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(R> bedeutet Ncichsspiegcl)
Koreas Auuektierung durch Japan und andere
ostastat. Probleme........R. 36, 459
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Adel in der Armee, Vom — und vom Adel
überhaupt, von Obcrstlt. E. v. Sommerfeld 35, 4»»
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Englisch-deutsche Beziehungen, Asguith über
die..............s. Asquith
—
NMNM> as deutsche Studententum hat sich auf die Dauer der Beschäftigung
mit der „sozialen Frage", die unstreitig zu den hervorragendsten
Problemen unserer Zeit gehört, nicht entziehen können.
Nachdem das deutsche Studeutentum sich lange, besonders seit
der Gründung des Reiches, in einem Zustande der Stagnation
befunden hatte, der jede innere Anteilnahme an den großen Fragen der Zeit
vermissen ließ, hat die Entwicklung der modernen Technik, die, so fruchtbringend
sie auch für die gesamte Volkswirtschaft war, für die Persönlichkeit des einzelnen
oft die erheblichsten Nachteile mit sich brachte, eine Änderung dieses Zustandes
angebahnt.
Doch nicht allein der Wunsch, soziale Mißstände kennen zu lernen, um
auf Grund dieser Kenntnis Maßnahmen zur Abhilfe vorzuschlagen, hat diese
Tatsache bewirkt; weit mehr wirkte die Erkenntnis, daß es galt, soziale Gegen¬
sätze, die sich unter dem Drucke der wirtschaftlichen Verhältnisse immer schärfer
herausbildeten und schließlich — nach einem Worte Disraelis — „zwei
Nationen" in: Staate entstehen ließen, zu überbrücken. Dies Beginnen mußte
um so mehr Aussicht auf Erfolg bieten, je früher mit ihm angefangen wurde.
Als Motto der deutscheu sozialstudeutischen Bewegung können die Worte
des Programms dienen, das der dänische Studentenbund bei seiner Gründung
im Jahre 1882 veröffentlichte. Dort lesen wir: „Was zur Gründung des
Studentenbundes führte, war die Erkenntnis, daß sich die studierende Jugend
nur einseitig entwickelte, wenn sie sich von den großen Geisteskämpfen, die das
dänische Volk erfüllten, fern hielt. Man wünschte dem Volke näher zu kommen,
um von ihm zu lernen. Die Jugend fühlte, daß der, welcher durch freien
Zugang zu den Wissenschaften so viel von seinem Volke empfangen hat, auch
dem Volke viel schuldet und sich zum Dank eins mit seinem Volke fühlen und
ihm zurückerstatten muß, soviel er kann."
Im Gegensatz zu anderen Ländern setzt die Bewegung in Deutschland
ziemlich spät ein. So beteiligten sich z. B. in England unter dem Einflüsse
Arnold Tonnbees, schon Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts,
Oxforder Studenten an der sozialen Bewegung, und viel Tränen und Not sind
grade durch sie im Osten Londons gestillt worden. In Schweden wie in
Dänemark bestehen ebenfalls schon seit über zwei Jahrzehnten Studentenvereine,
die ihre Hauptaufgabe darin erblicken, durch Agitation für Volksbüchereien, durch
Abhaltung von Vorträgen, durch Errichtung von Lesezimmern für Arbeiter die
Gegensätze zwischen den verschiedenen Gesellschaftsklassen auszugleichen.
Bedeutend später entwickelt sich eine zielbewußte sozialstudentische Bewegung
in Deutschland. Denn die „Vereine deutscher Studenten", die sich seit
1880 an allen Universitäten ausbreiteten, können mit einer solchen nicht
identifiziert werden, obwohl sie von Anbeginn an sozialen Fragen ihre
Aufmerksamkeit schenkten. Sie behandelten diese aber unter dem Einflüsse
der von ihnen politisch vertretenen Richtung mit einer solchen Einseitigkeit,
daß sie Begründer einer fruchtbaren sozialstudentischen Arbeit nicht wurden.
Eine solche setzt vielmehr erst mit der Begründung akademischer Arbeiter¬
kurse ein. Der erste dieser Kurse wurde im Jahre 1901 von der Wildenschaft
der Technischen Hochschule zu Charlottenburg ins Leben gerufen. Seitdem haben
sich diese Kurse an allen Universitätsstädten eingebürgert und sind überall mit
großem Interesse und großer Anteilnahme begrüßt worden. Seit einer Anzahl
Semester sind diese Kurse in der „Zentralstelle der Akademischen Arbeiter¬
unterrichtskurse Deutschlands" zusammengeschlossen. In ihr sind zweiundzwanzig
Hochschulstädte vertreten.
Den Umfang und die Bedeutung dieser Kurse kann man daraus ermessen,
daß im Wintersemester 1908/09 sieben- bis achttausend Arbeiter von fünfhundert
Studenten und Studentinnen unterrichtet wurden.
Gelehrt werden nur Elementarfächer, wie ja auch die Kurse vor allem der
Vervollständigung des Wissens der Arbeiter dienen sollen. Z. B. wurden in Berlin
in: Sommersemester 1909 gelehrt: Deutsch (1. Rechtschreibung; 2. Wortlehre;
3. Satzbau und Interpunktion; 4. Stillehre; 5. Literatur und Aufsatz).
Rechnen (1. die vier Grundrechnungsarten; 2. Dezimalbrüche; 3. Regeldetri,
Prozent- und Zinsrechnung, einfache Buchführung; 4. Arbeiterversicherung).
Geometrie und Algebra (1. Flächenberechnung; 2. Körperberechnung). Geographie
(1. allgemeine Erdkunde; 2. spezielle Länderkunde). Schönschreiben (1. deutsche,
2. lateinische Schrift).
Die Unkosten für den Besuch eines Kursus betragen unter Einschluß der
erforderlichen Lehrbücher ca. 75 Pfennig für den einzelnen, so daß auch
ein gering gelohnter Arbeiter den Besuch dieser Kurse ermöglichen kann.
Tatsache ist jedoch, daß diese Kurse grade von den hochentlohnten, qualifi¬
zierten Arbeiter»: aufgesucht werden; besonders stark sind z. B. nach allen Berichten
in diesen Kursen die Metallarbeiter vertreten. Es ist das ein gewisser Mangel
der Kurse; denn grade die tiefstehendsten Schichten der Arbeitermassen gilt es
zu erfassen.
Die Wirkung dieser Unterrichtskurse kann man am besten aus den Berichten
der Arbeiter selbst ermessen. In diesem Zusammenhange ist ein Artikel der
„Frankfurter Zeitung" vom 22. Januar 1909 interessant. Er handelt über
eine von der freien Studentenschaft der Akademie für Sozial- und Handels¬
wissenschaften in Frankfurt a. M. gestellte Preisaufgabe, die lautete: „Warum
besuche ich diesen Unterrichtskursus?" Mit innerer Anteilnahme liest man
hier, wie selbst in dem einfachsten Arbeiter sich ein Bildungshunger bemerkbar
macht, eine Sehnsucht nach Kenntnissen, die nach Erfüllung schreit. In der
Befriedigung dieser Sehnsucht, in der Aufnahme neuer Kenntnisse und Vertiefung
der alten liegt mithin der Nutzen der Kurse für den Arbeiter. Den Nutzen
dieser Kurse für den Studenten meißelt mit merkwürdiger Schärfe ein Hörer
heraus, der schreibt: „Es kann den Herren Studenten nichts schaden, wenn sie
näher in das Herz des Proletariers hineinschauen. Sie können sich dann in
späteren Jahren eher ein Urteil über Arbeiterfragen bilden und bleiben vor
einseitigen Ansichten bewahrt."
Derjenige, der die Verhältnisse an unseren Universitäten kennt, wird ihm
sicherlich beipflichten. Es liegt daher im Interesse beider Teile, sowohl der
Arbeiter als auch der Studenten, diese Einrichtungen rege zu benutzen, um so
einen immer breiteren Ausbau zu ermöglichen.
Freilich erscheint ein Ausbau in der Richtung nicht besonders erwünscht,
wie er neuerdings betrieben wird. Unter dem Einflüsse des „Sekretariats sozialer
Studentenarbeit", das seinen Sitz in München-Gladbach hat und als eine
Unterabteilung des „Volksvereins für das katholische Deutschland" von
Dr. Sonnenschein geleitet wird, haben sich nämlich, namentlich in den großen
Industriestädten des Rheinlandes und Westfalens, sogenannte heimatliche Arbeiter¬
kurse gebildet, die sich zu einen: „Westdeutschen Verbände" zusammengeschlossen
haben.
So anerkennenswert auch an sich der soziale Gedanke ist, der diese Ein¬
richtungen ins Leben rief, so bedenklich muß es andererseits stimmen, wenn sich
derartige Kurse unter dem Einflüsse des „Volksvereins" bilden.
In der Tat sind wohl die Studenten, die in diesen Kursen unterrichten,
identisch mit den Mitgliedern der von Sonnenschein gegründeten sozial-caritativen
Vereinigungen oder stehen diesen doch sehr nahe.
Diese Vereinigungen könnten wir mit reiner Freude als eine gewichtige
Stütze sozialstudentischer Arbeit begrüßen, wenn nicht neben Sozialpolitik, die
zunächst in diesen Vereinigungen getrieben wird, noch „Weltanschauungsfragen"
behandelt würden; es handelt sich hier selbstverständlich um die katholische
Weltanschauung, oder richtiger um die vom Volksverein gebilligte und betriebene
„katholische Weltanschauung", daß es gilt, neben sozialpolitischer Arbeit den
jungen Studenten schon möglichst früh in die Gedankenwelt des Ultramontanismus
einzuführen, daß Sonnenschein selbst als eine der Hauptaufgaben dieser Ver¬
einigungen ansieht, ihre Mitglieder in einen besonders innigen Kontakt mit
dem sozialen Vereinswesen des katholischen Deutschlands zu bringen, in dem
bekanntlich der Klerus dominiert. (Siehe Sonnenschein: „Die sozialstudentische
Bewegung." Paderborn 1909. S. 10.)
Man wird es deshalb aufs lebhafteste bedauern müssen, daß selbst auf
einem Gebiete, das schon seiner Natur nach eigentlich konfessionelle Gegensätze
ausschließen sollte, konfessioneller Hader nicht ruhen kann. Die Geschlossenheit
und die Wucht der deutschen sozialstudentischen Bewegung muß aufs schwerste
leiden, wenn sich, was nach dem bisherigen Verlauf der Dinge mit Sicherheit
zu erwarten steht, zwei große feindliche Gruppen bilden; auf der einen Seite
stehe,! die konfessionellen, d. h. die katholischen Verbindungen, auf der andern
die übrigen nichtkonfessionellen studentischen Verbände.
Denn auch hier hat es sich in den letzten Jahren kräftig geregt. Sozial¬
wissenschaftliche Vereine, Freistudentenschaft, Burschenschaft, alle diese Verbände
haben sich seither mit immer steigendem Interesse der sozialen Probleme
angenommen.
Um ein Bild der Arbeitstätigkeit eines Sozialwissenschaftlichen Vereins zu
geben, seien hier die Themata der Vorträge wiedergegeben, die im Sommer¬
semester 1909 im „Münchener Sozialwissenschaftlichen Verein", einem sehr rührigen
Verein, gehalten wurden. Es sind dies: „Die Arbeiterwohnungsfrage in den
Städten" (Prof. Brentano), „Wohlfahrts- und Betriebseinrichtungen" (Dr. Günther),
„Bleivergiftungen" (Prof. Hahn), „Arbeitslohn und Lebenshaltung" (Or.Kuczynski),
„Die Aufgaben der Soziologie und der soziologischen Gesellschaft" (Prof. Simmel),
„Die soziologische Methode der Privatrechtswissenschaft" (RechtsanwaltSinzheimer),
„Die sozialstudentische Bewegung" (Dr. Sonnenschein). Man sieht, daß die
Zusammenstellung der Vorträge nicht ohne Geschick erfolgt ist und Probleme
behandelt sind, die zu den bedeutendsten der Sozialpolitik zählen. Hand in
Hand mit diesen Vorträgen gehen Besichtigungen von Fabriken, großen Handels¬
betrieben, Wohlfahrtseinrichtungen. Auch die freie Studentenschaft hat an den
meistenUniversitäten eigens
die durch Vorträge und Besichtigungen ihren Mitgliedern soziales Verständnis
und soziales Denken zu vermitteln beabsichtigen. In so ausgedehnten: Maße
können sich leider couleurtragende Korporationen mit diesen Fragen nicht
beschäftigen, denn sie haben naturgemäß noch andre Ziele. Um so höher ist
es ihnen anzurechnen, daß sie trotzdem großes Gewicht darauf legen. Hier ist
vor allem die Burschenschaft zu nennen, in ihren beiden Zweigen, der „Deutschen
Burschenschaft" (ca. 65 Burschenschafter) und dem „Allgemeinen deutschen
Vurschenbnnd" (ca. 25 Burschenschafter). Es gibt wohl heute keine Burschen¬
schaft mehr, die uicht mehrmals im Semester „wissenschaftliche Abende" abhält,
an denen Vorträge über sozialwissenschaftliche Themata gehalten werden. Viele
veranstalten auch Besichtigungen. Schon diese geringe Beschäftigung, mag sie
auch oft an Systemlosigkeit leiden, ist außerordentlich viel wert; denn sie weckt
das Interesse der Mitglieder an den sozialen Fragen, und ist erst einmal das
Interesse wachgerufen, so kommt eine eindringende Beschäftigung vou selbst.
Schon diese kurze Skizze möge dem Leser die Überzeugung verschaffen, daß
das akademische Leben der Gegenwart dem jungen Studenten vielfache Gelegen¬
heit gibt, sich über soziale Probleme Aufklärung zu verschaffen und auch praktisch
sozial tätig zu sein. Es steht zu hoffen, daß immer mehr Studenten diese
Gelegenheit ergreifen werden; denn nur so kann ein Geschlecht heranwachsen,
das geschaffen ist, vermittelnd in den sozialen Kampf einzugreifen. Denn soziale
Arbeit erzeugt soziales Verständnis und das ist uns vor allem nötig.
Mehr als je gelten grade auch hier die Worte Schillers an die Jenenser
Studenten bei seiner Antrittsvorlesung: „Ein edles Verlangen muß in uns
entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit,
das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt
wieder abgeben müssen, auch aus unseren Mitteln einen Beitrag zu legen und
an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet,
unser suchendes Dasein zu befestigen."
eilige Stunden östlich von Dresden erheben sich auf einem Sockel
von Basaltfelsen die Ruinen der ehemaligen Feste Stolper. Schon
früh hatten die Meißner Bischöfe ihre Hand auf diesen land¬
beherrschenden Punkt gelegt. Ein rohes Holzkastell im Urwalde
fanden sie vor, sie schufen es in ein prächtiges Bergschloß um
und trugen von hier aus die Kultur weit ins Land hinein. Viele von ihnen
residierten lieber auf diesem entlegenen Sitze als daheim bei ihrem widerhaarigen
Kapitel auf der Albrechtsburg. So namentlich in der Reformationszeit. Bischof
Johannes der Sechste (seit 1490), ein kluger, energischer, in kirchlichen Dingen
liberaler Herr, erwählte Stolper zu seinein Lieblingsaufenthalt. Die Chroniken
wisse:: viel von seiner: Verdiensten um den Ausbau der Feste und von seiner
landesväterlichen Sorge um das Städtchen Stolper am Fuße des Burgbergs
zu rühmen. Es war wohl damals unter seinen Untertanen ein allzu feucht¬
fröhliches Treiben eingerissen. Da steuerte er „als ein Liebhaber guter Ordnung
der Üppigkeit, die in Bierhäusern, und der Ungerechtigkeit, so unter Kartenspielern
vorging". Wir haben die Verordnung cZatc> Stolper, Mittwoch nach Jubilate
1503. Die ersten Sätze daraus lauten:
„Es soll niemand zu Biere gehen im Winter vor Zeiger 2 zu Mittage
und Zeiger 8 auf den Abend wieder davon, und im Sommer um Zeiger 3 zu
Biere und um Zeiger 9 davon, und da einer ungehorsam befunden, soll der
Wirt, der es zulasset, und der Gast, der das thut, ihr ieglicher so mannigfaltig
das geschieht, ein gut Schock zum Bau geben, halb in unsere Kammer, die ander
Helffte dem Rathe. Es soll auch hinfort bei Vermeidung eines Silbern Schocks
Buße niemand nach dem Zeiger 8, es sei im Winter oder Sommer, auf der
Gasse schreien oder jauchzen." Dann folgen ähnliche Strafbestimmungen gegen
diejenigen, die „in gedachter unserer Stadt auf Karten, Würffeln oder sonst
irgend ein ander Spiel um Geld spielen". Der Magister Senff, der uns dies
mitteilt*), kaun sich nicht versagen, hinzuzufügen: „Es wäre wohl nötig, daß
man die alten Befehle dem heutigen unartigen, unmäßigen und gewinnsüchtigen
Volke mit Nachdruck noch schärfte," aber er findet es ein wenig zuviel, „daß
denen Zechbrüdern nachgesehen wird, daß sie mögen sechs Stunden hinter einander
unter dem Zapfen sitzen."
Unter den Nachfolgern Johannes des Sechsten wurde das bischöfliche Residenz¬
schloß Stolper zu einer Hochburg des Papsttums gegen das aufstrebende Luthertum.
Von Stolper datiert gingen zornige Erlasse des Bischofs oder seines Offizials
aus, die sich gegen die Wittenberger Ketzereien wendeten. Darüber erzürnte sich
Luther nicht wenig und blieb seine geharnischten Antworten nicht schuldig. Als
der Bischof einmal mit allerlei spitzfindigen Vergleichen die katholische Form des
Abendmahls unter einerlei Gestalt verteidigt, poltert Luther dagegen los: „O, daß
der Koch und Keller zum Stolper müßten ein Ding werden und dem Bischöfe
schlecht Essen geben ohne Trinken, auf daß er seine eigne Kunst an ihn: auch
versuchet, ob er Essen und Trinken vor ein Ding wollte halten und ohne
Getränke trinken könnte." Ein andermal zerpflückt er ein Mandat des Stolpener
Offizials mit seinem drastischen Wortwitz. Aus dem „Stolpener" machte er einen
„Stolperer" und meint, „des Offizials Zeddul würde für aller Vernunfft mehr
für Tölpisch als Stölpisch angesehn werden".
Aber nicht nur mit solchen „Zedduln" bekämpften die Bischöfe die Reformation.
Wenn ihre eigenen Geistlichen sich der Hinneigung zu den neuen Irrlehren
schuldig machten, so ließen die Bischöfe sie einfach in den „grauerlichenGefängnüssen"
des Stolpener Schlosses verschwinden. Solange in Sachsen Herzog Georg regierte,
hatten sie an ihm einen starken Rückhalt; denn er „hielt es sür ein gut Werk,
wenn er Priester in Verhaft nach Stolper bringen konnte".
Allein als 1539 Georg starb und Herzog Heinrich ans Nuder kam, da
„gings gar aus einem anderen Fasse; es begunte nun das Papsttum fürchterlich
zu knacken. Lutherus wuchs und der Bischof nahm ab". Gleich nach seinem
Regierungsantritt führte Heinrich die Reformation in Dresden und Meißen
ein. Der Bischof hatte nun nichts mehr auf der Albrechtsburg zu suchen und
zog sich ganz auf seine Feste Stolper zurück. Sein kostbarstes Besitztum brachte
er aus Meißen mit, namentlich die Meißner Reliquien, einen Finger des Apostels
Paulus, die Hirnschale des heiligen Donatus und die Gebeine Bennos, der erst
kurz zuvor heilig gesprochen war. Indes auch auf dem Stolpener Felsenneste
blieben die heiligen Knochen nicht vor Profanation bewahrt. In dem Drunter
und Drüber des „Saukrieges", der Carlowitzschen Fehden, glaubte man sie im
Frieden der Burgkapelle nicht sicher genug, und da sie sich trotz aller Wunder¬
kraft nicht selbst zu schützen wußten, fanden sie ein nicht besonders würdiges,
aber doch ketzerfestes Asyl im Strohsack eines frommen Stolpener Pfaffen Nikolaus
Grüner. Später sind sie nach München gekommen und dort verschwunden.
Noch zwanzig Jahre lang hielt sich der Bischof auf seiner Bergfestung.
Häufig wetterte Luther: „Nur die Flegel auf dem Stolper droben, die wollen
sich nicht ergeben." Endlich 1559 ging Stolper durch Umtausch gegen das Amt
Mühlberg in kursächsischen Besitz über. Der Bischof räumte den Platz, und
sofort wurde durch kurfürstliche Kommissare „das Papsttum ausgetrieben und
das Luthertum eingeführt".
Die Kurfürsten gestalteten die Burg nach und nach zu einer starken Festung
im Sinne der neueren Zeit um und gaben ihr die Gestalt, in der sie dann
schließlich zur Ruine verfallen ist. Auch unter ihrem Regiments mußte die Feste
zuweilen als Gefängnis dienen. So wurden 1592 zwei Dresdner Hofprediger um
ihres calvinischen Glaubensbekenntnisses willen „LoIIeMliter" hierher geschleppt.
Aber sie brachten wenig Segen nach Stolper. Der Teufel selber kam mit ihnen
hierher; es war von Stund an nicht mehr geheuer auf dem Schlosse. Das berichtet
der Verwalter Thomas Treutter in einem umständlichen Schreiben an seinen
Vorgesetzten. Es ist gar kein Zweifel, er selber hat den Leibhaftigen ganz
deutlich gesehen. Nacht für Nacht ist er zu ihm in die Stube gekommen, und
wie hat er sich da aufgeführt! Im Waschbecken hat er sich gebadet, das Bänklein
hat er fortgerückt, die Bücher umgeblättert und hin und her geworfen. Anderen
ist er auch begegnet; ein rotes Lederwams hat er angehabt und einen Fuhr¬
mannshut auf dem Kopfe mit langen Federn. In seinein Zorn hat er ein
furchtbares Hagelwetter über Stolper erregt. Mit dicken schloßen fo groß wie
Walnüsse hat er die Fenster eingeschlagen und die Ziegel von den Dächern
geworfen, daß es lebensgefährlich gewesen ist, über den Schloßhof zu gehen;
auf deu Feldern ist nicht der dritte Halm stehen geblieben; die Bürger haben
nicht anders gemeint, als nun käme der jüngste Tag. Inzwischen wurde seinen
Schützlingen hinter Schloß und Riegel die Zeit zu lang. Unter ihren Kerkern
rauschten die Bäume des Burgbergs im vollen Junischmuck. Da beschloß der
eine, Magister Steinbach, zu entfliehen. Mit dem Brodmesser schnitt er nachts
die Türe seiner Zelle entzwei, ein tüchtiges Stück Arbeit, denn Ehrwürden war
ein wohlbeleibter Herr, und das Loch mußte ziemlich gro^z werden, bis er sich
hindurchzwängen konnte. Aber dann half ihm sein Freund, der Teufel, weiter.
Durch drei verschlossene Türen schritt er durch, als ob sie Luft wären. Dann
band er oben im Schlosse in einem Wendelsteine zwei Ofengabeln kreuzweise
inwendig vor eine Fensteröffnung und befestigte daran das Rettungsseil, das
er sich aus einer „Handquele" und zerschnittenen Bettbezügen in der Eile
zusammengenäht hatte. So wollte er sich beinahe 30 Meter hoch hinablassen.
Aber der Teufel paßte nicht ordentlich auf. Die Leinwand riß, und der
bedauernswerte dicke Herr lag mit zerbrochenen Beine unten. Da hat er dann
unter großen Schmerzen den Calvinismus abgeschworen und sich so ohne teufliche
Beihilfe die Freiheit wieder verschafft. Sein Kollege desgleichen.
Der Dreißigjährige Krieg, „der Mörder vieler Städte", hat auch Stolper
schwer heimgesucht. Durch ihre beherrschende Lage wurde die Bergstadt zu einer
Art natürlicher Notwarte, zu einer Zeutralmeldestelle für das ganze umliegende
Land. Die Stolpener erfuhren alles, was weit im Umkreise vor sich ging, und
gaben ungesäumt Nachricht an die benachbarten Orte.
Die Kehrseite war, daß die exponierte Stadt die Begehrlichkeit aller durch¬
ziehenden Kriegshaufen auf sich zog. Bald berannten es die kaiserlichen Völker,
bald die Schweden. Wiederholt ging das Städtchen in Flammen auf, aber
niemals wurde, wie auch später im Nordischen Kriege, die Bergfeste selber ein¬
genommen. Von all den Schicksalsschlägen sei nur des schwersten gedacht, voll
dem sich ausführliche Kunde erhalten hat. Der 1. August 1632 war Stolpens
Schreckenstag.
In Zittau lagen kroatische Haufen unter dem kaiserlichen Obersten Goltz,
die beunruhigten das Land weit und breit. Besonders auf Stolper hatten sie
schon lange einen Groll. Das Schloß hatte zwar damals keine regelrechte
Besatzung, aber die Bürger waren selbst auf ihrer Hut. Dreißig Mann waren
stets unter Waffen. Die ganze Bürgerschaft war in Korporalschaften eingeteilt,
die abwechselnd des Nachts die beiden Stadttore stark besetzt hielten. Ringsum
auf den Bergen wurden fleißig Wachen ausgestellt, und sobald sich irgend etwas
Verdächtiges blicken ließ, flüchtete sich alles vom platten Lande mitsamt den:
Vieh hinein in die Stadt. Hier hinter der festen Ringmauer von Basalttrümmern,
unter den Falkonetten der Festung, fühlten sie sich geborgen. Man wurde kecker.
Die Stolpener Amtsuntertanen weigerten sich, die Kontributionen für den Feind
nach Bautzen zu liefern, und manchmal gelang es sogar, einem kroatischen
Streifkorps sein gestohlenes Gut abzujagen. Das alles erbitterte die Kaiserlichen,
und sie brannten auf die Gelegenheit, Stolper ihre ganze Macht fühlen zu lassen.
Patrouillen ritten rekognoszierend bis vor die Stadt. Am letzten Tage des
Juli erschienen fünf Kroaten, als Deutsche verkleidet, am Niedertore. Ein alter
Stolpener Bürger stand Torwache und ließ die Fremden nicht hinein. Sie
gaben vor, sie wollten ihre Pferde beschlagen lassen, da schickte ihnen der Alte
den Hufschmied hinaus vors Tor. Wie sie wegritten, rief einer den: vorsichtigen
Wächter zu: „Vater, wenn wir morgen wiederkommen, werdet ihr uns ja nicht
aufhalten." Das war im Ernste gescherzt. Aber vielleicht wäre das Unglück
noch nicht so bald geschehen, wenn nicht die Stolpener selbst dem Fasse den
Boden ausgestoßen hätten. Noch am gleichen Tage traf ein sächsisches Streif¬
korps von Dresden her in Stolper ein, das nach der Lausitz zu aufklären und
Stellung und Stärke des Feindes erkunden sollte. Unsere dreißig wehrhaften
Männer, der Amtsschreiber an der Spitze, ließen sich's nicht nehmen, den Ritt
mitzumachen. Nach Eintritt der Dunkelheit ging's hinaus, um Mitternacht
schlugen sie ans Stadttor von Bischofswerda. Die Bischofswerder waren über
den nächtlichen Besuch wenig erbaut, ließen aber schließlich auf Zureden des
Amtsschreibers den ganzen Reitertrupp hinein und setzten ihnen einen Labetrunk
vor. Beim Humpen wurden die nötigen Erkundigungen eingezogen, und ehe
der Morgen graute, ging's zurück nach Stolper. Kaum aber war der Trupp
zum Tore hinaus, so zogen auf der andern Seite die Kroaten in Bischofswerda
ein. Bald hatten sie erfahren, was geschehen war und daß dreißig Mann von
Stolper dabei gewesen. Nun war das Maß voll. „Der schon gemachte Schluß
ward Lontirmiret, auf hiesigem 1"Köatrc) sollte eine Tragödie gespielt werden."
Inzwischen kamen unsere Stolpeuer nichtsahnend von ihrem harmlosen Abenteuer
nach Hause, und bald wußte man in der ganzen Stadt, daß vom Feinde nichts
zu hören gewesen sei. Da war die Freude groß. Ein Heller schöner Sommertag
brach an, die starken Wachen an den Toren wurden bis auf wenige Mann
eingezogen und viel Volk ging sorglos hinaus aufs Feld, wo die Erntearbeit
drängte. Da tauchten plötzlich um die Frühstückszeit fremde Reiter auf, erst
einzelne, dann kamen sie schon in dicken Haufen, sechshundert Mann stark, aus
Lauterbach hervorgequollen und warfen sich auf das schlecht verwahrte Niedertor
der Stadt. Im Nu war es ausgehauen, und niemand widerstand. Alles, was
laufen konnte, stürzte Hals über Kopf nach dem Schlosse, die Höfe wimmelten
von Männern, Weibern, Kindern und geretteten Pferden und Rindvieh. Aber
schon drängten die Feinde nach. Während ein Teil ihrer Horden die wehrlose
Stadt rein ausplünderte, drangen die übrigen durch die drei niedern Tore der
Festung und bemächtigten sich des Kornbodens, dessen Untergeschoß der kur¬
fürstliche Marstall und die Folterkammer bildet. Er war durch einen tiefen
Graben, über den eine Zugbrücke führte, von dem innern Schlosse getrennt.
Jetzt hieß es für die Stolpener, sich ihrer Haut zu wehren. Jeder mußte
zugreifen, der wackere Pastor Sperling war einer der ersten. Die anwesenden
Beamten, ein Forstbedienter, die Bergleute, die noch beim Brunnenbau beschäftigt
waren, alle stellten ihren Mann. Die Stücke und Doppelhaken werden an die
Mauerfront zwischen dem Johcmnisturm und der alten Schösserei geschleppt,
und NUN geht ein hitziges Feuern auf vierzig, fünfzig Schritt Entfernung her¬
über und hinüber. Von drüben schießen sie mit Musketen auf die Schießlöcher,
von hüben krachen die Geschütze. Welcher Jubel, wenn eiuer der Angreifer
getroffen ist. Jetzt steckt ein fürwitziger Kroäk die Arme durch ein Loch heraus,
um einen Riegel aufzuschieben — Blitz und Knall, und beide Hände sind ihm
von eiuer schweren Vollkugel abgeschossen. Ein Freudengeschrei hüben, ein
Wutgebrüll drüben. Der Hauptmann der Kroaten schreit durch den Lärm
herüber, er verspricht goldene Berge, wenn man ihn mit seiner Mannschaft ein¬
lassen wolle, und droht widrigenfalls keine Seele zu verschonen. Aber die
Stolpener kehren sich nicht daran und halten tapfer aus. Da versuchen's die
Feinde auf andere Weise zu erzwingen. An verschiedenen Punkten zugleich
stecken sie die ausgeraubte Stadt in Brand. Binnen einer Viertelstunde steht
alles in voller Glut. Ein starker Wind erhebt sich und treibt von der Kirche
her die Flammen übers Schloß. Heißer Qualm und Funkenregen bedrängt die
Verteidiger vom Rücken her. Nicht lange, da fängt der „Siebenspitzenturm",
die schönste Zierde der Burg, Feuer. Mit Windeseile greift es um sich. Die
ganze Festung brennt.
Inzwischen hatten sich die Feinde aus der allgemeinen Feuersbrunst zurück¬
gezogen und sahen von weitem gemächlich zu. Sie dachten, das ganze Schloß
würde draufgehen, und die Leute darin würden entweder verderben oder zu
einem Ausfall gezwungen werden. „Aber", so erzählt der Chronist"), „was
die Gottlosen gerne wollten, ist verloren. Das Gebet derer, so im freien Felde
herumgejagt, in Sträuchern beschädiget und ausgeplündert, oder sonst in Ängsten
waren, drang durch die Wolken. Gott erhörte das Seufzen und Weinen derer,
die in der kurfürstlichen Kapelle auf den Knien lagen und die Hände empor
huben. Er ließ wohlgeraten die Arbeit der munteren Weiber, die aus dem
Brunnen Wasser zum Löschen trugen, und derer Männer, die Wasser ins Feuer
gössen. Ja, er selbst half löschen und gab vom Himmel einen gnädigen Regen.
Und so ward die Flamme gedämpft, das Herz des Schlosses erhalten."
Über all diese Stürme und Schicksale ist die Zeit dahingegangen. Wer
denkt noch daran! Aber eine Tragödie hat sich auf Schloß Stolper abgespielt,
die ist noch in aller Munde. Die hat Stolper zur Berühmtheit gemacht, und
niemand weilt heute in den romantischen Ruinen, der nicht ihren Nachklang
vernähme. Das ist die Gefangenschaft der Gräfin Cosel.
Ihre Lebensgeschichte ist schnell erzählt""). Anna Constance von Brockdorf
war ein armes holsteinisches Landedelfräulein und heiratete in jungen Jahren
den sächsischen Geheimen Rat von Honn. Die Ehe mit dem weit älteren,
engherzigen Staatsmanne war nicht glücklich. Jahrelang hielt sie Hoya als
mißtrauischer Gatte von dem lockern Dresdner Hofe sern. Da soll er einmal
bei einem allsgelassenen Jagdessen in Moritzburg in der Weinlaune mit den:
Fürsten von Fürstenberg um tausend Dukaten gewettet haben, daß seine Frau
alle Schönheiten der Residenz überstrahlen würde. Er gewann die Wette und
verlor seine Frau. Friedrich August der Starke war von der junonischeil
Schönheit des neuen Sterns, von ihrem Geiste und Temperament so völlig
berückt, daß er nicht eher ruhte, als bis sie geschieden war und einwilligte, seine
Naitrs88ö su titre zu werden. Aber sie wußte ihre Bedingungen zu stellen.
In dem noch erhaltenen Entwürfe des zugrunde liegenden Dokuments, das sie
sich von Leipziger Juristen hat aufsetzen lassen, bezeichnet sie der König als „seine
legitime öpouse, derogestalt, daß Wir in Kraft eines ehelichen Eides versprechen
und halten wollen, dieselbe herzlich zu lieben und beständig treu zu verbleiben".
Weiter sichert er ihr zu, die Kinder aus dieser Verbindung als legitime Prinzen
und Prinzessinnen zu behandeln. Vor allem aber soll er ihr — diese Klausel
fehlt in dem Entwürfe — zugesagt haben, sie nach dem Tode seiner rechtmäßigen
Gemahlin zur Kurfürstin und Königin von Polen zu erheben. Nun folgt ein
Jahrzehnt der Macht und des äußersten Glanzes. Anna Constance, zur Reichs¬
gräfin von Cosel ernannt, beherrscht den Fürsten und den Hof vollständig. Ihr
Palais, ihre Hofhaltung zeigen königlichen Prunk, ihre Feste zählen zu den
glänzendsten des galanten Dresden. Selbst auf die hohe Politik sucht sie Einfluß
All gewinnen. Aber endlich erkaltete Friedrich Augusts Neigung. Die Gräfin
Dönhoff gewann sein Herz, die Cosel fiel in Ungnade und wurde schroff vom
Hofe verwiesen. Grollend saß die Gedemütigte auf ihrem „Witwensitz" Pillnitz
und sann auf Mittel zur Rückkehr und auf Rache. Die Akten im Staatsarchiv
enthalten ausführliche Zeugenaussagen, wonach sie hauptsächlich ihr Ziel durch
Hexerei zu erreichen suchte. Wie einst adlige Pagen und Hofchargen, so gehörten
jetzt Zigeuner, Juden und Zauberinnen zu ihrem Hofstaat. Dem Kurfürsten
war hauptsächlich daran gelegen, das peinliche Dokument mit dem eventuellen
Eheversprechen, das eine „menschliche Schwäche der Majestät" verriet, von ihr
zurückzuerhalten. Aber alle Verhandlungen waren umsonst, die Cosel gab es
nicht heraus. Schließlich floh sie bei Nacht und Nebel ins Preußische. Da
ließ sie der Kurfürst durch Vermittlung des Königs von Preußen plötzlich ver¬
haften und als Staatsgefangene nach Stolper schleppen. Am Weihnachtstage
1716 traf die Cosel in: kurfürstlichen Galaivagen mit einer starken Dragoner¬
eskorte und wenigen Bediensteten in der Festung ein. Sechsunddreißig Jahre war
sie alt, und noch immer im vollen Glanz ihrer außergewöhnlichen Schönheit. Im
Tagebuch eines Zeitgenossen findet sich folgende Schilderung von ihrer Erscheinung:
„Sie gehörte unter die bräunlichen Schönheiten. Sie hatte große, schwarze,
lebhafte Augen, ein weißes Fell, einen schönen Mund und eine feingeschnitzte
Nase. Ihre ganze Gestalt war einnehmend und zeigte etwas Großes und
Erhabenes." Fast ein halbes Jahrhundert, bis zu ihrem Tode im Jahre 1765,
ist sie auf dem Stolper geblieben, und niemals hat sie erfahren, warum eine
so grausame Strafe über sie verhängt worden war. Sie schrieb flehentliche
Briefe an alle Bekannten aus ihrer Glanzzeit, man möchte ihr doch wenigstens
sagen, wofür sie so hart büßen solle. Die Antwort, wenn sie überhaupt eine
bekam, war stets, man nisse das auch nicht. Gelegentlich werden ihre Bosheit,
ihr Geiz, ihre Intrigen, ihre schlechte Aufführung als die Gründe ihrer Ver¬
haftung angegeben. Aber ganz wird sich das Geheimnis wohl nie lüften lassen.
Vielfach wird der Grund darin gesucht, daß sie sich bis zuletzt hartnäckig geweigert
habe, das vielberufene Dokument herauszugeben. Aber es scheint, daß die
Urkunde dank den unermüdlichen Nachforschungen Friedrich Augusts bald nach
der Internierung der Gräfin in einem Familienarchive aufgefunden und sofort
vom Kurfürsten vernichtet worden ist. Freilich in Stolper selbst ist man anderer
Meinung. Hier hat sich vom Großvater auf den Enkel die bestimmte Über¬
lieferung erhalten, daß die Gräfin sich eines Nachts nicht lange vor ihrem Tode
einen Maurer aus der Stadt hat kommen lassen, der habe irgendwo im Schlosse
irgend etwas heimlich einmauern müssen, und was kann dies anders gewesen sein
als das schicksalsreiche Dokument und etwa noch besonders wertvolle Schätze.
So viel steht übrigens fest, daß die Cosel bei ihrer Anlieferung nach Stolper
Kostbarkeiten, namentlich Juwelen, mitgebracht hat und daß diese spurlos ver¬
schwunden sind. Man hat aber nach ihrem Tode unter einem ledernen Sitzbrete
im Schlosse eine Höhlung gefunden, wo offenbar ein ziemlich großes Paket gelegen
hat. Wachstropfen, die darauf gefallen, deuteten an, daß das Brett bei Nacht
geöffnet und wieder zugenagelt worden ist. Wer weiß, was die Ausgrabungen,
die jetzt wieder auf dem Schlosse im Gange sind, für Überraschungen bringen werden.
Der Gräfin war die stattliche Feste mit ihren elf Türmen nicht unbekannt.
In glücklichen Zeiten war sie mit Friedrich August und zahlreichen Kavalieren
hier gewesen und hatte sich als kühne Reiterin und sichere Schützin, die sie war,
im Tiergarten an der Hochwildjagd ergötzt. Und nun hauste sie als Gefangene
in demselben Fürstengemache, wo sie einst mit ihrem fürstlichen Geliebten
„pernoktiret" hatte. Jeder ihrer Schritte wurde aufs schärfste bewacht. Die
Garnison war ihretwegen um einen Offizier, vier Unteroffiziere und vierzig
Mann verstärkt worden. Vor jeder Tür, unter jedem Fenster standen Posten,
mit der strengen Weisung, kein Wort mit ihr zu wechseln. Nicht einmal der
Schloßkommandant durste anders als in Gegenwart eines zweiten Offiziers mit
ihr reden. So sehr fürchtete man ihren verwegenen Geist und ihre alle hin¬
reißende Schönheit. Jeder Zettel, den sie schrieb, wurde kontrolliert. Ein
winziges Gärtchen am Fuße des Johannesturms, das sie selbst bestellen durfte,
und dann und wann ein Gang zu den weißen Damhirschen im Tiergarten
unter militärischer Bedeckung: das waren die einzigen Freiheiten, die sie genoß.
Ins Städtchen hinunter kam sie nie. Das blieb ihr „ebenso fremd wie Madrid".
Sie selbst schildert in einem Briefe an den Gouverneur zu Dresden vom Januar
1717 ihre Lage in ihrem originellen Stile wie folgt: „In mein großes Ungelück
muß ich ihm doch eine kleine Disgression machen von die Farcen, so man mit
mir spiehlet, nehmlich man ich Tehwasser verlange, so geschieht vor hairo eine
Combination der Planetten und etzliche Stunden Punktirung, ob Wasser Wasser
ist, und warlich, es ist mein Tage aus die clavi^uelo Lat0mori8 nicht soviel
Magie hairvor gesucht worden, als aus meinen Worten Deutung gemacht
werden. Wein ich in meinem Zimmer spatsiren gehe, werden die sensim vom
Hauße visitirt, ob ich auch Simsons Stärke bekommen, die Tohre aus ihre
Riegel zu heben, in Summa ühber mir, neben mir und unter nur habe ich
Jrwische, und wenn ich nicht noch ein bisgen Jugend hätte, zweifle ich nicht,
sie würden mir auch des Nachts bis in mein Bette accompAZniren. Wenn
ich hier volle werde, ist es kein Wunder usw. Dieses Blat gehört uicht zum
Akten und soll nur unter die apocriven Bücher gerechnet werden."
Trotz dieser ängstlichen Bewachung brachte sie es doch fertig, heimlich Briefe
hinauszuschmuggeln. Der Apotheker von Stolper war ihr Vertrauter, ein Lakai
paschte in ihren Servietten Zettelchen durch, vor allein war ein Leutnant Helm
von der Garnison trotz seines Eides ihr willfähriges Werkzeug. Aber wer
sollte auch der bezwingender Macht dieser schönen flehenden Augen widerstehn!
Hehn wurde überführt und zum Abhauen zweier Finger der rechten Hand und
zur Enthauptung verurteilt.
Man fragt sich, wie die gestürzte Größe zwischen den engen Mauern all
die fünfzig Jahre hindurch ihre Zeit hingebracht hat. Anfangs schien es, als
seien ihr Körper und Geist zerbrochen. Stundenlang saß sie da, dumpf vor
sich hinstierend. Ihre Glieder waren zum Teil gelähmt oder zuckten in Krämpfen.
Dann fuhr sie wild auf, tobte und redete irre. Aber schließlich fand sich ihre
unverwüstliche Natur wieder. Nun fing sie an, mit fieberhafter Geschäftigkeit
Briefe über Briefe an den Kurfürsten und alle Welt zu schreiben mit der immer
wiederholten Bitte um ihre Befreiung. Natürlich alles umsonst. Die meisten
ihrer herzbeweglichen Schreiben verschwanden wohl in den Akten. Die Welt,
auch die Dresdner Welt, hat noch über zwanzig Jahre lang nichts davon
erfahren, daß die gefeierte Cosel auf dem Stolper saß. Es wurden zwar
Verhandlungen mit ihr gepflogen, wonach sie unter gewissen Bedingungen in
Freiheit gesetzt werden sollte, aber sie scheiterten an ihrer unbeugsamen Hals¬
starrigkeit, die von Bedingungen nichts wissen wollte.
Einen hauptsächlichen Zeitvertreib für ihren lebhaften Geist bildete die
Lektüre. Fortgesetzt vergrößerte sie ihre Bibliothek, schließlich hatte sie an die
dreitausend Bände aufgestapelt. Die Naturwissenschaft, Chemie und Alchymie
waren in zahlreichen Werken vertreten. Auch lateinische Bücher fehlten nicht;
sie muß demnach wohl auch diese Sprache verstanden haben. Neben Schriften
religiösen und mystischen Inhaltes fanden sich Pikcmterien von zweifelhaftesten
Wert. Sie selbst verfaßte nicht ohne Geist französische Verse.
Vielfach füllte sie ihre Stunden auch mit Handarbeiten aus. Noch heute
zeigt die Stolpeuer Schützengilde mit Stolz ihr Banner, das ihr — nach einer
freilich kaum zutreffenden Sage — die unglückliche Gräfin gestickt haben soll.
Mit Vorliebe braute sie allerhand Latwergen, Tränklein und Aquavite, namentlich
für ihren eigenen Bedarf. Denn einem kräftigen Schluck war sie niemals abhold
gewesen. Läßt doch gelegentlich sogar ihr früherer Gatte Honn eine Bemerkung
fallen über „ihre bösen Qualitäten in puncto ihres Trunkes und höllischen
Bosheit". Und Friedrich August, der Menschenkenner, hatte einst seinen Sturm¬
angriff auf das Herz der schönen Frau damit eröffnet, daß er ihr — zwei
Fäßchen Tokaier zum Geschenk machte. Auch ein Pfeifchen Tabak wußte sie zu
schätzen.
Ihre Umgebung konnte ihr nichts bieten. Von den wiederholt wechselnden
Kommandanten drangsalierte sie am ärgsten der Oberst Boblink, ein Mann mit
kleinem Hirn und großem Fitz. Von seiner Engherzigkeit in der Behandlung
der hohen Gefangenen sind in den Akten unglaubliche Beispiele aufbewahrt.
Über jedes „Lavement" — mit Respekt zu vermelden — holte er in umständ¬
lichen Berichten auf dem Instanzenwege die Entschließung des Geheimen Kabinetts
in Dresden ein. Auch mit ihren: Dienstpersonal war nicht viel anzufangen.
Sie selbst schildert es einmal so: „Keine Seuffer, Spieler, unkeusche noch viel
Manier dienen hierhair, sondern es müssen solche Kreaturen sein, die aus
Dumheit das Kleinode der Freiheit nicht kennen und überhaupt von allen fünf
Sinnen nur ein Viertheil besitzen und absonderlich ohne Empfindlichkeit der Welt
ihre Tage hinbringen, da nun zimblicher maßen ein solch Assortiment zusammen¬
gebracht."
Nur ein einziges Mal nach ihrer Verstoßung sollte sie August den Starken
wiedersehen. An einem schönen Julitage 1727 kam er in aller Frühe mit
einem Gefolge von Offizieren heraus, um Schießversuche mit Kanonen an dem
harten Stolpener Basaltgestein vorzunehmen. Es sollte ein Festtag für Stolper
werden, alle Korporationen der Stadt waren angetreten, und die Gräfin versprach
sich, heute durch die unfehlbare Macht ihres persönlichen Einflusses ihr Schicksal
zu wenden. Aber schon nach wenigen Schüssen wurde das Feuern abgebrochen,
da die Kugeln an den Felsen zersplitterten und einzelne Sprengstücke gefahr¬
bringend in die Stadt flogen. Der Kurfürst erschien zu Rosse am Schloßtore.
Da rief ihn vom Fenster herab die frühere Geliebte mit flehenden Worten
an. Aber er riß das Pferd herum, lüftete nur leicht den Hut und sprengte
davon, ohne ein Wort zu erwidern. Da soll sie in ihrer verzweifelten Wut
nach ihm geschossen haben, eine Sage, die gewiß nicht auf Wahrheit beruht.
Einige Jahre später, 1733, hörte sie, wie ringsum im ganzen Lande die
Glocken geläutet wurden. Da merkte sie gleich, daß Friedrich August gestorben
war. Aber ihre Gefangenschaft dauerte fort. Auch der Thronfolger ließ ihre
Befreiungsgesuche unbeachtet und gewährte ihr nur geringe Erleichterungen. So
erhielt sie die „Leipziger Zeitung" und durfte Besuche empfangen. Als ihr
endlich Jahre danach die Freiheit angeboten wurde, da wollte sie selbst uicht
mehr. Was hatte sie noch in der veränderten Welt zu suchen, von der sie
längst vergessen worden war! Allmählich schwindet ihr Hochmut und Trotz, die
alte Dame wird schrullenhaft und menschenscheu. Sie schreibt einmal an Boblink,
daß „ihr coura^e, die weder Löwen noch Bären scheuet, in eine entsetzliche
Furcht gesetzt worden sei in puncto der ungewissen und lügenhaften Menschen".
Es war, als ob sich auch die Elemente gegen sie verschworen hätten. Schon
1723 erlebte sie das „erschreckliche Zornfeuer", das die ganze Stadt Stolper
in einen Aschenhaufen verwandelte. Damals ging auch die berühmte Mönchs¬
bibliothek zugrunde, die sich aus der Bischofszeit erhalten hatte, ein unersetzlicher
Schatz von alten Büchern und Urkunden. Auch das Schloß fing an verschiedenen
Stellen an zu brennen. Die Glut war so groß, daß davon auf der Festung
mehrere bronzene Kanonenrohre schmolzen. Zwei von ihnen schenkte der Kurfürst
der armen abgebrannten Stadt, und daraus siud die neuen Kirchenglocken
gegossen worden.
In den vierziger Jahren wurde es ganz unheimlich auf dem Schlosse.
Es begann bereits merklich zur Ruine zu werden. Wiederholt schlug der Blitz
in das Wohnhaus der Gräfin und die nächstliegenden Gebäude ein. Das
morsche Mauerwerk drohte ihr überm Kopfe zusammenzubrechen und mußte
durch eiserne Klammern gehalten werden. Schließlich stürzte in ihren: Zimmer
ein großer Ofen plötzlich vor Altersschwäche ein und zerschmetterte der Gräfin
einen Schenkel. Da entschloß sie sich 1744, in den festen Johannesturm über¬
zusiedeln. Und hier, auf engstem Raume, hat sie ihr freudloses Dasein noch
über zwanzig Jahre hingefristet. Im Volksmunde heißt der Turm seither nicht
anders als der Coselturm, und auf diesen Turm konzentrieren sich alle die halb
sagenhaften Vorstellungen, die noch heute im Volke von dem geheimnisvollen,
düsteren Schicksal der schönen Frau fortleben. Aus romantischer Liebe zu
„ihrem" Turme, ihrem letzten und einzigen Freunde, soll sie die Freiheit ver¬
schmäht haben und auf dem Schlosse geblieben sein. Ein unterirdischer Gang
soll von seinem Fuße ins Tal der Letzsche nach der Gegend des jetzigen Bahn¬
hofs führen, durch den sie ihre Boten mit Konterbande ausschickte. Es muß
wohl etwas Wahres an dieser Überlieferung sein; denn erst kürzlich fand man
beim Urpflanzen des Wäldchens, das die Stadt am Fuße des Berges anlegt,
genau in der bezeichneten Richtung ein Stück unterirdisches Gewölbe. In
der Stolpener Chronik von 1764 findet sich nur die trockene Bemerkung:
„Vorietzo haben Jhro Excellenz die Frau Gräfin Cosel dero Wohnung in diesem
Thurme."
Hier spann sie sich nun mehr und mehr mit ihren Büchern ein. Die
Kabbala und andere jüdische Schriften beschäftigten hauptsächlich ihren phan¬
tastischen Sinn. Sie zitierte einen süddeutschen Geistlichen, der als Orientalist
bekannt war, zu sich nach Stolper. Mit Entzücken und Verwunderung erzählte
dieser dann, wie ihm die trotz ihrer sechzig noch immer schöne Frau im vollen
Ornate eines jüdischen Hohenpriesters entgegengetreten sei. Sie bemühte sich
auch, ihm die Stolpener Pfarrstelle auszuwirken. Allein daraus wurde nichts.
Die vorsichtige Frau des Geistlichen schien es doch nicht für rätlich zu halten,
ihren Mann in der Nähe der berückenden Matrone zu wissen. Und so hintertrieb
sie die Übersiedlung. Die Gräfin aber setzte ihre talmudistischen Liebhabereien
fort. Sie feierte den Sabbat, verzichtete auf Schweinefleisch und sprach zuletzt
sogar Indisch-Deutsch. Im jüdischen Glauben soll sie gestorben sein.
Noch einmal schlugen die Wogen der Weltgeschichte bis an den Sitz der
vergessenen Frau. Zu Beginn des siebenjährigen Krieges besetzten preußische
Husaren die Festung. Dabei schoß ihr Führer auf den greisen Schloßkomman¬
danten von Liebenau, der ihm entgegengekommen war, um ihm die Schlüssel
auszuhändigen. So soll in Stolper der erste Schuß im siebenjährigen Kriege
gefallen sein. Vor ihrem Wegzuge begann die preußische Besatzung auf höhern
Befehl die Ruinierung der Feste. Sie schleppten die guten Geschütze mit fort und
stürzten die schlechten samt allen Vorräten an Gewehren, Geschossen und Pulver
in den tiefen Schloßbrunnen. 1883 hat man aus dieser merkwürdigen Rumpel¬
kammer uuter Schutt und Trümmern ein ganzes Arsenal von altem Kriegsgerät
hervorgeholt; es ist jetzt in verschiedenen Räumen der Ruine aufgestellt. Bald
nach dem Abzüge der Preußen sah die Gräfin von ihrem Turmstübchen aus
andere Bilder. Die siegreichen Regimenter Dauns lagerten längere Zeit auf
den Feldern am Fuße des Schlosses. Tausend preußische Kriegsgefangene wurden
auf der Burg eingepfercht. Da brannten in der kalten Herbstnacht fast hundert
Lagerfeuer in allen Höfen, alle Türen und Gitter der Schösserei wurden zu
Brennholz zerhackt, und Küche und Keller der Gräfin mußten sich trotz der
aufgestellten Posten gefallen lassen, von den hungernden Soldaten ausgeplündert
zu werden.
Und dann wurde es ganz still um sie. Die letzten Jahre ihres Lebens
verließ sie das runde Gemach im zweiten Stocke des Turmes fast nie mehr.
Eine Magd und ein Stübenheizer bildeten ihren ganzen Hausstand. Ihr
Aufenthalt wird von einem Augenzeugen wie folgt geschildert: „In dem kleinen
Wohnzimmer waren keine Tapeten, zwei alte sehr schadhafte Stühle und eben so
viele kleine hölzerne Tische, ein großes hölzernes Bett ohne Vorhänge und der
Gräfin eigener Stuhl, darauf sie zwischen zwei hölzernen Seitenlehnen ohne
Rückenstück auf zwei alten übereinander liegenden Federkissen, den Rücken allzeit
dem Ofen zukehrend, gesessen. Durch den vielen Rauch und Dampf einer
mitten im Zimmer an der Decke herabhängenden Lampe, welche vom Abend bis
zum hellen Morgen brennen mußte, war alles so schwarz geworden, daß man
den Zeiger einer an der Wand hängenden Schlaguhr nicht erkennen konnte."
Hier brütete sie dumpf vor sich hin, ost wie geistesabwesend, so daß man meinte,
ihr Gehirn sei zerrüttet. Aber bisweilen brach sie in leidenschaftliche Schmäh¬
reden aus, die zeigten, daß das Feuer ihrer unbesieglichen Natur doch nicht
ganz erloschen war. So verkam sie, eine der schönsten und geistvollsten Frauen
ihrer Zeit, die einen der glänzendsten Höfe Europas beherrscht hatte, zwischen
schmutzigem Gerümpel in Stumpfsinn und Verbitterung.
1765, in ihrem fünfundachtzigsten Lebensjahre, starb sie und wurde in der
Schloßkapelle beigesetzt. Nach langem Suchen hat man 1881 ihr von Schutt
und Nasen überdecktes Felsengrab gefunden. Eine Kommission hat sich überzeugt,
daß ihre schlanken Knochen reingenagt in dem einfachen Tannensarge liegen und
daß ihr bis zuletzt tiefschwarzes Haar goldgelb gebleicht ist. Dann hat man
die Gruft wieder geschlossen. Eine Steinplatte bezeichnet die Stelle, wo die
Gräfin ruht.
Das Volk freilich weiß es besser. Nicht weit von Stolper, bei Langen-
wolmsdorf, erhebt sich ein stattlicher Hügel, auf dem ein einsamer Baum steht.
Dort, so geht die Sage, ist die Cosel begraben mitsamt ihren ungeheuren
Schätzen, die sie aus ihrer Glanzzeit gerettet hat. Aber sie hat keine Ruhe
gefunden. Bisweilen erscheint sie einem Schnitter, der am heißen Erntemittag
allein auf dem Felde bleibt. Wunderschön ist sie anzusehen, wie eine Fee im
weißen Gewände, und wenn der Überraschte sich nicht fürchtet und sie freundlich
anspricht, dann füllt sie ihm den Hut mit Talern.
Das Schloß ist zerfallen. Napoleon hat es 1813 auf seinem Rückzüge
nach Leipzig vollends zerstört, um es nicht den nachdrängenden Russen als festen
Punkt in die Hände fallen zu lassen. Bis auf den Coselturm, den Seigerturm
und den Siebenspitzenturm ließen die Franzosen so ziemlich alles, auch die
reizende Schloßkapelle, in die Luft fliegen. Und als 18(>6 die preußischen
Truppen einrückten, da fanden sie nur noch eine bedeutungslose Ruine. Kaum
je wieder wird sie berufen sein, in der Geschichte von sich hören zu lassen.
Ein duftiger Schleier von Birken und Buschwerk ist über die kolossalen
düstern Mauerreste ausgebreitet. Dohlen schreien um deu Coselturm. Wir
stehen auf dem rasigen Rundplatz, der den Sockel des einstigen Kapitelsturmes
bildet, und sehen entzückt weit hinaus über die Sächsische Schweiz und die
Lausitzer Berge, und dann kehren wir uns um und überblicken noch einmal in
ihrer Gesamtheit die malerischen Trümmer der Vorzeit. Da dürfen wir wohl
bekennen: Schloß Stolper steht nicht zurück hinter so mancher süd- und west¬
deutschen Burgruine gefeierten Namens, ein erinnerungsreiches, ergreifendes
Denkmal vaterländischer Geschichte.
Ml linnet und Erde befolgt ruhiges, festes Gesetz, — doch über des
Menschen Leben, dem köstlichsten Schatz, herrscht ein schwankendes
Los." Soweit dieses Los durch menschliche Satzungen ein dunkles
wird, greift wohl heutzutage keine Satzung so tief in das Schicksal
^ des einzelnen ein wie die Normen des Strafrechts und der
Vollzug der strafgerichtlichen Urteile, die über Leben, Freiheit, Ehre und Ver¬
mögen unter Umständen bis zur Vernichtung des Individuums verfügen.
Kein Rechtsgebiet hat darum einen solchen Anspruch auf das Interesse der
weitesten Volkskreise wie das Strafrecht. Wenn daher jetzt an die Reform
unseres geltenden Strafgesetzbuches herangegangen wird, so haben neben den
Juristen auch die gebildeten Laien Recht wie Pflicht, den Gang dieser Reform
zu verfolgen. Wie sie das geltende Recht in so vielen Punkten der schärfsten
Kritik unterzogen haben, so mögen sie sich über das künftige Recht unterrichten
lassen, solange sich dieses noch im Werdestadium befindet, also Kritik und
Wünsche noch gehört werden können.
Von diesen Vorarbeiten liegt jetzt die zweite, der „Vorentwurf zu einem
neuen Strafgesetzbuch" nebst zwei Bänden Begründung, vor. (Berlin 1909,
I. Guttentags Verlag.) Für das große und verantwortliche Werk, dem deutschen
Volke ein neues Strafrecht zu schaffen, werden, das muß anerkannt werden, die
Grundlagen in geschicktester Weise gelegt. Die erste Vorarbeit war die „Ver¬
gleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts" in sechzehn
Bänden, an welcher einige vierzig deutsche Hochschullehrer mitgearbeitet haben,
und deren Drucklegung durch die Opferwilligkeit des Otto Liebmannschen Verlages
in Berlin ermöglicht wurde. Auf diesem wissenschaftlichen Material hat eine
von dem Herrn Staatssekretär des Reichsjustizamts beauftragte Kommission von
wenigen Praktikern unter den: Vorsitze des Direktors im preußischen Justiz¬
ministerium, Wirklichen Geheimen Rats Dr. Lucas weiter gebaut. Als Ergebnis
ihrer Arbeit stellt sich der Vorentwurf zu einem Strafgesetzbuche mit 310 Para¬
graphen und eine wissenschaftliche Begründung von 800 Seiten dar.
Im nachstehenden soll aus der Fülle dieses Materials nur einiges heraus¬
gegriffen werden, welches auf das besondere Interesse weiterer Kreise Anspruch
hat. Aus dem allgemeinen Teile des Strafgesetzbuches soll geprüft werden, wie
weit der Vorentwurf den Forderungen der modernen Strafrcchtsschule nach
Einführung der bedingten Verurteilung, nach den sogenannten sichernden Ma߬
nahmen, welche sich nicht mehr aus dem Vergeltungsgedanken rechtfertigen lassen,
sondern mehr auf Vorbeugung gerichtet sind, nach erfolgreicherer Bekämpfung
des rückfälligen Verbrechertums usw. gerecht wird. Aus dein besonderen Teile
sollen einzelne Delikte herausgegriffen werden, die um ihrer Tragweite willen
oder der Art ihrer Ahndung besonderen Anlaß, zur Kritik bieten.
Bei der scharfen Fehde, welche seit länger als einem Jahrzehnt zwischen
der alten klassischen Strafrechtsschule, deren Hauptvertreter Birkmeyer-München
ist, und der modernen Straftechtsschule, repräsentiert vor allem durch Liszt-Berlin,
tobt, durfte man darauf gespannt sein, auf welche Seite sich die Redakteure
eines neuen Strafgesetzbuches schlagen würden. Die Verfasser des Vorentwurfs
haben diese Schwierigkeit meines Erachtens in der glücklichsten Weise durch ein
Kompromiß gelöst. Ein Gesetzbuch braucht uicht das Ergebnis einer einzigen
Theorie zu sein, im Gegenteil, es läuft dabei Gefahr, zu starr und zu einseitig
zu werden, und so haben die Verfasser sich grundsätzlich auf den Standpunkt der
klassischen Rechtsschule gestellt, jedoch der modernen Schule so viel Zugeständnisse
gemacht, wie es das Bedürfnis der Zeit und die öffentliche Meinung fordern.
Ein solches Zugeständnis liegt vor allen: in der Einführung der bedingten
Verurteilung, welche der Vorentwurf logischer „bedingte Strafaussetzung" nennt,
da die Verurteilung unbedingt erfolgt und nur die Strafvollstreckung unter der
Bedingung des Wohlverhaltens ausgesetzt wird. Der Grundgedanke dieser
Maßregel ist bisher schon fast in allen Bundesstaaten des Reiches in der Form
der verwaltungsrechtlichen „bedingten Begnadigung" verwirklicht gewesen. Es
ist durchaus konsequent, diese Maßregel, wenn sie sich nach Ansicht der herr¬
schenden Meinung bewährt hat, der Gnade des Monarchen, welche immer ein
außerordentlicher Akt bleiben soll, zu entziehen und die Strafaussetzung in den
Rahmen des ordentlichen Prozesses einzufügen, sie also dem Strafrichter zu
übertragen. Dieser wird auch nach der eigenen Anschauung, die er von der
Persönlichkeit des Angeklagten und Verurteilten gewonnen hat, am besten über
seine Würdigkeit befinden können. Es wird übrigens mit dieser Maßregel auch an
älteste deutsch-rechtliche Traditionen angeknüpft, nach welchen der Richter ebenso¬
wohl nach „Recht" wie nach „Gnade" entscheiden durfte. Erst die Rezeption
des Römischen Rechts hat die Gnade dem Richter entwunden, um sie dem
Fürsten zu übertragen.
Die weite Fassung aber, welche der Vorentwurf dem bedingten Strafaufschub
gegeben hat, erscheint nicht ohne Bedenken. Voraussetzung ihrer Zulässigkeit ist,
uach §38 V.E., daß der Verurteilte noch nicht wegen eines Verbrechens oder
Vergehens mit Freiheitsstrafe vorbestraft ist. Danach steht also nichts in: Wege,
daß Personen, die mit Geldstrafe vorbestraft sind, und, diese ist doch unter
anderem bei Körperverletzung, Betrug, Unterschlagung zulässig, beim zweiten oder
dritten Delikt noch.eine bedingte Strafaussetzung erlangen können. Weiter ist
die Strafaussetzung bei Gefängnisstrafen bis zu sechs Monaten zulässig.
Berücksichtigt man die leider immer weiter um sich greifende Milde der Straf¬
gerichte, die mit den, Eindringen des Laienelements in die Strafkammern natürlich
noch ärger werden wird, so wird eine Strafe von fünf oder sechs Monaten
schon einer recht schweren Tat entsprechen. Und solche Individuen sollen dann
noch die Chance der Strafaussetzung haben? Dem sucht freilich H 39 V.E. mit
der Bestimmung vorzubeugen:
„Die Strafaussetzung ist nur zulässig, wenn der Täter nach den
Umständen der Tat und nach seinem Vorleben einer besonderen Berück¬
sichtigung würdig erscheint und zu der Erwartung berechtigt, daß er auch
ohne den Vollzug der Strafe sich künftig mohlverhaltcn werde. Bei der
Entscheidung ist auch auf die Beweggründe zur Tat, auf die seitdem ver¬
flossene Zeit, sowie auf das Verhalten des Verurteilten nach der Tat zu
achten, insbesondere darauf, ob er sich nach Kräften bemüht hat, den
Schaden wieder gut zu machen."
Mögen diese Kautelen die Strafaussetzung für Vorbestrafte in der Regel
verhindern, so scheinen sie mir keinen Schutz gegen eine Begünstigung der wohl¬
habenderen Klassen der Bevölkerung zu gewähren. Auf diese wird nämlich sehr
oft alles das zutreffen, was der H 39 an entlastenden Momenten verlangt. Der
Automobilbesitzer, welcher durch rücksichtsloses Automobilfahren den Tod eines
Menschen fahrlässig verschuldet, der Bürger der wohlhabenden Klassen, der in
der Angetruiikenheit eine gefährliche Körperverletzung verübt, der Akademiker,
welcher einen Zweikampf mit tödlichen Waffen ausficht, der Kaufmann, welcher
einen strafbaren Bankerott macht, sie alle sind der Regel nach unbestraft, nach
ihrem Vorleben der besonderen Berücksichtigung würdig und werden sich voraus¬
sichtlich künftig auch wohlverhalten, ohne daß die Strafe an ihnen vollstreckt
wird. Man hat nämlich normalerweise nicht wieder das Pech, einen Menschen
zu überfahren, man kommt als friedlicher Staatsbürger nicht so leicht in die
Lage, sich zweimal schlagen zu müssen, und der zweite und dritte Bankerott sind
Ausnahmeerscheinungen der Großstadt. Der Fall der neuen Verurteilung, von
welcher Z 40 V.E. den Wegfall der Strafaussetzung abhängig macht, wird also
bei den Verurteilten der wohlhabenderen Klassen, unabhängig davon, ob die
Einrichtung der Strafaussetzung existiert oder nicht, voraussichtlich in den
meisten Fällen nie eintreffen. Die Strafaussetzung des Vorentwurfs kann also fast
auf eine Straffreiheit gewisser Kategorien von Verurteilten hinauslaufen. Die
Verfasser des Vorentwurfs haben sich hier von dein Gedanken der modernen
Strafrechtsschule, daß die Strafe vor allem Präventivmittel sei, zu weit treiben
lassen. Der gesunde und tief im Volke wurzelnde Gedanke, daß die Strafe vor
allem Vergeltungs- und Sühnezweck habe, tritt hier völlig zurück. Wollen wir
aber ein gerechtes Gleichgewicht zwischen jenem und diesem Strafzwecke herstellen,
so müssen wir sagen, bei Erwachsenen kann auf den Sühnezweck nur bei Ver¬
fehlungen leichtester Art verzichtet werden. (Hier ist aber durch die Einrichtung
der Geldstrafe kein Bedürfnis eines Verzichts vorhanden.) Erwachsene aber, die
eine so schwere Tat begangen haben, daß das Gericht auf Gefängnisstrafe gegen
sie erkannt hat, die sollen diese Strafe auch verbüßen. Es spricht nicht zuletzt
für diese Forderung auch die Rücksichtnahme auf den Verletzten, welcher eine
Genugtuung haben will, welcher auf seine Privatrache nur verzichtet, weil er zu
dem staatlichen Ahndungsrechte Vertrauen hat, und welcher nichts von Genugtuung
und Ahndung sieht, wenn die Strafe ausgesetzt wird und der Verurteilte vergnügt
nach Hause wandert, um sie voraussichtlich niemals anzutreten. Man möge den
Vormurf der Klassenjustiz, der sich auch bei größtem Streben der Richter nach
Objektivität unvermeidlich an diese Einrichtung knüpfen wird (denn die mehrfach
Vorbestraften und deshalb der Strafaussetzung Unwürdigen werden überwiegend
den unteren Volksschichten angehören), nicht zu gering veranschlagen!
Ganz anders liegt es natürlich bei den Jugendlichen. Hier dürfen die
bekannten Gesichtspunkte der nachteiligen Einwirkung der Strafvollstreckuug, des
schlechten Einflusses der Mitgefangenen, des Makels der Strafhaft für das
ganze Leben volle Geltung beanspruchen. Hier haben wir auch anderseits die
Möglichkeit, ein Korrelat der Strafhaft in Fürsorge- und anderweitiger Erziehung
zu schaffen.
Dieselben Bedenken, welche gegen die bedingte Strafaussetzung bei Erwachsenen
vorliegen, sind in noch anderer Weise gegen die Neuerungen des § 83 V.E.
zu erheben. Nachdem Z 82 bereits die mildernden Umstände geregelt hat.
bestimmt Z 83:
„In besonders leichten Fällen darf das Gericht die Strafe nach
freiem Ermessen mildern und, wo dies ausdrücklich zugelassen ist, von
einer Strafe überhaupt absehen."
Ausdrücklich zugelassen ist aber diese Schaffung einer Straffreiheit bei allen
Versuchshandlungen, bei Abgabe einer falschen uneidlichen Aussage, bei ein¬
facher Körperverletzung, Beleidigung, Nahrungs- und Genußmitteldiebstahl, Fisch-
wilderei und bei allen Übertretungen.
Der Gesichtspunkt, aus welchem der Vorentwurf die Grenzen zwischen
richterlicher Strafgewalt und königlicher Gnade verwischt, ist gewiß ein anerkennens¬
werter. Trotz aller Sorgfalt bei der Formulierung der Tatbestände der einzelnen
Delikte läßt es sich nämlich nicht ausschließen, daß in außergewöhnlich gearteten
Fällen zwar die Begriffsbestimmung, nicht aber der Gedanke und Zweck des
Gesetzes zutrifft, so daß die im Gesetz vorgesehene Strafandrohung an sich oder
nach Art und Maß als eine Härte empfunden wird. Solche Fälle ergeben
Verurteilungen, die als unbillig angesehen werden und die öffentliche Meinung
gegen die Rechtspflege verstimmen. Es muß auch zugegeben werden, daß sich
solche Fälle durch keine Mühe bei Fassung der gesetzlichen Begriffsbestimmungen
vermeiden lassen. Dies reicht aber meines Erachtens zur Schaffung einer so
weitgehenden diskretiouären richterlichen Gewalt, wie sie Z 83 V.E. vorsieht,
nicht aus. Der Mißbrauch, der aller Voraussicht nach mit dieser Bestimmung
getrieben werden wird, wird ihren Nutzen bei weitem überwiegen. Der Vor¬
entwurf glaubt hier den Mißbrauch dadurch ausschließen zu können, daß er den
Begriff des besonders leichten Falles definiert. Er erklärt einen solchen nur
für vorliegend, wenn die rechtswidrigen Folgen der Tat unbedeutend sind und
der verbrecherische Wille des Täters nur gering und nach den Umständen
entschuldbar erscheint, so daß die Anwendung der ordentlichen Strafe des
Gesetzes eine unbillige Härte enthalten würde. Aber sind nicht bei den meisten
Übertretungen die Tatfolgen unbedeutend und der verbrecherische Wille gering?
Kann nicht ein zur Milde geneigtes Gericht solche Übertretungen so oft es will
entschuldbar und die gesetzliche Strafe für zu hart befinden? Man erinnere sich
nur der Neigung unserer Geschworenen, schon heut, wenn das Gefühl mit
ihnen durchgeht oder ein geschickter Verteidiger sie zu fasziuieren versteht, sich
über das Recht hinwegzusetzen und eine klare Schuldfrage zu verneinen, weil
sie von diesem Angeklagten jede Strafe oder eine bestimmte Strafart fernhalten
wollen. Der Laie ist eben vielfach noch nicht juristisch reif genug, um
Recht und Gnade auseinanderhalten zu können. Grade in demselben Augen¬
blicke, in welchem die neue Strafprozeßordnung alle erstinstanzlichen Gerichte mit
Laien durchsetzt, soll die Kompetenz dieser neuen Gerichte bis zur Begnadigung
erweitert werden! Nun lasse man, wie es unvermeidlich sein wird, die Gnade
des ß 83 in einer Reihe von Fällen Angehörigen der wohlhabenden Stände
zuteil werden, und das Geschrei, daß die Gerichte Klassenjustiz treiben, wird
überhaupt nicht mehr zum Verstummen gebracht werden können. Aber wenn
selbst diese Rücksicht unbeachtlich erscheinen sollte, so bleiben doch noch zwei
andere Gesichtspunkte, welche meines Erachtens zwingend gegen die Einführung
eines richterlichen Gnadenrechts sprechen.
Einer der Hauptzwecke und Wirkungen der verkündeten Strafgesetze auf die
Volkspsyche ist die Abschreckung. So wie wir in unseren Grubenbezirken die
vom Bergbau unterwühlten Grubenfelder mit einem Drahtzaun umgeben und
Tafeln mit gemaltem Totengebein aufrichten, zum Zeichen dessen, daß jeder,
der diesen Zaun übertritt, Gefahr läuft, rettungslos zu versinken, so soll das
Strafgesetz wie eine Warnungstafel aufgerichtet sein, daß jeder, der es wagt,
es zu übertreten, notwendig der Strafe verfällt. Wenn heute das Mädchen,
dem zum ersten Male das Gelüst kommt, ausgelegte Eßwaren zu stehlen, die
Dame, welche wünscht, eine Nebenbuhlerin durch einen anonymen Brief zu
kränken, die Burschen, welche die Lust verspüren, ohne Not den Feuermelder zu
ziehen, wenn alle diese den Kampf zwischen ihren religiösen und moralischen
Hemmungen einerseits und ihrer verbrecherischen Neigung anderseits kämpfen,
so fällt gegenüber der Strafandrohung des Gesetzes in der einen Schale in die
andere Schale nnr die Hoffnung, daß sie bei ihrer Tat nicht ertappt werden.
Kommt aber nach dem Neuen Rechte noch die Hoffnung hinzu: „und wenn du
ertappt wirst, so bist du ja unbestraft, und da kann dein Fall wohl so leicht
angesehen werden, daß das Gericht von einer Strafe überhaupt absieht —" —
wie oft wird dann die schwarze Schale des Entschlusses zum Verbrechen sinken,
wo sie in früheren Fällen ohne dieses Übergewicht nicht gesunken wäre. Darüber
wird sich natürlich nie eine Statistik aufstellen lassen. Aber wenn man jahre¬
lang mit dein kriminellen Teile des Publikums zu tun gehabt hat. so weiß
man, wie oft dieses vor der Tat eine Kalkulation über die zu erwartende
Strafe anstellt und nach dem Ausfall dieser Schätzung (es kostet ja nnr 30 Mark
oder nur acht Tage) sich zur Tat entschließt oder sie unterläßt. Demgegenüber
scheint die absolut angedrohte Strafe denn doch unentbehrlich.
Weiter noch ein anderes. Man kann es jeden Tag vor den Straf-
abteilnngen unserer Gerichte beobachten, wie der durch die Tat Verletzte sich
ganz als Partei im Sinne eines Zivilprozesses und nicht als Zeuge fühlt und
wie er den Ausgang dieses Prozesses je nach Verurteilung oder Freisprechung
des Angeklagten als persönliche Genugtuung oder als Kränkung empfindet. Die
Vorstellung von den öffentlich rechtlichen Gesichtspunkten, unter denen die Strafe
verhängt wird, hat im Volke noch wenig Fuß gefaßt. Und nun vergegen¬
wärtige man sich, daß das Gericht feststellt, der Angeklagte habe sich einer
Beleidigung oder einer Körperverletzung oder einer Verringerung des Grund¬
stücks durch Abpflügen des Grenzrains schuldig gemacht, der Fall liege aber so
leicht, daß der Angeklagte sür straffrei erklärt werden könne, so wird der Ver¬
letzte das nie begreifen und an der Gerechtigkeit unserer Rechtspflege irre
werden. Gewiß sind z. B. die kleinlichen Schimpfereien, wie sie zwischen Weibern
der niederen Stände gang und gäbe sind, Bagatellsachen, bei denen man als
Richter das Empfinden hat, daß mit ihrer Verhandlung fast das Amt herab¬
gewürdigt wird. Allein die Verletzten lassen sich doch von der Privatgenugtuung
nur abhalten, wenn ihnen der Staat, und sei es auch nur mit einer Geldstrafe
von 3 Mark, Genugtuung verschafft. Sollte künftig eine Reihe Verletzter vom
Gericht heruntergehen müssen mit dem Empfinden, die mir mit dein Worte
„Lump" oder „Hure" zugefügte Beleidigung ist für so geringfügig erachtet
worden, daß der Beleidiger für straffrei erklärt worden ist, dann werden sich
die Privatgenugtuungen in Form von Körperverletzungen erschreckend mehren.
Welches Wasser würde vollends mit dieser Praxis auf die Mühle der Duell¬
freunde geleitet. Mit wie viel mehr Anschein von Recht würden sie sagen, wir
müssen uns unsere Genugtuung für Beleidigungen mit Säbel und Pistole holen,
da wir andernfalls gewärtigen, daß der Beleidiger straffrei ausgeht.
Als der Staat die Privatrache abschaffte und die Vergeltung in seine Hand
nahm, übernahm er als Korrelat dazu die Pflicht, dort zu strafen, wo er eine
strafbare Handlung festgestellt hat. Ergebt dabei einmal ausnahmsweise eine
Verurteilung, welche nur dem Buchstaben eines Strafgesetzes entspricht, seinem
Geiste aber widerspricht, so mag die Einrichtung der Begnadigung den erforder¬
lichen Ausgleich Herstellen. Sollte übrigens die neue Strafprozeßordnung an
Stelle des jetzigen Anklagezwanges das Opportunitätsprinzip übernehmen, nach
welchem die Staatsanwaltschaft in geeigneten Fällen von der Anklage absehen
darf, so ist vollends für die Straffreiheitserklärung des § 83 kein Bedürfnis
vorhanden.
NW
^Ä^^^Fle kunstgewerbliche Reformbewegung hat sich in Deutschland durch¬
gesetzt. Wir können wieder mit handwerklichen Kunstformen auf
^ den Weltmarkt treten, die eine allgemeine Geschmackskonkurrenz
nicht zu scheuen brauchen. Wie sehr das Ausland und insbesondere
Frankreich, das Stammland der kunstgewerblichen Versorgung des
feineren Bedarfs im abgelaufenen Jahrhundert, die deutsche Nebenbuhlerschaft
fürchtet, zeigte sich erst jüngst, als die Nachricht einer deutschen kunstgewerblichen
Sonderausstellung in Paris die französische Presse alarmierte. Seit der letzten
Pariser Weltausstellung, noch deutlicher vielleicht seit den Eindrücken von Chicago,
fühlen sich die Franzosen ihres Marktes nicht mehr sicher. Sie haben ihn so
lange beherrscht, daß ein Wechsel in der Vormachtstellung gewiß nur gerecht wäre.
Ist Deutschland heute schon geschmacklich ausgereift und wirtschaftstechnisch organisiert
genug, um das französische Erbe anzutreten?
Denkt man an die Ausstellungen unseres Kunstgewerbes während der letzten
Jahre zurück, so ist man zur Bejahung der Frage geneigt. Aber Ausstellungen
sind letzten Endes doch nur halbe Beweise. Sie stellen Angebote zur Schau,
für die in sehr vielen Fällen nur ideale Abnehmer in Frage kommen. So
etwas wie eine Fata Morgana von künstlerischen Raumphantasien, von zierlichen
und kapriziösen Einfällen zieht an uus vorüber, edle und köstliche Materialien
entzücken uns, aber letzten Endes besteht doch überwiegend der Eindruck, daß
hier eine kostspielige, eine Luxuskunst für eine recht dünne Oberschicht des Volkes
geschaffen wird. Ich leugne nicht, daß dieser Eindruck durch gewisse Bestrebungen
der letzten Jahre zur Billigkeit hin gemildert worden ist, und daß die neuen
Gebrauchsformen auch in der gebildeten Mittelschicht Eingang gefunden haben.
Ihre wirtschaftliche Rentabilität geht am deutlichsten daraus hervor, daß die
Kunstindustrie immer aufs neue versucht, aus den Neuschöpfungen der Künstler
durch Nachahmung für die Masse Kapital zu schlagen.
Das ist und war nun recht eigentlich durch all die letzten Jahre einer
äußerlich so regsamen Entwicklung der kritische Punkt der ganzen Reformbewegung.
Wir mußten wünschen, daß die Veredlung des Geschmacks nicht Sonderbesitz
einer Klasse von gut sttuierten Leuten bleibe, umßteu und aller Entschiedenheit
auf die Volkstümlichkeit des „neuen Stils" — wenn mau ihn der Kürze halber
so nennen darf — hinarbeiten. Wir glaubten zu Anfang, dieses Programm
unter gänzlicher oder teilweiser Ausschaltung der Industrie und durch Rückkehr
zur Handarbeit erfüllen zu können. Das war ein Irrtum, dessen bedenkliche
Folgen uns die englischen Reformer, mit Ruskin an der Spitze, hätten lehren
können; und es war gut. das; dieser Irrtum von kurzer Dauer war. In: Zeit¬
alter der Maschine die Industrie zu den überwundenen Arbeitsformen werfen zu
wollen, wäre ein Unding. Aber wenn sie nicht ausgeschaltet werden kauu, wo
es sich um die Befriedigung des Massenbedarfes handelt — wie kann sie mit
ihren spezifischen Kräften der technischen Vollendung und Exaktheit ästhetisch
wirksam eingeschaltet werden? Das war die weitere Frage. Und daß mit ihr
nicht nur eine technologische Sonderfrage, sondern eine volkswirtschaftlich wie
ästhetisch gleich bedeutsame Lebensfrage des neuen Stils gestellt war, scheu wir
jetzt mit zunehmender Klarheit ein.
Es handelt sich also, kurz gesagt, um die Eroberung der Industrie durch
dieselben Prinzipien, die unser Kunsthandwerk zu einem so erfreuliche,! Siege
geführt haben. Die Industrie ihrerseits hatte mit raschem Instinkt begriffen,
daß sie sich das Neue auf irgendeine Weise aneignen und zunutze machen müsse.
Leider fing sie es verkehrt an und ahmte nach, was unnachahmlich ist, und
nieder dem besonderen Arbeitsverfahren, noch dem jeweiligen Material der
Industrien zugedacht war. Diese Schuellfertigkeit hat sich schnell gerächt und
fast der gesamten deutscheu industriellen Erzeugung, soweit sie sogenannte Kunst¬
produkte schafft, den ohnehin schon recht schwachen ästhetischen Kredit bei allen
urteilsfähigen Leuten uoch gründlicher entzogen.
Es fehlte in den Interessentenkreisen der Industrie aber uicht an Ein¬
sichtigen, die den Fehler gutzumachen trachteten und sich entschlossen, dort anzu¬
klopfen, wo auch das Handwerk seine Kräfte neu belebt hatte: bei den Künstlern.
Freilich: niemand kann über seine Vergangenheit hinweg. Der industrielle
Unternehmer wollte auch dem angestellten Künstler gegenüber Herr im Hause
sein und sah in ihm zumeist doch nicht viel mehr als einen bessern Muster¬
zeichner, dein er, da er ihn bezahlte, in Streitfällen durch seiue erprobte geschäft¬
liche Erfahrung, durch seine Kenntnis der Bedürfnisse des Publikums glaubte
das Richtige vorschreiben zu können. In einer solchen schiefen Stellung aber
konnte sich auf die Dauer kein wirklich schöpferisches Talent frei entfalten oder
wohlfühlen. Und so schieden beide Parteien, nach manchen mißglückter Ver¬
suchen, nach mancherlei Aufwand an redlichem Willen, an Zeit und Geld von¬
einander, um aufs neue die alte Gegnerschaft zu betonen: hie Kunst, hie
Industrie.
Auf der Frankfurter Tagung des Deutschen Werkbundes im Herbste 1909
hat Henry van de Velde diese Situation mit folgenden Worten gekennzeichnet:
„So wie die Dinge heute stehen, hat das Eingreifen der Künstler die deutsche
Industrie noch nicht sehr stark beeinflußt; sie ist wohl bereit, die Erfindergabe
des Künstlers auszunützen und seine Fähigkeit, ihr neue Formen und Ornamente
zu schaffen, aber sie wehrt sich noch dagegen, seine Moral und seine Sorge für
gute Ausführung und fiir die Anwendung von tadellosem Material anzunehmen.
Ein solches Resultat muß negativ sein und unbedingt zu der Schlußfolgerung
führen, daß das Eingreifen der Künstler gar nichts vermocht hat; weder wurde
dadurch das Schicksal der neuen Formen und Ornamente gesichert, noch half es
dem Industriellen gegen die ausländische Konkurrenz."
Es fehlte innerhalb der Industrie nicht an Stimmen, die von der Beteiligung
der Künstler an industriellen Erzeugnissen überhaupt nichts hielten. Wozu das
alles? fragten sie. Wenn wir unsere gediegenen technischen Erfahrungen in ein
gutes Material verarbeiten, so muß auch ohne besondere künstlerische Prinzipien
etwas entstehen, was sich sehen lassen kann. Die zweifellose Wahrheit, die in
dieser Erwägung liegt, und die sich besonders an den vortrefflichen Erzeugnissen
der deutschen Maschinenindustrie erprobt hat, wird nicht umgestoßen, wenn wir
sagen: eine Maschine, die richtig konstruiert, ohne Materialverschwendung zweckvoll
gearbeitet und überdies noch schön gestaltet ist, wird notwendig wertvoller
erscheinen als eine andere Maschine, der diese schöne Gestaltung abgeht. Es
gibt immerhin auch unter den scheinbar so reinen Nützlichkeitsprodukten, als die
die Maschinen gelten, solche, bei denen die Gestalt ihr Wort mitspricht und die
wirtschaftliche Bewertung des Erzeugnisses mitbestimmt. Oder allgemeiner gesagt:
auch auf dem unübersehbaren Felde der industriellen Massenproduktion ist das
Bestreben nach Form und Farbe, den Urelementen der bildenden Künste, allgemein
und kann zu besseren oder schlechteren Ergebnissen führen.
Man darf freilich der Industrie keinen Vorwurf aus ihrer Unterschätzung
der ästhetisch bildenden Faktoren machen — waren doch zu Beginn der allgemeinen
Geschmacksreform die rationalistischen Wortführer diejenigen, die an? glaubhaftesten
das nüchterne Evangelium der reinen Zweckform predigten. Eine Sachlichkeit
wurde verlangt, die auf all und jede Beteiligung der schöpferischen Formen¬
phantasie verzichten zu können glaubte. Kunst ist, was zweckmäßig und material¬
gerecht ist und jede Zutat vermeidet, die nur dekorativ, nicht durch den praktischen
Gebrauch des Dinges gerechtfertigt ist. Wären wir auf diesem Wege weiter
gegangen, so hätten wir unfehlbar beim Normalhanse für den Normalmenschen,
bei der Normalkaffeetasse, dem typischen Besteck, dem einzig zweckgercchten
Tischtuch, dem Normalsessel und den verschiedenen genau bestimmten Typen des
proletarischen, des bürgerlichen und des feudalen Sofas anlangen müssen. Wir
wären mit dieser nüchternen Ökonomie unserer Gebrauchsdinge geschmacklich ans
einem ähnlich toten Punkte angelangt, auf dem die erste deutsche Gewerbe-
ausstellung zu Berlin im Jahre 1844 zu stehen schien. Dort erhielt der ver¬
goldete Armlehnstuhl mit Musik eines königlichen Hoftapeziers die , goldene
Medaille, und die Jury urteilte über die Rarität merkwürdig genug: „Diese
Arbeiten waren unstreitig die vorzüglichsten ihrer Art. . . das einzige, was als
wünschenswert bezeichnet wurde, war, daß an dem Sessel das Musikwerk statt
in dem Sitz an der Rücklehne hätte angebracht sein müssen, um es willkürlich
in Tätigkeit zu setzen. . . ." So gut wie hier durch eine sinnlose Häufung
verschiedener Dinge und Motive das ästhetische Prinzip überspannt war, so gut
mußte es bei der puritanischen Forderung der absoluten Beschränkung auf das
typisch Zweckmäßige zusammenbrechen.
So lagen die Dinge, als im Jahre 1907 einer der bedeutendsten industriellen
Betriebe Deutschlands, die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft in Berlin, einen
der namhaftesten Künstler der modernen Richtung. Professor Peter Behrens. als
künstlerischen Beirat berief. Man war etwas verblüfft über dieses unerwartete
Vorgehen einer Weltfirma, der man einen künstlerischen Ehrgeiz bei der Herstellung
ihrer Produkte zu allerletzt zugetraut hätte. Die Konkurrenz meinte zunächst,
es sei ein Reklametrick. Wohlwollende Leute sagten, die A. E. G. habe eine
derartig kostspielige Reklame gar nicht nötig, denn ihre Arbeiten, die Dynamo¬
maschinen, Turbinen, Kleinmotoren, die elekttischen Kraftanlagen für Städte und
Fabriken, für Schiffe und Luftschiffe, für Telegraphen- und Telcphonapparate,
die Bogen- und Glühlampen, Ventilatoren und sonstiges elektrisches Kleingerät
all das sei ja technisch vollendet durch sich selbst und bedürfe keiner künstlerischen
Reform. Inzwischen hat Peter Behrens durch annähernd drei Jahre im Bunde mit
der technischen Industrie gearbeitet, und die Resultate, die heute vorliegen, sind
der schönste Beweis dafür, daß die Kunst auch bei diesen praktischen Dingen
kein Luxus ist, sondern eine recht wichtige Mission zu erfüllen hat.
Das einfachste Beispiel dafür sind die mannigfachen Kleingeräte der elektrischen
Beleuchtungsindustrie. Peter Behrens hat sie in ganz kurzer Zeit und mit den
einfachsten Mitteln so wirksam umgeformt, daß wir heute kaum mehr begreifen,
wie man früher die reichverzierte Armatur der großen Bogenlampe, ihre barocken
Schnörkel, Blattornamente und Henkel hat ertragen können. Behrens reduziert
ihre Form auf eine in Kontur ganz leicht bewegte konische Röhre, die sich am
unteren Ende zum Reflektor erweitert und die leuchtende elektrische Kugel gleichsam
herausquellen läßt. Er entwirft eine Bogenlampe für indirektes Licht; technisch
bedeutet sie nichts weiter als eine Kombination reflektierender Flächen, für den
Künstler wird sie ein Gefäß für das Licht, eine schön geschwungene Schale. Der
Ventilator war bis dahin ein plumper Geselle, aus grobem Kunstguß hergestellt
und mit schwerfälliger Linienornamentik bedeckt. Der Künstler schafft glatte
Flächen, ebenmäßige rhythmische Verhältnisse der verschiedenen Zweckteile, die es
auch bei dieser scheinbar so unbeträchtlichen Sache zu unterscheiden gibt. Er
entwirft Wasserkessel und Uhren, metallene Heizkörper und Umkleidungen für
elektrische Widerstände, er zeichnet die Fabrikmarke der A. E. G. in verschiedenen
Variationen, in rhythmisch klar verbundener Schrift, und erstreckt seine Fürsorge
bis ans die Druckanordnimg und die Farbengabe der illustrierten Prospekte ..seiner"
Firma'.' Nicht genug an dem, er entwirft und baut gemeinsam mit den Ingenieuren
des Werkes, die ihm den Grundriß vorarbeiten, gewaltige Turbinenhäuser,
imponierende Fabrikbauteil aus Eisen, Glas und Belon, in denen wir zum
erstenmal wirklich schöne Möglichkeiten auch für diese scheinbar so durch und
durch profane bauliche Aufgabe der Gegenwart ahnen.
Wenn irgendwo, so beweist sich auch hier wiederum der alte Satz zu Recht,
daß der Mensch mit seinen größeren Zwecken wächst. Das Eisen als Baumaterial
ist uns heute, trotz aller Versuche der jüngsten Zeit, bei weiten: nicht halb so
geläufig wie etwa Stein oder Holz. Wir wissen um die außerordentliche Trag¬
fähigkeit und Elastizität des Metalls, wissen theoretisch darum, aber fühlen in
den meisten praktischen Fällen, wo uns das eiserne Baugerippe entgegentritt,
keine rechte ästhetische Befriedigung. Man ist nicht müde geworden, zu wieder¬
holen, daß hier die mangelnde Gewöhnung des Auges schuld sei, und daß eine
neue Generation die konstruktiven Leistungen unserer Techniker bei Brücken- und
Hallenbauten nicht nur als technische, sondern auch als tektonische Formensprache
werde besser zu würdigen wissen als wir. Sieht man die neuen Fabrikbauten
von Behrens an, so erscheint es gewiß, daß mit der technischen Umhüllung,
sozusagen der Abgrenzung eines Raumes von der umgebenden Welt, wie sie
die bisherigen Gerüstbauten in der Regel darstellen, noch keine architektonische
Lösung gegeben sei.
Über die jetzt fertiggestellte Berliner Turbinenfabrik sagt der Künstler selbst:
„Für den Aufbau der Haupthalle war die architektonische Idee maßgebend, die
Eisenmassen zusammenzuziehen, und nicht, wie es der üblichen Gitterkonstruktion
eigen ist, sie aufzulösen. Dadurch sollte dein Rauminnern ein allseitig geschlossener
ständiger Abschluß gegeben werden, um so die Übersichtlichkeit der architektonischen
Proportionen zu geben, die allein die domartige Weiträumigkeit begünstigen kann."
Wir sehen, wie auf niedrigem Ziegelfundament die schmalen eisernen Binder
pfeilerartig bis zu einer Höhe von achtzehn Metern unters Dachgesims empor¬
steigen. Die in schmale Rechtecke geteilten riesigen Feusterflächen aber folgen
den Pfeilern nicht streng vertikal, sondern neigen sich schräg ins Gebäude hinein.
Dadurch gewinnt die weite Wandfläche zunächst eine überaus kräftige Schatten¬
wirkung, die besonders gut durch den tiefen Gesimsschatten des Daches gesteigert
wird; dennoch wird der Flächencharakter einer abschließenden Wandung durch
die vortretenden eisernen Binder nicht zerrissen, sondern eher in gleichmäßigem
Rhythmus verstärkt. In betonten Gegensatz zu dieser Flächenteilung ist die
Giebelseite ohne jedes Hervortreten des eisernen Knocheniverkes durch ein riesiges,
in drei Teilen und schmalen Feldern aufsteigendes Glasfenster betont, zu dessen
beiden Seiten eine horizontal gegliederte Betonfülluug die Ecken des Gebäudes
wuchtig abrundet. Außerordentlich reizvoll erhebt sich über diesem Unterbau die
vollständig geschlossene Stirnseite des Daches, nicht etwa, wie es bisher bei
Eisenkonstruktionen üblich war, in rundem Bogen, sondern in flach gebogenem
Siebeneck. Und wie im Äußern alles mit großer Entschiedenheit in bündige
Ebenen zusammengezogen und durch deren Verschiebung kontrastiert ist, so zeigt
sich auch beim Blick in die überaus lichte und freie Wölbung des Innern, daß
hier keine nüchterne Glashalle mehr das Ziel war, sondern ein organisch
gestalteter, ständig begrenzter Raum, ein Stück Raumkunst.
Wenn auch der rechteckige, anspruchsloser geformte Nebenbau den Gesamt¬
eindruck dieses eigenartigen Fabrikgebäudes nicht gerade hebt, so muß man doch
sagen, daß hier rein aus den Raumbedingungen der großen Werkstätte heraus
ein bauliches Monument der Arbeit von Peter Behrens geschaffen worden ist.
Und noch entschiedener fast kommt die monumentale Absicht zum Ausdruck beim
Entwurf für eine Fabrik in der Brunnenstraße. Wer dächte bei diesen groß
gegliederten Baumassen, die ihr eisernes Knochengerüst trotz der etwas reichlicher
angewendeten Betonfüllung keinen Augenblick verleugnen, noch an die draht¬
mäßigen und zerbrechlichen Eisenkonstruktionen, die uns die jüngste Vergangen¬
heit als höchste Leistungen der Ingenieurkunst gegeben hat? Auch hier ist,
ebenso wie bei dem vorigen Bau, auf jeden plastischen wie ornamentalen
Schmuck verzichtet worden. Lediglich der fein verteilte Rhythmus der kleinen
und großen Raumkörper, der vertikalen und horizontalen Linien, der Wechsel
von stützenden und füllenden Flächen macht diese wirklich baumeisterliche Phantasie
unserer Zeit so schön.
Es ist begreiflich, daß die Arbeiter der A. E. G. für die Schönheit dieser
Neubauten empfänglich sind und den Wunsch haben, lieber hier als in ihren
alten Werkstätten zu schaffen. Das ist freilich für die meisten der vierunddreißig-
tausend Arbeiter vorerst ein frommer Wunsch. Mit welchen Zahlen die A. E. G.
sonst aufwarten kann, ist lehrreich genug: 44 Millionen Mark Löhne, 114
Millionen Mark Rohmaterialien, eine Viertelmilliarde Mark Umsatz im Jahr.
Bei solchen: Betriebsumfange kann auch die soziale Fürsorge besondere und
vorbildliche Form gewinnen: wie ich höre, ist Behrens schon dabei, für
zweitausendfünfhundert Angestellte des Betriebes den Bebauungsplan einer
Gartenstadt zu entwerfen, die in der Nähe des Tegeler Kanals errichtet werden
soll. Man sieht, die A. E. G. bleibt nicht bei halben oder kleinen Maßnahmen
stehen, sie schafft ganze Arbeit. Vermutlich hat sie ihre Rechnung bestätigt
gefunden, daß die richtig verwendete künstlerische Kraft auch für ein industrielles
Unternehmen keine Luxusausgabe, sondern einen geschäftlichen Gewinn bedeutet.
Sie ist so weit gegangen, die alten Modelle für ihre elektrischen Kleingeräte zu
vernichten und lediglich nach den Entwürfen von Behrens zu arbeiten. Wer
diese neuen Formen nicht will, der mag zur Konkurrenz gehen. Daß diese
neuen Formen freilich in der Herstellung billiger sein dürften als die dekorierten
alten, mag bei der geschäftlichen Erwägung dieser Neuerung auch angesprochen
haben.
Mir scheint, wir können uus in jeder Hinsicht zu dem Vorgehen der A. E. G.
Glück wünschen. Ein jeder Arbeitsprozeß führt, wenn er richtig verläuft, zur
Materialveredlung. Volkswirtschaftlich betrachtet kommt es darauf an, diese
Veredlung so hoch emporzuträgeu wie nur möglich. Technische Zweckvollendung,
wie sie die deutsche Industrie heute glücklicherweise auf manchen Gebieten
erreicht hat und in scharfem Konkurrenzkampfe behauptet, ist gewiß ein erfreulicher
Erfolg nationaler Arbeit. Aber die Zeit ist vielleicht nicht fern, wo andere
Nationen uns die technische Vollendung nachgemacht haben, wo sie, durch bessere
Produktionsbedingungen, durch billigere Arbeiter und bequemer erreichbares
Rohmaterial begünstigt, uns aus dem Felde schlagen werden. Was entscheidet
dann? Können wir dann zu allem übrigen Guten, das wir zu bieten haben,
noch eine individuelle und unnachahmliche künstlerische Form in die Wagschale
werfen, so wird die deutsche Industrie den Ruhm einer wirklichen Kunstindustrie
gewinnen, den sie heute leider noch nicht besitzt. Es ist das außerordentliche
Verdienst der A. E. G., die Bedeutung dieses Gedankens zuerst im Kerne erfaßt
und seiner Verwirklichung durch ein mutiges und konsequentes Vorgehen vor¬
gearbeitet zu haben. ,
und in Deutschland gibt es seit geraumer Zeit eine Bewegung
gegen den Mißbrauch — wohlverstanden gegen den Mißbrauch
— des Genusses geistiger Getränke. Keinem halbwegs vernünftigen
Menschen wird es in den Sinn kommen, gegen derartige
Bestrebungen auch nur ein Wort der absprechender Kritik oder gar
des Spottes zu äußern — vorausgesetzt allerdings, daß diese
Bestrebungen sich auch wirklich im Rahmen der Mißbrauchs- resp. Unmüßigkeits-
bekämpfung halten. Man kann sich auch mit den Bestrebungen derjenigen Alkohol¬
gegner und sogar der wirklichen Abstinenten einverstanden erklären, welche ihre
Agitation auf die Bekämpfung der Trunksucht und die Rettung der ihr Ver¬
fallenen beschränken. Auch wenn Leute, welche außerstande sind, im Genusse
geistiger Getränke Maß zu halten, aber Verstand genug haben, diese ihre
Schwachheit selbst einzusehen, auf deren Genuß ganz und gar verzichten, dann
ist das in hohem Grade lobenswert und man sollte sich hüten, sie deshalb noch
zu verspotten. Nur geht das im Grunde genommen niemand etwas an, und
diese aus Angst vor der eigenen Schwäche oder aus Abneigung vor dem Alkohol
im allgemeinen Abstinenten sollten dann nicht so viel von Selbstgefälligkeit und
Selbstgerechtigkeit strotzenden Aufhebens davon machen. Wenn Müller oder
Lehmann keinen Varinasknaster rauchen mögen, wenn sie weder Tabak kauen
noch schnupfen, weil ihnen das nicht schmeckt oder weil es ihnen nicht bekommt,
so ist das doch für sie noch kein Grund, sich diese Enthaltsamkeit als ein besonderes
Verdienst anzurechnen. Noch toller aber wäre es, wenn nnn Lehmann und
Müller, weil sie nichts vom Tabak in irgendwelcher Gestalt wissen wollen,
nun allen anderen Leuten verbieten wollten, „schwartzen Reutter" zu rauchen,
„Schmalzler" zu schnupfen oder „Toise" zu kauen,
Ausgerechuet das aber ist es, was die amerikanischen Prohibitionisten nicht
nur denken, sondern auch tun! Sie tun das, indem sie die Herstellung, den Transport,
den Verkauf und den Ausschank aller geistigen Getränke gesetzlich verbieten und
mit schweren Strafen belegen. In mehr als einem Dutzend der etwa fünfzig
Staaten und Territorien der Union ist ihnen dies auch bereits gelungen. Und
durch ihre Siege berauscht (so unangebracht diese Wendung auch den Wasser¬
heiligen gegenüber sein mag!) sind sie gerade gegenwärtig am Werke, ihre
Herrschaft noch auf eine weitere Reihe von Staaten — besonders im Süden —-
auszudehnen.
Nun wäre ja eine derartige radikale Bewegung, die bereits große greifbare
Erfolge erzielt hat, in einer so tüchtigen und intelligenten Nation, wie
es das amerikanische Mischvolk doch ist, gar nicht denkbar und gar nicht
möglich, wenn nicht wirklich schwerwiegende Ursachen dafür vorhanden
wären. Selbst in den Reihen der Auti-Prohibitionisten gibt es viele, welche
zugeben. daß die übelstünde, welche der Alkoholkonsum in seinen verschiedenen
Formen nun einmal unleugbar im Gefolge hat, in den Vereinigten Staaten
tatsächlich größer und schlimmer sind als vielleicht irgendwo sonst, höchstens
mit der abermaligen Ausnahme von England, wo diese Übel noch ganz besonders
durch die so häufig vorkommende Trunksucht bei den — Frauen verschärft werden !
An Gründen und Ursachen für diese bedauerliche Tatsache fehlt es ja freilich
keineswegs, und die Prohibitionisten würden sich ein Verdienst erwerben und sie
würden ein gutes Werk tun, wenn sie gegen diese Gründe und Ursachen selbst
ankämpfen wollten, nicht aber gegen den maßvollen Genuß geistiger Getränke
an sich. Aber das füllt ihnen gar nicht ein. Ihr Gedankengang schlägt viel¬
mehr eine Richtung ein, die eine solche Stellungnahme von vornherein ausschließt.
Nach der Anschauung der amerikanischen Prohibitionisten ist überhaupt der
Trunkenbold, der Gewohnheitssäufer nicht zu tadeln, nicht zu verachten oder
gar zu bestrafen. Sondern: die Schuld, der Vorwurf, der Tadel, die Verachtung
und die Strafe haben sich ausschließlich zu richten gegen den Whiskey oder gegen
das Bier oder deu Wein usw., an dem sich das „arme, bedauernswerte Opfer
des Alkohols" seinen Gelegenheits- oder Gewohnheitsrausch angezecht hat. Es
sei denn, daß in zweiter Linie auch noch der Wirt, bei dem es sich in jenen
unwürdigen Zustand gebracht hat, außerdem und nebenbei dafür mit ver¬
antwortlich zu machen sei. Der Trunkenbold selbst aber ein für allemal und
ganz entschieden nicht!
So unsinnig diese Auffassung natürlich auch ist, so darf doch uicht ver¬
schwiegen werden, daß die Form des amerikanischen Trinklokals, des „Saloon"
oder des „Bar-Roon", in der Tat wenigstens einen Teil der Schuld, wenn
auch nur einen verhältnismäßig kleinen, an den übelständen trägt, welche die
amerikanischen Trinksitten und -gebrauche. resp, die Unsitten und Mißbräuche,
unleugbar im Gefolge haben!"
In einem Punkte allerdings muß man die „American Bar dem deutschen
Publikum, speziell dem Großstadtvuvlikum, gegenüber noch in Schutz nehmen,
selbst wenn man für die wirklichen Schäden und Mängel des amerikanischen
„Saloons" durchaus nicht blind ist. Denn in die wirkliche „American Bar"
kommen ausschließlich nur Männer, und zwar sowohl als Gäste wie auch als
„Bar-Tender", „Mixer" oder Kellner. Vergeblich würde man drüben in
einem „Saloon" die unglaublich frisierten jungen Damen mit dem stereotypen
süßen Lächeln suchen, welche in der überall anzutreffenden deutschen Nachahmung
der „American Bar" die Hauptattraktion zu bilden scheinen. Diese jungen
Damen von nicht unerschütterlichen Grundsätzen, welche sowohl im Urinieren,
wie auch in der eigenen Leistungsfähigkeit und Trinkfestigkeit das Menschen¬
möglichste leisten sollen, müssen offenbar ausschließlich die Anziehungskraft
ausüben, denn das Höllengebräu, das sie unter allerlei amerikanischen Namen
aus greulichen Ingredienzen zusammenmischen, wäre dazu wohl kaum angetan.
Aber auch ohne diese weibliche Animiernng fehlt es den: wirklichen
amerikanischen „Bar-Roon" nicht an ganz bedenklichen Schäden. Dahin gehört
in allererster Linie die Unsitte des „Treating" oder des Traktierens — ein
ganz allgemein im ganzen Lande betriebener Unfug, im Vergleiche mit welchen:
alle Abgeschmacktheiten des deutscheu akademischen „Comments" — einschließlich
von „Bierjungen" und „pro poena-Spinnen", noch recht harmlos und belanglos
sind. Wie bei so vielen Untugenden und Mißbräuchen, so handelt es sich auch
hierbei um die Übertreibung einer an sich ganz schönen und löblichen Sitte,
um die Ausartung eines an sich schönen Zuges im amerikanischen Volksleben,
uümlich um den der Gastlichkeit, der Geselligkeit, der Liberalität, des Wunsches,
„zu leben und leben zu lassen". Aber zu was für greulichen und abscheulichen
Mißbräuchen hat das geführt.
Man ersetzt am besten hierbei langatmige theoretische Auseinandersetzungen
durch ein praktisches Beispiel aus dem alltäglichen Leben!
Also: Es ist ein heißer Vormittag. Ich habe etwas auf der Post zu
tun gehabt und befinde mich auf dem Rückwege zum Bureau, zur „Office". Da
verspüre ich starken Durst und beschließe, um ihn zu löschen, in einen „Saloon"
zu treten, an dem ich vorbeikomme und — an der „Bar", dein Schanktische
stehend — ein Keines Glas Bier zu trinken, einen „Schnitt", für den man
hierzulande, auch noch nach dem Preisaufschlage, höchstens 10 Pfennig zu
bezahlen hätte. Aber, o weh! Sobald ich die uur die Mitte der Tür¬
öffnung quer ausfüllende Klapptür geöffnet habe, bemerke ich, daß schon drei mir
bekannte — wenn auch uur ganz oberflächlich bekannte — Herren an der „Bar"
stehen, Mr. Smith, Mr. Jones und Mr. Brown. Letzterer hat soeben drei
Glas Bier bestellt. Sobald er mich erblickt, grüßt er kurz, aber höflich und
ruft mir zu: „Olac! to see pou!" „Freue mich sehr, Sie zusehen" „Lome
on auel take one vitti U8!" „Trinken Sie ein Glas mit uns!" Würde
man nun diese freundliche Einladung ablehnen, so würde man sich dadurch
einer ganz gröblicher Beleidigung schuldig macheu.
Ich habe es in einer kleinen Stadt im westlichen Texas erlebt, daß eine
Ablehnung von selten eines der Landesbräuche noch unkundigen arglosen
Fremden diesen um Haaresbreite das Leben gekostet hätte. Es handelte sich
dabei allerdings um eiuen Cowboy, der nach monatelanger harter und entbehrungs¬
reicher Arbeit von: Ramado in die Stadt gekommen war, den das ungewohnt
viele Geld, das er „gezogen" hatte, drückte und der nun in seiner „Seid
umschlungen, Millionen"-Stimmung den unwiderstehlichen Drang verspürte, die
ganze anwesende Gesellschaft zu traktieren, „to dread edle wliole cro>va" —
Bekannte sowohl, wie auch die völlig Unbekannten. Nur mit großer Mühe
gelang es uns damals, den etwas — aber keineswegs stark — angesäuselten
Cowboy davon zu überzeugen, daß der arglose Fremde, der „Grüne", der es
abgelehnt hatte, mit ihm zu trinken, — „Ich kenne ja den Mann gar nicht
einmal!" hatte der Unglücksmensch gesagt, — es wirklich nicht böse gemeint
habe und daß er ihn wirklich nicht beleidigen wollte, um ihn dazu zu bewegen,
sein bereits gelockertes Schießeisen wieder in die Tasche zurückzustecken. Um
die Abwesenheit jeder bösen Absicht zu beweisen, mußte der inzwischen einiger¬
maßen eingeschüchterte Fremdling aber gleich noch zwei mit dem Cowboy trinken.
Sonst hätte es doch noch Krakehl gegeben! Soweit wird es ja wohl in solchen
Fällen nur noch in: Westen kommen, der aber auch schon lange nicht mehr den
Namen des „Wilden" verdient, aber sehr große Unannehmlichkeiten kann man
sich durch eine solche Ablehnung selbst noch in Se. Louis, Chicago oder sogar
New Uork aussetzen.
Doch nun zurück zu unserem aus dem Leben gegriffenen Beispiel! Also
die von Mr. Brown nunmehr bestellten vier Gläser sind vor uns hingestellt
worden, aber noch ehe ich mein Glas geleert, hat Mr. Smith dem in schnee¬
weißem Pikeejackett prangenden Barkeeper zugerufen: ,,/motK.er rouncl, Lir,
plsase!" „Bitte, noch eine Runde!" Und nur wenige Minuten später erfolgt
dieselbe Bestellung von feiten des Mr. Jones. Nun ist aber dem ungeschriebenen
Sittenkodex zufolge die Reihe des Trccktierens an mir, wenn ich nicht etwa
in den argen Ruf kommen will, ein „cieacZ heat", ein „Nassauer", zu sein!
Eben aber habe ich bestellt, da treten noch vier Herren ein — ich kenne sie
zwar alle noch nicht, aber sie sind mit Jones und Brown bekannt und Brown
stellt sie nur vor als die Herren Jenkins, Harris, Sullivan und O'Hara. Wenn
ich nun nicht als rettungsloser Tölpel gelten will, der nicht die geringste Ahnung
davon hat, was sich schickt, so habe ich sie einzuladen: „PIsAZL, join us,
Mntlemen!" „Bitte, schließen Sie sich uns an!", eine Bitte und Einladung,
die selbstverständlich angenommen wird, worauf — ebenso selbstverständlich,
meinerseits die Frage zu folgen hat: „Was nehmen Sie?" Jenkins und
Harris begnügen sich mit Bier, aber Sullivau und O'Hara, als echte Söhne
der grünen Insel, ziehen Whiskey vor. Nun, nachdem „meine Runde" vertilgt
ist, glaube ich mich empfehlen und wieder meinen Geschäften nachgehen zu
können. Aber um erweist sich, daß Mr. O'Hara sehr beleidigt sein würde,
wenn ich schon gehen wollte, da wir uns doch kaum erst kennen gelernt hätten.
Nachher aber fragt Mr. Sullivan ganz gekränkt, warum ich denn gerade mit
ihm nicht trinken wolle. Und so weiter und so weiter. Und das Resultat
davon ist: anstatt des einen Glases Bier, das ich ursprünglich trinken wollte,
habe ich nolens volens deren acht trinken müssen. Für das eine Glas hätte
ich fünf Cents, gleich 20 Pfennig, auszugeben gehabt, so aber habe ich für
meine „Runde" K mal 5 Cents für Bier, also 1 Mark 20 Pfennig, und
25 Cents für zwei Gläser Whiskey — das Glas zu 16 Cents oder 60 Pfennig,
aber zwei Gläser für einen „Quarter", d. h. Vierteldollar, gleich eine Mark —,
also zusammen 2 Mark 20 Pfennig, ausgegeben. Außerdem habe ich anstatt
der beabsichtigten paar Minuten über eine Stunde Zeit versäumt, habe mir
den Appetit für das Mittagsmahl verdorben und mich obendrein auch noch
über all diesen leidigen Zwang geärgert! So kommt's aber, daß dieses
entschieden törichte System schließlich nicht einmal denen in Wirklichkeit Vorteil
bringt, in deren Interesse es erfunden und eingebürgert worden zu sein scheint:
nämlich den Wirten! Denn der vorsichtige und verständige Mann, dem diese
Form des Zwanges natürlich ebensowenig behagt wie jede andere Art der
Vergewaltigung, wird es daher vorziehen, den Besuch des „Saloons" ganz und gar
zu vermeiden und sich auf seinen Klub beschränken, wo er sich dagegen wehren kann.
Alle Versuche, diesen: übrigens ganz allgemein als unsinnig erkannten
Treat-System den Garaus zu machen, haben sich bisher als ganz fruchtlos
erwiesen — auch die Gründung von Amel-Träktier-Klubs, deren Mitglieder sich
durch äußerlich zur Schau getragene Abzeichen kenntlich machten. Selbst die
Mitglieder solcher Klubs sahen sich zu häufig durch die natürlich in allererster
Linie maßgebenden Geschäftsrücksichten gezwungen, Ausnahmen von ihren Grund¬
sätzen und deren Betätigung zu machen. Der dem Traktiersystem zugrunde
liegende Zug der Großspurigkeit im amerikanischen Volkscharakter hat sich stets
wieder als siegreich erwiesen, so daß man jetzt die — zumeist von den Deutsch-
Amerikanern befürwortete — Abweichung davon, das heißt also die verständige
deutsche Methode, daß jedermann nur so viel trinkt, als ihm paßt, aber auch
selbst dafür bezahlt, spöttisch als „OutcK-dread", also als „deutsches Traktier-
svstem" bezeichnet. Es kommt den guten Leuten dabei gar nicht darauf an,
daß DutcK gar nicht „Deutsch", sondern „Holländisch" heißt. Bekanntlich nennt
der Amerikaner den Deutschen mit Vorliebe „DutLkrimn", was aber schließlich
doch mehr durch den Wortanklang veranlaßt worden ist, als durch eine gering¬
schätzende Nebenabsicht.
Jedenfalls muß — wenn in diesem Zusammenhange auch nur beiläufig
— betont werden, daß der gebildete Amerikaner den sein Deutschtum hoch¬
haltenden Deutschen weder gering schätzt noch haßt, sondern ihn vielmehr sehr
hoch achtet, während er allerdings den Deutschen belächelt, der sein Deutschtum
nicht schnell genug abstreifen und nicht hastig genug in die Haut des „echten"
Amerikaners schlüpfen zu können vermeint! . . .
Aber das Traktiersnstem ist es nicht allein, welches den amerikanischen
„Saloon" in geradezu herausfordernder Weise zur bequemen Zielscheibe seiner
temperenzlerischen, respektive prohibitionistischen Gegner macht. Man kennzeichnet
die Eigenart des amerikanischen „Saloon" dem mit seinen Einrichtungen völlig
unbekannten Deutschen vielleicht am treffendsten dadurch, daß man ihn als das
fast in jeder Hinsicht direkte Gegenteil vom deutschen Wirtshause bezeichnet.
Im Gegensatze zu der behaglich mit Tischen, Stühlen und womöglich auch noch
mit Sofas allsgestatteten deutschell Wirtsstube — ich möchte gern das gräuliche
Wort „Restauration" oder auch das nicht viel schönere „Restaurant" ver¬
meiden! —, in der die Gäste ruhig und gemütlich Speise und Trank verzehren,
ist der „Saloon" ausschließlich Trinkstube! Und dabei ist der „Saloon" der
Regel nach ganz oder fast ganz ohne Tische und Stühle. Zumeist stehen die
Gäste an der „Bar", d. h. dem Schanktische, wo sie in einem Minimum von
Zeit ein Maximum von Getränken hinter die Binde zu gießen erfolgreich
bestrebt sind."
Zu essen bestellen kann man sich im „Saloon aber nichts. Anderseits
gibt es wieder in den amerikanischen Hotels oder Speisehäusern außer Kaffee,
Tee, Milch oder Wasser nichts zu trinken. Daraus erklärt sich das Erstaunen
der Europa bereisenden Amerikaner über den dort landesüblichen Trinkzwang
in den Hotels. Im Grunde genommen ist dieser ja ein ebensolcher Unfug auf
der einen Seite, wie es die amerikanischen Trinkverbote auf der entgegengesetzten
Seite sind.
Abgeholfen wird dem Mangel eines bestellbaren Imbisses in den amerikanischen
„Sciloons" jedoch durch die ganz eigenartige Einrichtung des „Frei-Lunch" zu
gewissen Tageszeiten. Es ist dies eine Einrichtung, über welche sich der „grüne",
d. h. neue Einwanderer zumeist mehr zu wundern pflegt als über alles andere
Neue und Eigenartige zusanunengenommen! Aber dieser völlig kostenfrei zur
allgemeinen Verfügung stehende Imbiß, der aus Brodschnitten, Wurst- und
Käsescheiben, Radieschen, Rettichen, grünen Zwiebeln, marinierten Heringen,
Quark, Kartoffel- und Krautsalat usw. usw. besteht, in einzelnen Fällen aber auch
warmen Braten und gebratene Austern aufweist, worin dann jeder mit derselben
Gabel herumstochert, ist nicht gerade nach jedermanns Geschmack! Auch ist der
„Frei-Lunch" nur als Schmackhappen gedacht und nicht zur Sättigung bestimmt,
weshalb die Mehrzahl der Gäste sich ausschließlich an die Getränke hält.
Anderseits aber hat diese seltsame Einrichtung schon manchem armen Teufel bei
Arbeits- und Verdienstlosigkeit über schlimme Fastenzeiten hinweggeholfen.
Verständige Wirte drücken dazu ein Auge zu — eventuell auch beide —, indem
sie denken: „Wenn er erst wieder was verdient, kommt er wieder und läßt
um so mehr springen!" In den meisten Fällen scheinen sie damit recht zu
behalten."
Wie verhält es sich nun mit den Getränken, die im amerikanischen „Saloon
zum Ausschau! gelangen? In den Städten mit starker deutscher Bevölkerung
oder in den hauptsächlich vom Deutschen bewohnten Vierteln der anderen
größeren oder mittleren Städte bildet ja vornehmlich auch das Bier das Haupt-
getrünk, sonst kann aber im allgemeinen immer noch der Whiskey als das
amerikanische Nationalgetränk gelten. Und während nun das amerikanische
Bier im großen ganzen etwa von gleicher Qualität ist wie die deutschen Biere
— etwa mit Ausnahme der Münchener und sonstigen besonders guten Export¬
biere —, so können die deutschen Spirituosen auch uicht im entferntesten an
die Qualität des amerikanischen Whiskey heranreichen. Jedenfalls nicht an den,
welcher in allen besseren Trinklokalen verabreicht wird. Daß es auch da sehr
verschiedene Qualitäten gibt, versteht sich vou selbst. Aber gerade darum, weil
der Whiskey soviel besser — und außerdem auch außerordentlich viel stärker
ist als der deutsche Schnaps, ist er auch um soviel gefährlicher als jener!
Man muß bei diesem Unistande ein wenig verweilen, weil der Nicht¬
Amerikaner es meist gar nicht verstehen kann, daß ein kulturell so hochstehendes
Volk, wie das amerikanische, sich zum Nationalgetränk den „schnöden Schnaps"
erwählen kann! Aber in der Tat unterscheidet sich guter alter „Kentucky Nye"
oder milder alter „Bourbon" von oftelbischem Kartoffel-Branntwein noch mehr,
als etwa Rüdesheimer oder Iohcmnisberger von Grüneberger oder gar von
Bomster Schattenseite! Dabei enthält reiner alter Whiskey über 90 Prozent
Alkohol — den kaum 33^ bis 35 Prozent gegenüber, welche beispielsweise
der Nordhäuser Kornbranntwein aufzuweisen hat.
Trotzdem vermögen alte Whiskey-Trinker Quantitäten dieses wahrhaftigen
Feuerwassers — bei dessen Genuß der dessen Ungewohnte tatsächlich die Empfindung
hat, als bewege sich ihn: ein Fackelzug die Gurgel hinab! — zu vertilgen, die
man nicht für möglich halten sollte. Und zwar scheinbar ungestraft lange
Jahre, ja Jahrzehnte hindurch. Daß sich solch Übermaß zumeist aber schwer
rächt, braucht wohl kaum erst besonders hervorgehoben zu werden.
Weit verführerischer und weit gefährlicher sind daher auch alle jene zahl¬
reichen echten amerikanischen Mischgetränke (— nicht deren Imitationen! —),
in deren Erfindung man drüben ganz Erstaunliches leistet. Sie alle — diese
„Cock-dans", „Whiskey-Punches", „Gin-Fizzes", „Mink-Juleps". „Sherry-
Cobblers", „Floats". „High Balls" und wie sie sonst noch alle in ihrer
bunten Mannigfaltigkeit heißen mögen! — sie munden ganz vortrefflich
und sind wohl auch — maßvoll genossen -— keineswegs schädlich, wohl aber
sind sie es um so mehr im Übermaße, zu welchen: sie durch die milde und
mundgerechte Art, in der der gewandte und gut geschulte „Mixologe" sie her¬
zustellen versteht, in ganz bedenklichem Grade verleiten!
Zudem wirkt der Umstand, daß der amerikanische Saloon ausschließlich von
Männern geführt und besucht wird, — ganz im Gegensatz zu der imitierten
„American Bar" nach Berliner und Hamburger Muster, — durchaus nicht
veredelnd auf die amerikanischen Trinksttten ein. Nur gerade die aller-
anrüchigsten Saloons machen von der Ausschließung der Weiblichkeit eine Aus¬
nahme. Und diese Ausnahmen sind denn allerdings auch danach. Es siud
das solche Lokale, welche in sogenannten besonderen „Wine-Rooms" — auf
„gut Deutsch" würde man sagen: „LKambres söpai'ses" — Damen
zweifelhaften — oder vielmehr schon nicht mehr zweifelhaften — Charakters
und ihrem Anhange Zulaß gewähren. In den meisten Staaten der Union sind
solche „Weinzimmer" aber überhaupt ganz und gar gesetzlich verboten. Wie
schon gesagt, muß man stets im Auge behalten, daß sich die deutschen Begriffe
„Gasthaus", „Bierstube" und meinetwegen auch „Restaurant" mit den Begriffen
„Saloon" und „Bar-Rooms" durchaus uicht decken!
Letzteres bestreitet niemand, der je die Gelegenheit gehabt hat, den amerika¬
nischen Saloon mit der deutschen Wirtsstube zu vergleichen. Wiederholt haben
mir gegenüber angesehene Ungko-Amerikaner, die von ihrer „europäischen Tour"
zurückkamen, unumwunden ihr Erstaunen über diesen Unterschied ausgesprochen.
Unter anderem geschah das von feiten des mir befreundeten texcmischen Kongre߬
mannes James L. Slapden. Auf meine Frage, was ihm in Deutschland am
besten gefallen habe, erwiderte Mr. Slayden in wunderlicher Zusammenstellung:
Die rationelle deutsche Forstkultur, die deutschen Biergärten und die Fähigkeit
der Deutschen, Maß zu halten ini frohen und heiteren Lebensgenusse — eine
Fähigkeit, die seinen eigenen Landsleuten leider so vollständig abgebe! Die
Gattin des genannten Nationalabgeordneten schloß sich dessen Erklärungen
begeistert an, konnte sich dann aber nicht enthalten, zu versichern, daß sie in
Deutschland aber auch etwas gesehen habe, worüber sie geradezu empört gewesen
sei! Sehr bezeichnenderweise war das der Anblick einer zugleich mit einem
Hunde einen Wagen ziehenden Botenfrau! Eine alte deutsche Dame, der ich
dies kürzlich erzählte, beklagte an dem eben geschilderten Gespann aber weniger
die Frau, als den armen Hund! Andere Länder, andere Sitten — andere
Anschauungen! —
Wer den vorstehenden ungeschminkten Schilderungen der amerikanischen
Saloons und der anglikanischen Trinksitten gefolgt ist, wird wahrscheinlich
geneigt sein, die Frage aufzuwerfen: „Nun, warum bekämpft man die als
solche erkannten Schäden und Mängel nicht und warum versucht man nicht,
eine Reform dieser Bräuche — etwa uach deutschem Muster — anzubahnen?
Diese Frage liegt zwar nahe, aber ihre Beantwortung ist nicht so leicht.
Schon aus dem Grunde nicht, weil den prinzipiellen Feinden der Saloons,
also den Prohibitionisten — gar nichts daran liegt, sich für dessen Hebung
und Reform zu erwärmen. Lautet doch ihr Feldgeschrei: Laloon must Ap!",
„Die Triuklokale müssen völlig abgeschafft werden, erst dann sind wir zufrieden!"
Auch von der Hebung des Wirtsstandes und der Ausmerzung schlechter
Elemente aus diesen: Stande, an denen es darunter freilich nicht fehlt, will
das Programm der amerikanischen Zwangsabstinenzler durchaus nichts wissen.
Ihnen ist im Gegenteil alles erwünscht, was ihnen in ihren: Bestreben zu Hilfe
kommt, die Wirte zu einer Art von Bürgern zweiter Klasse degradieren zu
können. Ihr zielbewußtes Streben geht dahin, nach Möglichkeit alles und
jeden anrüchig zu machen und zu deklassieren, was und wer in irgendeinen:
näheren oder entfernteren Zusammenhange mit dem sah-mkgewerbe steht.
So demokratisch, so weitherzig man drüben auch in bezug auf die Frage
der Zugehörigkeit zur oberen Gesellschaftsschicht denkt und handelt (— an bereits
recht weitgehenden Ansätzen zu einer solchen Schichtbildung fehlt es ja schon
lange nicht mehr —) und so stark der Besitz dabei natürlich mit in die Wag¬
schale fällt, so kann es dennoch einem wirklichen Dollar-Millionär passieren,
daß sein Anspruch auf Zugehörigkeit zur besagten Oberschicht in Zweifel gezogen
und abgelehnt wird, wenn sein Millionen-Besitz aus dein Betriebe einer . . .
Bierbrauerei herrührt!!
Ein großer taktischer Fehler des liberalen Elements, das natürlich von einer
Beschränkung oder gar Unterdrückung der Trinkfreiheit nichts wissen wollte, war
es jedenfalls, daß es sich bis ganz vor kurzem lediglich auf die Bekämpfung
der Prohibitionsbewegung beschränkte. Man legte dabei gar kein, oder doch
nur sehr wenig Gewicht auf die Beseitigung oder auch nur Eindämmung wirklich
und unbestreitbar vorhandener Schäden und Mängel in Verbindung mit dem
Mißbrauch geistiger Getränke. Solche Beschränkungsmaßregeln wendet man ja
auch in den Bundesstaaten des Deutschen Reiches mit Erfolg an. Es sind das
beispielsweise Erlasse zum Verbot des Ausschanks an Trunkene oder notorische
Trunkenbolde. Erst später befürwortete man auch von feiten der Saloon-Leute
derartige Maßregeln, aber da war es schon zu spät, denn da wollten die
siegreichen Prohibitions-Fanatiker sich nicht mehr mit dem kleinen Finger
begnügen, da verlangten sie schon die ganze Hand!
_____ _
Ist nun auch die Prohibitionsbewegung in den Vereinigten Staaten durchaus
nichts Neues, so beschränkte sie sich doch bis zur Zeit des großen Bürgerkrieges
eigentlich nur auf die sechs Neu-England-Staaten, die sogenannten „Janker-
Staaten. In Deutschland pflegt man irrtümlicherweise jeden Amerikaner als
„Dankes" zu bezeichnen, allein'in Wirklichkeit beschränkt sich diese Bezeichnung
ausschließlich auf die Bewohner der Staaten Maine, New Hampshire, Vermont,
Massachusetts, Rhode Island und Connecticut, also derjenigen ältesten Gebiete
der Vereinigten Staaten und ehemaligen britischen Kolonien, in welchen der
Einfluß der Puritaner am stärksten und nachhaltigsten war und es auch
geblieben ist.
Aber auch noch fast zwei Jahrzehnte nach der Beendigung des Bürgerkrieges
zwischen den Nordstaaten und den Südstaaten beschränkte sich der Einfluß der
Prohibitions-Fanatiker außer den Neu-England-Staaten eigentlich nur auf einige
wenige andere Staaten, nach welchen — wie beispielsweise Kansas und Iowa —
in der Zwischenzeit die Einwanderung aus jenen sechs Dankee-Staaten eine sehr
starke gewesen war.
Aber in diesen beiden Staaten, besonders in dem reichen, aber nur ver¬
hältnismäßig wenig größere Städte aufweisenden Ackerbaustaate Kansas, zeigten
ste sofort, mit welch rücksichtsloser und despotischer Gewalt sie voranzugehen
entschlossen waren, um der „Herstellung, dem Transport, Verkauf und Äus-
schnnk geistiger Getränke" definitiv ein Ende zu machen, und zwar nicht nur
unter Androhung, sondern unter rücksichtslosester Verhängung und Vollstreckung
geradezu drakonischer Strafen.
Die Form, in welcher die Prohibition, d. h. also die gesetzlich zur all¬
gemeinen Durchführung gebrachte allgemeine Zwangs-Abstinenz, in Szene gesetzt
wird, ist zumeist die der Unterbreitung eines in diesen: Sinne gehaltenen Zusatzes,
respektive Amendements, zur Verfassung des betreffenden Staates zur Volks¬
abstimmung.
Was den arglosen Nichtkenner amerikanischer Verhältnisse und Auffassungen
dabei am meisten wundernehmen muß, das ist die glatte und schlanke Art und
Weise, wie man da um den schroffen Konflikt zwischen der Bundesverfassung
und den auf solche Weise abgeänderten Staats-Verfassungen herumkommt!
Solche Widersprüche sind im Verfassungsleben des Deutschen Reiches und anch
in dem aller anderen europäischen, oder doch wenigstens westeuropäischen, Länder
einfach undenkbar! —
Denn während die amerikanische Bundes-Verfassung die Whiskey-Brennerei,
die Bierbrauerei und das Schcmkgewerbe durch die Erhebung von Spirituosen-
und Biersteuern — und zwar in einer Höhe, gegen welche die entsprechenden
deutschen Steuern geradezu bagatellenhaft erscheinen müssen! — ganz direkt
legalisiert, verbieten die betreffenden Einzelstaaten jene Betriebe und Berufe und
erlassen drakonische Gesetze zu ihrer Achtung und zu ihrer Unterdrückung!
Dieser Widerspruch führt aber noch zu weiteren Absonderlichkeiten, die dem
uneingeweihten oberflächlichen Beobachter völlig unerklärlich erscheinen müssen.
So werden nämlich selbst in den Prohibitionsstaaten nach wie vor Bundes-
Schcmklizenzen ausgestellt! Das beweist also schon an sich, daß trotz der
drakonischen Verbote und trotz des damit zusammenhängenden Verfolguugs-,
Unterdrückungs- und Spionage-Systems in jenen Staaten der Union der berühmte
„Paragraph 11" nach wie vor in Geltung bleibt, wenn auch natürlich nur —
heimlich!
Die Bundes-Lizenz, den von der Bundesregierung ausgestellten Ausschank-
Berechtigungsschein, lösen die berufsmäßigen Übertreter der Staatsgesetze aber
wohlweislich schon aus dein Grunde, weil erfahrungsgemäß Mit den: „Arete
Sam" (wie man die Bundesregierung drüben ganz allgemein nach den üblichen
Abkürzungs-Initialen von „Änited States" zu nennen pflegt) sehr schlecht
Kirschen essen ist, während man weiß, daß es schlimmstenfalls immer — oder
doch meistens — Mittel und Wege gibt, um sich mit den Staatsbehörden
auseinanderzusetzen oder vergleichsweise zu verständigen.
Worauf also in erster Linie hervorgeht, daß „die Prohibition nicht
prohibiert", das heißt also, daß an die Stelle des offen betriebenen, ver¬
hältnismäßig leicht zu kontrollierenden und regulierenden Ausschanks von Bier
und Schnaps (Wein wird in den Vereinigten Staaten in kaum nennenswertem
Umfange getrunken) der heimliche süss tritt, der aus dreifachen Gründen um
so verwerflicher, gefährlicher und gemeinschädlicher ist: weil er weder kontrollierbar
noch regulierbar ist; weil dabei der Schnapskonsum des leichteren und bequemeren
Transports und Versteckspiels wegen steigt, während gleichzeitig der Bierkonsum
entsprechend sinkt; drittens aber weil dadurch ein jämmerliches Heuchelsystem
großgezüchtet wird, durch welches die Volksmoral noch weit schlimmer vergiftet
und verseucht wird, als das durch den Schnapsteufel selbst jemals geschehen könnte!
Eine vierte schlimme Folge hat dieses System der Heimlichkeit und Heuchelei
noch insofern, als der Schaden, den die Kassen der Prohibitionsstaaten durch
den Wegfall der sehr hohen kommunalen und staatlichen Schankgewerbesteuern
erleiden, ein sehr beträchtlicher ist. Natürlich muß dieser Ausfall durch andere,
für die Steuerzahler viel empfindlichere Bestenerungsformen ausgeglichen werden.
Aber trotz aller dieser Schattenseiten und offenkundiger Mißerfolge der
Prohibition — die eigentlich auch auf prohibitionistischer Seite selbst niemand
ernstlich in Abrede stellt — hat diese Bewegung gerade im letzten Jahrzehnt
einen ganz erstaunlichen Aufschwung genommen/ Dieser Aufschwung muß sür
alle ganz unbegreiflich sein, welche niemals Gelegenheit gehabt haben, einen
Einblick zu gewinnen in die unglaublich emsig betriebene und ganz vorzüglich
organisierte Wühlarbeit der „Wasserheiligen" — ein Eifer, eine Emsigkeit und eine
Zielbewußtheit, an der sich die Amel-Prohibitionisten oder die „Vorkämpfer sür die
persönliche Freiheit" — wie sie sich lieber nennen lassen — ein Beispiel zur
Nacheiferung nehmen sollten.
Statt dessen bekämpfen sie sich noch untereinander. Geradezu schmachvoll
ist es, daß diese doch wirklich sehr ernste Prinzipienfrage sogar noch zu einem
äußerst schmutzigen Jntercssenkampfe geführt hat: nämlich zu einem Konflikt
zwischen den Vertretern der Whiskey-Interessen auf der eiuen und der Bier-
Interessen auf der ander» Seite.
Man sollte doch meinen, unter diesen beiden Interessengruppen bestünde
gegenüber der gemeinsamen ernsten Gefahr der Vernichtung ein festes Solidaritäts¬
bewußtsein. Aber weit gefehlt! Denn während die amerikanische Brauiudustrie
durch den Siegeslauf der Prohibitionsbewegung tatsächlich mit der völligen
Vernichtung bedroht wird, schickt sich die Brennerei-Industrie schon jetzt kalt¬
lächelnd an, das Erbe der abgemurksten Brauer anzutreten. Der Transport der
umfangreichen und schweren 'Biertonnen und des zur Kühlung erforderlichen
Eises läßt sich uicht heimlich und verstohlen betreiben, wohl aber läßt sich jederzeit
eine Kiste mit einem halben Dutzend Flaschen Whiskey — natürlich uuter
falscher Deklaration — auch uoch nach dem ärgsten Prohibitionsdistrikt ein¬
schmuggeln. Bier muß, um genießbar zu bleiben, immer frisch sein, Schnaps
dagegen hält sich auch unter den ungünstigsten Verhältnissen. Bier muß offen
und ehrlich getrunken werden, der Schnaps dagegen läßt sich bequem überall
heimlich einführen, und wenn es in einen, hohlen Spazierstock sein muß, oder
gar in einer Blech-Atrappe in der Form und mit der Aufschrift der . . . Bibel
— eine Raffiniertheit der Heuchelei, zu welcher es der amerikanische Geschäfts¬
sinn tatsächlich gebracht hat!
Gerade im letzten Jahrzehnt war es aber besonders der Süden der Vereinigten
Staaten, in welchem die Prohibitionsbewegung erstaunliche Fortschritte erzielte,
obwohl sich bis dahin gerade der Boden der ehemaligen Sklavenstaaten als
wenig aufnahmefähig für die Saat der neuen Fanatismus-Sklaverei erwiesen hatte.
Wie zielbewußt die Wasser-Enthusiasten vorgehen, zeigte sich dort im Süden
gerade damals, als ihre Bestrebungen zur Einführung der Staats-Prohibition
lange Jahre völlig erfolglos geblieben waren. Sie verfuhren nach dem Grundsatze:
„DivicZe et impera!", als sie die — von ihrem Standpunkte aus betrachtet —
geniale Idee der „Lokal-Option" ausheckten! Konnte man die Einführung der
Prohibition für den ganzen Staat nicht durchsetzen, so beschränkte man sich
vorläufig auf die lokale, örtlich begrenzte Annahme und Einführung des neuen
Planes für bestimmte Distrikte, zumeist auf die „Counties" oder „Grafschaften",
die etwa den preußischen „Kreisen" entsprechen.
"
Mit dieser „Lokal-Option-Bewegung erzielten die Prohibitionisten aber
Erfolge, die ihre eigenen Erwartungen wahrscheinlich selbst noch bei weitem
übertrafen. Es ergab sich nämlich, daß bei den zu diesen: Zwecke vorgenommenen
Abstimmungen selbst vielfach solche Leute für die lokale Unterdrückung des
Getrünkehandels stimmten, die von der Staats-Prohibition prinzipiell nichts
wissen wollten.
So unlogisch und inkonsequent nun auch eine solche Haltung und Auf¬
fassung ist, so hat mir doch einmal ein möglichst einwandfreier Zeuge dargelegt,
wie eine solche Inkonsequenz immerhin entschuldbar, oder doch allermindestens
erklärlich erscheinen kann. Ich war bei Gelegenheit eines deutschen Sänger-
festes in der wunderhübschen deutsch-texanischen Kolonie Friedrichsburg nach
dem nördlich davon — ziemlich weltabgeschiedenen Orte Loyal Valley geraten,
wo damals noch — es war zu Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahr¬
hunderts — der hochbetagte Mr. Meusebach — eigentlich Freiherr Otfried
von Meusebach — wohnte. Es war dies eins der ehemaligen Mitglieder, und
zwar wohl das tüchtigste und ausdauerndste, des alten Mainzer Adelsvereins,
der Mitte der vierziger Jahre den etwas phantastischen Plan gefaßt hatte, eine
große deutsche Kolonie in Texas zu gründen — wahrscheinlich als Pufferstaat
zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. Meusebach hatte damals wenigstens
das greifbare Resultat erzielt. die heute ansehnlich emporgeblühte Stadt
Friedrichsburg zu gründen. Als ich damals Herrn von Meusebach besuchte,
kam unter anderem das Gespräch darauf, daß seit kurzen: in Mason County,
dem Kreise, zu dem Loyal Valley gehört, Lokal-Option eingeführt worden sei.
Ich verfehlte nicht, meiner Entrüstung darüber lebhaft Ausdruck zu verleihen,
war aber nicht wenig darüber erstaunt, als mir der alte Herr erwiderte:
„Sehen Sie, junger Freund (— so nannte er jeden, der unter fünfzig zählte —),
in der Theorie haben Sie ja vollständig recht, aber können Sie es mir wohl
glauben, daß ich selbst diesmal auch mit für Lokal-Option gestimmt habe?"
Noch bevor ich mich von meinem Erstaunen erholt hatte, führte mich der alte
Herr an die Tür eines zu seinein Anwesen gehörenden Nebengebäudes. Er
deutete mit dein Zeigefinger auf ein paar dunkle Flecke an jener Tür und
fragte mich dann: „Für was halten Sie das?" Bei näherer Prüfung ergab
sich von selbst die Antwort: „Das scheinen Kugellöcher zu sein!" „Ja", erwiderte
der Greis, indem er lachend mit dein weißmähnigen Haupte nickte, „das scheinen
sie nicht nur zu sein, sondern das sind Kugelspuren! „Früher," fuhr er dann
erläuternd fort, „als wir hier noch Saloons im County hatten, kamen die
Cowboys aus dein weiten Umkreise hierher, einzeln und truppweise, pumpten
sich voll Whiskey, und wenn dann der Mut in der Brust seine Spannkraft übte,
dann galoppierten sie nachts durch den Ort und feuerten zum Vergnügen rechts
und links in die Häuser. Und weg waren sie dann nachher wieder und niemand
konnte dafür zur Rechenschaft gezogen werden, was sie angerichtet hatten. Da
konnte man's dann erleben, daß einem des Nachts im Bette die Kugeln um
die Ohren pfiffen — eine Situation, die höchst unbehaglich ist. Glauben Sie
mir, junger Freund, jetzt, seitdem wir hier Lokal-Option haben, ist das alles
anders geworden."
Ja, das hat, wie ein alter Freund von mir zu sagen pflegte, „so alles
seine zwei bis siebzehn Seiten!"
Aber trotz alledem hat eine Notmaßregel, die in weltentlegenen Gegenden
ohne allen Polizeischutz noch eine gewisse Entschuldigung haben mag, jedenfalls
keine Berechtigung in großen modernen Städten und Vcrkehrszentren, wo alle
erforderlichen Vorkehrungen zur Verhinderung aller Ausschreitungen in über¬
reichlichem Maße vorhanden sind.
Dafür, daß Lokal-Option und Prohibition generell so ziemlich gleich sind,
spricht unter anderem auch der Umstand, daß die eine genau dasselbe Heuchel¬
system großzüchtet wie die andere. Den Beweis dafür habe ich wiederholt
selbst erlebt, selten freilich in solch drastischer Weise, wie einst auf einer texanischen
Farm, auf die mich vor Jahren der Zufall verschlug. Auf der Farm wohnte
ein altes Ehepaar mit zwei erwachsenen Söhnen, von denen sich der ältere
erst unlängst verheiratet hatte. Die Leute wäre,:, wie ich bald erfuhr, strenge
Presbyterianer, also natürlich auch stritte Abstinenzler. Man lud mich freundlich
und zuvorkommend zum Essen ein, einem recht schmackhaften Mahle, bei dein
neben dem Putenbraten die „Süßkartoffeln", das heißt Bataten, sowie Tomaten
die Hauptrolle spielten und wobei man als Tafelgetränk die reiche Auswahl
zwischen Kaffee, Milch, Buttermilch und Wasser hatte. Nach Beendigung des
Mahles führte mich der alte Farmer in seine Stube, mit dem Bemerken, er
wolle mir ein interessantes Buch zeigen, das ihm unlängst ein alter Freund
und Kriegskamerad von der Konföderation her aus San Antonio geschickt habe.
In Wirklichkeit aber zog er aus dein Wandschranke mit verständnisinnigein
Lächeln augenblinzelnd eine Flasche Whiskey hervor und zwei Gläser. Während
er einschenkte, sagte er wie zur Entschuldigung: „Wir sind ja freilich strenge
Temperenzleute, aber so eine kleine Herzstärkung kann doch ab und zu nicht
schaden, wissen Sie. Aber das braucht uicht jedermann zu wissen, besonders
die jungen Leute nicht. Sie verstehen das doch?" Ich wußte das, verstand das
und . . . trank. Der strenge Temverenzmann war offenbar Kenner. Der
alte „Kentucky Rye" war gut. Nachdem wir uns auf dem Felde noch vom
Stande der Baumwolle überzeugt hatten, wurde der Alte von einem Neger an¬
gehalten, welcher ein Anliegen an ihn hatte. Da rief mir der ältere Sohn zu,
ich möchte doch mal zu ihm in die Kuh-Penne kommen, er wolle mir seine
neueste Akquisition zeigen, eine ganz echtrassige wunderschöne Jersey-Kuh. Als
ich aber seinem Wunsche nachkam, ließ er die rehfarbene Milchspenderin mit den
schwermütigen Augen ganz unbeachtet, schritt vielmehr zum Kornhaus und
holte aus einer deckennmhüllten großen Kiste einen umflochtenen „Demijohn"
hervor. „Ich habe wohl gemerkt, Sir," sagte er, „daß Ihnen die Buttermilch
nicht geschmeckt hat, die Ihnen meine Frau einschenkte. Aber hier habe ich
was, was Ihnen besser schmecken wird. Es ist Peach-Brandy, den unser
deutscher Nachbar Schneider — er sagte natürlich: Sneider — selbst gemacht
und wovon er mir eine Gallone abgelassen hat. Wir sind ja zwar strenge
Prohibitionisten, aber ab und zu will man doch auch etwas Stärkeres haben
als Wasser. Sie begreifen das?" Ich begriff das und .. . trank. Trank den
schweren, nach bittern Mandeln schineckenden und dein badischen Kirschgeist und
dem Slivowitz ähnelnden Pfirsichschnaps, von dem mir der Wackere einen reich¬
lichen halben Tafsenkopf eingegossen hatte. Er verfehlte auch nicht, mir Bescheid
zu tun. Aus seiner „Hälfte" wurden aber reichliche zwei Drittel. Kaum waren
zehn Minuten verflossen, da kam Charley, der jüngere Bruder, und fragte mich,
ob ich mir nicht mal seine Sammlung von Indianer-Pfeilspitzen ansehen wolle.
Warum denn nicht? In seiner Stube brachte er eine große alte Pappschachtel
zum Vorschein, in der sich auch wirklich ein paar Hände voll alter, meist
zerbrochner Feuersteinspitzen befanden, wie man sie heute noch in Texas häufig
finden kann, namentlich an Flußufern oder Bachrändern, wo die Squcnvs die
Pfeil- und Lanzenspitzen mit Hilfe von Feuer und Wasser aus dein spröden
Gestein herstellen mußten, wobei sie die zahlreichen mißratenen natürlich liegen
ließen. Aber ich merkte schon, daß die Pfeilspitzen genau so wie das interessante
Buch und die echte Jersey-Kuh nur Vorwand waren. Charley brachte dem:
auch sofort verschmitzt schmunzelnd eine Flasche „Old Tom Gin" zur Stelle,
entkorkte sie und reichte sie mir. Ein Glas habe er nicht, entschuldigte er sich,
aber er möchte auch keins aus der Küche holen, „die Alte ist so ein bißchen
wunderlich, wissen Sie"! Aber es ginge ja auch schließlich so, meinte er. Seit¬
dem er im vorigen Jahre die Grippe (— oder vielmehr „die La Grippe", wie
man in den Vereinigten Staateil spaßigerweise zu sagen pflegt —) gehabt
habe, sei er mit seinen Nieren nicht ganz zufrieden und dagegen gebe es bekanntlich
nichts Besseres als Wacholderschnaps! „Glauben Sie das nicht auch?" schloß
er. Ich glaubte das natürlich auch und trank möglichst vorsichtig aus der
Flasche, um mich nicht zu verschlucken. Er selbst aber nahm, ganz ohne sich
zu verschlucken — einen Zug, der so kräftig war, daß er auf große Erfahrung
schließen ließ in bezug auf die „Sternguckerei" — mie man drüben diese Trink¬
methode zu nennen pflegt. Kurz bevor ich dann den Wagen zur Weiterfahrt
besteigen wollte, rief mich noch die alte Dame ins „Parlor", die „gute Stube".
Sie sagte, solange noch andere in Hörweite waren, sie hätte erfahren, daß ich
mit der Familie Taylor in der nahen Stadt bekannt sei und da möchte ich
ihr doch mal erzählen, wie es denn der guten alten Mrs. Taylor gehe, mit
der sie früher so intim verkehrt hätte, die sie nun aber schon solange nicht
mehr gesehen habe. Ich ahnte sofort, daß die gute alte Mrs. Taylor auch in
die Kategorie der interessanten Bücher, Jersey-Kuh und Pfeilspitzen gehöre und
meine Ahnung betrog mich auch durchaus nicht. Es dauerte gar nicht lange,
da brachte sie, verlegen hüstelnd, eine vierkantige braune Flasche zum Vorschein
und zwei Gläser, in die sie eine wasserhelle Flüssigkeit füllte. Der Erklärung,
daß dies „Hostetter Bitters" sei, hätte es sür mich nicht erst bedurft, ich hatte
das schon an dem mit dem Drachen kämpfenden Ritter Georg auf der Flasche
gesehen. Besagter Drache soll vermutlich die Malaria versinnbildlichen. „Sehen
Sie," fügte die alte Dame ihrer Erläuterung bei, „in unserer Gegend kann
man sich gar nicht genug vor dem Wechselfteber in acht nehmen und da ist
nun nichts besser dagegen als dieses „Tonic". Aber mein Alter braucht das
nicht zu wissen, der macht dann bloß immer so schnöde Bemerkungen, weil
wir doch solche strenge Temperenzleute sind." Ich beteuerte, daß ich verschlossen
sein werde wie das Grab. Als ich dann aber wegfuhr, war mir doch einiger¬
maßen wirbelig zumute. So viel Alkohol, in solch verschiedenerlei Gestalt,
hatte ich mir gewiß und wahrhaftig in langer Zeit nicht einverleibt, wie in
diesen: „Hause der striktesten Abstinenz" in der denkbar kürzesten Spanne!
Von ähnlichen Erlebnissen wird wohl so ziemlich jedermann zu berichten
haben, der bei langjährigem Aufenthalte in den Vereinigten Staaten Gelegenheit
gehabt hat, durch Prohibitionsstaaten oder durch Lokal-Optiongegenden zu reisen.
Heinrich Heine, der Vielgeschmähte, Vielverehrte und noch mehr Zitierte,
behält immer noch recht mit seinem allbekannten Ausspruche: „Ich weiß, sie
trinken heimlich Schnaps und predigen öffentlich Wasser!"
Obgleich nun aber jedermann weiß, wie heuchlerisch das ganze System ist,
und obwohl auch niemand die Tatsache bestreitet, daß „die Prohibition nicht
prohibiert", dauert der Siegesmarsch der Prohibitionsbewcgung in geradezu
unheimlichem Tempo fort.
Gegenwärtig ist von ihm am schärfsten bedroht der größte aller Unions¬
staaten, der Staat Texas, der noch bis vor einem Jahrzehnt vor den
„Segnungen" der Wasserapostel völlig sicher zu sein schien, und zwar haupt¬
sächlich infolge seiner kosmopolitischen Bevölkerungszusammensetzung. Auch jetzt
noch würde West-Texas für sich allein vor besagten Segnungen völlig sicher
sein, da dort die Deutschen und die Mexikaner die ausschlaggebende Rolle spielen
— erstere besonders, obwohl die deutsche Einwanderung während der letzten
Jahrzehnte fast gänzlich aufgehört hat.
Die Erbitterung, welche unter den arti-prohibitionistischen Bevölkerungsteilen
von West-Texas über die drohende Prohibitionsknebelung herrscht, ist aber so
groß, daß bereits allen Ernstes das Projekt einer Teilung des Staates Texas
aufgetaucht ist, wozu allerdings die seinerzeit bei der Aufnahme der Republik
Texas als Staat in die Union festgesetzten Bedingungen und Bestimmungen
auch die geeignete Handhabe bieten.
Selbswerstäudlich handelt es sich bei der Prohibitionsbewegung nicht nur
um moralische und ethische Fragen, sowie um politische, wie es der Zusammen¬
hang mit dem Steuer- und Abgabewesen mit sich bringt und wie es unter
anderem auch das texanische Staatsteilungsprojekt zeigt, sondern es handelt sich
dabei auch nicht zum wenigsten um schwerwiegende materielle Interessen.
Im Gegensatz zu dem in Deutschland vorherrschenden Stande der Dinge,
wo jede kleine Stadt, ja manche Dorfschaft ihre eigene Brauerei hat, herrscht
in den Vereinigten Staaten auf dem Gebiete der Brauindustrie fast ausschließlich
der konzentrierte Großbetrieb vor. In dieser Industrie siud aber in der Union
ganz ungeheure Werte angelegt, Werte, welche bei der Einführung der Staats¬
prohibition mit einem Federstriche vernichtet werden würden. Sind doch
Milwaukee und Se. Louis — trotz München — die größten Braustädte der
Erde, und haben doch selbst im fernen Westen einige Städte — wie beispiels¬
weise das schöne alte San Antonio — eine Stadt von über 100000 Ein¬
wohnern — Braubetriebe auszuweisen, die Tausenden von Menschen die Existenz¬
bedingungen liefern. All diesen Tausenden würde aber einfach die Existenz¬
berechtigung durch Majoritätsbeschluß wegdekretiert, wenn es den Prohibitionisten
gelänge, bei der aller Wahrscheinlichkeit nach bevorstehenden Volksabstimmung
die Mehrheit zu erzielen!
Man sieht, zu welchen Ungeheuerlichkeiten. das an sich richtige demokratische
Prinzip der Majoritäts-Herrschaft in der Übertreibung nicht nur theoretisch
führen kann, sondern in dem vielgerühmten „Lande der Freiheit" tatsächlich
geführt hat, fortwährend führt und aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch
(Fortsetzung folgt.) weiter führen wirbt
Die neuesten Veränderungen an leitenden Stellen.
Dem neulich hier besprochenen Ministerwechsel ist eine neue Serie von Ver¬
änderungen gefolgt, deren allgemeine Bedeutung nicht noch einmal auseinander¬
gesetzt zu werden braucht, weil es sich um die Ausführung desselben Grund¬
gedankens handelt. Dagegen ist über die Persönlichkeiten der scheidenden und der
kommenden Männer einiges zu sagen.
Daß Herr v. Rheinbaben als Finanzminister gehen sollte, lag keineswegs in
dem ursprünglichen Plan des Ministerpräsidenten. Aber der Finanzminister selbst
hielt, als durch den Einzug des Herrn v. Schorlemer in das Ministerium das
Oberpräsidium der Rheinprovinz frei wurde, den Augenblick für gekommen, sich
auf einen ruhigeren Posten zurückzuziehen, der seinen besonderen Wünschen ent¬
sprach. Das kann man durchaus verstehen und würdigen, und es ist mindestens
richtiger, als wenn man die Amtsmüdigkeit des Herrn v. Rheinbaben aus dem
Unbehagen über die Angriffe des Herrn v. Gwinner im Herrenhause oder aus
getäuschten Hoffnungen auf höhere Ziele persönlichen Ehrgeizes erklärt. Denn
Herr v. Gwinner ist keineswegs so unbestritten als Sieger aus dem bekannten
Rededuell hervorgegangen, wie eS in liberalen Blättern aufgeschrien wird, und
wenn Herr v. Rheinbaben wirklich ehrgeizige Hoffnungen hegen sollte, so hindert
ihn nichts, sie weiter zu hegen. Eine andere Frage ist, ob nicht politische Momente
vorhanden waren, die Herrn v. Rheinbaben den Entschluß, aus seinem Amte zu
scheiden, ebenso erleichterten, wie Herrn v. Bethmann Hollweg den Entschluß, ihn
ziehen zu lassen. Das schließt ja nicht aus, daß der Ministerpräsident die Ver¬
dienste und Fähigkeiten seines Kollegen voll anerkannte und vielleicht auch anfangs
in durchaus ehrlicher und freundschaftlicher Weise ihn von seinen Rücktrittsabsichten
zurückzubringen versuchte. Wenn aber Herr v. Bethmann wirklich, wie ihm
zugeschrieben worden ist, das Ministerium rekonstruieren wollte, um jetzt mit
voller Absicht in die Bahnen des schwarz-blauen Blocks einzulenken, dann mußte
er viel größere Anstrengungen machen, um Herrn v. Rheinbaben im Amte zu
halten. Denn dieser war unter den Ministern zweifellos die Persönlichkeit, die
sich des größten Vertrauens der Konservativen erfreute. Es gab unter den hohen
Staatsbeamten, die als politische Führer, nicht bloß als tüchtige Nessortchefs in
Betracht kommen konnten, tatsächlich niemand, dessen wirklich staatsmännisches
Denken so sehr aus einer Grundlage aufgebaut war, die in ihrem Kern und Wesen
durchaus den Grundsätzen der konservativen Anschauung entsprach. Das fühlten
auch die konservativen Parteimänner heraus, die Herrn v. Rheinbaben volles
Vertrauen schenkten, obwohl er durchaus kein Agrarier war und bei der
Finanzreform ihnen so geschickt und überzeugend entgegentrat wie kaum
ein anderer. Einen solchen Mann gehen zu lassen, wenn man wirklich mit
der konservativen Partei regieren will, wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen,
und auch Herr v. Rheinbaben selbst hätte trotz seiner erklärlichen Sehnsucht nach
dem Rhein den Augenblick für seinen Rücktritt schlecht gewählt, wenn er durch sein
Bleiben einem Regierungssystem, das ihm sehr sympathisch sein mußte, einen
unleugbar großen Dienst erweisen konnte. Aber die Sache lag eben nicht so.
Parteirü cksichten kamen bei der Zusammensetzung des Ministeriums überhaupt nicht
in Frage. Darum brauchte Herr v. Rheinbaben nicht zu zögern, als sich ihm eine
angenehme Gelegenheit zur Erfüllung persönlicher Wünsche bot, und auch Herr
v. Bethmann brauchte sich bei den Rücksichten, die die Höflichkeit für den verdienten
Kollegen gebot, nicht allzu lange aufzuhalten, sondern erkannte die Notwendigkeit,
die Gelegenheit im Sinne seiner Politik auszunutzen.
Wie das geschehen konnte, war klar. Herr v. Bethmann war wegen der
Herren v. Dallwitz und v. Schorlemer wütend angegriffen worden. Diese Auffassung
wurde act absuräum geführt, wenn jetzt der Vertrauensmann der Konservativen
ging und ein gemäßigt Liberaler an seine Stelle gesetzt wurde. Freilich ist auch
der neue Finanzminister Lentze nicht Parteimann. Wir haben ja auch schon
kürzlich zu zeigen versucht, daß es unmöglich sein würde, einen ausgesprochenen
liberalen Parteimann ausdrücklich in dieser Eigenschaft in das Ministerium zu
rufen. Aber der bisherige Oberbürgermeister von Magdeburg ist keinesfalls ein
Mann, der irgendwie für den schwarz-blauen Block in Anspruch genommen werden
kann, vielmehr in seiner politischen Denkweise den Nationalliberalen nahe steht.
In den Augen der Fortschrittler hat der neue Minister schon einige häßliche Flecken,
denn er hat sich einmal entschieden gegen die Übertragung des Reichstagswahlrechts
auf die Gemeinden ausgesprochen und ist neulich im Herrenhause Herrn v. Rhein¬
baben gegen Herrn v. Gwinner beigesprungen. Aber trotzdem müssen die ehrlichen
Leute auch aus der linken Seite eingestehen, daß das Schema, wonach die neuen
Männer im Ministerium schwarzblau angemalt werden sollten, umgeworfen
worden ist.
Einen weiteren Beweis von Zielbewußtsein in der Auswahl seiner Mitarbeiter
und zugleich von Festigkeit nach verschiedenen Seiten hin hat Herr v. Bethmann
Hollweg gegeben, indem er anläßlich des Rücktritts des Fürsten Nadolin die
Ernennung des Staatssekretärs v, Schoen zum Botschafter in Paris und seine
Ersetzung durch Herrn v. Kiderlen-Wächter, den bisherigen Gesandten in Bukarest,
vom Kaiser erlangte. Es waren da, wie Eingeweihte wissen, mancherlei in den
Persönlichen Verhältnissen liegende Hindernisse zu überwinden. Herr v. Schoen
ist vielfach scharf angegriffen worden, mindestens in übertriebener Weise und sachlich
zu Unrecht. Das Korn Wahrheit, das in diesen Angriffen zu suchen ist, läßt sich
Wohl darin erkennen, daß Herr v. Schoen nicht aus dem harten Holze geschnitzt
war, wie es die erste Stütze und der Stellvertreter des Reichskanzlers in der
Leitung der auswärtigen Politik, der für die formale Handhabung dieser G ehehafte
verantwortliche Beamte, besonders in diesen Zeitläuften wohl hätte sein müssen.
Darum kamen seine wertvollen Eigenschaften auf diesem Posten nicht genügend
zur Geltung. Obwohl vielfach erfolgreich, fand er in der öffentlichen Beurteilung
doch nicht die verdiente Anerkennung, weil sein konziliantes Wesen dem allgemeinen
Verlangen nach stärkerer Initiative in der auswärtigen Politik nicht sichtbar zu
genügen wußte. Der Fall Mannesmcinu ist für ihn charakteristisch. Er ertrug
die ungerechtesten und gehässigsten Angriffe, weil er es für seine Pflicht hielt, der
Sache, die seine Angreifer vertraten, trotz allem im vaterländischen Interesse mit
den wirklich zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen. Das brachte ihm nicht
Dank ein, sondern trug im Gegenteil am meisten dazu bei, ihn bei der dreist irre¬
geführten öffentlichen Meinung persönlich zu diskreditieren. Es ist leicht zu
erkennen, daß eine solche Persönlichkeit als Botschafter erfolgreicher wirken kann
wie als Staatssekretär, zumal auf einem Boden, den er genau kennt und wo
man ihm mit Vertrauen begegnen wird. Herr v. Kiderlen-Wächter ist unstreitig
ein Mann, der den schwierigen Aufgaben des Staatssekretärs des Auswärtigen
Amts besser gerüstet gegenüberstehen wird als sein Vorgänger. Eine in jeder
Beziehung derbere Natur, ohne Draufgänger zu sein, wovor ihn ein scharfer,
durchdringender Verstand schützt. Natürliche Eigenschaften, sowie die im diplo¬
matischen Dienst — namentlich in bezug auf die Orientpolitik — gesammelten
Erfahrungen geben die Gewähr, daß man seiner Tätigkeit als Staatssekretär mit
den besten Hoffnungen entgegensehen kann. Auch diese Veränderungen also, die
den auswärtigen Dienst betreffen, können, auch wenn man sich des Prophezeiens
enthält, als ein Schritt beurteilt werden, zu dem man Herrn v. Bethmann Hollweg
beglückwünschen kann.
die im Heft 26 uuserer Zeitschrift
behandelt wurde, erhalten wir eine ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmte
Zuschrift, die wir aber mit Erlaubnis des Verfassers hier wiedergeben wollen, weil
sie sich mit zahlreichen anderen Äußerungen gerade aus dem Königreich Sachsen deckt.
Sie lautet:
„. . . Ich erlaube mir es als meine persönliche feste Überzeugung aus-
Susprechen, daß die Einverleibung der durch den Frankfurter Frieden an Deutsch¬
land gekommenen französischen Landesteile in das Königreich Preußen nicht bloß
das beste, sondern das einzig richtige Mittel sein dürfte, dem gegenwärtigen
unerträglichen Zustande ein Ende zu machen. An Maßregeln und Mittelwegen,
die dem Elsaß-Lothringer den Besitzübergang genehm machen sollten, hat es nicht
gefehlt; sie haben nicht den gewünschten Erfolg geliabt, weil mit Güte und Nach¬
giebigkeit weder dein Elsaß-Lothringer noch dem hinter ihm stehenden Franzosen
beizukommen ist. Wenn sich Preußen der in den ersten Jahren sicherlich nicht
beneidenswerten Aufgabe unterziehen wollte, die gegenwärtigen Reichslande zu
einem integrierender Teile seiner Macht zu machen, so würde die Sache mit einem
Male wie von selbst gehen. Was Preußen in der Art an widerstrebenden Volks¬
teilen zu leisten vermag, hat es in den Rheinlanden und in Thüringen, und auch
in neuerer Zeit in Hannover und den sonst annektierten Landesteilen bewiesen.
Der Artikel spricht vom Partikularismus und scheint sich von dessen Wesen einen
nicht ganz richtigen Begriff zu machen. Wir wünschen nicht, daß Preußen sich
in unsere kleinen inneren Verhältnisse einmische, wie das z. B. bei Gelegenheit
der Schiffahrtsabgaben der Fall gewesen ist, aber seine unbedingte Präponderanz
und Hegemonie im deutschen Bunde sehen wir alle lieber wachsen als beeinträchtigt
werden. Bayern und Württemberg freilich, denen es auf eine möglichste Balance
zwischen Nord- und Süddeutschland ankommt, dürfte die Einverleibung im ersten
Augenblicke nicht genehm sein; in den anderen deutschen Klein- und Mittelstaaten
herrscht diese Art der Eisersucht auf preußische Macht nicht, und ich bin überzeugt,
daß man z. B. im Königreich Sachsen kaum etwas einzuwenden haben würde.
Man mache nur aus den beiden Reichslanden glattweg preußische Provinzen
mit je einem Oberpräsidenten und damit basta Eine veränderte Stimmen¬
verteilung im Bundesrate brauchte mit der Einverleibung nicht verbunden zu sein.
Elsaß ^Lothringen ist erobertes Land; man hat damit vergeblich so umgehen wollen,
als habe man bloß einen Zuwachs an im Grunde deutscher Bevölkerung vor sich.
Da das nicht verfangen hat, so gehe man auf das Recht des Eroberers zurück
und mache Elsaß-Lothringen preußisch. Unglücklich oder unfrei wird das Land
dadurch nicht werden, aber deutsch, und das ist es gerade, was die Franzosen und
mit ihnen die Mächtigen im Lande gern verhüten möchten. Und sollte der un¬
erwartete Übergang Unzufriedenheit und Auflehnung veranlassen, so wird eine von
der Not herbeigeführte fünfjährige Militärdiktatur die zu steifen Nacken brechen.
Nur um Gottes willen Frankreich und dessen Verbündeten gegenüber keine Zitter¬
federn aufstecken; wenn sie nicht ohnehin den Krieg wollen und — dazu bereit
sind, werden sie ihn wegen Elsaß-Lothringen nicht vom Zaune brechen."
bürgt für die große Absatzfähigkeit
des hübsch ausgestatteten Buches ..." ist ein Satz, den die Verlagsgesellschaft
Weber-Haus zu Berlin ans einem grünen Zettel hat drucken lassen, um ein Buch
des Gatten der ehemaligen Frau von Schonebeck zu empfehlen. Aus dem Inhalt
des Buches, das „satirische Skizzen" enthalten soll, sällt die Anpreisung auf, daß
auch von der „Kokotte in ihren Abstufungen bis zur (Zrcmäe LoLotte und der
reisenden Baronin oder Gräfin —" die Rede sein soll. Diese Ankündigung geht
wohlverstanden in Tausenden von Exemplaren in die Welt zu einer Zeit, wo sich
in Altenstein der vorletzte Akt eines erschütternden Dramas abspielt, in dessen
Mittelpunkt die Person der Gattin des Herrn A. O. Weber steht. Nur die Ehe
Webers mit jener kranken Frau hat seinen Namen in die Öffentlichkeit gebracht,
nur der Altensteiner Prozeß ist daran schuld, wenn gegenwärtig „der Name
A. O. Weber für die große Absatzfähigkeit des Buches bürgt"! Wen Herr
A. O. Weber mit seinem Namen beglückt, ist seine Sache, — aber hat der
organisierte deutsche Buchhandel nicht die Möglichkeit, gegen solche Schädiger seines
Ansehens Front zu machen? Muß sich der Buchhandel denn willenlos zum Ver-
breiter dieser Pest machen lassen, die von A. O. Weber ausgeht? Hier wäre eine
Gelegenheit, den Hebel im Kampf gegen die Schundliteratur anzusetzen!
Freilich leicht ist es auch in diesem Falle nicht, aber es geht, wenn die Presse
mit zugreift. Die gesamte deutsche Presse hat sich während des Prozesses in
Altenstein auf das beste bewährt. Selbst Blätter, die sonst gern jede Gelegenheit
und jede Situation benutzen, um das Sensationsbedürfnis des Großstädters zu
reizen, sind vor der Tragik der Vorkommnisse in Altenstein verstummt. Jeder
gewissenhafte Zeitungsleser wird zugeben, daß unsre Presse in der Berichterstattung
über den Prozeß in Altenstein Mustergültiges geleistet hat. Auch die wenigen
Kommentare, die die Verhandlungen begleitet haben, sind in einer Weise zurück¬
haltend und zartfühlend geschrieben worden, daß man nur die größte Achtung vor
der Leistung haben kann. Seur einer hat sich vergangen: Maximilian Harden.
Was in den Gutachten der Sachverständigen angedeutet war, hat er in eine grobe
Form gebracht, — hat er nicht etwa künstlerisch geformt. Was für Gebildete
verständlich war, hat er für die „Masse" des Schleiers entkleidet. Wozu? Heute
steht ihm die Pose des Vaterlandsretters nicht! Zu durchsichtig zeigt sich die Gier
nach klingendem Lohn, den ihm vielleicht Herr A. O. Weber streitig machen könnte!
Sein Aufsatz, der hoffentlich endgültig der Einziehung verfällt, zeigt aber auch,
wie tief die Phantasie dieses Mannes in demselben Schmutz sitzt, von dem er
borgab, das deutsche Volk befreien zu wollen.
II. Band.
Die Kirchen der oberdeutschen und der oberrheinischen Ordensprovinz. Mit
76 Abbildungen auf 18 Tafeln und 31 Abbildungen im Text. XVI und 390 S.
7,60 M. Freiburg 1910. Den in den letzten Jahren besonders zahlreich erschienenen
Werken von Jesuiten über Einzelfragen der Geschichte ihres Ordens in Deutschland
(so von Duhr, Rist, Dahlmann) reiht sich das zweibändige Werk von I. Braun
an. Es stellt einen schätzenswerten Beitrag zur Kultur, und Kunstgeschichte des
sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts dar. Der erste Band, der die Kirchen
der rheinischen und niederrheinischen Ordensprovinz behandelt und an das frühere
Werk des Verfassers über die belgischen Jesuitenkirchen anschließt, ist schon früher
M den „Grenzboten" (1908, IV 614/S) nach Inhalt und Form eine klare und
nüchterne Arbeit genannt worden. Dies Urteil gilt auch von: zweiten Band. Er
betrachtet die Kirchen der Jesuiten auf dem großen Gebiet von Straubing bis
Freiburg i. scho. und von Amberg bis Trient, deren Entstehungszeit von den
Ausläufern der Gotik im letzten Viertel des sechzehnten bis zum Muschelrokoko
um achtzehnten Jahrhundert geht. Auf reichen Archivmaterialien und einer großen
Literatur aufbauend, kommt das Buch zu vielen neuen, zum Teil überraschenden
Ergebnissen. Da den Jesuiten bei ihrer Niederlassung fast nirgendwo Kirchen zugewiesen
worden waren, stellen ihre Bauten fast überall einheitliche Zweckbauten dar, d. h.
sie sind mit der Absicht gebaut, Volkskirchen zu schaffen für die praktische Aufgabe
des Ordens (Predigt, Neligionsunterweisung, allgemeiner Gottesdienst). Daher
d/e architektonischen Eigenheiten, wie Einschiffigkeit, Fehlen des Querschiffs, seit¬
liche Emporen (meist doppelgeschossig), Betonung des inneren Schmucks vor dem
äußeren. Dagegen erweist sich das stilistische Gepräge als nicht verschieden von
der gleichzeitigen deutschen nichtjesuitischen Architektur. An einunddreißig Bauten,
von denen die Münchner Michaelskirche die bedeutendste ist (für sie wird der viel-
uwstrittene Friedrich Sustris endgültig als Erbauer nachgewiesen), wird durch
eingehende Beschreibung und bildliche Darstellung alles Typischen überzeugend
dargetan, daß „von einem Jesuitenstil keine Rede sein" könne, „sondern höchstens
von einem Typus in bezug ans die Raumdispositionen und gewisse praktische
bauliche Anlagen. Nicht die Jesuiten waren es, welche im Süden Deutschlands
die Renaissance einführten und dann die Renaissance zum Barock werden ließen;
. . . die Jesuiten gingen den Weg, der durch die Umgebung vorgezeichnet war". Dafür
zeugt wohl schon die unerwartete Feststellung, daß bei fast sämtlichen oberdeutschen
Jesuitenkirchen die Jesuiten selbst nur die Bauherren, Architekten aber einheimische
Nichtjesniten waren und daß bei keiner derselben ein Italiener tätig war Die
Dr. Franz
Als die Romantik in eine
süßlich klingelnde Künstelei auszuarten begann und man sehnsüchtig nach den
Klassikerbänden zurückgriff, entstand gemäß dem ewigen Entwicklungsgesetz der fort¬
währenden Änderung der Naturalismus. Er gab uns die Wahrheit und Kraft
wieder, die uns abhanden gekommen waren; dann benahm er sich allzu üppig und fiel
in die Grube des Gewesenen. Ein gesunder Realismus, der sich im schürfen des
Psychologischen nicht genug tun konnte und heute bereits mit Angst in die Zukunft
blickt, ward sein Erbe. E. T. A. Hoffmann, Edgar Man Poe, Gogol und andere, die die
Welt lange Zeit mißachtete, erleben in unserer Zeit der Überproduktion Ausgaben und,
was noch mehr gilt: Neuauflagen. Die Leser wollen eine bunte, phantastische
Handlung, Seltsamkeit in der Steigerung der realen Dinge, den Reiz des Hin¬
gerissenseins, das Dionysische. Der Alltag grub sich selbst sein Grab; er schuf uns
neue Wunder und darf nun nicht zürnen, daß wir an diese Wunder glauben. Wir
sind mit einem Male mitten drin im Wunderbaren; was Jahrtausenden ein uner¬
füllter Wunsch war, es ist unser Besitz — wir fliegen. Wir haben wieder Menschen,
die in Kühnheit neben uns wandeln; sie ziehen in Nacht und Eis und erobern
die alte Erde. Unerbittlich, heldenstark, phantastisch und wild-dämonisch wie die
Seele der Führer der Zeit und der Zukunft wird die Kunst werden, muß der neue
Roman sein, denn der Roman ist, kraft seiner künstlerischen Möglichkeiten, das
getreueste Spiegelbild jeder Zeit gewesen.
Wenn wir uns im deutschen Dichterkreis umschauen, so war außer einzelnen
Versuchen und romantischen Nachempfindungen vom neuen Roman noch wenig
zu spüren. Der Deutsch-Österreicher Karl Hans Strobl, der Eigensten einer, wies
fast allein auf diesen Weg, und auch das nur tastend, seiner inneren Triebkräfte
noch nicht bewußt. In den Skizzenbüchern „Aus Gründen und Abgründen". „Aus
dem Alltag und von drüben", in der Tycho de Brahe-Episode der „Vaclavbude",
in seinen historischen Novellen, in seinem Verständnis für Mombert und Poe
kündete sich bereits eine Phantasiewelt an, die Menschen und Vorgänge in zwei
Welten zu verlegen weiß. In der vor kurzen: erschienenen „Romantischen Reise
im Orient" zeigte sich Strobl als aktiver Mensch, als Feind des Stubendichters,
als einer von denen, die nach absonderlichen Geschehen auch körperlich streben.
Als sein neuer Roman mit dem sonderbaren Titel „Eleagabal Kuperus" bei
Georg Müller in München (2 Bände, 1910) erschien, da wußte ich's: nun hat
er sein Buch geschrieben, das Buch, das man lesen muß, will man sein innerstes
Wesen erkennen, sein Wesen, das der Ausdruck des menschlichen Sehnens und
Suchens unserer Zeit ist. Und ich habe mich nicht getäuscht; das Buch ist kühn,
romantisch, bedeutend und nicht letzten Endes aktuell, trotz des dauernden Kunst¬
werkes, den es besitzt.
„Eleagabal Kuperus" ist der Roman des Menschengeschlechts, der ringenden
Lichtsuchergilde, die erdgefesselt den Blick zur Höhe richtet und im Dunkel tief¬
irrender Erniedrigung den endlichen Sieg reinen Menschentums als sichere
Gewißheit trägt. „Glaube dem Wunder" steht an Eleagabals Haus, das nächtlich
Lichtschein aussendet in die finstere Niederung der Stadt, in der Bezugs Geldwille
herrscht. Bezug erscheint mir als der Bodensatz des Tierrestes in uns, als die
tödliche Falle unserer Sehnsucht nach rückwärts; er kauft Länder, Meere und
Menschen, um Herr zu sein. Doch Eleagabal wacht, er zieht die Menschheit an
unsichtbaren Fäden, er weiß um alles, was geschieht, wie der Turmwächter
Palingemus, der uralt ist und das Fortschreiten der Menschheit stets als erster
empfand, der fliegen kann. Seit vielen Jahren hat Palingenius, der Eleagabals
Freund ist, verstrickt in seine Arbeit den Turm nicht verlassen. Dort haust er mit
der holzsutzigeu Johanna, die ein Mann ist, und seinein Kinde Regime, in dessen
Antlitz die Linien der Angst und Liebe zu keuscher Schönheit zusammenfließen.
Regime liebt Adalbert Semilassa, der aus dem Walde kommt und erst als Mann
für sich die Welt neu entdeckt und drum ein Dichter ist. Bezug kauft ihn auf,
durch seinen Agenten Hainx, der Bezugs zügellose Tochter Elisabeth liebt, die Hecht
versprochen ist, wenn er ihrem Vater die geistigen Waffen liefert, um die Menschheit
zu unterjochen. Die „Gesellschaft zur Verwertung der Erdoberfläche" wird gegründet,
Bezugs Geld soll ihn zum Herrn der Erde machen, jeder Fußbreit Boden muß
ihm gehören, er wird Maschinen bauen, um den Sauerstoff aus der atmosphärischen
Luft zu entfernen, er wird die Atmung der Pflanzen einstellen. Er kauft die
Gelehrtenarbeit, die Dichter, alles Können und Erreichen, all den Sieg der
Menschenkraft-, er vernichtet die Früchte, ohne sie auch nur dem Menschengeschlecht
zu zeigen. Das Böse, das Uhle, die Menschen Durcheinanderwerfende läßt er
durch seine Helfer verbreiten. Professor Zugmeyer, einer der astronomischen Sklaven
Bezugs, entdeckt mit Bezugs Instrumenten, auf Bezugs Sternwarte, den Kometen,
der der Erde ihr Ende im Zusammenprall bereiten muß. Und er will schweigen.
Doch Bezug ist der Herr, er schürt das Entsetzen, die Verzweiflung-, der blutige
Taumel beginnt, mit Mord und Auflösung der Ordnungsbande. Bezug triumphiert.
Wohl hat Hecht, als er aus eigner Kraft ins Dunkel tauchte, hohnlächelnd sein
Geheimnis, die Welt zu überwältigen, mit sich genommen, doch nun scheint die
Schöpfung selbst Bezugs Pläne durchzuführen. Wieder zerbricht die grausame
Hoffnung — der Komet nimmt anderen Kurs, er entfernt sich, die Menschheit ist
gerettet. Noch weidet sich Bezug am aufgewühlten Entsetzen seiner Knechte, doch
die Wogen der wirr gewordenen Menschenseele ebben und, wie die klare Sonne
nach rauhem Sturmtag, bricht aufs neue, am Grabe vieler guten Keime, die
Hoffnung durch. Bezug ist tot, doch Hainx, sein Nachfolger, lebt, der ein neuer
Bezug werden soll, denn es scheint, daß die Menschen eine Faust über und in sich
haben müssen, die sie schlägt und die sie küssen, der sie zinsen. Adalbert Semilassa,
der Dichter, küßt Regime und sieht die Sterne durch den Weltraum fallen, unzählige,
und der große goldene Schatz wird nicht geringer — wie die Liebe, die immer
aus neuem Reichtum gibt.
Das ist eine Ahnung vom Geschehen in diesem reichen Buche, das man lesen
muß, das überquillt von geschauten und geformten Bildern. Inhalt und Form
sind zu einem schönen vollen Akkord verschmolzen. Die Sprache ist leichtflüssig
lind reich an eigen gesehenen Ausschnitten. Sie geht in einfachem Kleide, bescheiden
und vornehm. Stendhal sagt irgendwo, die feinste und richtigste Art sich zu kleiden
sei die, so angezogen zu sein, daß man nach dem Fortgehen der Persönlichkeit nicht
zu sagen wisse, was sie getragen habe. Das trifft auf Strobls künstlerische Mittel,
vor allem die Sprache, zu; wenn man das Buch aus der Hand legt, hat man
das Gefühl hohen auserlesenen Genusses, ohne sagen zu können darum denn
Walter von Molo
ans Meyer, den wir von jeher als einen der tatkräftigsten und
erfolgreichsten Bahnbrecher auf dem Gebiet der kolonialen Forschung
zu betrachten gewohnt sind, hat uns jetzt das langentbehrte Standard¬
werk über die Natur und Wirtschaft unsrer Kolonien beschert.
Für jeden denkenden Kolonialmann und Kolonialfreuud ist das ein
Ereignis. Nicht etwa um für den Wissenschaftler und Publizisten, sondern gerade
auch für den kolonialen Praktiker.
Das Werk will — sagt Meyer im Vorwort — nicht nur der landes¬
kundlichen Wissenschaft, sondern auch der kolonialen Praxis dienen. Es will
eine jedem Verständigen verständliche wissenschaftliche Landeskunde im Sinne der
modernen Geographie sein, die sich nicht mit der Beschreibung der Dinge,
Länder und Menschen begnügt, sondern die Erscheinungen der Erdoberfläche,
mit denen es die Geographie zu tun hat, in ihrem ursächlichen Zusammenhang
erkennen und verstehen und zu lebendiger Anschauung bringen will. Sie will
zeigen, wie aus der Erdlage und dem Aufbau eines Landes sich sein Klima
erklärt, wie das Klima und der Boden den Pflanzenwuchs bestimmen, wie
durch diese drei Faktoren die Tierwelt bedingt ist, wie sie alle zusammen die
physische und großenteils auch die psychische Eigenart des Menschen tief beein¬
flussen. Aus den gegenseitigen Beziehungen und dem Zusammenwirken der
Natureigenschaften und der Menschen ergeben sich schließlich die wirtschaftlichen
Wirklichkeiten und Möglichkeiten, die wir durch unsre koloniale Arbeit zu erhöhter
Entwickelung bringen können. Die wissenschaftliche Forschung wird von den
Praktikern allzuoft unterschätzt und viele von ihnen wären sehr erstaunt, wenn
man ihnen nachweisen würde, daß der Erfolg ihrer Arbeit eben auf diese
Forschung zurückzuführen ist. Die Forschungen und Versuche unsrer Wissen¬
schaftler auf botanischen: und landwirtschaftlichen Gebiet werden zur Not uoch
geachtet, auch die Arbeit des Geologen, soweit sie unmittelbar auf die Fest¬
stellung wertvoller Mineralien hinausläuft, läßt man gerne gelten, aber darüber
hinaus geht heute das Interesse am Forscher und seiner Tätigkeit in kolonialen
Kreisen vielfach uicht. Und dabei ist gerade der Mangel wissenschaftlicher
Erkenntnis daran schuld gewesen, daß die ersten fünfzehn bis zwanzig Jahre
unsrer kolonialen Betätigung nahezu unfruchtbar blieben. Über planloses
Experimentieren sind wir in dieser Zeit nicht hinausgekommen. So wurden
z. B. unüberlegt bedeutende Kapitalien in den Kaffeebau in Ostafrika gesteckt,
ohne daß man sich vorher durch Versuche vergewissert hatte, ob und in welchen
Gegenden diese Kultur überhaupt möglich sei. Die Fehlgriffe solcher Art, die
zu zahlreich sind, als daß man sie hier aufführen könnte, waren samt und
sonders darauf zurückzuführen, daß man die spezielle Natur der betreffenden
Gebiete nicht kannte, sondern sich von rein äußerlichen Gesichtspunkten leiten ließ.
Deutsch-Ostafrika ist ein tropisches Land — argumentierte man —, also
müssen da tropische Kulturen gedeihen; und weil der Kaffee gerade gut im
Preise stand, so fing man an, Kaffee zu bauen. Es gibt manchen „alten
Afrikaner" oder Südseemcmu, der schwer gekränkt wäre, wenn man ihm den
Ehrentitel eines Kulturpioniers bestreiten wollte. Er hat ja vielleicht ganz brav
gearbeitet und auch dies und jenes erreicht, aber er hätte sicherlich noch mehr
erreicht, wenn er einige Kenntnisse auf dem Gebiet der praktischen Geographie,
Geologie, Botanik usw. mit hinaufgebracht hätte. Ich habe z. B. unlängst
einen alten Kameruner, der so ungefähr sein Dutzend Dienstjahre hinter sich
hat, nach einem Baum gefragt, dessen riesige und charakteristische Form nur auf
einigen Urwaldbildern auffiel. „Ja," erwiderte mein Kameruner, „der Baum
kommt tausendfach vor, aber wie er heißt und ob er einen Nutzwert hat, weiß
ich nicht, ich habe mich noch nie darum bekümmert, ich verstehe auch nichts vou
Botanik." Auf diese Gleichgültigkeit gegenüber Dingen, die nicht in das spezielle
„Ressort" des Beamten, Offiziers oder Kaufmanns fielen, kann wohl teilweise
die langsame Entwickelung unsrer Kolonien zurückgeführt werden. Damit soll
den Leuten kein Vorwurf gemacht werden, ich will damit vielmehr lediglich
dartun. wie notwendig eine gewisse einschlägige Vorbildung über die Natur
des Landes und die Erziehung zur selbständigen Beobachtung für alle die¬
jenigen ist. die draußen praktisch tätig sein wollen.
In den letzten zehn Jahren ist es in dieser Hinsicht erheblich besser geworden
und man kann wohl sagen, daß wir jetzt unsre Kolonien in großen Zügen so weit
erforscht haben, daß jetzt den Spezialforschungen immer mehr eine praktische
Richtung gegeben werden kann.
Das vorliegende Werk Hans Meyers soll eine Zusammenfassung alles
dessen sein, was zur kolonialen allgemeinen Bildung gehört, und die Art, wie
der Herausgeber dieser Aufgabe gerecht wird, zeigt wieder einmal, daß ihm
neben reichen: wissenschaftlichen Können auch ein eminent praktischer Blick zu
eigen ist. Man könnte nun einwerfen, daß von Anfang an, wenigstens vereinzelt,
auch der Fachwissenschaftler auf verschiedenen Gebieten draußen gearbeitet hat
und daß das Ergebnis in einer umfangreichen Literatur niedergelegt ist. Gewiß,
aber der Mangel dieser Literatur bestand eben darin, daß die Kenntnis dieser
Forschungen auf einen kleinen Kreis beschränkt blieb, daß der Praktiker sie nicht
übersehen und nutzbar machen konnte. Er ging notgedrungen meist ohne
geordnete Vorkenntnisse hinaus und mußte seine Erfahrungen zu seinem Schaden
auf rein empirischem Wege sammeln.
Diesem Mangel, den vielleicht bis vor kürzern eigentlich nur der Publizist
wirklich selbst fühlte und erkannte, hilft das Meyersche Werk ab. Das in ihm
niedergelegte Wissen bildet die Grundlage für die Berufsausbildung jeden
Kolonialfachmanns, sei er nun Pflanzer, Kaufmann, Beamter, Offizier, oder
Botaniker, Geologe usw. Dieses Wissen gibt ihm die Möglichkeit, mit Erfolg
sich in sein spezielles Arbeitsgebiet hineinzufinden. Und für den Gebildeten,
den Kolonialfreund repräsentiert ein ungefährer Überblick über den Inhalt des
Werkes, wie schon gesagt, die allgemeine koloniale Bildung. Der koloniale
Publizist aber kann angesichts des mit Spannung erwarteten Buches geradezu
aufatmen. Nirgends in dem Maße wie auf kolonialen Gebiet hatte man bisher
nnter der mangelnden Konzentration der Literatur zu leiden. Nicht nur war
das koloniale Wissen in zahllosen Büchern, Broschüren und Zeitschriften zerstreut,
sondern es machte sich außerdem neben krasser Ignoranz und kindlicher Naivität
ein starker Mangel wissenschaftlicher Schulung geltend. Aber das wäre nicht
das Schlimmste, falls es sich wenigstens, wenn auch mit Zeitverlust, erkennen
ließ. Schlimmer war schon die Literatur, die unter wissenschaftlichem Anstrich
und autoritativen: Mäntelchen unrichtiges und unbrauchbares Material birgt.
Auch das ist ein Verdienst des Menerschen Werkes, daß es einmal die Spreu
vom Weizen getrennt hat. Allerdings ist in den den einzelnen Abschnitten bei¬
gegebenen Literaturnachweisen noch manches Buch aufgeführt, das meines Erachtens
nicht sonderlich ernst zu nehmen ist, aber das sind vielleicht Ansichtssachen. Der
Güte des Werkes tut dies jedenfalls keinen Abbruch, denn der Fachmann weiß
nach seinen eigenen Anschauungen zu unterscheiden und der Laie läßt sich an
dem Text genügen.
Die sachliche Einteilung ergibt sich schon ans dem oben angedeuteten
Gesamtplan des Werkes: Entdeckungsgeschichte — Oberflächengestaltung —
Klima — Pflanzen- und Tierwelt — Bevölkerung — natürliche Landschaften —
Kolonialwirtschaft (Produkte, Handel, Kulturen, Besiedelung, Verkehr, Wirtschafts¬
statistik).
Ostafrika ist von dem Herausgeber Hans Meyer selbst bearbeitet. Kamerun
und Togo von Siegfried Paffarge, Südwestafrika von Leonhard Schultze, Südsee
von Wilhelm Siepers, Kiautschou von Georg Wegener.
Als Ergebnis der zusammenfassenden Untersuchungen Hans Meyers kann
hervorgehoben werden, daß auch im deutschen Kolonialreich jeder Teil eine
naturbedingte, organische Einheit ist. Allerdings — und das möchte ich zur
Ehre unsrer draußen tätigen Beamten und Offiziere betonen — ist das
durch deren Tätigkeit erst allmählich geworden. Die Grenzen verliefen dank
der Kompromißpolitik der heimischen Regierung vielfach so unglücklich, daß
manche politische Einheit, manches Wirtschaftsgebiet verstümmelt war. Durch
geschickte politische und wirtschaftliche Maßnahmen wurde mancher Fehler, den
die Feder des Diplomaten gemacht hatte, nachher repariert.
Der Übersichtlichkeit der sachlichen Einteilung des Werkes stellt sich die Ver¬
ständlichkeit und Anschaulichkeit der Darstellung würdig an die Seite. Prächtige
Einzeldarstellungen, z. B. interessanter Landschaften, wichtiger Plätze, beleben
den Text. Zum Beispiel — um einen aktuellen Gegenstand herauszugreifen —
gibt die Darstellung des Diamanteuvorkommens in Südwestafrika eilt klares Bild
der Verhältnisse, soweit sie sich bis jetzt übersehen lassen. Mancher wird in
dem Wust voir Zeitungsnachrichten der letzten Zeit jede Übersicht über das
allgemein Wissenswerte verloren haben. In der Darstellung des vorliegenden
Werkes hat man das alles wieder auf etwa einer Seite beisammen. Es ließe
sich noch manche lehrreiche und schöne Schilderung herausgreifen, aber dazu
mangelt es uns hier an Raum. Ich möchte aber noch hervorheben, daß der
Zeitungsleser an dem Werk seine helle Freude haben kann.
Die technische Ausstattung macht dem Bibliographischen Institut in Leipzig
alle Ehre. Schon ein kurzes Durchblättern des Werkes wird zum ästhetische,:
Genuß. Neben zwölf farbigen Bildern nach Originalen des Malers Hans Busse,
kleinen Kunstwerken, enthält es eine große Zahl ausgezeichneter Reproduktionen
nach Photographien, Karten, graphische Darstellungen usw. Alles in allem bilden
die beiden Bände eine Zierde jeder Bücherei.
Der Herausgeber und seine Mitarbeiter haben sich mit dem Werk ein
dauerndes Denkmal gesetzt, schon allein dadurch, daß sie uns damit den untrüg¬
lichen Beweis von dem Wert des deutschen Kolonialreichs geliefert haben.
Anzeigen-Annahme für diesen Teil beim Verlag der Grenzvotcn G. in. b. H.,
Berlin 8W. 11, Bernburger Straße 22a/23.
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Herausgeber Dr zur. Wa« Seidel, Geheimer Regierungsrat.
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"1- Pfarrer »ach Pnstami», Kreis Schlawe i. Pomnieru
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Hauslehrer theol. (Cammin, Pommern).
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Sachsen.
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!7> Obcrbeamtcr sür Rheinland und Westfalen,
w. Mineralwasser-Vertrieb (Köln).2ü. Privatsekretär sür Berlin (Sprachkenntnissc).
24. General-Agent (Aachen).
26. General-Vertreter (10000 bis 1200» M. Bar¬
kapital).
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Lebens in der ganzen Welt unterhaltend zu belehren und ihn über alle bemerkens¬
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mes der wichtigsten Ereignisse aus der politischen Geschichte
Deutschlands in den letzten Jahren ist der Übergang der frei¬
sinnigen Parteien zu staatlicheren Anschauungen: die Abstimmungen
des deutschen Reichstags im Dezember 1906 mit ihren Folgen
stellen höchst bedeutungsvolle Vorgänge dar. Die Freisinnigen
bekennen sich heute zu Dingen, die sie in einer früheren Zeit verdammt
hatten. In den Momenten solcher Wandlungen entsteht oft eine historische
Legende: man überträgt das, was man heute vertritt, in die Vergangenheit
der Partei; man glaubt immer schon das Richtige erkannt zu haben; man
sieht die Wandlung auf feiten der Gegner. Kleine Pröbchen solcher Legenden
haben die freisinnigen Zeitungen in jenem Zusammenhang bereits geboten. In
größerem Stil findet man sie in einem Aufsatz, den der Reichstagsabgeordnete
Naumann über Sonnemann und die „Frankfurter Zeitung" in den „Süddeutschen
Monatsheften" (Januar 1910, S. 66 ff.) verdeutlicht hat. Naumann ist ein
Meister des Stils. Dieses formelle Talent sichert ihm stets einen großen Leser¬
kreis. Aber über der lockenden Form darf man die Prüfung des Inhalts nicht
versäumen. Gerade die breite Wirkung, die die Darstellungsform übt, fordert
dazu heraus. Und eben in: vorliegenden Fall erweist die Prüfung, daß
Naumann mit dichterischer Phantasie eine volle Legende geschaffen hat. Es
trifft sich glücklich, daß ungefähr über dieselben Dinge vorher der Neichstags-
abgeordnete Pamer einen Bericht veröffentlicht hatte im achten Jahrgang der
"Patria" (Jahrbuch der „Hilfe"): „Die deutsche Volkspartei und die Bismarcksche
Politik". Dieser Bericht ist aus eigener Kenntnis der Verhältnisse heraus
geschrieben, gibt aber ein wesentlich anderes Bild von den Dingen, als wie wir
es bei Naumann finden. Überhaupt ist die Darstellung Paners sehr lehrreich.
Sie verdient um ihres Inhalts wie um des Verfassers willen Beachtung. Payer
ist ein Politiker, der sich der Achtung nicht nur innerhalb seiner Partei erfreut;
durch sein Auftreten bei den Verhandlungen über das Vereinsgesetz hat er seinem
Namen einen Platz in der Geschichte des Reichstags gesichert.
Payer hebt hervor, die Gegensätze zwischen Nord- und Süddeutschland seien
vor vierzig, fünfzig Jahren „in einer ganz anderen Schroffheit zutage getreten,
als sie sich heutzutage der verstockteste bayrische Partikularist vorstellt". „Die
sich für rein deutsch anhebenden Stämme Süddeutschlands blickten stolz auf ihre
Bedeutung in früheren Jahrhunderten, auf das erst allmählich herangewachsene
Preußen herab; die in den Verhältnissen wohlbegründete Sparsamkeit des
Staates Preußen und seiner Bewohner galt allgemein als Hungerleiderei."
Man beachte die Urteile, die Payer hier nebenbei einfließen läßt, wie er z. B. den
süddeutschen Stämmen Bedeutung „in früheren Jahrhunderten" beimißt. Wenn
er dann fortfährt: „Die Angehörigen des preußischen Staates, ihrer Verdienste
um die neuere Entwicklung sich wohlbewußt..., zollten dem sogenannten
Phäakenleben der bequemeren und behaglicheren Süddeutschen unverhohlen ihre
Mißachtung", so hat sich ja in der Tat mancher Preuße — wir erinnern an
Immermann — so geäußert. Überwiegend aber geschah es nur, wenn der
Preuße (wie auch eben Immermann) nach Süddeutschland kam und hier das
Mißverhältnis zwischen gewaltigem Selbstbewußtsein und bescheideneren Leistungen
im politischen Leben beobachtete. Überwiegend widmeten die Norddeutschen den
Süddeutschen liebevolles Interesse und freuten sich an ihrer Eigenart. Vor allem
die „Kleindeutschen", die von Papers Partei so sehr gehaßt wurden, wußten
gar nichts von „Mißachtung" für Süddeutschland, sondern kannten keinen sehn¬
licheren Wunsch als den der innigen Vereinigung der Nord- und Süddeutschen,
während Papers Gesinnungsgenossen mit nicht geringerem Eifer als die Ultra¬
montanen die Preußen von sich fernzuhalten suchten.
Bemerkenswert ist es ferner, daß Payer, indem er weiter süddeutsche Urteile
über die preußische Politik aufzählt, zu verstehen gibt, das sei nur die „süd¬
deutsche Auffassung" gewesen. Beachtenswert sind ebenso folgende Geständnisse:
„Die Süddeutschen haben die Vorliebe für militärische Machtentfaltung, soweit
sie ihnen jetzt eigen ist, erst in den letzten Jahrzehnten erworben. Zur Zeit des
Deutschen Bundes waren ihnen schon die damaligen, nach jetzigen Begriffen
mehr als bescheidenen militärischen Anforderungen zu hoch." Eine Ausstellung
haben wir an diesen Sätzen nur insoweit anzubringen, als Payer hier seine
Parteigenossen mit den Süddeutschen schlechthin gleichsetzt. Die „Deutsche
Partei" in Württemberg hatte schon viel früher Sinn für „militärische
Machtentfaltung" bekundet. Im übrigen verschleiert Payer keineswegs den
hiermit angedeuteten Gegensatz, und so hat er denn auch den Mut, offen zu
gestehen, was heute gewissen vorgeschrittenen Liberalen zu hören unlieb ist:
„Die deutsche Volkspartei wurde ausdrücklich zur Bekämpfung des National¬
vereins gegründet." Die Volksparteiler waren eben echte Partikularisten, dazu
von einer durch keine Sachkenntnis getrübten Vorliebe für Österreich und von
einem gleichwertigen Haß gegen Preußen erfüllt. Amüsant ist bei der Vorliebe
für Österreich die republikanische Gesinnung. „Der Charakter der Partei" —
sagt Paper — „war stark republikanisch: wenn die alten Kämpfer in Stimmung
kamen, war ihnen ein Hoch auf die deutsche Republik ein Bedürfnis."
Lehrreich sind Papers Mitteilungen über die Zusammensetzung der Volks¬
partei. Sie umfaßte vorzugsweise Kreise des Kleinbürgertums. Ein interessanter
Beitrag zur Geschichte der Demokratie liegt darin, daß nicht jene die Führung
hatten; diese „fiel im wesentlichen Nechtsamvälten und einigen journalistisch
beschäftigten Politikern zu". Wider Willen bestätigt Paper hiermit das Urteil
Bismarcks und so vieler konservativen Politikerl Nach 1866 schlössen sich der
Partei, wie Paper weiter erzählt, aus Abneigung gegen Preußen „kurhessische,
sächsische und welfische Politiker an, die ihr demokratisches Herz entdeckten und,
wenn auch nur vorübergehend, eine lebhafte Tätigkeit für die volksparteiliche
Sache entfalteten, an der manche in Wirklichkeit wohl nur der föderative Gedanke
erfreuen mochte. In meiner Erinnerung stehen sie als kluge, gebildete, wohl¬
erzogene Männer, die uns für unseren stark bürgerlichen Geschmack fast zu vornehm
erschienen. Zu wirklichem Einfluß kamen sie nie, am wenigsten auf die Massen,
wenn sie auch für die programmatische Arbeit vieles leisteten." In der Einfluß-
losigkeit der „klugen, gebildeten, wohlerzogenen Männer", deren Talent man
„für die programmatische Arbeit" nur ausnutzt, liegt wiederum ein charakte¬
ristischer Beitrag zur Naturgeschichte der Demokratie. Heute kann man bei der
Steigerung der demokratischen Allüren, die gegenwärtig in Süddeutschland so
beliebt sind, ähnliches erleben. In einer süddeutschen Hauptstadt wurde vor
nicht langer Zeit ein patriotisches Fest gefeiert. Sonst war es Stil, daß man
für solche Fälle den hervorragendsten Redner auswählte. Jetzt verlangte der
demokratische Zeitgeist, daß nicht ein Gebildeter, sondern „ein geringer Mann
aus dem Volke" die Festrede hielt, und nun lauschten die gebildeten Kreise der
Hauptstadt der Rede, die der „geringe Mann aus dem Volke" sich vielleicht von
einem — Halbgebildeten hatte machen lassen.
Wie aus den: Gesagten hervorgeht, war neben der Demokratie das Haupt¬
stück der Volkspartei der Partikularismus oder, wie Paper schamhaft die Sache
nennt, der „Föderalismus". Eben um dieses schroffen Partikularismus willen
fand sie nach 1866 auch die Unterstützung der württembergischen Regierung. Es
ist sehr amüsant, was Paper hierüber erzählt. Die Unterstützung der Regierung
und die Hilfe der Großdeutschen verschafften den Demokraten bei den Wahlen
Sum Zollparlament im Jahre 1868 den Sieg über die Kleindeutschen: „nicht
ein Vertreter dieser Richtung wurde nach Berlin entsandt. In: Juli desselben
Jahres revanchierte die Volkspartei sich bei den Landtagswahlen, für welche
mittlerweile König Karl das allgemeine, geheime und direkte Wahlrecht ein¬
geführt hatte, bei der Regierung für den geleisteten Beistand."
Im Jahre 1868 gab sich die Volkspartei als „Südbund" ein offizielles
Programm. Paper selbst gesteht zu, daß es einen schärferen Gegensatz zu dem
Programm Bismarcks kaum geben konnte. Man setzte sich zum Ziel die
„größere Selbständigkeit" der Einzelstaaten (einschließlich in gewissem Sinne
auch der von Preußen annektierten Länder), verlangte ein dem schweizerischen
ähnliches „Milizwesen", forderte die Wiedervereinigung mit Österreich und gab
allen Sätzen vor allem eine Spitze gegen Preußen. Hier führt in erster Linie
der Partikularismus das große Wort; die demokratischen Tendenzen treten dem
gegenüber zurück. Vom Standpunkt der Demokratie aus hätte man auch Bismarck
keineswegs große Vorwürfe machen können: er hatte ja noch vor Württemberg das
allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht für den norddeutschen Reichstag eingeführt.
Mit jenen lieblichen Bestrebungen der Volkspartei räumte der Krieg von
1870 gründlich auf. „Mit dem Südbund, mit dem Milizsystem und um ein
Haar mit der Volkspartei selbst war es aus." Im Gegensatz zu dieser gewann
jetzt in Württemberg die „Deutsche Partei" Boden. Nur mühsam raffte sich
die Volkspartei auf und blieb, namentlich in: deutscheu Reichstag, einstweilen
recht schwach. Es ist interessant, bei Paper zu lesen, wie schwer sich seiue
Parteigenossen in die neuen Verhältnisse zu finden wußten. „Eigentlich müßte"
— sagt er — „eine Generation aussterben, bis ein solcher innerer Riß vernarbt
ist." Die Volksparteiler behielten ihren Groll in: Herzen und kämpften weiter
für das föderalistische Prinzip gegen den preußischen Einfluß. Paper nennt es
„befremdend", daß in den siebziger Jahren die Polemik zwischen der Volks¬
partei und Bismarck ihren Höhepunkt erreichte. Wie sollte das befremdend
sein? Die volksparteilichen Abgeordneten waren mit ihrem Haß gegen Preußen
eben jetzt ja erst in den neuen deutschen Reichstag eingetreten; jetzt mußte der
Gegensatz vollends offenbar werden. Paper will Bismarcks Unwillen über die
Volkspartei vornehmlich darauf zurückführen, daß sie im Kulturkampf dem
Zentrum beisprang. Dies Motiv wird natürlich mitgewirkt haben; allein tiefere
Gegensätze waren ja genug vorhanden.
Payer berichtet dann ausführlich über die persönlichen Streitigkeiten zwischen
den Volksparteilern und Bismarck. Niemand wird heute alles entschuldigen,
was dieser in der Leidenschaft gegen jene unternommen. Allein er war nun
einmal für sie der bestgehaßte Mann von 1866 her, und was sie ihm boten,
zeigt die von dem Stuttgarter „Beobachter" erhobene Anschuldigung, er habe
sich das Kullmannsche Attentat selbst bestellt! Überdies ist heute die Zahl der
Bismarckschen Angriffe gegen die Volkspartei in der „Geschichte der Frankfurter
Zeitung" genau verzeichnet, während wir eine gleich sorgfältige Registrierung
dessen, was die Volkspartei gegen ihn verbrochen, nicht besitzen. Für die Natur
der Volkspartei aber ist es bezeichnend, daß selbst ein Mann wie Paper jenen
persönlichen Streitigkeiten in seiner Darstellung einen unverhältnismäßig großen
Raum gewährt und deshalb nicht dazu kommt, sich über die großen Aufgaben
der Reichspolitik, in denen die Volkspartei Bismarck widerstrebte, mit gleicher
Ausführlichkeit zu äußern*). Schließlich hebe ich aus diesem Abschnitt noch
folgende Sätze hervor: „Auf den einen oder anderen von uns, der späterhin
persönlich mit Bismarck in Berührung kam, hat er merkwürdigerweise bis¬
weilen einen geradezu faszinierenden Eindruck gemacht. Der Reiz seiner Persön¬
lichkeit muß im Umgang ein ganz außergewöhnlicher gewesen sein. Ich ent¬
sinne mich eines sehr entschiedenen jungen denrokratisch-fortschrittlichen Berliners,
der erst nach Tagen seine Objektivität zur Not wiederfand." Man sieht: nach
der damaligen Auffassung der Volksparteiler war es das denkbar Entsetzlichste,
sich von Bismarck beeinflussen zu lassen.
Payer wirft endlich ganz allgemein die Frage auf, ob die alte volks¬
parteiliche Politik die richtige gewesen sei. Man beobachtet, wie schwer es ihm
wird, die Bejahung der Frage zu vermeiden. Aber er ist viel zu ehrlich, um
sie leicht zu nehmen, und er räumt mehreres ein. was wir als bemerkens¬
wertes und erfreuliches Eingeständnis verzeichnen. „Unsere damaligen Führer
haben die Machtfaktoren nicht richtig eingeschätzt." „Sicherlich haben bei Auf¬
stellung unseres nationalen Programms eine hoffnungsfreudige Phantasie, eine
gewisse Schwärmerei mehr angesprochen, als unsere höchst nüchtern und berechnend
gewordenen Nachkommen zu verstehen vermögen." Wir werden wohl sachlich
richtiger urteilen, wenn wir das alte volksparteiliche Programm mit seiner
Ablehnung aller kräftigen Machtentfaltung des Reichs in erster Linie als ein
Produkt der Engherzigkeit auffassen, was ja nicht ausschließt, daß eine „hofsnungs-
fteudige Phantasie" und „eine gewisse Schwärmerei" mitgewirkt haben. Indessen
lassen wir den Volksparteilern das Vergnügen, ihren Rückzug möglichst günstig
zu motivieren; die Hauptsache ist, daß sie — wie Payer es tut — die alte
Politik als uicht richtig erkennen.
Während Payer, der den alten Standpunkt der Volkspartei noch selbst als
Politiker vertreten hat, jetzt deren Irrtümer offen anerkennt, macht sich Naumann,
der von Haus aus nichts mit ihr zu tun hat, heute zu ihrem unbedingten Lob¬
redner. Dein kühnsten Entwicklungsfanatiker muß die Großartigkeit imponieren,
mit der sich der ehemalige Anhänger Stöckers und Verehrer Bismarcks zum
kritiklosen Anbeter der Volkspartei und vor allem Sonnemanns und seiner
„Frankfurter Zeitung" umgebildet hat. Für Naumann, der uns so eindringlich
M predigen wußte, wir sollten national werden, der immer von neuem von der
Notwendigkeit eines starken Heeres, einer starken Flotte, eines kräftigen Aufbaus
unseres kolonialen Besitzes sprach, ist heute der wahre und einzige Prophet
Sonnemann, der tatsächlich alle diese schönen Dinge für Unsinn gehalten hat.
Wir wissen wohl, daß gegenwärtig von der „Frankfurter Zeitung" so kindliche
Anschauungen nicht mehr geteilt werden. Es hat sich in ihrer Redaktion eine
bedeutungsvolle Wandlung vollzogen, von der die Redakteure auch gar kein
Hehl machen, wie denn einer von ihnen sich zu dem Schreiber dieser Zeilen
offen darüber ausgesprochen hat. Obwohl eine weitere Fortbildung des politischen
Urteils der Redaktion noch durchaus wünschenswert bleibt, so erkennen wir doch
bereitwillig an, daß die „Frankfurter Zeitung" der Zeit Bismarcks sich zu der
„Frankfurter Zeitung" von heute ungefähr verhält wie das Kind zu dem
gereiften Mann. Naumann aber will davon gar nichts wissen. Nach ihm
haben Sonnemann und die „Frankfurter Zeitung" im Kampf gegen Bismarck
„in allen großen Fragen recht gehabt"! Was sind denn diese großen Fragen?
Welchen Widerstand die Volkspartei (und die „Frankfurter Zeitung" mit ihr)
der Wiederaufrichtung des Deutschen Reichs, die doch nur nach Bismarcks Ideen
zustande kommen konnte, geleistet hat, das hat uns ja Paper deutlich dargelegt.
Und wie die gute Frankfurterin sich zu Heeres-, Flotten- und kolonialen Fragen
stellte, das haben wir ja soeben berührt. Naumann führt den Widerspruch der
„Frankfurter Zeitung" gegen den Kulturkampf ins Feld. Wir wollen davon
absehen, daß sie darin nicht allein stand (ein Teil der Konservativen verurteilte
ihn ja auch), auch davou, daß gerade für den Bismarckschen Kulturkampf eine
gewisse Notwendigkeit vorlag. Wir wollen nnr die praktischen Folgen jenes
Widerspruchs etwas beleuchten. Die Frankfurterin fand damals in ultramontanen
Kreisen weite Verbreitung und erfreute sich bei ihnen großer Beliebtheit.
Und das Organ, das damit den Zentrumsleuten so sehr willkommen wurde,
suchte seinen Schwerpunkt in dem Kampf gegen Preußen und gegen die Anforde¬
rungen eines starken Nationalstaates. Wenn dann die Ultramontanen sich gegen
nationale und staatliche Forderungen ablehnend verhielten, so konnten sie sich
berufen auf die gleiche Auffassung in ganz „freisinnigen" Kreisen. Der Ultra¬
montanismus empfing so die Märtyrerkrone des Kampfes für „Freiheit" und
„Volksrechte". Man spricht gern von dein Mangel an staatlichem und nationalem
Gefühl beim Zentrum. Man sollte aber berücksichtigen, daß dieser Mangel zu
einem sehr erheblichen Teil zurückgeht auf Anschauungen, die den Zentrums-
leuten eben damals von Organen wie der „Frankfurter Zeitung" suggeriert
wurden. Im übrigen weiß jedermann, daß, wenn die kirchenpolitischenAnschauungen
der Volkspartei in einem Staat zur Herrschaft gebracht werden sollen, es einen
„Kulturkampf" gibt, dem gegenüber der Bismarcksche ein Waisenkind bleibt.
Naumann führt ferner zum Beweis dafür, daß Sonnemann „in allen großen
Fragen recht gehabt" habe, seine „Auffassung vom internationalen Friedens¬
bedürfnis" an. So wie er sich die Sache dachte, bedeutete sie die Negation
einer starken Armee des Deutschen Reichs. Hat er damit recht gehabt? Jene
Äußerung Naumanns ist mir insoweit von Interesse, als sie eine Andeutung
darüber gibt, wo er vielleicht noch einmal landen wird. Zum Lob darf man
es der „Frankfurter Zeitung" anrechnen, daß sie frühzeitig für die soziale
Gesetzgebung eingetreten ist, während andere freisinnige Gruppen ihr lange
widerstrebten und ein freisinniger Führer wie Bamberger ihr dauernd abgeneigt
blieb. Indessen hier hat die Frankfurterin keineswegs im Gegensatz zu Bismarck
recht gehabt, sondern sich ihm einfach anschließen müssen.
Hören wir aber die weiteren Urteile unseres Historikers. Er faßt Südwest-
deutschland als eine Einheit auf, dessen normales Organ stets die „Frankfurter
Zeitung" gewesen sei. Sonnemann und die Frankfurterin vertraten „den
praktischen Menschenverstand eines nicht vom Junkertum verdorbenen Landesteils".
„Es lebte dort eine ältere Kulturgesinnung, die sich nicht militärisch wollte
kommandieren lassen." „Durch die „Frankfurter Zeitung" wurde diesem Teile
Deutschlands sein geistiges Eigenleben bewahrt, und wir hoffen, daß auch in
Zukunft dieses Bollwerk gegen die allgemeine Verscherlisierung des National¬
geistes bestehen bleibt, so wie Sonnemann es aufgerichtet hat." Ani zunächst
über diese Gegenüberstellung von Sonnemann und schert ein Wort zu sagen,
so scheint nur eher eine starke Ähnlichkeit zwischen beiden zu bestehen. Beide
üben eine starke Wirkung auf die Presse durch ihr Kapital. Die „Frankfurter
Zeitung" ist 1856 von den Bankiers Rosenthal und Sonnemann gegründet
worden; die finanzielle Leistungsfähigkeit der Unternehmer ermöglichte eine
umfassende kostspielige Organisation. Anfangs war sie nur Handelsblatt;
zugleich politische Zeitung wurde sie 1853. Als kapitalkräftiges Organ konnte
sie einen vorzüglichen Nachrichtendienst einrichten, für politische wie Börsen¬
neuigkeiten; was zur Folge gehabt hat, daß sie einen großen Leserkreis auch
außerhalb der politischen Gesinnungsgenossen findet. Und als kapitalkräftiges
Organ weiß sie ferner durch hohe Honorare auch Mitarbeiter aus anderen
politischen Kreisen heranzuziehen. Aber alles wird in den Dienst einer bestimmten
politischen Tendenz gestellt. Die Scherlschen Unternehmungen haben ihren Aus¬
gangspunkt ebenfalls im Kapital. Die Parteipresse steht in ihnen eine große
Gefahr, und es würde in der Tat aufs höchste zu bedauern sein, wenn jene
beiseite geschoben würde. Allein eine solche Gefahr kommt von der „Frank¬
furter Zeitung" gleichfalls, insofern bei ihr das Kapital unabhängig von den
sachlichen Argumenten stark zur Verbreitung des Blattes beiträgt. Und bei
dem Frankfurter Blatt wird das mächtige Kapital in den Dienst einer bestimmten
Partei gestellt, während die Scherischen Organe Sprachrohr für alle Parteien
sein wollen. Speziell auch in Süddeutschland hat das Kapital der „Frankfurter
Zeitung" ihr unverhältnismäßige Verbreitung verschafft. Unbedingt verkehrt ist
es jedoch, mit Naumann sie als die normale süddeutsche Zeitung auszugeben
und in ihr die Verkörperung des „praktischen Menschenverstandes" dieses Landes¬
teiles zu sehen. Württemberg z. B. hat „sein geistiges Eigenleben" zweifellos
mehr durch den „Schwäbischen Merkur" als durch die Frankfurterin bewahrt,
und zwar in der Bismarckschen Zeit, von der Naumann spricht, noch mehr als
heute. Man denke ferner an die lange Zeit so angesehene „Münchener Allgemeine
Zeitung", die „Münchener Neuesten Nachrichten", die nationalliberalcn Zeitungen
Badens, die „Straßburger Post". Es stände auch sehr schlimm um den Ruhm
Südwestdeutschlands, wenn es keinen anderen „praktischen Menschenverstand"
hervorgebracht hätte als den der „Frankfurter Zeitung". In Wahrheit entsprang
deren Haltung keineswegs einem wahren „praktischen Menschenverstand", sondern,
um mit Payer zu reden, einer unrichtigen Einschätzung der Machtfaktoren und
einer gewissen Schwärmerei oder, wie wir sagen, einer recht engherzigen Auf¬
fassung der Dinge. Naumann tut so, als ob im Zeitalter Bismarcks ganz Süd-
deutschlcmd wie ein Mann hinter Sonnemann und seiner Frankfurterin gestanden
hätte. In Wahrheit aber nahmen doch alle wirklich großen Männer Süd¬
deutschlands eine ganz andere Haltung ein. Die Häußer und Mathy — um
nur ein paar Badener und zwar echte Badener zu nennen — waren unzweifelhaft
echtere Repräsentanten einer süddeutschen „älteren Kulturgesinnung" als Sonne¬
mann, der gewiß ein ausgezeichneter Geschäftsmann, aber, wie Naumann selbst
bemerkt, von Haus aus ohne besonders hohe Bildung gewesen und Geschäfts¬
mann lebenslang geblieben ist.
Naumann geht schließlich so weit, Sonnemann als einen besonderen Förderer
des Deutschtums zu feiern. Gegenüber Bismarck, der den Eigentümer der
„Frankfurter Zeitung" einen Agenten des Auslandes genannt hat, bezeichnet er
ihn als als einen „Agenten des Deutschtums in allen Ländern". Die „Frank¬
furter Zeitung" habe „die große Macht, die sie innerhalb der internationalen
Presse besitzt, immer zur Stärkung des deutschen Einflusses angewendet". Gewiß
hatte Bismarck formell mit seiner Anschuldigung unrecht: bestellte oder gar
bezahlte Arbeit für das Ausland hat die „Frankfurter Zeitung" nie geliefert.
Allein materiell darf man Bismarck nicht ganz widersprechen. Denn durch die
Zerrbilder, die jene Zeitung von den deutschen Verhältnissen lieferte, hat sie
wahrlich nicht zur Erhöhung des deutschen Ansehens im Auslande beigetragen,
und einen bemerkenswerten Eifer, für die deutschen Interessen energisch ein¬
zutreten, hat sie auch nicht gerade bekundet. Noch vor gar nicht langer Zeit
hat ein Mitarbeiter der „sozialistischen Monatshefte" sich über die Ängstlichkeit,
die die deutsche bürgerliche Demokratie gegenüber dem Ausland zeige, lustig
gemacht. Und dabei steht es doch heute hiermit erheblich günstiger als in der
Zeit, die Naumann im Auge hat. Wie weit aber dieser in seiner Apotheose
Sonnemanns geht, dafür mag noch ein niedlicher Satz zum Beweis dienen.
„Auch in den Zeitläuften, wo die demokratische Partei klein und gering war . . .,
besaß sie die stärkste Stimme gegenüber dem Auslande, weil Sonnemann zu ihr
gehörte." Sonnemann muß hiernach ein Staatsmann von einer Macht und
einem Einfluß gewesen sein, wie er selbst es gewiß am wenigsten geahnt hat.
Oder sollte die Lösung des Rätsels in der von Bismarck angedeuteten Richtung
liegen, daß nämlich Sonnemann vom Ausland als Bundesgenosse geschätzt wurde?
Im vorstehenden haben wir einige Proben der Geschichtskonstruktion gegeben,
die Naumann in seinem Aufsatz vornimmt. Seine Sätze sämtlich einzeln zu
zergliedern, würde zu viel Raum und Zeit kosten. Schon das Erwähnte aber
wird als Beleg dafür dienen, daß Anschauungen, die auf solchen Konstruktionen
in 19.Juli1810 starb Königin Luise von Preußen. Mit unerbittlicher
Hand raffte der Tod die erst Vierunddreißigjährige dahin. Heiße
Tränen flössen an ihrer Bahre. „All mein Glück ist zerstört,"
sagte ihr Gatte, König Friedrich Wilhelm der Dritte. Wie ein
„Donnerschlag" rührte die Kunde das Herz ihres Leibarztes, des
berühmten Hufeland. „Wenn die Welt in die Luft flöge, mir wär's recht,"
meinte Blücher. Zahlreich sind die Klagen um ihren Heimgang.
Der Tod der Königin war ein Ereignis. Nicht so gewaltig, daß man meinte,
die Erde müsse stillstehn mit den: Herzen dieser Frau. Aber, hatte auch keine
Sonne sich verfinstert, ein leuchtender Stern war verblaßt, lange, ehe das
Morgenrot der Befreiung herausdämmerte.
Hundert Jahre sind ins Land gezogen, seit die Königin schied. Ihre Gestalt,
viel bewundert, geliebt und umschwärmt, hat in der langen Spanne Zeit an
strahlender .Hoheit nichts verloren. Die Forschung hat ihr vom Nimbus genommen;
um so eindringlicher sprechen die wahren Wesenszüge der gekrönten Frau uns
an. Was blieb, zeigt eine königliche Königin, eine weibliche Frau, einen mensch¬
lichen Menschen. Weder Märtyrerin war sie, noch die Herrscherin, die dem
unfähigen Gatten beim Schiffbruch des Staats das Steuer entriß; noch weniger
eine Seherin und Verkünderin der deutschen Einheit. Aber eine lichte Erscheinung,
von seltener Schönheit des Körpers wie der Seele. An der alles umspannenden
Liebe ihres Herzens, ihrem tiefen Gemüt kann noch unsere Zeit sich erwärmen
und freuen, — vielleicht auch begeistern, viel mehr noch als es geschieht trotz einer
Flut von Büchern und Schriften zum hundertsten Todestag. Auch Modernen
kann die Königin ein Vorbild sein. Längst sanken Krone und Purpur ihr von Haupt
und Schultern. Aus ihren jetzt bekannten Briefen schaut ein Mensch uns an. Und
der redet zu Menschen ohne Ansehn der Person, den hundert Jahren zum Trotz.
Nicht für Hofdamen und Schranzen ist die Geschichte der Königin zu
schreiben und geschrieben. Jeder kann aus ihr lernen, kann mit der Fürstin
lachen und mehr noch weinen und inne werden, daß wir alle unser Teil
haben am Leide.
Voll Heller Sonne und dunkelster Schatten liegt ihr Leben vor uns. Von
Gläubigen als Leidensweg gedeutet, an dessen Ziel die himmlische Palme dem
Kämpfer winkt; für freier Denkende ein Menschenleben, das seinen Lohn in sich
und seinen Taten trägt.
Die Königin hat ihres Wirkens Spur mit den Worten überschaut: „Wenn
gleich die Nachwelt meinen Namen nicht unter den Namen der berühmten
Frauen nennen wird, so wird sie doch sagen: >sie duldete viel und harrte aus
im Dulden!'"
Und wirklich! Die kleine mecklenburgische Prinzessin hat des Lebens Ernst
früh erfahren: an der knospenden Rose schon zauste der Wind. Mutter und
Stiefmutter starben ihr, als sie noch jung war. Da brachte der Vater, Prinz
Karl von Mecklenburg-Strelitz, sie nach Darmstadt zur Prinzessin Georg.
Hier, bei der „Großmämme", verlebte Luise die Jahre 1786 bis 1793. Über
dieser Zeit liegt der Hauch einer tiefen Religiosität, frischer Fröhlichkeit
und warmer Liebe. Von der Erinnerung an die sonnige Kindheit sollte sie noch
zehren, als längst unter grauen Wolken und eisigen Nordstürmen das Leben die
inzwischen gekrönte Fran besonders hart anfaßte.
Große Gelehrsamkeit hat die Prinzessin bei ihrem Darmstädter Lehrer, dem
Pfarrer Lichthammer, weder gesucht noch erworben; sie hat ihr ganzes Leben
klaffende Lücken in ihrer Bildung bekannt und als Mangel beklagt. Sie hieß
in der Familie der Großmutter nicht umsonst „Jungfer Husch", war ein toller,
übermütiger Wildfang und kein Musterkind. Ihre Schreibhefte verraten ihre
Veranlagung: Flüchtigkeit, Gekritzel neben Äußerungen eines herzigen Gemütes.
Mit der Rechtschreibung stand sie all ihr Lebtag auf dem Kriegsfuß.
Das beweisen u. a. die Briefe an ihren Bräutigam, den Kronprinzen
Friedrich Wilhelm von Preußen. Die hübsche siebzehnjährige Prinzessin hatte
1793 in der alten Reichsstadt Frankfurt a. M. den Preußenkönig und seinen
Sohn bezaubert. Friedrich Wilhelm der Dritte nannte sie einen „Engel";
auch Goethe, der sie im Lager zu Bodenheim sah, verglich sie mit einer „himmlischen
Erscheinung". Die Fahrt zur Hochzeit nach Berlin ward zum Siegeszug
ihrer Schönheit und Güte. Die Herzensgemeinschaft zwischen ihr und dem
Kronprinzen ist psychologisch unendlich reizvoll. Keine himmelstürmende Leiden¬
schaft verband beider Herzen. Aber ihr Ahnen des füreinander Bestimmtseins
war auch kein versliegender Rausch. Es erfüllte sich, als das Leben von der
Liebe und Treue des ungleichen Paares Proben verlangte. Ihre Lebenslust,
Fröhlichkeit und süddeutsche Warmherzigkeit sollte sich fügen in die seltsame
Schrullenhastigkeit des Gatten. Der plagte sie mit seinen Launen, „numeui'8",
war pedantisch, starrsinnig, unentschlossen. Aber er war doch im Grunde ein
echter, wahrer Mensch und ihr in seiner Art von Herzen zugetan.
Viel Tränen der Entsagung rannen über der Kronprinzessin und Königin
Gesicht, aber sie ging ihren Weg und lebte in unbedingter Hingabe und Unter¬
ordnung unter den Gatten ein Leben der Pflicht.
Das zwingt selbst dem Bewunderung ab, der, im Sinne unserer Tage
denkend, von der wahren Ehe ganz andere Vorstellungen hat.
Bei ihr sproßte doch aus der Achtung bald eine innige Liebe; noch auf dem
letzten Blatt Geschriebenes von ihrer Hand lesen wir das dankbare Bekenntnis,
daß sie glücklich sei in der Liebe des besten der Ehemänner. Wohl gab es auch
in der Königin Leben Augenblicke, in denen Männer von gewinnenderer und
eindrucksvollerer Art als der Gatte ihren Pfad kreuzten. So vor allein Kaiser
Alexander der Erste. Aber die gingen vorüber, ohne einen trüben Schatten
auf ihr eheliches Glück und ihre Treue zu werfen. Alle Verdächtigungen der Art
find Verleumdung, ob sie, von Napoleon geflissentlich ausgestreut, Luise mit
den: schönen Zaren in Beziehung brachten oder später ihr Verhältnis zum
Franzosenkaiser in den Schmutz zogen.
Gerade in Ehesachen gab das Königspaar Preußens ein leuchtendes Beispiel;
in dem schon damals lockeren Berlin und zur Zeit der sittlichen Erstarkung des
Volkes war das von größtem Wert.
Den Segen davon hatten besonders die Kinder Luisens. Soweit das wechsel¬
volle Schicksal zumal der Jahre seit 1806 es irgend gestattete, war sie ihnen
eine treue, um ihr geistiges und leibliches Wohl gleich besorgte Mutter.
Überhaupt! Mit inniger, oft schwärmerischer Liebe umfaßte sie die Ihrigen,
die Geschwister voran. Mit gleicher Zuneigung hingen diese an ihr. Ja,
man hat die Königin gescholten, daß sie da des Guten zu viel täte. Man
sollte das nicht leugnen, aber auch nicht verurteilen. „Ich liebe alle Menschen"
war ein Wahlspruch Luisens. „Nur wer liebt, lebt," fügte sie hinzu.
Überall, wo ihr nahestehende von der Königin berichten, redet mit Treue
vergeltende Liebe. So in dem lesenswerten Buch von Luisens Oberhofmeisterin,
der Gräfin von Voß: „69 Jahre am preußischen Hof".
So auch in der biographischen Skizze aus der Feder der Freundin Luisens,
der Frau von Berg. Hier hat ergebene Anhänglichkeit der Königin ein besonders
schönes Denkmal begeisterter Verehrung gesetzt.
Dies wird gestützt und ergänzt durch das ganz vortreffliche Werk über die
Königin Luise von Paul Banken. In der maßvollen Würdigung seiner Heldin
ist dieses Buch wie kein zweites geeignet, den Leser zu einem aufrichtigen Ver¬
ehrer Luisens zu machen. Gerade, weil wir da auch Schatten sehen, von
menschlicher Schwäche und Unzulänglichkeit hören, rückt uns die Gestalt der
Königin näher mit ihrer Herzensgüte und selbstlosen Opferwilligkeit. Wir lernen
eine Frau kennen, die, durch Tränen nicht nur erleichtert, sondern erstarkt, den
Lebenskampf aufnimmt. Für sie war er besonders hart, und mehr als einmal
drohte ihr die Kraft verzweifelt zu erlahmen. Aber immer wieder raffte sie
sich auf. Das ist eine um so größere Tat, als so viel Willenskraft von einem
schwachen Körper verlangt wurde. Früh schou begann sie zu kränkeln. Den
Schädlichkeiten, denen Krone, Ehe und Leben sie aussetzten, war sie nicht
gewachsen. Lange Fahrten, ermüdende Empfänge, harte Entbehrungen auf
ruheloser Flucht untergruben ihre zarte Gesundheit und Kummer und Harnen
vollendeten das Werk.
Trotzdem konnte die Königin vergessen, genießen, singen und tanzen; ja
fast zu viel. Dabei entzückte sie durch reizende Anmut und Grazie. Diplomaten
standen im Bann ihrer Schönheit, Redner stockten bei ihrem Anblick.
Und in der schönen Hülle wohnte eine schöne und liebe Seele. Königin
Luise war im Grunde ein einfaches Menschenkind, gemütvoll, keineswegs geist¬
reich, aber frauenhaft klug, klar und schlicht von Verstand. Sie ist bei aller
ungeheuchelten Gottesfurcht nicht als Kopfhängerin durchs Leben gegangen.
Es bleiben genug menschlich schöner Wesenszüge. Man hat nicht nötig,
sie zur Passionsgestalt zu stempeln; auch die tatkräftige Frau, die in die Staats¬
geschäfte eingreift oder gar mit ahnendem Blick in die Zukunft schaut und die
Befreiung kündet, ist sie nie gewesen. Man sollte weder einseitig religiöse noch
politische Größe ihr nachrühmen. Wir wissen jetzt: Königin Luise hat auf die
Entwicklung der großen, folgeschweren Staatsaktionen keinen Einfluß geübt.
Versuche, sie dazu zu verleiten, hat sie zur Enttäuschung der Anstifter abgelehnt.
Ihr Gatte wünschte keine Einmischung und sie gehorchte. Am Umschwung der
preußischen Politik 1806 hat sie keinen maßgebenden Anteil gehabt. Auch später
fehlen Beweise ihres Eingreifens in die Staatsgeschäfte. Vielleicht glücklicherweise!
Wohl aber sehen wir sie indirekt eine nachhaltige Wirkung ausüben. Sie
tröstet dem Land den gebrochenen und mehr als je Abdankung erwägenden
König. Sie redet dauerndem Widerstand das Wort. Sie fühlt, daß erst nach
innerer und sittlicher Erstarkung Preußens Staat sich erheben kann.
Vor allem aber ist die im raschen Wechsel der politischen Lage erfolgte
Berufung der Staatsmänner Stein und Hardenberg ihr Werk. Hier fühlen
wir ihre vermittelnde, versöhnende Hand im Hin und Wider der Verhand¬
lungen. Als Stein, von Napoleon geächtet, gehen mußte, berief sie Hardenberg.
In dieser letzten Betätigung darf man allerdings eine Art politischen Vermächt¬
nisses an das preußische Volk erblicken. Ihr ideelles an die deutsche Nation
war nach Schleiermachers Worten die Hoffnung auf bessere Zeiten.
Auch dies darf man nicht zu wörtlich nehmen. Sie konnte so wenig als
irgendein anderer den Hergang der Dinge von 1813 und 1870 ahnen. Aber
sie wandte ihren festen Glauben an den Sieg des Guten in der Weltordnung
auch auf staatliche Dinge und ihr Volk an. So irrig diese Zuversicht unter
Umständen sein kann — für die Kämpfer der Befreiungskriege ward sie zur
Losung; das Bild der Frau, die sie ausgegeben hatte, umschwebte in jenen
großen Tagen die Fahnen der preußischen Regimenter und begeisterte die Dichtung
zu den höchsten Tönen. Man pries sie als Königin der Anmut und der Sitten
und als schönste unter den Rosen. Ihr angetane Schmach sollte blutige Rache
finden. Rache, zumal für Tilsit!
Aber auch hier greift die Hand des sachlich urteilenden Geschichtsforschers
beschwichtigend und berichtigend ein. Königin Luise hatte ihren selbstlosen
Opfermut gekrönt, als sie am 6. Juli 1807 nach Tilsit ging, um für ihr Land,
ihr Haus, ihre Kinder bei dem unaufhaltsam vordringenden Franzosenkaiser zu
bitten.
Es war die Neige aus dem Wermutskelch, den sie schon so oft hatte an
die Lippen setzen müssen. Das Unwürdige der Tilsiter Begegnung haben ein¬
sichtige Preußen schon damals empfunden, das Vergebliche vielleicht geahnt.
„Großmut in der Politik ist Dummheit." Nach diesem, seinem Satz
handelte der Realpolitiker Napoleon. Auch in Tilsit. Er soll gegen die schöne,
bittende Frau unritterlich und von eiskalter Hartherzigkeit gewesen sein. Wohl!
Vom deutsch-vaterländischen Standpunkt mag der Vorwurf gelten. Sonst nicht!
Man darf billigerweise nicht vergessen, daß Königin Luise Napoleon als „die
Geißel der Welt" und „Quelle alles Bösen" ehrlich haßte. So verblättert die
„Rose von Tilsit" in der Hand dessen, der sich an ihrem Dufte erfreuen möchte!
Überhaupt, könnte man fragen, warum zerzaust die Forschung mit plumper
Hand die Blüten und Ranken nur eine königliche Frau, die in Stunden der
Not und vaterländischer Begeisterung, zumal ihren Geschlechtsgenossinnen, ein
leuchtend Vorbild war?
Königin Luise hat selbst ein feines Empfinden für Wahrheit in der
Geschichtsüberlieferuug gehabt und geäußert. Es ist darum kein sinnlos rohes
Beginnen, wenn man um der Wahrheit willen ein paar seither verzerrt dar¬
gestellte Züge aus ihrem Bild beseitigt. Nach wie vor schaut uns eine echte
deutsche Frau und Fürstin entgegen, voll Liebreiz und hoher Majestät des
Herzens, und erzählt von Kämpfen und Ringen, von seligster Liebe und leidigstein
Leid, bitterem Entsagen und mutiger Pflichttreue. Ein Menschenleben mit
Werten, die noch jetzt gelten. Noch heilte ist Königin Luise berufen, unseren,
Volk in erlaubtem Maß von Begeisterung eine vorbildliche Lichtgestalt zu sein,
in frohen Tagen des Wohlstandes zur Bewunderung und in ernster Zeit zur
spornenden Nacheiferung. Es könnte auch unserer Generation zur Ehre und
zum Vorteil gereichen, wenn sich bei ihr das prophetische Wort Jean Pauls
erfüllen würde: „Einst wird die ferne Zeit kommen, die uns um die Freude
über das Große und Schöne, das wir in ihr besaßen, beneidet."
le göttliche Sarah soll im kommenden Winter einen „Faust" auf¬
führen. Gewissermaßen ist sie das dem französischen Publikum
schuldig, nachdem sie schon vor zehn Jahren den „Hamlet" gegeben
hat. Allerdings gedenkt sie dem Helden Goethes nicht so direkt
auf den Leib zu rücken wie damals der tiefsten Figur Shakespeares.
Den „Hamlet" ließ sie sich von irgendeinem dramatischen Dienstmann übersetzen
und für ihren Gebrauch zurechtstutzen, und dann zog sie selbst die schwarzen
Trikothosen des Dänenprinzen an, nahm den Schädel des armen Avrial in die
Hand und philosophierte über Sein und Nichtsein. Wie diese Ausführung war,
wollen mir lieber nicht erörtern, denn wir wollen keinen Stein auf eine Frau
werfen, die mit vierundsechzig Jahren immer noch rastlos und unermüdlich in
die Bresche tritt, und deren Fleiß, Energie und Arbeitskraft unsere Bewunderung
verdienen, selbst wenn wir sie ihrer Kunst versagen müssen. Auch ist zu bemerken,
daß sie ja den „Hamlet" und den „Faust" nicht für uns Deutsche oder Engländer
gibt, sondern für die Franzosen, und das ist gleich etwas ganz anderes. Dem
Deutschen, der im „Faust" und auch in dem in Deutschland mindestens ebenso
oft wie in England gegebenen „Hamlet" so etwas wie der Nation geheiligte
Charaktere sieht, kommt es wie eine Art von Tempelschändung vor, wenn die
bewährteste Vertreterin überkünstelter französischer Virtuosenkunst sich an diese
erhabenen Figuren wagt. Aber der Franzose spürt davon nicht das mindeste.
„Faust" und „Hamlet" sind keine Heiligen für ihn, sonder,: sie sind ihm so
gleichgültig wie uns der „Eid" Corneilles und die „Iphigenie" Nacines. Beide
sind Fremdlinge sür ihn wie jene beiden für uns, und wie uns bei einer
Aufführung jenes „Eid" und mehr noch dieser „Iphigenie" hie und da das
Unterdrücken eines verwunderten Lächelns schwer fällt, so würde auch der best¬
erzogene Franzose nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken können, wenn man
ihm eine ungekürzte Übersetzung des Goethescher „Faust" — und dabei meine
ich uur den ersten Teil — oder des Shakespeareschen „Hamlet" auf die Bühne
bringen wollte.
Wir müssen uns also durchaus des deutschen Vorurteils entkleiden, wenn
wir der göttlichen Sarah und den französischen Bearbeitern des „Faust" gerecht
werden wollen. Im Grunde müssen wir ja auch zugeben, daß es doch recht
nett und verdienstvoll von den braven Leuten ist, sich immer wieder, trotz aller
fehlgeschlagenen Versuche, um den „Faust" zu bemühen. Sie ahnen eben doch
den unsichtbaren Gott und möchten ihn gerne sich und ihren: Volke gewinnen.
Haben wir uns jemals solche Mühe mit den großen Heldengestalten des klassischen
französischen Theaters gegeben? Ja, zucken wir nicht sofort mitleidig und
geringschätzig die Achseln, neun man uns zumutet, die von den Franzosen ver¬
götterten Figuren Racines und Corneilles für die deutsche Bühne zu bearbeiten?
Diese französischen Theaterhelden kommen uns so unnatürlich, oberflächlich,
vopanzig vor, daß wir uns selbst und unser Volk bedauern würden, wenn es
jemals an ihnen Gefallen finden könnte. Dies ist aber ein ganz einseitiges
Urteil. Denn eben die Tatsache, daß bei dem französischen Volke, dem man
gewiß weder Kunstverständnis noch Urteil, Geschmack und schlechthin Kultur
absprechen kann, die Helden Racines und Corneilles nun schon seit Jahrhunderten
geliebt und bewundert wurden, scheint zu beweisen, daß das doch nicht so ganz
leere Strohmänner sein können. Nein, die Wahrheit wird wohl sein, daß uns
der Sinn fehlt, der die Schönheiten dieser Helden erkennen und verstehen läßt.
Dieser Sinn wohnt vielleicht nicht im verborgensten Abgrunde des menschlichen
Gemütes, er sitzt vielleicht gleich unter der Epidermis; da er aber eine große
Nation begeistert und beglückt, darf man ihn nicht verachten. Und da wir somit
einer schönen Fähigkeit entbehren, die den Franzosen eigentümlich ist, dürfen
wir sie nicht schelten, wenn sie anderseits den Sinn für unsere Helden nicht
haben. Im Gegenteil müssen wir sie loben, weil sie sich schon seit hundert
Jahren bemühen, hinter unser Geheimnis zu kommen, während wir ganz einfach
behaupten, ihr Geheimnis sei gar keins und lohne der Mühe näherer Bekannt¬
schaft und Untersuchung nicht.
Sehr merkwürdig ist übrigens, welchen Wert Goethe selbst dem Urteil der
Franzosen über den „Faust" beilegte. In anderen Dingen hat er die Franzosen
durchaus nicht parteiisch voreingenommen beurteilt, in seinen letzten Lebensjahren
aber kümmerte er sich weit mehr um die französische und englische als um die
deutsche Literatur, und ebenso horchte er viel aufmerksamer nach der ausländischen
und ganz besonders nach der französischen Beurteilung seiner Arbeiten als nach
der Wirkung auf Deutschland. Und dabei scheint eine Überschätzung des fran¬
zösischen Urteils und ein günstiges Vorurteil für die Franzosen Goethes Ansicht
SU beeinflussen. Wenn er zum Beispiel zu Eckermann sagt, daß die Lithographien
von Eugen Delacroix die von Goethe selbst erdachten Szenen noch trefflicher
wiedergäben, als sie in seiner eigenen Vorstellung gewesen seien; wenn er ein
andermal sagt, er könne den „Faust" im Deutschen nicht mehr lesen, die fran¬
zösische Übersetzung von Görard de Nerval aber bereite ihm den größten Genuß,
denn hier finde er alles wieder frisch, neu und geistreich, so können wir uns
einer Befremdung nicht entschlagen. Denn Engen Delacroix war zwar ein sehr
großer Maler, aber gerade diese Faustlithographien gehören zu seinen schwächsten
Arbeiten, wie denn überhaupt das Zeichnerische weniger als das Malerische seine
Stärke gewesen ist, und Nervals Übersetzung ist wie alle französischen Über¬
setzungen des „Faust" wirklich einfach unleidlich für jeden, der das Werk in der
deutschen Sprache lesen kann.
Wieder bei einer andern Gelegenheit spricht Goethe in seiner klugen und
doch etwas voreingenommenen Art von der Stellung der Franzosen zum „Faust"
und meint: „Der Verstand wird ihnen im Wege sein, und sie werden nicht
bedenken, daß die Phantasie ihre eigenen Gesetze hat, denen der Verstand nicht
beikommen kann und soll." Eine Bemerkung, die offenbar wieder das große
Wohlwollen Goethes den Franzosen gegenüber bekundet, denn obschon der klare
Verstand eine sehr große Rolle in der französischen Poesie spielt, kann man
doch nicht gerade behaupten, daß er ausschlaggebend für sie wäre, man müßte
denn den mit dem Lineal messenden nüchternen Verstand meinen, der absolut
keinen Seitensprung gestatten will, und der daran schuld ist, daß uns die
Charaktere der klassischen französischen Bühne nicht wie lebendige Menschen vor¬
kommen. Endlich zeigt sich Goethe auch für den zweiten Teil des „Faust"
ganz besonders um die Aufnahme in Frankreich besorgt. Er meint zu Eckermann:
„Wenn die Franzosen nur erst die „Helena" gewahr werden und sehen, was
daraus für ihr Theater zu machen ist! Sie werden das Stück, wie es ist,
verderben, aber sie werden es zu ihren Zwecken klug gebrauchen, und das ist
alles, was man erwarten und wünschen kann."
Diese andauernde Beschäftigung des greisen Goethe mit der französischen
Meinung und mit der Wirkung seiner Werke auf die Franzosen erklärt sich wohl
einerseits aus den vielfachen Anfeindungen, die Goethe in Deutschland selbst
erfuhr, und die ihn bewogen, lieber nach dem Auslande als nach der Heimat
zu schauen, anderseits aber aus der Tatsache, daß in den zwanziger und dreißiger
Jahren in Frankreich eine Generation von Dichtern und Schriftstellern blühte,
welche weit mehr als die damaligen deutschen Dichter in Goethe ihr Haupt und
ihren Gott verehrten und in Weimar ihr Mekka erblickten. Nicht nur französische
Dichter, sondern auch Maler und Bildhauer sahen in der Wallfahrt nach Weimar
und in einer Unterredung mit Goethe gewissermaßen die höchste Weihe ihres
Berufes, und es fällt uns heute sehr schwer, uns die damalige, der jetzigen so
absolut gegenüberstehende Strömung im literarischen und künstlerischen Jung-
Frankreich lebhaft vor Augen zu stellen. Goethe war allerdings lange vorher
schon einmal recht berühmt in Frankreich gewesen, denn sein „Werther" hatte
hier den gleichen Siegeszug gehalten wie in Deutschland selbst. Aber das waren
längst vergessene Zeiten, und die einstigen Wertherschwärmer Frankreichs wußten
vermutlich gar nicht, daß der weimarische Minister von Goethe der nämliche
war, der sie in ihrer Jugend zum Schwärmen und Weinen gebracht hatte.
Goethe selbst erzählt in der italienischen Reise, wie er in Sizilien mit einem
Manne zusammentraf, der vor zwanzig Jahren mit Werther geschwärmt hatte
und nun nicht glauben wollte, daß der vor. ihm stehende vollendete Hofmann
der überschwängliche Dichter jener Zeit sein sollte. Wie diesem Italiener mag
es der großen Mehrzahl der Franzosen ergangen sein, die in den siebziger und
achtziger Jahren den „Werther" verschlungen hatten; ihre Generation war vom
Schauplatze abgetreten, als Goethe zum zweiten Male eine große Wirkung auf
die literarische Jugend Frankreichs ausübte.
Jetzt war es nicht mehr „Werther", sondern,,, »Faust", der die jungen
Literaten und Künstler begeisterte. Zwar wurden auch andere Dramen Goethes,
die in die Richtung der jungen Romantiker paßten, mit Begeisterung studiert,
und Delacroix hat nicht nur für den „Faust", sondern auch für „Götz von
Berlichingen" Lithographien gezeichnet, aber gegen „Faust" mußte doch alles
andere zurückstehen, und auch heute noch kann man sagen, daß Goethe für den
Franzosen sich nur in dieser doppelten Gestalt zeigt: er ist entweder „I^'auteur
cZe WertKer" oder „lVauteur as traust". Alles andere ist natürlich übersetzt,
zehn- und zwanzigmal, aber nichts ist eigentlich eingedrungen, und alles, was
die Franzosen vom „Wilhelm Meister" wissen, ist die ganz in Zuckerwasser
ersäufte Episode der Mignon in der gleichnamigen Oper. Leider steht es im
Grunde auch nicht besser mit dem „Faust" trotz jener Begeisterung vor achtzig
und neunzig Jahren. Ohne Gounods Oper wüßte man in Frankreich nicht viel
von ihm, denn keiner der anderen zahlreichen Versuche, ihn auf der französischen
Bühne einzubürgern, ist bisher gelungen, und es ist mehr als unwahrscheinlich,
daß der oberflächliche Reimer Edmond Rostand oder der Boudoir-Philosoph
Henry Bataille dieses Wunder zustande bringe.
Es ist gerade hundert Jahre her, daß Frankreich die erste Bekanntschaft
mit „Faust" machte, oder vielmehr: es wäre gerade hundert Jahre her, wenn
nicht Napoleon das im Jahre 1810 erschienene Buch der Frau von Stael hätte
konfiszieren und einstampfen lassen. Alles in allem muß mau heute unparteiisch
genug sein, um zuzugeben, daß Madame de Stael uns mit sehr sympathischen
Augen betrachtete, unsere Vorzüge vielleicht vergrößerte, unsere Fehler verschwieg
oder nicht bemerkte. Trotzdem ist auch heute noch sehr viel Wahres an ihrer
Charakterisierung des Deutschen im Gegensatze zum Franzosen, und alles, was
sie über dieses Thema sagt, verdient auch heute noch aufmerksame Beachtung.
Wo sie sich indessen auf Einzelheiten einläßt und gewisse Werke der deutschen
Literatur eingehend bespricht, wird sie bei dem deutschen Beurteiler weniger
Verständnis finden als bei dem Franzosen. Was sie über den „Faust" sagt,
würde auch heute noch beinahe jeder echte Franzose sagen, und jeder echte Deutsche
würde es mit einem beinahe mitleidigen Lächeln beiseite schieben, denn so ent¬
gegenkommend wir auch in fast allen Stücken den Ausländern gegenüber sind,
wir werden doch beinahe hochmütig, wenn ein Franzose sich herausnimmt, den
„Faust" verstehen und kritisieren zu wollen. Und darum geben wir uns auch
nicht die Mühe, das Urteil der uns so wohlwollenden Madame de Stael zu
berichtigen, wenn sie sagt: „Allerdings darf man hier weder Geschmack noch
weises Maßhalten noch die Kunst des Äuswählens und Vollendens suchen; aber
wenn die Phantasie sich ein intellektuelles Chaos vorstellen könnte, wie man oft
ein materielles Chaos geschildert hat, dann müßte Goethes „Faust" in dieser
Epoche entstanden sein."
Wobei noch besonders bemerkt werden muß, daß selbstverständlich nur der
erste Teil des „Faust" vorlag. Was würde Madame de Staöl erst über den
zweiten Teil gesagt haben?!
Dreizehn Jahre nach dem ersten Erscheinen des Buches „De l'Allemagne"
erhielten die Franzosen etwas bessere Gelegenheit, die Bekanntschaft des „Faust" zu
machen. Während Madame de Stael nur einzelne Szenen daraus übersetzt hatte,
erschienen im Jahre 1823 gleich zwei angeblich vollständige Übersetzungen, die eine
sehr elegant und lesbar, aber willkürlich zusammengestrichen und dem französischen
Geschmack mundgerecht gemacht von Sainte-Aulaire, die andere tatsächlich voll¬
ständig, aber in sehr hausbackenen: Französisch von den: Elsässer Albert Stapfer.
Abermals fünf Jahre später gab Görard de Nerval die Übersetzung heraus, die von
Goethe selbst so sehr gelobt wurde, und deren Autor sich nicht ohne Erfolg
bemüht hatte, die phantastischen Gedankentiefen Goethes in die Sprache Voltaires
zu übertragen. Mit Voltaires „Candide" hatte schon Benjamin Konstant den
„Faust" verglichen, und zwar zuungunsten des deutschen Werkes! Eigentlich ist
ein solcher Vergleich absolut unmöglich, und gerade diese beiden Meisterwerke
zeigen am allerbesten, daß zwischen der deutscheu und der französischen
Sprache und somit auch zwischen der Denkart beider Völker eine unüberbrück¬
bare Kluft besteht. Niemals wird man den von Witz und Anmut funkelnden,
blitzenden und leuchtenden „Candide" ebenwertig ins Deutsche übersetzen können!
Und niemals wird man die unergründliche Tiefe des Gedankens und der
Phantasie im „Faust" mit französischen Worten wiedergeben können. Shakespeare
haben wir so vortrefflich ins Deutsche gebracht, daß man die Gleichwertigkeit
des deutschen und des englischen „Hamlet" verteidigen kann. Auch Homer und
selbst Cervantes sind fast ohne Verlust ins Deutsche übertragen worden. Aber
die Verse Dantes und Corneilles und nicht einmal die Prosa Voltaires können
wir ins Deutsche übersetzen, ohne nahezu die Hälfte ihres Reizes unterwegs zu
verlieren!
Der „Faust" Gerard de Nervals ist der „Faust" der Romantiker und
des „Globe", also der jungen Leute, die anbetend nach Weimar schauten, deren
Arbeiten Goethe aufmerksam verfolgte und deren Urteil ihn mehr interessierte
als das Deutschlands selbst. Berlioz kannte keinen andern „Faust", als er
seine „Damnation" komponierte, und alle französischen Versuche, „Faust" auf
die Bühne zu bringen, fußen mehr oder weniger auf dieser Bearbeitung.
Während bislang kein französischer Theaterdirektor gewagt hat, auch nur den
ersten Teil der Tragödie vollständig aufzuführen, haben in den letzten achtzig
Jahren einige zwanzig Bearbeitungen des „Faust" das französische Rampenlicht
gesehen, und mindestens ebenso zahlreich sind die seither immer wieder neu
erschienenen Übersetzungen. Das bestätigt nur das oben schon Gesagte: die
Franzosen, die sich doch im allgemeinen ivenig oder gar nicht um ausländische
Geisteserzeugnisse kümmern, — wogegen die Teutschen alles aufschnappen und
übersetzen, was von dem Tische der französischen Literatur abfällt, — die
Franzosen haben sich weit mehr Mühe mit dem deutscheu Meisterwerk gegeben
als die Deutschen mit den Meistermerken der französischen Bühne.
Der erste französische „Faust" wurde schon im Jahre 1827 im Theater
der Nouveautss gegeben; er hatte drei Akte, war die Kompaniearbeit zweier
Schriftsteller, und der Komponist Böaucourt hatte eine Musik dazu geschrieben.
Mit Goethes „Faust" hatte die Sache nur entfernte Ähnlichkeit, obgleich sie
offenbar durch ihn veranlaßt war. Man sah darin einen verliebten Faust, der
den Teufel zitierte, um von ihm das zur Verbindung mit der Geliebten nötige
Geld zu erhalten. Schon im nächsten Jahre wurde ein neuer „Faust" gegeben,
wiederum von zwei Autoren und wiederum in drei Akten. Diesmal hätte
Boieldieu die begleitende Musik besorgen sollen; da er sich aber weigerte, wurde
die Sache als reich ausgestattete Feerie ohne Musik gegeben. Der berühmte
Schauspieler Fredörick Lemaitre gab den Mephistopheles. der in diesem wie in
den meisten anderen französischen Bühnenbearbeitungen des „Faust" die Haupt¬
rolle war, und der auch bei dem „Faust", womit Sarah Bernhardt und Edmond
Rostand uns beglücken wollen, so weit in den Vordergrund tritt, daß die Gött¬
liche nicht die Titelrolle, sondern den Mephistopheles geben will. Während der
„Globe" und die Bewunderer Goethes diese Adaptationen als wahre Sakrilege
verdammten, fand das Publikum großen Gefallen an dem „Faust" der Porte
Se. Martin wie in: Jahre vorher an dem „Faust" der Nouveautös, und beide
Stücke brachten ihren Verfertiger: und den Direktoren große Einnahmen, Ein
drittes Stück, dessen Verfasser logisch genug gewesen war, auch den Titel
Mephistopheles" zu wählen, wurde von der Zensur verboten und konnte erst
uach dein Sturze Karls des Zehnten aufgeführt werden.
In den Jahren 1830 und 1831 wurden zwei Faustopern in Paris gegeben,
die eine von Spohr, die andere von Fräulein Bertin, und in der letzteren trat
die Malibran als Gretchen auf. Gretchen und Mephistopheles, das sind ohne
Zweifel die Hauptpersonen des Dramas für das französische Publikum, das in
den dreißiger Jahren ohne Ermüdung immer wieder neue Bühnen-Fauste, immer
neue bildliche Darstellungen mit den nämlichen Charakteren über sich ergehen
Ueß. In jeder Pariser Kunstausstellung jener Zeit gab es ein Dutzend Gretchen
und ebenso viele Mephistopheles. Was in unsern Tagen Jeanne d'Arc und
die trauernde Elsässerin für die französische Plastik und Malerei ist. das waren
damals Gretchen und Mephistopheles. Faust selbst wurde darüber etwas in
den Hintergrund gedrängt, und man kann sagen, daß weder damals noch
später das eigentliche Publikum — und selbstverständlich denken wir nur an
das sogenannte gebildete Publikum — auch uur eine Ahnung von dem erhalten
hat, was der Goethesche Faust eigentlich ist und bedeutet. Denn aus dem
erfolgreichsten französischen Faustwerke, aus Gounods Oper, erfährt man das
wahrlich ebensowenig wie aus den mit magischem Feuerwerk angefüllten Feerien
der dreißiger Jahre.
Kein Wunder, daß man schließlich der ewigen Gretchen und Mephistopheles
etwas müde wurde! Aber diese Ermüdung reicht doch nicht ganz hin, um das
Urteil Balzacs zu erklären, ausgerechnet Balzacs, von dem man eher als von
irgendeinem andern großen französischen Schriftsteller des neunzehnten Jahr¬
hunderts einiges Verständnis für Goethe erwartet. Wenn der jüngere Dumas
später unter dem Einflüsse eines zur Mode gewordenen engherzigen Patriotismus
gegen Goethe zu Felde zieht, so hat das weiter nichts auf sich; aber man begreift
nicht gut, wie Balzac von Mephistopheles urteilen konnte: „Es gibt keinen
Diener im französischen Lustspiel, der nicht mehr Witz hätte, mehr Geist, mehr
Logik und mehr Tiefe als dieser angebliche Teufel." Ebenso erstaunlich ist eine
Aufstellung der großen Männer des neunzehnten Jahrhunderts, die Balzac seiner
späteren Gattin, Frau von Häusla, im Jahre 1838 schickte, als die Dame
geklagt hatte, dieses Jahrhundert habe nur einen einzigen großen Mann:
Napoleon, gesehen. Balzac zählt einige zwanzig große Männer auf, darunter
Byron, Walter Scott und sogar Fenimore Cooper, vergißt aber Goethe gänzlich,
wenn er nicht etwa in seinem „etc." an ihn gedacht hat. Kaum weniger wunderlich
ist das Urteil Stendhcils, von dem man ebenfalls Besseres erwarten durfte:
„Goethe gibt dem Doktor Faust den Teufel als Bundesgenossen, und mit so
mächtiger Hilfe tut er weiter nichts, als was wir alle mit zwanzig Jahren
getan haben: er verführt eine Putzmamsell!" Der zweite Teil fand selbstver¬
ständlich noch weniger Verständnis, aber es stände uns schlecht an, das den
Franzosen übel zu nehmen! Zuerst wollen wir einmal die Deutschen zusammen¬
suchen, die ihn verstehen, ehe wir die Ausländer tadeln. Immerhin dürfte sich
Lamennais, dessen Urteil vermutlich das heute noch in Frankreich allgemein
gangbare ist, geirrt haben, als er schrieb: „Mitunter glaube ich, daß dieser große
Scharlatan ganz gut verstand, daß er nichts verstand, und daß er heimlich lachte
über die dummen Kerle, die sich später den Kopf zerbrechen würden über ein
Geheimnis, das gar nicht existierte."
Auch in den vierziger und fünfziger Jahren hielten die Versuche, den
„Faust" für die französische Bühne zu gewinnen, an. Im Jahre 1848 bestellte
der Direktor des Odeontheaters einen „Faust" bei dem ältern Dumas. Der
aber hatte damals zu viel zu tun und schlug vor, man solle die Arbeit seinem
Sohne anvertrauen, was dem Direktor nicht einleuchtete. 1850 gab das Gunno.se
einen „Faust" von Carro mit Rose Chori als Gretchen, 1858 wurde im Theater
der Porte Se. Martin ein sünfaktiger „Faust" mit Ballett und allerlei Klimbim
von Dennery aufgeführt. 1859 endlich erhielt die populäre Faustidce in
Frankreich ihre endgültige Gestalt durch Gounods Oper, und zehn Jahre später
machte der „Petit Faust", komische Oper von Crömieux und Heros, volle Häuser.
Der Krieg machte den Bemühungen der Franzosen, dem deutscheu Meister¬
werke näher zu kommen, auf lange Zeit ein Ende. Es gehörte jetzt zum guten
Tone, alles Deutsche zu verdammen, und der schauerlichste Blödsinn wurde
gedruckt, wenn er nur seine Spitze gegen etwas Deutsches richtete. In diesen
ersten Jahren nach dem Kriege rechnete auch der jüngere Dumas mit dem
>>polis8on ohn6l-sble" ab, der „mehr als irgendein anderer unfähig war, die
antike Legende Fausts würdig zu behandeln". Und mit vollen Backen stößt er
in die Trompete: „Im Namen der lateinischen Rasse, zu der ich gehöre," —
seine Urgroßmutter war Negerin, seine Mutter Jüdin, ^ „greife ich denjenigen
an, der in der Literatur am vollkommensten die andere Rasse vertritt. Er
vertritt sie in ihrem kalten, abwägenden, aus Bruchstücken zusammengesetzten,
obskuren, aus hartnäckiger Arbeit, langsam Schritt vor Schritt in lichtscheuer
Mühe geborenen Genie, diesem Genie ohne eigene Inspiration, ohne Ideal,
ohne Redlichkeit." Andere sittlich entrüstete Patrioten waren noch grimmiger als
der Verfasser der „Kameliendame", der uns Gott sei Dank seinen „Faust" schuldig
geblieben ist, indessen fehlte es auch nicht an Vertretern der andern Seite.
Meziöres meinte in einem 1872 erschienenen, vor dem Kriege schon verfaßten
Buche entschuldigend: „Goethe lieben heißt nicht Deutschland lieben, und erst
recht nicht Preußen lieben!" Flaubert schreibt grimmig über die Invektiven des
jüngern Dumas: „Da muß man doch mit Voltaire sagen: niemals wird es
genug Eselsmützen, niemals genug Tadel für derartige Lümmel geben!" Und
Emeste Renan erklärte in der Akademie: „Wir haben nichts zurückzunehmen von
dem. was wir gesagt haben; unsern Lobsprüchen folgt keine Reue. Was wir
geliebt haben, war wirklich liebenswert. Was wir bewunderten, war wunderbar.
Wir haben unser Urteil über Goethe und Herder nicht geändert."
Während aber die Elite des geistigen Frankreichs sich allmählich von der
blinden Torheit der Revanchestimmung abkehrte, blieb die Gesinnung des weitern
Publikums so, daß von einer neuen Bearbeitung eines Goethescher Stückes für
die französische Bühne dreißig Jahre lang nicht die Rede sein konnte. Der
große Haufe des französischen Volkes dachte mit Bezug auf Goethe und alles
Deutsche so, wie Madame Adam das einem deutschen Journalisten gegenüber
aussprach, der eine Umfrage über den Einfluß Schillers auf Frankreich veran¬
staltete. Die sehr gebildete und geistreiche Dame erwiderte nämlich: „Zwischen
den Ideen Schillers und den meinigen liegt Elsaß-Lothringen!"
Sarah Bernhardt, die zwar dereinst auch erklärt hat, sie werde nimmermehr
in Deutschland auftreten. war die erste, die Goethe wieder auf die französische
Bühne zu bringen wagte. Sie ließ sich vor sechs oder sieben Jahren einen
„Werther" schreiben, der sich ein paar Monate in ihrem Theater behauptete.
Sie will nun auch einen neuen „Faust" herausbringen, den zuerst Heurn Bataille
schreiben sollte und auch geschrieben hat. Die Göttliche entzweite sich aber mit
ihrem Autor und gab ihm sein Stück zurück, um sich an Edmond Rostand zu
wenden. Dieser Name bürgt dafür, daß der neue französische „Faust" im
besten Falle ein Seitenstück zu Gounods Oper werden kann. Das NeimgeMngel
Rostands wird ganz ebenso tief und ideenreich werden wie die Melodien Gounods,
und eines wird zu dem „Faust" Goethes ebensogut passen wie das andere.
Falls uns auch der „Faust" Henry Batailles aufgetischt wird, so werden
die Franzosen darüber auch um keines Haares Breite Goethen näher kommen;
denn Bataille ist zwar ein großer Theaterphilosoph, aber seine Philosophie ist
aufs engste mit der des Verfassers der „Kameliendame" verwandt, und seine
Gedankentiefe kommt der seines großen Kollegen Brieux gleich.
Nein, die Franzosen werden die Hoffnung aufgeben müssen, jemals GoetheZ
„Faust" bei sich einheimisch machen zu können. Das wird erst geschehen,
wenn Corneille und Racine in Deutschland eingewurzelt sind, und wenn
Shakespeare in Frankreich so eingebürgert ist wie in England und in Deutschland,
das heißt, wenn die Deutschen keine Deutschen und die Franzosen keine Franzosen
mehr sind.
Der Sabbatfanatismus
le der fälschlich und irreleitend „Temperenz"-Bewegung genannte
amerikanische Abstinenz- und Prohibitionszwang ein britisches
Erbstück ist, so gilt dies auch von dem amerikanischen Sabbat¬
fanatismus.
Merkwürdig ist dabei nur, daß — während in Gro߬
britannien selbst diese Bewegung sich immer mehr abschwächt,
und während dort der sogenannte „kontinentale" Sonntag immer mehr,
wenn auch nur ganz allmählich, in Aufnahme kommt — in den Vereinigten
Staaten sich in bezug auf diese Bewegung die entgegengesetzte Richtung geltend
macht.
Während sich früher die Sabbatfanatiker hauptsächlich in den alten
puritanischen Neu-England- oder Uankeestaaten austobten, und während früher
besonders die Südstaaten von ihnen ganz verschont blieben, gilt diese Begrenzung
gegenwärtig leider nicht mehr.
Fast ganz frei von Sabbatfanatikern waren bis vor etwa zehn Jahren
besonders noch Louisiana mit seiner starken lebenslustigen französischen Kreolen-
bevölkerung und Texas mit seinen vielen Deutschen und Mexikanern. Aber
das ist jetzt leider auch anders geworden und man kann es gerade an diesen
beiden eben noch als Ausnahmen hervorgehobenen Staaten sehen, wie siegreich
die Sabbatzwangsbewegnng gerade in den letzten Jahren in den Vereinigten
Staaten gewesen ist.
Im Jahre 1884 wurde in New Orleans zur Feier des hundertjährigen
Bestehens der Baumwollkultur im Süden eine „Cotton-Centennial-Exposition"
abgehalten, eine sogenannte Weltausstellung, die aber in Wirklichkeit eine vor¬
zügliche amerikanische Nationalausstellung war. Aus dieser Zeit entsinne ich
mich noch sehr lebhaft, wie entzückt die Besucher, die aus den Nordstaaten zum
ersten Male nach Louisiana kamen, damals über die dort in der Stadt und
auch auf dem Ausstellungsplatze herrschende allgemeine Sonntagsfreiheit waren.
Waren doch erst ein paar Jahre vorher die aus Europa kommenden Besucher
der Philadelphiaer Weltausstellung im höchsten Grade durch die über Stadt
und Ausstellung verhängte absolute Sabbatsperre angeödet worden.
Die aus den Puritanerstaaten damals nach New Orleans kommenden
Fremden waren aber ganz erstaunt, „wie gut das geht". Denn obgleich
in New Orleans auch am „Sabbat" alles „weit offen" war. ging alles
ruhig und gesittet her — weit ruhiger und gesitteter als zu Hause bei
ihnen in Boston, Sälen oder Bangor! Denn obgleich in New Orleans alles
..wicks open" war und obgleich sie dort nicht ausschließlich Leute sahen, welche
in die Kirche gingen oder aus der Kirche kamen, sondern auch Leute, welche
sich offen und harmlos ihres Lebens freuten, sahen sie dort keine für die
Prohibitionsstaaten typischen schwankenden Gestalten, welche ihre „gehobene
Stimmung" der in der Seitentasche des sorglich zugeknöpften schwarzen Rockes
verborgenen . .. Schnapsflasche verdanken.
Und wie lachten wir in San Antonio und in den anderen Teilen von
West-Texas während der darauffolgenden zwei Jahrzehnte über die ohnmächtige
Wut der Sabbatfanatiker, die „natürlich uns nichts anhaben könnten!" . . .
Aber das war leider ein sehr bedauerlicher, durch die Unterschätzung der
Wirkung zielbewußter, zäher, vortrefflich organisierter Wühlarbeit verursachter
Irrtum!
Die schöne Halbmondstadt am Mississippi-Delta ist jetzt — trotz ihrer
Tausende, aber leider auf den Aussterbeetat gesetzter lebenslustiger Kreolen —
längst unter die Fuchtel der Sabbatfauatiker geraten. Und dasselbe gilt leider
auch von dein einst halbdeutschen San Antonio, wo aber leider auch das
Deutschtum immer mehr zurückgeht, während die Zuwanderung aus den Nord-
uud Oststaaten immer mehr zunimmt.
In Nord- und Ost-Texas bestand zwar auch schon lange ein strenges
Staats-Sabbatgesetz, aber in West-Texas kümmerte man sich einfach nicht darum.
Am Rio Grande, in den Städten mit vorwiegend mexikanischer Bevölkerung
schon gar nicht. Denn wie in allen katholischen Gegenden will man dort vom
augcnverdrehenden und kopfhängerischen Sabbat absolut nichts wissen. Dasselbe
gilt aber auch von den stark deutschen Couuties von Texas, besonders von
San Antonio. Erst recht aber wollte man in den rein deutschen Orten Neu-
Braunfels, Friedrichsburg, Comfort, La Grange, Schulenburg, Bellville usw. usw.
nichts vom Sabbatzwange wissen. Man wollte dort nichts davon wissen trotz
des schon damals auf dem Papiere bestehenden Staatsgesetzes und trotz aller
Anstrengungen der Staatsbehörden, den dort verhaßten Gesetzen Geltung zu
verschaffen. Man gab die Versuche aber immer wieder auf, da sie alle darau
scheiterten, daß die durch die liberale Mehrheit gewählten Lokalbeamten uicht
mitmachten oder daß — wenn's ja dazu kam — vor den Geschworenengerichten
in allen solchen Verfolgungsfällen stets Freispruch erfolgte.
Ich entsinne mich noch recht gut eines Sountagvormittags im Jahre 1898
in San Antonio, als eine stattliche Reihe von Herren in Zivil und in Uniform
an der „Bar" des Menger-Hotels an der Alamo-Plaza versammelt war, um
eine Erfrischung an dem heißen Junitage zu nehmen. Unter den Gästen befand
sich auch Mr. Theodore Roosevelt — damals allerdings noch nicht Präsident
der Vereinigten Staaten, sondern noch „Colonel" Roosevelt, und zwar Oberst
des gerade damals in der Stadt organisierten, nachmals so berühmt gewordenen
Regiments der „KouZK KicZsr8", welche „Rauben Reiter" mir als „gedientein"
preußischen Soldaten aber immer ein wenig. . . wallensteinisch vorkamen.
Außer Col. Roosevelt, dem eigentlich mehr theoretischen oder Ehren-Oberst, war
damals auch der wirkliche Führer und Organisator jener zwar forschen, aber
doch etwas dilettantenhaften Kavallerietruppe anwesend, der kleine Capt. Wood,
der weniger als vier Wochen später als Sieger der Schlacht von San Juan Hill
glänzen sollte und der später — als Vorgänger Tafts — Generalgouvemeur
der Philippinen wurde. Noch ganz lebhaft entsinne ich mich, wie damals an
der Menger-Bar gerade Col. Roosevelt lebhaft betonte, daß das kosmopolitische
San Antonio doch eigentlich der Weltstadt New Aork voraus sei, wo man sich
der Fuchtel der Sabbatfanatiker zu beugen habe — und wenn auch nur
insoweit, als man dort am Sonntage nur hinter. . . verschlossenen Türen
trinken könne.
Aber das sind jetzt auch längst l^empi pa88all. San Antonio ist jetzt
schon seit mehr als zwei Jahren nicht mehr ^viele open, sondern es ist den
Fanatikern auch dort gelungen, den „Deckel zuzumachen", und zwar ganz fest
zuzumachen.
Und in welchem Grade jetzt selbst dort in San Antonio der allgemeine
Heuchelgeist Eingang gefunden und Fuß gefaßt hat, das zeigte recht deutlich
die etwa vor Jahresfrist erfolgte Verlegung der vorhin erwähnten Menger-Bar
von der Frontseite des großen und stattlichen Hotels an der mit halbtropischen
Anlagen geschmückten Alamo-Plaza nach einem verschwiegenen Winkel in: Bananen¬
hofe! Der „prominente" Bürger kann jetzt dort ganz unbemerkt und ungeniert
aus- und eingehen, um einen „Stimulant" zu sich zu nehmen. Es ist ja aber
auch gar nicht nötig, daß die Ladies es sehen, wenn man in einen Saloon
geht oder wieder aus einem solchen herauskommt. Noch vor einem Jahrzehnt
wäre es den wackeren südlichen „Colonels" — jeder Mensch, der einen heilen
Rock anhat, wird dort unweigerlich so genannt! — höchst gleichgültig gewesen.
Ja, was solch eine „moralische Welle" nicht alles anrichten kann!
Mit geradezu raffinierter Schlaue haben die Sabbatfanatiker ein Gesetz
ausgeklügelt, dessen Hauptwirkung darin besteht, daß es die Mitwirkung der
lokalen öffentlichen Meinung total ausschaltet und die lokalen, also von der
Volkswahl abhängigen Beamten von dem Odium der unpopulären Straf¬
verfolgung in allen Fällen von Übertretung der Sabbatgesetze befreit. Das
geschieht ganz einfach dadurch, daß alle Wirte hohe Bürgschaftssummen für ihre
Schanlberechtigung stellen müssen, welche Summen bei der geringsten Verletzung
der Sabbatgesetze verfallen! Und zwar geschieht das gewissermaßen ganz
automatisch auf dem Verwaltungswege. Gleichzeitig mit einer solchen Verfall¬
erklärung erfolgt dann auch die dauernde Aufhebung und Null- und Nichtigkeits¬
erklärung der Lizenz, der Ausschankberechtigung des betreffenden Wirtes. Solch
drakonischen Zwange gegenüber läßt sich natürlich nicht wider den Stachel löken.
Ein Vergehen, das in einer deutschen Stadt also schlimmsten Falles mit
einer Polizeistrafe von ein paar Mark geahndet werden könnte, wird im „freien
Amerika" mit dem vollständigen wirtschaftlichen Ruin bedroht — ganz abgesehen
von den schweren Haftstrafen, welche noch dazu treten können.
Wenn hier energisch gegen die Form des anglo-amerikanischen Sabbat¬
zwanges Stellung genommen wird, so schließt das keineswegs eine Stellung¬
nahme gegen die Sonntagsruhe an sich ein, besonders nicht gegen die Art und
Weise, wie sie im Deutschen Reiche seit ein paar Jahren in etwas verschärfter
Form zur Geltung gebracht worden ist. Das kecke Wort des Herrn Arouet:
„Wenn es keinen lieben Gott gäbe, müßte einer erfunden werden!" läßt sich
entschieden auch auf den Sonntag anwenden. Wenn es keinen Tag der Ruhe
und der Erholung von der Arbeit in der Woche gäbe, müßte ein solcher im
Interesse der hart Schaffenden gesetzlich eingeführt werden, nicht etwa nur aus
religiösen Gründen, sondern vielmehr aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit
und der Vernunft. So selbstverständlich das auch manchem klingen mag, so
muß es dennoch ganz besonders betont werden, um den Unterschied, ja den
scharfen Gegensatz hervorzuheben, welcher zwischen den Befürwortern einer
rationellen Sonntagsruhe und den fanatischen Vorkämpfern für den puritanischen
Sabbatzwang besteht.
Fehlt es doch auch hier in Deutschland nicht mehr an Plänkeleien und
Vorpostengefechten von feiten der Verfechter der fanatischen Richtung gegen die
der liberalen Auffassung. Zu verweisen ist da bloß auf die Verhandlung der
preußischen Evangelischen Generalsynode vom 4. November 1909, in welcher
Anträge vorlagen, „abzielend auf größere Sonntagsruhe auf dem Lande,
Beschränkung von Tanzlustbarkeiten geschlossener Gesellschaften, Einschränkung
der Tanzvergnügen in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag usw.". Aber
wohl auf keinem Gebiete ist das „principiis obsta!« dringlicher erforderlich
als auf diesem!"
Ich sage das, obwohl ich — sei es nun, ob beeinflußt resp, „angekränkelt
durch das Milieu, in dein ich über ein Vierteljahrhundert gelebt habe, oder
nicht — entschieden für eine noch weiter gehende Sonntagsruhe, d. h. Arbeitsruhe,
eintrete, als sie auch jetzt schon unter dem verschärften Sonutagsgesetze im
Deutschen Reiche, resp, im Königreich Preußen, besteht. Jeder Arbeitende muß
einen Tag in der Woche völlige Arbeitsruhe haben, einen von sieben Tagen,
der ihm ganz allein gehört, vierundzwanzig Stunden, über die er völlig nach
freien: Ermessen verfügen kann. Es ist dies die einzige Möglichkeit zur Erhaltung
der Arbeitsfreudigkeit, der sicherste Schutz vor der sonst unausbleiblichen Arbeits¬
verdrossenheit.
Ist ein Arbeiter (oder Beamter, Angestellter usw.) gerade am Sonntage
im Interesse des Verkehrs, oder sonst gerade im Interesse der am Sonntage
Feiernden, nicht abkömmlich, dann tun vierundzwanzig auf einen anderen Tag
verlegte Freistunden natürlich genau denselben Dienst. Es handelt sich eben
nur um das sich über mindestens vierundzwanzig Stunden erstreckende absolut
freie Verfügungsrecht eines jeden Arbeitenden. Aber gerade in diesem Punkte
ist es, wo der scharfe Widerspruch einsetzt, der zwischen den Befürwortern eines
möglichst weitgehenden freien Sonntags und den Verfechtern der cmglo-
mnerikanischen resp, puritanischen Sabbatfeier besteht.
Die Sabbatfanatiker wollen dagegen jenes Verfügungsrecht, das dem ein¬
zelnen die freie Wahl läßt, den Sonntag in derjenigen Form der Erholung zu
benutzen, die ihm nach seiner Berufs- und Beschäftigungsart und nach seinen
Neigungen am angemessensten erscheint, so stark wie möglich beschneiden.
Und zwar nicht dadurch, daß sie ihm persönliche Vorschriften darüber machen
wollten, was er zu tun und zu lassen habe — bewahre, das wäre ja gegen
die demokratische Theorie von der persönlichen Bewegungsfreiheit! —, wohl
aber dadurch, daß sie ihm die Möglichkeit entziehen, von diesen: Verfügungs¬
rechte Gebrauch zu machen. Und das geschieht wiederum, indem man ihm
die Gelegenheit zur Auswahl raubt.
„Wenn mit Ausnahme der Kirchen am Sonntage alles hermetisch ver¬
schlossen ist," so argumentieren die Sabbatheiligen, „dann müssen die Leute
wohl oder übel in die Kirche gehen" — eine Argumentation, welche tatsächlich
auch für Tausende amerikanischer Klein- und Mittelstädte, ja auch für einige
amerikanische Großstädte, volle praktische Geltung gewonnen hat. Besonders
gilt das von allen jenen kleinen stockamerikanischen Orten, in denen es, wie
bereits an anderer Stelle geschildert, so grauenhaft langweilig ist, wo die
Begriffe „Kirche" und „Gesellschaft" vollständig identisch sind und wo die Leute
tatsächlich aus purer Verzweiflung in die Kirche gehen, weil sie sonst absolut
nichts mit sich anzufangen wissen.
Der phänomenale Erfolg, den die Heilsarmee seinerzeit in England erzielte,
beruhte in allererster Linie auf der scharfsinnigen Erkenntnis des Mr. Booth,
daß die Leute für irgendeine Zerstreuung dankbar sein würden, die man
ihnen an dem trostlos langweiligen Sonntage darböte. Natürlich mußte das
aber ebenfalls unter dem Deckmantel der Religion geschehen. Aber man konnte
ja auch Kirchenlieder mit Pauken-, Trompeten-, Cnmbel- und Kastagnetten-
begleitung singen, und warum denn nicht auch nach der Melodie von: „So
leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage!"?
Auf den vom deutschen Standpunkte aus naheliegenden Einwurf: „Warum
gehen dann die Leute nicht spazieren, wenn sie sich langweilen?", ist zu erwidern:
„Das Spazierengehen ist eine ganz speziell deutsche Liebhaberei, die schou in
den anderen Ländern Europas weit weniger Anhänger hat, in Amerika aber
gar keine. Spazieren fahren: ja! Aber spazieren gehen: nein!
Besonders in den heißen Südstaaten, wo die Straßen- und Wegeverhält¬
nisse meist noch sehr im argen liegen, kann man ganz direkt in den Ruf eines
„Crank", d. h. eines etwas verschrobenen Sonderlings, kommen, wenn man
überhaupt spazieren geht. Ich weiß das ganz genau, denn ich habe diese
schmerzliche Erfahrung persönlich gemacht. Als ich vor Jahren von den Stadt¬
verordneten in San Antonio zum Mitgliede des Kuratoriums der neugegründeten
Carnegie-Bibliothek gewählt worden war und als in der ersten Sitzung nach
der Wahl die gegenseitige Vorstellung der Mitglieder stattfand, sagte nur Hom.
Cobbs („Honorable" als Mitglied der Staatslegislatur): „Sehr erfreut, Sie
nun auch persönlich kennen zu lernen, Doktor, habe sowieso schon viel von
Ihnen gehört!" Wenn ich mir nun aber etwa eingebildet hätte, ein Kompliment
über meine journalistische Tätigkeit zu hören zu bekommen, dann hätte ich sofort
recht kleinlaut und enttäuscht werden müssen, denn wie eine kalte Dusche folgte
die Erklärung auf dem Fuße: „Sie sind ja doch wohl der deutsche Herr, der
jeden Sonntag mit seiner Familie dreimal um die Stadt herum spazieren
geht?" Dies nur, ganz beiläufig, zum Beweise dafür, wie man durch die
bloße Gewohnheit regelmäßiger Spaziergänge selbst in einer größeren amerika¬
nischen Stadt zum Thema des allgemeinen Stadtgespräches werden kann! . . .
Aber anch das Spazierenfahren büßt sehr bald seinen Reiz ein, wenn
es sich dabei um ganz öde trockene Rundfahrten handelt, bei denen kein Ziel
zur Einkehr winkt. Wenigstens geht das dem in deutscheu Lebensanschauungen
Aufgewachsenen so.
Bedurfte es noch eines besonderen Nachweises dafür, daß die Prohibitionisten
und die Sabbatfanatiker ganz eng miteinander verwandt, ja gewissermaßen
Zwillingsbrüder sind, dann ließe sich derselbe durch die ganz eigenartige Form
erbringen, in welcher in manchen Gegenden der Vereinigten Staaten der gesetz¬
liche Sabbatzwang durchgeführt wird. In den alten Uankee-Staaten. und anch
in Pennsylvanien,' Kansas, Iowa usw. wird die Sabbatbeschließung ganz allgemein
und in der denkbar striktesten Form durchgeführt. Und zwar so, daß nicht nnr
alle Wirtschaften und Verkaufsladen geschlossen werden müssen, sondern auch
alle Theater und sogar die Museen und öffentlichen Kunstsammlungen irgend¬
welcher Art. Also der Arbeiter und alle sonstigen Leute, welche die Woche
hindurch von morgens früh bis abends spät zu arbeiten haben, erhalten über¬
haupt niemals die Gelegenheit, jene öffentlichen Sammlungen zu besuchen, denn
wenn sie gerade Zeit haben, sind jene geschlossen. Das ist aber offenbar auch
der Zweck der Übung: sie sollen auch gar nicht hineingehen. Ausschließlich
in die Kirche gehen sollen sie am Sonntag, alles andere ist als eventuelle
Ablenkung davon streng verpönt!"
„Ist es schon Tollheit, hat es doch Methode! könnte man dazu mit dem
alten Polonius ausrufen.
In anderen Orten dagegen, wo man sich nur widerwillig und murrend
dem unpopulären Staatsgesetze fügt, nimmt die Sabbatfeier ganz wunder¬
liche Formen an. So richtet sich das Gesetz beispielsweise in San Antonio
ganz ausschließlich gegen die Saloons resp, gegen die Hotels mit solchen
Ausschankstätten. Die Theater veranstalten dort unbeanstandet Sonntags¬
vorstellungen (— und zwar ohne Anwendung der in der Weltstadt New York
üblichen heuchlerischen Deckform von „Zacrec! concert8", bei welchen geistlichen
Konzerten oder Kirchenmusik-Aufführungen aber auch ganz ruhig Partien aus
der „Luftiger Witwe" :c. mit unterlaufen! —), die Zigarrenläden und die
Obstläden bleiben geöffnet und die Sodawasser- und Limonaden-Quellen fließen
unbehindert fort. Man kann sich auch überall den Magen mit Fruchteis,
Schokolade und „Canby", vulgo Konfekt verticalem, sogar Billardhallen und
Kegelbahnen stehen den ganzen Tag hindurch offen. Und zwar auch während
der Kirchenzeit. Und von der Komödie der Schaufensterverhüllung weiß man
auch nichts. Ja, in den Mexikanervierteln sind auch die Barbierläden offen,
und wenn man am Sonntag dort an einer Hahnenkampf-Arena vorbeikommt,
kann man schon an dem schmetternden Triumphgekräh des jeweiligen gefiederten
Siegers ganz genau hören, daß die hochwohllöbkche Polizei selbst gegen diesen
blutigen Betrieb, gegen diese barbarische Volksbelustigung nicht das geringste
einzuwenden hat. Aber ein Glas Bier kann man am Sonntag dort trotz
alledem und alledem nicht mehr bekommen! Und zwar weder für Geld noch
gute Worte und auch nicht einmal durch Lug und Trug. Auch uicht einmal
wie in der Weltstadt New York — durch die Seiten- und Hintertür!
Das alles hat die raffinierte Klausel von der drohenden sofortigen Annullierung
der Lizenz, der Ausschankgerechtsame, die bei der geringsten Übertretung der
Saloonverordnungen eintritt, zuwege gebracht! . ^ „"
Also strikteste Prohibition auch in einem noch „freien und „feuchten
Staate an den zweiundfünfzig Sonntagen des ^ahres!
Wer da keinem Klub angehört, ist übel dran. Die Folge davon ist, daß
die Klubs überall wie Pilze aus der Erde schießen. Aber sofort plant man
auch schon neue Zwangsgesetze, um auch diesen geschlossenen Gesellschaften auf
den Pelz zu rücken. Verschwiegen werden kann ja freilich nicht, daß prete
dieser neuen Klubs lediglich in der ausgesprochenen Absicht der Umgehung der
lästigen Sabbatgesetze gegründet werden. Ebensowenig verschwiegen werden darf.
daß in diesen Klubs viel ärger gezecht (— und nebenbei wohl auch gespielt!—)
wird, als in den offenbleibenden Wirtschaften getrunken und gespielt werden
würde. Es ist und bleibt eben die alte Geschichte vom Reize des Heimlichen
und Verbotenen! , j ^ , , , ,
Auch die Hotels haben sich dieser Sabbat - Zwangsabstinenz zu unter¬
werfen. Und zwar nicht nur, was ihre gesonderten Bars oder Saloons anbetrifft,
sondern auch mit Einschluß ihres Speisesaals und ihrer Table d'hote-Gäste!
Auch bleibt es sich dabei ganz gleichgültig, ob es sich um Einheimische oder
um Fremde handelt. Die weitaus meisten amerikanischen Speisehäuser verab¬
folgen ja überhaupt weder Wein noch Bier zum Essen. Die in Deutschland
für selbstverständlich geltende Idee, daß man an der Wirtstafel beim Speisen
auch unbedingt pokulieren müsse, ist dem Ungko-Amerikaner völlig fremd. Viele
von ihnen empfinden daher den in deutschen Hotels üblichen Trinkzwang als
etwas genau ebenso Lästiges und Widersinniges, wie uns das Trinkverbot, der
Nichttrink-Zwang, vorkommt. Ist nicht beides gleich widersinnig?
Ich werde nie das — absolute Verständnislostgkeit widerspiegelnde —
Gesicht eines Herrn vergessen, der erst ganz vor kurzem nach Amerika gekommen
war, der sich eines Sonntags in San Antonio an der Mittagstafel im Hotel
bei dem farbigen Kellner eine Flasche Rotwein bestellte und dem der dunkel¬
häutige Ganymed nun klar zu machen versuchte, daß er den bestellten „Claret"
nicht bekommen könne. Ja, warum denn eigentlich nicht? Er begriff es einfach
nicht, was der einfältige Sohn Hams mit seinem ewigen: „It's sunäa^, Lir!"
sagen wollte. „Das weiß ich ja ganz allein, daß heute Sonntag ist", erwiderte
er. Und da er vermeinte, daß der Schwarze nur sein — allerdings auch
keineswegs mustergültiges — Englisch nicht verstünde, wurde er — wie die
Leute das nun einmal schnurrigerweise zu tun pflegen — immer lauter und
lauter. Vergeblich versuchten die anderen Tischgenossen den aufgeregten Herrn
vom Strande der schönen blauen Donau zu belehren. Schließlich kam der
Wirt hinzu, der zum Glück genügend Deutsch verstand, um wenigstens den
Versuch wagen zu können, den Mann auf die im Lande herrschenden Eigen¬
tümlichkeiten aufmerksam zu machen, sowie auf die Staatsgesetze, welche den
Verkauf von Wein und anderen geistigen Getränken am Sonntag verbieten
und denen sich auch die Leitung dieses Hotels wohl oder übel zu fügen habe.
Aber auch jetzt blieb er noch bei dem Versuche. „Ja, schaun's," erwiderte der
Österreicher, „wie koMmt's denn da aber, daß die Herrschaften da drüben an
den anderen Tischen ihre von Flaschenhälsen strotzenden Eiskübel vor sich haben?"
Und so war's wirklich. Wer wie konnte der Fremdling auch wissen, daß die
Mitglieder jener fideler Tafelrunde ihren Wein schon am Tage vorher, am
Samstag, bestellt und bezahlt hatten, daß sie nun also ihren Wein tranken,
beileibe aber nicht etwa solchen, den sie eben erst — am heiligen Sabbat! —
bestellt hätten und ihn auch erst am Sonntag bezahlen würden! Das wäre doch
aber gegen Gesetz und Recht gewesen! So wird's nämlich in der Tat gemacht
— ein neuer Beweis für die Begründung der alten Behauptung, daß die
Gesetze bloß dazu da sind, um umgangen zu werden. Unserem Wiener aber
wollte die Geschichte absolut nicht einleuchten. Er konnte es nicht begreifen,
daß jedes Land seine „berechtigten Eigentümlichkeiten" habe. Die „Berechtigung"
vieler von diesen ist ja freilich auch recht schwer verständlich.
Es ist überhaupt äußerst schwierig, in einem an deutsche Anschauungen —
oder auch französische, italienische oder skandinavische, kurz, an „kontinentale"
Auffassungen — gewöhnten Kopf der den: anglo-amerikanischen Sabbatzwang
zugrunde liegenden Idee Eingang zu erzwingen, daß der Sonntag kein Tag
der Erholung, kein Tag der heiteren, zwanglosen Lebensfreude, kurz kein Festtag,
sondern ausschließlich ein Tag der ernsten Einkehr, der Weitabgewandtheit, wenn
nicht gar der augenverdrehenden Kopfhängerei sei.
Diese Grundidee läßt sich aber am greifbarsten durch die in den Vereinigten
Staaten landesübliche Einrichtung erläutern, daß ein wirklicher Fest- und
Freudentag, wenn er einmal dem Kalender nach auf eiuen Sonntag fällt, auf
einen andern Tag verlegt werden muß. So kann sich der ungeheuerliche
Widersinn ergeben — und hat sich natürlich auch schon sehr oft ergeben, —
daß der auf den vierten Juli fallende große Nationalfeiertag der Unabhängigkeits¬
erklärung vom Jahre 1776 am fünften Juli gefeiert wird. Jene Grundidee
ist dem echten Amerikaner aber derart in Fleisch und Blut übergegangen, daß
mau es gar uicht mehr empfindet, wie grotesk eine solche Verschiebung wirkt!
Neben dem gesamten Deutschtum — in sonst leider nur seltener Überein¬
stimmung — war bisher immer noch die römisch-katholische Kirche die
entschiedenste Gegnerin der puritanischen Sabbatfeier in den Vereinigten Staaten.
In vielen Landesteilen der Union — und nicht zum wenigsten in Louisiana und
Texas — war es wohl auch diesem energischen Auftreten zuzuschreiben, daß
die Anhängerschaft dieser Kirche in einem geradezu unheimlichen Grade wuchs.
Neuerdings aber machen sich selbst im Schoße der katholischen Kirche Amerikas
Bestrebungen geltend, welche darauf hin abzielen, sie in das Lager der Prohibi-
tionisten und der Sabbatfanatikcr hinüber zu drängen. Alle diese Bestrebungen
zur Amerikanisierung der römisch-katholischen Kirche finden einen ebenso eifrigen
als tatkräftigen Förderer in dein Erzbischof Ireland von Se. Paul, während
Kardinal Gibbon von Baltimore ebenso ernstlich bemüht zu sein scheint, diesen
Bestrebungen entgegenzumirken. Wer von beiden sich schließlich als der erfolg¬
reichere erweisen wird, bleibt abzuwarten.
Höchst beschämend ist es aber bei allen solchen Kämpfen, zu sehen, wie
ängstlich bemüht die aktiven Politiker, besonders die leitenden Parteimänner,
sind, sich möglichst neutral zu verhalten. Und leider die angeblich liberal
gesinnten am allermeisten. Die Furcht, sich irgendwie unpopulär zu machen
und infolge davon Stimmen zu verlieren, beherrscht all ihr Tun, Treiben
und — Unterlassen. Das gilt eigentlich auch von den Besten nnter ihnen.
Und, vom praktischen Standpunkt aus betrachtet, werden sie damit wohl gar
nicht mal unrecht haben! Um bloß ein Beispiel anzuführen: William Taft!
Wie wäre dieser Mann wohl Präsident der Vereinigten Staaten geworden, wenn
er nicht sehr . . . vorsichtig gewesen wäre. Dieser Mann gestattet sich nämlich
den für einen amerikanischen Politiker ungeheuren Luxus. Unitarier zu sein,
d- h. der so etwa am weitesten links stehenden unter den zirka drei Dutzend
protestantischen Sekten Amerikas anzugehören. Es ist dies die Sekte, welche
so etwa dem Standpunkt der deutschen freireligiösen Gemeinden entspricht.
Diese Tatsache wurde jedoch erst nach Tafts Erwählung allgemein bekannt.
Mit ganz erstaunlichem Geschick hatten seine „Manager" es verstanden, diesen
Umstand verschwiegen zu halten und es zu vermeiden, daß er überhaupt zur
öffentlichen Diskussion in Wort oder Schrift kam. Es kann aber als ganz
sicher und gewiß gelten, daß Taft weder gewählt noch überhaupt als
Präsidentschaftskandidat der republikanischen Partei aufgestellt worden wäre,
wenn man seine Eigenschaft als Unitarier allgemein gekannt hätte. So aber
hüteten sich seine politischen Drahtzieher, welche ihn stets als „a Mdä LtiurcK-
member", als ein gutes Kirchenmitglied anpriesen, auf das sorgfältigste, auch
mitzuteilen, welcher Kirche Taft angehöre, nämlich einer Richtung, welche das
Trinitätsdogma ablehnt, also auch von dem Gottmenschentum des Stifters der
christlichen Religion abstrahiert."
spielten doch schon die zwei „Cocktails, welche William Tahl bei irgend¬
einer — öffentlichen! — Gelegenheit getrunken hatte oder getrunken haben
sollte, während seiner Wählkampagne eine große Rolle, wobei seine Parteifreunde
alle Hände voll zu tun hatten, diese „Affäre" in möglichst mildem Lichte
erscheinen zu lassen. Sehr anzuerkennen ist es schon, daß Herr Taft diese
beiden Saratoga-Cocktails überhaupt nicht gänzlich abgeleugnet hat. Denn im
allgemeinen bemüht sich auch er — trotz seines persönlich sehr freisinnigen
Standpunktes — aufs eifrigste „mitzumachen", wie er es denn auch ganz
speziell stets vermeidet, sich am Sonntag öffentlich bei irgendeiner „weltlichen"
Verrichtung zu zeigen.
Ein neuer Anlaß zur allgemeinen Erörterung unsrer innerpolitischen Lage ist
durch eine Überraschung, die uns ein hochgestellter Mann bereitet hat, gegeben.
Der Erbprinz von Hohenlohe-Langenburg ist von seiner Stellung im Reichstags¬
präsidium — er war bekanntlich zweiter Vizepräsident — zurückgetreten und hat
diesen Schritt in einer längeren öffentlichen Erklärung begründet. Von Anfang an
ist niemand im Zweifel gewesen, daß die Annahme des Postens, den der Erbprinz
bisher im Reichstagspräsidium bekleidet hat, für ihn ein schweres patriotisches
Opfer war. Nur mit starker Selbstverleugnung konnte er sich dazu verstehen; das
war einleuchtend, und dafür schuldete man ihm Dank. Seitdem haben sich die
Dinge weiter entwickelt, gewiß nicht zur Freude der meisten Patrioten und am
allerwenigsten derer, die ungefähr von den gleichen Gesinnungen und Anschauungen
ausgehen wie der Erbprinz. Es ist also wohl zu verstehen, daß Prinz Hohenlohe
den Widerspruch zwischen der wirklichen Lage und der, die er bei Übernahme der
zweiten Vizepräsidentschaft des Reichstags angestrebt oder wenigstens zu retten
gehofft hatte, von Tag zu Tag stärker und allmählich bis zum Unerträglichen
empfand. Wenn er eines Tages daraus die Konsequenz zog, die in dem jetzt
vollzognen Schritt ausgedrückt wird, so kennzeichnet das nur aufs neue die vor¬
nehme, hochgesinnte Denkweise, die der Prinz von jeher in allen Lebenslagen
betätigt hat.
Allein der Politiker kann sich mit dem Zeugnis persönlicher Hochachtung
nicht begnügen. Er nutz kühl und nüchtern fragen, welche Folgen ein politischer
Schritt nach sich zieht, und ebensowenig wie uns die persönlich achtungswerte Tat
eines politischen Gegners bei voller Anerkennung ihrer Motive veranlassen kann,
in daS Lager der Gegenpartei überzugehen, so kann auch ein aus Charakter und
Umständen erklärbarer Schritt eines politischen Freundes uns nicht dahin führen,
daß wir die Frage, ob unsre Sache davon Schaden oder Nutzen hat, objektiv zu
Prüfen unterlassen. Im vorliegenden Falle können wir zu keinem andern Ergebnis
kommen, als daß der Schritt des Prinzen Hohenlohe ein politischer Fehler war.
Nachdem der Prinz einmal das allgemein als solches anerkannte und von allen
verständigen Freunden seiner Sache gebilligte Opfer gebracht hatte, mußten
Persönliche, noch dazu leicht vorauszusehende innere Konflikte zurückstehen hinter
dem Zweck, zu dem das Opfer gebracht worden war. War es für den
Prinzen demütigend und unerträglich, mit Herrn Peter spähn im Präsidium
des Reichstags zu sitzen, so war es das auch schon vor einem Jahre. Bei
uns ist nun einmal das Reichstagspräsidium aus Vertretern verschiedner Par¬
teien zusammengesetzt. Die Grundsätze, nach denen dies geschieht, sind unklar
und schwankend. Es ist jedem Mitglied des Reichstags unbenommen, hierüber
seine besondern Ansichten zu haben und in das Präsidium nicht einzutreten, wenn
dessen Zusammensetzung diesen Ansichten nicht entspricht. Ist er aber Mitglied
des Präsidiums geworden, so kann er sein Verbleiben darin nicht von dem Ver¬
halten der Parteien abhängig machen, denen die beiden andern Mitglieder des
Präsidiums angehören, es sei denn daß nach seiner Überzeugung ein bestimmter
Beschluß der Mehrheit nicht so sehr eine politische Verkehrtheit des Reichstags als
Gesetzgebungsorgans, als vielmehr eine Bloßstellung des Ansehens und der Ehre
des Reichstags als repräsentativer Körperschaft bedeutet. So legte seinerzeit das
ganze Reichstagspräsidium sein Amt nieder, als der Reichstag dem greisen Fürsten
Bismarck die Huldigung verweigerte. Es ist aber immer ein Fehler, wenn ein
Reichstagsmitglied an die Stelle der einfachen Überlegung, ob er mit Vertretern
bestimmter andrer Parteien im Präsidium zusammenwirken kann und will, irgend¬
welche Erwartungen in bezug auf die Entwicklung der Parteien setzt, die in den
seltensten Fällen erfüllt werden. Die Verpflichtung, die Prinz Hohenlohe im
vorigen Jahre freiwillig übernommen hatte, besteht auch heute noch fort, wenn
die Lage auch schwieriger geworden ist. Der Zeitpunkt, wo die Lage für den
Prinzen selbst unerträglich geworden war, ist also nur durch das subjektive
Empfinden des Prinzen bestimmt, nicht in objektiv nachweisbaren Tatsachen
begründet. Den Mann, der solchem Empfinden folgt, muß man respektieren; die
Frage aber, ob er den Schaden, der dadurch tatsächlich angerichtet wird, gewollt
hat, unterliegt der politischen Kritik.
Dieser Schaden ist vor allem durch die Art der Begründung, weniger durch
den Schritt selbst, angerichtet worden. Es wird niemand auf den Gedanken
gekommen sein, daß der Erbprinz von Hohenlohe, der dem Zentrum seit langer
Zeit besonders verhaßte, entschiedne Bekenner evangelischer Überzeugungen und
Bekämpfer ultramontaner Bestrebungen, in seinen religiösen und politischen
Anschauungen irgend etwas mit Herrn spähn gemein hatte, — weder vor noch
nach Erscheinen der Enzyklika. Er konnte in hundert öffentlichen Kundgebungen,
SU denen er als Abgeordneter Gelegenheit hatte, bekunden, daß er derselbe geblieben
war wie früher-, er konnte seinen Namen, wenn er wollte, auf jede Protest¬
resolution des Evangelischen Bundes setzen lassen. Dabei konnte er ruhig mit
Herrn Spahn im Präsidium sitzen, denn das hat gar nichts damit zu tun. Von
dem Grafen Schwerin sprechen wir gar nicht, da die Absage des Erbprinzen doch
un wesentlichen gegen die befürchtete Zentrumsherrschaft gerichtet war. Der
Erbprinz mußte sich aber vor allem bewußt sein, daß sein Rücktritt gar kein
Schlag gegen das Zentrum war — diesem gegenüber war er eine stumpfe
Waffe, ja sogar eine Art von Waffenstrecknng —, sondern ein Schlag
gegen die Regierung, und das in demselben Augenblick, wo diese Regierung
nach besten Kräften wenigstens die Absicht bekundet hatte, sich aus der
Umstrickung der herrschenden Parteikonstellation zu befreien und, wenn auch
nicht gegen den schwarz-blauen Block — daS geht doch aus praktischen
Gründen nicht bei der gegenwärtigen Zusammensetzung unsrer Parlamente —,
so doch wenigstens so zu regieren, daß im Laufe der nächsten Zeit wieder eine
Beruhigung der Gemüter, eine Erstarkung der Mittelparteien und eine Annäherung
zwischen der Rechten und der bürgerlichen Linken allmählich wieder möglich wurde.
Man kann vielleicht über diese Möglichkeit sehr pessimistisch denken, aber selbst
dann brauchte es nicht gerade ein freikonservativer Abgeordneter von besonderem
persönlichen Ansehen in sozialer Ausnahmestellung zu sein, der sich diesen Augenblick
aufsuchte, um das hochgehaltene Panier sinken zu lassen und durch sein lautes
Zeugnis den ersten, mühsam gepflanzten Kenn, aus dem vielleicht ein Heilmittel
gegen die allgemeine , unfruchtbare Verärgerung erwachsen konnte, wieder zu zer¬
treten. Höchst unglücklich und direkt als politische Ungeschicklichkeit wirkt in dem
offnen Brief des Erbprinzen auch der Hinweis auf den sogenannten „Absagebrief"
der nationalliberalen Partei, der in der Parteikorrespondenz unmittelbar nach der
Ernennung der Herren v. Dallwitz und v. Schorlemer zu Ministern losgelassen
wurde. Denn diese Kundgebung ist ja deutlich genug in den Reihen der Partei
selbst, wie aus zahlreichen Preszstimmen und neuerlichen parteiamtlichen Äußerungen
hervorgeht, als eine Übereilung erkannt worden. Der Hinweis auf die national¬
liberale Absage wirkt in dem Brief des Erbprinzen wie das Wiederaufreißen einer
bereits vermählen und verbundnen Wunde. Man muß sich daher fragen, wie sich
der Erbprinz überhaupt jemals berufen glauben konnte, vermittelnd zu wirken,
wenn er sich aus Gründen der Überzeugung für gezwungen hielt, diesen seinen
letzten Schritt so auszuführen, wie es geschehen ist.
Die Schwierigkeiten der Lage sind ja in der Tat nicht geringer geworden.
Der Rücktritt des Herrn v. Rheinbaben hat die Liberalen natürlich nicht gewonnen,
ja kaum ihr Mißtrauen verringert, dagegen sind Anzeichen bemerkbar, daß die
Konservativen dem Reichskanzler die Sache übelgenommen haben. Eine Pre߬
stimme, die man auf Äußerungen Rheinbabens selbst zurückführen zu dürfen glaubt,
deutet an, daß nicht der Wunsch, das Oberpräsidium der Rheinprovinz zu erhalten,
sondern politische Meinungsverschiedenheiten mit den: Ministerpräsidenten den bis¬
herigen Finanzminister zum Rücktritt bestimmt haben. Bei solchem nachspüren
nach den letzten Ursachen eines Ministerwechsels und nach den intimen Vorgängen
dabei verwischen sich die Grenzen zwischen richtiger Information und Hintertreppen¬
klatsch, zwischen wesentlichen Momenten und Nebensächlichkeiten in der Regel so,
daß für die ernsthafte Politik recht wenig dabei herauskommt. Mitunter vollzieht
sich die Lösung politischer Beziehungen gerade dann in der glattesten Weise und
in den höflichsten Formen, wenn recht tiefgehende Meinungsverschiedenheiten vor¬
liegen, also für Politiker kein Zweifel an der Notwendigkeit der Trennung
möglich ist. Es sind gerade geringfügige Differenzen, die in solchem Falle
nachträglich kleine Bitterkeiten und Gereiztheiten zurücklassen. Deshalb gewinnen
Außenstehende so selten ein richtiges Bild von solchen Vorgängen, wenn sie erst
einmal anfangen, die Horcher an den Türspalten und Schlüssellöchern zu
Rate zu ziehen. Man tut besser, auf alles das zu verzichten und sich Persönlichkeiten
und Lage zunächst losgelöst von solchen Einzelheiten und Zufälligkeiten anzusehen.
Dann sehen wir mit unsern eignen Augen genügend hell und deutlich, daß eine
Persönlichkeit wie Herr v. Rheinbaben sich in der ganzen jetzigen Lage als
Mitglied des Ministeriums nicht wohlfühlen konnte und daß er die Beziehungen
zu den Parteien anders auffassen mußte als Herr v. Bethmann. Es ist nicht
nötig, diese Einsicht, die sich jedem bei Betrachtung dieser beiden Persönlichkeiten
aufdrängen nutz, hier im einzelnen zergliedernd zu begründen. Man braucht
auch nicht erst eine Pythia auf den Dreifuß zu setzen, um zu erfahren, worin
vielleicht die beiden Staatsmänner verschiedne Ansichten gehabt haben. Wer
nicht ein Bild von den politischen Persönlichkeiten hat, den würden solche Einzel¬
heiten nur irreführen. In allen Hauptsachen haben wir an unsrer neulichen
Schilderung nichts zu korrigieren, und noch weniger an den Folgerungen, die
wir daraus gezogen haben.
In der auswärtigen Politik herrscht gegenwärtig nicht die Stille, die man
sonst als eine Erscheinung der Hochsommerzeit zu erwarten pflegte. Aber diese
Vorgänge sind durchweg derart, daß sie uns scheinbar nicht direkt berühren, wenn
sie auch unsre größte Wachsamkeit und Aufmerksamkeit erfordern. Teils handelt
es sich um Entwicklungen, die erst in ihren weiteren wirtschaftlichen Folgen
auf uns einwirken werden, teils um Fragen, an denen wir nicht unmittelbar
interessiert sind, in die man uns aber aus durchsichtigen Gründen gern
hineinziehen möchte. Derartige Angelegenheiten sind schwieriger zu behandeln als
andre, in denen ein unmittelbares Interesse zu verteidigen, eine bestimmte Ent¬
scheidung aus klar festgelegter Grundlage zu treffen ist. Die Welt ist jetzt durch
ein russisch-japanisches Abkommen überrascht worden. Die beiden Mächte wollen
unter Anerkennung des status quo ihre gemeinsamen Interessen in der Mandschurei
gemeinsam betreiben. Das kann natürlich von größter Bedeutung auch für die
deutschen Interessen in Ostasien werden. Aber es würde der Lage und unsern
Interessen durchaus nicht entsprechen, wenn man heute ein fertiges Urteil öffentlich
aussprechen wollte, in welcher Art unsre Interessen in Mitleidenschaft gezogen
werden und was wir etwa zu tun gedenken. Wir wissen nicht, wie Rußland und
Japan den Vertrag auslegen und handhaben werden, und auch nicht wie China
als die Macht, die es zunächst angeht, sich zu der Sache stellen wird. Nicht
minder wichtig ist es, wie andre Mächte, deren Interessen in noch größeren:
Umfange berührt werden, den Vertrag aufnehmen. Endlich ist auch die Art, wie
Rußland seine Angelegenheiten in Ostasien ordnet, nicht ohne Einflutz auf seine
europäische Politik, und es ist besonders Frankreich, wo manche politischen Kreise
anscheinend große Hoffnungen darauf setzen, daß Rußland infolge besserer
Rückendeckung in Ostasien wieder eine größere Aktivität in Europa entwickeln
kann. Wir müssen also die Augen offen halten.
Die kretische Frage hatte in den letzten Wochen wieder einmal eine ernstere
Wendung genommen, doch scheint die Gefahr jetzt glücklich überwunden zu sein —
wenigstens für die nächste Zeit. Wir müssen es angesichts der Lage mit besondrer
Genugtuung empfinden, daß es gelungen ist, das Deutsche Reich von dieser Frage
fernzuhalten. Es ist das ein besondres Verdienst des Fürsten Bülow. Auch
jetzt hat es in den Tagen der Krisis nicht an Versuchen gefehlt, die kretische Frage
von den: Tribunal der Schutzmächte an das der Signatarmächte der Berliner
Kongretzakte von 1878 zu bringen. Diese Versuche sind jedoch gescheitert, obwohl
sie nicht ungeschickt angelegt waren. Die Haltung, die wir dabei beobachtet haben,
kann als Richtschnur auch für manche andern Fragen dienen. Das ruhige Abwarten
und geschickte Benutzen der Verlegenheiten und Schwierigkeiten, die den fremden
Mächten untereinander bei der Verfolgung der ihnen zunächstliegenden Interessen
erwachsen, wird uns in vielen Fällen sehr viel weiter bringen als das
rasche Zufahren bei allen möglichen Angelegenheiten, die uns nur mittelbar
berühre,,.
fordern in ihrer Nummer 26 vom 30. Juni
zu einer „ruhigen, loyalen Opposition" auf, zu einer „Zusammenfassung des
gesamten ernstdenkenden Bürgertums vor und bei den nächsten Wahlen, um im
Interesse unseres Vaterlandes für die notwendigen Reformen unseres Staatswesens,
für eine feste, stetige und gerechte Regierungspolitik und damit für den so dringend
notwendigen Frieden zwischen allen Bevölkerungsklassen zu sorgen".
"
Diese „unabweisbare Folgerung, wie der Leitartikler schreibt, beruht indessen
auf falschen Voraussetzungen. Sie geht von der Ansicht aus, die Negierung wisse
nach wie vor nicht, was sie wolle, die Zügel der Regierung schleiften am Boden
und „Junker" und „Pfaffen" hätten sich des Staatssteuers bemächtigt. Konnte
eine solche Beurteilung der Sachlage bis in den April hinein als zutreffend gelten,
war es bis hinein in den Mai nach unserer Auffassung eine dringende Notwendigkeit,
der Regierung den Unwillen mit ihrem Benehmen ans alle mögliche Weise zum
Ausdruck zu bringen, so scheint uns die Zeit doch Gott sei Dank vorüber. Wir
geben zu, daß noch niemand mit Bestimmtheit sagen kann, die Regierung werde
den oder jenen Kurs einschlagen. Was aber jeder loyale Politiker einräumen
muß, ist die Tatsache der beginnenden Wiederherstellung einer Regierungsautorität.
Ist aber unsere Beobachtung zutreffend, und wir befinden uns mit unserer Auf¬
fassung in der besten Gesellschaft, so ist für die Mitglieder der nationalliberalen
Partei jede Opposition als Selbstzweck unmöglich. Die nationalliberale Partei,
einschließlich der Jungliberalen, hat es sich stets zur Aufgabe gestellt, positive
Arbeit zu leisten. Positive Arbeit können Parteien nur in Anlehnung an und im
Zusammengehen mit der Regierung schaffen, — es sei denn, das Land befinde
sich in der Revolution; obwohl auch dann die positive Arbeit einzelner Parteien
recht problematischer Natur ist. Gibt die Regierung selber Gewähr, Führerin bei
der Arbeit zu sein, wie es ihre Aufgabe ist, dann entfällt auch für die National¬
liberalen nicht nur jeder Grund zur Opposition, sondern sie handeln lediglich im
wahren Sinne ihres Parteiprogramms, wenn sie mit der Regierung gehen .Die
neue Zusammensetzung des preußischen Kabinetts gibt überdies eine gewisse Gewähr
dafür, daß ein Zusammengehen der Liberalen mit der Regierung zum Segen des
Landes gereichen würde. So sehr wir also dem Auftreten der Jungliberalen bis
in den März hinein zugestimmt haben, so sehr müssen wir sie vor weiteren
Schritten auf der vom Parteiblatt vorgeschlagenen Bahn warnen.
wie auch diejenige
anderer umfangreicher Strafprozesse der letzten Jahre drängt zur Betonung der
Wahrnehmung, daß in solchen Verhandlungen — ich möchte sagen: „Überflüssig¬
keiten" zutage treten, die zur Vermeidung öffentlichen Ärgernisses im Interesse
der Schonung des Staatsgeldbeutels und auch — was ebenfalls hervorgehoben
werden soll — zur Schonung der wahren Interessen des Angeklagten nach Mög¬
lichkeit vermieden werden müssen. Dabei glaube ich, daß es kaum ohne ein ent¬
sprechendes Eingreifen der Gesetzgebung abgehen wird. Vor allem erscheint es
notwendig, daß das erkennende (verhandelnde) Gericht etwas von dem jedem
Vorsitzenden drohenden Gespenst der Revision befreit wird, daß namentlich von
Gesetzes wegen dem Gericht freie Hand in der Ausdehnung oder vielmehr
Beschränkung der Beweisaufnahme gegeben wird. Wie die Verhältnisse gegenwärtig
liegen, ist es kaum möglich, auch ganz schwach begründete und aller Voraussicht
nach zwecklose Beweisanträge abzulehnen.
Man muß einsehen, daß die Verhandlung einzelner Strafsachen, die an sich
keineswegs wichtiger sind als sehr viele andere, keine unmäßigen Grenzen annehmen
darf. Deshalb ist es ganz unerläßlich, auf eine Beschränkung des Verhandlungs¬
stoffes und seiner Erörterung hinzuarbeiten. Dem erkennenden Gericht soll und
darf nur das wirklich Erhebliche vorgeführt werden. Es genügen für jede Sache
wenige Sachverständige. Die Äußerung vieler trägt zur Klärung nicht bei. In
keiner Sache, auch in der größten nicht, braucht in der mündlichen Hauptverhandlung
mehr als einem Verteidiger — für jeden Angeklagten — Nedebefugnis ein¬
geräumt zu werden. Anderseits braucht auch die Anklage mündlich nur durch
einen Staatsanwalt vertreten zu werden.
Man darf nicht vergessen, daß Strafprozesse nicht allein wegen der Angeklagten
geführt werden. Dem Angeklagten selbst ist mit der Offenlegung und Durchsprache
vieler Vorgänge, die nur lose und nebensächlich mit der Tat zusammenhängen, nicht
gedient — wenn man sich nämlich auf denSwndpunkt eines vernünftigen Angeklagten
und einer vernünftigen Verteidigung stellt. Vom Standpunkt der Allgemeinheit aber ist
es im höchsten Grade bedenklich, dem einen Angeklagten vor zahlreichen anderen — ohne
ersichtlichen, sachlichen Grund — eine bevorzugte Stellung einzuräumen. Ich gebrauche
wohlüberlegt das Wort „bevorzugte Stellung", denn bei ehrlicher Prüfung läßt
sich nicht leugnen, daß eine „Bevorzugung" stattfindet. Freilich bin ich der Ansicht,
daß der Vorzug im wesentlichen nur die Form, nicht die Sache trifft. Ich meine:
an sich genommen und bei dem Prinzip der amtlich gebotenen Aufklärung legen
recht viele Straffälle die Möglichkeit eingehender Nachforschung nach fernen
Geschehnissen und insbesondere nach Erziehung, Geisteszuständen u. tgi. nahe.
Man kommt aber sehr gut auch ohne solche Nachforschung ans und
übt — was meines Erachtens praktisch allein angängig ist — an sast
allen Angeklagten diese „prompte Justiz". Wenn nun an einem Angeklagten
diese prompte Justiz ausnahmsweise nicht geübt wird, so erscheint er in den
Augen der Menge als ein „Bevorzugter" und hält sich auch selbst wohl für
bevorzugt, — obwohl sich bei tiefer gehender Beurteilung alles Menschlichen recht
sehr daran zweifeln läßt, ob hier von einer Bevorzugung gesprochen werden darf.
Zur Erregung von Bedenken genügt dem Staatspolitiker aber die Tatsache, daß
sachlich nicht gerechtfertigte Unterschiede hervortreten, welche ohne weiteres zu
dem Vorwurf der sogen. „Klassenjustiz" führen, — gleichviel ob er irgendwie
innere Berechtigung hat. Ist doch tiefes Nachdenken nicht die Sache der großen
Schreier und der großen Menge.
Man gebe also dein Gericht — in Schwurgerichts- und Strafkammersachen —
die Befugnis, eine beantragte Beweisaufnahme nach Ermessen zu beschränken.
Dafür könnte man eine Revision in gewissem Umfange auch aus „tatsächlichen"
Gründen zulassen.
Um Vertagungen von Sachen zu verhüten, die für das Gericht, völlig erörtert
und so sehr klargestellt sind, daß daran nichts mehr besser zu klären ist, sollte es
(anders als gegenwärtig) gesetzlich statthaft sein, eine angefangene Beweisaufnahme
ohne Anwesenheit des Angeklagten fortzusetzen und zu beenden. Vielleicht würde
das bloße Bestehen einer solchen gesetzlichen Möglichkeit in manchen Fällen
bewirken, daß der Angeklagte sich als verhandlungsfähiger erweisen würde als
unter der Herrschaft der jetzt geltenden Gesetze.
Im Grunde kleine Überflüssigkeiten, die aber mehr Ärgernis erregen, als
'nan wohl denkt, treten in der persönlich verschiedenen Behandlung verschiedener
Angeklagten hervor. Im Gerichtssaal sollte nicht vom „Herrn Angeklagten" und
von der „Frau Angeklagten" die Rede sein. Derartige Wortzusammenstellungen
wirken auf feinfühlige Gemüter nicht schön! Und sie wirken in der Öffentlichkeit
bedenklich, wenn man weiß, daß mehr als neunundneunzig Prozent aller Angeklagten
überflüssige Höflichkeiten versagt werden. Denn überflüssig sind sie in der Tat
völlig, ja in Anbetracht des Ernstes der Lage, in der sich eine unter schwerer
Anklage stehende Person stets befindet, sogar geschmacklos. Hier könnte eine
Gesetzesbestimmung mit wenigen Worten durch die Vorschrift helfen, daß jeder
„Angeklagte" schlechthin mit diesem Worte anzureden ist. Bestimmungen solcher
Art sind, wie die Praxis zeigt, nicht unnütz. Sie finden sich auch in ähnlicher
Beziehung in geltenden Gesetzen; so schreibt z. B. die österreichische Strafproze߬
ordnung vor, daß „wer vor Gericht vernommen wird oder das Gericht anredet,
stehend zu sprechen hat". — Ebenso wie selbstverständlich dem einen Unter¬
suchungsgefangenen nicht ein Loch, dem anderen aber ein Salon zur Haft an¬
gewiesen werden kann, sondern jedem eine einfache Zelle, so sollte auch die Anrede
aller Angeklagten die gleiche seinl Man hat sich ja bekanntlich auch darüber
beklagt, daß die Haftzelle eiuer Angeklagten nicht schön genug gewesen sei. Die
.Klage war wohl wenig überlegt. Denn die Untersuchungshaft ist nur eines der
notwendigen Übel, mit denen jeder Staatsbürger und namentlich jeder Angeklagte
rechnen muß; aber sie ist eben ein notwendiges Übel.
Zu weit würde mich die Erörterung der Frage führen, ob nicht in der Praxis
Aas dunkle Gebiet der „Geisteskrankheit" möglichst gemieden werden sollte. Sicher
ist aber zu empfehlen, daß die in Frage kommenden Gutachten möglichst einheitlich
in die Hand staatlich eingesetzter Sachverständigen-Kommissionen gelegt werden
sollten, ohne daß andere Sachverständige vor Gericht mitzureden haben Eine
Jurist.
Rudolf Sohm, der verdiente Leipziger Kirchenrechtler, hat
mehrfach betont, daß das Wesen der Kirche mit dem Kirchenrecht im Widerspruch
stehe, daß das Wesen des Rechts dem idealen Wesen der Kirche durchaus ent¬
gegenstehe. (Kirchenrecht I S. 1 ff., S. 456—59. Kirchengeschichte im Grundriß,
16. Aufl. S. 26ff.) Dieser Auffassung Sohns ist mannigfach widersprochen worden.
Zumal von katholischer Seite hat man oft und energisch das Gegenteil behauptet.
Neuerdings hat auch wieder I. B. Sägmüller, Professor der Theologie an der
Universität Tübingen, in der zweiten Auflage seines Kirchenrechtes gegen Sohm
Stellung genommen. (Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Freiburg 1909, S. 7.)
Sägmüller hat unter Heranziehung vieler Vibelstellen die Daseinsberechtigung
des Kirchenrechtes nachgewiesen. Sägmüller hat aufs neue betont, daß das
Wesen der Kirche mit dem Wesen des Rechtes — des Kirchenrechtes — durchaus
im Einklang steht (a. a. O. S.24ff. - Jobs. 20. 23; Me. 16, 19; 18, 18).
Zwei Autoritäten ersten Ranges haben gesprochen. Die Gegensätze sind
überaus scharf. Niemand kann sich zum Richter in dieser Frage auswerfen, eine
tiefe Kluft trennt beide Parteien. Hier auch werden sich Protestanten und Katho¬
liken immer gegenüberstehen. Alle Vermittelungsversuche werden vorläufig auf
unhaltbare Kompromisse hinauslaufen.
Dem abstrahierenden Protestantismus ist Kirchenverfassung wie Kirchenrecht
zwar notwendig, aber trotzdem im Reiche Christi ein Fremdkörper. Anderseits
entspricht dem Wesen der katholischen Kirche, einer Hierarchie im eigensten Sinne,
das Kirchenrecht unbedingt.
Vielleicht kann nun aber der Historiker zwischen dem (protestantischen) Juristen
und dem (katholischen) Theologen vermitteln. Vermitteln, d. h. Verständnis
schaffen für den Dritten, den Unbeteiligten, der diesen Gegensätzen ratlos gegen¬
übersteht. Sohm gibt zu, daß der natürlichen Veranlagung des Menschen eine
Organisation entspricht (Kirchengesch. S. 297). Diese Organisation aber erfordert
eine Norm, innerhalb deren Grenzen sie sich bewegt. Damit ist bereits das
Psychologische Moment der Entstehung und Daseinsberechtigung des Kirchenrechtes
gegeben. Das aktuelle Moment sieht Sohm in der Feier des heiligen Abendmahls.
Die Eucharistie erfordert einen mit dem Charisma begabten Vorsitzenden. Schon
in apostolischer Zeit aber sind die Vorsitzenden der Eucharistie nicht immer charisma¬
tisch begabt gewesen. Sie haben ihr Amt verwalten müssen kraft einer ihnen
erteilten und anerkannten Obödienz.
Sägmüller behauptet nun demgegenüber, daß diese in der Abendmahlsfeier
zutage tretende Organisation von Anfang an bestanden habe. Wiederum sucht
Sägmüller seine These durch Bibelstellen zu erhärten (a. a. O. S. 8, 24, 865 ff.).
Somit ist die rechtliche Organisation der Kirche anzuerkennen; die Kirche ist
juristische Person und als solche unter anderem auch imstande, Vermögen zu
erwerben. Und mit alledem befindet sich die Kirche durchaus nicht im Wider¬
spruch mit der Heiligen Schrift, wie Sägmüller im Anschluß an Me. 10, 10,
Luk. 10, 7 usw. nachweist.
Im Verfolg dieser Anschauungen stellt sich die Entwickelung der römischen
Papstkirche dar. Sie ist die von Christus gegründete Anstalt zur Erlösung der
Menschheit; durch Petrus hat sie die höchste Gewalt (Me. 16. 18). Durch pein¬
lichsten Ausbau aller in dieser Theorie liegenden Folgerungen hat der römische
Bischof nach und nach die Weltherrschaft als medo erobert, die ihm von Christus
gegeben ist. Die Päpste haben das Erbe des römischen Kaisers angetreten und
die Einrichtungen dieses Weltreiches auf ihre noch viel universalere Herrschaft zum
Teil angewendet. Eine der wichtigsten Verwaltungsmaximen der untergegangenen
Macht liegt in den Worten: clivicte et impera! Die römische Kirche hat sich das
gesagt sein lassen. Sie hat den von ihr abhängigen Gliedern die verschiedenste
Behandlung zuteil werden lassen. Wie es der Vorteil und das Gedeihen Roms
und der römischen Papstkirche erfordert haben, sind Huld- und Gnadenbeweise oder
Mahnungen und Bestrafungen ausgegangen, und alles das „nach ewigen, ehrnen,
großen Gesetzen". Ihren Ausdruck haben diese Gesetze gefunden in den zahlreichen
Papstbriefen, ihr System — wahrlich ein glänzendes — im Lorpus iuris Lanonici.
In der Tat, katholische Kirche und katholisches Kirchenrecht sind im Wesen tief
verwandt.
Die Gegensätze also spitzen sich auf die Frage zu: Hat das Christentum
eine rechtliche Organisation bereits gehabt? Dem Protestanten braucht
niam kaum zu sagen, was Christus der Mutter der Zebedäi-Söhne antwortete;
es ist dein evangelischen Bewußtsein ohne weiteres ein Unding, daß zwischen
Christus und seinen ersten Nachfolgern und Jüngern ein anderes Gesetz bestanden
haben soll als das der Liebe und des Glaubens.
Und nun zum Schluß eine Probe, wie die Organisation im Urchristentum
bewiesen wird. Sägmüller, dessen Buch ich im übrigen gern als sehr nützlich und
übersichtlich anerkenne, zitiert die Stellen der Heiligen Schrift, in denen Christus
von seinem Reich, vom Reich Gottes, vom Himmelreich usf. spricht — und ein
Reich ist ohne Organisation nicht zu deuten. Daß aber unser Heiland am Abend
seines Erdenwallens zu dem römischen Landpfleger (Jobs. 18, 36) gesagt hat:
»Mein Reich ist nicht von dieser Welt", das hat Sägmüller nicht zitiert.
Und ich meine doch, wenn von einem Reiche Christi die Rede sein soll, so wird
es sür den Protestanten immer das Reich sein, das nicht von dieser Welt ist,
nicht etwa die römische Hierarchie. Der katholische Kirchenrechtler, der Professor
der Theologie, von dogmatischen und kanonischen Satzungen eingeengt, muß einen
solchen grundlegenden Satz an einer fundamentalen Stelle seines ausgezeichneten
Werkes unterschlagen. Das tut mir im Sinne der Wissenschaft leid. Hier aber
muß gefolgert werden: Wenn der eine Beweis für die aufgestellte These — recht¬
liche Organisation des Urchristentums — so windig ist was werden die anderen
Dr. Otto Lerche-Goettmgen
Wer eine Reihe von Jahren in China gelebt hat, lernt
immer mehr erkennen, wie berechtigt der Ausspruch ist, hierzulande geschehe meistens
das Unerwartete. Bei keiner andern Gelegenheit hat sich das deutlicher gezeigt,
als bei der Bewegung gegen das Opiumraucher. Als die Pekinger Regierung
vor einigen Jahren ihren ersten hierauf bezüglichen Erlaß veröffentlichte, wird es
schwerlich auch nur einen einzigen unterrichteten Westländer gegeben haben, der
nicht voll von Mißtrauen wegen der Durchführbarkeit solcher Absichten gewesen wäre.
Die meisten urteilsfähigen Personen werden vielmehr die Sache damals sür völlig
aussichtslos gehalten haben. Nicht, daß man irgendwie an dem guten Willen der
Zentralregierung gezweifelt hätte, aber nach vielen Erfahrungen, wo ähnliche
Befehle zu nichts führten, schien es berechtigt zu sein, jetzt ein gleiches Ende
vorauszusagen. Es sei nur an das grausame Einschnüren der Füße kleiner Mädchen
erinnert. Am Pekinger Hofe wird diese Sitte, die chinesisch ist und nicht mantschurisch,
nicht geduldet. Die Regierung ist auch oft genug mit Drohungen und Ermahnungen
dagegen vorgegangen, aber bisher ohne wesentlichen Erfolg.
Um so erstaunlicher ist es, daß sie in der Frage des Opiums ihren Willen
durchsetzen wird. Daran kann jetzt kaum noch ein Zweifel sein.
Vor einem halben Jahrhundert wurde in China selbst nur wenig Mohnbau
getrieben. Deshalb kam das einheimische Opium damals kaum in Betracht. Seitdem
hatte sich das jedoch so gründlich geändert, daß schließlich in mehreren großen
Provinzen, besonders in Szetschuan und Jünnan, überall Mohnfelder mit ihren
herrlichen, reichen und satten Farben zu sehn waren. Viele Millionen Menschen
lebten davon. Beim Erscheinen des ersten kaiserlichen Erlasses gegen das Opium-
raucher sagte nun die englische Regierung zu den Chinesen: Wenn ihr wirklich
den Willen habt, dieses Übel aus eurem Lande auszurotten, gut, dann wollen wir
euch gemäß eurem Ersuchen dabei behilflich sein, indem wir die Opiumausfuhr
von Indien nach China allmählich geringer werden lassen; aber wir können
dies nur unter der Bedingung tun, daß ihr den Mohnbau in eurem eigenen
Lande pari passu mit der Verminderung unserer Einfuhr von Opium einschränkt.
Hier lag also der springende Punkt, und man mußte sehr gespannt darauf
sein, was daraus werden würde. Im Anfange lauteten die über den Fortgang
dieser Angelegenheit aus den verschiedenen Provinzen des großen Reiches
kommenden Angaben recht verschieden. Einerseits schien dem kaiserlichen
Befehle, niemand solle mehr Mohn bauen, an manchen Stellen schon bald
Folge geleistet worden zu sein, doch anderseits kamen vorläufig aus nicht
wenigen Gegenden auch Nachrichten entgegengesetzter Art. Im allgemeinen
trauten die im Lande der Mitte lebenden Ausländer längere Zeit der Zentral¬
regierung in Peking nicht die nachhaltige Kraft zu, die Sache gegenüber wider¬
spenstigen Provinzen vollständig zu Ende zu führen. Im Laufe der letzten Monate
sind nun aber von verschiedenen Europäern, die in den Gegenden mit der bisher
größten Opiumerzeugung gewesen sind, übereinstimmende Nachrichten höchst über¬
raschender Art gekommen. Danach ist z. B., wie der angesehene hiesige englische
Kaufmann E. S. Little in mehreren an die „North China Daily News" gerichteten
Briefen bezeugt, in der großen Provinz Szetschuan. wo sich noch vor einem Jahre
fast niemand um die kaiserlichen Verfügungen über das Opium gekümmert hatte,
jetzt weit und breit kein einziges Mohnfeld mehr zu sehn. Aus andern
Provinzen laufen ganz ähnliche Meldungen ein. In Jünnan, das neben Szetschuan
am meisten in Betracht kommt, hatte der energische Generalgouvemeur Hsi Liang,
der jetzt in der Mandschurei ist, schon eher völlig mit dem Mohnbau aufgeräumt.
Gerade dort gab es viele warnende Stimmen, die meinten: Überlegt euch die
Sache wohl, denn hier in Jünnan lebt die Hälfte der Bevölkerung vom Mohnbau;
wird dieser völlig untersagt, dann mag der Himmel wissen, was die Folgen sein
werden. Aber siehe dal die Unglücksraben behielten durchaus nicht recht, denn
zurzeit gibt es in Jünnan keine Mohnfelder mehr, aber dafür ist der Anbau
von Reis und von sonstigen nützlichen Fruchtarten eingetreten. Infolgedessen
ist dort nicht nur das Korn, sondern auch der Grund und Boden überall
im Preise gesunken. Dasselbe wird wohl auch in andern Gegenden, wo
viele Mohnfelder in solche für Reis und dergleichen verwandelt worden sind,
geschehn.
Was man in der letzten Zeit über diese Sache gehört hat, ist ein schlagender
Beweis dafür, daß die Pekinger Regierung sehr wohl etwas durchzusetzen vermag,
wenn sie nur den ernstlichen Willen hat. Wahrscheinlich würde ein so plötzlicher
Übergang, wie er hierbei stattgefunden hat, außer China in keinem andern Lande
der Erde möglich sein. Der schon genannte Little fragte allenthalben in Szetschuan
die Leute: „Weshalb baut ihr keinen Mohn mehr?" Hierauf erhielt er immer
die Antwort: „Wir wagen es nicht, es ist verboten." Zu offenen Widersetzlichkeiten
und Blutvergießen ist es nur vereinzelt gekommen.
Auf die Anregung des englischen Geschäftsträgers Max Müller (eines Sohnes
des verstorbenen gleichnamigen Gelehrten) in Peking hat die Londoner Regierung
soeben verfügt, der Handelsbeirat der Pekinger Gesandtschaft, Sir Alexander Höhle,
solle das ganze chinesische Reich bereisen und umfassende amtliche Erkundigungen
darüber anstellen, wie es mit dem Mohnbau stehe. Man nimmt an, daß
diese Reise etwa ein Jahr dauern wird. Von dem zu erwartenden Berichte
darüber muß es dann abhängen, in welchem Tempo die Opiumeinfuhr von Indien
nach China allmählich zu verringern ist. Schon jetzt aber darf gesagt werden,
daß es im Lande der Mitte bald mit dem Opiumraucher vorbei sein wird. Noch
vor wenigen Jahren hätte jeder Westländer eine solche Möglichkeit für ganz
Am 3. Juli 1823 wurde in Wien Ferdinand Kürn-
berger geboren, am 14. Oktober 1879 ist er in München gestorben. Lange Jahre
war er, man kann sagen bis auf den Namen, verschollen, vielleicht hier und da
die Kost von Feinschmeckern, im ganzen doch völlig unbekannt. Was man über
ihn las, war nicht immer sympathisch. Nun aber ist für Kürnberger die
große Wende gekommen, nämlich das Freiwerden seiner Werke, und es
beginnt eine große Kürnberger-Ausgabe in schönem Gewände bei Georg
Müller in München zu erscheinen. In acht Bänden will der Herausgeber,
O.tlo Erich Deutsch, die Feuilletons, Romane, Novellen, Tagebücher, Apho¬
rismen und Gedichte Kürnbergers vorlegen, von dein man bisher nur den
Roman „Der Amerikamüde" und einige Novellen bequem in Reclams Universal-
Bibliothek erhalten konnte. Der erste Band ist erschienen und bringt die unter
dem Titel „Siegelringe" von Kürnberger selbst vereinigten politischen und kirch¬
lichen Feuilletons. Das Buch, dessen einzelne Aufsätze in deu sechziger und siebziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden, ist heute nicht mehr und nicht
weniger als ein Erlebnis. Denn jede dieser wenig umfangreichen Arbeiten ist
aus einem Guß, offenbart eine immer nach Zusammendrängung und Sachlichkeit
strebende Persönlichkeit und einen Stilisten von anderwärts ganz selten erreichter
Stärke. Das Buch beginnt, bezeichnend genug, mit einem Lob des Krieges, das
der Österreicher im Juni 1866 hinaufruft, als die große Klärung in das ver-
dumpfte österreichische Leben hineinkam. Aber es erhebt sich erst zur vollen Höhe
in der Betrachtung des Krieges von 1870 durch diesen leidenschaftlich deutschen
Wiener. Mit Jubel und mit Tränen begleitet er, der Deutsche außerhalb der
neuen Grenzen, den Siegeszug König Wilhelms und Vismcircks, mit einem stolzen
deutschen Selbstgefühl spricht er von dem Größenschauer, der jeden wirklich Großen
überfällt, wenn ihm Gott eine gewaltige Aufgabe auferlegt. Von Moses und
Jesus über Luther und Cromwell kommt er zu dem Deutschland Bismarcks, das
mitten in den Siegen von 1870 sich heimseyut zum Frieden, das schauert vor
seiner Größe, das für den Frieden siegt. „Eine weiße Krawatte, ein schwarzer
Frack, gelbe Handschuhe, ein Blatt Velinpapier, ein ^Kalligraph, und uicht zu ver¬
gessen ein Schwur, vor allem und ganz besonders ein Schwur; das sind in der
Tat die ausreichenden Ingredienzien zu einer Verfassung — in romanischen LandenI
Ans verschiedenen Gründen reichen sie in deutschen nicht ans. Um nnr den ersten
und letzten Grund zu nennen, so sagt die deutsche Sprache bei weitem nicht so
oft „machen", als die französische „taire" sagt. Desto öfter sagt sie: entstehen,
zeugen, werden, wirken, wachsen, ja sie sagt sogar das wunderbare Wort „walten",
was ihr in der ganzen Welt kein Mensch mehr nachsagt. Hätten die Eichelsresser,
welche mit nackten Armen und Beinen das marmorne Rom zerstörten, nichts
weiter gehabt als eine Sprache, in welcher man „walten" sagen kann, sie hätten
damit allein ihr Recht legitimiert, das marmorne Rom zu zerstören. Der alte
Attinghansen sagt: Sie sind begraben alle, mit denen ich gewaltet und gelebt
aber auch das Gesangbuch sagt: Wer nur den lieben Gott läßt walten." Das
ist eine Probe des wundervoll starken und plastischen Stils wie der tief deutschen
Gesinnung Kürnbergers. Mit Rutenhiebeu geißelt er in der Zeit des großen
Wiener Krachs das Gründervolk, mit den schärfsten Hieben den Ultramontanismus
österreichischer Ministerien und mit prophetischem Ungestüm den Verkauf deutscher
Rechte an die slawischen und magyarischen Völkerschaften um politischer Bequem¬
lichkeiten willen. Auch wo er gegen Österreich ungerecht wird, spürt mau in jedem
Hauch die erzürnte Liebe, und wenn er in unablässigem Mahnen Norddeutschland
vielleicht einmal zu licht malt, so dürfen wir uns das heute, in der Zeit unauf¬
hörlichen Schnupfens auf Preußen, gern gefallen lassen.
Ost erklingen aus diesem Buche Töne, wie sie Gustav Freytag und seine
Freunde einst aus diesen grünen Heften klingen ließen, nur vielleicht mit dem
größeren Elem eiues Herzens, das sich in einen nicht freudig aufstrebenden Staat
gebannt sah. Das Wort Feuilleton deckt Kürnbergers Aufsätze in keiner Weise,
oder doch nur dann, wenn man bei der Beurteilung all das im üblen Sinne
Feuilletonistische abzieht, was sich seit Jahrzehnten an den Begriff gehängt hat.
Es sind alles von Bildern strotzende, mit dem Herzen durchempfundene Kampf¬
blätter, die hier vor uns liegen. Mit vernichtender, ehrlicher Empörung wird da
eine „hundertjährige vollkommene Ohrfeige" an die ganze felle Presse erteilt, die
im Jahre 1870 die aufrechten, für Deutschland schreibenden Wiener Journalisten
für bestochen erklärte. Und etwas Glänzenderes als die Arbeit „Ein Tollhänsler
mehr" über Victor Hugos Aufruf an die Deutschen ist auch in erregten Tagen
des neunzehnten Jahrhunderts kaum, je geschrieben worden. Man versteht unsre
österreichischen Volksgenossen nicht, daß sie diesen großen Geist nicht immer und
immer wieder hervorgeholt haben; er steht, auf seinem Gebiet, neben den größten
deutschen Publizisten, neben List, Treitschke und Lassalle, ein eherner Mann in
einer schlaffen Zeit und einer schlaffen Umgebung; und man braucht nur das
Feuilleton „Hebbel und Bauernfeld" zu lesen und wird es bedauern, daß der
große Dithmarscher den großen Österreicher nicht genauer und besser kennen gelernt
hat. Wir sehn den noch verheißenen Bänden mit der größten Spannung entgegen
und hoffen, daß die für den achten Band vorgesehene Lebensbeschreibung Kürn-
bergers recht reichliches Material für den Lebensgang und die Entwicklung dieses
Großen beibringen wird. Das Siegel dieser „Siegelringe" verschließt nur Schriften,
die des Aufhebens und des Weitertragens in höchstem Maße wert sind.
von Artur Noetzler. KarlGraeseru.Kie., Wien. Diese
Biographie ist mehr als ein Akt freundschaftlicher Pietät — obgleich er das zum
Teil gewiß auch ist. Das Buch ist ein Dokument zur Entwicklung der deutschen
Kunst im neunzehnten Jahrhundert. Man weiß diesseits der schwarzgelben Grenz¬
pfähle immer noch nicht viel von Rudolf Alt, dem getreuesten Lokalchronisten
Wiens. Mit Menzel hat man ihn verglichen und sein Biograph geht hier sogar
so weit, Alls künstlerische Leistung „als die feinere, kulturreifere" zu werten. Das
klingt für nicht österreichische Ohren ein wenig übertrieben, denn wir sehen in
Menzel nicht nur den „kühl intellektuellen Norddeutschen", nicht nur einen der
größten deutscheu Wirklichkeitsmaler des verflossenen Jahrhunderts, sondern auch
einen Phantasiekünstler der geschichtlichen Darstellung. Und obendrein einen Mehrer
und Pfadfinder der künstlerischen Ausdrucksmittel in der Wiedergabe grade jener
wirklichen Welt, in der der Wiener Altmeister so vortrefflich zu Hause war, freilich
ohne jeden revolutionären Ehrgeiz. Aber wie weit man künstlerisch gelangen
kann mit liebenswürdigem Talent, mit unverbrüchlicher Treue gegen sich selbst und
mit schier unerschöpflicher Schaffenskraft, das zeigt das Lebenswerk Rudolf Akts.
Trotz seines typisch österreichischen Schicksals, während seiner reifsten Schaffensjahre
beiseite stehen zu müssen, erscheint er ohne jede Verbitterung, lebens- und Werk-
freudig bis ins Patriarchenalter hinein. Seine unzähligen Aquarelle, seine zier¬
lichen Zeichnungen, seine gelegentlichen Ölbilder waren niemals das, was man
sehenswerte Ausstellungsware nennt. Klein im Format, äußerst delikat und vor¬
nehm in den Farben, sein beseelt im Strich wie im malerischen Gesamtausdruck,
so hingen diese Kabinettstücke anspruchslos und beinahe unansehnlich an den
Wänden und wollten gesucht und entdeckt sein. Zumeist waren es Landschaften,
Städtebilder und Dorfmotive, Burgen und Brücken, Kirchen und Paläste, einsame
Täter und belebte Gassen mit farbigem Volksgewühl, Hunderte von gegenständ¬
lichen Motiven aus dem ganzen weiten und bunten Kaiserreich von Polen bis
nach Oberitalien, von Böhmen bis hinunter nach Dalmatien. Dort aber, wo
diese beiden Richtungslinien sich kreuzen, liegt Wien. Und zu diesem köstlichen
alten Wien ist der Künstler immer wieder zurückgekehrt. An die Hundertfünfzigmal
hat er den Stephansturin gemalt, und wenn eine Sonnenfinsternis über die Kaiser¬
stadt heraufzog, so wäre es für Alt eine Unterlassungssünde gewesen, nicht auch
diesen seltenen Augenblick festgehalten zu haben. Wieviele „Blicke auf Wien" hat
er zu fassen gesucht I Und alles, was die Photographie nicht geben kann, das
findet sich in diesen unglaublich subtil durchgearbeiteten Veduten: eine unverwüst¬
liche Heimathliebe, eine Zärtlichkeit für Baum und Busch des Vorgeländes, sür
die Linie des spiegelnden Stromes, für die entfernten Silhouetten der Kirchen
und Paläste im silbergrauen Duft. Ja, dieses Heimatgefühl wirkte auch phantastisch
in die Zukunft voraus: Roeszler erzählt, wie die Architekten sich mit Vorliebe an
Alt wandten, um von ihm ihre Projekte sozusagen ausmalen und verständlich
machen zu lassen. So entwarf Alt beispielsweise den idealen Prospekt der Ferstelschen
Museen und der projektierten Votivkirche; er malte das Parlamentsgebäude und
die Börse und ein sehr merkwürdiges Zukunftsbild jenes Stadtteiles, der durch
die Donauregulierung entstehen sollte, und alles, bevor es wirklich dastand. Das,
was wir heute an ihm schätzen, gab er freilich in diesen großen Prospekten kaum.
Wir sehen seine künstlerische Stärke eher in jenen winzigen und doch so großartig
wirkenden landschaftlichen Gelegenheitsblättern, oft nur ganz flüchtig angelegten
Skizzen in Wasserfarben, oder auch in seinen wenigen, aber zum Teil ganz vor¬
trefflichen Porträts. Er erreicht hier das seltene Ziel, trotz genauer Zeichnung
und Modellierung die Größe und charakteristische Form zu wahren. Die kleinen
Sammler haben ihn gekauft, und so ist er in einer Anzahl mittlerer Wiener Bürger¬
häuser als guter Hausgeist eingezogen und in Ehren gehalten worden, längst
schon, ehe die Jugend, die Sezession, den greisen alten Herrn den Grundstein zu
ihren: neuen Hause legen ließ. Er unterzog sich der späten Ehrung mit gutem
Humor. Wie denn überhaupt sein menschliches Teil ungemein erquicklich berührt.
Das bezeugen nicht zuletzt die von Roeßler hier mitgeteilten Briefe und Aussprüche.
^?-Weit wir Deutschen politisch geeint sind, ist auf verschiedenen
anderen Gebieten der Ruf nach Einigung erklungen. So wandte
sich auch die Aufmerksamkeit einen: der vornehmsten nationalen
Güter, der deutschen Sprache, zu, und es wurde die Forderung
laut, das Reich als der berufenste Anwalt solle eine Anstalt, ein
Neichscnnt oder eine Akademie für die deutsche Sprache zu ihrer
Pflege, Aufzeichnung und Feststellung einsetzen. Über die Form und Auf¬
gabe herrschte allerdings keine Einigkeit. Die einen sahen die ^cant6mis
i^rancMss, die italienische ^Lacismia clella Ousca und die Spanische
Akademie, mit dem Zwecke, die äußere Gestalt der Sprache festzusetzen,
als Vorbilder an, andere verlangten nur eine wohl geleitete Zentralstelle
zum Sammeln und Bearbeiten der großen sprachlichen Aufgaben, zur
Pflege und Aufzeichnung der deutschen Mundarten und zur fachmännischer
Prüfung und Begutachtung wissenschaftlicher Fragen. Drei Aufgaben aber
lagen dem praktischen Bedürfnis am nächsten: Die Vollendung des Deutschen
Wörterbuchs der Gebrüder Grimm, solange bei den mangelnden Vorarbeiten
und Grundlagen an den ersehnten und umfassenden ?Ke8auru8 ImAuae
Oermanicae noch nicht zu denken ist, während das Englische, Niederländische
und Schwedische Wörterbuch rüstig auf den: eingeschlagenen Pfade uns voran¬
eilen und auch das Wörterbuch der deutschen Rechtsprache beginnen wird zu
erscheinen; sodann eine vereinfachende Regelung der Rechtschreibung und die
Feststellung einer einheitlichen Musteraussprache. Die gewünschte Reichsanstalt
haben wir zwar nicht erhalten, aber die seit einigen Jahren an der Berliner
Akademie der Wissenschaften tätige Deutsche Kommission hat die wichtigsten
Aufgaben energisch in Angriff genommen.
Das große nationale Unternehmen des Deutschen Wörterbuchs („Grenz¬
boten" 1903 III S. 677 ff.. IV S. 621 ff.) wurde ihr unterstellt und
eine Zentralstelle dafür in Göttingen geschaffen, durch deren Unterstützung
die Tätigkeit der Bearbeiter wesentlich erleichtert und vereinheitlicht wird.
Unsere Rechtschreibung ist vor wenigen Jahren einer erneuten Durchsicht
unterzogen und sür das ganze Reich einheitlich geregelt worden, und mag sie
noch so unzulänglich und widerspruchsvoll und eine weitere Vereinfachung uur
eine Frage der Zeit sein, so ist uuter allen Umständen jede Einigung eiuer
regellosen, individuellen Willkür vorzuziehen („Grenzboten" 1903 I S. 779 ff.).
Die Vereinfachung aber, die mit der historischen Entwicklung immer mehr bricht,
kann nur auf der Grundlage einer geregelten Aussprache geschehen. Auf dem
Wege zu dieser geregelten Aussprache endlich, die übrigens nicht die Sprache
des alltäglichen Umgangs, sondern das Muster einer gehobenen Vortragssprache
sein will, ist ein bedeutender Schritt vorwärts gemacht worden.
Vor etwa zehn Jahren wurde das Bedürfnis nach einer allgemeinen
deutscheu Reichsaussprache laut. Wie vier Jahrhunderte früher eine allgemeine
deutsche Schriftsprache über den Mundarten entstand, die Ober-, Mittel- und
Niederdeutschen zur gegenseitigen Verständigung verhalf. so sollte nun eine
mustergültige Aussprache, die ganz Deutschland einigte, geschaffen werden.
Aber auf welcher Grundlage sollte sie erfolgen? Man mußte mit der Schrift¬
sprache als gegebener Norm rechnen, ohne doch jemals das Schriftbild zum
Maßstabe für die Aussprache zu macheu. Denn dieses setzt sich in oft wider¬
spruchsvoller Weise aus unzulänglichen, aus fremden Sprachen einstmals über¬
nommenen Schriftzeichen zusammen. Daher wird sich der von Prof. Braune-
Heidelberg in seiner 1904 gehaltenen akademischen Festrede „Über die Einigung
der deutschen Aussprache" aufgestellte Grundsatz: Sprich, wie du schreibst! erst
bei eiuer zukünftigen rein phonetischen Schreibung durchführen lassen. Wo aber
gibt es eine möglichst schlackenlose, von mundartlicher Färbung am wenigsten
beeinflußte Aussprache des in der Schriftsprache, in den mustergültigen Schrift¬
werken niedergelegten Sprachschatzes? In der Sprache der Kunst, in der
Sprache der Bühne.e
Indessen ist die Allssprache an den vrschiedenen Bühnen des deutschen
Sprachgebiets und in: Munde der einzelnen Schauspieler nicht durchaus gleich,
sondern wird oft durch nmudartliche Gepflogenheiten und die Reproduktion des
Schriftbildes störend beeinflußt, und das geschieht auf Kosten der einheitlichen,
künstlerischen Gesamtwirkung. So lag der Gedanke nahe, ohne kleinliche Schul¬
meisteret, auf Grund wissenschaftlicher Einsicht und unter Berücksichtigung der
an verschiedenen Bühlleu gebräuchlichen Allssprache eine Norm aufzustellen und
damit zugleich eine Grundlage für die allgemeine Regelung der deutschen Aus¬
sprache zu schaffen. Von einem Germanisten, Prof. Theodor sichs in Greifs¬
wald (jetzt in Breslau), ging der Ruf aus und fand bei Bühuenleitern wie
Germanisten, bei letzteren allerdings nicht durchgängig, freudigen Widerhall. Im
April 1898 fanden im Königlichen Schauspielhause zu Berlin unter den: Vorsitz des
Grafen von Hochberg, des damaligen Generalintendanten der Königlichen Schau¬
spiele, zwischen den Vertretern des Deutschen Bühuenvereins und der germanistischen
Wissenschaft Beratungen über die ausgleichende Regelung der deutschen Bühnen¬
aussprache statt, deren Ergebnisse von Prof. sichs in einer kleinen Schrift veröffent¬
licht wurden l„Grenzboten" 1900 II S.394). Indessen noch war der praktische Wert
der ganzen Unternehmung zweifelhaft, solange die Künstler selbst grollend beiseite
standen, die zu den Beratungen nicht hinzugezogen worden waren. Da setzte die
Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger im Jahre 1907 ihrerseits einen Arbeits¬
ausschuß zur endgültigen Regelung der schwebenden Fragen ein, stellte durch Frage¬
bogen die strittigen Punkte fest und berief dann im Mürz 1908 eine Konferenz
nach dem Deutschen Theater in Berlin, der Bühnenkünstler, Vortragslehrer
und die schon an der vorigen Konferenz beteiligten Germanisten beiwohnten.
Nachdem der Bühnenverein noch in demselben Jahre sein Einverständnis mit
den Verhandlungen und beschlossenen Änderungen erklärt hatte, ging Prof. sichs
an eine Neubearbeitung des 1898 veröffentlichten Werkes.
Dieses ist nun unter dem Titel „Deutsche Bühueuaussprache von
Theodor sichs, Köln 1910" im Verlage von Albert Ahn soeben erschienen
und bringt außer einer systematischen Einleitung, die auch den Gesang und die
Schule berücksichtigt, eine wissenschaftliche Behandlung der Laute und Erläuterung
an praktischen Beispielen im ersten Teil; der zweite bietet grundlegende
Betrachtungen über Tempo, Betonung und Tonfall der Rede; als dritter und
für die Praxis wichtigster endlich gibt ein Wörterbuch den Darstellern unmittel¬
bar Ratschläge für die Aussprache zweifelhafter deutscher Worte, Fremdwörter
und Eigennamen.
Daß hier für die fremden Eigennamen eine Norm aufgestellt ist, die der
regellose» Willkür der einzelnen eine Ende macht, darin möchte ich das größte
Verdienst des Werkchens erblicken. Es ist der Grundsatz aufgestellt: Für die
Aussprache der fremden Wörter und Namen ist nicht die in ihrer Heimat
herrschende, sondern die auf der Bühne allgemein übliche maßgebend; nur wenn
die deutsche Aussprache schwankt, so pflegt für diesen besonderen Punkt die
Aussprache in der Heimat des Wortes den Ausschlag zu geben; wo endlich
fremde Wörter sich augenblicklich im Zustande der Einbürgerung befinden und
zwischen deutscher und fremder Lautgebuug schwanken, hat man sich in der
Beratung dahin geeinigt, möglichst den deutschen Einflüssen Rechnung zu tragen,
also die Eindeutschung zu fördern. Hier hat man mit dem deutscheu Charakter¬
fehler gebrochen, die ausländische Aussprache, mag sie auch der deutscheu Zunge
noch so unbequem liegen, entweder aus pedantischer Genauigkeit oder aus
Angst, ungebildet zu erscheinen, um jeden Preis nachzuäffen. Nur ein Beispiel.
Wie groß war die Verlegenheit bei Aussprache des Namens Macbeth! Der
perfekte Engländer legte den Ton auf die zweite Silbe und ließ sein dei
mit Leichtigkeit zischen; ein unglücklicherer Nachahmer brachte diesen unschönen
Laut noch unschöner hervor. Ein anderer ließ den aussichtslosen Versuch fallen
und bewahrte uur den englischen Akzent. Ein anderer Halbengländer rade-
brechte zwar die englischen Laute, aber wußte mit dem Akzent nicht Bescheid,
und so gab es eine Stufenfolge von Mißgeburten. Die Einsichtsvolleren
sprachen gut deutsch Macbeth wie Elisabeth, und deren Beispiel ist vorbildlich
geworden. Außer Donalbain (gespr. Donalden) nud Fleance (gespr. FMns)
weist das ganze Persoueuverzeichnis dieses Dramas nur nach deutscher Art
ausgesprochene Namen auf. Vielleicht wirkt das Unternehmen auch mit, die
Engländern in der deutschen Sprache zu bekämpfen. Doch auch unberechtigter
französischer Einfluß wird zurückgewiesen und z. B. Mozarts Don Juan uns,
auch ohne Rücksicht auf die spanische Aussprache, als Dorn Jüann vorgestellt,
während bei der appellativen Bedeutung des Wortes (Don JuanAbenteurer)
der bisher meist üblichen Aussprache .Döng Schuang' nachgegeben wird. Daß
der häßliche Kuschen' (Eugen) bei dieser Gelegenheit aus der Welt geschafft
und seines Zwittergewandes entkleidet wird, ist selbstverständlich. Auch Alfons
legt die übliche Nasalierung ab. Um so mehr muß es befremden, wenn für
einen deutschen Dichter wie Theodor Fontane die Aussprache .Föngtan' ver¬
langt wird. Wie der Nachkomme des französischen Emigrantengeschlechtes
seinen Namen selbst ausgesprochen hat, weiß ich nicht*); ich entsinne much aber
kaum, ihn anders als Fontäne, gut deutsch, gehört zu haben.
Die geregelte Aussprache der fremden Namen vermag auch den unmittel¬
baren praktischen Wert des Werkchens für die Schule zu zeigen. Welche Nüsse
gibt allein Schiller da oft zu knacken mit Lionel, Talbot, Shrewsbury,
Aranjuez, wo eine einheitliche Sprechweise durchaus nötig ist! Doch will die
Bühnenaussprache auch sonst in mäßigen Grenzen und mit Berücksichtigung
berechtigter mundartlicher Eigenheiten sür die Schule vorbildlich sein, so daß die
Ausbildung des Kindes zu einer reinen Aussprache nicht der Willkür der
einzelnen Lehrer preisgegeben ist. Daher richtet der Verfasser an alle Lehrer
die Bitte, den für die Bühne geltenden Regeln folgend zu erwägen, „was in
der einzelnen Provinz oder innerhalb noch engerer Grenzen für die Muster¬
aussprache der Schule zu fordern ist, und inwieweit durch Verbot gewirkt
werden muß". Er hofft, daß auch die Schulverwaltungen in? Deutschen Reiche,
ni Österreich und der Schweiz dieser Allgelegenheit ihre Aufmerksamkeit zu¬
wenden. Er befürchtet voll einer derartigen Normierung keine Gefahr für die
Entwicklung der einzelnen Mundarten; aber selbst wenn sie einträte, hält er
die Einigung der deutschen Allssprache für wertvoller als die Erhaltung der
Mundarten. Da werdeu viele anderer Meinung sein. Aber diese Gefahr
ließe sich wohl leicht vermeiden, wenn die Schüler öfters darauf aufmerksam
gemacht würden, daß ihre Mundart als ein wertvolles heimatliches Gut ihnen
teuer sein und von ihnen gepflegt werden, daß aber anderseits die Einschleppung
sprachlicher Nachlässigkeiten aus der Mundart in die kunstmäßige Aussprache
verhindert werden müsse. Sie sollen möglichst über beide Sprechweisen frei
verfügen lernen, wie es etwa in zweisprachigen Gebieten vorkommt. Oder
sollte das sich nicht durchführen lassen?
Schließlich wird das Büchlein deutsch lernenden Ausländern schnell und
sicher über die gute Allssprache Rat erteilen, sobald sie sich einmal mit der
phonetischen Umschreibung vertraut gemacht haben. Diese Umschreibung selbst
'se ein Muster vou Einfachheit und Klarheit und ist wohl geeignet, der von
uns erhofften weiteren orthographischen Vereinfachung vorzuarbeiten. Autoritäten
wie Siepers und Victor sind dabei zu Rate gezogen worden. Alles in allem, heißen
wir die Regelung willkommen als Beitrag zum Werk der deutschen Einigung!
Stellennachweis.
(Ans der Tages- und Fachpresse.)
Anfragen zu richten unter Beifügung von
Rückporto an die Geschäftsstelle der „Grenz¬
boten", Berlin SW. it.
^. Kür Akademiker.
20. Direktor für Oberrealschule, Mühlheini a. d. Ruhr.
22. Leitartikler für große deutsche Tageszeitung.
Li. Pfarrer nach Pustamin, Kreis Schlawe i. Pommern
WM M.).
33. Evangel. Hauslehrer.
3b. Hauslehrer, theol. (Cammin, Pommern).
43. Sekretär (englisch) Reisch-glcitnng (6000 M.).
43. Theologe zum Vorlesen, Berlin.
49. Jntcrimtslcitcr, evang., Pädagogium Spandau,
1. Oktober.
SV. Erste Pfarrstelle, evang.-res., Gemeinde Lebe,
1. Oktober (WM M.).
öl. Hilfsärztc.zwei.HcilaiistaltKliugenniünstcr, I.Sept.
(lLM M.).
S3. Oberlehrer, evang., Realgymnasium Sterkrade,
1. April 1911 (Latein, Französisch, Englisch, Turnen),
(<«M M.).
SV. Oberlehrer, Ob-rrcalschnle Neusz, Oster» 1911.
' (Zienere Sprachen.)
L3. Zweite Pfcirrstclle, Klettwih.
»2. Pfarrstelle, Griesel, 1. Oktober.
64. Bürgermeister, Dinslaleu, 1. Jan. 1911 (MM M.).
00. Gcrichtsasscssor, Hilfsarbeiter, Rechtsanwalt.
Rheiiilaud.
v. Für pensionierte Offiziere.
11. Zwei Volontäre für Deutsch - Südwest - Afrika
(IM M.).
12. AmtSsekrctiir, Gut in Schleswig-Holstein.
19. Mineralwasser-Vertrieli (Köln).
2S. General-Vertreter (10 0M bis 12 0M M. Var-
tapital).
29. AllciilUcrtrcter, Köln (Som—0000 M. Barkapital).
44. General-Vertreter.
45. General-Agent, Lebensversicherung.54. Direktor, Hmidelsgesellschast tanti. Geuossenschafts-
A.-G., Berlin.
55. General-Agent, Versicherung. Rheinland und
Westfalen.L. Für Damen.
14. Evangel. Erzieherin, musikalisch.
15. Lehrerin, Französisch und Musik (24M M.).
32. Gemeindeschwester, Theiszeu (SS0 M.).
30. Gesellschafterin, 30 bis 40 alt, Cassel.
SS. Hauslehrerin, evang.. Französisch. Musik (1000M).
Rheinland.
40. Lchrcri», staatl. gepr., deutsche Familie, Venezuela.
41. Lehrerin, gepr., Deutsch, Musik. England.
4V. Erzieherin, evang., staatl. gepr., Musik. München.
47. Dame, evang., Assistenz Spezialarzt (Buchführung).
Ende Juli od. Auf. Aug. Planen i. V.
S2. Oberlehrer«,. Stadt. hob. Mädchenschule, Watteu-
scheid. 1. Oktober.
M. Erzichcri», evang., gepr., Musik, Sprachen. 1. Sept.
aufs Land.
01. Erzieherin, Latein und Musik. (1100 M.) Ost¬
preußen.
03. Erzieherin, evang., Musik, Latein. Pritzig.
Stellen-Gesuche.
Bis zu 3 Zeilen 2 M., jede weitere Zeile 1 M.
or. pdil. („mit Auszeichnung") sucht dauernde Ver-
wendung im Schul- oder Bibliothcksdicnst oder
in der Presse. Anfragen unter V. V. 819 an die
„Grenzboten", Berlin SV. 11.
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beamten a. D. Anfrage» unter F. N. 711 an die
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Das Heft 26 der
„Neuen Militärischen Glätter"
zeichnet sich durch einen für eine wöchentlich erscheinende Zeitschrift ungewöhnlichen
Reichtum an interessantem Inhalt aus und bringt hierdurch Zweck und Ziel des
Blattes, nämlich den deutschen Offizier über die verschiedensten Gebiete des militärischen
Lebens in der ganzen Welt unterhaltend zu belehren und ihn über alle bemerkens¬
werten Neuerungen im Heerwesen aller Staaten dauernd auf dem Laufenden zu
erhalten, besonders deutlich und erfolgreich zum Ausdruck.
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Kommunalfinanzen
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für die gesamten geldwirtschaftlicher Interessen der Gemeinden, Städte und weiteren
Kommunalverbände, Kämmereien, Rentämter, Gemeinde- und Stadtknssen, Steuerkassen,
Einziehungsämter und Sparkassen im Deutsche!? Reiche.
Anzeiger für das Gemeinde- und Städtewesen.
Herausgeber Dr. zur. Wa« Seidel, Geheimer Regierungsrat.
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V.__________^
^WM-E^ er Reichstag hat aus Anlaß der Finanzreform die Reichsregierung
in die Zwangslage gesetzt, ihm an Stelle einer abgelehnten Besitz¬
steuer eine Vorlage über die Einführung einer Reichsabgabe von
der unverdienten Wertsteigerung bei Grundstücken (Zuwachssteuer)
!zu machen. Die Reichsabgabe sollte einen Jahresertrag von
20 Millionen sicherstellen. Trotz der Einwendungen, daß aus Mangel jeder
statistischen Erfahrung über die etwaige finanzielle Wirkung auf die Steuer¬
pflichtigen und über die mit ihr verbundene wirtschaftliche Beeinträchtigung der
Gemeinden, deren Haushalt sich auf die Erhebung einer Zuwachssteuer stütze,
die Vorbereitung der Steuervorlage der Ermittlungen für eine längere Reihe
von Jahren bedürfe, ist die Zeit kurz bis zum 1. April 1911 bemessen geblieben.
Die Reichsregierung hat dann ihre früher erhobenen Einwendungen anscheinend
nicht für stichhaltig gehalten, da sie den Entwurf schon ein Jahr vor der ihr
gestellten Frist vorlegte. Begründet wurde diesmal das Verfahren unter anderen:
damit, daß neue Mittel zur Balancierung der Etats pro 1911 bis 1913
unbedingt erforderlich seien. Man sieht, die Finanznot des Reiches, die zur
Überwindung aller sachlich berechtigten Bedenken gegen die Neichsfincmzreform
führte, treibt auch hier über solche mit einem kaun? anerkennenswerten Mut hinfort.
Aber aus dieser Beschleunigung hat sich wenigstens der vielleicht beabsichtigte
Vorteil ergeben, daß infolge der Kommissionsberatung des Entwurfs die
sachlichen Bedenken gegen die geplante Steuer in einer Weise in den Vorder¬
grund gedrängt sind, die eine Annahme im Reichstage kaum wahrscheinlich
erscheinen lassen.
Was zunächst den finanziellen Effekt betrifft, so ist das vermutete Ergebnis
der Vorlage von 40 Millionen, von denen das Reich 50 Prozent, die Einzel-
standen 10 Prozent und die Gemeinden 40 Prozent erhalten sollten, auf
7 Millionen herabgedrückt, und es ist sicher anzunehmen, daß der Reichstag
noch Änderungen vornehmen wird, die zur weiteren Verkürzung des End¬
ergebnisses führen. Der Gesamtbetrag ist so minimal, daß die volkswirtschaft¬
lichen Aufwendungen für seinen Gewinn ihn sicher übersteigen. Man bedenke
nur, welche Arbeit die Erhebungskosten mit der Feststellung des steuerpflichtigen
Betrages, welche Arbeit die Feststellung bei jedem Besitzwechsel, ob eine Steuer¬
pflicht vorliegt, verursachen und ein wie hohes Maß von Mühen für den Ver¬
käufer eines Grundstücks entstehen würde, um seine Steuerfreiheit oder die Höhe
seiner Steuerpflicht nachzuweisen. Dazu kommt, daß ein etwaiges Steuerergebnis
für das Reich von etwa 3 Millionen in gar keinen? Verhältnis zu seinem Bedarf
steht. Denn die Ebbe im Neichsinvalidenfonds, das Quinquennat, die Kosten
zur Bestreitung der Veteranenbeihilfe, die erforderlichen Zulagen für Gemeine
und Unteroffiziere der Armee und Marine setzen Mehrerfordernisse voraus, für
die ein Betrag in Höhe von 3 Millionen nicht in Betracht kommt. Für
10 Prozent von 6 bis 7 Millionen etwa 700000 M. soll zudem der preußische
Finanzminister dem Reich gegenüber die Feststellung und Erhebung der Zuwachs¬
steuer übernehmen! Seine Klage, daß Preußen schon heute mit 12 Millionen
durch Erhebungskosten der Reichssteuern ohne Entschädigung belastet sei, würde
sich sicher um 20 Prozent potenzieren. Versagt demnach die Reichswertzuwachs¬
steuer in finanzieller Beziehung vollständig, so hat ihr Aufbau neben einer
Fülle von Belästigungen und reicher Provokation zu Prozessen für die Betroffenen
ein so starkes Maß von Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten im Gefolge, daß
sie auch aus diesen Gründen unhaltbar erscheint. An der Anführung von
Einzelfällen, die dem wirklichen Leben entnommen und nicht etwa theoretisch
konstruiert sind, wird sich dies am besten nachweisen lassen.
^. Ein Landmann verkauft 25 Ar von seinem Besitztum für 1000 M. An
sich ist die Veräußerung nicht steuerpflichtig, da Teilverkäufe von unbebauten
Grundstücken unter 5000 M. steuerfrei bleiben, es sei denn, daß der Wertzuwachs
mehr als 50 Prozent beträgt. Voraussetzung ist außerdem, daß der Veräußerer
und sein Ehegatte in den letzten drei Jahren ein Jahreseinkommen unter 2000 M-
hatten. Nehmen wir an, daß dies zutrifft, so muß ermittelt werden, ob nicht
ein Wertzuwachs von mehr als 50 Prozent vorliegt. Zu dem Zweck erfolgt
eine Prüfung des Wertverhältnisses der verkauften 25 Ar zum Werte des
Gesamtgrundstückes, das 2.6 Hektar beträgt, und zwar nach Maßgabe des
Erwerbspreises. Wie hoch dieser Erwerbspreis war, weiß der Landmann aber
nicht mehr, da er sich sein Besitztum vor etwa dreißig bis vierzig Jahren zusammen¬
gekauft hat. Nach dem Gesetzentwurf wird nun der Wert eingestellt, den die
Besitzung im Jahre 1885 hatte. Trotz heftigen Widerspruchs des Landmannes
erfolgt die Feststellung, daß die Besitzung einschließlich der Gebäude damals
einen Wert von 6000 M. hatte und der Teilbetrag für die veräußerten 25 Ar
sich auf 250 M. belief. Es erfolgt nun eine Berechnung, welcher Betrag außer
2^/2 Prozent des Erwerbskapitals für fünfundzwanzig Jahre einmal den Erwerbs¬
kosten, d. i. in diesem Falle der Wertfestsetzung, zu- und von den: Verüußerungspreis
abzurechnen ist. Schließlich ergibt sich ein Wertzuwachs von 200 Prozent 600M.,
von denen jedoch nur mit Rücksicht darauf, daß es sich um ein Objekt unter
6000 M. handelt, die Hälfte mit 300 M. in Rechnung kommt. Hiervon wären
zu zahlen 75 M. Da aber für jedes Jahr der Besitzdauer von fünfundzwanzig
Jahren sich die Abgabe um 1 Prozent vermindert, im vorliegenden Falle also
um 25 Prozent, so verbleibt schließlich ein Steuerbetrag von 56,25 M. Voraus¬
sichtlich erhebt der Landmann Klage gegen diese Festsetzung, die nach Jahren ihr
Ende vor dem Oberverwaltungsgericht findet. Zu berücksichtigen bleibt, daß
diese Rechnung auch dann vorgenommen werden muß, wenn kein Wertzuwachs
vorhanden ist. Derartige Fälle belaufen sich in einem Jahre auf viele Tausende,
da namentlich im Westen Deutschlands der Abverkauf kleiner Grundstücksparzellen
in ausgedehntem Maße stattfindet.
V. Eine Terraingesellschaft hat einen Baublock fertiggestellt, d. h. Straßen
und Kanalisationsanlage sind gebaut. Die Baugrundstücke an zwei Straßen
werden schnell verkauft, und es muß eine sehr erhebliche Wertzuwachssteuer
dafür entrichtet werden. Der Absatz der Baugrundstücke an den anderen zwei
Straßen beginnt erst zwei Jahre später und führt zu Verlusten. Eine Verrechnung
dieses Verlustes auf den Gewinn findet nach dem Gesetz nicht statt.
L. Ein nur bekannter Landwirt kaufte ein völlig devastiertes Gut mit
gutem Boden für 500000 M Er verwandte zu Neubauten, Drainage, Aus¬
besserung sämtlicher Gebäude, zum Ersatz der minderwertigen Rindviehherde,
der vorhandenen Pferde und zur Anschaffung einer Feldbahn wie der not¬
wendigen Maschinen 150000 M. Nach sechs Jahren stand ihm das zur
Rübenwirtschaft eingerichtete Gut mit 700000 M. zu Buch. Für diesen Preis
wurde es verkauft. Nach den Bestimmungen des Gesetzes hätte er nach meinen
Berechnungen gegen 100000 M. als Wertzuwachs versteuern müssen, obgleich er
tatsächlich nichts und sogar weniger als nichts verdient hat. Bei diesem Beispiel
will ich nur darauf aufmerksam machen, daß der Besitzer seine Investitionen,
für die Abzüge zulässig sind, nachweisen könnte. Wie schwierig wird dies aber
werden, wenn es sich um vierzig zurückliegende Jahre handelt, und wie kann
man dies von der größeren Zahl der Bauern erwarten, die überhaupt nicht
an einen Verkauf und noch weniger an eine Wertzuwachssteuer denken?
O. Der Besitzer einer Forst setzt den Einschlag für zwanzig Jahre aus,
weil ihm sicher in Aussicht steht, einen höheren Ertrag zu erzielen. Kurz vor
diesem Zeitpunkt ist er genötigt, zu verkaufen. Selbstverständlich hat die Forst
infolge Vermehrung schlagbaren Holzes einen erhöhten Wert. Für seine Ent¬
haltsamkeit kann er beantragen, daß ihn: von dem Veräußerungspreis der Forst
3 Prozent jährlich für fünfzehn Jahre in Abzug gebracht werden, sofern er über¬
haupt keine Einnahmen aus ihr hatte. Den übrigen Mehrwert gegen den Erwerbs¬
preis muß er versteuern, obgleich doch derselbe „mit seinen: Zutun" entstanden ist.
L. Ein altes Familiengut geht bei der Erbauseinandersetzung mit den
Geschwistern an einen der Brüder über. Der Übergang ist nach dem Gesetz
steuerfrei. Nach zehn Jahren verkauft der Sohn das Gut. Nunmehr wird
der Wertzuwachs für eine vierzig Jahre zurückliegende Zeit berechnet. Mit der
Wertzuwachssteuer sollte nach dem Gesetzentwurf aber nicht nur der Verkäufer
belastet werden, sondern auch die Geschwister, mit denen er sich vor zehn Jahren
auseinandergesetzt hat, sollten den Wertzuwachs für die dreißig Jahre, die vor der
Auseinandersetzung liegen, nach Maßgabe ihres Erbteils versteuern. Diese
Bestimmung des Entwurfs ist von der Kommission gestrichen. Nunmehr haftet
nur der Bruder, der den Besitz vielleicht mit schweren Opfern übernommen hat,
für die Steuer auf den Wertzuwachs, an dem die Geschwister durch die erhaltene
Anrechnung ihres Erbteils partizipiert haben. Es wird nicht verkannt werden
können, daß es sich in vorliegendem Falle um eine Erbschaftssteuer eines
einzelnen Familienmitgliedes handelt, welches das Verbrechen begeht, zu dem
es die Verhältnisse leicht zwingen können, das Erbgut des Vaters zu verkaufen.
Die angeführten Beispiele ließen sich leicht mit dem Nachweis vervielfältigen,
daß der Gesetzentwurf trotz mannigfacher Abschwächungen, die durch die Kommission
vorgenommen worden sind, eine Fülle der herbsten Ungerechtigkeiten enthält,
von denen besonders, wie es in der Natur der Sache liegt, das Land betroffen
wird. Man hat an der Hand des ausgezeichneten Kommissionsberichtes das
Ringen der Gewalten klar vor Augen, diesen Fehler zu beseitigen. Aber es
mußte und konnte nur vergeblich sein, weil sich der Wertzuwachs der Grund¬
stücke auf den: Lande und in den größeren Städten wenigstens auf ganz ver¬
schiedene Weise vollzieht. Im ersteren Falle erfolgt er, abgesehen von den
Jndustriegegenden im wesentlichen, bei kleineren Besitzungen fast ausschließlich,
„mit Zutun" der Besitzer, im anderen Falle „ohne ihr Zutun" durch
äußere Verhältnisse. Das werden stets zwei inkommensurable Größen bleiben.
Der Versuch des Ausgleichs führt nicht einmal zur Balancierung der
Gerechtigkeitswage, er führt nur sicher zu einer finanziellen Bankerotterklärung,
die ja auch zahlenmäßig belegt worden ist. Will man den Wertzuwachs in
den Städten richtig erfassen, so belastet man die Arbeit des platten Landes,
und will man letzteres schonen, so trifft man nicht den „mühelosem" Gewinn
in den Städten. Der geistige Inhalt des wohlberechtigten Gedankens muß
notwendigerweise an der Form zugrunde gehen, da eine Unmöglichkeit besteht,
eine Materie durch eine zentrale Gesetzgebung des Reiches zu regeln, die in
lokalen Zuständen der Gemeinden ihren mannigfach verschiedenen Ursprung hat.
Forscht man nach, wodurch trotzdem die Neichsregierung zu ihrem Entwurf
veranlaßt worden ist, so ergeben sich, abgesehen von dem finanziellen Bedürfnis,
zwei von der Wissenschaft hineingetragene Momente treibender Natur. Man
bezeichnet sie mit der Behauptung, daß der Grund und Boden im Hinblick von
Angebot und Nachfrage einen monopolistischen Charakter angenommen habe,
und daß ferner das Reich durch seine Einrichtungen zugleich mit den Gemeinden
einen „mühelosem" Gewinn seiner Insassen verursache und daher für seine
Leistungen auch Gegenleistungen in Gestalt einer Mitbeteiligung an jenem fordern
könne (Jnteressenprinzip). Was das erste Moment betrifft, fo scheidet es für
den praktischen Politiker gänzlich aus. Wer auf dem Boden der privat-
wirtschaftlichen Wirtschaftsordnung steht, wird es grundsätzlich ablehnen, Ver¬
besserungspläne in ein sozialistisches Fahrwasser gleiten zu lassen, die folgerichtig
einen Teil des Privateigentums vernichten müssen. Es kann außerdem über¬
haupt nicht behauptet werden, daß ein allgemeines Monopol auf dem Grundstücks¬
markt besteht. Höchstens von einen: örtlich beschränkten Monopol in dem Weich¬
bild der großen Städte könnte man sprechen. Von dieser Tatsache aus aber
die Zuwachssteuer zu verallgemeinern, wäre zweifellos falsch. Was aber ihre
Begründung mit der sogenannten Äquivalenztheorie betrifft, so ist sie an sich
anzuerkennen, da tatsächlich das Reich und der Staat einen hervorragenden
Einfluß auf den Wertzuwachs seiner Einwohner ausgeübt haben und auch
fernerhin ausüben werden.
Aber dies steht zunächst nicht zur Frage, sondern vielmehr die Behauptung,
daß das Reich den: Grund und Boden Sondervorteile bringe und namentlich
auf seine enorme Wertsteigerung in den großen Städten durch Einrichtungen
aller Art entscheidend eingewirkt habe. Das muß, abgesehen von Einzelfällen,
wie z. B. durch Niederlegung von Festungswällen, nachdrücklich bestritten werden.
Aus solchen Einzelfällen kann man aber doch unmöglich eine allgemeine Berechtigung
zur Steuer herleiten. Der innere Grund der Bodenpreissteigerung ist vielmehr
die Volksvermehrung, an der das Reich doch nur einen äußerst mittelbaren
Anteil hat, und die Ansammlung großer Menschenmassen in den Städten und
Industriezentren, eine Entwickelung, die das Reich niemals direkt gefördert hat.
Will man dies nicht zugeben, dann wäre es nicht mehr als recht und billig,
auch den Konjunkturgewinn steuerlich anzufassen, der dem Gewerbe aus dieser
Menschenanhäufung in den Schoß fällt, weil das Reich an diesem ebensogut
beteiligt einzusehen wäre wie am Bodengewinn. Und gar eine Unterscheidung
Zwischen dem mühelosem Zuwachs des Bodenwertes und einer Kolonial-Aktie,
die in kurzer Zeit von 7000 auf 20000 gestiegen ist, ließe sich doch mit guten:
Gewissen kaum aufrecht erhalten. Denn wodurch unterscheidet sich der Gewinn
des Grundbesitzers von dem Gewinn des Inhabers von Wertpapieren? Wollte
u:an im Reich zu einer höheren Besteuerung desjenigen Konjunkturgewinns
greifen, der die landesübliche Rente übersteigt, so könnte dies nur auf dem
Wege der Differenzierung des fundierten und nicht fundierten Einkommens,
also durch eine Ergänzungs- oder Vermögenssteuer geschehen, aber nicht durch
eine Realsteuer, die die Wirkung einer einseitig herausgegriffenen Personalsteuer
in sich trägt.
Im Gegensatz zu Reich und Staat erscheint jedoch die Gemeinde durchaus
berechtigt, eine Wertzuwachssteuer von den Grundstücken zu erheben. Sie deckt
ihre Bedürfnisse nach dem Kommunalabgabengesetz zum Teil durch Nealsteuern
nach dem gemeinen Wert der Grundstücke. Bei dieser Einschätzung nach dem
gemeinen Wert kommt aber der Gewinn, den der einzelne haben wird, in sehr
geringem Maße zur Berücksichtigung. Ihn durch die Zuwachssteuer zu erfassen,
bedeutet daher nur einen weiteren Ausbau und ein System der Verfeinerung
der Gemeindegrundsteuer. Auch ist es ja die Gemeinde, die bei Stadterweiterungen
die Kosten für die Unterhaltung der Straßen und Plätze, sowie für den Bau
der Schulen usw. zu tragen hat. Nicht mehr als billig ist es da, wenn die
zur Bestreitung dieser Kosten herangezogene Gesamteinwohnerschaft durch eine
Gegenleistung derjenigen, die sie veranlassen, entschädigt wird. Und es ist
ferner nicht zu verkennen, daß den Gemeinden zur Befriedigung der schon
übermäßigen Anforderungen, die an sie, namentlich in kultureller Beziehung,
staatlicherseits gestellt werden, nicht eine Steuerquelle entzogen werden darf, die
ihrer eigensten Natur nach so recht in ihr Gebiet fällt und die sie bei der geringen
Auswahl an Steuerobjekten gar nicht entbehren kann. Der Steuerentwurf, wie
er in der Kommission in zweiter Lesung fertiggestellt ist, würde zweifellos die
Einnahmen, die die Gemeinden bisher aus dem Wertzuwachs der Grundstücke
bezogen und beziehen können, erheblich vermindern.
Ist somit die einseitige Besteuerung des Grundstückszuwachses durch das
Reich aus finanziellen und Zweckmäßigkeitsgründen, sowie wegen mangelnder
Kompetenz zu verwerfen, so ist damit die Frage noch nicht entschieden, ob nicht
das Reich oder der Staat überhaupt für jeden Wertzuwachs, den seine Ein¬
wohner durch seine Tätigkeit erzielen, eine Gegenleistung verlangen kann. Wollte
man diese Forderung auf einen unverdienten Konjunkturgewinn beschränken, so
wäre damit praktisch nichts anzufangen, weil dieser Begriff nicht klarzustellen
ist, und weil häufig die einzelnen Quellen des Gewinnes überhaupt nicht aus¬
einander zu halten sind. Boden- und Kapitalrente, sowie Arbeitseinkommen
lassen sich nach dieser Richtung hin vielfach nicht trennen. Dagegen sollte der
Gedanke erwogen werden, ob nicht für den Fall einer vollendeten Vermögens-
bildung, die mehr oder weniger unter Mithilfe der Tätigkeit des Staates statt¬
findet, eine angemessene Steuer von diesem Vermögenszuwachs zu erheben ist.
Wenn dabei nicht unter verdientem und unverdienten, unter Arbeits- und
mühelosem Einkommen unterschieden wird, das zur Vermögensbildung geführt
hat, so ist dafür maßgebend, daß der Staat alle Arten von Einkommen schützt
und durch bestimmte Maßnahmen sowohl Arbeit wie Rente fördert, und daß
er heute schon alle Arten von Vermögen, auch das Arbeitseinkommen, das zur
Vermögensanlage verwendet wird, abgesehen von dem geringen Zuschlag, den
Preußen in der Form der Ergänzungssteuer für das fundierte Einkommen aus¬
wirft, gleichmäßig zur Steuer heranzieht. Der Unterschied zwischen den bestehenden
Verhältnissen und meinem Vorschlag besteht nur darin, daß nach Maßgabe der
außerordentlichen Steigerung der staatlichen Tätigkeit das unter dieser Einwirkung
entstehende Vermögen, also der Vermögenszuwachs, kräftiger herangezogen werden
soll als das aus früheren Jahrzehnten stammende Kapital, bei dessen Entstehung
die Mitwirkung des Staates zweifellos schwächer war. Um diese letzte Behauptung
nachzuweisen, ist es nur nötig, das Augenmerk auf den Kultusetat Preußens
mit 200 Millionen und auf seine Tätigkeit in: Eisenbahnbau. sowie auf die
Schutzzollpolitik des Reiches zu lenken. Der Staat schützt und fördert nicht nur
das Vermögen seiner Einwohner in steigendem Maße, er schützt auch die Arbeit
im engeren Sinne des Wortes durch die Bestimmungen der Reichsversicherungs¬
ordnung, der Gewerbeordnung, wie die Arbeit in: weiteren Sinne durch seine
Zollpolitik. Namentlich letztere hat in den letzten Jahrzehnten einen entscheidenden
Einfluß auf die Vermögensvermehrung verschiedener Berufsarten ausgeübt, so
daß sich nach den Steuerlisten allein in Preußen ein jährlicher Vermögenszuwachs
von mehr als 2 Milliarden ergibt. Aber wie jedes Ding seine Kehrseite hat,
fo kann auch hier nicht in Abrede gestellt werden, daß andere Kreise der
Bevölkerung unter dem erweiterten Einfluß dieser Expansionspolitik des Staates
keinen volkswirtschaftlichen Nutzen, ja Schaden von ihr ertragen. Man braucht
nur an gewisse Industrien von Fertigfabrikaten zu denken, die die hohen
Auslandszölle für ihre Produkte als Gegenmaßregeln gegen die Jnlandszölle
für Rohstoffe und andere Spezies wohl nicht mit Unrecht bezeichnen, oder man
braucht sich nur vor Augen zu halten, daß die nicht im Erwerbsleben stehenden
Kreise unter den durch die Schutzzölle veranlaßten Teilerungsverhältnissen oft
nicht zum Sparen gelangen können, ja sogar sich wirtschaftlich beschränken müssen.
Ist nicht auch die Klage des Handwerks über die Förderung der Industrie nach
dieser Richtung zum Teil eine berechtigte? Und ist es nicht eine durch die
Steuerlisten bewiesene Tatsache, daß besonders das Großkapital von der durch
die Schutzzollpolitik inaugurierten Wirtschaftsordnung den prozentual größten
Vorteil zieht? Ist dem so, so wird auch eine steuerliche Vorbelastung der durch
die staatlichen Maßnahmen Bevorzugten nur mit der Gerechtigkeit Hand in Hand
gehen. Man wendet ein, daß die Erledigung dieser Forderung in der progressiven
Einkommensteuer, die in den meisten Staaten eingeführt ist, zum Ausdruck
komme. Aber darauf ist zu erwidern, daß diese Progression bei 4 bis 5 Prozent
aufhört und den Steuerpflichtigen mit einen: Einkommen von mehr als 100000 M.
nicht mehr berührt, und daß sie außerdem das Mißverhältnis zwischen dem
Steuerpflichtigen, der nicht zurücklegen kann, und demjenigen, der jährlich sein
Vermögen vermehrt, in sicher unvollkommener Weise trifft. Das tritt besonders
in Erscheinung, wenn der Staat seine Einkommensteuer erhöht. Dann sinkt die
Lebenshaltung desjenigen', der sein Einkommen nicht erhöhen kann, zurück,
während der andere, wenn er sich nicht einen Ausgleich in: Erwerbsleben schafft,
höchstens seine Rücklage vermindert. Es ist den Steuersystemen fast aller
Staaten, die keine oder nur eine beschränkte Erbschaftssteuer haben, eigen, daß
sie das fundierte Einkommen im Verhältnis zum Arbeitseinkommen zu schwach
besteuern. Auch die Ergänzungssteuer in Preußen, die sich ohne der Ein¬
kommensteuer entsprechende Progression vollzieht, kann diesen Vorwurf nicht
beseitigen. Seine Berechtigung wächst naturgemäß an innerem Gehalt, je höher
das Vermögen ist, das dem gleichen Steuersatz wie das kleine Vermögen unter¬
liegt und dabei von mehr als 100000 M. Einkommen an, wie schon vorher
betont wurde, ebenfalls nur einen gleichen Steuerprozentsatz zu tragen hat.
Man empfindet dies Mißverhältnis sowohl bei den Regierungen wie in den
Parlamenten, und jedesmal, wenn eine Einkommensteuererhöhung zur Bestreitung
neuer Staatsausgaben in Frage steht, tritt allseitig das ernste Bestreben hervor,
die unteren Einkommen frei zu lassen, die mittleren zu schonen und die höheren
zu belasten. Es ergibt sich dann aber praktisch die Tatsache, daß man von den
oberen Zehntausend allein die erforderlichen Summen nicht herauspressen kann.
Namentlich spricht dabei der Umstand mit, daß die Steuerprogression mit
5 Prozent in allen deutschen Staaten ihren Endpunkt erreicht, und daß keiner
derselben darüber hinausgehen mag, weil er sonst den Abzug der reichen Steuer¬
pflichtigen zu befürchten hat. Diesen Übelständen, die sich agitatorisch ausnutzen
lassen und außerordentlich ausgenutzt werden, läßt sich durch eine Vermögens¬
zuwachssteuer in umfangreicher Weise entgegentreten. Sie bedeutet an sich nichts
anderes als eine Steuer vom kumulierten Einkommen; sie schont dabei die
Personen, die kein Vermögen ansammeln können, und sie gestattet eine Steuer¬
progression, die weit über die der Einkommensteuern hinausgeht. Sie hat aber
auch eine volkswirtschaftliche Bedeutung, wenigstens wenn sie nur einmal in der
Form der Erbschaftssteuer erhoben wird, weil ihr Betrag im Gegensatz zu der
Einkommen- und Ergänznngssteuer der Privatwirtschaft eines Steuerpflichtigen
nicht entzogen wird und in letzterer tätig bleibt, und weil sie in dem Fazit
eines Lebensganges einen Ausgleich zuläßt, der in dem Maße bei der Anlage
einer jährlichen Einkommensteuer nicht wirksam sein kann. Eine periodische
Erhebung der Vermögenszuwachssteuer empfiehlt sich daher auch nicht. Man
hat meinem Vorschlag, den ich vor Jahresfrist in verschiedenen Artikeln im
„Tag" und anderen Zeitungen veröffentlicht habe, von hoher Stelle aus ent¬
gegengehalten, daß er nur den arbeitsamen und sparenden Staatsbürger treffe,
den Faulen und Verschwender dagegen schone. Der Einwand ist richtig, aber
er ist in gleicher Weise gegenüber der Einkommen- und Ergänzungssteuer zu
erheben. Eine kausale Bemessung der Steuer nach Begriffen wie Glück oder
Unverstand ist unmöglich. Jede dieser Steuer», auch die Vermögenszuwachs¬
steuer, ist gewissermaßen brutal. Sie trifft nur den Erfolg und meidet ethische
Momente. Eine Unterscheidung zwischen einer Steuer vom jährlichen Einkommen
und vom kumulierten Einkommen für eine Reihe von Jahren wird sich nach
dieser Richtung hin kaum aufrecht erhalten lassen.
Die Frage, ob das Reich oder der Einzelstaat die Vermögenszuwachs¬
steuer erheben soll, beantwortet sich schou durch die praktischen Unterlagen, die
zu ihrer Veranlagung notwendig sind. Diese fehlen dein Reich, das weder
Einkommen- noch Vermögenssteuern erhebt, gänzlich. Wenn daher das Reich
Deckungsbedürfnisse für die nächsten Jahre hat, wie sie schon oben angedeutet
worden sind, so wird ihm nichts übrig bleiben, als auf die Erbschaftssteuer
zurückzukommen oder sich Steuerquellen der Einzelstaaten zu bemächtigen und
diesen die Einführung der Erbschaftssteuer vom Vermögen oder von: Vermögens¬
zuwachs zu überlassen.
Wer sich für die erste Alternative entscheidet, der gibt den Beweis, daß
die politischen Folgen der letzten Reichsfinanzreform ihm gleichgültig und spurlos
an ihm vorübergegangen sind. Vor einer Wiederholung des Dramas von
1909 wird aber auch der gemäßigte Liberalismus und jedenfalls die Reichs¬
regierung zurückschrecken. Sie dürste daher nicht in Frage kommen. Es bleibt
dem Reich also nur der zweite Weg offen, sich von den Einzelstaaten bisher
benutzte Steuerquellen dienstbar zu machen. Dafür kommen sowohl die Besteuerung
der Aktiengesellschaften usw., deren Bestehen sich auf Reichsrecht gründet, mit
60 bis 70 Millionen, wie vor allen Dingen als ein naheliegender Ersatz für
die Wertzuwachssteuer von Grundstücken der bei Besitzwechsel der letzteren von
den Einzelstaaten erhobene Jmmobiliarstempel in Betracht. Mit Hilfe dieses
würde sich der Umsatzstempel von ^ Prozent, den heute das Reich mit einen:
Ertrag von 50 Millionen erhebt, auch bei einer Ermäßigung auf Prozent
auf l^/z Prozent erhöhen und 100 Millionen ergeben. Als Ersatz würden
dafür die Einzelstaaten eine Erbschaftssteuer auf den Vermögenszuwachs ein¬
zuführen genötigt sein, wenn sie sich nicht auf anderem Wege einen Ausgleich
schaffen können. Das würde sich auch in Preußen zugleich aus anderen Gründen
empfehlen, die gerade gegenwärtig eine große Bedeutung gewinnen.
Der Etat der allgemeinen Staatsverwaltung pro 1910 weist ein Defizit
von 34 Millionen nach, dessen Beseitigung schwerlich aus den laufenden Ein¬
nahmen zu erreichen sein wird. Zur Deckung der Beamtengehälter wird bis
längstens 1912 ein Zuschlag zur Einkommen- und Ergänzungssteuer von 5 bis
25 Prozent erhoben, der dann durch eine organische Steuerregeluug ersetzt
werdeu muß. spätestens im nächsten Jahre ist also eine Finanzreform in
Preußen zu erwarten, die sowohl die vorher angeführten Zuschlage für die
Physischen Personen, wie die Zuschlage von 40 bezw. 50 Prozent für die
Gesellschaften in. b. H. bezw. die Aktiengesellschaften auslöst. Wenn keine andere
Steuerquelle erschlossen wird, läßt sich eine definitive Verteilung der den physischen
Personen zuschlagsweise zugewiesenen 31 Millionen auf die Einkommensteuer
schwer umgehen, ein Betrag, der sich noch um Teile des auch 1911 nicht zu
deckenden Defizits von 34 Millionen und um den Ertrag des Jmmobilien-
stempels oder der Gesellschaftssteuern erhöhen dürfte, den das Reich eventuell
beanspruchen könnte. Derselbe beläuft sich in jedem Falle auf 40 bis 50 Millionen.
Es wird sich zwar empfehlen, die Steuerprogression, die nach dem bestehenden
Gesetz nur 4 Prozent im Höchstfalle beträgt, auf 5 Prozent zu erhöhen, wie
es schon in vielen Bundesstaaten üblich ist. Aber die damit verbundene
Erweiterung der Progression kann nur hinreichen, um einen geringen Teil des
Bedarfs zu decken. Im wesentlichen müßten alle Steuerstufen gesteigert werden,
um den erforderlichen Deckungsbetrag zu erzielen. Damit würden aber alle
die Härten und Ungerechtigkeiten in Erscheinung treten, die ich vorher hervor¬
gehoben habe. Für den Steuerpflichtigen mit einem Einkommen von 100000 M.
oder 500000 M. würde derselbe Steuersatz von 5 Prozent in Anwendung
kommen, die durch besondere Verhältnisse steuerschwachen Kräfte, deren es trotz
gleichen Einkommens in derselben Steuerstufe eine Unmenge gibt, könnten nicht
geschont werden, und die bisher geübte Sparanlage müßte mannigfach in der
Steuerzahlung ihre Verwendung finden. Dazu tritt als außerordentlich bedenk¬
licher Faktor die Verbindung der Einkommensteuererhöhung mit der Gemeinde-
einkommensteuer. Die Verschiedenheit dieser in den einzelnen Gemeinden, die
zwischen 100 bis 400 Prozent in weiter Ausdehnung wechselt, hat die Bedeutung,
daß in einer Gemeinde ein Mehr an Einkommensteuer im Betrage von 10 M.
automatisch eine erhöhte Gesamtbelastung von 20 bis 50 M., also mit einer
gänzlich verschiedenen Wirkung nach sich zieht. Man könnte zwar geneigt sein,
zu glauben, daß die Gemeinden infolge des Anwachsens der Staatseinkommen¬
steuer sich zu einer Reduktion des Prozentsatzes ihres Konunnnalsteuerzuschlages
verstehen würden. Das wäre aber eine arge Täuschung. Der Steuerhnnger
der Gemeinden wird stets auch den geringsten Happen verschlingen, der sich
ihnen darbietet.
Für Preußen hat aber auch die Anwendung der zugunsten des Reiches
angeführten Äquivalenztheorie eine besondere Berechtigung, nur zur Einführung
einer Wertzuwachssteuer überzugehen. Denn kein moderner Staat kultiviert in
einem solchen Umfange gewerbliche Betriebe und wirkt infolgedessen so aus¬
gedehnt auf die Privatwirtschaft ein wie Preußen. Es sei hier nur des Baus
der Eisenbahnen und der Kanäle gedacht, die Stadt und Land mit einer Fülle
nicht nur wirtschaftlicher Anregungen, sondern auch des direkten Wertzuwachses
überschütten. Nur beschränkt sich ihre Wirkung nicht allein auf die Wert-
steigerung des Grund und Bodens, sondern sie erstreckt sich mindestens ebenso
auf Handel und Gewerbe wie auf die Befruchtung des Kapitals.
Für den Vorschlag, diese Wertzuwachssteuer in Form einer Erbschaftssteuer
zu erheben, spricht nicht zuletzt auch die Psyche des Volkes, die rücksichtslos
anerkennt, das derjenige, der sein Leben mit einem ökonomischen Erfolge beendet,
aus diesem, sei es nun für sein Glück, seinen Verstand oder auch für seine
Arbeit, dem Staate einen Tribut zahlen kann. Das Volk erwägt nicht, welcher
dieser drei Faktoren der maßgebendste gewesen ist. Es beachtet nur die Tat¬
sache. Daß der Staat als Verkörperung der Allgemeinheit einen anderen Stand¬
punkt einnehmen sollte, dazu liegt keine Veranlassung vor. Faßt man aber den
Vermögenszuwachs in Preußen schärfer ins Auge, so ergibt sich, daß er fehr
bescheiden ist da, wo wenig war, und daß er progressiv gewaltig steigt, wo
seine Entwicklung eine klingende Unterlage hatte. Paßt sich diesem Verhältnis
eine entsprechende Steuerprogression an, so bietet sich hier endlich ein Weg zu
einem Ausgleich der Belastung, den kein Steuersystem bisher in gleichem Maße
für sich in Anspruch nehmen darf, und man geht zugleich allen berechtigten und
unberechtigten Einwendungen gegen eine Deszendenten-Erbschaftssteuer vom Ver¬
mögen aus dem Wege. Denn auch die Verfechter solcher Anschauung dürfen
nach Recht und Billigkeit dagegen keinen Einspruch erheben, daß der Sohn, der
von seinem Vater außer dem schon von diesem ererbten Vermögen noch eine
Million im Nachlaß erhält, etwa 10 Prozent von dieser 100 000 M. an
Erbschaftssteuer dem Staat als Äquivalent für den dein Vater gewährten Schutz
und Hilfe zahlt. Es wird sich dann auch von selbst ergeben, daß der Staat,
wenn er auch die Grundstücksgewinne als Steuerobjekte den Gemeinden über¬
läßt, an ihnen immer noch in einem erheblichen Maße, wenn auch auf indirekten
Wege, teilnimmt, und es wird sich zugleich erweisen, daß der finanzielle Effekt,
wenn man die Progression für die Erhebung der Erbschaftssteuer vom Ver¬
mögenszuwachs gegenüber der vom Vermögen nur verdoppelt, ein weit bedeutender
ist. Das ergänzungssteuerpflichtige Vermögen sämtlicher Steuerpflichtigen in
Preußen belief sich im Jahre 1908 auf 90 000 Millionen. Da in hundert
Jahren im Durchschnitt dreimal mit dem Eintritt eines Erbanfalls gerechnet
wird, fo würden jährlich ^ ^ ^ 2700 Millionen steuerpflichtig werden.
Wollte man eine Erbschaftssteuer vom Vermögen von 0,5 bis 5 Prozent, im
Durchschnitt ca. 2,5 Prozent, annehmen, so würden sich jährlich 67,5 Millionen
Steuern ergeben. Der Vermögenszuwachs von 1895 bis 1908 belief sich nach
den Ergänzungssteuerlisten auf rund 28000 Millionen, also jährlich auf
2000 Millionen. Bei dem Ansatz einer Progression von 0,5 bis 10 Prozent,
im Durchschnitt von 5 Prozent, würde die Erbschaftssteuer vom Vermögens¬
zuwachs jährlich 100 Millionen ergeben.
Die Frage ist nun, wer würde diese Steuer zahlen? Ist der Zuwachs in
den höheren Vermögenssteuerstufen ein prozentual stärkerer, so muß sich auch
die Steuer in demselben Verhältnis bewegen. Nachfolgende Zusammenstellung
macht dieses ersichtlich.
Es sind veranlagt mit einem Vermögen von mehr als
Der Steuerzuwachs in deu sechs unteren Vermögensstufen von 6000 bis
500000 M. beläuft sich in den berechneten vierzehn Jahren auf 7423345 Millionen,
was einem Vermögenszuwachs von rund 14854 Millionen oder jährlich von
1060 Millionen entspricht. Bei einer Zuwachssteuer von 0,5 bis 5 Prozent,
im Durchschnitt von 2,5 Prozent für diese Vermögenssteigerung würde sich
hiernach ein Ertrag von 24,5 Millionen ergeben. Der Steuerzuwachs in den
drei oberen Vermögensstufen von 500000 M. und mehr berechnet sich in dem
gleichen Zeitraum auf 13 070 Millionen oder jährlich auf 934 Millionen. Bei
einer Wertzuwachssteuer von 5 bis 10 Prozent, im Durchschnitt von 7,5 Prozent
für diese Vermögenssteigerung würde sich hiernach ein Ertrag von rund
70 Millionen ergeben. Das wäre eine sozial gerechte Verteilung einer Steuer,
wie sie weder bei der Einkommensteuer infolge der Begrenzung der Steuer¬
progression auf 5 Prozent noch bei einer Erbschaftssteuer vom Vermögen, die
bekanntlich mit 3 Prozent bei Besteuerung des an die Deszendenten fallenden
Erbteils ihr Ende haben sollte, zu erreichen ist.
Was die technische Seite des Steuervorschlages betrifft, so ergibt sich insofern
eine Schwierigkeit, als für jeden Steuerpflichtigen eine Vermögensinventur auf¬
gestellt werden muß, aus der sich der Wert des ererbten und nicht ererbten
Vermögens ergibt. Die Gelegenheit dazu wird sich bei der Einführung der
obligatorischen Vermögenssteuerdeklaration finden, die der soeben zurückgetretene
Finanzminister schon als unbedingt erforderlich für ein besseres Veranlagungs¬
verfahren sowohl der Einkommen- wie der Vermögenssteuer bezeichnet hat.
Allzu streng wird man bei dieser Inventur nicht vorgehen dürfen. Aber ander¬
seits werden die Steuerpflichtigen einen glaubhaften Nachweis für die Angabe
ihres ererbten Vermögens bringen müssen, widrigenfalls sie der Alternative
ausgesetzt werden müßten, daß ihr Vermögen im Todesfalle als Vermögens¬
zuwachs angesprochen werden solle. Ist aber diese Inventur einmal vorhanden,
so wird sich bei geeigneter Fortführung der Vermögenssteuerlisteu der Vermögens¬
zuwachs ohne weiteres feststellen lassen, und es bedarf alsdann für einen Erbanfall
zur Festsetzung der Steuer keiner Ermittlung irgendwelcher Art, sondern es
genügt hierzu ein Auszug aus der Vermögenssteuerliste, aus dem sich ererbtes
und erworbenes Vermögen ergibt.
nweit des altertümlichen Städtchens Müncheberg im Kreise Lebus
liegt Jansfelde, seit Generationen im Besitze der Herren von Pfuel.
Hier befindet sich ein reichhaltiges Archiv, das nicht nur für die
Geschichte der Pfuels, sondern auch für die mancher verschwägerten
Familie wie der Rochow und Fouquö und damit für die allgemeinere
Geschichte wertvolle Ausbeute liefert. Aus diesem Archive hat Luise v. d. Marwitz
im Jahre 1908 verschiedene stofflich zusammengehörige oder einander ergänzende
Niederschriften zu einem Buche") vereinigt, das eingehender die Zeit von 1815
bis 1842, nebenhin auch die vorangehenden und folgenden Jahre behandelt
und geeignet erscheint, andere Memoirenwerke und auch die entsprechenden
Darstellungen Treitschkes („Deutsche Geschichte" III bis V) in einzelnen Punkten zu
ergänzen und zu vertiefen. Es sind vier Personen, die die in den, Marwitzschen
Buche abgedruckten Aufzeichnungen und Briefe in das Pfuelsche Archiv geliefert
haben: Gustav v. Rochow (1. Oktober 1792 bis 11. September 1847), der
bekannte preußische Minister des Innern, an den sich das Wort „vom beschränkten
Untertanenverstande" knüpft, seine Gemahlin Karoline v. Rochow, geb. v. d. Marwitz
(9. August 1792 bis 23. Februar 1857), Karoline de la Motte-Fouquö,
geb. v. Briefe, verwitwet gewesene v. Rochow (7. Oktober 1775 bis 21. Juli 1831),
die Mutter des obengenannten Gustav v. Rochow aus ihrer ersten am
30. Dezember 1791 geschlossenen Ehe und Gattin des Dichters Fouquö, und
deren Tochter Marie de la Motte-Fouqu6 (13. September 1803 bis 1864).
Alle diese Personen waren durch ihre gesellschaftliche Stellung, dnrch verwandt¬
schaftliche oder freundschaftliche Verbindung mit einflußreichen Staats- und Hof¬
beamten und endlich durch besondere Begabung in der Lage, das Berliner
Hofleben wirklich aus der Nähe, teilweise sogar mithandelnd, zu beobachten und
in seiner Entwickelung zu beurteilen.
Die erste Abteilung des Buches bilden die „Erinnerungen" der Karoline
v. Rochow. geb. v. d. Marwitz, die etwa bis zum Jahre 1834 reichen. Sie
sind allerdings erst 1854 (S. 206 Anm. 1) aufgezeichnet, aber sie sind lebhaft
und frisch geschrieben und entstammen einer geistig bedeutenden, willensstarken,
in altpreußischen Anschauungen wurzelnden Frau, die zwar die hochkonservativen
Anschauungen ihres Gemahls, des Ministers v. Rochow, teilt, aber sich in ihrem
klaren Verstände von allen Übertreibungen fernhält und schon darin ihre
Selbständigkeit offenbart, daß sie von der modischen romantisch-pietistischen
Schwärmerei jener Zeiten völlig frei ist. So schildert sie ihre Kindheit und
ihre Jugendeindrücke (1792 bis 1814), ihr Leben als Hofdame bei der Prinzessin
Wilhelm (Marianne von Hessen-Homburg, 1814 bis 1818), das Landleben
nach ihrer Verheiratung (1818), das Hofleben und die Geselligkeit in Berlin,
besonders in der Umgebung des Kronprinzen (1820 bis 1825), und schließlich
die Heiraten in der Königsfamilie und die dabei hervortretenden Persönlichkeiten
bis zu der Zeit, wo ihr Mann Minister des Innern wurde (1834). Eingefügt
in diesen Teil des Buches ist eine Schilderung des kronprinzlichen Hofes und
der Berliner Theaterverhältnisse (um 1825) aus der Feder der Karoline de la Motte-
Fouquö (S. 170 bis 179). Die zweite Abteilung bilden Auszüge aus den
Tagebüchern und Aufzeichnungen von Marie Foucmö, die, in dem Briest-
Rochow-Fouqu6schen Familienkreise zu Nennhausen bei Rathenow aufgewachsen,
seit 1836 das häusliche Leben ihres Stiefbruders, des Ministers Rochow, teilte.
Trat sie auch „mit den: eigenen unscheinbaren Äußeren" im Berliner Weltleben
zurück, so „versetzte sie sich uni so mehr in das Fühlen und Denken der anderen".
Ihre Aufzeichnungen erstrecken sich über die Jahre 1836 bis 1842, also bis zu
dem Zeitpunkt, in dem Rochow von: Ministerium zurücktrat. Den Beschluß machen
einzelne Stellen der Briefe Karoline Rochows aus den Jahren 1847 bis 1856.
Der eigentliche Ertrag des Buches liegt auf den drei verschwisterten Gebieten
der Kulturgeschichte, der Politik und der Personenkunde. Ein kulturgeschichtliches
Interesse erweckt schon die eigenartig pointierte, mit gegenwärtig ganz ungewöhnlichen
französischen Ausdrücken durchsetzte Sprache der Karoline Rochow. Wer sagt noch
8vu8-orcZrL8 für Untergebene, Denigrant für Anschwürzer, oder epluchieren
für zerfasern oder Lotus für Volksgewühl?
Nach Ansicht der Karoline Rochow vollzog sich bald nach der Beendigung
der Freiheitskriege in den Lebensformen des preußischen Hoff eine eingreifende
Veränderung. Vor 1815 herrschte in den Berliner Hofkreisen die größte Ein¬
fachheit: „Als nach langer Liebe mit wenigen Mitteln der nachmalige General
Clausewitz die Gräfin Marie Brühl heiratete (1810), war man entzückt über
eine kleine, teilweise zusammengeschenkte Einrichtung, wo ein Sofa und sechs
Stühle, mit Kattun bezogen, und ein paar andere Möbel den ganzen Haushalt
bildeten; und sie selbst fühlte sich beglückt, wenn sie ein paar Verwandte oder
gute Freunde mit einer Hammelkeule traktieren konnte." Die Prinzeß Wilhelm
(Marianne) und ihre Hofdamen trugen täglich, Sommer und Winter, nichts als
weiße Perkalkleider (dichtgewebte Baumwolle). „Ein dunkles seidenes war
schon das beste, was man für einige Gäste hervorsuchte, und wenn wir anfingen,
jene mit Stickereien zu verzieren, so war dies schon ein Ergebnis verfeinerter
Mode, die damals die erste und einzige Handlung für weiße Stickereien ins
Leben rief." Im Gegensatz dazu brachten die aus Frankreich zurückkehrenden
Fürsten und Militärs die ersten Proben des Luxus, der Eleganz französischer
Moden mit. „Der Herbst 1815 brachte nach beendeten Friedensschluß endlich
den langerwarteten Kaiser Alexander mit einer ganzen Schar von Fürstlichkeiten
nach Berlin, und dies kann man wohl als den ersten Anfang der vielen Besuchs¬
reisen bezeichnen, mit denen in neuerer Zeit sich alle Potentaten überschütten____
Damals gab es zuerst das Schauspiel jener großen Paraden, welche die Monarchen
zu Ehren ihrer Gäste selbst kommandieren, während die letzteren dann als
Kommandeure ihre Regimenter vorbeiführen; aber auch dies mit einer gewissen
Stille und Einfachheit. ... Es gibt wohl keine Sache, kein Lebensverhältnis,
das sich nicht seit jener Zeit so ungeheuer gesteigert hätte, daß man sich fragen
möchte, wohin soll das führen?" Was würde Karoline Rochow wohl zu dem
modernen Luxus bei Fürstenempfängen sagen? Streng urteilt die Rochow von
der Hereinziehung von Leuten in das Hofleben, die nach ihrer Ansicht nicht dahin
gehörten: „Den König delassierte (ergötzte) es, sich von den Schauspielerinnen
und Tänzerinnen etwas vorschwatzen zu lassen. , ., aber es fiel niemand ein,
darum seinen Sitten einen ernsten Vorwurf zu machen. Immerhin gab es
persönliche Bekanntschaften. . . und es wurde die Einrichtung bei jenen kleinen
Festen so getroffen, daß diese Damen nicht nur auf den Brettern erschienen.
Man fand sie in irgendeinen: Nebenzimmer, wohin der König, die jungen Prinzen
und einige dahin neigende Geister sich begaben, um sich mit ihnen zu unter¬
halten. . . . Was war natürlicher, als daß junge Leute erlaubt fanden, was
ein so hochstehendes Beispiel ihnen vorzeigte; wie begreiflich, wenn bei ihnen
die Folgen weiter gingen, als der Ernst des Charakters und der in dieser Beziehung
feste Sinn des König diesen führten. Hier war es, wo Prinz Adalbert die
Bekanntschaft jener Demoiselle Elßler machte, die als- seine Gemahlin endete."
Im Gegensatz zu diesem weltlichen Treiben stand das Wesen der pietistischen
Partei. Was Karoline Rochow von den Pietisten und ihrem Auftreten erzählt,
ist etwas subjektiv und zusammenhanglos; sie versäumt, die Fäden klarzulegen,
die diese Weltanschauung mit der Romantik und der Erneuerung der religiösen
Empfindung im Zeitalter der Freiheitskriege verbindet. Unter den einflußreicheren
Vertretern des Pietismus (S. 220) durfte vor allem Fouqu«5 nicht fehlen. Er
war in dem Jahrzehnt zwischen 1810 und 1820 der Modedichter der vornehmen
Welt. „Die Berliner Damen schwärmten für seine sinnigen, sittigen, minniglichen
Jungfrauen, für die ausbündige Tugend seiner Ritter, schmückten ihre Putztische
mit eisernen Kruzifixen und silberbeschlagenen Andachtsbüchern." (Treitschke l, 312.)
Und als Friedrich Wilhelm der Vierte 1840 zur Negierung kam, galt der schon
halbvergessene Fouquö noch immer so sehr als Requisit der pietistischen Romantik,
daß ihn der König von Halle nach Berlin berief.
Unter den politischen Wandlungen der Zeit tritt naturgemäß die 1823
erfolgte Einrichtung der Provinzialstände am meisten hervor, weil Gustav v. Rochow
an dieser Einrichtung einen hervorragenden Anteil hatte. Karoline erzählt: „An
einem geselligen Tage in Reckahn — dem Gute Rochows — entstand die
Anregung zu einer Vorstellung an den König, worin er um Verschönung mit
einer sogenannten „konstitutionellen Verfassung" gebeten wurde. Man nahm
Beckedorffs Feder dazu in Anspruch, und in einem schönen, edlen Stil löste er
zu allgemeiner Befriedigung seine Aufgabe. Nun begann ein reges Leben und
Treiben, um diese Petition, womöglich von allen Kreisständen der Provinz
Brandenburg unterschrieben, abschicken zu können. Es gab aber viele möcomptes...
Vielleicht blieb meines Mannes Tätigkeit die Veranlassung, daß man dennoch
durchsetzte, was möglich war: die Petition wurde uur von zwei Kreisen abgeschickt
(November 1819), ziemlich schlecht aufgenommen, unhöflich und kurz zurück¬
gewiesen. Aber der Anstoß war gegeben! Die meisten anderen Kreise folgten
nach. ... Es traf damit zusammen, daß in dieser Zeit daran gearbeitet wurde,
den Staatskanzler (Hardenberg) mit seinem Anhang zwar nicht zu entfernen,
aber doch mehr zu neutralisieren, anderen konservativen Kräften Eingang zu
verschaffen; und so kann man diesen Moment wohl als denjenigen bezeichnen,
von dein an ein Innehalten im Gang der inneren Angelegenheiten eintrat, um
den ständischen Anforderungen wieder mehr Raum zu gönnen." Am 3. August
1823 wurde das allgemeine Gesetz über die Provinzialstände veröffentlicht; die
Ausführung des liberalen Gedankens der Reichsstände, einer Repräsentativ¬
versammlung des ganzen preußischen Volkes, war damit auf unbestimmte Zeit
hinausgeschoben. Karoline Rochow gibt zu, die Hoffnung der Stände, eine
nähere Einwirkung auf die Provinzialadministration auszuüben und dadurch der
Schreibmacht des grünen Regierungstisches ein lebendiges Gegengewicht zu geben,
sei nicht in Erfüllung gegangen, anderseits betont sie mit Recht, die neue Ein¬
richtung habe in der jüngeren Generation des Landadels wieder eine Kenntnis
und ein Interesse der betreffenden Verhältnisse erweckt, das ohnedem fast schlafen
gegangen sei, und habe auch den Städten und den Bauern ein weiter wirkendes
Bewußtsein ihrer Bedeutung verliehen.
Sehr interessant sind die Aussprachen der Karoline v. Rochow — sie war
seit dem 11. September 1847 verwitwet — über die politischen Umwälzungen
der Revolutionsjahre 1848/49; sie legen von der ruhigen Klarheit des Urteils
und der politischen Begabung dieser Frau ein vollgültiges Zeugnis ab. Am
3. Juni 1848 schreibt sie an ihre Schwester Klara v. Pfuel: „Man geht so
weit, zu versichern, es werde demnächst eine Deputation nach Potsdam gehen,
um vom Könige die sofortige Rückkehr nach Berlin zu verlangen. Wird er,
wird der Kaiser von Österreich nachgeben? Die Nationalversammlungen von
Berlin und Frankfurt erscheinen mir unerheblich im Vergleich zu dieser Frage.
Ich glaube, es wird ihnen ergehen, wie vielen großen sprechenden Versammlungen,
sie werden von den Ereignissen über- und fortgeschwemmt werden. Auch die
klügsten Menschen lernen wenig von den Begebenheiten, wenn es sich darum
handelt, ihre geliebten Theorien aufrecht zu erhalten!"
Frappierend wirkt auch der am 6. Januar 1849 niedergeschriebene Erguß
über die große deutsche Frage, weil er den Nagel auf den Kopf trifft: „Was
soll geschehen, um die Sonne wirklich leuchten zu lassen, das einige Deutschland,
auf das man uns hinweist, und die doch nur als ein Nebelbild hinter Wolken
erscheint? Immer bleibt uns nur ein verbesserter Bund, der die verschiedensten
Interessen unvollkommener Menschen, die nun einmal keine Halbgötter find, in
sich schließt. Die Einheit darin könnte nur durch das Übergewicht einer einzelnen
Macht hergestellt werden, die imstande wäre, die übrigen zu zwingen, aber dies
streitet doch gegen die verherrlichte Freiheit! Die spitzfindige Superklugheit, die
jetzt die Welt regiert, muß sich wieder in Einfachheit, Gradheit, gesundes Ver¬
ständnis für das Naturgemäße wandeln, wenn das Leben der Menschen unter¬
einander wieder erträglich werden soll." Klingt das nicht, als sei Karoline
Rochow bei Bismarck in die Schule gegangen?
Indes, die Politik ist doch nicht das eigentliche Thema des Buches. Im
Vordergrunde stehen immer die Menschen, mit denen diese Brief- und Memoiren¬
schreiber in Berührung kamen, von deren äußerem und innerem Wesen sie sich
ein Bild machten, deren Schicksale sie mit Anteil verfolgten.
Marie Fouquö versteht es sehr gut, von diesen Schicksalen spannend und
mit vielen Einzelheiten zu erzählen, während Karoline Rochow durch ihre for¬
schende und klassifizierende Weise getrieben wird, sich das innerste Wesen der Menschen
zurecht zu legen, sie zu charakterisieren. Unter den auf diese doppelte Weise
geschilderten Persönlichkeiten ragen zunächst die Glieder des Königshauses hervor.
Als wichtigste Vertreterin der Romantik unter den fürstlichen Damen lernen wir
die Prinzessin Wilhelm (geborene Prinzessin Marianne von Hessen-Homburg 1785
bis 184«) kennen. „Da sie wohl mehr einen romantischen Sinn als ein leiden¬
schaftliches Herz besaß, hatte sie sich ein eigenes inneres Leben gebildet, das sebst
in einer Art Spielerei in geschriebenen Büchern, sinnvollen Bilderchen. aufgehobenen
Andenken von Blättchen an bis zu Edelsteinen .., einen äußeren Ausdruck suchte.
Sie hatte sich daran gewöhnt, dies Leben von Gedanken und Gefühlen apart
ZU führen, unbeschadet der Pflichttreue, mit der sie ihre äußere Stellung zu
einem sehr ungleichen Gemahl, in einem Lande und einer Familie, die ihr nicht
gefielen, auszufüllen strebte. Und so stellte sie ähnliche Anforderungen an jedes
weibliche Gemüt, was zuweilen gefährliche Konsequenzen haben konnte, da doch
am Ende „Je8 aMire8 as coeur", groß oder klein, das Hauptmotiv zu dieser
inneren Romantik liefern mußte." Man versteht hiernach das Verhältnis, in
dein die Prinzessin zum Dichter de la Motte - Fouque stand. Dieser kam sich
ihr gegenüber durchaus als mittelalterlicher Ritter und Minnesänger vor und
sah in der „Hoheit Marianne" zugleich die „Herrin", deren Dienst er sich
geweiht hatte, und die „Muse", von der er seine Inspiration zur Bearbeitung
der Gralsage und den Stoff zu romantischen Schauspielen erwartete (s. mein
Buch: „Fouqus, Apel, Miltitz" S. 131s.; 138; 160f.; 169; 193f.).
Das Bild Friedrich Wilhelms des Dritten ist schon durch das bisher bekannte
Material so scharf umrissen, daß neue Züge kaum hinzukommen können. Sein Wider¬
wille gegen Pomp, Empfang und Ehrenbezeugungen ist bekannt; aber neu war es
mir, daß dieser Zug sich sogar bei dem großen Einzug der Truppen und Fürst¬
lichkeiten in Berlin nach dem französischen Feldzug geltend machte: „Er kam
tags zuvor inkognito zur Stadt, um die Anordnungen zu besehen, fand alles
zu viel; manches mußte wieder zerstört werden, und als er seinen feierlichen
Einzug an der Spitze der Garden hielt, tat er es so überraschend früh vor der
erwarteten Stunde, daß fast noch niemand auf der Straße war und er dadurch
dem größten Hurra entging." Seine letzte Krankheit, sein Tod und seine
Bestattung werden S. 290 bis 330 von Marie Fouque mit großer Ausführ¬
lichkeit und rührender innerer Anteilnahme erzählt.
Zu der umfassenden Charakteristik, die Treitschke (V, 6 f.) von Friedrich
Wilhelm den: Vierten entworfen hat, kann das Buch der Luise v. d. Marmitz
natürlich nur einige unbekannte Splitter beisteuern. Solche finden sich in der
sehr interessanten Aussprache über die Erzieher, die der reichbegabte Fürst nach¬
einander gehabt hat (S. 70 f.), und auch in der Erzählung der Geschichte seiner
Verheiratung mit Elisabeth (1801 bis 1873), der Tochter des Königs Maximilian
des Ersten von Bayern (S. 148 f.). Als Kronprinz von seinem Vater auf
Reisen geschickt, um sich eine Lebensgefährtin zu suchen, hatte er erklärt, die
bayerische Elisabeth heiraten zu wollen. Der Vater nahm Anstoß an der
katholischen Religion der Erwählten. „Mit dem Widerspruch mochte sich nun
vielleicht die Phantasie des Kronprinzen erhitzen, denn aus dem Wohl¬
gefallen, was ein so flüchtiges Begegnen nur erregen kann, entwickelte sich
in seiner Idee eine große Leidenschaft, und nun setzte sich alles
in Bewegung, um die Schwierigkeiten dieser Verbindung zu beseitigen, die
den Gegenstand jahrelanger Unterhandlungen bildeten." Endlich ist alles so
weit, die Verlobung wird vollzogen, der Kronprinz reist zu seiner Braut; beim
ersten Zusammensein mit ihr erklärt er, er sei selig, aber mit einem so zerstreuten,
abstrakten Wesen, daß man keine rechte Wahrheit darin zu erkennen meinte. . -
Man erfuhr auch eine Äußerung der Prinzessin, die besagte: die Leidenschaft¬
lichkeit seiner Briefe wäre ihr fremd und unverständlich gewesen bei der geringen
Bekanntschaft, die bis dahin zwischen ihnen bestanden, und nun hätte sie sie
gar nicht in seinem Wesen wiedererkannt. Die Schilderung, die Karoline
de la Motte-Fouqu.6, die Gattin des Dichters, von Friedrich Wilhelm dem Vierten
als Kronprinzen entwirft, läßt die Verfasserin gefühlvoller Romane erkennen:
„Es liegt ein eigener Zauber für mich in dem Gesichte des Kronprinzen.
Abgesehen von dem Eindruck weicher Güte und allgemeiner Freundlichkeit, den
er wohl ganz allgemein erweckt, finde ich bei ihm ein gewisses verhülltes Etwas,
das ebenso viel zu denken wie zu fühlen gibt. Stirn und Augen verraten eine
stete innere Arbeit; dazu kommt die Gewohnheit, den Blick oftmals aufwärts
zu richten. Es ist, als suche er das Wort des großen Welträtsels .. . Man
wird nicht in dies Geficht hinein- und hinaussehen, als wenn man durch ein
offenes Fenster in die gangbare Straße der Gedanken blickte. Unwillkürlich
senkt sich die Seele mit in eine Tiefe hinein, die heilige Ahnungen erweckt."
Viel nüchterner und richtiger urteilt auch hier Karoline Rochow (S. 69): „Für
die Eigentümlichkeit des Kronprinzen gestehe ich kein rechtes Verständnis besessen
zu haben im Gegensatz zu der großen allgemeinen Hoffnung, die man auf seine
Zukunft von früher Zeit an setzte. Er hatte stets etwas so Exzessives in seiner
Lustigkeit, seiner Heftigkeit, wie in der Abspannung, mit der er fallen ließ, was
ihn kurz zuvor maßlos bewegt hatte; und ich glaube, das Maßlose und ein
gewisser Mangel an momentaner Selbstüberwindung haben ihn durch sein ganzes
Leben begleitet"; und am 30. August 1849 schreibt sie an ihre Schwägerin
Klara Pfuel: „Du mußt Dir Potsdam nicht als Mittelpunkt der politischen
Macht vorstellen; sondern diese ist vielmehr, wie bisher, das einige Deutschland,
ein schwebender Begriff ohne realen Boden. An der Spitze steht der phantastische
König, der sich mit Menschen der verschiedenartigsten Richtungen umgibt, mit
ihnen spricht, konferiert und aus jedem ein Fädchen zu dem bunten Gewebe
herauszieht, mit dem er sich an den Mond heranspinnt, ohne darauf zu achten,
wie oft der Faden in seiner Hand reißt."
Wertvoll sind die Bemerkungen der Rochow über das erste Auftreten der
Prinzessin Wilhelm, der spätere,: Königin und Kaiserin Augusta in Berlin
(S. 145): „Die junge Prinzeß Wilhelm (1811 bis 1890) macht nichtsehr viel
Effekt; ihre etwas gebückte Haltung beeinträchtigt ihre niedliche Figur; das
Organ ist nicht klangvoll; bei der Cour hielt sie die schönsten Anreden über
Gefühle an die ihr ganz fremden Leute", und bei einem späteren Rückblick:
„Es entwickelte sich in ihr ein Streben, in der europäischen Welt einen Namen
SU erringen, man erlebte also in der Gesellschaft ein stetes Hervorsuchen von
allem, was fremd und ausländisch war, ein Übersehen einfacher, heimischer
Menschen und Verhältnisse . . . Dabei hatte sie ein Streben nach außergewöhn¬
licher 6IeZariLS und gab das erste Beispiel einer Prinzessin, die sich um alle
Details ihres Haushaltes bekümmerte . . . Auch um Zelebritäten der Wissenschaft,
Kunst oder der öffentlichen Meinung machte sie gern Frais und sah zuerst Herrn
Spener, Redakteur der „Spenerschen Zeitung", bei sich. Im allgemeinen behielt
sie in Berlin etwas Fremdes. . . Bemerkenswert für ihre Auffassung ihrer
Stellung, wie der des Prinzen, blieb ihre Äußerung: daß sie sich mit sehr
ernsten Dingen beschäftigen müsse. weil doch einmal Zeiten eintreten könnten,
wo sie die Angelegenheiten in die Hand nehmen müsse!" Sehr sympathisch
berührt uns die Äußerung der Rochow über den Prinzen Wilhelm vom 17. Juni
1848 (S. 469): „er bleibt der einzige Hoffnungsstern der Herrscherfamilie".
Eine reiche Fundgrube ist das Buch von Erzählungen und Urteilen über
Minister, Generäle, Räte, Hofdamen und andere Glieder der Berliner Hof¬
gesellschaft. Diese Urteile sind natürlich subjektiv gefärbt und werden manchen
Widerspruch erfahren, aber sie beruhen auf scharfer Beobachtung und sind treffend
formuliert. Besonders beachtenswert erscheinen mir die Charakteristiken von
Clausewitz (S. 38) und Radowitz (S. 194 f.); auch der Reichsfreiherr v. Stein
geht in scharfen Umrissen über die Bühne, da Karoline Rochow 1825 eine
Zeitlang in feinem Hause zu Besuch war und auch ihr Gatte freundschaftliche
Beziehungen zu dem greisen Recken gewann. Sie schreibt (S. 229): „Die
Zeiten, in denen der Herr des Hauses zu unterhalten ist, gestalten sich etwas
schwieriger, denn der gescheiteste Mann von der Welt ist auch der wunderlichste
von Europa. Während sein Geist sich mit den Schicksalen Europas beschäftigte,
sind ihm Haus, Töchter, Familie, die Angelegenheiten seiner jetzt beschränkten
Tätigkeit, zu sehr en sous-oräre, als daß sie nicht gewaltig unter tausend
Wunderlichkeiten seines Geistes und Charakters zu leiden hätten. Ich, als
Fremde, die ihm von vielen alten Relationen und von den Dingen in
unserem Vaterlande, das ihn besonders interessiert, erzählen kann, diene
ihm bis jetzt noch zu hauptsächlichster Zerstreuung und Unterhaltung, den
Töchtern zur allergrößte» Erleichterung und zum Trost . . . Stein war
ein gewaltig und edel zugeschnittener Charakter, ein mehr scharfer als tiefer
Geist; aber ungezügelt in seiner Lebendigkeit, ja Heftigkeit; daher auch mehr
rasch und tätig auffassend als reflektierend. Die Überlegung trat gewiß erst ein,
wenn die Gedanken schon Leben gewonnen hatten; deshalb fiel ihm innerhalb
seiner weltgeschichtlichen Periode auch mehr die Aufgabe zu, in speziellen Dingen
Leben einzuhauchen, als mit Überlegung und Ruhe das innere Staatsleben zu
organisieren, wenn er auch die bestehenden Mängel vollkommen richtig erkennen
mochte."
Von den Männern der Zukunft trat besonders Bismarck vor das geistige
Auge Karolines. Er wurde der Nachfolger ihres Schwagers, des Generals
Theodor v. Rochow, beim Bundestag in Frankfurt. Aus diesem Anlaß schreibt
Karoline am 9. Mai 1851: „Was Theodor an seinem Schüler Bismarck erziehen
wird, soll uns die Zeit auch noch lehren. Alle, die ihn näher kennen, sagen,
daß an Kenntnissen, Talent, Lavoir-faire, Schlau- und Feinheit im Behandeln
der Menschen er schwerlich einen Mangel haben würde. Ob dies alles nun
genügt, ohne eine Art von Schule, ob es die Konduite und richtigen, geraden
Ansichten auch aus einem bisher fremden Felde bedingen wird, steht noch dahin.
Es ist eben ein Versuch, der vielleicht mißglückt, aber ebensogut ein bedeutendes
Resultat haben kann."
Neben alledem fesseln uns auch die Persönlichkeiten selbst, die uns diese
interessanten Berichte und Urteile hinterlassen haben, durch die Art ihres
Menschentums, besonders wieder Karoline Rochow. Es ist wohltuend, mit dieser
erlesenen Vertreterin altpreußischer Adelsgesinnung einige Stunden zu verkehren.
Wie einst Goethe sich über den ihn erschütternden Tod seines Herzogs Karl
August in der Stille des Schlosses Dornburg tröstete, wo er in: innigsten Verkehr
mit der herrlichen ihn umgebenden Natur neue Lebens- und Ewigkeitshoffnungeu
schöpfte, so schreibt Karoline Rochow am Abend ihres Lebens: „Die Sonne
scheint hell auf die gelben Blätter und der blaue, herbstliche Duft über der
Landschaft gibt trotz welken Blumen, fallenden Blättern den Hügeln und der
Heide einen eigenen Reiz, so daß man sagen kann: die Natur bleibt vollkommen
selbst in ihrer dürftigsten Gestalt; und esta repoge I'Las. Daß diese Voll¬
kommenheit existiert, gibt die Hoffnung, daß auch das Unvollkommene dereinst
dies Ziel erreichen könne; dem Leblosen kann sie doch nicht allein gegeben sein!"
Glücklich das Zeitalter, das.eine über die letzten Dinge so beruhigende Über¬
zeugung besaß!
o sehr die heutige Kunst ihren eigenen Weg geht, so stark die
Richtungen auseinander streben, den verschiedenen Schulen der
Vergangenheit wird man immer noch gerecht. Ja, wohl keine
Zeit ist in dieser Beziehung so universell gewesen wie die Gegen¬
wart. Findet doch sogar das italienische Barock des siebzehnten
Jahrhunderts, das Leuten wie Jakob Burckhardt, Kugler, Schnaase, Springer
so unsympathisch war, heute wieder Bewunderer, und zwar Leute von feinem
Kunstgefühl und umfassenden Kenntnissen. Die altflämische Schule ist wohl
niemals ganz verkannt worden, und seit dem Erwachen kunstgeschichtlicher
Studien verehrt man sie als einen Höhepunkt malerischen Könnens, wenn auch
ihr relativer Wert gegen andre starken Schwankungen unterworfen ist. Der
Stempel des Höhepunkts ist ihr so deutlich aufgeprägt wie kaum einer andern:
ihre Werke lassen sich nicht kopieren. Tizian, Rembrandt. Murillo, am leichtesten
Naffacl sind dem Pinsel zahlloser Kopisten zugänglich. Bei Jan van Evck,
Rogier van der Wenden, Memling hat die Wiederschaffung des Reproduzierenden
von jeher versagt.
Keine andre Richtung tritt uns so der dem Haupte des Zeus entspringenden
Pallas Athene vergleichbar entgegen wie die altflämische Malerei. Ihr ältestes
Werk, der Genter Altar der Brüder van Evck, ist in vieler Beziehung zugleich
ihr unübertroffenes Meisterstück. Wohl wird auch sie ihren Werdegang gehabt
haben, aber er ist so wenig reich an markanten Werken, daß sich davon nichts
Nennenswertes, erhalten hat. Auch die älteren Historiker, wie Karel van Mander
und Vasari, wissen wenig. Die Brüder van Eyck arbeiten um 1426, dem
Todesjahr Huberts, des ältern Bruders, an dem Genter Altar. Damit haben
sich der hohen Kunst neue Pforten aufgetan. Nach Jans Tode, 1440, traten
einige etwas geringere Talente, Petrus Christus, Gerard van der Meire, Hugo
van der Goes und andre mehr in den Vordergrund. Aber schon in Jans
Leben ragt die zweite Gruppe hinein, die man wohl als die Brabanter Schule
absondert: Rogier van der Wenden erhält schon 1432 seinen Freispruch in der
Zunft, und schon 1436 ist er Stadtmaler in Brüssel. Im Jahre 1464 stirbt
er; die zweiunddreißig Jahre schließen ein tatenreiches Leben ein. Erreicht er
an Größe der Auffassung, an Tiefe der malerischen Empfindung auch die beiden
Brüder van Eyck nicht, so ist er ihnen an dramatischem Leben, an Fülle
der szenischen Erfindung weit voran; selbst an Feinmalerei übertrifft er
sie meist. Seine Werke werden noch immer als Perlen der Galerien
geschätzt.
Ob zu Rogiers Verdiensten auch die Heranbildung Memlings gehört, das
ist sehr zweifelhaft. Früher nahm man es an, weil Vasari das erzählt. Aber
der italienische Historiker hat für Dinge, die ihm zeitlich und örtlich so entlegen
waren, längst alle Glaubwürdigkeit verloren. Indirekten Einfluß haben sowohl
die beiden Brüder aus Maaseyck wie der Brüsseler Stadtmaler sicher auf den
Künstler von Brügge geübt. Wie könnte das auch anders sein, wo solche
Phänomene auftauchen, wo andre Einwirkungen (mit Ausnahme der ziemlich
gleichzeitigen Malerschule von Köln) schon durch die geringe Entwicklung des
Verkehrs sehr erschwert waren! Und zudem war ein gemeinsamer Mittelpunkt
für alle drei auseinandergehenden und doch zusammengehörigen Richtungen in
dem burgundischen Hof gegeben. Die Regierungszeit der vier prachtliebenden
Herzoge fällt ungefähr mit der altflämischen Malerschule zusammen. Karl der
Kühne stirbt 1477, Memling 1494. Auch innerlich gehören die vier Haupt¬
künstler näher zu dem Wirken des Hofes, als gemeiniglich der Fall zu sein
pflegt, wenn man jenes und die Blüte der Kunst im Zusammenhange nennt.
Jan van Eilet wird 1425 als Valet de Chambre in den Dienst Philipps des
Guten aufgenommen. Das will nicht viel besagen, aber wir wissen, daß der
Maler ein Freund des Fürsten war und in seinem Auftrag sehr vertrauliche,
vielleicht delikate Reisen unternahm. Geschichtlich steht fest, daß Jan im Oktober
1428 einen politischen Gesandten Philipps nach Lissabon begleitete, der um die
Prinzessin Jsabella von Portugal werben sollte, und daß der in Frauen¬
schönheiten sehr sachkundige Herzog sich seinerseits die Entscheidung darüber, ob
die Ehe geschlossen werden sollte, vorbehielt, bis das Bildnis Jans eingetroffen
war. Es entschied. Jsabella wurde nach einem glänzenden Empfang in Brügge
die Gattin Philipps, die Mutter Karls des Kühnen, die Ururgroßmutter des
deutschen Kaisers Karl des Fünften (damit war Burgund an Österreich gekommen);
von dessen Nachfolgern habsburgischen Stammes wurde sie die Stammutter.
Die Brautschau von 1428 hatte also weithin reichende Folgen.,
Auch Rogier van der Wenden war im Dienste des burgundischen Hofes,
wenngleich er zunächst Stadtmalcr von Brüssel war. Hans Memling war von
einer hübschen Legende mit Karl dem Kühnen in Verbindung gebracht. Man
kannte Beziehungen des Malers zu dem Johannes-Hospital in Brügge, wußte
aber nichts von seinem Vorleben und nahm daher an, er sei plötzlich aus
unbekanntem Anlaß dort erschienen. Das Reis der romantischen Erfindung
trieb weitere Augen: Der Maler hatte den Herzog in die Schlacht von Nancy
(1477) begleitet, wo mit dem Tode des „Tollkühnen" das wie ein Meteor
aufleuchtende Haus Burgund erlosch; er war verwundet uach des Herzogs
Landen gewandert, vor dem Johannes-Hospital zusammengebrochen, dort liebe¬
voll aufgenommen und geheilt worden und hatte zum Dank dafür einige Bilder
gemalt, die jahrhundertelang die Begeisterung aller die Kunst pietätvoll
genießenden Herzen gewesen sind und noch heute dort als Heiligtümer auf¬
bewahrt werden: einen Flügelaltar mit der Vermählung der heil. Katharina,
den Reliquienschrein der heil. Ursula und anderes. Die Legende ist nach¬
weislich unrichtig, denn Memling war schon vor 1477 ein Bürger Brügges.
Woher dieser große Künstler stammt, das ist erst in unsern Tagen auf¬
gehellt worden. Der in allen Fällen im Gegensatz zu der niederländischen
Form Jan festgehaltene Name Hans dentet daraufhin, daß Memling nicht in
den Niederlanden, sondern in Deutschland das Licht der Welt erblickt hat.
Aber nach einem Orte Meinungen suchte man auch in Deutschland vergebens.
Da der Maler den Anfangsbuchstaben seines Hauptnamens ähnlich einem
lateinischen zu malen pflegte, so kam man (Descamps 1753) auf den
Gedanken, der Geburtsort habe Hemlingen geheißen. Auch das führte nicht
auf die Spur. Jetzt hat man ihn als Mömling bei Mainz ermittelt. Daß
der Maler in Westdeutschland bekannt war, ergibt sich mit aller Deutlichkeit
aus der genauen Abzeichnung des Kölner Domes mit dem hochragenden Kran,
der so viele Jahrhunderte das Wahrzeichen der Stadt gewesen ist, auf dem
Ursulaschrein zu Brügge. Aber wenn Deutschland auch den Anspruch darauf
hat. Hans Meniling seinen Sohn zu nennen, so ist dieser in seiner Kunst doch
vollständig ein Angehöriger der flämischen Schule. Kein Zug in seinem Wesen
steht zu dieser in Gegensatz, kein Faden weist auf deutsche Schulen, etwa auf die
Kölner, auf die elsässische, die oberschwäbische oder die Nürnberger. Worin er
den Brüdern van Eyck und Rogier, vollends den derbern Zeitgenossen eigen¬
artig gegenübersteht, das ist einesteils die Besonderheit seiner Persönlichkeit,
auch des zierlichem Mittelfranken gegen den etwas rohern Flamländer, andern-
teils aber auch der allmählich wahrnehmbare Einfluß der italienischen Quattro-
centisten, die schon Rogier van der Wenden in ihren Werkstätten besucht hatte.
Was wir vou dem Leben des Meisters vom Ursulaschrein wissen, das faßt
Karl Voll in dem im letzten Sommer erschienenen Buche: „Memling. des Meisters
Gemälde in 197 Abbildungen" *) in wenige Zeilen zusammen. Es ist sicher,
daß der Künstler im Jahre 1494 zu Brügge gestorben ist, und zwar vermutlich
nicht in hohem Alter, da er bei seinem Tode noch unmündige Kinder hatte.
Seine Geburt ist daher zwischen die Jahre 1440 und 1450 zu setzen. Ander¬
wärts ist sein Aufenthalt nirgends nachgewiesen. Eine Nachricht, daß Memling
schon 1450 das Bildnis der Herzogin Jsabella von Burgund gemalt habe,
schwebt vollständig in der Luft. Die erste sichere Kunde ist die, daß er das
berühmte Danziger Auferstehungsbild spätestens 1473 vollendet haben kann und
daß er damals schon ein angesehener Maler gewesen sein muß.
Im Kriege zwischen der Hansa und England kreuzte Kapitän Peter Beneke
mit einer ursprünglich französischen Kriegs-Karavelle im Kanal und fing am
10. April 1473 — dem heutigen Völkerrecht sehr zuwider — eine von Sluis, dem
Hafen Brügges, abgegangene, nach Livorno bestimmte Galeere ab. Unter ihrer
reichen Ladung befand sich auch ein dreiflügeliges Altarbild von Memling, das
als Eigentum des mediceischen Agenten Portinari eingeschrieben, aber von einem
Florentiner Mäzen, Jacopo Taili, bestellt war. Der Künstler muß also schon
einen großen Ruf gehabt haben, wenn er einen Auftrag aus Florenz erhalten
konnte. Die Ladung wurde uach Stade gebracht und dort verwertet. Die
kostbaren Pelze, Tuchwaren, Gewürze, Stickereien usw. sollen einen Gesamterlös
von 1400000 Mark nach heutigem Gelde erbracht haben. Drei Danziger
Reeber, die das „Jüngste Gericht" erworben hatten, oder auf deren Anteil es
gefallen war, brachten es nach Danzig und stifteten es für die dortige Kapelle
der Georgenbruderschaft. Die Mediceer, unterstützt von Papst Sixtus dem Vierten,
verlangten nachhaltig und leidenschaftlich das Bild zurück, doch blieb es fern
an der Weichsel. Napoleon der Erste ließ es nach Paris bringen; es kam uach
Deutschland zurück, und nachdem die Danziger noch Gefahr gelaufen hatten, es
an Berlin zu verlieren, wurde es wieder ihr Eigentum. Weit schlimmer als
diese Schicksale haben ihm Restauratoren mitgespielt. Im Jahre 1718, zu einer
Zeit, wo man von Bilder-Restaurierungen noch gar nichts verstand, fiel es in die
Hände eines Danziger Malers namens Krau, 1815 und 1851 wurde es Berliner
Professoren überantwortet, mit deren Taten man heute sehr unzufrieden ist.
Jedenfalls hat es sehr gelitten. Hervorragende Stellen sind zum Teil ganz
abgerieben und durch Übermalung „hergestellt". In seiner Gesamtheit, sowohl
was Auffassung, was Komposition und Gruppenbildung und namentlich die
Zeichnung nackter Körper anbelangt, trägt es noch stark den Stempel des
Mittelalters.
Noch älter, wahrscheinlich von 1469, ist ein Triptychon (Madonna mit
Heiligen und Stiftern) im Besitz des Herzogs von Devonshire. Es ist aber
keineswegs sicher, daß es von Memling herstammt. Von ihn: ist das sog. Porträt
Memlings genommen, eines bartlosen jungen Mannes in Tuchmütze. Kein
Fingerzeig deutet jedoch darauf hin, daß sich der Maler hier selbst wiedergegeben
habe, und da die Urheberschaft Memlings nicht feststeht, so kann man eben gar
nichts aus dem — übrigens sehr gut gemalten Kopfe — schließen.
Aus den nächsten Jahren verzeichnet Voll eine Anzahl Bilder, meist Porträts,
deren Autorschaft immerhin Zweifeln unterworfen ist. Die Ansichten in solchen
Dingen gehen natürlich leicht auseinander. Crowe und Cavalcaselle, Geschichte
der altniederländischen Malerei, glauben in einem zu Turin befindlichen Tafel¬
bilde mit den sieben Schmerzen der Maria ein nachweislich im Jahre 1478
an den „Meester Hans" bezahltes Bild nachweisen zu können. Voll erwähnt
es gar nicht einmal, so daß die Theorie wohl als abgetan gilt.
Von 1470 an wird die Kunde von dem in aller Stille schaffenden Meister
zu Brügge deutlicher. Im Mai 1480 ist Memling nachweislich der Besitzer
zweier mit Ziegeln gedeckter Häuser und eines Stückes Land, wofür er einen
Grundzins zu entrichten hat. Während des Krieges zwischen Burgund und
Frankreich von 1479 bis 1482 ist Memling eine der zweihundertvierzig Personen,
die Anteile einer Kriegsanleihe übernehmen. Er ist also schon ein wohlhabender
Mann geworden.
Von 1479 stammt der herrliche „Johannes-Altar" im Johannes-Hospital
zu Brügge, dessen Mittelbild eine Vermählung der heil. Katharina mit dem
Jesuskindchen darstellt, einer Szene, die an die gleichzeitige lombardische Malerei
erinnert. Die Flügel tragen auf der Innenseite den Apokalyptiker Johannes,
wie er Visionen hat, und den Täufer Johannes im Augenblick seiner Enthauptung.
Die Außenseiten der Flügel enthalten die Stifter mit Heiligen. Hier steht
Memling vollkommen auf der Höhe seiner Kunst. Das Werk wird mit Recht
zu den schönsten gerechnet, die seiner Palette entsprungen sind. Neben dem
Ursula-Schrein ist es der stärkste Magnet des Johannes-Hospitals. „Memling",
so sagt Karl Voll, „wollte hier nicht nur ein köstliches, traumseliges Idyll geben,
wie er es so oft in seinen Bildern getan hatte. Was er an Anmut und Poesie
über die Madonnendarstellung der Haupttafel ausgegossen, hat. das gewann
seinen Reiz aus der freudigen Beobachtung der Schönheiten unsrer Welt, im
besonderen aber aus einer selbst für das fünfzehnte Jahrhundert ungewöhnlichen
Freude an der Eleganz der durch die damalige Mode auch nach unsern Begriffen
sehr „schick" gehaltenen Frauentracht. Die weiblichen Heiligen, die sich um die
Madonna versammeln, dürften, wie allerdings auch sonst bei Memling. das
Kostüm der vornehmsten Damen des burgundischen Hofes, den Mantel der
französischen Herzoginnen, tragen, und sie tun es nicht nur mit Würde, sondern
Mit vieler Grazie. Damit ist der Eindruck des gesamten Werkes bestimmt und
auch die Entwicklung der altniederländischen Malerei gekennzeichnet. Wenn Jan
van Guck und seine Gesinnungsgenossen in den Anfangszeiten der Schule die
Bewohner des Himmels, wie man wohl gesagt hat, auf die Erde verpflanzten,
so hat sie Memling uns noch näher gebracht und dem religiösen Bild,
dem er doch seine ganze Weihe ließ, doch den Zauber persönlicher Poesie
gegeben."
Das ist es überhaupt, was ihn vor seinen Vorgängern und landsmännischen
Zeitgenossen auszeichnet. Er ist so voll zarter Innigkeit, so voll Hingebung an
seinen Gegenstand und geleitet von so viel Grazie, daß ihm keiner darin gleich¬
kommt, und daß man an die eben damals fern in Mailand und Venedig
wirkenden Luini und Bellini gemahnt wird. Die heraufziehende große klassische
Zeit hat nicht ihren Schatten, sie hat ihr Licht bereits in die flämischen Fabrik-
nnd Handelsstädte geworfen.
Für Brügge selbst war freilich, was damals wohl erst wenige ahnten, der
Beginn des todesähnlichen Schlafes hereingebrochen, in dem wir es heute noch
kennen. Vor Jahrhunderten war es an einem der Seeschiffahrt zugänglichen
Scheldearm gegründet. Seine Lage war besser als die aller Konkurrenten.
Aber der Strom versandete. Im dreizehnten Jahrhundert baute Brügge einen
Kanal nach dem Städtchen Damme und sicherte sich damit seinen Verkehr bis
in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts. Dann war auch Damme der
Versandung zum Opfer gefallen. Mit Riesenanstrengung baute Brügge einen
andern Kanal, und zwar nach Sluis. Es schien das Schicksal bezwungen zu
haben. Doch nach fünfzig Jahren war das Fahrwasser auch von Sluis nach
der See so schlecht geworden, daß man den Kampf aufgab. Um 1480 siedelten
die Gilden fremder Kaufleute nach Antwerpen über; unter ihnen die geachtetste
von allen, die der deutschen Hansa. Die Schiffe blieben nnn aus, es wurde
still in den sonst von blühendem Leben erfüllten Straßen. Doch behielt der
Reichtum noch lange seinen Wohnsitz hier. Die alten Familien wollten die
Stätte ihrer Väter nicht verlassen, und deren Wohnhäuser und Kirchen bereicherten
sich noch später um manches herrliche Werk, um das gedeihende Gemeinwesen
sie beneiden, darunter ein unschätzbares Unikum, die marmorne Madonna mit
dem Kinde von Michelangelo.
In diese Zeit fällt die Verbindung Memlings mit dein Johannes-Hospital,
die zu der erwähnten Legende den Anlaß gegeben hat, über deren nähere Natur
wir jedoch nichts wissen. Das Johannes-Hospital ist so recht ein Punkt, wo
wir Alt-Brügge noch heute vor uns haben. Die heute freilich verödete Straße
führt über einen der vielen Kanäle, die die Stadt durchziehen. Auf dem
schweigenden, von blühendem Hollunder überragten Wasser ziehen Schwäne leise
dahin. Am Ufer liegt ein kirchenähnlicher Bau in gotischen Formen. Es dient
jedoch einem andern frommen Zweck, denn es ist der Krankenpflege gewidmet,
und zwar schon seit Memlings Zeit. Nur hat sich, dem Hospitalwesen unserer
Zeit entsprechend, ein Saal an den andern, eine Baracke an die andre geschlossen,
so daß die ärztliche Kunst völlig zu ihrem Rechte kommt. Man schreitet durch
mehrere Gänge und macht endlich in einem kleinen, unscheinbaren Raume Halt,
einem stillen, aber hohen Heiligtum der Kunst, dem ehemaligen Kapitelsaal des
Johannes-Hospitals. Hier sind außer einigen ältern und jüngern Bildern der
beiden belgischen Schulen sechs Werke Memlings, von denen wenigstens fünf
als echt gelten. Und unter ihnen ist eins wohl das holdeste von allen, mit
denen der liebenswürdige Meister die Welt beschenkt hat, das aus acht einzelnen
Gemälden besteht, die im Zierat sitzenden Engel und sonstigen Bildchen
ungerechnet: cZ ist der Rcliquienschrein der heiligen Ursula, ein Besitztum
geradezu unschätzbaren Wertes.
Das älteste dieser Werke, den Johannes-Altar von 1479 (die Vermählung
der heil. Katharina), haben wir schon erwähnt. Aus demselben Jahre ist der
ebenfalls sehr schöne Drei-Königs-Altar, ein Tafelbild. Wohl von 1480 stammt
ein weniger geschätztes Werk, der Altar des Adrian Rems, als Hauptbild eine
Kreuzabnahme, auf den Flügeln Heilige und Stifter enthaltend; die Echtheit ist
nicht sicher. Mit dem Datum 1487 versehen ist ein Distychou, das von Martin
van Nieuwenhove gestiftet ist, eine heilige Jungfrau mit rotem Überwurf, dem
Christuskinde einen Apfel reichend. Sodann ein weibliches Porträt mit der
Inschrift „Sibvlla Zambetha".
Alles tritt zurück gegen den Ursulaschreiu. Schon 1480 wird erwähnt,
daß die Hospitalbrüder den Auftrag erteilt haben. Vollendet zu sein scheint das
Bild erst 1488. Das auf einem drehbaren Pfeiler stehende, in der Form eines
gotischen Giebelhäuschens gehaltene Kästchen hat nur 1,3 Meter Länge und
0. 66 Meter Höhe. Die beiden Langseiten sind in je drei Felder eingeteilt, von
denen jedes eine figurenreiche Szene aus dem Leben der heiligen Ursula darstellt:
1. Die Ankunft des Schiffes in Köln; die Heilige mit ihren Jungfrauen verläßt
das Schiff; im Hintergründe ein unverkennbares Bild von Köln mit dem Dom
und Groß-Se.-Martin. II. Ankunft der Jungfrauen auf zwei Schiffen in Basel,
doch hat der Maler offenbar Basel nicht gesehen. III. Der Empfang in Rom.
Architektur und Figuren sind köstlich zusammengefügt, die Köpfe zum Teil von
schönstem Ausdruck. IV. Rückreise vou Basel. V. und VI. Martyrium der
Jungfrauen und der Ursula in Köln, jenes mit Groß-Se.-Martin, dieses mit
dem Dom im Hintergrunde; auch in diesen beiden wieder eine große Meister¬
schaft in der figürlichen Komposition, die an Rogier van der Wenden gemahnt.
Die rechte Schmalseite enthält eine Ursula, die ihren Mantel um die Jungfrauen
breitet; die Heilige von doppelter Größe wie die Jungfrauen. Die linke Schmal¬
seite ist durch eine Jungfrau Maria mit dem Christuskinde und einer knienden
weiblichen Figur ausgezeichnet.
Die gleichzeitige Kunst eines Giovanni Bellini ging mehr ins Großartige.
An feiner Durchbildung der kleinsten Einzelheiten, an zartem Schmelz der Farben,
an einer unvergleichlichen Frische, endlich an der Naivität der realistischen
Auffassung übertrifft der stille Flamländer den pathetischeren Venezianer. Der
Schrein der Ursula ist ein Werk ganz für sich, mit nichts vergleichbar, selbst
innerhalb der Memlingschen Kunst einzig dastehend. Karl Voll äußert Zweifel,
ob der von jeher dem Memling zugeschriebene Schrein in allen seinen Teilen
wirklich von seiner Hand herrührt. „Er ist populär wie kein andres Werk des
Meisters und verdient auch bis zu einem hohen Grade diese Beliebtheit, die
sich jahrhundertelang gehalten hat und wohl auch bestehe» wird, solange die
Malereien nicht untergehen. Trotzdem ist es heute schwer zu sagen, ob die
Tafeln wirklich alle von Memling gemalt sind. Bei einigen wird man kaum
zweifeln können, daß sie nicht von ihm herrühren, bei andern dagegen ist die
Wahrscheinlichkeit, daß Memling sie gemalt habe, sehr groß." Die beiden
Schmalseiten schreibt Voll dem Memling zu. Über die Autorschaft der sechs
Hauptbilder ein Urteil abzugeben, kann er sich nicht entschließen. Von dem
dritten Bilde, der Ankunft in Rom, das wir auch für das schönste halten, sagt
er: „Es ist unmöglich zu schildern, mit welcher Kunst Memling ganz verschiedene
psychologische Motive durcheinander zu weben und zu einem einheitlichen Ganzen
von entzückender Holdseligkeit zu verbinden gewußt hat. Hier kommt nun auch
die Schönheit des Königskindes, sein adliges Wesen und der Prunk der Gewandung
zur vollen Geltung. Mit rührender, ahnungsloser Demut und doch königlicher
Freiheit kniet die Jungfrau vor dem Papst und hebt die Hände zum Gebet.
Als ein rechter Vater der Christenheit steht der alte, ungemein würdige Mann
vor ihr, mehr imposant durch seine Persönlichkeit als durch den kostbaren Ornat.
Freundlich stützt er die emporgehobenen Hände der Prinzessin mit der Linken.
Mit der Rechten erteilt er den Segen in einer fast beunruhigend feierlichen
Weise; denn er scheint das zu wissen, was Ursula noch nicht einmal ahnt: daß
dieses blühende Leben bald vernichtet sein wird."
„Angesichts solcher Feinheit der Erzählung," sagt Voll aus Anlaß des
letzten Bildes, dem Martertode der Ursula, „darf man dann auch darauf ver¬
zichten, viele Fragen nach der Eigenhändigkeit der Ausführung durch Memling
zu tun, die heute ja auch kaum mehr festzustellen ist." Eine Begründung gibt
er seinen Zweifeln nicht. Auf uns hat der Schrein immer den Eindruck der
größten Einheitlichkeit gemacht. Wir erfahren von der Bestellung bei Memling
im Jahre 1480, entweder durch die Johaunesbrüderschaft oder durch die Namen
Jocosa van Dudzeole und Anna van der Moorteele. Am 21. Oktober 1489 —
das Datum ist erhalten — wurde der Schrein in Anwesenheit dreier genannter
Personen, worunter zwei Bischöfe, dem Gebrauch übergeben. Es muß also eine
Reihe von Jahren gedauert haben, ehe die vielen Bilder fertig wurden. Das
spricht zugunsten einer Herstellung durch denselben Künstler. Vor allem: wer
hätte denn in den Jahren eine Kunst verstanden, um die etwas weniger
geglückten Bilder zu schaffen? Ein Mann, dessen Namen wir nicht kennen?
Denn die bekannten Zeitgenossen der Malerzunft sind doch wohl zu derbe, zu
mittelalterlich ungeschlacht, als daß man ihnen solche Werke zutrauen könnte.
Rogier van der Weyden war schon seit 1466 tot. Kann denn nicht auch ein
Maler mehr oder weniger vollendet schaffen? Sind doch von allen Künstlern
solche Abweichungen bekannt. Die Gleichartigkeit des Stils, sowie die allerdings
äußerliche Gleichartigkeit der Maße und der Disposition des Raumes für die
Figuren spricht sehr zugunsten Memlings. Über Finessen in der Ausführung
maßen wir uns kein Urteil an.
Zwei große Bilder Memlings in der Art des Rogier van der Weyden
befinden sich in den Pinakotheken zu München und zu Turin: die sieben Freuden
der Maria und die Grablegung Christi. Wie der Brüsseler Maler so gern
tut, so hat auch Memling hier eine ganze Anzahl Szenen auf einer Leinwand
dem Auge vorgeführt. Nur durch Landschaft oder Architektur sind sie voneinander
getrennt, nicht durch den Rahmen. Man hat beim Überblick über das Ganze
die Vorstellung, als ob alle diese Vorgänge gleichzeitig seien, was doch ihrer
innern Natur nach widersinnig wäre. Die Verkündigung, die Geburt Christi,
die Himmelfahrt der Maria, alles sieht man in derselben landschaftlichen Szenerie
gleichzeitig dargestellt. Im ganzen machen die Bilder einen peinlichen, unruhigen
Eindruck. Im einzelnen zeigen sie das seit Rogier auch in der flämischen
Kunst rasch gewachsene Vermögen der Disposition über Massen von Figuren,
auch das sich stets weiterbildende Gefühl der Gruppenbildung. Und dann
vor allem die Technik der Durchführung. „Memling", so sagt Voll, „hat
ja oft eine große Frische, aber mir ist kein zweiter Fall bekannt, wo er
eine solche Bewegungsfreiheit entfaltet hätte wie auf dem Turiner Bilde. Man
darf sogar sagen, daß in der gesamten altniederländischen Malerei kein Bild
existiert, das so viel Feinheit und Sicherheit in den Bewegungen der Menschen-
gestalt zeigt." „Die Farben der ins Licht gestellten Figuren sind freilich noch
nach Quattrocento-Art fest und prall: aber wo immer sich durch die Natur des
Motivs Gelegenheit gibt, zarte Farbenübergänge zu wählen oder gar das
unsichere Licht der Dämmerung zu malen, da ergreift sie Memling mit Freude,
und er erzielt so weiche Abstufungen, daß man gerade beim Kolorit des Turiner
Bildes nun auch noch deutlich erkannte, wie eine neue Zeit heraufkommt, die
den Ton und die Nuance als fruchtbringende Elemente in die Malerei einführt,
um nun in der Farbe jene Wahrheit der Erscheinung zu erreichen, die in der
Form schon seit dem Beginn des eigentlichen Quattrocento angestrebt war.
Denn das ist doch nicht zu übersehen, daß die Pracht des altniederländischen
Kolorits auf Kosten der Wahrheit gegangen ist, und daß selbst Eyck trotz der
unbegreiflichen Wunder seiner Technik in der Farbe kein so starker Realist
gewesen ist, wie in der Form und Zeichnung. Wenn nun aber bei Memlings
letzten Werken sich gar auch noch im Kolorit ein so bemerkenswerter Umschwung
ankündigt, dann kann man sagen, daß von da ab das Geschick der nieder¬
ländischen Malerei als vollendet und abgeschlossen angesehen werden kann; denn
die Entwicklung der Malerei beruht vor allen Dingen auf dem Standpunkt, den
die Künstler der Farbe gegenüber einnehmen."
Das gilt natürlich vor allem von der Farbe im ästhetischen Sinne. Es
kommt aber auch die Farbe in Technik und in rein materiellem Sinne hinzu.
Mit dem Anfang der altflämischen Schule fällt die Ölmalerei zusammen. Das
Bindemittel spielt eine entscheidende Rolle. Was die Antike benutzt hat, wissen
wir nicht. Die aus gräko-ägyptischer Zeit aufgefundenen, jetzt im Museum in
Kairo aufbewahrten Bilder sind wunderbar erhalten; die Technik ist noch nicht
völlig entschleiert. Von beispielloser Frische sind die Wandbilder in den
ägyptischen Grabgemächern; sie verdanken ihre vortreffliche Erhaltung der
Trockenheit der Luft und der vollständigen Absperrung des Lichts. Das
Mittelalter benutzte für seine Wandmalereien die Freskotechnik, die schon für die
Arbeit selbst die größten Nachteile hatte und wirkliche Farbenreize sehr erschwerte,
die aber auch der Erhaltung'der Werke so ungünstig war. Das ganze fünf¬
zehnte Jahrhundert stand in Rom und Florenz unter der Herrschaft des Fresko
und für Staffeleibilder der Tempera, ja diese Technik dauerte noch weit darüber
hinaus, als in Venedig schon die Ölmalerei ihren Siegeseinzug gehalten hatte.
Die mittelalterlichen Miniaturen auf Pergament und Papier sind jahrhunderte¬
lang eine Zuflucht für die edle Kunst gewesen. Die Temperatechnik war ein
großer Fortschritt. Mit Eigelb, Leim, Honig ließen sich Farben auftragen,
die nicht wie die Freskobilder von dem ätzenden Kalk angegriffen wurden. Die
Malwelse war mannigfaltig, bei den einzelnen Künstlern auch sehr verschieden.
Nach dem flämischen Kunstschriftsteller des sechzehnten Jahrhunderts kam das
Malen mit Leim und Eiweiß von Italien nach den Niederlanden. Ist das
wahr, so haben diese ein königliches Gegengeschenk gemacht, die Ölmalerei.
Spuren davon, daß man in burgundischen Ländern schon von den Brüdern
van Eyck Öl zum Binden der Farben benutzte, sind sicher vorhanden. „Aber",
so sagen Crowe und Caralcaselle, „die Ölmalerei, wie sie sie verstanden,
beschränkte sich keineswegs auf die Mischung von Farben mit Öl und die
teilweise Anwendung solcher Farben auf Tafelbildern. Sie bedeutete vielmehr
den Gebrauch eines neuen Bindemittels überhaupt, welches wahrscheinlich auch
Firnisse in sich schloß und das ganze technische Verfahren änderte."
Die Einzelheiten der Bereitung der Bindemittel wie der Farben und der
Technik wurden meist als Geheimnis sorgfältig gehütet. Unter Obhut des
Meisters bereitete der Schüler die Farben. Die Herstellung aus Pflanzen
spielte eine ungleich größere Rolle als heute, wo die Mineralien so massenhaft
herangezogen werden, und wo der Maler auf seiner Palette meist ohne Kenntnis
von den gegenseitigen chemischen Einwirkungen Mischungen vornimmt. Hatte
ein alter Meister ein Favoritmittel, so benutzte er es oft und vorzugsweise, um
einen reinen, deckenden Auftrag zu erreichen. In dieser Beziehung sind die
altflämischen Maler besonders glücklich gewesen. Diesem Umstände ist wohl
größtenteils die mit Recht so viel bewunderte Frische und Leuchtkraft ihrer
Farben zuzuschreiben. Die neue Technik war während des größten Teils des
fünfzehnten Jahrhunderts auf Flandern konzentriert, bis sie gegen Ende nach
Venedig kam (angeblich durch Antonello da Messina) und hier den Bellinis
das Übergewicht über ihre über die Temperatechnik nicht hinauskommenden
Konkurrenten gab.
Die großen Meister der altflämischen Schule haben die neue Technik für
große und kleine Effekte wunderbar auszunutzen verstanden. In dieser Beziehung
stehen sie alle vier auf gleicher Höhe. Memling übt sie noch aus, während
Bellini schon ebenfalls ihr ergeben war und ihn an monumentaler Größe und
an Kenntnis der Schönheit des menschlichen Körpers überflügelte. Dies ist
leider der Punkt, wo die altflämischen Meister doch eben alle Kinder des
Mittelalters bleiben. So sehr der Fortschritt Memlings im Dienste der
allverklärenden Göttin Schönheit auch hervortritt, steckt er doch noch im
Mittelalter.
Auch stofflich kommt er kaum über das Kirchenbild hinaus. In deu
wenigen Jahren, die ihm auf der Höhe seiner Kunst — alle vier großen Meister
der flämischen Schule sind nicht alt geworden — noch beschieden waren, schafft
er noch eine stattliche Reihe. Aber da er nun ein bekannter Mann geworden
war, dem von weither die Aufträge zuflössen, so machten später auch Bilder
vou andrer Hand Anspruch auf seinen berühmten Namen. Unter diesen ist
der große Passionsaltar in Lübeck wohl das bekannteste. Er wurde von einem
reichen Lübecker Handelsherrn bestellt und 1491 seiner Vaterstadt zum Geschenk
gemacht. „Es galt", so sagt Voll, „zwar früher für ein echtes Werk von
Memlings Hand, ist aber schon manchem Zweifel begegnet und kann heute kaum
noch für eigenhändig gehalten werden; jedoch steht er Memlings Art so nahe,
daß er als eine charakteristische Schularbeit bezeichnet werden kann, die noch
viel von dem Altersstil des Künstlers erkennen läßt."
Einer Seite der Memlingschen Kunst haben wir bisher noch keine
Aufmerksamkeit gewidmet. Und doch ist auch sie sehr bedeutend. Das ist das
Bildnis. Gehen auch unter seinem Namen manche Werke, die nicht einmal
sein Atelier gesehen hat, so steht doch fest, daß viele andre von ihm herrühren,
und daß er zu den besten Porträtisten seiner Zeit gehört hat. Die Porträt¬
malern ist nicht nur ein sicherer Hort gegen Geschmacksverirrungen, sie ist in
verschiedenen Schulen, namentlich der altflämischen und der holländischen, von
ausschlaggebender Bedeutung für die Naturbeobachtung und demnächst für die
ganze Kunstrichtung gewesen. Vom flämischen (wie später vom holländischen)
Maler verlangt man eine ganz getreue Beobachtung und Wiedergabe der Natur.
Mit allgemeinen Effekten war da nichts zu machen. Den belgischen Meistern,
die überhaupt in der Ausführung des Details so Großes leisteten, lag das sehr
nahe. Aus allen Memlingschen Bildnissen weht uns der Geist unübetroffener
Wahrheitsliebe entgegen.
Memling starb am 11. August 1494. Mit ihm versank die altflämische
Kunst. Sem großer Nachfolger, Quentin Bwssys in Antwerpen, war damals
schon etwa vierunddreißig Jahre alt. Viel von Geist und Können, von Stil
und Technik des fünfzehnten Jahrhunderts ging auf ihn über. Aber zur
Hauptsache gehört er doch dem neuen Zeitalter an, für das die italienischen
Einflüsse immer maßgebender wurden.
Bei dem Werke, das den Anlaß zu diesem Referat gegeben hat, bedauern
wir die Knappheit des Textes. Es ist der 14. Band der „Klassiker der Kunst"
und besteht zur Hauptsache aus Reproduktionen der Werke des behandelten
Meisters. Auf 1V7 Tafeln werden uns diese in Lichtdruck-Technik vorgeführt.
Es ist wohl das erstemal, daß auf solche Weise dem Kunstfreunde ein Über¬
blick über die Gesamtheit des Schaffens des Brügger Meisters gegeben wird.
der ein solcher Liebling der Muse war und um dessen Haupt sich eine so zarte
Aureole der Legende und Dichtung gebildet hat. Fast möchte man sich darüber
freuen, daß uus nicht mehr aus seinem Leben bekannt ist. Das Märchenhafte,
das über ihn ausgebreitet ist, trägt dazu bei, ihn noch mehr zu einer der köst¬
lichst
on allen Wochentagen liebte der kleine Toni den Samstag am
! wenigsten. Das war der Tag, an dessen verdämmerndem Ende der
Vater aus der Fabrik kam, wo er die ganze Woche über arbeitete,
und die so weit von der Stadt entfernt war, daß er nur über den
Sonntag heimkommen konnte. Nicht daß Toni seinen Vater nicht
gern gehabt hätte. Aber der Vater brachte einen so üblen Geruch
mit, war so schmutzig und verschwitzt, und wenn man seine Hände ansah, so mußte
man sogleich an die ungeheueren, schwirrenden Maschinen denken, vor denen Toni
eine solche Angst hatte, seitdem er einmal mit der Mutter in einer Spinnerei
gewesen war.
Das wäre jedoch nicht das Schlimmste gewesen. Denn wenn der Vater eine
Weile daheim war und sich gewaschen und ungezogen hatte, dann verschwand der
üble Geruch und seine Hände wurden ganz anders und erinnerten nicht mehr an
die Maschinen, die dem Toni in seinen: ahnungsvollen Träumen die grausamen
Schicksalsmächte waren, an die er sein Leben ausgeliefert fühlte.
Aber etwas anderes blieb. Und das war die üble Laune, in die der Vater
verfiel, kaun: daß er eine Weile daheim war. Daß die Mutter sich auf den
Samstagabend freute, der deu Vater bringen sollte, das wußte der Toni. Und
auch der Vater trat ganz fröhlich und wie mit einem Lied auf den Lippen ein.
Sobald die beiden Menschen aber beisammen waren, begann ein Reiben wie von
Holz gegen Holz, es kam zu Vorwürfen, dann zum Wortwechsel und schließlich
zu lautem Zank.
Toni behielt von dem Inhalt dieser Streitigkeiten nur so viel, daß die Mutter
von dein Vater verlangte, er solle sie heiraten, und daß der Vater sich weigerte,
es zu tun. Ein Wort blieb ihm im Gedächtnis, das der Vater einmal gesprochen
hatte und das Toni lange nicht ins Klare bringen konnte. Das lautete: „Nichts
zu nichts gibt wieder nichts". Obwohl Toni seiner Bedeutung nicht sicher war,
erschien ihm dieses Wort doch schon seinem bloßen Klang nach das trostloseste, das
er je gehört hatte. Aus diesen Zänkereien zwischen Vater und Mutter formte
Toni eine absonderliche Vorstellung vom Heiraten. Es war ihm wie ein Tor,
durch das man nur zu gehen brauchte, um gleich in einer anderen Welt zu sein,
die viel Heller und freundlicher war. Der Vater besaß den Schlüssel zu diesem
Tor, aber er weigerte sich, ihn herzugeben.
Es kam vor, daß der Vater, wenn ein solcher Zwist ausgebrochen war, davon¬
lief und erst am Sonntagmorgen heimkam. Dann legte er sich ins Bett und
schlief bis in den hohen Mittag hinein. Die Mutter ging still herum und weinte
vor sich hin. Da war dann für Toni über allen Dingen ein grauer Überzug, wie
er ihn einmal in: Salon der verwitweten Frau Majorin im ersten Stock aus allen
Möbeln gesehen hatte. Denn er liebte seine Mutter und stand im Herzen zu ihr,
indem er in seinem kindlichen Sinnen annahm, daß alle Mütter ein Recht daraus
hätten, durch jenes Tor einzugehen.
Und er mußte der Nachbarin recht geben, die im Winter oder an Regentagen
seine Zuflucht war. Die Mutter ging nämlich in die Häuser, um für die Leute
zu waschen, und Toni war viel allein. Im Sommer lief er auf der Gasse herum,
aber in der rauhen Jahreszeit oder bei bösem Wetter flüchtete er zu der Nachbarin,
die ihn in ihrer Küche sitzen ließ, wo es zwar finster, aber doch wenigstens warm war.
Nun, und diese Nachbarin pflegte zu sagen: „Dein Vater ist ein schlechter Mensch,
Toni, er tut gegen deine Mutter nicht seine Schuldigkeit." Das Wort Schuldig¬
keit kannte Toni aus dem Vaterunser, wo von Schuldigern die Rede ist, und er
wußte also, daß es etwas Ernstes und Strenges ist, dein sich niemand entziehen sollte.
Die Bedeutung des Heiratens wuchs für Toni aber erst mit seinem Eintritt
in die Schule aus dem Bereich des Bildes in die Unerbittlichkeit der Realitäten.
Toni stand mit einemmal vor der Entdeckung, daß alle anderen Kinder so hießen
wie ihr Vater, während er mit dem Namen seiner Mutter aufgerufen wurde.
Auf die vorwitzige Frage eines Jungen verzog der Lehrer sein Gesicht und erklärte
dann kurz, das komme daher, weil Tonis Vater seine Mutter nicht geheiratet
habe. Toni trug nun die Mitwissenschaft der anderen wie eine Last und mußte
ihr Gelächter und ihre Späße über sich ergehen lassen.
Eines Samstags kam ein Seiltänzer in die Stadt. Ein grüner Wohnwagen
wurde von zwei betrübten, kopfnickenden Gäulen über das holprige Pflaster des
Hauptplatzes gezogen und machte gerade vor dem alten Brunnenbassin mit dem
wildbewegten Neptun halt. Toni sah den Aufzug vom Fenster des Zimmers
seiner Eltern, das unter dem Dach eines dreistöckigen Hauses gelegen war. Er
lief sogleich hinunter, um das Unbekannte, dieses Stück Fremde, das da angekommen
war, in der Nähe zu sehen.
Aber als er sich zu dein Wagen durchgedrängt hatte, stand schon ein Polizei¬
mann da und wetterte mit den Leuten. Es wäre nicht erlaubt, hier mitten auf
dem Hauptplatz stehen zu bleiben und sie sollten sich mit ihrem Gerümpel vor die
Stadt hinausscheren. Da setzte sich der eine der beiden Männer wieder auf den
Kutschbock, gab deu Gäulen den Peitschensegen und der Wagen polterte auf dem
Pflaster weiter, der Wienergasse zu. Toni zog mit einer ganzen Schar von
Neugierigen hinterdrein.
An der Ecke der Wienergasse aber erwischte ihn der Vater. Er schien in
schlechter Laune, umschloß die'kleine Hand des Knaben mit seiner großen Faust
und zog ihn wortlos fort. Toni sah ängstlich auf diese unbarmherzige Hand
nieder, deren Rücken mit rauhen Borsten bestanden war, er fühlte die schweißigen
Jnnenflächen und dachte erbittert an die Zänkereien, die er nun wieder anzuhören
haben würde.
Es dauerte auch wirklich nicht lange und der Streit hatte begonnen. Einer
der Arbeiter aus der Fabrik war vor einem Jahr nach Amerika gegangen und
heute hatte man einen Brief von ihm vorgelesen, in dem der Ausgewanderte
schilderte, wie gut er eS getroffen hatte und daß er jetzt das Zehnfache dessen
verdiente, was er in der Heimat hatte erarbeiten können. Der Vater sah eine
weite Straße vor sich, von der er wußte, sie müsse einmal in eine große Halle
münden, und er konnte sie nicht gehen, denn er fühlte sich zurückgehalten. Er war
gefesselt und gelähmt. Die Mutter aber war heute bei der Beichte gewesen und
hatte schwere Bedenken und Gewissensängste aus dem Beichtstuhl mitgebracht.
Ihrem ganzen Leben war das Brandmal der Sünde und Schande aufgeprägt.
Der Priester hatte gedroht, ihr das nächstemal die Absolution zu verweigern, wenn
bis dahin ihre Sache nicht in Ordnung wäre. Und nun setzte sie dem Vater
gerade in einem Augenblick besonders zu, in dem dieser gegen die leichteste Mahnung
an seine Gebundenheit empfindlich gewesen wäre.
Toni sah den schlimmen Ausgang herauskommen wie eine schwarze Wolke.
Er fühlte fast körperlich, wie die Worte immer gröber und kantiger wurden. Diese
zusammengezogenen Augenbrauen, dieses Abwenden der Blicke, dieses Anschwellen
der Stirnadern kannte er an seinem Vater als böse Vorzeichen. Ein Zittern ging
durch seinen Körper. Er war nicht imstande, das zu ertragen, er mußte fort.
Leise, von den Streitenden unbemerkt, schlich er aus der Türe. Unten auf dem
Hauptplatz stand er still und sah zu dem grünen Himmel empor. Die Worte, die
er gehört hatte, klangen noch in ihm nach. Da war eines, das schwang besonders
stark und hell: Amerika! Tonis Augen hingen an dem grünen Abendhimmel.
Er hatte die Vorstellung von unendlichen Wäldern, von unermeßlichen Ebenen, an
deren Rand eine zackige Wand schwarzer Fabriken stand. Zinn erstenmal war er
nicht ganz und ohne Einwände auf feiten der Mutter. Es war etwas in ihm,
das ihm seinen Vater näher brachte, ein schüchternes Begreifen, ein Finden in
gemeinsamem Sehnen.
Der alte Lebwohl kam vorüber, der Zettelankleber, mit einem Pack Plakate
unter dem Arm und mit Kleistertvpf und Pinsel. An der nächsten Straßenecke
wählte er mit kundigem Blick einen günstigen Platz, dann pappte er sorgsam einen
roten Zettel auf die Mauer. Tom stand hinter ihm und buchstabierte. Der
Seiltänzer hatte also doch noch die Erlaubnis zum Auftreten erwirkt. Da
stand, daß Richard Richardson, genannt der fliegende Mensch, niorgen am Sonntag
um 11 Uhr vormittags auf dem gespannten Drahtseil über den Hauptplatz gehen
werde. Und darunter stand: „Blondin II. Der Gang durch die Luft. Aufforde¬
rung. Ich werde mir erlauben, jedermann, der sich meldet, auf dem Rücken über
das Seil zu tragen. Jedermann ist höflichst eingeladen. Gänzlich gefahrlos.
Belohnung fünf Gulden."
Toni hatte auf einmal das Verlangen, noch heute die Seiltänzer zu sehen,
den grünen Wagen, der durch die Welt fuhr, dieses Stück Fremde, das auf einmal
in die alte Stadt hereingekommen war. Er lief die Wienergasse hinab, über die
Brücke und jenseits wieder den Berg hinauf, zum Gasthaus „Zur Sonne", wo
der grüne Wagen der Seiltänzer auf der Wiese stand.
Die Truppe bestand aus zwei Männern, zwei Frauen und einer Menge von
Kindern in verschiedenen: Alter. Sie hatten unter einem großen Feldkessel Feuer
gemacht, die Flammen leckten übermütig die geschwärzten Kesselwände hinan; ab
und zu hob eine der beiden Frauen den Deckel ab, gab noch eine Handvoll Zutat
in das Gebrodel oder rührte mit einem großen Kochlöffel darin. Die Männer
besorgten die Pferde und die Kinder spielten zwischen den Rädern des Wagens
wie die jungen Hunde. Das geschah alles so unbefangen, als ob diese Menschen
irgendwo auf öder Heide allein wären und nicht inmitten eines Kreises von.Leuten,
deren Staunen und Neugierde an ihnen hing. Man konnte sehen, daß sie die
Äußerungen bürgerlicher Verwunderung, dieser Überlegenheit der Lcmdsässigen, in
der sich ein wenig quälender Neid verbirgt, gewöhnt waren. Sie blieben ruhig,
von den spöttischen Blicken und halblauten Bemerkungen unberührt, gleich stumpf
gegen Mitleid und Gehässigkeit.
Toni Melicher dachte, es müsse sehr schön sein, in einem grünen Wagen
durch die Welt zu fahren, vielleicht bis nach Amerika, jeden Abend in einer anderen
Stadt; sich dann zu lagern, Feuer unter dem Kessel zu machen und sich daran
zu gewöhnen, sich von den Leuten dabei angaffen zu lassen.
Zwei Jungen, die unweit von Toni standen, stießen sich an.
„Du, der Toni ist da," sagte der Größere, „komm hinüber, wir schmeißen
ihn in den Graben . . ."
„Der kann sich Montag freuen, wenn er in die Schul' kommt," erwiderte
der andere, „ich bin neugierig, was für eine Straf' er kriegt."
„Also komm," drängte der Größere, „was haben wir davon, vielleicht redet
er sich aus ... es ist besser, wir hauen ihn selber durch."
Aber als sich die beiden Jungen zwischen den Beinen der Erwachsenen zu
Tonis Platz hütgewunden hatten, war der fort. Er hatte seine Feinde
bemerkt und saß jetzt im Hollundergebüsch drüben auf dem Abhang. Er fürchtete
sich nicht vor ihnen und hätte es gewagt, es mit beiden aufzunehmen, aber es
war vorauszusehen, daß sich einer der Erwachsenen in die Balgerei einmengen und
Toni ins Unrecht setzen würde. Es war selbstverständlich, daß er immer unrecht
erhielt. Heute erst, nach der Schule, hatten ihn die beiden verhöhnt und dann
laeues angegriffen. Als er sich dann aber zur Wehre gesetzt hatte, war der Herr
Lehrer dazugekommen und hatte ihm für Montag eine Strafe versprochen.
Von seinem Platz im Hollundergebüsch sah Toni das ganze Lager der Seil¬
tänzer. Er fühlte das Feuer wie zwei winzige glühende Punkte im Hinter¬
grunde seiner Augen brennen. Der Anblick seiner Feinde hatte ihn an die Strafe
gemahnt, die ihm in der Schule bevorstand. Das ließ sich jetzt nicht mehr wegdenken.
Es brannte irgendwo in seinem Leib wie das Feuer in seinen empfindlich gewor¬
denen Augen.
Toni saß lange im Hollundergebüsch, so lange, bis sich alle Neugierigen
unter verlaufen hatten und bis sich die Seiltänzer anschickten, ihr Lager aufzusuchen.
Dann kam er hervor und ging geradenwegs auf einen der beiden Männer los.
„Was willst du denn, Kleiner?" fragte der verwundert, als Toni vor ihni
stehen blieb.
Toni hatte seine Worte längst vorbereitet und glaubte sie fertig auf der
Zunge zu haben; aber nun brachte er dennoch nichts heraus. Endlich sagte er:
„Können Sie mich nicht gebrauchen?"
„Komm einmal her, Wenzel," rief der angesprochene Mann den Kameraden
an, „da ist jemand, der sich zu unserer Truppe meldet. Ich glaube, eine erste
Nummer, was?"
Der zweite Seiltänzer war ein langer, magerer Mensch mit einem gelben
Gesicht. Er hatte sich im Küstenland die Malaria geholt und konnte sie nicht
recht los werden. Er kam herbei, stellte sich vor Toni auf und betrachtete ihn
genau. Dann brach er in ein Gelächter aus. „Was kannst du denn alles?"
fragte er.
„Ich kann nur Kopfstehen und auf den Händen gehen. Aber ich kann alles
lernen." Toni hatte eine unbestimmte Vorstellung davon, daß solche Seiltünzer-
banden kleine Jungen anwerben und zu Kunststücken abrichten. Er war bereit,
sich alle Glieder verrenken zu lassei: und eine Hungerkur durchzumachen, um sein
Ziel zu erreichen.
Die ganze Gruppe war aufmerksam geworden und herangekommen. Die
Kinder umstanden den fremden Jungen und lachten ihm ins Gesicht.
Der lange Seiltänzer hatte seltsame, mattglänzende Fieberaugen, die einen
starren Blick auf den Buben hefteten. Es war Toni, als sähe ihn der Tod an.
Und jetzt grinste der Mann wieder. „Nein, mein Lieber," sagte er, „was denkst
du denn so? Das kommt nur in den Räubergeschichten vor. Da wäre die
Polizei schön hinter uns her. Und dann... schau dir nur einmal die Bande
an. Neun Stück. Alle unsere eigenen. Wenn sich die ihre Knochen brechen, so
geht es niemand etwas an. Was sollen wir mit dir anfangen? Wir brauchen
dich nicht."
Toni Melicher ging ganz betrübt davon. Er hatte in dieser Stunde wirklich
alle Hoffnung auf diese eine Möglichkeit gesetzt. Ein plötzlich aufflammendes
Licht war wieder erloschen.
Es war sehr spät geworden. Die Straßen waren so traurig, die Laternen
brannten sehr trübe und die Haustore hatten drohende, finstere Mienen.
Als Toni nach Haus kam, fand er es so, wie er es erwartet hatte, der Vater
war fortgegangen und die Mutter saß im dunkeln Zimmer und weinte. Sie
fragte nicht, wo Toni gewesen war, sie weinte nur noch heftiger, als sie seine
Schritte hörte.
Nach einer Weile stand sie auf und machte Licht. Toni sah, daß ihre Bluse
auf der Schulter zerrissen und ihre linke Backe geschwollen war. Die bunte
Glasvase, die der Vater auf dem letzten Jahrmarkt gekauft hatte, lag zertrümmert
in der Nähe des Ofens.
„Jetzt ist der Vater wieder ins Wirtshaus gegangen," jammerte die Mutter,
die jemand haben mußte, um von ihrem Unglück zu sprechen, „jetzt wird er
das ganze Geld vertrinken. Morgen haben wir dann nichts... ich hab' heute
den Zins bezahlt... o Gott!"
Toni schwieg und versuchte nicht, die Mutter zu trösten. Er konnte ihr nicht
recht geben. Er dachte, daß sie dem Vater hätte Ruhe lassen sollen.
Er dachte weiter, die ganze Nacht hindurch, in seinem Bett, das in der
Schublade des alten Sofas gemacht war. Ein enges Bett, in dem man sich die
Ellenbogen zerstieß, wenn man sich umwenden wollte. Aber die Gedanken
kümmerten sich nichts darum, wogten wirr durcheinander und überwanden die Enge.
Amerika lag strahlend da und der Vater trat vor dieses Bild, leicht vorgebeugt,
als spähe er in die Weite. Dann hörte er wieder das leise Weinen der Mutter
und er mußte denken, daß der Vater doch hart und grausaum war, sie so leiden
zu lassen und ihren Wunsch nicht zu erfüllen.
Gegen Morgen hörte Toni den Schritt des Vaters auf der hölzernen Treppe
des alten Hauses. Es dauerte eine ganze Weile, bis er oben angelangt war.
Inzwischen hatte Toni seine Schublade verlassen und war in die Küche geschlüpft,
um sich zu waschen.
Der Vater polterte nebenan ins Zimmer. Ein Sessel krachte zu Boden.
Eine ängstliche und vorwurfsvolle Stimme ermahnte zur Ruhe und der Vater
donnerte laut dagegen. Dann war es eine Weile stiller . . . Dann begann die
vorwurfsvolle Stimme wieder. . .
„Ich hab' kein Geld", sagte die Mutter, „du denkst nicht an uns. Jetzt
sollen wir wieder von der Luft leben."
„Ich soll immer nur an euch denken, was? Und an mich niemals, was?"
Toni fühlte selbst eine Rauhigkeit in der Kehle, wenn er zuhörte, wie rauh die
Worte klangen. Jedes war wie mit einem Pelz bekleidet, dessen kurze Haare sich
im Hals festsetzten. Aber dennoch wandte sich Toni nicht von seinem Vater ab,
wie sonst, wenn dieser aus der stickigen Luft der Kneipen kam.
„Ja .. . zuerst vertreibst du mich aus dem Haus ... denn wird gestemmt...
Soll ich dir vielleicht zuhören . .. deinen dummen Geschichten vom Heiraten,
was? Ich Hab's satt. Überhaupt hab' ich alles satt. Wenn du nicht wärst und
der Bub, da könnt' ich nach Amerika gehen. Kein Mensch könnt' mich hindern."
Ein Stiefel krachte gegen das Bett. „Und ich geh' auch nach Amerika, paß auf. . .
ich geh' noch ... das möcht' ich doch sehen.. ."
Toni schlich sich aus der Türe, die Treppen hinab und versteckte sich hinter
der Wäscherolle im Vorhaus. Da saß er nun und sann. Etwas Neues war da,
etwas Schreckliches. Wenn er nicht wäre, so könnte der Vater nach Amerika gehen
und dort ein reicher Mann werden. Das Begreifen war über das Kind gekommen,
die Berührung mit einer Seele, die er bisher nicht gekannt hatte. Das war ein
tiefer Schmerz, das Hindernis zu sein und dem Vater im Wege zu stehen, aber
auch zugleich ein stolzes Gefühl, denn man war kein Nichts, man bedeutete etwas
und von seinem Entschließen hing etwas ab. Der Vater hatte Toni sehr weh
getan, aber dennoch liebte der Junge ihn in dieser Stunde mehr als je vorher.
Nachdem Toni so eine Weile hinter der Wäscherolle gesessen hatte, schlug der
Bäckerlehrling mit den Absätzen gegen das Haustor. Der Hausmeister kam ver¬
schlafen aus seiner Kellerwohnung und öffnete. Toni konnte fünf Minuten später
das Haus ungesehen verlassen.
Der helle Morgen lag über dem weiten Platz. Alles trug seine Zauberfarbcn:
Silber und Rosa. Toni ging durch die Straßen wie durch eine neue Welt. Alles
schien ihm verändert und er fand sich nicht zurecht. Es fiel ihm eine Menge von
Dingen auf, die er früher nicht bemerkt hatte. Die Anordnung der Pflastersteine
prägte sich ihm mit seltsamer Schärfe ein; daß das Schild des Wirtshauses „Zum
lustigen Tiroler" schief hing, erschien ihm so sonderbar, daß er eine Weile stehen
blieb und es anstarrte. Dann glitt sein Blick auf die Anschlagtafel an der Ecke
und haftete an dem roten Plakat des Seiltänzers Richard Richardson, der eigentlich
Wenzel hieß und so unheimliche Augen hatte.
Und da wußte Toni auf einmal, was er zu suchen ausgegangen war. Das
war es, was ihn die ganze Nacht beunruhigt und morgens auf die Straße getrieben
hatte. Da stand der Ruf, in Worte gefaßt, die Aufforderung, die zur Entscheidung
trieb. Toni liebte es, seine Entschlüsse durch den göttlichen Wink des Zufalls
bestimmen zu lassen, er versuchte aus ihm die Zukunft zu lesen. Jedes Ereignis
der Straße konnte als Weissagung gedeutet werdeu. Toni konnte sich vornehmen,
etwas zu tun oder zu lassen, je nachdem der nächste Mensch, der um eine Straßen¬
ecke bog, ein Mann war oder eine Frau.
Er wollte ein Gottesurteil haben. Ein GottesurteilI Wenn er auf dem
Rücken des Seiltänzers glücklich über das Seil kam, dann hatte er erwiesen, daß
er sich nicht fürchtete und Gefahren zu trotzen verstand, und also verdiente, nach
Amerika mitgenommen zu werden. Wenn er aber verunglückte, dann war alles
vorbei und er war wenigstens kein Hindernis mehr auf dem Wege seines
Vaters.
Toni wurde von einer tiefen Rührung über sich selbst ergriffen. Er weinte
vor Glück über seinen Heldenmut. Zuerst dachte er daran, den Eltern auf jeden
Fall einen Brief zurückzulassen, vielleicht auch dem Herrn Lehrer ein paar Worte
zu schreiben. Dann aber kam er davon ab, denn er hoffte nach einigem trauer¬
vollen Schwelgen in Todesahnungen wieder zuversichtlich auf einen guten
Ausgang.
So verging die Zeit und um acht Uhr war er draußen auf der Wiese hinter
dem Gasthof „Zur Sonne". Die Seiltänzer waren schon aus ihrem grünen Wagen
draußen und Richard Richardson verlud eben mit Hilfe des anderen Mannes das
zusammengerollte Drahtseil und das große Fangnetz auf einen Handwagen.
Zögernd näherte sich Toni.
Der Seiltänzer schaute auf und lachte, als er den Jungen sah. „Es gibt dir
keine Ruhe, was?" sagte er, „du möchtest doch gerne Seiltänzer werden."
Toni schaute dem Mann fest in die Augen: „Haben Sie schon jemand, der
sich von Ihnen tragen lassen wird?" fragte er.
„Nein ... eS scheint, daß keine großen Helden in eurer Stadt sind. Es hat
niemand Lust dazu."
Toni schwieg eine Weile, dann sagte er: „Ich möchte mich von Ihnen über
das Seil tragen lassen."
Überrascht sah der Mann dem Knaben ins Gesicht. „Du .. . was fällt dir
ein? Da kannst du gleich wieder nach Haus gehen. Daraus wird nichts."
"
Ängstlich trat Toni näher. „Ich bitte Sie, sagte er flehend, „ich bitte Sie,
nehmen Sie mich mit .. . ich bitte Sie." Eine ganze Menge von Gründen war
zu jenem ersten Impuls hinzugetreten und hatte seinen Entschluß bekräftigt.
Dieses Abenteuer mußte Toni eine niemals mehr zu erschütternde Überlegenheit
über seine Schulkameraden geben. Es würde niemand mehr wagen, ihn zu
verspotten. Er würde zu den anerkannten Führern der Klasse gehören und vielleicht
würde er sogar der Strafe entgehen, die ihm für morgen in Aussicht stand.
Unschlüssig sah der Seiltänzer den Jungen an. „Was wird denn dein Vater
dazu sagen? er wird über mich kommen .. . Nein, davon kann keine Rede sein!
Daß ich noch am Ende eingesperrt werde.. ."
„Nein — der Vater hat es erlaubt, er schickt mich her," log Toni. Es war
ja gleichgültig, mit welchen Mitteln er sein Ziel erreichte, wenn er es nur erreichte.
„So — was ist denn dein Vater?" fragte der Seiltänzer.
„Fabrikarbeiter."
„Und deine Mutter?"
„Sie wäscht für die Leute."
„Es sind die fünf Gulden, Wenzel," warf der andere Mann ein, „nimm ihn
mit?" „Du sollst die fünf Gulden nach Haus bringen, was?" wandte er sich an Toni.
"
„Ja!
„Und du hast gar keine Angst?" fragte Wenzel. „Du fürchtest dich gar nicht
vor dem Herunterfallen?"
„Nein."
„Na also — meinetwegen. Komm mit!"
Es war geschehen. Toni trat zurück mit klopfendem Herzen und sah zu, wie
die Männer den Handwagen noch weiter beluden. Schon war eine Wirkung
seines heldenmütigen Entschlusses sichtbar. Die Kinder der Gruppe, die ihn gestern
noch verhöhnt hatten, sahen ihn jetzt mit ganz anderen Augen an und behandelten
ihn fast wie einen der Ihren.
Als der Häuptling mit seiner Arbeit fertig war, wandte er sich an Toni:
„Wir fahren jetzt in die Stadt und spannen das Seil auf, du bleibst hier, bis alles
fertig ist. Ich weiß, es ist nicht gut, wenn man den Vorbereitungen zuschaut.
Man wird leicht unruhig und ängstlich. Um halb elf kommst du mit der Frau nach."
Dann spannten sich die beiden Männer vor den Wagen und fuhren davon.
Die Kinder, bis auf die zwei jüngsten, die noch nicht laufen konnten, zogen hinterdrein.
Toni blieb bei dem grünen Wagen zurück. Zuerst kümmerten sich die beiden
Frauen nicht um ihn; sie hatten alle Hände voll zu tun mit Geschirrwaschen
und den Vorbereitungen für das Mittagessen. Einige Neugierige hatten sich
wieder eingefunden und standen in Gruppen herum. Toni hielt sich ganz nahe
zu dem grünen Wagen, daß man sehen konnte, er habe ein Recht darauf, hier
zu sein. Als es von dem Turin der Stadtpfarrkirche zehn Uhr schlug, verschwand
die eine der Frauen auf eine Weile im Wagen und kam dann in buntfarbigen
Sonntagsstaat zurück. Sie trug ein grünes Mieder und einen kurzen roten Rock.
Toni sah sie bewundernd an. Sie war groß und stark und ihr Gesicht war ganz
von Pockennarben zerrissen."
„Dn fürchtest dich also gar nicht?" sagte sie, indem sie zu Toni trat. „Nein,
sagte er und schaute zu ihr empor. Sie gefiel ihm sehr gut in ihrer bunten
Tracht, die in ihm die Vorstellung sehr ferner Länder erweckte.
Die Frau rief der anderen etwas zu in dieser unverständlichen, aber wohl¬
lautenden Sprache, in der sie sich den ganzen Morgen miteinander unterhalten
hatten. Dann bückte sie sich und küßte Toni auf die Stirn. Eine tiefe Dankbarkeit
für diese zärtliche Berührung erfüllte ihn.
Als sie auf dem Hauptplatz ankamen, war es schon fast elf Uhr. Alles war
schwarz von Menschen. Hoch über ihren Köpfen zog sich das Seil über die ganze
Breite des Platzes vom dritten Stockwerk der Mohrenapotheke zu dem des
gegenüberliegenden Hauses — und dieses gegenüberliegende Haus war das, unter
dessen Dach Tonis Eltern wohnten.
Toni stand ganz erstarrt.
Sein erster Gedanke war, sich zu retten, davonzulaufen, sich zu verstecken.
Wie schrecklich, daß man gerade dieses Haus ausgewählt hatte. Aber dann kam
ihm ein verzweifelter Mut. Wenn er jetzt zurücktrat, so war erwiesen, daß er
untauglich und feige war, und er mußte dann allen Spott seiner Feinde über sich
ergehen lassen. Und Amerika war für immer verloren.
Er schüttelte alle Bedenken ab und trat in den Hausflur der Mohrenapotheke^
wo er schon von Richard Nichardson erwartet wurde. Der Seiltänzer trug das grelle
Kostüm seines Standes. Da war ein anpassender Stoff über Brust und Beine
gezogen, so eng und dünn, daß man das Fleisch durchschimmern sehen konnte.
Darüber dann eine kurze, grüne Hose und eine blaue Weste. Diese bunten
Farben nahmen sich in dem vornehmen Hausflur der Mohrenapotheke sehr
seltsam aus, sie stachen von dem braunen Holz der Wandverkleidung ab, sie
wurden von den herabhängenden Glasprismen eines Deckenlüsters in tausend
Stückchen zerpflückt.
Toni sah sich in diesem stillen, abgeschlossenen Flur des Patrizierhauses voll
Ehrfurcht und Andacht um. Zwei Dinge waren es, die ihn immer so zauberhaft
angezogen hatten und dieses Haus in den Mittelpunkt eines heroischen Gedanken¬
kreises von Eroberung und Erfolg stellten. Dieser merkwürdige Geruch von
Drogen und Spezereien, der einem entgegenschlug, wenn man nnr an der geöffneten
Türe vorüberging. Und dann ein blondes Mädchen, das immer so fein und
sauber angezogen war, wie die großen Puppen, wenn sie geradenwegs aus der
Schachtel kommen.
Der Geruch war da, er legte sich so beklemmend auf die Brust und es war.
als dränge er durch alle Poren der Haut in den Körper. Und auch das blonde Mädchen
war da. Es stand im ersten Stock des Hauses, vor einer mit weißen Gardinen
verhangenen Glastüre und sah mit großen Augen zu, wie der Seiltänzer und
Toni, gefolgt von einigen Jungen der Truppe, an ihr vorüberkamen., Tonis
Herz klopfte. Er spürte einen ganz absonderlichen Takt in dem Klopfen: „Über das
Seil — über das Seil!" Und es war ihm in diesem Augenblick, als täte er
alles das für das blonde Mädchen. Und als müsse der Ausgang seines Wag¬
nisses auch für etwas entscheidend sein, was irgendwie mit diesem Kind
zusammenhing.
Sie stiegen bis auf den Dachboden und da sah Toni, daß das Seil bei
einer Luke hereingezogen und an einen: Balken befestigt war. Richard Richardson
rieb die Sohlen seiner Schuhe mit einem Pulver ein, dann prüfte er noch einmal
den Knoten des Seiles. Toni stand dabei und sah ihn: zu, als ginge ihn das
alles nichts an.
„Fertig," sagte der Seiltänzer, „wenn wir hinauskommen, dann machst du
die Augen zu. Und du darfst sie nicht früher wieder aufmachen, als bis wir drüben
sind. Verstanden! Wenn du die Augen früher aufmachst und zu zappeln anfängst,
so ist es aus mit uns."
Toni versprach, er würde die Augen geschlossen halten. Dann kletterte der
Seiltänzer aus der Dachluke und Toni folgte ihm sogleich. Er sah über den
Dachrand hinweg einen Teil des von Menschen erfüllten Platzes. Richard
Richardson kniete nieder und nahm Toni auf die Schultern. Die Jungen reichten
ihm aus der Dachluke die lange Balancierstange.
„Augen zu!" kommandierte er und erhob sich langsam.
Toni schloß gehorsam die Augen, obwohl er gerne noch einen Blick hinunter
getan hätte. Die Wanderung begann. Toni fühlte, wie das Dach unter ihm
zurückwich und wie ein vorsichtiges Schreiten immer weiter in die Luft hinaus¬
führte. Der Körper des Mannes unter ihm bebte und zitterte in der Anspannung
aller Kraft.
Zuerst war ein Brausen und Tosen in der Tiefe, wie von unruhigen Wassern,
dann verlor es sich in ein leises Summen und zuletzt wurde es ganz still. Toni
wußte, jetzt waren die Blicke aller dieser Menschen zu ihnen emporgerichtet, diese
Tausende von Augen hafteten auf ihm und es war, als verspürte er die gesammelte
Wirkung wie ein leises Ziehen haarfeiner Fäden und als schritten sie in ein immer
dichteres Gewebe hinein, in dem sie sich schließlich verwickeln mußten.
Dieses Schweigen in der Tiefe machte ihn ängstlich. Es schien ihm wie eine
boshafte Drohung, wie die Verkündigung eines unvermeidlichen Sturzes. Und
auf einmal kam es über ihn, als müsse er jetzt die Augen aufmachen, als sei seine
Rettung darin gelegen, den Blick der Masse wenigstens einmal zu erwidern.
Aber er bezwang sich und drückte die Augen nur noch fester zu. Das Seil
war in Schwingungen geraten. Das spürte er ganz deutlich und er spürte auch,
wie der Mann, der ihn trug, diesen Schwingungen durch die Bewegung der
Balancierstange zu begegnen suchte.
Plötzlich hielt Richardson ein und ließ sich auf ein Knie nieder. Er kniete
mitten in die Luft, in die Schwingungen und in das Schweigen der Menge hinein.
Als er sich wieder erhob, mußte er das Gleichgewicht durch einige rasche
Bewegungen der Balancierstange wieder herstellen. Toni krcnnpfte seine Hände
fest um den Hals des Mannes und spürte ein heftiges Auf- und Abgleiten des
Kehlkopfes unter seinen Fingern.
"
„Auslassen, keuchte es unter ihm.
Und da war es wieder, dieses Ziehen der seinen Fäden, dieser drohende
Befehl, die Augen zu öffnen und hinunterzuschauen, die Tiefe zu ermessen.
Toni konnte nicht länger Widerstand leisten... es mußte sein... es war
unmöglich, sich diesem Zwang zu entziehen, der seinen ganzen Körper zu vernichten
drohte, wenn er nicht nachgab. ..
Er riß die Augen auf — da sah er die schwarze Menschenmenge in der Tiefe,
die tausend emporgewandten Gesichter, weiße Flecke auf dem dunkeln Grund.
Gerade unter ihnen verfolgten die Männer mit dem ausgespannten Fangnetz ihren
Gang. Und gegenüber, an dem Fenster der Dachwohnung, standen der Vater und
die Mutter, mit weißen, verzerrten Gesichtern, und die Hände der Mutter waren
mit gekrümmten Fingern in den Arm des Vaters geschlagen.. .
Das alles war von einem einzigen Blick umschlossen, ganz deutlich, mit allen
Einzelheiten, die wie feurige Linien brannten.
Und da verspürte er die erbarmungslose Macht der Erde, ihren harten Griff,
mit dem sie die Geschöpfe, die sich gegen die Schwere empören, zu sich herab¬
zwingen will.
In wahnsinniger, heißer Angst faßte er die Kehle des Mannes noch fester.
„Auslassen .. . Augen zu!" gurgelte der Seiltänzer.
Loslassen... gleiten... fallen. .. und aus! flüsterte der Tod. Aber noch
war das Leben da und wollte den Sieg. Und es drückte die Augen des Knaben
zu und lockerte seine Finger.
Der Seiltänzer setzte seinen Weg fort und erreichte das Dach.
Der Lärm des Beifalls tobte aus der Tiefe empor. Richard Richardson ließ
Toni von den Schultern herab, trat mit ihm an den Dachrand und verbeugte sich
vor der Menge, deren Blicke nun wieder machtlos geworden waren.
Dann kroch er mit ihm durch die Dachluke.
Da standen der Vater und die Mutter, keines Wortes mächtig, und die Nachbarin
stürzte auf ihn los und betastete ihn, ob er auch wirklich ganz und lebend sei. Sie
zog ihn zu der Mutter hin, die ihn weinend umarmte und küßte.
Der Seiltänzer, der die Szene verwundert betrachtet hatte, verstand endlich
und beeilte sich, wieder bei der Dachluke hinauszukommen und den Rückweg an¬
zutreten. Er begann auf einmal zu fürchten, daß er zur Rechenschaft gezogen
werden könnte und daß die Versicherungen seiner Unschuld keinen Glauben finden
würden.
Aber es dachte niemand an ihn. Über den Schatten des Entsetzens schwebte
das Wunder der Rettung, wie der lichte Schein, der auf dem Altargemälde der
Jgnatiuskirche die Verklärung Christi umgab. Es war, als füllten sich die erstarrten
Adern allmählich mit neuem Blut.
Dann saßen sie alle im Zimmer drüben, die Mutter beim Ofen, und sie
hatte Toni ganz eng an sich herangezogen und spielte mit seinen Fingern. Der
Vater hatte einen Stuhl zum Fenster geschoben. Aber'er sah nicht hinaus, obwohl
man eben Richard Richardsons Hauptkunststück hätte bewundern können: wie er
sich auf dem Seil niederlegte, ganz auf den Rücken, und dann wieder aufstand.
Melicher hatte die Arme auf das Fensterbrett gestützt und das Gesicht in die
Hände gepreßt.
In der Mitte des Zimmers am Tisch saß die Nachbarin. Und die sprach
für drei. Daß das eine Warnung Gottes gewesen wäre und daß es sehr schlimm
hätte ausfallen können und man müsse Gott danken. Daß sie aber doch eine
Freude habe, weil sie den Nachbar Melicher bis heute für einen schlechten und
gefühllosen Menschen gehalten hätte und heute von ihrer Meinung abgekommen
sei. Es habe sich deutlich gezeigt, daß er seinen Buben doch gern habe.
Als es vom Turm der Pfarrkirche zwölf Uhr schlug und das Mittagsläuten
begann, da sprang sie erschreckt auf, denn sie hatte ganz vergessen, daß ihr Herd
noch ganz kalt war.
„Gott sei Dank," sagte der Vater, als sie draußen war.
„Aber sie hat recht," erwiderte die Mutter, „es war eine Warnung. Man
soll Gott nicht versuchen. Wie leicht hätte uns das Kind genommen werden können."
Der Vater schwieg wieder lange Zeit.
Dann hob er das Gesicht aus den Händen. „Warum hast du das getan
Toni?" fragte er, „was ist dir eingefallen? Hast du nicht gedacht, daß ein Unglück
hätte geschehen können?"
„Ich weiß, was ihn dazu gebracht hat," sagte die Mutter, „er ist traurig,
der arme Bub, daß es zwischen uns so ist — wie es nicht sein soll... glaubst
du, ein Kind spürt das nicht, wenn sie ihn in der Schul' auslachen.. .?" Und
sie strich ihm über den Kopf, ihrem Bundesgenossen, mit so viel Zärtlichkeit, wie
ihm noch nie von ihr geworden.
In Toni schrie etwas: Nein. Er wollte sagen, was ihm im Sinne gelegen
hatte. Aber es fanden sich keine Worte dafür. Und da verwirrten sich seine
Gedanken so, daß er selbst nicht aus und ein wußte.
Es klopfte und einer der Jungen des Seiltänzers trat ein.
Er stand zuerst verlegen an der Tür, dann ging er schnell zum Tisch und
legte einen geschlossenen Briefumschlag hin. Und war schon wieder draußen, ehe
noch jemand eine Frage an ihn gerichtet hatte.
Die Mutter öffnete das Kuvert und zog eine Fünfgulden-Banknote hervor.
Sie reichte das Geld dem Vater und der hielt es in zitternden Fingern und
betrachtete es wie etwas, was er noch nie gesehen hatte. „Mutter," sagte er,
„das Geld darf nicht ausgegeben werden . . . niemals."
Dann erhob er sich. Auf seinem Gesicht las Toni einen neuen Willen.
„Nein," fuhr der Vater fort, „man soll Gott nicht versuchen. Wir gehen morgen
zuni Pfarrer, Mutter. Nächsten Sonntag soll das erste Aufgebot sein. Ich
weiß jetzt, was meine Pflicht ist."
Da begann die Mutter laut zu weinen.
Vor Toni aber sank das Wunderland Amerika mit seinen unendlichen Weiten
in einen dichten Nebel. Eine graue Mauer erhob sich an seiner Stelle. Seine
Zukunft hatte keine Fernen mehr.
Dieser Tag war für Toni von trüber Trostlosigkeit. Das Glück seiner Mutter
war ihm ohne Bedeutung. Das beschworene Schicksal hatte sich gegen ihn
gewendet.
Gegen Abend aber brach eine neue Hoffnung in das Grau. Es war die
Zeit, zu der man das blonde Mädel ans der Mohrenapotheke im Stadtpark sehen
konnte. Da ging sie mit ihrer Erzieherin spazieren, ohne sich je in den Schwarm
spielender Kinder zu mischen. Ein unwiderstehliches Verlangen nach ihr trieb
Toni von Haus fort. Wenn er hier nicht verstanden worden war, sie würde ihn
verstehen und bewundern. Vielleicht würde ihr Anblick alles das Mißfarbene
erhellen, alles Unklare lösen.
Toni kam atemlos in den Park. Er scheute sich davor, mit anderen Jungen
zusammenzutreffen, er fürchtete ihre Fragen und schlich in einem.Bogen um den
Spielplatz auf den Weg, den das blonde Mädchen zu gehen pflegte.
Und nach einer Weile sah er sie wirklich kommen, an der Seite der langen,
vornübergebeugten Erzieherin, in ihrem Spitzenkleidchen, mit dem Glockenhut.
Wie eine große schöne Puppe, die man eben aus ihrer Schachtel genommen hat.
Mit klopfendem Herzen, seine ganze Seele und seine Hoffnung in den Augen,
stand er an ihrem Wege.
Als sie näherkam, sah er, daß sie ihn bemerkt hatte und ihrer Erzieherin etwas
über ihn sagte.
O Gott! Er wäre jetzt doch lieber davongelaufen. Aber seine Seele ließ
ihn nicht fort und bat durch seine Augen.
„Nein," sagte die Erzieherin mit einer harten und kalten Stimme, „es ist
das Merkmal einer niedrigen Herkunft, sich für Geld in eine so unsinnige Gefahr
zu begeben. So etwas ist häßlich und gemein."
Und das blonde Mädel aus der Mohrenapotheke wandte den Blick von ihm
ab und ging an der Seite der langen Dame an ihm vorüber, ohne ihn anzusehen.
Vorbei! Vorbei!
Das war ein wüster Schmerz von den Schultern bis zu den Hüften.
Nun konnte Toni ja wieder heimgehen.
Er ging und ging und ein Summen und surren in seinein Kopf wurde
immer stärker. Und er begriff, daß dies nichts anderes war als das Schwirren
der Maschinen in einem ungeheuren Saal, das Geräusch der Räder und Riemen,
und daß sein Leben unaufhaltsam diesem brodelnden Kessel zutrieb.
Im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit steht gegenwärtig das russisch¬
japanische Abkommen. Vor acht Tagen war zwar die Tatsache bekannt, und auch
über den Inhalt waren Veröffentlichungen außeramtlicher Natur erfolgt, aber
man wußte noch nicht, wie die beteiligten Mächte die Sache amtlich behandeln
würden. Inzwischen haben die Botschafter Rußlands und Japans in Berlin den
Wortlaut des Abkommens förmlich mitgeteilt nud dabei Erklärungen abgegeben,
die die Lage näher zu beleuchten bestimmt waren. Der bloße Wortlaut des Ab¬
kommens war geeignet, einige für uns wenig angenehme Deutungen nahe zu
legen. Unter solchen Umständen mußte es natürlich von Wert sein, zu erfahren,
daß Rußland und Japan das jetzt abgeschlossene Abkommen nicht als einen
selbständigen diplomatischen Akt, der eine völlig neue Lage schaffe, angesehen wissen
wollen, sondern, wie die beiden Botschafter erklärt haben, als eine Ergänzung des
Abkommens von 1907. Dadurch gewinnt die Nichterwähnung des Prinzips der
„offenen Tür" in dem neuen Abkommen eine andre Bedeutung, als sie sonst haben
würde. In der Tat haben Rußland und Japan über diesen Punkt befriedigende
Aufklärungen gegeben, und Staatssekretär v. Schoen hat nicht unterlassen, seiner-
seits bei dieser Gelegenheit die bestimmte Erwartung auszusprechen, daß das
Prinzip der „offenen Tür" gewahrt bleiben werde. Damit ist geschehen, was
zunächst möglich war, um die Rechte und Interessen Deutschlands dieser neuesten
Wendung gegenüber festzustellen. Das Weitere muß sich aus der Handhabung
des Abkommens durch die beiden Vertragschließenden und die Haltung der andern
Mächte ergeben.
Die Lage ist nicht so einfach, daß aus einigen oberflächlichen Beobachtungen
eine sichere Richtschnur des Handelns gewonnen werden könnte. Die Macht, die
durch das Abkommen am unangenehmsten betroffen worden ist, ist ohne Zweifel
China. Aber wer vermöchte heute zu sagen, ob, wie und wann China gegen die
Art, wie in diesem Falle mit seinen wohlbegründeten Rechten umgesprungen
worden ist, etwas unternehmen wird und was sich vielleicht einmal in Zukunft
daraus ergeben könnte? Ferner scheint die Abmachung zwischen Rußland und
Japan auf den ersten Blick eine Spitze gegen Amerika zu enthalten. Aber wiederum
würde es ganz unberechtigt sein, daraus zu schließen, daß sich nun eine Konstellation
Rußland-Japan gegen Amerika anbahnen werde. Das Abkommen kann eben¬
sowohl der Ausgangspunkt einer näheren Verständigung zwischen Amerika und
Japan werden, und vorläufig haben wir noch keine Anhaltspunkte, wie sich die
Vereinigten Staaten zu dieser Frage stellen werden. Gründe genug für uns,
möglichste Zurückhaltung zu üben.
Diese Zurückhaltung ist bisher am wenigsten von Frankreich geübt worden.
Dort scheint man sich mit eigenartigen Hoffnungen hinsichtlich der Wirkungen des
Abkommens zu tragen. Die Freude darüber, daß Rußland angeblich nun wieder
„freie Hand" in Europa habe, scheint die öffentliche Meinung zu beherrschen, —
so sehr, daß wir über die Offenheit, mit der unsre westlichen Nachbarn dem
russisch-japanischen Abkommen eine deutschfeindliche Spitze geben, erstaunt sein
könnten, wenn wir nicht in dieser Beziehung gar zu wenig verwöhnt wären. Aus
diesen Anschauungen scheint auch der Gedanke von einem neuen „Vierbund" ent¬
sprossen zu sein, d. h. einem näheren Zusammenschluß von England, Frankreich,
Rußland und Japan, und dieser Gedanke scheint auch außerhalb Frankreichs
gläubige Seelen gefunden zu haben. Wenn man sich diesen neuen, gewaltigen
Vierbund gegen Deutschland und Österreich-Ungarn losgelassen denkt, dann wird
das alte Einkreisungsgespenst wieder lebendig, und es ist nicht zu verwundern,
daß man die Drahtzieher dieser neuen Verschwörung gegen unsre europäische
Machtstellung wieder an der Themse sucht, zumal da es ja niemals in der eng¬
lischen Presse und ihrer überseeischen Berichterstattung an Beweisen für Gehässigkeit
gegen Deutschland fehlt.
Wir sind leichtsinnig genug, in dem angedeuteten Vierbund kein Mittel zu
sehen, um uns das Gruseln zu lehren. Denn wir möchten allerdings die paradoxe
Meinung aufstellen, daß bei den heutigen Verhältnissen der Weltpolitik ein auf
vernünftigen Prinzipien aufgebauter Zweibund im allgemeinen etwas Besseres und
Sichreres ist als ein Dreibuud, und ein Dreibund besser als ein Vierbund. Und
wenn uns gar jemand mit einer Koalition von fünfen drohen wollte, so würden
wir uns erlauben, — zu lachen. Wir leben nicht mehr im Zeitalter der Kabinetts¬
politik, wo Fürsten und ehrgeizige Minister nach persönlichem Belieben Pläne
schmieden konnten und sich dabei des Grundsatzes der alten Bauernmedizin bedienen
konnten: Viel hilft viel! Heute liegt die Sache anders. Je mehr Mächte sich
zusammentun, um ihre Politik einem einzigen gemeinsamen Gedanken zu unter¬
werfen, desto sichrer werden sie genötigt sein, eigne wirkliche Interessen zu opfern,
und diese geopferten Interessen werden in der Regel die wichtigeren sein gegenüber
dem, was sie zufällig zusammenführt. Man begegnet immer noch der alten
irrtümlichen Auffassung von der Einkreisungspolitik König Eduards des Siebenten,
jener Auffassung, die wir hier stets als unrichtig bekämpft haben. Diese Ein¬
kreisungspolitik war für die englische Staatsleitung niemals Selbstzweck, sondern
der Vorspann, mit dessen Hilfe man eine Reihe von ganz bestimmt zu formu¬
lierenden, rein britischen Interessen unter Dach und Fach zu bringen suchte.
Darüber hinaus ist sie auch tatsächlich niemals wirksam gewesen, und wenn die
englische Politik wirklich ganz ernsthaft die Bekämpfung Deutscklcmds durch eine
Vereinigung aller außerdeutschen Interessen in Europa zum Grundgedanken ihrer
Tätigkeit hätte machen wollen, so wäre sie damit noch viel ärger gescheitert, als
sie in der Tat scheiterte, sobald sie den Versuch machte, die Festigkeit ihrer „Erdeulen"
an der Orientpolitik zu erproben.
Prüfen wir also unbefangen, was es mit dem erwähnten Vierbund auf sich
hat. England hat mit Japan unter ganz bestimmten Leitgedanken, die mit der
britischen Weltstellung zusammenhängen, ein Bündnis geschlossen. Es ist ebenso
mit Frankreich — wiederum auf bestimmten Grundlagen ganz andrer Art — in
ein enges Freundschaftsverhältnis mit bestimmten Verträgen getreten. Es hat sich
endlich mit Rußland über asiatische Fragen verständigt, aber erst nachdem Rußland
durch Japan nicht ohne englische Mitwirkung so weit gelähmt und zurückgedrängt
wordeu war, daß das alte Verhältnis zwischen den beiden asiatischen Rivalen
Rußland und England nicht mehr bestand. Wenn nun Rußland und Japan zu
einer Verständigung gelangt sind, so erscheint der Ring dieser vier Mächte voll¬
ständig geschlossen, und gewiß wird jede einzelne dieser Mächte die Freundschaften
ihrer Freunde benutzen, um bei guter Gelegenheit Vorteile herauszuschlagen. Aber
besteht zwischen diesen Mächten wirklich ein gemeinsames Interesse, das alle vier
an diesen Ring bindet? Es wäre interessant, wenn jemand so etwas heraus¬
zufinden vermöchte. England hat sein jetziges, ihm allerdings höchst bequemes
Verhältnis zu Rußland erst gewonnen, als diese Macht durch den Gegensatz zu
Japan genügend zurückgedrängt worden war. Es ist vollkommen klar, was England
durch sein freundschaftliches Verhältnis zu Rußland gewonnen hat, und ebenso was für
Nutzen es von dem Bündnis mit Japan hat. Aber woliegtderGewinnEnglands, wenn
Rußland, von der Sorge um Ostasien befreit, in Europa und im nahen Orient in die
Stellung und deu Einfluß zurückkehrt, die England früher so lauge Zeit hindurch
zu einem zähen Gegner Rußlands gemacht haben? Und was hat England davon,
wenn der ostasiatische Verbündete, Japan, den man seinerzeit doch nur um des
Gegensatzes zu Rußland willen zum Freunde gewählt hat, als aufstrebende Gro߬
macht im Stillen Ozean gar kein Gegengewicht mehr zu fürchten hat? Deshalb
glauben wir nicht daran, daß England die Triebfeder der russisch-japanischen
Verhandlungen gewesen ist, wie es von einer Seite behauptet wird. Sicherlich
hat England das Ergebnis der Verhandlungen vorausgesehen und erkannt, daß
es sie nicht hindern konnte. Es hat dann sein freundschaftliches Verhältnis zu
beiden Teilen benutzt, um dem Unvermeidlichen die beste Seite abzugewinnen und
seinen Vorteil nach Möglichkeit zu wahren, aber reine Freude hat es schwerlich
dabei empfunden. Und auch Frankreichs Hoffnung, daß Rußland nun wieder in
Europa und im Orient aktiv werden möge, sieht bei näherer Prüfung nicht ganz
echt aus. Deun wenn Rußland diese Hoffnungen erfüllte, würde seine Politik
wahrscheinlich durchaus nicht im Einklang mit den Wünschen des französischen
Kapitals stehen. Gerade im Orient decken sich die Interessen der beiden Nationen
durchaus nicht, und von der Interessengemeinschaft des erträumten Vierbundes
bleibt, bei Licht besehen, ganz verzweifelt wenig übrig.
Das Auftreten von Asquith im englischen Unterhause und seine Erörterung
der englisch-deutschen Beziehungen läßt erkennen, daß man in England den Bogen
nicht überspannen will. Zum ersten Male ist im Londoner Parlament die deutsche
Flottenpolitik wirklich unbefangen und richtig gewürdigt worden. Richtig, was
ihre leitenden Gesichtspunkte und ihre gesetzlichen Unterlagen betrifft, wenn auch
in den Berechnungen wieder noch manche Fehler mitunterliefen. Damit ist
hoffentlich einem ruhigeren Urteil der Weg gebahnt, so daß Mißverständnisse und
Eifersüchteleien allmählich beseitigt werden können, die bei uns von der Mehrzahl
der besonnenen Politiker aufrichtig beklagt werden.
Es ist überhaupt sehr zu bedauern, daß es für die verschiedenen Nationen so
außerordentlich schwierig ist, Wert und Richtung der Äußerungen ihrer öffentlichen
Meinung gegenseitig richtig abzuschätzen. Das Ausland schöpft seine Meinung
über uns zum großen Teil aus Blättern und Veröffentlichungen, deren Bedeutung
bei uns mehr als zweifelhaft ist, und wir mögen wohl oft genug andern Nationen
gegenüber in denselben Fehler verfallen. Vor noch nicht langer Zeit brachte die
„Jndependance Belge" in Brüssel ein Urteil über angebliche Ansichten und
Stimmungen des deutschen Volks in Sachen des Verhältnisses zu Frankreich und
Belgien, — Ansichten, die in Belgien sehr unangenehmes Aufsehen erregt haben,
aber in Anbetracht der Wirklichkeit so schief und falsch wie nur möglich waren.
Das belgische Blatt berief sich dabei aus zwei publizistische Persönlichkeiten, die
allerdings viel genannt werden und von denen daher im Ausland wohl der Glaube
entstehen konnte, daß ihre Ansichten in Deutschland von Gewicht wären. Mit
solchen falschen Einschätzungen wird häufig die öffentliche Meinung verwirrt und
manche Verständigung erschwert.
Im übrigen wird eS jetzt etwas stiller in der Politik, und deshalb möchten
wir diesmal auf manche Ereignisse, die vielleicht einmal in einem größeren Rahmen
noch zur Besprechung kommen können, nicht näher eingehen. Es scheint, als ob
die elsaß-lothringische Frage nun bald dem Mittelpunkt der Betrachtungen näher
rücken werde. Die „Grenzboten" haben manche Angriffe erfahren, weil sie den
von guten Kennern der Verhältnisse ^ gehegten Gedanken, daß das Beste für die
Entwickelung der Reichslande ihr Übergang in preußischen Besitz wäre, der
Öffentlichkeit vermittelt haben. Wir wissen selbstverständlich Wohl zu unterscheiden
zwischen Vorschlägen, die nur aus der rein sachlichen Beobachtung der Verhältnisse
entspringen, und solchen Gedanken, die das Ergebnis einer umfassenden politischen
Reflexion sind und die Frage des zurzeit Erreichbaren berücksichtigen. Wir
meinen aber, daß auch Erörterungen dieser letzten Art sehr wohl einmal die
Stellung der Frage vertragen, was denn nun eigentlich — aus der Nähe gesehen —
die praktischste und vernünftigste Lösung wäre, wenn der Weg nach allen Seiten
frei wäre. Weil Bismarck seiner Zeit aus berechtigten Erwägungen heraus die
Übernahme der wiedererrungenen jetzigen Reichslande durch Preußen abgelehnt
hat, braucht man im Lauf einer Entwicklung, die vielfach in andrer Richtung
geführt hat, als selbst Bismarcks scharfer Blick vorausahnen konnte, diese Lösung
nicht ohne weiteres auszuschalten und von jeder Diskussion auszuschließen, wenn
mit zwingender Gewalt die Forderung an uns herantritt, einen neuen Weg zu
suchen. Erweisen sich bei näherer Prüfung die Gegengründe auch jetzt noch
ebenso stark wie im Jahre 1871, so kann man ja den Vorschlag verwerfen. Aber
es würde ein Fehler sein, an einem doch mindestens im Bereich der Ausführbarkeit
liegenden Gedanken ganz vorüberzugehen. Daß der Vorschlag nicht den Beifall
der hannoverschen Welsen und andrer grundsätzlichen Gegner finden würde, wußten
wir voraus. Man darf aber auch nicht ganz vergessen, daß die Gedanken, die
dazu geführt haben, Elsaß-Lothringen die Stellung als Reichsland anzuweisen,
im Lauf der Entwicklung nicht die Frucht getragen haben, die man im Jahre 1871
erwarten durfte. Gedanken, die heute im Zusammenhang mit großen Eindrücken
der Zeit die richtigste und glücklichste Lösung einer Frage bedeuten können, sind
nach einem Menschenalter vielleicht etwas ganz andres geworden. Wir glauben
freilich nicht, daß sich die Regierung jetzt mit radikalen Ideen trägt. Man wird
voraussichtlich dem Reichsland eine freiere Stellung gegenüber dem Bundesrat
geben, in verschiednen Beziehungen sein Selbstbestimmungsrecht erweitern und
die Verwaltung reformieren, auch vielleicht das Wahlrecht ändern. Aber die
elsaß-lothringische Frage wird damit nicht gelöst sein, und deshalb wird jede
weitere Arbeit an der völligen Klärung und Lösung auch ferner noch sehr
wünschenswert bleiben.
Anzeigen-Annahme für diesen Teil beim Verlag der Grenzboten G. in. b. H,,
Berlin 8V. II, Bernburger Straße 22s/23.
Fernsprecher: Amt VI, Ur. 0610. Telegramm-Adresse- Grenzvoten, Berlin.
Stellennachweis.
(Ans der Tages- und Fachpresse.)
Anfragen zu richten unter Beifügung von
Rückporto an die Geschäftsstelle der „Grenz¬
boten", Berlin SV/, l l.
^. Kür Akademiker.
20. Direktor für Oberrealschule, Mühlheim a. d. Ruhr.
31. Pfarrer nach Pustamin, Kreis Schlawe i. Pommern
(3000 M.).
43. Sekretär (englisch) Reisebegleitung (MM M.).
48. Theologe zum Vorlesen, Berlin.
49. JntcrnatSlcitcr, evang,, Pädagogium Spandau,
1. Oktober.
L0. Erste Pfarrstelle, evang.-res., Gemeinde Lebe,
1. Oktober (WM M.).
SI. HilfsSrztc,zwei,HeilaustaltKlingenmünster,1.Sept.
(1800 M.).
iZ3> Oberlehrer, evang., Realgymnasium Sterkrade,
1. April 1011 (Latein. Französisch, Englisch, Turme»),
(0000 M.).
6V. Oberlehrer, Oberrealschnle Ncusz, Ostern 1911.
(Neuere Sprachen.)
02. Pfarrstelle, Gri-sel, 1. Oktober.
04. Büraermcist-r, Dinslaken, 1. Jan. 1911 (<Z000 M.),
L. Für pensionierte Offiziere.
19. Mineralwasser-Vertrieb (Köln).
45. General-Allart, Lebensversicherung.
SS. General-Allart, Versicherung. Rheinland und
Westfalen.L. Für Damen.
16. Lehrerin, Französisch und Musik (2400 M.).
32. Gcincindcschwcstcr, Theisz-n (8K0 M.).
33. Hauslehrerin, evang., Französisch, Musik (1000 M).
Rheinland.40. Lehrerin, staatl. g-pr., deutsche Familie, Venezuela.
41. Lehrerin, gepr,, Deutsch, Musik. England.
40. Erzieherin, evang,, staatl. gepr., Musik. München.
K2. Oberlehrer!». sellde. hob. Mädchenschule, Watten-
scheid. 1. Oktober.
60. Erzieherin, evang,, gepr., Musik, Sprachen. 1. Sept.
aufs Laud.
01. Erzieherin, Latein und Musik. (1100 M.) Ost¬
preußen.Stellen-Gesuche.
Bis zu 3 Zeilen 2 M„ jede weitere Zeile 1 M.
or. pdil. („mit Auszeichnung") sucht dauernde Ver¬
wendung im Schul- oder Bibliothclsdicnst -der
in der Presse. Anfragen unter B. B. 819 an ti-
„Greuzvoten", Berlin SV. II.
Ein gewandter, gut empfohlener Feuilleton-Redakteur
für den 2. Platz sucht Anstellung. Anfragen unter
H. K. 708 an die „Grenzboten". Berlin SV. 11.
Wer Anstellung im
IKommunaldienst
sucht
annonciert in den
KWMIllllstMNM"
(Halbmonatsschrift).
Verlag und Expedition
Kerim KW. 11,
Bernburger Straße 22s/23.
Schidlof, Auguste: Knospen. Gedichte eines Kindes.
„Concordm" Deutsche Verlags-Anstalt, Berlin.
M. 1.20."
El-Corral: Selig aus Gnade. Roman. „Concordia
Deutsche Verlags-Anstalt, Berlin. M. 4.—.
Tzczcsuh.Victor: Stellenvermittlergcsetz. Franz
Vahlcn, Berlin.
KlageS, or. Ludwig: Die Probleme der Grapho¬
logie. Johann Ambr. Barth, Verlag, Leipzig.
M. 7.—.
Polko, Paul: Hohenzollern — und Judeublut.
Novelle. Selbstverlag des V-rsassers, Bitterfeld.
M. 2.—.
David, Dr. Max: Körperliche Verbildungen
im Kindesalter und ihre Verhütung.
B. G. Teubner, Leipzig. M. 1.26.
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I^vrnspk-heller'! >Xme I, 1035, 2619. »
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!urch den Gedanken einer allgemeinen Nieform der inneren Ver¬
waltung unseres Staates, die vor Jahr und Tag eingeleitet zu
werden begann, sind auch für das höhere Unterrichtswesen Hoff¬
nungen erweckt wordeu. Was hier gewünscht wird, ist: größere
Selbständigkeit aller, die an der Schule arbeiten, sachgemäße
Beschränkung des überwiegenden Einflusses, deu hier wie auf anderen Gebieten
der Verwaltung das juristische Element ausübt, verstärkte Wirksamkeit und
erweiterter Spielraum sür Berufserfahrung und fachmännisches Urteil. Gleich¬
zeitig hat nun der Herr Kultusminister den Entwurf einer neuen „Dienst¬
anweisung für die Direktoren und Lehrer an den preußischen höheren Lehr¬
anstalten für die männliche Jugend" herstelle:: lassen und zunächst zu vertraulicher
Begutachtung ausgegeben. Ein Teil davon ist im Abgeordnetenhause, am
26. und 27. April 1910, eingehend besprochen worden, auch vom Regierungs¬
tische aus, und darf danach als allgemein bekannt gelten. Nur auf diesen Teil
können sich die nachfolgenden Erörterungen beziehen.
Im Mittelpunkte des Interesses standen diejenigen Sätze, die den Patronaten
städtischer höherer Schulen einen Anteil auch an Aufsichtsführung und Leitung
zu geben bestimmt erscheinen. Wie der Abgeordnete Heß mitteilte, hatte eine
Versammlung von Vertretern der Verwaltungen von vierzehn westdeutschen
Städten, die am 2. Oktober 1909 in Essen stattfand, sich mit dieser Frage
beschäftigt und Forderungen erhoben, denen die Vorschläge der Unterrichts¬
verwaltung weit entgegenkommen. An sich ist es ja ganz natürlich, wenn die
Städte wünschen, daß dem, was sie für Ausstattung und Unterhaltung der
Schulen leisten, auch ein Anteil an deren inneren: Leben entspreche. Nur sollten
sie sich hüten, diesen Anteil auf einem Wege zu suchen, der dem allgemeinen
Zuge des Fortschrittes — von verwaltungsmäßiger Bevormundung zu beruflicher
Selbständigkeit — geradezu entgegenläuft. Eben dies aber geschieht, wenn bei
der Verteilung der Unterrichtsaufgaben, bei der Aufsicht über den Unterrichts¬
betrieb die Mitwirkung städtischer Organe gefordert wird, deren Platz in der
Verwaltung entweder auf juristischer Vorbildung oder überhaupt nur auf der
Praxis beruht.
Allerdings gibt es große Städte, in denen die Angelegenheiten der höheren
Schulen von einem erfahrenen Schulmann bearbeitet werden. Unter den vierzehn,
die in Essen vertreten waren, trifft dies wohl für keine zu; und gerade sie
erheben am lautesten den Ruf nach vermehrten Rechten. Daß da, wo ein
Stadtschulrat den regelmäßigen Verkehr mit der Königlichen Aufsichtsbehörde
besorgt, jeder Anlaß zu Reibung oder Spannung ausgeschlossen sei, braucht
man nicht zu glauben; aus der Zeit, da mein Vater in Berlin diese Stellung
einnahm, ist auch mir manches Erlebnis solcher Art in Erinnerung. Aber die
Stadt wußte sich durchzusetzen. Und als ich einmal, in jugendlichem Eifer,
meine Verwunderung aussprach, daß sie nicht mehr beanspruche, daß sie nicht
versuche, die eigenen Schulen von der unmittelbaren Staatsaufsicht frei zu
machen und für sich zu organisieren, erwiderte er, das bestehende Verhältnis
sei ja nicht ganz bequem, doch für das Gedeihen der städtischen höheren
Schulen unerläßlich; denn viele gerade der besten Kräfte würden sich von ihnen
abwenden, wenn diese Anstalten nicht als innerlich völlig gleichartige Glieder
in die Gesamtheit des staatlichen Unterrichtswesens eingeordnet blieben. Heute
ist Frankfurt a. M. wohl diejenige preußische Stadt, die ihre höheren Lehr¬
anstalten am reichsten und eigenartigsten entwickelt hat. Und von Julius Ziehen,
der schon früher in hervorragender Weise an dieser Entwickelung mitgearbeitet
hat und jetzt als Stadtrat im ganzen ihr vorsteht, besitzen wir, in besonderer
Schrift, die verständnisvollste Würdigung der Aufgaben des staatlichen Schul¬
aufsichtsamtes (1907).
Wer Ziehens Gedanken mit der Gesinnung zusammenhält, die den Essener
Forderungen zugrunde liegt, muß staunen, wie innerhalb derselben Monarchie,
auf dem Boden ähnlich tüchtiger kommunaler Betätigung, doch jener weiter¬
blickende Gemeinsinn, der über den: eignen Gedeihen die Pflichten gegen den
Staat nicht vergißt, sehr ungleich verteilt sein kann. Dabei spielen historisch
erwachsene Verschiedenheiten mit, die ein Gesetzgeber nicht ignorieren darf.
Je eifriger durchdacht eine Neuordnung ist, je mehr sie in: voraus allen
etwaigen Möglichkeiten gerecht zu werden sucht, desto größer ist die Gefahr,
daß sie in bestehende nicht nur erträgliche und friedliche, sondern durchaus
befriedigende Verhältnisse störend eingreife. Ostpreußen und Rheinland,
Schlesien und Schleswig-Holstein find in Landessitte und Volksart wirklich
recht verschieden; wenn ein amtliches Zusammenleben wie das an der Schule,
das auf die mannigfaltigste Art mit öffentlichen Einrichtungen und häuslichen
Gewohnheiten verwoben ist, nach überall gleichen Bestimmungen in gegebener
Frist neu geregelt werden soll, so ist es kaum zu vermeiden, daß nicht vielfach
etwas Gutes und Bewährtes beseitigt, Fremdes, als schädlich Empfundenes
aufgedrängt werde. Gerade eine liberale Gesetzgebung führt leicht zur Fesselung
statt zur Freiheit; davon haben wir Erfahrungen genug, auch im Schulwesen.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich gegenüber dem ganzen Plan einer alle
Provinzen umfassenden Dienstanweisung für Lehrer und Direktoren ein Bedenken,
das auch an den leitenden Stellen nicht unbeachtet geblieben war. Möchte nur
der Einsicht die Tat entsprechen! Nicht so, daß man den Gedanken wieder
aufgäbe — das wäre wahrlich keine Tat. Doch so, daß mit ernstem Willen
das Grundsätzliche herausgearbeitet und daß, um örtliche und provinzielle
Eigenart nicht einzuengen, alles ferngehalten wird, was dein Gebiete der
praktischen Ausführung angehört.
Indessen im Abgeordnetenhause ist schon eine Reihe genauerer Bestimmungen
besprochen worden. Wer über den Streit der Anschauungen, die dabei zutage
traten, ein Urteil gewinnen will, darf sich einer ins einzelne gehenden Prüfung
nicht entziehen.
Daß an Revisionen, die der Provinzialschulrat abhält, ein Vertreter des
Patronates teilnimmt, ist durchaus zweckmäßig und wohl schon jetzt nicht
ungewöhnlich. Dies ist der beste Weg, um äußeren wie inneren Betrieb der
Schule kennen zu lernen, wobei immer gleich hinterher Gelegenheit zu auf¬
klärender Aussprache gegeben ist. Auch werden Mängel der äußeren Ausstattung,
z. B. in der Turnhalle, in den naturwissenschaftlichen Lehr- und Arbeitsräumen,
der städtischen Behörde, die dafür zu sorgen hat, viel wirksamer zum Bewußt¬
sein kommen, wenn eins ihrer Mitglieder sie unter sachkundiger Führung selbst
mit beobachtet hat, als wenn eine Verfügung auf Grund des Revisionsberichtes,
den der Schulrat erstattet, nachher die Übelstände hervorhebt. Etwas anders
steht es mit dem selbständigen Hospitieren. Als Direktor des städtischen Gym¬
nasiums und Realgymnasiums in Düsseldorf habe ich in einer Zeit, wo über
die Schule viel und nicht immer Freundliches im Publikum gesprochen wurde,
ganz aus eignem Antriebe den Oberbürgermeister eingeladen, uns doch einmal
zu besuchen; und zwar unangemeldet, damit der Gedanke ausgeschlossen bliebe,
daß ihm etwas vorgeführt werden solle. Der Besuch hat in der vorgeschlagenen
Weise stattgefunden und zur Stärkung des guten Einvernehmens beigetragen.
Vermutlich haben anderwärts städtische Direktoren ähnliches erlebt. Wieviel
Mißtrauen und Gegnerschaft beruht nur darauf, daß man einander nicht kennt!
Trotzdem hatten Abgeordnete recht, welche erklärten, es sei „undenkbar,
den Kuratorien generell zu erlauben, dem Unterrichte beizuwohnen". Vielleicht
ließe sich die ganze Einrichtung — wenn es denn eine solche werden soll —
in eine Form bringen, die Mißbrauch fernhält, ohne den Gebrauch zu hindern:
die Besuche müßten jedesmal „im Einverständnis mit dem Direktor" erfolgen;
wo dieser Bedenken hätte, wäre die Entscheidung der Königlichen Aufsichts¬
behörde einzuholen. Nur in denjenigen großen Städten, die einen besonderen
Dezernenten für die höheren Schulen haben, müßte jede solche Beschränkung
wegfallen. Ein Stadtschulrat, der eine größere oder große Zahl von Schulen
mit Lehrern zu versorgen hat, muß reichlich hospitieren können, um die Ver¬
teilung der Kräfte so vorzunehmen und immer so zu erhalten, wie es dem
Bedürfnis entspricht.
Eine Frage, in der nicht so sehr praktische Gründe wie Rücksichten der
Dignität Beachtung zu fordern scheinen, ist die: wer soll einen neuen Direktor
in sein Amt einführen? Hierüber gibt es einen Ministerial-Erlaß vom Jahre 1868,
der in der neuesten Auflage einer aus amtlichen Quellen herausgegebenen
Sammlung von Gesetzen und Verordnungen für höhere Schulen eben jetzt
öffentlich gedruckt erscheint (Beier, 1909, S. 638 f.), der also der Auffassung
entspricht, die nach wie vor an maßgebender Stelle besteht. Die darin enthaltene
Forderung deckt sich doch wohl mit dem allgemeinen Empfinden: die feierliche
Überreichung einer Urkunde, der durch Unterschrift des Landesherrn ihre Gültigkeit
gegeben ist, soll durch einen Vertreter der Staatsregierung erfolgen. Nur
persönlicher Ehrgeiz einzelner Stadtoberhäupter könnte widerstreben, wie der
kürzlich in Essen vorgekommene und viel besprochene Fall vermuten läßt. Unter
den preußischen Städten ist Frankfurt a, M, nicht nur überhaupt eine der
stolzesten, sondern auch, was schon erwähnt wurde, diejenige, die ihrem höheren
Schulwesen die eigentümlichste Gestalt gegeben hat. Man braucht nicht mit
allem, was für diese Gestaltung dort geschehen ist, einverstanden zu sein, und
wird doch sagen müssen: als Ganzes ist sie ein ehrenvolles Zeugnis bürgerlicher
Selbständigkeit; wer diese so zu betätigen vermag, darf um so eher auch dem
Staate geben, was des Staates ist. So geschieht es in Frankfurt; die Ein¬
führung der Direktoren erfolgt durch den Abgesandten des Provinzial-Schul-
kollegiums. Nicht anders z. B. in Düsseldorf, wo vor zwölf Jahren der damalige
Koblenzer Schulrat, später vortragender Rat im Kulusnnnisterium, Dr. Matthias
mir die Bestallung überreichte. Noch bewahre ich die Rede auf, in welcher er
die Bedeutung des Amtes, das ich übernehmen sollte, darlegte, die besonderen
Vorzüge, aber auch Schwierigkeiten der Stellung eines städtischen Direktors
freimütig würdigend, die Aufgaben jeder einzelnen höheren Schule für das
gemeinsame große Vaterland freudig hervorhebend. Solches Vorbildes tournee
ich mich erinnern, so oft es mir nun selber oblag, einen Direktor in sein Amt
einzuführen. Wenn ein Patronat es vorzieht, bei diesem Anlaß mit den
Einwohnern der eignen Stadt unter sich zu sein — benefiLM non olztruäuntui-.
Den grundsätzlichen Anspruch aber wird eine ihrer eignen Pflichten sichere
Negierung niemals preisgeben können, durch die Einführung des Direktors
feierlich zu bekunden, wie der Staat es ist, der für die Männer, die an einer
öffentlichen Anstalt zur Erziehung deutscher Jugend tätig sind, Pflichten und
Rechte bestimmt.
Er ist es denn auch, der Urlaub erteilt, der über die Erlaubnis zur
Übernahme von Nebenämtern entscheidet. Daß in beiden Fällen das Patronat
vorher, und nicht bloß der Form wegen, gehört wird, ist ebenso selbstverständlich,
wie es die Zurückweisung des Antrags sein sollte, der auf der Essener Ver¬
sammlung angeregt wurde, der Herr Minister möge allgemein vorschreiben, daß
in bezug auf die Zulassung entgeltlicher Nebenbeschäftigung die Schulaufsichts¬
behörde „nur aus ganz zwingenden Gründen von dem Votum des Kuratoriums
abweichen dürfe". Käme es dazu wirklich, so wäre die Gefahr einer schweren
Beeinträchtigung für alle Lehrer an Schulen nicht staatlichen Patronates geschaffen.
Zum Glück gibt es auch hier einet? älteren Ministerial-Erlaß (5. August 1887,
Beier S. 1074 f.), den die gegenwärtige Unterrichtsverwaltung ausdrücklich wider¬
rufen müßte, wenn sie jenem Verlangen nachgeben wollte. Indem dieser Erlaß
für etwaige Bedenken des Patronates eingehende Prüfung zusagt, wahrt er
doch dem Staate das Recht der Entscheidung und sichert damit zugleich die
Lehrer gegen immerhin mögliche Eingriffe einer engherzigen Kommunalverwaltung.
Seit die Gehälter für gleichartig vorgebildete Lehrer überall gleich sind und in
gleichmäßiger Stufenfolge sich steigern, ist Nebenbeschäftigung der einzige Weg,
auf dem der Tüchtige durch Arbeit seine äußere Lage verbessern kann. Will
man ihm wehren, überschüssige Kraft für sich und die Seinen nutzbar zu machen?
Wenn die soeben erfolgte Gehaltserhöhung den Sinn haben sollte, daß der
einzelne nun mit Haut und Haaren dem Amte verschriebet: wäre, so wäre sie
ein rechtes Danaergeschenk. Die Forderung, daß der Lehrer ganz dem Berufe
gehören und für Privatbeschäftigung keine Zeit behalten dürfe, ist kleinlich und
dabei unausführbar. Will man das Amt so belasten, daß für den Arbeits¬
kräftigen gar kein Spielräume bleibt, dann wird es für alle Schwächeren
unerträglich. Würde denn einem Oberbürgermeister verwehrt werden, in den
Verwaltungsrat einer Fabrik oder Zeche einzutreten? Würde man nicht dem
Unternehmen einen erfahrenen Beirat, dem verdienten Manne den schönen
Nebenverdienst gönnen?
Privatunterricht allerdings und das Halten von Pensionären haben immer
einen nicht ganz angenehmen Beigeschmack. Aber auch hier wäre eine grund¬
sätzliche Ablehnung so hart wie unzweckmäßig. Es gibt Fälle genug, in denen
für eine erzieherische Aufgabe Eltern die persönliche Hilfe des erfahrenen
Lehrers gar nicht entbehren können; und es gibt Männer in unserm Stande,
die aus rechtschaffenen Gründen genötigt sind, ihre Tätigkeit für den Erwerb
aufs äußerste zu steigern, denen das dann im eignet! Kreise keiner verdenke.
In dieser Beziehung haben doch die Amtsgenossen das sicherste Urteil. So
wäre es gewiß das beste, die Angelegenheit als eine innere des höheren
Lehrerstandes zu betrachten und ihre Regelung in der Hauptsache dem dort
herrschenden Takte zu überlassen.
Der Angriff richtet sich aber auch mehr gegen die Übernahme eigentlicher
Nebenämter, an Privatanstalten, höheren Mädchenschulen, Fortbildungsschulen.
Auch im Abgeordnetenhaus? wurde von einer Seite die Forderung vertreten,
daß die Erlaubnis zum Unterrichten an einer Privatschule nicht erteilt werden
dürfe, wenn dadurch die Schulgeldeinnahme einer städtischen Schule vermindert
werden könnte. Diese Begründung ist geeignet, umgekehrt zu wirken, als sie
gemeint war. Sie läßt erkennen, wie bedenklich es wäre, wenn in Fragen
dieser Art der Stadt ein „Vetorecht" zustünde; unter dem Gesichtspunkte der
Konkurrenz sollen sie doch nicht entschieden werden. Viele unterrichtliche Ver¬
anstaltungen siud auf nebenamtliche Helfer naturgemäß angewiesen; diese aus¬
schließen heißt das Interesse der Allgemeinheit schädigen. Und noch in andern:
Sinne wird dieses berührt. Wir freuen uns doch, wenn Angehörige des
Lehrerstandes im Heere weiter dienen, wenn sie als Schöffen, als Geschworene
einberufen werden. Die Vertretung mag manchmal recht unbequem sein;
aber das Opfer belohnt sich durch den erweiterten Gesichtskreis, den Zuwachs
an Weltkenntnis, den jede solche Tätigkeit in öffentlichem Dienste dem einzelnen
bringt, und der mittelbar auch wieder seiner Wirksamkeit im Hauptamte zugute
kommt. So erwächst auch aus wissenschaftlicher Nebenbeschäftigung, aus
akademischen Vorlesungen, aus der Mitarbeit in der Verwaltung von Bibliotheken
und Museen eine Menge wertvoller Anregungen, die der Schule und ihrem
Kreise entzogen werden würden, wenn der Grundsatz zu gelten hätte, daß das
Amt die Beamten mit all ihrer Kraft und all ihrer Zeit in Beschlag nehmen
solle. Im Vordergrunde schulpolitischer Sorgen steht heute die weibliche
Erziehung. Der Entschluß, sie der männlichen anzugleichen, ist gefaßt; wie
das aber im einzelnen zu gestalten, wie das Neue mit dein Alten, wissenschaft¬
liche Bildung mit der Vorbereitung auf das Leben der Frau zu vereinigen
sei, bleibt die Frage, ja ein Vielfältiges von Fragen. Je mehr Männer
Gelegenheit haben auf beiden Gebieten, im Unterrichte der Mädchen wie der
Knaben, Erfahrungen zu sammeln, desto eher ist zu hoffen, daß die Fragen
gelöst und zu gesunder Entwickelung geführt werden.
Daß Beziehungen wie die hier angedeuteten von städtischen Behörden
weniger gewürdigt werden als von königlichen, ist an sich nicht notwendig;
gerade die Essener Bestrebungen zeigen aber, daß, zurzeit wenigstens, nicht
überall das volle Verständnis dafür besteht. Wenn dabei die Forderung
größerer Befugnisse für die städtischen Patronate im Namen einer liberalen
Politik aufgestellt wurde, so war das nur durch Anwendung des Fremdwortes
möglich; denn Freiheit ist es wahrlich nicht, was hier begehrt wird, man
müßte denn meinen, Freiheit sei das Recht, andern die Freiheit zu beschränken.
Indem die staatlichen Aufsichtsbehörden überall in erster Linie das Wohl der
Gesamtheit im Auge haben, werden sie es nicht bedauern, damit zugleich das
Interesse der einzelnen zu wahren. Denn die ernste Pflicht, nach der man sie
nennt, können sie nur dann mit innerer Vollmacht und also mit gutem Erfolg
ausüben, wenn sie sich bewußt bleiben, daß sie den Lehrern nicht bloß zur
Überwachung, sondern vor allem auch zum Schutze gesetzt sind.
Auch den Direktoren. Deren Wirksamkeit würde aufs schwerste gefährdet
werden, wenn es dahin käme, daß den: Kuratorium das Recht zustünde, in
den Schriftwechsel des Direktors mit dem Provinzial-Schulkollegium jederzeit
Einblick zu verlangen. Gerade in der Zwischenstellung des Direktors inmitten
der verschiedensten Ansprüche — von Lehrern, Schülern, Eltern, Patronat und
Aufsichtsbehörde — liegt die Schwierigkeit, aber auch die Stärke seines Amtes.
Weiß er taktvoll und besonnen hindurchzufinden, so kann er großen Einfluß
gewinnen, den zum Besten der Schule auszuüben niemand mehr als er berufen
ist. Wie soll das aber angehen, wenn ihm von der einen Seite fortwährend
ins Blatt gesehen und dazwischengeredet wird? Unleidlich müßte es werden,
der Konflikt der Pflichten, die ihn nach zwei Seiten hinziehen, ein dauernder
Mißstand, der zu Kampf und Streit der unerfreulichsten Art die Nötigung
enthielte.
Oder wäre eben dieser Kampf das, worauf es eigentlich abgesehen ist?
jene Bestimmung nur die Handhabe, um ihn einzuleiten? So müßte man
glauben, wenn ein Leitartikel der „Kölnischen Zeitung" vom 19. März d. Is.
Anschauungen zum Ausdruck gebracht hätte, die weiter verbreitet wären. Der
ungenannte Verfasser behandelt unter der Überschrift „Oberlehrer und Stadt¬
verwaltung" die Wünsche der Kuratorien und versichert, diese richteten sich in
keiner Weise gegen die Oberlehrer, sondern „ausschließlich gegen die Art und
Weise, wie heute das den Provinzial-Schulkollegien zustehende Aufsichtsrecht
gehandhabt" werde. Davon erzählt er wunderbare Dinge, um die Forderung
zu begründen: es müsse, was für die Volksschulen die Schuldeputation ist, auch
für die höheren Schulen einer Stadt geschaffen werden, ein mit Aufsichts¬
befugnissen ausgestattetes Gemeindeorgan, das, wie jene zwischen Volksschule
und Bezirksregierung, so zwischen höherer Schule und Provinzial-Schul¬
kollegium eine mittlere Instanz bildete; zu solchen Organen wären denn die
Kuratorien umzugestalten.
/^ucliatur et altera pars. Sieben Jahre lang war ich in Düsseldorf
Mitglied auch der Schuldeputation, daneben mehrfach sonst in städtischen
Kommissionen tätig. So hatte ich von kommunaler Selbstverwaltung nicht
nur eine hohe Meinung, sondern auch eine lebhafte Anschauung, als ich vor
fünf Jahren berufen wurde, im Provinzial-Schulkollegium von Westfalen das
Dezernat auch über eine größere Anzahl städtischer Anstalten zu übernehmen.
Mit besondrer Freude sah ich diesem Teil meiner Aufgabe entgegen. Ich
halte es noch heute für selbswerständlich, daß, wer ein solches Amt antritt, sich
von vornherein nicht auf das Lesen von Berichten und Entwerfen von Ver¬
fügungen beschränken, sondern persönlichen Gedankenaustausch mit den Leitern
und Vorstehern der städtischen Schulverwaltung suchen soll; und ich hielt es
damals für selbstverständlich, daß solche Absicht, wenn sie in den unter gebildeten
Männern üblichen Formen sich äußert, erwidert werde. Alls welche Weise
ich — hier und da, keineswegs doch überall — eines andren belehrt worden bin,
braucht nicht ausgeführt zu werden. Nur bitte ich, der Versicherung zu glauben:
wenn das Verhältnis zwischen Kuratorium und Provinzial-Schulkollegium nicht
durchweg so ist, wie man wünschen möchte, wenn ein vertrauensvolles und
gedeihliches Zusammenwirken ausbleibt, so liegt die Schuld mindestens nicht
immer bei dem Vertreter der Königlichen Aufsichtsbehörde.
Die größere Machtvollkommenheit der Provinzial-Schulkollegien in früherer
Zeit gab ihren Mitgliedern reichere Gelegenheit zur Betätigung individueller
Gedanken und Kräfte. Männer wie Scheibert, Landsermann, Höpfner, Klix,
Schrader stehen als bedeutende Persönlichkeiten heute noch in lebendiger
Erinnerung. Durch straffe Zentralisierung ist es mehr und mehr dahin gekommen:
während das eigentliche Leben in den Schulen sich abspielt, alle wichtigeren
Fragen von der Zentralinstanz aus entweder geregelt sind oder im einzelnen
Fall entschieden werden, bleibt den Zwischenbehörden die Aufgabe, uach oben
das Material für die Entscheidungen in geordneter Form vorzulegen, nach
unten darüber zu wachen, daß die übermittelten Vorschriften und Entscheidungen
genau durchgeführt werden. Die Entwickelung lag im Zuge der Zeit und
wurde durch äußere Verhältnisse begünstigt. Zu erwägen, ob man ihr nicht
doch entgegenwirken könnte, mag andern überlassen bleiben. Eilt sehr Berufener
hat soeben dazu das Wort genommen, Wilhelm Münch, früher Provinzial-
Schulrat in Koblenz, jetzt Professor an der Universität in Berlin. Wichtiger
noch als seine praktischen Vorschläge, so praktisch sie in der Tat sind, ist die
Warnung, die wir aus allem, was er sagt, entnehmen können: eine weitere
Verminderung des Einflusses der Provinzial-Schulkollegien wäre das ungeeignetste
Mittel, um den selbstbewußten Häuptern städtischen Wohlstandes eine Ver¬
ständigung mit solcher Behörde wünschenswert erscheinen zu lassen.
Da eröffnet sich nun die Aussicht, in einem wichtigen Punkte den Einfluß
wieder zu vermehren, gerade im Zusammenhang mit den Vorschlägen, deren
Prüfung uns hier beschäftigt.
Das bedeutendste Recht der kommunalen Schulverwaltung ist im Abgeordneten¬
hause nur eben erwähnt worden: das der Lehrerwahl. Dieses Recht
ist ein Vorrecht. Da es den Städten unbenommen ist, in den Gehaltsätzen wie
in der Anrechnung von Dienstjahren über das von: Staate Gewährte hinaus¬
zugehen, und da die größeren bisher reichlich von dieser Möglichkeit Gebrauch
gemacht haben, so waren sie in der Lage, unter den jungen Lehrern immer die
Tüchtigsten sich auszusuchen; die, welche nicht begehrt wurden, verblieben dem
Provinzial-Schulkollegium zur Unterbringung an Königlichen Lehranstalten.
Dieser Unterschied, schwer empfunden in allen Provinzen, die eine beträchtliche
Zahl städtischer Schulen haben, ist von ungeheurer Tragweite. Er enthält die
Gefahr eines Raubbaues, der zugunsten einiger wenigen Vorzugsanstalten in
großen und schönen Städten getrieben wird und weiten Gebieten draußen die
führenden Kräfte entzieht. Wenn jetzt auf jener Seite, wie dies namentlich bei
der Nachzahlung für 1908 hervortrat, sich Schwierigkeiten ergeben, den Leistungen
des Staates gleichmäßig zu folgen, wenn dann den Patronaten durch eine
Dienstanweisung die neuen Rechte gewährt werden, die sie begehren, so kann
es nicht ausbleiben, daß die Anstellung an städtischen Schulen künftig viel
weniger erstrebt werden wird als bis jetzt. Etwas wie Stadtflucht wird eintreten,
und damit würde den Provinzial-Schulkollegien freiere Verfügung über die vor¬
handenen Lehrkräfte gegeben und die Versorgung der Staatsanstalten wesentlich
erleichtert sein. Sollte gar die Erwartung, daß es so kommen werde, an¬
gesprochen haben bei der Aufstellung eines Entwurfes, der auf die Wünsche der
großen Industriestädte eingeht und ihnen scheinbar wertvolle Rechte zugesteht?
Eine so macchiavellistische Denkweise wird niemand unserer Unterrichtsverwaltung
zutrauen. Aber auf die Absicht kommt es nicht an, sondern auf die Wirkung.
Die Geschichte des höheren Schulwesens in Preußen während des neunzehnten
Jahrhunderts ist eine Geschichte ungewollter Wirkungen. Sollen wir diesmal
das, was kommen müßte, nicht willkommen heißen, da es uns sozusagen
angeboten, ja aufgedrängt wird?
Doch nicht. Daß der große Vorzug, den die städtischen Anstalten vor den
Königlichen haben, einigermaßen ausgeglichen, die Möglichkeit eines Wettbewerbes
zwischen beiden wieder hergestellt werde, ist allerdings zurzeit„ eine der drin¬
gendsten Aufgaben. Aber es darf nicht dadurch geschehen, daß man die eine
Seite herabdrückt, sondern so, daß man die Lebenskraft der anderen hebt. Wie
das zu erreichen sei, ist eine Frage für sich, deren Lösung nicht eher erfolgreich
wird angegriffen werden können, als bis sich in den eignen Kreisen der Lehrer
die Überzeugung verbreitet und befestigt hat, der jetzt auch Münch sich zuneigt,
daß die Herrschaft des Dienstalters in unsern: Anstellungs- und Beförderungs¬
wesen eine gefährliche Herrschaft ist. Schon in den wenigen Jahren ihres
Bestehens hat sie wohl ebensoviel geschadet wie genützt; und sie wird auf die
Dauer eines starken Gegengewichtes bedürfen, wenn vorhandene und entwickelungs¬
fähige Kräfte nicht erstickt werden sollen. Dazu schütteln heute noch die meisten
den Kopf. Die Hoffnung, daß allmählich ein Umschwung sich vollziehen werde,
beruht auf dem Glauben an die innere Notwendigkeit; verstärkt aber und
belebt wird sie durch die Erfahrung, wie mit zunehmender Sicherheit und
Klarheit der höhere Lehrerstand selber erkennt, was ihm not tut.
In der brennenden Frage, der die hier dargelegten Erwägungen gewidmet
waren, hat er einmütig Stellung genommen und sich zu dem Wunsche bekannt,
nicht in zwei nach ihren amtlichen Rechten und Pflichten verschiedene Klassen
gespalten zu werden. Man kann sagen, an den: Wunsche habe das Gefühl
ebenso viel Anteil wie der Verstand: das tut nichts. Stimmungen wie diese,
wenn sie entschieden und maßvoll sich kundgeben, verklingen nicht ungehört und
wirken mitbestimmend auch auf die letzte Entscheidung ein. Der weiteren Ent¬
wickelung des Verhältnisses zwischen Schulbehörde und Patronat dürfen wir
deshalb — und nicht bloß deshalb — doch getrost entgegensehen. Mit erfreulicher
Deutlichkeit haben die Vertreter des preußischen Volkes, und zwar Abgeordnete
der verschiedensten Parteien, den Gedanken abgelehnt, daß der Staat auf dem
Gebiete des höheren Schulwesens etwas von seinen Hoheitsrechten opfern könnte.
So wird der obersten Unterrichtsverwaltung, an deren Einsicht und gutem Willen
kein Zweifel statthaben kann, der Rücken gestärkt und der Mut erhöht werden,
daß sie im Kampfe der Geister auch diejenige Eigenschaft bewähre, an der,
überall wo regiert werden soll, im Grunde das meiste gelegen ist, Kraft und
Entschlossenheit.
j ändernde Studenten und Kleriker gab es in Deutschland schon
in früher Zeit. Das Wandern von Schule zu Schule hatte
darin seinen Grund, daß die einzelnen Trivial- und Ouadrivial-
fächer nicht überall gleich gut vertreten waren. Die eine Schule
l hatte einen guten Grammatiker, die andere einen trefflichen
Erklärer der Heiligen Schrift. Bestimmte berühmte Lehrer waren es, denen
zulieb die Wanderungen unternommen wurden. So zog Rhabanus Maurus
zu Altum nach Tours, Walafrid Strabo von Reichenau nach Fulda zu
Rhaban, Wolfgang von Regensburg nach Würzburg, wo grade ein italienischer
Grammatiker blühte. Der spätere Bischof Benno von Osnabrück (1068 bis
1088) empfing seine Bildung zuerst in Straßburg, ging dann nach der Reichenau,
um Hermann den Lahmen zu hören, und zog darauf, wie sein Biograph sagt,
„in dieser Art zu lernen auch an andern Orten nach Studentensitte umher".
Allmählich schienen die verschiedenen Disziplinen an bestimmte Orte gebunden.
Paris wurde der Hauptsitz der Theologie, die Juristen zogen nach Bologna
und Padua, die Mediziner wanderten nach Salerno. Jede Universität suchte
ihren Ruhm in der besonderen Pflege einer Wissenschaft, und erst spät begann
man in dem Namen „Universität" den Sinn zu suchen, daß sie eine Gesamtheit
der Wissenschaften darstellen solle*). Da nun aber die Zeit die Beschränkung
auf ein Fach verwarf und umfassende Bildung forderte, so sahen sich die Kleriker
zum Wandern gezwungen. „Die Städte und den ganzen Erdkreis durchirren
die Scholastiker, und das viele Studieren bringt sie um den Verstand. Die
Kleriker suchen die schönen Wissenschaften in Paris, die Kenntnis der alten
Schriftsteller in Orleans, die Rechtswissenschaft in Bologna, die Medizin in
Salerno und die schwarze Kunst in Toledo. Nirgends aber suchen sie die gute
Sitte, denn nach dieser trachten sie nicht nur am allerwenigsten, sondern gar
nicht." So eifert der Mönch von Froidmont.
Der eigentliche Typus der Vaganten setzt sich aber erst im zwölften Jahrhundert
fest. Sicher hat das Aufkommen der Scholastik sie Hauptrolle bei der
Entstehung der merkwürdigen Erscheinung gebildet. Diese neue Richtung der
mittelalterlichen Wissenschaft suchte das. was man bisher bloß geglaubt, durch
die Schärfe des Verstandes und richtige Schulung des Geistes zu erkennen.
Das zog die Jugend mächtig an. Tausende von Schülern wanderten nach
Paris und Oxford, um die berühmten Theologen, wie Wilhelm von Champeaux
und Peter Abälard, zu hören. Paris wurde die Hauptstadt der Weisheit und
ließ, wie ein Schriftsteller sagt, Athen und Alexandria an Frequenz hinter
sich. Der Neuankommende konnte kaum eine Wohnung finden, und die
Zahl der Fremden war manchmal größer als die der Bürger. Oxford
war die zweite Universität, und doch hielten sich dort um 1220 gegen 3000
Studenten ans.
Kehrten nun aber die jungen Theologen, stolz auf die Schätze der Weisheit
und in der frohen Hoffnung auf eine befriedigende Tätigkeit, in die Heimat
zurück, so fanden sie sich größtenteils bitter enttäuscht. Denn dem Aufschwung
des theologischen Studiums folgte nicht nur keine Vermehrung der geistlichen
Stellen, sondern ihre Zahl nahm im Gegenteil von Jahr zu Jahr ab. Das
war eine Folge der wirtschaftlichen Verhältnisse. Seit dem elften Jahrhundert
war der Geldverkehr statt des Tauschhandels aufgekommen und hatte sich so
rasch verbreitet, daß die Vorräte an Edelmetall in stärkerem Maße gebraucht
wurden, als sie verfügbar waren. Wuchs so die Kaufkraft des Geldes, so nahm
gleichzeitig der Wert des Grundbesitzes und der landwirtschaftlichen Erzeugnisse
ab. Auf diese war aber der Klerus (wie der Adel) seit uralter Zeit angewiesen.
Während also ihr Einkommen nominell dasselbe blieb, ging es in Wirklichkeit
immer mehr zurück. Dagegen suchte man sich nun zu helfen. Nach kirchlicher
Bestimmung sollte niemand zwei Pfründen besitzen. Wer also eine bessere
haben wollte, mußte auf die alte verzichten. Unter dem Drucke jeuer wirt¬
schaftlichen Verhältnisse ging man nun seit dein zwölften Jahrhundert von jeuer
Bestimmung ab und ließ den Lumulu8 beneficiorum, die Anhäufung mehrerer
Pfründen in einer Hand, zu. Dazu kam noch die Konkurrenz der Orden,
besonders der Zisterzienser und der Bettelmönche, die nicht nur die Seelsorge,
sondern auch den Besitz reicher Kirchen ein sich brachten. Daher die zahlreichen
Klagen des Weltklerus über die Habgier der Mönche.
Die Aussichten des theologischen Nachwuchses wurden also immer schlechter,
je größer seine Zahl wurde. Wo sollte die Unmasse der Studierenden bleiben?
Auf der Universität bleiben und warten, ging nicht. Das Leben war dort
zu teuer. Man mußte sich also bis zur Erlangung einer Stelle anders durch¬
schlagen. Manche wurden Sekretäre bei vornehmen Herren oder Hauslehrer
auf Schlössern oder famuli junger Adliger. Andere machten Abschriften, gaben
Musikstunden, taten eine Schule auf, zogen als Lehrer umher oder verrichteten
gegen täglichen Lohn bei den berühmten Gelehrten Dienstleistungen.
Die große Mehrzahl aber, die keine Unterkunft fand oder sie wieder verlor,
ging dazu über, bei den Standesgenossen, den Geistlichen, Unterstützung zu
suchen. Denn als Schüler und weil sie oft die niederen Weihen hatten,
rechneten sie zum Klerus, wenn sie auch keine Geistlichen waren. So kam das
Wandern auf. Dichtend und singend, die lateinischen Lieder, die sie aus den
Schulen gedichtet und gehört, vortragend und neue dazu verfertigend, zogen
die jungen Kleriker in alle Lande. Die glänzende Aufnahme, die weltliche
Sänger an den weltlichen Höfen fanden, lockte sie, bei geistlichen Herren, an
den Höfen der Bischöfe, in den Klöstern, bei den Pfarrern ebenso aufzutreten
und durch Dichtung und Vortrag von Liedern ihren Unterhalt zu suchen.
Dies Wesen des Vagantentums finden wir um die Mitte des zwölften Jahr¬
hunderts ausgebildet: stellenlose Kleriker, die dichtend und singend
umherziehen, bilden den Kern der Vaganten. Allerlei andere Leutchen
schlössen sich ihnen an: Mönche, die ihre Unbotmäßigkeit auf die Landstraße
warf, Priester, die mit dein Zölibat in Konflikt kamen, Vikare, die ihre Stelle
verloren hatten usw. Das Bundeslied spricht sich über diese bunte Zusammen¬
setzung eingehend genug aus").
Die Zahl der Theologen behielt unter den Vaganten die Oberhand.
Die Juristen und Mediziner erreichten rascher eine Versorgung und hatten
daher das Umherwandern nicht nötig. Aus demselben Grunde zeigt
Italien mit seinen juristischen und medizinischen Schulen wenig Spuren des
Vagantentums.
Außer den besprochenen wirtschaftlichen Verhältnissen hat gewiß auch der
Geist der Zeit das „Fahren" mit hervorgerufen. Allen Schichten der Bevölkerung
gemeinsam war damals ein starkes Gefühl der Unruhe, der Sehnsucht nach
fernen Paradiesen. Die Ritter suchten Abenteuer in fernen Landen, die Gläubigen
unternahmen weite Pilgerfahrten.
So wurden der fahrenden Kleriker immer mehr und fielen mit der Zeit
ihren Standesgenossen sehr zur Last, um so mehr, als sie in der Not des
Lebens bald verlotterten und immer zügelloser wurden.
Aus mancherlei Bezeichnungen hat man geschlossen, daß sich die Vaganten
zu Al?fang des dreizehnten Jahrhunderts zur Abwehr gegen die Abneigung
und die Abweisung, die sie fanden, zu einer festen Organisation zusammen¬
geschlossen hätten. Es begegnen die Namen oräo vaZorum, secta va^orna,
SLliolarsZ vaZl, Zoliaräi usw.
Das Wort Goliarden ist sehr verschieden gedeutet worden. Von Zuw.
Kehle, Gurgel (also soviel wie Murmanci, Schleimner), vom provenzalischen
Aualiar, betrügen, vom altitalienischen Zoliars, gierig verlangen (also Zernde
äiet. gehrende Leute, wie die weltlichen Spielleute genannt wurden) und von
italienisch MZIiaräv, französisch ^illarci (also Zoliarciu8 Bruder Lustig)
hat matt es abzuleiten versucht. Eine Einigung ist nicht erzielt.
Daß die Vaganten später den Golias ^- Goliath als ihren Schutzpatron
ansahen, hat der Riese ohne Zweifel nur dem Anklang seines Namens an
Goliard zu verdanken, wobei die Ableitung des Wortes gleichgültig ist.
Es gab aber außer diesem Schutzherrn des Bundes auch wirkliche Personen,
die den Titel Golias führten. Es sind dieselben, die gelegentlich auch Archipoeta
und Primas genannt werden, Vaganten, die im Trinken und Singen und vor
allem im Dichten Besonderes leisteten. Man hat gemeint, daß die Vorstände
des Vaganteuordens darunter zu verstehen seien. Und zwar bezeichne GoliaS
den Vorstand des französischen Vagantenbundes, der mehr eine zünftlerische
Genossenschaft gewesen sei und auch die englischen Vaganten mit umfaßt habe,
Primas dagegen das Haupt der deutschen Vaganten, die einen Orden, der
gegen die Kirche angriffsweise vorging, gebildet hätten. Der Primas hieß auch
pontiksx, episcopus, abbas, 8ubpl'in>r usw.
Es muß aber doch sehr bezweifelt werden, ob der Vagantenorden wirklich
eine festgefügte Organisation war. Man kann ihn eigentlich nur dann dafür
halten, wenn man alle bezüglichen Anspielungen unserer Quellen für vollen
Ernst nimmt. Näher liegt aber gewiß die Vermutung, daß es mehr auf Witz
und Parodie abgesehen und gar kein geregelter Zusammenschluß vor¬
handen war. Schon das vorhin erwähnte Bundeslied, wonach kein gebildeter
Landstraßentreter ausgeschlossen ist, spricht dafür. Daß es undenkbar sei, daß
es gleichzeitig zwei Primates in demselben Lande gegeben habe, ist auch zuviel
behauptet.
scherzhaft nannten sich die Vaganten fratrss, confratres, rsIiZiosi,
conventuales, conversi. Die Ordensregeln waren eine Verhöhnung der
kirchlichen. Im Bundesliede heißt es"):
Wie die Orden gaben auch die Vaganten den Neueintretenden ein neues
Gewand und einen neuen Namen (Kneipnamen).
Primas oder Golias wurden solche genannt, die als Dichter ihre Genossen
übertrafen. Von einem, der als Archipoeta bekannt ist und eine Reihe der
besten Vagantenlieder verfaßt hat, wissen wir, daß er in den Jahren 1159 bis
1164 dichtete, ein Deutscher war, wahrscheinlich aus adligen Geschlecht stammte
und eine Zeitlang am Hofe des Reichskanzlers Reinald von Dassel lebte.
Mehr leider nicht.
Cäsarius von Heisterbach erzählt „von einem «agierenden Kleriker namens
Nikolaus, den sie den Archipoeta nennen", der dreißig bis vierzig Jahre später
den Heisterbacher Mönchen einen Streich spielte. schwerkrank und den Tod
vor Augen nahm er mit vieler Reue das Ordensgewand; als er aber wieder
gesund wurde, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als es wieder auszuziehen und
„lachend die Kutte hinwerfend" sich davonzumachen. Ob wir hier denselben
Archipoeten vor uns haben, ist aber sehr zweifelhaft. Den Titel kann sich
später auch ein zweiter beigelegt haben.
Alle übrigen Dichter kennen wir überhaupt uicht näher und wissen auch
nicht, wie viele ihrer waren. Wahrscheinlich aber sind sie nicht sehr zahlreich
gewesen und haben sich die meisten Vaganten darauf beschränkt, das von
anderen Verfaßte zu verbreiten.
Die Lieder sind in lateinischer Sprache verfaßt, teils wegen der eigenen
Gewöhnung an diese Sprache, teils weil die geistlichen Höfe und die Pfarr-
Häuser das Publikum abgaben. Die wichtigste Sammlung von ihnen befindet
sich jetzt in der Münchener Hof- und Staatsbibliothek. Sie stammt aus dem
Kloster Benediktbeuern, und daher hat der erste Herausgeber, Schmeller, den
Vagantenliedern den Namen Larmirm Lurana gegeben. Diese Handschrift
enthält auch etwa ein halbes Hundert deutsche Lieder, aber die stammen eben
nicht von den fahrenden Schülern. Wahrscheinlich hat ein geistlicher Herr hier
aufzeichnen lassen, was er von fahrenden Leuten (auch weltlichen Sängern) zu
hören liebte. Die Handschrift ist um 1225 von verschiedenen Schreibern nach
einem festen Plane angefertigt.
In schier unerschöpflichen Variationen singen die Vaganten von Lust
und Leid des Lebens und der Liebe. Liebeslieder, Spiellieder, Bettellieder,
aber auch ernste Strophen und Schilderungen ihres Elends stehen bunt durch¬
einander.
Die Minnelieder nehmen schon durch ihre Sprache eine eigenartige
Stellung ein. Klingt in der Volkssprache das Wort des Dichters unmittelbar
von Herz zu Herzen, so muß sich der lateinische Poet erst an den Verstand
wenden, der das fremde Wort in die Muttersprache übersetzt. Anderseits macht
ihn die fremde Sprache derber, deutlicher, rücksichtsloser im Ausdruck. Dazu
kam die rauhere Lebensweise und Lebensauffassung der Vaganten. Von der
Schwärmerei, in die die Minnepoesie geradezu ausartete, war der fahrende
Schüler weit entfernt. Zwar finden sich auch hier einige Lieder von großer
Zartheit und feiner Empfindung, wird auch hier gelegentlich von Lenz und
Liebe, von den Blumen auf dem Anger und den Rosen auf den Wangen, der
milden Maiensonne und den strahlenden Augen der Liebsten, von: Vogelschall
im Hag und der holden Stimme des trauten Mädchens gesungen, die Mehrzahl
der Lieder aber ist derb, sinnlich, ja zynisch.
Unübertroffen sind die Vaganten dagegen in den Trink- und Spiel¬
liedern. Feuchtfröhlicher Humor durchweht z. B. das Kneiplied*):
In tsberna qusn<Zo sumus,
I^on cursmus, czuicZ sit munus.
Nun folgt die bekannte Aufzählung aller derer, die sich um den Becher
scharen:
Der Dichter schließt mit der Strophe:
Der Archipoeta erklärt in seiner „Generalbeichte" geradezu, in der Kneipe
beim vollen Becher sterben zu wollen:
ü^eum est propositum
In tsberna mori*).
Ost genug finden wir auch die üble Lage des Vaganten besungen, der bei
Wein und Würfelspiel sogar seine Kleidung zum Pfande gelassen hat und nun
nackt und bloß hinaus muß, UNI die „nobils8 praslati et presb^tLN beati"
anzubetteln:
Von dem Archipoeten nur ein paar Strophen aus der Vagantenbeichte,
die durch die Fülle und Behendigkeit ihrer Sprache, wie Jakob Grimm sagt,
„jeden Zweifel an dem wahrhaftigen Berufe ihres Verfassers für die Poesie
niederschlägt".
Drei Dinge werden dem Dichter zur Last gelegt: Liebe, Spiel und Wein.
Er bekennt sich schuldig, ist aber um Entschuldigungen auch nicht verlegen"').
Eine eigene Gattung bilden unter den Gedichten die Goliaslieder,
satirischen Inhalts. Sie wenden sich hauptsächlich gegen die kirchlichen Zustände.
Es war damals die öffentliche Meinung, daß sich die Kirche von ihrer
ursprünglichen Reinheit weit entfernt habe. Die Goliarden machten sich zu
Sprechern der allgemeinen Stimmung. Unabhängig und vorurteilsfrei, wie sie
waren, konnten sie offen aussprechen, was sie für wahr hielten, und die kraft¬
volle Sprache dieser Lieder machte auf Jahrhunderte hinaus nachhaltigen
Eindruck. Aber bei aller Schärfe ihrer Angriffe bekämpfet! sie doch nirgends
das kirchliche Dogma. Die Goliarden sind stolz darauf, Söhne der Kirche zu
sein. Sie wollen nicht die Ordnung des Staates und der Kirche stürzen, sondern
verlangen bloß Rückkehr zu der guten alten Sitte. ^ore8 explorare, reprobai-L
i-eprobo8 et pivbos probaie, die Sitten auszuforschen, die Schlechten zu
tadeln, die Braven zu loben halten sie für ihre Aufgabe. Freilich wollen sie
selbst nicht besser sein als andere, aber da die Kirche für sie keine Stelle hat,
messen sie sich auch keine Pflichten bei.
Besonders getadelt wird die Habsucht der Kurie und des Papstes. Ein
Dichter parodiert z. B. das Evangelium: „Evangelium nach der heiligen Mark.
Zu jener Zeit sprach der Papst zu den Römern: Wenn des Menschen Sohn zum
Sitze unserer Herrlichkeit kommt, fraget zuerst: Freund, weswegen kommst du?
Wenn er aber fortfährt, Einlaß zu begehren und euch nichts gibt, so werfet
ihn in die äußerste Finsternis. Es geschah aber, daß ein armer Pfaffe kam
an des Papstes Hof und schrie und sprach: Erbarmet ihr euch meiner, ihr
Türhüter des Papstes, denn die Hand der Armut hat mich getroffen. Ich bin
dürftig und arm, darum bitte ich euch, daß ihr mir helfet in meinem Elende.
Jene aber, da sie ihn gehöret hatten, ergrimmten sie und sprachen: Freund,
verflucht mögest du sein mit deiner Armut, weiche von hier, Satanas, denn
du vermagst nicht, was das Geld vermag. Wahrlich, wahrlich, ich sage dir,
du wirst nicht eingehen zu deines Herrn Freude, bis du nicht den letzten Heller
gegeben hast. Der Arme aber ging und und verkaufte Rock und Mantel und
alles, was er hatte, und gabs den Kardinälen und Türhütern und Kämmerern.
Jene aber sprachen: Was ist das unter so viele? Und sie warfen ihn aus
aus dem Hause, und er ging und weinte bitterlich und mochte sich nicht
trösten. Danach kam zu Hofe ein reicher Pfaffe, der war dick und
fett und aufgeblasen und hatte im Aufruhr einen Mord begangen. Derselbige
gab zuerst dem Türhüter, dann dem Kämmerer, zuletzt den Kardinälen.
Die aber vermeinten unter sich, daß sie mehr bekämen. Als nun der Papst
hörte, daß seine Kardinäle und Diener sehr viele Geschenke von dem Pfaffen
erhalten hätten, ward er krank bis auf den Tod. Der Reiche aber schickte ihm
ein golden und silbern Trinkgefäß, und alsbald ward er gesund. Da rief der
Papst seine Kardinäle und Diener zu sich und sprach zu ihnen: Liebe Brüder,
sehet zu, daß euch niemand verführe mit leeren Worten. Denn ich gebe euch
ein Beispiel, daß, gleichwie ich nehme, also auch ihr nehmet." — „Ich sah die
Hauptstadt der Welt," erzählt ein anderer, „sie ist gleich dem tiefen sizilischen
Schlunde. Dort bellt Szylla räuberisch und Charubdis schlingt Gold, die
Piraten sind die Kardinäle, Sirenen Hausen daselbst, denen ein mißgestaltetes
Ungeheuer im Busen wohnt. Sie singen: Wir vergeben die Sünden und
führen die Sündlosen zur himmlischen Wohnung, wir haben des Petrus Gewalt,
alle Herrscher mit Eisenketten zu fesseln! Solche lenken das Schiff der Kirche,
solche führen die Himmelsschlüssel."
Aber auch andere Sünden des Klerus werden scharf gegeißelt, und so
sah dreihundert Jahre später der streitbare Matthias Flacius Illyriens in diesen
satirischen Dichtungen willkommenes Material für sein „Verzeichnis von Zeugen
der Wahrheit".
Es versteht sich, daß der Klerus über die fortwährenden, zum Teil auch
maßlosen Angriffe der Vaganten erbittert wurde und ihnen nichts mehr geben
wollte. Auch verscherzte sich dies Gelehrtenproletariat durch seine immer zügel¬
loser gewordene Lebensführung die Gunst des Publikums mit der Zeit völlig.
Ein Vagant, der sich Surianus und „durch die unheilbare Borniertheit der
Dummen Oberpriester und Archiprimas aller fahrenden Scholaren in Österreich,
Steiermark und Mähren" nennt, vergleicht in einen: scherzhaften Edikte die
Vaganten mit den Fledermäusen, für die weder unter den Vierfüßlern noch
unter den Vögeln Raum ist. So ständen die wandernden Scholaren
zwischen Laien und Klerikern, von jenen vertrieben und auch von diesen
zurückgestoßen.
In der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts waren die Vaganren
schon so verwahrlost, daß sie größtenteils gar nicht mehr auf ein Amt
rechneten, sondern das ungebundene Umherziehen vorzogen. In unanständigen
Anzüge wanderten sie daher, an den Türen der Pfarrhäuser bettelnd, oder
drangen auch haufenweise, mit Rapieren, Schwertern und Hellebarden bewaffnet
ein und erzwangen mit Schimpfen und Gewalttat das Geld. Das Erbeutete
wurde gemeinsam verjubelt und bei Würfeln und Karten oft genug auch das
letzte Gewand verloren. Mancher rief dann, vor Kälte mit den Zähnen
klappernd: „Schund und Wehe, was haben wir für einen strengen Orden!''
Getrunken und gespielt wurde so lange, bis Zunge und Füße nicht mehr
wollten. Dann schwankte man auf die Straße und schlief, wo man eben
hinfiel, im schmutzigen Straßengraben oder in den Brennesseln an: Wege.
Eine Salzburger Synode von 1292 schildert ihr Treiben kurz und bündig so:
„Sie gehen unanständig daher, liegen in den Backhäusern (wo sich Vagabunden
zu wärmen pflegten), besuchen Kneipen, Spiele und Dirnen", und in dem Buch
der Rügen (1276) heißt der Abschnitt über die Lotterpfaffen: „Zu den Lotter¬
pfaffen solltet ihr sprechen: Ihr unreinen Affen, wie mögt ihr euer Leben,
das doch Gott euch gegeben, nur so vertun, da ihr nur in Üppigkeit dahinlebt
und in Schlechtigkeit! Wäre doch euer elender Orden nie geboren worden!
Denn lästerlich, recht wie Schächer geht ihr daher, und eurer Bosheit ist so
viel, daß Gott nichts mehr von euch wissen will. Und sogar dem bösen
Feinde ist es arg, wenn ihr zu ihm kommt. Auch er hielte sich lieber an
ehrbare Leute. Darum geht eilends, ehe es zu spät ist, und dringt in das
Höllentor, ehe euch auch das versperrt wird. Wenn ich euch aber ernstlich raten
soll, wie mir Gott befiehlt, so bekehret euch und ehret Gott künftig besser, als
ihr bisher getan, denn wohl erinnere ich mich des Wortes, das Gott liebend
zu uns sprach, da er uns in Nöten sah: Nicht des Sünders Tod will ich,
sondern daß er lebe und sich bekehre. Tut ihr das uicht, so weiß ich wohl
den Lohn, den man euch geben soll."
Da das Ansehen des Klerus so aufs schwerste geschädigt wurde, sah sich
die Kirche zur Abhilfe genötigt, zumal da die Vaganten, wenn sie sich auch
in ihrem Leben von den verachteten Gauklern und Spielleuten nicht mehr
unterschieden, an den Vorrechten des geistlichen Standes eifrig festhielten. Zum
Einschreiten zwangen auch die Verhöhnung der kirchlichen Bräuche und die
Entweihung des Heiligsten. Man hatte die Vaganten gelegentlich bei kirchlichen
Feiern, Primizen und Kirchweihen zum Gesänge herangezogen. Sie benutzten
die Gelegenheit, um bei der heiligen Handlung leichtfertige Lieder zu singen.
Auf den Dörfern zeigten sie falsche Reliquien und erteilten Ablässe, hielten
Predigten und Prozessionen, lasen in Dörfern, die keinen eigenen Geistlichen
hatten, ohne geweiht zu sein, Messen und benutzten den Altar zum Würfelspiel.
Die Maßregeln der Kirche hatten eine doppelte Richtung. Zuerst
suchte sie die Mißstände, die das Vagantentum hervorgerufen hatten, zu beseitigen.
Es wurden gegen die Häufung der Pfründen Bestimmungen erlassen, die mit
Klöstern unierten Pfarrereien und Kirchen sollten von Weltpriestern versehen
werden, auch zahlreiche neue Stellen wurden geschaffen.
Die besseren Elenrente unter den Vaganten bekamen so Gelegenheit, in
ein geordnetes Leben zurückzukehren, und gegen die verkommenen Existenzen,
die übrig blieben, ging man dann mit Strenge vor. In Frankreich entledigte
man sich ihrer schon in den dreißiger Jahren des dreizehnten Jahrhunderts für
einige Zeit durch die Bestimmung, ihnen das Haar so zu scheren, daß man
die klerikale Tonsur an ihnen nicht mehr sehe. Die Wirkung scheint kräftiger
gewesen zu sein, als man vielleicht erwartet hatte. In den nächsten fünfzig
Jahren hörte man von den Goliarden in Frankreich nichts mehr. Sie wandten
sich nach Deutschland.
Aber auch hier wurden die Aussichten immer schlechter. Streng verfuhren
vor allem die um 1260 herum in Niederdeutschland abgehaltenen Synoden.
Jede Unterstützung der wandernden Kleriker wurde verboten. Im Süden, auf
den die Vaganten nun angewiesen waren, schritt man erst gegen Ende des
Jahrhunderts zum Äußersten 1287 erließ das große Nationalkonzil von
Würzburg die Bestimmung, daß den unverbesserlichen Fahrenden die klerikalen
Vorrechte genommen und sie von den weltlichen Gerichten bestraft werden
sollten. Damals waren die Vaganten, durch die Synoden von Salzburg 1274
und Se. Pölten 1284 auch in diesen Gegenden unmöglich geworden, bereits
auf der Wanderung nach Frankreich begriffen. Schon zwei Jahre später,
1289, waren dort solche Scharen eingetroffen, daß vier Synoden gegen sie
einschritten. Auch hier sprach man allen, die ein Jahr lang Goliarden gewesen
waren und bis dahin oder auf dreimalige Aufforderung nicht auftraten, die
geistlichen Vorrechte ab. Nun war es in Frankreich mit den Goliarden end¬
gültig aus. Die letzten Neste wurden in Deutschland durch die strengen
Bestimmungen der Synoden von Se. Pölten 1294, Köln 1300, Mainz 1310
und Salzburg 1310 vernichtet.
Mit scharfen Schnitten hatte die Kirche diese faulen Glieder von ihrem
Leibe getrennt. Wer sich nicht in geordnete Verhältnisse zurückfinden konnte,
dem blieb nichts mehr übrig, als auf den lange und hartnäckig festgehaltenen
geistlichen Charakter zu verzichten. Mit der Sonderexistenz klerikaler Fahrenden
war es vorbei.
> me wichtige Begleiterscheinung der Kriege zwischen Preußen und
Österreich-Ungarn während des achtzehnten Jahrhunderts war der
Austausch von Einwohnern, der teils infolge von Kriegsgefangen¬
schaft, teils infolge der Fahnenflucht, teils aber auch infolge von
Auswanderung stattfand. Schon zur Zeit des siebenjährigen
Krieges kam es vor, daß Friedrich der Große seine Regimenter aus öster¬
reichischen Kriegsgefangenen ergänzte, während preußische Kriegsgefangene in
Österreich entweder in den Truppen eingereiht oder angesiedelt wurden. Seit
dem Sommer des Jahres 1761 wurden zahlreiche Kriegsgefangene vor allem
nach Siebenbürgen geschickt. Sie erhielten allerlei Vergünstigungen, Geld¬
beihilfen und mehrjährige Steuerfreiheit. Seiner besonderen Merkwürdigkeit
wegen verdient der Umstand bemerkt zu werden, daß unter den bei Wilsdruff
in Sachsen am 27. Juni 1762 gefangenen Mitgliedern des preußischen Frei¬
bataillons „Ouintus Icilius" ein Mädchen in Soldatenkleidern gefunden wurde.
Es war Johanna Dorothea Regina Gliassin, die die Kleider ihres Bruders
angelegt und sich zu dem erwähnten Bataillon hatte anwerben lassen. Sie
erklärte sich bereit, einen anderen preußischen Kriegsgefangenen zu heiraten;
beide traten zur katholischen Religion über, erhielten hundert Dukaten an Unter¬
stützung und wurden nach Siebenbürgen geschickt. Innerhalb zweier Jahre
(bis zum August 1763) waren etwa fünfzehnhundert solcher Ansiedler nach
Siebenbürgen gekommen. Da aber viele von ihnen nur zwangsweise ins Land
gezogen worden waren, entflohen sie bei der nächsten Gelegenheit in ihre Heimat.
Andere zogen aus Arbeitsscheu davon. Schließlich gestattete die Regierung
vielen die freie Heimkehr nach dem Friedensschlüsse. So blieben von den
Kolonisten der 1760er Jahre nur etwa hundert in Siebenbürgen zurück.
Mancher von ihnen hat es zu bedeutendem Ansehen gebracht. So stammte der
bekannte siebenbürgische Dichter und Geschichtsforscher Joachim Heinrich Wittstock
von dem in Berlin geborenen Leinwebergesellen Joachim Wittstock, der mit
anderen preußischen Kriegsgefangenen nach Bistritz gekommen war.
Der Wettbewerb mit Preußen veranlaßte die österreichische Regierung,
dieser Einwanderung auch nach dem Friedensschluß eine erhöhte Aufmerksamkeit
zuzuwenden. Im Wiener Staatsarchiv lagernde Berichte deuten an, daß die
gesamte Ansiedlungstätigkeit Friedrichs des Großen einer peinlichen Kontrolle
durch den österreichischen Geschäftsträger unterworfen ist und daß mau sich von
österreichischer Seite bemühte, die durch diese Tätigkeit hervorgerufene Bewegung
in der preußischen Bevölkerung auch für Österreich auszunutzen. Diese Bemühungen
werden auch von Erfolg begleitet. So bittet 1776 Joh. Karl Hoffer, bürger¬
licher Glasmacher aus Oppeln in Oberschlesien und ehemaliger preußischer Soldat,
um Reisegeld nach Galizien, „wo er seine Nahrung suchen wolle". Seit 177!)
finden wir in österreichischen Staatsschriften Nachrichten, daß Preußen öster¬
reichische Auswanderer auflebte, und daneben wird gleichzeitig berichtet, daß
preußische Deserteure und Emigranten um „allerhöchsten Schutz und Gelegenheit
zur Ansiedlung in den Habsburgischen Landen bitten".
Damals und vielleicht auch schon früher wurden bereits Preußen in
Böhmen, besonders in Pardubitz angesiedelt. Später (1781) fanden sich
preußische Emigranten im Chrudimer und Bunzlauer Kreise ein. Die Fried¬
länder Herrschaft zeigte sich bereit, solche Einwanderer aufzunehmen, wenn ihr
die von der Regierung in Aussicht gestellten fünfzig Gulden als Aushilfe für
jede Familie bezahlt würden; einzelnen Emigranten, die keine Handwerker waren,
sollte eine „größere Aushilfe" von einhundertundzwanzig Gulden gereicht werden.
Im folgenden Jahre hören wir von preußischen Ansiedlern in Theresienstadt
und Königgrcitz. Manche von diesen Kolonisten kehrten, nachdem sie die Aus-
hilfsgelder erhalten hatten, wieder in die Heimat zurück. Infolgedessen strebte
man danach, preußische Auswanderer in von der preußischen Grenze entfernt
gelegenen Gegenden anzusiedeln und zahlte auch die Beihilfen nicht direkt an
die Kolonisten, sondern an die Gutsherrschasten, auf denen sie sich niederließen.
Später (1787) galt für die preußischen Einwanderer wie für alle anderen die
Bestimmung, daß jeder nach Rückzahlung der Unterstützungen in die Heimat
zurückkehren durfte. War er aber in Österreich schon zehn Jahre ansässig, so
wurde er wie ein Inländer behandelt. Nach einem Berichte von 1782 waren
damals in Böhmen siebenunddreißig Familien oder einhundertundfünfzig Seelen
angesiedelt worden, die zusammen 8491 Gulden Kosten verursacht hatten. Im
folgendenJahre waren schon an einhundertfünfzehn Familien preußischer Emigranten
neben einigen Inländern in Böhmen angesiedelt; sie hatten 9270 Metzen Grund
erhalten, ihre Häuser kosteten 36535 Gulden. Den Preußen waren außerdem
für jede Familie einhundertundzwanzig Gulden, zusammen 13800 Gulden an
Vorschüssen ausgezahlt worden, wozu noch die Gründe und Taggelder kamen.
Man fand die Ansiedlung der preußischen Emigranten recht teuer; die Ansiedlung
von Inländern wäre billiger gewesen, „aber sie ist dem Endzweck, die Emigration
aus den preußischen Landen zu befördern, nicht angemessen". Man beabsichtigte
also vor allem Bewohner aus den an Preußen verlorenen schlesischen Gebieten
herüberzuziehen. Auch Kaiser Joseph fand die Ansiedlung der Preußen kost¬
spielig; dennoch befahl er, „die Ansiedlung der aus Preußen Emigrierenden
keineswegs einzustellen, sondern sie auf Ararial- und geistlichen Gütern zu
unterbringen". Auch in Mähren wurden preußische Emigranten angesiedelt.
Vor allem schickte man sie aber, sobald in den Sudetenländern kein Platz vor¬
handen war, nach Galizien, zum Teil auch uach Ungarn.
Die Ansiedlung preußischer Auswanderer in Galizien begann im Jahre
1780. Im Herbst dieses Jahres brachen in Preußisch-Schlesien, besonders in
Pleß und anderen Herrschaften an der galizischen Grenze, Bauernunruhen aus.
Preußische Untertanen flüchteten sich auf österreichisches Gebiet. Nach der Nieder¬
werfung des Aufruhrs forderte die preußische Regierung ihre Auslieferung. Da
aber Preußen bei ähnlichen Veranlassungen die Auslieferung verweigert hatte,
wurden die Flüchtlinge nicht herausgegeben, vielmehr erging gegen Ende 1780
an den galizischen Statthalter Brigido der Auftrag, den Flüchtlingen Vorschub
zu leisten und sie unterzubringen. Wenige Wochen später (12. März 1781)
beantragte Graf Brigido, indem er auf die oben geschilderte Ansiedlung in
Böhmen verwies, man möge jetzt auch das „fast von allen nützlichen Professionisten
entblößte Galizien damit versehen, wie auch besonders die ans den Kameral-
herrschaften vorhandenen Dominikal-Meierhofgründe mit fremden arbeitsamen
Menschen besetzen". Um evangelische Ansiedler anzuziehen, müßte man ihnen
„freie private Religionsübung" zugestehen, „durch welches Mittel die Königreiche
unzweifelhaft in wenigen Jahren eines ansehnlichen Zuwachses sowohl Professions¬
kundiger als fleißiger Ackerbauer sich erfreuen würden, die annebst meistens noch
der teutschen Sprache, dann des Lesens und Schreibens kundig wären, mit
welchen das hiesige von derlei arbeitsamen, dem Staate nutzbringenden Insassen
noch entvölkerte Land zu vermehren das Hauptabsehen sein muß". Brigido
schlug daher vor, daß die Regierung den Ansiedlern jene Freiheiten und die
private Religionsübung zusichere, welche das preußische Ansiedlungspatent vom
5. Jänner 1770 gewährleistete. Dieser Hinweis auf das „Königlich Preußische
Patent für Preußisch-Schlesien und Glans" (Berlin 5. Jünner 1770) ist sehr
bedeutungsvoll. Es handelte sich dabei nicht um bloße Nachahmung der preußischen
Maßregeln, denn in Österreich war man seit Jahrzehnten an das Ansiedlungs-
geschaft gewöhnt. Aber das zitierte Patent Friedrichs war zur Hereinziehung
österreichischer Untertanen veröffentlicht worden. Die preußischen Werber in den
Grenzorten Galiziens lockten mit ihm die aus Galizien dahin kommenden Leute
an. Es lag also nahe, wegen des Wettbewerbes mit dem Nachbarstaate im
österreichischen Patente die Bestimmungen des preußischen nachzubilden. So
entstand das Ansiedlungspatent vom 17. September 1781, das zunächst vor allem
Ansiedler aus Preußisch-Schlesien und aus dem „republikanischen Polen" herbei¬
ziehen sollte. Übrigens wurden Österreich und Preußen bald darauf auch
Konkurrenten auf dem großen Werbegebiete in Südwestdeutschland. Die öster¬
reichischen Werber übten auf ihre Regierung stets einen wirksamen Druck aus,
wenn sie ihr berichteten, daß Ansiedler nach Preußen gezogen werden.
Die Einwanderung aus Preußen ist gegenüber dem gewaltigen Strom von
Ansiedlern aus Südwestdeutschland nur gering gewesen; aber immer wieder hören
wir in den achtziger Jahren von preußischen Ansiedlern. So werden schon im
Jahre 1782 mehreren Familien aus Preußisch-Schlesien Pässe zur Einwanderung
nach Galizien erteilt; darunter befinden sich mehrere Handwerker, besonders
Schuhmacher, Schneider und Zeugmacher. Mitunter werden sie unter ganz
eigentümlichen Verhältnissen genannt. So war der preußische Deserteur Ernst
August Unverzagt in Ranischau (Galizien) angesiedelt worden, wegen schlechter
Aufführung aber samt anderen sechs Familien entlassen. Nun ging er nach
Wien und versuchte hier Ansiedler, die nach Galizien ziehen wollten, davon
abzuhalten. Er wurde auf eine Anzeige des Ansieoluugskommissars Welz ver¬
haftet, bald aber mit einer Verwarnung aus dem Arrest entlassen (1783). Ein
andermal meldeten sich drei preußische Emigranten aus Wohlan (Schlesien) um
Pässe. Die österreichische Behörde hatte aber einige Bedenken „wegen ihres
guten Aussehens", ob sie zum Ackerbau taugen würden und nicht vielleicht
Emissäre wären, die andere zur Auswanderung nach Preußen veranlassen sollten.
Da sie aber versicherten, sie hätten aus Furcht vor dem Soldatenstande ihre
Wirtschaften verlassen und ihre Frauen mitgebracht, wurde ihnen die Ansiedlung
gewährt (1783). Als Kaiser Joseph im Sommer 1783 Galizien bereiste, befahl
er in seinem Handschreiben vom 30. Juni ausdrücklich, die aus Schlesien ins
Land gekommenen Ansiedler mit Häusern, Stallungen, Vieh und Gründen zu
versehen. Um diese Zeit bat der preußische Emigrant Sonnner um ein Feld
zum Anbau der Röte und um Gewährung eines Vorschusses. Ende 1783
erscheinen in Naszacowice bei Neu-Sanden, wo schon im Mittelalter zahlreiche
Deutsche wohnten*), preußische Emigranten angesiedelt. In diesem Jahre richtete
auf Veranlassung des österreichischen Gesandten in Berlin der dortige Strumpf¬
wirkermeister Johann Müller an die Wiener Regierung die Bitte, sein Gewerbe
in Wien oder Galizien treiben zu dürfen; der Gesandte hatte ihm versprochen,
daß er in Prag die ganzen Reisekosten und als Unterstützung zur Ausübung
seines Gewerbes hundert Gulden erhalten würde. Müller erhielt, da der Gesandte
ihm irrtümliche Versprechungen gegeben hatte, nur fünfzig Gulden und die
gewöhnlichen Reisekosten. Im Jahre 1784 wird wiederholt davon gesprochen,
Weber aus Hirschberg und Schmiedeberg (Preußisch-Schlesien) nach Galizien zu
bringen; ebenso sollten Weber aus Zittau und Schönau (Sachsen) zur Ein¬
wanderung bewogen werden.
Auch im Jahre 1785 werden die preußischen Emigranten, zumeist aus
Schlesien, häufig genannt, so Müller, Klose. Mantel u. a. In diesem Jahre
erging der Auftrag, daß sie „weit mehr als andere" zu begünstigen seien; sie
sollten in den deutschen und galizischen Erbländer, ferner auch im Banat
(Südostungarn) und in Ungarn angesiedelt werden. Man nahm preußische
Einwanderer auch zur Zeit auf, als wegen allzu großen Zudranges von Kolonisten
— innerhalb acht Tagen kamen einmal über siebzehnhundert nach Galizien —
andere zurückgewiesen wurden. Am 21. Juli 1785 war ein Hofdekret bekannt
geworden, wonach „alle preußischen Emigranten, sie mögen Vermögen
mitbringen oder nicht, in Böhmen angesiedelt, wenn sie aber dort
nicht untergebracht werden können, nach Galizien und Ungarn
instradiert werden sollen". Als der Kaiser bald hierauf die Anwerbung
von Ansiedlern in Südwestdeutschland einstellte, wurde diese Verfügung auf die
Preußen nicht ausdehnt. Die Behörden stellten damals fest, daß diese
Einwanderer sehr fleißig sind und ihre Heimat wegen des schlechten
Bodens und anderer Lasten verlassen. Sie seien wohl zu unterscheiden
von den Reichsemigranten (aus Südwestdeutschland), die nach Preußen geworben
werden und von dort nach Galizien und endlich nach Rußland wandern, um
nichts zu arbeiten. Daraufhin erging an die galizischen Ämter der Auftrag, die
preußischen Ansiedler, sie mögen über Zamosc oder anderswoher kommen, auf¬
zunehmen und mit vorschriftsmäßigen Begünstigungen anzusiedeln. Im nächsten
Jahre erging sogar der Auftrag, auch die Reichsemigranten, die über Preußen
kamen, unbedingt aufzunehmen; da in Galizien Mangel an Ansiedluugsplätzen
herrschte, wurden sie nach Mähren und Ungarn gewiesen (178K und 1787).
Einzelne wurden in den Städten untergebracht; so wurde der preußische Emigrant
Just Wenzel in Biala angesiedelt und ihm nach den Patentbestimmungen fünfzig
Gulden bar als Handwerkervorschuß ausgezahlt. Anderen preußischen Einwan¬
derern wurde der Rat erteilt, sich bei den Privatgrundherren um Ansiedlungs-
plcitze zu bewerben. Im großen „Hauptnormale über das Ansiedlungswesen"
vom 3. April 1787 sür Galizien werden als eine besondere Art der „Kameral-
ansiedler" „die preußischen, über Zamosc einwandernden Auswanderer" genannt.
Über ihre Unterbringung wird auf das zitierte Hofdekret vom Juli 1785 hin¬
gewiesen und dazu hinzugefügt: „Wenn also ein preußischer Einwanderer aus
Böheim nach Galizien eingeleitet wird, fo ist solcher gleich anderen unbegünstigten
Kameralansiedlern zu behandeln; jene, welche über Zamosc einwandern, haben
sich an das Kreisamt zu wenden, und sind an selbes anzuweisen, welches bei
der Landesstelle (in Lemberg) die weitere Entscheidung einholen wird, wie selbe
behandelt und was für Begünstigungen ihnen eingeräumt werden sollen." Die
Gesamtzahl der preußischen Ansiedler, die sich in Galizien niederließen, ist nicht
bekannt. Am 31. Jänner 1786 werden in Galizien achtundsiebzig Familien aus
„preußischen Landen" ausgewiesen. Die Gesamtsumme der Ansiedler betrug
damals schon 3108 Familien, davon 3006 aus dem Römischen Reiche stammten.
Man ersieht daraus, daß der Zuzug aus Preußen trotz aller darauf gerichteten
Bestrebungen kein großer war.
Wie nach Siebenbürgen, so wurden preußische Kriegsgefangene schon im
Jahre 1761 auch nach Ungarn, und zwar besonders nach Südungarn geschickt.
So wurden 1761 in den Weser Kameraldistrikt vierundvierzig preußische
Deserteure gebracht und als Ackerbauer und Handwerker angesiedelt. Die
protestantischen Soldaten wurden vor allem deshalb nach Siebenbürgen geschickt,
weil in Ungarn keine Protestanten angesiedelt wurden. Ebenso befahl die Kaiserin
am 1. Februar 1763, zur Ansiedlung in den ungarischen Kameralortschaften zwar
nicht alle preußischen Gefangenen zu bestimmen, wohl aber sollten jene Hand¬
werker und Künstler unter ihnen, welche katholischen Glaubens waren und sich
in Ungarn niederlassen wollten, in deutschen Ansiedlungsorten, wo man dieser
Handwerker und Künstler bedürfe, angesiedelt werden. Schon wenige Wochen
später wurden tatsächlich Kriegsgefangene nach Südungarn geschickt. Es sind
uns zwei Listen solcher Ansiedler erhalten, die am 4. Mai 1763 vom Kriegs¬
kommissär Koller in Graz ausgestellt wurden und jene „in dem Herzogtum
Steier verlegten preußischen Kriegsgefangenen, Unteroffiziere und Gemeine" ver¬
zeichnen, „so auf den königlichen Kameralgütern sich ansiedeln wollen und durch
Untersteier nach Ofen in Hungarn abgeschickt werden". Wir finden in diesen
Listen zusammen achtzehn Mann aus verschiedenen preußischen Regimentern und
Waffengattungen verzeichnet. Als ihre Heimat werden Brandenburg, Pommern,
Polen, Preußen, Österreich, besonders aber Schlesien angegeben; es sind zumeist gut
deutsche Namen. Alle gehören dem katholischen Glaubensbekenntnisse an. Sieben von
ihnen verstanden ein Gewerbe und erscheinen daher in einem besonderen Verzeichnisse
aufgeführt. Jeder erhielt als Handgeld acht Gulden fünfzehn Kreuzer und an
drei- bis sechsmonatlichein Sold dreizehn Gulden dreißig Kreuzer bis achtundvierzig
Gulden. In Ungarn erhielten sie täglich an Brot- und Monturgeld neun bis
sechzehn Kreuzer. Diese Leute wurden nach Apathin im Weser Konntat gebracht.
Doch befanden sich unter ihnen Trinker und Händelsucher, die den Ansiedlungs-
bemnten viele Beschwerden verursachten. Da sie nach dein Wege gegen Polen
Erkundigungen einzogen, wurden ihnen ihre Originalpapiere (Pässe u. tgi.)
abgenommen und der Versuch gemacht, sie durch Verheiratung festzuhalten.
Außer den preußischen Soldaten zogen aber auch andere Einwanderer aus
Preußen nach Ungarn. So kamen im Mai 1768 fünf Familien aus Preußisch-
Schlesien mit einem Wagen und zwei Pferden nach Olmütz. Unter ihnen
befanden sich vier Bauern und ein „Gürtler"; zusammen zählten sie siebzehn Köpfe.
Sie baten, nach Ungarn zur Ansiedlung geschickt zu werden. Das Olmützer
Kreisamt stellte ihnen zunächst einen Paß an das Gubernium in Brünn aus.
Hier erhielten sie einen Paß nach Preßburg und zwanzig Gulden als „Viatikum"
(Reisezehrung), weil sie angaben, „daß sie ansonsten nicht fortkommen könnten".
Als drei Jahre später die Ansiedlungen in Ungarn (Banat) wegen der großen
Zahl der Einwanderer eingestellt werden mußten, erging 1771 der Auftrag,
daß die preußischen Deserteure aus Mähren nicht mehr hingeschickt werden sollten.
Im folgenden Jahre wurde dieser Auftrag dahin ergänzt, daß die Kolonisation
zwar eingestellt sei, doch stehe es jedem Einwanderer aus Polen und Preußen
frei, dennoch nach Ungarn zu ziehen und sich in den königlichen Freistädter und
auf Privatherrschaften auf eigene Unkosten niederzulassen.
Schon oben ist erwähnt worden, daß sich unter Kaiser Joseph den: Zweiten
das Bestreben geltend machte, die in den Sudetenländern und in Galizien nicht
untergebrachten preußischen Emigranten nach Ungarn zu schicken. Der kaiserliche
Befehl wurde auch der ungarischen Hofkanzlei mitgeteilt. Am 9. Juni 1786
berichtete diese, daß noch viele „Deutsche aus dem Reich", die nach Ungarn
gekommen waren, auf ihre Ansiedlung warten. Es werde daher kaum möglich
sein, die „preußischen Untertanen als Bauern mit Haus und Grundstücken zu
versehen. Es scheint also nichts anderes übrig zu sein, als daß man sie nach
Maß ihrer Tauglichkeit entweder als bloße Inwohner mit Häusern und einen:
Grundstück zum Garten oder als Beiwohner in den Kameralgütern mit Zugebung
einer Melkkuh unterbringe, wie man es bereits für die übrigen Einwanderer
eingeraten hat. Die Professionisten, Handwerker und Fabrikanten sollen- aber
in den königlichen Freistädter oder größeren Marktflecken mit den für die deutschen
Reichseinwanderer bewilligten Begünstigungen untergebracht werden". Diese
Vorschläge genehmigte Kaiser Joseph der Zweite am 26. Juni 1786.
Inzwischen war schon eine Anzahl preußischer Familien nach Ungarn
gekommen. Einem Berichte der ungarischen Statthalter» vom 13. Juni 1786
entnehmen wir, daß sich bei der Kaschauer Kameraladministration einundzwanzig
preußische Familien, die zusammen vierundsiebzig Köpfe zählten, gemeldet hatten.
Die Administration hatte sie auf der Herrschaft Pelion hin Säroser Komitat)
untergebracht; dies wurde auch von der ungarischen Hofkanzlei genehmigt.
Möglicherweise befinden sich unter den Deutschen, die neben Slowaken und
Magyaren heute in KeczerpeMn wohnen, auch Nachkommen dieser preußischen
Einwanderer. Doch ist es auch möglich, daß diese Ansiedler mit anderen aus
dem Kaschauer Bezirke 1792 ins Banat versetzt wurden; solche Übersiedlungen
fanden öfters statt. Bemerkt sei noch, daß in den Jahren 1784 und 1786
auch andere Ansiedler aus Preußisch-Schlesien und aus Glatz nach Ungarn
kamen. Ihre Zahl läßt sich nicht feststellen.
! le auf 5 Milliarden angewachsene Schuld des Reiches, die jährlich
200 Millionen an Zinsen verschlingt, ist eine drückende Last in
Friedenszeiten, sie untergräbt den Kredit des Reiches für den
Kriegsfall und bildet so einen wertvollen Bundesgenossen für
Deutschlands Gegner. Jeder, der aus hohen oder egoistischen
Beweggründen die Erhaltung des Friedens und im Falle eines Krieges den
Sieg der deutschen Waffen wünscht, muß in diesem Feind des Landes seinen
eigenen Feind erblicken, der nicht nachdrücklich genug bekämpft, nicht schnell
genug aus der Welt geschafft werden kann. Darum erscheint die schleunige
Tilgung der Schuld als die dringendste, vornehmste Aufgabe der deutschen
Finanzpolitik. Solange sie ungelöst bleibt, ist es vollkommen unrichtig und
eine gefährliche Selbsttäuschung, zu behaupten, die Fincmzreform sei abgeschlossen,
man dürfe beruhigt ihre Ergebnisse abwarten. Das Reformwerk ist in Angriff
genommen, indem man versucht hat, für die Deckung des Fehlbetrages der
laufenden Ausgaben zu sorgen, — aber der größte, dauernde Übelstand der
deutschen Finanzen, die 5 Milliarden Schulden, dauert fort.
Nach einer verbreiteten Ansicht ist der Finanzplan von 1908 an dem
bösen Willen der Mehrheitsparteien gescheitert; in diesem Sinne spricht man
vorwurfsvoll davon, daß die .Konservativen und das Zentrum den Fürsten
Bülow im Stich gelassen und damit seinen Sturz verschuldet hätten. Als wenn
der Finanzplan derart gewesen wäre, daß die große Mehrheit der Bevölkerung
ihni hätte zustimmen können, als wenn der Reichskanzler sich das VerKauen der
Nation auf dem Gebiete der Finanzpolitik erworben hätte! Tatsächlich hat
Fürst Bülow während seiner ganzen Amtsführung in die verworrenen Finanz¬
verhältnisse wenig eingegriffen. Er hat es jahrelang mit angesehen, wie die
Finanzen immer schlechter wurden, wie die Schuld des Reiches unheimlich
anschwoll. Eine „Finanzreform" folgte der anderen, keine hielt länger als
zwei Jahre vor. Da nachgerade die Beunruhigung in der Bevölkerung mit den
Schwierigkeiten der auswärtigen Lage wuchs, so wurde zugesichert, nun solle
endlich ganze Arbeit gemacht werden, an Stelle kleiner Palliativmittel werde ein
großangelegtes Reformwerk treten zur dauernden Heilung der finanziellen Schäden.
Allein der Entwurf der verbündeten Regierungen vom 3. November 1908 brachte
schwere Enttäuschungen. Daß vier Fünftel des ganzen Bedarfs von der Masse des
Volkes und nur ein Fünftel vom Besitz getragen werden sollten, war so ungerecht
und willkürlich, daß es die Zustimmung der großen Mehrheit der Bevölkerung
unmöglich finden konnte. Anderseits erregte die unselige Nachlaßsteuer einen
Sturm des Unwillens, nicht etwa nur um deswillen, weil sie eine Besteuerung
der Kinder und Ehegatten mit sich brachie, sondern namentlich, weil der Erfolg
der vorgeschlagenen Maßregel nach den eigenen Angaben des Entwurfs nur ein
mäßiger sein konnte, weil das ganze Institut der Nachlaßsteuer fremdartig,
dunkel, undurchsichtig war und weil man endlich unterlassen hatte, zur Verhütung
etwaiger Härten ein geeignetes Sicherheitsventil vorzusehen. (Vgl. meinen
Aufsatz: „Veredelung der Erbschaftssteuer" in den „Preußischen Jahrbüchern",
November 1909 S. 19.) So mußte die Regierung unter dem Drucke der
öffentlichen Meinung, nicht etwa nur einzelner Parteien, sich nachträglich dazu
verstehen, -die Vorlage zu dem umzugestalten, was sie im Grunde war, zu einer
Erweiterung der Erbschaftssteuer. Während aber der Vorschlag in der ursprünglichen
Form der Nachlaßstener doch noch 73 Millionen abwerfen sollte, wurde der Ertrag
des umgestalteten Entwurfs auf 55 Millionen veranschlagt. Natürlich fiel er nun
erst recht. Konnten schon 75 Millionen nicht reizen, so waren 55 Millionen
gewiß nicht verlockender. Um so unhaltbarer mußte der von dem Reichskanzler
eingenommene Standpunkt erscheinen, daß die Finanzreform nur mit dieser
Erbschaftssteuer beschlossen werden könne. Die Mehrheitsparteien hatten voll¬
kommen recht, wenn sie diese Behauptung als unverständlich bezeichneten. —
Ebenso unglücklich mußte der Feldzug verlaufen, den die Regierung im Interesse
der von nur vertretenen Reform des Erbrechts unternahm mit dem Ziele, das
Erbrecht der entfernteren Verwandten zugunsten der Reichskasse zu beseitigen.
Zwar hatte sich der leitende Staatsmann schriftlich und mündlich, auch im
Bundesrat, für die Reform ausgesprochen; dabei ließ er es aber bewenden.
Die „Kleinarbeit" wurde den: Reichsschatzamt überwiesen, die schwierigen, ver-
antwortungsvollen Verhandlungen rin dieser Behörde fielen der Reichskanzlei
zu. Der so entstandene Entwurf „über das Erbrecht des Staates" stellt keine
umfassende Reform dar, keine durchgreifende Änderung des nach römischer
Schablone völlig schrankenlosen Verwandtenerbrechts. Er beseitigt nur die Erb¬
ansprüche der entferntesten Verwandten zugunsten der Staatsgesamtheit, so daß
immer noch der Urgroßonkel von seinen Geschmisterurenkeln beerbt wird, — wie
vor vierzehn Jahrhunderten im oströmischen Reiche unter der Mißwirtschaft
Justinians. Der Ertrag dieser bescheidenen Reform, der gleichwohl noch ansehnlich
werden konnte, wurde mittels künstlicher Abzüge auf 25 Millionen herabgesetzt.
(Vgl. „Begründung des Entwurfes eines Gesetzes über das Erbrecht des Staates"
S. 28.) Die natürliche Folge war, daß das warme Interesse, welches gerade
diesem Problem von allen Seiten entgegengebracht wurde, allmählich erkaltete,
zumal die Vertretung der Vorlage nicht aus starker Überzeugung heraus mit
feuriger Leidenschaft, mit hinreißender Beredsamkeit geführt wurde. Fürst Bülow
selbst, der sich im Reichstag wiederholt, wen» auch erfolglos, für die Erbschafts¬
steuer bemühte, hat mit keinem Wort der Erbrechtsreform gedacht, obgleich dieses
Projekt weit größere Tragweite hatte, weit höheren Ertrag liefern konnte und
sich der lebhaftesten Sympathien innerhalb der Regierung wie des Reichstages
erfreute. Auf diese Weise kounte in der Tat eine große Reform nicht ins Leben
gerufen werden. Noch mehr ist zu beklagen, daß der Reichskanzler den Kern
der ganzen Finanzfrage, die schwere Gefahr der Reichsschuld, nicht gebührend
gewürdigt hat. Denn von einer schleunigen, durchgreifenden Tilgung der Schuld
war in dem Finanzplan nicht die Rede, während doch zutage lag, daß die
Deckung des augenblicklichen Fehlbetrages kein Mittel war, eine nachhaltige,
gründliche Besserung der zerrütteten Finanzen zu ermöglichen. Eine solche kann
nur durch eine Beseitigung des dauernden Übels, durch die Abstoßung der
Reichsschuld herbeigeführt werden. — Bei dieser Lage der Dinge erscheint es
kaum gerecht, die Schuld an dem Ausgange der denkwürdigen Reichstags¬
verhandlungen einzelnen Parteien zuzuschieben. Die Unzufriedenheit war eine
allgemeine, allgemein der Unwille darüber, daß die Regierung nicht imstande
war, die verwahrlosten Finanzen von Grund aus zu bessern. Und diese
allgemeine Mißstimmung war es am letzten Ende, die zu den bekannten
Ereignissen führte.
Wenn die vorstehend entwickelte Ansicht richtig ist, so ergibt sich daraus
die Notwendigkeit, die wichtige Aufgabe, deren Lösung unterblieb, nunmehr
endlich in Angriff zu nehmen, um schweres Unheil zu verhüten. Von vorn¬
herein ist klar, daß ein Unternehmen, wie die Abtragung von 5 Milliarden,
nicht mit kleinen Mitteln auszuführen ist. Die Steuerschraube so weit anzuziehen,
wie zu dem Zweck notwendig wäre, davon kann ernstlich nicht die Rede sein.
Es gibt nur ein geeignetes, unanfechtbares Mittel, das ist die jüngst vergeblich
versuchte Reform des Erbrechts, das Erbrecht des Reiches. An die Stelle der
entfernteren Seitenverwandten muß das Reich als Erbe treten, wenn der Erb¬
lasser nicht anders bestimmt hat. Diesen oft von mir empfohlenen Vorschlag
werde ich wiederholen, solange ich Leser dafür finde. Denn es ist meine feste
Überzeugung, daß diese Reform, die der Gesamtheit herrenloses Gut zuspricht,
das ein verkehrtes Gesetz bisher lachenden Erben zu rechtloser Bereicherung
hingab, den einfachsten Geboten der Gerechtigkeit entspricht, — daß sie gleich¬
zeitig auch das einzige Mittel bildet, um das Reich aus gefährlichen Nöten zu
befreien. Man darf behaupten, daß durch die Bewegung zugunsten der Erb¬
rechtsreform, die in ihren Anfängen über ein Jahrhundert alt ist und von den
besten Vertretern deutscher Wissenschaft getragen wird, folgende Sätze nunmehr
zum Gemeingut geworden sind:
Das noch in Geltung stehende schrankenlose Erbrecht der Verwandten in
inkinitum ist theoretisch von keinem Standpunkt zu rechtfertigen, praktisch nicht
durchzuführen. Es bestand geschichtlich weder im alten römischen, noch im
alten deutschen Recht. Es ist eine sinnlose Erfindung Justinians aus dem
Jahre 54.3 nach Christi Geburt. Da sich inzwischen aber die Verhältnisse vielfach
geändert haben, da Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert nicht notwendig
nach oströmischen Gesetzen aus dem sechsten Jahrhundert regiert werden muß,
so erscheint es geboten, auch dieses Überbleibsel aus der römischen Verfallzeit
endlich nach dem Bedürfnis der Gegenwart umzugestalten. Nachdem die
wichtigsten Pflichten der Familie vom Staat und Reich übernommen sind,
gebühren diesen Verbänden auch die Rechte, die ehemals die Gegenleistung für
jene Pflichten bildeten. Nach heutigen: Empfinden ist kein Raum für lachende
Erben in einem Staatswesen, in dem Millionen vom Ertrage harter Arbeit ihr
Leben fristen und überdies schwere Pflichten gegen den Staat erfüllen. Deswegen
sollten endlich die lachenden Erben verschwinden, — wenn sie sich nicht auf
ausdrückliche testamentarische Einsetzung berufen können, — und ersetzt werden
durch das Deutsche Reich.
Diese Forderungen lassen sich zu nachstehenden Grnndziigen eines Gesetzes
„über das Erbrecht des Reiches" zusammenfassen.
§ 1. In Ermangelung eines Testamentes werden die Seitenverwandten —
außer deu Geschwistern — als Erben durch die Reichskasse ersetzt.
Z 2. Geschwisterkinder sind berechtigt, landwirtschaftliche Grundstücke für
90 Prozent ihres Wertes aus dem Nachlasse zu erwerben, wenn" sie dies binnen
zwei Monaten beantragen.
Z 3. Die Reichskasse kann Erbschaften ausschlagen, wie andere Erben.
§ 4. Die Gemeinde, in welcher der Erblasser seinen letzten Wohnsitz
hatte, ist verpflichtet, unverzüglich durch ihren Vorstand ein Verzeichnis des
Nachlasses aufzunehmen und alle übrigen zur Feststellung des Nachlasses
dienlichen Schritte zu tun. Sie erhält dafür 5 Prozent des reinen Nachlasses.
Z 5. Die zur Ausführung dieses Gesetzes erforderlichen Bestimmungen
werden durch Kaiserliche Verordnung erlassen.
§ 6. Dieses Gesetz tritt mit Ablauf von zwei Wochen nach dem Tage
der Verkündung im Reichs-Gesetz-Blatt in Kraft.
Nach der von mir aufgestellten Berechnung, „Erbrechtsreform" (Berlin
1908, I. Guttentag), S. 47 ff., beläuft sich die Mehreinnahme aus der
Reform auf nahezu 500 Millionen jährlich, wovon nach Z 4 des obigen
Entwurfes nahezu 25 Millionen jährlich den Wohnsitz-Gemeinden zufallen
würden. Der Ertrag aus dem Reichserbrecht reicht mithin aus, um unter
Berücksichtigung von Zinsen und Zinseszinsen in acht Jahren die ganze
Reichsschuld abzutragen. Die Nichtigkeit der Berechnung ist angesichts des
überraschenden Ergebnisses gelegentlich in Zweifel gezogen worden, ohne nähere
Begründung. Wer aber weiß, daß laut der amtlichen Materialien im ganzen
5700 Millionen jährlich in Deutschland vererbt werden, dem wird es nicht
unmöglich erscheinen, daß davon 500 Millionen den lachenden Erben zugunsten
der Gesamtheit entzogen werden können.
So streiten für das Erbrecht des Reiches die stärksten idealen und materiellen
Mächte, Gerechtigkeit und Vaterlandsliebe, aber auch der natürliche Egoismus
jedes einzelnen, der kein Opfer zu bringen hat, um eine schnelle, gründliche
Besserung der Finanzlage und damit eine Erleichterung der Steuerlast herbei¬
zuführen.
Die bekannte Rede des englischen Premierministers Asquith hat ein eigen¬
tümliches Nachspiel gehabt, über das man wohl nicht hinweggehen darf. Um die
Sachlage klar zu machen, möchten wir zunächst zwei Sätze aus dem „Berliner
Tageblatt" anführen, die in dieser Zeitung die darauffolgenden Mitteilungen ein¬
leiten. Da heißt es nämlich: „Wie erinnerlich, hat der englische Premierminister
Asquith neulich in seiner großen Rede über die Flottenvermehrung erklärt, die
deutsche Regierung habe eine Verständigung über die Flottenbauten mit der
Begründung abgelehnt, daß die öffentliche Meinung in Deutschland solche Ver¬
handlungen nicht wünsche. Diese zarte Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung
ist viel erörtert worden, und es ist, besonders in der liberalen Presse Deutschlands,
Herrn v. Bethmann Hollweg das Recht bestritten worden, diese öffentliche Meinung
gegen die Flottenverständigung auszuspielen." Diese Sätze des „Berliner Tage¬
blattes" leiten, wie erwähnt, eine Besprechung ein, die sich auf einen eigentümlichen
Schritt der Londoner „Daily Mail" bezieht. Dieses Blatt hat nämlich durch
seinen Berliner Korrespondenten „die öffentliche Meinung Deutschlands" direkt zu
ergründen gesucht, und zwar in der Form einer Umfrage bei einer großen Zahl von
Zeitungen im Reich. Schon diese Tatsache weckt Betrachtungen sehr eigner Art.
Man stelle sich einmal vor, ein Deutscher wende sich an die oppositionellen Blätter
der englischen Provinzpresse, um von ihnen in einer internationalen Streitfrage
zwischen Deutschland und England eine Antwort zu erhalten, mit der er womöglich
die öffentliche Meinung Englands gegen einen englischen Minister ausspielen und diesen
Lügen strafen könne. Der Gedanke ist eigentlich gar nicht auszudenken, denn er würde
mit einer ungeheuren Blamage des Fragestellers enden. Leider ist bei uns das nationale
Selbstbewußtsein und der internationale Takt nicht in dem Maße entwickelt, daß ein
genügendes Gegengewicht vorhanden wäre gegen den Kitzel, in einer so wichtigenFrage
direkt vom Ausland um seine Meinung gefragt zu werden, gewissermaßen selbst in einer
internationalen Entscheidung mitzuwirken und so ein Zeugnis für das Gewicht
dieser Meinung zu erhalten. Dazu kommt noch, daß viele dieser Zeitungen —
nicht alle, denn es sind auch große und angesehene darunter — schon in der Art
der Fragestellung eine Gelegenheit sehen, Anschauungen jener Kreise zum Ausdruck
zu bringen, deren politischer Horizont über das Schelten auf den Steuerdruck und
über die Befriedigung des allgemeinen Rnhebedürfnisses nicht hinausgeht. Wir
werden freilich sogleich sehen, wie wenig eigentlich von dem Ergebnis dieser eigen¬
tümlichen Rundfrage übrig bleibt. Zunächst ist nur die Tatsache festzustellen, daß
ein großer Teil der Presse in einer wichtigen Machtfrage des Deutschen Reichs
dem Auslande hilfreiche Hand geleistet hat, um den Eindruck zu erwecken, als
befinde sich die deutsche Regierung im Zwiespalt mit der öffentlichen Meinung
ihres Volks, als wolle das deutsche Volk seine Regierung in der Flottenfrage
desavouieren.
Sehen wir uns nun einmal die Sache näher an. Asquith soll behauptet
de-ben, die deutsche Regierung habe sich ihm gegenüber darauf berufen, daß die
öffentliche Meinung in Deutschland gegen eine Verständigung mit England über
die Flottenbauten sei. Hat nun Asqnith das wirklich gesagt? Man kann in
solchen Dingen nicht mißtrauisch genug sein. Deshalb möchten wir die Stellen
der Rede des englischen Premierministers, die allein in Betracht kommen können,
in wortgetreuer Übersetzung hier wiedergeben. Asquith führte also aus:
„Sie können sagen: ,Jst es denn nicht möglich, zu irgendeiner Art von
Abkommen zwischen den Nationen der Welt zu gelangen, besonders zwischen uns
und dem großen befreundeten Deutschen Reich, wodurch diese Angelegenheit zu
einem Abschluß gebracht werden könnte?' Ich wollte, es wäre so. Die deutsche
Regierung hat uns gesagt — ich kann mich darüber nicht beklagen; und ich habe
keine Antwort darauf zu geben —, daß ihre Handlungsweise in dieser Angelegen¬
heit geleitet wird durch einen Akt des Reichstags, unter dessen Wirkung das
Programm Jahr für Jahr fortschreitet." Asquith führte dies in einigen Sätzen
näher aus, wobei er die richtige Bemerkung hinzufügte, daß wir jetzt wohl auf
der Höhe der Wellenbewegung seien („at ete ver^ top ol tke v-roe"). Er fuhr
fort: „Wenn es eben jetzt möglich wäre, durch ein Abkommen jene Baurate herab¬
zusetzen, so würde niemand mehr erfreut sein als Seiner Majestät Regierung. . .
Wir sind deswegen an die deutsche Regierung herangetreten. Sie haben sich außer¬
stande gesehen, etwas zu tun; sie rönnen es nicht ohne einen Akt der Volks¬
vertretung, der das Flottengesetz abändert. Sie sagen uns, und zweifellos voll¬
kommen richtig, sie würden zu eiuer Abänderung des Programms nicht die Unter¬
stützung der öffentlichen Meinung in Deutschland erhalten."
Asquith hat also kein Wort davon gesagt, daß die deutsche Regierung die
öffentliche Meinung Deutschlands als Gegnerin einer Verständigung mit England
hingestellt habe. Nach seiner Darstellung hat ihm die deutsche Regierung erklärt:
Das, was ihr wünscht, können wir nur machen, wenn das Flottengesetz abgeändert
wird, und eine solche Änderung werden wir vor der öffentlichen Meinung nicht
rechtfertigen können. Das ist etwas ganz andres. Davon, daß die öffentliche
Meinung in Deutschland nichts von einer freundschaftlichen Verständigung mit
England wissen wolle, ist gar nicht die Rede gewesen. Das ist erst durch ein
()niet pro quo hineingekommen, das die Fragestellung der „Daily Mail" ver¬
ursacht hat. Diese Fragestellung hätte korrekterweise lauten müssen: „Wünscht
nach Ihrer Ansicht die öffentliche Meinung Deutschlands die Abänderung
des in der Ausführung begriffenen Flottengesetzes zugunsten der Wünsche
Englands und zur Beseitigung seiner Befürchtungen?" Das wäre die einzige
Frage gewesen, durch die eine Kontrolle für die Berechtigung der Stellung
der deutschen Regierung möglich geworden wäre. Aber ob dann die Antworten
ebenso befriedigend für die englische Auffassung gelautet hätten? Wir möchten es
stark bezweifeln. Das „Berliner Tageblatt", das ganz entzückt darüber ist, daß
die fortschrittliche Provinzpresse und die sogenannte Generalanzeigerpresse — denn
um diese Blätter, die angeblich die deutsche öffentliche Meinung schlechthin reprä¬
sentieren sollen, handelt es sich in der Hauptsache — ihrer Negierung in einem
ausländischen Blatte in den Rücken gefallen sind, schickt der ersten Mitteilung
über die Umfrage der „Daily Mail" alsbald einen Leitartikel hinterher, der bei¬
nahe so aussieht, als sollte er die Entgleisung wieder in Ordnung bringen.
Statt freilich die Rede Asquiths selbst nachzulesen und zu prüfen, stellt das Blatt
Vermutungen darüber an, was wohl die deutsche Regierung gesagt haben könne;
es könne wohl nicht so schlimm gewesen sein, sonst hätte wohl Asquith nicht so
freundschaftlich gesprochen. Die deutsche Regierung solle doch eine Erklärung
darüber abgeben. Sehr würdig sei eine solche Situation für ein großes Volk
gewiß nicht. Wie man sieht, wird der Spieß hier elegant umgedreht. Aber die
Hauptsache ist, daß es weiter heißt: „Wir halten es allerdings für schwierig, das
bestehende Flottengesetz zu modifizieren. Es hat ohnehin seinen Höhepunkt erreicht,
und die nächsten sieben Jahre werden den „Gipfel der Welle" allmählich verebben
lassen." Prüfen wir den Inhalt dieser beiden Sätze genauer, so finden wir, daß
es eben das ist, was die deutsche Regierung der englischen erklärt hat, was
Asquith, wie aus dem Wortlaut seiner Rede klar hervorgeht, selbst vollkommen
eingesehen und seinen Landsleuten übermittelt hat. Wozu nun also der Lärm?
Anscheinend um den Rückzug zu maskieren, stellt allerdings das „Berliner Tage¬
blatt" zum Schluß mit vieler Feierlichkeit und Emphase fest: „Die öffentliche
Meinung in Deutschland will eine Verständigung mit England." Das nennt
man offene Türen einrennen. Denn das hat kein verständiger Mensch bestritten,
und es ist ein starkes Stück, ohne Prüfung der Beweise und Unterlagen zu
behaupten, daß die deutsche Regierung keine Verständigung mit England wolle.
Die Schwierigkeit liegt nur darin, daß, was England von uns bisher als Preis
dieser Verständigung gefordert und erwartet hat, sich mit unsern Interessen und unserer
Würde nicht verträgt. Daß diese gewahrt werden müssen, hält auch das „Berliner
Tageblatt" für selbstverständlich, so daß es nach seiner Ansicht „auch nicht mehr
als deutsche Gründlichkeit ist, wenn einzelne der von der „Daily Mail" befragten
Blätter allerlei Einschränkungen und Vorbehalte machen". Es gehört viel Un¬
kenntnis dazu, um nicht zu sehen, daß in dem, was das mehrfach genannte Blatt
als selbstverständlich beiseite schiebt, der Kernpunkt der ganzen Frage liegt. Der
Engländer ist gewöhnt, sich und seine Sache sehr selbstbewußt und rücksichtslos
durchzusetzen, aber niemand ist auch so bereit, fremdes Recht zu achten, wenn es
mit gleicher Entschiedenheit und Sachlichkeit vertreten wird. Dagegen ver¬
ständigt er sich nicht mit einem Widersacher, der sich einschüchtern läßt. Es
ist eine ganz falsche Taktik, die Bereitwilligkeit zur Verständigung mit England
übermäßig zu betonen, wo dies in der Vorstellung der Engländer nur durch
Zugeständnisse geschehen kann, die mit unsern Interessen und unsrer Würde
schlechterdings unvereinbar sind. Solange das so ist und unsre Regierung innerhalb
ihrer gesetzlich festgelegten Verpflichtungen bleibt, sollte alles unterlassen werden,
was im Auslande so aussehen könnte, als ob das deutsche Volk nicht hinter seiner
Regierung stände. Es ist sehr bedauerlich, daß diese Seite der Sache auch von
Blättern, die nach ihrem Ansehen und ihrer politischen Stellung ein größeres
Gewicht ihrer Meinung beanspruchen können und dementsprechend eine größere
Verantwortung tragen, anscheinend nicht so sehr beachtet worden ist. Denn es
kommt ja nicht bloß darauf an, daß etwas sachlich Einwandfreies gesagt wird,
sondern auch auf die Form, in der es gesagt wird, und die Umstände, unter denen
es geschieht. Den englischen Veranstaltern der Umfrage kann von ihrem Stand¬
punkt aus kein Vorwurf gemacht werden; im Gegenteil, man kann nur anerkennen,
daß sie durch richtige Einschätzung ihrer Adressaten für ihre vaterländische Sache
einen Erfolg erreicht haben. Indem sie den auf englischer Seite bestehenden Irr¬
tümern und Vorurteilen auf eine scheinbar unwiderlegliche Weise — nämlich durch
Vorführung der angeblichen öffentlichen Meinung Deutschlands selbst — neue
Nahrung zuführen, fördern sie ihre nationalen Zwecke. Die Verständigung zwischen
Deutschland und England wird natürlich gerade dadurch erschwert. Um so
beschämender ist die Haltung des Teils unsrer Presse, der sich dazu hergegeben bat.
Neuerdings ist von einer Annäherung der Türkei an den Dreibund die Rede
gewesen. Man wird gut tun, die Frage, ob die Türkei einen festeren Anschluß
an bestimmte andre Mächte suchen soll und wird, vorläufig noch ganz auf sich
beruhen zu lassen. Wir freuen uns, wenn die Türkei ein freundschaftliches Ver¬
hältnis zu Deutschland als ein Bedürfnis empfindet, und beabsichtigen auch
unserseits diese Freundschaft zu erwidern. Dagegen glauben wir für die nächst
absehbare Zeit nicht, daß es im Interesse der Türkei sein könnte, zu einzelnen
europäischen Mächten in besondre Beziehungen zu treten, die sie andern Mächten
leicht entfremden könnten und wahrscheinlich entfremden würden. Es würde aber
auch unsern Interessen nicht zum Segen dienen, wenn die Türkei Verpflichtungen
einginge, die in ihrer gegenwärtigen Lage nicht durch ihren eignen dauernden
Vorteil geboten oder empfehlenswert erscheinen. Da können Rückschläge eintreten,
die vermieden werden, wenn die Türkei zu allen Mächten freundschaftliche
Beziehungen zu erhalten sucht.
Das Verhalten der badischen Sozialdemokraten, die gegen das Parteigebot
den Frevel begangen haben, für das Budget zu stimmen, ist in der letzten, sonst
ereignisarmen Woche allgemein Gegenstand zahlreicher Erörterungen geworden.
Neues ist aber dabei eigentlich nicht zutage gefördert worden. Die süddeutsche
Sozialdemokratie ist von jeher das Schmerzenskind der in dem weniger gemütlichen
Norden wurzelnden Parteileitung gewesen. Wer dem Vorgang eine tiefere Bedeutung
zuerkennen möchte, müßte eigentlich den Beweis liefern oder es wenigstens wahr-
scheinlich machen, daß diese Vorgänge weniger in der Verschiedenheit norddeutscher
und süddeutscher Art als in besondern Momenten der allgemeinen Entwicklung ihre
Erklärung finden. Dann könnte man darauf vielleicht die Annahme einer bevor¬
stehenden Spaltung oder Mauserung der Sozialdemokratie gründen. Aber ein Nach¬
weis jener Art dürfte schwer, wenn nicht unmöglich sein. Deshalb glauben wir vor¬
aussagen zu können, wie es kommen wird. Auf dem nächsten Parteitag wird nach
heftigen, vielleicht aber auch weniger heftigen Auseinandersetzungen den badischen
„Genossen" die Mißbilligung der Partei ausgesprochen werden, die Parteileitung
wird bei dem alten Schema bleiben, und die gemaßregelten „Genossen", wie über¬
haupt die süddeutschen Sozialdemokraten werden es nach wie vor halten, wie sie
es immer gehalten haben, d. h. sie werden machen, was sie wollen. Und dann
wird halt alles beim alten bleiben. Lohnt es, davon überhaupt noch viel zu sprechen?
hat doch mehr Freunde, als wie es die Nationalliberalen und Ultra¬
montanen wahr haben wollen. Wir veröffentlichen daher heute eine Zuschrift aus
Hessen und weisen wiederholt auf die beiden Artikel in Heft 17 und 26 der
„Grenzboten" hin; beide Artikel sind von gründlichen Kennern der Verhältnisse in
den Reichslanden geschrieben. In der neuen Zuschrift heißt es wörtlich:
Die reichsläudischeu Verhältnisse, die jetzt in den Vordergrund gerückt sind,
verlangen gründliche Abänderung der bestehenden Zustände. Die Bevölkerung Hot
ein Recht, Beseitigung des jetzigen Provisoriums zu verlangen, das ein Einleben
in die neuen Verhältnisse so sehr erschwerte. Sie kann jedoch meines Erachtens
nicht erwarten, dies durch Einrichtung eines neuen, mit den übrigen gleich¬
berechtigten Vundesstaates gewährt zu sehen; denn für diesen fehlt jede Garantie,
die das Reich verlangen muß. — Nach nahezu vierzigjähriger deutscher Herrschaft
steht die Bevölkerung noch deutschem Wesen ablehnend, wenn nicht feindselig gegen¬
über. Wer daran noch zweifelt, möge nur die Verhandlungen des „Landes¬
ausschusses" verfolgen und die Sprache, die in ihm geredet wird. Es geht nicht
an, dieser Volksvertretung Wohl und Wehe der größtenteils altdeutschen Beamten¬
schaft anzuvertrauen, ebensowenig wie ihr die Schulen überliefert werden dürfen.
Im Interesse des Reichs liegt es vollends nicht, daß ein neuer Bundesstaat
eingerichtet wird. Das Reich hat schon jetzt so viele partikularistische Unter¬
strömungen zu überwinden, daß eine Vermehrung derselben — und der Elsässer
hat eine kräftig entwickelte Eigenart — uuter allen Umständen vermieden werden
muß. Es bleibt also nichts anderes übrig als die Annexion der Reichslande durch
Preußen.
Diese würde wohl großen Schwierigkeiten begegnen, allein sie zu überwinden
dürfte bei ernstlichem Willen Wohl möglich sein. Die zu befürchtende Mißstimmung
bei dem Bundesstaate wäre Wohl in erster Linie anzuführen; alle Stämme haben
bei der Eroberung der Reichslande mitgeholfen, folglich auch ein Mitbestimmungs¬
recht. Bei ruhiger Überlegung müssen sich die Bundesstaaten indessen sagen, daß
sie bei der Annexion kaum eines Rechts entsagen. Preußen übt im Bundesrat
naturgemäß schon jetzt den größten Einfluß auf die reichsländischen Verhältnisse
aus und es ist nicht zu erwarten, daß der Kaiser auf die ihm zustehenden landes¬
herrlichen Befugnisse für das Reichsland verzichten wird. Eine Verstimmung würde
indessen ganz vermieden, wenn Preußen sür den Anfall der beiden Provinzen eine
gleichwertige Gegenleistung aufbringen würde. Dies kaun Preußen, indem es seine
Staatsbahnen an das Reich abtritt.
Für das Reich wäre dies ein ungeheurer Gewinn, es bekäme ein finanzielles
Rückgrat und brauchte nicht immer mit dem Klingelbeutel bei den Bundesstaaten
herumzugehen, wozu es trotz Finanzreform bald wieder gezwungen sein wird.
Die Bundesstaaten würden hierdurch eine große Entlastung erfahren, und die
Befriedigung hierüber würde die Verstimmung über den Landzuwachs Preußens
überwiegen, namentlich wenn an den Stimmenverhältnissen im Bundesrat nichts
verändert würde.
In Preußen selbst würde die Abtretung seines großartig entwickelten Staats-
bahnnetzes wohl vielfach schmerzlich empfunden werden. Allein es ist doch zu
erwarten, daß der Reichsgedanke hier siegen würde. Preußen hat dein Reiche
schon seine Flotte und seine Post als Morgengcibe gebracht, und der Gedanke,
ebenso wie seinerzeit die Rheinprovinz die Reichslande deutschem Wesen zurück¬
zugewinnen, müßte den Verzicht auf die Bahnen annehmbar machen, zumal als
Ersatz ein blühendes Land mit wenig Staatsschulden und bedeutender Steuerkrast
geboten wird.
Noch ein weiterer Gedanke redet vorstehendem Plane das Wort. Auf keinem
Gebiet des öffentlichen Lebens wird der Mangel an Einheit so empfunden wie
auf dem Felde des Eisenbahnwesens. Im Besitze der preußischen und reichs¬
ländischen Eisenbahnen würde es dem Reiche gelingen, den alten Bismarckschen
Plan, die Bahnen in einer Hand zu vereinigen, zu verwirklichen. Die meisten
kleineren Staaten laborieren mit ihren Bahnen und würden wohl sich bereit finden
lassen, sie dem Reiche käuflich oder in Form von Betriebsgemeinschaften zur Ver¬
waltung zu überlassen.
Bayern würde hierbei wohl höchstens mit seinen pfälzischen Bahnen in Frage
kommen. Es bietet sich jetzt eine Gelegenheit, das Reichseisenbahn-Projekt zu ver¬
wirklichen, bevor den Neichslanden weitere Konzessionen gemacht werden. Wird
diese versäumt, so dürfte wohl für alle Zeiten das Bismarcksche Projekt unaus¬
führbar bleiben.
In den Reichslanden selbst dürften meine Vorschläge wohl kaum Zustimmung
finden, obwohl die Angliederung an einen großen Staat dem Lande große Vorteile
bringen würde, wie dies hier schon früher erörtert wurde. Der Widerstand dürste
indessen nicht tragischer genommen werden als die Enttäuschungen, die die jetzt
im Bundesrat vorliegenden Entwürfe allem Anscheine nach später bereiten werden.
Wie kein anderer Großstaat läßt Preußen seinen einzelnen Volksstämmen Freiheit,
ihre „berechtigten Eigentümlichkeiten" zu wahren, und tastet sie nur an, wenn es
im Interesse des Ganzen geboten ist. Mit dem Werben um die Gunst der
„Notabeln" müßte endgültig gebrochen werden, es ist eines großes Volkes unwürdig
und hat dem Deutschtum schon viel geschadet. Die tüchtigsten Beamten, die sich
am besten aus dem Westen rekrutieren sollten, da dort ähnliche soziale Verhältnisse
wie in den Reichslanden sind, sollte man dorthin schicken, statt des Statthalters
zwei Oberpräsidenten.
Lothringen könnte man vielleicht noch den Regierungsbezirk Trier angliedern,
damit das französische Element dort nicht zu sehr dominiert. „Ebenso wie die
Erwerbungen von 1816 und 1866 würden nach Schaffung definitiver Zustände
sich die Reichslande dem Ganzen einfügen, man muß nur Geduld haben!"
Vorstehende Ausführungen wären wohl einer ernstlichen Erwägung aller
Vaterlandsfreunde wert, wenn sie bedenken wollten, was sich auf verhältnismäßig
kurzem Wege alles erreichen läßt: Schaffung definitiver Zustände an der West¬
grenze, Förderung des Reichsgedankens und der finanziellen Selbständigkeit des
Reiches, Verwirklichung des Reichseisenbahn-Projekts.
Dies alles würde in greifbare Nähe gerückt, wenn die verbündeten Regierungen
und der Reichstag sich von dem Gedanken leiten lassen wollten: „Das Vaterland
Eine gute Ergänzung zu der in
Heft 26 besprochenen Untersuchung von Hugo Koch bietet das soeben erschienene
Schriftchen: „HatJesus das Papsttum gestiftet?" vondemMünchenerDogmenhistoriker
Professor Joseph Schnitzer (Verlag von Lampart u. Co. in Augsburg, 79 S.; s. a„
„Das neue Jahrhundert", 2. Jahrg. Ur. 9 und 10), dessen freimütiger Protest gegen die
Modernistenenzyklika noch in guter Erinnerung ist. Es gibt in gewandter und
gemeinverständlicher Darstellung einen Bericht über die Ergebnisse des alten Streites
um die Worte Jesu bei Matthäus 16,18 f.: „Du bist Petrus, und auf diesen
Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht
überwältigen. Und ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben: alles, was dn
binden wirst auf Erden, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was
du lösen wirst auf Erden, soll auch im Himmel los sein." Diese Worte des
Herrn haben bekanntlich in den übrigen Evangelien in gleichem Zusammen¬
hange keine Parallele, und in der Literatur der beiden ersten Jahrhunderte klingt
von so gewichtiger Verheißung nicht nur nichts wider, sondern die beglaubigte
Geschichte dieser Zeit steht sogar zu ihr im Gegensatz. Deshalb hat die moderne
Kritik jene Herrenworte mit einem Fragezeichen versehen müssen.
Schnitzer beginnt mit einem Überblick über die Literatur der Leben-Jesu-
Forschung und der „synoptischen Frage", d. h- der Frage, ob das Matthäus- oder
das Markusevangelium das erste und älteste sei. Er selbst schließt sich nachher (im
dritten Teile) der „Markushypothese" an, die sich seit H. I. Holtzmann (1863)
immer allgemeinere Anerkennung erzwungen hat und Gemeingut der kritischen
Theologie geworden ist.
Dann zeigt er, daß die Anschauungen Jesu durchaus antihierarchisch waren.
Jesus rechnete mit dem nahen Ende und der Weltkatastrophe und mit seiner
eigenen Ankunft, um die messianische Herrschaft aufzurichten. Nicht in ungezählte
ferne Jahrhunderte schweifte sein Blick, sondern er war begrenzt vom engen
Horizont des bald hereinbrechenden Weltunterganges. Zudem war sein öffentliches
Leben und Wirken ein einziger Protest gegen die Heuchelei und Anmaßung einer
satten, selbstgerechten, hochmütigen Priester- und Theologenkaste. Er kann keine
neue haben schaffen wollen. Unermüdlich drang er auf Verinnerlichung, Vertiefung,
Vereinfachung des religiösen Lebens und stellte allem menschlichen Gewissenszwang
die unverbrüchlichen Gebote Gottes entgegen. Und er hätte neue Äußerlichkeiten
und Menschensatzungen einführen sollen? „Das eine Große, Letzte und Höchste
hatte er immer verkündet, die Liebe zu Gott und zum Nächsten; mit zärtlicher
Hirtensorge hatte er die irrende Seele ihrem Gotte, das pflichtvergessene Kind
seinem Vater aus erbarmende Herz gelegt: und er hätte die Seele und Gott
neuerdings auseinander reißen und ein Heer anspruchsvoller Mittelpersonen
zwischen sie drängen sollen? Zu Söhnen Gottes hatte er seine Lieblinge geadelt
und er hätte sie zu Pfaffenknechten erniedrigen sollen?" Selbst wenn er also
eine neue Neligionsgesellschaft hätte stiften wollen, so hätte er ihr doch seiner
ganzen Richtung nach keine hierarchische Verfassung geben können.
Der dritte Teil stellt die Stiftungsfrage in das Licht der Evangelienkritik.
Es gehört für Schnitzer zu den gesichertsten und unumstößlichsten Ergebnissen der
wissenschaftlichen Forschung eines ganzen Jahrhunderts, daß Matthäus in jeder
Beziehung von Markus abhängig ist. Und da eine andere historische Quelle, aus
der er seine geschichtlichen Angaben geschöpft haben könnte, nicht vorhanden ist,
so muß alles, was er über Markus hinaus zu erzählen weiß, von vornherein
dem stärksten Zweifel begegnen. Demnach ist auch die Stelle 16, 18 f. unglaub¬
würdig und späterer Einschaltung verdächtig. Dem Matthüusevcmgelium ist
überhaupt spätere Legendenbildung eigen, und es kennt auch bereits eine Kirche
und eine Kirchendisziplin, von der Markus und selbst Lukas noch nichts wissen.
Gerade die Episoden über Petrus, für den Matthäus eine besondere Vorliebe
hat, gehören auch zu dem sonst nicht verbürgten und daher wenig glaubwürdigen
Sondergute dieses Evangeliums. Schon das christliche Altertum hat sich endlich
darüber seine Gedanken gemacht, daß Markus, der Dolmetsch und Begleiter des
Petrus, von der Sache nichts weiß.
Die andern Stellen, auf die sich die göttliche Einsetzung des päpstlichen
Primats zurückführt, werden mit Unrecht dafür ausgenutzt, Luk. 22, 32 erst seit
dem fünften Jahrhundert. Es ist dort, wie Schnitzer zeigt, nicht vom „Glauben" die
Rede, sondern von der „Treue" («o^): Petrus wird sich, nachdem er den Herrn
verraten, von seinem Falle erheben und dann auch die verzagten Brüder stärken.
Ebensowenig kann Joh. 21, 15 ff. hierarchisch gedeutet werden. Zudem ist die
Stelle (das Schlußkapital) wahrscheinlich ein späterer Nachtrag von anderer
Hand und wird ebenfalls erst seit Papst Gelasius I. (492 bis 496) für die römischen
Ansprüche verwertet.
Am interessantesten und wertvollsten ist der vierte Abschnitt: die Stiftungs¬
frage im Lichte der ältesten Kirchengeschichte. Eine „Kirche" mit Vorgesetzten und
Untergebenen, Priestern und Laien gab es in der ältesten Zeit überhaupt nicht.
Auch nachdem sich die Jünger Jesu von der Synagoge abgetrennt hatten, fühlten
sie sich als gleichberechtigte Brüder und Schüler ihres Meisters. Von einem Amts¬
vorrang Petri kann keine Rede sein. Die Schriften der ältesten Zeit haben keine
Spur davon. Nur durch seine persönlichen Eigenschaften und seine nahe Beziehung
zu Jesus spielt er eine besondere Rolle. Selbst wenn er in Rom gewesen ist und
die christliche Gemeinde dort gegründet hat, so war er doch auf keinen Fall römischer
Bischof. Noch um 140 wird von den Ältesten-Vorstehern (in der Mehrzahl!) der
römischen Kirche geschrieben. Als erster Einzelbischof erscheint Amiant 155 bis 166.
Ignatius von Antiochia in den ersten Jahrzehnten des zweiten Jahrhunderts und
Irenäus von Lyon (um 180) schreiben zwar der Kirche von Rom einen besonderen
Vorrang zu, aber es ist ein moralischer, kein rechtlicher: der Charakter Roms als
Welthauptstadt wird von ihnen besonders betont. Nicht dem römischen Bischof
als Nachfolger Petri, sondern der römischen Gemeinde als Pflanzung der beiden
Apostelfürsten spricht Irenäus einen „ganz besonderen Vorrang" zu. Petrus ist
ihm zufolge nicht Bischof, sondern Stifter der römischen Kirche, aber auch dies
nur in Gemeinschaft mit Paulus. Die Verse Matth. 16, 18. 19 kennt Irenäus
noch nicht, er springt beim Zitieren von 17 auf 20. Die erste cmtzerkanonische
Spur von V. 17 findet sich bei Justinus um 1S5, 18 und 19 sind ihm fremd.
Sogar bei Klemens von Alexandrien (um 210) findet sich von den beiden Versen
noch keine Spur. Erst uuter Viktor und Zephyrin, die von 189 bis 198 und
198 bis 217 an der Spitze der römischen Kirche standen, begannen sich die Vor¬
stellungen über die älteste Geschichte und die Anfänge des Episkopats von Rom
umzubilden. Bis dahin hatte man immer daran festgehalten, daß Petrus und
Paulus gleichmäßig an der Entstehung der römischen Christengemeinde beteiligt
gewesen seien. Die älteste römische Bischofsliste und Irenäus nennen nicht Petrus,
sondern Linus als ersten Bischof. Nun verschoben sich die Vorstellungen dahin,
daß man nicht nur Petrus als ersten Bischof feierte, sondern ihm sogar fünfund¬
zwanzig Bischofsjahre beilegte. Kallistus (217 bis 222) ist der erste, der sich als
Nachfolger Petri ansah und die Herrenworte vom Felsenmanne Petrus und von
seiner Binde- und Lösegewalt für sich in Anspruch nahm. Gleichzeitig tauchten
die pseudo-klementinischen Schriften auf, mit der Erzählung, daß Petrus vor seinem
Ende dem Klemens die apostolische Katheten und die Vollmacht, zu binden und
zu lösen, übertragen habe.
Damit betrachtet Schnitzer die Frage nach Ort und Zeit der Einschaltung
von Matth. 16, 18 f. als erledigt und glaubt, nicht fehlzugehen, wenn er ihre Wiege
da sucht, wo sie am willkommensten war, in Rom. Als Zeit ihrer Entstehung
ergeben sich aus dem Gesagten die Jahre 180 bis 200. Der Text von V. 18 war
aber noch bis tief ins vierte Jahrhundert hinein schwankend.
Daß man damals den evangelischen Text mit für uns unbegreiflicher Freiheit
behandelte und für dogmatische Zwecke absichtliche Änderungen vornahm, dafür
gibt es auch noch einige andere Beispiele. Kritische Bedenken kannte die gedanken¬
los leichtgläubige Zeit nicht, und die Auszeichnung eines Apostels, der ihrer
Meinung nach überhaupt nicht genug ausgezeichnet werden konnte, mußte sie ganz
in der Ordnung finden. Von der Tragweite der neuen Verse hatte man ebenso¬
wenig eine Ahnung. Tertullian, der sie zuerst zitiert, faßt sie als ein dem Petrus
persönlich verliehenes, unvererbliches und unübertragbares Privileg auf. Von
einem Primat Roms weiß er nichts und noch weniger denkt er an die Unfehlbarkeit,
da er den Heiligen Geist nur in der Kirche, nicht in den kirchlichen Amtsträgern
walten läßt. Origenes redet (nach 244) eingehend über die Matthäusstelle, läßt
aber noch keinen Rangunterschied zwischen Petrus und den übrigen Aposteln gelten.
Von Cyprian hat Koch (vgl. Heft 26) dasselbe nachgewiesen. Aber inzwischen
hatte der Primatsgedanke schon einen bedeutenden Schritt vorwärts gemacht, und
Cyprian selbst macht ihm gewisse Konzessionen. Anderthalb Jahrhunderte später
endete der Streit zwischen Episkopat und Primat mit dem vollen Siege Roms.
„Die Stelle Matth. 16, l7ff. leistete Rom unschätzbare Dienste, ja sie verschaffte ihm
den Sieg. Und doch hat nicht sie das Papsttum geschaffen, sondern das Papsttum sie."
Von O. Goebel,
Handelssachverstnndiger bei dem Kaiserlich Deutschen Generalkonsulat in Se. Peters¬
burg. Herausgegeben vom Reichsamte des Innern, mit vier Karten. Verlags¬
buchhandlung Paul Parey, Berlin 1910.
Man beachte: das Werk ist im Jahre 191V erschienen, geschrieben wurde es
vor drei Jahren und die Studienreisen Goebels, die das Material zu der Arbeit
schaffen sollten, liegen fast vier Jahre zurück!
Die Schuld an dem späten Erscheinen liegt indessen nicht beim Autor, sondern
entweder bei der handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amts oder beim
Reichsamt des Innern. Ein sachlich verständlicher Grund für die Zurückhaltung
des Werkes ist mir nicht bekannt. Das Institut der Handelssachverständigen ist
begründet worden, um unseren Exporthandel, unsere Industrie und unsere Land¬
wirtschaft über die Vorgänge im Wirtschaftsleben der sie interessierenden Länder
eingehend und schnell zu unterrichten. Der vorliegende Reisebericht war nach
seiner Fertigstellung um so interessanter, als Goebel die frischen Veränderungen
konstatieren konnte, die der Russisch-Japanische Krieg für Sibirien mit sich gebracht
hat. Daß die Veränderungen außerordentlich einschneidend waren, geht allein aus
der Tatsache hervor, daß durch die Transporte für die russische Armee in den
sibirischen Orten etwa 60 Millionen Rubel haften geblieben sind. Diese Befruchtung
mit Kapital konnte für unseren Exporthandel nicht belanglos sein. Goebel zeigt
u. a. in seinem Werk in durchaus zuverlässiger Weise, wo das Geld im Speziellen
hingekommen war, wo also der deutsche Handel angreifen mußte, um davon zu
profitieren. Es lag also nicht nur kein Grund vor, das Werk im Archiv liegen zu
lassen, sondern im Gegenteil, es gab wichtige Gründe, seine Veröffentlichung nach
Möglichkeit zu beschleunigen.
Betrachten wir uns das Goebelsche Werk heute, so müssen wir leider fest¬
stellen, daß die zahlreichen Fingerzeige, die es gibt, nunmehr größtenteils veraltet
find, und daß infolgedessen der Zweck der Arbeit in keiner Weise erfüllt wurde.
Ich unterstreiche: die Schuld trifft nicht Goebel. Es ist darum vielleicht eine
dankbare Aufgabe für Mitglieder der Budgetkommisston des Reichtags, bei nächster
Gelegenheit den Herren Referenten auf den Zahn zu fühlen. Der Bericht
Goebels kostet nämlich dem Steuerzahler rund 30000 Mark an Gehalt und
Reisespesen für den Sachverständigen sowie Druckkosten. Diese 30000 Mark
Da alles Wirtschaften die Bedürfnis¬
befriedigung zum Zwecke hat, ist als wirtschaftlicher Fortschritt jede Änderung
anzuerkennen, welche bewirkt, daß unsre Bedürfnisse reichlicher, leichter, rascher und
sicherer befriedigt werden. Die Untersuchung dieser Veränderungen hat sich Waldemar
Mitscherlich, Professor der Staatswissenschaften an der Königlichen Akademie zu
Posen, zur Aufgabe gemacht, und die Ergebnisse veröffentlicht er in dein ebenso
anziehenden wie nützlichen Buche: „Der wirtschaftliche Fortschritt, sein Verlauf und
Wesen" (Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1910). Nach einer methodologischen Einleitung,
die beweisen soll,, daß das Problem nicht wirtschaftsgeschichtlich, sondern nur in
systematischer Darstellung gelöst werden könne, wird dennoch die Wirtschaftsgeschichte
von der Höhe des Mittelalters bis zur neuesten Zeit erzählt, und es wird besonders
sehr schön gezeigt, wie der Handel die isolierten Stadtwirtschaften aufgelöst, der
Staat sich diese vordem selbständigen Wirtschaftsgemeinschaften eingegliedert und
so die Volks- oder Nationalwirtschaft geschaffen hat. Ohne diese geschichtliche
Grundlage könnte man den dritten, systematischen Teil, der ja allerdings eine sehr
wünschenswerte Ergänzung, vielleicht darf man sagen, nach einer Seite hin eine
Vollendung der nationalökonomischen Wissenschaft bedeutet, gar nicht verstehen.
Es wird darin zunächst die Meinung zurückgewiesen, daß die Hungerpeitsche der
Hauptantrieb zum wirtschaftlichen Fortschritt sei; die Wirkung des Hungers beschränkt
sich darauf, daß der Anblick des Elends Männer, die nicht zu den Hungernden
gehören, anregt, auf wirtschaftliche Reformen zu sinnen. Der wirtschaftliche Fort¬
schritt geht gleich jedem andern Fortschritt von genialen Menschen aus, deren
Wirken nach und nach die trägen, widerstrebenden Massen ergreift und in Bewegung
setzt. Und diese Bewegung bleibt niemals einseitig auf einen einzelnen Zweig der
wirtschaftlichen Tätigkeit beschränkt! wenn auch bald dieser, bald jener Produktions¬
zweig voraneilt, die übrigen kommen mit der Zeit nach. „Aus diesem Gesichts¬
punkte heraus ist es z. B. nicht zulässig, im achtzehnten Jahrhundert in Frankreich
(in der Zeit der physiokratischen Gegenströmung gegen den Merkantilismus) von
einer agrarischen Reaktion zu reden. Man hatte es damals nicht mit irgendeiner
wirtschaftlichen Reaktion, sondern mit einem eminenten ökonomischen Fortschritt zu
tun. Das Bild jener Jahre war: relativer gewerblicher und händlerischer Stillstand
und agrarische Entwicklung. Die relative Stagnation auf jenen Gebieten war
indessen kein Zeichen von irgendwelcher Unfähigkeit, sondern nur ein Symptom für
eine augenblickliche Entwicklungsunmöglichkeit des Handels und der gewerblichen
Produktion, bevor nicht die Landwirtschaft als letztes Glied des WirtschaftstorperS
den für Handel und Gewerbe unbedingt notwendigen Schritt nach vorwärts getan
hatte." (Womit ohne Zweifel genieint ist, daß die Landwirtschaft mehr Nahrungs¬
mittel liefern und die landwirtschaftliche Bevölkerung kaufkräftiger gemacht werden
mußte, ehe Industrie und Handel mehr Menschen beschäftigen und mehr Waren
absetzen konnten.) Der von innen heraus, seinen jeweiligen Trägern unbewußt,
drängende Fortschritt (der also hier als eine dem Menschengeschlecht eingepflanzte
Triebkraft erscheint) bedient sich dreier Mittel. Das erste ist die Anerziehung von
Bedürfnissen, eine Funktion, die gewöhnlich der Handel übernimmt. Sie hat zur
Voraussetzung einerseits die Herausreißung des Individuums aus der Autarkie der
alle Bedürfnisse befriedigenden isolierten Hauswirtschaft und die Herstellung eines
Gewebes von Abhängigkeitsverhältnissen, die jeden als Produzenten und Konsumenten
mit vielen andern Produzenten und Konsumenten verknüpfen, anderseits die
Tätigkeit von Individuen, die den übrigen wirtschaftlich überlegen sind, d. h. mit
geringerem Kräfteaufwand größere wirtschaftliche Erfolge erzielen. Das zweite
Mittel ist die Organisation (Zünfte, Handelsgesellschaften usw.), die mehr leistet
als der einzelne. Das dritte ist die Verschiebung der Bevölkerung, die, mag es
sich um Einwanderung in Gebiete höherer Kultur (z. B. der Bauern in die Stadt)
oder niederer Kultur (Kolonisation) handeln, jedenfalls Menschen in den Strom
des Fortschritts hineinreißt, die bis dahin nicht von ihm ergriffen waren. Seitdem
die Nationalwirtschaften vollendet sind, hat die zu weiterem Fortschritt treibende
Konkurrenz zwischen ihnen u. a. die Wirkung, daß sie zwischen Absperrung durch
Schutzzölle und Freihandel hin und her pendeln; diesem neigen sie bei ungefähren
Gleichgewicht ihrer wirtschaftlichen Kräfte zu; jede Überlegenheit eines Staates
zwingt den andern zur Errichtung von Schutzwällen, hinter denen er sich zu stärken
strebt, bis er den Konkurrenten eingeholt hat. Trotz heftigem Aufflammen des
Nationalismus in unsern Tagen kündigt sich die allmähliche Auflösung der National¬
wirtschaft und der Übergang zu einer höheren Stufe an. (Grade diese Aussicht
ist es, was die nationalen Kämpfe auch im wirtschaftlichen Gebiete so leidenschaftlich
macht.) Die Mächte, die der drohenden Auflösung den kräftigsten Widerstand
entgegensetzen, sind die Landwirtschaft und der Staat. „So scheint es, als ob eine
ferne Zukunft doch die Verwirklichung von Adam Smiths Ideal — eines freien
Wirtschaftsverkehrs auch zwischen den einzelnen Nationen — herbeiführen soll."
Unserm Handel wirft der Verfasser planlose und wegen der durch den Export
geschaffenen ungeheuer langen Verteidigungslinie bedenkliche Ausdehnung vor; auf
die wirtschaftliche, nicht politische Anglicderung naheliegender Gebiete, die gradezu
Es ist Gustav Droysen, dem verstorbenen
Hallenser Historiker, nicht vergönnt gewesen, das Leben seines Vaters zu Ende zu
schreiben. Nur der erste Band liegt vor, aus seinem Nachlaß von E. Hübner
herausgegeben. (Johann Gustav Droysen, I., bei Teubner 1910.) Im Jahre 1848
bricht die Darstellung ab, unmittelbar vor Droysens Eintritt in die Paulskirche.
Die Politik war ja, anders als heute, ein wesentlicher Inhalt dieses Gelehrten¬
lebens. In seiner ganzen Fülle ausgebreitet, bietet es des Interessanten genug.
Da ist die Berliner Universität von 1826 mit Boeckh, Ritter, Ranke und Hegel.
Boeckh und Hegel wirken am meisten auf deu jungen Droysen; Ranke bietet ihm
nichts. Dem Studenten öffnet sich das Mendelssohnsche Haus' Felix wird sein
Herzensfreund und komponiert seine Gelegenheitsgedichte. Der hart mit des
Lebens Notdurft Ringende zeigt eine erstaunliche Produktivität. Die Alexander¬
biographie und die Darstellung des Hellenismus sind die dauernden Großtaten
seiner wissenschaftlichen Jugend. In seinen Briefen sehen wir sie entstehen, wachsen
und der Vollendung entgegenreifen. Prinzipielle Fragen werden dabei erörtert,
die noch heute den Historiker bewegen: Freiheit und Notwendigkeit ini geschichtlichen
Geschehen, Nutzen und beschränkter Wert der Quellenforschung. Trotz ihrer modernen
Verfeinerung „ist die Richtigkeit der zu erzählenden Fakta stets prekär", und wenn
unsere historischen Handwerker eine Geschichtschreibung schon für entbehrlich halten,
ist ihnen mit Droysen zu entgegnen: „Man braucht einen höheren Gesichtspunkt
als das Kritisieren der Quellen." Nicht aus ihnen hat Droysen herausgelesen,
daß die „entartete" Freiheit Griechenlands den Untergang, den ihr Philipp und
Alexander bereiteten, verdiente, sondern sein politischer Verstand sagte ihm dies,
derselbe, der ihm zur Kennzeichnung des entgegengesehen Standpunktes den
schlagenden Vergleich eingab: „Es ist, als wollte man sich gegen Friedrich deu
Großen für das Heilige Römische Reich in alter Form interessieren."
Der Politiker, der sich hier schon in dem Historiker regt, wird frei infolge
der Übersiedlung nach Kiel. (1840.) Mit der Darstellung der Kieler Zeit ver¬
ändert sich der Charakter des Buches. Es wächst hinaus über die Gelehrten¬
biographie. Droysen nimmt führenden Anteil an der Schleswig - holsteinischen
Bewegung. Ein erhebendes Schauspiel, wie er nun die Macht seiner hinreißenden
Rede, die Behendigkeit seiner im publizistischen Streit stets hieb- und stichbereiten
Feder in den Dienst der großen Aufgabe stellt, diesen fast verlorenen Außenposten
dem Deutschtum zu erhalten. Er hetzt die Schleswig-Holsteiner aus ihrem „ver¬
zweifelten Provinzialismus" heraus und bewirkt an seinem Teil eine Politisierung
der Gesellschaft. Für diese Forderung des Tages können wir von ihm lernen. Er
erfüllt sie, weil die Sorge um das staatliche Schicksal unseres Volkes ihn: mit ver¬
zehrender Glut in der Seele brennt. Solche Gesinnung tut uns not. Wenn sie
wieder bei uns heimisch wird, werden wir auch wieder politische Männer haben!
solange sie fehlt, bleibt alle staatsbürgerliche Erziehung totes Wissen.
ustav Roethe hat einmal in seinem unvergeßlichen Nomantikkolleg
das Wort geprägt: Die Brüder Schlegel sind die beiden großen
Repräsentanten des modernen Journalismus gewesen. Es liegt
in diesem Wort eine überraschende Hochschätzung des heutigen
Schriftstellertnms, eine Hochschätzung, die Zeugnis gibt von den:
bedeutsamen Umschwung und der eminenten Entwicklung, die auf diesem Gebiete
der geistigen Betätigung sich vollzogen. Aber auch von andrer Seite hören wir
starke Bewunderung für das neue Wollen und Können dieser einst so viel
gelästerten „sujets numvais". Und diese Bewunderung ist um so wertvoller, als
sie von einer Seite kommt, die zumeist den: Schriftsteller nicht allzu günstig
gesinnt ist: von einem Dichter. Hugo von Hofmannsthal schreibt in dem zweiten
Bande seiner über die Maßen reizvollen prosaischen Schriften: „Ich halte es für
möglich, und ich glaube irgendwelche Anhaltspunkte für diese Möglichkeit zu haben,
daß wir im nächsten Augenblick eine neue Art deutscher Journalisten werden
hervortreten sehen, deren Geste bedeutend genug sein wird, daß man ihnen
darüber die Leistung wird vergessen dürfen, die nebenbei auch in der momentanen
Beherrschung eines so grenzenlosen Materials liegt. Ich meine kulturelle Journalisten,
wenn man mir dieses Wort erlauben will; und sie werden, wenn ich nicht irre,
für einen Zeitraum den politischen Journalisten, dessen Typus wir kennen und
dessen Haltung durch, eine etwas verblassende Konvention gegeben ist, in den
Schatten stellen." Bedarf es da noch Tatsachen und anderer Beweise für die
Existenz eines neuen, eigen gearteten Schriftstellertums in diesen Tagen? Ich
glaube, kaum. Reizvoller und bedeutsamer scheint es mir vielmehr, den Gründen,
Zusammenhängen und Ausblicken dieser Erscheinung nachzugehen.
Leser, bist du nur einigermaßen über unser modernes Schrifttum unterrichtet,
so ist dir nicht entgangen, wie gewaltig die Art der Zeitschriften-Aufsätze und
der „Feuilletons" in unseren Zeitungen gegen früher sich gewandelt hat. An
die Stelle jener langatmigen, schwerfälligen, geistlosen, mit Kenntnissen auf¬
dringlichen, unfarbigen Abhandlungen ist der Prägnante, aktuelle, scheinbar
spielerische und doch tiefer laugende, an guten Einfällen und leuchtenden
Einsichten reiche, mit warmem Menschenblut getränkte Essay getreten. Zu bedeutend-
fast für den Zweck des Tages, dem er dient! (Nicht ohne Erfolg haben darum
manche Autoren ihre Arbeiten gesammelt herausgeben können). Du bist erstaunt
über die Vielseitigkeit, mit der diese Journalisten dem weitverzweigten Gewebe
des reichen Lebens unserer Tage seine Geheimnisse ablauschen, wie sie dem oft
dunklen Chaos dieses Treibens seinen Sinn zu entlocken und dem bunten Vielerlei
dieser Erscheinungen Einheit zu geben suchen. Und wenn du tiefer zu schauen
verstehst und feiner hören kannst, so wirst du oft einen mächtigen Willen erkennen,
der aus den Zeilen lodert: den heiligen Willen, einer neuen Lebensanschauung,
zu dienen. Du wirst, verfolgst du das Schaffen irgendeines dieser Geister, immer
wieder die gleiche Grundstimmung finden, aus der alle Gedanken und Urteile
emporfluten, und dn wirst immer das gleiche Endziel entdecken, dem seine Hoffnungen
und Wünsche gelten. Kurz, eine Art philosophischer, religiöser Drang lebt in allen
diesen Geistern und erfüllt von der Größe dieser Mission werden sie so zu Trägern
einer überragenden Epoche in der Geschichte ihres Berufs.
In welchen Zeiten und unter welchen Bedingungen nun sind solche Hoch¬
strömungen des Journalismus am Werke? In der Epoche großer Kulturen und
höchster Entwicklungen des menschlichen Geistes erfüllen diese Schriftsteller das
Amt des „Mittlers". Reproduzierend überbrücken sie die Kluft, die zwischen den
genialen Köpfen solcher Zeiten und dem breiten Volke sich spannt. Sie sind die
Diener am Worte jener Männer, das ohne sie vielen ungehört bliebe. Aber wenn,
diese Epochen der höchsten Entfaltung vorüber, wenn der Renaissance die ihr
notwendige Dekadenz auf dem Fuße folgte, wenn die eben neu gewonnenen
Anschauungen ihre Kraft verlieren, um neuen Raum zu schaffen, — dann wird
aus dem Mittler ein Eigener, aus dem reproduzierenden ein selbstschaffender Kopf,
der auf seine Weise in den Gang der Entwicklung greift und zum Vorläufer wird
kommender Genius. „So oft eine Epoche des systematischen Denkens zu Ende
gegangen war, so oft die Lebenswerte, die in ihr galten, der veränderten Lage
nicht mehr entsprachen und die fein und subtil durchgearbeitete begriffliche Welt¬
erkenntnis neu erfahrenen Tatsachen nicht mehr genug tun konnte, traten solche
Denker hervor und kündeten einen neuen Tag im Leben der Philosophie an"
(Wilhelm Dilthey). Weder ganz Dichter noch ganz Denker, ohne den reinen Willen zur
Form und ohne die Fähigkeit zu systematischem Denken und doch ausgerüstet mit
philosophischer Begabung und dichterischem Müssen dienen sie durch Anregungen,
Einfälle, Einblicke dem Streben der Zeit nach netten Werten. Bald ist es der
Aphorismus, bald der Essay, bald die Novelle oder der Einakter, den sie zur
Kunstform wählen. Aber immer ist es ein gedanklicher Einfall, der die Konzeption
bedingt. So waren es die ironisch-stoischen Lebensreformer, die am Abschluß der
antiken Philosophie auftraten; so waren es Montaigne und Giordano Bruno, die
dem Geiste der Neuzeit deu Weg bereiteten; und so siud es Friedrich Schlegel,
Nietzsche, Ruskin und in gemessenem Abstand die vielen guten „kulturellen"
Journalisten unserer Tage, die der Weltanschauung der Zukunft zum Leben helfen.
Diesen allgemeinen Bedingungen, aus denen zu allen Zeiten die Blüte dieser
Gattung des Schrifttums resultierte, gesellen sich in jeder Epoche besondere
Momente, die das Auftreten des kulturellen Journalisten begünstigen, notwendig
machen. Oder eigentlich sind diese Momente nur die Erscheinungsformen jener
allgemeinen Bedingungen. Auf unsere gegenwärtige Kulturlage gewendet will
das besagen: die Menschen dieser Tage finden keinen Frieden mehr in den
Überzeugungen und Normen, die ihnen die letzten Jahrhunderte gebracht, sie
fühlen das Bedürfnis nach neuen Werten und sie sehnen sich zu tief nach
Bekenntnissen, die dem dunklen Drange ihres Herzens Erfüllung geben. Sie
glauben in den Dogmen der Kirche teilte Befriedigung mehr zu gewinnen für ihr
religiöses Gefühl. Die Schule stillt nicht mehr wie ehedem ihren Wissensdrcmg;
die Ergebnisse der gewaltigen Forschungen, die das neunzehnte Jahrhundert
gezeitigt, werden ihnen zu wenig bei der Bildung der Jugend in den Vorder¬
grund gerückt. Vor allem aber sind es die Universitäten, die den heißen
Drang der Zwanzigjährigen nicht mehr erfüllen. In unzählige Einzeldisziplinen
gespalten hat die Wissenschaft den ruhigen Blick über das ganze Feld der Geistes¬
tätigkeit nicht mehr. An die Einzelheiten der Erscheinungen und der Historie
verloren, ist der Gelehrte zu einem weltfremden Mann geworden, der nur selten
mehr Fühlung mit dem brausenden Strom der Zeit hat. Er hat sich des schönsten
Genusses seines Berufes häufig freiwillig begeben: er hat die geistige Führerschaft
der akademischen Jugend und damit des gebildeten Volkes überhaupt sich entreißen
lassen. Und ähnlich steht es mit den Dichtern: unfruchtbarem Erlauschen extremer
Seeleuerlebnisse ergeben, schwelgend in artistischen Formspielereien reden sie nur
zu wenigen Gleichgesinnten und ahnen nichts von der ungeheuren Bedeutung, die
sie kraft ihres göttlichen Amtes für das kulturelle Sehnen ihrer Zeit haben könnten.
So sind die kulturellen Journalisten heute wieder in erhöhtem Maße zu
Wort gekommen. Sie sind, bald mehr bald weniger bewußt, von dem großen
Willen getragen, die Nöte ihres Volkes und ihrer Zeit zu hören und zu lindern.
Mit dem feineren geistigen Instinkt, der sie auszeichnet, lauschen sie allen Strömungen,
die zukunftgerichtete und -fördernde Bedeutung haben, und suchen diesen den Weg
zu bahnen. Ohne die Kraft zu systematischer Weltanschauung, werden sie doch
von unendlich vielen neuen Gedanken erleuchtet, die, wenn sie sich auch nicht zu
einem geschlossenen Ganzen ballen lassen, Winke und Lichter sind auf den Pfaden,
die zu einem besseren Morgen führen. „Ihr Auge bleibt auf das Rätsel des
Lebens gerichtet, aber sie verzweifeln daran, dieses vermittelst einer allgemein¬
gültigen Metaphysik, auf Grund einer Theorie des Weltzusammenhanges aus¬
zulösen! das Leben soll aus ihm selber gedeutet werden — das ist der große
Gedanke, der diese Lebensphilosophie mit der Welterfahrung und mit der Dichtung
verknüpft" (Dilthey). Und sie sind in vollem Bewußtsein der Größe der ihnen
gewordenen Mission von „einem furchtbaren Ernst und einer großen Wahrhaftigkeit"
erfüllt. Sie sind getragen von dem erhöhenden Bewußtsein, im Dienst des Tages
für die Zukunft wirksam zu sein. Sie wissen, daß sie, so bescheiden auch ihr Teil
sein mag, im Rahmen vieler rastloser Kräfte mithelfen an dem Herauskommen
einer neuen Zeit, daß sie dem Sehnen ihrer Generation in manchem Sinne das
Wort lösen und daß sie den Weg bereiten den größeren Geistern, die die Folge¬
zeit auf neue Höhepunkte der Geistesentwicklung leiten.
Sie wissen, daß sie Propheten, Vorläufer sind. Daraus schöpfen sie den Mut
zur Kritik der geistigen Leistungen ihrer Zeit. In der Gewißheit, daß sie vor
Aufgang einer größeren und reineren Zukunft leben, gewinnen sie die richtige
Distanz für die Beurteilung der Schöpfungen ihrer Generation. Daraus aber
nehmen sie auch den Maßstab für ihr Selbstbewußtsein. Den Mut, kühn ihren
eigenen Gedanken zu folgen, die Eigenart ihres geistigen Selbst auszubilden und
unerschrocken ihre Erkenntnis zu bekennen. Und daraus endlich wird ihnen die
Freude ihres Lebens und ihres Berufs. Mit dem Besten seines Ichs einem
größeren Morgen zu dienen und anzugehören, ist hohes menschliches Glück! Und
so werden sie dann auch zur schönsten Hoffnung ihrer Epoche. Man schaut auf
sie als Vorboten eines neuen Aufblühens der Menschengeschichte und man sieht
über sie einen Abglanz der strahlenden Sonne gebreitet, die von ihren Erfüllen:
und Erlösern ausgehen wird. „Ich liebe alle die, die wie schwere Tropfen sind,
einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über dem Menschen hängt: sie ver¬
kündigen, daß der Blitz kommt und gehen als Verkündiger zugrunde" hat Nietzsche
Friedrich Alafberg-Lharlottenburg
Anzeigen-Annahme für diesen Teil beim Verlag der Grenzboten G. in. b. H.,
Berlin 8^V. it, Bernburger Straße 22a/23.
Fernsprecher: Amt VI, Ur. KölO. Telegramm-Adresse: Greuzbote», Berlin.
Stellennachweis.
(Aus der Tages- und Fachpresse.)
Anfragen zu richten unter Beifügung von
Rückporto an die Geschäftsstelle der „Grenz¬
boten", Berlin SV/. II.
^. Kur Akademiker.
48. Theologe zum Vorlesen, Berlin.
4!». Jntcrnatslcitcr, evang., Pädagogium Spandau,
1. Oktober.
do. Erste Pfarrstelle, evang.-res., Gemeinde Lebe,
1. Oktober (W00 M.).
LI. Hilfsärztc, zwei, Heilanstalt Klingcnmünstcr.l. Sept.
(1800 M.).
t>3. Oberlehrer, evang., Realgymnasium Sterlradc,
1. April 1911 (Latein, Französisch, Englisch, Turnen),
(0000 M.).
do. Olicrlchrcr, Obcrrcalschnle Ncusz, Ostern 1911.
(Neuere Sprachen.)
«2. Pfnrrstcllo, Gri-sel, I. Oktober.
04. Bürgermeister, Dinslak-n, 1. Jan. 1911 (MM M.).
03. Bürgermeister, Lieberose (2700 M.).
09. Bürgermeister, Bacharach (18K0-3060 M.).
70. Bürgermeister, Friedrichsdorf (2890 M).
7t. Bürgermeister, Lasso», Kr. Greifswald (2400 M.).
K. Mr pensionierte Offiziere.
45. General-Agent, Lebensversicherung.
K5. General-Agent, Versicherung. Rheinland und
Westfalen.
07 Offizier, jüngerer, (Stenographie, Schreibmaschine)
f. iudnstr. Unternehmen.
L. Für Damen.
40. Lehrerin, staatl. gcpr., deutsche Familie, Venezuela.
41. Lehrerin, gcpr.. Deutsch, Musst. England.
46. Erzieherin, evang., staatl. gcpr., Musik. München.52. Oocrlchrerin. Stadt. hob. Mädchenschule, Walten-
schcid. 1. Oktober.
00. Erzieherin, evang., gcpr., Musik, Sprachen. 1. Sept.
aufs Land.
01. Erzieherin, Latein und Musik. (1100 M.) Ost-
preuszen.Stellen-Gesuche.
Bis zu 3 Zeilen 2 M, jede weitere Zeile 1 M.
Dr. plin. („mit Auszeichnung") sucht dauernde Ver¬
wendung im Schul- oder Bililiothclödicnft oder
in der Presse. Anfragen nnter B. V. 81g an die
„Grenzboten", Berlin SV. 11.
Hanvtmxnn a. D., 3S Jahre alt, Abiturient, seit einem
Jahre kaufmännisch in Berlin tätig, sucht Vertrauens-
ftcllnng in Privat- oder Kommnnaldicnst, die
ihm, wenn auch bei bescheidenen Anfängen, Lebens¬
stellung gewährt. Beste Empfehlungen. Angebote
unter K.K.714 an die „Grenzboten", Berlin SV. 11.
Wer Anstellung im
l^ommunaldisnst
sucht
annonciert in den
NKommnalfilMM
^Halbmonatsschrift).
Uerlag und Expedition
Zerlin SM. 11,
Bernburger Strase 22 s/23.^
er je vom holländischen Tiefland aus die wenig gekannte, aber doch
so eigenartig stimmungsvolle Stromfahrt rheinanfwörtS unter-
nommen hat, dem wird der Eindruck unvcrgeszlich bleiben, den
^F-W^I nach langem Verweilen auf fruchtbar-ruhigen Wiesenlandschaften
dem erstaunten Blicke dieUferlandschaftmit hundertragenden Schloten
und qualmenden Feuern vor der Einmündung der Ruhr in den Rhein gewährt.
Hier ist das Tor zu dem größten Jndustriebezirk Deutschlands, dem Ruhr-
kohleudistrikt, hier drängen sich auf einer Strecke von wenigen Kilometern die
Häfen zusammen, aus denen unendliche Schleppzüge die gesammelten Kohlen¬
mengen rheinauf und rheinab befördern, und in die unaufhörlich erzbelastete
Kähne einfahren.
Die Breite, mit der dies Gebiet den Rhein berührt, beträgt kaum
15 Kilometer. Seine Längenausdehnung nach Osten, bis hinter Dortmund und
Hörde, kann auf 80 Kilometer bemessen werden. Auf diesem kleinen Raum wird
der Kohlenreichtum durch etwa huudertneunzig Schachtanlagen zutage gefördert,
etwa dreißig größere und kleinere Hüttenwerke nützen die Kohle zur Eisengewinnung
aus den von auswärts bezogenen Erzmengen, eine Fülle weiterverarbeitender
Jndustrieuuternehmungen hat sich angeschlossen. Die Einwohnerzahl dieses Gebiets
kann auf zweiundeinhalb Millionen geschätzt werden.
Die südliche Grenze des Kohlendistrikts bildet die Ruhr. An ihr beginnt
das mächtige, sich nach Nordwest immer tiefer senkende Kohlengebirge. Im
Süden befinden sich die zugänglichsten Kohlenlager und die ältesten Zechen,
deren Lebensdauer nur noch auf fünfzig Jahre geschätzt wird. Dreißig Kilometer
nördlich, wo die Schächte das Kohlengebirge in 500 bis 1000 Meter Tiefe erreichen,
wird noch mit einer Ausbeute für zwei- bis dreihundert Jahre gerechnet.
In früheren Jahren diente die Ruhr als billige Schiffahrtstraße für die
Abfuhr der gewonnenen Kohlenmengen. An ihrer Mündung entstand der
fiskalische Ruhrorter Hafen, erbaut und erweitert aus den zu einem Fonds
gesammelten Schiffs- und Hafengebühren, jetzt der größte Binnenhafen des
Kontinents. Aber auf der Ruhr selbst wird, obwohl sie noch bis Herdecke
schiffbar im gesetzlichen Sinne ist, Schiffahrt nicht mehr getrieben. Sie kann die
dem modernen Transportbetrieb nötigen großen Schiffsgefäße nicht tragen. Der
ganze Transport der Kohlenmengen zu den Rheinhafen wird gegenwärtig von der
Eisenbahn bewältigt, nicht bloß von der Staatsbahn, sondern auch von den zu einem
ganzen Netz vereinigten und zwanzig Kilometer weit ins Land hineingeführten
Privatbahnen der Gutehoffnungshütte und der Gewerkschaft Deutscher Kaiser.
Die Eröffnung des mitten durch dieses Gebiet führenden Rhein—Weser-Kanals
wird hieran Wesentliches nicht ändern.
Die Bedeutung der Ruhr für den Jndustriebezirk ist in anderer Richtung
zu suchen. Sie ist dessen große Wasserleitungsader. - An ihr erheben sich überall
die gewaltigen Pumpwerke, die das Wasser nicht so sehr aus dem Flusse selbst,
wie aus dem von ihm gespeisten, parallel unterhalb laufenden Grundstrome und
den mit Ruhrwasser gesättigten Bodenschichten mittels tiefer Brunnen entnehmen,
um es über die ganze Fläche des Jndustriebezirks zu verbreiten, teils als Trink¬
wasser sür die Millionen der Anwohner, teils als Gebrauchswasser für Zwecke
der Industrie. Allein das Werk in Gelsenkirchen, das eine große Anzahl von
Gemeinden in: nördlichen Jndustrierevier mit Wasser versorgt, entnimmt dem
Ruhrstrom jährlich über sechzig Millionen Kubikmeter; reichlich halb soviel brauchen
die Stadt Dortmund und das Wasserwerk der A. G. Thußen u. Co. in Styrum,
das neben dem enormen Wasserbedarf der Thyßenschen industriellen Anlagen
auch den Bedarf vieler Gemeinden an der unteren Ruhr befriedigt. Im ganzen
entnehmen die Wasserwerke der Ruhr jährlich fast dreihundert Millionen Kubik¬
meter Wasser.
Schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war es klar, daß
der Zubriuger das gesteigerte Wasserbedürfuis nicht mehr voll befriedigen könne.
Regelmäßig im Sommer, und besonders in dürren Jahren, trat empfindlicher
Wassermangel ein. Wurde er ständig und dauerte er lange, so schienen die Folgen
unabsehbar. Lähmung der industriellen Tätigkeit, Epidemien in der dichtgedrängten
Bevölkerung mußten verheerend auf den Wohlstand des Bezirks wirken.
Gleichzeitig wurde aber für ihn eine ältere Sorge dringend. Die
Zustünde an der Ruhr wurden wesentlich dadurch verschärft, daß das dein Flusse
entnommene Wasser meist nicht wieder zum Fluß zurückgelangte, nachdem es in
Haushalt und Industrie gebraucht war; dort konnte es immerhin, nach Filtrierung
und Absetzung seiner schmutzigen Bestandteile in den durchlässigen Bodenschichten,
zur weitern Speisung der Brunnen unterhalb gelegener Wasserwerke dienen. Nach-
dem es aus dem verhältnismäßig schmalen Ruhrtal über die hochgelegenen Ränder
hinaufgepumpt war, fand es zum großen Teil seinen Ablauf nach anderen Flu߬
gebieten, im Norden, im eigentlichen Kohlendistrikt, hauptsächlich nach der Emscher.
Diese windet sich mitten durch das Gebiet in flacher Niederung mit geringen:
Gefälle und in unendlichen Krümmungen; sie war allmählich der große Schmutz¬
wasserkanal der Gegend geworden. In die Emscher gelangen letzten Endes ebenso
die Abwässer aller städtischen Kanalisationen wie die beim Bergwerksbetrieb herauf¬
gepumpten, mit Kohlenstaub versetzten Grubenwasser. Diese gewaltige Schmutz¬
wassermenge mit genügender Schnelligkeit abzuführen, war die Emscher außer¬
stande. Ihr Gefälle in ihrem Unterlauf betrug achtzig Zentimeter auf den
Kilometer. Überall stagnierte das träge Wasser, verschlammte bei Über¬
schwemmungen die Umgegend und verpestete weithin die Luft. Hinzu kam,
daß sowohl der Emscherlauf auf weiten Strecken wie das Land zu beiden Seiten
durch den Bergbaubetrieb Senkungen erfuhr. Dadurch entstanden Stauungen,
die noch durch einzelne Triebwerke vermehrt wurden, und der zur Entsumpfung
der gesunkenen Ländereien von den Bergwerken eingeführte Polderbetrieb war
bei den sich immer mehr verschlechternden Vorflutverhältnissen nicht durchzuführen.
Seit langem war schon die Verwaltung mit allen ihr bekannten Mitteln wie
Polizeiverordnungen, Ernennung von Schaukommissionen und unzählige Besich¬
tigungen bestrebt, diese Verhältnisse zu bessern. Aber keins von ihnen brachte
Erfolge. Auch die Begradigung einzelner Emscherstrecken vermochte nur in
geringem Maße die Vorflut zu verbessern. Es war klar, daß etwas Durch¬
greifendes für den ganzen Emscherlauf geschehen mußte.
Im Jahre 1384 wurde ein allgemeiner Plan aufgestellt, der die systematische
Begradignng und Vertiefung des Emscherlaufes und die Regulierung seiner Zuflüsse
vorsah. Er kam wegen der Frage der Kostendeckung nicht zur Ausführung.
Vom Staat war nicht einmal ein Zuschuß zu erlangen; der Versuch, den Berg¬
werksbetrieben als den Hauptschädigern im Wege der Gesetzgebung die Kosten
allein aufzubürden, mußte scheitern, da das Projekt offenbar weit über die
Beseitigung der durch den Bergbau herbeigeführten Schäden hinausging.
Indessen stieg mit den wachsenden Mißständen und dem Anwachsen der Bevölke¬
rung auch das Interesse der Gemeinden an der Frage. Denn einerseits waren
sie gezwungen, sür ihre Kanalisationsabwässer eine einwandfreie Ableitung zu suchen
und andererseits wurden sie von den unterhalb liegenden Gemeinden und Grund¬
besitzern mit Prozessen bedroht, die Schadenersatz für Verschlammung und die Klärung
der zur Emscher geleiteten Abwässer anstrebten. Erst um die Wende des Jahrhunderts
geschahen die ersten erfolgreichen Schritte zur Beseitigung dieser Landeskalamität,
kurz nachdem auch die Frage der Ruhrwasserhaltung ihre Erledigung gefunden
hatte. Beide Unternehmungen sind gleich interessant, sowohl wegen der technischen
Lösung, die die gestellten Probleme gefunden haben, als auch wegen des Ver¬
fahrens, das zu ihrer Organisation im Verwaltungswege geführt hat.
Bei der Frage der Wasserversorgung durch die Ruhr ergab sich die Lösung
aus der Erwägung, daß die durch das Flußbett beförderte Wassermenge an sich
wohl genügt, daß aber die Verteilung des Wasserzuflusses in: Laufe des Jahres sehr
ungünstig ist. Wenn es gelang, die im Winter und bei Frühjahrshochwasser
nutzlos den Fluß hinuntereilenden Mengen für die trockenen Jahreszeiten fest¬
zuhalten, so konnte die Wasserentnahme aus der Ruhr ohne Gefahr zeitweisen
Versiegens gleichmäßig gesteigert werden. Die Möglichkeit solcher Reservierung
ergaben die durch Talsperren gebildeten künstlichen Wasserbecken.
Mit der Anlage von Talsperren war in den Tälern des benachbarten
Sauerlandes bereits begonnen worden. Die Stadt Remscheid hatte eine solche
angelegt, um daraus für ihre Wasserleitung stets das erforderliche, durch Brunnen
nicht zu beschaffende Wasser entnehmen zu können. Dabei ergab sich für die
zahlreichen unterhalb gelegenen, der Kleineisenindustrie dienenden Triebwerke
zugleich der Vorteil, daß die Möglichkeit einer gleichmäßigen Speisung des
Wasserlaufes aus dem Becken ihnen die Stetigkeit der Betriebskraft gewährleistete.
Diesen Vorteil der Talsperren hatten intelligente Kleineisenindustrielle auch
an anderen Stellen erkannt und den Versuch gemacht, in mehreren Seitentälern
der Wupper und Ruhr, allein um dieses Vorteils willen, Talsperren auf gemein¬
same Kosten der interessierten Triebwerksbesitzer anzulegen. Aber sei es, daß
die Überzeugung nicht überall durchdrang, sei es, daß Eigenwilligkeit einzelne
Beteiligte vom Beitritt abhielt oder der Zweifel mitsprach, ob die Anlage gerade
diesem oder jenem Triebwerk noch Nutzen gewähren würde, es gelang schließlich
nicht, eine Einigung ohne gesetzlichen Zwang herbeizuführen.
Das preußische Wassergenossenschaftsgesetz vom 1. April 1879 kennt einen
solchen Beitrittszwang nur für Unternehmungen zum Zwecke der Entwässerung
und Bewässerung im Interesse der „Landeskultur", das heißt nach dem Sprach¬
gebrauch unserer Gesetze für landwirtschaftliche Zwecke. Jetzt wurde durch
besonderes Gesetz und königliche Verordnungen dieser Beitrittszwang auch auf
Errichtung von Talsperren zu industriellen Zwecken für anwendbar erklärt.
Damit war die Bildung einer Reihe kleinerer Talsperrengenossenschaften gesichert,
aber für den geregelten Wasserzufluß im langen Unterlaufe der Ruhr nicht viel
gewonnen. Dreißig Millionen Kubikmeter Wasser, so führte damals der geniale
Erbauer der deutschen Talsperren, Geheimrat Jntze, aus, müßten in großen
Becken aufgestaut werden, um nur einen Ausgleich für die täglich aus der Ruhr
gepumpten Mengen in wasserarmen Zeiten bewirken zu können. Der Kosten¬
aufwand wurde hierfür mit zwölf Millionen Mark veranschlagt. Wie sollten diese
aufgebracht werden? Würde es gelingen, die Interessenten freiwillig dazu zu
veranlassen und alle zu einigen? Denn da die Regelung des Wasserzuflusses
allen gleichzeitig zugute kommen mußte, konnte nicht erwartet werden, daß etwas
zustande kam, wenn sich auch nur einzelne zurückhielten. Und wie sollte sich der
Bau der Talsperren und die Beaufsichtigung ihrer Verwaltung in den weitab
gelegenen oberen Seitentälern der Ruhr durch die an der mittleren und unteren
Ruhr befindlichen Interessenten gestalten? Eine verwickelte Organisation erschien
erforderlich. Die Neuheit der Aufgabe, die Ungewißheit über die Wirkungen der
Talsperranlage für ein so weit ausgedehntes Flußgebiet ließ Enttäuschungen
befürchten und eröffnete die Möglichkeit, daß sich die finanziellen Anforderungen
stetig steigern würden. Das konnte von der Beteiligung nur abschrecken. War
es da nicht Aufgabe des Staates, der doch im allgemeinen Verkehrsinteresse
für die Erhaltung der nötigen Wassertiefe in den schiffbaren Flüssen sorgt, hier
einmal im Interesse der Gesundheit und der industriellen Entwickelung eines
ganzen Bezirkes diejenigen Bauten auszuführen, die einen gleichmäßigen Wasser¬
zufluß durch die Ruhr gewährleisten konnten? Doch war nicht zu erwarten, daß
der Staat für den reichen Bezirk Aufwendungen machen oder auch nur vorschu߬
weise leisten würde, wo seine Finanzkraft durch Unterstützung von Unternehmungen
der Landeskultur in ärmeren Gegenden stark in Anspruch genommen war. Dann
kam noch in Frage, ob nicht in ähnlicher Weise, wie unter Umständen gegen
die Besitzer von Triebwerken, ein Zwang zum Beitritt zu einer Talsperren¬
genossenschaft auf Grund der obenerwähnten Spezialgesetzgebung ausgeübt werden
durfte, ein gleiches Zwangsrecht gegen die hier als Interessenten in Frage
kommenden Wasserwerksbesitzer durch ein Spezialgesetz begründet und so die
Errichtung einer Genossenschaft bewirkt werden könne. Dieser Weg war jedenfalls
langwierig. Wenn das Gesetz ein derartiges Zwangsrecht gegen widerstrebende
Interessenten aufstellte, so mußte auch die Grenze der Verpflichtungen gegenüber
der Genossenschaft gesetzlich festgelegt, das heißt es mußte von vornherein das
Maß, nach dem die einzelnen Genossen zur Beitragsleistung heranzuziehen
waren, bestimmt werden. Das bot große Schwierigkeiten, weil die Lage der
einzelnen Interessenten sehr verschieden war. Man konnte eher hoffen, hierüber
hinwegzukommen, wenn die Grundsätze über die Höhe der Beiträge durch eine
leicht abzuändernde, dem Fortschritt der Erfahrung und dem Wandel der Ver¬
hältnisse sich jeweilig anpassende statutarische Bestimmung festgesetzt wurde. Aber
würden sich die Beteiligten überhaupt über ihre Beitragspflicht einigen können?
Über alle diese Bedenken hinweg führte die Überzeugung von der Not¬
wendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens. Am 10. Januar 1898 fand in Essen
eine Versammlung von Vertretern der Behörden, der Rnhrwasserwerke und von
Besitzern der Triebwerke an der Ruhr unter dem Vorsitz des Regierungspräsidenten
Freiherrn von Rheinbaben, statt, dem als solchem die Staatsaufsicht über den
schiffbaren Teil der Ruhr, auch innerhalb der Provinz Westfalen, oblag. Herr
von Rheinbaben ist die treibende Kraft bei der damit eingeleiteten Gründung
des „Ruhrtalsperrenvereins" gewesen.
Die Lage war insofern nicht ungünstig, als an der oberen Ruhr und ihren
Nebenflüssen eine Reihe von Projekten für Talsperrenanlagen vorlag, die zum
Zwecke der industriellen Ausnutzung der dabei aufgespeicherten Wasserkraft von
örtlichen Interessenten betrieben wurden. Ju ihrer Gesamtheit gewährleisteten
sie bei entsprechend großer Ausführung das Aufspeichern einer genügenden
Wassermenge, um den Zufluß der Ruhr regeln zu können. Es kam also nur
darauf an, die Ausführung der Talsperren in etwas größerem Maßstabe und
schneller, als es das rein örtliche Interesse gebot, zu erreichen. Dafür schien
es ausreichend, den örtlichen Genossenschaften jährlich Zuschüsse zu gewähren,
die die Zinsen und Amortisationsbeträge etwa des halben Baukapitals decken
würden. Sonach handelte es sich nur darum, die erforderlichen Mittel aufzu¬
bringen und eine Zentralstelle für die Bauausführung der Talsperren zu schaffen.
Fand sich für diesen Zweck überhaupt eine Mehrheit der beteiligten Wasser¬
werke zusammen, so konnten einzelne Widerstrebende durch Handhabung der
landrechtlichen Bestimmungen zum Beitritt veranlaßt werden, wonach „Wasser¬
bauten" an öffentlichen Flüssen nur unter polizeilicher Aufsicht ausgeführt werden
durften und Wasserleitungen aus öffentlichen Strömen eine staatliche Erlaubnis
erheischen (§ 96 I 8 und Z 46 II 15 des Allgemeinen Landrechts). Damit konnten
später neu entstehende Wasserwerke in jedem Falle zum Beitritt gezwungen
werden, bestehende aber im Falle notwendiger Vergrößerung. ... So konnten
die Befugnisse der Verwaltung aus den alten Negalrechten, die ihr bei der
wachsenden Verkehrsbedeutung der öffentlichen Ströme einen ungeahnten erheb¬
lichen Einfluß auf die wirtschaftlichen Verhältnisse sichern, kräftig zur Geltung
gebracht werden.
Die Verhandlungen mit den Interessenten bewiesen die Richtigkeit der
Rechnung. Siebzehn städtische und gegen fünfzig industrielle Wasserwerke schlossen
sich zum „Ruhrtalsperrenverein" zusammen, der nach den Satzungen den Zweck
hat, „den Wasserstand der Ruhr nach Menge und Beschaffenheit durch eigene
Erbauung oder Förderung von Talsperrenanlagen im Niederschlagsgebiet der
Ruhr zu verbessern". Auch eine Anzahl von Triebwerken an der Ruhr, die durch
die Vergrößerung der Gleichmäßigkeit des Wasserzuflusses Vorteile hatten, erklärten
sich zum Beitritt bereit. Ein Beitragsmodus, wurde — unter Voraussetzung
baldiger Revision — vereinbart. Bei der Berechnung tritt eine Begünstigung
hinsichtlich derjenigen Wassermengen ein, die seitens der Entnehmer schon von
jeher bezogen wurden, sowie hinsichtlich derer, die in das Ruhrgebiet wieder
zurückgeliefert werden. Der Sitz des Vereins wurde Essen. Schon am
11. Dezember 1899 konnte das Statut genehmigt werden.
Die Entwickelung des Vereins vollzog sich seitdem im wesentlichen in der
Erledigung der ihm gestellten technischen Aufgabe. Schon 1903 waren neun
Talsperren mit einem Stauiuhalt von 30 Millionen Kubikmeter im Ruhrgebiet
teils fertig, teils im Bau; neue sind seitdem in Angriff genommen, darunter
die gewaltige Möhnetalsperre mit einem Inhalt von 130 Millionen Kubikmeter
— das Dreifache der berühmten Urftalsperre in der Eifel. Über das ursprüngliche
Programm ist also weit hinausgegangen worden. Die Aufwendungen des Vereins
für diese Zwecke beziffern sich jährlich auf 600000 Mark. Für die Ruhr hat das
Vorgehen u. a. den Erfolg gehabt, daß jetzt schon der Plan auftauchen konnte, durch
weitere Stauanlagen den Wasserzufluß so zu regeln und zu verstärken, daß
wieder ein auch unter modernen Verhältnissen lohnender Schiffsverkehr auf der'
Ruhr stattfinden kann. Daneben spielen die Talsperren im Hinterland als
Kraftquellen eine segensreiche Rolle, namentlich seitdem nicht bloß die Kraft des
fließenden Wassers an den von ihnen gespeisten Bächen ausgenutzt wird, sondern
auch bei der Talsperre selbst durch besondere Anlagen in Elektrizität umgewandelt
und beliebig fortgeleitet wird.
Bald nach der endgültigen Gründung des Ruhrtalsperrenvereins sand der
entscheidende Schritt statt, der auch das Problem der Wasscrableitung des
Jndustriebezirks zur Lösung bringen sollte. Am 14. Dezember 1899 tagte in Essen
unter dem Vorsitz des Regierungspräsidenten Winzer aus Arnsberg eine Versamm¬
lung von Vertretern der Behörden, der Stadt- und Landkreise des Bezirks und
einiger besonders geladener Bergwerksunternehmungen. Es handelte sich vor
allen Dingen darum, die technische Lösung der Frage vorzubereiten, aus dem
Stadium der Versuche, der unfruchtbaren Teilarbeiten herauszukommen, und einen
Plan für den ganzen Bezirk aufzustellen, der die Herstellung eines zuverlässigen
gemeinsamen Vorfluters zum Zweck hatte. Von der Staatsverwaltung war, so
betonte der Vorsitzende, hierin nichts zu erwarten, da drei Regierungsbezirke
und zwei Provinzen beteiligt seien und über die hierdurch gegebene Schwierigkeit
nicht hinwegzukommen sei. Es sollten vorläufig die nicht unerheblichen Kosten
der Projektaufstellung aufgebracht werden, und zwar von den beteiligten Stadt-
und Landkreisen. Dies wurde auch durch freiwillige Vereinbarung erreicht,
ferner wurde eine große Kommission gewählt, insbesondere aus den Gemeinde¬
verwaltungen und der Bergwerksindustrie, welche die Projektausstellung leiten
und die Ausführung vorbereiten sollte.
In den Jahren 1901 bis 1903 wurde dann im Auftrage dieser Kommission
ein Projekt durch den Wasserbauinspektor Mitteldorf ausgearbeitet. Es sah
von der Erbauung eines besonderen großen Schmutzwasserkanals ab, hielt an
der Emscher als Hauptvorfluter fest und sah ihre Begradigung, Vertiefung und
die Verlegung des unteren Teils zur Gewinnung einer tieferen Mündungsstelle
rheinabwärts vor. Daneben wurde die Regulierung der Nebenbäche und die
Anlage großer Klärbrunnen geplant, kurz alles, was zur Reinigung und möglichst
schnellen Abführung der Abwässer erforderlich war. Die Kosten — ohne Klär¬
anlagen — wurden auf dreiunddreißig Millionen Mark veranschlagt, der
zur jährlichen Verzinsung und Tilgung erforderliche Betrag auf eineinhalb
Millionen Mark.
Unterdessen war auch die fast unlösbar scheinende Frage entschieden, wie
die Mittel aufzubringen seien. Daß dies ans dem leistungsfähigen Bezirk
selbst heraus geschehen müsse, war klar, nur fehlte es an einem geeigneten
Träger dieser Verpflichtung. Die einwandfreie Abführung der Abwässer gehört
an sich zum Gebiete der Gemeindeaufgabcn, doch beschränkt sich diese Ausgab^,
regelmäßig auf geeignete Maßnahmen im Gemcindegebiet; eine regelmäßige
Sorge um den weiteren Abfluß existiert nicht. Hier aber waren Verhältnisse
entstanden, die diesen Weiterabfluß für den ganzen Bezirk zur Aufgabe stellten,
und sie waren, wie die Untersuchungen ergeben hatten, wesentlich herbeigeführt
durch die Hauptindustrie des Gebietes, den Bergbau. Ein weiterer Grund der
Mißstände, die außerordentliche Verschmutzung des Emscherwassers, lag ebenfalls
außerhalb des Einwirkungskreises der Gemeinden, da sie zum großen Teil durch
die Abwässer industrieller Unternehmungen verursacht wurde, die das Kanalisations¬
system der Gemeinde nicht berührten. Überhaupt existierte für die meisten
Gemeinden noch kein ihr ganzes Gebiet umfassendes Kanalisationssystem.
Sollte eine Vereinigung der Gemeinden zum Träger der neuen Aufgabe
und ihrer Lasten gemacht werden, so schien es fast unmöglich, bei Feststellung
des Verteilungsmaßstabes alle die eben berührten Gesichtspunkte zu berücksichtigen.
Und wäre es möglich gewesen, so bot unsere Kommunalsteuergesetzgebung keine
Handhabe, in den einzelnen Gemeinden die hiernach bemessenen Beiträge auf die
eigentlichen Urheber der schädigenden Einflüsse abzuwälzen. Sie wären der
Allgemeinheit zur Last geblieben. Das aber war für einzelne Gemeinden
unannehmbar und war auch nicht die Meinung der betreffenden industriellen
Kreise, insbesondere des Bergbaues. Dieser war von jeher besonderen mit
seiner Natur zusammenhängenden polizeilichen Lasten und Beschränkungen
unterworfen und hat sich in Rheinland und Westfalen daran gewöhnt, die
Erfüllung der sich daraus ergebenden Verpflichtungen zugunsten der Nach¬
barschaft und der Gemeinde als nobile ottiLium aufzufassen. Hier handelte
es sich um einen Zustand, der sich ungeahnt im Laufe der Zeit als Folge des
Bergbaues entwickelt hatte, der den einzelnen Bergbautreibenden häufig Belästigung,
noch mehr aber der Allgemeinheit Schaden zufügte, dessen Beseitigung von
Polizei wegen von den Bergbautreibenden nicht zu erreichen gewesen wäre, und
der nur im Wege gemeinsamen Vorgehens mit anderen Interessenten zu bessern
war. Ähnlich lag die Sache bei den anderen großindustriellen Unternehmungen,
die trotz Erfüllung der ihnen gewerbepolizeilich auferlegten Verpflichtungen schon
durch die Massenhaftigkeit der von ihnen abgegebenen Abwässer zur Ver¬
schlimmerung des Zustandes beitrugen. Überall bestand Bereitwilligkeit, auch
über die unmittelbare polizeiliche Verpflichtung hinaus zur Besserung des
Zustandes beizutragen, wenn alle Beteiligten ihre Leistungen zu dem Zwecke
vereinigten. Aber der Kreis dieser Beteiligten war unübersehbar. Außer den
Städten und Gemeinden, die in der Ausführung des Projekts eine notwendige
Ergänzung ihrer Kanalisations- und Kläranlagen erblicken mußten, war eigentlich
jede Betriebs- und Wohnstätte beteiligt, die der Emscher schmutzige Abwässer
zuführte, jedes Bergwerk, dessen Grubenwasser sie fortführen mußte und durch
dessen Bergbau ihr Lauf behindert wurde.
Es ist wesentlich das Verdienst des unermüdlichen Vorsitzenden der großen
Emscherkommission, des verstorbenen Oberbürgermeisters Zweigert aus Essen, für
den Gedanken, daß die Beiträge zur Emscherregulierung wie eine Art außer-
ordentliche Polizeilast wesentlich von den Verursachern des zu bessernden Zustandes
zu tragen seien, die praktisch brauchbare Form gefunden und ihn: in dieser
Form auch gesetzgeberisch zum Siege verholfen zu haben. Denn ohne Gesetz
ging es hier freilich, wo nicht einmal der Kreis der Beteiligten feststand, nicht
ab, sollten nicht einige unbeteiligt beiseite bleiben. Am 14. Juli 1904
erging das Gesetz betreffend Bildung der Emschergenossenschaft, die zum Zwecke
haben sollte: „die Regelung der Vorflut nach einem einheitlichen Projekt, und
die Abwässerreinigung im Emschergebiet, sowie die Unterhaltung und den Betrieb
der für diesen Zweck ausgeführten Anlagen". Als Mitglieder find aufgeführt
die zum Gebiet gehörigen neun Stadt- und neun Landkreise. Das Merkwürdige
an dieser Genossenschaft ist, daß gar nicht diese Genossen die Genossenschafts¬
lasten tragen, sondern die besonders aufgeführten „Beteiligten". Als solche
bezeichnet das Gesetz Bergwerke, — andere gewerbliche Unternehmungen, Eisen¬
bahnen und sonstige Anlagen — und Gemeinden. Sie sind nach einen: Kataster
heranzuziehen, das aufzustellen ist einerseits mit Rücksicht auf die durch die
Veranlagten im Emschergebiete herbeigeführten Schädigungen, andrerseits auf
die nach der Projektausführung ihnen mittelbar oder unmittelbar zugute kommenden
Vorteile. Weiteres sagt das Gesetz nicht. Es überläßt die Ermittelung der
einzelnen Beteiligten und die Festsetzung ihres Beitrages der Genossenschaft.
Einige Garantien gegen Mißbrauch des damit verliehenen Besteuerungsrechtes
gewähren die Bestimmungen über die Zusammensetzung der Genossenschafts¬
versammlung und der für die Nachprüfung der Veranlagung gebildeten Berufungs¬
kommission. In ersterer haben die zur Genossenschaft gehörigen Stadt- und
Landkreise Vertreter aus den Kreisen der obengenannten drei Gruppen der
Beteiligten nach dem Maßstab der katastermäßigen Beitragsleistung zu entsenden —
also eine indirekte Vertretung dieser Gruppen — und in der neunköpfigen
Berufungskommission hat ein von der Aufsichtsbehörde, dem Oberpräsidenten
von Westfalen, zu ernennender Staatsbeamter den Vorsitz zu führen; es
gehören ihr noch zwei von der Aufsichtsbehörde und vom Oberbergamt zu
Dortmund zu ernennende technische Beamte an. Die anderen sechs Mitglieder
werden von der Genossenschaftsversammlung gewählt.
Trotzdem hätte das Gesetz die sonst für erforderlich erachtete Begrenzung
der Genossenschaftsrechte nicht unterlassen können, wenn nicht als Ergebnis aller
Vorverhandlungen über die Gestaltung der Genossenschaft zutage getreten wäre,
daß die wesentliche Mehrheit aller Beteiligten mit einer Regelung, wie sie hier
vorgesehen wurde, einverstanden war. Diese Regelung ermöglichte den endlichen
Beginn der Arbeiten zur Beseitigung des immer dringender werdenden Not¬
standes; die Feststellung der genauen Grundsätze über die Beitragshöhe mochte
später erfolgen, vorderhand fand der einmütige Wille, daß etwas geschehen
müsse, seine Betätigung.
Zurzeit sind veranlagt 189 Bergwerke, 18 Großindustrielle einschließlich
der fiskalischen Verwaltungen und 129 Gemeinden. Letztere steuern etwa
30 Prozent, die Bergwerke 52 Prozent, den Nest von 18 Prozent die anderen
Industrien als Beiträge bei. Dabei ist zu beachten, daß Beitragslasten von
Industrieanlagen, die nach der Errechnung unter 5000 Mark bleiben, nicht zur
Aufnahme der betreffenden Unternehmung als selbständige „Beteiligte" im
Kataster führen, sondern ihrer Gemeinde zugerechnet werden.
Mit den hauptsächlichsten Arbeiten der Begradigung und Vertiefung sowie
der Verlegung des Unterlaufes der Emscher wurde 1904 unverzüglich begonnen.
Diese Arbeiten sind nahezu fertig. Damit ist die Fähigkeit der Emscher, Vorflut
zu gewähren, wiederhergestellt, der Eintritt von Überschwemmungen durch Hoch¬
wasser ist unmöglich gemacht. Die Regulierung der Nebenbäche, die systematische
Herstellung von Kläranlagen werden in dieser Hinsicht in: ganzen Bezirk geordnete
sanitäre Verhältnisse schaffen.
Man würde der Bedeutung der hier besprochenen beiden Gründungen nicht
gerecht werden, wollte man sie nur als besonders hervorragende und merkwürdige
Erscheinungen auf dem Gebiete des öffentlichen Genossenschaftswesens ansehen.
Mit den üblichen Wassergenossenschaften haben sie wenig gemein. Der für die
Wirtschaft der Interessenten und Beteiligten aus den Anlagen des Talsperren¬
vereins und der Emschergenossenschaft erwachsende Vorteil ist nicht der Haupt¬
grund für ihre Bildung gewesen, ihr wesentlicher Zweck ist die Beseitigung eines
öffentlichen Notstandes.
Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung gehören überall da, wo das dichte
Zusammenwohnen der Bevölkerung einen Zustand gegenseitiger Abhängigkeit auch
vom Wohlbefinden des Nachbarn und eine verhältnismäßige Hilflosigkeit der
Einzelwirtschaft herbeiführen, zu den großen Aufgaben, die von der organisierten
Gesamtheit zu erfüllen sind, sie sind hervorragend kommunale, städtische Auf¬
gaben. Aber hier waren diese Aufgaben den Kommunen des Jndustriebezirks
gewissermaßen über den Kopf gewachsen, sie konnten nur für das ganze Gebiet
gemeinsam gelöst werden. Daß dies gelang, ist das Ergebnis der langen
Gewöhnung im Dienste öffentlicher Interessen und des Gefühls einer gemein¬
samen Verantwortlichkeit bei allen Beteiligten. Beide Vereinigungen, die in
Essen ihren Sitz haben, sind die ersten Organe der über alle historischen und
Verwaltungsgrenzen hinaus sich bildenden Einheit des Jndustriebezirks. Bei
der Emschergenossenschaft wird dieses besonders hervortreten, je mehr sie sich
der systematischen Durchführung der an die Emscher anschließenden Kanalisations-
und Klärsysteme zuwendet. Man kann die Vereinigungen wohl als eine Art
Zweckverband zur Erfüllung kommunaler Aufgaben betrachten, nur daß als ihre
Mitglieder nicht bloß Gemeinden, sondern auch industrielle Unternehmungen
auftreten. Dies ist auch bei der Emschergenossenschaft, nur in verhüllter Form,
der Fall. Denn die als Genossen bezeichneten Stadt- und Landkreise sind doch
im wesentlichen nurWahlkörper zur Ernennung derGenossenschaftsversammlung aus
den Kreisen der Beteiligten; unter diesen aber stehen Bergbau und Großindustrie
den Gemeinden völlig gleich. Gleich stehen sie insbesondere durch die Art der
Lastenverteilung. Denn während diese bei Heranziehung zu gewöhnlichen
Genossenschaftsbeiträgen, ebenso wie zu den besonderen Beiträgen und Voraus¬
leistungen in der Kommunalbesteuerung nur nach Maßgabe der entstehenden
Vorteile erfolgen kann, erscheint hier die Last wesentlich als Abtragung einer
öffentlichen Schuld, als Übernahme einer besonderen Auflage zugunsten der
Allgemeinheit. Und im wesentlichen ist sie als solche von den Beteiligten frei¬
willig übernommen worden.
Es sind nicht bloß diese Vorgänge, es sind vielmehr manche Verhältnisse
auf vielen anderen Gebieten des öffentlichen Lebens, die zu dem Schlüsse zwingen,
daß die große bergbauliche und industrielle Unternehmung für die Verwaltung
nicht einfach innerhalb des Gemeideverbandes verschwinden kann, daß sie eine
gesonderte Stellung einnimmt, die auch in der Gemeindegesetzgebung mit der
Zeit Berücksichtigung finden wird, wenn diese auch nie in der Art erfolgen
könnte, die in den östlichen Provinzen der „Gutsbezirk" genießt. Aber jedenfalls
dürfte das geplante Zweckverbandsgesetz an Bildungen, wie sie Ruhrtalsperreu-
vercin und Emschergenossenschaft darstellen, nicht ohne weiteres vorbeigehen,
vielmehr auch für sie den Rahmen entsprechend weit spannen.
Bemerkenswert ist auch der Anteil der staatlichen Verwaltung bei den
Gründungen. Sie hat sie angeregt, gefördert, durch entsprechende Handhabung
gesetzlicher Befugnisse überhaupt erst ermöglicht, und ist bei der Erfüllung der
Aufgaben der Vereinigungen nicht bloß als Aufsichtsbehörde tätig, sondern
arbeitet an den verschiedensten Stellen dauernd mit. Wie ohne Gemeinsinn
der Beteiligten die Gründung nicht Hütte erfolgen können, so sind es doch
anderseits die Staatsverwaltungsbehördcn gewesen, die die Notwendigkeit des
Zusammenschlusses erkannt und durch ihr Vorgehen die Vereinigungen ins
Leben gerufen haben. Die entstehenden gewaltigen Werke, die in so wichtigen
Beziehungen gesunde Grundlagen für die Weiterentwickelung des Bezirkes
schaffen, sind eine Großtat der preußischen Verwaltung. Es mindert nicht ihr
Verdienst, es ist vielmehr ein Zeichen, daß sie auf einen, ihr sonst fernliegenden
Gebiet die richtigen Mittel zu wählen verstand, wenn sie die Ausführung der
Arbeiten nicht selbst übernahm, sondern bei dem Fehlen einer kommunalen
Einheit des Bezirks besondere Selbstverwaltuugsorganisationen zu schaffen wußte
und zur Mitarbeit heranzog!
ührend des Aufenthalts Napoleons des Ersten in Erfurt bewegte sich
unter den ersten, die ihm zujubelten, ein junger Kaufmannslehrling,
Friedrich Stepß, Sohn des Predigers bei Se. Ottmar in Naum-
burg, M. Fr. Gottlob Stepß. Ein Jahr später wurde der Jüngling
wegen eines Attentats gegen die Person des französischen Kaisers
in Schönbrunn erschossen. Man weiß, einen wie tiefen Eindruck dieses Ereignis
auf Napoleon selbst gemacht hat. Aber in der Seele des Jünglings vermochte
man bisher noch nicht zu lesen. Die Akten des Kriegsgerichtes allein haben
das psychologische Rätsel nicht zu lösen vermocht. Erst die im Auftrage des
Herzogs von Friaul durch den Intendanten von Erfurt, Devismes, vor¬
genommenen Nachforschungen ermöglichen zusammen mit den Akten des Kriegs¬
gerichtes eine genauere Würdigung des Falles/')
Am 14. März 1792 geboren, wurde Friedrich Stepß am 5. Mai 1806
von seinen Eltern nach Erfurt gebracht, wo er zu Pfingsten als Lehrling in
die Nankinfabrik von Rothstein, Lentin u. Cie. eintrat. Dreieinhalb Jahre war
er in diesem Berufe mit Lust und Liebe tütig zur Zufriedenheit seiner
Prinzipale, die keine Gelegenheit fanden, ihn? Vorwürfe zu machen. Sein Vater
spricht ihm „eine gute Beurteilungskraft, aber kein schnell faßbares Gedächtnis"
zu, seine Lehrherrn fanden in ihm Sanftmut mit Einfalt gepaart; die Freunde,
denen er in Erfurt näher trat, August Zerenner aus Derenburg bei Halberstadt,
Lehrling in der Kaiserschen Buchhandlung, und Karl Walter aus Sachsen,
Konunis bei dem Buchhändler Ziegler, nennen ihn den besten Menschen, dem
nichts Schlimmes zuzutrauen sei. Mit ihnen beiden und Friedrich Christian
Blaß aus Allendorf in Westfalen nahm er im Jahre 1809 englische Stunden
bei Joachim Wilhelm Bellermann, dem Sohne eines angesehenen Spezerei-
händlers; die Schwester dieses Lehrers, Charlotte Bellermann, entfesselte seine
ganze Leidenschaft, die er aber weder ihr noch sonst jemand eingestand. In
seiner freien Zeit las er viel; aber, wie er später sagte, keine Romane, sondern
„indifferente" Bücher: Kotzebue, Schiller (auch die Jungfrau von Orleans),
Campe, Fenelon und Voltaires Geschichte Karls des Zwölften. Die römische
Geschichte kannte er aus der allgemeinen Weltgeschichte von Schröckh; dabei
fesselte ihn der Mord, den Romulus an Remus beging, aber des Brutus und
des Cinna erinnerte er sich später nicht mehr. Die französische Geschichte
interessierte ihn erst von der Revolution an; er wußte, daß mehrere Personen
auf den Kaiser erfolglose Anschläge verübt hatten, aber Charlotte Corday und
Georges Cadacdel kannte er nicht. Nach dein Ausbruch des Krieges 1809
hörte er in Erfurt in den Cafös, Napoleon führe Krieg, nur um sich zum
Herrn von Europa zu machen. Da schwand auch der Enthusiasmus dahin, den
er dem Kaiser früher fo lebhaft entgegen getragen hatte; seine Liebe verwandelte
sich in Haß, und er faßte den Entschluß, ihn im ersten günstigen Augenblick
ums Leben zu bringen. Das war zur Zeit der Kämpfe um Wagram (5. und
6. Juli). Als er dann in öffentlichen Blättern, namentlich in Frankfurter und
Berliner Zeitungen las, beinahe ganz Deutschland sei von französischen Truppen
besetzt und verheert, die Bewohner ihres Vermögens beraubt und unglücklich
gemacht, wollte er seinen Plan wirklich ausführen. In seinein Vorhaben
bestärkte ihn die Anwesenheit mehrerer Sächsischer Offiziere und Unteroffiziere
in Erfurt, die Rekrutierungen vornahmen. Einer von ihnen erzählte, die
sächsische Armee, die vorher 16000 Mann umfaßt habe, sei durch die Schlacht
bei Wagram auf 4000 Mann zusammengeschmolzen. Die Offiziere berichteten,
die Sachsen seien von den Franzosen zum Angriff gezwungen worden; man habe
im allgemeinen jedes Mittel versucht, sie zu vernichten. Diese Mitteilungen
fanden Glauben, und man freute sich, daß auch die Franzosen schwere Verluste
erlitten hatten. Stepß hoffte, nach dem Tode ihres Kaisers würden die Feinde
aus Deutschland vertrieben, der Handel wieder aufleben, die Völker glücklicher
werden. Aber von dem Augenblick an, wo in den Zeitungen von einem baldigen
Frieden die Rede war, gab er sein Vorhaben wieder auf.
Zu Anfang August, zur Zeit des Kirschfestes, weilte er acht Tage im
Elternhause in Naumburg: „Heiter und unbefangen", erzählte sein Vater, „kam
er an und vergnügte sich mit den Kindern und Eltern wie nur irgend ein
junger Mensch, dem die Welt vor ihm lacht, und der an nichts Arges oder
Ernsthaftes denkt." Seine eifrige Teilnahme an den Kriegsereignissen war den
Eltern nicht verborgen geblieben; einmal hatte er den Vater gebeten, ihm alles
zu schreiben, was er wisse. „Denn wir müssen doch alles erfahren, trotz der
umherschleichenden schändlichen Polizei." In Naumburg sprach er dann davon,
daß vielleicht bald der Friede geschlossen würde, und die Truppen dann nach
Spanien abgingen. Der alte Stepß scheint gefürchtet zu haben, daß sein Sohn
zu den Soldaten müsse, denn von Erfurt schreibt ihm dieser am 31. August:
„In Ansehung der Soldaten machen Sie sich aber zu viel Angst, denn 20000
Mann spürt man in Sachsen uoch uicht so sehr, daß man Studierende und
von der Kaufmannschaft Leute wegnehmen wird, und für jetzt inertem sie doch
mit dieser Armee genug haben, und wegen der Zukunft laß ich mir keine
grauen Haare wachsen, da kann sich noch viel ändern. Sorgt nicht für den
andern Morgen, denke ich. Der Erzherzog Carl soll das Oberkommando unter
der Bedingung wieder übernommen haben, daß seine Brüder von der Armee
abgehen müßten, und er Generäle an ihre Stelle setzen dürfe, denn diese könne
er bei Fehlern bestrafen, aber jene nicht. Der Herzog von Braunschweig-Öls
hat sich mit den Engländern vereinigt. Die gute Mutter grüßen Sie recht
vielmals und ich bitte Sie recht sehr, sich nicht unnötige Angst zu machen, es
wird alles gut gehen." Das war aber nur Verstellung. Denn er suchte seinen
Freund Walter zu überreden, mit ihm Soldat zu werden, da sie doch Lands-
leute seien. Seine Vorliebe für das Militär und sein Ehrgeiz hatten, auch dem
ihm fernstehenden Bellerman fiel das auf, die Vorhand in seinen Gefühlen.
Seine Prinzipale hatten zwar nie bemerkt, daß er sich in Politik mische, und
aus keiner seiner Reden das Interesse wahrgenommen, das er dem Kriege
entgegenbrachte. Dagegen erzählte er den Freunden alles, was er wußte; aber
sie beschäftigten sich nicht viel mit Politik, und als er ihnen sagte, die Franzosen
würden aus Osterreich und Deutschland verjagt werden, erklärten sie ihn für
einen Narren (ion). Schon als er während der Bewegungen des Schillschen
Korps von den großen Diensten sprach, die er vermöge seiner ausgesprochenen
Neigung für den Soldatenstand dem Hause Osterreich leisten werde, hielt ihn
Zerenner für „beinahe verrückt"; diese Überzeugung wuchs, als Friedrich von
einer Vision erzählte, die ihn zum Helden von Deutschland bestimmte. Diese
Träume, in die auch Walter eingeweiht wurde, sind ein Erbteil von seiner Mutter;
sie hatte ihn im Traume ins Wasser fallen sehen, ohne ihn retten zu können,
und diese Erscheinung hatte ihr mütterliches Herz oft bekümmert. Zerrenner
schob die Schuld auf die Lektüre eines Buches, das die Ereignisse des Jahres 1810
prophezeite, und hielt es für die Prahlereien eines jungen Mannes, wenn Stepß
Karls des Zwölften Heldentaten überbieten wolle; er bemühte sich, den Freund
von seineu Ideen abzubringen, und wenn es ihm auch nicht gelang, thu vollständig
zu beschwichtigen, so erhielt er doch das Versprechen, daß jener keinen unüber¬
legten Schritt unternehmen wolle. Von dieser Zeit an schwieg Stepß; er fürchtete,
man könnte ihn an der Tat hindern oder ihn verraten. Seine Freunde glaubten,
er habe seine Meinung geändert, er wußte sie aber nur zu täuschen, indem er
noch zwei Tage vor seiner Abreise bei Bellermann Bücher zum Erlernen der
englischen Sprache bestellte. Er war in Wirklichkeit auf.das Attentat zurück¬
gekommen, als die Friedensgerüchte sich nicht bestätigten und der Krieg seinen
Fortgang nahm; denn man rekrutierte viel in Deutschland, und in Sachsen
wurden ungefähr 20000 Mann ausgehoben.
Während der eine der Prinzipale, Rothstein, auf der Leipziger Messe
weilte, bereitete Stepß seine Flucht vor. Er fälschte auf einer Einladung für
den Polizeikommissar in Erfurt, Kahlert, die Unterschrift Lentins. Damit gelang
es ihm, anstandslos einen Paß nach Naumburg zu erhalten. Später radierte
er darin das Wort Naumburg fort, und setzte an dessen Stelle Wien. Bei
dem Webermeister Rothe, der ein Wechselbureau hatte, endlich er sich elf Friedrichs-
d'or. Ein Arbeiter seiner Fabrik mußte ihm einen Miethwagen besorgen, an¬
geblich um jemand in Weimar abzuholen; seine Freunde, denen er sagte, er
gehe nach Weimar, glaubten, er habe dazu von Lentin Urlaub. An diesen
hinterließ er einen Zettel: „Wichtige Gründe machten es mir unmöglich,
in Erfurt länger zu bleiben. Alle Bemühungen, zu erforschen, mo ich bin,
werden vergebens sein. An meine Eltern brauchen Sie nicht zu schreiben,
indem ich es schon gethan habe und sie um Verzeihung bat; sie werden das,
was ich hier borgte, als das Letzte für mich bezahlen". Ein Billet an Zerrenner
und die Freunde hatte folgenden Wortlaut: „Si vous veri? ins elierclisr, vou8
No ML tiouvere-i que parmi >L8 vamquer8 c>u parmi Is8 mort8 3ur le
cdamp cle bataille; je ne pui8 realer plus IonZtemp8 lei et je preriä8
LONM als V0U8". Am 23. September hatte er auch einen Mschiedsbrief an
die Eltern geschrieben, des Inhalts, er müsse fort, um Tausende von ihrem
Verderben, vom Tode zu retten, und dann selbst zu sterben. Was und wie
er es tun wolle, dürfe er ihnen nicht entdecken. AIs er nach anfänglichen
Hindernissen Gott bat, ihn: die Mittel zum Vollbringen zu gewähren, war es ihm,
als sähe er Gott in seiner Majestät, der mit donnerähnlichen Worten zu ihm
sprach: „Gehe hiu und tue, was du dir vorgenommen hast". Da habe er
ihm Gehorsam bis in den Tod geschworen, obwohl er diesen Schwur dann oft
bereute und auch seine Geliebte verlassen müsse. Später, als man ihm in seinem
Verhör vorhielt, nach den Grundsätzen seiner Religion sei doch der Mord ver¬
boten, erwiderte er, er wisse es wohl; aber er wollte lieber für das Glück
Europas und der Menschheit sein Leben opfern als in einem so kostbaren Augen¬
blick untätig bleiben. Auch habe er die innerste Überzeugung, es werde ihm nicht
nur gelinge», den Zorn des höchsten Wesens zu versöhnen, sondern der ewige Vater
werde ihn noch belohnen, weil er die Erde von einem Fürsten befreien wollte, den er
für die erste Ursache des Krieges hielt. Bei den starken Rekrutierungen in seiner
Heimat wäre er wohl selbst ausgehoben worden. Als tapferer Soldat hätte er die
Pflicht gehabt, Morde zu begehen, bei denen für sein Vaterland nichts heraus¬
gekommen wäre, während der eine Mord, den er vollbringen wollte, seiner
Meinung nach der Menschheit günstig gewesen wäre. Besonders gestärkt habe
ihn, wie er deu Eltern schrieb, die letzte Sonntagspredigt, die mit den Worten
schloß: „Erhaben über Staub, unsterblich ist des Menschen Geist".
Am 24. September verließ er Erfurt; die beiden ersten Tage reiste er allein
in seiner Kariole über Arnstadt, Ilmenau bis Eisfeld; dort verkaufte er den Wagen.
Von da ritt er über Koburg uach Banreuth; dort veräußerte er auch das Pferd.
Die Strecke bis Amberg legte er zu Fuß zurück; ein Fiaker brachte ihn bis
Regensburg, ein Schiff von da am 7. Oktober nach Wien. Hier verbrachte er
die erste Nacht in einer Herberge der Leopoldstadt unter französischen Husaren
auf Stroh. Da er in Wien niemand kannte, ließ er sich von einem Unbekannten
in der Straße „Im Elend n. 188" eine Wohnung empfehlen. In den Cafös
studierte er eifrig die Zeitungen; schon in Erfurt hatte er von dem baldigen
Abschluß des Friedens gelesen, das Volk glaubte, daß er in Wien schon unter¬
zeichnet sei; er überzeugte sich aber, daß es nicht der Fall sei. Auch verschiedene
Theaterstücke las er, namentlich eine Komödie: „Der Friede am Pruth". In
dem Wirtshaus, wo er aß, hörte er von einem Füsilir und zwei Husaren, daß
in Schönnbrunn alle Sonntage Parade sei. Schon am 8. Oktober war er mit
einen: Degenstock, den er sich für seine Reise angeschafft hatte, draußen, sein Attentat
auszuführen; aber wegen der vielen Zuschauer hielt er es für besser, einen
Dolch zu gebrauchen. Auf Befragen erfuhr er noch von einem Gardeoffizier,
die nächste Parade finde am Donnerstag statt. Bei einem Kaufmann am Hof
kaufte er nun einen Dolch, den er nicht weit davon schleifen ließ; damit aber der
Scherenschleifer ihn nicht frage, warum er den Dolch auf beiden Seiten schleifen
lasse, ließ er ihn nur an der Spitze doppelt schärfen; er gab an, er brauche
ihn als Küchenmesser. Mit dieser Waffe wollte er sich dann am 12. Oktober dem
Kaiser nähern und ihn ansprechen: „^uronZ ne>u8 la Mix on rwri; wenn er
keine oder eine abschlägige Antwort erhielt, wollte er ihm den Dolch ins Herz stoßen.
Als Stepß am 12. Oktober Mittags den Schloßhof in Schönbrunn betrat,
war der Kaiser eben die große Schloßtreppe hinabgestiegen, an deren Ende ver¬
wundete Offiziere mit Bittgesuchen und neben der Garde, den Adjutanten usw.
drei verwundete badische Soldaten warteten. Napoleon blieb bei den drei
Badensern stehen, dann ließ er die Truppen einige Bewegungen ausführen und
sprach mit Offizieren der Jäger zu Pferde, als Stepß bis auf zwei Schritte in
seine Nähe trat, sauber gekleidet, in einem neuen olivenfarbigen Überrock mit
grünem Kragen und grünen Aufschlägen, einen französischen Chapeau-Claque
mit der französischen Kokarde aus dein Kopfe. Napoleon hatte ihn nicht bemerkt;
aber Berthier hielt ihn an: „Lassen Sie mich wissen, was Sie von dem Kaiser
wollen. Übergeben Sie mir Ihr Gesuch". Der Jüngling hatte nämlich den
Mantel oben geöffnet und die Hand hineingesteckt, als wolle er eine Bittschrift
hervorziehen. Als Stepß heftig rief: „ich will sie nur dem .Kaiser über¬
geben" und weiter schreiten wollte, faßte ihn der Marschall am Knopfloch und
drängte ihn zur Seite: „So nähert man sich dein Kaiser nicht; sprechen Sie
mit dem Adjudanten vom Dienst". Zugleich rief er deu Geueral Nepp, die
Papiere des jungen Menschen, der ihm verdächtig vorkomme, zu prüfen; Repp
übergab ihn den Gendarmen. Nun fand man das große Küchenmesser, das in
einem mit Bindfaden verschnürten Bogen Papier wie in einer Scheide steckte, ein
Portefeuille mit siebzehn Gulden in Papier und zwei sächsischen Goldstücken, drei
Silhouetten, deren eine die Geliebte Friedrichs darstellte; die beiden andern waren
Bildnisse seiner Freunde. Einen Brief von: 9. September hatte er angeblich von
einem Freunde erhalten; erst später stellte sich heraus, daß er ihn in Erfurt noch
an sich selbst geschrieben hatte, um den Schein zu erwecken, als habe er geschäftlich
in Wien zu tun.
Vor den Gendarmen, sowie vor Nepp und Savary blieb der Verhaftete da¬
bei, er habe dein Kaiser allein etwas mitzuteilen, es sei ein Geheimnis, das
sonst niemand wissen dürfe. Man könne mit ihm machen, was man wolle, er
sei bereit zu sterben. Vor Napoleon geführt, hatte er in Gegenwart von Berthier,
Bernadotte, Duroi, Nepp uudSavary mit demKaiser eine halbstündigeUnterredung;
er gestand, daß er ihn habe töten wollen; während des Erfurter .Kongresses
habe er den Plan noch nicht gefaßt, da er geglaubt habe, der Kaiser werde
Deutschland den Frieden geben. Als der Leibarzt Corvisart gerufen wurde,
um ihn: den Picks zu fühlen, war keinerlei Aufregung an ihm wahrzunehmen.
Auch auf die Frage: „Würden Sie es mir danken, wenn ich Sie begnadigte?"
verharrte Stepß bei seiner Absicht: „Ich würde Sie dennoch zu töten suchen."
Er wurde darauf in das Polizeihaus in Wien gebracht, wo er am 13.
und 14. Oktober vor dem Polizeikommissar Schulmeister vernommen wurde:
Er schlief ruhig des Nachts und gab bis zuletzt auf alle Fragen klare und
bestimmte Autwort. Als man ihm vorhielt, warum er nicht den Kaiser Franz
getötet habe, meinte er, die Franzosen wären alsdann in Deutschland geblieben
und er selbst wäre nicht im Stande gewesen, Deutschland, Holland, Spanien,
England und auch Frankreich zu retten oder ihnen einen Dienst zu erweisen;
denn nur durch Napoleons Tod könne der Friede wiederhergestellt werden. Er
habe nicht die geringste Unruhe in sich verspürt und hätte seinen Plan kalt¬
blütig ausgeführt. Die Strafe, die ihn treffe, kenne er wohl; aber je schmerz¬
licher sie sei, um so mehr ersehne er die Nähe des Todes, um endlich die ewige
Seligkeit zu genießen. Er erhoffe für den beabsichtigten Mord eine Belohnung
vom höchsten Wesen. Schulmeister suchte ihm um eine bessere Meinung von
Napoleon beizubringen. Er habe den Bürgerkrieg in Frankreich beendigt,
die öffentliche Sicherheit wieder hergestellt, dem Lande das Konkordat und die
Freiheit des Kultus gegeben und tue alles für das Glück seiner Völker. Stepß
sagte, daran habe er nie gedacht und sich nur das Unglück in Deutschland vor
Augen gehalten. Er ließ sich auch überzeugen, daß nicht Napoleon, sondern
Kaiser Franz den Krieg begonnen habe, und gab schließlich zu, daß er sich
geirrt habe.
Dieses Verhör hatte der Kaiser am 12. Oktober angeordnet; er hatte die
Absicht, den Übeltäter vor ein Kriegsgericht zu stellen, doch sollte die Sache
möglichst geheimgehalten werden.*) Berthier hatte schon vorher verboten über den
Fall zu sprechen, und obwohl eine große Zuschauermenge durch die Parade angelockt
worden war, hatte niemand etwas von dein Vorgang bemerkt; erst am folgenden
Tage verbreitete sich das Gerücht von einem Attentate auf den Kaiser. Am
15, Oktober wurde die Militürkommission, bestehend aus dem obersten Feldrichter
der Armee, General Sauer, und zwei Schwadronschefs der Gendarmerie, eingesetzt.
In dem geheimen Verhör vor dieser Kommission hielt Steph; alle seine früheren
Angaben aufrecht! als Motiv der Tat gab er hier auch an: „Ich wollte mir
durch einen Mord einen großen Namen machen." Er sagte, er habe vor einiger
Zeit von der schrecklichen Härte gelesen, mit der man gegen alle Verschwörer vor¬
gehe; aber die Lektüre von Trauerspielen habe ihn gelehrt, den Tod zu verachten.
Er habe erwartet, die Soldaten würden ihn auf der Stelle töten und seine
Leiden würden nicht groß sein. Er bedauere seine armen Eltern, die unschuldig
seien. Man wandte alle möglichen Mittel an, um ihn zu weiteren Geständ¬
nissen zu veranlassen und seine Mitschuldigen zu nennen; man stellte ihm auch
die Begnadigung in Aussicht; er blieb aber dabei, daß er die ganze Wahrheit
gesagt habe.
Die Verhandlung vor demi Kriegsgericht dauerte nicht lange; die Anklage
lautete merkwürdigerweise auf Spionage. Die einzige Frage, die den: Gericht
von dem Präsidenten vorgelegt wurde, war: I^s nomen6 ^recleric: LtepK,
qrmMö Li-cle88us, accuse et'espionaZe, Mectant la clemsncs.est-it coupablö?
und da sie einstimmig bejaht wurde, ergab sich das Todesurteil mit Not¬
wendigkeit aus dem Gesetz vom 21. Brumaire des Jahres 5 (11. November 1796).
Abends um 7 Uhr wurde das Urteil den: Angeklagten vorgelesen, am andern
Morgen, den 16. Oktober 1809 um 6 Uhr vollstreckt. Stepß starb in dem festen
Glauben, daß er zum Himmel eingehe, da er sein Gelübde gegen Gott erfüllt habe.
Seine Tat hatte wirklich solchen Eindruck auf Napoleon gemacht, daß
er rasch Frieden schloß; aber eine Folge, die Stepß nicht vorausgesehen
hatte, war die, daß nun alle französischen Behörden eine systematische Ver¬
folgung des Tugendbundes und der damit verwandten Vereinigungen eintreten
ließen; bis zu dieser Zeit findet man in den französichen Akten nur gelegentliche
Mitteilungen über die deutschen Ideologen.
Napoleon hätte den deutschen Pfarrerssohn vielleicht weniger gefürchtet,
wenn er sicher gewesen wäre, daß er einen Geistesschwachen vor sich habe; auf
das Kriegsgericht machte Stepß wohl den Eindruck eines Irrsinnigen, aber man
hielt alles für Verstellung und schenkte ihm keinen Glauben; nur so läßt sich
die gewundene Anklage wegen Spionage verstehen; seine Angehörigen
aber haben ihn sofort nach feinen: Verschwinden für geistesschwach erklärt.
Am 27. September waren sie von der Flucht ihres Sohnes durch einen Brief
des Handlungsdieners der Fabrik in Kenntnis gesetzt worden. Da der Vater
krank war, fuhr die Mutter mit Extrapost nach Erfurt; in Hessenhausen
traf sie Friedrichs Brief vom 23. September. In Erfurt meinte Lentin, er
sei nach England gereist, andere, er sei Soldat geworden. Ein Bote, Meister
Vater, wurde nach Leipzig zu Rothstein geschickt, der dann beim sächsichen
Militär nach seinem Lehrling suchen ließ. Die Eltern hatten dein Boten einen
Brief an den Sohn mitgegeben, der ihre Ratlosigkeit und ihren tiefen
Schmerz zeigt.
Der Vater, der den Ehrgeiz des Sohnes kennt, verspricht ihm im
Falle der Rückkehr, daß er im Geschäft zum Diener avancieren soll;
in: übrigen geht er auf die Vorstellungen Friedrichs und seiner Mutter
nicht ohne eine gewisse Überlegenheit ein: „Wir baden uns in Tränen.
Willst Du meine grauen Haare mit Herzleid unter die Grube bringen? Kehre,
o kehre zurück! Wie doch bei Abraham, so spricht Gott: „Nun weiß ich, daß
Du Gott fürchtest. Komme, teurer Sohn, komm in unsere Anne, ehe Dir das
erwachte Genüssen Deine Ruhe vergeblich und Dich zeitlich und ewig elend macht.
Dein Herz ist unverdorben, aber Dein Verstand leidet, denn ich verstehe
Dich besser als Du, was recht ist. . . . Wohl, Du hast Gott und seiner Stimme
gehorcht, höre auch auf die neue Stimme Gottes, die Deine Mutter ver¬
nommen. . . ." Die Äußerungen, die Friedrichs Eltern in ihrem ersten Schmerze
niedergeschrieben haben, geben einen gewissen Einblick in das Leben der Familie;
aber es ist wichtig zu beobachten, wie in dem Vater, noch ehe er das Un¬
glück im ganzen Umfange kannte, der Gedanke an die geistige Unzurechnungsfähig¬
keit des Sohnes auftaucht. In den nächsten Tagen verhielten sich die Eltern, wie
Vater Stepß am 3. Oktober an Rothstein schreibt, meist leidend in ihrem Schmerz;
sie taten, was ihnen ein guter Freund riet; aber auch in diesem Briefe ist von
der Geistesschwache Friedrichs die Rede: „Er komme, wie er wolle, ich nehme
ihn an, denn er ist nicht durch eigene Schuld, er ist durch Geistesschwache oder
Zerrüttung davon gegangen. . . . Ach sein Geist leidet sehr, davon mündlich
mehr." Da man vermutete, Friedrich habe sich bei der sächsischen Armee an¬
werben lassen, bat der Vater Rothstein, eine anonyme Anzeige in den Reichs¬
anzeiger in Gotha über die Flucht seines Sohnes einsetzen zu lassen und sie
vielleicht auch in Wiener und Prager Zeitungen zu publizieren. Das Schema,
das er dem Briefe beilegte, spricht wieder von der Geisteskrankheit: „Unser
Guter Fritz hat am 24. September d. I. seinen Lehrherrn in einer Stadt
Thüringens ohne Erlaubnis und ohne Ursache verlassen. Da er von seiner
Kindheit auf einen unwiderstehlichen Trieb zum Handelsstande hatte, auch sich
so dazu qualifizierte, daß sein Lehrherr, mit ihm zufrieden, ihn wegen seines
Betragens früher zum Diener erklären wollte, als es im Kontrakt bestimmt war,
so kann ihn nichts anderes als Geisteskrankheit und Schwachheit der Seele aus
seinen so glücklichen Verhältnissen herausgerissen haben. O, er war ein frommer
Sohn! Vermutlich ist er in eine militärische Verbindung getreten. Daher wird
jeder fühlende Mensch, alle Militär- und Zivilbehörden, flehentlich ersucht,
diesen geistesschwachen Menschen im Betretungsfalle anzuhalten, aber ja wegen
seiner Verstandesschwäche und großen Ambition mit aller Schonung und Delikatesse,
daß er nicht entschlüpfe noch sich ein Leids tue, sondern ihn zur Verwahrung
einem freundlichen und verständigen Mann anvertraue und schleunigst den: all¬
gemeinen Anzeiger in Gotha davou Nachricht erteile, daß zu seiner Abholung
gegen dankbare Bezahlung die nötigen Anstalten getroffen werden können. Indessen
möge er mit einem Matin und warmen Strümpfen versehen werden. Darum
bitten seine äußerst bekümmerten Eltern." Nicht ohne Interesse ist auch das
beigegebene Signalement: „Unser Sohn ist 17^ Jahre alt und mißt etwa
72 Zoll. Er hat ein angenehmes volles rotes Gesicht mit einer etivaS hohen
Unterlippe, sein Haar ist schwarzbraun mit einem sogenannten Hahnenkamm;
sein Auge schwarzbraun, seine Stimme stets frischer, aber er redet das Deutsche
rein, nur daß er sich „an" statt „auch" angewöhnt hat. Seine Miene ist ernst¬
haft, aber im Sprechen freundlich und gefüllig. Er spricht englisch und französisch.
Er soll in einem gelben geflochtenen zweirädrigen Kariol mit einem Fuchs seine
Flucht angestellt haben, was aber vielleicht nun verkauft ist. Er tragt einen
braunen Überrock mit gelben Knöpfen und vermutlich einem Ramaun-Jäckchen
darunter, eine Ramaun-Mütze, neue aschgrau melierte Beinkleider und vermutlich
Zugsticfel. In einer Hand hat er eine zugesellte Schmarre von esner alten
Wunde." Diese Annonce ist tatsächlich im „Allgemeinen Anzeiger der Deutschen"
in Nummer 275 vom Donnerstag, den 12. Oktober 1809, also an dem Tage,
wo Friedrich verhaftet wurde, zu lesen.
Die Anzeige blieb ohne Erfolg. Es dauerte ziemlich lange, ehe der
Vater durch einen Brief aus Hamburg deutliche Kunde von: Tode seines Sohnes
erhielt. Die Verhöre, denen der alte Stepß unterzogen wurde, sind uns nicht
erhalten; Rothstein und Lentin erklärten am 23. Oktober: Bis zum
Augenblick der Abreise ihres Lehrlings hatten sie nie etwas bemerkt, was auf
seine Unzurechnungsfähigkeit schließen ließ; aber die Einfalt seines Charakters
habe ihnen einige Male zu denken gegeben, daß seine Organe schwach seien und
unfähig, starke Eindrücke zu verarbeiten. „Erst als Rothstein bei seiner Rückkehr
von Leipzig in Naumburg den Brief an seine Eltern las, haben sich Zweifel
geregt, und man war von seiner Unzurechnungsfähigkeit überzeugt. Die von
seinem Vater an Rothstein gerichteten Briefe bestätigten die Unruhe seiner
Familie über den Zustand seines Kopfes."
Der Intendant von Erfurt, Derismes, der die Protokolle über die ver¬
schiedenen Verhöre und die Briefe, die man zu dieser Angelegenheit gefunden
hatte, dein Herzog von Friaul übersandte, bemerkte dazu, alles, was bisher
deponiert worden sei, scheint mehr geeignet, Mitleid zu erwecken als die Vor¬
stellung eines strafbaren Gedankens hervorzurufen. Heute wird man Stepß kaum
die volle Verantwortlichkeit für seine Tat zutrauen dürfen; aber man muß trotz¬
dem in ihm den Repräsentanten des geknebelten Deutschland sehen, der in einer
Zeit des Gäreus maßloser Kräfte der allgemeinen Spannung Ausdruck verlieh.
user Recht beruht heute im wesentlichen auf den Gesetzen. Woher
stammt aber die rechtsverbindliche Kraft der Gesetze? Wie kommt
es, daß das als Recht gilt, was gewisse Personen und Personen¬
mehrheiten beschließen? Das bestimmt die Verfassung. Was ist
aber die Verfassung? Selbst ein Gesetz. Auch sie schafft also
Recht, zum größten Teil mittelbar, indem sie sagt, welche Willenserklärungen
welcher Personen Recht sein sollen. Warum ist das aber Recht, wovon so
die Verfassung mittelbar sagt, daß es Recht sein soll? Die Verfassung ist ja
selbst die Willenserklärung gewisser Personen und Pcrsonenmehrheiten gewesen.
Woher hat diese Erklärung ihre Rechtsverbindlichkeit entnommen? Aus einer
älteren Verfassung. Die Verfassung gibt nämlich dem Gesetzgeber das Recht,
sie — die Verfassung — selbst zu ändern. So entstehen auch ganz neue
Verfassungen.
Aber weiter. Woher haben jene älteren Verfassungen die Befugnis
genommen, Recht zu schaffen, darunter auch neue Verfassungen? Aus noch
älteren Verfassungen! So kann die biedre Gesetzmäßigkeit nicht ins Unendliche
weitergehn. Irgendwo kommen wir an eine Stelle, wo wir nicht mehr sagen
können: diese Verfassung ist aus der vorher geltenden Verfassung gemäß deren
Vorschriften entstanden; sie ist von solchen Personen in solcher Weise geschaffen,
wie es dein damaligen Recht entsprach. Vielmehr: sie war tatsächlich da,
wurde tatsächlich beobachtet und allgemein für geltendes Recht gehalten, aber
wie sie entstanden ist, das wissen wir nicht. Hiernach würde unser Recht in
letzter Reihe auf tatsächlicher Übung, einer Art Verfassungs-Gewohnheitsrecht
beruhen.
Nehmen wir ein Beispiel. Unsre deutsche Reichsverfassung ist mit ent¬
standen durch eine verfassungsmüßige Erklärung der preußischen Gesetzgeber,
wodurch Preußens Verfassung entsprechend geändert wurde: nicht allein durch
diese Erklärung, vielmehr wirkten zahlreiche andre Erklärungen zusammen, aber
doch unter andern. Die preußische Verfassung ihrerseits verdankt ihre Ent¬
stehung der damaligen gesetzgebenden Gewalt, dem König. Dieser hatte seine
Gesetzgebungsbefugnis, wenigstens für Brandenburg, ursprünglich der Verfassung
des römisch-deutschen Reiches entnommen, und diese hat sich in tatsächlicher
Übung herausgebildet. Und sollte etwa unsre jetzige preußische Verfassung nicht
rechtswirksam erlassen sein — wie vielfach angenommen wird —, so wäre auch
sie durch langdauernde Übung wirksam geworden. Wie aber, wenn sich heraus¬
stellt, daß die jetzige oder eine frühere Verfassung weder verfassungsmäßig
zustande gekommen noch in langer Übung allgemein beobachtet worden ist?
Sollen dann diese Verfassung und auch alle späteren, soweit sie sich nicht selbst
wieder durch lange Übung befestigt haben, unverbindlich sein, und zugleich alle
unter ihrer Herrschaft erlassenen Gesetze? Solche Fälle sind im Laufe der
Geschichte sehr häufig gewesen. Oft ist die Verfassung eines Landes gewaltsam,
ohne Beachtung des geltenden Rechtes geändert worden, von oben und von
unten, durch Staatsstreich und Revolution, auch durch gewaltsame Losreißung
von Landesteilen.
Nun wird niemand unsre Frage bejahen. Niemand wird wollen, daß
heute untersucht wird, ob eine Verfassung, auf der alle späteren unmittelbar
oder mittelbar beruhen, nach damaligem Staatsrecht zu Recht eingeführt wordeu
war, und wenn nicht, daß die späteren Gesetze ungültig sind. Auch hat man
im Staatsleben solches nie befolgt. Beim Sturze einer gewaltsamen Regierung
hat man zwar viele ihrer Gesetze aufgehoben, sogar mit rückwirkender Kraft;
aber grade durch solche Aushebung hat man sie doch als für die Vergangenheit
bindend gewesen behandelt. Und soweit man sie nicht aufhob, hat man sie als vor
wie nach verbindlich angesehen"). So Caesars verfassungswidrige Einrichtungen
nach seiner Ermordung, Cromwells Gesetze uach der Reaktion der Stuarts, die
revolutionären und napoleonischen Gesetze nach der Rückkehr der Bourbonen.
Und wenn der erste Kurfürst von Hessen versucht hat, die Einrichtungen aus
der Zeit des Königreichs Westfalen als nicht bestehend zu behandeln, so
erscheint das nicht nur verwerflich, sondern gradezu grotesk. Ebenso lächerlich
mutet uns eine Gesinnungstüchtigkeit an, die in den dreißiger Jahren des
neunzehnten Jahrhunderts vorgekommen ist, also vierzig Jahre nach Erlaß des
preußischen Landrechts. Da entschied ein preußischer Kreisrichter noch immer
nach römischem Recht und begründete oas so: Als 1794 unser Landrecht ein¬
geführt wurde, hatte unser König nach der Verfassung des heiligen römischen
Reichs als Kurfürst von Brandenburg nicht die Befugnis, selbständig ein neues
Zivilgesetzbuch zu schaffen. Daher war der Erlaß des Landrechts unwirksam.
Später, seit 1806, erhielt der König zwar diese Befugnis, aber dadurch wurde
sein ungültiges Gesetzbuch nicht nachträglich gültig. Das Komische hierau war,
daß ein Schatten, die Oberherrschaft des Reiches, als lebendes Wesen behandelt
wurde, die tatsächliche Macht des preußischen Königs aber nicht.
Also: eine Verfassung kann auch durch Gewalt geändert werden. Wann
aber tritt solche Änderung ein? Wenn die Pariser Kommunisten im Jahre
1871 den Grundbesitz sür gemeinsam erklärten, war das etwa zunächst für
Paris rechtsverbindlich und mußte später erst durch ein französisches Gesetz
beseitigt werden? Oder wenn Don Carlos in den von ihm besetzten spanischen
Provinzen Gesetze gab? Oder die Revolutionäre in Venetien 1848? Gewiß nicht!
Vielmehr muß durch die Gewalt ein dauernder Zustand eingerichtet sein.
Das trifft zweifellos zu, wenn die neuen Gewalthaber einige Zeit lang im
ruhigen, ungestörten Besitz der Gewalt gewesen sind. Aber kleinere Störungen,
die den Besitz der Gewalt nicht ernstlich gefährden, kommen dabei nicht in
Betracht, wie Guerillakriege in einigen Provinzen, einzelne örtliche Putsche der
früheren Gewalthaber usw. Hat der gar nicht oder nur unerheblich gestörte
Besitz eine Zeitlang gedauert, so beeinträchtigt auch eine spätere ernstliche
Besitzstörung den Rechtsbestand der neuen Verfassung nicht, solange das nicht
wieder zur Begründung eines neuen Gewaltbesitzes führt.
Ohne diesen Grundsatz ist im Leben der Völker nicht auszukommen, so
wenig wie ohne Gesetz und Recht überhaupt. Würde immer nur das als
Gesetz gelten, was auch in letzter Linie auf Gesetz oder doch auf langdauernde
Rechtsübung (Gewohnheitsrecht) beruhte, so wäre es vorbei mit dem Haupt¬
vorzüge der Gesetzlichkeit, nämlich der Sicherheit. Die rechtsgeschichtliche Auf¬
deckung ehemaliger Gewaltsamkeit könnte dann unsre ganze Rechtsordnung über
den Haufen werfen, und wir Gegenwärtigen hätten überhaupt kein Mittel, uns
rechtswirksame Gesetze zu verschaffen. Und doch können die Funktionen des
Staates, darunter die Gesetzgebung, keine längere Unterbrechung erleiden, so
wenig wie die Funktion der Ernährungsorgane des menschlichen Körpers.
Der so gewonnene Grundsatz, der wie bemerkt, tatsächlich allgemein befolgt
wird, lautet nun so: Die Verfassungen beruhen aus der tatsächlichen Macht.
Gesetzgeber ist, wer vom tatsächlichen Machthaber im Staat dazu bestimmt wird.
Ist die Verfassung gesetzlich zustande gekommen, so beruht doch ihre Verbind¬
lichkeit nicht hierauf. Stände die tatsächliche Macht nicht hinter ihr, so würde
sie nichts gelten, wie die deutsche Reichsverfassung von 1849 und die fran¬
zösische Verfassung von 1791, und wenn sie diese Macht hinter sich hätte, so
würde sie gelten, auch ohne gesetzliche Entstehung. Nur stärkt die Gesetzlichkeit
die tatsächliche Macht sehr erheblich. Wer die Gesetzlichkeit für sich hat, der
hat mehr Aussicht, die Macht zu behaupten oder zu erlangen, aber entscheidend
ist nur diese, nicht jene. So beruht das Gesetz auf der Macht. Zwar sind
Angriffe gegen die Verfassung ungesetzlich und werden überall bestraft, so
Revolutions- und Staatsstreichsoersuche. Eine gelungene Revolution und
ein gelungener Staatsstreich schaffen aber Recht, sie sind rechtserzeugende
Vorgänge.
Sie stehen also nicht außerhalb der Sphäre des Rechts, sondern sie sind,
als Grundlagen der Macht, aus der das Recht fließt, selbst Grundlagen des
Rechts.
Die Geltung des Grundsatzes, daß die Macht das Gesetzesrecht schafft,
kann nicht selbst aus dem Gesetze beruhen. Sie muß also auf etwas gegründet
sein, daß über dem Gesetze steht, woraus alles Gesetzesrecht in allerletzter Linie
seine Geltung herleitet. Wir kommen damit ins Gebiet des Metaphysischen,
wohin wir hier nicht tiefer eindringen wollen. Soviel ist aber sicher: Die
Geltung unsres Grundsatzes beruht nicht auf dem positiven Willen einer
Person oder Personenmehrheit, auch nicht auf der bloßen positiven, durch
lange Übung betätigten Überzeugung einer Menschengemeinschaft, sondern auf
einer Naturnotwendigkeit, wobei wir zur Natur auch die menschliche Natur,
auch die Natur des Kulturmenschen rechnen. Was hier gebieterisch herrscht,
ist also die Natur der Sache, oder, wenn man will, das Naturrecht. Das
hat Geltung, mögen die Menschen es erkennen und wollen, oder nicht. Und
sein oberster Satz ist: der Besitz der Gewalt schafft das Recht.
Dieser Satz ist nun nicht nur ein theoretischer. Er hat auch praktische
Folgen, von denen wir einzelne anführen wollen. Ist eine Gewaltherrschaft
beseitigt, so treten, wie schon berührt, die unter ihr gegebenen Gesetze nicht
von selbst außer Kraft, sondern nur wenn und soweit sie aufgehoben werden.
So haben z. B. die Franzosen ihre Gesetze mit sür Aachen erlassen, als sie
das linke Rheinufer erst militärisch besetzt und in Verwaltung genommen
hatten, aber es ihnen noch nicht abgetreten war. Niemand bezweifelt jedoch
die Gültigkeit dieser Gesetze, die zum Teil heute noch gelten.
Denkbar wäre es allerdings, daß alle von der Gewaltherrschaft erlassenen
Gesetze mit rückwirkender Kraft aufgehoben würden; aber, wenn diese nur
einigermaßen von Dauer gewesen ist, geschieht das dennoch nicht, weil die
Macht der Verhältnisse es verbietet. Es geht tatsächlich ebensowenig an, wie
wenn der rechtmäßige Herrscher alle seine eignen Gesetze rückwärtshin wieder
beseitigen wollte. Wie gern hätte die Reaktion der Bourbonen in Frank¬
reich die Einziehung der Emigrantengüter rückgängig gemacht, die die ver¬
haßte Revolution durchgeführt hatte. Das ging aber über die Kraft der
Staatsgewalt, und man mußte sich mit einer Emigrantenenischädigung begnügen.
Bisweilen wird eine gewaltsam begründete Herrschaft nachträglich vom
früheren Herrscher anerkannt. Das mag den Bestand der ersteren tatsächlich
stärken, aber rechtlich hat es keine Bedeutung für die Gültigkeit seiner Gesetze.
Über diese entscheidet nur der jeweilige Besitz der Gewalt, und nachträgliche
Umstände können daran nichts ändern, es sei denn ein späteres, nach der¬
zeitiger Verfassung gültig erlassenes, rückwirkendes Gesetz.
Wenn wir den Naturrechtssatz festgestellt haben: Macht schafft Gesetz, so
ist damit doch nur die formelle Grundlage gewonnen, auf der das Gesetzes¬
recht sich aufbaut. Eine ganz andere Frage, die von der Staatswissenschaft
viel häufiger erörtert wird, ist die, ob der Machthaber nun anch befugt sei,
jedes Gesetz mit verbindlicher Kraft zu erlassen, das ihm beliebt.*) Dasselbe
Naturrecht, das dem jeweiligen Machthaber die rechtliche Möglichkeit gibt,
Gesetze mit rechtsverbindlicher Kraft zu erlassen, könnte ja weiter besagen: Er
darf aber davon nur Gebrauch machen, soweit die Gesetze gewissen Grundsätzen
entsprechen, z. B. darf er nicht bestimmen, daß Verbrecher gemartert werden.
Denn hat der Machthaber seine Gesetzgebungsbesugnis aus dem Naturrecht, so
hat er sie nur so weit, als dieses sie ihm verleiht. Das Naturrecht ist ja doch
das Höhere, das über der Macht steht, und sie erst zur Rechtsschöpfertn erhebt.
Diese Frage, ob die Macht alles zum Recht machen dürfe, was ihr beliebt,
wird von den meisten Vertretern der Wissenschaft verneint, auch von Lasalle"),
obwohl er in einem Vortrag ausgeführt hat, Verfassungsrecht sei nicht das,
was in der geschriebenen Verfassung stände, sondern was den tatsächlichen
Machtverhältnissen entspräche. Er hat dann doch hinzugesetzt, so sei es wohl,
aber so sollte es nicht sein. Wir wollen das hier nicht entscheiden. Das
ist indessen gewiß: mag man dem Gesetzgeber eine noch so weitgehende Gesetz¬
gebungsbefugnis einräumen, er findet Hindernisse an der Welt der Wirklichkeit,
die ihm oft bestimmte Gesetze unmöglich machen. Beispiele hierfür haben wir
schon erwähnt, und zwar solche, die sich grade aus dem Grundsatz ergeben,
daß dem jeweiligen Machthaber das Gesetzgebungsrecht zusteht. Er kann zum
Beispiel nicht alle Gesetze eines früheren Machthabers mit längerer Herrschafts¬
zeit rückwärtshin aufheben. Er kann nicht bestimmen, daß das Wertverhältnis
von Gold zu Silber im Verkehr ein dauernd festes sein soll. Er kann nicht
bestimmen, daß in der Ehe bei Meinungsverschiedenheit der Wille des Mannes
immer maßgebend ist. Selbst die Gewalthaber im sozialistischen Zukunftsstaat
könnten bei ihrer neuen Gesetzgebung nicht alles rückwärtshin aufheben, was
der frühere Gesetzgeber geschaffen hat. So müßten sie das Privateigentum
ausländischer Staaten, vielfach auch ausländischer Privater schonen, ferner die
Wirksamkeit einer unter altem Recht durchgeführten Eheanfechtung, ein früher
erworbenes Recht zur Namcnführuug, Erwerb der Staatsangehörigkeit auf
Grund früheren Familienrechts usw.
Aber abgesehen von solchen tatsächlichen Schranken, die es ausschließen,
daß man von einer „Allmacht" des Gesetzgebers spricht, ist sein Gesetzgebungs¬
recht gegenüber seinen Untertanen formell unbeschränkt, d. h. für diese sind
seine Gesetze verbindlich, mögen sie sich innerhalb der ihm vom Naturrecht
etwa gezogenen Schranken halten oder nicht. Wenn es solche Schranken gibt,
so sagt das Naturrecht zum Gesetzgeber: Du darfst bestimmte Gesetze nicht
geben; tust du es aber doch, so sind sie für deine Gewaltnutergebenen solange
verbindlich, bis du selbst sie aufhebst oder dein Nachfolger. — Dieser Grundsatz
des Naturrechts ist unentbehrlich^). Soll der Staat überhaupt bestehen und
nicht Anarchie einreihen, so darf unmöglich jeder Untertan prüfen, und seinen
Gehorsam davon abhängig machen, ob ein Staatsgesetz den Grundsätzen des
Naturrechts gemäß ist, also etwa dem allgemeinen Rechtsbewußtsein entspricht.
Ebensowenig kann dieses Prüfungsrecht einer Mehrheit von Personen oder
auch den Gerichten eingeräumt werden, denn auch hieraus würde die größte
Rechtsunsicherheit und Verwirrung entspringen. Ob ein Gesetz der Verfassung
entspricht, das zu prüfen kann den Gerichten überlassen werden, nicht aber ob
die Verfassung dem höheren Recht entspricht, aus dem der Machthaber seine
Gesetzgebungsbefugnis herleitet. Wird die Verfassung und das aus ihr her¬
geleitete Gesetz gar zu unerträglich und dem Naturrecht gar zu widersprechend,
dann bleibt dem Volke — aber auch gegebenenfalls der Negierung — nichts
übrig, als die schlechte, oder wenn man will, die unrechtmäßige Verfassung
gewaltsam durch eine bessere und „rechtmäßige" zu ersetzen. So heißt es in
Schillers Tell, nicht nnr poetisch, sondern auch rechtsphilosophisch begründet:
Aber solange die alte Gewalt nicht gestürzt ist, gilt auch das naturrechts¬
widrige Gesetz, und wirkt sogar in die spätere Zeit hinein. Selbst Gesetze,
die Unmögliches anordnen, sind nicht stets wirkungslos. Sobald das bisher
Unmögliche möglich wird, treten sie von selbst in Kraft, ohne daß es eines
neuen Gesetzeserlasses bedarf.
Diese formell unbeschränkte Befugnis zur Rechtschasfung geht aber nur
so weit, wie die Macht geht, und diese besteht nur gegenüber den Insassen
des beherrschten Gebietes. Gegenüber fremden Staaten und deren Angehörigen
gilt der Wille eines Machthabers nur so weit, als dies durch ein höheres, über
den Staaten stehendes Recht anerkannt ist. Dieses Recht ist hier aber kein
Naturrecht, das durch einen Denkprozeß zu erkennen ist, sondern ein positives,
durch allgemeine Übung und ausdrückliches Übereinkommen geregeltes Recht.
Vor allem das Völkerrecht. Es verbindet die Staaten und ihre Machthaber
unmittelbar. Handeln sie ihm entgegen, so ist das eine Rechtsverletzung, die
in vielen Fällen sogar durch Gerichte — die internationalen Schiedsgerichte
— festgestellt wird, nur daß es noch keine geregelte Zwangsverwirklichung
dieses Rechts gibt. Auch insofern allerdings ähnelt es jenem Naturrecht, als
es in die Gesetzgebungsmacht der Gewalthaber nicht unmittelbar eingreift.
Wenn diese völkerrechtswidrige Gesetze erlassen, so sind ihre Untertanen, ins¬
besondere die Gerichte, nicht weniger daran gebunden. Aber darum bleiben
solche Gesetze doch immer eine Verletzung des Völkerrechts. In welcher Form
ein Staat seinen Willen erklärt, ob durch die zu seiner Vertretung nach außen
berechtigten Personen, ob durch seine gesetz- und verfassunggebenden Faktoren,
das ist ganz gleichgültig für die Frage, ob seine Handlungen das Völkerrecht,
insbesondere einen völkerrechtlichen Vertrag, verletzen.
Manche Völkerrechtslehrer, darunter Liszt"), wollen nun das Gebiet des
Völkerrechts beschränken auf Berechtigungen und Verpflichtungen, deren Inhalt
die Ausübung von Hoheitsrechten betrifft. Es ist aber nicht einzusehen,
weshalb für die unter zwei Staaten ausgemachte Zahlung einer Geldsumme andre
Grundsätze gelten sollen, je nachdem sie für die Überlassung der Landeshoheit
über ein Stück Staatsgebiet versprochen ist oder für die Überlassung eines
Grundeigentums. Soll ferner etwa ein Vertrag über die Stundung einer
Geldschuld nach Völkerrecht beurteilt werden, wenn diese Schuld aus einem
Friedensverträge herrührt, nicht aber wenn aus einem Schiffszusammenstoße
auf See? Oder soll sich die Verpflichtung zur Gebietsabtretung nach Völker¬
recht richten, die dafür übernommene Geldschuld aber nicht? Da sich alle
solchen Rechtsverhältnisse nicht voneinander trennen lassen, so zählen wir- auch
die privatrechtsähnlichen Verträge der Staaten zu den völkerrechtlichen. Nehmen
wir ein Beispiel. Kurz vor Ausbruch des japanisch-russischen Krieges hat
Argentinien eines seiner Kriegsschiffe für zehn Millionen Rubel an Rußland
verkauft. Dieser Vertrag richtet sich nicht nach Privatrecht, weder nach
argentinischen noch nach russischem, denn keinem der beiden Staaten sällt es
ein, sich dem Rechte des andern zu unterwerfen. Er richtet sich vielmehr
nach Völkerrecht, dessen erster Grundsatz lautet: Verträge sind zu halten, und
kein Teil kann sich einseitig davon lossagen. Daß letzteres auch nicht in Form
eines Gesetzes geschehen kann, das die eigenen Untertanen verbindet, haben
wir gesehen. Nun hat aber das Völkerrecht bisher nur ganz wenige allgemeine
Sätze, die auf Verträge, wie den erwähnten, Anwendung finden können. So¬
weit also zur Auslegung des Vertrages dessen Inhalt nicht ausreicht, muß
zur Ergänzung irgend ein Rechtssystem herangezogen werden. Aber nicht,
weil der Vertrag unter dessen Herrschaft fällt, sondern weil und soweit dies
dem wirklichen oder nach Völkerrecht vorauszusetzenden Willen der Beteiligten
entspricht. Nur hiernach ist zu ermitteln, ob ergänzend russisches oder
argentinisches oder ein drittes Recht zur Anwendung kommt, oder etwa für
die Verpflichtungen des Käufers russisches, für die des Verkäufers argentinisches
Recht. Da das betreffende Rechtssystem aber nur zur Ergänzung der Willens¬
erklärungen dient, so bekommt dadurch kein Teil das Recht, durch Abänderung
seiner Gesetzgebung mit rückwirkeuder Kraft den Inhalt seiner Verpflichtungen
zu beeinflussen. So kann in unserem Beispiel Argentinien nicht wirksam rück¬
wirkend bestimmen, daß bei Verkäufen von Kriegsschiffen der Verkäufer gegen
ein Reugeld von fünf Prozent des Kaufpreises zurücktreten darf, und Rußland
kaun nicht bestimmen, daß in solchen Fällen statt der vereinbarten Barzahlung
auch russische Anleihe« zum Nennwert in Anrechnung auf den Preis gegeben
werden dürfen. Ob Nußland durch seinen auswärtigen Vertreter erklärt: „Ich
zahle einfach nicht bar" oder ob es das mittelbar durch seine Gesetzgebungs¬
maschine zum Ausdruck bringt, ist, wie bemerkt, völkerrechtlich gegenüber seinem
Vertragsgegner gleich wirkungslos. Ähnlich wären die Verhältnisse, wenn es
sich nicht um eine Vertragsschuld, sondern um die Haftung aus einer
unerlaubten Handlung handelte, wenn z. B. ein russisches Kriegsschiff durch
Versehen seines Kapitäns mit einem Handelsschiff der argentinischen Regierung
zusammenstieße. Da kann die Ersatzpflicht nicht davon abhängen, ob solche
dem russischen Recht bekannt ist, und ebensowenig kann sie sich nach argentinischen
Recht richten. Vielmehr entscheidet hier das Völkerrecht.
Ganz ebenso ist es aber, wenn ein Staat nicht mit einem andern Staat,
sondern mit einer Privatperson oder Gesellschaft zu tun hat, die nicht seiner
Macht untersteht. Ob Rußland von Argentinien ein Kriegsschiff kauft oder
von der Hamburg-Amerika-Linie ein Handelsschiff, macht hier keinen Unterschied.
Auch vor der Regelung dieses Vertragsverhältnisses hat die Macht des russischen
Gewalthabers seine Grenze. Die deutsche Gesellschaft unterwirft sich durch ihr
Kaufgeschäft ebensowenig der russischen Gesetzgebung wie Argentinien in dem
früheren Beispiel. Allerdings unterwirft sich auch Rußland nicht der Gewalt
des deutschen Gesetzgebers, dem die Hamburg-Amerika-Linie untersteht. Auch
hier gilt also nicht russisches, nicht deutsches Recht, sondern ein höheres Recht,
das über beiden vertragschließenden gleichmäßig steht, und dessen vornehmster
Grundsatz ebenfalls lautet: Verträge müssen gehalten werden. Diesen
Grundsatz bestreitet allerdings die Doktrin des Argentiniers Drago, die besagt:
Die Souveränität des Staates verbietet ihm nicht, Schulden zu machen, wohl
aber, sich zu deren Bezahlung bindend zu verpflichten. Das Unrichtige dieser
Meinung liegt auf der Hand. Richtig ist nur, daß gewisse Verpflichtungen
von Staaten gegenüber Privaten denkbar sind, die der Souveränität wider¬
sprächen und daher unwirksam wären, z. B. im Interesse der Kostenersparnis
das Heer nicht zu vermehren; aber die Schuldenbezahlung gehört nicht dazu.
Das hat die zweite Haager Konferenz vom Jahre 1907 mittelbar dadurch
anerkannt, daß sie das Verfahren zur Feststellung und Beitreibung solcher
Schulden mittels Schiedgerichts und Waffengewalt geregelt hat").
Das Recht, um das es sich hier handelt, ist nicht grade das Völkerrecht,
denn das gilt nur zwischen Staat und Staat. Es ist aber etwas Ähnliches,
das Recht, das die Beziehungen zwischen einem Staat und den ausländischen
Privaten gradcso regelt wie das Völkerrecht die Beziehungen von einem Staat
zum andern. Dieses Recht ist noch wenig bekannt, wissenschaftlich noch fast
gar nicht behandelt, und es hat auch noch keinen Namen. Und doch besteht
es. Sogar seine Rechtsverfolgung ist, wie soeben berührt, in mehrfacher
Hinsicht durch die zweite Haager Konferenz gesichert. So soll nach deren
Beschluß über die Verletzung von neutralem Gut im Seekriege in letzter Instanz
ein internationales Prisengericht entscheiden. Dieses soll sich dabei richten
erstens nach den Abkommen der Mächte, zweitens nach den Regeln des inter¬
nationalen Rechts, drittens nach den allgemeinen Grundsätzen der Gerechtigkeit
und der Billigkeit. Dieses Gebiet berührt sich freilich nahe mit dem Völkerrecht;
doch zeigt sich der wahre Charakter dieses Rechts darin, daß der verletzte
Private sein Recht vor dem Oberprisengericht ohne Zuziehung seines Heimats-
staates verfolgen kann. Entsprechend wird es in dem Falle sein, daß ein
Ausländer einem Staate Geld geliehen oder ihm etwas verkauft hat. Hier
wird in Zukunft die Entscheidung durch ein Schiedsgericht — regelmäßig wohl
das ständige im Haag — gefällt werden, und zwar auch zwischen Privat¬
gläubiger und Schuldnerstaat. Letzteres sagt das Haager Abkommen zwar
nicht ausdrücklich, der Zusammenhang ergibt es aber unzweifelhaft. Maßgebend
für die Entscheidung kann dann nicht ein nationales Recht sein, sondern das
erwähnte internationale namenlose Recht.
Damit dieses aber einen Namen hat, wollen wir es Völkerprivatrecht
nennen, um anzudeuten, daß es die Beziehungen zwischen Völkern — richtiger
Staaten — und Privaten regelt. Für besonders treffend halte ich den Namen
nicht, und ich würde mich freuen, wenn ein anderer einen besseren fände.
Aber einen Namen muß das Recht haben, schon damit deutlich wird, daß
es wirklich als etwas Besonderes existiert. Allerdings steht es dem Völkerrecht
näher als dem innerstaatlichen Recht. Mit jenem hat es vor allem gemein,
daß es über der Staatsgewalt steht. Der beteiligte Staat kann durch seine
Gesetzgebung seine privatvölkerrechtlichen Verpflichtungen nicht beseitigen oder
beschränken, denn das wären rein einseitige Erklärungen von seiner Seile.
Seine Gesetzgebung gilt auch hier nur ergänzend, soweit das Völkerprivatrecht
es gestattet, insbesondere, soweit es dem erklärten oder vorauszusetzenden
Willen beider Beteiligten entspricht. Und dann nur das zur Zeit des Vertrags-
schlusses geltende Recht, nicht das später einseitig abgeänderte. Das ist ganz
anders als beim eignen Untertanen eines Staates, mit dem dieser in
vertraglichen Beziehungen steht. Die gelten nur so lange, als es mit der
Gesetzgebung des Staates übereinstimmt. Da diese gegen die Untertanen
formell unbeschränkt ist, so verlieren sie ihre Rechte an den Staat aus
Verträgen oder sonstigen Entstehungsgründen, sobald die Gesetzgebung es so
will. Ob der Staat vom Standpunkt eines höheren Rechts, des Naturrechts
aus, solches tun darf, ist dabei für die rechtliche Wirksamkeit der Gesetze
unerheblich. Übrigens kann eine solche Beschränkung der Rechte, die ein
Privater gegen seinen Staat erworben hat, unter Umständen durch das
öffentliche Interesse geboten sein, und tatsächlich hat keine Staatsgewalt sich
diese Befugnis nehmen lassen. Der häufigste Fall ist die Kuponsteuer auf
die eignen Anleihen des besteuernden Staates. Sie ist nichts als eine
einseitige Herabsetzung des Zinsfußes.
Dagegen bedeutet das Völkerprivatrecht wie das Völkerrecht eine Schranke
für die Gewalt, die die unterste Grundlage bildet von allem einzelstaatlichen
Gesetzesrecht. Da herrscht nur die Rechtschöpfung aus der Überzeugung vieler
Gleichberechtigten heraus, die sich betätigt in ausdrücklichen Abkommen oder
dauernder tatsächlicher Übung. Zwar erscheint die Gewalt viel häufiger im
Verkehr der Staaten untereinander als im Innern der Staaten, auch dient sie
dort öfter dem Erwerbe von Rechten, z. B. bei der Eroberung; aber sie kann
dort niemals Rechtssätze schaffen, wie sie im Einzelstaat die Verfassung und
damit mittelbar andre Gesetze erzeugen kann. Sollten aber einmal die Staaten
zu einer großen völkerrechtlichen Einheit zusammentreten, dann wird dort für
die Gewalt, indem sie sich der Verfassung dieser Einheit bemächtigt, die
Möglichkeit gegeben sein, in letzter Reihe Recht zu erzeugen. Die Gewalt
würde dann auch Völkerrecht schaffen können.
Wird aber die Rechtschaffung durch die Gewalt sich niemals durch etwas
anderes ersetzen lassen? Eins wäre in Zukunft möglich: Es könnten alle
gewaltsamen Verfassungsänderungen der Vergangenheit durch stete, langdauernde
Gesetzlichkett so in den Hintergrund der Erinnerung geraten und die Gesetzes¬
treue bei Herrschern und Beherrschten könnte so stark werden, daß tatsächlich
in allen Staaten die Möglichkeit einer gewaltsamen Verfassungsänderung in
sehr große Ferne rückt, und man wird sagen können: Geschichtlich beruht unser
Recht vielfach auf Gewalt, aber jetzt und in Zukunft entsteht das Gesetz nur
aus dem Gesetz. Doch das ist ferne Zukunft und nicht Gegenwart.
SMMU
HMAMM! Is der Berliner Hausbesitzer und Rentner Gottlieb Hegerbarth am
frühen Morgen des 1». März 1848 ein Fenster des Wohnzimmers
! öffnete und hinaussah, lag die Frankfurter Straße, die er über¬
blickte, noch in friedlicher Ruhe. Es war ein klarer, ziemlich kühler
I Vorfrühlingstag und das Wasser in den Rinnsteinen zu beiden
Seiten des holprigen Dammes leicht übergefroren. Den Hinaus¬
schauenden fröstelte trotz seines guten, dicken Schlafrocks und des schönbestickten,
mit grüner Troddel versehenen Knppchens auf seinem runden Haupt. Eben wollte
er deshalb das Fenster wieder schließen, da wurde seine Aufmerksamkeit durch ein
Stimmengewirr, das von: Frankfurter Tor zu ihm drang, gefesselt, und er steckte
den Kopf rasch wieder hinaus.
„Komm doch einmal her, Mutter!" rief er über die Schulter seiner Frau zu,
die eben auf einem Tablett den Morgenkaffee und frisches Gebäck mit Butter ins
Zimmer brachte. „Was mag denn das eigentlich bedeuten?"
Er füllte mit seinem kräftigen Körper über die Hälfte der Fensteröffnung aus,
und da seine Gattin ihm an Behäbigkeit nichts nachgab, so begnügte sie sich damit,
sich hinter ihn zu stellen, wobei sie in kläglichen Ton fragte:
"
„Na, was ist denn nu schon wieder los?
„Unerhört!" versetzte Hegerbarth halb zurückgewandt. „Die Wache innen am
Tor ist herausgetreten, einige dreißig Kerle, die an der Mauer entlang gekommen
sind, stehen um sie herum und verhandeln mit den Unteroffizieren. Sie fuchteln
mit den Händen in der Luft umher, als wenn ganz Berlin brennte. Was sie bloß
wollen? Eismanns Karl ist auch dabei."
Er lachte belustigt vor sich hin.
„O weh," sagte Frau Friederike, „wenn der Dumme dabei ist, wird's wieder
ein schöner Unfug sein!"
Sie eilte, von Neugierde getrieben, an das zweite Fenster und öffnete es
ebenfalls, um Zeugin des merkwürdigen Vorgangs zu sein.
'
„Na, nu wirds Tag!" rief ihr der Gatte zu. „Sieh nur, die Mannschaft
zieht wahrhaftig ab! Hat man so etwas schon erlebt?"
„Männeken, machen Sie zu da oben!" riefen einige fragwürdige Gestalten,
die unten entlang gingen, hinauf.'
„Fällt mir gar nicht ein," erwiderte Hegerbarth mit Würde. „Ich hab als
freier Bürger ebenso viel Recht aus die Straße wie Sie, verstehen Sie mich!"
Die Leute lachten höhnisch und gesellten sich zu denen an: Frankfurter Tor.
Dort war mittlerweile das Wachthaus durch eine Abteilung phantastisch gekleideter
Männer, halb Soldaten, halb Räuber, besetzt worden, und andere waren eifrig
beschäftigt, die großen Torflügel zwischen den beiden steinernen Obelisken zu ver¬
rammeln. Es wurden zu diesem Zweck von innen einige Balken gegengestemmt,
auch das mit Steinen angefüllte Schilderhaus wurde gegengeschoben.
Nachdem die Fenster wieder geschlossen waren, sagte Herr Hegerbarth, der
eine Weile sinnend vor sich hingeblickt hatte, wie von plötzlicher Erleuchtung ergriffen:
„Aha! Die Sache wird so liegen: Der König will jedenfalls das Militär
aus der Stadt nehmen, wie es Doktor Woeniger aus der Köpenicker Straße
gefordert hat. Und nun übernimmt unsere Bürgerwehr die Überwachung der
Stadt."
Frau Friederike machte eine verächtliche Miene.
„Das ist Bürgerwehr, was wir da gesehen haben? Der eine groß, der
andere klein, der eine in Gehrock und Schärpe, der zweite mit einer Bluse, dieser
mit einem Kuhfuß, der mit einem großen Säbel und ein dritter gar mit einer
Bohnenstange? Wenn die die Ordnung aufrecht erhalten sollen, dann gnade
uns Gott! Und besonders der dumme Eismanns Karl, der wird auch die Affen
dabei ausnehmen!"
„Den darfst du doch nicht anrechnen, Friederike. Aber Tatsache ist es doch,
daß ein Verlangen nach Freiheit durch die Welt geht —""
„Ach was, Freiheit! Denk lieber an dein Haus und deine Familie!
Herr Hegerbarth bekam bei dieser Ermahnung seiner praktischen Ehehälfte
einen gelinden Schreck, so daß die Kaffeetasse in seiner Hand merklich zitterte.
Freilich, freilich, wenn sein Haus, sein schönes Geld auf der Bank und seine
Familie in Mitleidenschaft gezogen werden sollten, dann erhielt die Sache einen
anderen Anstrich, dann war er trotz aller gern gelesenen kühnen Leitartikel und
Reden durchaus für Erhaltung des alten Zustandes, für ererbtes Recht und obrig¬
keitliche Ordnung! Er dachte sorgenvoll an die Kartoffelrcvolution auf dein
Gcndcmnemnarkt und dem Alexanderplatz im vorigen Jahre, wobei den Bauern
die Kiepen umgeworfen wurden und es zu heftigen Prügeleien gekommen war,
an die Plünderung verschiedener Kaufmannsläden, auch bei seinem Freund Rahardt
drüben an der Ecke, — und er stand auf.
„Das Haus muß heute am Tage geschlossen gehalten werden," bestimmte er
ernst. „Hör nur den Lärm da draußen! Die Menschen scheinen heut aus Rand
und Band zu sein. Wo bleibt denn eigentlich Minchen?"
„Sie hat noch einige Besorgungen für das Mittagbrot —"
„Daun wird's aber Zeit, daß sie bald zurück ist!"
Er wollte zur Tür hinaus, um selbst nach der Tochter zu sehen, als das
muntere, hellblonde Mädchen hereingesprungen kam.
„Guten Morgen, Vater! Bin froh, daß ich wieder oben bin. Habe mit
Mühe und Not noch etwas bekommen. Jetzt sind alle Luder und Keller zugesperrt.
Und gerade, wie ich ins Hans gehe, da kommt so eine Horde vorbei —"
„Keine Horde, — Bürgerwehr!" mahnte der Vater wichtig.
„Haha, BürgerwehrI Danke schön! Einen Herrn von den Ordnern, mit
der weißen Binde am Arm, verhöhnten sie ganz dreist: Du Friedensengel, mach
dich nicht so mausig! Und dann hieß es, sie zögen nach dein Schloß, um ein
Wort mit dem König zu reden. Als ob sie mit Seiner Majestät auf Du und Du
ständen! Ich hab' ihnen noch nachgerufen, sie sollten sich nur Eismanns Karl
zum Führer nehmen, der wäre ein großer General. Ein Kerl wollte frech gegen
mich werden, — ich aber — wie der Blitz ins Haus und — zugeschlossen."
Der Vater nickte.
„Das war gut, das ist also besorgt. Nun können wir nichts weiter tun, als
in Ruhe die Entwicklung der Dinge abwarten. Werde mal mit Messcrschmidten
sprechen."
Der kleine, dürre Kalkulator, der mit seiner Frau gegenüber auf demselben
Treppenflur wohnte, trat gerade aus seiner Tür und begrüßte freundlich den
Hauswirt.
,,'n Morgen! 'n Morgen! Scheint ja toll zuzugehen. Will sehen, ob ich bis
zu meinem Bureau werde vordringen können."
„Ach Eduard," klagte seine Gattin, die auch auf den Flur gekommen war
und das, was ihr Mann an Fülle zuwenig hatte, zuviel besaß, „begib dich nur
nicht in Gefahr!"
„Ach was, ich gehe jetzt!" erklärte er mutig. „Soll ich Ihnen ein Tütchen
mitbringen, Demoiselle Hermine?" fragte er galant, als die reizende Tochter des
Hauswirth in der gegenüberliegenden Tür hinter ihrer Mutter sichtbar wurde.
„Lieber einen Degen!" rief sie mit blitzenden Augen.
„Haha," lachte der Kalkulator, „eine neue Jungfrau von Orleans!"
Er stieg, immer noch lachend, die Treppe hinunter, gefolgt von Herrn Hegerbarth,
der hinter ihm das Haus sorgfältig schloß. .. .
Der Vormittag verfloß in der Familie in der gewohnten Weise. Hegerbarth
las die gestrige „Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und
gelehrten Sachen", frühstückte zum zweitenmal, rauchte seine Pfeife, unterhielt sich
mit dem Kanarienvogel und sah verschiedene Papiere und Rechnungen durch,
während sich Frau und Tochter in der nach hinten gelegenen Küche zu schaffen
machten.
Punkt zwölf setzte man sich zu Tisch, und da heute Sonnabend war, so gab
es unweigerlich Brühkartoffeln, ebenso wie der Donnerstag jeder Woche dem
Pökelfleisch mit Erbsen und Sauerkohl geheiligt war. Und dann zog sich Minchen
zum Abwaschen und darauffolgenden Kaffeebrauen wieder nach der Küche zurück;
Herr Hegerbarth aber machte sich's in dem breiten Großvaterstuhl im Schlafzimmer
bequem, und seine Gattin gedachte auf dem geblümten Sofa ein Nickerchen zu tun.
Draußen, auf der Straße, herrschte ein ungewöhnlicher Lärm. Von Zeit zu
Zeit erschollen die Anpreisungen der Jungen, die Schokoladezigarren feilboten:
„Hier, meine Herrschaften, Zigarro mit aveo cku ten!"
Und dann die denunzierende Begrüßung eines rauchenden Schornsteins:
„Phe, Männekin, da oben roocht euer!"
„Gräßlich!" sagte Herr Hegerbarth, der sich erhoben hatte und zu seiner Gattin
ins Wohnzimmer trat. „Kein Auge kann man menn bei diesem Spektakel. Kannst
du denn schlafen, Mutter?"
„I wo, gar nicht," klagte sie. „Ich habe auch wieder meine Atembeschwerden.
Es liegt so was Unheimliches in der Luft."
„Du immer mit deiner Weimerei! Wir sitzen doch hier ganz sicher in
unserm Bau."'
„Ach, — diese Menschen, denen nichts mehr heilig ist! Wenns dann so kommt
wie damals in Frankreich —"
Er wollte sie beruhigen, da steckte Minchen den Blondkopf zur Tür herein
und fragte freundlich, ob sie den Kaffee bringen dürfe. Auf das freudige doppelte
Ja erschien sie bald mit einer großen braunen Kanne, drei Tassen und einer langen
Rosinenstolle.
Die Tochter hatte ihre Portion sehr schnell vertilgt und setzte sich an das
birkene Tafelklavier, um dem Vater, wie er es gern hatte, ein Stückchen zur
Aufheiterung des Gemüts zu spielen.
„Das Menuett aus dem ,Don Juan'?" fragte sie.
Er hatte schon mit dem Kopf genickt, als er die Hand erhob und rief:
„Halt! Still mal! Was ist denn das?"
Man hörte deutlich in der Ferne Gewehrschüsse fallen und dann einen immer
wachsenden, brausenden Lärm, der sich mit rasender Schnelligkeit näherte.
Hegerbarth öffnete trotz der Abmahnung seiner besorgten Frau ein Fenster.
"
„Was ist denn eigentlich los, Schmädicke? fragte er einen langen, dünnen
Vürgerwehrmcmn.'
„Nanu, Herr Hegerbarth, wissen Sie denn noch nich? Uffn Schloßplatz is
ja aufs Volk geschossen worden, jrade als der König seine Ansprache hielt. Das
is doch eine ausjesuchte Jemeinheit. Jetzt wer'n Barrikaden jebaut."
„Jawoll," erklärte ein aufgedunsener Mensch mit einer alten Muskete in der
Hand, „setz seht der Feetz los, jetz machen wir Rivluzion!"
„Aber wir haben keen Pulver!" hielt ihm einer vor.
„Ick weeß, wo Pulver is, Kinder!" rief er und stürmte, von einer Schar
gefolgt, nach der Stadt zu.
Herr Hegerbarth schloß ärgerlich das Fenster, und seine Frau jammerte:
„Ach, dn himmlischer Vater! Nun kommt es doch so, wie ich vorausgesagt
habe! Wo sollen wir denn bloß bleiben?"
Da erklang das silberhelle Lachen Minchens.
„Mutterchen, wie kannst dn dich vor diesen Jammergestalten fürchten! Da
sind ja Figuren drunter wie aus Lindes Puppentheater! Die werden von unseren
Soldaten bald zu Paaren getrieben werden."
Der Vater schüttelte bedenklich das Haupt.
„Hör mal, Minchen, du darfst die Volkskraft doch nicht unterschätzen! Es
ist ja ganz schön, daß du als baldige Braut eines Mannes, der die hohe
Regierungskarriere machen wird, so sprichst, aber du bleibst doch immer eine
Bürgertöchter."
Minchen war dunkelrot geworden und räumte den Kaffeetisch ab, ohne ein
Wort zu erwidern. Schon seit ihrer Kindheit galt es in den beiden Familien für
ausgemacht, daß sie und der vier Jahre ältere Sohn des Kalkulators Messerschmidt
ein Paar werden sollten. Immer hatten sie in dem kleinen Garten hinter dem
Hof zusammen gespielt, später gemeinsam die Tanzstunde besucht, und jetzt, wo
Heinrich seit einem Jahr in Königsberg als Referendar weilte, schrieb er oft Briefe,
in denen er von ihr schwärmte und sich nicht bloß als kluger, zielbewußter
Beamter, sondern auch als feinfühlender Schöngeist zeigte. Er hatte sie auch zuerst
aus Lenau aufmerksam gemacht, dessen Gedichte sie nun besaß. Sie antwortete
ihm bisweilen in einem Briefchen und schrieb sehr verständig; aber ob das Liebe
sei, was sie für den rasch vorwärts kommenden Jugendfreund empfand, das wußte
sie nicht. Es gelang ihr nicht einmal, sich ihn genau vorzustellen, wenn sie jetzt
an ihn dachte. Es ging ihr damit, wie mit diesen neumodischen Daguerreschen
Bildern, die auch bald verblaßten und zuletzt nur einen verschwommenen Schatten
zurückließen.
Mit solchen Gedanken beschäftigt, wollte sie eben in ihr am Ende des
Treppenflures ganz für sich allein gelegenes Zimmerchen huschen, als unten die
Haustür ging und schwerfällige Schritte die Treppe herauftappten. Sie beugte sich
über das Geländer und erblickte Herrn Messerschmidt, der langsam und ächzend
heraufstieg. Verwundert schlug sie die Hände zusammen.
„Wie sehen Sie denn aus, Herr Kalkulator?"
Der sonst so adrette Beamte bot ein Bild des Jammers. Sein schöner grauer
Zylinderhut war zerbeult, die stets tadellosen Vatermörder waren zerknittert, und
an dem beschmutzten schwarzen Rock fehlte der oberste Knopf.
„Das ist eine WeltI" stöhnte er. „Ach, liebes Minchen —"
„Was war denn? Erzählen Sie doch, Herr Kalkulator!" baten wie aus
einem Munde Herr und Frau Hegerbarth, die den Ankömmling drin gehört hatten
und auf den Flur gestürzt kamen. „Bitte, wollen Sie nicht einen Augenblick näher
treten und sich erholen?"
Auch Frau Messerschmidt erschien, und er ließ sich auf das geblümte Sofa fallen.
„O, Madame," wandte er sich an die Frau des Hauses, „es ist furchtbar,
grauenhaft. Denken Sie sich unsre Stadt in einen Höllenkessel umgewandelt!
Barrikaden sind gebaut, es sagete Kartätschen und Bomben."
Wie zur Bestätigung seiner Worte erscholl der dumpfe Donner eines Kanonen¬
schusses, dem gleich ein zweiter folgte.
„Wo mag das sein!" fragte der Hauswirt mit emporgezogenem Augenbrauen.
„In der Breiten Straße. Da ist es am schlimmsten. Sie haben die Dächer
abgedeckt und werfen mit Ziegeln, sie schießen aus den Fenstern-, aber das wird
ihnen alles nichts nützen, das Militär ist doch stärker. Hier in der Straße wird's
auch bald anders werden. Das achte Regiment in Frankfurt an der Oder soll
schon längst durch den optischen Telegraphen benachrichtigt sein und wird wohl
schon vorm Tore stehen."
„Bravo!" rief Minchen und klatschte in die Hände.
Der Vater warf ihr einen mißbilligenden Blick zu, der Kalkulator aber erhob
sich und sagte kläglich:
„Ich bin jetzt vollständig kaput. Komm, liebe Amalie, ich lege mich
ins Bett!"
Und so schlürfte er hinüber nach seiner Wohnung, begleitet von seiner schwer
atmenden Gattin, die ihm versicherte, daß sie ihm vor allen Dingen einen heißen
Fliedertee bereiten werde.
„Hier ist es jetzt recht still geworden", stellte Hegerbarth, der ans Fenster
getreten war, fest.
„Wollen wir nicht hinaussehen?" fragte Minchen.
„Um Gottes willen!" rief die Mutter. „Hörst du denn nicht, wie sie immer
noch schießen?"
Aber Minchen hatte bereits das Fenster geöffnet und schaute hinaus. Die
Eltern folgten ihrem Beispiel.
Das Wachthaus stand verlassen. Das Tor wurde hell von der Sonne des
Spätnachmittags beleuchtet. Von außen schollen dumpfe Schläge dagegen. Bald
waren die großen Türflügel aus den Angeln gehauen und stürzten samt dem stein,
gefüllten Schilderhaus nach innen, und durch die klaffende Öffnung wurden auf
der Landstraße, so weit das Auge reichte, blanke Soldatenhelme und blitzende
Bajonette sichtbar.
Und dann kam, still und ernst, das Regiment hereinmarschiert.
„Aha," sagte Hegerbarth mit Genugtuung, „die Achter! Messerschmidt hat
recht gehabt."
Die Fenster wurden wieder geschlossen, aber man hörte den dröhnenden Takt¬
schritt der nägelbeschlagenen Stiefel auf dem Pflaster.
Plötzlich verstummte der Schritt, wie abgeschnitten. Und gleich darauf
krachte eine Gewehrsalve und noch eine. Das war, als wenn zehn Blitze zugleich
einschlugen.
schreckensbleich blickte Hegerbarth auf seine Frau. Sie war auf die Bank
vor dem grünen Kachelofen niedergesunken und jammerte:
„Ach Gott, wie ist mir das in die Glieder gefahren! Wenn ich bloß nicht
meine Kolike kriege!"
„Ich werde dir einen Tee aufsetzen, Mütterchen", rief die Tochter und eilte
nach der Küche.
Sie einPfand gar keine Furcht und wunderte sich selber darüber, wie leicht
ihr trotz des Lärms dort draußen zumute war. Das mußte wohl die liebe Sonne
machen, die nach dem frischen Morgen alles so verschwenderisch mit ihrem warmen
Goldglanz übergoß und für alle Torheiten der Menschen ein mildes, gütiges
Lächeln hatte.
Die Mutter nippte kaum an der Tasse Tee. Ihr wäre überhaupt schon
alles egal, und wenn ihnen das Haus überm Kopf angezündet würde.
„Immer diese Schwarzmalerei!" schimpfte der Vater. „Aber was ist denn
das nur für ein Getrapple? — Donnerwetter, da kommen ja die Soldaten zurück¬
gerannt! Der Major da auf dem Pferde flucht das Blaue vom Himmel her¬
unter, aber sie sind nicht zu halten. Das ist ja eine nette Bescherung. Wenn
l>h bloß wüßte, ob das Haus noch verschlossen ist —"
„Ich werd gleich nachsehen", rief Minchen.
Ehe er noch etwas erwidern konnte, war sie schon hinunter.
Das Haus war wirklich noch fest zu. Aber natürlich konnte nun Minchen
gar nichts sehen! Und doch hörte sie den Höllenlärm gerade dicht vor der Tür.
Sie konnte sich nicht halten, sie mußte wissen, was da vorging, und schon
hatte sie den Schlüssel umgedreht und das Tor ein ganz klein wenig geöffnet.
Da, — was war da ... . Blitzendes draußen? Ein blutjunger Offizier war
herangewankt und hatte sich gegen die Pforte gelehnt. Seine Augen waren halb
geschlossen; es war, als wenn er jeden Augenblick umfallen würde.
Minchen war es sofort klar, daß dieser junge Mann in großer Gefahr sei,
daß er sich allein einer rohen Übermacht gegenüber befinde. Und ohne sich zu
besinnen, zog sie ihn rasch in den Hausflur und verschloß das Tor, an dem es wie
die wilde Jagd vorbeiraste.
Der Offizier hatte den Degen in der Rechten, und nun gewahrte Minchen
auch an seiner linken Schläfe, unter dem zurückgeschobenen Helm, eine Wunde,
aus der das Blut quoll. Es kam ganz langsam hervorgesickert, rieselte über die
Wange-, hier und da fiel ein Tropfen auf die roten Steine des Hausflures.
Sie faßte ihn am Arm und führte ihn zur Trepp.'. Er taumelte und hielt
sich nur mit Mühe aufrecht; so stützte sie ihn und schob ihn die Holzstufen hinauf.
Er ließ es ruhig geschehen und war wie ein Nachtwandler.
In Minchens Kopf jagten sich blitzschnell die Gedanken. Sollte sie de:i
Geretteten zu den Eltern hineinführen? Die Hütten eine solche Störung gewiß
unliebsam aufgenommen, und sie hätte die härtesten Vorwürfe und Scheltworte
bekommen. Ja, sie hätten diesen Jüngling aus Furcht vor dem Volke gewiß
wieder hinuntergewiesen. Das durfte nicht sein. Doch hier galt kein langes Über¬
legen; das war auch nicht ihre Art. Stets war sie für resolutes Handeln gewesen,
und sie hatte sogar den Heinrich Messerschmidt, der doch gewiß nicht zimperlich war,
häufig gehofmeistert, und er hatte sich ihrem festen Willen unterordnen müssen.
Da war sie auch schon an der Tür ihres Stübchens, schob den Leutnant
hinein, verriegelte die Tür von innen, führte ihn nach einem Stuhl, auf den er
matt niedersank, nahm ihm Helm und Degen ab und zog eine Schublade der
bronzebeschlagenen Kommode auf. Im Nu hatte sie weiche Leinwand in Streifen
gerissen, dann träufelte sie aus einem Fläschchen der kleinen Hausapotheke etwas
Arnika ins Waschbecken, goß reines Wasser dazu, wusch vorsichtig die Wunde und
verband sie mit der getränkten Binde.
„So, Herr Leutnant," sagte sie mütterlich, „und nun legen Sie sich dort
aufs Bett und erholen sich. Aber Sie dürfen sich uicht rühren und müssen sich
ganz ruhig verhaltenI"
Er folgte ihr willig zum Bett, dessen weiße Mullvorhnnge sie zurückgeschlagen
hatte, und lag gleich darauf regungslos auf dem weichen Lager.
„Nun seien Sie ganz still und lassen nichts von sich merken, bis ich wieder¬
komme! Sonst gerate ich in große Verlegenheit. Hören Sie?"
Nein, er hörte nichts, er war bewußtlos geworden. Minchen schaute noch
einmal mit auf den Mund gelegtem Zeigefinger besorgt nach ihm hin, ging dann
hinaus und schloß die Tür hinter sich ab.
Als sie das Wohnzimmer betrat, fand sie es leer. Aber aus dem Schlaf¬
zimmer nebenan rief der Vater erregt:
„Minchen, bist du endlich da? Wo bleibst du denn? Siehst du, nun hat
Mutter doch noch ihre Kolik bekommen, und ich habe sie zu Bett bringen müssen!"
Er bemerkte nicht, wie rot Minchen wurde und wie sie einen Augenblick
schwankte, ob sie ihm nicht die Wahrheit sagen solle. Sie wagte es nicht. Jetzt
wo die Mutter krank war, hätte das die größte Verwirrung und Aufregung
gegeben, und sie erwiderte zögernd mit abgewandtem Gesicht:
„Ach, Papa, entschuldige nur, daß ich solange auf meinem Zimmer geblieben
bin. Ich bekam unten das gräßliche Nasenbluten, das ich lange nicht gehabt,
habe, — und da mußte ich mich doch erst waschen."
„Das wird von der großen Hitze sein; ist ja ein merkwürdig warmer Tag
geworden. Und dann auch von der Aufregung. Ich sage ja, heut gibt'S nichts
als Unglück. Die Soldaten sind ja endlich wieder hineinmarschiert, aber das
Geschieße will immer noch nicht aufhören. Schrecklich!"
Als wenn diese betrübende Feststellung noch bekräftigt werden sollte, kam
von unten her ein markerschütterndes Pochen. Dazwischen gellte Schimpfen,
Pfeifen und Heulen einer wütenden Menschenmenge.
„Jawoll, hier is er rin! Raus! Uffjemacht! Det Haus muß 'n Erdboden
jleich jemacht wer'n, keen Steen derf uff 'n andern bleiben!"
„Was wollen sie nur?" fragte Hegerbarth verwundert.
„Uffjemacht! Raus! Raus!"
Wahre Donnerschläge krachten gegen das Tor.
„Das ist doch wirklich zu toll! Sie rennen mir noch die Haustür ein. Wenn
ich bloß wüßte —"
„Vater," unterbrach ihn die Tochter, die etwas blaß geworden, aber ganz
ruhig war, „es wird das beste sein, wir fragen, was diese Menschen eigentlich
wollen. Ich werde hinuntergehen."
„Das wäre ja noch schöner! Nein, du bleibst hier an Müllers Lager, und
ich gehe selber hinunter."
Seine ganze Würde war in ihm wach geworden. Rasch warf er den Schlaf¬
rock ab, zog sich den schwarzen Gehrock an und ging mit festen Schritten hinaus.
Beim Anblick des vielen von ihnen wohlbekannten Hauswirtes, der das
Haustor mit kühnem Schwunge weit geöffnet hatte, wichen die Ruhestörer zurück,^
und der Lärm legte sich fast ganz.
Hegerbarth reckte sich gerade.
„Sie wollen mein Haus mit Rinnsteinbohlen demolieren? Was soll denn
das heißen? Wissen Sie nicht, daß das strafbare Sachbeschädigung ist?"
"
„Er soll aber raus! Wir wollen ihn arretieren.
„Ich verstehe nicht, was Sie reden."
Einige traten vor und zwinkerten mit den Augen.
„Na, man keine Fisematenteu! 'n Offizier ist hier hineinretiriert und muß
im Hause sein."
„Was sür Unsinn! Das müßte ich doch wissen."
Drei Männer waren bis auf den Hausflur vorgedrungen.
„Und es ist doch wahr!" erklärte der eine triumphierend. „Sehen Sie, hier
sind deutliche Blutspuren I Er war verwundet."
„Das stammt von meiner Tochter, die heftiges Nasenbluten gehabt hat."
„Das möchten wir doch erst ein bißchen genauer untersuchen."
„Eigentlich eine starke Zumutung," sagte Hegerbarth unwillig. „Aber ich
will's zugeben, damit Sie sich beruhigen."
Er führte die drei Männer die Treppe hinauf, während die Menge unten
wie ein summender Bienenschwarm das Ergebnis der Untersuchung abwartete.
"
„Bis an diese Tür hier gehen die Spuren, erklärte der erste der Männer.
„Könnte man nicht einmal nachsehen?"
Da aber verließ Herrn Hegerbarth alle bisherige Selbstbeherrschung. Bürger¬
stolz, Unabhängigkeitsgefühl des Besitzenden und Familiensinn schwellten seine
«ruft und färbten seine runden Wangen dunkelrot.
"
„Herr! rief er fuchswild, „ist Ihnen denn gar nichts heilig? Das ist das
Zauner meiner Tochter, das noch nie der Fuß eines Fremden betreten hat, und
ich sage Ihnen, nur über meine Leiche kommen Sie da hinein. Was ist denn
überhaupt in euch alle gefahren. Ich bin ein alteingesessener Bewohner dieser
Stadt wie Sie, meine Herren, und wenn Sie mit irgend etwas unzufrieden sind,
so halten Sie sich meinetwegen an die Regierung, aber lassen Sie gefälligst
Ihre ehrsamen Mitbürger in Ruhe! Das ist ja, als wenn alles verrückt geworden
wäre!"
Das energische Auftreten des würdigen Mannes verfehlte seine Wirkung nicht.
„Na ja," brummten die Leute, „wir sehen schon, daß er hier nicht ist. Aber
ins Haus war er hinein, das steht bombenfest."
„Dann ist er vielleicht, über den Hof und nach der Fruchtstratze hinaus¬
gegangen. Das ist doch hier ein Eckhaus."
Die Männer sahen sich verblüfft an.
„Wahrhaftig, daran haben wir gar nicht gedacht! Dann entschuldigen Sie
nur, Herr Hegerbarth!"
Sie gingen eilig wieder hinunter, und die Menschenmasse schob sich nach der
Aufklärung um die Ecke in die Seitenstraße.
Hegerbarth, der die Leute bis zur Haustür begleitet hatte, sagte oben zu
seiner Tochter:
„Es ist nur gut, daß Mutter nach dem Tee eingeschlafen ist und von der
ganzen Geschichte nichts gemerkt hat. Sie hätte sich zu Tode geängstigt. Du
mußt übrigens noch die Blutflecke entfernen, Minchen. Das hätte wirklich
unangenehm werden können, wenn ich nicht glücklicherweise gewußt hätte, wie sie
entstanden sind."
Minchen eilte sehr bereitwillig hinaus und wischte die Spuren auf.
Sie benutzte die Gelegenheit, einen Blick nach ihrem Pflegling zu werfen.
Er schlummerte friedlich. Gern hätte sie den Verband erneuert, wenn sie nicht
gefürchtet- hätte, zu stören, und so ging sie auf den Zehen wieder hinaus.
Langsam breitete sich die Dämmerung aus; dann kam auf dunkelsamtenen
Schwingen die Nacht, eine Lenznacht, weich und zärtlich, die schmeichelnd lockt
und mit kosenden, seidenen Händen die Wangen der Menschen streichelt.
Minchen zündete die Öllampe an und sagte:
„Es ist doch möglich, lieber Vater, daß mich die Mutter in der Nacht braucht.
Es wird also das beste sein, wenn ich heut hier auf dem Sofa übernachte."
Er suchte ihr das auszureden. Das wäre wohl nicht nötig, und bei dem
Lärm auf der Straße würde sie hinten in ihrem Stübchen viel besser ruhen als
im Vorderzimmer. Aber sie blieb fest bei ihrem Entschluß, holte sich vom Hänge¬
boden in der Küche einige Betten, und der Vater tätschelte ihr schließlich gerührt
die Wange und lobte sie:
„Du bist ein gutes Kind, du wirst auch gewiß dafür vom Himmel belohnt
werden."
Sie griff zu einer Handarbeit, ging aber noch mehreremal hinaus, so daß
der Vater fragte:
„Ist dir deine Absicht etwa wieder leid geworden? Dann bleib nur ruhig
in deiner Stube, wenn du willst! Mutter wird wohl vor morgen früh nicht auf¬
wachen."
Sie schüttelte den Kopf.
„Aber was hast du nur? - Du bist so eigentümlich ernst und dabei doch so
unruhig. Fehlt dir etwas?"
„Nichts, nichts, Vater!"
„Zu verwundern wäre das ja nicht. Wenn nur das Schießen endlich auf¬
hören wollte!"
Eben wollten sie sich zur Ruhe begeben, als draußen Hunderte von Stimmen
laut wurden:
„Sieg! Wir haben gesiegt! Es nutz illuminiert werden. Ein Schuft, wer
nicht illuminiert!"
Dazwischen hörte man das Klirren von Fensterscheiben.
„Sie werfen uns wahrhaftig auch noch die Scheiben ein, wenn wir kein
Licht hinstellen," schimpfte Hegerbarth. „Wir müssen ihnen schon den Willen
tun. Finster genug ist's ja auf der Straße, nachdem sie die Laternen zer¬
trümmert haben."
Auf das eine Fensterbrett wurde die Lampe gebracht, und auf das andere
stellte Minchen die silbernen Leuchter, die immer auf dem schöngemaserten Birken¬
schrank standen, mit den beiden angezündeten Zierkerzen. Hegerbarth kratzte sich
hinterm Ohr.
„Es ist nur gut, daß Mutter das nicht sieht; sie würde nicht wenig über
die schönen Kerzen jammern, die schon zwei Jahre lang unversehrt dort oben
geprunkt haben. — Nun? Was schreien sie da schon wieder?"
„Lichter weg! Alle Lichter weg!" hieß es. „Wir zeigen unseren Feinden
nur den Weg! Alle Lichter weg!"
Sie blies schnell die Kerzen aus, und der Vater stellte die Lampe wieder auf
den Tisch.
„Die scheinen selbst nicht zu wissen, was sie eigentlich wollen. Gute Nacht,
Minchen!"
Er begab sich nach dem Schlafzimmer, und jeder legte sich halb angekleidet
nieder; denn an einen erquickenden, ungestörten Schlaf war nicht zu denken.
Mitten in der Nacht erhob sich Minchen einmal. Leise, ganz leise schlich
sie zur Tür und brauchte unendlich lange Zeit, um die Klinke geräuschlos nieder¬
zudrücken. Draußen näherte sie sich klopfenden Herzens ihrem Stübchen und
lauschte mit verhaltenem Atem. Kein Laut war von drinnen zu vernehmen, und
ebenso verstohlen, wie sie hinausgegangen war, kehrte sie wieder zurück.
(Schluß folgt.)
Die Wellenbewegung, die durch die Rede des englischen Prenuerimmsters
Asquith über die Flottenrüstungen hervorgerufen worden ist, hat, wie zu erwarten
war, noch weitere Kreise gezogen, insofern als nämlich auf der einen Seite der
von uns neulich gekennzeichnete Versuch, die deutsche öffentliche Meinung zugunsten
der englischen Wünsche gegen die deutsche Regierung aufmarschieren zu lassen, von
angesehenen Blättern der verschiedensten Art sehr energisch zurückgewiesen worden
ist, während auf der andern Seite weiter mit dem Gedanken der Abrüstung oder
der Einschränkung und Begrenzung der Rüstungen zur See gespielt wird. Auf-
merksamkeit erfordern diese Gedanken nur deshalb, weil sie unsre politische Lage
zu beleuchten geeignet sind. Es ist allgemein anerkannt worden, daß Asquith sich
Mühe gegeben hat, in seiner Rede einen so freundlichen Ton anzuschlagen, wie
es der Zweck seiner Rede, die Notwendigkeit der englischen Flottenrüstungen vor
dem Parlament zu begründen, nur irgend zuließ. Das entspricht aber nicht den
Wünschen derer, die es gern sehen würden, wenn die Flottenfrage dazu dienen
könnte, recht lange eine Spannung zwischen Deutschland und England aufrecht
zu erhalten. Diesen Interessen entspricht es, sich gegen die vernünftige Tendenz
der Rede des englischen Staatsmannes möglichst taub zu stellen und nur heraus¬
zuhören, was in ihren Kram paßt, nämlich daß Deutschland sich auf Abänderung
seines Flottengesetzes nicht einlassen kann.
Um die Wirkung dieser Treibereien zu verstärken, ist von französischer Seite
auch die Person des Königs von Italien in die Sache hineingezogen. worden.
Es wurde von einem Interview berichtet, in dem König Viktor Emanuel geäußert
haben soll, er habe andern Mächten Vorschläge gemacht wegen einer allgemeinen
Abrüstung oder wenigstens Begrenzung der Rüstungen, aber er „sei nicht ver¬
standen worden". Französische Blätter haben sich beeilt, diesem angeblichen
Interview die Ergänzung zu geben, die ihre Leser natürlich erwartet haben,
nämlich daß die Macht, die den König von Italien „nicht verstanden" habe,
Deutschland gewesen sei. Also das alte Lied! Nur schade, daß von der ganzen
Geschichte, soweit Deutschland dabei beteiligt sein soll, kein Wort wahr ist. Daß
an die deutsche Regierung überhaupt kein Vorschlag dieser Art herangetreten ist,
konnte sofort festgestellt werden. Es blieb also nur die Möglichkeit, daß vielleicht
unter den Herrschern persönlich dieses Thema berührt wurde, wobei der König
von Italien Abrüstungsvorschläge gemacht haben konnte. Jetzt steht jedoch fest,
daß, wenn dergleichen vorgekommen ist, der Deutsche Kaiser jedenfalls nicht dabei
beteiligt war. Es ist nicht unsere Sache, nachzuforschen, ob vielleicht König Viktor
Emanuel mit einem andern Monarchen derartige Gedanken und Vorschläge erörtert
hat. Für uns sind sie überhaupt nicht diskutierbar. Es ist ja interessant, daß zur
Abwechslung einmal Italien als Träger des Abrüstungsgedankens vorgeschoben
wird. Schwerlich hat man daran gedacht, daß Italien von allen europäischen
Großstaaten nächst England die größte Küstenentwicklung hat, daher auf seine
Verteidigung zur See am allerwenigsten verzichten kann. Aber es muß natürlich
in den Augen unsrer Neider und Gegner besondern Eindruck machen, wenn ein
Dreibundmonarch angeblich als Fürsprecher der Begrenzung der Rüstungen auf¬
tritt. Wenn Deutschland nicht einmal unter solchen Umständen auf den Gedanken
eingeht, dann glaubt man den sichren Beweis für allerlei böswillige Absichten
der gefürchteten Macht in Händen zu haben.
Alle diese Erörterungen sind mehr oder weniger Spiegelfechterei. Ob Deutsch¬
land die Absicht hat, seine Rüstungen zur See zu begrenzen oder sie weiter fort¬
zuführen, das ist ganz und gar seine eigne Sache, und wir haben gar nichts
dagegen, wenn andre Mächte auch ihre Rüstungen so weit fortführen, wie es
ihnen ihre Machtmittel erlauben oder ihre Interessen gebieten. Nun haben wir
aber tatsächlich unsern Flottenrüstungen eine Grenze gesteckt, nicht aus Furcht, daß
eine Überschreitung dieses Maßes andern Mächten mißfallen könnte, sondern weil
der Schwerpunkt unsrer Landesverteidigung nach wie vor in unsrer Landmacht
liegen muß und wir aus eignem, freiem Entschluß unsre Seemacht nur so weit
ausbauen wollen, daß wir unsern überseeischen Handelsinteressen ausreichenden
Schutz gewähren können. Wir haben diese Grenze, die wir unsern Rüstungen zur
See ziehen wollen, in unserm Flottengesetz von 1900 deutlich bezeichnet. Dieses
Gesetz ist vor aller Welt beraten, beschlossen und veröffentlicht worden. Jeder
Ausländer kann dieses Gesetz, wenn er Deutsch versteht oder sich eine Übersetzung
verschaffen will, in allen Einzelheiten studieren und uns nachrechnen, wie viel Schiffe
wir jährlich bis zum Jahre 1917 bauen. Warum nimmt man im Auslande von
diesen Tatsachen nicht Notiz? Warum stellt man sich beständig so, als ob jedes
Jahr neue Überraschungen bringe, als ob Deutschland nicht ein vor zehn Jahren
in der Hauptsache festgestelltes Programm ausführe, sondern darauf los baue, um
allmählich die großen Seemächte der Welt mit einer immer größer werdenden
Riesenflotte zu überbieten? Die Antwort könnten wir leicht geben, denn wir sind
nicht so naiv, um nicht zu Nüssen, daß man uns mit vollem Bewußtsein, nicht
aus Unkenntnis, fälschlich beschuldigt. Darum ist das Recht, mißtrauisch zu sein,
auf unsrer Seite. Wenn die öffentliche, auf gesetzlicher Festlegung beruhende Aus¬
führung unsres Flottenbauprogrcnnms. die freiwillige Beschränkung, die wir unsern
Rüstungen zur See selbst auferlegt haben, keine andre Wirkung auf die aus¬
wärtigen Mächte ausüben als ein gesteigertes, feindseliges Mißtrauen gegen uns,
dann würde auch eine von uns vertragsmäßig übernommene Begrenzung dieser
Rüstungen das Übel nicht beseitigen können. Das Opfer würde zwecklos gebracht
werden. Und gerade deshalb — infolge der offenbaren Illoyalität, die in den
uns feindlich gesinnten Kreisen des Auslands bei der Beurteilung unsres gegen¬
wärtigen Flottenprogramms hervortritt — muß einstweilen auch die Frage offen
bleiben, wie wir uns vom Jahre 1917 ab verhalten werden. Feststellen können
wir nur die Absicht, die Greuze innezuhalten, die wir uns freiwillig und im
eignen Interesse gesteckt haben.
Wenn überhaupt eine Abrüstung möglich wäre, so wäre die erste Voraus¬
setzung, daß sich die Interessen der beteiligten Völker so gestalteten, daß eine
wirkliche Gewähr für Jnnehaltung ihrer Übereinkünfte geschaffen wäre. Wie das
geschehen soll, ist für die Zeit, in der wir leben, überhaupt unverständlich. Eine
solche Übereinkunft wäre auch schon mindestens leichtsinnig für Völker, die eine
relativ große Sicherheit für die Übereinstimmung ihrer Interessen und die Stetig¬
keit ihrer gegenseitigen Gefühle und Stimmungen bieten. Wenn aber Völker, die
täglich Beweise liefern, daß sie sich gegenseitig nicht kennen und verstehen, deren
Interessen auseinandergehen und deren Presse beständig den Versuch wiederholt,
die Absichten des andern in ein schlechtes Licht zu setzen, von Abrüstung sprechen,
so ist das eine Kurzsichtigkeit und Torheit. Die verminderte Rüstung würde nur
manche Hemmung beseitigen, die jetzt der Kriegslust entgegensteht. Was hat uns
denn seit vierzig Jahren den Frieden erhalten, wenn nicht das Bewußtsein, daß
ein europäischer Krieg eiuen so gewaltigen Einsatz an Volkskraft und Kulturwerten
erfordern würde, daß jede Macht sich darüber klar ist, nur eine zwingende Forde¬
rung der nationalen Ehre und der nationalen Interessen könne einen solchen
Einsatz rechtfertigen? Wenn ein Krieg zwischen europäischen Großmächten heute
mit etwas gegenseitigem Blutabzapfen und Demolieren von Kriegsmaterial
abgemacht werden könnte, wären unsre Nachbarn schon längst über uns hergefallen.
Die Abrüstung ist also eine direkte Vermehrung der Kriegsgefahr. Und ist der
Krieg da, so kann es nichts Verhängnisvolleres geben, als eine willkürlich gezogene
Grenze für die Vorbereitungen der Kriegsrüstung. Denn der Krieg geht unerbittlich
über diese Grenze hinaus, nur geschieht alles unter einem härteren, schwereren,
länger nachwirkender Druck. Die französische Armee des zweiten Kaiserreichs
repräsentierte nicht die militärische Kraft Frankreichs- sie blieb weit dahinter zurück.
Frankreich schloß aber auch nach der Zertrümmerung der kaiserlichen Armee nicht
Frieden, sondern erst dann, als der überzeugende Beweis geliefert war, daß auch
der Weitere Einsatz militärischer Kräfte das Kriegsglück nicht wiederherstellen könne.
So wie Frankreich wird jede große Nation handeln. Niemand fragt in solchen
Katastrophen danach, ob der vereinbarte Höchsteinsatz der nationalen Kräfte erreicht
ist; die Nation setzt einfach ihr Letztes und Höchstes ein. Jede unvorbereitete, unorga¬
nisierte Leistung jedoch vermehrt und verlängert die Leiden und Opfer des Krieges;
sie legt der Nation das Doppelte auf, was sie bei rechtzeitiger, ausreichender Rüstung zu
tragen gehabt hätte und was vielleicht das Glück hätte wenden können. Deshalb
ist es ein Verbrechen an der Nation, die Leistungen für ihre Wehrkraft von etwas
andrem abhängig zu machen als von den Erwägungen, nach denen die Nation
selbst das Maß dieser Leistungen bestimmt.
Der Wechsel in der Leitung unsres Auswärtigen Amts ist nun vollzogen
worden. Herr v. Kiderlen-Waechter hat die Geschäfte seiner neuen Stellung über¬
nommen. Vorher hat er auf dem Wege von Bukarest nach Berlin in Marienbad
Station genommen, um mit dem Grafen Aehrenthal eingehende Besprechungen zu
pflegen. Es würde natürlich verkehrt sein, an diese Besprechungen besondre Ver¬
mutungen zu knüpfen. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Österreich-
Ungarn stehen fest. Graf Aehrenthal und Herr v. Bethmann Hollweg haben
persönliche Aussprachen gehabt und sich vollkommen verständigt. Herr v. Kiderlen
ist dem Grafen Aehrenthal seit langer Zeit persönlich bekannt. Das sind alles
Gründe genug, um einzusehen, daß es sich in Marienbad nicht um besondre
Fragen handelte, sondern um eine Bekundung des freundschaftlichen Verhältnisses
zwischen den beiden Staatsmännern. Die Begegnung in Marienbad hat also nur
das Siegel gedrückt auf die Verhältnisse, die aller Welt bekannt sind. Daß Herr
v. Kiderlen gerade jetzt vor Übernahme seines neuen Amts die Gelegenheit zu einer
solchen Aussprache ergriff, bedarf keiner besondern Erklärung. Es war das auch
vielleicht gerade deshalb sehr wünschenswert, weil jetzt in der auswärtigen Politik
eine Periode der Windstille eingetreten ist. Daß im nahen Orient dabei immer
einige Gewitterwolken am Himmel hängen, ist beinahe selbstverständlich.
Still ist es auch in der innern Politik geworden, besonders wenn man an
die Erörterungen, mit denen die Tageszeitungen ihre Spalten füllen müssen, den
Maßstab des notwendigen und Nützlichen legt. Es erscheint in diesen ereignis-
armen Zeiten wie ein Geschenk des Himmels, daß sich die Politiker die Köpfe
zerbrechen dürfen, ob Ernst Bassermann an der Spitze der nationalliberalen Partei
bleiben oder sich zurückziehen will, und was er dein Reichskanzler bei seiner
Unterredung mit ihm gesagt oder nicht gesagt hat. Ein Ergebnis aber scheint sich
aus den Preßerörterungen der letzten Tage bestimmt herauszuschälen, daß nämlich
von dem Großblock von Wassermann bis Bebel kein praktischer Politiker, der in
den Parteileitungen mitzureden hat, etwas wissen will. Und wenn noch in einzelnen
Kreisen der fortschrittlichen Volkspartei eine platonische Liebe für diesen Gedanken
fortlebt, so hat das jetzt jede praktische Bedeutung verloren, nachdem klar geworden
ist, wie schroff die Sozialdemokratie selbst alle solche Ideen ablehnt. Hoffentlich
führt das dahin, daß sich die Aufmerksamkeit der Mitielparteien mehr der Frage
zuneigt, wie sie sich immer fester auf eigne Füße stellen können. Schließlich besteht
das Leben der Parteien nicht allein in der Wahltaktik.
Zu dem in Nummer 2V
und 21 der „Grenzboten veröffentlichten Aufsatz des Herrn Amtsrichter Dr. Sontag,
Kcittowitz O.-Seht., erhalten wir durch Vermittlung des Herrn Rechtsanwalt Ratajski
zu Ratibor folgende „Berichtigungen":
1. In Ur. 20 der „Grenzboten" vom 18. Mai 1910 behauptet Herr Amts¬
richter Dr. Sontag in dem Aufsatz über die polnischen Volksbanken in Oberschlesien
(Seite 320), daß der Unterzeichnete Redakteur des „GornoslMk" gewesen sei.
Diese Behauptung ist unrichtig. Der unterzeichnete Bankvorsteher der Bank Ludowy,
Pleß ist niemals Redakteur des „Gornosl^zal" noch irgendeiner anderen Zeitung
gewesen. Ebenso ist auch die Behauptung des Herrn Dr. Sontag, daß Unter¬
zeichneter ein früherer Student der Theologie sei, unrichtig.
2. In Ur. 20 der „Grenzboten" vom 18. Mai 1910 behauptet Herr Dr. Sontag
in seinem Aufsatz über die polnischen Volksbanken in Oberschlesien (Seite 325),
daß der unterzeichnete Dr. Bialy, Vorstandsmitglied der Bank Ludowy in Rybnik,
im Sokolverein, Straz und Pomoc Naukowa eine führende Rolle spiele.
Diese Behauptung ist nicht richtig. Der Unterzeichnete ist weder Mitglied des
Sokolvereins, noch der Straz, noch gehört er dem Vorstand der Pomoc Naukowa an.
3. In Ur. 20 der „Grenzboten" vom 18. Mai 1910 hat Herr Amtsrichter
Dr. Sontag in dem Aufsatz über die polnischen Volksbanken in Oberschlesien
(Seite 320) behauptet: „In Kösel war sogar zeitweilig ein früherer Chausseeaufseher
Direktor der Bank Ludowy."
Diese Behauptung ist unrichtig. In Kösel war niemals ein früherer Chaussee¬
aufseher Vorstandsmitglied der Bank Ludowy.
Keine der Berichtigungen trifft den Kern der Sache. Der aber liegt in dem
Umstände, daß in den polnischen Volksbanken zahlreiche Personen als Bankleiter
angestellt sind, die keine banktechnische Ausbildung erhalten haben, somit auch nicht
zur Leitung von Banken, das ist zu Stellen geeignet erscheinen, in denen die
Ersparnisse breiter Volksschichten zusammenfließen. Darauf hinzuweisen war die
Absicht Sontags, denn es ist belanglos, ob Herr Wiera Redakteur oder nur Hilfs¬
arbeiter oder naher Mitarbeiter des „Gornosl^zal" war, ehe er Bankvorsteher
wurde, und belanglos, ob der Koseler „Bankdirektor" seinen Lebensunterhalt als
„Chausseeaufseher" oder als „Bauaufseher" gewann. — An Herrn Dr. Bialy aber
richten wir die ergebenste Anfrage, ob er niemals den genannten Organisationen
Beiträge zur Erkenntnis nationaler Verantwortlichkeit. „Hilfe", G. in. b. H., Berlin-
Schöneberg.
Das Buch enthält drei Vorträge über das Kulturwehen in China; ihr
Hauptziel ist die Weckung und Verbreitung des Interesses für die sich gegenwärtig
in China vorbereitenden Umwälzungen und für die entscheidende Bedeutung dieser
Dinge vom deutschen Standpunkte ans ist. Die Themata und Verfasser dieser
Vorträge sind folgende:"
1. „Wandlungen im chinesischen Geistesleben. Von or. O. Franke. Professor
am Hamburger Kolonialinstitut. 2. „Was steht für Deutschland in China auf
dem Spiel." Von: Herausgeber, der Dozent an der Handelsschule Berlin ist.
3. „Gesundheitliche Volkshilfe als Mittel deutscher Kulturarbeit in China." Von
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Bier und Marinestabsarzt Dr. zur Verth. Diesen Vor¬
trägen ist ein Aufsatz über „Berg- und Hüttenwesen in China" angefügt, zu dem
der Verfasser, Dr. jur. O. Junghann, das Material während längerer Studien¬
reisen in China gesammelt hat. Ein gewaltiges Reich beginnt dort im fernen
Osten seine Grenzen der europäischen Kultur zu öffnen und ein heißer Wettstreit
ist unter den Nationen entbrannt. England, Frankreich, Amerika und auch Japan
widmen sich mit ungeheurem Eifer der Einführung ihrer Kulturen und Wissenschaften.
Deutschland hat lange im Hintertreffen gestanden. Erst seit kurzem hat es mit
der Errichtung einer Hochschule für Chinesen in Tsingtcm und der deutschen
Leben und Werdegang im Lichte der Welt¬
philosophie. Von Stanislaus von Durm-Borkowski S. ^. Münster i.W.,
Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung.
Das Interesse für den Menschen und vielleicht auch für den Denker Spinoza
war in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts merklich abgeflaut. In
Deutschland hielt es freilich die Beziehung einiger Worte Goethes zu Spinozas
Lehre wenigstens einigermaßen rege, ohne daß jedoch die Forschung wesentlich
gefördert wurde. Das Verdienst, es wieder mächtig belebt zu haben, hat der
Holländer Melusina, dessen Werk „Spinoza en zijn kring" (1896) zum ersten¬
mal den bisher als Einzelerscheinung Betrachteten in seine historische Umwelt
stellte. Drei Jahre später folgte die dankenswerte Zusammenfassung der Quellen¬
schriften zur Biographie Spinozas durch den Breslauer Freudenthal, der dann
auch ein Leben Spinozas schrieb (unvollendet geblieben). Die Beschäftigung mit
dem Philosophen machte nun rasche Fortschritte und bereits auch gingen Belletristen
ans Werk, um das neuerstandene Spinoza-Bild dichterisch zu gestalten: Der
Schreiber dieser Zeilen („Spinoza", Stuttgart 1908, vorher in der „Frankfurter
Zeitung", dann in holländischer Buchausgabe und in hebräischer Übersetzung
erschienen) und Erwin Guido Kolbenheyer („Amor Dei", München 1908), der
bereits zur Zeit des Giordano-Bruno-Jubiläums dem großen Vorgänger Spinozas
ein Drama gewidmet hatte. Zwei ganz entgegengesetzte Begabungen rangen hier
mit dem gleichen Stoff, der erste mit zarterer Behandlung der Farben, Spinoza
mehr in den Vordergrund rückend und die historisch bezeugte Kulturhöhe der
portugiesischen Juden Amsterdams betonend, der zweite in kräftiger si iresco-
Manier, mehr nur Ausschnitte als eine fortlaufende Erzählung bietend, neben
Spinoza fast ebenbürtig auch noch andere „Gottesliebende" stellend. Beide ver¬
mieden, Spinoza sich selbst zitieren zu lassen, was gewöhnlich von Romanen dieser
Gattung erwartet wird, aber ebenso wohlfeil wie unkünstlerisch ist. Wer den
Philosophen Spinoza kennen lernen will, der hat dazu seine Werke einschließlich
seiner Briefe. Selbst die Geschichtlichkeit eines „historischen" Romans ist gleich¬
gültig; es kommt nur auf die künstlerische, die seelische und seherische Wahrheit an.
Immerhin konnte ich selbst mich außergewöhnlich treu an die Geschichte anschließen
und in der Darstellung des Untergangs der beiden de Witt einfach die Geschichte
sprechen lassen, ja glaubte dies zu müssen, um nicht durch irgendeine Erfindung
die Unerbittlichkeit des Tatsächlichen zu schwächen. (Kolbenheyer läßt Spinoza
das blutige Herz de Wilts kaufen und heimtragen.) Durm-Borkowski gesteht
dem ersten Roman zu, daß er „auf fleißigen Studien über Zeit und Persönlich¬
keiten" beruhe, das „Psychologische des Helden mit Liebe und Geschick", wenn
auch nicht in historischer Weise (f. oben) zeichne, Spinozas „intellektuelle Ent¬
wicklung" aber „ganz ungenügend" schildere; außerdem stoße das „Häßlich-Leiden-
schaftliche" darin (es dürfte vor allem die Szene von Miriams Ermordung gemeint
sein, die einem geistlichen Leser etwas zu kraß vorkommen mag) „manchmal" ab.
Erwähnt wird auch die „interessante und phantastische Wiedergabe" des „Philedonius",
eines Stückes, das von van den Enders Schülern zur Zeit von Spinozas Schüler-
und Lehrerschaft im Hause van den Enders aufgeführt wurde. Auch dem Romane
von Erwin Guido Kolbeuheyer spendet Durm-Borkowski das Lob, das „lokale
und gesellschaftliche Unbild im allgemeinen mit großer Sachkenntnis" geschildert
zu haben; er konstatiert die Übereinstimmung mit dem Verfasser „selbst in manchen
entlegenen historischen Einzelheiten", daneben aber auch „einige sonderbare Mi߬
verständnisse", und nennt die „philosophische Entwicklung Despinozas" (s. oben)
»das religiöse Milieu, jüdische Religionswissenschaft und Kabbala" „arg verzeichnet";
hier hätten „offenbar Kolbenheyers Studien versagt". Was Kolbenheyer van
den Enden bei Gelegenheit des Bannes Spinozas über seine eigene Entlassung
aus dem Jesuitenorden sagen lasse, sei „selbst für einen Roman eine unverzeihlich
groteske Sottise".
Es hat sich nun gefügt, daß einer der beiden Verfasser der neuesten Spinoza-
Romane über Durm-Borkowskis Werk urteilen soll, und noch dazu jener, der
augenscheinlich etwas glimpflicher davonkam. Er könnte sich dadurch veranlaßt
fühlen, je nach seiner Stimmung oder seinen Bedenken härter oder milder zu
urteilen. Da ich jedoch meinen belletristischen Werken, wenn sie einmal gedruckt
sind, völlig als Fremder gegenüberstehe, glaube ich mein Urteil weder in dieser
noch in jener Hinsicht beeinflußt. Ich stelle zunächst fest, daß Durm-Borkowstis
Werk auf mich nur wieder jenen angenehmen Eindruck von Ernst, Akribie und
Solidität gemacht hat, den ich von allen Werken seiner Ordensbrüder, soweit nicht
spezifisch religiöse Momente in Frage kommen, empfangen habe. Es bildet eine
wichtige Ergänzung zu Meinsmas Arbeit, die in erster Linie Spinozas reale Umwelt
darstellte. Hier findet man nun ausführlich die geistige Umwelt Spinozas in den
Hauptphasen seiner Entwickelung dargelegt. Es ist vielleicht bei der Behandlung
des jüdischen Geisteslebens sogar zu sehr Entferntes herangezogen, so daß der nicht
schon Unterrichtete zunächst mehr verwirrt als aufgeklärt wird. Dabei leugne ich
nicht, daß der Gedanke, Spinozas Philosophie habe zahlreiche Wurzeln auch schon
im Judentum, fruchtbar ist, nur ist zu bemerken, daß diese Gedanken Allgemeingut
der nacharistotelischen Philosophie waren und darum nicht als spezifisch jüdischer
Herkunft bezeichnet werden können.
Durm-Borkowski deutet dies gelegentlich auch selbst an. Gegen die breite
Behandlung der jüdischen Vorbildung Spinozas tritt die Betonung des fortgesetzten
Zusammenhangs der portugiesischen Juden Amsterdams mit der spanischen Kultur
ihrer Heimat etwas zurück, obwohl auch hierauf einiger Wert zu legen ist. Man
erhält zu sehr den Eindruck, als hätten die „Portugiesen" in Amsterdam in einem
-Ghetto" gelebt. Das war keineswegs der Fall. Es trat nur das in Erscheinung,
was sich bis heute beobachten läßt: daß die weniger wohlhabenden Juden gern
beisammen wohnen. Das „Ghetto" Amsterdams entstand erst durch die polnischen
und deutschen Zuwanderer, die aber von den „Portugiesen" verachtet wurden. Ein
Ghetto im eigentlichen Sinne gab es überhaupt nicht; die Juden wohnten, wo
sie wollten, und hatten sich in der ersten Zeit sogar mit den Holländern verheiratet.
Bei Rembrandt unterscheidet man deutlich die vornehmen, in jeder Hinsicht europäischen
Portugiesen (Manasse ben Israel, Ephraim Borns, mehrere prachtvolle Rabbiner¬
köpfe) und die „Ghetto"-Juden mit dem melancholischen Blick. Spinoza wuchs
nicht im Ghetto auf, wie man gewöhnlich meint. Das scheint mir auch von
Durm-Borkowski nicht klar genug gesehen zu sein. Eine Einzelheit möchte ich
hier erwähnen: die Schreibung des Namens und den Zusammenhang mit anderen
Familien gleichen Namens. Durm-Vorkowski schreibt auf dem Titel „De Spinoza",
im Werke selbst „Despinoza", weil der Philosoph sich am Ende für diese Schreibung
entschieden habe. Da Espinosa ein spanischer Ort ist, offenbar der letzte längere
Aufenthaltsort der Familie, ist spanisch „de Espinosa" zu schreiben (Aussprache
„Espinossa", nicht mit weichem S), wie es auch die Bannformel gebraucht. Despiuoza,
in d Espinoza aufzulösen, ist die portugiesische Form, de Spinoza die latinisierte.
Für mich ist Despinoza eigentlich eine Unform, der ich jede der anderen vorgezogen
hätte. Ob die verschiedenen Adeligen mit dem Beinamen de Espinosa Verwandte
des Philosophen, also konvertierte Juden oder deren Nachkommen waren, ist Wohl
sehr fraglich, da es beim Adel in jener Zeit ja nie auf das „de" ankommt und
der nachfolgende Ortsname häufig genng, wenn schon nicht immer, mit der Besitzung
gewechselt wurde. Ebenso könnte man jüdische Familien von heute, die Rosenberg
heißen, mit den Grafen Rosenberg (Orsini-Rosenberg) in Verbindung bringen.
Als den am besten gelungenen Abschnitt des Werkes möchte ich die letzten
Kapitel des vierten Teiles bezeichnen, die Spinozas Leben im Kreis van den
Enders behandeln. Sie sind Muster an klarer, scharf zeichnender und umfassender
Darstellung. Bau den Enders eigentümliche Gestalt hatte schon Melusina aus
der Dämmerung der Legende in das helle Licht der Geschichte gerückt, über die
geheimen Schriften der „Atheisten" aber kann man sich nirgends so gut orientieren
wie hier. In Einzelheiten kann man anderer Ansicht sein. So versteht es sich
wohl vom geistlichen Standpunkt des Verfassers aus, wenn er schreibt: „Die
großartige Erscheinung der Weltkirche, der einheitliche Aufbau des integralen
Christentums, der eigentliche Sinn des Übernatürlichen, die historische Selbst-
verständlichlichkeit der Lehre Christi" — alles Synonyme für den römischen Katholi¬
zismus — „leuchtete niemals vor seinem (Spinozas) Geiste auf," in Wahrheit aber
hat Spinoza reichlich Gelegenheit gehabt, auch die römisch-katholische Lehre kennen
zu lernen, und im übrigen war auch in den verschiedenen protestantischen
Richtungen spezifisch religiöses Christentum genug zu finden — wenn auch Dunin-
Borkowski nach einer anderen Stelle (S.451) das Wort Christentum auf den römischen
Katholizismus beschränkt —: Spinoza lehnte den speziellen Bekehrungsversuch
zum Katholizismus (durch einen der damals so häufigen Konvertiten) unzweideutig
ab und trat auch in keine andere christliche Kirchengemeinschaft ein. Das zeigt
seine Stellung an. Er wäre wohl auch in Rom nicht Katholik geworden.
Durm-Borkowskis Spinoza-Werk ist reich mit Bildnissen Spinozas und
einigen anderen Jllustrationstafeln versehen; zwei Vierfarbendrucke zeigen den
Philosophen in jüngeren und späteren Jahren. Auf den Druck ist große
Sorgfalt verwendet und auch die fremdsprachlichen Zitate sind bemerkenswert
rein von Fehlern. Der Stil ist gut und rein, wenn auch einig» zu sensationelle
Kapitelüberschriften („Die Tiefen der Kabbala und Despinozas Ahnungen", „Sturm
und Drang von innen und außen", „Ein Geplänkel mit der Skepsis" u. a.) besser
vermieden worden wären. Auf die reichhaltigen Anmerkungen sei besonders verwiesen.
Mandarfsich auf die Weiterführung dieser ungemein tüchtigen, wertvollen Arbeitsreueu.
Anzeigen-Annahme für diesen Teil beim Verlag der Grenzboten G. in. b. H„
Berlin SW. 11, Bernburger Straße 22s/2S.
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Verantwortlich George Cleinow in Berlin-Schöneberg, (Herr Dr, Paul Mahn befindet sich ans Reisen,)
Verlag der Grenzboten G, in, b, H, in Berlin SV. 11,
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(Aus der Tages- und Fachpresse,)
Anfragen zu richten unter Beifügung von
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boten", Berlin S^V. it,
^. Für Akademiker.
49, JntcrnntSlcitcr, evang,, Pädagogium Spandau,
1, Oktober,
50, Erste Pfxrrftcllc, evang,-res„ Gemeinde Lebe,
1, Oktober (0K00 M,),
KL, Oberlehrer, evang,, Realgymnasium Stertradc,
1, April INI (Latein, Französisch, Englisch, Turnen),
(6000 M),
M, Oberlehrer, Obcrrcalschnlc Neuß, Ostern 1311,
(Neuere Sprachen,)
W, Pfarrstelle, Griescl, I, Oktober,
«4, Bürgermeister, Diuslakeu, 1, Jan, 1311 <so00 M,),
70, Biirncrmcistcr, Friedrichsdorf (2S90 M,),
74, GcschiiftSsiihrcr und Shnditus, Nürnberg,
7ö, Lehrer für englische Sprache, hob, Handclslehr-
anstalt, Hamburg,
7«, Prediger, Greifswald (2K00 M,),
8ö, MaMrats-Assessor, Kiel, 1, Oktober (4500 M,),
SV, Biirncrmcistcr, Eckartsbcrga, 1, Sept, (2000 M,),
87, Biirncrmcistcr, Sinzig a,RH„ 1,Oktober (MW M,>,
83, Biirncrmcistcr, Tönning, 11, Jan, 1911 (3M0 M,),
L. Für pensionierte Offiziere.
67 Offizier, jüngerer, (Stenographie, Schreibmaschine)
s, iudustr, Unternehmen,
72, General-Vertreter, Köln a, Rh, (2- bis 3000 W,
disponibel),
73, Reisender, West-Deutschland, 1, Oktober,
81, General-Unart, Feuer - Vcrsichernngs - Gesellschaft,
Aachen, 1, JannaT 1911, hoch dotiert,
c. Für Damen.
S2, Oberlehrer!». Stadt, hob, Mädchenschule, Watten-
schcid, 1, Oktober,
Ki, Erzirhcri», Latein und Musik, (1100 M,) Ost¬
preußen, 1, Oktober,77, Erzieherin, co,, gcpr, ältere, Musik, 17, Oktober,
Ottenhof,
78, Erzieherin, Emilicuhof, 1, Oktober,
79, Erzieherin, kath,, gepr,, Französisch, Englisch,
Musik, Schnrgast,
80, Gcmcindcschwcstcr, Jschortau,
82, Erzieherin, gepr,, Musik, 1, Oktober, Oels,
84, Erzieherin, Musik, Latein, 1, Oktober, Kuckow,
Stellen-Gesuche.
Bis zu 3 Zeilen 2 M„ jede weitere Zeile 1 M,
or. plin. („mit Auszeichnung") sucht dauernde Ver¬
wendung im Schul- oder Bibliothclsdicnft oder
in der Presse. Anfragen uuter V, B, 813 an die
„Grenzboten", Berlin SV. 11.
Oberleutnant n. D., 34 Jahre alt, evang,, verheiratet,
sucht Lebensstellung, Geschäfts- und schriflgcwaudt,
Organisationstalent, ausgestattet mit großer Arbeits-
kraft und Schaffenslust, ans einer Handelsschule in
Buchführung aller Art und Handelslchre unter¬
richtet, großes Verständnis im Umgang mit Unter¬
gebenen, Angestellten und Arbeitern, Kaution,
Empfehlungen stehen zur Seile, Angebote unter
H, 716 an die „Grenzboten". Berlin SV, 11, erbeten.
Wer Anstellung im
l^Ommunaldisnst
sucht
annonciert in den
KMMNMlMM"
^Halbmonatsschrift).
Verlag und Grpeditllin
Berlin SW. 11,
Bernbnrger Strasze 22 a/23.
ehr Wochen vor seinen! Tode, in der Kammersitzung vom
27. Mürz 1861, erwiderte Camillo Gr»f Cavour vom Miniftertische
aus auf eine unfreundliche Anspielung: „Der Deputierte Ferrari
hat mir die Ehre antun wollen, mich unter die Konspiratoren
zu zählen. Ich danke ihm dafür und benutze die Gelegenheit,
um der Kammer zu erklären, daß ich zwölf Jahre hindurch ein Konspirator
gewesen bin. Ja, meine Herren, zwölf Jahre lang habe ich konspiriert mit
allen meinen Kräften, habe ich konspiriert, um meinem Vaterlande die Unab¬
hängigkeit schaffen zu können! Indes habe ich in einer eigentümlichen Weise
konspiriert, indem ich in den Zeitungen, im Parlament, bei den Beratungen
Europas den Zweck meiner Konspiration proklamierte. Ich konspirierte ferner,
indem ich Anhänger und Gefährten warb, und hatte zu Genossen das ganze
oder fast das ganze subalpine Parlament. Ich erhielt zu Anhängern fast die
gesamte nationale Gesellschaft, und heute konspiriere ich gemeinsam mit sechs¬
undzwanzig Millionen Italienern."
Diese Selbstkennzeichnung des Mannes, dessen hundertsten Geburtstag
am 10. August Regierung und Volk des geeinten Königreichs Italien als
nationalen Festtag begehen, kommt der meist verbreiteten Auffassung seiner Person
und seiner Taten am nächsten. Italien hat ja viele und vielerlei Konspiratoren
gehabt, aber keinen, der so großzügig, so systematisch, so eindeutig und so
glücklich konspiriert hätte wie Cavour, — auch keinen, der so von Jugend an in
der gleichen Richtung konspiriert hätte.
Aus alter piemontesischer Familie, Zögling der Turiner Militärakademie,
auf Betreiben des Vaters Page des Thronerben Karl Albert, mißachtete er schon
als sechzehnjähriger unverhohlen den Hofdienst und erklärte sich stolz, „die
Livree" wieder ablegen zu können. Als Leutnant hegte und äußerte er Gedanken
über Freiheit und Vaterland, die so wenig zu den von der Obrigkeit genehmigten
und mit der Disziplin verträglichen paßten, daß sie ihm einen unerwünschten
Aufenthalt auf der Festung Bart eintrugen und ihn veranlaßten, den Militärdienst
gänzlich aufzugeben. Dieses namentlich darum, weil seine von der Juli-Revolution
entflammten Hoffnungen (aus einem Briefe Cavours an seinenOheim de Sellon, aus
Turin vom 5. Februar 1831) keinerlei Aussicht auf Erfüllung hatten, da Frankreich
nicht das Schwert zog und Piemont, „auf der einen Seite eingezwängt durch
die österreichischen Bajonette, auf der anderen durch die päpstlichen Exkommuni¬
kationen", sich selbst zu helfen außerstande war. „Frei" geworden, suchte er,
da ihm nicht bloß die Geschichte und die Elemente der sozialen und politischen
Verfassung, sondern auch die Sprache „Italiens" unzulänglich bekannt geblieben
waren — die Umgangssprache war Französisch —, sich zu „italienisteren".
Tatenfreudig und voll politischen Eifers, so daß es ihm, wie er am 2. Oktober 1832
schrieb, ganz natürlich erschienen mare, eines schönen Morgens als leitender
Minister des Königreichs Italien aufzuwachen, bevorzugte er das Studium der
Volkswirtschaft als des besten Mittels, die Durchführbarkeit fortschrittlicher, ja
radikaler Staats- und Gesellschaftsreformen zu erkennen. Als er auf Verwenden
seines Vaters, der den heißen Kopf seines Sohnes abzukühlen trachtete, zum
Bürgermeister von Brinzane im Kreise Novara gemacht wurde, da „höhnte er
nur ein wenig sich selber und die anderen", wie er an die von ihm sehr verehrte
Marchesa ti Bagnolo schrieb: „Ich verzichte nicht auf das. was ich denke und
was der Zweck meines Lebens und jedes anderen Jtalieners sein müßte, dessen
Leben einen Wert hat." Landwirtschaftliche Betätigung brachte ihn so wenig
von diesen Gedanken und Stimmungen ab. daß ihm die österreichische Regierung
in Anbetracht seiner vermeintlich großen Gefährlichkeit die Grenze der Lombardei
versperren zu müssen glaubte. Reisen nach Frankreich. Belgien — hier sah er
den verbannten Gioberti — und England brachten ihm noch die Überzeugung,
daß der Triumph der Demokratie die unvermeidliche Zukunft der Menschheit
sei, auf den man sich freiwillig oder unfreiwillig vorbereiten müsse, und daß die
politische Erneuerung eine industrielle und kommerzielle zur Voraussetzung habe.
Camillo Cavour war der erste in Italien, der nachdrücklich betonte, daß
die verschiedenen Formen der nationalen Betätigung solidarisch miteinander seien,
so daß es dort, wo das völkische Bewußtsein matt, auch keinen mächtigen Wirt¬
schaftsbetrieb gebe, und dort, wo keine Wirtschafts- und Handelsfreiheit sei,
auch politische Freiheit übel gedeihe. Seine patriotischen Pläne waren dem¬
gemäß umfassender und begründeter als die eines Gioberti, Balbo, d'Azeglio
und Mazzini. Ein Freund der extremen Parteien war er nicht. Er hielt sich
an die „Mittelstraße" als „staatsmännischen Takt des Möglichen" und wollte
die Erfahrung zur Grundlage der Politik genommen sehen, ohne daß die
treibende Kraft der Idee dadurch ausgeschaltet würde. „Je mehr ich den Verlauf
der Tatsachen und das Verhalten der Menschen beobachte," schreibt er an den
Ubbo Frözet am 14. Januar 1836, „um so mehr überzeuge ich mich, daß das
„juste milisu" dasjenige politische System ist, welches den Umständen am
besten entspricht und am geeignetsten ist, die Gesellschaft von den beiden sie
bedrohenden Übertreibungen, von der Anarchie und dem Despotismus, zu
befreien. Ich verstehe unter „justs milisu" ... die Politik, welche darin
besteht, der Notwendigkeit der Zeiten all das zuzugestehen, was die Vernunft
als gerecht erweisen kann, und das abzulehnen, was keine andere Grundlage
hat als den Lärm der Parteien oder die Heftigkeit der anarchischen Leiden¬
schaften." Ähnliche Worte hat er fünfzehn Jahre später in seinem ministeriellen
Programm ausgesprochen. In Sachen der individuellen und sozialen Erziehung
hielt er sich an I. I. Rousseaus Grundsätze und betonte, daß sich keine große
Erneuerung und kein beständiger Fortschritt vollziehen könnte, ohne daß sich die
moralischen und intellektuellen Kräfte, gehärtet und geleitet durch die Erfahrung
und das induktive Verfahren, nach hohen sittlichen Grundsätzen entfalteten.
Auch einen weisen, vielleicht nicht durchaus seinen eigenen psychologischen
Beobachtungen entstammenden, wohl aber seinem geistigen und sittlichen Charakter
vorzüglich entsprechenden Satz über das Verhältnis von Denken und Handeln
findet man schon in seinem Tagebuch aus jungen Jahren: „das Denken muß
ein Gegengewicht haben im Handeln, und das Handeln im Denken; das
Handeln verhindert, daß das Denken sich selbst überlassen irrt, und das Denken
erlaubt nicht, daß das Handeln allein mechanisch und empirisch abläuft." Hierzu
kam ein fester Mut der Überzeugung und der Tat und ein alle Opportunisten
überwindendes stetes Streben zu dem Ideal, der Freiheit und Größe des
Vaterlandes.
Allerdings bedürfte er eines großen Maßes von Geduld und Selbst¬
bescheidung, ehe er in die Lage kam, von seinen guten Eigenschaften und Vor¬
sätzen einen staatsmännischen Gebrauch zu machen. Denn noch als reifer,
seiner Würde und seines Wertes bewußter Mann lebte er zurückgezogen auf
dem väterlichen Gute Leri bei Vercelli, dessen Bewirtschaftung er sich seit 1835
ernstlich und unter ausschließlich eigener Verantwortung angelegen sein ließ, um
nicht in abstrakten Erwägungen aufzugehen. In den Jahren 1837 bis 183!)
befaßte er sich mit der Begründung von Asylen und Schulen für Kinder in
Turin. Im Jahre 1840, uach der Rückkehr aus Frankreich und der Schweiz,
nahm er an industriellen Unternehmungen, an: Bau von Straßen. Kanälen usw.
teil. In den Jahren 1841 bis 1843 widmete er sich wiederum in der Schweiz,
in Frankreich und in England, wo es ihm hauptsächlich auf die politischen und
kommerziellen Probleme ankam, vielseitigen Studien. An der Gründung einer
über ganz Piemont systematisch verbreiteten „Associazione agraria" im Jahre
1842 nahm er besonderen Anteil und trug nicht wenig dazu bei, daß sie über
"grar-technische und -wirtschaftliche Interessen hinausging und ein Zentrum
"und politischer Beendigung wurde. Hiermit war ein erheblicher Fortschritt in
den öffentlich-rechtlichen Verhältnissen verwirklicht, obwohl die Staatsregierung
das Recht der Kontrolle und der Vorstandsernennung der Associazimie behielt.
In dem der Associazione zugehörigen „Giornale" veröffentlichte Cavour mehrere
agrarpolitische und agronomische Aufsätze, übrigens seine publizistischen Erstlinge
in italienischer Sprache, und gelangte dadurch zu Ansehen als Wirtschafts¬
politiker. Nebenbei war er einer der ersten, die in Italien eine planmäßige,
wissenschaftliche Untersuchung volks- und staatswirtschaftlicher Probleme
forderten.
Mit einer Monographie „Lonsiciörations 8ur l'etat als 1'Irwncls et 8ur
son avenir" trat Cavour 1844 in das Feld der allgemeinen Politik. Man
sieht hier in jeder Zeile nächst einer Liebe zu der irländischen Bevölkerung ein
aufrichtiges Vertrauen in die Wirksamkeit weit ausgreifender wirtschaftlicher
Maßnahmen, in die Reform der bürgerlichen Gesetze und der Erziehung. 1845
veröffentlichte er eine Schrift über die staatliche Regulierung des englischen
Getreidehandels, in der die Vorteile des Freihandels für Zerealien außer für
England auch auf der Grundlage Smithscher Theorie allgemein hervorgehoben
werden. In einer zweiten, denselben Gegenstand mehr unter praktischem Gesichts¬
punkte behandelnden Schrift forderte Cavour auch für Italien den Freihandel.
1846 behandelte er aus Anlaß eines Buches des Grafen Petitti in einem viel
beachteten Aufsatze die moralischen Wirkungen der Eisenbahnen in Italien, die
ihm bei weitem bedeutsamer als die materiellen erschienen; er befürwortete ihren
Ausbau (auch mit Hilfe eines Durchstichs der Alpen) zum Vorteil der wirt¬
schaftlichen und politischen Unabhängigkeit der Nation. Im Jahre 1846 boten
ein Zwist Piemonts mit Österreich und eine mit der Wahl Pius' des Neunten
zum Papst einsetzende Volksbewegung in Rom Cavour Gelegenheit, sich ma߬
gebend an der Politik zu beteiligen. Er gründete mit Balbo und anderen die
Zeitung „Il Risorgimento" und übernahm deren verantwortliche Redaktion.
Am 30. Oktober 1847 hatte Cavour die Genugtuung, daß Karl Albert nach
langem Widerstreben Reformen im Sinne einer Einschränkung der Regierungs¬
gewalt zugestand. Gegen Ende 1847 vertrat er im „Risorgimento" die Parole:
„freie Kirche im freien Staate", jene Parole, die 1861 im Zusammenhang mit
dem Anspruch auf Rom als Hauptstadt des geeinten Italiens zu einer bedeut¬
samen Rolle gelangte und die Cavour hier vorerst auf verschiedene Interessen
des öffentlichen Lebens in Piemont anzuwenden trachtete. Was ihn hierbei
bestimmte, war keineswegs antireligiöser oder auch nur antikatholischer Sinn;
im Gegenteil: „das religiöse Problem," so schrieb er einmal seinem Bruder, „wird
nie von den autoritären, empirischen, unvernünftigen Katholiken gelöst werden,
sondern von den Katholiken, welche Glauben und Vernunft, Glauben und Fort¬
schritt miteinander in Einklang zu bringen wissen, d. h. von den liberalen
Katholiken." Die Freiheit der Kirche bei Freiheit des Staates ihr gegenüber
war für Cavour, wie aus seinen parlamentarischen Reden vom 25. und
27. März 1861 erhellt, ein Bestandteil seines Systems der Freiheiten: wirt¬
schaftliche, administrative, volle und absolute Gewissensfreiheit, alle mit der
Erhaltung der öffentlichen Ordnung vereinbaren Freiheiten und Freiheit in den
Beziehungen von Kirche und Staat.
Daß trotzdem Cavour in der Zeit, als sein Land die von ihm befürworteten
Fortschritte zu machen begann, bei den sogenannten Liberalen und in den
unteren Volksschichten nichts weniger als Vertrauen genoß, ist befremdlich, aber
vielleicht aus seinem aristokratischen Namen und aus Erinnerungen an die
konservative Art seines Vaters, der lange Jahre Bürgermeister von Turin
gewesen, zu erklären. Als er zu Anfang Januar 1843 dafür eintrat, daß von
der regierenden Macht eine Verfassung gefordert werden müsse, die ihr eine
neue, dem Geiste der Zeit entsprechende Grundlage gebe, waren die Demokraten
dagegen, weil sie kein Vertrauen hatten zu dem, was von „Mylord Risorgimento"
ausging. Dennoch wußte Cavour so viel Hebel in Bewegung zu setzen, daß
Karl Albert nach zähen: Widerstreben am 4. März dem Lande eine Verfassung
gab. Cavour war es beschieden. Mitglied der Kommission zur Vorbereitung
des Wahlgesetzes und damit dessen Haupturheber zu werden. Der erste kon¬
stitutionelle Ministerpräsident war Cavours Freund. Graf Balbo, der Mit¬
begründer des „Risorgimento". Bei den ersten politischen Wahlen am 26. April
fiel jedoch Cavours Kandidatur infolge des fortbestehenden Mißtrauens der
Liberalen und Demokraten gegen ihn durch. In Ergäuzungswahlen am 26. Juni
wurde er dafür in nicht weniger als vier Kreisen gewählt. Er optierte für
Turin, dessen parlamentarischer Vertreter er, abgesehen von einer Pause im
Jahre 1849, dauernd blieb.
In der Deputiertenkammer saß Cavour auf der Rechten, und dies unbeschadet
seiner bereits gekennzeichneten, nie von ihm verleugneten liberalen Ideen. Dem
Ministerium versagte er in der Regel seine Stimme nicht, ohne darum seine
Unabhängigkeit und gegebenenfalls seine sachlicheOpposition irgend zu präjudizieren.
Am 7. März 1850 hielt er zugunsten eines vom Justizminister Siccardi ein¬
gebrachten Gesetzentwurfs betreffend die Abschaffung der zivil- und strafrechtlichen
Jurisdiktion der Kirche eine große Rede, die der Ausgangspunkt einer
bedeutenden Hebung seiner parlamentarischen Geltung wurde. Die Rechte schied sich
w Anhänger und Gegner Cavours, und es bildete sich die Gruppe des „rechten
Zentrums", deren Führerschaft Cavour zufiel. Als kurz darauf Pietro ti Santarosa
verstarb und das Ministerium für Landwirtschaft und Handel frei wurde, war
es für niemand überraschend, daß Massimo d'Azeglio im besonderen Ein¬
verständnis mit La Marmora Camillo Cavour dieses Portefeuille antrug. Das
Dekret der Ernennung Cavours zum Minister, dem Karl Albert nur wider¬
strebend seine Unterschrift gab. ist vom 11- Oktober 1850.
Wenige Monate später wurde Cavour auch das Finanzministerium anvertraut.
Seine Sorge war es, in erster Linie das Gleichgewicht der Einnahmen und
Ausgaben im Staatshaushalt herzustellen, und in zweiter Linie eine Entlastung
der ärmeren Volksklassen von den Steuern herbeizuführen. Das soziale Problem
immer vor Augen, tat er sodann viel für die Organisation der öffentlichen
Wohltätigkeit, sowie für eine soziale, wirtschaftliche und öffentlich-rechtliche Hebung
des Arbeiterstandes. Ein eklatanter Bruch mit d'Azeglio veranlaßte ihn aber,
das Kabinett zu verlassen.
Schon wenige Monate später, am 4. November 1852, treffen wir indessen
Cavour als Ministerpräsidenten wieder. In diesem Amte, das er mit nur einer
kurzen Unterbrechung, die aber die Überlegenheit seiner Person und seiner
Macht erst recht offenbarte, die ganzen neun Jahre bis zu seinem Tode
behielt, hat er nach und nach alle äußeren und inneren Widerstände besiegt,
hat er Piemont auf kühnen, gemeinhin als unmöglich geltenden Wegen") in
den Rat der Staaten Europas eingeführt, ihm mächtige Verbündete gesichert,
ihm zu kriegerischen Erfolgen verholfen und so Italiens politische Einheit teils
sicher gestellt, teils aufs beste vorbereitet. Gewiß, ohne Mazzini und die nationale
Aktionspartei, ohne die Spontaneität und das glückliche Heldentum Garibaldis
und ohne den loyalen, soldatischen König Viktor Emanuel den Zweiten wäre,
um nur die entscheidendsten Faktoren zu nennen, Cavour dergleichen nicht
gelungen.
Was er zur Hebung des Finanzwesens, zur Mehrung der Verkehrsmittel,
zur Ausgestaltung und Belebung der Volkswirtschaft, zur Milderung der sozialen
Gegensätze als untergeordneter Minister begonnen, das setzte er als Minister¬
präsident fort und ergänzte es durch umsichtige und energische Fürsorge für
das Heerwesen, durch Sicherung der Personal-, Religions- und Preßfreiheit
sowie durch mehrfache wirksame Beschränkung der Machtstellung des katholischen
Klerus und der kirchlichen Korporationen.
Nachdem Piemont sich zu einen: lebenskräftigen Staatswesen emporgearbeitet
hatte, ging Cavour daran, die Erinnerung an Custozza und Novara zu tilgen
und das militärische Ansehen, sowie die internationale Geltung seines Landes
zu heben. Der Krimkrieg bot die Gelegenheit. Zur Unterstützung der West¬
mächte schickte das kleine, Iroe „verbündete" Königreich fünfzehntausend Mann
unter La Marmora auf dem Kriegsschauplatz. Hier leisteten diese in der Tat
ansehnliche Dienste, und bei Traktir erlangten sie auch für ihr Teil den so
erwünschten Waffenruhm.
Im übrigen war hiermit ein Titel gegeben, auf Grund dessen Cavour die
Zulassung Piemonts zum Pariser Kongreß verlangen konnte. Cavour selbst
begab sich als Vertreter seines Staates nach Paris. Was er hier wollen konnte,
war nicht eigentlich eine Entschädigung für die Beteiligung am Krimkriege. Ihm
lag daran, unter den Mächten in aller Form zu figurieren, was das gewiß
stärkere und angesehenere Preußen nur auf Verwenden Napoleons des Dritten
durchsetzen konnte. Cavour lag ferner daran, irgendeinen Anlaß zu finden, um vor
dem Forum der Mächte die „italienische Frage" stellen zu können. Der unter-
setzte Mann mit rundem, von einem wenig gepflegten, ziegenmäßigen Bart ein¬
gefaßten Gesicht, feurigen und schelmischen, stets von einer goldumrandeten Brille
bedeckten Augen, der nie mit einer passenden Antwort in Verlegenheit war, der
bei großer Geschäftigkeit für staatliche und persönliche Interessen mich den
Liebenswürdigen zu spielen wußte, machte Eindruck. Der Botschafter Österreichs,
von Hübner, ermangelte nicht, in ihm den Konspirator „zu fühlen, zu sehen,
zu erkennen". Im Salon der Marquise d'Elp. der Cavour in sozusagen auf¬
opfernder Weise den Hof machte, im Salon der Baronin von Menendorff und
mit Hilfe der selten schönen und allgemein bewunderten Comtessa ti Castiglione.
wußte Cavour bei Napoleon dem Dritten und den anniesenden Diplomaten für
die italienische Sache Stimmung zu machen und so die entgegengesetzten An¬
strengungen der österreichischen Bevollmächtigten zu vereiteln. Am 8. April 1856
hörte das offizielle Europa zum ersten Male aus dein Munde Cavours das
Wort „Italien", vernahm es ein italienisches Verlangen nach Gerechtigkeit. Das
war freilich nicht mehr als ein moralischer Erfolg, obgleich Rußland und Preußen
nicht abgeneigt waren. Österreich ernste Verlegenheiten zu bereiten und England
im gleichen Sinne seine Rechnung fand. Durch den Pariser Kongreß änderte
sich nichts an der Tatsache, daß Italien dem Einfluß und den Waffen Österreichs
unterworfen war. Immerhin wußte Cavour nach Schluß des Kongresses, er,
der Minister von ganzen fünf Millionen Menschen, zu Lord Clarendon, dem
Vertreter Englands, zu sagen: „Der Krieg gegen Österreich schreckt mich nicht,
und wir werden ihn bis aufs Messer führen. Übrigens wird England, wie
kurz der Krieg auch sein mag, gezwungen sein, uns zu unterstützen." Doch Lord
Clarendou machte vor dem englischen Parlament nicht die Erklärungen, die er
Cavour versprochen hatte und von denen Cavour so viel erhoffte. Demgemäß
glaubte er sich außer auf die eigene Kraft nur auf die Hilfe Napoleons stützen
SU dürfen. Während Cavour in diesen: Sinne Alessandria befestigte und mit
Hilfe einer in Paris aufgenommenen Anleihe große Anschaffungen für das Heer¬
wesen machen ließ, spielte ihm das Attentat Orsinis auf Napoleon den Dritten
einen bösen Streich. Um jede Verantwortlichkeit für Orsinis Tat, der überdies
Napoleon vom. Gefängnis aus zur Befreiung Italiens aufforderte, von sich und
Piemont abzuwälzen, brachte Cavour ein Gesetz zur Verabschiedung, das die
Konspiration gegen Fürsten und die Verteidigung solcher Konspiration in Zeitungen
verbot und unter Strafe stellte. Im französischen Volke verminderte Cavour
damit die Antipathie gegen seine nationalen Aspirationen kaum. Die Franzosen
und insonderheit die geistig höchststehenden — unter ihnen Thiers — machten
kein Hehl daraus, daß ihnen, selbst abgesehen von politischen Interessen, Italien
als ein Museum verfallener großer Werte und als Sammelstätte aller Unglück¬
lichen der Welt lieber wäre, als daß sie die Schaffung eines lebenskräftigen,
selbstbewußten und wirtschaftlich, sozial und politisch modernen Italiens unter¬
stützten. Allein Napoleon der Dritte, dem damals auch nach Bismarcks Urteil
eine entscheidende Rolle in den Kombinationen der europäischen Politik zukam
und dessen Freundschaft oder auch deren Schein damals von allen Mächten
gesucht war, besann sich auf Ideale seiner Jugend und versagte dem kleinen
aufstrebenden Piemont oder, genauer gesprochen, seinem Minister Cavour das
Ohr nicht.
Eines Tages traf Dr. Conneau aus Paris in Turin ein und ließ den
Grafen Cavour wissen, daß er es nicht zu bereuen haben würde, wenn er sich
zufällig in Plombiöres befände, wo der Kaiser verweilte. Cavour ermangelte
nicht, dem Winke zu folgen. Was in Plombiöres besprochen wurde, ist aus
einem am 24. Juli in Baden abgefaßten Berichte Cavours an seineu König
zu ersehen („Perseveranza", 24. August 1883). Napoleon erklärte, „ent¬
schlossen zu sein, Sardinien mit allen seinen Kräften in einem Kriege gegen
Österreich zu unterstützen, falls der Krieg aus einen: nicht revolutionären Grunde
ausbräche und Rechtfertigung finden könnte vor der Diplomatie und erst recht vor
der öffentlichen Meinung Frankreichs und Europas". In diesem Sinne gingen Na¬
poleon und Cavour die verschiedenen Möglichkeiten der Inszenierung eines Krieges
miteinander durch. Cavours Vorschlag, die österreichische Besetzung der Romagna
und die Befestigungen bei Piacenza zum Vorwande zu nehmen, lehnte der
Kaiser erstens unter Hinweis auf die mit diesen Beanstandungen auf dem
Pariser.Kongreß gemachten Erfahrungen und zweitens deshalb ab, weil er,
solange die französischen Truppen in Rom wären, von Österreich nicht verlangen
könnte, daß es die seinen aus Ancona und Bologna zurückzöge. An demi Ver¬
bleiben der französischen Truppen in Rom aber hatte Napoleon wohl weniger
um des Papstes mulier ein Interesse, als darum, weil sich damit vielleicht noch
einmal eine Familienpolitik a la Napoleon des Ersten treiben ließ und weil
das Geschäft, das Frankreich aufgäbe, dann von Österreich gemacht würde. Die
gesuchte Handhabe fand sich endlich derart: Franz der Fünfte von Este, ein
Habsburger, Herrscher von Modena, Massa und Carrara, der sich noch immer
weigerte, Napoleon als Kaiser anzuerkennen, sollte unter Berufung auf eine
Schutz und Annexion an das Königreich Sardinien erstehende Bittschrift seiner
Untertanen von Viktor Emanuel durch eine Note provoziert werden. Im Ver¬
trauen auf die Hilfe Österreichs würde er grob antworten; darauf würde Massa
von Sardinien besetzt, und der Krieg wäre da. Was den Zweck des Krieges
betrifft, so räumte Napoleon ohne Bedenken ein, daß man die Österreicher ganz
aus Italien vertreiben müßte. Die Lombardei, Venetien, die Romagna und
die Legationen, die sich erheben sollten, würden dann zu einem oberitalienischen
Königreich unter dem Zepter des Königs von Sardinien zusammengefaßt. Rom
und Umgebung verbliebe dem Papste; Toskana unter Leopold dem Zweiten
von Lothringen würde mit dem Rest des Kirchenstaates ein mittelitalienisches
Königreich; Ferdinand der Zweite von Bourbon, König beider Sizilien, bliebe
ungestört. Alle vier Staaten bildeten dann einen Bundesstaat nach deutschem
Muster und der Papst, der sich so für den Verlust seiner besten Staaten getröstet
sähe, würde Bundespräsident.
Ccwour empfahl seinem Könige, auf diese Vorschläge einzugehen, da er
als Herrscher des reichsten und stärksten Teiles Italiens auch die wirkliche
Macht über ganz Italien besitzen würde, um so eher, als die tatsächlich erfolgte
Flucht Leopold des Zweiten zu gewärtigen wäre. Cavour redete dem Könige
ferner aufs dringendste zu, dem Staatsinteresse das Opfer zu bringen und ent¬
sprechend der Forderung Napoleons seine Tochter Klotilde des Kaisers Vetter
zur Frau zu geben. Cavour tat noch mehr: auf Napoleons Frage, ob Frank¬
reich zur Entschädigung Savonen und Nizza bekommen würde, erhob er zwar
den Einwand, daß die Politik seines Königs vom Nationalitätsprinzip bestimmt
wäre, stellte aber in Aussicht, daß Savouen, die Wiege seiner Familie und die
Stätte einer alt anhänglichen Bevölkerung, vom Könige abgetreten werden
würde, und ließ in betreff Nizzas die Möglichkeit der Erfüllung des kaiserlichen
Wunsches offen.
Man hat Cavour diese Abmachungen von Plombiöres sehr verdacht und
in ihnen nicht viel weniger als einen Verrat der nationalen Sache gesehen.
Das ist verständlich. Indessen gibt es ein großes Entlastungsargument für
Cavour: hätte er Napoleons Vorschläge und Bedingungen und damit Frank¬
reichs Hilfe abgelehnt, so wäre das Königreich Sardinien ganz gewiß auf sich
allein angewiesen geblieben. Imi übrigen war die Abmachung mit Napoleon
nicht für alle Zeiten, nicht für andere Staatsmänner als Cavour und auch
nicht einmal für Cavour selbst um jeden Preis verbindlich. Die Zukunft hat
das bestätigt. Was im besonderen Savoyen und Nizza betrifft, so sagt dazu
ein französischer Diplomat, Graf d'Haussonville, der Cavour seit jungen Jahren
nahe gestanden: „Cavour hatte eingewilligt, den Dienst Frankreichs in natuia
zu bezahlen, d. h. mit schönen und guten Provinzen, die seit urdenklichen Zeiten
dem Hause Savoven gehören, weil er nicht gezwungen sein wollte, noch teurer
ZU bezahlen, nämlich mit einer allzu absoluten Abhängigkeit und einem allzu voll¬
ständigen Vasallentum." („Revue des Deux Mondes" vom 15. September 1862.)
Ohne Zweifel hat Graf d'Haussonville hierin recht. Eben wegen der Befürchtung
solcher Abhängigkeit und solchen Vasallentums war ja von vielen dem Engagement
mit Frankreich von vornherein widerraten worden. Und es scheint somit außer
Zweifel, daß Cavour den unbefriedigender Teil des Abkommens mit Frankreich
hat hinnehmen müssen, weil er sonst auch den höherwertigen befriedigenden
Teil und damit die großitalienische Sache nicht bloß für den Augenblick, sondern
für absehbare Zukunft hätte preisgeben müssen.
Zwischen Plombiöres und dem Beginn des sardisch-französischen Krieges
gegen Österreich lag eine spannungsreiche Zeit. Napoleons herausfordernde
Worte an den österreichischen Botschafter. Viktor Emanuels Worte im süd¬
alpinen Parlament, daß er den „Schmerzruf ganz Italiens" höre. Cavours
unablässiges feines Spiel, um im Widerspruch zu den Tatsachen alle Augenblicke
eine neue „österreichische Provokation" vor Europa in Erscheinung treten zu
lassen. Graf Walewski. der französische Minister des Äußeren, war keineswegs
erbaut von den kaiserlichen Plänen, die die guten Beziehungen zu Österreich
zerstörten und an der Südwestgrenze eine neue politische Wesenheit schufen, die
über kurz oder lang zumindest sehr unbequem werden konnte. Sodann fiel in
diese Zeit Englands gewichtige diplomatische Einsprache zugunsten des Friedens,
den auch die anderen Mächte gewahrt wissen wollten. Offenes Zurückweichen
Napoleons. Plan eines Kongresses der Großmächte, wegen der „italienischen
Frage", nnter Ausschluß Sardiniens. Reise Cavours nach Paris und Cavours
wiederholte, dramatische Konferenzen mit Walemski und dein Kaiser. Cavonrs
und Viktor Emanuels Drohungen, des Kaisers vertrauliche Zusicherungen und
die Besprechung von Plombieres zu veröffentlichen, um zwar nicht ihre Per¬
sonen und Interessen, aber ihre Ehre und das Schicksal Piemonts und Italiens
zu saldieren. Trotz anderer gewichtiger und der piemontesischen Sache abgeneigter
Berater steigender Einfluß Cavours auf den Kaiser, der wiederum schwankend
wurde. Cavours entschiedene Weigerung, im Vertrauen auf den Kongreß ab¬
zurüsten. Cavours Rückreise uach Turin, wo man ihm begeisterten Empfang
bereitete. Steigen der Erwartungen in Piemont, daß der Zusammenstoß mit
Österreich erfolge. Cavours militärische Vereinbarungen mit Garibaldi im Ver¬
trauen darauf, daß die Geduld des Grafen von Buol bald reißen würde.
Darauf aber die telegraphische Aufforderung von feiten Frankreichs, Sardinien
solle zugleich mit Österreich abrüsten. Es war in der Nacht vom 18. zum
l9. April, als der Sekretär der französischen Gesandtschaft in Turin, Baron
d'Aquin, Cavour das bezügliche, güuzlich unerwartete Telegramm, das seine
Berechnungen über den Haufen warf, überbrachte. Cavour machte in dieser
Nacht einen durch seinen Diener vereitelten Selbstmordversuch und gab am
folgenden Tage seine Demission als Ministerpräsident, die natürlich nicht an¬
genommen wurde. An seinen Verwalter in Leri schrieb er, daß er sich um den
sofortigen Verkauf der fetten Ochsen nicht mehr zu bemühen brauche, „denn es
scheint, daß aus dem Kriege nichts mehr wird. Wir werden die Kühe retten,
aber die italienische Sache verlieren, die einer günstigen Lösung sehr nahe schien.
„Der Kaiser ist betrogen worden oder ist Verräter. Er hat uns einen nicht gut
zu machenden Schaden zugefügt, indem er uus zur Abrüstung zwang. Ich
glaube, binnen kurzem das Ministerium, das mir widerwärtig ist, verlassen zu
können, um mich endgültig in Leri festzusetzen." Endlich, schon wenige Tage
später, am 22. April, Karfreitag, wandte sich das Blatt. Am 23. April empfing
Cavour die Gesandten des Kaisers von Österreich, die dem König von Sardinien
das Ultimatum überbrachten, die Freiwilligen, von denen ein großer, den
besten Familien angehörender Teil aus der Lombardei gekommen war, zu ent¬
lassen und sein Heer auf deu Friedeusstand zu reduzieren. Was Sardinien
auf eine französische, als europäisch erscheinende Aufforderung hin hätte tun können,
das durfte es uicht, ohne sich sittlich aufzugeben, ans eine österreichische Auf¬
forderung, die noch dazu in die Form eines Ultimatums gekleidet war. Der
Krieg war unvermeidlich, trotz einem noch jetzt unternommenen Verinittelungs-
versuch Englands, der Krieg nach dem Rezept von Plombieres. Der ganz
unmusikalische Cavour soll das Eintreffen des Ultimatums mit der Arie aus
dem „Trovatore": „öl quslla pira I' on'Loclcz wLo" begrüßt haben, —
wäre es wahr, so wäre es ein gutes Stimmungsbild.
Vom gleichen Tage datiert ein soeben als Manuskript-Druck des Senators
Faldella ans Licht gekommener Brief Cavours an seinen Verwalter in Leri.
„Die Deutschen", heißt es darin, „werden Dienstag abend oder Mittwoch
morgen einmarschieren. Schicken Sie Montag nach Vercelli sechs oder sieben
Pferde oder Maultiere, die der Regierung zu überlassen sind! Lassen Sie alles
Viehfutter verkaufen! Es ist die Überschwemmung des Kreises Vercelli und der
Bruch der Straßen angeordnet worden. . . Die nicht verkauften Pferde schicken
Sie nach Santena zurück mit Wagen voll Reis! Seien Sie ruhig und unbesorgt,
und schicken Sie sich darein, für das Wohl Italiens zu leiden!"
Die Vollmacht zum Kriege hatte Cavour dem Könige vom Parlament
schon vor der Zurückweisung des Ultimatums geben lassen. Die Piemontesen
waren guten Mutes, die Turiner sahen die Regierung vertrauensvoll abziehen,
die sich nach Alessandria und Casale begab. Die Österreicher überschritten zwar
den Tessin, blieben aber lange genug untätig, sodaß die Franzosen unter Napoleon
herbeikommen konnten. Wie der Krieg von 16S9 verlief, ist in aller Erinnerung.
Auch an der glänzenden Folge der Siege bei Montebello, Magenta, Mailand
und Solferino hatte Cavour einen beträchtlichen Anteil, da er außer dein
Portefeuille des Inneren und des Äußeren auch das des Verkehrswesens und
des Krieges versah. Doch in letzter Stunde sollte ihm der Siegespreis streitig
gemacht werden. Napoleon schloß, ohne sich darüber mit seinem italienischen
Verbündeten zu verständigen, am 6. Juli zunächst einen Waffenstillstand und
am 11. Juli zu Villa Frcmca den Frieden mit Franz Joseph. Durch diesen
Friedensschluß kam nur die Lombardei ohne Mantua und Geschiera an Napoleon
und erst durch dessen Hand an Sardinien; dagegen wurden die Herzöge von
Modena und Toskana wieder eingesetzt und die Legationen an den Papst
zurückgegeben. Venedig blieb österreichisch, sollte aber einem unter dem Ehren¬
vorsitze des Papstes gebildeten Staatenbunde angegliedert werden.
Cavour war empört. Moralisch und praktisch hatte er aufs eifrigste und sorg¬
fältigste gewirkt, um in den Legationen eine „nicht revolutionäre" und „nur von
Österreich beziehentlich seinen Schützlingen provozierte" Annexionsbewegung aus¬
zulösen, deren Stärke sich am besten nach Villa Franca offenbarte. Cavour war schon
befremdet, als Napoleon seinen Vetter mit einem Teile des französischen Heeres
nach Toskana geschickt hatte, wo alles ruhig war; er hatte sich beeilt, diesen Versuch
einer bonapartistischen Restauration durch eine persönliche Auseinandersetzung mit
dem Kaiser zu vereiteln. Er hatte Napoleons Proklamation nach Magenta „An
die Italiener!", die einen Schatten auf Cavours Wirken zu werfen trachtete und die
Italiener, — wahrlich nicht Napoleons Untertanen, — aufforderte, durch ihr Ver¬
halten die Zerreißung der Verträge von 1815 vor den Augen Europas zu
rechtfertigen, ertragen und sich daraufhin begnügt, erstens die Mitwirkung
Sardiniens am Kriege zu steigern und für Napoleon und Europa augenfälliger
zu machen, zweitens durch eine Proklamation Viktor Emanuels an die Lombarden
wenige Tage später öffentlich zu erklären, daß „der Kaiser der Franzosen, unser
großherziger Verbündeter", „Italien befreien will von den Alpen bis zum
Adriatischen Meere". Allein der Friedensschluß von Villa Frcmca erschien ihm
in der Form wie in der Sache als Verrat; die großen militärischen und
politischen und zugleich persönlichen Beweggründe Napoleons, darunter die
Bedrohung Frankreichs durch Preußen am Rhein wollte er nicht sehen oder
nicht gelten lassen. Sein Zorn äußerte sich naturgemäß in erster Linie gegen
Viktor Emanuel. Dieser hatte sich eine verächtliche Behandlung seitens Napoleons
gefallen lassen. Er hatte nicht bloß mit Worten des Dankes, sondern auch
noch mit der Versicherung seiner treuen, tatbereiten Ergebenheit „bei jedweder
Gelegenheit" (er wollte ja 1870 tatsächlich Napoleon gegen Preußen beistehen)
quittiert. „Sire! Sire!", so schrieb damals Mazzini, „ich liebte weder Ihren
Vater uoch bewunderte ich ihn; als ich ihn aber nach Novara die Krone von
sich weisen und freiwillig in die Verbannung gehen sah, achtete ich ihn: er
wollte nicht, daß auch nur ein einziger in Italien ihn in jener Sache des
Verrath verdächtigen könnte. Die Sache des Königs Viktor wäre es gewesen,
Bonaparte zu sagen: ich nehme die beleidigende Zession von Ländern, die nicht
die Ihrigen sind, nicht an, usw." Und in eben diesem Sinne apostrophierte
Cavour, dessen zornige Entrüstung über das Vorgefallene ihn: alle Selbst¬
beherrschung geraubt hatte, mündlich seinen König aufs heftigste.
Cavours Unterredung mit Viktor Emanuel hatte den Erfolg, daß dieser
zum großen und drohend geäußerten Mißvergnügen Napoleons die Friedens¬
präliminarien von Villa Frcmca nur mit Vorbehalt unterschrieb, d. h. sie nur
anerkannte, insofern sie ihn selbst angingen, sich also nicht band für das, was
Modena, Toskana, Parma, Romagna betraf. Eine Unterredung Cavours mit
Nopoleon erfolgte nicht, da Napoleon sich nichts von ihr versprach. Indessen
wollte Cavour nicht verfehlen, Napoleon seine Meinung und Stimmung wissen
zu lassen. Das geschah am 15. Juli in Turin durch Pietri, Napoleons Ver¬
trauten. Cavour sagte zu ihm in Gegenwart von Kossuth, mit dem er schon
einige Monate zuvor wegen einer ungarischen Erhebung gegen Österreich
Fühlung genommen hatte: „Dieser Frieden wird nicht gemacht, dieser Vertrag
nicht vollzogen werden. Der Staatenbund! Man denke sich den König von
Piemont in dieser grotesken Gesellschaft, mit dem Papst als Präsidenten,
Österreich zur Rechten und vier österreichischen Trabanten zur Seite. Da werde
ich Revolutionär. Ich nehme mir Mazzini unter den Arm und werde auch
Konspimtor, Revolutionär. Aber dieser Vertrag wird nicht ausgeführt werden.
Nein! tausendmal nein! nie! Der Kaiser geht fort? Gute Reise! Wir, d. h.
ich und Sie, Kossuth, wir bleiben, nicht wahr? Bei Gott, wir bleiben nicht
auf halber Straße stehen!"
Dieses Gelöbnis wurde erfüllt. Zunächst freilich hatte Cavour kein ent¬
scheidendes Wort, denn am Tage nach Villa Franca hatte er seine Ministerschaft
an Rattazzi abgegeben. Doch Cavour ermunterte mit der ganzen persönlichen
Autorität, die ihm verblieben, die Bevölkerung von Modena, Bologna,
Florenz usw., an ihren persönlichen Idealen nicht zu verzweifeln, und gemeinsam
Mit den königlich sardischen Gouverneuren sich allen Versuchen ihrer alten
Herren, die verlassenen Throne wieder einzunehmen, mit Gewalt zu widersetzen.
Die Gouverneure, namentlich Farini in Modena und Massino d' Azeglio in
Bologna, waren entschlossen, unter keiner Bedingung von ihren Plätzen zu
weichen. Cavour wollte sogar als einfacher Soldat eintreten, „um sich töten
zu lassen für die Verteidigung der italienischen Unabhängigkeit".
1860 stand Cavour wieder an der Spitze eines erneuerten Ministeriums.
Im Frühjahr waren Toskana, Parma. Modena und die päpstlichen Legationen
in aller Form dem Königreich Sardinien einverleibt. Napoleon, der angesichts
des Verdrusses ob Villa Franca mit einem Ersatz der Kriegskosten zufrieden sein
zu wollen erklärt hatte, erhielt zur Beschwichtigung und als LaMio bene-
volsntiae Nizza und Savonen. die gewünschte Prämie von Plombieres.
Der nächste Schritt zur nationalen Einheit mußte den Papst empfindlich
berühren, und Cavour verhehlte sich nicht, daß hiermit Gefahren von größter
Tragweite erwuchsen. Wie wir ans den „diplomatischen Episoden" des Generals
Giacomo Durando ersehen, ließ Cavour durch den General Cialdini Napoleon
vertraulich benachrichtigen, daß die Turiner Regierung die Marken zu besetzen
gedenke, „um dort einer republikanischen Revolution zuvorzukommen". Napoleon
widersprach zunächst, wies auf den Unwillen und den Zorn der Katholiken, auf
die unberechenbaren politischen Schwierigkeiten in Europa und auf die Kom¬
promittierung seiner eigenen Stellung gegenüber den Franzosen hin, ließ sich
aber schließlich durch jenes Gespenst der Revolution begütigen und empfacht,
dann wenigstens rasch vorzugehen, damit die Diplomatie sich nicht erst vom
Staunen erholen könnte; ja, er gab sogar einen Anhalt, wann, wo und wie
der französische, in päpstlichein Dienst stehende General Lamoriciöre unschädlich
gemacht werden könnte.
Doch ehe die Annexion der Marken vollzogen werden konnte, ehe damit
das römische Problem ernstlich auf die Tagesordnung gesetzt wurde, gab es
noch ein anderes Werk zu tun. Im Königreiche beider Sizilien hatten die
Bourbonen seit 1848/49 Schwierigkeiten, deren sie namentlich durch Landes¬
verweisung der unruhigen Untertanen Herr zu werden gewußt hatten. Die
Ereignisse in Oberitalien belebten die Wünsche der Verbannten und der
unzufriedenen Verbliebenen, uuter ihnen Francesco Crispis. Sie brachten auf
Sizilien einen Aufruhr zustande, der vorzüglich zu den Hoffnungen Ccwours
und Garibaldis paßte. Sich hier offen einzumischen, war indessen für die Turiner
Regierung nicht angängig. Teils um der Bourbonen willen, teils um
revolutionäre und dem allgemeinen Völkerrecht zuwiderlaufende Akte schon im
eigenen Interesse niederzuhalten, hätten sich einige Großmächte mit den Waffen
gegen Sardinien wenden oder zumindest die Bourbonen unterstützen können.
Deshalb nahm Ganbaldi mit seinen Tausend die Unterstützung der Revolutionäre
auf seiue ganz persönliche, private Rechnung „ohne Wissen und Willen" der
Turiner Regierung. Denn wiewohl Ganbaldi mit den Seinen in Quarto bei
Genua die medsx einfache noch unsichtbare noch geräuschlose Zurüstung der
Expedition zur See betrieb und die Ansammlung von Waffen einschließlich
Kanonen ebendort mit den Staatsgesetzen nicht gerade in: Einklang stand, —
die Polizei merkte nichts davon und natürlich erst recht nicht die Türmer Regierung.
Unterrichteter war freilich der Genueser Konsul des Königreichs beider Sizilien.
Indessen hatte der Direktor der sämtlichen Telegraphenlinien, die damals in
Pisa ihr Zentrum hatten, die Berichte des Konsuls an seiue Negierung in
Neapel geflissentlich aufgehalten, so daß der Neapler offizielle Protest in Turin
„wegen Begünstigung der sizilianischen Rebellen" so spät eintraf, daß Garibaldi
nicht mehr gestört werden konnte. Cavour konnte dem protestierenden Gesandten
Neapels zunächst die völlige Neutralität Sardiniens entgegenhalten und konnte, als
im Verein mit dem Neapler Gesandten auch der französische und der österreichische
Gesandte ihm gegenüber deutlicher wurden, mit einem Haftbefehl gegen Garibaldi
und Konsorten aufwarten, vierundzwanzig Stunden nachdem diese von Quarto aus
unter den Augen der sardischen Flotte in See gegangen waren. So war der
Turiner Regierung Unschuld urkundlich belegt auch gegenüber den Protesten wegen
Verletzung des Völkerrechts, die Preußen, Rußland und der Papst in Turin
erhoben. Cavours Aufgabe war in diesem Augenblick nicht einfach. Einerseits
lag ihm die sizilianische Revolution und ihre Ausdehnung bis zur Entthronung
Franz des Zweiten und bis zur Verewigung des Königreichs beider Sizilien
mit dem oberitalienischen Königreich sehr am Herzen — er hatte u. a. den
General Ribotti veranlaßt, „privatim" nach Sizilien zu gehen, und den Minister
Farini, den Revolutionären materielle Unterstützungen zu gewähren. Andrer¬
seits kam es darauf an zu verhüten, daß Garibaldi, der wegen der Zession
Nizzas an Frankreich auf die sardische Regierung erbost war, auf Sizilien und
im Neapolitanischen eine Republik oder eine persönliche Vorherrschaft stabilierte.
Bei der Beliebtheit und dem „eigenen Kopf" Garibaldis, bei dem über alles
Erwarten glänzenden Verlauf seiner Expedition war diese letzte Aufgabe außer¬
ordentlich heilet und erheischte den feinsten, durch keine Komplikation und keine
Überraschung zu irritierenden Takt. So ließ denn Cavour von der piemontesischen
Presse die Solidarität mit Garibaldi für die Sache Italiens akzentuieren, ließ
„die" sizilianische Bevölkerung ihr patriotisches Begehren, der Bourbonen ledig
und Viktor Emanuel Untertan zu werden, laut und feierlich proklamieren; er
beschleunigte eine neue Selbstbetonung Viktor Emanuels durch das Einrücken
seiner Truppen in Umbrieu und in die Marken und damit dessen geographische
Annäherung an das Reich des Diktators im Königreich beider Sizilien, bis
Garibaldi am 29. Oktober seiue große Macht in unbedingter Weise Viktor
Emanuel überantwortete. Was im Königreich beider Sizilien noch zu tun war,
um es zu einem Teile Italiens unter dem Zepter Viktor Emanuels zu machen,
war wenig und konnte nunmehr, da die UnHaltbarkeit der bourbonischen Herr¬
schaft so augenfällig vor Europa demonstriert worden war, vom Könige und
der Regierung von Sardinien von ames- und sogar vou rechtswegen getan
werden.
Der schmale Streifen Landes, der nun noch das ober- von dem unter-
italienischen Reiche Viktor Emanuels schied, war das eigentliche Patrimonium
Petri. Hier war für die italienische Einheitsbewegung ein gewaltiges Problem
gegeben. Große geschichtliche und sittliche Gründe ließen es als unumgänglich
erscheinen. Rom zur Hauptstadt des geeinten Italiens zu machen, ob nun der
Papst dem zustimme oder nicht. Militärisch wäre es ein geringfügiges Unter¬
nehmen gewesen, Rom. Civitavecchia und die Diözesen 8ub urbs dem Papste
und der französischen Besatzung abzunehmen. Die Bevölkerung war leicht dafür
Zu haben. Indessen fürchtete Cavour von einen, solchen Vorgehen diplomatische
Komplikationen und selbst Konflikte mit Großmächten. Überdies sah er die
Gefahr für die äußere und namentlich für die innere Konsolidierung des
geeinten italienischen Reiches, die eine feindselige Gesinnung des Papstes
nach sich ziehen würde. Sein Ziel war daher, zuvörderst ganz Europa die
Überzeugung beizubringen, daß die Existenz, die Freiheit und die unabhängige
geistliche und öffentlich-rechtliche Betätigung des Papsttums dadurch erst gesichert
und gehoben werde, daß es die weltliche Macht aufgäbe, die es doch nicht mehr
verteidigen könne. Er suchte in diesem Sinne auch ein direktes Einvernehmen
mit dem Papste.
Die Verhandlungen Cavours mit dem päpstlichen Stuhle waren zunächst
dadurch erleichtert, daß keine einzige katholische Macht der bisherigen Minderung
der päpstlichen weltlichen Besitztümer anders als mit Sentimentalismen gewehrt
hatte. Einige Kardinäle waren sich darin einig, daß man, um zu retten, was
SU retten war, mit dem Könige, der noch nicht den Titel eines Königs von
Italien angenommen, verhandeln müßte. Ein Pater Passaglia, früherer Jesuit,
übernahm den ersten Gedankenaustausch mit Cavour wegen einer Transaktion,
die dem Papste Entschädigungen böte. Ein Dr. Pantaleoni, der in Rom eine
große ärztliche Klientel hatte und in Beziehung war mit dem Geheimkomitee
römischer Patrioten, unterbreitete Cavour auf Grund der Instruktionen Passaglias
auch einen paragraphierten Entwurf eines Abkommens, in dem die Bedingungen
und Garantien der den: Papste und den Seinigen anzubietenden Unabhängigkeit
und die der katholischen Kirche im neuen Königreich Italien zu gewährende
Stellung im einzelnen umschrieben waren. Zu diesem Entwurf, den uns Duraudo
in seiner bereits erwähnten Veröffentlichung vollständig mitteilt, hatte Cavour
seine teils zustimmenden, teils reservierten Bemerkungen gemacht. Daraus erhellt,
daß er die Majestät des Papstes und der Kardinäle, Freiheit und Eigentums¬
rechte der Kirche, ihrer Organe und der nicht staatsfeindlichen religiösen Kor-
gregatiouen usw. anerkannte gegen das Einverständnis des Papstes, seine weltliche
Macht zu verlieren und Rom als Hauptstadt Italiens zu sehen. In der Folge
kam es, wiederum durch Passaglia und dann in Form von parlamentarischen
und journalistischen Erörterungen, zu neuen Entwürfen von Konventionen mit
den: päpstlichen Stuhle. Als die Bemühungen mehrere Monate später ohne
Erfolg aufgegeben werden mußten, da machte Cavour im Mai 1861 in Paris
den Versuch, die französischen Truppen aus Rom zurückziehen zu lassen. Indessen
fand er hier weder bei Napoleon noch bei den matzgebenden Staatsmännern
Gehör. Dagegen konnte er sich die Einsicht verschaffen, daß das französische
Volk, weniger aus religiösen als aus politischen Gründen, ein einheitliches
Königreich Italien nicht wünschte.
Gewiß hätte Cavour darum nicht abgelassen, seine Straße weiter zu ver¬
folgen. Bei seiner Energie und glücklichen Hand wäre er ohne Zweifel auch
binnen kurzem zu eurem positiven Erfolge gelangt, mindestens zu demselben,
der neun Jahre später erlangt wurde. Allein ein Entzündungsfieber unterbrach
sein Wirken, und am 6. Juni 1861 starb er. Ganz Italien fühlte, was es
mit Cavour verloren.
Das Italien von heute, dem die aller Rhetorik abgeneigte, planmäßig und
konsequent und nur nach den sachlichen Erfordernissen handelnde Persönlichkeit
Cavours noch nicht vertraut geworden, hat dennoch eine Stufenleiter der Staats¬
männer aller Zeiten und Völker herstellen zu sollen geglaubt. An seine Spitze
hat es Cavour gestellt. Mit besonderer Genugtuung wird Cavours Wert dem¬
jenigen Bismarcks übergeordnet, und es wird, wie das erst kürzlich seitens des
italienischen Ministerpräsidenten Luzzatti in der Kammer geschehen, das damit
begründet, daß Cavour sehr viel größere Schwierigkeiten auf seinem Wege
gefunden habe als Bismarck, daß Bismarck ein Diktator der Autorität, Cavour
aber ein Diktator der Überredung gewesen sei. Solche vergleichenden Ab¬
schätzungen von Persönlichkeiten sind im Prinzip noch verfehlter als die von
Kunstwerken, und sind es in diesem Falle erst recht, wie man auch in Italien
sofort einsähe, wenn man Art und Maß der von Bismarck gefundenen und
überwundenen Schwierigkeiten und Art und Maß seiner Leistungen durch Über¬
redung gegenständlich prüfte. Eher läßt sich sagen, Cavour war der glücklichere
Staatsmann. Doch sei dem, wie ihm wolle! Cavour war ein Mann, der
Großes getan sür eine große Idee, der einem großen Volke die Bahn erschlossen
zu einer glänzenden Entfaltung seiner Werte, zum eigenen Wohle und zum
Wohle der allgemeinen menschlichen Kultur.
art Scheffler hat in der „Neuen Rundschau" vom Mai 1910
einen Aufsatz unter dem Titel: „Die sichere Versorgung" ver¬
öffentlicht, der wertvolle Anregungen enthält. Er erklärt es für
ungesund, daß die Eltern unablässig sorgen und sinnen, wie sie
ihren Sprößlingen eine gesicherte Zukunft bereiten und wie sie
ihnen die Grausamkeiten des Lebenskampfes ersparen können. Man glaube
immer noch für seine Kinder nicht besser sorgen zu können, als indem man
Geld für sie anhäuft. Und doch ist ein Sattes Zinsenbewußtsein das schlimmste
Erbe, das man Kindern hinterlassen kann! Die sichere Versorgung vernichtet
die Moral der freien Arbeit, die Ethik der Lebenskühnheit, sie weiß nichts von
der Poesie der Enthaltsamkeit, nichts von den Freuden des Erwerbens, noch
von dem großen Glück der Hoffnung. Man möge der eingeborenen Kraft ver¬
trauen und aus dem Gefühl dieser Kraft das Bewußtsein innerer und äußerer
Unversehrtheit entnehmen. Darum sei zu erwägen, ob es nicht allgemeines
Gesetz werden könne — nach dem hohen Vorbild von Ernst Abbe in Jena —,
seinen Kindern nur das zum Leben Notwendige zu bewilligen, darüber hinaus
aber sie auf ihre eigene Kraft zu verweisen. Ob wir nicht eine nationale
Wiedergeburt erleben könnten, wenn es möglich wäre, das Erbrecht — scheinbar
grausam — zugunsten des Staates zu beschränken.
Ein tiefer Gedanke! Schon John Stuart Mill hat sich in seinen „Grund¬
sätzen der politischen Ökonomie" (Hamburg 1852, Band I S. 258 ff.) mit der
Frage beschäftigt. Nach seiner Meinung ist kein Vater verpflichtet, seine Kinder,
nur weil es seine Kinder sind, reich zu hinterlassen, so daß sie eigener Anstrengung
überhoben sind. Im Interesse der Gesellschaft, aber auch der Kinder selbst sei
es, wenn ihnen ein mäßiges Vermögen, statt eines großen, vermacht werde.
Die Wahrheit dieses Gemeinplatzes sei einsichtsvollen Eltern nicht verborgen;
sie würden auch häufiger danach verfahren, wenn sie nicht schwach genug wären,
nach der Meinung der Leute zu handeln, statt nach dem wahren Vorteil ihrer
Kinder. In Hinsicht auf den Genuß des Lebens sei der Unterschied zwischen
einem mäßigen Reichtum und einem fünfmal größeren Vermögen unbedeutend,
wenn man ihn gegen den Genuß und die dauernden Wohltaten abwäge, die
durch anderweitige Verwendung der vier Fünftel erzielt werden könnten. Man
solle aufhören zu glauben, das Beste, das man für den Gegenstand seiner
Zuneigung tun könne, bestehe darin, immer mehr Geld für ihn aufzuhäufen.
Das sind unbestreitbare Wahrheiten, für die die Erfahrung des täglichen
Lebens die Beweise liefert. Menschlich ist es gewiß begreiflich, wenn Eltern
sich unausgesetzt bemühen, ihren Kindern eine behagliche Existenz zu sichern,
wenn sie meinen, jedes Tausend Mark mehr, das sie ihnen hinterlassen, verbürge
sicherer das Lebensglück ihrer Kinder. Und es ist doch ein verhängnisvoller
Irrtum. Die Eltern selbst haben in der überwiegenden Mehrzahl das Glück
ihres Lebeus nicht im bequemen Genuß vorhandenen Reichtums, sondern in
angestrengter Tätigkeit, in der Freude am Erwerb, an der Fürsorge für ihre
Familie gefunden. In bester Absicht bringen sie ihre Kinder um dieses Glücks¬
gefühl, indem sie ihnen ein fertiges Vermögen in den Schoß werfen. Die Not
treibt zur Arbeit, nicht der Überfluß. Der Kaufmann setzt sich erst dann zur
Ruhe, wenn er genug zu leben hat; der Beamte läßt sich pensionieren, sobald
er durch seine Tätigkeit den Höchstbetrag der Pension erreicht hat. Ist aber
das regelmäßige Ziel der Lebensarbeit durch die Freigebigkeit der Eltern von
vornherein gegeben, so wird damit dem Sohne der stärkste Antrieb, die eigene
Persönlichkeit im Kampf des Lebens einzusetzen, entzogen; wenn er sich sagt
und glaubt, was andere ihm sagen, daß er es ja nicht nötig habe, zu arbeiten,
so kann man ihm kaum verdenken, daß er danach handelt. Großer Besitz lahmt
naturgemäß die Arbeitslust und damit die Arbeitskraft. Daher kommt es, daß
in so vielen Fällen die mit reichen: Erbe ausgerüsteten Kinder in: Leben nicht
vorwärtskommen, daß erworbener Reichtum erfahrungsgemäß mehrere Gene¬
rationen selten überdauert. Das Gegenteil vou dem, was die Liebe der Eltern
anstrebt, wird erreicht. Gewiß gibt es auch Verhältnisse, in denen bei großen
Mitteln die Arbeit als Selbstzweck erscheint, in denen starker Schaffensdrang
immer neue materielle und ideale Werte erzeugt, — aber die Regel ist das nicht.
Legen solche Erwägungen den Gedanken an eine zweckmäßige Änderung
des Erbrechts nahe, so erhebt sich das Bedenken, ob es recht ist, an eine so
ehrwürdige Institution zu rühren, ob man damit nicht auf eine schiefe Ebene
kommt, auf der es kein Halten mehr gibt. Zugegeben ist, daß Änderungen auf
wichtigen Rechtsgebieten nur sehr behutsam vorgenommen werden sollen. Doch
darf man bezweifeln, ob das in Deutschland derzeit geltende Erbrecht besonderen
Anspruch auf pietätvolle Erhaltung, auf Unfehlbarkeit erheben kann. Auf
deutschem Boden ist es nicht gewachsen. Es besteht im wesentlichen aus römisch¬
byzantinischen Gesetzen, wie sie im sechsten Jahrhundert zusammengestellt wurden.
Aus einer beklagenswerten Überschätzung der ausländischen Erzeugnisse unter¬
blieb auch die notwendige Fortentwickelung des fremden Rechts. Obwohl sich
seit einem halben Jahrtausend auf dem Gebiete des Verkehrs, der Familien-
und Gemeindeverhältnisse gründliche Umwälzungen vollzogen haben, obwohl die
staatlichen Leistungen und Bedürfnisse unendlich gewachsen sind, blieb das Erb-
recht in seinen Grundzügen immer dasselbe. War es doch ein Teil der „ratio
scripta"! Wie wenig es unter diesen Umständen dem Bedürfnis der Gegenwart
genügt, ergibt sich schon aus der Wahrnehmung, daß der Familienvater nicht
etwa nur in außerordentlichen Fällen, sondern regelmäßig die Errichtung letzt¬
williger Verfügungen für notwendig hält. Diese wären nur ausnahmsweise
erforderlich, wenn das Gesetz selbst den Erbgang so geordnet hätte, wie ver¬
nünftige Familienväter es wünschen. Vernünftige Familienväter wünschen aber
nicht, daß bei ihrem Ableben die Mutter ihrer Kinder auf den vierten Teil des
Nachlasses angewiesen wird; sie sind sehr erstaunt, wenn sie erfahren, daß dies
Rechtens ist. Sie wünschen auch nicht, daß die Kinder bei der Erbschaft in
gleiche Teile gehen, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit des Lebensalters, des
Geschlechts, des Gegenstandes des Nachlasses. Wenn beim Tode des Vaters
drei Kinder hinterbleiben im Alter von fünfundzwanzig, achtzehn und zwölf Jahren,
so verfährt der kaltherzige römische Jurist — dem das Bürgerliche Gesetzbuch folgt —
schablonenhaft und ungerecht, indem er den drei Kindern trotz ihrer verschiedenen
wirtschaftlichen Lage die gleichen Teile zuweist. Ebenso bleiben vom volks¬
wirtschaftlichen Standpunkt aus die Interessen der Landwirtschaft unberücksichtigt,
wenn ein zum Nachlaß gehöriges Landgut behandelt wird wie ein Stück Möbel
oder ein Wertpapier. Kein einsichtvoller Vater wünscht, daß seine Kinder mit
einundzwanzig Jahren den Besitz und die Verwaltung einer großen Erbschaft über¬
nehmen; dennoch schreibt das Gesetz es vor. Ganz unbegreiflich ist es vollends,
daß beim Mangel von nahen Angehörigen auch die allerentferntesten Verwandten
in inkinitum als lachende Erben auf den Plan treten, wenn auch der Erblasser
von ihrer ganzen Existenz nichts gewußt hat. — eine sinnlose Erfindung Justinians
aus dem Jahre 543 nach Christi, die man gleichfalls in das deutsche Gesetz
für das zwanzigste Jahrhundert übernommen hat. (Vgl. meine Schrift: „Erb¬
rechtsreform". Berlin 1908. I. Guttentag.) — Solche Bestimmungen stehen in
Widerspruch mit der Volksüberzeugung, sie bilden den Ausfluß römischen Jnristen-
rechts. nicht deutschen Volksrechts. Sie sind nicht verehrungswürdig, sondern
unzulänglich und verbesserungsbedürftig. Also kann nicht etwa geltend gemacht
werden, daß einer Änderung des Erbrechts grundsätzliche Bedenken im Wege
ständen. Und so ist es wohl erlaubt, auch die Frage zu prüfen, ob das bisherige
Erbrecht der Kinder eine Einschränkung verträgt. Ich bejahe die Frage im
Sinne einer nachdrücklichen Besteuerung der Erbschaften der Kinder. In vollem
Umfang wird auf diesem Wege das Ziel offenbar nicht erreicht, das Mill und
Scheffler verfolgen. Das ist aber auch nicht ausführbar, so sehr es nach der
angegebenen Richtung wünschenswert erscheinen mag. Dagegen wird mittelst
der empfohlenen Steuer im Ergebnis immerhin eine wohltätige Beschränkung
des Kindererbrechts erzielt. Daß das Erbrecht der Kinder überhaupt Abände¬
rungen zuläßt, zeigt sich schon in der Testierbefugnis des Vaters. Dieser kann
nach seinem Belieben das Erbteil eines Kindes bis aus die Hälfte, den Pflicht¬
teil, herabsetzen. — nach englischem Recht sogar ganz darüber verfügen. Eine
weitere Beschränkung hat das Bürgerliche Gesetzbuch eingeführt. Die Hinter¬
bliebene Witwe erhält jetzt ein für allemal den vierten Teil des Nachlasses, wie
oben erwähnt, während ihr nach preußischem Recht bis 1900 nur ein Kindesteil
zufiel, falls vier oder mehr Kinder vorhanden waren. In solchen Fällen erhalten
die Kinder nunmehr erheblich weniger als nach altem Recht; bei einem reinen
Nachlaß von 80000 Mark erbt jedes Kind 1000 Mark weniger. Diese Ein¬
schränkung hat zu keiner Beschwerde irgendwelcher Art Anlaß gegeben; sie ist in
der Bevölkerung wohl ganz unbeachtet geblieben. Man steht daraus, daß grund¬
sätzlich eine Ermäßigung des Erbrechts der Kinder wohl möglich ist. Vollzieht
sie sich im Wege der Besteuerung, so dürfen die Sätze nicht zu niedrig sein,
falls sie ihre Wirkung nicht verfehlen soll. Sie darf aber auch nicht zu weit
gehen, damit die natürlichen Wünsche der Eltern für ihre Kinder gebührende
Berücksichtigung finden. Ich habe in anderem Zusammenhang eine Staffelung
von 2 bis 5 Prozent vorgeschlagen für Nachlasse von 500 Mark ansteigend
bis zu 1 Million. („Veredelung der Erbschaftssteuer" in den „Preußischen
Jahrbüchern", November 1909, S. 289 ff.) Es wird sich empfehlen, bei diesen
Sätzen zu verbleiben.
So führt unsere Betrachtung zu einem im ersten Augenblick überraschenden
Ergebnis. Die Erbschaftssteuer für Kinder muß nicht allein im Interesse der
Staatsraison gefordert werden als eine für die Gesamtheit unabweisbar not¬
wendige Einnahmequelle des Reiches, sondern ebensosehr im wohlverstandenen
Interesse der Familie, im Interesse des Familiensinnes, zur Minderung eines
schädlichen Übermaßes, zur Erhaltung der Arbeitslust und Arbeitskraft der nach¬
folgenden Geschlechter I
eit einigen Monaten wird in der Tages- und Fachpresse die Frage
der Errichtung einer Deutschen Kommunalbank besprochen, nach-
! dem schon vorher der Plan einer Deutschen Städtebank die Öffent¬
lichkeit beschäftigt hatte.
Das Problem der Organisation und Zentralisation des Kom¬
munalkredits wird seit etwa fünfzehn Jahren und zwar vorwiegend von städtischen
Theoretikern und Praktikern erörtert. Letzthin wurde im Juli 1908 über diese
Frage auf dem deutschen Städtetage in München eingehend verhandelt und
beschlossen, die Verhandlungen und die dabei gemachten Vorschläge dem Vor¬
stande des deutschen Städtetages zur Prüfung und weiteren Veranlassung zu
überweisen. Der Vorstand hatte zu diesem Zweck eine besondere Kommission
gewählt. Diese Vorgänge regten in den Kreisen und kleineren Kommunen den
Wunsch an, auch für sich eine Verbesserung des Kommunalkredits zu erstreben.
Der Wunsch wurde auch dadurch verstärkt, weil in der Literatur mehrfach
davon die Rede war, daß die Kreditorganisation auf die Städte beschränkt und
die anderen Kommunen davon ausgeschlossen bleiben sollten. Von einer Seite
wurde sogar eine Beschränkung auf die Städte über fünfzigtausend Einwohner
vorgeschlagen. In: Februar 1909 trat ein Komitee von preußischen Landräten
zusammen, die in ihrer Eigenschaft als Leiter von Kreiskommunalverbänden die
Verbesserung des Kommunalkredits für die Kreise und die kreisangehörigen
Kommunen in nähere Erwägung nahmen. Das Komitee gelangte zu der Über¬
zeugung, daß die Gründung einer allgemeinen kommunalen Kreditanstalt allen
Kommunen größere Vorteile bringen müsse, als verschiedene Sonderinstitute, den
Städten insbesondere dadurch, daß der Kreditanstalt ein regelmäßiger Kunden¬
kreis gesichert würde, der die bisher zweifelhaften Fragen der Zwangsverpflichtung
und Solidarhaft in zweckmäßiger Weise zu lösen geeignet sei. Zugleich ergab
A). daß es vorteilhaft sein müsse, die ebenfalls seit etwa fünfzehn Jahren von
den deutschen Sparkassen verfolgten Bestrebungen nach Schaffung eines Zentral¬
instituts für die mannigfachen Zwecke des Geldausgleichs. Übertragbarkeitsverkehrs
und Giroverkehrs mit der Verbesserung des Kommunalkredits in Zusammenhang
Zu bringen.
Eine solche Verbindung war bereits in den auf Veranlassung des Deutschen
Sparkassenverbandes ausgearbeiteten und in Ur. 417 der Zeitschrift „Die
Sparkasse" vom 15. Juli 1899 veröffentlichten Grundzügen für ein Zentral-
mstitut der Sparkassen vorgesehen. Der Wunsch nach einer Sparkassen-Zentrale
hat einen Antrieb erhalten durch die Einrichtung des Sächsischen Giroverbandes,
an dessen Spitze Bürgermeister Dr. Eberle in Rossen steht, und durch die Mit¬
gliederversammlung des Deutschen Sparkassenverbandes von: 4. Dezember 1909,
in der beschlossen wurde, auf die Einführung des Giroverkehrs nach sächsischem
Muster bei allen deutschen Sparkassen hinzuwirken.
Aus diesen Erwägungen erwuchs der Plan der Deutschen Kommunalbank.
Unter Beteiligung aller Kommune-?, die eine Beteiligung wünschen, soll sie den Geld¬
interessen aller Kommunen und ihrer Anstalten zu dienen bestimmt sein und
den kommunalen Finanzen in ähnlicher Weise als Stütze und Vertreterin auf
dem Geldmarkt zur Seite stehen, wie die Kreditbanken den Interessen des
Großhandels und der Industrie, die Preußische Seehandlung den Interessen
der preußischen Staatsfinanzen, die Preußische Zeutralgeuossenschaftskasse den
Interessen der Genossenschaften.
Das Konntee der Landkreise wählte im Juni 1909 einen geschäftsführenden
Ausschuß zum weiteren Ausbau dieses Planes. Der Ausschuß hielt es für
seine nächste Aufgabe, an die Organisation der deutschen Städte Anschluß zu
suchen. Er war der Meinung, daß den Großstädten, die im Deutschen
Städtetage die Führung haben, anch in der bedeutsamen Frage der Errichtung
eines kommunalen Kreditinstituts die Führung überlassen bleiben müsse. Der
Ausschuß hat daher alsbald die vom Vorstand des Deutschen Städtetages
gewählte Kommission um eine gemeinsame Beratung über die Angelegenheit
gebeten, und will auch fernerhin alle Schritte tun, die geeignet sind, ein Ein¬
vernehmen mit den Städten und eine gemeinsame Arbeit zu ermöglichen. Unter
ausdrücklicher Hervorhebung dieses Standpunktes hat das Komitee der Landräte
im Februar dieses Jahres an die preußischen Landkreise die Aufforderung
gerichtet, über die Beteiligung an einer Deutschen Kommunalbank Beschluß zu
fassen auf Grund eines vorläufigen Statuts, dessen Abänderung nach Maßgabe
der mit der Vertretung der Städte zu führenden Verhandlungen vorbehalten
ist. Zu beschleunigtem Vorgehen gab der Umstand Veranlassung, daß die
Etats-Kreistage der preußischen Kreise im März oder April zusammenzutreten
pflegen.
Die Deutsche Kommunalbank soll hiernach auf breitester Grundlage für
den Kredit aller deutschen Städte, Kommunalverbände, Gemeinden und öffent¬
lichen Körperschaften errichtet werden. Sie soll eine freie Schöpfung der Selbst¬
verwaltung sein, wie auch bei den mit dem Königlich Preußischen Ministerium
des Innern geführten Verhandlungen von letzterem ausdrücklich anerkannt worden
ist. Die Bank soll sich der Staatsaufsicht unterstellen, die analog den Bestimmungen
in den Paragraphen 3 und 4 des Hypothekenbankgesetzes geführt werden kann,
etwa auch durch einen Staatskommissar, wie er bei der Preußischen Zentral¬
bodenkredit-Aktiengesellschaft bestellt ist, aber nicht auf Staatshilfe begründet sein.
Weitere grundlegende Bestimmungen sind: kein Monopol, keine Zwangs¬
verpflichtungen der Kommunen, keine Gebühren, keine Haftpflicht. Das Unter¬
nehmen soll sein Schwergewicht in sich selbst tragen und soll schon durch seine
Organisation und die Art der zulässigen Geschäfte das Vertrauen des Geld¬
marktes, d. h. der Banken und des Publikums gewinnen. Den Banken und
Sparkassen soll auf ihren: eigensten Gebiete keine Konkurrenz gemacht,
mit dem Publikum also kein direkter Verkehr gepflogen werden. Der Kunden¬
kreis der Kommunalbank soll vielmehr aus den Kommunen und ihren Anstalten,
den Banken und der Börse bestehen. Die Rechtsform soll die bewährte Form
der Aktiengesellschaft sein, die Leitung eine kaufmännische. Es soll eine besondere
Gesellschaft gegründet werden, deren Zwecke und Befugnisse statutarisch genau
festzulegen sind. Da eine Kommunalbank mit einer Hypothekenbank in technischer
Beziehung viel Gemeinsames hat, so sollen die wesentlichen Beschränkungen des
Hypothekenbankgesetzes — insbesondere das Erfordernis der Deckung der Anleihe¬
scheine durch Kommnnaldarlehen, die Führung eines Darlehnsregisters, die
Verwahrung der Darlehnsurkunden durch einen Treuhänder, bestimmte Buchungs¬
und Bilanzgrundsätze — in die Satzungen übernommen werden.
Als Grundkapital der Kommunalbank ist ein Betrag von etwa 25 Millionen
Mark erforderlich. Er soll mit Rücksicht auf den voraussichtlichen Geschäfts-
nmfang nicht geringer sein, weil zur Hergabe der Kommunaldarlehen bis zur
Ausgabe von Kommunalscheinen, die vor erlangter Deckung nicht erfolgen darf,
genügende bereite Mittel vorhanden sein müssen, auch die Möglichkeit gewahrt
bleiben muß. größere Beträge von Kommunalscheinen — üblicher Weise
20 Millionen Mark — durch öffentliche Subskription gleichzeitig auszugeben.
Außerdem ist ein nicht zu kleines Betriebskapital erforderlich zur Regelung des
Zinsendienstes und um über die Einlagen der Kommunen und ihrer Anstalten,
die in liquiden Werten angelegt werden müssen, besser disponieren zu können.
Das Kapital soll von den deutschen Städten, preußischen Kreisen, möglichst
auch den außerpreußischen Kommunalverbänden und einigen preußischen Provinzen
übernommen werden. Auch die Beteiligung einer preußischen Bankanstalt und
einer Privatbank kommt in Frage.
Diejenigen preußischen Städte und Kreise, die sich beteiligen wollen, müssen
je einen Aktienbetrag zeichnen, der mindestens dem zehnten Teil der Summe,
die sich durch Zusammenrechnung der Einwohnerzahl nach der Volkszählung
von 1905 und dem durchschnittlichen Staatseinkommensteuerbetrag der Jahre
1902 bis 1906 („statistisches Jahrbuch für den preußischen Staat", Jahrg. 1906
S. 264 ff.) ergibt, unter Abrundung auf volle Tausend gleichkommt. Da das
Interesse der Städte mit zunehmender Größe etwas geringer wird, so soll
eventuell die Beteiligung so abgestuft werden, daß die Städte über 200 000
Einwohnern die Hälfte, die Städte von 100- bis 200 000 Einwohnern drei
Viertel des Normalbetrages übernehmen. Die Beträge, die sich hiernach für
die einzelnen Kategorien durchschnittlich pro Kopf der Bevölkerung ergeben, sind
der Beteiligung der außerpreußischen Städte zugrunde zu legen. Den preußischen
Provinzen und den außerpreußischen Kommunalverbänden, insbesondere den
bayerischen Kreisen wird angeboten, sich an der Aktienzeichnung mit einem
Mindestbetrag für jede Kommune (einschließlich Kommunalverbände) auf
1.5 Million Mark begrenzt zu beteiligen. Die über die Summe von 10000 Mark
lautenden Aktien sollen zum Kurse von 110 Prozent ausgegeben werden. Das
Aufgeld ist nach Abzug der Stempelkosten zur Bildung eines Reservefonds zu
verwenden. Der Aktienbetrag ist binnen zwei Jahren in drei Raten von 40,
40 und 30 Prozent einzuzahlen. Die Einzahlung kann entweder bar oder
dadurch erfolgen, daß zum gleichen Betrage ein festes Darlehn zu 4 Prozent
Zinsen und 1V» Prozent Tilgung bei der Deutschen Kommunalbank aufgenommen
wird. Der Betrag von zwei Aktien - 22 000 Mark soll als Mindestbeteiligung
angesehen werden.
Das Hauptgeschäft der Deutschen Kommunalbank soll darin bestehen, daß sieden
deutschen Kommunen Darlehen gewährt und dafür Kommunalobligationen (deutsche
Komnmnalscheine) ausgibt, für welche die Genehmigung des Bundesrates und die
Erklärung der Müudelsicherheit beantragt wird. Grundsätzlich soll für die
Darlehen derselbe Zinsfuß festgesetzt werden, der für die auszugebenden
Kommunalscheine zu zahlen sein wird. Der Gewinn der Bank wird demnach
in einer Provision bestehen müssen. AIs Maximum der Proviston sollen
1,7 Prozent berechnet werden, wovon 1 Prozent nach Tilgung des Darlehens
zurückzuzahlen ist. Es wird angenommen, daß die Bank schon mit einer
Provision von 0,7 Prozent und später von 0,5 Prozent auskommen wird.
Das Hypothekenbankgesetz behandelt die Kommunaldarlehen nur als Neben-
geschäft. Die die Deutsche Kommunalbank behandelnde Denkschrift nimmt an,
daß infolge dieses Umstandes die Inhaber von Kommunalobligationen technisch
etwas weniger gesichert sind als die Inhaber von Pfandbriefen (vorausgesetzt,
daß die Banken keine Buchhypotheken gewähren). Für die Kommunalbank
läßt sich eine größere Sicherung der Inhaber der Kommunalscheine dadurch
herbeiführen, daß dem Treuhänder als Vertragsvertreter der Kommunalschein¬
inhaber die Kommunaldarlehen verpfändet werden, daß die Abtretung der
Darlehen ausgeschlossen wird und daß eine Kündigung ohne Mitwirkung des
Treuhänders ungültig ist. Die entsprechenden Bestimmungen sollen in das
Statut und in die Darlehensanträge aufgenommen werden. Es ist dein Ver¬
fasser der Denkschrift zuzugeben, daß hierdurch die denkbar größte Sicherung
für die Inhaber der auszugebenden Kommunalscheine bewirkt wird. Es findet
dadurch eine vollständige Substitution, eine Ersetzung der Kommunaldarlehen
durch gleichartige Anteile in einer für Publikum und Banken bequemen Form statt.
Als Nebengeschäfte der Bank kommen nur solche in Betracht, die als nicht
gewagte Geschäfte den Hypothekenbanken im H 5 des Reichshypothekenbank¬
gesetzes vom 13. Juli 1899 gestattet sind: das Kommissionsgeschäft, das
Deposttengeschäft, die Vermittelung des Giro- und Scheckabrechnungsverkehrs für
deutsche Körperschaften des öffentlichen Rechts, das Jnkassogeschüft, die
Beteiligung am Emissionsgeschäft, die Verwahrung von Wertgegenständen.
Auch ein Kommunalschuldbuch will die Kommunalbank im Interesse des
Kurses der Kommunalscheine und zum Nutzen des Publikums einrichten, in
welches gegen Einreichung deutscher Kommunalscheine entsprechende Buch¬
forderungen eingetragen werden. Die Kommunalscheine würden sodann unter
Mitverschluß der Bank vom Treuhänder verwahrt und auf Antrag des
Berechtigten nach Löschung im Schuldbuch zurückgegeben werden. Für Spar¬
kassen ist die Umwandlung von Jnhaberpapieren in Schuldbuchforderungen nur
dann geeignet, wenn außer diesen noch genügende Bestände an Effekten, die
als Unterlage für Lombarddarlehen dienen können, vorhanden sind. Es kann
aber auch bei Darlehen, welche die Kommunalbank an Sparkassen gewährt,
vereinbart werden, daß Schuldbuchforderungen für das Darlehen verpfändet
werden und die Bank ermächtigt wird, unter Löschung der Schuldbuchforderung
die Kommunalscheine herauszunehmen und weiter zu lombardieren.
Das wichtigste Nebengeschüft der Bank ist der Verkehr mit den kommunalen
Sparkassen. Durch diese Einrichtung würden die jahrelangen auf die Gründung
eines Zentralinstituts der Sparkassen gerichteten Bestrebungen der deutschen
Sparkassen ihre Verwirklichung finden.
Der Wert für die Sparkassen besteht hier darin, daß ihre Liquidität
erhöht wird, wenn sie mit einer sicheren Bank in dauernde Geschäftsverbindung
treten. Der Hauptzweck solcher Verbindung besteht darin, daß die Sparkasse
verfügbare Gelder bei der Bank deponiert, um jederzeit flüssige Mittel zur
Auszahlung von Einlagen, eventuell auch zur Ausnutzung günstiger Konjunkturen
für feste Anlegung größerer Beträge zu haben, und daß die Sparkasse andrer¬
seits bei vorübergehendem Mangel an Barbeständen die nötigen Mittel durch
Lombardierung von Effekten bei der Bank anleiht. Dieser Verkehr wird dadurch
noch bequemer gestaltet und der Sparkasse die unmittelbare Beaufsichtigung
und Bewachung ihrer Effektenbestände erspart, wenn sie ihren Effektenbestand ganz
oder größtenteils der Bank zur Aufbewahrung übergibt, welche auch die Kontrolle
der Auslosung usw. übernehmen kann.
Wie die Denkschrift zutreffend bemerkt, macht ein solcher Geschäftsverkehr
den Betrieb der Sparkassen elastischer und erleichtert den kleinen Sparkassen
ihre zweite Hauptaufgabe, das Kreditbedürfnis innerhalb ihres Bezirkes zu
befriedigen. Er wird die Überwindung lokaler Krisen erleichtern, wird aber
auch bei allgemeinen Krisen wesentliche Dienste leisten können. Naturgemäß
werden lokale und allgemeine Krisen um so leichter ertragen, je liquider jede
einzelne Sparkasse ihre Mittel angelegt hat. Auf größtmögliche Liquidität ihrer
Anlagen muß daher jede Sparkasse in ihren: eigenen und im allgemeinen volks¬
wirtschaftlichen Interesse das größte Gewicht legen. Wenn aber diese Liquidität bei den
Sparkassen besteht und wenn insbesondere ein ausreichender Bestand von Effekten
(auch reichsbankfähigen Wechseln) vorhanden ist, so kann die Kommunalbank bei ihrer
näheren Fühlung mit dem allgemeinen Geldmarkt für Beschaffung von Zahlungs¬
mitteln, z. B. durch Weiterlombardierung der ihr übergebenen Effekten, erfolgreich
tätig sein. Wird der Krisenbedarf so groß, daß dies nicht mehr möglich ist
(im Falle eines Krieges), dann ist auch die allgemeine Krisis in: ganzen Lande
so tiefgehend, daß staatliche Notmaßregeln (Errichtung von staatlichen Darlehns-
kassen. Erweiterung des Notenausgaberechts der Reichsbank usw.) unausbleiblich
sind. Die Kommunalbank kann in diesem Falle dafür wirken, daß diese Aus¬
nahmeregeln für die Sparkassen auf schnellstem Wege nutzbar gemacht werden
können. Bei lokalen Krisen wird ausnahmsweise auch eine Beleihung von
Hypotheken zu höherem Zinsfuß in Frage kommen.
Selbstverständlich muß die Kommunalbank die ihr zufließenden Depositen
der Sparkassen in möglichst liquider Form anlegen, und zwar in kurzfristigen
Lombarddarlehen, Effekten und reichsbankfähigen Wechseln. Zum kleinen Teile
würden diese Mittel dazu helfen, den Markt der Kommunalscheine zu pflegen,
wozu in erster Linie das Aktienkapital und die Reserven dienen müssen. Es
können daraus auch kurzfristige Vorschüsse an Kommunen gewährt werden, die
sich später in eigentliche Darlehen umwandeln.
Bekanntlich hat eine größere Anzahl von Sparkassen schon jetzt einen
Geschäftsverkehr der bezeichneten Art mit öffentlichen Banken, besonders mit der
Preußischen Zentralgenossenschaftskasse, der Preußischen Seehandlung, den land¬
wirtschaftlichen Banken und den Landesbanken der westlichen Provinzen. Alle
diese Banken sind vorwiegend im gemeinnützigen Interesse tätig. Der Gedanke,
daß die Kommunalbank diesen Instituten eine lästige Konkurrenz bereitet, wird
daher zurücktreten. Überdies brauchen, wie die Denkschrift zutreffend bemerkt,
die bestehenden Beziehungen nicht abgebrochen zu werden. Für die großstädtischen
Sparkassen wird es z. B. vorteilhaft sein, neben dem Bestände an Wechseln,
den sie im Interesse der Liquidität halten, und neben dem unverzinslichen Gut¬
haben bei der Neichsbank noch ein verzinsliches Guthaben bei der Kommunalbank
als Reserve, eventuell auch für den Überweisungsverkehr, zu halten. Die
Kommunalbank tritt nur neben die bisher tätigen Institute mit der Bestimmung,
ausschließlich dem Interesse der Kommunen zu dienen, und daher mit dem
natürlichen (aber nicht rechtlichen) Anspruch, vorzugsweise vou den Kommunen
und ihren Anstalten benutzt zu werden. Sie wird aber schon in ihrem eigenen
Interesse bemüht sein, zu den öffentlichen Bankanstalten freundliche Beziehungen
zu unterhalten, da die Geschäftsverbindungen der Sparkassen zunehmen und die
Zahl der Sparkassen eine sehr große ist (2800); da ferner geeignete Bankinstitute
für eine große Zahl von Sparkassen zurzeit uicht vorhanden sind, so bleibt für
die Kommunalbank ein weites Feld offen, auch wenn die bisherigen Beziehungen
der Sparkasse unverändert bleiben.
Auch die Verallgemeinerung des Übertragungsverkehrs der Sparkassen,
der in Deutschland noch nicht genügend entwickelt ist, würde durch die
Kommunalbank geschaffen werden. Der Vorzug, den die Postsparkasse vor den
Kommunalsparkassen in dieser Hinsicht unzweifelhaft bietet, würde durch das
Zentralinstitut der Sparkasse ausgeglichen und dadurch den Verfechtern der
ersteren ein wesentliches Agitationsmittel gegenüber dein kommunalen Spar¬
kassenwesen genommen werden.
Der bargeldlose Zahlungsverkehr in seinen verschiedenen Formen würde
durch den Verkehr der Kommunalbank mit den Sparkassen Erleichterung erfahren.
Wie die Denkschrift über die Deutsche Kommnnalbank näher ausführt, arbeitet
die Reichsbank vorwiegend an den größeren Plätzen und kann ihr Netz von
Filialen nicht übermäßig ausdehnen. Den Filialen der Reichsbank können in
den kleineren Orten die Sparkassen durch Vermittelung der Kommunalbank hin¬
sichtlich des Zahlungsverkehrs ergänzend an die Seite treten. In Deutschland gibt
es nur 570 Reichsbankplätze, aber 2800 Sparkassen mit etwa 6700 Filialen.
Die Denkschrift weist darauf hin, daß in den letzten Jahren, vor wie nach
Erlaß des Scheckgesetzes vom 11. März 1908, eine lebhafte Propaganda für
Ausbreitung des Scheckverkehrs in Deutschland entfaltet worden ist. Gleichzeitig
findet eine beständige Zunahme der Depositenkassen der Banken, die sich bereits
auch in mittleren und kleineren Orten niederzulassen beginnen, statt. Die
Bequemlichkeit des Scheckverkehrs ist ein Mittel, durch welches ein Teil der
Depositen der kleinen Kapitalisten den Banken zugeführt wird, während
er sonst in die Sparkassen geflossen wäre. Zwischen Bankdepositen und
Spareinlagen bestand bisher ein wesentlicher Unterschied, der besonders an
der Beweglichkeit zu erkennen ist. Bei den deutschen Sparkassen werden im
Jahre 22 Prozent des Einlagenbestandes zurückgefordert. Von den Depositen
einer Berliner Großbank mit 73 Depositenkassen wurden im Jahre 1908
371 Prozent des am Beginn des Jahres vorhandenen Bestandes zurückgezahlt.
Ein anderes Merkmal ist die durchschnittliche Höhe der Einlagen. Das Durch¬
schnittsguthaben bei den deutschen Sparkassen beträgt etwa 720 Mark, der
Durchschnittsbestand der Depositenkonten bei der erwähnten Großbank betrug
Ende 1908 2838 MM Diese Unterschiede, deren Ursachen klar liegen, würden
sich verwischen, wenn die weitere Entwicklung dahin führte, daß ein beträchtlicher
Teil der Sparkasseneinlagen in die Banken hinübergeleitet würde. Das würde
volkswirtschaftlich nicht von Nutzen sein, und zwar um so weniger, als es nach
Ansicht der Denkschrift im allgemeinen nicht die solidesten Banken sind, die in
den eigentlichen Wettbewerb mit den Sparkassen eintreten.
Diese Verhältnisse haben dazu geführt, daß unter den Sparkassen eine
Bewegung entstanden ist, die auf die allgemeine Einführung des Scheck- und
Überweisungsverkehrs abzielt. Den preußischen Sparkassen ist die Möglichkeit
dazu durch die Vorschriften des Ministers des Innern vom 20. April 1909
betreffend den Scheckverkehr der öffentlichen Sparkassen eröffnet. Von dem Scheck¬
verkehr ist man neuerdings wieder zurückgekommen, da er sich für viele Spar¬
kassen doch nicht zu eignen scheint. Dagegen ist der reine Überweisungs- (Giro-)
Verkehr in der Ausbreitung begriffen. Er ist zunächst mit gutem Erfolge seit
1- Januar 1909 im Königreich Sachsen eingeführt. Er wird nicht durch die
Sparkassen, aber in einer Art von Personalunion mit ihnen bewirkt. Die
Girokassen werden untereinander durch die Zentrale des Giroverbandes sächsischer
Gemeinden verbunden, die sich an die Sächsische Bank anlehnt. Am 4. Dezember 1909
hat die Mitgliederversammlung des Deutschen Sparkaffenverbandes, nachdem Bürger¬
meister Dr. Eberle, Vorsitzender des Sächsischen Giroverbandes, Landrat Freiherr
von Schuckmann und Landesbankrat Reusch (Nassauische Landesbank) über die
Angelegenheit referiert hatten, fast einstimmig beschlossen, die Unterverbände zu
^suchen, die allgemeine Einführung des Giroverkehrs nach sächsischem Muster in
Angriff zu nehmen.
Man kann den Giroverkehr der Sparkassen als kleinen Giroverkehr bezeichnen,
da er vorzugsweise kleine Posten umsetzen und den kleinen Mittelstand an den
bargeldlosen Zahlungsverkehr gewöhnen will. Daß die mittleren Schichten der
deutschen Bevölkerung daran gewöhnt werden können, zeigt das Beispiel des
Hamburger Giroverkehrs, des Scheckverkehrs der Oldenburger Spar- und Leih¬
bank und vor allem des Sächsischen Giroverbandes. Dort sind in mehreren
sächsischen Städten bereits mehr als 1 Prozent der Bevölkerung Kunden der
Girokassen. Die Einführung des Giroverkehrs ist für die einzelne Sparkasse
unbedenklich und sehr einfach. Der reine Giroverkehr fällt nicht unter die Vor¬
schriften betreffend den Scheckverkehr. Es bedarf nur etwa folgender Bestimmung
im Statut: „Bei der Sparkasse können Konter für Girokunden eingerichtet
werden, auf denen ein bestimmtes Mindestguthaben (in Sachsen 10 Mark) zu
halten ist und auf welchen auf Grund von Aufträgen auf Formularen, die vou
der Sparkasse geliefert werden, Überweisungen vorgenommen werden." Die
Bestimmungen über das Mindestguthaben, über die Erhebung von Gebühren
für die Überweisungen und über die Verzinsung der Guthaben werden voni
Vorstand der Sparkasse festgesetzt und öffentlich (durch Aushang im Geschäfts¬
raume der Sparkasse) bekannt gemacht. Die Überweisungen werden sowohl im
Ortsverkehr als in: Fernverkehr spesenfrei sein müssen, während die Guthaben
unverzinslich sind.
Für den Fernverkehr ist die Errichtung von Zentralen oder Giroämtern
nach Art der Postscheckämter erforderlich, die wiederum untereinander in Ver¬
bindung gebracht werden müssen. Diese Verbindung kann zweifellos am besten
durch die Deutsche Kommunalbank hergestellt werden. Der kleine Giroverkehr
ist hauptsächlich für den Ortsverkehr in kleinen und mittleren Städten geeignet.
Ob er sich in großen Städten einführen läßt, vermag man zurzeit noch nicht
zu übersehen.
Hiermit würde der kleine Giroverkehr dem Reichsbankgiroverkehr ergänzend
zur Seite treten, ebenso dem Postscheckverkehr, der für den Ortsverkehr nicht
geeignet ist. Im Fernverkehr arbeitet er mit Hilfe des Postscheckverkehrs.
(Denkschrift S. 23/24.)
Schließlich weist die Denkschrift darauf hin, daß für diejenigen Sparkassen,
welche auf den eigentlichen Scheckverkehr nicht verzichten wollen, die Kommunal¬
bank, falls der Verkehr eine größere Ausdehnung gewinnen sollte, als Scheck¬
abrechnungsstelle im Sinne des Scheckgesetzes fungieren könnte.
Die Deutsche Kommunalbank bietet den Sparkassen unzweifelhaft große
Vorteile, und die Bedenken, die hier und dort noch dagegen erhoben werden,
scheinen mir der Begründung zu entbehren. Letztere gehen in der Hauptsache
dahin, daß die Sparkassen durch diese Verbindung eine bankmäßige Aus¬
gestaltung erhalten würden. Nachdem die Ansicht, daß in gewissem Sinne die
öffentliche Sparkasse die Bank des kleinen Mannes sein soll, dadurch eine
autoritative Anerkennung erhalten hat, daß ihr gesetzlich der Scheck- und
Überweisungsverkehr zugestanden ist, dürfte dieser Einwand hinfällig geworden
sein; denn wenn man die Sparkassen in dieser Hinsicht den Banken gleichgestellt
hat, dann muß man ihnen auch die weiteren Einrichtungen zugute kommen
lassen, durch welche sie ihren Geschäftsverkehr vollends nutzbar machen können:
nämlich eine Form der Konzentration des Geldverkehrs, wie sie in anderer
Gestalt die Banken in der Reichsbank und den Abrechnungsstellen (Clearing-
house) besitzen.
Auch gegen die Begründung der Deutschen Kommunalbank im allgemeinen
ist in neuester Zeit von einigen Seiten abfällige Kritik geübt worden. Neben
einigen Tagesblättern hat vor allein der Direktor der Landesbank der Rhein¬
provinz, Geheimer Regierungsrat Dr. Lohe in Düsseldorf, sowohl in einem an
eine Anzahl von interessierten Persönlichkeiten (Mitglieder des Kuratoriums der
Landesbank usw.) gerichteten gedruckten Rundschreiben als in: „Bankarchiv"
dagegen Stellung genommen. Das Schwergewicht seiner Bedenken erblickt
Dr. Lohe darin, daß, wenn die Bank nach der Behauptung ihrer Gründer
billiger Geld leiht als die anderen Banken, sie auch jährlich wieder Millionen
— wiederum nach Angabe der Gründer 100, ja bald 200 bis 300 Millionen
Mark — bedürfen und somit eine entsprechende Masse von Kommunalscheinen
auf den deutschen Markt werfen werde. Sie werde dadurch den für Anlage-
werte schon etwas schwachen deutschen Markt, in erster Linie den der Reichs¬
anleihen, Konsols und Staatsanleihen, in zweiter Linie den aller übrigen
Anlagewerte, Provinz- und Städteanleihen, Pfandbriefe usw. noch weiter
schwächen, und zwar in dem Maße, daß die Bank selbst in kurzer Frist vor
der Unmöglichkeit stehen werde, ihre Aufgaben in den: geplanten Maße durch¬
zuführen. Bezüglich der Einwirkung der Kommunalanleihen auf den: Geld¬
markte sei es ein wesentlicher Unterschied, ob etwa fünfhundert Städte und
Gemeindeverbände im Deutschen Reiche einzeln mit den ihnen befreundeten
örtlichen Banken und Instituten aller Art ihre verhältnismäßig kleinen Anleihen
im engeren örtlichen Bezirke der Ausgabestelle unterbringen, teilweise als Inhaber-
Papiere, teilweise als Darlehen bei Instituten, oder aber, ob eine Haupt¬
ausgabestelle, in Verbindung mit einer oder mehreren Großbanken, die ganze
oder doch die größte Masse des jährlichen deutschen Anleihebedarfs der Gemeinde¬
verbände in Form einer großen Anleihe der Kommunalbank auf den Markt
wirft. Das erstere gehe spurlos am Markte vorüber, das letztere störe und
verwüste ihn unter Umständen. Wenn schon der preußische Staat und das
Deutsche Reich mit den Massenausgaben von Werten der letzten Jahre nicht
günstige Erfahrungen gemacht haben, so werde es der Deutschen Kommunalbank
noch weit schlechter gehen.
Dieser Einwand erscheint mir im Hinblick auf die bisherige Entwicklung
des Marktes für Kommunalanleihen nicht durchschlagend. Die Gründer der
Bank nehmen vielmehr meiner Auffassung nach mit Recht an, daß der Kommunal¬
bank in den nächsten Jahren etwa 100 bis 200 Millionen Mark jährlich, in
späteren Jahren eventuell mehr, an Kommunaldarlehen zufallen werden, denn
die 100 bis 200 Millionen Mark Kommunalscheine jährlich, die demgemäß
auszugeben sein werden, ersetzen eine große Zahl von einzelnen Stadtobligationen,
Provinzialobligationen und Kommunalobligationen. Eine Umwandlung reiner
Schuldscheindarlehen (Sparkassen, Landesversicherungsanstalten und sonstige
Kreditgeber in Obligationen) kann, wenn überhaupt, nur in verhältnismäßig
geringem Umfange (10 bis 20 Millionen Mary stattfinden. Dabei ist jedoch
zu berücksichtigen, daß die Aufnahmefähigkeit derjenigen Institute, die etwa
diesen kleinen Teil von Schuldscheindarlehen abgeben, für Effekten, insbesondere
auch für Kommunalscheine, in demselben Maße gestärkt wird.
Die Stellung der kommunalen Obligationen auf dem deutschen Effekten¬
markt ergibt sich aus der Emissionsstatistik. Dabei ist nicht außer acht zu
lassen, daß für die Beurteilung des Geldmarktes außer den eigentlichen Effekten
noch die Hypotheken (jährlicher Überschuß der neuen Hypotheken über die
Löschungen etwa 2,8 Milliarden Mark), die Bewegung der Spareinlagen bei
öffentlichen, privaten und Genossenschafts - Sparkassen, den Bankdepositen usw.
wesentlich in Betracht kommen.
Im Durchschnitt von drei Jahren, 1905 bis 1907, sind an Effekten aller
Art zum Kurswert cuilliere, d. h. tatsächlich in Deutschland untergebracht,
2652 Millionen Mark.
Die neu emittierten Effekten stehen sowohl untereinander, als auch mit den
sonstigen neuen Kapitalansprüchen (Hypotheken usw.), schließlich auch mit den
Ansätzen in bestehenden Kapitalanlagen in Wettbewerb und stehen dabei den
neugebildeten und den durch Umsätze frei werdenden Kapitalien gegenüber.
Der Wettbewerb der Kapitalanlagen stuft sich ab nach Risiko (innerer Wert),
Gewinnmöglichkeit, Zinsfuß, Kündigungsbedingungen, Leichtigkeit des Erwerbs
und der Verwaltung usw. Effekten, die sich am ähnlichsten sind, haben die
Tendenz, sich im Kurse zu nähern. Das trifft bezüglich der Staatsanleihen
und Konnnunalanleihen zu. Auf den Wettbewerb sind ferner von Einfluß die
Technik der Emission und die Organisation des Absatzes. Verbesserungen dieser
Art wirken kurserhöhend. Könnte man für alle Kapitalanlagen eine einheit¬
liche Absatzorganisation schaffen, so würde diese bis zu einem gewissen Grade
(internationale Konkurrenz) die Preise diktieren.
Hiernach haben die Gründer der Bank meiner Ansicht nach recht, wenn
sie nut größter Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die Umwandlung von 100
bis 200 Millionen Mark kommunaler Einzelobligationen in einheitliche Kommunal¬
scheine den Kurs dieser Effekten erhöhen wird. Das ist auch die allgemeine
Ansicht in der Literatur (Literaturverzeichnis über die Organisation des Kommunal¬
kredits bei Most, die Schuldenwirtschaft der deutschen Städte 1909) und in der
Praxis. Wenn das aber der Fall ist, so ist bei der allgemein zu beobachtenden
Tendenz der Annäherung der Kurse gleichartiger und ähnlicher Papiere mit
derselben Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der höhere Kurs der Kommunal¬
scheine auch den Kurs der Staatsanleihen und der übrigen Kommunalanleihen
günstig beeinflussen wird. Sehr richtig wird seitens der Urheber des Projekts
darauf hingewiesen, daß, wenn jetzt allgemein die Klage gehört werde, daß die
Menge der vielen zersplitterten Stadtobligationen, die die Staatsanleihen und
sich gegenseitig unterbieten, den Markt der mündelsicheren Papiere störe und
deroutiere, die Annahme logisch begründet sei, daß nach allgemeiner Meinung
die Störung nicht eintreten würde, wenn die Obligationen einheitlich an den
Markt kämen. Der Erfolg der Organisation werde darin bestehen, daß das
Publikum für mündelstchere Papiere einen etwas höheren Preis bezahlen und
dafür durchschnittlich eine der Form nach bessere Ware erhalten werde.
Das Quantum der Anlage suchenden Kapitalien ist — darin ist den
Gründern der Bank weiter recht zu geben — jeweilig (durch kurzfristigen
Kredit zeitlich etwas ausgeglichen) ein bestimmt begrenztes, wenn man von der
Heranziehung ausländischen Kapitals als für Deutschland nicht wesentlich in
Betracht kommend absieht. Der deutsche Kapitalmarkt ist infolge der engen
Verknüpfung des ganzen Wirtschaftssystems als ein einheitlicher zu betrachten.
Die Erfolge der sehr großen Gesäme - Emissionen scheinen diese Annahme zu
bestätigen. Es ist daher sehr wohl möglich, daß das einheitliche Kommunal¬
papier leichter auf die lokalen Märkte verteilt werden kann, als bisher die
Unterbringung der vielen lokalen Anleihen auf denselben Märkten gelungen ist.
Für die Wirkung der Umwandlung von 100 bis 200 Millionen Mark
Einzelobligationen in Kommunalscheine ist schließlich nach Ansicht der Gründer
folgender Umstand von besonderer Wichtigkeit. Den nach dem Durchschnitt der
Jahre 1905 bis 1907 neu aufgenommenen Kommunaldarlehen von 506 Millionen
Mark steht ein Tilgungsbetrag gegenüber, der gegenwärtig etwa 200 Millionen
Mark jährlich beträgt. Da zur Tilgung außer einen: bestimmten Prozentsatz
der Betrag der ersparten Zinsen verwendet wird, so steigt der jährliche Tilgungs¬
betrag schnell. Wenn eine weitere wesentliche Vergrößerung des jährlichen
Zuwachses an Anleihen nicht eintritt, so wird in einiger Zeit ein Gleichgewichts¬
zustand eintreten, in welchem die Tilgungsraten zur Ausgabe der erforderlichen
neuen Anleihen verwendet werden können. Durch Konzentration eines großen
Teils der Kommunaldarlehen wird die Kommunalbank am besten in der Lage
sein, diesen Umstand in: Interesse des Kommunalkredits zu verwerten. Sie
wird in jährlich wachsendem Maße die Mittel für neue Kommuualdarlehen nicht
durch Ausgabe neuer Kommunalscheine, sondern durch Verwendung eingehender
Tilgungsraten gewinnen. Die Wirkung tritt zunächst langsam ein; die jähr¬
liche Tilgungssumme beträgt nach zehn Jahren 30 bis 40 Millionen Mark,
steigert sich dann aber schneller und erreicht in etwas mehr als dreißig Jahren
den Betrag des jährlichen Zuwachses an Kommunaldarlehen. Dann kommen
M allgemeinen Kommunalscheine nicht mehr auf deu Markt. Außerdem wird
den Kommunen der entsprechende Emissionsstempel mit schließlich (bei 300 Millionen
Mark Zuwachs) etwa IV. Millionen Mark jährlich erspart.
Die Deutsche Kommunalbank ist nach meiner Auffassung eine unbedingte
Notwendigkeit. Nur die Zentralisierung des Kommunalkredits vermag die
desolaten Verhältnisse des Marktes der Kommunalanleihen in geordnete Bahnen
SU bringen. Nach der soeben veröffentlichten amtlichen Statistik ist der Gesamt¬
betrag der kommunalen Schuldverschreibungen in Deutschland 300 Millionen
Mark, welcher sich auf nicht weniger als 237 Schuldner verteilt. Hierdurch
entsteht eine Arbeitzersplitteruüg, die enorme Ausgaben erfordert, und eine
Ungleichheit im Typus der Obligationen, die zu vollständig regellosen Verhält¬
nissen geführt hat. Abhilfe kann nur geschaffen werden durch die Begründung
einer Bank, welche die Unterbringung solcher Summen ohne Schwierigkeiten
und nach gleichen Grundsätzen vornehmen kann. Den nächsten Vorteil werden
natürlich die vielen kleineren Gemeinden haben, deren bescheidene Emissionen
mit vielen Schwierigkeiten und ganz unverhältnismäßig hohen Kosten ver¬
bunden sind.
!in Jahre 1909 hatte ich Gelegenheit, in Ostasien viele Einblicke
in die Betätigung chinesischer, auch koreanischer und japanischer
Arbeiter und Gewerbetreibender zu tun. Meine Beobachtungen
erstrecken sich vor allem auf Sibirien, wo sie von den westlichsten
Vorposten chinesischer Arbeit bis zur Küste des Japanischen Meeres
und von der Amurmündung bis zur Mandschurei und Mongolei hin reichen.
Das eine und andere, was ich auf dieser Reise über Charakter, Leistungs¬
fähigkeit, Ansprüche, Löhne und Lebenshaltung der astatischen, insbesondere der
chinesischen Arbeiter beobachten konnte, scheint mir bei der Wichtigkeit der Frage
der Wettbewerbsfähigkeit des Vierhundert-Millionen-Volkes auf dem Weltmarkt-
der Erwähnung wert. Ich bin mir freilich dabei bewußt, daß es große Teile
Chinas gibt, in denen Leistungen und Ansprüche der Chinesen andere sein mögen
als in Sibirien im Wettbewerb mit den Russen. Manche meiner Beobachtungen
sind aber sicher typisch für den Chinesen als Arbeiter überhaupt.
Um den Vergleich russischer und chinesischer Arbeit einigermaßen ans west¬
europäische Verhältnisse übertragen zu können, sind einige Worte über russische
Arbeiter nötig. Der russische Arbeiter ist in seiner Lebenshaltung anspruchslos
und denkt selten an eine Verbesserung derselben. Er ist daher geneigt, nur bis
zur Befriedigung des Existenzminimums zu arbeiten, in: übrigen aber müßig
zu gehen. Etwaige Überschüsse vertrinkt er gern und wird dann, besonders in
Gesellschaft anderer, ein aufsässiges Element. In der Arbeit ist er oft unzuverlässig
und selten systematisch ausgebildet. Dagegen fehlt es ihm durchaus nicht an
Geschick und man findet vielfach technisches Verständnis verbreitet. Für Erd- und
Bergwerksarbeiter eignet sich der Russe verhältnismäßig gut; er scheut keine
Nässe und Temperaturwechsel und ist achtlos gegenüber der Gefahr, wie sie
primitiver Bergwerksbetrieb oft mit sich bringt.
Sieht man von ganz vereinzelten chinesischen Händlern im europäischen
Rußland ab und erwähnt, daß in langsam von Westen nach Osten steigender
Zahl sich chinesische Kleinhändler zwischen Kmßnojarsk und Jrkutsk zeigen, so
kann man im ganzen sür die Gegenwart den Baikalsee als Westgrenze chinesischer
Arbeit in Sibirien bezeichnen.
In der ersten Kreisstadt östlich des Baikalsees, in Werchnc-Udinsk, sieht
man schon eine ganze Reihe chinesischer Händler und Handwerker, z. B. Wäscher;
unweit östlich der genannten Stadt begegnete ich in einer Zementfabrik und
in einer Kohlengrube zum erstenmal Chinesen in nennenswerter Zahl als Fabrik -
und Bergwerksarbeiter. In der Zementfabrik arbeiteten zweihundert Mann,
die Hälfte davon waren Chinesen. Sie wurden mir als nüchtern,
willig, aber sehr empfindlich gegen wirkliche oder vermeintliche Ungerechtigkeit
bezeichnet. Man hatte ihnen alle Posten gegeben, bei denen es auf ununter-
brochene Arbeit ankam, da sie nur drei Neujahrstage im Jahr feierten; an
komplizierten Maschinen dagegen verwendete man Russen. Die Löhne von Chinesen
und Russen beliefen sich hier für gewöhnliche Arbeit gleichmäßig auf einen Rubel
für den Tag. Außer den angestellten Chinesen betätigten sich in der Nähe
einige auf eigene Rechnung als Ziegelbrcnner. Auf der Kohlengrube waren
Zwei Schächte in Betrieb; in dem einen arbeitete,: ausschließlich Russen, im anderen
Chinesen. Die letzteren waren fleißig und willig, zeigten sich aber oft ängstlich,
wenn z. B. in der Grube die Luft schlecht war, was bei bestimmten Wind¬
richtungen vorkam, was die Russen dagegen nicht störte.
In Tschita, der Hauptstadt Transbaikaliens. erscheinen die Chinesen schon
in größerer Anzahl, und zwar uicht nur wenn sie angeworben sind, sondern auch nur
selbst Arbeit zu suchen. Man findet sie hier als Lastträger, als Hilfsarbeiter bei
Bauten, als Wäscher. Gemüsegärtner, Hausierer, Krämer, in einzelnen Fällen
auch schon als Bediente und Köche. In einer Möbeltischlerei hatte ein Deutscher
mehrere Chinesen angestellt und zeigte mir an Mustern die Fortschritte eines
Chinesen in der Schnitzerei neben den relativen Rückschritten eines russischen
Schnitzers. Der Chinese arbeitete nach dem ihm gegebenen Muster mit
solch peinlicher Sorgfalt, daß man an die Anekdote vom chinesischen Schneider
erinnert wurde. Einem bezopften Schneider übertrug ein Europäer die
Anfertigung einer Hose aus mitgegebenen Stoff. Da der Chinese noch keine
Europäerhose gemacht hatte, erhielt er eine ehemals elegante als Muster, die er
w Schnitt genau nachahmen sollte. Die neue Hose paßte denn auch tadellos,
als aber der Besitzer sie auf der Kehrseite betrachtete, thronte dort ein Flicken
genau auf der Stelle und in der Form und Farbe, in der die alte einen auf¬
gewiesen hatte. Dieses peinliche Arbeiten nach einem bestimmten Vorbild scheint
charakteristisch sür den Chinesen zu sein; viel schwerer fällt es ihm, nach Angaben
»der gar nach Zeichnung zu arbeiten. Wenig verwöhnt ist der Chinese in
Beziehung auf Länge der Arbeitszeit. Eine Weigerung, nach Feierabend zu
arbeiten, wird man von ihn: nicht zu befürchten haben, dagegen hat er den
eigentümlichen Zug, höchst ungern eine Arbeit zu tun, über die er sozial einmal
hinausgewachsen ist. Einem chinesischen Koch zuzumuten, einen Zimmerboy zu
ersetzen, scheint eine schwere Kränkung zu sein, und ähnlich verhalten sich gelverb¬
liche Arbeiter oft bei Übertragung anders gearteter Arbeiten. Es zeigt sich darin
in kindlicher Form der Wunsch der Angehörigen eines alten Kulturvolkes, das
scharfe soziale Unterschiede kennt, in die Höhe zu kommen. Der demokratische
Russe hat für solches Streben selten Sinn.
Kommt man aus Transbaikalien heraus an den Amur, nach Blagoweschtschensk
z. B., so ändert sich das Verhalten der Chinesen insofern, als sie hier nicht
mehr als einzelne Leute in der Fremde bescheiden und zurückhaltend auftreten,
sondern in Massen erscheinen, sich zu Hause fühlen und deu Russen gegenüber
ihre Abneigung und selbst die Überhebung nicht verbergen, die dem Chinesen
gegenüber allen Fremden im Grunde genommen stets innewohnt, wenn sie auch
beim besser Erzogenen fast nie auf den Gesichtszügen erscheint, sondern unter
der Maske der Ruhe und lächelnder Höflichkeit verborgen bleibt. Die Chinesen
fühlen sich den Russen am Amur schon wirtschaftlich überlegen und wissen, daß
man ihrer Hilfe und Arbeitskraft in den östlichen Küstenvrovinzen Sibiriens
nicht entbehren kann. Bei ihrem Massenzustrom unterbieten sie fast jeden Wett¬
bewerb russischer Arbeiter, wo diese nicht die Chinesen gewaltsam von gewissen
Arbeiten ausschließen, z. B. von Verladearbeiten, im Hafen von Arbeiten für
Staatslieferungen usw. Sonst sieht man aber die Chinesen bei allen Arten der
Beschäftigung, insbesondere in Mengen als Bauhandwerker.
In Blagoweschtschensk trifft man auch schon den besseren Chinesen als
Lagerverwalter und Kommis. So hat z. B. die dortige Filiale eines großen
deutschen Sibirien-Hauses etwa sechzig Chinesen angestellt und ist mit ihnen im
ganzen recht zufrieden. Die Chinesen sind ihrerseits stolz auf die Zugehörigkeit
zu der bedeutenden Firma, auf die nach ihren Begriffen großartige Wohnung,
die ihnen auf dem Grundstück des Geschäfts eingeräumt ist; sie haben aber
trotzdem mehrfach versucht, durch Petitionen, sogar schon und Streikdrohung,
ihre Besoldung und andere Arbeitsbedingungen immer mehr in die Höhe zu
setzen. Gerade das ist ein Zug, den ich allgemein an den Chinesen beobachtet
habe: der Neuankommende nimmt, ähnlich dem Juden, jede Beschäftigung gegen
jede Entlohnung an, erspäht und nutzt aber jede Gelegenheit, seine Ansprüche
zu steigern. Daher glaube ich, daß bei dem Entstehen einer Großindustrie in
China die Arbeiterschaft sehr bald feststellen würde, welche Löhne und Arbeits¬
bedingungen man ihr gewähren könnte, ohne die Konkurrenzfähigkeit zu verlieren,
und daß sie diese Bedingungen erzwingen würde. In der Gewöhnung selbst des ein¬
fachsten Chinesen an Zusammenschluß mit seinesgleichen und an organisiertes
Vorgehen, und in seinem starken Erwerbssinn liegt meines Erachtens der beste
Schutz gegen eine vernichtende Konkurrenz chinesischer Arbeit auf dem Weltmarkt.
Derselbe Erwerbssinn, der den Chinesen zum fleißigsten und daher gefährlichsten
Arbeiter Asiens macht, zieht die Schranke für seine Wettbewerbsfähigkeit. Dieser
Ausgleich wird um so schneller herbeigeführt, als meiner Meinung nach der
Fleiß der Chinesen nur dem starken Erwerbssinn und nicht etwa der Freude am
Schaffen an sich entspringt, die mir als weit verbreitete, kostbare National¬
eigenschaft die germanische, und neben ihr höchstens noch einige Zweige der
romanischen Rasse zu besitzen scheinen. Der aus der Enge der Besiedelung
entstandene Kampf ums Leben, der in weiten Teilen Chinas seit Jahr¬
hunderten in einer uns unbekannten Schärfe herrscht, hat den Chinesen zu dein
fleißigen Arbeiter gemacht, nicht Schaffensdrang. Im Innern ist der
Chinese Orientale, der die Arbeit nicht liebt. Reich geworden gibt er sich auch
gern den: Müßiggang und dem Luxus hin. wie sich das z. B. bei den dem Druck
ihrer Mandarine entzogenen Chinesen Singapores zeigt, die man in modischer
europäischer Kleidung. Zigarren rauchend in ihren Automobilen zu Dutzenden
auf der Promenade fahren sieht.
Doch kehren wir zum Amur zurück! Blagoweschtschel.öl ist auch das Zentrum
der Versorgung der Goldminen an den Amnrzuflüssen Seja, Selendscha, Bureja
und Augur mit den nötigen Arbeitern. Neben einigen tausend Russen strömen
Anfang Mai fünfzehn- bis zwanzigtausend chinesische Wanderarbeiter auf dem
Weg zu den Goldgruben durch die Stadt. Sie kommen entweder zu Schiff aus
der Mandschurei von Chardin und anderen Orten am Sungari her oder aus
entfernteren Provinzen Chinas auf Hunderte und selbst Tausende von Kilometern,
und gehen zu Schiff und zu Fuß weiter zu den Goldminen. In Massen sah
ich ihre großen, schmalen, mageren Gestalten im Goldrevier der oberen Seja,
jeden mit den notwendigsten Kleidungsstücken und Goldgräbergeräten auf dem
Rücken, schweißtriefend und müde am Tage dahinkeuchend. frierend nachts um
ein Lagerfeuer zusammenhockend, wenn ausgeruht und in guter Stimmung,
schwatzend oder ihre fremdartigen Volksweisen singend. In ihrer großen Mehr-
Zahl harmlose Burschen, sollen sich doch auch manche verwegenen Gesellen, wie
Z. B. Chungusen. unter ihnen finden, die sich vor einen: Raubanfall nicht scheuen,
ebenso wie freilich mancher chinesische Goldgräber von Russen erschlagen und
seines Goldes beraubt wird.
Im Goldbezirk ist die Arbeit der Chinesen der der Russen nicht so über¬
legen wie in den Städten, und nur die große Bedürfnislosigkeit des
Chinesen läßt ihn selbst hier noch wirtschaftlich gedeihen unter klimatischen
Bedingungen und Arbeitsverhältnissen, die dem etwas verweichlichten Volke
">eilig zusagen können. Die Arbeit der Russen und Chinesen scheidet
sich ans den Goldgruben so. daß sie nicht kollidiert, sondern nebeneinander hergeht.
Der Russe übernimmt gegen Lohn oder Mord. z.B. nach Kubikfuß geförderten
und verwaschenen Sandes, die Arbeiten auf den seitens der Unternehmer direkt
ausgebeuteten Goldgruben. Er baut als geschickter Zimmermann die Goldwasch¬
maschinen und steht ohne zu klagen stundenlang bis an die Knie im eiskalten
Wasser der Sümpfe und Flüsse, oder läßt sich vom durchdringenden kalten
Regen peitschen; nur schwatzen muß er dabei können, ab und zu eine Zigarette
rauchen und sich einmal in der Woche nach Kräften betrinken; er liebt es aber
nicht, länger als acht bis höchstens zehn Stunden am Tage zu arbeiten, und
will seinen ausgiebigen Schlaf haben. Die Russen allein bleiben auch im Winter
auf den Gruben zu den nötigen Jnstandsetzungsarbeiten.
Anders die Chinesen. Sie lieben nicht die Arbeit uuter.ihnen fremden,
oft polternden Aufsehern, das ruckweise, dann aber auf kurze Zeit nachdrückliche
Arbeiten der Russen, sie sind in ihrer Mehrzahl wasserscheu und können bei
ihrer geringen Körperkraft mit den russischen Arbeitern nicht mit, die, einmal
im Zuge, viel leisten können. Sie suchen lieber genossenschaftlich organisiert
oder einzeln Arbeit auf eigene Rechnung. Diese findet sich ans den sibirischen
Goldgruben in einer Form, die zugleich der Spielleidenschaft des Chinesen eine
gewisse Nahrung bietet: viele Gruben, bei denen die mehlartig eingelagerten
reichen Goldsande längst ausgewaschen sind, haben noch ausgedehnte Schichten
ärmerer Sande übrig. Dort läßt man gegen geringe Abgaben die Chinesen
auf den Kopf oder auf das Gewicht des erwaschenen Goldes arbeiten. Zu
Hunderten sieht man sie dort bei nicht zu schlechtem Wetter vom frühen Morgen
bis zum Dunkelwerden hocken, in: Sande wühlen und das Gold auf ihren
Handschüfseln oder auf kleinen Waschherden auswaschen. Die Möglichkeit,
unverhofft auf eine reichere Stelle zu stoßen, umgaukelt den Chinesen mit stiller
Hoffnung. Bei schlechtem Wetter drängen sich die Leute in ihren halb in die
Erde vergrabenen Hütten zusammen, in denen stets einer von ihnen zurückbleibt,
um die Gerichte zu kochen, die mit Bohnenöl, Knochlauch usw. zubereitet den
Chinesen lieblich, uns abstoßend dünken. Die Asiaten sind häuslich; in ihrer
freien Zeit weilen sie stets in oder unweit ihrer Hütte, sich die Mußestunden
mit Singen, Plaudern oder Glücksspielen vertreibend. Gelegentlich bringen die
Leute sich sogar einen alten Krüppel mit, den sie ernähren und der ihnen dafür
an den langen Abenden Geschichten erzählen muß.
Erfahrene und mutige chinesische Goldgräber gehen lieber auf eigene Faust
in den Urwald und suchen neue Goldfelder aufzufinden, anstatt auf den
abgebauten ein mageres Verdienst zu haben. Andere bringen sich als Hausierer,
Käufer gestohlenen Goldes oder Gemüsebauer durch. Auf Flächen, die früher
für völlig ertraglos galten, sieht man in den rauhen Gebirgen der Goldgebiete
ihre umzäunten Gärten, in denen Kartoffeln, Zwiebeln, Rüben gedeihen.
Welcher Unternehmungsgeist oft die einfachen chinesischen Goldgräber beseelt,
sah ich an einem Beispiel: Auf einer Goldgrube rauschte wild über ein granitnes
Gesteinstrümmerfeld ein 10 bis 15 Meter breiter Gebirgsbach, dessen Boden,
wie stellenweise herausgeholter Sand gezeigt hatte, goldhaltig war. Eine chinesische
Genossenschaft hatte sich angeboten, das Flüßchen auf eine Strecke von mehreren
hundert Metern zu verlegen, um dann gegen Gcwichtsabgabe vom gefundenen
Gold an den Grubenbesitzer das Edelmetall unter den Felsblöcken des alten
Flußbetts hervorzuholen. Die etwa zwanzig Mann zählende Genossenschaft
hatte mit Schaufel, Meißel und Dynamik in mehrmonatiger Arbeit das neue
Flußbett fast fertiggestellt und die Leute freuten sich auf das kommende Jahr,
das ihnen den Lohn bringen sollte, da sie während der Vorbereitungszeit seitens
der Goldgrube nur einen minimalen Vorschuß auf den erwarteten Gewinn
erhielten.
In den Goldbezirken der Amur- und Küstenprovinz übrigens kann man
den Koreaner als .Arbeiter mit dein Chinesen vergleichen. Auch sie kamen
zu Tausenden als Goldarbeiter in den sibirischen Urwald, bis eine mir nicht
ganz verständliche russische Politik sie seit 1909 angefangen hat, auszuweisen.
Der Grund für das Vorgehen Rußlands ist, wie mir der Generalgouvemeur
der Küstenprovinzen sagte, die Befürchtung vor der Bildung eines „Neu-Korea"
innerhalb der russischen Grenzen durch massenhafte Seßhaftiverdung von Koreanern.
Schon diese Befürchtung zeigt, daß man mit Unrecht auf die Koreaner
mit der Verachtung herabsieht, wie ich ihr in einigen Reiseschilderungen begegnet
bin. Wenn die Leute in ihren eigentümlichen, ganz weißen Gewändern nach
der Arbeit auf lehmigen Feldern nicht immer sauber aussehen und wenn sie
einige sür unsere Begriffe unreinliche Gewohnheiten haben, so ist das kein Grund,
an sie unseren europäischen Maßstab zu legen und von diesem unterdrückten Volk
verächtlich zu spreche», Niemand kann sie verachten, der gesehen hat, wie sie an
früher als unbesiedelbar geltenden Stellen der Amurufer mühsam Quadratmeter
nach Quadratmeter des Bodens der Kultur gewonnen und ihre gar nicht so
unfreundlichen Höfe und Dörfer errichtet haben. Sie sind im allgemeinen gut¬
mütig, bedürfnislos und an Körperkraft und im Ertragen von Kälte und Nässe
den Chinesen überlegen, dabei nicht ohne Selbständigkeit, Selbstbewußtsein und
Unternehmungsgeist. Auf den Goldminen waren sie vielfach beliebter als die
Chinesen, allerdings auch deshalb, weil sie einen größeren Teil ihres Verdienstes
um Lande ließen und nicht wie die Chinesen alles zu ersparen suchten. Die
Koreaner gewöhnen sich überhaupt leichter an europäische Kleidung und Sitten,
wissen bald Genüsse wie Bier und Zigaretten zu schätzen, bauen sich gern
europäische Häuser und könnten von den Russen leicht assimiliert und zu treuen
Untertanen gemacht werden, da sie von Japan bedrückt vielfach auf Auswandern
angewiesen sind und wissen, daß sie ihre heimische Eigenart doch nicht in ihrer
Ursprünglichkeit aufrecht erhalten können.
Ich kann es nicht unterlassen, hier auch meine Beobachtungen über japanische
Arbeit im Vergleich zu chinesischer und koreanischer anzuführen, trotzdem ich mir
bewußt bin, damit ein Gebiet zu betreten, für dessen Beurteilung meine Bekannt¬
schaft mit den Japanern wohl zu wenig eingehend war. Es will mir scheinen,
als liege die Sache so. Der Japaner ist nicht imstande, als einzelner Arbeiter
mit Chinesen und Koreanern zu konkurrieren, und zwar aus mehreren Gründen.
Seine Körperkraft ist nicht groß, und wenn ihn sein Ehrgeiz, seine Vaterlands¬
liebe und Disziplin im Kriege zu starken, auch körperlichen, Leistungen getrieben
haben, so wird das im Erwerbsleben weniger der Fall sein. Der Japaner
liebt schwere körperliche Arbeit an sich nicht und er hat nicht, wie die Chinesen
und Koreaner, Sinn für zähes Jn-die-Höhe-arbeiten, sonderneherfür einen mühelosem
spekulativen Gewinn. Auch lebt er in allen sozialen Schichten gern über seine
Verhältnisse. Setzt man einen Chinesen und einen Japaner irgendwo in der
Welt auf ein ungenutztes Stück Erde, der Chinese wird meiner Meinung nach in
die Höhe kommen, der Japaner nicht. Anders wird die Sache erst da, wo
Kombinationsvermögen, schwierige Überlegungen, großes Geschick und Geschmack
oder gar Arbeiten in Frage kommen, die technisches Wissen oder Einfügen in
moderne Organisation großen Stils verlangen. Dann klebt der Chinese zu sehr
an Traditionen und Vorurteilen, an seinen alten Gilden und alten Gewohn¬
heiten, während der Japaner mit absoluter Vorurteilslosigkeit in materiellen
Dingen, mit seiner leichten Auffassungsgabe und ungeheuren Nachahmungskunst
sich das Beste aus Vorbildern fortgeschrittener Länder aussucht und in staunens¬
werter Weise verwertet. Deshalb hat z. B. in der Mandschurei Japan Großes
an der Südmandschurischen Bahn und im Hafen von Dalni geleistet; man sieht
aber Japans wirtschaftlichen Einfluß in Mulden schon einige hundert Meter
von der Bahn in nichts versinken. Damit stimmt überein, daß man sogar
in Japan selbst, z. B. in Uokohama, einer Menge chinesischer Handwerker
begegnet. , ,
Ich halte deshalb den Japaner nicht für einen eigentlichen Kolonisator.
Er wird, wie der Franzose, manches große Unternehmen außerhalb seines
Landes planen, organisieren und daraus Renten ziehen können, aber der einzelne
Japaner geht ungern aus seiner Heimat fort, paßt sich auf die Dauer schwer
fremden Verhältnissen an und hat in: ganzen weniger Aussicht, in der Fremde
emporzukommen, als der Chinese.
In der russischen Küstenprovinz Sibiriens, vor allem in Wladiwostok,
treten die Chinesen in solchen Massen auf, daß der russische Charakter des Orts
zurücktreten würde, wenn die starke Garnison und Beamtenschaft ihn nicht
wahrten. Wirtschaftlich ist der Chinese hier gar nicht wegzudenken, ohne daß
das ganze Erwerbsleben stocken würde. Ähnlich ist das Bild in kleineren
Orten der Küstenprovinz. Aller Kleinhandel, die meisten Handwerke, der
Gemüsebau, ein großer Teil der Holzfällerer, die Fischerei und die Lokal¬
schiffahrt befinden sich in chinesischen oder koreanischen Händen, dazu stellen sie
die Fabrikarbeiter in der Mehrzahl der nicht fiskalischen Unternehmen. Zwar
sucht Rußland bei Erteilung von Bergwerks- und Holzkonzessionen die
Verwendung russischer Arbeiter durch Vorschriften zu erzwingen, was aber wohl
auf die Dauer ein vergebliches Bemühen bleiben wird.
Den Ausschlag gibt an allen Orten, wo er in Massen auftritt, die
Billigkeit des chinesischen Arbeiters. Er erhält im Durchschnitt in der
Küstenprovinz ca. 75 Kopeken bis 1 Rbl. gegenüber 1 Rbl. bis 1,50 Rbl.,
die der Russe als Tagelohn fordert. Und immer neuer billiger Ersatz strömt
heran für die, die in ihren Ansprüchen gestiegen sind. Manche Chinesen kommen
übrigens zu recht hohen Arbeitslöhnen: so fand ich in der Küstenprovinz einige
chinesische Schlosser aus Schanghai und Hongkong, die bis 2,50 Rbl. Tagelohn
verdienten.
Ich bin nach meinen Beobachtungen zu dem Schluß gekommen, daß die
Chinesen in den China anliegenden Teilen Ostasiens nur mit Gewalt davon
ausgeschlossen werden können, die Masse der Arbeitskräfte zu stellen, wenige
Spezialberufe und Handwerke ausgenommen. Der Hauptgrund ist die Billigkeit
des immer neuen Angebots, in zweiter Linie die Willigkeit, Stetigkeit und
Gewissenhaftigkeit chinesischer Arbeiter. Intelligenz und Geschicklichkeit sind dagegen
nicht besonders bemerkenswert und Körperkraft sowie Schnelligkeit der Arbeit
lassen oft stark zu wünschen übrig. Was die kaufmännischen Fähigkeiten des
Chinesen betrifft, so liegen sie im großen und ganzen auf dem Gebiet des
Kleinhandels; darin ist er unübertrefflich. Auch fern von seiner Heimat
in Gebieten heißen Klimas und in Ländern, wo außerordentliche Lohnhöhen
herrschen, ist der Chinese jedenfalls ein gefährlicher Konkurrent; aber mit Leistungen
westeuropäischer Arbeiter kann die eines Chinesen nach Umfang und Güte
keinen Vergleich aushalten. Dieser Umstand in Verbindung mit den leicht
erwachenden Ansprüchen chinesischer Arbeiter würde eine etwa entstehende
chinesische Großindustrie zu einer zwar fühlbaren, aber wohl kaum jemals ver¬
nichtenden Konkurrenz auf dem Weltmarkt machen.
Endlich dämmerte der Morgen, und Minchen, die den Nest der Unehe zwischen
bangen Sorgen und undeutlichen, sonderbaren Träumen zugebracht hatte, verließ
das ungewohnte Lager und begab sich nach der Küche, um das Feuer auf dem
Herd anzufachen. Dann holte sie vom Hofe frisches Brunnenwasser.
Nach dem vorausgegangenen Lurn kam ihr die jetzt herrschende Ruhe w?e
eine Totenstille vor, und die rosig angehauchten Wölkchen, die am klaren Morgen-
Himmel langsam dahinsegelten, waren wie freundliche Friedensboten. Sie kühlte
sich das Gesicht mit dem' kalten Wasser und erregte beim Auftragen des Früh¬
stücks durch ihr strahlendes Aussehen die Bewunderung des Vaters.
„Man sieht doch, was Jugend ist! Die ganze Sache hat dich gar acht
berührt."
Die Mutter, die wach geworden war, sich aber noch zu schwach zum Aufstehen
fühlte, bestätigte nach einem langen Blick die Worte des Vaters.
„Was meinst du. Minchen, wenn dich Heinrich Messerschmidt so sähe!"
Die Erwähnung des Referendars schien der Tochter nicht angenehm zu sein.
„Ich habe mir ja noch nicht einmal die Haare gemacht!"
„Dann tu es nur! Wir werden wohl nun zur Ruhe kommen. Hoffentlich
besänftigt dieser schöne Sonntag die aufgeregten Gemüter."
Beim Betreten ihres Zimmers bekam Minchen einen leichten Schreck. Der
junge Offizier hatte die Augen geöffnet und starrte sie groß an.
„Ich grüble und grüble", begann er.
Aber Minchen bedeutete ihm flüsternd, daß er nur ganz leise sprechen dürfe,
damit ihn niemand höre. Und sie rückte einen Stuhl an das Bett, setzte sich dicht
zu ihm und erzählte ihm alles. Wie er hierhergekommen sei, und daß niemand
als sie von seiner Anwesenheit wisse.
„Also befinde ich mich in Ihrer Gefangenschaft?" fragte er und versuchte
zu lächeln.
„Nein, nicht in Gefangenschaft," versetzte sie ernst. „Ich hoffe vielmehr,
Sie davor bewahrt zu haben und Sie bald der Freiheit wiedergeben zu können."
Er wollte sich erheben, fiel aber wieder matt zurück.
„Verdammt schwach wird man doch durch solche Geschichte! Hat's sehr
geblutet?"
„Etwas."
Sie betrachtete mit leisem Bedauern und heimlicher Angst das durch die
roten Flecke beschmutzte Kopfkissen und überlegte im stillen, wie sie es unbemerkt
waschen könne.
„Ja, das hilft alles nichts," fuhr er entschlossen fort, „ich muß mich eben
zusammenreißen."
Er richtete sich langsam ans und stand schließlich auf beiden Beinen. Dann
betrachtete er sich in dem ovalen Spiegel neben dem Bett.
„O weh, ich sehe gut aus! Und die Hände! Könnt' ich mich vielleicht ein
bißchen waschen?"
Sie wies ihm Wasser, Seife und Handtuch. Als er sich gesäubert, die gold¬
blonden Haare gekämmt und eine neue Binde um die Stirn gelegt hatte, sah er
mit seiner hohen, schlanken Gestalt und den lachenden blauen Augen wie ein
junger Recke aus, dem die leichte Mattigkeit einen eigenen, fast schwermütigen
Reiz verlieh.
„Aber nun, Mademoiselle, verzeihen Sie, — einen Appetit hab' ich jetzt—"
„O, ich bringe Frühstück! Doch Sie müssen mir erst Ihr Wort geben,
daß Sie nichts von sich verlauten lassen und diesen Raum nicht verlassen wollen."
„Warum das? Ich fürchte mich vor niemand."
„Das glaube ich. Aber Sie würden mir Ungelegenheiten machen, — es ist
zu spät für mich, etwas zu sagen, kurz, tun Sie es! Meinetwegen!"
Er betrachtete sie nachdenklich.
„Schön. Ich gebe mein Wort."
Ehrenwort?"
"
,Wort ist Wort! Na, da Sie's wünschen, — Ehrenwort!"
Und rasch war sie hinaus. —
Der Kaffee, die Butter und das kräftige Brot schmeckten ihm ausgezeichnet.
"
„Fast wie zu Hause, Mademoiselle, plauderte er während des Essens. „Sie
müssen nämlich wissen, ich bin der einzige Sohn, und meine Mutter ist eine
prächtige Dame, die sehr für mich sorgt, wenn ich auf Urlaub bin. Wir haben
Güter mit weiten Feldern und Wäldern. Ha, der Wald! Dort zu streifen ist
doch das Schönste! Gehen Sie gern auf die Jagd, Mademoiselle?"
Sie lachte.
„Ich weiß es nicht, denn ich habe es noch nie getan."
Er stutzte, und dann kräuselte sich seine Oberlippe ein wenig.
„Ah so! Verzeihen Sie! — Wissen Sie, immer in der Stadt zu leben, das
nutz doch schrecklich sein. Ich finde übrigens, daß Sie auch gar nicht so recht
hierher passen. Kommen mir vor wie ein Burgfräulein."
Sie errötete tief.
„Ich bin ein Bürgermädchen. Meinem Vater gehört dieses Haus, und hier
bin ich auch geboren."
„Und wo ist Ihre Frau Mama? Ich nützte mich doch Ihren Eltern
vorstellen."
„Meine Mutter ist augenblicklich krank. Und wenn Sie es wünschen, — aber
ich weiß nicht, was ich ihm jetzt noch sagen soll, mein Vater wird empört sein . . ."
Sie sah rat- und hilflos vor sich hin; in ihre Augen traten Tränen.
„O, Sie dürfen nicht weinen, Mademoiselle! Besonders nicht meinetwegen.
Ich will ja ganz still sein und Sie durch nichts betrüben."
Er sah bewundernd zu, wie sie das Haar ordnete und aussteckte.
„Welch herrliche Fülle! Beinah noch schöner aber finde ich diese zierlichen
Löckchen über den Schläfen."
Sie warf ihm einen unwilligen Blick zu.
„Ich nutz hinüber, sonst werde ich vermitzt. und man kommt, um hier nach¬
zuschauen. Hier haben Sie meine Bücher, mit denen Sie sich die Zeit vertreiben
können: Schiller, verschiedenes von Goethe, die .Pickwickiev von Boz — das ist
etwas zum Lachen! — und hier Gedichte von einem neuen Dichter. Aber Sie
find noch sehr blaß und müssen viel ruhen! Ich werde im Laufe des Vormittags
einmal nachschauen, wie es Ihnen geht.""
Er ergriff ihre Hand und drückte einen Kuß darauf. „Sie sind ein Engel!
Sie riß sich erschrocken los und war im Nu hinaus.
Er hörte, wie sie den Schlüssel im Schloß umdrehte. Dann schaute er sich
neugierig in dem anheimelnden Stübchen um, durch das ein eigentümlicher, zarter
Duft zu schweben schien, warf durch die Tüllgardine einen verwunderten Blick auf
den winzigen Hof und begann in den Büchern zu blättern. Ein mattes Wohlsein,
die behagliche Stimmung nach überstandener Erschöpfung überkam ihn, und er
"eß das Buch, in dein er ohne Aufmerksamkeit zu lesen versucht hatte, bald sinken
und dämmerte im Halbschlaf, in den Stuhl zurückgesunken, lässig vor sich hin.
Mehreremal mußte er lächeln. Was für ein wundersames Abenteuer erlebte er
hier! Er dachte auch an sein Regiment. Ob man ihn schon vermißte? Nun, er
würde sich bald einfinden; nur ein Stündchen wollte er noch in der Nähe dieser
holden, süßen Müdchengestalt weilen____
, „Das hat ziemlich lange gedauert," empfing Hegerbarth die Tochter. „Und
weht einmal in Sonntagsstaat hast du dich geworfen? Willst du auch heut in
dem blauen Wochentagskleid umhergehen, in dem du schon seit gestern steckst?"
„Ich muß ja doch heut für die Wirtschaft sorgen und auch gleich noch etwas
für den Mittag einholen."
„Was soll es heute geben?"
„Wie neugierig die Männer sind!" schalt die Mutter aus dem Nebenzimmer.
"Komm nur her, MinchenI Wir werden es feststellen, aber du brauchst es nicht
vorher zu wissen, Vater. Es schmeckt dann viel besser."
Er lachte gutmütig, und nach kurzer Beratung mit der Mutter machte Minchen
denn Schlächter Eichler und Kaufmann Rahardt die nötigen Einkäufe, wobei sie
Allerlei Klagen und grausige Schilderungen mit anhören mußte.
„Wo steckt denn der Soldat?" forschte die Fleischerfrau zudringlich.
Minchen fühlte, wie ihr Puls an den Schläfen pochte; aber sie machte sich
mit dem Deckel ihres Henkelkorbes zu schaffen und erwiderte möglichst gleichgültig:
„Was geht das denn uns an?"
Auch beim Kaufmann wurde von dieser Angelegenheit gesprochen.
„Na," erklärte eine kleine, spitznasige Frau mit blecherner Stimme, „ich Hab's
ja deutlich gesehen, wie der große, schwarzhaarige Haupimcmn da drüben, Nummer
viere L, reinjerannt ist. Die Haustiire stand ja sperrangelweit offen."
Minchen hätte beinah laut ausgelacht über die schiefe Wissenschaft dieser weisen
Frau, die mit großem Wortschwall auseinandersetzte, wo der Offizier geblieben
sein könne.
Sie war froh, als sie wieder in ihrer Küche stand und sich rüstig den Arbeiten
des Haushalts widmen konnte. Aber etwas hatte sie erfahren, das sie mit heim¬
licher Bangigkeit erfüllte. Der König sollte den Befehl gegeben haben, die Truppen
aus der Stadt zurückzuziehen. Der Vater freilich hatte diese Anordnung klug
genannt und sich in Lobeserhebungen über den milden Herrn ergangen, der trotz
seines unzweifelhaften Sieges nachgab. Aber Minchen war in stiller Sorge. Wenn
die Soldaten hier vorbeimarschierten, so konnte das der Offizier merken, und dann
wär er gewiß nicht mehr zu halten. Er würde hinauseileu, und sie — war ver¬
loren I Welche Beschämung, welche Vorwürfe und vielleicht noch Schlimmeres
warteten dann ihrer! Ach, hätte sie doch das Ganze gar nicht erst gekaut Und
sie sank neben dem Herd auf einen Schemel und schluchzte leise vor sich hin.
Doch es war keine schmerzliche Verzweiflung, es war ein eigentümliches, Wehes
Glücksgefühl, das sie so erregte.
Nachdem sie die Tränen getrocknet, machte sie für den Vater einen guten
Frühstücks im biß zurecht, zu dem er am Festtag auch ein Glas Portwein zu trinken
pflegte. So etwas mußte der Offizier auch bekommen, der doch gewiß schon
wieder starken Appetit hatte! Und während Herr Hegerbarth es sich neben dem
Bett seiner Frau schmecken ließ, verzehrte auch der Leutnant im Beisein Minchens
ein großes Butterbrot mit prächtigem westfälischen Schinken. Den Wein aber
genoß er nicht eher, als bis sie nach vielem Bitten an den: Glase genippt hatte.
„Nun erst wird es mir wirklich munden!" gestand er fröhlich. „Glauben Sie,
daß ich viel gelesen habe? War mir nicht möglich. Die Augen siud mir immer
wieder zugefallen."
„Ja, Sie müssen sich auch noch erholen. Möchten Sie sich nicht noch ein
Weilchen hinlegen? Es wird Ihnen sehr gut tun."
Er blickte sehnsüchtig nach dem Bett und reckte sich gähnend.
'
„Ja, — nur möcht ich mich von den Stiefeln befreien —"
„Das hätten Sie schon längst tun sollen. Ich gehe gleich hinaus. Aber wenn
ich nach einer Viertelstunde nachschaue, müssen Sie bereits schlafen, hören Sie?"
Er nickte lächelnd.
„Ich tue alles gern, was Sie fordern, verehrte Demoiselle."
Und als Minchen nach der angegebenen Zeit kam, schlummerte er mit den
tiefen Atemzügen gesunder Jugend.
Gott sei Dank, daß er schlief! Sie atmete erleichtert auf. Denn schon sah
sie. im Vorderzimmer angekommen, die Aufregung auf der Straße. Man kündigte
verschiedentlich an, daß die ausrückenden Achter bald vorbeimarschieren würden.
Die Fenster der Häuser, die vorher ganz verlassen schienen, waren besetzt, und die
Köpfe wandten sich der Stadt zu, ob noch nichts von den Besiegten, wie man sich
ausdrückte, zu sehen sei.
„Da kommen sie!" rief Hegerbarth, der sich weit über das Fensterbrett gelehnt
hatte und forschend dnrch den nach außen ausgestoßenen Fensterflügel schaute.
Ein Haufen Straßenjungen lärmte voraus; die Soldaten jedoch machten sehr
verdrießliche Gesichter, und der Major auf dem Pferde blickte grimmig gerade aus,
ohne das Tücherschwenken aus den Fenstern zu beachten, denn er empfand diese
Huldigung nur als Hohn.
Minchen stand scheu hinter den: Vater, und als der Major sein tänzelndes
Pferd gerade vor ihrem Hause für einen Augenblick anhielt, da war es ihr, als
ob sie zu ihrer Tür eilen und sich davorstellen müsse. Doch alles ging vorüber,
und bald standen lustig schwakende Gruppen auf der Straße und Menschen, die
sich gar nicht kannten, umarmten sich und beglückwünschten sich zu dem großen
Erfolg, den das Volk errungen hätte. .. .
Zu dem Mittagessen, das Minchen ihrem Pflegling brachte, nachdem sie in
der Wohnstube abgeräumt hatte, mußte sie den Schlummernden erst wecken. Aber
nun war er auch so erfrischt, daß ihm von der vorherigen Mattigkeit nchts mehr
anzumerken war. >. ^. .
„Ich schäme mich fast," gestand er, „daß ich Ihre liebenswürdige Gast¬
freundschaft so stark in Anspruch nehme. — O, Sie wollen mich schon wieder
verlassen, Demoiselle?"
„Ich muß nach der Küche. Aber — wenn Vater und Mutter Nachmittags¬
schlaf halten, werde ich mich nach Ihnen umschauen."
Er blickte sie dankbar an.
»Ich werde mich glücklich schätzen. Und werde ich mich nicht langweilen
bis dahin?"
„Nein. Lesen Sie nur hier in diesem Gedichtbuch! Es ist mein Lieblings¬
dichter."
„Es soll mein Nachtisch sein — hoffentlich ebenso köstlich wie das, was Ihre
u'eben Hände zubereitet haben."
Das war nun leider nicht der Fall. Das, was er da las, kam ihm teils
gesucht, teils ungesund weichlich vor. und er wiegte mißbilligend sein Haupt.
Trotzdem legte er das Buch nicht beiseite und bemühte sich redlich, dem, was ihr
gefiel, ebenfalls Geschmack abzugewinnen.
Als sie nach einer Stunde mit Kaffee und Kuchen erschien, sagte er, das
Titelblatt aufschlagend:"
„Wie heißt denn dieser Dichter? Lenau! Nie gehört!
.,O. diese Schilflieder I Nicht wahr?"
»Hin. Ganz eigenartig." Er klappte das Buch zu und warf es auf den
Tisch. „Nein, diese Sachen sind mir zu — wie soll ich sagen? — zu mondsüchtig.
Es steckt so etwas Krankhaftes darin. Kennen Sie Eichendorff? Das ist doch
etwas ganz anderes:
Herr Gott noch mal!" Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf. „Und ich
sitze immer noch hier! Ich muß fort. Ich muß! Werde nach dem Schloß gehen,
Ko mein Regiment biwakieren wird."
„Es ist — nicht mehr — hier," brachte sie mit zitternder Stimme hervor.
Er blickte sie verständnislos an.
»Nicht mehr hier?"
„Heute vormittag, als Sie schliefen, ist eS auf Befehl des Königs aus der
Stadt marschiert/'
„Hier vorbei? Und Sie haben —"
„Hören Sie, hören Sie!" unterbrach sie ihn mit fiebernder Hast. „Sie dürfen
nicht von hier fort, ehe es nicht dunkel geworden ist. Sie würden sofort erblickt
werden und wären verloren. Doch am Abend, — dann müssen Sie scheiden."
Er wurde bei diesem Wort mit einemmal ganz still. Fast scheu wiederholte er:
„Scheiden. Und — ich weiß nicht einmal Ihren Namen!"
„Hermine."
„O, Hermione —"
„Nein, nicht so, ich bin eine einfache Berlinerin. Und man nennt mich
Minchen."
„Minchen. Wie hübsch! Darf ich auch so sagen?"
Sie nickte.
Sie schwiegen eine Weile und sahen sich nur ab und zu verlegen an. Endlich
fragte er:
„Wie alt sind Sie? Ich werde noch in diesem Jahre neunzehn."
"
„Erst neunzehn? Ich werde schon zwanzig.
Er lachte kurz.
„Und doch sehe ich gewiß viel alter aus als Sie, Minchen. Ja, wir
Himmelspförtner sind ein starkes, frühreifes Geschlecht! Mein Großvater konnte
mit Daumen und Zeigefinger einen Taler zerbrechen, und einer meiner Vorfahren
soll einmal in einer Sitzung zwölf Flaschen schweren Burgunder getrunken haben
und danach ganz munter nach Hause geritten sein. Rasse! Meine Mutter gehört
da so recht hinein."
„Ich glaube, ich würde mich vor ihr fürchten."
„Nein, Minchen, so dürfen Sie nicht sagen. Und wenn ich Sie zu ihr bringe —"
„Nein! Nein!"
„O, ich werde es tun! Dann wird sie uns mit offenen Armen empfangen;
denn was ich sage und tue, gilt bei ihr. Ich werde ihr gleich von meiner lieben
Retterin erzählen —"
„Nicht weiter! Nichts mehr davon! Ich muß jetzt zu meinen Eltern. Um
sieben Uhr wird bei uns zu Abend gegessen. Gleich danach komme ich, und Sie
müssen bereit sein. Ich führe Sie dann nach der Seitenstraße, und dort gehen
Sie geradeaus bis zur Stadtmauer. Sie werden sie leicht übersteigen können.
Durch das Tor dürfen Sie nicht, weil dort die Bürgerwache ist. Dann gehen
Sie rechts über die Felder zur Frankfurter Chaussee und werden wohl Ihr
Regiment finden."
Er hatte aufmerksam zugehört.
„Mein kluges Mädchen!"
Sie schüttelte unwillig den Kopf.
„Also seien Sie bereit! Ich werde pünktlich kommen. Vertreiben Sie sich
die Zeit mit Lesen oder mit Schlafen! Wir sehen uns vorher nicht mehr."
Er wollte sie bestürzt bitten, ihm noch einige Minuten zu widmen; aber sie
preßte die Lippen zusammen, sah ihn an, als wenn sie ein aufsteigendes schmerz¬
liches Gefühl niederringen müsse, und ging gesenkten Hauptes langsam hinaus----
Der Rest des Tages verfloß ihr wie im Traum. Sie führte ein Doppelleben
und verrichtete ihre gewohnte Beschäftigung mechanisch; mit ihren Gedanken weilte sie
bei ihm und seiner Rettung. Sie ging umher wie eine Nachtwandlerin, hörte die
Stimmen ihrer Eltern wie aus weiter Ferne, und ihre ganze Umgebung schien
ihr aus Schatten zu bestehen. Oft glaubte sie, diese Unruhe müsse ihr den Busen
sprengen. Doch je näher die festgesetzte Stunde rückte, desto ruhiger und sicherer
wurde sie. Deu Eltern sagte sie, daß sie noch Wasser vom Hofbrunnen holen
müsse, und dann öffnete sie leise die Tür ihres Stübchens.
Der junge Offizier saß mit Helm und umgeschnalltem Degen im Dunkeln.
Er sprang empor.
„Endlich I Die Zeit des Wartens ist mir zur Ewigkeit geworden."
Sie stellte den Eimer nieder.
„Wissen Sie noch genau, was ich Ihnen über Ihren Weg sagte?"
„Ganz genau."
„Dann also — unten ist nicht Zeit zum Abschiednehmen — leben Sie wohl!"
Ihre Stimme bebte, sie reichte ihm zögernd die Hand.
Er führte sie hastig an die Lippen.
„Leben Sie Wohl, liebes Minchen! Und Dank, tausend Dank für alles,
Sie Liebe, Sie Gute!"
Sie zuckte zusammen.
„Nein, lassen Sie mir Ihre Hand! Minchen, glauben Sie mir, ich segne
diesen Aufstand, und ich segne diese kleine Wunde. Denn ohne das alles hätte
us Sie ja nicht kennen gelernt. Ich lebe nur noch für Sie, liebes, geliebtes
Mädchen."
„Nicht so sprechen," flüsterte sie.
„Doch! Doch!"
Und in plötzlichem Rausch umschlang er sie und küszte sie auf Stirn, Wangen
und die halbgeöffneten Lippen. Es war wie ein Frühlingswind, der über die sich
^'schließenden Knospen fährt.
Als er wieder Liebesworte stammeln wollte, gab sie ihm einen raschen Kuß,
befreite sich aus seinen Armen und sagte:
„So! Nun heißt es vernünftig sein und allen Willen zusammennehmen. Wir
dürfen unten kein Wort mehr sprechen."
„Auf Wiedersehen, liebes Minchen," flüsterte er. „Bald kehre ich zu dir zurück."
Sie stand schon mit dem Eimer in der Hand an der Tür, und er folgte ihr
behutsam die Treppe hinunter. Unbehindert kamen sie über den Hof, über-
ichritten den engen Flur eiues Nachbargebäudes, und dann wies Minchen stumm
"ut der Hand nach links und zog sich schnell zurück . . .
Der junge Mann überlegte einen Augenblick, dann stieß er entschlossen die
>ur auf und trat ins Freie. Kein Mensch war zu sehen. Die hier Wohnenden
ichlenen alle in der Hauptstraße zu weilen, von wo verworrene Laute bis hierher
bangen. Mit großen Schritten hatte er bald die graue, oben mit verwitterten
Regeln bedeckte Stadtmauer erreicht. Er forschte mit scharfen Augen daran entlang
und bemerkte einen Schutthaufen, von dem aus er die Brüstung zu fassen ver¬
mochte. Gewandt zog er sich hinauf und war bereits mit einem Bein hinüber,
als einige herumlungernde Gestalten auftauchten.
„An wei!" rief der eine, ,,'n Offizier!"
Und er packte das Bei,?, das noch von der Mauer herunterhing.
In demselben Augenblick aber bekam er einen kräftigen Fußtritt gegen den
^opf, daß er zurücktaumelte, und der Offizier war verschwunden.
Die anderen Männer waren herbeigeeilt. Der eine, der das Aussehen eines
blödsinnigen hatte, kletterte, von mehreren Fäusten unterstützt, auf die Mauer
"«d hielt mit der Rechten weit von sich ab eine alte Pistole.
-.Schieß nicht, Karl!" riefen sie ihm zu.
Aber schon hatte er abgedrückt, und der Schutz hallte in die Nacht hinaus.
Die Männer sahen sich erschrocken an, und als sie in der Ferne den Schritt
der Bürgerwehr hörten, die durch den Knall herbeigelockt wurde, da stoben sie in
alle Winde auseinander...
Minchen saß noch lange in ihrem Stübchen lind blickte hinaus in die Nacht.
Nichts regte sich in Hof und Garten. Finsternis, Schweigen und Einsamkeit
ruhten dort, nur droben hinter dem dunkelblauen Schleier blinkten sanft und
freundlich einige goldene Sternenaugeu. Sie träumte vor sich hin. Was war ihr
das Summen auf der Straße und der Freudentaumel der Bevölkerung und die
allgemeine Illumination? Wie gleichgültig war ihr das alles! Ihr war, als
wenn sie weit, weitab in einem duftigen Grunde säße, und eine wunderbare
singende, klingende Nacht wäre herabgestiegen und umschmeichelte sie mit zarten
Händen und flüsterte ihr seltsame, liebkosende Worte zu. Und den holden
Zauber nahm sie mit hinüber in den friedlichen Schlaf auf dein frischbezogenen
Lager. . .
Am andern Morgen hatte sich die Mutter erholt und widmete sich wieder
mit rüstigem Eifer den Sorgen ihres Haushaltes, wobei ihr Minchen half.
Die Tage kamen und gingen. Ein banges, zages Erwarten, eine verstohlene,
zitternde Hoffnung, eine scheue Sehnsucht lebte in ihr. Manchmal war ihr, als
wenn sie laut aufjauchzen müsse. Oft aber empfand sie ein verhaltenes Weh im
Herzen, und sie wurde traurig, tieftraurig.
Die Mutter kannte die Tochter nicht wieder. Häufig erhielt sie auf ihre
Fragen ganz verkehrte Antworten. Was war das? Und die erfahrene Frau
sagte sich, daß das nur die Liebe sein könne. Ja, seitdem Heinrich Messerschmidt
in seinen Briefen bestimmte Andeutungen gemacht hatte, daß er nach dein Assessor¬
examen um die Hand der Jugendfreundin bitten werde, seitdem der Herr Kalkulator
mit ihrem Mann eine lange, ernste Besprechung über diese Angelegenheit gehabt
hatte, von der Herr Hegcrbarth zu seinen Damen allerlei schelmische Andeutungen
machte, seit dieser Zeit war die Umwandlung mit Minchen vorgegangen. Die
Mutter freute sich im stillen, wie gut sich alles ineinanderfüge. Und doch benahm
sich die Tochter so eigentümlich! Wenn sie mit ihr von der Sache sprechen wollte,
so wich sie ihr mit ihren Antworten scheu aus und sagte gar nichts. Sie ver-
stand das nicht! Ach ja, die jungen Mädchen heutzutage! Ihr Hausarzt, der
alte Sanitätsrat Lehfeld, mutzte doch wohl recht haben, wenn er behauptete,
datz die Menschen bei dem heutigen hastigen Leben und Treiben allzu erregbare
Nerven bekämen.
Die Gemüter der Menschen begannen sich zu besänftigen, die Welt wurde
wieder eingerenkt, und das Leben näherte sich allmählich dem gewohnten Gleise.
Schon fing man an, sich mit gutmütigen Spott über die eigenen Taten und die
neuen Errungenschaften lustig zu machen. Auf der Straße sang man:
Minchen konnte nicht darüber lachen. Ihr war eher zum Weinen. Nun
waren schon sechs Wochen um, und „Er" ließ nichts von sich hören. Kein Wort!
Wo weilte er? Was war aus ihm geworden? Schier unerträglich war diese Qual
der Ungewitzheit.
Der Vater las jetzt die „Kreuzzeitung", weil er meinte, er werde durch diese
am besten über die Absichten der Regierung unterrichtet, und Minchen suchte täglich
in dein Blatt, ob sie nicht irgend etwas über das Schicksal dessen, an den sie Tag
und Nacht denken mußte, fände. Sie wußte freilich nicht einmal seinen Namen;
aber sie würde es schon merken, daß er es sei, wenn von dem sonderbaren Erlebnis
eines Sekondeleutnants die Rede sein würde.
Nichts! Gar nichts!...
Eines Abends hatte sie wieder erfolglos die Spalten durchflogen. Da gewahrte
sie auf der letzten Seite eine große, auffällig gedruckte Anzeige, und ihr war, als
wenn ihr Herz mit einem Ruck still stände, und ein heftiges Zittern befiel sie.
Der Boden schien unter ihr zu schwinden, und sie mußte alle Kraft zusammen¬
nehmen, sonst wäre sie vom Stuhl gesunken."
„Was hast du, Minchen? Fehlt dir etwas? fragte der Vater, der behaglich
in der Sofaecke saß und kleine Rauchwolken aus der langen Pfeife von sich blies.
„O, nichts."
„Du bist mit einemmal so blaß geworden. Werde uns nur nicht krank!"
"
„Du hast dich übrigens noch gar nicht geäußert, fügte die Mutter, von
ihrem Strickstrumpf aufsehend, hinzu, „ob du dich auf die Ankunft Heinrich Messer¬
schmidts freust, der doch in acht Tagen eintreffen will."
Minchen erhob sich.
„Mir ist nicht gut, Mutter."
'
„Dann wirds das Beste sein, du gehst zu Bett. Soll ich dir einen Tee kochen?"
„Nein, danke! Ich hoffe, mich bis morgen wieder erholt zu haben."
Damit begab sie sich auf ihr Zimmer. Dort angekommen, brach sie in ein
so krampfhaftes Schluchzen aus, daß sie meinte, es müsse ihr das Herz abdrücken.
Und immer wieder mußte sie sich ins Gedächtnis rufen, was sie da gelesen hatte.
Freifrau Ada von der Himmelpfort zeigte im tiefsten Schmerz an, daß es Gott
dem Allmächtigen nach seinem unerforschlichen Ratschluß gefallen habe, nach langem,
schweren! Krankenlager, auf das er infolge einer Verwundung der Lunge und
großer Anstrengung geworfen war. ihren einzigen, innigst geliebten Sohn Egon
Freiherrn von der Himmelpfort, Sekondeleutnant im achten Regiment zu Frankfurt
an der Oder, zu sich zu nehmen.
Ja, er war es! Sie erinnerte sich ganz deutlich, einmal diesen eigentümlichen
Namen von ihm gehört zu haben, und daß er der einzige Sohn sei. Er hatte
auch nur von seiner Mutter gesprochen, sein Vater lebte also nicht mehr. Und
wahrend sie über das alles nachsann, flössen unaufhörlich ihre Tränen, und sie
Meinte fast die ganze Nacht hindurch. Endlich verfiel sie in einen ruhigen Schlaf,
von dem sie am späten Morgen erquickt erwachte.
Und sie dachte ruhig über alles nach. Sein kurzes Verweilen hier war für
Ne nicht bloß ein schöner Traum gewesen. So beseligend, in alle Himmel ent¬
rückend der auch sein mag, er verweht, schwindet dahin, und nichts bleibt von
'hin, weil es nur Schein war.
Sie aber besaß fortan die Erinnerung an eine wahrhaftige, dagewesene
'Wirklichkeit. Ja, die Erinnerung! Die würde sie nun haben ihr ganzes Leben
'arg. Sie würde ihr sein wie eine blühende Laube, in die sie sich flüchten könnte,
wenn das Schicksal ihr Trübes schickte. Dann würde sie sich dort erholen und
neu gekräftigt mit geduldigen Mut alles, was auch kommen möge, ertragen. Sie
wurde nie ganz unglücklich werden können. Sie hatte da etwas, das ihr niemand
auf der ganzen Welt rauben konnte, das ihr unvergänglicher Schatz blieb bis zur
letzten Stunde.
Aus dem großen Schmerz, den sie erfahren, keimte das stolze Bewußtsein
einer stillen Erhabenheit empor, und ein Gefühl wehmütigen, entsagungsvollen
Glückes meldete sich, das groß und rein aufstieg wie der keusche Mond, der alles
mit seinem märchenhaften Glanz versöhnend übergießt.
Die Mutter hatte bei ihrem Erscheinen in der Küche schon den Kaffee gekocht
und freute sich über ihr gutes Aussehen.
„Denk nur", fügte sie wichtig hinzu, „Heinrich Messerschmidt wird schon in
vier Tagen hier sein, und zwar als Assessor! Der Herr Kalkulator hat es uns
vorhin, ehe er nach dem Bureau ging, mitgeteilt."
„Das ist schön", sagte Minchen mit fester Stimme.
Das politische Leben steht gegenwärtig im Zeichen solcher Kongresse, deren
Ziele in direktem Widerspruch stehen zu den greifbaren Zeichen der Zeit, die am
politischen Horizont hier und da auflodern. „Weltfriedenskongreß" heißt der eine,
„Weltkongreß für freies Christentum und religiösen Fortschritt" der andere. Wie
viel Unfrieden haben schon die Friedensbestrebungen und wie viel Unfreiheit und
Rückschritt die Fortschrittsaktionen bewirkt! Beide beruhen auf der falschen Vor¬
stellung, als könne der Wärme erzeugende Kampf um ideelle und materielle Güter
auf ein solches Maß zurückgeführt werden, daß er, ohne Leidenschaftlichkeit geführt
keine Hitze mehr hervorbringt. „Freiheit und Gleichheit! hört man's schallen, —
der rud'ge Bürger greift zur Wehr!" Bei den Friedensbestrebungen ist indessen
dafür gesorgt, daß sie kein Unheil anrichten können. Weise Monarchen und kluge
Staatsmänner haben dem Utopischen der Bewegung die Spitze abgebrochen, indem
sie schon heilte alle die die Beziehungen der Völker und Staaten regelnden Gesetze
entsprechend den Forderungen einer hochentwickelten Kultur aufbauten. Nur
in einem Punkte sind die Großmächte unnachgiebig geblieben: keine von ihnen
denkt daran, sich von einer andern Vorschriften über den Umfang ihrer Rüstungen
machen zu lassen und jede von ihnen ist bestrebt, diese Rüstung im richtigen Ver¬
hältnis zur Größe ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zu halten. Was Wunder,
wenn die Völker, die seit Jahrzehnten an der Spitze der wirtschaftlichen Ent¬
wicklung marschieren, auch die größten Aufwendungen für ihre Heere und Flotten
machen, — was Wunder, wenn Deutschland, das sich innerhalb vierzig Jahren
durch die Tüchtigkeit seines gewerblichen Bürgertums von untergeordneter Stelle
zu hohem Platz in der Welt emporgeschwungen hat, was Wunder, wenn es
auch einer entsprechend großen Land- und Seemacht benötigt, um sich diesen Stand
zu erhalten! Aber unter diesen Umständen dürfen wir uns auch nicht wundern,
wenn der Chor jener, die auch gern empor möchten, gerade Deutschland veranlassen
wollen, seine Rüstungen herabzusetzen und dadurch den deutschen Handel wehrlos
der feindlichen Schwäche auszuliefern.
Diese Zusammenhänge werden in unserer freisinnigen Presse verkannt, von der
sozialistischen bewußt entstellt. Als kürzlich die „Post" diese Gedanken in Erinnerung
brachte, erhob sich bei den Sozialdemokraten ein Sturm, der von Demokraten und
Freisinnigen eifrig weitergetragen wurde. Es hieß, gewisse Kreise wollten die
Regierung zu kriegerischen Taten veranlassen, um die Aufmerksamkeit der Nation
von den Schäden im Innern abzulenken. Solche Ideen werden von Blättern
verbreitet, die sich zu Beschützern der Gewerbetreibenden und des internationalen
Proletariats auswerfen, angeblich um diese vor der Unbill der „junkerlichen" und
„kapitalistischen" Politik zu bewahren! Demgegenüber kann darauf hingewiesen
werden, daß in keinem Lande die Erwerbsstände und das Proletariat so voran
gekommen sind wie in Deutschland, und daß kein Land so vielen „Ausländern"
Gelegenheit zum Erwerb und zu kultureller Weiterentwicklung gibt wie unser
Reich. Man denke nur an die große Zahl von ausländischen Firmen,
Angestellten und Arbeitern,' die durch Deutschland leben. Es gibt keinen
zweiten Staat, der jährlich fünfviertel Millionen ausländische Arbeiter
beschäftigt, also etwa sechs Millionen Ausländer ernährt. Durch diese
wirtschaftliche Erscheinung, die nur durch einen unglücklichen Krieg beseitigt werden
könnte, wird dem internationalen Fortschritt, wird der allgemeinen Kultur und
dem Weltfrieden viel mehr gedient als durch Kongresse, auf denen diese Tatsachen
als nicht vorhanden ignoriert werden. Wir wären auch schon viel weiter mit der
Beruhigung des internationalen politischen Lebens, wenn nicht gewissenlose Hetzer,
die den praktischen Aufgaben des Lebens verständnislos gegenüberstehen, immer
wieder auf Deutschland als den Hort blutgierigen Ehrgeizes hinwiesen. In Wirklichkeit
'se Deutschland einem reichen Gabentisch vergleichbar, von dem jeder sich nehmen kann,
der an der Beschaffung der Gaben mitwirkt, von dem wir aber jeden mit
Waffengewalt verjagen,'der, selbst unfähig etwas zu leisten, uus den Reichtum
wißgönnt.
Nun dürfen wir in den: Auftreten der erwähnten Presse nicht allen: berechnende
Bosheit erkennen, sondern müssen in ihr auch den Spiegel derjenigen Kreise sehen,
in denen sie gelesen wird und deren Anschauungen sie wiedergibt. Es ist natürlich,
daß jede einmal zur Entfaltung gekommene Kraft sich selbst aus der eigenen
Wirksamkeit heraus stärkt und daß sie sehr bald die Einrichtungen und Verhält¬
nisse, die ihre Entwicklung allein möglich gemacht haben, als Hemmnisse und
Schädiger empfindet. Fehlen dann besonnene Volksvertreter in der Politik, große
Geister in der Wissenschaft und starke Persönlichkeiten am Staatssteuer, dann
schießen allerorten Gedanken und Vorschläge auf. die darauf ausgehen, subjektiv
als Hemmnis empfundene Einrichtungen zunächst zu beseitigen. Eine von der
Hand in den Mund lebende Negierung unterstützt zunächst die Neuerer, da auch
ste alle Kräfte möglichst ausgenutzt wissen will. Sie hat auch Erfolge. — Teil¬
erfolge, und wendet ihre Kraft darauf, möglichst viele solcher Teilerfolge zu erreichen.
Sie zersplittert sich und die Nation und muß in dem Augenblick kraftlos zurück¬
weichen, wenn es gilt, alle Energie auf die Durchführung einer einzelnen großen
Aktion zu vereinen. Diese.Kraftlosigkeit hat gewöhnlich ihren Grund in dem
Umstände, daß, während alle Welt in der Entfaltung der materiellen Kräfte tätig
'se. die Ausbildung ideeller Kräfte vernachlässigt wird. Neben einem Hochstand
der wirtschaftlichen Organisation entwickelt sich geistige Anarchie auf allen den
Gebieten, wo die Geistesarbeit nicht dem Gelderwerb dient. Deutschland hat diesen
Weg durchgemacht und ächzt eben unter den Folgen. Es hat der Wirtschaft mit
allen Kräften gedient, aber darüber die Verbreiterung und Vertiefung der kulturellen
Basis vernachlässigt. Die sachliche Ausbildung ist gewachsen, die allgemeine Bildung
ist nicht entsprechend gefördert. Wir haben ein Geschlecht von hervorragenden
Spezialisten hervorgebracht, sind aber im allgemeinen nicht gebildeter geworden.
Die Nation empfindet dies Mißverhältnis und gibt ihrem Empfinden Aus¬
druck durch das vielfache, schwärmende Tasten und Suchen, dem wir auf Schritt und
Tritt in allen Schichten begegnen. Eine der mächtigsten Regungen, die aus
der Verworrenheit strebt, liegt der Bewegung für freies Christentum und
religiösen Fortschritt zugrunde. Sie ist der Reflex jenes gewaltigen Sehnens,
das besonders die evangelische, aber auch einen kleinen Teil der katholischen Welt
ergriffen hat. Sie ist der Reflex des Unbefriedigtseins, das übrig geblieben ist als
Ergebnis der Arbeit um materielle Güter. In dieser Tatsache liegt die treibende,
sich erneuernde und stetig wachsende Kraft der Bewegung. Aber darin liegt auch
ihre politische Gefahr, die wir um so mehr beleuchten müssen, je sympatischer
uns die Ziele des religiösen Fortschritts an sich sind.
Um es mit zweiWorten zusagenliegenunsere Bedenken infolgendem: diesichgegen
die Kirche richtende Bewegung kann praktisch zunächst nur der Religiosität schaden, weil
sie alle die schwachen Ansätze zu zerstören sich anschickt, diesichbishergegendiePapstkirche
entwickelt und erhalten haben. Alle freireligiösen Bestrebungen vertreiben die Menschen
zunächst aus der evangelischen Küche und treiben die Massen in die römisch¬
katholische. Denn es gehört ein hohes Maß von Bildung dazu, um uns mit
dem höchsten Wesen in Verbindung erhalten zu können, ohne eines Mittlers zu
bedürfen' es gehört ein hohes Maß innerer Freiheit dazu, um die Verantwortung
ständig bewußt allein tragen zu können, die uns die Zugehörigkeit zur .Kirche
Luthers auferlegt. Diese Kirche aber ist in ihrer Organisation so schwach geblieben,
daß sie religionslose Menschen äußerlich uicht bei sich festhalten kann, während
umkehrt in der Papstkirche jeder Atheist Unterkommen findet, der sich dazu versteht,
gewissen rein äußerlichen Vorschriften nachzukommen. Wir mißbilligen darum den
„Weltkongreß für freies Christentum" aufs schärfste. Die auf ihm zur Verhandlung
stehenden Fragen sind noch so unreif, daß sie, öffentlich behandelt, nur mehr
Verwirrung als Segen stiften können. Die Fortschritte, die wir suchen müssen,
liegen auf dem Gebiet der Schule. Wollten die Männer, die Zeit und Geld und
Kraft für den „Weltkongreß" opfern, solche lieber für eine praktische Reform des
Unterrichtswesens in den Einzelstaaten Deutschlands einsetzen, so würden sie der Nation
und der Menschheit reellere Mittel zur Ausübung wahrer Religiosität an die
Hand geben, als mit den voraussichtlichen Ergebnissen dieses Weltkongresses, den
die Herren Schrader, Naumann, Rade und Rohrbach zusammengerufen haben.
Wenden wir unsere Gedanken von den großen Menschheitsproblemen der
nüchternen Wirklichkeit in der Politik zu, so fesseln uns vor allen Dingen die Vor¬
gänge in den beiden großen Parteien, im Zentrum und bei den Nationalliberalen.
Über die Vorgänge innerhalb der Zentrumspartei lassen wir einen Katholiken
berichten. Bei den Nationalliberalen stellen wir mit Genugtuung eine beginnende
Beruhigung fest. Die Gegensätze zwischen dem rechten und linken Flügel, die
übrigens nicht in der Sache, sondern ausschließlich im Temperament begründet
liegen, haben sich, seit es feststeht, daß Bassermann der Partei erhalten bleibt,
wieder völlig verwischt, so daß die Partei wieder als eine machtvolle Organisation
auf den Plan treten kann. Immerhin sollte die Parteileitung aus den nun
überwundenen Unstimmigkeiten ersehen, daß sie etwas in der Organisation der Partei
nachzuholen hat. Wir meinen, es ist eine gefährliche Situation, nicht nur für
eine Partei, sondern für die innere Politik überhaupt, wenn der Bestand der
größten nationalen Partei sozusagen auf zwei Augen beruht. Bassermanns Ver¬
dienste um das Vaterland werden nicht geschmälert, wenn wir das hervorheben.
Sache der Parteileitung muß es sein, mehrere allgemeines Vertrauen genießende
Männer für die Partei heranzubilden, die im Falle der Not für den bewährten
Führer einspringen können.
In der internationalen Politik herrscht im allgemeinen Ruhe. Die Vorgänge
in Spanien sind noch nicht bis zu dem Stadium entwickelt, wo Interessen der
übrigen Staaten praktisch berührt werden. Dem spanischen Volke können wir nur
wünschen, daß ihm ein zweiter Cavour erstünde, der es von der klerikalen Mißwirtschaft
befreite. - In der Türkei vollzieht sich langsam aber stetig eine innere Konsolidierung.
Die Kämpfe haben den Jungtürken auch neue Gesichtspunkte sur die Beurteilung
anderer Staaten beigebracht. Darum sehen wir ein wachsendes Mißtrauen
gegen die englische Politik, größere Zuneigung zu Frankreich und vertrauensvolles
Verstehen deutschen Wesens. - Die Liberiasrage ist ungebührlich aufgebauscht
worden; es stehen dort nicht größere deutsche Interessen aus dem Spiel, wie in
andern ähnlich gearteten Staatengebilden. Wenn Kaufmann und Diplomat in
dieser Angelegenheit vertrauensvoll und ruhig miteinander Hand in Hand gehn,
dann dürfte auch die Entwickelung einer unangenehmen Konkurrenz hintan gehalten
Werden.
Durch die Veröffentlichung der Schrift
»Köln, eine innere Gefahr für den Katholizismus" hat sich vor kurzem der in
Stvtzheim lebende Kaplan Schopen zum Sprecher jenes Teils der Zentrums-
anhänger gemacht, denen die Partei nicht ausgesprochen genug katholisch ist.
Der Widerstreit zwischen den zwei Richtungen im Zentrum, der einen, welche
in der Partei klipp und klar die politische Vertretung des Katholizismus steht,
und sie als eine „katholische Organisation" der geistlichen Vormundschaft unter¬
stellen möchte, und der anderen, welche sie als eine rein politische interkonfessionelle
Partei angesehen wissen will (ohne im übrigen hiermit ernst zu machen und ohne
aufzuhören, in erster Linie den katholischen Interessen zu dienen), ist so alt wie
die Partei selber Ebenso alt ist auch das Streben der, Zentrumspartei, diesen
Gegensatz, den man vielleicht am besten mit „hie rem-klerikale, hie politische
Führung" bezeichnen könnte, nach außen hin möglichst zu vertuschen, um dem
Zentrum seine Geschlossenheit zu erhalten.
^.„>^^,In den letzten Jahren, insbesondere seit Herr Julius Bachem den viel
genannten Artikel Wir müssen aus dem Turm heraus" veröffentlicht und damit
über die Frage wie die politische Betätigung der Katholiken und des Zentrums
stet) °u gestalten habe, eine gewisse Scheidung der Geister herbeigeführt hat, ist
diese Vertuschung der Gegensätze immer weniger gelungen. Voriges Jahr brach en
dann die Abgeordneten Roeren und Bitter den Stein ins Rollen und machten
den Gegensatz zwischen der Roerenschen und der „Kölner" (Baadenschen) Richtung
allem Volke offenkundig. Die Zentrumsleitung, welche im allgemeinen auf
Baadenschen Standpunkt steht, versuchte bekanntlich im Herbst, durch eme offizielle
"Erklärung" über den Charakter des Zentrums, welcher auch der Abgeordnete
Roeren durch Mitunterzeichnuug äußerlich beitrat, den Frieden zu vermitteln.
Umsonst! Das Feuer glimmte unter der Asche weiter und die jetzige Veröffent¬
lichung des Kaplans Schopen zeigt, daß die Anhänger der intrcmsigenten Richtung
gar nicht daran denken, sich zu fügen, auch selbst nicht äußerlich den Gegensatz
vertuschen wollen, wie dies die Leitung der Partei auch jetzt noch am liebsten sahe.
Der Streit hat sich vielmehr erweitert, der Streitpunkte sind mehr geworden
und den Herren Roeren, Bitter und Schopen ist in Dr. C. M. Kaufmann in
Köln, dem Herausgeber der „Apologetischen Rundschau", und seinen Mitarbeitern
eine kräftige Hilfe erstanden. Die Gesamtheit des katholischen Lebens") ist von
diesen Herren in den Streit hineingezogen worden und die Prcfzfehde zwischen
ihnen und der „Kölnischen Volkszeitung", als der Vertreterin der „Baadenschen
Richtung", wird mit so großer Erbitterung und Hartnäckigkeit geführt, daß ein
Durchfechten des Kampfes und eine Stellungnahme der Zentrumsleitung in dieser
Frage unvermeidlich erscheint. Schon dies läßt die ganze Frage zu einer solchen
werden, die das Allgemeininteresse in Anspruch zu nehmen verdient. Denn Führung
und Ausgang des Streites sind nicht nur für die Katholiken, sondern für unser
gesamtes öffentliches Leben von großer Wichtigkeit.
Zur Orientierung der Leser seien die Gegensätze, wie sie Herr Schopen in
seiner Schrift zusammenfaßt, hier angeführt. Er präzisiert sie folgendermaßen:
1. Bachem sagt: „DerWeltanschauungscharakter und die Interessenvertretung des
katholischen Volksteiles müssen aufgegeben werden, um die Zentrumspartei als
wirtschaftliche Sammelpartei der Zukunft zu erhalten."
Roeren dagegen sagt: „Die wirtschaftliche und organisatorische Kraft des
katholischen Volkes muß aufgeboten werden, um der Partei in der kommenden
Auflösungsperiode**) den festen Rückhalt in der Wählerschaft und damit den
Bestand zu sichern, und um im äußersten Notfall für die Initiative der neu sich
gestaltenden Verhältnisse gerüstet zu sein. . .
2. Bachem stellt den Grundsatz auf: „Die nationale Einheit des konfessionell
zersplitterten deutschen Volkes fordert katholischerseits den weitgehendsten Zusammen¬
schluß in überkonfessioneller, nationaler Kulturgemeinschaft, und im Zurückdrängen
aller auf konfessionelle Beeinflussung hinstrebenden Elemente nutz das katholische
Deutschland die Sicherung seiner Zukunft suchen durch völliges Eintauchen in die?
Gesamtkultur des übrigen Deutschland."
Roeren entgegnet: „Der nationalen Zukunft Deutschlands sind wir die
Mehrung und Stärkung eines ungetrübten katholischen Volkstums schuldig, dessen
unser Vaterland in ernster Stunde bedürfen wird. Die Schäden der von der
Reformation verursachten Zersplitterung können nur durch strenge Durchführung
der verfassungsmäßigen Parität, niemals aber durch Preisgabe des dem Vater¬
lande notwendigen katholischen Volkstums verhindert werden. . . ."
!!. Für die Richtung Roeren ist das kirchliche Problem der Schwerpunkt ihrer
Gedankengänge. Für die Richtung Bachem ist es die Achillesverse. Die Richtung
Roeren hat eines nicht verloren, was die ätzende Säure der scheinbar so macht¬
vollen Zeitumgebung im Herzen der Baadenschen Richtung zerstörte: das katholische
Selbstbewußtsein, das nicht in der Außenwelt Heilung und Erneuerung für den,
Katholizismus sucht, sondern im Katholizismus das einzig tragkräftige Prinzip
für eine gesunde Weltkultur erkennt.
Bezüglich der hier wiedergegebenen Ansichten der Roerenschen Richtung kann
man diese Anführungen der Schopenschen Broschüre mit vollem Recht als zutreffend-
ansehen. Denn der Geh. Justizrat Roeren hat sich in den verschiedenen Veröffent¬
lichungen, welche er in der Angelegenheit der Schopenschen Broschüre der „Kölnischen
Volkszeitung" zugehen ließ, immer nur gegen die Annahme seiner Mitautorschaft
an der fraglichen Broschüre verwahrt und immer nur davou gesprochen, daß er
von der Herausgabe der ersten, grundlegenden Fassung dieser Broschüre abgeraten
habe. An keiner Stelle aber wendet er sich gegen die in dieser Broschüre ver¬
tretenen Grundsätze Im Gegenteil, in seiner letzten Kundgebung, abgedruckt in
Ur. 523 der „Kölnischen Volkszeitung", heißt es: „Nach meiner Überzeugung
verdient die Schrift trotz einiger Übertreibungen wegen der durchaus zutreffenden
grundsätzlichen Darlegung des Streites die weiteste Verbreitung und ist wohl
geeignet/ diejenigen, die sich ernstlich ein objektives Urteil bilden wollen zu
orientieren " Mit diesen Worten tritt Herr Roeren nicht uur für die Schopenschen
Anschauungen ein, sondern erklärt auch dessen Beurteilung der gegnerischen, der
Baadenschen, für im allgemeinen zutreffend. Mit welchem Recht, sei später erörtert.
Die Schopensche Argumentation ist nun folgende:
1. Die katholische Kirche ist die einzig wahre, sie ist die Kirche nicht eine
unter verschiedenen gleichberechtigten. Sie allein hat eine innere Existenzberechti.
gnug. sie allein ist befähigt, alle Schäden der Welt zu heilen. Dieser Glaube ist
die Grundlage der katholischen Weltanschauung. „, , , , ^ ,
2. Auf dieser Grundlage baut sich naturgemäß der Anspruch der Allein¬
berechtigung des katholischen Prinzips auch für das öffentliche Leben auf, denn
nur vom Katholizismus ist in der Stunde der Not Heil für das Vaterland zu
erwarten. Mir die Gegenwart", heißt es freilich, „gibt es zur nationalen
Einigung der konfessionell getrennten Volkshälften kein anderes Mittel als die
strengste Parität, zu deren' Wahrung im neuen Deutschen Reiche das Zentrum
von den Katholiken einst als Verfassungspartei gegründet wurde."
3. Die Roeren-Schopensche Richtung sieht im Zentrum die Konzentration
"ut Verkörperung der katholischen Weltauffassung. „Die Zukunft der katholischen
Kirche in Deutschland ist der eigentliche Ausgangspunkt ihrer Ideen. Ihr ist die
Partei parlamentarische Verwirklichung einer Weltanschauung, und darin liegt ihr
Wesen. Wie wird dieser Weltanschauung die kraftvolle Stütze gewahrt?" Man
sieht, hier wird daS Zentrum ausschließlich für den Dienst der katholischen Welt¬
anschauung beansprucht.
4. Das katholische Prinzip ist das der kirchlichen Autorität. Alle Betätigung
or öffentlichen Leben, jede Laienorganisation muß. je nach dem Gebiet ihrer
Wirksamkeit, direkt oder indirekt dem Hirtenamt der unfehlbaren Wächtern des
Offenbarungsschatzes zustehen. „Die letzten Grundlagen aller menschlichen Be¬
tätigung sind religiös-sittlicher Natur. Daher hat die Kirche ein Recht ans die
^direkte Leitung auch der außerreligiösen Lebensäutzerungen." Demgemäß auch
auf die direkte oder indirekte Leitung alles dessen, was das Zentrum unternimmt,
L- Trotz dieses Standpunktes nennt auch Kaplan Schopen das Zentrum eme
politische und keine konfessionelle Partei!! ^ ^
Diesen ganzen Schopenschen Gedankenaufbau und semen aus ihm sich
ergebenden Standpunkt wird man. so sehr er auch zunächst durch theoretische Logik
besticht, dennoch auf das bestimmteste ablehnen müssen.
Schon der erste Satz von der Alleinrichtigkeit der katholischen Glaubens- und
Sittenlehre wird nur von den Katholiken anerkannt. Er kann also in einem
Staate, in welchem Bürger verschiedener religiöser Bekenntnisse leben - und das
und heutzutage alle europäischen Staaten gerechterweise nicht offizielle
Anerkennung finden. Der Staat muß sich vielmehr unabhängig von allen
religiösen Bekenntnissen halten. Er kann sich höchstens als christlicher proklamieren,
aber nicht als evangelischer oder katholischer.
Es folgt daraus, daß auch diejenigen Staatsbürger, welche sich politisch
betätigen wollen, insoweit sie den Anspruch erheben, staatserhaltende Politik zu
treiben, mit dieser im öffentlichen Leben notwendig gegebenen Sachlage rechnen
müssen. Auch die Katholiken können nicht beanspruchen, daß hier der Satz von
der allein richtigen katholischen Weltanschauung Geltung habe. Mögen sie auch
persönlich von dessen Richtigkeit überzeugt sein, sie können ihn doch nicht zur
Grundlage ihrer politischen Arbeit machen.
Nun sagt Herr Schopen freilich, für die Gegenwart (d. h. nämlich solange
die katholische Weltanschauung noch nicht genügend Oberwasser bekommen habe,
um sich als allein richtig durchzusetzen) sei strengste Parität das einzige Mittel zur
nationalen Einigung der konfessionell getrennten Volkshälften. Daß dies letztere
der Fall ist, muß zugegeben werden. Aber man darf die Parität nicht, wie Kaplan
Schopen sie versteht und befürwortet, als vorübergehendes Friedensmittel betrachten,
nicht als Hilfsmittel, um die katholische Minorität zu schützen, bis es dieser
gelungen sei, die Majorität zu erlangen, sondern man muß sie, ohne Hintergedanken,
offen und ehrlich anstreben. Sonst ist das, was man erstrebt, überhaupt keine
Parität, sondern nur eine Ausnutzung der vorhandenen Paritätsgesetze. Wie Herr
Schopen seine Parität auffaßt, geht schon daraus hervor, daß er schreibt, zur
Wahrung derselben sei das Zentrum von den Katholiken als Verfassungspartei
gegründet worden, dasselbe Zentrum, das er als Vertreter der katholischen Welt¬
anschauung reklamiert und als katholische Organisation unter die Leitung des
kirchlichen Hirtenamts gestellt sehen will.
Was nun diesen letzten Punkt betrifft, nämlich den Anspruch der direkten oder
indirekten Leitung aller, auch der auszerreligiösen Lebensäußerungen durch die
katholische Kirche, so ist sich Kaplan Schopen vielleicht selbst nicht klar, welche
grandiose Forderung er damit aufstellt, und welche unglaublichen Ungereimtheiten
die Folge einer Durchführung seines Prinzips sein würden. Vielleicht meint er
auch etwas anderes, als er sagt. Er meint vielleicht nur, daß bei einem Katholiken,
der seinem Glauben entsprechend lebt, alle Handlungen, insoweit sie nicht absolut
gleichgültiger Natur seien, da sie nicht im Widerspruch zu seinem Glauben stehen
dürfen, dieser aber wieder in seinen wesentlichen Punkten durch die Kirche festgelegt
sei, naturgemäß unter dem Einfluß des kirchlichen Glaubens stehen müssen. Gesagt
hat er aber, die Kirche sei berechtigt, alle Betätigungen des öffentlichen Lebens
entweder durch ihre Organe direkt leiten zu lassen oder durch Beeinflussung der
an leitender Stelle befindlichen Laien indirekt zu führen. Mit einem Wort:
Unterordnung jeder öffentlichen Tätigkeit der Katholiken unter die Organe der
Kirche, d. h. Durchführung der klerikalen Herrschaft bis in ihr letztes Extrem. Die
Schäden, die nicht nur für den deutscheu Katholizismus, sondern auch für unser
gesamtes Volksleben hierdurch entstehen würden, sind gar nicht auszudenken.
Bekanntlich hat gelegentlich der Äußerung des Kardinals Vanntelli über die
gehorsame Anhänglichkeit der Katholiken an den Papst das ,,/matenus reliZionem
attiriZit" eine große Rolle gespielt, und es ist noch kürzlich in verschiedenen
Zentrumsäußerungen auf die Wichtigkeit dieser Einschränkung hingewiesen worden.
Kaplan Schopen und seine Hinterleute möchten so ziemlich alles in daS
Gebiet der Kirche gehörig für den Gehorsam reklamieren, die Bachemsche Richtung
und mit ihr die Zentrumsleitung denkt darüber wesentlich anders. Diese Frage,
was als ein die Religion berührender Gegenstand zu betrachten ist, was nicht,
mit anderen Worten die Ansichten über die Begrenzung des Einflusses der kirch¬
lichen Organe, bildet den Kernpunkt des Gegensatzes zwischen den beiden Richtungen
im Zentrumslager. Alle übrigen in der Schopenschen Broschüre erhobenen
„Anklagen" sind teils ganz aus der Luft gegriffen, teils unglaublich aufgebauscht,
und zerfallen bei näherer Betrachtung in sich selbst. So liegt es der „Kölner
Richtung" völlig fern, die Vertretung der Interessen des katholischen Volkstcils
durch das Zentrum vernachlässigen zu wollen. Man braucht doch nur die Tätigkeit
dieser Partei zu verfolgen, um sich des Gegenteils bewußt zu werden. Das Aus¬
hängeschild der Jnterkonfessionalität brauchte wirklich die konfessionellen Eiferer
nicht zu stören. Ebensowenig denkt sie daran, die katholische Weltanschauung bei¬
seite schieben zu wollen, um durch Eintauchen in die Gesamtkultur des übrigen
Deutschlands sie sozusagen allmählich verschwinden zu lassen. Sie ist nur der
Ansicht, daß auch die katholischste Weltanschauung nicht umhin kann, die Dinge
zu nehmen, wie sie sind, und nicht imstande ist, das ihr nicht Zusagende einfach
zu ignorieren. Wie weit sie aber von einem Eintauchen in die Gesamtkultur des
übrigen Deutschlands entfernt ist, die dazu führen könnte, die katholische Welt¬
anschauung allmählich verschwinden zu lassen, das zeigen doch mit nicht zu ver¬
kennender Deutlichkeit die auch von dieser Seite gutgeheißenen Bestrebungen zur
Absperrung der Katholiken in konfessionellen Vereinigungen zu nichtreligiösen
Zwecken.
Endlich ist es geradezu lächerlich, ihr vorzuwerfen, sie habe das katholische
Selbstbewußtsein verloren und sähe in der Außenwelt Heilung und Erneuerung
für den Katholizismus.
Gerade dadurch, daß die Schopensche Schrift bei der Kölner Richtung der¬
artige Dinge wittert und sie ihr nachsagt, zeigt sie, daß sie nicht auf gesundem
Boden steht, sondern sich in einer krankhaften Überspannung der Begriffe bewegt.
Wie sehr selbst Äußerungen des konfessionellen Fanatismus, wenn sie in die
Öffentlichkeit dringen, geeignet sind, die Zentrumspartei zu schädigen, darüber sind
sich auch die führenden Blätter der Zentrumspartei klar. Daher ihr Zorn gegen
diejenigen, welche den Streit in die Öffentlichkeit getragen haben und ihn nicht
ruhen lassen. So schreibt die „Kölnische Volkszeitung" am 10. Juli d. Is.:
„Die Sache muß daher ausgetragen werden, und zwar nicht nur in der Zentrums¬
presse, wo dies nun so ziemlich und zwar in der Hauptsache einmütig geschehen
ist, sondern auch innerhalb der Zentrumsfraktionen, die es sich nicht gefallen lassen
können, daß gegen die wesentlich unter ihrer Mitwirkung beschlossene authentische
Erklärung vom November vorigen Jahres noch immer verstoßen wird. Diese
Erklärung muß als ein KoLker ac Krönte stabiliere werden, denn es wird nicht
eher Ruhe werden, als bis unantastbar feststeht: zum Zentrum gehört nur, wer
die in dieser Erklärung stabilierte prinzipielle Grundlage desselben als politische,
nichtkonfessionelle Partei anerkennt; wer sie aber in Frage stellt, der stellt sich
damit selbst außerhalb der Zentrumspartei."
Als Kooner nie dron-le kann nun freilich diese November-Erklärung nicht
gelten, da sie ein so gewundenes und in sich widerspruchsvolles Machwerk ist.
Sie stellt im Eingang die Zentrumspartei als interkonfessionelle, politische Partei
hin, nennt sie dann weiter eine Partei der Katholiken und gelangt am Schluß
dazu, in ihr die Verfechterin der katholischen Interessen zu sehen! Auch bestimmt
sie gar nicht klar, was unter politischer, nichtkonfessioneller Partei zu verstehen sei.
Wie sehr dieser Begriff aber schwankt, das geht daraus hervor, daß selbst die
Roeren, Schopen und Bitter, trotz ihrer ausgesprochen konfessionellen Forderungen,
glauben, die Fiktion vom interkonfessionellen Zentrum aufrecht erhalten zu können.
Sie meinen damit natürlich nur, daß die Partei gern bereit ist, auch Anders-
gläubige in ihre Reihen aufzunehmen, wenn diese sich dem auf Förderung der
katholisch-kirchlichen Interessen und auf Durchsetzung der katholischen Welt-
cmschauung gerüsteten Zeutrumsprogrcmun anschließen. Das ist dann freilich eine
eigentümliche Sorte von Jnterkonfessionalität.
Meint die „Kölnische Volkszeitung" aber eine wirkliche Jnterkonfessionalität,
ist sie sich dann wohl klar der Konsequenzen ihrer Forderung? Würde mit einer
solchen ernst gemacht, so müßten zunächst ausscheiden die Abgeordneten Bitter
und Roeren. Denn daß der Standpunkt deS ersteren einem wirklichen Jnter-
konfessionalismus der Partei widerspricht, ist klar, und ebenso steht nach den
neuesten Veröffentlichungen fest, daß der letztere sich rein äußerlich der Entscheidung
der Zentrumsleitung gefügt hat, es ihm jedenfalls nicht in den Sinn gekommen
ist, einer wirklichen Jnterkonfessionalität zuzustimmen. Es müßten ausscheiden so
manche weitere Abgeordnete, die in ihrem Inneren mit der „Kölner Richtung"
nicht einverstanden sind. Es „stellten sich selbst außerhalb des Zentrums" alle
die katholischen Geistlichen, die das Zentrum nnr deshalb unterstützen, weil es die
katholische Partei ist, und weil sie es für dessen Aufgabe halten, die katholische
Weltanschauung im öffentlichen Leben zur Geltung zu bringen und die Interessen
der katholischen Kirche zu vertreten. Und die ganze große Masse der von diesen
Geistlichen geleiteten Zentrumswähler, die für das Zentrum aus religiösem Pflicht¬
gefühl eintreten zu müssen glauben, sie würde für das Zentrum in Wegfall
kommen. Denn sie alle wollen von Jnterkonfessionalität im Grunde des Herzens
nichts wissen. Wenn sie nicht lauter dagegen auftreten, sich nicht rückhaltlos dem
Vorgehen der auf Roeren-Schopenschem Standpunkt stehenden anschließen, so
liegt dies nur daran, daß sie unter allen Umständen die Geschlossenheit der
Partei erhalten wollen und durch ihre Tätigkeit! nnerhalb der Partei die auf
das Juterkonfessionelle hinzielenden Regungen am besten bekämpfen zu können
glauben.
Um sich klar zu werden, wie wenig im allgemeinen der interkonfessionelle
Gedanke bei den Zentrumswählern beliebt ist, dazu braucht man bloß daran
zurückzudenken, welch große Mühe es gekostet hat, ihn innerhalb der Windhorst¬
bunde durchzusetzen. Wie sehr haben diese sich gesträubt, ihren spezifisch und
ausschließlich katholischen Charakter auf Wunsch der Zentrumsleitung wenigstens
nicht mehr prinzipiell aufrecht zu erhalten. Und da handelte es sich doch um
junge Leute von Bildung, denen mit politisch-taktischen Gesichtspunkten bei¬
zukommen war. Verfangen solche aber auch in der großen Masse des Volkes?
Sicherlich nicht. Mit der Parole: „Es gilt unseren katholischen Glauben, es gilt
das Heil der Kirche" kann man das gläubige katholische Landvolk selbst jetzt noch
dahin bringen, daß es heute einem Sozialdemokraten seine Stimme gibt und
morgen einem weit rechts stehenden Magnaten. Für ein sogenanntes inter¬
konfessionelles Zentrum aber läßt es sich nicht erwärmen. Das ist höchstens in
Arbeiterkreisen, und wo sonst noch eine solche interkonfessionelle Politik wirtschaft¬
liche Vorteile zu bringen geeignet ist, ausführbar.
Darum wird dieser von der „Kölnischen Volkszeitung" so stolz angesägte
Kampf vielleicht auslaufen wie das Hornberger Schießen, denn auf eine reinliche
Scheidung der Geister innerhalb des Zentrums über die Frage des Jnter-
konfessionalismus wird weder die „Kölnische Volkszeitung" hinarbeiten wollen,
noch ist der Zentrumsleitung an einer solchen gelegen. Beide wissen zu gut, daß
dies mit dem Zerfall der Partei gleichbedeutend sein würde.
Eine andere Frage ist, ob nicht von der Gegenseite, der Roeren-Schopenschen,
der Kampf, weniger über die Frage des Jnterkonfessionalismus als über die der
geistlichen Leitung, in einer Weise fortgeführt wird, die ein wirkliches Austragen
des Streites zur Notwendigkeit macht. Das in der Juli-Nummer der „Apolo-
getischen Rundschau seitens des Dr. Kaufmann veröffentlichte „Wort an die
„Kölnische Volkszeitung" deutet darauf hin.
Jedenfalls steht so viel fest, daß eine starke Gruppe innerhalb des Zentrums,
und zwar eine Gruppe, die unter den Wählern viel Anhang hat, dauernd arg¬
wöhnisch darüber wacht, daß die exklusiv katholischen Ziele der Partei nicht aus
den Augen gelassen werden. Mag es jetzt zum offenen Kampfe kommen oder
der Riß noch einmal verkleistert werden, indem es gelingt, diese konfessionellen
Heißsporne durch taktische Gründe dahin zu bringen, daß sie sich äußerlich
Mäßigung auferlegen: ihr Einfluß bleibt fortbestehen und wirkt unter der Decke
weiter.
Über kurz oder lang muß es zur Entscheidung kommen. Diese Heißsporn¬
elemente müssen klar und endgültig abgeschüttelt werden, selbst auf die Gefahr
hin, daß die Partei die Hälfte ihres Bestandes einbüßt. Gelingt ihr dies nicht,
Im „Börsenblatt für den deutschen
Buchhandel" wird zurzeit wieder einmal die Madjarisierung der deutschen Stüdte-
namen Ungarns erörtert. Neu ist die leidige Frage ja nicht. Aber den national
Gesinnten interessiert sie doch immer wieder. Ein Angestellter des Pariser Buch¬
händlers und Antiquars H. Welter hat auf Grund der „Minerva" eine Postsendung
an das Antiken- und Münzkabinett des Siebenbürgischen Museums zu Klausen¬
burg adressiert und zwar „ganz entgegen der eigenen Gepflogenheit" des Herrn
Welter. Die Sendung kam zurück mit folgenden zwei Stempeln: Vissxa! Ketour!
0n n'ALcepto que les lettres acZressses a Koko/Zvär (»onZne). — pourquoi
voulsx-vous Zermaniser 1a ttonZris? Lro^en-vous qu'it n> Ä pas a3se? as
?russisns? Herr Welter zieht daraus die Folgerung: „Die Minerva täte gut,
durch vollständige Unterdrückung der administrativ nicht gebrauchten und nicht
zulässigen (I) deutschen Namen ungarischer Städte nur noch die ungarischen den
Benutzern in die Feder zu leiten." Das „Unrecht (!), dem Nationalitätenstolz der
Ungarn keine Rechnung zu tragen", könne „üble Folgen und Kundenverlust zur
Folge (!) haben". - Es ist erfreulich, daß von den Buchhändlern, die zu dieser Anregung
das'Wort genommen haben, kein einziger dies „Guttun" befürwortet hat. Der
Verleger der „Minerva" selbst, Trübner in Straßburg, erwidert: „Die Minerva
ist ein deutsches Buch, und so sind durchgängig, soweit möglich, die deutschen
Bezeichnungen in das Hanptalphabet gesetzt.. - Wird die von Herrn Welter
gewünschte Änderung vorgenommen, so muß sie auch konsequent durch das ganze
Buch für alle Länder durchgeführt werden; also es müßte heißen: Kjöbenhavn
statt Kopenhagen, Malines statt Mecheln, Bucurest: statt Bukarest, Firenze statt
Florenz usw. Ob aber eine so durchgreifende Änderung angängig ist, muß ich
erst näher überlegen." Entschiedener äußert sich W. Vlumtritt in Dachau bei
München, der meint, die weise „Minerva" würde aus verschiedenen Gründen sehr
unweise handeln, wollte sie die deutschen Namen zurücksetzen. „Was nun die
.vollständige Unterdrückung/ der deutschen Stddtenamen in Ungarn betrifft, so fällt
es uns gar nicht ein, bei der gewaltsamen Magyarifierung eines Landes (Sieben¬
bürgens), das kaum zu einem Drittel von Magyaren bewohnt wird, mitzuwirken.
Wenn Herr Welter den Aationalitätenstolz der Ungarn' einmal in Ungarn am
eigenen Leibe erleben würde, würde er begreifen, daß wir lieber dem furchtbaren
Gedanken eines möglichen .Kundenverlustes' furchtlos ins Auge sehen, als uni
dreißig Silberlinge unsere deutschen Namen aufgeben." Scharf und klar setzt
I. F. Lehmann in München auseinander, daß es aus nationalen Gründen Ehren-
Pflicht sei und daß es aus wirtschaftlichen der Selbsterhaltungstrieb verlange,
„den deutschen Brüdern, die an den Grenzmarken die Außenwerke des deutschen
Volkstums treu bewachen, auch unserseits Treue zu halten und sie, wenn auch
nur moralisch, in ihrem Kampfe kräftig zu unterstützen". Die Engländer würden
durch die Schreibweise „Londres" auch nicht beleidigt; nur die Magyaren verlangten,
daß man den Städten nicht die Namen lasse, die ihnen das Volk gab, das sie
gegründet hat und heute noch bewohnt, um vor dem Auslande den Anschein zu
erwecken, als ob alle Städte Ungarns magyarisch seien, während doch die
Magyaren nur 45,6 Prozent der Bevölkerung Ungarns bilden. „Nachdem Ofen-
Pest, eine Stadt, die früher so kerndeutsch war, daß ihr Stadtrecht besagte, daß
nur solche Männer in den Stadtrat wählbar seien, die von dreien ihrer Ahnen
väterlicher- und mütterlicherseits zur deutschen Nation gehörten, in ihrer Mehrheit
magyarisiert ist, sollen nun die alten deutschen Städte Siebenbürgens, sowie das
Banat an die Reihe kommen, und da man allein nicht fähig ist, den Sachsen- und
Schwabenstolz zu brechen, so sucht man den deutschen Buchhandel mobil zu machen
und diesen zu veranlassen, die Städtenamen zu magyarisieren. Ist erst der Städte¬
name magyarisiert, so wird es die Stadt auch." Und dann ist auch der Absatz
an deutschen Büchern gleich Null, während jetzt „die kulturell außerordentlich hoch¬
stehenden deutschen Städte Siebenbürgens mit ihrem deutschen Hinterland ein
ganz vorzügliches Absatzgebiet sür den deutschen Verlagsbuchhandel sind". Die
richtige Antwort auf die gröbliche Beschimpfung der deutschen Nation „hat nicht
in einer schwächlichen Verbeugung vor dem Chauvinismus der Magyaren, sondern
in einer kräftigen Zurückweisung zu bestehen". Ähnlich spricht sich Ernst Hofmann
in Berlin aus. Zur postalischen Seite der Sache bemerkt Lehmann: „Tatsächlich
hat sich Ungarn denselben internationalen Bestimmungen zu fügen wie alle anderen
Kulturnationen, und wenn — was leider ab und zu vorkommt — sich magyarische
Postbeamte über diese Bestimmungen hinwegsetzen und Briefe mit deutschen Auf¬
schriften als unbestellbar zurücksenden, so hat der deutsche Absender weiter nichts
zu tun, als seiner heimischen obersten Postbehörde das Schriftstück zu senden mit
der Bitte, das Weitere zu veranlassen. Man erhält dann nach acht Tagen jeweils
die Nachricht, der betreffende magyarische Beamte habe den gebührenden Verweis
für sein vorschriftswidriges Vorgehen erhalten, und die unbestellbaren Schriftstücke
seien dem Empfänger sofort zugestellt worden." — Endlich bringt A. Lämmerhirt
in Berlin noch ein älteres Beispiel bei. In: Jahre 1904 ist ein an die Königlich
UngarischeFranz-Joseph-Universität,Klausenburg,Ungarn adressierter Katalog zurück¬
gekommen mit dem Vermerk: „Es gibt kein Klausenburg in Ungarn. Der offizielle
und historische Name ist Kolozsvär. Bitte nach Kolozsv5r Ungarn zu adressieren.
Rektorat der Universität Kolozsvär." L. bemerkt dazu: „Ja, so behandelt ein
Vertreter der Wissenschaft die Wahrheit! Es ist nun freilich ein Wunder, daß er
seine Erklärung in deutscher Sprache abgegeben hat. Bekanntlich existiert auf den
Aufschriften der ungarischen Postkarten die deutsche Sprache nicht als Ver¬
er Name Wessenberg reizt zur Studie über den Anachronismus, —
von der Zeitverfehltheit seines berühmten agitatorischen Gedankens,
der die Vorstellung unwillkürlich in den Begebnissen der napoleonischen
Zeit und des Wiener Kongresses sucht, bis zu der Äußerlichkeit
im Datum, daß dieser letzte Verwalter des Bistums Konstanz,
erst am 9. August 1860 von den Lebenden geschieden ist. Selbst seine Nach¬
dauer, deren Zeichen man jetzt wieder im deutschen Südwesten besonders wahr¬
nimmt, hat, wo sonst des Liedes Stimmen zu schweigen pflegen, von dem über-
wundnen Mann, etwas von — wohltuender — Geschichtswidrigkeit.
Im letzten Grunde gibt es keine geistigen Anachronismen von jener Art.
Was oft so erscheint, das sind die feinen Nebenspiele der gleichen Melodie in
Moll, die von den durcheinanderwogenden Zusammenklängen des härteren
Geschehens im Allegro überbraust und für die Wirkung vernichtet bleiben. Zu¬
weilen sind sie dennoch die Vorspiele für eine künftige, sei es noch so späte, aber¬
malige Transponierung des Motivs.
Alles ist bei Wessenberg zeitlich herkunftsecht. Schon die biographischen
Umstände. Die Familie vornehm, altfreiherrlich, von Hause aus aargauisch, durch
Lehnsgüter nach Vorderösterreich gehörig, der Vater kursächsischer Minister, so daß
Ignaz Heinrich von Wessenberg das Licht der Welt 1774 zu Dresden erblickt.
Sein älterer Bruder wird dann wieder kaiserlicher Diplomat und Minister, Heinrich
dagegen ist nach der Tradition der jüngeren Söhne zur Stistslaufbahn im Heiligen
Römischen Reiche bestimmt. Bevor der Jüngling nur studiert, ist er Inhaber
ansehnlicher Dompräbenden zu Augsburg, Konstanz und Basel, und im Jahre 1800
ernennt Karl von Dalberg, der an kumulierten fürstgeistlichen Würde,: so reiche
Kurerzkanzler, den Sechsundzwanzigjährigen als seinen Konstanzer Generalvikar
zum Haupt für diese große und altberühmte Diözese.
Das ist Freizügigkeit der Fähigkeiten und der Begünstigungen im acht¬
zehnten Jahrhundert, welche seitdem die liberale Staatsmodernität allein noch
den Universitäten — mit ungefähr denselben Licht- und Schattenseiten — übrig
gelassen hat. Vollends ist Ignaz Heinrich von Wessenberg in seiner persön¬
lichen Entwicklung ein Vertreter dieses ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts im
echtesten und besten Rang. Die Hader- und Jesuitenmüdigkeit des .damaligen
Katholizismus, das weltmännische Verständnis in dessen oberen geistlichen und
geistigen Schichten, deren Gefühl von Solidarität mit einer wohlmeinenden und
aufklärenden Staatsomnipotenz im Sinne Friedrichs des Großen und Josephs
des Zweiten, dazu das werdende junge, aus der Gemeinsamkeit geistiger Güter
aufgekeimte Nationalbewußtsein der Deutschen, welches dann durch die Romantik
geschichtlich vertieft und durch den Zusammenbruch des Reiches härtend auch auf
ein politisches Denken hingelenkt wird, — das alles kommt in Wessenberg höchst
lebendig zusammen und bestimmt dieser edlen, Humanitären, frommen, zu allem
gedanklich, poetisch und künstlerisch Großen aufstrebenden Natur die Lebens¬
und Berufsideen. Ein Bistumsverwalter, der Lesedramen aus der Hohenstaufen-
zeit oder ein Schriftchen über das Zeitalter des Perikles verfaßt, der sich in
geschichisphilosophischen Betrachtungen im Geiste Herders ergeht und auf die
junge Leserwelt durch dichterisch eingekleidete Erziehungsschriften s, la Mnslon, im
Sinne einer von Dogmen nicht weiter beunruhigten deutschen und christlichen
Jünglingstugend, zu wirken sucht. Ein katholischer Kirchenoberer, der die Schön¬
heit des Weibes in ihres Hauses kleiner Welt der Sonne an Gottes Himmel
vergleicht und der die Protestanten Deutschlands allein als Brüder im gleichen
Christenglauben kennt, — aber der freilich auch ihren Abfall, ihren Willen, ihre
kirchliche Selbständigkeit sehr wenig beachtet und sie in seinen letzten Unbewnßt-
heiten in seinen weiten Katholizismus schon wieder hinein uniert.
Mehr auf solchen Zeitstimmungen, als auf real geprüften Gedanken
beruhen seine Pläne einer sich gegen Rom verselbständigenden deutschen National-
kirche, als deren beeiferter Publizist und Anwalt am Wiener Kongreß er zur
historischen Persönlichkeit geworden ist. — Ihr eigentlichster Anachronismus liegt
in der damals kaum vollzogenen, also in den Folgen kaum schon richtig zu
begreifenden Säkularisation. Diese Wessenbergsche moderne Nationalkirche baut
sich noch unwillkürlich auf das achtzehnte Jahrhundert auf, da die deutschen
Bischöfe halb- und dreiviertelweltliche Wahlfürsten ans den Dynastien und Adels¬
familien des Reiches waren. Nichts aber hat in der neueren Geschichte so sehr
die Gegenreformation vollendet und den hierarchischen Gehorsam hergestellt als
der Wegfall dieses geistlichen und vornehm-weltlichen Zwitterwesens, und infolge¬
dessen auch die völlige soziale Verschiebung in der geistlichen Rekrutierung. Die
von den Laien für so zeitgemäß gehaltene Vernichtung des riesigen geistlichen
Erbbesitzes, hat gerade den stärksten Schnitt durch die Verbindung des
heimischen Klerus mit den Laien- und Zeitgedanken gemacht. Der römischen
Herrschaft ist nun einmal in ihrer ganzen Geschichte so vielfältig das am inner¬
lichsten verderblich geworden, was sie am hingebungsvollsten betrieben hat, und
wiederum das zu unverhofft erneuernden Kraftquellen, was sie am leiden¬
schaftlichsten als Vergewaltigung bezeichnet und verdammt. Die große
Säkularisation hat ihr aus die denkbar günstigste Weise die wirkliche Durchführung
des Prinzips der Lcelesia militans und der absolutistischen Befehlgewalt von
Rom erst überhaupt ermöglicht. Wäre der Wiener Kongreß auf die selbstverfaßte
Natioualkirche eingegangen, er hätte sie genau so situationswidrig in die Luft
gestellt, wie 1848 die Frankfurter Postulcmten es mit der weltlichen National¬
verfassung getan.
Aber, der Kongreß dachte an alle beide gleich wenig, er hatte für diese beiden
so geistesverwandten Ideologien nur eine zum Nein entschlossene heuchlerische
Höflichkeit. Seine wirklichste Tendenz ist die Souveränität der Einzelstaatlichkeit.
Zu dieser patzt keine kirchliche Nationalverfassung mit einem romantisch altreichischen
Primas und mit patriotischen Bistümern, deren althistorische Diözesen die neuen
souveränen Landesgrenzen von gestern kreuz und quer durchschneiden. So beschleunigen
die Wessenbergschen Ideen lediglich in verhängnisvoller Weise die einzelstaatlichen
Verhandlungen und Konkordate — nach Napoleons Muster — mit Rom. Ver¬
hängnisvoll insofern, als es damals, der Gesamtlage nach, eher denn sonst je
möglich gewesen wäre, aus der so anspruchsvollen modernen Souveränitätsbetonung
des Staates die vernünftigste ihrer Folgerungen abzuleiten: daß zur selbst-
bestimmendem Hoheit des Staates innerhalb seiner Grenzen auch die Regelung
seiner kirchlichen Verhältnisse gehört.
So hat der wohlmeinende Konstanzer Herr dem gleichzeitig in Wien,
agierenden Kardinal Consalvi und den sonst in allen Traditionen der überlegenen
Praxis erzogenen Nuntien der Kurie, keine sehr großen Sorgen gemacht. Mit-
Wessenbergs Schlagwort der unabhängigen Nationalkirche bezauberte Rom die
Eidgenossen und riß von der Konstanzer Diözese des mißfälligen Generalvikars
die großen schweizerischen Gebiete los (1814). Auf die Verstümmelung des.
uralten Bistums folgte dann die gänzliche Aufhebung durch Errichtung der ober-
rheinischen Kirchenprovinz unter dem neuen Erzbischof zu Freiburg, dessen engere
Diözese durch die Staatsgebiete von Baden und Hohenzollern gebildet wird.
Damit war Wessenberg, den das Domkapitel 1817 nach Dalbergs Tode noch
zum Nachfolger als Bistumsverweser erwählt hatte, erledigt und zum Privatmann,
in Konstanz gemacht. Er hat gegen diese harten Erlebnisse mannhaft gekämpft!
und ist mit einer gewissen Größe unterlegen; von einer zupackender, meisternden-
Lutherncitur war nichts in ihm und konnte es nicht sein. Sein geistiges Leben
hat auch nie ein persönliches Ringen um Erkenntnisse und Gewißheiten durch¬
gekämpft, er ist in allem der Schüler Saliers, Dalbergs und schlechtweg der Zeit..
Herzlichste Würdigung, Verehrung, Freundschaft, Zuneigung sind ihm in reichem
Maße geworden, und treu und tapfer haben sich die Landkapitel und überhaupt
der Klerus seiner Diözese, für dessen Bildung und Berusssinn er Wichtiges geleistet
hat, zu ihm gestellt. Nicht minder hat ihn die Liebe der Konstanzer getragen,,
denen bis zu seinem späten Tode sein menschenfreundliches und erzieherisches
Wirken aus nächster Nähe sichtbar blieb. Ihnen sind seine Bibliothek, seine schönen
Gemälde- und Kunstsammlungen geblieben; sein Vermögen gehört der Konstanzer
Rettungsanstalt. Durch die dortige „Wessenberg-Stiftung" wirkt er dauernd weiter
für die Verbreitung einer schönen und unbeengten Bildung, und wenn der 1871
entstandene Altkatholizismus in Wessenberg gewissermaßen einen seiner Ahnen
adoptiert hat. so ist es doch nicht nur diese Bckenntnisorganisation, die sein Ge¬
denken und die Verehrungswürdigkeit seiner edlen Persönlichkeit noch länger vor
Berichtigung: In dem Aufsatz: „Friedrich Stnpsz und das Schönbrunner Attentat"
(Ur. 31 S. 212 ff.) sind folgende Eigennamen richtig zu stellen: statt Steph; überall Stapsz,
statt Repp Rapp, S. 212 statt Sarary Savary, statt Lescases Lascases, S. 213 statt Cadncdel
Cadoudal, statt Duroi Duroc, statt Couchö Fouchö, S. 220 statt Derismes Devismes.
Außerdem ist S. 216 statt ven? vere^, statt vainquers vainqueurs und S 219 Z 8 lion
Prof. Bitterauf (nicht Bitterauh).
Das Heft 32/33 der
„Neuen Militärischen Glätter"
erscheint der Manövers wegen als Doppelheft. Es zeichnet sich durch einen
ungewöhnlichen Reichtum an interessanten! Inhalt eins und bringt hierdurch Zweck
und Ziel des Blattes, nämlich den deutschen Offizier über die verschiedensten Gebiete
des militärischen Lebens in der ganzen Welt unterhaltend zu belehren und ihn über
alle bemerkenswerten Neuerungen im Heerwesen aller Staaten dauernd auf den:
Laufenden zu erhalten, besonders deutlich und erfolgreich zum Ausdruck. Dies
Heft bietet auch für den inaktiven Offizier besonders beachtenswerte Artikel.
Bezugsbedingungen:
Einzelhefte 50 Pfg., Doppelhefte 1.— M., vierteljährlich 13 Hefte 4.— M.,
zu beziehen durch alle Buchhandlungen, Postanstalten oder direkt vom Verlag.
Berlin SV/. 11, Bernburger Strasze 22a/23.
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/<"Die
Kommunalfinanzen
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für die gesamten geldwirtschaftlicher Interessen der Gemeinden, Städte und weiteren
Kommunalverblinde, Kämmereien, Rentämter, Gemeinde- lind Stadtkassen, Steuerkassen,
Einziehungsümter und Sparkassen im Deutschen Reiche.
Anzeiger für das Gemeinde- und Städtewesen.
Herausgeber or. zur. Wa« Seidel, Geheimer Regierungsrat.
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(Aus der Tages- und Fachpresse.)
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boten", Berlin L>V. N.
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K3. Oberlehrer, evang., Realgymnasium Sterlrade,
1. April INI (Latein, Französisch, Englisch, Turme»),
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50. Oberlehrer, Oberrealschule Neusz, Ostern 1911.
(Neuere Sprachen.)
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anstalt, Hamburg.
7». Prediger, Greifswald (2K00 M.).
88. Büracrmcistcr, Tönning, II. Jan. 1911 (3000 M.).
8». Hauslehrer, Theologe, 1. Ott., Pommern.
92. Hauslehrer, sür 11 jähr. Knaben, Brandenburg.
93. SccmannsV-istor, (2400—3000 M.) England.
ö. Kür pensionierte Offiziere.
07 Offizier, jüngerer, (Stenographie, Schreibmaschine)
s. industr. Unternehmen.
73. Reisender, West-Deutschland, 1. Oktober.
8>. Grucral-Aacut, Feuer-Vcrsich-rungs-Gejellschast,
Aachen, 1. Januar 191t, hoch dotiert.
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77. Erzieherin, co., gepr. ältere, Musik, 17. Oktober.
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«t. Erzieherin, gepr., co., Musik. (S00M.). 1.10. Posen.
91. Erzieherin, gepr., co., Franz., Musik, 1.10., Ostpr.
9?. Erzieherin, jung., co.. Englisch. Musik, Schlesien.Stellen-Gesuche.
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Diesem Heft ist ein Prospekt der
Universität in Neuchstcl beigefügt.
ur wenig länger als ein Jahr ist es her, daß Europa täglich
die alarmierenden Nachrichten von dem Aufmarsch der türkischen
Truppen gegen Konstantinopel erhielt, daß es staunend erfuhr,
Abdul Hamid sei zur Abdankung gezwungen und statt seiner
Mcchomet der Fünfte auf den Thron erhoben. Die Jungtürken
hatten erreicht, was sie solange erstrebten, freie Bahn für die Einführung
westeuropäischer Institutionen an Stelle der Hamidischen Despotie.
Es ist erstaunlich, nach Jahresfrist zu sehen, wie wenig Widerstand die
Anhänger des alttürkischen Regimes den wagemutigen Neugestaltern der türkischen
Verfassung und Verwaltung entgegengesetzt haben. Wenn man von einigen
heimlichen Attentaten oder der naiven Einäscherung des neuen Parlaments-
gebäudes absieht, hat es einen Aufsehen erregenden Widerstand eigentlich gar
nicht gegeben. Kaum daß man sich zu einer energischen Opposition in der
Presse entschlossen oder es zur Bildung einer starken parlamentarischen Partei,
wie etwa der der Reaktionäre in Nußland, gebracht hat. Die jüngst entdeckte
Verschwörung charakterisiert sich nur als ein Räukespiel persönlich Interessierter,
jedes idealen Schwunges und jeder politischen Tragweite bar.
Eine solche Resignation der Alttürken muß auf den ersten Blick wunder¬
nehmen, da doch der geistige Gehalt der von den Führern der Reformbewegung
vertretenen Ideen den muselmanischen Auffassungen von Staat und Gesellschaft
schnurstracks entgegenläuft. Erklärlich wird die Schwäche des Widerstandes
nur. wenn man annimmt, daß nur sehr wenigen Männern die Bedeutung des
Umschwunges bekannt war. In der Tat dürfte diese Annahme, nach ein¬
zelnen Parlamentsdebatten oder gelegentlichen Äußerungen der Presse zu urteilen,
zutreffen.
Aber es ist nicht allem der Tiefstand der politischen Bildung, der den
Übergang zum Parlamentarismus sich so klanglos vollziehen ließ. Der Wahnsinn
des Hcnnidischen Systems selber ist es gewesen, der den juugtürkischen Neuereru
den Weg chüele. Die lächerliche Angst um seine persönliche Sicherheit, das
dadurch bedingte häßliche- Spiouagesystem, das die letzten Jahre des unseligen
Sultans unerträglich machte, hatten ihm alle Freunde genommen. So blieb
ihm denn auch kaum seine nächste Umgebung treu, als die jungtürkischen Truppen
Jildis bedrohten Ganz Konstantinopel jubelte den Befreiern zu.
Aber nichts wäre verkehrter als anzunehmen, aus der Türkei wäre mit
einem Schlag ein moderner Staat geworden. Man kann sogar billig bezweifeln,
ob eine solche Umwandlung überhaupt möglich ist; denn wie könnte man glauben,
die Mohammedaner wollten einmal Christen werden! Die Aufgabe der Jung¬
türken kann daher auch nicht die sein, eine Kopie der westeuropäischen Staaten
herzustellen, sie muß vielmehr dahin charakterisiert werden, die Massen der
geistig völlig stumpfen und des zielbewußter Arbeitens unkundigen orientalischen
Bevölkerung aufzuwecken und zur Anspannung ihrer Kräfte zu erziehen. In
welche Richtung dann die Kultur des türkischen Volkes drängt, muß die Zukunft
zeigen. Es mag zwar in gewissem Grade von der größeren oder kleineren
Dosis europäischer Ideen abhängen, welche die Führer der Jungtürken in die
gegenwärtige Bewegung einspritzen, wird aber doch von fundamentaleren Faktoren,
nicht zuletzt von der inneren Kraft der mohammedanischen Religion entschieden
werden. — Ob die jungtürkische Partei ihrer Kulturaufgabe in den: angedeuteten
Sinne vorsteht, dürfte schwer zu beantworten sein. Es ist jedoch unzweifelhaft,
daß das konstitutionelle System und die Europäisierung des äußeren Lebens
schon jetzt anregend und erzieherisch gewirkt haben. Insbesondere hat es seinen
Einfluß auf das Beamtentum in allen Zweigen der Verwaltung nicht verfehlt;
mit Freude konstatiert man, daß eine Art Beamtenstolz im Begriff ist sich
zu bilden. Die Entwicklung des Post-, Telegraphen- und Heerwesens macht
schnelle Fortschritte und die Verwaltung der Provinzen ordnet sich mehr und
mehr dem Gefüge der Zentralregierung ein. Nach einem Jahrzehnt der Budget-
losigkeit ist nunmehr schon zweimal eine ernsthafte Rechnungsablage vor dem
Parlament erfolgt, die, wenn die Bilanz auch noch mangelhaft und das Defizit
fast gleich einem Viertel der Einnahmen ist, doch als großer Fortschritt gewürdigt
werden muß.
Kurz, das parlamentarische System, das schon jetzt weite Kreise zur Mit¬
arbeit an der Regierung des Staates heranzieht und die Diskusston über die
wichtigsten Fragen der inneren Verwaltung, der Rechtsprechung, des Unterrichtes,
der Besteuerung usw. in die Öffentlichkeit trägt, muß, selbst wenn die Beschlüsse
des Parlaments im einzelnen mangelhaft sind, als der richtige Weg zu einer
ökonomischen und geistigen Belebung des türkischen Staates bezeichnet werden.
Der Einwand, die Türkei sei noch nicht reif für den Konstitutionalismus, wird
schon durch die ersten beiden Jahre der Konstitution gänzlich widerlegt, und
fast die ganze türkische und ausländische Presse ist sich am zweiten Jahrestage
der Einführung der Verfassung einig, den Segen der konstitutionellen Regierung
anzuerkennen. — Freilich besteht die Gefahr, daß man die für die Verwirklichung
der neuen hohen Ziele notwendigen realen Mittel nicht richtig wertet. In
diesem Puukt kann die Entwicklung der Dinge in: Orient zu ernstlichen Bedenken
Anlaß bieten, denn die finanzielle Grundlage des Landes ist einstweilen keines¬
wegs glänzend und der kaufmännische Sinn des gegenwärtigen Parlaments
durch nichts bewiesen. Die Türkei kann die geplanten Reorganisationen nicht
durchführen, ohne andauernd neue Schulden zu kontrahieren. Sie zwingt dadurch
die europäischen Gläubigerstaaten zur Aufrechterhaltung der internationalen
Finanzkontrolle und weitgehender Einmischung in die politischen und wirtschaft¬
lichen Angelegenheiten des Landes.
Aus diese Weise gestaltet sich die politische Stellung der Türkei zum Aus¬
lande als eine wenig beneidenswerte und man muß sie sogar als eine recht
prekäre bezeichnen, wenn man die Unsicherheit der Landesgrenzen in Rechnung
zieht. In: Norden ist es die alte Frage der politischen Einteilung der Balkan-
Halbinsel, die Politiker und Volk in Spannung hält. Im Westen ist es
Griechenland, das mit seinen fortgesetzten politischen Intrigen und seiner zähen
nationalistischen Agitation den Frieden bedroht. In Ägypten und am Roten
Meere ist mit dem souveränen Auftreten Englands keineswegs eine endgültige
Situation geschaffen. Im Innern Arabiens endlich und gegen das persische
Reich hin sind die Einflüsse der Konstcmtinopeler Regierung noch immer so
gering, daß man hier kaum eine deutliche Grenze des Osmanischen Reiches zu
ziehen vermag. Es ist keineswegs Freude an den Waffen oder Liebe zum
Kampf, wenn angesichts einer solchen Lage Regierung und Volk schwärmerische
Begeisterung und große Opferwilligkeit für das Heer hegen. Die nüchterne
Beurteilung der politischen Lage des Landes ist es vielmehr, die dazu treibt.
Daß das türkische Volk seit den Tagen der Konstitution mehr deun je gewillt
ist, sein Hoheitsgebiet zu verteidigen und alle Angriffe darauf zurückzuweisen,
ist ein Beweis des erwachten nationalen Selbstbewußtseins. Die Besitzergreifung
Bosniens und der Herzegowina ertrug man, weil ein Krieg gegen den mächtigen
Usurpator in dein Augenblick der inneren Umwälzung unmöglich schien. Polnischer
Gleichgültigkeit konnte wahrlich das türkische Volk nicht beschuldigt werden, wie
der Bovkott der österreichischen Waren in allen Häfen des Osmanischen Reiches
deutlich gezeigt hat. Ähnlich war der Hergang der Dinge bei der Souveränitäts-
erklürung Bulgariens. Auch hierbei schickte man sich nur mit Widerstreben in
das Unvermeidliche.
Ganz anders sahen die Dinge schon bei dem Konflikt um Kreta aus, an
die Niederwerfung des Albanestschen Aufstandes gar nicht zu denken. Das neue
Regime hatte Zeit gehabt, innerlich zu erstarken; es brauchte nicht zu fürchten,
im Falle einer Verwicklung in einen Krieg das Vertrauen der Bevölkerung zu
verlieren. Nicht nur die liberalen Kreise Konstantinopels, auch die große Masse
der Anhänger Mohammeds, die sonst den Bestrebungen des liberalen Kon¬
stitutionalismus eine schwer berechenbare Gefahr bedeuten, forderten energisches
Vorgehen gegen die Beleidigungen der Kreter. Freilich wurde die Frage von
den beiden Gruppen nach ganz verschiedenen Gesichtspunkten beurteilt. Die
Regierung und der europäisch gesinnte Teil der Osmanen sahen in den Heraus¬
forderungen der Kreter eine Verletzung der Hoheitsrechte des türkischen Staates,
die man aus Gründen nationalen Ehrgefühls und der Zurückweisung politischen
Unrechts nicht hinnehmen zu können glaubte. Die Mohammedaner erblickten
in dem Vorgehen der Kreter vor allen Dingen eine Zurücksetzung ihrer Glaubens¬
genossen durch die gehaßten Christen.
Aber nicht nur die Türkei selbst bot ein anderes Bild, wie zur Zeit des
österreichisch-bulgarischen Konfliktes. Der ganze politische Horizont war ver¬
ändert. Die Politiker des Osmanischen Reiches hatten zwei Jahre Zeit gehabt,
die Haltung der europäischen Mächte gegenüber dem werdenden Staatswesen
zu beobachten, und fingen langsam an, Freundschaft und Abneigung nicht wie
in den Anfängen der konstitutionellen Ära nach sentimentalen Stimmungen
abzuwägen, sondern auf Grund nüchterner Beurteilung der Interessen der
einzelnen Staaten gegenüber der Türkei. Der Groll gegen Österreich-Ungarn
hatte mehr und mehr dem Empfinden Platz gemacht, daß man in diesen: Lande
einen selbst interessierten und deshalb sicheren Bundesgenossen gegen die von
Rußland seit Jahrzehnten unterstützten panslawistischen Umtriebe besäße. Deutsch¬
land, das wegen seiner Freundschaft zu Abdul Hamid von den Jungtürken mit
großer Kälte behandelt wurde, hatte langsam wieder Terrain gewonnen und
Dank seiner mutigen Einmischung in die persischen Angelegenheiten sogar viele
ausgesprochene Freunde bekommen. Auf der andren Seite war die Sympathie
zu den Schutzmächten der rebellischen Insel, insbesondere zu England, Rußland
und dem mit Griechenland liebäugelnden Italien, erheblich erkaltet. Wer
noch Vertrauen in die Freundschaft der Schutzmächte setzte, den mußte ihre
anfängliche Haltung stutzig machen.
Die offiziellen Beschützer der Hoheitsrechte des Sultans ließen es geschehen,
daß die Kreter offen die Annexion der Insel an Griechenland aussprachen, daß
die Abgeordneten dem Könige von Griechenland den Treueid schwuren, daß
man Münzen mit seinem Bilde prägte und Recht in seinem Namen sprach.
War es ein ernst gemeinter Schutz der Interessen der Türkei, wenn man das
alles nicht bemerkte und sich erst von der türkischen Regierung darauf hinweisen
lassen mußte? Wozu hätte man später so lange Zeit Ma Überlegen nötig
gehabt, wenn man entschlossen gewesen wäre, die Kreter in die Bahnen der
ihnen zustehenden Rechte zurückzuweisen? Es würde nur der Ausschiffung von
einigen hundert Soldaten bedurft haben, um den Kretern die Möglichkeit zu
nehmen, die Rechte der muselmanischen Jnselbewohner und des türkischen Staates
mit Füßen zu treten. Aber man zögerte — aus welchen Gründen, ist hier
gleichgültig — und trug so dazu bei, daß das türkische Volk den Glauben.
gewann, man wolle nicht eingreifen. Dieser Eindruck hat sich während der
ganzen zwei Monate dauernden Verhandlungen erhalten. Es scheint fast, als
ob auch die nachträgliche, der Türkei wenigstens der Form nach nicht ungünstige
provisorische Lösung der Frage nicht imstande gewesen ist, die Zweifel an der
Ehrlichkeit der Freundschaft der Schutzmächte zu beseitigen.
Ganz entgegengesetzt war von Anfang an die Haltung der türkischen
Negierung, die schnell entschlossen handelte und kein Mißverständnis über ihre
Auffassung der Frage aufkommen ließ. Nur der Besonnenheit der türkischen
Regierung ist es zu verdanken, daß es nicht zum Kriege kam. Aber den
unblutigen Krieg hat das türkische Volk spontan erklärt, den Boykott gegen alle
griechischen oder auf griechischen Schiffen transportierten Waren, und diesen
Boykott mit einer Zähigkeit und Konsequenz durchgeführt, die wohl einzig in
der Geschichte dasteht. — Es ist zweifellos, daß den Boykottierten große
ökonomische Schäden zugefügt worden sind und daß manches griechische Unter¬
nehmen dem Zusammenbruch nahe ist.
Von allgemeinem politischen Interesse ist hierbei, daß man sich mit dem
Boykott der Griechen bewußt war, auch ihre Freunde, die Engländer, zu treffen.
In der Tat dürfte neben griechischem besonders das englische Kapital zu
leiden gehabt haben. Besonderes Mitleid haben jedoch die Engländer in weiten
Kreisen kaum gefunden; denn gerade ihnen schiebt man ein gut Teil der Schuld
an der lässigen Behandlung der Kretafrage zu. Ja, in einem Teil der Presse
werden Stimmen laut, die der Regierung offen die Politik der letzten Jahre,
d. i. die der Freundschaft mit England zum Vorwurf machen. Die Kretafrage
scheint also für das Verhältnis der Türkei zu den Staaten nicht ohne Einfluß
zu sein. Sie trägt dazu bei, daß man mehr und mehr nüchterne Beurteilung
an die Stelle schwärmerischer Begeisterung oder unbegründeter Abneigung
treten läßt.
Nimmt man von diesem Gesichtspunkt aus einmal die Beziehungen der
Türkei zu den einzelnen Staaten unter die Lupe, so kann man den Umschwung
der öffentlichen Meinung nur zu gut verstehen. Denn was war die ganze
Freundschaft zu England anders als die Begeisterung für den konstitutionellen
Staat, als dessen Ideal den Jungtürken England galt, dank der ihnen von den
Gebildeten Ägyptens suggerierten Ideen. Die Kälte gegen Deutschland war
dagegen nichts anderes als der Haß gegen den Freund des Hamidischen Systems,
wenn man nicht gar an eine direkte Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch
England denken will.
Jedermann weiß, daß England große muselmanische Ländergebiete um¬
klammert hält und nur auf den rechten Augenblick wartet, sie dem britischen
Weltreiche in aller Form einzuverleiben. Der Besitz Ägyptens und des Roten
Meeres gilt den Engländern als Basis für die Erhaltung und Erweiterung ihrer
Herrschaft in Indien und die Okkupation des persischen Reiches. Im Süden
des Os manischen Reiches muß also England schon aus politischen: Eigeninteresse
der Stärkung der Macht des Sultans entgegenwirken. Dazu kommt, daß England
glaubt, die Konkurrenz Deutschlands, dessen gewaltige Eisenbahn quer durch
Kleinasien seinen wirtschaftlichen Interessen gefährlich ist, bekämpfen zu müssen;
es läßt deshalb kein Mittel unversucht, der wirtschaftlichen Erschließung Klein¬
asiens Hemmnisse zu bereiten. Dort enthüllen sich die ganzen Selbständigkeits¬
bestrebungen der arabischen Stämme als nichts anderes denn als Intrigen
Englands, mit dem unverkennbaren Zweck, der Befestigung der Macht des
Padischah und der Expansion des deutschen Einflusses Schwierigkeiten zu bereiten.
Von Rußland ist eigentümlicherweise in der Streitfrage um Kreta wenig
die Rede gewesen. Aber keineswegs entgeht die türkische Negierung Vorwürfen
wegen ihrer allzu freundlichen Haltung gegen dieses Land, das der Türkei die
schwersten Schläge versetzt hat, und das als alter Erbfeind betrachtet wird.
Man fragt sich auch in der Tat vergebens, was die Türkei von Rußland Gutes
zu erwarten hat, dessen ökonomische Entwicklung in weiten Teilen seines Gebietes
kaum wesentlich fortgeschrittener ist als die der Türkei. Dagegen erkennt man
auf den ersten Blick die Gefahren, die von dieser Seite drohen. Man braucht
nur an den in Sofia veranstalteten panslawistischen Kongreß oder an die immer
wieder zum Durchbruch gelangenden Aspirationen der orthodoxen Russen auf die
Heilige Stadt, des Sitzes des Patriarchats, zu denken. Zudem entpuppt sich
die Freundschaft zu Rußland als von England eingegeben, das ein heuchlerisches
Bündnis mit Rußland unterhält, um es um so besser in Persien und Afghanistan
übervorteilen zu können.
Zu Frankreich, das auch in der Kretafrage eine den Türken genehmere
Rolle zu spielen versuchte, hegt das türkische Volk nach wie vor aufrichtige
Sympathie und Verehrung. Es bedarf hierzu kaum einer besonderen Erklärung.
Ist doch die französische Sprache in der Türkei Gemeingut aller Gebildeten.
Da sie überdies die einzige europäische Sprache ist, die man kennt, erscheint
naturgemäß der Fortschritt aller westeuropäischen Kultur im französischen Gewände.
Frankreich weiß diesen Vorsprung vor den andern Staaten geschickt auszunutzen,
indem es einmal durch seine Journalisten einen ungeheuren Einfluß auf die
öffentliche Meinung ausübt, und auf der andren Seite nicht mit liebenswürdigen
Einladungen zum Besuch seiner Städte karge. Noch vor wenigen Wochen führte
man eine staunende türkische Studienkommission durch die schönsten Städte
Frankreichs und gegenwärtig weilt innerhalb der Mauern von Paris ein türkischer
Minister zum Studium französischer Einrichtungen und zur Anknüpfung finanzieller
Beziehungen. So sehr ist die Liebe zu den Franzosen in die Herzen der Türken
gedrungen, daß eine vor etwa zwei Jahren nach Europa entsandte Expedition
türkischer Studenten, zweihundert an der Zahl, schon gleich nach der Ankunft in
Marseille einstimmig erklärte, in Frankreich bleiben zu wollen, trotzdem sie
gruppenweise auf verschiedene Länder verteilt war. Die Zahl der in Frankreich
studierenden Türken beträgt heute etwa vierhundert, während im übrigen Europa
kaum ein Dutzend weilen dürfte I
Freilich ist der Vorsprung, den die Verbreitung ihrer Sprache im Orient
den Franzosen gewährt, bislang weder in politischer noch wirtschaftlicher Beziehung
voll ausgenützt worden. Politisch hat sich Frankreich im wesentlichen mit der
Respektsstellung einer Schutzmacht der Christen im Orient begnügt, und in
wirtschaftlicher Beziehung hat es sich lange Zeit, dank der geringen Expansions¬
krast seines eigenen nationalen Wirtschaftslebens, auf die Gewährung von
Staatsanleihen beschränkt; doch scheint in beiden Beziehungen ein Wandel ein¬
treten zu sollen. Politisch bekämpft Frankreich an der Seite Englands das
Vordringen Deutschlands, d. h. es sucht den immer wieder als Hauptachse der
Entwicklung der Dinge erscheinenden Bau der Bagdadbahn zu hintertreiben,
der den ziemlich ausgedehnten französischen Unternehmungen in Syrien aller¬
dings wenig günstig ist. Wirtschaftlich tritt Frankreich, durch seine sprach¬
kundigen Ingenieure glänzend vertreten, in der letzten Zeit sehr erfolgreich bei
den Ausschreibungen öffentlicher Arbeiten mit den andren Staaten in Wett¬
bewerb. Vor wenigen Tagen erst wurde ihm die Ausführung von acht Neunteln
der in der europäischen und asiatischen Türkei auszuführenden Chausseebauten
übertragen, und auch die Neuordnung des Agrarkreditwesens und die damit ver¬
bundenen Geschäfte in Grund und Boden scheinen in der Hauptsache französischen:
Gelde vorbehalten zu sein.
Ganz andern Charakter tragen die Beziehungen der Türkei zu Deutsch¬
land. Deutschlands Ansehen basiert im Gegensatz zu dem französischen auf
seinem Ruf, die gewaltigste Militärmacht zu sein. Dieser Ruf, gestützt durch
die opferfreudige Arbeit schneidiger preußischer Offiziere im Dienste der türkischen
Armee, begründet bei einem waffenstolzen Volke, wie es die Türken sind, ein
Prestige, das sicherlich nicht von heute auf morgen vernichtet werden kann.
Dazu kommt, daß Deutschland in seinen wirtschaftlichen Unternehmungen von
allen europäischen Staaten am großartigsten auftritt und dadurch seinem
militärischen Ansehen den Ruf hinzufügt, auch in wirtschaftlicher Beziehung das
gewaltigste Land der Erde zu sein. Das Empfangsgebäude der Anatolischen
Eisenbahn in Haidar-Pascha, das an monumentaler Wucht wetteifert mit dem
gegenüberliegenden Kolossalbau der Agia Sophia, die Paläste der deutschen
Banken und der nunmehr in Angriff genommene Bau einer Riesenbrücke über
das Goldene Horn, die täglich von etwa sechzigtausend Menschen passiert werden
wird, sind auch in der Tat glänzende Zeugnisse von Deutschlands wirtschaft¬
licher Entwicklung. Aber all solche Dinge wären bedeutungslos, wenn nicht
die Zuneigung des türkischen Volkes an ihnen haftete. Zwar mag der National-
stolz des jungen Volkes sich manchmal daran stoßen, daß derartige Werke die
Arbeit und der Besitz Fremder sind, aber die Erwartung, durch die Arbeit der
Fremden die Entwicklung des eigenen Landes schnell gefördert zu fehen, und
die Hoffnung, alsbald zu Reichtum und Macht zu gelangen, läßt das türkische
Volk dennoch diesen Zeichen der neuen Zeit Sympathie und Interesse entgegen¬
bringen. Sicherlich schneidet Deutschland hier nicht ungünstig ab. Denn von
dem Bau der Bagdadbahn und der damit verbundenen Erschließung Kleinasiens
erhofft die Türkei mehr als von allen anderen Unternehmungen, und abermals
steht in dieser Beziehung der Bau der Bagdadbahn im Mittelpunkt. Man
erkennt, daß hier dein Interesse der Türkei mehr als bei irgendeinem anderen
Unternehmen durch die Fremden gedient wird, daß Deutschland politische Hinter¬
gedanken, die dein Interesse der Türkei entgegenliefen, nicht haben kann. Das
Wesentliche aber ist, man ist sicher, daß hier politische Spekulationen, die einmal
Gefahren werden könnten, nicht im Spiele sind.
Durch die in der letzten Zeit in der Tagespresse häufiger gemachte
Gegenüberstellung der deutschen Interessen in der Türkei mit denen seiner wirt¬
schaftlichen Konkurrenten haben in der Tat die Beziehungen zu Deutschland eine
wesentliche Verbesserung erfahren. Es scheint fast, als ob die jüngst wiederholt
erwähnte freundschaftliche Annäherung der Türkei an Deutschland im Orient
nicht unwillkommen wäre.
I s mag in dieser Zeit, wo die Neugestaltung der Reichsversicherungs¬
ordnung im Vordergrunde des öffentlichen Interesses steht, vielleicht
einigermaßen als Enttäuschung wirken, wenn man es unternimmt,
von privatem Versicherungswesen zu sprechen. Und doch reicht
gerade das private Versicherungswesen in seiner Bedeutung viel
weiter als die öffentliche, die Sozialversicherung. Es erfaßt alle Volkskreise,
nicht bloß die Schicht des werktätigen Arbeiters; man kann sagen, daß es heut¬
zutage kaum einen Menschen gibt, der nicht in der einen oder andern Weise
an irgendeiner Versicherung beteiligt wäre. Zum mindesten gehört das Bestehen
einer Feuerversicherung bereits zu den regelmäßigen Erfordernissen eines ordentlich
verwalteten Haushalts; die Lebensversicherung, zumal in der Form der Volks¬
versicherung, erobert immer weitere Kreise und auch die andern größern Ver¬
sicherungszweige, die Unfallversicherung, die Haftpflichtversicherung, die Einbruch¬
diebstahlversicherung usw. schreiten mit Riesenschritten vorwärts und werden
Gemeingut des sorgsamen Hausvaters auch da, wo noch vor wenigen Jahr¬
zehnten kaum einer an eine Vorsorge dieser Art dachte.
Auch für die Allgemeinheit gewinnt die Privatversicherung in ihrem gegen¬
wärtigen Umfange stets an Wichtigkeit; man vergegenwärtige sich nur die
Gesamtergebnisse, mit denen die Versicherung zurzeit in Deutschland arbeitet.
Die Prämien eines einzigen Jahres (1907) aus dem unmittelbaren deutschen
Geschäft werden angegeben für die Lebensversicherung auf 507770000 Mark,
für die Unfall- und Haftpflichtversicherung auf 79640000 Mark, für die Feuer¬
versicherung auf 272780000 Mark, zusammen also für diese vier großen Ver¬
sicherungszweige auf 860190000 Mark. Danach fließen diesen Versicherungs-
unternehmuugen an jedem Tage rund 2400000 Mark Prämien zu. Auf den
Kopf der Bevölkerung entfallen für die genannten Zweige der Lebens-, Unfall-,
Haftpflicht- und Feuerversicherung 14,13 Mark Prämien jährlich. Die Prämien¬
zunahme für die sämtlichen Versicherungsunternehmungen betrug im Jahre 1905:
55000000, 1906: 49000000 und 1907: 43500000 Mark, also eine scheinbare
Verlangsamung des Fortschreitens. die aber mit allerlei Zufälligkeiten des Wirt¬
schaftslebens zusammenhängt, z. B. mit der größern oder geringern Häufigkeit
der Hagelschaden und der dadurch bedingten Nachschüsse. Bei der Beratung
des Versicherungsvertragsgesetzes im Jahre 1906 wurde zur Vergleichung hervor¬
gehoben, daß im Jahre 1904 für die Feuer-, Hagel-, Vieh- und Lebens¬
versicherung in Deutschland an Prämien ungefähr das Dreifache des Gesamt¬
betrages der direkten Steuern in Preußen jährlich aufgewendet wird. Inzwischen
mag sich das Verhältnis noch zugunsten der Versicherung verschoben haben,
obgleich ja auch die Steuern, wie bekannt, nicht geringer geworden sind.
In der Lebensversicherung sind für 1907 von den Versicherungsnehmern
an Prämien und Policegebühren an die deutschen Versicherungsunternehmungen
gezahlt worden: in der Volksversicherung 80050000 Mark und in der großen
Versicherung 424180000 Mark; für eingetretene Versicherungsfälle und für
vorzeitig aufgelöste Versicherungen sind in der Volksversicherung 35960000 Mark
und in der großen Versicherung 232 910 000 Mark bar an die Versicherungs¬
nehmer zurückgeflossen; mau muß dabei berücksichtigen, daß die Prämien eines
Jahres nur zu einem Teile für Versicherungsleistungen desselben Jahres ver¬
wendet werden, zum andern Teil als Prämienreserve für zukünftige Ver¬
sicherungsleistungen zurückgehalten werden müssen; dieser Prämienreserve sind
von den Prämien in der Volksversicherung 19830000 Mark, in der großen
Versicherung 173660000 Mark zugeführt worden. In der Unfall- und Haftpflicht¬
versicherung sind 42497000 Mark, in der Feuerversicherung 125538000 Mark
an Schäden ausgezahlt worden. Rechnet man die Versicherungssummen der bei
den großen deutschen, bei den ausländischen und den deutschen öffentlichen Ver¬
sicherungsanstalten versicherten Objekte zusammen, so erhält man für Ende 1907
mit 177601000000 Mark sehr nahe den ganzen Wert des deutschen Volks¬
vermögens, soweit dieses einer Versicherung gegen Feuersgefahr zugänglich ist.
Um nicht allzusehr mit den großen Zahlen zu ermüden, sei nur noch die
Höhe der Kapitalanlagen, also des festangelegten Vermögens der Versicherungs-
Unternehmungen, erwähnt. Berücksichtigt sind hierbei in der mir vorliegenden
Statistik") nur 166 Unternehmungen, deren Kapitalanlagen für Ende 1907 auf
4408060000 Mark berechnet werden; der Buchwert dieser Kapitalanlagen hat
im Jahre 1907 um 256 550 000 Mark zugenommen, also durchschnittlich jeden
Tag um sieben Zehntel Millionen. Von besonderer Bedeutung, namentlich
für die Reichshauptstadt selbst, ist hierbei die weit überwiegende Anlegung dieser
Kapitalien in Hypotheken und Grundschulden, auf welche von den gesamten
Anlagen mehr als vier Fünftel mit 3613950000 Mark entfallen. In Berlin
allein sind in den Jahren 1905 bis 1907 nicht weniger als 619018000 Mark
auf Hypotheken ausgeliehen worden und man hat mit Recht gesagt, daß große
Teile von Berlin und feinen Vororten allein mit dem Gelde gebaut worden
sind, welches die Versicherungsgesellschaften aus ihren Prämieneinnahmen für
Hypotheken haben zur Verfügung stellen können. Natürlich stapeln die Ver¬
sicherungsgesellschaften diese gewaltigen Kapitalien nicht zu ihrem Vergnügen
oder aus Eigennutz auf; vielmehr bedürfen sie dieser Anlagen, um aus den
Zinseinnahmen ihren laufenden Verbindlichkeiten gerecht zu werden, ganz
abgesehen von den gewaltigen Katastrophen, die von Zeit zu Zeit, wie das
Erdbeben von San Franzisko vom 18. April 1906, nicht bloß die betroffene
Stadt selbst, sondern das Feuerversicherungsgeschäft der ganzen Welt in seinen
Grundfesten erschüttern.
Den eigentlichen Geschäftsgewinn, den die Versicherungsgesellschaften erzielen,
teilen sie in immer steigendem Maße mit ihren Versicherten; der 1907 erzielte
Nettojahresgewinn der oben erwähnten 166 Unternehmungen wird auf
166510000 Mark angegeben, wovon den Versicherten als Gewinnanteil,
Tantieme und dergleichen 118486000 Mark, den eigentlichen Aktionären oder
Garanten nur 21124000 Mark zufließen.
Dieser gewaltige Siegeszug der Versicherung ist im wesentlichen ein Werk
der letzten Jahrzehnte, zum Teil sogar der letzten Jahre. Damit steht im
Zusammenhang, daß bisher die private Versicherung von der Gesetzgebung und
auch von der Rechtswissenschaft etwas stiefmütterlich behandelt worden war. Bei
der Beratung des ersten gemeinsamen deutschen Privatrechtsgesetzcs, des
Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches, wo an sich der Platz für eine
Regelung des Versicherungsrechts gewesen wäre, hat man entgegen der ursprüng¬
lichen Absicht davon abgesehen und lediglich das Recht der Seeversicherung
geordnet. Auch das Bürgerliche Gesetzbuch enthält nur ganz wenige, zerstreute
Bestimmungen über versicherungsrechtliche Verhältnisse; der Art. 76 des Ein¬
führung sgesetzes hielt für das Versicherungsrecht die bestehenden Landesgesetze
aufrecht; man war sich aber schon damals darüber einig, daß, wenn überhaupt
ein Rechtsgebiet einer reichseinheitlichen Regelung bedürfe, dies in erster Reihe
vom Versicherungswesen mit seiner aller Landesgrenzeu spottenden Entwicklung
gelten müsse. Schließlich ist das Versicherungsvertragsgesetz als letztes der an
das Bürgerliche Gesetzbuch sich anschließenden Reichsgesetze privatrechtlichen
Inhalts fertig geworden, als der Schlußstein der deutschen Rechtseinheit. Es
lautet vom 30. Mai 1908 und ist am 1. Januar dieses Jahres, zehn Jahre
nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch, in Kraft getreten.
Neben der hier geregelten privatrechtlichen Seite des Versicherungsverhältnisses,
dem eigentlichen Versicherungsvertrag, steht die Regelung der öffentlich-recht¬
lichen Seite, die staatliche Aufsicht über die Versicherungsunternehmungen. An
sich sind die Versicherungsgesellschaften reine Privatunternehmungen, die ihr
Gewerbe betreiben, wie irgendein anderer Unternehmer das seinige, sei es zur
Erzielung eines Gewinnes wie die Aktiengesellschaften, sei es lediglich um der
Versicherung selbst willen wie die Gegenseitigkeitsvereine. Grundsätzlich stünde
nichts entgegen, daß auch eine einzelne Person, wenn sie sich den nötigen Ruf
und das nötige Geld zutraut, als Verhinderer auftritt — die berühmteste Ver¬
sicherungsunternehmung, die es auf der ganzen Welt gibt, Lords in London,
besteht noch heutigen Tages aus einer losen Vereinigung einzelner Mitglieder,
die lediglich unter ihrer persönlichen Haftung und Verantwortlichkeit willkürlich
bestimmte Summen auf die ihnen genehmen Versicherungen zeichnen. Im
allgemeinen erfordert aber der Versicherungsbetrieb so gewaltige Mittel, daß nur
die Kavitcilassoziation dem Bedürfnis gerecht werden kann; der Betrieb des
Versicherungsgeschäfts ist demgemäß, in Deutschland fast ausschließlich, in die
Hand großer Gesellschaften übergegangen, was nunmehr hinsichtlich der ver¬
schiedenen Arten der Lebensversicherung, der Unfall-, Haftpflicht-, Feuer- und
Hagelversicherung auch gesetzlich festgelegt ist, Z 6 des Versicherungsaufsichts-
gesetzes.
Auf diese Gesellschaften hat der Staat schon sehr früh ein wachsames Auge
geworfen. Es ist charakteristisch, daß in Amerika, dem Lande der Freiheit,
weitaus die strengsten Aufsichtsvorschriften erlassen und in den letzten Jahren
andauernd verschärft worden sind, im Zusammenhang mit den Versicherungs¬
wirren, die dort in den großen Gesellschaften, den sogenannten Muth, aus¬
gebrochen sind und die Öffentlichkeit vielfach beschäftigt haben. Für uns kommt
hier einerseits die gewaltige Höhe der den Versicherungsgesellschaften anvertrauten
Kapitalien, anderseits aber auch die Langfristigkeit des ihnen notwendigerweise
ZU schenkenden Vertrauens in Betracht. Wer z. B. in jungen Jahren eine
Lebensversicherung nimmt, zahlt Jahr für Jahr seine Prämien für eine Gegen¬
leistung, die unter Umständen erst nach dreißig und mehr Jahren fällig und
zahlbar wird; der Versicherungsnehmer muß also eine Gewähr dafür haben,
daß in der Zwischenzeit die Versicherungsgesellschaft so verwaltet wird, daß in
den langen Jahren bis zur endlichen Fälligkeit des Anspruchs nicht etwa ihre
Zahlungsfähigkeit in die Brüche geht. Hierauf gründet sich die Notwendigkeit
einer eingehenden Staatsaufsicht über die Versicherungsunternehmungen, die für
das Deutsche Reich durch das Gesetz vom 12. Mai 1901 einheitlich geregelt ist.
Es gehört danach zum Betriebe des Versicherungsgeschäfts die staatliche Erlaubnis,
die nur erteilt wird, wenn ein sachgemäßer Geschäftsbetrieb gesichert erscheint;
sie wird versagt, wenn nach dem Geschäftsplan die Interessen der Versicherten
nicht hinreichend gewahrt sind oder wenn die dauernde Erfüllbarkeit der Ver¬
pflichtungen des Unternehmens nicht genügend dargetan wird, d. h. wenn das
Unternehmen von vornherein auf ein zu geringes Kapital zugeschnitten ist. Die
Versicherungsunternehmungen werden ferner fortlaufend kontrolliert; sie haben
jährlich der Aufsichtsbehörde einen Rechnungsabschluß und einen die Verhältnisse
sowie die Entwicklung des Unternehmens darstellenden Jahresbericht einzureichen;
es sind darüber eingehende Vorschriften erlassen, z. B. bestimmte Formulare
vorgeschrieben und die Prüfung der Aufsichtsbehörde erstreckt sich tatsächlich bis
in Einzelheiten hinein; so wird der Errichtung allzu teurer Geschäftspaläste ent¬
gegengetreten und es ist eine fortlaufende Kontrolle der von den Gesellschaften
erworbenen Hypotheken eingerichtet worden, die bis zu Revisionen an Ort und
Stelle ausgedehnt wird. Ergeben sich Mißstände, so kann die Aufsichtsbehörde
durch Anordnungen eingreifen und deren Befolgung durch Geldstrafen erzwingen,
schlimmstenfalls auch den Geschäftsbetrieb untersagen, den Konkurs beantragen
oder zur Vermeidung des Konkurses Sanierungsmaßregeln ins Werk setzen. Als
Aufsichtsbehörde mit diesen weitgehenden Befugnissen ist für die Unternehmungen,
die ihren Geschäftsbetrieb über das Gebiet eines Bundesstaates hinaus erstrecken,
das sind alle größern Unternehmungen, das Kaiserliche Aufsichtsamt für Privat¬
versicherung in Berlin errichtet.
Von besonderer Bedeutung ist hierbei, daß der Prüfung und Genehmigung
der Aufsichtsbehörde auch die Allgemeinen Versicherungsbedingungen unterliegen,
d. h. das gemeinsame Vertragsformular, welches eine Versicherungsgesellschaft
allen ihren Versicherungsnehmern vorschreibt und woraus sich die Rechte und
Pflichten aus der Versicherung für beide Teile im einzelnen ergeben. Diese
Allgemeinen Versicherungsbedingungen sind auch durch das oben erwähnte
Versicheruugsvertragsgesetz nicht überflüssig geworden. Das Gesetz gibt im
allgemeinen nur die obersten Grundsätze und für die Einzelheiten nur wenige
bestimmte Vorschriften; die praktische Anpassung der Grundsätze an die Erfordernisse
des einzelnen Versicherungszweiges, der Feuerversicherung, Unfallversicherung usw.
bleibt nach wie vor der vertraglichen Ordnung im Rahmen der Allgemeinen
Versicheruugsbedingungen überlassen, für die im Gesetz nur einzelne zwingende
Vorschriften gegeben sind. Zweckmäszigerweise hat man nun aber vorgesehen,
daß mit dem Inkrafttreten des Versicherungsvertragsgesetzes eine allgemeine
Durchsicht und Neu-Redaktion aller Versicherungsbedingungen verbunden werden
soll, so daß diese mit dem Gesetze in Einklang gebracht werden und sich nicht
etwa Widersprüche und Schwierigkeiten herausstellen. Die Versicherungsgesell¬
schaften haben sich zu diesem Zwecke zusammengetan und es sind nunmehr für
jeden Versicheruugszweig, wie teilweise schon früher, übereinstimmende Ver¬
sicherungsbedingungen festgesetzt worden, die zugleich mit dem Versicherungs-
Vertragsgesetz am 1. Januar d. Is. in Kraft getreten sind, so daß es sich in der
Tat um eine durchgreifende Reform des gesamten Rechtszustandes handelt. Es
gibt also zurzeit kaum ein aktuelleres Thema, mit dein sich ein Verein zur
Verbreitung von Rechtskeuntnissen beschäftigen könnte.
An sich gilt dieses neue Recht nur für die seit dem 1. Januar 1910 neu
abgeschlossenen Versicherungsverträge; auch das Gesetz verleiht nur wenigen
seiner Vorschriften rückwirkende Kraft für die bestehenden Versicherungsverträge.
Es sind aber Bestrebungen im Gange, die neuen Bedingungen auch den alten
Versicherten zugute kommen zu lassen. Da es sich insoweit um die Abänderung
eines bestehenden Vertrages handelt, gehört hierzu die ausdrückliche Einwilligung
jedes einzelnen Versicherten. Wenn also jetzt die Versicherungsgesellschaften ihren
Versicherten die neuen Versicherungsbedingungen zur Unterschrift zusenden, so
handelt es sich nicht, wie neulich im Sprechsaal des „Tages" angenommen wurde,
um einen Versuch der Gesellschaften, dabei besondere Vorteile für sich heraus¬
zuschlagen, sondern eben um die vollständige Durchführung der Reform, die im
ganzen genommen den Versicherten erhebliche Vorteile bringt und dementsprechend
die Gesellschaften zum Teil empfindlich belastet.
Das Versicherungsvertragsrecht selbst, wie es sich auf der Grundlage des
Gesetzes und der Allgemeinen Versicherungsbedingungen ergibt, ist ein außer¬
ordentlich umfangreiches Gebiet, aus dem nur einige allgemeine Gesichtspunkte
und einige besonders hervorstechende Einzelheiten hervorgehoben werden können.
Wer einen Versicherungsanspruch geltend macht, ist leicht geneigt, dafür ein
besonderes Entgegenkommen seiner Gesellschaft zu erwarten und über Schikane
M klagen, wenn auf die vertragsmäßig festgesetzten Beschränkungen des Ent¬
schädigungsanspruchs zurückgegriffen wird. Es scheint auch die Erwägung ver¬
führerisch nahezuliegen, daß die Entschädigungssumme für den einzelnen Fall
im Vergleich zu dem Gesamtumsatz der Versicherungsgesellschaft gar nicht ins
Gewicht fällt. Tatsächlich werden auch in vielen Fällen reine Kulanz¬
entschädigungen gewährt — man darf aber nicht vergessen, daß die Sache für
die Versicherungsgesellschaft ein ganz anderes Gesicht hat: für diese handelt es
sich nicht um den einzelnen Fall, sondern um Hunderte oder Tausende gleich¬
artiger Fälle, die nicht mit verschiedenem Maße gemessen werden können und
dürfen. Dies führt auf die Grundlage, auf die am letzten Ende jeder Ver¬
sicherungsbetrieb zurückgeht, nämlich auf die sorgfältige Abmessung von Leistung
und Gegenleistung, ohne die auf die Dauer eine Versicherung gar nicht bestehen
kann. Jeder Verhinderer, der sein Geschäft anfängt, muß in seinem Geschäfts¬
plan, der übrigens auch die Genehmigung der Aufsichtsbehörde erfordert, genau
festlegen, für welche scharf abgegrenzten Versicherungsfälle er Entschädigung
leisten will; auf Grund seiner eigenen Erfahrungen und der seiner Vorgänger
läßt sich dann mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung ermitteln, in welcher
Höhe er von seinen Versicherungsnehmern die Gegenleistung, die Prämie, erheben
muß, um auszukommen. Am vollkommensten ist dieses System bei der Lebens-
Versicherung ausgebildet, die auf Grund ihrer langjährigen Sterblichkeitsunter¬
suchungen die Prämie fast mit mathematischer Genauigkeit ausrechnen kann;
ähnliches gilt aber auch bei allen andern Versicherungsarten. Der geringste
Rechenfehler, der hierbei begangen wird, kann sich noch nach Jahrzehnten für
den Bestand der Gesellschaft verhängnisvoll erweisen. Es liegt auf der Hand,
daß ein Verhinderer, der über die vertragsmäßigen Grenzen seiner Entschüdigungs-
pslicht hinausgehen will, dies nur kann, wenn er gleichzeitig die Prämie erhöht.
Hieraus ergibt sich einerseits die Notwendigkeit, den vertragsmäßigen Ent¬
schädigungsfall, das Risiko, wie man es technisch nennt, genau festzulegen,
anderseits aber auch, diese vertragsmäßigen Grenzen genau innezuhalten.
Eines der besten Beispiele hierfür ist die Unfallversicherung, die in neuerer Zeit
so stark in Aufnahme gekommen ist. Eine Unfallversicherung vereinigt in sich
eine ganze Reihe von Versicherungen: einmal eine Lebensversicherung, wenn
der Verunglückte stirbt; eine Krankenversicherung, insofern sie die Kurkosten trägt,
und endlich eine Jnvaliditätsversicherung, die für den Fall des Eintritts der
Arbeitsunfähigkeit eine lebenslängliche Rente zahlt. Diese Leistungen werden
gewährt für eine verhältnismäßig außerordentlich geringe Prämie, von deren
Beibehaltung die Verbreitung der Unfallversicherung wesentlich abhängt. Möglich
ist dies nur, wenn der Entschädigungsfall, also der Begriff des entschädigungs-
pflichtigen Unfalls, aufs engste abgegrenzt wird, und wir finden deshalb sowohl
in den alten als in den neuen Bedingungen Vorschriften von minutiöser, zum Teil
übertrieben kleinlicher Genauigkeit, bei welchen Unglücksfällen Entschädigung
gewährt wird und bei welchen nicht. In: Publikum findet dies vielfach geringes
Verständnis; bekannt ist die Schnurre, daß ein Vater von seiner Unfall¬
versicherungsgesellschaft deshalb Entschädigung haben wollte, weil seine Tochter
ein Kind bekommen hatte, was er gleichfalls für einen Unfall taxierte.
Bei den meisten Versicherungszweigen ist der Verhinderer in: Hinblick auf
diese Bemessung des Risikos in einer ungünstigen Lage, weil er die Verhältnisse
des Versicherungsnehmers nicht so genau kennt wie dieser selbst. Er ist deshalb
darauf angewiesen, sich beim Vertragsschluß vom Versicherungsnehmer genaue
Auskunft über alle in Betracht kommenden Verhältnisse erteilen zu lassen; so
erklären sich die mehr oder weniger ausführlichen Fragebogen, die bei jedem
Versicherungsantrag ausgefüllt werden müssen, also bei einer Feuerversicherung
über die Lage und Bauart des Hauses, über die Nachbarschaft besonders feuer¬
gefährlicher Betriebe und dergleichen, was in kleinen Städten und auf dem
Lande eine größere Rolle spielt als hier in Berlin; bei der Lebensversicherung
und Unfallversicherung die Fragen nach dem Gesundheitszustande, nach den
Krankheiten, die der Antragsteller in seinem Leben schon durchgemacht hat, nach
den Todesursachen der Eltern, um daraus Anhaltspunkte für eine etwaige
Krankheitsvererbung zu gewinnen und anderes. Falsche und unvollständige
Angaben des Versicherungsnehmers führen zur Verwirrung der Entschädigung;
die Strenge, mit der die Versicherungsgesellschaften hierbei früher vorgegangen
sind, hat zu einer gewissen Abschwächung im Versicherungsvertragsgesetz geführt;
der Grundsatz der Anspruchsverwirkung bei Verletzungen der Anzeigepflicht ist
aber bestehen geblieben und mußte als Grundlage eines ordnungsmäßigen
Betriebes bestehen bleiben. Andern sich die Verhältnisse gegenüber dem Zustande
beim Vertragsschluß, so ist dies unter Umständen eine Gefahrerhöhung, infolge
deren der Verhinderer gleichfalls zurücktreten oder die Zahlung der Entschädigung
verweigern darf.
Besondere Schwierigkeiten ergeben sich in der Praxis aus der Mitwirkung
der Agenten. Die Versicherung kann nach aller Erfahrung der Mitwirkung
dieser Agenten nicht entbehren; ein bekanntes Scherzwort sagt, daß die Ent¬
wicklung der Versicherung den Beinen der Agenten weit mehr verdanke als den
Köpfen der Gelehrten. Nun tritt der Agent den: Versicherungsnehmer, namentlich
dem einfachern Versicherungsnehmer gegenüber als der Sachverständige, als der
Vertrauensmann der Versicherungsgesellschaft, auf dessen Angaben, Erläuterungen
und Erklärungen der Versicherungsnehmer sich verlassen zu können glaubt.
Anderseits sind aber die Versicherungsgesellschaften weit davon entfernt, alles
das gelten lassen zu wollen oder zu können, was ein Agent, vielleicht gegen
seine Instruktion und gegen den klaren Inhalt der Bedingungen, gesagt hat,
um einen Versicherungsantrag zu bekommen. Die Entscheidung dieses zweifel¬
losen Konflikts der verschiedenen Interessen ist nicht immer ganz einsach zu
treffen. Auch das Versicherungsvertragsgesetz hat hieran im Grunde nichts
geändert; es hat insofern eine feste und zwingende Grundlage geschaffen, als
es Verstöße des Versicherungsuehmers gegen die Anzeigepflicht dann für
bedeutungslos erklärt, wenn dem Versicherungsnehmer dabei kein Verschulden
zur Last fällt, wenn er schuldlos gehandelt hat. Bei dieser Prüfung des Ver¬
schuldens wird auch die Mitwirkung und eventuelle Verleitung oder gar Täuschung
durch den Agenten eine wichtige Rolle spielen.
Ähnlich verhält es sich mit den Obliegenheiten, die dem Versicherungs¬
nehmer zwecks möglichster Vermeidung des Versicherungsfalls auferlegt werden.
Wer eine Versicherung genommen hat, darf nicht etwa die Hände in den Schoß
legen und in den: beruhigenden Gefühl, daß er ja unter allen Umständen seiner
Entschädigung sicher sei, die Dinge ihren Lauf gehen lassen; vielmehr muß er
sich als Associe des Versicherers betrachten und, wie man es mit einer ein¬
leuchtenden Formel ausgedrückt hat, sich in allem, was die Abwendung oder
Vermeidung des Versicherungsfalls betrifft, so betragen, als ob er unverhindert
wäre. Wer durch grobe Fahrlässigkeit oder gar durch Vorsatz den Versicherungsfall,
also den Brandschäden, den Unfall, den Einbruchdiebstahl selbst herbeiführt,
erhält durchweg keine Entschädigung. In dieser Beziehung übernimmt die
Versicherung nun noch eine besondere vorbeugende Funktion. Infolge ihrer
steten Beschäftigung mit Unglücksfällen einer bestimmten Art erwerben die Organe
der Versicherung eine besonders hervorragende Sachkunde in Ansehung der Ver¬
meidung derartiger Unfälle und der Unschädlichmachung ihrer Folgen; sie können
also dem Versicherten von vornherein angeben, beratend oder vorschreibend, wie
er sich verhalten muß oder welche Mittel er anwenden kann, um einen Unglücksfall
überhaupt nicht eintreten zu lassen. Besonders wichtig ist diese Funktion in
der öffentlichen Arbeiterversicherung, namentlich in der Arbeiternnfallversicherung,
wo die Unfallverhütungsvorschriften einen breiten Raum einnehmen. Ähnliches
gilt aber auch überall in der privaten Versicherung. Es werden hier im Ver¬
trage bestimmte Obliegenheiten festgelegt, die der Versicherungsnehmer zu
beobachten hat, z. B. bei der Feuerversicherung gewerblicher Anlagen die Ver¬
wendung bestimmter Feuerschutzmaßregeln und vor allem bei der Einbruch-
diebstahlversicherung: besonders sorgsame Aufbewahrung von Geld oder Kostbar¬
keiten, besondere Sicherung des Außenverschlusses u. tgi. Das Versicherungs¬
vertragsgesetz hat es den Gesellschaften freigestellt, in ihren Allgemeinen Ver¬
sicherungsbedingungen oder im einzelnen Falle derartige Obliegenheiten vor¬
zuschreiben und an ihre Verletzung den Verfall der Entschädigung zu knüpfen;
nur muß auch hier wieder dem Versicherungsnehmer der Nachweis seiner Schuld-
losigkeit vorbehalten bleiben und ebenso bleibt der Entschädigungsanspruch
bestehen, wenn die Verletzung der Obliegenheit nachweislich ohne Einfluß auf
den Eintritt des Versicherungsfalls und auf den Umfang der Entschädigungs¬
pflicht gewesen ist, z. B. wenn die Eingangstür aus Versehen unverschlossen
geblieben ist, die Diebe dies aber nicht gemerkt haben und zum Fenster ein¬
gestiegen sind. In diesem Rahmen haben denn auch die Versicherungs¬
bedingungen von der im Gesetz ihnen gelassenen Freiheit ausgiebig Gebrauch
gemacht.
Eigenartig ist dies bei der Haftpflichtversicherung gestaltet, die ihre Ver¬
sicherten schadlos hält, wenn sie ihrerseits einen Schaden angerichtet haben und
nun dafür von dem Beschädigtem verantwortlich gemacht werden. Hier über¬
nimmt die Versicherungsgesellschaft namentlich auch die Prozeßführung; sie sorgt
also dafür, daß die Ansprüche des dritten Geschädigten nur insoweit gerichtlich
anerkannt werden, als sie wirklich gerechtfertigt sind. Dem Versicherten wird
dabei die freie Verfügung über deu Prozeß abgeschnitten; er darf den Anspruch
nur insoweit anerkennen, als die Versicherungsgesellschaft damit einverstanden
ist. Diese Rechtsschutzfunktion wiegt bei der Haftpflichtversicherung so vor, daß
man darin bereits ihr eigentliches Wesen hat sehen wollen.
Eine Lebensfrage für einen geordneten Versicherungsbetrieb ist anch der
pünktliche Eingang der Prämien. Die bisherige Regelung hatte hier vielfach
in streng formalistischer Weise jede Versäumung eines Prämienzahlungstermins
ohne weiteres mit einem Ruhen der Entschädigungspflicht, zum Teil mit einen:
automatischen Verfall der Versicherung bestraft. Dies hat schon das Ver¬
sicherungsvertragsgesetz in zwingender Form beseitigt; es verlangt ausdrückliche
Mahnung, Bestimmung einer Zahlungsfrist von mindestens zwei Wochen und
Androhung der Rechtsfolgen weiterer Zahlungssäumnis; erst wenn alles dies
vergeblich geblieben ist, tritt das Recht der Gesellschaft ein, vom Vertrage zurück-
zutreten und VersicherungsMe, die sich später ereignen, abzulehnen. Diese
Mahnpflicht ist für die Gesellschaften bei der ungeheuren Anzahl kleiner Prämien¬
zahlungen unbequem und kostspielig; für die Volksversicherung und die sonstigen
Arten der Lebensversicherung mit kleinern Beträgen kann die Aufsichtsbehörde
Abweichungen von der gesetzlichen Regelung bewilligen. Dies ist auch tatsächlich
geschehen, worauf unten zurückzukommen ist.
Von den einzelnen Versicherungszweigen steht die Feuerversicherung wegen
ihrer großen Verbreitung weitaus im Vordergrunde. Die privaten Feuer-
versicherungsgesellschaften haben sich schon seit 1886 übereinstimmender Bedingungen
bedient, die im Jahre 1904 ergänzt und in einigen Punkten gemildert worden
sind. Die neuen Bedingungen lehnen sich an die frühere Fassung an, zeigen
aber auch, abgesehen von der notwendigen Anpassung an das Versicherungs-
vertragsgesetz, ganz wesentliche Verbesserungen für die Versicherungsnehmer.
Merkwürdigerweise ist es bisher immer noch uicht gelungen, eine vollständig
treffende und allgemein befriedigende Formel für die Grundlage des Ganzen
zu finden, nämlich für den Begriff des Brandereignisses, dessen Folgen der
Versicherungsgesellschaft zur Last fallen sollen. Eine gewisse Grenze ist hier
offenbar: wenn die Hausfrau oder die Köchin beim Braten ein Beefsteak
unglücklicherweise ins Feuer fallen läßt, so wird es dem natürlichen Rechts¬
empfinden und dem gesunden Menschenverstand ohne weiteres einleuchtend
erscheinen, daß für einen solchen Schaden die Feuerversicherung nicht einzutreten
hat. Den hier obwaltenden Unterschied hat am treffendsten der große Dichter
empfunden:at
Die reiten Bedingungen haben die Vorschrift aufgestellt, daß der Verhinderer
solche Schäden nicht zu ersetzen habe, welche die versicherten Sachen durch ein
Feuer erleiden, dem sie ihrer Bestimmung gemäß ausgesetzt werden. Besonders
glücklich und treffend ist auch diese Vorschrift uicht. Die Schäden, um die es
sich hier handelt, die sogenannten Bagatellschäden, spielen im Geschäftsbetriebe
der Versicherungsgesellschaften eine erhebliche Rolle; es sollen nicht weniger als
46 Prozent der Schadenanmeldungen auf Schäden bis zu 20 Mark entfallen.
Es sind dies im wesentlichen die geringfügigen Beschädigungen an einzelnen
Sachen, Kleidungsstücken, Teppichen. Möbeln usw., die durch Unachtsamkeit oder
Zufall, durch brennende Zigarren oder springende Funken hervorgerufen und
von den Gesellschaften, eben wegen ihrer Geringfügigkeit, bisher meist ohne
nähere Prüfung bezahlt worden sind. Die Gesellschaften klagen hier über Über¬
vorteilung; die Entschädigungspflicht an sich kann nicht bezweifelt werden, da
die obenerwähnte Vorschrift hier nicht paßt und die Ursache des Feuers oder
die Art seiner Einwirkung gleichgültig ist; ob etwas direkt verbrennt oder durch
Rauch leidet oder bloß ansengt, ist für die Entschädigungsfrage unerheblich.
Diese sogenannten Sengschäden sowie die sonstigen Bagatellschäden beginnen in
neuester Zeit vielfach die Öffentlichkeit zu beschäftigen; der wöchentliche Sprech¬
saal des „Tages" z. B. bringt fast jedesmal darüber eine Einsendung unter dem
bereits typisch gewordenen Titel: Vorsicht beim Abschluß von Versicherungs¬
verträgen. Dies hängt damit zusammen, daß zurzeit bei den Versicherungs¬
gesellschaften eine lebhafte Strömung im Gange ist, hinsichtlich der Bagatellschäden
eine schärfere Praxis durchzudrücken. Soweit dies dahin zielt, wirkliche Über¬
vorteilungen, also z. B. vorsätzliche Beschädigungen eines ohnehin abgebrauchter
Gegenstandes von den Gesellschaften fern zu halten, läßt sich dagegen natürlich
nichts sagen. Wenn aber darüber hinaus behauptet wird, die Bagatellschäden
seien überhaupt nicht entschädigungspflichtig, so geht dies zu weit. Das Kaiserliche
Aufsichtsamt für Privatversicherung hat sich in einem vor einiger Zeit ver¬
öffentlichten Bescheide mit bemerkenswerter Schroffheit in dieser Frage gleichfalls
auf den Standpunkt der Gesellschaften gestellt; es ist aber wenig wahrscheinlich,
daß die Zivilgerichte, die über derartige Ansprüche zu entscheiden haben, dieser
Auffassung folgen werden.
Der größte Fortschritt der neuen Bedingungen zugunsten der Versicherungs¬
nehmer liegt in der Bestimmung der sogenannten Versicherungslokalität. Die
bisherige Übung beschränkte jede Feuerversicherung streng auf diejenigen Räume,
für die sie abgeschlossen war; im Falle eines Anzuges des Versicherungsnehmers
mußte eine besondere Genehmigung des Versicherers eingeholt werden und bis
zum Eintreffen dieser Genehmigung wurden Brandschäden, die sich inzwischen
ereignet hatten, nicht vergütet. Dies hängt zusammen mit der oben berührten
sorgsamen Prüfung des Risikos, also der Feuergeführlichkeit und damit der ver¬
schiedenen Schadenwahrscheinlichkeit jeder einzelnen Räumlichkeit, sei es Wohnung,
Geschäftslokal oder Fabrik, und hat auch seinen guten Grund, wo es sich um
Geschäfts- oder Fabrikräume handelt, also um individuell zu beurteilende und
besonders gefährliche Risiken. Bei den gewöhnlichen Privatwohnungen dagegen,
namentlich innerhalb derselben Stadt, wird man eine erhebliche Verschiedenheit
der Feuergefährlichkeit kaum feststellen können; insoweit wirkte die gedachte
Beschränkung der Feuerversicherung als unbegründete und unbillige Verfallklausel.
Dem haben die neuen Bedingungen Rechnung getragen; sie setzen fest, daß in
Ansehung häuslichen Mobiliars die Versicherung die versicherten Sachen im Falle
eines Wohnungswechsels in die neue Wohnung begleitet und daß auch der
Brandschade während des Anzuges vergütet werdeu soll. Dies gilt nicht nur
für Umzug innerhalb derselben Stadt, sondern auch für einen Umzug in eine
andere Stadt innerhalb des Deutschen Reichs und ist, wie man leicht ermessen
kann, eine ganz beträchtliche Konzession an die Versicherungsnehmer. Der Ver¬
sicherte muß aber nach wie vor den Umzug binnen zwei Wochen seiner Ver¬
sicherungsgesellschaft anzeigen und diese ist dann berechtigt, das Versicherungs¬
verhältnis mit einmonatiger Frist zu kündigen. Wird die Anzeige schuldhaft
versäumt, so werden Versicherungsfälle, die sich nach Ablauf dieser zwei Wochen
(Anzeigefrist) plus einen Monat (Kündigungsfrist) ereignen, nicht mehr vergütet,
bis der Versicherungsnehmer die Anzeige nachholt und die Versicherungsgesellschaft
dann die Kündigungsfrist verstreichen läßt. Auch die Außenversicherung, die
bisher von den Versicherungsgesellschaften auf besonderes Verlangen genährt
wurde, also die Versicherung der Sachen, die man auf die Reise usw. mitnimmt,
ist bis zu einem bestimmten Betrage nunmehr Bestandteil der Allgemeinen
Versichcrungsbedingungen geworden (bis höchstens 2000 Mark und 10 Prozent
der versicherten Sachen gleicher Art).
In: Versichcrungsvertragsgesetz ist vorgeschrieben, daß, wenn eine Feuer¬
versicherung für einen Inbegriff von Sachen genommen ist, also z. B. für eine
Wohnungseinrichtung, sie sich auf die Sachen der zur Familie des Versicherungs¬
nehmers gehörenden sowie der in einem Dienstverhältnis zu ihm stehenden
Personen erstreckt, sofern diese Personen in häuslicher Gemeinschaft mit dem
Versicherungsnehmer leben. Dies galt übrigens auch schon früher auf Grund
besonderer Policebestimmungen.
Von besonderer praktischer Wichtigkeit sind die Vorschriften über die
Obliegenheiten des Versicherungsnehmers nach Eintritt eines Brandschadens.
Hier wird vor allen Dingen die sofortige Anzeige des Brandes an die Ver¬
sicherungsgesellschaft oder an den Agenten gefordert; diese Anzeige ist binnen
zwei Tagen zu erstatten; wird sie versäumt, so ist der Anspruch auf die Ent¬
schädigung verwirkt, es sei denn, daß der Versicherte die Versäumnis entschuldigen
kann, also z. B. krank oder verreist gewesen ist oder den Brand erst nachträglich
erfahren hat. Diese Anspruchsverwirkung ist streng, aber unentbehrlich, weil
die Versicherungsgesellschaften ohnehin in weitgehendem Maße auf die Angaben
des Versicherungsnehmers angewiesen sind und nach Ablauf einer gewissen Zeit
diese natürlich überhaupt nicht mehr nachprüfen können. Es sind ferner auf
Verlangen der Gesellschaft innerhalb einer angemessenen Frist von mindestens
Zwei Wochen spezielle vom Versicherungsnehmer unterschriebene Verzeichnisse
über die zur Zeit des Verficherungsfalls vorhanden gewesenen, die vom Schaden
betroffenen oder abhanden gekommenen und die in beschädigten oder unbeschädigten!
Zustande geretteten Sachen einzureichen, und zwar unter Angabe der Werte der
Sachen; der Verhinderer kann auch Belege und sonstige Auskunft fordern und
selber Nachforschungen anstellen. Auch hier ist überall für die schuldhafte
Verletzung dieser Pflichten die Verwirkung des Anspruchs angedroht, namentlich
für jeden Versuch einer arglistigen Täuschung der Versicherungsgesellschaft bei
den Regulierungsverhandlungen, also insbesondere für bewußt falsche Angaben
über die Menge und den Wert der beschädigten Sachen; man spricht hier von
Verletzung der Assekuranztreue. Übrigens ist- der Brand und das Abhanden¬
kommen verhinderter Sachen auch der Polizeibehörde anzuzeigen.
Die Entschädigung wird nur gewährt nach der Höhe des tatsächlich ein¬
getretenen Schadens; die Versicherungssumme, die in: Versicherungsschein angegeben
ist, begründet keinen Beweis dafür, daß tatsächlich so viel Sachen vorhanden
gewesen sind und daß der Wert der vorhandenen Sachen so hoch gewesen ist,
wie die Versicherungssumme ergibt. Die Versicherungssumme ist nur die Höchst¬
grenze der Entschädigung — mehr wird auf keinen Fall vergütet. Bei Haushalts¬
gegenständen und dergleichen wird der Entschädigung der Betrag zugrunde
gelegt, der erforderlich ist, Sachen gleicher Art anzuschaffen, aber unter billiger
Berücksichtigung des aus dein Unterschiede zwischen alt und neu sich ergebenden
Minderwerts. Die Entschädigung wird nach Ablauf eines Monats seit der
Anzeige des Versicherungsfalls mit 4 Prozent verzinst und der Versicherungs¬
nehmer kann nach Ablauf dieses Monats unter allen Umständen Zahlung des
Betrages verlangen, den der Verhinderer nach Lage der Sache mindestens zu
zahlen hat, auch wenn die eigentliche Schadenregulieruug daun etwa noch uicht
ganz beendet ist und noch Streitpunkte offen stehen. Lehnt die Gesellschaft die
Entschädigung ab, so muß binnen sechs Monaten nach der schriftlichen Ablehnung
Klage erhoben werden; jedoch muß die Gesellschaft den Versicherungsnehmer
bei der Ablehnung auf diese Frist ausdrücklich hinweisen. Nach jedem Ver¬
sicherungsfall, auch wenn kein Schadenersatz beansprucht wird, sind beide Teile
berechtigt, jeden zwischen ihnen bestehenden Feuerversicherungsvertrag zu kündigen.
Die wertvollen Funktionen der Lebensversicherung sind im allgemeinen
weniger bekannt, als man annehmen sollte. Die Rechtswissenschaft hat sich
lange dagegen gesträubt, die Lebensversicherung als eine wirkliche Verstchernng
anzuerkennen. Der tiefgreifende Unterschied springt ja anch in die Augen: bei
den andern Versicherungszweigen erwächst der Anspruch auf die Versicherungs¬
summe nur ganz ausnahmsweise; Hunderte müssen die Prämie umsonst zahlen,
damit der eine, den dann schließlich der Schade trifft, schadlos gestellt werden
kann. Bei den maßgebenden Hauptformen der Lebensversicherung dagegen*)
trifft den Verhinderer eine unbedingte Leistungspflicht; hier erhält jeder Ver¬
sicherungsnehmer früher oder später die vereinbarte Summe, wenn er nicht
vorzeitig die Prämienzahlung einstellt.
Hiermit hängt in gewisser Weise zusammen, daß die Lebensversicherung
weit weniger ängstlich und rigoros als die sonstigen Versicherungszweige mit
Vorsichtsmaßregeln und Verwirkungsklauseln zu arbeiten braucht; wir finden
auch hier die Anzeigepflicht bei Abschluß des Vertrages mit ihren gesetzlichen
Folgen des Rücktritts und der Leistuugsfreiheit infolge einer Verletzung, die
Gefahrerhöhung und gewisse Ausschlußklauseln, alles aber abgeschwächt und
gemildert; namentlich hat die Lebensversicherung schon früher die Unverfallbarkeit
der Police ausgebildet, d. h. es werden Verletzungen der Anzeigepflicht beim
Vertragschluß bedeutungslos, wenn seit Schließung, Abänderung oder Wieder¬
inkraftsetzung der Versicherung drei Jahre verflossen sind; einige Gesellschaften
gewähren die Unverfallbarkeit schon nach einem Jahre; das Versicherungs-
Vertragsgesetz hatte im Z 163 hier eine zehnjährige Wartefrist vorgesehen. Mit
der Gefahrerhöhung hängt der Begriff der Weltpolice zusammen, der gleichfalls
in den neuen Bedingungen weitherzig ausgebildet ist. Nach Ablauf von zwei
Jahren seit Ausstellung des Versicherungsscheins ist dem Versicherten der Aufenthalt
in allen Teilen der Welt freigegeben; während der ersten zwei Jahre ist nur
der Tod infolge eines Aufenthalts in den Tropen ausgeschlossen, weil der
Tropenaufenthalt in der Tat besonders lebensgefährlich ist und deshalb eine
merkliche Beschwerung der Versicherungsgesellschaft darstellt. Für die Kriegs¬
versicherung gelten besondere Einrichtungen und Bestimmungen. Gänzlich sind
aus den Bedingungen verschwunden die bisherigen verschiedenartigen Vorschriften
über Änderungen des Berufs und der Lebensweise, also der Übergang zu einem
besonders gefahrvollen oder lebensgefährlichen Berufe, wozu man namentlich
auch das Älkoholgewerbe, Gaswirtschaft und dergleichen im weitesten Umfange
gerechnet hat, mutwilliger oder ausschweifender Lebenswandel, Verurteilung zu
längerer Freiheitsstrafe usw. Die Bedingungen entsprechen damit dem § 164
des Bersicherungsvertragsgesetzes, der sür derartige Beschränkungen besondere
ausdrückliche und schriftliche Vereinbarung verlangt, wobei sich aus naheliegenden
Gründen allzu merkbare Beschränkungen des Versicherungsnehmers von selbst
verbieten.
Die Frage des Selbstmordes hatte bei den Beratungen des Versicherungs¬
vertragsgesetzes noch eine große Rolle gespielt; in den Bedingungen wird nun¬
mehr einheitlich bestimmt, daß auch im Falle des Selbstmordes die Versicherungs¬
summe fällig wird, wenn entweder beim Ableben des Versicherten seit Aus¬
stellung des Versicherungsscheins zwei Jahre verstrichen sind oder wenn, in den
ersten zwei Jahren, der Nachweis erbracht wird, daß die Tat in einem die
freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande krankhafter Störung der
Geistestätigkeit begangen worden ist. Hinsichtlich des Zweikampfs, der gleichfalls
bei den Beratungen des Versicherungsvertragsgesetzes lebhaft erörtert worden
ist, verlangt das Aufsichtsamt die Aufnahme einer besondern Frage im Antrags¬
formular, ob der Antragsteller Grund zu der Annahme habe, daß er demnächst
zu einem Zweikampf genötigt sein werde, eine wunderliche Beseitigung, die sich
kaum auf die Dauer wird aufrecht erhalten lassen.
Mit der obenerwähnten Unbedingtheit der Leistungspflicht des Versicherers
hängt ferner zusammen, daß in jeder Lebensversicherung ein Sparelement steckt.
Nach den technischen Grundsätzen, auf denen die Berechnung der Prämie beruht,
muß ein gewisser Teil der Prämie gerade dein Versicherten zugute kommen,
der sie gezahlt hat; es bildet sich auf diese Weise in gewissem Sinne ein Spar¬
guthaben bei der Versicherungsgesellschaft, das allein für den einzelnen Ver¬
sicherten bestimmt ist, auch wenn der Versicherungsfall noch nicht eingetreten ist.
Wie schon erwähnt, spricht man hier von der Prämienreserve, einem der
schwierigsten Begriffe des ganzen Versicherungswesens. Wenn also der Ver¬
sicherungsnehmer die Versicherung aufgeben will oder die Versicherung auf
irgendeine Weise verfällt, z. B. wegen Nichtzahlung der Prämien, so verbleiben
nicht die gesamten bezahlten Prämien der Versicherungsgesellschaft, sondern es
muß der Teil, der der Prämienreserve entspricht, in der einen oder andern
Form dem Versicherungsnehmer wieder zugewendet werden. Vorausgesetzt ist
hierfür im Einklang mit dem Versicherungsvertragsgesetz, daß die Versicherung
bereits drei Jahre bestanden hat und die Prämien für diesen Zeitraum bezahlt
worden sind. Die Prämienreserve, also der als Spareinlage gezahlte Teil der
Prämien, bleibt dann entweder beim Verhinderer stehen als einmalige Einlage
für eine prämienfreie Versicherung oder sie wird dem Versicherungsnehmer
zurückbezahlt; wie man es früher ausgedrückt hat: die Police wird von der
Gesellschaft zurückgekauft. An Stelle des Rückkaufs kann auch die Beleihung
der Police treten, d. h. wenn ein Versicherungsnehmer an sich seine Versicherung
fortsetzen will, aber sich in vorübergehender Geldverlegenheit befindet, so läßt
er sich von der Versicherungsgesellschaft eine Vorauszahlung bis zur Höhe seines
Sparguthabens geben; kommt er dann in bessere Umstände, so bringt er die
Versicherung durch Rückzahlung des empfangenen Betrages nebst Zinsen wieder
auf die ursprüngliche Höhe; tritt der Versicherungsfall inzwischen ein, so wird
die Vorauszahlung von der Versicherungssumme abgezogen. Die Berechnung
dieser Prämienreserve entzieht sich nun aber dem Laienverständnis vollständig;
um jedem Inhaber eines Versicherungsscheins eine Übersicht zu ermöglichen,
sollen künftig die Versicherungsscheine eine Tabelle der in jedem Vcrsicherungs-
jahr verfügbaren Umwandlungswerte und Rückvergütungen, also der Spar¬
guthaben, enthalten. Alles dies hatte sich schon in der frühern Handhabung
der Lebensversicherungspraxis ausgebildet, war aber mehr oder weniger von
der Willkür der einzelnen Gesellschaften abhängig. Der große Fortschritt des
neuen Rechts liegt, abgesehen von einzelnen kleinen Verbesserungen, vor allein
darin, daß man nunmehr die ganzen Rechte und Verpflichtungen auf einen
gesicherten und übersichtlichen Rechtsboden gestellt hat. Das ganze Verhältnis
ist so wandelbar und schmiegt sich so sehr den wechselnden wirtschaftlichen
Bedürfnissen an, daß man mit Fug und Recht eine Lebensversicherungspolice
den besten und zuverlässigsten Freund in der Not hat nennen können.
Diese besondern Vorteile fallen nun freilich weg bei der Art Lebensversicherung,
die sich in neuester Zeit am weitesten und allgemeinsten verbreitet hat, bei der
Volksversicherung, also, um die Hauptmerkmale herauszugreifen, bei der Ver¬
sicherung mit kleinen Beträgen ohne ärztliche Untersuchung und einer Prämien¬
zahlung in kleinen Raten, meist Wochenraten, die beim Versicherten abgeholt
werden. Bei der Volksversicherimg tritt namentlich hinsichtlich der Prämien¬
zahlung an die Stelle der Mahnpflicht der Gesellschaften der automatische Verfall
der Versicherung; es ist eine Zahlungsfrist von acht Wochen bestimmt; wird
diese versäumt, so verfällt die Versicherung ohne weiteres; sie kann aber innerhalb
der nächsten sechs Monate durch einfache Nachzahlung und innerhalb weiterer
sechs Monate durch Nachzahlung und Beibringung eines ärztlichen Gesundheits-
Zeugnisses wieder in Kraft gesetzt werden. Vorauszahlungen auf das Versicherungs¬
kapital finden nicht statt; jedoch wandelt sich nach dreijährigem Bestehen auch
hier im Falle der Einstellung der Prämienzahlung die Versicherung in eine
prämienfreie Versicherung mit entsprechend herabgesetzten Versicherungskapital
um. An Stelle der ärztlichen Untersuchung tritt eine Karenzzeit: stirbt der
Versicherte im ersten Versicherungsjahr, so werden nur die geleisteten
Prämien zurückgezahlt; stirbt der Versicherte im zweiten Jahr, so wird die
Versicherungssumme nur zur Hälfte gezahlt; wird der Tod durch Unfall herbei¬
geführt, so wird auch in den beiden ersten Jahren die Versicherungssumme voll
bezahlt; zum Teil wird das gleiche auch für gewisse Krankheiten bestimmt. Auch
die Volksversicherung kennt die Gewinnbeteiligung der Versicherten.
Die Volksoersicherung tritt vielfach als gemischte Versicherung auf, d. h. das
versicherte Kapital wird nicht nur beim Tode des Versicherten, sondern auch nach
Ablauf eines bestimmten Zeitraums gezahlt; namentlich gilt dies bei den weit
verbreiteten Kinderversicheruugen. In dieser Form ist die Volksversicherung im
wesentlichen eine Sparkasseneinrichtung. Der Nachteil liegt hierbei in der über¬
großen Zahl verfallender Versicherungen und in der Höhe der Verwaltungskostsu;
es sind wie bekannt unzählige Verbesserungs- und Reformvorschläge aufgetaucht,
ohne daß man bisher ein Mittel gefunden hätte, diese Nachteile wirklich zu
vermeiden. Die Volksversicherung bietet, wenn man sich die Sache genau auf¬
rechnet, dem Versicherten eine geringere Verzinsung als die unmittelbare zinsbare
Anlage der gleichen Beträge bei einer Sparkasse. Dieser Nachteil wird aber
aufgewogen durch den wohltätigen Sparzwang, der bisher trotz aller Versuche
durch nichts ähnliches hat ersetzt werden können.
Die gleiche Entwicklung ist durch die ganze Welt gegangen. Entstanden
ist die Volksversicherung in England und bezeichnenderweise hat der Privatbetrieb
dort seinen Hauptaufschwuug genommen, als man mit Maßregeln umging, die
ganze Sache zu verstaatlichen. Von England ist sie nach Amerika übergegangen,
wo 1907 nicht weniger als zehn Milliarden Mark auf Volksoersicherungsscheine
versichert sein sollen; nach Deutschland ist die Volksversicherung dann auf dem
Umwege über Österreich gekommen und hat bei uns seit 1892 ein rapides
Wachstum angenommen, als sich die bekannte Versicherungsgesellschaft Viktoria
der Sache bemächtigte. Für Ende 1907 wird in Deutschland ein Bestand von
K 099 351 Volksversicherungspolicen angenommen, deren Durchschnittsbetrag sich
etwa auf 179 Mark stellt. Man hat berechnet, daß mindestens ein Viertel der
Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs in der einen oder andern Weise, wenn
auch nur als Ehefrau oder Kind eines Versicherten, an einer Volksversichcrung
interessiert sei und so ist die Volksoersichernng bei all ihrer Jugend eines der
markantesten Beispiele der modernen allseitigen Verbreitung des Versicherungs¬
gedankens.
Zu dieser Verbreitung des Versicherungsgedankens wird auch die Ver¬
breitung von Rechtskenntnissen über das Versicherungswesen ein gutes Teil
beitragen können. Sie dient dazu, einerseits die Einsicht in die Vorteile und
Wohltaten der Versicherung in ihren mannigfachen Zweigen zu vertiefen, ander¬
seits dem Versicherten den rechten Einblick in seine Rechte und Verbindlichkeiten
zu gewähren und ihm so einen gewissen Rückhalt in seinem Verhältnis zu seiner
Versicherungsgesellschaft zu verschaffen, vor allein aber das Verständnis sür die
notwendigen Lebensbedingungen der Versicherung zu erwecken und damit die
unausbleiblichen Ansprüche und Verbesserungswünsche auf das Maß des Mög¬
lichen und Erreichbaren zurückzuführen und manche Quelle des Mißtrauens
gegen die Versicherung zu beseitigen, das der vollen Entfaltung ihrer segens¬
reichen Wirksamkeit bisher hinderlich gewesen ist.
le amerikanische Nationalkrankheit der gesetzgeberischen Regulier-
und Schikaniersucht geht so weit, daß man sich — wie bereits
angedeutet — auch nicht davor scheut, die verfassungsmäßig ver¬
bürgten Grundrechte anzutasten und zu verletzen, wenn freilich auch
immer nur unter einer gewissen verhüllenden Drapierung. Mitunter
bleibt besagte Drapierung aber doch ganz verzweifelt durchsichtig.
Wurde schon an andrer Stelle gezeigt, daß die Bestimmungen der Bundes¬
verfassung nur zu oft bei zahlreichen Konflikten mit den Gesetzen der Einzel¬
staaten in ärgste Bedrängnis geraten, so fehlt es auch keineswegs an zahlreichen
Fällen, in denen sich die Bundesgesetze selbst nicht mit den in der Bundesverfassung
niedergelegten Grundsätzen in Einklang bringen lassen.
Wie stolz ist nicht jeder Amerikaner auf die in seinem Lande durch die
Konstitution garantierte absolute Preßfreiheit!
In Wirklichkeit hat die Sache aber ihren gewaltigen Haken — ja, bei
Lichte betrachtet sogar deren mehrere.
Und zwar erstens in der Form von äußerst strengen Schadenersatzparagraphen
in nahezu allen Staatsgesetzgebungen, die den vielgeplagten Zeitungsmann
auch dann noch nicht einmal schützen, wenn er imstande ist, den Beweis der
Wahrheit für seine Behauptungen zu erbringen.
Während des letzten Jahrzehnts hat der Kongreß in Washington aber auch
noch ein Gesetz angenommen, das in bezug auf eine spezielle Angelegenheit
die Preßfreiheit überhaupt aufhebt, indem es für einen besonderen Fall die
Beförderung der betreffenden Preßerzeugnisse durch die Post ganz und gar ver¬
bietet. Wer nun aber glauben sollte, es handle sich hierbei um etwas ganz
besonders Furchtbares und Verwerfliches, der wird nicht wenig in Erstaunen
versetzt werden, wenn er erfährt, daß es sich bei dieser Suspendierung der
Preßfreiheit in dein „freiesten Lande der Erde" um nichts anderes handelt, als
um das — Lotterieivesen!
Begreifen kann das allerdings niemand, der die Vorgeschichte der ameri¬
kanischen Bundes-Autilotteriegesetzgebung uicht kennt. Diese Gesetzgebung trügt
den Charakter des Ausnahmegesetzes und richtet sich in allererster Linie, wenn
uicht ausschließlich, gegen die Staatslotterie von Louisiana, — ein allerdings
auch in ganz gigantischem Maßstabe betriebenes Gaunerunternehmen —. doch
erstreckt sich ihre Wirkung auch auf alle Lotterien und Verlosungen und. zwar nicht
nur des Inlandes, sondern auch des gesamten Auslandes.
Auch hier tritt wieder. — wie darauf in diesen Betrachtungen ja schon
wiederholt hingewiesen wurde, — die Sucht hervor, an sich recht harmlos und
in allen anderen Ländern für statthaft geltende Dinge zu verbieten und zu
ächten, anstatt Auswüchse und Mißbräuche, zu denen sie hin und wieder führen
können und wohl auch führen, zu beschneiden und auszumerzen, respektive sie
zu verfolgen und zu bestrafen.
Wohl in keinem anderen Lande der Erde ist die Welt- und Hasardierlust,
also auch die Vorliebe für das Lotteriespiel, stärker als in den Vereinigten
Staaten. Freilich wird aber auch wohl nirgends so viel Unfug damit getrieben
wie dort.
Nachdem es den Lotteriegegnern gelungen war. den meisten großen Lotterie-
unternehmungen den Boden zu entziehen, blühte schließlich noch jahrzehntelang
die sogenannte Staatslotterie von Louisiana. In Wirklichkeit war es keine
wirkliche Staatslotterie. — etwa in dem Sinne der preußischen oder der sächsischen
Staatslottcrien —, sondern ein ganz gewaltiges Hochstapleruuternehmen, das
sich aber mit einiger Berechtigung jenes offizielle Mäntelchen umhängen durfte,
da es den: stets in ärgsten Geldnöten befindlichen Staate Louisiana liberal einen
nicht zu knappen Teil seines Raubes abgab. Um ferner noch den Schein der
Respektabilität zu wahren, fungierten als offizielle Beisitzer bei den öffentlichen
Ausspieluugeu in New Orleaus zwei würdige alte Generale aus der Zeit des
Sezessionskrieges. — Beauregard und Jubal Early —. ein Schaustück, welches
Zugleich Tragikomödie und Farce war. Ab und zu gewann ja auch wohl mal
jemand in der Louisiana-Lotterie etwas. Aber oft kam's nicht vor; und dann
waren die Gewinner auffallenderweise meist „prominente" Leute, mit deren
Namen sich gut Reklame machen ließ. Die Zeitungen aber hüteten sich sorglichst,
etwas gegen' die Louisiana-Lotterie zu sagen, denn die Lotteriegesellschaft war
eine ihrer allerbesten . . . Anzeigekuudiunen! Ebenso hütete sich auch der Staat
Louisiana dieser Gesellschaft das Leben sauer zu machen; denn dieser souveräne
Staat strich alljährlich ungezählte Millionen aus der. wenn auch nicht besonders
klaren, so doch unerschöpflich scheinenden Quelle em. Die Bundesregierung konnte
aber nicht direkt in die inneren Angelegenheiten des souveränen südlichen Bundes-
staats eingreifen So verfiel man denn Meßlich auf die Idee, dem Unfug
dadurch ein Ende zu machen, daß man eine absolute Postsperre erließ gegen
alles, was mit Lotterien auch uur im entferntesten Zusammenhang steht. So
befördert die Post der Vereinigten Staaten von Amerika seitdem auch lerne
Zeitung oder Zeitschrift mehr, welche Lotterieanzeigen oder Ziehungslisten
enthält^ selbstverständlich auch keine Losanpreisungeu oder Lose usw. Dieses
Verbot bezieht sich aber nicht nur auf inländische Blatter, sondern auch an
alle ausländischen, die derartige Anzeigen oder Gewinnlisten enthalten. Auf
die letzteren erstreckt sich das Verbot allerdings nicht, wenn sie direkt und in
einzelnen Nummern, unter Streifband und mit Postmarken versehen, an die
Abonnenten versandt werden, da sie dann durch die internationalen PostVerträge
geschützt sind. Dieser Schutz fällt aber sort, wenn jene ausländischen Zeitungen
oder Zeitschriften, — wie das ja zumeist geschieht —, per Fracht in Ballen an
die New-Uorker Sortimenter, resp. Spediteure, geschickt werden, die sie dann
per Post den einzelnen Abnehmern zusenden. Es machte entschieden einen ganz
russischen Eindruck, wenn man dann solch deutsche Zeitschriften, wie die „Garten¬
laube", das „Daheim", das „Universum" oder die „Woche" usw. in die
Hände bekam, aus deren Seiten ganze Stücke sorgsam herausgeschnitten
waren! War das doch die einzige Art, wie sich die Herausgeber, resp, die
Zwischenhändler, vor der ihnen sonst drohenden Konfiskation schützen konnten!
Neuerdings haben sich die Herausgeber der in Frage kommenden Zeitschriften
ja wohl dadurch zu helfen versucht, daß sie spezielle Ausgaben für den Versand
nach den Vereinigten Staaten veranstalten, aus denen die verpöntem Lotterie¬
anzeigen und Ziehungslisten usw. weggelassen werden!
Der Kölner Dom ist durch Lotterien gebaut worden und in Süddeutschland
werden noch jedes Jahr Kirchenbau-Lotterien in großer Anzahl veranstaltet; im
„freien Amerika" aber hält man dieses Verfahren für fluchwürdig, verbrecherisch
und strafbar. (Ganz unvertreten ist diese Richtung ja in Deutschland wohl
auch uicht.)
Wird nun aber deshalb in den Vereinigten Staaten dem Glücksspiel etwa
weniger gehuldigt als auf dieser Seite des Atlantischen Ozeans? Bewahre, es
wird dort noch weit mehr gespielt, aber allerdings — heimlich!
- Aber nicht nur das Lotteriespiel und das eigentliche Hasardspiel sind drüben
streng verboten, sondern auch das harmloseste öffentliche Karten- oder Würfel¬
spiel ist auf das strengste untersagt. Der Wirt, der es in seinem Lokale
erlaubt oder auch nur stillschweigend duldet, gewärtigt die sofortige Annullierung
seiner Ausschankgerechtsame. Wenn ich hier in Deutschland sehe, wie die ehr¬
samen' Herren Rechtsanwälte, Ärzte und Gymnasiallehrer in ihrer gemütlichen
Stammkneipe ihren Skat dreschen oder gar den Würfelbecher schwingen, um
den „lustigen Müllerburschen hüpfen und tanzen" zu lassen, — womöglich gar
am Sonntag oder abends nach 12 Uhr! —, dann komme ich oft in die Ver¬
suchung, diesen Herren klar zu machen, was für arge und vielfache Übeltäter
und Gesetzesübertreter sie doch eigentlich, — aus dem Gesichtswinkel des „freien
Amerikaners" betrachtet! — sind. Aber ich fürchte stets, daß sie mich völlig
verständnislos anblicken und meine Wahrheitsliebe in peinlicher Weise in Zweifel
ziehen würden. Die dümmsten, albernsten und plumpsten Witze aus dem
„Arizona-Kieker" aber nehmen ganz dieselben Leute ohne Zaudern und Zögern
auf das bereitwilligste für bare Münze!"
Als ganz besonders verrucht gilt in dem „Lande der Freiheit, das heißt
da, wo es überhaupt noch offen betriebene Trinklokale gibt, das besonders
unter der deutschen akademischen Jugend früher, und wohl jetzt auch noch, so
beliebte „Knobeln".
In Texas wurde unter den Deutschen früher, d. h. vor dem Siege der
Zwangstugendbolde, noch ziemlich viel geknobelt — und zwar zumeist als Ersatz
für das unsinnige Traktiersystem. Aber wird nun dort, seitdem der Würfelbecher
in die Rumpelkammer geworfen werden mußte und seitdem auch die Skatkarten
mit dem Bann und dem großen Interdikt belegt worden sind, etwa weniger
oder gar nicht mehr an Fortuna appelliert?
Natürlich erst recht. Auch da zeigt sich wieder, wie erstaunlich erfinderisch
der Menschengeist in der Umgehung mißliebiger Gesetzesvorschriften ist.
Dafür zwei Beispiele: Drei Bekannte treffen sich an der Bar. Einer von
ihnen macht den Vorschlag, einmal ausnahmsweise vom Traktieren abzusehen
und es „auszuraten", wer die Zeche bezahlen soll. Das Würfeln ist aber ver¬
boten. Doch da weiß man sich zu helfen. Eine gefüllte Streichholzbüchse ist
überall zur Hand. Die wird in die Mitte vor die drei hingestellt und jeder
von ihnen nimmt, streng der Reihe nach, ein Streichholz heraus — so lange,
bis die Büchse leer ist. Wer das letzte herausgenommen hat, „darf" bezahlen.
Sehr einfach. Und das ist doch kein Glücksspiel? Bewahre! Eine noch
„geistreichere" Methode ist die folgende. Man läßt sich drei Stückchen Zucker
geben und jeder legt eins davon vor sich hin. Auf wessen Stück sich zuerst
eine — Fliege niederläßt, der ist der gütige Gastgeber. Die Zahl solch licht¬
voller Ersatzmittel ließe sich auf Wunsch ins Endlose vervielfältigen, wie es denn
kaum irgend etwas gibt, was der findige Amerikaner nicht zum Gegenstande der
„Gämbelei", d. h. des Hasardierens oder Lotteriespieles zu machen wüßte. Das
Wetten liegt ihm in: Blute. .
merdenOeankreut
Wer auf dem großen Hamburger oder Lloyddapf z z,
kann davon oft schon kurz vor der Landung im New-Yorker Hafen einen Begriff
bekommen, wenn nicht schon früher. Vor jenem Hafen kreuzt stets eine Anzahl-
von Lotsenbooten, — sagen wir deren dreißig —, die numeriert sind und
die ihre Zahl in Riesengröße auf dem Hauptsegel zur Schau tragen. Diese
Boote kreuzen dort, um die großen transatlantischen Dampfer in den Hafen zu
geleiten. Man weiß jedesmal so ungefähr, wann man diese Boote erwarten
und sie auftauchen sehen kann. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, daß irgend¬
einer der mitfahrenden Amerikaner gewöhnlich eme Wette in der Form einer
Lotterie in Vorschlag bringt. Es werden Lose mit den Zahlen 1 bis 30
ausgegeben zu je einem Dollar, und wer nachher die Zahl hat, die das erste
in Sicht kommende Lotsenboot aufweist, der ist der glückliche Gewinner der
dreißig Dollars! Mit welch unglaublicher Spannung dann mit Ferngläsern dein
ersten Boote entgegengeblickt wird, wenn es am Horizont auftaucht, — erst als
kaum wahrnehmbarer Punkt, der dann wächst und wächst, bis das Segel sichtbar
wird, und dann bis zu dem großen Moment, an den: endlich die.Zahl selbst
auf dem Segel zu erkennen ist! ^ , ..... ^
Der Neuankömmling, der die Erregung wahrnimmt, die dieser Vorgang
verursacht — eine Erregung, die in gar keinem vernünftigen Verhältnisse zu
dem Betrage steht, um den es sich bei der Wette handelt, bekommt da schon
einen ziemlich guten Vorgeschmack von der Rolle, die das „Gämbeln" und
Wetten im Leben des Amerikaners trotz aller gesetzlichen Vorschriften. Verbote
und Strafen spielt. . . ^ >r ^ ^
einerweitenroenReiedurch
Als Paul Lindau im Jahre 1893 auf s z gß s
die Vereinigten Staaten und Mexiko in San Antonio weilte, konnte ich ihn
noch durch die dortigen mexikanischen Monte-Spielhöllen führen, wo damals
noch ganz offen und unbehindert Roulette. Keno (Lotto) und Moiite — eine
Art von „Meine Tante — Deine Tante" —, gespielt wurde. Paul Lindau
interessierte sich lebhaft für das bunte Treiben dort, das er auch in seinem
außerordentlich lesenswerten Buche „Aus der Neuen Welt" sehr anschaulich
geschildert hat —. wie er überhaupt einer der wenigen i,t. die bei verhältnis¬
mäßig flüchtigem Durchstreifen der Vereinigten Staates
Eigenschaften des Amerikaners auch unter dem nebensächlichen Beiwerk wirt ich
scharf erkannt haben. Lindau konnte sich damals gar acht genug darüber
wundern, daß es in den von uns durchstreifte» mexikanischen Spielhollen so
auffallend ruhig und ordentlich hergehe. Ja, das bewirkte die durch die völlige
Öffentlichkeit ermöglichte Aufsicht und Kontrolle. Jetzt hat das öffentliche
Glücksspiel auch in San Antonio längst aufgehört, dafür wird aber um so
mehr heimlich gespielt, und dieses heimliche, sich jeder Überwachung entziehende
Spiel ist selbstverständlich ungleich schädlicher und gemeingefährlicher als
das im Lichte der Öffentlichkeit betriebene. Genau so, wie der „geheime süss"
unendlich viel verderblicher ist, als das öffentlich betriebene, verständig kontrollierte
Schankgewerbe.
Gespiele wird aber unter allen Umständen, solange es noch zwei
Amerikaner oder auch zwei Mexikaner gibt, das bestreite überhaupt
niemand ernstlich, der diese beiden Nationalitäten kennt.
Die in den Vereinigten Staaten so mächtig ja übermächtig gewordene
Strömung, die Menschen auf dem Wege des gesetzlichen Zwanges zu voll¬
kommenen Tugendmustern zu machen, beschränkt sich aber keineswegs auf
die Tugend der Enthaltsamkeit von Alkohol oder auf die stritte Enthaltung von
- allenH, weltlichen Treiben am Sabbat, oder auf die Bekämpfung und Unter¬
drückung des Spielteufels, auch auf das Gebiet der eigentlichen Moralität,
vteri was man gemeiniglich darunter zu verstehen pflegt, erstreckt sich ihre
Wirksamkeit.
Aber auch da sind die Amerikaner weit weniger Vorkämpfer der wahren
Sittlichkeit als Schildknappen der — Prüderie! Dagegen versagen sie vollständig
in dem Kampfe gegen die wirklich vorhandenen Schäden und Mängel auf dem
Gebiete der Volksmoral. Es gilt das ganz besonders in bezug auf das
„social coll", wie man drüben die Prostitution in schöner Umschreibung zu
nennen pflegt. Man begnügt sich drüben damit, diese „Übel der bürgerlichen
Gesellschaft" mit mildem Augenaufschlag zu beklagen, anstatt auch nur das geringste
zu tun, was zu ihrer Eindämmung und Abmilderung bei einigem guten Willen
recht wohl geschehen könnte. Von derartigen KontrollmcchreLeln will man
drüben absolut nichts wissen, ebenfalls aus purer Heuchelei nicht, denn, so
meint man, jede derartige amtliche Kontrolle würde doch ein offenes Eingeständnis
der Duldung, wenn nicht Billigung, des besagten „sozialen Übels" sein. Offen
dulden und billigen kann man aber doch so etwas unter keinen Umständen.
Es geht aber um so schöner, wenn man die Politik des intelligenten Vogels
Strauß befolgt und den Kopf in den Sand steckt, um das, was einem nicht
paßt, nicht um sich herum sehen zu müssen oder sehen zu wollen.
"
Wozu diese Methode des „Baisse? faire, wisse? passer gerade auf
diesem Gebiete schließlich führt und was für grausige Verheerungen sie infolge
Fehlens aller sanitären Maßregeln mit sich führt, braucht man wohl nicht erst in
epischer Breite auszumalen. . .
Als vor mehr als einen: Jahrzehnt San Antonio im Begriffe stand, sich
aus einer Mittelstadt in eine Großstadt zu verwandeln, da kam der damalige
Mavor vulgo Bürgermeister, ein aus französisch-irisch-mexikanischer Blutmischung
hervorgegangener Mann, namens Vrycm Callaghcm, der — im Gegensatze zu
den weitaus meisten Amerikanern — auch europäische Verhältnisse aus eigener
Anschauung kannte, auf den Gedanken, jene törichte Vogel-Strauß-Politik auf¬
zugeben. Mit Hilfe der zu zwei Dritteln aus Deutschen bestehenden Stadt¬
verordneten wurden damals alle jene Maßregeln, die man in Berlin kurz und
vielsagend „die Sitte" nennt, eingeführt, und Gebühren zur Deckung der dadurch
verursachten Kosten festgesetzt. Aber den Sturm der Entrüstung, den dies
„unerhörte Verfahren" im ganzen Lande entfesselte, hätte man miterleben sollen!
Schließlich mischten sich die Staatsgerichte ein und erklärten Callaghans
Neuerungen für null und nichtig, da „die Verordnungen der Kommunalbehörden
zur Regulierung und Besteuerung von ungesetzlichen Betrieben im Widerspruch
zu den Bestimmungen der Staatsverfassung stünden". Hurra, die „Tugend"
hatte wieder mal gesiegt!
Je ängstlicher man es aber drüben vermeidet, den wirklichen Schäden und
Mängeln auf dem Gebiete der Volksmoral — und dadurch der Volkswohlfahrt —
an die Wurzeln zu gehen, um so eifriger und bereitwilliger ist man bestrebt,
den Schein zu erwecken und aufrecht zu erhalten, als habe das amerikanische
Volk die makelloseste Sittenreinheit in General-Entreprise genommen. Es geschieht
das oft in solch unglaublich plumper Weise, daß man nicht begreift, wie viel
Banausenhaftigkeit mit einem solch hohen Kulturgrade, wie dein des amerikanischen
Volkes, vereinbar sein kann! ^ ^
nuComtockderi
Da existiert in New York ein Mensch namens Antho, s, sch
aus eigener Machtvollkommenheit — aber scheinbar unter fast allgemeiner
Anerkennung, wenigstens ohne nennenswerte Proteste — gleichsam als ameri¬
kanischer Ober-Sittenwächter aufgeworfen hat. Sein früherer Partner, Rep.
Parkhurst, scheint sich seit einiger Zeit vom Geschäfte zurückgezogen zu haben,
wenigstens hört man von seinen Taten in den letzten Jahren nichts mehr. Was
sich dieser amerikanische Tugendpapst Comstock herausnimmt und was auf seine
und seiner Anhänger Anregung hin an Verfolgungen und Unterdrückungen auf
dem Gebiete von Kunst und Literatur hin geleistet wird, das spottet jeglicher
Beschreibung. ^. . ^
Handelte es sich dabei etwa nur um die Bekämpfung von „Schmutz in
Wort und Bild", d. h. pornographischer Auswüchse, so brauchte mein sich darüber
natürlich keineswegs zu ereifern. Denn daß auf diesem Gebiete ein eiserner
Reformbesen ganz angebracht ist, das bestreiten ja nur wenige ernstlich. Bestnnmte
Grenzen sind da innezuhalten - gewiß. Aber Grenzen nach beiden Seiten
hin. Jedenfalls soll und darf der Geist des zelotischer Puntamsmus bei
der Absteckung dieser Grenzen nicht ausschließlich maßgebend sein. Der viel¬
genannte Herr Rören ist entschieden in seiner Eigenschaft als Tugendbold noch
der reine Waisenknabe im Vergleiche mit Anthony Comstock und Genossen!
iübedaaneewaltie
Comstock und seine Leute unterhalten ein sch r s gz gg
Gebiet der Union erstreckendes Spioniersystem, vor dem nichts, aber auch ab vint
nichts sicher ist was sich ohne doppelt und dreifach gefuttertes Feigenblatt an
die Öffentlichkeit hinauswagt. Die puritanische Welt- und Lebensanschauung,
daß die Welt ein Sünden- und Lasterpfuhl ist, und daß iegliche Lebensfreude
als sündhaft unterdrückt werden muß, und daß besonders eine M Regung
gesunder Sinnlichkeit schon an sich als fluchwürdig und sträflich zu brandmarken
O. kommt dabei in vollster Glorie zur Geltung. Kein in der ganzen übrigen
Wilisierten Welt seit Jahrhunderten anerkanntes Kunstwerk ist weder un Original
noch in der Kopie vor dieser Schnüffelbande sicher die es auch verstanden hat,
ehren Einfluß in weitgehendster Weise auf die Gesetzgebung. - die staatliche
N"'e die nationale, — geltend zu machen. in ^« ^
teeediedie
^ et.'i, in -.i^i- Linie wiederum die Posgstz, ^
x.K.VA^'B Kchsitz -u-T«x
llchkeitsbeitrebunaen" Da aide es Ge etze, die „den Mißbrauch der Post
M oLn!nÄcken" zur Äminalverbrechen stempeln und unter Umstanden
mit mehrjähriger Zuchthausstrafe bedrohen. Es siud dies Gesetze, die im
Prinzip gar nicht so ohne weiteres summarisch verurteilt zu werden brauchen,
die aber gerade durch ihre unabsehbar kautschukartige Dehnbarkeit in ihrer
Übertreibung zu demi denkbar tollsten Unfug führen.
Es sind das Gesetze, die, — nach der Analogie der bereits zuvor erwähnten
amerikanischen Amel-Lotteriegesetze, — die Preßfreiheit vollständig illusorisch machen.
Denn diese Gesetze treffen nicht etwa nur den gemeinen und gemeingefährlichen
Versender unzüchtiger Briefe, sondern durch sie kann auch der Versender der
Photographie eines Kunstwerks ersten Ranges, ja eiuer Venus von Milo,
getroffen werden, sowie der Verfasser eines wissenschaftlichen Buches, das beispiels¬
weise ernste sexuelle Probleme behandelt, und zwar in durchaus dezenter, ein¬
wandfreier Weise behandelt, deren Besprechung aber der Firma Comstock,
Parckhurst u. Co. nicht in den Kram paßt. Das Allerglimpflichste und Mildeste,
was man dabei zu gewärtigen hat, ist und bleibt noch die.— Konfiskation.
Die Entscheidung bei diesemamerikanischen, — eigentlichschonmehrrussischen—,
Postzensur- und Konfiskationsverfahren fällt zumeist in die Hände ganz unter¬
geordneter Organe, denen es naiverweise völlig frei überlassen bleibt, bei der
Sortierung beispielsweise alle solchen Ansichtspostkarten auszumerzen und von der
Weiterbeförderung auszuschließen, die nach ihrem subalternen Auffassungs¬
vermögen unmoralisch oder obszön sind. Ansichtspostkarten mit der Darstellung
der Berliner Schloßbrücke würden die Kontrolle dieser subalternen Sittlichkeits¬
wächter sicherlich nicht passieren!
Wie weit diese Zensur geht, die wahrscheinlich den Sammlern unter diesen
amerikanischen Postschweden besonders zugute kommt, davon habe ich selbst ein
Beispiel erlebt. Zwei Postkarten, die ich von Galveston aus an Bekannte in
San Antonio sandte und die völlig harmlose Darstellungen vom Badestrand auf¬
wiesen, ähnlich wie sie die meisten deutschen illustrierten Blätter vom Familienbad
Wannsee oder vom Ostseestrand usw. ganz unbeanstandet brachten, sind niemals
an ihre Adresse gelangt. Der Umstand, daß auf diesen Karten ein paar zwar
bekleidete, aber allerdings nicht in Regenmäntel und Pelze eingehüllte badende
Damen abgebildet waren, genügte dem intelligenten und hochmoralischen Brief¬
sortierer, sie im Orkus der als obszöu gebrandmarkten Postsendungen ver¬
schwinden zu lassen. Ja, im Grunde genommen mußte ich noch froh sein, daß
mich das Bundesgericht nicht wegen „Mißbrauchs der Post zu obszöner Zwecken"
vor seine Schranken forderte. Denn selbst wenn, — wie allerdings vorauszusehen, —
ein Freispruch erfolgt wäre, so würde doch schon die bloße Anklage schier unab¬
sehbare Kosten und Scherereien zur Folge gehabt haben. Gegen jenen Zensur-
und Konfiskationsunfug gibt es aber auch nicht das geringste Mittel in der Form
eines Protestes oder eiuer Berufung. Wenigstens keine andere, als eine solche,
die vor tauben Ohren erhoben würde und deren Endziel kein anderes wäre als
der — Papierkorb.
Sind es doch höchstens immer nur einzelne, die sich zu einem Protest
gegen solch ein klägliches offizielles Zimperliesentum aufraffen. Im allgemeinen
beherrscht eine solche Prüderie die öffentliche Meinung von New Aork bis
nach San Francisco, von Key West bis zum Puget-Sunde.
War es doch auch dieser Geist, der vor einigen Jahren die von Comstock
und Konsorten aufgesetzten Vandalen in New Uork dazu bewog, die Nymphen
am Heine-Brunnen zu demolieren, weil ihr Banausensinn in den anmutigen
Kunstgebilden nur „anstößige nackte Frauenzimmer" zu erblicken vermochte.
Derselbe Geist war es auch, der erst unlängst die Geueraldirektion der
großen Juternationalbahn in San Antonio dazu veranlaßte, aus der Rotunde in
ihrem neuen stattlichen Bahnhofe im Missionsstile den künstlerischen Schmuck von
der Uhr zu entfernen. Diese monumental ausgestattete Uhr wies allegorische
Figuren von „Zeit" und „Ewigkeit" auf — bei der „Zeit" hatte sich aber das
verhüllende Busentuch in höchst unpassender Weise verschoben. Solche Kaffern!
Die Schuld für ein solches Banausentum ist aber nicht auf die paar Schnüffler
im Solde Comstocks zu beschränken, von denen die Anregung zu solchen Unfaß-
lichkeiten ausgeht, sie erstreckt sich vielmehr auf alle diejenigen intelligenten und
in ihrem ästhetischen Empfinden weiter Fortgeschrittener, die sich in all solchen
Fällen damit begnügen, den Kopf zu schütteln, anstatt sich zu gemeinsamem
Vorgehen dagegen energisch aufzuraffen. ,
Bei alledem steht die geflissentlich zur Schau getragene amerikanische Prndene
im denkbar schroffsten Widerspruche zum wirklichen Stande der allgemeinen Moral.
Skandalaffären, wie der Thaw-Prozeß, die einen so endlos tiefen EmbKck in
gähnende Abgründe sittlicher Verkommenheit gewähren, stehen ja keineswegs ver¬
einzelt da.
Wenn der Verfasser dieser Zeilen, der letzt in einer der über eme mehr
als tausendjährige geschichtliche Überlieferung zurückblickenden Städte am Fuße
des wildreichen Harzes lebt, auf seinem Speisetische nut schmunzelndem Behagen
einen Wildbraten erblickt, — sei es. daß es sich um eme zarte Rehkeule, einen
mürben .Arschrücken oder um Nebhühner handelt, oder womöglich gar um
Fasanen oder um einen Wildschweinsbraten —. dann kann er niemals den
Gedanken unterdrücken: „Das könntest du auch nicht haben, wenn du noch in
Texas wärest!" . . .
Nanu?" wird der skeptisch beanlagte Leser zweifellos dieser Behauptung
gegenüber ausrufen. „Das ist doch", wird er zu meinen geneigt sem ganz
widersinnig und undenkbar, daß der Wildreichtuni in diesem uralten Kulturlande
größer sein sollte als in einem Lande, das man. — wenn auch mit Unrecht. —
noch immer dem .Wilden Westen' zurechnet und wo ledenfaW noch vor weniger
als einem halben Jahrhundert Hunderttausende von Büffeln die endlosen Pranen
bevölkerten, ganz zu schweigen von den zahllosen Hirschen Antilopen. Bären
und Panthern, die nach noch gar nicht so sehr alten Schilderungen Texas
zu einem wahren Jägerparadiese machten." ^ ^ . . .
^^
Und doch ist es so. Die Jagd ist in Deut estand ergiebiger. - trotz der
erstaunlichen Bevölkerungsdichtigkeit -. i«- entschieden wett ergiebiger als n
dem noch so verhältnismäßig dünn besiedelten Weststaate Texas. Do muß
man schon Tagereisen weit hinwegfahren von allen Sta^und in ganz miwirtliche Gegenden, wie beispielsweise in die dichten Dschungeln
in Südost-Texas, wo Theodore Roosevelt früher gern der Barenmgd oblag. —
wenn auch zumeist mit recht spärlichem Erfolge.
Das Vandalenhafte Raubsystem, das die gewaltigen gan^z unerschöpflich
scheinenden Waldungen der Verewigten Staaten in den letzten ^einer solchen Geschwindigkeit und Gründlichkett verwüstet hat. daß man dort
schon heu e genötigt ist. Bauholz zu importieren, und zwar aus Norwegen
und-Deutschland, hat auch in entsprechender Weise unter dem amerikanischen
Wildstand aufgeräumt.
Geradezu ein unauslöschlicher Schandfleck auf den Blättern der amerikanischen
Kulturgeschichte ist die völlige Ausrottung der Büffel. Tausende und Aber¬
tausende dieser Kolosse hat man innerhalb weniger Jahre, — nach der Erfindung
der weitreichenden kleinkalibrigen Nepetiergewehre und des rauch- und knall¬
schwachen Schießpulvers, — in bestialischer Weise niedergeknallt, nur der Häute
und der Zungen wegen. Den „Nest" überließ man den Conotes und den
Aasgeiern!
Aber trotz dieser scheußlichen Aasjägerei würde man in Texas auch als
Nichtjäger doch noch ab und zu einen Wildbraten zu sehen und zu essen bekommen
können, wenn da nicht wiederum die Reguliersucht der Gesetzgeber in einer Form
zum Ausdruck gekommen wäre, welche einem jeden grotesk erscheinen muß,
der noch nicht imstande gewesen ist, sich von dem festeingewurzelten Begriffe der
Vereinigten Staaten als des typischen Landes der Freiheit zu emanzipieren.
Der Staat Texas, — wie anch andere Staaten der Union, — hat weit
strengere Jagdgesetze als irgendein deutscher Bundesstaat, und zwar läßt sich
das merkwürdigerweise ganz gut vereinbaren mit dem Grundsatze: „Die Jagd
ist frei für jedermann!"
Die Ausübung der Jagd ist allerdings frei für alle. Sie ist keineswegs
etwa nur reserviert für die durch Erteilung eines besondern Jagdscheines
Privilegierten. Jedermann kann in Texas und in den meisten andern Staaten
der Union die Flinte über die Schulter nehmen, drauflosziehen und schießen,
aber — ja, da kommt dann gleich eine ganze Anzahl von einschränkenden „Abers".
Erstens kann jeder Farmer und sonstige Grundbesitzer, auch die Besitzer
von Liegenschaften im Umfange deutscher Herzogtümer oder gar Großherzogtümer,
an denen es ja in Texas durchaus uicht fehlt"), alle fremden Jäger von
seinem Grund und Boden fernhalten, wenn er an den — oft viele Meilen
langen Stacheldrahtumzäumungen von Stelle zu Stelle Schilder anbringen
läßt mit den: Vermerke: ?re8va8sinA auel IiuntinZ not alloneä!, das heißt:
„Betreten und Jagen nicht erlaubt!" Oder ganz lakonisch auch nur: „postea!",
was sich nur ganz weitschweifig übersetzen läßt mit: „Öffentlich angeschlagene
Warnung". Die Bestimmungen der nachstehend erörterten eigentlichen Stcmts-
Jagdgesetze gelten aber auch für solche Landmagnaten.
Erzählte mau in Texas noch vor zwölf oder fünfzehn Jahren den in:
Lande geborenen Leuten etwas von den Jagdgesetzen in den Ländern Europas,
dann begegnete man einem mitleidigen und geringschätzigen Lächeln. Aber jetzt
hat man selbst welche, und zwar noch weit strengere als jene, wenn auch zumeist
nach deren Muster. Letzteres gilt besonders von den sehr verständigerweise
eingeführten Bestimmungen über die Schonzeiten.
Aber auch auf diesem Gebiete der Jagdgesetzgebung zeigt sich abermals in
erstaunlichster Weise, wie unmöglich es dein Amerikaner im allgemeinen und
dein amerikanischen Gesetzgeber im besonderen zu sein scheint, sich von seiner
Nationaluntugend der Nbertreibungssucht frei zu halten.
Denn man ist weder bei der Festsetzung solcher Schonzeiten, und zwar
sehr ausgiebig bemessener, stehen geblieben, noch bei der Einführung von
allerlei andern Beschränkungsmaßregeln, wie beispielsweise der Begrenzung der
Zahl von Stücken Wild, die ein jeder Jäger an einem Tage wie auch in der
ganzen Jagdsaison schießen darf, sondern man ist noch viel weiter gegangen.
Natürlich geschieht das wieder durch den Erlaß der dem amerikanischen
Durchschnittsgesetzgeber so eng ans Herz gewachsenen Radikalverbote und
Anordnungen nach der Methode des seligen Doktor Eisenbart.
"
So dürfen jetzt im Staate Texas „Ricken, d. h. weibliches Reh- resp.
Rotwild, überhaupt nicht mehr geschossen werden, einerlei, wenn sie auch in
einzelnen Gegenden so zahlreich und lustig werden, daß sie den Farmern die
Maisfelder oder die Süßkartoffel- oder Bataten-Pflanzungen verwüsten. Wild¬
schadenersatz gibt's aber natürlich nichtI Was die Folge davon ist, kann man
sich unschwer denken: Selbsthilfe — trotz des Gesetzes!
Bei diesem Verbote, das sich immerhin noch zur Not verteidigen ließe, hat
es aber keineswegs sein Bewenden.
Denn verboten ist ferner der Versand von Wild, sei es in ganzen Tieren
oder in zerlegten Stücken, wie Keulen usw., und zwar sowohl aus einem
Staate nach dem andern, sondern sogar aus einem County desselben Staates
in das andere!
Sodann aber ist überhaupt der Verkauf von Wild verboten! Wildbraten
zu essen bekommen kann man heutzutage in dem ehemaligen Jägerparadiese
Texas nur, wenn man es entweder selbst geschossen hat oder wenn man es
geschenkt bekommt — es sei denn, daß man von einem guten Freunde, der ein
erfolgreicher Nimrod ist, zum Wildschmause eingeladen wird!
Also selbst in einem Hotel oder Speisehause kann man weder für Geld
noch gute Worte eine Portion Hirsch-, Reh- oder wilden Putenbraten bekommen
— nebenbei bemerkt den köstlichsten Wildbraten, den es nach dem persön¬
lichen Geschmacke des Verfassers überhaupt gibt.
In Houston wurde vor einigen Jahren ein Hotelbesitzer, der seinen Gästen
selbstgeschossene wilde Enten vorsetzte, wegen Verletzung der Staatsjagdgesetze
angeklagt und prozessiert; hatte er doch tatsächlich „Wild verkauft".
Aber trotz aller dieser Übertreibungen und Ungeheuerlichkeiten möchten wir
doch gerade mit diesem Zwangsgesetze nicht allzu strenge ins Gericht gehen, handelt
es sich dabei doch um einen, wenn auch recht plumpen und lappigen.
Versuch, alte und als solche endlich erkannte Sünden auf dem Gebiete der sinn¬
losen Raubwirtschaft wieder gut zu machen!
Entsprechende Versuche, die noch viel verhängnisvolleren Sünden auf dein
Gebiete der Waldverwüstung wieder gut zu machen, wären ganz dringend
erforderlich. Ob sie nicht aber doch schon zu spät kommen würden? Sind doch
die — zuerst von Karl Schurz, zuletzt aber noch sehr energisch von Roosevelt
gegebenen Anregungen in dieser Richtung leider so gut wie unbeachtet geblieben!
Mit welch eiserner, einer bessern Sache würdigen Konsequenz die ameri¬
kanischen Gesetzgeber, deren Willkür durch keinerlei Rücksicht auf die bestehenden
konstitutionellen Schranken eingeengt wird, bestrebt sind, Handlungen und Dinge
mit dem Stigma des Verwerflichen und Strafbaren zu belegen, die überall sonst
für ehrbar und statthaft gelten, anstatt sich darauf zu beschränken, Auswüchse
zu beschneiden, mag endlich noch an ein paar weiteren, recht drastischen Bei¬
spielen erläutert werden.
Vollkommen mit Recht wird jemand, den: man erzählt, daß in zahlreichen
Staaten der nordamerikanischen Union das Bier zu den verbotenen Dingen
gehört, weil sich hin und wieder jemand, der sich nicht zu beherrschen versteht,
darin übernimmt, darauf erwidern können: „Dann könnte man doch noch viel
eher die Revolver verbieten, weil damit solch arger Unfug getrieben wird!"
Gemach. Dieser Einwand ist nicht nur zutreffend, sondern die sich daraus
ergebende Konsequenz ist tatsächlich auch längst gezogen worden. Schon vor
ein paar Jahren geschah das von seiten der — leider! — überhaupt außer¬
ordentlich produktiven texanischen Staatslegislatur in Austin. Zwar mußte man
wohl oder übel darauf verzichten, den landesüblichen „Lix-Zliootsr" vollständig
zu verbieten, wohl aber führte man eine Staatssteuer von 100 Prozent auf
jeden zum Verkauf gelangenden Revolver ein. Natürlich verhindert die dadurch
bewirkte Preisverdoppelung den Revolverhandel keineswegs. Den Schaden davon
haben nur die Waffenhändler im Staate selbst. Den Borten davon aber haben
die betreffenden Händler in den andern Staaten der Union, die jetzt den Staat
Texas mit Katalogen und Preislisten überschwemmen, in denen sie ihre Ware
für die Hälfte des texanischen Ladenpreises anbieten. Die Post, die ein
Bundesinstitut ist, versendet diese Kataloge natürlich ganz unbeanstandet, denn
was kümmern sie die texanischen Staatsgesetze und deren Verbote?
Noch krasser tritt jene verwerfliche Tendenz in einem andern texanischen
Staatsgesetze zutage, das dem in deutschen Lebensanschauungen Aufgewachsenen
und nie aus dem Geltungsbereiche dieser Anschauungen Herausgekommenen einfach
undenkbar und unfaßlich erscheinen muß. Ich habe es wiederholt erfahren, das
diejenigen, denen ich es zu schildern versuchte, bedenklich und ärgerlich den
Kopf schüttelten, als ob sie sagen wollten: „Das lüg'du gefälligst einem andern
vor!" Das waren noch die Höflicheren unter ihnen. Man kann es ihnen
noch gar nicht mal verdenken, so unwahrscheinlich klingt die Sache.
Es ist dies das Staatsgesetz, das unter Androhung strenger Strafen jeglichen
Genuß geistiger Getränke auf den Eisenbahnzügen verbietet, und zwar auch außerhalb
der Lokal-Option-Counties! Das heißt: nicht etwa nur den Verkauf oder Aus¬
schau! von Bier und Wein usw. auf den Bahnhöfen oder in den Zügen, sondern
sogar den Genuß von eigenen: Getränk, das man sich selbst mitgebracht hat.
Wenn ich so auf deutscheu Bahnhöfen höre, wie die Kellner ihr: „Bier
gefällig?", „Frankfurter Würstchen, A—ro—ma—liquet" ausrufen, und wenn
man sieht, wie herzhaft da zugelangt wird, und zwar ganz ohne daß dadurch
irgendein ersichtlicher Schaden angerichtet wird, dann muß ich stets von neuem
daran denken, in welch grellem Kontrast das zu den entsprechenden Verhältnissen
im „freien Amerika" steht, speziell zu denen in Texas, wo sich der Zugpassngier
schon dadurch strafbar macht, daß er seiner Reisetasche eine Flasche Wein oder
Kognak entnimmt, um davon einen Schluck zur Stärkung zu genießen.
Wie mir gegenüber seinerzeit der alte Herr von Meusebach in Loyal
Valley die Einrichtung der Lokal-Option in Mason County zu rechtfertigen ver¬
suchte, so fehlt es auch nicht an ganz besonnenen, verständigen und viel im
Lande herumreisenden Leuten, die diese im Widerspruch zu allem sonst Her-
könuulichen und Bräuchlichen stehende Einrichtung nicht nur zu entschuldigen
versuchen, sondern sie obenein noch für segensreich erklären und demgemäß preisen.
Ehe dies Gesetz bestand, versichern sie, war man auf den Bahnen im Westen
gar oft seines Lebens nicht sicher. Cowboys und andre wilde Gesellen brachten
Whiskey in großen Mengen mit, soffen sich toll und voll und begannen dann
ihre Mitreisenden in der brutalsten Weise zu terrorisieren. Wer dagegen nur
muette, auch von seiten des Zugpersonals, riskierte über den Hausen
geschossen zu werden, denn das Schießeisen pflegt diesen Herrschaften schon
sowieso sehr locker zu sitzen, ganz besonders aber dann, wenn sie ein
gehöriges Quantum Alkohol im Leibe haben.
Aber wie nun, wenn diese Kerle schon betrunken auf den Zug kommen?
Überhaupt: Weil ein paar zügellose Burschen sich betrinken könnten,
sollen alle verständigen und mäßigen Leute gezwungenwerden, sich einer
gewohnten Stärkung zu enthalten, oder sie sollen im „Übertretungsfalle" in
Strafe genommen werden?
Was für eil? Kunststück es ist, ahnungslosen Fremden, beispielsweise eben
erst direkt über Galveston Eingewanderten, dies Gesetz und seine Bedeutung
klar zu machen, habe ich einmal vor zwei Jahren erlebt. Es dauerte sehr lange,
bevor der Betreffende überzeugt war, daß man sich nicht bloß über ihn lustig
machen und daß man ihm keinen Bären aufbinden wollte. Selbst die sehr ernst
gemeinten Warnungen des Zugführers verfehlte» ihre Wirkung, um so mehr
noch, als dieser bei den tapferen Versuchen des jungen Einwanderers, Englisch
zu sprechen, nicht lange ernst zu bleiben vermochte.
Dabei fehlt dem Ungko-Amerikaner, so wenig man ihm auch sonst den
Sinn für Humor abstreiten kann, jegliches Verständnis dafür, daß man sich
durch derartige Gesetze vor der gesamten übrigen zivilisierten Welt unsterblich
blamiert!
Sonst wäre doch beispielsweise ein Gesetz, wie das im Staate Jndiana,
— noch dazu einem der ältesten und in der Entwicklung am weitesten vor¬
geschrittenen Staaten der Union, seit einer Reihe von Jahren bestehende
Amel-Zigarettengesetz, gar nicht möglich gewesen.
'
Man hat in letzter Zeit viel über das in England angenommene Gesetz
gespottet, das der Polizei die Erlaubnis erteilt, alle minderjährigen Personen
zu verhaften, die öffentlich Zigaretten rauchen. Aber im Vergleich mit dem
Amel-Zigarettengesetz von Jndiana ist das neue britische Gesetz uoch geradezu
liberal zu nennen. Denn in dem genannten amerikanischen Bundesstaat darf
überhaupt niemand öffentlich Zigaretten rauchen!
Einem Fremden, der nichtsahnend mit der Bahn von New York kommt,
kann es passieren, daß, wenn er mit einer Zigarette im Munde in Indianapolis
aus den: Zuge steigt, ihm auf dem Bahnsteige ein Scheriffsgehilfe die Hand auf
die Schulter legt und ihn im Namen des Gesetzes für verhaftet erklärt.
In der texanischen Staatslegislatur ist es in einer der letzten Sessions-
perioden vorgekommen, daß ein als Witzbold bekanntes Mitglied ^Repräsentanten¬
hauses diese geradezu krankhafte gesetzgeberische Topfguckerei verspotten wollte und
zu diesem Zweck eine Bill einbrachte, durch die genau festgesetzt werden sollte,
wie oft in den Hotels die Betten frisch überzogen werden müßten und wie lang
und breit die Bettlaken zu sein hätten. Er hielt dann auch eine gravitätische
Rede zur Begründung seines Antrags, die zu seinem eigenen Erstaunen sehr
beifällig und ohne jede kritische Unterbrechung aufgenommen wurde. Dann kam
es zur Debatte. Da er aber fürchtete, nicht ernst bleiben zu können, verließ
er auf einige Zeit den Sitzungssaal. Wie erstaunt war er aber, als er nach
einer halben Stunde zurückkam und man ihm gratulierte — zur einstimmigen
Annahme seiner Bill gratulierte!
Derartiger Ulk wird in den Gesetzgebungen der etwa vier Dutzend ameri¬
kanischen Bundesstaaten überhaupt sehr häufig getrieben. Übrigens verführt
schließlich auch die landesübliche legislative Massenproduktion hierzu. Nicht nur
im Kongresse zu Washington, sondern auch in den Legislaturen der Einzel¬
staaten kann jeder Repräsentant und auch jeder Senator auf eigene Faust so
viele Bills und Resolutionen einbringen, wie es ihm Spaß macht. Eine gesetz¬
liche oder verfassungsmäßige Beschränkung in den: Sinne, daß ein Antrag nur
zur Verhandlung kommen kann, wenn er durch eine gewisse Auzcchl andrer
Abgeordneten mit unterzeichnet ist, gibt es nicht. Man kann sich daher vor¬
stellen, wie gewaltig die Hochflut solcher Antragstellungen ist und wie sie mit
einem jeden Sitzungstage immer höher und höher anschwillt. Verspürt doch
jeder einzelne Repräsentant und jeder Senator des Kongresses und der sechs¬
undvierzig Staatslegislaturen das dringende Bedürfnis, seinen Wählern zeigen
zu können, was er für sie getan hat, oder was er doch wenigstens für sie zu
tun beabsichtigt hat. Schon im Hinblick auf die Neuwahlen muß er das tun,
und diese kommen recht peinlich oft, da die Legislaturperioden nur — zwei¬
jährig sind! Weitaus die meisten dieser Bills kommen natürlich niemals zur
Verhandlung, geschweige denn zur Annahme. Glücklicherweise! kann man
nur sagen.
In seinem vielgenannten, aber meiner Ansicht nach doch noch nicht genügend
gewürdigten Buche „Als Arbeiter in Amerika" hat Regierungsrat Kolb (— ich
sage das, obwohl ich in verschiedenen Punkten nicht mit ihm übereinstimme —)
besonders darauf hingewiesen, daß die Deutsch-Amerikaner sich so verhältnis¬
mäßig schnell an die verschiedenen Formen der gesetzlichen Beschränkungen und
Schikanierungen, die in den Vereinigten Staaten an der Tagesordnung sind,
gewöhnten. Besonders die Arbeiter, .meint Kolb, schienen durch die in der
Union herrschende — Schimpffreiheit für alle anderweitige Unbill entschädigt
zu sein. Recht ergötzlich schildert er, wie ihm deutsch-amerikanische Fabrikarbeiter
wiederholt enthusiastisch versichert hätten, wie herrlich es doch sei, daß man in
diesem Lande ganz ungestört und straffrei sogar den Präsidenten einen —
Schweinehund nennen dürfe. In Wirklichkeit täte das ja niemand, erstens
gerade weil es nicht verboten sei, sodann aber auch, weil es ganz unsinnig
wäre, so etwas zu behaupten**). Etwas Wahres ist daran entschieden. Das,
was Kolb die Schimpffreiheit nennt, wirkt ohne Frage in hohem Grade als
Manometer, als Druckentlaster. Man scheint das ja auch neuerdings im
Deutschen Reiche eingesehen zu haben, als man sich dazu entschloß, dem
Majestätsbeleidigungs-Paragraphen seine ärgsten Härten zu nehmen.
Aber im allgemeinen gewöhnen sich die Deutsch-Amerikaner keineswegs so
leicht an den Zwang, der ihnen drüben in bezug auf Lebensgewohnheiten auf¬
erlegt wird, die ihnen schlechterdings nicht im Sinne der Strafwürdigkeit und
Verwerflichkeit erscheinen wollen. Es bleibt ihnen aber nichts anderes übrig,
als sich, wenn auch murrend, zu fügen, da sie natürlich fast überall in
der Minderheit sind, und da sie selbst in den kleineren, mittleren und selbst
großen Städten (zum Beispiel in Milwaukee), wo sie über die Mehrheit ver¬
fügen, schließlich von der Majorität auf dein Lande überstimmt werden.
Wenn nun aber Professor Hugo Münsterberg, der sich seit dem Tode von
Karl Schurz mit Vorliebe als Wortführer der Deutsch-Amerikaner auszuspielen
pflegt, diesen einen Vorwurf daraus zu machen versucht, daß sie über die
Bedrückung durch die Mehrheit murren, so ist nicht recht einzusehen,
was für ein Gewinn für sie darin läge, wenn sie auch uoch ein vergnügtes
Gesicht darüber erheuchelten. Fügen müssen sie sich ja sowieso, und es bleibt
sich schließlich gleich, ob man die Prohibitionsfrage als bloße „Trinkfrage"
oder als „Frage der persönlichen Freiheit" auffaßt. Das Resultat der unleid¬
lichen Unterdrückung bleibt ganz dasselbe.
Unbegreiflich ist und bleibt es aber, wie ein theoretisch doch wirklich freies
Volk durch die wahnwitzige Übertreibung an sich richtiger demokratischer Grund¬
sätze praktisch dazu kommen kann, sich selbst aus freien: Entschlüsse in einer Art
und Weise zu knechten und zu knebeln, die selbst einem politisch ganz unreifen
und unfreien Volke, wie etwa dem russischen, völlig unerträglich erscheinen würde.
Offenbar liegt dieser ganzen Selbstknebelung die löbliche Tugend der
Selbsterkenntnis zugrunde. Nämlich die Erkenntnis, daß bei dem „echten"
Amerikaner die große Tugend der Selbstzucht und der Selbstbeherrschung, die
Fähigkeit des Maßhaltens in allen Dingen, in einem geradezu schmerzlichen
Grade verkümmert ist. Ist der Amerikaner aus gerade diesem Grunde doch
mehr als der Vertreter irgendeiner anderen Nation geneigt, aus einem Extrem
in das andere zu verfallen. Das gilt, wenn auch nicht gerade von allen
Amerikanern (— wir wollen uns vor der unter allen Umstünden verwerflichen
Verallgemeinerungssucht hüten!—), so doch aber ganz sicher von der ganz
erdrückenden Majorität aller Ungko-Amerikaner.
Deshalb dürfen so viele Amerikaner entweder gar kein geistiges Getränk
anrühren, oder sie betrinken sich bis zur Bewußtlosigkeit. Sie dürfen entweder
gar keine Karte in die Hand nehmen, oder sie verspielen Haus und Hof. Sie
benehmen sich wie Unmündige. Man hat behauptet, daß das „extreme Klima"
der Vereinigten Staaten, das oft jäh wechselnd zwischen sibirischer Kälte und
afrikanischer Glut schwankt, in erster Linie für diese Eigenart des amerikanischen
Volkscharakters verantwortlich zu machen sei. Wer weiß?
Jedenfalls ist die ganze Zwangsenthaltsmnkeits-Gesetzgebung ein offenes
Eingeständnis der Unmündigkeit und des Mangels an Selbstvertrauen.'
Dazu kommt dann noch die puritanische Lebensauffassung, daß eigentlich
jede Äußerung des Frohsinns und der Lebensfreude sündhaft sei. Die Auf¬
fassung des Evangeliruns als einer „frohen Botschaft" steht jedenfalls in direktem
Widerspruch zu den Lebensanschauungen der amerikanischen Presbyterianer, sowie
auch der Baptisten, Methodisten und anderen „ihter" und „alter". Schillers Lied
von der Freude als „schönem Götterfunken" wäre jedenfalls nie in den Ver¬
einigten Staaten gedichtet worden. Denn nach der puritanischen Auffassung ist
die Freude durchaus nicht als göttlichen Ursprungs zu betrachten und zu begrüßen,
sondern vielmehr als verdächtiger Teufelsspuk zu beargwöhnen!
Ob aber unter der Herrschaft derartiger Bevormundungsgesetze jemals die
allmähliche Erreichung zur Mündigkeit denkbar — ja, überhaupt nur möglich ist?
Nur wenn eine Bejahung dieser Frage im Bereiche der Wahrscheinlichkeit
lüge, könnte von einer entfernten Berechtigung der gesamten Richtung die
Rede sein.
Auf dem Wege von Verboten, und nichts als Verboten, ist doch aber
jede Erziehung zur wirklichen Freiheit und Selbständigkeit von vornherein aus¬
geschlossen.
Ja, man verneint dadurch sogar schon die Absicht, den guten Willen zu
einer solchen Fortentwicklung.
Darf man aber ein solches Land, in dem eine solche Auffassung tatsächlich
die vorherrschende und maßgebende ist, ein Land der Freiheit, oder vielmehr
sogar „das Land der Freiheit", nennen? —
Der Verfasser der vorliegenden Schilderungen protestiert gegen diese auf
beiden Seiten des Ozeans übliche Phrase, und er würde den Zweck dieser
Betrachtungen für erfüllt halten, wenn die Mehrzahl der Leser seinen Protest
durch ebendiese Schilderungen für berechtigt und begründet ansehen würde.
Auf den Vorwurf der Verunglimpfung und der Verhöhnung der amerika¬
nischen Lebensanschauungen, Verhältnisse und Zustände macht sich der Verfasser
gefaßt.
Er kann dies um so ruhiger und gleichmütiger, als er selbst von der Tüchtigkeit
des amerikanischen Volkes und der großen Rolle, die es in der zukünftigen
Kulturentwicklung der Menschheit spielen wird, tief durchdrungen ist, mindestens
ebenso tief wie irgendeiner jener vorwurfsvollen Tadler. Aber gerade weil er davon
so tief durchdrungen ist, weil er trotz alledem und alledem so fest an die Zukunft
der Vereinigten Staaten von Amerika als wirkliches Land der Freiheit glaubt,
deshalb hofft er so zuversichtlich darauf, daß sich das amerikanische Volk allmählich
von jenen unwürdigen Banden der Heuchelei frei machen werde, die es bis
jetzt noch daran verhindern, daß jene schöne Hoffnung in Erfüllung gehe!
Seit Jahren schon wird immer wieder die Frage erörtert, ob es nicht richtig wäre,
in Deutschland eine Weltausstellung ins Leben zu rufen, wobei in erster Linie
natürlich immer an Berlin als Ausstellungsstadt gedacht wird. Die stehende
Antwort ist dann: die Welt, Deutschland insbesondere, und die deutsche Industrie
sind ausstellungsmüde und daher ist ein Erfolg nicht zu erwarten. Aber bei jeder
von einer anderen Nation veranstalteten Weltausstellung taucht die Frage wieder
auf und das Wort von der Allsstellungsmüdigkeit wird für ein leeres Schlagwort
erklärt. Neuerdings hat wieder der Erfolg der deutschen Abteilung auf der Welt¬
ausstellung in Brüssel, die Schmeicheleien, die deshalb von allen Seiten auf uns
einströmten, die Hoffnungen der Ausstellungsfreunde aufs neue belebt.
Der Erfolg ist nicht zu bestreiten. Bietet er aber eine Gewähr für ein
Gelingen einer Weltausstellung in Berlin? Um die Frage beantworten zu können,
muß man etwas näher darauf eingehen, wie dem: die gute Meinung über die
deutsche Ausstellung zustande gekommen ist. In erster Linie hat da offenbar die
Pünktlichkeit gewirkt, mit der sie eröffnet werden konnte. In den andren Ab¬
teilungen waren noch Anfang Juli, nachdem über ein Drittel der Ausstellungs¬
dauer verstrichen war, große Teile der Hallen mit Vorhängen verkleidet, hinter
denen eifrig gearbeitet wurde, vereinzelt traf man noch ganz leere Stände; in der
allgemeinen Maschinenhalle war man noch bei der Montage einer großen Kraft¬
maschine und es sah nicht so aus, als ob sie so bald betriebsfähig werden sollte.
Eine Folge der Pünktlichkeit der Deutschen ist die Vollständigkeit und Zu¬
verlässigkeit ihres Katalogs, — in den anderen Abteilungen hapert es damit sehr —,
es ist also dem ernsthaften Ausstellungsbesucher verhältnismäßig leicht gemacht, sich
zurechtzufinden.
Geht man durch die Ausstellung, so fällt die deutsche Abteilung schon durch
die Einheitlichkeit und Eigenartigkeit der Außenarchitektur auf. Man kann es nicht
jedem recht machen; mancher würde sich Wohl ein etwas festlicheres, farbenfreudigeres
Gewand für den Gebäudekomplex gewünscht haben. Weiße Wände, graues Schiefer¬
dach, schwarze Säulen — eine Abtei im Frankenlande. Würde sich mit grünen
Bergen als Hintergrund vorzüglich machen. Der fehlt hier. Die bunte Fahnen^
die lebhaften Farben der umliegenden Hallen, der ganze Jahrmarktstrubel lassen
die ernsthaft frohe Gemütlichkeit, auf die das deutsche Haus abgestimmt ist,
nicht recht zum Durchbruch kommen. Trotzdem eine künstlerische Leistung ersten
Ranges. Mit einfachsten Mitteln, lediglich durch richtige Verteilung der Massen,
richtige Wahl der Abmessungen ist der Eindruck erzielt. In: Inneren ist es ähnlich.
Nicht alles ganz einwandsfrei, aber vornehme Wirkung: geschmackvolle Architektur,
übersichtliche Anordnung der ausgestellten Gegenstände, Fernhaltung alles Markt¬
schreierischen; Fernhaltung auch der Trödler, die in den Abteilungen andrer
Nationen so vielfach den Besucher durch Anbieten von Füllfederhaltern, billigem
Schmuck und anderen Kinkerlitzchen stören.
Soweit ist alles gut. Die Anfänge für die Organisation einer Weltausstellung
in Berlin sind gegeben. Leute, die Erfahrung auf dem Spezialgebiete des Aus¬
stellungswesens haben, sind offenbar in ausreichenderZahl vorhanden. Sie würden —
darüber kann kein Zweifel bestehen — auch der größeren Aufgabe ge¬
wachsen sein.
Nun die Kehrseite. Die geschilderten Vorteile haben sich nur durch die Zu¬
sammenfassung nahezu aller deutschen Aussteller erreichen lassen. — Der Strom
des Bieres und der Bratwürste hat sich natürlich gleichmäßig über alle Teile der
Ausstellung ergossen. Diese Zusammenfassung hat aber auch ihre Nachteile. Wenn
z. B. die deutsche,: Textilmaschinen in der allgemeinen Maschinenhalle nicht allzuweit
von den gleichartigen englischen aufgestellt wären, so würde es mehr in die Augen
fallen, daß sie sich recht gut daneben sehen lassen können; daß das Vorurteil,
welches dem englischen Maschinenbau noch immer eine Überlegenheit auf diesem
Gebiete zuspricht, nicht mehr berechtigt ist. Wenn neben den englischen Sauggas¬
motoren die deutschen---hin, ja, wo sind die? Die ganze deutsche Ver¬
brennungskraftmaschinenindustrie ist, abgesehen vou den Automobil- und Luft¬
schiffmotoren, durch einen 40pferdigen Gasmotor und drei kleinere Motoren der
A. G. Köln-Ehrenfeld vertreten. Das ist der zweite wunde Punkt: Lücken
sind für den, der die Industrie eines Landes einigermaßen kennt, sofort heraus¬
zufinden. Wer sie aber nicht kennt — der Ausländer — wird geneigt sein zu sagen:
Was? Das ist alles? Ich hatte nur die deutsche Industrie vielseitiger
gedacht.
Und Lücken sind da, wenn man nur anfängt darauf zu achten. Von unserer
chemischen Industrie sind nur die Sprengstoffabriken vertreten, — natürlich durch
Nachahmungen, denn die Sprengstoffe selbst wird man nicht an einen Platz mit
so starkem Menschenverkehr bringen. Die für unser Vaterland so charakteristische
Kaliindustrie, die Farbenindnstrie, die sogenannte chemische Großindustrie, d. h.
alles, was sich um die Schwefelsäure als Ausgangspunkt gruppiert, — sie fehlen.
Unsere Großeisenindustrie ist fast gar nicht vertreten. Es mag ja nicht nötig sein,
der Welt immer wieder vor Augen zu führen, daß nur Kanonen und Panzerplatten
herzustellen verstehen, aber es gibt doch auch noch eine Menge andrer Sachen,
die um: aufstellen könnte. Ähnlich ist es mit den Dampfmaschinen. Die Loko-
mobilen sind durch Wolf, Magdeburg, und Lanz, Mannheim, würdig vertreten;
die Dampfturbinen durch die Bergmann-Elektrizitätswerke A. G., Berlin, die zugleich
die einzigen bedeutenderen Aussteller auf dem Gebiete der Elektrizität find*). Die
stationäre Kolbendampfmaschine fehlt vollständig. Es wird doch niemand behaupten
können daß auf dem Gebiete in den letzten Jahren keine Fortschritte, gemacht
seien, die man zeigen könnte.
NeinI Die Ausstellungsmüdigkeit ist zweifellos vorhanden. Wenn unsere Welt¬
firmen, wenn die drei großen Elektrizitätsfirmen, wenn Krupp und Ehrhardt, wenn
Bochum, Deutz und Görlitz durch Abwesenheit glänzen, — alles Firmen, die gewohnt
sind, große Summen für Repräsentation und Reklame auszugeben —, dann haben
sie eben eingesehen, daß der Nutzen den Kosten nicht entspricht. Das ist nämlich
der eigentliche und vollkommen berechtigte Grund der Ausstellungsmüdigkeit. Um
zur würdigen Vertretung des Vaterlandes beizutragen, hat jemand je nach seiner
Leistungsfähigkeit wohl einige hundert oder tausend Mark übrig; jeder gewissenhafte
Direktor aber muß sich sehr besinnen, das Geld seiner Aktionäre in der für eine
würdige Vertretung — eine bescheidene schadet mehr als sie nützt — der Firma
erforderlichen Menge fortzugehen, wenn er nicht hoffen kann, mindestens in späterer
Zukunft realisierbare Vorteile dabei herausspringen zu sehen.
In andren Staaten scheint die Ausstellungsfreudigkeit übrigens nicht viel
größer zu sein als in Deutschland. Am vielseitigsten ist wohl Frankreich vertreten,
namentlich wenn man dessen Sonderausstellungen, den Pavillon für Landwirtschaft
und denjenigen für Flugtechnik, mit in Betracht zieht; daneben sehr achtbare
Leistungen der kleinen Schweiz. In der Maschinenhalle tritt neben Belgien
namentlich England hervor, dessen Industrie sonst große Lücken zeigt; ein auch nur
annähernd richtiges Bild der Mannigfaltigkeit und des Reichtums englischer
GeWerbetätigkeit läßt sich auf der Ausstellung jedenfalls nicht gewinnen. Das
sind die am besten vertretenen Staaten. Manche anderen fehlen ganz, z. B. Nord¬
amerika und Österreich-Ungarn; man müßte denn schon den amerikanischen Schreib¬
materialienhändler als Vertreter der Vereinigten Staaten, oder gar den Süßigkeiten
verkaufenden Bosniaken als einen solchen des großen Donaureiches gelten lassen.
Bei andern Staaten erdrückt wieder ein Gewerbszweig geradezu alles andere, so
bei Italien und Dänemark. Dort die prachtvolle Ausstellung farbiger Plastik,
hier die der Kopenhagener Porzellanmanufaktur. Daneben erinnert ein kleiner
Benzinmotor daran, daß man in Dänemark auch Maschinen baut. Warum ist kein
Motorboot aus diesem Lande da, das doch in neuster Zeit einen großen Teil der
Fischereiflotten aller Länder mit Bootsmotoren versorgt?
Wir kommen da zu einer neuen Frage: Was veranlaßt den Fabrikanten,
sich bei einer Ausstellung zu beteiligen oder zurückzuhalten? Wer Geschütze
und Panzerplatten liefert, wer Elektrizitätswerke baut, wer Halbfabrikate — Roh¬
eisen und andere Metalle, auch Walzeisen kann in diesem Sinne hierher gerechnet
werden — auf den Markt bringt, der braucht die Ausstellungsreklame nicht. Er
hat mit wenigen großen, sachverständigen Kunden zu tun, an die er mit anderen
Mitteln besser herankommt. Wer sich an die große Menge wendet, wer Stoffe,
Kurzwaren, überhaupt Gegenstände des täglichen Gebrauchs, auch wer Lokomobilen
oder sonstige Kleinmotoren zu verkaufen hat, der hat Veranlassung auszustellen.
Aber auch unter diesen wird mancher sich sagen: Ob du Kunden gewinnst, ist
Zweifelhaft; ganz sicher aber machst du die Konkurrenz auf dein Sondergebiet auf-
merksam. Das kann sehr wohl der Grund sein, weshalb der dänische Bootsmotor fehlt.
Sieht man in der Brüsseler Ausstellung von den sogenannten Attraktionen,
den Rutschbahnen, Negerdörfern, der Kermesse (Kirmes), ab, ebenso von den
Restaurants, den Händlern mit Kleinigkeiten, Postkarten, Süßigkeiten u. tgi.,
daun bleibt für den ernsthaften Ausstellungsbesucher verzweifelt wenig übrig. Von
den Ausstellungen exotischer Staaten kann man auch einen guten Teil als bloße
Schaustellung für die Neugier, veranlaßt durch die Eitelkeit zu glänzen oder das
Bedürfnis, die Kreditwürdigkeit des Landes in ein gutes Licht zu rücken, betrachten.
Einige von diesen Landesabteilungen find allerdings auch durchaus ernst zu nehmen:
o sind z. B. die sehr hübschen Pavillons Brasiliens und der Kanadischen Pacificbahn
offenbar darauf berechnet, durch den Hinweis auf den Reichtum der vertretenen
Länder an Bodenprodukten und Mineralschätzen zur Einwanderung anzuregen.
Es ist ja möglich, daß Berlin, die Stadt ernster Arbeit, die nicht nur politisch
die Hauptstadt eines großes Reiches, sondern auch, was in diesem Falle noch
wichtiger, der Mittelpunkt eines gewaltigen Absatzgebietes für Erzeugnisse der
Landwirtschaft und Industrie ist, daß dieses Berlin eine größere Anziehungskraft
auf ernsthafte Aussteller und Ausstellungsbesucher ausüben würde als das leicht¬
lebige Klein-Paris, wohin die Leute gehen, um sich zu amüsieren. Jedenfalls
aber ist es verkehrt, wenn, wie es in der Tagespresse geschehen ist, aus dem Erfolg
der deutschen Abteilung auf der diesjährigen Ausstellung in Brüssel Anlaß genommen
wird, Berlin als Ort für eine künftige Weltausstellung in empfehlende Erinnerung
zu bringen. Sehen wir mal von den politischen Eifersüchteleien ab, die einerGroßmacht
heute die Weltausstellungsfreudigkeit verderben müssen; von der Preßhetze, die
zweifellos ans das bestgehaßte Deutschland niedergehen würde, und fragen wir uns:
Was könnte ausländische Aussteller wohl zu einer Beteiligung in Berlin bewegen?
Die Absatzmärkte in Europa sind in ziemlich festen Händen. Es wird solche Märkte
weder zu erobern noch zu verteidigen geben. In dieser Beziehung wird irgendein
südamerikanischer Staat größere Anziehungskraft haben als Deutschland oder ein
anderes europäisches Land, wie denn auch jetzt schon die Ausstellung in Buenos
Aires von manchen europäischen Staaten besser beschickt sein soll als die in Brüssel.
Es ist nötig, das Gebiet einer Ausstellung örtlich oder sachlich zu begrenzen,
wenn man Nützliches leisten will. Ein gutes Beispiel für die örtliche Begrenzung
ist die augenblicklich in Altenstein in Ostpreußen stattfindende kleine Ausstellung.
Eine einzelne Provinz hat bestimmte Bedürfnisse. Der Aussteller weiß, was er
mit Aussicht auf Erfolg hinbringen kann. So entsteht ein abgerundetes Bild.
Der Ausstelluugsbesucher aus der Provinz kann sich mit verhältnismäßig leichter
Mühe über den Stand der für ihn wichtigen Fragen, über Bezugsquelle» zur
Befriedigung seiner Bedürfnisse unterrichten; der Auswärtige gewinnt ebenso leicht
einen Überblick über die Geschäftslage der Provinz. Einen Übergang zu den
sachlich begrenzten — den Fachausstellungen — bieten diejenigen Ausstellungen,
bei denen die örtlichen Grenzen weniger mit Rücksicht auf die Besucher als viel¬
mehr für die Aussteller gezogen find. So hat bei der Ausstellung zu Düsseldorf
im Jahre 1902 die Einschränkung auf in Rheinland-Westfalen hergestellte Waren
zur Folge gehabt, daß im wesentlichen eine Fachausstellung für Hüttenwesen,
Groß-Eisen- und Maschinenindustrie entstand, die viel bedeutender und von größerem
wissenschaftlichen und künstlerischen Werte war, nicht nur als die deutsche Abteilung,
sondern als die ganze Ausstellung in Brüssel überhaupt.
Was sich mit eigentlichen Fachausstellungen erreichen läßt, lehrt die Erinnerung
an die Gartenbau-Ausstellung von 1897 in Hamburg, an die Schuh- und Leder-
Ausstellung von 1908 in Berlin. Bei solchen Veranstaltungen findet der Besucher
in der Regel lückenlos alles, was ihn angeht. Er hat sich nicht durch einen Wust
ihm völlig gleichgültiger Gegenstände hindurchzuarbeiten und Übersicht daher
weniger leicht solche Dinge, die für ihn von Wichtigkeit sind. Leider werden
solche Fachausstellungen, wenn sie nicht grade Sport betreffen, fast stets in engem
nationalen Rahmen gehalten — leider —, denn auf ihnen wäre ein Vergleich der
Leistungen verschiedener Länder auf bestimmten Gebieten am leichtesten durch¬
zuführen. Auf einer internationalen Ausstellung von Maschinen zur Metall-,
Holz- und Steinbearbeitung dürfte z. B. Nordamerika nicht fehlen; wer sich da
drückt, erklärt sich für besiegt, während auf der Weltausstellung keinen der Hundertste
auf so etwas achtet. Allerdings wird man sich noch überlegen müssen, ob ohne
den Weltausstellungstamtam genug Gutes und Vollständiges zusammenzubringen
ist. Sonst läßt man die Sache besser ganz.
Schließlich sei darauf hingewiesen, daß eine Ausstellung ein Geschäft ist.
Wer sie veranstaltet, erhofft von ihr mittelbaren oder unmittelbaren Gewinn, und
wer als Aussteller oder Besucher bar bezahlt, braucht sich nicht außerdem noch
erkenntlich zu zeigen. Das Gerede, daß Deutschland „sich revanchieren" müsse, ist
also völlig haltlos. Wer so spricht, zeigt außerdem, daß er die Ausstellung nicht als
Mittel zur Förderung der Kultur, sondern — wie der Berliner sagen würde —
als Feetz ansieht.
Unterm 3. August wurde seitens
des türkischen Ministerrates der Ankauf der zwei Linienschiffe der Brandenburg-Klasse
„Weißenburg" und „Kurfürst Friedrich Wilhelm" beschlossen und der Kauf am
6. August in Berlin durch einen türkischen Würdenträger um die Summe von
9 Millionen Mark für jedes Schiff rechtsverbindlich gemacht. Die Bürgschaft für
die Abzahlung ist seitens der Deutschen Bank geleistet worden, bei der bekanntlich
die Millionen des entthronten Sultans Abdul Hammid deponiert sind.
Für die Türkei bildet dieser Ankauf ein nicht genug hoch einzuschätzendes
maritimes Übergewicht über das in der Kretafrnge feindselig gegenüberstehende
Griechenland. Für das Deutsche Reich liegt in dem Ankauf der beiden Schiffe
durch die dem Dreibund befreundete Macht um so mehr ein schlagender Beweis
für die Anerkennung, der sich der deutsche Kriegsschiffbau und die gesamte deutsche
Flotte allseitig im Auslande zu erfreuen haben, als der Ankauf auf Grund warmer
Empfehlung eines ehemaligen englischen Admirals vor sich gegangen ist, der zur
Reorganisation der türkischen Marine in die Dienste der Türkei übergetreten ist.
Für die deutsche Marineverwaltung erwächst aber aus dem Ankauf eine sehr zu
schätzende und kaum erwartete Nückeinnahme von 1» Millionen Mark. Da aber
das Linienschiff „Kurfürst Friedrich Wilhelm" bislang als Stammschiff der Reserve¬
division der Ostsee in ständigen Dienste gestanden hatte, tritt an sie auch die
brennende Frage einer Neubesetzung dieser hochwichtigen Funktion heran.
Zur Verfügung hierfür stehen, nachdem einerseits die acht Küstenpanzerschiffe
der Siegfried-Klasse definitiv aus der Liste sür Wiederverwendung im ständigen
Dienste gestrichen sind, anderseits bezüglich der beiden andern Schiffe der Brandenburg-
Klasse „Wörth" und „Brandenburg" eine Neigung der Türkei zu weiterem Ankauf
zu erkennen gegeben wurde, nur noch zwei Schiffe der vor kurzem erst modernisierten
und verstärkten Kaiser-Klasse, nämlich „Kaiser Karl der Große" und „Kaiser Wilhelm
der Große", dann aber auch zwei erst unlängst außer Dienst gestellte Schiffe der
Wittelsbach-Klasse, nämlich „Wettin" und „Wittelsbach", zur Verfügung. Wird für
Neubesetzung der Reservedivision der Nordsee die Kaiserklasse noch als genügend
erachtet und dem Stammschiffe in analoger Weise, wie solches bei der Ncserve-
division der Ostsee in der Bestimmung des Linienschiffes „Kaiser Friedrich III"
als Stammschiff und „Kaiser Wilhelm der Große" als Beischiff vor sich gegangen
ist, ein Beischiff beigegeben, so ist damit die gesamte Kaiser-Klasse — Linienschiff
„Kaiser Barbarossa" ist noch beim I. Geschwader der Hochseeflotte eingeteilt —
wieder in ständigen Dienste in Wiederverwendung. Wird aber dagegen die
Wittelsbach-Klasse als für Stammschiffbesetzung mehr geeignet bevorzugt, so tritt
damit das Bestreben der obersten Marinebehörde zutage, auch in die Reservedivision
der Nordsee höherwertiges Kriegsschiffmaterial einzustellen, als dies in jener der
Ostsee der Fall war. In jedem Falle aber tritt eine ganz bedeutende Mehrung
des dienstpräsenten Mannschaftsstandes in der Reserveformation ein und ist bei
Beigabe eines Beischiffes hiermit die Gesetzesbestimmung des Flottengesetzes 1900
bezüglich der Reserveformation wenigstens bis zur Hälfte (vier Schiffe statt acht)
in Kraft getreten.
Wie von glaubwürdiger Seite weiter versichert wird, soll dem Ankaufe der
beiden Schiffe von Seite der Türkei noch ein weiterer Ankauf der beiden noch
restierenden Schiffe der Brandenburg-Klasse „Wörth" und „Brandenburg" auf dem
Fuße nachfolgen. Für die Türkei würde dieser weitere Ankauf die Aufstellung
eines Grundstockes für die beabsichtigte Marinereorganisation bedeuten und zugleich
ihrer Marine ein für die innern und äußern Verhältnisse der Türkei völlig aus¬
reichenden Gefechtskraftzuwachs verleihen. Für die deutsche Marine war zwar die
Bedeutung der Brandenburg-Klasse nur mehr von untergeordneter Natur, da solche
infolge ihrer geringen Schnelligkeit von nur siebzehn Seemeilen in der Stund e zu
einem gemeinsamen Operieren mit einer höherwertigen Linienschiffsdivision nicht
»lehr vereinigt werden konnte und außerdem im Ernstfalle die ein unverhältnis¬
mäßig hohes Kohlenquantum erfordernde Brandenburg-Division doch nur mehr
vier Sechstel der Gefechtskraft eines einzelnen Schiffes der Nassau-Klasse oder
des „von der Tann"-Typs aufzuweisen hatte. Immerhin aber würde durch das
Ausscheiden der gesamten Brandenburgdivision eine Schwächung der Gesamtstärke
der deutsche,: Flotte eintreten und damit der Marineverwaltung die unabweisbare
Pflicht erwachsen, mit Hilfe der unerwarteten und eventuell auf 36 Millionen Mark
sich steigernden Nückeinnahme für entsprechende Ausgleichung dieser Gefechtskraft¬
minderung Sorge zu tragen. Hier würde nun die sehr delikate Frage brennend
werden, ob diese Ausgleichung der Gefechtskraftminderung durch sofortige Stapel¬
legung neuer Schiffe oder durch Abwarten eines hierzu geeigneten Zeitmomentes
vor sich gehen soll. Für sofortige Stapellegung spricht we eingetretene Schwächung,
dagegen aber spricht dieRücksichtnahme auf die derzeitigeUberanstrengung der deutschen
Kriegschiffsbauwerften bis 1912 durch staatliche Aufträge. Für Abwarten eines
geeigneten Zeitmomentes spricht auch der Umstand, daß im Jahre 1912 ohnehin
die Stapellegung von vier großen Schlachtschissen (Linienschiffen und Panzerkreuzern
auf eine solche von nur zwei herabgeht, und ferner, daß im Zuwachs von Zins
und Zinseszinsen aus 36 Millionen Mark im Vereine mit der nur ratenweise
erfolgenden Abhebung der einzelnen Summen sich die Möglichkeit ergeben dürfte,
ohne Einbringung einer Marineforderung und eines neuen Flottengesetzes, in den
Jahren 1912,' 13, 14 neben den durch Marinenovelle 1908 gesetzlich gewordene,:
Ersatzpanzerkreuzern für die Herta-Klasse je einen zweiten Ersatzpanzerkreuzer auf
Stapel zu legen und die Mittel für die Bauvollendnng dieser drei vorzeitig auf
Stapel gebrachten Panzerkreuzer erst 1914/15 vom Reiche nachzufordern.
Welcher Weg nun auch eingeschlagen würde, um die Gefechtskraftminderung
auszugleichen, so darf mit Sicherheit von unserer so hochstehenden Marine¬
verwaltung erwartet werden, daß aus der unerwarteten Rückeinnahme auch in
bezug rechtzeitiger Stärkung der Hochseeflotte das Geeignete getroffen werde und
wo es nur immer möglich ist, in die Wege geleitet werde, das einzig richtige
Ersatzb auverhältnisfür sechsundfünfzig großeSchlachtschiffebei einundzwanzigjähriger
Dienstzeitdauer, nämlich die Stapellegung von jährlich drei Ersatzbauten, für die
nächste Zukunft herbeizuführen.
In pietätvoller und feinsinniger Weise hat der
Sohn und Biograph Edward von Steinles, der Frankfurter Justizrat Dr. Alphons
Maria von Seelilie, im Jahre 1897 den zwischen seinem Vater und dessen Freunden
gepflogenen Briefwechsel herausgegeben. 1908 ließ er uns wieder einen flüchtigen
Blick in den köstlichen Schatz seiner Sammlungen tun, als er eine an die Malerin
Emilie Linder gerichtete sehr interessante, wenn auch höchst „bizarre" Zeichnung
Clemens Brentanos veröffentlichte. Nunmehr hat es Seelilie in Gemeinschaft mit
Alexander von Bernus unternommen, sämtliche Zeichnungen und Bilder Edward
von Steinles zu Dichtungen Brentanos zusammenzustellen und gleichzeitig die
dazu gehörigen Dichtungen teilweise unverkürzt abzudrucken. („Clemens Brentano
und Edward von Seelilie. Dichtungen und Bilder." Herausgegeben von Alexander
von Bernus und Alphons M. von Seelilie. Mit dreißig ganzseitigen Bildern.
Kempten und München, Verlag Jos. Köselsche Buchhandlung.) Es ist dadurch ein
Werk entstanden, daß jeden Freund der beiden kongenialen Künstler entzücken wird,
auf das aber auch weitere Kreise nachdrücklich hingewiesen seien. In dem Buche
ergibt sich ein prächtiges und anschauliches Bild der künstlerischen Wechselbeziehungen
zwischen Seelilie und Brentano, die in Zeichnungen und Gemälden, in Dichtungen
und Erzählungen Form und künstlerischen Ausdruck gefunden haben. Die beiden
Künstler gaben sich gegenseitig wertvolle Anregungen, doch war meistens Brentano,
dessen Phantasie unerschöpflich schien, der gebende Teil. Es mag für Seelilie oft
schwierig gewesen sein, den Dichter von der Unmöglichkeit der bildnerischen Aus¬
führung aller seiner Ideen zu überzeugen; trotzdem ließ sich der Maler gern von
dem viel älteren Dichterfrennde beeinflussen. Die inneren Gründe des menschlichen
und künstlerischen Verhältnisses zwischen beiden Freunden bespricht Bernus in
zutreffender Weise, den persönlichen und brieflichen Verkehr schildert Seelilie kurz
und anschaulich. Wie der siebenundzwanzigjährige Maler in einer für Brentano
außerordentlich bezeichnenden Art die Bekanntschaft des fast sechzig Jahre alten
Dichters machte, hat Seelilie selbst beschrieben:
„In München hatte ich an Professor Schlotthauer einen Brief abzugeben
und wurde in die Glockenstraße 11 gewiesen. Ich hatte keine Ahnung, daß
Clemens bei diesem wohne. Bei Schlotthauer erschien hinter der Magd, welche
mir sagte, daß ihr Herr nicht zu Hause sei, ein breitschultriger Mann mit
bedeutendem Gesicht, großen dunklen Augen und eisenfarbenen Locken um die
Stirn; er hatte einen grauen Schlafrock an. „Wer sind Sie?" fragte er mich
mit honorer Stimme. Mein Gedanke war: Das muß Clemens Brentano seinl
Als ich meinen Namen sagte, sprach er: „Kommen Sie zu mir herein!" Er
ging vorauf durch einen Gang in sein Arbeitszimmer, bat mich, die Tür nur
anzulehnen, damit die Schwalbe, welche ihr Nest vor seiner Tür hatte, durch
Fenster und Tür der Stube kommen könne. Er schob mir mit dem Fuße einen
Stuhl hin, nachdem er sich hinter einen Tannenholztisch in seinen nur auf der
linken Seite mit einer Lehne versehenen Stuhl gesetzt hatte. . . Clemens machte
mir nun wohl über eine Stunde lang eine sehr merkwürdige Schilderung seiner
selbst. Als er endete, waren wir Freunde . . . ."
Das war im Jahre 1837. Nur fünf Jahre dauerte die Freundschaft,
denn bereits 1842 starb der Dichter. Trotzdem waren die Wechselwirkungen
bedeutungsvoll für beide Künstler; das zeigt die jetzt gegebene Zusammenstellung
der Bilder und Dichtungen. Das vorliegende Buch, dessen äußere Ausstattung noch
besonders lobend hervorgehoben werden muß, ist um so mehr zu begrüßen, als
ein großer Teil der hier veröffentlichten, in Privatbesitz befindlichen dreißig Bilder
bi sl
Eine Blütenlese
aus den /mAlsLw r^aenea mit literarhistorischen Erläuterungen von Dr. tlieol.
Guido Maria Dreves. — Nach des Verfassers Ableben revidiert von Clemens
Blume. — Leipzig. O. R. Reisland 1909. 2. Bände. 18 M.
Der Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts hat seine Höhe überschritten;
eine geistige Bewegung macht sich in den innersten Zentren des Lebens fühlbar und
an vielen Punkten der Peripherie spürt man ein erneutes Sehnen nach tieferer
Deutung der Daseinsprobleme. Im Religiösen bekommt die Aufmerksamkeit auf
die Forschungen der historischen Theologie eine Nuance, die über den Anteil am
rein wissenschaftlichen Ergebnis hinausgeht: ein leises Verlangen nach den reineren
Ursprüngen beginnt aufzuwachen. Glückliche Funde aus deu Frühzeiten des
Christentums haben die alten Bilder erweitert und sie — man möchte sagen —
aus ihrer theologisch-philosophischen Isolierung gelöst. So sieht man aus den
Fragmenten der frühen Sekten deutlicher, wie sich der dichterische Genius der
Völker, der Hebräer, Syrer, Kopten, Griechen, mit den christlichen Ideen neu
befruchtete und diese wieder durch das dichterische Gebild mit den noch lebendigen
geistigen Formen verschmolz. Noch vor wenigen Monaten hat Harnack aus einer
syrischen Papierhandschrift das von dem Engländer James Nendel Harris entdeckte
jüdisch-christliche Psalmbuch aus dem ersten Jahrhundert, die sogenannten „Oden
Salomons", herausgegeben, die uns den großen kosmischen Hintergrund der
frühen christlichen Gnosis und ihre hohe dichterische Kraft aufs neue zeigen. Eine
bessere Erschließung der griechischen Hymnen aus deu ersten Jahrhunderten
nach Christi würde uns auch für das weitaus wichtigste Land der Antike
gleiche Aufschlüsse geben, aber die deutsche Wissenschaft hat sich — von den Arbeiten
Wilhelm Meyers über den Rhythmus abgesehen — in den letzten Jahrzehnten
noch kaum mit ihnen beschäftigt. Selbst dem viel näher liegenden Hymnenschatz
der lateinischen Kirche erging es ja nur wenig besser. Nachdem Herder und Goethe
seine große Schönheit aufgedeckt und die Romantiker sich begeistert vor allem mit
den mittelalterlichen Teilen beschäftigt hatten, waren etwas später die großen
Sammlungen von Daniel und Mone erschienen, die aber ihren: kritischen Apparat
nach unzulänglich und als Materialsammlungen unvollständig geworden sind. Dennoch
wurde dieses Gebiet der Literatur in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
nur wenig bestellt und keine Anstrengungen gemacht, den Stoff zu einer Geschichte
der Hymnodie zu sammeln. Dies ist um so auffälliger, wenn man den großen
Einfluß bedenkt, den die mittelalterliche lateinische Dichtung auf die mittelhoch¬
deutsche ausgeübt hat; ohne jene ist die Entwicklung dieser nicht völlig zu
verstehen und man könnte die lateinische die ältere Schwester nennen, welche vor
und neben der jüngeren schon alle Formen entwickelt, deren Reichtum uns bei dieser
entzückt: ja, in noch tieferem Sinne ist die lateinische Lyrik eine notwendige Er-'
gänzung der mittelhochdeutschen; denn wenn der Minnepoesie des Mittelalters mit
vielem Recht eine zu große Leichtigkeit des Stoffes und ein zu kleiner Umfang
der seelischen Erlebniswelt vorgeworfen wird, liegt der Grund in dem gleichzeitigen
Parallelismus der religiösen Dichtung, die für sich die Erhabenheit des geistigen
Vorwurfs und darum auch die größere Wucht der dichterischen Gebärde in An¬
spruch nahm. Daß sie trotzdem bei uns noch nicht die verdiente allseitige
Erforschung erfuhr, und selbst ein so gutes französisches Werk über sie von
Ulysse Chevalier (Poesie liturZiizue traditionelle nie l'eZIi'se eatlrolique en Occident)
in Deutschland nur wenig beachtet wurde, liegt — von religiöse:: Gegensätzen
abgesehen — vielleicht daran, daß sie eine Art Grenzgebiet zwischen der germa¬
nischen, romanischen und klassischen Philologie darstellt. Es war daher ein Glück,
daß sie in der alten Kirche selbst eine erneuerte Pflege fand und der Provinzial
der deutschen Ordensprovinz im Jahre 1886 den Jesuiten Guido Maria Dreves
mit der Ausarbeitung einer Geschichte der Hymnen betraute; in mehr als zwanzig
Jahren hat der Forscher den Stoff dazu in Archiven und Bibliotheken Europas
gesammelt und — später mit seinem Mitarbeiter Clemens Blume — in den
/malecta H^milieu niedergelegt. Jetzt erscheint nach seinem Tode und von seinem
Nachfolger Blume revidiert und ergänzt eine Blütenlese aus diesen Ancilekten, die
ein Jahrtausend lateinischer Hymnendichtung, vom vierten bis fünfzehnten Jahr¬
hundert, umfaßt und in ihrer Auswahl Kennerschaft und feinen Takt verrät. Dabei
beschränkt sich die Auswahl nicht ausschließlich auf vie Ancilekten; auch die älteren
Sammlungen sind herangezogen, so daß „ein Bild des Gesamten und Großen"
vermittelt wird. Das Hauptgewicht ist auf die Zeit der rhythmisch vollendeten
Dichtung des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts gelegt und von allen Dichtungs¬
arten, dem Hymnus, der Sequenz, dem Tropus, dem geistlichen Lied und dem Reim¬
gebet, Proben oder wie bei den Psalterien und Neimoffizicn wenigstens Teile von
ihnen aufgenommen worden. Die Gliederung des ganzen Stoffes ist bei der
Schwierigkeit dieses Problems eine glückliche zu nennen. Der erste Band enthält
die Hymnen, deren Verfasser - mit Namen bekannt sind, und ordnet diese in
historischer Reihenfolge, so daß ein ganzes Dichtungs-Jcchrtausend vor unserm
Blick vorüberzieht. Mit dem vierten, dem glänzenden Jahrhundert der römischen
Spätzeit beginnt der Reigen. Damals wurde der heidnischen Dichtung noch einmal
in Nonnos (Dionysiaka) und Claudian Glanz und Fülle; auf christlicher Seite
bildeten Männer wie Athanasius Basilius, Chrysostomus, Hieronymus und
Augustinus alle Teile der neuen Theologie, Philosophie und Geschichte aus. In
der Poesie schuf Jnvencus das biblische Epos, Paulinus von Nola die poetische
Legende und Hilarius, Ambrosius und Prudentius sangen die ersten lateinischen
Hymnen, die in ihrem strengen und einfachen Gefüge sogleich den römischen Geist
verrieten, der die Völker zwang; nur in den Anfängen klingt noch zuweilen die
Erinnerung an den griechischen Ursprung und die Glut orientalischer Sonnen¬
hymnen durch. Mit dem Vordringen der Kirche drang auch der lateinische Hymnus
über ganz Europa. In den folgenden Jahrhunderten finden wir die Haupt¬
produktion in Spanien und Frankreich; aber nirgends erhebt sie sich über die
Schönheit des Anfangs. Erst als Notker der Stammler (f 912) der Dichtung in
der Sequenz neue Möglichkeiten geöffnet hatte, die dem neuen germanischen Sprach¬
geiste auf rhythmisch-musikalischen Wege ein volleres Einströmen gestatteten, den
Reim ausbildeten und den Hymnus von der antiken Metrik loslösten, begann
langsam jene wundervolle Blütezeit heraufzusteigen, die in der hohen Gotik gipfelt
und der Welt durch Dichter wie Hildebert von Lavardin, Adam von Se. Viktor,
Thomas von Aquin und Thomas von Celaeno die schönsten Hymnen schenkte.
Wie die mittelhochdeutsche verliert sich dann im vierzehnten und fünfzehnten Jahr-
hundert auch die lateinische Dichtung immer mehr in metrische Spielereien, wenn
auch ein Name wie der Jacopone da Todis, der wahrscheinlich das Stabat iVmter
dichtete, noch weit über die Menge ragt. Die Renaissance und das Tridentiner
Konzil entzogen dann der liturgischen Dichtung die Lebensbedingungen, indem
sie dem römischen Ritus die Alleinherrschaft gab, also die verschiedenen Diözesanriten
und mit ihnen die germanischen und die belebenden Volkselemente ausschloß und
nur in der Zentrale eine unmögliche Wiederbelebung der antiken Meeren versuchte.
Der zweite Band enthält die Hymnen unbekannter Verfasser, und wie die bekannten
Dichter mit einer knappen Biographie und Bibliographie sind hier die einzelnen
Hymnen mit einem kurzen Begleitwort zur Orientierung über Zeit und Herkunft
versehen und nach ihrem Inhalt in der Reihenfolge der kirchlichen Festzeiten geordnet.
Durch diese Anlage, die in der systematischen Gliederung der gesamten lateinischen Lyrik
durch Dreves (Bd. I Vorwort) ihre nähere Erklärung findet, bekommen wir ein Bild
davon, wie die Hymncndichtung mit dem ganzen kulturellen Dasein des Mittel-
alters verflochten ist. Im Mittelpunkt des geistigen Lebens stand damals das
eucharistische Opfer und das öffentliche Stundengebet! in der jüngsten Zeit haben
die besten Lehrer der Kunstgeschichte (z. B. Wölfflin) die Notwendigkeit erkannt, von
diesem Zentrum aus die ganze nüttelalterliche Kunstgeschichte, Architektur wie Malerei
und Vildnerei, zu betrachten, um ihre Einheit und lebendige Symbolik zu erfassen.
Für die lateinische Poesie gilt dieseNotwendigkeit ebensosehr. DieFefizeitendesKirchen-
jahres mit ihren wechselnden religiösen Motiven und dem Wechsel der Personen,
die zu ihnen in Beziehung gesetzt waren, schlangen sich als bunter Kranz um die
immer gleiche Mitte; wie die Zeiten des Jahres wandelt sich auch um einen festen
Kern der Inhalt der Stundengcbete und -gesänge des Tages, und dein dichterischen
Ingenium war also die Aufgabe gestellt, in der weiten Gebundenheit des Kultes
zugleich dessen Mannigfaltung nach Zeiten zu ergreifen und im spanischen Gebild
darzustellen. Die Lösung dieses Problems sehen wir hier in den Werken selber,
und man braucht nur an das Veni Zgncte Spiritus oder das ^ve, maris stella
zu erinnern, um die Schönheit vieler dieser namenlosen Lieder ermessen zu lassen.
Wir hoffen nach dem anfangs Gesagten, daß diese Vlütenlese zur rechten Zeit er¬
schienen ist; neben den Gründen, die wir erwähnt haben, trug wohl vor allem der
naturalistische Zug der letzten Jahre dazu bei, daß den spanischen Gesängen so wenig
Aufmerksamkeit gewidmet wurde; da diese trübe Welle langsam verebbt und der Geist
wieder an höheren und reineren Formen Gefallen zu finden beginnt, wird man
auch die Schönheit dieser Dichtung wieder lieben lernen, von der Herder
sagte: „Die Hymnen der mittleren Zeiten sind voll von diesen goldnen
Bildern, in die unermeßliche Bläue des Himmels gemalt. Ich glaube nicht, daß
es Ausdrücke süßerer Empfindungen gebe, als die bei der Geburt, dem Leiden und
Tode Christi, bei dem Schmerze der Maria, bei ihrem Abschiede aus der Sicht¬
barkeit, oder bei ihrer Aufnahme in den Himmel und bei dem freudigen Hingange
so manchen Märtyrers, bei der sehnenden Geduld so mancher leidenden Seele,
meistens in den einfachsten Silbenmaßen, oft in Idiotismen und Solözismen des
Affekts geäußert worden. — Wilder Silbenmaße bediente man sich dabei nicht;
vielmehr äußerst anständiger und sanfter. Selbst das verzückte Metrum des
sogenannten Pervigilii: Las auel, ami numcMm -amon (Morgen liebe, wer
niemals geliebt), das in den Hymnen oft gebraucht ist, erhält in ihnen einen
Triumphton und eine Würde, die uns gleichsam aus uns selbst hinaussetzt und
Stellennachweis.
(Ans der Tages- und Fachpresse.)
Anfragen zu richten unter Beifügung von
Rückporto an die Geschäftsstelle der „Grenz¬
boten", Berlin SV/. II.
^. Kür Akademiker.
KL. Oberlehrer, Oberrc-ilschnle Reich, Ostern 1911.
(Neuere Sprachen.)
88. Bürgermeister, Töuning, 11. Jan. 1911 (3000 M.),
8S. Hauslehrer, Theologe, 1. Okt., Pommern.
92. Hauslehrer, für 11 jähr. Knaben, Brandenburg.
93. Seen-mnSPastor, (2400-3001 M.) England.
102. 2 Oberlehrer, Overrealschule, I. 4.11, Pommern.
103. Oberlehrer, höhere Lehranstalt, Ostern 1911
(3000-0000 M.), Provinz Sachsen.
10t. Pfarrer sofort, Pommern.
10S. Hauslehrer, Neformgymnnsinm, 1.10. resp. 1.11.,
Westpreußen.
IM. Hauslehrer (co., Theologe oder Philologe) sofort,
Schlesien.
IM. Bürgermeister, I. 11. 10. (8000 M.), Rheinland.
s. Wr pensionierte Offiziere.
07. Offizier, jüngerer, (Stenographie, Schreibmaschine)
f. indnstr. Unternehmen.
73. Reisender, West-Deutschland, 1. Oktober.
Ki. General-Agent, Fen-r-Versicherungs-Gesellschaft,
Aachen, I.Januar 1911, hoch dotiert.
L. Ziir Damen.
82. Erzieherin, gepr., Musik, 1. Oktober. Schlesien.
34. Erzieherin, Musik, Latein, !. Oktober. Pommern.
91. Erzieherin, gepr., co., Musik (800 M.), 1.10. Posen.
94. Erzieherin, gepr., co., Franz., Musik, 1.10., Ostpr.
95. Erzieherin, jung., co., Englisch, Musik, Schlesien.
SK. Erzieherin, jung., energ., für bald, Westprenszen.
97. Erzieherin, gepr. (Franz. im Ausland erlernt),
Oktober, Ostpreußen.
98. Engländerin, Franz., 1. 10., Pommern.
99. Hauslehrerin (Sind, bcvorz.), 1.10., Pommern.100. Lehrerin, höhere Privat-Mädchenschule (Englisch)
(1200 M.), 1. 10., N.-L.
101. Erzieherin, co., 1. 10., Brandenburg a. H.
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nu bancleln. Sälen ^leikum vvirä in aler alten keinen lZnalität unter
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Orisntsiisc-hö l'sbsk- VI^IXIII^^^ ° Inhaber: ttuxo ?!se?,
uncl Ql^si-ettsnfsdriK >I ' > I >-/^»l^ , Orescisn.
!le Geschicklichkeit der Magyaren, immer einen tadellosen parla¬
mentarischen Aufmarsch auszuführen, was in Österreich regelmäßig
mißriet, hatte ihnen im Verlauf der Jahre einen Einfluß gesichert,
der eine Gefahr für die Monarchie zu werden drohte. Seitdem
aber ihre stlbenstecherische Politik, durch solche Erfolge übermütig
gemacht, einen Konflikt mit der Krone heraufbeschwor und in der Heeresfrage
eine unzweideutige Niederlage erlitt, ist die Krisis überwunden. Das Land hat
bereits das „unparlamentarische" Ministerium Fejervarn über sich ergehen lassen
müssen, und das darauffolgende sogenannte Koalitionsministerium, das sich
angeblich auf die die Trennung von Österreich fordernde Unabhängigkeitspartei
stützte, hat einem zum ersten Male beiden Reichshälften gerecht werdenden
Ausgleiche zugestimmt, der Ungarn vorläufig bis 1917, aber aller Voraussicht
nach länger, an Österreich bindet. Das klingt schon einigermaßen wie ein
Treppenwitz der Weltgeschichte. Aber die aktive Politik, in die Österreich-Ungarn
endlich durch die Annexion von Bosnien und der Herzegowina eingetreten ist,
hat es den Magyaren für alle Zukunft unmöglich gemacht, ihre bisherige Raub¬
politik gegen Österreich weiter zu betreiben. Die neuen Verhältnisse verlangen
eine straffere Zusammenfassung der Monarchie, das zeigt sich deutlich in
einem anderen Verhalten der Krone. Nach der pragmatischen Sanktion ist ihr
die Hoheit über die äußere Politik und die Armee ausschließlich vorbehalten,
für die wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Reichshälsten war die gleiche
Einheit nicht ausgesprochen worden. Daran hatte Kaiser Franz Joseph bis in
die neueste Zeit mit der peinlichsten Genauigkeit festgehalten. Die Einheit der
Armee und seine militärischen Hoheitsrechte hatte er in dem Armeebefehl von
Chlopy am 16. September 1903 mit Entschiedenheit gewahrt, in den wirt¬
schaftlichen Ausgleichsstreit zwischen beiden Reichshälften griff er aber nicht ein.
In dieser Haltung ist in den letzten Jahren eine unverkennbare Änderung ein¬
getreten. Schon bei den Ausgleichsverhandlungen 1906/07 hatte die Krone
nicht nur den dringenden Wunsch für das Zustandekommen ausgesprochen,
sondern der Kaiser hat im September 1907 bei den entscheidenden Verhand¬
lungen auch mehrfach vermittelnd eingegriffen. Noch deutlicher trat dies hervor
zu Anfang des Jahres 1909, wo der Monarch die Forderung einer besonderen
ungarischen Bank, die allerdings den Anfang der wirtschaftlichen Trennung
bedeutet Hütte, in jeder Forni ablehnte.
Die Aufgaben, die heute der Habsburgischen Monarchie gestellt werden,
vertragen eine weitere Verschärfung der Zweiteilung nicht mehr, und es besteht
kein Zweifel darüber, daß die Ungarn mit der entschiedenen Gegnerschaft der
Krone zu rechnen haben würden, wenn sich bei ihnen wieder Strömungen in
den Vordergrund drängen sollten, die auch nur auf die wirtschaftliche Trennung
hinzielen. Das weiß man jenseits der Leitha auch ganz genau, und trotzdem
wurde der „König" bei seiner Anwesenheit in Budapest im Juni mit außer¬
gewöhnlicher Wärme aufgenommen, und das neue „unparlamentarische" Mini¬
sterium Khuen-Hedervarn erhielt durch die Neuwahlen eine Mehrheit, die noch
die Koloman Szells übertrifft, als er 1900 die Nationalpartei mit der liberalen
Partei vereinigt hatte. Diese auffällige Wandlung, nachdem noch bei den Wahlen
von 1906 die Kossuthvartei allein die Mehrheit im Abgeordnetenhause erzielt
hatte, dürfte auch in weiteren Kreisen den Wunsch nahelegen, die für den gegen¬
wärtigen Zustand entscheidenden Beweggründe klarzulegen, aber auch die Wahr¬
scheinlichkeit seiner Dauer zu untersuchen. Ausführlicheres über die ungarischen
Partei- und Parlamentsverhältnisse, über den Sturz der liberalen Partei und
den Beginn der Regierung des sogenannten Koalitionsministeriums ist bereits
in den „Grenzboten" (1904: 50, 51; 1905: 51. 52; 1908: 15) mitgeteilt
worden; es sei hier darauf verwiesen, um ausführlichere Wiederholungen und
Erklärungen zu vermeiden.
Als die sogenannte Koalitionsregierung am 9. April 1906 die Leitung der
Geschäfte übernahm, um die in Ungarn allein herrschende politische Clique nach
dem Kabinett Fejervaru wieder ans Staatsruder zu bringen, hatte sie der
Krone gegenüber bestimmte Verpflichtungen eingehen müssen, unter denen das
einstweilige Fallenlassen aller militärischen Forderungen und die Einführung
des allgemeinen Wahlrechts die wichtigsten waren. Die erstgenannte Verpflichtung
war von der ungarischen und der die magyarischen Bestrebungen auf parla¬
mentarische Machterweiterung begünstigenden Wiener Presse als großer Erfolg der
Koalition ausposaunt worden, während sie doch bloß die von der Krone gewährte
goldene Brücke bildete, über die allein die Parteiführer der bisherigen Opposition
zu den Ministersesseln schreiten konnten, wenn sie sich nicht in vollkommenen
Widerspruch mit dem von ihnen bisher behaupteten Standpunkt setzen wollten.
Daß es nichts weniger als ein Sieg war, zeigte sich bald. Denn die Abmachung
bedeutete zugleich das Ruhenlassen der schon 1903 den Ministerien Szell und
Tisza in Aussicht gestellten militärischen Zugeständnisse, die damals der
Unabhängigkeitspartei zu geringfügig erschienen, während sie von der oben¬
erwähnten Wiener Presse als der Beginn der Spaltung der Armee hingestellt
wurden, um den Deutschösterreichern die Lust zu benehmen, sich zum Schutze
der Einheit des Heeres an die Seite des Kaisers zu stellen. Als das Koalitions¬
kabinett — anfangs auch das „Glanzministerium" genannt, weil ein Kossuth
darin saß — seine Popularität immer mehr schwinden sah, wäre ihm mit
einem Bruchteil jeuer Zugeständnisse gedient gewesen. Es verlautete auch im
vergangenen Jahre mehrfach in den Zeitungen, allerdings in höchst unbestimmten
Ausdrücken, von Beratungen der ungarischen Minister mit der Krone über
militärische Forderungen. Tatsache ist, daß der Kaiser verschiedene Anzapfungen
nach dieser Richtung entschieden abgelehnt hat. Er hielt ebenso fest an dem
mit den Koalitionsministern vereinbarte:: Pakt, als er von ihnen die Einhaltung
desselben begehrte. Er hatte nicht Lust, auch nur einen Teil der von ihm in
Aussicht gestellte,: Zugeständnisse zugunsten von Männern definitiv zu gewähren,
deren ehrliches Wollen ihm je länger je mehr immer zweifelhafter erscheinen
mußte.
Der Grund dieser Erscheinung liegt nun in der zweiten übernommenen
Verpflichtung zur Durchführung des allgemeinen Wahlrechts. Im heutigen
Ungarn ist die Zahl der Wahlberechtigten sehr gering, aber gerade darauf
beruht die Möglichkeit der Herrschaft der jetzigen parlamentarischen Clique, die,
einerlei ob bei der Regierungspartei oder in der Opposition, in dem politischen
Treiben vollständig aufgeht, wenn sie Geld hat, oder davon lebt, wenn sie
keins besitzt. Das von der Koalitionsregierung der Krone zugestandene allgemeine,
geheime und gemeindeweise auszuübende Wahlrecht würde das Ende der Herr¬
schaft dieser Magyarenclique bedeuten und die demokratischen Elemente im Verein
mit den Vertretern der anderen Nationalitäten in den Vordergrund schieben.
Davor hatten sich die Herren schon unter dem Ministerpräsidenten Fejervaru
gefürchtet. Als dessen Minister des Innern Kristoffy an: 9. September 1905
eine Wahlrede darüber gehalten hatte, wurde der ganze ungarische hohe und
niedere Adel stutzig und beschwor die Opposition, in ihren militärischen Forderungen
nachzugeben. Nachdem das sicher stand, gab Fejervaru, der nur ungern im
Dienste seines Monarchen Ministerpräsident geworden war, am 13. seine
Demission und erhielt sie; die Führer der Opposition wurden nach Wien
berufen. Sie hielten sich nach dem Rücktritt des unparlamentarischen Ministeriums
schon für die Herren der Lage und beschlossen am 21. September vor ihrer Abreise
nach Wien siegessicher das Festhalten an den Forderungen der Opposition. Darauf
folgte die denkwürdige Audienz am 23. September in Wien, bei der der
Monarch in jeden: Sinne des Worts mit den Herren deutsch sprach und sie
nach kaum zehn Minuten mit einen: schriftlichen Ultimatum entließ, in den:
ganz deutlich zu lesen war, unter welchen Bedingungen er überhaupt mit ihnen
unterhandeln werde. Die Herren schieden sehr verdutzt, die Presse, die den
eigentlichen Zusammenhang nicht kannte und schon den Sieg der ungarischen
Opposition gepriesen hatte, war es noch mehr; sie wußte sich den Vorgang nur
durch eine Sinnesänderung des Kaisers unter dem Einflüsse der sagenhaften
Kamarilla zu erklären. Das Ministerium Fejervary wurde natürlich reaktiviert
und die Gefahr des allgemeinen Wahlrechts bestand weiter.
Nun wurde zwar in den ungarischen Blättern viel staatsrechtlicher Lärm
gemacht, aber die Bevölkerung blieb ruhig. Sie hatte kein Interesse für die
militärischen und anderen staatsrechtlichen Forderungen ihrer Parlamentarier.
Die Sozialdemokratie schlug sich wegen des allgemeinen Wahlrechts auf die
Seite der Regierung und duldete keine Straßendemonstrationen außer den
eigenen. Als dann zu Anfang des Jahres 1906 das Ministerium Maßregeln
traf, aus denen unverkennbar hervorging, daß es sich auf eine längere Dauer
einrichtete, beschloß die Opposition wieder einzulenken, da auch Vermittelungs¬
versuche des Erzherzogs Joseph und eine Audienz des Grasen Andrassy am
26. Januar auf den unerschütterlichen Widerstand des Kaisers gestoßen waren,
der an seinem Ultimatum festhielt. Ihre ersten Vorschläge wurden Anfang
Februar abgelehnt und Fejervary mit der Auflösung des Reichstags beauftragt,
die am 19. vor sich ging, ohne einen Eindruck aus die Bevölkerung zu machen.
Diese blieb auch bei allen weiteren staatsrechtlichen Erörterungen der Presse,
gegen deren Ausschreitungen das Ministerium energisch einschritt, vollkommen
ruhig. Als Haupttrumpf wurde schließlich noch ausgespielt, der „König" müsse
die Neuwahlen vor dem 11. April ausschreiben infolge seines Eides auf die
Verfassung, von dem ihn nur der Papst entbinden könne. Diese Wahlfrist¬
bestimmung bezieht sich aber bloß auf regelmäßige Zustände, von denen doch
keine Rede war, und Fejervary machte am 15. März — gerade am Gedenk¬
tage der Verfassung von 1848 — bekannt, die Regierung werde erst dann
wählen lassen, wenn sie sicher sei, daß der neue Reichstag nicht einen völligen
Umsturz der öffentlichen Ordnung und des staatlichen Ansehens bedeuten würde.
Alles Wüten dagegen blieb nach oben wie nach unten hin wirkungslos, auch
der von den Damen der Parlamentarier gegründete Tulpenorden verfehlte
jeden Eindruck auf weitere Kreise. Dagegen schloß sich ein gemeinsamer
Ministerrat in Wien am 3. April der Auffassung Fejervarys an. Nun war
es die höchste Zeit für die parlamentarischen Herren, einzulenken, denn von
einem so gefährlichen Ministerium war jeden Moment auch die offizielle
Ankündigung des allgemeinen Wahlrechts zu befürchten.
Sobald man sich gezwungenermaßen zur Unterwerfung unter das kaiserliche
Ultimatum entschlossen hatte, ging die Entwickelung ungemein rasch vor sich.
Zuerst reisten Kossuth und Graf Andrassy nach Wien, dann folgten andere, und
schon am 9. April wurde das neue Ministerium in Wien vereidigt und abends
bei der Ankunft in Budapest mit unendlichem Jubel von der Bevölkerung
empfangen. Sie brachte aus Freude über den wiederhergestellten Frieden fort¬
während Hochrufe auf den „konstitutionellen König" aus, da ihr die Presse vor-
geredet hatte, der Monarch habe nachgegeben, damit der von der Verfassung
vorgezeichnete Termin des 11. April eingehalten werden könne. Die Hauptsache
war, daß unter Führung des ehemaligen Liberalen und von der Börse begünstigten
Wekerle die Parteihäupter auf den Ministerstühlen und der ganze Anhang der
Parlamentarier, wenn auch ein wenig anders gruppiert, wieder auf ihren Plätzen
saßen und die Diäten und die Staatsunterstützungen an die der Regierung
befreundeten Industriellen wieder bezahlt werden konnten. Es handelte sich nun
darum, sich in dieser Stellung zu behaupten, was sich anfangs ganz leicht machte,
da fleißig mit verteilten Rollen gearbeitet wurde. Die Beratung des Budgets
und einer Reihe zum Teil recht nützlicher Gesetzentwürfe ging anstandslos vor
sich. Die militärischen Streitfragen, um derentwillen einst die heutige Mehrheit
die verhaßte Gewaltherrschaft der liberalen Partei gestürzt hatte, durften nicht
angerührt werden, da sie durch den Pakt „auf Wunsch der Krone" bekanntlich
ausgeschaltet worden waren. Als freilich im Herbst 1906 aus den Verhandlungen
im österreichischen Abgeordnetenhause hervorging, daß das Ministerium doch weitere,
bisher verschwiegene militärische Verpflichtungen eingegangen war, und als der
Kaiser den Feldzeugmeister Schönaich ausdrücklich zum „Reichskriegsminister"
ernannte, entstand doch einiger Rumor unter den unentwegter Unabhängigen;
aber er wurde erstickt durch den patriotischen Rummel, unter dem am 25. bis
30. Oktober die Gebeine der „Rebellen" Tököly und Rakoczy beigesetzt wurden.
So schloß das Jahr 1906 und das folgende brachte sogar den neuen Ausgleich
mit Österreich bis 1917, der doch im ausgesprochensten Gegensatz zu dem
Programm der jetzt dem Namen nach herrschenden Unabhängigkeitspartei stand.
Man kann ja nun darauf hinweisen, daß überall die Verhältnisse stärker
sind als die Menschen, und daß schon manch eine Opposition, nachdem sie zur
Regierung gekommen war, in Sachen der Staatsnotwendigkeit genau das tun
mußte, was sie vorher bekämpft hatte. Man braucht auch nicht außer acht zu
lassen, daß das Verlangen der Unabhängigkeitspartei nach wirtschaftlicher
Trennung von Österreich wirklich eine reine Oppositionskomödie ist; denn Ungarn
würde in die größte Verlegenheit geraten, wenn Österreich ernstlich darauf ein¬
gehen wollte. Trotz allem hatte der Eifer, mit dem die Koalitionsregierung den
Wunsch des Kaisers vertrat, die Stellung der Vertrauensfrage durch Kossuth bei
seiner Partei und schließlich wegen der Obstruktion der Kroaten die Durchsetzung
des Ausgleichs durch ein Ermächtigungsgesetz doch eine besondere, nicht in der
Ausgleichsangelegenheit selbst liegende Ursache. Die Herren hatten nämlich
allen Anlaß, sich mit der Krone gut zu stellen, denn über ihnen schwebte gleich
dem Schwerte des Damokles die Durchführung des allgemeinen Wahlrechts.
Es war freilich ein wenig viel verlangt, daß die jetzt unter der Firma
der Koalition wieder herrschende Koterie sich ernstlich bemühen sollte, die
Grundlagen ihrer Herrschaft zu untergraben. Nun braucht man nicht gerade
anzunehmen, daß wenigstens die Ehrlicheren unter ihnen gleich von vornherein
mit unredlicher Absicht zur Regierung geschritten seien. Im glühenden Drang,
wieder zur gewohnten Herrschaft zu gelangen, wäg die Tragweite der Verpflichtung
nicht von allen richtig ermessen worden sein. Im übrigen waren in: Verlaufe der
Zeit mancherlei Sinnesänderungen möglich, und schließlich hoffte man, sich
durch prompte Führung der Staatsgeschäfte der Krone gewissermaßen unentbehrlich
zu machen, wodurch die Wahlrechtsfrage obsolet werden konnte. Letzterer
Gesichtspunkt scheint längere Zeit hindurch ausschlaggebend gewesen zu sein.
Jedenfalls war 1907 für die Wahlreform noch nichts geschehen, wofür man sich
mit den unleugbaren Schwierigkeiten der Vorarbeiten entschuldigen konnte. Der
Kaiser hielt indessen unbedingt an der Durchführung des Pales fest, und darum
wurde das Jahr 1908 in der Hauptsache mit Winkelzügen zur Verschleppung
des Wahlgesetzes verbracht, nach dessen Erledigung auch die Armeefragen wieder
in Angriff genommen werden sollten.
Da man mit den nationalen Forderungen gegen Österreich sehr vorsichtig
sein mußte, wurden die nationalen Angelegenheiten im Lande um so eifriger
betrieben, um die Mehrheit zusammenzuhalten. Die Kroaten wurden durch
Verordnungen und Gesetzentwürfe in und außer dem Abgeordnetenhause noch
mehr als sonst malträtiert, das Unterrichtsgesetz des Grafen Apponyi lief auf
die vollkommenste Magyarisierung des gesamten Schulwesens hinaus. Im übrigen
bemühte man sich, neue Objekte aufzuspüren und durch sie das Abgeordnetenhaus
in Stimmungen zu versetzen, die das Einbringen der Wahlrechtsvorlage gar nicht
als rätlich erscheinen lassen mochten. Ein im Frühjahr aufgetauchter Plan, die
Verärgerung und teilweise Spaltung in der Mehrheit wegen des Ausgleichs zu
einer neuen Koalition auszubauen, die an die geltenden Abmachungen nicht
gebunden sei, war zwar echt magyarisch, wurde aber wegen ihrer sichtlichen
Gefährlichkeit bald fallen gelassen, da die Krone eine solche Überrumpelung nur
mit der Beseitigung der jetzigen Gewalthaber beantwortet hätte. Während
einzelne über die schwierige Lage des Kabinetts unterrichtete Parteiführer bereits
begannen, aus Mißvergnügten einen persönlichen Anhang zu sammeln, um bei
der künftigen Verteilung der Ministerposten auf demi Platze zu sein, wurde in
der zweiten Hälfte des Jahres als neues parlamentarisches Hindernis plötzlich
die Frage der selbständigen ungarischen Bank aufgerollt, für die das Ministerium
eifrig beflissen war, in Wien den Vorrang vor der Wahlreform durchzusetzen. Für
diese hatte der Minister des Innern GrafAudrassy ein die Magyaren ausschließlich
begünstigendes Plnralitätswahlgesetz entworfen, konnte aber trotz aller Abänderungs¬
vorschläge und Verhandlungen die definitive Genehmigung der Krone nicht erlangen.
Die Annexion von Bosnien und der Herzegowina hatte inzwischen eine neue politische
Lage geschaffen, die eine weitere Verschleppung der großen Staatsangelegenheiten
nicht ertragen konnte. Die Krone drängte energisch auf die Durchführung des
hauptsächlichsten Punktes der Abmachung mit der Koalition, der Wahlreform, damit
nach Erfüllung des Paktes der Weg für neue Vereinbarungen frei würde.
So war die Lage zu Beginn des Jahres 1909, und unter Festhaltung
dieses Hauptgesichtspunktes sind die weiteren Vorgange aufzufassen. Alles
andere war nur Beiwerk, wobei keineswegs ausgeschlossen ist, daß abermals mit
geschickt verteilten Rollen gearbeitet wurde, denn Regierung wie Opposition
hatten das gemeinsame Interesse, nicht durch eine ernste Wahlreform um ihre
herrschende Stellung gebracht zu werden. Über diesen eigentlichen Kernpunkt
der sogenannten Verhandlungen mit Wien ist auch diesmal der Bevölkerung
kein ehrlicher Aufschluß gegeben worden, sondern sie wurde mit Mitteilungen
über Nebensachen abgespeist. Sie ist ja niemals über die wirklichen Vorgänge
in der parlamentarischen Koterie mit voller Wahrheit unterrichtet worden. Das
Abgeordnetenhaus hatte wohl fleißig gearbeitet, die Steuerreform angenommen
und auch die auswärtige Lage in unzweifelhaft patriotischen: Sinne behandelt.
Aber das konnte der Krone nicht mehr genügen, da der Pakt mit der Koalition
ihren weiteren Plänen im Wege stand und so oder so beseitigt werden mußte.
Als dann das Abgeordnetenhaus sich über die Bankfrage zu ereifern begann,
Justs mit Rücksicht auf die Zukunft seine Trennung von Kossuth einleitete,
benutzte das Ministerium die günstige Gelegenheit, sich einen patriotischen Ab¬
gang zu sichern, und gab am 25. März seine Demission. Die Blätter wußten
bloß zu melden, es sei wegen der Bankfrage geschehen. Die Demission wurde
angenommen, das Kabinett aber mit der Weiterführung der Geschäfte beauftragt.
Der Kaiser begab sich am 4. Mai selbst nach Budapest, wie es hieß, um auf
Grundlage der Gemeinsamkeit der Armee und der Bank eine neue Parteibildung
anzuregen, kehrte aber am 12. unverrichteter Dinge nach Wien zurück. Es
war klar, daß mit der zerrütteten Koalition nichts Positives mehr ins Werk zu
setzen war, und ein neues „unparlamentarisches Ministerium" stand vor der
Tür. Da aber in Österreich sich gerade die parlamentarische Lage durch die
Obstruktion der slawischen Union aussichtslos gestaltet hatte und auch dort für
die Pläne der Neichsregierung augenblicklich nichts zu erreichen war, wurde am
6- Juli das Ministerium Wekerle von neuem ernannt und damit die ungarische
Krise zur weiteren Ausklärung bis zum Herbst vertagt. Damals soll aber der
Kaiser gesagt haben: „Es war genug der Provisorien in Ungarn, es muß
endlich ein Definitionen geschaffen werden."
Es war auffällig, in wie geringem Maße die Bevölkerung an den Vor¬
gängen teilnahm. Sie war vollkommen ernüchtert worden, denn das „Glanz¬
ministerium" hatte sich nicht im geringsten von seinen Vorgängern unterschieden.
Vergeblich hatte man ihm auf den Namen des glorifizierten Kossuth hin 1906
eine übermächtige Mehrheit gewählt, es hatte sich nichts gebessert. Da
sank auch der Glaube an die Kossuthlegende hin, obgleich der Sohn des
Gefeierten unter all den politischen Drahtziehern unstreitig der ehrlichste war.
Man erblickte Willen und Kraft nur bei der Krone, und die Annexion von
Bosnien und der Hcrzogewina hatte mit den darauffolgenden politischen
Schwierigkeiten auch in Ungarn erfrischend gewirkt. Die große Mehrzahl der
Abgeordneten, deren politische Existenz darauf beruht, mit der herrschenden
Partei zu gehen, war bereit, bei der ersten passenden Gelegenheit nach der
Richtung abzuschwenken, in der sich die neue Macht konzentrieren würde. Das
Kabinett hatte im Parlament keine Stütze mehr, und darum wäre selbst ein
ernstlicher Versuch der Krone, doch mit ihm ein Auskommen zu finden, aus¬
sichtslos gewesen. Unter diesen Umständen hatten verschiedene Audienzen
Wekerles in Wien keinen Erfolg mehr. Auch im Kronrat am 20. Oktober in
Wien erklärte der Kaiser den nochmals mit Vorschlägen anrückenden Exzellenzen,
er wünsche die Lösung der Krise auf verfassungsmäßigen Wege, fordere
aber von ihnen die Einlösung der übernommenen Verpflichtungen. Das
war den Herren nicht möglich, die Parteizersetzung ging weiter und das
Abgeordnetenhaus erteilte schließlich dem Ministerium bei der Beratung des
Budgetprovisoriums sogar ein Mißtrauensvotum, so daß das Jahr 1910
mit einem budgetlosen Zustande (ex lsx — sagen die Ungarn) begann. Seit
dem 19. Dezember 1909 waren als Vertrauensmänner des Kaisers Graf Khuen-
Hedervary und von Lukacs in Budapest für eine neue Kabinettsbildung tätig,
am 23. letzterer mit ihr speziell beauftragt und am 3. Januar 1910 zum
Ministerpräsidenten ernannt, doch schon am 11. durch den Grafen Khuen-
Hedervary ersetzt. Dieser beschloß, sich auf seine frühere liberale Partei,
die auf dem Standpunkt des Ausgleichs von 1867 steht, zu stützen, woraus
die Notwendigkeit der Auflösung des Reichstages hervorging. Am 18. wurde
das Ministeriums Wekerle definitiv, aber ungemein gnädig, entlassen, und das
Kabinett Khuen-Hedervary, in das von Lukacs als Finanzminister eingetreten
war, vereidigt. Da das Abgeordnetenhaus nach viertägiger lärmender Debatte
mit großer Mehrheit ein Mißtrauensvotum gegen das Ministerium angenommen
hatte, wurde es am 28. Januar vertagt. In der Schlußsitzung am 31. Mürz,
in der das Auflösungsdekret für den folgenden Tag verlesen wurde, machten
Angehörige der Jufthpartei einen unerhörte» Skandal und warfen schließlich
allerlei Gegenstände nach den Ministern, wodurch Graf Khuen-Hedervary und
der Ackerbauminister Graf Szarenyi nicht unerheblich verwundet wurden. Eine
allgemeine Balgerei im Saale schloß sich daran.
Das war das bezeichnende Ende der sogenannten Koalition, von deren
Schlagworten sich die Bevölkerung längst enttäuscht abgewendet und in hellen
Haufen der vom Ministerium begründeten „nationalen Arbeitspartei" angeschlossen
hatte, die das allgemeine Wahlrecht, entgegenkommende Behandlung der
Nationen und die so schmerzlich entbehrten Reformen, namentlich im Ver-
waltuugs- und Justizwesen, in Aussicht stellte. Eine solche Roheit war
auch im ungarischen Abgeordnetenhause noch nicht vorgekommen. Die Folgen
von allem zeigten sich bei den Neuwahlen, die im ersten Drittel des Monats
Juni stattfanden. Die Regierungspartei hatte schon in den ersten Wahltagen
die Mehrheit errungen, die jetzt unter Justs und Kossuth getrennte Unabhängig¬
keitspartei, die unter Wekerle aus zweihnnoertdreiunddreißig Mandate gestiegen
war, hatte zusammen hundertfünfzig Wahlsitze eingebüßt. Unter diesen Umständen
war es erklärlich, daß Kaiser Franz Joseph persönlich zur Eröffnung des Reichs-
tages am 22. Juni in Budapest eintraf und ebenso feierlich als begeistert begrüßt
wurde. Es ist auch erklärlich, daß die Opposition in der bis zum 2. August
dauernden ersten Session des Reichstages sich auffällig still verhielt. Selbst¬
verständlich leistete dieser in sechs Wochen mehr als der Koalitionsreichstag in
sechs Monaten und erledigte insbesondere die von seinem Vorgänger hinter¬
lassenen Rückstände, darunter die Vorlage über die Rekrutenkontingente und über
die Beseitigung des Lx-Isx-Zustandes. Die Ankündigung der Opposition, daß
es im Winter anders werden könnte, hat wenig zu besagen, da sie aus eigenen
Kräften zu schwach ist. Zuwachs könnte ihr nur aus Unzufriedenen der
Regierungspartei kommen, und daran dürfte es in Zukunft kaum fehlen. Denn
die Abgeordneten bestehen ebenfalls wieder aus Mitgliedern der herrschenden
politischen Koterie, der es weder mit der Einführung des allgemeinen Wahl¬
rechts noch mit einer einigermaßen gründlichen Verwaltungsreform jemals
eben die Bestimmungen des Vorentwurfs, welche als die haupt¬
sächlichsten zu einer Humanisierung des Strafrechts bestimmt sind,
zu mancherlei Bedenken Anlaß, so wird man um so uneingeschränkter
den Paragraphen des Entwurfes zustimmen können, die eine Ver¬
schärfung des Strafrechts im Gefolge haben sollen.
Echte Strafschärfungen bringt Z 18 V.E., welcher in Absatz 1 bestimmt:
„Zeugt die Tat von besonderer Roheit, Bosheit oder Verworfenheit
oder ist nach den Vorbestrafungen des Täters anzunehmen, daß der
gewöhnliche Strafvollzug auf ihn nicht die erforderliche Wirkung aus¬
üben würde, so kann das Gericht im Urteile Schärfungen der Zuchthaus¬
oder Gefängnisstrafe anordnen.
Es war die höchste Zeit, daß wir eine solche Handhabe gegen eine gewisse
Sorte von Verbrechern bekommen. Es ist durchaus typisch, was einem Gefängnis¬
vorstande in Schlesien von einen: vielfach vorbestraften Subjekte ins Gesicht
gesagt worden ist: „Für uns baut der Staat die Gefängnisse und ihr seid
dazu da, aufzupassen, daß uus darin nichts passiert." — Bekannt sind allgemein
die Handlungen Obdachloser, die eine Spiegelscheibe einschlagen oder eine
Majestätsbeleidigung ausstotzen, um für die Wintermonate im Gefängnis warmes
Quartier und freie Verpflegung zu erhalten. Unsere Gefängnisse sind eben auf
einer gewissen Höhe des Komsorts angelangt, daß viele Insassen es an Pflege
und Nahrung viel wohnlicher treffen als zu Hause. Kommt nun noch hinzu,
daß sie aus einer Bevölkerungsschicht stammen, in der es weiter für keine
Schande gilt, zu „sitzen" oder „gesessen zu haben", so fehlt dem heutigen
Strafvollzuge, insbesondere dem kürzeren, jegliche Wirkung auf das Gemüt des
Sträflings. Solche Kreise finden wir aber nicht etwa nur unter dem Lumpen¬
proletariat der Großstädte, sondern auch in manchen Ortschaften unseres Jndustrie-
bezirks. So wird von einem ooerschlesischen Dorfe nahe der österreichischen
und russischen Grenze erzählt, daß, als der Gemeindevorsteher wegen Unter¬
schlagung von Mündelgeldern verurteilt und deshalb natürlich seines Amtes
entsetzt worden war, der Landrat in die größte Verlegenheit geriet, wen er
als Nachfolger für den Posten eines Gemeindevorstehers vorschlagen solle, da
sämtliche erwachsenen männlichen Dorfeinwohner mindestens wegen Witterns
oder Schmuggelns vorbestraft waren. Das vergegenwärtige man sich, um voll
zu begreifen, wie weit Eindruck es macht, wenn man einen solchen Staats¬
bürger mit zwei oder vier Wochen Gefängnis bestraft. Die Freiheitsstrafe
fängt für diese Kreise erst an ein Übel zu sein, wenn sie so lange dauert, daß
ihnen der Schnaps und die Weiber ernstlich fehlen. Da man aber wegen leichter
und mäßiger Verfehlungen unmöglich auf sechs Monate und darüber erkennen
kann, so handelt der Vorentwurf durchaus dem praktischen Bedürfnis ent¬
sprechend, wenn er Strafschärfungen einführt und in der von der Theorie auf¬
geworfenen Streitfrage, ob diese nur bei längeren oder auch bei kürzeren
Freiheitsstrafen anzuwenden seien, sich gerade für die letztere Alternative ent¬
scheidet. Die Schärfungen sollen in geminderter Kost und harter Lagerstätte
oder einen: von beiden bestehen. Daß die Gesundheit der hierzu Verurteilten
dadurch nicht leide, dafür ist durch detaillierte Bestimmungen über die Dauer
der Schärfungen und ihr Maß im Verhältnis zur Länge der zu verbüßenden
Freiheitsstrafe gesorgt. Stets muß die Schärfung an jedem dritten Tage weg¬
fallen. Den anderweitig verwandten Dunkelarrest hat der Vorentwurf als
Strafschärfungsmittel abgelehnt, einmal, weil dadurch die Arbeit des Sträf¬
lings (die einen erzieherischen Einfluß auf ihn ausüben soll) wiederholt
unterbrochen werden würde und zweitens, weil noch ein Mittel als Disziplinar-
mittel zurückbleiben soll. Man wird dies durchaus billigen können. Da alle
Verurteilten von irgendwie zweifelhafter Gesundheit, wenn der Richter gegen
sie auf Kostentziehung erkannt haben wird, in der Strafanstalt alles in Bewegung
setzen werden, um den Nachweis zu führen, daß die Ernährung mit Wasser
und Brot ihrer Gesundheit abträglich sei, und der Anstaltsarzt oder die
Beschwerdeinstanz schon aus Scheu vor der Öffentlichkeit nur zu häufig geneigt
sein werden, die Schärfungen in Wegfall zu bringen, so sieht der Vorentwurf
in einer weisen Bestimmung vor, daß das Gericht die Strafe selbst ver¬
längern darf, wenn die Schärfung in Wegfall kommt. Dann haben die
Herren Verbrecher die Wahl, ob sie neun Monate mit Diät oder zwölf Monate
mit voller Ernährung sitzen wollen. Alsdann aber wird mancher plötzlich finden,
daß die warme Suppe, Speck und Hering mit drei Monaten der goldenen Freiheit
doch zu teuer erkauft sind.
Für sentimentale Gemüter sei noch bemerkt, daß nicht allein Rußland und
Spanien, die in manchen Kreisen nicht mehr zu Europa gerechnet werden,
sondern auch die kulturell hochstehenden Länder England, Schweiz, Norwegen
Strafschärfungsmittel kennen. Norwegen hat die besonders gute Einrichtung,
daß jeder Sträfling unbedingt die ersten beiden Tage seiner Strafhaft bei Wasser
und Brot verbüßen muß. Ein nicht so leicht zu vergessender Eindruck.
Das naheliegende Strafschärfungsmittel der Prügelstrafe einzuführen, hat
der Entwurf unter Berufung auf die dieser Strafe als einer kulturwidrigen
überwiegend abgeneigten Wissenschaft und Volksmeinung in Deutschland abgelehnt.
Es wird auch bei dieser in Deutschland tatsächlich herrschenden Strömung erfolglos
sein, für diese Strafe einzutreten, obwohl man als Strafrichter Roheitstaten
genug zu sehen bekommt, bei denen man immer wieder das lebhafte Bedauern
empfindet, daß man diesen Rodungen nicht am eigenen Leibe die Schmerz-
haftigkeit von Mißhandlungen klar machen kann. Jedermann kennt solche Bei¬
spiele roher Exzesse aus den Mitteilungen der Presse. Um nur zwei der eigenen
Praxis zu erzählen, so hatten zwei Burschen aus Übermut einen siebzigjährigen
blinden Leierkastenmann überfallen, zu Boden geworfen, den Hilflosen mit seinem
eigenen Stock so lange geschlagen, bis der Stock zerbrach, dann ihn mit Messer¬
stichen traktiert und liegen lassen. Ein sechsjähriger Knabe hatte zum zweitenmal
in kurzer Frist seine Mütze verloren. Der hierüber erzürnte Vater bestrafte ihn
damit daß er das Kind mit entblößtem Gesäß auf die Eisenplatten des heißen
Herdes setzte Natürlich trug der Ärmste fürchterliche Brandwunden davon.
Ist es wirklich eine genügende Sühne, wenn jene Burschen und dieser Vater
dafür besten Falles auf einige Jahre die Freiheit verlieren? In England.
Dänemark und den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist die Prügelstrafe
geltenden Rechts, und die meisten Richter in England behaupten, daß die vor
dem Jahre 1863 Überhand genommenen Raubanfälle durch Einführung der
Prügelstrafe eine erhebliche Verminderung erfahren hätten. Erfahrungsgemäß
neigen gerade die jüngsten strafrechtlich verantwortlichen Elemente am meisten
zu Roheitsdelikten; wäre es deshalb nicht wenigstens erwägenswert, die Prügel-
strafe für Jugendliche, wobei ich deren Alter allerdings ans enumdzwanzrg Jahre
heraufgesetzt sehen möchte, einzuführen? Es käme dann, um die Strafe weiteren
Kreisen annehmbar zu machen, in Betracht, daß me Prügelstrafe gegenüber
jungen, noch erziehnngsbedürftigen Elementen nicht so demütigend ist als gegen-
über Erwachsenen.
Eine scharfe Reaktion auf das Verbrechen bringt neben den eben besprochenen
Schärfungen der Strafvollstreckung eine vollkommene Neuregelung der Rückfalls¬
materie. Die Kriminalstatistik der letzten Jahre zeigt neben einem langsamen
Sinken der Kriminalität überhaupt ein Steigen der Nückfallsverbrechen. Nicht
mit Unrecht ist ein Teil der Schuld hieran auf die in der Praxis weit ver¬
breitete zu milde Bestrafung der Rückfälligen geschoben worden. Das geltende
Neichsstrafgesetzbuch kennt den Rückfall überhaupt nur bei Diebstahl, Raub,
Betrug und Hehlerei und gibt verklausulierte Bestimmungen, wann eine dritte
zur Verurteilung gelangende Tat als Rückfall anzusehen sei. Den in dieser
Beschränkung des Rückfalls liegenden unberechtigt plutokratischen Zug unseres
Strafgesetzbuches hätte die Praxis bei der Weite der für die meisten Delikte
vorhandenen Strafrahmen durch eine ausgiebige Benutzung der Obergrenze dieser
Rahmen gegen rückfällige Messerstecher, Ehrabschneider, Kuppler usw. wettmachen
können. Allein wo findet man überhaupt einmal ein Urteil, welches das Maximum
eines Strafrahmens ausspricht. Es ist z. B. für die gefährliche Körperverletzung,
mit einem Strafrahmen bis zu fünf Jahren Gefängnis, wie wenn das vierte
und fünfte Jahr überhaupt nicht geschrieben wären. Ein Kollege, sonst ein
vorzüglicher Strafrichter, hatte folgenden Fall zur Aburteilung. Ein junger
Schlepper kommt von der Schicht nach Hause und hofft, das Mittagessen vor¬
zufinden. Die Mutter aber, statt Essen zu kochen, hat sich vollständig betrunken
und liegt mit aufgeknöpfter Taille in seligem Zustande neben dem Kochherde,
in dem das Feuer mählich auszugehen beginnt. Den Burschen ergreift die
Wut über diese fürsorgliche Mutter und Hausfrau, und als es ihm nicht gelingt,
sie durch Rütteln aus ihren: Schlummer zu erwecken, da langt er mit der
Kohlenschaufel in den Ofen und schüttet ihr eine Schaufel voll glühender Kohlen
auf die bloßen Brüste mit den gemütvollen Worten: „So, du Pieron*), da
wirst du wohl endlich aufwachen." Die Mutter trug von dieser Behandlung
ihres Sohnes schwere und schmerzhafte Brandwunden davon. Das Schöffen¬
gericht hat gegen den Rodung auf zweieinhalb Jahre Gefängnis erkannt. Als
ich den Kollegen darauf fragte: „Sagen Sie, an was für schwerste Fälle mag
der Gesetzgeber wohl gedacht haben, der eine Oberstrafe von fünf Jahren
Gefängnis zuließ, wenn Ihr Fall nicht den Anforderungen an die Maximal¬
strafe genügt?" —, so wußte er allerdings nichts zu entgegnen. Findet sich
aber der eine oder andere Amtsrichter, der mit seinen Schöffen eine kräftige
Strafpraxis gegen rückfällige Roheitsverbrecher einführt, so wird er nicht immer
an der übergeordneten Strafkammer den nötigen Rückhalt finden. Die Tat¬
sache, daß das Landgericht milder urteilt, spricht sich aber nur zu rasch herum;
die Wirkung ist, daß die erste Instanz als eine ()u-alles neAliMable von den
Herren Verbrechern behandelt wird, und sich der Vorsitzende jede Woche als
Antwort auf eine Urteilsverkündung von einem Angeklagten die Dreistigkeit ins
Gesicht sagen lassen muß: „Ich bin nicht zufrieden, ich gehe weiter" oder „Ich
gehe nach X" (dem Sitze des Landgerichts)").
Die Kunst der Strafzumessung fordert nach einem treffenden Worte Kahls
„das Höchste an Beurteilungsfähigkeit der äußeren Vorgänge und Wirkungen
der Straftat, an Menschenkenntnis und Seelenkunde, an Beherrschung des positiv-
rechtlichen Stoffes, an Selbstzucht, Unbefangenheit und Gerechtigkeit". Der
Gesetzgeber wird, da Jdealrichter, die allen diesen Erfordernissen genügen,
in sämtlichen Instanzen nun einmal die Ausnahme bleiben werden, nicht umhin
können, künftig Maßstäbe für die Strafzumessung wenigstens bei den schwerer
zu bestrafenden Verbrechern zu geben. Bei leichten Delikten und niedrigen
Strafen kann die Differenz der einzelnen Urteile selten so schlimm werden, daß
sie die Kritik des allgemeinen Rechtsgefühls herausfordert. Anders bei schweren
Taten, wenn die eine Instanz womöglich auf zwei Jahre Gefängnis und die
andere auf 150 Mark Geldstrafe erkennen kann. Ich möchte sagen, wir knüpfen
mit einer allgemeinen Strafschärfung gegen Rückfällige, Gewohnheitsverbrecher
und Unverbesserliche gewissermaßen dort an, wo eine mittelalterliche Entwickelung
unterbrochen wurde. Das mittelalterliche Strafrecht kannte für alle schwereren
Verbrechen, spätestens aber für den zweiten oder dritten Rückfall. nur eine
Strafe, das war: die Todesstrafe**). Sie nuancierte bei dieser nur entsprechend
ihrem Grundsatze der spiegelnden Strafe (das ist, daß der Strafvollzug ein
möglichst getreues Abbild des Verbrechens sein sollte) dadurch, daß sie die Hin-
richtungsarten verschieden sein ließ. Die Todesstrafe aber hatte, mochte sie
um durch Rad, Schwert. Galgen, Pfählen oder Verbrennen vollstreckt werden,
jedenfalls die sichere Wirkung, jeden Rückfall des Verurteilten unmöglich ^zu
machen. So hatte also Strafgesetzgebung und Justiz bis zur Zeit der Auf¬
klärungsperiode mit dem Problem der Rückfälligen und Unverbesserlichen wenig
Sorge Als mit milderen Sitten die Todesstrafe nur auf ganz wenige Delikte
beschränkt wurde da stand man dem genannten Problem so fremd und unerfahren
gegenüber daß es eines Herumexperimentierens von fast einem Jahrhundert
bedurft hat. bis man endlich zu der zwingenden Einsicht kam. gewisse Ver¬
brecherkategorien müssen um jeden Preis und so lange wie möglich unschädlich
gemacht werden. Da ihre Ausrottung in größerem Umfange nach dem Rechts¬
empfinden unseres Zeitalters nicht mehr möglich ist. so haben bereits eme Reese
Staaten längere Jnternierangen eingeführt. Am weitesten sind hier einzelne
Staaten der Vereinigten Staaten von Nordamerika gegangen die den Habitual
(der etwa unserem Rückfälligen entspricht) bei Begehung des dritten Verbrechens:
Iowa zu mindestens fünfundzwanzig Jahren Mas achuse s zum S rafmaximum
Washington und Jndiana zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilen. Letzteres
sieht sogar bei besonders hartnäckigen und unverbesserlichen Individuen die
Kastration vor.
So weit geht nun der Vorentwurf natürlich nicht, und für unser deutsches
Empfinden auch mit Recht. Er bestimmt vielmehr nur folgendes: Als Rückfall
soll nach Z 87 B.E. das zweite Verbrechen oder vorsätzliche Vergehen angesehen
werden, das binnen fünf Jahren nach der ersten wegen einer solchen Tat
erlittenen und verbüßten Bestrafung begangen wird. Die Rückfallsstrafe soll
nach § 88 V.E. stets angemessen höher sein als eine Erstbestrafung. Im dritten
und ferneren Rückfalle beträgt die Strafe mindestens ein Viertel und höchstens
das Doppelte der angedrohten höchsten Strafe, doch darf der gesetzliche Höchst¬
betrag der zur Anwendung kommenden Strafart nicht überschritten werden. Von
mehreren angedrohten Strafarten ist die schwerste zu wählen. Beträgt z. B. die
Strafe für gefährliche Körperverletzung nach dem geltenden Rechte bis zu fünf
Jahren Gefängnis, so müßte danach gegen den, der das drittemal einen
Menschen mit Messer oder anderen Werkzeugen überfällt, mindestens auf ein-
undeinviertel Jahre Gefängnis und höchstens auf zehn Jahre Gefängnis erkannt
werden. Welche wertvolle Stetigkeit und fortschreitende Steigerung wird eine
solche Zwangsbestimmung in unsere Rechtspflege und in die einzelnen Strafe»
der Verbrecher bringen. Heute erleben wir es, daß ein Rodung, der schon
mit sechs Monaten und zwölf Monaten wegen Körperverletzung vorbestraft ist,
das Glück hat, an ein mildes Gericht zu geraten, das die von ihm mit einer
Glasflasche an dem Kopfe eines anderen verübte Körperverletzung nur mit
zwei Monaten Gefängnis führt. Besonders wichtig ist auch der letzte Satz
der oben wiedergegebenen Bestimmung, daß von mehreren angedrohten Strafarten
vom dritten Rückfall ab die schwerste zu wählen ist; danach bleibt für solche
Rückfällige künftig wenigstens die Anwendung von Geldstrafe so gut wie aus¬
geschlossen. Da ausnahmsweise ein späterer Rückfall einmal milder liegen
kann, so beugt Absatz 4 des H 88 einer zu großen Starrheit in dieser Straf¬
staffelung durch die Zulassung milderer Strafen beim Vorliegen besonderer
Umstände vor.
Von den Rückfälligen getrennt werden die gewerbs- und gewohnheitsmäßigen
Verbrecher in Z 89 behandelt.
Unter diesen versteht der Vorentwurf Übeltäter, die mindestens fünfmal
wegen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen mit erheblichen Freiheitsstrafen,
darunter mindestens einmal mit Zuchthaus, bestraft sind und die letzte Strafe
vor nicht länger als drei Jahren verbüßt haben, und nunmehr ein neues Ver¬
brechen oder vorsätzliches Vergehen verüben, das sie in Verbindung mit den
Vorstrafen als gewerbs- oder gewohnheitsmäßige Verbrecher erscheinen läßt.
Diese Regelung dürfte in ihrer Beschränkung auf die schwereren Delikte, in dem
Erfordernis mindestens einmaliger Zuchthausstrafe, in dem Hinweis auf den
Zusammenhang der Taten untereinander den Rahmen zutreffend abstecken, in
welchem wir die Individuen erkennen können, welche, sei es aus verbrecherischer
Neigung, sei es aus moralischer Hilflosigkeit, sobald sie sich in Freiheit befinden,
immer wieder in das Verbrechen zurückfallen. Es sind die Verbrechergruppen,
bei denen der Besserungszweck der Strafe kaum mehr in Betracht kommen,
sondern bei welchen der überwiegende Zweck der Strafe sein wird, die mensch¬
liche Gesellschaft möglichst lange vor ihnen zu bewahren, die Verbrecher möglichst
lange unschädlich zu machen. Darum wird als Strafe für das sechste und spätere
Verbrechen Zuchthaus nicht unter fünf Jahren und für das sechste und spätere
Vergehen Zuchthausstrafe nicht unter zwei und bis zu zehn Jahren festgelegt.
Entsprechend der Gefährlichkeit der Gewohnheitsverbrecher und der strengen,
mit den: Besserungszwecke fast gar nicht mehr rechnenden Behandlung, die ihnen
im Zuchthause zuteil werden soll, schreibt Abs. 3 des Z 89 vor. daß diese
Verbrecher künstig nur in besonderen, nur für. sie bestimmten Strafanstalten
verwahrt werden sollen. Auch diese Bestimmung wird nicht verfehlen, ihren
abschreckenden Eindruck auf die Herren Verbrecher zu machen, da diese zwischen
der Behandlung in den einzelnen Anstalten sorgfältig unterscheiden und sich die
Wissenschaft davon so weiter geben, wie etwa die Reisenden die Adressen guter
Hotels. So schreibt ein alter Verbrecher, der Matrosen-Albert'. in seinen
Memoiren: „Ein Jahr Sonneberg ist so schlimm wie zwei Jahre Neubrandenburg."
Wenn man sich erinnert, daß Anfang der achtziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts ein Teil der deutschen Bundesstaaten noch so kurzsichtig war. die
Bettler und Landstreicher, welche nicht Landeskinder waren, sondern zwar
Reichsangehörige, aber solche eines anderen Bundesstaates, nicht in seine Arbeits¬
häuser zu stecken, sondern über die Landesgrenzen abzuschieben, weil die
Arbeitshäuser nur für die Landeskinder da seien, und es erst eindringlicher
Vorstellungen höchster Reichsorgane bedürfte, um dieser Annehmlichkeit für die
Vagabunden ein Ende zu machen, so wird man ermessen, welchen Fortschritt die
Strafrechtspolitik in den letzten fünfundzwanzig Jahren gemacht hat. daß der
Vorentwurf bei Beurteilung der Gewerbs- und Gewohnheitsmäßigkeit des Ver¬
brechers jetzt sogar über die Neichsgrenzen hinausgreift. Z »9 Abs. 2 bestimmt,
daß für die Beurteilung der Frage, ob Gewerbs- oder Gewohnheitsmäßigkeit
vorliegt, auch ausländische Strafen von mindestens einen: Jahre und der
Strafart. welche unserem Zuchthause am ehesten entspricht, in Betracht kommen
sollen. Es ist dies eine sehr weise Maßregel mit Rücksicht auf das internationale
Verbrechertum der Hochstapler. Mädchenhändler usw.
MGin die Konkurrenz auszuschalten, bedient man sich im gewerblichen
wie im geschäftlichen Leben zumeist nicht des Mittels der Erhöhung
zder Qualität einer Ware, sondern der Verbilligung derselben.
Solange nun diese Verbilligung nicht auf Kosten der Qualität
geschieht, sondern mit Hilfe technischer Errungenschaften, ist nichts
dagegen einzuwenden. Sobald aber diese Verbilligung in der Art einer Qualitäts¬
verschleierung mittels einer Vortäuschung echten oder wertvolleren Materiales
durch ein unechtes und minder wertvolles Material (Materialfälschung und
Materialverfälschung) geschieht, liegt eine Form des unlauteren Wettbewerbes
vor, liegt ein Vergehen gegen Treu und Glauben, liegt eine arglistige
Täuschung vor.
Es ist noch nicht lange her, daß uns die Augen über die Unrechtmäßigkeit
dieses Konkurrenzkampfes aufgegangen sind. Früher meinte man, daß man es
hier mit einer begreiflichen und verzeihlichen Form der schrankenlosen Konkurrenz
als Folge der Gewerbefreiheit zu tun habe. Das Gewissen erwachte zuerst in
den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in München, wo Joseph
Bauschinger, Professor an der Technischen Hochschule in München und Vorstand
der mit ihr verbundenen mechanisch-technischen Versuchsanstalt für Baumaterialien,
im Jahre 1885 die erste Versammlung zur Aufstellung von Vereinbarungen
und einheitlichen Prüfungsmethoden von Bau- und Konstruktionsmaterialien
einberief. Er war es auch, der der in Berlin zu demselben Zweck lagerten
internationalen Konferenz 1890 präsidierte, aus der der Internationale Verband
für die Materialprüfungen der Technik hervorging. Bauschinger starb im Jahre
1893 in München. In München wirkte ferner der große Hygieniker Max
von Pettenkofer, dem das deutsche Nahrungsmittelbuch, also die Materialkontrolle
auf dem Gebiete der Ernährung, zu danken ist. Erinnert sei dabei an Petten-
kofers Tätigkeit an der Münze, an seine Bestrebungen zur Affinierung des Goldes
und Verbreitung des Platins. In München wirkte ferner A. W. Keim, den: wir
das deutsche Farbenbuch zu danken haben werden. Auf dem rechtlichen Gebiete
begann die Bewegung Anfang der neunziger Jahre in Berlin").
Ein Markstein in der Geschichte dieser Bewegung ist dann die Schrift des
Geh. Justizrath Prof. Dr. Kohler „Treu und Glauben im Verkehr". Und ein
ähnlicher konsequenter Charakter ist der Österreicher Emil Steinbach, dessen im
Jahre 1900 erschienenes Buch ebenfalls „Treu und Glauben im Verkehr"
betitelt ist. Steinbach wurde 1891 Finanzminister, 1899 erster Präsident des
obersten Gerichts und Kassationshofes. Im Jahre 1903 erschien seine Schrift
„Der Staat und die modernen Privatmonopole".
An Gesetzen liegen bisher vor: das Handwerkergesetz, das neue Gesetz gegen
den unlauteren Wettbewerb und das Gesetz für die Sicherung von Bauforderungen.
Wir haben es hier eben, wie Dr. Obst dargelegt hat, mit einer allgemeinen,
um Wahrhaftigkeit ringenden Kulturbewegung zu tun, welche Treu und Glauben
in Handel und Wandel zur Anerkennung bringen will. Diese Bewegung ist zum
Teil sogar international. International ist der Verband für die Materialprüfungen
der Technik, dessen jüngster Kongreß Anfang September 1909 in Kopenhagen
stattfand. Erinnert sei ferner an den Kampf Roosevelts, ebenfalls eines Wahr¬
haftigkeit-Apostels, gegen die amerikanischen Syndikate und Trusts, an seine
Mahnung an Taft in der Juni-Nummer 1909 des „Outlooks", in der er an
das amerikanische Volk einen leidenschaftlichen Appell richtet, im Kampfe gegen
die Unehrlichkeit im politischen und kommerziellen Leben nicht zu erlahmen.
Erinnert sei ferner daran, daß wir auf dem Gebiete des Pelzmaterials Anfänge
einer Materialkontrolle bereits besitzen: der Pelzwarenausschuß der Londoner
Handelskammer bildete eine Aussichtssektion, die kürzlich in einem Zirkular
Deklarationspflicht gegenüber folgenden Unterschiebungen verlangte: gefärbte
Kaninchen und Ottern an Stelle von Seal, Murmeltiere an Stelle von Nerz,
weiße Hasen an Stelle von Fuchs, weiße Kaninchen an Stelle von Hermelin oder
Chinchilla, gefärbte Ziegenfelle an Stelle von Bärenfellen usf. Auf einem anderen
Gebiete, in der Seifenfabrikation, besteht eine Kontrolle zum Teil schon, indem
z. B. die Seifenfabrikanten des Bundesstaates Sachsen die Deklarationspflicht
für gefüllte oder Verschnittseife eingeführt haben, ähnlich wie der Kognakparagraph
des neuen Weingesetzes bestimmt, daß Trinkbranntwein, der neben Kognak
Alkohol anderer Art enthält, als Kognakverschnitt bezeichnet werden muß, aber
nur dann so bezeichnet werden darf, wenn mindestens ein Zehntel des Alkohols
aus Wein gewonnen ist.
Das neue Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb ist hauptsächlich gegen
den Ausverkaufsschwindel gerichtet. Was nützt es aber, wenn wir uns gegen
diesen wenden und ihn einschränken, wenn dabei die Waren, die nicht
in Ausverkäufen, sondern in regelrechtem Ladenverkauf ausgeboten werden,
gefälscht oder verfälscht sind? Hier sehen wir, daß die Materialgediegenheit die
Grundlage bildet, auf welcher allein ein solider Handel sich aufbauen kann.
Das Moment der Echtheit folgt aus der Ehrlichkeit. Es ist unehrlich, ein
Material durch ein minder wertvolles arglistig zu ersetzen und den Käufer zu
täuschen.
Infolgedessen hat auch die Rechtsschutz- und Zollkommission des Deutsch¬
französischen Wirtschaftsvereins und des Comite Commercial Francs-Allemant
am 21. Oktober 1909 in gemeinsamer Sitzung folgenden Beschluß gefaßt: „Die
Versammlung tritt ein für Abschluß einer deutsch-französischen Konvention behufs
besseren Schutzes der Herkunftsbezeichnungen und Unterdrückung der Verfälschung
von Nahrungsmitteln und sonstigen Artikeln, deren charakteristische Eigenschaften
auf den Eigentümlichkeiten des Bodens, des Klimas oder besonderer Art der
Fabrikation beruhen. Es soll in beiden Ländern eine Umfrage veranstaltet
werden, um alle diejenigen Artikel festzustellen, deren Bezeichnungen nicht als
Gattungsnamen zu betrachten sind und demgemäß im deutsch-französischen
Verkehr eines derartigen Namensschutzes bedürfen; und diese Liste soll dem Text der
abzuschließenden deutsch-französischen Konvention als Anhang zugefügt werden")."
Je weiter die sogenannte moderne Kunstbewegung vorwärts schreitet, desto
mehr scheinen die Zeiten der Raritäten- und Glasschrank- und Museumskunst
vorüber und wir selbst schon mitten drin zu sein in der Gegenwarts- und
Gewerbekunst oder besser Gebrauchskunst. Schon das Wort Kunstgewerbe muß
heute besser vermieden werden. Das bessere Wort dafür ist Kunsthandwerk,
das weitere Jndustriekunst. Was ist denn aber nun das Kunsthandwerk anderes
als Handwerk, als das künstlerische Ziel verfolgende Handwerk, was ist Jndustrie¬
kunst anderes als Industrie, ästhetische und künstlerische Ziele verfolgend? Wir
werden also auch industrielle Gruppen weiter in unseren Kreis ziehen müssen.
Das Handwerk aber bildet, wie ersichtlich ist, die Kerntruppe des Kunstgewerbes.
Nicht alle Gruppen des Handwerks zwar fallen in diesen Bereich, aber weitaus
die meisten. Eine Gesundung, eine Stärkung, ja geradezu eine Neugeburt, vielleicht
die neue Renaissance des Kunstgewerbes wird kommen, wenn dieses sich wieder
seiner handwerklichen Existenz bewußt wird und im Schoße der Innungen sein
Heim findet.
Damit wird aber auch dem Handwerk selbst geholfen werden. Dem Hand¬
werk ist es so schlecht gegangen, weil es sich hat in die Ecke drängen lassen,
weil es kaum einen Schmerzenslaut von sich gegeben hat, als man es zerdrückt,
zertreten und zerrieben hat und als man hundertmal das Wort wiederholte,
die Zeit des Handwerks ist ein sür allemal vorüber, weil es nicht einmal sich
verteidigt, geschweige die Offensive ergriffen hat. Was der Hansabund heute
tat, das hätte vom Handwerk ausgehen müssen. Heute ist das Handwerk stolz,
daß der Hansabuud die Gnade gehabt hat, das Handwerk selbst im Vorstande
seiner kolossalen Gemeinschaft zu vertreten. Vielleicht war es auch ein Fortschritt,
aber das Handwerk als große Produktionsgruppe hätte allerhöchst den Handel
ins Schlepptau nehmen dürfen, nicht umgekehrt.
Also das Handwerk muß selbstbewußt werden, es muß mehr Stolz haben,
es muß sich als Kraft- und Kerntruppe der Bevölkerung, als Herz und Mittel-
stand fühlen, zugleich als der Stand, dem die Interessen der Kunst, der
Gewerbeknnst, anheimgegeben sind, der den Thron des Kaisers zimmert und
vergoldet, der den Altar des Vaterlandes baut und die Waffen gegen die
Feinde des Vaterlandes schmiedet. Welcher andere Stand kann es mit solchem
aufnehmen?
Und man muß das Handwerk nicht zu eng fassen. Nach unten ergänzt
es sich fortwährend aus dem Arbeiterstand. Der Arbeiter ist selbst eigentlich
zum größten Teil Handwerker, unselbständiger Handwerker oder Geselle, z. B.
der Zimmermann, Gärtner, Maurer, das gilt selbst vom Fabrikarbeiter. Vielleicht
läßt sich später einmal etwas tun, wie man diese Arbeiter den Hcmdwerker-
orgauisationen in irgendeiner Form dienstbar machen kann.
Nach oben verbreitert sich das Handwerk zur Industrie im engeren Sinne.
Eure Fabrik ist ein Handwerksgroßbetrieb. Daß in der Fabrik mehr mit
Maschinen gearbeitet wird als im eigentlichen Handwerk, spielt gar keineRolle. Denn
die Maschine selbst muß doch wieder von der Hand und vom Handwerker bedient
werden. Im Gegenteil, ich bin der Meinung, die Maschine ist der Entwicklung
des reinen Arbeiterstandes zum Handwerkerstande günstig, denn sie nimmt die
eigentliche Fabriksarbeit, die mechanische Arbeitersronarbeit auf sich und schafft
Platz für geistige, handwerkliche und künstlerische Arbeit. In der Kindheitszeit
der Maschine glaubten wir wohl an das Ammenmärchen, daß die Maschine den
Handwerker tot und überflüssig mache. Heute wollen wir vielmehr einsehen,
daß gerade die Maschine den Handwerker frei macht.
In der ausgezeichneten Denkschrift der sächsischen Mittelstandsvereinigung
ist der Kampf gegen die Materialqualitätsverschleierung ausdrücklich vorgesehen.
S. 28 ist von der trügerischen Manipulation des Verkaufs der Bera-Diamanten
die Rede. Auf der folgenden Seite heißt es: „Ferner wäre zu erwägen,
ob nicht durch Einrichtungen öffentlicher kostenfreier Prnfungsämter die Über¬
wachung des trügerischen Warenhandels angebahnt und den Fälschungen und
Täuschungen ein Riegel vorgeschoben werden könnte. Durch die Aufbietung von
Schundwaren zu Schleuderpreisen wird der solide Kaufmann und Handwerker
schwer geschädigt und gleichzeitig das Publikum um sein gutes Geld betrogen.
Die öffentliche Brandmarkung des unsolider Warenhandels durch die behördlichen
Ämter könnte hier viele Mißstände beseitigen."
In der Tat ist diese Materiälkontrollangelegenheit eine Sache des Hand¬
werkes und Mittelstandes. Denn des unlauteren Wettbewerbes der Material¬
verfälschung bedienen sich nicht die Handwerker der einzelnen Branchen, zum
mindesten nicht zugunsten ihrer eigenen Taschen, sondern zugunsten der Taschen
der Warenhäuser und Großkaufhäuser und Basare. Diese sind es, welche Waren
aller Art scheinbar spottbillig, im Grunde horrend teuer, nämlich mit Qualitäts¬
verschleierung unter Materialersatz, Materialfälschung und Verfälschung verkaufen,
das Publikum düpieren, die Konkurrenzproduktion schädigen und die Konkurrenz¬
geschäfte unmöglich machen. Wie viele zehntausend Handwerkerexistenzen richtet
nicht ein solches Warenhaus zugrunde. Es ist wahr, es verkauft auch teure
echte Ware. Aber sein Geschäft macht es mit der Ramschware, darüber soll
man sich keinen Täuschungen hingeben. Gerade durch die brutalen Ramsch¬
manöver der Qualitätsverschleierung wird der solide Handel geschädigt, das
ehrliche Handwerk zugrunde gerichtet, wirtschaftlich und, was vielleicht noch
schlimmer ist, moralisch irre geführt und irre geleitet, und selbst irre in den
eigenen Geschäftsgrundsätzen. Also unsere Sache des Materialschutzes ist durchaus
eine Angelegenheit des Handwerkes, eine Lebensfrage des Handwerkes. Das
ungemein instruktive Buch „Die Imitationen" bildet gewissermaßen einen Leit¬
faden zu der Kunst, das ehrliche Handwerk auf allen Gebieten zugrunde zu
richten. Man höre, wie der Verfasser den Begriff der Imitationen erklärt:
„Um in bezug auf die edelsten Stoffe wenigstens den Schein hervorzurufen" —
man beachte diese Worte: wenigstens den Schein — „hat man versucht, gewisse
Eigenschaften der kostbaren Stoffe" — natürlich wieder den Schein anlangend —
„so nachzuahmen, daß der Gegenstand dem Aussehen nach" — also jetzt kommt
es: dem Aussehen nach — „aus diese» Stoffen besteht, und hieraus hat sich ein
eigener Zweig der gewerblichen Tätigkeit entwickelt, welchen man als „Nach¬
ahmung" oder „Imitation" bezeichnet." Wenn kürzlich jemand die Materiale,
soweit Metall in Betracht kommt, in edle und unedle teilen will, so müssen wir
auch hiergegen protestieren. Bom Standpunkt der Materialkunde gibt es keine
unedlen Metalle, höchstens eine unedle Bearbeitung eines Metalles. Man spricht
wohl von Edelmetallen und Edelmetallindustrie, aber es geht nicht an, nun
die Metalle in edle und unedle zu sondern.
Wir wollen jedes von der Natur uns gegebene Metall als edel empfinden
lernen, ob es nun Eisen oder Zinn oder Holz ist, weil wir nämlich jedes Material
als belebt und als beseelt empfinden sollen. Das Material einer Holzschnitzerei
oder einer Schmiedearbeit im Gegensatz zu einer silbernen Jardiniere als unedel
zu bezeichnen, ist Dilettantismus und Nückwärtserei. Dem künstlerischen Stand¬
punkt nach kann vielmehr eine solche unedle Materialarbeit weit wertvoller als
eine „edle" sein. Diese Gegenüberstellung „unedle und edle Metalle" verschiebt
also die Sachlage und ist schief.
Von gegnerischer Seite, d. h. also von der Seite, welche der Material-
schönung front, ist gesagt worden, die Sache der Materialkontrolle sei nichts
Neues. Es ist wahr, schon Semper hat viel von Materialechtheit gesprochen,
schon Semper hat gefordert „keine Surrogate mehr", schon Semper hat gesagt:
„Das Material schafft den Stil". Aber zu einer Anwendung in der Praxis
ist es nicht gekommen, nicht einmal zu einer Bewegung. Es kam vielmehr zu
der unglücklichen oder zum mindesten bedeutungslosen Renaissance der siebziger
Jahre. Der neuen Kunstbewegung kann — abgesehen von Nuskin und
Morris — zum Vorwurf gemacht werden, daß sie nicht von Anfang an, statt
mit der krummen Linie zu kokettieren, die Materialqualität zur Grundlage des
kunstgewerblichen Schaffens machte. So weit sind wir also jetzt erst nach fünfzehn
Jahren kunstgewerblichen Kämpfens vom Sezessious- und Jugend- bis zum
Biedermeierstil gekommen. Den größten Fortschritt in dieser Richtung bedeutete
die Münchener Ausstellung 1908, die zum ersten Male das, was der Verfasser
den „Materialstil" nennt, zur Darstellung brachte.
Die Warenhäuser („Verband deutscher Waren- und Kaufhäuser") haben
ihrerseits erkannt, daß die Bewegung, auch in Handel und Produktion mehr
Aufrichtigkeit zur Geltung zu bringen und daß das neue Gesetz gegen den
unlauteren Wettbewerb, gerade soweit es diesem Ziele dient"), ihnen gefährlich
werden kann, und sie haben deshalb dem deutschen Handelstag gegenüber den Wunsch
geäußert, daß Erhebungen und Feststellungen in bezug auf die Zulässigkeit zweifel¬
hafter Beschaffenheits- und Herkunstsbezeichnungen angestellt werden möchten"").
Der Vorstand des Deutschen Handelstages entschied sich dafür, diesem Wunsch
zu entsprechen und richtete an die Mitglieder des Teutschen Handelstages das
Ersuchen, das ihnen von jenem Verband vorgelegte Verzeichnis solcher zweifelhaften
Bezeichnungen durchzusehen und Ergänzungen dazu dem Deutschen Handelstag
zukommen zu lassen. Es besteht die Absicht, die Bezeichnungen in Berlin von
Kommissionen Sachverständiger prüfen zu lassen, das Ergebnis der Prüfung den
Mitgliedern des Deutschen Handelstages zur Nachprüfung zu unterbreiten und auf
Grund der daraufhin eingehenden Äußerungen die Arbeit zumAbschluß zu bringen.
Derselbe Verband deutscher Waren- und Kaufhäuser hat sich an die Handels¬
kammer Magdeburg, als die geschäftsführende Stelle des Verbandes mitteldeutscher
Handelskammern, gewandt mit dem Ersuchen, innerhalb dieses Verbandes zu
prüfen, inwieweit im Hinblick auf das neue Wettbewerbsgesetz künftig Waren
mit einer handelsüblichen, aber ihrer Qualität (oder Herkunft) nicht völlig ent¬
sprechenden Benennung bezeichnet werden dürfen. Die Handelskammer Magdeburg
stellte daraufhin anheim, zu prüfen, ob es sich empfiehlt, daß der Deutsche
Hcmdelstag die Lösung der Aufgabe versucht, oder ob es richtiger ist, daß die
Klärung der Angelegenheit der Rechtsprechung überlassen bleibt""").
In der Tat dürfte der letztere Weg, der der Rechtsprechung, der geeignete
sein. Sowohl gegenüber der Unsicherheit als gegenüber der begreiflichen mersch-
lichen Schwäche, die sich in diesem Falle aufs neue in egoistischen Sinne statt
in altruistischen äußern würde*). Denn die Tradition, das Herkommen, der
Brauch und das System, nicht diese oder jene Person ist es, auf die im Grunde
genommen die Schuld fällt. Eine der dringendsten Aufgaben der deutschen
Rechtsprechung zum Nutzen des deutschen Wirtschaftslebens und der Gesundung
des Volkslebens ist daher die Schaffung eines Materialschutzgesetzes, das die
Qualität garantiert und schützt, die Qualitätsbezeichnung normiert und reguliert,
die Qualitätsverschleierung verhindert und die Qualitätstäuschung bestraft. Die
geeignete Grundlage zu diesem Gesetz wird das deutsche Materialbuch bilden,
welches für die deutsche Industrie etwas ähnliches bilden wird wie das deutsche
Nahrungsmittelbuch sür die Nahrungsmittel-Industrie, und das der Verfasser
in Verbindung mit den geeigneten Fachleuten aller in Betracht kommenden Gebiete
und in Fühlung mit dem Deutschen Werkbund zu bearbeiten im Begriff ist.
Der erste Anfang eines Materialschutzgesetzes auf einem Teilgebiete der
Industrie war in dem Feingehaltsgesetz des Jahres 1844 gegeben, das
allerdings mehr eine Entfesselung als eine Regelung der betreffenden Produktion
zur Folge hatte.
Daß übrigens ein reelles Geschäft in der Lage ist, einstweilen, auch ohne
daß ein gesetzlicher Zwang vorliegt, von sich aus die neuen berechtigten For¬
derungen einer klaren, unzweideutigen Oualitäts- und Materialbezeichnung zu
erfüllen, zeigt die neue Einrichtung, die das bekannte Leinenhaus Heinrich
Grünfcld in der Leipziger Straße in Berlin getroffen hat, welche in der
Verfügung des Chefs folgendermaßen lautet: Auf den für mich bestimmten
Rechnungen und Lieferscheinen über bestellte Waren aller Art, sowie auf Auftrags¬
bestätigungen und Gegenmusterbogen bitte ich für die Folge das Material jedes
einzelnen Artikels genau anzugeben, und zwar ist Baumwolle mit (IZ), Rein¬
leinen mit (1^), reine Wolle mit (XV), reine Seide mit (3), Halbleinen mit (1^)
— teilweise Leinen —, Halbwolle mit (l'V/), Halbseide mit C73) zu bezeichnen.
Bei gestickten Arbeiten ist neben der Bezeichnung des Grundstoffes noch der
Vermerk, ob Handarbeit (et) oder Maschinenarbeit «M) hinzuzufügen, so daß
z. B. Reinleinen mit Handarbeit mit lM), Halbleinen mit Maschinenarbeit
mit zu bezeichnen ist.
Natürlich gelten diese Forderungen unzweideutiger Qualitätsbezeichnung für
alle Industrien ausnahmslos, auch deshalb, weil sich gerade in letzter Zeit die
Bedeutung der Material-Qualitätssteigerung in allen Industrien gezeigt hat, ob
es sich nun um Stahl, Stein, Kohle, Holz, Papier, Porzellan oder Emailarbeit
handelt. Am eklatantesten und folgenschwersten ist dies vielleicht beim Stahl.
„Wenn mau die Kontrolle der gesamten Stahllieferungen in der beschriebenen
Weise streng durchführt, so wird man sehr bald die Segnungen spüren, die der
Bezug eines stets gleich guten Rohmaterials für die Fabrikation mit sich bringen
muß, und man wird schnell einsehen, daß die Kosten der Untersuchungen sich
hundertfältig bezahlt machen." So sagt Bertold Milan in seinem Artikel
„Das Materialprüfungswesen in einer modernen Maschinenfabrik" in der Zeit¬
schrift „Werkstattstechnik" Ur. 9, 1909. Verlag Julius Springer.
In der Tat sollten die Versuche, die Härte des Stahles zu erhöhen und
zugleich das Gewicht zu vermindern, mit Unterstützung aller wissenschaftlichen
Mittel so rege als möglich betrieben werden^).
^!an sah es schon seit dem Frühling kommen. Die Wintersaaten
erwiesen sich als verdorben. Ganze große Flecken gingen nicht auf.
Die Mäuse waren eingefallen und hatten den Grund mit ihren
> Gängen durchzogen und die Wurzeln abgefressen. Man ankerte die
^Felder um, zerpflügte dabei die Schädlinge und trieb andere aus
dem Verstecke, die dann mit Stöcken erschlagen oder von den Hunden gejagt
wurden; denn man pflegte die Hunde mitzunehmen und auf die Mäuse zu Hetzen.
Dann wurde Sommersaat gesät. Man hatte nicht eben viel Zuversicht, aber sah
es bald, daß gar nichts zu hoffen war. Mittlerweile vernichtete ein später Frost
die ganze Baumblüte und zum Überfluß kamen noch die Raupen und fraßen auch
die Blätter, so daß die Bäume so kahl standen wie im Mittwinter. Es war traurig
anzusehen. So setzte man die letzte Hoffnung auf die Kartoffeln, das Brot der
Armen. Das Kraut stand zu Anfang nicht schlecht und man glaubte eine gute
Ernte erwarten zu dürfen, bald aber bekam es gelbe und schwarze Zeichen, und
als man die Kartoffeln herausnahm, hatten sie die Faule, und die wenigen, die
von ihr nicht angegriffen waren, schmeckten felsig, kaum zu genießen.
Da blieb sehr vielen Kleinbauern nichts anderes übrig, als ihren Hof zu
verlassen und sich im Nachbarlande Arbeit und Verdienst zu suchen. Die meisten
taten es in stummer Ergebenheit, aber einige von ihnen machten sich doch ihre
Gedanken und gingen nur mit schweren: Herzen, der eine und andere tat auch
wohl ein Gelübde, wenn bei der Heimkehr alles gut stünde, eine Messe lesen
zu lassen.
Einer der Kleinbauern, ein Mann in den mittleren Jahren, der mit am
härtesten betroffen war, hatte nun ein junges, schönes Weib, das er heißen Blutes
wußte und nur mit Bangen allein zurückließ. Mehrere Tage hielt er mit sich
Rat, was er tun solle, um sich ihrer Treue zu versichern. Manchmal meinte er
zwar, das kleine Kind, das sie kaum erst abgespannt hatte, würde sie immer an
ihre Pflicht erinnern und alle Sorge sei darum unnütz, dann jedoch schien ihm
diese Bürgschaft viel zu gering. Endlich beschloß er, der schwarzen Mutter Gottes
in dem nahen Wallfahrtsorte zwei Wachskerzen zu opfern, sie zu bitten, Hüterin
seiner Frau zu sein, und ihr für diesen Dienst ein prächtiges weißes gesticktes
Gewand für sie und das kleine schwarze Jesuskindlein auf ihrem Arm zu geloben.
So tat er und ließ obendrein noch in der Wallfahrtskirche eine Messe lesen, was
ihm einen nicht geringen Teil seines Reisepfennigs kostete; aber gern wollte er
dafür auf seinem Wege darben, wenn nur die Mutter Gottes auf sein Weib recht
achtgab. Daß sie es tun würde, diese Gewißheit kam ihn:, während er vor seinen
brennenden Kerzen auf den Knieen lag und das Bild auf sich herabblicken sah, ohne
allen Zweifel, und ganz getröstet und sicher ging er wieder heim, und in der
gleichen Stimmung ließ er seine Frau mit dem Knechtl, einem sechzehnjähriger
Burschen, der allen Dienst zu verrichten hatte, und ihrem kleinen Kinde zurück.
Er versprach, ihr schreiben zu lassen und empfing von ihr die Zusage, daß auch
sie durch den Schullehrer Nachricht von sich und dem Zustande seiner Wirtschaft
geben wolle.
Während andere Bauern auf dem Wege in Klagen ausbrachen, etliche auch
unfromme Reden führten, ging er mit seinen Arbeitsgeräten auf der Schulter und
dem Bündel auf dem Rücken ruhig und fast heiter. An ihrem Bestimmungsorte
zerstreuten sie sich dann in kleinere Trupps und arbeiteten, was es eben gab.
Über den Winter kehrten mehrere mit dem bisherigen, freilich nur geringen
Erlös zurück. Es waren jene, die bestimmt hofften, die Mäuse würden indessen
weiterwandern, so daß man wieder anbauen konnte. Sie erkannten bald, daß
sie sich betrogen hatten und mußten im Frühjahr den weiten Weg in die Fremde
noch einmal machen.
Der erwähnte Bauer war nicht darunter gewesen. Er glaubte der Nachricht,
die einer von ihnen aus dem Dorfe erhalten hatte, daß nämlich im nächsten
Frühjahr alle Arbeit vergeblich sei, und blieb also. Er hatte als Knecht einen
guten Dienst auch über den Winter gefunden und sparte sich eine hübsche Summe
zusammen. Gegen Weihnachten ließ er an seine Frau einen Brief schreiben, der
ihr seine Verhältnisse schilderte, sie um die Vorgänge auf dem Hofe fragte und
mit dem Satze schloß, sie möge nur sein treues Weib bleiben. Er hatte ihr erst
schreiben lassen wollen, daß er sie dem Schutze der heiligen Jungfrau anvertraut
habe, dann aber dachte er, es sei besser, wenn sie nicht wüßte, in wessen Hut sie
stand, und meinte auch, das Mißtrauen könne sie kränken. Als er den Brief
vorgelesen bekam, merkte er, daß er gar nicht nach seinem kleinen Buben gefragt
hatte. Das mußte noch unter den Schluß gesetzt werden. Er war mit dem Schreiben
sehr zufrieden und entlohnte es höher, als ausgemacht war. Es war ihm ganz
so gewesen, als habe er jetzt mit seiner Frau von Mund zu Mund gesprochen.
Die Antwort, die nach einiger Zeit eintraf, sagte ihm, daß daheim getan
wurde, was unter so traurigen Umständen eben zu tun möglich war, und daß sein
Kind gedeihe.
Dann begannen alsbald die neuen Feldarbeiten und es kam zu keinem
weiteren Briefwechsel.
Im Herbst entstand die Frage, ob es nun geraten war, in die Heimat Zurück¬
zukehren, oder ob man lieber noch ein Jahr in der Fremde arbeiten sollte. Zwei
Briefe waren aus dem Dorfe eingetroffen; der eine besagte, daß alles noch ebenso
schlimm stehe wie im vorigen Herbst, der andere, daß die Mäuse- und Raupen¬
plage nachgelassen habe und auch die Kartoffeln besser seien.
Diesmal gehörte er zu den Zuversichtlichen und kehrte mit heim. Er war
an vierzehn Monate fortgewesen und hatte in dieser Zeit mehr gespart als irgendein
anderer. Denn er hatte nicht einen Groschen für Wein oder Dirnengeschenke aus¬
gegeben und sich immer nur mit dem Notwendigsten beschicken.
Mit großer Freudigkeit trat er den Weg in die Heimat an, aber je näher
er ihr kam, um so mehr Gedanken machte er sich. War sein Weib ihm wirklich
treu geblieben? Wenn er nur darüber Sicherheit gehabt hätte! Aber hatte er
nicht die Mutter Gottes zu ihrer Hüterin bestellt? Wo gab es eine bessere Gewähr?
Gewiß, sie hatte über jeden Schritt seines Weibes gewacht. O wie dankbar wollte
er ihr nun seinl Nicht nur das weiße gestickte Gewand sollte sie bekommen —
das war viel zu wenig —, er wollte auch noch zwei, nein drei Messen lesen
lassen. Das Geld hatte er ja dazu. Aber wenn nun trotzdem? — Doch nein,
das war ja nicht möglich.
Der Vcmer fand daheim alles in Ordnung. Das Kind hatte gehen und schon
ein wenig plappern gelernt und sein Weib war gesund und freundlich. Nur ein
wenig schwarz um die Augen sah sie aus. Ja, sie hatte sich beim Kartoffelhacken
etwas verdorben; es war ein so naßkalter Nebeltag gewesen. Sie hätte sich zu
Bett legen sollen, hatte es aber nicht getan und darum steckte ihr die Krankheit
noch ein wenig in den Gliedern. Das Knechtl kam erst ganz zuletzt aus dem
Stalle hervor, hatte die Heugabel in der Hand und war von der Arbeit rot.
Gut sah er aus, der junge Bursche, wie er so vor dein Bauern stand, und
gewachsen war er um mehrere Zoll. Der Bauer ließ sich von der Bäuerin alles
zeigen und alles war, wie er es nur wünschen konnte. Er war herzlich froh.
Aber er hatte es ja gewußt, daß alles gut stehen mußte.
Dann sah er sich die Felder an und fand sie von den Mäusen schon so
ziemlich verlassen. Ein rechter Ertrag war für das nächste Jahr wohl noch nicht
zu erhoffen, aber man konnte es immerhin wagen, im Frühling wieder zu säen.
Schon an einem der nächsten Tage ging der Bauer in die Stadt und bestellte
dort bei dem Devotionalienhändler ein Gewand für die schwarze Mutter Gottes
von Reith, deren Maß man ja hatte. Er bekam versprochen, daß es ein ganz
besonders schönes Gewand werden solle, womit er bei der heiligen Jungfrau gewiß
Ehre einlegen werde. Es war freilich nur vieles teurer, als er erwartet hatte,
aber ihm war es um das Geld nicht leid. Und die drei Messen wollte er auch
noch lesen lassen, obwohl sie erst nachträglich zum Geliibde gekommen waren und
darum nicht unbedingt dazu gehörten.
Als er nach einiger Zeit seine Gewandspende dem Meßner der Wallfahrts¬
kirche übergab, erfuhr er, daß die schwarze Mutter Gottes sechshundertsiebenundneunzig
Kleider hatte, darunter solche ganz aus Goldbrokat und mit echten Edelsteinen
besetzt, und sie wurden ihm auch gezeigt: in Kasten mit vielen flachen Laden, die
sorglich versperrt waren, lagen sie und die kostbarsten hingen an der Wand unter
Glas. Dagegen war nun sein gesticktes weißes Gewand recht armselig, aber er
freute sich doch, als der Meßner sagte, auch sein .Kleid werde darankommen,
wenn die Reihe an ihm sei, und er meinte, er werde das an dem betreffenden
Tage spüren müssen wie einen besonderen Segen. Dann zahlte er auch noch
seine drei Messen, sagte der Mutter Gottes Dank im Gebet und ging heim in
froher Erleichterung.
Nun kam zunächst die müßige Winterzeit. Man schlief lange und saß den
Tag über zumeist hinterm Ofen. Wo kein Korn eingebracht worden war, gab es
so gut wie gar nichts zu tun. Dann und wann erhielt man Besuch. Gewöhnlich
war es eine Gevatterin aus der Nachbarschaft, ein älteres Weib, das den Frauen
in Kindesnöten beistand und auch seiner Frau diesen Dienst getan hatte. Der
Besuch war ihm nicht sonderlich angenehm, denn die Alte wußte von nichts als
Entbindungen zu erzählen und tat dies mit einer Ausführlichkeit, die ihm übel
machte. Aber seine Frau konnte sie vielleicht wieder brauchen, und da mußte
man Freundschaft mit ihr halten. Als ihn darum eines Tages seine Frau fragte,
ob sie der Gevatterin nicht von ihren Kartoffeln welche mitgeben dürfe, willigte
er ohne weiteres ein. Durchs Fenster sah er dann das Weib mit einem ziemlich
großen Sacke auf dem Rücken fortgehn.
„Du hättest ihr nicht so viel zu geben brauchen," sagte er zu seiner Frau,
als sie wieder in die Stube trat.
Sie meinte, die Gevatterin habe es sehr karg und werde nicht so bald
wiederkommen.
Er ließ es gut sein.
Aber schon nach kurzer Zeit fragte ihn seine Frau, ob sie der Gevatterin
von dem Mehl, das er von seinen Ersparnissen eingeschafft hatte, ablassen dürfe.
Er wollte es weigern, gab es aber doch zu. Er war freundlich gestimmt. Es
mochte eine Art Nachtrag zu den Messen sein. Die heilige Jungfrau würde die
Guttat sehen und sich über sie freuen.
Ein nächstes Mal merkte er, daß die Gevatterin mit einem Packe fortging,
ohne daß seine Frau erst gefragt hatte. Er begehrte von ihr Aufschluß darüber.
Sie wurde etwas verlegen, machte erst die Ausflucht, die Alte habe den Packen
schon beim Kommen mitgehabt, und entschuldigte dann ihre Eigenmächtigkeit, weil
jene „gar so ein armes Weib sei".
Der Bauer sah eine solche Heimlichkeit nicht gern, verbot der Frau, ihre
Waren zu verschenken und beschloß, darüber zu wachen, daß es nicht wieder
geschah.
Eine Zeitlang kam die Gevatterin umsonst. Die Bäuerin empfing sie ver¬
legen. Darauf erschien sie eines Tages mit einem kleinen Kinde auf dem Hof.
Die Bäuerin ging ihr entgegen und fragte sie, was sie mit dem Kinde wolle.
„Ich will's dem Bauern zeigen," sagte die Alte und lächelte mit ihrem
zahnlückigen Munde. „Der Bauer hat ja die Kinder gern, es wird ihm gefallen."
„Um Gottes willen," schrie die Bäuerin leise, „er darf es nicht wissen, und
Ihr habt es mir ja zugeschworen."
Die Gevatterin meinte, ob sie ihren Schwur halten werde oder nicht, das
liege nur an ihr. der Bäuerin, und ob sie ihr jetzt noch ein paar Pfund Mehl
und eiuen Topf Schmalz mitgeben wolle.
Ja, sie sollte es erhalten.
Bald darauf verlangte sie Geld. Die Bäuerin hatte keines. Dann möge
sie es doch vom Bauern nehmen, der hatte doch „draußen" so viel verdient, daß
er der schwarzen Mutter Gottes von Reith ein weißes gesticktes Gewand schenken
und gleich drei Messen zahlen konnte; die Gevatterin hatte es von dem Meßner
selbst erfahren. Die Bäuerin schlug es ihr ab; den Bauern bestehlen könne
sie nicht.
Am nächsten Tag brachte die Alte das Kind wieder mit. Der Bauer ging
eben vom Stall auf das Haus zu und das Knecht! hatte an der Stalltür gestanden
und ihm müßig nachgeblickt. Nun verschwand der junge Bursch sogleich, der
Bauer aber fragte die Gevatterin, was für ein Kind das sei, das sie da bringe.
Die Alte lächelte und suchte ein verlegenes Gesicht zu machen: „Es ist ein
Kind, das ich in die Pfleg' bekommen hab', nur ein lediges Kind, aber gelt,
Bauer, ein schönes Kind?"
Sie zeigte es ihm und der Bauer stimmte zu, ging aber dann wieder in
den Stall zurück, um nicht mit der Alten zusammen sein zu müssen.
Die Bäuerin hatte die Szene beobachtet. Gleich hinter der Tür stürzte sie
auf die Gevatterin zu und fragte sie, was der Bauer gesagt habe.
„Ah, nichts hat er gesagt, nur zum Knechtl ist er gegangen."
Der Bäuerin schoß es durch den Kopf: jetzt bringt er ihn um, dann kommt
er zurück und wird auch sie umbringen. Sie faßt sich und fragt, was sie denn
miteinander geredet hätten.
Die Alte berichtet es.
Die Bäuerin atmet auf.
„Ich bin gekommen," fährt die Gevatterin fort, „ob Ihr mir nicht doch
einen Gulden geben möchtet. Es ist, weil ich gerade ein Holz brauch'. Aber Ihr
müßt's Euch bald überlegen, weil sonst der Bauer kommt und der möcht's
vielleicht nicht leiden. . . ."
Der Bäuerin schwindelt es. Sie muß es denn Sie geht in das Zimmer,
wo das Kind gerade vor dem Kasten sitzt, in dem das Geld liegt. Es ist ihr wie
ein Zeichen, daß sie's nicht tun soll. Aber sie muß es tuu. Es ist schon nicht
anders. Sie holt den Schlüssel, schiebt das Kind weg und sperrt aus. Sie
nimmt den Gulden unter der Wäsche, wo dos Geld versteckt ist, hervor und schließt
schnell wieder den Kasten zu, legt den Schlüssel an seinen Ort und bringt das
Geldstück, das ihr wie Feuer in der Hand brennt, der Frau.
„Aber jetzt geht, Gevatterin, jetzt geht," bittet sie.
Und die Alte dankt und geht.
Der Bauer wartet, bis sie fort ist, dann kommt er ins Hans.
„Nun," fragt er die Frau, „hat sie heut nicht wieder was wollen?"
„Nein," sagt die Bäuerin und sieht von ihrer Arbeit nicht auf.
Er lacht: „Mir scheint, wollen hat sie schon was, bekommen aber hat
sie nichts."
Sie wird sich's nun merken, denkt er.
Aber es dauerte nicht lange, so kam die Gevatterin wieder. Sie wollte jetzt
immer nur Geld, jedesmal einen Gulden. Und jedesmal bekam sie ihn.
'
Der Bauer sah bald,daß seine Frau nicht mehr wie sonst war, daß sie ihm
gar nicht mehr ins Gesicht blicken wollte, daß sie geschäftig tat, auch wenn sie keine
Arbeit hatte. In der Nacht schlief sie nicht recht und hatte am Tage hohle Augen.
Erst dachte er, sie werde sich wieder Mutter fühlen. Aber als er sie geradezu
fragte, sagte sie: „Nein". Er wußte nicht, was er sonst denken sollte.
Eines Sonntags zählte er sein Geld und fand, daß viel mehr fehlte, als für
das Haus bisher verausgabt war. Er sah zu seiner Fran hinüber und sah, wie
sie die Farbe wechselte.
„Was ist's mit dem Gelde?" fragte er. „Da fehlt mir etwas."
Sie hatte sich für den Fall schon eine Ausrede zurecht gelegt. Sie habe
während seiner Abwesenheit Schulden gemacht, die sie nnn bezahlen müsse, und
habe sie ihm nicht eingestehen wollen. Er solle ihr verzeihen. Er fragte, bei
wem sie die Schulden gemacht habe. Sie zögerte. „Bei der Gevatterin," sagte
sie dann.
Er fragte weiter, ob sie noch bei ihr Schulden habe.
Sie wagte nicht zu bejahen und schüttelte nur den Kopf.
„Dann ist's gut," sagte der Bauer, sperrte das Geld wieder in den Kasten
und nahm den Schlüssel an sich. Das Weib sah es in jähem Schrecken, aber
wagte kein Wort.
Mehrmals kam jetzt die Gevatterin umsonst, sie bekam nichts als die Ver¬
tröstung auf das nächste Mal. Aber der Bauer behielt den Schlüssel. Da brachte
sie wieder das Kind mit. Es ging schon gegen das Frühjahr zu und der Bauer
richtete draußen auf dem Hofe mit dem Knechtl den Pflug und die Egge wieder
her. Sie hämmerten auf das Eisen, daß es nur so schallte. Und der Tag war
hell und lustig.
„Bäuerin," begann die Gevatterin drinnen im Haus, „heut sag' ich's ihm,
wenn Ihr mich wieder vertrösten wollt."
Die Bäuerin bat sie, nur noch einmal zu warten. Sie wollte nicht. Eine
Weile redeten sie so hin und her, dann sagte die Alte, kurz abbrechend:
„Jetzt geh' ich zu ihm."
Und sie ging wirklich hinaus und nahm ihren Weg ans den Bauern zu, der
sie bemerkt hatte und mit seiner Arbeit erwartend einhielt.
Da jedoch läuft ihr die Bäuerin voraus und wirft sich ihrem Manne an
die Brust.
„Erschlag' mich! Erschlag' mich!" schreit sie. „Es ist mein Kind, das sie da
trägt. Sie will's dir sagen, aber lieber will ich's dir selber sagen. — So, jetzt
ist's heraus. Du kannst machen, was du willst. Und der Knechtl ist's gewesen.
Aber er hat keine Schuld."
Der Bauer macht sich von ihrer Umklammerung los. Er ist so ruhig, daß
es ihm selbst sonderbar vorkommt. „Nein," wiederholt er dann, „der Knechtl hat
keine Schuld — und du auch nicht. Nein, ihr nicht. Eine ganz andere hat schuld
und ihr will ich's zeigen." Er hebt drohend die Faust.
Da meint die Gevatterin, die Drohung gelte ihr, und sie kreischt auf und
rennt davon, so schnell sie kann.
Der Bauer muß darüber lachen, ganz laut lachen. Nein, ihr gilt die Drohung
wahrlich nicht, sondern einer ganz anderen.
„Geschehn ist geschehn," sagt er darauf philosophisch, „lassen wir's sein, wie
es ist. Und nun, Knechtl, machen wir den Pflug fertig. Du wirst Heuer tüchtig
arbeiten müssen."
Während die beiden weiterlärmen, sitzt die Frau im Haus und läßt ihr Kind
nicht aus den Armen, weil sie sich fürchtet, daß der Bauer plötzlich herein gestürzt
kommt, um sie zu erschlagen. Da soll er das Kind sehen und ihr um des Kindes
willen das Leben lassen.
Aber der Bauer hat nichts solches in: Sinn. Er denkt vielmehr, wie er der
schwarzen Mutter Gottes heimzahlen kann, daß sie ihn so betrogen hat. Denn
für ihn ist es Betrug: sie hat den Lohn wohl genommen, aber geleistet hat sie
dafür nichts. Er kommt dazu, daß er ihre Kirche anzünden will, damit sie samt
ihr verbrennt. Ja, das will er tun. Und dazu macht er sich am nächsten Tag,
nach Reith auf.
Unterwegs denkt er an alles, was nun kommen wird. Man wird ihn ein-
fangen und für viele Jahre einsperren. Ganz gewiß. Und die Frau wird mit
dem Knechtl allein sein und sie werden miteinander leben wie Mann und Weib.
Der Knechtl wird ein tüchtiger Bauer werden, denn er ist ein fleißiger Bursch.
Aber so recht froh sein wird er nicht, weil ja der Bauer auf einmal zurückkommen
kann. Und dann ist seine Herrlichkeit ans und er kann seine Kinder nehmen und
vom Hof gehn wie die Dirn' vom Tanz. Nun, er braucht sich eigentlich nicht zu
fürchten. Denn der Bauer wird nicht so alt werden. Und dann, wenn die Bäuerin
den Totenschein hat, wird sie ihn heiraten. Sie werden beide noch ganz rechte
Eheleut' werden. Freilich, sein eigener Bub' wird beiseite gestoßen werden und
den Hof werden die anderen bekommen. Das folgt so aus dem Übrigen.
Darüber ist er sich ganz im klaren und doch ist er völlig ruhig. Und auch
als es Nacht geworden ist und er weiß, daß alle schlafen, und er nun an
vier, fünf Ecken das Feuer legt und acht gibt, ob es auch weiterbrcnnt, ist er
ganz ruhig. Er bleibt gleich in der Nähe, damit man ihn nicht zu suchen braucht,
wenn man ihn einfangen will. Nur darum ist er nicht geflüchtet, jetzt aber, wie
er die Flammen überall hinauflecken sieht, ist es ihm doppelt recht, daß er
geblieben ist. Denn das Feuer freut ihn. Wenn nur noch ein Wind käme! Und
richtig erhebt sich ein Wind und schürt nun den Brand, daß in wenigen Minuten
der Dachstuhl ergriffen ist und schon auch die Turmbalken brennen und davon die
Glocken zu läuten beginnen...
Auf einmal ist alles wach und läuft durcheinander und schleppt Leitern
herzu und bringt Kübel mit Wasser. Aber das nährt die Flammen nur. Es ist
alles verloren.
Da ist eS dein Bauern, der selbst bei dem vergeblichen Löschen mithilft, er
müsse jetzt und jetzt lachen, ganz wie bei der drolligen Flucht der Gevatterin mit
dem Kind, nur hundertmal lauter, lachen, daß die Mauern zusammenstürzen.. .
Aber da krachen sie schon und mit einem allgemeinen Ruf des Entsetzens
weichen die Leute weit zurück. Der Turm wird zusammenbrechen. Und nun
wartet man, wartet man, während die Glocken, deren Metall schon angefressen
ist, noch fortläuten, immer jammernder, immer dissonierender.
Der Bauer steht mitten unter den vielen, aber er allein weiß, was dieses
Jammern der Glocken bedeutet! das ist sie selbst, die da klagt, sie selbst, die ihn
betrogen hat.
Auf einmal donnert der Turm in sich zusammen. Aus den Trümmern
schießen Stichflammen auf. Niemand wagt sich in die Nähe.
Allmählich läßt das Prasseln nach und durch die glutdurchhauchte Luft senkt
es sich wie ein kühles Tuch. Es wird immer stiller. Aber noch ist alles ringsum
rot. Man ist nun an das Rauschen gewöhnt. Es ist fast wie ein Wasserfall.. . .
Da hört der Bauer in seiner Nähe ein weinerliches Geklage. Der Dechant
der verbrannten Kirche läuft zwischen den Leuten umher und kann sich nicht fassen.
Immer wieder fragt er, wer das nur getan haben könne. Daß der Brand gelegt
worden sei, darüber war man bereits einig.
Der Bauer hört sein Klagen und hat plötzlich das Gefühl, als könne er dem
alten Manne von seinem quälenden Weinen helfen, wenn er ihm Antwort gebe,
„Ich Hab's getan, Hochwürden," sagt er einfach, wiederholt das dann noch
mehrmals und läßt sich fesseln und fortführen.
Mit einem Male wird das Volk wild, beginnt zu toben und will ihn zu
Tode schlagen, aber nur einige Stöße treffen ihn', der Geistliche selbst geht zu
seinem Schutze hinter ihm. Er klagt jetzt in der Tat nicht mehr.
Damit war die Sache erledigt.
Und alles kam, wie der Bauer sich's gedacht hatte, nur eines hatte er nicht
ahnen können:
Als man zum Neuaufbau der Kirche die Trümmer fortschaffte, fand mau
unter ihnen das Bild der schwarzen Mutter Gottes völlig unversehrt; nicht einmal
ihr Kleid war verbrannt, und eben das weiße gestickte Kleid war's, das jener
Bauer ihr gespendet hatte. Und der Ruf von diesem neuen Wunder ging in das
ganze Land aus.
Gestern, am 20. August, ist der Deutsche Kaiser in die neue Burg zu Posen
eingezogen. Festliches Gepränge umgab ihn, — vor allen Dingen aber militärisches.
Die ganze Feier trug den Stempel eines Siegesfestes, bei dem der Sieger dem
Unterlegenen noch einmal seine stattliche Macht vorzuführen strebte, um dann —
ja, — warum?---um dann die Versöhnung folgen zu lassen. Dem
Sieger steht es zu, die Hand zum Frieden zu bieten und die Wege zur innern
Aussöhnung zu weisen. Nachdem also der siegreiche Herrscher in die Burg zu
Posen eingezogen ist, müssen wir logischerweise erwarten, daß die preußische
Ostmarkenpolitik in Zukunft versuchen wird, die Wunden zu schließen, die sie
angeblich den Bewohnern der Ostmark geschlagen hat. Wo zeigen sich diese
Wunden? Soweit wir im Lande Umschau halten, ist von solchen Wunden nichts
zu bemerken. Wer die Ostmark seit mehr als zwanzig Jahren kennt, hat vor
seinen Augen ans kultureller und wirtschaftlicher Versumpfung Reichtümer erstehen
sehn, wie sie vordem Posen und Westpreußen nicht gekannt haben. Der Gro߬
grundbesitz, dessen früherer Rückständigkeit wir in allererster Linie den Niedergang
des Deutschtums im Osten zu danken haben (Näheres s. „Grenzboten" von 1908,
Heft 81.33,35.37). ist wieder mächtig emporgekommen und die große Masse der
Bevölkerung, Deutsche undPolen. lebt unter so günstigenwirtschaftlichenVerhältnissen.
wie sie vor noch gar nicht langer Zeit geradezu als unmöglich galten. Mit einem
Wort, die preußische Regierung hat ein kulturelles Friedenswerk allerersten Ranges
geleistet. Ein solches Friedenswerk kann kaum die Veranlassung zu militärischen
Siegesfeiern bieten, um so weniger aber, wenn es nicht beendet ist. Das Kulturwerk
im Osten liegt erst im Fundament vor uns. Die schwerere und langwierigere
Aufgabe, auf dem wirtschaftlichen Fundamente den deutschen Kulturbau auf¬
zuführen, trotz ultramontaner, international-freisinniger und polnischer Gegenwehr,
ist noch zu leisten. Der eigentliche Kampf fängt somit erst recht an. Aus diesem
Grunde fragen wir noch einmal, wozu die Siegesfeier in Posen inszeniert wurde?
Die Burg soll ein Symbol sein dafür, daß Posen deutsch geworden ist. Bei
der Übernahme des goldenen Burgschlüssels aus der Hand des Oberbürgermeisters
von Posen Dr. Wiluf, sagte der Kaiser:
„. . . Wir freuen uns, in unserer jüngsten Residenz, zu der ich die
Stadt Posen hiermit erhebe, Aufenthalt zu nehmen, um fortan zu
ihren Bewohnern in nähere Beziehungen zu treten. Möge dre Bürger¬
schaft Posens sich beim Anblick dieser machtvollen Pfalz stets des
landesväterlichen Schutzes bewußt sein, mit dem ich und meine Nach¬
folger an der Krone jede ehrliche Arbeit und Hantierung geleiten werde.
Möge die neue Residenz mit ihren Schwestern im Lande getreu
zu Kaiser und Reich, in Liebe zu König und Vaterland allezeit fest¬
halten und sein und bleiben ein Hort und eine Pflanzstätte deutscher
Kultur und Sitte! . . ."
Ist die Stadt Posen wirklich schon deutsch geworden? Der Kaiser scheint es zu
glauben, sonst konnte er nicht von der „Bürgerschaft Posens" ohne Einschränkung
und Unterschied sprechen, sonst konnte er nicht sagen: „Möge die neue Residenz...
sein und bleiben ein Hort und eine Pflanzstätte deutscher Kultur und
Sitte!" Alle Tatsachen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Stadt
Posen, wie der meisten Städte des Ansiedlungsgebietes sprechen gegen eine solche
Auffassung. Posen darf heute noch nicht als ein Hort deutscher Kultur betrachtet
werden, und die stolze Burg hat durch ihr Entstehen mitgewirkt an der Hinaus¬
schiebung des Zeitpunktes, in dem die Stadt ein solcher Hort sein könnte. Die
Burg hat durch mehrere Jahre hindurch Tausenden von nichtdeutschen, dem
Deutschtum feindselig erzogenen Handwerkern und Arbeitern reichen Verdienst
gegeben. Sie hat der polnischen Bevölkerung nicht unter zwei Millionen Mark
eingetragen, die auf den viel gewundenen Wegen des Wirtschaftslebens schließlich
dazu dienen, die Güter deutscher Adlicher auszulaufen. Die Polen kennzeichnen
diese Tatsache durch das bei ihnen umlaufende Wort: „Wir bauen die Burg dem
künftigen König von Polen!" Somit kann auch von Siegern und Besiegten nicht
die Rede sein. Noch stehn wir mitten im Kampf und zersplittern lediglich unsere
Kräfte, wenn wir Burgen bauen und Denkmäler errichten auf einem Boden, der
uns noch immer nicht sicher ist. — Wird jemand sich finden, der den Kaiser auf
die ihn in Posen umgebenden Widersprüche aufmerksam machte? Auch das glauben
wir nicht. Der hohe Würdenträger, der es wagte, fiele in Ungnade, und mit Recht,
denn er bewiese damit, daß er sich nicht gescheut habe, die Person des Monarchen
in ein Possenspiel zu ziehen. Könnte ein maßgeblicher Beamter überhaupt unser
Argument würdigen, dann wäre die Burg wahrscheinlich noch nicht gebaut. Auch
von den Großgrundbesitzern, die sich dem Kaiser in Posen nahen dürfen, wird
niemand im obigen Sinne gesprochen haben, auch wenn er ihm zustimmt. Denn
die nationale Ziele verfolgende Ostmarkenpolitik bedroht den Großgrundbesitz in
seiner ausschließlichen Stellung. Die Ansiedluugspolitik demokratisiert die Land¬
wirtschaft, in der richtigen Erkenntnis, daß die Kraft der Nation in deren breiten
Schichten, nicht aber bei den oberen Zehntausend liegt. Treu national gesinnte
Männer haben das auch unter den Großgrundbesitzern der Ostmark erkannt, sie
tragen dafür den Ehrennamen „Hakatisten". Aber zahlreiche Großgrundbesitzer
nehmen den Standpunkt der polnischen Herren ein, und wenn sie von nationalen
Aufgaben in der Ostmark sprechen, so haben sie dabei lediglich die Regelung der
Arbeiterverhältnisse im Auge. Ob diese Arbeiter Polen oder Deutsche sind, ist ihnen im
übrigen gleichgültig. Daß aber die Auffassung dieser Kreise zur maßgeblichen
erheben wird, dafür spricht die Ernennung dreier polnischer Edelleute zu königlich-
preußischen Kammerherren.
Solche und ähnliche Erwägungen mögen die Veranlassung zu den Erörterungen
der Presse gebildet haben, die in den abgelaufenen zwei Wochen den Kaisertagen
in Posen vorausgegangen sind. Es läßt sich nicht leugnen, daß weite Kreise von
einer gewissen Unruhe ergriffen sind, wenn sie unter Berücksichtigung der sonstigen
innerpolitischen Zustände in Preußen und im Reiche an die Zukunft unserer
Grenzmarken denken.
Auch im Westen gehen Dinge vor, die sich mit einer wünschenswerten
Entwicklung schwer in Einklang bringen lassen. Aber während im Osten falsche
Rücksichtnahme auf Teile des Großgrundbesitzes die gesunde Entwicklung aufhält, ist
es im Westen die Furcht vor der Sozialdemokratie, die eine kraftvolle Negierungspolitik
verhindert. Elsaß-Lothringen soll der französischen Propaganda entfremdet werden,
die sich unter der Führung des Klerus und gelitten von den Notabeln immer
tiefer in die breiten Massen einfrißt. Die nationaldeutsche (altdeutsche) Gesellschaft
ist nun der Auffassung, daß die Propaganda nur gebrochen werden könnte mit
Hilfe der alteingesessenen elsässischen Bevölkerung; infolgedessen wird das allgemeine
Wahlrecht mit proportionaler Stimmenverteilung auf die einzelnen Parteien
gefordert. Aus einer solchen Anordnung ergäbe sich aber aller Voraussicht nach
eine starke sozialdemokratische Mehrheit in der Kammer. Wenn man die Hilfe der
Sozialdemokratie zur Förderung nationaler Ziele nicht in Anspruch nehmen wolle,
so sagt eine beträchtliche altdeutsche Minderheit in den Reichslanden, dann bliebe
kein andrer Ausweg, als die Reichslande zu preußischen Provinzen zu machen,
sofern sie deutsch bleiben sollen. Wir haben dieser Minderheit wiederholt
Gelegenheit gegeben, ihre Meinung in den Grenzboten zum Ausdruck zu bringen.
Nun'stelle man sich aber vor, daß der deutsche Reichskanzler im Reichstage für ein
Gesetz eintreten soll, das aller Wahrscheinlichkeit nach die sozialdemokratische Partei
in den Reichslanden auf eine ähnliche Stufe erheben würde, wie sie sie in
Baden einnimmt. Die heutige Mehrheit im Reichstage würde ihm den Krieg
erklären und im Lande würde er eine Verwirrung anrichten, die gar nicht aus¬
zudeuten ist. Gesetzt selbst den Fall, daß Herr von Vethmcmn Hollweg, gestützt
auf den Kaiser und nach einer Reichstagsauflösuug, imstande wäre, die Sozial-
demokraten im Reichslande zur Herrschaft zu bringen, so wäre er als Minister¬
präsident in Preußen unhaltbar, oder aber er müßte sich auch dort der Linken
anschließen, die er heute bekämpft-, eine Reihe der schwersten Konflikte wäre die
notwendige Folge des ersten Schrittes.
Eine Bismarckische Natur würde sich nun vermutlich nicht scheuen, den Weg
durch Konflikte hindurch zu nehmen, wenn sie an dessen Ende das Heil des
Vaterlandes sähe. Dazu gehört aber noch ein Drittes. Solch eine Konfliktszeit,
wie wir sie hier andeuten, läßt sich in Preußen nur dann durchholten, wenn der
Ministerpräsident bei allen seinen Schritten auf die Unterstützung des Königs
rechnen darf. Auf welcher politischen Basis das Verhältnis zwischen dem König
und seinem ersten Beamten ruht, wollen wir heute nicht untersuchen; vielleicht
geben uns bald einige Änderungen in der preußischen hohen Beamtenschaft dafür
genauere Fingerzeige. Im Reich sind die Dinge komplizierter. Neben der Unter¬
stützung durch Kaiser und Bundesrat bedarf der Kanzler einer gewissen Nachfolge
organisierter Kräfte, sofern er durch Konflikte zu dauerndem Frieden gelangen
will. Infolgedessen sind im Reich auch andere Maßstäbe zulässig als in Preußen.
Im Reich bildet den Schwerpunkt aller politischer Maßnahmen deren jeweilige
Bedeutung für die Entwicklung der Wirtschaft. Materielle Motive sind anerkannter¬
maßen in den Bordergrund gerückt, und die Art ihrer Behandlung durch die
Reichsregierung und die einzelnen Parteien ist ausschlaggebend für die Stellung
des einzelnen Bürgers zur Regierung und zu den Parteien. Mit dieser Tatsache,
in der auch die Ohnmacht der Mittelparteien begründet liegt, stehen wir am
Abschluß einer Epoche und damit an der Schwelle einer neuen, für die wir
berufen sind, die wirtschaftlichen Grundlagen zu schaffen. Die letzten vierzig Jahre
haben auf der in den siebziger Jahren geschaffenen Grundlage früher nicht geahnte
Kräfte entfesselt, die heute nicht mehr alle dein ruhigen Fortschritt nutzbar
gemacht werden. Unsere Aufgabe ist es, diese Kräfte in den Dienst der Allgemein¬
heit und des Kulturfartschritts zu spannen und damit zu verhindern, daß sie
überreifen Früchten gleich am Baume verdorren und den Baum gefährden. Wer
soll sie einspannen? Die heutigen Nutznießer der Früchte — gleichgültig welcher
Partei sie augehören — rufen: die von uns angeleitete Negierung! Die Nation
aber fühlt und denkt, daß sie selbst berufen und befähigt ist, die ihr auferlegten
Aufgaben durchzuführen, und so hat sie drei große wirtschaftliche Organisationen
hervorgebracht, aus deren gegenseitigem Kampf daS Fundament der neuen Zeit
entstehen soll: Sozialdemokratie, Bund der Landwirte und Hnnscibund.
Das Vorhandensein der drei großen Organisationen bedeutet die Mobili¬
sierung dreier großer Lager oder Stände, die, obwohl als Angehörige eines
Wirtschaftsgebiets aufeinander angewiesen, sich vorübergehend bekämpfen müssen,
weil das Festhalten an überlebten Formen einer Minderheit unter ihnen über die
Mehrheit die Herrschaft verschafft hat, zu deren und des ganzen Landes Schaden.
Die Noiweudigkcit des Kampfes aus dem angeführten Grunde schafft aber eine
Interessengemeinschaft in der Mehrheit, die sehr wohl zu einem Bündnis des
städtischen Bürgertums mit der von der Sozialdemokratie organisierten Arbeiter¬
schaft führen kann, wenn die Minderheit nicht noch rechtzeitig einlenkt. Diese
Erwägung liegt augenscheinlich den Antworten zugrunde, die der Präsident des
Hansabundes, Herr Geheimrat Professor l)r. Rießer, einen: Münchener Mitgliede
des Bundes, Freiherrn von Pechmann, auf dessen Aufforderung, die Sozialdemokratie
zu bekämpfen, gegeben hat. Herr Rießer, der geniale Sammler des gewerblichen
Bürgertums will die Frucht seiner Mühen nicht dadurch zerstören, daß er den
Hansabund vor politische Aufgaben stellt. Er will den Kampf ausschließlich auf
wirtschaftlichem Gebiet geführt wissen. Aus diesem Willen wird nun von konservativ¬
agrarischer Seite gefolgert, der Hansabund wolle die Sozialdemokratie und damit
die republikanischen Tendenzen unterstützen. Wir glauben ans Rießers Antworten
etwas anderes herauslesen zu dürfen. Rießer und Genossen sind sich sehr wohl
bewußt, daß der Kampf gegen den Bund der Landwirte nur eine Episode in der
Geschichte bleiben wird. Man weiß in unserm Handelsstande sehr Wohl, daß eine
Trennung zwischen Stadt und Land, wie sie durch die selbstsüchtige Politik der
Großagrarier leider eingetreten ist, nicht längere Zeit währen darf. Man weiß
aber auch, daß dieser gefährliche Zustand nur zu beseitigen ist durch einen mate¬
riellen Sieg über den Bund der Landwirte — wohlverstanden: nicht über die
konservative Weltanschauung. Da nun aber dieser Sieg nur mit Hilfe der Wirt¬
schaftsgesetzgebung möglich ist, so hat das nichtagrarische Bürgertum auch kein
Interesse daran, jetzt schon Organisationen zu bekämpfen, deren wirtschaftliche Ziele
eine weite Strecke hindurch parallel zu den seinen laufen. Diese Ziele sind allbekannt:
gerechtere Verteilung der Lasten, Verbilligung der Lebenshaltung. Theoretisch
wollen die agrarischen Bündler solches auch. Aber da in der Praxis gerade die
die landwirtschaftliche Produktion schützende Gesetzgebung jenen Bestrebungen im
Wege steht, so müssen die Großagrarier, rein menschlich gewürdigt, jedes Rütteln
an den bestehenden Preisverhältnissen als Feindseligkeit in der Praxis bekämpfen.
Fassen wir gegenüber den Interessen der drei einander bekämpfenden Stände das
Interesse der Gesamtheit des Volkes und des Reichs ins Auge, dann können wir
uns nicht verhehlen, daß sie gegenwärtig besser durch die Bestrebungen des Hansa¬
bundes gewahrt bleiben als durch den Bund der Landwirte. Die politischen
Forderungen der Sozialdemokratie scheinen uns in Deutschland unerfüllbar,
solange die Monarchen dynastische und völkische Interessen weise gegeneinander
ausgleichen. Daß die wirtschaftlichen Forderungen der Sozialdemokratie
radikaler sind als die des HansabundeS, ist für die politische Strategie der
Reformer kein Nachteil, für das Reich keine Gefahr. Die Wirtschaft wird
nicht von Ideologen, sondern von rechnenden Praktikern geführt, und von einer
bestimmten Stufe ab müssen Stadt und Land einander wieder die Hände zum
Bunde reichen, um den Anmaßungen des wirtschaftlichen Radikalismus wirksam
begegnen zu können.
Nur eine Winterkampagne trennt
uns noch von den Wahlen; es ist naturgemäß, daß die Parteien jetzt schon ihr
Rüstzeug prüfen und Heerschau halten. Für eine Musterung in diesem Sinne oder
für eine Art Vorpostengefecht möchte ich auch den neuerdings über unsere Schiff-
bcmindustrie hereingebrochenen Streik halten, ein Gefecht um so gefährlicher, weil
der Weizen der Sozialdemokratie dabei blüht, gleichviel ob die Arbeiter als Sieger
oder Besiegte daraus hervorgehen. Den Sieger trägt das Bewußtsein des Erfolges,
den Besiegten brennen die Wunden-, was der Kampf an rauchenden Trümmern
zurückläßt, ist den Agitatoren der Sozialdemokratie gleichgültig.
Für die Werften ist der Kampf ganz ungemein viel schwieriger. Wäre der
Schiffbau der ganzen Welt international verstaatlicht, so könnte es den Wersten
nur erwünscht sein, wenn ein Teil von ihnen einmal eine Weile feiern müßte;
wie die Dinge aber tatsächlich liegen, werden die deutschen Schiffbauer ihre Zeche
allein bezahlen müssen. Es ist bekannt, daß angesichts des großen wirtschaftlichen
Aufschwunges vor zehn und zwölf Jahren die deutschen Werften ihre Anlagen
erheblich erweiterten und daß nicht unbedeutende Unternehmungen damals über¬
haupt neu entstanden sind. Den Hauptantrieb gaben wohl die Aussichten der
Kauffahrtei, aber auch die zu erwartenden regelmäßigen Aufträge der Kriegsmarine
haben das ihrige dazu beigetragen. In gleicher Weise gingen aber auch andere
Völker, insbesondere die Engländer, mit dem Aufhalt ihrer schiffbaulichen Anlagen
vor. Das Arbeit suchende Kapital wandte sich mit Vorliebe diesen Unternehmungen
zu, lind blieb ihnen auch treu, als die Chancen abstanden und die Werften
immer neue Schiffe auch ohne Auftrag auf Stapel legten, nur um nicht feiern
und die mit so großen Kosten erbauten Hellinge leer stehen lassen zu müssen.
Näheres hierüber kann man schon seit einer Reihe von Jahren in den
Geschäftsberichten des Vereins Hamburger Reeber nachlesen. So entstand eine
Lage, daß, während beim Rückgang des Geschäfts in der letzten wirtschaftlichen
Krise die Frachten mehr und mehr eine weichende Richtung zeigten, immer neue
Schiffsräume dem Meere zuströmten und die Zahl der in den Häfen aufliegenden
Schiffe immer größer wurde.
Tritt jetzt für eine Weile ein den Werften aufgezwungener Stillstand ein, so
kann das einstweilen auch bei steigender wirtschaftlicher Tendenz nur die Folge
haben, daß jene überzähligen Schiffe Beschäftigung finden. Eine Notlage für die
Anforderungen der Handelsflotte ist noch lange nicht zu gewärtigen. Die Aufträge
der Kriegsmarine vermögen die Werften nicht voll in Anspruch zu nehmen; es ist
bekannt genug, wie gut die Marineverwaltung die Lage ausgenutzt hat, unter den
Angeboten so vieler Werften das niedrigste auszuwählen. Die Anforderungen
fremder Kriegsmarinen gingen uns leider samt und sonders verloren, weil die
Aufbietung derartiger Objekte zugleich einen politischen Faktor bildet, und
zumeist die Nation, die das Geld hergibt, auch den Bau der Schiffe für sich
beansprucht.
Schlimmer noch liegt die Sache für die Reparaturarbeiten. Bereits berichten
die Zeitungen, daß Schiffe, die in Hamburg nicht reparieren konnten, ihre Zuflucht
nach England genommen haben. Wahre die Aussperrung längere Zeit, so wird
das die Regel bilden, zumal in den meisten Fällen gar kein unmittelbarer Zwang
vorliegt, die Frachten bis in die deutschen Hasen laufen zu lassen. Wir treten
dann für eine Weile wieder in den überwundenen Standpunkt zurück, daß
England den Stapelplatz hergibt und Zwischenhändler zwischen uns und dem
Weltmarkt wird.
Eigenartig liegt die Sache auch für die Arbeiterschaft. Ganz vor kurzen:
erschien im Buchhandel eine sehr gute Studie des Schiffbauingenieurs Dr. Joseph
Neumann: „Die Schiffbauindustrie, eine Darstellung der volkswirtschaftlichen
und sozialen Bedeutung ihrer technischen Entwicklung", in der namentlich die Ver¬
hältnisse der Arbeiterschaft eine höchst interessante Beleuchtung finden. Wir lernen
hier den eigentümlichen Tatbestand kennen, daß die heutige Schiffbauindustrie eine
speziell nur für sie vorgebildete Arbeiterschaft eigentlich überhaupt nicht kennt. Ein
sehr großer Teil der Eisenarbeiter kann auch in anderen Industrien Beschäftigung
finden, deshalb lehrt die Arbeiterstatistik, daß bei Hochkonjunkturen die Schiffbau¬
industrie mit Schwierigkeiten des Arbeiterersatzes zu kämpfen hat, indem die Leute
die mühselige und nicht besonders gesunde Arbeit in den engen inneren Schiffs¬
räumen nicht suchen, und daß zu allen Zeiten ein außerordentlich starkes Fluktuieren
in dieser Arbeiterbevölkerung zu beobachten ist. In der Tat können alle diese
nieder, Schmiede und Schlosser, aber auch die Arbeiter der elektrischen Industrie,
die Tischler, die Maler und Handlanger, sowie die Leute in den Gießereien sofort
andere Arbeit finden. Es wäre interessant, festzustellen, wie viele von den nominell
Streitenden heimlich den Kampfplatz verlassen, um anderwärts den Hammer zu
schwingen. Auch eine Lohnfrage im gewöhnlichen Sinne gibt es in der Schiffbau¬
industrie nicht, weil fast alle Arbeit von Gruppen von Leuten in Akkord geleistet
wird. Allerdings zeigen die Löhne der einzelnen Branchen eine sehr ins einzelne
gehende Gliederung bei starken örtlichen Verschiedenheiten; aber um so klarer ist
es, daß ein plumper Aufschlag von zehn Prozent auf der einen Seite nicht
gewährt werden kann, während es unschwer zu ermöglichen ist, berechtigtem Geld¬
bedürfnis der Leute ohne weiteres bei der Bemessung der Akkorde Rechnung
zu tragen.
Die Werften können den mit heuchlerischer Bescheidenheit vorgetragenen
Wünschen der Arbeiter nicht nachkommen, denn sie wissen ganz genau, daß es sich
hier nur um eine Machtfrage handelt, in der die andere Partei den Frieden nicht
will. Werden diese Forderungen zugestanden, so werden neue erhoben werden', so
müssen sie den Kampf durchhalteu, und das wird schwer genug werden,
denn es ist bekannt, daß die finanzielle Fundierung bei manchen dieser Unter¬
nehmungen leider viel zu wünschen übrig läßt, und daß es in den letzten
Jahren Mühe genug gemacht hat, die notwendigen „Sanierungen" durch¬
zuführen.
Die Zeche bei diesen: leichtfertig heraufbeschworenen Kampfe bezahlt aber
die deutsche Volkswirtschaft im ganzen, und das Geschäft macht das Ausland,
vor allem England, dessen scheinbar so große Bedrängnisse doch keinesfalls auf
dem Gebiet der auswärtigen Politik, sondern auf wirtschaftlichem Boden beruhen.
Nichts kann unseren englischen Vettern lieber sein, als wenn das gewaltige Vorwärts¬
drängen des deutschen Seehandels, der ihnen immer unbequemer die eigenen Kreise
zertritt, für eine Weile wieder ins Hintertreffen kommt. Das ist um so
gefährlicher, weil im Handel und Wandel einmal zerrissene Fäden sich schwer
wieder anknüpfen und einmal verlassene Pfade nicht so leicht wieder beschütten
werden.
Für diesen Erfolg, wenn er eintritt, hat das deutsche Volk sich bei der
Sozialdemokratie zu bedanken; dein gemeinen Manne, der den ihm in die Hand
gedrückten Wahlzettel abgibt, wird die Sachlage schwerlich zum Bewußtsein kommen,
um so lauter aber sollte den bürgerlichen Parteien in die Ohren gellen das „yuouscms
k
Die Berufszählung in einem
Großstaat ist unter den heutigen Verhältnissen ein gewaltiges Werk. Auf die
eigentliche Zahlung folgt die Aufbereitungsarbeit. Diese ist bei uns grundsätzlich
Sache der Einzelstaaten, nur die letzte Zusammenfassung besorgt das Kaiserlich
Statistische Amt; doch haben bei der Berufs- und Betriebszühlung vom 12. Juni 1907
14 Kleinstaaten die ihnen zufallende Arbeit auf das Reichsamt abgewälzt. Das
preußische Statistische Landesamt hat rund 7000 Personen dazu gebraucht und
mußte zeitweilig 2000 Bureauhilfsarbeiter und Hausarbeiter annehmen. Dem¬
gemäß sind auch die Kosten bedeutend: etwa 6Vt Millionen Mark. (Die Vereinigten
Staaten haben, obwohl dort die Arbeit durch Zählmaschinen abgekürzt wird, im Jahre
1900 — die Zählung wird nur alle zehn Jahre vorgenommen — 11Vs Millionen
Dollars gebraucht.) Die wichtigsten Ergebnisse sind im „Reichsanzeiger", im
„Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich" und im „Reichsarbeitsblatte"
veröffentlicht worden. Die Veröffentlichung des gesamten Materials ist noch lange
nicht vollendet; sieben Zahlenbände sind herausgekommen, neun weitere befinden sich
teils im Druck, teils in Vorbereitung; die Textbände sind noch gar nicht in Angriff
genommen. Die Aufschließung des Riesenstoffs, d. h. die Darstellung der Tatsachen
nud Zustände, die daraus erkannt werden können, ist, wie Dr. R. van der Borght
in seiner Schrift „Beruf, gesellschaftliche Gliederung und Betrieb im Deutschen Reiche"
hervorhebt, Aufgabe der Wissenschaft. Um zu dieser Aufschließungsarbeit einen kleinen
Beitrag zu liefern, hat er in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 15. Januar 1910
einen sehr umfangreichen Vortrag gehalten, den er unter obigem Titel (mit 9 Zahlen¬
tafeln und 8 Zeichnungen) bei G. B. Teubner in Leipzig herausgibt.
Die modernen Berufsvcrhältnisse sind ungemein verwickelt, nicht allein wegen
der ungeheuren Differenzierung der Gewerbe, sondern noch aus vielen andern
Gründen. Man denke nur daran, wie schwierig es namentlich in der Landwirtschaft
ist, die in der Wirtschaft helfenden Familienglieder und die Lohnarbeiter, überall
sonst Haupt- und Nebengewerbe, Klein- und Alleinbetriebe auseinander zu halten,
die Erwerbstätigen in die drei großen sozialen Schichten richtig einzureihen, da
z. B. der „unselbständige" Betriebsdirektor einer Aktiengesellschaft der obersten
Schicht, der „selbständige" Flickschuster oder Heimarbeiter der allernntersten angehört.
Deshalb würde ein Versuch, den Hauptinhalt der Schrift auf zwei oder drei Seiten
darzustellen, mehr verwirren als' aufklären. Nur auf drei große Tatsachen soll
hingewiesen werden, die das hier verarbeitete Zahlenmaterial jedem Zweifel entrückt.
Die deutsche Landwirtschaft verliert zwar, wie längst allbekannt, an Bedeutung
für den Volkskörper (so pflegt man, meiner Ansicht nach unzutreffend, die Tatsache
auszudrücken, daß ihre Augehörigen einen immer kleineren Prozentsatz der Bevölkerung
ausmachen), aber sie ist durchaus gesund, nicht bloß in Beziehung auf ihre wahrhaft
erstaunlichen Leistungen (die nicht Gegenstand der vorliegenden Schrift sind), sondern
auch in Beziehung ans Bodenverteilung und soziale Gliederung. Von den
43,11 Millionen Hektar der landwirtschaftlichen Fläche gehören den Stellenbesitzern
2,45, den Kleinbauern 4,31, den Mittelbauern 13,77, den Großballern 12,62, den
Rittergutsbesitzern und Magnaten 9,22 Millionen Hektar. Die Hauptmasse gehört
also den Bauern, und diese sind mit verschwindenden Ausnahmen Eigentümer,
nicht Pächter ihrer Scholle. Dabei ist der bäuerliche Besitz im Wachstum, der
Großgrundbesitz im Rückgang begriffen. Von Großgrundherrschaften mit 1000 und
mehr Hektar landwirtschaftlich benutzter Fläche kommen 83 auf Posen, 68 auf
Ostpreußen, 63 auf Brandenburg, 51 auf Pommern, 32 auf Westpreußen, 27 auf
Schlesien, 21 auf die Provinz Sachsen, 17 auf Mecklenburg-Schwerin, je 5 auf
Mecklenburg-Strelitz und Anhalt, je 2 auf Schleswig-Holstein und Hannover, je
1 auf Westfalen, Königreich Sachsen und Württemberg. In allen übrigen Teilen
des Reiches fehlen solche fürstlichen Güterkomplexe. Die landwirtschaftliche Ent¬
wicklung bewegt sich also in einer Richtung, die der von den sozialdemokratischen
Theoretikern gewünschten entgegengesetzt ist. Dagegen dürfen sie allerdings aus
der gewerblichen einige Hoffnung schöpfen: die Konzentration der Betriebe, die
Zunahme der Abhängigen und die relative Abnahme der selbständigen ist hier
unzweifelhaft. Im Gewerbe allein (ohne Handel und Verkehr) hat sich die Zahl
der selbständigen gegen 1893 um 4,11 vom Hundert, gegen 1882 gar um 10,18
v. H. vermindert. In Handel und Verkehr ist zwar die Zahl der selbständigen
bedeutend gestiegen, aber weit stärker steigt die Zahl der Betriebspersonen. In
Großbetrieben des Handels waren 1907 beschäftigt 183170, in Mittelbetrieben
380519 Personen. Der Zugang zur Selbständigkeit ist den Angestellten im Gro߬
betrieb so gut wie ganz, im Mittelbetrieb beinahe verschlossen, und die Fälle, daß
Handlungsdiener einen Kleinbetrieb übernehmen oder gründen, werden seltener.
„Die kaufmännischen Arbeitskräfte, die mit einer dauernden Abhängigkeit zu rechnen
haben, empfinden natürlich manchen Mißstand schwerer als die, denen die Aussicht
auf spätere Selbständigkeit manches Unbequeme und nachteilige erträglich erscheinen
läßt. Da die Zahl jener zugenommen hat, erklärt es sich von selbst, daß das
Ringen um Verbesserung von Arbeitsbedingungen auch im Handel so lebhaft und
drängend geworden ist und in der Öffentlichkeit so große Wellen schlägt." Doch
sind wir glücklicherweise von einer Konzentration, die den Umschlag in eine (selbst¬
verständlich rasch vorübergehende) Herrschaft des Proletariats ermöglichen könnte,
noch ziemlich weit entfernt. Um uus auf das Gewerbe (ohne Handel und Verkehr)
zu beschränken, so waren nach der Zählung in den 32000 Großbetrieben 5,36, in den
270000 Mittelbetrieben 3,69, in den 3,15 Millionen Kleinbetrieben 5,38 Millionen
Personen beschäftigt.
Eine dritte Tatsache, die nicht bloß volkswirtschaftlich wichtig ist, sondern auch
für die Politik und für das gesamte Kulturleben ins Gewicht fällt, besteht in der
wachsenden Zahl der weiblichen Personen, die ums Brot arbeiten müssen. Lassen
wir die 4,60 Millionen, die an der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit teilnehmen,
aus dem Spiele (weil sie zu einem großen Teil Familienangehörige des Bauern
sind und weil die landwirtschaftliche Frauenarbeit althergebracht und in keiner
Beziehung bedenklich ist), so waren im Jahre 1907 im Gewerbe 2,10, in Handel
und Verkehr (wo die Zunahme gegen frühere Zählungen besonders stark ist) 3,48, in
häuslichen Diensten und Lohnarbeit wechselnder Art (diese Kategorie nimmt ab, waS
zu allerlei Betrachtungen anregt) 0,32, im öffentlichen Dienst und in freien Berufs-
arten 0,29 Millionen weibliche Personen tätig; außerdem wurden 1,79 Millionen
selbständige Frauen ohne Beruf gezählt. Das macht zusammen 7,98 Millionen Frauen,
die wirtschaftlich auf ihren eignen Füßen stehen. So widerwärtig diese Entwicklung
Leuten von meinem Geschmack sein mag, hemmen oder rückgängig machen läßt sie
sich nicht, und ihren politischen Konsequenzen können wir uns nicht entziehen.
Wenn alle Völker aller Zeiten die Frauen in irgendeiner Form der Mundschaft
des Mannes unterstellt haben, so ist das, bei den Germanen wenigstens, nicht aus
Despotenlaune geschehen, sondern in der Absicht, die Frauen der Notwendigkeit
eines Kampfes ums Dasein zu überheben, der ihrer Natur nicht entspricht und
ihre Würde gefährdet. Läßt sich der Zweck für einen ansehnlichen Bruchteil, der
sich der Hälfte nähert, nicht mehr erreichen, dann verliert das Mittel seine Berechtigung;
muß auch das Weib hinaus ins feindliche Leben (dessen Kämpfe sich übrigens heute
in weniger rohen, darum der weiblichen Natur weniger unangemessenen Formen
abspielen als in wilden und heroischen Zeitaltern), dann darf man diesen Frauen
auch die Waffen zum Kampfe nicht weigern, weder die intellektuellen und tech¬
nischen: den Besuch aller Arten von Lehranstalten, noch die politischen: das volle
Koalitions- und das Stimmrecht.
Es ist mit Dank zu begrüßen, wenn ein Denker den
Mut seiner Meinung hat und deren äußerste Konsequenzen zieht, denn er erleichtert
dadurch den Lesern die Entscheidung für Zustimmung oder Ablehnung. Max
Nordau predigt in seinem neuesten Buche „Der Sinn der Geschichte" den radikalen
Naturalismus. Nichts existiert außer der Körperwelt, die wir mit unsern Sinnen
wahrnehmen, und der Welt unsers Bewußtseins, die ein Produkt jener ist. Die
jenseitigen Wesen der Religion und der Metaphysik sind Illusionen, die sich der
Mensch zum Trost in seineu Nöten und aus Furcht vor dem Tode geschaffen hat-
Das Wesen des Lebens ist der Lebensdrang, und dieser ist in seinen verschiedenen
Formen die einzige Triebfeder alles menschlichen Handelns; keiner will etwas
anderes, als sich selbst erhalten, und zwar in einem von Unlust freien Zustande.
Der Mensch ist von Haus aus kein politisches Tier; der einzige soziale Naturtrieb
ist der Geschlechtstrieb-. Freundschaft beruht auf Verstandeskouvention. echter
Altruismus ist Abnormität, Philanthropie eine demi religiösen Wahnsinn verwandte
Geisteskrankheit. Nur die Not treibt und zwingt zur Stiftung sozialer Gebilde.
Während die übrigen Lebewesen ihrem Lebeusdrcmge damit genügen können, daß
sie sich bei Änderung ihres Milieus der Natur durch organische Änderungen
anpassen, ist dein Menschen diese Art der Selbsterhaltung versagt. Statt dessen
eröffnet ihm sein an verhältnismäßiger Größe das aller Tiere übertreffendes Hirn
den Weg zu einer andern, der künstlichen Anpassung, die darin besteht, daß er
nicht seinen Organismus der ihn umgebenden Natur, sondern diese seinen Bedürf-
nissen anpaßt, was er mir in Gesellschaft vermag. In der Gesellschaft nun finden
sehr bald die Stärkeren, daß für sie die bequemste Art der Bedürfnisbefriedigung
im Parasitismus besteht, und sie organisieren die Ausbeutung der Schwächeren
im Staate; die ganze politische Geschichte ist weiter nichts als „das Melodrama
des Parasitismus". Die ganze sogenannte Geschichtsschreibung ist wertlos. Denn
alles Wesentliche ereignet sich teils in der Natur (Veränderungen des Klimas und
sonstige Katastrophen.' alltägliches biologisches Geschehen), teils in dem der Beob¬
achtung unzugänglichen Innern, so daß erstens der wirkliche Kausalzusammenhang
teils außerhalb der sogenannten Geschichte liegt, teils nicht zu ermitteln ist. zweitens
aber die vermeintlich großen geschichtlichen Ereignisse samt ihren Helden gleich,
gültig, weil sie ohne wesentlichen Einfluß auf den Gang der menschlichen Entwicklung
sind. Alle „Geschichtsphilosophie" wird nicht aus den Begebenheiten heraus-,
sondern in sie hineingclesen; Herders „Ideen" z. B. sind „eine spiegelnde Wort¬
sülze ohne festen Bcgriffskern". Sind historische Werke gut geschrieben, so gehören
sie in die Unterhaltungsliteratur-, zur Kenntnis der wirklichen Geschichte des
Menschengeschlechts tragen sie nichts bei. Diese Geschichte ist bisher in der Weise
verlaufen, daß der Menschengeist aus den Phantasien und Illusionen heraus und
allmählich in die Bahn wissenschaftlicher Naturerforschung und Erkenntnis hinein¬
gefunden hat. daß die ausbeutenden Machthaber die Genies in ihren Dienst
nahmen und dadurch die Erkenntnis und die Technik förderten. Eben damit aber
haben sie ihre Herrschaft zwar vorübergehend gestützt, für die Zukunft aber unter¬
graben. Die wissenschaftliche Erkenntnis hat die Illusionen und Symbole, wie
Gott, Vaterland, Nation, die zur Beherrschung der Massen verwandt wurden,
zerstört und einen gesellschaftlichen Zusammenhang gestiftet, der die Masse der
Schwächeren widerstandsfähig und die Ausbeutung immer schwieriger macht. Der
weitere zukünftige Gang der Entwicklung läßt sich zwar nicht voraussehen, aber
die Vermutung hat die Wahrscheinlichkeit für sich, daß die künstliche Anpassung
vollendet werden wird. Der Mensch wird die Natur in dem Grade beherrschen,
daß keiner mehr der Hilfe des Nächsten bedarf und alle zusammen den Staat
nicht mehr brauchen. Die Menschen werden dann lange jung bleiben, in guter
Gesundheit sehr alt werden und, einander sehr ähnlich, in Frieden behaglich leben.
Das wird nach heutigen Begriffen sehr unromantisch, einförmig und langweilig
sein, aber der Geschmack wird sich ändern, und wer kann wissen, ob nicht durch
Umstände, die sich nicht voraussehen lassen, für neue Abwechslung gesorgt werden
wird? Zuletzt fällt Nordau aus seiner Rolle, indem er eins von den alten
Idealen, das er schon als eine Psychose ausrangiert hatte, inkonsequenterweise
wieder in Kurs setzt: „Welches von allen Idealen .. . besteht vor der nüchternen
Erkenntnis? Eigentlich nur eines: das Ideal der Güte und selbstlosen Liebe."
Seiner Weisheit Schluß lautet: „Hinter allem Schein und allen Täuschungen
finden wir als wirklichen Sinn der Geschichte: die Betätigung des Lebensdranges
der Menschheit durch Parasitismus, Illusion und Erkenntnis, die, in aufsteigender
Reihe, die menschliche Form der Anpassung an die Natur sind."
Weltanschauungen sind Produkte einer besonderen Gemütsverfassung, Sache
des Geschmacks; man kann sie weder beweisen noch widerlegen, sondern nur
annehmen oder ablehnen. Nordau wird sich mit der Darstellung der seinen bei
den Führern der Sozialdemokratie Dank verdient haben, die feineren und edleren
Seelen werden sich in ihrem Idealismus bestärkt fühlen vor diesem Bilde einer
entgötterten und entgeistigten Welt. Also um seine Grundansicht mit ihm streiten
wäre zwecklos. Die einzelnen Behauptungen dagegen, mit denen er seine Ansicht
zu begründen sucht, unterliegen natürlich der wissenschaftlichen Kritik und Diskussion.
Es müßte wunderlich zugehen, wenn ein so gescheiter Mann nicht auch manche
richtige Beobachtung gemacht hätte und manche Wahrheit ausspräche. So ist es
z. B. unbestreitbar, daß, wie er ausführt, die meisten Menschen von der in der
Schule eingepaukten Geschichte so gut wie nichts behalten und sehr wenig Interesse
für Begebenheiten lind Personen der Vergangenheit haben. Es ist nützlich, das
von Zeit zu Zeit zu sagen, weil an dieser Interesselosigkeit zum Teil die unzweck¬
mäßige Art des Geschichtsunterrichts schuld ist. Eine Darstellung vergangener
Begebenheiten und Zustände, die uns ein anschauliches Bild vor Augen stellt,
bereitet Genuß lind haftet im Gedächtnis, aber eins der Lehrbücher einpauken
müssen, die an unsern höheren Lehranstalten eingeführt sind, ist eine Qual, selbst
wenn anschauliche Vorträge des Lehrers, an denen es zudem oft fehlt, zu Hilfe
kommen. Richtig ist ferner, daß nur die Individualseele wirkliche Eristenz hat,
die „Volksseele" dagegen eine bloße Abstraktion, und die Völkerpsychologie von
Lazarus und Steinthal ein Versuch von sehr zweifelhaftem Wert ist; nur hätte
hinzugefügt werden müssen, daß Wilhelm Wundt in seinem großen Werk dem
Worte „Völkerpsychologie" einen ganz unanfeclstbaren Sinn gegeben hat. Richtig
ist endlich auch, — wenigstens meiner Überzeugung nach —, daß sich ein Fortschritt
weder in der Moral, noch in der Kunst, noch im Wohlbefinden, in der Zufriedenheit
der Menschheit nachweisen läßt; was fortschreitet, das ist allein das Wissen und
die Technik; Ergebnis und Zweck dieses Fortschritts pflege ich allerdings anders
darzustellen als Nordau. Von einer Menge andrer Aufstellungen würde sich, wenn
es die Mühe lohnte, leicht beweisen lassei:, daß sie falsch sind. Hätte Nordau,
ehe er über den Sinn der Geschichte schrieb, die Weltgeschichte studiert, so würde
er nicht behaupten, daß der Staat ein Parasit sei, daß die großen weltgeschicht¬
lichen Personen und Ereignisse auf den Gang der menschlichen Entwicklung keinen
Einfluß geübt hätten, daß „kein einziger Anspruch der Religion auf Verdienst um
die Menschheit" sich aufrecht halten lasse, und daß, wer in der Natur und in der
Geschichte der Menschheit Zweck und Plan sieht, beides nicht heraus-, sondern
hineinlese. Die Menschheit ist ihm „im Verhältnis zum Weltall nicht mehr, nichts
anderes als irgendeine Gattung Farne oder Insekten"; die Entrüstung über eine
solche Wertung des Menschen nennt er „einen verspäteten und greisenhaft ohn¬
mächtigen Ausbruch anthropozentrischer Eitelkeit". Ich habe wiederholt gezeigt,
daß die anthropozentrische und anthropomorphe Weltansicht keineswegs einem
Größenwahn des quantitativ freilich dem Universum gegenüber verschwindenden
Menschen entsprungen, sondern vernünftig und notwendig, unabweisbar ist. Denn
alle bewußten Wesen hinweggedacht, ist das körperliche Universum nicht bloß ein
völlig wertloser Kothaufen, sondern gar nicht vorhanden. Erst die Empfindung
bewußter Wesen verleiht dem Körperlichen wirkliches Dasein, die des Wurmes
einem Erdklümpchen, die des höheren Tieres einer Mannigfaltigkeit irdischer Farben,
Gestalten und Töne, die des Menschen (das Pferd, der Hund, der Affe blickt nicht
nach den Sternen) dem Universum, zu dem er alle durch die Sinne wahrgenommenen
und auf Grund des Wahrgenommenen vorausgesetzten Dinge anordnet. Woraus
folgt, daß nicht die Körperwelt, sondern der bewußte Geist das Ursprüngliche,
das wahrhaft Seiende ist (natürlich nicht der Menschengeist, der genau weiß, daß
er den Grund seines Daseins nicht in sich selbst trägt), und daß der Mensch recht
daran tut. sich das Wesen, das die Welt erschaffen hat und trügt, nach seinem
eignen Bilde als vernünftigen, bewußten, planvoll wirkenden Geist vorzustellen.
Herr Dr. Max Kemmerich hat vor wenig
mehr als einem Jahre ein Buch „Kulturkuriosa" herausgegeben, das im wesent¬
lichen die Tendenz hatte, herrschende Vorurteile über die Vergangenheit zu zerstören.
Ein gewisser Wahrheitsfanatismus, der nicht ganz frei war von einem gewissen
burschikosen Draufgängertum, durchdrang das Buch. Es bot, ohne grade eine
Geistestat zu sein, eine nicht zu unterschätzende Menge interessanten Materials
und sprach deutlich für die schrankenlose Ehrlichkeit und Vorurteilslosigkeit des
Verfassers.
Nun hat es Herr Dr. Kemmerich unternommen, uns in seinem neuesten
Werke „Dinge, die man nicht sagt" seine Stellung zur Gegenwart, zum geistigen
und ethischen Leben in Deutschland klar zu machen. Dieses neue Werk ist infolge
gewisser äußerlicher glänzender Eigenschaften meines Erachtens dazu angetan
wehr Verwirrung als Gutes zu stiften und fordert deshalb eine genauere
Betrachtung.
Auch hier fällt auf den ersten Blick ein stark prononcierter Männerstolz vor
Königsthronen, Ministersesseln, Kirchenfenster und Kathedern auf. der sehr geeignet
ist, jüngere, begeisterungsfnhige Menschen in den Werdejahren — und ich kann
den Eindruck nicht loswerden, das Buch sei in erster Linie für solche geschrieben —
für den Verfasser einzunehmen. Der ruhige, vielleicht auch etwas skeptische
Mann wird sich allerdings sagen, daß dieser Stolz nichts kostet. Ein leises Miß-
trauen wird ihn befallen, und dieses Mißtrauen wird stärker und stärker werden,
je tiefer er in das Werk eindringt. Schließlich wird er, der ruhige Skeptiker,
nach gewissenhafter Prüfung nicht umhin können, ein kräftiges cavete! allen denen
zuzurufen, die von Natur geneigt sind, allzuleicht auf einen gewissen kraftmeicrnden
Typus des Fanatikers hineinzufallein
Es soll gewiß nicht geleugnet werden, daß Wahrheiten in diesem Buche sind.
Das heißt „Wahrheiten" ist vielleicht schon zuviel; sagen wir „Tatsächlichkeiten".
Aber wenn Herr Dr. Kemmerich selbst meint oder andere glauben machen will,
diese Tatsächlichkeiten seien „Dinge, die man nicht sagt", so irrt er eben gewaltig.
In Wahrheit sind diese Dinge schon recht oft gesagt worden. Herrn Dr. Kemmerichs
Kniff besteht nun aber darin, diesen vereinzelten Tatsächlichkeiten einen Nimbus
betrübender Allgemeinheit zu verleihen und sie so als Wahrheiten hinzustellen.
Dagegen muß uuter allen Umständen protestiert werden.
Kemmerich, der Universitätslehrer, widmet einen wesentlichen Teil seines
Buches dein Zustande unserer Universitäten. Geschickt vermeidet er es, hierbei auf
Friedrich vou der Leyens Buch „Deutsche Universitäten" (bei Eugen Diederichs,
Jena 1906) anzuspielen, das ihn ^ nun, drücken wir's gelinde aus — angeregt
hat. Denn diese Anspielung würde auch dem naiven verraten, daß diese „Dinge"
eben öfters „gesagt" werden. Bloß mit dem Unterschiede, daß von der Leyen
bewußt und mit bestimmter Bezeichnung Einzelheiten herausgreift, während
Kennnerich diese Einzelheiten sofort als das Regelmäßige, allgemein Übliche hin¬
stellt. Ein Beispiel nur: ein einziger Münchener Germanist pflegt ein Kolleg über
Walter von der Vogelweide so zu lesen, wie es bei Kemmerich beschrieben ist.*)
Ich habe an den verschiedensten Universitäten dasselbe Kolleg gehört und es
nie ohne ästhetische Anregung verlassen. Kemmerich aber tut so, als gäbe es nur
vertrocknete, ekelhafte Kleinlichkeitskrämer in Deutschland, die der Jugend jede Lust
am künstlerischen und wissenschaftlichen Genuß benehmen. Alle Professoren auf
*) Vgl. v. d. Leyen, „Deutsche Universitäten", S, 40:
„Man denke sich einen jungen Studenten, dem seine Lehrer auf der Schule Walter von
der Vogelweide und das Nibelungenlied Priesen, der darin auch hier und da selbst las, noch
ohne rechtes Verständnis, aber in der dämmernden Ahnung, das; hier Schätze ruhen, die er
nur noch nicht heben konnte. Dieser Student wird, wenn er auf unseren Universitäten Vor¬
lesungen über Walter besucht (hier macht sich auch v. d. Lehen einer verallgemeinernden Über¬
treibung schuldig) zuerst etwa von den mittelalterlichen Handschriften hören, in denen Walters
Gedichte uns überliefert wurden. Dann, welche Geburtsorte die Forschung für Walter für
möglich und für unmöglich erklärt, dann die sämtlichen kümmerlichen Daten über Walters
Leben und angenommene Fahrten, wobei man ihm manche Meinungsverschiedenheit als
wissenswert anführt. Viertens die Geschichte der Forschung über Walter bis in? kleinste
Detail; fünftens Walters Vorgänger und Meister, wobei grade das Äußerliche und Überflüssige,
die kleinen Einzelheiten sich wieder in den Vordergrund drängen; Sechstens Interpretation,
wobei der Dozent von der Geschichte der einzelnen Worte, ihrer grammatischen Bedeutung,
ihrem Wert für die äußere Kultur sehr viel spricht, der Walter eigentümlichen Schönheiten
wenig oder gar nicht gedenkt; gelegentliche. Worte streifen nebenbei und wie aus Zufall diese
Schönheiten, die der arme Student genießen wollte, und diese Urteile, die sich seltsam aus
Unbeholfenheit und Anmaßung zusammensetzen und am liebsten Meinungen anderer wieder¬
geben, verraten nicht, daß grade das künstlerische nachempfinden das Vermögen ist, das dem
Vortragenden abgeht."
Man vergleiche diese Ausführungen Lebens mit der schon angezogenen Stelle bei
Kemmerich (S. 40f.) und man wird mir einräumen, daß er genau den Gedankengängen
Leyens gefolgt ist und aus eigenem nur die feuilletonistisch - satirische Ausschmückung
zugegeben hat!
den ordentlichen Lehrstühlen Deutschlands — den einzigen Lamprecht nimmt er
aus (S. 45 f.) — sind nach ihm spezialisierende Bohrwürmer, die sich in irgend¬
einen kleinsten Teil der Weltgeschichte festfressen und von nichts anderem wissen
noch wissen wollen. Ein rücksichtsloser Klüngelgeist herrscht unter ihnen; keiner,
der nicht zur Zunft gehört, wird zugelassen; wer ihre Töchter heiratet, wird ordent¬
licher Professor; wer sie wissenschaftlich angreift, ist ein boshafter Ignorant, ein
hämischer Narr, dem man entweder die Karriere abschneidet oder ihn, wenn er
sie schon hinter sich hat, der allgemeinen Verachtung preisgibt is. 45 f.).
"
Und das, Herr Dr. Kemmerich, sind „Dinge, die man nicht sagt? Verzeihen
Sie gütigst: aber das sind Dinge, die so veraltet und unwahr geworden sind, daß
die „Fliegenden Blätter" sich ihrer bereits vor zwanzig Jahren bemächtigt haben.
Solche Typen laufen noch hier und da in kleinen Universitäten vereinzelt herum.
Weshalb, Herr Dr. Kemmerich, stellen Sie diese Originale als Durchschnittstypen
dar? Weshalb, Herr Doktor, tun Sie, als ob Sie die trojanische Mauer einrennen,
während Sie doch in Wahrheit durch offene Türen mit Siegermiene ungehindert
hindurchschreiten? Sie haben eine scharfe Feder. Herr Doktor, Sie sind witzig und
voll Esprit und deshalb Ihrer Wirkung auf gewisse Menschen sicher. Aber ein
Wahrheitsfinder sind Sie nicht. Denn wenn man im ersten Teile Ihres Werkes, soweit
es die Universitäten behandelt, Ihnen eine gewisse Kenntnis ganz bestimmter Einzcl-
vcrhältnisse nicht absprechenkann, so fälltdoch weiterhinunangenehm auf, daß einem alle?,
was man liest, so bekannt vorkommt. Verzeihen Sie. Herr Doktor: kennen Sie Georg
Hirths „Wege zur Liebe"? (vgl. Kemmerich S. 146, 152.167, 183, 194). Pardon:
sind Ihnen Chamberlains „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" bekannt?
Haben Sie vielleicht Schopenhauer gelesen (vgl. Kemmerich S. 223), vielleicht
sogar die Paralipomena, und zwar Ur. 28? (vgl. Kemmerich S. 160.) Denn,
Herr Doktor, bei Hirth (vgl. Hirth „Wege zur Liebe". (Hirths Verlag, 1906), Inhalts¬
verzeichnis) finden sich so wunderhübsche Abhandlungen über eheliche Moral,
über Nuditätenschnüffeleien, über Humanität und Patriotismus, die sich mit den
Ihren —ein wenig berühren! Wie originell auch, das Chamberlain etwa fünfzehn
Jahre vor Ihnen den Gedanken gedacht hat, daß das alte Testament, das Judentum
und dadurch natürlich das Christentum auf die Germanen unheilvollen Einfluß
ausübte? Daß der bibliche Christus für die wahrhaft germanische Seele nicht
zu brauchen sei? (Haben Sie vielleicht gar Hilligenlei gelesen?) Ist Ihnen Schopen¬
hauers Vorschlag, die Polygamie einzuführen, ganz unbekannt? (Vgl. Chamber¬
lain a. a. O. „Der Eintritt der Juden in die Weltgeschichte".)
Ich beneide Sie, Herr Doktor, beneide Sie von ganzem Herzen. Nicht so sehr
um Ihre Belesenheit (auch die muß ganz hübsch sein), nicht so sehr um Ihren
freien, allem wissenschaftlichen Frondienste feindlichen Geist, der Sie Quellen¬
angaben als Kleinlichkeitskrämereien verachten läßt, nein, wirklich und aus tiefster
Seele beneide ich Sie um Ihren unerschütterlichen Mut. Sie »vagen es, ein
Buch zu schreiben, das für die laienhaftesten Laien bestimmt ist — nur für sie
bestimmt sein kann. Sie wagen es, dieses Buch „Dinge, die man nicht sagt" zu
betiteln — und in ihm Dinge auszusprechen, die seit dreißig und mehr Jahren
entweder veraltet und unwahr sind oder so oft gesagt, durchdacht, besprochen, daß
ein halbwegs kulturdurchsetzter Primaner sich von ihnen abwendet. Sie bekommen
es fertig auf fast dreihundert Seiten keinen neuen Gedanken zu bringen und wagen es
doch sich als den Luzifer, den Lichtträger und sarkastischen Satan zugleich aufzuspielen.
Nein, Herr Doktor! Ihnen kann keiner den Vorwmf irgendwelcher Wissen¬
schaftlichkeit machen. Sie haben — gegen alles Herkommen — vorn aufs Titel¬
blatt Ihren „Dr." gesetzt: Ihre Arbeit aber ist eine, die jeder noch so „Examens-
lose" auch Hütte kompilieren können. Aber Sie wissen ja, Opposition imponiert
in Deutschland immer. Opposition, gleichgültig gegen was. Populäre, witzig¬
satirische Form gefüllt auch — der Stoff ist dabei ziemlich unwichtig. So
wird Ihr Buch viel gekauft und gelesen werden; und wenn das zehnte Tausend
erreicht ist, so wird damit ein Faktum da sein, das Material für einen wunder¬
hübschen Abschnitt in einem von Ihnen neu zu kompilierenden Buche Kultur-
wei Titel! „Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz" von
I. Büchtold, 1892. „im'stoirs as la litterature Luisse" par V. kiosssl
et et. L. .Isla^, 1910. Zwei Titel! Nichts weiter? Zu wissen,
daß der erste ungefüg und lang, der zweite kurz formuliert ist, wie
es einem Franzosen geziemt? Aber das sind Äußerlichkeiten-,
ich bitte den beiden Titeln etwas vorsichtiger ins Auge zu sehen I Sie sind nichts
Geringeres als zwei geharnischte programmatische Thesen, Gegensatze schärfster
Prügung. Böchtold erzählt sachlich und auf den sichern Brücken mühselig errafften
Tatsachenmaterials, ohne die Leidenschaft eines Künstlers, von dem Anteil der
Schweizer an der allgemeinen deutschen Literatur, von Dichtern, die zwar nicht
erröten, reichlich die helvetischen Muttermale zu zeigen, die gleich Haller nicht
verleugnen, wie energisch sie mit der deutschen Sprache gekämpft, wie sie allzeit in
der Avantgarde waren, wenn es galt, gegen Monopolisierungsversuche eines
Gottsched mit der Hartschädelhaftigkeit eines Boomers anzustürmen, die freudig je
und je die Segnungen eines so reichen Literaturzusammenhanges genossen. Virgil
Rössel, der neue Geschichtsschreiber der Schweizer Dichtung, macht sich zum Inter¬
preten jener Ansicht, die gegen Professor Vetter seinerzeit grollte, weil er die Schweiz
in geistiger Beziehung eine Provinz nannte. In Wirklichkeit darf er nicht einmal
als der Präger dieses Urteils gelten! las ich doch erst vor kurzem in dem Ein¬
leitungswort zu den am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts erschienenen
„Alpenrosen", einer Almanachsammlung von ausgesprochen lokalpatriotischen Ten¬
denzen: „Wir Schweizer sind dem größten Teile nach in Sitten und Gebräuchen,
in Sinnesart und Sprache das, was man ehrlich Deutsche nennt. Die schweizerische
Literatur, die von altersher eine kleine Provinz der deutschen macht usw." Virgil
Rössel bemüht sich, im Vorwort die Literatur der Schweiz zu einer Nationalliteratur
zu frisieren und um das deutsche und französische Literaturringen in der Schweiz
ein Einheitsband zu flechten. In der Einleitung seiner Geschichte, sagte ich, denn
der folgende Werdegang der Literatur lehnt sich auch bei ihm gegen eine solche'
Geschichtsklitterung von Partikularistischen Engvrüstlingen auf. Goethe, der aus
poetischem Territorium den Landesmarken keinen zu großen Wert beilegte, nannte
darum in Hinsicht auf die gesamte deutsche Literatur Hallers Alpen „den Anfang
einer nationalen Poesie", der Goethe, der die feine Distinktion machte „zwischen
dem Vaterlande seiner poetischen Kräfte und jenem, das er als Mensch und Bürger
liebte". G. Keller polterte mit alemannischer Beredsamkeit, als R. Weber die
Schweizer mit einer „Poetischen Nationalliteratur der Schweiz" beschenkte. C.F.Meyer
sekundierte ihm mit dein schroffen, bei ihm verwunderlichen Urteil „vom baren
Unsinn" einer solchen Meinung. Als ein englischer Aufsatz Keller nur „als
schweizerische Literatursache" behandelte, schrieb er Freiligraths Gattin: „Gegen die
Auffassung, als ob es eine schweizerische Nationalliteratur gäbe, habe ich mich
immer aufgelehnt. Denn bei allem Patriotismus verstehe ich hierin keinen Spaß
und bin der Meinung, wenn etwas herauskommen soll, so habe sich jeder an das
große Sprachgebiet zu halten, dem er angehört. . , ." Als reifer Dichter verhehlte
er seine Abneigung gegen die lyrisch-patriotische Trommelschlägerei nicht und fand
sogar sein eigenes silbenkeusches Vaterlandslied „O mein Heimatland" noch zu
laut. Wenn man nicht aus seinem Prologgedicht zur Schillerfeier 1859 und dem
Aufsatz „Am Mythensteiu" wüßte, wie er gleich C. F. Meyer vor den Großen
von Weimar seine huldigende dankbare Reverenz bezeugte, hörte man den innigen
Dank aus seinem „Grünen Heinrich". Im Anblick des deutschen Rheins, der unweit
seiner Henne Glattfelden vorbeirauscht, hat er an der Schweizergrenze gesungen:
Regte sich in ihm ein literaturpatriotisches Gefühl, so war es die Freude,
mit unter jenen ansässigen Poeten aus dem Süden gewesen zu sein, die an
der großen deutschen Horizonterweiterung der Poesie Anteil hatten, die die
norddeutsche Literaturhegemouie brach. C. F. Meyer ist die Poesie gewordene
Verneinung dieses unnötig engherzigen Literaturbegriffes. Hatte Leuthold keinen
Grund, über ein undankbares Vaterland zu klagen, so werden wir Meyer kaum
zu tadeln wagen, wenn er es tut. Keller drückt ein ähnliches Gefühl scherzend
aus, indem er die Schweiz einen literarischen „Holzboden" nennt. In einer
Darstellung der Literatur in der Schweiz des neunzehnten Jahrhunderts müßte
im Gegenteil ein Kapitel „Deutschlands Mitarbeit an dem Aufschwung des
literarischen Lebens in der Schweiz" überschrieben werden. Die Schweiz war
gebend, aber auch empfangend. Ein Deutscher, Fr. Mathisen, war es. der den
GraubündnerLyrikerGaudenz von Salis auf dem deutschen Parnaß vorstellte. Deutsche
waren es, die G. Keller zum poetischen Tagewerk riefen. An Herweghs dichterischer
Eloquenz entzündeten sich Kellers dichterische Erstlinge, die ihm wieder ein Deutscher,
A. L. Follen, mit trefflichem Rat glätten half, und denen er auch für einen
Verleger Umschau hielt"). Deutsche griffen auch dem jungen Meyer unter die
Arme. Als die Schweiz, mit Ausnahme Widmanns und Freys, noch sehr reserviert
über Carl Spitteler zu urteilen liebte, schrieb Felix Weingärtner seiner kosmischen
Poesie eine huldigende Studie mit tönender Wortinstrumentation, die das Jubilieren
von den „Amen" eines „Gloria" aus einer alten Barockmesse gelernt haben
könnte. Brahm war meines Wissens der erste, der G. Keller eine größere Studie
weihte. Freilich, die Schweizer haben ihren Dank auch reichlich zurückerstattet
durch Werke wie Meyers „Hütten", der dichterischen Gabe um das geeinte Deutsch¬
land, einer Revanche für den der Schweiz geschenkten „Teil". Wer Meyers
Briefwechsel aufmerksam liest, wird sich wundern, mit welchem Anteil er die
Geschicke Deutschlands verfolgt, wie er nie verhehlte, daß das Jahr 1870 ihn der
deutschen Poesie für immer geschenkt hat. Er stellte es als merkwürdiges Zusammen¬
treffen hin, daß der Leidensweg Kaiser Friedrichs mit manchen Situationen seines
Pescara zusammentraf, liebte den Kaiser nicht weniger, trotzdem ihn dieser
von der Liste der Schiller-Preis-Kommission gestrichen hatte. Wichtiger sind seine
direkten Zeugnisse, die sich durchaus mit den Überzeugungen der einsichtigen Dichter
und Kritiker in der Schweiz damals und heute noch deckten: „Der schweizerische
Schriftsteller soll das Bewußtsein der staatlichen Selbständigkeit seiner Heimat
und dasjenige ihres nationalen Zusammenhanges mit Deutschland in gleicher
Stärke besitzen." Ja, er nannte es ein unermeßliches Gut, daß der Schweizer
einem weiten sprachlichen Gebiet und einer großen nationalen Kultur angehöre.
Ihm selber war es Bedürfnis, möglichst weiter Kulturschwingungen habhaft zu
werden. Die zwei schönsten Briefwechsel Kellers und Meyers wenden sich an zwei
Deutsche, an Th. Storni und L. von Francois. Überhaupt sind beider Briefe die
besten Dokumente, um den Beweis zu liefern, wie ihnen in der Literatur
die Landkartenstriche gleichgültig sind, wie sie sich nur an die Grenzen
sprachlicher Art halten. V. Rössel behauptet, daß man in den Schweizer Schulen
entweder deutsche oder französische Literatur lehre und die Schweizer in diesem
allgemeinen Zusammenhang würdige. Es ist zu wünschen, daß die Schweiz bei
dieser vorurteilsfreien Methode beharre, so sehr sie heimatliche Kultur Pflegen
wird und soll. Jsolieruugstendenzm sind verhängnisvoll, am meisten in der
Literatur. Überschaut man aber das Schaffen derjüngstenschweizerischenSchriftsteller,
so erschrickt man fast über ihre Anpassungsfähigkeit, was erst jüngst Joseph Hofmiller
bedauernd herausfühlte. Ein Dichter wie Walser erscheint entwurzelter, als der mit
seinem erFlusivenÄsthetentumderSchweiz nie vertraut gewordene Leuthold. Schaffner,
Jlg und Möschlin, der in seinen „Königschmieds" den Bauernroman Gotthelfs
zu neuer Höhe hob, aber hernach das Großstadtmilieu aufsuchte, sind künst¬
lerisch durch Berlin hindurchgegangen. Sie sind mit einer neuen Welt¬
anschauung an dichterische Probleme herangetreten und weisen auch ein
nervöseres Temperament im Gestalten auf, als die gemächlich schildernden Dichter
der älteren Garde. Sie selber lassen sich in die schweizerische Nationalliteratur
en miniature nicht einkapseln. Sie überlassen dieses berauschende Gefühl jenen
Kleinen, die es nicht vermocht, den heimatlichen Mikrokosmus durch die Gewalt ihrer
Persönlichkeit zu einem dichterischen Makrokosmus zu erhöhen, wie es z. B. Ernst Zahn
gelang. Die Weisheit des Neuenburger Kritikers Chaillet am Ende des achtzehnten
Jahrhunderts: „^yons alone uns possie nationale!" hat der welsche Dichter
Edouard Rod unbarmherzig mit dem durch die Erfahrung gestützten Urteil quittiert:
„I^Ions us vouvonZ pas avoir cle litterature nationale"; sprach's — und ging hin,
schrieb indie,,Revuedesdem
Mit den besten Kräften der Heimat die Dichtung zu speisen, die schönsten
Motive aus ihr zu entlocken, unersättlich das Landschaftsgefühl durch den Anblick
der umgebenden Natur zu verfeinern, blieb dennoch das Ziel dieser Dichter: der
Heimat tren und der deutschen Literatur! —
Der Charme der nationalen Literaturetikette hat auch ein Gulden an den
Bemühungen um ein schweizerisches Nationaldrama. Von einer schweizerischen
Nationalbühne krümmte selbst Wagner. Auch G. Keller begeisterte sich einige Zeit
für den Plan. Wissen wir doch ans seinem „Grünen Heinrich", warum diese
Ideen in der Schweiz besonders Boden faßten. „Einfach und durchaus praktisch,
wie sie waren, fanden sie nicht volles Genügen an der dramatischen Lektüre im
Schlafrock-
, sie wünschten diese bedeutsamen Begebenheiten leibhaftig und farbig
vor sich zu sehen, und weil von einem stehenden Theater in den damaligen
Schweizerstädten nicht die Rede war. so entschlossen sie sich kurz und spielten selbst
Komödie, so gut sie konnten." 1800 war Keller der erste, der von einer gro߬
artigen Entwicklung der nationalen Feste redete, „die den Nährboden eines grandiosen
Nationaldramas bilden würden". Allen diesen tastenden Versuchen nach einem
nationalen Drama geht die kluge und mit Tatsächlichen erfüllte Studie
Dr. M. Zollingers „Eine schweizerische Nationalbühne" (Sauerländer in Aarau)
nach, zeichnet'mit Geschick und Strenge die Demarkationslinie zwischen echter
Kunst und der Pseudodramatik. Was ist das Fazit seiner historischen Prüfung?
Daß der Vorhang noch lange nicht majestätisch aufgerollt ist. daß wir respektable
Leistungen gesehen - aber kein einziges Drama haben. Diese Tatsache spitzt sich
Zu einem Problem zu: Ein Erzählervolk var excellence. über dem die Glorie
du- epischen Herrlichkeiten sichtbar schwebt, birgt, um so mehr, als es durch kultur¬
geschichtliche Bedingungen keine Bühnentradition besitzt, dennoch in seinem Busen
eine unbezwingliche Sehnsucht nach dem Drama. Nie hat G. Keller die drama¬
tischen Pläne, die er hegte, ganz begraben. Aber wir wären keinen Augenblick
im Zweifel, nach welcher Hand wir griffen, wenn er in der einen alle seine vielen
dramatischen Entwürfe, in der andern eine einzige novellistische Skizze hielte. —
C. F. Meyer drängte es immer wieder nach der dramatischen Geberde. Er
dachte wie ein Dramatiker, doch wenn er schrieb, beschrieb er unwillkürlich
Szenarium und Regieanweisung, und siehe ^ er kredenzte Epik aus goldener
Schale. Was für einen fürstlichen Besitz hätte er aus der Hand gegeben, wenn
er. statt seelische Affekte direkt zu schildern, worin er höchster Meister war. deren
Wirkung, den äußeren körperlichen Effekt, die Geberde, die Mimik an den Zufall
des mehr oder weniger intelligenten Schauspielers preisgegeben hätte? Den
epischen Nibelungenhort fand der Schweizer. Den dramatischen, wie Dr. Zollinger
eindringlich bewies, bis heute nicht.. Mag der Schweizer ausgehen und ein
Nationaldrama suchen, irgendein Werk erschaffen wie Kleist im „Prinzen von
Homburg" oder Grillparzer in „König Ottokars Glück und Ende". Aber warum
ein Nationaldrama suchen, da es jedes Schulkind kennt: den „Wilhelm Tell"?
Es ist Gottfried Keller, der in seinein Aufsatze „Am Muthenstein" es auf
feine Weise sagte: „Ein großer Dichter schüttet aus dem Füllhorn seines Reich¬
tums ein Schauspiel hervor, und einem alten Bundesstnate. der eine stattliche
Vorzeit und eine Geschichte hat. welche er noch nicht zu liquidieren willens ist.
dem aber eine verklärte Nationaldichtung fehlte, ist diese in der schönsten klassischen
Form geschenkt, die seine Entstehung vor aller Welt bestrahlt und typisch macht."
Anzeigen-Annahme für diesen Teil beim Verlag der Grenzborcn G. in. b, H.,
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^. Für Akademiker.
02. Hauslehrer, sür 11 jähr. Knaben, Brandenburg.
1W. S Oberlehrer, Obcrrealschnlc, 1.4. I>, Ponuucru.
103. Obcrlcljrcr, höhere Lehranstalt, Ostern 1911
lMV0-"!i000 M.), Provinz Sachsen.
106. Hauslehrer, Rcsormgi)uinasinm, 1.10. resp. 1.11.,
Weftprcuszeu.
107. Bur-icrmcistcr, 1. 11. 10. s8000 M.), Rheinland.
112. Pfarrer, 1. 10., Neumark.
IIS. Direktor für städtische höhere Mädchenschule,
l. 4. 11 (5400—7000 M.), Ostprcnszen.
IIS. hanslchrcr für II- u. IlijSIir. Knaben, Pommern.
II«. c-ins. v>>!>. oder in-ol., 1. 10., Wart.
117. Biirncrmcisrcr, Thor», I. !». (IN 00« M.).
IIS. Biirncrmcistcr, Ostprcns,er, I. 10. (2>?0it M.).
S. Fiir pensionierte Offiziere.
81. General-Aaent, Feuer-VersicherungS-Gesellschaft,
Aachen, I. Januar 1011, hoch dotiert.L. Für Damen.
82. Erzieherin, gepr., Mulik, I. Oktober. Schlesien.
81. Erzieherin, Musik, Latein,!. Oktober. Pommern.
81. Erzieherin, gepr., co., Musik(800 M.), 1.10. Posen.
Se. Erzieherin, gepr., co., Franz., Musik, 1.10., Ostpr.
05. Erzieherin, kling., co., Englisch, Mnsir, Schlesien.
»6. Erzieherin, jung., energ., sür bald, Weslprcnszcn.
07. Erzieherin, gepr. (Franz. im Ausland erlernt),
Oktober, Ostprcnszen.
0g. Engländerin, Franz., I. 10., Pommern.
00. Hanslchrcrin >Slud. bcvorz.), 1.10.. Pommern.
100. Lehrerin, Höhere Privat-Mädchenschule (Englisch)
(1200 M.). 1. 10., N.-L.
101. Erzieherin, co., 1. 10., Brandenburg a. H.
108. Erzieherin, geprüsi, kath., aufn., 1.10., Breslau.
100. Lehrerin sür höhere Privatschule, 1.10. (1100 M.),
Lüneburg.
IIV. Erzieherin, geprüft, I. 10., Pommern.
III. Erzieherin, geprüft (Sprachen im Ausland erlernt),
Turner und Handarbeiten, Wcsthavclland.
Stellen-Oesnche.
Bis zu l! Zeilen 2 M., jede weitere Zeile l M.
Offizier a. D., mehrere Jahre bei grosser Allicn-
Gescllschaft tätig, SV Jahre alt, ledig, sucht per
sofort oder später anderweitige Vertrauensstellung.
Sprachkcunlnissc: russisch, englisch, frauzöü'es. An¬
gebote nnter M. 717 an die „Grenzboten",
Berlin SXV. II, erbeten.
»»»»»»»»»»»»»»» »»»»«II »»»»»» »»in»»»»»»»»»»»»»»»»»!!-»»»»» »»»»»»»»»»»» »»«»»»
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° I^er-nspr-sellst-! and !, ,035, 2S1S.
eit den bündigen Erklärungen der beiden letzten Kriegsminister
über die Allerhöchste Willensmeinung haben die Erörterungen
über den Adel in der Armee nur noch einen theoretischen oder
geschichtlich zurückblickenden Wert. Der ausschlaggebende Grund¬
satz, vor dem alle anderen Rücksichten in den Hintergrund treten,
ist die „.Homogenität" des Offizierkorps. Auch darüber gibt es keinen
Streit, daß das Offizierkorps mit der „aristokratischen Gesinnung" steht oder
fällt, sobald darunter nicht der äußere Abschluß, sondern die innere
Vornehmheit verstanden wird. Der einzige Unterschied zwischen meiner
und den Auffassungen anderer Kritiker liegt also lediglich darin, daß jene
in der „Exklusivität der Garde und einiger Linienregimenter" nicht den von
mir befürchteten Durchbruch der Homogenität sehen. In dieser Beziehung aber
darf die rückläufige Bewegung der letzten Jahrzehnte nicht übersehen werden.
Die in den adlichen Regimentern früher vorhandenen bürgerlichen Elemente
sind tatsächlich fast vollständig ausgeschaltet worden. Die Rangliste des
2. Garderegiments zu Fuß weist z. B. im Jahre 1870 vor dem Feldzuge stehen
bürgerliche Offiziere auf. im Jahre 1908 keinen. Vollends können einzelne
bevorzugte Linienregimenter von einer geschichtlichen Berechtigung zum Ausschluß
bürgerlicher Offiziere nicht sprechen. Der Kastengeist ist ausdrücklich als ein
Übel für die Armee bezeichnet worden. Lag wirklich in der immer mächtiger
hervorgetretenen Abschlußbewegung nicht der Keim für diese Gefahr? Natürlich
sind die Kritiker aus dem anderen Lager nicht weniger bemüht, dem Vater¬
lande, also der Allgemeinheit zu dienen, wie ich selbst.
Ist aber unter diesem Gesichtspunkt das Argument, man wird dem Adel
die Absagung seines Sitzes mit eigener Hand nicht zumuten können, nicht ein
Abweichen vom Wege? Ein Vaterlandsfreund kann sich für die Beibehaltung
der adlichen Regimenter doch nur dann ins Zeug legen, wenn er darin einen
Nutzen für die Armee und damit für das gesamte Deutsche Reich erkennt. Wollte
der Adel sie dagegen lediglich zum Vorteil des eigenen Standes erhalten, so
zeigte er damit nur, daß er gleichfalls von der allgemeinen Krankheit der
Selbstsucht durchseucht ist, die den Sondervorteil über das Gemeinwohl stellt.
Die Krone soll sich auf ihre bisherigen treuen Diener im Adel stützen. Gewiß!
Aber schiebt sie die wirklich beiseite, wenn sie sie auf die einzelnen Regimenter
verteilt, wo sie mit ihren vom Feuer der Zeit gestählten Anschauungen von
Person zu Person wirken können? Die Krone steht über den: gesamten Vater¬
lande. Wenn sie nun zur Ergänzung des Offizierkorps auf die bürgerlichen
Kreise angewiesen ist, so kann sie der Frage nach der Gewinnung der tüchtigsten
Bestandteile daraus nicht aus dem Wege gehen. Aber kann sie diese Tüchtigsten
zuni Eintritt in die Armee ermutigen, wenn sie ihnen die Tore „der in näherer
Beziehung zum obersten Kriegsherrn oder den verschiedenen Kontingentsherren
stehenden Regimenter" verschlossen hält? Die „gesellschaftliche" Seite würde ich
gern übergehn, weil ich den Sturm in der Armee über die Auffassung nicht auf
mich laden könnte, als ob nur die adlichen Offiziere den gesellschaftlichen
Anforderungen der Fürstenhöfe zu entsprechen vermöchten. Ich kann unmöglich
die „gesellschaftliche" Aufgabe der Landesfürsten im ausschließlichen Verkehr mit
dem Adel erschöpft sehen! Mir erscheint eine gesellschaftliche chinesische Mauer
um Fürst und Adel als eine schwere Gefahr für die Zukunft für beide.
An der bewährten Auswahl des Offizierersatzes durch die Regiments¬
kommandeure, die in erster Linie in der Lage sind, alle für die Brauchbarkeit
in Frage kommenden Ermittlungen anzustellen, will wohl niemand rütteln. Für
eine Zentralstelle zur Annahme des Offizierersatzes ist meines Wissens wohl
noch nirgends eine Lanze eingelegt worden. Aber die Berechtigung zum Erlaß
allgemeiner Anweisungen über die Beschaffung des Offizierersatzes kann doch dem
Allerhöchsten Kriegsherrn nicht aus der Hand gerungen werden. Seine Majestät
hat schon einmal entscheidend in diese Frage eingegriffen. Nun will Seine
Majestät nach den Erklärungen der amtlichen Stellen an den Ausgleich ent¬
standener Gegensätze herantreten. Würde nicht der Grundpfeiler der Disziplin
wanken, wenn ein Regimentskomniandeur dagegen auch nur passiven Widerstand
leisten wollte?
Die Adelsfrage in der Armee kann mit diesen kurzen Bemerkungen nicht
erschöpft werden, da sie im Zusammenhang mit der Entwicklung des Adels
überhaupt steht.
Keine Bevölkerungsschicht hat durch die neue Zeit eine solche Verschiebung
erfahren wie der Adel. Dem Aufschwünge der breiten Volksschichten steht
der Abstieg der Fürstengewalt um den einen bedeutsamen Schritt voni
Absolutismus zum Konstitutionalismus gegenüber. Der Adel hat aufgehört
ein besonderer Stand zu sein. Freilich nicht etwa als die erste Wandlung
in Deutschland. Die Landesherren hatten ihn zunächst aus den Grund¬
herren und Heerführern zu ihren Gehilfen herabgedrückt. Mochte sich auch
im weiteren Verlaufe der kleinstaatliche Adel vielfach im Hofdienste erschöpfen,
so liegt das große Verdienst der Hohenzollern in der Erziehung des Adels zu
militärischen und bürgerlichen Staatsdienern. Insoweit hat der Adel unzweifelhaft
die Berechtigung, einen wesentlichen Teil des Aufschwunges unseres Vaterlandes
für sich in Anspruch zu nehmen.
Eine im Laufe der Jahrhunderte zu nutzbarer Reife gebrachte Erscheinung
ist sonder Zweifel eine Naturnotwendigkeit, die nicht ohne schwere Schädigung
der Gesamtheit zu beseitigen wäre. Allein die Parteibrille kann daher das
Bedürfnis nach einem bevorzugten Stande für die Zukunft Deutschlands in
Abrede stellen. Freilich müssen die durch die sich stets ändernde Stellung
des Adels sich auch stets wandelnden Aufgaben immer von neuem erkannt werden.
Wer dem Adel noch weiterhin die Schutzbinde privilegierter Vorrechte um den
Leib legen wollte, würde den Ganghebel der Staatsmaschine auf rückwärts stellen
und bezeugte lediglich das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit. Die Bedeutung
des Adels liegt nicht mehr in einer Sonderstellung, sondern in einer vor¬
bildlichen Stellung: er hat auf dem Boden der allgemeinen Gleichheit überall
den zur Nachahmung anspornender Rekord der Tüchtigkeit aufzustellen.
Das heutige Dasein setzt sich aus drei Äußerungen des Lebens zusammen:
aus dem beruflichen, dem öffentlichen und dem häuslichen Leben.
In allen drei Äußerungen soll der Adel vorbildlich wirken. Welche Aufgaben
harren also des Adels im einzelnen?
Im beruflichen Leben ist das vermorschte Gemäuer der Vorurteile bis
auf den letzten Stein niederzureißen. Jeder Beruf ohne Ausnahme bis herunter
zur schlichtesten Handarbeit ist adlich. Warum gilt von den erwerbenden
Tätigkeiten fast nur die Landwirtschaft für „standesgemäß", wo jetzt jeder Landwirt
Kaufmann sein muß? Es klingt beschämend für das Menschengeschlecht, aber
selbst ein seine Bedeutung auf sittlicher und geistiger Grundlage suchender Stand
kann seinen Einfluß nur mittels der Macht der Wohlhabenheit zur praktischen
Geltung bringen. Der Adel darf sich daher durch die führenden Größen in
Handel und Gewerbe auf dem Geldmarkt nicht aus dem Felde schlagen lassen.
Der Adel ist schon jetzt nicht mehr zur Hingabe der Tausende für Wohlfahrts¬
zwecke imstande, durch die sich reiche Kapitalisten hervortun. Über kurz oder
lang muß die Folge sein, daß er in der allgemeinen Einschätzung an die zweite
Stelle rückt. Warum kann in den: praktisch nüchternen England ein Lord bei
Tage ein Gasthaus oder ein Weingeschäft leiten und sich am Abend in der
auserlesensten Gesellschaft bewegen? Weiter muß sodann der Irrglaube mit
Stumpf und Stiel ausgerottet werden, als ob die Bevorzugung des Adels zu
seinem Nutzen und Frommen diene. Der Adel hat so viele Imponderabilien
vor dem jungeu Bürgertum voraus, daß sich die tüchtigen Persönlichkeiten mit
Leichtigkeit Bahn brechen. Die schützende Hand kommt daher nur der Unfähigkeit
zugute. Deren Beschirmung aber untergräbt dein ganzen Stande die Grund¬
lagen seiner Daseinsberechtigung, weil der Adel statt des allgemeinen Vertrauens
dadurch nur die gerechtfertigte Erbitterung der zurückgesetzten Kreise einerntet.
Weder der Staat noch ein Privatmann kann sich bei den heutigen Verhältnissen
den Luxus ungeeigneter Arbeitskräfte erlauben. Der erstere untersteht der
Kontrolle durch Parlament und Presse zu sehr, als daß ihn trübe Erfahrungen
mit adlichen Schützlingen nicht zu dem Gegenteil einer über das Ziel hinaus¬
schießenden Zurückhaltung bei der Verwendung des Adels veranlassen könnte.
Um wie viel mehr aber wird diesem die Geschäftswelt ihre Türen verschließen,
sobald sie den Nachteil übel angebrachter Empfehlungen am eigenen Leibe gespürt
hat. Nicht jeder Edelmann kann selbstverständlich ein Bismarck oder Moltke,
noch weniger eine industrielle oder finanzielle Kapazität sein. Auf die Größe
der Wirksamkeit kommt es nicht an, sondern auf die Art ihrer Erfüllung.
Selbst der Handwerker, der die gesamten ihm von der Natur auf den Lebensweg
mitgegebenen Kräfte mit eisernem Fleiß an die Erfüllung seiner Arbeit setzt
und der deu höchsten ihm möglichen Grad des Könnens erreicht, hat damit den
adlichen Berufstypus als Vorbild für die übrigen Volksklassen aufgestellt.
Neben der beruflichen Tätigkeit steht der Schauplatz des öffentlichen
Lebens. Ohne Zweifel weht auf ihm eine rauhe Luft, vor der weiche, häufig
als vornehm angesprochene Charaktere leicht zurückschrecken. Aber der Abschluß
von diesem Nordwind würde den deutschen Adel zu der Bedeutungslosigkeit des
für die Geschicke Frankreichs vollständig ausgeschalteten Faubourgs Se. Germain
herabdrücken. Ihm erwächst daher die weitere Aufgabe, daß er unter Über¬
windung der Scheu mit vollen Segeln sein Schiff auf das weite Meer des
öffentlichen Lebens hinaussteuert. Die Auswahl der Betätigung wird von
Naturanlage und Neigung, aber auch von materiellen Dingen abhängen.
Während der eine seine Kraft in den Dienst des Parlamentarismus oder der
Selbstverwaltung stellt, wird der andere sich den verschiedenen Zweigen der
Wohlfahrts- oder der Wohltätigkeitseinrichtungen zuwenden. Den Frauen des
deutschen Adels wird die Anerkennung nicht versagt werden können, daß sie
die ihnen auf letzterem Gebiet zufallenden Aufgaben bereits mit klarem Blick
erkannt und in ihrer Erfüllung eine achtbare Strecke zurückgelegt haben.
Das durch Nietzsche und seine Nachireter der Zeit ausgedrückte Kainzeichen
ist die Selbstsucht. „Erst das eigene Ich, dann die Partei und zum Schluß das
Vaterland" so lautet die Parole. Die allgemeine Aufgabe des Adels im
öffentlichen Leben ist deshalb die Wiederherstellung des richtigen Abmarsches
mit dem Leitsatz: „Zuoberst das Vaterland". Dann wird er dem deutschen
Volke die Binde von den Augen reißen, daß die Fürsorge für das Ganze nicht
im Gegensatz, sondern im engsten Zusammenhang mit dem eigenen Fortkommen
steht. Kann sich doch nur auf dein Boden eines von seinen Mitbürgern wohl¬
versorgten und darum blühenden Staatswesens die eigene Kraft in Ackerbau
und Gewerbe, in Kunst und Wissenschaft frei und ganz entfalten.
Das Familienleben wird den breitesten Raum für die Betätigung des
Adels beanspruchen. Die allgemeine Gleichheit ist für die Überwindung der
Kinderkrankheiten noch zu jungen Lebensalters. Ein freier Schweizer. Ernst
Zahn im „Firnwind" (S. 104). hat die innere Unausgeglichenheit der verschiedenen
Bevölkerungskreise richtig gekennzeichnet: „Wir sind nicht unfehlbar, wir andern,
ebensowenig wie ihr. So seid ihr ihr und wir wir. Zwischen uns ist ein
Raum wie ein Wasser oder eine Kluft. Weil keine Brücke da war, seid ihr
nicht zusammengekommen, mein Sohn und du." So spricht die Mutter eines
aus dem alten Stadtpatriziat stammenden Pfarrers zu dessen einer neu heraus¬
gekommenen Familie angehörigen Witwe, in deren Ehe trotz besten Willens von
beiden Seiten kein gegenseitiges Verständnis zu erzielen war. Vor dem Grundsatz
»Mein Haus ist meine Burg" wird auch der fanatischste Gleichhcitsapostel Halt
machen und sich seinen häuslichen Verkehr völlig frei aus seinen Gesinnungs¬
genossen auswählen. Sollst hört das Haus auf der Gesundbrunnen zur Kräftigung
und Erholung zu sein. So kernfest auch der Stamm des Privatlebens an sich
im Adel ist. so ist er unleugbar von manchen Auswüchsen überwuchert worden.
Das deutsche Volk zieht die Wurzel seiner Kraft aus der Familie und diese
die ihrige nun und nimmermehr aus etwas anderem als aus treuer ehelicher
Liebe. Wie oft vergeht sich der Adel gegen dieses Grundgesetz heimischer
Wohlfahrt. Dem leichtfertigen Abschluß einer sogenannten Liebesheirat soll
damit nicht das Wort geredet werden. Frau Sorge würde sehr bald ihren
Einzug halten und die Flügel lähmen, wo der materielle Hintergrund für die
Stellung fehlt. Wie erniedrigend ist aber auf der andern Seite das schon
sprichwörtlich gewordene „Vergolden der Krone". Hinter der Helmzier des
Wappens sind meist nicht die gediegensten Bestandteile der Ermerbsstünde her.
sondern diejenigen, die für ihren Reichtum eines Aushängeschildes oder Mäntelchens
bedürfen. Renegaten sind nicht die besten Bestandteile ihrer Rasse. Wer die
Ehe eines Offiziers mit einer getauften Jüdin für standesgemäß
erachtet, sollte folgerichtig den Juden den Zutritt zu dieser Lauf¬
bahn nicht erschweren. Mit dem aus allen andern Gründen eher als aus
religiöser Überzeugung vorgenommenen Übertritt werden die Charaktereigenschaften
nicht abgestreift, deren Eindringen in unser Dasein wir befürchten. Bei der
semitischen Vererbungszähigkeit kommen also durch die getauften Jüdinnen grade
die den Antisemitismus züchtenden Eigenschaften in den Adel. Welche Begriffs¬
verwirrungen haben schließlich die Geldheiraten nicht schon angerichtet? Ist jener
Fall, der in allen Zeitungen stand, vielleicht ein Zeichen adlicher Gesinnung,
daß der Bräutigam, ein adlicher Offizier, sich von der Familie der Braut nach
aufgelöstem Verlöbnis ein Jahrgeld aussetzen ließ?!
Eine weitere Schwäche des Standeslebens ist die Nachsicht gegen auf Abwege
geratene Stalldesgenossell. Der schlichteste Handwerker von Adel, der sich ehrenwert
durchs Leben durchschlägt, sollte mit offenen Armen aufgenommen werden. Aber
leider werden solche Helden der Arbeit viel eher beiseite geschoben, als die eleganten
Taugenichtse. Ja, man schämt sich ihrer! Mit keinem Wort wird so viel
Mißbrauch getrieben wie mit der sogenannten christlichen Liebe. So oft wird
sie zur Vertuschung unlauterer Handlungen benutzt! Wie der Körper zu seiner
Lebensfähigkeit das Ausscheide» aller schlechten Säfte verlangt, so wird sich der
Adel als Stand nur durch das rücksichtslose Abstoße:: aller schädlichen Triebe
gesund erhalten können. Nur beim Zerschneiden des Tafeltuches zwischen sich
und allen entgleisten Mitgliedern wird sich die Verallgemeinerung abweisen lassen,
als ob deren Taten auf dem Boden der Standesanschauungen erwachsen seien.
. Einen plötzlichen Umschwung in den Verhältnissen des Adels wollen und
können diese Betrachtungen nicht, hervorrufen; eines solchen ist eine im langsamen
Feuer der Jahrhunderte gehärtete Lebenserscheinung ohne Selbstvernichtung nicht
fähig. Langsam und sicher muß der Adel auf das ihm durch die neue Zeit
gesteckte Ziel losgehen. Unverrttckt aber wird das Losungswort im Auge behalten
werden müssen: nicht äußere Vorrechte, sondern innere Kraft.
Ws gibt in Geschichte und Literatur Namen, die von vornherein
einen Gegensatz anzeigen, und die deshalb immer wieder zu einem
Vergleich herausfordern. Ein solcher Fall trifft bei Schiller und
Hebbel zu, und doch liegt ein Grund dafür nicht so ohne weiteres
^ auf der Hand. Jener Gegensatz wird hier von dem unbefangenen
Leser nie sofort deutlich erkannt, sondern immer zunächst mehr oder weniger
nur deutlich empfunden werden. Unmittelbar tritt dies bei Menschen in Er¬
scheinung, denen Schiller bis dahin der Gipfel der dramatischen Kunst bedeutete
und die zum ersten Male eines der großen Hebbelschen Stücke lesen oder hören.
Man fühlt da, wie eine starke, völlig anderes geartete Persönlichkeit, die hinter dem
Drama steht, plötzlich um Anerkennung ringt oder wenigstens zu einer grund¬
sätzlichen Stellungnahme und wohl auch zu einem Vergleich mit Schiller drängt.
Wohl hat der Dichter längst die Anerkennung als eines der bedeutendstell der
nachklassischen Dichter gefunden, und doch geht der Kampf für ihn und wider
ihn weiter, und immer steht Schiller auf der anderen Seite. Und so wird es
manchen wie eine kleine Gänsehaut überlaufen, wenn man sogar versucht, ihn
als Dramatiker Schiller gegemiberzustellen. Seinen Grund aber dürfte das
immer weniger in dein Dichter als vielmehr in den: Menschen Hebbel haben,
die man gemeinhin ebensowenig voneinander zu trennen weiß wie den Dichter
und Menschen in Schiller. Neben dessen idealisierter Persönlichkeit deren
sachliche Besprechung schon heilte unendlich schwerfällt, muß nun freilich das
Bild Hebbels zurücktreten. Hebbel, mit der ganzen Wucht seiner elementaren
Persönlichkeit gegen die Not seiner jungen Jahre sich anstemmend, bietet dem
Volksgefühl in seiner idealisierenden Tätigkeit nirgends einen Angriffspunkt.
Man vergleiche da nur einmal die berühmte Flucht Schillers mit Hebbels Reise
von München nach Hamburg. Dort der ideale, vor dem Tyrannen flüchtende
Jüngling mit seinem treuen Freunde. Hier der äußerlich herabgekommene
Mensch, der sich wie eine Art Landstreicher durchschlägt und einzig durch einen
beinahe brutalen Drang nach Leben und Größe aufrecht erhält. Und was für
qualvollen Verhältnissen geht dieser Mensch entgegen! Nein, diese Wirklichkeit
enthält keinen idealen Zug. nur eben erbärmliche Wirklichkeit. Wäre Hebbel
weniger sittliche Persönlichkeit, wäre er nur zeitweise wenigstens ein bißchen
..genial verlumpt", die Liebe seines Volkes hätte sich bei seinem Hange zur
Sentimentalität vielleicht eher seiner angenommen. Aber er ist der Sohn des
elementaren, fast brutalen, aber immer ringenden Dithmarscher Maurers gebkeben,
solange er lebte, und das stößt im Grunde immer wieder von ihm ab. Es
gibt, um nur etwas hervorzuheben, nichts Bezeichnenderes in seinem Leben als
sein Verhältnis zum Weibe. Und daran wird man ja überhaupt am ehesten
den Menschen und seine Kultur erkennen, wie er auf das Weib und wie das
Weib auf ihn wirkt. Nur elementare Gefühle, große wie kleine, erfüllen
sein Leben, und nichts eigentlich Anziehendes enthält es. bis er dann an der
Seite einer edlen Frau und im Frieden eines wohlgeordneten Hauses auch
menschlich höher hinauswächst, daß wir auch die andere Seite seines Wesens
erkennen. Denn im tiefsten Grunde seines Wesens bleibt er ja auch darin
immer derselbe.
Schillers Verhältnis zum Weibe ist im ganzen weniger ausgeprägt, und doch
reicht es aus, um auch an ihm diese Seite zu charakterisieren. Einiges, was wir aus
seiner Stuttgarter und Mannheimer Zeit wissen, ist uns heut fast unverständlich.
Es sind künstlich überreizte Gefühle, die da zutage treten. Und so sind auch
die dort entstandenen Liebesgedichte an solchem künstlichen Feuer erwärmte
Produkte und für uns keine Liebesgedichte. Mit ihrer geringen Subjektivität
weisen sie auf eine frühere Periode unserer Literatur zurück, und der Gedanke
ist nicht ganz abzuweisen, daß nicht nur ein in Ideen wurzelndes Empfinden,
sondern auch die bloße Absicht. Liebesgedichte zu schreiben, um bannt einer
gewissen Mode zu folgen, an ihrer Entstehung mitgearbeitet habe. Wurzelsaft
findet man freilich auch in ihnen den Schiller der dritten Periode. Wenn man
aber mit jenen Frühgedichten die Produkte aus Hebbels Frühzeit vergleicht, fo
wird man doch zugeben müssen, daß diese mehr als jene die werdende subjektive
Persönlichkeit hindurchleuchten lassen. Den letzten Grund hierfür wird man
wieder in dem Jdeenhaften auch des jungen Schiller suchen müssen. Der Schwer¬
punkt in Schillers Persönlichkeit liegt eben immer in: Jdeenhaften, und das
hat seine Ursache darin, daß er weit mehr sittliches Kulturwesen war als naives
Naturwesen. Es fehlt deshalb an dem festen Zentrum, von dem aus er als
Gesamterscheinung zu erklären wäre. Er schwebt sozusagen in der Luft, ist deshalb
auch eigentlich nicht so tief als der elementare Mensch. Er hat, um auch das
als Beweis heranzuziehen, auch nie ein irgendwie intimeres Verhältnis zur
Natur gehabt. Jene im letzten Grunde mangelnde Tiefe wird aber ersetzt durch
eine große, überschauende kulturelle Klugheit, die immer dem sittlich Höchsten
nachdenkt. Dies alles ist dann natürlich auch in seiner Dichtung zur Geltung
gekommen. Das schöne Menschheitsideal, das ihn: als sittlichem Kulturwesen
vorschwebte, ist ein stets wiederkehrender Vorwurf in seinen Dichtungen. In
ihm äußert sich auch sein Glaube an die Menschheit und an den Sieg der
Wahrheit, der die Voraussetzung ist für sein Vertrauen an die unendliche
Erziehungsmöglichkeit des Menschheitsgeschlechts, das der erdwurzelnde Hebbel
nie mit ihm teilen konnte. Aber das alles ist es ja eben, was ihn uns zum
Erzieher zu Idealen gemacht hat. Wenn wir aber genau Hinsehen, wächst
freilich auch der edle Mensch in Schiller aus der Wurzel einer bürgerlichen
Ehrbarkeit heraus, deren würdige Vertreter seine Eltern waren. In diesen
Rahmen paßt nun auch der liebende und allzeit klug, fast praktisch nüchtern
sorgende Gatte und Vater, ohne die das Bild des deutschen Idealisten in Schiller
unvollständig wäre. Das alles erscheint nnr unendlich erhöht und verschönt
durch den Genius in ihni.
Die Erkennung Schillers als ideelles Knlturwesen erklärt auch, das; sein
dichterisches Genie ein fast ungebundenes war, weit ungebundener vor allem als
das Hebbels. Er kommt vom Jdeenhaften her, und das wenig Wurzelhafte
seines Wesens setzt dem Fluge seiner Gedanken keine Schranken.
Diese glänzenden ideellen Eigenschaften fehlen in Hebbels elementarem
Wesen, dessen Gebundenheit auch sein poetisches Talent nur schwer zur Höhe
des freien Gestaltens entläßt, nun vollständig, es fehlt ihm bis zu einem gewissen
Grade auch der ideale Flug der Gedanken, und deshalb wird Hebbel auch
unserem Volke nie das werden können, was Schiller ihm ist. Und doch ist er
als Gesamtpersönlichkeit sicher weit moderner als Schiller. Gewiß ist der Idealist
„weiter und freier" als der Realist, man wird aber daraus nicht ohne weiteres
folgern dürfen, daß Schiller deshalb nun auch „modern und zeitgemäß" sei.
Daß bei Hebbel im übrigen das Jdeenhafte nicht fehlt, ist selbstverständlich.
Nur ist es bei ihm wiederum elementarer, tiefgründiger, — metaphysischer
nämlich, und in dieser Form dürfte vielleicht die Bedeutung des Ideellen für
die moderne Zeit gesehen werden. Im allgemeinen darf man sagen, daß in
der Gegenwart nur aus der Betätigung entsproßte Ideen in unserem Volke ein
Daseinsrecht zu haben scheinen, und das ist nicht das spezifisch Schillersche Ideelle.
Mit anderen Worten: wir sind bodenständiger, realer geworden, als es die
Persönlichkeit dieses sittlichen Idealisten war, der im tiefsten Grunde eigentlich
noch in der alten Aufklärung wurzelt. Wenn uns so auch Schiller der Führer
ins Weite, Freie, „Große" bleibt, so sollten wir doch auch derer nicht vergessen,
die uns Führer nach unten, zum Tieferwurzelnden sein können, denn auch da
ist „Großheit".
Diese kurzen Ausführungen mußten vorangeschickt werden, denn der Dichter
ist von seinem Werke nicht zu trennen. Die Literaturgeschichte freilich interessiert
nur ein Vergleich der Dichtungen miteinander, und auch da mir, inwiefern der
eine über den anderen hinauswerft.
Im Grunde hat das Hebbelsche Drama mit dem Schillerschen nicht viel
zu tun, wenn es auch die äußere Form von ihm übernommen hat. Das
Schillersche Drama kann man etwa als das idealistische Charakterdrama im
klassischen Gewände bezeichnen, Hebbels Dramen sind wirkliche Tragödien.
Indessen gibt es doch auch zwischen ihnen gewisse Berührungspunkte, oder
genauer: man findet in beiden parallele Linien in der Gestaltung der tragischen
Schuld, die anderseits wiederum, weil sie verschiedene Ausgangs- und Endpunkte
haben, am ehesten die Unterschiede in beider Dramen aufweisen.
In seinen Tagebüchern sagt Hebbel einmal von Schillers „Jungfrau von
Orleans", sie sei seine höchste bewußte Konzeption. Und an einer anderen
Stelle weist er auf sie als auf ein Musterbeispiel dafür hin, daß für den Dichter
der Unterschied zwischen Mann und Weib in dem Augenblicke hinfällig werde,
wo in der kleinen Welt, deren Spitze der beide Geschlechter umfassende Mensch
ist, nur noch durch ein außerordentliches Werkzeug ein großes und notwendiges
Ziel erreicht werden könne. Er hätte hier aber ebensogut auch seine „Judith"
anführen können, und wenn er trotzdem die „Jungfran" vorzog, so beweist das,
wie nahe Schillers Gedankenführung ihm lag. Und in der Tat weist die
„Jungfrau" in ihrer Grundidee über das bloße Charakterdrama hinaus und
gestaltet eine Idee in fast Hebbclschem Sinne: Der Bruch des Welt- und
Lebenszustandes ist vollzogen/und um die Welt zur Harmonie zurückzuführen,
tritt in überirdischer Sendung die Heilige hervor. Sie weiß nicht, daß sie damit
selbst wieder das ihr gesteckte Maß° überschritten hat — bis sie in ihren: Feinde
den Geliebten findet und nun, sich als Weib fühlend, erwacht. Hier freilich
hört das Drama auf, Hebbelsche Wege zu gehen, denn hier setzt der Schillersche
Schuldbegriff ein. In Wirklichkeit hat ja Schiller seine Johanna als rein
idealistische Gestalt mit einer idealen Aufgabe in die reale Welt hineingestellt,
und es gilt auch hier Hebbels bekanntes Wort, daß das Schillersche Drama sich
an der eigentlichen Aufgabe der dramatischen Kunst vorbeischlich. Aber bis zu
dem Augenblick, wo Johanna, an sich selbst verzweifelnd, von den Ihren verflucht
wird, wächst die Tragödie zu einer erhabenen Höhe an. Der letzten Lösung
des Konfliktes geht nun aber Schiller aus dem Wege, und sein Konflikt ist
nichts anderes als eine bloße Prüfung, die die Heilige zu bestehen hat. Anders
aber Hebbel. der seine Judith aus menschlichen Gründen tun läßt, wozu sie sich
anfangs von Gott berufen glaubt. Das ist freie sittliche Selbstbestimmung des
Individuums, das sich durch diese zuletzt doch wieder der Gottheit, „der Idee" unter-
werfen muß. Wenn Schiller eine Vereinigung des antiken Fatalismus mit der
Forderung der sittlichen Freiheit erstrebte, so ist er in der „Jungfrau" sicher
darin , am weitesten gekommen, völlig geglückt ist sie ihn: aber auch in ihr nicht:
es ist der Widerspruch, der zwischen der sittlichen Weltidee und dem Individuum
besteht, nicht klar genug herausgekommen, insofern Johanna an jedem Punkte
nur als die Gottgesendete erscheint. Und nur durch die Entwickelung ans jenem
Widerspruche heraus entsteht eine wahrhaftige Tragödie. Und so zeigt am Ende
auch die „Jungfrau", daß Schiller vou „der Kunst, zu individualisieren, zu
wenig besaß". Und wir wissen nicht, ob nicht Hebbel auch darin das Richtige
traf, wenn er jene Vereinigung nur als die Folge eines inneren Mangels bei
Schiller bezeichnete. Es kommt ihm ja anch, trotz großer Anläufe, nie so sehr
darauf an, die Erhabenheit des Weltgeschehens zu gestalten, als vielmehr nur
im Zuhörer Rührung zu erzeugen, was auch aus seinen ästhetischen Aufsätzen
genugsam zu erhärten wäre. Er kennt auch keine Notwendigkeit, daß das
Individuum leide. Und Rührung oder Mitleid reichen doch wohl nicht aus,
den Menschen durch das Geschick zu erheben, wenn es ihn zermalmt. Aber der
„schöne" Mensch in Schiller, den wir in der bürgerlichen Sittlichkeit wurzelnd
erkannten, ist nicht, wie der elementare Hebbel, fähig, sich zu einer derartigen
Erfassung des gigantischen Schicksals zu erheben.
Der Theaterdichter in Schiller schreibt den fünften Akt der „Jungfrau".
Für ihn bestand die Notwendigkeit, die in Schuld gefallene Jungfrau zu „retten",
denn er steht noch durchaus auf dem alten Begriff der Schuld als Sünde, und
Johanna, als die Heilige, ist, weil sie liebt, in Sünde gefallen. Er weiß nichts
davon, daß „das Leben als Vereinzelung, die nicht Maß zu halten weiß, die
Schuld nicht bloß zufällig erzeugt, sondern sie notwendig miteinschließt". Sein
ethischer Idealismus kennt die Schuld nicht, die schon mit dem Jnslebentreten
und Wollen des Individuums, das seiner Natur nach einseitig, selbstsüchtig sein
muß, um überhaupt bestehen zu können, gegeben ist. So ist denn auch die
„Jungfrau" keine Tragödie, sondern zuletzt nur noch ein Charakterdrama. Und
wenn die Heilige zuletzt stirbt, so geschieht dies ohne jegliche Notwendigkeit, nur
durch den Zufall der Schlacht, und hat mit Tragik nichts mehr zu tun. Es
geht jetzt kaum noch an, zum Vergleich auf Hebbels Judith hinzuweisen, die
nach ihrer Tat erkennen muß, „daß die Strafe für den Bruch der göttlichen
Ordnung in den Händen des göttlichen Geschicks liegt, denn Gott vermag, daß
aus ihrem Schoße der Rächer entstehe".
Jenem Zwange der Notwendigkeit geht Schiller dadurch aus dem Wege,
daß er stets in das Idealistische einlenkt, und da wir nur dort Tragik sehen,
wo ein Held notwendig untergehen muß, können wir keinem seiner Dramen den
Begriff der Tragödie zugestehen. So ist seine Maria Stuart nur das „leidende
Weib" und keine tragische Persönlichkeit, wie es Hebbels Agnes Bernauer eine
ist. Erschüttert stehen wir hier und beugen uns unter das elementare Gesetz,
das die Allgemeinheit für sich fordern muß. Ausgeklügelt erscheint nur, daß
es für Herzog Albrecht eine Besänftigung gibt, der seinen Tod suchende und
findende Max Piccolomini steht uns menschlich näher.
Beim Untergange Marias empfinden wir nur Mitleid. Und doch lag
hier der Weg zu einer wirklichen Tragödie offen, wenn einzig Marias Schönheit
die Ursache zu den Empörungen geworden wäre, und wenn das Recht des
Staates gegenüber ihrem Rechte auf deu englischen Thron ihren Tod gefordert
hätte. Das alles ist zwar angedeutet, aber nicht voll gestaltet. Die Einheit
der Handlung, die auch notwendig zum Begriff einer großen Tragödie gehört,
ist gestört und damit die Erhabenheit des Geschehens. Die Vertreterin des Staates
wird zur Megäre, um nur ja das „schöne" Weib in Maria herauszuarbeiten.
Im übrigen wollen wir die alten Vorwürfe, eines Otto Ludwig etwa,
nicht wiederholen.
Die Schwäche der Charaktere erwächst aber immer aus ihrer, d. h. also
genauer aus Schillers idealistischer Anlage. Daher wächst auch keine seiner
Gestalten über das allgemeine Maß hinaus, und wenn wir sein Drama als
idealistisches Charakterdrama bezeichneten, so dürfen wir jetzt hinzufügen, daß
es sich nie auf einem oder mehreren überragenden Gestalten aufbaut, sondern
daß seine Charaktere immer auf mehr oder weniger gleichem Niveau stehen.
Dadurch ist für das im Drama gestaltete Geschehen immer eine gewisse Eben¬
mäßigkeit gewahrt, anderseits entbehrt aber sein Drama deshalb an Wucht des
Geschehens. So sind seine Dramen im Grunde genommen nur große Schau¬
spiele. Das Umgekehrte gilt nun von Hebbels Drama: es erzeugt auf der
Bühne nicht jenen Eindruck der Ebenmäßigkeit, aber die Wucht des Geschehens,
in dem sich das maßlose Wollen einzelner Persönlichkeiten verkörpert, ist eine
gewaltige, niederschmetternde.
Weil der scharf schauende Hebbel es nun liebt, das tragische Gesetz bis in
die letzten Konsequenzen zu verfolgen, erhält sein Drama den Ausdruck der
Problemdichtung. Selbstverständlich schließt das ein, daß es wirklich auch ein
noch für uns geltendes Problem gestalte. Während nnn Schiller vor allem
ein historisches Geschehen in seiner Totalität bildvoll vor unserem Auge vorüber¬
ziehen läßt, wodurch wir ein großes historisches Schauspiel erhalten, sieht Hebbel
überhaupt nur dort ein der Gestaltung werdes Geschehen, wo in irgendeinem
welthistorischen Prozesse der Mensch ein besseres Fundament für die schon vor¬
handenen Institutionen schaffen, wo er sie auf Notwendigkeit und Sittlichkeit
gründen will. Und wenn dann der Dichter „wahrhaft lebt, so darf er dem
Zuge seines Geistes getrost folgen und kann gewiß sein, daß er in seinen
Bedürfnissen die Bedürfnisse der Welt, in seinen Phantasien die Bilder der
Zukunft ausspricht". Und so fehlt es in der Tat bei keinen: der Hebbelschen
Dramen an den großen Beziehungen zu der Zeit, in der der Dichter selbst
lebt, so wird sein Drama zum Problemdrama im besten Sinne. So wächst
auch sein bürgerliches Drama „Maria Magdalena" über Schillers „Kabale und
Liebe" hinaus. Es wird zum sozialen Drama der modernen Zeit.
Nun wird freilich auch das beste Probleindrama im Vergleich mit dem
Leben mangelhaft bleiben. Denn der Dichter kann den Ring, innerhalb dessen
sich das von ihm aufgestellte Lebensbild bewegt, oft nur dadurch abschließen,
daß er einem oder einigen der Hauptcharaktere ein das Maß des Wirklichen
bei weitem überschreitendes Welt- und Selbstbewußtsein verleiht. Wenn nun
Schiller nur mehr das geschichtliche Geschehen an sich gestaltet, wird er in diesem
Sinne der Wahrheit immer näher kommen als Hebbel. Sein Drama wird
daher für den Hörer, der achtlos an den Problemen der Zeit vorübergeht,
auch immer ansprechender sein als das des anderen.
Im Grunde ruhen nun die Eigentümlichkeiten ihrer Dramen immer in
den Eigentümlichkeiten der beiden Dichterpersönlichkeiten. Der sittliche Idealist
Schiller bildet sich sein „eigenes Drama nach seinem Talente", und der tief im
Elementar-Metaphysischen wurzelnde Hebbel „symbolisiert sein Inneres, soweit
es sich in bedeutenden Momenten fixiert". Die Beeinflussung, die beide durch
die Philosophen ihrer Zeit erführen, verstärkte nur ihre Eigenart.
An sich hat natürlich das Schillersche Drama genau dasselbe Daseinsrecht
wie das Hebbelsche, oder umgekehrt. Aber die größere Erhabenheit, die wahr¬
haft tragische Notwendigkeit, kurz: echte Tragik finden wir nur bei Hebbel.
Daß nun aber doch das Schillersche Drama die größere Wirkung ausübt, liegt
daran, daß wir rein tragische Notwendigkeit in Wirklichkeit kaum ertragen, daß
uns eine menschlich gemütvolle Lösung viel eher anzieht. Gehen wir doch in
unserem Leben tausendmal, äußerlich wie innerlich, der Notwendigkeit aus dem
Wege, um in keinen Konflikt mit dein Herzen zu kommen. Und doch fühlen
wir in einsamen Stunden recht wohl, daß wir uns betrogen haben, wenn wir
dein Zwange der Notwendigkeit auswichen. Wir fühlen's: kein Mensch kann
dem anderen helfen, jeder ist für sich allein, und jeder geht seinen Weg, den
er gehen muß, und das Leben schreitet seinen einsamen notwendigen Weg —
auch über uns hinweg. Auch der Schillersche ideale Begriff der Freundschaft
verliert dann an Wert für uns. Hebbel aber hat dies Alleinsein, dieses
Fremdsein gegenüber den anderen Menschen gekannt, denn: „Leben heißt tief
einsam sein". Und wie stark muß dies Gefühl gerade in der Gegenwart aus¬
geprägt sein, wenn sogar ein Liliencron ausrufen kann: „Allein ist der Mensch,
allein, und saß' er im glückseligste,: Verein!" In seinen Auswüchsen mag es
wiederum eine Krankheitserscheinung unserer allzu naturwissenschaftlichen Zeit
sein, an sich aber beruht es gewiß in einem Sichbesinnen auf den geheimnis¬
vollen Urgrund, iii dem der Mensch wurzelt. Und so mag man's auch als
einen Beweis dafür ansehen, daß wir heut von der blassen Aufklärung und
allem, was damit zusammenhängt, weiter als in den letzten zweihundert Jahren
je einmal entfernt sind. Und so viel darf man wohl sagen, daß wir auch im
allgemeinen heilt von dem Menschen Schiller entfernter sind als von Hebbel.
Gewiß bedürfen wir des sittlichen Idealisten Schiller als Führer, damit unser
menschlich gemütliches Wollen nicht in ein bloßes gemütliches Philistern«»
zurücksinke. Im letzten Punkte berührt sich aber auch der ethische Realismus
Hebbels mit dem ethischen Idealismus Schillers. Denn auch Hebbel kennt ein
reines selbstloses Wollen, wie er es etwa im „Brahminen" — oder auch in
Genovcva und in Dietrich — gestaltet hat. Aber eigentlich dramatisch ist eine
solche Gestalt nicht.
Hier und da ist neuerdings die Meinung aufgetaucht, als sei auch Schiller
an: Ende seines Lebens auf dem Wege zum realistischen Stile gewesen. Man
hat sich aber darin nnr durch einige Anläufe, wie sie sich tatsächlich durch sein
ganzes Leben hinziehen, täuschen lassen. Er war viel zu klug, viel zu sehr
intellektuelles Kulturweseu, als daß er darin sich selbst getäuscht hätte, wieder
im Gegensatz zu Hebbel. der sich zeitweise auch über die Richtung seines Talentes
irren konnte. Das gehört ja eben auch zu den: Bilde jenes wundersamen
Menschen, daß er so gut Bescheid wußte in sich selbst — und auch im anderen
Menschen. Er besaß in einem so seltenen Maße die Gabe, sich in die Per¬
sönlichkeit eines anderen einzndenken, wie sie der naive oder der elementare
Mensch nie zu eigen hat, bei dem dann das ungleich langsamere Einfühlen an
die Stelle des Andenkens tritt, wenn nicht etwa die Erfahrung eines langen
Lebens diese Fähigkeiten wieder ausgeglichen hat.
So kam Schiller auch durch nachdenke,: zu einer wunderbaren Erkenntnis
seiner Zeit und ihrer Mängel, obwohl er selbst zunächst doch auch in diesen
befangen war. Seine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen ent¬
halten Forderungen, wie erst die jüngste Zeit sie zu verwirklichen beginnt. Diese
Seite seiner Persönlichkeit erklärt auch die Tatsache, daß er sich in die aristo¬
kratischen Kreise Weimars so leicht eingefügt hat. Zu ihr gehört aber auch jene
Ungebundenheit feines poetischen Talentes. So konnte er, der Dramatiker, sich
sogar vornehmen, eine Idylle zu schreiben, die er sozusagen ans Ende der Kultur
gesetzt und deren Stoff er ganz aus der Idee geschöpft sehen wollte.
Das alles sind Äußerungen seiner nur aus der Vernunft schöpfenden Jdeellität.
Zu dieser Seite seines Wesens gehört auch, daß er im Grunde immer
Kosmopolit war und daß er erst wieder durch seine wunderbare Klugheit die
Bedeutung des nationalen erkannte. Der elementare Hebbel konnte nie Kosmo¬
polit sein, er war auch in dieser Beziehung eine tiesgebundene Natur.
Schillers Fähigkeit, sich ideell einzudenken, befähigt ihn auch zu jenen einzig¬
artigen Kulturzeichnungen, wie sie z. B. „Der Spaziergang" und „Die Künstler"
darstellen. Der Genius aber beflügelt den Flug der Gedanken, daß sie sich
nicht selten zu reinen Dithyramben erheben. Das Bild seines Schaffens, das
uns aus seinem Drama entgegentritt, wird natürlich durch den Dichter dieser
Stücke nicht verändert. Er hat es nur hier nicht mehr mit Personen zu tun,
sondern nur mit Zuständen, zu deren Zeichmmg ihn seine ideelle Anlage weit
mehr geeignet machte.
Dasselbe Bild geben im ganzen auch seine Balladen, die dem nordischen
Begriff der Ballade freilich nicht gerecht werden. Seine poetische Anschaulichkeit
ist auch hier immer nur mehr eine gedankliche, mehr ins Weite und weniger
ins Tiefe gehende. Der fortreißende Zug aber macht sie ungleich volkstüm¬
licher, als es die dunkler gefärbten Balladen Hebbels sind. Ebenso kommen sie
den: gewöhnlichen Leser durch einen gewissen lehrhaften Zug entgegen. Dafür
ermüdet aber in manchen Dichtungen Schillers, wo nicht das epische Geschehen
das Interesse genug aufrecht erhält, der naive Leser leichter, während bei Hebbel
etwas Düsteres, Geheimnisvolles den Leser stets gefangen hält.
Das Fehlen der naiven Anschaulichkeit hat die Meinung aufkommen lassen,
daß in Schillers Dichtungen die Lyrik überhaupt fehle. Das ist natürlich nicht
richtig. Von einem spezifischen Lyriker jedoch besaß Schiller unzweifelhaft nichts.
Die spezifische Lyrik könnte man etwa dahin definieren, daß in ihr das visionäre
Schauen ein inneres oder äußeres Geschehen auf den geheimnisvollen Urgrund
alles Seins zurückzubringen sucht, wie er sich im Augenblick des Schaffens dem
tiefen Empfinden offenbart. Denn bei jeglicher Gestaltung einer Empfindung
muß das Bewußtwerden eines Letzten, Tiefen, Geheimnisvoller das Wesentliche
ausmachen. Dazu aber fehlte es Schiller zu sehr an elementarer Tiefe, an
erdverbundener Naivität. Zur bloßen realistischen Situationslyrik wiederum
mangelt es ihm, wie schon erwähnt, an jedem intimeren Verhältnis zur Natur.
Zu einem großen Lyriker gehört eben immer eine tief dämonische Natur, und
eine solche steckt nie in einem mehr intellektuell gerichteten Kulturmenschen.
Hebbels Naivität, wie sie sich in seiner Lyrik offenbart, ist auch nicht die
letzte eines Goethe oder Mörike, was sich vielleicht aus seinem Dithmarschentum
erklären läßt. Es fehlt ihm dazu jene ganz selbstlose Hingabe an die Natur.
Er bleibt auch ihr gegenüber immer noch feste, unzerfließbare Persönlichkeit.
Eine gewisse Größe aber im Bilde, freilich wieder mehr im bewußten, das er
aus seiner elementaren Persönlichkeit herausgestaltet, ersetzt den letzten, höchsten
Duft. Seine tief sinnende Persönlichkeit, und damit aber auch jenes Geheimnis¬
volle, Ewige, mit dem sie sich in ihren: innersten Wesen verbunden fühlt, steht
immer hinter seinen lyrischen Gebilden. Deshalb wird seine Lyrik aber auch
immer nur von wirklichen Persönlichkeiten nachgefühlt und nie volkstümlich
werden können. Indes gelingt ihm an bloßer Naturstimmungslyrik auch zuweilen
etwas, das einzig in unserer Poesie ist.
Des öfteren nimmt jenes Geheimnisvolle die Richtung ins Metaphysische,
das ja eine besondere Seite seiner elementaren Persönlichkeit ausmacht.
Eine starke Neigung zum Philosophischen haben beide, Schiller wie Hebbel,
gemeinsam, nur daß sie, je nach ihrer Wesensanlage, bei den: einzelnen eine
andere Richtung nimmt: bei jenem ins rein Jdeenhafte, bei diesem ins Meta¬
physische, bei jenein ins Weite, aber auch Erdverlorene, bei diesem ins Tiefe,
Erdivurzelnde, bei jenem ins Kulturelle, bei diesem ins Elementare.
So kann man also sagen, daß Schiller „seine Erkenntnisse und Motive aus
sich selbst und aus der bloßen Vernunft nimmt", wie er den Idealisten selbst
definiert; Hebbel gestaltet realistisch, erschöpft aus der Natur, doch so, daß seine
eigene elementare Persönlichkeit immer der oberste Gesetzgeber bleibt. Schillers
lyrische Bilder sind gedankliche Umschreibungen und haben mit poetischer Anschau¬
lichkeit eigentlich nicht viel zu tun, Hebbel gebraucht auch Bilder, aber sie wachsen
immer aus seiner schon oft gedeuteten Persönlichkeit heraus. Goethe — um auch
ihn noch einmal zu erwähnen — sagt alles wirklich und findet auch für alles
den konformen Ausdruck.
Schon aus dieser kurzen Charakterisierung kann man auf Hebbels große
Befähigung für das hohe Drama schließen. Denn bei ihm wuchs auch die Idee,
unter die er das Drama gestellt sehen will, aus seiner elementaren Persönlichkeit
heraus. Bei Schiller könnte man von vornherein, auch wenn man sein eigenes
Wort nicht kennen würde, schließen, daß er eben nur das ihm kongruente
Ideendrama schaffen mußte, das durch des Dichters große sittliche Persönlichkeit
die mächtige Wirkung auszuüben imstande ist. Goethes Stücke — wir kommen
doch auch hier wieder nicht an ihm vorbei — mußten „vollendete Dichtungen"
werden, wie ein moderner Literarhistoriker sie sehr treffend bezeichnet hat.
Über den Unterschied zwischen sich und Goethe sagt Hebbel einmal: er
bestände darin, daß Goethe die Schönheit vor der Dissonanz, er aber die
Schönheit, die die Dissonanz in sich aufgenommen hat. gestaltet habe. Wenn
es nun Aufgabe des hohen Dramas ist, den tiefliegenden Lebensprozeß blo߬
zulegen und den Kampf aufzuzeigen, der aus der Disharmonie wieder zur
Harmonie zurückführt, so wäre zuletzt nur noch im einzelnen zu zeigen, daß es
Hebbel auch gelungen ist. diesen Prozeß poetisch zu gestalten, seine diesen Kampf
darstellenden Gestalten in die Sphäre der poetischen Wahrhaftigkeit zu erheben,
um ihn auch von hier aus als großen dramatischen Dichter neben Schiller stellen
zu dürfen.
Man hat es Hebbel in der neueren Zeit wieder zum Vorwurf gemacht,
daß es bei ihm einzig auf die psychologische Seite ankäme. Und gewiß gibt es
eine höhere Gestaltung als eine nur psychologische, nämlich die, die wirklich das
Unbewußte im Menschen zur Veranschaulichung bringt; aber ebenso gewiß ist es
auch, daß das Verlassen der psychologischen Darstellung bei vielen Talenten zur
Artistenkunst führen muß. Und grade im bürgerlichen Drama wird eine natu¬
ralistisch-psychologische Gestaltung immer die sichere Gewähr dafür sein, daß in
ihm wirkliches Leben dargestellt wird. Eine andere Gestaltung der Judith ist
eigentlich gar nicht denkbar, als eben die. die das stärkste Gewicht auf die
Psychologische Seite legt. Der Anstoß zur Sendung ist natürlich ins Wunderbare
getaucht, das wiederum. Hebbels Natur entsprechend, elementar-metaphysisch
gewendet ist. Aber immerhin bleibt auch dies Wunderbare ini Rahmen des
menschlich Interessanten, so tief es auch unter die Erscheinungen des lichten
Tages hinabtaucht, um das Heraustreten der Heldin aus dem gewohnten Kreise
verständlich zu machen.
Selbstverständlich hat auch die mehr gradlinige übernatürliche Berufung
der romantisch angelegten Jungfrau von Orleans ihre poetische Berechtigung,
macht sie uns sogar von vornherein weit sympathischer, aber die Fortführung
der Gestaltung entspricht nicht jenem Anfange. Vielmehr schwankt Johanna hier
hin und her zwischen nachtwandlerischem, naivem Mädchen und pathetischer
Heldenjungsrau. Dieser Dualismus erklärt auch den schon erwähnten
unbefriedigender Fortgang der Handlung. Seinen Grund hat aber dieser
Dualismus in der Person des Dichters, der wahrscheinlich überhaupt ungeeignet
war zur Gestaltung einer naiven, christlich-romantischen Jdealgestalt.
Jene realistisch-psychologische Gestaltung der Judith ist nun aber durchaus
nicht kennzeichnend für Hebbels Gestaltung überhaupt. Es sei da nur an Golo
und an Herodes und Marianne erinnert. Da ist wirkliche, starke Leidenschafts-
gestaltung, wie wir sie bei Schiller vergeblich suchen. Ein „aus sich und der
Vernunft schöpfender Idealist" ist deren eben nicht fähig. Zwar ist auch Hebbels
Leidenschaft hier nicht so selbstverständlich, so gradlinig und großzügig, wie sie
Shakespeare bildet, aber das wird bei Herodes aus der Zeit heraus verständlich.
Jeder Zug in diesem Manne mit seinem grüblerischen und doch auch wieder
elementaren, fast brutalen Empfinden ist von dem Dichter wirklich gestaltet, und
darauf kommt es an. In keiner Weise aber gebrochen erscheint die Gestalt der
Marianne, die nur Hebbels elementare Persönlichkeit in dem Maße als letzte
große Makkabäerin bilden konnte, wie es geschehen ist, daß sie zuletzt, wie
Herodes selbst, durch sich untergehen muß.
Goethe gestaltet rein naive Frauengestalten, die in ihrer Natürlichkeit immer
zuerst und hauptsächlich als Weib wirken, Schillers Frauengestalten haben stets
einen den Ausschlag gebenden ideeuhaften Wesenszug, und zwar zuweilen so
stark, daß dadurch sast alles weiblich natürliche Empfinden in ihnen verloren
geht, Hebbels Frauen kennzeichnet meist eine tief in: Elementaren wurzelnde
innere Gebundenheit, aus der dann ihre erdige Leidenschaft herauswächst.
Gelegentlich bekommen freilich Hebbels Gestalten dnrch die innere Not¬
wendigkeit, unter der sie handeln, einen Zug ins Ausgeklügelte, sie erscheinen
mathematisch berechnet; und das macht sie uns fremd, seltsam. Sicher aber ist
diese scheinbare Berechnung nicht ein Mangel an poetischer Kraft des Dichters,
sondern wieder nur eine Folge seiner elementaren Natur, die den Menschen
unter die Folgerichtigkeit des elementaren Triebes stellt. Denn der Mensch ist
im Grunde seines Wesens etwas Gegebenes und nichts Zufälliges, und wenn
er nun so handelt, wie es dies Gegebene fordert, so wird er in dieser Welt
des Kampfes zur tragischen Persönlichkeit. Wie Hebbel selbst, so handeln auch
seine poetischen Gestalten nur dem einen in ihnen lebenden Gesetze gehorchend.
Wo diese Gebundenheit von vornherein als gegeben erscheint, wie bei der in
engen Verhältnissen aufgewachsenen Klara, da hat auch das gewöhnliche Empfinden
nichts dagegen einzuwenden. Anders aber, wo jenes innere Gesetz dem modernen
Menschen fremd und unwahrscheinlich ist, wie z.B. in Rhodope. Da reicht denn auch
Hebbels bildkräftige Phantasie nicht aus, uns dies Fremde ganz lebendig zu machen,
und wir sehen ohne die letzte notwendige Teilnahme in eine uns wesensfremde Welt.
Eine besondere Seite an seinen Personen ist das Tiefgrabende ihrer Sprache.
Schillers aus der Idee geschaffenen Gestalten reden pathetisch-klug, voll Schwung,
fortreißend, Hebbels Personen sprechen tief, oft grüblerisch überlegend, ihre
Worte erinnern zuweilen an die Runen in den nordischen Felsen, die die Schatten
der Jahrtausende nicht verdunkeln können. Die tiefgrabenden Bilder ihrer Rede
ersetzen nicht selten die fehlende Bildlichkeit ihres Wesens und ergänzen sie auf
diese Weise.
Ein deutsches und auch schöneres Seitenstück zu Marianne bildet
dann die Agnes Bernauer. Da ist alles Herbe gemildert, daß man
fast von Goethescher Natürlichkeit reden darf. „Agnes Bernauer" und
noch mehr „Die Nibelungen", die in der rächenden Kriemhild Hebbels
gradlinigste und großzügigste Leidenschaftsgestaltung enthalten, beweisen am
deutlichsten die völlige Haltlosigkeit jenes erwähnten Vorwurfs des zu starken
Psychologismus bei ihm.
So gewiß es nun ist. daß Schillers Gestalten in ihrer ideellen Schönheit
fortreißender und also für den Durchschnittshörer von der Bühne herab wirk¬
samer sind als Hebbels meist schwerflüssigere Persönlichkeiten, wird es doch
schwerlich nachzuweisen gelingen, daß Schiller an einem Punkte vollere Lebens¬
darstellung habe als Hebbel. Denn das vollgesättigte Leben wächst doch erst
aus dem Erdiger hervor, und deshalb wird darin der dem Natürlichen näher
stehende Dichter an sich 'dem anderen immer voraus sein. Man rühmt bei
Schiller immer noch seine kraftvolle Bezwingung von Massenszenen, und doch
kommen seine bedeutendsten hauptsächlich nur durch das Bildhafte der äußeren
Darstellung zu wirklichem Leben. Dagegen hat er in kleineren Szenen sein
hochdramatisches Können bewiesen, wie es sich am schönsten in den ersten
Auftritten der „Piccolomini" offenbart. Es ist überhaupt zu bedauern, daß
Schiller, freilich wieder seiner ganzen Anlage gemäß, so oft den: Glänzenden
und Ganzen den Vorrang gewährt hat vor dem einfachen dramatischen Aufbau.
Jenes soll groß wirken und wirkt doch gegenüber diesem häufig matt. Die
Festszene in den „Piccolomini" könnte man etwa in Parallele setzen mit der
Mahlszene in „Kriemhildens Rache", doch ist die Einfügung des Pilgrims bei
Hebbel ein ungleich feinerer Griff als die Einfügung der Dienerszene bei
Schiller. Ein Gegenstück zu letzterer stellt die Dienerszene in „Herodes und
Marianne" dar. die keine bloße Ausschmückung und Ausfüllung ist wie jene.
In einer realistischen Gestaltung voll Massen ist Schiller sicher im „Wallenstein"
am weitesten gekommen, wie dieser überhaupt, alles in allem genommen, seine
gewaltigste Stoff- und Lebensbezwingung ist. Hier ist auch die ihm mögliche
größte Lcidenschaftsgestaltung: Max Piccolomini. Mag er auch immer aus der
ganzen Zeit und Umwelt herausfallen, er wirkt doch groß und reißt fort. Aber
er ist mit der nur ideenhaften Anlage seiner Leidenschaft geradezu ein typisches
Beispiel für die Schillersche Leidenschaft überhaupt. Mit ihm hat der Dichter
geleistet, was darin je möglich ist.
So stehen die beiden Dichter, jeder in seinem besonderen Gebiete und
Können, nebeneinander, und einer mit der gleichen Daseinsberechtigung wie der
andere. Nicht ein Ausspielen des einen gegen den anderen sollten die kurzen,
nur mehr andeutenden Ausführungen bilden, sondern nur ein Begrenzen eines
jeden auf den Umkreis, der ihm durch seine Persönlichkeit gesteckt ist.
Unberührt aber von dem poetischen Können bleiben die Persönlichkeiten
der beiden Menschen. Da gilt von Schiller immer noch das kluge Wort:
„Denn hinter ihn: im wesenlosen Scheine lag, was uns alle bändigt, das
Gemeine." Und in der Überwindung alles Gewöhnlichen und Gemeinen, das
Goethe einmal als „das Zufällig-Wirkliche, an dein wir weder ein Gesetz der
Natur noch der Freiheit für den Augenblick entdecken", definiert, erkennen wir
das Charakteristische seiner Persönlichkeit als ethischen Kulturwesens; in ihr liegt
auch seine Bedeutung als Erzieher zum sittlichen Idealismus.
Wie Goethe immer und vor allein reiner Mensch, so ist Schiller vor allem
sittliche Persönlichkeit, die sich durch ihre ideenhafte Kraft frei über die Gebundenheit,
in der ein bloßer Mensch befangen ist und die sich nicht selten als eine Art
Schwäche und auch Kleinlichkeit darstellt, hinwegsetzt. Und diesen Schwung
seiner Persönlichkeit wird man immer als eine schöne Ergänzung zu dem —
nennen wir's im besten Raabeschen Sinne — Philisterium des Deutschen, das
aus Nippenburg stammt, ansehen. Diesen schließlich sogar sein eigenes Leben
bezwingender Schiller, den wir ja längst auch national erfaßt haben, wird uns
nie Hebbels, bei aller Freiheit, zu' der er sich in den letzten Jahren selbst erhebt,
doch tief im Elementaren gebundene Persönlichkeit ersetzen können.
Nun hat zwar die Bepacknng der Persönlichkeit Schillers mit allen nationalen
Idealen dann und manu einmal einen starken Widerspruch erfahren, was
wiederum von einer Rückwirkung auf die Geltung seiner Dichtung begleitet
war, aber jene Stimmen blieben doch nur gelegentliche Äußerungen. Freuen
wir uns also, daß mit der allmählichen Abwendung von einer mehr materialistisch
gerichteten Kultur Schiller auch wieder in der Wertschätzung jener Kreise gewachsen
ist, in denen sein Idealismus schon einmal für überwunden galt, aber verquicken
wir damit nicht immer ein Herabsetzen der Größe Hebbels, der für sich selbst
in der großen Bescheidenheit seiner letzten Jahre ja nnr eine Nische neben der
Kleists und Grillparzers beansprucht.
(Quellen und Literatur: Allgemeine Postdiensw.weisung Abschnitt X Ausübe 1909 Sydow,
»Post- und Telegraphenbeamte" in Frhn.. von Stengels Äorterln.es dos deutschen Ver-
>valtnugsrechtÄ 1890 II S 293 ff. Perels und Dr. Spillmg. DaS Re.chSbeamtengejeh.
2. Auflage 1906. Laband, Das SwatSrecht des Deutschen Reichs, 8. Auflage 189». ^ahn
Das Jndige.mtsgesetz. 8. Auflage 1903. Blätter für Post und Telegraph,«. Jahrgang 190».)
le grundlegenden Bestimmungen über die Anstellung der Reichs¬
post- und -telegraphenbeamten enthält Artikel 50 der Reichs¬
verfassung, der sich gleichlautend bereits in der Verfassung des
Norddeutschen Bundes findet. Danach geht die Anstellung der
bei den Verwaltungsbehörden der Post und Telegraphie erforder¬
lichen oberen Beamten sowie der als Bezirksaussichtsorgane tätigen Beamten,
also vom Postinspektor in Hilfsreferentenstellen und vom Oberpostinspektor ab
aufwärts, für das ganze Gebiet des Reichs vom Kaiser aus, dem diese Beamten
den Diensteid leisten. Die anderen bei den Verwaltungsbehörden der Post und
Telegraphie erforderlichen Beamten, sowie alle für den lokalen und technischen
Betrieb bestimmten, mithin bei den eigentlichen Betriebsstellen fungierenden
Beamten werden von den betreffenden Landesregierungen angestellt. Wo eine
selbständige Post- und Telegraphenverwaltung nicht besteht — es hätte ebenso-
gut heißen können: bestanden hat —, entscheiden die Bestimmungen der besonderen
Verträge. Wie aus dem letzten Satz zu schließen ist, sind unter den „betreffenden"
Landesregierungen des vorletzten Satzes diejenigen zu verstehen, die eine eigene
Post- und Telegraphenverwaltnng in den Norddeutschen Bund oder in das Reich
eingebracht haben. — Bayern und Württemberg scheiden hier aus. weil sie sich
in den Novemberverträgen die freie und selbständige Verwaltung ihres Post-
und Telegrapheuwesens vorbehalten haben.
Was die historische Entwicklung der Anstellungsverhältnisse in den ver¬
schiedenen Teilen des Neichspostgebiets angeht, so hat der Kaiser als oberster
Leiter der Post- und Telegraphenverwaltung das Anstellungsrecht für sämtliche
Beamte von Anfang an ausgeübt in Elsaß-Lothringen, weil hier vorher keine
deutsche Landesverwaltung bestanden hat, ferner in den Staatsgebieten der drei
Hansestädte, wo früher neben den hanseatischen Post- und Telegraphenverwaltungen
dänische und schwedische Postämter mit preußischen, hannoverschen und mecklen¬
burgischen, sowie mit Thurn und Taxis konkurriert hatten; gemäß Artikel 51
der Norddeutschen Verfassung waren die fremdländischen Anstalten alsbald im
Vertragswege beseitigt, die deutschen von 1868 ab vereinigt worden. Da die
gesamte Verwaltung ohne Vorbehalt auf den Norddeutschen Bund übertragen
und wegen der Anstellung der Beamten eine besondere Bestimmung nicht getroffen
war, übernahm sie das Bundespräsidium. An dieses haben ferner Oldenburg,
Sachsen-Altenburg und Anhalt das ihnen zustehende Anstellungsrecht durch
Vertrag abgetreten, und zwar Alihalt — hinsichtlich der Postbeamten— Ende 1868,
Oldenburg bereits 1867 für das Gebiet des Herzogtums Oldenburg, 1870 für
das Fürstentum Lübeck. Im Fürstentum Birkenfeld dagegen übt Preußen das
Anstellungsrecht noch heute aus auf Grund eines Vertrages vom Jahre 1837,
durch den das Postwesen im Fürstentum von Thurn und Taxis auf Preußen
übergegangen war. Im Herzogtum Sachsen-Altenburg stand das Postwesen
früher unter königlich sächsischer Verwaltung; diese besaß auch das Anstellungs¬
recht, übertrug es aber 1880 auf den Kaiser, nachdem die Telegraphenbeamten
schon seit 1867 vom Bundespräsidimn ernannt worden waren. Preußen, die
beiden Mecklenburg und Baden, die früher eine selbständige Post- und Telegraphen-
verwältung besaßen, üben dagegen ihr Anstellungsrecht bis auf den heutigen
Tag aus. Dasselbe gilt für das Königreich Sachsen und für Braunschweig
hinsichtlich der Postbeamten, während die Telegraphenbeamten im Gebiet dieser
beiden Bundesstaaten durch Preußen angestellt werden: in Sachsen, weil dieses
im Friedensvertrag vom 21. Oktober 1866 sein gesamtes Telegraphenwesen an
Preußen hatte abtreten müssen, in Braunschweig, weil Preußen gelegentlich des
Baues einer elektrischen Telegraphenlinie Berlin—Köln bereits 1848 das Recht
erworben hatte, auf braunschweigischen Gebiet Telegraphenanstalten einzurichten
und sie mit preußischen Beamten zu besetzen. In allen bisher nicht genannten
Bundesstaaten übt Preußen das Anstellungsrecht aus, weil es die Post und
Telegraphie teils schon vor 1867 verwaltet, teils durch den Vertrag vom
28. Januar 1867 von Thurn und Taxis erworben hatte; nur in einigen
thüringischen Staaten besitzt der Kaiser das Anstellungsrecht hinsichtlich der
Telegraphenbeamten.
Über die Art und Weise, wie das Anstellungsrecht ausgeübt werden sollte,
hat die Postverwaltung mit den einzelnen Bundesstaaten zahlreiche Verträge
abgeschlossen, die sich in drei Gruppen einteilen lassen. Zunächst die in dem
Artikel 50 der Reichsverfassung erwähnten „besonderen" Verträge hinsichtlich
derjenigen Bundesstaaten, die eine selbständige Post- und Telegraphenverwaltnng
ehemals nicht besessen haben; es handelt sich da in der Hauptsache um die
Abmachungen, die Preußen 1366 und bei der Übernahme der Thurn-und-
Taxisschen Post 1867 mit den mitteldeutschen Staaten getroffen hat. Die zweite
Gruppe umfaßt die Verträge mit den im Artikel 50 als „betreffende" bezeichneten
Landesregierungen; die dritte Gruppe diejenigen Verträge, durch welche einige
Regierungen, wie bereits erwähnt, zugunsten des Bundespräsidiums auf ihr
Austellungsrecht verzichtet haben.
Diese Verträge sind von Bundes oder Reichs wegen nicht veröffentlicht
worden und deshalb schwer zugänglich. Laband hat sie sich für sein „Staats¬
recht des Deutschen Reichs" von einem früheren Mitglied der Zentralpostbehörde
mitteilen lassen, einige sind auszugsweise im Jahrgang 1905 der „Blätter für
Post und Telegraphie" wiedergegeben. Die Verträge legen der PostVerwaltung
die Verpflichtung auf, bei der Wahl der in den einzelnen Bundesstaaten an¬
zustellenden Beamten vorzugsweise auf deren Staatsangehörige Rücksicht zu
nehmen, soweit dies mit den Interessen des Dienstes vereinbar erscheint; ferner
sollen bei der Ernennung der Postamtsvorsteher etwaige Wünsche der Regierungen
tunlichst Berücksichtigung finden. In: übrigen äußert sich das Anstellungsrecht
der Landesregierungen lediglich formell in folgenden zwei Punkten. Die Beamten
werden im Namen des Landesherren der anstellungsberechtigten Staaten ernannt
und auf sie in der für die Staatsbeamten vorgeschriebenen Form vereidigt mit
der gemäß Artikel 50 der Reichsverfassung in den Diensteid aufzunehmenden
Verpflichtung, den kaiserlichen Anordnungen Folge zu leisten. Zweitens werden
diese Beamten als Königlich Preußische, Großherzoglich Badische, Herzoglich Braun¬
schweigische usw. bezeichnet, im Gegensatz zu den auf den Kaiser vereidigten
und in seinem Namen angestellten Beamten, denen nach der Allerhöchsten Ver¬
ordnung vom 3. August 1871 (R.G.Bl. 318) die Bezeichnung „Kaiserlich" zusteht.
Damit sind die Wirkungen des Anstellungsrechts erschöpft.
In der Praxis gestaltet sich die Sache so, daß alle Befugnisse, welche der
preußischen Regierung zustehen, auf Grund eines Allerhöchsten Erlasses seit Ende
1867 durch Reichsbehörden, nämlich das Neichspostamt und die Oberpost-
direktionen, ausgeübt werden, indem diese das Personal im Namen des Königs
von Preußen anstellen. Die übrigen fünf Bundesstaaten mit Anstellungsrecht
haben dessen Ausführung zum Teil den Oberpostdirektionen überlassen, welche
das Personal im Namen des Landesherrn ernennen: alle Staaten bezüglich
der Beamten in: Vorbereitungsdienst, Baden und Mecklenburg für alle Beamten
vom Postassistenten an abwärts und für die Unterbeamten, Sachsen hinsichtlich
der Unterbeamten allein; die Anstellung der hier nicht aufgeführten Beamten
geschieht entweder durch den Landesherrn selbst oder für ihn durch das Ministerium,
nachdem die Verhandlungen zwischen den Landesbehörden und den zuständigen
Neichspostbehörden abgeschlossen sind.
So kommt es denn, daß noch heute, nachdem rund vier Jahrzehnte seit
der Gründung der Bundes- und Reichspost verflossen sind, der Vorsteher und
die Beamten des Kaiserlich Deutschen Postamts in der Hauptstadt des Gro߬
herzogtums Hessen Königlich Preußische Beamte sind; daß im Königreich Sachsen
Königlich Sächsische Post- und Königlich Preußische Telegraphenbeamte neben¬
einander, vielfach im selben Hause und bei demselben Verkehrsamt, den kaiser¬
lichen Dienst versehen; daß es im Bezirk der Oberpostdirektion Leipzig, zu dem
auch das Gebiet des Herzogtums Sachsen-Altenburg gehört, neben den sächsischen
und preußischen auch Kaiserliche Betriebsbcamte gibt; daß die Angehörigen des
Großherzogtums Oldenburg als Post- und Telegraphenbeamte königlich preußisch
oder kaiserlich deutsch sind, je nachdem ihnen ein Amt in: Fürstentum Birkenfeld
oder in den übrigen Teilen ihres engeren Vaterlandes übertragen ist, und daß
selbst für Bundesstaaten, in deren Gebiet gar kein selbständiges Telegraphenamt
besteht, wie Sachsen-Koburg-Gotha und Sachsen-Meiningen, die Telegraphen-
beamten im Namen des Kaisers ernannt werden und Königlich Preußischen
Amtsvorstehern unterstellt sind. Aber damit nicht genug — die Neichspost-
verivaltung ist, um die Verfassung und die besonderen Verträge zu erfüllen,
genötigt, die bei ihrer erstmaligen Einstellung bereits vereidigten Beamten
wiederum vereidigen zu lassen, wenn sie nach einem Bundesstaat versetzt werden,
für dessen Gebiet das Anstellnngsrecht in anderen Händen ruht als an ihrem
bisherigen Amtssitze, oder wenn Beamte, die bislang nicht ans den Kaiser
vereidigt waren, in eine der oberen Stellungen einrücken, deren Inhaber nach
Artikel 50 der Reichsverfassung sämtlich vom Kaiser angestellt und auf ihn
vereidigt werden. Es muß also ein Beamter, der zwanzig Jahre lang in Baden
beschäftigt war und getreu seinem Diensteid auf den Großherzog von Baden
auch den Anordnungen des Kaisers Folge geleistet hat, bei einer Versetzung
nach dem Elsaß abermals vereidigt werden, und zwar auf den Kaiser; ein
Beamter der höheren Laufbahn, der vorher auf die Könige von Preußen und
Sachsen vereidigt war, muß bei der Beförderung zum Oberpostinspektor von
neuem einen Eid leisten, diesmal dem Kaiser, selbst wenn er in Baden oder
Braunschweig sein neues Amt erhält. Diese Beispiele lassen sich beliebig ver¬
mehren, die angeführten genügen aber, um darzutun, daß auf diesem Gebiet
des Verivaltungsrechts alten Verträgen zuliebe noch eine Bnntscheckigkeit herrscht,
die der damit verbundenen Schreiberei und sonstigen Weiterungen nicht wert
und deshalb zur Beseitigung reif ist.
Mit dieser Beseitigung würden auch einige Fragen ihre Erledigung finden,
die bisher in der Theorie mehr erörtert wurden, als ihrer Bedeutung für die
Praxis zukam. In der Hauptsache handelt es sich um folgendes.
Nach § 9 des Gesetzes vom 1. Juni 1870 über die Erwerbung und
den Verlust der Reichs- und Staatsangehörigkeit vertritt eine von der Regierung
eines Bundesstaats vollzogene oder bestätigte Bestallung fiir einen in den
unmittelbaren oder mittelbaren Staatsdienst aufgenommenen Angehörigen eines
anderen Bundesstaats die Stelle der Aufnahmeurkunde, sofern nicht ein ent¬
gegenstehender Vorbehalt in der Bestallung ausgedrückt wird. Unter dem Wort
Bestallung wird jede Anstellungsurkunde verstanden, gleichviel ob die Anstellung
dauernd oder auf Widerruf und Kündigung erfolgt und ob sie mit Gehalt
verbunden ist oder nicht, jedoch muß die Anstellung auf schriftlichen Wege
erfolgen. Während ein im Namen des Kaisers angestellter Beamter durch seine
Bestallung nicht in den Bundesstaat aufgenommen wird, in dem sein Amtsort
liegt, erwerben die von den Landesverwaltungcn angestellten Beamten die
Staatsangehörigkeit in dem betreffenden Staate. Allerdings nicht in Baden,
denn die badische Regierung macht den im Z 9 des Jndigenatsgcsetzes erwähnten
Vorbehalt, und sie hat in der Zweiten Kammer wiederholt erklärt, sie sei stets
der Ansicht gewesen, daß hier unter badischen Landesangehörigen nur solche zu
verstehen seien, die die badische Staatsangehörigkeit durch Abstammung, nicht
durch Aufnahme oder Naturalisation erworben haben. Die Staatsangehörigkeit
spielt übrigens nur dann eine Rolle, wenn es sich um die Besetzung von
Stellen handelt, die vertragsgemäß den Landeskindern vorbehalten sind; denn
diese rücken vielfach früher in diese Stellen ein als ihre Kollegen von gleichem
Dienstalter in anderen Teilen des Neichspostgebiets, vornehmlich in Preußen.
Die Allerhöchste Verordnung vom 29. Juni 1871 (R. G. Bl. 303),
die inhaltlich mit der vom 3. Dezember 1867 übereinstimmt und die Form des
Diensteides auf den Kaiser festsetzt, bezeichnet die Beamten, deren Anstellung
vom Kaiser ausgeht, als „unmittelbare" Neichsbeamte. Im Gegensatz dazu hat
sich für die übrigen Beamten die Bezeichnung mittelbare Reichsbeamte ein¬
gebürgert. Viel Worte, Tinte und Druckerschwärze sind über diesen Unterschied
gerade im Hinblick auf die Post- und Telegraphenbeamten schon verschwendet
worden, kein Kommentar des Reichs- oder Beamtenrechts läßt ihn unerörtert.
Die meisten halten sich an den Wortlallt der Verfassung und behaupten, dle
sogenannten mittelbaren Neichsbeamten seien, weil von den Landesherren ernannt,
in erster Linie Landesbeamte. Diesen Standpunkt vertritt namentlich Laband,
der aber selbst für die mittelbaren Reichsbeamten die Bezeichnung „Landes¬
herrliche Neichsbeamte" vorschlägt. Diese ganzen Erörterungen sind, was die
Post- und Telegraphenbeamten angeht, vollständig müßig, denn sachlich besteht
gar kein Unterschied zwischen den unmittelbaren und den mittelbaren Reichs¬
beamten. Wenn ein Teil der Beamten nun einmal mittelbar sein soll, so sind
sie eher mittelbare Landesbeamte als mittelbare Neichsbeamte. denn ihr Ver¬
hältnis zum Reich ist viel unmittelbarer als das zu der Landesregierung; ist
doch diese, obwohl sie den Beamten angestellt und seinen Eid erhalten hat,
nicht einmal in der Lage, den Beamten in ihrem Lande zu halten und seine
Versetzung in das Gebiet eines anderen Bundesstaates zu verhindern. wenn die
Reichspostverwaltung diese Versetzung im Interesse des Dienstes verfügt!
Laband beruft sich zur Begründung des von ihm vertretenen Standpunktes
darauf, daß dieser 1868 vom Präsidenten des Neichskanzlemmts bei der
Beratung des Beamtengesetzes im Norddeutschen Reichstag ausdrücklich anerkannt
worden sei; er führt ferner einen Erlaß des preußischen Ministers des Innern
aus dem Jahre 1869. ein Urteil des Kammergerichts aus demselben Jahre,
eine Entscheidung des Disziplinarhoss von 1874 und ein Erkenntnis des Reichs¬
gerichts aus 1880 ins Feld. Das letzte, diese Frage berührende Urteil des
Reichsgerichts ist nach dem Kommentar zum Reichsbeamtengesetz von Pereis
und Dr. Spilling 1882 ergangen. Daß diese jüngste Entscheidung bald dreißig
Jahre alt wird, ist sicher kein Zufall, es beweist vielwehr, daß derartige Fragen
heutzutage ihre praktische Bedeutung verloren haben und vor den Gerichten
nicht mehr ausgetragen zu werden brauchen; es läßt den Schluß zu, daß die
hier in Rede stehenden Bestimmungen des Artikels 50 der Reichsverfassung,
auch wenn sie nicht wie die Artikel 51 und 75 ausdrücklich als Übergangs¬
bestimmungen bezeichnet sind, am letzten Ende doch nur Übergangsbestimmungen
sein sollten, die der allseitig als notwendig erkannten baldigen Verschmelzung
der zahlreichen Einzelverwaltungen die Wege ebnen sollten und die ver¬
abredet und zugestanden wurden, weil damals wichtigere Fragen zur
Lösung drängten. Aber bereits 1871 wurde durch ein neues Reglement
über die Einstellung von Anwärtern in den Postdienst der Grund gelegt für
eine größere Gleichmäßigkeit der Beamtenverhältnisse,- und wie die einheitliche
Entwicklung des Post- und Telegraphenverkehrs längst alle Landesgrenzen ver¬
wischt hat, so besteht auch, wie schou erwähnt, längst kein tatsächlicher und
materiell rechtlicher Unterschied mehr zwischen den unmittelbaren und den mittel¬
baren Neichsbeamten, die zusammen den einheitlich geschlossenen Beamtenkörper
der Reichspost- und -telegraphenverwaltung bilden. Dieser Auffassung redet
namentlich der Kommentar von Perels und Spilling das Wort. Wie darin
besonders betont wird, haben auch die von den Landesregierungen angestellten
Beamten lediglich den dienstlichen Anordnungen der vorgesetzten Reichsbehörden
zu folgen; Reichsbehörden setzen die Bedingungen fest, unter denen die Annahme.
Ausbildung und Beförderung erfolgt, Reichsbehörden bestimmen, wie und wo
die Beamten verwendet werden und welche Einkünfte sie während ihrer
Beschäftigung aus Neichsmitteln beziehen, Reichsbehörden allein steht die
Disziplinargewalt über die Beamten zu, Reichsbehörden setzen schließlich auf
Grund von Reichsgesetzen das Ruhegehalt und die Hinterbliebenenbezüge fest;
kurz alle Pflichten und Rechte, die für den Beamten mit seinem Amt verbunden
sind, regeln sich von Reichs wegen.
Demgegenüber ist die Frage wohl berechtigt, ob die Anstellung des größeren
Teils der Reichspost- und -telegraphenbeamten im Namen und durch die
Regierungen der genannten Bundesstaaten den Verhältnissen, wie sie sich im
Laufe der Jahrzehnte herausgebildet haben, noch entspricht, und ob es nicht an
der Zeit wäre, daß die sechs Staaten ihr Anstellungsrecht aufgeben und es im
Vertragswege derjenigen Stelle übertragen, der es eigentlich zukommt, nämlich
dem Präsidium des Bundes, dem Kaiser. Wie wenig tatsächliche Bedeutung
diesen: Recht innewohnt und welche Weiterungen es verursacht, ist oben aus¬
geführt worden. So wenig Oldenburg und Anhalt etwas von ihrer Selb¬
ständigkeit eingebüßt haben, als sie schon zu Beginn der Bundespost auf die
Anstellung des Personals verzichteten, so wenig brauchen das die „betreffenden"
Staaten zu befürchten, und wenn ein Beamter schwört, daß er dem Deutschen
Kaiser treu und gehorsam sein und die Reichsverfassung sowie die Gesetze des
Reichs beobachten wolle, so enthält dieser Schwur doch wohl unbestritten das
Gelöbnis der Treue und des Gehorsams gegen alle Teile des Reichs. An der
Vertragsbestimmung über die vorzugsweise Berücksichtigung der Landesangehörigen
und die Besetzung der Vorsteherstellen braucht dabei, wie die früheren Beispiele
Zeigen, nicht gerüttelt zu werden, um so weniger als die Postverwaltung allgemein
den Grundsatz aufgestellt hat, das; jede Oberpostdirektion den Bedarf an mittleren
und an Unterbeamten möglichst vollständig aus dem eigenen Bezirk decken soll,
und als sie ferner die Wünsche des gesamten Personals wegen Beschäftigung
in der Heimat erfüllt, soweit dies irgend möglich ist.
Vor allem wäre es an Preußen, auf die Anstellung von Beamten in den
außerpreußischeu Staaten zu verzichten, wie es Sachsen bereits 1830 hinsichtlich
der Postbeamten in Altenburg getan hat; für sein eigenes Staatsgebiet
könnte Preußen diesen Verzicht um so eher aussprechen, als es sich um die
Anstellung der Post- und Telegraphenbeamten seit 1868 ohnehin nicht mehr
kümmert, sondern sie durch das Reichspostamt und die Oberpostdirektionen aus¬
führen läßt. Der Anregung und dem Beispiel Preußens würden die übrigen
Staaten sicher über kurz oder lang nachfolgen. Sie würden damit ein Überbleibsel
aus dem Zusammenbruch des Deutschen Bundes der verdienten Vergessenheit
überliefern; sie würden den Neichsgedanken auch auf diesem Gebiet des Staats¬
und Verwaltungsrechts fördern helfen und am Ende auch in etwas zur Erreichung
eines Zieles beitragen, das während des letzten Jahres mit viel Eifer, aber
bisher wenig Erfolg angestrebt worden ist: zur Vereinfachung der Verwaltung.
as Geschichtswerk des französischen Ministers des Auswärtigen
im Ministerium Möline über Frankreich seit den: Zusammenbruch
des zweiten Kaiserreichs hat auch in Deutschland Beachtung
gefunden. Mit Recht. Es hat auch verdient, ins Deutsche über¬
setzt zu werden. Der dritte Band, der mit dem Tode Gcnnbettas
am Silvesterabend 1882 endet, ist soeben deutsch erschienen. Damit ist eine
Zwölfjährige Epoche dargestellt: die Zeit, in der die Überbleibsel des alten mo¬
narchischen und klerikalen Frankreich noch mit der emporsteigenden Republik rangen
und zuletzt endgültig geschlagen wurden. Man kann Gambetta sicherlich nicht
in dem Sinne den Schöpfer der französischen Republik nennen wie Bismarck
den des Deutschen Reiches; in dem Sinne, als ob sie nicht auch ohne ihn ent¬
standen wäre. Gewiß wäre keinerlei andere Möglichkeit vorhanden gewesen,
auch wenn der Diktator von Bordeaux etwa schon bei seiner Lustballonfahrt
verunglückt wäre. Aber daß er nnter den schaffenden Personen die bedeutendste
und einflußreichste war, das wird niemand bestreiten. Selbst Thiers erreicht ihn
nicht; was er einbrachte an Vertrauen der konservativeren Elemente, das
strömte Gcnnbctta von selten der Radikalen zu; auf alle Fälle war er der
kühnere, feurigere, begeisterndere der beiden Männer, deren Zusammenwirken
den Gaug der Dinge bestimmt hat.
Beim Ende des Krieges herrschte in Frankreich eine monarchistische Strö¬
mung. Alle drei monarchischen Systeme hatten im Laufe von fünfundfünfzig
Jahren Schiffbruch erlitten, das legitime klerikale Königtum, das Bürgerkönigtum,
der demokratische Zäsarismus; dieser sogar zweimal. Dennoch fanden sich die
Neste, so verfeindet sie auch untereinander waren, alsbald zusammen in gemein¬
samem Widerstande gegen die gefürchtete Republik. Thiers sagte einmal in
größter Bitterkeit gegen den Herzog von Broglie, mit dessen Vater er ein
Ministerium unter Louis Philippe gebildet hatte: Er läßt sich eine Gönnerschaft
gefallen, die sein edler Vater verschmäht haben würde, die Gönnerschaft des
Kaiserreichs. In der Tat, die Zurückdrängn»g der äußeren Unterschiede der
monarchistischen Parteien bildete die einzige Möglichkeit, der Republik deu Weg
zur Konsolidierung zu verlege». Was hätte kommen können, wenn sie einig
gewesen wären, wenn sie einen kühnen und weisen Maun für den Thron in
Bereitschaft gehabt hätten, befähigt, selber die Ereignisse zu führen, das kann man
nur ahnen. Aber der Erbe des bourbonischen Hauptstammes war ein Jammer¬
prinz erbärnckichster Art, der Sohn Napoleons des Dritten war ein Kind, der
Angeseheiche der Orleans, der Herzog voll Anmale, war nicht der Thronerbe.
Er würde wahrscheinlich einen guten König abgegeben haben; sogar von seinem
Neffen, dem zum König bestimmten Grafen von Paris, kann man das sagen.
Aber das Haus Orleans verfügte doch nicht über Männer der allerhöchsten
Genialität, es konnte nicht einmal Autorität erlangen über die anderen mo¬
narchistischen Parteien, wie hätte es solche bei den Republikanern beanspruchen
können? Zuletzt verspielte es seine beste Karte, indem es sich nnter die weiße
Fahne des Legitimismus stellte.'
Vom 24. Mai 1873, ehe die Thierssche Republik viel über zwei Jahre
alt geworden war, bis zum 30. Januar 1879 dauerte die Präsidentschaft
Mac Masons, die bestimmt war die Monarchie aufzurichten. Dieser bedeutungs¬
volle Abschnitt bildet den Hauptstoff des Hanotauxschen Geschichtswerks. Der
zweite Band, ein Doppelband, beginnt rin jenem inhaltschweren Tage, als die
Monarchisten den Gesetzentwurf Thiers' über die endgültige Errichtung der
Monarchie ablehnten und damit den ehrwürdigen Greis stürzten. Der Herzog
von Broglie bildete die Seele der ganzen Verschwörung. Um ihn herum
standen die angesehenen Orleanisten, die Herzöge von Decazes und Audisfret-
Pasquier, die Bonapartisten mit dem ehemaligen „Vizekaiser" Rouher an der
Spitze, endlich ohne erhebliche Kapazitäten der geistig verstockte Heerbann der
Klerikalen und Legitimisten. Und eben dieser war es, der den Herzog von
Broglie schon nach Jahresfrist wieder stürzte, weil er jenen Prätendenten von
Froschdorf nicht emporbringen konnte, der den Kultus seiner weißen Fahne
und seiner unumschränkten Königsgewalt für das Heiligste unter der Sonne
hielt. Mac Mahon war nur das Werkzeug der Monarchisten, Darüber
wurde die Zeit versäumt, während deren die Kammer noch eine monarchistische
Mehrheit hatte. Am 20. Februar 1876 wählte das in den Besitz seiner selbst
gelangte Frankreich zum erstenmal wieder und nun kam eine Mehrheit von
dreihundertsechzig Republikanern gegen nur hundertsiebzig Monarchisten nach
Versailles. Der ganze monarchistische Spuk schien gebannt. Mac Mahon
mußte sich bequemen, mit den Republikanern zu regieren, und konnte froh sein,
daß unter ihnen die gemäßigten in so großer Zahl waren, daß sie. wen,: sie
von den Monarchisten unterstützt waren, eine Kammermehrheü hatten. Mac
Mahon war zwar auf sieben Jahre zum Präsidenten gewählt, indes hat er
selber wie auch später Grevn erfahren müssen, daß die Mehrheit der zwecken
Kanuner auch den unabsetzbaren Präsidenten stürzen kann, wenn sie dazu ent¬
schlossen ist. Damals hatten die Republikaner solchen einheitlichen Willen noch
nicht; die Gemäßigten standen den Radikalen noch zu schroff gegenüber.
Es war das Werk Broglies. - und damit beginnt der dritte Band der
Hanotauxscheu Geschichte -. wider seinen Willen die Republikaner zu ermgen.
Mac Mahon und die monarchistische Senatsmehrheit standen ihm zur Ver¬
fügung, um ein Gesetz über die Auflösung der Kammer zu erlassen, nachdem
die Monarchisten in Verbindung mit den Radikalen das gemäßigt republikanische
Ministerium Jules Simon gestürzt hatten. Es war der berühmte 16. Mai 1877.
Der Verfasser entrollt in diesem Bande ein prachtvolles Bild von dem Verlauf
der Broglieschen Verschwörung bis' zum Tode Gambettas. Auch der Tod
Thiers fällt hinein, ferner der Rücktritt Mac Masons. der orientalische Krieg.
Auch nach Gambettas Tode konnte kein ernstlicher Versuch, die Monarchie herzu¬
stellen, mehr gemacht werden. Je länger die Republik datiert, desto mehr
verblaßt die Erbschaft des monarchistischen Gedankens. Alle seine Träger feck Jahr¬
hunderten haben dazu beigetragen, ihn zu schwächen. Selbst Ludwig der Vierzehnte
und Napoleon der Erste; beide hinterließen das Land in einem Zustande
äußerster Erschöpfung und Unzufriedenheit. Gambetta hatte vielleicht in mancher
Beziehung das Zeug zu einem Diktator. Aber er war kein General und lief
daher immer die Gefahr, der selbst ein Perikles erlegen ist. die Gefahr, von
einer Wallung der nämlichen Volksklassen, die das Werkzeug seiner Herrschaft
sind, beiseite geschleudert zu werden. Ja Gambetta mußte noch selber tue
Erfahrung machen. Nur dritthalb Monate dauerte das Munstermm des
Gefeierte,., da stürzte man ihn ans Besorgnis vor Diktaturgelüsten. Es rst das
Schicksal jedes bürgerlichen Diktators, der nicht zugleich ein ruhmvoller, erfolg¬
reicher Feldherr ist'. Ob Frankreich noch jemals wieder einen Monarchen an
seiner Spitze sehen wird, das scheint von dem unberechenbaren Umstände abzu-
hängen, ob die Ereignisse einen genialen Heerführer nach oben wirbeln. Ein
Boulanger hatte jedenfalls nicht das Zeug dazu. Seine Diktatur wäre Schild¬
krötensuppe ohne Schildkröte gewesen.
Die Schilderung Hanotanxs von Broglie und seinen Unternehmen ist
einer hervorragenden Meisterschaft geschichtlicher Erzählungskunst entsprungen.
Deutschem Geschmack entspricht das Haschen nach Bonmots, das unaufhörliche
Zitieren kurzer Bemerkungen, in die sich nach französischer Auffassung das
ganze Urteil zusammendrängt, nicht. Wir lieben die organische Entwicklung
von Zuständen und Handlungen. Davon abgesehen können auch wir Deutsche
nur dankbar sein für den Einblick in den inneren Verlauf einer Krisis, die
auch für uns so wichtig ist, weil nach der geographischen Lage wie nach der
Weltgeschichte das Verhalten Frankreichs immer ein Umstand von allergrößter
Bedeutung ist. Fürchtete doch Bismarck in den ersten Jahren nach dem Kriege,
daß eine französische Monarchie eine Bedrohung für Deutschland bilde.
Die Verschworenen vom 16. Mai 1877 glaubten mit Hilfe einer skrupel¬
lose:? Wahlbeeinflussung eine monarchistische Kammermehrheit schaffen zu können.
Ja, Broglie ging, wie sich hernach zeigte, noch weiter, er glaubte, Mac Maso»
sei für einen Staatsstreich, für die ungesetzliche, gewaltsame Einsetzung eines
Monarchen zu haben. Die Kammerauflösung war kein Staatsstreich; der Senat
hatte ihr die gesetzliche Zustimmung nicht versagt, die der nach dein Sturze
Jules Simons zum Ministerpräsidenten ernannte Herzog von Broglie von ihm
verlangt hatte. Aber die Republikaner waren der Sachlage gewachsen. Die
neue Regierung hatte sich zum Beschützer Frankreichs gegen den Radikalismus
aufgeworfen. Gambetta war der schwarze Mann, vor dein man das weiße
Täubchen retten wollte. Nun erwirkte Gambetta durch seine Initiative sogleich
die vollständige Solidaritätserklärung. Wiederwahl aller Republikaner ohne
Unterschied der Richtungen war sein Schlagwort; keine republikanischen Gegen¬
kandidaturen unter einander; der neue Präsidentschaftskandidat soll nicht etwa
Gambetta oder ein anderer Radikaler sein, sondern Thiers. An diesem geschickten
Schachzug glitt das Manöver Broglies ab. Mit der rücksichtslosesten Beeinflussung
der Wähler durch Obrigkeit und Kirche gelang es in den Wahlen vom
14. Oktober 1877 nur, den Republikanern vierzig Sitze abzunehmen; sie blieben
in einer Mehrheit von dreihundertzwanzig zu zweihundertzehn. Dabei war
nirgends die Ordnung gestört worden. Die Möglichkeit, den Hebel eines
Staatsstreichs anzusetzen, war sehr verringert. Und im entscheidenden Augen¬
blick, als Broglie noch vom Marschall die Aufrechterhaltung eines Ministeriums
ohne Kammermehrheit erwartete, versagte Mac Mahon.
„Der Marschall kehrte zu seiner verfassungsmäßigen Rolle zurück," sagt
Hanotaux. „Und das genügt noch nicht. Der (Brogliesche) Ministerrat beschließt,
sich vor dem Senat zu repräsentieren und die Verweigerung der (von der
Kanuner beschlossenen) Untersuchung des 16. Mai zu verlangen, als ersten
Schritt auf dem Wege des Widerstandes." Im Senat interpellieren also die
Freunde des Kabinetts über den Beschluß der Kammer, eine Untersuchung ein¬
zuleiten. „Das ist nicht verfassungsmäßig," erklären Jules Simon und Dufaure.
Und der Präsident, der Herzog von Audiffret-Pasquier, sagt: „Wenn man
unter den etwas vagen Ausdrücken der Jnterpellation versteht, den Beschluß,
der Deputiertenkammer in irgend einer Weise zu kritisieren, dann werde ich es
als meine Pflicht betrachten, die Vorlegung einer solchen Jnterpellation nicht
zu gestatten... Sie sind nicht, meine Herren, wie der Senat des Kaiserreichs,
der Bewahrer der Verfassung . . . Selbst wenn man zugeben wollte, — was ich
sür meinen Teil nicht tue —, daß die Kammer ihre Befugnisse überschritten
hätte, wo wollen Sie denn in der Verfassung das Recht finden, sie vor Ihre
Schranken zu fordern und sie zu richten? Es gibt nur eine gesetzliche Art, das
zu tun, nur eine Manier, die die Verfassung vorgesehen hat: das ist der Antrag
auf Auflösung!"
Also mit dem Marschall war auch der Präsident des Senats gegen weiteren
Widerstand, vollends gegen einen Staatsstreich. Drei Tage später hatte das
Ministerium Broglie seine Entlassung. Das. war der letzte Versuch, die
Monarchie in Frankreich wieder herzustellen. Mac Mahon ernannte sehr gegen
seine anfängliche Neigung am 13. Dezember ein Ministerium: der gemäßigten
Republikaner.
Unterdessen waren bedeutende Weltereignisse ins Rollen gekommen. Die
latente orientalische Krisis führte zum Kriege. Wir Deutsche sahen dieses immer-
weitere Kreise ziehende Kapitel der Weltgeschichte anfänglich unter den:
Bismarckschen Schlagwort vom „bißchen Herzegowina" an; weiterhin wesentlich
von dem Gesichtspunkt aus, wie sich die Vernichtung der türkischen Macht durch
Rußland abspielen würde, ohne daß sich Österreich-Ungarn und England zur
Einmischung gezwungen sähen. Unsere eigene Neutralität stand fest; sie entsprach
genau Bismarcks Tendenz. Frankreich interessierte weder uns noch andere
Länder erheblich. Es konnte sich kaum entschließen, irgendeine Stellung anzu¬
nehmen, ja es schwankte ernstlich, ob es sich an der Berliner Konferenz von
1878 beteiligen sollte. Hanotaux führt uns nun über Frankreichs Gedankengänge
Zur vollständigen Klarheit. Er bestätigt, daß sowohl die Mac Mahonsche
Regierung unter Dufaures Leitung wie auch die Radikalen unter Gambetta
weder über die einzuschlagenden Wege mit sich im reinen gewesen sind, noch
auch den Mut gehabt haben, für Frankreich eine aktive Rolle in Anspruch zu
nehmen. Er selber verurteilt ex post das aufs schärfste. Der Augenblick
sei schon gekommen gewesen, um gemeinschaftlich mit Rußland die Führung-
der Dinge in die Hand zu nehmen. Man habe nur entschlossen an Rußland
herantreten müssen. Der leitende Faden seines Urteils ist, daß Bismarck ein
schändliches Intrigenspiel zum Nachteil Rußlands und insbesondere Gortschakows
gespielt habe. Daß Hanotaux dabei vollkommen im Banne der späteren Ent¬
wicklung zum Zweibunde und im Banne des französischen Deutschenhasses steht,
braucht keinem deutschen Leser näher begründet zu werden. Seine geschichtliche-
Darstellung dient ihm noch nachträglich, bei Rußland Propaganda für die
Freundschaft mit Frankreich zu machen. Es ist nicht unmöglich, daß er damit
in gewissen russischen Kreisen Erfolg hat. Bismarck, so sagt er, wollte Nu߬
land von der großen Höhe seiner Macht herunterbringen, ohne es sich zum
Feinde zu machen. Daher sah er gern, daß es sich in der orientalischen
Angelegenheit engagierte und verbiß. Er erkannte Österreich-Ungarn als den
schwächeren Teil und deckte diesen: den Rücken. So unedel erwiderte er die
Freundschaft, die Gortschakow ihm 1870/71 erwiesen hatte, indem dieser
Österreich-Ungarn bewog, jeden Gedanken an Revanche für Sa^wa, durch
Mitbeteiligung an der Verteidigung Frankreichs aufzugeben. Wie Deutschland
1870/71 jeden Manu an die Westgrenze schicken konnte, so Hütte Rußland
1877 seine ganze Kraft gegen die Türkei entfalten können, wenn Bismarck
den Russen den Dienst von 1870/71 erwidert hätte. Statt dessen versicherte
er die Österreicher seines Beistandes und die Folge war, daß diese mit einer
schlagfertigen Armee dastanden, als die Russen die Schwierigkeiten am Balkan
endlich überwunden hatten und im Frieden von S. Stepha.no die berechtigten
Früchte ihrer Anstrengungen pflücken wollten. Auch auf ein geheimes antirussisches
Einverständnis Bismarcks mit England deutet Hanotaux hin. Die Darstellung
ist das Musterstück des Tendenziösen. Geschickt sind aus Bismarcks Gedanken
und Erinnerungen manche Dinge hineinverwoben, während der leitende
Gedanke Bismarcks, für die russischen Forderungen so lange einzutreten, wie
Gortschakow selber es tat, unterdrückt ist. Verheimlicht ist auch, daß Rußland
durch den verhältnismäßig unbedeutenden Krieg so geschwächt wurde, daß so viel
innere Unfertigkeit enthüllt wurde, daß Nußland selber sich zum Kriege mit
Österreich-Ungarn und gar auch noch mit England das soeben seine Ent¬
schlossenheit durch Entsendung seiner Kriegsflotte ins Marmara-Meer bekundet
hatte — außerstande fühlte.
Es ist hier natürlich nicht der Ort, uni diese außerordentlich gefälschte
Darstellung zu widerlegen. Hier genügt ein einfacher Protest, wie gegen so
manches Bild aus der französischen Geschichtsschreibung. Hanotaux ist in der
inneren französischen Politik ein viel besserer Führer als in der auswärtigen. In
der letzteren ist er, wie die meisten seiner Landsleute, den: Dünkel ausgesetzt,
daß die Sache Frankreichs stets die edle und heilige sei, die seiner Gegner
jedoch aus schlechtem Charakter hervorgehe und auf das Unrecht abziele.
Nach der Episode des orientalischen Krieges kommt der Versasser auf die
innere Politik zurück. Sein nächstes Kapitel, die Abdankung des Präsidenten
Mac Mahon und die Einsetzung der Präsidentschaft Grevys, ist wieder glänzend
geschrieben. Unter verhältnismüßiger Ruhe spielt sich das Ministerium
Waddington-Ferri), das erste Ministerium Freycinet, das erste Ministerium
Jules Ferru ab, worauf dann endlich Gambetta selber in das leitende Amt
kommt. Nicht einmal drei Monate, vom 14. November 1881 bis zum
26. Januar 1882, konnte der Vielgefeierte sich behaupten. Seine Gegner
witterten in ihm den Diktator und wollten ihm den Weg zur Allmacht verlegen.
Er wollte zur Befestigung des demokratischen Regiments die Wahl der
Abgeordneten in großen Arrondissements nach Listen haben. Die Kammer¬
mehrheit lehnte das ab, worauf Gcnnbetta sofort zurücktrat. Am letzten Tage
desselben JahreS endete sein Leben. Er hatte sich am 27. November „durch
Unvorsichtigkeit" mit einem Revolverschuß die Hand verletzt und starb daran.
Das Gerücht, daß es mit diesem Revolverschuß eigentlich eine andere
Bewandtnis hatte, erwähnt Hanotaux gar nicht einmal.
X
^M.WU-
^»it der Freude am lyrische,: Gedicht ist's wie Nut der Freude an
Blumen: man hat sie oder man hat sie nicht. Es gehört immer
etwas Impulsives, Zartes und Kindliches dazu: aber ein gesundes
und vergnügtes Kind kennt sie nicht. Ein Kind empfindet wie
ein junges Volk durchaus episch. Unsre Altvordern dichteten von
Hildebrand und Siegfried — die Kinder von Storch Steiner und den Gänsen
im Haferstroh; etwas, was von Gefühlen handelt, langweilt sie tödlich. Man
muß nur sehn, wie die Kinder die gefühlvollen Weihnachtsverse herleiern —
mit hohlem Pathos und schiefem Köpfchen — ein Bild naiver Verlogenheit.
Höchstens, wein: die Reime recht klappern, haben sie etwas Spaß daran. Denn
was für den Großen die Lyrik, ist für sie das Lied. Da schreien sie mit
Überzeugung ihre Freude am Dasein heraus."
Diese Bemerkungen sind so richtig und gelten für den größten Teil aller
Menschen so allgemein, daß es eine der seltensten Seltenheiten ist. wenn ein
lyrisches Buch Aufsehn erregt — und ist das der Fall, so trifft es gemeinhin
nichts von bleibendem Wert, sondern mehr gefällige Verse, wie etwa in neuerer
Zeit die von Johanna Ambrosius oder Anna Ritter. Daß ein Band Lyrik
vini wirklichem Gehalt einen raschen Erfolg hat. ist ganz ungewöhnlich. Der
Verfasserin jener Zeilen aber. Agnes Miegel. ivar dies Ungewöhnliche beschieden:
die 1901 (bei Cotta) erschienenen Gedichte der damals Zweiundzwanzigjährigen
fielen sofort auf. wurden nicht nur von Carl Busse in einer eindringenden,
langen Besprechung an sehr bemerkbarer Stelle hervorgehoben, sondern auch
sonst und gerade im Publikum vielfältig begrüßt. Nimmt man sie heute wieder
vor, so haben sie nichts von jenem ersten Glanz verloren, in: Gegenteil, diese
Kunst, die seitdem, sparsam genug, nur noch ein zweites Bündchen „Balladen
und Lieder" (Jena, Diederichs, 1907) beschert hat, steht in unverweMcher Frische
und Feinheit vor uns. Und der Name von Agnes Miegel hat heute schon
für uns den Klang der Dauer.
Was alle Dichtungen von Agnes Miegel charakterisiert, ist zunächst ihre
starke Substanz. In demselben Aufsatz, dem die einleitenden Worte entnommen
sind, spricht sie von feinnervigen, erschöpften Kindern alter, üppiger Kultur, oft
mit einem Einschlag semitischen Bluts: „Sie lächeln über den Begriff Gefühl.
Für sie ist ein lyrisches Gedicht eine kunstvolle Arabeske prunkender Sätze, ein
Mittel, um eine seltsame Traumstimmung auszulösen." Wie gut ist damit ein
großer Teil unsrer heutigen Lyrik gekennzeichnet! Agnes Miegel leugnet nicht,
daß sie an diesen Chrysanthemen, duftlosen Blumen fremder Kultur, gelegentlich
Freude habe; aber wir empfinden mit ihr, daß ihre Art ganz anders ist.
Klar und gegenständlich holt so Agnes Miegel aus der Natur ihrer
ostpreußischen Heimat Bild und Laut heraus. Ihr ist der blaue Frühlingstag,
der „sonnenlichtdurchglühte", vertraut, der trunken ist von dem Duft der
Fliederblüte; sie kennt den Mittag, wann über die stillen, sonnenweißen Wege
ein Windstoß fährt; den Spätnachmittag, da auf den Wiesen lange Schatten
lagern und der Winden rote Kelche sich schließen. Und dann der September:
Bis dann vor des Winters Einbruch durch die kalte, klare Oktoberluft das
Wandern langsam der Seligkeit des letzten Lichts entgegengeht.
Durch den Rhythmus all dieser Naturbilder schreitet eine herbe und frühe
Leidenschaft mit, Mädchenleidenschaft, aber nicht die spielerische, sogenannte
Liebe, von der das Herz im Grunde nichts weiß, sondern ein wirkliches Erleben,
aus dem wir die Tragik wohl herausempfinden.
das wäre der Auftakt. Dann kennt die Leidenschaft schon ihr Ziel und äußert
sich in einem Mädchengebet, das mit dem knappen Ton einer alten Weise das
Letzte zu sagen weiß.
Die Dichterin fühlt im Nachgenuß schmerzlich-süßer Vergangenheit, wie
„die rote Rose Leidenschaft" jäh in ihre schmalen, kühlen Kinderhände fiel.
Und dann wird das Weib in ihr reif, und ihr Gebet heißt nun, es möge am
Ende ihrer Wanderschaften, am Gartentore ihrer wartend, ein Kind stehn, das
ihre Züge trägt. Mit einem Laut, der hier zum erstenmal in unsrer Dichtungtönt und etwas ganz andres ist als die viel berufene Erotomanie gleichzeitig
ausgetretener, unkünstlerisch aufgepeitschter Modefrauen, klingt Agnes Miegel nun
das Lied vom „Ungeborenen Leben":
Die Phantasie von Agnes Miegel wandert auf diesen Pfaden zu den sü߬
tragischen Liebesgestalten der Vergangenheit. Agnes Bernauerin steht wieder
vor ihr auf:
Sie aber hat nicht singen können und spricht wie schlafend ihren Traum vor
sich hin, den Traum von den roten Wellen der Donau:
Griseldis, Anna Boleyn, Maria Stuart, Madeleine Bothwell treten auf, und
wir vernehmen Klänge, die Fontanes schottischen und englischen Balladen ver¬
wandt sind, Fontanes, von dem Agnes Miegel, gleichwie von Storm, manches
gelernt hat. Und wie von diesen beiden Dichtern der eine französisches, der
andre wohl dänisches Blut in den Adern hatte, so hat auch sie einen Einschlag
hugenottischen Bluts in ihre ostpreußische Natur hineinempfangen. Ihr Tanz¬
rhythmus erscheint so ganz natürlich, wenn er als Tanzlied der Margarete
von Valois emporklingt, gewinnt aber freilich die letzte Feinheit erst, wenn er
das junge Mädchen begleitet, das im von den Gästen verlassenen Hause noch
einmal für sich den Walzertakt nachschleift.
Es ist der Nordsturm, der die engen Straßen des alten Königsberg durch¬
fährt, der in dieser Stadt nicht nur den Gedanken ihrer Kinder immer wieder
ihren besondern Charakter gibt, und der seit den Tagen E. T. A. Hoffmanns
die Dichtungen ostpreußischer Künstler stets aufs neue durchbebt. Die alten
Götterbilder der Pruzzen steigen Agnes Miegel aus der dunkeln Winter¬
atmosphäre dieser Heimat leibhaft wieder empor, sie schaut sie in den überhellen
Sommernächten des Samlandes zwischen Ostsee und Haff. Ihre hohen Bernstein¬
kronen sieht sie, wenn ferne Gewitter verrollt sind, im Blitzesschein über das
Meer hinschwinden. Und die historische Vorwelt dieses kargen Adlerlandes hat
Agnes Miegel balladenhaft bezwungen. Kynstudt. der Litauerherzog, lebt auf,
und Henning Schindekopf, sein Bezwinger, des Deutschen Ordens Schlachten-
sührer, spricht sein knappes „Oel sülvst". da er dem Lande den Frieden gegeben,
da er bei Ruban in der entscheidenden Schlacht die Todeswunde für das
Deutschtum empfangen hat. Heinrich von Planen, gefangen auf Burg Lochstädt,
ruft die Erinnerung alter Hochmeisterzeit in sich empor. Wie im lyrischen
Rhythmus, so auch in der Ballade wuchs Agnes Miegel mit der Reife der
Kreis, und sie bezwang so gut das Heimische wie die Ferne; sie wußte den
Rausch des ira und der Marseillaise in klingenden Versen zu beleben, die
doch nie hohl sind, nicht die von Fontane in einem klugen Brief gerügte zu
starke „Forschigkeit" besitzen, sondern wirklich aus dem Aufruhr heraus geboren
erscheinen.
Immer wieder aber wird nach dem Hauch der Leidenschaft das Herz von
der Stimme der Töne umsponnen, die eine Kindheit in der Heimat mit empor¬
bringt. Eben noch sehn wir, wie die Dichterin „die Kinder der Kleopatra"
plastisch vor uns hinstellt rin den: Hauch der überreifen Kultur eines in
Sinuenglut getauchten Fürstenhauses:
Dann aber sind wir schon wieder mit Agnes Miegel am Bollwerk des Pregels
und nehmen Abschied von einen: langen, fleißigen Sein, das unter dem gleich¬
mäßigen Tritt eines ruhigen Tagewerks verlief, eines Tagewerks, dem eine
Dichterin den vollen Rhythmus des Lebens abzugewinnen vermag. Wir fühlen,
daß der alte Kaufmann zum letztenmal das alles, was sein Leben ausgemacht
hat, liebend umfängt..
Und da der nur halb Genesene den Abschiedsbesuch bei dem Freunde gemacht
hat, entläßt ihn dasselbe Bild:
Als Agnes Miegel auftrat, erschien ihre Kunst sofort so reif, daß man zu
der Frage kam, ob sie einer weitern Entwicklung noch fähig sein würde. Mir
scheint, sie hat diesen Beweis voll erbracht. Sie hat in dem zweiten Band in
der Verfeinerung des Ausdrucks, in der Vertiefung der Empfindung noch über
das hinaus gedeutet, was ihre ersten jungen Gaben brachten, hat auch in der
Abtönung des Verses noch zugelernt.
So taucht ihr ein altes Kinderlied wieder empor, wie ihr das Bild der
Winterheimat an einem Frühlingstag in andrer Welt vor Altgen steht:
Und wie eine Krönung des Baus wirkt es, wenn wir diese Dichterin aus
den abgeleierten Versen eines vielgesungenen Gassenhauers noch das Letzte heraus¬
holen sehn, bezeichnend dafür, wie in der rechten Hand alles zu Golde wird:
Agnes Miegel ist nicht das, was man eine Zeitlang einen Neutöner nannte;
sie arbeitet mit den alten Mitteln des Reims, bildet wenig neue Worte und
beweist so, daß eine Natur im Goethischen Sinn sich immer wieder durchsetzt,
auch da, wo sie ganz Neues zu sagen hat und es nicht in unerhörter neuer
Form sagt. Sie hat einen ganz persönlichen Rhythmus, und niemand, der ein
Ohr für solche Dinge hat, wird ihre Verse mit denen der gleichzeitig auftretenden
und ihr in manchem verwandten Balladendichter des Göttinger Kreises, Börries
von Münchhausen und Lulu von Strauß und Torney. Levin Ludwig Schücking
und andrer, verwechseln. Nicht nur durch Abkunft und Heimat, auch durch
die Artung ihrer Persönlichkeit scheidet sie sich von ihnen und steht mit ihrer
noch so jungeir und doch so reifen Kunst wiederum ganz für sich allein.
Sie hat unter den lyrischen Dichterinnen der Gegenwart keine, die voll
ihresgleichen wäre — in den Möglichkeiten ihres Ausdrucks so gut wie in
der Höhe der erreichten Stellung. Ostpreußen hat jetzt, zum erstenmal in
seiner reichen literarischen Entwicklung, auch eine große Anzahl lyrischer
Talente aufzuweisen. Ich nenne Arno Holz, Georg Neicke, A. K. T. Tielo,
Carl Bulcke, Walther Heymann — so verwandt Agnes Miegel auch einzelnen
von diesen, zum Beispiel Tielo, nach Stoff und Stimmung gelegentlich erscheinen
mag. so steht sie auch unter ihnen wiederum für sich durch die volle Weiblichkeit
in Empfindung und Ausdruck, die sie von den Männern trennt, durch die
stärkere Kraft der Gestaltung, die sie von den älteren, durch die größere Reife,
die sie von den jüngeren der Genannten scheidet. Die beiden schmalen Bände,
die sie gegeben hat. gehören zum Köstlichsten, was uns die deutsche Dichtung
der letzten zehn Jahre beschert hat, und ihr gewählter und mit hoher Selbst¬
kritik auf ein bescheidenes Maß zusammengedrängter Ertrag birgt die Gewähr
in sich, daß nichts daraus der Zukunft verloren gehn wird.
Der Kronvrw bat am Dienstag, den 23.. vielen deutsch Denkenden eine
Freud?^t?Zu MM.ß in! seine feierliche Investitur und ^lamation als
Kector ^smkicentissimus der Albertus-Un.vers.tat zu Königsberg hat er in
Rede gehalten, die die Worte enthielt: ..Weisen Sie uns die Wege, auf
denen unser deutsches Volk wandeln soll, um eine Stellung unter
den Völkern einnehmen zu können, die ihm, seinen geistigen und
Physischen Kräften entsprechend, zu Recht zukommt, wobei besonders,
unser deutschnationales Volkstum im Gegensatz zu den internatio¬
nalisierenden Bestrebungen, welche unsere gesunde völkische Eigenart
zu verwischen drohen, zu betonen ist." Ein junger deutscher Fürst hat hier
einen Gedanken in Worte gekleidet, den Millionen deutsche Männer und Frauen
hegen und den nur unverbesserliche Phantasten, die eine Verwischung aller Rassen-
und Völkermerkmale für möglich halten, von sich weisen. Die Bedeutung der
Worte liegt somit nicht in der Neuheit oder Eigenart des Gedankens, sondern
in der Tatsache, daß sich der künftige Erbe der deutschen Kaiserkrone offen zu
ihm bekennt. Für uns, seine Zeitgenossen und spätern Untertanen, ein erfreuliches
Bekenntnis, da wir in dem Gleichklang der Empfindungen beim Träger der Krone
und bei der Nation die einzige sichere Bürgschaft für das Gedeihen des Vater¬
landes sehen. Aber nicht nur im Hinblick auf die fernere Zukunft ist der Ausspruch
des Kaisersohnes von Bedeutung. Auch für die Richtung unserer gegenwärtigen
Politik bildet sie ein Symptom, dessen wir uns nur freuen können. Sie ist eine
Ergänzung zur Rede des Kaisers in Posen, die wir zuletzt an dieser Stelle besprachen.
Sie nimmt manche Bedenken fort, die noch vor einer Woche am Platze waren.
Die Bezeichnung Posens als Hort deutscher Kultur, unterstrichen durch den Wunsch
des Kronprinzen, die deutsche Wissenschaft solle uns die Wege zeigen, wie wir
unsere nationalen Eigenschaften am besten entwickeln könnten, bedeutet uns keine
bloße Aufforderung zum Frieden mehr, wo der Sieg noch nicht errungen, sondern
einen ernsten Hinweis auf die Notwendigkeit zu kämpfen. Es ist darum völlig
unverständlich, wie ein sonst national geleitetes Blatt aus den beiden Reden einen
Gegensatz zwischen Kaiser und Kronprinz folgern konnte. Selbstverständlich hat es
auch an Stimmen nicht gefehlt, die aus des Kronprinzen Worten einen kulturwidrigen
Chauvinismus heraushören wollen. Das „Berliner Tageblatt", das kürzlich
treffend als der Haupternährer des Antisemitismus bezeichnet wurde, versteigt sich
zum Beweise dafür sogar dazu, eine Rede zu zitieren, die Kronprinz Friedrich Wilhelm
am 6. Juni 188S an die studierende Jugend gerichtet hat. In der Rede heißt es:
„Die Gefahren fremder Art und fremden Wesens für das geeinigte
Vaterland haben wir, wie mir scheint, für unser, so Gott will, immer
mehr erstarkendes Staatswesen nicht zu fürchten. Sicherlich dürfen
wir mit berechtigtem Stolz uns dessen rühmen, was unser Volk unter
der glorreichen Führung seines Kaisers geleistet. Aber sorgen wir
dafür, daß jede Überhebung uns fernbleibe. Eine solche ist undeutsch,
und für ihre Betätigung in dem Tone und Sinne, den wir bei anderen
Nationen oft bitter getadelt, fehlt uns sogar der Ausdruck, den wir
erst einer fremden Sprache entlehnen."
Auch zu diesen Ausführungen vermögen wir in der Ansprache des
Kronprinzen keinen Widerspruch zu finden. Denn beide Reden geben lediglich
dem Wunsche Ausdruck, daß das Beste gefunden werden möge zur Hebung
und Kräftigung der Nation. Nur fordern verschiedene Zeiten und Umstände
auch verschiedene Mittel, um dasselbe Ziel zu erreichen. Vor fünfundzwanzig
Jahren, als sich unsere Kolonialpolitik nur langsam zu entwickeln begann, als
wir in kleinstaatischer Selbstüberhebung glaubten, die ganze Welt schulmeistern zu
können, als es möglich war, daß ein Ahlwardt sich „Rektor aller Deutschen" nennen
konnte, damals tat eine Erinnerung im Sinne der Worte des damaligen .Kron¬
prinzen ebenso not, wie heute die Warnung vor dem Gegenteil.
Wie sehr der Kronprinz den Ton getroffen hat, der den national empfindenden
Kreisen — also der Mehrheit der gebildeten Deutschen — zusagt, geht indessen
nicht nur aus den Äußerungen der Presse hervor. Wer die Symptome zu begreifen
vermag, die sich hier und da bei den konservativen Parteien und innerhalb der
Nationalliberalen bemerkbar machen, der wird zugeben, daß man beginnt, die
Gefahren der Kämpfe des letzten Winters gerade auf nationalem Gebiet zu erkennen.
Bei den verschiedenen konservativen Gruppen liegt das Symptom in der sich vor¬
bereitenden Neubildung einer antisemitischen Partei, bei den Nationalliberalen in
den: offnen Abrücken von den Freihändlern durch die Rede Fuhrmanns und in
dem Einlenken der Jungliberalen zu einer ruhigeren Auffassung ihrer Aufgaben.
So sehr wir das Wiederaufkommen des Antisemitismus bedauern, erscheint es
uns lediglich als eine natürliche Folge der jüdischen Propaganda, d:e der Frei¬
sinn in der letzten Zeit getrieben hat. - eine Propaganda, die in dieser Weise
das Gelingen aller Reformfragen abhängig machen will von der Stellung, die
man bade den Juden einräumt, als ob W wenMn ^
Ausschlag gebend für die Entwicklung von sechzig Millionen Deutschen waren
Dadurch kann der Verschmelzung der ^den mit den Deut chen nicht
gedient werden und in die ruhige Erörterung über praktische Frag n wird
eine Leidenschaftlichkeit hineingetragen, die nur der Verhetzung d:en^ Das
stößt naturgemäß jeden Besonnenen °b. Und die Naumarm und <Ä "°sha
und die in der ganzen Welt ans internationalen Kongressen nach Lord
spähenden Gelehrten verlieren an Nachfolge. Ihr Einfluß ist zwar noch
nicht überwunden, aber man beginnt doch in ihnen wenigstens Träger d r
Anarchie und eines vormärzlichen Internationalismus zu vermiiten. Neben der
angedeuteten Reaktion gegen den Freisinn sind energische Bemühungen "n Gang ,
den rechten Flügel der Nationalliberalen von der Paro abzusprengen- Nachdem
die hessischen und hannoverschen Bündler der Parte: den Rucken gekehrt haben, bilden
jetzt die rheinisch-westfälischen Industriellen und die Hamburger den äußersten
rechten Flügel. Wie weit die Bemühungen gediehen sind laßt sich noch
nicht mit Sicherheit feststellen, ebensowenig laßt sich schon heute sagen, ob die
antisemitischen N ubild engen genügend Anziehungskraft haben um die bezeichneten
Kreise an sich fes^ °is bindender KNt em >zur -
schaftliches Interesse hinzu, dann dürften die Bmnuhungen vergeblich hin- Solcher
Kitt aber kann geschaffen werden aus der Stellungnahme zu Frelhmid^ und
Schutzzoll. - Im Zentrum hat man schwere Sorgen mit Professor 0r. S ahn
Die Roeren und Genossen wünschen ihn gern zu allen Teufeln, wen er im er
den nationalen Zentrumsmitgliedern eine starke Gefolgschaft hat die acht abgene ge
wäre, sich von den Ultramontanen zu trennen ""d «ut den oben ^rechtsstehenden Gruppen in nähere Fühlung M treten. Vielleicht w'rd ruf
der Verlauf der Augsburger Katholikentage darüber enuge nähere Auskunft
geben.
In der inneren Politik beginnt somit erfreuliche Bewegung die zu einer
Stabilisierung der nationalen Mittelparteien schon ^ Herbst sich en k^Zwar mit einem scharfen Ruck nach rechts. Daß eme olche Stadius e ung Hochs
notwendig erscheint, geht ans der allgemein Streik
deutschen Werften ergriffen hat und die durch Verimttelung des W ltkongresseS zu
Kopenhagen zu einem allgemeinen Streik aller Werft- und Hafenarbeiter der
Welt sichren soll. Dieser Streik ist eine Generalprobe auf die bevorstehenden
Wahlen; hoffentlich wird er das Reagenzmittcl für d.e Knstallisation einer starken
bürgerlichen Mittelpartei.---
Mitten hinein in die beginnende Sachlichkeit platzte am Freitag einer Bombe
gleich die Ansprache, die der Kaiser als König von Preußen am Donnerstag abend
gelegentlich der Galatafel für die Provinz Ostpreußen zu Königsberg gehalten hat.
Diese Rede vom 26. August 1910 hat für die Entwicklung der nächsten Monate
eine solche einschneidende Bedeutung und wird deshalb so viel zitiert, kommentiert,
erklärt und verdreht werden, daß wir sie hier nach der Wiedergabe des Reichs¬
anzeigers (Ur. 200 vom 26. August) wörtlich anführen wollen. Der Kaiser sagte:
Es liegt Mir am Herzen, den Herren der Provinz der Freude Ihrer Majestät
und Meiner Ausdruck zu geben, das; Wir wiederum in den Grenzen dieses schönen Landes
Uns befinden und daß Wir von feiten der Bürgerschaft Unserer treuen Königstadt und
der Provinz in so begeisterter Weise empfangen worden sind. Die Stimmung, die in
diesen Tagen in Königsberg zum Ausdruck kommt, ist der Beweis dafür, daß ganz
besonders innige Bande Stadt und Probmz mit Unserem Hause verbinden. Und in der
Tat, wenn man zurückblickt auf die Geschichte des Landes und des Hauses, so ergibt
sich daraus, daß große und bedeutende Abschnitte beiden gemeinsam sind. Hier war es,
wo der Große Kurfürst aus eigenem Recht zum souveränen Herzog in Preußen sich
machte, hier setzte sich sein Sohn die Königskrone aufs Hnupt, und vns souveräne Haus
Brandenburg trat damit in die Reihe der europäischen Mächte ein. Friedrich Wilhelm
der Erste stabilisierte hier seine Autorität „wie einen roelier cle dron^o", unter Friedrich
den: Großen hat die Provinz Freude und Leid seiner Regierung geteilt, dann kam die
schwere Zeit der Prüfung. Der große Soldatenkaiser der Franzosen residierte hier im
Schloß und ließ, nachdem Preußens Macht zusammengebrochen war, seine erbarmungs¬
lose Hand Stadt und Land fühlen. Hier wurde aber auch der Gedanke der Erhebung
und der Befreiung des Vaterlandes am ersten zur Tat. Auf Tauroggen folgte der
begeisterte Beschluß des preußischen Provinziallandtages, als der alte eiserne Uorck die
Herren mit flcunmernder Rede begeisterte, das Werk der Befreiung zu beginnen. Und
hier setzte sich Mein Großvater wiederum aus eigenem Recht die preußische Königskrone
muss Haupt, noch einmal bestimmt hervorhebend, daß sie von Gottes Gnaden allein ihm
verliehen sei und nicht von Parlamenten, Volksversammlungen und Vvllsbcschlüssen, und
daß er sich so als ausgewähltes Instrument des Himmels ansehe und als solches seine
Regenten- und Herrscherpflichten versehe. Und mit dieser Krone geschmückt, zog er vor
vierzig Jahren ins Feld, um zu ihr noch die .Kaiserkrone zu erringen. Fürwahr, was
für ein Weg bis zu dein berühmten Telegramm des Kaisers an Meine selige Gro߬
mutter: „Welche Wendung durch Gottes Fügung!" Dieses Bild würde jedoch unvoll¬
kommen sein, wenn Ich nicht einer Figur gedächte, die besonders in diesem Jahre das
Preußische, und ich kann wohl sagen, das deutsche Volk beschäftigt und von neuem gepackt
hat. Es ist die Zeit unseres Zusammenbruches und unserer Erhebung gar nicht denkbar
ohne die Gestalt der Königin Luise! Auch die Stadt Königsberg und die Provinz Ost-
Preußen hat diesen Engel in Menschengestalt unter sich wandeln gesehen, ist von ihr
beeinflußt worden und hat auch mit ihr so schweres Leid getragen. Die hohe Königin
ist von vielen Seiten eingehend geschildert worden, und unser Volk hat sich in dankbarer
Erinnerung mit ihr beschäftigt. Aber Ich meine, das eine kann nicht genug hervor¬
gehoben werden, daß in dem allgemeinen Zusammenbruch des Vaterlandes, wo selbst
Staatsmänner und Heerführer alles für verloren gaben, die Königin die einzige gewesen
ist, die nie einen Augenblick um der Zukunft des Vaterlandes gezweifelt hat. Sie hat
durch ihr Beispiel, durch ihre Briefe, durch ihr Zureden und durch die Erziehung ihrer
Kinder dem Volk den Weg gewiesen, ans dem eS sich wiederfinden konnte. Sie hat die
Umkehr zur Religion und damit die Umkehr zur Selbsterkenntnis und zum Selbst¬
vertrauen gewiesen. Sie hat unser Volk angefeuert zu dem Gedanken, sich wieder um
den König zu scharen und die Freiheit zurückzugewinnen. Und als sie — eine hohe
Märtyrerin — verblichen war, und die Begeisterung im Lande aufflammte, und alt
und jung zu den Waffen griff, um die Unterdrücker aus dein Lande zu treiben, da ist
sie im Geiste vor den Fahnen hergeschritten und hat den Mut der Krieger belebt, daß
das große Werk vollbracht werden konnte. Was lehrt uns die hohe Figur der Königin
Luise? Sie lehrt uns, daß, wie sie einst ihre Söhne vor allen Dingen mit dein einen
Gedanken erfüllt hat, die Ehre wiederherzustellen, das Vaterland zu verteidigen, wir
Männer alle kriegerischen Tugenden Pflegen sollen; wie in der Zeit der Erhebung jung
und alt herbeiströmte und dus Letzte hergab, wie selbst Frauen und Mädchen ihr Haar
nicht schonten, so sollen auch wir stets bereit sein, uns bor allem unsere Rüstung lückenlos
zu erhalten, im Hinblick darauf, daß unsere Nachbarinächte so gewaltige Fortschritte
gemacht haben. Denn nur auf unserer Rüstung beruht unser Friede. Und was sollen
unsere Frauen bon der Königin lernen? Sie sollen lernen, daß die Hauptaufgabe der
deutschen Frau nicht ans den! Gebiet des Versammlungs- und Vereinswesens liegt, nicht
in dem Erreichen von vermeintlichen Rechten, in denen sie es den Männern gleichtun
können, sondern in der stillen Arbeit im Hanse und in der Familie, Sie sollen die junge
Generntion erziehen bor allen Dingen zum Gehorsam und zum Respekt bor dein Alter!
Sie sollen Kindern und Kindeskindern klar machen, daß es heute nicht darauf ankommt,
sich auszuleben auf Kosten anderer, seine Ziele zu erreichen auf Kosten des Vaterlandes,
sondern einzig und allein das Vaterland im Auge zu haben, einzig und allein alle
Kräfte und Sinne für das Wohl des Vaterlandes einzusetzen. Das ist die Lehre, die
die hohe Gestalt uns überliefert hat, die unser Vaterland und die Bürgerschaft dieser
Stadt auf ihrem schlichten Denkmal so schön „den guten Genius Preußens" genannt
hat. Ich hege die feste Hoffnung, daß alle hier versammelten Ostpreußen Mich ver¬
stehen und daß, wenn sie wieder heimgehen zu ihrem Werk und ihrer Hantierung, sie
sich von diesem Gedanken erfüllen lassen, Alles soll mitarbeiten an Wohl des Vater¬
landes, gleichgültig, wer und wo er sei. Und ebenso wird für Mich der Weg dieser
hohen Verblichenen vorbildlich sein, wie er Meinem Großvater borbildlich war. Als
Instrument des Nerru Mich betrachtend, ohne Rücksicht auf Tngesansichten und -Meinungen
gehe Ich Meinen Weg, der einzig und allein der Wohlfahrt und friedlichen Entwicklung
unseres Vaterlandes gewidmet ist. Aber Ich bedarf hierbei der Mitarbeit eines jeden
im Lande, und zu dieser Mitarbeit möchte Ich much Sie jetzt aufgefordert haben. Daß
diese Gesinnung in der Provinz Ostpreußen stets herrsche und Mir Ihre Hilfe in Meinem
Streben zuteil'werden möge, darauf leere Ich Mein Glas. Es lebe die Provinz Ost¬
preußen! Hoch! Hoch! Hoch!
Vergegenwärtigt man sich die Umgebung, in der der Kaiser gesprochen hat,
vergegenwärtigt man sich, wie viel Erinnerungen gerade für das Haus Hohenzollern
an die Stadt Königsberg geknüpft sind und welch ein eifriger Erhalter der
Tradition gerade Wilhelm der Zweite ist, dann kann man den Ausführungen an
sich im ganzen zustimmen, auch wem: man in den Einzelheiten abweichender
Meinung ist. Auch des Kaisers Auffassung von seiner Mission als Werkzeug
Gottes sollte keinen Anlaß zu einer abfälligen Kritik geben. Im Gegenteil, wir
alle sollten uns dessen freuen, daß ein Mann an so hoher Stelle und von der
Begabung des Kaisers die bescheidene Überzeugung in sich zu tragen vermag, wie
klein er doch geblieben und daß seine Bedeutung doch nur in der Rolle eines
Werkzeuges der höchsten Macht, eben Gottes ruht. Durch Gott alles, ohne Gott
nichts! Nicht jeder von uns darf sich rühmen, je einmal rückblickend aus seinen
und seiner Familie Werdegang bekennen zu können, daß nur eine höhere Gewalt
ihn auf den Platz zu heben vermochte, den er beglückt und angefüllt von der
Größe seiner Aufgabe gerade einnimmt. Aus den Worten des Kaisers tritt uns
somit auch das Bewußtsein einer hohen Verantwortung entgegen.
Diese hauptsächliche Tendenz der Rede kommt nnn lewer nicht voll zur
Geltung durch die wiederholte Betonung der Auffassung, daß die Äomgskrone
nicht verliehen sei „von Parlamenten, Volksversammlungen und Volksbeschlussen".
Dem Kaiser ist es ebenso wie uns bekannt, daß hierüber die Meinungen aus¬
einandergehn, je nachdem der eine mehr auf historischem oder auf naturalistischem
Voden steht, und daß dieser Meinungsstreit längst zum Mittel der politischen
Agitation herabgewürdigt ist. Wenn also der Kaiser dennoch glaubte, seine seit
zweiundzwanzig Jahren bekannte Auffassung noch einmal öffentlich aussprechen zu
sollen, dann mischte er seine hohe Person in den Parteistreit, über dein sie stehn
sollte, obgleich ersieh ausdrücklich dagegen verwahrte, auf Tagcsflrömungen Rücksicht
nehmen zu »vollen. Dadurch aber erschwert er sich nur seine so ideal und hoch
gestellte Aufgabe, denn er verliert selbst den Überblick über die Werkzeuge, die
Gott ihm — um im Bilde der kaiserlichen Vorstellung zu bleiben — an die Hand
gegeben hat. In den Jahren der Läuterung, während derer die Lichtgestalt der
Königin Luise vor der Nation geschwebt hat, sind auch die Fundamente erstanden
für alle die modernen Werkzeuge, die den Monarchen zur Verfügung stehen, um
„der Wohlfahrt und der friedlichen Entwicklung des Vaterlandes" so gut als nur
irgend möglich dienen zu können. Diese modernen Werkzeuge aber sind nicht
allein Eisenbahn, Luftschiffe und drahtlose Telegraphie, sondern und zwar in erster
Linie die Parlamente und die Presse. Diese wichtigsten Hilfsmittel der Regenten
sind aus dem Volk heraus, aus tausend Kämpfen, Mühen und Erfahrungen und
genau so aus der Allmacht Gottes heraus entstanden, wie die Monarchie, —
beides Gnadengeschenke einer höchsten Vorsehung an die Nation, die befähigt
werden soll, ein Werkzeug Gottes zu sein. Es kann nicht Absicht des Kaisers
gewesen sein, diese seine Werkzeuge öffentlich herabzusetzen, wenn er auch mit der
Entwicklung sin Lande nicht zufrieden ist. Aber welcher Patriot kann denn hente
mit dieser Entwicklung zufrieden sein?! Nur scheint der Kaiser über die Gründe
der Unzufriedenheit einseitig unterrichtet worden zu sein.
Das verrät er u. a. durch seiue gegen die Frauenemanzipation gerichteten
Worte. Wenn er ahnte, wie viel Selbstverleugnung und Opfer täglich von hundert¬
tausend Frauen ans den Altar des Vaterlandes niedergelegt werden, dann hätte
er von den relativ geringen Auswüchsen nur bednuerud Notiz nehmen können
und die Mehrheit unserer Frauen mit den Zeitgenössinnen seiner hohen Ahnfrau
auf eine Stufe gestellt. Es ist nicht Frivolität, die unsere Frauen und Töchter
zum Erwerb außerhalb der Familie treiben, sondern die wirtschaftliche Not, —
häufig genug auch der Wunsch, dein Könige einen Offizier stellen zu können.
Wer aber hätte den Kaiser anders unterrichten sollen als der Reichskanzler und
preußische Ministerpräsident? Wie leicht war es, gewisse Schärfen der Rede zu
mildern und zu beseitigen, ohne die Meinung des Monarchen zu entstellen!
Warum ist in dieser Hinsicht nicht das nötige geschehen? Wir können uns das
nur so erklären, daß der amtliche Apparat wieder einmal in einer ernsten
Angelegenheit versagte, weil seine ganze Aufmerksamkeit und physische Kraft auf
die Anordnung der Feste, auf Platz-, und Dekoratiousfragen gerichtet waren.
Auch die Art, wie die Rede in die Öffentlichkeit gebracht wurde, bezeugt das
Versagen des Apparates. Man hat sie einfach Wolffs Depeschenbnreau übergeben
und dem alles Weitere überlassen. Die Folge war, daß die demokratische „B. Z.
am Mittag" als erstes Blatt, die Rede in Berlin vertreiben konnte. „Gegen
Parlament und Voltsbeschlüsse!" rief die Straßenreklame. Der erschreckte Bürger
greift nach dem Blatt, überfliegt die fett gedruckten Stellen und hat dann gerade
noch so viel Zeit übrig, um den kurzen Kommentar zu lesen. Damit ist die
Stimmung gemacht und was die Abendblätter bringen, ist nur Öl ins Feuer.
Auch in dieser Hinsicht wäre es leicht gewesen, den Demokraten das Wasser ab¬
zugraben. Der Prcsscdezernent hätte nur dafür sorgen müssen, daß die Rede am
Donnerstag den Redaktionen gerade noch rechtzeitig genug zugestellt wurde, daß sie in
den Morgenblättern erscheinen mußte. Dann hätte alle Welt erst den nackten Tatbestand
kennen gelernt ohne durch die Privatausichten der Redakteure beeinflußt zu werdeu.
In der internationalen Politik ist ein Ereignis zu verzeichnen, das eine
Neuorientierung notwendig macht. Japan hat endlich die Frucht langjähriger
Bemühungen und zweier blutiger Kriege an sich genommen, Korea hat infolge
des russisch-japanischen Vertrages aufgehört, ein selbständiges Kaiserreich zu sein;
es ist eine japanische Provinz geworden. Diese Tatsache rückt das ostasiatische
Problem in ein ganz neues Stadiuni. Rußland ist von den eisfreien Küsten¬
strichen des Großen Ozeans südlich Wladiwostok zurückgedrängt und China hat
auch den nomineller Einfluß in Korea verloren, den es seit 1805 noch besaß.
Das Streitgebiet ist einige hundert Kilometer nach Westen verschoben und heißt
heute die Mandschurei. Seit Rußland durch den Frieden von Portsmouth
gezwungen ist, seine Kosaken aus diesem fruchtbaren Lande zurückzuziehn, wird
aber der Streit wahrscheinlich für längere Jahre ein friedlicher Wettstreit vor allen
Dingen der Kaufleute werden. Rußlands neue Eisenbahnplänc sprechen dafür.
Chinesen, Japaner und Russen werden nur die Vorherrschaft des Handelskapitals
daselbst kämpfen, Japaner und Russen mit dein Hintergedanken, in gewisser Zeit
das Gebiet an sich zu bringen. Ob die Pläne des einen oder andern Volks
größere Chancen haben sich zu verwirklichen, wollen wir nicht untersuchen. Genug,
daß China beiden mißtraut, und daß die chinesische Negierung mit fieberhafter
Eile und unerwartet großer Energie an die Durchführung von Reformen heran¬
getreten ist, die geeignet erscheinen, das Land für die bevorstehenden Kämpfe zu
rüsten. Im friedlichen Wettbewerb haben die Chinesen einstweilen den unbestrittenen
Vorsprung. Die Transsibirische Eisenbahn, die eine Ausfallstraße für die Russen
sein sollte, ist ein Einfalltor für den chinesischen (und nordamerikanischen) Handel
und für chinesische Arbeiter geworden. In welcher Weise die Chinesen nach Westen
vordringen, hat kürzlich in diesen Heften (Ur. 32) der frühere Handelssachverständige
beim deutschen Generalkonsulat zu Se. Petersburg, Herr Goebel, eingehend
geschildert; seine interessanten Nusführungeu sind jetzt besonders aktuell. Von den
Japanern dürfte während der nächsten Jahre ein erheblicher Druck auf die
Mandschurei kaum zu verspüren sein, denn sie werden alle Hände voll zu tun
haben, um die trostlosen Zustände in Korea zu ordnen.
Die Neugestaltung der Dinge im fernen Osten kann aber auch nicht ohne
Rückwirkung auf die europäische Politik bleiben. Besonders Rußland dürfte in
den nächsten Jahren sein Schwergewicht mehr als bis zum Kriege mit Japan in
Europa suchen, ähnlich wie es solches nach dem Frieden von Se. Stephans getan
hat. Zeichen dieser Verlegung des Schivergewichts machen sich auch schon
bemerkbar. Neben den der Reform der innern Verwaltung dienenden Arbeiten
wendet die Negierung wie nach dem Russisch-Türkischen .Kriege ihre größte Auf¬
merksamkeit den westlichen Grenzländern zu. Die Finnländer, Deutschen, Polen
und Juden werden wieder „zur Sicherung der russischen Lande" drangsaliert und mit
allerhand Allsnahiilebestiminuugeu beglückt. Große Truppenverschiebuugen haben die
Truppen an der deutschen und österreichischen Grenze gegen das Vorjahr mehr
als verdoppelt. Spionenfurcht und Spionenriecherei treiben die eigentümlichsten
Blüten und führen zu den Beschießungen der aus Deutschland kommenden Frei¬
ballons — gegen die, wie wir hoffen wollen, unser Auswärtiges Amt recht energisch
protestieren wird —. In Galizien und der Bukowina werden daneben fortgesetzt
wirkliche russische Spione und spionierende Offiziere aufgegriffen. Im großen und
ganzen sieht es so aus, als wenn Rußland schon jetzt anfinge, den Schauplatz
eines künftigen Krieges abzustecken und zu säubern. Aus welcher Veranlassung
Rußland in absehbarer Zeit Krieg führen sollte, ist zwar heute nicht ersichtlich.
Die hochschutzzöllnerische Politik dürfte bei den nächsten Handelsvertragsverhand¬
lungen kaum berührt werden und die westeuropäischen Vertragsstaaten werden kaum
Miene machen, es dazu zwingen zu wollen. Sonst aber liegen Gründe zu einem
Kriege nicht vor, es sei denn, daß die Verwickelungen auf der Balkanhalbinsel
wieder ein ernsteres Gesicht annehmen. Solange der Streit allein zwischen
Griechenland und der Türkei schwebte, wären Befürchtungen in dieser Beziehung
verfrüht gewesen. Jetzt aber fühlt sich Bulgarien durch die Türkei bedroht, weil
diese die bulgarische Bevölkerung in Mazedonien entwaffnet; zwischen Bulgarien
und Griechenland sind neuerdings Verhandlungen wegen Abschluß eines Schutz-
und Trutzbündnisses im Gange. Sollten diese eine reale Gestalt annehmen, dann
wären zunächst Österreich-Ungarn und damit Deutschland auf der einen Seite und
Rußland auf der andern vor schwerwiegende Entschlüsse gestellt.
Ist Deutschland einer kriegerischen Eventualität gegenüber vorbereitet? Im
Ausland wird unsre Armee gern als die erste in der Welt anerkannt.
Die Berufung deutscher Offiziere nach Brasilien zur Reorganisation von dessen
Armee ist der jüngste Beweis dafür. Auch die Leistungen unsrer Truppen bei den
Friedensübuugen sind über alles Lob erhaben. Wie aber steht es mit der Führung?
Stehn durchgehends die richtigen Männer am richtigen Platz? Gewisse Vor¬
kommnisse, auf die auch Oberstleutnant von Sommerfeld in unserm Leitartikel
anspielt, erfüllen jeden Patrioten mit tiefer Bekümmernis. Wie ist es möglich,
daß trotz der scharfen ehrengerichtlichen Bestimmungen Menschen wie ein Schonebeck
und Mersmann zur Stellung von Stabsoffizieren aufrücken konnten, obwohl sie
nicht einmal Manns genug waren, ihr eignes Haus, ihren eignen Namen fleckenlos
zu bewahren? Wie ist es möglich, daß ein von Gagern preußischer General
werden konnte, trotzdem er sich vor den: Einbruch in die Ehe seines Untergebenen
nicht scheute? Die Möglichkeit, daß solche Fälle fast ein halbes Menschenalter
vertuscht bleiben konnten, lassen die bange Frage auftauchen, ob das Vertuschungs-
system nicht auch auf dem Gebiete der praktischen Ausbildung in Anwendung ist?
Man hat trotz gesteigerter Anforderung schon lange nichts von Unregelmäßigkeiten
bei der Erlangung von Schießauszeichnungen usw. gehört, — dürfen wir
uns dieser Tatsache in Ruhe freuen? Kriegsminister, sei hart, es gilt nicht den
Mann, sondern das Vaterland!
Seit der Begründung des neuen Deutschen Reiches haben nur wenige
politische Ereignisse solches Aufsehen innerhalb und außerhalb der Grenzen
unseres Vaterlandes erregt als die Erwerbung deutscher Kolonien. Was die einen
lange wünschten und erstrebten, die anderen zaudernd und vorsichtig erwogen, und
die Dritten mit aller Entschiedenheit bekämpften, ist durch die Besitznahme Angra
Pequenas dann endlich Tatsache geworden. Und wenn auch die Ansichten über
den wirtschaftlichen Wert unserer Schutzgebiete zurzeit noch sehr auseinander¬
gehen, so steht doch das eine fest, daß das Ausgeben der Kolonien für das Reich
einen großen Verlust bedeuten würde und daß die Ansicht Cnprivis, nach der uns
nichts Schlimmeres passieren könnte, als wenn uns jemand ganz Afrika schenkte,
nur noch von den radikalsten Gegnern jeglicher Kolonialpolitik geteilt wird.
Allein mit der kolonisatorischen Tätigkeit ist die kolonialpolitische Theorie
nicht Hand in Hand gegangen. Besonders nicht zur Zeit des Merkantilismus,
in welcher die koloniale Prans mehr denn zuvor betrieben wurde. Die wirt¬
schaftspolitischen Ideen jener Zeit hatten nichts von einem theoretischen System
an sich und betrachteten die Kolonien ausschließlich als Gegenstände zur wirt¬
schaftliche,! Ausbeutung. Diese auch als Kolonialsystem bekannte Politik war eine
völkerrechtliche Brutalität und wirtschaftliche Schädigung der Kolonien. Es mußten
deshalb erst andere Auffassungen über diesen Gegenstand dus Übergewicht gewinnen,
um einer eigentlichen kolonialpolitischen Theorie, zu der auch die Regelung der
handelspolitischen Beziehungen zwischen Mutterland und Schutzgebieten gehört,
den Boden zu ebnen. Als Deutschland in den Besitz von Schutzgebieten gelangte,
waren freilich die wissenschaftlichen Ansichten über Kolonialpolitik längst formuliert,
und zwar in erster Linie von Deutschen selbst. Nachdem Alexander von Hum¬
boldt die ersten Versuche dieser neuen Wissenschaft gemacht hatte, erkannte vor
allem Friedrich List die Bedeutung einer großzügigen auswärtigen Kolouialerwerbs-
politik, wenn auch sein Ausspruch, seefahrende Nationen wußten, das; die See
an guten Gütern reich sei und daß man nur Mut und Kraft haben dürfe,
um sie zu holen zunächst auf eine bloße Gewalt- und AuSbeutepolitik. wie es
die der Portugiesen Spanier, Holländer und Engländer in früheren Jahren war,
hinauszulaufen schien Den weiteren Ausbau der jungen Wissenschaft besorgten
dann vor allein Roscher-Jannasch, deren Werk über Kolonien, Kolonialpolitik und
Auswanderung (1885) von grundlegender Bedeutung war.
Auf dem Gebiete deutsch-kolonialer Handelspolitik sind die in Mer Unter¬
suchungen erzielten Ergebnisse jedoch ziemlich unbeachtet geblieben. Ebenso hat
das Vorgehen Englands und Frankreichs nach dieser Richtung hu: keine dauernde
Wirkung' bei uns erzielt. Allerdings sind die handelspolitischen Beziehungen
Mischen dem Deutschen Reiche und seinen Schutzgebieten in völkerrechtlichem Sinne
durchaus geregelt, aber dieses Verhältnis entspricht nach Ansuht weiter Kreise
keineswegs den engen Verbindungen, wie sie zwischen Mutterland und Kolonien
bestehen.' Denn unsere Kolonien betrachten sowohl sich untereinander als auch
das Reich als Zollausland, ein Modus, der sonst nur uoch in Holland beobachtet
wird. Am entschiedensten nach dieser Richtung ist neben den Vereinigten Staaten
von Amerika in Europa Frankreich vorgegangen. Auf Grund deS Gesetzes vom
11. Januar 1892, das durch das neue Zollgesetz unberührt bleibt, gehen d>e Er¬
zeugnisse des Mutterlandes und seiner Kolonien gegenseitig grundsätzlich zollfrei
ein. Ausländische Erzeugnisse die von einer Kolonie nach der anderen gebracht
werden, zahlen dort die etwa bestehende Zolldiffcrenz nach. Einige nach beson¬
deren Vorzugstarifen erhobene Zölle sind ihrem Wesen nach Binnenzolle. Frank¬
reich behandelt also seine Kolonien als Zollinland. Über die Wirkungen dieser
Gesetzgebung herrschen jedoch ziemliche Meinungsverschiedenheiten. Die Be¬
günstigung der kolonialen Produktion in Frankreich hat deren Ausdehnung bisher
nicht in nennenswertem Maße gefördert. Die französische Industrie klagt, daß
sie trotz der Zollvorteile in den Kolonien nicht nur keinen genügenden Markt sinde,
sondern daß ihr die Kolonien vielfach im Mutterlande Konkurrenz machten. Zur
richtigen Beurteilung dieser Verhältnisse darf jedoch nicht übersehen werden, daß
Frankreich überwiegend Agrarstaat ist, mit dem überseeische Schutzgebiete viel eher
in Wettbewerb treten als mit Ländern, deren wirtschaftlicher Schwerpunkt in der
Industrie liegt. Für die Beurteilung der Wirkungen eines gleichen handels¬
politischen Zustandes zwischen dem Deutschen Reiche und semen Kolomen kommen
deshalb ganz andere Umstände in Betracht. ^, ^ „ .
Für England handelt eS sich um eine Zollvergünstigung seiner ^ndusne-
erzeugnisse in den Kolonien. Nur um die Mitte der sechziger Jahre des ver¬
gangenen Jahrhunderts, als die Freihandelsbewegung in Großbritannien ihre
stärksten Wellen schlug, befolgte das Mutterland den Grundsatz daß die
Waren Englands zollpolitisch in den Kolonien nicht anders behandelt werden
dürften als ausländische. In den Handelsverträgen mit dem Deiitschen Zollverein
<30. Mai 1865) und Belgien wurde sogar - und zwar auf Anregung des eng löcher
Kabinetts-die Bestimmung aufgenommen, daß die Vertragsstaaten in den englischen
Besitzungen nicht schlechter behandelt werden sollten als das Mutterland. England.
hielt nur daran fest, daß die Kolonien keine eigenen Handelsverträge schließen
durften. Aber dieser Grundsatz erwies sich auf die Länge nicht durchführbar.
Schon 1868 mußte der neu entstandenen Dominion of Canada das Recht ein¬
geräumt werden, Neziprozitätsverträge mit anderen Kolonien zu schließen, und
fünf Jahre später verlangte Australien dieselbe Vollmacht. Ja, in den neunziger
Jahren machte Großbritannien seinen überseeischen Besitzungen mit Repräsentativ
einrichtung und Verantwortlicher Regierung sogar das Zugeständnis, mit dem Aus¬
lande Handelsverträge abzuschließen. Jedoch hat nur Kanada von diesem Rechte
bisher Gebrauch gemacht. Es gewährte dafür englischen Waren eine Zollbegünstigung
von 25> Prozent, die 1900 bereits auf 33 Vs Prozent erhöht wurde. Australien und
Neuseeland folgten 1903 mit ähnlichen Bevorzugungen der britischen Erzeugnisse.
Aber eine gleichzeitge Begünstigung der kolonialen Produkte im Mutterlande selbst
ist nur in wenigen Fällen erfolgt, wenn sie auch so oft als wünschenswert hin¬
gestellt wurde. Ein entscheidender Schritt auf diesem Wege kann auch so lange
nicht geschehen, als England an der Freihandelspolitik festhält. Daß von
den jetzigen Finanzzöllen gerade die Produkte seiner eigenen Schutzgebiete
besonders stark getroffen werden, mag als Ironie erscheinen, bei der heutigen
Budgetgestaltung des vereinigten Königreichs kann auf diese Einnahmen jedoch
nicht verzichtet werden.
Die handelspolitischen Beziehungen des Deutschen Reiches zu seinen Kolonien
haben sich indes viel einfacher gestaltet. Denn keines unserer Schutzgebiete hat auch
nur annähernd eine solche Machtstellung wie Kanada, Australien oder Neuseeland,
die außerdem der staatsrechtlichen Auffassung entgegenlaufen würde. Bismarck
wollte die Kolonien als Ausland behandeln und so erklärt er sich, daß deren Er¬
zeugnisse in Deutschland bis 1893 bei der Einfuhr nicht einmal die Vorzüge
genossen, die den Produkten meistbegünstigter Länder eingeräumt wurden, sondern
dem autonomen Tarife unterlagen. Erst am 2. Juni jenes Jahres wurde auf
eine besondere Anregung hin den aus den Schutzgebieten kommenden Waren vom
Bundesrat die Meistbegünstigung eingeräumt.
In den deutschen Kolonien bestehen im Interesse ihrer Finanzen besondere,
nach den örtlichen Verhältnissen gestaltete niedrige Einfuhrtarife, denen alle Waren
-ohne Unterschied ihrer Herkunft gleichmäßig unterliegen. Nur die für die Zwecke
der Negierung eingeführten Waren genießen Zollfreiheit. Die von einzelnen Aus¬
fuhrgütern in einigen Schutzgebieten erhobenen Ausfuhrzölle gelten für den Export
nach allen Ländern. Die Einfuhrzölle tragen nicht den Charakter von Schutzzöllen,
da eine Konkurrenz für die einheimische Produktion der Schutzgebiete, die sich
ganz überwiegend aus koloniale Rohstoffe bezieht, von der Einfuhr uicht zu
befürchten ist. Sie sind also gleich den Ausfuhrzöllen reine Finanzzölle.
Die deutsche Schiffahrt genießt im Verkehr mit den Schutzgebieten keine
Begünstigung irgendwelcher Art vor der fremden. Die in den Jahren 1901/02
besonders lebhaften Anregungen kolonialer Interessenten auf Nachahmung des
französischen Systems haben jedoch im Zolltarifgesetz vom 26. Dezember 1902
keinerlei Berücksichtigung gefunden. Der Bundesrat hat nur das Recht erlangt,
auf die Erzeugnisse der Schutzgebiete die vertragsmäßigen Zölle anzuwenden, was
denn auch geschieht. Die Produkte unserer Kolonien sind somit im Mutterlande
nicht besser gestellt als diejenigen jeder anderen meistbegünstigten Nation. Dritten
Staaten gegenüber teilen die deutschen Kolonien jedoch nicht die Rechtstellung des
Reiches. Die deutschen Handelsverträge erstrecken sich an sich nicht auf die Kolo¬
nien. Demnach haben die Erzeugnisse unserer Schutzgebiete in fremden Staaten,
init denen oas Recht Meistbegünstigung vereinbart hat, nicht ohne weiteres Anteil
an der letzteren. Die Herbeiführung derselben würde allerdings innerlich berechtigt
sein, da ja die deutschen Kolonien ihrerseits die Einfuhr aus sämtlichen Staaten
gleichmäßig untereinander und sogar mit der Einfuhr aus dem deutschen Mutter¬
lande behandeln. Vom Standpunkte jedes einzelnen Schutzgebietes gelten sowohl
das Deutsche Reich als auch alle anderen Schutzgebiete als Zollausland. Jede
Kolonie bildet ein einziges Zollgebiet und erhebt die Zölle gleichmäßig von aller
Einfuhr, mag dieselbe nun aus Deutschland, aus einem anderen Schutzgebiete
oder aus dem Auslande kommen. Ein solches System bietet also teuren Vorwand
dafür, daß fremde Kolonien die Erzeugnisse ihres Mutterlandes differentiell günstiger
behandeln als die deutschen. ^ ^ ^ ^ „ ^ . ^
Der Vollständigkeit halber sei auch die besondere zollpolitische Stellung des
Kiautschougebietes erwähnt. Kiautschou war bis zum 1. Januar 1906 em reines
Freihafengebiet. Doch war gastweise im deutschen Hafen em clnnestfches See-
zollamt zur Verzollung des von und nach dem chinesischen Hinterkante gehenden
Durchgangsverkehrs zugelassen. Seit jenem Zeitpunkte ist Kiautschou ,edoch an
das chinesische Zollgeb et angegliedert, und zwar lediglich aus zolltechnischen
Gründen. Nunmehr zahlen ° so alle von der Seeseite in Tstngtau eingehenden
Waren, und zw r ohne Unterschied, ob sie für Kiautschou oder Ehma estunm
Wd. den chinesischeii Eingangszoll. Der Verkehr zwischen der Kolone und d n
Hinterkante ist dagegen jetzt zollfrei. Von der Gesamtsumme des erhobenen E,n-
suhrzolles er alt das deutsche Gouvernement 20 Prozent. Die Dmchfuhnmg
dieser Maßnahme hat insofern seine Berechtigung, als etwa vier Fünftel des
Gesamtverkehrs Durchgangshandel ist. . ^ ^ ,^ ^ ......^eren
Wenn in letzter Zeit die Bestrebungen zwecks Herbeiführung eines eng
handelspolitischen Verhältnisses zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Schutz¬
gebieten wieder stärker in Fluß gekommen sind, dann liegt der hauptsächlichste Grund
hierfür in der Erkenntnis von der wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung unserer Kolo¬
nien. Überseeische Besitzungen, in denen schon 190« 300 Millionen Mark werbende
deutsche Kapitalien angelegt waren und deren Eingeborenenkultureu auf 616Millionen
geschätzt werden, in denen also ein werdendes Kapital von insgesamt einer
Milliarde arbeitet, haben naturgemäß Anspruch auf genaue An merksamkeit ihrer
Wirtschaftsverhältnisse. Überdies hat das Deutsche Reich seit 1884 einhebt.eßlich
des Kaufpreises für die Karolinen und Marianen insgesamt 861.3 Millionen
Mark für die Kolonien bar hergegeben. Das ist etwa V« Prozent des auf
350 Milliarden veranschlagten Nationalvermögens. Von dieser Summe entfallen
allein auf Südwestafrika 574.8 Millionen, wo die Anfstandsbewn^fung
334 Millionen kostete. Die Einnahmen unserer Schutzgebiete sind von 6.72 Millionen
Mark im Jahre 1900 auf 34 Millionen 1909 gestiegen, so daß rin vorjährigen
Haushaltsplan für die Kolonien 53 Prozent der Ausgaben bereits durch eigene
Einnahmen gedeckt waren. Von den Einnahmen wiederum entfielen (ohne
Kiautschou) 12.435 Millionen Mark, also mehr als ein Drittel, auf d'e Zolle.
lsunererSchutz¬
Eine genane Darlegung der Entwicklung des Außenhande s
gebiete kann nicht Aufgabe unserer heutigen Betrachtung sem. Em allgemeines
Bild hierüber gibt folgende Zusammenstellung:
^ Gesamthandel (in 1000 Mark) der Schutzgebiete.
Im Jahre 1890 bezifferte sich der Gesamtaußenhandel der deutschen Schutz¬
gebiete (ohne Kiautschou) auf nur 10 Millionen Mark und 1898 auf
46,595 Millionen, so daß also von 1890 bis 1907 eine Steigerung auf nahezu
das Dreizehufache eingetreten ist. An diesem Gesamthandel ist das Deutsche Reich
in den letzten Jahren mit 63 Prozent beteiligt gewesen.
Bei der Zunahme des Außenhandels unserer Kolonien gewinnt die Frage
nach der handelspolitischen Verbindung zwischen Mutterland und Schutzgebieten
naturgemäß wachsende Bedeutung. Aus kolonialen Kreisen sind Vorschläge hervor¬
getreten, die koloniale Produktion durch Zollunion zwischen dein Reiche und seinen
Besitzungen zu heben. Diese Vorschläge haben aber in Kreisen des deutschen Übersee¬
handels Widerspruch hervorgerufen. Es wird geltend gemacht, daß der Hebung des
deutschen Kolonialhandels, die damit erreicht würde, eine unverhältnismäßige
Schädigung des deutschen Gesamtausfuhrhandels gegenüberstehen würde, wenn
fremde Staaten, z.B. England, mit dessen Kolonien Deutschland einen umfangreichen
Handel unterhält, durch das deutsche Vorgehen einen Vorwand erhielten, den
deutschen Handel im Vergleich zum mutterlnndischen noch weiter zu differenzieren.
Ein Einspruchsrecht haben die anderen Staaten formell allerdings nicht, weil die
vertragsmäßige Meistbegünstigung sich nicht auch auf die Kolonien bezieht, sie
können aber unsere Einfuhr erschweren. Die bezeichnete Gefahr wird um so dringlicher,
je mehr die Schutzzollbewegung in England und damit der Gedanke des Neichszoll-
vereins an Vodengewinnt. Unser Ein-undAusfuhrhandelmit den britischen Besitzungen
in Übersee bezifferte sich 1908 allein auf 888,7 Mill. Mark oder auf etwa das Elffache
des deutschen Warenaustausches mit seinen Kolonien. Wenn deshalb eine Änderung
der handelspolitischen Beziehungen zwischen Deutschland und seinen Schutz¬
gebieten zurzeit erwogen wird, dürfen deren Folgen auf unsere Wirtschafts¬
stellung zu England und dessen Kolonien nicht anßer acht gelassen werden.
Es würden sich auch hier die mit jeder übertriebenen Hochschutzzollpolitik
unweigerlich verbundenen Rückwirkungen zeigen. Dagegen könnte die Minderung
der Einnahmen, welche unseren Schutzgebieten durch Einführung von Vorzugs¬
zöllen für deutsche Waren entständen und die bei gänzlicher Zollfreiheit der
Erzeugnisse des Mutterlandes rund 7,5 Millionen Mark ausmachen würde, kein
Hindernis für die Abänderung des jetzigen Systems sein.
Anderseits darf nicht vergessen werden, daß durch eine Differenzierung der
deutschen Waren in den Kolonien eine Belebung des Handelsverkehrs zwischen
Mutterland und den Schutzgebieten herbeigeführt wird und daß in der Kolonial¬
politik noch die alte merkantilistische Auffassung besondere Geltung hat, nach der
eine politische Herrschaft nur auf Grund einer wirtschaftlichen besteht und durch¬
zuführen ist. Auch ist die Gefahr vor Retorsionsmaßregeln, welche wegen der
handelspolitischen Bevorzugung unserer Kolonien seitens anderer Staaten zu
befürchten sind, umso geringer, je kleiner der Warenaustausch der Schutzgebiete
mit Deutschland ist. Von diesem Gesichtspunkt aus sollte, wenn eine Änderung
der handelspolitischen Beziehungen zwischen dem Reich und seinen Schutzgebieten
erwogen oder beabsichtigt wird, diese möglichst bald erledigt werden. Vielleicht
dürfte jedoch erst das Jahr 1918, in dem auch der größte Teil unserer
übrigen handelspolitischen Verbindungen geregelt werden nutz, hinreichende
Gelegenheit zur Erledigung jener Aufgabe bieten. Bis dahin dürfte auch in
England die Entscheidung gefallen sein, ob der Freihandel durch ein Schutzzoll¬
in das Jahr 1800 baute sich in Preußen die Verfassung und
Verwaltung der Kreise wie die Ordnung der ländlichen Polizei-
und Gemeindeverhältnisse lediglich auf den: adeligen Grundbesitz
auf*). Die Kreise, zu deuen damals außer den sogenannten
Mediatstädten in der Regel nur das flache Land gehörte, waren
in kommunaler Beziehung durch die Kreistage vertreten, auf denen nach dem
Allgemeinen Landrecht nur die adeligen Rittergutsbesitzer Sitz und Stimme
hatten. Die Aufhebung der Gutsuntertänigkeit und die privatrechtliche Gleich¬
stellung der Rittergüter mit den anderen Landgütern durch das Edikt vom
Jahre 1807 ließ die Absicht entstehen, auch die mit dem Besitz eines Rittergutes
verbundenen öffentlich-rechtlichen Befugnisse aufzuheben, insbesondere die
Patrimonialgerichtsbarkeit und die gutsherrliche Polizeigewalt. Im Jahre 1812
wurde auch ein Edikt erlassen, wonach die Kreise eine eigene Finanzverwaltung
erhalten sollten und wonach die kommunalen Angelegenheiten unter Aufsicht der
Staatsbehörden durch eine aus Deputierten der Gemeinden zusammengesetzte
Verwaltung erledigt werden sollten. Diese Bestimmungen des Ediktes gelangten
jedoch nicht zur Ausführung und wurden später durch die in den Jahren 1825
bis 1828 für die einzelnen Provinzen erlassenen Kreisordnungen wieder auf¬
gehoben. Diese Kreisordnungen waren noch vollständig von dem alten ständischen
Geist beherrscht. Die Kreisvertretung gliederte sich nach den drei Besitzklassen:
Rittergutsbesitz, bäuerlicher Grundbesitz und Städte. Während aber die Mit¬
glieder der ersten Besitzklasse, die Standesherren und Rittergutsbesitzer, auf den
Kreistagen je eine Virilstimme hatten, waren die im Kreis gelegenen Städte und
Landgemeinden nur durch eine verhältnismäßig geringe Zahl von Abgeordneten
vertreten.
Den Anstoß zu einer Änderung dieser Verhältnisse gab die Verfassung, die
Preußen im Jahre 1850 erhielt. Sie versprach im Artikel 105 eine Reform
der Provinzial-, Kreis- und Gemeindeverfassung. Jedoch erst dreiundzwanzig Jahre
später, und auch erst uach schweren parlamentarischen Kämpfen gelang es der
Staatsregierung, den Entwurf einer Kreisordnung in den beiden Häusern des
Landtags zur Annahme zu bringen, der die Konsequenzen des Ediktes vom
Jahre 1807 zog. Dieser Entwurf wurde am 13. Dezember 1872 als Kreis¬
ordnung für die Provinzen Preußen, Brandenburg, Pommern, Schlesien, Sachsen
und Posen im „Staatsanzeiger" verkündet und damit Gesetz.
Wenn auch zwei Menschenalter später als die Städteordnung, so brachte
die Kreisordnung nunmehr doch auch an ihrem Teil die Befreiung des Staats
vom patrimonialen Verwaltuugsspstem. Sie beseitigte die kreisständischen
Befugnisse der Rittergüter, die gutsherrliche Polizeigewalt, das Aufsichtsrecht
der Gutsherren über die Landgemeinden und die mit dem Besitz gewisser
Grundstücke verbundene Berechtigung zur Verwaltung des Schulzenamtes. Die
Landgemeinden erhielten das Recht, ihre Schulzen und Schöffen vorbehaltlich der
Bestätigung durch den Landrat zu wählen. Zur Verwaltung der Ortspolizei
ans dem platten Lande wurde das Ehrenamt der Amtsvorsteher geschaffen und
damit das der Steinschen Städteordnung zugrunde liegende Prinzip auf das
flache Land übertragen. Der Kreisordnnng für die sieben Ostprovinzen folgte
im Jahre 1884 die Kreisordnung für die Provinz Hannover, und bis zum
Jahre 1888 die Kreisorduungen für die Provinzen Hessen-Nassau. Westfalen,
die Rheinlande und Schleswig-Holstein.
Die Hauptgrundlage der geltenden Kreisverfassung bildet die
Dreiteilung in die Wahlverbände der größeren ländlichen Grundbesitzer, der
Landgemeinden und der Städte. Die Industriellen und sonstigen Gewerbe¬
treibenden in den Landkreisen sind teils dem Wahlverband der Großgrundbesitzer,
teils dem der Landgemeinden angefügt, und zwar nach dem Grundsatz, ob sie
bei der Veranlagung zur Gewerbesteuer über oder unter dem Mittelsalz der
Steuerklassen I und II, nämlich dem Satz von !!00 Mark, bleiben. Der Kern
liegt nun in der Verteilung der einem Landkreis nach seiner Bevölkerungsziffer
zustehenden Zahl vou Kreistagsabgeorducten auf jene Wahlverbäude. Die Zahl
der Stüdtevertreter wird uach dem Verhältnis der städtischen und ländlichen
Bevölkerung im Kreis bestimmt; die verbleibende Zahl von Abgeordneten wird
je zur Hälfte den Wahlverbünden der Großgrundbesitzer und der Landgemeinden
zugewiesen. Die Neuverteilung der Abgeordneten kann mit gewissen Ausnahmen
uur alle zwölf Jahre erfolgen.
Die Bedeutung des Kreistages und seines geschüftsführenden Organs,
des Kreisausschusses, ergibt sich aus der Tatsache, daß der Kreis einerseits
staatlicher Verwaltungsbezirk und anderseits Kommimalverbaud zur Selbst-
Verwaltung seiner Angelegenheiten mit den Rechten einer Korporation ist. Der
Kreistag hat wirtschaftliche Aufgaben von enormer Tragweite zu lösen, deren
wichtigste zusammenlaufen in der Verbesserung der Produktionsbedingungen
von Landwirtschaft, Industrie und Handel auf dem Lande. Hierher gehört die
Bodenmelioration, Kanalbau und -erhaltung, Bau von Straßen. Brücken. Klein¬
bahnen, Unterstützung des Gemeinde-Wegebaus und von Staatsbahnbauten,
Bau von Elektrizitütsmerken, Überlandzentralen u. tgi. Andere Aufgaben sind
die Sanitätspflege mit dem Bau von Krankenhäusern, das Veterinärwese»,
Feuerschutz und -Versicherung usw. Der Kreisausschuß, der vom Kreistag gewählt
wird, ist begutachtendes, ausführendes und verwaltendes Organ zugleich; er ist
Beschlußbehörde in Sachen der allgemeinen Landesverwaltung und hat als
Kreisverwaltuugsgericht sogar richterliche Funktionen. Für das Volksschulwesen
ist er von Bedeutung hinsichtlich der Verteilung der Schnllasten und zur Fest¬
stellung der besonderen Gründe, die die Errichtung von Simultauschuleu
erfordern. Von außerordentlicher Wichtigkeit ist aber, daß sich auf deu Wahlen
zum Kreistag und Kreisausschuß eigentlich alle anderen Selbstverwaltungsorgane
aufbauen. Deal der Kreistag wählt die Abgeordneten des Kreises zum Proviuzial-
landtag und hat dadurch Einfluß auf die Zusammensetzung des Provinzial-
ansschusses. des Provinzialrats und des Bezirksausschusses. Kreistag und Kreis-
ciusschnß haben anch auf dein Gebiet der Einkommensteuererhebung mitzuwirken,
und zwar bei der Wahl von Mitgliedern der Veranlaguugs- und der Ein-
schätzungskommissiou. Sie sind schließlich tätig bei der Festsetzung der Kreis-
und Provinzialsteueru auf Grund des 5lreis- und Provinzialabgabeugesetzes.
Kurz, Kreistag und Kreisausschuß bilden das Fundament unserer gesamten
Selbstverwaltung, soweit sie, abgesehen natürlich von der Städteordnung, auf
Kreis- und Provinziälorduung aufgebaut ist.
Wir deuteten schou an, daß die Regierung die Kreisordnuug") im Jahre 1872
nur nach Überwindung schwerer Widerstände im Landtag zur Annahme zu
bringen vermochte. Diese Widerstände lagen auf jenen Seiten, die bisher durch
die alte ständische Verfassung der Kreisvertretung eine starke Bevorzugung
genossen. Mit jenen Kreisen mußte die Regierung eine Art Kompromiß schließen,
n»d dieser Kompromißcharaktcr kommt in der Kreisordnnng deutlich zum Aus¬
druck in einer gewissen Konservierung des ständischen Prinzips zugunsten der
Großgrundbesitzer. Unter diesem Gesichtswinkel ist die Bestimmung des § 8(i
über die Bildung des Wahlverbandes der Großgrundbesitzer zu betrachten in
Verbindung mit der Bestimmung des 8 69 über die Verteilung der Kreistags-
abgeordueten auf die einzelnen Wahlverbände. Die grundsätzliche Anwendung
der Bevölkerungszahl für diese Verteilung würde den Großgrundbesitz stark
geschwächt haben. Während also die Zahl der städtischen Abgeordneten nach
dem Verhältnis der städtischen und ländlichen Bevölkerung bestimmt wird, gelangt
die verbleibende Zahl von Abgeordneten je zur Hälfte aus die Wahlverbände
der Großgrundbesitzer und der Landgemeinden zur Verteilung. Die ständische
Formation der Großgrundbesitzer wird sodann gestützt durch die Abtrennung
der kleineren landwirtschaftlichen Grundbesitzer dadurch, daß mit der Möglichkeit
gewisser Modifikationen die Grenze des Mindestbetrags von 225 Mark Grund-
und Gebäudesteuer gezogen wird. Ebenso werden nach den Bestimmungen
der ߧ 86, 87 die Industriellen auf dem platten Lande, soweit sie Grundbesitz
haben, den Wahloerbänden der Großgrundbesitzer und der Landgemeinden
zugeteilt, je nachdem ihre Betriebe über oder unter dem Mittelsalz der Gewerbe¬
steuerklassen I und II, also über oder unter 300 Mark bleiben. Es würde
wiederum die Stellung der Großgrundbesitzer geschwächt haben, wenn man etwa
einen besonderen Wahlverband der Industriellen gebildet haben würde, ein
Gedanke, der ja allerdings bei dem Erlaß der Kreisordnung wohl noch zu fern
lag. Eine gewisse Starrheit in die Formation der Wahlverbände bringt die
Bestimmung des § 112, nach der die Neuverteilung der Kreistagsabgeordneten
auf die Wahlverbände im allgemeinen nur alle zwölf Jahre erfolgen kann.
Verschärft wird dieser Zustand noch dadurch, daß nach Ablauf der zwölfjährigen
Periode sür die Neuverteilung der Abgeordneten auf die Wahlverbände das
Ergebnis der letzten Volkszählung maßgebend ist 89). So kommt es, daß
der Revision im Jahre 1900 die Volkszählung vom Jahre 1895 zugrunde gelegt
werden mußte. Es liegt nahe, daß die beiden letzteren Bestimmungen ebenfalls
zugunsten des ländlichen Großgrundbesitzes getroffen worden sind. Wohin die
Entwickelung in der wirtschaftlichen Physiognomie der Landkreise ging, ließ sich
zur Zeit des Erlasses der Kreisordnuug wohl schon ziemlich klar übersehen,
und man wollte unzweifelhaft ein die Wirkung dieser Entwicklung auf die Kreis¬
vertretung des Großgrundbesitzes abschwächendes Moment schaffen. (Denkschrift
der Handelskammer Sorau „Zur Revision der preußischen Kreisordnung",
Sorau 1903.) Eine weitere Sicherstellung des Wahlverbandes der Gro߬
grundbesitzer liegt in der Bestimmung des §112, wonach eine außerordentliche
Revision innerhalb der zwölfjährigen Periode hinsichtlich des Wahlverbandes
der Städte nur dann erfolgen kann, wenn sich die Zahl der Städte verändert,
hinsichtlich der Großgrundbesitzer jedoch schon dann, wenn die Zahl der Be¬
rechtigten im Wahlverband der Großgrundbesitzer sich dergestalt verändert, daß
sich auch die Zahl ihrer Abgeordneten verändern würde. Eine scharfe Ein¬
dämmung des Einflusses der Städte in der Kreisvertretung wird durch die
Bestimmung des H 89 bewirkt, wonach die Zahl der städtischen Abgeordneten
die Hälfte, und in den Kreisen, wo nur eine Stadt vorhanden ist, ein Drittel
der Gesamtzahl aller Abgeordneten nicht übersteigen darf. Auch hierin liegt ein
die Vertretung des Großgrundbesitzes kräftigendes Moment, ebenso wie in der
Bestimmung des Z 102, wonach der Wahlverband der Landgemeinden zu Wahl¬
männern, auch Angehörige des Großgrundbesitzes wählen kann. Die Land-
gemeinten sind anderseits wieder dadurch in der Möglichkeit beschränkt, eine
starke Geltung zu erlangen, daß sie, und das gilt auch für die größte stadt¬
ähnliche Landgemeinde, nur höchstens zwei Abgeordnete wühlen können. Auch
der industrielle Einfluß wird noch durch die besondere Bestimmung des Z 97
unter Druck gehalten, wonach die juristischen Personen. Aktiengesellschaften und
Kommanditgesellschaften auf Aktien sich bei der Wahl durch Landwirte
vertreten lassen müssen. In diesem Zusammenhang noch die Tatsache
hervorzuheben, daß die im Kreise ansässigen Mitglieder einer Gesellschaft
mit beschränkter Haftung zwar Kreisabgaben zahlen müssen, aber keine
Wahlberechtigung besitzen, scheint nicht erforderlich, da bereits unter allseitiger
Zustimmung in Aussicht genommen ist. diese Lücke durch eine Änderung des
Gesetzes auszufüllen. ^
Wie beim ganzen Staat, so hat sich seit dem Erlaß der prechischen Krei.-
ordnung im Jahre 1872 auch die wirtschaftliche Physiognomie der Landkreise
stark gewandelt. Die große Verschiebung, die im Staat in der Verteilung der
Bevölkerung auf Stadt und Land und in der Gruppierung nach Landwirtschaft
und Industrie und Handel stattgefunden hat, spiegelt sich naturgemäß auch in
den Landkreisen wider. In den Landstädten und auf dem platten Lande hat
sich eine kräftige Industrie entwickelt, die für den Finanzhaushalt der Kreise
von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Nach dein statistischen Jahrbuch
für den preußischen Staat ist die Bevölkerungszahl in den Städten Preußens
von 8 791834 im Jahre 1875 auf 16866963 im Jahre 1905 gewachsen; die
städtischen Einwohner haben sich also in dieser Zeit nahezu verdoppelt. Für
unsere Betrachtung sind diese Zahlen allerdings nicht in vollem Umfang zu
verwerten, da hierin alle Städte enthalten sind, auch die. die selbständige
Stadtkreise bilden. Immerhin wird das allgemeine erhebliche Wachstum einen
Schluß auch auf das Wachsen der städtischen Bevölkerung in den Landkreisen
gestatten. Wie verhält es sich nun mit der Bevölkerung in den Landgemeinden?
Auch diese ist gestiegen, wenn auch bei weitem nicht so erheblich als in den
Städten. Die Landgemeinden haben im Jahre 1875 mit den Gutsbezirken,
die für dieses Jahr noch nicht gesondert aufgeführt werden, eine Einwohnerzahl
von 16950570 gehabt und sie hat im Jahre 1905 20426361 betragen. Es
ist also nur eine Steigerung von etwas mehr als ein Fünftel eingetreten.
Von größtem Interesse für unsere Erörterung ist nun aber die Frage, wie sich
die Bevölkerung der Gutsbezirke entwickelt hat. Diese hat nach der amtlichen
Statistik im Jahre 1890 2014354 Köpfe betragen; im Jahre 1900^ist sie
gesunken auf 1998393 und im Jahre 1905 gestiegen auf 2037135. In der
gleichen Zeit ist die Einwohnerzahl der reinen Landgemeinden gestiegen von
16154866 auf 18389226. Für unsere späteren Untersuchungen sollen diese
Ziffern nur einen allgemeinen äußeren Rahmen bilden. Das darf man aber
wohl sagen, daß der Großgrundbesitz seit dem Erlaß der Kreisordnung offenbar
nur sehr unerheblich an Bedeutung für die Bevölkerung gewonnen hat.
Schon lange bestand die Vermutung, daß in den Kreistagen der Gro߬
grundbesitz viel zu stark vertreten sei und daß anderseits die Städte und
Industrie und Handel eine ihrer heutigen wirtschaftlichen Bedeutung entsprechende
Stellung in den Kreistagen nicht einnahmen und auch nicht zu erlangen ver¬
möchten. In gewissem Umfang wurden diese Vermutungen schon im Jahre
1908 bestätigt durch Erhebungen, die die Handelskammer Sorau im Auftrage
der Vereinigung ostdeutscher Handelskammern anstellte und deren Ergebnisse
sie in ihrer schon erwähnten Denkschrift niederlegte. Auf diese wirkungsvollen
Darlegungen ist es wohl auch mit zurückzuführen, daß die Frage der Resorm-
bedürftigkeit der Kreisordnung im preußischen Abgeordnetenhaus wieder zur
Sprache kam und dann immer weitere Kreise zog. In der Session 1907/08
konnte bereits darauf hingewiesen werden, daß der Deutsche Handelstag die
Angelegenheit in den Kreis seiner Aufgaben gezogen habe und durch seine
Mitglieder, die Handelskammern, umfassende Erhebungen habe anstellen lassen.
Auf diese Weise ist es mit vieler Mühe gelungen, wenigstens für 181 preußische
Landkreise Material zu gewinnen. Die folgenden Angaben sind aus dem
Ergebnis dieser Erhebungen gewonnen, nämlich aus den „Statistischen Tafeln
betreffend Vertretung von Industrie und Handel in den Kreistagen u. a. in
Preußen", herausgegeben vom Deutschen Handelstag, Berlin 1909, um deren
Bearbeitung sich der Syndikus der Handelskammer Sorau I)r. Schneider ein
großes Verdienst erworben hat. Die Erhebungen des Deutschen Handelstags
erstreckten sich auf die gesamten Landkreise Preußens; sie ergaben jedoch
ein brauchbares Material nur für 181 Kreise, und zwar aus den Provinzen
Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Schlesien, Brandenburg, Sachsen — diese
Provinzen sind in unseren Ausführungen stets zusammengefaßt als „östliche
Provinzen" entsprechend dem Geltungsbereich der Kreisordnung für die
Oftprovinzen —, ferner aus den Provinzen Schleswig-Holstein, Hannover,
Westfalen, Hessen-Nassau und Rheinland.
Welches Bild ergibt sich nun daraus von der Zusammensetzung der Kreis¬
organe?
Zunächst sei hier das Verhältnis zwischen Stadt und Land im Kreistag
erörtert. Im Gesamtdurchschnitt der 181 Kreise haben die Städte 23 Prozent
aller Mandate, während die städtische Bevölkerung in den Landkreisen fast
25 Prozent ausmacht und die Städte 30 Prozent aller Kreissteuern aufbringen.
Im Durchschnitt der östlichen Provinzen entfallen auf die Städte 25 Prozent
der Kreistagsmandate, in Schleswig-Holstein 21, Hannover 20, Westfalen 25,
Hessen-Nassau 23 und in den Rheinlanden ebenfalls 23 Prozent. Hier gibt
auch die Durchschnittsbetrachtung, wie wir weiter unten an einer Betrachtung
des Stimmengewichts der Städte in den einzelnen Kreisen zeigen werden, kein
unrichtiges Bild. Die Ziffern bedeuten, daß die Städte auf alle diejenigen
Funktionen des Kreistags, für die die einfache Stimmenmehrheit ausschlag¬
gebend ist, keinen entscheidenden Einfluß ausüben können. Das ist ihnen ja
allerdings auch schon durch die Bestimmung des Z 89 der Kreisordnung unter¬
bunden, wonach die Zahl der städtischen Abgeordneten auf die Hälfte aller
Abgeordneten kontingentiert ist. Aus den Funktionen, die hier in Frage
kommen, ist vor allen Dingen die Wahl der Mitglieder des Kreisausschusses
hervorzuheben und ferner die Wahl der Kreisdelegierten zum Provinziallandtag.
Nun betonte der Vertreter des Ministers des Innern bei den Verhandlungen
im Deutschen Handelstag (Bericht über die Sitzung der Sonderkommission des
Deutschen Handelstags betr. die Kreisordnung vom 12. Mai 1909), alle großen
wichtigen Aufgaben des Kreises seien fakultative Aufgaben, für die die Kreis¬
ordnung die Zweidrittelmajorität vorschreibe. Wenn also der Bau einer Chaussee
oder auch nur ihre Unterhaltung, oder der Bau von Kleinbahnen, Kanälen
und dergleichen zur Erörterung stehe, gebe die Absplitterung einer Stimme der
Gegenseite den Städtevertretern die Möglichkeit, einen Antrag zu Fall zu
bringen. Demgegenüber sei der Kreis der obligatorischen Aufgabe», für die
eine einfache Stimmenmehrheit genüge, ganz eng; er umfasse lediglich die
Beisteuerung zu den Armenlasten, die Besoldung der Kreisbeamten und im
übrigen nur einige ganz unbedeutende gesetzliche Ausgaben. Das darf nicht
unwidersprochen bleiben, denn daß diese obligatorischen Aufgaben von ganz
außerordentlicher Bedeutung sein können, dafür ist die Wahl der Kreisausschu߬
mitglieder und der Kreisdelegierten zum Provinziallandtag ein bezeichnendes
Beispiel. Weiter betonte der Vertreter des Ministers des Innern, da. wo
aber die Städte über die Hälfte der Mandate verfügten, hätten sie überhaupt
immer die Macht. In diesen Äußerungen bekundet sich die Auffassung, daß
die Städte in der Lage seien, ihre Interessen in hinreichender Weise in der
Kreisvertretung zur Geltung zu bringen. Damit ist aber das Tatsachen¬
material schlechterdings nicht in Einklang zu bringen, denn wenn man das
Stimmengewicht der Städte in den 181 Kreisen im einzelnen betrachtet, ergibt
sich, daß die Städte nur in 37 Kreisen, also nur im fünften Teil, ein Drittel
der Mandate haben bezw. die Hälfte nicht erreichen und nur in einem Kreis
die Hälfte tatsächlich erreichen. In weiteren 44 Kreisen machen die städtischen
Mandate nur ein Viertel aus. in 31 Kreisen nur ein Fünftel, in 23 Kreisen
nur ein Sechstel bis ein Siebentel, in 26 Kreisen nur ein Achtel bis ein Fimf-
uuddreißigstel der gesamten Mandate. In 18 Kreisen oder 10 Prozent haben
die Städte überhaupt keinen Abgeordneten. In dem einzigen Kreis, dem
Landkreis Naumburg in: Regierungsbezirk Merseburg, in dem die Städte von
26 Mandaten 13 besitzen, zahlen sie allerdings auch 76 Prozent aller Kreis¬
steuern. Im Landkreis Reiße im Regierungsbezirk Oppeln bringen die Städte
sogar 82 Prozent aller Kreissteuern auf; ihre Mandate erreichen aber mit 13
von 38 noch nicht ganz ein Drittel. Im Obertaunuskreis in: Regierungsbezirk
Wiesbaden zahlen die Städte 77 Prozent der Kreissteuern und haben von
21 Mandaten nur 10, also uoch nicht die Hälfte. In 7 weiteren Kreisen
tragen die Städte 60 bis 70 Prozent der Krcissteuern und erreichen mit der
Zahl ihrer Mandate nicht die Hälfte, teils nicht einmal ein Drittel; in 9 weiteren
Kreisen zahlen sie 50 bis 60 Prozent der Kreissteuern und haben nur ein
Drittel der Mandate.
Im folgenden sei nunmehr ein Bild von der Kräfteverteilung zwischen
Landwirtschaft und Industrie in den Kreisorganen entworfen. Die Statistischen
Tafeln des Deutschen Handelstags ergeben die Tatsache, daß im Gesamtdurch-
schuitt der 181 Kreise die Landwirtschaft in einem Kreistag durch 15 Vertreter
vertreten ist gegenüber 10 Vertretern anderer Erwerbszweige, darunter nur
3 Industrielle und 4 sonstige Gewerbetreibende; der Rest von 3 Mitgliedern
entfällt auf andere Berufe. Hier ergibt der nivellierende Gesamtdurchschnitt,
nach dem 61 Prozent der Kreistagsmitglieder Landwirte sind und sie demnach
überall die starke absolute Majorität hätten, allerdings ein falsches Bild. Die
Objektivität erfordert hier ein näheres Eingehen. In den östlichen Provinzen
verschiebt sich das Bild nicht; hier haben die Landwirte und 62 Prozent der
Kreistagsmitglieder die Mehrheit. Dabei wird der Prozentsatz noch stark herunter¬
gedrückt durch die abnormen Verhältnisse in zwei Kreisen des Regierungsbezirks
Oppeln, nämlich in Beuthen und Kattowitz, die einen ausgesprochen industriellen
Charakter haben. In Schleswig-Holstein sind durchschnittlich 67 Prozent der
Kreistagsmitglieder Landwirte; in Hannover gar 69 Prozent und auch in West¬
falen noch 56 Prozent; dagegen in Hessen-Nassau nur 49 und in: Rheinland
45 Prozent. Untersucht man aber z. B. die Verhältnisse in Hessen-Nassau
näher, so zeigt sich, daß die Landwirtschaft im Durchschnitt der 11 untersuchten
Kreise des Regierungsbezirks Kassel 57 Prozent der Kreistagsmitglieder stellen,
in 7 Kreisen des Regierungsbezirks Wiesbaden dagegen 38 Prozent. Auch
in den 4 untersuchten Kreisen des Regierungsbezirks Köln stellen die Land¬
wirte noch 50 Prozent der Kreistagsmitglieder. Jedenfalls darf man mit Fug
und Recht behaupten, daß die Landwirte in dem größten Teil der 181 Kreise
die stark überwiegende Majorität haben. Dagegen ist die Industrie außer¬
ordentlich schwach vertreten: im Gesamtdurchschnitt der 181 Kreise im einzelnen
Kreistag mit 11 Prozent der Kreistagsmitglieder; in den östlichen Provinzen im
Durchschnitt und 9. in Schleswig-Holstein mit 3, in Hannover mit 8, in
Westfalen mit 21, in Hessen-Nassau mit 13, im Rheinland endlich mit
20 Prozent.
Wir müssen uns hier in die Erinnerung zurückrufen, daß der Kreistag und
absoluter Stimmenmehrheit den Kreisausschuß wählt und ebenfalls mit absoluter
Stimmenmehrheit die Landkreisdelegierten zum Provinziallandtag. Da kann es
nach dem Ergebnis unserer Betrachtung der Zusammensetzung der Kreistage
nicht wundernehmen, daß im sechsköpfigen Kreisausschuß im Durchschnitt der
181 Kreise 3,8 Landwirte sitzen, demgegenüber aber nur 0,5 Industrielle,
0,6 sonstige Gewerbetreibende und 1,1 Angehörige anderer Berufe. Eine Einzel¬
betrachtung erübrigt sich hier; es darf als Tatsache gelten, daß mit
geringen Ausnahmen in den Kreisausschttssen die Landwirte die Mehrheit
besitzen*). Weiterhin wird es verständlich, daß im Durchschnitt der 181 Kreise
von 100 Delegierten, die die Kreistage in die Provinziallandtage entsenden.
53 Landwirte sind und nur 10 Industrielle und 5 sonstige Gewerbetreibende.
Allerdings befinden sich unter den Delegierten 32 Angehörige anderer Berufe.
In den östlichen Provinzen sind 54 Prozent der Delegierten Landwirte, in
Schleswig-Holstein 70, in Hannover 55, in Westfalen 58. in Hessen-Nassau 42
und in: Rheinland 37 Prozent.
Ein in hohem Grade plastisches Bild von der Divergenz zwischen Rechte»
und Pflichten in der Kreisordnung gewährt nun ein Vergleich zwischen der
Verteilung der Kreistagsmandate und der Kreissteueru auf die ein¬
zelnen Wahlverbände. Hier reicht das Material nur für 83 Kreise aus;
für die übrigen waren die Kreissteuerbeträge, die die Großgrundbesitzer auf¬
bringen, nicht zu erlangen. Während in den östlichen Provinzen in: Durchschnitt
von 41 Landkreisen auf den Wahlverband der Städte 24 Prozent der Kreistags¬
mandate entfallen, zahlen die Städte in diesen Kreisen 35.4 Prozent aller
Kreissteuern. Auf den Wahlverband der Großgrundbesitzer entfallen 37 Prozent
der Mandate, während sie nur 23.8 Prozent der Kreissteuern aufbringen. Die
Landgemeinden haben 38 Prozent der Mandate und zahlen 40.8 Prozent der
Kreissteuern. In 11 Kreisen Schleswig-Holsteins haben die Städte 17 Prozent
der Mandate, die Großgrundbesitzer 32 und die Landgemeinden 50 Prozent der
Mandate; die entsprechenden Kreissteuerzahlen sind 14.1. 22.1 und 63.7 Prozent.
In 23 Kreisen Hannovers haben die Städte 18 Prozent der Mandate, die
Großgrundbesitzer 33 Prozent und die Landgemeinden 48 Prozent; die ent¬
sprechenden Kreissteuerziffern sind 23,7. 13,7 und 62.6 Prozent. In 2 Kreisen
Westfalens sind die beiderseitigen Ziffern 30 (42.6). 30 (7.9). 40 (49.5) Prozent.
In 3 Kreisen Hessen-Nassaus 12 (17.1). 23 (14.8). 65 (68.1) Prozent. In
3 Kreisen der Rheinprovinz endlich 23 (41.2). 33 (9.4). 43 (49.4) Prozent.
Eine Kommentierung dieser Zahlen erscheint unnötig. Sie sprechen für sich selbst.
Auch wenn diese Zahlen nicht eine so überzeugende Sprache redeten, würde
man zu der Auffassung, daß eine Reformbedürftigkeit der preußischen Kreis¬
verfassung vorliegt, schon durch die Lektüre der Verhandlungsberichte des
Abgeordnetenhauses aus den beiden verflossenen Sessionen gelangen. Wenn man
das Auge durch die vielen Spalten jener Berichte wandern läßt, bemerkt man.
daß von keiner Seite die Wandlung in der wirtschaftlichen Physiognomie der
Landkreise verkannt wird, und man bemerkt weiter, daß fast von allen politischen
Parteien diese Veränderungen zum Ausgangspunkt von Anträgen zur Modifi¬
zierung der Kreisordnung gemacht werden. Völlig verschieden sind aber die
politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen, die diese Anträge aus jenen
Veränderungen ziehen. Die ganze Frage wurde aufgerollt durch einen Antrag
von liberaler Seite, der eine Änderung der Kreisordnung insbesondere dahin
herbeiführen will, daß das Wahlrecht zum Kreistage entsprechend der vermehrten
Bedeutung der Stadt- und Landgemeinden sowie von Industrie und Gewerbe
umgestaltet werde. Dieser Antrag wanderte zusammen mit einem ähnlich lautenden
Antrag von Zentrumsseite in die Gemeindekommission des Abgeordnetenhauses,
und hier, es mutet wie eine Ironie des Schicksals an, überwog die Auffassung,
daß eine Kontingentierung des industriellen Einflusses in der Kreisvertretung
erforderlich erscheine. Es wurde betont, die liberale Argumentation, daß Städte
und Industrie nicht genügend zur Geltung kämen, baue sich lediglich auf den
Verhältnissen des Ostens auf. Im Westen mache sich aber eine die landwirt¬
schaftlichen Interessen stark gefährdende Prävalenz der Industrie geltend. Im
Hinblick hierauf wurde von Zentrumsseite beantragt, im Wahlverband der
Großgrundbesitzer zwei Drittel der Zahl der Abgeordneten dem ländlichen Gro߬
grundbesitz zu reservieren, um so grundsätzlich die Möglichkeit der Industriali¬
sierung auszuschließen. In diesem Zusammenhang wurde ferner auch auf die
Zurückdrängung der ländlichen Interessen in den Provinziallandtagen hingewiesen;
es wurde dabei auf die veränderte Zusammensetzung des rheinischen Provinzial-
landtags verwiesen, in dem nach einem Vergleich der Wahlergebnisse der Jahre
1888 und 1906 die Zahl der Industriellen um 50 Prozent gewachsen sei, die
der Gutsbesitzer aber um 25 Prozent zurückgegangen sei. Es wurde demgemäß
von Zentrumsseite der Antrag gestellt, in den Provinzialordnnngen allgemein
zu bestimmen, daß die Zahl der Abgeordneten nicht wesentlich vermehrt werde.
Die Gemeindekommission nahm diesen Antrag an; ein später von konservativer
Seite hierzu gestellter Änderungsantrag wollte allerdings diese Bestimmung auf
die Provinzen Westfalen und Rheinland beschränkt wissen. Von konservativer
Seite wurde ferner eine Änderung der Kreisordnung für die Ostprovinzen dahin
beantragt, daß von dem für die Wahlberechtigung im Wahlverband der Gro߬
grundbesitzer maßgebenden Mindestbetrage an Grund- und Gebäudesteuer min¬
destens die Hälfte auf die Grundsteuer entfallen müsse. Der Antrag hat folgende
Bedeutung. In den Ostprovinzen ist im Gegensatz zu allen anderen Provinzen
die Grund- und Gebäudesteuer und nicht die Grundsteuer allein für die Ausübung
des Wahlrechts im Wahlverband der Großgrundbesitzer maßgebend. Nun zeigte
sich, daß in den Kreisen, in denen eine starke Bautätigkeit sich entfaltete, sei es
dadurch, daß an den Kreis größere Städte grenzten, die mit Vororten in die
Kreise hineinragten, sei es aus anderen Gründen, wie das Aufkommen der
Badeindustrie, die landwirtschaftlichen Grundbesitzer durch nicht ländliche
Gebäudebesitzer zurückgedrängt wurden. Den speziellen Anlaß zu dein
Antrag gab die Entwicklung der Badeorte im Kreise Usedom-Wollen.
Also auch hier ein Grund zu einer Reform der Kreisordnung, und zwar
ein von konservativer Seite kommender. Des weiteren wurden von liberaler
Seite noch folgende Anträge zur Änderung der Kreisordnung gestellt: einmal
den Gesellschaften mit beschränkter Haftung, den eingetragenen Genossenschaften
und den sonstigen noch nicht wahlberechtigten Erwerbsgesellschaften das Wahlrecht
zum Kreistag zu verschaffen und sodann, die Form des aktiven Wahlrechts
der Erwerbsgesellschaften durch Entbindung von den besonderen Vertretungs-
bestimmungen zu erleichtern. Den letzteren Antrag lehnte die Gemeindekommission
bezeichnenderweise ab. Im Nahmen unserer Betrachtungen kommt es nicht darauf
an. hier ein genaues Bild von dem Gang der Angelegenheit im Parlament zu
entwerfen"). Es liegt uns nur daran, zu zeigen, daß die Kreisverfassung von
den verschiedensten Seiten als reformbedürftig"') bezeichnet wird, und es liegt uns
weiter daran. Klarheit zu schaffen über die verschiedenen Interessenrichtungen,
in denen sich die Änderungsanträge bewegen. Noch ein Wort über die Be¬
ratungen in der Gemeindekommission, die sich aus zehn Mitgliedern der kon¬
servativen und frcikonservativen Fraktion, drei Nationalliberalen, fünf Mitgliedern
des Zentrums, zwei der Freisinnigen Volkspartei und einem Mitglied der Polen
Zusammensetzte. Gerade im Hinblick auf die. wie wir gesehen haben, direkt
entgegengesetzten Auffassungen über die Richtung, in der eine Reform der Kreis¬
ordnung zu bewerkstelligen sei. wäre eine objektive Erörterung und zwar auf
der sicheren Grundlage eines umfangreichen Tatsachenmaterials Pflicht gerade
einer Parlamentskommission gewesen. Das ist aber nicht geschehen. Charakteristisch
ist die Äußerung des Berichterstatters, eines Zentrumsabgeordneter, daß er die
Statistischen Tafeln des Deutschen Handelstags zwar erhalten, aber wegen der
Kürze der ^eit nicht für sein Referat mehr habe verwerten können. Offenbar
hat auch das Plenum des Abgeordnetenhauses den Eindruck des Unzulänglichen
gehabt, denn es hat die Angelegenheit glücklicherweise erneut an die Gemeinde¬
kommission zurückverwiesen. Abgesehen von diesen Fragen, die speziell das
Wahlrecht zu den Kreistagen betreffen, scheint auch in anderer Hinsicht eine
Reformbedürftigkeit der Kreisordnung vorzuliegen. Von liberaler Seite wurde
im Abgeordnetenhaus darauf hingewiesen, daß es von den einem Landkreise
angehörenden Städten als starke Benachteiligung empfunden wird, daß man
ihr Ausscheiden aus den Kreisen erschwert. Insbesondere geschieht das durch
eine gezwungene Auslegung des § 4 der Kreisordnung. Danach sind Städte
befugt, für sich einen Kreisverband, also einen Stadtkreis zu bilden, wenn sie
eine Einwohnerzahl von mindestens 25000 Seelen haben. Es fehlt nnn an
einer klaren Bestimmung, welche Zählung für die Feststellung der genannten
Einwohnerzahl maßgebend sein soll. Der Minister des Innern stellt sich auf
den Standpunkt, daß in der Regel die letzte Volkszählung diese Grundlage
bilden soll. Der Text der Kreisordnung gibt hierfür jedoch keinen Anhaltspunkt.
Im Gegenteil ist anzunehmen, daß der Gesetzgeber diese Absicht nicht gehabt
hat, da er sonst wie im Z 89 der Kreisordnung die „letzte allgemeine Volks¬
zählung" ausdrücklich als bestimmendes Moment genannt haben würde. Auch
auf konservativer Seite hält man eine Änderung der Bestimmungen der Kreis¬
ordnung über das Ausscheiden der Städte aus den Kreisverbänden für notwendig,
jedoch in der Richtung, daß das Ausscheiden noch mehr erschwert wird; man
spricht davon, daß von konservativer Seite gefordert werde, als Voraussetzung
für die Verselbständigung der Städte eine Einwohnerzahl von mindestens
50 000 Seelen festzusetzen.
Der Deutsche Handelstag hat nun, unbeirrt vou der Parteien Gunst und
Haß, eine Reihe von Vorschlägen") zur Änderung der Kreisverfassung gemacht,
die er als die Gesamtvertretung von Industrie und Handel Deutschlands und
zwar im Rahmen der Interessen der Allgemeinheit zu machen sich verpflichtet
hält. Nach diesen Vorschlägen soll zunächst die Zahl der Kreistagsabgeordneten
zwischen dem Wahlverband der Städte einerseits und den Wahlverbänden der
größeren ländlichen Grundbesitzer und der Landgemeinden anderseits statt wie
bisher nach der Bevölkerungsziffer nach der Steuerleistung verteilt werden
(Z 89 Ur. 1 Satz 1). Im Zusammenhang damit soll ferner die Zahl der
Kreistagsabgeordneten innerhalb des Wahlverbandes der größeren ländlichen
Grundbesitzer zwischen den Grundbesitzern und den Gewerbetreibenden, innerhalb
des Wahlverbandes der Landgemeinden zwischen den Landgemeinden, den Grund¬
besitzern und den Gewerbetreibenden nach der Steuerleistung verteilt werden
(Z 89 Ur. 2).
Ehe wir auf die speziellen Einwände der Regierung gegen diesen
Vorschlag eingehen, sei hier kurz die Auffassung der Regierung"") über eine
Reformbedürftigkeit der Kreisordnung eingeflochten. Danach betrachtet die Staats¬
regierung die Kreisordnungen und die Provinzialordnungen als Verfassungs¬
gesetze, die für die Kommunen von ähnlicher Bedeutung seien wie die Verfassung
für den Staat und das Reich. Nach diesem grundsätzlichen Standpunkt könne
die Regierung an eine Änderung dieser Verfassungsgesetze nicht ohne zwingende
Gründe herantreten, und sie werde sich um so weniger dazu entschließen können,
wenn so verschiedenartige sich entgegenlaufende Änderungswünsche laut würden.
Nachdem die Regierung gegen die starken Widerstände der Anhänger des patn-
monialen Staatsverwaltungssystems die Kreisordnung als eine liberale Errungen¬
schaft durchgesetzt habe, sei es Sache der einzelnen Berufsstände, sich darin
zurecht zu finden und sich in ihrem Rahmen zur Geltung zu bringen. Die
Grundlagen dafür seien gegeben. Nun werde aus den Kreisen von Industrie
und Handel behauptet, diese Grundlagen seien falsch; sie ermöglichten Industrie
und Handel nicht, die ihrer wirtschaftlichen Bedeutung im Kreise entsprechende
Stellung einzunehmen. Dem sei entgegen zu halten, daß allerdings im Osten
eine Prävalenz des größeren ländlichen Grundbesitzes vorhanden sei; dafür
bestehe aber im Westen, wie das Material, das im Ministerium des Innern
über die Zusammensetzung der Kreistage gesammelt worden sei"), lehre, eine
Prävalenz der Industrie. Diese Vorgänge bewiesen gerade die Anpassungs¬
fähigkeit der Kreisordnung; sie zeigten, daß im allgemeinen eine automatische
Regulierung in der Kräfteverteilung stattfinde. Die Forderung, statt der Be¬
völkerungszahl die Steuerleistung sür die Verteilung der Abgeordneten auf die
Wahlverbände zur Anwendung zu bringen, zerstöre die Hauptgrundlage der
Kreisordnung Damit werde eine plutokratische Entwicklung unserer Kreis¬
vertretung in die Wege geleitet. Es werde zu einer eklatanten Prävalenz der
wirtschaftlichen Macht kommen, die dem Wohl des Ganzen sehr nachteilig werden
könne. Die Kreisordnungen bezweckten in erster Linie eine Organisation des
Platten Landes; sie wollten in den Kreistagen speziell dein wirtschaftlich
schwächsten Teil des Kreises die intensivste Vertretung sichern. Die wichtigsten
großen Aufgaben der Kreise dienten in erster Linie den ländlichen Interessen;
ihre Erfüllung sei aber auch zum Wohl des Ganzen unumgänglich notwendig.
Dieser ländliche wirtschaftliche Bedarf, wie man diese Aufgaben umschreiben
könne, sei unvergleichlich viel stärker als der wirtschaftliche Bedarf, der in erster
Linie hinsichtlich städtischer bezw. industrieller Interessen hervortrete. Durch
die Zugrundelegung der Steuerleistung für die Abgrenzung der Wahlverbände
bestehe die Gefahr, daß der bei weitem überwiegende ländliche wirtschaftliche
Bedarf majorisiert werde. Auch die Städte seien nicht benachteiligt. Im
Gegenteil bilde es eine Begünstigung der Städte, daß bei der Scheidung der
Abgeordneten die Zahl der Städtevertreter nach dem Verhältnis der städtischen
und ländlichen Bevölkerung bemessen werde. Denn die Bevölkerung der Städte
wachse bekanntlich viel rascher als die des platten Landes; die erstere vermehre
sich sogar auf Kosten der letzteren.
Diese Auffassung der Negierung steht einerseits mit den Tatsachen^im
Widerspruch, anderseits verkennt sie die Tragweite der Vorschläge des Deutschen
Handelstags. Wie unsere früheren Erörterungen zeigen, bilden die maßgebenden
Bestimmilngen über das Wahlrecht in der Kreisverfassung ein bewußt geschaffenes
System, um dem größeren ländlichen Grundbesitz eine starke Prävalenz zu
sichern. Diese Ausfassung findet ihre Bestätigung in dem Ergebnis unserer
statistischen Betrachtungen, das in gar nicht zu bezweifelnder Weise zeigt, daß
es weder den Städten noch der Industrie noch auch den Landgemeinden im
entferntesten möglich ist, gegenüber dem größeren ländlichen Grundbesitz eine
ihrer wirtschaftlichen Bedeutung entsprechende Geltung sich zu verschaffen. Ins¬
besondere sei hier erinnert an unsere Betrachtung der Verteilung der Kreistags¬
mandate und der Kreissteuern auf die einzelnen Wahlverbände. Dieses Bild
bezieht sich allerdings nur auf 83 Kreise von der großen Gesamtzahl der
preußischen Landkreise. So hat es die Negierung ihrerseits in der Hand, durch
die Veröffentlichung des ihr zur Verfügung stehenden Materials für sämtliche
Landkreise Preußens gegebenenfalls nachzuweisen, daß unserem Bild keine
typische Bedeutung innewohnt. Solange das nicht geschieht, wird man für die
weiteren parlamentarischen Verhandlungen das durch den Deutschen Handelstag
produzierte Material als beweiskräftig zugrunde legen müssen.
Nun zu der Tragweite der Vorschläge des Deutschen Handelstags. Der
Vertreter des Ministers des Innern betonte, mit der Zugrundelegung der
Steuerleistung werde die Hauptgrundlage der Kreisordnung zerstört, und es
werde ihr ein plutokratisches Gepräge gegeben; und in der Gemeindekommission
des Abgeordnetenhauses fügte er hinzu, die Kritik, die vom Deutschen Handelstag
ausgehe, zeige, wie gefährlich es sein würde, auf Veranlassung vou Interessenten-
Vertretungen kommunale Verfassungsgesetze zu ändern^). Darin bekundet sich
eine so starke Verkennung der Intentionen des Deutschen Handelstags, daß sie
nicht nachdrücklich genug berichtigt werden kann. Der Deutsche Handelstag hat
sich gerade für die Erhaltung der Hauptgrundlage der Kreisverfassung aus¬
gesprochen. Als diese Hauptgrundlage sieht er allerdings die drei Wahlverbände
der Städte, der Großgrundbesitzer und der Landgemeinden an, also die Zusammen¬
setzung der Kreisvertretung nach den wirtschaftlichen Gruppen, die unmittelbar
auf die alte rein ständische Verfassung zurückgehen. Im Rahmen dieser historisch
gewordenen Grundlage will der Deutsche Handelstag den von den Wähl¬
verbänden umschlossenen Erwerbskreisen eine ihrer allgemeinen wirtschaftlichen,
kulturellen und politischen Bedeutung entsprechende Geltung verschaffen. Keines¬
wegs will er nur Industrie und Handel mehr berücksichtigt wissen, sondern auch
die Städte und die Landgemeinden, von denen namentlich die letzteren seit dem
Erlaß der Kreisordnung eine ganz andere Bedeutung erlangt haben. Wie
wenig man den: Deutschen Handelstag Einseitigkeit bei seinen Vorschlägen vor¬
werfen kann, beweist klar und deutlich, daß er die Bestimmung des § 89 Ur. 2
erhalten wissen will, wonach von der nach Dotierung des Wahlverbandes der
Städte übrig bleibenden Zahl der Abgeordneten die Verbände der größeren
Grundbesitzer und der Landgemeinden ein jeder die Hälfte erhält. Der
Abgeordnete Richter brachte im Jahre 1394 im Abgeordnetenhaus eine Resolution
ein, die die Beseitigung der Scheidung des Wahlverbandes der Großgrund¬
besitzer und der Landgemeinden forderte. Danach sollte also für die Wahlen
zum Kreistag jeder Unterschied zwischen Groß- und Kleingrundbesitz und den
Bewohnern der Landgemeinden aufgehoben werden. Damit wäre allerdings
die Grundlage der Kreisverfassung zerstört worden, nicht aber durch die Vor¬
schläge des Deutschen Handelstags, der in Würdigung der politischen und
allgemeinen Bedeutung des ländlichen Großgrundbesitzes ihm trotz seiner ver¬
hältnismäßig geringen Beteiligung an den Kreissteuerlasten eine starke Stellung
einräumen will. Man könnte sagen, daß darin sür den Deutschen Handelstag
eine Interessenpolitik läge, da ja die Industrie zum Wahlverband der Gro߬
grundbesitzer gehört, soweit sie nicht im Wahlverband der Landgemeinden ihre
Vertretung findet. Richtig ist. daß mit einem schwachen Wahlverband der
Großgrundbesitzer auch die diesem Wahlverband angehörende Industrie eine
schwächere Vertretung in den Kreistag entsenden würde. Indes würde es
trotzdem noch im größeren Interesse der Industrie liegen, wenn der Einfluß
gerade des ländlichen Großgrundbesitzes im Kreistag geschwächt wird. Wie
diese Schwächung sich gestalten würde, mag hier noch an einigen Zahlen auf
Grund der Statistischen Tafeln des Deutschen Handelstags nachgewiesen
werden. Verteilt man die Kreistagsmandate auf sämtliche drei Wahlverbünde
"ach dem Verhältnis ihres Anteils an den Kreissteueru, so würden auf den
Wahlverband der Großgrundbesitzer im Durchschnitt in 41 Kreisen der östlichen
Provinzen statt!'.? Prozent der Mandate nur 26 Prozent entfallen, in 11 Kreisen
Schleswig-Holsteins statt 32 Prozent nur 18 Prozent, in 23 Kreisen Hannovers
statt 33 Prozent nur 16 Prozent, in 2 Kreisen Westfalens statt 30 Prozent nur
12 Prozent, in 3 Kreisen Hessen-Nassaus statt 23 Prozent nur 13 Prozent,
und endlich in 3 Kreisen der Rheinlande statt 33 Prozent der Mandate nur
W Prozent. Damit, daß der Deutsche Handelstag einen dahingehender Antrag
nicht stellt, beweist er sein Verständnis für die historisch gewordenen Grundlagen
der Kreisverfassung, und er ist daher geschützt gegen den Vorwurf einer einseitigen
Vertretung der seiner Obhut anvertrauten Interessen von Industrie und Handel.
Dagegen wird man ihm darin beipflichten müssen, daß innerhalb dieser ma߬
vollen Zurückhaltung die Anwendung der Steuerleistung statt der Bevölkerungs-
Stffer der einzige Weg ist, um den verschiedenen Erwerbsgrnppen im Landkreise
eine ihrer wirtschaftlichen Bedeutung entsprechende Geltung zu verschaffen, wenn
man überhaupt Rechte und Pflichten in einen gewissen Zusammenhang bringen
will. Ein so ganz fremdes Element bildet ja auch der Steuermaßstab in der
Kreisordnung gar nicht. Denn bereits jetzt ist schon der ländliche Grund¬
besitz nach einer Gewerbesteuergrenze in die Wahlverbände der Großgrundbesitzer
und der Landgemeinden geschieden 86), ebenso wie nach einer Gewerbesteuer¬
grenze die Industrie den genannten beiden Wahlverbänden zugeteilt ist (§8 86, 87);
nur mit einer Bevorzugung der Landwirtschaft im Wahlverband der Großgrund¬
besitzer, insofern Landwirte schon von 225 Mark Grund- und Gebäudesteuer an
Zu diesem Wahlverband gehören, Industrielle aber erst, wenn sie zu dem Mindest¬
satze von 300 Mark Gewerbesteuer veranlagt sind.
Die übrigen Vorschläge des Deutschen Handelstags bedürfen nur einer
kurzen Kommentierung; sie verstehen sich nach unseren bisherigen Darlegungen
von selbst. Der Deutsche Handelstag will also weiterhin die Bestimmung, nach
der die Zahl der städtischen Abgeordneten die Hälfte und in denjenigen Kreisen,
in welchen nur eine Stadt vorhanden ist, ein Drittel der Gesamtzahl aller
Abgeordneten nicht übersteigen darf (Z 89 Ur. 1 Satz 2), gestrichen sehen. Wir
haben ziffermäßig nachgewiesen, daß gerade auch die Städte durch die geltende
Kreisordnung stark zurückgedrängt werden, obwohl sie in vielen Fällen einen
außerordentlich hohen Anteil an den Kreissteucrlasten tragen. Es entspricht dem
einfachen Gebot der Gerechtigkeit, daß die Kontingentierung ihrer Mandate
beseitigt wird, nachdem sie sich auch bei den anderen beiden Wahlverbänden nicht
vorfindet. Ferner sollen die juristischen Personen, Aktiengesellschaften, Kommandit¬
gesellschaften auf Aktien, Gesellschaften in. b. H. und Genossenschaften das aktive
und passive Wahlrecht für ihre ordentlichen Vertreter erhalten. Dabei soll es
nicht erforderlich sein, daß ihre Vertreter in dem Kreise entweder einen Wohnsitz
haben oder Grundeigentum besitzen (§ 97 Abs. 1 Ur. 2; Z 98 Abs. 2; §106
Abs. 1 Ur. 2). Die Verteilung der Kreistagsabgeordneten soll nach dem Ablauf
von je sechs statt zwölf Jahren der Revision unterworfen werden (§ 112).
Von ganz besonderer Bedeutung ist endlich der letzte Vorschlag des Deutschen
Handelstags, daß die Zahl der Kreisausschußmitglieder auf die Wahlverbände
der größeren ländlichen Grundbesitzer, der Landgemeinden und der Städte nach
der Zahl der diesen Verbänden zustehenden Kreistagsabgeordneten verteilt werden
soll (Z 131). Der geltende Zustand, daß die sechs Mitglieder des Kreisausschusses
mit absoluter Stimmenmehrheit vom Kreistage gewählt werden, ist eine direkte
Garantie für die Vorherrschaft des ländlichen Grundbesitzes in der Kreisverwaltung.
Denn darüber besteht keine Unklarheit, daß das Schwergewicht der Kreisverwaltung
im Kreisausschuß liegt; ihm ist die Vorbereitung aller Kreistagsbeschlüsse über¬
wiesen und er ist ferner das bevollmächtigte ausführende Organ des Kreistags.
Dazu tritt der Umstand, daß der Kreisausschuß auch einen Teil der Landes¬
verwaltung bildet (ZZ 130, 134) und dadurch feste Beziehungen zur Staats¬
verwaltung unterhält. Außerordentlich klar wird die Situation dadurch gekenn¬
zeichnet, daß der Kreistag nur zweimal im Jahr einberufen zu werden braucht
(Z 118), in Hannover und Westfalen sogar nur einmal. Es soll Fälle geben,
in denen die Aufgaben des Kreistags sich im großen und ganzen auf die
Bewilligung der vorher gedruckten Etats und Spezialfinanzvorlagen des Kreis¬
ausschusses beschränken*). Da wir aus unseren statistischen Betrachtungen den
Schluß ziehen dürfen, daß in der weitaus überwiegenden Zahl der Kreistage
die Vertreter der Landwirtschaft die Mehrheit bilden, so liegt es im allgemeinen
in ihrem Belieben, ob Städte bezw. Industrie und Handel überhaupt im Kreis¬
ausschuß vertreten sein sollen. Dieser, man darf wohl sagen gänzlich haltlose
Zustand soll durch den Vorschlag des Deutschen Handelstags nach Einführung
der Verhältniswahl eine allen Teilen gerecht werdende Änderung erfahren.
Aus unseren Darlegungen möge man ersehen, daß es keineswegs, wie der
Vertreter des Ministers des Innern meint, „gefährlich" ist, wenn sich der
Deutsche Handelstag mit der vorliegenden Frage beschäftigt, sondern daß er
vielmehr nach objekiver Ergründung der Tatsachen Vorschläge macht, die sich
durchaus auf der mittleren Linie der Interessen der Allgemeinheit bewegen.
Demgegenüber ist das Problem der Reform der Kreisverfassung im Parlament,
und zwar nicht nur im Plenum, sondern auch in der Gemeindekommission, nur
ein Spielball der Parteiinteressen gewesen. Um die Tatsachen hat man sich
den Teufel gefedert, und auch über das Material, das der Deutsche Handelstag
darbot, ist man unbekümmert zur Tagesordnung übergegangen.
elaien ist bis zu einem gewissen Grade ein klassisches Land für
die kriegsmäßige Verwendung des Luftballons, denn hier wurde
er zu allererst, schon wenige Jahre nach seiner Erfindung, vou
der französischen Revolutionsarmee zu Erkundungszwecken benutzt
und hier erhielt er auch seine Feuertaufe. Sowohl im Kampfe
um Maubeuge und Charleroi 1794 als in der darauffolgenden Schlacht von
Neurus tat er als Fesselballon ausgezeichnete Dienste, während die Österreicher,
die damaligen Herren des Landes, sich vergeblich bemühten, ihn durch Haubch-
feuer unschädlich zu machen. ^ ...
Der Fesselballon wird auch in Zukunft trotz Luftschiff und Flugmaschine
seine Bedeutung behalten, denn er ist im Festungs- und Posüionsknege und
selbst im Bewegungskriege, wie die jüngsten Kämpfe der Spanier in Marokko
bewiesen haben, auch heute noch auf kürzere Entfernungen ein sehr brauchbares
Erkundungsmittel.
Soll es aber zu weitgreifenden Unternehmungen oder zu einem Einblick
hinter Höhen- und Geländebedeckungen kommen, die vou einem Fesselballon
nicht einzusehen sind, so müssen Luftschiff und Flugmaschine eintreten. D,e
Größe ihres Aktionsradius ist dabei bestimmend für ihre Verwendung, und
dieser wieder ist abhängig von der Eigengeschwindigkeit des Flugzeugs und von
der Ausdauer seiner Betriebsmittel.
So würde z. B. ein Zeppelin unter günstigen Verhältnissen schon jetzt von
Brüssel über Frankreich hinweg nach Spanien und wieder zurückgelangen können,
ohne inzwischen landen zu müssen.
Im Feldkriege wird man daher Luftschiffe von größerer Fahrtdauer möglichst
schon vor Beginn der Feindseligkeiten einen Einblick hinter die feindliche Grenze
tun lassen, um Klarheit über Aufmarsch und Stärke des Gegners zu gewinnen.
Auch im weitern Verlauf des Krieges werden sie hauptsächlich den Zwecken
strategischer Aufklärung dienen. An ihr werden sich zwar auch Lenkballons
kleineren Typs beteiligen können, doch bleibt ihr eigentliches Feld der Tätigkeit
die Schlacht. Bei der sorgfältigen Ausnutzung des Geländes seitens der Truppen,
bei der unheimlichen „Leere des Gefechtsfeldes" in den ersten Stadien des
Kampfes werden sie im Verein mit Flugapparaten namentlich die verdeckten
Batterien des Gegners, die Verwendung der Infanterie und der Reserven, den
Verbleib der Kavallerie und den Moment zu erspähen haben, wann sie von
neuem hervorbrechen will. Die Stellung des feindlichen Feldherrn, das Heran¬
rücken von Verstärkungen dürfen ihnen ebenfalls nicht entgehen. Gute Resultate
sind in dieser Beziehung von den Luftschiffer bereits bei den letzten großen
Manövern in Deutschland und Frankreich erzielt worden, und es ist zu erwarten,
daß in nächster Zeit auch die Flugmaschinen im Manövergelände erscheinen
werden. Außer der Erkundungstätigkeit kommt für sie noch die Unterstützung
in Betracht, die sie der Gefechtsleitung durch schnelle Befehlsübermittluug
gewähren. Mit Truppen vollgepfropfte Wege, ungangbare Geländestrecken sind
für sie kein Hindernis. In gerader Luftlinie und in einen: Tempo, zu dein
einem Pferde Lungen und Beine fehlen, erreichen sie rückwärtige Truppen,
Kolonnen und Trains sowie detachierte Abteilungen und dirigieren sie in kürzester
Frist nach dem Willen des Führers.
Im Ernstfalle sind ferner die sehr wertvollen Aufschlüsse nicht zu vergessen,
welche die Erkundung aus der Luft über die Waffenwirkung der eignen Truppen
sowie über das Gelände gibt, wenn brauchbare Karten fehlen. Gute Nachrichten
über die Lage der Schüsse erlauben entsprechende Korrekturen beim Schießen
und führen zu vernichtender Wirkung. Auskunft über das vom Feinde beherrschte
Gelände erleichtert die Leitung der Operationen und von diesem Gesichtspunkte
aus hat sich schon der in den letzten Jahren von den spanischen Truppen in
Marokko mitgeführte Fesselballon reichlich bezahlt gemacht. Von ihm herab
gelang es den spanischen Offizieren, mit Hilfe der Photographie in wenigen
Tagen ganz brauchbare Karten zusammenzustellen.
Bei dieser Vielseitigkeit der Flugzeuge auf dem Gebiete der Erkundung,
welche durch drahtlose Telegraphie und optische Signale noch eine bedeutende
Steigerung in der Schnelligkeit der Übermittlung erfährt, scheint die Kavallerie
ganz außer Kurs gesetzt zu sein. Wind und Wetter und die Gegenmaßregeln
des Feindes machen jedoch die Reise im Sattel immer noch sicherer als die in
der Gondel. Die Wettergelehrten behaupten sogar, daß im nördlichen und
mittlern Europa die Luftschiffahrt überhaupt nur an achtzig bis hundert Tagen
des Jahres möglich sei.
Die Meldungen der Kavallerie werden daher unter Zuhilfenahme von
Telegraphie und Telephon den Führer auch in der Zukunft wahrscheinlich
zuverlässiger und andauernder unterrichten als der Luftschiffer. Das zeigte sich
schon im deutschen Kaisermanöver 1909, wo das Luftschiff ^ II durch Nebel,
leichtere Beschädigungen und Gasverlust zeitweise ausfiel. Immerhin bedeutet
dieses Manöver nur eine erste Probe für die Militär-Luftschiffahrt, die für die
Zukunft noch ungleich bessere Resultate erwarten läßt, im großen und ganzen
aber doch nur, wenn auch eine sehr wertvolle Ergänzung der kavalleristischen
Erkundungstätigkeit bleiben wird.
Im Festungskriege sind Angreifer wie Verteidiger in der Verwendung ihrer
Kavallerie beschränkt. Der Fesselballon kann bei der heutigen Ausdehnung
einer großen Festung, besonders bei unübersichtlichen Vorgelände — in Ant¬
werpen z. B. finden wir solche Verhältnisse — der Anforderung allsreichender
Erkundung nur in beschränktem Maße genügen. Neben ihm tritt daher das
Flugzeug auf und es findet durch reichliche Betriebsmittel bei kurzem Aktions¬
radius gerade im Festuugskriege günstige Lebensbedingungen. Außer Aufgaben
der Erkundung fällt ihm in einer Festung auch die zu. den Personenverkehr
mit dem Lande und umgekehrt aufrecht zu erhalten.
Im Seekriege erscheint der Gebrauch von Flugzeugen auf offenem Meere
vorderhand ausgeschlossen. Ihre Flugweite ist noch zu kurz und ihre Flugkraft
den dort herrschenden Windverhältnissen noch nicht gewachsen.
Im Küstenkriege jedoch nähern sich die Verhältnisse denen des Festungs¬
krieges. Flugzeuge werden hier für Flotte und Seefeste gleich wertvoll sein.
Sichere Meldungen über Art und Zahl der feindlichen Schiffe, besonders der
Unterseebote, über Lage und Beschaffenheit der Seculum und Sperren, Finger¬
zeige für eine wirksame Feuerleitung sind in einem Küstenkriege von unbezahl¬
barem Werte. Sie würden bei Port Arthur ohne Zweifel zu einer ungleich
schnellern Entscheidung geführt haben.
Werden sich nun zu diesen Aufgaben für die Flugzeuge auch solche gesellen,
welche mehr offensiver Natur sind und die direkte Vernichtung des Gegners im
Auge haben?
Der Gedanke, Explosivkörper aus der Luft auf den Feind zu schleudern,
ist nicht neu. Schon 1849 sandten die Österreicher auf das belagerte Venedig
aus unbenannten Drachen Bomben herab, die aber teils ihr Ziel verfehlten,
teils auf den Absender zurücktrieben und ihn zur Einstellung der für ihn selbst
gefährlichen Versuche veranlaßten. Aber auch heute noch erscheint der Bomben¬
wurf selbst aus dem bemannten Flugzeuge sehr problematisch. Will man
Truppen, Befestigungen usw. vernichten, so müßte es aus bedeutender Höhe
geschehen, wenn man nicht selbst von den Geschossen des Gegners erreicht
werden soll. Der seitliche Abtrieb der Wurfgeschosse durch Wind und Eigen -
beweguug des Luftschiffes machen aber das Treffen so unsicher, daß bei dem
geringen Munitionsvorrat eines Luftschiffes eine nennenswerte Wirkung nicht
möglich ist. Wie schwer das Treffen auch aus geringerer Höhe sich gestaltet,
haben erst vor kurzem in Nordamerika mit Aeroplanen ausgeführte Wurf¬
versuche dargetan. Aus der geringen Höhe von nur 70 bis 80 in gelang es
nicht, feldmäßige Ziele zu treffen. Die Flugmaschine selbst geriet aber dabei
in die bedenklichsten Schwankungen. Nicht minder ergebnislos sollen ähnliche
Versuche gegen schwimmende Scheiben von der Größe von Kriegsschiffen
gewesen sein.
Trotz dieser Mißerfolge kann nicht geleugnet werden, daß schon jetzt sehr
ausgedehnte Ziele wie Städte, Lagerplätze usw. auch aus größerer Höhe zu
treffen sind, doch wird bei dem in der Regel geringen Munitionsvorrat der
Flugzeuge die Wirkung mehr in Beunruhigung der Bewohner als in der
Verursachung materiellen Schadens bestehn. Etwas mehr Sicherheit im Treffen
wäre zu erreichen, wenn die Wurfgeschosse mit einer gewissen Führung und
Anfangsgeschwindigkeit aus Lancier- oder Geschützrohren verschossen würde».
Ein großer Zeppelin mit seinem verfügbaren Raum für etwa 2000 Kriegs¬
bedarf ist immerhin geeignet, solche Geschütze aufzunehmen, doch müßte die
Munitionsinenge dem Gewichte des Geschützes entsprechend verringert werden.
Die Bekämpfung der Flugzeuge wurde an der Hand von Lichtbildern
veranschaulicht, welche die Konstruktionen der Rheinischen Metallwaaren- und
Maschinenfabrik zu Düsseldorf wiedergaben. Das betreffende Material ist teil¬
weise auf der Brüsseler Ausstellung, Abteilung für Luftschiffahrt, ausgestellt.
Es liegt auf der Hand, daß eine Armee alles daransetzen muß, sich so
wißbegierige Beobachter wie Luftschiffe und Flugmaschinen vom Halse zu halten.
In verschiedenen Ländern ist man bereits mit entsprechenden Versuchen
beschäftigt und gerade das im Lichtbilde vorgeführte Halbpanzerauto kam direkt
von ausgedehnten Fahr- und Schießversuchen zur Ausstellung. Eines solchen
Fahrzeugs wird sich die Feldarmee mit Vorteil bedienen, denn es kann eine
Schnelligkeit bis 60 Ka die Stunde entwickeln und führt eine sehr leistungs¬
fähige Kanone. Es ist imstande, die heutigen Luftschiffe, die bekanntlich nur
bis zu 54 Ku zurücklegen, selbst über nicht ebenes Gelände einzuholen. Sein
3-um-Nickelstahlpanzer schützt Motor und Bemannung teilweise gegen feind¬
liche Geschosse.
Die große Schnelligkeit bietet einen weiteren Schutz dagegen.
Das Geschütz ist eine 5-ein-Schnellfeuerkanone des Systems Ehrhardt,
deren Pivotlafette auf der Plattform des Fahrzeugs befestigt ist. Bei der größten
Erhöhung von 70 ° erreicht das Geschoß seine Maximalsteighöhe von 3720 in.
Luftschiff und Flugmaschine werden sich wohl noch lange vergebens bemühn,
darüber hinaus zu gelangen. Bei 43 ° Erhöhung wird die Maximalschußweite
von 7800 in erreicht bei einer Steighöhe des Geschosses von 2480 in. Ein
Luftschiff bleibt selbst auf 1000 in Höhe innerhalb jener Schußweite etwa 6 Ka
lang gefährdet, setzt sich aber bei solcher Flughöhe schon einem ziemlich starken
Gasverluste aus. Die Richtung kann der Kanone mit einer einfachen Visierung
nach allen Seiten wie einem Gewehre gegeben werden. Es ist also eine sehr
schnelle Zielauffassung und bei der Leichtigkeit der Bedienung ein Schnellfeuer
von zwanzig bis dreißig Schuß pro Minute möglich. Dadurch kann auch ein
einzelnes Geschütz ein Luftschiff treffen, indem es eine Reihe von Schüssen mit
verschiedener Höhen- und Seitenrichtung rasch hintereinander abgibt. Es empfiehlt
sich übrigens in der Regel nicht, das Feuer schon auf sehr große Entfernung zu
eröffnen. Man verrät zu früh seine eigne Stellung und der Schuß wird zu
unsicher. Läßt man das Ziel besser herankommen, so hat man bessere Aussichten,
es durch einige gut gerichtete Schüsse herunter zu holen.
Verlangsamt Gegenwind die Fahrgeschwindigkeit des Luftschiffs, vermindern
Regen und Schnee, wie kürzlich bei dem Passagierluftschiff Zeppelin, durch eine
Mehrbelastung von Hunderten von Kilogrammen seinen Auftrieb, so wachsen
die Chancen des Kriegsautos. Hat sich aber das Luftschiff in höhere Regionen
retten müssen, so verliert es dabei so viel Gas, daß seine Leistungsfähigkeit und
bei den Halbstarren und unstarren auch die Lenkbarkeit vermindert wird. Dann
aber verfällt es um so leichter der Wirkung der Kanone. Der Gasverlust der
Ballons macht übrigens ein baldiges Nachfüllen nötig. Es geschieht aus rast¬
losen Stahlflaschen, die entweder vom Luftschiff selbst oder auf besondern
Gaswagen mitgeführt werden, zu denen dann das Luftschiff zurückkehren muß.
Es wird also eine geraume Zeit seiner kriegerischen Tätigkeit entzogen, so daß
ein indirekter Erfolg des Kriegsautos schon vorliegt, wenn es das Luftschiff in
bedeutende Höhen vertrieben hat. Der Motorgasflaschenwagen, welcher im Bilde
gezeigt wurde, entstammt der Fabrik des Herrn Geheimrat Ehrhardt zu Zella
Se. Blnsii in Thüringen. Er ist sehr leicht und doch widerstandsfähig gebaut,
so daß er bei einer Fahrgeschwindigkeit von 16 bis 18 Ka die Stunde eine
Wasserstoffmenge von 4- bis 5000 eben befördert, genug, um zwei Luftschiffe von
etwa 50 in Länge zu fülle». Aus solchen Wagen wird man Gaskolonnen bilden,
welche eine ganze Lustschifferflotte mit Wasserstoff zu speisen vermögen. — Flug¬
maschinen sind vou Gasreserven unabhängig. Sie erheben sich schon jetzt über
1300 in und entwickeln eine Fluggeschwindigkeit bis zu 80 Ka die Stunde").
Da sie außerdem durch ihre geringen Dimensionen ein schlechtes Ziel bilden und
schon auf 3 bis 4 Ku dem Auge entschwinden, sind sie viel schwieriger zu treffen
als Luftschiffe. Ungünstige Witterung jedoch, selbst leichtere Defekte an den
Motoren, sowie die Waghalsigkeit ihrer Lenker werden auch sie oft genug schu߬
gerecht vors Rohr bringen. Dann aber wehe ihnen vor der Wirkung unserer
Geschosse!
Gegen Luftschiff und Flugmaschine gleich wirksam ist das Brandschrapnell.
Es stößt im Sprengpunkt den Kopf ab, welcher von da an bei Tage einen deut¬
lichen Rauchstreifen, bei Nacht einen Feuerstreifen zurückläßt. Er zeigt die Lage
der Flughahn an, und zwar so kurz vor dem Ziele, daß es dem Schuß nicht
mehr ausweichen kann. Um den Rauchstreifen breiten sich die Kugeln und
Sprengstücke aus, welche die Bemannung — und das ist die Hauptsache —
außer Gefecht setzen, häufig auch das Flugzeug selbst zum sofortigen Absturz
bringen. Fliegt der Kopf durch leicht brennbare Teile, so setzt er sie in Brand.
Gegen Luftschiffe noch wirksamer, wirksam natürlich auch gegen Aeroplane,
ist die Ballongranate. Der Kopf trennt sich bei ihr nicht vom Geschosse, doch
läßt dieses selbst von einer auf dem Zünder einstellbaren Entfernung an die
Flughahn durch einen Rauch- bezw. Feuerstreifen erkennen. Trifft die Granate
z. B. die Gondel, so wird diese durch die Gewalt der Detonation und die ver¬
heerende Wirkung der Sprcngstücke zerstört und gleichzeitig die Gashülle zerrissen.
Krepiere das Geschoß in der Gashülle, so zerplatzt sie durch den enormen Über¬
druck der Detonationsgase. Verfehlt das Geschoß sein Ziel, so wird es dennoch
durch seinen Zeitzünder in der Luft zersprengt, verursacht also auf der Erde,
etwa bei den eignen Truppen, keinen Schaden mehr, wohl aber noch im Ballon,
wenn die Explosion in seiner Nähe erfolgte.
Das dritte Geschoß gegen Fahrzeuge ist das Brisanzschrapnell Ehrhardt-
van Essen, das Einheitsgeschoß der Düsseldorfer Firma. Der Kopf bildet den
Granatteil. Er ist mit brisanter Sprengmasse und einem Rauchstoff gefüllt und auf
den Schrapnellteil gepreßt, dessen Kugeln in einem ebenfalls brisanten Sprengstoffe
gelagert sind. Der Kopf trennt sich im Sprengpunkt ebenfalls vom Geschoß und
dekoriert schon beim Durchschlagen der Ballonhülle. Dabei wirkt er betäubend
durch seine Detonation und zerschmetternd durch seine Sprengstücke, während von
rückwärts der dichte Sprühregen der Kugeln sich über das Ziel ergießt. Starke
Rauchwolken machen die Lage beider Geschoßteile kenntlich. Schlägt das ganze
Geschoß auf, so wirkt es in der heftigsten Weise als Granate. Um die Wirkung
dieser Geschosse noch zu erhöhen, hat die Rheinische Metallwaaren- und Maschinen¬
fabrik auch solche von 6,5 ein Durchmesser hergestellt, die aus einer der 5 ein
ganz gleichen Kanone verschossen werden. Über 6,5 ein wird man kaum hinaus¬
gehen, da schon das kleinere Kaliber für den beabsichtigten Zweck genügt und
ein größeres den Munitionsvorrat zu sehr beschränkt. Das Kriegsauto ist mit
hundert Schuß ausgerüstet, ein reichlicher Vorrat, wenn man bedenkt, daß diese
Fahrzeuge in der Regel zu mehreren zusammenwirken werden.
Die Kanonen und Haubitzen der Feldartillerie werden ebenfalls gegen den
Feind in der Lust in Tätigkeit treten, soweit es ihre Konstruktion erlaubt. Das
Feldgeschütz der Zukunft wird übrigens wahrscheinlich einer Konstruktion folgen,
welche den Kampf gegen Flugzeuge auch mit sehr großer Erhöhung und schneller,
ausgiebiger Veränderung der Seitenrichtung erlaubt; denn die Zahl der Spezial-
waffen, wie Kriegsautos, wird voraussichtlich nicht ausreichen, um die Truppen
überall gegen die feindlichen Luftschifferflotten zu schützen. Da außer der Artillerie
auch die Infanterie und Kavallerie mit ihren Schußwaffen bis etwa 1200 in
Höhe noch eine ausreichende Wirkung gegen Ballons erzielen, so wird man die
Gefährdung begreifen, denen Flugzeuge im Feldkriege entgegengehen.
Im Festungs- und Küstenkriege treten noch sehr wirksame und weittragende
Kaliber mittlerer Größe, 10 bis 12 ein, hinzu. Ihre Wirksamkeit wird dadurch
wesentlich erhöht, daß man in der Festung durch genaue Kenntnis der Umgebung
die Entfernung zum Ballon genauer bestimmen kann als im Felde.
Auf dem ausgedehnten und guten Wegenetz einer Festung wird das ganz
gepanzerte Kriegsauto am Platze sein, wie es denn überhaupt verwendungs¬
fähig ist, wo ihm nicht zu schlechte Wege und nicht Steigungen über 22°
zugemutet werden. Die Panzerung deckt Bedienung und Fahrzeug vollständig,
ein besonderer Vorteil im Festungskriege, wo die Kugeln und Sprengstücke
dichter auf engerem Raume einschlagen als in der Feldschlacht. Die Fahr¬
geschwindigkeit von 45 Ku wird im Gebiete einer Festung, wo das Auto einem
von außen kommenden Flugzeuge gegenüber vielfach kürzere Wege zu machen
hat, sehr häufig genügen. Geschütz und Ausrüstung sind dieselben wie beim
Halbpanzcranto. Die Flugzeuge ihrerseits werden dem geschilderten Kampfe
nicht müßig zusehen, sondern ebenfalls alles aufbieten, die gegnerischen zu ver¬
nichten. Sie werden in dieser Beziehung die Artillerie wirksam ergänzen, für
welche das Schießen nach den unstäten Zielen in der Luft, trotz der vervoll¬
kommneten Waffen, eine sehr schwierige Aufgabe bleiben wird.
Den Gedanken, Geschütze im Luftschiff zu verwenden, habe ich schon berührt.
Gegen Ziele auf der Erde scheint, wie wir gesehen haben, eine lohnende
Wirkung ausgeschlossen. In der Luft jedoch liegt die Sache anders. Man
kann näher an den Gegner heran und er ist zugleich verwundbarer und weniger
zahlreich wie der auf der Erde. Ein findiger Kopf der Düsseldorfer Fabrik
denkt sich die Bestückung eines großen Luftkreuzers so. daß sich ein oder mehrere
Geschütze vorn, hinten oder in der Mitte des starren Tragkörpers befinden.
Dadurch ist man im Schuß viel freier und gefährdet den Ballon nicht. Leitern
führen aus den Gondeln zu den Geschützplattformen, welche so angelegt sind,
daß Schwankungen des Fahrzeugs beim Schuß möglichst vermieden werden.
Gewicht und Schußleistung der Kanonen müssen selbstverständlich den Ballon¬
verhältnissen angepaßt sein. Die Düsseldorfer Fabrik hat bereits derartige
Geschütze konstruiert, die den Anforderungen eines Kampfes in der Luft voll¬
kommen gerecht werden. Sie können natürlich auch in der Gondel unter¬
gebracht werden. Bei den unstarren Systemen bleibt ihnen überhaupt kein
anderer Platz übrig. Statt der Kanonen können auf den Plattformen auch
Maschinengewehre oder auch nur einige Leute mit Handfeuerwaffen Aufstellung
finden.
Der schlimmste Feind des Luftschiffes wird ohne Zweifel der Aeroplan
sein, da er es an Schnelligkeit und Bewegungsfreiheit übertrifft, selbst aber
durch seine geringen Dimensionen vor den Geschossen seines Gegners ziemlich
sicher ist.
Handfeuerwaffen und Handgranaten bilden vorläufig die Waffen des Aero-
plans. Die Handgranate ist eine einfache Blechbüchse mit Fallschirm, welcher
für richtiges Auftreffen sorgt. Sie enthält etwa 500 Z Brisanzstoff, welcher von
einer großen Zahl vorbereiteter Sprengstücke umgeben ist und durch einen ein¬
fachen Aufschlagzünder zur Detonation gebracht wird. Das ganze Geschoß wiegt
nur etwa 2 KZ. Es ist also leicht und ohne Erschütterung des Flugapparates
zu handhaben. Dieser wird das feindliche Luftschiff zu übersteigen suchen und
dann die Handgranate möglichst nahe der Gashülle auswerfen. Wird sie
getroffen, so ist die Beschädigung um so verhängnisvoller, als sie oben Platz
greift und das schnelle Ausströmen des Wasserstoffs befördert.
Die Bemannung des Luftschiffs setzt sich natürlich zur Wehr. Stehen ihr keine
andern Waffen zur Verfügung, so wird sie zum Gewehr oder zum Selbstlade¬
karabiner greifen. Aus beiden lassen sich übrigens auch Handgranaten eines
besondern Modells mehrere hundert Meter weit verschießen. Solange jedoch
der Aeroplan nahe über der Gashülle schwebt, bietet diese ihm einen sichern
Schutz gegen die Mannschaft der Gondel, und man versteht ohne weiteres den
großen Vorteil, den Plattformen auf dem Tragkörper ihr bieten würden. Einige
Flintenschüsse von dort würden vielleicht genügen, die zwei bis drei Leute des
Aeroplans außer Gefecht zu setzen und damit jede Gefahr für das Luftschiff zu
beseitigen.
Werfen wir zum Schlüsse einen kurzen Blick zurück auf die Entwicklung
der heutigen Luftschiffahrt, so müssen wir gestehen, daß die Industrie den Armeen
diesen neuen Feind und diese neue Hilfe schuf, denn das moderne Luftschiff hing
nur an einer Motorfrage. Die Industrie aber schmiedet auch die Waffen, den
neuen Feind zu bekämpfen, und beweist daher aufs neue ihren mächtigen Einfluß
auf die kriegerischen Ereignisse der Welt und die Geschicke der Menschheit. Ja
man kann ohne Übertreibung sagen, daß unter ihren Dampfhämmern in
allererster Linie der Krieg vorbereitet und der Friede befestigt wird, denn je
schärfere Waffen sie uus gibt, desto sicherer sind wir vor den Angriffen unserer
Feinde.
-MMewas Unerhörtes war in Moskau geschehen. Der junge Zar Peter
hatte sein Reich verlasset! und war ins Ausland gereist. Auf seiner
Fahrt, die ihn von Holland bis nach England geführt, war er
in Wien angelangt, vom Kaiser Leopold den: Ersten durch Feste
und Maskeraden gefeiert und unterhaltet:. Hier erreichte ihn die
Nachricht voll einen: neuen Aufstande der Strelitzen, und er gab feilte weiteren
Reisepläne auf. Von Wien habe sich Zar Peter nach Venedig begeben wollen; wie
man in den Zeitungen schrieb, war er auch willens, nach Rom zu gehen, um
mit dem Papste die Vereinigung der griechischen Kirche mit der römischen zu
traktieren. So wähnte sich das rechtgläubige Volk in Moskau von seinem Zaren
und von deu Bojaren verraten, verraten im Heiligsten und Teuersten, das es
besaß. In solcher vermeintlichen Not des Glaubens zündete die Kriegerkaste
der Strelitzen mit anderen Mißvergnügte», mit Mönchen und Popen ein Feuer
des Aufruhrs an: Die Bojaren im Kreml wollten sie ausrotten, vor Moskau
die Sloboda oder Deutsche Vorstadt ersteigen und alle Fremden umbringen;
durch diese Mittel wollten sie den Zaren zwingen, nach ihrer Art zu leben und
in ihrer Religion zu verbleiben. Aber ehe noch die aufrührerischen Regimenter
Moskau erreicht hatten, wurden sie von Peters besten: General, dem katholische,:
Schotten Patrick Gordon. angegriffen und besiegt.
Anfang September 1698 traf Zar Peter unerwartet in Moskau el::; der
kaiserliche Gesandte berichtete empört nach Wie::: Mau habe mit Verwunderung
ansehen müssen, daß der Zar wider alles bessere Vermuten nach so langer
Abwesenheit immer noch von der alten unerloschenen Passion regiert werde, und
mit den moskowitischen Lüften alle ehedem gepflogene,: Gewohnheiten und
Leidenschaften wiederum angezogen habe; denn seine erste Visite habe er
immöäiate nach der Ankunft einem ganz gemeinen lutherischen Menschen, seiner
Geliebten Anna Mons, der Tochter eines Weinhändlers, gemacht.
Die Freude über des Zaren Rückkehr war groß, aber sie war nicht allgemein,
nicht ungetrübt. Die Furcht vor dem Kommenden ängstete nicht allein die
gefangenen Streichen und ihre Freunde. Diejenige, die dem jungen Zaren die
Nächste, die seinem Herzen die Teuerste sein sollte, die Mutter des Kronprinzen
Alexis, die Zarin Endoxia, sah, von: Gemahl ungeliebt, in sorgenvoller Un¬
gewißheit der Zukunft entgegen.
Zar Peter war noch nicht volle siebzehn Jahre alt, als ihn seine Mutter
mit Eudoxia Lopuchin vermählte. Am Anfang war die Liebe zwischen den
blutjungen Eheleuten groß; dann wurde sie zerrissen. Die Zarin-Mutter, Natalie
Naryschkin, begann die Schwiegertochter zu hassen und nährte die Zwietracht
zwischen den Eheleuten. Dazu kam noch, daß Nataliens Bruder, Leo Naryschkin,
Bojar und Premierminister, einen Vernichtungskampf zwischen den ehedem
befreundeten Familien Naryschkin und Lvpnchin aufnahm.
Es wird berichtet, daß der Genfer Franz Lefort, der feuchtfröhliche Kumpan,
Anna Mons dem Zaren zuführte. Denn Peter war wohl sinnlich, aber er war
kein Don Juan, ihm fehlte die eigene Initiative in Liebessachen; seine darin
gewandteren Freunde — Lefort, Menschikow — suchten für ihn die Geliebte
aus. Der Vater der schönen Anna war Johann Georg Mons aus Minden an
der Weser, der Sohn eines Wachtmeisters der Reiterei des Königs von Schweden;
er hatte in der Freien und Reichsstadt Worms das Böttchcrhandwerk erlernt
und war dann über die schwedische Stadt Riga in Livland nach Moskau gelangt.
Doch starb er noch vor dem großen Glück seiner Tochter Anna.
Stolz machte die zarische Liebe die Segel der Monsischen Familie schwellen:
die Tochter des Hauses, Anna, war in der vornehmen Gesellschaft Moskaus
und in der deutschen Sloboda die gefeiertste Dame, die Deutsche Vorstadt wuchs
und überragte den Kremlin.
Aber es murrten die Erzbischöfe und Äbte, es murrten die Popen und
Mönche, es murrte das gute Volk von Moskau. Unwillig sah und ertrug der
gemeine Mann die fremdartigen Gebräuche und Sitten, die ihm aufgezwungen
wurden, die neuen Steuern; die Leute wälzten die Schuld auf die Deutsche,
auf den unheiligen Zauber fremder Schönheit, auf Mörsers Tochter Anna.
Kurz vor Peters Abreise ins Ausland, 1697, wurde eine Verschwörung
gegen ihn entdeckt; harte Strafe traf die Schuldigen, und auch der Vater und
die Brüder der Zariu Eudoxia wurden in die Verbannung geschickt. Aus London
gab Peter an Leo Naryschkin den Befehl, die Zarin zu bewegen, freiwillig den
Schleier zu nehmen, aus Amsterdam wiederholte er den Befehl; aber Eudoxia
weigerte sich trotzig. Leo Naryschkin suchte — mit erheuchelter Freundschaft
für Eudoxieu — zu verhindern, daß die Familie Lopuchin über die seinige
wachse, und sein Neffe Zar Peter erfüllte sein Streben, nachdem er aus dein
Auslande heimgekehrt war. Es wird berichtet, daß der Zar der nicht nach-
gebenden Eudoxia androhen ließ, ihren Vater mit ihren nächsten Anverwandten
unfern dem Kloster, in das sie gebracht worden war, aufzuhenken, wenn sie
nicht ohne Säumen dem zarischen Willen Folge leiste. Da endlich mußte sich
Eudoxia dem Zwange fügen, sie wurde Nonne. Nun stand Zar Peter frei da,
und man erwartete, „daß sich Seine Zarische Majestät in der Liebe so weit
vertiefen würde, daß sie — mit Verwunderung der ganzen Welt — sich in
kurzer Zeit mit einer andern vermählen werde". Diese andere war
Anna Mons.
Doch es kam anders.
Der Freund der Monsischen Familie, der General-Admiral Franz Lefort,
war vor der Zeit gestorben. An seiner Stelle trat Alexander Menschikow,
schlechtweg der Favorit genannt, in noch größere Gunst bei den, Zaren. Anna
Mons stand ihn: im Wege. Denn er hatte dem Zaren seine Schwester zur
Frau zugedacht. Es gelang ihm jedoch nicht, seine Absicht zu verwirklichen.
Aber Anna Mons selber war dem Zaren untreu geworden und Zar Peter
grollte ihr, im Innersten verletzt.
Anfang 1702 war der junge Kurländer Freiherr Georg Johann
von Kanserling als Resident des Königs von Preußen nach Moskau gekommen.
Er wurde gleich von den beiden Frauen begünstigt, die als erste unter den
vornehmen Russinnen mit dem Zwange einer engherzigen alten frommen Sitte,
wenn auch zögernd, gebrochen hatten. Es waren die geliebte Schwester Peters,
Prinzessin Natalie, und seine Schwägerin, die verwitwete Zarin Praskowja, aus
dem Geschlechte der Saltykow, die Mutter der spätern Herzogin von Kurland
und russischen Kaiserin Anna und ebenso Mutter der spätern Herzogin von
Mecklenburg Katharina. Unter dem 14. August 1702 berichtet Kanserling dem
Könige nach Berlin, er habe dem großen Feste zur Feier des Namenstages
der Dame Mons beigewohnt und bei dieser Gelegenheit der Prinzessin Natalie
und der verwitweten Kaiserin Praskowja seine Reverenz gemacht. „Diese hatte
die Gnade, nur zu sagen, ich sollte mich hier, als es unter dem deutschen
Frauenzimmer auch artige Darmes gebe (worauf sie mehrenteils auf die Mörser
Mete), verheiraten, so würde Sie gerne sehen, daß Ihre Prinzessinnen auch
an deutsche'Herren vermählt und von mir herausgebracht werden könnten."
Der Pfeil, den die verwitwete Kaiserin, vielleicht in schlau berechneter Absicht,
dem Köcher Eros' entnahm, und mit dein sie auf die Brust des jungen
Residenten zielte, traf ihn ins Herz; der Jüngling entbrannte in Liebe zu
Anna Mons, und ihr war fortan der Kanserling lieber als der Kaiser.
Kayserling war in enger Freundschaft mit dem polnisch-sächsischen Gesandten
Königseck verbunden. Dieser ertrank im April 1703 nach einem Gelage in
dem neugegründeten Se. Petersburg in der Newa. An den Tod Königsecks
knüpfen verschiedene romanhafte Erzählungen an, dergestalt, als sei er der Lieb¬
haber der Anna Mons gewesen. Bei dem nach einiger Zeit aus dem Wasser
gezogenen Leichnam habe man einen Liebesbrief gefunden; aus dem Briefe
habe Zar Peter den Verrat der Geliebten ersehen und ergrimmt seine Wut an
der Ungetreuen ausgelassen. Aus einem Schreiben Kayserlings erfahren wir
jedoch, daß Anna Mons, und zwar auf „des Prinzen Menschikow" eigene
Veranlassung, sich beim Zaren selbst erkundigt habe, ob er auch gnädigst erlauben
wolle, daß sie sich an Kayserling verheirate. Menschikow benahm sich hierbei
sehr hinterlistig und hetzte den Zaren gegen Anna Mons auf, der sie um in
ihren: Hause in Moskau gefangen halten ließ und ihr und ihrer Mutter wegen
Zauberei den Prozeß machte.
Im August 1704 wurde Narwa von den Russen erobert. Sie feierten
ihren Sieg über die Schweden durch ein großes Festgelage, bei dem auch
Kayserling, nunmehr vom Residenten zum „Envoyö" oder Gesandten befördert,
zugegen war. Hier ereignete sich sein erster Zusammenprall mit Menschikow.
Kayserling überreichte dem Zaren sein Abschiedsgesuch; er gibt im Hinblick auf
deu Favoriten folgenden Grund an: „Weil meine Feinde sich nicht gescheut
haben, mich mit offenbaren Lügen zu beschuldige«, als ob ich statt der herum¬
gegangenen großen Gläser nur kleine oder gar keine getrunken haben sollte,
und mich auf diese Art bei Ihrer Zarischen Majestät anzuschwärzen gesucht."
Der Zwist wurde jedoch friedlich beigelegt.
Drei Jahre später, in Jakubowitz bei Ludim in Polen, im russischen
Hauptquartier, am lO.Juli 1707, dem Namenstage des Zaren, „einem Sauftage" —
wie Kayserling dem Könige von Preußen schreibt —, „welcher »röilmirement
viel fatales mit sich zu führen pfleget", kam es dann zu einem Streite, der
von Worten — der Gesandte nannte den Favoriten einen Hundsfott und der¬
gleichen mehr — in Tätlichkeiten ausartete, so daß der Zar selbst und Kayserling
wütend aneinander gerieten. Der Anlaß war wieder die Fürsorge Kayserlings
um Anna Mons und ihre Familie. Schon im Jahre vorher war es seinen
Benüihungen gelungen, die Lage der Geliebten etwas freier zu gestalten. In
der Erregung des Zornes erklärte nun Zar Peter dem Fürsprecher höhnisch:
Er, der Zar, hätte die Jungfer Mörser für sich erzogen und die aufrichtige
Intention gehabt, selbige sich zu vermählen, da aber Kayserling sie verführt
und debauchiert habe, so wolle er, der Zar, nunmehr von ihr und von den
Ihrigen nicht das geringste mehr hören oder wissen. Peter verlangte in einem
gleich am Tage darauf hingeworfenen Briefe, den er durch einen Adjutanten
nach Berlin dem Könige überbringen ließ, die sofortige Abberufung Kayserlings.
Aber auch dieser unerhörte Streitfall, der in ganz Europa Aufsehen erregte,
und von dem man sogar politische Verwicklungen zwischen Preußen und dem
Zaren befürchtete, blieb ohne ernste Folgen und endete wie eine Komödie mit
Wohlgefallen. Sie wären eben alle zusammen voll gewesen, erklärte Zar Peter
nach dem Ausgleich. — Darauf bewirtete Kayserliug Ende Januar 1708 deu
Zaren und sein Gefolge in Minsk, und er berichtet darüber dem König: „Da
indessen mein vortrefflicher Ungarischer Wein, weil eher sonst hier nicht zu
bekommen war, so guten Effekt that, das; Ihre Zarische Majestät bei größter
Fröhlichkeit zu unterschiedenen Malen mich in die Höhe huben, und auf ihren
Armen in dein Zimmer herumtrugen."
Der Zar hatte sich, trotzdem er die Untreue seiner Geliebten nicht schwer
genug bestrafen konnte, bald über ihren Verlust getröstet.
Im Jahre 1702 hatte der russische Feldmarschall Boris Schercmetjew die
schwedische Stadt Marienburg in Livland erobert und eingenommen und die
Einwohner gefangen nach Moskau abgeführt. Unter ihnen befand sich auch
der lutherische Propst Glück mit seiner Familie und Bedienung, zu der die
Livländerin Martha Skawronskij gehörte. Martha kam in Beziehungen zu den:
Hause Menschikows, Peter der Große lernte sie kennen und lieben, die Geliebte
des Zaren trat zur russischen Kirche über und erhielt in der orthodoxen Taufe
den Namen Katharina. Sie war jung und wohlgestaltet, von gesunder Vernunft
und ungemein sanfter Gemütsart, heiter, wohl aufgeräumt und zu keiner Zeit
unfreundlich, verbindlich und höflich gegen jedermann, niemals vergaß sie ihren
ehemaligen Stand und war dabei im höchsten Grade dankbar. Ihrem Gemahl.
Peter dem Großen, schenkte sie viele Kinder, von denen sie aber nur zwei
Töchter, Anna und Elisabeth, überlebten.
Im März 1711 wurde „Jhro Zarischen Majestät vormalige Maitresse zur
regierenden Zarin öffentlich deklariert". Durch diese Erhebung Katharinens
wurde Peter zur Nachgiebigkeit gegen Anna Mons gestimmt. Sie durfte sich
nun endlich, im Juni 1711, mit Kayserling verheiraten. Diesem war jedoch
Moskau verleidet. Er klagt seinem König über die Bestechlichkeit „der bei
dem Zaren geltenden Kreaturen" und bittet um seine Abberufung. Auf dem
Wege von Königsberg nach Berlin starb er in Stolp im Dezember 1711. Die
Witwe lernte einen kriegsgefangenen schwedischen Hauptmann kennen und ver¬
lobte sich mit ihm. Doch starb die schwer leidende Geheimrätin von Kayserling
noch vor ihrer Wiederverheiratung in Moskau im August 1714.
Wie sonderbar führt das Leben! Anna Mons wahrte dem Großen Zaren
die Treue nicht, so daß er sich ein anderes Mädchen, Katharina, zur Geliebten
erwählte und dann sie, die Mutter seiner Kinder, zur Kaiserin erhob. Nun
wendet jedoch Katharina ihre Gunst dem jungen Bruder der ungetreuen Vor¬
gängerin in der Liebe des Zaren zu, und die Neigung der Kaiserin verführt
den lebensfroher Mann zu unlauteren Tun, das ihn aufs Hochgericht in
schmachvollen Tod bringt.
Anna Mons hatte einen jüngern Bruder, Willim (Wilhelm) Mons, der
bei Hofe zu hohen Ehren kam und sich den vornehmen viamischen Namen
Mons de la Croix beilegte. Er wurde Vertrauter und Kammerherr Katharinens.
Die ältere Schwester des Kammerherrn, verheiratet mit dem General Ball,
nahm bei ihr die Stellung der Staatsdame und Hofmeisterin ein. Bald nach
der Krönung Katharinens zur Kaiserin in Moskau im Mai 1724 wurde Mons
beim Zaren denunziert, doch blieb es zuerst unbeachtet. Plötzlich, an einem
Sonntag im November in der Nacht, wurde Mons verhaftet und ihm wie
seiner Schwester wurde wegen Bestechlichkeit ein schneller Prozeß gemacht. Auf
freiem Platze in Se. Petersburg wurde Mons enthauptet, die Generalin Ball
erhielt fünf Hiebe mit der Knute auf den entblößten Rücken und ging dann
in die Verbannung nach Sibirien. Man wollte nicht glauben, daß Peter aus
dem angeführten Grunde Mons hinrichten ließ, man raunte von einer ehelichen
Untreue Katharinens.
Mons hatte freundschaftliche Beziehungen zu dem Herzog Karl Friedrich
von Holstein-Gottorp gepflegt. Dieser war 1721 nach Rußland gekommen und
warb um eine Tochter des Zaren. Peter begünstigte ihn, doch hielt er mit
dein Jawort hin, und der arme junge Herzog spielte am Se. Petersburger Hofe
eine ziemlich fragwürdige Rolle, wiewohl er es im Trinken mit den Russen
aufnahm. Die Krönung Katharinens führte nicht zu der erwarteten Verlobung,
und alle Welt hielt die Aussichten des Holsteiners sür gescheitert. Sonntag,
den 8. November 1724, wurde Mons verhaftet. Montag verbrachte Peter mit
der Durchsicht der Papiere des Kammerherrn. Tags darauf wurde dem Herzog
eröffnet, daß am Katharinentage seine Verlobung mit der ältern Tochter des
Zaren, Anna, feierlich verkündet werden solle. Zwei Monate später war Peter
der Große tot, und mit Hilfe des holsteinischen Rats Bassewitz und Menschikows
bestieg Katharina als Selbstherrscherin den russischen Kaiserthron.
So rollt sich der letzte Akt der Monsischen Tragödie auf und endet schrecklich.
Dazwischen erklingen heitere Melodien, die dem Herzog von Holstein und der
Zarentochter den Brautabend verkünden. Doch steigen blutige Gespenster vom
Brautlager auf, und was so fröhlich neben dem lähmenden Schrecken des
Hochgerichts den Anfang nimmt, zu welch furchtbarem Schicksal fügt es die
kommende Zeit.
Die Verstoßung der Zarin Eudoxia durch den Zaren Peter ist das tragische
Moment in dem Geschicke der Romanows. Ihm entsprang alles Unheil und
der Untergang des Geschlechts. Schon ein Zeitgenosse, General Alexander
Gordon, der damals im Dienste Peters des Großen in Rußland lebte, schreibt:
„Peter der Große war ein Fürst voller Menschenliebe, dessen allgemeine Trieb¬
feder die Ehre und das Beste seines Landes war; dergestalt, daß, wenn man
die Verstoßung der Kaiserin Eudoxia, deren Charakter niemals getadelt worden
ist, und die Vernachlässigung der Erziehung seines ältesten Sohnes ausnimmt,
welches eine Folge von dem ersten Schritte war, Peters ganzes Betragen sich
ohne große Schwierigkeit rechtfertigen läßt." Dieser — in der Folge arme,
unglückliche — Sohn, der Kronprinz Alexis, war ein anmutiger Knabe, der zu
deu schönsten Hoffnungen berechtigte. Die Mutter wurde ihm genommen, und
er kam für kurze Zeit unter die Obhut seiner liebenswürdigen Tante, der
Prinzessin Natalie. Aber dann folgte ein Erzieher nach dein andern, die den
Sinn des Prinzen verdarben, und die schlimmsten Demütigungen hatte er von
seinem Oberhofmeister Menschikow zu erdulden. Nach entsetzlichen Qualen starb
der unglückliche Kronprinz im Jahre 1718 ini Gefängnis. Aus seiner Ehe mit
Charlotte von Braunschweig-Wolffenbüttel hinterließ Alexis einen Sohn, der —
ebenso wie sein Vater in der Blüte verdorben — nach den: Tode Katharinens
der Ersten im Mai 1727 als Kaiser Peter der Zweite den Thron bestieg. Noch
lebte seine Großmutter, die ehemalige Zarin Eudoxia, als Nonne Helene im
Kloster. Der Enkel setzte sie in alle kaiserlichen Ehren wieder ein, im September 1727
traf sie in Moskau ein und nahm: ihren Aufenthalt im dortigen Jungfrauen-
Kloster. Den Fürsten Menschikow, der den jungen Kaiser mit seiner Tochter
verlobt hatte, ereilte nun sein Geschick. Peter der Zweite löste die Verlobung
und schickte Menschikow nach Sibirien in die Verbannung und in den Tod.
Doch nach drei Jahren der Negierung starb Peter der Zweite und seine Nach¬
folgerin wurde Anna, die Tochter des Zaren Iwan des Fünften, des ältern
Halbbruders Peters des Großen und der Zarin Praskowja, aus dem Geschlecht
der Saltykow.
Als die Kaiserin Anna, Peters des Großen Nichte, im Jahre 1740 starb,
kam Anna Leopoldowna, die Tochter ihrer Schwester Katharina, die mit dem
Herzog Karl Leopold von Mecklenburg-Schwerin vermählt war, als Regentin
für ihren zwei Monate alten Sohn, den Kaiser Iwan den Sechsten, zur Regierung.
Sie war die Gemahlin des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig-Wolffen¬
büttel. Doch schon nach einen, Jahre wurde die Regentin und mit ihr das
Haus Braunschweig durch eine Palastrevolution gestürzt, und Peters des Großen
Tochter Elisabeth bestieg als Kaiserin den Thron.
Unter der Kaiserin Anna war die Tochter der Generalin Ball, geborenen
Mons, Natalie, verheiratet mit Stephan Lopuchin, einem Vetter der Zarin
Eudoxia, Staatsdame der Kaiserin geworden. Unter der Herrschaft Elisabeths
ging das Glück der Lopuchins in Stücke. Sie wurden fälschlich der Teilnahme,
ja Urheberschaft an einer Verschwörung zur Wiedereinsetzung des Hauses Braun-
schweig angeklagt, Natalie Lopuchin wie ihr Gemahl Stephan und ihr Sohn
Iwan Lopuchin wurden mit der Knute geschlagen, die Zungen wurden ihnen
ausgeschnitten, sie wurden in die Verbannung nach Sibirien geschickt. Nach dein
Tode Elisabeths gestattete Kaiser Peter der Dritte der stummen Natalie Lopuchiu,
aus der Verbannung zurückzukehren.
Peter der Dritte, der Sohn des Herzogs Karl Friedrich von Holstein-
Gottorp und Annas, Peters des Großen Tochter, war, von seiner Tante Elisabeth
dazu ersehen, ihr als Nachfolger auf dem russischen Kaiserthrone gefolgt.
Er war seit 1745 mit Katharina, einer Prinzessin von Anhalt-Zerbst, vermählt.
Peter der Dritte hatte nur ein halbes Jahr als Kaiser über Rußland geherrscht,
als er von den Großen des Reiches vom Throne gestoßen und ermordet wurde.
Ihm folgte seine Gemahlin, als Selbstherrscherin und Kaiserin Katharina die
Zweite genannt. Noch lebte der unglückliche Kaiser Iwan der Sechste aus dem
Hause Braunschweig: auch er wurde im Jahre 1764 im Gefängnis erdrosselt.
Der älteste Sohn der Generalin Ball. der zu gleicher Zeit wie auch sein
unglücklicher Oheim Willim Mons Kammerherr der Kaiserin Katharina der
Ersten gewesen war, hatte drei Töchter, „Damen (wie Helbig, sächsischer
Legationssekretär in Se. Petersburg während der letzten Regierungsjahre Katharinas
der Zweiten berichtet), von deren Reizen und Galanterien die alten Höflinge in
Petersburg noch jetzt zu erzählen wissen"; sie machten die glänzendsten Partien,
und die mittlere von ihnen, die wie ihre schöne Großmutter Matrjona hieß,
wurde die Frau des Sergius Saltykow, „bekannt durch seine Schönheit und
seine Liebeshandel, besonders--am Hofe —" (so mit den Gedankenstrichen bei
Helbig); denn vor der Ehe, im Jahre 1753, war er mit der Großfürstin, der
spätern Kaiserin Katharina der Zweiten, in inniger Freundschaft verbunden.
Katharina schenkte im Herbste 1754 einem Sohne das Leben, dem Kaiser Paul
unseligen Andenkens.
Der Kaiser Paul ist der Stammvater aller Glieder des regierenden
russischen Kaiserhauses.
M!s war im Juni jenes denkwürdigen Jahres, in dem ich den Ent¬
schluß gefaßt hatte, ein paar Wochen an irgendeinem anderen Fleck
der Erde zu verbringen als auf meinem Gute. Aus mir selbst
heraus hätte ich diesen Entschluß wohl kaum gefaßt, aber in bestimmten
- Zwischcnniumen überkommt mich eine ganz merkwürdige Stimmung,
in der es mir geradezu unmöglich erscheint, mein Leben nach meinem eigenen Willen
zu leben. Jedes Vertrauen zu mir selbst verschwindet aus mir, ich verliere die
Fähigkeit, mich zu meinen Mitmenschen in irgendein Verhältnis zu setzen und
Wert gegen Wert zu halten. Ich sehe mich — nur mir selbst überlassen — immer
tiefer und tiefer sinken und zuletzt gänzlich verkommen. Es ist begreiflich, daß ich
in solchen Zeiten von jedermann sehr leickt zu beeinflussen bin und daß ich mich
an jedes Wort, an jeden hingeworfenen Rat anklammere, als könne ich mich
dadurch vor dein sicheren Verhängnisse retten.
Damals, in jenem denkwürdigen Jahre, wurde dieses Wort von meiner Tante
ausgesprochen. Von der freundlichen Exzellenztante, die die Herzensgüte selbst war
und nur die eine Gewohnheit hatte, ihr Haar — obwohl sie schon fünf- oder sechs-
undsechzig Jahre alt war — noch immer rotblond zu färben und ihr liebes,
faltiges Gesicht mit einer ganz feinen/ beinahe bläulich schimmernden Schicht zu
überziehen. Ich konnte niemals herausfinden, ob diese Schicht nur aus Puder
oder aus ganz zart hingehauchter Schminke bestand.
Ich war nach Wien gefahren, ohne einen bestimmten Zweck, ohne daß irgend¬
eine Besorgung mich hingerufen hätte, wohl nur aus kaum bewußter Angst vor
mir selbst und aus Sehnsucht, wieder einmal unter Menschen zu kommen. Und
nun saß ich bei meiner Tante und hatte mit ihr schon eine gute halbe Stunde
von meinen gottseliger Eltern gesprochen und von allerhand Menschen, Tieren und
leblosen Gegenständen, die mit uns und unserer Vergangenheit in irgendeinem
Zusammenhange standen.
Eine Zeitlang blieb es dann still zwischen uns und endlich blickte mich die
Tante aufmerksam, ja beinahe prüfend an.
„Ich verstehe dich eigentlich nicht, Erich —" sagte sie mit einem leisen Kopf-
schütteln.
Es gibt aber nichts Qualvolleres, als wenn einem zu einer Zeit, in der man
sich selbst nicht versteht, auch noch ein anderer zuruft: „Ich verstehe dich nicht!"
Man sieht darin eine Bestätigung der eigenen, geahnten Nichtswürdigkeit und
Bedeutungslosigkeit, und man versinkt noch tiefer in seine Selbstverdammung und
Verzweiflung.
Trotzdem fragte ich mit einer Art von verbissener Rechthaberei:
„Wieso?"
Meine Tante hielt den Blick noch immer auf mich gerichtet.
„Ich begreife nicht, daß du das Leben da draußen auf die Dauer aufhältst."
So lächerlich es auch klingen mag, diese Worte genügten, um mich förmlich
zusammenzureißen. Ich konnte nichts mehr sagen und saß ganz still und geduckt
wie ein Kind, das sich einer Unart überführt sieht und jetzt voll Ergebenheit alle
Vorwürfe und in Gottes Namen auch Prügel abwartet.---
„Du mußt dir ja doch zum Ekel werden!.. . Was machst dn denn eigentlich
die ganze Zeit? . . . Für Bücher hast du ja nie eine besondere Vorliebe gehabt! . . .
Irgendeine Liebhaberei kennst du auch nicht! . . . Was treibst du denn? — Du wirst
mir doch nicht einreden wollen, daß du dich mit der Bewirtschaftung des Gutes
beschäftigst!"
„Nein."
„Du empfängst einmal in der Woche oder ich weiß nicht wie oft die Berichte
deines Verwalters, und gibst dann Verfügungen und Anordnungen, die dir in den
Mund gelegt werden. Und das ist alles!"
Die Tante hatte recht. Sie war ja einigemal mit dem Exzellenzonkel bei
mir zu Gast gewesen und hatte die ganze Wirtschaft kennen gelernt... Ich schwieg
"och immer.
„Wenn die gottselige Johanna" — das war meine Mutter — „sehen könnte,
wie du lebst, sie würde sich im Grabe umdrehen!. . . Wenn du schon nach keiner
ernsten Beschäftigung Verlangen hast, so schau' dich doch wenigstens in der Welt
und unter den Menschen um!... Du warst ja noch nirgends, du hast ja noch
nichts kennen gelernt!... Und je älter du wirst, desto schwerer beweglich wirst
du auch!. . . Wer weiß denn, ob nicht vielleicht doch irgendeine —" die Tante
konnte für das, was ihr vorschwebte, keinen geeigneten Ausdruck finden und
schnalzte ungeduldig mit dem Mittelfinger gegen den Daumen der rechten Hand —
-'- - - ob nicht irgend etwas in dir verborgen liegt, was deinem Leben einen
tieferen Gehalt geben kann, wenn es aufgeweckt wird und Anregung findet!...
Aber wenn du immer nur da draußen sitzt,. . . wenn du keine anderen Verhältnisse
aufsuchst, keine anderen Menschen! — ... Von selbst kann so etwas natürlich nicht
kommen, mein lieber Erich!"
Da glaubte ich wieder einmal den Grund meiner Unzufriedenheit, meiner
seelischen Verstimmung gefunden zu haben und eine Rettung erschien mir nur dann
möglich, wenn ich den Rat meiner Tante befolgte. Und zwar lieber heute als
morgen, denn ich hatte den Eindruck, als könne es schon in kürzester Zeit zu spät
sein, und dieser Gedanke trieb nur das heiße Blut in die Wangen.
Drei Tage später saß ich in Duiuo. Es war erst Ende März und noch sehr
kalt und rauh, weil ich aber um jeden Preis schon in die Welt hineinfahren wollte,
mußte ich mich nach Süden wenden. Um nun wenigstens nicht gleich und ohne jeden
Übergang in die fernste Fremde ziehen zu müssen, wollte ich für diesmal die
Grenzen meines Vaterlandes nicht überschreiten. Ich graste also die Küste der
Adria ab, machte ein paar ganz überflüssige Bekanntschaften, lernte alte Ruinen
und neue Hotels kennen und dann im Mai, als es mir dort unten zu heiß und
zu staubig wurde, fuhr ich nach Wien zurück. Dort wollte ich diesen Monat ver¬
bringen, der die Stadt noch schöner werden läßt, als sie es an sich schon ist, der ihre
letzten großstädtischen Merkmale verwischt und ihre mächtigsten, prächtigsten
Gebäude zu heiteren, in blühende Gärten eingebetteten Lustbauten macht.
Ich ging zu den Rennen in den Prater, ich nahm teil an geselligen Ver¬
anstaltungen und mußte mit Leuten, die ich längst vergessen hatte, so verkehren,
als hätte ich sie gestern oder vorgestern zum letzte» Male gesehen. Bei einem
Frühlingsfeste aber fuhr ich mit meiner Tante in einem blumengeschmückten Wagen
und die fünf- oder sechsundsechzigjährige Frau trug zu ihren: rotblonden Haar
und ihrem geheimnisvoll überhauchten Gesicht einen ganz hellen, mit blaßlila
Flieder bekränzten Hut und ein weißes, durchsichtiges, spitzenüberrieseltes Kleid.
Wir warfen kleine Sträußchen nach den Wagen vorbeifahrender Bekannter und
ebensolche Sträußchen wurden uns zugeworfen, aber die meisten Blumen verfehlten
ihr Ziel und fielen auf die staubige Fahrbahn. Dort wurden sie zermalmt und
zerstampft, wenn nicht Kinder und halbwüchsige Vorstadtmädchen aus den Reihen
der Zuschauer hervorbrachen und die welken Sträuße mit Lebensgefahr zwischen
Wagenrädern und Pferdehufen herausholten.
Die Tante, der es vor einigen Wochen offenbar ein Triumph gewesen war,
mich bekehrt zu haben, fragte plötzlich mit unverkennbarer Genugtuung:
„Wie fühlst du dich jetzt, lieber Erich?"
Ich war aber jetzt ein ganz anderer als damals. Ich hatte alles Vertrauen
zu mir selbst wiedergewonnen und war im Augenblick ein sehr zufriedener Mensch.
Ich lehnte mich also ganz behaglich im Wagen zurück, und während ich irgendein
paar Komtessen Skalowitz einen Maiglockeustrcmsz zuwarf, sagte ich:
„Wie kann ich mich schlecht fühlen, wenn ich weiß, daß ich morgen um diese
Zeit wieder zu Hause sein werde!?"
Nach einem langen Stillschweigen sagte die Tante:
„Mit dir ist nichts mehr anzufangen."
Dann sagte sie überhaupt nichts mehr.
Als ich am nächsten Tage in die Nähe meiner Station kam und die längst
bekannten Baumgruppen, Wiesen und Ackerstreifen wieder erblickte, als mein Schloß
wieder vor mir auftauchte, sich scharf absehend mit seinem roten Ziegeldache von
dein schwarzblauen Hintergrund des leicht ansteigenden Föhrenwaldes, da klopfte
mir das Herz wie einem dummen Buben und ich hatte ein Gefühl, als müsse ich
im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen. Als aber auf dem Platz vor dem
Stationsgebäude der alte Peter auf mich zutrat, der schon meinen gottseliger
Vater gefahren hatte, da konnte ich mich nicht länger beherrschen und streckte ihm
in überquellender Herzlichkeit die Hand entgegen. Obwohl ich wußte, daß ich ihm
kaum etwas Ärgeres antun konnte. Denn er war noch einer von den ganz Alten.
Tief eingefressen in den steifen Brauch und bis auf Blut und Knochen überzeugt
von der Notwendigkeit einer haarscharfen Rangeinteilung der Menschen. Diener
war Diener, Herr war Herr und da gab es kein Hinüber und Herüber. Und nun
war es sehr seltsam anzusehen, wie er eine Sekunde lang seine beiden Arme eng
an den Leib angepreßt hielt und erst dann ganz langsam und nur mit krampfhaft
überwundenen Widerwillen mit seiner Hand die meine berührte. Dabei blickte
er aber verstohlen nach allen Seiten, ob nicht jemand diesen ganz ungehörigen
Vorgang beobachte.
Der kleine Ort, zu dessen Häupten mein Schloß liegt, hat zwei Hälften.
Die eine ist ein armseliges, schmutziges Dorf. Niedrige, schiefe Häuser mit durch¬
faulten Schindeldächern stehen zu beiden Seiten der Straße, ihre Fenster sind
vielfach, zertrümmert und die Löcher in den Scheiben nur mit ölgetränktem Papier
verklebt. Zwischen den Häusern ziehen sich halbverfallene Mauern oder Bretter-
Planken hin, und steht einmal ein Einfahrtstor offen, dann sieht man immer das
gleiche: einen morastigen Hofraum mit einem Misthaufen, aus dessen Wurzeln
eine jaucheartige, braune Flüssigkeit bis auf die Straße hinaus sickert. Und in
diesem Unrat bewegen sich ein paar Hühner von unbestimmbarer Farbe oder ein
schmutzstarreudes Schwein. — Die zweite Hälfte des Ortes, am Fuße des Schloß-
berges. hat saubere Häuser mit netten, bis an die Straße reichenden Vorgärten,
hat auch ein paar zierlich aufgebaute Villen und liegt ganz eingebettet in einem
scheinbar zusammenhängenden, einzigen Obstgarten.
An jenem Tage der Heimkehr aber erschien mir auch die untere, schmutzige
Hälfte des Ortes freundlich und anheimelnd. Und als aus einem der Gehöfte
ein Köter herausfuhr und hinter dem Wagen herkläffte — was mich sonst wahn¬
sinnig machen kann —. schnalzte ich ihm sogar aufmunternd zu. Dann weiter
oben, zwischen den netten Häusern und den ordentlich gehaltenen Gärten kam ein
schmerzliches, wehmütiges Gefühl über mich. Denn all die zahllosen Obstbäume
standen schon in sommergrünem Laubschmuck und ich hatte sie — wenigstens in
diesem Jahre — nicht blühen gesehen. Das aber kam mir jetzt wie eine Sünde
vor und ich tröstete mich nur in dem Gedanken, daß ich dieses wunderherrliche,
endlose Blütenmeer all die Jahre hindurch gesehen hatte und daß ich es in Zukunft
nie wieder versäumen wollte.
Ich erkannte aber ganz deutlich, daß der Mensch nur an einer Stätte leben
soll, daß er diese Stätte kennen soll zu allen Zeiten und allen Stunden. Im
Winterschnee und im Lcnzerwachen, in Sonnenglut und im Herbststerben. Dann
wird jeder Baum, jede Wiese, jeder Stein und jeder Wasserlauf zum mitlebenden
und mitfühlenden Wesen und wandelt und neuere sich und altert und stirbt so
wie der Mensch selbst mit den Menschen. Wem die Natur nicht so wird und wer
sie nicht so kennt, der darf niemals sagen: Ich habe eine Heimat.
Am nächsten Tage nahm ich das Gewehr und ging in meinen Wald. Während
ich die Wiesenlehne, die den Schloßpark begrenzt, langsam hinanstieg, brannte die
Sonne so heiß auf mich herab, daß ich meinte, die Hitze käme nicht von außen,
sondern dränge aus meinem Innern heraus und sammle sich auf meiner Rücken¬
haut zu einem sengenden Glutherd. Im Föhrenwalde wurde es uicht kühler, nur
war die Hitze hier dumpf und tot und nicht so lebendig wie draußen unter freiem
Himmel. Aber ich fühlte es nicht und war sehr glücklich, denn hier konnte ich
die versäumten Frühlingstage nachholen. Hier gab es keine Bäume und Sträucher,
die ihre Blüten schon verloren hatten, und kein Krantwerk, das schon zu müden
Sommergrün aufgewuchert war. Die Föhren mit ihren Nadeln standen nicht
anders da als wohl vor einem Monat und das fchcirfe, harte Gras am Boden
blieb immer das gleiche. Neu und jung war nur der prachtvolle Geruch, den
der Föhrenwald — und nur der Föhrenwald — ausstrahlt, wenn die Sonne zum
erstenmal wieder mit voller Glut auf ihn niederbrennt. Dieser Geruch, der aus
dem innersten Lebensmark der Bäume herauszuquellen scheint und tiefer in Brust
und Lungen eindringt als jeder andere Hauch, ja der beinahe mächtiger ist als
unser Atem, weil wir zu fühlen meinen, wie er weiter ausstrahlt in unsere
Gliedmaßen, bis in die Zehen und Fingerspitzen.---
Die endlosen Getreide- und Kartoffelfelder haben keinen Reiz für mich. Ich
bekümmere mich nicht um sie und betrete sie nicht, außer im Spätsommer und im
Herbst, wenn über den Stoppeln die Feldhühnerjagd anhebt. Alles, was zu ihrer
Bewirtschaftung gehört, überlasse ich meinem Verwalter, und sollte ich auch von
vorn und hinten betrogen werden, wäre es mir noch immer lieber, als ich müßte
mich selbst mit Aussaat und Schnitt und Dreschmaschine abgeben.
Meinen Wald aber liebe ich. — Ob ich ihn recht bewirtschafte, weiß ich nicht.
Ich glaube sogar kaum. Aber ich liebe ihn, er ist mein und ich beschütze ihn. Und
als mir einmal mein Förster den Vorschlag machte, die Bäume zur Pechgewinnung
zu verwerten, hätte ich ihn beinahe entlassen. Denn es gibt nichts Jammervolleres
als diese armen, halbentblößten Stämme, die in eine Schüssel aus ihrer eigenen
Haut ihr Blut aufsaugen und sammeln müssen. Nur ein schmaler Streif ihrer
Rinde wird ihnen vergönnt, wie eine einzige, schmächtige Ader, und durch sie
soll aller Lebenssaft aussteigen zu den Kronen und sie müssen verkümmern, ohne
sterben zu können.
Wem: ich über eigenen Grund und Boden durch meinen Wald gehe, dann
habe ich ein Königsgefühl. Alle Stämme, die rings um mich aufragen von der
Wurzel bis zur Krone, sind mein Eigentum, und weil ich sie so ganz genau kenne,
daß sie mir zu mitlebenden Geschöpfen geworden sind, erscheinen sie mir als
Menschen, als meine Untertanen. Ich liebe sie, aber wenn ich wollte, könnte ich
sie auch zu Boden schlagen und niemand dürfte dazwischen treten, denn ich bin
der Herr. Ich habe Macht über Leben und Sterben. So gehe ich durch meinen
Wald wie durch mein Reich und alles, was man meinen Bäumen antun will,
erscheint nur wie ein Verbrechen, das an einem lebenden Menschen begangen
werden soll. Darum bedarf ich auch aller Selbstbeherrschung, wenn ich Kinder
und arme Leute beim Abbrechen von Ästen oder zur Erdbeerzeit beim Betreten
einer jungen Baumschonung überrasche. Ich könnte sie schlagen und mit einer
Peitsche vor mir hertreiben. Denn ich habe das Herrengefühl in mir. Ein
Gefühl, als ob es hier auf meinem Grund und Boden, in meinem Wald, keine
Richter über mir gäbe.
Ich war auf einen weiten, rechteckigen Schlag hinausgetreten. Die „alte
Eiche" hieß es an dieser Stelle und weiß der Himmel, woher die Benennung kam.
Eichen hatte es hier jedenfalls seit Menschengedenken nicht gegeben. Vor drei
Jahren war der Föhrenwald geschlagen worden und ich hatte die Blöße nur zum
Teil mit jungen Bäumchen bepflanzen lassen, die jetzt kaum handbreit über den
Boden aufragten. Dafür hatte ich ein paar Wildäcker angelegt, leuchtend grüne,
regelmäßige Streifen, sonst aber mochte wuchern und wachsen, was wollte und
konnte. Da kam denn all jenes verfitzte, dichte Buschwerk und Kraut, darin sich
das Wild am liebsten seine Äsung sucht. Erdbeeren hatten den Boden wie mit
einer Decke überzogen — sie trugen jetzt zahllose weiße Blüten —, Krauseminz
und Wermutkraut wucherte darüber hinaus und um die alten Baumstöcke waren
Brombeerstauden gewachsen mit weitverzweigten Geranke. Wo aber der Unter¬
wuchs ein wenig höher und schallender stand, da streckten die Maiglocken ihre
Blütenstiele aus hellgrünen Blätterdüten, wie kleinwinzige Telegraphenstänglein
mit zierlichen, Weißen Porzellauknöpfchen.
Als ich nun auf dein Wege stand, der den Schlag in zwei beinahe gleiche
Hälften teilt, und über das sonnenbeschienene Blühen hinblickte, hörte ich plötzlich
im Walde Hundegebell. Jenen unverkennbaren Laut, den der Hund nur dann
ausstößt, wenn er einem Wilde auf frischer Fährte folgt. Und im Augenblick war
alle Heiterkeit und Zufriedenheit aus mir geschwunden. Eine plötzliche Wut über¬
kam mich, ich riß das Gewehr von der Schulter und spannte beide Hähne.
In der ersten Zeit, nachdem das Gut in meinen Besitz übergegangen war.
hatte ich auf meinen Waldgängen sehr viele jagende Hunde niedergeschossen. Die
Ortsbewohner, denen die Tiere meist gehörten, haßten mich deshalb geradezu,
aber als ich ihnen dann anderweitig manches Gute tat. mußten sie einsehen, daß
ich die Hunde nicht zum Vergnügen, nicht aus Bosheit niederknallte. Sie begannen
ihre Köter besser zu überwachen oder überhaupt im Hofe an die Kette zu legen
und mein Wald mit seinem Wild hatte Friede. Und jetzt, gerade jetzt in der
Stunde der besten Freude an meiner Wiederkehr, meinem Wiederbesitz mußte so
eine Bestie daherkommen und mir alles zerstören.
Das Gebell verstummte für ein paar Augenblicke und gleichzeitig kam rechts
von mir ein Hase aus dem Wald heraus, lief quer über die Wildäcker und dann
in einer Entfernung von kaum dreißig Schritten an mir vorbei ins Unterholz.
Und wieder schlug der Hund an — diesmal in nächster Nähe — und dann sah
ich ihn auch auf der Hasenfährte aus dem Wald herauskommen. Es war ein
semmelbrauner Dackel, und wie er so mit seinen kurzen Beinen, die Nase am
Boden, forthaspelte, hatte sich sein linkes Ohr umgestülpt und lag fest an den
Kopf gepreßt.
Als er, noch immer Laut gebend, an mir vorbeikam, schoß ich ohne einen
Augenblick zu überlegen, und da war es, als hätte er mit einem flachen Gegen-
stände der ganzen Länge nach einen Schlag erhalten, der ihn aus seiner Lauf-
richtung hinaus und zu Boden warf. Nur ein kurzes, jäh abbrechendes Geheul
stieß er noch aus.
Während ich auf ihn zuging, hörte ich aus dem Walde deu Ruf einer hellen,
angstvollen Stimme.
„Krapsl Krapf!"
Also Krapf heißt die Bestie, dachte ich, als ich vor ihm stand. Er fletschte
nur, ohne sonst eine Bewegung zu machen, die Zähne, dann rückte er noch
ein paarmal den Kopf hin und her, als wolle er sich in die Erde einwühlen, und
ein feiner Bindfaden rieselte aus seinen Nasenlöchern. — Er war verendet. Das
linke Ohr aber lag noch immer umgestülpt und an den Kopf gepreßt, so wie zuvor
während des Laufens. ...
Plötzlich hatte ich, ohne hinzusehen, zu meiner Rechten die Empfindung eines
lichten Gegenstandes. Als ich mich umwandte, sah ich kaum zehn Schritte von
mir entfernt ein junges, ganz hell gekleidetes Mädchen auf einem Baumstrunk
sitzen, die linke Hand gegen einen vorspringenden Teil des Baumstockes gestützt,
die rechte von rückwärts gegen das Genick gepreßt. Sie war trotz des hellen
Sonnenscheins, der ihre ganze Gestalt umfloß, blaß bis in die Lippen und starrte
an mir und dem verendeten Hund vorbei ins Leere.
Ich ging sogleich auf sie zu und lüftete den Hut.
„Sie müssen verzeihen, aber ..."
Sie schüttelte, noch immer ohne mich anzusehen und mit hart aufeinander¬
gepreßten Lippen, den Kopf. Dann sagte sie ziemlich leise:
„Bitte. .. lassen Sie mich allein . . . Mir wird schlecht."
Wenn einem Menschen in meiner Gegenwart unwohl wird, dann wird mir
meist auch übel, oder ich bekomme doch zum mindesten ein sehr elendes Gefühl.
Krampfhaft trat ich noch einen Schritt näher an sie heran.
„Kann ich Ihnen nicht vielleicht helfen?"
Sie schüttelte wieder den Kopf und endlich sagte sie, schon mit einem deut¬
lichen Ton der Ungeduld in ihrer Stimme:
„Bitte, lassen Sie mich in Ruh'!"
Ich zuckte hilflos die Achseln.
„. . . Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen die Frau meines Waldhegcrs
schicken. Mit einem Glas Wasser. .. oder Milch."
Dann ging ich nach dem etwa zehn Minuten entfernten Wohnhause meines
Waldhüters. Ich hatte aber beim Weggehen das Grüßen vergessen.---^ —
Nach Hause zurückgekehrt, erfuhr ich von meinem Diener, der sich während
meiner Abwesenheit zur Genüge im Dorf herumgetrieben hatte, daß das Mädchen
jedenfalls die Tochter eines verwitweten, pensionierten Offiziers sei. Er sollte
Kleiner: heißen und sich in einem der besseren, villenartig ausgebauten Bauern¬
häuser am Fuße des Schloßberges zum Sommeraufenthalt eingemietet haben.
Am Nachmittag erschien auch der Waldheger im Schloß und berichtete, seine
Frau habe das Mädchen auf dem Schlag nicht mehr angetroffen, nur der Hund
habe noch dort gelegen und sei von ihm selbst verscharrt worden. Dabei überreichte
er mir das vernickelte Kettenhalsband des Dackels, auf dessen Schild eingraviert
stand: Krapf, — Major Kleinere.
Noch an demselben Tage schickte ich das Halsband an den Major und legte
einen Brief bei. Ich entschuldigte mich nicht — denn dazu hatte ich ja durchaus
keinen Grund —, ich drückte nur mein Bedauern aus, seiner Tochter und wahr¬
scheinlich auch ihm einen Kummer zugefügt zu haben.
Schon am nächsten Tage erhielt ich die sehr höfliche, nur ein wenig förmliche
Antwort des Alten. Einer Entschuldigung — er mutzte es also doch so aufgefatzt
haben — hätte es durchaus nicht bedurft, er selbst stehe als leidenschaftlicher Jäger
vollständig auf meinem Standpunkte, und im übrigen seien ja an vielen Stellen
meines Reviers Warnungstafeln angebracht, die das freie Umherlaufe» von Hunden
verböten. Wenn seine Tochter nicht darauf geachtet habe, so sei dies nur ihre
eigene Schuld, und ich könne in keiner Weise für das Geschehene verantwortlich
gemacht werden.
Somit schien nach autzen hin alles erledigt zu sein, aber innerlich konnte ich
mit der leidigen Geschichte nicht fertig werden. Ich mutzte immer daran denken,
datz die Verhältnisse im Hause dieses pensionierten Majors jedenfalls keine besonders
glänzenden waren und datz ich dem Mädchen wahrscheinlich sein einziges,
bescheidenes Vergnügen geraubt hatte. Ich konnte die Erinnerung an ihr blasses,
entstelltes Gesicht nicht loswerden, dabei plagte mich aber unausgesetzt das Ver¬
langen, dieses Gesicht auch dann kennen zu lernen, wenn es froh und ungeauälr
in die Welt blickte.
Der Zufall wollte es, datz meine Dachshündin Scuta vor etwa fünf Wochen
Junge geworfen hatte. Mit einem raschen Entschlüsse suchte ich den schönsten
Rüden aus der kleinen Gesellschaft heraus und wanderte mit ihm den Schlotzberg
hinunter ins Dorf.
Der alte Major Satz gerade im Vorgarten des Häuschens, wo er sich ein¬
gemietet hatte, und las irgendein sehr konservatives Blatt. Als er mich eintreten
sah, wutzte er sogleich, wen er vor sich hatte, und empfing mich sehr höflich, aber
doch mit stark merkbarer Zurückhaltung. Wie man eben einen Menschen empfängt,
den man im Recht weisz, der einem aber eben dadurch, datz er sein Recht behauptete,
irgendeinen Schmerz zugefügt hat. Erst als ich ihn ersuchte, seiner Tochter den
jungen Dachshund als Ersatz anbieten zu dürfen, wurde er etwas wärmer und
nef das Mädchen aus dem Hause. Auf seinen Ruf erschien Susanne — so hietz
seine Tochter — in der Tür. Sobald sie mich erblickt hatte, blieb sie stehen, und
ich fühlte ganz deutlich, datz sie nicht gleich wutzte, wie sie sich mir gegenüber
benehmen solle. Aber bevor sie sich noch in irgendeiner Weise entschließen konnte,
trat ich auf sie zu und hielt ihr den Hund entgegen.
..... Vielleicht kann er Ihnen für den Verlust einen kleinen Ersatz
gewähren ..."
Sie schüttelte wieder den Kopf, genau so wie damals auf dem Schlag, als
ich ihr meine Hilfe angeboten hatte. Dabei blickte sie aber freundlich auf den
Hund und ich fühlte, wie froh sie war, für ihre Augen einen Anhaltspunkt
gefunden zu haben.
„Es ist sehr freundlich von Ihnen," sagte sie dann ganz langsam, „aber ich
kann den Hund nicht annehmen."
„Warum?"
„Ich will überhaupt kein Tier mehr haben. Nie mehr____ Man hängt sein
ganzes Herz an so ein Geschöpf, und schließlich geschieht dann doch wieder
etwas .. . und es steht weiß Gott nicht für den Kummer, den man hat."
„Wollen Sie also, daß ich mir die ganze Zeit wie ein Verbrecher vorkomme?"
Jetzt schlug sie zum erstenmal die Augen voll zu mir auf.
„Wieso? ... Sie waren doch im Recht."
„Ja! leider!.. . aber trotzdem — bitte, tun Sie es mir nicht an."
Dabei drängte ich ihr den Hund förmlich auf. Und sie nahm ihn. Sie
senkte wieder die Augen und sagte ganz einfach:
„Danke."
Ich fühlte mich geradezu erleichtert und fuhr mir wie nach einer glücklich
vollbrachten schweren Arbeit mit der Hand durchs Haar.
„Vielleicht können Sie ihn so lieb gewinnen wie den Krapf."
„O nein! das nicht!" — und dann fügte sie gleichsam begütigend bei:
„wenigstens nicht gleich."
Der Major hatte während unseres ganzen Gespräches schweigend und die
Hände auf den Rücken gelegt dagestanden. Er mußte fühlen, daß es eine
Angelegenheit war, die nur wir beide miteinander ins Reine bringen konnten.
Aber jetzt, nachdem wir unser Geschäft glücklich zum Abschluß gebracht hatten,
forderte er mich auf, doch einen Augenblick bei ihm Platz zu nehmen. Ins Hans
wolle er mich nicht führen, denn die gemietete Wohnung sei nicht genügend
repräsentabel. Wir setzten uns, auch Susanne blieb bei uns und hielt den jungen
Hund am Schoß, wo er unter leisem Streicheln bald eingeschlafen war.
Da der Major mir in seinem Schreiben mitgeteilt hatte, daß er selbst Jäger
sei, brachte ich das Gespräch natürlich gleich auf die Jagd, und da schien es, als
hätte ich auf einen Knopf gedrückt, der einen ganzen Mechanismus in Bewegung
setzt. Der Alte begann zu erzählen, ohne jemand anderen zu Wort kommen zu
lassen, aber es war ganz unterhaltend, zuzuhören. Sein Regiment hatte während
seiner Dienstzeit auch in Bosnien gestanden und so wußte er manches Neue und
Merkwürdige von der Jagd in diesen damals gleichsam noch auf einem anderen
Erdteil gelegenen Ländern zu berichten.
„Wenn ich hoffen dürfte, Sie gelegentlich einmal in meinem bescheidenen
Wiener Heim zu begrüßen," meinte er schließlich, „könnte ich Ihnen meine
Trophäen zeigen. Es sind wirklich ein paar sehr schöne Stücke darunter."
Ich pflege sonst bei derlei flüchtigen Bekanntschaften sehr vorsichtig zu sein
und alle Anspielungen auf ein Weiterspinnen des Verkehrs zu überhören. Aber
damals sagte ich sogleich zu und war auch tatsächlich entschlossen, den alten
Offizier einmal im Herbst oder im Winter zu besuchen. Dabei streifte ich Susanne
mit einem Blick, aber sie hatte unser Gespräch, das ja eigentlich nur aus den
ihr jedenfalls schon zum Überdruß bekannten Jagdgeschichten des Alten bestand,
nicht mehr verfolgt und spielte mit dem Hund.
Beim Abschied forderte ich den Major auf, wenn es ihm Vergnügen bereite,
in meinem Revier ein paar Rehböcke abzuschießen. Ihre Gehörne würden zwar
einen Vergleich mit den von ihm in Bosnien erbeuteten Trophäen nicht aushalten,
aber immerhin könne er sich auf eine ihm angenehme Weise ein paar Stunden
im Tag vertreiben. Da war er ganz außer Rand und Band, wollte meine Hand
gar nicht mehr loslassen, erkundigte sich nach Tod und Teufel und schließlich ver¬
sprach ich ihm, noch heute einen Jäger zu schicken, der ihn zur Pirsch abholen sollte.
Als mir Susanne die Hand zum Abschied reichte, sah ich sie endlich so, wie
ich sie während dieser ganzen Tage hatte sehen wollen: heiter und zufrieden, ja
sogar mit einem Schimmer von Freundlichkeit im Gesicht.
Ich will jetzt ganz kurz bemerken, daß ich mich nach wenigen Wochen mit
der Majorstochter verlobte. Diese Einzelheiten unseres Näherkommens tun hier
nichts zur Sache, auch dürste es dabei nicht anders zugegangen sein wie in
neunundneunzig von hundert ähnlichen Fällen. Im übrigen war ja nicht meine
Verlobung mit Susanne Kleinere der Grund, um derentwillen ich diese Auf¬
zeichnungen niederschreibe.
Nach meinem Wunsche hätte unsere Hochzeit schon im Sommer gefeiert
werden sollen, der Alte aber und daS Mädchen baten, die Vermählung bis zum
Herbst aufzuschieben, da sie noch manches in Ordnung zu bringen hatten.
Sie waren jetzt häufig meine Gäste, der Major kannte mein Revier schon
in- und auswendig und rannte die ganzen Tage mit dein Gewehr herum, Susanne
und ich — wir sprachen von unserer Zukunft. Und da war es mir eine herzliche
Freude, daß sie meinen Wunsch teilte, den größten Teil des Jahres hier auf dem
Lande zu verbringen. Auch im Winter.
Wir saßen halbe Tage lang im Schloßpark oder gingen im Schloß von
Stockwerk zu Stockwerk, von Zimmer zu Zimmer und besprachen, wie wir alles
einteilen und benützen wollten. Und hatten wir schließlich nichts mehr zu beraten,
dann zogen wir durch den Wald und ich zeigte ihr meine schönsten Bänme, meine
liebsten Plätze.
Während einer solchen Waldwanderung gelangten wir auch in die Nähe jenes
Schlages, wo ich den Dachshund Krapf niedergeschossen hatte. Ich wollte den
Platz um keinen Preis betreten und fühlte, daß auch Susanne widerstrebte und
ihren Schritt verlangsamte. Und doch gingen wir beide hin. Beide aus jenem
verbissenen Trotz, der einen oftmals zwingt — auch wenn man es durchaus nicht
nötig hat —, etwas Unangenehmes und Peinliches aufzusuchen. Und ganz so, wie
es uns mit unseren Bewegungen ergangen war, erging es uns anch mit unseren
Gedanken und Worten. Wir mußten um jeden Preis von jener leidigen Geschichte
zu sprechen beginnen.
Und da geschah es, daß Susanne mich fragte:
„Hättest du den Hund damals auch niedergeschossen, wenn dn gewußt
hättest — ?"
Sie vollendete nicht und sah mich ruhig an.
Und ich antwortete, ohne zu überlegen:
„Nein. Was fällt dir denn ein."
Dann gingen wir weiter durch den Wald und sprachen wieder von ganz
anderen Dingen.--—
Und am nächsten Tage kam dann das Merkwürdige, das Unverständliche;
kam jener Brief, den ich bis zu meiner letzten Stunde aufbewahren werde und
der mich jetzt, während ich diese Aufzeichnungen niederschreibe, vor mir ans dem
Tische liegt.
Du magst Dich gestern gewundert haben, daß ich auf dein Heimwege
vielleicht etwas schweigsamer war als sonst und daß ich mich auch früher von Dir
trennte als an anderen Tagen. Sei nur deshalb nicht böse und verzeihe nur
auch, wenn ich Dir mit den folgenden Zeilen vielleicht einen sehr großen Schmerz
zufüge. Es fällt mir am leichtesten, wenn ich es Dir gleich und rund heraus
sage: ich hebe meine Verlobung mit Dir auf.
Ich bitte Dich inständigst, mache keine Versuche mich umzustimmen. Denn
wenn es Dir auch gelingen könnte, noch eine Annäherung zwischen uns zustande
zu bringen, so wäre sie nur eine rein äußere und nur für den Augenblick. In
meinem Innersten würde immer ein Stachel zurückbleiben, der in unserer Ehe
ein vollständiges Aufgehen des einen in dem anderen — ohne welches ich mir
ein Zusammenleben nicht vorstellen kann — unmöglich machen müßte.
Es fällt nur furchtbar schwer, Dir die Gründe für meinen Entschluß aus¬
einander zu setzen, ja ich habe einen förmlichen Widerwillen dagegen, aber ich
fühle, daß ich es Dir schuldig bin.
Als ich Dich gestern fragte, ob Du den Hund auch dann niedergeschossen
hättest, wenn Du gewußt hättest, in welchem Verhältnisse wir einmal zueinander
stehen würden, antwortetest Du mir mit: Nein... Im Augenblicke erschien
mir diese Antwort auch ganz natürlich. Aber schon auf unserem Heimwege
drängte sich mir die Überlegung auf und ich erschrak förmlich über die Selbst¬
verständlichkeit, mit der Du mir geantwortet hattest. Mir wurde plötzlich
ganz kalt bei dem Gedanken an dieses: .Nein! was fällt Dir ein!'...
Du hast damals eine Grausamkeit begangen. Denn eine Grausamkeit ist
es unbedingt, wenn man ein Tier, das einem Naturtrieb folgt, einfach
umbringt. Eine solche Grausamkeit kann nur dann entschuldigt werden, wenn
sie aus einem Rechte heraus verübt wird. Aus einem Recht, welches in Vernunft-
gründen wurzelt. Und das glaubte ich von Dir. Bis gestern. Aber gestern
erkannte ich, daß Du meinen Hund nicht aus Rechtsgefühl, sondern nur aus
Laune erschossen hast. Denn wenn jemand irgend etwas das eine Mal tut, das
andere Mal aber ganz dasselbe, aus was immer für Gründen, nicht tut — dann
ist dieses Begehen und Unterlassen kein Recht, sondern nur Laune. Und ich
würde niemals den Gedanken loswerden können, mit einem Menschen zusammen
zu leben, der imstande ist, aus Laune eine Grausamkeit zu begehen.
Du wirst jetzt vielleicht sagen: Gott sei Dank, daß ich mich mit dieser
Person noch nicht fürs Leben gebunden habe. Und das wäre nur eigentlich sehr
lieb, denn dann wüßte ich, daß ich Dir keinen allzu großen Schmerz bereite.
Es würde mich aber doch auch freuen, wenn Du mich verstehen oder wenigstens
nur ahnen könntest.
Leb' wohl, Erich, und wenn Du manchmal an die Susanne denkst, dann
tu es nicht mit allzu viel Spott und Geringschätzung!
?. S. Den Dackel, den Du mir geschenkt hast, behalte ich trotz alledem."
Dieser Brief verblüffte mich derart, daß ich an dem Tage, an dem ich ihn
empfing, gar nicht daran dachte, eine Aussprache mit Susanne zu suchen. Als
ich am nächsten Tage hinging, erfuhr ich, daß der Major mit seiner Tochter schon
zeitig am Morgen abgereist war.
Ich weiß nicht, wie sie ihren ganz nüchtern und alltäglich denkenden Vater
so vollständig auf ihre Seite ziehen konnte, daß er nicht einmal durch einen Brief
wenigstens seinerseits eine Verständigung herbeizuführen suchte. Ich bin den beiden
nie wieder im Leben begegnet und weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich
weiß seit jenem Erlebnisse nur, daß es zwischen dem sogenannten Charakter und
zwischen Überspanntheit keine deutliche, unverrückbare Grenze gibt.
können wir von der kommenden ReichstagS-
session wohl die Erledigung schwebender Fragen erwarten, nachdem es dem neuen
Staatssekretär gelungen ist, die Gouverueursposten von Südwestafrika und Kamerun
in befriedigender Weise neu zu besetzen. Ehe wir auf diese Gouverneurswechsel
eingehen, müssen wir ein paar Worte über den neuen Staatssekretär voraus¬
schicken. Mit einiger Beflissenheit ist bei Dernburgs Abgang immer wieder ver¬
sichert worden daß der Wechsel in der Oberleitung der Kolonialverwaltung an
unsrer Kolonialpolitik nichts ändern werde. Das dürfte, wenn wir tue Dinge
rein mechanisch betrachten, zutreffen. Einen äußerlich erkennbaren „neuen Kurs'
werden wir nicht bekommen. Aber der Geist unsrer Kolonialpolitik durfte doch
ein anderer werden. Herr v. Lindequist huldigt in verschiedenen kolonialen Lebens¬
fragen andern Anschauungen als Herr Dernburg. Und eben wegen dieser
Anschauungen ist seine Wahl besonders freudig begrüßt worden. Es hieße die
Fähigkeiten des neuen Staatssekretärs heruntersetzen, wenn wir ihm zumuten
wollten, einfach den Nachläufer Dernburgs zu spielen. Wir wissen, daß er über
die Eingeborenenpolitik anders denkt als Dernburg. und daß ihm ausgesprochener¬
maßen die Besiedlung möglichst großer Gebiete unsrer Kolonien nut Deutschen
am Herzen liegt. Und während Dernburg ein entschieden autokratlscher Charakter
war und sich nur selten dreinreden ließ, liebt der neue Staatssekretär mehr die
freundschaftliche Fühlungnahme mit den in Frage kommenden Kreisen.
Diese seine Wesensart kommt auch in der Wahl der neuen Gouverneure für
Südwest und Kamerun zum Ausdruck. Gouverneur Seitz hat in Kamerun mit
den Ansiedlern in selten gutem Einvernehmen gelebt und die auch dort vorhandenen
Gegensätze geschickt auszugleichen verstanden. Man sieht ihn dort ungern scheiden.
Unter seiner Leitung hat in Kamerun die wirtschaftliche Entwickelung einen
bemerkenswerten Aufschwung genommen, der nicht zum wenigsten seiner Politik
des Entgegenkommens zuzuschreiben ist. Sein Nachfolger Dr. Gleim ist ein durchaus
gleichartiger Charakter. Und da er vor einigen Jahren schon als stellvertretender
Gouverneur drüben gewirkt und sich das Vertrauen der Ansiedler erworben hat,
so kann es ihn: im neuen Amt nicht fehlen. Man spricht sich denn auch in
Kameruner Handels- und Pflanzerkreisen sehr befriedigt über die Wahl aus.
In Südwest findet Dr. Seitz einen dankbaren, aber immerhin wesentlich
schwierigeren Wirkungskreis. Sein Vorgänger, Herr von Schuckmann, der ein
rechter Vater seiner Südwestafrikaner war, ist nicht so leicht zu ersetzen. Wohl¬
wollendes Verständnis für das Wohl und Wehe der weißen Bevölkerung und ihre
Eigenart, gepaart mit Festigkeit, wenn es galt, allzu hitzigem Vorwärtsstreben
unsrer Landsleute zu begegnen, machte ihn für den Posten geeignet wie kaum
einen. Dabei war er immer der vornehme Mann, der fühlbar über den Dingen
stand und sich auch durch erbittertes Draufgängertum nicht aus dem Konzept
bringen ließ. Herr Dr. Seitz wird es ja allerdings in vieler Hinsicht leichter haben
als sein Vorgänger, denn der neue Staatssekretär steht den Südwestafrikanern
entschieden freundschaftlich gegenüber, und mancher Streitpunkt wird stillschweigend
verschwinden. Auch in den Fragen, die sich nicht ausschließlich im Sinne der
Bevölkerung entscheiden lassen, wird das ausgesprochene Wohlwollen, das man
sich beiderseits entgegenbringt, Konflikte vermeiden lassen. Trotzdem bleibt noch
manche Frage, deren Entscheidung hohe Anforderungen an das staatsmännische
Geschick des Gouverneurs stellt. In Kamerun beherrscht schließlich ein und dasselbe
Interesse alle Europäer, und auch dasjenige der Regierung bewegt sich auf der¬
selben Linie; in Südwest aber ringt ein starkes Selbständigkeitsgefühl nach Be-
tätigung. Dabei ist es angesichts widersprechender Interessen der verschiedenen
Erwerbszweige nicht ganz leicht, dieses Streben unter einen Hut zu bringen und
in einer auch für das Mutterland ersprießlichen Weise nutzbar zu machen.
Es ist bezeichnend, daß der Gedanke eines Anschlusses von Deutsch-Südwest
an die Südafrikanische Union aufkommen konnte. Der Gedanke ist zwar geradezu
unsinnig, aber er ist nun einmal in die Debatte geworfen und wird immer wieder
auftauchen. Da ist es denn doch notwendig, ihn auf seinen wahren Wert zurück¬
zuführen. Schlimm ist, daß gerade ein Dr. Peters, einer unsrer Kolonialheroen,
der Urheber dieses Hnndstagsgedankens ist, denn sein Name sichert derartigen
Phantasien größere Beachtung, als sie verdienen. Es ist eigentlich betrübend, zu
beobachten, wie sehr sich Dr. Peters dem Geist unsrer Kolonialpolitik entfremdet
hat, daß er im Ernst Kapstädter Redereien, bei denen natürlich der Wunsch der
Vater des Gedankens war, in tendenziöser Weise weiterverbreiten konnte. Es mag
ja wohl sein, daß das Wort von dem Anschluß an die Südafrikanische Union
gelegentlich in der Erbitterung gefallen ist. Aber das will nichts besagen. Hat
nicht jeder von uns gelegentlich einmal im Ärger etwas gesagt, was er nie tun
würde? Es hieße, unsre Südwestafrikaner beleidigen, wenn man ihnen den
Gedanken an einen Abfall zutrauen wollte. Man muß sich eigentlich wundern,
daß die unüberlegten Worte Dr. Peters' überhaupt ernsthafte Würdigung in unsrer
Presse gefunden haben, man hätte doch eigentlich von unsrer Publizistik etwas
mehr Urteilsfähigkeit erwarten dürfen. Es ist klar, daß unsre Enkel und Urenkel
sich mit dem Gedanken eines engeren Anschlusses von Deutsch-Südwest an die
englische Nachbarkolonie als einer wirtschaftlichen Naturnotwendigkeit werden ver¬
traut machen müssen. Es wird von ihrer Geschicklichkeit abhängen, ob dieser
Anschluß sich so vollzieht, daß unsrer Nationalwirtschaft und unsrem Volkstum die
Früchte unsrer Kolonisationsarbeit in der Hauptsache erhalten bleiben. Aber die
jetzige Generation ist gut deutsch und wird auch ihre Kinder zu guten Deutschen
von Fritz Burger (mit 48 Tafeln).
Klinkhardt u. Biermann, Leipzig. Palladio, den Goethe auf seiner Jtalienreise
so höchlich bewunderte, ist heute fast in Verruf geraten. Weil ihn eine Generation
nüchterner Akademiker für eine Anzahl von Repräsentationsbauten der verflossenen
Epoche nachgeahmt hat, gilt er selber für akademisch und Steifleinen. Die Meinung
stützt sich auch auf die ausgesprochen theoretische Art, in der Palladio, der bewußte
Schüler der Antike und ihres Theoretikers Vitruv, sich über die Anwendung
klassischer Baustilgesetze Rechenschaft zu geben sucht. Nichtsdestoweniger ist dieser
klassizistische Norditaliener ein Original. Jeder, der heute sehenden Auges seine
venetianischen Kirchen, seine grandiosen Stadtpaläste in Vicenza prüft, wird durch
die strenge und logische Einfachheit dieser baumeisterlichen Formsprache hindurch
ein ungewöhnlich großes und starkes Wollen spüren. Wie könnte man sich auch
sonst die andauernde Nachwirkung Palladios erklären? Daß diese sich sogar bis
in scheinbar heterogene Stilgebiete hinein erstreckt, weist der Verfasser der vor¬
liegenden Studie sehr überzeugend nach. Man kennt die Villen Palladios im
allgemeinen wenig, zu wenig. Sie sind auch schwerer kennen zu lernen als etwa
die Villenarchitektur der Renaissance in Rom und Florenz, sie liegen einzeln zer¬
streut auf dem Gelände zwischen Venedig und Verona. F. Burger hat die Mühe
nicht gescheut, meines Wissens zum ersten Male, genauere Untersuchungen, teilweise
sogar kleine Ausgrabungen an Ort und Stelle vorzunehmen, um die vorhandenen
Entwürfe Palladios durch Grundrißaufnahmen und Ansichten der wirklich aus¬
geführten Bauten zu ergänzen. So kommt er auf Grund seiner sehr eingehenden
Untersuchungen zu der Meinung, daß gerade in den Villenbcmten Palladios, diesen
scheinbar so kühlen, so wenig anmutigen Kastellen und palastartigen Flügelbänder
etwas von dem triumphierenden festlichen Geist der venetianischen Kunst beschlossen
liege. Freilich auch eine Dosis venetianischen Phlegmas, ein „etwas steifes Pathos
und ein mangelnder melodischer Fluß im Detail wie in den baulichen Gruppen".
Nichtsdestoweniger kommt Burger zu dem Schlüsse, das Malerische bei Palladios
Villenbauten als das ausschlaggebende, grundsätzliche Stilprinzip zu betonen. Es
heißt da: „Überall bietet sich dem Auge der schattenreiche Porticus, die Säulen¬
halle. Die Massen strömen in den Raum hinaus, sie verlaufen sich hier gewisser¬
maßen. Nicht mehr die Umgrenzung des geschlossenen Raumes, sondern die freie
mimische Bewegung der Massen ist der künstlerische Inhalt dieser Bauten." Diese
Massenbewegung aber zeigt in den bewegten Einzelgliedern stets eine klar betonte
Flächigkeit und geradlinige Kontraste, und unterscheidet sich nicht zuletzt dadurch
von dem unruhigen, auf- und ab wogenden Barockstil, der annähernd um die gleiche
Zeit von Rom aus in die Welt' gesetzt wurde. Palladio bleibt stets streng
symmetrisch und sucht das Malerische vorwiegend im überraschenden Achsenwechsel.
Hier aber hat das Rokoko angesetzt, und wir müssen dem Verfasser recht geben,
wenn er diesen so eminent malerischen und dekorativen Stil auf die konstruktiven
Anregungen Palladios zurückführt. Durch diese ungewöhnlich geistreiche und über¬
zeugend begründete Perspektive hat sich der Verfasser ein Verdienst erworben, das
nicht nur von engeren Fachkreisen anerkannt werden sollte. Wer will, kann sogar
in den strengen Stilbestrebungen der modernen deutschen Architektur geheime Ver¬
bindungsfäden gerade zu Palladios klassizistischen Landhäusern entdecken. Auf alle
Fälle werden unsere Baumeister, soweit sie aus der malerischen Willkür hinaus
zu Gesetz und Ordnung streben, in Palladio einen guten Verbündeten erkennen.
! in 13. September sind es achtzig Jahre, daß eine Gräfin Dubsky in
Zdißlowitz in Mähren zur Welt kam. Ein hochgeborenes Kind mehr
im Leben. Die Komtesse wuchs heran, wie Komtessen heranwachsen,
behütet, wohlerzogen, gebildet, nicht letzten Endes mit Pferd und
Hund, die nicht schlechtere Lehrmeister sind als französische Bonnen,
besonders wenn die Mutter schon den schwarzen Weg gegangen ist; Marie Dubskys
Mutter starb wenige Tage nach der Geburt ihres Kindes. Die kleine Komtesse
unterschied sich in nichts von ihrer Umwelt. Um so verwunderlicher kommt der
Entschluß der Vierzehnjährigen, die tschechisches edles Rebellenblut wunderlich mit
sächsischem bürgerlich protestantischen Blute in sich vereinigt, „die größte Schrift¬
stellerin aller Völker und Zeiten zu werden". Ihre Verse und dramatischen Ver¬
suche begegnen gütigem und drum desto verletzenderem Widerstande. Naturgemäß
standen in dem kleinlichen mährischen Schloßleben die zahmen Künste, wie Model¬
lieren, Malen. Zeichnen, Musizieren und ausgesuchte Lektüre, als Bildungsmittel
obenan, doch wo war es erhört, daß man mehr wollte als Kunst zum Zeitvertreib?
Als Lebensinhalt, als Lebenszweck? Man sah in dem beginnenden Muß ihres
Innern dilettantische Schöngeisterei, man lächelte, sorgte sich, man schickte endlich
eine Probe der unerwarteten literarischen Ernte des Hauses an Grillparzer. Der
schrieb als Antwort: „. .. eine Anlage, die Interesse weckt, und deren Kultivierung
zu unterlassen wohl kaum in der eigenen Willkür des Besitzers stehen dürfte." Mit
achtzehn Jahren heiratet die Gräfin Dubsky und wird so äußerlich zur Ebuer-
Eschenbach. Eine Zeit schweren mühsamen Studiums beginnt an der Seite ihres
ernsten hochgebildeten Gatten. Sprachlehre und Versbau, ernste, schwere, unweibische
Wissenschaft ist ihr Genosse. Damals legte unsere größte deutsche Dichterin (neben
der Droste) den Grund zu ihrer Bedeutung. Nur in strenger Selbstzucht, in
ununterbrochenem Ringen mit sich selbst und den passiven Widerständen des erd-
geborenen Ichs stählt sich das Talent zum Genie. Marie von Ebner hat nichts
gemein mit den zeitgenössischen weiblichen Dutzendgenies, deren Bedeutung zumeist
einzig im großen Enthüllungsbuch ihres eigenen Sexuallebens besteht, die drum
„schreibende" Frauen heißen, weil sie unweiblich ihr Geschlecht an den Pranger des
Geschäftes stellen. Marie von Ebner hat so ernst und hart ihr ganzes Leben an
sich gearbeitet, daß sie schon dieses Grundes wegen eine hervorragende Stellung
im weiblichen Kreis unserer Tage einnehmen müßte; als Verkörperung dessen, was
die Frau zu leisten vermag, gelingt es ihr, den angeborenen Widerstand, die
Flüchtigkeit ihres Geschlechtes, niederzuringen, ohne in das doktrinäre Besserwisser
und Unbedingtrechthaben der Denkweiber zu verfallen. Marie von Ebner hat für
ihr Geschlecht und dessen gerechte Sache mehr geleistet als tausend laute Zungen.
Sie hat Glauben erhalten und gegeben. Sie ist die Verkörperung des tiefsten
Menschenempfindens, wie es im Weibe blüht, die schlackenlose Auswirkung des
Weibes, die Lösung des Sphinxrätsels, um das wir allzulange ratend herumstanden,
ohne zu bedeuken, daß Rätsel Künsteleien sind und daß die Schöpfung in ihren
reinen Ausstrahlungen — dazu gehört in erster Reihe das Weib — einfach ist,
in den geraden, einfachen Linien des ewigen Geschehens gebaut. Marie von Ebners
Kunst ist ethisch, klassisch, mit Mitteln geschaffen, die in ihrer Unaufdringlichkeit
in unserer törichten Zeit nicht immer klar in die Erscheinung traten. Die Ebner
hat gerade an den Stellen, die heute am lautesten ihr Lob singen, jahrzehntelanges
Unverstehen und gewollte böse Gegnerschaft gefunden. — Liest man der Ebner erste
Novellen — durch dreißig Kampfjahre hatte sie sich vergebens mit größter Bewußtheit
ihr Ziel als dramatische Dichterin gesteckt —, so fällt eines sofort in die Augen:
die Frau war damals nicht modern und sie ist es heute nicht. Ihre Zeit wird
erst kommen, oder besser, man wird späterhin einsehen, daß ihre Zeit ewig ist für
die, die hienieden suchen, die einem großen Geiste folgen wollen und können, für
andere war und wird die Ebnersche Kunst nie etwas sein. Sie hat uns, endlich
gesehen, die Poesie des deutsch-österreichischen Landlebens, die österreichische
Aristokratenseele erschlossen. Ihre „Freiherren von Gemperlein". ihr „Gemeinde¬
kind", ihre „Bozena". ihr scharf soziales Bild „Er läßt die Hand küssen" usw.
verleugnen ebensowenig die dramatische Schulung ihrer Schöpferin, wie die Kreise,
in denen die Ebner-Eschenbach lebt. Sie hat die Vorzüge ihrer Geburt zum
Richtigsten gewendet, sie hat sie genützt, um kraft der ihr offen stehenden Türen in
der Erkenntnis weiterzugehen, stets demütig nach unten und streng nach oben, die
Welt richtig zu verteilen; nicht nur in ihren Werken, sie hat ihr edles Fühlen und
Denken oft und oft auch in die Tat umgesetzt, auch hier Aristokratin und Weib,
was so ziemlich daS gleiche ist. Sie ist die Verkörperung des österreichischen
Wesens, des alten Österreichertums aus der Zeit, da wir in großer Gegenwart
lebten und nicht rückwärts sehen mußten, und nicht das Wörtlein „Deutsch" vor
Österreich hingen. Sie ist eine reine Seele, die sich mühte, alle Vorurteile, die
ihr im Blute lagen, zu tilgen, auf ihr gerechtsames Bestehen zu prüfen; sie sah
die Menschen mit zärtlicher und richtender, die Natur mit ehrfurchtsvoller Liebe.
In der Ebner „Aphorismen", vielleicht dem dauerndsten ihrer Bücher, steht der
Satz: „Es gibt eine nähere Verwandtschaft als die zwischen Mutter und Kind:
die zwischen dein Künstler und seinem Werk." Marie von Ebner-Eschenbach hat
keine Kinder, sie trat drum ins Leben und sprach zu vielen, und jedes ihrer Worte
War wie das Mutterwort von Liebe gelenkt. Und wie die erwachsenen Kinder —
ach. leider haben wir viel ausgewachsene, entwachsene und nicht erwachsene —
der Mutter längstes Leben wünschen, schon weil die Tatsache des Bestehens einer
edlen Persönlichkeit stärkt, so wünschen auch wir. alle die wollen und mittun am
großen Werke der Verbesserung der Menschheit, der Ebner-Eschenbach noch langes
Sein, neben ihrem Werke, das selbständig und unsterblich in den Zeiten steht.
Antwortlich George Cleinow in Berlin-Schön-Verg. Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b. H.
in Berlin SV. 11.
Anzeigen-Annahme für diesen Teil beim Verlag der Grenzboten G. in. b. H.,
Berlin 8W. II, Bernburger Straße 22 s/23.
Fernsprecher: Amt VI, Ur. KS10. Telegramm-Adresse: Grenzboten, Berlin.
Stellennachweis.
(Aus der Tages- und Fachpresse.)
Anfragen zu richten unter Beifügung von
Rückporto an die Geschäftsstelle der „Grenz¬
boten", Berlin S>V. I I.
^. Für Akademiker.
103. Oberlehrer, höhere Lehranstalt, Ostern 1911
(3000—6000 M.), Provinz Sachsen.
107. Bürgermeister, 1. it. (8000 M.), Rheinland.
113. Direktor für städtische höhere Mädchenschule,
I. 4. 11 (5400-7000 M.), Ostpr-usz-n.
116. c-nÄ. pdil. oder «Keol., 1. 10., Mart.
117. Bürgermeister, Thorn, l. 0. (10000 M,).
118. Bürgermeister, Ostprcus;er, 1. 10. (2V00 M.).
IIS. Hauslehrer, 1. 10. Posen.
120. Hauslehrer (ttieol. od. prit.),1.10.. Brandenburg.
121. Pfarrer, 1. 11, Pommern.
127. Pfarrer, per bald, Schlesien.
128. Oberlehrer, 1. 4. 1l, RcsormglMuasium (Frz.,
Deutsch, womögl. einer alten Sprache), Schlesien.
12N. Hauslehrer, evang., sür 2 Onarwner, Neumark.
IN. Bürgermeister, Gros-Salza (4S00 M.). Mai 1911.
13>. Gemeindevorsteher, Ober-Lausitz. I. 4. II.
182. Rektor, 1. 4.11 (RealglMnasium). mit Oberlchrcr-
und Reit.-Examen, Holstein l3t>00 M.).s. Für pensionierte Offiziere.
81. General-Agent, Feuer-Versicheruugs-Gesellschaft,
Aachen, I.Januar 1811, hoch dotiert.
c. Ziir Damen.
97. Erzieherin, gcpr. (Franz. im Ausland erlernt),
Oktober, Ostpreuszen.
98. Engländerin, Franz., I. 10., Pommern.
100. Lehrerin, höhere Prwat-Mädchenschule (Englisch)
(1200 M.). 1. 10., N.-L.
101. Erzieherin, co., 1. 10., Vrandenbnrg a. H.
108. Erzieherin, geprüft, kath., niusik., 1.10., Breslau.
110. Erzieherin, geprüft, 1. 10., Pommern.
111. Erzieherin, geprüft (Sprachen im Anstand erlernt),
Turnen und Handarbeiten, Westhavelland.
133. Lehrerin, Is. 10., hob. Privatsch.. Holstein.
(1200 M>
134. Erzieherin sür 9-und 11jährige Mädchen (Musik,
Turnen), Sachsen.
135. Lehrerin, Vertretung, 1. 10. bis 1. April co. lang.,
Thüringen. (l!!00M.)
130. Erzieherin, co., »ins., 1.10., Schlesien.
137. Jung. gcbild. Engländerin (mus., zeichn.) sür
2 Madch., Gera-Reich.
138. E». gepr. Erzieherin, 1.10., engl. »ins., (Körper¬
pflege. Bed.)sür 7jähr. Mädchen (1000 M). Ober-
schlesien.
139. Gebr. jung. Erzieherin für 2 Miidch., Schlesw.-
.Holstein.
140. Ev.^um^. Erzieherin (Latein-Kennen.) sür 2 Knab.
r-ILciists /^us-eiLlmungsn. (Zegr-Uralsk 1S24.
e. i^^el-i^l.
>>in)^loin)L^i_^L^i»<
Sek?».!^ S>/V.1S, Xi-aussn-Stnssss 31-32
V^o n u >i ^ s - ^ i ni'le Inn >i »1
^tsÜSk' fut' Inn6n<iwKollation
pornspi-seris,-! ^me I, 103S, 2S1S.
eit etwa einem Jahrzehnt hat man den Deutschen in Galizien
Aufmerksamkeit zu schenken begonnen. Leider war man über sie
und ihre Bedeutung in: Lande sehr wenig unterrichtet; nur so ist
die verfehlte Politik, die man zur Rettung ihres Deutschtums
einschlug, erklärlich. Auch über ihre Anzahl und ihre wirtschaft¬
liche Lage wußte man wenig; auch war offenbar ihre Bedeutung für die
Erhaltung des östlichen Siedlungsgebiets nicht bekannt. Nur so konnte der
bedanke entstehen, die Übersiedlung dieser Deutschen in ein anderes Gebiet zu
Ersuchen. Aus der folgenden Betrachtung wird sich aber wohl ergeben, daß
Lage der galizischen Deutschen zwar nicht rosig ist, daß aber ihre Stellung
"och immer als so kräftig gelten darf, daß ihre Erhaltung möglich ist; es wird
M) aber auch zeigen, daß ihr Ausharren in Galizien für das Deutschtum
notwendig ist, und daß es eine Ehrensache des großen deutschen Volkes ist, dafür
Zu sorgen, daß dieser Vorposten nicht falle.
Auf galizischen Boden spielt sich schon seit Jahrhunderten ein gewaltiger
Kampf zwischen Deutschtum und Polentum ab. Ihm sind die alten deutschen
Kolonien in Krakau, Lemberg, Sanden, Sanok und in zahlreichen anderen Orten
!^t dem fünfzehnten Jahrhundert zum Opfer gefallen, weil die deutschen Bürger
uugeeiut und vom Vaterlande völlig getrennt und verlassen dastanden. In
Wchgalizicn (um Biala), wo die Deutschen einigen Rückhalt an den Volksgenossen
ni Schlesien fanden, konnte das Deutschtum nie ganz ausgerottet werden. Unter
günstigeren Umständen hätte ebenso wie das einst polnische Schlesien auch ganz
^estgalizien germanisiert werden können. Dazu waren die kräftigsten Anfänge
bereits gemacht. An der deutschen Zips in Oberungarn hätte dieses Deutschtum
seine kräftige Stütze gefunden und andrerseits wäre diese wieder gefördert worden
und hätte nicht die klägliche Entwicklung genommen, die dort infolge der
slawischen Hochflut und der magyarischen Gewaltherrschaft leider um sich greift.
Unabsehbar wären aber die Folgen, wenn die durch Kaiser Joseph den Zweiten
nach Galizien, nach Oberungarn und in die Bukowina verpflanzten Deutschen
hier eine stärkere deutsche Kulturschicht bereits gefunden hätten. . . .
Als diese deutschen Bauern, Handwerker, Beamten und Soldaten ins Land
kamen, war der alte Haß nicht erstorben. Der damals ins Land gekommene
französische Gelehrte Hacquet stellt fest, daß das polnische Sprichwort: „solange
die Welt bestehen wird, werden Deutsche und Polen nicht Freunde sein" noch
seine volle Geltung hatte. „Aber der Polack", fügt er hinzu, „hat sehr unrecht,
den Teutschen von allen Seiten zu hassen. Wem hat er seine ganze Belehrung
zu danken als dem Teutschen." Ein anderer Schriftsteller (S. Bredetzky)
bemerkt schou vor hundert Jahren: „Die deutscheu Kolonisten kamen mit der
deutschen Regierung ins Land, was wunder, daß sie unwillkommen waren."
Wenn dagegen S. Rohrer damals bemerkt, daß der „Nationalhaß in Lemberg
schon merklich vertilgt sei", und als Beweis dafür den Umstand anführt, daß
Deutsche polnisch und Polen deutsch sprechen, so war dies ein falscher Schluß.
Die Erinnerung des Dichters Kazimierz Brodzinski an seine Krakauer Schulzeit
Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gipfelt in der Bemerkung: „Ich weiß
bloß, daß wir die deutschen Mitschüler prügelten und sie Deutsche schimpften."
Die Schimpfwörter „s^ahsla an82a", „bestia s?xvab", „niemiecka
psiakrev" und dergleichen gehören seit jeher zum polnischen Rüstzeug gegen
die Deutschen. Natürlich schwiegen auch die Deutschen nicht; nur haben sie vor
allein die polnische Wirtschaft und deu törichten Adelsstolz der Polen zur Ziel¬
scheibe ihres Spottes gemacht.
Aber auch historisch bezeugte Tatsachen lassen deu nie vergessenen Deutschenhaß
erkennen. Als 1809 das Glück der Waffen auch in Polen gegen Österreich
entschied, versuchten die Polen in der Umgebung von Stanislau (Ostgalizien)
eine Aktion zugunsten der polnischen Sache. Die deutschen Beamten sollten
abgeschafft werden; ein weiutrunkener Advokat forderte sogar, daß man sie köpfe,
und einer seiner Kollegen lief in die Apotheke und kratzte dort alle an Flaschen
und Tiegeln angebrachten kaiserlichen Adler herab. In einer Flugschrift, welche
die Revolution von 1846 hervorrief, war zu lesen: „Es gibt keinen Gott, keine
Religion, keine Seligkeit. Nur die Ermordung aller Deutschen und Fremden
zur Wiederherstellung des polnischen Staates ist Recht, Religion, ewige Seligkeit."
Ju den ruthenischen Wahlaufrufen von 1848 wurde vor den fremden (deutschen)
Beamten gewarnt, die nur große Steuern veranlassen, um selbst große Gehälter
zu beziehen. Die polnischen Agitatoren, die damals das Volk zum Aufstand
zu reizen suchten, dichteten auch ruthenische Lieder, in denen in schändlicher Weise
gegen den „Schwaben" und „Deutschen" gehetzt wurde. Er wird als der Feind
hingestellt, gegen den Polen und Ruthenen gemeinsam losgehen sollen, als der
Dieb, der sich mit „unserem" Brot nährt, die Steuern stets vermehrt. Tabak
zu bauen verbietet, das Recht beugt n. tgi. in.; gegen ihn müsse man mit
frisch gedeugelteu Sensen losgehen. Andere Aufzeichnungen sprechen mit sicht¬
lichem Haß von den Beamten „von draußen", den „schwarzgelben", die „mit
unglaublich blinder Achtung den hohen Behörden und ihren Befehlen gehorchten"
und auf die Spottlieder verbreitet waren. Zu diesen Deutschhassern gehörten
übrigens polonisierte Deutsche, die auch an den Aufständen teilnahmen.
Seither hat dieser Haß nicht abgenommen, er ist vielmehr, wenn möglich,
gewachsen. Zwei Faktoren haben ihn in den letzten Jahren besonders angefacht:
die preußische Polenpolitik und die erstarkende deutschvölkische Organisation.
Zeugnisse für den Deutschenhaß begegnen uns auf Schritt und Tritt. In
den polnischen Zeitungen werden die Deutschen als eine Pest bezeichnet, die
aus dem Lande auch mit Gewalt entfernt werden müsse. „Die Deutschen
gereichen Galizien zur größten Schande; sie sollten wie tolle Hunde nieder¬
geschossen werden; sie sind eine Personifikation des Teufels und bilden eine
stete Gefahr für die polnische Kultur. Sie sollen dem Galgen überantwortet,
wie Tauben erwürgt werden u. tgi. in." Kann, bemerkt braucht zu werden,
daß diesen Zeitungen jede Objektivität bei der Besprechung der deutscheu Ver¬
hältnisse und Bestrebungen fehlt; es wimmelt förmlich in ihnen von böswilligen
Entstellungen und Verleumdungen. Im Jahre 1909 konnte man auch in den
Räumen des Staatsbahnhofes in Lemberg die farbige Ankündigung einer
Toiletteseife lesen: auf dieser sah man als Schutzmarke eine zur Faust geballte
Hand und darunter die Worte: ^yäio 51a tea Ka l'o (Seife für die Hakatisten).
Diese Reklameankündigung und ihre Schutzmarke enthält eine stetige Aufreizung
gegen die Deutschen, wird aber von den galizischen Behörden geduldet. Der¬
selbe Ton dringt immer mehr auch in wissenschaftlichen Arbeiten durch. Bei
der Besprechung der ersten deutsche» Zeitungen in Galizien begleitet ein Forscher
die Mitteilungen über den kurzen Bestand einiger Blätter mit der Bemerkung:
»Glücklicherweise sind sie bald eingegangen." Ein anderer vergißt bei der
Besprechung des deutschen Kultureinslusses nicht zu bemerken, daß die Polen ihm
»um widerwillig" unterliege». Ein dritter nennt das deutsche Recht „Raub
und Diebstahl"; er rät. alle deutscheu Ausdrücke aus dem Polnischen zu ent¬
fernen, um die Spuren des deutschen Kultureinflusses zu beseitigen. Wie stief¬
mütterlich wurden die Deutschen Galiziens im Prachtwerk „Österreich-Ungarn
w Wort und Bild" behandelt!
In den letzten Jahren hat der Deutschenhaß in Galizien noch euren
besonderen Ausdruck gefunden. Von Zeit zu Zeit tauchen Nachrichten über
Projekte auf, welche die Verdrängung oder Polonisierung der galizischen Deutschen
mit ganz besonderen Mitteln herbeiführen sollen. Anfang 1910 kündigt wieder
ein Krakauer Blatt einen heftigen Kampf gegen die galizischen Deutschen an:
»Die Deutschen in Galizien, die von Berlin kräftig unterstützt werden, sind zu
einer Macht angewachsen, die unsere nationalen Interesse» bedroht und der
rechtzeitig ein entsprechender Damm entgegengesetzt werden muß." Das Blatt
schreibt einen Wettbewerb für populäre Artikel über das Thema „Die deutsche
Gefahr in Galizien und die Mittel zu ihrer Vorbeugung" aus. Bemerkenswert
ist, daß an der Spitze des Preisgerichts der Weihbischof Bandurski steht, der
dach seine deutschfeindliche Gesinnung wiederholt die Aufmerksamkeit auf sich
gelenkt hat.
Bei diesen Beschimpfungen und Bedrohungen ist es jedoch nicht geblieben.
Seitdem die österreichische Zentralregierung nach der Katastrophe von 186K
und der Einführung der Konstitution ihre Machtfülle zugunsten der autonomen
Behörden in Galizien aufgegeben hat, werden die Deutschen auf Schritt und
Tritt vergewaltigt. Trotzdem nach dem Staatsgrundgesetz die deutsche Sprache
neben der polnischen und ruthenischen als gleichberechtigt zu gelten hat und
die Deutschen insbesondere auf volle Berücksichtigung ihrer Muttersprache in
Kirche und Schule Anspruch haben, werden sie vielfach ihres guten Rechtes
beraubt.
Es ist allgemein bekannt, daß fast in allen katholisch-deutschen Gemeinden
polnische Geistliche angestellt sind, welche die Muttersprache ihrer Pfarrlinge
nicht beherrschen und ihren nationalen Bedürfnissen fern stehen. In vielen
Gemeinden führen diese fremden Priester auch noch polnische Predigten, polnische
Gebete und polnische Lieder ein; sie geben den deutschen Täuflingen polnische
Namen und verfälschen ihr Volkstum. Als Borwand für dieses Vorgehen gilt
gewöhnlich die Zugehörigkeit einer kleinen Anzahl polnischer oder polonisierter
Gläubigen zur Gemeinde. Selbstverständlich kommt es vor, daß deutschbegeisterte
Kirchenbesucher das polnisch angestimmte Lied zu überflügelt suchen, daß sie
Klage über ihren Pfarrer beim Bischof führen und daß arger Zwiespalt zwischen
der Gemeinde und ihrem Seelenhirten herrscht. Wahr ist, daß Mangel an
deutschen Priesterkandidaten vorhanden ist und daß viele Pfarren so schlecht
dotiert sind, daß sie nicht erstrebenswert erscheinen. Wie in anderen Beziehungen,
so muß auch auf kirchlichem Gebiete die nationale Selbsthilfe sich betätigen;
jedenfalls haben aber die deutschen Katholiken Anspruch, von ihrer zuständigen
Kirchenbehörde mit gleichem Wohlwollen behandelt zu werden wie die Polen.
Gegenwärtig fühlen sich die deutschen Katholiken in Galizien stark zurückgesetzt;
diesen Gefühlen gaben sie beredten Ausdruck, als auf dein Dresdener Katholiken¬
tage von 1909 die reichsdeutschen Katholiken für die Rechte ihrer polnischen
Mitbürger eintraten. Mit Recht betonten die deutschen Katholiken Galiziens,
daß ihre deutschen Glaubensbrüder im Reich zunächst ihr trauriges Schicksal
zu berücksichtigen hätten. Glücklicher sind in dieser Beziehung die evangelischen
Deutschen Galiziens; unter ihnen wirken zahlreiche für ihr Volkstum begeisterte
Männer.
Gleich harter Druck lastet dagegen auf dem Schulwesen der katholischen
und evangelischen deutschen Gemeinden. Im Jahre .1908 besaßen von den
220 deutschen Siedlungen nur 115 deutsche Schulen, und zwar zählte man
105 deutsche Privatschulen und 20 öffentliche Schulen"). In W Siedlungen
sind seit der Auslieferung Galiziens an die Polen ebensoviele deutsche Schulen
polonisiert worden. Die anderen Ansiedlungen hatten gar keine oder von allem
Anfang an nur polnische Schulen. Die deutscheu konfessionellen Privatschulen
erhalten die Ansiedler aus eigenen Mitteln, seitdem die anfangs gewährten
staatlichen Unterstützungen aufgehört hatten. Obwohl sie dabei vom Gustav-Adolf-
Verein und dem Deutschen Schulverein unterstützt werden, bilden die Schulkosten
doch eine bedeutende Last, besonders da die Deutschen auch für die öffentlichen
interkonfessionellen (polnischen und ruthenischen) Schulen beisteuern müssen. Für
kleinere Gemeinden sind die Schulkosten oft unerschwinglich. Sobald die Gemeinden
die Hilfe der Schulobrigkeiten in Anspruch nehmen, wird als Gegenforderung
die Einführung der polnischen Unterrichtssprache gefordert. Auch gegen den
Willen der Ansiedler werden beim Übergang in die öffentliche Verwaltung
deutsche Schulen polonisiert oder doch mit polnischen Lehrkräften besetzt, die die
deutsche Sprache nicht beherrschen. Ein guter Kenner der Verhältnisse äußert
sich darüber (1909): „Die polnischen und ruthenischen Lehrer, die an den
deutsch-katholischen Schulen wirken, können häufig auch nicht einen einzigen Satz
richtig aussprechen. Wie sie mit den Kindern überhaupt fertig werden, das
weiß der liebe Gott allein. Der Verfasser kennt Lehrer, die mit dem Wörter¬
buch in der einen und mit der Fibel in der anderen Hand ihren Schulunter¬
richt hielten, und andere, die, statt die Kinder zu unterrichten, selbst von den
Kindern unterrichtet werden. Würden die Eltern nicht persönlich eingreifen
und die Kinder selbst unterrichten, so könnten diese nicht einmal den Namen
unterfertiget!, wie dies z. B. in Mariahilf festgestellt worden ist*'). Es kommt
vor. daß bei Besetzung der Lehrerstellen an öffentlichen Schulen selbst dre
tüchtigsten deutschen Bewerber nicht berücksichtigt werden, sondern unqualisizierte
polnische Hilfskräfte an den Schulen bestellt werden. An einzelnen
deutschen Schulen wirken seit ihrer Veröffentlichung nur polnische Lehrer. Am
ärgste,: steht es in dieser Beziehung mit den deutsch-katholischen Schulen, für
die deutsche Lehramtskandidaten fehlen. In den mit polnischen Lehrkräften
^setzten deutschen Schulen lernen die deutschen Kiuder. denen insbesondere un
ruthenischen Ostgalizien die polnische Sprache völlig fremd ist, weder Deutsch
"och Polnisch; sie werden überdies von den feindlich gesinnten Lehrern verhöhnt
und mißhandelt. Eines der erschreckendsten Beispiele dieser Entwicklung bietet
die Schulgeschichte von Mariahilf bei Kolomea. Die Kinder waren dazu ver¬
dammt, die Schulstunden zwecklos im Schulzimmer abzusitzen; sie erlernten
weder lesen noch schreiben. Der polnische Oberlehrer ließ im Winter die Schul¬
zimmer selten heizen; mit dem ersparten Holz trieb er Handel. Gefiel es
diesem Manne, so enthob er sich vom Schuldienst und ließ dafür feinen Sohn
die Kinder „unterrichten". Dieser bestrafte eines Tages die Kinder, weil sie
deutsch und nicht polnisch sprachen, damit, daß er sie mit einer erhitzten
Patronenhülse an Wangen und Lippen brannte! Nicht viel besser erging es
den deutschen Schulen in Zboiska, Nosenburg, Konstantöwka, Angelöwka,
Hanunin u. a. Deutsche Kinder, die Schulen mit ruthenischer Unterrichtssprache
zu besuchen gezwungen sind, hören beim Unterricht nie ein Wort Deutsch, weil
an allen diesen Schulen die zweite Unterrichtssprache Polnisch, nie Deutsch ist.
Überaus arg steht es auch um das höhere deutsche Schulwesen. Nachdem die
früheren deutschen Mittelschulen und die Lemberger Universität polonisiert
worden sind, bestanden noch zwei deutsche Gymnasien, in Lemberg und in
Brody. Letzteres wird seit 1907 allmählich ausgelassen, ersteres verdient kaum
noch den Namen einer deutschen Anstalt. Das Versprechen, anstelle des auf¬
gehobenen deutschen Gymnasiums in einer anderen galizischen Stadt ein neues
zu errichten, wird kaum bald erfüllt werden. Die polnischen Mittelschulen,
Lehrerbildungsanstalten und Universitäten sind aber Polonisierungsstätten für
die studierende deutsche Jugend. Der Direktor des Stryjer Gymnasiums verbot
den deutschen Schülern, sich zur deutschen Nationalität zu bekennen, und wollte
den Religionsunterricht der deutschen evangelischen Schüler in deutscher Sprache
verwehren. Bemerkt sei noch, daß der Lemberger Gemeinderat sich dafür aus¬
sprach, daß an den Volksschulen Galiziens die Unterrichtssprache nur Polnisch
und Deutsch sein dürfe, und der polnische Pädagogentag sich für die bedingungs¬
lose Entfernung des deutschen Sprachunterrichtes aus allen galizischen Schulen
aussprach (1909).
Wie in Kirche und Schule versuchen die galizischen Behörden die Deutschen
auch in anderen Beziehungen zu entrechten. Im Oktober 1909 ist es geschehen,
daß das k. k. Bezirksgericht in Jaworow die Frau des deutschen Landwirth
Schönhofer zu achtundvierzig Stunden Arrest verurteilte, weil sie unter Hinweis
auf ihre sehr mangelhafte Kenntnis der polnischen und ruthenischen Sprache
eine Zeugenaussage in deutscher Sprache machen wollte. Die angesehene Frau
mußte schließlich vierundzwanzig Stunden im Arrest zubringen, trotzdem sie
darauf verwies, daß sie ein drei Monate altes Kind zu stillen habe. Derartige
Willkürlichkeiten, Vergewaltigungen, Prügelstrafen u. tgi. sind übrigens in
Galizien nicht selten; es dringt nur wenig davon in die Öffentlichkeit. Fest¬
genagelt muß werden, daß die neue Reichsratwahlordnung über die galizischen
Deutschen einfach zur Tagesordnung überging. Ob bei der geplanten galizischen
Landtagswahlordnung eine gerechte Berücksichtigung der Deutschen, die sie in
sehr maßvollen Denkschriften fordern, stattfinden wird, ist abzuwarten. Herr
Landmarschall Graf Badeni, dem eine deutsche Abordnung am 30. Oktober 1909
ein Memorandum überreichte, erklärte, daß er für diese Forderungen der
Deutschen in Galizien nicht eintreten könne, um so weniger, als in den anderen
Kronländern auch slawische Minoritäten in den betreffenden Landtagen nicht
vertreten seien, wie z. B. die Polen und Tschechen in Wien. Als die Abordnung
den Einwurf machte, daß in der Bukowina 26000 Polen mehrere Vertreter
im Landtage haben, antwortete der Landmarschall, die Bukowina könne für
Galizien nicht zum Muster dienen, sondern die Kronländer des Westens. Wie
irrig diese Anschauungen sind, ist augenfällig. Die Ansprüche der Deutschen in
Galizien sind zum mindesten ebenso berechtigt wie jene der Polen in der
Bukowina; damit können Aspirationen der fluktuierenden polnischen und tschechischen
Zuwanderung in die Reichshauptstadt nicht im entferntesten verglichen werden.
Erwähnt muß schließlich werden, daß die galizischen Behörden die Selbsthilfe
und Organisation der Deutschen stören, indem sie in einzelnen Fällen Ver¬
sammlungen und Feste unter allerlei Vorwänden zu vereiteln suchen.
Auch auf wirtschaftlichem Gebiete wird der Kampf versucht. Der deutschen
Erzeugnissen wiederholt angedrohte Bovkott trifft indessen kaum die galizischen
Deutschen. schwerwiegender ist die Anregung, den Ankauf galizischen Bodens
durch Deutsche zu verhindern, und andrerseits die Unterstützung polnischer sowie
ruthenischer Bauern beim Ankauf deutschen Bodens. Indessen dürften bisher
noch immer die Erwerbungen der Deutschen weit größer sein als ihre Verluste.
Bedeutend waren letztere nur, als vor einem Jahrzehnt künstlich eine abnormale
Auswanderungsbewegung veranlaßt wurde.
Die Lage der Deutschen in Galizien war niemals so günstig, daß nicht
Auswanderungen wie aus anderen Ländern stattgefunden hätten; Wanderlust
und Hoffnung auf Verbesserung ihres Schicksals haben seit Jahrzehnten auch
aus den galizischen Kolonien Auswanderungen veranlaßt. Die Gründe dafür
sind die gleichen wie anderwärts gewesen: unverschuldete und verschuldete Armut,
Streitigkeiten, Arbeitslosigkeit u. tgi. Seit dem Ende der sechziger Jahre machte
sich eine stärkere Auswanderungsbewegung bemerkbar; offenbar hat also das
Überhandnehmen des polnischen Einflusses in Galizien die Unzufriedenheit mit
den Verhältnissen vergrößert. Die Auswanderungen fanden nach Nußland, ferner
nach Amerika und auch nach Bosnien statt. Die Auswanderung nach Amerika
darf unbedingt als die stärkste bezeichnet werden. Man findet kaum eine An-
siedlung, ans der nicht Deutsche nach Amerika gewandert wären. In vielen
Häusern sieht man Photographien der in der Fremde Weilenden oder ihre in
Lieder- und Vormerkbüchern eingetragenen Adressen. Viele von den Aus-
gewanderten bleiben dauernd jenseits des Meeres; mancher von ihnen hat
Farmer und Vermögen erworben. So sah der Schreiber dieser Zeilen in
Kaiserdorf eine große Photographie, die den aus der Umgegend von Kranz¬
berg ausgewanderten Johann Schuster darstellt, der mit elf anderen Leuten eine
Dampfdreschgarnitur auf seiner Farm bedient. Sehr viele von diesen Ans-
Wanderern, zumeist Söhne kinderreicher ärmerer Familien, kehren mit den
erworbenen Geldsummen zurück, helfen ihre verschuldeten väterlichen Wirtschaften
entlasten oder kaufen weitere Gründe. Aus Königsau nach Amerika aus¬
gewanderte Häuslersöhne haben so viel verdient, daß sie sich nach ihrer Rückkehr
als Wirte niederlassen konnten. Auch Mädchen wandern nach Amerika. Wenn
nun auch durch diese Auswanderung die Zahl der Ansiedler vermindert wird,
so wird andrerseits dadurch die allzu große Zersplitterung der Wirtschaften ver¬
hindert und die Kräftigung der materiellen Lage gefördert. Da nur der wirt¬
schaftlich unabhängige Bauer auch sein Volkstum wahren kann, so kann die
normal ohne äußere Agitation verlaufende Bewegung nicht als unbedingt ver¬
werflich bezeichnet werden. Durch sie ist das allmähliche stetige Wachsen der
Gemeinden nicht beeinträchtigt worden, noch weniger wurde der Bestand der
einzelnen Gemeinden gefährdet. Erst als die deutsche Ostmarkenpolitik sich die
Verpflanzung der galizischen Kolonisten nach Posen und Westpreußen zum Ziele
setzte, trat eine gefahrdrohende Steigerung der Auswanderung ein.
Mi SchlusMtikel folgt in Heft !Z3.)
wei Metalle, innig vereint, spielen in der frühen Jugendzeit der
menschlichen Kultur eine höchst wichtige Rolle, nämlich das Zinn
und das Kupfer — in ihrer Legierung als Bronze. Stark und
unternehmend im Besitze vervollkommneter Geräte und Waffen ist
die jugendliche Kulturmenschheit eigentlich erst geworden, als sie
der Gott, der Eisen wachsen ließ, auch mit all den schier wundersamen Eigen¬
schaften bekannt machte, welche in diesem Metalle ruhen, indessen konnten schon
die Menschen im Bronzezeitalter von sich sagen, daß sie es gar herrlich weit
gebracht hatten im Vergleiche zu ihren Voreltern in der Steinzeit. Wohl sehen
wir bei diesen später das Kupfer neben dein Lurusmetall des Goldes hier und
da eine Rolle spielen, jedoch bei weitem nicht eine so wichtige wie nach ihm die
Bronze. Die Erfindung dieser hat in der menschlichen Kulturgeschichte in der
Tat ein neues Zeitalter heraufbeschworen. — Auf welche Weise man zuerst dazu
gekommen ist, Bronze aus den in der Erde liegenden Erzen zu gewinnen, würd
wohl immer im uugeivisseu bleiben; doch möchte ich glauben, daß entweder das
zufällige Schmelzen von frei daliegenden! Zinnkies unter der chemisch reduzierend
wirkenden Holzkohlenschicht eines Feuers dazu geführt hat. oder das ebenfalls
wohl nur durch den Zufall herbeigeführte Zusammenschmelzen von geschwefelten
Kupfererzen (Kupferkies, Kupferglanz usw.) mit Zinnstein. Ersteres könnte man
als das wahrscheinlichere annehmen, wenn nicht der aus Zinn- und Kupfer¬
neben Eisensulphid zugleich bestehendeZinnkies(an2^eSnS4 - Sus. .Lu.L.x^eZ)
ein verhältnismäßig selten vorkommendes Mineral wäre, welches gerade auf
den asiatischen Zinnerzlagerstätten, die doch wohl das Material für die aller-
ältesten Bronzen geliefert haben, gänzlich zu fehlen scheint. Etwas häufiger
kommt oder käm Zinnkies auf den Zinnerzlagern von Cornwall, Irland.
Böhmen. Portugal usw. vor, doch kann darüber kein Zweifel bestehen, daß die
relativ große Menge von Bronze, welche die alten Kulturvölker vou Südasien
schon vor mehr als dreitausend Jahren erzeugt haben, durch das Zusammen¬
schmelzen von Zinnstein mit nicht selten gerade auf Zinnerzlagerstütten vor¬
kommenden Kupfererzen gewonnen worden ist. In Indien sowohl als in China
war um das Jahr 1800 vor Christi die Bronzeindnstrie bereits hochentwickelt,
man hat aber auch in dein Pharaonenreiche uuter der zwölften Dynastie, also
etwa in der ersten Hälfte des dritten Jahrtausends v. Chr., und am Ende des¬
selben anch auf dem Boden von Troja und Sizilien jene kulturgeschichtlich so
wichtige Metallegierung schon gekannt. In den homerischen Gesängen, und
Zwar gerade in deren ältesten Teilen erscheint die Bronze oder das Erz (Chalkos),
wie es genannt wird, als das vorwiegend benutzte Metall für Waffen und
Geräte, neben welchem man allerdings schon das Eisen als das eigentliche
Zukunftsmetall aufkommen steht. In ihrer späteren Fassung reden die Odyssee
und Ilias bereits von der heute geradezu die Welt beherrschenden chemischen
Modifikation des Eisens, dem Stahl. Die alten Kulturvölker Europas haben
die Bronze wohl zuerst aus Vorderasien erhalten und ist der Beginn des Bronze-
Zeitalters für unseren Erdteil wohl in die Zeit um 1500 v. Chr. zu legen. In
Nordeuropa ist diesem dann gegen 400, in der Schweiz gegen K00 v. Chr. und
in Südeuropa wohl schou ein oder zwei Jahrhunderte früher das Eisenzeitalter
gefolgt. Die ältesten und prähistorischen Bronzen, welche auf den: Boden unseres
Erdteils gefunden werden, zeigen nahezu dieselbe Zusammensetzung; sie enthalten
nämlich ungefähr »0 Prozent Kupfer und 10 Prozent Zinn. Wie gesagt, muß
die noch in ihren Kinderschuhen steckende Industrie der sogenannten Bronzeperiode
schon recht erhebliche Mengen von Zinnerz für sich in Anspruch genommen haben.
Dabei könnte es an sich ziemlich lange gedauert haben, bis die Metallurgie in
ihren Anfängen dazu kam, neben den: einen schon sehr früh in gediegener Form
bekannten Komponenten der Bronze, dem Kupfer, auch den anderen, das
metallische Zinn, für sich allein aus dem Zinnsteine darzustellen, ebenso wie ja
auch die aus Kupfer und Zink bestehende Legierung des Messings oder Gelb¬
kupfers schon Jahrhunderte bekannt und in allgemeinem Gebrauche war, bevor
n?an (gegen Ende des europäischen Mittelalters) das gediegene Zink aus dessen
Erzen (Gnlmei, Zinkblende) gewinnen lernte.
Linguistische Verhältnisse sprechen nun aber dafür, daß auch das Zinn als
Metall für sich schon sehr frühzeitig aus dem für seine Gewinnung technisch
allein in Betracht kommenden Erze, dein Zinnstein, dargestellt wurde — und
zwar wohl im südlichen Asien. Im Altindischen, dem Sanskrit, trägt das
metallische Zinn den Namen Naga und in: Altpersischcn, dem Zend, den Namen
Uvula, während es bei den altsemitischen Völkern, den Juden und Chaldäern,
Arak und bei den Äthiopiern Naak hieß. Die in diesen Worten unverkennbar
gleiche Sprachwurzel mal bezw. mag weist auf die enorm reichen hinterindischen
Zinnwäschen, die heute wieder den weitaus größten Teil des Weltverbrauches
an Zinn decken, als Ausgangspunkt und Hanptzentrum einer schon sehr alten
Zinngewinnung hin. Früher glaubte man, daß das schon von Homer gebrauchte
Wort für Zinn, nämlich Kassiteros, dem sanskritischen Kastira, welches man
für sehr alt hielt, entlehnt sei und daß dieses Sprachverhältnis auf den sehr
alten Import des Zinns in Südeuropa aus Indien über Vorderasien hinweise.
Nun hat sich aber gezeigt, daß das Wort Kastira erst seit dem letzten Jahr¬
hundert v. Chr. in der Sanskrit-Literatur aufkommt, so daß eher anzunehmen
ist, daß dasselbe durch das alte Handelsvolk der Phöniker zuerst in den Mittel¬
meerländern in Gebrauch kam und später erst auf dem Handelswege auch bei
den Indern bekannt geworden ist — vielleicht infolge anhaltender Nachfrage
nach dem so geschätzten Metall von Europa aus. Das Wort 8damnum, von
welchem sowohl die romanischen Worte etain, 8taAno> chors als auch das
deutsche Zinn, das englische den und die anderen germanischen Bezeichnungen
für das Metall abstammen, ist dem keltischen (Mischen) Worte istän bezw. 8team
entlehnt, was kulturhistorisch ebenfalls von Bedeutung ist. Lange Zeit deckten
nämlich die beiden Völker des klassischen Altertums ihren, wie z. B. die Haus¬
gerätfunde in Pompeji und Herkulanum verraten, schon sehr großen Bedarf an
Zinn aus den Bergwerken der Provinzen Gallicien und Lusitanien auf der
Pnrenäischen Halbinsel, von wo es ihnen die Phöniker, die das Zinn auf seinem
schon etwa tausend Jahre v. Chr. gegründeten Stapelplatze Gades (Cadix)
aufkauften, vordem schon zugeführt hatten. Bereits in Cäsars Zeit trat für
das alte Rom auch Britannien als Zinnproduzent hervor und später spielte
Marsilia (Marseille), wohin das englische Zinn von der Insel Iltis (Vcctis,
Wight) ehedem teils zu Wasser und teils zu Lande gebracht wurde, als Zinn¬
markt noch eine bedeutendere Rolle als früher Cadix. Als Zinninseln oder
Kassiteriden waren die britischen Eilande den Phönikern und Griechen übrigens
schon sehr früh bekannt. Auf der Pyrenäischcn Halbinsel ist bis zur Zeit der
Invasion der Mauren, also bis ins achte Jahrhundert n. Chr., ein lebhafter
Zinnbergbau umgegangen. Was Großbritannien angeht, so scheint hier der
Zinnhandel durch die Völkerwanderung nur auf kurze Zeit unterdrückt worden
zu sein. Der Markt für das englische Zinn verlegte sich dabei aber in: zwölften
und dreizehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung mehr nach dem Norden, nach
den Städten Cöln und besonders nach Brügge. Vor dem zwölften Jahrhundert
scheint Devonshire das Hauptzentrum des Zinnbergbaus von England gewesen
zu sein, später aber trat Cornwall an dessen Stelle, von wo im vierzehnten
Jahrhundert das weiße Metall über See selbst bis zum Orient, nach Kon¬
stantinopel und Alexandrien, verführt wurde, während damals die Zinnwäschen
von Devon (ebenso wie die spanischen schon im achten Jahrhundert) sozusagen
erschöpft waren. Seit den: zwölften Jahrhundert sehen wir als Zinnproduzenten
auch Böhmen und Sachsen aufkommen, wo nacheinander bei einer Vervollkomm¬
nung der Abbau- und Verhüttungsmethodeu der Betrieb in den Zinnwäschen
von Graupen, Schönfeld, Altenberg, Gener. Schlackeuwald und Ehrenfrieders¬
dorf ein sehr lebhafter wurde. Die beiden letztgenannten Städte allein brachten
es in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts zu einer jährlichen Zinn¬
erzeugung von 10- bis 15000 Zentnern, wobei man angefangen hatte, die alten
Halden wieder auszuarbeiten und den Zinnstein an seinen Fundstellen auch
durch Bergwerksarbeit unter Tag zu gewinnen. Während des Dreißigjährigen
Krieges hob sich der englische Zümbergbcm in demselben Maße, wie der deutsch¬
böhmische zurückging. Cornwall produzierte im Anfange des achtzehnten Jahr¬
hunderts bereits bis zu 1000 Tonnen (ü 1000 Kilo) jährlich und an dessen
Ende über 3000 Tonnen, daneben zeigte aber auch der böhmische nud sächsische
Zinnbergbau im achtzehnten Jahrhundert eine anhaltende Blüte. Im vorigen
Jahrhundert ging es mit letzterem wegen immer größerer Verarmung der Zinn¬
lagerstätten schnell abwärts. Dabei stieg der Zinnpreis, welcher von der Mitte
des siebzehnten bis zu der des achtzehnten Jahrhunderts auf etwa 1300 Mark
pro Tonne gestanden hatte, gegen Ende des letztgenannten Jahrhunderts auf
1800 Mark. Im sechzehnten Jahrhundert erschien das erste Zinn aus Malakka
auf dein europäischen Markt. Siam und Malakka produzierten im Anfang des
vorigen Jahrhunderts gegen 1500 Tonnen. Die Insel Banka erzeugte im
achtzehnten Jahrhundert über 3000 Tonnen Zinn, doch fiel dann allmählich
die Produktion bis auf die Hälfte, um später wieder bis zu 5000 Tonnen
jährlich zu steigen. Biliton produzierte von 1860 bis 1870 ungefähr 1000 Tonnen
jährlich und in dem darauffolgenden Jahrzehnt bis 4000 Tonnen. Seit der
Mitte des vorigen Jahrhunderts haben auch Peru. Chile und Bolivia jährlich
einige hundert Tonnen Zinn exportiert. Von 1853 ub lieferten auch Victoria
und Um-Süd-Wales und von 1873 Tasmanien jährlich ein immer steigendes
Quantum Zinn an den Weltmarkt ab (Tasmanien zwischen den Jahren 1874
und 1877 3000 bis 5000 Tonnen jährlich). In Europa war seit dem Anfange
des vorigen Jahrhunderts England, wo sich der Zinnbergbau auf immer tiefer
gelegenen Sohlen bewegte, noch der einzige mehr in Betracht kommende Zinn¬
produzent. Es erzeugte seit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
etwa 8000 Tonnen Zinn pro Jahr und zwischen 1874 und 1877 sogar
10000 Tonnen. Im Anfang unseres Jahrhunderts (1901) belief sich die
gesamte Zinnproduktion der Welt auf 88516 Tonnen. Davon entfielen, nach
Tonnen gerechnet, ans England nur noch 4267, Deutschland 1463, Böhmen 48,
Banka 15218, Biliton 4457, Australien 3398, die Stans settlements 50724,
Bolivia 8941. Im Jahre 1906 wurden um ganzen 98500 Tonnen Zinn in
der Welt erzeugt, wovon die Straits allein 59375 Tonnen lieferten. Dabei
wurde fast die Hälfte dieser ganzen Produktion allein von den Vereinigten
Staaten von Amerika absorbiert. Wie enorm die Gesamtproduktion und der
Gesamtverbrauch der Welt an Zinn (nach Tonnen bemessen) zwischen den
Jahren 1890 und 1906 zugenommen haben, ergibt sich aus folgender Zusammen¬
stellung :
Nach dem Jahre 1906 ist der Weltverbrauch an Zinn sicher nicht sonderlich
mehr gestiegen, ja eher zurückgegangen, weil die Lage der Industrie bekanntlich
während der letzten Jahre eine recht gedrückte war. In nächster Zukunft ist
jedoch, weil zurzeit in der Metallindustrie wieder ein reger Geist herrscht, eine
erhebliche Zunahme des Weltkonsums an Zinn zu erwarten.
Interessant ist es nun zu sehen, wie der aus den hier gegebenen Zahlen
ersichtlichen Nachfrage gegenüber die Zinnpreise im Laufe der letzten zwanzig
Jahre gestiegen sind:
Mag NUN auch infolge der Krisis, welche die Metallindustrie in den letzten
Jahren durchzumachen hatte, der außerordentlich hohe Preis des Zinns nach
dem Jahre 1906 nicht mehr gestiegen, sondern gefallen sein, so ist doch im
großen und ganzen ein enormes Steigen desselben in den letzten Dezennien
nicht zu verkennen. Dabei wird sich voraussichtlich — wie ich in folgendem
darlegen möchte — die Nachfrage nach Zinn und damit der Preis nicht nur
in den nächsten Jahren, sondern auch in weiterer Zukunft noch ganz erheblich
erhöhen, ja, er wird bald schon ein so hoher sein, daß die Industrie gezwungen
sein wird, durch andere Metalle bezw. Legierungen oder auch durch organische
Stoffe das Zinn in verschiedenen ihrer Branchen zu ersetzen.
Betrachten wir mun'esse die Zinnerzlagerstätten der Welt in ihrer Gesamt¬
heit, so sehen wir, daß sie wohl ausnahmslos ursprünglich an den Granit und
eine aus ihm hervorgegangene Felsart, den sogenannten Greisen, sowie auch
an gewisse Quarzporphyre gebunden gewesen sind, also nur um geologisch sehr
alte Gesteine. In erstgenannten beiden Felsarten kommt das Zinnerz, der ans
Zinnoxyd oder vielmehr Zinndioxyd bestehende Zinnstein, am häufigsten ein-
gesprengt, also in kleineren Mengen durch das ganze Gestein zerstreut vor;
außerdem tritt das Erz aber auch gangförmig auf im Granit- und Quarz-
porphyr oder in deren Nachbarschaft. Auf sekundärer Lagerstätte, als sogenanntes
Waschzinn, woraus weitaus das meiste in Gebrauch kommende Zinn genommen
wird, findet sich der Zinnstein aber auch namentlich im Diluvium und Alluvium,
und zwar eingebettet in Schuttgestein aus altem granitischen oder porphyrischen
Gebirge. Durch einen natürlichen, mechanischen Anfbereitnngsprozeß hat das
Wasser auf diesen Lagerstätten (den sogenannten Zinnseifen oder Seifenzinn-
lagern) den Zinnstein als ein spezifisch sehr schweres, chemischer und mechanischer
Umwandlung viel Widerstand bietendes Material im Verlaufe von vielen
Jahrhunderten in relativ großen Mengen zwischen Gebirgsschutt angereichert,
doch kamen oder kommen solche Lagerstätten auf der Erde keineswegs an vielen
Stellen vor. Es läßt sich das mit ziemlicher Sicherheit sagen, obgleich selbst
recht viele Landgebictc und Inseln bergmännisch noch wenig erforscht sind.
Dabei entgeht gerade der Zinnstein, da er durch kein leicht erkennliches Merkmal,
abgesehen vielleicht von seiner großen Schwere (spez. Gew. - 7), seinen Metall¬
gehalt verrät, sehr leicht der Aufmerksamkeit des Unkundigen. Der Zinnstein
stellt nämlich ein an sich weißliches, aber fast stets durch kleinere oder größere
Beimengungen von Eisen gelb und braun bis schwarz gefärbtes Mineral dar
und zeigt durchaus keinen Metallglanz, ja, in gewissen holzbraunen und faserigen
Varietäten gleicht er versteinertem Holze, woher denn auch der bergmännische
Name Holzzinn entstanden ist. Wahrscheinlich hat. wie gesagt, Feuer, welches
Zufällig an, Stellen angelegt wurde, wo Zinnstein zutage trat und unter dessen
glühender Holzkohlcnlage sich dann aus dem Minerale metallisches Zinn gebildet
hatte, zur Entdeckung und Ausbeutung der meisten Zinnerzlager, und zwar zum
Teil schon in sehr früher Zeit, geführt. Daß dieses auf den Zinninseln Banka
und Biliton der Fall gewesen ist, habe ich selbst von Eingeborenen gehört.
Wo Zinnerzgänge von größerer Ausdehnung im Gesteine aufsetzen, da
findet oder fand man meistens in ihrer Nachbarschaft auch Zinnseifen, umgekehrt
aber hat man keineswegs immer in der Nähe von letzteren, selbst wenn sie
sehr reich und umfangreich sind oder waren, auch abbauwürdige Zinnsteingänge
zu erwarten. Hin und wieder mag dieses dem Umstände zuzuschreiben sein,
daß reichere Gänge, welche das Zinnmaterial für die Seifen geliefert haben,
vollständig durch das Wasser zerstört worden sind, sonst aber hat dieses darin
seinen Grund, daß zu den sekundären Lagerstätten ausschließlich zahlreiche
kleinere Zinnerzgänge und Schnüre oder Zinnstein nur eingesprengt enthaltende
Granite und Greisen das Erz geliefert haben.
Die größten und reichsten Zinnseifen der Welt sind unzweifelhaft die der
Halbinsel Malakka, welche heute das sogenannte Straits-Zinn liefern, dabei aber
nachweislich schon viele Jahrhunderte hindurch, selbst schon zur Zeit des Alter¬
tums, den größtem Teil des Zinns für die erstaunlich großen Mengen der in
Asien früher erzeugten, teilweise sogar riesenhaften Bronzegegenstände geliefert
haben. Außerdem haben sie auch in alter Zeit viel Zinn für den Export nach
Afrika und den Mittelmeerländern abgegeben. Dabei sind jene Zinnseifen noch
keineswegs erschöpft, was bezüglich anderer südasiatischer Zinnwäschen, wie
z. B. einiger von Burma, Siam, Merwar, Bengalen und China, nachdem auf
ihnen lange Zeit ein ausgedehnter Bergbau umgegangen, entschieden schon der
Fall sein muß. (China produzierte 1880 noch mindestens 5000 Tonnen Zinn,
importiert jetzt aber schon über 10000 Tonnen Zinn jährlich.) Was die diluvialen
resp, alluvialen Zinnseifen von Banka und Biliton angeht, so ist auch deren
Erschöpfung meiner Ansicht nach nur noch eine Frage einiger Dezennien, wieviel
man auch dagegen reden mag. Die australischen Wäschen (Neu-Süd-Wales,
Queensland, Victoria, Tasmanien) dürften ebenfalls nicht so lange mehr aus¬
halten, wie behauptet wird, doch hat man es in Australien auch mit abbau¬
würdigen Zinngüngen zu tun, die vielleicht nicht so schnell gänzlich auszubeuten
sind. England ist wohl das einzige Land in Europa, welches durch den
Bergbau auf immer tieferen, nicht mehr besonders reichen Abbausohlen noch
verschiedene Jahrzehnte mit einigen tausend Tonnen jährlich einen immerhin
nennenswerten Beitrag an Zinn zum Weltmarkte liefern wird; seine Seifen-
zinnlager aber können als schon erschöpft gelten. Wie bereits gesagt wurde,
spielen die sächsischen und böhmischen Zinnerzvorkommen heutzutage bei der
Deckung des Weltbedarfes gar keine Rolle mehr. Was die übrigen europäischen
Zinuerzlagerstätten betrifft, so liefern die ehedem so ungemein ergiebigen spanischen
zurzeit nur noch wenige Tonnen jährlich. (Unbedeutende Bergwerke sind noch
im Betriebe in der Provinz Salamanca, an der Grenze von Orense und
Pontevedro, in der Provinz Almeria sowie auch in Portugal.) Geologisch
interessant, doch technisch von geringer Bedeutung sind die Zinnsteinlager von
Cartagena, wo das Erz in linsenförmigen Massen ausnahmsweise im Perm¬
schiefer auftritt, sowie die von Camerella bei Livorno, wo der Liaskalk stellen¬
weise von Zinnerzkörnchen durchsetzt erscheint. (Von hier nahmen wahrscheinlich
die alten Etrusker das Zinn für ihre berühmten Bronzen.) Auch im Morbihan,
in der Bretagne wird aus granitischen Gesteinen etwas Zinnerz gewonnen und
ebenso findet sich solches in geringen Mengen in Schweden, Finnland, Grönland
und auch noch in Sibirien und Persien. Was das Vorkommen von Zinnerz
in Afrika angeht, so kann man daran wohl keine besonderen Hoffnungen knüpfen,
obgleich zwischen 1860 und 1870 einige hundert Tonnen Zinn aus dem Kap¬
lande nach England verführt wurden und in den fünfziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts auch einiges Zinnerz aus Algier nach Europa kam. Nordamerika
wird ebenfalls wohl niemals erhebliche Quantitäten von dem nützlichen Metalle
auf den Weltmarkt bringen. In den Vereinigten Staaten wurde Zinnstein
gefunden in Maine, New Hampshire, Massachusets, Connecticut, Pennsylvanien,
Missouri und Kalifornien — alles aber auf Lagerstätten von geringerer Bedeutung,
ebenso wie es die von Mexiko, Granada, Peru, Chile, Brasilien und einigen
Inseln der Antillen sind. Was die Zinnerzlagerstätten von Bolivia betrifft, so
werden sie vielleicht demnächst einmal einen sehr bedeutenden Beitrag zum
Zinnkonsum der Welt liefern.
Nach all dem Gesagten sind es also die Zinnsteinlagerstätten bezw. Zinn¬
wäschen der Halbinsel Malakka, welche allein den größten Teil des heutigen
Weltbedarfs decken, und sie sind es auch allein, welche wohl noch eine Reihe
von Dezennien hierzu imstande sein werden. Jahrhundertelang wird dieses
aber jedenfalls nicht mehr der Fall sein, und wenn der Zinnverbrauch der Welt
in dem Maße zunimmt wie in den letzten Dezennien (ich verweise hierbei auf
die oben gegebenen Zahlen und bemerke dazu noch, daß im Jahre 1870 die
Weltproduktion an Zinn nur etwa 27000 T. betrug), dann sind auch die
Strcnts-Zinnlager wahrscheinlich schon vor Ablauf eines Jahrhunderts erschöpft.
Sichere Auskunft hierüber zu bekommen, ist mir freilich unmöglich gewesen.
Nehmen wir nun aber an, daß die Lagerstätten auf Malakka selbst die doppelte,
ja dreifache Zeit genügend ergiebig sein werden, dann wird doch in der indu¬
striellen Welt geradezu eine Panik, eine „Ziunot" eintreten, falls man mit
diesem Faktor vorher nicht zu rechnen gelernt hat. Um dieses besser zu begreifen,
muß man einmal der Geschichte des Zinns und der Nachfrage nach ihm auf
dem Weltmarkte nachgehen.
Voll der Verwendung des Zinns im Altertum und in der Bronzeperiode
Zu Geräten und Waffen war bereits die Rede. Im europäischen Mittelalter
nahm die christliche Kirche für ihren Kultus, namentlich durch die in dem sechsten
bezw. siebenten Jahrhundert bei uns erfolgte Einführung der großen Kirchen-
glocken. bedeutende Mengen voll Zinn für sich in Anspruch, da die Glockenbronze
oder die Glockenspeise außer 80 Prozent Kupfer auch 20 Prozent Zinn enthält,
wogegen die antiken Bronzen durchschnittlich nur 10 Prozent Zinn in sich schließen.
Auch die kirchliche Kunst bediente sich vielfach der Bronze. Ich erinnere nur
an die prächtigen Bronzetüren der Dome von Augsburg, Worms, Hildesheini.
Nowgorod usw.. sowie an die herrlichen Bronzearbeiten der Italiener Pisano.
Ghiberti. Donatello und Verrochia und vor allem an die unseres Altmeisters
in der Gießkuust, Peter Bischer. Nach der Erfindung des Schießpulvers sing
die Artillerie in den verschiedenen Kulturstaaten an, große Mengen von Zinn
ZU verschlingen, denn die Geschützbronze enthält auf neun Teile Kupfer ungefähr
einen Teil Zinn. Nach Erfindung der bekannten Uchatius-Bronze, welcher man
durch das sogenannte Kaltstrecken die Eigenschaften des Stahls verleiht, bleibt
es immer noch zweifelhaft, ob nicht zeitweise die Verwendung der Bronze zu
Geschützrohren wieder zunehmen wird. Früh schon lernte man auch das Ver¬
zinnen kupferner Geschirre, eine Kunst, worin nach Plinius selbst die alten
Gallier schon sehr erfahren waren. Seit dem späteren Mittelalter kamen auch
Tafel- und Trinkgeschirre aus reinem Zinn in Italien und Deutschland mehr
und mehr ni Gebrauch und im sechzehnten Jahrhundert wurden sowohl die
Verwendung der Zinnfolie als Spiegelbelag, die Zinnglasur für Kochgeschirre
und Majolika als auch das Zinnemail für Metallivaren entdeckt. Seit dem
siebzehnten Jahrhundert fangen auch Zinnsalze, namentlich das Zinnchlorid
(dieses hauptsächlich in der Farbwarenindustrie) an, eine Rolle zu spielen und —
was von viel größerem Einflüsse auf die enorme Zunahme des Weltverbrauchs
an Zinn gewesen ist — seit dieser Zeit kam auch das Verzinnen des Eisens
allgemein in Aufnahme, und zwar zuerst in Sachsen und Böhmen, nachdem es
schou im sechzehnten Jahrhundert durch den bekannten Gelehrten Agricolci
bekannt geworden war. Gerade für die Herstellung des verzinnten Eisenblechs,
des Weißblechs, wie es im Handel genannt wird, werden von dem weißen
Metalle erstaunlich große Mengen gebraucht. Wie sehr die Nachfrage nach
dieser Blechsorte in der neueren Zeit zugenommen hat, zeigen folgende Zahlen,
welche sich allein auf die Weißblechproduktion von Deutschland beziehen. Es
wurden fabriziert in dem Jahre:
Da am Weißblech durchschnittlich 3 Prozent Zinn haften, so werden dessen
Abfälle seit dem Jahre 1848 mit großem Vorteile wieder entzinnt. Es ist das
im Hinblick auf den enorm großen Verbrauch an Zinn für die Herstellung jener
Blechsorte von nicht geringer nationalökonomischer Bedeutung. Repräsentierte
doch z. B. die Einfuhr von Straits-Zinn nach den Vereinigten Staaten von
Nordamerika im Jahre 1907 einen Wert von 160 200 000 Mark, wovon weitaus
der größte Teil zur Fabrikation von Weißblech diente. In der neueren Zeit
haben außer den schon genannten Zinnlegierungen noch einige andere eine
große Bedeutung erlangt, so neben der Siliciumbronze besonders die sogenannte
Phosphorbronze (eine Bronze mit geringem Phosphorzusatze), welche beide als
sehr gute Elektrizitätsleiter weitgehende technische Verwendung gefunden haben.
Auch der Weltkonsum an Stanniol oder Blattzinn, namentlich zur Verpackung
von Ncchrungs- und Genußmitteln, ist in unseren Tagen ein recht großer
geworden.
Wenn man nach dem hier Gesagten bedenkt, wie mannigfaltig doch die
Verwendung des Zinns für die verschiedenen Industriezweige ist, dann kommt
man sehr leicht zu der Frage: „WaZ sollte unsere moderne Industrie beginnen,
wenn sie plötzlich ohne das unscheinbare weiße Metall dastände?" Und doch
habe ich noch nicht einmal alle die Zwecke genannt, für welche heutzutage das
Zinn im Gewerbe und auch in der Kunst gebraucht wird. Vor allem wurde
noch nicht gesagt, daß dieses Metall zum Zusammcnlöten anderer Metalle einfach
unentbehrlich ist! Verschwände dieses „Allerweltsmetall", wie man wohl sagen
kann, plötzlich vom Markte, dann würde es sehr bald ein Ende haben mit den
so beliebten Zinnsoldaten auf dem Spieltische unserer Kleinen, und später auch
mit den schönen, aus Kupfer, Blei, Antimon und Zinn bestehenden Legierungen,
die unter den Namen Britanniasilber, Argentan, Christoffel usw. den Schmuck
der Tafel in so manchem Bürgerhause wesentlich erhöhen. Und was sollten all
die Konservenfabriken der Welt wohl ohne Weißblechverpackungeu beginne», bei
denen das von keinen Fett- und Pflanzensäuren angreifbare Zinn von aller¬
größter Bedeutung und wohl kaum durch ein anderes Metall zu ersetzen ist, da
jene Eigenschaft nur verschiedenen Edelmetallen bezw. deren Legierungen zukommt,
abgesehen allerdings von dem Aluminium, das vielleicht, aber nur bei einem
viel niedrigeren Marktpreise, einmal für die Konservenfabrikanten in Betracht
kommen wird.
Wo in der Welt ist nun in der Zukunft noch die Entdeckung von Zinncrz-
lagerstätten zu erwarten? Theoretisch ist diese Frage nicht so schwer zu beant¬
worten, und man kann sagen, daß man vornehmlich dort nach Zinnstein zu
suchen hat, wo Lithionit-Granite in einiger Ausdehnung zutage treten, oder
wo Alluvial- bezw. Diluvialbildungen zu finden sind, die sich ganz oder teil¬
weise aus Schutt von dieser Gebirgsart bezw. Greisen zusammensetzen. Granit
besteht bekanntlich aus Feldspat, Quarz und Glimmer. Nun ist es eigen¬
tümlich — was ich selbst durch zahlreiche von mir gemachte Analysen bestätigt
gefunden habe — daß sozusagen alle Kali-Glimmer, bei welchen ein Teil des
Kalis durch Lithion ersetzt ist. auch Spuren von Zinnoxyd (LnO.) enthalten,
welches dann chemisch die Kieselsäure (LiV.) teilweise zu ersetzen scheint. In
der Praxis gestaltet sich die Beantwortung der Frage, wo in der Welt voraus¬
sichtlich »och bergmännisch auszubeutende Zinnsteinlager zu finden sein werden,
nicht so einfach.
Außer den großen Urgebirgsmassiven des nördlichsten Amerika und Asien
sowie auch Südamerikas, welche vielleicht noch größere natürliche Zinnreserven
in sich schließen, scheinen mir allein im Bereiche der weitausgedehnter südost-
asiatischen Urgebirgserhebung mit einiger Sicherheit noch beträchtliche Mengen
von dem das weiße Metall enthaltenden Erze zu erwarten zu sein. Vor allem
halte ich das weite Gebiet der flachen Ostküste von Sumatra und der vor¬
liegenden Inseln in dieser Beziehung für noch vielversprechend, aber auch Siam
und Burma sowie die angrenzenden Territorien könnten sehr leicht noch einmal
das Feld eines blühenden Zinnbergbaues werden, ebenso wie auf dem austra¬
lischen Festlande einzelne an Neu-Süd-Wales resp. Victoria angrenzende Gebiete.
Nach all dem Gesagten wird wohl kein Zweifel darüber bestehen können,
daß die Frage, wie lange noch die natürlichen Zinnreserven der Welt der immer
steigenden Nachfrage nach dem Metall gegenüber aushalten werden, vom national¬
ökonomischen Standpunkt aus in gewissem Sinne eine noch viel brennendere
ist als die der Erschöpfung der Steinkohlenvorräte der Erde, deren Eintreten
entschieden in noch viel weiterem Felde liegt. Wärme und Kraft liefernde
Quellen und ebenso Metalle aus ihren Erzen isolierende Mittel sind außer der
Steinkohle auch noch sonst wohl zu finden. Ich erinnere nur an die Kraft,
welche aus dem fließenden Wasser, den von Ebbe und Flut bewegten Meeres¬
wogen sowie aus den Sonnenstrahlen zu ziehen ist, abgesehen von den geradezu
enormen Torf- (und auch Braunkohlen-) Vorräten, welche namentlich der Boden
der höheren nördlichen Breiten noch in sich schließt. Während nun die in den
Mineralkohlen ruhenden Kräfte wahrscheinlich nicht allzu schwer durch andere zu
ersetzen sein werden, ist es noch eine große Frage, ob das Allerweltsmetall,
das Zinn, auf einigen industriellen Gebieten, auf denen es weitgehende Ver¬
wendung findet, jemals in befriedigender Weise durch andere anorganische oder
auch organische Stoffe zu ersetzen sein wird, mögen auch die Wissenschaft und die
Industrie vor noch so großartigen Erfolgen stehen. Ich glaube in Anbetracht
dessen diese Ausführungen nicht besser als mit dem Mahnworte schließen zu
können: „Ehe es zu spät ist, möge man sparsam sein in der Verwendung des
weißen Metalls, welches, nur wenig beachtet von dem Gros der Kulturmenschen
von heute, eine bescheidene und doch so überaus wichtige, vielseitige Rolle auch
noch in der modernen Industrie spielt. Möge man sparsam sein im Gebrauche
des Zinns, ehe es zu spät ist, damit man einmal nicht gezwungen sein wird,
dieses Metall mit Gold aufzuwiegen!"
as Menschenleben, den köstlichsten Schatz" hat der Vorentwurf
ebenso wie das geltende Recht durch Bedrohung eben dieses köst¬
lichsten Schatzes geschützt, d. h. er hat die Todesstrafe als Strafe
für den Mord beibehalten. Allerdings droht er sie nicht wie
bisher unbedingt an, sondern läßt daneben lebenslängliche Zucht¬
hausstrafe und solche nicht unter zehn Jahren zu.
Über die Aufrechterhaltung der Todesstrafe wird sich voraussichtlich im
Reichstage wieder eine lebhafte Debatte entspinnen; denn ihre Abschaffung gehört
nun einmal zu dem eisernen Programm der Linksliberalen und Sozialdemokraten.
Erfreulich ist es aber für den, der von ihrer Unentbehrlichkeit überzeugt ist, zu
sehen, wie sich die Schwärmerei für ihre Abschaffung unter den denkenden
Elementen sonst liberalster und Humauster Richtung gelegt hat. Als 1870 das
Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund beraten wurde, da wäre an der
Forderung der Beibehaltung der Todesstrafe fast das ganze Gesetz gescheitert,
und es bedürfte des ganzen persönlichen Einflusses des Grafen Bismarck, um
das Gesetz mit dieser Strafe im Reichstage des Norddeutschen Bundes durch¬
zusetzen. Heute hat der Verlag der „Neuen Gesellschaftlichen Korrespondenz"
eine Umfrage über Beibehaltung oder Abschaffung der Todesstrafe veranstaltet
mit dem Resultate, daß Männer wie Häckel, Heyse. Kohler. Richard Voß. Max
Nordau. Ernst von Wolzogen. Graf Posadowsky, Prinz Heinrich Carolath u. a. in.,
deren liberale Gesamtweltanschauung gewiß nicht bestritten werden kann, sich
für ihre Beibehaltung ausgesprochen haben. Sie haben eben die Frage nach
den kriminellen Erfahrungen des letzten Menschenalters und nicht nach einer
politischen Dogmenschablone beantwortet. So steht zu hoffen, daß die Todes¬
strafe ohne große Schwierigkeiten auch in das neue Strafgesetzbuch übergehen
wird. Es trifft noch immer zu, was Wismarer in seiner Neichstagsrede vom
1. März 1870 zur Verteidigung der Todesstrafe angeführt hat: „Was ist
denn der Grund, weshalb Sie im Belagerungszustände und, wie ich nicht
Zweifle, im Heere, auf der Marine, da. wo es Ihnen darauf ankommt, daß
Ruhe. Ordnung und Gehorsam gegen das Gesetz unbedingt sichergestellt werden,
auch Sie die Todesstrafe beibehalten wollen? Doch wohl, weil Sie dieser
Strafart eine noch energischere Wirkung zuschreiben als der Aussicht auf eine
Einsperrung mit möglicher Begnadigung und Befreiung. Wenn Sie das aber
Zugehen, daß nur um eines Haares Breite mehr Schutz für den friedlichen
Bürger darin liegt, dann sind Sie dem friedlichen Bürger schuldig, daß Sie
ihm dieses Mehr von Schutz, welches die Gesetzgebung gegen Räuber und
Mörder geben kann, auch geben!" — Den Sentimentalen aber, die es nicht
fassen können, wie man sich für eine solche mittelalterliche Barbarei erwärmen
könne, sei das Wort des geistreichen Franzosen geantwortet: „t)ne Messieurs
>S8 Ä88a8sin8 commenLönt!" (nämlich mit der Abschaffung der Tötung). Wie
einseitig die Gegner der Todesstrafe in ihren Sympathien für den armen
Hinzurichtenden sind, und wie sehr sie darüber das Menschenleben vergessen,
welches der Delinquent hingemordet hat. dafür bietet den interessantesten Beleg
die berühmte, von den Gegnern der Todesstrafe so gern zitierte Studie Victor
Hugos „Die letzten Stunden eines zum Tode Verurteilten". Der Dichter führt
uns wohl mit dem Verurteilten durch alle Abgründe der Angst und Verzweiflung,
was wir aber bezeichnenderweise nicht erfahren, das ist: warum dieser Mensch
Zum Tode verurteilt wordeu ist, wie der Mord aussah, um dessen willen ihm
«in Leben wiedervergolten wird. Wüßten wir dies, so würde vielleicht der
ganze von Victor Hugo aufgebotene Apparat der Rührung sehr viel wemger
Eindruck auf uns machen.
Was nun die Fälle angeht, in denen die vorsätzliche Tötung mit dem
Tode bestraft werden soll, so hat (abgesehen von den hier nicht interessierenden
Hochverrats- und Dynamitverbrechen) der Vorentwurf die Trennung zwischen
Mord und Totschlag nach den alten Unterscheidungsmerkmalen des geltenden
Strafgesetzbuches beibehalten: die vorsätzliche Tötung ist, wenn sie mit Über¬
legung ausgeführt wird, Mord, ohne diese Totschlag.
Dieses Unterscheidungsmerkmal ist neuerdings von der Wissenschaft wohl
ohne Ausnahme als untauglich zu einer sachdienlichen Unterscheidung verworfen
worden. Auch Liszt hat in seiner Abhandlung über Tötung und Lebens¬
gefährdung in der Vergleichenden Darstellung des Deutschen und Ausländischen
Strafrechts gegen diese Unterscheidung mit den schärfsten und meines Erachtens
zwingenden Ausführungen Stellung genommen. Wenn der Entwurf gleichwohl
bei der alten Unterscheidung verharrt, so setzt er sich natürlich mit Liszt und
den anderen Gegnern auseinander, aber dies meines Erachtens nicht in über¬
zeugender Weise. Der Vorentwurf hält den Begriff der mit Überlegung aus¬
geführten Tötung nicht für unklar; denn unter einer mit Überlegung ausgeführten
Tat verstehe man allgemein eine solche, die sich als das Ergebnis einer auf
Abwägung des „Für" und „Wider" gerichteten Verstandestätigkeit darstellt. —
Aber dies ist doch nur die eine Theorie für die Erklärung des Begriffs der
Überlegung bei der Tötung, wie Binding diese ausgedrückt hat: „Die Über¬
legung bezieht sich nicht wesentlich auf die Mittel der Tötung, sondern auf das
Gewicht der Abhaltungsgründe". Eine zweite Theorie legt das Schwergewicht
für Feststellung der Überlegung in das planmäßige Handeln, die Klarheit über
Mittel und Wege der Ausführung des Verbrechens. Eine dritte Theorie erklärt
die von der ersten und zweiten betonten Gesichtspunkte für untrennbar: wenn
eine Tat nach allen Richtungen hin überlegt werden soll, wenn die Gründe
und Gegengründe sachlich geprüft werden sollen, so sei dies gar nicht möglich
ohne ein Nachdenken auch über Mittel und Wege zur Ausführung der Tat.
Nun vergegenwärtige man sich, daß das Delikt der vorsätzlichen Tötung zur
Zuständigkeit der Geschworenengerichte gehört, daß also der Vorsitzende des
Schwurgerichts in die Zwangslage kommt, den Geschworenen eine Rechts¬
belehrung über den Begriff der Überlegung zu halten. Der Verteidiger hat
vorher eine der drei Theorien vertreten, vielleicht die, welche dein Angeklagten
die günstigste ist, soll der Vorsitzende nun nur die Theorie vortragen, welche
zufällig seiner wissenschaftlichen Überzeugung entspricht, oder soll er sie alle drei
vortragen und den hilflosen Geschworenen die Wahl lassen, ob sie sich sür
Frank und Binding oder für Holtzendorff oder für Liszt entscheiden wollen?
Weiter ist streitig, ob die Überlegung ein konstitutives Begriffsmerkmal des
Mordes oder ein persönlicher Umstand ist. Danach gestaltet sich ganz ver¬
schieden die Beurteilung der Teilnehmer an einen: Morde, die ohne Überlegung
gehandelt haben, und der Teilnehmer an dem Totschlag, die mit Überlegung
gehandelt haben. Sollten diese Kontroversen, für deren Lösung uns Wissen¬
schaft wie Rechtsprechung im Stich lassen, nicht allein schon ein Grund sein,
das bisherige Unterscheidungsmerkmal zwischen Mord und Totschlag in ein
neues Gesetz nicht wieder aufzunehmen?
Aber der Vorentwurf meint, ein anderes Merkmal lasse sich nicht finden,
die Kasuistik des schweizerischen Entwurfs und der Vorschlag Liszts, ein generelles
Tötungsdelikt zu schaffen und die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag
überhaupt aufzugeben, seien als ungeeignet zu verwerfen. Zudem stellten reget-
mäßig die mit Überlegung ausgeführten Tötungsfälle auch die schwereren und
darum strenger zu bestrafenden Fälle dar.
Wenn das Merkmal der Überlegung kein brauchbares ist, dann kann man
es doch nicht beibehalten, bloß weil man kein besseres findet. Dann wäre meines
Erachtens die notwendige Konsequenz, mangels einer tauglichen Unterscheidung
auf eine solche zu verzichten und wie Liszt ein einheitliches Tötungsdelikt
anzunehmen, aus dem dann eventuell straferschwerende oder strafmildernde
Momente herausgehoben werden könnten. Aber ich glaube gar nicht, daß wir
auf Feststellung eines geeigneten Unterscheidungsmerkmals zu verzichten brauchen.
Die Vorarbeiten zu einem eidgenössischen Strafgesetzbuch weisen uns hier durchaus
den richtigen Weg. Art. 50 des von Prof. Dr. Stooß ausgearbeiteten Vor¬
entwurfs von 1893/94 bestimmt: „Wer einen Menschen vorsätzlich tötet, wird
mit Zuchthaus von zehn bis fünfzehn Jahren bestraft; begeht er die Tat in
leidenschaftlicher Aufwallung, so ist die Strafe Zuchthaus von drei bis zu zehn
Jahren (Totschlag). Tötet der Mörder aus Mordlust, aus Habgier, unter
VerÜbung von Grausamkeit, heimtückisch oder mittels Gift, Sprengstoffen oder
Feuer, oder um die Begehung eines anderen Verbrechens zu verdecken oder zu
erleichtern, so wird er mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft (Mord)." Die
hier gewählte Kasuistik geht allerdings so ins einzelne, daß sie nicht gebilligt
werden kann; mit einer solchen Aufzählung wird man die Fälle des praktischen
Lebens nie erschöpfen und keine befriedigende Antwort auf die Frage geben,
warum gerade diese Erscheinungsformen schwerer bestraft werden und andere
nicht, die ebenso schwer liegen? Aber der in Art. 50 liegende Gedanke kann,
herausgeschält, die Rechtsentwickelung doch über den Standpunkt hinausführen,
welchen sie vom Locis perml bis zum Deutschen Reichsstrafgesetzbuche mit dem
Unterscheidungsmerkmale der Überlegung eingenommen hat. Das. was das
Volksempfinden als „Mord" bezeichnet, das ist die bediente gemeine Tat. sei
sie es um der Begehungsart oder der Motive willen. Die Tat, welche solche
ehrlose Gesinnung nicht verrät, die ist dem Volke der „Totschlag". Wer nun
Zur Begehung einer Tötung durch niedrige Motive verleitet worden ist, wer
damit den gemeinen Zweck der Ausrandung verfolgt, wer den andern heimtückisch
in eine Falle lockt, der hat sich natürlich die Ausführung der Tat wie ihre
Ergebnisse sorgfältig überlegt, und so ist die Verwechselung begreiflich, die Über¬
legung selbst als Unterscheidungsmerkmal zu benutzen, statt des Inhalts dieser
Überlegung. Daß die Überlegung aber an sich die Tat noch nicht zu einer
gemeinen und ehrlosen macht, dafür ist wohl das klassischste Beispiel Odoardo
Galotti. Hat er sich die Tötung seiner Tochter nicht reiflich überlegt? Hat er
darum nach unserem Empfinden einen Mord begangen? Nein, sagt der Dichter,
er hat nur „eine Rose geknickt, eh' der Sturm sie entblättert". Um bei dem
Beispiel der Dichtung zu bleiben, so hat uns Schiller den Gegensatz zwischen
der bedienten gemeinen Tat und der Tötung um verzeihlicher Motive willen in
seinein Tell aufs deutlichste zum Bewußtsein gebracht, indem er dem gewiß auch
mit Überlegung handelnden Schützen Tell den Johann Parricida gegenüberstellt.
Nicht immer freilich wird das patriotische Motiv die Tötung zum Begriff des
Todschlages mildern. So sind uns Mörder um ihrer bedienten Tat willen der
grimme Hagen sowie Junius Brutus.
Danach wird man von dem allgemeinen Tötungsdelikt, welches weiter die
eingebürgerte Bezeichnung „Totschlag" führen könnte. Fälle trennen können, die
sich nach ihrer Begehungsart, nach dem Motive wie dem Zwecke der Tat als
besonders schwere darstellen, wird diese als „Mord" bezeichnen und auf sie
Todesstrafe und lebenslängliches Zuchthaus neben der Zuchthausstrafe von zehn
Jahren aufwärts androhen. Wann dann Mord vorliegt, ist quaestio tanti,
aber eben darum ist diese Bestimmung nicht so kasuistisch wie die Stooß', trotz
der drei Gruppen von Tötungsfällen, die sie in sich bürgt.
Bei einer solchen Formulierung werden die Elemente von der Todesstrafe
getroffen werden, die sich als die gemeingefährlichsten darstellen, welche den
höchsten Grad von antisozialer Gesinnung bewiesen haben, sei es, daß diese in
ihrem überlegten Handeln liegt, sei es, daß sie so minderwertig sind, daß sie
sich kein Gewissen daraus machen, ohne Überlegung ein fremdes Menschenleben
zu vernichten.
Der jetzige Z 214 V.E. wird alsdann entbehrlich sein, da er nur einen
Einzelfall der Tötung unter erschwerenden Umständen darstellt. Wer nämlich
bei Ausführung eines anderen Verbrechens, um Hindernisse zu beseitigen oder
sich den Erfolg der Tat zu sichern oder sich nicht ergreifen zu lassen, einen
Totschlag begeht, soll nach § 214 V.E. mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren
oder lebenslänglichem Zuchthaus bestraft werden (während sonst auf Totschlag
Zuchthaus nicht unter zwei Jahren, bei mildernden Umständen sogar Gefängnis
nicht unter einem Jahre steht). Sollte dieser Paragraph aber aufrecht erhalten
bleiben, so wird diese schärfere Bestrafung nicht bloß anzuwenden sein, wenn
der Täter den Totschlag bei Unternehmung eines anderen Verbrechens begeht,
sondern auch wenn er ihn bei Ausübung eines Vergehens oder einer Übertretung
verübt. Die gegenteilige Ansicht des Vorentwurfs, daß in diesen Fällen die
Anwendung der sehr schweren Strafe zu weitgehend erscheint, beruht auf einem
Trugschluß. Wer bei Begehung eines Verbrechens abgefaßt wird und zur Waffe
greift, kämpft wenigstens, um einer langjährigen Zuchthausstrafe zu entgehen;
wer aber, nur bei einem Vergehen oder einer Übertretung betroffen, sich nicht
scheut, ein Menschenleben zu opfern, damit er eine geringere Gefängnisstrafe
oder womöglich eine Geldstrafe vermeide, der beweist meines Erachtens eine
viel antisozialere Gesinnung als der bei dem Verbrechen Abgefaßte.
Zustimmen wird man dem Entwürfe darin, wenn er die Tötung eines
Verwandten aufsteigender Linie nicht mehr als erschwerenden Umstand ansehen
will, weil gerade die Familientragödien, welche mit der Tötung des Vaters
oder der Mutter endigen, ihren letzten Grund meist in dem Verhalten des
Getöteten selbst haben. Ebenso lehnt der Vorentwurf mit Recht die Schaffung
eines besonderen Delikts des Giftmordes ab. Der alte römische Satz: „plus
est, Kammern extin^ere veneno quam vLLiäere Alaäio" kann heute keine
Geltung mehr beanspruchen.
Was die Vollziehung der Todesstrafe angeht, so bestimmt § 13 V.E. in
Übereinstimmung mit dem geltenden Recht, daß sie durch Enthauptung zu voll¬
strecken sei. Wünschenswert wäre, daß, solange wir kein selbständiges Straf¬
vollzugsgesetz haben, in Z 13 die Bestimmung Aufnahme fände, daß zur Ent¬
hauptung die Guillotine zu benutzen sei. Vorläufig besteht in Deutschland in
dieser Hinsicht noch keine Rechtseinheit. Wenn es wahr sein sollte, daß gegen
ihre Einführung in Preußen der Grund seinerzeit ausschlaggebend gewesen sei.
daß man ein Hinrichtungsinstrument nicht einführen wolle, dem einmal ein
König zum Opfer gefallen sei, so ist dies wohl ein Gesichtspunkt, der dem
gegenüber nicht in Betracht kommen kann, daß vom Standpunkt der Humanität
aus die Guillotine die Gewähr raschester und sicherster Exekution bieten soll.
me Umwälzung aller Werte vollzieht sich im Osten. Ich sehe
vor meinem Auge ein Bild, dessen Geschehnisse erst zehn Jahre
zurückliegen und doch den Kenner Chinas wie alte Geschichte an¬
muten. Der kleine Dampfer „Haltung", dessen erschreckender
Name „Seedrache" nur zu gewaltig mit seinen Abmessungen
kontrastiert, liegt auf der Takubarre und kann trotz seines
geringen Tiefganges nicht hinüber. Er liegt schon einen ganzen Vormittag
dort und wartet immer noch geduldig auf das Dampfboot, das seine
Passagiere abnehmen und nach Tientsin hinaufbringen soll. Der Asiat hat viel.
IM viel Zeit, und so ein alter englischer Küstenkapitän, der seine dreißig Jahre
6ahrt an der chinesischen Küste hinter sich hat, auch. Dreißig Jahre an der
»Me haben ihn zwar noch kein Opiumraucher gelehrt — er wird im Gegen-
ein sich täglich vervollkommnender Kenner des Whiskey — aber diese dreißig
<^hre Ärger mit seinem Compradore, seinem chinesischen Bootsmann, seinen
Matrosen und den Dschunken haben ihm eine solche Portion chinesischer Art ins
^tut geimpft, daß er selbst zum halben Chinesen geworden ist. Er hat auch
v^el, viel Zeit und an dem Erscheinen des Bootes liegt ihm gar nichts. Schließlich,
als die Geduld der Passagiere aufs höchste gespannt ist, langt das Dampfboot
"U-, In nicht endenwollender Fahrt geht es den Peiho hinauf, vorbei an den
gewaltigen Erdwällen der Takuforts, auf denen viele Hunderte wehender Fahnen
und Flaggen aller Arten und Farben aufgepflanzt sind, vorüber an den Lehm¬
hütten Tcmkus, dessen einziges Enropäerhaus ein an dem ewigen Grau und
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Gelb des Bodens und des Wassers trüb gewordenes Europüerherz wieder zu
ermutigen geeignet ist. Die zahlreichen Windungen des Flußes verzögern die
Ankunft, und es beginnt schon zu dunkeln, als mau die wallumgürtete Stadt
mit ihren gewaltigen schwarzen Forts erreicht, auf denen wieder viele viele
Fahnen, vier- und dreieckig, gezähnten Randes und vielfarbig, triumphierend
und herausfordernd im Winde flattern. Dies ist das alte Tientsin, das Tientsin
der Zeiten, die vor dein Jahre 1900 liegen.
' Das moderne Tientsin ist ein anderes. Kein Fort und keine Fahne erzwingt
sich Achtung an der Mündung des Peiho, dessen Lauf reguliert ist, und der in
fast schnurgeraden Bett seine schlickbeladenen Wasser dem Meere zuführt. Auch
droht kein schwarzes Fort in Tientsin mehr; sie sind abgetragen worden, und
die Besorgnis und Not, die Angst und der Jammer, die sie einst erzeugten,
belästigen die Teilnehmer an der Belagerung nur noch als Albdruck, dessen
hirnvermirrende Kraft auch schon acht dazwischenliegende Jahre abgeschwächt
haben. An ihrer Stelle gibt es eine moderne Straße von europäischen, besser
noch von amerikanischen Abmessungen, wenn eben amerikanisch hier den Begriff
der „Großzügigkeit" deckt. Eine elektrische Straßenbahn kennt diese Straße auch.
Vor allen diesen Neuerungen fühlt man den Kopf schwindeln. Die Umwälzung,
die hier in wenig Jahren stattgefunden hat, ist gewaltig. Man begreift und
fühlt, daß die Änderung, die hier vor sich gegangen ist, keine bloß äußerliche
ist, daß wenigstens hier chinesische Art so seine Natur verleugnet hat, daß das
Resultat fast unasiatisch ausgeht. Mau Hütte den, der vor 1900 solche Änderungen
nur für möglich gehalten hätte, mitleidigen Blicks angesehen, hätte geglaubt,
daß vielleicht chinesisches Sprachstudium sein klares Urteil getrübt habe, denn diese
Beschäftigung soll uach der allgemeinen Meinung vieler alter Ostasiaten „unklug"
machen. Aber so groß angelegt und groß durchgeführt diese Änderungen auch
erscheinen mögen, ist wohl in der Seele des Chinesen soviel wie eine Ahnung
von fremder Welt, von einer Welt der „Fremden" aufgestiegen? Wer weiß
das? Wer von uns weiß überhaupt etwas vou der Psyche des Chinesen?
Man schwankt in jenem Zustand von stumpfer Verzweiflung und Lachkrampf
hin und her, wenn man immer wieder Leute trifft, die sich anheischig machen,
alle Dinge zwischen dem astatischen Himmel und seiner Erde in bestimmte und
zu bestimmende Formeln dem Verstände greifbar darzustellen. Es gibt Leute,
die über die intimste» Seiten asiatischen Lebens ihre Monographie schreiben zu
können glauben, und, sobald das Werk gedruckt, gebunden und der Bibliothek
einverleibt ist, zu dein Gefühl befriedigten Stolzes berechtigt zu sein meinen,
daß sie wieder eine der dunkelsten Ecken der Chinesenseele erleuchtet haben. Wie
fast hoffnungslos die Aufgabe des Studiums der Asiatennatur ist, lehrt das
Werk von Artur Smith, der als Befähigungsnachweis zu seiner Arbeit unter
seinem Namen den Zusatz anbrachte: 30 Jahre Missionar in China. Das Werk,
dessen Titel lautet: „Chinese Characteristics", gilt in Kennerkreisen für das beste
Buch, das über den Chinesen geschrieben worden ist. Und was erfahren wir
da? Nicht Positives, keinen allgemein giltigen Satz. Der Chinese ist und bleibt
für uus ein rätselhaftes Wesen. Ist die Kluft zwischen östlicher und westlicher
Art wirklich so groß, oder ist es bloß unsre Erkenntnis chinesischen Wesens, die
noch so mangelhaft ist, ist eine Frage, die wir uns heute auf unserm Gange
durch die Chinesenstadt Tientsin wieder einmal vorlegen, wobei wir uus auch
diesmal wieder die Antwort schuldig bleiben. Wo die Straße heute läuft, haben
früher Wohnhäuser gestanden. Sie sind rücksichtslos fortgeräumt worden. Wir
sehen elektrisches Licht; eine modern gedrillte und „zielbewußt" arbeitende Polizei
tritt stark in den Vordergrund. Was drückt das alles aus? Ist das bloße
Spielerei mit den Errungenschaften des Westens, liegt hier eine beabsichtigte
Aneignung fremder und als Mittel zu einem bestimmten Ziel notwendiger
Faktoren vor, oder wurde ein wirkliches Neformbedürfnis gefühlt? Wenn dieses
vorhanden war, was war da mit der alten chinesischen Seele geworden, jener
Seele, die die Ruhe und Beschaulichkeit über alles schätzte, und in der der Zeit-
vegriff keinen Platz hatte.
Wir schütteln uns alle diese Gedanken ab, und doch überfallen sie uns
stärker, als wir an ein unscheinbar aussehendes Damen kommen: Dieses ist der
Amtssitz des Vizekönigs, hier hat Unan-Shih-kai gewohnt. Wirklich ein un¬
scheinbares Gebäude für eine so gewaltige Persönlichkeit, wie es dieser Honan-
Nlann war, dein die Geschicke Chinas zweimal in die Hand gegeben waren.
Vor zehn Jahren war es. Die Periode der Erniedrigungen für China,
die der Krieg mit Japan eingeleitet hatte, erreichte im Frühjahr 1898 ihren
Höhepunkt. China verpachtete Weihaiwei an England, Port Arthur an Ru߬
land, Kicmtschau an Deutschland und Kuangtchouwan an Frankreich. Diesen
Verpachtungen waren in den Jahren 1895 und 1897 Grenzregulierungen zu¬
gunsten des französischen Tonkiug und des englischen Birma vorhergegangen,
und, nicht genug damit, bekundeten beide Staaten Separatinteressen, der eine
"uf Haman und in den Liang-Knäng-Provinzen, der andre im Ucmgtzetal;
dazu begann sich Japan Interessen in der Provinz Füllen zu schaffen. Rechnet
Man dazu die Tätigkeit Rußlands im Norden und Westen des Reiches, so kann
Ulan begreifen, daß selbst der im Gefühl eigner Ohnmacht hilf- und ratlosem
und verängstigten Negierung am Rande der Verzweiflung der Mut zum Wider¬
stände kommen mußte. Ili den Reihen des Volkes war es das Literatentum,
das die schmachvolle Demütigung des Landes an, tiefsten empfand, und ihm
^ar in den, geistvollen Lehrer lind beredten Interpreten chinesischen klassischen
Altertums, in Kcmg An-Wei, ein Führer erstanden. Man muß ein Sinologe
>em, wenn man ans semen Schriften die überzeugende Gewalt seiner Ausführungen
in ihrer Wirkung auf die Gebildeten der Nation verstehen will. Wie ungeheuer
der Eindruck seiner Schriften war, können wir an eingeborenen Quellen er¬
messen. Sein Einfluß reichte selbst bis in die höchsten Regieruugskreise, und
da auch des Kaisers greiser Lehrer, der allmächtige Wen Tung-Ho völlig in
d^u geistigen Bann des jungen Reformers stand, konnte es nicht fehlen, daß
auch der Kaiser tiefe Sympathien für ihn hatte, so daß er beschloß, ihn in
Audienz zu empfangen. In dieser Audienz entwickelte Kcmg An-Wei seinen
-plan zur Neformierung des Staates. Er lehnte sich bewußt an Japan an
uno seinem Geiste schwebte der Entwicklungsgang dieses Nachbarlandes vor: er
hoffte, daß China, richtig geleitet, denselben Weg gehen könnte, oder, richtiger
^sagt, er zweifelte nicht daran. Dasselbe haben nach ihm alle die geglaubt
und versucht, die China reformieren wollten, und alle die. die aus China ein
zweites Japan durch Armeeinstrukteure, Kanon, Lehrer, Regierungsberater usw.
machen wollten und uoch wollen, haben sich bitter getäuscht. Es trennt Japan
non China unendlich viel mehr als das Stückchen See, das der Postdampfer in
Weiundfünfzig Stunden durchläuft.
.Kcmg An-Wei wollte damit beginnen, daß er den ganzen überlieferten
^egrerungsapparat mit seinen Ministerien, Behörden, Ministern, Räten und
^A-'etbern bestehen ließ, ihnen aber alle Gewalt nahm und die Regierungs-
geschäfte andern und jüngern, modern denkenden Beamten niedern Ranges Über¬
zug. Dieser Plan war die getreue Kopie eines geschichtlichen Vorganges in
Japan. Er wurde ausgeführt. In den Händen Kang Du-Weis und seiner
Freunde lag im Sonnner 1898 die tatsächliche Regierung: die Minister blieben
untadige Zuschauer. In ohnmächtigem Grimme sannen sie auf Rache. Bald
sollte ihnen dazu Gelegenheit werden.
Die Kaiserin-Witwe, die im März 1889 die Negierung an den Kaiser ab¬
getreten hatte, fuhr fort, einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Leitung
der Staatsgeschäfte auszuüben. Unklugerweise ließen sich die jungen weltstürmenden
Reformer zu einer Kritik ihrer Person und ihres Einflusses auf die Regierung
hinreißen und erreichten natürlich damit, daß die autokratisch-despotische Frau,
die, wie es scheint, ursprünglich Reformideen durchaus nicht abgeneigt war, die
Reformbewegung mit Unruhe und Haß zu betrachten begann. Sie, die herrsch-
licbende und herrschgewohnte Frau glaubte zu fühlen, daß sie beiseite geschoben
und für unnötig und verbraucht erachtet sei. Durch das Anwachsen des Ein¬
flusses Kang Un-Weis sah sich die Kaiserin-Witwe immer weiter verdrängt, und
bei dem Bilde, das wir uns von ihr machen, können wir wohl ahnen, was in
ihrer Seele vorging, als sie am Tage vor Kang An-Weis Audienz beim Kaiser
dessen frühern Lehrer und einst so gewaltigen Mann aller seiner Ämter be¬
raubte und ihm befahl, in seine Heimat zurückzukehren. Zugleich erhob sie ihren
Günstling Uung-Lu zum Vizekönig der hauptstädtischen Provinz Chili. In
einem dritten Befehl wies sie die hohen Beamten des Reiches an, sich ihr bei
Beförderungen vorzustellen. Diese Edikte sprechen ihre eigne Sprache.
Es ist uur natürlich, daß sich nun um die Kniserin-Witwe alle jene Elemente
scharten, die aus persönlichen oder sachlichen Gründen mit der neuen Ordnung
der Dinge unzufrieden waren. Die Regierung, die sich der Kaiser aus Kaug
An-Wei und vier seiner Freunde und Anhänger, jugendlichen Feilerköpfen, ge¬
bildet hatte, begann bald ihre Rcformideen in die Tat umzusetzen. Es folgte
Edikt auf Edikt: was durch Alter, Herkommen, Sitte geheiligt war, wurde um¬
gestoßen und dem Lebe» und der Betätigung neue Bahnen gewiesen. Die
Edikte jagten einander. Jeder Tag brachte Neues, und bald wußte niemand
mehr, was getan werden sollte, und wo zuerst die Hand anzulegen sei. Es
mußte und sollte alles anders werden und zwar sofort. Die Folge war eine
heillose Verwirrung und Anarchie des Denkens und des Arbeitens. Jeder
glaubte sich berufen, uützuregieren, und die tollsten Vorschläge wurden der Re¬
gierung unterbreitet. Die einst herrschenden Kreise waren zuerst vom Schreck
übermannt, sahen dann aber, daß hier bald gehandelt werden müsse. Sie sahen
wohl klar, was jedermann dumpf fühlte, daß das Reich auf dem betretnen
Wege einer Katastrophe entgegengehe, und sobald man in orientalischen Ländern
die Notwendigkeit erkannt hat, gewaltsam in eine bestehende Regierungsordnung
einzugreifen, pflegt man es anch schnell und meist gründlich zu tun. Dem
Kaiser kann die Haltung der Kaiserin-Witwe kaum mehr vieldeutig gewesen sein,
und es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß zu Anfang
September jede der beiden Parteien sah, daß sie nur durch Beseitigung der
andern ihre eigne Existenz zu bewahren hoffen konnte. Umsomehr ist es zu
verwundern und nur durch des Kaisers Charakter zu erklären, daß er noch am
13. September die Kaiserin-Witwe mit den Zielen der neuen Regierung aus¬
zusöhnen versuchte. Das Resultat war aber ein so niederschmetterndes, daß er
am folgenden Tage feinen Getreuen arriel, unvorzüglich für ihre Sicherheit
Sorge zu tragen, weil er sie nicht mehr schützen könne. Kang An-Wei aber
und seine Freunde gaben die Hoffnung noch nicht verloren, dem drohenden
Schlag der Gegenpartei zu begegnen. Sie überredeten den.Kaiser, den an der
Spitze von etwa 7000 Mann bei Tientsin im Lager stehenden Yuan Shih-kai
nach Peking zu berufen. Yuan Shih-kais Truppen waren damals das einzige
von fremden Instrukteuren und nach fremdem Muster ausgebildete Militär
Chinas und stand ueben der Armee des Generals nich und den Kansu-
Truppen des Generals Tung Fu-Hölung unter Yunglns Oberbefehl. Yuan
Shih-kai leistete dem Rufe Folge und wurde am 16. Septeniber in Audrenz
empfangen; dieser Audienz folgten noch drei weitere. Wir wissen nicht mit
Bestimmmtheit was dabei verhandelt worden ist. chinesische Quellen aber be¬
haupten, daß man Man Shih-kai habe bewegen wollen. Mnglu und die Kaiserin
ZU beseitigen Man Shih-kai soll keinerlei bindende Zusagen gemacht haben,
und obwohl' er in der Zeit vom 16. bis 20. September täglich von den Ge¬
treuen des Kaisers gedrängt wurde, soll er sich noch in seiner letzten Audienz
ausweichend verhalten haben. ,„ - . ^ -
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Mnglu. deu die Macht, die Yuan Shih-kai durch seine Truppen besaß,
schon lange argwöhnisch gemacht hatte, sah seine ärgsten Beachtungen sich
verwirklichen, als der Kaiser Mau Shih-kais Stellung seinen Oberkommando
entzog. Dazu kam. daß die Meinung ging. Man Shih-kai. sei en. Gegner
Nunglus. dagegen dem Kaiser treu ergeben. Tatsache ist. daß Mnglu. nachdem
er an die Kaiserin-Witwe Boten mit Nachrichten, vermutlich über Maus Ab¬
wesenheit in Peking, geschickt hatte, am 18. September ihn selbst aufforderte,
nach Twitsin lurückzukehren uuter dem Vorwande die Küste zu sichern, da der
Ausbruch vou Feindseligkeiten zwischen Rußland und England unuuttelbar
bevorstünde. Tatsächlich kehrte Yuan Shih-kai am 20. abends nach Tientsin
zurück und begab sich sofort nach seiner Ankunft, also noch in der Nacht, in
das Amtsgebüude Mnqlns. Es ist unmöglich zu sagen, was die beiden Männer
dort verhandelt haben- aus dem aber, was der folgende Tag brachte, können
'vir mit einiger Sicherheit darauf schließe». Mau Shih-lui mußte auf
Nunglus Befehl im Minen zu dessen Schutze zurückbleiben urd durfte acht zu
füren Truppe» zurückkehre.!. Mngln aber eilte nach Mitnahme der großen
Amtssiegel nach Peking. Dort begann am 21. September das bluttae Straf¬
gericht gegen die Reformer. Noch derselbe Tag brachte ein Edikt worin sich
die Kaiserin angeblich ans inständiger Wunsch des Unsers entschloß der
Regierung wieder mit ihrem Rat zur Seite zu trete... Der Kaiser wurde auf
«"er kleinen Insel im innern Palast gefangen gesetzt. Kang M-Wei entkam
durch eine merkwürdige Verkettnnq von Umstanden. Fast alle der übrigen
Reformer aber fielen der ergrimmten Wut der Kaiserin Zum Opfer.
, Das war Mau Shih-Kuh erstes Auftreten in der Geschichte ^" stmktiv
hatte er mit all der Ver einernng seiner Gesellschaftsklasse und als Augchouger
eines Landes mit einer uralten Geschichte, die voll von Dynastie- und Laudev-
not ist. den nur einzig richtigen Weg gecchut. der für ih». der Karriere machen
wollte, zu begehen war*) > >
r^Wir gehen einen kleinen Schritt vorwärts. Das Jahr 18W neigt sich
einem Ende zu. Zu deu in idyllischer Ruhe im ersten Winterschnee Peli go
legenden Gesandtschaften dringen Warnungsstimmen, die von kommenden Un¬
ruhen sprechen. Aber sieht denn Peking gefährlich aus? Hell lacht durch den
klaren Wintertag Nordchinas die Sonne auf das bunte Treiben der Straßen
hinab, das durch die Ankunft der allwinterlich einkehrenden Mongolen mit
ihren großen Kamelknrawaueu nur noch dichter geworden ist. Ist es uicht in
jedem Winter so? Hat es etwa früher anders ausgesehen, und ist uicht Peking
immer der Tummelplatz wildester Gerüchte (wie sie der Chinese nennt) gewesen?
Die ältesten Residenten vermögen keinen Unterschied zu erkennen, und gleich
bieder und treuherzig wie immer erscheint dieser so interessante und dem Platz
Lokalfarbe gebende Typ Pekings, der Karrenführer. Es ist alles so wie sonst.
Peking ist zweifellos eine ruhige Stadt, und eifriger denn je geht man in der
Gesandtschaftsstraße an die Vorbereitung von Festen, die noch in jenen
Tagen bei der geringen Zahl der Residenten etwas so ungemein Trauliches
und Intimes hatten. Ein halbes Dutzend Gesandtschaften, das Generalinspektoriat
der Seezölle und zwei Banken: das war ganz Peking, und die Zahl der
Europäer dürfte fünfzig kaum überschritten haben. Jeder kannte jeden, und
in gesellschaftlicher Hinsicht bildete alles eine große Familie. Politisch sah
freilich die Sache ganz anders aus. Da war die Stadt der große Tummel¬
platz politischer Intrigen, und ganz Peking hatte sich in eine Atmosphäre
gegenseitigen Mißtrauens gehüllt. Selbst die kleinsten der Gesandtschaften
taten ungeheuer geheimnisvoll und beschäftigt, und es gab keinen Kanzlisten
in Peking, der nicht von der ungeheuren Wichtigkeit seiner Person und der
Tragweite seiner politischen Tätigkeit überzeugt gewesen wäre. In dieses Peking
brach das Jahr 1900 mit all seiner Not und Verzweiflung, seinem Kampf
und seinem Mannesmnt, aber auch der Armseligkeit und Erbärmlichkeit der
Menschennatur herein.
Während in Peking der Verzweiflungskampf der Europäer tobte, saß
Duau Shih-kai in der Provinz Shantung als Gouverneur. Seine vorzüglichen
Truppen waren ihm dorthin gefolgt, und obwohl sein Einschreiten damals das
Schicksal des Tages entschieden haben würde, rührte er sich uicht. Als aber
dann im August und September Peking von fremden Truppen überflutet wurde,
und man sich aus dem Chaos die neuen Machthaber bilden sah, erkannte
Unan Shih-kai seineu Weg klar vorgezeichnet vor sich. Mit schneller energischer
Hand säuberte er Shcmtuug von flüchtigen Boxern und der desertierteu zügel¬
losen chinesischen Soldateska und erreichte es, das die fremden Truppen, die
ganz Chili überliefen, an den Grenzen seiner Provinz Halt machten. Dabei
bewährte sich sein Lorp8 ä'sine glänzend, und es war dieselbe Truppe, die
schließlich auch die Kaiserin-Witwe uach ihrem Exil in den Palast zurückführte.
Als Li Hung-Chang starb, erhielt Juan Shih-kai den wichtigen Posten des
Vizekönigs vou Chili.
Die Kaiserin-Witwe hatte, ungleich jenen französischen Königen, viel gelernt
und nichts vergessen. Wenn sie wie der Mandschuh-Klar noch vor dem Jahre
1900 geglaubt hatte, mit Speeren, Pfeil und Bogen den fremden Truppen
entgegentreten zu können, so sah sie jetzt klar, daß für den Augenblick nichts
nötiger täte als ein starkes Heerwesen. Wenn die Nation auch daneben noch
andre Ziele hatte, wie die Einführung einer Verfassung, so standen diese doch
gegen jenen Plan weit zurück. Der Hof auf seiner hastigen Flucht voll von
Demütigungen, Angst und Schrecken hatte die brutale Gewalt des Krieges am
eignen Leibe zu bitter erfahren, als daß ihm eine Wiederholung wünschenswert
erscheinen konnte. Die Reform des Heerwesens wurde also die Parole des
Tages. Und hier war es wieder Unan Shih-kai, der in der neuen Bewegung
die Führung übernahm. Ans seiner Elitetruppe, die ihm von Shantung wiederum
nach Tientsin zurückgefolgt war, schuf er sich ganze Armeen, und es standen
schon gegen Herbst des Jahres 1906 85000 Mann, eingeteilt in sieben Divi¬
sionen, unter seinem Kommando. Man bedenke, diese ganze gewaltige Masse
wurde lediglich von ihm ausgerüstet und einexerziert, und da der Orient,
ungleich dem Okzident, nur Treue zu einen: Führer, acht zu einer Idee kennt,
so konnte es nicht fehlen, daß alle Divisionen in Man Shih-kai allem ihren
Herrn und Meister sahen. Zu derselben Zeit hatte man auch in den Provinzen
begonnen. Truppen nach fremdländischer Art auszubilden, und es war wieder
Ami Shih-kai, der hierzu aus seineu Leuten das Justruttionspersonal hoher
wie niedrer Grade stellte. . ^ . ^ ^. , .
Die hauptstädtische Provinz ist von ieber vom Hof als die wichtigste
Provinz des Reiches angesehen worden, wie auch der Posten deo ^ientsin-
Vizekönigs als der wichtigste im Reich galt. Da er am äußechen Ende der
Zugangsstraße zur Hauptstadt saß. wurde es die oberste Pflicht deo ClM-
Vizekönigs. den Hof zu schützen. Die von Yuan Shih-la geschaffnen neuen
Truppen durften sich wohl zutrauen, in der Ausführung dieser Al.fgabe keine
ganz verachtenswerten Faktoren zu sein, ja man begann in Peking, über das
gewaltige Anwachsen einer so furchtbaren Macht in der Hand eines einzelnen
Mannes ängstlich zu werden. Als die kaiserliche Kommission, die zum Studium
fremder Reqierungsformen ins Ausland gegangen war und diese Aufgabe in
wenig Monaten 'beendet hatte, zurückgekehrt war brach unter den hohen
Würdenträgern in der Hauptstadt ein heftiger Kampf über den Wert der neuen
Prinzipien'für China aus. und Yuan Shih-kai, als einer der überzeugtester
Reformfreunde wurde bei den Maudschns — man möchte sagen — ein ge¬
zeichneter Mann Es galt für erwiesen, daß er, wenn er seinen Augenblick
sür gekommen erachtete,' nicht zaudern würde, seine ehrgeizigen Pläne, die sich
uach der Meinung seiner Feinde sogar nach dem Thron erstreckten, durch das
Mittel seiner Truppen in die Tat umzusetzen. Die Mandschu-Partei begann
M fürchten, daß. wenn in der im Werden begriffiieii ilei.e.l Aniiee Chinas der
Gedanke erst tief eingewurzelt sein würde, daß der Name Yuau Shih-lui für
lie Leben und Seele bedeute, es nur eines Anlasses bedürfe, um Yuan Shih-kai
Ma wirklichen .5erru Chinas zu machen. Es war unter diesen Uinstandeii für
die hohen Mandschu-Würdenträger Pekings ein Leichtes die Kaiserin-Witwe von
der Gefährlichkeit der Situation zu überzeugen. und als aus Anlaß der lang-
andauernden und erregten Palastberatuugen über die einzufnhrendeu Reformen
w Herbst 1906 Yuan Shih-kai nach Peking berufen wurde, begannen die
.wildesten" Gerüchte zu kursieren, und es gab eigentlich niemand in Peking,
der gehofft hätte, Yuan Shih-kai noch einmal lebend zu sehen Aber im Osten
^se es das Unerwartete, das eintrifft: Yuan Shih-kai verließ gesund deu Palast
und mit ihm drang eine Wolke dunkler unbestimmter Gerüchte in die Stadt,
wie mau ihm im Palast mit Gewalt zugesetzt habe. Vou Peking begab er sich
SU den großen Herbstmanövern und kehrte vou dort uach seinem Sitz in Tieutstu
Zurück.
^ Das Jahr 1907 brachte ihm einen weitern Schlag. Im Frühjahr dieses
wahres wurde die gesamte neue Armee Chinas der direkten Kontrolle der Pro-
vinzialverwaltuugeu entzogen und dem reorgauisicrteu Kriegsmimstermm unter-
stellt. Damit verlor Yuan Shih-kai die Kontrolle über fast alle seine Truppen.
Wohl blieben noch zwei seiner Divisionen zum unmittelbaren Schutze der haupt¬
städtischen Provinz und der Aumarschstraße nach Peking weiter unter seinem
Befehl, eines der wichtigsten Machtmittel hatte er jedoch verloren. Der neue
Generalissimus der chinesischen Armee, der Kriegsminister, war ein Mnndschu,
der hohes Ansehen beim Hofe genoß: T'ich Liang. Bis gegen das Jahr 1906
war T'ich Liang ein Freund und Verbündeter Unan Shih-kais gewesen, der
dessen Armee-Reorganisieruugspläue während seiner Amtszeit in verschiednen
hohen Posten der Hauptstadt nach Möglichkeit gefördert hatte. Aber waren
persönliche Differenzen der Grund, war es die staatsmännische Einsicht von der
Bedeutung der Zentralisation der Armee und ihrer Kontrolle von der Haupt¬
stadt aus, oder kamen beide Motive hier zusammen: kurz, T'ich-Liang war
kaum Kriegsminister geworden, als er die Kontrolle der gesamten Armee in
seiner Hand zu vereinigen begann und damit Unan Shih-kai aller effektiven
Machtmittel beraubte. Wie wohlgezielt der Schlag war, und wie hart er ge¬
troffen hatte, können wir nur aus der sich offen zeigenden Feindschaft und
Eifersucht der beiden Männer beurteilen.
Politisch betrachtet war die Vereinigung des Oberbefehls in einer Hand
außerordentlich wichtig, wenn mau bei der kurzen Frist, die man sich zur
Reorganisation der Armee gestellt hatte, brauchbare Resultate erreichen wollte,
und diese Heeresorganisation war nur wieder ein Teil der gewaltigen Reformen,
die man in China eingeleitet hatte, um, dem Beispiele Japans folgend, den
Staat auf die Höhe westlicher Mächte zu heben. Die Reformen erstrebten einen
völligen Umsturz der bestehenden veralteten Einrichtungen und wurden unter dem
Druck der Presse und des nach fremdem Muster gebildeten Jung-Chinas mit
größtem Eifer, wenn nicht Überstürzung betrieben. An hervortretendster Stelle
steht neben der Heeres-Reorgmnsation die Verwaltnngsreform, die als letztes
Ziel die Umwandlung Chinas in einen Verfassungsstaat anstrebt.
Unan Shih-kai, der nach dem Verlust des Oberkommandos über seine
Truppen keinen Ehrgeiz mehr darin sehen konnte, Vizekönig in Tientsin zu
bleiben, folgte dein im August 1907 in die Zentralregierung nach Peking
berufnen Vizekönig von Hnkuang Chaug Chim-Tuug uach, um in der Zentral¬
regierung seine .Kräfte für die Neubildung seines Vaterlandes einzusetzen. sein
Hauptwerk und Hauptverdienst liegt in der Förderung, die er der Verfassungs¬
frage angedeihen ließ, und was er hier geleistet hat, wollen wir im Folgenden
in kurzen Zügen schildern.
Seit den? Kriege mit Japan hatte China die Überlegenheit Japans, besonders
auf militärischem Gebiet, staunend erkannt. Das Jahr 1900 hatte China zwar
wieder mit seinein Nachbarstaat in andre als freundschaftliche Beziehungen
gebracht, aber es war erst der russisch-japanische Krieg, der Chinas Aufmerksam¬
keit intensiver auf Japan lenkte. Hatte das Jahr 1900 das alte Prestige abend¬
ländischer Macht und Gesittung schon stark erschüttert, so brach nach dem russisch¬
japanischen Kriege der Glaube an die absolute Vormacht der europäischen Kultur
zusammen; jene vielgerühmte, sehr bewunderte und immer gefürchtete Macht
war nur relativ und, was mehr war, sie war selbst asiatischen Staaten nicht
unerreichbar. Es war uur natürlich, daß das China, das in ohnmächtigem Zorn
die Demütigungen der Jahre 1895, 1898 und 1900 hatte über sich ergehen
lassen müssen, staunend und voll Neid auf Japan sah, und die Folgerung,
daß das, was Japan geleistet hatte, auch China möglich sein müsse, drängte
sich ihm von selbst auf. Man glaubte die Wurzel alles Erfolges in Japan
in dem Gefühl der Nationalität, das alle Kreise beherrschte, suchen zu müssen
und hoffte von dessen Erweckung in China dieselben Resultate. Mau sah klar,
daß dieses Ziel nur erreicht werde» könne, wenn man in dem Volk Interesse
für deu Bestand und die Regierung des Landes wecke, und daß dies nur im
Großen und dauernd erreicht werden könne durch Teilnahme an der Verwaltung
des Landes, also dnrch Einrichtung einer Verfassung.
Wir haben schon oben der ins Ausland gesandten hohen Kommissäre
Erwähnung getan, die in wenig Monaten der ihnen gestellten Aufgabe des
Studiums der Verfassung und Regierungsformen fremder Staaten Genüge getan
zu haben glaubten. Nach ihrer Rückkehr übergaben sie die Resultate ihrer Reise
einer vom Kaiser im September 1906 gebildeten Kommission und schon nach
Mei Monaten war die Arbeit eines Verfassungsentivnrfes beendet. Das Resultat
war lächerlich: ohne Rücksicht auf die historische Entwicklung des Landes, die
Verschiedenheit seiner Organisation, Bevölkerung und Natur lag ein Entwurf
vor; wenn es für China uicht absurd wäre, möchte man von „grüner Tisch¬
weisheit" reden Es waren theoretische Deduktionen., die völlig in der Luft
hingen. Aber wo lag die Hauptschwierigkeit? Es war das in der Geschichte
des Laudes fest begründete Verhältnis der Zentrale zu den Provinzen.
Es ist hier uicht der PlaK. chinesische Staaten- und Staatsgeschichte zu
treibe», es sei nur erwähnt, das; sich die heutige unabhängige Stellung der
Vizeköuige historisch entwickelt hat und aus der Orgamsatiou der alten chine¬
sischen Feudalstanten erwachsen ist. Der Leiter des provinziellen Regierungs-
apparates ist ein fast völlig unabhängiger Mann, er regiert seul Land wie em
autokratischer Fürst. Bis Ende des Jahres 1906 war er der Generalllssnnus
der von ihm geschaffnen und unterhaltnett Truppen, deren Zahl er bis zum
Auftauchen der'Reformideen in Peking, also bis zum Jahre 1902. allem be¬
stimmte. Er belegt das Laud mit Steuern, er baut Straßen, Eisenbahnen, er¬
hebt Anleihen, auch bis vor kurzen: solche von fremden Staaten, erläßt Ge¬
setze usw. solange alles in den Provinzen ruhig geht und die Zentralregierung
uur die genügenden Abgaben erhält, mischt sich Peking nicht in die Verwaltung
der Provinzen ein: außer dnrch allgemeine Direktiven wirkt der Mandschuhof
kaum auf die Provinzen ein. Dieser Zustand mußte natürlich bei der Schaffung
einer Verfas ung aufhören. Die Rechte der Gouverneure waren aber zu tief
gewurzelt, als'daß man sie einfach durch Dekret hätte abschaffen oder ihren
Umfang einschränken können. Als der erste im September 1906 fertiggestellte
Entwurf dies dennoch vorsah, traf der Platt auf den härtesten Widerstand der
beteiligten Beamtenwelt wie auch der neuen Presse Chinas. Dieser Entwurf
krankte, wie die meisten Entwürfe, die die auf allen Gebieten Chinas bemerkbare
neue Reformbewegung hervorrief, nicht bloß an dem Mangel historischer Er¬
kenntnis, sondern'zeigte auch merkwürdig wenig Beachtung der tatsächlichen Ver¬
hältnisse des Landes und der Natur der Bewohner. Die Entwürfe unter
völlig theoretisch an und könnten ebenso für europäisches Denken wie europäische
Kebensverhältnisse bestimmt sein. Ich mag nicht entscheiden, ob die hoher»
waßgebenden Kreise den Verhältnissen ihres eignen Landes und Volkes so fremd
und verständnislos gegenüberstehen, oder ob es Ungeschicklichkeit und Unvertrantheit
wir den „fremden" Ideen ist, von denen ja allein, wie es zu glauben Dogma
geworden ist. Wehe und Wohlfahrt des Landes abhängt.
Schließlich nach langen oft erregten Beratungen stellte man einen wettern
Entwurf fertig, der im Juli 1907 durch Edikt veröffentlicht wurde. Er enthielt
verschiedne Bestimmungen, die dazu dienen sollten, die Gouverneure zu eiuer
gewissen Beteiligung in der Zentralregieruttg heranzuziehen, enthielt aber keinerlei
Regelung, des Verhältnisses der Gouverneure zu deu Ministerien. Der Entwurfbestimmte aber, daß die Notabeln der Provinzen, wenn sie dazu geeignet seien,
Z" einem Verwaltungsrat herangezogen werden sollten, dem der Gouverneur
vorzustehen hätte. Diese Körperschaft war nur mit beratender Stimme gedacht.
Die Zentralregierung zeigt sich hier zurückhaltend und abwartend, es lag ihr
daran, Zeit zu gewinnen, damit sich die Verhältnisse ordnen und in die richtige
Perspektive rücken konnten. Aber wie sich auf der einen Seite die Negierung
mäßig zeigte, so unmäßig und unverständig benähmen sich auf der andern Jung-
Chiua und die Presse. Dein immer heftiger und leidenschaftlicher werdenden
Drängen gab die Regierung nach, und schau im September 1907 schuf sie eine
neue Organisation, einen Beratungshof für die Angelegenheiten der Regierung,
der die Grundlage für das zukünftige Parlament abgeben sollte. Aber nicht
genug damit, es ließ sich schon im Oktober die Regierung drängen, die Er¬
weiterung dieser Grundlage auf die Provinzen zu bestimmen, und setzte sest, daß
nicht bloß diese, sondern auch deren Unterabteilungen, Regierungsbezirke usw.,
ihre Vertretungen haben sollten. Aber auch damit war die Presse und das
moderne Literatentnm nicht zufrieden. Immer heftiger wurden die Angriffe auf
die lässige Regierung, immer leidenschaftlicher die Sprache, immer maßloser die
Anklagen gegen die Leiter der Negierungspolitik, so daß sich Peking gezwungen
sah, durch Edikte die Preß- und Versammlungsfreiheit einzuschränken. Diese dem
Volk von der Regierung aufgezwungene Mäßigkeit konnte und kann nur heilsam
wirken, denn der neue Geist, der sich in der Presse Chinas gegen Ende des
Jahres 1907 zeigte, war ganz dazu angetan, das Land an den Rand des Ab¬
grundes zu bringen, es einer Revolution oder vielleicht gar der Anarchie ent¬
gegenzuführen. Und wie schon die Berufung mehrerer Mcmdschus in hohe
Provinzialämter darauf hinzuzielen schien, daß der Hof die Zügel der innern
Landesverwaltung wieder fester zu fassen bestrebt war, so zeigt die ans Anlaß
der Unruhen im Frühjahr 1908 in das Mngtsetal erfolgte Entsendung von
Truppenkontingenten des Nordens, daß die Regierung auch gewillt war, ihrer
Stimme und ihren Anordnungen Geltung in deu Provinzen zu verschaffen.
In allen diesen Kämpfen, in dein ersten Wechsel der Formen und den
vielen Änderungen in der Zusammensetzung der Körperschaften ist Man Shih-kai
der leitende und beratende Mann gewesen, und, wie er der stete Antrieb zur
Fortführung der Verfassungsfrage gewesen ist, so ist er auch zugleich der zur
Besonnenheit mahnende nüchterne Denker gewesen. Daneben wirkte der greise
Chang Chih-Tuug, der langjährige Vizekönig der Hükuaug-Provinzen, der be¬
sonders der Frage des Bildungs- und Erziehungswesens seine Kraft widmete.
Aber da im Orient die Wirkungsgrenzeu eines Ministers nicht streng abgegrenzt
sind, so griff oft die Tätigkeit des einen auf das Arbeitsgebiet des andern über.
So kam es, daß sich Reibungen oft uicht vermeiden ließen, und man null in
Peking wissen, daß die Standpunkte Maus und Changs oft gegensätzlicher
waren, als es für ein gedeihliches Zusammenwirken notwendig war.
Ein abschließendes Urteil über Maus Tätigkeit in Peking zu geben, ist
bei der räumlichen Ferne des Schauplatzes und der zeitlichen Nähe der Er¬
eignisse recht schwer. Es scheint aber, daß es eine Zeit voll von Kämpfen
gewesen ist, die aufreibender waren, als es das Resultat rechtfertigte. Hatte
er schou von frühern Zeiten her viele Feinde, so schuf er sich in Peking noch
neue dazu, und wenn es auch im Anfang schien, als ob Maus Stern im Auf¬
steigen begriffen sei, so war sein Einfluß gegen Ende des Jahres 1908 doch
schon sehr untergraben, und es war nur die Kaiserin Witwe, die ihn uoch hielt.
Da starben im November der Kaiser und die Kaiserin Witwe kurz hinter¬
einander. Was in jenen schweren Tagen tatsächlich im Palast vor sich gegangen
ist, wissen wir nicht und werden es wohl auch kaum jemals mit einiger Be-
heimathen erfahren könne». Die Kaiserin-Witive hatte schon während des
größer« Teils des verqangnen Jahres gekränkelt, abgesehen von seiner niemals
glänzenden Gesundheit'war der Kaiser eigentlich nie ernstlich krank gesagt worden.
Während wan schon seit Jahren mit dem Ableben der alten Kaiserin-Regentin
gerechnet hatte, kam der Tod des Kaisers völlig überraschend. Es ist nur
natürlich, daß sich unter diesen Umständen die „wildesten" Gerüchte verbreiteten,
die Yuan Shih-kai des Zutuns zum Tode des Kaisers beschuldigten. Es ist
wohl kaum anzunehmen, daß etwas Wahres an diesen Gerüchten ist, doch sind
wir, wie ich eben schon sagte, über die wahren Vorgänge im Dunkeln. Tat¬
sache ist, daß sich Yuans Stellung unter dem neu ernannten Prinzregcnten,
der der Lieblingsbruder des verstorbenen Kaisers war, immer schwieriger ge¬
staltete, bis plötzlich ein Edikt, das für den aufmerksamen Beobachter der Ver¬
hältnisse keineswegs mehr überraschend kam, Yuan Shih-kai aller seiner Ämter
entsetzte und ihn anwies, in seine Heimat zurückzukehren. Als Grund für die
Entlassung gab der Kaiserliche Befehl ein Fußleiden Maus an. Ein gebrochner
Mann kehrte Yuan Shih-kai in seine Heimat, in die Provinz Honan, zurück,
wo er in Wei Hui-Fu auf seinem Besitztum lebt.
Yuan Shih-kai hat sich um die Reorganisation Chinas Verdienste erworben,
die weder das Land noch die Dynastie wird übersehen und vergessen können.
Das Fehlen einer allen kleinlichen Parteihader und Tageszank überragenden
Persönlichkeit macht sich doch schon in Peking fühlbar, und man prophezeit in
kurzem die Zurückberufung Yuan Shih-kais.
me alte Sehnsucht erwachte und rief: Zurück ins Bauernhaus!
Liebliche Erinnerungen an vergangene Eisenbahnfahrten in den
Alpen tauchten auf-, das Märchen stand vor dem Waggonfenster
und winkte, daß einem wunderlich uns Herz wurde: Hier wohnt
das GlückI Wo willst du es sonst erjagen?! Man saß ini V-Zug
und war ärgerlich über die schnelle Fahrt. Man suchte ja zeitlebens das Glück,
diesen schönen Schein, der in Gedichten und in den Gaukelbildern eines Coupe¬
fensters sein Dasein führt, man grüßte es eben jetzt unterwegs und verlor es in
dem Augenblick, da man es kaum gegrüßt!
Und eines Tages will sich die Sehnsucht erfüllen. Die Bauernhausschwnrinerei
lst in der Stadt fast schon Mode geworden, eine sentimentale Torheit, und man
^se so glücklich, den Modetorheiten seiner Zeit huldigen zu können. War nicht das
innige Wünschen das Beste an der Sache? Die wahre Seligkeit? Aber Wünschen
allein macht nicht satt; man ist der verruchten Zivilisation überdrüssig, schnürt sein
Ränzel, das heißt, man packt seine Koffer und fährt davon, das verlorene Paradies
aufzusuchen. Also zurück ins Bauernhaus! Tief, tief in die Einsamkeit, auf eine
Berganhöhe, in der Nähe eines Sees. Die Sorgen läßt man zu Hause, die
Geschäfte, die Bekannten. Man will ein halbes Jahr, ein Jahr vielleicht fern¬
bleiben, ein anderer Mensch werden, sich gesund baden in dem Jungbrunnen
Natur. In der Stadt gibt es keine Natur, behauptet man; Natur kann man nur
auf dem Lande genießen. In der Nähe primitiver, unverdorbener, freier, glück¬
licherer Menschen. Bei einfacher, derber Kost, in reiner, würziger Luft.
Ich folge dein Kompaß meines Herzens, der die Wunschrichtung angibt. So
kann ich gar nicht irre gehen. Ich weiß eine verwunschene Gegend im salz¬
burgischen Land. Um den Mondsee herum, zu Füßen der Drachenwand mit dem
berühmten Felsenloch, durch das, der Sage nach, der Teufel mit der Pfarrers¬
köchin hindurchfuhr. Es sind magische Namen, die einen dunklen Zauber enthalten,
die Landschaft ist beladen mit psychischen Potenzen, aber sie hat ein liebliches
Gesicht, wenn auch mit jenem anderen Sinn begabt. Ich liebe dieses doppelte
Gesicht, hinter dem eine zweite Bedeutung steht.
Zu Pfingsten bin ich auf der Suche, im strömenden Regen. Der Städter
findet am ersten Tag auf dem Lande auch das schlechte Wetter schön. Die Lehnen
sind steil, die Wege morastig, meine Schuhe schwer von Nässe und Lehn:. Aber
die Wiesen sind ein einziger Feldblumenstrauß, bunt getupft und tausendschön.
Blumen, Blumen, Blumen! Ich wanke diese blumige Milchstraße entlang. Der
Regen schlägt durch die Kleider, man ist erhitzt, müde, aber man achtet es nicht.
Immer wohlgemut! Überwinderlaune! Ja, mau ist wirklich erhaben über die kleinen
tückischen Zufälle I Es ist ein Wandern in Schönheit. Noch die Lehne hinauf! Man
keucht. Die alten Feldstraßen laufen ineinander, schier planlos; das Wasser schießt
in den tief aufgefahrenen Radspuren. Man schreitet, nein, stolpert, trottet, watet
vorwärts mit unverminderter Naturbegeisterung. Man ist Idealist.
Über die Hügellehne schiebt sich ein Riesenhaupt. Zuerst der First, dann
das mammuthafte Dach. Eine hölzerne geschnitzte Veranda läuft ums Haus,
dann taucht die weißgetünchte Hauswart mit den kleinen vergitterten Fenstern
auf! weiße und rote Geranien stehen auf den Gesimsen. Unter den Obstbäumen
lugt das behäbige Bauernhaus hervor wie ein blinzelnder Schelm. Der Stern,
der mich geführt, stand über dem Dache still! Eine Stimme sagte mir, daß ich
am Ziele war. Es war das Bauernhaus, von dein ich geträumt. Es lag auf der
Berganhöhe, unten breitete sich der Seespiegel. Weit und breit kein Nachbar. Nur
der Wald in der Nähe; und rund ums Haus Obstbäume, weiterhin Felder und
Wiesen. Hier wohnte das Glück, das ich suchte!
Links und rechts von der Haustür, von dem weit vorspringenden Dach
beschützt, stand je eine lange, bequeme Bank; Milchgeschirre, breite, flache Schüsseln
waren darauf gelehnt zum Abrinnen und Trocknen. Ich trat in den großen
Hausflur, wo ein mächtiger steinerner Herd mit großen: offenen Feuermantel stand,
ging links in die vordere Stube, wo die Bäuerin und die Kuhmagd beisammen
saßen und plauderten.
Sie redeten mich „Du" an; ich war ergriffen. Ich beschließe zu bleiben und
bezahle auf ein halbes Jahr im voraus. Der hohe Preis hat mich allerdings
stutzig gemacht, er schien mir allzusehr von „Kultur" beleckt. Sonst aber war
alles sehr ursprünglich und einfach.
„Ich verlange nichts weiter als äußerste Reinlichkeit. Keine Flöhe, keine
Wanzen, keine Küchenschaben! DaS waren meine Wünsche. Die Bäurin schlug
ein Kreuz und schrie: „Jessas, na!" Nun war ich von der Unschuld vollständig
überzeugt.
Von der Stunde an fühl' ich mich zuhause. Kein Staub, kein Rauch, nur
reine Luftl Der Misthaufen roch lieblich, das Haus atmet jenen gewissen Duft,
ein Gemisch von Stallgeruch, Milchsäure, schwelendem Holz, Menschenschweiß und
Tabaksqualm. Es ist der Hausgeruch, der in der Poesie so schön ist. Man hat
ihn in der Kindheit auf dem Lande gerochen, man vergißt ihn nie wieder, man
sehnt sich danach, man will wieder diese unverdorbene würzige Luft einsaugen!
DaZ Paradies ist nichts Jenseitiges, nichts Verlorenes! Wenn es irgend zu finden
ist, kann es nur in diesem Leben gefunden werden. Ich will euch die Tore auftun.
kommt mit: zurück zur Natur!
Das Bauernehepaar ist jung und kinderlos; außer diesem und der Kuhmagd,
den zehn Kühen, den drei Schafen, den zwei Ziegen, den fünf Schweinen, den
Hühnern und der ..Summerpartei" (so werde ich genannt) sind vorderhand keine
Insassen da. Ich sage vorderhand. Denn eine Kuh ist trächtig und die Kuhmagd
befindet sich in gesegneten Umständen. Kein Zweifel, Jugend, Glück und Eintracht
wohnen unter diesem Dach.
Zuweilen kommt Besuch. Neulich sprang ein Reh zwanzig Schritte vom
Haus auf und floh in den Wald; eine Ringelnatter schlängelte sich zum Hausflur
herein; abends patschen die Kröten schwerfällig über den Weg; nachts, so behauptet
die Bäuerin, wandelt der Geist der verstorbenen Schwiegermutter rund ums Haus.
Sie hört den schlürfenden Schritt der Alten, wie sie in Filzpantoffeln umhergeht.
Hause des Glücks und der Unschuld gibt es auch Schatten und böse Träume.
Aber sie gehen vorüber wie huschende Wolken. Die Vergangenheit brütet in den
toten Winkeln des Hauses. So liebe ich es. Ich gehe umher, durchstöbere alle
Räume und hoffe die Zeichen zu deuten. Mein Schlafzimmer befindet sich im
ersten Stock; man gelangt auf einer sehr finsteren, steilen, sast kellerartigen Holz-
treppe im Hintergrunde des Hausflurs ins Obergeschoß. Mehrere unbewohnte
Znnmer sind neben meinem Schlafzimmer. In einem derselben fand ich nebst
getrockneten Äpfeln eine Kinderwiege und Totenkränze.
Eines Abends treffe ich die junge Bäuerin mit verweinten Augen.
Tränen im Hause des Glücks?
Sollte es mit der unbenützten Kinderwiege zusammenhängen? Und die Toten¬
kränze im selben Raum? Warum greift die Schwiegermutter noch übers Grab
hinaus drohend ins Leben ein, sei es auch nur während der Seelenbegegnung
im Traum? Welcher Schicksalsfaden verbindet diese drei Zeichen? Das Geheimnis
gibt mir zu denken. Sterbensnot und Lehmhans haben den Faden gesponnen,
auch hier, wo der Friede atmet.
Das Wetter ist wieder schön, der strahlend blaue Himmel verscheucht die
Gespenster. Ich gehe umher wie Adam im Paradiese und nehme Sonnenbäder.
Rings ums Haus im Umkreis einer halben Stunde. Bis zum See hinab.
Meine Toilette: ein Strohhut. ein paar Sandalen, eine Zigarre, ein Regenschirm.
Der Schirm ist mein Feigenblatt. Ich spanne ihn auf, wenn die Unschuld kommt.
Sie begegnet mir eines Tages. Sie ist siebzig Jahre alt, ledig und hat viele
Kinder gehabt. Sie wollte zur Kirche und flieht bei meinem Anblick. Auch ich fliehe.
Hat es übrigens Pferdebremsen im Paradies gegeben? Dann waren sie
bestimmt nicht so lästig. Denn das hält kein Adam aus.
Abends sitzen wir rauchend auf der Hausbank, das wenige, was sich sagen
läßt, ist bald erledigt, man unterhält sich schweigend. Der Bauer ist schlau, die
Unterhaltung gedeiht am besten in diesem doppelten oder vierfachen Schweigen.
Die Stille unter den Bäumen wird lebendig, es sind die tiefsten Augenblicke, in
denen man auf die Gedanken horcht, die durchs Gemüt sinken, oder auf das Nichts.
Damit man sich einen Begriff mache, was hier einfache ungewürzte Speise
heißt, will ich erzählen, wie es mit den Mahlzeiten in dem Haus aussieht. Um
vier Uhr morgens wird es lebendig, man versammelt sich im großen Hausflur,
um den runden Eßtisch, der in der Ecke der Eingangstür steht. Die Bäuerin
hantiert schnell in der .Küche und bereitet das erste Frühstück. Gesalzene Brod¬
schnitten mit heißem Wasser und etwas Schmalz abgebrüht, werden in einer großen
Schüssel auf den Tisch gestellt, ein langes unverständliches Gebet wird herunter¬
geleiert, und wenn es zu Ende ist, langen alle mit ihren Blechlöffeln nach der
Schüssel. Von der Mitte bis zu jedem Tischgenossen hin läuft eine Gasse von
Tropfen, die von dem Löffel auf dem langen Wege von der Schüssel bis zum
Mund verschüttet werden. Dann wird wieder ein Gebet gesprochen und man geht
zur Arbeit, die Dirn in den Stall, der Bauer und die Bäuerin auf das Feld.
Um sieben Uhr wird ein zweites Frühstück bereitet, die sogenannte Kaffeesuppen,
das ist Kaffee mit Brodschnitten in der großen Schüssel serviert. Es wird gebetet
und gelöffelt wie beim ersten Frühstück. Um neun Uhr wird das dritte Frühstück
eingenommen, bestehend aus Speck, Brot und dem faulschmeckenden Birnmost.
Fleißig gebetet wird vor und nach jeder Mahlzeit. Das Mittagessen erfolgt um
elf Uhr. Gewöhnlich kehrt die Bäurin eine Viertelstunde früher vom Felde
heim, bereitet rasch Knödeln mit etwas Salat, der, mit heißem Speck und Birn¬
most übergössen, aufgetragen wird. Um drei Uhr nimmt man eine kleine Zwischen¬
mahlzeit von Speck und Birnmost, und gegen sechs Uhr das Abendessen, das ent¬
weder aus einer Kaffeesuppe mit Brodschnitten oder aus einer gestockten Milch¬
suppe besteht.
Das Menü wechselt insofern ab, als die Bäuerin hie und da statt Knödeln
sogenannte Banernkrapfen oder Polsterzipf bereitet, eine Art grober Mehlspeise,
die in Butter gebacken ist. Dabei greift sie aber so tief ins Butterfaß, daß die
Kost schwer verdaulich wird und zur Unmäßigkeit im Mosttrinken verleitet. Die
weitere Folge ist, daß nach jeder solchen üppigen Mahlzeit der eine oder der
andere Tischgenosse mit schweren Übelkeiten zu kämpfen hat.
Es ist selbstverständlich, daß ich bei dieser einfachen ländlichen Kost nicht
anhalte. Ich habe einmal einen kleinen Versuch gemacht, und werde mich hüten,
es noch einmal zu tun. Ich versuche leicht einzuwirken und mache den Bauers¬
leuten Vorhaltungen. „Warum kocht ihr euch niemals ein Stück Rindfleisch?
Eine kräftige Suppe täte euch not. Ich sehe, daß ihr niemals Gemüse bereitet,
außer diesem harten Salat. Gemüse würde euch sehr zuträglich sein. Das
Einerlei eurer Kost schadet eurer Gesundheit." Aber das war in den Wind
geredet. Die Bauersleute waren wohlhabend, hatten Äcker, ein Stück Wald im
weiten Umkreis des Hauses, Geld in der Sparkasse und einen schuldenfreien Hof.
Aber sie waren zugleich geizig und freuten sich, wenn der Wohlstand wuchs, von
dem sie keinen Genuß hatten.
Gelegentlich erfuhr ich, daß unser Bauernhaus von altersher „Im Elend"
heißt. Wie kommt dieser schreckliche Name ins Paradies? Er verfolgt mich Tag
und Nacht wie ein Gespenst, er ist das vierte Signal, das mir die Hölle gibt.
Werde ich die geheimnisvolle Schrift entziffern können? Name ist Schicksal.
Irgendein Verhängnis lastet auf diesem Dach. Jetzt erst bemerke ich, daß die
Bauersleute, obschon jung an Jahren, dennoch gealtert und fast kränklich aus¬
sehen. Der Bauer ist scheu und verschlossen, aber die Bäuerin ist heiteren Gemüts
und lacht gerne. Doch ist sie gleichzeitig von Furcht geschüttelt, sie lebt unter
einem beständigen seelischen Druck und fühlt sich nicht sicher vor dem Blitz aus
heiterem Himmel.
Indessen mache ich meine Streifzüge rund ums Haus als Adam, der das
noch unbekannte Paradies erforschen will. Jeder Tag bringt eine neue Entdeckung.
Häufig begegne ich einem Mann, der mir durch sein wunderliches Wesen auffällt.
Neulich erblickte ich ihn im Wald, halb nackt auf einem Baumast sitzen. Mir war
nicht geheuer zumute und ich kehrte um. Die Hausgenossen erzählten mir, daß
es ein Irrsinniger sei, der eine halbe Stunde entfernt beim Seewirt wohnte. Es
ist ein quälender Gedanke, mit einem Verrückten in dieser verwunschenen Einsamkeit
SU Hausen. Ist vielleicht auch er ein warnender Bote, will er mich fortdrängen
aus dem Paradies? Oder will er mir bedeuten, daß das Paradies nur in der
menschlichen Einbildungskraft lebt und in Wirklichkeit nicht bestehen kann?
Aber es kommen auch andere, friedliche Zeichen, die beruhigend wirken und
die wie die Erscheinung des Friedensengels gegen den Teufel wappnen, der als¬
dann die Macht verliert. Rehe kommen vor das Haus, in den nahm Halmen
verborgen, der Specht arbeitet in der Nähe und mancher seltsame Vogel läßt sich
blicken. Das sind wahrhaft biblische Zustände, die das gestörte Seelengleichgewicht
wieder herstellen. Eines Abends schleicht der Bauer an, mit der Flinte in der
Hand. „Habt Ihr den Rehbock gesehen in meinem Feld?" Ich verneine es
natürlich, und beschließe dafür zu sorgen, daß das Tier nicht in seine Schußnähe
kommt.
Dagegen ist ein neuer Besuch angekommen. Diesmal braucht der Bauer nicht
mit der Flinte loszugehen, der ärgerlich über mich ist wegen des Rehbocks und
morgens das Grüßen vergißt. Die Kuh hat gekalbt, und die achtzehnjährige Dirn
hat einen strammen Jungen gekriegt. Nachmittags hat sie noch Heu aufgeladen,
nachts jedoch hat sich eine ungewöhnliche Unruhe im Hause bemerkbar gemacht.
Zuerst hörte ich ein Wimmern und Stöhnen in mein Schlafzimmer herauf.
Schmerzenslaute, die aus der Richtung des Stalles kamen. Dann begann ein
eiliges Hin- und Herlaufen, der Bauer stieß die Haustür auf und entfernte sich
mit einer Laterne in der Hand, deren Widerschein durch mein Fenster auf den
Wänden herumtanzte, bis°ihn der nahe, zackige schwarze Wald verschlang. Es
verging etwas mehr als eine Stunde, da wurde ich wieder durch ein heftiges
Geräusch aus meinem unruhigen Schlummer gerissen; der Laternenschein tanzte
wieder auf meinen Wänden herum, der Bauer kehrte zurück in Begleitung einer
Frauensperson, die er um Mitternacht aus dem Dorfe heraufholen mußte. Aha!
dachte ich und blieb noch liegen. Gegen Morgen glaubte ich ein ganz feines, zartes
Stimmchen zu hören, quiekend wie eine Kindertrompete. Der neue Weltbürger
war da. Die Bäuerin war außer sich bor Freude, als ob das Kind ihr eigen
wäre. Um sechs Uhr früh standen die Bauersleute festlich angetan vor der Hallstür.
Ein naßkalter Regen ging in Strömen nieder. Die Bäuerin warf die Kittel über
den Kopf, um solcherart das Kleid zu schützen und das große schwarze Kopftuch,
aus starrem Tastet, der rückwärts in zwei mächtigen Flügeln links und rechts
herunterhängt. Unter dem von rückwärts über den Kopf geschlagenen Rock verbarg
sie einen ziemlich großen Gegenstand, der wimmernde Laute von sich gab. Der
Bauer spannte ein riesiges Parapluie auf, sodann machten sich beide auf den Weg
durch das nasse Gras, den aufgeweichten Erdboden, die Morgenkälte und den
unbarmherzigen Regenschauer.
„Ja, wohin denn in aller Welt mit dem neugeborenen Kinde bei diesem
Hundewetter?"
„Zur Taus'I" die kurze Antwort.
„Ja, Leut', hat's denn nicht Zeit damit in acht Tagen etwa, oder bis die
Sonne wieder schön warm scheint?"
„Ah balei," gaben die Bailersleute ziemlich unwirsch zurück; „warum's Kind
umgetauft stirbt, käme es nicht in den Himmel. Darum kann man nicht schnell
genug sein mit der Taufe."
Schon trotten sie dahin, und ich stand wie der Weise am Berge. Ich war
um eine Erkenntnis reicher geworden Die vielen Kinder, die ich auf dem kleinen
Alpenfriedhof gesehen habe, konnte ich mir jetzt erklären. Die vielen Kindergräber!
Es gibt Erlebnisse in dieser Einsamkeit, die zu den tiefsten Eindrücken meines
Lebens gehören. Allabendlich stehe ich in stiller Bewunderung an der Haustür und
sehe in den dämmerigen Flur hinein, der rückwärts durch die Mädchenkammer
zum Stall führt. Die Türen stehen offen, durch das Hintere kleine Stallsenster
blickt die untergehende Sonne. Rotgoldene Lichtfluten strömen herein, es scheint,
als ob draußen am Horizont sich die flammende Hand Gottes erhöbe und den
milden Strahl der Verklärung ausgösse. Die Friedenstaube schwebt mit ruhig
gebreiteten Schwingen über dem Haus, der blaue Himmel spannt sich drüber
wie ein seidener Baldachin, das Bauernhaus, über und über in Gold getaucht,
gleicht einer strahlenden Monstranz. Ein sanftes Leuchten erfüllt das Innere des
Hauses, ein dunkelgoldenes Flimmern, wie es in den Bildern Rembrandts zu
finden ist. Der fromme Glanz umhüllt die Kuh mit dem Kälblein und umleuchtet
in gelinden Wogen die Magd, die halb aufgestützt in den: schmutzigen, zerwühlten
Bett liegt, den Säugling neben sich.
Die Mütter! Jetzt ist nicht von Schmutz und Mist die Rede, sondern von
der unantastbaren rührenden Heiligkeit, in die diese Zustände entrückt sind.
Segantini hat ein solches Bild gemalt. Er hat diese einfachen Zustände geschildert,
in denen sich das große Mysterium der Schönheit und der Liebe am stärksten
ausdrückt. Und ich beuge mich vor der frommen Legende, die hier plötzlich sichtbar
wird, und segne den Augenblick, der mich in die homerisch einfache Welt des
Bauernhauses geführt hat. In der Einfachheit dieses Lebens fasse ich alle Größe
der Natur, deu ewigen Kreislauf von Sein und Werden. In der Schlichtheit der
Vorgänge steigert sich auch das scheinbar Geringfügige zum Symbol. Ich bin am
Urquell des menschlichen Daseins, bei „den Müttern". So hat-doch der liebe
Herrgott das Paradies auf Erden erschaffen. Es will mir fast als Grimasse
erscheinen, daß dieses Paradies den Namen „Im Elend" führt. Aber die bösen
Zeichen, die mir als die Versuchung des Teufels erschienen und als Beweis, daß
auf dieser Erde alles wunderlich gemischt ist, schrumpfen zusammen und liegen
fern ab. Sie entschweben als kleine dunkle Punkte und scheinen alsbald nicht
mehr als Schwalben im Himmelsblau. Der menschliche Wille entscheidet, ob wir
das Paradies oder die Hölle um uns haben. Man nehme die biblische Legende
geistig und man wird finden, daß alles stimmt. Wir können jeden Tag Schöpfungs-
geschichte und den Sündenfall, das Paradies und die Hölle erleben. Alles ist
diesseits.
Nachdem sich die erste Freude über die Ankunft des neuen Weltbürgers gelegt
hatte, kamen die praktischen Erwägungen. Es galt nun, zu dein Knaben, der vor¬
läufig uur eine Mutter hatte, auch einen Vater zu finden. Auch ein Vormund
war unter diesen Umständen nötig. Die Vormundschaft übernahm der junge
Bauer, und als Vater wurde von der Magd der Hiäh bezeichnet, der in Se. Gilgen
als Roßknecht bedienstet war. An einem der nächsten Tage zog der Bauer aus,
dem Hiäh eiuen Besuch abzustatten und ihm die freudige Nachricht zu bringen,
daß Hiäh Vater eines schönen starken Jungen geworden sei. Dem Sinne nach
aber sollte die Botschaft eine Mahnung an seine Pflicht bedeuten. Jetzt, lieber
Hiäh, kommt's zum Zahlen! Zur Vorsorge nahm der Bauer drei, vier handfeste
Burschen mit, jeder mit einem derben Stock ausgerüstet. Denn man kann nicht
wissen, ob der Hiäh nicht vielleicht aus lauter Vaterfreude zum Dreinschlagen versucht
ist- Um sechs Uhr früh zog das Fähnlein aus. ruderte über den See und befand
sich ungefähr gegen zwölf in Se. Gilgen. Die Garde verblieb im Wirtshaus, der
Bauer verfügte sich allein zum Hiäh, unterrichtete ihn kurz von dem Geschehenen
und beschied ihn wegen weiterer Besprechung ins Gasthaus. Hiäh hatte grob werden
wollen, die ganze Sache ginge ihn nichts an; am liebsten hätte er den Bauer
Yinausgeschinissen. Weil er aber doch ein böses Gewissen hatte und in seinem
Diensthause nicht tun konnte, wie er wollte, so verschob er die Entscheidung auf
den Zeitpunkt des Stelldicheins im Gasthaus. Dort dachte er dem Bauer hand¬
greiflich zu beweisen, daß er an die falsche Adresse gekommen sei. Als er aber im
Gasthaus den Kreis von Burschen fand, den der Bauer als Bedeckung mitgenommen
hatte, wurde er kleinlaut und gab alles zu, was die Sendboten von ihm wissen
wollten. Mit geschwellter Brust zog die Garde wieder ab, im Hochgefühl, eine
Mission glücklich durchgeführt zu haben. Es handelte sich nur noch darum, die
Formalitäten bei Gericht durchzuführen, und dann konnten die Dinge ihren ordnungs¬
mäßigen Lauf nehmen.
Freilich die Friedenstaube, die für einen Augenblick unbeweglich über dem
Haus gehangen hatte, schien sich wieder abgewendet zu haben. Der Zustand der
höchsten Seligkeit konnte auf die Dauer nicht erhalten werden; es war zu schwer,
den Himmel zu ertragen. Die kleinen Unannehmlichkeiten und Ärgernisse sind es,
die uns am heftigsten zusetzen. Der Mensch kann ein großes Schicksal mit Würde
ertragen, aber die kleinen täglichen Plackereien bringen ihn zur Verzweiflung. Die
beängstigenden Zeiche» mehren sich, eine Legion kleiner Teufelchen setzt mir zu, es
ist irgend etwas wieder los. Vor allem fühle ich, daß die vielgerühmte einfache
derbe Kost meinem Magen nicht bekömmlich ist. Der poetische Hausgeruch erregt
mir manchmal Übelkeiten. Die Milch flößt mir Widerwillen ein, sie schmeckt zu
sehr nach dem Stall und nach unsauberen Geschirr. Manchmal scheint es, als ob
das Paradies verzaubert wäre, ein böser Geist hat alles ins Gegenteil verwandelt.
Ein penetrauter Gestank weckt mich neulich morgens auf. Ich stürze hinunter, das
Taschentuch vor der Nase. „Ja Leute, was ist denn geschehen?"
„Ah nix!" Nun erkenne- ich die Ursache des Teufelgestanks. Ein neues
Krautfaß wurde geöffnet, das über zwei Jahre im Keller stand, grünlich aussah
und halb verfault war. Gesegnete Mahlzeit!
Auf meinen einsamen Waldgängen begegnete ich wieder dem Irrsinnigen
vom Seewirt. Ich wollte schon zurückweichen oder einen Seitenpfad einschlagen,
als er meiner ansichtig wurde, sofort Kehrt machte und fluchtartig davonrcmute.
Wie ich dann erfuhr, hält mich der Irrsinnige für verrückt. Wahrscheinlich haben
ihm die Leute das weisgemacht. Es steigen mir nun Bedenken auf, ob er
wirklich ein Narr ist, oder ob ihn die Leute vielleicht nur dafür halten, wie es
wahrscheinlich auch mir geschieht. Die einfachen unverdorbenen Menschen erklären
uns Fremdlinge für irrsinnig. Wir fliehen voreinander, von einem bösen Zauber
gefangen. Es geht nicht mit rechten Dingen zu.
Die Einsamkeit fängt mit der Zeit an eine schwere Last zu werden. Ich
habe sie gesucht wie einen Schoß, darin ich mein müdes Haupt vergrabe» könnte.
Ich habe sie gesucht wie die Heimat, wo ich von dem Lärm und der Unrast der
Welt genesen wollte. Ich habe sie gesucht wie eine stille Kirche, wo ich mit meinem
Gott allein bin und meine frühen schönen Gedanken wiederfinde. Ich gedachte in
dem Dom der Einsamkeit umherzugehen, der von den Säulen des Waldes getragen
wird, von den Kronen der Bäume, darin, wie in sinnvoll verschlungenen Kapitälen,
die Vöglein sitzen, während sich die gewölbte Decke darüberspannt mit der Sonne
als Auge Gottes und dem Sternenhimmel als blaugoldener Kuppel. Ich gedachte
in diesem Gotteshause umherzugehen, den Hymnen zu lauschen, die aus der Tiefe
des Waldes wie aus den Wölbungen eines Kirchenchores erschallten. Hier gedachte
ich aus dem goldenen Kelch der Gnade ein neues schöneres Leben zu trinken.
Was meine Sehnsucht war, scheint nun meine Strafe zu werden. Das
wenige, das ich mit den Hausgenossen reden konnte, ist längst gesagt. Es ist das
Allernotwendigste. Sie verstehen meine Sprache nicht, ich verstehe die ihrige nicht.
Manchmal kommt es nur vor wie ein Lallen. Sie sind merklich zurückhaltend,
sie haben die fixe Idee, daß es bei mir im Kopfe nicht richtig sei. Der eine
Mensch, mit dem ich allenfalls als zu meinesgleichen reden könnte, wohnt beim
Seewirt. Auch er soll verrückt sein. Das Mißverständnis würde sich aufklären,
wenn wir uns sprächen. Aber wir fliehen uns. Das heißt, jetzt flieht er allein.
Ich suche ihn irgendwie zu stellen. Allein dies steigert seine Angst! er würde aus
Verzweiflung und eingebildeter Notwehr auf mich schießen, wenn ich ihn abfangen
wollte. Ich gebe die Sache als hoffnungslos auf.
Aber die verzerrten Züge des Wahnsinns, die den Horizont umstellen, ver¬
wandeln die freie Natur in ein Gefängnis, Das zweite Gesicht der lieblichen
Landschaft tritt jetzt stärker hervor. Das unergründliche Auge des Sees, die
Drachenwand mit ihrem dunklen Teufelsspuk, der schwarze zackige Wald neben
dem Haus, das Menetekel, von der Hand des Schicksals auf diese vier Wände
gezeichnet, die kleinen, aber drückenden Beschwerden des Alltags, sie schließen sich
M einer fürchterlichen .Kette zusammen. Ich versuche zu lesen und zu schreiben,
aber die Aufmerksamkeit weicht ab. Ich laufe in meinem Gefängnis waldein,
Waldaus, verfolgt vou unsichtbaren Gestalten, von Fratzen neben mir, hinter mir.
vor mir. von Unholden, die aus jedem Busch aufspringen, hinter jedem Baume
hervortreten, über jeden Weg ein Wurzelbein stellen. Die Bäume neigen sich,
langen mit Hunderten von Armen nach dem Fliehenden, verwandeln sich in
ungeheuerliche Wesen, die locken und erschrecken. Unzählige Stimmen reden mich
im Wald an, flüsternd, raunend, einteilt, lockend, rauschend, brausend, lieblich,
schmeichelnd, drohend. Einmal ist es, wie wenn eine Orgel im Walde spielte,
dann geht eine Uhr. dann hallt dumpf ein Schritt, dann ein leises verdächtiges
Pfeifen, ein Näuberpsiff, darauf ein Hohngelächter, ein Gebrüll von wilden Tieren,
ein lawinenartiges Sausen und Brausen, als ob der Teufel durchs Drachenloch
führe, und schließlich das Stimmengewirr einer aufgeregten Menge, einer Herde
von Wahnsinnigen, die sich näher und näher wälzt, wie sehr ich auch meinen
Schritt beschleunige, so beschleunige, daß ich beinahe laufe.
Ich war in den Wald gegangen, um mit meinen Gedanken allein zu sein,
und damit ist es wieder nichts geworden. Ich fühle mich abgeschnitten von aller
Welt, in diesen Zauberkreis gebannt. Ich könnte entfliehen und fühle mich doch
gehemmt. Ich bin der Sklave meiner Vorsätze geworden. Nachts versuche ich
vergebens zu schlafen. Das Lager ist hart, das Polster zu klein, die Decke ist mit
Federn gefüllt und schwer wie Pflastersteine. Der schwarze Wald reckt sich drohend
vor dem Fenster auf. der Mond tritt geisterhaft in das Zimmer, ein Knacksen und
Knarren, als ob es spukte. Sollte es wieder die verstorbene Schwiegermutter
sein? Im Zimmer nebenan, wo sich die Kinderwiege und der Totenkranz befinden,
wird es sehr unruhig. Und bei allen diesen heimlichen Leiden muß ich mir sagen,
daß ich das Ziel meiner Wünsche erreicht habe. Meine Sehnsucht nach dem
Bauernhaus hat sich erfüllt. Ich wohne im Haus des Glücks.
Es scheint jedoch recht schwer, das Paradies zu ertragen!
(Schlus; folgt in Ur. 38.)
Nach den Kaiserreden zu Königsberg und in der Marienburg kehrt das
politische Lebeir allmählich wieder in seine alten Bahnen zurück. Von den Ver¬
drehungen der Königsberger Rede lebt nur noch die Demokratie, über den Marien-
burger Aufruf zur Sammlung beginnt zwischen Konservativen und Nationalliberalen
eine ernsthafte Unterhaltung. Die „Kölnische Zeitung" ergreift gern die Gelegenheit,
um die Vorteile der früher bewährten Freundschaft zwischen den Rechtsparteien zu
unterstreichen. Der „Hannöversche Courier" warnt vor einem Frieden, dem nicht
ein Sieg vorangegangen wäre; die „Tägliche Rundschau" kann begreiflicherweise
nicht vergessen, wer die Hauptschuldigen an der heutigen politischen Lage sind, und
die „Kreuzzeitung" zaubert den Liberalen paradiesische Zustände vor die Augen,
wenn sie sich nur vertrauensvoll in die Fesseln des Bundes der Landwirte
begeben. Dabei kann man sich aber des Gefühls nicht erwehren, als habe Frau
Sorge dicht neben dein konservativen Wochenschauer gestanden. Ja, was soll aus
der konservativen Partei werden, wenn sie ohne nationalliberale Unterstützung in
die nächsten Wahlkämpfe gehen muß? Im übrigen steht die politische Stimmung
im Lande unter dem frischen Eindruck einer Meldung (vielleicht eines Versuchs¬
ballons?) der „Frankfurter Zeitung". Das Blatt behauptete kürzlich, der Herr
Reichskanzler habe endlich eine Wahlparole gefunden und sie im vertrauten Kreise
bekanntgegeben. Nach dem Bericht des demokratischen Blattes lautet sie:
Zusammenfassung aller positiv schaffenden Stände zum Schutz der
nationalen Arbeit. Die „Tägliche Rundschau" scheint uns die Meldung durch¬
aus richtig aufzufassen, wenn sie in ihr keine Überraschung sieht, gleichgültig ob
es sich nur um eine Kombination oder um eine Tatsache handelt. Mit andern
Worten hat der Kaiser dieselbe Parole aus der Marienburg ausgegeben, als er
sagte: „Der Landwirt schlage in die Hand des Kaufmanns ein, dieser in die Hand
des Industriellen Der Zugehörige einer Partei ergreife die Hand des Anders¬
gesinnten, wenn es darauf ankommt, Großes für unser Vaterland zu leisten. Und
eine Konfession trage die andere mit Liebe." Wir selbst haben von einer Seite,
die Gelegenheit gehabt haben konnte, die Absichten des Reichskanzlers keimen zu
lernen, eine ähnliche Parole gehört; nur war sie im Januar in die Worte
gekleidet: Kampf gegen die Sozialdemokratie und gegen die freihändlerischen
Tendenzen.
Wir meinen, eine unter so einseitig wirtschaftlichen Devisen eingeleitete Politik
dürfte nicht als SammlungsPolitik bezeichnet werden. Denn gerade über den
Begriff des Positiven in der Wirtschaft gehen die Ansichten der in der Wirtschaft
Tätigen weit auseinander und die verschiedenen Auffassungen über die Bedeutung
einer Betätigung bilden die innerste Ursache für die Zerrissenheit im Bürgertum.
Produzent, Händler und Konsument werden gegeneinander kämpfen so lange, bis
der Staat alle ihre Funktionen, also die Gütererzeugung, die Güterverteilung und
den Verbrauch auf sich genommen, also so lange, wie der bürgerliche Staat nicht
abgelöst ist durch den sozialistischen. Wer wollte da ernstlich den Versuch machen
wollen, den wirtschaftlichen Kampf zu beseitigen? — er müßte denn selbst Sozialist
sein. Wer aber die Berechtigung des Kampfes anerkennt, der sollte auch nicht
den Begriff positiv schaffender Stände" im Gegensatz zu etwa „nicht positiv
schaffenden" kennen. Bei der Möglichkeit weit anseinandergehender Bedürfnisse
sollte man nicht versuchen, eine Exkluvisivität von „positiv Schaffenden" zu kon¬
struieren, andernfalls stellt man sich auf die Höhe der Anschauungen der Transvaal-
Buren, die vor noch gar nicht langer Zeit den Johannisbnrger Bankiers dafür
Konnnissionen zahlten, daß diese ihr Bargeld in „Verwahrung" nahmen. Im
Sinne jener Buren waren die Bankiers natürlich kein „posttlv schaffender Stand",
wohl aber für das britische Weltreich. - Doch genug hiervon. Was wir sagen
wollen, ist folgendes: man soll nicht versuchen, wirtschaftliche und politische Fragen
miteinander zu verquicken, wo die Voraussetzungen dafür fehlen-
, man soll eine
Entwicklung wie die der Sozialdemokratie nicht künstlich aufhalten wollen, die
man nur durch intensive Bearbeitung an ihren Anfängen lenken kann; man soll
Gegensätze nicht verallgemeinern, die im Hinblick auf den Staat nur lokale
Erscheinungen am Wirtschaftskörper sind. Man soll vielmehr den fieberhaft
arbeitenden Erwerbsständen von Zeit zu Zeit zeigen, daß ste ihre Arbeit, wollen
sie deren Preis auch für eine fernere Zukunft sicher stellen, hin und wieder ein¬
mal nach den historischen Zielen des Staates oder des Volksganzen orientieren
müssen. Diese zeitweiligen großen Orientierungen können natürlich nicht, wie es
gegenwärtig angestrebt wird, von einem der Erwerbsstände ausgehn; dazu sind
berufen: die Wissenschaft, die Publizistik und die Staatsleiter. Diese drei allen:
sind, wollen wir vom Poeten und Künstler absehn, mit den Mitteln ausgerüstet,
um der Nation den Weg über den Alltag hinaus zu zeigen. Haben ste es getan?
Ja. alle drei haben es versucht, aber alle drei sind im vorigen Jahre unterlegen.
Ihre Kraft reichte noch grade dazu hin, an unserer Ostgrenze Bresche in eine
ruinöse Bodenpolitik zu legen, - zu einer Neugestaltung der Steuerpolitik
reichte sie nicht mehr hin. Der wirtschaftliche Egoismus der Machthaber
wach sich als stärker. Gegen diesen wirtschaftlichen Egoismus, der für
seine Träger die Bezeichnung „positiv schaffender Stände" in Anspruch
nimmt, ist die Reaktion eingetreten, die mit verstärkter Anstrengung den
alten, früher gewiesenen Zielen zustrebt und eben durch den verstärkten Kraft¬
aufwand anch in der Gefahr schwebt, über das Ziel hinauszuschießen. Die
eifrigsten Anhänger der Politik des Fürsten Bülow sind heute gezwungen, abseits
der „positiv schaffenden Stände" zu stehen oder aber ihre Überzeugung zu opfern.
Wer noch mit offenen Augen einhergeht, wird erkennen, daß es nicht die schlechtesten
Teile unserer Gelehrtenwelt und unserer Publizistik sind, die von dem heutigen
Kurse nichts wissen wollen.
Die heutige Regierung hat nun noch nicht die Mittel gefunden, um die
Fortsetzung der Politik des Fürsten Bülow gewährleisten zu tonnen. Als Grund
dafür wird die Zunahme der Sozialdemokratie angegeben. Die Sozialdemokratie
ist nach Auffassung vieler nicht nur eine ständige, sondern auch die größte Gefahr
für Staat und Nation. Auch wir teilen solchen Standpunkt, und um sie bekämpfen
SU können, sind wir den EMenzbedingnngen der Partei nachgegangen. Diese
Existenzbedingungen finden wir aber wo anders als die hente verantwortliche
Regierung. Halten wir die verhetzende Agitation auch als einen wichtigen
Faktor für die Zunahme der sozialdemokratischen Stimmen, so können wir in ihr
nicht den wesentlichsten Grund dafür erkennen. Der wesentlichste Grund
liegt in dem Mangel an einer die Gesamtheit der Nation berück¬
sichtigenden Wirtschaftspolitik zusammen mit der geringen Beachtung,
die das Bürgertum der heranwachsenden Jugend aller Stände schenkt.
Abgesehen von den tausend Beweisen, die uns das tägliche Leben für unsere Auf¬
fassung bietet, kann man den Beweis auch in den Ergebnissen der letzten fünfzehn
Nachwahlen finden. Einer sozialdemokratischen parteiamtlichen Statistik entnehmen
wir nicht nur die Tatsache der Zunahme sozialdemokratischer Stimmen gegenüber
der Wahl von 1907, sondern eine geradezu erschreckende Abnahme der über¬
haupt abgegebenen Stimmen. Die Abnahme betrug in Landau-Neustadt
2800, in Schneeberg-Stollberg 3100, in Koblenz 13000 (!), in Koburg 150, in
Landsberg-Soldin 3200, in Eisenach-Dermbach 500, in Posen 1400, in Usedom-
Wollin 2400, in Friedberg-Büdingen 200, in Kannstatt-Ludwigsburg 1400. —
Nur in Oletzko-Lyck-Johannesburg war eine erhebliche Zunahme der überhaupt
abgegebenen Stimmen festzustellen, nämlich um 2200! Da aber galt es, die vom
Bunde der Landwirte abhängigen Konservativen zu schlagen, also den Haupterreger
der allgemeinen Unzufriedenheit zu treffen.
Sollte es angesichts der Zahlen wirklich noch ernsthafte Politiker geben, die
den Hauptgrund für daS Anwachsen der Sozialdemokratie in der „Verhetzung"
durch die Parteiorgane und durch einen Teil der bürgerlichen Presse sehen? Sollte
der Reichskanzler wirklich glauben, mit einer gegen die Sozialdemokratie gerichteten,
im übrigen wirtschaftlichen Parole einen arbeitsfähigen Reichstag zusammen zu
bringen? Wir können es kaum glauben, denn Herr von Bethmann hat sich als
ein viel zu nachdenklicher und gründlicher Mann erwiesen, als daß er mit so
leichtem Erfolg rechnen würde.
Doch je sicherer die ungünstigen Ergebnisse der nächsten Wahlen erscheinen,
um so notwendiger erscheint es uns, daß die Regierung ihre Politik zunächst nicht
nach wirtschaftlichen Fragen orientiert, sondern lieber solche Gebiete aufsucht, bei
deren Bearbeitung sie auf die Mitwirkung einer namhaften Mehrheit rechnen
darf. Wäre dafür z. B. nicht die Fürsorge für die schulentlassene Jugend geeignet?
Es gibt heute keine Kategorie in der schulentlassenen Jugend, die nicht von der
sozialdemokratischen Agitation bedroht wäre. Vom Abiturienten bis zum Hand¬
werkslehrling, vom jugendlichen Arbeiter bis zum Buchhandels- und Bankeleven
wird die Macht der sozialdemokratischen Agitation fühlbar. Der wesentlichste
Grund dafür liegt in der Indolenz des Bürgertums. Erst ganz kürzlich beginnt
das Handwerk sich gegen die Übergriffe der Sozialdemokratie zu wehren. Auf dem
diesjährigen Handwerks- und Gewerbekammertag zu Stuttgart ist es auch zu einer
Resolution gekommen, die dahin strebt, das Recht des Meisters gegenüber seinen
Lehrlingen zu vergrößern. Natürlich ist das nur ein schwacher Anfang und es
wäre sehr zu wünschen, daß der Antrag des Dr. Wilden-Düsseldorf, Anschluß an
die Zentralstelle für Volkswohlfahrt zu Berlin zu suchen, auch praktisch durchzu¬
führen ist. Könnte hier die Regierung nicht einsetzen und die Parteien vor eine
positive Arbeit im nationalen Sinne stellen? — Wir meinen, dadurch, daß das
Bürgertum sich neue, fest ins Auge gefaßte Aufgaben gegenüber der schulentlassenen
Jugend stellt, wird es die sozialistischen Einflüsse am besten überwinden. Aber ni
einer solchen gemeinsamen positiven Arbeit, an der die Eltern aus allen Ständen, die
Handwerksmeister. Lehrer, Industriellen und Landwirte, Pastoren, Bürgermeister
und Landräte teilnehmen würden, weil sie alle ein und dasselbe Interesse an der
Jugend haben, müßte sich auch eine Basis für die politische Annäherung finden,
um so mehr als grade die Sorge um die Jugend die besten konservativen Unter¬
töne zur Geltung bringen kann, die in jedem Deutschen stecken, möge er im übrigen
bei den Wahlen seine Stimme Herrn Örtel, Naumann oder Bebel geben. Ist es
aber erst einmal gelungen, die evangelischen und katholischen Väter von Stadt und
Land zu einer gemeinsamen Arbeit zusammen zu bringen, dann findet sich das Übrige
von selber.
Die Erkenntnis der sozialdemokratischen Gefahr hindert uns acht, die Stellung
des Hansabundes gegenüber der sozialdemokratischen Partei als notwendig und
für die Allgemeinheit als nützlich anzuerkennen. Die Aufgabe des Hansabuudes
war es zunächst, das aus sehr heterogenen Elementen zusammengesetzte Bürgertum
Sum Bewußtsein seiner gemeinsamen Interessen zu erwecken. Die Aufgabe gestellt
hat ihm der Bund der Landwirte. Diesen wegen seiner Anmaßungen zu
bekämpfen war und ist eine Existenzfrage nicht nur für das gewerbliche Bürgertum,
sondern auch für alle sogenannten intelligenten Berufe — für die Staats- und
Privatbeamten, für Universitäts- und Volksschullehrer, für Arzte. Anwälte und
Heilgehilfen und damit für die Nation. Wir stimmen dem Schutz der
nationalen Produktion ausdrücklich zu, aber wir wollen, daß der Schutz
der ganzen Nation zugute kommt und nicht nur 28 Prozent von ihr. So denkt
auch die Leitung des Hansabundes, die infolgedessen nicht nur die wirtschaftlichen
Interessen des Kaufmannsstandes vertritt, sondern indirekt die von 72 Prozent
der Bevölkerung Deutschlands. Das ist auch der einzige Grund, warum die
»Grenzboten" seinerzeit die Gründung des Hansabundes so freudig begrüßt
haben. Dabei sind uns die Schwächen der Organisation und uuter gewissen
Voraussetzungen (s. Ur. 27 vom 1. Juli 1909, S. 2 ff.) auch ihre Gefahren für
das Land nicht verborgen. Wir bedauern vor allen Dingen, daß die Wahl eines
der Hauptredner des Bundes nicht glücklicher war; an die Spitze solcher Organisation
gehören Männer, die sich ein solches Gegengewicht gegen die Stimmungen in
Versammlungen angeeignet haben, daß sie nicht bei jeder Gelegenheit zu entgleisen
brauchen und dadurch bei Kreisen Anstoß erregen, die dem Hansabunde viel
wichtigere Bundesgenossen sind als einige Krämer, die sich über die Gründung
von Konsumvereinen beschweren. Es ist wohl auch der Tätigkeit solcher Männer
Anzuschreiben, wenn der „Kladderadatsch" dichten kann:
Der hierin zum Ausdruck kommenden Auffassung begegnet mau infolge der
agrarischen Agitation öfter und es scheint uns nicht nur im Interesse des Hansa¬
bundes, sondern im Interesse der weiteren politischen Entwicklung zu liegen, wenn
die Ursachen dazu möglichst bald beseitigt würden.
Verantwortlich George Cleinow in Berlin-Schöneberg. Verlag: Verlag der Grenzboten G. in. b. H.
in Berlin SV. 11.
Die
Kommunalswanzen
Aachölatt
für die gesamten geldwirtschaftlicher Interessen der Gemeinden, Städte und weiteren
Kommunalverbände, Kämmereien, Rentämter, Gemeinde- und Stadtkassen, Steuerkassen,
Einziehungsämter und Sparkassen im Deutschen Reiche.
Offizielles Organ des Verbandes der größere» Preußischen Landgemeinden.
Anzeiger für das Gemeinde- und Städtewese».
Herausgeber Hr. zur. Was Seidel, Geheimer Regierungsrat.
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52. Jahrgang
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boten", Berlin LXV. l l.
X. Kllr Akademiker.
107. Biiracrmcister, 1. II. (8000 M.), Rheinland.
113. Direktor für städtische höhere Mädchenschule,
1. 4. II (5400—7000 M.), Ostpreußen.
110. Hauslehrer, 1. 10., Posen.
120. Hauslehrer (tneol. od. plin.), 1.10., Brandenburg.
121. Pfarrer, 1. 11., Pommern.
127. Pfarrer, per bald, Schlesien.
128. Oberlehrer, 1. 4. 11, Nesormgyniuasiuui (Frz.,
Deutsch, womögl. einer alte» Sprache), Schlesien.
12g. Hauslehrer, evang., sür 2 Quartaner, Neumark.
13». Biiracrmcistcr, Grosz-Salza (4500 M.>, Mai Is11.
181. Gemeindevorsteher, Oder-Lausitz, 1. 4. I I.
1S2. Rektor, 1. 4.11 (Realgymnasium), mit Oberlehrer-
und Rede.-Examen, Holstein >35»0 M).
141. Pfarrer, 1. 10., Vraudenbnrg.
142. Pfarrer, 1. 10., Pommern (2000 M.).
143. Hauslehrer, vom 15. 11. bis I. 3.11 sür I I jähr.
Knaben (100 M. monatl.), Pommern.
144. Hinlslchrcr, Phil. od. Theol., für Unterteil, sür
Oktober bis Michaelis lüll (150 M. monatl.),
Sachsen.K. Für Damen.
100. Lehrerin, höhere Privat-Mädchenschule (Englisch)
(1200 M), I. 10., N.-L.
101. Erzieherin, co., 1. 10., Brandenburg a. H.
108. Erzieherin, gepriist, kath., aufn., 1.10., Breslau.
l it. Erzieherin, geprüft (Sprachen im Ausland erlernt),
Turnen und Handarbeiten, Westhavellaud.
133. Lehrerin, 16. 10., hob. Privatsch., Holstein.
(1500 M.)134. Erzieherin sür 0-und lljährige Mädchen (Musik,
Turnen), Sachsen.
135. Lehrerin, Vertretung, I. 10. bis 1. April co. lang.,
Thüringen. (1300 M.)
137. Ilium. neunt. Engländerin (mus., zeichn.) sür
2 Madrh., Gera-Reus!.
183. Eo. acpr. Erzieherin, 1.10., engl. aus., (5!örper-
pfl-ge. Ved.)für 7 jähr. Mädchen (1000 M.). Ober-
schlesien.
139. Gcpr. jiins,. Erzieherin für 2 Miidch., Schlesw.-
Holstein.
140. Ev. jiinii. Erzieherin (Latein-Kennen.) sür 2 Knab.
1. 10.. Mark.
145. Gcpr. Lehrerin, co., jg., (Franz., Engl., Mustk),
Königs-Wusterhausen, 1. 10.
140. Erzieherin, gcpr., co., aus. (Sprachen Aufl.),
Po^en.
147. Erzieherin, gcpr., co., mus., Oberlausitz.
14S. Lehrerin, co. (Mus., Engl., Franz.), 1.10. Br-man.
140. Overlehrcri» f. höhere Privat-Mndchcnschnle 1.10.,
Schlesien (2500 M.).
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Suche ein FrKnlci», welches befähigt ist, meine 10 jährige
Tochter in Schularbeiten zu »uterstüheu. Gute
französische Kenntnisse Vedmgnng, ferner sich in
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teilen. Nur wer schon ähnliche Stellung bekleidet,
bitte ich zu melden. Fran Helene Schcllrnbcrncr,
Chemnitz, Stollbcrgcrftr. 37.
Diesem Heft ist ein Prospekt der Verlags-
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Maupassant, beigefügt.
Wir bitten die Freunde der
Grenzboten
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erneuern zu wollen. — Bestellungen Verlag der
nimmt jede Buchhandlung und jede
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s ist das erstemal, daß ich vor einer breiten, wohl zum größten
Teile nichtkatholischen Öffentlichkeit über Angelegenheiten des
Katholizismus spreche. Meine tiefinnere Scheu davor kann nur
der ganz verstehen, der inmitten der Ströme steht, die gegen¬
wärtig die katholische Welt hin und her durchfluten, und der sich
noch dazu mitverantwortlich fühlt für das äußere Ansehen des deutschen
Katholizismus. Während des unschlüssiger Beratens mit mir selber spielte mir
der Zufall ein älteres Heft der „Grenzboten" (vom 7. Oktober 1909) in die
Hand, mit einem Artikel des Nürnberger Stadtpfarrers Schiller, der bekanntlich
auf evangelischer Seite am eindringlichsten den konfessionellen Frieden predigt.
Die erneute Lesung des Artikels hat mich endgültig bestimmt, mich zu den
vuigsten Ereignissen im Katholizismus offen und ungeschminkt zu äußern.
Schiller begnügt sich nicht mit einer kühlen „bürgerlichen Toleranz"; freilich
will er auch keine grundsatzlose Verwischung der konfessionellen Unterschiede,
^r will einen positiven Frieden in christlicher Liebe, er will ein wetteiferndes
Zusammenwirken im Geiste Christi, er will ein gegenseitiges Verstehen und
würdigen. Schiller ist gewiß der Überzeugung, daß dies positive Friedens¬
verhältnis nicht nur dem Vaterland, sondern auch seinem evangelischen Bekenntnis
ZU wünschen wäre. Auch ich als Katholik sehe ein, daß der unablässige Kampf,
der aus gegenseitiger Verschlossenheit und Ablehnung hervorgeht, wertvolle Kräfte
der katholischen Kirche an der Entfaltung hindert, ja auf die Dauer ertötet.
Auf welcher Seite das tiefere Verständnis sür die andere Konfession ist,
das entzieht sich der Untersuchung. Ganz klar sehe ich aber ein, daß der heutige
Katholizismus den Andersgläubigen, sogar bei dem größten Wohlwollen, das
^erstäudnis sehr schwer macht. Wie mag zum Beispiel Schiller ratlos vor all
dem gestanden haben, was mit dem Wort „Borromäus-Enzyklika" in die
Erinnerung zurückkehrt! Und doch hätte es darüber eine vollkommene Ver¬
ständigung zwischen Katholiken und Protestanten geben können. Heute hat
leider die Führung in derartigen Auseinandersetzungen eine Presse, die sür
religiöse Innerlichkeiten, gleichviel ob protestantischer oder katholischer Form,
überhaupt kein Organ besitzt. Daß es so ist, daß wir uns bei übereinstimmendem
Wollen doch so schwer verständigen können, fällt zum größten Teil auf das Schuld¬
konto der deutschen Katholiken. Die gewichtigste Ursache liegt in einer geistigen Ver¬
fassung und einer Praxis, die vor mehreren Jahren schon ein katholischer (nicht¬
deutscher) Gelehrter die „Furcht vor der Wahrheit" genannt hat. Nicht mehr
das befreiende, siegesgewisse „veritati!" leuchtet den Katholiken in ihren öffent¬
lichen Aussprachen vor. Wer bei uns einen Gedanken hinaussenden, auf eine
bedeutsame Tatsache hinweisen könnte, der stellte zuerst die resignierte Frage
„Lüi bono?" Und fast immer siegt die Rücksicht der Zweckmäßigkeit, der
Opportunist über den inneren Drang der erkannten Wahrheit.
Alle Welt ahnt, daß gegenwärtig starke Erschütterungen durch den
Katholizismus gehen, daß manche Ereignisse der neuesten Zeit nicht nur inner¬
kirchliche, sondern bei der alten Kulturstellung der Kirche, bei der Zahl ihrer
Anhänger auch menschheitliche Zukunftsentscheidungen bedeuten. Wie viele
Außenstehende kennen aber die tieferen Zusammenhänge und den vollständigen
Sachverhalt? Wie viele sind imstande, alle Faktoren der Elitwicklung in ihrer
Einflußstärkc zu bewerten? Wie müssen selbst auf wohlmeinende Protestanten
die jüngsten päpstlichen Erlasse wirken, wenn ihnen niemand Aufschluß über die
Stellung der Katholiken dazu gibt, wenn ihnen katholische Meinungsäußerung
nicht behilflich ist, die Wirkung auf die tatsächliche Lage richtig zu ver¬
anschlagen! Wie sollen sie überhaupt die tatsächliche Lage zuverlässig kennen
lernen? Das Verschweigen und Verschleiern liefert die Katholiken der ver¬
wirrenden und verhetzenden Agitation ihrer unbedingten Feinde aus, und sogar
bei ihren besten Freunden beschwören sie Unsicherheit und Mißtrauen herauf.
Sich selber — das uur nebenbei — fügen sie allerdings den schlimmsten
Schaden zu; die Unklarheit und die Entfremdung in unsern Reihen wachsen
zusehends. — Soviel zur Rechtfertigung vor meinen eigenen Bedenken und zur
Ausräumung des Verdachtes, aus den folgenden Ausführungen spreche die
unsachliche Abneigung eines Überläufers. Daß man nur trotz der langen
Einleitung auf katholischer Seite das Recht zu dieser Meinungsäußerung nicht
zugestehen wird, weiß ich sehr genau; die „Furcht vor der Wahrheit" ist so
leicht nicht zu bannen.
Mit Rücksicht auf die Anregung durch den Schillerschen Artikel will ich in
einigen Sätzen auf die Borromäus-Enzyklika zurückgreifen, obwohl mein Haupt¬
thema die beiden letzten römischen Erlasse sein sollten. Es dürfte auf evan¬
gelischer Seite wohl darüber Klarheit herrschen, daß die deutschen Katholiken
das Erscheinen der Enzyklika bezw. die Aufnahme der Stelle über Reformation
und Reformatoren bedauert haben. Freilich gibt es Blätter und Publizisten
bei uns, die die kirchliche Unfehlbarkeit nicht nur auf jeden einzelnen Erlaß aus
Rom, sondern auch auf die Hirtenbriefe der Bischöfe ausdehnen möchten; sie
verteidigen mit Heftigkeit alle hierarchischen Äußerungen, gleichviel was sie ent¬
halten. Diese Stimmen übertönen laut die leise Kritik, die sich zeitweise hervor¬
wagt. Ju der Enzyklika-Beivegung gab es jedoch für den Nichtkatholiken
Anzeichen genug, die ihn die wahre Meinung der deutscheu Katholiken erkennen
lassen konnten. Die Katholiken bedauerten die Sätze in der Enzyklika, weil sie
deu konfessionellen Hader zu schüren geeignet waren. Die Protestanten sollten
aber auch wissen, daß nicht wenige Katholiken, ohne Rücksicht auf diese Wirkung,
die objektiven Unrichtigkeiten der Enzyklika beklagt haben. Jetzt, nachdem sich
der Proteststurm gelegt hat, wird auf katholischer Seite die Ansicht verbreitet,
der Papst habe ja „eigentlich recht" gehabt. Daß dem nicht widersprochen
wird, gibt dem Vorwurf den Anschein der Berechtigung, als Katholik wäre man
zu einer objektiven Geschichtsbetrachtung unfähig. Ich bin der Überzeugung,
daß viele Glieder der katholischen Hierarchie, die die Reformation durch
ihren Wandel und ihre kirchliche Praxis vorbereitet haben, mit größeren:
Rechte „Feinde des Kreuzes Christi" genannt werden können als die Anreger
und Führer der religiösen Bewegung, die sich leider zur dauernden Spaltung
im Christentum ausgewachsen hat. Und diese Einsicht verdanke ich keineswegs
ausschließlich der protestantischen Geschichtsschreibung. — Ferner Hütte
gegenüber der Enzyklika ausgesprochen werden sollen, daß es nicht allgemeine
katholische Auffassung ist, jede Abweichung von der kirchlichen Lehre und
Disziplin sei auf moralische Mängel zurückzuführen, auf „irdische Gesinnung",
Widersetzlichkeit, Hochmut usw. Die katholischen Preßorgane haben eifrig beteuert,
daß sich die Enzyklika ja in der Hauptsache gegen die heutigen „Reformatoren",
gegen die Modernisten richte. Nirgends hat sich demgegenüber eine Stimme
erhoben, um das moralische Urteil über die Modernisten als unzureichend, ja
falsch zu erweisen. Ist es dann ein Wunder, wenn man von den Katholiken
annimmt, sie hätten keinen Begriff von einer Gewissensüberzeuguug, einem
Wahrheitssinn, der unter Umständen stärker ist als orthodoxe Denkgewohnheiten
und disziplinäre Schranken? — Die Frage, warum der Verfasser der Enzyklika
und der Papst in feierlicher Form der Welt verkünden, was vielen Katholiken
als unrichtig und unhaltbar erscheint, kann im Rahmen dieses Aufsatzes uicht
erschöpfend beantwortet werden. Bis zu einem gewissen Grade haben wir
Katholiken selbst nur die Antwort darauf, die im obenstehenden Titel liegt. Eine
Erläuterung des Begriffes „Römisches" wird sich ohne weiteres aus dem
Folgenden ergebe«.
In den letzten Wochen sind wieder zwei Erlasse aus Rom gekommen, die
den Katholiken Verwunderung und Sorge bereiten. Der erste ist ein Dekret
der Sakramentskongregation, unter dem 7. Angust von Pius dem Zehnten
^tätige, das die erste Kommunion (Abendmahl) der Kinder betrifft. Das
Straßburger Domkapitel wollte das Alter für die Erstkommunion auf vierzehn
Jahre festsetzen, der Bischof hielt ein Alter von zwölf Jahren für ausreichend.
(Zwölf bis dreizehn Jahre ist das in Deutschland gebräuchliche Alter.) Die
Entscheidung der Sakramentskongregation wurde angerufen, die Antwort war
das Dekret, das Gültigkeit für die gesamte katholische Welt hat. Das Dekret
legt dar: es genüge, daß die Kinder mit den religiösen Grundwahrheiten bekannt
wären und das Sakrament von gewöhnlichem Brot unterscheiden könnten. Wer
im Empfang des Abendmahls einen religiösen Akt sieht, wird diese Begründung
schwer verstehen; er muß annehmen, daß die Katholiken einen recht niedrigen
Begriff vom Mittelpunkt ihres Kultus, vom Altarssakrament haben. Was die
deutschen Katholiken in Wirklichkeit über die Neuerung denken, wird ja in der
Öffentlichkeit nicht bekannt. Nur die erwähnten Blätter, die unbesehen alles
preisen, was von hierarchischen Stellen ausgeht, waren wieder auf dem Plan.
Aus Frankreich, Österreich und der Schweiz sind mir Preßäußerungen gegen
die Neuerung bekannt geworden. Alles, was einsichtige katholische Blätter in
Deutschland tun, ist, daß sie das Dekret nicht veröffentlichen und die „Aus¬
führungsbestimmungen" abwarten. Die Ausführungsbestimmungen bestehen in
den Konzessionen, die voraussichtlich die deutschen Bischöfe erlangen werden, —
erlangen müssen, wenn sie nicht eine wahre Revolution in allen Gemeinden
hervorrufen wollen. Es handelt sich nicht um eine äußerliche Gewohnheit,
so wie man hier die Kinder mit drei Tagen, dort mit vierzehn Tagen zu taufen
pflegt. Der Tag der Erstkommunion ist für das reifende Kind und für die
katholische Familie ein religiöses Ereignis, dessen Wirkungen meist bis ins Greisen¬
alter dauern und oft auf die Umgebung übergreifen. Dementsprechend ist auch die
Stimmung, die das Dekret unter den Katholiken erweckthat. Aber — sie bleibt im
Verborgenen, und in Ergebung wartet man ab, was die Bischöfe in Rom erreichen
werden. Wenn schon die Furcht vor dem offenen Wort überhaupt alles beherrscht, so
erst recht die Scheu vor einer Meinungsäußerung in sogenannten „inner¬
kirchlichen" Angelegenheiten. Der Klerus betrachtet sie als Dinge, die nicht
vor das Laienpublikum gehören, und die Laien haben sich daran gewöhnt, das
religiöse Denken und Wollen den Theologen zu überlassen. Die Aufnahme
des Dekrets beleuchtet diese Tatsache sehr grell. Einem tiefpersönlichen Glauben
an das Altarssakrament kann es doch nicht gleichgültig sein, welche theologische
Auffassung darüber verbreitet wird. In meinem religiösen Innenleben nimmt
die Eucharistie die Stelle des ersten und reichsten Kraftursprungs ein. Darum
ist es mir überaus schmerzlich, daß meine Glaubensüberzeugung mit den Gesichts¬
punkten des Dekrets nicht in Einklang zu bringen ist. Und wenn ich Kinder
hätte, zwänge mich zudem mein Vatergewissen, mich mit derartigen kirchlichen
Anordnungen auseinanderzusetzen. Können denn Dinge, die so tief ins Innere
der Persönlichkeit eingreifen, einer sachverständigen Instanz, der Theologie, zur
alleinigen Behandlung überlassen bleiben? Diese Selbstentäußerung der
Laien ist das denkbar schlechteste Zeugnis für ihre individuelle Religiosität.
Leider kein falsches Zeugnis, wie ich nach meinen sonstigen Beobachtungen
gestehen muß^
Das Dekret ist ein neuer Beweis für eine Tendenz im Katholizismus,
die sich in ihrer Gefährlichkeit an dem gleichen Gegenstand zu erkennen gibt.
Pius der Zehnte hat schon eine Reihe von Anordnungen getroffen, die auf
verschiedenen Gebieten einheitliche Formen herstellen sollen; ich erinnere nur
an die Einführung des vatikanischen Choralmusters, an die (für Deutschland
wirkungslose) Reform des christlichen Unterrichts, an die praktischen Maßnahmen
gegen die Ausbreitung des Modernismus, die der Schlußteil der Enzyklika
Pascendi enthält. Die Tendenz, die sich darin ausdrückt, ist die einer fort¬
schreitenden Zentralisation. Ihre Existenz ist von mir keineswegs neu entdeckt
worden, man hat auch früher vielfach gegen sie gekämpft. Heute wagt niemand
mehr, in gewissen kirchlichen Erscheinungen die Folgen der zentralisierenden
Entwicklung zu sehen. Zur gründlichen Erkenntnis des Übels wird man wohl
gelangt sein, wenn alles schematisiert und uniformiert, an lebendigem Gehalt
aber verarmt ist. Was das neue Dekret vereinheitlichen will, läßt sich nur unter
Anpassung an die nationalen Verhältnisse und Bedürfnisse regeln. Entweder
fällt es also unbeachtet unter den Tisch oder es übt einen ungesunden Zwang
aus. — Auch die bedenklichste Begleiterscheinung der unbedingten Zentralisation
Zeigt sich an dein Dekret. Man wird sich erinnern, daß sich in den letzten
Jahren die katholische Presse Deutschlands mehrfach durch die Wendung „nur
für Italien gültig" aus Verlegenheiten zog, die ihr römische Erlasse bereitet
hatten. In Wirklichkeit waren solche Erlasse durchweg für die ganze Welt
bestimmt, aber so einseitig auf Italiens Zustände zugeschnitten, daß den deutschen
Katholiken kein anderer Ausweg blieb. Zentralisierung ist naturnotwendig
immer ein Stück Roinanisierung. Wenigstens unter Pius dem Zehnten, der
selber nur italienische Verhältnisse kennt und zuverlässiger Informationen von
jenseits der Grenzpfähle anscheinend völlig entbehrt. Wer einigermaßen die
religiös-kirchlichen Gepflogenheiten Italiens kennt, merkt dem Dekret an jeder
Zeile das italienische Maß an. Es ist in vollkommener Ahnungslosigkeit von
dem Charakter der Erstkommunion in Deutschland verfaßt. Es geht aber weiter
von einer theologischen Auffassung aus, die unseren: religiösen Empfinden
widerspricht. Es ist katholische Lehre, daß die Gnadenwirkung des Sakramentes
den Willen, also die aktive Mitwirkung des Empfängers voraussetzt. Ein
Sakrament ist keineswegs ein Zaubermittel, das man nur dem Getauften zu
applizieren braucht, um ihn an Gnade zu bereichern. Dem romanischen Volks¬
charakter entsprechend legt man nun in Italien das Hauptgewicht beim Sakramenten¬
empfang auf das äußere Geschehen, in unserem Falle also auf den Genuß des
Leibes Christi. Unsere germanische Religiosität verlangt eine möglichst hohe
Anspannung der eigenen Persönlichkeit, eine entschiedene Aktivität, um die
sakramentale Vereinigung mit Gott wirklich wertvoll und fruchtbar zu machen,
^ir verlangen darum eine gewisse Altersreife; wir neigen eher dazu, das
jetzige Alter der Erstkommunikanten hinaufzusetzen. Die Italiener möchten ganz
frühzeitig das Sakrament anwenden, unter Mißachtung der rechten Empfänglichkeit
der Seele. Bei einer starren Haltung Roms könnte es nun gelingen, die
Deutschen allmählich zu einer anderen Gewohnheit und damit zu anderen
Empfindungen zu erziehen. Wie viele deutsche Katholiken, wie viele Theologen,
wie viele Seelsorger würden wohl darin einen religiösen Fortschritt erblicken?
Der zweite Erlaß, den ich hier erörtern wollte, ist das Rundschreiben an
die französischen Bischöfe vom 25. August gegen den „Sillon". Der „Sillon"
ist um 1900 von Marc Sanguier und einigen Freunden, die damals noch
Studenten waren, gegründet worden. Er sollte die heranwachsende katholische
Generation zu sozialer Tätigkeit im Geiste des Christentums und in demokratischen
Formen erziehen. Den Weisungen Leos des Dreizehnter folgend, stellte sich
der „Sillon" rückhaltlos auf den Boden der Republik. In dieser Versöhnung
der republikanischen mit der christlichen Idee sah er seine politische Aufgabe.
In neuerer Zeit hat der „Sillon" seinen Kreis erweitert und sich interkonfessionell
organisiert. „Katholiken, Protestanten und Freidenker" sollten zu einem „hoch¬
herzigen Wettbewerb auf dem Gebiete der sozialen und bürgerlichen Tugenden"
vereinigt werden. Also der „Sillon" wollte die katholische Abschließung von
der modernen „ungläubigen Welt" durchbrechen und den Versuch einer ganz
neuartigen Vereinigung von Christentum und weltlicher Kultur machen. Die
allgemeine Entwicklung drängt ja darauf hin und nach der Zerstörung des
alten Verhältnisses zwischen Kirche und Gesellschaft in Frankreich war eigentlich
ein solches Unternehmen bitter notwendig. Eine Anzahl Bischöfe bekämpfte
aber den „Sillon", zuerst geheim, dann öffentlich. Erzbischof Mignot von
Albi nahm ihn im Frühjahr d. I. in Schutz. Er schrieb: „Weder billige ich,
noch tadle ich die politischen und wirtschaftlichen Lehren des „Sillon". Das
ist nicht meine Sache. Ich beurteile die Sillonisten nur als Katholiken. Da
aber ist es für mich eine Gewissenspflicht, zu erklären, daß ich die dogmatischen
Irrtümer nicht kenne, deren man sie beschuldigt. Nichts in ihren authentischen
Schriften rechtfertigt das Mißtrauen, mit dem man sie umgibt." Trotzdem
sind am 25. August die „Irrtümer" des „Sillon" verurteilt, die Organisation
ist zerstört worden. Der Gesamtverband muß sich auflösen, die kleinen Vereine
haben sich den Bischöfen zu unterstellen und den Namen „Katholischer Sillon" zu
führen. Römische Prälaten pflegen eben den Bereich des Dogmas weiter aus¬
zudehnen als Bischöfe von der Art des durchaus modernen Mignot. Er hatte
sich in einem Schreiben an den Kardinal Andrieu gegen die „Aufsaugung der
bürgerlichen Gesellschaft in die kirchliche Gesellschaft" gewehrt. In der „Sillon"-
Enzyklika werden Grundsätze aufgestellt, die eine solche Aufsaugung zum Programm
machen.
Diese Grundsätze gehen uns in Deutschland sehr nahe an, wenn wir auch
über das Schicksal des „Sillon" kein zuverlässiges Urteil haben. „Und wenn
ihre Lehren." so sagt die Enzyklika von den Sillonisten, „auch vom Irrtume
frei wären, so wäre es schon eine sehr schwere Verfehlung an der katholischen
Disziplin gewesen, sich hartnäckig der Leitung derjenigen zu entziehen, welche
vom Himmel die Aufgabe erhalten haben, die Personen und die gesellschaftlichen
Gemeinschaften auf den: geraden Wege der Wahrheit und des Guten zu leiten."
Daß der Papst und die Bischöfe die Herde Christi, also die kirchliche Gemein¬
schaft, leiten, habe ich im Katechismus gelernt, und daran glaube ich unverbrüchlich.
Ebenso entschieden lehne ich aber auch die kirchliche Leitung der gesellschaftlichen
Gemeinschaften ab, die keine kirchlichen Zwecke verfolgen. Im „Univers" erläutert
Veuillot dies Dogma rönnscher Prälaten wie folgt: „Vergesset nie, daß das
Bekenntnis des Katholizismus gebieterisch die Unterordnung aller menschlichen
Interessen unter die Interessen Gottes in sich birgt, die Übereinstimmung aller
besonderen Ideen mit der Kirchendoktrin und schließlich die Unterwerfung aller
Gläubigen unter die religiöse Autorität und das auf allen Gebieten, in denen
diese Autorität sich das Recht zuerkennt, einzugreifen." Wer wissen will, was
„Ultramontanismus" ist, der male sich die Konsequenzen solcher Anschauungen
aus! Solange wir deutschen Katholiken nicht unzweideutig erklären, daß uns
solche Gedankengänge durchaus fernliegen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn
die Nichtkatholiken an unsere politische Unabhängigkeit von Rom, an unsere
„nationale Zuverlässigkeit" nicht glauben wollen. Zwar ist 190« von Pius
dem Zehnten den deutschen Katholiken bescheinigt worden, daß sie in den
Angelegenheiten, „die nicht die Religion berühren", ganz frei sind. Was sind
das aber für Angelegenheiten? Die „Sillon"-EnziMa sagt: „Da haben wir
also eine von Katholiken gegründete interkonfessionelle Vereinigung, um an der
Zivilisation zu arbeiten, einem echt religiösen Werke; denn es gibt keine wahre
Zivilisation ohne moralische Zivilisation und keine wahre moralische Zivilisation
ohne die wahre Religion." Und die gibt es für den Katholiken nicht ohne
Kirche, also kann sich keine kulturelle Tätigkeit der unmittelbaren und unbedingten
Leitung der Kirche entziehen! Wer wissen will, was „Klerikalismus" ist, der
untersuche die Wurzeln dieser allzu römischen Ansprüche!
Unter Leo dem Dreizehnter hat die Welt derartiges nicht erlebt. Er ließ
den Katholiken genug Bewegungsfreiheit, um der Wirklichkeit und der Entwicklung
Rechnung zu tragen. Er hat sie durch den Satz von den „gleichgeordneten
Gewalten" von der Idee des mittelalterlichen Glaubeusstaates befreit. Es scheint,
als ob die Fortschritte, die er damit ermöglicht hat, schon eine Reaktion hervor¬
gerufen hätten, so bescheiden sie anch waren. Rückwärts wird sich das Rad
freilich nicht mehr drehen lassen. Für den Katholiken sind die Tatsachen nicht
weniger bezwingend als für andere Sterbliche. Römische Erlasse werden höchstens
die Katholiken einer Kirche entfremden, die ihnen der Gegensatz zur modernen
Wirklichkeit als Pflicht auferlegen will. Heute ist die Spannung zwischen Rom
und Katholiken (nicht nur deutschen!) schon bedenklich genug und für den über¬
zeugten Katholiken schmerzlich. Es gibt ja auch in Deutschland noch Leute,
denen der „Ultramontanismus" eines Veuillot im Blute steckt. „Reformen",
wie das Dekret über die Erstkommunion, stoßen jedoch auch bei ihnen auf
gefühlsmäßigen Widerstand, wenngleich sie nach außen hin Ausschau halten, ob
es nicht irgendeinen Kritiker zu verketzern gibt. Soeben (9. September) wird
uns eine neue Überraschung aus Rom telegraphiert. Ein ^olu proprio über
die praktische Bekämpfung des Modernismus ist erschienen. Darin wird den
Studenten der Theologie das Lesen von Zeitungen und Zeitschriften untersagt!
Ich zweifle nicht, daß gewisse katholische Blätter auch das für gut finden werden,
nach anßen; im Inneren werden sie doch wenigstens ihren eigenen Abonnenten
unter dem heranwachsenden Klerus nachtrauern. Ein schweizerisches Blatt will
weiter von einer Enzyklika gegen die christlichen Gewerkschaften wissen. Kommen
wird sie vielleicht nicht, aber nach dein Vorangegangenen wäre sie eine „Forderung
des Tages".
Ich fürchte, daß erst ein ganz schwerer Schlag auf den deutschen Katholizismus
fallen muß, bis er sich aus der Starrheit des Schweigens und Verheimlichens
aufrafft. Natürlich denke ich nicht an eine Erhebung „gegen Rom" oder ähnliche
innere Unmöglichkeiten. Ich halte nur eine freimütige, ernsthafte Aussprache der
tatsächlichen Zustände, der Notwendigkeiten, der Ziele und Aussichten für unent¬
behrlich, und dies mit Rücksicht auf die bessere Information Roms, mit Rücksicht
auf die Klarheit und Ehrlichkeit unter den Katholiken selbst, — endlich mit
Rücksicht auf die nichtkatholische Öffentlichkeit, so weit sie uns aufrichtig verstehen
und mit uns unbefangen an der Kultur der Nation und der Menschheit wirken will.
in den schlesischen Parnaß Joche seit Jahrhunderten eine eigen¬
artige aristokratische Höhenluft. Vollends im neunzehnten Jahr¬
hundert beteiligt sich gerade in Schlesien der Adel ungemein stark
an der Entwicklung der deutschen Literatur. Die volkstümlichen
Brüder Eichendorff nahmen am Heidelberger Kreis der Romantik
teil und der jüngere von beiden, Joseph Freiherr von Eichendorff, wurde, wenn
wir dem Urteil Theodor Storms zustimmen wollen, der größte deutsche Lyriker
überhaupt. Karl von Holtet, Eichendorffs Freund, der das Leben des wander¬
lustigen „Taugenichts" zu seinem eigenen machte, gehörte dem niedersten Adel
an. Um so höher im sozialen Rang stand der nicht minder gefeierte Fürst
Pückler-Muskau, für Herwegh der Typus des „hochmütigen Aristokraten", der
Schöpfer der Reisebilder, die in den dreißiger und vierziger Jahren Mode
waren. Den „Briefen eines Verstorbenen" von Pückler-Muskau folgten die
„Lieder eines Erwachenden" seines Landsmanns, des Grafen Moritz von Strachwitz.
Die glutvollen, freiheitwerbenden Verse des einem streng katholischen Hause
entstammenden, leider nur allzu früh verstorbenen Edelmanns in des Wortes
reinster Bedeutung wirkten ohne Zweifel nach auf Georg Freiherr« von Dyherrn
aus Glogau, der 1875 zur katholischen Kirche übertrat, heute mit Unrecht selbst
bei seinen Glaubensgenossen vergessen ist.
Hatte Fürst Pückler-Muskau gewissermaßen den Übergang gebildet von
der Romantik zum Junge» Deutschland, so schloß sich am Ende der siebziger
Jahre der junge Prinz Schönaich-Carolath Heine an, um als Neuromautiker
zu enden.
Prinz Emil von Schönaich - Carolath ist ein Nachkomme des von Gottsched
zum Dichter gekrönten, den Germanisten auch heute noch bekannten gleichnamigen
Verfassers der „Ganzen Ästhetik in einer Nuß". Aber mit diesem literarischen
Sonderling hat unser Dichter auch nichts weiter gemein als den bloßen Namen
und die Bande des Blutes. Seine Stellung in der Literaturgeschichte ist bereits
fest begründet. Man wird sie nur näher zu umschreiben und in ihrer sympto¬
matischen Bedeutung für das moderne Kulturleben eingehender zu würdigen
haben. Denn Schönaich-Carolath mit seiner den Tiefen der Volkspoesie im
Sinne Eichendorffs nachspürenden wahrhaft deutschen Seele, mit seiner hohen,
an romanischen und englischen Vorbildern geschulten formellen Begabung ist
nicht nur der literarische Vermittler zwischen den Idealen der Romantik und der
Stilkunst unserer jüngsten Dichter, sondern noch mehr der Pfadfinder, der Weg¬
weiser, der Bahnbrecher für eine neue Zukunft, in der die klassischen Formen
der vollendeten Schönheit beseelt vom Geist der christlichen Romantik die zer¬
klüfteten gesellschaftlichen Zustände durch eine neue Kultur verewigen und wieder
versöhnen sollen. In dein sozialen Ringen der Gegenwart hat er mit ebenso
scharfem Auge wie mit warmfühlendem Herzen sittliche Werte erkannt. Und so
predigt er, als Dichter ein Hohepriester Gottes, gegen die klassenverhetzende
Barbarei eine erbarmungsvolle Menschlichkeit, gegen den Haß die Liebe, gegen
den Streit die Versöhnung, politisch, religiös, literarisch, in allem ein Jreniker
durch und durch.
Geboren zu Breslau am 8. April 185!^, wurde der künftige Dichter schon
in seinen ersten Lebensjahren von guten Genien begleitet. Der Vater, ein aus¬
gezeichneter Musiker, vor allem aber die Mutter, eine vortreffliche Kennerin
fremder Sprachen und Literaturen, weckten frühzeitig seinen für alles Schöne
empfänglichen Sinn. In Breslau sah der Knabe oft Karl von Holtei und
begeisterte sich an Strachwitz und Freiligrath, Eichendorff und Uhland. Seine
ersten poetischen Versuche gerieten nach dem Muster eines damaligen Mode¬
lyrikers, namens Ferrand. Dies hat mir Carolath persönlich eingestanden.
Abwechselnd in Schlesien und in Italien verbrachte er seine erste Jugend.
In Wiesbaden besuchte er das Gymnasium, nicht immer mit Freude an der
Schule. Die Mathematik blieb ihm wie Goethe und Mörike zeitlebens ein
Greuel. Im gastfreien Hause seiner Eltern lernte er Dichter wie Gustav Freytag
und Bodenstedt kennen. Das elegante, leichtlebige Milieu, in dem er aufwuchs,
vermochte jedoch den tiefen Tatendurst feiner Seele nicht zu stillen. Immer
größer, immer reiner wuchs seine Leidenschaft für die Poesie.
Gleich vielen anderen Dichtern vor ihn: und nach ihm reifte auch er durch
eine erschütternde, tragische Liebe. Sie schuf ihm eine schwere, eine bittere
Enttäuschung, aber ihr entquollen dafür auch seine ersten glühenden Lieder.
Von nun an irrte die Sphinx des Ewig-Weiblichen wie ein drohender Dämon durch
sein Leben. Und hätte er nicht in der unwandelbaren Freundschaft eines alten
Schulgefährten, Huth, der bis an den eigenen Tod ihm der getreueste Begleiter
blieb, einen festen Rückhalt gefunden, so wäre der früher Kindlich-Fromme in
der Philosophie Schopenhauers und Voltaires fassungslos untergegangen. Allein
diese Freundschaft, sein heißer Lebensdrang, sein im tiefsten Kern bejahender
Charakter hielten ihn über den Wellen.
Von der Stätte, wo er sein erstes großes Leid erfuhr, strebte Schönaich-
Carolath in die Ferne. In Zürich besuchte er die Vorlesungen von Scherr
und Gottfried Kinkel. „Otto der Schütz" mit seinein blühenden Sprachgeist
übte auf die sich entwickelnde Formenstrenge des jungen Dichters einen nach¬
hallenden Einfluß aus. Scherr wieder wirkte vor allem anf die demokratischen
Neigungen Carolaths ein.
1872 trat der junge Feuergeist in das Kurmärkische Dragonerregiment zu
Kolmar im Elsaß ein. Aber wie Ferdinand von Saar, Martin Greif und
andere Dichter-Offiziere der neuesten Zeit ertrug er nicht lange die harte
soldatische Last.
In alten romantischen Ländern am Mittelmeergestade zog er, ein leiden¬
schaftlicher Jäger, jahrelang umher, nach dem Tod seiner Eltern fremd in der
Heimat, ohne Frieden, ohne Trost eines mütterlichen Herzens. Zwar war er
noch einmal für einige Zeit zu seinein Regiment zurückgekehrt; allein er gab
sich vergebliche Mühe, die Ferne lockte ihn immer wieder unwiderstehlich.
In Kolmar hatte Carolath Alberta von Puttkamer, die nachmals bekannte
heißblutige Dichterin, kennen und verehren gelernt. Von ihr besitzen wir eine
Schilderung des Prinzen in jener Zeit: „Äußerlich war er nicht sonderlich
anziehend, wenigstens neben den ungewöhnlich ritterlichen und schönen Gestalten
der damaligen Offiziere kaum. Eine schlanke, ziemlich hohe Gestalt, die in
ihren Bewegungen etwas liebenswürdig Schmiegsames hatte; ein kleiner runder
Kopf, blonde, leicht geringelte Haare um eine breitgewölbte Stirn. Die kurze
Nase und die ein wenig hervorstehenden Backenknochen gaben dein Gesicht eine
slawische Prägung. Aber — die Augen! In denen lag damals schon dämmernd
die ganze feurige, schmerzliche, lebensehnende Lyrik seiner späteren Dichtung.
Die Augen hatten etwas so merkwürdig Erstauntes, als frugen sie weit in die
Zeiten und tief in das Wesen alles Lebendigen hin . . ." Byron und Musset
ergriffen Frau von Puttkamer und den Prinzen in jenen Jugendtagen ans das
mächtigste.
In Rom trat Carolath dem sinnentrnnkenen Maler Makart nahe. Der
berauschende Prunk, das tönende Pathos konnte Carolath, oft zum Schaden
seiner Poesie, nie ganz aufgeben. In Italien feierten Sturm und Drang
leidenschaftliche Orgien. Erst am Genfer See, wohl im Frühling 1837, kam seine
wandermüde Sehnsucht zur Ruhe. Seine Vermählung mit Katharina von Knorring
aus schlichtem, edlem estländischen Stamme führte die große Wende in seinen:
Leben herbei.
Nun hatte Carolath den stillen, großzügigen, opfermütigen weiblichen
Charakter gefunden. Blühende Kinder folgten. Sein Aufenthalt, zunächst zu
Palsgaard in Dänemark, dann auf dem ererbten Gut Haseldorf bei Hamburg,
dergastfreiestenStätte für aller KünstlerArt undHerkunft, schien sich überaus glücklich
zu gestalten. Da ergriff ein unheilbares qualvolles Leiden den indes im Sinn eines
dogmenfreien Christentums gläubig gewordenen Menschenfreund. In einen: sozialen
Wirken innigster Nächstenliebe erschöpfte Carolath seine letzten Lebensjahre.
Operation folgte auf Operation. Vom Krankenbett aus, mit den: Bleistift in
der Hand, schrieb er ohne Klage die teilnehmendsten Worte selbst dem entferntesten
seiner Verehrer.
Wenn einmal des Prinzen Briefe erscheinen werden, hoffentlich recht bald,
so wird sich ergeben, daß Schönaich-Carolath als Mensch vielleicht der edelste
Charakter war, den die deutsche Literatur wohl seit langem aufzuweisen hat.
Der drohende Tod schreckte ihn nicht. Monatelang vor dem Ende stand
auf seineu Befehl in: Schloß der bereitgehaltene Sarg. „Ich möchte schlafen",
waren seine letzten Worte am 30. April 1908.
Schönaich-Carolath ist vor allem Lyriker, Lyriker nicht bloß in dem eigent¬
lichen Lied, sondern auch in der Ballade, im Epos, in der Novelle. Stark
persönlich wirksam geht er fast immer von: eigenen Erlebnis aus, und wie
Goethe hätte er von sich sagen können: „Was ich nicht lebte und was mir
nicht auf die Nägel brannte und zu schaffe« machte, habe ich auch nicht gedichtet
und ausgesprochen. Liebesgedichte habe ich nur gemacht, wenn ich liebte."
Der mächtige Wahrheitsgehalt in Carolaths Dichtungen hängt damit auf das
innigste zusammen."
Schon sein frühestes Buch, die 1878 erschienenen „Lieder an eine Verlorene,
ist ein großes Lebensbekenntnis. Sein erstes und letztes Wort darin heißt Weib:
die moderne, entgötterte Frau, die Byron, Heine. Lenau in einen Abgrund
seelischer Zerrissenheit geschleudert hat. die raffinierte Dame der Welt, wie sie
Grisebachs Tannhcinserepen schildern, das dekadente Wesen der „Lieder einer
Verlorenen" von Ada Christen. Aber neben diesen literarischen Einflüssen,
denen der junge Dichter damals ausgesetzt war, weil sie mit persönlichen
Stimmungen merkwürdig zusammentrafen, neben Freiligrath, dessen exotische,
farbenprunkende Phantasie ihn, den Europamüden, in einem Gedichtzyklus
„Westwärts" zu den von keiner Kultur beleckten Rothäuten führte, ziehen ihn
auch die reineren Elemente der Poesie, die im deutschen Volkslied, bei Chamisso,
Uhland und Eichendorff verkörpert sind, in ihren Bann. Und so weist uns
Schönaich-Carolath bereits in seinein ersten Werke aus dem Salon der mondänen
Gesellschaft, aus der Sinnemvelt der großen Städte in den tiefen Frieden des
deutschen Waldes, wo er die Stimme einer anderen Herzensbraut lispeln hört
„von allem, was groß und schön, von Glück und ewiger Treue, von Liebe
und Wiedersehn". Und er sieht im Abendstrahl die alte, graue Stadt mit dem
stillen Haus auf dem Markt, mit dem Garten und Laubengang, daraus dereinst
das goldne Lachen seiner Liebsten herüberdrang. Und durch das gewaltige
Charaktergemälde „Sulamith", dieses Hohelied christlicher Nächstenliebe, wie
ihrer nur ein Weib, die Mutter, fähig sein kann, läßt Carolath schon in jenen
stürmischen Jugendtagen seinen tiefen deutschen Ernst, seine gerechte, versöhnungs¬
volle Milde durchleuchten, die sein späteres Schaffen nur noch mehr auszeichnen
sollte. So heiß ist seine Vaterlandsliebe, daß sie ihn gegen die Schwächen des
neuen Reiches keineswegs blind macht:
So tief ist sein Schmerz über das Los der blinden Menge, die wie im
Traum auf ausgetretenen Pfaden wandelt, daß er sich der ganzen Menschheit
weiht und von Gott die größte, selbstloseste Liebe erfleht, um jene miterlösen
zu können.
In den „Dichtungen", die Schönaich-Carolath 1883 herausgab, trat dies
alles noch viel deutlicher zutage. Das Herz, vom Weib zu Gott gewendet,
wird nun dauernd seines höchsten Preislieds Gegenstand. Das persönliche
Erlebnis gestaltet sich ihm zum allgemeinen Vorfall. Das Subjektive, Ver¬
einzelte erhebt er zum Typus. Erst die „Dichtungen" (jetzt in 10. Auflage)
haben Carolaths Ruhm begründet. Von nun an sehen wir den Dichter in
strenger Selbstzucht an den einzelnen Fassungen feilen, ihren stofflichen Inhalt
vermehren und aus dem lyrischen Stürmer und Dränger zum besonnenen
Epiker heranreifen. Ein märchenhafter Zauber umfängt uns. Die graue Stadt
im Norden, wie Storm sie einst geschildert hat und lange vor ihm Eichendorff,
diese Stadt mit ihren tief geheimnisvollen Stimmungen taucht wieder vor uns
auf. Sie birgt ein tragisches Liebesgeschick. Aber der Dichter hat sich in
Entsagung gefaßt. In letzten Liedern trügt er sein großes Leid zu Gott
empor. Als Büßer, als Kreuzfahrer durchzieht er die Lande, das süße Trost¬
wort auf den Lippen:
Schopenhauers Pessimismus hat der Dichter in anderer Gestalt, geläutert,
verklärt bei Wilhelm Raabe wiedergefunden. Und wie dieser in seinem gewaltigen
Roman „Schüdderunp" von einem Postkarren das Symbol für ein erschütterndes
Menschendrama herholt, so schiebt bei Carolath ein seltsamer Handelsmann
seinen Karren mit Scherben durch die Straßen. In den: einfachen Knittelvers
des Haus Sachs wird uns die tiefe Bedeutung dieser Scherben erklärt. Sie
sind die Freuden und Leiden unseres Lebens:
Mondschein und Giebeldächer habe» es dem Dichter angetan. Auf dem
Marktplatz plätschert der Springbrunnen. Von weiten: tutet der Wächter leis
in sein Horn. Wir sind in Deutschland, in der Heimat der Romantik. Freilich
Carolaths Phantasie ist nicht zügellos, seine Begeisterung für die „gute, alte
Zeit", von keiner reaktionären Tendenz bedingt, sie entspricht nur der Sehn¬
sucht des Dichters, in der Poesie der Vergangenheit das Leid der Gegenwart
ZU ertränken. Es sind die alten, längst bekannten Tilgenden des deutschen
Volkes. Auf sie setzt er seine ganze Hoffnung. Und so ist er stolzen Mutes:
Und diesen kraftvollen, männlich starken, wahrhaft deutschnationalen Dichter
hat die landläufige Literaturgeschichte lange genug als Dekadent zu charakterisieren
versucht!
Gustav Schwab sagt einmal, die Muse des aus dem Gemüt schaffenden
Dichters sei vorzugsweise an die lyrische Poesie gewiesen; erst in gereifterer
Jugend, wenn sich der Gesichtskreis des Sängers erweitert hat, wird er sich
dann der epischen Lyrik, den Sagen der Völker zuwenden. Und so verfährt
Uhland, so Schönaich-Carolath. Nicht nur in symbolischen Romanzen wie
„Merlin" oder „Das Sommerfest", das deutlich an Goethes „Erlkönig" gemahnt,
nicht nur in lyrischen Erzählungen, wie „Die Unbekannte" oder „Der schwarze
Hans", aus dem die Mystik der Seelenwanderungslehre einem Irrlicht gleich
in dämmernde Fernen seelischer Erkenntnis weist, finden wir des Dichters Drang
mut Epos ausgesprochen, sondern vielmehr in den ersten zyklischen Gedichten
„Angelina" und „Fatthume".
In der „Sphinx", in „Don Juans Tod", auf den wie ein Epilog zum
harmonischen Abschluß „Judas in Gethsemane" folgt, hat der Dichter endlich
eine epische Trilogie geschaffen, in der Kraft des Ausdrucks, Stärke der Empfindung,
faustische Tiefe des Gedankens und vor allem der hinreißende Schwung der
Sprache an Hcunerling, ja an Lord Byron erinnern.
Ibsen hat der germanischen Welt das Problem-Drama geschenkt, Schönaich-
Carolath den Deutschen das Problem-Epos. Daß hier unter der Ideenfülle
der hohe Wirklichkeitssinn, den der Dichter in seinen Liedern bekundet, leiden
muß, ist klar. Und trotzdem möchten wir nicht einen einzigen der in seinen
Epen allsgesprochenen Gedanken missen.
„Angelina" ist ein Jugendwcrk und reicht in die siebziger Jahre zurück.
Das Weib erscheint uns in diesem anekdotenartigen Gedicht noch als Märtynn,
die dem Mann zum Opfer fällt und all ihm zugrunde geht. Das römische
Blumenmädchen mit dem wehwunden Herzen fordert unser tiefstes Mitleid
heraus. Denn sie selbst ist eigentlich schuldlos. Das Schicksal hat es gewollt:
„Ihr blumenhafter Leib muß in die Gosse." Aber wie in Goethes „Faust"
Ellgelchöre den erlösten Helden in ihre Mitte nehmen und ihr Halleluja singen,
so hat auch Carolaths Dichtung ihren versöhnenden Abschluß. An der Bahre
des gefallenen Mädchens klingen die Osterglocken: „Christus ist erstanden."
In dem Liederzyklus „Fatthume" wird der Typus Weib schon von einer
andern Seite beleuchtet. Das wilde Kind der Tropen, stolz auf seine Abstammung,
seine Schönheit, seinen Reichtum, eine Mondaine der Wüste, hat ein kaltes,
berechnendes Herz. Nicht wie Angelina wird Fatthume vom Schicksal bestimmt,
sondern sie selbst ist an ihrem Leben schuld. Ihr tragischer Tod ist ihre Buße.
In „Sphinx" setzt die romantische Handlung idyllisch ein. Guy, ein vor¬
nehmer Offizier aus dem Norden, gewinnt in Italien die Gunst der jungen
adeligen Schönheit Santa. In seiner Abwesenheit ändert sie jedoch ihren Sinn
und heiratet eines äußern Vorteils wegen einen andern. Der erste Geliebte
erfährt den Treubruch. Er kann ihn nicht erklären, und nur ein alter Rabbi
verweist ihn auf die dunklen Beziehungen, die in dem Rätsel Weib schlummern.
Plötzlich sieht er Santa wieder. Die alte Liebe lodert in den Herzen beider
von neuem auf. Aber zu einem friedliche» Ausgleich ist es zu spät. Guys
Lebensüberdruß stürzt ihn in den Selbstmord. Die Grundidee ist leicht zu finden:
Der Mann wird, wie schon einmal im Paradies, vom Weib in den geistigen
Tod gehetzt.
Das zweite Stück der epischen Trilogie. „Don Juans Tod", knüpft an eine
Sageufigur der Weltliteratur an. Schönaich-Carolath hat einen durchaus
eigenartigen Stoff daraus gestaltet. Don Juan ist bei ihni nicht wie in der
Auffassung Byrons, Lenans und Grabbes der bloße Lüstling, dessen Schreckens¬
ende nur die wohlverdiente Strafe für sein schlechtes Leben bedeutet, sondern
der moderne Mensch, zwar jedes Frevels fähig, dabei doch nicht ohne Seele,
ohne einen letzten Kern innerer Güte,
Carolaths Don Juan ist der Sohn der Venus und des Ahasver. der
Zwillingsbruder des Faust. In: christlichen Grusenreich lernt er die Jungfrau
Diava kennen. Sie liebt ihn und will ihn zum Gatten. Aber Don Juan
begehrt nur den Leib, ihr Herz verschmäht er. Er bricht den Burgfrieden und
wird zum Tod verurteilt. Diava als Königin sucht ihn zu rette«, indem sie
ihn als ihren künftigen Gatten auszugeben vorhat. Aber auch jetzt verachtet
Don Juan die Ehe. So wird er dem Kerker überliefert. Diava folgt ihm
dahin. Und erst im Schatten des Todes wird Don Juans Herz von der unend¬
lichen Liebe dieses Engels gerührt. Er verzichtet auf die Wollust des Fleisches,
als er das keusche Weib in seinen Armen hält. Ein gemeinsamer Flammentod
erlöst das Liebespaar. Der tiefsinnigen, erschütternden Dichtung liegt Goethes
Gedanke zugrunde: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan". Aber Carolath hat
diese Worte in einem durchaus christlichen Sinne gedeutet. Seine Diava ist
keine andere als Dantes Beatrice.
Bildet „Don Juans Tod" die wirksamste Antithese zur „Sphinx", indem
das Weib durch beide Dichtungen in seinen elementaren Gegensätzen aufgelöst
erscheint, so tritt das übernatürliche Moment in seinem Kampf mit den: irdischen
Egoismus als das schließlich Sieghafte in dem dritten Teil der Trilogie vollends
deutlich zutage. Judas stellt sich Christus entgegen. Als scheinbarer Anwalt
der unglücklichen Kreatur wirft er ihm Furchtbares vor. Allein der Heiland
schweigt. Von seinem Auge bricht ein Leidensblick, und der Verräter flieht.
Kein Wort des Hasses folgt ihm. Auch jetzt noch begleitet ihn die Liebe des
Herrn:
„Ob gros; die Schuld, ob groß mich dus Gericht,
Die Liebe wird am nllenn'ößte» bleiben."
Judas in Gethsemane ist der typische Vertreter der selbstischen gefallenen
Menschheit. Die Liebe, im ersten Epos rein sinnlich, im zweiten von einem
Strahl der übersinnlichen erleuchtet, wird im letzten von der göttlichen Erbarmung,
der größten Liebe abgelöst. Und so bildet diese gewaltige Gedankenschöpfung
Carolaths ein durchaus harmonisches Gebilde. Ihre tiefen poetischen Einzel-
schönheiten ergeben sich nur dem eingehenden, eindringenden nachempfinden.
Fast gleichzeitig mit den „Dichtungen", die allerdings erst in späteren
Fassungen die zuletzt erwähnten Epen enthalten, erschienen Carolaths erste
Novellen. Die „Geschichten aus Moll" (gesammelt 1884) und „Tauwasser"
(1881 veröffentlicht) reichen ihrer geistigen Entstehung nach insgesamt noch in
die siebziger Jahre zurück. Die kurze chronikartige Novelle, die Raabe und Storm
in die deutsche Literatur eingeführt haben („Schön Lenchen", bereits mit zwei¬
undzwanzig Jahren in Kolmar verfaßt), Das satirische Märchen („Vom Könige,
der sich tot gelacht hat"), Die Künstlernovellen („Lia", „Entlang den Hecken",
„Der Nachtfalter"), Die soziale Studie („Die Kerze", „Am Strome"), Das
Sittenbild („Die Rache ist mein") versucht der jugendliche Dichter in jener ersten
Sammlung mit glücklichem Erfolg. Aber erst in: „Tauwasser" erlaugt er als
Novellist seine Reife. Ein ähnliches Schicksal, wie es der Erzähler der „Studien"
im „Kondor", im „Hochwald", im „Heidedorf" gedichtet hat, das alte Lied von
den zwei Königskindern, die zueinander gewollt, jenes seit der Hero- und
Leandersage für die Weltliteratur typische Motiv, gestaltet Carolath in einer
den sozialen Verhältnissen der Gegenwart entsprechenden Weise um. Die Armut
ist die große Schuld des Liebespaares, Entsagung ihr letztes Los. Ins Englische
übersetzt hat „Tauwasser" jenseits des Kanals sich viel Freunde erworben. Viel
langsamer prägen sich endlich auch uns Deutschen die hohen sittlichen Werte
dieser herben Erzählung in die Seele ein. Für Carolath freilich war auch
„Tauwasser" nur erst der Beginn einer künstlerisch gesteigerten novellistischen
Tätigkeit.
In den folgenden Gesellschaftsstudien „Bürgerlicher Tod" und „Adeliger
Tod" (1894) beleuchtet er einerseits die Arbeiterfrage, anderseits das Leben der
obersten Zehntausend. Immer bleibt er über den Parteien, auch dann, wenn
er den herzlosen Kapitalismus, die tolle Spielwut oder das Duell mit scharfen
Worten geißelt. Und es steckt ein besonderer Zug von ethischen: Heroismus in
diesen Novellen, deren Verfasser selbst zu den Vornehmen, zu den Begüterten,
zu den Hochadeligen gehört, weil sie in unserer Zeit der halben Menschenliebe
vor den letzten Folgerungen der christlichen Lehre nicht Halt machen, sondern
vielmehr sie ausschöpfen bis zum Grunde. Schönaich--Carolath ist hier, wenn
das Wort nicht in parteipolitischem Sinn genommen wird, der christlich-soziale
Herold einer neuen Zeit geworden, der Verkünder einer neuen Gesellschafts¬
ordnung, deren Stützen die alten, vergessenen Ideale sind: Arbeit und Liebe,
Gottesfurcht, Freiheit und Frieden.
In dem folgenden Novellenband (1899), der aus drei Stücken besteht,
vertieft Schönaich - Carolath die von ihm aufgeworfenen Probleme. In
der ersten Novelle „Der Freiherr" kritisiert er neuerdings die Schäden des
vielfach auf Schein und Unnatur beruhenden Truglebens so mancher Schicht in
unserer Gesellschaft. Die zweite Novelle „Regulus" führt uns in die häßliche
Zeit der Demagogenverfolgung, in die vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Sie entspricht dein glühenden Freiheitsdrang des Dichters, für den er in diesem
künstlerisch vollendeten deutschen Kulturbild eine Lanze bricht. Hatte Carolath
bisher das Evangelium der Liebe für die Menschen gepredigt, so wird er im
„Heiland der Tiere" zum Anwalt der gequälten Tierwelt, zum sittlichen Eiferer,
zum zürnenden Propheten. Der arme Tiroler, dem man die Lieblingskuh
grausam geschlachtet hat und dem nun der Irrsinn aus den schwermütigen
Augen stiert, kommt viele Jahre später beim Anblick einer neuen Tierquälerei
plötzlich wieder zur Besinnung und weiht fortan sein ganzes Leben den
gemarterten Tieren. Er hat gewiß einen stark pathologischen Zug. Und indem
er sein Leben durch einen selbsterwählten gräßlichen Opfertod beschließt, wird
uns die außergewöhnliche Veranlagung dieses Helden in seiner Art völlig bewußt.
Wir haben es hier nicht mit einem Typus zu tun, sondern mit einem durchaus
individualisierten Charakter, bei dessen Schilderung die realistische Darstellungs¬
kraft des Dichters ihre höchsten Triumphe feiert. In seinen übrigen Novellen
leidet der künstlerische Ausdruck gern unter einer gewissen Willkürlichkeit der
mitunter allzu romantischen Geschehnisse. Im „Heiland der Tiere" aber täuscht kein
Nebel der Phantasie die lückenlos geschlossene Handlung.
Mit dem „Heiland der Tiere" konnte sich Schönaich-Carolath künstlerisch nicht
leicht mehr überbieten. Auch nicht in seiner letzten größeren Novelle „Lichtlein sind
wir". MitdemsoldatischenStimmungsbild „DieKiesgrube", wie es weder Liliencron
noch Frenssen in dieser weisen Beschränkung des Naturalismus hätten schreiben
können, und der ebenso anschaulichen wie tiefdurchdachten Allegorie „Die Wild¬
gänse" bildet „Lichtlein sind wir" wieder einen eigenen Band (1903). In
seiner Weltanschauung hat der Dichter seit dem „Heiland der Tiere" noch einen
weiteren Schritt getan. Denn jetzt gilt ihm das Christentum nicht bloß als
Moral der Nächstenliebe, des Mitleids, der Erlösung, sondern auch als die
notwendige Ergänzung aller menschlichen Weisheit, ja als die höchste Wissenschaft
selbst. Daß Glauben und Wissen letzten Endes eins seien, ist Carolaths feste,
unverbrüchliche, heiligste Überzeugung. Hier berührt sich der protestantische
Romantiker mit seinem literarischen Gesinnungsgenossen Stifter, dem er selbst
auch in Versen gehuldigt hat, aufs neue. Der arme Astronom, der in „Licht¬
lein sind wir" seine Erdenliebe verliert, vom Licht des Glaubens erleuchtet
Entsagung lernt, Trost findet, ein praktisches Christentum übt, und am Ende
War scheinbar gebrochen, aber im Herzen als innerer Sieger dasteht, ist
wiederum ein Typus: der auf den Höhen der Wissenschaft wandelnde Genius,
verklärt vom Geiste Gottes, seinem Schöpfer und Urbild. Vor Gotthilf Schubert
und nach Gustav Fechner hat es solche Charaktere gegeben.
„Nie habe ich völlig begriffen," sagt der gelehrte Held, „warum die
Dichter ihre tiefsten Klagen, die blütenschweren Trauerkränze um Herzen schlagen,
die hier auf Erden Vereinigung nicht fanden. Weil Romeo und Julia starben,
ist's deshalb aus mit ihnen? Unermeßliche Zukunft harrt unser. Liegt darum
Tragik in Nichterfüllung kurzen Erdenglückes? Dennoch gelten verlorener Liebe
stets die schönsten Lieder. Hierin liegt eine Schwachheit und wiederum Mangel
an Glauben. . . Glaube ist Trost, Glaube spricht: Es gibt keine verlorene Liebe.
Glaube jubelt, daß weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges
uns scheiden mag von der Liebe Gottes. Glaube spricht, daß Herzen, die
einander geliebt, sich wiederfinden müssen kraft ihrer Liebe in Gottes Nähe.
Lichtlein sind wir; von Gott kommend, zu Gott gehend und Ruhe findend in
ihm allein." Waren bisher Carolaths Helden wie etwa bei Raabe an ihren:
tragischen Schicksal zugrunde gegangen, hier endlich hat der Optimismus des
Glaubens den Pessimismus des Zweifels völlig überwältigt.
1903 erschien eine zweite lyrisch-epische Sammlung des fürstlichen Sängers,
seine „Gedichte". Aus seinem Erstlingswerk, den „Liedern an eine Verlorene",
finden wir darin, gänzlich umgearbeitet, den Zyklus „Westwärts" und „Sulamith"
wieder. Ebenso hat er unter dem Titel „Aus der Jugendzeit" ältere Verse
aufs neue vereinigt. Gänzlich neu sind vor allem die größeren lyrisch-epischen
Dichtungen „Hans Habenichts" und „Philemon und Baucis".
Wird in „Philemon und Baucis" das antike Schönheitsideal dem christ¬
lichen Epos gegenübergestellt und die Verbindung beider als erstrebenswertes
Ziel alles Lebens und aller Poesie angedeutet, so tritt diese spätromantische
Weltauffassung in dem lyrischen Epos „Hans Habenichts" noch deutlicher hervor.
Hans Habenichts ist ein ahnenstolzer Sprößling des edlen Magnus im finstern
Grunde, den wir Scheffels wundersamer „Frau Aventiure" verdanken. Der
Einfluß dieses Dichters auf den gereiften Schönaich-Carolath ist bezeichnend.
In seinen Landsknechtliedern, von denen die letzte Fassung der „Gedichte"
eine stattliche Reihe enthält/ stellt Schönaich-Carolath sich an die Seite unserer
besten Balladendichter vom Rang eines Fontane.
Aber nicht allein in so formvollendeten lyrisch-epischen Dichtungen voll
Anschaulichkeit, Gedankenfülle und sittlicher Hoheit bewundern wir unseres Dichters
Schöpferkraft, sondern auch in den vielen rein lyrischen Gedichten, die in
der zweiten Sammlung eine stoffliche Vielseitigkeit ausweisen, wie wir sie früher
nicht beobachten konnten: reine Naturgedichte, Stimmungsbilder aus Vergangen¬
heit und Gegenwart, Lieder im Volkston, Widmungen an große Tote, Hymnen
und Dithyramben. Den Schmerz als eigentliches Los des Künstlers besingt er
noch einmal tief ergreifend in „Fontana Trevi." Überall quillt seiner Muse
unerschöpflicher Born. Am liebsten freilich singt der Dichter von seinen: lieben
Deutschland, dem arbeitsamen, sestfreudigen, demütigen, tapferen und frommen.
Manchmal klingt noch wie ehedem der Liebsten Lachen aus dein leer gewordenen
Laubengang, aber die Stürme der Jugend siud verweht und verwiesen. Aus
dem jugendlichen Minnesänger ist ein gereifter, abgeklärter Tröster und Segen¬
spender geworden.
Schönaich-Carolaths Sprache ist von wunderbarer Plastik und begeistertem
Schwung. Überwältigend ist die Pracht seiner Bilder. Die Ideen vergleicht
er mit „schwarzen Hengsten, die gleich Ungewittern so zügelfremd und wild
durchs Leben gehen, daß Frauen jubeln, Männerherzen zittern". Für die
Natur wiederholt er das Bild aus dem menschlichen Seelenleben: „Sacht wie
ein müder Herzensschlag verflicht der goldne Sommertag." Die fremdländischen
Akzente unterdrückt er später immer mehr und mehr. Das starke Enjambement,
das auffällige Übergreifen des Satzes von einem Vers zum andern, wie wir
es in seiner ersten Sammlung zum Ausdruck der seelischen Spannung und
Leidenschaftlichkeit überaus häufig wahrnehmen, tritt gleichfalls zurück.
Mit demi Charakter des Dichters ist auch seine Sprache ruhiger geworden.
Dafür entwickelt sie sich stets volkstümlicher, einfacher, vor allem im sangbaren
Lied. Nicht selten fällt dann das Metrum dem Rhythmus und der Melodie
zum Opfer. Alles in Dichtung ist belebt und bewegt. Die Gabe der Natur¬
beseelung ist auch ihm in hohem Grad eigen. „Der Nachtwind biegt flüsternd
die Saaten." „Es schlummern die Felder, die blauen, in schweigender Voll¬
mondpracht." „Viel schwarze Wolken schweben, die Sonne sticht darein." „Der
Herbstwind welke Rosen trägt." Dörfer schlafen, sternschimmernde Brunnen
springen, und lenzumschlungen lachen die weiten Lande. Schönaich-Carolath
liebt den elliptischen Satz bis auf ein einziges Wort zu verkürzen und erreicht
dadurch sprachliche Wirkung von höchster Prägnanz und Ausdrucksstärke. Dieses
eine Wort ist dann stets so charakteristisch gewählt, daß wir jeden weiteren
Zusatz als unpoetische Abschweifung verwerfen müßten. So im „Schwarzen
Hans": „Ein Försterhaus. Herbstabend. Um die Giebel stößt der November¬
wind." Oder der stimmungsvolle Eingang zu „Lichtlein sind wir": „Wald¬
einsamkeit, Schilfzauber, Wellenkühle; Sommernächte, in deren Dämmern weiß
und jungfräulich ein Stern schimmert." Und so bewährt sich Carolath auch
als Stilpräger von solcher Begabung, die mit der seines Freundes C. F. Meyer
wohl wetteifern kann. Aber seine hauptsächliche Bedeutung ruht doch in einer
andern Richtung.
Religiös-politisch und literarisch knüpft Schönaich-Carolath unmittelbar an
die Romantik Novalis', Uhlands und Eichendorffs an. Er ist der Johannes
der Neuromantik. So steht sein Bild in der Literaturgeschichte fest.
Aber zu dem alten romantischen Erbgut hat er noch eine neue Note hinzu¬
gefügt, sein durchaus persönliches soziales Empfinden. Es sei nur nebenbei
erwähnt, daß der Dichter besonders dem Gefängniswesen und der Entlassenen-
fürsorge sein volles Augenmerk zuwandte. In den „Gedanken eines Laien
über Gefangenenfürsorge" (1904) faßte er seine Reformgedanken über Strafrecht
und Strafvollzug übersichtlich zusammen. Sie erregten in Fachkreisen die
verdiente Beachtung. Aber mehr noch als in dieser Prosaschrift offenbart
steh in seiner Poesie, in seinen Novellen eine durchaus humanitäre, soziale
Auffassung.
Groß ist die Zahl derjenigen, die Schönaich - Carolath als Dichter und
Menschen öffentlich gewürdigt haben, in Buchform H. Friedrich, A. Lohr,
L. Krapp, G. Schüler, H. Seyfarth, A.Kitt, E.Kammerhoff. Seine stetig wachsende
Gemeinde umfaßt die modernsten Menschen wie die> konservativsten Protestanten und
Katholiken. Seitdem seine „Gesammelten Werke" (1907) in einer billigen
Volksausgabe, die noch vom Dichter selbst durchgesehen werden konnte, erschienen
sind, steht seiner Popularisierung nichts mehr im Wege. Freilich volkstümlich
im engsten Sinn wird Carolath nie werden. Doch mag dereinst das kommende
Geschlecht, das den hundertsten Jahrestag seiner Geburt zu feiern haben wird,
an ihn die gleichen Worte richten, die er selbst seinen: Liebling Lortzing
gewidmet hat:
Die an ähnliche Verhältnisse, wie sie in den deutschen Ostmarken herrschen,
gewöhnten Deutschen aus Galizien erschienen „als das willkommenste Material
für die deutschen Ansiedlungen im Osten des Reiches". Da die deutschen Vor¬
posten in Galizien seit der Überhandnähme der polnischen Herrschaft unhaltbar
schienen, wollte man die deutschen Gemeinden ins neue Ansiedlungsgebiet ver¬
setzen. Daher wurde eine starke Agitation betrieben, die nicht nur etwa die
überschüssigen oder ohnehin zur Auswanderung geneigten Elemente statt nach
Amerika nach Posen ziehen sollte, sondern selbst in die besten Ansiedlungen
eindrang, wo keine Not und kein Auswanderungsbedürfnis vorhanden war, so
in Dornfeld, Augustdorf, Brigidau und Landestreu. Mit welchen Mitteln
gearbeitet wurde, mag ein Beispiel lehren. In Landestreu hatte der Agitator
zunächst keinen Erfolg erzielt, weil nach Posen abgeschickte Kundschafter sich
ungünstig ausgesprochen hatten. Darauf setzte er sich mit polnischen und
ruthenischen Parzellierungsbanken in Verbindung, damit sie nichtdeutschen für
den Ankauf deutscher Höfe Geld vorschössen; auch veranlaßte er zahlreiche An¬
kündigungen in polnischen und ruthenischen Blättern, in denen die Höfe in
Landestreu zum Verkauf ausgeboten wurden. Tatsächlich erschienen nun zahl¬
reiche Käufer, die überraschend hohe Preise boten; es fand ein förmlicher Sturm
auf die deutschen Bauerngüter statt*). Fast die Hälfte gelangte in nichtdeutschen
Besitz. Nun zogen die Deutschen nach Posen; aber nur zwei oder drei
Familien blieben dort, achtundzwanzig gingen nach Kanada. Landestreu
ist jetzt über ein Drittel mit Masuren besetzt, die Widerstandskraft einer der
besten Kolonien geschwächt. Zu den Mitteln der Agitatoren gehörte
ferner die Drohung, der Hauptvorstand des Gustav-Adolf-Vereins habe
beschlossen, den galizischen Gemeinden keine Unterstützung mehr zukommen
zu lassen. Das erregte bei vielen große Besorgnis und machte sie zur Aus¬
wanderung willfährig. So kam es, daß 1900 bis 1903 eine große Zahl von
Teutschen aus Galizien auswanderte; ihre genaue Zahl läßt sich nicht angeben, denn
nur für die evangelischen Gemeinden liegen einige Angaben vor. Die Zahl
ihrer Bewohner hat sich trotz eines 50prozcntigen Überschusses der Geburts-
über die Todesfälle allein im Jahre 1902 um 768 und im Jahre 1903 um
1459 Seelen vermindert. Dieser starke Rückgang bewog die Superintendentur,
für den 6. Oktober 1903 eine Versammlung der Vertrauensmänner der evan¬
gelischen Gemeinden Galiziens zur Besprechung der Auswanderungsfragen zu
veranlassen. An dieser nahmen hundertdreißig Geistliche, Lehrer, Presbyter und
Gemeindevertreter teil. Auch die dreiPfarrer, die an den zwei großen Besichtigungs¬
reisen nach Posen, deren Kosten die Ansiedlungskommission trug, teilgenommen
hatten, erschienen in der Versammlung, um ihre Eindrücke und Erfahrungen
mitzuteilen. Diese faßte als Antwort auf die Aufforderung, die Auswanderung
der gesamten deutsch-evangelischen Bevölkerung nach Posen zu betreiben, trotz
aller Anerbietungen den einstimmigen Beschluß, gegenüber der Auswanderung
grundsätzlich eine ablehnende Stellung einzunehmen und an alle Gemeinden den
Aufruf zu richten, sich vor übereilter Auswanderung zu hüten. In ihrer
„Kundgebung" erklärten die Versammelten auch, daß sie „bei aller Anerkennung
für die guten Absichten der hinter der Auswanderungsagitation stehenden Kreise
doch die Form, in welcher diese Aufforderung an die galizischen evangelischen
Deutschen gebracht ist, nur auf das lebhafteste bedauern können". Zugleich
wählten die Versammelten einen Ausschuß, der die Angelegenheit sofort in
gründliche Behandlung nehmen und mit allen in Betracht kommenden Organen.
Behörden und Vereinen in Verhandlung treten, auch die zur Hebung der wirt¬
schaftlichen, nationalen und kirchlichen Notstände erforderlichen Hilfsaktionen ein¬
leiten sollte. An der Spitze dieses Aktionskomitees stand als Vorsitzender der
Superintendent H. Fritsche in Biala und der Pfarrer Th. Zöckler in Stanislau.
Durch Flugblätter und das neu begründete „Evangelische Gemeindeblatt für
Galizien und die Bukowina" wurde aufklärend gewirkt, falsche Behauptungen
abgewehrt, die Kolonisten zum Zusammenhalten und Ausharren ermutigt. Die
zwei Flugschriften „Soll ich nach Posen auswandern oder soll ich in Galizien
bleiben?" und „Warum der Christian nicht nach Posen gegangen ist?" enthalten
überaus treffende Bemerkungen. Zugleich wurde der evangelische Oberkirchenrat,
die Zentralleitung des Gustav-Adolf-Vereins und dessen österreichischer Haupt¬
verein, ebenso der Allgemeine deutsche Schulverein über die Verhältnisse unter¬
richtet und um reichlichere Unterstützungen gebeten. Trotzdem von gegnerischer
Seite diese Arbeit sofort bekämpft, ja selbst im Gustav-Adolf-Verein
dagegen Stimmung gemacht wurde, zeigten sich bald die guten Wirkungen der
Abwehrbewegung. Im Laufe des Jahres 1904 nahm die Auswanderung
bedeutend ab und hat seither stetig an Bedeutung verloren. Beigetragen haben
zu diesem Erfolge verschiedene Faktoren. In Deutschland selbst erhoben sich
Stimmen gegen die maßlose Agitation, die dort die Auswanderung hervorrief,
wo kein Bedürfnis danach vorhanden war. Nachdem man bessere Einsicht in
die Verhältnisse gewonnen hatte, mußte sich die Erkenntnis einstellen, daß das
Unternehmen ein verfehltes war. Dazu kam vor allem, daß die Deutschen in
Posen vieles fanden, was ihnen mißfiel. Die meisten schreckte von der Aus¬
wanderung die „Rente ohne Ende" ab. In Galizien ihr Eigentum aufzugeben,
um in Posen fünfunddreißig bis fünfzig Jahre für den ihnen übergebenen Grund
und Boden die Rente zu zahlen, erschien überaus beschwerlich. Seit 1904
fanden bereits Rückwanderungen aus Posen statt, die selbstverständlich andere
Deutsche von der Auswanderung abschreckten. Zu dem allen kam, daß die
nationalen und wirtschaftlichen Organisationen der Deutschen in Galizien sich
hoffnungsvoll zu entwickeln begannen; andrerseits wurde man gewahr, daß der
Kampf zwischen den Deutschen und Polen auch in Posen überaus heftig sei,
auch dort die Polen deutsche Güter gewinnen, und das Schicksal der Deutschen
daselbst sich durch einen Umschwung der Politik ebenso ändern könnte wie in
Galizien.
So ist die Übersiedlung der galizischen Deutschen nach Posen gescheitert.")
Der Gewinn, den die Ostmarken aus den dahin gezogenen Ansiedlern zogen,
ist verhältnismäßig gering gegen den Verlust, den das Deutschtum in Galizien
und damit der deutsche Einfluß im Osten überhaupt erlitten hat. Nach der
Berechnung der Superintendentur ist der Verlust der evangelischen Deutschen
allein von 1900 bis 1905 auf etwa sechstausend Seelen zu veranschlagen. Einzelne
Gemeinden haben sich ganz aufgelöst, so 1900 Rudolfshof und Rehberg, 1904
Sulichow, Walddorf, Alt-Jazüw und Baranöwka, 1907 Zbora. Viele Gemeinden
wurden überaus geschwächt, indem sie nichtdeutsche Elemente aufnahmen. In
manchen gingen daher auch die deutscheu Schulen ein, so in Felsendorf und Suszno.
Trotzdem ist das galizische Deutschtum noch durchaus lebensfähig. Auf die
Deutschen in den Städten ist mit einigen Ausnahmen wohl wenig Verlaß; sie
stehen zumeist, wie dies auch anderwärts unter ähnlichen Verhältnissen zutrifft,
unter dem Einfluß des herrschenden Volkes und schwimmen mit dem Strom.
Es ist allgemein bekannt, daß das Deutschtum in den Städten große Verluste
erlitten hat; es gibt eine Menge polonisierter deutscher Familien. Der Kauf¬
mann und Handwerker spricht seiner Kundschaft zulieb polnisch und wird
polonisiert; die gebildeten Deutschen, Beamte u.tgi., geraten leicht unter
polnischen Einfluß. Doch ist auch in einzelnen Städten, z.B. in Stryj, ein
merklicher Schritt zur Besserung der Verhältnisse geschehen, und Männer der
bürgerlichen Berufe zählen zu den besten Führern der galizischen Deutschen.
Vor allem lebt in den geschlossenen deutschen Ansiedlungsdörfern deutscher Geist
und deutscher Mut. Viele von den Männern beherrschen die polnische
und ruthenische Sprache, weil sie mit den Ämtern verkehren und sich im
Geschäftsleben der landesüblichen Sprachen bedienen müssen. Die Frauen
benötigen dieseKenntnisse nicht, sie erhalten daher deutsche Sprache und Sitte in Haus
und Dorf. Gut deutscher Geist macht sich allgemein bemerkbar. Ein deutscher
Landmann in Brigidau sang, als der christlich-deutsche Bund in Galizien
entstand (1907), sein „Mer wolle more deutsch sein", in dem es treffend heißt:
Und ein anderes Gedicht desselben Jakob Kopf beginnt mit den
Worten:
Und schließt mit den Worten:
Von welch regem deutschen Gefühl zeugt jener Brief eines schlichten
deutschen Arbeiters aus Boryslaw an den Deutschen Schulverein, in dem die
Sehnsucht nach einem deutschen Lehrer zum Ausdruck kommt. Überall macht
sich ein verheißungsvoller Aufschwung des deutschen Lebens bemerkbar. Unter
katholischen und evangelischen Deutschen findet man gleich tüchtige völkische
Gesinnung; eine Spannung zwischen beiden Bekenntnissen ist nicht vorhanden,
eine Trübung dieses Verhältnisses ist unter jeder Bedingung zu vermeiden. Der
l907 begründete „Bund der christlichen Deutschen in Galizien" ist eine starke
Stütze des Deutschtums geworden. Das von ihn: herausgegebene „Deutsche
Volksblatt" fördert überaus die kräftige Entfaltung des völkischen Bewußtseins
und der völkischen Bewegung. Es ist bezeichnend, daß dieses Blatt selbst auf
die lauen Zipser Sachsen im benachbarten Nordungaru einzuwirken sucht
und besondere Zipser-Nummern herausgibt. Noch bedeutender würde der Erfolg
des „Volksblattes" sein, wenn einzelne taktische Fehler vermieden würden; daß
nicht alles gleich gut gelingt, wird man bei den schwierigen Verhältnissen leicht
begreifen. Zu erwähnen ist hier auch die Gründung des Kinderheimes in
Stanislau (1896), des evangelischen Waisenhauses in Biala (1905), des
evangelischen Studentenheimes in Lemberg (ebenfalls 1905), ferner der Jung-
männer-, Jungfrauen- und Frauenvereine, der Lesehallen und endlich des Deutschen
Landeslehrervereines (1909). Seit 1904 wirkt auch das „Komitee für Vermittlung
von Gaben für Lehrerunterstützungen", das Jahr für Jahr stets anwachsende
Summen den leider nicht entsprechend besoldeten Lehrern zuführt; allein
1907/08 sind fast 17000 Kronen an 88 evangelische Lehrer verteilt worden. Wer
in Stanislau die Früchte der regen nationalen Arbeit des Pfarrers Zöckler,
die evangelische Kirche und Schule, das Warenhaus, das Knaben- und Mädchen¬
heim mit den großen dazu gehörigen Wirtschaftsanlagen gesehen hat, der
wird erkennen lernen, daß die galizischen Deutschen hier eine starke Hochburg
besitzen; er wird aber auch begreifen, warum Zöckler zu den von den Polen
bestgehaßtesten Männern gehört! Für die katholischen Deutschen wird leider
nicht in gleicher Weise gesorgt. Es ist ganz merkwürdig, welche Gleichgültigkeit
in dieser Beziehung bisher in den deutsch-katholischen Ländern herrscht. Welch
bedeutende Summen opfern diese für katholische Zwecke anderer Länder; im
benachbarten Galizien lassen sie aber ihre Volksgenossen und Glaubensbrüder
ohne alle Hilfe! Daß diese Zurücksetzung bei den katholischen Deutschen
Galiziens ungleiche Gefühle erregt, hat deren Kundgebung anläßlich des
Dresdner Katholikentages bewiesen.
Auch wirtschaftlich sind die galizischen „Schwaben" nicht zu verachten. Neben
einzelnen minder gut gestellten Ansiedlungen gibt es wohlhabende und die
Mehrzahl hat mindestens nicht mit Not zu kämpfen. Wo dies der Fall ist,
dürften die sich entwickelnden Wirtschaftsorganisationen Abhilfe verschaffen. Sie
müssen dahin allsgebildet werden, daß auch weiterer Erwerb von Gründen durch
sie ermöglicht wird. Insbesondere werden sie darüber zu wachen haben, daß
deutscher Boden nicht verloren geht. An Kenntnissen, Fleiß und Nüchternheit
überragen die Deutschen zumeist auch jetzt noch die andere Bevölkerung. Auch
ihrer Zahl nach (rund etwa hunderttausend) sind sie ein nicht zu verachtender
Faktor. Jene Gemeinden, in denen infolge des Mangels an deutscheu Schulen
die Polonisierung um sich gegriffen hat, könnten zum größten Teil zurückgewonnen
werden.
Die galizischen Deutschen besitzen somit noch alle Eigenschaften, um treue
Vorposten des deutschen Volkes gegen Osten zu sein. Sie haben sich bisher wacker
gehalten, ohne daß ihre Volksgenossen sich allzuviel um sie bekümmert hätten.
Der Gustav-Adolf-Verein hat wohl schon seit dem Ende der sechziger Jahre den
evangelischen Deutschen seine wertvolle Hilfe gewährt; um die katholischen hat
sich niemand damals bekümmert. Man wußte eben von diesen Deutschen nichts;
man glaubte, daß die Deutschen in Galizien zumeist Juden seien; deshalb
wollten die Deutschnationalen im sogenannten Linzer Programm tatsächlich
Galizien den Polen ausliefern. Als man im Westen von der Gründung des
Christlich-deutschen Bundes Nachricht erhielt (1907), sagte ein Blatt wörtlich
folgendes: „Nun haben wir's. Wir dachten, das Deutschtum Galiziens setze
sich ausschließlich aus deutsch sprechenden Juden zusammen. Und nun kommt
die Kunde von der Gründung eines christlichen deutschen Vereins in Galizien.
Unsere herzlichsten Glückwünsche unseren Brüdern in der Ferne!" Es ist aber
auch erklärlich, daß das deutsche Volk nichts von diesen Vorposten hörte und
sich um sie nicht kümmerte, denn die zerstreuten deutschen Siedlungen wußten
kaum etwas voneinander; sie waren nicht organisiert und pflegten keine Beziehungen
zu den Deutschen des Westens und zu jenen der anderen Karpathenländer.
Kein Wunder, daß ihre Feinde mit diesen vergessenen Vorposten bald fertig zu
werden hofften, erinnerten sie sich doch daran, daß einmal schon ein kräftiges
deutsches Leben in Galizien bestanden hatte und vernichtet worden war.
Aber die Verhältnisse haben sich geändert. Das Nattonalgefühl des deutschen
Volkes ist erwacht; seine mächtigen Organisationen lenken ihre Aufmerksamkeit
immer stärker auf die Deutschen in der Zerstreuung. Die galizischen Deutschen
haben sich organisiert und die Aufmerksamkeit des Westens auf sich gelenkt.
Zwischen den verschiedenen Gruppen der Karpathendeutschen entwickeln sich freund¬
schaftliche Beziehungen. Die mißglückte Auswanderuugsbewegung muß die
Überzeugung hervorgerufen haben, daß diese Kolonisten noch stark genug sind,
um da, wo sie einmal stehen, deutsche Arbeit zu verrichten, daß sie nicht daran
denken, die Vorposten aufzugeben. Das deutsche Volk muß zur Erkenntnis
kommen, daß es keinen Schritt aus diesem Grenzgebiete zurückweichen darf: nicht
die vorgeschobenen Vorposten zurückziehen, sondern sie verstärken muß die Aufgabe
der praktischen Politiker sein. Ins Grenzgebiet gehören überschüssige Kräfte aus
den übervölkerten westlichen Gebieten I Die Rückziehung der Deutschen aus
Galizien stellt die Deutschen in Schlesien dem Ansturm des Slawismus bloß;
es würde eine vollständige Isolierung des Bukowiner Deutschtums bedeuten,
eine Wiederbelebung des oberungarischen, besonders des Zipser Deutschtums
unmöglich machen. Würde einmal der Abbröcklungsprozeß beginnen, so wäre
nicht abzusehen, wie weit er fortschreiten könnte. Die Opfer, die das deutsche
Volk sür die vorgeschobenen Ansiedlungen bringt, denen insbesondere die Kirchen-
und Schulerhaltung bedeutende Lasten auflegt, sind ebenso nützlich angebracht,
wie Summen für die Erbauung von Festungen im bedrohten Grenzgebiet.
Den Feinden des galizischen Deutschtums muß alle Hoffnung genommen
werden, daß sie es niederringen können. Wohl hat der mächtige polnische
Adel einst vermocht, das deutsche Bürgertum zu vernichten *); aber Polen war
damals ein fast rechtloser Staat, in dem Gewalt vor Recht ging; das Bürger¬
tum war auf den Reichstagen machtlos; die Bürger der einzelnen Städte
hatten miteinander kaum engere Beziehungen, mitunter standen sie sich feindlich
gegenüber; der Zusammenhang mit der alten Heimat hatte aufgehört, Nach¬
schübe, Anregungen, Hilfeleistung von dort blieben aus; von einem völkischen
Bewußtsein, das sie mit dem großen deutschen Volke und den Deutschen in den
Nachbarländern geeint hätte, war keine Rede. Jenen deutschen Bürgern des dreizehnten
bis fünfzehnten Jahrhunderts hafteten dieselben Schwächen an, denen zum großen
Teil bisher auch die neueren deutschen Stadtbewohner in Galizien zum Opfer
gefallen sind. Nun aber lebt im deutschen Bauern deutsche Kraft fort und
alle erwähnten Mißstände sind günstigeren Verhältnissen gewichen. Viel ist in
den letzten Jahrzehnten, ja noch in den letzten Jahren versäumt und gefehlt
worden, noch ist es aber an der Zeit, die Stellung zu behaupten. Nicht wie im
sechzehnten und siebzehntenJahrhundert ist das deutscheVolkzerfahren und zersplittert,
unfähig seine Ableger zu schützen. Die Ereignisse von 1866 haben die Reichs¬
deutschen erstarken lassen, die Lage der Deutschen in Österreich und insbesondere
auch in Galizien erschüttert. Von dem wiederhergestellten innigen Bundes-
verhältnisse darf man mit Recht eine allmähliche Erstarkung des österreichischen
Deutschtums erhoffen. Das geeinigte deutsche Volk wird seine Grenzer nicht
erdrosseln lassen. Die Deutschnationalen Österreichs haben jetzt die Bedeutung
des karpathenländifchen Deutschtums erfaßt, sie geben es nicht mehr auf und
werden passende Gelegenheit finden, es zu schützen und seine Rechte festzulegen.
Da überdies die Lage der Polen durch die aufstrebenden Ruthenen gefährdet
ist, müssen die Polen sich Reserve auferlegen. Die Ruthenen stehen der deutschen
Bewegung in Galizien nicht unfreundlich gegenüber.^) Wie diese müssen die
Polen zur Erkenntnis gelangen, daß die Deutschen wohl stark genug find, ihre
erworbenen Rechte zu verteidigen, daß sie aber die galizischen Polen nicht
schädigen wollen.
Schließlich muß aber auch die Regierung Österreichs zur Erkenntnis kommen,
daß die Erhaltung des Deutschtums in Galizien eine staatserhaltende Tat ist.
Bredetzky hat vor hundert Jahren darüber noch heute sehr zu beherzigende Worte
geschrieben: „Als vor dem Ausbruche des letzten französischen Krieges (1809)
das junge Volk zum Militärdienst ausgehoben wurde, ergriff auch die galizischen
Deutschen das Feuer der Begeisterung für die Sache der Monarchie und des
edlen Fürstenhauses. Mehrere Väter von den deutschen Ansiedlern (ich habe
dies aus dem Munde angesehener Offiziere) stellten ihre Söhne selbst zum
Militärdienst und ernährten dieselben in kräftigen Worten zur Bravour und
Treue, während sie den Schmerz über die Trennung von denselben männlich
zu unterdrücken wußten. Ein Betragen, das gegen das Heulen und Wehklagen
der Eingeborenen, womit sie bei ähnlichen Veranlassungen die Luft erfüllen, sehr zur
Ehre der Deutschen abstach. Als während des Krieges die deutschen Ansiedler in der
Lubaczower Kameralverwaltung (welche von polnisch-sächsischen Truppen besetzt war)
angehalten wurden, der neuen Regierung den Eid der Treue zu leisten, weigerten
sich dieselben, es vor geschlossenem Frieden zu tun. Als man ernster in sie drang,
erklärte einer im Namen aller, er wolle lieber seine Wirtschaft im Stiche lassen
und arm, wie er ins Land kam, wieder auswandern, ehe er einer Regierung
untreu würde, der er alles zu verdanken habe. Die männliche Erklärung hatte
die gute Wirkung, daß der gerührte Kommissär von der Eidesforderung abstand,
und wirklich waren die Deutschen die einzigen, welche diesen voreiligen Eid
nicht geleistet haben. Da nach hergestellten Frieden diese zur Zeit der Gefahr
erprobte Denkart für die Frucht des guten Unterrichts ihres Seelsorgers an¬
gesehen wurde, so bewilligte Seine Majestät dem Pastor Suchard zum Beweise
der allerhöchsten Zufriedenheit eine Gehaltszulage von 200 Gulden nebst einer
goldenen Medaille. Möge nie eine Zeit kommen, in welcher man das An-
siedlungswesen in Galizien, diesen wichtigen Zweig der Staatswirtschaft, ver¬
nachlässigen, den von der Hand eines weisen Monarchen gepflanzten, in voller
Blüte stehenden, eine reiche Ernte versprechenden Baum zugrunde richten lasse."
Die Anklagen, die in den obigen Ausführungen gegen die
preußische Negierung erhoben werden, decken sich im allgemeinen mit den
Klagen, die mir auch in den deutschen Kolonien des Zartums Polen und
Wolhyniens zu Ohren gekommen sind; freilich überzeugte ich mich an Ort und
Stelle, daß bei diesen Klagen andere die Auswanderung begünstigende Ver¬
hältnisse völlig unberücksichtigt gelassen worden sind. In Galizien gehört dazu
u. a. auch das „Brasilienfieber", von dem Polen und Ruthenen und von der
slawischen Umgebung angesteckt auch Deutsche ergriffen worden sind. Infolge
dieser Erfahrungen haben wir uns an die Königliche Ansiedlungskommission in
Posen gewandt und erhielten von deren Präsidenten, Herrn Wirklichen Geheimen
Oberregierungsrat I)r. Gramsch, folgende Mitteilung:
„Die Rückwanderung von Galizien nach Posen und WestPrenßen hat schon im Jahre 1898/99
eingesetzt, ohne jede Werbearbeit der Ansiedlungskommission.
Die Rückwanderer gaben durchweg unleidliche national-Politische und Schulverhältnisse
an, die schon seit Jahren'eine große Auswanderung nach Amerika veranlaßten. Einen Teil
der auf der Auswanderung über See begriffenen Familien auf die Siedlungen in der Ostmark
hinzuweisen und nach Posen zu leiten, sah die Ansiedlungskommission als ihre nationale
Aufgabe an, besonders auch im Interesse der Deutscherhaltung der Auswanderer. Es ist kein
Zweifel, daß damals sowohl von den Kolonisten selbst als auch von vielen politisch gereiften
Personen, darunter auch Geistlichen, die Lage zahlreicher Schwabenkolonien in Ostgalizien als
unhaltbar angesehen wurde und die Überzeugung bestand und auch heute noch besteht, daß
die Deutschen dort zwischen Polen und Ruthenen zerrieben werden. Übrigens teilen diese
Überzeugung heute maßgebende Mitglieder des Bundes der christlichen Deutsche» in Galizien.
Wenn im Jahre 1903 zugunsten der Auswanderung nach Deutschland eine Agitation statt¬
fand, so geschah dies eben von Leuten, die auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen die Ver¬
pflanzung der gefährdeten Gemeinde als einzige Rettung der zersprengten kleinen Vorposten
betrachteten. Die Ansiedlungskommission selbst hat von Anfang an Wert darauf gelegt,
Positionen, in denen das Deutschtum Aussicht hat, seine Stellung zu halten, nicht zu schwächen.
So wurden und werden alle Bewerber aus Westgalizien (der Gegend um Biala), aus
Mähren, Österreich-Schlesien, Böhmen, Siebenbürgen usw. grundsätzlich abgelehnt. Sobald
bekannt wurde, daß die galizischen Deutschen auch in den zerstreuten, national höchst
gefährdeten Ortschaften sich zu dem Bunde der Deutschen Galiziens zusammenschlossen, hat
jede Werbearbeit für die Ansiedlungskommission aufgehört, was freilich nicht hindert, daß
dauernd Nachfragen aus Galizien an die Ansiedlungskommission gelangen. Die in Posen
und Westpreußen angesiedelten galizischen Rückwanderer finden zum überwiegend größten Teile
ihr gutes Vorwärtskommen und sitzen, vermischt'mit anderen Deutschen, in blühenden
Ansiedlungen. Wenn auch in teilweise Polnischer Umgebung ist ihre nationale Stellung doch,
wie kaum erwähnt zu werden braucht, eine ganz andere wie in Galizien; Schule, Gemeinde¬
verwaltung, Behörden usw. sind rein deutsch. Diese Rückwanderer nützen nicht nur in Posen
dein Deutschtum, Sündern sie sind dem Deutschtum für alle Zeiten erhalten, was zum mindesten
sehr fraglich wäre, wenn sie in Galizien geblieben wären, und was zweifellos in zwei
Generationen nicht mehr der Fall wäre, wenn sie nach Amerika ausgewandert wären. Im
ganzen sind von 1899 bis Ende 1909 13S0 Familien aus Galizien in Posen und Westpreußen
Wir würden uns freuen, wenn diese Angaben geeignet wären, das Mi߬
trauen der Deutschen Galiziens gegen unsere Regierung wenigstens abzuschwächen.
Der schöne starke Junge soll einmal ein tüchtiger Bauer werden. Seit seiner
Geburt herrscht eitel Freude im Hause. Die Bäuerin ist von ihren Angstzuständen
erlöst, der Bauer ist stillvergnügt, die Dirn pflegt sich. Es wird beschlossen, zur
Aushilfe einen Knecht ins Haus zu nehmen. Es kommen Tage, wo es reine
Wonne ist, „im Elend" zu sitzen. Im stillen bitte ich den Leuten das Unrecht
ab, das ich ihnen getan habe. Sie sind gar nicht so bös, wie es mir zuweilen
schien. Sie sind die Güte selber. Es liegt nur an meiner Schwarzseherei. Fried¬
licher und schöner kann man nirgends leben als in dieser Geborgenheit. Freilich
schickt der Himmel manche Prüfung. Der kräftige Säugling wird plötzlich krank.
Die Sorge und Liebe der Hausgenossen verdoppeln sich. Alle sind zugleich um
ihn geschäftig. „Was er denn nur hat, der Bub?! Man hat ihm doch schon seit
dem dritten Tage nach der Geburt feste Nahrung gegeben, damit es vorhalte und
daß er ein starker, gesunder Bengel werdet"
„Feste Nahrung? Schon am dritten Tage nach der Geburt?" Ich wende
allerlei Bedenken ein. „An fester Nahrung ist er krank geworden! Darmkatarrh!"
Aber die Leute wollen nicht hören.
Der Kleine wimmert und wird immer kleiner statt größer. Er wächst in
sich hinein.
„Dirn, geh' zum Doktor und lasse dir ein Mittel verschreiben für den Jungen!"
Ich mahne täglich dringender.
Der schöne gesunde Bub hat alsbald eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem
gekreuzigten Herrgöttlein an der Wand.
„Morgen, morgen!" verspricht die Magd infolge meiner Mahnung.
Ich höre, wie ihr die Bäuerin zuraunt: „Willst du ihn dir vom Doktor
verpatzen lassen?"
„Nein, um Gottes willen!" Natürlich geht die Magd nicht zum Doktor. „Die
dummen Stadtleut'! Alles glauben sie besser zu wissen!"
„Denkt die Bäuerin nicht selbst an Nachkommenschaft?" frage ich gelegentlich
die Dirn. „Und was bedeuten die leere Kinderwiege und der Totenkranz?"
„Ja mei, da hat's G'schichten geben! Die Wiege war ein Hochzeitsgeschenk.
Aber mit Kindern wird's nichts bei der Bäuerin. Solange noch die Mutter des
Bauern im Hause gelebt hat, der alte Drachen, hat es nichts als Zank und Streit
unter den jungen Leuten gegeben. Die Alte hat ihre Schwiegertochter nicht leiden
mögen und hat unter den jungen Leuten Unfrieden gestiftet. In seinein Jähzorn
hat der junge Bauer sein Weib mit einer Eisenstange traktiert, wobei sie einen
inneren Schaden erlitten hat, so daß es vorbei ist mit den Aussichten auf Mutter¬
schaft. Alle sind wir damals davongelaufen, das Weib, der Knecht und ich, die
Dirn. Da ist der Bauer allein dagesessen mit dem alten Drachen. Aus Ver¬
zweiflung wollte er sich am Dachboden erhängen, aber die Mutter hat ihn recht¬
zeitig abgeschnitten, bevor er kalt war. Der Bürgermeister hat sich ins Mittel
gelegt, hat den Bauer und die alte Bäuerin verwarnt, und darauf sind wir alle
mit der jungen Bäuerin wieder ins Haus zurückgekehrt. Die alte Bäuerin war
von Gift und Galle voll und ist bald darauf gestorben. Seither ist Ruhe im Haus.
Nur dann und wann fängt der Bauer zu rappeln an, verflucht uns alle, besonders
das arme Weib und schreit, wir hätten seine Mutter unter die Erde gebracht.
solchen Zeiten muß man ihm aus dem Wege gehen, sonst passiert ein Unglück.
Deswegen hat die Bäuerin eine „Summerpartei" genommen, damit noch ein
fremder Mensch im Hause ist, vor dem er sich in acht nimmt. Wir sind herzlich
froh, daß Ihr bei uns seid, das hält den Frieden aufrecht."
Ich bin nicht sehr von meiner Mission als Friedensengel erbaut. So also
sieht es in den Hütten aus, auf denen alle Anzeichen des Glückes ruhen! So ist
der Friede beschaffen, der auf der reinen Stirn dieses Hauses in ein paradiesisches
Gefilde hineinleuchtet! Die Unschuld der ersten Menschen schien mit diesem Glück
und diesem Frieden eine Dreieinigkeit zu bilden. Das Glück bebt aus Furcht vor
dem Unheil, der Friede zittert vor dem lauernden Streit, und die Unschuld--
Man weiß ja, wie es damit steht.
Ich sehe die Dinge mit anderen Augen an, seit sich die fehlenden Glieder in
der Kette der verhängnisvollen Anzeichen gefunden haben. Die unselige Kunst,
das Paradies „ins Elend" zu wandeln, scheint wirklich Gemeingut der Menschen
zu sein. Mußte ich in diese Einsamkeit flüchten, in die Nähe primitiver, unver¬
dorbener, freier, glücklicher Menschen, um den alten Fluch noch immer wirksam
zu finden? Gibt es kein Entrinnen?
Das kranke Knäblein sieht immer erbarmungswürdiger aus. Es wimmert
nur mehr ganz leise, ab und zu stellen sich auch Zuckungen ein. Und eines Morgens
hat sich die Dirn aufgemacht und trägt den Kleinen, behutsam in ein Tuch
gewickelt, zum Arzt in den Ort hinunter. Endlich!
Der aber warf nur einen flüchtigen Blick auf das Kind und schrie die weinende
Magd an: „Nix mehr z' machen! Heimgehen, sterben lassen!"
Am selben Tag habe ich selbst mit dem Arzt gesprochen. Der Mann war
noch ganz außer sich vor Ärger. „Diese Viecher!" polterte er. „Den Doktor suchen
sie auf, wenn es zu spät ist! Bei der schlechten, unpassenden Kost gehen neun
Zehntel der Kinder an Gedärmkatarrh drauf. Und da kann man reden, was man
will. Diese Dickschädeln!"
Erbsünde, ich glaube, es gibt nur eine, sie heißt Dummheit. Mit Dummheit
kann man morden. Der Junge hat es erfahren. Es ist merkwürdig, wie man
nach und nach sehen lernt. Es fällt mir jetzt erst aus, daß eigentlich auch die
Bauersleute ungesund aussehen, fast krank. Sie leben doch immer in der frischen
Luft! Immer auf dem Lande! Immer in der freien unverdorbenen Natur! Was
sollen wir Städter sagen? Im Vergleich mit diesen Erscheinungen sind wir Aus¬
bünde von Kraft und Gesundheit.
„Warum badet ihr nie?" fragte ich gelegentlich die Hausleute. „Der See
ist doch so nahe?"
„Wir sind doch nicht schmutzig!" lautete die etwas spitze Antwort.
„Schmutz wird's erst, wann's naß wird."
Der Bauer hat halt seine eigenen Anschauungen über Hygiene.
„Bäuerin, die Henne, scheint mir, hat im Wald ein Nest gemacht und dort
Eier gelegt, ich höre sie gackern; willst nicht einmal nachschauen?"
Aber die Bäuerin sah mich ungläubig an. Nach vierzehn Tagen hatte ein
fremder Bursch zufällig das Nest mit vierundzwanzig Eiern gefunden, sämtlich
verdorben.
„Ja, was hilft eure Sparsamkeit unter solchen Umständen?"
Rings um das Haus gedeiht das schönste Obst. Aber es fällt vor der Reife
wurmstichig zu Boden. Die Bäume sollten von den Raupen gesäubert werden.
Es könnte eine schöne Obsternte werden. Aber der Bauer verzichtet lieber auf
die winkende Einnahme, um an Personal zu sparen. Er Schindel sich fürchterlich,
knickt an allen Ecken und Enden, vergönnt sich weder Fleisch noch Gemüse, und
lebt doch wie ein Verschwender. Der Fruchtsegen liegt gehäuft rund ums Haus,
es brauchte nur kleine Mühe und Umsicht, um ihn ins Haus hereinzubringen.
Verbesserungen, neue Methoden, etwas mehr Arbeitskräfte täten not. Aber davon
will der Bauer nichts wissen. Er zieht mit einer Pflugschar aus, die in der Form
so alt und unvollkommen ist, wie etwa zu Zeiten des ersten Menschenpaares nach
der Vertreibung aus dem Paradies. Er hat diese Arbeitsweise so von seinen
Vorfahren gelernt und hält sich strenge daran.
Nach und nach hat sich mein Blick für diese Dinge geschärft. Ich bemerke,
daß rund in der Umgebung die jüngere Generation fast ebenso krank und schlecht
aussieht wie meine Hausleute. Den Gedärmkatarrh haben sie als Säuglinge
überstanden, dann sind sie mit dicken Wasserköpfen und rachitischen Beinen unter
Geflügel und Hunden auf dem Hof herumgekrochen, und wenn sie nicht früher
gestorben sind, dann haben sie mit zwölf Jahren Pfeifen rauchen gelernt, mit
dreizehn Biertunken, mit vierzehn Fensterln, mit fünfzehn Radfahren, rin zwanzig
Jahren sind viele schwindsüchtig geworden oder vollständig vertrottelt, mit fünf¬
undzwanzig Jahren sind sie fertige Bauern und leben, heiraten, erzeugen Kinder
erziehen sie, bestellen ihr Feld und ihr Vieh, nach Ur-Urväterart ohne Nerven
unter der Haut.
Ich fühle immer mehr, wie weit wir Kulturmenschen von der „unberührten"
Natur entfernt sind.
Das kleine Herrgöttlein liegt auf der Totenbahr.
In einer Ecke der unteren Wohnstube links neben dem Hausflur wurde die
Bahre hergerichtet, ein hochaufgeschichtetes Lager mit weißen Linnen bedeckt und
Spitzen, die bis zum Boden herunterhingen. Auf hohe Leuchter wurden sehr lange
Kerzen gesteckt und herumgestellt. Die Weiber der Nachbarhöfe waren geschäftig,
die Sache so feierlich als möglich herzurichten. Gegen Abend waren die Vor¬
kehrungen beendigt, das Knäblein, zum erstenmal rin reinlicher Wäsche angetan,
wurde auf die mannshohe Bahre gelegt, und die Kerzen entzündet, die einen fest¬
lichen Lichtkreis um das Kindlein bildeten. Dort lag es oben ganz zusammen¬
geschrumpft, ein gelbes Wachspüppchen, und von oben herab aus der Ecke sah der
gekreuzigte Heiland auf das verrunzelte schmerzensreiche Kindergesicht herab. Es
schien alt, als ob es ein ganzes Leben von schweren Heimsuchungen hinter
sich hätte.
Als alles vollendet war, standen die Weiber herum und bewunderten ihr
Werk. Nur die Bäuerin weinte heftig, der Bauer trug seinen gewohnten ver-
schlossenen Gleichmut zur Schau, und die Mutter saß nachdenklich und stumm aus
der Bank beim grünen Kachelofen. Die Nachbarn belobten das Arrangement, das
zum Teil ihr eigenes Werk war und redeten tröstliche Worte.
»Am schönsten sind die Kinder, wenn sie so daliegen", sagte die eine.
„Er ist gut aufgehoben", meinte salbungsvoll die andere.
„Haben eh' nichts Gutes auf der Welt, so ledige Kinderl" litaneite eine
dritte.
„Da wird sich der Vater treue freuen!" bemerkte gemütvoll eine vierte: »der
Loder ist alleweil so gut drauskomma."
Ein Faß Bier wird angeschoben, nach und nach stellen sich auch die Bauern
der Nachbargehöfte ein, die Pfeifen werden gestopft, man setzt sich rund um den
Tisch, es wird fleißig eingeschenkt. Das Gespräch entwickelt sich wie am Wirtshaus-
tisch. Unterdessen brennen die Kerzen herunter. Totenwache nennt man das.
Nachts höre ich Gemurmel. Ich richte mich im Bette auf und horche. Es kommt
von unten aus der Stube, wo das Kindlein aufgebahrt ist. Sie beten. Sie
beten wirklich. Morgen früh wird der kleine Märtyrer begraben. Dann gibt es
wieder ein Fest. Nebenan im Zimmer warten die Kinderwiege und der Toten-
kränz. Die Wiege hat vergebens gewartet, der kleine Kerl hat sie übersprungen-
Aber der Totenkranz, der von dem Begräbnis der Schwiegermutter übrig geblieben
ist, wird ihm verliehen werden. Auf einige Tage wenigstens. Dann wird der
Kranz von dem Gräblein weggeholt, wieder ins Zimmer zurückgebracht, wo er
neuerdings zu warten hat. Er ist aus unverwüstlichem Zeug gemacht, ein Dauer¬
kranz. Er wartet, bis eine neue Gelegenheit da ist. Auch die Wiege wartet.
Sie wurde zwar der Bäuerin am Hochzeitstage geschenkt, aber für die hat das
Ding keinen Zweck. Die Dirn wird schon dafür sorgen, daß die Wiege nicht
umsonst wartet. Und der Totenkranz? Das Schicksal ist dunkel.
^paZe Satanas! Warum verfolgen mich die Götter mit ihrer Grausamkeit?
Sie gönnten mir das Paradies nicht und vergifteten mein Glück. Jeder Tag und
jede Nacht gebiert neue Dämonen, die mich verfolgen.
Das Kind ist begraben, der einzige wahre Friedensengel ist mit ihm aus
dem Hause geflohen, wir sind schutzlos der Hölle preisgegeben. Der neue Knecht,
der zur Aushilfe da ist, scheint mir der richtige Satansgehilfe. Er ist ein junger
hübscher Bursch, aber sein Blick ist feindselig, drohend, er kann mit den Augen
stechen wie Kam, der Brudermörder.
Im Schuhplattlerkostüm, den Rock um eine Schulter geworfen, das Hütlein
am linken Ohr, rin nackten Knien, so rückte er an, ein Adonis des Dorfes, der
mit lodernden Augen die Mädchenkammern in Brand stecken konnte. Er liebte
das Wirtshaus, das Fensterln, das Schwärmen in den schönen Sommernächten.
Der Exzeß war sein normaler Zustand. Wenn er nicht raufte, rasend liebte und
die Nächte verschwelgte, so überfraß er sich und trank den widerlich schmeckenden,
halbfaulem Birnmost in unmäßigen Zügen. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen,
war er langsam bei der Arbeit: das Übermaß auf der einen Seite ward durch
Enthaltsamkeit auf der andern ausgeglichen. Die halbe Woche lag er im Heu
und kurierte sich. Hin und wieder ging er mit aufs Feld hinaus. Der Samstag
jedoch machte ihn wirklich gesund. Da tat er sein Schuhplattlergewand wieder
an, setzte sein keckes Hütlein auf, und dahin ging es auf neue Abenteuer und
Streiche. Vor dem nächsten Dienstag war er nicht zu sehen. Dann war er ein
schrecklicher Hausgenosse. Ich konnte sein Speien nicht mehr mit ansehen, ich
wurde förmlich krank, wenn ich ihn abends in und außer seiner Kammer herum-
rumoreu hörte.
Ich beschloß, mir den lästigen Mitbewohner vom Halse zu schaffen. Freitag
abends sagte ich ihm:
„Du Sepp, du bist ernstlich krank. Ein kranker Mensch kann nicht zur
Arbeit verpflichtet werden. Ich gebe dir eine medizinische Verordnung: Morgen
ist Samstag, da ziehst du dein Schuhplattlergewand an, setzest dein Hütlein auf
und gehst in deinen Heimatsort, Se. Jakob am Thurn. In fünf Stunden bist
du daheim, legst dich ins Bett, pflegst dich, solange dich's freut. Hin und wieder
kannst du ja einmal ins Wirtshaus gehen oder sonst einen Abstecher machen,
dann aber legst du dich wieder hin und kommst nicht eher in die Arbeit, als bis
du glaubst, daß dir nichts mehr geschehen kann. Ja, mein lieber Sepp, mit
solchen Krankheiten ist nicht zu spaßen, du würdest es sehr bereuen, wenn du mir
nicht folgen tätest."
Den: Sepp leuchtete meine Rede ein. Er ist der einzige im Haus, der meinen
Ratschlägen folgt. Aus dem wird noch einmal was. Er tat flugs, wie ich gesagt,
und fort war er, auf Nimmerwiedersehen.
Aber es sind andere Plagen da, gegen die ich ohnmächtig bin. Da ist vor
allem der große Misthaufen links ums Haus. Ich weiß es, der Misthaufen ist des
Bauern Goldschatz. Dichter mögen ihn besingen. Aber alle Poesie vergeht, wenn
man täglich morgens um ihn herum nutz .. ., über dünne Planken, aus denen
bei jedem Tritt die Jauche quillt und die Füße überläuft. Es ist ein Büßer-
gang . . ., das Fliegengeschmeiß summt um einen herum, die Spinnen fallen einem
von oben auf den Kopf, und hinterrücks schnuppern die Schweine. Die Ursprüng¬
lichkeit in Ehren. Aber an diesen Dingen droht meine Naturbegeisterung in Brüche
zu gehen. Ich glaube, es kommt daher, weil ich doch eigentlich ein recht prosaischer
Mensch bin.
Der Bauer wirft einen stillen Haß auf mich. Er hat Verdacht geschöpft,
daß ich ihm den Knecht abspenstig gemacht habe. Er kann mir nicht mehr gerade
ins Gesicht sehen. Er geht scheu und heimlich um mich herum und ich spüre es,
wie er mich mit den Augen erdolcht. Der See ist himmelblau, die Lust strahlt
in Gold, ich gehe in meinem paradiesischen Kostüm spazieren, die Zigarre im
Mund, Sandalen an den Füßen, den Strohhut auf dem Kopf, den Regenschirm
in der Hand. Das Haus liegt friedlich unter den Bäumen, die Landschaft hat ein
glückstrahlendes Antlitz und dennoch liegt eine heimliche Gespensterfurcht in den
Zügen. Die Bäuerin zittert am hellen Tage, ihre Fröhlichkeit ist mit dem fremden
Kindlein zu Grabe gegangen, sie hat böse Ahnungen. Die Schwiegermutter spukt
nachts herum, schlürft in den Filzpantoffeln um das Haus; die Bäuerin hat es gehört.
Hier und da höre ich den Bauer keifen, er sucht durchaus Händel. Aber etwas
hält ihn im Zaum, meine Anwesenheit wahrscheinlich.
Ich gehe heimlich mit Fluchtgedanken um. Es sind zwar erst zwei Monate
verflossen und ich hatte ein halbes oder ein ganzes Jahr zu bleiben gedacht. Als
Beschwörungsformel wiederhole ich mir, daß es kein besseres Heiltrank gegen alle
Übel der Welt gibt als den ländlichen Frieden, die Einsamkeit und die einfachen
Mcklichen Zustände im Bauernhaus. Diese Zuflucht schnöde zu verlassen sei
Undank gegen das freundliche Geschick, das mir die Erfüllung meiner langgehegten
Wünsche gewährt hat. Um den vollen Segen zu erlangen, müsse man ausharrenl
Ich wiederhole es mir täglich, aber ich glaube nicht mehr daran. Innerlich
setze ich bereits den Tag meiner Flucht fest.
Aber ich habe nicht den Mut, mit den dunklen Schicksalsmächten zu kämpfen.
Eines Morgens kommt nur die Bäuerin mit verweinten Augen entgegen, zitternd
und stammelnd: „Mir hat von Euch geträumt, Ihr wäret von uns fortgegangen,
es hätte Streit gegeben. Aber sagt mir, warum denn? Seid Ihr denn nicht
Zufrieden? Wir tun doch alles, was in unserer Macht liegt, damit es Euch recht
gefallen soll bei uns!"
Ich bin entwaffnet. Ich versichere, daß ich nicht einen Augenblick ans Fort-
gehen gedacht habe, daß ich aufs höchste zufrieden sei, und daß ich mich im Hause
überglücklich fühle.
Die Dämonen haben gesiegt. ^MZe Sawims!
Ich beschließe also der Hölle zu trotzen, „durch Widerstand zu enden". Was
kümmert mich die Geistererscheinung, die bösen Träume, das gespensterhaft
unigehende Unheil, die düsteren Geheimnisse des Hauses, die Verwunschenheit der
Landschaft, die täglichen kleinen Widerwärtigkeiten? Sie schrumpfen in nichts
zusammen, wenn ich duldsam bleibe und ein heiteres Gemüt bewahre. Die Macht
des guten Vorsatzes ist groß. Vielleicht sind es nur krankhafte Gefühle gewesen,
gegen die es kein besseres Tmktätlein gibt. Es gelingt mir auf diese Weise, den
verdorrten Garten meines Paradieses aufs neue zum Blühen zu bringen. Die
Blumen sprießen wieder, der See lächelt mit tausend Augen, die Einsamkeit ist
ein freundliches Gotteshaus, ich höre unter dem blauen Himmelszelt die Vöglein
lieblich singen, das trunkene Hochzeitslied der Bienen tönt an mein Ohr, ich trinke
aus dem Gnadenkelch der Schönheit. Die Grimasse des Glücks, zur Fratzen-
haftigkeit verzerrt, fällt ab, ich schaue wieder die reinen, edlen Züge des Friedens
und der Unschuld.
Die Hölle hat gemerkt, daß ich das stärkste Mittel gegen sie angewendet habe,
nämlich Nachgiebigkeit, Duldung, Verzeihung, Demut. Die Hölle wird machtlos.
Dieses geistige Dschiudschitsu nannten die Heiden die Stoa, wir nennen es
Tugend. So siegt der gläubige Christenmensch über die dunklen Gewalten der
Hölle. Allein der Feind bereitet jetzt seinen Hauptschlag vor.
Eines Nachts komme ich spät heim, leuchte im Hausflur mit der Laterne auf
den Boden, brr! fährt es schwarz auseinander. Schwaben! Diese fürchterlichen
Küchenschwaben. Es gibt nichts auf der Welt, das mir einen solchen Ekel einflößt
wie diese schwarzen abscheulichen.Käfer, die die Dunkelheit und Unreinheit lieben,
und überall dort zu Hause sind, wo etwas faul ist.
Die Bäuerin hat geschworen, daß kein Ungeziefer im Hause wäre, wollte sie
mich hinters Licht führen? Sollte sie es wirklich nicht wissen? Ich bin abermals
an diesen Menschen irre.
Die Ankunft der Schwaben stürzt den letzten Pfeiler meiner Duldsamkeit und
Friedfertigkeit. Dieser Kelch des Leidens ist zu groß für mich. Ich habe nun
einen offenen sichtbaren Grund, den Vertrag zu lösen, allein mich dauert das arme
Weib, das sich durch meine Anwesenheit gewissermaßen vor dem Schicksal geschützt
fühlt. Erst vor einigen Tagen hatte ich meine Zufriedenheit ausgesprochen und
den Gedanken der Flucht von mir gewiesen. Ich werde also aushalten müssen,
wenn ich auch nicht sehe, wie ich damit zu Ende komme.
Der stürzende Tempel des Friedens begräbt alle meine christlichen Tugenden.
Ich fange an bösartig zu werden. Eine wilde Zerstörungslust kommt über mich.
Milchkarren in Scherben zu schlagen, gewährt nur einige Erleichterung. Jetzt
bin ich es, der Händel sucht. Ich fluche tagein, tagaus über die Sauwirtschaft,
über die allzu sichtbaren Mängel, über das Schwabengezücht, ich lege den Bauers¬
leuten harte Bedingungen auf, verlange, daß binnen drei Tagen das Ungeziefer
ausgerottet ist, lasse die Dielen scheuern, befehle und Schelte als Herr im Hause
und blicke in lauter verängstigte scheue Gesichter. Es macht mir Spaß, mit dem
Messer nach der Tür zu werfen, daß die Spitze im Mittelpunkt stecken bleibt, und
mit der Pistole zu schießen, wobei ich es so einrichte, daß die Kugel ziemlich nahe
an dem Bauern vorbeigeht. Es gewährt mir ein unsagbares Vergnügen, die
Hausleute zu quälen, zu knechten, zu tyrannisieren. Ich lese in ihren Mienen,
daß sie mich zum Teufel wünschen. Aus Trotz bleibe ich. Aber'nachts muß ich
mich in meinem Zimmer sorgfältig absperren. Wir stehen als Feinde einander
gegenüber. Der böse Geist, der in dem Hanse schaltet, hat meine Gestalt
angenommen. Ich treibe ans eine Katastrophe zu.
Große Annonce im „Tageblatt":
Herrliche Sommerwohnung
in entzückender Gebirgslage, aus zweiter Hand, nuszer-
ordentlich billig abzugeben. Besonders geeignet für Er-
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Einsamkeit bedürfen.' Peinlichste Sauberkeit. Kein Un¬
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Zuschriften umgehend erbeten uuter „Zurück zur Natur!".
Nachschrift. Wenn der verehrliche Leser Reflektant aus meine Baueruwohnung
ist, so möge er sofort schreiben oder lieber gleich selbst kommen. Ich vergönne
ihm vom Herzen das Vergnügen,, das ich genossen habe, den Morgenspaziergang
um den Misthaufen, das Fußbad in der Jauche, die Spinnen am Kopf, die
schnüffelnden Schweine im Rücken, den stinkenden Hausatem, die Schwaben, das
Glück im Bauernhaus, den Gottesfrieden, die Unschuld vom Laude, die reine
unbeleckte Natur, das Zusammensein mit diesen heiteren, unverdorbenen, primitiven
Menschen, alles das, was in der Entfernung, in der Poesie, in der Erinnerung
so wunderbar schön aussieht. Wer seine Sünden abbüßen und wieder ein reiner
Mensch werden will, der kann nichts Besseres tun. als diese Badereise ins
Purgatorio unternehmen.
Ich sitze in Salzburg auf der Hotelterrasse als Geuesender. Ich bin über-
glücklich, die vorausbezahlte Miete eingebüßt zu haben. Was man auch gegen
die verruchte Zivilisation sagen mag. sie bedeutet dennoch etwas Ungeheures. Das
Bauernhaus ist unsere Vergangenheit. Wir sehnen uns nach den Galoschen des
Glücks, die uns in die früheren Jahrhunderte, gleichsam in unsere Uranfänge
Zurückführen. Aber es gibt nur Enttäuschungen. In der Phantasie sieht alles
schöner aus. Die Wirklichkeit ist ganz anders beschaffen. Wir dürfen die Ver-
gangenheit nicht durch die Butzenscheibenpoesie erleben wollen. Für uus Stadt-
weuschen ist das primitive Vauernhaus eine Vorstufe des Daseins! es ist fast
unmöglich, dahin dauernd zurückzukehren. Ich bin von meiner Sehnsucht geheilt.
Ich brauche um keinen Goldschatz mehr herumzugehen, es fallen mir keine Spinnen
auf den Kopf, dagegen finde ich weiße Kacheln und eine Wasserspülung vor.
Man sage nicht, es sei etwas Unwesentliches. Es gehört zu den größten Wesent¬
lichkeiten unseres Daseins. Es ist Anfang und Ende unseres Wohlbefindens,
unseres seelischen Gleichgewichts.
Aber ein infamer Mensch, der meine Leidensgeschichte erfahren, entgegnete
"un „Sie sind halt verwöhnt!"
Ich bin empört. „Herr," schreie ich ihn an, „ich bin an tue größte Ein¬
fachheit gewöhnt! Verstehen Sie mich?"
g^Z
Der Andere bleibt gelassen. „Die Einfachheit, die Sie meinen, ist der letzte
Schrei der Kultur, das Allerkomplizierteste. Zu diesem Zweck müssen Sie nicht
ins alte Bauernhaus gehen. Die Bauernpoesie ist eine Einbildung der Städter.
Sie existiert nicht."
„Herr," erwidere ich von oben herab, „schmähen Sie nicht über das Bauern-
Haus. Es gehört zu den seligsten Erinnerungen meines Lebens!"
Die Idylle, das paradiesische Glück, der Friede des Bauernhauses, sie beginnen
wieder in der Illusion zu erwachen. Kein Schatten droht mehr, das heitere Bild
zu zerstören. Es ist mein dauernder Besitz geworden. Seelenbesitz.
Seit einigen Wochen weilt der Beherrscher des zweitgrößten Reiches der Welt,
Zar Nikolaus der Zweite, mit seiner erlauchten Familie innerhalb der deutschen
Grenzpfähle, sich Erholung und Ruhe, seiner hohen Gemahlin Genesung zu
suchen. Eine Presse, die von nationalen Dingen überhaupt wenig hält, hat sich
nicht gescheut, die Gastfreiheit in der schmäligsten Weise zu verletzen und die hä߬
lichsten Pamphlete gegen unsere fürstlichen Gäste zu veröffentlichen. Es ist merk¬
würdigerweise dieselbe Presse, die vollste Bewegungsfreiheit für alle Ausländer
fordert, selbst wenn diese offen für den Fürstenmord eintreten. Die Taktlosigkeiten
gegen den Herrscher des Nachbarreiches, den obendrein viele Bande der Familie
und Freundschaft mit deutschen Fürstenhäusern verbinden, brauchten wir nicht zu
registrieren, wenn sie allein von der Sozialdemokratie ausgingen. Sie sind schwer¬
wiegender, weil auch Blätter von hohem Ansehen, die im Auslande — allerdings
fälschlich — als wahre Spiegel der Stimmung betrachtet werden, in den
unparlamentarischen Ton verfallen find. Wir können diese Ausschreitungen nur
um so mehr bedauern, als sie sich nicht nur gegen Gäste sondern gegen kranke
Gäste richten, die sich dem Schutz der deutschen Nation und der Tüchtigkeit ihrer
Ärzte anvertrauen, die also mit ihrem Aufenthalt keine besondern politischen Ziele
verbinden. Natürlich wird es dem Zaren kaum gelingen, sich während seines
Aufenthalts in Friedberg alle Regierungsgeschäfte fernzuhalten. Besonders
Fragen der auswärtigen Politik sind ihm in die ländliche Einsamkeit nachgereist.
Sein Minister für die auswärtigen Angelegenheiten, Herr Jswolski, hat in
nächster Nähe von Friedberg Aufenthalt genommen und hält dein Zaren
wiederholt Vortrag. Überhaupt soll man nicht glauben, Nikolaus der Zweite
sei der unstäte und bequeme Träumer, als der er von den Revolutionären gekenn¬
zeichnet wurde. Der Zar ist auch durchaus nicht mehr von der Mauer um¬
geben, die Pobjedonostzew, Sypjagin, Plehwe um seinen Vater und ihn gezogen
hatten. Der Zar orientiert sich und zwingt seine Minister mit der ihm eignen
ruhigen Hartnäckigkeit, ihn zu orientieren. Demzufolge ist naturgemäß auch die
persönliche Auffassung des Zaren von den Aufgaben der russischen Politik von
weit größerer Bedeutung, als wie es früher der Fall war. Der romantische
Unterton seines Charakters und seine außerordentlich streng gerichtete Gläubigkeit
in religiöser Hinsicht führen ihn zu den Ideen des Slawjanophilentums, die als
Ncuslaivjanophile gegenwärtig die Köpfe der russischen Gesellschaft beherrschen-
Diese neuen Slawjanophilen suchen die Aufgaben der russischen auswärtigen
Politik wieder bei den Südslawen. Der Valkanbund war ihr zuletzt betriebenes
Praktisches Ziel! noch immer glauben sie an den „kranken Mann" vom Goldner
Horn und suchen alle Ansätze zu einer Genesung des türkischen Reiches zu unter¬
drücken, wie alle Welt weiß, ohne Erfolg. Sie sehen ferner ihren Hauptgegner nicht
mehr in Preußen-Deutschland, sondern in der Habsburgischen Monarchie. Alte
Ideen, die zuletzt im Jahre 1868 ernsthaft erörtert worden sein dürften, kommen zum
Vorschein und — werden praktisch zur Ausführung gebracht. Zu diesen Ideen
gehört des Fürsten Barjatynski Vorschlag, die Hauptstützpunkte der russischen
Verteidigungslinie im Westen nach Wolhynien um Kijew zu verlegen, das Königreich
Polen aber (die Weichsellinie) den Preußen preiszugeben. Auf diese Forderungen
kommt man jetzt wieder mit praktischen Maßnahmen zurück: Polen wird von Truppe»
entblößt, die neu gebauten Befestigungen um Kowno, Suwalki, Rooo Georgiewsk und
Nowgorod verlassen und etwa zweihundert Kilometer östlich eine neue Verteidigungs¬
linie errichtet. Diese Veränderungen in den Grundlagen des strategischen Aufmarsches
mit dem Stützpunkt Kijew bedeuten, daß Rußland im Falle eines Krieges mit der
Möglichkeit einer Offensive gegen Österreich und einer Defensive gegen Deutschland
rechnet. Besteht nun auch kein äußerer Anlaß zu einem Kriege, wenn man nicht etwa
an die griechisch-türkischen Reibereien, andie Schwarzmeer- oder Meerengenfrage denken
will', so verdienen die angegebenen Veränderungen dennoch aufmerksame Beachtung.
Sie sind wohl auch nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung des neuen Heeres¬
etats gewesen, über den die ersten autentischen Nachrichten vorliegen. Andernfalls
wäre es z. V. schwer verständlich, weshalb der schon längst als drückend empfundene
Mangel an Kavalleriedivisionen als Friedensorganisation nicht behoben werden
soll. Durch die neue strategische Lage jenseits unserer Ostgrenze scheint die Gefahr
eines feindlichen Einrittes in Preußen so vermindert zu sein, daß unsere Heeres¬
verwaltung die finanziellen Argumente mehr zu Worte kommen läßt, als es ihr
selbst lieb ist. Überhaupt wird man der Heeresverwaltung zugestehen müssen,
daß sie außerordentlich bescheiden mit ihren Forderungen ist und daß sie sich mit
großem Geschick den äußern und innern Verhältnissen anzupassen verstanden hat.
~~ Selbstverständlich werden auch den bescheidensten Armeeforderungen von
demokratischer Seite Schwierigkeiten entgegengesetzt werden. Ein beliebtes Mittel
der Gegner uuserer militärischen Entwicklung, um darzutun, daß Deutschland sich
über Gebühr und Not belaste, ist der Hinweis auf Frankreich. Sie sagen:
Frankreich ist am Ende seiner militärischen Leistungen und nicht mehr imstande,
sein Heer zu vermehren. Die stets abnehmende Zahl der Geburten hat einen
Rückgang der Rekrutenquote zur Folge gehabt, so daß sich die gesetzlich festgelegten
Etatsstürkcn schon lange nicht mehr haben aufrecht erhalten lassen. Die in diesem
Sommer erfolgte Vermehrung der Artillerie ist auf Kosten der Infanterie erfolgt.
Die stärkere Heranziehung des Kolonistenelcmentes in Nordafnka hat nicht die
gewünschten Erfolge gebracht und die Verwendung der Ncgertruppen ist eine
zweischneidige Sache, über die auch noch jede Erfahrung fehlt. Rußland hat sich
von den Niederlagen des letzten Feldzuges noch nicht erholt; die Reorganisation
der Armee ist noch nicht beendet. Bei einem Kriege nach mehreren Fronten
können wir uns auf die Unterstützung Österreichs verlassen, das über ein durch¬
aus kriegstüchtiges Heer verfügt. Sonnt liegen keine Gründe vor, die eine Armee¬
vermehrung im großen Maßstabe gebieterisch fordern würden. Es könne daher
""f die finanzielle Lage mehr Rücksicht genommen werden als auf die Forderungen
der Armeeverwaltung. So die Gegner.
Alle solchen und ähnliche Beweisführungen sind indessen nicht stichhaltig. Die
Armee ist ebenso ein lebendiger, sich stetig erneuernder Organismus, wie etwa
ein wirtschaftliches Unternehmen, das sich den Ansprüchen des Marktes anpaßt.
Es kommen daher für eine moderne Entwicklung der Armee ähnliche Voraus¬
setzungen und Überlegungen in Frage wie für jene, und ähnliche Einflüsse hier
und dort erzeugen analoge Wirkungen. In den letzten Jahrzehnten hat nun vor
allen Dingen die Technik auf die Entwicklung unserer Wirtschaft gewirkt, — sie
ist auch nicht spurlos an den Armeen vorübergegangen. Wie die Maschine im
industriellen Betriebe die primitive menschliche Arbeitskraft ersetzt und ihren wirt¬
schaftlichen Effekt vervielfacht hat, so hat sie auch in den Armeen Veränderungen
hervorgerufen, die die Bedeutung der Geburten für die Landesverteidigung nicht
mehr zu einem absolut ausschlaggebenden Faktor machen. Diese Erkenntnis tritt
uns u. a. entgegen in dem kühnen Entschluß der französischen Heeresverwaltung,
die Infanterie zugunsten der Kavallerie zu vermindern, — ein Sieg der Technik
über die Zahlt — Wir glauben nicht fehlzugehen, wenn wir annehmen, daß
solche Erwägungen auch für die Aufstellung des nächsten Heeresetats maßgebend
sind, und glauben deshalb auch nicht mit einerVermehrung derJnfanterie rechnen zu
müssen. Die an und für sich wünschenswerte Aufstellung der dritten Bataillone
bei den kleinen Regimentern kann vorläufig unterbleiben und hinter anderen
Forderungen zurückgestellt werden. Dies kann auch um so unbedenklicher geschehen,
als die Infanterie gerade die Waffe ist, deren Ersatz sich im Mobilmachungsfalle
am schnellsten bewirken läßt. Auch Neuformationen erhalten schon nach kurzer
Zeit eine genügende Gefechtskraft. Ungünstiger liegen die Verhältnisse bei den
anderen Waffen, die längere Zeit zu ihrer Ausbildung bedürfen, ehe sie im Felde
verwendungsfähig sind. Deshalb wird die Ausfüllung der hier etwa vorhandenen
Lücken in erster Linie ins Auge zu fassen sein.
Bei der Feldartillerie fehlen in Preußen noch zwei Artillerieregimenter,
je eins beim I. (ostpreußischen) und XIV. (badischen) Armeekorps, auch die
bayerische Artillerie hat noch nicht die normale Zussmmensetzung. Die Fuß-
nrtillerie ist in den letzten Jahren in weitem Umfange zur Verwendung in der
Feldschlacht bestimmt (schwere Artillerie des Feldheeres), damit ist aber der für
die Verteidigung und zum Angriff von Festungen vorgesehene Teil so geschwächt
worden, daß er seine Aufgabe nicht mehr erfüllen kann. Dies ist um so bedenk¬
licher, als die vielen neuen Befestigungen (Metz, Oberrhein, Weichsellinie) neue
Besatzungstruppen verlangen und die sachgemäße Bedienung der komplizierten
Panzeranlagcn aktives Personal in erhöhtem Maße beansprucht. Die Erfahrungen
des Russisch-Japanischen Feldzuges haben die Aufstellung besonderer Festungs¬
pioniere, die namentlich in der Durchführung des Minenkrieges ausgebildet sind,
als notwendig erwiesen. Wenn wir damit zu einer Trennung der Pioniere in
Feld- und Festungspioniere kommen, so läßt sich eine solche Reorganisation nur
nnter Vermehrung der bestehenden Pionierformationen durchführen.
Die Überzeugung von der Bedeutung der Maschinengewehre hat in allen
Armeen Eingang gefunden. Auch wir werden daraus die notwendigen Konse¬
quenzen ziehen und jedes Infanterieregiment mit einer besonderen (dreizehnten)
Maschinengewehrkonipagnie versehen müssen.
Da die Armeen infolge ihrer Größe immer mehr auf den Nachschub
angewiesen sind, haben die mobilen Trains und Kolonnen im Laufe der letzten
Jahre eine bedeutende Vermehrung erfahren, zu deren Aufstellung und Ausstattung
die jetzigen Trainbataillone nicht mehr ausreichen. Bei ihrer Vermehrung und
Neuorganisation wird man aber zugleich der geplanten umfangreichen Verwendung
der Selbstfahrer (leichte Armeelastzüge) Rechnung tragen. Es dürfte zweckmäßig sein,
einen Teil der Neuformationen von Haus aus als Kraftfahrabteilungen aufzustellen-
Dies führt in der 'Folge zu einer Verschmelzung beider Formationen und Unter-
Stellung unter die Inspektion der Verkehrstruppen, die zu einer Generalinspektion
auszubauen wäre. Dies erscheint um so dringender, als auch die übrigen ihr
unterstellten Truppen infolge der Ausgestaltung des ganzen Nachrichten- und
Verkehrswesens Erweiterungen erfahren müssen (lenkbares Luftschiff, Flugzeuge,
drahtlose Tclegraphie, optische Signale usw.).
Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte würde die neue Militärvorlage
sich im wesentlichen auf die Vermehrung und den weiteren Ausbau der technischen
Truppen beschränken, während die eigentlichen fechtenden Truppen diesmal zurück¬
gestellt werden würden.
Nun besteht aber die Hoffnung, daß schon im Herbst an die Fortsetzung
der 1909 stecken gebliebenen Finanzreform herangetreten wird. Die von
den Agrarkonservativen zugestandenen Steuerbewilligungen erweisen sich gegenüber
den Anforderungen des Reichs als unzulänglich, so daß die neuen Belastungen
nicht einmal ein Äquivalent für die durch sie entstandene Mißstimmung im Lande
bieten. Die politische Lage im Reich würde durch die Wiederaufnahme der Finanz¬
reform somit wieder auf den Punkt zurückgeführt werden, bei dem sie Fürst Bülow
vor anderthalb Jahren verlassen mußte. Angesichts der traurigen mit der letzten
Finanzreform verbundenen Folgen für die Nation wäre die angedeutete Rückkehr
nur warm zu begrüßen. Allein der Umstand, daß die Wiederaufnahme des
Reformversuches das Ansehen der Regierungsgewalt in den weitesten Kreisen des
Landes erheblich steigern und sie durch diese Steigerung befähigen würde, eine
Mehrheit um sich zu scharen, sollte Herrn von Bethmann Hollweg zu einem ent¬
sprechenden Entschluß führen. Die Situation wäre für die Regierung aber auch
sonst erheblich günstiger wie im vorigen Jahre. Während der schweren Monate
ist zunächst zahlreichen Konservativen recht zum Bewußtsein gekommen, wie sehr
sie, die gewohnt sind, in erster Linie Idealen zu dienen, im Schlepptau einer
rücksichtslos arbeitenden kleinen Interessengruppe gehangen haben. Dafür spricht
die große Zahl von Stimmenthaltungen bei den Nachwahlen, dafür spricht die
ganze Stimmung im Frankfurt-Lebuser Wahlkreise. Dort haben sich, nach der
"Kreuzzeitung", etwa siebentausend Personen der Stimmabgabe enthalten — davon
nachweislich eine große Zahl von Mitgliedern der konservativen Partei, weil sie
den konservativen Kandidaten nicht in die Stichwahl bringen wollten, — in der
verständlichen Überlegung, daß eine Stichwahl zwischen Konservativen und SozmI-
demokraten den unbedingten Sieg des letzteren zur Folge haben würde, denn in
Zahlreichen Ortschaften des Wahlkreises sind die Bauern entschiedene Gegner der
großagrarischen Politik. — Ein weiteres Moment der Besserung liegt in dem sich
bemerkbar machenden Ausgleich der Gegensätze innerhalb der nationalliberalen
Partei. Die allgemeine Stimmung in der Partei richtet sich immer mehr nach der
Erkenntnis, daß eine Aussöhnung mit den konservativen Parteien, die auch von den
Jungliberalen nicht zurückgewiesen werden würde, nur möglich wäre nach der Über¬
windung des politischen Einflusses des Bundes der Landwirte. Vom Bunde der Landwirte
wird, um die unzufriedenen Konservativen am Wagen des Bundes zu halten, diese
Haltung der Nationalliberalen als eine feindselige Stellungnahme gegen die kon-
servative Weltanschauung gekennzeichnet. Eine objektive Bewertung der Stuumung
erfordert indessen die Feststellung, daß sich der Kampf der liberalen Parte: aus-
schließlich gegen den bündlerischen Egoismus richtet. Auf demselben Brett liegen
die Anklagen gegen den Hansabund. Der ist ebenso wie der Bund der Landwirte
eine wirtschaftliche Organisation, keine politische. Wie der Bund der Landwirte
aus der Not der Zeit entstand, so ist auch der Hansabund aus der Not geboren;
le länger die Not währt, um so fester und mächtiger wird der Bund. Heute ist
er eine gut organisierte Hilfskraft für die besonnene Negierung, die die Finanz-
reform wieder aufnimmt, und die Reformaktion, die im vorigen Jahre die staats¬
erhaltenden Parteien auseinander sprengte, ist vielleicht nach den läuternden
Schlägen der letzten Monate der Ausgangspunkt für ihren Zusammenschluß.
Kann der Künstler, der Dichter ohne den Luxus existieren?
Sie sind in der heutigen Welt nicht verwöhnt. Sie lernen unter den bescheidensten
Verhältnissen zu existieren und finden sich mit dieser Verteilung der Güter ab.
Dahingegen der Künstler nicht, ohne Schaden zu nehmen, auf die Dauer den
Anblick des Luxus entbehren kann, so bedürfnislos er selbst sei. Ja er wird aus
diesem Kontrast einen Wertvollei: Reiz entnehmen. Der Primitive hat den reiz¬
samsten Instinkt für das Raffinierte. So wird er Wert darauf legen, zu einem
Milieu Zutritt zu haben, das ihm die sogenannten Errungenschaften der äußeren
Kultur auf silberner Schale präsentiert. Die innere Kultur bringt er ja selbst
mit. Das Selbstverständliche des Reichtums lockt ihn. Das erklärt die Tatsache,
daß gerade arme Künstler gern in den Salons verkehren. Nicht nur aus Begierde,
sich satt zu essen und sich der Schlemmerei hingeben zu können — auch das spricht
mit, denn gerade die Seltenheit stachelt den Genuß auf und der Asket ist vielleicht
der raffinierteste Genießer —, sondern weil ihm hier ein Schauspiel sich bietet,
— das etwas Phantastisches hat.
Er sieht hier die befreite Existenz vor sich. Er sieht hier äußerlich, was
seinem inneren Sein entspricht: Wohl weiß er, dahinter steht nicht die Wirklichkeit
und auch diese Menschen sind Puppen und Gefesselte. Aber das erhöht noch den
Reiz und gibt ihm zugleich Genugtuung. Denn er, er allein kennt noch ein
Höheres, das nur er besitzt. Nur wo diese äußeren Fesseln einer bedürftigen
Existenz fielen, da ist eine Freiheit. Nicht Freiheit schlechthin. Wo gäbe es die?
Nur der Künstler besitzt sie und oft verhindern die Umstände, daß er sich dessen
bewußt wird. Es ist ein herrliches Gefühl, an einem Sonnnertag durch die
Straßen zu schlendern und zu denken: da arbeiten Tausende, Arbeiter oder
Beamte; genug, sie sitzen und schwitzen und du gehst ziellos umher. Da hörst
du die zeitlos dahinschwebenden Melodien, den großen Rhythmus des Lebens,
das sich selbst belauscht. Die andern aber hören nur den Takt: du mußt, du
mußt.
Den gleichen Reiz mögen die Reichen empfinden, wenn sie den armen
Künstler in ihren Salons empfangen. Aber es ist ein Ausgleich da. Sklaven
sind auch die Reichen und nur der Künstler ist frei. Er kehrt zurück in sein
Mansardenstübchen und ist dankbar für das Schauspiel, das sich ihm geboten.
Als Gast des Lebens hat er die Möglichkeit, das alles wie von fern zu sehen
und so tiefer zu genießen als der, der mitten darin steht und also Puppe im
Schauspiel, Mitwirkender wird, als solcher Statist, Komiker, Komödiant. Das
aber macht ihm die Reichen gerade interessant: daß sie Zeit und Muße haben,
Komödianten zu sein. Sie haben die Form, sie haben einen gewissen Stil, sie
haben Konvention und einen gewissen Lebensschematisinus, der darum verführerisch
ist, weil er selbst gewählt ist. Er ist nicht aufgezwungen, nicht notwendig. Er
ergibt sich nicht als sentimentale Konsequenz. Er steht über dem bloßen Dasein
mit seinen Niedrigkeiten und Selbstverständlichkeiten. Er bringt Überraschungen.
Dafür ist der Künstler dankbar. An dieser Sonne teilzuhaben, ist Glück, auch
wenn nichts dabei abfällt. Der Künstler entnimmt aus dem Kontrast der
Existenzen Reize. Er mag selbst aus einem ärmlichen Milieu stammen und das
mag ihm förderlich sein: so lange nur, bis er sich entwickelt hat. Es stellt ihn
abseits, stellt ihn gegen die Gesellschaft. Aber sobald er sich findet, zieht es ihn
zu den „nutzlosen". Da unten, bei den Gebundenen, sieht er den Ernst und die
Größe. Er hört die schwer dahinfließenden Melodien des ewigen Gleichmaßes,
den schleppenden Rhythmus des täglichen Lebens.
Aber da oben, ans den freieren Höhen des Lebens, ist leichtere Luft und
ein fröhlicheres Gehen. Und die Lieder klingen hier lachender. Wohl, er weiß,
auch das ist Maskenspiel. Aber ist ihm das nicht der Sinn des Lebens: Masken¬
spiel? Vor seiner inneren Welt ist alles, von den Tiefen zu den Höhen, nur
flüchtige Erscheinung, der er erst den Sinn leiht. Was kann ihn halten? Dies
hier bietet ihm flüchtige Schönheit, leichten Genuß und er erinnert sich an seine
inneren Gesichte, an seinen treibenden Willen, die ebenso frei werden »vollen wie
So ist der Titel eines Buches des bekannten Professors der Pädagogik W.Rein in Jena,
das soeben in 3. Aufl. (Osterwieck-Harz und Leipzig, A. W. Zickfeldt, 377 S.) erschienen ist.
Rein fußt vor allem auf Jesu Sittenlehre, auf Kant, Herbart nud Goethe,
zieht aber etwa zweihundert Philosophen, Dichter, Schriftsteller, Staatsmänner
und Fürsten von Hamurabi bis Posadowsky und Fr. Naumann herbei, so daß
er auf tief wissenschaftlicher Grundlage einen streng logisch ausgeführten Bau
errichtet, der jedoch durchaus gefällige Form besitzt. Denn jedenfalls zur Freude
unserer Leser hat er den Wunsch einiger Fachgenossen, weniger „temperamentvoll"
zu schreiben, nicht erfüllt. Er redet die von Herzen kommende und zu Herzen
gehende freimütige Sprache eines im echten Sinne des Wortes liberalen Christen
und Deutschen, der seines Volkes Bestes will und wie Pestalozzi von Liebe zu
dessen Jugend und untersten Schichten beseelt ist. Und wenn er zu den Gro߬
kapitalisten und Großgrundbesitzern, der Presse, den Geistlichen und den Professoren
sehr deutlich, zu den Reichsfürsten nur andeutungsweise spricht, so ist das für
Monarchisten selbstverständlich und verstärkt die Hoffnung, daß sein Buch auch
allerhöchsten Orts gelesen wird. Er verdiente es; denn er ist von dem Holze, aus
dem England', dessen Verhältnisse er gründlich zu kennen scheint, und seine
Kolonien Minister schneiden. Österreich hat in Schaeffle einmal einen
Minister gehabt, der ebenso unparteiisch über Kapitalismus und Sozialdemo¬
kratie geschrieben hat, aber viel schwerfälliger*). Rein zeigt jedoch auch, daß die
radikale Sozialdemokratie den Kaisern Wilhelm dem Ersten und dem Zweiten sowie
Bismarck bitter unrecht tut, der schon 1849 im preußischen Landtag den Arbeit¬
gebern ihre Sünden gegen die Arbeiter vorwarf. Unparteiisch erkennt Rein auch
das soziale Wirken der Katholiken an und verlangt wie diese „Behütung der Jugend
vor Verführung durch elende Machwerke, Heilighaltung der Sonntagsruhe usw.".
Ferner sagt er: „Der moralische Zerfall wird aber um so mehr beschleunigt, je
rascher die religiösen Wurzeln, die Grundlagen des Glaubens, absterben. Ein
gottloses Geschlecht ist auch ein sittenloses." — Da er eifriger Lehrling Goethes,
teilweise auch Lessings, Wielands und Herders ist, so hat er selbstverständlich, wiewohl
er der Freimaurerei nie gedenkt, von diesen großen Freimaurern ethische Gedanken
in sich aufgenommen, und so spiegeln sich aus seinem Werke die drei helleuchtenden
Ideen dieses sittlichen Menschheitsbundes wider: die von Gott, die von dem ewig
nach sittlicher Vollkommenheit strebenden unsterblichen Menschen und die von der
Freiheit des Gewissens, durch welches Gott am deutlichsten zu diesem spricht.
Deshalb ist das, was Rein über das Verhältnis der «Sittlichkeit zur Religion,
über Religionsfreiheit und religiöse Toleranz sagt, demFreimaurer in Fleisch und Blut
gedrungen, leider aber nicht ganz, was er über soziale und politische Toleranz äußert.
Nun eine Zeichnung des Grundrisses in den gröbsten Zügen! „Ethik ist die
Lehre von dem, was sein soll." Das ist das absolut Gute. Sie will „die höchsten
Werte des Menschenlebens finden" und das des einzelnen und „der Gemeinschaft
nach gewissen Prinzipien" ordnen. Jetzt „ist das ethische Interesse neu belebt von
der biologischen Theorie her", durch „die neuen sozialen Probleme" und „gewisse
Schäden der modernen Gesellschaft". „Die Ethik kann gar nicht anders als
fordern, daß die Politik ethischer werden muß." Die Geschichte weist drei ethische
Richtungen auf, von denen die erste in der Lust, die zweite in der Tätigkeit, die
dritte in der Menschenliebe ihr Hauptziel sieht. Nein entscheidet sich für diese,
den Moralismus, und erklärt die sittlichen Werturteile im Gegensatz zu deu
anderen trotz Nietzsche für unwandelbar. „Im Gemeinschaftsleben liegt des Sitt¬
lichen Ursprung." Hier erwachen nacheinander die sittlichen Ideen 1. des Rechts
und der Vergeltung, 2. des Wohlwollens, 3. des sittlichen Fortschritts und 4. der
inneren Freiheit, und führen 1. zum Rechtssystem, das Person und Eigentum
sichert, 2. zum Verwaltungssystem, das die Lebenshaltung für alle Glieder der
Gemeinschaft gewährleistet, 3. zum Kultursystem, das für die sittliche Veredlung
jedes einzelnen und der Gesamtheit sorgt, und 4. zur Beseelung dieser, die dann
eine Gesellschaft ist, die nur auf das Gewissen hört.
Bei der Stoffülle ist es natürlich, daß Rein manches nur angedeutet hat.
So sagt er, daß das Duell „vom sittlichen Standpunkt in keiner Weise gerecht¬
fertigt werden kann". Dann ist aber der des Volks ein höherer als der des
Staates und eines Teils der höheren Stände. Denn jenes mißbilligt die Aus-
schließung von Offizieren aus ihrem Stande wegen Ablehnung oder Unterlassung
der Forderung und fordert für die absichtliche Tötung im Duell die Zuchthaus¬
strafe. — Zwar spricht er von einem Rückschlag in der Arbeiterbewegung, „der
darauf drang, die religiöse Überzeugung freizugeben und die Parteisache davon zu
trennen", erwähnt aber nirgends den Revisionismus, der diese Bewegung hervorrief.
Und doch ist es ein sittlicher Fortschritt, wenn jener in I. Blochs „sozialistischen
Monatsheften" das Prinzip der Revolution durch das der Evolution ersetzt, nicht
die Republik, sondern nur eine demokratische Grundlage des Staates fordert, die
Pflicht der Vaterlandsverteidigung vertritt und denjenigen Privatbetrieb, der für die
Gesellschaft vorteilhafter als der Staatsbetrieb ist, als berechtigt anerkennt. — Als
sozialen Fortschritt sehe ich es an, daß der Großhandel durch Errichtung von
Agenturen sowie durch Gewährung von Tantiemen und Gratifikationen an seine
Angestellten gewissermaßen die Zahl der interessierten Geschäftsteilhaber vergrößert
und so das Wohl des Mittelstandes fördert. Teilweise gilt dies auch von der
Großindustrie; den angeblich erfolgreichen Versuch, die konstitutionelle Form dem
Fabrikbetrieb hinsichtlich der Arbeiter zu geben, hat Nein angedeutet. — Bei den
indirekten Steuern macht er gar keinen Unterschied, ob sie gesundheitsschädliche
Genußmittel oder Nahrungsmittel treffen; ich halte nur die Besteuerung jener für
sittlich berechtigt. Weiter sagt er: „Ebenso gehört zur Allgemeinheit der Besteuerung,
daß alle Staatsbürger, auch die der obersten Kreise, ohne Ausnahme herangezogen
werden", und in einer Fußnote: „Jetzt sind uur noch die regierenden Fürsten¬
häuser von der Steuer befreit". — Deren Besteuerung durch den Staat wider¬
spricht wohl dein Souveränitätsbegriff. Ich erblicke einen Ausweg darin, daß der
Bundesrat ihnen nur eine Neichssteuer auferlegt. — Nach Rein fordert die Idee
des Wohlwollens das allgemeine Wahlrecht, doch nicht das gleiche. Ergänzend
bemerke ich: die der Vergeltung verlangt dessen Abstufung nach den Leistungen
an den Staat, die des Fortschrittes und der inneren Freiheit nach der geistigen
Reife. — Trotz alledem empfehle ich dieses Werk allen Gebildeten ans das wärmste.
as Juristendeutsch steht bekanntlich nicht im besten Rufe, Man
beschuldigt es der Schwerfälligkeit, der Steifheit, der Unklarheit
und UnVolkstümlichkeit. Ganz gewiß sind diese Vorwürfe nicht
ohne Grund erhoben worden. Es ist aber anzuerkennen, daß es
in den letzten Jahren wesentlich besser geworden ist, und daß die
Männer des Rechtes und der Verwaltung den Bestrebungen nach Verbesserung
der Sprache der Gesetze und der behördlichen Verfügungen im allgemeinen eine
rege Teilnahme entgegenbringen. Übrigens sind die Juristen nicht die einzigen,
welche Sünden gegen die deutsche Sprache auf dem Gewissen haben, auch andere
Stände, die Gelehrten nicht ausgenommen, sind nicht frei davon; ich könnte auf
Verlangen mit Beispielen aufwarten.
Bei der Beurteilung der juristischen Sprache wird manchmal verkannt, daß
jeder Beruf genötigt ist, sich eine Art von Fachsprache zu schaffen. Die Ausdrücke
der allgemeinen Schriftsprache sind zuweilen mehrdeutig und müssen für den fach¬
technischen Gebrauch in einem bestimmten Sinne festgelegt werden. So hat z. B.
Reaktion einen besonderen Sinn in der Chemie und ebenso in der Politik; so
wissen wir, was wir unter Niederschlägen in der Meteorologie und unter nieder¬
schlagenden Mitteln in der Pharmakopöe zu verstehen haben. Auch das Recht
und die Rechtswissenschaft hatten immer und bei allen Völkern ihre Fachsprache.
In unseren alten Nechtsbüchern, insbesondere im Sachsen- und Schwabenspiegel,
finden sich prächtige Ausdrücke, in denen volkstümliche Kraft und zuweilen selbst
eine gewisse Poesie liegen, z. B. wilde wäge (das ungeregelte Wasser), ze hals
und hant, Hut und sur usw. Derartige Wortverbinduugen und Formeln liebt
unser Volk noch heute (z. B. niet- und nagelfest u. tgi.); sie prägen sich seinem
Ohre ein. Es würde gewiß nicht schaden, wenn so manches ante alte deutsche
Wort, das noch lebendig ist und wohlklingt, der Rechtssprache soweit möglich
erhalten würde, und ich möchte die manchmal gewünschte Ausschließung aller
altertümlichen Ausdrücke nicht befürworten; sie können der Nechtssprciche unter
Umständen eine gewisse Würde und Feierlichkeit geben, die wir ja auch den
gerichtlichen Verhandlungen zu verleihen suchen. Dem Konkurs und Termin
würde ich z. B. das alte Gaut und Tagfahrt, die wir in Baden noch hatten,
entschieden vorziehen.
Durch die Einführung des römischen Rechts wurde mit dem alten Recht
auch die alte Rechtssprache verschüttet. Die Ausdrücke des römischen Rechts
wurden herübergenommen und meist sklavisch tren ins Deutsche übertragen. Ich
erinnere mich, daß in meiner Jugend der clolug, der im Strafrecht eine große
Rolle spielt, das bewußte Wollen des Unrechts im Gegensatz zu culpa, Fahr¬
lässigkeit, noch mit Arglist übersetzt wurde.
Das Strafgesetzbuch des Deutschen Reichs sagt für ckolus und dolos Vorsatz
und vorsätzlich. Vorsatz bezeichnet die Willensentschließung. Mau nimmt sich
vor, etwas zu tun oder zu lassen. Im Gegensatz zur vorsätzlichen Tat steht die
fahrlässige, welche nicht mit Vorsatz, aber mit Unterlassung der schuldigen Auf¬
merksamkeit vollführt wird. Die vorsätzliche Tat geschieht entweder mit oder ohne
Überlegung (im Affekt, wie man noch zu sagen pflegt; in der Erregung, wie mau
sagen könnte). Am eingreifendsten ist diese Unterscheidung bei deu Verbrechen
gegen das Leben. Die vorsätzliche Tötung eines Menschen, mit Überlegung voll¬
führt, ist Mord und wird mit dem Tode bestraft, die ohne Überlegung ausgeführte
vorsätzliche Tötung ist Totschlag und wird mit Zuchthaus bestraft. Das Wort
Totschlag erscheint dem Laien seltsam, wenn es auf Tötung durch Erstechen,
Erwürgen oder Vergiften angewendet wird (der Gifttotschlag!). Es ist ein Ver¬
legenheitswort', man hat kein anderes zur Verfügung. Der Sprachgebrauch hat
sich damit abgefunden.
Ich habe diese bekannten Dinge hier angeführt, um die Ausdrucksweise unseres
Strafgesetzbuchs in bezug auf diese Begriffe ins Gedächtnis zu rufen, diemeines Erachtens
nicht zu tadeln ist. Nach einer Zeitungsmeldung wurde neuerlich ein Streit geführt
über die Bedeutung von vorsätzlich im Verhältnis zu absichtlich. Wenn die betreffende
Zeitungsnotiz richtig ist, hatte das Reichsgericht ausgesprochen, daß absichtlich
stärker sei als vorsätzlich, d. h. ein stärkeres Wollen bedeute. Ein Beteiligter, der
anderer Ansicht war, veranstaltete darauf eine Umfrage bei verschiedenen Schrift¬
stellern und Schriftstellerinnen, unter anderen bei H. Sudermann, L. Fulda, Clara
Viebig, H. Hansjacob, Gabriele Reuter. Ein merkwürdiger Fall: Dichter saßen
zu Gericht über den höchsten deutschen Gerichtshof, Clara Viebig über Themis;
Poeten, die in den luftigen Gefilden der Phantasie weilen, urteilteu über strenge
juristische Begriffe. Sämtliche Dichter sprachen sich im Gegensatz zum Reichs¬
gericht teils dahin aus, daß beide Ausdrücke gleichbedeutend seien, teils dahin-
daß vorsätzlich ein stärkeres Wollen bedeute. Nur Fulda war anderer Ansicht.
Ich glaube, daß er der Wahrheit näher gekommen ist als seine Kollegen in
Apollo. Vielleicht war aber die Frage nicht richtig gestellt, und ist die Äußerung
des Reichsgerichts rechtlich nicht richtig aufgefaßt worden. Absicht und Vorsatz
bezeichnen nicht verschiedene Grade der Stärke des Wollens, es sind auch keine
gleichbedeutenden Ausdrücke. Die Absicht liegt im Bereich des Gedankens; es ist
die Richtung der Gedanken auf ein zu erreichendes praktisches Ziel, einen Erfolg.
Der Vorsatz ist auf die Tat gerichtet, die Absicht aus den Erfolg, den man mit
der Tat erzielen will. Dem Sinne nach stehen Beweggrund, Zweck und ähnliche
Begriffe der „Absicht" nahe. So spricht mau auch in der gewöhnlichen Sprache
von geheimen Absichten, von Nebenabsichten, von unlauteren, ja von teuflischen
Absichten, aber nicht von solchen Vorsätzen. Die Absicht gehört gesetzlich zum
Tatbestand verschiedener strafbaren Handlungen (z. B. bei Diebstahl die Absicht
der rechtswidrigen Zueignung, bei Betrug die Absicht des rechtswidrigen Ver¬
mögensvorteils). Die Absicht kann aber auch insofern rechtlich in Betracht kommen,
als sie den Willen beeinflußt und unter Umständen einen erhöhten Grad von
verbrecherischer Gesinnung bekundet.
Zur Erläuterung der Bemerkungen über vorsätzlich und absichtlich möchte ich
ein Beispiel anführen, an das ich mich zufällig aus meiner Universitätszeit erinnere,
das aber gewiß nicht vereinzelt dasteht. Ein etwas rauflustiger Student kommt
nachts von der Kneipe. Er begegnet auf dem schmalen Gehweg einem anderen
Studenten, und da ihm dieser nach seiner Meinung nicht gebührend ausweicht,
versetzt er ihm einen Stoß, daß er zu Boden fällt. Schaden hat der Angegriffene
nicht genommen. Ohne Zweifel liegt hier vorsätzliche körperliche Mißhandlung,
d. h. Körperverletzung vor", von einer absichtlichen Mißhandlung wird man nicht
reden. Bei der schweren Körperverletzung — die eine bleibende schwere Schädigung
durch Verlust eines wichtigen Organs ?c. zur Folge hat — spielt die Absicht im
Gesetz eine sehr bedeutende Rolle. War der schlimme Erfolg beabsichtigt, so erhöht
sich die Strafe bis aufs Doppelte (Zuchthaus bis zu zehn Jahren). So wenn z. B.
ein roher Mensch aus Haß oder Neid einem anderen ein Auge ausschlägt, um
ihn dienstunfähig zu machen, oder wenn eine eifersüchtige Dame ihrer Neben¬
buhlerin eine Verletzung beibringt, die sie dauernd schwer entstellt.
Der Vorentwurf zum neuen deutschen Strafgesetzbuch enthält neue Begriffs¬
bestimmungen über die Schuld, über Vorsatz, Absicht, Fahrlässigkeit usw.
Danach handelt vorsätzlich, wer die Tat „mit Wissen und Willen" ausführt.
„Eine vorsätzliche Handlung ist eine absichtliche, wenn der Täter sie verübt, um
einen bestimmten Erfolg herbeizuführen." Gegen diese Begriffsbestimmungen ist
wohl nichts einzuwenden. Man kann in der Regel sagen, daß bei der absicht¬
lichen Tat ein bewußteres und deshalb verbrecherischeres Wollen stattfindet.
Ein jüngst gemeldetes Vorkommnis aus dem Gebiet der Rechtsprechung läßt
es als wünschenswert erscheinen, daß auch die Bedeutung von Überlegung klar
festgestellt werde. Ich stütze mich wieder auf eine Blättermeldung. Ist Überlegung
gleichbedeutend mit Vorbedacht? Diese Frage wurde gelegentlich einer Untersuchung
wegen Majestätsbeleidigung erörtert. Die strafrechtliche Verfolgung der Majestäts¬
beleidigung ist bekanntlich durch eine Gesetzesnovelle beschränkt worden. Danach
soll die Majestätsbeleidigung nur bestraft werden, wenn sie mit Überlegung
begangen wurde. Im Entwürfe hatte es geheißen: mit Vorbedacht; im Reichstag
war dies, dem allgemeinen Sprachgebrauch des Strafgesetzbuchs entsprechend,
geändert worden in „Mit Überlegung". Das Reichsgericht nimmt nun einen
Unterschied zwischen beiden Ausdrücken an; Überlegung soll schon da vorliegen,
wo die Tat nicht vorher überdacht, der Täter aber über ihre strafrechtliche Bedeutung
und Tragweite im klaren war. Der Fall, der zu dieser Entscheidung Veranlassung
gab, ist folgender: In einer Versammlung hatte ein Redner, der unvorbereitet
sprach, sich zu beleidigenden Äußerungen gegen den Kaiser hinreißen lassen. Die
Verteidigung behauptete, der Mann habe seine Äußerungen nicht überlegt, das
Reichsgericht nahm aber Überlegung an. Natürlich wird es auf die näheren
Umstände des Falles ankommen. Erfahrungsgemäß trifft bei improvisierten Reden
sehr oft das Wort des Dichters zu:
Grundsätzlich halte ich eine Unterscheidung zwischen Überlegung und Vor¬
bedacht nicht für gerechtfertigt und glaube auch nicht, daß sie im Sinne des Gesetzes
liegt. Auch die Überlegung setzt ein Nachdenken, ein Sichbedenken vor der Tat voraus.
Welche Unklarheiten über Ausdrücke der Rechtssprache in der Bevölkerung
zuweilen bestehen, selbst wenn jene Ausdrücke der allgemeinen Sprache angehören,
zeigte sich kürzlich in auffälliger Weise bei einem Streit über die Bedeutung der
Redensart: „Gefahr im Verzug". Die „Zeitschrift des Allgemeinen deutschen
Sprachvereins" hat darüber berichtet. Man sollte meinen, daß niemand über die
Bedeutung von „Verzug", das von Verziehen kommt und uns in „ohne Verzug",
„unverzüglich" gleich ohne Verzögerung sehr geläufig ist, im Zweifel sein könnte.
Aber eine ganze Anzahl gebildeter Leute hat mit aller Bestimmtheit behauptet,
daß jene Worte bedeuten: „Gefahr im Anzug!" Darunter befanden sich sogar
Juristen, denen doch der Satz: ?erioulum in mora und die Bedeutung von nor^
f
^---Die
Kommunalswanzen
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132. Rektor, 1. 4.11 (Realgymnasium), mit Obcrlchr-r-
und Rake.-Eramcn. Holstein lSbtw M.).Pfarrer, 1. 10., Brandenburg.
Pfarrer, 1. 10., Pommern (2V00 M.).
Hauslehrer, vom Is. 11. bis 1. 3. II sür 11 jähr.
Knaben (100 M. monatl.), Pommern.
Hauslehrer, Phil. od. Theol., für Untertert. sür
Oktober bis Michaelis 1011 (>M M. nionall.).
Sachsen.
Hauslehrer, co, (Phil, oder Theol.). 1. 10.,
Mecklenburg.
Hauslehrer für Sertancr (Phil, oder Theol.)
per sofort, Pommern.
Pfarrer, (Gehaltskasse I) 1 10., Brandenburg.
HilfSprednier, (2100 M ) bald. Pommer». "
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>in 31. März nächsten Jahres läuft das jetzt geltende Ouinquennat
ab, das die Friedensstärke und die Organisation des Heeres
während der verflossenen fünf Jahre geregelt hat. Deshalb muß
dem Reichstage in diesem Winter ein neues Gesetz vorgelegt
! werden, wodurch die weitere Entwicklung unserer deutschen Heer-
und Wehrmacht von neuem gesetzlich festgelegt wird. Über den Inhalt dieser
neuen Militärvorlage ist bisher amtlich noch nichts bekannt gegeben. Nur eine
Mitteilung in der „Norddeutschen Allg. Zeitung" stellte fest, daß die Regierung
den notwendigen weiteren Ausbau des Heeres unentwegt im Auge behalten
werde, und dies als eine ihrer wichtigsten Aufgaben betrachte. Bei aller not¬
wendigen Sparsamkeit, welche die ungünstige finanzielle Lage des Reiches
beanspruche, könnten finanzielle Gesichtspunkte doch nicht allein maßgebend sein,
wenn es sich um die Sicherung und militärische Machtstellung des Reiches handle.
In den letzten Wochen ist über die zu erwartende neue Militärvorlage
bereits ein heftiger publizistischer Streit entstanden. Je nach der Parteirichtung
wurde entweder eine beträchtliche Vermehrung des Heeres gewünscht oder allen
neuen Forderungen gegenüber eine schroff ablehnende Haltung eingenommen.
Diesen Beurteilungen gegenüber, die lediglich von: jeweiligen politischen Stand¬
punkte aus beeinflußt sind, erscheint es wünschenswert und erforderlich, einmal
festzustellen, welche Wünsche und Forderungen für einen weiteren Ausbau des
Heeres von: rein militärischen Standpunkte aus, aber unter angemessener
Berücksichtigung der jetzigen finanziellen Lage, aufzustellen sein würde.
Es ist zunächst die Frage aufgeworfen worden, ob ein neues Ouinquennat
den militärischen Interessen entsprechen würde, oder ob es zweckmäßiger sei,
die Stärke des Heeres nur für einen kürzeren Zeitraum festzulegen. Viele
gingen so weit, daß sie eine Regelung von Jahr zu Jahr als zweckmäßig hin¬
stellten. Es muß allerdings zugegeben werden, daß es schwierig ist, die Ver¬
hältnisse auf eine lange Reihe von Jahren im voraus mit Sicherheit zu über¬
sehen und genaue Angaben zu machen, welche neuen Einrichtungen im Laufe
dieser Zeit zu treffen sein werden. Es ist auch bisher nicht möglich gewesen,
sich immer innerhalb des vereinbarten Rahmens zu halten. Neue Erfindungen,
eine ungeahnte Entwicklung der Technik, die aus ausländischen Kriegen abgeleiteten
Erfahrungen haben häufig alle vorher getroffenen Abmachungen beiseite geschoben.
So hat, um nur einiges anzuführen, die Erfindung des lenkbarem Luftschiffes
die Heeresverwaltung geradezu gezwungen, dieses Kriegsmittel in das Heer
einzuführen. Es war aber nicht mit dem Kauf und dem Bau dieser Luftkreuzer
allein getan, sondern es bedürfte eines zahlreichen, gut ausgebildeten Personals
zur Bedienung dieses neuen Erkundungs- und Nachrichtenmittels. Der Russisch-
Japanische Krieg hatte den hohen Wert der Maschinengewehre gezeigt. Hatte
man aber früher nur daran gedacht, sie den Kavalleriedivisionen beizugeben,
so steht jetzt die Notwendigkeit ihrer Zuteilung an die Infanterie in weiten:
Umfange fest. Nicht nur auf einzelnen besonders wichtigen Punkten, bei
der Vorhut oder bei der Verteidigung von Stützpunkten und Engpässen sollen
sie zweckmäßig Verwendung finden, sondern auch innerhalb der langen Schützen¬
linien in der rangierten großen Schlacht. Da es inzwischen auch gelungen
ist, ein durchaus kriegsbrauchbares Maschinengewehr zu bauen, bei den: die
leichte Handhabung und Beweglichkeit mit der Sicherheit des Mechanismus in
glücklicher Weise vereinigt wird, zögerten die großen Militärstaaten Europas
nicht, die notwendigen Folgerungen aus diesen Tatsachen zu ziehen. Sie alle
stellten besondere Maschinengewehr-Abteilungen in großer Zahl auf, die sie den
einzelnen Infanterie-Truppenteilen zuwiesen. Deutschland konnte sich, wenn es
nicht ins Hintertreffen geraten wollte, diesem Vorgehen nicht entziehen und mußte
ebenfalls die Jnfanterie-Maschinengewehr-Kompagnien aufstellen. Dies bedingte
die Bildung einer dreizehnten Kompagnie bei einzelnen Infanterieregimentern,
die im Quinquennat nicht vorgesehen war. In ähnlicher Weise hat die umfang¬
reiche Verwendung der Selbstfahrer für die Beförderung von Personen und
Kriegsmaterial aller Art, sowie die Heranziehung der Motorräder die Folge
gehabt, daß das Personal der Kraftwagenabtcilung eine bedeutende Verstärkung
erfahren mußte. Wenn somit auch die Notwendigkeit entstand, während des
geltenden Quinqueunats neue, in? Gesetz nicht vorgesehene Formationen aufzustellen,
so fand sich ein Ausweg derart, daß man die Kopfstärke der neuen Formationen
auf den Etat der Infanterie in Anrechnung brachte, und beim Reichstag nur die
jedesmal erforderlich werdende Neuaufstellung der Chargen und die sonst mit
der Errichtung verbundenen Kosten beantragte. Die Friedenspräsenzstärke des
Heeres als solche wurde nicht überschritten und hielt sich während des ganzen
Zeitraumes auf der gesetzlich festgelegten Höhe.
Die Errichtung neuer Truppenteile sowie jede Veränderung der Heeres¬
organisation erfordert aber Vorarbeiten. Diese können um so sachgemäßer
erledigt werden, je mehr Zeit dafür zur Verfügung steht. Es ist deshalb für
die Militärverwaltung wichtig, für einen längeren Zeitraum im voraus übersehen
zu können, wie die weitere Ausgestaltung des Heeres vor sich gehen soll. Auch
in finanzieller Hinsicht ist dies von hoher Bedeutung. Soll z. B. an einem
Orte ein neuer Truppenteil errichtet werden, so ist es zweckmäßig, daß vorher
für ihn die nötigen Kasernen, Reitbahnen, Schießstände und dergleichen gebaut
werden. Ist dies nicht der Fall, so muß der Truppenteil bis zur Vollendung
dieser Bauten in schnell errichteten provisorischen Bauten untergebracht werden,
für die später keine Verwendung mehr vorhanden ist. Auch aus Mobilmachungs¬
rücksichten ist es wünschenswert, die Entwicklung der Heeresmacht auf längere
Zeit im voraus festzulegen.
Es tritt noch ein politisches Moment hinzu. Neue Militärforderungen
pflegen bei uns der Gegenstand heftiger parlamentarischer Kämpfe zu sein, die
nicht immer von rein sachlichen, sondern häufig von parteipolitischer Rücksichten
beeinflußt werden. Die durch den Ausbau des Heeres und der Flotte bedingten
Kosten, die in Form von Steuern, Zöllen usw. von der Bevölkerung aufgebracht
werden müssen, bilden ein bequemes Agitationsmittel in der großen Masse. Je
länger der Frieden dauert und je länger die Nation sich dessen Segnungen
erfreut, desto mehr wiegt sie sich in ein Gefühl der Sicherheit ein und vergißt, daß
letzten Endes doch nur ein starkes, kriegsbereites Heer diese Sicherheit verschafft.
Eine kluge, voraussehende innere Politik muß mit diesen Faktoren rechnen und
tut deshalb gut, die Debatten über die Erhöhung der Heeresmacht möglichst
einzuschränken und nicht jedes Jahr von neuen: dadurch die Gemüter zu erregen
und die politischen Leidenschaften zu erwecken.
Aus allen diesen Gründen wird man wohl auch in Zukunft die Heeresstärke
und die Gliederung des Heeres nicht von Jahr zu Jahr, sondern immer für
eine Reihe von Jahren gesetzlich festlegen. Ob wir nun ein Quinquennat oder
ein Septennat oder ähnliches erhalten, muß dahingestellt bleiben. Wir würden
ersteres für vorteilhafter halten, damit der Zeitraum, für den sich die Regierung
bindet, nicht zu groß ist, und weil dies auch unserer fünfjährigen Legislatur¬
periode am besten entspricht.
Betrachtet man die Organisation unseres Heeres, so ist zunächst auffallend,
daß zwei Armeekorps, je eins im Westen und Osten, aus drei Divisionen bestehen,
während alle übrigen Armeekorps nur deren zwei besitzen. Aus die Vor-
und Nachteile der Zwei- oder Dreiteilung des Armeekorps näher eingehen
zu wollen, ist schon der Gleichmäßigkeit wegen anzunehmen, daß im Kriegs¬
falle die erwähnten dritten Divisionen nicht bei ihren Armeekorps verbleiben,
sondern zur Bildung besonderer neuer Formationen benutzt werden. So
z. B. könnten aus ihnen durch Zuteilung der überschießenden, sogenannten
kleinen Jnfcmteriebrigaden schnell neue Korps gebildet werden. Militärschriftsteller
von hohem Ansehen, die sich mit dem Zukunftskriege beschäftigen, nehmen dies
auch als wahrscheinlich an; ebenso rechnet die französische Fachliteratur mit einer
größeren Anzahl von Armeekorps im Kriege, als wie wir sie im Frieden besitzen.
Sollte dies der Fall sein, so würde es allerdings wünschenswert sein, daß diese
Armeekorps bereits im Frieden aufgestellt würden. Die Mobilmachung der
Armee wird um so schneller und glatter verlaufen, je mehr die Friedens¬
verhältnisse der Kriegsgliederung entsprechen. Jede Neuaufstellung eines Truppcn-
körpers und Stabes bereitet große Schwierigkeiten und wird sich nicht ohne
Reibung vollziehen. Verhältnismäßig leicht wird es dagegen sein, die Truppen
auf den Kriegsfuß zu setzen, wenn der feste Rahmen dazu bereits im Frieden
vorhanden ist. Würden diese neuen Armeekorps gebildet, so ist die Infanterie
für die noch aufzustellenden zweiten Divisionen bereits vorhanden (überschießende
kleine Brigaden). Dagegen würde es an der notwendigen Kavallerie, Artillerie
und an den Spezialtruppen fehlen. Es würde natürlich den militärischen
Interessen am meisten entsprechen, wenn man diese neu aufstellen wollte. Ver¬
zichtet man aber aus finanziellen Gründen auf die Ausführung dieser Maßregel,
so müßte man sich mit der Zuweisung dieser Truppen von anderen Armeekorps
zu helfen suchen. So wäre es ohne schwere Bedenken möglich, jeder Division
nur ein Kavallerieregiment zuzuleiten und den betreffenden Kavallerie-Brigade¬
kommandeur zur Verfügung des Generalkommandos zu belassen. In ähnlicher
Weise könnte man auch mit der Feldartillerie verfahren. Die Fußartillerie ist
im Frieden überhaupt nicht an den Korpsverband gebunden; wir haben
schon einzelne Armeekorps, die ganz ohne Fußartillerie sind, während
andere über zwei und mehr derartige Regimenter verfügen. Was die Pioniere
und den Train anbelangt, so würde sich deren Zuteilung bei der ohnehin
erforderlich werdenden Neuorganisation dieser Waffen unschwer erreichen lassen.
Gewiß sind die vorgeschlagenen Maßregeln nicht ohne Bedenken. Die Nachteile
sind aber gering den großen Vorteilen gegenüber, die das Vorhandensein der
höheren Stäbe und des festen Rahmens mit sich bringt. Auch für die
Personalfrage ist es von entschiedener Bedeutung, daß die im Kriege aufzu¬
stellenden Stäbe schon im Frieden vorhanden sind. Es läßt sich leider nicht
ganz vermeiden, daß bei Ausbruch eines Krieges in der Armee ein umfang¬
reicher Stellenwechsel eintritt, da eine große Zahl neuer Kommandostellen
geschaffen und mit zahlreichen Stäben ausgerüstet werden muß. Es sei
hierbei nur an die Aufstellung des großen Hauptquartiers, der Armee-
Oberkommandos, der Kavalleriedivisionen, der Neservedivisionen und an die
Bildung der Etappenformationen erinnert. Es ist ein großer Nachteil, wenn der
Führer zu seinerTruppezumerstenMale im Aufmarschgebiet in dienstliche Beziehungen
tritt. Die Stäbe müssen sich erst einarbeiten. Wieviel leichter ist dies, wenn die
Offiziere sich schon untereinander kennen und der Vorgesetzte weiß, mit wem er es
während des Feldzuges zu tun hat. Mit jeder höheren Stelle, die schon im Frieden
und nicht erst bei der Mobilmachung geschaffen wird, verbessern sich diese Verhältnisse.
Vergleichen wir unsere Heeresorganisation mit der der benachbarten Mächte, so
ist es auffallend, daß z. B. wir allein die Kavalleriedivisionen nicht schon im Frieden
aufgestellt haben. Was soeben über die Schwierigkeit, neue Formationen erst
bei der Mobilmachung aufzustellen, gesagt wurde, gilt aber bei der Kavallerie
in besonderem Maße. Diese Truppe wird als die erste in das Aufmarschgebiet
befördert und an die Grenze geworfen. Sie ist berufen, die Feindseligkeiten
zu eröffnen und wird die erste sein, die mit dem Gegner in Berührung tritt.
Ob ihr nach beendeten Eisenbahntransport und Versammlung überhaupt noch
einige Tage der Ruhe zur Verfügung stehen, läßt sich im voraus nicht sagen.
Dies hängt nicht allein von den Absichten uuserer Heeresführung, sondern auch
von den feindlichen Maßnahmen ab. Überschreiten russische oder französische
Kavalleriedivisionen gleich in den ersten Tagen die Grenze, um unsere Mobil¬
machung zu stören, so müssen sich ihnen die eben erst ausgeschifften Divisionen
entgegenwerfen. Nun muß es auf den ersten Blick gewiß auffallend erscheinen,
daß gerade diese Truppen, die zuerst mit dem Gegner zusammenstoßen werden,
eine Friedensorganisation haben, die von der des Krieges wesentlich abweicht.
Es ist deshalb auch schon seit langer Zeit und von berufener Seite der Wunsch
ausgesprochen, die Kavalleriedivisionen bereits in: Frieden aufzustellen. Bisher
ist aber diesem Wunsche uicht entsprochen worden. Auch innerhalb des Heeres
sind, die Ansichten über die Zweckmäßigkeit einer derartigen Maßregel geteilt.
Hat doch erst kürzlich noch einer der berufensten Vertreter der Reiterwaffen, der
General der Kavallerie von Bernhardt, sich aus Rücksichten für eine gleich¬
mäßige Ausbildung gegen die Schaffung von Kavalleriedivisionen im Frieden
ausgesprochen und dafür die Unterstellung der Kavallerie unter die Kavallerie¬
inspekteure gefordert. Die Mehrheit der Militnrschriftsteller hat einen ent¬
gegengesetzten Standpunkt eingenommen. Jedenfalls können sich die Gegner
der Friedens-Kavalleriedivisionen mit Recht auf die Tatsache berufen, daß
diese sehr wichtige Frage eingehend von den maßgebenden Stellen erwogen
und schließlich, dein äußeren Anscheine nach, in ihrem Sinne entschieden ist.
Dabei sind lange Zeit sowohl der Kriegsminister wie der Chef des General¬
stabes Kavalleristen gewesen, die also alle Verhältnisse dieser Frage aus eigener
praktischer Erfahrung und Kenntnis beurteilen konnten. Es ist unwahrscheinlich,
daß die Heeresverwaltung jetzt ihren Standpunkt ändern sollte.
Wenn wir der Frage näher treten, ob eine Erhöhung unserer ganzen
Heeresstärke überhaupt notwendig ist, so bezieht sich das in erster Linie aus die
Infanterie, weil diese die Hauptmasse des Heeres ausmacht und alle anderen
Waffen in einem gewissen Verhältnisse zu ihr stehen müssen. Gewiß ist es ein
richtiger militärischer Grundsatz, daß man nie stark genug sein kann und daß
der Sieg immer noch am liebsten mit den großen Bataillonen geht. Die Aus¬
sichten eines Zukunftskrieges sind schwer abzuschätzen. Bewaffnung, Ausrüstung
und Ausbildung der modernen Heere aller Staaten halten sich, soweit man dies
nu Frieden überhaupt beurteilen kann und unter Berücksichtigung der nationalen
Eigentümlichkeiten der einzelnen Völker so ziemlich die Wage. Über die
moralischen Faktoren läßt sich im voraus kein sicheres Urteil gewinnen, und
auf welcher Seite der gottbegnadete Feldherr stehen wird, der die Probleme
des Zukunftskrieges lösen wird und der es versteht, mit divinatorischen Blicken
die Schwäche des Gegners zu entdecken und die verschiedenen Teile seines
Heeres dagegen zu einheitlichen: Wirken zusammenzufassen, das kann erst der Zu¬
kunftskrieg selbst zeigen. Jedenfalls ist im Augenblick keine Partei berechtigt, dieses
Genie für sich in Anspruch zu nehmen und in der Hoffnung auf dessen Führung
den Ausbau der Streitkräfte im Frieden zu vernachlässigen. Auf einen Friedrich
den Großen folgte ein Napoleon und auf diesen ein Moltke. Bei der Unsicherheit
aller dieser Verhältnisse bildet allein die numerische Überlegenheit im Zusammen¬
hang mit der technischen Ausbildung einen sichern Faktor, mit dem die Heeres¬
verwaltung schon im Frieden rechnen kann. So ist man nicht berechtigt, dein
Streben nach einem möglichst zahlreichen Heer und nach einer möglichst inten¬
siven Heranziehung der vorhandenen Wehrkräfte die Berechtigung abzusprechen
und sie mit dem spöttischen Ausdruck „raM an nombre" abzutun. Eine
Heeresverwaltung, die diesen Gesichtspunkt außer acht lassen wollte, würde sich
einer schweren Unterlassung schuldig machen. Mit Recht würde ihr später der
unglückliche Ausgang eiues Feldzuges zugeschoben und sie dafür verantwortlich
gemacht werden. Bei aller Anerkennung der großen Tapferkeit unseres Heeres
im Jahre 1870/7l und seiner genialen Führung muß doch immer wieder darauf
hingewiesen werden, daß wir unsere Erfolge zu einem großen Teile unserer
numerischen Überlegenheit verdankt haben.
Nun sind aber im Staate nicht allein die militärischen Gesichtspunkte
maßgebend. Diese können nur im Zusammenhange mit allen anderen Ver¬
hältnissen beurteilt werden. Die Aufwendungen, die der Staat für Heer und
Flotte macht, sind abhängig von den vorhandenen Mitteln. Die kulturellen
Aufgaben des Staates dürfen dadurch nicht beeinträchtigt werden. Somit kann
auch bei der neuen Militärvorlage nicht einseitig alles das eingestellt werden,
was überhaupt militärisch wünschenswert ist, sondern bei unserer schlechten
Finanzlage nur insoweit, als dies durchaus notwendig ist. Um dies richtig
beurteilen zu können, muß man die Wehrkräfte der voraussichtlichen Gegner in
Betracht ziehen. Da ist zunächst festzustellen, daß Frankreich bereits an der
Grenze seiner Leistungsfähigkeit angelangt und nicht mehr imstande ist, sein
Heer zu vergrößern. Es ist schwer, darüber genau zutreffende ziffermüßige
Angaben zu machen, weil die Maisstärken dort nur auf dem Papier zu stehen
pflegen und in Wirklichkeit bei weitem nicht erreicht werden. Um die jetzige
Heeresstärke auch nur einigermaßen aufrecht erhalten zu können, haben die
Franzosen bereits zu den weitgehendsten Maßnahmen greifen müssen. Hierzu
gehört die Einstellung der Mindertanglicheu in die sogenannten Hilfsdienste;
die Heranziehung aller Wehrpflichtigen ohne jede Ausnahme; die stärkere
Belastung der Kolonisten in Nordafrika und der neuerdings gemachte Versuch,
schwarze Truppen aus Westafrika nach Algier zu schaffen, um die weißen
Besatzungstruppen abzulösen und sie zur Verwendung im Mutterlande verfügbar
zu machen. Trotz allen diesen Maßregeln ist es bisher nicht gelungen, dem
Rückgange der Rekrutenzahlen in entsprechender Weise abzuhelfen. Die Jnfanterie-
kompagnien im Innern des Landes haben eine derartig geringe Friedensstärke,
daß sich ein ordnungsmäßiger Dienstbetrieb nur noch mit Mühe aufrecht erhalten
läßt. Ist doch auch in dem neuen Cadregesetz, das dem französischen Parlamente
zurzeit vorliegt, vorgesehen, eine Anzahl Kompagnien im Innern des Landes
aufzulösen und deren Mannschaften auf die übrigen Kompagnien zu verteilen.
Die angesehene französische Militärzeitung „La France Militaire" vertritt sogar
den Standpunkt, daß es zweckmäßiger sei, die Zahl der Friedenseinheiten über¬
haupt zu verringern, um die übrigbleibenden auf einer angemessenen Höhe zu
erhalten. Es wird direkt vorgeschlagen, ein bis zwei Armeekorps aufzulösen.
Diese Zeitung weist darauf hin, daß Frankreich infolge seiner geringen Bevölkerung
und der immer mehr zurückgehenden Geburtenzahlen endlich den Gedanken auf¬
geben müßte, ein den Deutschen gleich starkes Heer im Frieden zu unterhalten.
Wenn dagegen auf einzelne Neuorganisationen hingewiesen wird, die im Laufe
der letzten Jahre in Frankreich eingeführt sind, so darf dabei nicht unerwähnt
bleiben, daß jede Vermehrung einer Waffengattung eine Verminderung bei
anderen Truppen zur Folge hätte. So ist die in diesem Jahre erfolgte Neu¬
organisation der Artillerie nur auf Kosten der Infanterie durchgeführt worden.
Ist also Frankreich zurzeit kaum imstande, seine bisherige Heeresstärke
aufrecht zu erhalten, und denkt es allen Ernstes daran, sie zu vermindern, so liegt
für uus kein schwerwiegender Grund vor, unsere Infanterie über das jetzige
Maß zu vermehren.
Nun wird mit Recht aber immer auf den Krieg nach zwei Fronten hin¬
gemiesen. Dies ist gewiß eine sehr unerwünschte Lage, mit der wir zu
rechnen gezwungen sind. Es ist aber nicht denkbar, das wir allein unser Heer
auf eine solche Stärke bringen könnten, daß es numerisch zur selben Zeit beiden
Gegnern allein gewachsen sein würde. Wir müssen in diesem Falle unsere
gauzen Kräfte zunächst auf einer Seite versammeln, um hier einen entscheidenden,
erfolgreichen Schlag zu führen, und uns dann nach der anderen Seite wenden.
Hier dürfen im Anfang nur so viele Kräfte zurückgelassen werden, als zur
Deckung der Grenzen und zur Sicherung des eigenen Landes notwendig ist.
Das Beispiel Friedrichs des Großen und das Studium seiner Kriege wird uns
der beste Lehrmeister in dieser Hinsicht sein. Es gilt der Ausnutzung der
inneren Linie in: großen Maßstabe unter Benutzung aller modernen Transport¬
mittel. Die großen durchgehenden Eisenbahnlinien, die wir in bewußter Weise
seit Jahrzehnten von Westen nach Osten ausbauen, geben die Möglichkeit, große
Heeresmassen von einer Front nach der anderen zu werfen.
Zudem kommt, daß alle die Nachrichten, die über die Reorganisation
des russischen Heeres und über dessen innere Verhältnisse in den letzten
Jahren zu uns gekommen sind, zeigen, daß Rußland seine alte Stärke
noch nicht wieder erreicht hat. Wenn Rußland jetzt daran geht, seine weit
vorgeschobenen westlichen Befestigungen aufzugeben, die an der deutschen Grenze
liegenden Truppen zurückzieht und den Aufmarsch und die Versammlung seines
Heeres weiter in das Innere hinter die Weichsellinie zurück verlegen will, so
kann uns dies als Beweis gelten, daß die Russen kein besonderes Vertrauen
auf die schnelle Durchführung ihrer Mobilmachung und ihres Aufmarsches haben.
Es ist somit nicht mit einer sofortigen weitreichenden Offensive derselben zu
rechnen. Je weiter aber Rußland seine Versammlung in das Innere des
Reiches zurück verlegt, je mehr es sich zu einer starren Defensive entschließt,
um so mehr und desto länger haben die Franzosen allein in einem kontinentalen
Kriege die Wucht des deutschen Angriffes auszuhalten.
Bei Beurteilung unserer ganzen militärischen und politischen Lage müssen
wir auch die bestehenden Bündnisse berücksichtigen. Wenn wir in Zukunft
mit dem Kriege nach zwei Fronten, mit einen: Zusammengehen von Rußland
und Frankreich rechnen, so dürfen wir dagegen auf unserer Seite die Unter¬
stützung Österreichs einsetzen. Über die Kriegsfertigkeit und Tüchtigkeit des
österreichischen Heeres dürfte kein Zweifel herrschen. Die letzten Ereignisse in
Bosnien haben gezeigt, wie sicher und genau der ganze Heeresmechanismus
arbeitet.
Wenn wir alle diese Verhältnisse berücksichtigen, so liegt nach unserer Ansicht
zurzeit kein zwingender Grund vor, an eine Heeresverstärknng großen Ma߬
stabes heranzugehen. Unsere jetzigen Jnfanteriestärken geniigen den Anforderungen,
die mit Rücksicht auf die finanzielle Lage an sie gestellt werden können.
Es ist dabei auch noch zu berücksichtigen, daß die Infanterie diejenige Waffe
ist, bei der sich der Ersatz der in: Kriege eintretenden Verluste am schnellsten
und leichtesten bewerkstelligen läßt. Auch Neuformationen können, wie die
Kriegsgeschichte in zahlreichen Beispielen lehrt, nach verhältnismäßig kurzer Zeit
schon verwendungsfähig sein und einen genügenden Grad von Verwendungs¬
fähigkeit zeigen. Ganz anders aber liegen diese Verhältnisse bei den anderen
Waffen, die zu ihrer Ausbildung einen viel größeren Zeitraum beanspruchen
und bei denen sich Mängel in ganz anderer Weise bemerkbar machen. Einen
guten Reiter kann man nicht in wenigen Wochen schaffen, auch die Handhabung
des technischen Dienstes läßt sich nicht in kurzer Zeit erlernen. Die Aufgebote
der französischen Republik 1870/71 habe» gerade an diesen Waffen Mangel
gelitten und ihre geringen Erfolge sind zum großen Teil auf diesen Umstand
zurückzuführen. Eine Vermehrung der Infanterie dürfte deshalb vorläufig nicht
erforderlich sein, sondern hinter anderen Forderungen zurücktreten müssen. Die
Errichtung der von vielen Seiten geforderten dritten Bataillone bei den kleinen
Regimentern dürfte in dieser Militürvorlage noch nicht erfolgen, und zwar um
so weniger, als auf anderen Gebieten Lücken in unserer Rüstung vorhanden
sind, die einer Ausfüllung dringend bedürfen.
Wenn die Infanterie nicht vermehrt wird, braucht dies auch mit der Feld¬
artillerie nicht zu erfolgen, da an den, bisherigen ziffermäßigen Verhältnis
beider Waffen zueinander nichts zu ändern ist. Zwar harren auch hier noch
viele Fragen der endgültigen Lösung. Die Untersuchungen darüber sind aber
noch nicht so weit gediehen, daß mit einer Änderung der Organisationen und
demgemäß mit einer Vermehrung der Batterien gerechnet werden müßte. Hierzu
gehört z. B. eine vermehrte Ausstattung des Armeekorps mit Steilfeuer¬
geschützen, damit jede Division über eine Abteilung leichter Feldhaubitzen ver¬
füge. Von vielen Seiten wird auf die Vorteile der kleinen Batterie zu vier
Geschützen hingewiesen, wie sie z. B. in Frankreich bereits seit längerer Zeit
eingeführt ist. Will man diese aber unter Beibehalt der jetzigen Geschützzahlen
des Armeekorps einführen, so würde das die Ausstellung zahlreicher neuer
Batteriestäbe erfordern. Wird dagegen die Zahl der jetzigen Batterien beibehalten,
so würden sich die Geschützzahlen im Armeekorps wesentlich vermindern. Selbst
wenn man die Leistungen der kleinen Batterien sehr hoch bewertet und das
moderne Schnellfeuergeschütz durch die dann mögliche Zuweisung einer größeren
Munitionsmenge in weit besserem Maße ausnutzen könnte, so würde doch eine
derartig starke Verminderung der Geschützzahlen im ganzen eine bedenkliche
Minderung der artilleristischen Gefechtskraft bedeuten. Dies würde um so
weniger zulässig sein, als in Frankreich Bestrebungen ini Gange sind, um unter
Beibehalt der kleinen Batterien doch eine der deutschen Zahl gleichwertige
Artillerie im Mobilmachnngsfalle aufzustellen. Es ist auch nicht zu verkennen,
daß unsere ganze Artillerieorganisation mit drei verschiedenen Geschützen:
Kanone, leichte und schwere Feldhaubitze, sehr kompliziert ist. Es erschwert
dies sowohl die Truppenführung wie auch den Munitionsersatz. Wenn dieser
auch durch die Einführung des Einheitsgeschosses vereinfacht werden kann, so
würde dies in noch höheren! Maße der Fall sein, wenn es gelänge, eine
Haubitze mittleren Kalibers zu konstruieren, die sowohl die leichte wie die
schwere Haubitze ersetzen könnte. Ob man diese dann der Feld- oder der
Fußartillerie zuweisen würde, müßte in zweiter Linie entschieden werden. Aber
alle diese Fragen sind zurzeit noch nicht spruchreif. Ein Blick in die militärische
Literatur zeigt schon, wie unausgeglichen die Ansichten noch sind, die über alle diese
Punkte in militärischen Kreisen herrschen. In der neuen Militärvorlage dürfte
höchstens die Errichtung der noch fehlenden beiden Artillerieregimenter bei den
dritten Divistouen und die Ergänzung der bayerischen Artillerie auf den normalen
Stand gefordert werden. Aus finanziellen Rücksichten wird man wohl auch
auf die an und für sich so notwendige Erhöhung des Pfcrdeetats der einzelnen
Batterie verzichten, obwohl uns gerade auf diesem Gebiete Frankreich über¬
legen ist.
Finanzielle Rücksichten werden ebenso gegen eine Vermehrung der Kavallerie
sprechen, trotzdem namhafte Fachleute verschiedentlich auf die zu schwache Zu¬
sammensetzung der heutigen Kavalleriedivisionen hingewiesen haben. Mit Recht
hat z. B. General von Bernhardt darauf aufmerksam gemacht, daß die An¬
forderungen, die gegenwärtig an die Kavalleriedivisionen infolge anderer Organi¬
sation des Erkundungs- und Meldewesens gestellt werden, gegen früher bedeutend
gestiegen sind. Durch die Ausscheidung besonderer AusMrungseskadrons, die
Sicherung der Meldesammelstellen, der Telegraphen- und Funkenstationen wird
die Gefechtskraft der Division erheblich geschwächt. Dies macht sich namentlich
bei dem Gefecht zu Fuß bemerkbar. Aber schon die Erhöhung des Etats einer
Schwadron auf hundertundsechzig Pferde, wie sie z. B. Oberst Wenninger als
Aushilfsmittel vorgeschlagen hat, würde allein für die Pferdebeschaffung eine
einmalige Ausgabe von 8^ Millionen Mark und für die Unterhaltung von
Mann und Pferd eine jährliche dauernde Ausgabe derselben Summe beanspruchen.
Man wird sich also bis auf weiteres mit den: jetzigen Stande der Kavallerie
begnügen müssen. Eine Vermehrung der Kavallerie würde auch nicht eher
zweckmäßig sein, als nicht über die oben erwähnte Errichtung von Kavallerie¬
divisionen im Frieden endgültig entschieden ist.
Die Ausstattung der Infanterie mit Maschinengewehr-Kompagnien muß fort¬
gesetzt und zum Abschluß gebracht werden, so daß jedes Infanterieregiment über
eine solche Kompagnie verfügt. Schon dadurch wird sich eine nicht unbeträcht¬
liche Vermehrung unserer Friedenspräsenzstärke ergeben.
Die Verwendung der Fußartillerie hat in der letzten Zeit eine große
Wandlung durchgemacht. Sie war ursprünglich nur zur Verteidigung und zum
Angriff auf Festungen bestimmt. Seitdem aber der Gegner, wenn er sich zur
Defensive entschlossen hat, seine Stellung in kurzer Zeit durch feldmäßige Arbeit
so verstärken kann, daß die Feldartillerie nicht mehr in der Lage ist, die in den
scharf eingeschnittenen Schützengräben befindliche Infanterie erfolgreich zu be¬
kämpfen, und auch die Unterstände nicht mehr zu durchschlagen vermag, um die
in ihnen untergebrachten Reserven zu vernichten, hatte man sich genötigt gesehen,
schwerere Geschütze dagegen in Stellung zu bringen. Zu diesem Zwecke wurde
den Heeren die schwere Artillerie des Feldheeres beigegeben. Die Verwendung
dieser neuen Waffe hat einen immer größeren Umfang angenommen, namentlich
auch seitdem man in ihr ein wirkungsvolles Mittel zur Bekämpfung feind¬
licher Schildbatterien erkannt hat. Ihre Tätigkeit beschränkt sich deshalb jetzt
nicht bloß auf den eigentlichen Stellungskampf. Sie suchte und fand auch
zweckmäßige Verwendung in der offenen Feldschlacht. Sogar im Begegnungs¬
gefecht ist sie bestrebt, sich einen Platz zur Mitwirkung zu sichern. Wenn auch
über die Möglichkeit, sie in dieser umfangreichen Weise erfolgreich und ohne
allzu großen Munitionsverbrauch einzusetzen, die Ansichten geteilt sein mögen, so
hat dies jedenfalls dazu geführt, jedem Armeekorps ein Bataillon schwerer Feld¬
haubitzen zuzuweisen. Damit ist aber die Zahl der Fußartillerie-Truppenteile,
die zur Besetzung und zum Angriff der Festungen übrig geblieben sind, sehr
gering geworden. Es müssen begründete Bedenken entstehen, ob sie zur Erfüllung
dieses Zweckes noch ausreicht, und zwar um so mehr, als die modernen Be-
festigungeu gerade zahlreiches aktives Personal verlangen. Bekanntlich findet
die Panzerbefestigung auch auf dem Gebiete der Landesverteidigung immer größere
Verwendung. Die neuen Befestigungen bei Metz - Diedenhofen, am Oberrhein
und auch an unserer Ostgrenze bestehen lediglich aus Pauzerbatterieu. Diese
stellen aber einen so komplizierten und schwierigen Mechanismus dar, daß er
nur von einem außerordentlich gut ausgebildete!: Personal bedient werden kann.
Die Verwendung von Reserve- oder gar Landwehrformationen ist für derartige
Panzergeschütze ausgeschlossen. Man muß auch bei den Grenzfestungen immer
damit rechnen, daß der Feind bald nach Ausbruch des Krieges vor ihnen
erscheinen kann. Es fehlt somit an Zeit, diese Formationen noch nach aus¬
gesprochener Mobilmachung in genügender Weise auszubilden. Als man sich
zum Bau aller dieser neuen Befestigungsanlagen entschloß, mußte man sich auch
von vornherein darüber klar werden, daß zu ihrer Besetzung das erforderliche
Personal verfügbar gemacht werden müßte.
Da die Feldarmee deu größten Teil der Fußartillerie für sich beansprucht,
kann der fehlende Teil nur durch Neuformationen ersetzt werden.
Derjenige Teil der Fußartillerie, der zur Verwendung im freien Felde in
Verbindung mit der Feldarmee bestimmt ist, muß aber auch alle die Mittel
besitzen, um sich schon im Frieden für die beabsichtigte Verwendung auszubilden.
Dazu gehören in erster Linie Bespannungsabteilungen, die zurzeit noch nicht in
genügender Menge vorhanden sind.
Die Organisation und Ausbildung unserer Pioniere beruht auf dem
sogenannten „Einheitspionier". Man versteht darunter einen Pionier, der
in allen Zweigen des Feld- und Festungsdienstes gleichmäßig gut ausgebildet
ist. Bei der umfangreichen Tätigkeit, die dieser Waffe in: Zukunftskriege
zufällt, hatte eine gründliche Ausbildung schon bisher große Schwierigkeiten;
seit Einführung der zweijährigen Dienstzeit sind diese noch mehr gewachsen.
Nun hat aber der russisch-japanische Krieg, im besonderen der Kampf um
Port Arthur gezeigt, daß die Fußartillerie trotz ihrer neuen Geschütze und
Geschosse nicht imstande ist, die Befestigung aus weiter Ferne einzuschießen,
die Grabenwehren zu zerstören, die Stellung sturmreif zu machen und die
Besatzung so zu demoralisieren, daß der Sturm der Infanterie erfolgreich durch¬
geführt werde:: könnte. Was die Artillerie nicht von oben zu leisten vermochte,
mußte der Pionier auf unterirdischem Wege zu erreichen suchen. Mit Minen
geht er gegen die feindlichen Werke vor, um diese in die Lust zu sprengen und
so der Infanterie den Sturm zu ermöglichen. Da der Verteidiger den Angriffs¬
arbeiten in derselben Weise entgegenzutreten suchte, entstand der schönste Minen¬
krieg, wie ihn die Zeiten Vauvans einst gesehen hatten. Das Minirieren, das
man für eine längst überwundene Sache gehalten hatte, gelangte wieder zu
Ehren. Jede Pionierformation, die in und vor Festungen verwendet werden
soll, muß deshalb künftighin in diesem Dienstzweigc ans das gründlichste aus¬
gebildet sein. Dazu ist aber viel Zeit erforderlich, die bei der bisherigen Aus-
bildungswei'se nicht erübrigt werden kann. Es wird mithin nichts anderes übrig
bleiben, als eine Trennung zwischen Feld- und Festungspionieren eintreten zu
lassen. Damit ist aber der Gedanke des Einheitspioniers gefallen. Eine der¬
artige tiefgehende Neuorganisation läßt sich ohne beträchtliche Vermehrung der
Pioniertruppen nicht durchführen*).
Auch für den Feldkrieg ist eine erweiterte Heranziehung von Pionieren
erforderlich geworden, seitdem man mit den: häufigeren Auftreten von befestigten
Feldstellungen rechnen muß. Die Erfahrungen des letzten Feldzuges in der
Mandschurei haben gezeigt, daß eine Pionierkompagnie für die Infanteriedivision
zu gering ist. Es sind deren mindestens zwei erforderlich, und außerdem uoch
eine Reserve zur Verfügung des kommandierender Generals oder des Armee¬
führers, um an besonders wichtigen und bedrohten Punkten verwendet werden
zu, können. Mit den bisherigen Pionierformationen läßt sich dieser Forderung
nicht entsprechen. Es muß auch berücksichtigt werden, daß gerade technische
Truppen, wie die Pioniere, nicht erst ini MobilmachunLsfalle neu aufgestellt
und improvisiert werden können. Ein während des Feldzuges eintreffender
Abgang und Verluste lassen sich nicht, wie bei der Infanterie, aus Ersatztruppen
in kurzer Zeit wieder ausgleichen. Auch diese Erwägungen weisen mit Not¬
wendigkeit darauf hin, im Frieden schon zahlreiche Pioniertruppeu vorrätig zu
haben. Werden die Pioniere in absehbarer Zeit erheblich vermehrt, so würde
es auch möglich sein, ihre Mobilmachung zweckmäßiger zu gestalten, als es
etzt der Fall ist. Ein näheres Eingehen gerade auf diesen Punkt verbietet
sich aber aus leicht begreiflichen Gründen.
Aus demselben Grunde können auch über die Verwendung des Trains im
Kriegsfalle nur ganz allgemeine Andeutungen gemacht werden. Wenn man
aber berücksichtigt, daß jetzt jedes Armeekorps nur über ein Trainbataillon zu
drei Kompagnien verfügt, und dagegen die Formationen in Rechnung stellt, die
bei der Mobilmachung aufgestellt werden sollen, so ergibt sich ohne weiteres,
daß die jetzige Truppe dazu nicht ausreichend ist. Wie jedes taktische Handbuch
lehrt, werden bei der Mobilmachung allein an aktiven Formationen für das
Armeekorps aufgestellt: sechs Proviant-, sieben Fuhrparkkolonnen, zwölf Feld¬
lazarette, drei Brückentrains, zwei Feldbäckereikolonnen, Pferdedepots usw.
Hierzu treten noch die Armee- und die Etappenfnhrparkkolonnen und die
gesamten Formationen für die Refervedivision. Es werden deshalb höchstens
zwei bis drei aktive Mannschaften und Unteroffiziere auf jede dieser Kolonnen
entfallen, so daß mau wohl sagen kann, daß sie sich lediglich aus eingezogenen
Mannschaften des Beurlaubteilstandes zusammensetzen. Nun ist gerade bei den
Formationen, die hinter der Front der Armee hin und her pendeln, die strengste
Disziplin notwendig. Zu deren Aufrechterhaltung ist aber in erster Linie
aktives Personal erforderlich. An die Trainformationen werden im Bedarfsfalle
die allergrößten Anforderungen gestellt. Doppel- und Nachtmärsche sind keine
Seltenheit. Anderseits müssen sie auch wieder stundenlang untätig auf einem
Platze ruhen. Wie schwer es unter diesen Umständen ist, die Ordnung aufrecht
zu erhalten, wird sich jeder selbst sagen können, der nur einigermaßen mit diesen
Verhältnissen Bescheid weiß. Seit wir aber mit Millionenheeren rechnen
müssen, ist die Verpflegung dieser auf engstem Raume zusammengedrängten
Massen lediglich auf den Nachschub angewiesen. Es bedarf außerordentlich
sorgsamer und lange vorher überlegter Anordnungen, damit die Kolonnen
imstande sind, rechtzeitig die Verpflegung für derartige Massen in die vorderste
Linie zu bringen. Die Aufstellung der Kolonnenbewegungspläne, die Wieder-
fülluiig der geleerten Kolonnen erfordert nicht nur eine sachgemäße Bearbeitung
durch die höheren Stäbe, sondern kann auch uur dann richtig vor sich gehen,
wenn die Kolonnen die ihnen zugemutete Arbeit tadellos leisten. Je mehr die
Erhaltung des Heeres auf dem Nachschub beruht, je schwieriger die Bewegungen
der Kolonnen geworden sind, je mehr deren Zahl zugenommen hat, desto wich¬
tiger ist es, daß bei ihm die größte Ordnung und Disziplin herrscht. Das
hierzu unbedingt erforderliche aktive Personal kann nur durch eine Vermehrung
der Traintruppe im Frieden geschaffen werden. Als Mindestforderung würde
dies die Aufstellung einer vierten Kompagnie bei jedem Trainbataillon ergeben.
Hierbei würde es zugleich zweckmäßig sein, entsprechend der geplanten Verwendung
im Kriegsfalle, je zwei Kompagnien zu einem Bataillon zusammenzufassen und
diese beiden Bataillone einem neu zu bildenden Regimentskommando zu unter¬
stellen. Auf diese Weise würden zugleich im Mobilmachungsfalle höhere Train¬
offiziere vorhanden sein, die den ganzen Dienst hinter der Front auf den
Marschstraßen des Armeekorps einheitlich regeln und beim Generalkommando
die entsprechenden Anordnungen treffen könnten. Da wir jetzt beim Armeekorps
nur einen Stabsoffizier des Trains besitzen, hat es an dem hierzu nötigen
Personal bisher gefehlt.
Nun wird sich aber die ganze Frage der neuen Trainorganisation nicht
ohne eine gleichzeitige Berücksichtigung des Kraftfahrwesens lösen lassen. Seit
einigen Jahren ist die Verwendung des Last-Selbstfahrers in ungeahnter Weise
gestiegen, wozu nicht am wenigsten die Unterstützung durch die Militärbehörden
beigetragen hat. Auch für den Kriegsfall plant die Heeresleitung die. Heran¬
ziehung aller im Frieden vorhandenen derartigen Fahrzeuge. Ihre Vorteile
sind zu bekannt, als daß man darauf des Näheren einzugehen brauchte. Bei
großem Fassungsvermögen können sie große Strecken in kurzer Zeit zurücklegen.
Ihr Nachteil besteht in der Abhängigkeit von dem Vorhandensein guter Wege.
Wenn es deshalb auch ausgeschlossen erscheint, sie in vorderster Linie bei den
fechtenden Truppen selbst zu verwenden, so können sie doch zweckmäßig im
Niicken der Armee den tierischen Zug ersetzen. Je mehr derartige Wagen im
Frieden vorhanden sind und je mehr deren Konstruktion durchgebildet wird,
desto größer wird auch ihr Wirkungskreis werden. Hatte man zunächst nur
an ihre Verwendung im Bereich der Etappenbehörden und vor Festungen
gedacht, so werden jetzt auch schon die Armeekorps mit leichten Armee-Lastzügen
ausgerüstet. Sie werden in erster Linie dazu dienen, um die Feldmagazine
der Armeekorps zu füllen, können im Bedarfsfalle auf guten Straßen aber auch
bis zu Unterkunftsorten der Truppen selbst vorgezogen werden. So werden
sie zum Teile die bisherigen Fuhrparkkolonnen ersetzen, zum Teil mit ihnen den
Nachschubdienst abwechselnd ausführen. Es ist aber notwendig, daß im Kriegs¬
falle der ganze Nachschubdienst eines Armeekorps in einer Hand liegt und von
einer Stelle aus einheitlich geregelt wird. Es ist sonnt zweckmäßig, das Train-
und Kraftfahrwesen derselben Stelle unterzuordnen. Dies würde notwendiger¬
weise dazu führen, auch schon im Frieden die Trainbataillone und die Kraft-
sahrabteilung unter dasselbe Kommando zusammenzufassen und das gesamte
Trainwesen der Inspektion der Verkehrstruppen zu unterstellen. Auf diese Weise
würde die Einheitlichkeit der ganzen Organisationen an: besten gewahrt werden. Bei
fortschreitender Entwicklung des Kraftfahrwesens würde der tierische Zug immer
mehr durch den mechanischen ersetzt werden, und es würden allmählich weitere
Trainformationen in Kraftfahrabteilungen umgewandelt werden können. Auf
eine derartige Absicht deuten auch die vor kurzem verbreiteten Nachrichten hin,
daß es geplant sei, die Inspektionen der Verkehrstruppen zu einer General¬
inspektion umzuwandeln.
Auch die übrigen technischen Truppen, die dem Verkehr- und Nachrichten¬
wesen dienen, werden eine Vermehrung erfahren müssen, da ihr jetziger Stand
nicht mehr der beabsichtigten Verwendung entspricht. Die Einführung des
lenkbarem Luftschiffes, der Flugzeuge, der drahtlosen Telegraphier u.a.in. erfor¬
dert die Aufstellung besonderer Formationen, die schon im Frieden mit diesem
neuen Kriegsmittel gründlich ausgebildet sind und die Stämme für die im
Mobilmachungsfalle aufzustellenden neuen Formationen abgeben würden.
Somit würde die neue Militärvorlage in erster Linie eine neue Organisation
und Vermehrung der technischen Truppen bringen. Eine umfangreiche Ver¬
mehrung der fechtenden Truppen ist nicht wahrscheinlich, bei der derzeitigen
politischen, militärischen und finanziellen Lage auch nicht notwendig. Auf
welche Weise es möglich sein würde, trotzdem die Gefechtskraft des Heeres zu
steigern, wie z. B. durch vermehrte Übungen des Beurlaubtenstandes, eine
innigere Verbindung der aktiven und Reserveformationen, durch eine militärisch¬
turnerische Ausbildung der Jugend in der Zeit von ihrer Entlassung aus der
Schule bis zum Eintritt in das Heer, durch Förderung des Schießwesens, nach
der Entlassung durch Wiedereinführung der zwar gesetzlich noch bestehenden,
aber praktisch nicht mehr ausgeführten Übungspflicht der Ersatzreserve — muß
-einer besonderen Abhandlung vorbehalten bleiben.
as klassische Land des Marienkultus und der Ketzerverbrennung
(^.uto co ke). der Inquisition und des Jesuitismus geht zurzeit
durch eine kirchenpolitische Krise. Ein umfassender Arbeiterstreik
fällt zeitlich damit zusammen. Ursächlich gegenseitig bedingt oder
auf eine gemeinsame Ursache zurückzuführen sind beide Bewegungen
anscheinend nicht. Die Krise kommt von oben. Ministerpräsident Caualejas
hofft — ein zweiter Combes oder Bricmd — in den Cortes eine Majorität
für seine antiklerikalen Pläne zu finden. Der Streik kommt von unten. Die
spanische Negierung vermutet sozialistische und anarchistische Umtriebe dahinter,
keine republikanischen. Die Demokratie ist also diesmal nicht die Schwester der
„Trennung von Staat und Kirche". — Kann man überhaupt das, was bis
jetzt in Spanien geschehen und für die nächsten Monate zu erwarten ist, schon
„Trennung von Staat und Kirche" nennen? Es kommt darauf an. was man
unter „Trennung von Staat und Kirche" verstanden wissen will. Unanfechtbare
juristische Kriterien dieses rechtspolitischen Schlagworts gibt es nicht. Mit allen
rechtlich-logischen Konsequenzen verwirklicht ist es nirgends, auch uicht in Frank¬
reich oder Nordamerika. Bei Licht betrachtet, ist es eine rechtsphilosophische
Idee, die in den Köpfen spukt, seit es eine Kirche, ja muwti8 mutancllZ: seit
es eine Religion gibt, d. h. solange Menschen die Erde bewohnen. Sie enthält
sich der historisch-psychologischen Betrachtung als der Kampf der religiösen und
der kirchlich-rechtlichen Motive in den Seelen der Menschen einerseits, beider
wie den sozialen und staatlich-rechtlichen Motiven anderseits. Mittels derselben
Methode ist auch die sogenannte „Einheit von Staat und Kirche" rechts¬
philosophisch zu bewerten; sie ist vorhanden, solange die Mehrzahl der Staats¬
bürger als solche religiös-kirchliche Motive hat und betätigt. Ist dem aber so.
dann ist man berechtigt, jeden Anfang einer wenn auch nur teilweisen Los¬
lösung — eine restlose gibt es nicht, hat es nie gegeben und wird es nie
geben — des Staates von der Kirche oder der Kirche vom Staate als eine
Trennungsbewegung zu bezeichnen. Eine solche in der Richtung einer der
möglichen Verwirklichungen der Trennungsidee unternommene Auseinandersetzung
zwischen Staat und Kirche ist die „Trennung von Staat und Kirche" in Spanien.
Die spanische Trennungsbewegung steckt noch in den Kinderschuhen; aber
das wenige Erkennbare ist symptomatisch. — Um beurteilen zu können, ob etwas
und was sich von einem andern loslöst, muß man wissen, wie es bis dahin
zusammengefügt war.
In Spanien ist noch heute die katholische Religion Staatsreligion; insofern
herrscht dort noch heute „Einheit von Staat und Kirche". Auch die neueste
spanische Staatsverfassung vom 30. Juni 1876 enthält in Artikel 11 H 1 den
Satz: Die katholische, apostolische, römische Religion ist Staatsreligion. —
Der zweite Absatz dieses Paragraphen lautet: Die Nation verpflichtet sich, den
Kultus und dessen Diener zu unterhalten. Damit ist die wirtschaftliche Ab¬
hängigkeit der katholischen Kirche in Spanien vom Staate gekennzeichnet. Noch
deutlicher war sie in Artikel 21 Z 1 der Verfassung von 1869 hervorgetreten,
wo es hieß: Die Nation verpflichtet sich, den Kultus und die Diener der
katholischen Religion beizubehalten und zu erhalten. — Diese vom Staat zugunsten
der Kirche übernommene Dotationspflicht hat eine lange Vorgeschichte. Sie ist, wenn
irgendwo, so in Spanien als Äquivalent für Säkularisationen von Kirchengut anzusehen.
Die ersten Maßnahmen gegen daß übergroße Anwachsen des für damalige
Begriffe ungeheuren Kirchenguts in Spanien datieren von 1789, als Mcmuce
Godoy unter Karl dem Vierten (1788 bis 1808) die von Frankreich aus¬
gehenden antiklerikalen Tendenzen unterstützte. Auf die kurze erste Regierungs¬
episode Ferdinands des Siebenten (1808) folgte dann noch im selben Jahre
die Einziehung sämtlicher Klöster durch den König von Napoleons Gnaden,
Joseph Burnaparte (1808 bis 1814). Dem Regiment des legitimen Herrschers
Ferdinand des Siebenten (1814 bis 1833) ging jedoch die Verfassung von
Cadiz vom Jahre 1312 voraus, welche die kirchliche Einheit in Spanien
wiederherstellte, die katholische Religion für die einzige erklärte, worauf zahl¬
reiche Klosterneugründungen erfolgten. Der jähe Absturz kam 1835: Alle
kleineren Klöster wurden wiederum aufgehoben; Mannsklöster wurden nur
geduldet, wenn ihre Mitgliederzahl mehr als zwölf betrug. (Diese „Einschränkung
der Zahl der religiösen Häuser" hat der „Osservatore Romano" im Auge,
wenn er in diesen Tagen von „Zugeständnissen" der Kurie der spanischen
Regierung gegenüber sprach.) Im Jahre 1837 wurde das gesamte Kirchengut
sür Nationaleigentum erklärt").
Die sich hieraus für den Staat ergebende Pflicht, Kultus und Klerus zu
dotieren, fand erst im Konkordat zwischen Papst und Regierung vom 16. März
1851 (nebst Zusatzbestimmung vom 25. August 1859) ihre rechtliche Basis/*)
wenn auch die Vorverhandlungen darüber bis in das Jahr 1845 zurückreichen.
Die Kirche verzichtete zugunsten der Gemeinden auf alle ihre Güter; der
Staat garantierte den Unterhalt von Klerus und Kultur. Die Säkularisation
des Kirchenguts wurde ausdrücklich als zu Recht bestehend anerkannt, der Kirche
aber das Recht belassen, neues Vermögen zu erwerben, ohne damit gegen die
Staatsdotation ausrechnen zu müssen. Von 1857 an verhinderte man den Verkauf
der Kirchen- und Klostergüter. In der Zusatzübereinkunft von 1859/60 ist die
Finanzierung der getroffenen Abmachungen enthalten: der Staat tauscht die
Kirchengüter jeder Art in unübertragbare Titel der konsolidierten Staatsschuld
zu drei Prozent ein und löst auch den Rest der Dotation für Kultus und Klerus
durch diese Titel ab; die auf jede Diözese entfallende konsolidierte Rente wird
monatlich bezahlt; in Zukunft soll weder Verkauf noch Tausch noch sonstige
Veräußerung von Kirchengut ohne Genehmigung des Papstes erfolgen dürfen. —
Die staatliche Dotationspflicht in Spanien bewegt sich in einer Höhe von etwa
5 Prozent der Gesamtausgaben des Staates und betrug schon in den neun¬
ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zwischen 40 und 50 Millionen Pesetas;
sie dürste inzwischen noch gewachsen sein. Eine Abschaffung- dieses Kultusbudgets —
die den Ausgabenetat Spaniens allerdings erheblich entlasten würde — im
Falle einer einigermaßen konsequent durchgeführten „Trennung von Staat und
Kirche" wäre nicht nur als eine große historische und moralische Ungerechtigkeit
zu bezeichnen, sie würde auch wahrscheinlich den vollständigen wirtschaftlichen
Ruin der katholischen Kirche Spaniens bedeuten; denn Spanien läßt sich, was
das nutzbare Kirchenvermögen anlangt, nicht einmal mit dem Frankreich vor der
Trennungsbewegung, geschweige denn mit katholischen Ländern von großem
Kirchenreichtum, z. B. Österreich, vergleichen. Sogar die kirchlichen Bibliotheken
und Sammlungen hat die Regierung während der Revolution von 1868 für
Staatseigentum erklärt, als sie festgestellt hatte, daß die Machinationen der
Karlisten mit kirchlichen Mitteln unterstützt wurden. Es mag sein, oder richtiger:
es ist wohl zutreffend, daß die Kirche und die Orden in Spanien seit der
letzten Einziehung des Kirchenvermögens von der Erlaubnis, neues Vermögen
SU erwerben, den ausgiebigsten Gebrauch gemacht haben. Ich muß aber der
bis jetzt nicht bewiesenen Ansicht derer entgegentreten, die, wie Gustav Diercks
(Das moderne Spanien, Berlin 1908, S. 154), behaupten, der kirchliche Reichtum
Spaniens übertreffe noch den Frankreichs (vor der Trennung). Diercks muß
zugeben — und wer, der sich je mit spanischen Verhältnissen beschäftigt hat,
hätte diese Erfahrung nicht gemacht —, daß die Statistik eine Wissenschaft ist,
die in Spanien nur mangelhaft gepflegt wird, daß ihre Angaben durchweg
wenig zuverlässig sind und daß sie hinsichtlich aller Erhebungen über die
Kirche, ihre Diener, ihren Besitz vollständig versagt. Das ist in anderen
Ländern allerdings nicht viel besser. Die katholische Kirche liebt es, einen
Schleier über diese zu breiten. Eben deshalb wissen wir aber auch über
ihren gegenwärtigen Vermögensstand in Spanien so gut wie nichts. Eine
„Trennung von Staat und Kirche" würde freilich den Schleier zu lüften
verstehen.
Neben dieser Bindung wirtschaftlicher Art besteht noch eine weitere staats-
kirchenrechtliche, die einen Eingriff des Staates in die Macht—Sphäre der
Kirche darstellt. Seit 1753 hat der König von Spanien konkordatsmäßig das
Recht, die spanischen Bischöfe zu ernennen; nur für zweiundfünfzig Pfründen
behielt der Papst das Besetzungsrecht. Im zweiten Drittel des vorigen Jahr¬
hunderts entstanden hieraus zahlreiche Verwicklungen zwischen Hof und Kurie,
die um das Jahr 1840 dazu führten, daß nur sechs Bischofssitze rite besetzt
waren und eine Zivilkonstitution für den Klerus ausgearbeitet wurde, die
allerdings so wenig wie die frühere (von 1717) zum Vollzug gelangte. Das
Konkordat von 1851 beließ es bei dem Nominationsrecht des Königs und
sprach dem Papst lediglich die Befugnis zu, die Kantordignitäten in den
Metropolitankapiteln und in einigen Diözesankapiteln, im übrigen in jedem
bischöflichen Kapitel nur ein Ehrenkanonikat zu verleihen. Auf die Revolution
des Jahres 1868, die zur Vertreibung der Königin Jsabella (f 1904) und
zur Aufhebung der Jesuitenhäuser führte, folgte 1869 eine erhebliche Ver¬
minderung der Bischofsstellen und der dritte Versuch einer Zivilkonstitution,
gegen welche die spanischen Bischöfe am 26. April 1870 protestierten. Die
nun folgenden politischen Ereignisse waren nicht geeignet, die kirchenpolitische
Lage zu klären. Die Kandidatur des Erbprinzen von Hohenzollern wurde von
Frankreich vereitelt. König Amadeus der Erste von Savoven (1870 bis 1873),
der zweite Sohn Viktor Emanuels von Italien, war ohne Einfluß.
Die Rückkehr der Bourbonen brachte auch die Jesuiten wieder offiziell ins
Land (tatsächlich waren sie nie verschwunden). — Die Verfassung von 1876
hat die Ernennungsrechte des Königs nicht berührt. Sie erstrecken sich auf
9 Erzdiözesen mit 49 Suffraganbischöfen und die Prioretdiözese der vier
Ritterorden. Ihnen stehen als Verkörperung der kirchlichen Machtsphäre weiter
30- bis 40000 Priester, 20- bis 25000 Pfarreien, etwa 1800 Mönche in
etwa 165 Klöstern, etwa 15000 Nonnen in etwa 1000 Klöstern gegenüber"'). Die
letzteren Zahlen beweisen, wie die — allerdings ja nur teilweise erfolgte —
Aufhebung der Klöster tatsächlich in Spanien gewirkt hat. Dabei ist zu be¬
rücksichtigen, daß man alle (41) Männerorden für Missionen und alle Frauen¬
orden für Krankenpflege und Jugendunterricht bestehen ließ. Das war um so
notwendiger, als es bis heute der spanischen Regierung namentlich an brauch¬
baren Lehrkräften gebricht, worauf ich unten noch des Näheren zu sprechen
kommen werde. — Eine Trennung von Staat und Kirche würde — wenn
nicht zugleich eine umfassende Schulreform erfolgt — hier, da die Ernennungs¬
rechte des Königs an den Papst zurückfielen und die Orden und Kongregationen,
auch wenn sie dem bürgerlichen Vereinsrecht unterstellt werden sollten, eine noch
größere Wirksamkeit als früher entfalten könnten, eine Stärkung der kirchlichen
Macht bedeuten. Im übrigen würde sich in den beiderseitigen politischen Macht¬
beziehungen wohl kaum etwas ändern. Es würde insbesondere bei dem
staatlichen Gerichtsstand des Klerus zu verbleiben haben, der — gleichfalls eine
Frucht der Revolution von 1868 — in der Unterwerfung der gesamten Geist¬
lichkeit unter das Gericht des Staates in Zivil- und Strafsachen besteht.
Dagegen wird die Zuständigkeit der geistlichen Gerichte, die zurzeit noch über
Ehescheidungen und die Nichtigkeit der Ehen zu befinden haben*), wohl mit
dem Erscheinen der alsdann zu erwartenden allgemeinen obligatorischen Zivilehe
(zurzeit müssen alle Angehörigen des katholischen Bekenntnisses noch die
kanonische Eheschließungsform beobachten) eine wesentliche Einschränkung er¬
fahren. Obwohl die katholische Religion die einzige „Staatsreligion" in
Spanien ist und das Bekenntnis der weitaus überwiegenden Mehrzahl der
Bürger Spaniens darstellt (es leben dort nur neun- bis zehntausend Protestanten
unter etwa achtzehn Millionen Katholiken), herrscht in Spanien Glaubens- und
Gewissensfreiheit — wenigstens von Gesetzes wegen. Das ist nicht immer so
gewesen; denn Spanien ist das Großland der seit Papst Innocenz dem Dritten
zur dauernden kirchlichen Verwaltungsinstitution gewordenen Inquisition, wenn
diese auch die Vollendung ihrer Technik dem 1215 gegründeten Dominikaner¬
orden verdankt, dem sie 1233 unter dem Schutz der Könige von Frankreich
aufgetragen wurde. Ihre Organisation in Spanien (1478 bis 1484 — in
Aragonien und Katalonien war sie schon im dreizehnten Jahrhundert tätige
gewesen —) ist mit dem Namen des Großinquisitors Thomas de Torquemada
verknüpft, der auf Vorschlag des Königs vom Papste ernannt dem obersten
Gerichtshof, dem berüchtigten, vom König teils präsidierten, teils stark beein¬
flußten L0N8LA0 ac la LupröMÄ, das Material zur Juden-, Mauren- und
Protestantenverfolgung zutrug. 1492 wurden über 800000 Juden aus
Spanien vertrieben, 1542 der erste protestantische Ketzer verbrannt^). Von etwa
1670 an beleuchteten Autodafes das Dunkel des religiösen Fanatismus und
Aberglaubens. Eng verbunden mit dieser geistigen Knechtschaft ist die unheil¬
volle Tätigkeit der Jesuiten, deren Vertreibung durch die Minister Aranda und
Manuel de Roda (1767), ja deren vorübergehende Aufhebung durch den Papst
Clemens den Vierzehnten (Gangenelli) selber (in der Bulle I)vminu8 as
reciemptor no8ter 1773) nur eine Episode in der Geschichte ihres kurialem
Denunziantentums bezeichnet. — Das neunzehnte Jahrhundert war mit seinem
fortwährenden Verfassungswechsel der Entwicklung der Toleranz zunächst nicht
günstig. In ihm kam der stürmische Nationalcharakter, neben den: aber keine
ausdauernde, ruhig und zielbewußt vorgehende Energie einhergeht, zum deutlichsten
Ausdruck. Hans Gmelin hat in seinen Studien „Zur spanischen Verfassungs¬
geschichte des neunzehnten Jahrhunderts" (Stuttgart 1905) den zwanzigmaligem
Wechsel in den Verfassungen und Verfassungsbestrebungen Spaniens in diesem
Jahrhundert zutreffend mit einer „Fieberkurve" verglichen und als solche
graphisch dargestellt, — einer Fieberkurve, die sich freilich in der Richtung des
Fortschritts bewegt. Während die Verfassungen von 1812 und 1845 — mit
kurzer Unterbrechung im Jahre 1837 nur die intolerante „Religion der
Nation" sanktionierten, taucht im Verfassungsentwurf von 1856 die Gewissens¬
freiheit auf, wurde freilich alsbald wieder von der Reaktion unterdrückt. Erst
die Revolution des Jahres 1868 brachte — zu Beginn des spanischen Inter¬
regnums (1868 bis 1870) — die religiöse Freiheit, von der provisorischen
Regierung verkündet, am 5. Mai 1869 durch ein Staatsgesetz festgelegt. — Die
Restauration behielt zwar die Bezeichnung „Staatsreligion" bei, vermochte
aber die Kultusfreiheit nicht mehr zu vernichten, wenn sie es auch an Ein-
schränknngsversuchen und Einschränkungsklauseln nicht hat fehlen lassen. Die
Verfassung von 1876 hat an der Glaubensfreiheit nichts Wesentliches mehr
ändern können und wollen. Immerhin ist die vorsichtige Art und Weise inter¬
essant, auf welche sie diese wichtige Errungenschaft des Geisteslebens in Spanien
formuliert. Artikel 11 der Verfassung besagt in seinem Z 2: Niemand soll
auf spanischem Gebiet wegen seiner religiösen Überzeugung oder wegen Aus¬
übung seines Kultus verfolgt werden, solange er nicht die der christlichen Sitten¬
lehre schuldige Achtung verletzt, — und in Z 3: Andere Zeremonien und
öffentliche Kundgebungen als die der Staatsreligion sind nicht gestattet. —
Jenen ersten Satz enthielt auch die Verfassung von 1869 in Artikel 21 ZZ 2 und 3
dem Sinne nach, wenn auch in anderen Worten. Dort hieß es: Die öffentliche
oder private Übung irgendeines anderen Kultus wird allen in Spanien
wohnenden Ausländern ohne weitere Einschränkungen als die der allgemeinen
Vorschriften der Moral und des Rechts gewährleistet. Wenn sich Spanier zu
einer anderen als der katholischen Religion bekennen sollten, so ist auf sie die
ganze Bestimmung des vorhergehenden Paragraphen anwendbar. — Die
Quintessenz des neuen Gesetzes (von 1876) ist das Verbot der nichtkatholischen
öffentlichen Kundgebungen (manike8ta,livre8 püblicag), das von der Justiz
und den achtundvierzig Gouverneuren, die Spanien verwalten, keineswegs ein¬
heitlich und durchaus nicht immer freiheitlich und weitsichtig, vielmehr häufig
kleinlich und engherzig interpretiert wird. Nach der offiziellen Interpretation,
welche die Regierung im Dekret vom 23. Oktober 1876 gab, ist darunter zu
verstehen: Jede auf öffentlicher Straße oder an den äußeren Mauern des
Tempels oder Friedhofs ausgeführte Handlung, die die Zeremonien, Riten, Ge¬
bräuche und Gewohnheiten des Dissidentenkultus zu erkennen gibt, sei es mittels
Prozessionen, Inschriften, Fahnen, Schildern oder Maueranschlägen — worunter
eben jede öffentliche gottesdienstliche Handlung subsumiert werden kann. Die
zum Schutz dieser Vorschriften erlassenen Strafandrohungen in Artikel 236 bis
241 und 586 des Strafgesetzbuchs, die übrigens für alle Kulte gelten, unter
uns Deutsche ebenfalls eigenartig an. So bestraft zwar das spanische Straf¬
recht das Ableugnen des katholischen Dogmas nicht, wenn es nicht in spöttischer
oder höhnischer Form und in Beleidigungsabsicht geschieht. Dagegen ist jede
öffentliche Verspottung des katholischen Dogmas strafbar, und jener Begriff
wird soweit ausgedehnt, daß die Gerichte sogar das Nichtabnehmen des Hutes
(oder das Sich-nicht-entfernen) vor dem Matikum (der über die Straße getragenen
Eucharistie) als darunter fallend ansehen. In gleicher Weise wird das Unter¬
lassen des Hutabnehmens vor jeder religiösen Zeremonie oder Prozession
beurteilt, wenn es beabsichtigt war*).
Diesem Rechtszustand gegenüber bedeutet es nicht viel, wenn der Staat —
was der „Osservatore Romano" in der erwähnten Note ebenfalls als „Zu¬
geständnis" der Kurie in Anspruch nimmt — die Gründung neuer Ordens¬
häuser von staatlicher Erlaubnis abhängig macht, die Ordenskongregationen zur
Zahlung von Staatssteuern, wie sie anderen juristischen Personen oder Unter¬
tanen obliegen, verpflichten, die Entstehung juristischer Personen (z. B. Orden,
Kongregationen) von vorgängiger staatlicher Naturalisation abhängig macht,
oder wenn er anordnet, daß von Errichtung, Gründung oder Bau eines Tempels
oder Friedhofs binnen 48 Stunden der höheren Verwaltungsbehörde Mit¬
teilung zu machen ist, daß Vorstände und Direktoren geistlicher Schulen Spanier
sein müssen, ihren Namen, Titel, ihre Unterrichtsgegenstände anzuzeigen haben
und der Aufsicht und dem Einfluß der Regierung unterstehen. Freilich wird
eine einigermaßen umfassende „Trennung von Staat und Kirche" mit diesen
kleinen und kleinsten Schranken freier religiöser Betätigung ebenso aufräumen,
wie jenes Verbot der nichtkatholischen manikeZtaeiones publicas fallen wird.
Die nichtkatholischen Kulte können beanspruchen, daß sie nicht nur geduldet und
strafrechtlich geschützt sondern auch geachtet werden, woraus sich die freie
Betätigung gottesdienstlicher Handlungen außerhalb der Kirchenmauern von
selbst ergeben.
Es liegt nahe, die in den Anfangsstadien befindliche spanische Trennungs¬
bewegung mit der ihres Vorbildes, der Trennung in Frankreich, zu vergleichen.
Die Voraussetzungen sind von Grund aus verschieden. Auf die Verschiedenheit
der wirtschaftlichen Fragen habe ich bereits hingewiesen. Sie sind nicht einmal
die wichtigsten. Für das Gelingen der Auseinandersetzung zwischen Staat und
Kirche in Spanien fehlt es zurzeit noch an jeder Vorbereitung. Als Frankreich
im Jahre 1905 den entscheidenden Schlag gegen die katholische Kirche führte,
war bereits eine ganze Generation in der französischen interkonfessionellen,
religionsunterrichtslosen Volksschule herangewachsen, das Priestertum stark
Modernistisch durchsetzt, die Sozialdemokratie und der linksstehende Liberalismus
im Besitz der Kammermajoritüt, ja eines Ministerportefeuilles. Von dem allen
ist in Spanien wenig zu spüren. Am kläglichsten liegen die Schulverhältnisse.
Hier kann man sagen, daß der Staat kaum etwas zur Vorbereitung der
Trennung, wenig dazu getan hat, die Schulen brauchbar und selbständig zu machen
und von geistlichem Einfluß zu befreien, sondern daß die katholische Kirche mit
voller Genehmigung des Staates die meisten und die wichtigsten Bildungsmittel
And Anstalten in Händen hat. Hier fehlt den: Spanier die leichte Lebens¬
auffassung und die rasche Anpassungsfähigkeit der Franzosen. Das Blut, das
in den Adern der Franzosen rollt, ist von dem des Spaniers so verschieden
wie Veuve Cliquot von altem Madeira- oder Malagawein. Zwar ist seit der
Revolution von 1868 manches geschehen. Noch viel mehr und zwar auf
vorhandener gesetzlicher Basis — hätte geschehen können. Bereits das Gesetz
von 1857 über den öffentlichen Unterricht hatte das gesamte Unterrichtswesen
zentralisiert und dem Ministerio de Fomento unterstellt. Ein Dekret vom
12. Juni 1874 hatte den „Unterrichtsrat" reorganisiert. Danach war in
Spanien das selbst in Deutschland noch nicht überall erreichte Ideal des
obligatorischen und unentgeltlichen Volksschulunterrichts verwirklicht. Leider nur
auf dem Papier. Kein Spanier behauptet oder weiß auch nur, daß in
Spanien allgemeine Schulpflicht besteht. Die Schulgesetze sind veraltet.
Zwar bestehen (wenigstens bestanden sie nach einer Statistik für 1904) in
Spanien 25348 öffentliche Volks-, sogenannte Primärschulen mit angeblich
2205311 Schülern; daneben gibt es aber zahllose Klosterschulen und über
6000, meist unter mehr oder weniger großem geistlichen Einfluß stehende, vom
Staat gemäß Artikel 24 der Verfassung von 1869 nur nach den Grundsätzen
der Moral und Hygiene beaufsichtigte Privatschulen. Lehrerseminare soll es 55
(nach einer anderen Statistik nur 51), Lehrerinnenseminare 37 (oder 32),
staatliche sekundär- oder Mittelschulen (in8titulo8 as 8SAuriäa enssnanzie), etwa
unsere Gymnasien und Realschulen, 70 (oder 58) mit etwa 40000 Schülern
geben. 325 Colegios, worunter 83 geistliche, sollen zur Vorbereitung für das
Studium an den (10) Universitäten (mit 515 Dozenten, die der Aufsicht der
Bischöfe unterstehen und nach dem Erlaß Alfonsos des Zwölften und des
Marques de Arorio vom 27. Februar 1875 einen Eid leisten müssen, daß sie
bei ihrer Lehrtätigkeit die Dogmen der katholischen Kirchen beachten wollen, und
20000 Studenten) und der vor einigen Jahren in Madrid aus Privatmitteln
gegründeten „freien" Hochschule vorhanden sein. „Spezialschulen" dienen den
Berufen der Architekten, Künstler, Diplomaten, Kaufleuten, der Tierärzte,
Ingenieure, Bergbaubeamten, Land- und Forstwirte, Turnlehrer usw. Eine
neuere Errungenschaft sind die Normalschulen (L8aucta8 normales, die den
Volksschullehrerstand heranbilden sollen, und unter denen die Normalschule in
Madrid hervorragt. Was bedeuten aber alle diese Zahlen und Daten angesichts
der für den Umfang des Staates massenhaften Diözesanseminare zur Vorbildung
des Klerus (68), weiter gegenüber der Bestimmung des Konkordats von 1851,
daß der Unterricht in den Leitsätzen mit der katholischen Religion über-
einstimmen muß, und gegenüber der — höchst betrübenden — Tatsache, daß
(nach einer Statistik für 1900) 63,78 Prozent (nach einer neueren Statistik
sogar 65 Prozent) Spanier weder lesen noch schreiben können und 2,60 Prozent
nur lesen. Das ist auch unter der Negierung Alfons des Dreizehnter (seit
17. Mai 1876 bezw. 17. Mai 1902) wesentlich nicht anders geworden. —
Hier ist nicht abzusehen, wie eine überstürzte „Trennung von Staat und Kirche"
bessernd wirken soll. Das geistliche Regiment fühlt sich im Schulwesen auch
zurzeit noch so sicher, daß Pitts der Zehnte im Jahre 1904 zugleich mit der
Organisation der k^ratre8 minore8 diejenige der LLtiolsö piae regeln konnte.
Spanien ist eben auf diesem wie auf manchen anderen staatlichen Gebieten
noch außerordentlich rückständig. Wie es die Zivilehe nur als Notbehelf/ nämlich
nur für die Fälle kennt, in denen die kirchliche Eheschließungsform nicht an¬
wendbar erscheint (Bürgerliches Gesetzbuch Art. 42. Die Zivilehe kannte schon
das Gesetz vom 18. Juni 1870; das Dekret vom 9. Februar 1876 hatte
jedoch alle Zivilehen mit rückwirkender Kraft aufgehoben), wie es noch am
19. Juni 1904 ein Konkordat, die religiösen Orden betreffend, von dem
Papst abzuschließen für zeitgemäß fand, wie es sich im Besitz von Schein¬
rechten der Kirche gegenüber, wie der neuerdings staatsrechtlich so vielfach
geprüften und erörterten Exclusiva, den? Recht, bei der Papstwahl einen
Kardinal für passiv wahlunfähig zu erklären, wiegt, ohne daß bei Nicht-
berücksichtigung dieser Rechte die Rechtslage irgendwie alterieren würde, etwa
die Papstwahl für ungültig erklärt werden müßte, so fehlt es ihm. um für die
„Trennung" gerüstet zu sein, vor allem an einem modernen Bildungsbedürfnissen
und -cmforderungen genügenden Schulwesen. Daher begreift sich die Eile, mit
der am 9. September 1910 der Stadttat von Madrid mit großer Mehrheit
die gänzliche Reform und den Ausbau des städtischen Schulwesens beschlossen
hat. Die Reform soll auf religiös. neutraler Grundlage erfolgen und der
Staat jährlich 150000 Pesetas dazu beisteuern. Ob dieser verhältnismäßig
geringe Staatszuschuß genügt, um den städtischen Schulen in Madrid auf die
Beine zu helfen, und ob es der kommunalen Selbstverwaltung gelingen wird,
nachzuholen, was der Staat bislang verabsäumt hat, muß die Zukunft lehren.
Vorläufig macht es den Eindruck, als ob die Kurie den geistlichen Einfluß auf
die Schulen und damit das Heft aus der Hand zu geben keineswegs gesonnen
ist- Ehe es gelingt, das Volk aus seiner Lethargie aufzurütteln und über seine
geistige und geistliche Knechtschaft aufzuklären, wird der Erfolg auch auf diesem
— wichtigsten — Vorbereitungsgebiet der Trennungsbewegung nicht mit Sicherheit
vorherzusagen sein. Solange das spanische Volk sich nur als Schafherde
fühlt, die lediglich dazu da ist, um sich alljährlich — in Gestalt des Peters¬
pfennigs — die Wolle scheren zu lassen, wird es dabei bleiben, daß die
katholische Kirche, wie es Pius der Neunte in der Einleitung zum Konkordat
von 1851 ausgedrückt hat, „den lebhaften Wunsch hegt, für das Wohl, die
Religion und den Nutzen des Königreichs Spanien mit der Hirtensorgfalt,
welche sie allen getreuen Katholiken und mit besonderem Wohlwollen der
berühmten und frommen spanischen Nation zuwendet, zu sorgen" — d. h.
Frankreich wird in Spanien nicht allzubald einen geistesverwandten Nachahmer
des Experiments der „Trennung von Staat und Kirche" finden.
Kenner der spanischen Gegenwartsverhältnisse und der spanischen Geschichte
sehen dem Beginnen Canalejas auch mit Ruhe entgegen. Der deutsche Geschichts¬
schreiber Spaniens, Gustav Diercks, konnte daher in seinen Essays „Das
moderne Spanien" (Berlin 1908) vorahnend von der kirchenpolitischen Krise
von heute sagen: „Die hohen Prälaten lächeln nur überlegen, wenn ängstliche
Glaubensgenossen die Befürchtung aussprechen, die Kirche könnte unter dem
Andrängen der Liberalen, der Republikaner und der extremen sozialen und
politischen Elemente an Macht einbüßen. Solange die katholische Kirche die
Staatskirche bleibt, wie sie es seit 587 ist, solange sie die weibliche" Welt
Spaniens unumschränkt beherrscht, wie sie es tut, wird sie auch von ihrer Macht
und ihrem Ansehen nichts verlieren." (S. ^,48.) Danach würde die „Trennung
von Staat und Kirche" in Spanien die Trennung der Geistlichkeit von den
glutäugigen Spanierinnen und dieser von den weltlichen Kavalieren zur Voraus¬
setzung haben. Ob die Männer Spaniens um diesen Preis die Trennung noch
erstreben würden?
urch das Biwak schmetterte ein muntres Trompetensignal. Aber die
Krieger, die es wecken sollte, blieben taub dagegen, zu Tode ermattet
von den furchtbaren Eilmärschen der letzten Tage. Unter zerfetzten
Zelten, in ihren von Schlamm verkrustetem Monturen lagen sie
übereinander wie Reptilien im Sumpf und suchten Hunger, Frost
und Elend mit lethargischen Schlaf zu betäuben.
Mehrere Offiziere vom Husarenregiment Bredow hatten für die Nacht wenigstens
eine Bauernhütte als Quartier gewonnen und die steifen Knochen auf einem Fuder
Stroh gebettet. Nun erwachten sie langsam einer nach dem andern, dehnten sich
und riefen fluchend nach der Ordonnanz.
„Stoßen Sie doch den Fensterladen auf, KornetI" brummte eine Baßstimme
an der Wand. „Der Teufel findet sich in diesem dunklen Loch zurecht!" Es gab
keinen Laden, die Luke stand ohnehin für Wind und Wetter offen, nur Licht gerade
war von draußen nicht viel zu holen-, denn obwohl der Vormittag schon herein-
gebrochen war, verhüllte neblige Dämmerung noch immer die Felder der Champagne,
wie schon all die Wochen her in diesem naßkalten, mörderischen Februar.
Da die Ordonnanz beim Eintritt die Brettertür offen ließ, ward es ein wenig
Heller. Mit Erstaunen bemerkte man, daß einer der Kameraden bereits eifrig
schreibend am Fensterbrette saß. Der kleine Veit natürlich, der jüngste aller
Leutnants und der züheste. Frisch, sauber und adrett wie stets, als ob er von der
Parade käme und nicht aus der Schlacht von La RottMe! Das Eiserne Kreuz,
das er sich dort geholt, prangte aus der kindlich schmalen Brust, der Säbel, den
er mit Franzosenblut gewaschen, hing wie ein Spielzeug an seiner zierlichen Taille.
„Haben wir Tagesbefehl?" wurde gefragt.
„Noch nicht! Aorck und dem Himmel sei Dank, heute wird endlich gerastet!"
„Aber die Außenwände, dem Himmel sei's geklagt, stellt unser Regiment?
Wen trifft das Kommando? Welche Eskadron?"
„Keine Sorge, meine Herren, mir macht's Vergnügen. Ich hab' mich beim
Obristen dazu gemeldet." Das sah ihm ähnlich, dem braven Veit, sie lobten's
und nahmen's wie selbstverständlich an.
Karten und Würfel flogen auf den Tisch: eine Art von dumpfer Behaglichkeit
war notdürftig hergestellt. Rauchend und ihren Priemsaft spuckend, Branntwein
trinkend, spielend und an aufgewärmten Zoten schnuppernd vertrieben sich die
Offiziere die leeren Ruhestunden.
„Veit, mein Sohn, was kritzeln Sie da so eifrig?" rief die Baßstimme vom
- Tische nach dem Fensterbrett hinüber und suchte etwas wie wohlwollende Neckerei
in den bärbeißigen Kommandoton zu legen.
„Nichts von Bedeutung," erwiderte der Knabe kühl. „Mein Kriegsjournal.
Wer mag, der kann es lesen."
„Vergessen Sie die eignen Heldentaten nicht, Sie niedlicher Tausendsassa!"
fügte der spindeldürre hinzu und schien, mit den Augen zwinkernd, gleichfalls
Schäkern zu wollen.
„Ach hab' nicht mehr getan als andre auch."
„Doch, doch! Sie find der renommierte Held vom ganzen Korps. Sind Sie
nicht Blüchern schon gemeldet? Also weg mit der falschen Bescheidenheit! Her
Su uns, Herzenskamerad I Heran ans Spielchen, heran ans Schnäpschen! Nicht so
jüngferlich getan!"
„Ich danke, meine Herren! Sie wissen ja, aufs Spielen und Trinken verstehe
ich mich nicht."'
Der mit dem Bierbaß lachte und trällerte verschmitzt.
„Nicht aufs Saufen, nicht aufs Spielen, nicht aufs Trulitrallala — wirklich
auch aufs Dritte nicht? Na, wie heißt doch gleich der dritte und schönste Spaß?"
Mahnende Blicke wiesen den sSpaßvogel zur Ruhe; ein peinliches Schweigen
entstand. Da erhob Leutnant Veit seine Stimme, eine Kinderstimme, die gleich¬
wohl hell und scharf den müssiger Raum durchschnitt, und sprach betont, als läse
er aus seinem Kriegsjournale vor: .
„Noch kein Jahr, da erschien des Königs Aufruf .An mein Volk!'. Welch
eine Begeisterung, auch in der Armee! Eine neue deutsche Welt schien aufgetan! —
Nun hat die Begeisterung sich wieder gelegt, auch in der Armee! Das Leben geht
seinen Trott wie ehedem. Das alte Jahrhundert, sein Sinn und sein Ton, ist
geblieben!"
„L'est w Zuerrel" bemerkte entschuldigend Leutnant von Gerlach. Ebenso
wie Veit war er als Freiwilliger mitgezogen.
„Ja, o'est Iz Zuerre! und nichts für ungut, Kamerad Veit I" Diesmal klang
der rauhe Bierbaß beinahe ritterlich.
Draußen kam jemand durch die Pfützen herangetrabt, hielt vor der Tür und
holte sich Auskunft. Gleich darauf stand er auch schon vor dem Tisch der Spieler:
eine gebieterische Erscheinung, stolz und strahlend wie ein junger Kriegsgott. - Er
grüßte militärisch kurz und streckte dem Leutnant von Gerlach die Hand entgegen.
„Marwitzl" rief dieser überrascht. „Hol' mich der und jener! Wo kommen
Sie her?"
„Von meinem Kommando, dem Generalstab der ersten Brigade, mit Order
an Ihren Obristen."
„Das ist nämlich Herr Alexander von der Marwitz, vom Regiment Gendarmes",
stellte Gerlach vor.
Die Offiziere verbeugten sich gleichgültig und steif, nur Leutnant Veit trat
unwillkürlich einige Schritte vor, besann sich und errötete. Alexander von der
Marwitz sah ihn groß an, hatte eine Frage auf den Lippen, ward aber durch
Gerlach unterbrochen, der ihn ganz für sich in Anspruch nahm.
Lange hielt er sich nicht auf, mit einem vielsagenden Blick auf die Würfel
und Branntweinflaschen verabschiedete er sich, den Obristen aufzusuchen.
„Ein Herr von der Marwitz? Wer ist das? Adel aus Brandenburg?"
„Aus Brandenburg?" lachte Gerlach. „Weit mehr als das! Adel aus
Genieland I"
„Gar ein Prinz mit Inkognito?"
„Höher hinauf! Nämlich der Marwitz schlechtweg, der ganze, der einzige
Alexander von der Marwitz! Aber freilich die schlesischen Garnisonen wissen nichts
von ihm."
„Nennen Sie uns seine Verdienste, und wir stehen beschämt."
„Verdienste? Ein armer Referendarius aus Potsdam ist er, Kollega von mir
bei der Regierung, ein obskurer Leutnant aus drei Kriegen, ein Landmann und
ein Philosoph, aber Freund und Gefährte unsrer Besten. Kein andres Verdienst
als seine große Seele!"
„O weh, geht es da hinaus? Wohl gar vom Tugendbund? Lieber Gerlach,
damit lockt er keinen Hund mehr hinterm Ofen hervor!"
„Ums Locken ist's ihm auch wahrhaftig nicht zu tun, sondern er ist, wie
einer sein nutz." Das rief der junge Veit dazwischen; seine Augen blitzten, seine
Stimme bebte vor unterdrückten: Enthusiasmus.
„Hallo, Herr Bruder, kennen Sie ihn auch?" neckten die Zweifler, doch Veit
war sporenklingend schon zur Tür hinaus.
Gerlach antwortete an seiner Statt:
„Wer kennt ihn nicht! Bei Coswig ist er letzten Sommer mit polnischen
Lanzenreitern ins Gedränge geraten. Und wie sie ihn schon vom Pferde reißen
wollen, sprengt der General von Szymanowski auf seine Kerle los und brüllt sie
an: .Was tut ihr! Hände weg! Das ist der Alexander von der Marwitz, der
edelste all unsrer Feinde, ein Mensch, wie ihn die ganze Menschheit braucht!'
Ruft's und gibt ihm die Bahn frei zu den Seinenl"
„Kurios!"
„Nicht wahr, meine Herren, kurios und beinahe wunderbar? Aber dergleichen
kommt vor — auch ohne jegliches Verdienst."
Zurück vom Obristen traf Marwitz vor dem Leutnantsquartier auf Veit, der
eben seinen Zug Husaren satteln ließ.
„Wir müssen uns früher irgendwo begegnet sein", sprach er ihn an.
„Ich hatte noch nicht die Ehre, Herr von der Marwitz", erwiderte Veit nicht
ohne Befangenheit.
„Doch! Ihre Züge kommen mir eigentümlich bekannt vor. Warten Sie —
wo war das doch? ... In Berlin etwa, im Salon der Rahel Lewin?"
„In der Tat, ich kenne die Demoiselle Lewin recht gut."
„El, sehen Sie wohl, und ich selbst darf mich zu ihren treuesten Freunden
rechnen."
Veit lächelte verbindlich, hatte aber Eile, sich bei seinem Eskadronchef
abzumelden.
Inzwischen war auch Gerlach vor die Tür getreten, klopfte Marwitz' schönem
Pferde den Hals und schwatzte noch ein wenig.
„Dieser blutjunge Offizier, der da auf Feldwache zieht," unterbrach ihn
Marwitz zerstreut, „was mag den zur Armee getrieben haben? Scheint er doch
kaum siebzehn Jahre alt. Auch so ein braver Junker, der für die Sache der
Freiheit seinen Cicero mit dem Säbel vertauschte?"
„Leutnant Veit nennt er sich und ist ein Prachtkerl. Niemand weiß so recht,
woher der Wind ihn geweht — vielleicht — vielleicht gar aus einem Jung¬
fräulein-Stift."
„Wie? Soll das mehr sein als ein Lagerscherz?"
„Im Ernst, doch entre nous: es schwören viele drauf, daß Leutnant Veit
ein Mädchen sei, eines vom kühnen Schlage jener Lenore Prohaska, die als
Lützowscher Jäger fiel."
„Wenn dem wirklich so wäre." sagte Marwitz streng, „so hätte jeder Soldat
das Recht verwirkt, es auch nur von ferne zu vermuten. Alle Ehre solch einer
NaturI Respekt vor dem Leutnant Veit als unsrem Kameraden und sonst kein
Wort mehr in dieser Sache!"
Er reichte die Hand vom Pferd herab, und Gerlach schlug ein.
Nach wenigen Minuten war Leutnant Veit wieder bei seinem marschfertigen
Zuge. Jetzt ritt er auf Marwitz mit einem Ausdruck froher Entschlossenheit zu:
„Wenn Sie ohne Aufenthalt zurück wollen zu Ihrem Stäbe, Herr von der
Marwitz, so haben wir eine Strecke gleichen Weges. Darf ich mir das Vergnügen
machen, Sie bis zu meinem Posten zu begleiten?""
„Nichts Angenehmeres könnte mir geschehen, Herr Kamerad.
So ritten sie ab, an der Spitze des Zuges, in westlicher Richtung auf
Chateau Thierry zu. >
Der Nebel zerteilte sich; dafür fielen Regenschauer und Schneeflocken, die
schon in der Luft zerschmolzen und vom Südwestwind den Reitern ins Gesicht
getrieben wurden. Am Feldrain tauchte mitunter ein Bauer mit seinem Karren
oder ein altes Weib mit ihrer Kiepe auf, argwöhnisch nach dem feindlichen Militär
hinüberlugend und schleunigst auf Rückzug bedacht. Zwei junge Burschen, mit
der zertretenen Wintersaat beschäftigt, richteten sich von der Scholle auf, rückten an
ihren Mützen und riefen halblaut mit tückischem Ausdruck: „H, das I'empereurl
Vive le ron"
Ohne sie einer Antwort zu würdigen, ritten die beiden Offiziere vorüber.
„Dieses Gesindel! Diese UndankbarenI" sagte Marwitz angeekelt. „Sie verraten
ihren Kaiser um einen Morgengruß seiner FeindeI"
„Sie vergelten ihm doch nur gleiches mit gleichem; denn er verriet sein eignes
Volk wie alle anderen Nationen."
„Sie gehören zu seinen Hassern? Aber ich verstehe: zehn Jahre jünger als
ich haben Sie nur den Tyrannen erlebt, nicht den Helden von Lodi und Jaffa,
der mir meine Knabenjahre mit Glanz erfüllte und den ich trotz allem, was folgte,
nie vergessen kann."
„Ist es möglich, ihn nicht zu hassen nach all der Schande, die er uns an¬
getan?" Wie ein >Schrei nagender, unheilbarer Erbitterung riß sich das los aus
einem tief verwundeten jungen Herzen.
Geflissentlich überhörte Marwitz den Ton mädchenhaften Überschwanges:
„ Mir wenigstens ist es unmöglich, irgendwer! zu hassen, zu dem ich nur ein
einziges Mal im Leben bewundernd aufgeblickt."
„Daran erkenne ich Sie ganz, Kamerad von der Marwitz!" Die Leidenschaft
des jungen Veit nahm unvermittelt einen Ausdruck glühender Freundschaft an.
„Sie suchen eines Menschen Größe und finden sie nirgends außer beim obersten
aller Teufel!"
„Das gerade ist nun mein Schicksal," bemerkte Marwitz unter melancholischen
Lächeln. „Sollte es am Ende auch das Ihre sein?"
„Nein! denn ich glaube an Sie!"
„Oho, mein Freund, welch starkes Kompliment! Was bin ich denn wert,
daß Sie mich mit dem Gewaltigen vergleichen?"
„Sie tragen in sich das Gewicht der deutschen Seele!"
„Es stimmt nicht ganz. Mit der Seele des deutschen Volkes, das sich so
naiv und selbstbewußt gegen seinen Unterdrücker erhob, habe ich wenig genug
gemein. Dennoch scheint es so, als ob Sie mich kennten — nicht erst von heute
morgen her?"
„Ich habe viel von Ihnen gehört," erwiderte Veit, neuerdings befangen,
und fügte dann wie entschuldigend hinzu: „Man nennt Sie doch in einem Atem
mit Friesen und Rüste, mit Körner und Kleist."
„Zwei Dichter! Tot und fast schon vergessen! Das klingt wie eine Mahnung."
„Ist ihr Los nicht das höchste, auch sür uns? Fühlen, was die Menge fühlen
sollte! Uns und die Brüder mit unsrem Blute rein waschen von der Schmach der
Zeit! Fallen, damit sie leben!"
„Wie Sie das fordern, so ganz aus Ihrer heißen Jugend heraus, ist es edel
und recht und fürchterlich zugleich. Ich aber stelle den Sieg höher noch als
den Tod."
„Glauben Sie wirklich an einen schönen, würdigen, dauernden Sieg?"
Marwitz schwieg betroffen. Dann sprach er still und schwer wie zu sich selbst:
„Es ist wahr, kein rechter Kampf, kein rechter Sieg! Der Stern dieses
einzigen sinkt, versinkt auch ohne uns. Wir umstellen nur die gefallene Grösze,
fangen sie und schlachten sie ab. Und dann — dann werden die Jäger sich
schimpflich um die Beute streiten."
Veit wandte sich zurück und wies auf die Soldaten, die trübselig und kraftlos
auf ihren Pferden hingen:
„Wie stolz und kampfbereit sind sie vor Jahresfrist zu den Fahnen geeilt.
Nun haben Hunger und Kälte und drei siegreiche Schlachten sie so zermürbt.
Gewaltsam wird man.sie ins Feuer treiben müssen, ob mit der flachen Klinge oder
mit dem Pflichtgefühl bleibt sich im Grunde gleich."
„Ja, unser Volk...! Ein Löwe, wenn es sich im Grimm erhebt, ein Dick¬
häuter, wenn es zurücksinke in die Pflicht!"
Sie fanden sich beide eines Sinnes in dem Urteil und in der Trauer über
dieses Volk, dem nichts so eigentümlich war als der Drang, beherrscht zu werden,
das die Tyrannen wechselte wie ein Mietknecht seine Herrschaften und sich, während
es soeben das Joch des einen Großen abschüttelte, unter das der Geringeren zu
beugen im Begriffe war. Und sie gestanden sich ein, daß weder das Los ihres
Volkes, noch weniger das Schemen ihrer adlichen Tradition sie beide in den
Feldzug getrieben hatte, sondern nur der höchstpersönliche Stolz, der im freien
Kriegsgedränge das Elend eines gebundenen und mißachteten Daseins zu vergessen
sucht. Ganz eines Sinnes fanden sie sich darin und fühlten sich innig verbrüdert
als Stiefsöhne eines Zeitalters, das für ihresgleichen wenig übrig hatte.
Sie gelangten zu einem verlassenen Chausseehaus, machten Halt und ver¬
teilten die Vorposten. Dann rastete Marwitz noch ein wenig bei dem ihm wie
vom Himmel gefallenen Freunde, indem er sich auf der Steinbank, die draußen
längs der Mauer sich hinzog, zu ihm setzte.
„Lieber Kamerad," sagte er, „ich mag nicht von Ihnen gehen ohne einen
Abschiedstrunk. Da ist in meiner Satteltasche eine kleine Bouteille Landgewächs,
guter Champagnerwein. Tun Sie mir Bescheid auf baldiges WiedersehnI" Er
entkorkte die schäumende Flasche, und Veit nahm an.
„Es ist der erste Becher seit langen Jahren, und ich bin froh, daß er gerade
von Ihnen kommt!"
„Von dir!" verbesserte Marwitz, herzlich ihm zutrinkend.
"
„Von dir, lieber Bruder Marwitz, von dir!
Abwechselnd tranken sie aus dem einen Becher, reichten sich die Hände,
besiegelten ihren Bund mit dem Bruderkuß. Dann blickten sie stumm über die
trüben Gefilde hinweg nach dem verschwommenen Horizont, wo auf einer Anhöhe
drei der postierten Reiter als regungslose Schatten sich abhoben.
„Ja, ich kenne dich schon lange," hub Veit an, als habe er im früheren
Gespräch nur fortzufahren, „ich kenne dich vielleicht besser als mich selbst, weiß
vieles von dir, mehr als ich vielleicht wissen sollte — dank unsrer guten Rahel,
die mich deine Briefe lesen ließ."
„Du darfst das ruhig gestehen. Unsre Freundin weiß, wem sie vertraut, und
hat gefühlt, daß ich in deinem Falle nicht widersprochen hätte."
„Mir ist auch bekannt," fuhr Veit mit unterdrückter Erregung fort, „daß du
eine Frau liebst, die deiner nicht würdig ist, die Frau eines Freundes, den du zu
kränken fürchtest, daß solch kleinliche Affüren und Amouren dich ablenken von
deinem eigentlichen Ziele!"
„Was für ein Ziel, das ich nicht längst verworfen hätte!"
- „Das einzige, wert seines Namens! In deinen Briefen hast du dich stolz
dazu bekannt." Marwitz lächelte in hartem Spott:
„Ich habe wohl zuzeiten mit der Idee gespielt — oder vielmehr Schmeichler
und törichte Freunde haben es mir eingeflüstert, daß ich die Laufbahn eines
Bonaparte variieren könnte.. ."
„Und weil du erkanntest, daß in Deutschland die gemeine Ordnung der
Dinge jedes hohe wie verruchte Streben im Keime erstickt, so gabst du lieber auch
den Alltag auf. .."
„Du seltsamster aller Verführer, wo willst du hinaus mit deinen Deutungen?"
„Laß mich dir zuvor erklären, was mich selbst auf die Schlachtfelder lockte.
Ich stehe allein in der Welt, ebenso wie du. Ich sehe mich ausgestoßen — in
einem anderen Sinne. Das Haus meiner Eltern war zwei Jahre lang Tummel¬
platz der französischen Soldateska! Weißt du, was das bedeutet — für mich
bedeuten mußte! — Meine Eltern starben an der Schmach, mein Bruder — nur
mit Vornamen hieß er Veit — rebellierte dagegen und wurde standrechtlich er¬
schossen. Das war das Regime des Bonaparte und der Geist unsrer Landsleute,
die solches duldeten! Als ich vollends herangewachsen war, sah ich in mir und
um mich her nur Stätten der Verwüstung. Nur wenige Männer gab es wie dich.
Als die hinauszogen, zog ich mit. — Kannst du noch fragen, wozu!"
„Um zu siegen!" erwiderte eigensinnig Alexander von der Marwitz.
„Überlassen wir die militärischen Siege ruhig unsren Kameraden!"
Veit hielt inne, horchte auf:
„Still, Marwitz.. . still! Hörst du ...? Die Erde bebt unter unsren Füßen.
Du kennst dieses Dröhnen besser als ich." Sie lauschten beide.
„Ja, Veit, kein Zweisel, das ist Kanonendonner. Der Südwest trägt ihn
deutlich zu uns herüber — aus der Gegend um Montmirail."
„Eine Schlacht! Eine Schlacht!" Veit sprang empor, neu belebt und wie in
Verzückung. „Die Schicksalsgöttin selber erhebt ihre mächtige Stimme und nimmt
gegen dein Zögern meine Partei!"
„Ich höre die Stimme der Pflicht, nichts weiter. Unser Korps wird zu Hilfe
eilen, und jeder von uns ist vorderhand Soldat."
„Aber der Ruf ergeht auch an den Menschen, und die Gelegenheit ist da,
für dich und mich, uns gegen ein verlorenes Leben zu verbünden!"
„Liebster, du träumst, du rasche! Noch in jeder Schlacht hast du dir dein
junges Leben bewahrt."
„Nur weil ich auf dich gewartet habe, Marwitz, es mit dir gemeinsam zu
beschließen! — Erinnerst du dich nicht, was du einstmals in schöner Ekstase nieder¬
schriebst: ,Bei jeder nicht gemeinen Natur muß der Körper nach, sowie die Seele
sich selber aufgegeben. Und ein Glück ist es für den Soldaten, daß ihm ein edlerer
Weg offen steht, der ihn ablenkt von der nichtswürdigen Gewöhnlichkeit, an sich
selber Hand zu legen/ — Erinnerst du dich, liebster Freund!"
Veit stand vor ihm, Brust an Brust, hielt mit beiden Händen glühend die
seinen und blickte ihn zärtlich beschwörend an. Marwitz ward weich und starr
„Ja," rief er, „ich habe das geschrieben und ich bekenne mich dazu — der
Wahrheit die Ehre! — auch heute nocht Aber wenn es gerade heute, gerade mit
dir mir nicht behagen wollte, du wilder, du lieber Phantast! — Hörst du, ich
lasse mich nicht drängen! Ich lasse mich nicht wie Heinrich Kleist von einem
Weibe in das Jenseits Hetzen! Um deinetwillen will ich beten, daß es mir heute
bestimmt sei. Aber holen soll mich die Kugel — freiwillig bring' ich mich
nicht dar!"
Er schwang sich in den Sattel, reichte dem Freunde und Versucher noch
einmal die Hand und sah die großen brennenden Mädchenaugen in stummer
Beschwörung auf sich gerichtet. Dann sprengte er davon, ohne sich noch einmal
umzuwenden, wie abergläubisch auf der Flucht allein vor diesen Augen.
Seine Brigade fand er schon marschbereit, den Stab in Erregung und schwerer
Besorgnis. Denn es war kein Zweifel, daß das auf Montmiro.it marschierende
russische Korps von Napoleon in Person überfallen worden war und sich dessen
Übermacht kaum erwehren würde. Fünf Stunden mindestens mußten vergehen,
bis man zur Unterstützung eintraf,
Ein trostloser, in seiner Hast entnervender Marsch! Marwitz, an der Seite
seines Generals, zog finster und bedrückt dahin, gleich jenein Ritter, dem der Tod
das Stundenglas vor Augen hält und der Teufel mit dem höllischen Speere folgt.
Sein Kopf war sterbensmüde und benommen von vagen Erinnerungen. Die
zuversichtliche Kampfeslust, die ihn sonst vor jeder Schlacht stählte und erhob,
blieb aus. Ein Trümmerfeld aussichtslosen Strebens, gebeugten Stolzes, dürftiger
Freuden, zweckloser Geschäfte, so lag sein Leben hinter ihm. Der Eine, Gewaltige,
der dort drüben seine Geschütze donnern ließ, erschien hinreißend selbst noch in
seinem Niedergange, er aber, der entwurzelte deutsche Junker, sah sich mit jedem
Schritte vorwärts mehr und mehr zusammenschrumpfen und unter der Menge
verschwinden. Dazu war ein leibhaftiger Dämon hinter ihm her, jener ihm allzu
rasch vertraut und teuer gewordene Fremdling, dem er sich in Blutsbrüderschaft
verkettet fühlte, dessen Augen ihn mit dunklen Flammen bannten und beschworen.
Das Aorcksche Korps gelangte zum Schlachtfeld erst gegen Abend. Versprengte
Reiter, aufgelöste Bataillone, Verwundete und Verzweifelte in immer dichteren
Scharen strömten ihm entgegen. Das Korps Sacken war von Napoleon vollständig
geschlagen und nahezu aufgerieben. Niemand wußte, ob hier noch irgend etwas
Su helfen oder zu retten war, ob man für etwas andres zu kämpfen hatte als
für die dürre Pflicht.
Der Zusammenprall mit dem ungeschwächten Feinde fand rapide auf der
ganzen Linie statt und ging alsbald in ein grauenvolles Würgen über. Marwitz
bat um Erlaubnis, seinen leidlich sichren, aber nutzlosen Posten beim Stäbe ver-
lassen und in der Front ankämpfen zu dürfen.
Davonstürmend hatte er nichts andres vor, als daS Husarenregiment Bredow
ausfindig zu machen und ein paar gleichgültig muntre Worte mit dem Leutnant
Veit zu wechseln. Eine Weile irrte er planlos umher, ward in eine Attacke ver¬
wickelt, geriet in einen Kartätschenhagel und fragte sich endlich bei einbrechender
Dunkelheit zu dem Husarenregiment durch.
Entblößt von allen Offizieren, in Flucht und Verwirrung kreuzten die
Eskadronen seinen Weg. Vergebens suchte er sie mit gezogenem Säbel aufzuhalten
und zurückzutreiben. Sein Arm sank gelähmt herab.
„Wo ist der Leutnant Veit?" schrie er sie an. Keiner der kopflosen Reiter
hatte ihn gesehen. Aber noch fühlte Marwitz die beiden Augen anfeuernd auf
sich gerichtet.
Die Reihen der Flüchtlinge durchbrechend ritt er hinüber nach dem Waldes¬
rande, wo französische Kürassiere gegen das letzte Häuflein der preußischen Husaren
wüteten, wo auch der Rest der Offiziere sich gesammelt hatte. Hier lagen Tote
und Verwundete durcheinander aufgetürmt zwischen umgestürzten Geschützen und
zappelnden Pferdeleibern. Marwitz sah nichts von alledem. Nur zwei Fragen
bewegten ihn noch und trieben ihn vorwärts, in das Getümmel hinein: „Werde
ich ihn noch treffen? Wird er mich freigeben aus seinem Bann?"
Da erteilten die Augen selbst ihm Antwort. Irgendwo in der fahlen
Dämmerung glaubte er sie wiederzuerkennen, wie sie starr, glasig und gebrochen
ihn noch immer zu durchbohren suchten.
Von Entsetzen geschüttelt parierte er sein Pferd. Verwundet brach es unter
ihm zusammen.
Ein Offizier half Marwitz wieder auf die Füße, sprach ihm, der sich schwindlig
fühlte, ermunternd zu; es war der Leutnant von Gerlach.
„Wo ist Veit?" fragte Marwitz atemlos.
„Veit? — Weshalb? — Der arme Bursch ... ein Degenstoß durch die
Kehle..."
Vorwärts taumelnd, halb besinnungslos drang Marwitz zu Fuß gegen die
anstürmenden Kürassiere vor. Er dachte nicht ans Leben und nicht ans Sterben.
Denken hatte nun für ihn den letzten Sinn verloren. Nur ein Ruf erdröhnte noch
aus wundersamer Tiefe und erfüllte ihn ganz: sich einem sinnlos schönen Nichts
zu weihen, an der Hand eines schwärmenden Mädchens Tänzer und Tänzerin zu
spielen mitten in der verlorenen Schlacht.
Ihn und die Freundin deckte das Getümmel. Beide verschwanden sie fast
im gleichen Augenblick. Weder tot noch lebendig sah man sie jemals wieder.
„Unzufriedenheit, Mißtrauen und Mißmut erfüllen weite Kreise des deutschen
Volkes." So leitete die „Kreuzzeitung" am 18. September ihre Wochenschau über
die innere Politik ein, um alsdann „die leitenden Regierungskreise" der Untätigkeit
anzuklagen und sie für einen guten Teil der herrschenden Zustände verantwortlich
zu machen. Dieser Ton gegen Herrn von Bethmann Hollweg ist neu und deutet
darauf hin, daß man im agrarischen Lager Anstoß am Verhalten des Reichs¬
kanzlers zu nehmen beginnt. Bemerkenswert ist nämlich, daß die Klage über
Untätigkeit gerade in dem Augenblick erhoben wird, wo urbi et orbi die erste
die Situation klärende Regierungsäußerung vorliegt. Freilich kann die Regierungs¬
äußerung nicht nach dem Herzen der Herren Agrarier sein, denn sie protestiert
gegen die Auffassung, als könne die Regierung einer einseitig-reaktionären Wirt¬
schaftspolitik zustimmen, mit andern Worten, als wolle der Reichskanzler sich in
das Schlepptau der Agrarier nehmen lassen. Noch mehr aber scheint es in jenen
Kreisen zu verstimmen, daß der Reichskanzler entschlossen ist, eine Politik ohne die
Nationalliberalen nicht zu machen. Das heißt nämlich, daß der Reichskanzler
bereit ist, den Wünschen der Nationalliberalen entgegenzukommen, sofern diese ihm
ihre Mitwirkung bei der Lösung der harrenden Aufgaben zusagen. Daß aber
zwischen den Wünschen der Nationalliberalen und Agrarkonservativen seit dem
letzten Versuch, die Finanzen des Reichs zu regeln, tiefe Widersprüche bestehen,
braucht nicht erst hervorgehoben zu werden. Es scheint somit als wahrscheinlich,
daß der Reichskanzler es mehr mit der idealistischen Strömung unter den Kon¬
servativen hält und daß diese auch innerhalb der deutschkonservativen Partei die
Oberhand über die materialistische, über die agrarische Strömung gewonnen hat.
Eine solche Wandlung innerhalb der deutschkonservativen Partei könnte nicht freudig
genug aufgenommen werden, denn sie allein ist die Voraussetzung für eine Aus¬
söhnung zwischen den staaterhaltenden Parteien. Wenn man die heutige Wochen¬
schau der „Kreuzzeitung" liest, könnte man tatsächlich glauben, die Wandlung habe
sich bereits vollzogen. Die Nationalliberalen werden darin mit so viel Hoch¬
achtung und Wertschätzung behandelt, wie seit den Zeiten des Blocks nicht mehr.
Freilich wird der Partei so nebenher auch ein Bein gestellt durch die Be¬
hauptung, der nächste Parteitag zu Kassel werde sich mit der Frage zu befassen
haben, wie sich die Partei zu den kommenden Handelsvertragsverhandlnngen und
gegenüber der Sozialdemokratie zu verhalten habe! der werde darüber zu ent¬
scheiden haben, „ob die Partei noch eine liberale Mittelpartei sein oder eine
demokratische Partei werden soll, ob sie der Schutzzollpolitik treu bleiben oder die
produktive Arbeit den Interessen des internationalen Großhandels opfern will".
Das alles soll aus der Presse ersichtlich sein. Wir glauben nicht, daß die „Kreuz¬
zeitung" richtig kombiniert. Ihre Behauptungen beruhen auf der falschen Voraus¬
setzung, als bestände innerhalb der nationalliberalen Partei eine tiefe Spaltung,
als herrsche zwischen den Jungliberalen und den Rechtsliberalen ein irgendwie
bemerkenswerter Zwiespalt. Wir glauben hingegen beobachtet zu haben und haben
dem bereits Ausdruck gegeben, daß schon seit Monaten nicht mehr solche Ein¬
mütigkeit innerhalb der Partei herrschte, wie jetzt kurz vor dem Parteitage. Die
Frage über Schutzzoll und Freihandel dürfte bei den bevorstehenden Verhand¬
lungen kaum anders als mit dem Hinweis auf die bisherige schutzzöllnerische
Haltung der Partei gestreift werden. Die Frage nach dem Großblock dagegen
scheint bereits durch den Ausgang des Magdeburger Parteitages der Sozial¬
demokraten erledigt. Freilich sind Debatten darüber nicht ausgeschlossen, wie mau
sich zu verhalten habe, wenn es sich darum handelt, entweder für einen Sozial¬
demokraten oder für einen extremen Vertreter des Bundes der Landwirte zu
stimmen. Denn die Gemüter im Lande sind noch immer so erregt gegen die
cmmaßliche Haltung der Bündler, daß temperamentvolle Förderer einer gerechten
Politik sehr wohl im Zweifel sein können, wer gegenwärtig der größere Feind
einer friedlichen Entwicklung ist, der Sozialdemokrat oder der Bündler. Der
Parteitag als solcher scheint uns keinerlei Veranlassung zu geben, in der Frage
erneut Stellung zu nehmen. Schon die Tatsache, daß uns noch ein ganzes Jahr
von den nächsten Reichstagswahlen trennt, läßt eine bindende Stellungnahme
unwahrscheinlich erscheinen. Schon die Debatten des kommenden Winters im
Reichstage können Situationen schaffen, die alle Parteibeschlüsse illusorisch machen;
die Haltung der Regierung kann so viel verändern in den Beziehungen der Parteien
zueinander und in den Stimmungen im Lande, daß vielleicht die nächsten Wahlen schon
unter der Devise „Nieder mit der roten Internationale!" vor sich gehen. Heute sind wir
leider noch nicht so weit. Die taktische Lage zwingt alle Mittelparteien, im Bunde
der Landwirte den zeitlich gefährlichsten Gegner zu erkennen. Warum sollte da
die nationalliberale Partei plötzlich anderer Ansicht werden? Ihre Lage im
allgemeinen Gefcchtsbild ist vergleichbar mit einer Batterie, die bis zu einer
gewissen Stunde nur gegen feindliche Infanterie, die Sozialdemokratie, zu kämpfen
hatte; plötzlich wird erkannt, daß drüben Artillerie (der Bund der Landwirte)
auffährt. Wir möchten den deutschen Batteriechef sehen, der die rote Infanterie
nicht in Frieden ließe und seine Geschütze sofort auf die Artillerie richtete! Solange
das Verhalten des Bundes der Landwirte die Stärkung der Sozialdemokratie
bedingt, solange scheint er uns auch der gefährlichere Feind einer friedlichen Ent¬
wicklung, und wir glauben, daß ähnliche Überlegungen auch in den nationalliberalen
Kreisen maßgebend sind.
Die Haltung der Nationalliberalen gegen die Sozialdemokratie wird im
übrigen durch die Stellungnahme dieser Partei zu den wirtschaftlichen Fragen
bedingt. Die Führung im Kampf gegen die Sozialdemokratie wird mehr und mehr
von den Organisationen in die Hand genommen, die dazu nach der ganzen Natur
des Kampfes am besten gerüstet sind, von den Unternehmerverbänden. So hat
sich die Metallindustrie entschlossen, den durch lange währenden Streik bedrohten
Schiffswerften zu Hilfe zu kommen durch Allssperrung von etwa !>K0(XX) Arbeitern
Von demokratischer Seite wird versucht, das Vorgehen der Metallindustriellen als
unmoralisch hinzustellen und die gebildeten Kreise gegen sie einzunehmen. Dem¬
gegenüber ist festzustellen, daß der Streik der Werftarbeiter so frivol vom Zaune
gebrochen wurde, wie wenige Streiks vordem. Wir haben darüber schon in
Heft 34 S. 395 eingehend berichtet. Er ist eine Generalprobe auf den
Massenstreik, der vor den nächsten Wahlen in Szene gesetzt werden soll.
Wollten die Metallindustriellen heute tatenlos zuschauen, so würden sie die
Streikleiter nur zu weiteren Anmaßungen reizen und in der Arbeiterschaft
den Glauben nähren, als seien von allen Arbeiterorganisationen die sozial-
demokratischen allein befähigt, die Interessen der Arbeiter zu vertreten. Welches
Selbstvertrauen die Sozialdemokraten beseelt und welche selbstsüchtigen Ziele sie
für ihre Partei in dem Streik der Werftarbeiter verfolgen, geht unter anderen
aus der Tatsache hervor, daß sie sich weigerten, mit den Vertretern der Christlichen
Gewerkschaften gemeinsam zu verhandeln. Es ist darum besonders dankenswert,
daß die Metallindustriellen sich mit den Vertretern der Christlichen Gewerkschaft in
Verbindung gesetzt haben, ehe sie mit den großen Aussperrungen beginnen. Während
diese Zeilen in Druck gehen(Montag, den 26. September), beginnen die Verhandlungen
zwischen den Vertretern des Verbandes deutscher Metallindustrieller und der Christ¬
lichen Gewerkschaft, deren Verlauf sehr wohl maßgebend sein kann für die Macht¬
stellung der Sozialdemokratie innerhalb unserer Arbeiterschaft und für unsere
fernere innerpolitische Entwicklung.
Das selbständige Eingreifen der Unternehmerorganisationen kommt gerade in
diesen Zeitläuften sehr gelegen. Durch diese Behandlung der Sozialdemokatie
werden in der Nation ungeheuere ethische Worte mobilisiert, die früher mit Rücksicht
auf den Geldbeutel des einzelnen in Narkose gehalten wurden. Die Unternehmer
haben sichneue Grundlagen der Interessengemeinschaft geschaffen. Während vor noch
gar nicht langer Zeit die Vertreter der einzelnen Branchen durch den Konkurrenz¬
kampf lediglich auseinander getrieben wurden, entstehen im Kampf gegen den
aufgesetzten Arbeiter Bande, die das Trennende verschwinden lassen und die das
Bewußtsein der nationalen und staatlichen Zusammengehörigkeit neu beleben. Das
gewerbliche Bürgertum beginnt, sich somit auch in dieser Beziehung auf seine
eigene Kraft zu besinnen, und indem es Mittel und Wege findet, sich gegen die
Störer seiner Arbeit zu wehren, befreit er sich auch unmerklich vom Gängelbande
der bureaukratischen Organe des Staates.
Unter diesem Titel hat Viktor Petersen, dem
wir die vortreffliche Neuausgabe der Autobiographie des Magisters Laukhard ver¬
danken, nun auch die „Lebenserinnerungen des Ritters Karl Heinrich von Lang"
in zwei Bänden neu herausgegeben"). Das Buch, das zuerst im Jahre 1842,
also sieben Jahre nach dem Tode des Verfassers, erschien und damals mit einem
Sturm der Entrüstung begrüßt wurde, würde den amüsantesten Schriften der
Weltliteratur beizuzählen sein, wenn es im Grunde nicht doch ein höchst betrübliches
Dokument zur deutschen Geschichte der letzten Jahrzehnte des achtzehnten und der
ersten des neunzehnten Jahrhunderts wäre. Inwieweit den Memoiren des eigen¬
artigen, uns so modern anmutenden Mannes ein höherer Wert als historische
Quelle beizumessen ist, mag der Geschichtsforscher entscheiden; daß sie jedoch von
einer unbestechlichen Wahrheitsliebe und einer mit rücksichtslosem Sarkasmus
gewürzten Aufrichtigkeit diktiert sind, scheint uns aus jedem einzelnen Kapitel
deutlich hervorzugehen. Zum mindesten wird man, auch wenn man geneigt sein
sollte, diesem Ritter ohne Furcht und Tadel ein ausreichendes Maß an Objektivität
abzusprechen, die köstlich gezeichneten Stimmungsbilder gelten lassen müssen, die
er von dem Leben und Treiben in den Fürstlich Öttingschen Regierungskcmzleien
zu Wallerstein, wo er seine Laufbahn begann, von dem Duodezhof des dortigen
halbverrückten Serenissimus, von der unseligen Komödie des Rastadter Kongresses
und aus der Übergangszeit der Lande Ansbach-Bayreuth entwirft, die 1791 an
Preußen gekommen waren, 1807 von den Franzosen besetzt und bald darauf von
diesen an Bayern abgetreten wurden. Dazwischen liegen ergötzliche Schilderungen
von einer Reise nach Ungarn, die Lang, nachdem er wegen allerhand kleinlicher
Schikanen aus Öttingschen Diensten ausgetreten war, als Gesellschafter und Hof¬
meister einer ungarischen Gräfin unternahm; von seinem Aufenthalt in Wien, wo
er Privatsekretär bei dem württembergischen Gesandten wurde, und von einem
Ausflug nach Slavonien und Serbien, den er im Auftrage seines Gesandten
unternehmen mußte, um in einer Privatangelegenheit dessen Interessen zu vertreten;
ferner Berichte über einen zweijährigen Aufenthalt in Göttingen, über seinen
Verkehr mit dem Minister von Hardenberg und seine Tätigkeit als Archivar in
dessen Diensten; endlich Charakteristiken aus München, der „neuen Königsstadt",
wo Ebbe in allen Kassen, Korruption und Dummheit an der Tagesordnung waren.
Überhaupt: die Korruption! Sie scheint neben dem ödesten Bureaukratismus die
hauptsächlichste treibende Kraft bei allen Vorgängen des öffentlichen Lebens gewesen
zu sein, nicht nur in München, sondern überall im ganzen deutschen Vaterlande.
Ein paar Proben aus dem Buche werden von Längs Wesen und Darstellungsart
einen bessern Begriff geben, als es das längste Referat vermöchte.
Wir beginnen mit einer Episode, die sich in Wallerstein abspielte, zu der
Zeit, als der Verfasser dort Negierungssekretär und Mitglied des Justizsenates mit
einem Einkommen von kaum 200 Gulden war. Er erfreute sich des Wohlwollens
des Präsidenten, und das wurde sein Unglück. „Die ungewohnte Art," schreibt
er, „womit man mich in dem Hause des Präsidenten ausgezeichnet sah, mußte
natürlich den Neid der kleinen Kanzleigeister reizen, unter welchen der Kabinetts¬
sekretär und Archivar die tätigste Rolle spielte. Es war dies ein vorzüglicher
Schönschreiber, ein fleißiger Registmtor, der mit seinen Kabinettsgratulations¬
schreiben und fürstlichen Gevatterbriefen ein gewaltiges Geheimnis trieb, jedoch so,
daß er immer einige Zipfel von den Siegeln und Briefumschlägen Herausgucken
ließ, damit man seine ungeheure Wichtigkeit ahnen könne. Nicht nur stand er mir
als ein Drache überall im Weg, wo ich einen näheren Zugang zu den Archiven
wünschte, sondern er leistete mir auch in den Morgenstunden, wo er die Schreiben
zur Unterschrift in das Vorzimmer brachte, böse Dienste beim Fürsten, der mir
an sich nicht Wohl wollte, eben weil ich der Schützling eines Präsidenten war, der
ihm von seiner Kamarilla auf den Jagdanständen und im Marstalle als ein gar
zu überlästiger Hofmeister vorgemalt wurde. Ich zweifle auch nicht, daß ich mit
manchen mutwilligen und unbedachten Worten in die Netze meiner Aufpasser werde
gefahren sein. Inzwischen aus allem diesen war doch nichts weiter hervorzubringen,
als daß ich ein Spötter und ein Freigeist sei, der weder zur Kirche noch zur Beichte
und zum Abendmahl ginge. Dies schien vorderhand genug, um mich in den
Angelhaken beißen zu lassen. In der Fastenzeit erklärte der Fürst öffentlich, laut
und drohend; daß, wer nicht in der Karwoche beichte und kommuniziere, gleichviel
Katholik oder Protestant, nichts anderes verdiene, als daß er ihn zum Teufel jage.
Bestürzt eilte mein Hofjude auf mein Zimmer, der nicht wollte, daß ich fortgejagt
werde, und er an mir sein Geld verlieren sollte. Er brach in Heulen und Weh¬
klagen aus, als ich ihm versicherte, daß ich an nichts weniger als an irgendeine
Bußübung dächte; er stellte mir als einen: gescheiten Manne vor, was es denn
wäre?, sollte es ihm zur Liebe tun; auf diese Weise bestürmten mich auch, als ich
ins Gasthaus kam, der Wirt, die Wirtin und die Kellnerin und schoben mich
nach Tische gleichsam mit Gewalt zur Kirche hinein, wo mich der Geistliche, Herr
Schäblen, verwundert und triumphierend mit einer wahren katilinarischen Rede
empfing."
Dieser heiteren Idylle vom Wallersteinschen Hofe mag eine ernste Episode
folgen, die einen der berüchtigten Grafen Reisach zuni „Helden" hat, und die ein
eigentümliches Licht auf die Verhältnisse in Bayern unter dein ersten Könige wirft.
Lang berichtet: „Der Graf August von Reisach sah sich in die verzweifelte Lage
versetzt, seine abenteuerliche Stellung als Graf, gleichviel auf welche Art, zu sichern.
Weil er seine Stelle als adeliger Regierungsrat in Nürnberg bei seiner jämmer¬
lichen Dürftigkeit nicht behaupten konnte, so trat er zurück als Pflegverweser,
anfangs zu Heideck, dann zu Hipoltstein. Voller Sehnsucht nach dem Hofleben in
Neuburg, sah er die Heirat mit einer Dame des Hofes für das sicherste Mittel
an, seinen Wunsch befriedigt zu sehen, dem nur dieses entgegenstand, daß er schon
mit einer anderen Frau getraut war, von der er als Katholik nicht geschieden,
sondern nur durch den Tod getrennt werden konnte. Also durch den Todt Ein
Bruder des Grafen, Domherr zu Regensburg, naht sich dem Bette des Unglück-
lichen Weibes, stellt ihr den Jammer ihres kinderlosen Standes vor und die
Unmöglichkeit, ihren Mann aus seinem Abgrund zu retten, ohne eine neue, wohl¬
berechnete Heirat. Darauf reicht er ihr einen Schokoladenbecher mit Gift dar und
wird immer dringender, daß sie ihn nehme. Nach vergeblichem Sträuben und
Winseln bittet sie, ihr wenigstens noch Zeit zur Beichte zu gewähren, und flugs
zeigt sich der liebevolle geistliche Herr Schwager auch dazu bereit, leiht dem
Schlachtopfer als Priester in der letzten Not sein verruchtes Ohr und vollendet
dann die grausige Tat, die nicht einmal ein Geheimnis blieb. Aber was will man
machen? hieß es. Es wäre ja töricht, sich in solche innere Familienverhältnisse
des Grafen, die sich jetzt durch die neue Heirat auf andere Art um so glänzender
befestigen, unberufen einzumischen."
Diese und so viele andere Enthüllungen des Mannes, der, nach des Königs
eigenem Ausspruche, „eine Zunge wie ein Schwert" hatte, sind nie widerlegt
worden, obgleich es, wie der Herausgeber sehr richtig bemerkt, „wohl der Mühe
wert gewesen, wenn es eben möglich gewesen wäre. Denn der Ankläger war ja
nicht der erste beste Hergelaufene, sondern einst ein hoher Beamter, der seine
Tüchtigkeit und seinen Gemeinsinn jahrzehntelang durch Taten bewiesen hatte".
Der Dichter und sein Werk. Von Professor Dr. Max I. Wolff.
München 1910. C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, Oskar Beck.
"
Professor Max I. Wolff hat mit seinem „Shakespeare, der vor drei Jahren
im gleichen Verlage und seither in mehreren Auflagen erschien, vielfach auch den
vollen Beifall der Fachgelehrten gefunden, obwohl sein Werk durchaus nicht neue
Funde oder nur neue Hypothesen bringt und auch die Darstellungsweise selbst eher
nüchtern als blendend ist. Aber nachdem so mancher Biograph über seine eigene
Person die des behandelten Dichters vergessen zu machen bestrebt war, wirkte die
Besonnenheit und Solidität des neuesten doppelt wohltuend. Ganz das gleiche
kann man bei der Biographie Molieres feststellen, die uus jetzt in ebenso würdiger
Ausstattung vorgelegt wird. Wie bei Shakespeare, so suchte auch bei Moliere eine
gewisse Richtung der Beurteiler Dichter und Werk völlig zu identifizieren, nicht
nur dem Geiste nach, in dem sie ja für jeden eine untrennbare Einheit bilden
müssen, sondern in den Einzelheiten der persönlichen Erlebnisse. Moliere mußte
seine eigenen Geschicke und zumal das Elend seiner Ehe mit einer herzlosen Kokette,
die ihn nach der Meinung seiner Zeitgenossen zum Hahnrei machte, in seinen
Lustspielen auf die Szene bringen, wie das die allgemeine Ansicht der Laien vom
Schaffen des Dichters ist. Professor Wolfs dagegen suchte schon bei Shakespeare
das wirkliche Verhältnis zwischen dein Dichter und seinem Werk aufzuzeigen und
tut dies bei Moliere, wo das Werk weniger mannigfaltig ist und der Bildungs¬
und spätere Lebensgang des Dichters sicherer und ausführlicher bekannt sind, noch
eingehender. Die Fäden der Beziehungen spielen herüber und hinüber.
Moliere steht, wie die französische Klassik überhaupt, unserem modernen und
insbesondere dem deutschen Empfinden und Geschmack weit ferner, als es nach dem
Einfluß, den sie auf die Entwickelung der deutschen Literatur hatten, und dem
Rufe, den sie noch immer bei uns haben, zu erwarten ist. Bis auf die „Phädra"
von Racine ist keines ihrer Werke bei uns lebendig, sie aber zeigt uns auch die
Ursache dessen: die „Phädra" hat ein Schiller übersetzt, während die anderen
Hauptwerke Racines, die Schöpfungen Corneilles und Molieres, eines solchen
Vermittlers entbehren. Hier auch erkennt man, daß die Kluft, die uns von der
französischen Klassik angeblich trennt, nickt groß ist, und wie nahe ihr höchst
bewunderte Stücke unserer eigenen Klassik stehen, Goethes „Iphigenie" und Schillers
„Braut von Messina" etwa; hier auch, daß in den großen Franzosen des siebzehnten
Jahrhunderts nicht nur vermeintlich, sondern tatsächlich etwas von dem Geiste des
alten Griechentums auflebte, in dessen Zeichen sich dann auch, in gleicher Dank¬
barkeit, unsere eigenen Klassiker stellen, nicht anders freilich als jene mit Wahrung
ihrer Selbständigkeit und ebenso bestimmt durch Zeit und Umwelt. Was uns von
ihnen trennt, ist im Grunde nur das Versmaß ihrer Stücke, der Alexandriner, der
uns fast nur durch Übersetzungen und steife Nachbildung vertraut, als zopfig,
pedantisch, als unerträglich gilt, während er im Französischen selbst ein wenn auch
durch Regeln allzusehr eingeengtes, doch immerhin geschmeidiges Versmaß ist. So
braucht man, wie Schiller dies tat und Goethe in seinen Übertragungen Voltairescher
Stücke an geringer wertigen Vorbildern und mit weniger Sprachpracht befolgte,
Racinesche und Corneillesche Tragödien nur (freilich ebenbürtig) in Blankverse zu
übertragen, und die scheinbar so tiefe Kluft ist überbrückt. Für Moliere ist indessen
das Versmaß noch nicht gefunden. Die erste Übertragung seiner Alerandrinerstücke
(durch Friedrich Samuel Bierling, Hamburg 1752) löste die Verse auf und nahm
ihnen dadurch (wie in gleicher Weise die wenig spätere Wieland - Eschenburgsche
Prosaverdeutschung Shakespeares) einen wesentlichen Reiz. Der streng jambische
Alexandriner der Moliere-Übertragung von Adolf Laun erwies sich als gleich
unglücklich, dessen Umwandlung in Blankverse, wie sie Graf Wolf Baudissin vor¬
nahm und schon Heinrich von Kleist sie in seiner freien Nachdichtung des
„Amphitryon" (worin übrigens im Original Alexandriner mit kürzeren Zeilen
wechseln) vorgenommen hatte, als nicht viel günstiger, da auch hier die
epigrammatische Gedanken- und Wortprägung, in der Moliere Meister war, ver¬
loren ging und oft einer ganz unmolierischen Breite und Leere wich. Über die
neueste und so außerordentlich erfolgreiche Übersetzung mehrerer Stücke durch
Ludwig Fulda (in gereimten Jamben) urteilt Professor Wolff wohl im Sinne
jedes Kenners der Originale: „Reimgewandtheit und ein flüssiger, vielleicht sogar
zu flüssiger Ausdruck sind diesem Übersetzer nicht abzusprechen, aber für die ein¬
dringliche und männliche Energie des Originals besitzt er kein Verständnis."
Unerwähnt läßt Professor Wolfs den Versuch Sigmar Mehrings, Moliere in
gereimte achtfüßige Jamben zu übertragen, der auf der Leipziger Bühne seinerzeit
Aufmerksamkeit erweckte. Vielleicht wäre es am günstigsten (und einfachsten),
Molieres Verslustspiele in dein gleichen Versmaß zu übertragen, in dem sie
geschrieben sind- natürlich nicht in jambisch geordnete Alexandriner, die auf die
Dauer in der Tat unerträglich sind, sondern in nach französischer Art frei rhyth-
mierten. Ich gebe hierfür als Probe den Widerhalt des Gesellschaftsmenschen
Philine gegen die Anklagen und idealen Forderungen Attests im „Misanthropen",
wozu ich nur bemerke, daß die Verse ganz wie Prosa, wie Salonrede zu
sprechen sind:
Wenn es im Wesen einer ernsten Beurteilung liegt, den besprochenen Gegen¬
stand zu fördern, so bin ich mit den obigen Ausführungen eigentlich schon am
Ende. Professor Wolff pflegt im allgemeinen seine Worte so abgewogen und
behutsam zu wählen und sich so streng an das Tatsächliche zu halten, daß die
Polemik sich an Einzelheiten heften müßte und dadurch in Gefahr käme, kleinlich
zu erscheinen. Ich möchte doch bemerken, daß mir von den Vorgängern Moliöres
Scarron nicht ganz mit dem wohlverdienten Gewicht behandelt scheint, ebenso
Cyrcmo de Bergerac, ein doch origineller, wenn auch grotesker Kopf. („Der
wilde Junker Cyrcmo von Bergerac, der durch Rostands nach ihm benanntes Drama
eine nachträgliche, allerdings wenig berechtigte Berühmtheit erlangt hat.") In
der sonst trefflichen Charakteristik des Preziosentums vermisse ich den Hinweis auf
die in diesen Kreisen beliebte Kunst des „Porträtierens", die später in La Bruyeres
„Charakteren" ihren höchsten Ausdruck fand und die als Vorstufe für Moliöres
intime und dabei doch typisierende Charakterzeichnung vielleicht nicht ohne Bedeutung
ist. Was weiter Abliegendes betrifft, so finde ich die Marquise von Maintenon
etwas -zu geringschätzig charakterisiert („eine alternde Betschwester steht ihm —
Ludwig dem Vierzehnten — als Mätresse zur Seite"): die zweifellos genialische
Enkelin des stolzen Agrippcr d'Aubign6 sah nur wie so mancher Protestant und
spätere Gegenreformator gut ein, daß das nach Macht strebende Tatgenie leichter
unter einem in Unmündigkeit gehaltenen Volke zu seinem Ziele gelangt, und nutzte
ihren Übertritt auch nach dieser Richtung hin aus. Die Bemerkung über die
Unmöglichkeit, das französisch-makkaronische Latein der Doktorpromotion im „Ein-
gebildete: Kranken" im Deutschen mit ähnlichen Bildungen wiederzugeben, läßt
die reiche deutsch - makkaronische Dichtung, der so manche humoristische Wirkungen
gelangen, außer acht.
Großen Gewinn hat diese Moliere-Biographie davon gehabt, daß ihr Ver¬
fasser zuvor eine Shakespeares geschrieben hat. Durch das ganze Werk zieht sich
der Vergleich von Moliere mit Shakespeare, der überall aufs beste dazu dient,
Licht auf das Thema zu werfen. Ganz besonders auch möchte ich die feinen
Bemerkungen über das Verhältnis des Dichters zu den sein Schaffen anregenden
Quellen und den Moment der Konzeption hervorheben: „Der Stoff ist für den
Dichter das äußere Geschehnis; zum Kunstwerk erhebt er sich, indem er sich mit
dem inneren Erlebnis kreuzt. Die Lektüre des spanischen Dramas „Der Ehemann
macht die Frau" enthüllt Moliöre blitzartig die Möglichkeit, seine persönlichen
Gedanken über Liebe und Ehe darzustellen . .. das ist der Moment der poetischen
Konzeption. Er entschleiert dem Dichter die idealmögliche Gestaltungsfähigkeit des
Stoffes, er zaubert ihm eine traumhafte Vision vor, der die Ausführung in lang¬
samer, mühevoller Arbeit nahe zu kommen sucht. In der Konzeption liegt das
Geheimnis des poetischen Schaffens. Wenn wir den Quellen eines Dramas mit
dem größten Eiser nachspüren, so geschieht es nicht, um festzustellen, dieses oder
jenes Buch hat (habe) der Verfasser gelesen, sondern weil wir durch den Vergleich
des Rohstoffes mit dem fertigen Kunstwerk hoffen, in die Seele des Schöpfers
selbst einzudringen und ihn psychologisch zu begreifen." Diese Worte gelten für
das ganze Buch: in solchem Sinne ist es geschrieben. Gelegentliche Nachlässigkeiten
der Sprache (wie auch im Zitat eine angedeutet wurde) wiegen neben den großen
und reichen Vorzügen leicht. Als Ganzes wird es zweifellos ebenso dankbar
aufgenommen werden wie die Shakespeare-Biographie und noch wertvolleren Dienst
tun: weiteren Kreisen einen Dichter näher zu bringen, dessen Name in aller
Munde ist und dessen Werke doch kaum einer von tausend Gebildeten kennt.
In einer Zeit, die manches schöne Talent niedergehtt sah, das einst
Hohes und Großes zu versprechen schien, ist es eine doppelte Freude,
die stetige Entwickelung einer Künstlerin wie Ricarda Huch zu
beobachten. Fast bei jedem ihrer größeren Werke erschien sie wie
I eine Abgeschlossene, die ihr Ziel erreicht hat, und noch jedesmal hat
sie dann nach kürzerer oder längerer Pause durch ein neues Werk überrascht, das
sie in immer wieder über sich hinausweisender Entwickelung zeigt. Dabei ist in
dieser weiblichen Natur nichts sprunghaftes, keine Effekthascherei, keine Sucht nach
dein unbedingt Neuen und gar nach dem Verblüffenden. Hat man wieder ein
neues Wegstück mit Ricarda Huch gemacht, so erscheint einem die nun gewonnene
Aussicht als das Natürlichste von der Welt — immer ein Zeichen echter künstlerisch¬
menschlicher Entwickelung. Das zuletzt hier von mir besprochene Buch der Frau Huch,
die russische Geschichte „Der letzte Sommer", war nur eine leichte Zwischenarbeit
ihr ganzes Sinnen und Sehnen gilt ja seit Jahren den Einheitsbestrebungen
Italiens, dem Zeitalter Garibaldis. In ihre» „Geschichten von Garibaldi", deren
dritter Teil noch aussteht, hat sie in einer Art von romantischem Impressionismus
kleine Bilder von wundervoll echter Färbung und Tönung zu einem Fries an¬
einandergereiht, der in lebendiger Anschauung und mit dichterischer Durchdringung
Garibaldi, und was um ihn lebt, zeigte. Im weitern Ablauf dieser Studien aber
hat Ricarda Huch nun einen ganz andern Stil gefunden. Das heroische Zeit¬
alter der Erhebung, wie es eben Garibaldi kennzeichnet, verlangte in ihrem Sinn
die ungestüme, vielfach abkürzende Darstellung an einzelnen Bildern; die dumpfen
Jahre vor dem Ausbruch, da Kaiser Franz väterlich-tyrannisch, beschränkt-schlau
Oberitalien beherrschte und die mehr in den Köpfen als in den Schwertern
lebende Bewegung erstickte, diese Jahre des „Risorgimento" brauchten einen
gehalteneren Stil. Was vor sich ging, ging ja viel verschwiegener vor sich als in
den spätern Kämpfen, und die auftretenden Naturen wurden gezwungen, vielfach
mehr Dulder, oft heldische Dulder als handelnde Helden zu sein. In dem Buch
„Das Risorgimento" (Inselverlag, Leipzig) gibt nun Ricarda Huch sieben Porträts
aus dieser Zeit. Unter ihnen den Dichter Silvio Pelileo, Kaiser Franz und den
Ankläger in den großen Verschwörungsprozessen, Antonio Salvotti. Fast leiden¬
schaftslos erscheint hier nach, den bunten Szenen des Garibaldi-Buchs die Dar¬
stellung, und doch lebt in den ruhig aneinandergereihten Sätzen die ganze unter¬
drückte Leidenschaft der Jahre, rauscht an unsre Ohren der beherrschte Pulsschlag
der Männer, die ein kleinlicher Henker so lange einsperrte, bis die Festungshaft,
deren kleinste Schritte er selbst regelte, Leib oder Geist gebrochen hatte. Der eine
der hier aufgerollten Lebensläufe, der des Grafen Federigo Confalonieri, hat
Ricarda Huch so sehr angezogen, daß sie seinem Schicksal ein ganzes Werk „Das
Leben des Grafen Federigo Confalonieri" (im selben Verlage) gewidmet hat, ein
außerordentliches Buch von größter Schönheit in seinen Abmessungen, geschrieben
in einem klaren historischen Stil, der auf jeder Seite die Dichterin verrät, ein
Mittelding zwischen Historie und Poesie — im ganzen doch wohl bei aller geschicht¬
lichen Treue eine Dichtung. Man darf bei dem Eindruck, den ein solches Werk
macht, ja nicht vergessen, daß dieser führende Mann des „Risorgimento" uns
Deutschen, wenn wir nicht Historiker sind, ziemlich fernsteht, daß wir mit ihm nicht
wie mit den Namen Garibaldi, Mazzini oder Cavour einen festen menschlichen
Begriff verbinden. In diesem Buch tritt er uns mit jedem seiner Schritte näher,
wir leben voll mit ihm mit, versteh» seine Haltung bis zum Prozeß, im Prozeß,
die sich klärende Weisheit seiner geprüften Seele während der Gefangenschaft auf
dem Spielberg, seine Ablehnung der Flucht, endlich sein schweigsames Ende in der
spät wieder erlangten Freiheit. Wir meinen Gebärde und Miene, jeden Blick des
jungen, blühenden und des alten, welken Grafen zu sehn; dieser uns fast fremde
italienische Politiker ist uns nun eine vertraute Erscheinung, tritt neben die
Gestalten, die uns Ricarda Huch rein aus ihrer Phantasie heraus in den Jahren
ihrer früheren Kunst geschenkt hat.
Ricarda Huch ist eine Dichterin, die ich mir wenigstens nicht alt vorstellen
kann und die wohl auch nach zwanzig Jahren immer noch jung sein wird. Marie
von Ebner-Eschenbach, die im Herbst ihr achtzigstes Lebensjahr vollendete, kann
ich mir nicht recht jung vorstellen, wie sie denn auch erst als eine Fünfunddreißig-
jährige ihre ersten Erzählungen veröffentlicht hat. Man kann bei ihr von Ab¬
wandlungen des Stils in den Jahrzehnten ihrer schriftstellerischen Tätigkeit kaum
sprechen: es ist alles von demselben reifen Menschen geschrieben, der klug
beobachtet und sich bemüht, aus seinem aristokratischen Umkreis heraus auch ganz
andre Schicksale und Sphären zu erfassen. Auch das neue Buch der Baronin,
„Genrebilder" (Berlin, Gebrüder Paetel), hätte vor Jahren erscheinen können,
könnte zwischen älteren und ältesten Arbeiten seiner Verfasserin stehn. Ich glaube,
daß man Marie von Ebner-Eschenbach in vielem weit überschätzt hat und halte
insbesondere ihre Romane, auch das berühmte „Gemeindekind", keineswegs für
Meisterwerke. Ihr Bestes steckt in kleineren Erzählungen, ganz besonders in den
Dorf- und Schloßgeschichten. Da kann die Sprödigkeit des Ausdrucks und die
eigentümliche Härte der Schilderung im kleinen Rahmen Vollendetes bringen,
während zu den breiten Bildern des Romans Phantasie, Weichheit, kurz die
eigentlichen Gaben einer Dichterin fehlen. Das neue Buch gehört zu den Samm¬
lungen kurzer Stücke und zeigt da das, was schließlich im Schaffen der Frau
von Ebner-Eschenbach doch wohl das Geheimnis des Erfolges war: die große
Güte einer alles verstehenden weiblichen Natur. Die hat immer wieder die Herzen
gewonnen, wie sie uns hier insbesondre aus der letzten Erzählung „Das tägliche
Leben" wieder gewinnt. Mit einer echt weiblichen Kunst gelingt es Marie
von Ebner-Eschenbach da, aus einem einzigen Erlebnis ein ganzes Dasein zu
rekonstruieren, von dem sie nur ein paar Tage miterlebt hat und dessen jäher
Abschluß durch einen Selbstmord allen rätselhaft bleibt. Sie allein begreift, warum
eine scheinbar vollkommen glückliche Frau am Vorabend ihrer silbernen Hochzeit
ihrem Leben ein Ende macht — die ist der Lüge satt und will nicht ihre jahrelange
Qual als ein dauerhaftes Glück gefeiert sehn. Die klaren Augen eines reifen
Menschen, einer Frau, die lange gelebt und vieles gesehn hat, schauen uns über
dieser wie über den andern Geschichten des gehaltvollen Buches an.
Ein Frauenleben, das sich nach kärglichsten Beginn zu tragischen Leid und
dann doch zu einem nahezu romanhaften Erfolge erhob, lernen wir aus einem
prächtigen Buch jüngster Zeit kennen, „Amalie Dietrich", ein Leben, erzählt von
Charitas Bischoff (Berlin, G. Grote). Amalie Dietrich ist die Tochter eines
armen sächsischen Beutlers, heiratet jung einen Naturforscher aus der berühmten
Familie der Dietrichs, macht in der Ehe schlimme Erfahrungen, die sie mit ihrer
kleinen Tochter aus dem Hause nach dem Orient zu Verwandten führen, lernt
aber zurückgekehrt, bei ihrem begabten Mann ausgezeichnet die Bestimmung aller
Pflanzen der deutschen Flora. Einen Karren ziehend, gelangt sie sammelnd durch
ganz Deutschland und Holland, quält sich um armseligen Lohn, bis sie beim
Verkauf von Sammlungen in Hamburg zufällig ins Godeffroysche Haus gerät.
Godeffroy legte damals große Sammlungen an, die er später dem hamburgischen
Staat für ein naturhistorisches und ein ethnologisches Museum überließ. Ihrer
Tochter zuliebe, für die der kranke Mann nichts mehr schaffen kann, geht Amalie
nun in Godeffroys Auftrage für zehn Jahre nach Australien und sammelt dort
mit Umsicht und einer von allen Gelehrten bewunderten Exaktheit und Kenntnis
Pflanzen, Tiere und Gegenstände der Völkerkunde. Nach einem heldenhaften Leben
voller Entbehrungen und reichster wissenschaftlicher Ausbeute kehrt sie nach Hamburg
zurück, um hier, allgemein anerkannt, in der Nähe ihrer Sammlungen ihr Leben
zu beschließen. Kurz vor ihrem 1891 erfolgten Tode ward ihr, deren Name in
der Benennung mehrerer Pflanzen weiterlebt, eine sie tief ergreifende Ehre: auf
einem Berliner Kongreß für Anthropologie waren Frauen nicht zugelassen. Da
sie gelesen hatte, daß dort auch über Australien gesprochen werden sollte, fuhr sie
nach Berlin und bat um Einlaß, den die Diener ihr verweigerten. Da sah sie
der Vorsitzende, der Gründer der deutschen Seewarte, der berühmte Georg
von Neumayer, führte sie durch die Reihen der Anwesenden und sagte: „Frau Dietrich
erbittet sich einen Platz in irgendeinem Winkel; ich denke, ihr gebührt ein
Ehrenplatz in dieser Versammlung." Das Buch, das diesen Lebensgang schildert
und auch zahlreiche Briefe von Amalie Dietrich bringt, ist ein Haushund im aller¬
besten Sinn des Wortes, spannend auf jeder Seite, voll echten menschlichen
Gehalts und treu in der Schilderung eines Schicksals, dessen Ertragung und
Überwindung durch diese schlichte Frauennatur vorbildlich wirkt. Der Buchschmuck
von Hans Kurth ist sehr reizvoll der Erzählung angepaßt.
Eine für Deutschland neue englische Schriftstellerin, die unter dem Decknamen
Mrs. Little schreibt, hat ein feines und liebenswürdiges Buch, „Die Dame mit dem
Orden", herausgegeben, das nun (bei Wilh. Grunow in Leipzig) in deutscher
Übersetzung von Gertrud Bergmann vorliegt. Die Schicksale der jungen Amerikanerin,
die nach schweren Erlebnissen für einige Jahre an eine japanische Missionsschule
geht, erinnern in der Art dieser brieflichen Darstellung ein wenig an die „Briefe,
die ihn nicht erreichten" von Elisabeth von Heyking. Es ist viel Welt in ihnen
und 5adel viel jugendliches und liebenswürdiges weibliches Empfinden. Außerdem
profitiert das Buch vom Milieu, denn es spielt bis in den Russisch-Japanischen
Krieg und bringt eine Menge hübscher Schilderungen ans dieser Umwelt. Derselbe
Verlag bringt wiederum einen der leicht humoristischen, fein erzählten Romane
des Dänen Palle Rosenkrantz, „Der rote Hahn" (deutsch von Jda Jacob-Anders).
Ich empfinde in Rosenkrantz' Art ein wenig von der unsres Schleswig-holsteinischen
Erzählers Timm Kroger, der freilich ein größerer Poet ist. Die Werke dieses
Autors, wie auch etwa die von Sophus Bcmditz, haben für uns Deutsche, die
wir in den letzten Jahrzehnten so viel skandinavische Literatur kennen gelernt
haben, den besondern Wert, daß sie uns neben der jüngern auch die ältere dänische
Literatur zeigen,-eine gehaltene, feine Kunst ohne besonders überraschende Lichter
und Töne, aber voll Geschmack und Humor. Freilich erscheinen diese Tinten
blaß gegenüber denen der jungen Talente, und unter diesen wirkt niemand
überraschender als Aage Madelung, der dänisch schreibende Schwede, und Johannes
V. Imsen. Dieser Dichter bedeutet nicht nur in Schweden, sondern überhaupt
in unsrer gegenwärtigen Literatur etwas ganz Neues — er verbindet die starken
nordgermanischen Elemente seiner Natur mit dem in Amerika eingesogenen
Rhythmus eines ohne historische Überlieferung doppelt rasch fortschreitenden Lebens,
und er bringt dazu eine unbefangene, auf feiner Rassenpsychologie begründete
Anschauung, die sich fast auf die ganze bewohnte Erde erstreckt. Seine letzten
Bücher „Exotische Novellen" und „Mythen und Jagden" (beide bei S. Fischer in
Berlin) gehören zu den aufregendsten Büchern der letzten Jahre, aber zweifellos
auch zu den talentvollsten. Imsen fehlen nicht geradezu kriminalistische Elemente,
die wir übrigens aus der Entwickelung des deutschen Realismus nur zu gut
kennen; seine beiden Romane „Madame d'Ora" und „Das Rad" drehn sich geradezu
UM Mordtaten, und auch in den „Exotischen Novellen" kommt derartiges immer
wieder in die Höhe. Aber es ist im Grunde nebensächlich, woran sich die Phantasie
Jensens klammert, weil der Reiz seiner Dichtungen darin besteht, wie er den
Rhythmus auffängt, der in dem Blut des einzelnen unter dem Takt unsres ganzen
Lebens wogt. Eine Gestalt wie der Kuli Hoang Tschin Fo, der alte Rickshaw¬
führer in Singapur, der den begehrten jungen Konkurrenten ermordet, vergißt sich
nicht so bald. Oder der Spaziergang, den die beiden Judenkinder in der Erzählung
„Der kleine Ahasverus" durch die Tunnels der Untergrundbahn machen,, während
über ihnen New Jork tost, an ihnen die Züge vorbeirasen. Und dabei haben wir
eben miterlebt, wie der Vater der Kinder bei einer Panik in New Aork ums
Leben kam, bei der „viele Menschen buchstäblich die Häusermauern hinausgespritzt
wurden". Jensens Kunstmittel sind eine scheinbare Gelassenheit bei Erzählung
atemraubender Vorgänge, eine manchmal mikroskopisch treue Wiedergabe kleiner,
von andern gar nicht beobachteter Vorgänge (zum Beispiel „Das Ungeziefer" in
den „Mythen und Jagden"), eine Ironie, die aber nicht um ihrer selbst willen
da ist, sondern zur rechten Zeit voller, männlicher Ernst wird. Diese seltsame
Mischung aus ganz modernen Bastelementen und fast barocken Manieren alter
Zeit raubt Jensens Romanen manchmal die Wirkung; er möchte gern ruhig erzählen,
und gerät dadurch hart an die Grenze der Langeweile. Um so glänzender
bewährt sich diese Begabung in der Novelle und der Skizze. Er/ ist oft kapriziös,
aber doch nie gesucht, immer geistreich und immer farbig; man glaubt ihm in
diesen kurzen Stücken jedes Wort und fühlt sich mitgerissen, man denkt an den
Amerikaner Poe und findet doch hinter allem eine ganz dänische Natur. — Die
Übersetzung beider Stücke durch Julia Koppel ist meisterhaft, ganz und gar künstlerisch.
Über Gustav Falke habe ich vor kurzem an dieser Stelle ausführlich gesprochen.
Jetzt liegt unter dem Titel „Die Auswahl" (Hamburg, Alfred Janssen) eine Auslese
der schönsten Gedichte aus den sieben Bänden seiner Meisterschaft vor, in schönem
und würdigem Druck und Einband — nur die drei grotesken und unverständlichen
Bilder dürften fehlen. Der ganze Umfang von Falles lyrischer Kunst tritt dem Leser
hier entgegen, in ruhiger Steigerung baut sich seine Liebeslyrik, die Stimmung seines
stillen Hauses, die verhaltene Tragik schwerer Kämpfe hier auf. Falles feiner
Humor fehlt nicht, Kindergedichte sind hier und da eingestreut — im ganzen ist
es ein Meisterbund, wie wenige heutige Lyriker es auf der Höhe ihres Schaffens
zusammenstellen könnten.
Carl Busse hat den Ertrag seiner letzten Jahre zu einem Gedichtbuch
„Heilige Not" gesammelt (Stuttgart, Cotta). Ich empfinde gegenüber dieser ernsten
und gewichtigen Gabe etwa, als ob ich Busse etwas abzubitten hätte. Ich glaube
doch, daß man ihn allgemein unterschätzt, und muß selbst ein früher abgegebenes
Urteil, daß er sich nicht recht entwickelt hätte, umstoßen. Ihm ist in diesen Jahren
der Vers schwerer und voller geworden, ohne dabei an Grazie einzubüßen. Aus
dem Jüngling seiner ersten Gedichte ist der Mann geworden, dessen Träume um
die Zukunft der Seinen und um den Allsieger Tod gehn.
Er empfindet nun das rätselvolle Schließen des Kreises, der seltsam Tod und
Leben tauscht:
Abgesehn von dem Zyklus „Jrrende Liebe", der nicht auf der Höhe des
Ganzen steht, ist wirklich viel heilige Not in diesem Buch, und Busses Persönlichkeit
gewinnt ein neues, ernstes, durchgeistigtes Profil.
Auch Carl Hauptmanns Lyrik, die lange nicht mehr erhältlich war, liegt nun
in der zweiten Auflage des Werkes „Aus meinem Tagebuch" (München, Georg
D. W. Callwey) vor. Seine Sache ist freilich nicht, wie bei Falke und Busse,
die geschlossene Form. Er ist viel mehr Hymniker, kommt langsam aus sich
heraus, gibt manchmal abgerissene, kleine Weisen, dringt aber in hohen Stunden
doch voll bis zum lyrischen Erlebnis vor. Dabei bleibt denn manches unvollendet,
aber dazwischen stehn Verse von hoher Schönheit, in denen man den Dichter des
Ostergesangs aus der „Mathilde" wiedererkennt, so etwa die schönen Rhythmen
an Hugo Wolf. Nur fällt in Hauptmanns Lyrik erheblich mehr als in seiner
Prosa, von der das Buch auch einige Stücke bringt, und in seinen Dramen auf,
daß er verhältnismäßig wortarm ist. In der Prosa hilft er sich mit größtem
Glück durch feine Nuancierung (ich denke vor allem an seine „Miniaturen") —
seine Lyrik leidet aber, aufs Ganze angesehn, unter diesem Mangel.
Einen alten Bekannten in neuem, schönem Gewände beschert uns der Insel-
verlag mit den „Briefen eines Unbekannten". Der von Kennern seit langem
bewunderte Schreiber war Alexander von Villers, ein deutscher Diplomat fran¬
zösischer Herkunft, der die längste Zeit in Wien gelebt hat. Graf Karl Lcmckoronski
und Wilhelm Weigand haben die Briefe wieder herausgegeben. Sie sind es
durchaus wert, denn es steckt überaus viel Geist, sehr viel Anschauung in ihnen —
nur freilich stört uns heute eine Häufung von Wortwitzen, die in den sechziger
und siebziger Jahren erträglicher erschien; überhaupt glaube ich, daß die Briefe
nun nicht mehr so stark wirken werden, weil wir in den letzten Jahren, zumal
durch die Briefe Bismarcks und Fontanes, Schätze erhalten haben, neben denen
diese doch ein wenig verbleichen. Was an ihnen am stärksten ergreift, ist (im
Gegensatz zu Fontane) die große Naturliebe dieses diplomatischen Hagestolzen, der
die ganze Kultur seiner Zeit besitzt und doch am liebsten in einem Blockhaus auf
einer Alp oder am Bergrand in der Wiener Landschaft sein Heim aufschlägt.
Die bekannte Geschichte der deutschen Literatur von Friedrich Vogt und
Max Koch (Leipzig, Bibliographisches Institut) liegt in einer dritten, neu bearbeiteten
und vermehrten Auflage vor. Das Werk ist mit Recht berufen, in die deutsche
Familie einzudringen, und scheint das ja auch bereits erreicht zu haben, hoffentlich
vor allem unter Verdrängung des schlechten Buchs von König. Die vortreffliche
Ausstattung mit Bildern und Faksimiles ist des Verlags würdig und ein schönes
Dokument unsres Buchgewerbes — nur die Bildnisse Goethes und Schillers müßten
durch wesentlich bessere ersetzt werden. Bei der Anlage des Ganzen ist mehr Wert
auf die ältere Literatur bis zur Romantik als auf die neuere gelegt, und der
Hauptwert des Werks beruht in der Tat auf diesen älteren Teilen. Bei der
Schilderung der Entwickelung seit der romantischen Schule wird viele stören, daß
Max Koch die Bayreuther Festspiele zu Unrecht als epochemachend auch für die
Literatur ansieht. Auch halte ich es nicht für glücklich, daß die Entwickelung des
Dramas und des Romans voneinander getrennt erzählt wird, da auf diese Weise
Fontane und die Münchner, ja noch Meyer zum Beispiel vor Hebbel und Ludwig
stehn. Daß einzelne neuere Dichter im Verhältnis zu älteren, minder wertvollen
schlechter wegkommen (Fontane hat etwa ein Sechstel von dem Platz des Gryphius),
liegt im Plan des Ganzen und braucht bei der Fülle von Literaturgeschichten des
neunzehnten Jahrhunderts, die wir besitzen, kein Schade zu sein. Schwerer wiegt
aber gerade bei der Knappheit der letzten Teile, daß zwar Julius Wolff und sogar
Marie Madeleine nebst einer Reihe kleiner Geister nicht fehlen, während Rudolf
Lindau, einer unsrer größten Erzähler, Fritz Stavenhagen, Max Eyes und mancher
andre nicht einmal genannt sind, die gerade in ein Familienbuch unbedingt hinein¬
gehören. Über einzelne Urteile zu rechten, hat gegenüber einem solch ausgedehnten
Werk wenig Wert, im ganzen wird man das nun schon eingebürgerte Buch, ins-
besondre für die ältere Zeit bis zur Romantik, aufs neue empfehlen dürfen.
Zum Schluß möchte ich die Aufmerksamkeit der „Grenzboten"-Leser noch
auf eine schon etwas ältere Gabe lenken, die mir noch immer nicht ihrem vollen
Werte nach gewürdigt erscheint, auf Ferdinand von Saars Sämtliche Werke, die
mit einer Biographie von Anton Bettelheim Jakob Minor (bei Max Hesse in
Leipzig) herausgegeben hat. Ich kann in diesem Rahmen nur immer noch einmal
auf diese Bände hinweisen; ihr Erscheinen bietet Gelegenheit, vieles an Ferdinand
von Saar gutzumachen, der ein feiner Lyriker, der größte österreichische seit Lenau,
und einer der größten deutschen Novellisten in der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts gewesen ist. Seine „Novellen aus Österreich" haben geradezu
klassischen Reiz und sind in ihrem Stimmungsgehalt mit Recht oft mit denen
Storms verglichen worden. Der bescheidene Ruhm, den Saar im Alter genoß,
sollte sich jetzt nach seinem Tode zu einem vollen Klang durch ganz Deutschland
h
Anzeigen-Annahme für diesen Teil beim Verlag der Grenzvoten G. in. b. H.,
Berlin 8W. II, Bernburger Straße 22a/23.
Fernsprecher: Amt VI, Ur. 0510. Telegramm-Adresse: Grenzboten, Berlin.
Stellennachweis.
(Aus der Tages- und Fachpresse.)
Anfragen zu richten unter Beifügung von
Rückporto an die Geschäftsstelle der „Grenz¬
boten", Berlin SV/, it.
ä. Kur Akademiker.
IM. Biirncrmcistcr, Grosz-Salza (4500 M.), Mai 1911.
1S2. Rektor, 1-4.11 (Realg»in»asium), mit Oberlehrer-
nnd Rede. - Erinner, Holstein in5U0 M.).
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.61. Hauslehrer, «»., (Phil, oder Theol.). 1. 10.,
Mecklenburg.
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per sofort, Pommern.
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150. Pfarrer, 1.1. II. Sachsen.
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158. Pfarrer, bald (2400 M), Sachse».
159. Pfarrer, bald (2400 M), Sachse».
IM. Hauslehrer, 1.10., Neumark.
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Anzeiger für das Gemeinde- und Städtewesen.
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