisch-theologische Ausdrücke und Formeln in tibetischer, mon¬
golischer und mandschurischer Schrift aufschrieb, kannte ihr Erstaunen keine
Grenzen mehr, und ich hörte, wie einer zum andern sagte: „Dieser Fremde
kennt buddhistische Ausdrücke, die nicht einmal jedem Lama bekannt sind. Woher
mag er diese Kenntnis haben?" Dutzendweise tauchten mehr oder minder rein¬
liche Daumen vor meiner Nase auf, und jetzt schien mir der Augenblick gekommen,
die Wirkung meines Zaubers zu erproben. Ich fragte also den Lama, der
uns zuerst begegnet war, ob er zu dem Tempel P'u-ta-la gehöre? — „Ja". —
„Kannst du uns nicht hineinführen und uns den Tempel zeigen?" Dn hieß
es jedoch mit der größten Entschiedenheit: „Unmöglich, das geht nicht." —
„Warum denn aber nicht? Du siehst ja, daß ich die Lehre kenne, auch sind
wir ruhige Leute, die keinen Skandal anrichten werden. Überlege es dir!" —
„Unmöglich. Wir sind einfache Lamas, und die Erlaubnis dazu kann nur der
Abt geben." — „Gut, aber wie erlangt man die?" — „Verschaffe dir eine
Empfehlung vom Präfekten, dann wird euch niemand den Eintritt verwehren."
Vor der Hand hatten wir also nichts ausgerichtet, aber doch offenbar einen
guten Eindruck gemacht. Der gute Wille schien da zu sein. So traten wir denn
resigniert den Rückweg an.
Im Gasthof angelangt, trafen wir einen chinesischen Prüfe kturdiener an, der
uns die Visitenkarte seines Herrn überbrachte mit der Mitteilung, daß dieser,
ein Beamter der Prüfektur, erbötig sei, uns, falls wir die Genehmigung zum
Besuche der Tempel erhielten, dorthin zu begleiten. Das sah günstig aus; wir
schickten ihm unsere Karten und ließen ihm für sein freundliches Anerbieten
danken. Am nächsten Morgen erschien auch wirklich ein Bote aus der Prüfektur,
der uns mitteilte, daß einer Besichtigung der Tempel nichts im Wege stehe. Du
wirst Dir unseren Jubel vorstellen können, wenn ich Dir sage, daß, soviel
bekannt ist, seit Lord Macartnev, der im Jahre 1793 als englischer Spezial-
gesandter von dem Kaiser K'im-lung in Jehol empfangen wurde, kein Ausländer
diese Tempel hat betreten dürfen!!!
Bald stellte sich der Mandarin, der uns den Tag vorher seine Karten
geschickt hatte, ein, von mehreren Soldaten begleitet. Er war sehr nett und
liebenswürdig, und wir regalierten ihn erst mit Champagner, bevor wir auf¬
brachen. Zuerst ging es nach dem Hing-kung, wo wir zunächst von dem dort
stationierten Mandarin empfangen wurden. In jedem der Tempel führt nämlich
neben dem Abt ein Beamter als Vertreter der staatlichen Obrigkeit die Aufsicht.
Nach einer kurzen Pause wurden wir in den inneren Hof geleitet, wo uns der
Abt in seinem gelben Gewände, umgeben von mehreren LamaS, begrüßte. Ich
führte auch ihm natürlich sofort meine Kunststücke vor, die ihm so zu imponieren
schienen, daß er mich in eigener Person herumführte und mir alles erklärte.
Der Hing-kung ist eine getreue Nachbildung des Palastes des zweiten Gro߬
lamas (Pan-es'en-rin-po-es'e) in Tashilhunpo (Tibet) und besteht aus einem
ziemlich großen Gebändekomvlex, der in einen: schönen Parke gelegen ist. Die
größte Sehenswürdigkeit darin ist der Haupttempel, ein viereckiger hoher Back¬
steinbau mit goldenem Dache, das in einer mit einem laternenartigen Knopf
gekrönten Spitze ausläuft, die von vier prachtvoll gearbeiteten Drachen aus ver¬
goldeter Bronze gestützt wird. Genau solche Drachen sind auch an den vier
leicht geschweiften Ecken des Daches angebracht. Das Dach selbst ist mit ver¬
goldeten Ziegeln gedeckt. Auch das Innere des Tempels ist prachtvoll. An den
vier Wänden laufen zwei Galerien, ähnlich den Emporen unserer Kirchen. An
der Rückwand, hinter dem Altare, standen zwei mächtige Buddhastatuen aus
vergoldeter Bronze übereinander, die obere auf der Höhe der ersten Galerie.
Der große Altar war bedeckt mit den herrlichsten Geräten aus Cloisonnö, Bronze
und Lack, jedes einzelne Stück ein Kunstwerk ersten Ranges. Vor dem Altar
stand der gelbe Thron des Abtes und rund umher die Polstersitze der Lamas.
Der Tempel selbst steht in einem engen Hofe, der von allen vier Seiten
von hohen dreistöckigen Gebäuden mit offenen Galerien umgrenzt ist. Der
freundliche Abt führte uns über künstlich und sehr geschmackvoll angelegte Felsen¬
stufen auf das flache Dach dieser den Tempel einschließenden Gebäude, von
wo wir das herrlich gearbeitete Tempeldach aus nächster Nähe bewundern und
zugleich einen Blick auf die reizende Umgebung werfen konnten. Ich vergaß
noch zu erwähnen, daß die Decke des Tempels aus herrlichem vergoldetem
Schnitzwerk, Drachenfiguren darstellend, besteht. In der Nähe des Tempels steht
der Palast, ein großer dreistöckiger, rotgetünchter Backsteinbau mit prachtvollen
Fensterdächern aus grünen und gelben Majolikakacheln. Prachtvoll war auch
der große Torbogen aus bunten Majolikakacheln.
Nachdem wir alles besichtigt hatten, ließen wir den Lamas eine Kleinigkeit
(2 Dollars) geben, die sie zuerst durchaus nicht annehmen wollten: es könnte
falsch gedeutet werden, wenn es bekannt würde, daß sie Geld angenommen hätten.
Erst aus wiederholtes Zureden ließen sie sich bewegen, das Geld anzunehmen.
Darauf sagte der Abt zu den ihn umgebenden Lamas: „Lasset uns den Herr¬
schaften für ihre Gabe danken," und es war rührend, wie er gleich darauf selbst
mit seinen Lamas vor uns zum Danke niederkniete.
Der nächste Tempel, den wir besichtigten, heißt P'u-ta-la, so genannt nach
Potala, dem Palaste des Dalai-Lama in Lhassa, dessen getreue Nachbildung er
ist. Auch hier wurden wir zuerst von dem die Aufsicht fahrenden Mandarin
begrüßt und von diesem in den inneren Hof geführt, wo uns ebenfalls der Abt
an der Spitze seiner Klostergeistlichkeit erwartete. Lilly photographierte sofort
die malerische Gruppe. Leider hatten wir uns in dem ersten Tempel durch
Mr. Gradaus Boy einschüchtern lassen, der es für durchaus unzulässig erklärte,
den Apparat mitzunehmen. Da wir inzwischen gesehen hatten, wie freundlich
die Leute waren, genierten wir uns auch nicht mehr.
Vor einem schönen Torbogen aus grünen und gelben Majolikakacheln, vor
dem zwei marmorne Elefanten in sitzender Stellung aufgestellt waren, packten
wir unseren Freßkober aus und luden die hohe Geistlichkeit, sowie die welt¬
lichen Würdenträger ein, sich an Wein, Sardinen und Brot zu delektieren, was
sie auch taten.
Der Haupttempel ist hier ein mächtiger sechsstöckiger Backsteinbau, viereckig
und nach oben hin sich etwas verjüngend. An den vier Ecken des Daches sind
niedrige pagodenartige Türme angebracht. Der ganze Bau ruht auf einem
mächtigen steinernen Unterbau, der oben eine Terrasse vor dem Hauptgebäude
bildet/ Das große Gebäude umschließt einen viereckigen Hof, in dem sich der
eigentliche Tempel befindet, der leider sehr gelitten hat und verfallen ist. Wir
haben auch diesen Hof photographiert. Zu Füßen des mächtigen Baues, über
den Abhang des Hügels verstreut, stehen zahlreiche kleine Häuser, in denen sich
die Wohnungen der Lamas befinden. Diese Häuser sind ebenfalls von tibetanischer
Bauart, d. h. zweistöckige Backsteinhäuser, bei denen das zweite Stockwerk stufen¬
artig hinter das Erdgeschoß zurücktritt. Wir haben eine dieser Lamabehausungen
angesehen, die einen recht netten und sauberen Eindruck machte.
Der letzte Tempel, den wir nun noch besichtigten, heißt P'u-ring-sze', doch
wird er meist nach einer etwa siebzig Fuß hohen hölzernen, vergoldeten Statue
der Göttin Kuau-piu, die sich in demselben befindet, Ta-fo-szL, d. h. Tempel
des großen Buddha, genannt. Der Haupttempel hat die Gestalt einer breiten
Pagode mit mehreren geschweiften Dächern übereinander. Die ganze Anlage
mit den zahlreichen, in verschiedenen Stilarten gehaltenen Nebenbauten ist nicht
übel, jedoch nicht entfernt zu vergleichen mit den beiden vorhin beschriebenen
Tempeln. Auch bietet dieser Tempel ein Bild trostloser Verwahrlosung.
Hochbefriedigt und mit aufrichtigen: Tante für das liebenswürdige Ent¬
gegenkommen allerseits kehrten wir in unseren Gasthof zurück. Ich sagte
dem einen der Mandarine: „Wir sind in Ihrem geehrten Lande allenthalben
mit der größten Zuvorkonimenheit behandelt worden und können für die uns
erwiesene Gastfreundschaft nicht dankbar genug sein. Man steht, daß das Wort
des Konfucius: .Wenn Freunde aus fernen Landen dich besuchen, ist das nicht
eine Freude?' auch heute noch in China unvergessen ist." Das klassische Zitat
schien ihm Freude zu machen, und er erwiderte: „Das ist doch selbstverständlich
und wir sind überzeugt, daß wir in Ihrem geehrten Lande dieselbe Aufnahme
finden würden, wie Sie bei uns."
Welchem Umstände wir es zu danken haben, daß wir seit einhundertfünf
Jahren die ersten Fremden sind, denen der Zutritt zu diesen verbotenen Tempeln
gewährt worden ist, ist uns selbst ein Rätsel. Ich vermute, es ist einfach darauf
zurückzuführen, daß wir uns wie gesittete Menschen betrugen, was hier zu Lande
unter deu Vertretern der christlichen Zivilisation so selten vorkommt.
I)r. F. schreibt unseren Erfolg dem Skandal zu, den er vor einigen Jahren
dort angerichtet hat. Dadurch sei der Präfekt so eingeschüchtert morden,
daß er jetzt jedem Fremden zu Diensten stehe. Merkwürdigerweise sind aber
seitdem verschiedene Ausländer, u. a. auch Herr und Frau v. P. in Jehol
gewesen, ohne Zutritt zu den Tempeln erlangen zu können.
Zurück schlugen wir einen anderen Weg ein, der zwar eine Tagereise weiter,
dafür aber um so genußreicher war, als der erste. In einer meist von Mon¬
golen bewohnten Stadt Pa-ton trat plötzlich ein chinesisch gekleideter englischer
Missionar an uns heran und lud uns in sehr freundlicher Weise ein, bei ihm
abzusteigen. Das lehnten wir dankend ab, da wir uns bereits in unserem
Gasthofe häuslich eingerichtet hatten. Dafür nahmen wir aber seine Einladung,
wenigstens bei ihm zu essen, gern an. Er war ein ganz netter und freund¬
licher Mann, aber seine Frau, Mrs. Se., die mich durch ihren martialischen
schwarzen Schnurrbart an die schwarze Marie in Fehrleiten erinnerte, war tröst-
los langweilig. Sie schienen mit ihren drei Kindern in ihrem sauberen und sehr
nett eingerichteten chinesischen Hause ein ganz behagliches Leben zu führen. Da
sie sich erst seit drei Monaten in Pa-ton aufhielten, hatten sie dort natürlich
noch keinem Chinesen zur ewigen Seligkeit verhelfen können. Da war noch ein
anderer englischer Missionar aus Australien bei ihnen zum Besuch, der einen
hoffnunglos stupiden Eindruck machte.
Die Dörfer und kleinen Städte, die wir unterwegs passierten, machten
größtenteils einen freundlichen und ordentlichen Eindruck. In einem kleinen
Dorfe, Lung-chid-men, das aus etwa einem Dutzend Häuser bestand, fanden
wir Unterkunft in einem sehr netten, sauberen Gasthofe; die Wände des schönen,
geräumigen Zimmers waren mit Tabellen zur chinesischen Geschichte geschmückt.
Das Nachbarhaus war ein Schulhaus. Überhaupt konnten wir im ganzen
über die chinesischen Gasthöfe nicht klagen, und ich glaube kaum, daß man in
irgend einem russischen Dorfe auch nur annähernd so gut logieren könnte, wie
wir es durchschnittlich auf allen unseren bisherigen Reisen in China taten.
Man hatte uns so viel von der Bösartigkeit und fremdenfeindlichen Ge¬
sinnung der Bevölkerung von Ch'eng-te-fu im allgemeinen und der Lamas
insbesondere erzählt, daß wir aufs Schlimmste gefaßt waren. Statt dessen
wurden wir überall ohne eine einzige Ausnahme mit der größten Freundlichkeit
behandelt. Jeder Scherz erregte die größte Heiterkeit, und von irgend welcher
Animosität war nichts zu merken. Ich finde meine bisher gemachte Erfahrung
nur wieder bestätigt: daß man nämlich von den Chinesen so behandelt wird,
wie man sie behandelt. Mr. Graham und ich waren einmal in etwas rascherem
Tempo vorausgeritten und machten bei einem Tempel des Kriegsgottes Halt,
um auf Lilly zu warten. Kaum hatten wir den hübschen Tempelhof, in dem
ein schöner duftender Fliederbusch stand, betreten, als ein junger Priester auf
uns zukam und uns in sein Haus zu kommen bat. Der Mann machte einen
sehr netten Eindruck, er hatte ein offenes und freundliches Wesen, ganz ohne
die gespreizte Höflichkeit, die sonst den Chinesen eigen ist. Er regalierte uns
zunächst mit Tee und zeigte uns dann seine Schule, wo wohl einige zwanzig
Kinder lernten. Alles sah sauber und ordentlich aus. Du brauchst durchaus
nicht zu denken, daß ich China und die Chinesen immer nur durch eine rosige Brille
betrachte; es bleibt immer noch so manches übrig, was einen nicht gerade anspricht.
In Peking angekommen (heute ist inzwischen schon der 11. Mai), erfuhren
wir, daß Prinz Heinrich von Preußen erst am 13. kommt, da der alte
Klapperkasten, der den stolzen Namen „Deutschland" führt, wieder einmal aus
dem Leim gegangen ist. Es ist doch merkwürdig, daß bei uns heutzutage, wo
sich's um Staatsaktionen handelt, alles entweder aus dem Leim oder auf den¬
selben geht. . . .
Lilly übt sich täglich im Knixen, es geht auch schon ganz gut, nur macht
sie immer gleichzeitig mit der Zunge ähnliche Bewegungen, wie mit den Beinen (!!)
An seine Schwester.
Amoy, den 27. Oktober 1898.
Zum letzten Male schrieb ich Dir aus Shanghai über unseren Besuch in
Kiao-chou. Seitdem sind wir in Hongkong gewesen, fanden auch dort kein Schiff
nach Fu-chou und mußten uns daher mit Amoy begnügen. Auf der Fahrt
von Shanghai nach Hongkong erlebten wir einen kleinen Taifun, der in keiner
Weise meinen Erwartungen entsprach — es war entsetzlich schwül, die See sehr
bewegt, aber da man nicht auf Deck durste und auf die Kajüte angewiesen
war, so hatte man wenig von dem großartigen Anblick. Auf dem Dampfer,
der uns von Hongkong nach Amoy brachte, passierte mir ein kleines Malheur,
das leicht ein großes hätte werden können. In dem engen Gange, der zwischen
den Kabinen hin durchführte, hatten die Leute eine Luke offen gelassen, von der
eine steile Hühnerstiege in den unteren Schiffsraum führte; ich übersah sie und
stürzte in die Tiefe. Zum Glück habe ich mir nichts gebrochen, sondern nur
das linke Schienbein ziemlich stark abgeschürft. Obwohl Stangen an der Wand
befestigt waren, die vorgelegt werden müssen, sobald die Luke geöffnet wird,
hatte man diese Vorsichtsmaßregel unbeachtet gelassen. Eine so unverantwort¬
liche Nachlässigkeit kann wohl nur auf einem englischen Schiffe vorkommen;
englisch war es auch, daß keiner der Herren, weder der Kapitän noch die
Offiziere, ein Wort der Entschuldigung für nötig hielten. Wie ich mir nicht
das Genick gebrochen habe, ist mir heute noch rätselhaft — es handelte sich ja
aber nur um einen „Oerman".
In Amoy angelangt, fanden wir in einem sehr netten deutschen Hotel
Unterkommen, haben hier ein sehr gutes Zimmer und ausgezeichnete Ver¬
pflegung — Vorzüge, die wir um so mehr zu schätzen wissen, nachdem wir
eine Nacht in dem ersten Hotel Hongkongs hatten logieren müssen. Das ist
ein Riesenhotel, das neulich in einem Monat einen Reingewinn von 160000
Dollars eingebracht hat. Dabei herrscht dort eine Unordnung und Unsauberkeit
wie in keinem zweiten europäischen Hotel Ostasiens. Es ist unter englischer
Leitung und in englischem Besitz.
Hier in Amoy besuchten wir natürlich sofort meinen ehemaligen Leipziger
Studiengenossen Dr. M., der hier deutscher Konsul ist.
Am nächsten Tage waren wir dort zum Diner als die einzigen gebildeten
Menschen unter lauter Engländern. Da niemand vorgestellt wurde, wissen wir
auch nicht, wer dort war. Keiner dieser edlen Briten hat mit Lilly auch nur
ein Wort geredet, und als nach Tisch ein wenig getanzt wurde, fand sich keiner,
der Lilly engagierte. Es ist wirklich ganz unglaublich und für einen Menschen
mit kontinentalen Anschauungen schier unfaßlich, daß eine solche Nation von
Rüpeln hier tonangebend sein kann. („Sehr richtig", sagt Lilly eben.) Zu meiner
Freude sehe ich, daß M. die Engländer amtlich und dienstlich stets mit schonungs¬
loser Rücksichtslosigkeit behandelt und daher in hoher Achtung bei ihnen steht.
Als einmal ein Engländerjüngling, der bei den Customs angestellt war, in
Tamsui auf Formosa, wo M. früher Konsul war, in betrunkenen Zustande das
deutsche Konsulatsschild herunterriß, verlangte er seine sofortige Dienstentlassung
und setzte sie auch durch. Der Vorgesetzte jenes Jünglings gab sich die größte
Mühe, Dr. M. weich zu stimmen, indem er ihm sagte, der junge Mann sei
sonst ein braver Mensch, der ganz unbemittelt sei und seine alte Mutter zu
ernähren habe. Daraufhin erklärte M, daß der junge Mann ihm persönlich
unendlich leid tue, daß er aber als Vertreter des Deutschen Reiches auf der
sofortigen Entlassung bestehen müsse. Im übrigen sei er herzlich gern bereit,
ihm zu helfen, und als deutscher Gentleman eröffnete er eine Kollekte, indem
er zugleich als erster eine große Summe zeichnete. Natürlich konnten nun die
Becfs nicht hinter ihm zurückbleiben und mußten ebenfalls blechen. Der junge
Mann aber wurde auf seine heimatliche Insel zurückgeschickt und kann nun in
Muße darüber nachdenken, daß man sich mit dem Deutschen Reiche und seinen
Vertretern nicht ungestraft englische Späße erlauben darf. Vor seiner Abreise
kam er noch zu M. und bedankte sich für die Hilfe.
Amoy ist landschaftlich und durch seine schönen Tempelbauten sehr interessant.
Den Hintergrund bilden kahle scharfgezackte hohe Gebirgsketten, während das
Hügelgelände an der Küste mit zahllosen mächtigen Felsblöcken von ganz
grotesken Formen besät ist, zwischen denen allenthalben malerische kleine Tempel
hervorgucken. Wir machten gestern einen sehr genußreichen Ausflug in die
nächste Umgebung Amoys. In dem Gebirge wimmelt es von Tigern, die
zuzeiten auch Streifzüge in die Vorstädte unternehmen. Einmal kam sogar
ein mächtiger Tiger von Amoy nach Kulangsu herübergeschwommen. Kulangsu
ist nämlich die reizend malerische Insel, auf der die Europäer wohnen (während
ihre Geschäftsbüreaus in Amoy sind).
Heute nachmittag fahren wir nach Hongkong zurück und hoffen sehr, daß
der Dampfer unterwegs einige Stunden vor Swatou liegen bleibt. Es ist sehr
stürmisch und wird wohl eine recht bewegte Fahrt geben. In Hongkong halten
loir uns so kurz wie möglich auf und gehen gleich nach Canton weiter, wo
wir unsere Tage in China beschließen wollen. Es wird ein schwerer Abschied
werden. — Hoffentlich finden wir in Canton wieder einen Brief von Dir vor.
Es wird uns alles von Shanghai dorthin nachgeschickt. In Shanghai war
es diesmal sehr nett. Zum Abschiede hatten sich Knappes und Zimmermann
auf dem Landungsplatze eingefunden. Sie waren alle reizend nett gegen Ms,
und wir haben wohl so manche liebe Freunde hier im Osten gefunden.....
Schluß.
Der nächste Tag war ein Sonnabend. Gottfried hielt bis 12 Uhr Schule
und rüstete sich, am Nachmittag eine Lehrerkonferenz zu besuchen. Es sollte da
über die Einführung eines neuen Liederbuches verhandelt werden, und er gehörte
zu der Prüfungskommission, die nun ihr Urteil abzugeben hatte. So entging er
heute der Begegnung mit Anna und ließ ihr Zeit, mit sich selbst klar zu werden.
Es würde ihr vermutlich schwerer werden .als ihm. Er kannte sich kaum wieder
und hatte das Gefühl, als sei er in dieser Nacht durch verrostete Tore einer dicken
Mauer geschritten, die ihn bislang umgeben hatte. Nun war er jenseits, und eine
fröhlich bunte Landschaft weidete sich vor ihm. Immer lag ihm die Melodie des
Liedes im Sinne, das er in der Nacht geschrieben hatte. Er. sang es leise vor
sich hin-
Dann stand er still, horchte eine Weile auf den Lerchenfang, wirbelte seinen
Stock ein paarmal durch die Luft und wanderte weiter. Du schöne, heimliche
Liebste! dachte er und versank eine Weile in der Erinnerung der vergangenen
Nacht. Doch plötzlich stelzte durch blauen Himmelsschein und grünes Felderwogen
dürr und klapprig das Wort Moral daher.
Wie? dachte Gottfried, du hast mir bislang keine Pein gemacht, was willst
du von mir? Haben wir uns nicht wiederholt auseinandergesetzt und wissen, was
wir voneinander zu halten haben?
Freilich, ein so nahes, gewissermaßen praktisches Verhältnis hatte er zur
Moral bislang nicht gehabt. Und nun pflanzte sie sich vor ihn hin und schuf ihm
Unruhe. Und auf dem ganzen anderthalbstündiger Wege riß er sich mit ihr herum
und wußte nicht, ob er nun Sieger war oder sie. Mißmutig zog er in dem Dorfe
ein, wo sich die Lehrerschaft der Umgegend im „Gasthaus zum grünen Jäger" ver¬
sammelte. Wie er durch die Gärten schritt, schwang sich über eine Hecke ein süßer
Goldlackduft und hauchte ihn an. Da erstand mit einem Male die schöne, warme
Wirklichkeit der vergangenen Nacht vor ihm, und das Wort Moral schnitt eine
greuliche Fratze und zog ab. Gottfried Haberkorf aber reckte sich, fühlte Säcke voll
Mut und Kraft in sich und pfiff befreit ein Lied.
In der Konferenz war er außergewöhnlich aufgeräumt, nahm verschiedentlich
das Wort zur Debatte, als ein pädagogischer Vortrag gehalten war, und hielt
hernach aus dem Stegreif ein kurzes, schneidiges Referat über das Ergebnis seiner
Liederbuchprüfung.
„Donnerwetter!" meinte Kantor Heineke, „der ist ja mächtig ausgekratzt."
„Na, ich werd' ihm gleich," antwortete der alte Hohne von Tümpelhagen,
„wenn er so'n Lied von den Kindern singen lassen will."
Es handelte sich um ein altes Volks- und Liebeslied, das in dem Lieder¬
buche stand.
„Haben Sie das Lied .Schatz, lieber Schatz' nicht bemerkt, Kollege?" fragte
er freundlich.
„Doch!" sagte Gottfried, „dies und auch die anderen Liebeslieder."
„Ssso!" sagte Kantor Hohne kurz. „Sie wollen also unsere reinen Kinder¬
seelen mit Liebesliedern füttern? Ich aber sage Ihnen, daß unsere Kinder früh
genug an zu liebeln fangen, und daß es wahrhaftig nicht nötig ist, sie darin zu
unterstützen."
Wüpp! da saß er wieder auf seinem Stuhle.
„Sie haben recht, Herr Kantor, unsere Kinderseelen sind rein und unver¬
dorben, deshalb möchte ich auch reine Liebeslieder hineinpflanzen, damit hernach
kein Raum für unsaubere bleibt."
„Das ist fein, man immer früh genug mit Schatz und Liebe und Küssen
bekannt machen — aber — aber —"
Er vertodderte sich, setzte sich wütend und rührte aufgeregt in seinem Kaffee.
Gottfried lächelte still und schwieg. Er war kein Streiter.
„Ich meine," rief da sein Widerpart, „wo bleibt da die Moral?"
Moral? Sieh einer, da war sie also doch wieder!
„Bitte, Herr Kantor, was ist Moral?"
„Was, waas? Was Moral ist? Das weiß jeder wahre Christ, das wissen
Sie so gut wie ich und überhaupt — überhaupt alle."
Bums!
Gottfried kriegte einen roten Kopf. Moral I Moral I Nun aber herunter
mit der Maske I Er fühlte sein Hirn prachtvoll klar werden und sah eine Reihe
wunderschöner Sätze aufmarschieren. Die mußten heraus! Er stand auf.
„Lassen Sie mich mal zwei Arten von Moral unterscheiden. Die eine möchte
ich als die Stimme des Blutes bezeichnen, als die Konsequenz unserer geistigen
Kräfte. Sie verurteilt nicht, sie blickt mit wachem, sinnendem Auge vor uns auf
den Weg, den wir gehen. Fragen wir sie um Rat vor einer Tat, so schweigt
sie. Fragen wir nach einer Tat: War es gut? War es böse? — so lächelt sie.
Und doch macht sie stark und frei im Guten wie im Bösen. Nun aber die andere I
Die trügt vor dem Gesicht die Maske von erstarrtem Wohlwollen und hat eine
schwarze Uniformkntte an. Unter dem Arm schleppt sie einen dicken Kodex, und
ihr dürrer Finger gleitet beständig über die Zeilen hin. Reißen wir ihr die
Maske vom Gesicht. Was sehen wir? Einen hohlen Schädel mit einem gelben,
fletschenden Gebiß. Ziehen wir ihr das Gewand herunter, und ein blutleeres
Gebein ekelt uns an. Das ist die Moral, vor der wir uns alle höflich ver¬
neigen — und die wir gern zu allen Teufeln wünschten!"
Die Bombe war geplatzt!
Stimmengewirr erhob sich. Die älteren Herren protestierten, einige jüngere
riefen Beifall. Der Vorsitzende nahm sein Glöckchen. Es war ihm sehr peinlich,
daß so etwas vorgekommen war.
„Ich glaube, wir kommen vom Ziel ab. Wir wollen uns über Liederbücher
unterhalten, aber nicht über Moral."
Da stand ein weißhaariger Emeritus auf, der allgemeines Ansehen genoß.
„Wenn es auch ein bißchen vom Thema abzweigt, lieber Zieseniß, so wollen
wir keine Pedanten sein und die Worte des Herrn Haberkorf nicht einfach unter
den Tisch fallen lassen. Er hat von zwei Arten Moral gesprochen. Die erste
erscheint mir — ich betone das mir, meine Herren — reichlich willkürlich, die zweite
aber zu sehr Schrecknis. Wir stehen fast alle unter dem Banne von Gut und
Böse, deshalb wird den meisten von uns die erste nicht frommen. Wir Durch¬
schnittsmenschen kommen doch ohne eine gewisse Gesetzmäßigkeit in unserer Moral¬
auffassung nicht aus — ganz abgesehen von der praktischen Bedeutung, die sie für
Staat und Gemeinschaft hat. Aber, und da gebe ich Ihnen recht, junger Freund,
die Grenzen liegen nicht fest, und die Wogen der Zeit buchten aus und schwemmen
an. Da sollen wir kein Scheuleder vor den Augen haben und schlaffen Trabes
nur immer einen Weg fahren. Viele Wege führen zum Ziel. Welchen Weg einer
nimmt, ist ganz egal, es kommt darauf an, wie man ihn geht. Verurteilt man
aber jeden Schritt, der vom Wege abgeht, so huldigt man dem Schreckgespenst
Moral, das Sie, lieber Kollege, vorhin so gruselig gezeichnet haben. Und davor
mag uns Christi Nachfolge in Gnaden bewahren. Und was nun das Lied betrifft,
so bedaure ich, daß ich's nicht mehr mit solcher Frische und Hingebung singen kann,
wie ich's früher gesungen habe, und der Jugend möchte ich wohl wünschen, daß
sie solche schöne, naive Lieder singt. Denn die lassen sich gar nicht anders als
sinnig und naiv singen und bewahren dadurch vor Roheit und Gemeinheit."
„Bravo!" — „Sehr richtig!" — „Ganz meine Meinung!"
„Hat noch jemand etwas zu der Sache zu bemerken?"
„Abstimmen!" rief einer.
„Ich lasse also abstimmen."
Es ergab sich, daß das Liederbuch mit starker Stimmenmehrheit durchging. —
„Kommen Sie doch mal zu mir, Kollege," sagte der Emeritus Hegener nach
der Sitzung zu Gottfried. „Meine Alte und ich sind meist allein und freuen uns,
wenn wir mal was Frisches zu sehen kriegen."
Er drückte Gottfried die Hand und ging nach Hause. Gottfried saß noch ein
Weilchen mit einigen jüngeren Kollegen in der Laube. Er wurde ein bißchen
gehänselt, weil er sonst sehr still war und just bei diesem Thema aus dem Leim ging.
„Das macht die LiebeI" meinte einer.
„Stille Wasser I" ein anderer.
„Latz das bloß den Superus nicht merken I" ein dritter.
Gottfried lachte, trank sein Bier und ging auch bald. Wie er eben aus dem
Wirtsgarten auf die Straße kam, trat ein Kollege zu ihm, der eine Stunde gemein¬
samen Weg mit ihm hatte. Er galt als finster, verschlossen und grob.
„Wollen Sie mich mitnehmen?" fragte er.
„Bitte."
Schweigend gingen sie nebeneinander. Es laute auf den Wiesen, und in
den Bachgründen gingen die Nebel.
„Sie — weshalb sind Sie nicht derber drein gefahren vorhin — man kann
nicht derb genug werden. Verheuchelte Gesellschaft."
„Sie sehen zu schwarz, Berkfeld. Übrigens war es nicht meine Absicht,
irgendwo drein zu fahren. Es kam so über mich, daß ich mal meine Meinung
äußern mußte. Mir liegt das gar nicht."
„Schade."
Sie sprachen allerlei und fanden sich nach einigem Hin und Her ganz gut
zusammen. Berkfeld war musikalisch und sprach warm von einigen modernen
Meistern. Als die Straße auf einer kurzen Wegstrecke zwischen Berg und Strom
ging und das Rauschen des Wassers schön heraufkam, sagte Berkfeld plötzlich:
„Schwimmen Sie?"
„Ja."
„So kommen Sie her."
Er sprang die Rasenböschung hinab an den Fluß, entkleidete sich und ging
ins Wasser. Und Gottfried Haberkorf, der sich sonst immer geschämt hatte, sich
vor anderen nackend zu zeigen, machte es stillschweigend ebenso. Danach gingen
sie rasch und erfrischt nach Hause und versprachen, sich bald einmal wiederzusehen.
Als Got<fried am anderen Morgen erwachte und durch sein offenes Kammer¬
fenster in die weiße Schönheit des summenden Birnbaumes sah, war's ihm, als
stände die helle Freudigkeit des Lebens vor seinem Fenster und winkte ihm zu.
Dann fiel ihm der gestrige Nachmittag ein mit der Konferenz, dem Moralintermezzo
und dem späten Strombad. Er überdackite seine Worte und wunderte sich, daß
er solch gespreizte Sachen dahergeredet hatte. Eine Scham überkam ihn jetzt,
daß die anderen so in ihn schauen durften. Überhaupt — wie kam gerade er
dazu, so zu sprechen? Er hatte doch wahrhaftig Grund zu schweigen. Seine
Moralauffassung, wie sie gestern so eruptiv an den Tag gekommen war, erwies
sich letzten Endes als das Ergebnis seiner persönlichen Handlungen, war eigentlich
nichts anderes als das Bestreben, eine Entschuldigung für die eigene Unzuläng¬
lichkeit zu finden.
„Also bin ich," meinte er, aus dem Bette springend, „ein rechter Pharisäer."
Und dann ließ es ihm keine Ruhe, er mußte zu Anna. Je näher er ihrem
Hause kam, um so schwüler wurde ihm zumute. Er ging den Heckenweg, schlich
sich in den Garten und stand eine Weile ungesehen unter dem verhängnisvollen
Kammerfenster. Träumend starrte er auf die duftende Blüte der Beete und merkte
es nicht, daß oben Liselotte im grauen Reisekleid aus dem Fenster sah. Bald
darauf fuhr ein Wagen vom Hofe. Gottfried trat an die Hausecke und sah
Liselotte im Wagen sitzen. Sie war blaß, sah ihn ernst an und winkte zum
Gruße. Er wollte fragen, ob sie verreisen wollte und wohin, stand aber, starrte
sie verloren an und antwortete nicht einmal auf ihren Gruß. Es war ihm, als
wende sich etwas von ihm, das zu ihm gehöre. Dann aber fiel ihm ein, daß es
Liselotte war und nicht Anna. Er ging hinter das Küchenfenster und fand sie
allein in der Küche.
„Guten Morgen, mein Liebes I"
„Morgen."
Er ging ums Haus und kam in die Küche, legte den Arm um sie und zog sie
sanft an sich. Sie anzusehen, wagte er nicht. Sie duldete seine Liebkosung, ohne
sie zurückzugeben.
„Böse?" fragte er leise.
„Acht" und sie stieß ihn mit der Schulter.
„Verzeihst du mir?"
Wenn er so kommt! dachte sie.
„Ja — aber--!"
„Nein — nein — gewiß nicht wieder —"
„Weshalb bist du gestern nicht gekommen?"
„Wir hatten Konferenz."
„Hast du den Katalog mitgebracht?"
„Heute nachmittag gewiß, dann suchen wir gemeinsam aus, nicht wahr?"
Sonderbari Er hatte sich diese Begegnung ganz anders gedacht!
Aber war es nicht vielleicht das Beste, einfach darüber wegzugleiten? Eine
Gewißheit hatte er ja nun, nämlich die, daß die scheinbar Kühle, Nüchterne Augen¬
blicke hatte, wo auch sie erglühte und taumeln zu machen wußte. Und verriet es
nicht die wahre Keuschheit der Seele, sich vor dem Alltag zu verschließen und nur
in den seltenen Augenblicken erhöhten Lebens sich restlos hinzugeben?
„Will Liselotte verreisen?" fragte er.
„Zu Tante Liselotte nach Hannover," entgegnete sie.
„Ist etwas zwischen euch vorgefallen?"
„Ach — das dunime Ding. Mir Moralpredigten halten zu wollen. Hat es
selbst nötig, meine ich. Aber das geht so, wenn ihr alles zugut gehalten wird."
„Aber was ist denn — ?"
"
„Ja, frag du auch noch!
'
„Ich wills gar nicht wissen. Gehen wir heute Nachmittag aus?"
„Das geht wohl nicht gut. Fritz und Auguste Brennecke wollen kommen."
Das war ihm sehr ungelegen, und er hatte keine Lust, heute Nachmittag mit
ihr vor fremden Leuten den Unbefangenen zu spielen.
„Ich bleibe dann lieber zu Hause," sagte er freundlich.
„Wie du willst."
Ihre kühle, kurze Antwort ärgerte ihn. Er ging bald hinaus. Die Mutter
saß unter dem Kastanienbaum und schabte Wurzeln. Gottfried sah ihr an, daß
sie sich vergebens bemühte, eine Verstimmung vor ihm zu verbergen. Er wandte
sich nach einigen freundlichen Worten zu dem Alten, saß mit ihm ein Stündlein
rauchend und gemütlich schwatzend in der Laube und ging dann heim.
Seit der schwülen Gewitternacht hatte sich Gottfrieds Verhältnis zu Anna
sehr gewandelt. Sie war oft mürrisch und verdrossen zu ihm, nahm seine Lieb¬
kosungen hin mit einer kühlen Sachlichkeit und war oft abstoßend. Er glaubte,
den Grund in dem Ereignis jener Nacht zu finden. Nun war es ihre Scham,
die sie hinderte, freundlich und entgegenkommend zu sein. Vielleicht auch setzte sie
sich auf diese Weise nur zur Wehr, damit er nicht wieder versuchte, ihr nahe zu
kommen. Er fühlte sich bedrückt und schuldig und war immer gleichmäßig liebens¬
würdig zu ihr. Aber sein Werben war umsonst. Mehrmals nahm er sich's vor,
sich mit ihr auszusprechen. Aber bald hinderte ihn ihre Kühle, bald schämte er
sich, die köstlichste Stunde seines Lebens durch Betasten mit Worten herabzuwür¬
digen. So ging es zwischen ihnen in der alten Weise weiter. Nur einmal, als
er durch Vermittelung eines Bekannten die ausgesuchte Nähmaschine billiger
bekommen hatte, als sie im Katalog ausgezeichnet war, gab sie ihm aus eigenem
Antrieb einen Kuß. Diesen Kuß empfand Gottfried in der natürlichen Reinheit
seines Herzens wie eine Beleidigung. Er kam ihm vor, als sei es ein bezahlter
Kuß gewesen, und er ging an diesem Abend verärgert von ihr.
Was soll nur daraus werden I seufzte Gottfried oft in dieser Zeit.
Er war seltener bei ihr. Und es kam vor, daß sie, wenn er zur gewohnten
Zeit erschien, nicht da war, sondern eine Freundin im Dorfe besuchte. Eines
Abends traf er die Mutter allein und versuchte, von ihr etwas über die Ver¬
änderung zu erfahren, die mit Anna vorgegangen war. Aber die Mutter wich
aus. Nur Annas Vater kam ihm immer mit der gleichen, kernhaften Vertraulich¬
keit und Offenheit entgegen, die er stets für seinen zukünftigen Schwiegersohn
hatte. Als Gottfried eines Sonntagmorgens nach dem Nachbardorfe zur Kirche
ging, sah er Anna in dem Brenneckeschen Gehöft mit dem Vetter Fritz vor der
Türe stehen. Sie kam gleich zu ihm, als er vorbeiging, war merkwürdig ver¬
legen und in dieser Verlegenheit freundlicher zu ihm als sonst. Das gab ihm zu
denken. Sollte sie etwa den Vetter Brennecke ihm vorziehen? Aber den hatte sie
doch eher gekannt als ihn und hätte ihn wählen mögen, wenn sie ihn leiden
mochte. Er wußte, daß der junge Bauer sich sehr um Anna bemüht hatte. Er
wußte freilich nicht, daß sein Hof stark belastet war, und daß er erst kürzlich eine
Erbschaft gemacht hatte. Oder — hatte Anna seit jener Nacht eine Scheu vor
ihm, die sie nun dem andern zutrieb? Es geschehen so sonderbare Dinge auf der
Welt. Aber so viel er daran herumrätselte —- er fand keine Erklärung.
Die Obstblüte war vorüber, die Syringen trugen statt der duftenden Blüten-
trauben struppige Samenbesen, und die Gärten dufteten nach Erdbeeren und Rosen.
Auf den Feldern stand die Gerste blondgrün. Der Weizen blühte, und Staren-
schwärme fielen in die Kirschbäume.
Gottfried wußte keine Zeit, wo er mit sich so uneins gewesen war wie in
diesem Frühling. Dabei war aber eine treibende Sehnsucht in ihm — er wußte
nicht wonach. Er tobte sich wieder auf dem Klavier aus, suchte Verse, die voll
Sinnenglut waren, und setzte sie in Musik. Nachts kamen ihm schwere Träume.
Und immer war Liselotte in diesen Träumen. Er ging fremd und unbekannt mit
ihr durch ferne Städte. Er saß neben ihr in der Wennenkamper Kirche, Anna
kam herein und sah sie mit großen, traurigen Augen an. Oder er war mit Lise¬
lotte auf einem Ostseedampfer. Immer, wenn der Dampfer anlegte, erschien ein
Polizist und rief laut: „Ist auf diesem Dampfer Herr Gottfried Haberkorf und
Fräulein Liselotte Reutter?" Und Gottfried lehnte über Bord und rief lustig:
„Kein Gedankel" Dann mußten alle aussteigen, und auf der Landungsbrücke
stand Anna. Die sagte kein Wort, ging auf Liselotte zu und stieß sie ins Wasser.
Er aber reichte Anna die Hand. Sie schwenkten ihre verschränkten Hände und
riefen im Takte dazu: Nun — ist — sie — weg. Erwachte Gottfried dann, so
lag er lange, sann und sann. Allerlei krauses, buntes Zeug fuhr ihm durch den
Sinn. Und einmal ertappte er sich dabei, daß er dachte: Warum ist nicht Lise¬
lotte meine Braut?
Acht Wochen waren vergangen, als Liselotte wieder kam. Sie sah krank und
elend aus, gab sich jedoch lustig und vergnügt. Gottfried aber fühlte das Forzierte
ihrer Lustigkeit. Sie ging ihm geflissentlich aus dem Wege. Anna dagegen kam
ihm in der letzten Zeit etwas mehr entgegen. Aber nun fühlte er in sich ein
Widerstreben gegen sie. Zwischen der Mutter und den Töchtern war auch nicht
alles, wie es sonst gewesen war.
Was ist das nun? fragte sich Gottfried. Sie müssen etwas gegen mich
haben. Es geht nicht anders, ich muß jetzt irgendwie freie Bahn schaffen.
Es war ein schöner milder Abend. Das ganze Dorf war voll Lindenduft,
und um Gottfrieds Schulgärten blühte der Flieder und leuchtete mit seinen großen
Blütentellern weiß aus der Dämmerung. Gottfried saß am offenen Fenster, und
es kam eine Ruhe in ihn bei dem Entschlüsse, daß er morgen mit Anna sprechen
wollte. Lautlos flogen die Fledermäuse. Am klaren Himmel schwärmten die
Sterne aus. Die stille Feier des Abends trat nahe zu ihm und gab ihm ihren
Frieden. Er setzte sich ans Klavier und schlug ein paar Akkorde an, daraus wurde
allmählich „Heilige Nacht, o gieße du —". Ganz wohl und selig wurde ihm
dabei, daß er die innere Bedrängnis der letzten Zeit vergaß und sich ganz dem
Zauber der stillen Nacht hingab. Er zündete kein Licht an, saß wieder verhornen
am Fenster und hörte unten die Mäuse an der Mauer entlang wispern. Dann
kam ein leichter Schritt von den Feldern her gegen sein Haus, verhielt ein
Weilchen und huschte die paar Steinstufen hinan. Gottfried hatte noch nicht
abgeschlossen. Wer mag da kommen? dachte er, trat auf den Flur und beugte
sich über das Treppengeländer.
„Gottfried?" flüsterte eine leise Stimme.
„Anna, du?"
„Nein — Liselotte I"
„Komm in die Stube. Ich will Licht anstecken."
Da legte sie die Hand auf seinen Arm.
„Nein — nein — bitte kein Licht."
Sie blieb an der Tür stehen und nahm das leichte Tuch ab, das sie um
den Kopf gelegt hatte.
„Willst du dich nicht setzen?"
Sie wehrte ab.
„Sag einmal, Gottfried," begann sie stockend, „ich musz dich etwas fragen."
„Bitte," sagte er beklommen und wußte nicht, wo das hinaus wollte.
„Wie — wie stehst du eigentlich zu Anna?"
Also das war es! Ihm schlug das Herz.
„Zu Anna? O — wie sollte ich zu ihr stehen — wir haben uns wohl mal
ein bißchen gezankt — aber —"
Er schwieg, und sie wartete, daß er noch etwas sagen sollte.
Du hast sie doch — sehr lieb?" fragte sie weiter.
„O gewiß — sicher!" sagte er hastig und schämte sich, daß er log.
Sie schwieg. Es war ein peinliches Schweigen.
„Man zankt sich ja mal — das kommt wohl überall vor —"
„Sag, Gottfried, liebt Anna dich?"
Da wurde er verwirrt und wußte nichts zu sagen.
„Anna liebt dich nicht!" sagte Liselotte bestimmt.
„So — nicht?" sagte Gottfried und bemühte sich, seine Freude zurückzudrängen.
„Nein, Anna liebt dich nicht. Ich weiß überhaupt nicht, ob sie jemand lieb
haben kann. Jedenfalls würde sie, wenn sie jetzt frei wäre, den Vetter Brennecke
heiraten, aber nur weil er die Erbschaft gemacht hat."
Gottfried schwieg.
„Wenn du sie wirklich sehr liebst, werde ich alles aufbieten, sie zu dir zurück¬
zubringen. Aber ihr müßt bald heiraten, dann wird sie dir gehören. Du weißt,
daß sie verständig ist. Willst du sie bald heiraten, Gottfried?"
Wieder trat eine Pause zwischen die beiden. Liselotte stützte sich auf das
Klavier, und Gottfried hörte, wie ihr Atem schwer ins Zimmer glitt.
Was will sie nur? dachte er. Plötzlich dämmerte es in ihm auf. Schnell
heiraten? sagte --Da kam eine tiefe Niedergeschlagenheit in ihn. Er
sah sein hoffendes Leben jäh in die graue Alltäglichkeit einer gleichgültigen Ehe
sinken. Da stand es in ihm auf und wehrte sich und schrie: Nein, nein!
„Nein, nein!" rief er.
„Was sagst du?" fragte Liselotte und hielt ihr Herz.
„Ich kann, ich will sie nicht heiraten. Wir kommen nie zueinander."
„Gott sei Dank!" sagte Liselotte leise.
„Wie? — Liselotte--?"
Da kam sie ganz nah an ihn, daß der Duft ihrer Kleider, ihres Haares um
ihn war. Ein süßer Taumel kam über Gottfried. Das war derselbe Duft, der
in jener Nacht um ihn gewesen war, ganz der gleiche Duft.
„Weißt du es wirklich nicht?" flüsterte Liselotte.
Da schlug es wie ein Blitz in ihn.
„Jene Nacht — du warst es — Liselotte — sag doch — warst du es?"
stammelte er.
Sie nickte.
„Ich war es. Wir hatten seit kurzem die Kammern vertauscht. Ich konnte
nicht schlafen vor Liebe und Sehnsucht nach dir. Und als du dann plötzlich vor
dem Fenster warst —"
Ihre Stimme wurde ganz leise. Schlank und aufrecht stand sie mitten im
Zimmer. Ihr Gesicht schimmerte blaß.
„Liselottel" sagte Gottfried, „nun wird alles gut."
Und er griff nach ihrer Hand und tat, was er nie einer Frau getan hatte,
führte die Hand an die Lippen und küßte sie. Da zog ihn das Mädchen an sich,
küßte ihn rasch und leidenschaftlich und huschte aus dem Zimmer, die Treppe
hinab. Gottfried sah aus dem Fenster. Da eilte sie schon in die Dunkelheit der
Gärten hinein. —
Als Gottfried Liselotte nicht mehr scheu konnte, trat er vom Fenster zurück
an das Klavier. Er strich mit der Hand über die Stelle der blanken Platte, wo
ihre Hand gelegen hatte. Und wie er so stand und diese zärtliche Bewegung aus¬
führte, empfand er, daß sie eine symbolische Bedeutung für seine Zukunft haben
konnte: Liselotte und die Musik.
Gottfried Haberkorf schlief in dieser Nacht nicht. Erst machte er einen Weg
in die schlafenden Felder, denselben, den er in jener ersten schwülen Mainacht
gegangen war. Auf diesem Wege überlegte er sich, was er morgen zu tun hatte.
Dann kramte er zu Hause lange zwischen seinen beschriebenen Notenblättern herum,
öffnete das verschnürte Paket, das in seinem Schreibtische lag, nahm manches
heraus und fügte noch mehr hinzu. Als er etwas Ordnung in die losen Blätter
gebracht hatte, griff er zum Kursbuch, lief an den Schrank und sah nach seiner
Garderobe. Dazwischen zog er immer wieder die Uhr. Vom Nachbardorfe herüber
klang zweimal der Stundenschlag. Da kam ihm seine Unruhe töricht vor. Was
wollte er denn noch mehr? Er hatte keine Ursache, jetzt noch unruhig zu sein.
Da zündete er sich eine Zigarre an, setzte sich vors offene Fenster und sah klaren
Auges in die nächtliche Dämmerung. Bald bellte sich der nordöstliche Himmel,
und die Sterne wurden blasser. Auf den gegenüberliegenden Wiesen schimmerten
die weißen Doldenblüten. Ein Hahn krähte irgendwo. Und endlich tönte schwach
und zierlich der Jubellaut einer erwachenden Lerche im Felde.
Da hielt sich Gottfried nicht länger. Er warf seine Zigarre aus dem Fenster,
schlug das Klavier auf, und kräftig jubelnd strömte es in die Morgenluft: „Horch,
horch! die Lerch' im Ätherblaul"
Und dann kam der Tag.
Alexander v. Gleichen-Rußwurm: Das
galante Europa. Geselligkeit der großen Welt
1600 bis 1789. (Stuttgart, I. Hoffmann.)
Nachdem der Urenkel Schillers uns im
vorigen Jahre über die Geselligkeit im neun¬
zehnten Jahrhundert ein anregendes Buch
geschenkt hat, führt er uns jetzt in die Zeiten
des Barock und Rokoko. Wir folgen ihm an
die Höfe von London, Madrid, Rom, Wien,
Berlin und Petersburg, in die Salons der
großen Damen, in die „buieaux et'espnt",
auf Jagden und Reisen, zu Krönungs- und
Vermählungsfeiern und rauschenden Festlich¬
keiten, ins Theater und in das erste Cass.
Die Politischen Verhältnisse, die diplomatischen
Beziehungen werden kurz und klar aufgedeckt,
Persönlichkeiten wie Karl der Erste von Eng¬
land, Maria v. Medici, Ninon de Lenclos,
die Marquise v. Lcrmbert, Choiseul, Galinni,
Katharina die Zweite und viele andere in
leichten Strichen anschaulich dargestellt. Ge¬
schickt eingestreute Zitate geben Proben von
Sprache und Ausdrucksweise der Zeiten. DaS
unendliche Detail ist zwanglos, aber über¬
sichtlich geordnet, das kulturhistorisch und
namentlich das für die Gegenwart Bedeut¬
samste seiner Wichtigkeit entsprechend Herbor-
gehoben. Besonders glänzend sind, um aus
dem bunten Ensemble nur zweierlei heraus¬
zuheben, die beiden letzten Kapitel über den
Weimarer Musenhof und das flirrende Leben
des alternden Venedig geraten. So wird
das Buch, dessen zweiter Auflage ich einzelne
dem Leser förderliche Quellenangaben und
ein kurzes Register wünschen möchte, sicher
viele Freunde finden, besonders da es sich
trotz der von ihm gebotenen Fülle von Be-
lehrung leicht und mühelos liest. Und wie
der Verfasser im „Galanten Europa" die
Geselligkeit in ihrer glänzendsten, aber auch
weitesten Form schildert, so untersucht er ihre
engste Form in einem soeben erschienenen Werke
„Freundschaft, eine psychologischeForschungs-
reise" (gleicher Verlag). Nachdem er sich
zunächst bemüht, den Begriff der Freundschaft
gegen den der Liebe abzugrenzen und dann
die philosophischen Grundlagen Revue passieren
läßt, betrachtet er in eingehendster Weise, wie
sich die verschiedenen Formen der Freund¬
schaft im Laufe der Geschichte ablösen, um
schließlich die kulturelle Bedeutsamkeit dieser
menschlichen Lebensäußerung darzutun. Die
Borzüge des Verfassers: klare und flüssige
Darstellungsweise, feine Gelehrtenkultur und
große Belesenheit, kommen auch hier zur
Geltung und werden gewiß bei manchem, der
sich aus unserer materialistisch gesinnten Zeit
in die Tage edler Freundschaft zurück zu ver¬
setzen sucht, volle Würdigung finden.
Das Tischgespräch im Dienste der Jugend¬
bildung. Die Ausführungen des Herrn Ghmna-
sialdirektors Dr. Lorentz-Friedeberg (Um.), die
unter demselben Titel in Heft 43 dieser Blätter
erschienen, sind sehr beherzigenswert. Ist es
auch an sich ganz natürlich, daß verständige
Eltern das Zusammensein mit ihren Kindern
bei Tisch zu belehrenden Gesprächen verwenden,
so fehlt es doch vielfach Wohl an der richtigen
Art, das zu tun. Die Sache ist auch um so
schwieriger, als vielfach die Notwendigkeit vor¬
liegt, die Mahlzeiten, wenigstens die Mittags¬
mahlzeit, rasch einzunehmen: die Hast unserer
Zeit erlaubt ja kaum mehr das coenam clu-
Lere, daS die Alten anrieten. Mitteilungen
aus dem sehnlicher machen die Kinder meist
nicht gerne, teils aus Klassengeist, falls etwas
Schlimmes vorgefallen ist, teils aus dem
natürlichen Bedürfnis, dem schon vormittags
fünf, ja teilweise sechs Stunden mit Schul¬
sachen angestrengten Geist eine andere Rich¬
tung zu geben, obgleich ja sicherlich die Er¬
örterung mancher in der Schule behandelten
Gegenstände durch die Eltern den Kindern
gelegentlich Anregung zu geben vermag. Viel¬
leicht darf ich nun hier auf ein Mittel hin¬
weisen, das ich bei meinen in den letzten
Schuljahren stehenden Kindern mit dem aller¬
besten Erfolg angewendet habe. Manche Zei¬
tungen bringen an: Anfang eine Anzahl
kurzer Nachrichten, in denen in wenigen
Sätzen das Wesentlichste aus den Tages¬
ereignissen in prägnantester Kürze angegeben
wird. Diese „Kurze Nachrichten" um eignen
sich ganz vorzüglich zum Vorlesen bei Tisch
dazwischen hinein, ohne den Gang der Mahl¬
zeit zu stören, da sie ja ganz lakonisch sind.
Natürlich lasse ich sie von den Kindern selbst
vorlesen, welche auch sehr begierig danach sind.
Zunächst lernen die Kinder bei dieser Gelegen¬
heit überhaupt deutlich und ausdrucksvoll
vorlesen. Die große Menge von Fremdwörtern
besonders aus dem Französischen und Eng¬
lischen gibt Gelegenheit zur Übung im Lesen
dieser Fremdsprachen. Außerdem bieten ja
die Fremdwörter ihrer Bedeutung nach
eine unerschöpfliche Quelle von belehrenden
Fragen und Erörterungen; nötigenfalls
wird das in der Nähe liegende Fremd¬
wörter-Lexikon nachgeschlagen. Auch der Atlas
liegt in der Nähe und kommt nicht selten an
die Reihe: die Erwähnung vieler geographi¬
scher Namen in den „Kurzen Rachrichten" ist ja
eine sehr willkommene Gelegenheit zur Prü¬
fung, Befestigung und Erweiterung des geo¬
graphischen Wissens. Und welche Fülle von
Material ubelerendemTierä bietet
nun der eigentliche Gehalt der „Kurzen Nach¬
richten". Ich greife aus den letzten ZeitungS-
blättern nur einige solcher „KurzerNachrichten"
oder „Neuesten Ereignisse" (oder wie sie sonst
genannt werden mögen) zur Probe wörtlich
heraus: „Der russische Finanzminister verlangt
von der Reichsduma 10 Millionen Rubel zum
Bau einer Schwarzmeerflotte" — „Zahlreiche
Bewohner des griechischen Archipels suche» in
Smyrna Zuflucht aus Furcht vor den Ope¬
rationen der Italiener" — „Carnegie hat
26 Millionen Dollars für Erziehuugszwecke
in den Vereinigten Staaten gestiftet" — „Der
Kronprinz wohnte gestern abend der Auf¬
führung der.Orestie' im Zirkus Schumann
bei" — „Der Verband Berliner Metall-
industrieller hat die Aussperrung von 6V Pro¬
zent seiner Arbeiterschaft beschlossen"
welche außerordentliche Fülle von Fragen,
sowohl der Eltern an die Kinder, als der
Kinder an die Eltern können an solche kurzen
Sätze angeschlossen werden. Einigermaßen
geweckte Kinder sind mit Feuereifer dabei,
und, die es nicht sind, werden geweckt und
nugeregt. Dies braucht jn nicht im Einzelnen
ausgeführt zu werden, das leuchtet jedem
ohne weiteres ein. Die Sache hat allerdings auch ihre
Schwierigkeiten. Nicht alle Zeitungen bringen
solche „Kurze Nachrichten". Meine eigene
Zeitung z. B., die ich für mich lese, bringt
solche Rachrichten nicht. Daher halte ich mir
eigens zu diesem Zweck ein billiges Lokal¬
blatt. Das Blatt wird in der Familie sonst
nicht gelesen, sondern wandert nach der Vor¬
lesung der „Kurzen Nachrichten" bei Tisch
sofort in die Küche. Ich hoffe und wünsche, daß mein seit meh¬
reren Jahren erprobtes Verfahren Nachahmung
findet.
z h schgspch
In den brodelnden Brei der auf dem Wahlfeuer erhitzten Neichs-
retorte soll Herr v. Bethmann einen Zusatz geworfen haben. So sagen
wenigstens jene, die aus der Art des angeblichen Zusatzes neue Agitations¬
mittel zu schmieden hoffen. Die norddeutsche schrieb nämlich im Dienstagblatt:
„Die Nation weiß, daß die Verbündeten Regierungen in der Erhaltung und
Entwicklung unserer Wehrmacht allezeit eine ihrer ernstesten Aufgaben erblicken
und nie zögern werden, danach zu handeln." Hin! vor den Bericht über den
Voranschlag des Etats von 1912, der sehr bescheiden in militärischen
Forderungen ist, gestellt erscheint der Satz in der Tat merkwürdig und wirklich
wie eine heimliche Zutat zu den brodelnden Elementen. Bei näherem Zusehen
aber war's doch nur eine Blase, die aus dem Brei selbst aufstieg, — eine
Antwort auf vielfache ungeduldige Mahnungen aus verängstigten bürgerlichen
Kreisen, die da fürchten, von der roten Flut fortgeschwemmt zu werden, und
nun nach dem stärksten Material für eine Wahlparole greifen möchten, um das
auseinanderlaufende Bürgertum noch einmal zu sammeln. Auf die nun folgenden
Ausdeutungen hat die Regierung ungesäumt geantwortet, sie denke gar nicht daran,
ihr Tun von den Wahlen abhängig zu machen. „Man wird nicht erwarten
dürfen, daß dem deutschen Volke das Ergebnis der Beschlüsse des Bundesrath
um dessen vorenthalten wird, weil die Wahlen bevorstehen." Das heißt tapfer
geantwortet: Die Wahlen sind euere, das Regieren unsere Sache!
Meine im vorigen Reichsspiegel ausgesprochene Auffassung, daß die Re¬
gierung dem Ausgang der Wahlen mit verschränkten Armen zusahe, ist somit
zutreffend. Aber auch etwas anderes, was nur mit Vorbehalt ausgesprochen
wurde, rückt mehr in den Bereich des Wahrscheinlichen: Die Regierung scheint
tatsächlich für den nächsten Reichstag bestimmte Aufgaben vorbereitet
und unter ihnen auch die Durchführung militärischer Forderungen in Aussicht
genommen zu haben und zwar — das ist wichtig als Schlaglicht auf die sich
vorbereitende politische Situation — ohne eine Verbindung mit dem Reichsetat.
Die Erledigung und Verabschiedung des Neichsetats dürfte somit aller mensch¬
lichen Voraussicht nach auch im neuen Reichstage keine besondere Schwierigkeit
machen, selbst für den unwahrscheinlichsten Fall einer sozialdemokratischen Mehrheit,
und es ist von vornherein eine Möglichkeit geschaffen, die bevorstehenden Kämpfe
im Reichstage so zu lokalisieren, daß der Gang der Reichsmaschine nicht
beeinträchtigt zu werden braucht. Dann freilich muß es sich zeigen, was in
unserer jetzigen Regierung an schöpferischer Kraft und weitblickendem Wollen
steckt. Denn alsdann wird es in erster Linie von ihrem Auftreten abhängen,
ob sich eine größere Anzahl wirklich völkisch und vaterländisch gesinnter Männer
um sie wird scharen können.
Auf deu neuen Reichstag dürfen wir nach keiner Richtung hin große
Hoffnungen setzen; der Wahlkampf wird fast vollständig aus den Mitteln der wirt¬
schaftlichen Verbände bestritten, und so darf erwartet werden, daß sie es auch
sein werden, die der neuen Zusammensetzung den Stempel aufdrücken. Demgemäß
dürfte auch das kulturelle Niveau kaum höher steigen als im letzten Reichstage.
Sehen wir die Kandidatenlisten durch, so wird das Bild nicht erfreulicher.
Kulturelle Rücksichten bei der Kandidatenausstellung kommen eigentlich nur beim
Zentrum und bei den Liberalen zu Wort, während bei allen übrigen Parteien
ausschließlich wirtschaftliche Klassen- und Kasteninteressen in den Vordergrund
treten. Daß die kulturellen Interessen des Zentrums auf ultramontaner Basis
ruhen, braucht nicht mehr besonders bewiesen zu werden. Leider wird die
Gefahr des Ultramontanismus für das Reich nicht genügend gewürdigt. Die
einander befehdenden Wirtschaftsverbände dürfen das Zentrum bei dem Kampf
um die Reichstagsmandate nicht unberücksichtigt lassen. Solange das Zentrum
auch die übertriebenen wirtschaftlichen Forderungen des Großgrundbesitzes und
der Schwerindustrie unterstützt, solange wird der Ultramontanismus Bundes¬
genosse der Konservativen, der doch nach ihrer Geschichte und eigenen Auffassung
berufensten Träger deutscher Kultur, bleiben dürfen. Am konsequentesten
und in den bescheidenen Grenzen zugleich auch am erfolgreichsten bleibt
die nationalliberale Partei bemüht, das Niveau des Reichstages zu heben,
indem sie eine ganze Reihe wirtschaftlich unabhängiger Männer aus den aka¬
demisch gebildeten Berufen als Mitglieder des Reichstags in Aussicht genommen
hat und unter ihnen mehrere, die sich bereits als Mitglieder der Emzellcmdtage
hohes Ansehen auch außerhalb der eigenen Fraktion erworben haben — doch
was bedeuten alle diese Anstrengungen einiger weniger weitschauender Männer,
solange das Leben der Nation eingeschnürt bleibt von den Daseinsforderungen
der wirtschaftlichen Verbände und solange diese Verbände den Wert und die
Notwendigkeit kultureller Arbeit außerhalb und neben wirtschaftlicher Betätigung
nicht so hoch einschätzen, wie es notwendig wäre.
Das Jahr 1911 neigt sich seinem Ende zu. Es war kein frohes Jahr
und endet mit einem Mißklang. Die Agitation des Generals Keim zugunsten
eines Heeresvereins erscheint uns angesichts der Opferfreudigkeit der gesamten
Nation einschließlich der Ultramontanen, wo es gilt die Wehrkraft des Reichs
zu vermehren, wie das Gebilde einer überhitzten Phantasie. Ich komme hier¬
auf noch ausführlich im Januar zurück. Das Jahr hinterläßt uns eine
Reihe von wichtigen Problemen, deren Lösung dringend und dringender
wird. Das bedeutsamste, es ist dasselbe, das auch vor hundert Jahren vor
dem preußischen Staate stand, damals, zwar spät, aber nicht zu spät von
Stein, Hardenberg und Humboldt gelöst: die Wiederherstellung des verloren
gegangenen Zusammenhanges zwischen den einzelnen Schichten und Klassen des
Volks. Noch spricht die allgemeine Stimmung gegen die Aussöhnung der
bestehenden Gegensätze. Die Drachensaat des Klassenhasses, die Marx gesäet
und Bebel durch mehr als vierzig Jahre gehegt, ist nun auch beim Bürger¬
tum aufgegangen und läßt es blind gegen die Mehrheit unserer Volksgenossen
wüten. Ein Trost bleibt uns indessen, wenn wir beobachten dürfen, wie die
Zahl derer wächst, die, ohne die Schädlichkeit der heutigen sozialdemokratischen
Partei zu verkennen, es wagen öffentlich zu bekennen: wenn auch Sozialdemokrat,
so doch in erster Linie unser Volksgenosse! Nach dem Grasen Posadowski der
konservative Landgerichtsrat Wilson in Erfurt, der sich nach unwidersprochen
gebliebenen Zeitungsberichten gegen die Kandidatur Hagemanns aussprach,
wegen dessen Eigenschaft als 2. Vorsitzenden des Reichsverbandes gegen die
Sozialdemokratie. Mögen ihrer noch mehrere werden, dann werden auch wie
vor hundert Jahren die Männer aus unserer Mitte emporsteigen, die den
Problemen der Gegenwart gerecht zu werden mögen. Hierin liegt unsere
Ein Rückblick auf das zu Ende gehende Jahr ist erst geeignet vor Augen
zu führen, wie reich an Wechselfällen und kritischen Momenten dieser Zeitabschnitt
gewesen ist. Noch ist es zwar unmöglich, eine förmliche Bilanz zu ziehen und zu
entscheiden, ob Soll oder Haben des Jahres mit einem Saldo abschließt. Gleich¬
wie aber der Kaufmann am Ende seines Geschäftsjahres zwar nicht auf Heller
und Pfennig seinen Gewinn oder Verlust anzugeben vermag, ehe er nicht genaue
Inventur gemacht hat, aber im allgemeinen doch nicht im Zweifel darüber sein
wird, ob der abgelaufene Zeitabschnitt für ihn vorteilhaft oder verlustbringend
gewesen ist, so vermögen auch wir im ganzen und großen sehr wohl die Wirkungen
abzuschätzen, welche das Jahr auf das allgemeine Wirtschaftsleben und den Ge¬
samtwohlstand ausgeübt hat, mag auch im Einzelnen manches noch unübersehbar
sein und mag vor allem nicht jede Folgewirkung einzelner Geschehnisse sich schon
heute richtig beurteilen lassen. Und da können wir am Schlüsse eines so ereignis¬
reichen und bedeutungsvollen Jahres mit ernster Befriedigung sagen: Ende gut,
alles gut. Zwar ist die Passivseite der Jahresbilanz erst belastet! die Börsen-
krisis in Amerika und der Kurssturz an den heimischen Märkten haben den: Wohl-
stand tiefe Wunden geschlagen, manche Existenz zur Strecke gebracht, Bankbrüche
verschuldet und den Verlust von sauer ersparten Kapitalien kleiner Leute herbei¬
geführt. Aber auf die Aktivseite dürfen wir mit dem Gefühl tiefer Erleichterung
die Tatsache hundelt, daß uns der Frieden erhalten geblieben ist. Erst nach¬
träglich ist es ja der Allgemeinheit zu vollem Bewußtsein gekommen, welche kritische
Periode wir überwunden haben und wie nahe die Gefahr war, eines Schemens
halber einen Weltkrieg entfesselt zu sehen, aus dem Sieger wie Besiegte nur mit
tätlichen Wunden hätten zurückkehren können. Gegenüber solchem Gewinn muß
alles an Bedeutung verlieren, was das Jahr uns sonst Uebles gebracht hat.
Leicht möglich sogar, daß die kritische Auseinandersetzung mit Frankreich und
England, die, der Öffentlichkeit unbewußt, solche Fährlichkeiten in sich barg, nun¬
mehr der Ausgangspunkt für gesicherte und gute politische Beziehungen zu den
Westmächten abgibt. Freilich ist gerade nach dieser Richtung hin ein abschließendes
Urteil im Augenblick noch nicht möglich. Wir haben zwar die offiziellen englischen
Versicherungen gehört, daß das Inselreich nicht daran denke, sich dem wirtschaft¬
lichen Ausdehnungsbedürfnis Deutschlands in den Weg zu stellen. Daß also der
augenblickliche gute Wille und die bessere Einsicht auf die Dauer über das im
Grunde schlummernde Mißtrauen und die stets rege Eifersucht die Oberhand
behalten werden, getraut sich weder diesseits noch jenseits des Kanals jemand
ernstlich zu versichern. So wird dann leider wohl der vorsichtige Argwohn vorerst
noch der Regulator der Beziehungen zwischen England und Deutschland bleiben
müssen und zwar um so mehr, als die anscheinend für erforderlich gehaltene
Verstärkung der deutschen Seerüstung nicht dazu angetan ist, als ein Beruhigungs¬
mittel zu wirken. Indessen das sind Sorgen, die wir billig der Zukunft über¬
lassen können. Vorerst muß es uns genügen, daß durch die Beilegung des
Marokkostreits ein gefährlicher Zwist zwischen Deutschland und Frankreich end¬
gültig beseitigt worden ist, und daß wenigstens im Verhältnis dieser beiden Länder
nunmehr Raum für ein freundschaftliches Einverständnis auf dein Boden wirtschaft¬
licher und politischer Gleichberechtigung geschaffen ist. Diese Auffassung ist durch¬
aus die der unmittelbar am Wirtschaftsleben der Nation Beteiligten. Die Bahn
für die wirtschaftliche Entwicklung ist zunächst frei: politische Gefahren bedrohen
sie nicht mehr. Mit einer gewissen Zuversicht glaubt man daher dem neuen Jahr
1912 das Prognostikon eines Hochkonjunkturjahres stellen zu dürfen. Und in der
Tat, in den letzten Wochen hat sich das Bild der internationalen Produktions¬
und Absatzverhältnisse derart gewendet, daß diese Hoffnung mehr als eine bloße
Chimäre ist. So entläßt uns also das scheidende Jahr mit einer erfreulichen
Verheißung: was es selbst nicht zu geben vermochte, wird der Nachfolger wieder
gut machen.
Unter den wirtschaftlichen Erscheinungen des abgelaufenen Jahres sind zwei
besonders bemerkenswert. Die eine besteht in der trotz aller Ungunst der äußeren
Verhältnisse erzwungenen Steigerung der produktiven Energie. Die Stufenfolge,
in der sich der wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands vollzieht, ist geradezu ver¬
blüffend. Die während der letzten Hochkonjunktur erzielten Höchstleistungen, welche
vor fünf Jahren nur mit einer Überanspannung aller Kräfte erkauft werden konnten,
sind längst übertroffen. Heute weist die normale Produktion Ziffern auf, die
größer sind als jene zur Zeit der Überanstrengung, ohne daß diese Leistung irgend
einen besonderen und fühlbaren Kraftaufwand erforderte. Das heißt also: Wir
sind in dieser vergleichsweise kurzen Spanne Zeit wirtschaftlich sehr viel stärker
geworden. Die Mehrleistung tritt auf allen Gebieten der industriellen Produktion,
vornehmlich aber in der Kohlenförderung und der Eisen- und Stahl-
erzeugung zutage, sie zeigt sich in gleicher Weise in dem ständig wachsenden
Außenhandel und spiegelt sich in der Entwicklung unserer Rhederei und der Trans-
Portleistung unserer Eisenbahnen wieder. Eine solche Entwicklung bedarf nun aber
einer gleichmäßig stärker werdenden Kapitalsunterlage. Ist dieselbe nicht vorhanden
und müssen die notwendigen Geldmittel im Wege des Kredits beschafft werden, so
sührt die Neigung der industriellen Produktion mit Notwendigkeit zur Krisis und
zum Zusammenbruch. Die Vorboten Pflegen sich in einem raschen und gefährlichen
Ansteigen des Zinsfußes kundzugeben. Da nun aber die gegenwärtige Entwicklung,
wie soeben betont, sich in einem vollkommen normalen Rahmen vollzieht, so läßt
dies ohne weiteres schon den Rückschluß zu, daß die Kapitalkraft Deutschlands
mindestens in einem Maße gewachsen ist, das der Zunahme der industriellen Pro¬
duktion entspricht. Und dies führt uns zu der anderen bedeutungsvollen Erscheinung
im Wirtschaftsleben des letzten Jahres: der Belastungsprobe, welcher sich die
deutsche finanzielle Leistungskraft unterziehen mußte und der überraschend glänzenden
Weise, in der sie bestanden wurde. Die Zunahme des deutschen Kapitalreichtums
läßt sich beinahe ziffermäßig an den von Jahr zu Jahr steigenden Spar- und
Depositeneinlagen ablesen. Zwar wäre es irrig, in dieser Zunahme der Einlage¬
gelder ohne weiteres eine gleich hohe Zunahme des Kapitalreichtums erblicken zu
wollen — das wäre auf der einen Seite zu viel und auf der anderen zu wenig
getan. Zu wenig, weil dann nicht die Zunahme der in anderer Weise zinstragend
angelegten Kapitalien (in Effekten, in Grundstücken, in industriellen und Handels-
Unternehmungen) berücksichtigt wird, zu viel, weil in den Depositengeldern und
Einlagebeständen der Sparkassen ein großer Teil bereits vorhandenen, nur in
mobile Form überführten Kapitals enthalten ist. Aber schließlich läßt sich doch
nicht daran zweifeln, daß in der ununterbrochenen und bedeutenden Zunahme
dieser Gelder sich ein Wachstum des Wohlstandes der Allgemeinheit spiegelt. Diese
der nationalen Produktion zur Verfügung stehenden (weil bartmäßig angelegten)
Kapitalien waren im letzten, Jahr durch bedeutende Guthaben des Auslandes,
welche die Banken herangezogen hatten, noch verstärkt worden. Diese Entwicklung
bot eine gewisse Gefahr nach zwei Richtungen. Auslandsguthaben sind unzuver¬
lässige Stützen des Geldmarkts. Im Falle einer plötzlichen Zurückziehung können
sie ihn um so eher in Verwirrung bringen, je höher sie sind und je mehr
auf sie als auf eine dauernde Vermehrung der Geldquellen gerechnet wird. Und auf
der anderen Seite bringt die starke Mobilisierung der Kapitalien und ihre Überführung
in Bankguthaben mit sich, daß die Inanspruchnahme der Reichsbank auch zu
normalen Zeiten in einem Maße wächst, das eine Gefahr für das sichere Funk¬
tionieren der Notenausgabe bedeuten kann. Nach beiden Richtungen hat sich unser
Geldmarkt einer Probe unterziehen müssen. Zuerst war die Reichsbank genötigt,
gegen die übermäßige Beanspruchung an den Quarialsterminen Schutz in einer
Verteuerung der Lombardkredite zu suchen. Die schwierigere Probe aber trat ein,
als infolge der politischen Beunruhigung die ausländischen, besonders die fran¬
zösischen Guthaben zurückgezogen wurden und gleichzeitig eine verstärkte Rück¬
forderung von Einlagegeldern seitens der ängstlich gewordenen Kapitalisten stattfand.
Die Situation hätte leicht kritisch werden können. Aus den Oktoberbilanzen der
Banken geht hervor, daß sie nicht weniger als eine halbe Milliarde fremder Gelder
verloren haben: dazu mußten mehrere hundert Millionen Auslandsguthaben flüssig
gemacht werden. Diese Kraftleistung ist ohne jede Erschütterung des Kredits und
des Wirtschaftslebens gelungen. Sie ist gelungen allerdings dank der Begünstigung
zufälliger Umstände, namentlich dank dem Entstehen deutscher Guthaben an den
Auslandsbörsen infolge des Liguidationsprozesses in Amerika-, sie ist gelungen auch
dank derDevisenpolitik der Reichsbank, welche das Abströmen von Gold nach dem Ausland
zu verhindern wußte. Aber sie gelang, und die höhnischen und abgünstigen Kommen¬
tare der ausländischen Presse, welche den finanziellen Zusammenbruch Deutschlands
voraussagten, erfuhren eine Widerlegung, wie sie eindringlicher und wirkungsvoller
nicht erdacht werden konnte. Der Versuch, Deutschland finanziell über den Haufen
zu rennen, war gründlich mißlungen. Wir haben den Beweis erbracht, daß wir
auch einer kritischen finanziellen Situation aus eigener Kraft gewachsen sind, daß
vor allem unsere Bank- und Geldvcrfassung, mag sie auch im einzelnen Mängel
zeigen und verbesserungsbedürftig sein, den Anforderungen entspricht, welche eine
auf so hoher Stufe stehende wirtschaftliche Entwicklung an sie stellt. Freilich läßt
sich auf der anderen Seite nicht verkennen, daß doch der schwächste Teil unserer
Rüstung auf dem Gebiete der Finanzen liegt. Bei jedem außergewöhnlich starken
Aufschwung droht uns nur allzubald die Gefahr wirtschaftlicher Erschöpfung. Denn
noch sind wir weit davon entfernt, uns mit dem altererbter Reichtum Frankreichs
oder Englands in Parallele setzen zu können. Noch ist gar zu leicht bei uns die
Decke zu kurz und die Kreditnachfrage zu groß. Wir wirtschaften auch in normalen
Zeiten noch zu viel mit Kredit. Diese Tatsache muß man sich vor Augen halten,
wenn von den Entwicklungsmöglichkeiten der nächsten Zukunft die Rede ist. Denn
es ist sicher, daß ein noch lebhafteres Tempo der industriellen Produktion sehr
bald unangenehme Begleiterscheinungen auf dem Geldmarkte erzeugen müßte.
Vorboten zeigen sich schon jetzt. Die Anspannung im Dezembermonat ist größer,
als man erwartet hatte. Der Privatdiskont hält sich schon seit einiger Zeit auf
der vollen Höhe des Reichsbanksatzes, und wenn auch die Reichsbank bisher an
dem fünfprozentigen Zinsfuß festgehalten hat, so scheint es doch undenkbar, daß
sie auch über das Jahresende sich mit demselben begnügen könnte, da doch Ultimo¬
geld schon um die Mitte des Monats mit 7^ Prozent gesucht war. Ein Bank¬
diskont von 6 Prozent, auch wenn er nur über Jahresschluß dekretiert wird, ist
aber ein sicheres Zeichen dafür, daß der Kessel anfängt überheizt zu werden.
Wollen wir also nicht die schmerzlichen Erfahrungen des Jahres 1907 sich wieder¬
holen sehen, so ist auf allen Seiten Vorsicht ein Gebot der Klugheit. Namentlich
gilt dies für die Effektenspekulativn, die unzweifelhaft in den letzten Monaten
schon wieder des Guten zuviel getan hat. Verfolgt man die Kursbewegung seit
der Zeit der Beilegung des Marokkostreites, so zeigen sich allenthalben Kurs¬
steigerungen, die das berechtigte Maß zu übersteigen scheinen. Liegen doch bei
den Favoritpapieren des Montanmarktes sowie bei vielen Werten des Kassa¬
industriemarktes Preisunterschiede von 15, 20 und mehr Prozent vor. Hier wird
freilich die durch einen Neportsatz von 7 Prozent erzwungene Glattstellung vieler
Engagements zum Teil Abhilfe schaffen. Aber frühere Erfahrungen lehren, daß
es in der Regel erst einer gewaltsamen Reinigung des Marktes bedarf, um das
Gleichgewicht zwischen Kurs und innerem Wert wiederherzustellen. Hoffen wir,
daß das neue Jahr den Effektenbesitzern die trüben Lehren des vergangenen nicht
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