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]]>Zeitschrift
für
Politik, Literatur und Kunst
68. Jahrgang
Erstes Vierteljahr
Leipzig
Verlag von Fr. N)ils. Gruiiow
1909
Hammerstein, Olga von. Was Gott zusammen¬
fügt. S. 192.
»
Min ereignisvolles, tiefbewegtes Jahr liegt hinter uns. Noch
einmal, ganz überraschend stiegen in dem alten europäischen
Wetterwinkel, am Balkan, drohende Wolken auf, und noch heute
haben sie sich nicht zerteilt, eine Zeit lang standen die Dinge
ogar auf der Schneide des Schwerts. Urplötzlich, für die meisten
ganz überraschend, erhob sich im Sommer die lange zurückgedrängte, verfolgte
jungtürkische Partei, unterstützt von einem Teile der Armee, den Truppen, die
im aufgewühlten, von einem widerwärtigen Bandenkriege schwer heimgesuchten
Mazedonien stehen, in einer unblutigen, aber energischen Revolution. Und indem
sich der kluge Sultan in der Erkenntnis, daß sie sich nicht gegen ihn richte,
rasch an ihre Spitze stellte, schickte sich diese orientalische, halb geistliche absolute
Monarchie an, zurückgreifend auf die Verfassung von 1876, sich in ein kon¬
stitutionelles Staatswesen westeuropäischer Art zu verwandeln. Das türkische
Volk aber, das man in allen Erörterungen der orientalischen Frage immer
gänzlich beiseite gelassen, höchstens nach seiner anerkannten militärischen
Leistungsfähigkeit in Betracht gezogen hatte, zeigte sich plötzlich unter kluger
Führung als tapfer, energisch, maßvoll, duldsam und von einem nicht sowohl
religiösen als nntionalpvlitischen Selbstbewußtsein erfüllt, sodciß es die allge¬
meinsten Sympathien für sich gewann. Mit einem Schlage hörte der Banden¬
krieg auf, die erfolgarme diplomatische Flickarbeit der bevormundenden Gro߬
mächte wurde abgebrochen, der „kranke Mann", der schon seit vielen Jahrzehnten
auf dem Aussterbeetat stand, und nach dessen Erbschaft längst lüsterne Augen
spähten, offenbarte eine verblüffende Kraft und Gesundheit. Zahlreiche Schwierig¬
keiten sind noch zu überwinden; noch vermag namentlich niemand zu sagen, wie
sich die schon in der Verfassung von 1876 proklamierte Gleichberechtigung
aller „Ottomanen", der christlichen Stämme und der Mohammedaner türkischer
und arabischer Nationalität, mit den staatsrechtlichen Grundsätzen des Islam
Praktisch vertragen und in europäische Formen fügen lassen werde: aber an
der Intelligenz und dem guten Willen der führenden Kreise wird man so wenig
zweifeln dürfen wie an der Kraft des solange geduldigen, passiven türkischen
Volkes^ Und nicht besseres könnte für Europas Ruhe geschehen als eine Kon¬
solidation des türkischen Reichs in dem ihm verblichnen Umfange, der die nörd¬
lichen Außenkante, wo die Türken nur in kleinen Gruppen saßen, abgestoßen hat
und sich in selbständige christliche nationale Staaten hat verwandeln lassen.
Keine Großmacht könnte eine solche Umwandlung freudiger begrüßen als Deutsch¬
land, das immer ehrlich die militärische und wirtschaftliche Kräftigung der Türkei
erstrebt und niemals die begehrliche Hand nach türkischem Boden ausgestreckt
hat, wie das die Türkei jetzt wieder begönnernde England, das ihr Ägypten
und Cypern entzogen hat. Ob auf die Dauer? Hui vivra, verra!
Wie hoch das türkische Selbstgefühl gestiegen war, das zeigte sich alsbald,
als zu Anfang Oktober zwei alte Teile des Reichs, die noch immer mit ihm
in einer gewissen staatsrechtlichen, durch deu Berliner Bertrag von 1878 garan¬
tierten Verbindung standen, zu Anfang Oktober dieses lose Band zerrissen,
als sich Bulgarien unter seinem „Zar bulgarski", dein Koburger Ferdinand,
zum unabhängigen Königreich erklärte, und unmittelbar darauf Österreich-Ungarn
die Annexion Bosniens und der Herzegowina proklamierte, beides Schritte, die
mehr mit der alten absoluten Monarchie, mit dem „kranken Manne" am Bosporus
als mit dem jungen türkischen Nationalbewußtsein rechneten. Einen Augenblick
schien der Krieg zwischen der Türkei und Bulgarien bevorzusteheu. Doch bald
erwies sich die böhmische Frage als bedenklicher. Daß Österreich alle Veran¬
lassung hatte, mit dem Übergange der Türkei zum Verfassungsstaat die staats¬
rechtlichen Verhältnisse des „Okkupationsgebiets" im Sinne der unbestrittnen
Souveränität des Kaisers von Österreich zu klären, und daß es sich darauf durch
eine erfolgreiche dreißigjährige Kulturarbeit in einem Jahrhunderte hindurch
verwahrlosten Lande ein inneres Recht erworben hat, wird ihm billigerweise
niemand bestreiten. Aber ob Baron von Ahrenthal den Moment sehr klug
gewählt hat? Das Selbstgefühl der Türken bäumte jäh empor, und in Serbien
wie in Montenegro, die plötzlich ehrgeizige Hoffnungen zerstört sahen, begann
alsbald ein wütendes Kriegsgeschrei. Diese kleinen Staaten könnte Österreich
mit einer Handbewegung beiseite schieben oder niederschlagen, aber hinter
beiden steht wohl Rußland, das seine Niederlage in Ostasien trotz seiner jämmer¬
lichen innern Zustände und trotz der Vernichtung seiner Flotte durch eine
Wiederaufnahme seiner alten, gänzlich gescheiterten Balkanpolitik wieder aus¬
gleichen möchte; mit Nußland ist Frankreich verbündet und dieses wieder mit
England in entento oc>rclig,l6; auch Italien sieht mißvergnügt auf den Erfolg
Österreichs, da es seine althistorischeu und neubegründeten Ansprüche auf die
Ausbreitung seiner Kultur und seines wirtschaftlichen Einflusses an der Ostküste
der Adria bedroht glaubt. Würden sich diese mannigfachen Einverständnisse zu
einem Bündnis verdichten, so stünde es schlimm um die Sache des Friedens,
auch für Deutschland, denn daß wir Österreich in der Gefahr nicht verlassen
würden, darüber sind Neichsregierung und Reichstag einig. Aber zum Glück
ist es nicht soweit. Italien hat trotz alledem sein Festhalten am Dreibunde erklärt,
und Österreich will nur die politische Unterwerfung der albanischen Küste unter
eine Großmacht verhindern, die ihm den Ausgang aus der Adria sperren könnte,
eine Wendung, der sich ja auch die Türkei vor allem jetzt nach Kräften wider¬
setzen würde; Frankreich weiß, daß es, wenn es Seite an Seite mit England
gegen Deutschland schlagen wollte, sofort die Hauptwucht des Krieges tragen
müßte und von England wenig Unterstützung zu erwarten hätte, und daß andrer¬
seits Rußland, erschöpft wie es ist, ein recht unsichrer Bundesgenosse wäre; das
Einverständnis endlich zwischen Rußland und England hat doch die Gegner¬
schaft beider Mächte in Asien nicht aufgehoben, sondern nur beiseite geschoben,
vor allem um Indien zu sichern, wo die Gärung gegen die englische Fremd¬
herrschaft offenbar viel allgemeiner und tiefer ist, als die Engländer Wort
haben wollen.
Allerdings, die englische Politik arbeitet in Konstantinopel gegen Österreich
und damit indirekt auch hier gegen uns, wie sie denn überall offensichtlich
darauf ausgeht, sich nach allen Richtungen hin den Rücken zu decken für den
Fall eines Konflikts mit Deutschland. Eine fixe Idee, eine fast hysterische Angst
hat einen großen Teil dieser sonst so nüchternen, kaltblütigen und selbstbewußten
Nation ergriffen, die Furcht vor einer weder geplanten noch auch nur möglichen
deutschen Invasion. Wenn selbst das Haus der Lords diese Angst teilt, wenn
sogar der erste General des Landes, Lord Roberts, wegen dieser Möglichkeit
eine gründliche Reform des englischen Heerwesens verlangte, dann ist der Be¬
weis geliefert, daß alle die redlichen und soviel getadelten Bemühungen des
Kaisers und alle Erklärungen im Reichstage, die Engländer von der Grund¬
losigkeit dieses Verdachts zu überzeugen, daß auch alle freundschaftlichen Be¬
ziehungen hinüber und herüber gar nichts geholfen haben und helfen werden.
Man hört oft sagen, die Achtung vor Deutschland sei gesunken seit Vismarcks
Zeit. Gewiß, diese Heidenzeit des deutschen Volkes liegt heute viel weiter
zurück als unter Bismcircks Kanzlerschaft, mehr als ein Menschenalter, und die
Erinnerung ist verblaßt, aber wahrhaftig nicht Mißachtung Deutschlands ist es,
die jene fixe Idee in England und jene ganze englische Politik erzeugt hat,
sondern die helle Angst vor unsrer wirtschaftlichen und militärischen Stärke, die
jetzt als eine Gefährdung des Weltfriedens aufgeschrien wird, während diese
doch von einer ganz andern Stelle ausgeht. Nicht irgendwelche Fehler unsrer
Politik haben diese Stimmung veranlaßt, sondern das energische und erfolgreiche
Eintreten des deutschen Volks in die Weltwirtschaft und Weltpolitik, wovon zu
Bismarcks Zeit bekanntlich nur die Anfänge vorhanden waren.
Darüber aber kann kein Zweifel bestehn: sollte es, was Gott verhüte, zum
Schlagen kommen, so würde es ein Weltkrieg und ein Krieg gegen das Deutsch¬
tum, ein Krieg um das Deutschtum. „Feinde ringsum" heißt es wieder, wie
schou oft, Feinde im slawischen Osten und im romanischen Westen und vor
allem in England, Feinde sogar mitten im Umkreis des deutschen Landes. Die ver¬
hängnisvolle Entwicklung des natürlichen mitteleuropäischen Herzlandes, Böhmens,
zu einem slawischen Außenwerke zeigt sich wieder einmal in ihrer ganzen ver-
derblichen Größe, seitdem die Tschechen, von einer allzu nachgiebigen Regierung
allzulange geschont, mit derselben hussitischen Wut wie vor fünfhundert Jahren
über die Prager Deutschen hergefallen sind, unwürdig eines Kulturvolks und
eines Kulturstaats. „Die Barbaren haben gesiegt in Österreich", sagte schon
Heinrich von Treitschke; dieses Wort würde noch weit mehr heute zutreffen als
damals, wenn Österreich und mit ihm Deutschland unterliegen sollte; dann
würden die halbslawischen Länder der Habsburger einer slawischen Reaktion
überliefert werden wie zur Hussitenzeit; dann würde Österreich zerfallen oder
sich nur als ein wesentlich slawischer Staat behaupten können, das heißt als
unser Feind. Darum ist die Sache der österreichischen Deutschen unsre eigne
Sache; of. rss sZiwr! dürfen sie uns zurufen, und wir hören den Ruf. Sind
sie nicht unsre Mitbürger, unsre Landsleute zu sein haben sie niemals aufgehört
und werden sie niemals aufhören. Wir können es niemals vergessen, daß dieser
Südosten unser ältestes Kolonialland ist, daß die dort seit mehr als einem
Jahrtausend aufgeblühte Kultur die deutsche ist, daß es das deutsche Bürgertum
gewesen ist, dessen Arbeit Prag, das vom Reiche aus früher viel und gern be¬
suchte, jetzt eher gemiedne „goldne Prag" zu einer unsrer schönsten und ehr¬
würdigsten alten Städte gemacht hat, daß die älteste deutsche Universität dort
gegründet wurde, nicht als eine tschechische, sondern als eine internationale,
wesentlich deutsche Hochschule. Nur ein Deutschland, das zu völliger Ohnmacht
herabgebracht ist, würde einen exklusiv slawischen Staat zwischen Bayern
und Schlesien dulden müssen, ein starkes Deutschland niemals. Wir lassen hier
die Frage beiseite, ob das von unleidlichen nationalen Gegensätzen zerrissene
Österreich imstande sein würde, einen großen Krieg siegreich zu führen, worin
die Sympathien seiner slawischen Stämme auf Seite der Gegner stehn würden,
wir fragen hier nur: ist Deutschland einer so gefahrvollen Lage in jeder
Richtung gewachsen? Militärisch sicher vollauf; trotz vieler widerwärtiger
und bedenklicher Erscheinungen in unserm modernen Volksleben haben doch
eben die aufreibenden Kämpfe in Südafrika gezeigt, daß Tapferkeit, Ausdauer
und Treue unter den schwierigsten Verhältnissen, in einem wilden Lande in
unserm Volke nicht ausgestorben sind. Auch ist in diesem Jahre zweimal eine
große nationale Erregung durch unser Volk gegangen, im August für Graf
Zeppelin und im November gegen das sogenannte persönliche Regiment, leider
also, was dem Deutschen immer am natürlichsten zu sein scheint, in einer scharfen
Opposition. Hat sie den Erfolg gehabt, den sie haben sollte — und wir zweifeln
nicht daran —, so ist es damit gut; der ab irato gefaßte Gedanke, durch eine
Verfassungsänderung zu helfen, wird kaum zum Ziele führen. In einer wirklichen
Monarchie ist die Persönlichkeit des Monarchen und sein persönlicher Wille eben
nicht auszuschalten; zum parlamentarischen System fehlen dem komplizierten Bau
des deutschen Bundesstaats alle Voraussetzungen, fehlt vor allein eine geschlossene
Mehrheit im Reichstage, und sie wird hier immer fehlen, weil die Zersplitterung
in kleine Parteien und die Art einiger dieser Parteien der ganzen unglücklichen Ent¬
wicklung unsers Volks entspringt. War doch der Reichstag trotz aller Einmütigkeit
in der Opposition nicht imstande, einen andern Reichskanzler zu präsentieren.
Vollends den Gedanken, die schwererrungne Macht des Kaisertums verfassungs¬
mäßig einzuschränken, weil sie gelegentlich Mißgriffe getan hat — von dein
Standpunkte ans hätte man das allgemeine Wahlrecht schon mehrmals ab¬
schaffen müssen! —, den müssen alle nationalgesinntcn Deutschen aufs entschiedenste
von sich weisen; zwischen den Kaiser und sein Volk sollen sich keine Schatten drängen,
auch nicht die Parteien, die noch lange nicht das Volk darstellen, und am aller¬
wenigsten höfische Cliquen. Auch ein regelmäßiger Zusammentritt des Vundes-
ratsansschusses für auswärtige Angelegenheiten wäre entweder wirkungslos, also
unnütz, oder würde die Einheit und Energie unsrer auswärtige,: Politik hemmen
und lahmen in Momenten, wo sie diese Eigenschaften im hervorragendem Maße
haben muß. Jede moralische Verantwortung ist etwas ganz Persönliches und
gibt der juristischen erst den Wert; in einer Mehrheit trägt keiner für sich die
volle Verantwortung, kann auch rechtlich uicht zur Verantwortung gezogen
werden. Oder wen hätte man für die lähmenden Beschlüsse über Südwest¬
afrika, die zur Auflösung des Reichstags führten, zur Verantwortung ziehn
sollen, da doch jeder einzelne Reichsbote für seine Abstimmung und seine Reden
staatsrechtlich unverantwortlich ist? Um so schwerer muß er die sittliche Ver¬
antwortlichkeit empfinden.
Und jetzt steht eine der allerwichtigsten Fragen zur Entscheidung des Reichs¬
tags, die Neichsfinanzrcform. Sie bedeutet nichts geringeres als die Antwort
auf die Frage, ob das deutsche Volk auf seine Weltstellung verzichten will oder
entschlossen ist, sie zu behaupten. Noch wogen die Meinungen wirr durchein¬
ander; im Volke selbst aber, das alljährlich soviele Millionen für teilweise ganz
wertlose Vergnügungen ausgibt, tritt leider in breiter Ausdehnung eine
Stimmung hervor, die einen höchst unerfreulichen Eindruck macheu müßte, wem:
sie entscheidend wäre: die Neigung, gegen alle möglichen Steuerprojekte als un¬
gerechte Belastung zu protestieren. Das ist nicht die Weise eines großen Volks,
l le Beziehungen zwischen Deutsche,: und Slawen lasse:: sich in
drei große Perioden einteilen, die etwa um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts ihren Abschluß fanden. Das gegenwärtige Stadium
darf als eine vierte Periode bezeichnet werden.
Die erste Periode umfaßt jene weit zurückliegenden Jahr¬
hunderte, in denen der deutsche Mönch, der Kaufmann vom Rhein und von der
Donau sowie schließlich der Deutsche Ritterorden die slawische Mark durchzogen,
um sie mit Kreuz, Luxus und Schwert zu erobern und zu germanisieren. Es
war die Zeit der gewaltsamen Kulturarbeit, während der das Land zwischen
Elbe und Weichsel sowie an der baltischen Küste deutsch wurde. Das Vor¬
dringen der Deutschen zwang die Westslawen sowohl zur Annahme des
Christentums wie zur Staatenbildung.
Während sich die slawischen Staaten festigten, begann der Niedergang des
Deutschen Ordens, dessen Aufgaben für die Weltgeschichte erfüllt waren, nachdem
die Slawen das Christentum angenommen hatten. An die Stelle der gewalt¬
samen Kultivierung trat die friedliche, die ich die zweite Periode nennen möchte.
Geniale Fürsten riefen neben römischen Priestern deutschen Fleiß und deutsche
Bildung in ihre Lande und fügten dadurch ihren weichern slawischen Untertanen
den starken Kulturextrakt bei, der die Deutschen so lange Zeit hindurch aus¬
gezeichnet hat und sie zur Herrschaft über die Slawen zu bestimmen schien.
Die slawischen Staaten, Böhmen und Polen, erlebten einen gewaltigen Auf¬
schwung, während die Moskowiter, die sich nach ihrem Sieg über den Orden
den germanischen Einschlag nicht zu verschaffen vermochten, unter dem Druck der
Mongolen dem Niedergang anheimfielen.
Die Ausrottung der Reformation in Böhmen und Polen bezeichnet den
Anfang der dritten, der Periode des Niedergangs für die Westslawen, der
Periode des Aufschwungs für Deutsche und Ostslawen, Moskowiter. Sie findet
nach unsrer Auffassung ihren Abschluß mit der Auflösung des Polenreichs. In
dieser dritten Periode beginnt die Entstehung des heutigen preußischen Staates,
dessen Herrscher zu Sammlern des Deutschtums berufen wurden, zu Schöpfern
des heutigen Deutschen Reichs. Auf der andern Seite der Westslawen haben
sich die Moskowiter vom Joch der Tataren befreit, und mit Hilfe eines deutschen
Fürstenhauses, der Holstein-Gottorper, entsteht der gewaltige Moskowiterstaat,
der obwohl von Niederlage zu Niederlage schreitend, dennoch ständig an äußerer
Macht und Einfluß gewinnt.
Seit dem Zusammenbruch Polens beginnen die Westslawen sich auf sich
selbst zu besinnen, und setzt in den böhmischen und polnischen Gefilden der
Kampf ein, dessen Endziel die Schaffung je eines selbständigen polnischen und
böhmischen Staates ist. Dieser Kampf um die Selbständigkeit bei Polen und
Tschechen bildet den engen Rahmen für die heutigen und künftigen deutsch¬
slawischen Beziehungen.
Es soll nun im Rahmen einer Skizze versucht werden, das innere Wesen
der gegenwärtigen Beziehungen und deren wichtigste Äußerungen darzustellen.
Das Kampfgebiet liegt in der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen
Entwicklung.
st sowohl bei den Polen wie bei den
Tschechen seit Mitte des vorigen Jahrhunderts gesund. Die polnische Bevölkerung
verdoppelt ihre Zahl in etwa 35 bis 40 Jahren, ähnlich die tschechische. Die
Polen sind mit Hilfe des deutschen Kapitals und deutscher Technik in den
Besitz einer Industrie gelangt, die, zum großen Teil mit deutschem Kapital,
deutschem Geist^und deutscher Hunde Arbeit geschaffen, unter dem Schutz eiuer
hohen Zollmauer eine ernste Konkurrenz für die deutscheu Waren in Rußland und
Asien darstellt.") In Danzig. Königsberg, Breslau. Dresden entsteh» polnische
Firmen ebenso wie in Berlin und Wien. In den westlichen Vororten der deutschen
Reichshauptstadt steigt die Zahl polnischer .Handwerker und Kaufleute in stetiger
und auffülliger Weise. In den Provinzen Posen und Westpreußen ist ein
engmaschiges Netz von Genossenschaften entstanden, das nach der glänzenden
Darstellung von Professor Bernhard wie ein Staat im Staate anmutet. In
Galizien, wo die Polen seit 1868 auf den deutschen Einfluß verzichtet habe»,
sind sie wirtschaftlich stehn geblieben, das ist — sie sind zurückgegangen. Ihren
rotrussischen, ruthenischen Landsleuten gegenüber erweisen sie sich als grausame
Bedrücker und Ausbeuter. Die Ruthenen müssen unter schwerern sozialen Be¬
dingungen leben als die Juden in Rußland. Galizien ist dennoch ein wichtiges
Absatzgebiet für die deutsche Ware so aus dem Reich wie aus der Habsburger
Monarchie.
Die wirtschaftliche Entwicklung der Tschechen ist vor allen Dingen auf
dem Gebiete des Ackerbaus und der Viehzucht gewaltig. In industrieller Be¬
ziehung sind sie dagegen vollständig auf das angewiesen, was ihnen deutscher
Geist liefert. Selbständige Leistungen von irgendeiner Bedeutung haben sie
nirgends auszuweisen. Weder auf dem Gebiete der Konstruktion noch Organisation
haben die Tschechen mehr geleistet als einen müßigen Durchschnitt. Den Beweis
hierfür lieferte unter anderm die jüngste „tschechische" Ausstellung in Prag. Dort
war nur eine wirklich bemerkenswerte Neuheit zu bewundern — eine Sudanlage
für Zuckerfabrikation; die aber war deutschen Ursprungs. Alle Bedarfs- und
Luxusartikel vom Schuhband bis zur Kopfbedeckung stammen auch in der
Hochburg fanatischen Tschechentums von deutscher Hände Arbeit. Die Messer und
Schlagringe, mit denen die politischen Rowdies in Prag gegen die deutschen
Studenten vorgegangen sind, sind sicher zum großen Teil Erzeugnisse deutscher
Arbeit.
Die wirtschaftliche Entwicklung Moskowiens liegt vorwiegend in der An¬
spruchslosigkeit der Bauern und Arbeiter im engen Zusammenhang mit dein
hohen Bedarf des Staates. Die Landwirtschaft arbeitet nicht zunächst für die
Ernährung des Volkes, sondern für den Export — die Industrie zu allererst
für die meist unwirtschaftlichen Unternehmungen des Staates, wie Heeres- und
Marinebedarf, strategische Bahnen; würde sie heute auf den Privatbedarf an¬
gewiesen, dann müßte sie in wenigen Monaten zusammenbrechen oder aber Truste
bilden. Es gibt kein Industrieland oder überhaupt keinen Staat, in dem die
Volksernührung so unzureichend ist wie in dem Ackerbaustaat Nußland. Die wirt¬
schaftliche Entwicklung ist somit in Nußland künstlich. Sie erhält tatsächlich das
scheinbar glänzende Gepräge nur dank der Energie deutscher, jüdischer, belgischer,
englischer und französischer Unternehmer und Kapitalisten. Rußland ist auch in
Friedenszeiten technisch weder imstande, seinen Armcebedarf selbständig zu decken
noch selbständig ein modernes und brauchbares Kriegsschiff zu bauen.*) Als der
Krieg gegen Japan nusbrach, mußten ausländische Ingenieure in die Staats¬
werkstätten gerufen werden, damit diese in den Stand gesetzt wurden, die Armee
mit Geschossen zu versehn. Es ist darum geradezu unverständlich, woher die
russische Presse den Mut nimmt, Rußland in einen Krieg drängen zu wollen.
Ähnlich liegen die Dinge bei den Südslawen: Bulgaren, Serben, Kroaten,
Dalmatinern. Auch sie sind, wo sie aus der Naturalwirtschaft heraustreten, auf
ausländische Erzeugnisse und ausländisches Kapital angewiesen. Die geographische
Lage der genannten Staaten bringt es mit sich, daß sie vor allen Dingen unter
den Einfluß deutschen Erwerbssinns geraten sind. Alles das bestätigten im
vergangnen Sommer die südslawischen Sendboten zum Slaweukongreß in Prag.
In kultureller Beziehung ist das Kampfgebiet noch eigenartiger.
Die Ostslawen, Moskowiter, sind von 1800 bis 1864 unbedingt voran¬
gekommen, wenngleich die bureaukratisch unterjochte Autokratie jeden Fortschritt
unterband. Der beste Beweis für die Nichtigkeit unsrer Ansicht sind die großen
Reformen der sechziger Jahre, die Aufhebung der Hörigkeit, die Einführung
der Gerichtsreform und der Selbstverwaltung. Solche Umwälzungen können
nicht über Nacht entstehn; sie werden durch die innere Umbildung der Gesell¬
schaft allmählich vorbereitet. Daß sich die Institutionen nicht gesund ent¬
wickelt sondern zur letzten Revolution geführt haben, gibt uns die gegenwärtige
Grenze der russischen Kulturfühigkeit an. Die Moskowiter versteh» wohl eine
Neuheit bei sich einzuführen, wie sie imstande sind, einen Prachtbau aufzurichten,
aber sie vermögen es nicht, den Raum auszufüllen, wohnbar, zweckmäßig
auszugestalten und zu verbessern. Sobald in Nußland etwas Neues dem
Gebrauch überwiesen ist, gilt es nicht mehr; es füllt der Mißachtung anheim,
kann verwittern und verkommen, und der Moskowiter wird sich nicht eher
darum sorgen, als bis es ihm über dem Kopf zusammenbricht. Als Illustration
hierzu diene die Tatsache, daß im Jahre 1905/06 in der russischen Hauptstadt,
also unter den Augen der Zentralgewalt, nicht weniger als drei Brücken ein¬
stürzen konnten! Wie der russische Bauer eine vierzigjährige Birke fällt, um
sich einen Peitschenstock zu schneiden, wie die russische Mutter das von der
Brust abgesetzte Kind leicht seinem Schicksal überläßt, so kümmert sich das
Volk in seiner Gesamtheit nicht um Staatsinstitutionen, für die es vielleicht
Tausende von Menschenleben opferte. Der beste Beweis hierfür ist die Teil¬
nahmlosigkeit der Bevölkerung gegenüber der Reichsduma und deren tatsächliche
Bedeutungslosigkeit für die weiten Kreise, die dafür gekümpft haben. Ein
weiterer Beweis liegt in der Tatsache, daß fünfundvierzig Jahre uach Ein¬
führung des Gerichtsstatuts ebensolche Korruption in der höchsten Beamtenschaft
bestehn kann wie damals, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß nach abermals
fünfundvierzig Jahren trotz der Duma ähnliche Dinge täglich vorkommen werden,
wie sie gegenwärtig wieder einmal in Moskau und im Finanzministerium zu
Se. Petersburg aufgedeckt worden sind.
Was haben die Moskowiter der Menschheit gebracht?
Bakunin, den Nihilisten, Leo Tolstoj mit seiner kulturwidrigen, auf einen
verdorbnen Magen hindeutenden Philosophie! Gewiß haben beide ihre Gesell¬
schaft an den Pranger gestellt — gewiß haben beide an der Beseitigung ver-
schiedner Schäden mitgewirkt — aber durch welche Mittel?! Weder Bakunin
noch Tolstoj haben aufgebaut, beide haben lediglich morsche Mauern eingerissen.
Ich höre die Hinweise auf verschiedne Dichter, Puschkin, Dostojewski,
Lomonossow, Gogol, Schtschedrin. Die Modernen rufen Gorki, Andrejew — ja,
wer vermag trotz ihrer Verdienste um die russische Sprache auch nur auf eine
Leistung bei ihnen hinzuweisen,*) deren sich Shakespeare, Rousseau, Mickiewicz,
Schiller und der Fürst aller Dichter und Denker, Goethe, zu rühmen vermögen!
Wo sind wirklich in der gesamten russischen Literatur des neunzehnten Jahr¬
hunderts neue Gedanken, die nicht schon früher ausgesprochen und erschöpfend
begründet worden wären? Genügt es wirklich, die Literatursprache gereinigt
zu haben? Vielleicht in der neuern Philosophie, die unter der Führung des
verstorbnen Ssergej Trubetzkoj an das klassische Altertum anknüpft und nun
auf die Schaffung einer slawischen Religion hinstrebt. Vielleicht, daß aus dem
die russische Staatskirche zerfressenden Sektenwesen ein neues Dogma geboren
wird, das nicht nur das römische Dogma vernichtet, sondern auch die Lehre
Luthers ersetzt. Bisher ist es bei Versuchen geblieben, und die Häretiker aus
dem Volk wandeln fast alle auf den Pfaden, die zu Luther, also zu dem
deutschen Kulturträger führen.
. Auch von den Südslawen ist wenig mehr zu sagen als von den Russen.
Ihre Literatur ist wenig entwickelt, die Wissenschaft vollständig in Abhängig¬
keit von der deutschen.
Glücklicher sind auch die Tschechen nicht gewesen. Auch sie vermochten
trotz Schafarik, des Historikers, keine die Menschheit beglückende Kulturleistung
zu vollbringen. Wo sie aber Anerkennung verdienen, da haben sie unter deutscher
Führung gearbeitet. Hierher gehören vor allen die Forschungen auf dem Gebiete
der Slawistik, wobei wir die Verdienste eines Jagitsch durchaus nicht ver¬
kennen. Der Tschechenführer Dr. Kramarz mußte zur Vervollständigung seiner
Bildung in Berlin studieren.
Unzweifelhaft die größten Fortschritte und Leistungen in Hinsicht auf die
Kultur haben unter den Slawen die Polen zu verzeichnen. Bei ihnen hat
das nationale Unglück seinerzeit die empfindlichsten Seiten der Volksseele
geweckt, und aus der Tiefe der zermarterten Brust klingen jene gewaltigen
Töne der Liebe und des Hasses, die nun schon bald ein Jahrhundert hindurch
die politische Welt beunruhigen.
Von Mickiewicz bis Wyspicmski, der kürzlich im Alter von sechsunddreißig
Jahren starb, geht eine fast ununterbrochne Reihe von Dichtern, die im
polnischen Volke die Kulturfähigkeiten geweckt und gestärkt haben. Ich nenne
nur die Dichter Stowacki, Krassinski, Sienkiewicz, Elise Orzeszko und nun die
Renaisseancenatur Wyspicmski, die mit gleicher Kunst die Leier schlug, deu
Pinsel und den Meißel führte. Die Reihe hervorragender Dichter unter den
Polen läßt sich vermehren, aber nur wenige sind unter ihnen, die ihre Kunst
nicht in den Dienst der Nation als politisches Kampfmittel gestellt hätten.
Das ist eine wichtige Seite der Kultur, über die ja auch andre Völker, be¬
sonders die Russen, verfügen, die aber nirgends so fein und vielseitig ausge¬
staltet wurde wie gerade bei den Polen. Doch es liegt Gift in dieser Poesie.
Mickiewicz hat es gestreut. Unter dem Eindruck der Verfolgungen, der er als
Mitglied der litauischen Geheimgesellschaften zu erleiden hatte, und angeregt
durch die Lektüre von Macchiavells II ?rwvixe schrieb er, wie der Pole
Bruckner sagt: das grandioseste Gedicht politischen Hasses, sein Epos Konrad
Wallenrod. Mickiewicz erhebt in diesem Epos die Gemeinheit, den Verrat
zum Recht, ja zur Pflicht jedes Besiegte», jedes Schwachen. Ich habe
diese Auffassung an andrer Stelle ausführlich begründet.*) Er hat damit
die Basis der polnischen Moral festgelegt, die uns nicht nur im politischen
Leben, sondern auch überall im öffentlichen und privaten Leben begegnet.
Schon Stowacki stellte fest, Mickiewicz habe aus einem Schurken tausend ge¬
macht, was soviel heißen soll, daß Mickiewicz das sittliche Bewußtsein seiner
Nation verdorben habe. Der Boden für die Theorie des Dichters war denkbar
gut vorbereitet. Das polnische Volk war mehr als ein Jahrhundert lang durch
die Jesuiten erzogen worden.
Doch ein den Polen gütiges Geschick hat es gefügt, daß sich neben dem
Haß gegen die stärkern Nachbarn mich das soziale Empfinden einstellen und
entwickeln konnte. Aber es war kein Slawe, der die Liebe zum Volksgenossen
ohne Unterschied predigte, sondern ein Deutscher, der Professor Lelewel,
ein Sohn der Familie Loelöffel. Wie leider so viele unsrer Stammesgenossen
hatte Lelewel unter den Polen das Bewußtsein für seine Stammeszugehörigkeit
verloren, und in der Einbildung, Pole, Slawe zu sein, hat er den Polen das
Beste gegeben, worüber wir verfügen — das christliche Menschheitsideal, das
in Rom verloren ging und durch den Wittenberger Mönch von neuem in
seinem herrlichen Glänze vor die Menschheit gestellt worden war. Dem Einfluß
Lelewels ist es zuzuschreiben, daß die polnische Demokratie nicht vorwiegend
die anarchistischen Züge angenommen hat, die die russische trägt, daß sie viel¬
mehr nach Überwindung der Krise von 1863 in ihren wichtigsten Bestand¬
teilen jene nationale Färbung erhalten hat, die die englische Demokratie kenn¬
zeichnet. Die Polen haben tiefer wurzelndes nationales Bewußtsein als wir,
denn bei ihnen sind auch die Sozialdemokraten national.
er Slawen ist nicht ganz in derselben
Richtung gegangen wie ihre wirtschaftliche und kulturelle. Relativ und äußerlich
am weitesten sind in politischer Hinsicht die Südslawen und unter ihnen die Bul¬
garen gekommen. Im Jahre 1879 durch Rußland vom Türkenjoch befreit, kam
Bulgarien nach mancherlei Fährnissen unter die Herrschaft eines weisen und ener¬
gischen Fürsten, des Prinzen Ferdinand von Koburg-Gotha. Dieser deutsche
Fürst hat nach unsäglichen Schwierigkeiten auf allen Gebieten des Volkslebens und
unter den gehässigsten Anfeindungen seinem Lande eine Verfassung gegeben, die,
von ihm mit Besonnenheit gehandhabt, eine gesunde Entwicklung des Landes
erwarten läßt. Als er sich den Frieden im Innern erzwungen hatte, brach
er im Einverständnis mit der Nation sein Vasallenverhültnis zur Türkei und
erhob vor wenigen Wochen sein Land zum unabhängigen Zartum.
Wie Serbien sich weiter entwickelt, müssen die nächsten Monate zeigen;
uach seiner jüngsten Vergangenheit beurteilt, scheint uns das serbische Volk
ein fauler Stamm.
Die Ostslawen (Moskowiter) haben durch die Einführung der Reichsduma
nur teilweise, nämlich ausschließlich als eine der Nationalitäten russischer
Untertanenschaft, also als russische Staatsbürger gewonnen, nicht aber als
Moskowiter. Durch die Volksvertretung haben hauptsächlich die energischen
nichtrussischen Volksstämme gewonnen, die bis zum Jahre 1905 mit Gewalt
und Ausnahmegesetzen unterdrückt wurden: die Armenier, Tataren, Juden,
Polen, Letten, Ehlen und Kleinrussen. Durch den Glaubenserlaß vom
17. April 1905 ist der orthodoxen Kirche ein scharfes Instrument gegen die
Sektierer und den kriegerischen Katholizismus entwunden, und die Zeit muß
erst lehren, ob die Staatskirche tatsächlich so viel moralische Kraft in sich hat,
daß sie die Abtrünnigen an sich fesseln kann ohne eine ihr Wesen völlig ver¬
ändernde Reformation an Haupt und Gliedern. Der Moskowiter ist nur im¬
stande, durch Passivität seine Rechte wahrzunehmen; darum braucht er auch
keine Volksvertretung, in der er selbst für sein Wohlbefinden zu kämpfen hätte.
Infolgedessen ist aber auch die vorhandne russische Volksvertretung vor allen
Dingen ein gutes Instrument in den Händen der Fremdvölker, der Polen,
Juden und Armenier gegen das Moskowitertum. Die Deutschen sind leider
zu wenig zahlreich und ebenfalls zu passiv, als daß sie in dieser Volksver¬
tretung eine nennenswerte Rolle spielen könnten. Die russische Regierung hat
die eben angedeutete Gefahr richtig erkannt und ihrer Erkenntnis Ausdruck
gegeben durch Verminderung der Zahl der polnischen und der asiatischen Ab¬
geordnete», Wie wenig ausreichend diese Verkürzung ist, ergibt sich aus der
Tatsache, daß in Weißrußland vorwiegend Polen in die Duma gewählt worden
sind.*) Die Bedeutung des Moskowitertums als solchem ist somit durch die
Einführung der Magna Charta nicht ohne weiteres gewachsen, sondern eher
geringer geworden. Die Moskowiter sind nicht mehr die absoluten Herren in
Rußland wie vor 1905, sondern lediglich Mitbürger der andern Untertanen
des Zaren. Ob die Festigung des Reiches dennoch gewachsen ist, wodurch
auch wieder die Bedeutung der Moskowiter wesentlich gesteigert werden könnte,
hängt von dem Geschick der Negierung ab, die Bedürfnisse von 60 Millionen
Moskowitern in Einklang mit denen von etwa 85 Millionen Nichtrussen
zu bringen — hängt aber auch davon ab, wie sich die polnisch-russischen Be¬
ziehungen weiter entwickeln.
Wir kommen nun zur politischen Lage der Westslawen: Tschechen und
Polen.
Auch ihre politische Lage hat sich seit einem halben Jahrhundert
wesentlich gebessert.
Der Nährboden ihrer Kraft ist bis zum Jahre 1905 fast ausschließlich
die Eigenart der Habsburgischen Monarchie gewesen. Nachdem Böhmen und
Galizien gegen Ende der sechziger Jahre eine Verfassung mit besonderm
Landtag erhalten hatten, begann in beiden Ländern zunächst der Kampf gegen
die deutsche Sprache.
In Böhmen, wo der tschechische Adel so gut wie germanisiert schien und
tatsächlich mit dem deutschen Adel und dem deutschen Großkapital politisch
Hand in Hand ging, bekam die tschechische Sprachenbewegung von vornherein
einen radikal-demokratischen und sozialistischen Charakter. Die Sprachenfrage
war zugunsten der Tschechen ausschließlich zu lösen durch Erlangung des wirt¬
schaftlichen und sozialen Übergewichts über die deutschen Unternehmer und den
germanisierten Adel. Der tschechische Adel konnte dergestalt kein Vermittler
zwischen dem Volk und der Krone sein, und die Bewegung war von Anbeginn
illegitim und revolutionär. Bei dieser Lage der Dinge mußten die Tschechen
darauf ausgehn, das allgemeine Wahlrecht mit proportioneller Verteilung auf
die Nationalitüten zu erkämpfen und sich Bundesgenossen in den andern Landes¬
teilen des Reichs suchen.
Für diese Bestrebungen fanden sie Unterstützung bei den polnischen und
ruthenischen Demokraten in Lemberg, bei den Kroaten in Ungarn, bei den
Italienern im Steirischen, und um dem Kinde einen Namen zu geben, wurde
die Sache der Tschechen unter den Schutz des Pcmslawismus und einer
slawisch-romanischen Verbrüderung gestellt. Die slawischen Brüder wurden
aufgefordert, sich gegen die angebliche deutsche Gefahr, gegen den deutschen
Drang nach Osten zusammenzuschließen, wo es sich doch nur darum handelte,
die Grundlagen der Habsburgischen Monarchie zugunsten einer inferioren
Minorität zu ändern.
Fanden die Tschechen, besonders seit Dr. Kramarz an der Spitze der Be¬
wegung steht, bei den russischen Panslawisten leicht Gehör und Gegenliebe, so
mußten sie bei den Polen lange wirken, ehe es gelang, dort in den politisch
maßgebenden Kreisen Unterstützung zu finden.
In Galizien hatten sich nämlich die Magnaten und Klerikalen sofort nach
dein Mißlingen des Aufstandes von 1863 zusammengeschlossen, um erstens den
Aufstand, an dem sie übrigens teilgenommen hatten, zu diskreditieren und um
sich gegen die Ansprüche der Lemberger Demokratie besser verteidigen zu können.*)
Schon im Jahre 1866 gelang es diesen Konservativen, eine Mehrheit im
Landtage zusammenzubringen, die eine Loyalitätsadresse an den Kaiser richtete.
Der Kaiser Franz Joseph hat den Versprechungen der polnischen Magnaten im
Hinblick auf deren klerikale Verbindungen in Wien Glauben schenken dürfen
und ihnen im Jahre 1868 sozusagen die Herrschaft in Galizien abgetreten.
Einer der ersten Schritte der neuen Regierung war die Aufhebung der deutschen
Universität in Krakau und deren Ersatz durch eine polnische. Im Jahre 1872
entstand die polnische Akademie der Wissenschaften in Krakau, die noch gegen¬
wärtig ohne große Übertreibung als das polnische Ministerium für auswärtige
Angelegenheiten bezeichnet werden darf. Gegenwärtig ist man damit beschäftigt,
die deutsche Gendarmerie aus Galizien zu verdrängen.
Die polnischen Konservativen sind bis zur jüngsten Wahlrechtsreform mit
Österreichs Kaiser Hand in Hand gegangen und haben es verstanden, einen
Einfluß zu gewinnen, wie ihn die Polen sonst nirgends haben. Dieser Einfluß
hat das politische Ansehn der Polen bei den Kabinetten der Großmächte, das
sie nach 1863 so gut wie vollständig eingebüßt hatten, wieder mächtig gehoben,
vor allen Dingen in Frankreich und England. Diesen beiden Ländern sind die
Polen unter gewissen Voraussetzungen wertvolle Bundesgenossen. Auf der
andern Seite haben die Konservativen den Antagonismus zwischen Österreich
und Rußland geschürt, weil sie von jeher auf dem Standpunkt stehn, daß an
die Schaffung eines polnischen Staates ausschließlich mit Hilfe des slawischen
Österreich gedacht werden kann. Die Slawisierung des Reichs aber muß
der Zeit überlassen bleiben. Aus diesem Grunde haben sich die polnischen
Konservativen auch der deutsch-österreichischen Freundschaft nicht ernstlich wider¬
setzt, sondern haben ausschließlich darauf geachtet, daß sie Einfluß auf den
Staat und alle dessen innern und äußern Geschäfte gewannen.
In dieser günstigen Lage als tatsächliche Leiter der allpolnischen Politik
befanden sich die polnischen Konservativen bis in die Mitte der achtziger Jahre
unbestritten und bis zur jüngsten Wahlrechtsreform (1906) tatsächlich. Erst
nach der Wahlrechtsreform sind die Demokraten so sehr in den Vordergrund
getreten, daß die Polen als Verbündete der Tschechen und ernsthafte Faktoren
des Panslawismus in Frage kommen.*)
Nicht so günstig ist die politische Stellung der Polen in Preußen ge¬
worden. Solange sie nur im preußischen Landtage ernstlich zu Worte kommen
konnten, schien es, als sollten sie denselben Weg wandern können wie die
österreichischen Volksgenossen. Nachdem aber der neue deutsche Reichstag zu¬
sammentrat und bald der Belastungsprobe durch den Kulturkampf ausgesetzt
wurde, erwies sich die Stellung der Polen in Preußen als staatsfeindlich. Als
Kaiser Wilhelm der Zweite den Thron bestieg, hatte es den Anschein, als
sollten die Polen wieder zu Gnaden und Vertrauen in Preußen gelangen.
Doch haben sie durch Herrn von Koscielski zu früh triumphiert, und ihre
Intrige, sich das Ohr des jungen Monarchen zu erschleichen, wurde rechtzeitig
offenbar. Gegenwärtig besteht die politische Bedeutung der Polen haupt¬
sächlich in Preußen auf der Freundschaft, die ihnen das deutsche Zentrum und
die deutsche Sozialdemokratie entgegenbringen. Daneben darf aber auch das
traurige Cliquenwesen und die Zerrissenheit der deutschen nationalen Parteien
als ein die Polen stärkender Faktor nicht unberücksichtigt bleiben.
In Nußland haben die Polen erst im Jahre 1905 politische Rechte und
damit legitimen Einfluß auf die russische Politik gewonnen. Diese neue Tat¬
sache ist außerordentlich wichtig, erstens für die Beziehungen der Polen zu den
Tschechen und zur Habsburgischen Monarchie und zweitens für die Beziehungen
der Slawen zum Deutschtum. Wie Massow in einer Kritik über meine „Zu¬
kunft Polens" richtig hervorhebt, hat sich durch die politischen Umwälzungen
in Rußland der Schwerpunkt der polnischen Nation in Richtung auf Rußland
verschoben.
Durch die Mündigerklarung der russischen Polen durch die Regierung des
Zaren hat nämlich das demokratische, in den Anschauungen des Deutschen
Lelewel erzogne Polentum in allen drei Teilungsmächten vor allen Dingen
in Österreich den Hauptcinfluß auf die weitere Entwicklung der Polenfrage
gewonnen. Die Verleihung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in Osterreich
steht mit den Ergebnissen der russischen Revolution im engen Zusammenhang.
Neben den konservativen Stanczykcn sitzen nun im Reichsrat zu Wien die
Lemberger Demokraten in ansehnlicher Zahl und die ebenfalls demokratischen
Ruthenen. Das slawische Element hat hierdurch einen außerordentlichen Einfluß
gewonnen. Die nächsten Folgen dieses Einflusses hat das Vorgehen der
Tschechen und Polen gegen alles Deutsche uns klar vor die Augen gestellt.
Der letzte größere politische Akt fand im vergangnen Sommer zu Prag statt,
wo das polnisch-tschechische Schutz- und Trutzbündnis zum Kampf gegen das
Deutschtum auf der ganzen Linie geschlossen wurde. Dieses Bündnis wird
bemäntelt durch den stolzen Namen Allslawischer Bund, dessen einziges Binde¬
mittel der Neid und der Haß ist. den die Westslawen gegen die Tüchtigkeit,
den Fleiß und den sich daraus ergebenden Wohlstand des Deutschtums hegen.
Meine Ausführungen bezwecken nicht, den nationalen Stolz meiner Lands¬
leute über alle Maßen zu steigern. Im Gegenteil, ich wollte durch die Vor¬
führung unsrer frühern Leistungen darauf hinweisen, wie wenig wir trotz unsern
starken Fähigkeiten in der Gegenwart getan haben, die slawische Hochflut ab¬
zuwehren. Vor allen Dingen haben wir das Studium der slawischen Ver¬
hältnisse in den letzten dreißig Jahren arg vernachlässigt und es auch an den
reichsdeutschen Universitäten slawischen Professoren überlassen. Man kann eine
Gefahr nur dann bekämpfen, wenn man alle ihre Elemente kennt. Einige der
wichtigern unter ihnen habe ich versucht zu meinem skizzenhaften Bilde zu ver¬
einigen. Hoffentlich ist es dazu angetan, das Interesse zu beleben und vor
allen Dingen jüngere deutsche Vertreter der historischen und nationalökonomischen
Wissenschaften für das Studium des slawischen Problems zu gewinnen.
GK^ le unser Reichskanzler Fürst Bülow in seiner Neichstagsrede vom
19. November 1908 zur Begründung der Finanzvorlagen der
Regierung richtig hervorgehoben hat, ist die Ursache für die
gegenwärtige bedauerliche Lage unsrer Finanzen in Deutschland
im wesentlichen die, daß wir in den ersten Jahrzehnten des wirt¬
schaftlichen Aufschwungs in dem neu geeinten Deutschen Reich mit unsern Mitteln
nicht genügend hausgehalten haben, daß in dieser kurzen Spanne Zeit, in der
wir uns beinahe ohne Übergang bedeutend gesteigerten Einnahmen gegenüber
sahen, der Sparsamkeitstrieb sowohl bei den einzelnen Staatsbürgern wie auch
bei den Gemeinden, den Einzelstaaten und dem Reiche noch nicht zur richtigen
Entfaltung gekommen ist. Angebot und Nachfrage für unsre fest verzinslichen
öffentlichen Schuldentitel stehen im Mißverhältnis zueinander. Gemeinden,
Einzelstaaten und Reich haben mehr Anleihen aufgenommen, als sich bei der
Aufnahmefähigkeit des deutschen Marktes zu normalen Sätzen im Publikum
unterbringen ließen, und das hat die betrübende Folge gehabt, daß die An¬
leihen des Deutschen Reiches trotz der Tüchtigkeit und des Reichtums seiner
Bewohner einen weit geringern Börsenwert haben als die gleichartigen An¬
leihen der Nachbarstaaten. Wenn heute zweieinhalbprozentige englische Konsols
mit 831/2, dreiprozentige französische Rente mit 97, dreiprozentige deutsche
Reichsanleihe aber nur mit 85,2 gehandelt werden, so ist das ein Zeichen
dafür, daß Deutschland in finanzieller Beziehung nicht mehr das Vertrauen
genießt, das ihm als Großmacht in Anbetracht seiner industriellen und handels¬
politischen Bedeutung eigentlich zukäme. Und was nicht weniger schlimm ist,
Deutschland, das seine letzten Anleihen nur zu einem niedrigern Kurse unterzu¬
bringen in der Lage war, muß seine schwebende Schuld heute im Durchschnitt
höher verzinsen als England und Frankreich, und das sparende Publikum in
Deutschland, das die dreiprozentige Reichsanleihe in den Jahren 1895 und
1896 noch zu einem Kurse von 99,30 eingekauft hat, hat allein an diesen
Papieren in der Zwischenzeit bedeutende Verluste erlitten.
Es liegt auf der Hand, daß es für Deutschland ein Lebensinteresse be¬
deutet, durch Verringerung des Angebots und Erhöhung der Nachfrage für
unsre öffentlichen Anleihen beide in ein richtigeres Verhältnis zueinander zu
setzen und dadurch den Kurswert der Anleihen zu heben. Wir wollen hier nicht
untersuchen, ob und wie es möglich ist, durch größere Sparsamkeit bei den Ver¬
waltungen oder rationellere Steuersysteme das Anleihebedürfnis bei den Regie¬
rungen und Gemeinden einzuschränken, auch nicht, inwieweit die wohlhabenden
Gesellschaftsklassen durch größere Einfachheit ihrer Lebensweise zu einer schnellern
Kapitalanhäufung bei uns beitragen könnten. Aber eins ist klar. Es ist ver¬
hältnismäßig wenig bei uns geschehen, den arbeitenden Klassen bequeme und
einfache Spargelegenheit zu bieten. Gerade aber durch die größere Heranziehung
der breiten Massen des Volkes zur Ansammlung von Ersparnissen ließe sich der
Markt für unsre heimischen Anleihepapiere ganz wesentlich erweitern.
Man wird uns entgegenhalten, daß bei uns alles geschehen ist, die
Leute zum Sparen zu veranlassen. Wir hätten ja die Sparkassen, und diese
stünden reich und arm zur Verfügung, die Mark des Arbeiters würde von
ihnen ebenso bereitwillig angenommen wie die zehnmal und hundertmal größere
Einlage des Beamten und Hausbesitzers. Gewiß, das ist wahr. Aber die Be¬
nutzung der Sparkasse ist heute mit Umständen verbunden, und namentlich bei
größern Kassen macht sich der nicht unbeträchtliche Zeitverlust bei der Abfertigung
um so lästiger bemerkbar, je kleiner der Betrag ist, der gespart und abgeliefert
werden soll. Muß ich einer Mark wegen viele Stunden opfern, so muß ich
schon über sehr viel freie Zeit verfügen, um sie bei dem schließlichen Erfolge,
der durch Ersparen dieser Mark erlangt wird, nicht mit in Anschlag zu bringen.
Hinzu kommt, daß der Arbeiter während der Kassenstunden seinem Verdienst
nachgehen muß und also sehr selten die Möglichkeit hat, persönlich seine Gelder
auf der Sparkasse einzuzahlen oder abzuheben. Auch seine Ehefrau geht des
öftern einer gewinnbringenden Beschäftigung nach; ist das nicht der Fall, so
hat sie die Wirtschaft oder die Kinder zu besorgen. Nicht immer aber hat man
in der Familie oder Verwandtschaft eine zuverlässige Person, die gewillt wäre,
die zeitraubenden Gänge zur Sparkasse zu übernehmen. Wenn man zu Anfang
wirklich die ernstliche Absicht hat. ein paar Mark, die im Augenblick entbehrlich
sind, auf die Sparkasse zu bringen, so hat man niemand zum Schicken und
verschiebt die Besorgung von einem Tage zum andern, bis dann in vielen Fällen
das Geld für mehr oder weniger überflüssige Sachen ausgegeben wird.
Man soll hier nicht einwenden, daß der Arbeiter kein Geld zum Sparen
habe. Das wird bei kinderreichen Familien oder da, wo der Hausvater einen
verhältnismäßig niedrigen Verdienst hat, zutreffen. Die Regel wird es nicht
sein. Wenn das Einkommen irgendeiner Berufsklasse in den letzten Jahr¬
zehnten zugenommen hat. so ist es das der Arbeiterschaft. Die Löhne haben
sich seit dem französischen Kriege verdoppelt, vielfach mehr als verdoppelt,
während die Ausgaben für die Lebensbedürfnisse im Durchschnitt bei weitem
nicht in diesem Maße gestiegen. Jndustrieerzeugnisse sogar hier und da billiger
geworden sind. Der Arbeiter unsrer Tage wohnt besser, nährt und kleidet sich
besser als der Arbeiter zur Zeit unsrer Väter und Großväter, und dazu ist er
durch unsre sozialpolitische Gesetzgebung gegen die äußerste Not der Erwerbs¬
unfähigkeit und des Alters geschützt, also nicht in dem Maße wie früher auf
die Unterstützung seiner Kinder und Großkinder angewiesen. Allein für die
sozialdemokratischen Gewerkschaften haben die deutschen Arbeiter, zumeist zu
Streikzwecken, im Jahre 1904 8 Millionen, im Jahre 1906 41 Millionen, im
Jahre 1907 gar 53 Millionen Mark aufgebracht. Wenn das auf den Kopf
des organisierten Arbeiters 27,55 Mark im Jahre ausmacht, so hat der orga¬
nisierte Arbeiter daneben immer ein paar Groschen übrig, wenn es gilt, einen
Aufstand im In- oder Auslande zu unterstützen, einen Fonds für ein Gewerk¬
schaftshaus, eine Zeitung oder einen Konsumverein zusammenzubringen. Als
die Waldenburger Bergleute im Jahre 1900 in Stadt und Umgegend keine
Säle zur Abhaltung von Versammlungen und Vergnügungen erhalten konnten,
gingen sie an die Gründung einer Genossenschaft, deren Zweck der Erwerb einer
eignen Gastwirtschaft sein sollte. Binnen Jahresfrist zählte die Genossenschaft
mehrere hundert Mitglieder und verfügte über einen Vermögensbestand von
mehr als 8000 Mark, der. abgesehen von wenigen größern Posten, zumeist
mark- und pfennigweise zusammengebracht worden war.
Wie der deutsche Arbeiter aber Geld für gemeinsame Veranstaltungen übrig
hat, so wird er zumeist auch zu bewegen sein, von seinem Lohne kleine Er¬
sparnisse für sich und seine Familie zurückzulegen, wenn ihm das Sparen etwas
erleichtert wird.
Das wäre aber namentlich in Jndustriegegenden mit überwiegenden Gro߬
betrieben ohne allzuviel Mühe zu bewerkstelligen. Sparkassen und Arbeitgeber
müßten sich zur Lösung der Aufgabe zusammentun. Jede Fabrik, jedes Berg¬
werk müßte eine Agentur der Sparkasse, eine Sammelstelle für Spareinlagen
werden. Vor der jedesmaligen Lohnzahlung hätten die Arbeiter der Werk-
teilung anzugeben, ob und in welcher Höhe sie Abzüge von der Lohnzahlung
für Sparzwecke oder auch im Bedarfsfalle Rückzahlungen auf ihre Einlagen
wünschten. Die zurückbehaltnen Beträge müßten zugleich mit einer Liste der
Einzahler der Sparkasse überwiesen werden. Diese hätte jedem Sparer ein
Konto zu eröffnen und ein Sparkassenbuch auszustellen, während der Arbeit¬
geber eine Abschrift der vielleicht alphabetisch geordneten Liste als Belag zurück¬
erhielte. Praktisch würde es sein, wenn das Sparkassenbuch, um bei Buchungen
immer bei der Hand zu sein, im Gewahrsam der Sparkasse bliebe, bis der Ar¬
beiter einmal seine Arbeitsstelle wechselte. Um den Kassen eine Entschädigung
für die Mehrarbeit mit den vielen kleinen Einlagen zu bieten und die laufende
Verwaltung zu vereinfachen, könnte die Einrichtung getroffen werden, daß die
Verzinsung immer nur für voll eingezahlte zehn Merk zu erfolgen und vom
Ersten des nächstfolgenden Monats ab zu beginnen hätte.
Schwierigkeiten und besondre Mühewaltung würde dieses Verfahren weder
für die Sparkasse noch auch namentlich für den Arbeitgeber bieten. Dieser
macht Lohnabzüge für Kranken- und Jnvalidenbeiträge, für Wohnungsmiete,
Holz- und Kohlenlieferungen, für Werkzeuge und vorschußweise erfolgte Bar¬
zahlungen. Es würde in die Lohnlisten eine Spalte für Spareinlagen und eine
zweite für Rückzahlungen hinzuzufügen sein. Sodann handelte es sich nur noch
um einen Auszug aus den Lohnlisten für die Sparkasse und um die Führung
eines besondern Kontos mit dieser sowie um die Geldüberweisungen.
Das ist aber eine so geringe Ueberleistung, daß sie von den vorhandnen
Beamten in der Regel nebenher wird besorgt werden können, während für ganz
große Betriebe die Anstellung auch eines besondern Beamten in Anbetracht eines
Fürsorgeaktes von so ungemein sozialer Bedeutung nicht in Frage käme. Es
handelt sich darum, die Arbeiter zum Sparen anzuhalten, die Freude am Besitz
in ihnen wachzurufen und sie zu lebensfrohern, zufriednem Staatsbürgern zu
erziehen. Das hat seinen Vorteil auch für den Arbeitgeber. Denn was diesem
oft die Freude an seinem Wirken benimmt, das ist der durch Hetzer und Wühler
großgezogne Mißmut und die Verdrossenheit seiner Leute, die heute in ihm nicht
ihren Volksgenossen und Mitarbeiter, sondern ihren Feind und Ausbeuter sehen.
Auch dem Staat kommt zunächst die wohltätige Veränderung der Denkart
zugute, die durch einen auch noch so kleinen Besitz in den Arbeitermassen hervor¬
gerufen wird. Daneben erwächst dem Staate auch noch ein zweiter Vorteil
aus der größern Sparsamkeit der Arbeiterbevölkerung. Die ersparten Summen
fließen den Sparkassen zu, die ihrerseits die angesammelten Gelder nicht müßig
liegen lassen, sondern sie, wie bisher, in sichern Hypotheken und Staatspapieren
anlegen werden. Für einen großen Teil der so gewonnenen Ersparnisse werden
Deutsche Reichs-, Staats- und Kommnnalanleihen gekauft werden. Der Markt
für diese wird wesentlich erweitert werden, die Nachfrage nach heimischen An¬
lagewerten zunehmen und ihr Kurs in die Höhe gehen. Deutschland wird sein
Weiteres Geldbedürfnis unter weniger erschwerenden Umstünden befriedigen können
und für seine öffentlichen Schulden weniger Zinsen zu bezahlen haben. Bei
der größern Nachfrage nach sichern fest verzinslichen heimischen Wertpapieren
wird aber auch ihr Kurs geringern Schwankungen unterworfen, werden Ver¬
luste wegen des Sinkens ihrer Kurse für die Inhaber weniger zu befürchten sein.
Und nun gehen wir noch einen Schritt weiter. In jedem Menschen steckt
der Trieb, reich zu werden oder doch seine geistigen und körperlichen Fähig¬
keiten, seinen materiellen Besitz so nutzbringend wie möglich zu verwerten.
Darum namentlich in den ärmern Bevölkerungsschichten, die sonst weniger die
Möglichkeit haben, schnell zu Vermögen zu gelangen, die Sucht, in der Lotterie
zu spielen. Deshalb auch in diesen Kreisen das Trachten danach, von dem
kleinen Erbteil ihrer Väter oder von ihren Ersparnissen höhere Zinsen zu er¬
langen, als ihnen auf der Sparkasse geboten werden. Wir erleben es so häufig,
daß Arbeiter ihre Gelder auf ganz unsichre zweite oder dritte Hypotheken ver¬
geben oder sie einfach gegen Schuldschein an ihre Kameraden ausleihen. Auf
irgendwelche Sicherheit geben sie nichts, ja der Begriff der Sicherheit geht
ihnen zumeist völlig ab, wenn ihnen nur etwas höhere Zinsen versprochen
werden. An Rückgabe des Kapitals von feiten ihrer guten Freunde ist hernach
nicht zu denken, und bei dem vielfach über den wirklichen Wert hinaus beliehenen
Grundstück in dem ganz entlegnen Gebirgsdorfe bleibt ihnen dann als kleineres
Übel auch nur die Wahl, ihr Geld verloren zu geben.
Einen solchen im Menschen vorhandnen Erwerbstrieb sollte man für die
Erziehung zur Sparsamkeit mit verwerten, namentlich wenn, wie wir sehen
werden, gerade im jetzigen Augenblick die Gelegenheit für seine Verwertung
gut ist. Das eben erwähnte Ausborgen von Geldern ohne alle Sicherheit auf
Hypotheken oder gegen Schuldschein ist unter der Arbeiterbevölkerung so ver¬
breitet, weil man in ihr wie zumeist auch auf dem Lande nur diese beiden
Arten der Verwertung barer Kapitalien kennt. Die so bequeme, sichre und
nutzenbringende Anlage von flüssigen Geldmitteln in Staatspapieren oder
kommunalen Schuldverschreibungen ist Arbeitern und Landleuten so gut wie
unbekannt. Und doch bieten diese fest verzinslichen mündelsichern Papiere
gegenüber den Hypotheken zwei gewichtige Vorteile. Man kann die kleinsten
Beträge bis hinunter zu 150 und 100 Mark in ihnen anlegen, ohne daß die
Sicherheit darunter leidet, und man hat es auch nicht mit böswilligen Schuldnern
zu tun. Gerade zur Jetztzeit bieten unsre Deutschen Reichs-, Staats- und
Kommunalanleihen auch noch einen weitern großen Vorteil, den der Billigkeit.
Unsre dreiprozentigen Papiere bekommt man heute zum Kurse von 85.10, die
dreieinhalbprozentigen zum Kurse von 94.50, die vierprozentigen zum Kurse
von 102,30 zu kaufen. Es ist aber außer Frage, daß der Kurs dieser Papiere
bei steigender Nachfrage im Laufe der Jahre wieder in die Höhe gehen wird,
wie er auch in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre schon auf 99, 104 und
108 gestanden hat. Zu dem machtvoll emporgeblühten Deutschen Reiche müssen
wir das Vertrauen haben, daß es ihm bei seinem Reichtum und der Betrieb-
sanken seiner Bewohner gelingen wird, seine Einnahmen mit seinen Ausgaben
wieder in das richtige Verhältnis zu bringen und aus seiner Schuldenwirtschaft
herauszukommen. Dann aber werden seine öffentlichen Anleihen nicht mehr den
heimischen Markt überschwemmen, und mit der größer» Nachfrage nach den
Papieren wird auch wieder ein höherer Preis dafür bezahlt werden müssen.
Daß jemand, der diese Papiere zu dem heutigen billigen Preise einkauft, später
einmal an ihnen einen hübschen Kursgewinn erlangen wird, ist so sicher wie
Amen in der Kirche.
Weshalb aber sollen wir die Arbeiterbevölkerung an einem so sichern Ge¬
winn nicht auch teilnehmen lassen? Wir werden ihr damit nicht nur zu einem
materiellen Gewinn verhelfen. Nein, wir werden zugleich auch moralisch auf
sie einwirken, wir werden den Sparsamkeitstrieb in ihr wecken und fördern
helfen. Mit dem Augenblick, wo der Arbeiter an seinen Reichs-, Staats- und
Kommunalanleihen neben den ausbedungnen laufenden Zinsen auch noch vier
Prozent am Kurse gewinnt, wird er doppelt bemüht sein, sich ein zweites und
drittes von den guten Papieren zuzulegen. Die Freude über die erlangte Neben¬
einnahme wird ihn zu weiteren Gewinn anreizen, und der kann ihm nur zu¬
fallen, wenn er sich auch weiter kleine Einschränkungen in seiner Lebenshaltung
auferlegt und die so erübrigten Gelder auf die Sparkasse trägt. Schließlich
hat er sich so an das Sparen gewöhnt, daß es des Anreizes durch die Aussicht
auf besondre Gewinne nicht mehr bedarf. Aber der gegenwärtige niedrige Kurs¬
stand unsrer Papiere ist eine so günstige Gelegenheit zur Weckung des Spar¬
samkeitstriebes in den ärmern Bevölkerungsschichten, daß wir sie nicht unbenutzt
vorübergehen lassen dürfen.
Es bietet keine technischen Schwierigkeiten, dem Arbeiter, der 100 oder
150 Mark gespart hat, für diese Betrüge ein Wertpapier auszuhändigen, das
bei der Sparkasse gegen geringe Depotgebühren von zehn bis zwanzig Pfennig
für je 100 Mark im Jahre in Verwahrung bleiben könnte. Sparkasse und
Arbeitgeber müßten es sich in gleicher Weise angelegen sein lassen, den Arbeiter
über die Vorzüge des Ankaufs von öffentlichen Schuldtiteln aufzuklären. Da,
wo in Industriezentren, wie dem Waldenburger, durch Unternehmerverbände
oder Arbeiterwohlvereine eigne Zeitungen zur Belehrung und Fortbildung der
Arbeiterbevölkerung herausgegeben werden, könnte die Aufklärung der Arbeiter
über die neue Spargelegenheit durch diese Zeitungen erfolgen. Sonst müßten
Vorträge und Flugblätter diese Aufgabe übernehmen. Auch brauchten die Spar¬
kassen nicht zu befürchten, daß ihnen allzuviel Zinsüberschüsse durch den Eigen¬
erwerb der Papiere durch die Sparer verloren gehen möchten. Durch die Auf¬
klärung über das Wesen der Wertpapiere soll ja in letzter Linie der Sparsam¬
keitstrieb gehoben werden. Es werden Guthaben von der Bank abgehoben, das
ist wahr. Aber dafür werden auch desto mehr neue Einlagen eingezahlt, und
zu einem Teil sind die Kassen auch schon durch die Aufbewahrungsgebühren
für die Effekten entschädigt.
Schließlich bleibt die Befürchtung, daß der Arbeiter beim Fallen der Kurse
auch einmal Verluste erleiden könnte. Aber sorgen wir dafür, daß wir in Zu¬
kunft nie mehr Anleihen auf den Markt bringen, als darauf zu normalen Preisen
untergebracht werden können, so ist die Gefahr eine ganz geringfügige. Sollten
einmal infolge eines Krieges unsre Anleihen einen vorübergehenden Kurssturz
erfahren, nun so hegen wir alle die Zuversicht, daß das mächtige Deutsche Reich
die schweren Zeiten auch überstehn wird. Je besser wir aber in Friedenszeiten
für unsre Finanzen gesorgt haben werden, um so weniger werden unsre öffent¬
lichen Anleihen durch die Kriegswirren in Mitleidenschaft gezogen werden.
MMem Kriege zwischen Rußland und Japan haben alle modernen
Armeen die größte Aufmerksamkeit geschenkt, die fähigsten Offiziere
wurden entsandt und haben mit der größten Aufmerksamkeit
Soldaten und Kriegführung beobachtet und geschildert. Es boten
sich Studien unter ganz neuen Verhältnissen: ein vom gewohnten
gänzlich verschiedner Kriegsschauplatz, dessen Gelände nach Materie, Form,
Bebauung und Bevölkerung völlig vom bisher üblichen abwich; ein Klima mit
unerhört springenden Temperaturwechsel, dazu das eine Heer mit der Basis
angewiesen auf einen schmalen eben vollendeten Schienenstrang, der Wochen¬
reisen lang durch die Steppen und über den zugefrornen Baikalsee führte, das
andre Heer lediglich auf seine noch unerprobte Flotte. Alles dieses waren
Sachen, die den Reiz des völlig Neuen boten. Aber nichts hat in dem Feldzuge
den Kriegshistoriker so interessieren können als die hervorragende Tüchtig¬
keit des japanischen Soldaten. Nur er hat den Feldzug für Japan
gewonnen. Nicht die japanische Taktik, wenn sie sich auch gewandt den örtlichen
Verhältnissen anpaßte, denn in den größern Verhältnissen hat sie auch grobe
Fehler zu verzeichnen; nicht die Strategie, denn sie erhebt sich nirgends über
das Mittelmäßige und zeigt nirgends auch nur einen Anflug von Kühnheit
oder Genialität. Lediglich der japanische Soldat ist es, dessen Leistung
sowohl in geistiger wie auch in körperlicher, vor allem aber in moralischer
Beziehung imponiert. Das Zünglein der Siegeswage stand oft lange in der
Schwebe, und nur die todesverachtende Aufopferung, die der japanische Soldat
beim entscheidenden Augenblick in die Wagschale zu werfen vermochte, ließ diese
zu Japans Gunsten niedersinken.
Ist es nun die Erziehung und die Ausbildung des japanischen Offiziers,
die solche Früchte trug, oder sind andre Ursachen vorhanden, die zu diesen
glänzenden Erfolgen beigetragen haben? Wohl kann es das deutsche Heer mit
Stolz erfüllen, daß unsre Schule, in der die japanische Armee erzogen ist, dort
einen vollen Sieg errang. Aber es war nicht die deutsche Schulung im Heere
allein, die es siegreich machte, sondern der vaterlandsliebende, kriegerische,
jugendfrohe, kampfeslustige Geist, der Japans ganzes Volk beseelt und in seinem
Heer den treffendsten Ausdruck findet. Und wie Japan von uns seinen rein
militärischen Heeresdrill gelernt hat, so können wir von ihm lernen, wie man
ein ganzes Volk mit echt kriegerischem Geiste erfüllt, den jede Nation haben
muß, will sie nicht rettungslos dem Verfall entgegengehn.
Es ist das eine große Gegengabe, die uns Japan als Dank für unsre
deutsche Heeresschule bringt, zugleich eine ernste Aufgabe für unser Heer, noch
mehr aber für unser Volk. Denn das Heer und seine Ausbildungsmittel allein
sind nicht dem ungeheuern Werk gewachsen, Vaterlandsliebe, Freude an körper¬
licher Leistung, an Beendigung von Mut, an straffer Selbstzucht anzuerziehen,
die Vorfrucht zu säen für eine zeitgemäße militärische Ausbildung für das
heutige Gefecht, in dem nicht mehr die Masse allein, sondern ebenso die
kriegerische Qualität des Einzelkämpfers den Ausschlag gibt, wie uns wieder
aufs deutlichste der mandschurische Feldzug gezeigt hat.
Die Schützenlinie ist die Trägerin des Kampfes, des Sieges, und wird
es immer mehr bleiben, da die vervollkommneten Waffen nur noch den Einzcl-
kämpfer dulden. In ihr reicht aber die Einwirkung des Führers, ob das ein
Gefreiter, Unteroffizier, Leutnant oder kommandierender General ist, nicht viel
über die nächste Schützengruppe hinaus. spärlich sind in den modernen Heeren
die Chargen, zumal die des aktiven Dienststandes, gesät, an deren Vorbild der
Kämpfer seinen sinkenden Mut stählen kann. Bald müssen im Gefecht auch sie
verschwinden, und zwar um so schneller, je schlapper die Truppe ist, je mehr
sich die Führer deswegen dem Feuer aussetzen müssen, um ihren Einfluß zu
wahren. An ihre Stelle müssen dann beherzte Männer treten: Japan hatte sie
sich zu erziehen gewußt; und auch wir brauchen solche. Denn gerade dieser
führerlose Schützenschwarm ist oft zerrissen bis zur gänzlichen Zusammenhang-
losigkeit; er bleibt dennoch Hauptträger des heutigen schlachtenentscheidcnden
Feuerkampfes; der Schützenlinie können nur dünn und schon vom Gefecht stark
angebrauchte Reserven zugeführt werden, und auch diesen hat das Überschreiten
der allen Kriegserfahrungen nach am stärksten mit Feuer gedeckten Zone hinter
den feuernder Schützen bis in diese hinein schon den besten Teil ihrer Kampf¬
kraft geraubt und sie meist schon in Splitter zersetzt.
Japan hat uns gezeigt, wie die Erziehung des Soldaten, aufgebaut auf
die Erziehung des ganzen Volks, diese Schwierigkeiten des modernen Jnfanterie-
kampfes zu meistern vermag, indem es eben jeden Mann des Volkes zum
Einzelkämpfer erzieht. Und zwar einmal zu einem körperlich gewandten, kräftigen,
geistesgegenwärtigen, wohldisziplinierten Soldaten, andrerseits zu einem seelisch
opfermutigen und todesverachtenden Kämpfer, getragen von einer glühenden
Vaterlandsliebe, von einem Nationalbewußtsein, das uns Deutsche aller Stände
erröten macht.
Ein Heer mit solchen moralischen und körperlichen Eigenschaften muß
Außerordentliches leisten und hat es geleistet. Wie erzog Japan dieses Volk,
dieses Heer?
Japans Geschichte ist Japans Erziehung. Bis zum Jahre 1371 war
Japan ein vollkommner Feudalstaat. Die Damnos, Vasallenfürsten, regierten
absolut und wurden anerkannt vom kaiserlichen Hofe, der selbst oft von einem
der mächtigsten Daimios als Hausmeier, Shogun. geleitet wurde. Immer
schwebte dem Volke als Verkörperung des Vaterlandes der Kaiser aus dem
Hause der Tenno vor. das seit 2562 Jahren in Japan herrscht. Das Volk
war in zwei Klassen geschieden: die Bushi und Heinin. Die Bushi — der
Adel — wurden Minister, Offiziere. Regierungsbeamte. Der Nest des Volkes
waren die mindergeachtetcn Heinin. Diese Bushi hatten einen äußerst schroffen
Ehrbegriff, der sich nachher auf das ganze Volk ausdehnte, nur schwer zu
kodifizieren ist und nur auf mündlicher Überlieferung beruht. Dem Einfluß
dieses Ehrenkodex des Bushido verdankt das japanische Volk seine besten
Eigenschaften.
Die Samurais, Offiziere und Krieger aus der Kaste der Bushis, hatten
wie erwähnt ein sehr hochgespanntes Ehrgefühl. Als nun allmählich die
Kasten durch die staatliche Umwälzung von 1869 bis 1871 umgestoßen wurden,
sickerte dieser Geist, dessen Jünger in Japan ihrer außerordentlichen Ehren¬
haftigkeit, ihrer unvergleichlichen Tapferkeit, ihres ritterlichen Sinnes und
ihrer Vasallentreue wegen das größte Ansehn genossen, durch alle Schichten
des Volkes. Der Samurai fand Zutritt in allen Kasten, und der hoch¬
geachtete Geist dieser Kaste, vom Staate geschützt und genährt, durchsetzte all¬
mählich das ganze Volk.
Da der Bushido in Wahrheit auch die moralische Religion Japans in sich
birgt — der Shintoismus ist nur eine einseitige Ahnenverehrung —, ist sein
Einfluß um so eindringlicher, und seine Lehren sind vom größten Interesse
für jeden, der echt japanischen Geist kennen lernen will. Der Hauptgrundsatz
des Bushido (den man in neuerer Zeit auch mit Samuraismus bezeichnet), der
dabei aber durchaus nicht als geschriebnes Dogma, sondern als sinngemäß
angewandter Brauch aufzufassen ist, heißt „größte Scheu gegen alles Unrecht und
Gefühl, Recht zu tun". Hierbei ist jeder sein eigner Richter, das Ehrgefühl muß
aufs äußerste gespannt sein, denn die einzige Strafe ist das Ren-chi-hin, das
Gefühl der Schande. Oft genug ist es ein von niemand erkanntes Unrecht,
vielleicht nur in Gedanken begangen, das im echten Samurai das Ren-chi-hin
bis zu dem Grade entstehen läßt, daß er Selbstmord begeht.
„Je reiner des Menschen Gewissen, desto feiner sein Ehrgefühl", und nach
dieser reinsten Ehrenhaftigkeit zu streben ist jedes echten Samurais uuablüssiges
Streben. In diesem Streben lernt er vor allem sich selbst beherrschen im edelsten
Sinne. Er wird ein „Mann ohne ein Ich". Ein hervorragender Krieger des
elften Jahrhunderts hat die Verse hinterlassen:
Ganz von selbst folgert sich aus diesem Gefühl der Ehre das der Tapfer¬
keit, aber auch hier wieder gilt nicht der wilde sich in dem eignen Zorn be¬
täubende Mut für ehrenhaft, das ist der „Mut bäuerlicher Krieger", der Mut
des Edelmanns darf nicht zur Wildheit werden, sondern muß sich jederzeit
vom eignen Willen lenken lassen. Dem Samurai ist keine blinde Wut und
aufbrausender Ungestüm gestattet, er muß sich auch hierbei im Zaum haben und
darf die Selbstbeherrschung niemals verlieren. Der Bushido sagt hiervon: „Auch
im Kampfe muß die moralische Tat rund sein wie eine Kugel." Das heißt,
sie darf keine Auswüchse haben, wie sie der Kampfeszorn durch sein über¬
schäumendes Toben vielleicht erzeugen würde. Hiermit in engem Zusammenhang
steht das Gefühl echter Ritterlichkeit. Es gilt für ehrlos, den Schwachen zu
schlagen, den Geächteten zu beschimpfen, den Verwundeten zu bekämpfen, sondern
es ist ehrenhaft, diese aufzunehmen und durch Arznei und Pflege zu retten.
Der mandschurische Feldzug hat den gefangnen Russen ja diese Bethätigung des
Bushido aufs deutlichste gezeigt.
Aber nicht nur für Männer gilt dieser herbe Ehrenkodex, sondern die
Samuraifrauen wurden in demselben Geiste erzogen. Sie genossen eine fast
ebenso abgehärtete spartanische Erziehung und lernten mit Schwert und Speer
umzugehn, ja selbst im Harakiri wurden sie unterwiesen, damit sie „durch den
Tod der Schande auszuweichen vermochten". Die heroische Gesinnung der
japanischen Mutter trat in ihrer vollen Größe im letzten Feldzuge zutage. Die
herbe Trauer um die zahllosen Opfer der mörderischen Schlachten wurde in
Stille getragen und blieb in den Herzen verschlossen. Dem Fremden wurde
nirgends in Japan bemerklich, daß der Feldzug so zahlreiche und schmerzliche
Lücken in die Familien gerissen hatte, und kam gelegentlich das Gespräch auf
den Tod des Verwandten, so war der Ton zwar schmerzlich aber auch stolz
auf die dadurch der ganzen Familie gewordne Ehre.
„Stirb tapfer und ritterlich!" lautete der Abschiedsgruß der japanischen
Mutter an den Krieger, der in den letzten opfervoller mandschurischen Krieg
zog, und mit stolzer Ergebung ertrug sie die Nachricht von dem Schlachtentode.
Solche Mütter mußten ein Volk von Tapfern erziehen, und die Erfolge des
Krieges dürfen nicht zuletzt mit auf ihre Rechnung zu setzen sein.
Der letzte Ausdruck der Auffassung des Ehrgefühls des Samuraismus
gipfelt in dem Harakiri, nebenbei bemerkt, einem in Japan ungebräuchlichen
Wort; das Bauchaufschlitzen wird dort mit Seppuku oder Kappuku bezeichnet.
So unästhetisch und unmoralisch uns dieser Selbstmord zunächst scheint, so
Wird er verständlich, wenn wir uns in den Gedankengang des Samurais
über Ehrverletzung hineinversetzen. Der Japaner verlegt wie die Griechen
den Sitz des Lebens in die Bauchhöhle und will dieses mit Sicherheit
treffen. Nun ist diese Zeremonie des Selbstmordes gar nicht so einfach,
sondern recht umständlich und sehr schmerzhaft, sie kann nur bei voller Über¬
legung ausgeführt werden, das will der Samurai gerade, denn nur dadurch
kann er den größten Mut und die äußerste Selbstbeherrschung beweisen; man
soll sich eben nicht mit einer Pille Arsenik oder einer Pistolenkugel „aus dem
Leben stehlen", sondern jeder Schritt des Unternehmens soll von klarem Be¬
wußtsein zeugen: Selbstbeherrschung in der höchsten Potenz, das ist die
Vollendung der Ehrenanschauung.
Seppuku beging der edle Japaner, um ein Vergehen zu sühnen, auch
konnte früher der Gerichtshof darauf erkennen. Aber auch der unschuldig
Angeklagte beging oft Selbstmord, um zu zeigen, wie verächtlich ihm jenes
Ding, um das man ihn beschuldigt, war, wie wenig er das Leben, wie hoch
er seine Ehre einschätzte. Der umständliche „Tod auf der Matte" wurde
dann auch dem auf dem Schlachtfelde nahezu gleichgestellt. Es hieß von dem
Entleibten: „Er hat nichts vermieden, was der Mut erfordert." Wenn man
von diesem Standpunkt aus die Selbstentleibung betrachtet, so wird man
volles Verständnis dafür gewinnen können und ihr die Zubilligung einer
heroischen Großartigkeit der Anschauung von Leben und Ehre nicht versagen
können. Nach diesen Grundsätzen erzog Japan sein Volk und sein Heer. Die
Samurais trugen diese Auffassung in das ganze gebildete Volk, und mit
staatsmännischer Weisheit gab die Erziehung in Haus und Schule die breite
Grundlage, in der echte Soldatentugend, Liebe zum Kampf, Todesverachtung,
Treue zum Vaterland und Nationalstolz wurzeln konnten.
Immer und immer werden ritterliche Taten der Sage und der Geschichte,
an denen Japan so unendlich reich ist, als nachahmenswerte Vorbilder für
die jüngste wie auch für die heranwachsende Jugend hingestellt. Hier als
Beispiel eine für viele, ist die Geschichte der 47 Ronins*) (Ronin — ver¬
lumptes, ehrloses Gesindel). Ein kleiner Fürst Asano Nagaroni wurde bei
einer Audienz am kaiserlichen Hofe von dem Höfling Aoshihide beleidigt und
zog das Schwert. Wegen dieses Vergehens gegen die Hofetikette zum Tode
verurteilt, mußte er sich selbst entleihen. Die 47 Samurais dieses Fürsten
mußten dem Bushido gemäß den Tod ihres Fürsten rächen, sonst wären sie
in den Augen ganz Japans ehrlose Schurken gewesen. Diese Rache war
nicht leicht, denn Uoshihide kannte natürlich die Sitte und den Fanatismus
der Zweischwertermänner, die keine Furcht vor Strafe, Wunden oder Tod von
ihrem Vorhaben abgebracht hätte.
Joshihide blieb in seiner unbezwinglichen Burg geschützt von einem zahl¬
reichen Kriegsvolk, und die Rachegedanken der Samurais schienen völlig aus¬
sichtslos. Die 47 zerstreuten sich, ergaben sich dem Trunk, dem Spiel und
sanken auf die Stufe der Ronins, sie lebten von Bettel und Diebstahl. Sie
ließen allen Spott und Hohn auf sich sitzen, zumal der Älteste und Anführer
der 47, der eines Tages von einem Samurai wegen dieser unerhörten
Schlaffheit und Schamlosigkeit aufs ärgste beschimpft wurde. Stumpfsinnig
wurde er angehört, obgleich solche Beleidigung nur durch Blut gesühnt
werden konnte. Zwei Jahre lang trieben sie sich so im Lande herum, all¬
mählich glaubte der vorsichtige Joshihide von dem verlumpten Gesindel nichts
mehr befürchten zu dürfen, er vernachlässigte seine anfänglichen Vorsichts¬
maßregeln, seine Leibwache wurde nachlässiger, da trat das Unerwartete
ein. Die 47 Samurais hatten sich auf die Lauer gelegt, überwältigten die
Schloßbesatzung und legten Uoshihides Kopf als Sühne auf das Grab
ihres Herrn.
Dann entleibten sie sich sämtlich, um nicht als Mörder dem Gericht zu
verfallen; diese Grabstätte ist noch heute an ihrem Todestage geschmückt als
Denkstätte des Edelsinns und der Vasallentreue. Es sind aber nicht nur
47 sondern 48 Gräber; jener fremde Samurai, der einst die Ronins wegen
ihrer Schurkenhaftigkeit beschimpft hatte, fühlte sich durch seine falschen
Anschuldigungen gegen Edelleute so entehrt, daß auch er an ihrem frischen
Grabe Selbstmord beging. Was für eine Fülle von Mannesmut, Treue,
Entsagung liegt in dieser historisch verbürgten Begebenheit, zumal wenn man
sich in den hochgespannter Ehrbegriff eines japanischen Edelmanns zu ver¬
setzen sucht.
Mit solchen Geschichten wächst die japanische Jugend auf. Solche Helden
sind ihre Vorbilder. Natürlich können christliche Staaten ihre Jugend nicht
in solchen rachedurstigen Idealen aufziehen; aber kaltes Blut und Schneid
liegt in dieser wie in allen andern japanischen Heldengeschichten. Wie
jämmerlich benehmen sich hiergegen die Helden der griechischen Mythologie,
mit denen unsre deutsche Jugend in ihren dem Idealen zugänglichsten Jahren
abgespeist wird.
Roms Jugend hörte von Horatius Coates, Mucius Scävola, den Horatiern
und Kuriatiern. Als diese Jugend heranwuchs, eroberte sie die ganze bekannte
Welt! Warum vernachlässigt man unsre urkräftige germanische Sagenwelt,
unsre kernige vaterländische Geschichte gerade bei der Bildung unsrer Jugend,
die bestimmt ist, den Führer des Volks zu berufen? Warum greifen sie zum
Jndianerschmöker, zum Detektivroman oder den demoralisierenden GeHirn¬
gespinsten perverser Naturen wie Oskar Wilde. Der Japaner ist viel zu stolz,
solch ausländisches Zeug zu lesen, und wir Deutschen?
So ist Japans Volksgeist erfüllt von hohen Anschauungen von Ehre,
Pflicht, Mut und Vaterlandsliebe; ein unbändiges Nationalbewußtsein, dem
des Engländers noch überlegen, trägt dazu bei, auf seine eigne Kraft mit
größtem Selbstvertrauen zu blicken.
Neben der moralischen Erziehung behauptet aber die Stählung des
Körpers ihr vollstes Recht. Der Japaner ist trefflich geübt in den ritter¬
lichen Leibesübungen, und wie jeder Engländer so ist auch jeder Japaner in
sportlichen Denken erzogen und bringt diesen körperlichen Leistungen das
größte Verständnis und die größte Teilnahme entgegen; hier sind es nicht wie
in England hauptsächlich die Pferderennen und Fußballkämpfe, sondern der
Kampf mit zwei Schwertern, mit einem Schwert, Lanze und Dolch sowie
Ringkampfe.
Solche körperliche Übungen, vor allem der das größte Geschick erfordernde
und dafür am höchsten geschätzte, in allen Kreisen gepflegte Zweischwerter¬
kampf*), erhalten den Körper geschmeidig, schärfen den Blick für Angriff und
Blöße des Gegners, für eignen Vorstoß und Abwehr. Immer wird aber
dabei der Hauptwert auf ein vornehmes Handeln gelegt, sich hinreißen zu
lassen, würde als schimpflich angesehen werden, und das ist infolgedessen auch
völlig ausgeschlossen. Keine wüste Prügelei darf dabei herauskommen, sondern
es muß immer ein ritterlicher Kampf bleiben, worum es sich auch handeln
mag. Überall im Lande sind die sogenannten Rittervereine, denen sich jung
und alt, reich und arm, vornehm und gering anschließt. Sie stehn unter
dem Schutz der Besten des Landes und sind die vorzüglichsten Pflegestätten
dieser den Körper und den Geist stählenden Kampfspiele.
Und gerade darin liegt ein Hauptzug japanischer Tüchtigkeit, daß jeder¬
mann und alle Stände an solchem Sport den größten Anteil nehmen und
nicht wie bei uns Deutschen die körperliche Leistung und ihre Wertung nur
wenigen überläßt, für die sich auch nur eine weniger zahlreiche Masse inter¬
essiert; es spricht sich dies am deutlichsten aus auf den alle Volksklassen ver¬
einigenden Nationalfesten. Kein Alkohol, kein wüster Lärm mit Blechmusik
und Pauke. Ernst und bedächtig ziehen die kleinen geschmeidigen Kämpfer
zum Festplatz. Der Kampf ist schwer, denn wohlgeübt ist der Gegner, nur
Meister der körperlichen Übungen, des Schwerterkampfes dürfen sich da messen,
wo jedermann im Volke und unter den Zuschauern selbst ein durchgebildeter
Kämpfer ist und dem Wettstreit mit der schärfsten Aufmerksamkeit und dem
vollsten Verständnis folgt.
Um so größer ist die Begeisterung, um so höher der Ruhm, der dem
Sieger zuteil wird. Er wird nicht in Festreden zwischen Fisch und Braten
gefeiert, aber das Volk nennt ihn als einen ihrer Besten, und die Jugend
erzählt von ihm mit stiller Bewunderung und erfüllt von dem glühenden
Wunsch, zu werden ein Held wie jener. Still und bescheiden zieht der Sieger
im heißen Kampfe heimwärts. Die Ehre allein genügt ihm als einziger Lohn.
Wie anders ist ein Volksfest bei uns, sagen wir mal das Turnfest, das
doch seinem idealen Streben nach gewiß Ähnlichkeit mit solchen japanischen
Feiern haben müßte. Zunächst ist schon am Abend vorher Begrüßung der
Gäste mit energischem Humpenschwingen; der Festtag selber wird eingeleitet
durch einen „solennen" Frühschoppen, der die Grundlage für die Tagesstimmung
gibt, dann erfolgt ein Umzug: Frack, weiße Binde, Zylinder ist die deutsche
männliche Festuniform, einige Turner folgen. Nun kommt das Festessen,
dessen Hauptbestandteil die Festreden sind, mit denen sich die verschieden Ver¬
treter gegenseitig als Hauptstützen des Vaterlandes preisen.
Die stark rotweinköpsigen Schiedsrichter sehen nun das Wetturnen an,
es wird damit von vielen meist mehr als eine unangenehme Last denn als
Hauptfeier des Tages betrachtet, die man möglichst rasch erledigt, denn nun
gehts zum Kommers, der die Feier würdig abschließt. saurer Hering und
Selterwasser sind am nächsten Tage begehrte Genußmittel.
Was bleibt da übrig? Das Gute, was an körperlicher und geistiger
Spannkraft von wenigen gezeigt wurde, es wird ertränkt in dem Alkoholgenuß
und dem Festesrausch der großen Menge. Nicht eine Zunahme der Volkskraft
bedeutet solches Fest, sondern eine Schädigung in körperlicher, moralischer und
materieller Beziehung, plumpsinnliche Genüsse, Massenvertilgung von Alkohol,
falsche Eitelkeit, das sind die Kennzeichen unsrer meisten Volksfeste, auch solcher,
deren einziger Zweck in der Hebung idealer Güter zu liegen scheint und liegen
müßte.
Die Weckung und Hebung solcher Werte liegt bei uns noch ganz im
argen, und nur ein Mittel gibt es dagegen: Pflege des Sports, das heißt
ritterlicher Übung des Körpers und damit gleichzeitige Rückkehr zur ewig jungen
und verjüngenden Natur.
i einer seiner Freunde hat dem Herzen Friedrichs des Großen so
nahe gestanden wie der Kurländer Dietrich von Keyserling!. Mit
rascher und lebhafter Auffassungskraft begabt, hatte er sich schon
auf dem Gymnasium zu Königsberg unter seinen Mitschülern ganz
I besonders hervorgetan. Durch vier Reden in deutscher, lateinischer,
griechischer und französischer Sprache, die er an einem Tage hielt, verschaffte
er sich siebzehnjährig den Zugang zur Universität. Mit glühendem Eifer warfIM
er sich auf das Studium der Literatur, der Philosophie und der Mathematik.
Er vollendete dann seine allgemeine Bildung durch Reisen im Auslande und
durch einen zweijährigen Aufenthalt in Paris. Aber er fühlte nicht den Beruf
in sich, ein Mann der Feder zu werden. Sein Ehrgeiz war, als Soldat empor¬
zusteigen. Er kam nach Berlin, um dem König von Preußen seine Dienste
anzubieten. Friedrich Wilhelm schickte ihn 1724 als Leutnant zu den Rathenower
Kürassierer. Aber er blieb nur wenig Jahre bei seinem Regiment. Die
glänzenden Eigenschaften des jungen Offiziers erregten die Aufmerksamkeit des
Königs. Wie er sich einst aus den Laufgräben vor Stralsund einen jungen
Freiwilligen, Duham de Jandun, als Lehrer für seinen Sohn geholt hatte, so
erkannte er jetzt in dem jungen Kurländer den geeigneten Gesellschafter für den
herangewachsnen Kronprinzen. Er machte ihn im Jahre 1729 zum Gefährten
seines Sohnes, und bald entwickelte sich zwischen beiden trotz des bedeutenden
Altersunterschieds — Keyserling! war um vierzehn Jahre älter — eine innige
Herzensfreundschaft, die, wie Friedrich später einmal gesagt hat, niemals durch
eine Wolke getrübt worden ist. Und wie hätte auch Dietrich Keyserlingk auf
den leicht empfänglichen Sinn des jungen Prinzen nicht einen außerordentlichen
Eindruck machen sollen? Er verband mit einer vorzüglichen Bildung, um die
Friedrich ihn beneidete, Talente, die jede vornehme Gesellschaft entzücken mußten.
Er dichtete, er sang, er komponierte, hatte vortreffliche Kenntnisse in der Malerei
und Architektur, war ein kühner Reiter, ein unermüdlicher Tänzer, ein heiterer,
sorgloser Zechkumpan. Dem Prinzen gegenüber war er von hinreißender
Liebenswürdigkeit, ohne darum, wie Friedrich später laut gerühmt hat, das
oberste Gesetz der Freundschaft zu verletzen: dem Freunde auch über seine Fehler
die reine, ungeschminkte Wahrheit zu sagen.
Trotzdem — oder vielleicht gerade darum — hat ihn der Prinz, als in
ihm der unselige Entschluß reifte, sich unerträglichem Zwange durch die Flucht
zu entziehn. in die Einzelheiten des Geheimnisses nicht eingeweiht. So konnte
er, als die Katastrophe über Friedrich und seine Freunde hereinbrach, leicht
seine Schuldlosigkeit nachweisen und wurde, ohne die königliche Gnade zu ver¬
lieren, zu seinem Regiment zurückgeschickt.
Es war die erste Bitte, die der Sohn nach der Versöhnung dem Vater
vorzutragen wagte, daß er Keyserlingk erlauben möge, zu ihm zurückzukehren.
Zunächst wollte der König nichts davon wissen. Erst als an der völligen
Unterwerfung des Sohnes nicht mehr zu zweifeln war, als er den verhaßten
Ehebund geschlossen, und der König ihm den eignen Hofhalt in Rheinsberg ein¬
richtete, durfte er den Freund zurückrufen. Die Sonne ist durch den Winter¬
nebel gedrungen, jubelte Friedrich, als Cäsarion — nicht anders als unter
dieser antiquisierenden Form pflegte er den Freund zu rufen — in Rheinsberg
eintraf.
Wer kennt sie nicht, die goldnen Tage von Rheinsberg, in denen die
furchtbaren Eindrücke einer allzu harten Jugend allmählich aus Friedrichs Seele
schwanden, die glückliche Zeit, wo es ihm vergönnt war, sich harmonisch aus¬
zubilden und die fruchtbaren Keime zu künftiger Größe zu entwickeln?
In dem Kreise schwärmender Freunde, die Friedrich hier um sich sammelte,
stand Keyserling! an der ersten Stelle. Seine geselligen Talente, seine sprudelnde
Lebhaftigkeit — die wie sein dunkler Teint ein Erbteil seiner Mutter, einer
vornehmen Italienerin, sein mochte — kamen in dem fröhlichen Rheinsberger
Treiben recht eigentlich zur Geltung. Aber auch in den ernsten Studien, auf
die sich Friedrich nun mit fast unersättlichen Eifer stürzte, blieb er der Genosse
des Freundes. Er teilte Friedrichs Enthusiasmus für die schönen Wissenschaften,
hatte er doch selbst horazische Oden und Popes „Lockenraub" ins Französische
übersetzt, vor allem aber seine Bewunderung für das glänzendste Gestirn am
literarischen Himmel der Zeit, für Voltaire. Als moderner Argonaut ist er,
wie Friedrich scherzte, von Rheinsberg nach Cirey gezogen, um Geschenke zu
überbringen und das Goldne Vlies zu holen, neue und womöglich noch unge¬
druckte Werke des Meisters.
In dem Begleitschreiben hebt er die beiden Eigenschaften hervor, die ihn
an dem Freunde besonders anzogen. Er rühmt seine reichen geistigen Gaben
und seinen feinen Takt. Noch größer aber war die Treue und Hingebung,
mit der Cäsarion die Freundschaft des Kronprinzen vergalt. Niemals hat
Friedrich einen enthusiastischem Verehrer gehabt; er wollte, wie ein Zeitgenosse
von ihm sagt, daß ein jeder ihn mit seinen Augen sehe, ihn kenne und liebe
wie er. Auch nach Friedrichs Thronbesteigung blieb Keyserling! in seiner un¬
mittelbaren Nähe. Der König ernannte ihn zu seinem Obersten und zu seinem
Generaladjutanten und — was Cäsarion sicherlich als eine besondre Ehrung
empfunden haben wird — bei Erneuerung der Akademie der Wissenschaften zu
ihrem Mitgliede. Erst mit vierundvierzig Jahren hat sich Keyserlingk den
eignen Herd gegründet. Am 30. November 1742 führte er die einundzwanzig-
jährige schöne und geistvolle Gräfin Eleonore von Schlieben, eine Tochter des
Oberjägermeisters Grafen Schlieben-Sanditten und Hofdame der Königin, heim.
Wie lebhaften Anteil der König an dem Glück des Freundes nahm, hat er in
sehr eigenartiger Weise bewiesen. Er dichtete zur Vermählungsfeier einen kleinen
Schwank, den er „Der Modenarr", 1s Liuxs as 1a Uvah betitelte. Man sucht
ihn vergebens in den Oeuvres Zu ?uno80vo.s as Lanssouei. Der König, ein
allzustrenger Kritiker, hat ihn ebensowenig wie seine andern dramatischen Kleinig¬
keiten für würdig gehalten, unter seine Werke aufgenommen zu werden. Erst
die akademische Gesamtausgabe hat ihn, nach dem wiederaufgefundnen Autograph
des Königs, ans Licht gebracht. Friedrich hat auch sonst wohl seine Muse bei
Hochzeiten von Verwandten und Freunden in Anspruch genommen. So hat
er seinem Bruder Heinrich bei seiner Vermählung im Jahre 1752 ein Epithalame
gewidmet und für seinen Bruder Ferdinand 1755 sogar eine kleine Oper, den
leavis als l'aiuour verfaßt. Bei der ungemein raschen Produktivität, über die
er verfügte, war es ihm ein leichtes, einige hundert Verse schnell hinzuwerfen.
Aber wie sehr sticht doch von dem konventionellen Ton, der in jenen beiden
Poemen herrscht, der Geist übermütiger Laune ab, der den Hochzeitsschwank für
Cäsarion durchweht. Nicht mit Unrecht schrieb Friedrich an Voltaire, dem er
das kleine Stück nicht vorenthielt, es sei der Extrakt aller Torheiten, die er
nur irgend habe zusammenstoppeln und zusammenflicken können.
Der Ort der Handlung ist Paris.
Die erste Szene führt uns geschickt in die Situation ein. Bardus, ein
alter berufsmäßiger Mucker, wie das Personenverzeichnis ihn nennt (seine Name
bedeutet soviel wie stuxiäus), klagt dem Vicomte Verville, einem Freunde seines
Neffen, die Sorgen, die ihm dieser mache. Wie habe er sich bemüht, ihn von
den Verirrungen zurückzuhalten, zu denen ihn sein Temperament und sein welt¬
liches Leben verlockten, aber er habe nur Zeit und Mühe verschwendet, „seine
Stunde ist noch nicht gekommen", seufzt er salbungsvoll. Verville meint,
Bardus habe es vielleicht nicht geschickt genug angefangen. Er hätte nicht so
offen gegen seine Vorurteile zu Felde ziehn sollen; statt ihn zu überzeugen
habe er ihn nur gegen sich aufgebracht. Bardus erwidert, daß er nur die
Pflichten erfüllt habe, die ihm durch die Rücksicht auf das Seelenheil und den
guten Ruf des einzigen Verwandten, den er noch habe (denn seine eignen Kinder
habe er früh verloren), diktiert worden seien. Sein Neffe habe ihm aber auf
die ernsten Vorhaltungen geantwortet: „Das mag alles zu der Zeit, als Sie
jung waren, gut und schön gewesen, aber heut ist es nicht mehr Mode, und
ich will vor allem modern sein." Er laufe lieber ins Theater und auf alle
Bälle, anstatt sich des Umgangs mit den geistlichen Freunden des Onkels zu
erfreuen. „Das können Sie ihm eigentlich nicht übelnehmen, meint Verville,
denn Ihr Freund, der AM Grand, sieht so unsauber aus, und German und
Atair, Ihre beiden andern Freunde, sind so von sich eingenommen, daß es eine
wahre Überwindung kostet, ihren weisen Lehren zu lauschen." Bardus gibt zu,
daß die äußere Erscheinung seiner beiden Freunde nicht eben imponierend sei.
Aber innerlich seien sie von solcher Heiligkeit, daß er fest überzeugt sei, sie
würden in hundert Jahren Wunder tun. Das einzige Mittel, das Bardus
jetzt noch kennt, seinen Neffen seinem zügellosen Leben zu entzieh», ist, ihn so
schnell wie möglich zu verheiraten. Er hat schon eine Wahl getroffen: Adelmde,
die Tochter der Gräfin Fervisane, die in dem Geruch größter Frömmigkeit
steht. Die Mutter habe ihr Grundsätze eingeflößt, die sie befähigen würden,
seinen Neffen wieder auf den rechten Weg zu bringen. Sie kommt eben aus
dem Kloster und ist die Einfachheit selbst. Noch nie hat sie ihr Gesicht mit
Schminke verunreinigt und noch keinen Pfennig für das Brimborium aus¬
gegeben, das zum Putz einer modernen Frau gehört. „Kurz, sie ist die
Jugend in eigner Person." Verville spricht Gedanken aus, die Friedrich oft
geäußert hat, wenn er erwidert: Sie haben Ihre Wahl getroffen, ohne ihn
selbst zu befragen? Er ist aber doch bereit, Bardus bei der Ausführung seines
Plans beizustehn.
Man müsse freilich geschickt zu Werke gehn und die Vorurteile des
jungen Mannes schonen. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß man immer
zum Ziel gelangt, wenn man den Charakter eines Menschen studiert und seine
Schwächen geschickt benützt.
Die zweite Szene zeigt uns den Neffen, den Marquis de la Faridondiere
(der Name hängt wohl mit lÄrck — Schminke zusammen), im Gespräch mit
seinem Diener Fröhlich (I^g. Rchouiss^iKZö). Er hat eben die neuen Bücher¬
schränke ausmessen lassen und zu seinem Schrecken gesehen, daß die 1500 Bände,
die er beim Buchhändler bestellt hat, sie nicht ganz vollständig füllen würden.
Der Buchhändler wird gerufen, und der Marquis bestellt bei ihm noch sechs
Ellen Bücher. Der Buchhändler ist in einiger Verlegenheit. Er habe dem
Marquis schon alles geliefert, was er nur von wertvoller Literatur in seinem
Laden gehabt habe. Jetzt habe er nur noch dreißig Exemplare von den Werken
Marivaux, hundert von denen Se. Pierres und ebensoviel von der Philosophie
M. Des Champs vorrätig. Aber diese habe er schon so lange auf Lager, daß
er nicht gewagt habe, sie dem Marquis anzubieten. Die Geißelhiebe, die
Friedrich hier austeilt, gelten literarischen Gegnern. Der Abbi Se. Pierre,
ein Schwärmer für den ewigen Frieden, hatte in einer Studie „Das politische
Rätsel" auf den seltsamen Widerspruch hingewiesen, daß der Verfasser des
„Antimacchiavell" nach kriegerischen Lorbeeren geize. Der Berliner Prediger
Jean Des Champs, einst Friedrichs Hausgenosse ins Rheinsberg, hatte in einem
Lehrbuch der Wolffschen Philosophie, von der sich Friedrich eben damals mit
Entschiedenheit abwandte, Voltaire verspottet. Ein Angriff, den der König bei
der Innigkeit der Beziehungen, die damals zwischen Potsdam und Cirey be¬
standen, gewissermaßen persönlich nahm. Vor allem aber wollte Friedrich, wie
er es auch sonst gern getan hat, die Abwendung der französischen Bühne von
der Charakterkomödie Molieres und die neue Richtung des Familienstücks, die
sich an die Namen Marivaux, Destouches und Nivelle de la Chansee knüpfte,
treffen.
Dem Marquis ist es ganz gleich, ob es Ladenhüter sind, die ihm der
Buchhändler empfiehlt, oder nicht. Wenn die Bücher hübsch eingebunden seien
(Marivaux und Se. Pierre in Maroquin), werden sie sich sehr hübsch aus¬
nehmen und eine Zierde des Bücherschranks sein. Jetzt geht aber auch kein
Atom mehr in die Bücherregale hinein, sagt er zum Diener. Dieser versteht
boums und meint, allerdings würde kein Mensch hineinkommen.
Friedrich hat sich hier, wenn ich die Vermutung wagen darf, vielleicht
in heiterer Laune selbst verspottet, hatte er sich doch als Kronprinz mit Duham
de Janduns Hilfe, ohne Vorwissen seines Vaters, eine Bibliothek von einigen
tausend Bünden zusammengebracht, ohne sie eigentlich ausnutzen zu können,
denn er konnte das Haus, worin sie aufgestellt war, nur verstohlen besuchen.
Sie ist dann, als der Vater hinter das Geheimnis kam, in Fässer gepackt und
nach Amsterdam geschickt worden, wo sie verkauft wurde.
Der Marquis hatte kaum Zeit, sich über deu Diener zu ärgern, weil dieser
dem hohen Geistesfluge, den sein Herr während seines nnn drei Wochen
dauernden Aufenthalts in Paris genommen hat, nicht folgen will; denn schon
kommt der Architekt mit den Plänen für das Landhaus, das sich der Marquis
bauen will.
Es war gerade die Zeit, wo in Friedrich selbst der Gedanke, sich in den
Weinbergen vor Potsdam ein Lusthaus zu bauen, greifbare Gestalt gewann.
Nichts fördert die Künste so sehr wie das Banen, sagt der Kunstmäcen herab¬
lassend, ganz im Stile Friedrichs, der der Meinung war, daß große Könige
auch immer große Baumeister seien. Und damit die Selbstironie unverkennbar
sei, läßt er den Baumeister, als er die Pläne ausbreitet, dem Marquis ver¬
sichern: „Sie werden wie ein König wohnen." Aber der Marquis hat vieles
an den Plänen auszusetzen. Vor allem wünscht er, daß der Empfangsraum
kleiner sei als die Wohnräume. Das würde dem Zweck der Räume wider¬
sprechen, meint der Baumeister. Aber das ist es gerade, was der Marquis
will, das ist neu, ungewöhnlich, paradox, mit einem Worte modern. Die Fassade
findet er zu einfach, er will sie in korinthischen Stil haben. Alles soll zu¬
gleich überladen und doch nicht schwerfällig sein.
Der verzweifelte Baumeister wendet ein, was er fordere, liefe ja allen
Regeln zuwider. Aber der Marquis setzt ihm auseinander: Was den Regeln
entspräche, könne nicht ungezwungen und leicht sein. Der Charakter eines Land¬
hauses aber ist gerade Leichtigkeit, Gefälligkeit. Es muß infolgedessen regel¬
widrig sein, wenn es seinen Zweck erfüllen soll. Er ist von der Größe seiner
Ideen selbst entzückt. Er findet, daß sich seine künstlerische Auffassung schon
sehr vervollkommnet haben müsse, wenn es schon so schwer sei, ihn zufrieden¬
zustellen. Den Architekten aber tröstet er herablassend: „Wenn Sie immer mit
Leuten zu tun haben werden, die so feinen Geschmack haben wie ich, werden
Sie in Ihrer Kunst große Fortschritte machen." Er erwartet nun seinen eng¬
lischen Lehrer, aber vergebens. Statt seiner kommt die Nachricht, er habe den
Spleen und habe sich soeben aufgehängt. Er lasse sich entschuldigen. Der
Marquis wundert sich weiter nicht darüber. Das würde ihm ganz ähnlich
sehen, meint er, denn er war ein richtiger Engländer. Aber wo bekomme ich
jetzt einen andern Engländer her! Denn Englisch muß ich lernen. Es ist jetzt
modern, Newton und Pope im Original zu lesen. Man erinnert sich, daß
Cäsarion für Pope schwärmte, und daß er in Königsberg mathematische Vor¬
lesungen gehört hatte.
„Ein Manu von Welt muß jetzt von Attraktionen, von Vakuum und von
Äquinoktinlsprüzessioneu sprechen können."
Was sollen uns diese Prozessionen? fragt der Diener. Der Marquis
gibt sich weiter keine Mühe, die Verwechslung aufzuklären, er bedauert nur,
daß er einen so fabelhaft dummen Menschen in seinem Dienst habe, und nimmt
statt der englischen Stunde seine Fechtübnng vor. Die Hofleute, die aus dem
Kriege zurückkehren (der erste Schlesische Krieg war soeben beendet), Werden ein
verteufelt inartialiiches Aussehen haben, und wenn das Mode wird, null ich
natürlich nicht hinter ihnen zurückstehn. Findest du nicht, daß ich in dieser
Pose beinahe wie „Turenne" aussehe? fragt er. den Diener. Von „Turenne"
hat dieser allerdings noch nichts gehört. Er versteht Wut risn und glaubt
sehr geschickt zu antworten, wenn er erwidert: Vyus g-vex 6s Wut <>t von3 —
voils ix? ivLkieuüiIö/ u rien. , ^ - ^ / / ^ '
Nun kommt Besuch: sein bester Freund, in dem er das Ideal eines
modernen Elegant bewundert, der Vicomte Belair (Stutzer) kommt, und sie
begrüßen sich ganz im Stile der Preziosen. „Zwei Tage, klagt der Vicomte,
habe ich dich nicht gesehen, welches Martyrium!" „Ich habe in diesen beiden
Tagen, überbietet ihn der Marquis, überhaupt nicht gelebt, sondern nur vege¬
tiert." Es war ein Lieblingsausdruck Friedrichs, den er hier dem Marquis
in den Mund legt, und sicherlich von sehr drastischer Wirkung, wenn er den
Vicomte enthusiastisch antworten ließ: „Vegetiert! das ist letzte Mode. Ich
werde bald selbst von dir lernen können. Du erkletterst mit einemmal den
Superlativ der Mode und wirst ihrem Großvater noch seine Frau abspenstig
machen."
Er ist entzückt davon, wie diskret der Freund Rot aufgelegt und wie
geschmackvoll er das Schönpflästerchen angebracht hat. Er ist aber mit seinem
sonst so gelehrigen Schüler unzufrieden, weil er in der Gunst der Schauspielerin
Julie so wenig Fortschritte gemacht hat. „Du mußt durchaus eine Geliebte
vom Theater haben, belehrt er ihn. Dein guter Ruf ist dahin, wenn du nicht
bald regelmäßige Beziehungen zu einer dieser Damen anknüpfst." Er wolle
ihm gern auch darin zur Seite stehn. Er werde ihn bei zwei oder drei sehr
erfahrnen Damen seiner Bekanntschaft einführen, die ihn in die Schule der
Galanterie nehmen würden. Sie haben seit fünfzehn Jahren keinen Verstoß
gegen die Mode getan und beherrschen überdies das Wörterbuch aller modernen
Ausdrücke mit großer Sicherheit.
Der Marquis ist etwas bedrückt darüber, daß er den Erwartungen des
Freundes noch nicht ganz entspricht. Er will sich nun um so mehr Mühe
geben, Juliens Gunst zu gewinnen. Eigentlich gefällt sie ihm ganz und gar
nicht. Er findet sie weder hübsch noch liebenswürdig. Aber wenn sie singt,
klatscht das ganze Publikum. Alle jungen Leute laufen ihr nach, und es ist
sein Ehrgeiz, ein Verhältnis mit einer Schauspielerin zu haben, die von allen
bewundert wird.
Ja, wollen Sie sie denn eigentlich für sich, fragt ihn der Diener, oder
weil sie dem Publikum gefällt? Das verstehst du nicht, antwortet der
Marquis. Es gibt eben hundert Dinge, die ein Mann von Welt tun muß,
nur weil sie Mode sind. Die Philosophie z.B. finde ich zum Sterben lang¬
weilig, und ich gestehe dir offen: „Ich verstehe gar nichts davon", aber man
würde auf der Straße mit Fingern auf mich zeigen, wenn ich nicht sagte: „ich
bin Philosoph", und mit philosophischen Ausdrücken um mich würfe. Ich ver-
stehe zwar ihre Bedeutung nicht, aber den „Jargon" habe ich mir doch glücklich
angeeignet. „Mühe genug hat es mich gekostet." Man muß eben den Geschmack
des Publikums respektieren. Der Diener beklagt ihn, daß er nicht seinen eignen
Neigungen folgen dürfe. „Seien Sie doch natürlich und selbst ein Original,
anstatt so schlechte Originale zu kopieren. Aber ich glaube, wenn wir ins Land
der Störche reisten, Sie würden sich einen langen Schnabel und große röte
Füße wünschen."
Sie werden von dem Onkel und Verville unterbrochen. Dieser geht gleich
bei der Begrüßung auf sein Ziel los. Er bedauert, die Einladung des Marquis
für den Abend nicht annehmen zu können, weil er bei Hofe sein müsse, wo
man die Hochzeit eines Freundes und die Verlobung eines andern feiere.
Außerdem solle er noch heute an fünf oder sechs verschiednen Stellen in der
Stadt sein, um als Zeuge bei der Unterzeichnung von Eheverträgen zu dienen.
Verwundert fragt der Marquis, woher es käme, daß auf einmal soviel Personen
von einer Leidenschaft für die Ehe befallen seien. Verville belehrt ihn, daß
es augenblicklich keinen Ort in der Welt gäbe, wo man sich so jung verheiratet
wie in Paris. Eine Frau ist jetzt das erste und notwendigste Möbel im Haus¬
halt eines jeden Mannes von Stand, und es gilt bei Hofe fast fut unanständig^
mit achtzehn Jahren noch nicht Vater zu sein.
Der Marquis ist zwar zuerst etwas mißtrauisch, weil Belair ihm noch
nichts davon erzählt hat. Aber als Verville ihm versichert, daß das eben die
neuste Mode sei, beschließt er sofort, auch dieser zu folgen. Einen Korb fürchtet
er nicht. Jeder muß ja selbst am besten wissen, was er wert sei, nur an ge¬
eigneten Bekanntschaften mit Damen fehle es ihm.
Verville weiß natürlich sofort Rat. Er kennt eine Dame, die vorzüglich
für seinen Freund passe. Aber als er ihm gerade die Vorzüge Adelaidens
beredt auseinandersetzen will, bringt der Diener, den der Marquis wieder mit
einem Billett zu Julie geschickt hat, eine zärtliche Antwort und eine Einladung.
Der Marquis ist in der grausamsten Verlegenheit. Soll er der Mode folgen,
die ihm Belair empfohlen, oder der, die ihm Verville als die allerneuste ge¬
priesen hat? Mit Schrecken sieht Bardus, der bisher nnr Verville hat operieren
lassen, daß der Fisch, den er schon im Netz geglaubt, wieder entschlüpfen will,
und sein Ärger bricht in heftigen Vorwürfen aus. Aber er muß sich von dem
indignierten Neffen den guten Rat geben lassen, er solle lieber selbst darauf be¬
dacht sein, seinen Ton und seine Manieren zu bessern, ehe er andre belehre. Es
werde ihm nicht gelingen, ihn in seinen modernen Anschauungen irrezumachen.
Er wolle lieber in jener Welt den Zorn des Himmels als das Gelächter der
Menschen in dieser Welt ertragen. Er könne überhaupt nicht begreifen, wie
ein Mensch von so spießbürgerlichen Ansichten in seine Familie komme.
Verville sucht die Sache wieder ins gleiche zu bringen. Bardus flüstert
er die ironische Bemerkung zu, daß er für einen frommen Mann doch zuviel
Galle habe. Den Freund beschwört er, doch auf den reichen Erbonkel mehr
Rücksicht zu nehmen, und stellt ihm in Aussicht, daß Bardus seine Börse weit
öffnen Würde, wenn der Neffe seine Wünsche erfülle und sich entschließe, sich
zu verheiraten. Er verläßt ihn mit Bcirdus, um die Gräfin und ihre Tochter
zur gemeinsamen Mahlzeit einzuladen. Er soll Adelaide sehen und dann selbst
urteilen.
Unschlüssig bleibt der Marquis zurück. Wieder und wieder wägt er beide
Moden gegeneinander ab. Da kommt ihm ein erlösender Gedanke. Wie, wenn
er beide Moden vereinigte, wenn er zugleich Adelaide zur Frau und Julie zur
Geliebten nähme? Die Idee begeistert ihn: Galanterie — Treue — Liebe —
Frau — Maitresse. Welche Verbindung! Darin liegt Kontrast, keine Spur von
Schwerfälligkeit, und ein wahrhaft philosophischer Sinn, der alles kosten, alles
genießen will und sich nicht auf einen einzigen Gegenstand kapriziert. Das ist
ohne Zweifel im höchsten Grade modern.
Der Anblick Adelaidens stimmt ihn freilich zuerst wieder etwas herab.
Er findet sie zwar sehr hübsch, aber keine Spur von Schminke, kein Schön-
pflästerchen; und wie ist sie angezogen, wie ist sie frisiert! klagt er. Wenn du
vor allem darauf Wert legst, meint der Freund, mußt du einen Puppenstock
heiraten. Ich rate dir, sie zu nehmen, ehe der Hof sie dir wegschnappt. So
entschließt sich denn der Marquis, seine Bewerbung vorzubringen, aber nur unter
einer Bedingung. Seine zukünftige Frau soll sich ausdrücklich verpflichten, sich
in allen Stücken streng nach der Mode zu richten.
Die Mutter macht einige Andeutungen von sehr vornehmen Personen, die
sich schon um Adelaideus Hand beworben hätten, ist aber offenbar sehr froh,
den Neffen des reichen Bardus zum Schwiegersohn zu bekommen.
Die wohlerzogne Tochter fügt sich willig dem Befehl der Mutter. Auf
die Forderung des Bräutigams, ihm Treue und Gehorsam gegen die Mode zu
geloben und ihm zu versprechen, jede Neuheit unbedingt nachzuahmen, erwidert
sie: „Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht, um Ihnen zu gefallen."
Wenn das, was du da verlangst, dir nur nicht einmal sehr leid tut, meint
der Freund lachend: die Moden in Paris sind nicht sehr vorteilhaft für Ehe-
männer. Sieh dich vor, sieh dich vor! Mit dieser Perspektive schließt das
übermütige kleine Stück.
Wer ist nicht bei der Analyse des Schwanks an den LourgWis 6<zntil-
bommo erinnert worden! Auch Monsieur Jourdain hat ja keinen andern Ge¬
danken, als jede Mode mitzumachen. Und wie der Vormittag des Marquis
zwischen Verhandlungen mit Buchhändlern und Architekten, englischer Stunde
und Fechtübungen geteilt ist, so erproben im LourZevis Kentilbomins Musik¬
meister, Tanzlehrer, Fechtmeister und ein Doktor der Philosophie nacheinander
ihre Künste an Herrn Jourdain.
Nicht weniger eng ist die Verwandtschaft mit den I'rsviöuses ricliculos.
Marquis und Vicomte begrüßen sich hier (Sz. 12) ganz ähnlich wie der Marquis
und Belair in unserm Schwank; sie überbieten sich in Komplimenten gegen¬
einander und die Damen so sehr, daß Madelou bewundernd misrnft: „Ihr
treibt Eure Artigkeit bis auf den äußersten Kulminationspunkt der Schmeichelei."
se"est P0N88VI- V0S vivilites jusqu'lux äerniers oonLns sis til tlsttsris.) Madelon
steht ihrem Vater so gegenüber wie der Marquis seinein Onkel. Sie findet
ebenfalls seinen Ton kleinbürgerlich los c^ne vous äitss in., est cku äsrniöi-
bourFeois. LinA« as 1a uroäo, 8<z. X: (üsla ost ein clernier bvurßeois) und
kann nicht begreisen, wie sie zu einem solchen Vater kommt. Sie versteigt sich,
wie der Marquis, zu der Vermutung, daß die Verschiedenheit ihrer Charaktere
nur auf einer Eheirruug beruht. Marotte, die Dienerin der ^rvoienses liäivulss,
hat genau so zu leiden wie KHouissauoe. Sie muß dieselben Schimpfworte
einstecken wie er, weil sie den hohen Stil, den ihre Herrinnen seit ihrer Ankunft
in Paris angenommen haben, nicht nachzuahmen versteht. Der Marquis empört
sich gegen den Zwang der Regeln wie Dorante in der Kritik der Frauen¬
schule (Sz. 7). Der fromme Bardus muß sich seines zornigen Polterns
wegen verspotte» lassen wie Orgon von Dorine <?art.uM II, Sz. 2). ^ki, vous
ße«8 clvvot>8 et vou8 vous viri?orlM. (Linge av In, Rocio: lies devot« no
cloivent pas svoir t»ut cle uft.) Doch erinnert die Stelle anch, wie man schon
früher bemerkt hat, noch mehr an Boileau, I^e I^utrin, Luant I, Vers XII:
In-ut, as üels entro-t-it as-us l'Las. Zur Zeichnung von un RHouissimvö haben
auch die ?einms8 sitvautss einen Zug beigesteuert Er versteht die Fremd¬
wörter seines Herrn gerade so falsch wie Martine, die aus ^nküz^o Anna-Liese,
aus Zramiuiurö Arg.mal-M6ro macht. Auch sonst erinnern manche Wendungen an
Moliere.
Der Name ^lgiu ist ans lövolss clef tsmuiks herübergenommen. Ich
habe an einer ander«? Stelle^ ausführlich über das Verhältnis Friedrichs des
Großen zu Moliere gehandelt. Er sah in ihm den Meister der Komödie über¬
haupt. Er lebte und webte in seinen Gestalten. Wie hätten sich da nicht in
seine eignen Lustspiele mancherlei Situationen und Wendungen aus Moliere
einschleichen sollen!
Aber so viel auch Friedrich, um seine eignen Worte zu gebrauchen, hier zu¬
sammengeflickt hat, so hat sein kleines harmloses Stück doch auch eine originelle
Bedeutung. Es finden sich bereits Ansätze zu Charakterfiguren, wie er sie
einige Jahre später in seinem »»gleich bedeutender» Lustspiel „Die Schule
der Welt" mit großem Geschick gezeichnet hat. Bardus — er hat den Namen
anch in der Lvols co inouclo wieder verwandt — und seine geistlichen Freunde
sind mit der Satire geschildert, mit der Friedrich so oft das Muckertum ge¬
geißelt hat. Man denke an den dicken Hofprediger in dem köstlichen visoours
sur los Ig»orWt8, der ebenfalls dem Jahre 1742 seine Entstehung verdankt.
(Oöuvrss XI S. 73.) Eben in den Novembertagen, in denen Friedrich sein kleines
Stück hinwarf, ist er gegen die Konventikel eingeschritten, die der Prediger
Schubert zu Potsdam abhielt. Er verbot ihm, künftighin „Erbauungsstunden"
in seinein Hause abzuhalten.
Adelmdenö Mutter hat schon einige leise Striche von der köstlichen
Figur der Mad. Argon in der Schule der Welt. Adelaide ist so erzogen, wie
nach Friedrichs Meinung ein junges Mädchen nicht sein soll. Bewußt oder
unbewußt hat er ihr einige Züge von der eignen ungeliebten Gattin gegeben.
Wohlerzogen, modeste eingezogen, so müssen die Frauen sein, hatte ihm sein
Vater geschrieben, als er ihm mitteilte, daß er die Prinzessin von Bevern-Braun-
schweig für ihn ausgesucht habe. Sie ist ein gottessttrchtiges Mensch, und das
M alles.. ^ ..^ ^ 'v^ /^ .-^
^ Friedrich hätte auf Adelaide anwenden können, was er Grumbkow gesagt
hat, als dieser die Frömmigkeit seiner Braut rühmte: „Mir wäre lieber, sie
könnte Molieres Ueolv dos teinrnes und Aos Ug-ris auswendig als Arndts
wahres Christentum." Leise klingen hier einige Thema an, die Friedrich in der
Voolk und andern Schriften ausführlicher erörtert hat. Die Frage, ob es recht
ist, über die Hand eines Kindes zu verfügen, ohne es selbst zu befragen; eine
Andeutung von den Gefahren, denen ein Mensch, der fremd in die Ehe geht,
ausgesetzt ist. Spott über die jungen Leute von vornehmer Abkunft, die zu
Hause bleiben, während die eisernen Würfel über das Schicksal des Vater¬
landes geworfen werden, ein Spott, der sich später in seinem berühmten Brief
über „Erziehung" zu herbem Tadel verhärtet hat. Doch das kleine Stück hat
auch eine ernste Tendenz. „Seid natürlich, selbständig", ist die Lehret die es
uns gibt. Es spielt in Paris, aber Friedrich hätte ebensogut, wie in seinem
spätern Lustspiel, den Schauplatz nach Berlin verlegen können, denn seine eignen
Landsleute sind es, denen er diese Mahnung zuruft. /
Trotz seiner enthusiastischen Bewunderung für die französischen Klassiker
hat Friedrich oft gegen die blinde Vorliebe für alles französische Wesen ge¬
eifert. Er fühlte sich im Innersten verletzt, daß die Pariser den Anspruch er¬
hoben, den Esprit gleichsam in Erbpacht genommen zu haben. Wie oft hat
er, zumal in spätern Jahren, seinen Spott darüber ergossen. Nirgends amüsanter
als in seinem ein Menschennlter später erschienenen komischen Epos vom
Konföderationskriege,*) wo er die Göttin Sottise den Ausspruch tun läßt:
„Paris ist das ungeheure Magazin des Esprit, es ist ja ein wahres Wunder^
aber tatsächlich noch nie vorgekommen, daß ein Mensch außerhalb der Grenzen
Frankreichs Esprit gehabt hat."
Einst hatte König Friedrich Wilhelm, als der Sohn von Küstrin aus die
Bitte an ihn richtete, wieder die Uniform anlegen zu dürfen, erwidert: „Was
gilt es, wenn ich dir recht dein Herz kitzelte, wenn ich aus Paris einen
inMrs cle Mes mit etlichen zwölf Flöten und Musiquebüchern, ingleichen eine
ganze Bande von Komödianten und ein großes Orchester kommen ließe, wenn
ich Franzosen und Französinnen, auch ein paar Dutzend Tanzmeister nebst einem
Dutzend xstits-mMrss verschriebe, so würde dir dieses besser gefallen als eine
Kompagnie Grenadiers; denn die Grenadiers sind doch, deiner Meinung nach,
Kanaillen, aber ein xetit-mattre, ein Französechen, ein bon wol, ein Musikchen
und Komödiantechen, das scheint was Nobleres, das ist was Königliches v'est
6iMS ä'un xrinoe." Aber allmählich hatte Friedrich gelernt, seiner enthusiastischen
Neigung für das französische Wesen engere Schranken zu ziehen. Namentlich
hat er im Ernst und Scherz das Vorurteil bekämpft, daß eine französische Reise
und eilt längerer Aufenthalt in Paris ein Haupterfordernis aller guten Erziehung
sei. Am witzigsten vielleicht in der Loolö an zwoncle, Akt III, Sz. I: Die lieben
Deutschen iocmZws (lermNns) schickten ihre Söhne nach Frankreich, um sich dort
Esprit zu holen. Aber was bringen sie aus ihrem Verkehr mit Theaterdaweu
und xstits-wMres mit? Höchstens eine neue Mode und die Neigung, fremde
Fehler und Lächerlichkeiten nachzuahmen. Es ist dieselbe Tendenz, die in dem
LinW lÄ ovale obwaltet. Überhaupt darf man sage», daß der „Modenarr"
eine Art Vorstufe zu dem ernstern Lustspiele von 1743 bildet; beide ergänzen
sich gewissermaßen. Während Friedrich in der I^ol-> alö. aeneis das Bild des
Weidmanns zeichnet, der ebensowohl über feine gesellschaftliche Formen wie über
eine vorzügliche, auf sorgfältiger Kenntnis der antiken und modernen Literatur
aufgebaute allgemeine Bildung verfügt, zeigt er uns in dem Lings et<z ig, moäö
die Karikatur dieses Weidmanns einen jungen Mann, der dadurch weltmännisch
zu sein glaubt, daß er jede Mode von Paris nachahmt.
Wer von den Zuschauern mochte ahnen, daß die jungen Gatten, vor denen das
übermütige Stück gespielt wurde, sobald für immer auseinandergerissen werden
würden. Kaum drei Jahre hat das Eheglück Keyserlings gedauert. Im Jahre 1744
schenkte ihm seine Gattin eine Tochter, der König selbst hob sie am 15. Juli aus der
Taufe und nannte sie wie die Braut seines schwankes Adelaide. Vier Wochen
später zog er abermals ins Feld, um zu behaupten, was er durch den ersten
glücklichen Krieg gewonnen hatte. Cäsarion konnte ihn nicht begleiten. Seine
Gesundheit, auf die er niemals Rücksicht genommen hatte, war seit längerer Zeit
schwankend. Heftige gichtische Schmerzen quälten ihn. Sein Zustand verschlimmerte
sich plötzlich. Am 13. August 1745 erlag er seinen Leiden.
Es war ein Verlust, der Friedrich ans Herz griff. „Als ich am 12. August
meinen letzten Brief an Sie richtete, schreibt er seiner mütterlichen Freundin,
der Frau von Camas, war meine Seele ruhig. Ich ahnte das Unglück nicht,
das mich treffen sollte." „Cäsarion ist nicht mehr", sagt er in einem den
„Manen des Freundes" gewidmeten Gedichte. „Hundert Dolche durchbohren
mein Herz, Ich hielt meine Seele für unempfänglich gegen jeden Schmerz. Aber
wie bitter habe ich mich getäuscht. Ich sehe den Tag, Cäsarion sieht ihn nicht
mehr. Ich bleibe allein zurück in dieser weiten Welt!"
>er heute vom Stilfser Joch hembkominend das stille Städtchen
Bormio mit seinen engen finstern Gassen, seinen verwitterten
und verwahrlosten Häusern betritt, der ahnt wahrlich nicht, daß
er sich an einer Stätte befindet, wo einstmals der Welthandel
vorüberflutete. Im Mittelalter, als Venedig den Levantehandel
! beherrschte, und Augsburg als dessen Vermittlerin für Deutschland
in höchster Blüte stand, war Bormio ein wichtiger Knotenpunkt dieses Handels¬
verkehrs. Die Karawanen der Snumrosse — an Fahrwege über die Alpen war
ja damals bekanntlich nicht zu denken —, die die Waren aus dem Venezianischen
und der Lombardei nach Deutschland beförderten, zogen teils vom Jseosee
durch das breite Val Canonica, teils aus Südtirol über den Tonalepaß nach
dem kleinen Orte Ponte ti Legno und gelangten von hier über den öden
Gaviapaß, den der Volksmund mit dem düstern Namen 'löLts, all nwrto
<Totenkopf) belegt hat, nach dem lieblichen Badeörtchen Santa Caterina am
Fuße der schimmernden Schncepyramide des Monte Tresero und durch das
schöne Tal des rauschenden Frodolfo nach Bormio. Von hier aus führte
ein noch heute erhaltner, steiler, in seinem obern Teile durch eingefügte
Baumstämme treppenartig angelegter Saumweg — daher der Name Loalv
(Treppen) — nach der tiefen Einsattlung des Sealepasses, der nördlich von
den großartigen Steilwänden der Cime ti Plator, südlich von dem Monte
delle Scale überragt wird. Der Scalepaß ist von zwei alten Türmen
flankiert, von denen der eine noch völlig erhalten ist, während man von dem
andern eine» Teil ausgebrochen hat — ein italienischer Schriftsteller nennt
es dg-rdarÄiliLlits —, um eine in der Nähe stehende kleine Kapelle damit
zu erbauen. Die beiden Wachtürme sollen nach der Volkssage ans der
Römerzeit stammen, in Wirklichkeit hat man nach der ganzen Bauart ihre
Entstehung in das Mittelalter zu versetzen. Sie dienten dazu, den Paßweg
zu schließen und zu verteidigen, wozu auch die in den Saumweg eingezogueu
Baumstämme so angeordnet waren, daß sie leicht herausgenommen werden
konnten, wodurch alsdann der Aufstieg gegen die Paßhöhe erschwert war.
Die beiden trotzigen Türme machen auf den auf dem alten Sanmwege zum
Passe emporklimmendeu Wandrer einen großartigen Eindruck. Hat man die
Lücke zwischen den Türmen erreicht, so genießt man einen unvergleichlichen
Ausblick auf die Ebene von Bormio, die Alpentäler Vnl ti Dentro und Val
Viola und die sie einrahmenden herrlichen Bergketten. Von hier oben senkt
sich der alte Handelsweg an dem schönen Scalesee vorüber sanft nach dem
hochgelegnen Val ti Fracke hinab und erreicht das winzige, aus einem ärm¬
lichen Wirtshaus? und wenigen Alphütten sowie einem alten Kirchlein be-
stehende Dörfchen San Giacomo ti Fracke, das — heute völlig einsam und
verlassen daliegend — einst als Station jenes internationalen Handelswegs
blühende Zeiten gesehen hat. Die kleine Kirche wird urkundlich schon im
Jahre 1287 erwähnt: ein Beweis für das hohe Alter dieser Ansiedlung. Wir
befinden uns hier an einer auch kriegsgeschichtlich berühmten Stätte. Auf
dem sich vor dem Dörfchen ausdehnenden weiten Wiesengrunde tobte am
31. Oktober 1635 eine blutige Schlacht, in der Herzog Heinrich Rohan, der
Führer eines französischen Heeres, im Verein mit einem Bündner Heerhaufen
unter dem im Dienst der Republik Venedig erprobten wilden Parteigänger
Jürg Jenatsch ein von General Fermamont befestigtes kaiserliches Heer nach
tapfrer Gegenwehr, namentlich der Reiterei, aufs Haupt schlug. Rohcmsche
Kriegskunst hatte nach einem wohlvorbereiteten Plan die Kaiserlichen von
allen Seiten umstellt. Wäre der französische Unterführer du Lande, der dem
Feinde durch Val Bruua von Osten her bei San Giacomo den Rückzug ab¬
schneiden sollte, rechtzeitig zur Stelle gewesen, so hätte dem kaiserlichen Heere
völlige Vernichtung und Gefangenschaft gedroht. So aber konnten sich die
Kaiserlichen durch das Val Mora in das Münstertal retten. Zweitausend
Tote ließen sie auf dem Schlachtfelde zurück. Die Leiche« blieben — so be¬
richtet der Geschichtschreiber Alberti — unbeerdigt liegen, bis der in dem
hohen Gebirgstal bald eintretende Schnee sie mitleidig bedeckte. Wenn jetzt
im Frühjahr der Schnee im Val Fracke schmilzt und sich die Wildhunde über
den Wiesengrund ergießen, den die Bewohner noch heute „Campo della
battciglia" nennen, werden mitunter Gebeine bloßgelegt, die Zeugnis geben
von der grausigen Blutarbeit, die vor Jahrhunderten hier getan worden ist.
In den einsamen, völlig unbewohnten Tälern, durch die die Trümmer des
kaiserlichen Heeres flüchteten, wurden bis in die Neuzeit verrostete Waffen ge¬
funden, die von dem Rückzüge herrühren.
Unweit von San Giacomo nach Osten hin durchschneidet der alte Handels¬
weg eine nackte steinige Hochebene, ans die die Gebirgswasser im Frühjahr
so ungeheure Schutt- und Geröllmassen herabwälzcn, daß der Graswuchs er¬
stickt wird. Sie bildet eine Wasserscheide zwischen dem Schwarzen Meer und
der Adria, indem die Wasser ostwärts nach dem Jnn und zur Donau ab¬
fließen, während sich der nach Westen strömende Bach in die Aoda und durch
diese in den Po ergießt. Von dieser Hochebene ab bogen die Warenzügc in
das schon zur Schweiz gehörende, feierlich-ernste Val Mora ein, um durch
dieses und das anschließende Val Bau nach dem Dorfe Santa Maria im
Münstertale Hinabzugelangen, von wo sie über Münster, Mals, Finstermünz,
Landeck und den Fernpaß ihre natürliche Fortsetzung nach Augsburg und den
andern süddeutschen Handelsemporien fanden. Wer heute in jenen verlassenen
Tälern umherstreift, die ohne Zweifel zu den einsamsten des ganzen Alpen¬
gebiets gehören, der möchte es, wenn es nicht urkundlich verbürgt wäre,
kaum glauben, daß hier einst reges Leben herrschte, die Rufe der Waren¬
führer schallten, und die mit kostbaren Erzeugnissen des Südens beladnen
Saumrosse sich ihren mühsamen Weg suchten. Und staunen muß fürwahr
ein jeder, der diesen teilweise noch heute vortrefflich erhaltnen Saumweg
wandert, mit welchem Scharfblick unsre Altvordern hier einen durchaus un¬
gefährlichen, wenig steigenden und fallenden, mitunter sogar fast ebenen Pfad
mitten durch das ödeste Hochgebirge herauszufinden gewußt haben!
Man wird dies sofort inne, wenn man die Höhenunterschiede ins Auge
faßt: Bormio 1225 Meter, Höhe des Scalepasses 1986 Meter. Von dort
fällt der Weg bis San Giacomo auf 1953 Meter, steigt sodann bis in die
Gegend der Alp Mora im gleichnamigen Tal auf 2087 Meter und erreicht
in der sanften Anhöhe des sogenannten „Dößradond" mit 2240 Metern
seinen höchsten Punkt, Von hier senkt er sich über Alp Clastra 1951 Meter,
Alp Bau 1732 Meter in das Münstertal hinab, dessen Talsohle er bei
Santa Maria in 1388 Meter Höhe erreicht. Es handelt sich also in der
Richtung von Italien her um die Steigung von 761 Metern von Bormio
bis zum Scheitel des Scalepasses, während von dort aus bis zur Talsohle
bei Santa Maria, auf eine Strecke von etwa zehn Wegestunden, nur ein
Höhenunterschied von 600 Metern besteht, der teils auf nahezu ebenem, teils
auf sehr unbedeutend steigendem und fallenden Wege zu überwinden ist.
Man vergleiche damit den Höhenunterschied zwischen Bormio — 1225 Meter —
und dem Stilfser Joch — 2755 Meter —, der 1530 Meter, mithin mehr als
das Doppelte beträgt! Angesichts dieser Tatsache wirft sich unwillkürlich die
Frage auf: Weshalb hat Osterreich seinerzeit 1^ Millionen Gulden auf den
Bau der Stilfserjochstraße, eines für die damalige Zeit unendlich kühnen und
schwierigen Werks, verwandt, anstatt den vorhandnen alten Saumweg, der
das Stilfser Joch umgeht, zu einer Kunststraße auszubauen, was mit weit ge¬
ringer Mühe und Kosten verknüpft gewesen wäre? Die Antwort kann nur
lauten: Weil der Saumweg das schweizerische Gebiet durchschneidet. Der
Kaiserstaat brauchte aber zunächst eine Militärstraße, um Truppen aus Tirol
und den rückliegenden Kronländern nach seinem unruhigen lombardisch-
venezianischen Königreiche werfen zu können, und da eine solche fremdes — nicht
österreichisches — Gebiet nicht berühren durfte, so blieb nichts andres übrig, als
den großen Meister des Straßenbaues, Carlo Donegani, der gerade dabei
war, die Wunderwerke des Splügener Passes zu schaffen, herbeizurufen,
damit er die Pläne für eine Straße über das ungeheure Massiv des Stilfser
Jochs entwerfe. So entstand die höchste und dabei eine der kühnsten Fahr¬
straßen Europas. Der alte Saumweg, über den einst der Welthandel ge¬
gangen war, blieb in seiner Vergessenheit liegen. Wird das auch in Zukunft
so bleiben?
Seitdem die Lokomotive der Vintschgciubcchn auf der Tiroler Seite des
Stilfser Jochs in Mals pfeift und Aussicht besteht, daß die zurzeit in Tirano
endigende italienische Bahn durch das Oberveltlin in absehbarer Zeit bis
Bormio durchgeführt wird, liegt der Gedanke nicht mehr fern, Österreich und
Italien an dieser Stelle durch einen Schienenweg zu verbinde«. Aber wie
die Lücke Bormio-Mals ausfüllen? An eine Stilfserjochbahu mit ihrem un¬
geheuern Tunnel, den sie fordern, und den gewaltigen Kosten, die ihre Er¬
bauung verursachen würde, denkt im Ernste wohl niemand. Am wenigsten
in Italien, das für öffentliche Arbeiten so wenig Geld übrig hat, daß es bis
jetzt noch nicht einmal allen seinen Gebirgsdörfern die Wohltat eines Fahr¬
wegs hat zuteil werden lassen, und dessen außerdem so gewaltige Aufgabe»
zur Vermehrung und Verbesserung der Schienenwege im Innern des Landes
harren, daß es an internationale Riesenbauten nicht denken kann. Das Loch
eines Stilfserjochtunuels würde ein zu großes Loch in die italienischen Staats¬
finanzen reißen.
Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt nahegerückt, das Augenmerk auf die
Pfadspur zu richten die die klugen Kaufleute des Mittelalters entdeckt
haben, um die Völkerscheide des Stilfser Jochs zu umgehn. Die Eisenstraßen
des neunzehnten Jahrhunderts sind ja meist den alten Post- und Handels-
Straßen gefolgt, warum nicht auch in diesem Falle? Ein Schienenweg von
Mals über Taufers, Münster, Santa Maria böte bei den oben geschilderten
Höhenverhältnissen bis nach San Giacomo hin kaum beachtenswerte Schwierig¬
keiten. Erst in der Durchbohrung des Bergrückens würden solche erwachsen,
über den der Scalepaß nach Vormio hinüberführt. Doch was bedeutet für
die heutige Technik die Erbauung eines Tunnels von wenigen Kilometern
Länge! Bei dem Scaletunuel wäre freilich mit der Möglichkeit eines Wcisser-
einbrnchs von oben her zu rechnen, denn der sich auf der Paßhöhe befindende
Sealesee soll unterirdische Abflüsse haben. Eine im Tale des Braulio ober¬
halb des alten Bades von Bormio aus der Felswand hervorbrechende starke
Wassermasse, vom Volke irrig Addaquelle genannt — die Adda entspringt in
Wirklichkeit sechs Stunden weiter nördlich am Alpisellapasse —, gilt als ein
Abfluß jenes Sees. Die Ingenieure wissen jedoch, wie zum Beispiel die Er¬
fahrungen beim Bau des Simplontnnnels gezeigt haben, auch dafür Rat.
Zweifellos würden die Kosten der Erbauung eines Schienenwegs von Mals
über San Giacomo nach Bormio nicht allzugroß werden, die Vorteile aber
bedeutend sein. Für das Veltlin, namentlich für dessen vom Verkehr heute
stark abgeschnittenen obern Teil, die alte Grafschaft Bornno, bräche eine neue
Zeit an.' Das Städtchen Bormio, das einstmals, als der mittelalterliche
Transithandel durch seine Mauern ging, zehntausend Einwohner zählte, während
es heute kaum noch zweitausend hat, würde von neuem aufblühen, seine be¬
rühmten, schon den Römern bekannten Heilquellen, ebenso wie die des benach¬
barten Badeorts Santa Caterina, wo heute fast uur Italiener die Kur ge¬
brauchen, würden von Kranken ans weiter Ferne her aufgesucht werden, die
sich jetzt der beschwerlichen weiten Reise wegen nicht dazu bequemen. Das
obere Äddatal würde der Sitz einer Industrie, die sich gegenwärtig bei dem
Fehlen eines Schienenwegs dort nicht ansiedeln kann. Ein Blick auf die Karte
läßt aber auch die größere, über das örtliche Interesse weit hinausgreifende Be¬
deutung einer Bahnverbindung aus dem Veltlin nach Tirol erkennen, namentlich,
wenn man berücksichtigt, daß die Fortsetzung der Vintschgaubahn von Mals bis
Landeck an der Arlbergbcchn beschlossene Sache ist, und daß sich Österreich und
Bayern geeinigt haben. Anschlußbahnen durch die bayrischen Alpen an die
Arlbergbahn herz»stellen.
Da ergibt sich denn eine neue gegenüber dem Umwege über Verona
und den Brenner kürzere Schienenverbindung Mailand-Collao-Tircmo-
Bormio-Mals-Landeck-Innsbruck und eine solche von Mals über Meran
nach Bozen sowie neue Anschlusse nach Bayern, sei es von Landeck über den
Fernpaß nach Reutte-Kempten-Augsburg-München oder von Zirl über
Mittenwald-Partenkirchen nach München. Was ist das anders, als das
Wiederaufleben des mittelalterlichen Handelswegs aus Oberitalien nach Süd-
deutschland mit Zuhilfenahme der modernen Verkehrsmittel! Zur Erbauung
der Bahn Bormio-Mals brauchten Italien und Österreich allerdings die
Zustimmung der Schweiz, deren Gebiet der neue Schienenweg von Münster
an der tiroler Grenze bis zum Ausgangspunkt des Val Morn in der Nähe
von San Giacomo durchschneiden würde. Doch von dieser Seite würden
Schwierigkeiten sicherlich nicht zu erwarten sein.
Das Zukunftsbild, das wir entrollt haben, wäre bei allen seinen Licht¬
seiten nicht uach jedermanns Geschmack. Da sind in erster Linie die Verehrer
einer wildromantischen Gebirgseinsamkeit, denen die Erbauung einer Eisen¬
bahn durch jenes entlegne Gebiet empfindlich ihre Kreise stören würde. Wer
die tiefernste Einsamkeit des Hochgebirges auf sich wirken lassen will, der
muß im Val Fracke und seinen Verzweigungen umherstreifen. Tagelang
trifft er keine menschliche Seele. Dort gibt es Schluchten und Felsenwildnisse,
die wohl nie eines Menschen Fuß betrete» hat. Es ist ein eigner Zauber,
der den einsamen Wandrer umfängt. Ein bekannter Weltreisender, der
schlesische Graf M., der in den Einöden Kleinasiens und der Mongolei zu
Hause ist, rief, als ich ihn in jener Gegend traf, ganz begeistert aus:
„Welch ein Glück, daß es im Herzen von Europa noch solche von der Kultur
unberührte Gegenden gibt!" Als Beweis ihrer grenzenlosen Verlassenheit
möchte ich anführen, daß ich das Gerippe eines Schafes, das ich auf der
oben erwähnten Hochebene bei San Giacomo dicht am Fußpfade liegen sah,
nach fünf Jahren an derselben Stelle wiederfand genau in derselben Be¬
schaffenheit wie früher, nur daß die kleinen Nagetiere die letzten Hautfetzen
beseitigt und Sonne und Schneewasser die Gebeine noch mehr gebleicht
hatten. Es wird wohl noch heute so daliegen!
Eine zweite Gruppe von Leuten, die von einer Eisenbahn durch Val Fracke
nichts wissen wollen, sind die Jäger. Die Gegend ist eben ein Jagdparadies.
Durch Val del Gallo streift der Birkhahn, dessen italienische Benennung <MI1o
6i wontkMg.) sich auf das Tal übertragen hat. Ans den gewaltigen Bergketten,
die Val Fracke umgürten, leben die Gemsen in großer Zahl. Sie sind so wenig
schen, daß man sie oft in der Nähe beobachten kann. So sah ich im Val Bruna ein
Nudel von zehn Stück, das in einer Entfernung von etwa 200 bis 250 Metern,
allerdings durch einen Abgrund von mir getrennt, ruhig äste und munter
umhersprang, ohne sich dnrch meine Nähe und sogar durch mein Rufen auch
nur im geringsten stören zu lassen. Endlich erscheint in diesen verlassenen
Tälern noch immer, wenn anch als seltener Gast, der Ursasse des Landes:
der Bär. Mein alter, inzwischen verstorbner Führer, im Nebenamte auch
Schmuggler, hatte im Laufe seines Lebens sechs Bären erlegt und einen
jungen lebendig gefangen, den ihm der italienische Minister Visconti Venosta
abkaufte, um seinem Könige Viktor Emanuel dem Zweiten einen unzweifelhaft
echten, italienischen Alpenbüren zum Geschenk zu machen. Dieses Jagdparadies
wird mit dem Augenblick zerstört, wo die Lokomotive durch Val Fracke pfeift.
Schließlich ist noch eine dritte Körperschaft zu erwähnen, deren Glieder,
ohne den geringsten Rechtstitel zwar, über Vernichtung ihres Handwerks
durch die Eisenbahn klagen würden: die ehrenwerte Zunft der italienischen
Schmuggler. Der eontrg,lzdg,Q<lo steht an der schweizerisch-italienischen Grenze
bei Bormio in hoher Blüte. Bieten doch die hohen italienischen Zölle auf
Kolonialwaren wie Kaffee, Tee,' Zucker, Schokolade, Tabak usw. «meist
eine Lira für das Pfund) einen gewaltigen Anreiz! Der heimlichen Schleich¬
pfade durch das unwegsame Hochgebirge gibt es so viele, daß die italienische
Zollverwaltung sie schlechterdings nicht alle überwachen kann. Neuerdings
hat sie zwar einen vorgeschobnen Zollwächterposten in San Giacomo errichtet,
doch was wird es viel helfen? Die Sympathie der Bevölkerung ist nun
einmal auf feiten der Schmuggler, und in Bormio und den umliegenden
Dörfern fehlt es nicht an gefälligen Leuten, die gegen entsprechende Gewinn¬
beteiligung die geschmuggelten Waren in den Kellern ihrer halbzcrfallnen
Häuser verschwinden lassen. Und die Ausrüstung der Schmugglerbanden kann
auf schweizer Gebiet so bequem und ungestört vonstatten gehn. Bin ich
doch selbst dabei gewesen, als eine aus fünf Köpfen, dem Anführer und vier
Trägern, bestehende Schmugglergesellschaft in dem Wirtshause eines ärmlichen
schweizer Grenzdorfes ganz offen und frei ihre Vorbereitungen zu dem gefähr¬
lichen Marsch über die italienische Grenze traf! Ich habe mit den Leuten an
demselben Tische gesessen und habe mit ihnen über die Einzelheiten ihres
sträflichen Handwerks gesprochen. Ohne die geringste Zurückhaltung erzählten
sie mir, welche Mengen und Gattungen von Waren sie bei sich führten,
welche Kriegslisten sie anwandten, um die italienischen Zollwächter an der Nase
herumzuführen, für welchen geringen Lohn sie eine um die andre Nacht ihr
Leben aufs Spiel setzten. Nur den Namen ihres Patrone, ihres Brodherrn,
des dunkeln Ehrenmannes, der drüben in Italien im trocknen sitzt und sich
vom Angstschweiß dieser armen Teufel mästet, den nannten sie nicht, denn
so verlangt es, wie der Anführer mir mit Stolz sagte, die Schmugglerehre!
Mit diesem blühenden Erwerbszweig hat es ein Ende, sobald der Schienen¬
weg das Veltlin mit Tirol verbindet. Dann wird es lebendig in den jetzt
so stillen Gebirgstälern, es bilden sich neue Ansiedlungen, der Verkehr hebt
sich, kurzum es fehlen die Bedingungen für die Ausübung des stillen, heim¬
lichen Handwerks.
Doch die Adda wird noch manchen Tropfen Wassers in den Comer See
hinuntertreiben, ehe der erste Spatenstich an der Bahn von Bormio nach
Mals getan wird. Die Schwärmer für unentweihte Gebirgsromantik, die
Jäger und die Schmuggler brauchen eine Störung ihrer Interessen auf Jahre
hinaus noch nicht zu fürchten. Fragt man in Bormio, ob und wann wohl
ein Schienenweg nach Tirol gebaut werden wird, so erhält man die heitere,
zu nichts verpflichtende Antwort: Li^mors, olu lo sa!
»> n Neusiedel, einer mittlern Stadt Thüringens, war großes Begräbnis.
Herr Alfred Rumpelmann, einst in Firma Rumpelmann und schweiget,
der reichste Mann der Stadt, war gestorben und wurde mit allem
Pompe, den Neusiedel aufzubringen hatte, auf dem Stndtfriedhof be¬
grabe». Von dem Turme des fernen Domes hörte man über alle
! andern Glocken hinweg die Stimme der großen Glocke, und von
der Spitze des Trcmerzuges, der sich schon weit draußen vor der Stadt befand,
vernahm man einzelne knarrige Töne des Trauermarsches, den die „Färschtlichen",
womit die Jxhäuser Kapelle gemeint war, spielte. Es war ein endloser Zug. Vorn
ein schwankender, blumiger Aufbau, über dem ein paar Fächerpalmen-Blätter schmerzlich
zuckende Bewegungen ausführten, dann eine lange Reihe schwarzer Zylinder, zwischen
denen sich einzelne Helme ausrechnen wie Schwefelkieskristalle in einer schwarzen
Metallstufe, und dann an Hochzeits-, Trauer- und andern Kutschen, was die Stadt
aufzubringen hatte.
Man war schon eine halbe Stunde unterwegs, und die Unterhaltung innerhalb
des Zuges war in bestem Gange. Vor uns schreiten zwei Herrn, die der bessern
Gesellschaft angehörten, aber die bessern Jahrzehnte ihres Lebens hinter sich hatten.
Herr Major von Kuhblank und Herr Assessor Markhof. Es muß bemerkt werden,
daß beide Herren außer Dienst waren.
Na ja, sagte der Herr Major als Schlußwort zu einer längern Erörterung,
sterben müssen wir alle einmal. Und mitnehmen kann kein Mensch, was er hier
zusammengeschrapt hat.
Rumpelmann soll ein Testament hinterlassen haben, sagte der andre.
Wird er doch wohl, er hatte ja weiter nichts zu tun, als sein Testament zu
machen und wieder umzustoßen. Und Verwandte hatte er ja Wohl auch nicht.
Ist richtig, sagte der Herr Assessor, der Amtsrat meinte, man werde staunen,
wenn das Testament geöffnet würde.
Dacht ich mir, antwortete der Major. Mich solls wundern, was der selige
Rumpelmcmn ausgeknobelt hat, jedenfalls was ganz Verrücktes. Ein Magdalenenstift
oder eine Nvrdpolexpedition oder sowas.
Weiß keiner, sagte der Assessor.
Wo waren Sie denn gestern abend? fuhr der Major nach einer Weile fort,
man sah Sie ja nicht im Schützen. Wohl bei Wnhnfriedchen?
Bei wem?
Na, bei Frau von Seidelbast.
Gott soll mich bewahren.
War großer Zauber da. Znknnftsmusik! Verzückung! Die Lorach soll da
gesungen haben. Natürlich überirdisch. Ich dachte, Sie wären ein Bayreuther.
Im Sommer, ja. Aber im Winter, wenn das Dresdner Ensemble da ist,
gehe ich ins VariLte.
Donnerwetter! Kann man denn das?
Warum nicht? Loge ist durchaus anständig. Und diese Lulu, sage ich Ihnen,
ein Teufelsweib — Rasse. Mein Gott, man hat ja hier nichts in diesem Jammer-
neste, nicht einmal ein anständiges Theater.
Wir übergehn die ernste Feier, die ergreifenden Worte, die der Herr Archi-
diakonus am Grabe sprach, die Schlußhymne, in der Rumpelmann als Rosenknöspchen
im Wasserglase beweint wurde, die Nachrufe, die in großen schwarzen Vierecken
reihenweise im Tageblatte aufzogen, und kommen zu dem Tage, an dem der Herr
Stndtmnsikdirektor Krebs seiner Ehegattin den Haushahns an den Kopf warf.
An diesem Tage las die erstaunte Bürgerschaft im Tageblatts unterm Lokalen
die Mitteilung, daß der selige Rnmpelmcmn der Stadt 600000 Mark zum Bau
eiues Theaters vermacht habe, und in einem besondern Leitartikel eine Betrachtung
über Bürgcrkronen, die der verdiene, der die Stadt mit einem so hochherzigen Legate
von 600000 Mark bedacht habe. Man forderte zur Nachfolge auf. Und die
Stadt werde sich der Pflicht nicht entziehen können, dem Verstorbnen, der sich
stets als ein echter Bürger von Nensiedel erwiesen habe, ein Denkmal in den An¬
lagen zu setzen.
Die Bürger, namentlich die Wortführer der Parteien, lasen diese Ergüsse des
patriotischen Tageblattes mit verhaltnen Atem und waren ungewiß, ob sie an
ihren zugehörigen Stammtischen in Jubel oder in Wut ausbrechen sollten. Denn
das eine wie das andre hing davon ab, ob aus dem Ban des Theaters ihnen
oder den Ihrigen ein Vorteil oder ein Schaden zu erwarten war. Und darüber
war man sich noch nicht in? klaren.
Aber Frau Laura Krebs, die geschäftskundige Ehefrau des Herrn Stadtmnsik-
direktors, war sich darüber ohne weiteres klar, daß ein neues Stadttheater das
Geschäft ihres Mannes schädigen werde. Sie sah mit klarem Blicke, daß, wenn
ein Theater gebaut würde, in dem es nicht zieht oder raucht, alle ihre treuen
Kunden der Mittwochskonzerte ins Theater gehen würden, und daß diese Konzerte
dann noch leerer werden würden, als sie ohnedies schon waren. Frau Laura
Krebs war eine tüchtige Frau nud die Seele des Geschäfts ihres Mannes, der,
wenn er nüchtern war, und mehr noch, wenn er einen getrunken hatte, mehr die
künstlerisch-ideale Seite der Sache vertrat. Frau Laura hatte „meistens immer"
Recht und dazu die Gabe, es mit höchster Beredsamkeit zu beweisen, wie sehr sie
Recht habe. Man hatte glauben mögen, daß der weise Snlomo sie im Auge ge¬
habt habe, als er den Spruch tat: Die Zunge einer bösen Frau ist wie eine Trttnfe
im Winter. Und darunter litt ihr lieber Mann, wenn er nüchtern war, und mehr
noch, wenn er einen getrunken hatte.
Lange war die Mittagszeit vorüber, als Krebs mit rotem Kopf, verklärten
Mienen und auf etwas unsichern Beinen nach Hanse kam. Er hatte sich den üblichen
Frühschoppen geleistet, und dieser war in Ansehung der Theaterschenknng zu einer
Festsitzung geworden. Er, Krebs, war der Mittelpunkt einer begeisterten Tafelrunde
gewesen, man hatte ihm als dem zukünftigen Kapellmeister des Theaters gratuliere,
er hatte, geschmeichelt durch die Aussicht auf den Platz vor dem Souffleurkasten,
eine Bowle gestiftet und hatte den Rest dieser Bowle, als sich die andern zu Tisch
begeben hatten, allein ausgetrunken. Jetzt kam er in rosiger Laune, aber auf un¬
sichern Füßen nach Haus, ließ sich in die Sofaecke fallen und rief: Das Theater
soll leben. Alte!
Die Alte war schlechter Laune über das Theater, über das versäumte Mittag¬
essen und über das Geld, das der liebe Mann offenbar wieder einmal vertrunken
hatte, und schwieg.
Das Th —eater soll leben, Alte! wiederholte Krebs.
Das war unvorsichtig, denn er konnte sich sagen, daß sich Frau Laura nicht
vergeblich herausfordern ließ, und daß sie, einmal losgelassen, schwer wieder einzu-
fangen war. Sie stellte denn auch die Arme in die Seiten und erwiderte mit
dem Ausdrucke der Verachtung: Du Schafkopp, das Theater soll meinetwegen der
Teufel holen.
Dd — as Th —eater soll leben! rief Krebs mit lauterer Stimme und indem
er mit der Faust auf den Tisch schlug. Neusiedel wird einen k—ünstlerischen Auf¬
schwung nehmen. W—ir w —erden Operette und O—per haben. Und ich
w — erde Kapellmeister oder wenigstens K—onzertmeister. Und d — nur wird eine
neue Zeit anbreche». Die Kunst wird den Menschen s—Sö—sittlich veredeln, und
ich werde fünfhundert Taler Gehalt kriegen.
So? das Wirst du? erwiderte Frau Krebs. O, du Schafkopp. Ich will dir
sagen, was werden wird: nichts wird werden. Die Fürstlichen aus Jxhausen
werden sie dir vor die Nase setzen, denn das sind anständige Leute, aber du bist
ja alle Tage betrunken.
Ich b — ille mir Rr—use aus.
Und wie es mit den Mittwochskonzerten werden wird, will ich dir auch sagen.
Ins Theater werden sie laufen, und dann kannst du die leeren Stühle ansiedeln.
Der Verdienst ist jetzt schon, daß sich Gott erbarme. Aber hernach kannst dn auf¬
packen und auf die Dörfer zieh». Aber da wollen sie dich auch nicht mehr haben,
wegen deiner Faselei von Kunst, und weil du dich in allen Orten betrinkst. — Und
so weiter im einförmigen Gusse der Dachtraufe.
Diese Rede fiel dem Direktor auf die Nerven, um so mehr, als diese Nerven
von dem Morgenschoppen angestrengt worden waren. Er versuchte es, Einhalt zu
tun, aber seine Zunge war viel zu schwer, als daß sie mit der Zunge seiner lieben
Frau den Wettlauf ausgehalten hätte. Frau Laura zog das ganze Sündenregister
ihres lieben Mannes, verweilte bei jedem Punkte mit liebevoller Ausführlichkeit
und kam auf die Hauptstücke zum zweiten- und zum dritteumcile zurück. -— Und
wenn du mich nicht hattest, fuhr sie fort, was sollte aus deinem Geschäfte werden?
Und was sollte aus Frau und Kindern werden? Und die Schusterrechnung ist
auch noch nicht bezahlt, und von Jonasscn ist wieder eine große Notenrechnung
eingelaufen. Und wie ich den Haushalt bestreiten soll, wo die Einnahmen alle
Tage kleiner werden, und das Fleisch alle Tage teurer wird, das weiß der liebe
Gott. Und da kommst du her und machst ein Gesicht, als wenn du das große
Los gewonnen hättest, und sagst, das Theater soll leben. Schämst du dich denn
nicht der Sünde?
Krebs hatte es aufgegeben, die Redeflut seiner lieben Frau mit Worten zu
dämpfen. Er griff unter das Sofa und holte einen seiner Pantoffeln vor, drohte
und rief: Ich b—ille mir Rrr — übe aus. Und da das nichts half, warf er den
Pantoffel seiner lieben Fran an den Kopf. Der Pantoffel tat keinen Schaden, er
flog an Frau Lauras Kopf vorüber und gegen den Glasschrank, das heißt gegen
eine Stelle, wo schon früher einmal die Scheibe in Scherben gegangen war, und wo
man die Scheibe durch einen Papvdsckel ersetzt hatte. Frau Laura erschrak zwar
und duckte sich, kounte aber auch jetzt noch nicht ihrer Rede Herr werden. Als
aber Krebs zum zweitenmale unter das Sofa griff, zog sie sich in die Küche
zurück. Und Krebs schloß kaltblütig hinter ihr zu, kehrte in seine Sofaecke zurück
und betrachtete tiefsinnig die Tischplatte. Und dabei rang sich bei ihm aus dein
Nebel unbestimmter Hoffnung nach und nach die schmerzliche Erkenntnis durch, daß
seine Frau, wie immer, so auch diesmal leider Recht haben werde, daß es mit dem
Theaterkapellmeister nicht so sicher sei, wie er sich eingebildet habe, und daß das
Theater seine Mittwochskouzerte schwer schädigen müsse. Nach einer Stunde erhob
er sich schwerfällig, schloß die Küchentür auf und begab sich zur Probe.
An demselben Nachmittage hatten die Schüler der Unterprima keine Lust, sich
mit Horaz zu beschäftigen. Die maßgebenden Persönlichkeiten der Klasse hatten
am Abend vorher einen langen Kripp gehabt und litten an den Folgen zuviel
genossenen Bieres. Man beriet, wie mau es anfangen sollte, den Herrn Professor
zu veranlassen, statt übersetzen zu lassen, „einen Schmus" zu halten. — Kinder!
rief Kuno Brand, der Sohn des Bürgermeisters, wir müssen den Cato — das
war der Spitzname des Professors — auf das neue Theater bringen.
Famos! entgegnete der Chorus. — Und dann müssen wir fragen, sagte ein
andrer, ob er in das Theater gehen werde, wenn seines Schwiegersohns „Ver¬
lornes Paradies" aufgeführt werde.
Unsinn, wurde geantwortet. Ihr wißt doch, daß er allemal die Laune ver¬
liert, wenn von seinem Schwiegersöhne die Rede ist.
Na, dann schlagt etwas andres vor.
Nein, sagte Kuno Brand, wir müssen ihn auf das griechische Theater bringen.
Wir müssen fragen, ob er glaube, daß das neue Theater in Neusiedel einen eben¬
solchen sittlichen Einfluß auf die Bevölkerung ausüben werde wie das Dionysos¬
theater auf Athen.
Jawohl! jawohl! rief der Chorus. Und du, Primus, mußt die Sache vor¬
tragen.
Der Primus, dessen Charakter zu solide war, um an solchen Aufträgen Ge¬
fallen zu finden, trug Bedenken. Aber da trat der Cato schon in die Klasse, setzte
sich stöhnend auf dem Katheder nieder und schlug den Horaz auf. Es dürfte nicht
zu kühn sein, wenn wir annehmen wollten, daß auch dem Herrn Professor nicht
allzuviel am Übersetzen gelegen war. Überdem waren nicht alle Knöpfe seiner Weste
zugeknöpft, was als ein gutes Zeichen galt.
Der Primus erhob sich respektvoll und sagte: Herr Professor, wir haben unter
uns eine Frage behandelt, die wir nicht haben beantworten können.
So, Bhevlitz? erwiderte der Professor. Dhaa —. Was haben Sie dhenn
dha «verhandelt! Es ist mir übrigens lieber, wenn Sie etwas Ernstes besprechen,
als wenn Sste Dhummheiten machen.
Herr Professor, sagte Berlitz, es steht doch in der Zeitung, daß wir ein neues
Stadttheater haben werden. Da haben wir uns die Frage vorgelegt, ob wohl unser
Stadttheater einen ebenso sittigenden Einfluß auf die Stadt ausüben werde wie
das Dionysostheater auf Athem
Sso? Wie denken Ssie sölch denn eigentlich dhiesen ssittigenden Einfluß des
Dionysostheaters auf Athen?
Aber, Herr Professor, sagte Berlitz, der steht doch fest. Perikles und über¬
haupt die Blüte von Athen ist doch ohne Äschylus und Sophokles nicht zu
denken.
Dhaa haben Ssie Recht, Bherlitz, erwiderte der Professor. Zeige mir dein
Theater, und ich will dir ssagen, wer du bist. — Nun war der Professor in seinem
Fahrwasser. Das griechische Theater war sein Spezialstudium> und es waren seine
glücklichsten Stunden, wenn er die Schleusen auftun und seine Begeistrung für jene
ideale Zeit und ihr ideales Theater ausströmen lassen konnte. Er zeigte den Zu¬
sammenhang der dramatischen Kunst mit dem Kultus der Götter, er ließ die Chöre
thyrsusschwingender Bacchanten, den Thespiskarren und die Sänger und Schau¬
spieler vorüberziehn, er gestaltete den Berghang zum Koilou, dem Zuschauerraume,
mit seinen kreisförmigen Sitzplätzen, die Zellwände, die dem Schauspiele zum Hinter¬
grunde dienten, zur Bühne. Er benannte die Tore und Zugänge zur Steile und
der Orchestra, er erbaute die Thymele, den Altar des Dionysos in der Mitte der
Orchestra, er bevölkerte die Sitzreihen mit. dem Athemlöcher Volke, unten in ernsten
Reihen die Priester, Archonten und Thesmotheten, droben die bewegliche, leiden¬
schaftliche Menge, ein Bild buntesten Lebens unter dem blauen griechischen Himmel.
Er zeichnete den tragischen Verlauf der Geschicke der Atriden und der Herrscher
von Theben, er ließ aus dem Tore der Fremde Agamemnon und sein Gefolge auf¬
treten, ließ sie die purpurgeschmückten Stufen zum Logeion, der Bühne, hinauf¬
steigen in den gewissen Tod. ließ Kassandra stockenden Schrittes folgen, ließ
Klytämnestra aus der stygischen Pforte auftauchen, ihre Todeswunde zeigen und
die Eumeniden auf die Fährte ihres Sohnes Hetzen, ließ das Wehgeschret eines
Ödipus ertönen und Antigone gramvoll vorüberziehn, ließ den Chor seine Gesänge
und Gegengesänge halten und fördernd oder hemmend in den Gang der Handlung
eingreifen. Er ließ den Abend hereinbrechen und das Spiel unter Gesang und
Tanz bei Fackelschein und Opferrauch zu Ende gehn. Und Athen ging tiefbewegt
von dem Wehruf seiner Helden und von der Allgewalt des waltenden Geschicks
nach Hause. — Ssehen Sie, Bherlitz, fuhr der Professor fort, dhas war ein Theater,
keine Quasselbude, ssondern eine Erziehungsstätte für Männer. Keine Nervenkitzel¬
anstalt, ein Heiligtum, in dem man den Göttern diente, in dem der Mensch durch
fremde Schuld und fremdes Weh über die eigne Schuld und eignes Leid empor¬
gehoben ward. Katharsis! Verstehen Sie? Katharsis! Eine Kultusstätte im
höchsten Sinne des Wortes. Wie singt Ovid?
Überssetzen Ssie, Seidelbast.
Seidelbast übersetzte: Geniale Künste gelernt zu haben.
Sseidelbast, Ssie ssind ein geniales Kamel. Edle Künste gelernt zu haben,
einheimische Künste, nicht fremde, minderwertige Ware aus Paris! Edle Künste
zu verstehn macht aus Barbaren gebildete Menschen. Meinen Sie, Bherlitz — der
Professor verhandelte, wenn er seine Klasse anredete, immer mit dem Ersten, wie
wenn dieser, ähnlich wie im englischen Parlamente, der Sprecher der Versammlung
gewesen wäre —, meinen Ssie, Bherlitz, daß unser Theater eine Stätte inAsnuarura
MriuiQ sein werde?
Nein, Herr Professor.
^ Ssehen Ssie. Was wird man uns vorsetzen? Kadelburg, Moser, Suder¬
mann, Ibsen, Shaw. Pfui Teufel! Was wird man bringen? Operetten, Posten,
Ehebruchsgeschichten, günstigenfalls Alt-Heidelberg und das Weiße Rössel. Ist das
ein Theater? ist das eine Sache, der man ohne Reue ein paar Stunden opfern
kann? Das rechte Theater soll der Ort sein, wo die Stimme der Gottheit ver¬
nommen wird, wo die Schritte des Schicksals hallen, wo die eindringliche Klage
des Leids ertönt, wo das Herz erbebt vor dem Gewaltigen, Unabwendbaren.
Äschylus, Sophokles, ich lasse mir noch Shakespeare und Schiller gefallen, was
darüber ist, ist vom Übel. Meinen Ssie, Bherlitz, daß unsre guten Bürger
Katharsis empfinden werden, wenn sie das Theater verlassen? Nein, Hunger.
Oder vielmehr Durst nach einem Schoppen Spatenbräu. (Jubelnder Beifall.)
Meinen Sie, daß unsre häkelnden und Kaffee trinkenden jungen Mädchen im
Theater lernen werden, Heldenmutter zu werden? Sie werden sich in die Lieb¬
haber auf der Bühne verlieben. (Brüllender Beifall. Trampeln mit den Füßen.)
Dhaa! — Nun aber wird es Zeit, daß wir an unsre Ode kommen.
Herr Professor, sagte Berlitz, es wird gleich ausklingeln.
Sso? Nun, es ist kein Schade, daß wir uns eine Stunde beim griechischen
Theater aufgehalten haben. Aber nehmen Sie sich eine Lehre daraus, gehen Sie
nie in eins dieser modernen Sudelstücke. Es verdirbt die Menschen, uso Sinn
«öff InAömios. Ssie ssind nicht wert, von Ohren gehört zu werden, die den Wohl¬
klang des griechischen Anapäst vernommen haben. Versprechen Sie mir das.
Berlitz erhob sich feierlich, erhob die rechte Hand und sagte: Ich verspreche
es im Namen der Klasse.
Nun klingelte es. Der Herr Professor schlug sein Buch zu und stieg vom
Katheder herab wie Cato von der Rednerbühne, nachdem er abermals beschlossen
hatte, Karthago zu zerstören. Darum hieß er auch der Cato. Mit seinem bürger¬
lichen Namen — wir haben das noch nicht gesagt — hieß er Professor Doktor
Theodor Icilius.
Die Primaner, die beabsichtigt hatten, eine Stunde in süßem Halbschlafe zu¬
zubringen, waren nicht zum Schlafen gekommen, sondern hatten mit Aufmerksam¬
keit zugehört. Und der kleine Barries rieb sich seine etwas breit gefesselte Hinter¬
seite und sagte: Donnerkiel, der Cato ist aber ein Kerl. Und er fand keinen
Widerspruch. (Fortsetzung folgt)
Wie alljährlich um die Weihnachtszeit ist in diesen Tagen auf dem politischen
Schauplatz eine gewisse Ruhe eingekehrt. Nicht überall freilich ruhen die Waffen
und schweigt der Lärm, und heutzutage sind die Fäden der Weltpolitik so vielfach
hin und her gespannt, daß Ereignisse, die wir sonst unbeachtet gelassen haben, jetzt
ein mehr oder weniger lebhaftes Interesse in Anspruch nehmen müssen. Wer hat
früher danach gefragt, wenn in einem der südamerikanischen Kreolenstaaten eine
Revolution ausgebrochen war? Wir nahmen solche Nachrichten mit einem ver¬
ständnisvollen Lächeln entgegen, denn Leute, die Bescheid wußten, hatten uns be¬
lehrt, daß Revolutionen dortzulande zum Nationalsport gehöre», daß dabei sehr
viel Pulver verkrallt und ein wenig Blut vergossen wird, im übrigen aber alles
beim alten bleibt, wenn auch neue Namen an Stelle der frühern Würdenträger er¬
scheinen. Das ist jetzt anders geworden. Venezuela hat die Abwesenheit seines
langjährigen Präsidenten Cipriano Castro — er weilt zurzeit in unsrer Reichs¬
hauptstadt — benutzt, die Regierung zu stürzen, und dieses Ereignis wirft
bezeichnend genug seine Wellen bis in unsre europäischen Verhältnisse hinein.
Castro hat in der Zeit seiner Amtsführung nacheinander mit allen möglichen Gro߬
mächten angebunden. Zuerst mit Deutschland und England; man erinnert sich,
wie beide Mächte die Anerkennung ihrer Rechte vor sechs Jahren durch eine
Flottendemonstration erzwingen mußten, und wir sogar zur Beschießung einer
Küstenbefestigung zu schreiten genötigt waren. Als dritte gekränkte Großmacht,
die sich damals allerdings mehr zurückhielt, kam Italien hinzu. Bemerkenswert
bet diesen Händeln war vor allem, daß die Vereinigten Staaten von Amerika mit
eifersüchtigen Auge alle diese Vorgänge verfolgten und bestrebt waren, das Prinzip
der Monroedoktrin in einer Ausdehnung, die man früher nicht gekannt hatte,
praktisch zur Geltung zu bringen. Dadurch erst erhielten die Vorgänge eine welt¬
politische Bedeutung. Auch wurde es ein nicht zu übersehendes Kennzeichen der
damaligen Lage, daß die erregte öffentliche Meinung in England in ihrer feind¬
seligen Stimmung gegen Deutschland so weit ging, sogar an diesem ganz zufälligen
Zusammengehn mit Deutschland Anstoß zu nehmen, obwohl es sich gar nicht um
politische Angelegenheiten, sondern um die Durchsetzung privatrechtlicher Forderungen
handelte, die Deutschland und England zugleich gegen jene entlegne Macht zu er¬
heben hatten. Venezuela hat damals seine Schulden bezahlt und mit uns Frieden
gehalten, seitdem aber wieder Differenzen mit Frankreich und ganz neuerdings mit
Holland angefangen. Der französischen Republik hatte die überseeische Schwester
die geforderte gründliche Genugtuung vorzuenthalten gewußt, und mit Holland
haben sich die Dinge sogar bis zur Kriegserklärung zugespitzt. Das alles, weil
man in Venezuela darauf rechnet, daß europäische Mächte im Fall eines kriegerischen
Konflikts ihre Interessen nicht rücksichtslos und beliebig weit verfolgen können, ohne
mit den Vereinigten Staaten als Wächtern der Monroedoktrin in Konflikt zu geraten.
Diese Erwägung hat freilich Castro nicht gehindert, auch der großen Republik im
Norden recht respektwidrig die Zähne zu zeigen, als es ihm so beliebte. Nun hat
er, um einen deutschen Arzt zu konsultieren, europäischen Boden aufgesucht, als vor¬
sichtiger Mann nicht ohne die Gelder, die ihm zur Ausrüstung wider alle Fähr-
lichkeiten der unbekannten Zukunft nötig schienen. Die Wirkung dieser Abwesen¬
heit trat pünktlich genug ein, so pünktlich, daß man dem Leidenden nur wünschen
kann, die Verordnungen der von ihm befragten ärztlichen Autorität möchten ebenso
wirken. Man hat in Caracas seine Regierung gestürzt, woraus freilich noch
nicht folgt, daß man sie nicht wieder aufrichtet, wenn das Schiff, das den ge-
fürchteten kleinen Mann in seine Heimat trägt, in den Hafen Von La Guaira ein¬
läuft. Einstweilen wird sich die neue Regierung, wenn der bisherige Vize¬
präsident Gomez endgiltig die Präsidentschaft behalten sollte, mit Holland ver¬
ständigen und vielleicht auch die Beziehung zur nordamerikanischen Union enger
knüpfen, als es der selbstbewußte und eigensinnige Castro über sich gewinnen
konnte. Wir stehn der politischen Seite dieser Entwicklung durchaus kühl gegen¬
über und wünschen nur, daß unsre Handelsbeziehungen aufrechterhalten bleiben.
Natürlich ist auch dieser Wunsch nicht nach dem Geschmack unsrer Mitbewerber und
Neider, und deshalb werden bezeichnenderweise auch diese Ereignisse von Eng¬
land aus benutzt, gegen Deutschland Mißtrauen zu erregen. Man weist darauf
hin, daß Castro in Frankreich kühl und unfreundlich behandelt, in der deutschen
Reichshauptstadt dagegen besonders freundlich — richtig wäre es, zu sagen: mit
der korrekten Gastfreundschaft, die wir dem Oberhaupt eines mit uns in normalen
Beziehungen stehenden Staates schulden — aufgenommen wurde. Von der Fest¬
stellung dieser Tatsache bis zur plumpen Verdächtigung Deutschlands ist bei ge¬
wissen englischen Blättern von bekanntem Charakter nur ein Schritt.
Dank der Arbeit der englischen Hetzpresse in diesen und ähnlichen Fällen ist
die Nervosität in England augenblicklich wieder sehr groß, und auch vernünftige,
ernsthafte und anständige Blätter können sich dieser Stimmung anscheinend nicht
entziehn. Selbst eine Zeitung von der Bedeutung der Morning Post ist in jüngster
Zeit nicht davor zurückgeschreckt, sich lächerlich zumachen, indem sie Nachrichten von
dem geheimnisvollen Erscheinen deutscher Kriegsschiffe vor Kopenhagen brachte.
Diese im Stil der Seemannsmärchen vom fliegenden Holländer aufgeputzten Ge¬
schichten hatten einen direkt visionären Charakter.
Was sollen wir nun solchen Albernheiten gegenüber tun? Der größte Fehler,
den wir begehn könnten, wäre, wenn wir angesichts der in England herrschenden
Nervosität selbst nervös würden. Wir sollten also weder von den törichten Hetzereien
über das Maß der notwendigsten Abwehr hinaus Notiz nehmen oder sie gar er¬
widern, noch irgendwie den Versuch machen, die unfreundliche Gesinnung gegen
uns durch stürmisches Liebeswerbeu zu wandeln. Was zur Annäherung der beiden
Völker geschehen kann, ist nur eins: daß die verständigen und politisch gebildeten
Kreise in beiden Ländern, womöglich vor allem solche, die einen Einfluß auf weitere
Kreise auszuüben vermögen, einen der gegenseitigen Aufklärung dienenden Verkehr
miteinander aufrecht erhalten, und daß man diesen Beziehungen eine möglichst un¬
gestörte Nachwirkung in der Stille sichert. Freilich darf man sich auch nicht so¬
gleich beirren lassen, wenn besondre politische Konstellationen das auf diesem stillen
Wege erreichte vorübergehend wieder in Frage zu stellen scheinen. Das Schlimmste
sind solche Einwirkungen, wie sie bei dem Kaiserinterwiev zutage getreten sind.
Doch darüber haben wir uns früher eingehend ausgesprochen, und wir brauchen
darauf nicht zurückzukommen. Man kann im allgemeinen wohl die Regel aufstellen,
daß Annäherungen an andre Völker niemals darin bestehn dürfen, daß man durch
Freundschaftsbezeugungen und Bekehrungsversuche direkt auf Stimmungen und Ge¬
fühlsmomente zu wirken sucht. Möglich wird eine Annäherung immer nur, wenn
die realen Interessen der Völker sie gestatten, und in solchem Falle kann eine ent¬
gegenstehende Stimmung allerdings überwunden werden, aber nur durch eine lang¬
same Aufklärungsarbeit, die durch die Stimmungshindernisse hindurch und über sie
hinweg die Erkenntnis der wahren Interessen allmählich reifen läßt.
Es besteht kein Zweifel, daß sich die Durchschnittsmeinung in England heute
einbildet, die britischen Interessen würden durch Deutschland gefährdet, geschädigt
oder zu schädigen versucht. Mau darf aber dabei nicht vergessen, daß dieses Mi߬
trauen nicht nur durch die Vorstellung eines dauernden, eingebildeten Interessen¬
gegensatzes genährt wird, sondern auch einen Rückhalt ein der Tatsache findet, daß
die erwähnte Vorstellung unter bestimmten Zeitverhältnissen ein bequemes Mittel
darstellt, um andre politische Zwecke zu erreichen. Und gerade aus diesem Grunde
noch mehr als um der Stimmung in England willen werden wir auf längere Zeit
Hinaus noch damit zu rechnen haben, daß die europäische Lage durch den deutsch¬
englischen Gegensatz beherrscht wird, ohne daß dies eine direkte Gefahr für den
Frieden bedeutet.
Wie sich die orientalische Frage entwickeln wird, ist noch immer nicht ganz
klar. Wie groß die Schwankungen sind, zeigt sich darin, daß zwischen der Türkei
und Österreich-Ungarn die Beziehungen langsam einer Verständigung näherkommen,
obwohl die gegen den österreichischen Handel gerichtete Boykottbewegung in der
Türkei noch fortdauert, ja sich hier und da zu verschärfen scheint. Und dabei
waren die Verhältnisse doch vor einiger Zeit schon so weit gediehen, daß der Ab¬
bruch der diplomatischen Beziehungen jeden Augenblick erwartet wurde. Dagegen
spitzen sich die Verhältnisse zwischen der Türkei und Bulgarien, die sich vor kurzem
noch über Erwarten glatt zu entwickeln schienen, gegenwärtig einmal wieder mehr
und mehr zu, sodaß es wirklich manchmal danach aussieht, als werde es zu einem
kriegerischen Zusammenstoß kommen. Aber die Wolkenbildungen in diesem Wetter¬
winkel Europas brauchen nicht immer zu einem Gewitter zu führen, das sich in
Donner und Blitz entlädt; es ist möglich' daß es der europäischen Diplomatie noch
gelingt, die Wolken zu zerteilen. Für uns ergibt sich daraus nur die praktische
Folgerung, in ruhiger Beobachtung im Bunde mit Österreich-Ungarn alle Momente
zu stärken, die zu einer friedlichen Entwicklung beitragen können, selbst aber in jeder
Beziehung genügend gerüstet zu bleiben.
^ Zu dieser Sicherheit sollen wir nun auch durch das große Werk beitragen,
das uns in unsrer innern Politik beschäftigt. Augenblicklich ruht die Arbeit an der
Reichsfinanzreform, aber diese Pause, die zu einer Abschätzung des bisher geleisteten
und der Aussichten für das noch zu leistende auffordert, läßt uns zu keinem er¬
freulichen Ergebnis der Betrachtung kommen. Man muß freilich zugeben, daß eine
großzügige Finanzreform die schwerste Aufgabe ist, die einem Parlament überhaupt
gestellt werden kann. Es ist das Gebiet, auf dem die Unvernunft der Wählermassen
am leichtesten und stärksten mit dem Gebot des Gemeingeistes und des Staats¬
interesses zusammenstößt. „In Geldsachen hört die Gemütlichkeit auf" — ist ein
Lieblingswort spießbürgerlicher Weisheit, und die Gemütlichkeit des Durchschnitts¬
wählers gebietet ihm, den Egoismus des einzelnen und allenfalls die nächstliegenden
Kirchturminteressen zum Maßstab der Beurteilung zu nehmen. Der Wähler fordert
von dem Volksvertreter absolutes Mißtrauen gegenüber alle» Anforderungen, die
ein seinen Geldbeutel gestellt werden. Es gehört deshalb für einen Parlamentarier,
namentlich wenn er selbst demokratischen Grundsätzen huldigt, viel Charakterstärke
dazu, in Finanzfragen den weitschauenden Standpunkt einzunehmen, der bei
einer grundsätzlichen Regelung der Reichsfinanzen unerläßlich ist. Gar zu leicht
drängen sich die Grundsätze herein, die für die Etatsberatuug maßgebend sind.
Da gilt es natürlich, die Notwendigkeit jeder einzelnen Ausgabe zu prüfen und
dann zu fragen, ob zur Bestreitung dieser absolut notwendigen Ausgaben die
Heranziehung aller der Einnahmequellen erforderlich ist, die das Gesetz zu benutzen
gestattet, ob hier und da Erleichterungen der Lasten ratsam sind, oder ob eine andre
zweckmäßige Verwendung der verfügbaren Einnahmen vorzuziehn ist. Wenn aber
der Reichstag bei der grundsätzlichen Regelung der Einnahmequellen des Reichs an
einer Prüfung des augenblicklich zu berechnenden Bedarfs nach den kurzsichtigsten
Erwägungen stecken bleibt und immer nur der bloße Etatskünstler bleibt, der die
Wichtigkeit der Aufgabe gar nicht erfaßt, dann kann man wohl von starker Besorgnis
ergriffen werden. Besonders wenn man Wert darauf legen muß, daß die Reform
nicht nur überhaupt, sondern insbesondre durch die Verständigung der Konservativen
und der Liberalen gesichert wird.
Von der Fähigkeit des Reichstags, diese Aufgabe zu lösen, hängt es ab, ob
die Novemberkrisis dem deutschen Volke zum dauernden Nutzen gereichen wird oder
nicht. Denn schließlich ist es nur das wirkliche Vermögen, etwas zu leisten, das die
Verteilung der Gewalten im Staat über alle Äußerlichkeiten und Kunststücke der
Gesetzfabrikation hinweg regelt.
Eine neue Hiobspost aus Südwestafrika hat uns der Draht gerade zum
Fest auf den Weihnachtstisch gelegt. Im Südosten der Kolonie an der englischen
Grenze haben verschiedne Überfälle von Hottentottenbanden stattgefunden, wobei
eine Reihe von Farmern und Soldaten ums Leben kamen. Eine treffliche Illu¬
stration zu den in dem jetzt verflossenen Jahr unter dem Widerspruch zahlreicher
Kenner der Verhältnisse vorgenommenen Truppenverringerungen I Nun haben wir
wieder einmal die Bescherung. Es war doch bekannt, daß zahlreiche Hottentotten¬
banden auf englisches Gebiet übergetreten waren. Es war auch bekannt, daß der
Aufstand jenseits der Grenze von gewissen Interessentenkreisen mit Scotty Smith an
der Spitze wenn nicht finanziert, so doch mindestens durch materielle Begünstigung
der Aufständischen in die Länge gezogen worden ist. Wir wollen nicht auf das
eigenartige Verhalten der englischen Regierung bei Beginn des Aufstands, die die
Aufständischen als kriegführende Macht anerkannte, nochmals näher zurückkommen.
Denn sie hat wenigstens versucht, durch Unschädlichmachung Morengas diese allem
Rassebewußtsein hohnsprechende Entgleisung wieder gut zu machen.
Man hat aber nichts davon gehört, daß sich die englische Regierung energisch
für die Praktiken jener Händlerkreise interessiert hätte, und man mußte sich daher
bei uns zu gelegner Zeit eines teilweisen Wiederauflebens des Aufstandes im
Süden der Kolonie versehen. Trotzdem ist die Truppe offenbar zu stark verringert
worden, noch ehe die neugebildete Landespolizei auch nur annähernd ihre Sollstärke
erreicht hat. Im Kolonialamt wird offenbar allzusehr in Opportunitiitspolitik ge¬
macht. Ersparnisse um jeden Preis, Etatsverringerungen auf der ganzen Linie, das
ist auch diesmal wieder die Signatur des soeben dem Reichstag vorgelegten Kolonial¬
haushalts. Sparsamkeit allein tuts nicht, sie muß auch den tatsächlichen Verhält¬
nissen angemessen sein, sonst läuft sie Gefahr, als Leichtsinn angesprochen zu werden.
Unsre Volksvertreter werden sich diesmal hoffentlich die verringerten Positionen
genau ansehen und erwägen, ob diese gesparten Summen nicht im folgenden Jahre
in Gestalt von neuen Belastungen, verursacht durch die Folgen falscher Sparsamkeit,
auf der andern Seite doppelt und dreifach erscheinen könnten. Denn unsre Ansiedler,
die sich im Vertrauen auf unsern Schutz niedergelassen haben, und unsre Soldaten
müssen uns zu gut sein zu Versuchskarnickeln für Etatskünste. Das möchten wir
namentlich gewissen Kolonialkünstlern im Reichstag ins Stammbuch geschrieben
haben. Itsiv: sie mögen immer an die beiläufig 30 Millionen und die Tausende
von Menschenleben denken, die uns die Verzögerung der Eisenbahn Lüderitz-
bucht-Keetmannshoop gekostet hat! Es wird auch danach zu fragen sein, ob unsre
Regierung von der englischen gewisse Garantien für die übergetretnen und nicht
ausgelieferten Aufständischen verlangt hat. Es sieht nicht so aus. Ich kann mich
n-icht völlig der Berechtigung der in den Hamburger Nachrichten vertretenen An¬
schauung — so phantastisch sie klingen mag — verschließen, daß nämlich die jüngsten
Überfälle in einem gewissen ursächlichen Zusammenhang stehn können mit der unver¬
kennbaren Nervosität und Eifersucht südafrikanischer Diamanteninteressenten wegen
unsrer Diamantenfunde. Solche Dinge sind nicht unerhört in der Geschichte der
südafrikanischen Politik.
Um so energischer werden wir jetzt darauf dringen müssen, daß man sich
englischerseits energisch an den Aufräumungsarbeiten an der Grenze beteiligt. Jetzt
muß endlich etwas Durchgreifendes geschehen, denn so kann es nicht weitergehn.
Hier handelt es sich nicht bloß um eine jener Räubereien, die nach oft gehörter
offiziöser Ansicht noch ab und zu vorkommen werden, sondern hier handelt es sich
offenbar um einen wohlorganisierten, lcmgerhcmd vorbereiteten Überfall größern
Stils und um die Frage, ob die weitere Besiedlung des Südens der Kolonie über¬
haupt zugelassen werden darf. Unsre Truppe tut wahrhaftig voll und ganz ihre
Pflicht und leistet das Menschenmögliche. Aber gegen das. was jenseits der Grenze
zusammengebraut wird, kann sie nicht ankommen. Dem muß in Berlin vorgebeugt
werden. Das erforderliche Material ist ja an amtlicher Stelle vorhanden. Staats¬
sekretär Dernburg hat sich bei seinem Besuch in Britisch-Südafrika mit den dortigen
Machthabern über die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der beiderseitigen Gebiete,
über friedliche Überbrückung der Grenze durch Eisenbahnanschluß usw. unterhalten.
Hoffentlich hat er auch über die Solidaritätspflichten der weißen Rasse, über Simon
Copper und die Geschäftspolitik gewisser Händler an der Grenze gesprochen! Wenn
er gegen die faulen Manöver dieser Dunkelmänner ebenso sauer reagiert hätte, wie
manchmal zu Hause gegen wohlmeinende Kritiker, so sollte man meinen, daß er in
dieser Richtung etwas erreicht hätte. Aber vielleicht erfahren wir darüber noch
Näheres im Reichstag. Denn man muß sagen, daß sich seine Reise sonst als recht
erfolgreich erwiesen hat.
Überhaupt gehts im übrigen mit Südwest recht erfreulich vorwärts. Die
Besiedlung ist in vollem Gange, und die Farmer gehen ab wie die warmen
Semmeln, namentlich im Norden, wo im Augenblick nicht mehr allzu viel ver¬
messenes Land zur Verfügung steht. Doch darauf werden wir demnächst in einem
besonderen Aufsatz zurückkommen. Südwest hat den Vorteil, daß es einen Gou¬
verneur hat. der selbst Landwirt und mit Kopf und Herzen bei der Sache ist.
Es wäre recht gut, wenn man auch in den andern Kolonien bei einem Gouverneurs¬
wechsel an die guten Erfahrungen, die man mit der Wahl des Herrn v. Schuck-
mann gemacht hat, denken und einen Gouverneur hinaussenden würde, der prak¬
tisches Verständnis für die Landwirtschaft hat.
Ein kleines Pflaster auf die durch die oben erwähnten Hiobsposten geschlagner
Wunden bilden die neusten Meldungen über die Diamantenfunde. Es scheint
immer mehr, als ob diese Funde recht aussichtsvoll wären und zum mindesten
einen recht netten Zuschuß zur Wirtschaft unsrer Kolonie verhießen. Wenigstens
sprechen sich schon eine Reihe von Kennern der Verhältnisse in diesem Sinne aus.
Das Gouvernement hat die Interessen des Fiskus durch Einführung von Lizenz¬
gebühren und eines Wertausfuhrzolles von zehn Mark pro Karat wahrgenommen.
Die Interessenten haben natürlich Weh und Ach geschrien über diese Belastung.
Das ist nun mal so Sitte im wirtschaftlichen Leben. Da aber nach Ansicht von
Fachleuten dieser Zollsatz den Verhältnissen durchaus angemessen ist und bei Zu¬
grundelegung von fünf Mark Produktionskosten und dem letztnotierten Preis von
29 Mark immerhin den netten Gewinn von rund fünfzehn Mark übrig läßt, so
kann man vorläufig über diese Klagen wohl zur Tagesordnung übergehn.
Über Kamerun und Togo ist nichts Neues von Belang zu sagen. Beide
haben sich im verflossenen Jahre in zufriedenstellender Weise weiter entwickelt. Aus
die Einzelheiten werden wir nach Erscheinen des amtlichen Jahresberichts zurück¬
kommen. Der soeben vorgelegte Etat bietet kein allgemeineres Interesse.
In Ostafrika ist nunmehr die längst erwartete Arbeiterverordnung vom
Gouvernementsrat angenommen worden. Allerdings unter scharfem Protest gegen
einzelne Bestimmungen, die die negrophile Politik des Herrn von Rechenberg allzu
deutlich hervortreten lassen. Die Ansiedler wollten wenigstens einmal eine Regelung
der Arbeiterverhnltnisse haben, und der Gouvernementsrat wollte daher die Sache
nicht durch Ablehnung einzelner Bestimmungen aufhalten. Wenn der endgiltige
Wortlaut der Verordnung vorliegt, werden wir uns im einzelnen damit beschäftigen.
Aus dem bis jetzt bekannten scheint immerhin hervorzugehen, daß die Ansiedler
nicht ganz Unrecht haben. Einzelne Bestimmungen sehen verzweifelt danach aus,
als ob in erster Linie das Interesse der Arbeitnehmer wahrgenommen werden
müßte, und als ob die Verordnung vorzugsweise ein Instrument zur Kontrolle der
Pflanzer wäre. Wie gesagt, wir behalten uns nochmalige Würdigung vor.
Den zahlreichen berechtigten Klagen über seine Politik gegenüber ist Herr
von Rechenberg bemüht, sich für eine „gute Presse" zu sorgen. Als die neue
offenbar ultramontan infizierte Deutsch-ostafrikanische Rundschau ins Leben trat, um
„einem dringenden Bedürfnis", wenigstens des Gouverneurs, abzuhelfen, entzog
Herr von Rechenberg der altbewährten, aber leider manchmal unangenehm offnen
Deutsch-ostafrikanischen Zeitung die Publikation der amtlichen Bekanntmachungen
und die amtlichen Lieferungen und überwies sie der neuen Rundschau, die sich sichtbar
befleißigt, nicht „anzustoßen". Kommentar überflüssig. Einstweilen ist die Usambara-
Post noch da, die nicht minder offenherzig, aber in Magenfragen nicht so empfind¬
lich ist wie ihre Daressalamer Kollegin. Sie wird ihre Pflicht tun, bis eines
Tages wohl die Rundschau mit Herrn von Rechenberg von der Bildfläche ver¬
schwinden wird.
In Samoa sollen, wie aus trüber australischer Quelle verlautet, die Ein-
gebornen aus Verdruß über die im letzten Jahre erfolgte Beschneidung ihrer Selbst¬
verwaltung nicht übel Lust zu einem Pulses haben. Offiziös ist diese Nachricht wie
üblich dementiert worden, und wir glauben gern, daß dies von Rechts wegen ge¬
schehen ist. Bei den Australiern, die die Südsee als ihre Domäne betrachten und
gern alle andern Mächte hinausekeln würden, ist aber wohl der Wunsch der Vater
des Gedankens gewesen, und darum erscheint es uns doch wünschenswert, der Sache
einige Beachtung zu zollen und den Eingebornen nicht allzu großes Vertrauen
zu schenken. Ein Zweites ist noch zu beachten. Die nordamerikanische Pazifikflotte
hat neulich Samoa die Ehre ihres Besuches erwiesen. Wir wollen den Amerikanern
gewiß keine perfiden Absichten unterschieben, aber immerhin werden sie bei dieser
Ehrung ein wenig von dem Wunsch geleitet gewesen sein, den Smnoanern zu zeigen:
seht, was für tüchtige Kerle wir sind! sintemalen wir eine solch imposante See¬
macht in der Südsee leider noch nicht präsentieren konnten, und die Samoaner be¬
sonders viel Sinn für äußern Glanz haben, so wird diese Wirkung nicht ganz aus¬
geblieben sein, um so mehr als von dem frühern vorherrschenden Einfluß der Ver¬
einigten Staaten auf den Samoanischen Inseln noch recht viel amerikanisches zurück¬
geblieben ist, z. B. die Sprache. Wir haben also alle Veranlassung, die Samoaner
von der Macht des Deutschen Reiches zu überzeugen, damit sie uns im Falle von
europäischen Verwicklungen keine Schwierigkeiten machen.
Nun haben die Samoaner gegenwärtig noch durch unsre Gnade ein etwas
gefährliches Spielzeug, die Tita-Tita, eine eingeborne Schutztruppe, gebildet aus
Häuptlingssöhnen und bewaffnet mit deutschen Militärgewehren. Wir meinen, im
Gedanken an etwaige Unruhen müßte uns wegen dieser Truppe angst und bange
werden, denn wir sind nicht in der Lage, ihr eine weiße Truppe entgegenzustellen,
denn auch die Polizeitruppe besteht aus Samoanern. Und bis die Stationsschiffe
eintreffen, kann viel passieren. Die Samoaner können auch weniger harmlos sein,
als sie sich gewöhnlich geben. Verschleime Marinegräber aus der Zeit der Er¬
werbung der Kolonie geben Zeugnis davon. Es wäre eine Beruhigung für alle
Kolonialfreunde, wenn die Tita-Tita durch eine weiße Truppe ersetzt würde, die
auch nicht viel mehr kosten würde. Für die Samoaner ließe sich sicher eine andre
Gelegenheit finden, ihrer Neigung zu Prunk und äußrer Repräsentation zu frönen.
Sonst gibts in der Südsee im Augenblick wenig neues. Dasselbe ist hin¬
sichtlich Kiautschou der Fall. Wir hoffen aber, in der nächsten Rundschau mit¬
teilen zu können, daß unser Kolonialbesitz im allgemeinen im verflossenen Jahr
erfreuliche Fortschritte auf wirtschaftlichem Gebiet unter dem Einfluß Dernburgischer
Verwaltung aufzuweisen habe, die mancherlei Unglücksfälle in Südwest und Un¬
Präsident Roosevelt hat während seiner Amtsperiode so starken Einfluß auf
die Wirtschaftsgesetzgebung Amerikas ausgeübt, daß die Bedeutung der Präsidenten¬
wahl für das Wirtschaftsleben wenn möglich noch gesteigert worden ist. Amerika
übt heute auf die gesamte Weltwirtschaft einen so starken Einfluß aus, auf den
Geldmarkt, den Kapitalmarkt und den Warenmarkt in gleicher Weise, daß die Welt
an einer ruhigen Entwicklung des amerikanischen Wirtschaftslebens das größte
Interesse hat. Für Deutschland war die Präsidentenwahl, die am 3. November
stattfand, in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung.
Zunächst wird jede Wahl, gleichgiltig, ob Republikaner oder Demokraten
Aussicht auf Erfolg haben, von den bekannten Newyorker Großspekulanten als will¬
kommner Anlaß zu Spekulationen in größtem Stile betrachtet. Bei den engen Be¬
ziehungen, in denen die Newyorker Börse zu allen europäischen Börsen steht, können
diese Börsenmanöver nicht ohne Wirkung auf die Kursgestaltung in Europa bleiben.
So hat auch diesmal die Spekulation, obwohl der Ausgang der Wahl nicht
zweifelhaft sein konnte, die öffentliche Meinung eine Zeit lang irregeführt, es gelang
ihr, den Ausgang der Wahl als zweifelhaft hinzustellen und dadurch Verwirrung
zu schaffen.
Von weit größerer Bedeutung war jedoch für Deutschland die Frage, wie
sich die Präsidentschaftskandidaten zu den Trusts stellen werden. Bei dem unheil¬
vollen Einfluß, den die Trustmagnaten in Amerika auf das wirtschaftliche und poli¬
tische Leben ausüben, war es selbstverständlich, daß sich jeder Kandidat als Gegner
der Trusts bekennen mußte, wenn er überhaupt Aussicht auf Erfolg haben wollte.
Demnach kam es darauf an, festzustellen, welcher Kandidat seine Gegnerschaft auch
durch Taten stärker bekunden würde. Es war klar, daß der Demokrat Bryan mit
Rücksicht auf seine Wähler energischer hätte vorgehn müssen als der Republikaner
William H. Taft, der zwar dem von Roosevelt eingeschlagnen Wege folgen wird,
doch, wie man annimmt, weniger geräuschvoll. Was hilft es auch, die Standard
Oil Company — wie es im vorigen Jahre geschah — zu 125 Millionen Mark
Geldstrafe zu verurteilen; Rockefeller hat das Petrolcummonopol, mithin die Preis¬
bildung, in seiner Hand. Hätte die zweite Instanz die exorbitante Strafe bestätigt,
so hätte Rockefeller sie auf die Konsumenten abgewälzt.
Als feststand, daß Tahl der weniger energische Gegner war, war seine Wahl
auch gesichert, da die Trustgewaltigen nunmehr das größte Interesse hatten, ihre
gewaltigen Geldmittel bei der Wahl zugunsten Tafts zu verwenden.
Der künftige Präsident hat sich als Freund Deutschlands bekannt und will auf
eine Ermäßigung der hohen Zollsätze hinwirken; es wäre aber für Deutschland noch
mehr zu wünschen, daß der Präsident mit aller Energie die Privatinteressen der
Trusts dem Allgemeinwohl unterordnete. Vor allem ist eine gründliche Reform
des amerikanischen Notenbankwesens unaufschiebbar, doch wird sie wohl noch lange
an dem Widerstande der mächtigen Finanzgruppen scheitern. Während in Europa
überall eine völlige Zentralisierung des Notenwesens angestrebt wird, sodaß nur
eine Zentralnotenbank ausschließlich im öffentlichen Interesse den Geldumlauf regelt,
nimmt in den Vereinigten Staaten die Dezentralisation immer mehr zu. Über
6850 Notenbanken betreiben dort die Notenausgabe lediglich nach privatwirtschaft-
lichen Grundsätzen, dazu kommt, daß das System jeder Elastizität entbehrt. Hält
das Publikum in Krisenzeiten das Hartgeld, besonders das Gold vom Verkehr zurück,
so versagt das amerikanische System vollständig. Die amerikanischen Banken sind
gezwungen, Gold unter großen Opfern ans Europa zu beziehen, wodurch sie wieder
die europäischen Notenbanken nötigen, zur Abwehr den Diskontsatz zu erhöhen und
so die betreffenden Länder schwer schädigen. Im Jahre 1907 bezog Amerika nach
Ausbruch der schweren Krisis allein in den Monaten November und Dezember für
etwa 400 Millionen Mark Gold aus Europa, und zwar hauptsächlich aus Deutsch¬
land und England, da die Reichsbank und die Bank von England die europäischen
Notenbanken sind, die Gold jederzeit an jedermann auch zu Exportzwecken hergeben.
Die Zinssätze stiegen damals in beiden Ländern auf eine seit Jahrzehnten nicht
gesehene Höhe.
Demnach ist die geringe Aussicht auf eine gründliche Reform des Notenbank¬
wesens unter dem neuen Präsidenten das für Deutschland bemerkenswerteste Er¬
gebnis der Wahl.
Doch der Kampf gegen die Trusts wird nicht ruhn, dazu ist die Antimonopol-
bewegung in den Vereinigten Staaten zu mächtig. Man hat wohl erkannt, daß
den Trusts mit Gewaltmitteln zurzeit nicht beizukommen ist, und will sich — wie
auch die im Dezember an den Kongreß gerichtete bedeutsame Botschaft des scheidenden
Präsidenten betont — damit begnügen, die Korporationen zu weitestgehender Publi¬
zität zu zwingen, sodaß die Öffentlichkeit in den Stand gesetzt wird, über mono¬
polistische Praktiken und unanständige Geschäftsmethoden zu urteilen und „Material
für den Unterbau einer wirksamen Gesetzgebung" zu erhalten. Die größte Erbitte¬
rung haben die Trustleiter durch die Brutalität hervorgerufen, mit der sie selb¬
ständige Existenzen vernichten. „Auf dem Wege einer höchst vernünftigen Ge¬
schäftsführung, so schreibt Professor Dr. von Philippovich im Österreichischen
Volkswirt vom 12. Dezember (Herausgeber Walter Federn), können die großen
Korporationen unsrer Tage das Eigentum von Tausenden expropriieren und sie
in Angestellte verwandeln. Das ist die Wunde, aus der die Gesellschaft blutet."
In seinem Werke Monarchen und Mammonarchen gibt Theodor Duimchen ein
Beispiel solcher grausamen Expropriation durch Rockefeller (S. 258 bis 260).
Lewisohn Brothers waren aus kleinen Anfängen heraus zum größten Kaffee¬
hause Amerikas und zu einer Macht im Kupferhandel geworden. Eines Tages
hält Rogers, ein Mitarbeiter Rockefellers im Standard Oil Trust, es für nützlich,
den Handel in seine Hand zu bekommen. Er schlägt vor, das Lewisohnsche
Kupfergeschäft in die Firma vnitsä Nstsl Ssllinx OoinpÄN^ umzugründen.
Lewisohn berechnet die vorhandnen Werte auf 15 Millionen Dollar. Nein, sagt
Rogers, die neue Gesellschaft übernimmt das alles für 5 Millionen Dollar in
Aktien, davon bekommst du 49 und wir 51 Prozent. Überleg dirs 24 Stunden:
entweder du fügst dich, dann bist du unser Teilhaber, oder du fügst dich nicht,
dann bist du binnen einem Jahre bankerott. Wir kaufen jede Kupfermine, deren
Agent du bist, und ruinieren jede, die etwa nicht verkaufen will. Du hast jetzt
einen großen Namen im Kupfergeschäft, binnen einem Jahre wirst du im Kupfer¬
geschäft überhaupt nicht mehr vorhanden sein. — Bis zum andern Morgen hatte
sich Lewisohn die Sache überlegt. Er wußte ganz genau, daß die Standard Oil
ihn wirklich zugrunde richten konnte, wenn sie es sich erst 10 bis 20 Millionen
Dollar kosten ließe. Und er wußte auch, daß sie diese Summe anwenden würde,
hatte sie doch die ungezählten Millionen hinter sich, die Amerikas Bürger in den
Sparkassen, in den Versicherungsgesellschaften, in den Depositenbanken aufstapeln.
Und so zeigt Lewisohn pünktlich seine Unterwerfung an. Auf den Wink von
Rogers muß dieser alte, erprobte und nach gewöhnlichen Begriffen schwerreiche
Geschäftsmann seinen und seiner Söhne Besitz ausliefern, wie der überfallne
Wanderer im Walde seine Taschen umdreht, weil er des Straßenräubers kalten
Pistolenlauf an seiner Schläfe fühlt.
Der Gedanke, eine Zentralnotenbank zu schaffen, gewinnt übrigens in den
Vereinigten Staaten an Ausbreitung. In dem vor kurzem erstatteten Jahresbericht
über das Notenbankwesen empfiehlt der amerikanische Schatzsekretär Cortelyou die
Errichtung einer solchen Bank, jedoch unter einem für das Land höchst charakte¬
ristischen Vorbehalt: daß es gelingt, das Institut dem Einfluß der Politiker und
der Großkapitalisten zu entrücken! Das aber dürfte vorläufig noch ein Ding der
Unmöglichkeit sein. Der Schatzsekretär weiß das auch sehr wohl und ist deshalb
bemüht, durch andre Vorschläge das Drängen Europas nach einer amerikanischen
Zentralbank zu beschwichtigen. Europa drängt, um endlich gegen die plötzlichen
großen Goldentziehungen Amerikas geschützt zu sein; daher empfiehlt Cortelyou ein
andres Mittel, das die internationalen Goldbemegungen regulieren könnte, nämlich
die Schaffung einer internationalen Goldnote, die auf einer Konferenz von
Regierungsdelegierten und privaten Sachverständigen erörtert werden soll. Cortelyou
wiederholt damit in etwas veränderter Form das sehr geschickte Vorgehn seines
Vorgängers Roberts, der im Jahre 1904 die Schaffung eines internationalen
Clearinghauses anregte.
Wir werden gut tun, die amerikanische Antitrustbewegung im Auge zu be¬
halten, da wir nicht wissen können, ob wir nicht bald zu gleichen Abwehrmaßregeln
genötigt sein werden. Die Entwicklung drängt jedenfalls auch bei uns mit Macht
auf eine immer stärkere Kapitalkonzentration hin. Die im November veröffentlichten
Hauptergebnisse der gewerblichen Betriebsstatistik von 1907 für den preußischen Staat
zeigen wiederum einen starken Rückgang der Kleinbetriebe bei gleichzeitigem Anwachsen
der Groß- bzw. Niesenbetriebe (über 500 Personen) mit einem Zuwachs der Be¬
triebe um 70,4 und der darin tätigen Personen um 89,1 Prozent.
Wie bedauerliche Formen die Konzentration bereits angenommen hat, ließ der
Mißerfolg des Fiskus in der Hiberniaangelegenheit erkennen, das zeigen aber auch
die fortgesetzten, immer stärker werdenden Klagen über die Preispolitik der Syndikate,
besonders des Kohlensyndikats, und die Vorgänge in der Elektrizitätsindustrie. Seit
Jahren machen sich in dieser Industrie starke Konzenträtionstendenzen bemerkbar.
die auch zu einem für die Gesellschaften durchaus günstigen Resultat geführt haben
dank dem Wirken einer machtvollen Persönlichkeit, des Generaldirektors der Allge¬
meinen Elektrizitäts-Gesellschaft Rathenau. In neuster Zeit sind die Elektrizitäts¬
gesellschaften bestrebt, ihre Macht dadurch zu erweitern, daß sie sich von den Banken
unabhängig zu machen suchen durch Gründung sogenannter Elektro-Treuhand-
banken. Diese sollen durch Ausgabe von Obligationen das für Elektrizitätsanlagen
nötige Kapital auf lange Fristen beschaffen, und zwar wohl hauptsächlich für kleinere
Gemeinden, denen der Kapitalmarkt überhaupt nicht oder nur unter harten Be¬
dingungen offensteht. Diese Institute bedeuten eine außerordentliche Machtver-
größeruug der Elektro-Großfirmen, da die Darlehnsnehmer in große Abhängigkeit
von ihnen geraten werden. Gegen die Gründung der Institute kann jedoch nichts
eingewandt werden, da es in Deutschland tatsächlich an einer andern Organisation
des langfristigen industriellen Kredits fehlt.*)
Zu welchen Konsequenzen die Konzentration bereits geführt hat, zeigt die
Komödie, die sich bet jeder Vergebung größerer in das Gebiet der Elektrizitäts¬
branche fallender Arbeiten abspielt. Weder private noch öffentliche Unternehmer
sind in der Lage, zu bestimmen, wem sie die Arbeit zuleiten wollen, selbst wenn
sie den Weg der Subskription wählen; die durch das Geheimkartell von 1903
vereinigten Elektrogroßfirmen verabreden die Gebote, die jede Firma zu machen
hat, sodaß die Firma, der das Kartell den Auftrag meent, das niedrigste Gebot
abgibt. Das sind schon große Ähnlichkeiten mit amerikanischen Verhältnissen und
geben eine Erklärung für die Vorschläge Schmollers auf der Versammlung des
Vereins für Sozialpolitik in Mannheim im Herbst 1905. Um die Bildung von Trusts
nach amerikanischem Muster, die „Züchtung einiger weniger Milliardärdynastien"
von Deutschland fernzuhalten, empfahl Schmoller damals, jeder Aktiengesellschaft,
deren Aktien- und Obligationenkapital 75 Millionen Mark erreicht oder überschreitet,
die Verpflichtung aufzuerlegen, in ihrem Aufsichtsrat ein Viertel der Stimmen
Personen zu übertragen, die der Reichskanzler und die Landesregierung als ge¬
eignet bezeichnen, und die verpflichtet werden, die Politischen und wirtschaftlichen
Interessen von Reich und Staat neben denen der Gesellschaft zu vertreten. Ferner
soll der zehn Prozent übersteigende Gewinn solcher Unternehmungen halb an die
Aktionäre und halb an Reich und Staat fließen.
Endlich hat Deutschland den Postscheckverkehr. Am I.Januar 1909 ist
er, da auch Bayern und Württemberg die Neuerung eingeführt haben, im gesamten
Reichsgebiet ins Leben getreten. Auf die privat- und volkswirtschaftlichen Vorteile
haben die Grenzboten wiederholt hingewiesen. Sie bestehen — in Kürze zusammen¬
gefaßt — hauptsächlich darin, daß müßig in den Kassen für kleine Zahlungen des
täglichen Lebens bereit gehaltne Gelder der Post übergeben und durch diese dem
Staatskredit (durch Anlage in Staatsanleihen) und den Bedürfnissen der Volkswirt¬
schaft (durch Ankauf von Wechseln u. a. in.) dienstbar gemacht werden sollen. Der
Postscheckverkehr wird Kreise, die dem Giroverkehr der Reichsbank fernblieben, weil
ihnen das Mindestguthaben von tausend Mark zu hoch erschien (während die Post
eine Stammeinlage von nur hundert Mark fordert), an die bargeldlosen Zahlungen
derart gewöhnen, daß sie sich später neben dem Postscheckkonto ein Bankkonto er¬
öffnen lassen werden. Die Dezentralisation des Postscheckverkehrs (13 Scheckämter)
wird voraussichtlich der Entwicklung des neuen Verkehrsinstituts wesentlich günstiger
sein als die starre Zentralisation, wie sie in Österreich üblich ist. Trotzdem hat
das österreichische Postsparkassenamt in sünfundzwanzigjcihriger Tätigkeit die Zahl
der Teilnehmer auf etwa 80000 gebracht. Dabei ist besonders bemerkenswert,
daß unter diesen 1346 Ärzte, 2848 Notare und Rechtsanwälte, 362 Geistliche.
7000 Privatpersonen und 9070 Vereine und Korporationen sind. Aus diesen
Zahlen geht hervor, daß der Postscheckverkehr in wesentlichem Maße Kreisen dient,
die in Deutschland dem Giroverkehr der Reichsbank nicht angeschlossen sind, daß er
also eine Lücke in unserm Geldverkehr auszufüllen berufen ist. Die Hauptvorteile
für die Privatwirtschaft sind die Billigkeit und die Bequemlichkeit. Die Zahlungen
können wesentlich billiger geleistet werden als durch Postanweisung; wir brauchen
nicht mehr auf den Geldbriefträger zu warten, eingehende Postanweisungen werden
uns auf dem Konto gutgeschrieben; wir brauchen auch keine Postanweisungen mehr
auszuschreiben und zur Post zu tragen, sondern zahlen durch Scheck oder Über¬
weisungspostkarte.
Der im allgemeinen einfache Verkehr mit den Postscheckämtern ist in einem
Flugblatt der Königlichen Seehandlung (Preußische Staatsbank) in Berlin in
mustergiltiger Weise und in frischer klarer Sprache erläutert worden; wir ver¬
weisen betreffs der Einzelheiten auf dieses Blatt, das die Seehandlung einzeln um¬
sonst, falls mehrere Exemplare erbeten werden, für wenige Pfennige an jedermann
abgibt
Der
Verfasser des unter dieser Überschrift erschienenen Aufsatzes in Ur. 52 des soeben
abgeschlossenen Jahrgangs sendet uns folgende Zuschrift: Die Vossische Zeitung
ereifert sich sehr stark über die Darstellung, die ich von der innerpolitischen Lage
gegeben habe. Sie geht davon aus, daß ein Gerücht — dessen Ursprung ich
übrigens nicht kenne, und dessen Umhertragen in der Presse und im Privatgespräch
ich leider nicht hindern kann — mich als „kommenden Mann" bezeichnet, der in
der Preßabteilung des Auswärtigen Amts „an die Stelle oder die Seite des
Geheimrath Hammann treten werde". Auf dieses Gerücht hin schreibt das Blatt:
„Möglich, daß dieser Aufsatz eine Probearbeit bedeutet; sicher, daß er keine Meister¬
arbeit ist." Ich bin leider nicht naiv genug, meinen Aufsatz mit der Erwartung
geschrieben zu haben, daß er das Wohlgefallen der liberalen Presse erregen werde.
Die abfällige Kritik bedarf also keiner Erwiderung. Was die „Probearbeit" be¬
trifft, so hätte der Verfasser des Artikels in der Vossischen Zeitung in seiner Nähe
Berufsgenossen genug finden können, die ihm darüber Auskunft geben konnten, daß
meine langjährige publizistische Tätigkeit an Zeitungen und Zeitschriften ersten Ranges
mich an allen unterrichteten und berufnen Stellen vor der Notwendigkeit sichert,
„Probearbeiten" zu machen. Dann wird er bei ruhigem Nachdenken auch ent¬
decken, daß unter den von ihm angenommnen Voraussetzungen eine anonyme Arbeit
an derselben Stelle in den „offiziös bedienten Grenzboten" — so drückt sich der
Verfasser aus — den Zweck besser erfüllt hätte. Die Wirkung wäre mindestens
die gleiche gewesen, wahrscheinlich noch größer, und an der richtigen Stelle hätte
man ja doch gewußt oder erfahren können, wer den Artikel geschrieben hatte.
Ich erwähne dieses Persönliche nur, weil es mir die Gelegenheit gibt, einem
unbegründeten Gerücht entgegenzutreten. Im übrigen kann mich die Kritik kalt
lassen, denn sie trifft mich nicht persönlich; jedem andern an meiner Stelle
wäre es ebenso gegangen. Ich habe wenigstens noch nie einen politischen Publi¬
zisten gesehen, der von einem angegriffnen politischen Gegner Anerkennung ge¬
erntet hätte.
In sachlicher Beziehung läßt der Artikel der Vossischen Zeitung jeden ernst¬
haften Widerlegungsversuch vermissen. Die Versicherung, daß „Drohungen" den
Liberalismus nicht gefügig machen konnten, kann als ein solcher Versuch nicht gelten.
Dergleichen Phrasen machen wohl auf die Menge Eindruck; die Verantwortlicher
und die Führer Pflegen auch die vom Gegner aufgestellten Behauptungen unab¬
hängig daraufhin zu prüfen, ob ihnen Tatsachen zugrunde liegen. Sie werden auch
in diesem Falle wohl erkennen, daß ich keinen Rat erteilt, sondern nur auf Tat¬
sachen hingewiesen habe.
Mein Kritiker hat aber auch übersehen, daß ich von den Meinungsverschieden¬
heiten der Konservativen und der Liberalen über einzelne Steuervorschläge der Re¬
gierung gar nicht gesprochen habe. Ich habe diese vielmehr ausdrücklich ausge¬
schieden und früher schon oft genug in der Öffentlichkeit die Meinung ausgesprochen,
daß die Zugeständnisse, die die Liberalen bereits gemacht haben, die Konservativen
verpflichten, ihren Widerstand gegen die Nachlaßsteuer aufzugeben. Jetzt aber liegt
die größte Gefahr für das Zustandekommen der Reichsfinanzreform darin, daß die
ganze Arbeit durch ein kleinliches Herabdrücken des berechneten Bedarfs unter einen
falschen Gesichtspunkt gerückt und wiederum zu einem Flickwerk und einer Halbheit
gemacht werden soll. Der Hinweis auf die unvermeidlichen oder mindestens wahr¬
scheinlichen Folgen dieser Taktik belastet nicht mich, sondern die die in solchem
Zu unsern Artikeln
in Ur. 41 und Ur. 47 der Grenzboten sind uns aus Leserkreisen wieder verschiedne
Mitteilungen zugegangen. Es handelt sich um die Frage: Sind uns im Kriege 1876/71
vom Feinde fünf Geschütze genommen worden, wie das französische Kriegsministerium
behauptet, oder sechs Geschütze, wie das Geueralstabswerk angibt, oder nur vier:
zwei bayrische, ein preußisches und ein sächsisches? Im Großen Generalstab hält
man, nach den uns von einem höhern Offizier zugegangnen Bemerkungen, die An¬
gabe für falsch, daß das in Etrepagny erbeutete sächsische Geschütz von den Fran¬
zosen auf ihrem Rückzüge ins Wasser geworfen worden und deshalb nicht zu finden
sei. Diese Angabe, die aus den Aufzeichnungen des Sächsischen Ulanenregiments
Ur. 17 stammt, könne nur eine haltlose Vermutung sein; denn ein ins Wasser ge-
worfnes Geschütz, wenn es nicht gerade das Weltmeer sei, könne nicht dauernd
verloren gehn. Das sächsische Geschütz muß also unter allen Umständen in Frank¬
reich sein.
Über den Verlust der übrigen Kanonen schreibt uns Herr Oberregierungsrat R,
ein früherer Mitkämpfer: „Bei Beauue-la-Nolande sind tatsächlich zwei deutsche
Geschütze verloren gegangen. Die Angabe Scherffs S. 21, vorletzter Absatz, und des
Generalstabswerks, II. Teil, 1. Band^ S. 471—473 lassen darüber keinen Zweifel
aufkommen. Schließlich kann ich es als Mitkämpfer im Hannoverschen Feldartillerie¬
regiment Ur. 16, dem die beiden Geschütze angehörten, bezeugen. Die erste leichte
und die dritte schwere Batterie hatten die Verluste zu beklagen."
Da diese Frage aus kriegsgeschichtlichen Gründen aufgeklärt werden muß,
wandten wir uns an das Kriegsarchiv des Großen Generalstabs, und dieses teilt
uns folgende interessante Einzelheiten mit: Es ist richtig, daß nach der Darstellung
des Generalstabswerks an der angegebnen Stelle auch ein Geschütz der ersten leichten
Batterie verloren gegangen ist, sodaß danach das Feldartillerieregiment Ur. 16 am
Tage von Beaune-la-Rolande zwei Geschütze verloren hätte. Auf S. 478 des be¬
zeichneten Bandes steht aber folgende Ergänzung: „Das über La Pierre percäe zum
Angriff schreitende Füsilierbataillon Regiments Ur. 52 und die an den dortigen
Waldstücken kämpfenden Siebenundfünfziger bemächtigten sich nun vollständig dieser
Gehölze und des dort früher verloren gegangnen Geschützes." Es sind also bei
Bemme-la-Rolande anfangs zwei Geschütze in die Hände des Feindes gefallen, aber
schließlich ist nur eins in ihren Händen geblieben. Das stinimt auch mit folgenden
Gefechtsberichten:
Der Gefechtsbericht der ersten leichten Fußbatterie des Feldartillerieregiments
Ur. 10 „C. Q. Veuouille, den 29. 11. 1370", unterschrieben: „Kraner, Hauptmann
und Batteriechef", schildert den Verlust des Geschützes, bei dem 5 Maun und 6 Pferde
liegen blieben, und sagt dann weiter: „Das Verlorne Geschütz wurde durch den
Vizefeldwebel Alp heute morgen der Batterie zurückgebracht. Dasselbe ist dem Ver¬
nehmen nach von der zweiten Kompagnie des Infanterieregiments Ur. 52 aufgefunden,
resp, wiedergenommen und von der ersten leichten Batterie HI. Armeekorps dem
Vizefeldwebel Alp wiedergegeben. Es fehlte darin der Verschluß, der Aussatz und
einige Munition. Gegenwärtig ist es wieder völlig schußfertig."
b) Der Gefechtsbericht des Infanterieregiments Ur. 52: „Beaune-la-Rolande,
2. 12. 1870". unterschrieben v. Wulffen, Oberst und Kommandeur, sagt: „Das
Füsilierbataillon avancierte bis zum Schnitt der Straße nach Becmne-la-Nvlande
mit der Römerstraße (vbsinin <üssar). Einige hundert Schritt rechts dieses Schnitts
stand ein vom X. Armeekorps zurückgelassenes Geschütz nebst Protze, verteidigt von
französischen Abteilungen. Sekondeleutnant Pacch des Füsilierbataillons warf sich
mit seinem Schützenzuge mit Hurra auf die französischen Abteilungen und nahm
dasselbe; die Verschlußstücke hatten die Franzosen jedoch mitgenommen. Es ist dieses
Geschütz sodann an den Chef der ersten leichten Batterie Hauptmann Stoephasius
abgegeben worden, von wo es am andern Tage wieder in die Hände des be¬
treffenden Batteriechefs im X. Armeekorps übergegangen ist/' Es bleibt also dabei,
schreibt uns das Kriegsarchiv des Großen Generalstabs, daß sich im Besitz der
Franzosen nur vier 1870/71 genommene deutsche Geschütze befinden, zwei bayrische,
ein preußisches und ein sächsisches.
Wir freuen uns, daß damit der fatale Fehler im Generalstabswerk, es seien
sechs deutsche Geschütze verloren gegangen, beseitigt worden ist. Der französische
Kriegsminister, der den Befehl gegeben hat, daß die Trophäen, darunter fünf
deutsche Kanonen, aus dem Kriege von 1870/71 vereinigt und in das Jnvalidenhotel
geschafft werden, spricht in seinem Erlaß an die französischen Korpskommandeure
auch von zwei bei Becmne-la-Nolande eroberten preußischen Geschützen. Ein fran¬
zösischer Offizier sagt aber im Eclair darüber: I.hö oanons as Lsa,uns-1-z,-Ka>1a.Qäs
sont äans 1a cour an auffs ä'^rtillsrio, 11s xortsnt ostts insnticm: „?ris
g> 1'snnsmi." Ils n'ont xas, it sse vrai, as ssi'Moat et'orixins, mais ils ont Isur
IsZsnäs et ein lui kalt srsäit. I^s Asnsral Mox, solis hörst'los ä'invsntairs, 1'Äsosxts.
I^Sö äsux oanon8 bavarois, xris 1o Isnäsm-un as Oonlmisrs sollt, assurs-t-on,
» 1'srssnal as I^srisnt, Kur 1s Saron, saxon ä'LtrsxaAnz?, 11 x1a,us uns xlus
Araras odssnrits. Die Lösung des ganzen Rätsels wird wohl die sein, daß auf
dem Platz des Artilleriemuseunis nicht zwei preußische Geschütze stehen, sondern ein
preußisches und ein sächsisches.
Im ganzen Kriege nur vier, sage vier von den französischen Truppen trotz
aller Anstrengung uns abgenommne Kanonen! Was will das heißen gegen die 359
von uns im Feuergefecht eroberten französischen Geschütze! Die vielen tausende in
den Festungen genommnen Kanonen wollen wir ganz unerwähnt lassen. Der fran¬
zösische Kriegsminister hätte im Interesse des französischen Prestiges wirklich gut
getan, die Frage der Trophäen Frankreichs aus dem Kriege 1870/71 auf sich be¬
ruh
Ausgehend von der Tatsache, daß
bei der Beurteilung der mündlichen und schriftlichen Überlieferungen, die die deutsche
Nationalliteratur bilden, der Zusammenhang unsrer Literatur mit dem deutschen
Volkstum als solchem, also die eigentliche nationale Seite unsrer Literaturgeschichte,
vernachlässigt worden ist, redet August Sauer in seinem Buche Ltteratur-
geschichte und Volkskunde (Rektoratsrede. Prag, I. G. Calpe, 1907. 42 Seiten.
1 Mark 26 Pf.) einer weitgehenden Ausnützung stammheitlicher oder landschaft¬
licher Provinzialliteraturgeschichten zum Zwecke der allgemeinen deutschen Literatur¬
geschichte das Wort. Dabei habe sich diese mehr als bisher der Ergebnisse der
volkskundlichcn Forschung zu bedienen, und die Volkskunde selbst habe sich über
das Sammeln und Beschreiben hinaus der stammheitlichen und landschaftlichen
Charakterologie des deutschen Volkes zuzuwenden, um so eine wissenschaftliche
Formel für den Begriff: deutsche Volksseele zu finden. Mehr als bisher sei auch
darauf Rücksicht zu nehmen, wie tief zum Beispiel ein Dichter, eine Dichtergruppe,
ein Dichtwerk im deutschen Volkstum wurzle oder sich davon entferne. Schließlich
erscheint ihm die Pflege der Familiengeschichte, auch die der bürgerlichen Familien,
für die literarisch-historisch-biographische Forschung von Wert, desgleichen das Au¬
fdrehen von verläßlichen Stammbäumen für unsre bedeutender« Dichter.
Ein Anhang bringt eine vorläufige Übersicht über die schon vorhandnen land¬
schaftlichen Literaturwerke, geordnet nach: Darstellungen und Sammelwerken, lokalen
Literaturgeschichten, landschaftlichen und mundartlichen Anthologien.
Almtei*-8port u.Tlanäerungen.
ScklittsckuK — 6cKi — K.ennievolf.
„harter Winter, streng null rauh,
Winter sei willkommen!Nimm»! du viel, so gibst i>» such,
Das heil!« nichts genommen!"
Minterliche Leibesübungen
^,,k«> u«»e.««'gi>». mind.
in ireier i^urr. »Zungen. n°re.in.l.-
„Der verlasser hat seine Aulgabe, in Kurilen, Knappen
Auslührungen ein Sild von der Notwendigkeit und <I-in
wert, dem Wesen und der Art der einüeinen Leibes¬
übungen nu entwerten, vorlrelllich geiiist und es ver¬
standen, dem Leser eine abgerundete Darstellung der in
?rage Kommenden gesundheitlichen und sportlichen Kc-
tätlgungen nu gebe», »er reiche Inhalt wie nicht minder
die Klare, einiache Darstellung machen das Küchlein nu
einem wertvollen wegwelser in der Wahl und der Durch-
Illhrung des Wintersports." (§por> «In«! S«»«N<»>ete.1
Schönheit uncl Gymnastik.
Drei Leiträge ?»r Ästhetik der Leidcserüiehung von
N. 5c»mi«It. X. Moller und M. ik.i,ac2U>,it.
Mit Abbildungen. Sei,. M. 2.S0, geb. M. Z.20.
„vor allen Dingen last« ti-s Such, tern von jedem
Zpeziaiistentum in der Lurncrei, die Sache an ihrem
innersten Xern. L-ben-Krake und Lebenslust durch,
weht es bis in seine» lebten Winkel, und eine Klare
KrKenntnis >til>re d-z Steuer. Schon beim Durchlesen
wird tüchtigen Kitern üumute sein, als hätten sie
einen weiten Marsch durch wiesen und Wälder ge-
macht und seien vom Irischen ?eldwind durchweht
und durchschllltelt.- (riirmer.)tZrillparner.
Das Manäern.
vo» ij. K->vOt und ?. een»»at. . . Karl. in. I.—
Alles, was nun wandern gehört, sein wert und
sei» üweck, die einschlägige Literatur, die Arten der
Wanderung und Katschläge tur die Wanderung linden
sich in dem Küchlein vereinigt. Möge die Schrill weiteste
Verbreitung linden und viele junge und alte veutsche
antreiben, den KucKsacK -u Schnuren und hochgemut
den wanderslab nu »grellen!
OeutscbesR.lügen nach Kraft
,IN<4 Ki'KänKt'it '''"»'i'es-n
una ^clioiilietr. zeugni-s-n-in--z-hr.
Hunderts gesammelt von Möller. I. Kant! von
Schiller bi, Lange, «eh. M. l.-, geb. M. I.ZZ.
„Zeyt, wo die teilnähme tur gesunde Leibesübung
und pllege immer allgemeiner wird, Ist dieses Lues
besonders willkommen, das solche, Streben durch die
Worte unierer besten und größten Schrillste»» nu
weihen und e, so auch Zugleich vor den Auswüchsen
nu bewahren sucht, vor denen andere voller, wie
die Amerikaner und Engländer, nicht Immer ver¬
schont geblieben «Jud.-
(»ii.»«i«l«re«r 0«„er,i.»«»eigt,.)
Verlag von L. G. ^eubner in Leipzig uncl Berlin.
> in wichtiger Punkt an den Wegen des großen weltumspannenden
Verkehrs ist die Stadt Singapore, die am Eingang des Chine¬
sischen Meeres und damit des Stillen Ozeans liegt. Ihre Be^
deutung beschränkt sich jedoch nicht auf den Handelsverkehr, dem
Jsle einen erwähnenswerten Stützpunkt bietet; sie ist auch ein
strategischer Platz erster Ordnung. Um ihn gruppieren sich die drei Geschwader
der britischen Flotte des Ostens, die als ostindisches, chinesisches und
australisches Geschwader ihre Basis in Bombay, Hongkong und Sydney
haben. Für diese Flotte und ihre drei Geschwader bildet in Kriegszeiten
Singapore den Hauptvereinigungspunkt zu Zwecken der Kohleneinnahme, der
Verpflegung und der Ausbesserung ebensosehr wie den Ausgangspunkt für
offensive Unternehmungen.
Singapore ist die Hauptstadt der Malaiischen Halbinsel und liegt auf
einem der äußersten Südspitze dieser Halbinsel vorgelagerten, Eiland von etwa
43 Kilometer Länge, etwa 22 Kilometer Breite und einem Flächeninhalte voll
etwas über 500 Quadratkilometern. Die Singapore von dem Festlande trennende
Straße ist etwa 1200 Meter breit. Der Einfluß und die Territorialmacht
Großbritanniens in der Straße von Malakka ist jedoch nicht beschränkt auf
die Jnselstadt Singapore, sondern dehnt sich an der Ostküste der Straße über
640 Kilometer weit aus bis zur Insel Penang, die auch Prinz-Eduardsinsel
genannt wird. Diese Insel wurde im Jahre 1786 von der Ostindischen
Kompagnie erworben und blieb mit ihrer wichtigen Hafenstadt Georgetown der
Sitz der Regierung der Straits settlements bis zu seiner Verlegung im
Jahre 1857. Das ganze Küstengebiet ist hier entweder freier Besitz Gro߬
britanniens, oder aber es gehört dem Namen nach zu einem der vier ver¬
bündeten Malaienstanten, deren Häupter im Fahre 1895 aus ihren Gebieten
einen Staatenbund machten, dessen Verwaltung unter der Oberleitung der
britischen Regierung stehen sollte.
Von militärischem Standpunkt aus betrachtet bietet der befestigte Hafen
von Singapore größere Vorteile als die stärkern Häfen von Gibraltar und
Aden, da diese beiden nicht umgeben sind von eignem Gebiet mit freundlich
gesinnter/Bevölkerung, die imstande und geneigt wäre,' Hilfsmittel aller Art
und nötigenfalls auch Streitkräfte zur örtlichen Verteidigung zu liefern/ Die
eingeborne Bevölkerung der Straits settlements, die außer Singapore auch
die Dindings, die Provinz Weitesten und Pencmg umfassen, hat ungefähr
eine Stärke von 600060, die der Verbündeten Malaienstaaten von annähernd
800000 Seelen. Im Falle eines Krieges hätte der Feind mit dem Widerstände
dieser gesamten Bevölkerung zu rechnen, da die Häuptlinge der Verbündeten Staaten
vertragsmäßig verpflichtet sind, die britische Negierung mit Truppenaufgeboten
bei der Verteidigung der Kolonie der Straits settlements zu unterstützen.
Singapore ist ein schlagendes Beispiel für den Einfluß kaufmännischen
Unternehmungsgeistes auf die Entwicklung des britischen Reiches. Sir Stamford
Raffles, der damalige Gouverneur von Bencoolen, der Niederlassung der Ost¬
indischen Kompagnie auf Sumatra, hatte im Jahre 1819 nicht aus militärischen
Gründen, sondern für Handelszwecke Singapore besetzt. Offiziell wurde es
dann im Jahre 1824 durch den Sultan von Johore an die britische Re¬
gierung abgetreten. Die Erwerbung Singaporcs aber hat alle Hoffnungen
Sir Stamford Raffles in reichem Maße erfüllt. Von kleinen Anfängen an
entwickelte sich die Insel allmählich zu einer Niederlage für den gesamten
Handel von Siam, der Malaiischen Halbinsel und des Malaiischen Archipels.
Heute steht Singapore als achter Hafenplatz auf der Liste der größern Häfen
der Welt. Abgesehen von den Eingebörnenfahrzeugen haben im Jahre 1906
10571 Fahrzeuge mit einem Gesamttonnengehalt von mehr als 13 Millionen
Tonnen den Hafen aufgesucht und ihre Ladung ausklariert. Über 50 ozean¬
fahrende Dampfschifflinien benutzen heute Singapore als Anlaufhafen. Gegen
200000 Tonnen Kohlen sind dort als normaler Vorrat angehäuft. Der Hafen
steht der ganzen Welt offen; Zölle werden nur erhoben für Opium, Spiri-
tuosen, Wein und Bier, die in der Kolonie verbraucht werden. '
Die Straits-settlements-Kolonie, deren Hauptsitz Singapore ist, ist eine
britische Kronkolonic, d. h. ein Herrschaftsgebiet, das unter der britischen
Reichsregierung steht, deren Leitmlg jedoch in den Händen eines eignen
Gouverneurs liegt. Dieser ist bei der weiten Entfernung von seiner vorge¬
setzten Behörde in Downing Street in gewissem Sinne Selbstherrscher. Ihm
zur Seite steht ein „Ausübender Rat" von acht Mitgliedern, die zugleich die
Vorstände der verschiednen Verwaltungsgcbiete sind. Da sie seine Unter¬
gebnen sind, so haben sie ihre Arbeit nach den Befehlen des Gouverneurs
auszuführen. Außerdem besteht noch ein „Gesetzgebender Rat", der sich zu¬
sammensetzt aus den acht offiziellen Mitgliedern des Ausübenden Rats sowie
aus sieben „nichtoffiziellen" Mitgliedern, von denen zwei durch die Handels¬
kammern von Singapore und Penang, die übrigen fünf durch den Gouverneur
ernannt werden. Dieser Gesetzgebende Rat hat nur eine beratende Tätigkeit;
er ist aber nicht berufen, selbständige Anträge einzubringen. Seine Zusammen¬
setzung sichert dem Gouverneur stets die Stimmenmehrheit. In der Hand
eines starken Gouverneurs sinkt dieser Rat zu einer Behörde herab, die
einzig und allein die vom Gouverneur beabsichtigten Maßnahmen zu begut¬
achte hat,"!! v-'''
Wenn auch zugegeben werden muß, daß in einer Kolonie in den Tropen,
wo eine Handvoll britischer Handelsleute unter einer sie an Zahl weit über¬
ragenden eingebornen Bevölkerung lebt, das System der Kronkolonie ganz
besonders geeignet ist, so fällt es doch selbst dem englischen Besucher der
Kolonie*) auf, daß durch dieses System jede Teilnahme der britischen nicht¬
amtlichen Kreise in Fragen von öffentlichem Interesse auf ein Mindestmaß
beschränkt erschien. Die öffentliche Meinung wird dadurch völlig unterdrückt.
, Aber auch nach einer andern Richtung hin hat es sich gezeigt, daß das
selbstherrliche Regierungssystem, wie es in den Straits settlements ausgeübt
wird, von bedeutenden Nachteilen begleitet sein kann. Der Mangel eines
einem Parlamente verantwortlichen Finanzministers hat der Kolonie in un¬
nötiger Weise große Ausgaben gebracht bei der Enteignung der Tanjong Pagar
Dock Company, die wegen ungünstiger Verhältnisse auf dem Geldmarkte, denen
man hätte ausweichen können, die Summe von 35 Millionen Mark mehr ge¬
kostet hat. Infolge dieser gesteigerten Ausgaben hat die Regierung nun eine
Anleihe von 120 Millionen Mark aufnehmen müssen^ ein Umstand, der zwar
keineswegs beunruhigt, der aber immerhin auf die schwache Seite der Kron-
lolouicnverwaltuug hinweist.
Während bisher die Hafenanlagen von Singapore, sehr im Gegensatz zu
denen von Colombo, einen ziemlich vernachlässigten Eindruck gemacht haben,
werden jetzt im Zusammenhang mit der erwähnten Enteignung bedeutende
Verbesserungen geplant. Man trägt sich mit dem Gedanken, eine Wasserfläche
von etwa 5,3 Quadratkilometern als Jnnenhafen für die kleinern Lastfahr-
zeuge, die im Laufe des Jahres Singapore in großer Zahl aufsuchen, mit
Dämmen abzuschließen. Hierzu wäre die Errichtung von drei großen Molen,
die in einer Gesamtlänge von über 3^/z Kilometern als Wellenbrecher dienen
müssen, nötig. Mit den Anfangsarbeiten für eine Westmole in einer Länge
vou 600 Metern bei einem Kostenvoranschlag von über 20 Millionen Mark
ist schon begonnen worden. . - ' -
Singapore genießt auch nicht unbedeutenden Schutz. Ein Bataillon
britischer Infanterie, ein Bataillon indischer Eingeborneninfanterie. zwei Kom¬
pagnien britischer Fußartillerie, eine Kompagnie des Fußartilleriebataillons
von Hongkong und Singapore und eine halbe Kompagnie der Königlichen
Pioniere bilden die regelmäßige Besatzung der Kolonie, zu der noch haupt¬
sächlich qns Eurasiern sich zusammensetzende Freiwilligenkorps in Singapore
und Penang kommen. - ' "'^
ES wurde schon der Vorschlag gemacht, die Hafenverteidigungsaulagen
von Singapore, die in vorzüglicher Verfassung und mit den besten modernen
Geschützen ausgerüstet sind, der britischen Marine zu übergeben und sie mit
Matrosenartilleristen zu besetzen. Handelte es sich um die Hafenverteidigung
allein, so wäre dieser Plan wohl durchführbare Bei einer eingebornen Be¬
völkerung von annähernd 300000 Chinesen und 220000 Malaien mit weniger
als 6000 Europäern in der ganzen Kolonie der Straits settlements ver¬
langt die Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung die Anwesenheit einer
bewaffneten Macht, die mindestens so stark ist, daß sie die Sicherheit dauernd
aufrecht zu erhalten vermag.
Die finanzielle Lage der Kolonie hat sich mit unglaublicher Ge¬
schwindigkeit gehoben. Eine Haupteisenbahnlinie der Regierung durchzieht die
ganze Kolonie von der Provinz Wellesley bis Malakka, während Zweigbahnen
in den Häfen von Dickson, Swettenham, Mett und Telok Anson die Küste
erreichen. Eine weitere Linie wird in kurzem durch den Staat Johore hin¬
durch Singapore mit Malakka verbinden. Die Gummiproduktion hat hier in
der letzten Zeit einen bedeutenden Aufschwung genommen; das wichtigste Er¬
zeugnis der Malaiischen Staaten bleibt jedoch das Zinn. Drei Viertel des
Bedarfs an diesem Metall auf dem Weltmarkt wird von hier aus gedeckt.
Das Rohmaterial unterliegt einem Ausfuhrzoll, dessen Einführung nötig ge¬
worden war, um die Zinnschmelzer von Singapore vor dem finanziellen Unter¬
gang zu retten. Die Gesamtzahl der Handelsschiffe, die im Jahre 1906 den
Hafen von Singapore aufsuchte» und dort ausklarierten, belief sich, aus¬
schließlich der Eingebornenfahrzeuge, auf 10571 mit einem Gesmnttonnengehalt
von über 13^ Millionen Tonnen.
So bietet die ganze Kolonie der Straits settlements und besonders
die Hafenstadt Singapore dank ihrer günstigen Lage an einer Hauptstraße
des, Welthandels und als Handelsvermittlerin zwischen Europa oder Indien
mit dem fernen Osten, dem Norden von Australien und niederländisch-Jndieli
das Bild einer aufblühenden Handelsniederlassung.
ührend sich im letzten Jahrzehnt die große Politik fast ausschlie߬
lich mit dem fernen Osten beschäftigte, sind neuerdings wieder
aller Augen auf die Verhältnisse im Orient gerichtet. Es kommt
deshalb eine Broschüre im richtigen Augenblick, die der bekannte
Forschungsreisende und politische Schriftsteller Dr. Wirth über
„Türkei und Persien" als Heft 2 seiner „Streiflichter auf die Weltpolitik"
veröffentlicht hat. Er hält die Zukunft der Türkei für bedeutend hoffnungs¬
voller, als bor einem Menschenalter angenommen wurde, und meint, sie strahle
in hellerm Lichte, als man selbst noch vor wenig Jahren glauben durfte. Die
Wolken, die von Osten her drohten, hätten sich verzogen. Die Eifersucht der
Möchte hat das übrige getan. In einem gewissen Widerspruch bewegt sich aber
Wirth, wenn er einerseits von der „übermäßigen, ungesunden Zentralisation des
Reiches" spricht, andrerseits eine Gefahr für die Türkei in dem Erstarken des
Nationalismus sieht, der auch in der Semitenwelt sein Haupt erhoben hat
und in Arabien, Syrien, Mesopotamien unabhängige Reiche aufrichten will.
Wirth meint, der Nationalismus wolle einen Vertreter der edelsten Nasse und
der vornehmsten Sprache, des Arabischen, zum Oberherrn aller Gläubige» er¬
heben an Stelle des nordischen Eroberers, der kein rechter Iman sei, vom
Samen Mohammeds, der als Vertreter einer Varbarenhorde zu gelten habe.
Diese arabische Bewegung, die sich gerade in der jüngsten Zeit deutlicher ent¬
faltet habe, sei auch die Ursache der fortwährenden Kämpfe in Jemen und
Hadramaut, jener offnen Wunde am Körper des türkischen Reiches. Wir sind
nicht der Ansicht, daß die Dezentralisation der Zentralisation vorzuziehen sei,
sondern glauben, daß ein richtiger Mittelweg zwischen beiden Systemen vorteil¬
hafter ist. Man sollte eine starke Zentralregierung in Konstantinopel schaffen,
daneben aber den einzelnen Provinzen ein möglichst großes Maß von Selbst¬
verwaltung geben.
Interessant ist die Bemerkung Wirths, daß der Parlamentarismus eigentlich
'w der Türkei nur deshalb so. viele Anhänger habe, weil der Osten die
parlamentarischen Einrichtungen dem Westen meidet und nicht selig werden zu
können glaube, ehe er ihn eingeführt habe. Aber auch Wirth sieht im Parla¬
mentarismus nicht ein Allheilmittel für die Besserung der türkischen Zustände.
Sehr eingehend beschäftigt sich der Verfasser mit den einzelnen Nationalitäten.
Von den Griechen meint er, daß sie eine große Zukunft hätten. Es scheint
allerdings auch nicht ausgeschlossen zu sein, daß die Griechen in dem jetzt
zusammentretender Parlament eine bedeutende Partei bilden können, die dereinst
vielleicht dieselbe Rolle spielen kann wie das Zentrum im deutschen Reichstage.
Günstig beurteilt er auch die Albaner und führt ein, daß Pyrrhos ganz,
Alexander halb epirotischen, also albanischen Blutes gewesen sei. Auch der
heutige Khedive sei ein Nachkomme des Albaners Mehemed. Die Albaner
könnten fechten, aber nicht politisch denken. Sie seien pünktlich in der Erfüllung
der Blutrache, aber unfähig, Bündnisse zu schließen, und daher die Beute jedes
klüger» Nachbarn.
Die Kurden, die jetzt bei den türkisch-persischen Grenzstreitigkeiten so viel
von sich reden machen, haben Wirth sehr gefallen, und er nimmt für sie gegen
die Armenier Partei. Er erwähnt, daß er ganz allein durch einen großen Teil
Kurdistans gereist sei und oft in ihren Dörfern oder Zeltlagern übernachtet
habe, ohne irgendeine Anfechtung zu erleiden; im Gegenteil habe er viel
Freundschaft und Hilfsbereitschaft von ihnen erfahren , und oft sehne er sich
nach den herrlichen Alpen Kurdistans und den schönen, hochgewachsnen Menschen¬
gestalten, die es durchziehen, zurück. Die Kurden hätten nur deshalb keine
Freunde in Europa und Amerika, die ihre Rechte vertreten, und keine schreib¬
gewandten Reporter, die ihr Lob in allen Zeitungen verkündeten, weil ihnen die
internationalen Beziehungen fehlten, die sich die Armenier in so glänzender
Weise zu schaffe» verstanden hatten. Da man nun stets nur vo» armenischer
und armenierfreundlicher Seite über die Vorgänge im Hochlande, wo der
Euphrat entspringt, hört, so seien natürlich fast alle Berichte parteiisch. In
Wirklichkeit seien aber die Armenier durchaus nicht so sanfte unschuldige Lämmer,
wie sie gewöhnlich dargestellt würden. Wer die Armenier aus der Nähe kenne,
ob Russe, ob Deutscher, könne gar nicht genug Adjektive finden, sie zu
charakterisieren. Man nenne sie bösartig, betrügerisch, eitel und aufgeblasen,
harte Bedrücker und Aufhänger, doppelzüngig. Man werde immerhin gut tun
wie bei Japan, solche Urteile nicht auf das ganze Volk auszudehnen, sondern
sie auf einen Stand, hier den kaufmännischen, zu beschränken. Armenische
Priester und Bauern hätten doch einen ganz andern Charakter. Übrigens hat
seit der letzten Umwälzung zwischen den Armeniern und den Türken eine be¬
deutsame Annäherung stattgefunden. Die armenische» Komitees in London »lib
in Genf haben sich wenig Monate vor der Proklamierung der Verfassung auf
einer Konferenz in Paris mit den Führern der jungtürkischen Partei zusammen¬
gefunden, ihre gemeinsamen Bestrebungen festgestellt und die Solidarität der
beiden Parteien proklamiert. Diese politische Solidarität hat sich seitdem
durchaus bewährt und besonders die Wahlen stark beeinflußt. Sie wird mög¬
licherweise im neuen Parlament zu einer Art Kartell führen, das der griechisch-
oppositionellen Partei gegenüberstelln wird. v ^
Die Bulgaren tut Wirth mit der Bemerkung ab: das eine sei sicher, daß
Bulgarien im Ernstfalle von den Türken nach allen Regeln der Kunst ab¬
geführt werden würde, aber das Bedenkliche bei allen Balkanfragen sei gerade,
daß el» Gentleman dort niemals einen andern Gentleman in Ruhe töten könne.
solle nuf dein Balkan eine Ehrensache ausgefochten werden, so tauchten gleich
neben den Beteiligten andre auf, die mit hineinreden und womöglich anfechten
wollen. Da käme» zuerst die serbischen Hammeldiebe, Brigänten der Schwarzen
Berge, reisige Arnauten, Kutzowalachen, nach Ruhm dürstende Hellenen. So¬
dann — was am schlimmsten sei — die Engländer, iliey awkiM must nefas
Kg-vo ttlsir oenas in ottior psopls pio. Wirth geht so weit, zu behaupten, daß
sich die Engländer am wohlsten fühlten, wenn überall Unruhen ausbrachen.
Insbesondre ist er der Ansicht, daß die Engländer alles tun. um das Zustande¬
kommen der Bagdadbahn zu verhindern oder zu erschweren, und meint, von
einem besondern deutschen Erfolge könne gar nicht die Rede sein. da die englische
Stellung in Mesopotamien nicht mehr zu erschüttern sei.
Es ist allerdings richtig, daß die Engländer so tun. als ob sie bereits
Herren dort wären, und daß der britische Generalkonsul in Bagdad, der den
irreführender Amtstitel Rosiäcmt ot Ussopowinm führt, die Allüren eines
Vizeköuigs angenommen hat. Aber ebenso sicher ist, daß eine wirkliche Macht
der Engländer bis jetzt in Mesopotamien noch nicht etabliert ist, und daß alle
Intrigen ihrerseits nicht verhindern konnten, daß sich das Bagdadunternehmen,
dessen Ausführung übrigens vom Sultan einer ottomanischen Gesellschaft an¬
vertraut worden ist, in der erfreulichste» Weise entwickelt. Die Engländer
handeln höchst unpolitisch, wenn sie sich an diesem Unternehmen nicht beteiligen,
in dem deutsches, französisches, österreichisches, italienisches, schweizerisches und
türkisches Kapital vertreten ist, das also einen ganz internationalen Charakter hat.
Persiens Bedeutung für uns erblickt Wirth hauptsächlich in dem Umstände,
daß sich alle unsre Bestrebungen, die mit der Bagdadbahn zusammenhängen,
in der Richtung auf persisches Gebiet bewegen. Nicht nur die konstitutionelle
Neuerung kräusele in Persien die Oberfläche der politischen See, sondern weit
tiefere Umwälzungen seien zu erwarten. Weit verbreitet sei im Volke der
Glaube, daß der jetzige Schah der letzte von dem 114 Jahre regierenden Hanse
der Kadscharen sein werde. Die Hauptursache für die traurigen Zustände Persiens
sieht Wirth in der mangelhaften wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Von
deu zahlreichen Eisenlmhnplänen, die seit mindestens zwölf Jahren fertig aus¬
gearbeitet seien, würde auch nicht einer verwirklicht. Die paar Kilometer Bahn,
die von Teheran nach einem Sommerpalast des Schäds führten, seien die
einzigen Persiens. das fünfmal so groß als Deutschland sei. Verhandlungen
mit der Türkei, die gelegentlich durch eine Greuzmobilisatio» veranlaßt wurden,
seien mit der größten Saumseligkeit geführt worden. Wer rührig wäre, das
seien allein die Gegner, die innern wie die äußern.
In der Tat ist nicht abzusehn. was aus Persien noch werden wird. Aber
da der Grundstock der Bevölkerung gut und kräftig ist, darf man die Hoffnung
nicht aufgeben, daß sich auch dieser alte Staat mit der Zeit den modernen
Verhältnissen anpassen und sich auch wirtschaftlich günstig entwickeln wird.
Wirth beurteilt die Dinge entschieden zu pessimistisch und übertrüge diese
Stimmung leider mich auf die Erörterung unsrer Weltpolitik, indem er gelegent¬
lich auf unsre angebliche Erfolglosigkeit und Isolierung zu sprechen kommt.
Dieser Anlaß bietet Gelegenheit, einmal die Frage zu erörtern,, was es
eigentlich mit der sogenannten Einkreisung unsers Vaterlandes für eine
Bewandtnis hat. Die Weltgeschichte lehrt, das; Koalitionen immer nur gegen
einen Staat geschlossen worden sind, der für stärker und mächtiger galt als
alle andern Staaten. Die sxlenäicl isol^ton Englands vor zwanzig Jahren
bezeichnete den Höhepunkt seiner Macht. Das Deutsche Reich befindet sich nun
heute auf dem aufsteigenden Ast, während England den Kulminationspunkts
wie es selbst zugibt, schon überschritten hat. Das deutsche Volk sollte sich also
daran gewöhnen, in der Einkreisung seines Vaterlandes nicht ein Zeichen der
Schwäche, sondern einen Beweis seiner Stärke zu sehn, daneben aber auch die
Win wandernder Schneider, der im Anfang des vorigen Jahrhunderts
durch die deutschen Lande zog. predigte der Menschheit den Satz:
„Frei wollen wir werden wie die Vögel des Himmels, sorgenlos
in heitern Zügen und süßer Harmonie durchs Leben ziehen wie
sie." Der Schneider war Weitling, der Kommunist, und sein
Werk hieß: „Garantien der Harmonie und der Freiheit". Spruch und Bnch-
iuhalt künden den Menschen eine Friedensordnung, die kein Verbrechen kennt,
weil es unter ihrer Herrschaft keine Versuchung gibt. Aber den Kommunismus,
von dem die politische Philosophie des wandernden Schneiderleins schwärmte,
besteht heute schon, wie er damals bestand. Es ist der Kommunismus am
blauen Himmel, am grünen Blütterdach, an der murmelnden Quelle, an dem
kürglichen Viatikum der Landstraße, daran auch Spatzen und Goldammern teil¬
haben. Wer seine Ansprüche nicht höher stellt, wird nicht mehr kriminell als
die Spatzen, wenn sie sich die fettesten Brocken abjagen und sich das Feder¬
kleid zerraufen. Er braucht höchstens noch die paar Heilmittel, die Weitling
gegen den natürlichen Rest menschlicher Schwächen und Krankheiten verschreibt,
um vollkommne Seligkeit zu erreichen. Über diese romantischen Phantastereien
ist die von heftigem und schrankenbrechendem Wollen und Wünschen geplagte
Menschheit lächelnd hinweggestiegen. Die Moderne hat die Menschen nur
gieriger gemacht, die Werte des Lebens, die sie dafür hält, an sich zu ziehn,
koste es, was es wolle, koste es auch das Verbrechen. Wir wissen das nur
zu genan, wir wissen es sogar genauer als früher, mindestens zahlenmäßiger.
Wie auch der historische Sozialismus der Marx und Engels realistischere
Grundlagen für die Idee von Zukunftsgesellschaft und Zukunftsstaat zu schaffen
trachtete, so haben doch auch diese utopiefeindlichen Sozialisten das alte Märchen
vom Verlornen und wiedergefundnen Paradiese nicht fahren lassen, weil damit
der werbenden Kraft des Sozialismus als einer Weltanschauung der Grund
abgegraben sein würde. Auch sie haben also an eine Ordnung der mensch¬
lichen Dinge glauben gemacht, worin es an Raum für Straftaten fehlt,
weil die Menschheit von aller Willens- und Wunschqual befreit sein wird.
Und wenn sich auch der revisionistische Sozialismus unsrer Tage mehr und
mehr hütet, seine Zukuuftsstaatsideen in sxeoiö darzulegen, so darf er sich
doch auch nicht von jenem Utopismus entfernen, aus dessen Grunde er hervor¬
gewachsen ist.
Noch neuerdings hat es ein „gelehrter" Sozialist unternommen, diesen
Ideen Worte zu leihen. Auf die von der Universität Amsterdam gestellte
Preisaufgabe: IZxposs ZMelNÄtiyuk se eritiMk sur is raxport sntrs viiininalitv
se ooiMtions vvonamiaues hat W. A. Borger, cloetcmr su äroit, ein Werk von
750 Seiten geschrieben, das in den Sätzen gipfelt: Die ideellen Faktoren des
kriminologischen Phänomens, der Egoismus, die Sexualität, überhaupt die
niedern Leidenschaften sind der Ausfluß des heutigen Wirtschaftssystems. Mit
der Aufhebung des Eigentums wird an die Stelle des Egoismus der Altruismus
treten (viens uns toUs sovikte it »<z 8Äurait vero ^usstiou 6s orirno proprkinsiit
an). Und diese Arbeit, deren Fleiß gewiß anzuerkennen ist, hat trotz dieses
utopistischen Charakters von der Universität eine ehrenvolle Erwähnung erhalten.
Man kann sich denken, welche Stärke der Überzeugung bestehn muß, um als
Preisarbeit für eine Universität ein Werk von solchem Umfange zu schaffen,
das aller Voraussicht nach niemals einen Preis erwarten konnte.
Bleibt noch übrig der Anarchismus, der praktisch fast nur durch möglichst
scheußliche Verbrechen auf das Welttheater tritt.*) Er will uns glaube» machen,
daß die von dem elenden Ballast der jetzigen Rechtsgüter befreite Menschheit
ohne Verbrechen auskommen wird. Freilich, wo es kein Eigentum, keine Ehe,
keine Familie, keinen Gott, kein Vaterland, keinen Staat gibt, ist es schon
schwer zu fehle», und wenn damit ein jeder zum unbeschränkten Hüter seiner
Freiheit, seiner körperlichen und geistigen Integrität berufe» wird, da»n heißt
das Verbrechen nicht mehr Verbrechen, sondern Schutz des eignen Ich, mag
dies auch noch so erbärmlich und noch so wenig schutzbedürftig sein.
Wir wissen, daß weder der sozialistische Zukunftsstaat noch das anarchistische
Gemeinwesen der Zukunft, wenn sie einmal außerhalb Nirgendheim zu finden
sein sollten, je und je des Verbrechens entbehren werden. Es ist ein natür¬
licher und notwendiger Zustand des menschlichen Geschlechts, in Gemeinschaft
zu leben, der in der Unmöglichkeit, seine physischen, geistigen und ethischen
Bedürfnisse allein zu befriedigen, auf die tiefsten Quellen menschlichen Daseins
zurückgeht. Wo immer aber eine solche Gemeinschaft von Menschen zusammen¬
lebt — es braucht keineswegs in der Form eines Staates zu sein —, da wird
es auch Gesetze geben, und mit ihnen wird der Anspruch entstehen, daß sie heilig
seien. „Sind aber Gesetze und Anordnungen da,, sagt Stirner richtig, dann
werden sie mit Notwendigkeit auch übertreten, denn Menschen, die dem Heiligen
des Staates, der Gesellschaft ihr Unheiliges entgegenstellen, deren Egoismus
sich den von einem andern aufgestellten Normen entgegenstellt, wird es so lange
geben, als das Ich des Menschen sich nicht völlig zu der Gallertmasse des
»Nur noch sozialen Bewußtseins« verändert hat." Das ist jedenfalls sicher,
daß auch bei dem Aufkommen anders gearteter Gesellschafts- und Wirtschafts¬
formen nach den abgeschafften Rechtsgütern, wie die Pilze aus der Erde, neue
entstehn werden, von denen man nicht wissen wird, wie sie von den alten
unterschieden werden sollen, und auch den neuen Rechtsgütern wird sich das
Verbrechen feindlich gegenüberstellen. Wir sind nicht imstande, uns eine
Behandlungsweise des Verbrechens zu denken, die es vollständig aus unserm
Leben tilgte. Ebensowenig wie wir das von einer Straftheorie erhoffen dürfen,
dürfen wir es von einer Heiltheorie, denn auch von physischen Krankheiten lassen
sich viele, viele Menschen, so jetzt, wie in Zukunft, nicht heilen, weil sie der
Weisheit des Arztes ihre Weisheit, dem fremden Ich also das eigne Ich entgegen¬
setzen. Und mit der Durchführung einer Theorie der Unschädlichmachung der
Verbrecher würden wir auch nicht weit kommen. Sie setzt die Begehung mindestens
eines Verbrechens voraus, und daß man sich auch an der bloßen Konstatierung
verbrecherischer Gesinnung genügen lassen wollte, ist wohl ein Gedanke, der in
absehbaren Zeiten auf praktische Beendigung keinen Anspruch erheben darf.
Nur dann, wenn sich einmal auch der Egoismus völlig auf feiten des
Rechthandelns im Sinne der derzeitigen Gesellschaft geschlagen haben wird,
dürften wir hoffen, die Kriminalität bis auf Spuren zu beseitigen. Das wäre
gleichbedeutend mit der Abänderung eines Naturgesetzes. Naturgesetze aber sind
unabänderlich. Wie immer der Blitz da einschlagen muß, wo er angezogen
wird, wie immer bei einer gewissen Schneebeschaffenheit sich im Gebirgssturm
aus Schneebällen Lawinen formen müssen, so wird sich immer, wenn äußerer
und innerer Anlaß in der Menschenseele zusammentreffen, das Verbrechen er¬
geben. Aber eben so sehr, wie die Kriminalität Naturgesetz ist, ist es der Kampf
gegen sie: er ist die Reaktion der Gemeinschafts- gegen die Einzelinteressen und
darum niemals durch die Vorstellung der Fruchtlosigkeit der Kampfmühen zu
bannen. Wir kämpfen ja auch gegen eine ganze Reihe uns als schädlich be¬
kannter Naturgesetze an, nicht in der Erwartung, sie abändern oder aufheben
zu können, sondern nur um die Anwendung des Naturgesetzes auf uns zu
hindern, und in diesem Kampfe haben wir denn doch schon recht tüchtige
Erfolge gehabt; Erfolge, die manchmal bis zu einem Grade gehn, daß das
Naturgesetz — man denke zum Beispiel an gewisse epidemische Krankheiten — seine
Wirkung verloren zu haben scheint. Ja, in der Welt der idealen Forderungen
ist es nicht einmal die Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit des Erfolges, die uns
zum Kampfe aufruft. Wir suchen durch Veredlung unsrer sittlichen Begriffe
und durch deren Verpflanzung aus möglichst viele die Menschheit besser zu
machen und wissen doch, daß es uns nie gelingen wird, die Menschheit als
Ganzes gut zu machen und das Reich Gottes auf Erden zu stabilieren. Die
meisten von uns wissen, so sehr wir auch um die Verbesserung unsrer wirt¬
schaftlichen Lage kämpfen, daß ein goldnes Zeitalter nie heraufkommen wird.
Immer wird es Teile der Menschheit geben, die Grund haben, mit ihrer wirt¬
schaftlichen Lage unzufrieden zu sein.
Und wie auch die Betrachtung der Welt zu der Einsicht zwingt, daß in
allem, was die Interessen der Menschheit betrifft, Kampf die Losung der Zu¬
kunft ist, ist doch auch die seltsame Idee vertreten worden, daß im Gebiet der
Kriminalität der Kampf zu unterlasse» sei. Hätte man es nur mit der Vcr-
stiegenheit eines spekulativen Philosophen zu tun, so würde es sich kaum ver¬
lohnen, solchen Irrwegen nachzugehn. Es handelt sich aber um einen bedeutenden
Soziologen, von dem mau anzunehmen hat, daß er in den Wirklichkeiten der
Welt besser zu Hause ist: Dürkheim: I^s reales ac la mot-nocio Lveiolossiauo.
„Man denke sich eine Gesellschaft, sagt er, in der kein Mord, kein Diebstahl
kein Sittlichkeitsverbrechen begangen wird. Dieses könnte nur seinen Grund
in einem Übermaß von Gleichmäßigkeit und Anspannung des öffentlichen Ge¬
wissens haben, und die bedauernswerte Folge wäre, daß sich dieses Gemeiu-
schaftsgewissen darauf verlegen würde, mit ausschweifender Härte die leichtesten
Handlungen von Gewalt, Unzartheit und Unmoral zu verfolgen. Dann wird
man leben wie im Kloster, wo ^ man in Ermangelung von Todsünden auch
bei den kleinsten und verzeihlichsten Sünden zu Büßerhemd und Fasten ver¬
urteilt wird. Alsdann würden zum Beispiel schon die unfeinen Verträge
oder deren unfeine Ausübung (gemeint ist offenbar das zivile Unrecht) zu Ver¬
geh» gestempelt werden." Dieses sind die Konsequenzen einer Meinung, die
das Verbrechen als einen Faktor der öffentlichen Gesundheit, ja als einen
integrierender Bestandteil jeder gesunden Gesellschaft ansieht. Aus der Tatsache,
daß das Verbrechen eine gewöhnliche Erscheinung des Zusammenlebens der
Menschen ist, schließt er, daß es auch nützlich und notwendig sei. Geknüpft
an die fundamentalen Bedingungen des sozialen Lebens und solidarisch mit
ihnen, sei es, meint er, unentbehrlich für die normale Entwicklung der Moral
und des Rechts. Nicht bloß ruhig zuschauen dürfe man der Entwicklung der
Kriminalität, sondern man müsse sich freuen, wenn sie zunehme, und besorgt
sein, wenn sie unter das gewöhnliche Maß zurückgehe, denn das könnte nur
zugleich mit einer sozialen Umwälzung eintreten.
So ganz allein, wie man meinen möchte, steht Dürkheim mit seinen An¬
sichten nicht. Der Italiener Poletti hält die Zunahme der Kriminalität für
eine natürliche und notwendige Folge der Zivilisation und darum für etwas
Gutes. Wenn man die anstündige Handlungsweise der Menschen mit der
verbrecherischen vergleiche, so müsse man, sagt er, prinzipiell zugeben, daß sie
sich parallel entwickelten. Die Summe anständiger Arbeit, die unsre kommerziellen
und industriellen Beziehungen vermehrte, müßte parallel anch die Summe der
verbrecherischen Arbeit, die Gelegenheiten, in Straftaten zu verfallen, vermehren.
Das heißt schließlich nichts andres, als weil die Menschheit die Zivilisation
will, muß sie auch deren Gefolgschaft wollen, die Zunahme des Verbrechens.
Große Kriminalität, große Zivilisation. Selbst wenn diese Ansicht richtig wäre,
müßte man doch noch nicht die Kriminalitätszunahme als ein Gut preisen und
sie gewissermaßen als das Primäre oder gar Bessere über die äirg. nsesssitas,
die sie leider ist, erheben wollen. Und die These von der Parallelentwicklung
der Zivilisation und der Kriminalität steht denn doch noch etwas sehr des
Beweises entkleidet da.^)
Ein schönes Beispiel für das Unrichtige solcher Ansicht ist die Kriminalitäts-
entwickluug im Kanton Genf. Dieses gottbegnadete Lündchen ist infolge des
unaufhörlichen Zustroms von Fremden aus allen Kulturländern im neunzehnten
Jahrhundert zu einer außerordentlichen Blüte und zu großem Reichtum gelangt.
Es ist mit der Zeit durch seine Universität und dnrch viele reich dotierte
Stiftungen ein Kulturmittelpunkt erster Ordnung geworden, wie aber in der
freien Schweiz nicht auffallend, auch ein Asyl für ein hergelaufnes Gesindel
aller Art und der verschiedenartigsten Herkunft. Die Bevölkerung hat sich im
neunzehnten Jahrhundert verdoppelt, die fremde Eimvcmdrung vervierfacht, und
trotzdem hat sich die Kriminalität um 85 Prozent vermindert.
Wie weit die Symbiose von Verbrechen und Zivilisation notwendig ist,
ahnen wir heute nicht einmal, nicht weil die Zivilisation nicht weit genug
fortgeschritten ist, sondern weil wir noch nicht lange und tief genug den Zu¬
sammenhang der Kriminalität mit den Leben und Entwicklung der Menschheit
beherrschenden Gesetzen erforscht haben, weil wir erst im Anfang der Er- und
Begründung des Satzes stehn, daß auch die Geschehnisse der sittlichen Welt
unter Gesetzen, wie die der physischen, stehn. Der allewege regierende Jn-
determinismns bekämpft ja heute noch diesen Satz heftig.
In den Dürkheim-Polettischen Lehrsätzen offenbart sich schließlich weiter
nichts als der anscheinend unversiegbare Glaube an das Verbrecherheldentum,
dessen Verherrlichung weiter zurückreicht als auf die griechische» Schicksals-
tmgödien; für das auch Schiller hohe Worte zu finden gewußt hat, und das
uns auch von dem Nietzschischen Übermenschen, wenn er einstmals lebendig
werden sollte, gelegentlich dargestellt werden wird. Dieses Heldentum, dessen
Existenz ebensowenig geleugnet werden kann wie die des tragischen Konflikts
von Pflichten, der sich im Verbrechen löst, wie der Berechtigung des Satzes,
daß unter besondern Umständen das begangne Schlechte an dem erreichten
Guten seinen Meister findet, und daß in großen Taten der Zweck die Mittel
heiligt, ist niemals etwas andres als Einzelerscheinung. Es kann nie in das
ttbergehn, was wir als die Kulturplage Kriminalität bezeichnen. Weder die
erhabne Weltanschauung eines Schiller, noch die Herrenmoral eines Nietzsche
will die Energie des Verbrechers schlechthin als notwendige Kulturmacht preisen.
Über den utopistischen Ansichten des Sozialismus und des Anarchismus und
über den weltfernen Lehrmeinungen der genannten Soziologen steht die historische
Tatsache, daß der Kampf gegen das Verbrechen in keiner geordneten mensch¬
lichen Gesellschaft fehlt, daß auch das Verlangen nach einer starken und gerechten
Strafgewalt alle Kulturnationen beherrscht, daß ferner, wo die verordnete
Strafgewalt diesen Erfordernissen nicht entspricht, sich eine solche bildet, daß
endlich, wenn die Bevölkerung nicht außergewöhnlich gut veranlagt ist, beim
Nachlassen der Strafgewalt die Kriminalität wächst. Daraus ergibt sich aber
die Gesetzmäßigkeit der Reaktion gegen das Verbrechen: sie liegt begründet in
dem nie verschwindende» Gegensatz der Einzel- und Gemeinschaftsinteressen und
in dem Vorzug, den die letzten im geordneten Zusammenleben der Menschen
genießen. Zunehmende Kultur kann dieses Gesetz auch unter der Herrschaft
andrer Wirtschaftsformen umso weniger außer Kraft setzen, je mehr Meuschen
die Erde bevölkern, denn um so nötiger sind dann die Normen, die bei der
Vermehrung der durch die Kultur schon an und für sich vermehrten Reibungs¬
flächen unter den Menschen den gesellschaftlichen Frieden zu gewährleisten haben.
Verbrcchenszunahme als Bedingung des Kulturfortschritts wäre wenigstens
teilweise dessen Negation, besteht jener doch gerade auch darin, Verbrechens¬
motive zu beseitigen. Inhalt unsrer Kultur ist allerdings auch das. was in
der Vorbeugung und im Kampf gegen das Verbrechen geleistet wird. So beruht
zum Beispiel unser Zivilprozeß zu einem großen Teil auch auf dem Gedanken.
Sicherheit gegen straffälliges Tun zu schaffen. Und wieviel andre Leistungen
im Gebiete der Ethik, Religion, Politik, Pädagogik und Technik sind noch diesem
Zwecke gewidmet! Aber alle diese Bemühungen bilden schließlich doch nur
einen geringen Teil der ganzen großen Kultur unsrer Zeit.
Mehr noch, wir bedauern es. daß so viel materielle und immaterielle
Kräfte im Kampfe gegen das Verbrechen gebunden sind. Könnte man sie frei
machen, so wäre es möglich, daß alsdann unsre Kultur in rascheren Tempo
aufwärts stiege. So notwendig Kampf für die Entwicklung der Kräfte ist, so
wenig notwendig ist es doch der Kampf gegen die Kriminalität, denn an
Gelegenheit und Anlaß zu Kämpfen fehlt es uns heute noch keineswegs.
Allerdings kommt vielleicht einmal die Menschheit so weit, daß selbst moralisches
und ziviles Unrecht als kriminelles abgestraft wird. Dann aber wird die
Menschheit so fein organisiert sein, daß es niemand als eine Klosterexistenz
empfindet, wenn ihm die strafrechtliche Ahndung kleinerund kleinster Fehltritte
angedroht wird, denn dann wird auch die Verlockung, solche Fehltritte zu
begeh«, nicht größer sein als jetzt gegenüber den heute mit Strafe bedrohten
Handlungen. Wenn wir uns an die Moral des Märchens von der zarten
Prinzessin halten, die den Druck einer Erbse durch sieben Matratzen hindurch
spürt, so würde es doch eben ein Zeichen besonders geläuterten Menschentums
sei«, wenn wir einmal so empfindlich würden, daß wir Abwehr gegen jedes
Unrecht, wie gering es auch sei, für nötig halten. Sollen wir uns deswegen
im Kampfe gegen das Verbrechen beschränken?
Wie in allen unsern Handlungen können wir auch im Kampfe gegen das
Verbrechen nur die nächsten Ziele im Auge behalten. Um mit Goethe zu
sprechen: „Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonncnpferde
der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt Nichts,
als mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom
Steine hier, vom Sturze da, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer
weiß es?" Unsre Zeit schreibt uns aber vor, gegen das Verbrechen zu kämpfen,
wie wir nur immer können, denn es erhebt noch frech genug das Haupt, und
wir sind noch nicht einmal so weit, seine materiellen und immateriellen
Schädigungen genau genug zu erkennen, obgleich wir wohl dazu imstande
wären. Daß diese Jnventuraufuahme, die von unsrer Kriminalstatistik nur
mangelhaft geleistet wird, fehlt, ist um so bedauerlicher, als unsre Zeit Straf¬
recht und Strafprozeß zu reformieren auf sich genommen hat, und diese Reformen
doch vor allem davon abhängig gemacht werden müßten, wie groß das Übel
ist, das im Strafrecht zu bekämpfen ist. Gerade darum kümmert man sich aber
am wenigsten. Die großen und an und für sich gewiß höchst dankenswerten
und fleißigen wissenschaftlichen Vorbereitungen, die für das große Reformwerk
gemacht werden, bewegen sich auf der Linie der Nechtsvergleichung. Das, was
uns wirtschaftlich und ethisch das Verbrechen bedeutet, das lernen wir dabei
um wenig oder nichts besser kennen als vorher. Auf diesem Gebiete bewegen
wir uns nach wie vor, soweit die Kriminalstatistik keine Auskunft zu geben
vermag, mit vagen Vorstellungen und allgemeinen Sentiments. Trotz den gro߬
artigen Leistungen, die in den wissenschaftlichen Vorarbeiten stecken, werden
deshalb die Reformen, insbesondre im Strafprozeßrecht, von den politischen
Forderungen des Tages bestimmt werden.
./ So heißt es, der Mangel der Volkstümlichkeit des jetzt geltenden Straf-
und Strafprozeßrechts macht die Reform nötig. Der Ausdruck „Volkstümlich¬
keit" will mir in Anwendung auf das Strafrecht nicht recht passend erscheinen.
Ein Recht, das notwendig seine Härten und Schärfen vor allem gegen das
Volk richtet, dem das Heer der Beschuldigten ^Angeschuldigten^ Angeklagten,
Verurteilten) und seiner ungezählten Parteigänger doch angehört, kann nimmer¬
mehr volkstümlich sein, solange noch die gelehrte Jurisprudenz darin irgendwas
zu sagen hat, und solange der Staat noch so hohe Anforderungen an die
öffentliche Ordnung und Sicherheit stellt, Volkstümlichkeit des Strafrechts ist
im heutigen Staate und wohl in jedem Staate unerreichbar. Es handelt sich
nur um ein Mehr oder Weniger. Wir stehn im Zeichen des „Mehr", weil
im Kampf der Einzel- und der Gemeinschaftsinteressen jetzt die erstem vorzugs¬
weise berücksichtigt werden. So will es der Zeitgeist. Er geht noch weiter.
Er betont nicht die Interessen eines jeden einzelnen, sondern zunächst die des
einzelnen aus dem Volke. Dieser einzelne aus dem Volke ist uns in unsrer
wirtschaftlichen und politischen Entwicklung zu einem viel bedeutendem Etwas,
als vor dem Beginn moderner Sozialpolitik, geworden. Wie alle Gebiete, die
durch Gesetzgebung zu regeln sind, von diesen Einflüssen erfaßt werden, so nun
auch das Strafrecht. Und so konnte einer, der in erster Reihe zu der gesetz¬
geberischen Reformarbeit berufen worden ist, mit Recht sagen, daß unsre Zeit
weniger die Interessen der durch das Verbrechen verletzten als der des Ver¬
brechens beschuldigten zu berücksichtigen geneigt ist. Des Beschuldigten Rechte
auf Erhaltung der Freiheit und der bürgerlichen Ehre, auf Schonung seiner
Vermögens- und Familieninteressen sollen uns wichtiger sein als die Rechte
des Verletzten und seines Schirmherrn, des Staates als Vertreters der Ge-
meinschaftsinteressen. Darum möglichste Beschränkung der Untersuchungshaft,
der Beschlagnahme und Durchsuchung, der Zengniszwangshaft, darum Einführung
eines Zwischenverfahrens vor Eröffnung des Hciuptverfcchreus, Ausdehnung des
Laienrichtertums und Vermehrung der Instanzen, und was sonst noch kommen
wird. In Zukunft soll es also heißen, nicht lieber zehn, sondern hundert Schuldige
laufen lassen, als einen Unschuldigen kränken, denn dieses ist die notwendige
Folge dieser Maßnahmen.
Es sieht so aus, als wenn man in Deutschland auch nicht die geringsten
Besorgnisse Hütte, daß uns die Kriminalität der Bevölkerung zu wirklicher und
großer Gefahr werden könnte, als wenn man mit den Sozialisten dächte, die
Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse und die Sozialisierung der Welt
werde von selbst den Rückgang des Verbrechens zur Folge haben, oder gar,
als wenn man mit jenen Soziologen glaubte, ein bißchen mehr Kriminalität
schade gar nicht, das sei ein gutes Zeichen für wachsende Kultur. Man mache
sich doch einmal die Mühe und die Kosten, durch Enquete festzustellen, welche
Delikte bekannt geworden sind, und welche davon zu gerichtlicher Ahndung
gekommen, und welchen wirtschaftlichen und so weit möglich auch sittlichen
Schaden alle diese bekannt gewordnen (geahndete und ungeahndete) Straftaten
hervorgerufen haben, und des Erstaunens wird kein Ende sein. Unsre heutige
Strafrechtspflege leistet nicht mehr, als daß die wirklich begangnen Straftaten
in einigen Stichproben zur gerichtlichen Ahndung gebracht werden. Die general¬
präventive Wirkung unsers Strafrechts und der Strafrechtspflege ist äußerst
niedrig zu bewerten. Kann man sich angesichts dieses noch für versichert halten,
daß die öffentliche Ordnung und Sicherheit unter der Herrschaft eines solchen
Reformwerks in demselben Maße, wie bisher, garantiert bleiben wird? Meines
Erachtens befinden wir uns in einem schweren kriminalpolitischen Irrtum, wenn
wir allzusehr danach streben, die Härten und Schärfen aus dem Strafrecht zu
entfernen, da sie doch sein Wesens- und Wirkungsinhalt sind. Dieses wird und
muß den Erfolg haben, daß sich die „Stichproben" noch um ein bedeutendes
vermindern. Nimmermehr dürfen wir glaube», mit solchen Mitigationen die
sogenannte ausgleichende Gerechtigkeit zu üben. Diese Gerechtigkeit müßte von
selten des Staats an erster Stelle in der Weise geübt werden, daß er sich
ernstlich bemüht, möglichst alle Straftaten zur Ahndung zu bringen, denn die
Strafe, die dem einen Übeltäter, der dumm genug war, sich fangen zu lassen,
recht ist, ist auch dem andern billig, der sich der vergeblichen Anstrengungen
der Nechtspflegeorgane, ihn zu fangen, freut. Erweitert man die Maschen des
Strafrechts, so werden neue Heere Krimineller durchschlüpfen, und wir werden
uns immer mehr — wie es heute schon so sehr zutrifft — mit dem Zurstrecke-
bringen der Dummen begnügen müssen.
Leider aber sind die Reformen, die auf dem Gebiete des Strafrechts ver¬
langt werden, zur politischen Tagesforderung geworden. Ja man darf mit
Recht vermuten, daß der politische Markt diese Forderungen und deren Erfüllung
als gute Handels- und Tauschobjekte betrachtet. Wer gegen diesen Geist der
Zeit eifert, ist zum unheilbaren Scharfmacher gestempelt, er kann seine Ansicht
so erfahrungsmäßig begründen, wie er will. Man will so etwas heute eben
nicht mehr hören, man will lieber eine neue Blüte des Verbrechertums erleben,
wie sie seit den Zeiten der Flagellanten und Raubritter nicht mehr gesehn wurde.
Unsre zweifellos verbesserte Verbrechensprophylaxe kann da allein nicht helfen.
Scharfe Repressiv» wirkt mehr als ein gut Teil mit. Wir sollten doch auch
daran denken, daß selbst die moderne Geschichte Revolutionen nachweist, die
ihren Hauptgrund oder einen dieser Gründe in überhandnehmender Kriminalität
einer oder mehrerer Gesellschaftsschichten haben. Soll man diesen Zündstoff
ohne Not häufen? Heute glauben wir die öffentliche Sicherheit und Ordnung
im ganzen und großen noch verbürgt zu haben. Der Kampf gegen die
Kriminalität, so weit er nicht vom Staate geführt wird, erfaßt bei uns weder
ganze Stände und Klassen noch überhaupt größere Kreise des Volkes. Wird
der einzelne vom Verbrechen betroffen, so nimmt er wohl unter Inanspruchnahme
der staatlichen Machtmittel den Kampf gegen den Verbrecher auf. Die Volks¬
genossen schauen diesem Kampfe aber in den meisten Fällen geruhig zu, der
besten Hoffnung voll, daß sie von kriminellen Angriffen verschont bleiben werden.
Den quivis ex xoxulo, der eine Straftat aus dem altruistischen Antriebe, die
Allgemeinheit vor ihrer Wiederholung zu schützen und der Rechtsordnung zu
dienen, anzeigt und aufzuklären sucht, den kann der Staatsanwalt heute mit
der Laterne suchen. Den gibt es einfach nicht. Das ist für heute noch ein
gutes Zeichen, denn es zeigt an, daß die Kriminalität noch nicht als für das
Interesse des einzelnen bedrohlich angesehn wird; aber auch ein schlechtes, denn
es offenbart, wie wenig die Nation mit den Gedanken an das Gemeinwohl
durchsetzt ist. Aus diesen Erwägungen heraus erklärt sich auch das geringe
Interesse, das den beabsichtigten Reformen im Volke entgegengebracht wird. Die
Zeiten aber werden sich ändern, die jetzt seit Beginn unsrer Kriminalstatistik
relativ und absolut steigende Kriminalität wird nnter der Herrschaft milderer
Strafgesetze, insbesondre milderer Prozeßvorschriften, immer bedrohlicher an¬
schwellen, und dann wird man einsehn, daß es falsch war, die Interessen des
Verletzten und der Allgemeinheit auf ein so niedriges Postament zu stellen, wie
es jetzt beabsichtigt wird. Tausende kommen heute unter die Räder de.r Lokomotiven,
der Automobile, der Maschinen und Lastwagen eines zu enormer Hohe un-
gewachsnen Verkehrs und einer ungeheuer ausgedehnten Industrie, deren gesunde
Knochen im besten Falle durch einen klingenden Entgelt, der dem Geschädigten
niemals den Verlust voll zu ersetzen vermag, abgegolten werden) Aber uni der
paar Menschen willen, die durch den Gang der in der Strafrechtspflege endigen
Staatsmaschine ohne Willen beschädigt werden, entsteht ein Geschrei, daß die
Welt widerhallt, und daß man überhört, wie laut die Stimme der durch das
Verbrechen beschädigten und derer, die von der Schädigung durch Straftaten
befreit bleiben wollen, nach einer strengen Strafrechtspflege rufen, die ihnen
G
meer lieben und vertrauten Menschen erzählt wohl jeder gern
und unbefangen von vergangnen und gegenwärtigen Tagen.
Anders aber ist es, wenn mau ins dunkle hinaus von sich reden
soll, zu Menschen, die man nicht kennt, und die am Ende auch
von uns nicht wissen. Da fragt man sich bald verlegen: Wie
kommst du dazu, andre mit deinen Angelegenheiten zu unterhalten? Bist du
denn sicher, daß sie davon hören wollen? ^ N
Es ist immer meine Meinung gewesen, daß wir, besondre Fälle abge¬
rechnet, am besten fahren, wenn wir uns an dem genügen lassen, was ein
Dichter oder Künstler in seinen Werken selbst von sich und seinem Leben
kundgibt. Mein eignes Leben wenigstens ist still und einfach gewesen und
bietet wenig, was andre interessieren kann. Gleichwohl will ich dem
Wunsch, davon zu erzählen, gern nachkommen, richte jedoch die Augen auf
ein Stück Leben, das fertig Und abgeschlossen in schöner Ferne hinter mir
liegt, und werde von dorther nur einige zarte Linien nach der Gegenwart
hinüberziehn.
Geboren bin ich in Großalmerode, einem hessischen Städtchen, das, zwischen
Wäldern und Bergen eingebettet, mir meinen größten Reichtum an Naturbildern
geschenkt hat. obwohl ich mich schon in früher Jugend von ihm trennen mußte.
Schön ist es, eine Vaterstadt zu haben, die einem auch nach vielen Jahren
auf Schritt und Tritt vertraute Bilder zeigt, und durch deren Straßen und
Gassen wandelnd man ein bekanntes Gesicht nach dem andern wiederfindet.
Ich sehe in meiner Vaterstadt nur noch einige bekannte Straßen- und Häuser¬
winkel, die Menschen sind mir fremd geworden, ich kenne sie nicht mehr, und
sie kennen mich ebensowenig. Aber auch das Bild der Stadt und ihrer
nächsten Umgebung hat sich stark verändert. Über Wiesen und Hügeln, darauf
wir uns einst tummeln durften, ragen rauchende Schlote empor, die Eisen¬
bahn fährt über unsre Spazierpfade dahin, und selbst die Straßenbrunnen,
die sonst Tag und Nacht in steinernen Becken rauschten, fließen jetzt nicht
mehr. Nur die Berge stehn noch wie vorzeiten, ernst und waldgekrönt, und
weiter hinaus gibt es noch heimliche und vertraute Wiesengründe, in denen
der Bach über ausgcwaschne Steine springt und da und dort ein moosgrünes
Mühlrad geruhsam wie vorzeiten auf- und niedersteigt.
Auch als wir nach Kassel übergesiedelt waren, bin ich noch manch liebes
mal durch die alte Vaterstadt gewandert, dem Hohen Meißner zu und über
ihn hinweg in die Heimat meines Vaters. Das war dann eine vergnügliche
Vetternstraße, Wald und Wiese und ein munteres Flüßchen immer zur Seite,
alle paar Stunden auch ein befreundetes Haus in der Erwartung, das gute
Rast und Atzung verhieß. An diesen Wandrungen im hellen Morgensonnen¬
schein oder im stillen Abcndgold haften meine liebsten Erinnerungen. Meine
Mutter kannte eine Menge schöner alter Lieder und Melodien, und wenn sie,
der Bürde ihres arbeitsvollen Lebens für eine Weile entledigt, den an¬
strengenden Teil des Weges hinter sich hatte und nun vom Meißner herab
ans das gesegnete, im Abendlicht erglänzende Land nach der Werra hin nieder¬
schaute, dann leuchtete es in ihren stillen, freundlichen Augen hell auf, und
die nun schon lange verstummte liebe Stimme hob eine Melodie nach der
andern aus dem Herzen empor. Daß mir später, wo ich mich selbst in Vers
und Reim versuchte, der Ton des Volksliedes immer im Ohre lag, und daß
ich auch heute, da ich mich längst der Prosa ergeben habe, danach trachte,
das, was ich zu erzählen habe, aufs einfachste und mit den schlichten Natur-
lauten auszusprechen, die die Volksdichtung so unvergleichlich schön und
rührend hervorzubringen vermag, das haben wohl diese Eindrücke aus früher
Jugend bei mir bewirkt.
Ganz glücklich aber waren wir, wenn es gelang, dem Vater eine Ge¬
schichte abzubetteln. Etwas aus der Bibel oder aus der Weltgeschichte, eine
Sage oder ein Märchen, es war alles willkommen, denn alles, was wir
hörten, war ein Märchen und war Wahrheit zugleich, und auch Bekanntes
und öfters Gehörtes wurde jedesmal mit neuem Entzücken vernommen. Erst
da ich als Student einmal meinen Vater im Unterricht der Kleinen und
Kleinsten eine Geschichte vortragen hörte, ist es mir recht zum Bewußtsein
gekommen, wie wundervoll er schildern konnte, und wie unter seinem Erzählen
alles und jedes bis in die letzte Einzelheit hinein lebendig und farben¬
voll wurde.
Bei der Wahl dessen, was er erzählte, knüpfte er gern an eben Ge¬
schautes und Erlebtes an und webte auch gern die Welt der Wirklichkeit um
uns her, Menschen und Dinge, Bäume und Steine und Wolken, die gerade
über uns hinzogen, in seine Schilderung hinein. Ich habe in meine Er¬
zählung „Joggeli" eine solche Kindheitserinnerung eingeschmuggelt. Wie der
Joggeli seinen eignen Kindern, und als diese von ihm gegangen waren,
fremden Kindern ein Ende verrosteten Eisendrahtes, das er im Gras der
Frauhollenwiese gefunden hatte, als Überrest einer vormaligen Verbindung
mit einer verborgnen, dem Kinderherzen aber immer nahen und innig ver¬
trauten Welt vorweist, so ist auch mir einmal mitten in der Geschichte und
am Orte des Märchens selbst ein solcher Fund gedeutet worden, und so scheu
und andächtig, wie es die Kinder in der Erzählung tun, habe auch ich das
geheimnisvolle Beweisstück angesehen.
Wenn ich jetzt die Pfade der Erinnerung allein gehe, dann schimmert
mir durch das Bild, das ich vor Augen habe, immer noch ein andres ent¬
gegen, das ich vorzeiten erblickte. Der sonderbare Weidenstumpf auf einer
Bergwiese, ein verwitterter großer Steinblock über einer waldigen Kuppe,
Lindenbäume an der Straße, die einen Steinsitz überdachen, Lindenbäume
über uralten Brunnen, ein dunkler Höhleneingang jenseits eines träumerischen
Weihers, ein Jägerhaus mitten im Walde, an dessen Tür der Röhrenbrunnen
mit den Stimmen der Finken singt und summt, das Rauschen einer Mühle
und Glockentöne von irgendwoher — das alles redet nun eine zwiefache
Sprache. Und wenn ich dort vorüberkommend nach einem von Buschwerk
wie von einer festen Mauer umschlossenen Walde hinüberschaue, dann denke
ich immer daran, daß darin einmal Brüderchen und Schwesterchen über Laub
und Moos hinirrten, und bald wird der Fels einer von Sträuchern um¬
rankten Felskuppe wieder zum Dach eines Königsschlosses, umsponnen von
Rosen und überglänzt vom Abendrot. So höre ich ähnlich dem guten Leon-
hard in meiner Erzählung „Ursula" zugleich eine Melodie von heute und
crie andre aus fernen Tagen, und könnte ich den beiden Stimmen so leicht
und frei wie er nachgehen, telum würde ich am Ende auch manches noch finden,
davon sich fröhlich und schon erzählen ließe. v . ^'
Ich berichte von diesen Eindrücken aus dem Kinderland, even in ihnen
die Quelle» meines Wesens fließen, aus denen ich schöpfe und Wohl immer
schöpfen werde. Oftmals habe ich Mir meine romantischen Neigungen vor¬
halten lassen müssen und bin von wohlmeinenden Freunden schon manchmal
ernährt worden, ihnen endlich zu entsagen. Wer kann aber ans seiner Natur
heraus, selbst wenn er es ernstlich wollte? Ich verlange aber gar nicht nach
solcher Verwandlung, sondern meine, jeder muß danach streben, so zu sein,
wie ihn die Natur geschaffen hat, und ich bin seelenvergnügt, daß mir von
dem blauen Dufte, worin die Welt vor dem Kinderange lag, noch immer ein
weniges geblieben ist, obwohl mein weiterer Weg in eine rauhe und harte
Wirklichkeit hineingeführt hat.
- Ich überspringe die Jahre und was in ihnen geschehen ist und wende
mich einem andern Lande zu, aus dem mir, so arm und kümmerlich es er¬
scheint, auch viele Quellen des Denkens und Dichtens zugeflossen sind. Ein
freudloses, trauriges Land^ Dostojewski hat es ein Totenhaus genannt. Als
ich vor zwanzig Jahren aus der Heimat' nach dem Osten und aus dem
Gemeindeleben in den Gefängnisdienst berufen würde, hatte ich schon eine
beträchtliche Menge von Liedern und Gedichten zusammengebracht. Der
Brunnen der Lyrik, aus dem ich unverdrossen und schonungslos Tag für
Tag geschöpft hatte, war dann aber auch bis zum Grunde geleert Und füllte
sich erst langsam wieder auf. Es war also gut, daß es eine lange Zeit
darin ruhig und ungestört quellen durfte, und daß mich der Neiz eines neuen
Landschaftsbildes und die seltsamen Einblicke in die Menschenseele, die ich in
meiner neuen Tätigkeit gewann, jahrelang von mir selbst ablenkten.
Ganz anders eilf mein wald- und quellenreiches Heimatland sprach das
Land, in dem ich nun leben mußte, zu meinem Herzen. Flach und in ein¬
tönigem Wiesengrün mit der blauen Ferne verfließend, statt der Eichen.
Buchen und-Tannen phantastisch verschlungne Kieferkronen am Waldesrande,
Stämme wie aus schwerer Bronze gegossen, die in sählgrüue Wölkchen hinein¬
ragen, dahinter Stangenwald, Sand und Heide und hin und wieder ein
n'lelancholischer Wasserspiegel, von tief hinabgeneigten Föhren überdunkelt. Und
das alles so einsam und menschenfern, ohne das vielfache Rieseln und Rauschen
und ohne den vielfältigen Gesang meiner Heimatsberge. Es ergriff mich
dennoch von Anfang an und zog mich, ob es auch das Heimweh nicht zu
stillen vermochte, je länger je mehr mit seiner sanften, ernsten Schönheit zu
sich'-dirsi^^ k-'-c ^-'.'H ü,^,: ^.-^ c-^'/-. c-.»
'
" sort und'tief waren-auch die E meines- neuen Berufs.- Gerade
in der ersten Zeit kam ich mit sehr eigentümlichen Menschen zusammen, und
wohl weil' sie merkten, wie wenig ich meiner Aufgabe gewachsen' wär und'
wie unsicher-, beinah allein von dem einfachen menschlichen Gefühl geleitet, ich '
mir meinen Weg in diese Welt hineinsuchte, öffneten sich mir fast von selbst
auch sonst sehr verschlossene Naturen. So waren die ersten Zeiten wirklich
Entdeckungszeiten, ich sah Finsternisse, wie ich sie später nicht oft mehr wieder¬
gesehen habe, aber auch schöne Sterne und helle Lichter, nahm damals auch
das Bild in mich auf, das mich, nachdem es viele Jahre in mir geruht hatte,
zu meinem Roman „Zwei Seelen" anregte.
Wer aber lange Zeit in einer solchen Arbeit gestanden hat, fühlt all¬
mählich, daß das zuerst so lebendige Gefühl lahm und stumpf wird. Die
Bilder wiederholen sich unaufhörlich, und es sind fast immer traurige Bilder.
Es ist ein Wandern durch Sand und Heide, in drückender, staubtrüber Luft.
Zuerst interessierte man sich gerade für Menschen, die sich am weitesten hinaus
verloren haben, und ihren Gewohnheiten, ihrer Denk- und Redeweise emsig
nachforschend, versetzte man sie vielleicht in den Wahn, daß sie sich auf ihr
Wissen um solche Dinge etwas einzubilden hätten. Das geschieht ja auch
jetzt so oft, wo die Schilderungen aus diesem Milieu mit wichtiger Miene,
als handle es sich um Offenbarungen aus einer höhern Welt, feilgeboten
werden. Wer mit diesen Dingen alle Tage zu tun hat, der sieht aber all¬
mählich ein, daß es sich wenig lohnt, aus solchen Wassern fort und fort zu
schöpfen. Man hat bald genug davon, begehrt nicht mehr und weiß, daß
man auch nicht mehr viel erfahren kann. Und so absonderlich, oft seltsam,
oft schreckhaft vieles ist und bleibt, mit der Zeit wird es monoton wie die
Bilder des armen, heißen Heidebodens, und nur an einigen wind- und sturm¬
verwehten Gestalten haftet der Blick noch mit der ersten Teilnahme.
So kann es leicht geschehen, daß das Auge immer leerer zurückkommt,
und die Arbeit immer freudloser wird. Vielleicht aber findet man auch einen
neuen Weg, der zu neuen Ausblicken hinleitet und den gesunknen Mut wieder
hebt und stärkt. Es blühen ja der Blumen nicht gar viele in diesem Lande,
und man muß lange suchen und oft hoch emporsteigen, ehe man sie findet.
Aber sie blühen doch auch an diesem Wege, und wenn wir sie entdecken, ent¬
zückt es uns ebenso, wie wenn uns zwischen verwitterten Steintrümmern an
der Grenze der Schneeregion ein schönes, einsames Blumenauge entgegen¬
sieht. Ich habe dieser Blumen genug gefunden, sobald ich weniger nach den
Trümmern aufschaute als nach dem, was noch heil und ganz geblieben war,
und als ich mich nicht mehr soviel ein die Besonderheiten hielt und an die
Abweichungen vom Bilde des Menschen, in dessen Herzen ein höheres Ideal
lebt, sondern als ich nach dem suchte, worin wir uns alle ähnlich sind und
was bei uns allen wiederkehrt. Da fand ich dann auch unter den krausesten
Linien das uns allen verwandte Menschenantlitz und erlebte es vie/mal. daß
sich unter solchem Anschaun die fremde Seele bis in ihr verborgenstes Leben
hinein willig und leicht vor mir auftat.
Von dem, was ich selbst gesehen habe, habe ich darauf vieles in den
„Zwei Seelen" geschildert. Um das Bild des Mannes, der uns in diesem
Buch von dem Licht und Dunkel seines Lebens erzählt und mit allen schönen
Sternen auch die bleichen Schatten der Vergangenheit vor uns erscheinen
läßt, schlingen sich mancherlei Blumen der Erinnerung, deren Aufblühen ich
einstmals beobachten durfte. Das Kriminalistische tritt dabei zurück, ich wollte
ja nicht einen Kriminalroman schreiben, sondern den Roman eines Menschen,
dessen Züge keinem von uns ganz fremd sind, in dessen Worten wir viel¬
mehr nachklingen hören, was lauter oder leiser auch einmal in uns selbst
erklungen ist. So war es mir recht, daß jemand den empfangner Ein¬
druck dahin zusammenfaßte! „^na re8 aZiwr. Durch deine Seele geht der
Menschheit Leid, in deiner Seele wird sie erlöst." Und ich freute mich, als
mir unbekannte und bekannte Leser schrieben, sie hätten zuletzt nicht mehr
die Stimme eines andern gehört, sondern sich selbst lauschen und stillhalten
müssen.
Das wirkliche Leben zerreißt ja nach und nach den goldnen Schleier,
durch deu das junge Auge auf die Welt und die Menschen blickte. Man
geht nicht mehr in solchen Träumen, wie man es als Kind getan hatte, durch
den Wald, sondern weiß, daß die Bäume Bäume sind und die Menschen eben
nur Menschen. Und doch haben wir Stunden, in denen wir den Verlornen
Schleier wiederempfangen zu haben meinen. Man sitzt etwa vor den letzten
dunkeln Waldleisten und sieht den Himmel blau oder vom Abendrot überglänzt
durch die Stämme schimmern. Da werden im Hirschauer versunkne Tage
wieder lebendig, wir hören eine Sprache, die die klugen Meister in Israel
über Wichtigerm vergessen haben, und die deutlich nur noch von Kindern und
Dichtern gehört und verstanden wird.
So möchte ich auch die Menschen sehen und ihr Bild malen, und in dem,
was ich geschrieben habe, habe ich es auch versucht. So, wie sie um uns
her leben und wie sie sich untereinander geben, zugleich aber mit dem Licht¬
schimmer im Auge, den die Welt des ewig Guten und Schönen zu ihnen
hinübersendet. Der Joggeli, von dem ich einmal erzählt habe, kannte diesen
Schimmer von Jugend an. In seinen jungen. Jahren war er ihm der
Schimmer einer schönen Märchenwelt gewesen, später wurde er ihm der Wider¬
schein seiner dritten Heimat, der er in Freud und Kummer zugewandert war.
Die leuchtete ihm zuletzt ganz warm und hell in die Gedanken und machte ihn
fähig, die Menschen, wie sie nun einmal sind, ob jung oder alt, klaren oder
getrübten Herzens, zu versteh» und zu lieben.
mes der großartigen Gemälde, die der Dichter im ersten Buche der
Ilias vor uns entrollt — man denkt dabei unwillkürlich an Böcklins
„Odysseus auf der Jusel der Kalypso" —, zeigt den Strand des
Meeres, und an ihm sitzt ein einsamer Mensch und streckt die Arme
meerwärts; Achilleus ist es, der voll Schmerz in verletzten, Ehrgefühl
und voll Begierde nach Rache zur Mutter, der Secgöttin Thetis,
fleht. Sie erhört ihn; wie ein Nebel hebt sie sich aus den Wassern. Sie hatte
keinen weiten Weg gehabt. Wir erinnern uns der andern Stelle aus dem dreizehnten
Buche: der Erderschütterer Poseidon spähte gen Troja und saß „hoch auf dem obersten
Gipfel der hochunuvaldeten Samos Thrakias; dort erschien mit allen Höhn ihm
der Jda, auch erschien ihm Priamos Stadt und der Danaer Schiffe". Von diesen
Schiffen aus aber stand in umgekehrter Richtung vor Aedilis Augen im Nordwesten
die gewaltige Pyramide von Samothrake und vor ihr die niedrige Jmbros.
Zwischen diesen Inseln lag nach einer dritten Stelle der Ilias der schimmernde
Palast von Thetis Vater Nereus ans dem Meeresgrunde; von dort also nahte die
Tochter. Wie der Dichter dazu gekommen ist, gerade dort den Meergreis wohnen
zu lassen, wer Will dos heute sagen! Aber man darf daran erinnern, daß ein
Schriftsteller des ersten Jahrhunderts v. Chr. eine alte Sage verzeichnete, nach der
Fischer beim Auswerfen der Netze dort in der Tiefe versnnkne Städte erblickt
hätten; und an der Szürnsa-Klippe, die sich östlich von Samothrake über die Fläche
des Meeres hebt, sieht man noch heute, so fabeln die Schwammfischer, versunkne
Häuser, und ein Ungeheuer haust an ihr, das den Menschen verschlingt, der dort
zu tauchen wagt. Ani diese ungeheure Höhe im thrakischen Meere (Samos ist ein
karisches Wort und bedeutet Höhe) sind natürlich früh Sagen gesponnen worden,
lange ehe sie die hochheilige, der Sitz der Großen Götter von Samothrake wurde.
Wie andre besonders eindrucksvoll über Flächen anfragende Berge soll dieser Fels
bei einer furchtbaren Sintflut einst die letzten Menschen gerettet haben. Die
Meeresstraßen vom Schwarzen Meere her seien damals eingerissen, große Teile
von Kleinasien und den Inseln des thrakischen Meeres weggespült worden. Es ist,
°is ob eine dunkle Kunde aus ferner ferner Vergangenheit in diesem Bericht, der
°uf die Tempellegende von Samothrake zurückgeht, vorläge. In der Tat müssen,
wie die geologische Zusammensetzung der Inseln Lemnos und Jmbros und des nächsten
Festlandes und wie die Meerestiefen beweisen, hier einst ungeheure Umwälzungen
stattgefunden haben; aber dem Menschen kann davon eine Überlieferung schwerlich
geblieben sein. Während das Meer nördlich von Samothrake und südlich von Lemnos
und Jmbros unter 200 Meter tief ist, klafft zwischen der nördlichen und den beiden
südlichen Inseln ein Spalt, der bis zu 1244 Metern hinabreicht. Bis zu 1750 Metern
türmt sich Samothrake selbst im Phengari, dem antiken Saos auf; es liegt hier
also eine Höhendifferenz von 3000 Metern vor.
Über diese Tiefe, in der Nereus wohnt, segelte ich am 29. Mai zu dem
wundersamen Eiland, das an Umfang Jmbros etwas nachsteht, an Masse es so
unsagbar übertrifft. „Das weiße Meer" heißt es im Munde der Schiffer, weil ein
weißer Schimmer wie ein leichter silberner Glanz über dem Blau liegt. Leukasia
(^.eox»s — weiß) soll Samothrake einmal geheißen haben; und die Göttin Leukolhea
hat hier ihre Heimat. Meist zeigt sich Nereus so unfreundlich wie damals gegen
Odysseus, als jene Göttin ihn mit ihrem Schleier rettete. Bei Ost- und vor allem
bei Nordstürmen ist die See um Samothrake sehr gefürchtet, weil sie sich an den
nackten Felswänden brechen und mit verstärkter Gewalt wirbelnd herabbrausen.
Außerdem zieht eine starke Strömung von den Dardanellen her hindurch, und
Samothrake ist hafenlos, galt schon im Altertum trotz zweier künstlicher Anlegeplätze
für die ungastlichste der Inseln. Im Winter ist sie fast unnahbar; wie vorsichtig
zeigt sich selbst in guter Jahreszeit der Schiffer ihr gegenüber, wie ängstlich verhielt
sich zu ihr der Dampfer, mit dem ich 1896 von Athen her zu einem flüchtige»
Besuche kam, ohne zu ahnen, daß ich hier noch einmal fast heimisch werden sollte.
Diesesmal eilte unser schwacher Kahn mit seinem primitiven Segelwerk kühn auf
die Befürchtete zu; mau wird selten die fünfzehn Seemeilen vom Kastro auf Jmbros
bis an die Südküste bei Platanos in drei Stunden zurücklegen. Zuerst hatten die
unter dein Nordost hochgehenden Wellen und das scheinbar willenlose Kalk auch etwas
Überwältigendes gehabt. Ruhiger wurde es erst, als wir unter den himmelstarrenden
und steil im Meer versinkendem, nur stellenweise mit Grün umkleideten und gänzlich
menschenleeren Felsen ein Stückchen entlang fuhren, um nahe bei dem breitesten
Bachbctt, das sich von der Höhe der Insel nach Südwesten hinabzieht, zu landen.
Der Name Xeropotami deutet schon darauf hin, daß es gewöhnlich ohne Wasser
daliegt, wie alle Rewmata der Südseite. Ganz anders ist es ans der Nordhälfte
mit dem Wasser und natürlich der Vegetation; dort bleibt auch länger der Schuee,
der hier fast ganz fehlt. Im Gegensatz zu Jmbros, das für einen Geologen eine
lockende Aufgabe sein müßte, ist Samothrake seiner Zusammensetzung nach gennn
bekannt. Granit und Tonschiefer bilden den Grundstock mit vier ragenden Gipfeln:
im Norden von Osten nach Westen Phengari, Hagia Sophia, Hagios Georgios;
südlich vor sie schiebt sich der Hagios Elias. Der Süden und Südosten ist so jäh,
wie ich ihn schilderte; nach den andern Himmelsrichtungen ist diluvialer Sand und
Schotter vorgelagert, und davor hat sich noch ein ganz schmaler Streifen von
Alluvium gelegt. Hier im Westen ist er etwas breiter und enthält nahe dem
Westkap lAkrotiri) zwei Salzseen. Imi Westen und Norden treten auch Trachyt
und vulkanische Tuffe zutage. Wir landeten an einem Punkte, an dem schon ein
Boot auf dem Sande ruhte; es trug über einem Delphin die stolze Inschrift:
„Hinten bin ich, aber ich hole dich ein; mach Platz, damit ich vorbeieile." Auch
ein Unterschlupf aus spitzwinklig aneincmdergestellten und mit Reisig überdeckten Ästen
fand sich dort. Wir hockten mit dem Blick auf die bekannten Höhen von Jmbros
ziemlich lange darin, bis ein paar Tiere an den menschenverlassenen Strand geholt
waren. Quer durch das tiefe grüne Tal des Xeropotmni, dann über kahle Hohen
hin gelangte ich in etwa zwei Stunden nordwärts zur einzigen Siedlung auf der
Insel, die deshalb das Dorf (Chora) heißt. Wie übereinander geschobne Teller
stehn die Häuser an einem langen Abhang hinauf; in der Tiefe braust ein Bach;
am Nordende ragen auf stolzem Fels die Ruinen einer mittelalterlichen Burg, die
offenbar die Fortsetzung des Weges beherrschte, den ich gezogen war. Von dieser
Chora aus lernte ich in achttägigen Aufenthalte die geheimnisvolle Insel kennen.
, 459 Jahre vor mir, am 2. Oktober 1444, war ebenfalls 86ounÄv oursu
Koris tÄvMtitms Kknliis ein Freund des Altertums vou Jmbros herüber gefahren.
Cyriacus von Ancona landete weiter westlich, wie er in seinem Tagebuche und
Briefen erzählt, und ritt erst am folgenden Tage zu der „neuen" Stadt, der
heutigen Chora. Neu nennt er sie im Verhältnis zur antiken Stadt (Palaiopolis),
die noch eine Stunde weiter nördlich bei der Nordspitze der Insel stand. An
der Stelle von Chora lag keine antike Siedlung; erst in byzantinischer Zeit hatten
sich die Menschen hier fern vom Meere, das immer unsichrer wurde — Samothrake
wurde zum Beispiel im Jahre 769 von Seeräubern überfallen —, im Winkel einer
Schlucht so gut versteckt, daß man ihre Hütten erst sieht, wenn man vor ihnen steht.
Erst damals wurde das Kastell erbaut, das 1260 zuerst für uns erwähnt wird;
sicherlich wohnte schon der byzantinische Statthalter hier und seit 1294 der lateinische
Herr. Am Ende des dreizehnten Jahrhunderts war auch dieses Eiland dann wieder
byzantinisch geworden, und kurz vor dem Eintreffen des Cyriacus hatte Kaiser
Johannes der Achte (1423 bis 1448) es dem Herrscher von Ainos in Thrakien,
Palamedes (1409 bis 1455) aus dem Geschlechte der Gattilusi, zu Lehen gegeben.
Dessen Statthalter war damals Johannes Laskaris, derselbe, der seit 1454 von
seinem Herrn auch über Jmbros gesetzt wurde. Er empfing den berühmten Reisenden
mit allen Ehren in der Burg, die von dem neuen Besitzer, wie stolze Zuschriften
auf altem weißem Marmor zeigen, in den Jahren 1431 und 1433 ausgebaut worden
war. Er begleitete ihn am folgenden Tage zur „alten" Stadt. Cyriacus findet
immer neue Worte der Bewunderung für deren riesige Mauer mit Tore» und
Türmen, für die Reste eines Tempelbezirks vor der Stadt mit einem „Tempel des
Neptun", vielen schönen Baugliedern und Skulpturen, die herumlagen; er schrieb
mehrere antike Inschriften ab und zeichnete ein Relief mit Frauen, die er Musen
nennt, und ein Medusenhaupt. Diese waren an dem Hcmptturme einer Festung
verbaut, die Palamedes an der Nordecke der antiken Stadt hatte errichten lassen';
der Baumeister Stroilos nennt sich auf einem der Ecksteine. Diese „neue" Festung
wurde von Johannis Laskaris 1455 noch verstärkt; ich fand ein paar Stücke
einer Bauinschrift von ihm wieder.
Aber es half nichts. Heute liegt diese stolze Burg wie jene im Dorf in
Trümmern. Schon 1456 nahmen die Türken Samothrake wie Jmbros und schleppten
nach einem Aufstande 1459 einen großen Teil der Bewohner nach Konstantinopel.
Dasselbe Schicksal traf gerade diese Insel noch einmal ini griechischen Aufstande 1821;
Weil Aufständische unterstützt worden wären, wurde sie geplündert, einige Bewohner
gehängt, andre weggeführt. Vou diesem Schlage hat sie sich noch nicht erholt;
Erdbeben haben zuzeiten neues Elend hinzugefügt. Auch vieles Antike, das Cyriacus
sah, ist inzwischen verschwunden: zu Kalk verbrannt, verbaut, in das Ausland ge¬
bracht, aber die Kenntnis von dem, was dieser Reisende sah und beschrieb, ist
inzwischen eine ganz andre geworden. Das haben spätere Reisende und vor allem
mehrfache Ausgrabungen veranlaßt.
Freilich O. vou Richter (Wallfahrten aus dem Morgenlande. Berlin, 1822)
sah 1816 nicht schärfer als Cyriacus, aber Kiepert (1842), Blau und Schlott¬
mann (1854) und besonders A. Conze (1858) lieferten reiches wissenschaftliches
Material. Schon Conze sprach dringend für Ausgrabungen, aber erst als im
Jahre 1823 Champoiseau die Fragmente der Nike, die nach dieser Insel ihren
Namen trägt, nach Paris gebracht hatte — er kehrte 1879 noch einmal zurück —,
war die Zeit für Ausgrabungen gekommen. Conze selbst konnte sie im Austrage
der österreichischen Regierung, in deren Diensten er damals stand, zweimal
(April-Juni 1873 und August-September 1875) leiten. Die Resultate wurden
in zwei starken Banden vorgelegt. Man hörte gern noch mehr. Beschränkte Mittel
und eine noch nicht vollkommne Ausgrabungstechnik haben aber geliefert, was
geleistet werden konnte. Wir können jetzt mit einiger Sicherheit die Entwicklung
der alten Stadt und des berühmten Heiligtums schildern und ein Bild von beider
Aussehn entwerfen.
Der nördlichste, der samothrnkische Gipfel, der nicht der höchste ist und dem
Hagios Georgios geweiht, schickt einen langen, hohen, scharfen Grat hinab zum
Nordkap. Dieser Grat senkt sich nach Westen zuerst steil, dann gemächlicher hinab
zu zwei Bächen, die auch vom H. Georgios ihren Ursprung nehmen und schließlich
vereint in das Meer laufen. In dem Winkel vor ihrer Vereinigung 35 Meter
über dem Meere sind Dämonen verehrt worden lange vor aller geschichtlichen Über¬
lieferung. Eine große Naturgöttin war die erste Herrin des Ortes, die für uns
erkennbar ist. An sie schlössen sich zu einer Zeit, die noch nicht genau festzulegen
ist, die beiden Kabiren an, Dämonen der Tiefe, der eine alt, der andre jung, in denen
das Werden und das Vergeh» in der Natur personifiziert war. Eigenartig war der
Gottesdienst; in Gruben floß das Blut geopferter Ziegen in die Erde; feierlich
schritten die Jungfrauen im Reigen; der Thyrsos wurde geschwungen; Pauke und
Tympanon erklangen. Geheim war die Lehre, die vom Werden und Vergehn im
Weltall, auf der Erde und beim Menschen im Bilde des Lebens der Gottheiten
handelte. Man mußte eingeweiht Mystes) werden; aber das Höchste erfuhr erst der,
der Schauer (Epoptes) geworden war. Nur er hatte Zutritt in das Heiligtum,
durfte die Bilder der Götter schauen. Für uns ist dieser Dienst natürlich schwer
faßbar, zumal weil er in den spärlichen antiken Nachrichten noch vielfach mit dem ver¬
wandten von Eleusis, dem der Dioskuren und andrer Gottheiten vermischt wird.
So ist denn über diese
noch lange nicht das letzte Wort gesprochen worden in dem Streite der Gelehrten,
über den Goethe spottet:
Ein Einblick ist um so erschwerter, als die Götter selbst im Altertum äußerlich einen
Wandel durchgemacht haben. Da sie an dieser heiligsten Stätte so mitten im Meer
verehrt wurden, die Fahrt zu ihnen selbst in der besten Jahreszeit nicht immer
ohne Gefahr war, wurden diese Wesen der Tiefe, die man mit der alten Natur¬
göttin zusammen „die Großen Götter" ^«e^«/>.o, F«»/) nannte, allmählich in erster
Linie zu Schützern der Seefahrer. Allmählich haben sich natürlich auch die Zeremonien,
die Hierarchie, die Form des Heiligtums ausgebildet. Der Oberpriester führte den
uralten Namen „König" (/Z«<7t!evg); er leitete auch die weltlichen Angelegenheiten
und setzte seinen Namen an den Anfang der Urkunden zur Datierung und auf die
Münzen. Das Gotteshaus glich mehr orientalischen als griechischen Tempeln; durch
eine große Vorhalle kam man in eine Cella, die außen nicht von Säulen umstanden
innen durch Stützen in drei Schiffe geteilt war. Hinten war ein Querschiff vor¬
gelegt, und dahinter weidete sich eine Apsis. In ihr stand das dreiteilige Götterbild,
und vor ihm öffnete sich die Opfergrube.
Zuerst war das alles klein und unscheinbar, denn der Kult war lange rein
lokal. Aber der Ort war heilig, und die Götter waren da, als um das Jahr 700 v. Chr.
Samier, wie überliefert wird, diese thraktsche Samos ältern thrakischen Einwohnern
entrissen und oberhalb der heiligen Stätte auf dem Hang zwischen dem Bache
und dem Berggrat eine Stcidt anlegten. Nach dem Meere zu bot steiler Abfall guten
Schutz; nach dem Lande zu mußte man aber, um sicher zu sein, eine weite Fläche
einschließen und die Mauer hoch auf deu Grat führen. Am meisten Verwandtschaft
>u der Lage zeigt das noch bizarrer liegende Herakleia am Latmos bei Milet; wie
dort und innerhalb so vieler griechischer Mauerringe nahmen Felsen, Felder und
Gärten einen breiten Raum neben den bewohnten Stellen ein. Unterhalb des
festesten Platzes, jedenfalls der Akropolis, auf die Pcilamedes sein Kastro setzte,
suchte man durch einen nach Nordwesten hinnusgeschobnen Molo einen wenigstens
einigermaßen geschützten Hafen zu schaffen. Kyklopisch im wahrsten Sinne ist die
ganze Anlage. Mächtige, vielseitige, genau aneinander gepaßte, nicht mit Mörtel
verbundne Blöcke vom Gestein des Ortes sind zu zwei Schalmauern aufgehäuft,
deren Außenseiten 3 bis 4 Meter voneinander entfernt sind; der Zwischenraum ist
mit kleinern und größern Steinen gefüllt. Die Höhe ging stellenweise einst über
5 Meter hinaus, die Zinnen waren zum Teil aus unregelmäßig aufragenden Blöcken
gebildet. Oben am Grat durfte die Mauer streckenweit fehlen, weil er unzugänglich
war. Dort oben und weiter unten wurden Pforten durch spitzwinklig aneinander
gelehnte Blöcke hergestellt; das Haupttor aber besteht aus einem über 10 Meter
laugen Torgang, der einst hinten und vorn geschlossen werden konnte. Schon um
400 v. Chr. wurde das Werk sicherlich ebenso angestaunt wie von Cyriacus und
von uns. Von den Straßen, Häusern und Heiligtümern im Mauergürtel ist wenig
zu sehn, aber zweifellos mehr zu finden, als man bisher zu finden versuchte. Man
begreift zunächst nicht, wie Bewohner dieser armen Insel, die kaum so viel hervor¬
bringt, wie man auf ihr gebraucht, und nur Holz, Holzkohlen, Obst und Käse in
geringem Werte nach außen abgibt, wie deren Bewohner ein so gigantisches Werk
schaffen und halten konnten. Aber es läßt sich zeigen, daß die Insel einst besser
in Kultur war — Zwiebeln und Fenchel von Samothrccke genossen weithin einen
Ruf — und auch heute viel mehr liefern könnte. Vor allem wissen wir aber, daß
die Männer, die diese Stadt anlegten, drüben ein großes Stück der an Ackerland
und Bodenschätzen reichen thrnkischen Küste mit einer ganzen Reihe von Ortschaften
und Burgen besaßen. Dort lagen die Hauptauellen der Macht wie für Thasos;
auch die Götter hatten dort Besitz; bei Dedeagatsch wurde el« „Grenzstein der
Großen Götter von Snmothrake" gefunden. Dorthin ging einst der Hauptverkehr;
dorthin schaute die Stadt. Der alte Sitz der Götter unten am Bach und der Besitz
drüben am Festlande zugleich führten zur Ansiedlung gerade an dieser uicht besonders
günstigen Stelle. In der Schlacht bei Salamis verrichtete ein Schiff von Samvthrake,
das die Perser wie die Küste am Ende des sechsten Jahrhunderts zum Anschluß
gezwungen hatten, glänzende Taten der Tapferkeit; um 300 finden sich samothrakische
Söldner in athenischen Diensten. Diese beiden Tatsachen verraten tiefgehende Ver¬
änderungen in der Lage der Insel. Sie hatte sich 479 dem Seehunde angeschlossen;
der hohe Tribut läßt auf große Einkünfte schließen. Aber während der zwanziger
Jahre des fünften Jahrhunderts wird er niedrig, das heißt, Athen hatte der Insel
die festländischen Besitzungen größtenteils oder ganz genommen. Die Zeit politischer
Bedeutung war für immer vorbei; da traten ihre Götter für die Insel ein und
schufen ihr neue viel mehr in die Ferne reichende religiöse Macht. Gerade von den
spartanische« Feldherren und Staatsmännern, die Athen ruiniert haben, von Lysander
und Antalkidas wird berichtet, daß sie sich in die samothrakischen Mysterien ein¬
weihen ließen, als ob sie sie gegen die sich in attischer Hand befindenden eleusinischen
ausspielen wollten. Von da ab wendet die Insel ihr Gesicht mehr gegen Süden.
Ein zweiter Hafen nahe dem Westkap (Akrotiri) dort, wo die Salzseen glitzern, wird
in dieser Zeit erst angelegt sein. Ob die Seen selbst damals oder erst im Mittel-
alter mit dem Meere verbunden wurden, weiß man nicht; eine Wiederherstellung
der irgendwann vorhanden gewesnen Verbindung würde der Insel den nötigen
geschützten Anlegeplatz wieder geben. Dieser zweite Hafen hieß „Hafen der Demeter",
weil sie nur in seiner Umgebung ihre Gaben spendet. Die Bewohner lebten von
da ab besonders Vom Fremdenverkehr, der bald lebhafter und gewinnbringender
wurde als der, der sich heute zum Nachbarberge, dem Athos, bewegt. Man hat sich
wohl gewundert, daß so wenig Grabsteine ans der Insel gefunden wurden — sieben
sind bisher bekannt —, obwohl doch bei diesen mit dem Tode so eng verbundnen
Gottheiten religiöse Rücksichten die Bestattung auf ihr wie auf Delos unmöglich
verbieten konnten. Die Menschen waren in den Perioden, aus denen diese Steine
stammen, in der Mehrzahl einfach zu arm, als daß sie Denkmäler auf ihre Gräber
hätten stellen können; und gar Marmor mußte aus Thasos geholt werden, da er
auf der Insel nicht vorkommt. Fremde starben aber selten einmal hier.
Aus dem Haupttore der Stadt führte eine Straße zum heiligen Bezirk tuori
1s raru-Ä. Lange genügte der kleine Tempel aus einheimischen Gestein in dorischem
Stil mit seinen bunten Malereien und Metallzieraten. Noch im Peloponnesischen
Kriege schätzte man die, die darin wohnten, in Griechenland wenig. Erst als die
politischen Gegner Athens die See gewannen, die Spartaner, wie gesagt, und
nachdem die Insel auch zum zweiten attischen Seehunde gehört hatte, die Makedonen,
konnten sie gegen die Verwandten in Eleusis aufkommen. Als an der Küste, die
dieses thrakische Meer umschlingt, kräftiges politisches Leben erwachte, da gewannen
auch die Heiligen der thrakischen Samos neue ungeahnte Kraft; Samothrake wurde
für Makedonien etwa das, was Delos für die Jonier bedeutete. Diesen Heiligen
gelang es sogar, eine Ehe zu stiften, wie sie wenigen Heiligen gelungen ist. Philipp
von Makedonien soll bei der Festfeier auf Samothrake seine spätere Gemahlin
Olympias kennen und lieben gelernt haben. Der große Alexander hat sich zweifellos
hier auch einweihen lassen. Eine glänzende Zeit stieg für die Insel auf, die etwa
ein Jahrhundert andauern sollte. Es würde zu weit führen, die politische Geschichte
dieser und der nächsten Perioden zu erzählen. Makedonien gehörten die Götter,
wie der griechische Bauer noch heute von einer Kapelle auf seinem Acker sagt: „Der
Heilige gehört mir." Aber wenn Makedonien die See verlor, verlor es auch die
Seegötter. So haben die jeweiligen makedonischer Herrscher, die ägyptischen Fürsten,
die Seleukiden von Syrien sie sich streitig gemacht, bis sich die allmächtige Roma
auch diese Götter aneignete, in einem Jahre, von dem noch genauer gesprochen
werden soll. Aber die Götter haben sich immer wohl befunden; sie haben bei jedem
Konkurse eines Besitzers nur gewonnen. Jeder neue Besitzer und dessen Freunde
beschenkten sie mit kostbaren Ehrengaben, stellten Inschriften auf, bauten Tempel,
vergrößerten die Gerechtsame. Die Stadt alterte, das Heiligtum vor ihr wurde
immer jugendlich schöner. Es wurde natürlich nie so groß und Prächtig wie Delphi
oder Olympia. Aber diese Gottheiten wohnten zwischen den Felsmassen und dem
Meere sehr viel großartiger als Zeus, wenig weniger erhaben als Apollon und
malerischer als beide. Nur die Phantasie hellenistischer Künstler, denen Pompejanische
Meister nachahmten, hat gleich malerische in Berg und Wald liegende Heiligtümer
auf die Wände gezaubert.
(Schluß folgt)
,LZ)OZ
^«5s^H,--^n demselben Abend war bei Frciu von Seidelbast wieder einmal etwas
los. Entweder gaben sich die „Getreuen" dort Stelldichein, oder es
i war Teeabend oder Gesellschaft, oder es galt eine durchreisende
musikalische Größe, namentlich Bayreuther Größe zu feiern oder den
Geburtstag oder Todestag Wagners zu begehn. Aber immer wurde
! Musik gemacht, und meist kam Wagner allein zu Worte.
Die Seidelbastsche Villa lag in der sogenannten Stadtkellerei, einer Borstadt,
die erst in neuern Jahren entstanden war. Diese Vorstadt dehnte sich von der
Stadtgrenze bis zum Kellereiwalde aus und stellte die Fremdenkolonie der Stadt
dar. Denn hier hatten sich im Laufe der Zeit die pensionierten Generale, Geheim¬
räte, und wer sonst noch Neusiedel zum Wohnorte erwählt hatte, angesiedelt, und
hier stand an schön rechtwinkligen Straßen Villa bei Villa. Und von hier aus
hatte man auch eine schöne Aussicht auf die alte Stadt, auf den Dom mit seinen
drei Kuppeltürmen, auf die weite, grüne Ebene, an deren Grenze Neusiedel lag,
und auf den Fluß, der sich hellglänzend in großen Bogen durch das Grün zog.
Die schönste und vornehmste Villa war die Villa der Frau von Seidelbast.
Wobei wir jedoch bemerken müssen, daß es auch einen Herrn von Seidelbast gab,
der freilich bei den musikalischen Veranstaltungen der gnädigen Frau wenig in
Betracht kam, denn er war sehr schwerhörig. Übrigens war er ein feiner, alter
Herr mit weißem Haar, weißem Bart, weißer Binde und schwarzem Gehrocke, der,
wenn die Größen in seinem Hause gefeiert wurden, in gebückter Haltung und mit
steifen Schritten im Hintergrunde herumzog und bereit war, jedem, der die Güte
hatte, ihn zu bemerken, eine freundliche Selbstverständlichkeit zu sagen. Er hatte
in irgendeinem Ministerium eine hohe Stelle verwaltet, hatte es zum Wirklichen
Geheimen Rate, aber nicht zur Exzellenz gebracht. Schade! Dann war er wegen
seiner Schwerhörigkeit in Pension gegangen, und zwar von Berlin fort, was er
gegen den Willen seiner Frau dnrchschte. Er hatte den Lärm satt und wollte den
Rest seiner Tage in stiller Beschaulichkeit verbringen. Den Ausschlag gab, daß er
gerade damals die Villa in Neusiedel und einen hübschen Posten Geld geerbt
hatte. Anfänglich war Frau von Seidelbast unglücklich darüber, daß sie aus dem
Mittelpunkte einer geistvollen Geselligkeit ausscheiden sollte, aber dann fand sie sich.
Neusiedel bot zwar an sich gar nichts. Es war ein großes Opfer, in Neusiedel
leben zu sollen. Aber Neusiedel lag doch nicht aus der Welt. Wie schnell war
man in Berlin oder in Dresden oder in Weimar oder in Bayreuth. Bei den
heutigen Verkehrsverhältnissen spielen doch fünfzig Meilen gar keine Rolle. Nicht
wahr? Und es gab ja auch in Neusiedel liebe Menschen, mit denen man ver¬
kehren konnte, General von Kämpffer, Exzellenz, und seine Familie, Baurath,
Direktors, Neugebauers und die andern. Liebe, gebildete Menschen. Und was
man in sich trägt, das nimmt man doch mit an jeden Ort, wo man sich nieder¬
läßt. Nicht wahr? Wenn man nur die Kunst im Herzen hat, so viel bekommt
man überall ins Ohr, daß man nicht künstlerisch verhungert.
Und so waltete denn Frau von Seidelbast in ihrem stimmungsvoll einge¬
richteten Hause als Priesterin der Kunst, unterstützt von Fräulein Binz, die früher
Erzieherin im Hause gewesen war, jetzt aber die wirtschaftliche und vor allem
musikalische Stütze der Hausfrau darstellte, von Johann, dem Bedienten, von einer
Köchin, zwei Hausmädchen und so vielen und so oft wechselnden Hilfskräften, daß
ihre Zahl nicht festzustellen ist.
Frau von Seidelbast war eine Dame, ich würde sagen von den besten Jahren,
wenn sich nur sagen ließe, welche Jahre dies bei den Damen sind. Jedenfalls war
sie viel jünger als der Herr Geheimrat.
Fast hätte ich vergessen, zu berichten, daß Frau von Seidelbast auch drei
Kinder hatte, Hunding, Hilda, die eigentlich Brunhilde hieß, und Dunker, der
eigentlich Gurker hieß und die Bezeichnung aus den Kinderjahren nicht hatte los¬
werden können. Hunding war Primaner, wir kennen ihn schon, Hilda war ein
feines, junges Mädchen in der ersten Jugendblüte, und Dunker war ein hoffnungs¬
volles Rauhbein. Die Mutter, erfüllt mit ihren hohen und idealen Aufgaben,
kümmerte sich um ihre Kinder nicht gerade viel. Sie wußte sie ja in den besten
Händen — nicht wahr? —, und es gehört ja auch zur Kunst der Erziehung, den
jungen Seelen ihre volle Freiheit zu lassen.
Bei Seidelbasts war also diesmal Teeabend. Die kleinern Räume der
Wohnung waren geöffnet. Es herrschte in diesen Räumen ein Stimmungsvolles
Dunkel etwa so wie in einem Orchester, wo jede Lampe ihren dunkeln Schirm
hat. Nur im Speisezimmer war volle, prosaische Helligkeit. Hier waren Tische
gestellt und mit allen denkbaren Speisen von der Hummermayonnaise bis zum
Chesterkäse beladen, denn es sollte später von Büfett gegessen werden. Im Salon,
in dem auch der Flügel stand, war es am dunkelsten. Das satte Blau der
kommenden Nacht blickte durch die dunkeln Vorhänge hindurch. Und dort summte
in dämmerigen Schatten eine Teemaschine, an der zwei junge Mädchen — Hilda
war nicht darunter — in feierlicher Weise walteten. Hilda empfing die Gäste
und geleitete sie in den Salon, wo Frau von Seidelbast den Platz der Vorsitzenden
an einem großen runden Tische einnahm. Dies war ein Vorrecht, das man ihr
aufgedrängt, und das sie angenommen hatte in dem stillen Bewußtsein, dem großen
Meister, dem ihre Gedanken Tag und Nacht dienten, nähergestanden zu haben
als irgendeiner des Kreises. Sie empfing ihre Gäste mit einer der verbindlichen
Redensarten, die sie immer auf Lager hatte, mit lächelndem Kopfnicken und Hcmd-
gruß, blieb aber dabei zur Hälfte in ihrer eignen Gedankenwelt und beteiligte
sich nur mit der Hälfte ihres Geistes an dem, was gesprochen wurde. Dafür
durften aber auch ihre Gäste in ihrem Hause machen, was sie wollten. Nur
wenn die Notenblätter rauschten und der Flügel geöffnet wurde, war sie ganz bei
der Sache.
Die Getreuen also versammelten sich. Es waren in ihrer Art dieselben, die
man in Bayreuth die Juliner nannte, Generals, Baurath, Direktors, Neuge-
bauers und die andern. Dazu kamen noch ein paar jüngere Herren, Referendare,
Leutnants, die, während die Damen den runden Tisch umgaben, und die älter»
Herren irgendwo Gruppe machten, die Teetasse in der Hand die Wände zierten.
Man war an diesem Tage zahlreicher und pünktlicher gekommen als sonst,
einesteils, weil ein besondrer Genuß, über den geheimnisvolle Gerüchte umgingen,
bevorstand, andernteils, weil das Ereignis des Tages, das neue Theater, und was
damit zusammenhing, und was daraus folgen konnte, besprochen werden mußte.
Jeder der Damen, die an dem runden Tische Platz genommen hatten, schwebte
das Wort Theater auf den Lippen, aber niemand wollte der Wirtin vorgreifen.
Und die Wirtin, die in ihrer eignen Welt lebte und das Tageblatt nicht las, wußte
nichts von dem, was die ganze Stadt bewegte. Endlich — die Spannung war
unerträglich geworden — wurde es unmöglich, länger zu schweigen.
Sagten Sie nicht: Theater, Exzellenz? fragte Frau Neugebauer.
Exzellenz hatten es zwar nicht gesagt, nahmen aber das Wort sogleich auf.
Theater! Denken Sie mal, ein Theater! Sechshunderttausend Mark für ein
Theater! Ist das nicht großartig? Reineweg aus heiler Haut!
Heiterkeit.
Wer hätte das von dem alten lächerlichen Kerl gedacht, meinte Frau Direktor.
Und dem wollen sie ein Denkmal setzen.
Es scheint, daß man erst sterben muß, sagte der Herr Direktor, bis man in
seiner ganzen Güte anerkannt wird.
Abermalige Heiterkeit.
Frau von Seidelbast hatte nur mit halbem Ohre hingehört. Was hat wer
geschenkt? fragte sie.
Der selige Rumpelmann — ein Theater, wurde geantwortet. Ein komplettes
Theater. Fehlt nur noch der Souffleur und das andre.
Sie nehmen doch eine Loge, Frau Neugebauer?
Natürlich! erwiderte man von allen Seiten. Nächsten Winter ist alles fertig.
Man weiß schon für bestimmt, daß der Eröffnungstag der dritte November sein
wird, und daß man zur Eröffnung den Orpheus geben wird.
Orpheus in der Unterwelt, äußerte einer der jungen Herren an der Wand,
ist großartig. Der Prinz von Arkadien — schneidig.
I wo, erwiderte ein andrer, Orpheus von Gluck.
Von Gluck? Donnerwetter. schneidig.
Die Seidclbastsche Villa hatte als ein modernes Gebäude etliche unmotivierte
Schlüfter und Winkel. Auch der Musiksalon zeichnete sich dnrch einen Winkel aus,
in den man sich zurückziehen und von dem aus man einen freien Blick in das Speise¬
zimmer haben konnte, was für hungrige Seelen etwas Tröstliches hatte. Dieser Winkel
war bei den geheimrätlichen Kindern sehr beliebt und hatte den Namen: Die Tonne,
womit man die Tonne des Diogenes und also einen Philosophenwinkel meinte. Daß
Diogenes seine Laterne, wenn er sie nicht brauchte, in seiner Tonne aufgehängt
habe, ist historisch nicht nachweisbar, in der Seidelbastschen Tonne hing eine stil¬
volle Laterne mit grünen Butzenscheiben, und unter ihr saßen Hunding und Dunker.
Hilda waltete ihres Amtes als Wirtin, warf aber mehr als einen begehrlichen Blick
nach ihrer geliebten Tonne. Aber die Pflicht duldete es noch nicht, daß sie sich ins
Privatleben zurückziehe. Endlich, nachdem alles in Ordnung gebracht war, konnte
sie dem dringlichen Winken Dünters nicht widerstehn. Aber sie setzte sich doch nur
"uf die Ecke eines Stuhles, und zwar so, daß sie jeden Augenblick wieder in Aktion
treten konnte:
Du, Hilda, sagte der Primaner, heute hat mich der Cato ein geniales Kamel
genannt. Ist das nicht famos?
Das laßt ihr euch gefallen? erwiderte Hilda.
Von jedermann natürlich nicht. Alle Hagel, hat der uns heute einen feinen
Schmus gehalten. Wir waren alle ganz begeistert. Denke dir, Hilda, eine Klasse
begeisterter Primaner! Und wir haben uns das Wort gegeben, daß Catos Spruch:
Kckslitsr cliciioisss auf den Vorhang gemalt wird.
Hilda rümpfte ein wenig die Nase und meinte: Mama sagt, Inschriften,
besonders Inschriften, die man lesen könne, hätten eine unkünstlerische Wirkung.
Was willst du denn? Unser Spruch ist doch lateinisch und also auch unlesbar.
Auf den Vorhang kann überhaupt nichts geschrieben werden, denn ein moderner
Vorhang ist aus weichem Stoff gemacht und teilt sich in der Mitte. Sagt Mama.
Schade, antwortete Hunding. Mir machte es gerade Spaß, wenn zuerst die
weißen Atlasschuhe zum Vorschein kamen und man sich fragte: Wer wird denn nun da
dran sitzen? Weißt du. Hilda, wir haben heute dem Cato eidlich gelobt, in kein
Schauspiel zu gehn, das nicht wenigstens von Schiller ist. Aber ich will wetten,
wenn seinem Schwiegersohn sein Verlornes Paradies gegeben wird, dann sind wir
alle drin, den Cato mit einbegriffen.
Ihr solltet lieber euern Schwur halten, sagte Hilda, denn das Verlorne
Paradies soll nichts für junge Leute sein.
Hin! erwiderte Hunding, wir riskieren es, wir können schon einen Knuff ver¬
tragen. Sage einmal, dauert denn die Geschichte da draußen noch lauge?
Sie hat ja noch gar nicht einmal angefangen.
Ich wollte, sie hätte schon wieder aufgehört.
Ach, Hunding, rief Hilda, du hast keinen künstlerischen Schwung — wie Mama.
Du bist ein geniales Kamel und hast immer Hunger.
O Hilda, erwiderte Dunker, du hast ja auch Hunger.
Hilda machte eine erhabne Miene, warf aber doch einen Blick durch die offne
Tür in das Speisezimmer, wo allerlei Herrlichkeiten auf Büfetts aufgebaut waren.
Dunker, sagte Hunding, schleiche hinein und mopse uns was.
Dunker drückte sich um die Ecke und kam mit ein paar Lachssemmln zurück.
Geniere dich nicht, sagte Hunding zu Hilda, aber Hilda genierte sich doch.
Denn da kam eben Onkel Philipp Ermsdorf. Das Wort Onkel darf nicht zu
ernst genommen werden, denn Philipp Ermsdorf, der Sohn des alten Baurath und
Baumeister wie sein Vater, war weder dem Verwandtschaftsverhältnisse noch dem
Alter nach ein Onkel der Setdelbastschen Kinder. Aber er war seit langen Jahren
Hausfreund bei Seidelbasts, und Hunding schwärmte für ihn, und Hilda «annee
ihn, wie sie das von lange her gewohnt war, unbefangen: Onkel Philipp und be¬
handelte ihn, da er schon über dreißig Jahre alt war und noch älter aussah, als
Mummelgreis. Onkel Philipp machte seine Begrüßungen ab und steuerte dann
geradeswegs auf die Tonne zu.
Darf ich? fragte er eintretend.
Sie dürfen, antwortete Hunding und machte Platz.
Haben Sie auch Hunger? fragte Dunker, bereit, eine neue Expedition zu wagen.
Offen gestanden — ja, erwiderte Onkel Philipp.
Das darf man aber nicht, wenn man zu Mama kommt, sagte Hilda.
Sie wissen doch, bei uns gibt es immer erst sehr spät etwas. Und dann hat
man bei uns überhaupt keinen Hunger, sondern schwelgt Kunst.
Aber ich bin ja gar nicht der Musik wegen gekommen, wandte Philipp Erms¬
dorf ein.
Weswegen denn?
Ihretwegen.
Aber das ist sehr nett von Ihnen, Onkel Philipp, sagte Hilda in voller Harm¬
losigkeit. Und Onkel Philipp war mit der Antwort nicht völlig zufrieden.
Aber Sie sollen eine Lachssemmel bekommen, fuhr Hilda fort, wenn Sie ver¬
sprechen, etwas für Ihre künstlerische Ausbildung zu tun.
Hilda. rief Hunding, du bist köstlich, Onkel Philipp ist doch schon Künstler.
Sind denn Baumeister Künstler? fragte Hilda.
' . Das kommt auf die Betonung an, antwortete Philipp Ermsdorf. Ob man
nämlich sagt: Baumeister oder Baumeister, Kunst kommt her von Können/ Wer
etwas kann, ist Künstler. - - '
Ich weiß doch nicht, sagte Hilda nach einigem Besinnen, Dann könnte auch ein
Bäckermeister Künstler sein. Mama sagt: die Kunst ist die Empfindung der Seele,
ist Ergriffensein, ist Stimmung. Ich weiß nicht, was sie alles noch ist. Ist auch
nicht so wichtig. Aber ein Künstler ist ein Halbgott. Ein Künstler trägt niemals
Stehkragen und Pincenez, und er singt Tenor oder mindestens Bariton.
Man konnte nicht recht unterscheiden, ob, was Hilda sagte, Scherz oder Ernst
war. Vielleicht beides. Jedenfalls war Neckerei dabei, denn Philipp Ermsdorf trug
einen Stehkragen von ansehnlicher Breite sowie ein Pincenez und sang entweder
gar nicht oder zweiten Baß."
Inzwischen hatte Dunker noch ein paar Lachssemmeln „gemopst. Und nun
kam mich Papa mit einer Flasche Wein hinzu, und das Glück wäre vollkommen
gewesen, wenn der alte Herr nicht so schwer gehört hätte, und wenn man sich nicht
hätte hüten müssen, ein lautes Wort zu sprechen.
Denn währenddessen hatte die Musik begonnen. Frau von Seidelbast hatte
mit müden Blicke auf die Noten gewiesen, die auf einem Sessel lagen, und einige
jüngere Herren hatten sich der Noten bemächtigt, als gälte es einen Prinzenraub
auszuführen. Dann hatte es am Flügel lange Beratungen gegeben, bis zuletzt gewählt
wurde, was von vornherein feststand. Dann hatte sich Fräulein Binz, die ein kleines,
dünnes, aber muskelkräftiges Persönchen war, ans untergelegten Noten einen Turm
auf dem Klaviersessel errichtet, sich mit aller Umständlichkeit niedergelassen, und die
Hände und Finger gereckt wie einer, der sich anschickt, einuudeinhalben Zentner zu
stemmen. Und dann war es losgegangen. Meist Wagner. Aber auch Schumann und
die Mondscheinsonate wurden zugelassen. Nun aber folgte die Überraschung. Die
Vorhänge vor dem Eingange in das Turmzimmer taten sich in Bayreuther Weise,
doch nicht ohne Widerstreben auseinander. Man sah einen Tisch und darauf einen
Stuhl und darauf einen Sessel, und alles dies verdeckt mit einem dunkeln Teppich.
Oben drauf stand in magischer Beleuchtung ein Champaguerkühler. Dies alles
befand sich hinter einem meergrüne» Schleier, der die ganze Türöffnung ausfüllte,
und hinter diesem Schleier umkreisten schwebenden Schrittes drei weibliche Gestalten
Mit aufgelöstem Haar und meergrünen Schleiern den Aufbau. Dies also war die
Überraschung: der Anfang des Rhcingoldes, szenisch dargestellt. Der teppichverhüllte
Aufbau stellte die Klippe dar, auf der der Schatz des Rheingoldes bewahrt wurde,
der magisch beleuchtete Champagnerkühler war das Rheingold und die drei weiblichen
Gestalten Wogelinde, Wellgunde und Floßhilde. Am Boden lag etwas Dunkles,
Ungeformtes.
Fräulein Binz, die sich schon in eine gewisse künstlerische Wut gespielt hatte
und alle, die ihr nahe kamen, ansah, als wenn sie sie fressen wollte, stimmte das
ewig lange Es an und dazu die Quinte und noch ein paar Töne. Kenner wußten,
daß dies das „Naturmotiv" war, aus dem sich das „Wellenmotiv" entwickelte, worauf
in melusinenhaster Bewegung das „Rheintöchtermotiv" einsetzte, und die Rheintöchter
sangen:
Himmlisch! Frau von Seidelbast enipfand Sehnsucht nach Bahreuth und einen fast
körperlichen Schmerz darüber, daß man die Rheintöchter nicht schweben lassen konnte
wie dort, und daß der Hort nur in so unvollkommner Weise nachgebildet worden war.
Da entwickelte sich das Dunkle, Ungeformte zu einem Männerköpfe und Männer¬
leibe. Alberich ist es, der aus der Tiefe auftaucht, der die Klippe zu erklimmen sucht,
aber an dem „garstigen, glatten, glitschrigen Glimmer" herabgleitet. „Feuchtes Naß
füllt ihm die Nase: Verfluchtes Niesen." Die Rheintöchter necken den verliebten
Alb, nahen sich und entziehn sich ihm und so fort, bis die Sache textlich, szenisch
und musikalisch zu schwierig wird. Worauf die Musik mit einem überraschenden
Akkorde abbrach und sich die Gardinen schlössen.
Begeisterter Beifall. Großartig, nein wirklich famos! Welche von den drei
jungen Damen am besten genial und gesungen hatte, es war unmöglich, darüber
zur Einigkeit zu kommen. Auch Herr Neugebauer, der den Alberich gesungen und so
verliebt genial hatte, daß seine Frau Regungen von Unwillen empfand, erhielt sein
Teil Lob. Frau von Seidelbast lag in ihrem Lehnstuhle und war so ergriffen, daß
sie nur noch schwach den Kopf bewegte. Ihre Gedanken weilten in einer fernen
schönen Vergangenheit. Ach ja, seufzte sie, wer das Glück gehabt hat, ihn, den Meister
der Meister, persönlich gekannt zu haben, der ist zu beneiden. Ich habe ihn noch
sehen und grüßen dürfen. Ich habe einen Abend zu seinen Füßen sitzen dürfen.
Es war nach einer Probe zur Götterdämmerung. Der Meister war himmlisch
unausstehlich. Nichts war ihm recht. Ein Brasilianer hatte ihn gestellt und durch
banales Lob tief verstimmt. Aber darf ein Meister, wie er, nicht das Recht haben,
verstimmt zusein? Ja, meine Herrschaften, ein Künstler darf Launen haben, er soll
Launen haben. Denn Kunst ist Stimmung. Gnädiges Fräulein, sagte er zu mir — oder
sagte er Fräulein Frida? oder sagte er Frida? — heiraten Sie niemals einen
Brasilianer. Die Kerls sind Lausbuben.----O, es war göttlich schön. Von
dem Tage an, fuhr sie nach einer Pause in tragischen Tone fort, von dem Tage
an trage ich eine nagende Sehnsucht nach Bayreuth in meiner Seele. Und ach!
wenige Monate darauf wölbte sich ein grüner Erdhügel über des Meisters Grab.
Welch ein zermalmender Schmerz! Ich habe diesen Schmerz in der Villa Wahnfried
empfunden — mit empfunden. Wahnfried wurde meine geistige Heimat, der Kultus
dieses Unsterblichen meine Lebensaufgabe. Wenn es möglich wäre, die Bayreuther
Festspiele über ganz Deutschland auszubreiten, ich würde mit Freuden Zeit und
Kraft dieser Aufgabe widmen.
Langes Schweigen. Tiefe Ergriffenheit. Darauf trat Johann in die Mitte des
Zimmers, machte eine gehorsame Verbeugung und öffnete die Flügeltüren des Speise¬
saals. Man stieg von den göttlichen Höhen der Kunst herab, man faßte sich, man
wandte sich den Lachssemmeln und dem russischen Snlnte zu.
Nach der gemeßnen Zeit, die eine Magistratsvorlage braucht, um für einen
Stadtverordnetenbeschluß reif zu werden, lag diesem Kollegia der Antrag des Magistrats
vor, die Stadtverordnetenversammlung wolle beschließen, das Rumpelmcmnsche Legat
anzunehmen und ein Stadttheater zu erbauen. Man fragt vielleicht, was denn hier
noch zu beraten und zu beschließen sei, da ja das Geld vorhanden und durch Erb¬
schaft in den Besitz der Stadt übergegangen war. Wir wollen uns jedoch hüten,
diese Frage zu stellen, um uns nicht den Vorwurf der Kurzsichtigkeit zuzuziehn. Man
setze den Fall, daß einer Landgemeinde eine Turmuhr geschenkt wird, soll sie nicht
vorsichtig erwägen, welche Kosten mit dem Geschenk verbunden sein könnten, soll sie
nicht sprechen: ja, schön, die Uhr ist da, aber wer kommt für die Uhrschmiere auf?
Und das ist bloß eine Uhr. Ein Stadttheater ist aber doch eine viel schwierigere
Sache. Man kann nicht wissen, was daraus folgt, Straßenbeleuchtung, Pflasterung,
Vermehrung der Polizisten, Versicherungskosten, und wer weiß, was noch. Und zuletzt
sind zehn Prozent Steuerzuschlag zusammen, man weiß nicht wie. Da war es denn
doch die Aufgabe eines jeden gesinnungstüchtigen Stadtverordneten, diesem Magistrate
gegenüber — man weiß ja, wie Magistrate sind — den Daumen auf den Beutel zu
drücken, und weil man nicht wissen konnte, ob man mit Bauplatz oder Materiallieferung
etwas werde verdienen können oder nicht, zu Haus und im Bürgerverein ernste
Erwägungen anzustellen und die Sache gewissenhaft und unparteiisch zu prüfen.
Aber auch der Magistrat, der natürlich von vornherein für die Annahme des
Legats und für den Bau des Theaters war, hatte sich gerüstet und den Herrn
Rentier Lederbogen, der einen leicht beweglichen Sprechmechanismus hatte und sich
für alles begeisterte, worauf eine Rede gehalten werden konnte, für seine Sache
gewonnen. Herr Lederbogen hatte es übernommen, für das Theater „eine begeisterte
Lanze" zu brechen.
Als nun in der betreffenden Stadtverordnetensitzung der Herr Bürgermeister
im kühlen Geschäftstone die erfreuliche Mitteilung machte, daß Herr Gottfried Eduard
Rumpelmann gestorben sei, und daß er der Stadt ein Legat von sechshunderttausend
Mark hinterlassen habe mit der Maßgabe, daß mit besagtem Kapital ein Theater
zu erbauen sei, drückte die eine Hülste der Versammlung in ihren Mienen freudige Über¬
raschung, die andre tiefe Besorgnis aus.
Die Diskussion ist eröffnet, sagte der Herr Stadtverordnetenvorsteher. Noch
war das letzte Wort dieses Satzes nicht gesprochen, so schoß Herr Lederbogen wie
eine angezündete Rakete in die Höhe, bat ums Wort und hielt seine Wohl vor¬
bereitete magistratsfreundliche Prunkrede. Er begrüßte die Worte des allezeit vor¬
sorglicher Herrn Bürgermeisters mit freudiger Genugtuung und war der Meinung,
daß sich eine aufstrebende Stadt nicht allein durch Steuerkraft und Intelligenz,
sondern auch durch Liebe zur Kunst und Besitz würdiger Kunststätten auszeichnen
müsse. Es sei eine Schmach und eine Schande, wie Neusiedel in letzterer Beziehung
von viel kleinern Städten überflügelt werde. Roditz und selbst Schwarzenbach hätten
eigne Theater, Neusiedel nicht. Denn, meine Herren, sagte er, das müssen Sie selber
zugestehn, das Theater im Saale der Thalia ist eine Klappe und kein Theater, und
man kann keinem anständigen Menschen zumuten, sich dort hinzusetzen und sich
Rheumatismus zu holen. Murren und Unruhe in einer Gruppe von Verordneten,
die in der Thalia ihr Bier tranken und mit dem Thaliawirte befreundet waren.)
Und so ist. schloß der Redner, die Vorlage des Magistrats mit Dank zu begrüßen.
Ich setze voraus, daß die Annahme des Legats und der Bau des Theaters ein¬
stimmig votiere wird.
Demgegenüber konnten freilich die bereits oben angedeuteten Bedenken von
andrer Seite nicht unterdrückt werden. Ob es sich nicht um uferlose Pläne des
Magistrats handle? ob sich nicht aus dem Bau des Theaters Verpflichtungen für
die Stadt ergäben, die gar nicht übersehn werden könnten? und ob nicht das Ende
von allem eine Vermehrung des Steuerdrucks für die Bürgerschaft sein werde?
Der Herr Bürgermeister konnte sich diesen Befürchtungen nicht anschließen.
Vielmehr erwartete er aus dem Theater eine ergiebige Einnahmequelle. Man werde
doch das Theater nicht in eigne Regie nehmen, man werde es verpachten, und die
Pachtsumme sei Gewinn. Dies machte auf die Majorität Eindruck, die Minorität
blieb aber der Meinung, man könne nicht wissen, man könne nicht wissen.
Da erhob sich Herr Professor Icilius. der es sich zur Ehre anrechnete, zu dem
Kollegium der Stadtverordneten zu gehören, und sagte: Meine Herren, Ssie haben
dhaa ffinanziclle Schwierigkeiten gefunden, wo es keine Schwierigkeiten geben darf.
Ffür ideale Aufgaben muß Geld da sein. Ein Theater ist eine ideale Sache. Dhatu
Der Mensch lebt nicht von Brot allein. Der Mensch bedarf auch der Erziehung
durch die Künste Ingsnuas äiäioisss Käslitsr artsä, meine Herren, snwllit mores,
uso Ävit söff tsros. Diese Inschrift muß auf dem Vvorhange des neuen Theaters
zu lesen sein. Wobei ich voraussetze, daß die Steile dieses Theaters nicht der
Tummelplatz Leichtfertigen Ggelichters, ssondern das Logeion sein werde, auf dem
unsre großen Meister von Äschylus bis zu Schiller zu Worte kommen.
Professor Icilius hatte einmal dem Stadtverordneten Doktor Feilgenstedt einen
lateinischen Schnitzer nachgewiesen und sich dadurch einen unversöhnlichen Feind er¬
worben. Seitdem widersprach Doktor Feilgenstedt jedesmal dem, was der Professor
redete. So auch diesmal. Er könne nicht versteh», sagte er, wie diese Inschrift für
den Vorhang geeignet sein solle. Hinter den Kulissen könne sie seinetwegen an¬
gebracht werden. Denn, die ihre Rollen fleißig zu lernen hätten, seien die Schauspieler
und nicht das Publikum. Auch zweifle er daran, daß Komödianten durch das Studium
ihrer Rollen veredelt würden. (Heiterkeit.)
Worauf der Professor mit Würde erwiderte: Künste treiben und Rollen lernen
seien zweierlei Sachen. Auch Kunst und Kunst, Theater und Theater seien zweierlei
Sachen- Er wünsche nicht, daß in Neusiedel eine Anstalt zur Verhunzung des Ge¬
schmacks und zur Verwilderung der Sitten, sondern eine weihevolle Stätte echter
Kunst errichtet werde, und er werde seine Zustimmung zu dem Antrage des Magistrats
abhängig machen von den Garantien, die ihm in dieser Beziehung gegeben werden
würden. . ^
Und ich, sagte der Stadtverordnete Schimmelmann, werde meine Abstimmung
von dem Platze abhängig machen, auf den das Theater zu stehn kommt. Denn,
meine Herren, was habe ich in der Wasserstadt davon, wenn das Theater in der
Kellerei zu stehn kommt? Überhaupt, meine Herren, die Wasserstadt! Sie wird
stets vernachlässigt, bei jeder städtischen Unternehmung. Die Wasserstadt war früher das
Herz von Neusiedel, und heute? Was ist sie heute? Ich beantrage, daß das Theater
auf den Grantplatz oder auf die Spitalbreite gebaut wird. Meine Herren, es handelt
sich um eine volkswirtschaftliche Aufgabe. Nicht bloß um ein Vergnügen der reichen
Leute, sondern darum, daß da, wo das Theater steht, auch etwas verdient wird.
Dies war das Stichwort für den Redakteur Schnaller, der im Kollegium der
Stadtverordneten die Interessen des arbeitenden Volkes vertrat. Dieser legte sein
Gesicht in hämische Falten und begann im ruppigsten Tonfalle: Sehen Sie mal an,
das ist ja sehr lehrreich, daß die Bürgerschaft eine Vorlage ablehnen will, wenn sie
keinen persönlichen Nutzen davon hat. Mir ist nicht erinnerlich, daß das Theater den
Herren Stadtverordneten oder einem maßgebenden Klüngel der Bürgerschaft vermacht
ist, sondern der Stadt. Und dazu gehört denn doch wohl das arbeitende Volk. Diesem
Volke will Herr Schimmelmann das einzige Bildungsmittel, das ihm bei seiner
Verelendung bleibt, das Theater, vorenthalten, wenn es ihm unbequem liegt, oder
wenn er bei dem Verkaufe des Baugrundes keinen Rebbes macht. (Zurufe: Gemein¬
heit!. Widerrufen! Wort entziehn! Glocke des Vorsitzenden.) Wir kennen ja die
Profitwut dieser Herren. Ich erinnere nur an den Bau des Schlachthofes, wo diese
patriotischen Herren der Stadt das Fell über die Ohren gezogen haben. (Unruhe.)
Und wer hat die Suppe aufessen müssen? Der kleine Mann, dem man eine un¬
erträgliche Last von Steuern auf den Hals gewälzt hat. Ja, meine Herren, so,
verwalten Sie die Stadt. Wir werden der Annahme des Legats und dem Bau des
Theaters zustimmen in der Erwartung, daß alle Plätze den gleichen Preis haben.
Dann mögen die Herren, die sich am Marke des Volks mästen — . : : - ^
Vorsitzender: Ich nehme an, daß der Herr Stadtverordnete keinen der An¬
wesenden gemeint hat.
I Gott bewahre! (Heiterkeit im Kreise der Sozialen.) Dann würden diese
Herren am eignen Fleische erfahren, wie dem Arbeiter zumute ist, wenn er die
Welt hoch oben von der Kanaille aus ansetzn muß. (stürmisches Bravo der Sozialisten,
erregte Zurufe, große Unruhe.)
Nachdem sich die Wogen der Erregung etwas gelegt hatten, kam Herr Seifen¬
fabrikant Lippspitz ans Wort. Er erlaube sich, sagte er, einen Vorschlag. Geistige
Genüsse seien ja ganz gut. aber das körperliche Wohlbefinden stehe doch noch höher.
Hautpflege sei die dringendste Anforderung der Gegenwart. Und die Stadt habe
noch keine öffentliche Badeanstalt. Man könne ja das Geld dazu verwenden, eine
Badeanstalt zu bauen. Dann könnte auch der Wunsch jener Herren, die alles gleich
haben wollten, erfüllt werden, denn im Schwimmbassin gäbe es weder Sperrsitz noch
Kanaille. (Heiterkeit.) Der Herr Bürgermeister werde gewiß das Seine tun, der
Stadt zu einer Badeanstalt zu verhelfen.
Der Herr Bürgermeister nahm die Anregung dankbar entgegen, bemerkte aber,
daß das Legat nur stiftungsgemäß, das heißt zu einem Theaterbau verwandt
werden dürfe.
Es folgte eine lange Verhandlung, es verursachte viele Mühe, die Diskussion
von den Nebengleisen, auf die sie immer wieder geriet, zum Thema zurückzubringen.
Es entwickelte sich eine endlose Geschäftsordnungsdebatte über die Priorität der elf
Anträge, die inzwischen eingegangen waren, es belebte sich, nachdem schon alles
vorüber zu sein schien, das Feuer der Beredsamkeit von neuem über die Frage, ob
die Ausführung des eventuellen Beschlusses dem Magistrat oder einer gemischten
Kommission zu übertragen sei. Endlich war man im reinen. Das Legat wurde
angenommen, der Theaterbau wurde beschlossen, und die gemischte Kommission siegte
ob. Auch der Herr Professor Icilius hatte zuletzt für das Theater gestimmt, nachdem
ihm der Herr Bürgermeister in einigen allerdings etwas allgemein gehaltnen
Wendungen die gewünschten Garantien gegeben hatte.
Man glaubt nicht, welche Schwierigkeiten es einer Stadt verursacht, ein Theater
zu hauen, selbst wenn das Geld dazu bar und richtig bereit liegt. Schon eine
Theaterbaukommission zu besetzen verursacht Kopfschmerzen, das heißt Leute zu finden,
die den Mut haben, vorzugehen, daß sie die Sache verstünden. Natürlich gehörte
z» dieser Kommission der Bürgermeister. Ein Bürgermeister muß ja von Berufs
wegen alles versteh,,. Dann der Doktor Feilgenstedt, der Rentier Lederbogen und
noch einige andre. Und zuletzt der Redakteur und Volkstribun Schnaller. Es
war klug gewesen, diesen Mann nicht zu übergehn. Denn man mußte doch an¬
nehmen, meinte man, daß er, wenn er bei dem. was in der Kommission beschlossen
wurde, beteiligt war, hinterher in seinem Blättchen nicht dagegen Sturm schlagen
konnte. Man nannte das vornehme Gesinnung und soziale Gerechtigkeit.
Einige Sitzungen waren nötig, in denen man sich konstituierte und protokoll¬
mäßig feststellte, was man nicht wollte. Dann mußten Reisen angetreten, Theater
besichtigt und Vorstudien gemacht werden. Dies besorgten der Herr Burgermeister
»ut Herr Rentier Lederbogen. Der Kommission wurde hinterher berichtet, was
man zu berichten für gut fand. Dann aber trat die überaus schwierige Platz--
frage in den Vordergrund. Daß das Theater nicht auf den Grantplatz erbaut
werden dürfe, war den Bewohnern der Bergstadt zweifellos. Eben so fest stand
es aber auch den Wasserstädtern, daß es nicht in die Nähe der Kellerei verlegt
werden dürfe. Aber wohin? Auf die Bürgerwiese? In die Schrebergärten?
Für beide Vorschläge fanden sich begeisterte Freunde und heftige Gegner. In der
Zeitung erhob sich ein erbitterter Kampf der Interessengruppen gegeneinander.
Wie man denn daran denken könnte, dem kleinen Manne seinen Garten, seine
einzige Erholungsstätte zu nehmen, um sie der Vergnügungssucht der Reichen aus¬
zuliefern, schrieben die, die in der Gegend der Schrebergärten keine Interessen
hatten. Ob es denn gerecht und vernünftig sei, den Fremden, Leuten, die nicht
einmal in Neusiedel geboren seien, das Theater vor die Tür zu bauen. Es sei
ein Bürgertheater und müsse im Innern der Stadt errichtet werden, sagten andre,
die in der Stadt einen Laden oder ein Haus oder ein Grundstück hatten. Worauf
erwidert wurde, ob es denn vernünftig sei, einen Schmuckbau, der das neue Theater
doch werden sollte, in einem Winkel der alten Stadt zu verstecken.
Mutige Spekulanten kauften und verkauften Gärten und Bauflecke, je nachdem
die Chancen für die eine oder die andre Gegend zunahmen oder abnahmen. Endlich,
nachdem in fünfstündiger und streng geheimer Sitzung der Kommission keiner von den
in Aussicht genommnen Plätzen, sondern die Schinkelsche Gärtnerei gewählt worden
war und man daran ging, sich mit dem Besitzer über den Preis zu einigen, fand sich,
daß die Gärtnerei im letzten Augenblick an den Bankier Sally verkauft worden war,
und dieser, offenbar der Agent für ein verborgnes Konsortium, forderte einen dörrenden
Preis. Es kam zu einem großen Tage in der Stadtverordnetenversammlung, Schnaller
stand erhaben da. Er rühmte sich, der einzige Vertreter von Tugend und Recht
zu sein, bezeichnete die bürgerliche Welt als verfault und warf der Kommission
die gewissenlose Verschwendung städtischer Gelder und den Verrat von Amts¬
geheimnissen vor. Die Kommissionsmitglieder, von denen eins allerdings den Ver¬
räter gespielt haben mußte, machten sich gegenseitig Vorwürfe, die Streitfrage
komplizierte sich und griff auf das persönliche Gebiet über, und zuletzt flog die
Kommission auseinander. Ja es gab Leute — Herr Seifensieder Lippspitz soll nicht
persönlich verantwortlich gemacht werden —, die darauf hinarbeiteten, den Beschluß
des Theaterbaues umzustoßen.
Nun aber nahm der Herr Bürgermeister die Sache selber in die Hand und
setzte ohne Kommission durch, daß das Theater auf städtischen Grund und Boden,
nämlich auf die Bürgerwiese gebaut werde, was offenbar das einfachste und billigste
war. Sally aber und seine Hintermänner tippten sich betrübt auf die Stirn und
sagten mit tiefem Verständnis: Warum sind wir aber mich so dumm gewesen und
haben diesen Lump von Schnaller nicht ein Paar Prozente verdienen lassen.
Da nun aber einmal keine Sache ohne Kommission zuwege gebracht werden
kann, so mußte die Kommission rekonstruiert werden. Die Bauspekulanten, die
man wohl kannte, wurden beseitigt und an ihrer Stelle Leute gewählt, die man
für um so zuverlässiger halten konnte, als jetzt nichts mehr zu verdienen war.
Denn jetzt bestand nur noch die Aufgabe, den Bau zu vergeben. Sogleich teilte
sich die Kommission in zwei Parteien. Die eine Partei wollte den Bau niemand
anderen anvertrauen als dem berühmten Theaterbaumeister Alfred Schelling, und
die andre Partei wollte eine Konkurrenz ausschreiben, zu der alle Architekten
Deutschlands eingeladen werden sollten. Keiner der beiden Vorschläge fand den
Beifall der Bürgerschaft. Eine Sache ohne Konkurrenz und Preisgericht zu ver¬
geben hielt man für unmöglich. Aber ebensowenig wollte man zehntausend Mark
für Preise, das heißt für nichts ausgeben. Da kam ein findiger Kopf auf die
Idee, man möge drei anerkannte Meister zu der Konkurrenz auffordern und
als Preis die Ausführung des Baues bestimmen. Damit erspare man zehn¬
tausend Mark. .
Dieser Vorschlag fand Beifall. Schön. Also wer nun? Alfred Schelling.
Natürlich Alfred Schelling. Und zweitens? Zweitens Baurat Himmelby in Char-
lyttenburg. Gut. Zweitens Himmelby. Und drittens? Man wußte wirklich nicht
gleich einen dritten Namen zu nennen.
Meine Herren, sagte da ein Mitglied der Kommission, von dem übrigens
bekannt war, daß es mit Baurat Ermsdorf befreundet war, warum suchen Sie denn
nach fremden Kapazitäten, da sie Kapazitäten am eignen Orte haben? Es sei doch
wahrlich kein Grund vorhanden, den Baurat Ermsdorf zu übergehn, der die Stadt
mit so vielen schönen Villen geschmückt habe, der eine hohe Steuer zahle, und durch
den viel Geld nach Neusiedel gekommen sei.
Ja, aber, hieß es, würde sich denn Ermsdorf überhaupt an der Konkurrenz
beteiligen wollen?
Man kann ihn ja Sortieren.
Das geschah denn auch bei Gelegenheit des Dämmerschoppens mit großer
Feinheit. Ermsdorf war ein jovialer Herr, aber dabei ein geriebner alter Fuchs.
Er antwortete auf die vorsichtige Frage, ob er sich wohl vielleicht, das heißt unter
Umständen oder gewissen gegebne» Bedingungen an einer Konkurrenz beteiligen
würde, mit lauter Fröhlichkeit: Natürlich, meine Herren. Das heißt, um ganz
offen zu sein, es liegt mir nicht allzuviel an dem Bau. Wissen Sie, daran wird
nicht viel verdient. Aber für das Geschäft ist es wichtig. Es wäre mir doch
fatal, wenn es hieße: Da bauen sie nun in Neusiedel ein Theater und haben den
Ermsdorf am Orte und fordern ihn nicht einmal zur Konkurrenz auf. Also mit¬
machen würde ich gern, am Gewinn der Konkurrenz liegt mir nicht viel.
Das sah man ein. Und so einen angesehenen Mann wie Ermsdorf wollte
man doch auch nicht schädigen. Und es hatte doch auch gar keine Konsequenzen,
wenn man ihn als dritten auf die Liste setzte.
(Fortsetzung folgt)
Die Apostel des ewigen Friedens durchleben unbehagliche Zeiten. Zwar ist
der Friede in Europa bisher gewahrt worden, und mehr als das: kein europäischer
Staatsmann hat in der letzten Zeit zu einer Schilderung der politischen Lage das Wort
ergriffen, ohne zugleich nicht nur der Hoffnung, sondern auch der Zuversicht Aus¬
druck zu geben, daß der Friede auch für weitere absehbare Zeit erhalten bleiben
wird. Aber das ist doch nicht das, was die „Pazifisten" — dieses schreckliche Wort
hat sich ja nun einmal eingebürgert — erhoffen und ersehnen. Nicht wachsende
Einsicht und zunehmende brüderliche Gesinnung unter den Völkern verhindern den
Ausbruch eines Krieges; im Gegenteil, nie haben die Zeitumstände klarer gezeigt,
baß nur die nüchterne Abwägung der Machtverhältnisse und die kühle Berechnung
der erreichbaren Gewinnobjekte einzelne Mächte verhindern, die Fackel in den
überall gehäuften Zündstoff zu werfen. Der Gedanke, unbequeme Verknotungen
durch einen Schwerthieb zu lösen, liegt den Völkern näher als je. Wenn trotzdem
Friede gehalten wird, so wirken dabei vor allem zwei Dinge mit: erstens die
starke Rüstung der kontinentalen Großmächte und die Beteiligung der gesamten
Volkskraft an dieser Rüstung, sodann das vielseitige Ineinandergreifen der inter¬
nationalen Verkehrs- und Handelsinteressen, wodurch selbst in einem glücklichen
Kriege das Verlustkonto so stark belastet wird, daß ein Ausgleich durch die erfochtnen
Gewinne nur in seltnen Fällen möglich ist. Da es aber immer Völker gibt, die
weniger zu verlieren und mehr zu gewinnen haben als andre, und da hieraus
immer Lagen entstehen können, in denen auch die großen Weltmächte trotz aller
Friedfertigkeit durch besondre Interessen oder auch durch die Stimmung der Massen
in Verwicklungen hineingezogen werden können, so darf man auf die Wirksamkeit
der den Frieden erhaltenden Kräfte niemals zu fest bauen.
Wenn man jedoch auch den Krieg als eine der verschiednen Lebens-
betätigungen der Völker niemals aus dem Bereich der zu bedeutenden Möglich¬
keiten ausschalten kann, so braucht man doch deshalb um den Fortschritten einer
gesunden Humanität, an dem wachsenden Bewußtsein von der Zusammengehörig¬
keit aller Menschen in dem Empfinden und Erkennen ihrer sittlichen Bestimmung
nicht blind vorüberzugehn. Mitten in der Unruhe und den Spannungen unsrer
Zeit gibt es immer wieder Augenblicke, wo die Schranken zwischen den Völkern
niedersinken, wo wir uns nur als Menschen fühlen, eng verbunden ebenso durch
das hohe und edle Gefühl reiner Nächstenliebe und echter Menschlichkeit wie durch
das Bewußtsein unsrer Schwachheit und Ohnmacht gegenüber den ewigen Ge¬
walten der Weltordnung. Einen solchen Augenblick hat uns noch das scheidende
Jahr beschert durch die furchtbare Katastrophe, die über Sizilien und Kalabrien
hereingebrochen ist. Ein gewaltiges Nsmsnto mal ist in die schaffende und feiernde,
in die genießende und hadernde Menschheit hineingerufen worden. LIis et^file»!
Was für ein Strafgericht! — telegraphierte König Viktor Emanuel an seinen
Ministerpräsidenten, und viele Tausende haben es ihm in allen Zungen der Erde
schaudernd nachgesprochen. Erschütternder ist noch nie ein Unglück über ein schönes
blühendes Land hereingebrochen. Die Plötzlichkeit der Katastrophe, ihr Umfang,
die völlige Wehrlosigkeit der Betroffnen gegenüber den schrecklichen Nnturgewalte»,
die hier zum Ausbruch kamen, erhöhen das Entsetzen, aber zugleich auch das tiefste
Mitgefühl mit den unglücklichen Opfern, die sich, zum größten Teil ahnungslos
schlummernd, wenige Minuten später unter einem grausigen Haufen von Trümmern
und Leichen sahen, kaum das nackte Leben retten konnten und nun alle Folgen
der ausgestandner Schrecknisse zu tragen haben, zum größten Teil den Verlust
aller ihrer Lieben beklagen, vielleicht aber auch über ihr Schicksal im Ungewissen
und selbst dem Hunger, Wahnsinn und allem sonstigen Elend ausgesetzt sind. Was
Menschenkraft tun kann, um die Folgen dieser schweren Heimsuchung zu lindern,
wird gewiß geschehen, und kein Volk der zivilisierten Erde wird dabei zurück¬
stehen wollen. Wir Deutschen insbesondre lieben dieses Land des sonnigen Südens,
das uns in vergangnen Zeiten freilich oft zum Verhängnis geworden ist, jetzt aber
einem befreundeten und verbündeten Reiche angehört. Die Stätte der Zerstörung
ist unzähligen unsrer Landsleute eine Stätte der Erholung und freudigen Ge-
nießens gewesen; liebe Erinnerungen verknüpfen sie mit diesem Erdenwinkel voll
zauberhafter Schönheit, und wenige dachten an die in der Tiefe lauernden Dä¬
monen, die in einer einzigen Minute zwei blühende Großstädte und mehrere kleinere
Ortschaften in einen Trümmerhaufen verwandelten. Eine furchtbare Lehre, die uns
an der Jahreswende noch erteilt worden ist!
Als die westeuropäische Welt eben ihr Weihnachtsfest beging — in Rußland
schrieb man um dieselbe Zeit erst den 12. Dezember — hat Herr Jswolski die
schon lange erwartete Rede in der Reichsduma gehalten, um über die auswärtige
Politik seines Landes öffentlich Rechenschaft zu geben. Man muß anerkennen, daß
der russische Minister des Auswärtigen in einer recht schwierigen Lage war. Die
slawischen Balkanstaaten erwarteten eine tatkräftige russische Politik, die ihnen den
nötigen Rückhalt für ihre eignen ehrgeizigen Wünsche bieten könnte. Nußland selbst
hatte allerlei Fragen an die Türkei zu stellen, und doch konnte es seine traditionelle
Politik nicht verfolgen. Krieg und Revolution haben Nußland die Hände gebunden
und ihm neue Rücksichtnahmen auferlegt. Jswolski hat in seiner Rede offen ein¬
gestanden, daß Nußland gegenwärtig seinen Wünschen und Forderungen nicht den
letzten und äußersten Nachdruck geben kann. Es kann gewisse Forderungen nicht
erheben, weil es die Möglichkeit ins Auge fasse» muß. darum Krieg zu führen,
und das muß und will es vermieden sehen. Dieses bittre Eingeständnis war der
russische Staatsmann freilich möglichst geschickt zu verhüllen bemüht. Diese Ver¬
hüllung suchte er in einer möglichst optimistischen Darstellung der Weltlage und in
dem Hinweis auf die Beziehungen zu England und zu Frankreich. Nun ist es ja
richtig, daß das englisch-russische Einvernehmen bereits einige recht unbequeme Proben
bestanden hat. Es wird diese Proben wahrscheinlich auch weiter besteh», soweit Ost-
und Mittelasien in Frage kommen. Denn trotz manchen Widersprüchen und Ab¬
sonderlichkeiten, die man auf asiatischen! Boden nicht nach europäischem Maß messen
darf, kommen beide Mächte dabei in der Hauptsache auf ihre Rechnung. Aber im
nahen Orient wird man wesentlich vorsichtiger operieren müssen, wenn auch vorläufig
manches dadurch erleichtert wird, daß England und Rußland in ihren Beziehungen
sowohl zur Türkei wie zu den Balkanslawen gegenwärtig gewisse Berührungspunkte
haben. Die Sympathien der Träger der neuen Verhältnisse in der Türkei zu ge¬
winnen und zu erhalten, liegt in beider Interesse, und was die Südslawen betrifft,
so ist England bei der gegenwärtigen Gestaltung seiner Beziehungen zu der neuen
Türkei nicht mehr behindert, die Rolle des Protektors der Völkerfreiheit auch in
bezug auf die slawischen Balkanstaaten zu übernehmen, also auch hier scheinbar Seite
an Seite mit Rußland zu wandeln. Und dazu kommt als weiteres beruhigendes
Moment das von Herrn Jswolski mit vieler Genugtuung hervorgehobne Ver¬
hältnis zu Italien, das mit Rußland in den Balkanfragen zu vollem Einver¬
ständnis gelangt sei. Wenn auf dieser Grundlage das Zukunftsbild eines Balkan¬
bundes gezeichnet wurde, in dem sich die Türkei in trautem Verein mit den
südslawischen Staaten — von Rumänien und Griechenland schweigt des Sängers
Höflichkeit — an der russischen Sonne wärmen sollte, so klang das gewiß sehr
überzeugend, nur ist noch manches Wenn und Aber dabei. Den» die ganze Sache
hatte doch eine sehr deutliche Spitze gegen Österreich-Ungarn und war nicht dazu
geeignet, in der Richtung einer möglichsten Beseitigung der Konfliktstoffe zu wirken.
Darüber konnte auch der optimistische Anstrich der ganzen Auseinandersetzung nicht
hinwegtäuschen. Man hat den Eindruck, daß die englisch-russische Politik noch ent¬
schiedn^ auf einen Konflikt im Orient hinarbeiten würde, wenn sich Rußland nicht
durch den Zustand seiner Kriegsrüstung augenblicklich gefesselt fühlte, und noch
mehr, wenn es der Mitwirkung Frankreichs in seiner Orientpolitik unbedingt
sicher wäre. Aber Frankreich ist in diesen Fragen nicht der unbedingte Gefolgs¬
mann seiner Freunde. Es geht ihm mit der neuen Entente ungefähr umgekehrt
wie Italien mit dem Dreibund. Italien erkennt in dem Festhalten am Dreibund
eines seiner wichtigsten Interesse», obwohl es Sympathien und Neigungen eigentlich
in das andre Lager ziehen. Frankreich folgt umgekehrt seiner Neigung und
Stimmung, wenn es sich der Entente mit Rußland und England anschließt, aber
in der Orientpolitik wird es durch gebieterisch drängende Interessen in Bahnen
gewiesen, die weit eher auf eine Verständigung mit Österreich-Ungarn und Deutsch¬
land hinführen könnten. Rechnet man noch hinzu, daß der englische Einfluß auf
der Balkanhalbinsel auf die Dauer doch nicht russensreundlich wirken kann, so kann
man erkennen, daß das Fundament der russischen Orientpolitik nicht gerade durch
besondre Festigkeit ausgezeichnet ist.
Man kann dabei wohl zu der Frage gedrängt werden, ob Jswolski nicht
leichtere Arbeit gehabt hätte, wenn er seine Haltung in den neusten Orientver¬
wicklungen nicht von dem bekannten Schema abhängig gemacht, sondern versucht
hätte, die Verstimmung gegen Österreich-Ungarn zu überwinden und auf dem
Wege einer Entente der drei Kaisermächte die Vorteile zu wahren, die in diesem
Falle Rußland niemand ernstlich streitig gemacht hätte. So hat die Gereiztheit
gegen Österreich-Ungarn manche Hindernisse geschaffen, aus denen Rußland doch
zuletzt keinen Gewinn ziehen kann, weil der letzte Nachdruck fehlt. Ein um so
größerer Fehler war es, diese Gereiztheit auch jetzt uoch durchklingen zu lassen,
nachdem die russischen SpezialWünsche schon bei Gelegenheit der Rundreise Jswolskis
in London eine Abweisung erfahren hatten. Einstweilen siebt es wie eine Be¬
kräftigung friedlicher Aussichten aus, daß König Eduard seinen Besuch in Berlin
für den Februar aufs neue ankündigen läßt. Es ist dies in der Form geschehen,
daß die seit vielen Wochen umgehenden Gerüchte von einer Verschiebung oder Ab¬
sage des Besuchs, zu denen man bisher immer geschwiegen hatte, jetzt von dem
Privatsekretär des Königs amtlich und förmlich dementiert wurden. Das ist immerhin
ein erfreulicher Schritt, der manche überflüssigen Spannungen vermindern und manches
bedauerliche Mißverständnis beseitigen helfen wird.
Bei uns jedoch beschränkt sich die gespannte, mißmutige und unbehagliche
Stimmung nicht auf die Mhrlichkeiten und Wirrnisse der auswärtigen Politik.
Noch mehr herrscht augenblicklich ein gefährlicher Pessimismus in der innern Politik.
Und wenn aus diesem Pessimismus endlich einmal die Frucht einer stärkern Selbst¬
besinnung und eines geschärften Verantwortlichkeitsgefühls erwachsen sollte, so wäre
das nur erfreulich. Die Lage ist in der Tat unerquicklich. Die Arbeit an der
Reichsfinnnzreform hat Wendungen genommen, die sehr bedenklich stimmen müssen.
namhafte politische Kreise haben den Eindruck, daß diese Aufgabe mit Hilfe des
Blocks nicht zu lösen ist. Und nun entsteht die große Gefahr, daß das Zentrum
alle Minen springen läßt, um wieder ans Ruder zu kommen. Hieran knüpft sich
nun freilich eine Abart pessimistischer Betrachtung, die wir nicht für richtig halten
können. Viele glauben, daß der Kaiser unter dem Eindruck der bekannten Krisis
dem Reichskanzler doch einen gewissen Groll nachtrage und daher bei entstehenden
politischen Schwierigkeiten leicht für den Gedanken zu gewinnen sein werde, den
Fürsten Bülow zu verabschieden und unter einem neuen Kanzler wieder mit dem
Zentrum zu regieren. So liegt die Sache denn doch nicht, und es heißt das
wahre, feinfühlige Herrscherbewußtsein, das dem Kaiser eigen ist, arg verkennen,
wenn man ihn dieser Gedankengänge für fähig hält. Der Gedanke, daß der Kaiser
die Erlebnisse des Novembers als eine persönliche Niederlage gegenüber seinem ver¬
antwortlichen Staatsmann aufgefaßt habe und seine jetzige Stellung zu den Dingen
als eine erzwungne ansehe, ist durch und durch schief. So mag die Lage aussehen,
wenn man sie durch die Brille eines Maximilian Horden ansieht; ein geborner
Herrscher sieht sie anders. Gewiß verursacht die Erkenntnis, sich getäuscht zu haben
und vor allem trotz mancher überlegnen Kenntnis und trotz redlichsten Willen geirrt
zu haben, einem starken Selbstbewußtsein lange und schwere innere Kämpfe, aber
das Ergebnis dieser Kämpfe ist und bleibt doch der Ausfluß der eignen, selbst¬
bewußten Persönlichkeit.
Die Gefahr der Lage ist in einer andern Richtung zu suchen. Was wir
schon neulich anläßlich des Geredes über eine sogenannte Kamarilla ausgesprochen
haben, ist hier zu wiederholen. Es kommt nicht nur darauf an, was der Kaiser
selbst denkt und will, sondern auch auf das, was ihm von politische» Cliquen und
Parteien zugetraut, und was dem Volk von eben diesen Parteien als Meinung des
Kaisers suggeriert wird. Daraus können schädliche Wirkungen entstehn, die un, so
gefährlicher sind, als sie die Folge dunkler Treibereien und darum unberechenbar
sind. Das Zentrum fühlt sehr wohl, daß die Enttäuschungen, die die bisherigen
Arbeiten an der Reichsfinanzreform gebracht haben, und die allgemeine, bange und
sorgenvolle Stimmung, die sich der öffentlichen Meinung nach den kritischen No¬
vembertagen bemächtigt hat, seinen Machenschaften günstig sind, wie ein Mairegen
dem jungen Saatfeld. Während sich die Führer der Partei für alle Fälle bereit
halten, ihren Frieden mit der Regierung zu machen, arbeitet das Gros der Zentrums¬
presse mit beispielloser Zähigkeit und unverdrossenem Eifer gegen den Fürsten Bülow.
Nichts entgeht ihr, was nur irgendwie als Argument in diesem Kampfe verwertet
werden könnte, auch wenn es durchaus den Ansichten entspricht, die das Zentrum
selbst früher vertreten hat. Diese Feindschaft ist um so bemerkenswerter, als die
Politik des Fürsten Bülow, was ihren sachlichen Inhalt betrifft, dazu durchaus
keinen Anhalt bietet. Fürst Bülow hat nicht nur während seines Staatssekretariats
"»d in der ersten Periode seiner Kanzlerschaft gezwungnermaßen mit dem Zentrum
regiert, soudern er hat auch bis auf den heutigen Tag vielleicht mehr als alle seine
Vorgänger in deutlich erkennbarer Weise Grundsätze befolgt, die ihm eigentlich die
Sympathien des Zentrums hätten einbringen müssen. Die Ablehnung jeder kultur¬
kämpferischen Neigungen, die peinliche Rücksichtnahme auf den föderativem Charakter
der Reichseinrichtungen und die Achtung vor den Rechten der Bundesstaaten ent¬
sprangen nicht taktischen Rücksichten, sondern den eigensten Überzeugungen des
Reichskanzlers. Und in der auswärtigen Politik kann man dasselbe sagen von der
stärkern und entschiednern Betonung des Verhältnisses zu Österreich-Ungarn. Auch
das ist ein Gedanke, der von keiner Partei so sehr gehegt und gepflegt worden ist
wie vom Zentrum. Allen diesen Grundsätze» ist Fürst Bülow auch nach seiner
Abkehr vom Zentrum nicht untreu geworden. Aber seine Todsünde in den Augen
dieser Partei besteht eben auch nicht darin, daß er in sachlicher Hinsicht andern
Grundsätzen folgt, sondern darin, daß er das Zentrum aus seiner Machtstellung
gedrängt hat. Jetzt könnte er nach Canossa gehn, seine Polenpolitik auf den Kopf
stellen und was sonst »och tun, das Zentrum wird ihm sein Anathema entgegen¬
schleudern, solange es nicht wieder seine ausschlaggebende Stellung in der Reichs¬
tagsmehrheit hat, Herr spähn nicht wieder seinen Zylinderhut ausbürsten kann,
und die Hintertreppen der Reichsämter nicht wieder den Erzberger und Genossen
offenstehn. Dafür liefert die jetzige gewissenlose und hetzerische Polemik der Zen¬
trumspresse gegen den Fürsten Bülow täglich die deutlichsten Beweise. Es ist
Pflicht der nationalen Parteien, diesen Treibereien entschieden entgegenzuarbeiten.
Und dazu ist allerdings notwendig, daß die mutlose, schwarzseherischc Stimmung,
die jetzt eingerissen ist, überwunden und abgeschüttelt wird.
Eine wirkliche Kriegsgefahr hat in den letzt-
vergmignen kritischen Tagen wohl schwerlich vorgelegen. Immerhin haben sich die
äußern Verhältnisse nach der Seite kriegerischer Möglichkeiten hin verschoben. Auf
die günstigen Bedingungen der Kriege Wilhelms des Großen ist dabei nicht zu
rechnen; der Sieg wird nur unter Anspannung aller Kräfte an die Fahnen zu fesseln
sein, wenn sämtliche den Erfolg bewirkenden Kräfte sachgemäß und den Gegner
übertreffend angewandt werden. Unter diesen steht dem Oberbefehl die führende
Rolle zu. Eine kurze Erörterung seiner zweckmäßigsten Gestaltung dürfte deshalb
nicht unzeitgemäß erscheinen.
Zwei Grundregeln gibt es für die oberste Leitung im Kriege. Die Kriegsbühne
ist zunächst kein Liebhabertheater, sie verlangt mithin keine Dilettanten, sondern
durchgebildete Fachmänner. Sicherlich ist die Truppenführung eine Kunst, die die
angeborne Begabung des Genies voraussetzt. Aber je schwieriger der Mechanismus
des Instruments ist, desto seltner fällt ein Meister vom Himmel. Auch ausgesprochue
Feldherrnnaturen wie die Friedrichs des Großen oder Napoleons bedürften in der
Gegenwart einer viel tiefgründigern, ihre ganze Lebenskraft fordernden Vorarbeit, ehe
sie die Steine auf dem Schachbrett des Krieges erfolgreich zu ziehen vermöchten. Wie
auf dem Schachbrett die Eröffnungszüge, so sind im Kriege die einleitenden Schritte
entscheidend für den Ausgang des ganzen Feldzugs. Aus diesen beiden Lehrsätzen
ergibt sich nun die unerbittliche Folgerung: die Leitung des Feldzugs muß in der
sachkundigsten Hand liegen, und zwar vom ersten, noch mitten im Frieden liegenden
Anfang an. Das Kunststück der Wiederherstellung eines verfahrnen Feldzugs ist bei
richtigen Maßnahmen des Gegners ausgeschlossen. Eine Führung, die etwa den
Versuch wagen will und wähnt, nach den ersten Schlägen noch ohne Schaden den
Oberbefehl in fähigere Hände legen zu können, gibt sich einer verhängnisvollen
Verblendung hin.
Wie lassen sich diese theoretischen Lehren mit der Wirklichkeit der deutschen
Monarchie verbinden? Das Staatsoberhaupt ist nach der Verfassung der oberste
Kriegsherr. Auf ihm allein ruht die volle Verantwortung für den gesamten Verlauf
des Feldzugs, ihm gebührt also unstreitig der Oberbefehl. Aber angesichts der
unendlich gewachsuen Anforderungen, die die übrigen Zweige des Staatslebens an
ihn stellen, fehlt ihm in der Gegenwart die Gelegenheit, auch die beste Feldherrn¬
veranlagung zur fruchttragenden Reife zu bringen. Welche Lösung gibt es nun für
diesen klaffenden Zwiespalt? Im Ernst kann kein Mensch an den Kaiser das Ansinnen
stellen, anders als aus völlig freier höchstpersönlicher Entschließung von der obersten
Kriegsleitung zurückzutreten. Friedrich Wilhelm der Dritte betrat in den Freiheits¬
kriegen diesen hochherzigen aber entsagungsvollen Weg, indem er die Mühen und
Sorgen des Feldzugs selbstverständlich mit seinem Heere teilte, aber in den Gang
der Ereignisse nicht ausschlaggebend eingriff. Aber seine aus der weisen Einsicht
in die Grenzen seiner Befähigung hervorgegangne Handlungsweise war doch nur
ein Notbehelf. Der monarchische Sinn des deutschen Volks will seinen Kaiser gerade
in den Stunden der Gefahr um Steuerruder sehn. Warum sonst hat sich das Bild
Kaiser Wilhelms des Großen mit unauslöschlichen Zügen in die Herzen seiner Unter¬
tanen eingegraben? Aber auch gerade seine Heldengestalt hat für alle Zeiten den
gangbarsten Weg für die Leitung des Oberbefehls in der deutschen Monarchie vor¬
gezeichnet. Zunächst hat er mit sichrer Hand die hervorragendste Kraft unter seinen
Generalen herausgefunden. Dann aber hat er seine Ansicht nicht als die allein
maßgebende Richtschnur hingestellt, sie zwar keineswegs aufgegeben, aber daneben
der fachmännischer Einsicht seines Ratgebers den gebührenden Platz angewiesen.
Das unerläßliche Korrelat hierfür gab natürlich die gleiche biegsame Nachgiebigkeit
seines großen Gehilfen ab, soweit der Fortgang des Krieges dies zuließ.
Somit ergibt sich für Deutschland als die gesundeste Lösung der Frage nach
der Kriegsleitung ein Verhältnis, wobei der Kaiser das Heft in Händen behält,
aber mit seinem tüchtigsten Feldherrn gleichsam eine glückliche Ehe eingeht. In dieser
behalten beide Teile ihre wohlverbrieften Rechte, aber sie gelangen durch harmonisches
Entgegenkommen nicht nur zu einer wechselseitigen Ergänzung, sondern zu einem
vollkommnen Aufgehn ineinander. Die Möglichkeit eines solchen Znsammenwachsens
haben außer Kaiser Wilhelm und Moltke auch Blücher und Gneisenau bet lediglich
etwas veränderter Aufgabenabgrenzung mit unwiderstehlichem Erfolg für die Kriegs-
leitung bewiesen.
Allerdings werden die Schwierigkeiten einer solchen Verschmelzung am klarsten
durch die Erwägung vor Augen geführt, daß beide Persönlichkeiten stark ausgeprägte
Charaktere sein müssen. Bei größern Reibungsflächen würde der ausschließlich in
seinen eignen Schuhen einhergehende Heerführer beispielsweise einer Republik einen
unerreichbaren Vorsprung erhalten. Wenn also die Ungunst der Verhältnisse einmal
dem Monarchen den ungetrübten Zusammenschluß mit seinem befähigtsten General
aus irgendwie gearteten Gründen versagen sollte, so wird er sich die folgenschwere
Frage vorlegen müssen: was frommt meinem Hause und Volke mehr, die Übernahme
oder Abgabe der Kriegsleitung? Der ausschlaggebende Grund ist lediglich die größere
militärische Tüchtigkeit. Für beide Schritte findet jeder zukünftige Kaiser unter seinen
erlauchten Vorfahren Vorbilder. Noch immer haben die Hohenzollern die richtige
Wahl getroffen. Warum soll die Zukunft eine andre Erscheinung zeitigen?
Ein ungenannter Kritiker meines Buches Die
Zukunft Polens hat mir im Neuen Wiener Tagblatt Ur. 413 die Unterstellung
gemacht, ich hätte die Österreicher wegen ihrer Polenpolitik „leichtfertig" genannt.
Im gesamten bisher vorliegenden ersten Bande meines Buches ist das Wort „leicht¬
fertig" nicht angewandt, wohl aber sage ich in der Einleitung mit Bezug auf
die autonomen Rechte Galiziens: „Der leichtlebige Österreicher hat seinen
Polen einen besondern Flügel eingeräumt. Dort konnten sie von jeher schalten,
wie sie wollten. Galizien hatte gegenüber den beiden andern Teilen Polens immer
die größten Freiheiten. Dort fühlten sich die Polen in ihrer unordentlichen, kaum
beaufsichtigten Wirtschaft so wohl, daß sie immer mehr die Absicht vergaßen, sich
ein eigenes größeres Haus zu errichten. Die führenden Kreise der Polen in Oster¬
reich konnten es gar nicht besser haben, als es ihnen seit der Teilung ergangen
ist- In der österreichischen Reichspolitik spielten sie schon immer eine maßgebende
Rolle — ihre Landsleute waren führende Staatsmänner, während sie in Galizien
selbst mit der Plutokratie zusammen regieren konnten. Wären nicht nach 1904
außerhalb ihrer Wirksamkeit liegende Ereignisse eingetreten, die österreichischen
Polen würden kaum die großen Anstrengungen zur Wiederherstellung des alten
Polenstaats auf sich genommen haben, wie sie es nun tatsächlich tun."
Der
Herr Kritiker baut auf dem Worte leichtfertig ein ganzes System gegen
meine Auffassung der Polenfrage auf Infolgedessen möchte ich nicht unterlassen
zu bemerken, daß ich unter leichtfertig eine gewisse Frivolität verstehe, während
sich mir im Worte leichtlebig leichtes Anpassungsvermögen, ja sogar Generosität
verkörpert. Ich würde es z.B. leichtfertig nennen, wenn der Angriff des Herrn
Kritik
der in den neunziger Jahren
viel genannt wurde, hat ein dreibändiges System der politischen Ökonomie
herausgegeben. Der dritte Band (Berlin, Puttkammer und Mühlbrecht, 1908) ent¬
hält „die Krankheitslehre des sozialen Volkskörpers". Die Krankheit ist nach ihm
der Kapitalismus. Daß der Kapitalismus unerfreuliche und gefährliche Auswüchse
erzeugt, und daß eine seiner größten Gefahren in der übermäßigen Konzentration
des Volksvermögens in verhältnismäßig wenigen Händen, in der Vernichtung des
mittlern und kleinen Besitzes besteht, namentlich in der Loslösung der Massen vom
Boden (ein Sparkapital von 5000 Mark ist zwar auch Besitz, aber einem
5000 Mark geltenden Häuschen mit Ackerstück keineswegs gleichwertig), darüber
besteht unter vernünftigen Menschen keine Meinungsverschiedenheit. Aber wenn
man die Schäden des modernen Kapitalismus bekämpfen will, muß man ihn
vorher richtig beschreiben, wie es so meisterlich Werner Sombart getan hat.
Rusland tut das Gegenteil. Anstatt ihn von den ältern Formen wucherischer und
ausbeuterischer Geldwirtschaft deutlich zu unterscheiden, wirft er ihn mit diesen zu¬
sammen. Der Untergang antiker und mittelalterlicher Städte und Staaten, der
Sturz des Papsttums und der absolutistischen Monarchien, deren jeder und jedem
zwei besondre Kapitel gewidmet werden (Krankheitsgeschichte und Heilversuche), und
alle alten Tiraden gegen das fluchwürdige Gold sollen ihn illustrieren. Der wenig
unterrichtete Leser wird damit bloß irregeführt. Einer der Hauptunterschiede des
modernen Kapitalismus von allen frühern Erscheinungen, die eine oberflächliche
Ähnlichkeit mit ihm haben, besteht darin, daß unsre heutige fein ausgebildete
Kreditwirtschaft und der Börsenverkehr so innig mit der durch den technischen Fort¬
schritt ungeheuer gesteigerten Güterproduktion verflochten sind, daß diese vorläufig
ohne jene beiden Einrichtungen gar nicht gedacht werden kann. In dieser Pro¬
duktion und in der Verteilung der Güter werden ungeheure Geldsummen rasch
umgesetzt, und daß dabei den Umsetzenden mehr an den Fingern kleben bleibt, als
die gerechte Entschädigung ihrer Mühewaltung ausmachen würde, daß Spekulanten,
die gar keine eigentliche Arbeit verrichten, daß Schwindler einen Teil des unauf¬
hörlich zirkulierenden Goldstroms in ihre Taschen zu leiten versteh«, daß demnach
die eigentlichen Produzenten, die mit der Hand oder dem Kopf schaffend arbeitenden,
zu kurz kommen, das ist sehr natürlich und unvermeidlich. Selbstverständlich niuß
der darin liegenden Ungerechtigkeit so viel wie möglich gesteuert werden. Aber
sollte das gar nicht möglich sein, so wäre es immer noch besser, es würden vom
deutschen Volkseinkommen alljährlich neun Milliarden gestohlen (so viel fließt nach
Ruhlands Berechnung durch Kursschwankungen, Krisen, Syndikate, Prozeßkosten usw.
in die Taschen von Unberechtigten), als daß das deutsche Volkseinkommen, das jetzt
auf 26 Milliarden angeschlagen wird, seit 1340 nur dem Wachstum der Kopf¬
zahl entsprechend auf etwa 16 Milliarden gestiegen wäre, was ohne Zweifel der
Fall sein würde, wenn die von der Kreditwirtschaft nud Börsentechnik unterstützte
industrielle Entwicklung nicht eingetreten wäre. In ihren eignen Mägen können
doch auch die Spekulanten jene neun Milliarden oder deren Äquivalent in Austern
und Champagner nicht vollständig unterbringen. Rusland verachtet die kleinen
Geister, die sich mit kleinen Mitteln begnügen, und will ganze Arbeit machen. An
die Stelle des die heutige Volkswirtschaft beherrschenden Satzes: „möglichst billig
einkaufen, möglichst teuer verkaufen", soll „der Güterverkehr nach dem Äquivalenz¬
werte" treten. Gewiß ist dieser zu erstreben, aber es wird noch ein Weilchen
dauern, ehe jeder Volksgenosse bekennt: meine Arbeit wird immer nach ihrem
vollen Werte bezahlt. Daß Rusland sein Ziel nicht durch den Kommunismus
sondern durch Fortentwicklung der schon eingeleiteten Syndikatsbildung erreichen
Will, läßt ihn ja schon etwas weniger utopisch erscheinen. Aber gleich sein landwirt¬
schaftliches Syndikat erregt Bedenken. „Nach Einführung dieser Syndikatsor¬
ganisation werden die Getreidezölle als Schutzmittel gegen zu niedrige ausländische
Getreidepreise überflüssig, denn dann gibt es außerhalb des Syndikats keine Käufer
mehr für ausländische Getreideofferten." Werden die dann allmächtigen Syndikats¬
herren so uneigennützige Engel sein, daß sie, sobald der Getreidepreis eine für die
ärmere Bevölkerung drückende Höhe erreicht, im Auslande Getreide kaufen? (In
der Frankfurter Zeitung vom 3. November lese ich zu meiner Überraschung, daß
in den ersten neun Monaten des laufenden Jahres bei uns mehr Roggen und
Hafer aus- als eingeführt worden, Deutschland in Beziehung auf diese beiden
Früchte wieder Ausfuhrland geworden ist. Nur an Weizen wurde bedeutend mehr
ein- als ausgeführt. Die Zollerhöhuug hat also die Produktion gefördert, und
unsre Landwirte verdienen für die enorme Leistung, in der Roggenproduktion mit
der Volksvermehrung gleichen Schritt gehalten zu haben, bewundernde Aner¬
kennung. Freilich sind die Getreide- und die Fleischpreise so hoch, die Vorräte
demnach so knapp, daß nachgeforscht werden muß, ob nicht der ärmere Teil des
Volkes schon an Unterernährung leidet. Den Klagen der Beamten nach zu urteilen,
ist es der Fall, und die bevorstehende Gehaltserhöhung kann nicht den Brot- und
Fleischvorrat, sondern nur den Anteil der Beamten auf Kosten der Lohnarbeiter
vermehren, die nun wieder höhern Lohn fordern werden.) Selbstverständlich ent¬
hält das Buch eines Mannes, der viel gereist ist und als Berater des Bundes
der Landwirte Einblick in alle wirtschaftlichen Vorgänge gewonnen hat, viel
brauchbares statistisches Material und manche Anregung, die praktisch verwertet
werden kann. So die folgende: Unsre Reichsbank verteuert, den Goldabfluß ins
Ausland zu hemmen, auch der redlichen produktiven Arbeit des eignen Volkes den
Kredit. Die Bank von Frankreich differenziert. „Ausländische Finanzwechsel oder
Forderungen auf Gold werden von ihr für sich allein mit einer entsprechend hohen
Goldprämie belastet oder überhaupt abgelehnt, ohne den billigen Zinsfuß für die
inländischen Geschäfte zu berühren." (Schlechtes Deutsch!) Wenn das wahr,
demnach doch auch möglich, durchführbar ist, dann verdient allerdings unsre Reichs¬
bankverwaltung harten Tadel.*) — Der wackre Heinrich Freese bekämpft einzelne
Auswüchse des Kapitalismus Vom Standpunkte der Bodenreformer aus. In seinem
Büchlein Bodenreform (Gotha, Emil Perthes, 1907) faßt er die Zeitungs¬
und Zeitschriftenartikel zusammen, die er als Leiter des Bundes der Bodenreformer
in deu neunziger Jahren geschrieben hat. Sie sind deswegen nicht ganz ohne
Interesse, weil sie die Erinnerung an die Kämpfe jener Zeit gegen die Terrain¬
spekulation und für die Sicherung der Forderungen der Bauhandwerker auffrischen.
In deu Zollkämpfen des Jahres 1893 fand er, daß „der Mann ohne Ar und
Halm" mehr Einsicht beweise als die Wortführer des Bundes der Landwirte. —
Dr. K. von Mangoldt hat seinem großen Werke eine Broschüre nachgeschickt:
Bodenspekulation oder gemeinnützige Bodenpolitik für Groß-Berlin?
(Berlin. Karl Heymmm. 1908.) — Außerdem sind uns folgende Bücher volkswirt¬
schaftlichen und Sozialwissenschaftlichen Inhalts zugegangen: Wirtschastspolitische
Annalen. Ein Kalendarium der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik der
Kulturstaaten, ihrer Kolonien und Dependenzen. Zweiter Jahrgang: 1907. Heraus¬
gegeben von Friedrich Glaser. (Stuttgart und Berlin, I. G. Cottas Nachfolger,
1908.) — Zur Methode der Volkswirtschaftslehre von Dr. Stephinger.
(Karlsruhe, G. Braunsche Hofbuchdruckerei, 1907.) — Ertrag und Einkommen
auf der Grundlage einer rein subjektiven Wertlehre von Professor Dr. Robert
Liefmann. (Jena, Gustav Fischer. 1907.) — Kritische Dogmengeschichte der
Geldwerttheorie von Dr. Friedrich Hoffmann. (Leipzig, C. L. Hirschfeld,
1907.) — Soziologie von Dr. A. Eleutheropulos, Privatdozent in Zürich Zweite,
Der in diesem Hefte abgedruckte Aufsatz
„Vom eignen Leben" von Wilhelm Speck ist mit Erlaubnis der Verlagsbuchhandlung
O. Häring in Berlin dem jüngst erschienenen ersten Jahrgang des Deutsch-evan¬
gelischen Jahrbuches, herausgegeben von Reinhard Mumm (Preis geb. 2,50 Mark)
entnommen. Wir möchten hier auf seinen vielseitigen Inhalt hinweisen, zu dem
eine Reihe namhafter deutscher Schriftsteller beigetragen hat. Das Buch enthalt
unter andern, einen Aufsatz von Hans v. Wolzogen über Wilhelm Raabe, Jugend¬
erinnerungen von Timm Kröger, persönliche Erinnerungen an Heinrich Seidel
als Naturfreund von dessen Sohn Pastor W. Seidel; dann kunstgeschichtliche Aufsätze
von Henry Thode über Albrecht Dürer, deutsche Kunst und deutsche Reformation
und von Paul Schubring über Hans von Marees. Kirchliche und soziale Gebiete
behandeln Artikel von v. Ernst Dryander, Friedr. v. Bodelschwingh und Adolf
Stöcker.
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^^^^^^eilen haben sich auf den großen militärischen Gebieten bei nahezu
allen Heeren der Welt so viele Veränderungen, so zahlreiche
Neuerungen von Wichtigkeit zugetragen als in dem soeben ab-
gclaufnen Jahre 1903. Bei der deutschen Armee sind zunächst
die in dem Quinquennatsgcsetz von 1905 vorgesehenen jähr¬
lichen Vermehrungen zu verzeichnen, die diesmal bei der Infanterie nur dem
sächsischen Kontingent ein neues Bataillon zuführten, während sie bei den
Preußischen Truppen die Kavallerie und die Pioniere betrafen durch Aufstellung
der 39. Kavalleriebrigade und des Jägerregiments zu Pferde Ur. 5 sowie
durch Formation eines Pionierregimentsverbands aus dem vorhandnen Pionier¬
bataillon Ur. 7 und dem neu errichteten Pionierbataillon Ur. 24. Der Etat
von 1909 bringt die letzten Forderungen des erwähnten Gesetzes vom
1. April 1905 und schließt damit die seinerzeit beantragten Nenaufstellungen
von 8 Bataillonen Infanterie und 28 Schwadronen ab, wodurch die Friedens¬
stärke des deutschen Heeres um 10339 Mann erhöht werden sollte, um
alsdann den etatsmäßigen Stand von 505839 Mann ohne die Einjährig¬
freiwilligen zu erreichen. Sehr erfreulich ist, daß seit dem 1. Oktober v. I.
der wichtige Ausbau der Maschinengewehrkompagnien weiter gefördert ist,
und den im Jahre 1907 errichteten 17 Kompagnien jetzt noch 33 hinzu¬
gefügt sind. Die Maschinengewehrkompagnien werden häufig im Zusammen¬
hange mit den Abteilungen genannt und mit diesen identifiziert. Das ist
unrichtig. Überein stimmen beide Formationen nur darin, daß sich die Ab¬
teilung wie die Kompagnie je in zwei Züge zu zwei Gewehren gliedern. Vor
allen Dingen aber sind bis jetzt nur die sechzehn Abteilungen etatsmüßige
Truppenteile; sie sind vorläufig einigen Infanterie- und Jagerbataillonen zu¬
geteilt und werden, wie man vermutet, erst nach durchgeführter Organisation
aller Maschinengewehrkompagnien der Kavallerie, im Kriege den Kavallerie-
divisionen, angegliedert werden. Ihre Gewehr- und Munitionswagen sind mit
vier Pferden bespannt. Im Gegensatz dazu sind die Kompagnien bis jetzt
noch kein etatsmäßiger Verband; sie sind zusammengestellt aus abkommandierten
Leuten und als 13. Kompagnien verschieden Infanterieregimenten ange¬
hängt. Ihre Bespannung besteht aus zwei Pferden, und sie werden vom
Bock gefahren; die Bedienung geht zu Fuß und kann nur auf kurze Strecken
auf die Fahrzeuge aufsitzen. Dadurch ist die Beweglichkeit der Maschinen¬
gewehrkompagnien begrenzt.
Auch auf dem Gebiete der reglementarischeu Vorschriften sind aus dem
letzten Jahre bei unserm Heere Fortschritte zu verzeichnen, die man zum großen
Teil auf die Erfahrungen des Buren- und des russisch-japanischen Krieges
zurückführen kann. An der Spitze stehn die in der Felddienstordnung nieder¬
gelegten neuen Bestimmungen, die namentlich in den Abschnitten des Auf-
klärungs- und Sicherheitsdienstes eine vollständige Umarbeitung erfahren
haben. Die wichtige Vorschrift unterstreicht mit Recht die Tätigkeit des Offi¬
ziers als Erzieher, indem sie ihn so auf seine hohe soziale Verantwortlichkeit
für die Entwicklung unsers Volkes hinweist. Das fordert ganze Männer von
sittlichem Ernst und Charakterstärke, die, praktisch und theoretisch sorgfältig
ausgebildet, in der Lage sind, durch nie rastende Fürsorge, Entschlußfähigkeit
und freudiges Einsetzen der eignen Persönlichkeit das Vertrauen ihrer Unter¬
gebnen zu erringen, das neben der unerschütterlichen Mannszucht die Be¬
dingung des Erfolges ist. Der Felddienstordnung folgt an Wichtigkeit unter
den neuen Vorschriften das erst am 22. Dezember der Öffentlichkeit übergebne
Exerzierreglement für die Fußartillerie. Damit ist ein lange bestandner Bann
gebrochen und mit einem Strich der Nimbus der „schwarzen Kunst", der bisher
die Fußartillerie umgab, aus der Welt geschafft. Erfreulicherweise stellt das
Reglement mit besonderm Nachdruck fest, daß gleiche Grundlehren für alle Arten
des Kampfes bestehn, daß also Feld- und Festungskrieg zwar verschiedne
Formen, nicht aber verschiedne Arten des Kampfes sind. Begegnungsgefecht,
Gefecht gegen einen entwickelten Gegner, Angriff auf eine vorbereitete Stellung
und Kampf um Festungen sind offenbar in dieser Folge eine für den An¬
greifer ständig zunehmende Steigerung des zu überwindenden Widerstandes,
für den Verteidiger die Möglichkeit, die persönlichen Kräfte vermöge der ver¬
mehrten materiellen Mittel zu verringern, aber keine Abänderung der dauernden
Grundlehren des Kampfes.
Neben diesen beiden Vorschriften haben das neue Exerzierreglement für
den Train dieser Waffe eine auf ganz modernen Anschauungen aufgebaute
Verordnung gebracht und die neue Kavalleriepionierschrift einem dringenden
Bedürfnis abgeholfen. In Bearbeitung durch eine besondre Kommission steht
gegenwärtig das Kavallerieexerzierreglement, und auch die alte Neitinstruktion
wird eine Neuauflage erhalten.
Bei unsern Verbündeten in Österreich-Ungarn sind vor allen Dingen
die Fortschritte auf dem Gebiete der Neubewaffnung mit der 8-Zentimeter-
Feldkanone Modell 5 und die Einführung der leichten Feldhaubitze hervor-
zuHeben. Allerdings werden ja hier und da Stimmen laut, die über die
neuen Feldgeschütze Klagen führen und namentlich an dem Bronzematerial
Ausstellungen zu machen haben, aber das sind alles unkontrollierbare Ge¬
rüchte, die nicht ohne weiteres ernst genommen werden können. Ganz durch¬
geführt wird die Ausrüstung der Armee mit den neuen Geschützen erst im
Jahre 1910 sein, denn von dem Gesamterfordernis von 165 Millionen Kronen
wurden bisher erst 130 Millionen verwandt; weitere 15 Millionen sind im
Etat für 1909 gefordert, der Rest von 20 Millionen verbleibt für 1910.
Hand in Hand mit dieser Neubewaffnung konnte im Herbst vorigen Jahres
auch mit der lange erstrebten Neuorganisation der Feldartillerie begonnen
werden. Nach den erlassenen Bestimmungen wurden die Korpsartillerie¬
regimenter abgeschafft und die Formationen der Feldhaubitzen in Divisions¬
verbände gegliedert, die den Abteilungen in andern Heeren entsprechen. So
soll in Zukunft jede Jnfanterietruvpendivision als Divisionsartillerie ein Feld»
kanonenregiment zu vier Batterien und eine Feldhaubitzdivision zu zwei
Batterien haben. Diese gesamte Feldartillerie ist einem Oberst oder General¬
major als Artilleriebrigadier unterstellt, der unmittelbar unter dem Divisions¬
kommandeur steht. Diesem bleibt es überlassen, inwieweit er im Gefecht eine
Artilleriereserve ausscheiden will. An wichtigen organisatorischen Neuerungen
bei der Armee unsers Nachbarn sind sonst noch zu nennen: Die Reformen bei
den 39 Landsturmbezirken, in die die Monarchie zur Durchführung des Land¬
sturmwesens eingeteilt worden ist. Die Neuerungen waren notwendig, um die
vielfachen Arbeiten ordnungsgemäß erledigen zu können, die heutzutage nötig
sind, wenn im Kriegsfalle bei Aufbietung und Einberufung des Landsturms
in jedem der 39 Bezirke „Auszugs"- und „Territorialbataillone" und berittne
„Landsturmabteilungen" errichtet werden müssen. Weiter ist aufzuführen die
Vermehrung der Maschinengewehrformationen dergestalt, daß 50 Jnfanterie-
maschinengewehrabteilungen (davon 39 zu je 2 und 11 jfür die Landwehr) zu
je 4 Gewehren) und 2 Kavalleriemaschinengewehrabteilungen zu 4 Gewehren
geschaffen wurden. Hier sei eingeschoben, daß die österreichisch-ungarische
Heeresverwaltung in Erkenntnis der hohen Bedeutung der Maschinengewehre
am 1. Januar d. I. 55 neue derartige Formationen bei der Infanterie, 6 bei
den Jägern und 1 bei der Kavallerie aufgestellt hat, und daß zum 1. Februar
eine weitere Errichtung von 24 Abteilungen bei der Infanterie und von
14 bei den Jägern vorgesehen ist, sodaß die Armee samt der Landwehr zu
diesem Zeitpunkt über 155 Maschinengewehrabteilungen verfügen wird, davon
152 bei den Fußtruppen. 3 bei der Kavallerie.
Es ist ferner zu erwähnen die Bildung eines Freiwilligenkorps aus dem
schon seit 1906 bestandnen Freiwilligen Automobilkorps und dem erst kürzlich
ins Leben gerufnen Motozyklistenkorps. Nach den organischen Bestimmungen
soll das Korps zur Unterstützung der Armee im Felde, vornehmlich für
den Befehls- und Meldedienst dienen und im Kriege einen Bestandteil der
bewaffneten Macht bilden. Das uns verbündete Heer ist somit das erste aller
großen europäischen Armeen, das den festen Verband freiwilliger Motorrad¬
fahrer organisiert hat, während man zum Beispiel bei uns von dieser Idee
zurückgekommen ist und jedenfalls kein fest geschlossenes militärisches Nad¬
fahrerkorps aufstellen wird. Endlich bleibt noch zu nennen die Vermehrung
der Katers bei der militär-aeronautischen Anstalt in Wien und bei den Festungs¬
abteilungen in Przemysl, Krakau, Trient, Pola und Cattaro. Diese Ma߬
nahme erscheint von der größten Wichtigkeit, denn das Militärluftschiffer-
wesen in Österreich-Ungarn hat bisher nicht gleichen Schritt gehalten mit den
Fortschritten bei andern Armeen. Das gilt namentlich für das Gebiet der
lenkbarem Luftschiffe, die dort noch gar nicht gebaut sind. Die Schuld trifft
aber nicht die Militärverwaltung, vielmehr hat lediglich der Mangel an
Mitteln verhindert, daß die sonst so rührigen Männer der Aeronautik ihre ver-
schiednen Pläne zur Ausführung bringen konnten. Von mehreren Stellen
aus sind aber jetzt Aufrufe zu freiwilligen Beiträgen für den Bau von Luft¬
schiffer ergangen, sodaß wir vielleicht schon in diesem Jahre davon hören
werden, daß man in Österreich-Ungarn den Vorsprung andrer Mächte nahezu
eingeholt hat. Gegenwärtig ist das militärische Interesse Österreich-Ungarns
auf den Schutz seiner Grenzen gegen Serbien und Montenegro gerichtet.
Denn trotz aller offiziösen Friedensversicherungen wird uns von zuverlässigster
Seite berichtet, daß schon fünf Armeekorps Mobilmachungsavisos in Händen
haben. Vor allen Dingen wird es sich dabei um das fünfzehnte Korps
(Sarajewo) und um das dreizehnte (Agram) handeln. Hier treffen fortgesetzt
Reserven ein, um die einzelnen Truppenteile allmählich auf Kriegsfuß zu
bringen, und die in diesen Tagen eingegcmgne Meldung, daß mit den mobilen
Heereskörpern zunächst die Grenze gegen Montenegro abgesperrt werden solle,
zeigt, daß die oberste Heeresleitung mit ihren Sicherheitsmaßnahmen Ernst
machen will.
In Italien ist auf militärischem Gebiete der bemerkenswerteste Vorgang
die Einsetzung eines Kriegsministers aus zivilem Beruf. Als Nachfolger eines so
tüchtigen Soldaten, wie es der General Vigano ist, hat M. Casana kein leichtes
Amt. Wenigstens ist es ihm aber doch gelungen, bei der Kammer einen Kredit
von 223 Millionen Lire durchzudrücken, der ihn mit den noch dazu seinem
Vorgänger bewilligten 60 Millionen unter anderm in den Stand setzen soll,
das Feld- und Gebirgsartilleriematerial zu erneuern, die Befestigungen an der
Küste und im Innern zu modernisieren, neue Truppenübungsplätze neben den
schon vorhandnen anzulegen und das Pferdematerial zu verbessern. Die aus-
geworfnen Gelder sollen auf den Zeitraum bis zum Jahre 1917 verteilt werden;
im Budget von 1908/09 werden davon 13 Millionen verbraucht, 1910/11
sollen 25 Millionen verwandt werden. Eine wichtige Verfügung Casanas war
es, daß er die dem Generalstabschef der Armee gegebne größere Selbständigkeit
und Unabhängigkeit vom Kriegsminister, die General Vigano noch kurz vor
seinem Ausscheiden in einem besondern Erlaß gefordert und begründet hatte,
wieder aufhob. General Pollio, der am 1. Juli dem langjährigen Chef des
Generalstabes Valetta im Amte gefolgt war, ist dadurch wieder in denselben
bescheidnen Tätigkeitsrahmen seiner Vorgänger gerückt und hat in allen großen
Fragen der Landesverteidigung keine entscheidende Stimme. Seine ganze
Selbständigkeit beschränkt sich einzig darauf, daß er befugt ist, wenn es ihm
zweckmäßig erscheint, durch die Generalinspekteure der Artillerie und des Genies
die ständigen Kommissionen dieser beiden Waffen zu einer Sitzung einzuberufen
oder eine Plenarversammlung anzusetzen. In diesem Falle führt der General¬
stabschef den Vorsitz. Gegenüber diesen etwas eingeschränkten Funktionen des
obersten Chefs des Generalstabes bilden die kürzlich erfolgte Erneuerung des
Obersten Rates der Landesverteidigung und der im Vorjahre geschaffne Heeresrat
zwei Tatsachen von weitreichender Bedeutung. Ganz besonders gilt das von
der zuerst genannten Behörde, deren Aufgabe es ist, alle die großen die
Landesverteidigung betreffenden Fragen zu beraten, die Organisationen des
Heeres und der Flotte zu überwachen und die Einheitlichkeit der Verwendung
dieser beiden im Kriege durch geeignete Maßnahmen vorzubereiten. Der Oberste
Rat, der sich zusammensetzt aus dem Ministerpräsidenten, den Ministern des
Krieges und der Marine, den Chefs des Generalstabes und der Marine und
den zu Armee- und Flottenführern im Kriege ausersehenen Generalen und
Admiralen, soll mindestens einmal in jedem Jahre zu einer Konferenz zusammen¬
treten. Casana hat es sich angelegen sein lassen, die Macht und den Einfluß
des Rates zu stärken. Sonst hat auch der neue Minister, gleich wie die meisten
seiner militärischen Vorgänger, mit seinen vielen Bemühungen, wirksame Reformen
für die Armee durchzusetzen, bisher wenig Erfolg gehabt. Schuld daran trägt,
zum Teil wenigstens, die unglückliche Institution des parlamentarischen Unter¬
suchungsausschusses, der sich in alle Dinge mischt und mit seinen Vorschlägen
und Berichten noch immer keinen Abschluß gefunden hat. Die ihm übertragnen
Aufträge sind auf seinen Wunsch bis zum Juni dieses Jahres verlängert worden.
In allen diesen Verhältnissen ist auch der Grund zu suchen, daß sich die Ent¬
scheidung in der Frage des neuen Feldgeschützmaterials solange verzögert hat,
und die beabsichtigte Vermehrung der Kavallerie sowie die Einrichtung von vier
Armeeinspektionen schweben sogar heute noch in der Luft. Nur die Aufbesserung
der Offiziersgehalte ist endlich zur Tatsache geworden, nachdem sie über fünf¬
undzwanzig Jahre die Volksvertreter unter den verschiednen Ministerien be¬
schäftigt hatte. Das Wesentliche dieser Vorteile ist zunächst, daß sie nicht allen
Offizieren zuteil werden, sondern erst beginnen nach zehnjähriger Leutnantszeit.
Dann erhält der Offizier, anstatt jetzt jährlich 3200, 3400 Lire. Der Anfangs¬
gehalt des Hauptmanns wurde um 600 Lire erhöht und beträgt jetzt 4000 Lire.
Den größten Sprung in der Gehaltssteigerung hat der Hauptmann gemacht,
der fünfundzwanzig Jahre Offizier, aber noch nicht fünf Jahre in seinem Range
ist! er bekommt jetzt 4800 Lire anstatt früher nur 3800.
Organisatorisch von einiger Wichtigkeit ist, daß sich die italienische Heeres¬
leitung zur Aufstellung eines Radfahrerbataillons aus den Nadfahrerkompagnien
des 3., 5., 6. und 9. Bersaglieriregiments entschlossen und es dem 5. Bersaglieri-
regiment in Bologna angegliedert hat. Damit ist eine neue Einheit geschaffen,
die keine andre Armee hat, denn das in Frankreich während der vorjährigen
Armeemanöver gebildete Nadfahrerbataillon war nur als eine vorübergehende,
nicht als eine bleibende Organisation geschaffen. Von wichtigen militärischen
Neuerungen in Italien ist sonst noch zu erwähnen, daß das von den Hauptleuten
Ricaldoni und Crocco konstruierte lenkbare Luftschiff durch seine letzte Probefahrt
von Bracciano nach Rom den Beweis voller Brauchbarkeit erbracht hat. Das
Luftschiff gehört mit seinen nur 2800 Kubikmetern Inhalt zu den kleinern
bisher vorhandnen Modellen; es mißt zwischen den Perpendikeln etwa 60 Meter
und hat einen Durchmesser von 15 Metern; ein Motor von 70 Pferdekräften
soll ihm einen Aktionsradius von vier Stunden geben. Auch daß sich die
Heeresverwaltung zur Beschaffung eines im eignen Lande herzustellenden
Maschinengewehrs entschlossen hat, ist von Bedeutung. Bei der Feldartillerie
waren bisher überhaupt keine Maschinengewehre vorhanden, nur in den Festungen
gibt es solche. Dein Mangel soll das neue Modell „Perino" abhelfen. Auch
auf dem Gebiete der Reglements hat das italienische Heer Fortschritte zu
verzeichnen. Es wurden eine neue Vorschrift für den Festungskrieg, eine
Schießinstruktion für die Infanterie und ein Reglement über die militärische
Disziplin erlassen; sie stehn alle aus dem Boden moderner Anschauungen und
fußen auf den Lehren und Erfahrungen der letzten Kriege.
Der gedeihlichen Fortentwicklung des französischen Heeres ist wie im
Jahre 1907 so auch diesmal wieder der Umstand sehr zustatten gekommen,
daß kein Ministerwechsel, wie früher so häufig, erfolgt ist. General Picquart
konnte daher mit der ihm eignen Geschicklichkeit und mit großem Eifer das auf
vielen Gebieten eingeleitete Werk der Heeresreformen fortsetzen. In erster Linie
gehören dazu die Reorganisation der Militürschulen und das neue Kadergesetz.
Während die neuen Bestimmungen über die Militärschulen hauptsächlich das
schon lange erstrebte Ziel der unit>6 ä'oriZins des Offizierkorps im Auge haben
und sie durch eine einheitliche Stufe der Erziehung und Ausbildung erreichen
wollen, will das Kadergesetz nicht nur eine Vermehrung, sondern auch teil¬
weise eine Neugliederung des Heeres. Vor allem kommt hierfür die Artillerie
in Betracht, die die Franzosen nach der Neubewaffnung des deutschen Heeres
mit Rohrrücklaufgeschützen der Zahl nach nicht mehr für ausreichend erachten.
Die jüngsten Kammerverhandlungen über diesen Gegenstand haben interessante
Streiflichter auf bekannte' und unbekannte Verhältnisse bei der französischen
Armee geworfen, und sie haben vor allen Dingen in der Rede des Kriegs¬
ministers ein hohes Selbstgefühl verraten, ein Gefühl der Überlegenheit gegen¬
über dem östlichen Nachbarn. „Ein Teil der Armee ist für alle sichtbar, aber
gerade der andre beträchtlichste Teil, der die Reserven in sich begreift, macht
unsre Kraft aus, sagte General Picquart. Die Kommission, der wir die Prüfung
aller artilleristischen Fragen anvertraut haben, weiß, wie wir unsre Reserven
organisiert haben, die zu Friedenszeiten auf den Truppenübungsplätzen eingeübt
werden sollen. Auf diese Weise gewinnen wir Verstärkungsbatterien, die Deutsch¬
land nicht besitzt. Alles in allem ist unsre Organisation besser als die deutsche.
Die Zahl unsrer Geschütze ist bedeutend größer, als es im Augenblick den An¬
schein hat. Wir können uns daher mindestens als ebenbürtig betrachten." Der
Minister wies dann daraus hin, daß die französischen Geschütze 522 Schuß gegen
350 der deutschen haben, und rechtfertigte die Schaffung neuer Artillerieregimenter
mit der Notwendigkeit, eine ausgezeichnete Führung in der Feuerlinie sicherzustellen.
Der Appell an die patriotische Gesinnung der Volksvertreter ist denn auch nicht
ohne Erfolg geblieben, denn mit großer Majorität wurde am 23. Dezember 1908
die Bildung von 24 neuen Artillerieregimentern zu je 4 Geschützen mit der
Maßgabe angenommen, daß die ganze Neuorganisation der Artillerie nach zwei
Jahren durchgeführt sein soll, wonach jedes Armeekorps des französischen Heeres
mit 120 Geschützen ausgerüstet sein wird.
Von weitern wichtigen Neuerungen, die der Kriegsminister im vergangnen
Jahre verfügt hat, ist die durchgreifende Änderung der Vorschrift für die Wett¬
bewerbsprüfungen und die Zulassung zur obern Kriegsschule (unsre Kriegs¬
akademie) zunächst zu nennen. Nach den bisherigen Bestimmungen mußten die
Anwärter in dem Korpsstabsquartier eine schriftliche Prüfung und dann in
Paris eine mündliche Prüfung ablegen und auch ihre Reitfertigkeit nachweisen.
Fortan sind zwei schriftliche Examen am Sitz des Generalkommandos zu machen,
nach jedem von ihnen findet eine engere Auswahl statt, dann folgt in Paris
eine mündliche Prüfung der Bewerber, die die beiden schriftlichen Prüfungen
bestanden haben, sowie die Prüfung der Reitfertigkeit. Vom Ausfall der
mündlichen Prüfung hängt die endgiltige Aufnahme in die höchste militärische
Bildungsanstalt ab innerhalb des Umfangs der überhaupt zuzulassenden Offiziere.
Mit Erfolg hat sich Minister Picquart den Versuchen der Kammer und des
Senats widersetzt, die Übungen der Reservisten wesentlich zu kürzen und die
der Territorialen ganz ausfallen zu lassen. Allerdings hat es harte Kämpfe
gegeben, denn die Volksvertreter hatten von ihren Wählern sehr bestimmte
Weisungen erhalten, die darauf hinzielten, eine Verminderung der Lasten und
Unbequemlichkeiten langer Dienstperioden im Reserve- und Landwehrverhältnis
zu erreichen. Das endliche Resultat dieser langen Diskussionen ist nicht von
großer Bedeutung gewesen, denn die Übungsdauer wurde für die Reservisten,
die Tage des Eintritts und der Entlassung miteingerechnet, nur von 28 auf
23 Tage und für die Territorialen von 13 auf 9 Tage herabgesetzt. Im
Zusammenhang mit diesen Bemühungen des Kriegsministers im Interesse der
Bereitschaft des Feldheeres wie der Formationen zweiter Linie muß erwähnt
werden, daß sich der Minister auch der besondern Ausbildung der Reserve- und
Territorialoffiziere in geradezu vorbildlicher Weise angenommen hat. Und zwar
dadurch, daß er nach und nach bei allen Armeekorps am Sitz des General¬
kommandos sogenannte Jnstruktionsschnlen für diese Offiziere eingerichtet hat.
Die Beteiligung an diesen Uuterrichtskursen ist freiwillig; sie war anfänglich nur
gering, hat aber in der letzten Zeit ganz bedeutend zugenommen, vielleicht weil
den teilnehmenden Offizieren besondre Vorteile zuerkannt worden sind. Die
Ausbildung unter Leitung höherer Offiziere besteht in Vorträgen, Übungen auf
der Karte, Kadermauövern und praktischen Übungen im Gelände unter Beteiligung
von Truppen usw. Und von den Vergünstigungen sind zu nennen: Veröffent¬
lichung der Namen im Bulletin, ollloiel, Vorschläge zu Beförderungen und zur
Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion. Unter den Errungenschaften des ver¬
gangnen Jahres verdient dann noch genannt zu werden, daß endlich die Versuche
mit Maschinengewehren zum Abschluß gelangt sind, und daß das Puteauxmodell
zur Anschaffung angenommen ist. Die Heeresverwaltung hat bekanntgegeben, daß
jedes Infanterie- und Kavallerieregiment mit 4 Maschinengewehren ausgerüstet
und diese Bewaffnung so schnell als möglich durchgeführt werden soll.
Bei der russischen Armee sind auch im abgelaufnen Jahre die Reformen
nur allmählich vorwärts gekommen. Das hat, zum Teil wenigstens, an den
vielen hemmenden Elementen fast auf allen Gebieten des weitverzweigten
Heeresorganismus gelegen. Aber auch an den leitenden Stellen fehlte oft der
feste Wille, einmal gefaßte Entschlüsse energisch durchzuführen. In diesem
Jahre werden bessere Resultate erwartet, insbesondre hofft man, daß der
Landesverteidigungsrat in seiner neuen Zusammensetzung tatkräftig eingreifen
werde. Als abgeschlossene Neuerungen im Jahre 1908 sind zunächst anzusehen:
die Einsetzung von Attestierungskommissionen zur Beurteilung und Beschlu߬
fassung über die Beförderung von Generalstabsoffizieren und die Einführung
von Jnstruktionskursen für die vor der Beförderung zum Kapitän und Kom-
pagniechef stehenden Stabskapitäne. An jedem Kursus dürfen zugleich nicht
mehr als zwanzig bis dreißig Stabskapitäne in Abteilungen zu nur zehn teil¬
nehmen. Es sollten deshalb in jedem Militärbezirk mehrere Kurse entweder
zugleich oder nacheinander und an verschiednen Punkten, je nach den örtlichen
Bedingungen, eingerichtet werden, die nähern Bestimmungen darüber haben die
Oberbefehlshaber der Militärbezirke zu treffen. Der Lehrgang soll über¬
wiegend praktisch sein. Tägliche Schießübungen in Verbindung mit Feld¬
dienst, um dadurch die Kenntnis in der Fenerleitung und den taktischen Blick
zu vervollkommnen. Zu den Übungszwecken sind den einzelnen Kursen kriegs¬
starke Kompagnien und auch Artillerie zukommandiert. Besonders lehrreich
sind diese Kurse im Moskaner Militärbezirk gestaltet worden. Eine wichtige
Neuerung ist auch die Zivilversorgung der Kapitulantenunteroffiziere. Sie ist
zwar noch nicht ganz durchgeführt, immerhin aber haben sich das Finanz- und
Justizministerium und das Ministerium des Kaiserlichen Hauses und der
Finanzen bereit erklärt, den von der Militärbehörde empfohlnen Kapitulanten¬
unteroffizieren eine bestimmte Anzahl von Posten offen zu halten, und zwar
unter der Bedingung, daß sich die Anwärter vor ihrer Anstellung erst ein
halbes Jahr unter Fortbeziehung ihres Soldes einer Prüfung unterziehen.
Bis jetzt stehen zur ausschließlichen Besetzung durch das Kriegsministerium
11520 Posten zur Verfügung, davon bei der Finanz 10006 Posten mit 200
bis 900 Rubel, bei der Justiz 636 mit 300 bis 400 Rubel, Kaiserliches Haus
878 mit 204 bis 1083 Rubel Besoldung. Viel Widerspruch findet in
militärischen Kreisen die erst kurz vor Jahresschluß erfolgte Wiederunterordnung
des Generalstabs unter das Kriegsministerium, dessen Chef infolgedessen nur
noch in Gegenwart des Kriegsministers den Vortrag beim Kaiser halten darf.
Auf diese Weise ist die Unabhängigkeit des Generalstabes, die am 3. Juli 1905
eingeführt wurde, nach verhältnismäßig kurzer Dauer wieder aufgehoben worden.
Es handelte sich damals um einen Versuch, der aber anscheinend fehlgeschlagen
ist- Die im Jahre 1905 vollzogn« Umgestaltung war, wie es heißt, durch
den Wunsch veranlaßt worden, eine dem deutschen Generalstabe ähnliche Or¬
ganisation zu schaffen. Jetzt wird aber offen zugegeben, daß das, was in
Deutschland möglich ist, in Nußland sich nicht immer durchführen läßt. Denn
abgesehen davon, daß die russischen Generalstabsoffiziere mit den deutschen
nicht auf gleicher Höhe stehen, würde es im Augenblick schwer fallen, eine
Persönlichkeit uuter den Generalen zu finden, die vollkommen selbständig das
wichtige Ressort des Generalstabs leiten könnte, wenn auch dem neuen General¬
stabschef Ssuchomlinow von seiner bisherigen Stellung als Generalgouvemeur
von Kiew volles Vertrauen entgegengebracht und die Hoffnung gehegt wird,
daß er die Leistungen des Generalstabs auf eine höhere Stufe zu bringen
vermag.
Für die Ausbildung der Truppen waren von Bedeutung das Neue Jn-
fanterieexerzierreglement und die Jnfanteriepioniervorschrift, deren Erscheinen
mit Spannung von allen Seiten erwartet wurde. Beide Reglements sind
aber nur Entwürfe, und aus der Opposition, die fast an sämtlichen beteiligten
Stellen gegen sie erhoben wird, wegen der darin ausgesprochnen Selb¬
ständigkeit der untern Führer und der einzelnen Mannschaften, wird der
Schluß gezogen, daß das Stadium des Projekts vielleicht nie überwunden
werden wird. Das würde aber gleichbedeutend sein mit einem Stillstand in
der ganzen Ausbildung des Heeres, die sich noch immer nicht losmachen kann
von den veralteten Lehren aus der Zeit vor dem Kriege mit Japan. Beweis
dafür sind die Berichte aus der letzten Manöverperiode, die von Fortschritten
auf dem Gebiete der Truppenausbildung und von Erziehung zu Führern
nicht viel enthalten. Zwei wichtige Entschlüsse hatte die Duma in der letzten
Sitzungsperiode gefaßt, um den Einfluß Rußlands im fernen Osten zu festigen
und im Falle eines etwaigen spätern Krieges die Truppentransporte be¬
schleunigen zu können: den Bau der Amureisenbahn und das Legen eines
zweiten Gleises längs der Sibirischen Bahn. Während aber hier die Arbeiten
stetige Fortschritte machen, haben sich nach den letzten Nachrichten beim Amur-
Projekt immer wieder neue Schwierigkeiten gezeigt, sodaß der eigentliche Bau¬
beginn zweifelhaft geworden ist. Jedenfalls werden die vorhandnen Geldmittel
nicht ausreichen, man wird vielmehr neue Summen fordern müssen; und wenn
die Duma sie nicht bewilligt, ist es fraglich, ob der Bau überhaupt wird
ausgeführt werden können. Zunächst handelt es sich darum, an der ganzen
projektierten Bahnstrecke entlang Polizei und eine Gerichtsbarkeit einzurichten,
um die Sicherheit zu erhöhen; und dann muß eine Anzahl von Landstraßen
angelegt werden, die das Gelände mit den mehr der Kultur erschlossenen Ge¬
bieten verbinden sollen. Für alle diese Erfordernisse sind nach zuverlässiger
Berechnung mindestens sechs Millionen Rubel notwendig.
Insgesamt zeigt unsre kurze Übersicht über die militärischen Maßnahmen
bei den Großstaaten im Jahre 1908, daß überall die Kriegsbereitschaft ge¬
steigert wird, und daß sich der Abrüstungsgedanke, in die Praxis wenigstens, noch
nicht eingebürgert hat.
^l s wird jetzt in den Zeitungen viel über die Erbschaftssteuer ge¬
schrieben, und es heißt sogar, daß sich die Bundesratsausschüsse
mit einem Gesetzentwurf wegen einiger Abänderungen des Bürger¬
lichen Gesetzbuchs beschäftigt haben, da die geplante Nachlaßsteuer,
linsbesondre die Einsetzung des Reichsfiskus zum Erben gewisser
testamentloser Verlassenschaften eine Änderung der Erbrechtsbestimmungen im
Bürgerlichen Gesetzbuche verlange. Wieweit sich diese Nachrichten bestätigen,
wird abzuwarten sein: richtig aber ist, daß das Gesetz geändert werden muß,
wenn man an eine Ausdehnung des fiskalischen Erbrechts denkt; nach den
geltenden Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs wird nämlich der Fiskus
des Bundesstaates, dem der Erblasser zur Zeit des Todes angehört hat, gesetz¬
licher Erbe, falls weder Verwandte noch ein Ehegatte vorhanden sind, noch ein
Testament vorliegt, und zwar ist die erbberechtigte Verwandtschaft unbeschränkt,
sofern sie nur nachgewiesen werden kann. Wenn also an die Stelle des Bundes¬
staates das Reich treten soll, so ist eine entsprechende Änderung des Gesetzes
notwendig, doch damit wird nicht viel erreicht, wenn nicht zugleich das Erbrecht
selbst zugunsten des Reiches ausgedehnt werden soll und die entfernten Ver¬
wandten unberücksichtigt bleiben. Nach dem geltenden Rechte mit der unbe¬
schränkten Verwandtschaft kommt der Fiskus höchst selten in die Lage eines
Erben, da das Verfahren bei der Regelung eines erblosen Nachlasses im Sinne
des Gesetzes darauf gerichtet ist, möglichst die erbberechtigten Verwandten,
mögen sie auch noch so entfernt sein, ausfindig zu machen. Es soll hier nicht
untersucht werden, ob die Erbberechtigung der Verwandtschaft zugunsten des
Reiches beschränkt und nur für die allernächsten Abkömmlinge beibehalten, ob
die Erbrechtsgrenze schon hinter den Geschwisterkindern errichtet werden soll,
lind ob die weitern Seitenverwandten durch die Reichskasse zu ersetzen, oder
ob auch die Geschwisterkinder lediglich auf testamentarische Einsetzung anzuweisen
sind: alles das ist mehrfach, namentlich vom Justizrat Bamberger in seiner
Schrift: Erbrechtsreform — Berlin, 1908 — ausführlich dargelegt worden, zuletzt
noch einmal im zweiten Septemberheft der Neuen Revue, wo auch die Ab¬
handlung „statistisches zur Finanzlage" aus den Grenzboten vom 9. Juli 1908
angeführt wird. Hier kommt es nur darauf an, auf das eben erwähnte,
formelle Verfahren der erblosen Nachlaßregelung hinzuweisen, dessen Weit¬
schweifigkeit oft zu dem Erfolge in keinem Verhältnisse steht.
Ist der Erbe eines Nachlasses unbekannt, so hat das Nachlaßgericht, und
zwar in der Regel unter Zuziehung eines Nachlaßpflegers, von Amts wegen
Ermittlungen über die etwa vorhandnen Erben anzustellen. Wie weit diese
auszudehnen sind, ist dem Ermessen des Gerichts überlassen, und der Nachla߬
richter hat im einzelnen Falle eine der Sachlage entsprechende Frist zur An¬
meldung von Erbrechten innezuhalten. Die Ermittlungen nehmen in vielen
Fällen eine ungeahnte Ausdehnung an; es gehn Geburth-, Heirath-, Sterbe¬
urkunden, Erbscheine und ganze Familiengeschichten ein, um das Erbrecht nach¬
zuweisen. Eine Menge von Behörden und Beamten, namentlich die Standes¬
beamten, Geistlichen. Anwälte und Auskunftsbeamten, die Polizeibehörden, Kon¬
sulate und andre Behörden werden in Bewegung gesetzt, um die verwandtschaft¬
lichen Verhältnisse zwischen dem Erblasser und dem Erbschaftsanwärter festzu¬
stellen. Das gesamte Material geht zu den Nachlaßakten, und oft vergehn
Jahre bis zur endgiltigen Regelung. Und das ist nicht etwa zu verwundern:
denn es gibt mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden. Beinahe jede Familie
hat heutzutage „drüben" in Amerika irgendeine Verwandtschaft, und es ist
unglaublich, welche Umstünde es macht, den sichern Erbausweis eines solchen
amerikanischen Vetters, der womöglich von den zurückgebliebnen Verwandten
nichts mehr weiß, zu erbringen. Sind Jahre darüber hingegangen, ehe es zu
einer Nachlaßregelung gekommen ist, so muß nicht selten das besondre Verfahren
der Todeserklärung eintreten, um den Toten- und Erdschein einer Zwischenperson
erlangen zu können. Ein weiteres Sonderverfahren kann nötig werden, wenn
beispielsweise in dem Standesamtsregister ein Irrtum, sei es auch nur ein
geringer Schreibfehler, untergelaufen ist. Es wird dann vom Amtsgericht durch
Vermittlung der Regierung das Berichtigungsverfahren eingeleitet, wonach erst
Haupt- und Nebenregister dem Gerichtsbeschlusse gemäß geändert werden. So
entstehn dicke Bände beim Nachlaßgcricht, und ganz bedeutende Summen werden
für Beschaffung der Urkunden, für das Schreibwerk und Porto, für die Aus¬
künfte und Anwaltsgebühren ausgegeben, die schließlich, ebenso wie die Gerichts-
kosten selbst, vorweg vom Nachlaß abgezogen werden und diesen verkleinern.
Oft genug ziehn die „lachenden" Erben kleinlaut ab, wenn nach unendlicher
Wartezeit die Erbschaft geteilt und zu guter Letzt noch die Erbschaftssteuer mit
den hohen Sätzen berechnet wird. Je weitläufiger die Verwandtschaft ist,
desto kleiner sind in der Regel die Erdteile, aber um so schwieriger und kost¬
spieliger werden zugleich die Erbausweise, da mehrere Geschlechter zwischen Erb¬
lasser und den Erben liegen, die sich womöglich niemals im Leben gekannt
haben. Es ist in der Tat etwas sonderbares und einer Lotterie nicht unähnlich,
daß plötzlich und unvermutet einem Menschen eine Erbschaft in den Schoß fällt,
von deren Anwartschaft er nicht das geringste gewußt hat.
Tritt nun wirklich einmal der Fall ein, daß sich trotz der gerichtlichen Er¬
mittlungen niemand zum Nachlaß meldet, oder daß die sich meldenden An¬
wärter ihr Erbrecht nicht nachweisen können, so fordert das Nachlaßgericht
durch öffentliche Bekanntmachung im Reichsanzeiger und andern Blättern zur
Anmeldung der Erbrechte unter Bestimmung einer Anmeldungsfrist auf, die
mindestens sechs Wochen betragen muß. Falls sich innerhalb dieser Frist
wiederum niemand meldet, dann wartet das Gericht zunächst noch drei Monate
und trifft endlich die Feststellung, daß ein andrer Erbe als der Fiskus nicht
vorhanden sei. Dabei kann aber immer noch während der drei Monate eine
Privatperson den Nachweis bessern Erbrechts erbringen und die Feststellung
des fiskalischen Erbrechts abgelehnt werden. Gegen eine solche ablehnende Ver¬
fügung steht dem Fiskus seinerseits nicht nur die Beschwerde zu, sondern er
kann gegen die Privatperson, die ihr Recht geltend macht, im ordentlichen
Rechtswege klagen; ebenso hat aber auch die Privatperson die Berechtigung,
gegen den Fiskus zu klagen, und das Nachlaßgericht wartet dann den Ausgang
des Rechtsstreites ab. Die höchst kostspielige öffentliche Aufforderung unter¬
bleibt übrigens, wenn der Bestand des Nachlasses die Kosten der Aufforderung
nicht deckt oder diese zum Bestand unverhältnismäßig hoch sind.
Das ist in kurzen Zügen der Gang des Verfahrens, aus dem man ersieht,
daß es dem Fiskus wahrlich nicht leicht gemacht worden ist, eine Erbschaft in
Empfang zu nehmen und endgiltig zu behalten.
Soll nun das Erbrecht zugunsten des Reichsfiskus ausgedehnt werden,
der jetzt überhaupt nur in Frage kommt, wenn der Erblasser ein Deutscher ist,
der keinem Bundesstaate angehört (Z 1936 B. G.-B), so muß zunächst die Be¬
stimmung wegfallen, daß der Fiskus des Bundesstaates, dem der Erblasser
zur Zeit des Todes angehört hat, gesetzlicher Erbe ist. Sodann aber muß un¬
bedingt das schrankenlose Erbrecht der Verwandtschaft aufgehoben und auf die
nächsten Grade beschränkt werden. Der Justizrat Bamberger rechnet für das
Reich eine Mehreinnahme von jährlich 250 Millionen Mark durchschnittlich
heraus, wenn die Erbrechtsgrenze vor den Geschwisterkindern errichtet wird
und an die Stelle der weitern Seitenverwandten der Neichsfiskus tritt. Die
Aufhebung des grenzenlosen Verwandtenerbrechts würde neben diesem materiellen
Erfolge für die Justizverwaltung von wesentlicher Bedeutung sein, da das oben
geschilderte Verfahren wegfiele und damit eine große Summe von Arbeitskraft
und Geld für andre Zwecke verwendbar würde. Eine Schädigung von Privat¬
personen kann dadurch nicht entstehn, da das Erbrecht keinen eigentlichen An¬
spruch auf das Vermögen eines andern bildet und überdies durch testamentarische
Bestimmung durchbrochen werden kann.
Die Testamentserrichtung ist ja jetzt so vereinfacht worden, daß jeder selbst
bei einiger Vorsicht seine letztwilligen Verfügungen jederzeit treffen und bei
sich aufbewahren kann, ohne gleich deren Ungiltigkeit befürchten zu müssen. Es
wird also niemand, der Verwandte weiterer Grade bedenken will, gezwungen,
sein Vermögen nach seinem Tode der Allgemeinheit zu überlassen, falls er
seinen letzten Willen in giltiger Weise kundgibt. Unendlich viel Schreibwerk
wird bei den Vormundschaftsbehörden erspart werden, wenn die Erbrechts¬
beschränkung eintritt, und wenn es allgemein bekannt wird, daß man nur noch
durch Testament weitere Verwandte bedenken kann. Die Gedankenlosigkeit und
Gleichgiltigkeit vieler Menschen ist in Testaments- und Erbschaftssachen noch
außerordentlich groß, insbesondre auf dem Lande; man scheut sich vor der
Errichtung eines Testaments, weil man fürchtet, dann bald sterben zu müssen,
und geht auch an Erbschaftsregelungen nur höchst ungern heran. Darum steht
im Grundbuche nicht selten noch der Urgroßvater, zum mindesten aber der
Großvater als Eigentümer eingetragen, trotzdem daß sich in Wahrheit längst
der Enkel des Besitzes erfreut oder auch ganz fremde Menschen auf dem Hofe
sitzen. Dabei gibt es dann am Ende ein Staunen und Wundern, daß die Be¬
hörden umständlich sind, allerlei Zeugnisse fordern und hohe Kosten für die
U
es möchte das interessante, vom Verlag der bekannten Samm¬
lung „Stätten der Kultur" aufs schönste ausgestattete Werk über
die Geschichte der Wilhelmshöhe*) allen empfehlen, denen die
Wilhelmshöhe eine Erinnerung an liebe Sommertage bedeutet,
und die, während ihr Auge auf dem reizenden Bilde mit Entzücken
ruhte, darüber nachgedacht haben, wie das alles wohl einstmals entstanden sei.
und welche Vergangenheit sich wohl an dieses von der Natur und Kunst zu¬
gleich geschaffne Idyll anknüpfe. Die Wilhelmshöhe über Kassel wird ja all¬
jährlich von vielen Tausenden besucht. Sie durchwandern den prachtvollen,
in seiner Art einzigen Naturpark, weiden sich an dem künstlichen Spiel der
Wasser und staunen die mächtigen, dem Naturbilde malerisch eingefügten Stein¬
bauten an, die den Wasserkünsten als Grotten, Bassins, Aquädukte und der¬
gleichen dienen, oder die, wie zum Beispiel die Löwenburg, für sich allein
zwischen Buchen und dunkeln Tannen aus dem Habichtswalde aufragen. Und
wer auch nur an der Wilhelmshöhe im Eisenbahnzug vorübereilt, dem ergehts
wohl wie dem alten Guttmann in Wilhelm Raabes Buch von Guttmanns Reisen,
der sich aus dem Fenster hing, solange der farnesische Herkules von der Bahn
zu erblicken war. Der große Christoffel spielt eine Rolle bei den Dichtern, er
hat auch ein gut Stück Weltgeschichte miterlebt und angeschaut: das französische
Regiment mitten im Herzen Deutschlands, die galanten Abenteuer des Jerömeschen
Hoflagers, die Flucht des letzten Kurfürsten und den Einzug der Preußen, und
er hat einen ganzen Winter lang einen ernsten Mann in schwere Gedanken
versunken und den Traum vergangner Größe weiterträumend über die beschneiten
Kieswege der Wilhelmshöhe wandeln sehen. Von den Tagen des lustigen Königs,
auch von dem unfreiwilligen Winteraufenthalt Napoleons des Dritten wird noch
manches, Wahrheit und Dichtung zugleich, von Mund zu Munde erzählt. Wenig
aber weiß man für gewöhnlich von den menschlichen Schicksalen, die sich sonst
noch auf diesem wundervollen Erdenfleck abgespielt haben, und am wenigsten
weiß man von der Entstehung der Wilhelmshöhe selbst und von denen, die
dieses Werk geschaffen haben. Oder was man davon weiß, hat gar nicht selten
die Wirkung, das frohe Guttmannslächeln in melancholischen Ernst umschlagen
zu lassen. Wir würden uns gern an allen den reichen Schönheiten erfreuen,
heißt es in einem Aufsatz des Meyerschen Universums, wenn nur die bösen
Träume nicht wären.
Der Aussatz sagt uns auch, was das für böse Träume sind, die die volle
Freude an diesen großen Schönheiten nicht aufkommen lassen: „Das Spielen
der Wasser ist ein charakteristisches Merkmal des achtzehnten Jahrhunderts.
Alles sollte sich den Launen fürstlicher Willkür fügen, warum nicht auch die
Elemente, warum nicht auch das Wasser? Es durch kunstreiche Bauten und
alle möglichen Zwangsmaßregeln bergauf zu treiben, statt ihm seinen natür¬
lichen Lauf zu lassen, Hunderttausende zu vergeuden, um so das Wasser in
des Menschen Dienst zu zwingen, nicht etwa zum Nutzen und Segen der Mit¬
menschen, sondern um die Prunksucht der Gebieter und die Schaulust müßiger
Gaffer zu befriedigen — das war so recht im Geiste jener übermütigen Großen,
die in allem, was zu ihrer Umgebung gehörte, nichts sahen als Werkzeuge
ihrer Unterhaltung, ihres Vergnügens. Was kümmerte es den Landgrafen
Karl, der die Wasserwerke anlegte und überhaupt den Karlsberg zu einem
Lustort wandelte, wenn während dem, daß er so Erstaunenswürdiges schuf,
sein Volk immer mehr ächzte und verkümmerte unter den auferlegten Steuern
und sein Land entvölkert ward, weil der spanische Successionskrieg seine besten
Söhne hinwegraffte, während die holländischen und englischen Subsidien des
Fürsten Taschen füllten!"
Es ist vielleicht deutsche Art, des Lichtes nicht genießen zu können, ohne
zugleich den ernsten Schatten und den trüben Wolken nachzugehn, die das
Licht einmal verdunkelt haben, oder die einem das helle Bild noch jetzt ver¬
dunkeln könnten. Wir haben wohl die Neigung, in alles, auch in den schönsten
Klang hinein ein politisch Lied zu schmettern, und findet sich sonst nichts, woran
wir uns ärgern könnten, so beschwören wir die Erinnerung längst vergangner
und verwundner Schmerzen herauf und verderben uns damit den frohen Augen¬
blick. Wir sind aber doch nicht überall so empfindsam, sondern erfreuen uns
zum Beispiel der Schöpfungen der Renaissance in Rom. ohne uns wegen der
gewaltigen Opfer, die sie doch auch einmal gefordert haben werden, das Herz
schwer machen zu lassen. Jede Zeit muß eben für künftige Zeiten Opfer bringen,
oft sehr blutige und schwere, sie trügt die Last, und spätere Zeiten haben den
Nutzen. Die auf die Wilhelmshöher Anlagen verwandten gewiß gewaltigen
Summen, über deren Aufbringung und Verwendung das Heidelbachsche Buch
genau orientiert, sind jedenfalls auch rein geschäftsmäßig betrachtet recht nützlich
für das Land angelegt worden, viel nutzbringender, als wenn man den Wassern
ihren natürlichen Lauf gelassen oder sie zum Antrieb von Maschinen verwandt
hätte. Wie viele Tausende finden nun Jahr für Jahr Erquickung und Erholung
auf der Wilhelmshöhe, wie viele Tausende erfreuen sich ihrer Schönheiten. Und
lohnen sich schließlich die Anlagen nicht auch für das Land nach der materiellen
Seite hin?
Was nun die Beurteilung der hessischen Fürsten selbst betrifft, so ant¬
wortet Heidelbach mit Recht auf die immer von neuem wiederholte Anklage:
»Es scheint erfolglos zu sein, diesem besonders durch Seume veranlaßten
literarischen Unfug mit seinen Entstellungen und einseitigen Übertreibungen ein
Ende zu machen. Seitdem Karl Preser in einer Monographie den Subsidien-
handel auf archivalischer Grundlage dargestellt hat. kann nur noch Unwissenheit
oder Absicht an jener einseitigen Kritik festhalten. Wir in Hessen verlangen
nicht, daß der Subsidienhandel irgendwie beschönigt werde, aber wir verlangen,
daß man diese leidige Angelegenheit aus den Zuständen und Anschauungen der
Zeit heraus zu verstehn sucht... Das achtzehnte Jahrhundert kann geradezu
als das Jahrhundert der Subsidienverträge bezeichnet werden. Und während
in vielen andern Ländern die Subsidienüberschüsse, wie sie gewonnen waren,
so auch wieder zerrannen, ist. wie Preser nachweist, in Hessen durch sie der
Grund gelegt worden zu einem Staatsschatz, der als Eigentum des Landes das
Stammkapital unsers Kommunalfonds bildet und als solcher noch heute dem
Regierungsbezirk zugute kommt."
Hätten diese hessischen Fürsten wirklich ihre Taschen gefüllt, dann hätten
sie vermutlich unbehelligt in ihrem Grabe ruhen dürfen und wären für die
Sünden ihrer Zeit nicht mehr als andre verantwortlich gemacht worden. Sie
waren jedoch bedeutende und kunstsinnige Fürsten, und nicht durch die Opfer,
die sie ihrem Volk auflegten, sondern durch das Schöne, das sie mit diesen
Opfern geschaffen haben, haben sie die Augen aller Welt auf sich hingelenkt.
Es ist ja begreiflich, daß von allen Opfern die Anforderungen für künstlerische
Zwecke am härtesten empfunden werden, sie sind aber nicht weniger nötig und
nützlich als andre Opfer. Jedenfalls ist das hessische Land ihretwegen nicht ver¬
ödet, es hat vielmehr die Last getragen und noch Mut und Kraft genug gehabt,
auch noch andres zu leisten. Heidelbach sagt von dem Landgrafen Karl: „In
einer mehr als funfzigjährigen Negierung brachte er Handel und Industrie des
durch die Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs zerrütteten Hessenlandes zum
Aufschwung, und Kunst und Wissenschaft fanden in ihm einen verständigen und
opferwilligen Förderer." Die Schöpfer der Wilhelmshöher Anlagen sind lange
um der Anschauungen willen, die sie mit den Fürsten ihrer Tage und mit der
Anschauung ihrer Zeit überhaupt gemein hatten, besonders abgeurteilt und vor
andern gerichtet worden, man möge nun auch auf das sehen, worin sie sich
von ihren Zeitgenossen unterscheiden, und möge nun auch ihre unvergänglichen
Verdienste, an denen wir uns noch heute freuen können, erkennen und würdigen.
Das Heidelbachsche Werk bietet zum erstenmal eine zusammenfassende, auf
archivalischer Grundlage ruhende und überall zu den Quellen zurückgehende
Geschichte der Wilhelmshöhe. Es gibt eine fesselnde, überaus lehrreiche Dar¬
stellung der historischen Vorgänge und läßt in seinen schönen Schilderungen
die Wilhelmshöhe mit allen ihren natürlichen und künstlerischen Reizen farben¬
voll in Wort und Bild vor uns erscheinen. In Hessenland wird es ja wohl
als eine willkommne Gabe entgegengenommen werden. Gewiß werden sich seiner
aber auch viele freuen, die die Wilhelmshöhe, den bevorzugten Sommersitz unsrer
Kaiserfamilie, von fernher aufgesucht und ihre wunderbare Schönheit genossen
> le Stadt Milet, im achten Jahrhundert vor unsrer Zeitrechnung
die Mutterstadt von achtzig Kolonien, war einst das ionische
Athen. Sie war der Mittelpunkt eines lebhaften, reichen Handels
vom Schwarzen Meer bis nach Tyrus und Sidon, nach Italien,
! Nordafrika und den Säulen des Herakles, zugleich aber war
sie auch der Sitz der in Jonien im sechsten Jahrhundert erwachenden Wissen¬
schaft. Hier entfaltete die Philosophie ihre Schwingen, und neben der theo¬
retischen Wissenschaft wurde praktisches Wissen gelehrt, das der Schiffahrt
unentbehrlich war zur Erforschung der Länder und der Meere, Mathematik,
Astronomie usw. Die Stadt Milet war auch der Vorort des Bundes der
ionischen Seestädte, den man die älteste Hanse nennen kann. Der Bund, der
in dem Panionion bei Priene ein gemeinsames Heiligtum hatte, bestand, so¬
lange er sich auf die Könige von Lydien verlassen konnte, die das Hinterland
beherrschten. Als sich Kroisos dem König Kyros von Persien- unterwerfen
mußte, verlor der Bund der ionischen Seestädte seinen Halt. Die Bürgerschaft'
von Milet schloß mit dem mächtigen Perserkönig einen Vertrag, unter ebenso
günstigen Bedingungen wie der König von Lydien. Den übrigen Städten soll
der weise Thales, ein aus Phönizien in Milet eingewanderter Mathematiker
und Philosoph, den Rat gegeben haben, sich zu einem Bunde zu vereinigen.
Ein kluger Rat für den Rumpf, von dem das Haupt abgetrennt war.
Unter persischer Herrschaft nahm Milet einen neuen Aufschwung. Die
persischen Könige förderten Handel und Verkehr, hoben den Ackerbau, den
Weinbau und die Gärtnerei und bewiesen in jeder Beziehung Verständnis
für die Eigenart der unterworfneu Völker. Sie wußten die Bedeutung der
Philosophenschulen in Milet und Ephesos zu würdigen, die unter Männern
wie Anaximander, dem Entdecker des Begriffs der Unendlichkeit, dem Ver¬
fertiger einer Erdkarte und einer Himmelskugel, und dem Denker Herakleitos,
dem Begründer der Lehre von dem allwaltenden Logos, zu hoher Blüte ge¬
langten. Die ionischen Griechen sind die Stifter der Wissenschaft. Der größte
unter den geistigen Führern dieser wunderbar neu bewegten Zeit war Pytha-
goras, dessen Schule später namentlich auf dem Gebiete der Mathematik und
in der Theorie der Musik Bedeutendes geleistet hat. Pythagoras selbst war
der größte sozialpolitische und religiöse Organisator der Griechen.*) Auf Grund
der Satzungen ihres Meisters bildeten die Pythagoreer Gemeinden und Vereine.
Der Bund der Pythagoreer dehnte sich aus von der Insel Samos bei Milet,
wo Pythagoras fürstliche Ehren genoß, bis nach Griechenland, ja nach Unter¬
italien und Sizilien. Die Römer wußten von dem König Numa Pompilius
besonders zu rühmen, daß er der Schüler des Pythagoras gewesen sei. Die
Mitglieder des Bundes der Pythagoreer verpflichteten sich zu gegenseitiger
Freundschaft und zu der pythagoreischen Lebensweise, der Reinheit des
Lebens. Die Liebesmahle der Pythagoreer, die sogenannten Orgien, sind erst
durch die Kirche in Verruf gebracht worden. Eigentümlich war den Pytha-
goreern der Monotheismus und der ideale Unsterblichkeitsglaube, der sich auch
in Palästina, und zwar ausschließlich bei den Essenern, den „Ansiedlern",
findet, die auch sonst den Pythagoreern verwandt zu sein scheinen. In Unter¬
italien hat man in alten Gräbern Goldtüfelchen gefunden, von denen eines
die Aufschrift trägt: „Seliger und Gebenedeiter, du wirst nicht mehr Sterb¬
licher, sondern ein Gott sein." Es lohnt sich, den Spuren dieses neuen Geistes
in Vorderasien, in Jonien und in Syrien, in Nord- und Südpalästina nach-
zugehn. Ein Pythagoreisches Lehrbuch der Lebensweisheit führte den Titel:
„Goldne Worte des Pythagoras". Außerdem ist noch ein ähnliches Lehrgedicht
erhalten unter dem Namen des Phokylides aus Milet, eines Zeitgenossen des
Pythagoras.
Dieses Lehrgedicht, bestehend aus etwa 230 Versen , ist eins der inter¬
essantesten Denkmäler der griechischen Literatur und hat die merkwürdigsten
Schicksale gehabt. Es ist geschrieben in dem Versmaß und der Sprache der
homerischen Gedichte, in seltsam altertümlichen Stile. Das Eingangswort,
das in den Handschriften verschoben ist, lautet: „Ehre Gott vor allem, und
nächst ihm ehre die Eltern!" Diesem Doppelgebote schließt sich an das Ver¬
bot des Ehebruchs, des Mordes, des unrechten Erwerbs, der Lüge, der
Ungerechtigkeit. Zu dem Gebote, jedem sein Recht werden zu lassen, fügt
der weise Lehrer die Mahnung: „Richtest du schlecht, so wird Gott dich dereinst
richten." Wie fernes Hochgebirge aus dem Meere, so erhebt sich aus dem
griechischen Elemente des milesischen Weisheitslehrers dieses Gebot der Ehr¬
furcht vor dem höchsten göttlichen Richter, von dem das Lehrgedicht sagt:
„Ruhme der Weisheit dich nicht, der Stärke nicht, noch auch des Reichtums:
nur der einige Gott ist weise und mächtig und selig." Phokylides verneint
die Gottheit des Eros, der in Hesiods Theogonie als der erstgewordne des
neuen Göttergeschlechts erscheint. Eros, sagt er, ist kein Gott, er ist ein
allverderbendes Übel. Ebenso bestimmt wie der Monotheismus tritt bei
Phokylides der pythagoreisch-orphische Unsterblichkeitsglaube auf. Wir be¬
gegnen hier der Ansicht, daß bald aus der Erde ans Licht kommen werde,
was bleibe von den Geschiednen, daß sie später Götter werden, daß die Seelen
unversehrt bleiben von den Schicksalsgöttinnen. „Denn der Geist ist ein Darlehen
Gottes an die Menschen und sein Ebenbild." Beides, Monotheismus und
Unsterblichkeitsglaube, zeugt von einem neuen Geiste, der damals über das
Volk der ionischen Griechen kam. Als der erste in Griechenland, der die
Unsterblichkeit der Seele gelehrt habe, galt Pherekydes von Syros, der Lehrer
des Pythagoras. Aus der pythagoreischen Schule sind Äußerungen über die
Einheit und Geistigkeit Gottes überliefert, die in Griechenland, unter An¬
hängern einer polytheistischen Religion, in Erstaunen setzen. Pythagoreisch
ist bei Phokylides die Vorstellung von der Eintracht der Himmlischen, von der
Harmonie der Sphären, ohne die der Pol nicht feststünde. Daraus ist ab--
geleitet das Verbot des Neides und das Gebot der Freundschaft und Bundes¬
treue „in Liebe und heiligem Gemeinsinn". Das ist griechische Ethik.
Neben den religiös-sittlichen Geboten enthält das phokylideische Lehr¬
gedicht auch ein Freizügigkeitsgesetz, daß der Zugezogne dieselben Ehrenrechte
genießen soll wie der Eingesessene, mit der Begründung: „denn wir alle er¬
fahren die unstete Armut, kein Land gewährt den Menschen eine bleibende
Statt", ferner ein Vogelschutzgesetz, daß man ein Vogelnest nicht ganz, nicht
die Alte mit den Jungen zugleich ausnehmen soll, ein Verbot des Diebstahls
von Sämereien — mit Androhung der Todesstrafe —, des Betretens fremder
Feldgrundstücke, des Strandraubes. Dazu kommt das Verbot jeder heimlichen
Sünde, ein Gebot, den Blinden zu geleiten, dem Armen schnell zu helfen
und guten Rat von einem treuen Sklaven anzunehmen. Der Ackerbau wird
als Quelle des Reichtums ebenso empfohlen wie die Schiffahrt. Mit warmen
Worten preist der Dichter den Segen der Arbeit, an dem Vorbilde der Ameisen
und der Bienen, und das Glück der Ehe. Er warnt vor dem Umgang mit
losen Leuten und mahnt zur Ehrfurcht vor einem grauen Haupte. Es geht
ein großer Zug durch dieses Buch der Lebensweisheit für jedermann, für
Menschen jedes Standes und Berufes, für Männer und Frauen, für hoch
und niedrig, reich und arm, jung und alt. Güte, Wahrheit, Gerechtigkeit,
Sittenreinheit im Gefühle der Verantwortung vor dem einen, höchsten Richter,
das sind die idealen Forderungen eines neuen Gesetzes, das die Schranken
der einzelnen Länder und Städte aufhob und auch in dem Sklaven den
Menschen zu achten gebot.
Wie Phokylides, so ermahnt auch Pindar, vor allem den Kroniden Zeus
zu ehren, der dem Blitz und Donner gebietet, und diese Ehre auch den Eltern,
solange ihnen das Leben beschicken ist, zuteil werden zu lassen. Auch Euri-
pides und Aristophanes zeigen sich mit Sprüchen des phokylideischen Lehr¬
gedichts vertraut. Übereinstimmend mit Phokylides nennt Plato die mensch¬
liche Seele dem Göttlichen nächst verwandt, selbst ein Göttliches, ein Helioid.
In Platos letztem großen Werke, dem Timaos, verbindet sich die Kosmosidee
und der Monotheismus des Pythagoras und des Phokylides mit der
platonischen Jdeenlehre zu einem idealen System der Kosmologie und Anthro¬
pologie. In der Abschiedsrede des sterbenden Königs Kyros an seine Söhne
am Schlüsse von Xenophons Kyropädie kommt derselbe Unsterblichkeitsglaube
zum Ausdruck wie bei Phokylides. Was überhaupt in das große Kapitel
der Lebensweisheit gehörte, schrieb man dem Phokylides zu, mit dem Zusätze:
auch das ist ein Wort des Phokylides. Und so sagt denn Jsokrates, ein
Schüler des Sokrates und Meister der schönen Rede in Athen, in einer
seiner pädagogischen Schriften: man rede zwar von der Poesie des Hesiod,
Theognis und Phokylides, daß sie die besten Ratgeber seien für das Leben der
Menschen, aber wenn die Leute auch so redeten, wollten sie es doch lieber
mit ihren eignen Torheiten untereinander halten, statt mit den Ratschlägen
jener Männer.
Ein so beliebtes und, so weit die griechische Sprache reichte, verbreitetes
Schulbuch konnte sich auch in der christlichen Zeit noch erhalten, um so leichter,
weil es ausgesprochen monotheistisch war. So taucht denn ein großes Stück
des Lehrgedichts in den sibyllinischen Orakeln auf, einem halb jüdischen,
halb christlichen Sammelwerke, in dem die Sibylla, jene Priesterin an dem
altitalischen Heiligtums bei Cumä, die einst dem Äneas geweissagt hatte,
als die Weltmutter erscheint, als die Schwiegertochter Noahs, die mit ihm in
der Arche war. Es sind etwa siebzig Verse, die der Sibyllist seinem in
schlechten griechischen Hexametern geschriebnen Werke einverleibt hat, und in
dem griechischen Gelehrtenlexikon des Suidas wurde dann keck behauptet,
das phokylideische Gedicht sei aus den sibyllinischen Orakeln gestohlen. Der
Verfasser dieses Sammelwerkes hat aus mancherlei Quellen geschöpft und unter
andern auch eine altchristliche Schrift benutzt, das Kerygma des Petrus. In
den neuen Christenschulen erhielt die alte griechische Weisheitslehre einige
christliche Zusätze, so ein Verbot des Genusses von Mutwurst und von Götzen¬
opferfleisch und ein Lob des Gotteswortes der Offenbarungsweisheit.
Die Übereinstimmung mit dem Alten und dem Neuen Testamente konnte
der wissenschaftlichen Forschung nicht lange entgehn. Zuerst entdeckte ein
deutscher Humanist, Friedrich Sylburg, indem griechischen Lehrgedichte Spuren
jüdischer und christlicher Lehre, die er als Zusätze zu dem echten Werke des
Phokylides betrachtete, zum Zwecke des Gebrauchs in christlichen Schulen.
Dann wollte Jos. Scaliger, Angehöriger eines berühmten französischen Huge¬
nottengeschlechts, das Ganze einem Juden oder lieber einem Christen zu¬
schreiben, der nur die Maske des griechischen Gnomendichters angenommen
habe. Im neunzehnten Jahrhundert stellte der orthodox-jüdische Gelehrte
Jakob Bernays zuerst eine eingehende Vergleichung des phokylideischen Lehr¬
gedichts mit dem Alten Testament an. Das Ergebnis lautete, der Verfasser
sei ein alexandrinischer, von dem Glauben seiner Väter abgefallner Jude
gewesen, der den Sabbat unerwähnt lasse, der allem Nationaljüdischen aus
dem Wege gehe, und der nicht den Mut gehabt habe zu einem offnen
Angriffe auf das Heidentum. Bernays sah in dem biblisch-unbiblischen Lehr¬
gedichte nichts weiter als eine „moralische Anthologie" und schob das an¬
geblich kraft- und farblose Machwerk eines Reformjuden mit Verachtung bei¬
seite. Seitdem ist nur von dem alexandrinischen Pseudophokylides die Rede.
Unbefangne Untersuchung auf Grund erweiterter Altertumsforschung hat
nun aber in der neusten Zeit zu der Entdeckung jener eigentümlichen Un¬
sterblichkeitsauffassung geführt, die in Zusammenhang steht mit den alt-
griechischen pythagoreisch-orphischen Mysterien. Andrerseits besteht aber auch
ein innerer Zusammenhang zwischen der Sittenlehre und dem Unsterblichkeits¬
glauben des Phokylides und der Lehre von den beiden Wegen des Lebens
und des Todes und dem Unsterblichkeitsglauben in der altchristlichen Apostel¬
lehre, der kürzlich wiederentdeckten Didache, der ursprünglichen christlichen
Kirchengemeindeordnung. Das Verhältnis der Weisheitslehre des Phokylides
.zur Didache bedarf noch einer gründlichen Untersuchung. Die Vermutung ist
nicht abzuweisen, daß wenigstens der Kern der uns vorliegenden griechischen
Gnomensammlung in ionischer Sprache von Phokylides selbst herrührt,*) daß
also dieses alte Lehrgedicht such Einfluß geübt hat auf die jüdische und die
älteste christliche Literatur, auf ihre Sittenlehre**) und vor allem auf ihren
Unsterblichkeitsglauben. Es ist die Frage, ob das Lehrgedicht des Phokylides
oder auch nur dessen Teil, der in die sibyllinischen Bücher ausgenommen
worden ist, aus den „fadesten Gewässern der Predigermoral" eines Reform¬
juden stammt, wie Bernays sagt, oder aus den „lebendigsten Strömungen
der individuellsten Völkergeschichte und Poesie".
Die wichtigste Frage ist die nach dem Verhältnis des phokylideischen
Gedichts zu den alttestamentlichen Schriften, die die jüdischen Gesetze und die
jüdischen Weisheitslehren enthalten, Hier sind der Übereinstimmungen, wie
Bernays gezeigt hat, so viele, daß einem so bibelgläubigen Juden, wie er,
allerdings viel daran gelegen war. die Abhängigkeit des Phokylides vom
Alten Testament schlagend zu beweisen. Betrachten wir zunächst eins der
ältesten jüdischen Gesetzbücher, das sogenannte Heiligkeitsgesetz im Buche
Leviticus (3. Mos. 19). Zu Anfang steht das Doppelgebot der Heiligung
Jahwehs und der Furcht vor Mutter und Vater. Darauf folgt das Gebot
der Heiligung des Sabbath, dann Gebote der Mildtätigkeit und der Ent¬
haltung von fremdem Gut, Verbot des Meineids, des unrechten Erwerbs, des
ungerechten Gerichts, der Verleumdung, der Irreführung des Blinden, Gebot
der Liebe zum Nächsten, dem Volksgenossen, der Ehrfurcht vor einem grauen
Haupte, der Gleichberechtigung der Zugezognen und der Einheimischen, endlich
ein Hinweis auf rechtes Maß und Gewicht ^- alles im Einklang mit Phoky¬
lides. Das Heiligkeitsgesetz macht einen altertümlichen Eindruck wegen seiner
Vorschriften über den Genuß des Tempelopferfleisches, das nach arabischer
Sitte frisch verzehrt werden mußte, wenn es noch zuckte, über die Blutrache
— „du sollst nicht stillsteyn bei deines Nächsten Blut" — und über die Tracht
der Peijes, der Schläfenlocken. In einem Zusatz zum Heiligkeitsgesetze wird
die Verehrung der seinen, gefürchteter Wüstendämonen in Bocksgestalt, ver¬
boten. Das levitische Gesetz verbietet ferner, sich bei einem Trauerfalle blutig
zu ritzen — eine Sitte, die daraus zu erklären ist, daß man durch das Blut
eine Verbindung mit dem Toten herzustellen glaubte — und sich zu tätowieren.
Auf Stirn und Hände pflegte man Zeichen einzuritzen. Dazu kommt ein strenges
Mischeheverbot. Das Heiligkeitsgesetz spiegelt den individuellen Charakter der
Bevölkerung von Südpalästina im fünften oder sechsten Jahrhundert v. Chr.
Das Heiligkeitsgesetz beginnt mit dem Doppelgebot der Ehrung Gottes
und der Eltern. Nach dem Gebote der Furcht vor Mutter und Vater kommt
das Sabbatsgesetz, dann die Bestimmungen über den Genuß des Tempelopfer¬
fleisches, und darauf folgen die Vorschriften, die das Verhältnis zu dem
Bruder oder Volksgenossen und zu dem Fremden betreffen, Gebot der Mild¬
tätigkeit. Verbot des Diebstahls, der Lüge, des Meineids, des Mordes u. a.
Im Dekalog ist die Reihenfolge eine andre. Da sind die Gebote der Mas
und der xroditas unterschieden. Voran steht das Gebot der Heiligung Gottes
und des Sabbath, dann folgt die Ehrung der Eltern und im Anschluß daran
das Verbot des Mordes, des Ehebruchs, des Diebstahls usw.. zum Schutze
des Lebens, der Sitte, des Eigentums, überhaupt des Rechts jedes Einzelnen.
Der Inhalt des Dekalogs war also im Heiligkeitsgesetze gegeben, aber die Form
der kurzen Zusammenfassung und übersichtlichen Anordnung, mit Weglassung
alles Nationaljüdischen, mußte noch gefunden werden. Das erste Gesetz in
Form von zwölf kurzen Hauptgeboten ist das dem Bundesbuche (2. Mos. 21
bis 23) nahestehende Tempelkultusgesetz (2. Mos. 34, 10 bis 26). Es ist das
jüdische Zwölftafelgesetz, das allgemeine Landesgesetz des Priesterstaates. Die
Fluchtafel im Deuteronomium, eine Liste der schwersten heimlichen Verbrechen,
angeblich von Mose selbst bestimmt zur Verkündigung auf dem Ebal und
Garizim, den heiligen Höhen der Samariter, hat ebenfalls die Form des
Zwölftafelgesetzes (5. Mos. 27. 14 bis 26). Das gesamte Sinaigesetz, das
Mose auf Befehl Jahwehs niederschreibe, umfaßt das bürgerliche und das
Strafrecht und das Priesterrecht der Leviten (2. Mos. 21 bis 40). Dazu
kommt im vierten Buche Mose das Staatsrecht und im fünften das Familien-
und Erbrecht. Allmählich kam daneben auch ein allgemein gehaltnes religiös¬
sittliches Gesetz zustande — der Dekalog.
Die Zehngebote sind aus dem Heiligkeitsgesetze allmählich herausgeschält
worden, als ein Zweitafclgesetz der xietg-s und der proditas. Das zehnte Gebot
war ursprünglich ein Verbot des Wuchers. Das Sabbatgebot erinnert noch
mit einem Worte (--akar „heiligen") an das Zwölftafclgesetz der Hierarchie in
Jerusalem. Sonst aber ist im Dekalog alles Jüdische abgestreift, und nun
konnte das mosaische Gesetz endlich Anspruch auf allgemeine Giltigkeit als
universalreligiöses Sittengesetz erheben. Von den Zehngeboten in dieser Form
hat der Verfasser des Heiligkeitsgesetzes noch nichts gewußt, sonst stünde auch
bei ihm das Gebot der Furcht vor Mutter und Vater nicht zwischen den
Geboten der Heiligung Jahwehs und des Sabbath. Der Dekalog, das erste
Gesetz, das Mose auf dem heiligen Berge aus der Hand Gottes empfing
(2. Mos. 20), ist das jüngste, nicht das älteste Stück der sogenannten mosaischen
Gesetzgebung. Er ist ebenso jung wie das vorausgehende Gerichtsverfassungs¬
gesetz, das Mose, auf deu Rat seines Schwiegervaters Jetro, in der Wüste
gegeben haben soll, indem er Unter- und Oberrichter über zehn, über fünfzig,
über hundert und über tausend einsetzte, und sich selbst in der höchsten In¬
stanz die Entscheidung der schwierigsten Rechtssachen vorbehielt, für die das
levitische Gerichtsorakel der Elohim, der Urim und Tummim, ausschlaggebend
war (2. Mos. 18).
Zur Zeit Alexanders des Großen schrieb Hekatäos von Abdera ein Buch
über die Juden, worin die Geschichte und die Gesetzgebung des jüdischen
Volkes behandelt war. Ein Zufall hat es gefügt, daß aus diesem Werke
noch einige Zeilen gerettet sind, ein allgemeines Urteil, dahin lautend, daß
unter der Herrschaft der Perser und der Mcckedoner vieles anders geworden
sei an den alten Gebräuchen der Juden. Das Urteil des griechischen ge¬
lehrten Beobachters erinnert lebhaft an die Art des Genusses des Tempel¬
opferfleisches, cui daS Blutigritzen und Tätowieren, an die Blutrache, die im
ältern Wortlaute der Septuaginta geboten wird, anstatt des Verbotes, dem
Nächsten nach dem Leben zu trachten. Es kam eine Zeit, wo sich die wilden
Stämme in Südpalästina ebenso wie die verweichlichten ionischen Griechen der
Staatsordnung eines fremden Kulturvolkes fügen mußten. So schwer es der
jüdischen Landesgesetzgebung auch werden mochte, die Leviten mußten das
allgemeine Reichsgesetz anerkennen und einem Zugezognen dieselben Rechte
einräumen wie einem Eingesessenen. Von selbst sind Juden und Griechen
schwerlich dazu gekommen, ein solches Gesetz zu erlassen. Die Perser waren
es, die beide Völker dazu zwangen. Welchen Eindruck die persische Reichs¬
regierung auf die Bewohner von Südpalästina gemacht hat, beweist das von
Samaria aus in die hebräische Sprache cmfgenommne persische Wort Dat, die
Bezeichnung für königliches Edikt. Auch Sagaris, das Kriegsbeil, das in den
Psalmen einmal genannt wird, ist ein persisches Wort. Von den Persern
haben die Griechen den Ausdruck „Milch und Honig" übernommen zur Be¬
zeichnung der Götterspeise, der ersten Nahrung des Zeusknäbleins, des Dionysos
und des Achilleus. Im Alten Testament, im Heiligkeitsgesetz und später an
vielen andern Stellen, wird Kanaan, der fruchtbare Landstrich von Syro-
Phönizien bis zur Oase Jericho, als ein Land gerühmt, das von Milch und
Honig überfloß. Der Vergleich findet sich ebenso bei Phokylides, der den
fruchtbaren Acker das Horn der Amaltheia nennt, der märchenhaften Ziege,
aus deren Hörnern Milch und Honig floß (Phok. Fragen. 7). Die Herabkunft
Moses von dem heiligen Berge wird nach dem Vorbilde der persischen
Sage von dem Wiedererscheinen des Religionsstifters Zarathushtra geschildert
(2. Mos. 34, 27 bis 35).
Die Perser erzählten von Zarathushtra, er habe, in begeistertem Ver¬
langen nach Weisheit und Gerechtigkeit, allein auf einer Bergeshöhe geweilt.
Plötzlich habe der Berg in Flammen gestanden, und als der König und die
Vornehmsten der Perser hinzukamen, um zu Gott zu beten, sei der Mann
aus dem Feuer heraus auf sie zugekommen, unversehrt, und habe sie mit
heiterer Miene beruhigt, in der Überzeugung, die Stätte Gottes gefunden zu
haben. Danach habe er wieder verkehrt mit andern, die Sinn für Wahrheit
und Gotteserkenntnis hatten. Die Juden erzählen von Mose, er sei von dem
heiligen Berge herabgestiegen, ohne zu wissen, daß die Haut seines Gesichts
glänzend geworden war, nicht „gehörnt", wie es in der lateinischen Über¬
setzung heißt, der Michelangelo folgte. Und jedesmal, wenn Mose mit dem
Herrn geredet hatte und aus dem Offenbarungszelte heraustrat zu den
Ältesten und zu dem Volke, glänzte sein Antlitz wieder. Das Wunder, das
sich an dem persischen Religionsstifter einmal kundgab, wiederholte sich bei
dem jüdischen Gesetzgeber unzähligemal. Offenbar soll Mose dadurch um so
viel heiliger erscheinen als Zarathushtra. Daß die Wiederholung den Eindruck
des wunderbaren Vorganges nur abschwächen kann, hat der biblische Erzähler
nicht gefühlt, dem es nur darauf ankam, Mose hinter Zarathushtra nicht
zurückstehn zu lassen. Auch an dieser Nachahmung erkennt man den literarischen
Synkretismus, jene Eigentümlichkeit der jüdischen Schriften, die neuerdings
schärfer beobachtet worden ist, fremde Ideen und Bilder bei der Darstellung
der Geschichte des eignen Volkes zu verwenden.*)
Bei Phokylides finden sich deutliche Spuren eines allgemeinen, über
Hammurabis Gesetzbuch weit hinaufführenden persischen Neichsgesetzes. Der
allein weise, mächtige und reiche Gott des Phokylides ist kein andrer als
^Kura wÄ8ä», der sehr weise Herr. Das Doppelgebot der Ehrung Gottes
und der Eltern ist ein uralt arisches Gebot bei Indern und Persern, von
denen es Griechen und Juden übernahmen. Es ist der Geist des Zarathushtra
und des Pythagoras, der, zur Zeit der Vorherrschaft des Parsismus in ganz
Vorderasien, aus dem Lehrgedichte des Milesiers Phokylides zu uns spricht.
Es war ein neuer, religiös-sittlicher Geist, der die besten der kleinasiatischen
Griechen ergriff, als diesem hochbegabten Volke von der Verfeinerung der
Kultur und dem zunehmenden Reichtum und Wohlleben Gefahr drohte. Die
Geschichtschreibung beginnt jetzt die sittlichen Kräfte, die in dem persischen
Volke lagen, die geistigen Wirkungen, die von dem Perserreiche unmittelbar
ausgingen, neben den politischen Erfolgen und den wirtschaftlichen Bestrebungen
der großen persischen Könige näher in Betracht zu ziehen. Es besteht ein
tiefer innerer Zusammenhang zwischen der christlichen und der persischen, der
ersten Weltreligion. Der Vermittler zwischen Persien und Griechenland war
Pythagoras. Damit ist zugleich die Bedeutung des Phokylides erkannt.
Sind die zehn Gebote, die Mose am Sinai verkündet haben soll, ein Auszug
aus dem Heiligkeitsgesetze, und ist das Heiligkeitsgesetz, wie es scheint, abge¬
sehen etwa von dem sogenannten Bundesbuche, das älteste judäische Landesgesetz
mit religiös-sittlichen Geboten im Anschluß an Phokylides, dann gebührt dem
Lehrgedichte des milesischen Pythagoreers ein Ehrenplatz in der allgemeinen
Religions- und Kulturgeschichte, besonders in der Geschickte des Christentums.
Auf die Spuren eines eigenartigen nordpalästinischen Volkstums führt die
Schilderung der Essener. Der Name bedeutet eigentlich Ansiedler. Die Essener
trieben Ackerbau und Gewerbe. Sie wohnten in Dörfern, zum Teil auch in
Städten. Mit den Judäern hatten sie keine Gemeinschaft. Sie verwarfen die
Tieropfer, die Schlacht- und Brandopfer, wie es schon Hosea und Jeremia,
die Propheten aus Ephraim und Benjamin, getan hatten. Sie hielten ihre
Gottesdienste für sich, hatten auch ihre eignen Satzungen und wählten ihre
Priester selbst. Sie schickten Weihgeschenke nach Jerusalem, brachten aber keine
Abgaben zum Tempel, wie das jüdische Gesetz vorschrieb. Deshalb waren sie
auch von dem allgemeinen Tempelbezirke, das heißt von dem jüdischen Tempel¬
kultus ausgeschlossen, wurden aber nichtsdestoweniger zu Abgaben, wenigstens
in Form von Geschenken, angehalten. Die Essener hatten bestimmte Sitten
und Gebräuche, die ihnen eigentümlich waren, ein Morgengebet, das sie zur
Sonne, nicht zum Tempel gewandt sprachen, Waschungen des Mittags und des
Abends, weiße Kleidung, wie sie die Magier trugen. Die Verehrung der Sonne
wie überhaupt die Scheu vor jeder Verunreinigung im Angesicht des Himmels¬
lichtes, die Verwerfung der eigentlichen Opfer von Tieren, das heißt die Dar¬
bietung des Fleisches an die Gottheit, und der Unsterblichkeitsglaube sind deutliche
Anzeichen des Parsismus. Die Sorge für Reinheit des Leibes und der Seele ist
Pythagoreisches Gebot. Es gab unter den Essenern mich Gelehrte, und ehrwürdig
waren ihnen die „Schriften der Alten". An den Essenismus und den Parsismus
gemahnt das Wort bei Hosea von dem Wiederaufleben nach drei Tagen (Hos. 6, 2).
Was sonst noch über die Essener berichtet wird, ist mit Vorsicht aufzunehmen.
Denn Philo, der alexandrinischeJude, und Josephus, der jüdische Geschichtschreiber
in Rom, sind beide Apologeten des Judentums, eifrig darauf bedacht, akten¬
mäßig zu beweisen, daß im jüdischen Volke von jeher in vollkommenster Weise
alles vertreten sei, was sich von Zamthushtra und den persischen Magiern oder
von Pythagoras und den Pythagoreern oder von mönchischen Buddhisten nur
irgend gutes sagen ließ. So ist es auch wohl zu erklären, wenn Josephus die
Essener als dritte philosophische Sekte anführt neben den Pharisäern und
Sadduzäern. Übertrieben oder schief und irreführend sind jedenfalls gewisse
Angaben über Gütergemeinschaft der Essener — die Essener waren gastfrei;
kein Essener hatte ein Haus, das nicht auch seinem Gaste gehörte — und über
Ehelosigkeit. Als Vorzüge der Essener werden auch hervorgehoben: Sabbat¬
heiligung, Reinheitsstreben, Absonderung von den Unreinen und peinliche
Gesetzesstrenge. So kommen die jüdischen Apologeten dazu, die Essener als „die
Pharisäer im Superlativ" zu schildern. Philo nennt sie deshalb auch Essäer
oder Hohler, das heißt Heilige — eine Etymologie, die auf griechisch gebildete
Leser berechnet war. Die Essener, die keine Gemeinschaft mit den Judäern
hatten, aber trotzdem ihrer vortrefflichen Eigenschaften wegen im Ansehn standen,
erinnern an die Rechabiten, die Söhne Jonadabs in Samarien, die auch von
jeher ihre eignen Satzungen hatten und ihren Hohenpriester selbst wählten.
Man hat die Essener wohl verglichen mit den Zisterziensermönchen. Näher
läge der Vergleich mit den Herrnhutern. Ein so unjüdischcs Gebilde, wie es
ein Mönchsorden der Essener gewesen sein müßte, kann man sich innerhalb
des Judentums überhaupt schwer vorstellen. Zu bemerken ist noch, daß Josephus
die Essener erst in der Makkabäerzeit, zugleich mit den Pharisäern erwähnt.
Die Essener sind aber, wie aus der Geschichte der Landeskultur und andern
Anzeichen zu schließen ist, wohl schon seit längrer Zeit, mindestens seit Nechab
und Jonadab in Nordpalästina angesiedelt gewesen. Die Essener waren, wie
es scheint, ursprünglich nordpalästinische Ansiedler, ein selbständiges, arbeit¬
sames, begabtes und frommes Bauernvolk. Daß die Bewohner Samariens, die
Ketzer, zu denen die Essener gehörten, zum Teil selbst medischer und persischer
Abkunft waren, darf man als sicher annehmen nach Josephus (Ant. 12, 5, 5).
Ein sprechendes Zeugnis der trefflichen Gesinnung, die die Essener be-
tätigten, ist der Schwur der Essener. Der Essener, sagt Josephus (B. I. II, 8, 7),
schwört: 1. Gott zu ehren und die Gerechtigkeit gegen die Menschen zu beobachten,
2. die Wahrheit stets zu lieben, 3. weder aus eignem Antriebe noch auf Ver¬
anlassung andrer jemand Schaden zuzufügen, 4. die Ungerechten stets zu
hassen, mitzukämpfen für die Gerechten, bereit zu sein, die Lügner zu über¬
führen, 5. die Treue stets zu wahren (gegen jedermann), 6. die Hände von
Diebstahl und das Gewissen von unlautern Gewinn rein zu halten, 7. falls
er selbst einmal herrschen würde (das heißt uneigennützig zu regieren). Der
Schwur enthält nichts vom jüdischen Gesetz und hat gar nichts von einer
Ordensregel an sich. Als solche hat ihn erst der Verfasser des fünfzehnten
Psalms nicht aufgefaßt, der ihn judaistisch umgeändert hat. Es ist der Bürgereid
essenischer Brüdergemeinden, eine Verpflichtung zu brüderlicher Eintracht, zu
einem Leben in Liebe und heiligem Gemeinsinn, wie die Pythagoreer sagten.
Auf diesem essenischen Ephebeneide beruht die Angabe bei Philo über die Er¬
ziehung der essenischen Jugend zu der Liebe zu Gott, zur Tugend und zu
den Menschen.
Der jüdische Geschichtschreiber Josephus hätte in seiner Schilderung des
jüdischen Krieges gar nichts besseres anführen können zugunsten des Juden¬
tums als die friedliche Lebensgemeinschaft der Essener (Jos. B. I. 2, 8, 5).
Nur, daß die essenischen Ansiedler, die Bürger und Bauern in Nordpalüstina,
keine Judäer waren.*) Sonst würden Philo und Josephus nicht unterlassen
haben, den Unsterblichkeitsglauben der wackern Männer in den Kämpfen der
Makkabüer gegen die Syrer gebührend hervorzuheben. Dieser Unsterblichkeits¬
glaube beweist die Verwandtschaft des Essenismus mit dem Pythagoreismus,
d
!it ihrem neuesten foliantenhciften Buches beweist die bedeutende
Frau die uneigennützige Ehrlichkeit ihres Strebens. Es ist
nämlich, vom Standpunkte der buchhündlerischen Spekulation
betrachtet, verfehlt, weil es in die Biographie die aus Kongreß-
Berichten und unzähligen Briefen bestehende aktemnäßige Dar¬
stellung ihrer Friedensagitation verwebt. Daß eine solche Darstellung beim
Publikum wenig Anklang finden wird, vermutet sie selbst nach der Erfahrung,
die sie mit ihrem auf der ersten Haager Konferenz geführten Tagebuche ge¬
macht hat, und daß dieses Monstrum von Buch eigentlich keine Biographie
mehr ist, gesteht sie ausdrücklich zu, aber diese Agitation sei nun einmal der
wichtigste Inhalt ihres Lebens. Mit dem im engern Sinne biographischen
würde sie bei ihrem Weltruf einen großartigen Erfolg gehabt haben, denn
es ist im höchsten Grade interessant; das Buch würde ja auch nur etwa ein
Viertel seines jetzigen Umfangs erreicht haben und dementsprechend wohlfeiler
sein. Die Akten der Friedensgesellschaft konnten für die Interessenten ge¬
sondert herausgegeben werden. Bertha ist die posthume Tochter eines wenig
begüterten Grafen Kinsky. Ihre Mutter und deren Schwester suchten ihr
Einkommen — natürlich vergebens — durch vorsichtiges, „wissenschaftliches"
Hasardieren zu erhöhen und nahmen Bertha mit in die Bäder, die sie zu
diesem Zweck aufsuchten. Da sie dadurch ihre Lage verschlimmerten, sollte sich
Bertha, der von vielen Seiten beteuert wurde, sie werde die Malibran und
die Sonntag übertreffen, der Opernbühne widmen; allein Frau Viardot er¬
klärte nach einer Probe: „Sie können gar nichts"; Stimme sei ja da, doch
es sei zu spät (Bertha war damals zwanzig Jahre), ganz von vorn anzufangen.
Duprez in Paris war weniger schroff, aber in dem Kursus, den sie bei ihm
durchmachte, überzeugte sie sich, daß die Viardot recht gehabt hatte. Auf diesen
Reisen hat sie viele interessante Bekanntschaften und mit ihrer Schönheit auch
Eroberungen gemacht; die großartigste war — Kaiser Wilhelm, dem sie im
Herbst 1868 in Baden-Baden gegenüberwohnte. Er promenierte öfter mit
ihr, und als sie ihn um seine Photographie bat, forderte er die ihre. Mit
der, die sie ihm gab, nicht zufrieden, verlangte er eine neue Aufnahme und
bestätigte den Empfang mit folgendem Billett:
Soeben empfange ich Ihre etwas bessere Photographie, gnädige Komtesse,
als die, welche Sie gestern so gütig waren, mir zuzustellen. Indem ich meinen
aufrichtigsten Dank hierin aussprechen darf, muß ich denselben auch, und zwar noch
weit inniger, für die liebenswürdigen Zeilen aussprechen, welche die Photographie
begleiteten. In den Passus der Eroberung öder sich auf 1866 bezöge scheint sich
ein Fehler eingeschlichen zu haben, indem Sie wohl sagen wollten, daß Sie sehr
wohl wüßten, eine Eroberung gemacht zu haben, und zwar die eines zweiund-
siebzigjährigen Greises, dessen Sentiments oft noch sehr lebhafte Eindrücke auf¬
nehmen, namentlich wenn sie dnrch Visavis unterhalten — wenn auch nur zu
selteu — werden.
Mich Ihrem ferneren Andenken angelegentlichst empfehlend, verbleibe ich,
gnädigste Komtesse, Ihr sehr ergebener Wilhelm rsx.
Zweimal kam es zu Verlobungen und Entlobungen, und eine dritte Ver¬
lobung, die auf gegenseitiger Liebe beruhte, wurde durch den plötzlichen Tod
des Bräutigams, eines Prinzen Wittgenstein, gelöst. Dreißig Jahre alt, nahm
Bertha die Stelle einer Erzieherin der drei Töchter des freiherrlich Suttnerschen
Ehepaares in Wien an. Hier verliebte sie sich in den sieben Jahre jungem
Sohn Artur Gundaccar und er in sie. Da auf Einwilligung der Eltern keine
Aussicht war, ging sie nach Verlauf von drei Jahren nach Paris, um dort
dem Erfinder Alfred nobel als Gehilfin zu dienen. Aber die beiden Liebenden
hielten es ohne einander nicht aus. Bertha eilte zurück nach Wien, sie
ließen sich heimlich trauen und entslohn in den Kaukasus, wo sie bei der
mediatisierten Fürstin von Mingrelien, Ekaterina Dadiani, gastliche Aufnahme
fanden. Diese hatte Bertha in Homburg liebgewonnen und seitdem, so oft
beide gleichzeitig in deutschen Bädern oder in Paris weilten, in ihren
Familienkreis gezogen. Die „Hochzeitsreise" dauerte neun Jahre, von 1876
bis 1885. Die Gastfreundschaft der Fürstin wurde nur kurze Zeit benutzt,
bis sie Beschäftigung gefunden hatten. Sie schlugen sich mühsam durch und
hungerten mitunter. Sie gaben Sprach- und Musikstunden. Als diese im
russisch-türkischen Kriege aufhörten, arbeitete er in einem Fabrikkontor und
zugleich als Aufseher, dann als Bauleiter des Schwiegersohns der Fürstin,
eines Prinzen Murcit, wobei er sich zum Architekten entwickelte. Sie schrieb
Feuilletons und Romane, und er griff ebenfalls zur Feder, mit kaukasischen
Geschichten beginnend. Als sie von seiner Familie zurückgerufen wurden,
standen sie schon auf eignen Füßen fest und verdienten später so viel, daß
sie den Eltern zu Hilfe komme« und das Familiengut Harmcmnsdorf stützen
konnten, das man infolge schlechter Ernten und bedeutender Verluste durch einen
untreuen Verwalter auch noch zu verlieren fürchtete, nachdem das Wiener
Palais schon verkauft war. Die Ehe blieb kinderlos — glücklicherweise, darf
man sagen. Denn sie war eine jener seltnen Ehen, in denen jeder Gatte des
andern Ein und Alles ist („Meiner", „Meine" sagen sie, wenn sie einander
erwähnen), jeder in der gegenseitigen Liebe und in gemeinsamer geistiger Arbeit
volles Genüge findet, Kinder also nur stören könnten; ihre in kindlichem und
kindischem Spiel sich äußernde Verliebtheit hielt ungeschwächt bis zum Tode
des Gatten an. Dieser begann nach der Feier der Silberhochzeit zu kränkeln
und konnte im April 1902 nicht mit nach Monaco fahren. Es war das
erstemal, daß sie allein reifte, überhaupt das erstemal seit ihrer Verheiratung,
daß sie ein paar Wochen getrennt voneinander lebten. Am 10. Dezember starb
er. In seinem Testamente stand: „Und nun, Meine, noch ein Wort dir:
Dank! Du hast mich glücklich gemacht, Du hast mir geholfen, dem Leben die
schönsten Seiten abzugewinnen, mich desselben zu freuen. Keine Sekunde der
Unzufriedenheit hat es zwischen uns gegeben, und das danke ich Deinem großen
Verstände, Deinem großen Herzen, Deiner großen Liebe. Du weißt, daß wir
in uns die Pflicht fühlten, zum Besserwerden der Welt beizutragen, für das
Gute, für das unvergängliche Licht der Wahrheit zu arbeiten, zu ringen. Mit
meinem Heimgange ist für Dich diese Pflicht nicht erloschen. Das gute An¬
denken an Deinen Gefährten muß Dich aufrechterhalten. Du mußt in unsern
Intentionen weiterarbeiten, um der guten Sache willen die Arbeit fortsetzen,
bis auch Du am Ende der kurzen Lebensstation anlangst. Mut also! Kein
Verzagen! In dem, was wir leisten, sind wir einig, und darum mußt Du
trachten, noch viel zu leisten."
Bertha von Suttner hatte fünf große Kriege erlebt, ohne bei den Kriegs¬
nachrichten, die sie kaum beachtete, etwas zu denken und zu empfinden. Im
Jahre 1887 erzählte ihr in Paris Dr. Wilhelm Löwenthal von der Ivter-
national ?«zg.<zö ana ^rbitration ^LsooiÄtivu, an deren Spitze außer dem
Gründer Hodgson Pratt der Herzog von Westminster, der Earl of Ripon und
der Bischof von Durham standen. Das zündete. Bertha unterrichtete sich über
den Krieg durch das Studium von Geschichtswerken und Kriegsberichten, schrieb
ihren Roman „Die Waffen nieder" und war von da an die Führerin der
Friedensbewegung. Aus deu brieflichen und mündlichen Äußerungen über diese
und über ihren Fortgang wollen wir einiges anführen, was entweder für die
Sache oder für die sich Äußernden charakteristisch ist. nobel überreichte ihr
2000 Franken. Er tue dies mehr aus Liebenswürdigkeit als aus Überzeugung,
meinte sie. „An der Sache und ihrer Berechtigung — nein, daran zweifle
ich nicht, nur daran, ob sie durchgesetzt werden kann. Auch weiß ich noch
nicht, wie Ihre Vereine und Kongresse das Werk anpacken wollen. Belehren
Sie mich, überzeugen Sie mich, und dann will ich für die Bewegung etwas
Großes tun. . . Meine Fabriken werden vielleicht dem Kriege noch früher
ein Ende machen als Ihre Kongresse. An dem Tage, da zwei Armeekorps sich
gegenseitig in einer Sekunde werden vernichten können, werden wohl alle zivi¬
lisierten Nationen zurückschaudern und ihre Truppen verabschieden." Im Jahre
1892 betrieb sie die Gründung eines Zweigvereins in Berlin und fand sich
durch die Nachrichten von dort veranlaßt, an ihren Verleger A. H. Fried zu
schreiben: „Also Titel braucht Ihr, Ihr Demokraten? Halte es nicht für
nötig. Der in Bethlehem Geborne hatte auch keine Titel, und sein Verein
blüht noch." Im Sommer 1893 wurde die bedrohlich aussehende Spannung
zwischen Frankreich und Italien durch eine Arbeiterschlägerei in Aigues-Mortes
verschärft, die von einem italienischen Arbeiter verschuldet worden war, der
seine schmutzige Hose im Brunnen gewaschen hatte. Die Baronin trügt in ihr
Tagebuch ein: „8. September. Der internationale Verkehr von Europa beruht
fruhtlj auf so gesunden und vernünftigen Grundlagen, daß ein solcher Anlaß
genügt, die sogenannte hohe Politik in Tätigkeit zu bringen und die Geschichts¬
schreiber darauf gefaßt zu machen, daß sie neben dem Kriege der Weißen und
der Noten Rose auch noch den Krieg der schmutzigen Hose in ihre Annalen
werden eintragen müssen." Dem russischen Maler Wereschtschagin soll Kaiser
Wilhelm der Zweite in der Ausstellung seiner gräßlichen Bilder gesagt haben:
„Damit, lieber Meister, kämpfen Sie gegen den Krieg wirksamer an als
irgendwelche Friedenskongresse." Die Suttner meint, das sei wahrscheinlich
gar nicht die Absicht des Künstlers gewesen, der nichts gewollt habe als voll¬
kommen wahr sein; er habe den Krieg nicht gehaßt, ihr einmal gesagt: „Ich habe
mehrmals in Schlachten Menschen getötet und kann aus Erfahrung sagen, daß
die Aufregung wie auch das Gefühl der Genugtuung und der Befriedigung,
nachdem man einen Menschen getötet hat. vollkommen dem gleichkommt, das
man empfindet, wenn man ein größeres Wild zur Strecke gebracht hat." Viel
verkehrte sie mit dem Herzog Elimar von Oldenburg. Dieser äußerte einmal:
„Ich bin nicht aus der Art geschlagen, indem ich mich für Ihre Sache
interessiere. Ein Bruder meines Vaters, der Prinz Peter von Oldenburg, hat
sich seinerzeit für die Abschaffung des Krieges eingesetzt. Obwohl er mütter¬
licherseits der Enkel des Kaisers Paul war, obwohl er den Rang eines rus¬
sischen Generals der Infanterie einnahm und Chef des Dragonerregiments
Stavodub war, war er ein mitnander Friedensfreund. Denn nicht nur als
Ideal, als einen in spätern Jahrhunderten zu verwirklichenden Traum hat er
die Sache angesehen, sondern er machte sich tütig ans Werk, sie durchzuführen;
er reiste von Hof zu Hof, unterbreitete seine Ideen der Königin von England,
dem Könige von Preußen; doch zu jener Zeit, vor dreißig Jahren, blieben
seine Versuche noch fruchtlos. Mein Onkel setzte seine Bemühungen standhaft
fort; ich besitze den Aufsatz eines Briefes, den er im Jahre 1373 an Bismarck
richtete und worin er seine Ideen entwickelte, gleichfalls ohne Erfolg." Er
gibt der Baronin eine Abschrift, und sie nimmt den Brief in ihr Buch aus.
Es heißt darin, Wilhelm der Siegreiche sei vom Herrn der Heerscharen er¬
koren, als Friedensstifter den unsterblichen Namen des Gesegneten zu führen.
Er habe ihm beigestanden, den Herd der Revolutionen unschädlich zu machen,
jetzt sei es seine Aufgabe, die Wurzel des Bösen, die höchste Potenz der Sünde
(der Briefschreiber^ ist wie seine ganze Familie streng gläubiger Christ) en
prwoixe abzuschaffen. Nie werde auf Erden dauernde Wohlfahrt begründet
Werden, solange die Regierungen dem Christentum zuwider handeln und wahre
Zivilisation nicht aufkommen lassen. Dieses Wort sei von vivis abgeleitet,
der vivis aber sei ein Befolger der Gesetze, der Krieg dagegen ein Zustand der
Gesetzlosigkeit. Nicht mit Gesetzlosigkeit, nicht mit Bajonetten vermöge man
die ungesetzlichen Bewegungen der Kommunisten, Revolutionäre und Demo¬
kraten zu bändigen. Demnach sollten die Kulturvölker einander den Besitz
ihrer Territorien garantieren, strittige Fülle durch Schiedsgerichte schlichten und
durch internationale Konvention die Stärke der bewaffneten Macht bestimmen.
Nicht etwa diese abschaffen; „einen Staat ohne bewaffnete Macht denken kann
nur ein Tor oder ein Schurke". Die juristische Seite der Sache beleuchtet
der österreichische Reichsratsabgeordnete Dr. Julins Ofner. „Kein Recht ohne
Richter; in eigner Sache kann ^darf.^ niemand urteilen, und die Geschichte
lehrt, daß, wenn Staaten auch das Ungerechteste wollen, sie immer Kron¬
juristen finden, die es verteidigen und für Recht erklären. Solange darum
kein Gericht für Völkerstreitigkeiten eingesetzt ist, gibt es Staatenhöflichkeit,
Staatensitte, aber kein Staatenrecht. Der Starke ist unfehlbar, die beleidigte
Gerechtigkeit wendet sich nur gegen den Schwachen. Die Berufung auf die
Souveränität, die nicht geschmälert werden dürfe, ist nichts als eine Verkleidung
des Anspruchs, nach Willkür Unrecht tun zu dürfen. Denn alles Recht be¬
schränkt den einzelnen um der andern willen, die Willkür zugunsten der all¬
gemeinen Freiheit. Recht und Gerechtigkeit ist aber die Grundlage aller Kultur,
und es gilt für die Staaten, was Kant für die Menschen überhaupt sagt:
Gäbe es kein Recht, es wäre nicht der Mühe wert, daß Menschen auf Erden
leben."
Den Grundgedanken Nobels, daß der Fortschritt der Wissenschaft und der
Technik den Krieg überwinden werde, hat mit etwas andrer Schattierung auch
Frithjof Raufen ausgesprochen. In einem Vortrage, den er in Wien hielt,
sagte er: „Man wird nach dem Resultat der Polarforschungen fragen. Ich
antworte darauf: die Wissenschaft will alles wissen. Es darf keinen Fleck der
Erde geben, den nicht ein Menschenauge gesehen und nicht ein Menschenfuß
betreten hat. Das Geschick des Menschen ist der Kampf des Lichtes gegen die
Finsternis. Noch gibt es viele Probleme zu lösen. Die Zeit der großen Er¬
oberungskriege ist vorbei, die Zeit der Eroberungen im Lande der Wissenschaft
wird andauern." Das Friedensmanifest des Zaren brachte der Agitatorin
eine Unmasse von Glückwünschen ein. Der Vizeadmiral Semsey schrieb ihr:
„Ein Sturm des Entzückens durchbraust die Welt angesichts des gewaltigen
Nordlichts, das von Petersburg leuchtet. Was der Erfolg auch sei, das ge¬
waltige Wort eines der Gewaltigsten kann nicht ungesprochen gemacht werden.
Der Herr segne Ihr Wirken!" Die Baronin druckt auch eine Anzahl gegne¬
rischer Äußerungen ab, darunter die der Grenzboten (Ur. 37 vom 15. Sep¬
tember 1898). Ungünstig kritisierende Briefe erhielt sie u. a. von Friedrich
Naumann, B. v. Werner, Reinhold Vegas, Felix Dahn, Eduard v. Hartmann.
Liebknecht schrieb: „Der Abrüstungsvorschlag des zarischen Rußlands ist
Schwindel." Etwas weniger schroff hat Bebel geantwortet, als sie ihn im
nächsten Winter bei einem Aufenthalt in Berlin zu einem Besuche einlud.
Dem Grundgedanken des Manifestes stehe die Sozialdemokratie natürlich
sympathisch gegenüber; sei sie doch die einzige, die ihn im Reichstage vertrete,
und daß der Monarch eines so militaristischen Staates jetzt als Gegner des
Militarismus auftrete, sei in hohem Maße anerkennenswert, könne aber seine
Gesinnungsgenossen nicht abhalten, diesem Vorgehen, solange die entsprechenden
Taten fehlen, mit einem gewissen Mißtrauen zu begegnen. Auch den Oberst¬
leutnant von Egidy, der damals der Mann des Tages war (heute würde er
der Held der „Woche" sein), gewann sie für ihre Agitation. Sehr hübsch
nimmt sich die Antwort aus, die sie von einem Grafen Zc. bekam auf die Ein¬
ladung zu einem Vortrage, den Egidy in Wien halten sollte: „Ich habe nie
eine Zeile von Egidy gelesen. Aber ich vermag Ihre Ansicht über ihn nicht
zu teilen; denn erstens kann ich die Preußen nicht leiden; zweitens, wenn ein
Soldat etwas so Unanständiges getan hat, daß er nicht weiterdienen kann,
so muß ich verwerfen, was er spricht, und wäre er so weise wie Aristoteles."
Stead erzählte ihr, was ihm in einer Unterhaltung über das Friedens¬
manifest der Zar gesagt hatte: „Habe ich einen einzigen Brief erhalten, hat
mir einer Vorstellungen gemacht, daß ich die Gefahr übertreibe? Nicht eiuer;
sie geben alle zu, daß ich wahr gesprochen. Dagegen fragen sie mich, was ich
vorschlagen wolle, das Unheil abzuwenden. Als ob das meine, nur meine
Sache wäre, ein Mittel gegen eine Krankheit zu verschreiben, an der doch alle
Nationen leiden."
Dem (ersten) Haager Kongresse wohnte sie natürlich bei. Durand, der
Schöpfer des Roten Kreuzes, gab ihr Weisungen mit, die, wie sie meinte, er¬
kennen ließen, „daß er von der Konferenz nicht die Förderung seines Werkes
ersehnte, sondern vielmehr die Gründung eines neuen großen Werkes: der
internationalen Justiz; nicht mehr Notes Kreuz war seine Losung, sondern
Weiße Fahne". Er bezeichnet als das Wesentliche, was der Kongreß zu
leisten habe, eine Resolution für eine aus Diplomaten bestehende permanente
Vermittlungskommission, die nicht etwa in dem permanenten internationalen
Friedensbureau zu Bern schon vorhanden sei, denn eine solche freie Vereinigung
zähle nicht in den Augen der Diplomaten. Darauf müßte man alle An¬
strengungen konzentrieren, ohne sich um das übrige (as röste steht da statt
<w röste; dergleichen kleine Druckfehler sind mehrere stehn geblieben) viel zu
kümmern. Über die sieben ersten Artikel des russischen Programms soll sie
die Mitglieder reden lassen, was sie wollen, und sich in gar keine Erörterungen
mit ihnen einlassen; es tun, würde heißen, „die Autorität Ihres Wortes
schwächen"; nur darauf soll sie bestehen, daß die Annahme des Artikels 8
dringend notwendig, opportun und sogar durch die Rücksicht, die man dem
Zaren schulde, geboten sei. Der Artikel lautet: ^eesptatiori su xririoixs 6s
l'usgAg 6 ES donK 0lit(!ö8 As iÄ Iliscii^lion et as 1'a.rditr^s laeultg-til xour
ach VW t^ni s'^ xrßtsnt, ä^us 1s dut as prsvsnir ass oonüits armss mers
iss n-itions: sntsnts an su^jhe dö Isur moäs ä'g.xx1ieation et stMisssiusut,
Ä'uQs prg.ti«iug unikorms äans isur swxloi. Auf dem Kongreß sagte sie
zum Minister Bernciert: „Solche Fragen sollten doch nicht von technischen,
sondern von ganz andern höhern Standpunkten behandelt werden; wenn über
Abrüstung die Militärs zu entscheiden haben ..." so wäre das, fiel der Minister
ein, gerade so, wie wenn ein Schnsterkongreß über den Nutzen des Barfußgehens
zu entscheiden hätte. Der Sohn des Vertreters von Schweden erzählte ihr,
er habe schon im Begriff gestanden, die militärische Laufbahn einzuschlagen,
da sei ihm ihr Buch in die Hände gefallen und habe ihn bestimmt, einen andern
Beruf zu wählen; er hoffe später für die große Sache wirken zu können, die
seinen Vater nach dem Haag geführt hatte. Beim Hoffest war die Königin
Wilhelmina ganz Diplomatin oder konstitutionelle Monarchin: bei der Vor¬
stellung beantwortete sie eine Anspielung der Suttuer auf den Anlaß des Festes
mit nichts als einem freundlichen Kopfnicken. Der Graf Nigra schrieb ihr
nach dem Kongresse: „Wir wußten natürlich, daß wir den Weltfrieden nicht
von heut zu morgen würden sichern können, wohl aber hatten wir das Be¬
wußtsein, für die Zukunft der Menschheit zu arbeiten. Ist es übrigens wahr,
daß die Konferenz gar keine unmittelbare Wirkung geübt hat? Ich denke,
die Tatsache, daß ein so mächtiger Monarch eine solche Konferenz veranstaltet,
daß die übrigen Mächte teilnehmen, und daß man monatelang über die Art
und Weise berät, wie die Kriege weniger häufig gemacht und ihre Qualen ge¬
mildert werden können, das sei für sich allein schon ein großes Ergebnis."
Die Kriege, die nach dem Kongreß ausbrachen, haben diesem und den
Friedensaposteln viel Hohn eingetragen. Von den Briefen, die der Snttner
aus Anlaß des Burenkrieges zugingen, erscheint mir einer so wichtig, daß ich
die Hauptstellen übersetzen will. Frau Emily Axbell, die Schwester des Kap¬
ministers Schreiner, schreibt:
Ich weiß nicht, ob Sie mit den Verhältnissen der Kapkolonie hinlänglich ver¬
traut sind, um die Bedeutung der Tatsache gehörig würdigen zu können, daß mein
Bruder, der Premierminister, als Leiter des Afrikcmder Bond seine amtliche
Stellung erlangt hat, und daß es eine alte Holländerin ist, die Ihnen das folgende
schreibt. Sie will darlegen, aus welchen Beweggründen ein Teil der Kapholländer
am Union Jack festhält. Wilh meine hiesigen, die englischen, Landsleute betrifft
— ich wohne im Herzen Englands und verkehre mit Leuten der untern und der
verschiednen Schichten der mittlern Klasse —, so kann ich Ihnen vor Gott be¬
teuern, daß bet diesem Kriege weder Eroberungssucht noch Goldgier im Spiele
ist. Wir opfern unsre Lieben zu Tausenden, um dem Unrecht und der Unter¬
drückung weißer wie schwarzer Untertanen durch eine korrupte Regierung ein Ende
zu machen, außerdem, um dem drohenden Abfall der Kapkolonie, Natals, Rhodesias
und des Betschucmalandes vorzubeugen. Wir wünschen, daß die Wahrheit dieser
unsrer Beteuerung im Auslande anerkannt werde; geschieht es nicht, so können wir
nur den alten Kriegsruf unsrer Väter wiederholen: Gott schütze das Recht! Ver¬
zeihen Sie einer alten englischen Frau, daß sie sich erlaubt, sich an Sie zu
wenden. Es geschieht aus großer Sympathie mit Ihrem edeln Streben, un¬
gerechte Kriege zu verhüten. Auch England liebt den Frieden, und unsre Millionen,
die in diesem Kriege ein Herz und eine Seele sind (sogar die Bauern geben ihren
Kindern die Namen unsrer Generale), würden niemals eine Kriegserklärung gegen
einen unsrer europäischen Nachbarn gestatten. Nicht der leiseste Wunsch nach einem
solchen Kriege regt sich in unsern Herzen. Ausländische Zeitungen, die das Gegen¬
teil behaupten und dadurch die Flamme der Kriegslust anfachen, machen sich eines
europäischen Verbrechens schuldig.
Der chinesische Gesandte in Se. Petersburg, Aang In, den die Baronin
im Haag kennen gelernt hatte, schrieb ihr anläßlich der Chinawirren. Er
habe ganz Amerika und Europa bereist und den Kulturfortschritt der Staaten
dieser Erdteile bewundert, leider aber gefunden, daß die Eifersucht der Völker
und ihr Konkurrenzkampf den Wert ihrer hohen Kultur beeinträchtigten. Was
die in seiner Heimat ausgebrochnen Unruhen betreffe, so seien vorzugsweise
die christlichen Missionare daran schuld. Diese möchten ja von den edelsten
Absichten beseelt sein, aber die Chinesen hingen nun einmal an der Religion
ihrer Väter, wollten von einem Religionswechsel nichts wissen und haßten
darum die Personen, die sie zu einem solchen drängten. Der Haß werde
durch den Umstand verstärkt, daß es nur die schlechtesten Elemente seien, die
das Christentum annähmen, um unter dem Schutze der von den europäischen
Mächten gestützten Missionare ungestraft Unrecht verüben zu können. Bei
Tolstoi findet die Friedensliga wenig Anklang. Er hält auch ihr seine be¬
kannte These entgegen: die wahre Religion lehren, natürlich schon in der
Schule, das ist das einzige und das hinreichende Mittel gegen den Krieg,
gegen den alle Kongresse nichts vermögen; Männer, die der wahren Religion
huldigen, verweigern einfach den Kriegsdienst. In Monaco hatte Fürst Albert
einen Saal seines noch im Bau befindlichen ozeanographischen Museums für
den Kongreß eingerichtet. Er sprach zur Suttner: „Es liegt mir daran,
Ihnen eines zu sagen: Sehen Sie hier dieses erstehende Werk ^eben das
Museums es zeigt, wohin mein Trachten und Wirken geht; es soll Ihier
deutete er auf den Felsen von Monte Carlos ein Korrektiv jenes Erbstücks
sein, das mir so verhaßt ist." Er bekennt sich zu den Grundsätzen der Liga.
Die Widmung seiner „Seemannslaufbahn" lautet: ^s avais ig. vsrsion g.11s-
ingnäs <Zs es livrs g. La N^ssis 1'lZmxsrsur 6uiI1g.ums II Hui xrotsZs 1s
travail se ig, Seismos, xrsxg.rg.ut ginsi ig rsg.Iisg.lion ein xlus nobis as^ir as
ig. oonLoisnLS nunigiiis: I'rmion as doues Iss toross oivilisgtrioss xour gmsiisr
Is rvAns et'uns xgix inviolabls. Die Suttner hat später (sie war vier Winter
hintereinander auf einige Wochen Gast des Fürsten) die eigenhändige Antwort
des Kaisers gesehen, „worin er in anderthalb Quartseiten seinem onsr vousin
für die Widmung dankt und die darin enthaltne Anspielung auf die Friedens¬
bewegung zustimmend wiederholt".
Eine grundsätzliche kritische Wertung dieser Bewegung, die hier nicht
beabsichtigt ist, könnte gut an die Briefe von Gumplowicz und Carreri an¬
knüpfen. Der jüngere Gumplowicz saß wegen anarchistischer Äußerungen in
Plötzensee. Die Baronin veranstaltete eine Sympathiekundgebung für ihn.
Das veranlaßte einen Briefwechsel mit seinem Vater, dem sehr konservativen
Grazer Professor. „Ich soll Ihnen, schrieb dieser, meine Ansicht sagen über
Ihren Artikel »Zweierlei Moral«, womit ich zugleich meine Ansicht äußern
müßte über Ihre ganze Friedensphilosophie. Ich will Ihnen einen Gegen¬
vorschlag machen: werfen Sie mich lieber gleich mit dem abscheulichen Sighele
in einen Topf und lassen Sie diese schlechten Kerls von Professoren ganz
beiseite — es ist mit ihnen nichts anzufangen. Die verderben Ihnen nur
den Humor, Ihren edelsten Lebensgenuß." Er sei weit entfernt davon, ihr
das Bild zu Sais entschleiern, sie bekehren zu wollen; weit lieber würde er
sich von ihr bekehren lassen, wenn das möglich wäre. Der Unterschied
zwischen der Wissenschaft und den Weltverbesserern bestehe darin, daß jene
Tatsachen konstatiere, diese predigten, wie die Welt sein soll, die Welt
anders machen wollten, als sie Gott geschaffen hat. So sei ja auch sein Sohn
in Plötzensee gesinnt. Es entrüste ihn, daß der Staat, der über Brot in
Hülle und Fülle verfüge, so unmoralisch sein könne, die Arbeitlosen darben
zu lassen, und habe darum diesen Staat eine organisierte Räuberbande ge¬
scholten. Und weil sein Enthusiasmus ihn sogar auch im Gefängnisse noch
beglücke, werde er, der Vater, sich hüten, ihn darin irrezumachen. „Ver¬
folgen Sie, hochgeehrte Frau Baronin, ruhig Ihren Weg, kümmern Sie sich
nicht um die Sigheles, lesen Sie nicht den »Nassenkampf« des Gumplowicz,
das könnte Ihnen trübe Stunden bereiten, und bleiben Sie stets, was Sie
sind: die Vorkämpferin einer schönen Idee! Um es aber bleiben zu können,
bewahren Sie sich stets die Überzeugung, daß diese Idee die Wahrheit, die
eine und einzige ist! Und diesen Glauben möge kein Professorengeschwätz
Ihnen je rauben." Daß Menschen verschiedner geistiger Richtungen einander
nicht bekehren können, ist richtig, aber daß es die Wissenschaft bloß mit Tat¬
sachen und gar nicht mit dem, was sein soll, zu tun habe, ist nicht wahr,
denn es gibt bekanntlich auch eine Ethik, und die Frage, ob und wieweit
die Ethik auch für den Staat und für den Völkerverkehr gelte, ist vorläufig
noch nicht entschieden, also Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung.
Gegen Carreri habe ich mich einmal zu polemisieren veranlaßt gesehen, aber
in dem, was er der Suttner schreibt, stimme ich ihm bei. Sie werde sich erinnern,
daß sie beide von Anfang an in der Sache verschiedne Standpunkte einge-
nommen hätten, und die Konsequenz müsse sie auf den seinen hinüberführen,
weil ja auch sie sich zur Entwicklungslehre bekenne. „Diese weiß nichts von
einem gänzlichen Aufhören des Kampfes und kennt nur eine allmähliche Ver¬
edlung der Kampfweise. Sie weiß auch nichts von einem gänzlichen Schwinden
der Not — nicht zu verwechseln mit dem Elend der Armut, dem sehr gut
gesteuert werden kann —, es gilt ihr vielmehr die Not als der mächtigste
Antrieb zum Fortschritt. Aufhören aller Not würde den Stillstand zur Folge
haben; es ist darum so wenig denkbar wie eine Welt von lauter guten Menschen,
die ein Widerspruch in sich selbst wäre, wie wenn man den Tag denken
wollte ohne die Nacht." Die Einsetzung eines allgemeinen Schiedsgerichts
sei im Gange, aber Bertha solle die Sache nicht fördern, weil ein Fiasko die
Sache der Friedensfreunde schädigen würde. Die Sitte, internationale Streitig¬
keiten friedlich zu schlichten, bürgere sich ein, Forcieren könne sie nur gefährden.
Sie möge sich daran gewöhnen, die Bestie Mensch mit Gleichmut zu be¬
trachten, dann werde sie sich herbe Enttäuschungen ersparen. Das alles ist,
wie gesagt, richtig, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Die Menschen sind
heute noch so rauf- und raublustig wie vor alters, trotzdem raufen und
rauben sie nicht mehr soviel, wenigstens nicht mehr mit Brachialgewalt, weil
sie nicht können. Der blutige Kleinkrieg und der blutige Raub, von dem der
montenegrinische Hammeldiebstahl noch ein schwacher Überrest ist, haben auf¬
gehört, weil die heutige Technik erstens die Völker in Großstaaten organisiert
hat, und zweitens die Zentralgewalt des Großstaats befähigt, jede an einem
beliebigen Punkte seines Gebiets auftauchende Unordnung mit Blitzesschnelle
und unwiderstehlicher Gewalt zu unterdrücken. Es gibt kein wüstes Gewoge
kleiner Revolutionen und kleiner Fehden mehr; nur große Kriege sind noch
möglich. Und es ist gar nicht undenkbar, daß dieselbe Technik, die den Klein¬
krieg unmöglich gemacht, auch den großen beseitigt. Ich meine nicht in der
Weise, wie es Block) dem Zaren demonstriert und nobel verstanden hat: daß
die Riesenheere die Völker im Frieden wirtschaftlich erdrücken und im Kriege
nicht operieren, namentlich nicht verpflegt werden können, und daß die Ver¬
vollkommnung der Zerstörungswerkzeugc die ganze männliche Bevölkerung der
kriegführenden Staaten der Vernichtung weihen würde — über solche Dinge
lasse ich die militärischen Sachverständigen reden —, sondern weil der heutige
Weltverkehr die herrschenden Kulturnationen so eng miteinander versucht, daß
kein wie immer gearteter Siegespreis (als solcher kommt Eroberung eines
europäischen Territoriums zwischen diesen Knlturnationen nicht mehr in Frage)
den Schaden aufwiegen könnte, den beide dnrch die Zerreißung der wirt¬
schaftlichen Bänder erleiden würden. Die Wirtschaft ist ursprünglich teils
okkupatorische teils Raubwirtschaft gewesen. Sie hat diesen Charakter noch
jahrtausendelang bewahrt, nachdem die Menschen schon längst ihr Dasein auf
regelmäßige Arbeit gründen gelernt hatten, aber sie hat ihn in den letzten
Jahrhunderten, man darf sagen im letzten Jahrhundert rasch verloren. Im
sechzehnten und im siebzehnten Jahrhundert spielten die räuberische Ausbeutung
farbiger Völker und das Kapern von Edelmetall- und Gewürzflotten noch
eine bedeutende Rolle im Haushalt der Seemächte, und noch im achtzehnten
Jahrhundert ist Liverpool durch den Sklavenraub reich geworden. Damals
waren Kanonen geradezu das Instrument des Auslnndshandels. Heute
Würden England und Deutschland ein recht schlechtes Geschäft machen, wenn
sie einander ihre Schiffladungen von Kleiderstoffen und Ackerbanmaschineu
kapern wollten, denn jedes dieser beiden Länder hat mehr als genug vou
solchen Waren. Und mehr noch: sie bekommen sie auf dem Wege friedlichen
Tausches wohlfeiler als dnrch einen Krieg. Jedes bringt sie dem andern
freiwillig auf deu Markt, freilich nicht und hundert bis tausend Prozent Profit
wie den Pfeffer in der Konquistadorenzeit, sondern nur mit zehn bis zwanzig
Prozent. Der heutige internationale Handel zwischen den Industriestaaten
— und das sind sämtliche mittel- und westeuropäische Staaten — besteht im
Austausch von Waren meist derselben Gattung und nur verschiedner Qualität.
Und dieser Austausch zwischen den Kulturnationen macht den größten Teil
des Auslandhandels aus; England und Deutschland sind die besten Kunden
füreinander; es ist sehr unwahrscheinlich, daß die Großhändler und Gro߬
industriellen beider Länder von gegenseitigem Bombardieren, Blockieren und
Kapern eine Besserung ihrer Geschäftslage erwarten werden. Die Zeitungs¬
redaktionen bekunden ja mit dem starken Absatz der Weltkriegromane zusammen
ihre Rauflust und die ihres Publikums. Aber glücklicherweise hängt nicht
von ihnen und dem Lesepublikum die Entscheidung über Krieg und Frieden
ab, sondern von der Großindustrie und der hohen Finanz, die über den
nsrvus roruM gebieten. Gewiß können beide auch im Kriege gute Geschäfte
machen, nach der heutigen Lage der Dinge jedoch machen sie im bewaffneten
Frieden nicht weniger gute mit geringerm Risiko. Also werden die Staaten
wahrscheinlich Frieden halten, nicht weil ihre Bürger Engel geworden sind,
sondern durch ihr wirtschaftliches Interesse dazu gezwungen; was ja immerhin
die Menschen, wenn auch nicht in jeder Beziehung, tugendhaft macht, so doch
mit der strengen innern Ordnung zusammen ihnen die Gewalttätigkeit ab¬
gewöhnt. Das Militär wird immer notwendig bleiben teils zur Aufrecht¬
erhaltung der innern Ordnung teils zur Ausübung der Polizei in den Ländern
der Barbaren und der Halbbarbaren. Dieser bedarf die Kulturwelt, weil ihr
bei zunehmendem Reichtum an Kunsterzeuguissen die Naturprodukte, von denen
zudem manche in ihrem Gebiet gar nicht vorkommen, immer knapper werden.
Mit der Zeit wird die steigende Knappheit den Konzern, wie man das heute
nennt, der Großmächte dazu zwingen, den Anbau und Schutz der Nahrungs¬
mittel, Rohstoffe und industriellen Hilfsstoffe in den weniger zivilisierten
Ländern planmäßig zu organisieren. Diese Organisationstätigkeit, diese Beauf¬
sichtigung, Erziehung und Leitung ungebärdiger Riesenlümmel wird jedes der
Völker, denen sie zufällt, nicht als ein Vermögensobjekt sondern als eine
schwierige Pflicht ansehen lernen und sich nicht mit den Nachbarn darum
raufen, sondern sich dazu schön bitten lassen. Ich weiß natürlich nicht, ob
die Entwicklung wirklich diese Richtung innehalten wird, aber eingeschlagen
ist sie schon, und die Friedensbewegung scheint mir die Funktion zu haben,
Stimmung dafür zu machen, daß das, was wirklich ist, von den bis jetzt mit
Kriegsphantasien erfüllten Seelen gesehen und als Tatsache anerkannt werde.
Nicht die Friedenskongresse werden den Krieg aus der Welt schaffen, sondern
weil in der nächsten Periode der wirtschaftliche Zustand — im einund¬
zwanzigsten Jahrhundert kann ja wieder ein andrer eintreten — den Krieg
zwischen den herrschenden Kulturnationen bis zur Unmöglichkeit erschwert,
wird man bei Streitigkeiten zu internationalen Kongressen und Schieds¬
gerichten seine Zuflucht nehmen müssen. Die Entwicklung bringt es eben mit
sich, daß Muskelkraft mehr und mehr durch Intelligenz, die Mordwaffe durch
Maßregeln ersetzt wird. Eben erinnert mich ein unbedeutender Vorfall daran,
wie das auch in dem hier betrachteten Gebiete von Lebensinteressen wirkt.
Die Skandinavier sind aus Säufern leidenschaftliche Abstinente geworden.
Zur Förderung der Mäßigkeit haben sie einen hohen Weinzoll eingeführt.
Dadurch fühlte sich Frankreich geschädigt und rächte sich, indem es den skan¬
dinavischen Anleihen seinen Markt verschloß. Das hatte Finanzschwierigkeiten
in den drei Staaten zur Folge, und Schweden macht jetzt den Anfang mit
dem xawr xövoavi (im Völkerverkehr gibts wunderliche Versündigungen), indem
es den Weinzoll herabsetzt. Das ist eine der Formen des heutigen Krieges;
um die Chinesen mit indischem Opium vergiften zu dürfen, hat England vor
siebenundsechzig Jahren noch einen blutigen Krieg geführt. Die Änderung,
die dem deutschen Volkscharakter von der allmählichen Verdrängung des
irMwr^ t^xe durch den inäustrig.1 t^xs droht, erfüllt manchen guten Patrioten
mit Sorgen, für die Bertha von Suttner kein Verständnis hat; will sie es ge¬
winnen — sie reist ja immer noch viel —, so raten wir ihr, unsern Ludwig
ach gemessener Zeit liefen die drei Entwürfe ein. Mein Gott! man
hatte nicht geglaubt, daß soviel Papier zu so einem Theaterentwurf
gehöre. Die Sachverständigenkommission fand sich nicht eher in dem
Haufen von Rollen zurecht, als bis der Stadtbaumeister im Stadt¬
verordnetensaale Bretterwände errichtet und die Pläne numeriert und
aufgenagelt hatte. Nun trat freilich ein großer Unterschied zwischen
den drei Plänen hervor. Der Ermsdorfsche Entwurf stellte ein Theater dar, von
der Art, wie sie bisher gebaut wurden. Von etwas steifer und eckiger Grazie, wie
es der Geschmack der Gegenwart fordert, aber sonst war der Baumeister nicht be¬
sonders originell, sondern nur darauf bedacht gewesen, das Technische möglichst
praktisch zu machen und den Besuchern einen möglichst behaglichen Aufenthalt zu
bieten. Nur dies war bemerkenswert, daß ein geteilter Vorhang, ganz so, wie ihn
das Bayreuther Theater hat, vorgesehen war.
Der Schellingsche Entwurf war freilich etwas ganz andres. Dieser zeigte
hohe Originalität und wich weit ab von der gewöhnlichen breit getretner Bahn.
Der Bau sah im Äußern aus, wie wenn er aus drei verschleimen Modellierkartons,
einem Museum, einer Burg und einem Ökonomiegebäude zusammengepappt wäre.
Natürlich! Denn es ist künstlerischer Grundsatz, daß sich der innere Zweck in der
äußern architektonischen Gestaltung abspiegeln muß. Da nun Zuschuuerraum, Bühne
und Kulissenmagazin verschiedne Dinge sind, so muß man das doch von außen
sehen können. Aber mehr noch als dieses künstlerische Prinzip imponierte den
Stadtvätern, das heißt den Freunden Schellingscher Kunst unter ihnen die Ein¬
richtung des Zuschauerraumes. Dieser war, wie die Unterschrift mitteilte, dem
römischen Theater in Taormina nachgebildet. Rechts und links von der Bühne standen
geborstne korinthische Säulen und sonstiges zerfallnes Mauerwerk, und von Säule
zu Säule war ein krummer Balken gelegt, von dem, aus buntbemaltem Stuck ge¬
bildet, Decken und Matten herabhingen, die den obern Abschluß der Bühne bildeten.
Darüber hinweg sah man in der Ferne die weiße, rauchende Spitze des Ätna, und
oben war der ganze Raum mit mattem, tiefblauem Glase überdeckt, das von rück¬
wärts mit elektrischem Lichte beleuchtet wurde. Das war der italienische Himmel.
Daß dieser Himmel kariert war, entsprach ja nicht ganz der Naturwahrheit, die
Kunst soll doch nicht die Natur abschreiben, sondern künstlerisch umbilden. Großartig!
Noch nie dagewesen. Und noch dazu Taormina! Die Schellingianer schwammen
in Wonne und nannten den Entwurf die einzig mögliche Lösung des Problems
eines modernen Theaters. Denn natürlich muß ein modernes Theater den Ausblick
auf den Ätna und einen italienischen Himmel über sich haben. Dieses Theater
mußte gebaut werden, kein andres als dieses!
Dagegen entschied sich die andre Hälfte der Kommission für Himmelby, dessen
Entwurf sich zu dem Schellings verhielt wie Rinderbraten zu Eierkuchen oder wie
eine Chausseewalze zu einem Kinderwagen. Das Haus war massig und schwer,
wie aus dem Ankerbaukasten hingebaut. Es bestand aus Quadern, Klötzen und
Flächen, die mit spärlichem, prähistorischem Zierat versehen waren. Die Ver¬
hältnisse und Wirkungen waren so fein empfunden, daß es schwer war, sie nach¬
zuempfinden. Ein ungebildeter Geschmack hätte darauf kommen können, diese
niedrigen Türen, diese vergitterten Fenster, diese weißgetünchten Wände, diesen
Zuschauerraum, der aussah wie das Innere einer alten Kirche aus der Zopfzeit,
häßlich zu finden. Aber das wäre ein ungebildeter Geschmack gewesen. Ein ge¬
bildeter Geschmack riecht aus dem Häßlichen das feinste Parfüm heraus. Und der
Teil der Kommission, der Himmelbys Partei genommen hatte, wußte, was er sich
und dem Feingeschmacke der Gegenwart schuldig war. Er war von dem Ernste
und der Größe des Planes hingerissen und erklärte: Kein andres als dieses Theater
dürfe gebaut werden. Und der Ermsdorfsche Entwurf kam weiter nicht in Frage.
Und somit stand, da bei jedem der beiden bevorzugten Entwürfe ebensoviel Stimmen
für wie gegen abgegeben wurden, und da es der Herr Bürgermeister ablehnte, mit
seiner Stimme den Ausschlag zu geben und die Verantwortung auf sich zu nehmen,
die Sache still. Man tagte weiter, aber man kam zu keiner Entscheidung.
Und was sagte Herr Baurat Ermsdorf dazu, der doch sicher ebensogut Sach¬
verständiger wie irgend eins der Mitglieder der Kommission war? Wenn er von
einem Schellingianer beim Dämmerschoppeu im Schützen nach seiner Meinung
sondiert wurde, erwiderte er mit dem Tone tiefster' Überzeugung: Schellings
Bau? — Sehr schön! Höchst originell. Ich gratuliere Ihnen, daß Sie sich für
ihn entschieden haben. Und wenn ein Himmelbyer wegen seines Entwurfs fragte,
so sagte er mit dem Tone ebenso tiefer Überzeugung: Himmelbys Theater? Ich
muß sagen, sehr schön. Ernst. Würdig. Wenn ich zu wählen hätte, ich würde
thu wählen. Und wenn Schellingianer und Himmelbher zugleich anwesend waren,
dann meinte er: Es ist in der Tat sehr schwer, einem der beiden Entwürfe den
Vorzug zu geben. Und so saß die Sache fester als je.
Es währte in der Tat einige Zeit, ehe die Kunde von all diesen Ereignissen
in den Gedankenkreis von Frau von Seidelbast drang. Als sie aber begriffen
hatte, daß es sich um ein Theater mit geteilter Gardine handle, warf sie bei Ge¬
legenheit ihres nächsten Mnsikabeuds die Frage ans, ob man denn nicht etwas für
das Theater tun könne. Dies gab nun zu einer gründlichen Erörterung Anlaß,
bei deren Schlüsse sich die Überzeugung Bahn brach, man müsse einen Verein oder
eine Gesellschaft oder ein Komitee gründen. Denn es mache doch einen tiefern
Eindruck, wenn man sagen könne, die Gesellschaft für Theaterangelegenheiten be¬
schließt oder meint oder wünscht, als wenn es hieße, Herr Neugebauer oder Frau
von Seidelbast sind der Ansicht. Und so wurde denn unter Direktion von General
von Kämpffer, Exzellenz, eine Gesellschaft zur Förderung des Musik- und Theater¬
wesens in Neusiedel gegründet, die ihre Sitzungen mit den Seidelbastschen Musik¬
abenden verbinden und sich die Beeinflussung des Theaterbaues zur Aufgabe stellen
sollte. Es sei ja schon viel geschehen dadurch, daß die geteilte Gardine auf dem
Ermsdorfschen Entwürfe zu sehen sei, es müsse aber noch mehr geschehen. Denn
noch habe der Ermsdorfsche Entwurf nicht obgesiegt. Dies zu bewirken müsse
die erste Aufgabe des neugegründeten Vereins sein. Und dies um so mehr, als
Herr Baurat Ermsdorf ein sehr liebenswürdiger Herr und Freund der Musik¬
abende sei.
Als mau dies dem Herrn Baurat, der natürlich Mitglied der Gesellschaft
sein mußte, unterbreitete, antwortete dieser: Bravo. Ist nett von Ihnen, daß Sie
einem jungen Anfänger so kräftig unter die Arme greifen wollen.
Jungen Anfänger? fragte man.
Natürlich. Das Projekt hat gar nicht mich zum Verfasser, sondern meinen
Sohn Philipp.
Sie, Onkel Philipp? fragte Hilda, die mit dem Angeredeten und Hnnding in
der Tonne des Diogenes saß.
Ja ich, mein gnädiges Fräulein, erwiderte Philipp Ermsdorf.
Können Sie denn das? fragte Hilda. Ein Gelächter, wodurch Hnnding, der
der festen Überzeugung war, sein Freund Philipp könne alles, seiner Verachtung
über die Frage Hildas Ausdruck geben wollte, unterbrach sie. — So ein Theater
zu bauen, fuhr Hilda fort, muß doch furchtbar schwer sein. Die schweren Maschinen
und — überhaupt.
Ach du denkst Wohl, erwiderte Hnnding, so ein Baumeister schleppt die Steine
und Maschinen selber auf den Bauplatz. — Hilda wandte sich gekränkt ab. —
Aber eins, Herr Ermsdorf, fuhr Hunding fort, müssen Sie einrichten. Sie müssen die
Inschrift anbringen: InAsnrcs.s äiäioissö g,rrs8 faville moros, roe Sinn osso ksros.
Aber nicht auf dem Vorhange, wandte Hilda ein.
Nein, nicht auf dem Vorhange, sagte Huuding, das würde Mama nicht leiden.
Aber sonst irgendwo, am Eingange oder im Foder oder über der Kasse. Nicht
wahr, Baumeisterchen, das geht? Wir haben es unserm Professor versprochen.
Ja, das ginge, erwiderte der Baumeister. Und er versprach auch noch eine
Zeichnung von der Inschrift zu machen und eine Blaukopie davon abnehmen
zu lassen.
Nach acht Tagen lag diese Blaukopie auf dem Katheder der Unterprima.
Herr Professor Icilius sah sie vor sich liegen und wußte nicht, was er damit an¬
fangen sollte. — Dhaa, sagte er, mit dem Handrücken auf die Zeichnung schlagend,
dhaa — was haben Ssie mir dhenn dhaa hingelegt?
Der Primus erhob sich respektvoll und erwiderte: Herr Professor, es ist die
Inschrift sür das neue Theater.
Sso? Bherlitz. Wer hat dhenn diesen Vers als Inschrift bestimmt?
Wir, Herr Professor. Wir hatten uns das Wort gegeben, daß Ihr Distichon,
das Sie uns neulich auslegten, als Inschrift am Theater stehen sollte. Und wir
haben es durchgesetzt.
Sso? erwiderte der Professor wohlwollend. Wenn Ssie soviel Einfluß in der
Stadt haben, sso wird man sich mit Ihnen gutstellen müssen. Nun ich freue mich,
daß Ssie Ssinn sür Klassizität haben. Aber, Bherlitz, der Ermsdorfsche Entwurf
ist ja noch gar nicht angenommen.
Nein, Herr Professor. Aber wenn Sie etwas für ihn tun wollten?
Hin!--Dhaa!
Natürlich gewann jetzt der Professor Interesse für den Ermsdorfschen Entwurf.
Ein Entwurf, der unter dem Motto inAsnuas Äiclioisss artss stand, konnte un¬
möglich schlecht sein. Nun war zwar Icilius nicht Mitglied der Kommission, aber
seine Stimme in Neusiedel war nicht ohne Gewicht. Einesteils darum, weil er
der Lehrer von Manchermanns Söhnen war, und andernteils darum, weil er nicht
wie die Neusiedler Bürger erst nach rechts und links hörte und dann ein ver¬
klausuliertes Urteil abgab, sondern mit kräftigen Akzenten und ohne Menschenfurcht
aussprach, was er für richtig hielt. Und so griff er zur Feder und veröffentlichte
mit voller Namensunterschrift im Tageblatt einen Aufsatz, in dem er sein unver-
hohlnes Urteil über die drei Projekte darlegte. Das „Theater von Taormina" sei
Schwindel. So habe nie ein klassisches Theater ausgesehn, und so sehe es auch
heute nicht aus. Und von der Kölle dieses Theaters aus könne man den Ätna
gar nicht sehn. Und der Entwurf Himmelbys sei ein klotziger und unschöner Bau,
der durchaus die heitere Anniut vermissen lasse, die dem Heiligtume des Dionysos
eigen sein müsse. Dagegen sei das Ermsdorfsche Projekt, das mit Recht das Motto
führe: InZsurms ÄiÄioisss a-rtss usw. allen Lobes würdig.
Dieser Aufsatz hatte zur Folge, daß mau, nachdem man es zuvor nicht gewagt
hatte, ein Wort über Ermsdorfs Entwurf zu äußern, zu finden anfing, daß dieser
doch am allermeisten dem entsprach, was man sich unter einem Theater vorgestellt
hatte. Er versetzte aber die Kommission in noch größere Verlegenheit. Denn nun
konnte doch keiner der beiden streitenden Parteien zugemutet werden, sich zu einem
Entwürfe bekehren zu lassen, der im Tageblatte Schwindel und ein klotziger, un¬
schöner Bau genannt worden war. Als die Sache zu diesem kritischen Staude
gekommen war, taten die Freunde des Baurath den Mund auf und warfen hie
Frage auf. ob es denn durchaus Schelling oder Himmelby sein müßten. Man habe
doch Ermsdorf am Orte, der in der ganzen Gegend im besten Renommee stehe,
und der ein Projekt eingereicht habe, gegen das nichts einzuwenden sei.
Das war richtig. Man sah das Projekt um und fand, daß es eigentlich
hübscher sei und mehr einem Bürgertheater entspreche als die beiden andern. Und
so war, da der Bürgermeister auf eine Entscheidung drängte, das Eude vom Liede,
daß weder Schelling noch Himmelby, sondern Ermsdorf obsiegte. Dies führte zwar
zu einer ärgerlichen Korrespondenz mit den beide» ungekrönten Architekten, die es für
niederträchtig erklärten, daß sie zur Konkurrenz aufgefordert seien, obgleich.natürlich
festgestanden habe, daß der einheimische Bewerber bevorzugt werden würde. Ja es
führte beinahe zu einem Prozesse und wirklich zu einem Vergleiche, in dem gewisse Ent¬
schädigungen gezahlt wurden, aber Ermsdorf, und zwar PH. Ermsdorf, wie ganz richtig
auf den Plänen stand, und nicht P. Ermsdorf war und blieb der Gewählte.
Nun war der Zeitpunkt gekommen, daß die Gesellschaft zur Pflege usw. ihren
Einfluß auf den Theaterbau geltend machte. Man hielt Sitzung auf Sitzung, zu
denen Ermsdorf eingeladen wurde, und General Kämpffer, Exzellenz, der auf Form
und Ordnung hielt, schrieb Protokoll auf Protokoll. Und Herr Ermsdorf war so
liebenswürdig, zu den Sitzungen zu erscheinen, seine Ideen vorzutragen und die
Wünsche der Gesellschaft entgegenzunehmen.
Aber Onkel Philipp, sagte Hunding, warum tun Sie denn das? Was zum
Kuckuck gehn denn Mama und den andern ihre Pläne an? — Ermsdorf lächelte
und warf einen Blick auf Hilda.
Man wird nicht behaupten können, daß bei diesen Verhandlungen viel heraus¬
kam. Ja es gab Leute, die behaupteten, dieser Baumeister sage zu allem ja und
tue dann, was er wolle. Es gelang nicht, den Gedanken der Frau von Seidelbast
zu verwirklichen, daß das Theater aus Fachwerk und in den klassisch einfachen
Formen des Bayreuther Theaters gebaut werde. Der andre Vorschlag, daß in dem
Theater ein Einheitspreis, etwa zehn Mark, zu zahlen sei, drang auch nicht durch,
er gehörte aber auch nicht in die Kompetenz des Baufaches. Jedoch gelang es,
dem „versenkten Orchester" die ihm gebührende Anerkennung zu verschaffen. Ja
es gelang der Genialität des jungen Ermsdorf, ein Orchester zu konstruieren, das
herauf und hinunter geschroben werden konnte, womit allen Wünschen genug getan
war. Dieses verstellbare Orchester fand auch bei den Neusiedlern volle Anerkennung,
da ein solches Orchester in keinem der benachbarten Theater zu finden war.
Währenddessen wurde die Theaterkommission durch die Verhandlungen mit
dem künftigen Theaterdirektor in Anspruch genommen. Und hierbei hatte die Kom¬
mission Glück. Sie kam an einen Regisseur Brandeis, der sich bereitfinden ließ,
seine sichre Stellung als Regisseur mit der unsichern eines Theaterdirektvrs zu
vertauschen. Dieser Brandeis war ein tüchtiger Mensch, guter Charakterspieler und
gewiegter Geschäftsmann. Er übernahm die Pachtung des Theaters, engagierte sich
im Handumdrehen ein Personal, und bald darauf lag ein himmelblauer Bogen dem
Tageblatte bei, der mit den Namen des gesamten Personals vom Heldenliebhaber
bis zum Logenschließer und der Garderobefrau bedruckt war, und der mit der Auf¬
forderung, auf Plätze zu abonnieren, schloß. Neusiedel las das Blatt mit Staunen.
Wer hätte auch gedacht, daß ein Theater ein so komplizierter Apparat sei, und
man abonnierte so fleißig, daß Herr Brandeis mit Schmunzeln seine nicht kleine
Nase liebkoste.
Aber Frau von Seidelbast war außer sich. Unter dem angegebnen Personal war
nicht ein einziger Sänger, nicht eine einzige Sängerin, keiner jener Künstlernamen,
auf die hin man die Leistung unbesehens akzeptieren konnte. Man faßte Beschlüsse,
und auf Grund dieser Beschlüsse begab sich General Kämpffer, Exzellenz, zu dem
Herrn Schauspieldirektor und stellte im Interesse der Kunst die Forderung, daß ein
Theater, das einen versenkbaren Orchesterboden habe, auch Opern geben müsse.
Der Herr Theaterdirektor hörte das, was ihm Exzellenz in knarrenden Tönen
herablassend vortrug, mit der Miene Richards des Dritten an und erwiderte, Neusiedel
und das Neusiedler Theater seien nicht groß genug, um eine ständige Operntruppe
haben zu können. Aber man werde ein Opernensemble von auswärts kommen lassen.
Ob man auch Wagnersche Opern geben werde?
Ja, auch Wagnersche Opern.
Damit mußte sich der Herr General zufriedengeben. Aber Frau von
Seidelbast erschien die Zusage gänzlich ungenügend. Sie beschloß, die Sache selbst
in die Hand zu nehmen. Sie versammelte den Verein usw. und trug den Plan
vor: „Bayreuther Tage" im Theater einzurichten. Man müsse dazu erste Kräfte
engagieren und werde unter Ausschaltung dieses Direktors etwas leisten, was künst¬
lerischen Wert und Dauer habe.
Der Gedanke war zu kühn, als daß er bei den Mitgliedern des Vereins
sogleich volles Verständnis gefunden hätte. Man verhehlte sich nicht, daß mit der
Sache große Schwierigkeiten und auch ein erhebliches Risiko verbunden sei, und es
gab Stimmen, die gegen den Plan laut wurden.
Aber mein Gott, rief Frau von Seidelbast aus, lesen Sie denn keine
Zeitungen, meine Herren? Wissen Sie denn nicht, daß Herr Geheimrat Wendefurt
in Albertistadt mit bestem Erfolge durchgeführt hat, was wir planen? Was dieser
eine Mann vermochte, sollte das unser Verein nicht leisten können?
Ein Amt von den vielen Ämtern, die das Theater zu vergeben hatte, war
noch unbesetzt geblieben, das des Dramaturgen. Als darauf im Tageblatte auf¬
merksam gemacht wurde, begegnete die Anregung bei den Neusiedlern einem völligen
Mangel an Verständnis. Auch in der Kommission erhob sich ein bedenkliches
Schütteln des Kopfes. Als aber ein voreiliger Anonymus im Tageblatte die Frage
erhob, wozu denn ein Dramaturg nötig sei, erfolgte ebenfalls von anonymer Seite
die niederschmetternde Antwort: Einsender verstehe überhaupt nichts von der Sache.
Ein Theater ohne Dramaturgen sei gar kein Theater, sondern eine Schmiere. Ob
Neusiedel ein Theater oder eine Schmiere haben wolle?
Dieser Streit erregte großes Aufsehen. Wer hatte die Erwiderung ge¬
schrieben? Professor Icilius sicher nicht, wenigstens bestritt er es, aber vielleicht
sein Schwiegersohn Wenzel Holm, von dem bekannt war, daß sein Drama: „Das
Verlorne Paradies" an mehreren größern Bühnen gespielt worden sei, und der auch
sonst die Blätterwelt mit Romanen und Novellen bevölkerte. Nach einiger Zeit
erschien die Notiz in der Zeitung, der eifrigen und umsichtigen Direktion sei es
gelungen, Herrn Wenzel Holm, den berühmten Verfasser des Verlornen Paradieses,
als Dramaturgen am Neusiedler Theater zu verpflichten. Nicht gesagt wurde, daß
dies ohne Gewährung eines Honorars geschehen sei, und daß die Sache auf nicht
viel mehr als einen Ehrentitel hinauslief.
Wer war nun dieser Wenzel Holm? Eine der bekanntesten Persönlichkeiten in
Neusiedel. Er war der Sohn des alten Franz Holm, der seinerzeit die Papier¬
fabrik Holm und Sanders in der Wasserstadt gegründet und damit viel Geld ver¬
dient hatte. Als der alte Holm gestorben war, verwandelte der Sohn das Unter¬
nehmen in eine Aktiengesellschaft, zog sich aus dem Geschäfte zurück und wandte
sich den schönen Künsten zu, das heißt, er malte, er modellierte, er schriftstellerte.
Nur mit der Musik wollte es nichts werden. Noch in der Zeit vor seiner allgemein¬
künstlerischen Periode hatte er sich mit Luzie Icilius, der Tochter des Professors,
verheiratet. Diese Heirat war das Werk des alten Holm gewesen, der Luzie als ein
kluges und zuverlässiges Mädchen schätzte, und der seinen Sohn kannte, nämlich daß
er einer sichern Hand zur Führung bedürfte. Aber Luzie hatte doch nicht die
Strenge gehabt, die zu dieser Führung nötig gewesen wäre. Sie sah zwar die
Dinge mit Hellem Auge, war aber zu sanft und nachgiebig, den Kampf dagegen
aufnehmen zu können. Nur in einem war sie fest gewesen. Sie willigte nicht
ein, nach Berlin überzusiedeln, weil sie ein tiefes Mißtrauen gegen die große Welt
hatte, wohin es Wenzel Holm mit allen Kräften zog. Und da sie hierbei durch
eine gewisse Klausel im Testament und die alte Frau Holm unterstützt wurde,
setzte sie ihren Willen durch, und Holm mußte sich darauf beschränken, sich einen
großen Namen von Neusiedel ans zu erwerben, was ihm zeitraubender und
schwieriger erschien, als wenn er im Strom der Mitstrebenden hätte mitschwimmen
können. Und nun war er nach einigen kleinern Sachen und mißratnen Anfängen
mit seinem Drama: Das Verlorne Paradies, herausgekommen. Dieses war auch
aufgeführt worden, und die Kritik hatte es nicht gänzlich zerzaust, sondern viel¬
versprechende Anfänge darin gefunden und den Autor aufgefordert, auf dem
beschrittnen Wege weiterzuschreiten. Was zu tun er denn auch durchaus ent¬
schlossen war.
Dies Verlorne Paradies war eine ins Kommerzienrätliche übersetzte Haupt-
mcmnsche Glocke. Diesmal war der Glockengießer der Schwiegersohn eines Patrizier-
hanses, genial, jung und freiheitsdürstend. Natürlich hat er auch sein Rantendelein.
Aber die Schwiegereltern verstehn keinen Spaß, sie zwingen ihn, sein Rautendelein
aufzugeben und in den Schoß der Moralität zurückzukehren. Das ist das Ver¬
lorne Paradies. Schließlich, nachdem er die Lebenswerte philosophisch zerpulvert
hat, erklärt er das Leben für einen gemeinen Schwindel und schießt sich der
Hoffnung und der Geduld fluchend eine Kugel vor den Kopf. Es ist begreiflich,
daß dieses Drama, das so ganz dem Zeitgeschmack entsprach, sein Glück machte.
Die Freunde des Jciliusschen Hauses hatten die Partie, die Luzie gemacht
hatte, für ein großes Glück gehalten. Professor Icilius war nicht ganz dieser
Meinung. Er hatte eine ausgesprochne Abneigung gegen Wenzel Holm, den er
von der Schulzeit her und zwar als unsichern Kantonisten in Grammaticis kannte.
Er hatte auch, da er sich von seiner Kunst nicht blenden ließ, nur darum in die
Heirat eingewilligt, weil seine Frau nicht aufhörte, von der guten Versorgung
ihrer Tochter zu lamentieren, und betrachtete es als sein gutes Recht, kräftige Töne
zu reden, wenn in dem Holmschen Hause etwas nicht stimmte, wodurch er die
Sache nicht besser machte. Als aber das Verlorne Paradies herauskam, schnitt
er geistig das Tischtuch zwischen sich und seinem Schwiegersohn durch. Dhieser
Mensch dhaa, sagte er empört, gehört nicht in den Choros der Musen und
Charitinnen, sondern unter die Askanlai und Tympcmistai, unter die Sackpfeifer
und Paukenschläger, ja, was ssage ich, unter die Ruderknechte und Hafenstrolche.
Dhieser Mensch hat nie begriffen und wird nie begreifen, was der Ssinn und die
Pflicht des Kalonkagathon sei. Dhaa! Er ffahre dahin, aber ich beklage es, daß er
meiner Tochter Mann ist.
(Fortsetzung folgt)
Die Sucht, die Person des Kaisers zum Mittelpunkt einer politischen Sensation
zu machen, hat in den ersten Tagen des neuen Jahres seltsame Blüten getrieben,
und diesmal ohne jede Schuld des Herrschers selbst. Die Verantwortung für
manche daraus entstandnen und vielleicht noch entstehenden Unzuträglichkeiten, die
man zwar nicht zu überschätzen braucht, die aber besser vermieden worden wären,
fällt in diesem Falle nur denen zu, die ganz unnötigerweise aus einem sehr ein¬
fachen Vorgange eine Sensation gemacht haben. Es ist ein alter Brauch, daß die
kommandierender Generale zum Neujahrsempfang in Berlin erscheinen. Das
war in der preußischen Armee schon früher Sitte; nach der Begründung des
Deutschen Reichs haben auch die deutschen Bundesfürsten, deren Kontingente nicht
im Verbände der preußischen Heeresverwaltung stehn, Wert darauf gelegt, daß sich
die Führer ihrer Armeekorps bei dieser Gelegenheit gleichfalls an der Seite ihrer
preußischen Kameraden um den Deutschen Kaiser scharen. Es ist das einzigemal
im Jahre, wo der Kaiser die höchsten Führer des gesamten deutschen Heeres — auch
die im Frieden dem kaiserlichen Oberbefehl gar nicht unterstellte bayrische Armee
schließt sich hierbei nicht aus — um sich versammelt sieht. Es liegt nahe, diese
Gelegenheit zu benutzen, um die Ergebnisse und Erfahrungen des abgelaufnen
Jahres auf militärischem Gebiete in irgendeiner geeigneten Form kurz zusammen¬
zufassen und so die Anregung zu ihrer Erörterung im Kreise dieser sich so selten
vollzählig zusammenfindenden militärischen Würdenträger zu geben, die doch für die
Ausbildung des deutscheu Heeres in erster Linie verantwortlich sind. Und zwar
sind sie dem Kaiser verantwortlich, was seltsamerweise vielfach unbekannt zu sein
scheint, obgleich die Reichsverfassung in Artikel 63 Absatz 3 und 4 sowie Artikel 64
und 65 dem Kaiser und niemandem anders Pflichten und Rechte gewährt, die die
Befugnis des Kaisers, sich persönlich mit den höchsten Befehlshabern aller deutschen
Kontingente über allgemeine Grundsätze der Ausbildung und die Erfordernisse der
Verteidigung des Reichsgebiets zu verständigen, außer jeden Zweifel stellen. Wie
oppositionelle Blätter auf den grotesken Gedanken verfallen können, eine solche
Aussprache des Kaisers mit den kommandierender Generalen bedürfe der Gegen¬
zeichnung des Reichskanzlers, würde einfach unbegreiflich sein, wenn man nicht
wüßte, daß die Handhabung gewisser Parteiphrasen manche Leute so vollständig
einnimmt, daß sie gar nicht daran denken, einmal nachzusehen, was eigentlich in
der Reichsverfassung steht.
Eine Ansprache des Kaisers über militärische Angelegenheiten bei einem Zu¬
sammensein der kommandierender Generale ist also in keiner Beziehung etwas un¬
gewöhnliches, um allerwenigsten, weil die Vorgänge in diesem geschlossenen Kreise
die Öffentlichkeit gar nicht berühren. In diesem Jahre hat nun der Kaiser außer¬
dem noch eine ganz besondre persönliche Zurückhaltung geübt, da er, anknüpfend
an einen Rückblick auf die vorjährigen Manöver, die daraus zu gewinnenden tak¬
tischen Erfahrungen nicht mit eignen Worten zusammenfaßte, sondern auf einige
Darlegungen verwies, die in bezug auf TaM und Grundsätze der Kriegführung
unter den gegenwärtigen Verhältnissen in einem Artikel der Deutschen Revue ent¬
halten waren. Der Kaiser verlas diese militärischen Ausführungen aus dem Artikel,
der, wie allgemein ohne Widerspruch behauptet wird, den frühern Chef des General¬
stabs der Armee. Grafen Schliessen, zum Verfasser hat. Vielleicht war es gerade
diese besondre Zurückhaltung des Kaisers, dieses bemerkenswerte Zurücktreten hinter
einer Autorität, die jahrelang sein erster militärischer Berater und Vertrauens¬
mann gewesen war, worin die Ursache des nicht beabsichtigten Bekanntwerdens des
Vorgangs zu suchen ist. Man braucht durchaus nicht an eine Indiskretion zu
glauben. Es ist menschlich erklärlich, daß die Nachfrage nach dem besprochnen
Artikel, den doch nun jeder aus dem Kreise der Generale wahrscheinlich in seinem
ganzen Wortlaut und Zusammenhang kennen lernen und besitzen wollte, zu ganz
harmlosen Mitteilungen und Erklärungen über die Bedeutung dieser Nachfrage ge¬
führt hat, woraus dann das weitere kombiniert wurde und an irgendeine Stelle
durchsickerte, die es an einige Zeitungen übermittelte.
Nun stürzte sich alles auf den Artikel der Deutschen Revue, von dem irrtüm¬
lich behauptet worden war. der Kaiser habe ihn in seinem ganzen Umfange vor¬
gelesen und sich damit einverstanden erklärt. Man las die Überschrift: „Der
Krieg in der Gegenwart", und man las weiter, daß den militärischen Betrach¬
tungen auch eine umfangreiche Schilderung der politischen Weltlage beigesellt war.
Man übersah dabei, daß diese politische Schilderung nur dazu dienen sollte, ge¬
wisse Thesen über die Art militärischer Maßnahmen und über die Abwägung der
Chancen verschiedner Kriegsführungsmethoden im Fall eines etwa ausbrechenden Krieges
zu begründen. Also auch wenn der Kaiser diese Ausführungen mit verlesen und
und sich auch damit einverstanden erklärt hätte — was eben durchaus nicht der
Fall war —, so folgte daraus keineswegs, daß der Kaiser den Generalen seine
politische Auffassung der Weltlage mitteilen und politische Folgerungen für die Ge¬
staltung der wirklichen Ereignisse in der nächsten Zeit ziehen wollte. Aber der
Irrtum war einmal erregt, und nun ließen es sich besonders unsre braven Ultra¬
montanen nicht nehmen, mit großem Geschrei von einer politischen Ansprache des
Kaisers zu berichten. Dabei fehlte es nicht an offnen und versteckten Hinweisen,
daß die Zusage vom 17. November nicht innegehalten worden sei, denn der Kaiser sei ja
nun doch wieder mit eigenmächtigen politischen Kundgebungen hervorgetreten. Die
liberale Presse wahrte zum größern Teil die Besonnenheit, konnte sich aber doch
nicht ganz der alarmierenden Wirkung des Irrtums entziehen, daß der Kaiser den
Generalen gegenüber auf die bedrohliche politische Lage aufmerksam gemacht habe.
Die weitere Wirkung dieser Preßstimmen konnte nur sein, daß das Ausland
die Sache aufgriff und natürlich so glossierte, wie es ihm bequem war. Wir
brauchen auf diese ausländische Kritik der Sache nicht näher einzugehn; sie be¬
wegt sich in bekannnten Geleisen. Feindselige Absichten gegen Deutschland werden
geleugnet und doch insofern indirekt zugegeben, als die Gegenbeschuldigung erhoben
wird, Deutschland fordre ein Übergewicht über andre Völker, wogegen diese ein
Recht hätten, sich zu gemeinsamer Abwehrpolitik zu vereinigen. Wenn Mißtrauen
gegen Deutschland bestehe, so sei das nicht die Schuld oder das Unrecht der andern
Mächte, sondern die Folge der Fehler der deutschen Diplomatie. Den Beweis für
diese Behauptung bleibt man freilich schuldig, aber das beschwert die Gemüter nicht
sonderlich. Kann man sich doch hierbei auf einen großen Teil der deutschen Presse
selbst stützen, der nicht müde wird zu behaupten, alles, was sich in der politischen
Lage nicht nach unserm Wunsch und zu unsrer Bequemlichkeit füge, sei durch die
Führung der deutschen Politik und die Unfähigkeit unsrer Diplomatie verschuldet
worden.
Durch eine amtliche Erklärung im Reichsanzeiger ist inzwischen richtiggestellt
worden, wie es sich mit der Ansprache des Kaisers an die kommandierender
Generale verhalten hat. Damit sind die feindseligen Kritiken eigentlich gegen¬
standslos geworden. Als wert des Gedächtnisses erscheint nur die Feindseligkeit
selbst, die sich übrigens auch in einer oft recht kindischen Herabsetzung des mili¬
tärischen Werth des Revueartikels kundgab. In dem Artikel war natürlich vieles
erwähnt, was dem militärischen Fachmann nichts neues bieten konnte. Das ver¬
stand sich von selbst, denn der Aufsatz wandte sich an ein Publikum von militärischen
Laien. Das ist in der französischen und englischen Presse benutzt worden, um den
Artikel als unbedeutend zu kennzeichnen; eine militärische Autorität Frankreichs
findet ihn „banal". Das ist nun freilich ein Vorwurf, der den erfahrnen Kritiker
in militärischen Fragen wenig berührt. Er weiß, daß die Schwierigkeit der Kriegs¬
kunst nicht zum wenigsten darin besteht, daß es nur wenigen Menschen gegeben
ist, unter verwirrenden Umständen das scheinbar Banate, in Wahrheit den Wirk¬
lichkeitskern der Dinge zu erkennen. Die Weisen des Wiener Hofkriegsrath und
die österreichischen Führer in der Lombardei während der Feldzüge in den letzten
Jahren des achtzehnten Jahrhunderts fanden auch die Kriegskunst des jungen
Bonaparte regelwidrig und geistlos, und die Franzosen begreifen zum Teil noch
heute nicht, wie man in dem durchdringenden Scharfblick und dem nüchternen Wirk¬
lichkeitssinn der Moltkeschen Strategie Genialität finden kann. Aber es kommt
im Kriege nicht darauf an, geistreich zu sein, sondern das Richtige unter Um¬
ständen zu treffen, unter denen Verstand und Willenskraft des Durchschnitts¬
menschen zu versagen pflegen.
Wir werden hoffentlich eine Lehre daraus ziehen, daß uns das überflüssige
Hinaustragen von Vorgängen, die sich gar nicht in der Öffentlichkeit abgespielt
haben und gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, wieder einmal im Urteil
des Auslandes viel geschadet hat. Es würde aber ungerecht sein, zu verkennen,
daß bei dieser ganzen Angelegenheit auch ein erfreulicher Zug hervorgetreten ist,
nämlich das sichtliche Bestreben, dem Kaiser mehr als früher gerecht zu werden.
Die Novemberkrisis hat wirklich luftreinigend gewirkt, und man fühlt auch in
demokratischen Kreisen die Notwendigkeit, den Bogen nicht zu überspannen und dem
gesunden monarchischen Gefühl sein Recht zu wahren. Abseits stehen wiederum
Sozialdemokratie und Zentrum. Hinsichtlich der erstgenannten Partei wird niemand
darüber erstaunt sein. Diese Haltung entspricht ja dem Parteikatechismus. Mit¬
unter artet sie in unfreiwillige Komik aus. So spricht der Vorwärts von dem
„Pronunciamento" der Generale. Was er sich darunter vorstellt, ist nicht ganz
leicht zu verstehn; das Denken des gewöhnlichen Menschen muß dabei einige be¬
sondre Schraubenbewegungen vollziehen. Man weiß nicht recht, ob den Leuten
vom Vorwärts, seit sie etwas von der „Kamarilla" gehört haben, alle Dinge, die
mit dem Kaiserhofe zusammenhängen, spanisch vorkommen, oder ob Vorwärts-
Egmont seinem Partei-Klärchen aus einem andern Grunde versprochen hat, einmal
spanisch zu kommen. Jedenfalls würde als Mittel gegen Begriffsverwechslungen
auf diesem Gebiete die Anschaffung eines richtiggehenden spanischen Lexikons und
eines Leitfadens über die neuere Geschichte Spaniens dem Gelehrten des Vorwärts
wohl zu empfehlen sein.
Was das Zentrum betrifft, so benutzt es freilich diese Gelegenheit nicht etwa
zu Angriffen gegen den Kaiser. Die Sache wird natürlich anders gewendet. Die
Neujahrsansprache muß als eine Kundgebung der persönlichen Politik des Kaisers
dargestellt werden, damit daraus gefolgert werden kann, der Herrscher habe das
ihm vom Kanzler auferlegte „Joch" wieder abgeschüttelt. Wir erwähnten schon neulich
die eifrige Minierarbeit der demagogischen Zentrumspresse gegen den Reichskanzler.
Das Treiben wird mit ungeschwächten Kräften fortgesetzt, und inzwischen haben sich
ihm noch gefährlichere Versuche beigesellt, die in der Absicht, dem Kanzler zu schaden
und ihm die Führung der Politik zu erschweren, nicht einmal die Grenzen respektieren,
die jeder Beurteilung auswärtiger Politik schon durch Rücksichtnahme auf leicht er¬
kennbare vaterländische Interessen gezogen sind. Und diesen Treibereien steht nicht
einmal die Entschuldigung zur Seite, daß die Schädigung vaterländischer Interessen
einem ungezügelten Wahrheitsdrang entspringe. Denn die Behauptungen, die dabei
aufgestellt wurden, sind zu alledem noch objektiv unwahr. Wenn man nun in Betracht
zieht, wie leicht diese Unwahrheit zu erkennen und festzustellen war, und wie nahe
es lag, ihre schädliche Wirkung vorauszusehen, so wird es schwer, bei der Kenn¬
zeichnung der Behauptungen als objektiver Unwahrheit stehn zu bleiben; man ist
vielmehr versucht, darin alle Merkmale einer bewußten, böswilligen Erfindung zu
sehen. Es wird nämlich nichts geringeres unternommen als die Verdächtigung der
Bundestreue und der Ehrlichkeit der deutschen Politik gegenüber Österreich-Ungarn.
Man erklärt wahrheitswidrig, Fürst Bülow habe sich nur zögernd und unter
Schwankungen zu der von ihm jetzt verkündeten Politik entschlossen; in Österreich-
Ungarn habe man mehr erwartet, und deshalb herrsche dort Enttäuschung und
Unzufriedenheit. Ein Artikel der Wiener Reichspost, der aus Berlin stammen sollte
und sich den Anschein gab, als sei er über die Stimmung in den Kreisen der
österreichischen Diplomatie unterrichtet, führte diese Ideen näher aus. Diesem Vorgehn
sekundierte das Organ des Zentrums in unsrer Reichshauptstadt, die Germania, indem
sie die unwahren Behauptungen über die deutsche Politik wiederholte und unterstrich.
Es ist natürlich schwer festzustellen, aus welchen Zentrumskreisen diese Verdächtigungen,
die nicht nur von amtlicher Seite in Berlin und Wien gebührend zurückgewiesen,
sondern auch von der österreichisch-ungarischen Botschaft in Berlin als böswillige
Erfindung gekennzeichnet wurden, eigentlich stammten. Man glaubte anfangs, die
Feder des Abgeordneten Erzberger zu erkennen; nachdem dieser es bestimmt ab¬
geleugnet hat, kann man natürlich an dieser Annahme nicht festhalten, ohne in der
Lage zu sein, einen in solchem Falle unmöglichen Gegenbeweis zu führen. Übrigens
war man von Anfang an trotz der vermuteten Versasserschaft des Herrn Erzberger
der Meinung, daß andre Kreise die treibenden Elemente seien. Verschiedne Anzeichen
deuten darauf hin, daß hinter diesen Versuchen, in Wien Mißtrauen gegen die Berliner
Politik zu säen und vereinzelten Trägern einer Oppositionsstimmung gegen die Drei¬
bundpolitik in Wien ein ihnen nicht gebührendes Relief zu geben, einzelne katholische
Aristokraten stehn, die mit dem polnischen Adel beider Länder Fühlung habe», und
deren Einfluß Fürst Bülow im Wege ist. Für die parlamentarische Vertretung
und die politische Führung der Zentrumspartei haben diese Treibereien nur Ver¬
legenheiten geschaffen. Denn dort sieht man es zwar nicht ungern, wenn die
demagogisch geschulte Preßmeute der Partei kräftig gegen den Fürsten Bülow hetzt,
jede Gelegenheit benutzt, um möglichst einen Keil zwischen Kaiser und Kanzler zu
treiben, und durch dies alles in den Parteimassen eine Stimmung schafft, die sie
in schlechten Zeiten bei der Fahne hält und die Wiedererlangung der Macht vor¬
bereitet, aber man empfindet es sehr unbequem, wenn die Leute, die der Partei
für eine erfolgreiche politische Taktik verantwortlich sind, unnötig behindert, in
einer falschen Richtung festgelegt oder durch unberufne Einflüsse geradezu kom¬
promittiert und in eine politische Sackgasse gedrängt werden. Aus diesem Grunde
hat die Kölnische Volkszeitung die erwähnten Verdächtigungen der deutschen Politik
sehr entschieden verurteilt und in den Tagen, als Herr Erzberger allgemein als
Verfasser oder Inspirator der Artikel galt, die Stellung dieses Herrn in der Partei
und seine schriftstellerische Tätigkeit mit recht wenig freundlichen Worten bedacht,
aus denen ein unbefangner Leser sogar so etwas wie Geringschätzung heraushören
konnte. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß die besser unterrichteten und
der Führung näher sitzenden Organe der Zentrumspresse einer besonnener» Richtung
wieder mehr Geltung verschaffen wollen. Das Demagogentum allein tut es nicht
mehr, auch nicht in der Opposition, und man scheint zu fühlen, daß es bei der
gegenwärtigen Konstellation in der Reichspolitik für das Zentrum nicht ratsam ist,
sich alle positiven Möglichkeiten zu verbauen. Man darf diese kleinen Symptome
keinesfalls übersehen.
In der Weltlage hat sich nicht viel verändert. Die Orientfrage rückt noch
immer nicht recht vom Fleck. Eine gewisse Spannung zwischen Petersburg und
Wien ist noch nicht beseitigt, und im Orient spielt die englische Politik nach wie
Vor eine Rolle, die nicht geeignet ist, die friedliche Lösung der Schwierigkeiten zu
fördern. Die jungtürkische Politik glaubt sich durch England in ihren Ansprüchen
moralisch gestützt; der Boykott österreichisch-ungarischer Waren im Orient wird
mit ungeschwächtem Eifer aufrechterhalten. Die slawischen Balkanstaaten unter¬
halten die kriegerische Stimmung, und der serbische Ministerpräsident Milowanowitsch
scheute in einer Rede in der Skupschtschina nicht vor einer Beleidigung Österreich-
Ungarns zurück — mit einer Redewendung, die er freilich nachher auf ein Miß-
Verständnis oder einen Übersetzungsfehler zurückzuführen gezwungen war. Öster¬
reich hat trotzdem einen weitern Schritt des Entgegenkommens gegen die Wünsche
der Türkei getan, indem die Zahlung einer Summe für die Übernahme der
türkischen Staatsgüter in. Bosnien angeboten wurde. Das wird allerdings wohl
das äußerste sein, was Österreich-Ungarn bieten kann. Aber noch ist die Kon¬
ferenz zur Beilegung der Orientwirren nicht gesichert, und wenn jetzt neuerdings
wiederholt der Gedanke einer Vermittlung durch die nicht direkt an den politischen
Balkanfragen beteiligten Mächte aufgetaucht ist, so wird man auch dieser Lösung
einstweilen noch skeptisch gegenüberstehn. Der Pariser Temps hat von einer durch
Frankreich, Deutschland und England einzuleitenden Vermittlungsaktion gesprochen.
Das ist gewiß ernst gemeint, denn Frankreich hat ein starkes Interesse an einer
friedlichen Lösung der Orientkrisis, aber der Schwierigkeiten, die dabei zu über¬
winden sind, sind doch gar zu viele. Nebenbei wird die englisch-russische Ver¬
ständigung in Persien auf immer härtere Proben gestellt, und es scheint beinahe,
als ob die kritischen Stimmen, die sich immer schon in England gegen diese Politik
geregt haben, einen etwas lautern Klang gewinnen.
Auch Ostasien zieht wieder die Blicke auf sich. Juanschikai, der chinesische
Staatsmann, der unter der Herrschaft der verstorbnen Kaiserin-Regentin so großen
Einfluß erlangt hatte und als einer der Hauptträger der Reformbewegung galt,
ist unter der neuen Regierung plötzlich entlassen worden. Die Lage ist noch nicht
völlig geklärt. Es ist möglich, daß Juanschikai aus irgendwelchen persönlichen
Gründen dem neuen Regenten, Prinzen Tschun, unbequem geworden ist, aber
ebenso nahe liegt es, zu glauben, daß der reformfreundliche Chinese den reaktionären
Stütze» der Maudschupartei zum Opfer gefallen ist. Eine Wiederaufrichtung des
alten Mandschuregiments mit seiner schroffen Fremdenfeindschaft, die alsdann wieder
im Bereich der Möglichkeit liegen würde, bedeutete jedoch eine starke Gefährdung
der anerkannten Interessen der auswärtigen Mächte in China. Es ist deshalb
begreiflich, daß die Vorgänge in Peking von der Diplomatie aller Weltmächte mit
mißtrauischen Augen beobachtet werden, und daß man sich durch Vorbesprechungen
und Verabredungen auf alle Fälle vorbereitet. Vielleicht wirkt die Wahrnehmung
dieser gemeinsamen Interessen an den Gestaden des Stillen Ozeans besänftigend
ans die Gegensätze in der europäischen Politik.
Ein eigenartiges Buch ist vor einiger Zeit
bei Frommann in Stuttgart erschienen, das Buch des Professors der Philosophie
an der Universität Münster Gideon Spieler: Vom Kloster ins akademische
Lehramt. Schicksale eines ehemaligen Kapuziners. Es schildert, wie sich ein tief
innerlich veranlagter Katholik durch das rastlose Suchen nach der Wahrheit vom
katholischen, ja vom christlichen Dogma völlig loslöst, ohne doch seine Religion zu
verlieren.
Von seinen äußern Schicksalen erzählt Spieler nicht eben viel, und der auf¬
merksame Leser fühlt bald heraus, daß er für Daten und Zahlen wenig Sinn hat;
daher wissen wir oft nicht, in welchem Jahr wir uns befinden, und überhaupt
nicht, in welchem Lebensjahre des Autors.*) Als Bauernsohn auf der Reichen«»
geboren, deren landschaftliche Reize er mit schönen Worten schildert, fühlt er sich
schon früh zu etwas Höheren geboren; das bedeutet in katholischer Gegend natürlich,
daß er „geistlich" wird, zumal da er starke Neigung zur religiösen Askese an den
Tag legt. Unter schweren Hindernissen beginnt er seine Studien und wird bald zu
Platon geführt, dessen Phädon den philosophischen Eros, die Sehnsucht nach den
transzendentalen Wahrheiten in sein Herz senkt; in dem ehrwürdigen Kloster Ein¬
siedeln genießt er endlich eine regelmäßige Ausbildung und tritt dann in das
Kapuzinerkloster in Luzern ein, weil ihm die armen barfüßigen Kapuziner als die
wahren Nachfolger Christi erscheinen. Was er aus diesem und dem Freiburger
Kloster, wo er seine Studien fortsetzt, erzählt, wird besonders nichtkatholische Leser
interessieren, die sich vom Klosterleben meist schiefe Vorstellungen machen; hier genüge
es zu sagen, daß er verbotne Bücher liest (zu denen auch Bossuet und La Bruyere
gehören), weil ihm die öden scholastischen Kompendien nicht genügen, und daß er
sich die nötige Fertigkeit im Aufschlagen des Breviers nicht anzueignen vermag, auch
im Dienst bei der Messe unbrauchbar ist. Ob das Streben nach verbotner Frucht
oder die äußere Ungeschicklichkeit sein Los besiegelt, wird nicht ganz klar: jedenfalls
entbindet man ihn nach drei Jahren seines Gelübdes und stößt ihn aus dem Orden
aus. Trotzdem gibt er den Plan, den geistlichen Beruf zu ergreifen, nicht auf und
wendet sich nach München, um Theologie zu studieren; aber hier stößt ihn an
Döllinger der Mangel an spekulativem Verständnis ab, und so gerät er schließlich
in die Vorlesungen Prcmtls, des berühmten Historikers der Logik, er promoviert
bei diesem Skeptiker mit einer Arbeit, in der er so unvorsichtig ist, von einem Nonnen¬
kloster zu berichten, wo sich Gräber mit Kinderknochen gefunden haben. Schon jetzt
fällt die Kaplanspresse mit der törichten Insinuation über ihn her, er habe sich
den Doktortitel erkauft — ein kleiner Vorgeschmack von dem, was später folgen
sollte. Auf den Rat seiner Münchner Lehrer habilitiert er sich in Freiburg i. B>,
und jetzt, sich selbst überlassen, wird er gewahr, daß er durch Prantls skeptischen
Einfluß bei der reinen Negation angelangt ist, den alten Glauben verloren, aber
eine feste philosophische Weltanschauung uicht gewonnen hat. Und so beginnt eben
da, wo sein äußeres Leben in feste Bahnen gelenkt wird, die Tragik seines innern:
er versucht das Verlorne durch metaphysische Spekulation zu ersetzen, er durch¬
mustert alle großen Systeme und macht sich mit den Errungenschaften der modernen
Naturforschung vertraut, um sein Ideal zu erreichen: „eine Religion in philosophischer
Form auf naturwissenschaftlicher Grundlage." Aber man hat das deutliche Gefühl:
auch der fast siebzigjährige hat es noch nicht erreicht, und es ist kein Zufall, daß
er am Schlüsse des Buchs eine alte Grabschrift mitteilt, die beginnt: vudius vixi,
non imxius; inoertus inorior, nein xsrturbÄtus.
Die Schriften des liberalen Katholiken erregten die Aufmerksamkeit des preußischen
Kultusministeriums, das gerade damals im schwersten Kulturkampfe lag; einen Tag
nach der Absetzung des Bischofs von Münster erhielt Spieler einen Ruf an die
dortige Akademie; er trat sein neues Amt im Jahre 1876 an, von der dortigen
ultramontanen Presse mit einem förmlichen Wutgeheul begrüßt, das sich beim Er¬
scheinen seiner Schrift über Lessing noch steigert. Was Spieler ans der Schrift
des Stadtdechanten Kappen von Äußerungen über sich und den großen Physiker
Hittorf mitteilt, muß man bei ihm selbst nachlesen. Dieser christliche Priester, der
sich durch Studenten aus Spielers Vorlesungen alle anstößigen Äußerungen hinter¬
bringen ließ und sie in einem „Herbarium" sammelte, brachte es so weit, daß
Windthorst und Schorlemer den gefährlichen Philosophen im Landtage angriffen;
damals ist Spieler sogar in den Kladderadatsch gekommen. Aber als im Jahre 1898
ein Buch über den „Kampf zweier Weltanschauungen" erschien, worin der jetzt über
achtzig Jahre alte Kappen rin Unrecht eine Rückkehr zur Religion gesehn hat, erschien
er plötzlich bei dem alten Gegner und söhnte sich gewissermaßen mit ihm aus.
Ich habe Spieler in der Überschrift einen „unmodernen" Modernisten genannt.
Das ist er, weil er doch tiefer in der Scholastik stecken geblieben ist, als er selbst
glaubt. Ob eine Versöhnung von Wissen und Glauben überhaupt möglich ist, werden
hente viele bezweifeln; daß das Problem in die Entwicklung der modernen Philo¬
sophie hineinpaßt, muß entschieden leugnen, wer nicht selbst Theologe ist. Und an
Spieler ist vieles von seiner theologischen Vergangenheit haften geblieben. Auch in
andrer Beziehung hat man den Eindruck, es mit einem weltfremden Manne zu tun
zu haben. Die heutige Universität Münster, die sich von andern Universitäten nur
durch das Fehlen der halben medizinischen Fakultät unterscheidet, erscheint ihm immer
noch im Lichte der Akademie von 1376, an der eine liberale Minorität mit der
ultramontanen Majorität in erbittertem Kampfe lag. Das sind, Gott sei Dank,
tsmxi xgWM, und alle die von Spieler geschilderten Vorfälle könnten sich heute
höchstens innerhalb der theologischen Fakultät wiederholen, in dieser aber ebenso¬
gut auch in Bonn, Breslau oder Straßburg. Aber gerade die unbedingte Ehrlich¬
keit, mit der Spieler von allen seinen innern Kämpfen erzählt, macht das Buch zu
einer interessanten Lektüre für jeden, der die freiern Strömungen innerhalb des
Katholizismus nicht ohne Hoffnung verfolgt.
in mehr als 500 Abbildungen
auf 100 Tafeln zusammengestellt von Professor Dr. O. E. Schmidt und
Professor Dr. I. L. Sponsel. Mit einer Beilage: Die Entwicklung der sächsischen
Kultur von O. E. Schmidt. Leipzig und Dresden, B. G. Teubner, 1909. Auch
dieses Werk ist ein Erzeugnis warmer Heimatliebe, das Ergebnis einer Vertiefung
der historischen Forschung und Auffassung und zugleich der wieder verstärkten Be¬
tonung der landschaftlichen Geschichte, die durchaus berechtigt ist, da zur Entwicklung
der deutschen Kultur alle deutschen Stämme je nach ihrer Art beigetragen haben,
wenngleich die politische Einigung der Nation der Hauptsache nach von Preußen
oder uuter Preußens Führung durchgesetzt worden ist. In dieser erneuten Betonung
des eine Zeit lang in den Hintergrund gedrängten Provinziellen und Landschaft¬
lichen liegt ein tiefberechtigter Zug, solange sich 'dieses Landschaftliche bewußt bleibt,
eben nur im Rahmen der deutsche,: Kultur zu stehn und nichts Apartes für sich
sein will, das etwas Besseres wäre als die Nachbarn. Daß die vorliegende Sammlung
nicht in diesem Sinne, sondern im deutschen Sinne gemeint ist und zu verstehn
ist, dafür bürgt vor allem der Name O. E. Schmidts, des feinsinnigen Verfassers
der jedem Grenzbotenleser bekannten „Kursächsischen Streifzüge". Ihm fällt
außer der knappen, alles Wesentliche sachkundig hervorhebenden und zusammen¬
fassenden Beilage über die Entwicklung der sächsischen, das heißt der ans dem
Boden des heutigen Königreichs Sachsen aufgeblühten Kultur von der sogenaunten
prähistorischen Zeit bis zur Gegenwart, von der jüngern vorgermanischen Stein¬
zeit bis auf Richard Wagner und Max Klinger die Auswahl der größern Hälfte
der Tafeln (52, nämlich 1 bis 31, 49, 81 bis 100) zu. Zu ihnen haben zahl¬
reiche Behörden, öffentliche und private Sammlungen beigesteuert. Das meiste
ist nach Photographien nach der Natur oder nach den Originalen in Autotypien
wiedergegeben, die oft etwas klein ausgefallen sind, weil eben jede Tafel mehrere
Bilder bringen sollte, aber doch dem Zwecke im ganzen völlig genügen. Ihre Reihe
eröffnen typische Landschaften aus verschiednen Gegenden Sachsens, dann folgen
Geräte und Waffen aus den verschiednen Periode» der Urzeit bis auf die Slawen¬
zeit. Die mit 928 beginnende deutsche Zeit eröffnen Bilder und Pläne der ältesten
Burganlage von Meißen; dann ziehn alle die verschiednen Kulturperioden von den
Denkmälern des romanischen Stils durch die Zeit der Gotik, der in Sachsen ganz
besonders reich entwickelten Renaissance, des Barock usf. in zahlreichen, wohlaus¬
gewählten Typen mit Plänen von Stadt- und Dorfanlagen, historischen Szenen,
Porträts, berühmten Kunstwerken, charakteristischen Bauten am Auge des Beschauers
vorüber, naturgemäß mit den Fortschritten der Kultur in verhältnismäßig wachsender
Zahl. Den Schluß bilden zwanzig Tafeln zur Veranschaulichung dörflicher, volks¬
mäßiger Kunst, der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe, des Bergbaus, der
Industrie, des Verkehrslebens, malerische Ansichten aus Mittel- und Kleinstädter,
moderner Monumentalbauten und großstädtischer Einrichtungen.
Bei dem außergewöhnlich niedrigen Preise (5 Mark) der reichen Sammlung
darf man sicher erwarten und hoffen, daß sie in recht viele Hände kommen und
auch den Zweck, das Interesse und die Liebe für die Heimat vor allem in der
Jugend zu beleben und zu stärken, erfüllen werde. Für eine zweite Auflage aber,
die hoffentlich nicht ausbleiben wird, können wir den Wunsch nicht unterdrücken, es
möge auch die so reich und selbständig entwickelte Kultur der Oberlausitz, die der
Anfall an Kursachsen 1635 von dem Schicksale Böhmens gerettet und der dentsch-
protestantischen Kultur erhalten hat, stärker berücksichtigt werden, als es zunächst
mit den wenigen Bildern, die ihr jetzt gewidmet sind, geschehn ist. Das Jnteressanteste
an ihr ist nicht das schwache, auf einen engen Kreis beschränkte Wendentnm, an das
viele zuerst denken, wenn von der Oberlausitz die Rede ist, sondern die Ausgestaltung
eines kraftvollen deutscheu Bürgertums, das in seiner Blütezeit die meisten Städte
»»Zpielenck 2U lernen
uncl lernencl spielen"
das war der Grundgedanke der Herausgeber von
R G.Teubners Künstler-Modellierbogen
Wer je Amber beim Ausschneiden und Aufbauen beobachten durfte, bekennt
mit Freude, daß für die Mußestunden der Jugend hier ein anziehendes und
anregendes, belehrendes und bildendes Beschäftigungsmittel geschaffen wurde.
Ls sind zunächst folgende Motive erschienen- Zlxs d-„thes«» Ca»thu: Alpenhof — Sennhütte
(Staffagebogcn Il Alpenleben). Schwarzrvaldhof — Schwarzwaldmichle (Staffagcbog-n III Schivarzwald.
leben). Landkinder Bahnhof» — Niedersächsisches Bauernhaus ' — niedersächsische Dorfkirche- (Staffage,
bogen I V. Baucrnlcbc»), ' Altwendischcr Bauernhof. " Aogelburg (2 Bogen).» A«s fr«»,»«» Liind««» -
Wolkenkratzer — Japanisches Te-Haus — yaus auf Ceylon e-ipvenlagcr — Rumänisches Bauerngehöft»
(Staffngcbogen V: Aumäuisches Leben). Ans »««, ZNitt««»It«re Stadttor mit Patrizierhaus (2 Bogen) —
Rathaus (Staffagebogen III: Mittelalterliches Leben). Aus d-v Nrg«schied««t pfahlbausiedelung.»
Males«»: Häusel und Gretel.» Schatten-Theater (2 Logen).» Markttag in der Aleinstadt, »
Z»I« »,it " v«rs«h«»«n Vsg«n «rsch-in«» als «rst« S«ri« aus »«»,
j>r-i»a»isschr«Ib«» siirv.S.T«uhn«rsAi>use>«r-N?od«>II«ri>sg«n >>>»«.
Wecker Logen Kostet 40 pfg. (IeÄer 8t»ff»gebogen 20 Psg ) Povto >o psg.
V/l^s^it init Abbildungen aufgebauter Motive ist gegen Einsendung
^».UlUtvH vo„ ,g pfg, in Briefmarken zu beziehen vom Verlag.
K. G. I^eubner» Leipzig. poststrasse 3.
Ä^,'
>olksstimmung? — Ist das nicht dasselbe wie öffentliche Meinung?
Zuweilen ist es der Fall, für gewöhnlich aber nicht, namentlich
insoweit dabei die gedruckte öffentliche Meinung in Frage kommt.
Denn diese will eine Volksstimmung erst erzeugen und wird
darum bloß in Nebensachen Erfolg haben. In der Hauptsache
entwickelt sich die Volksstimmung aus sich selbst, zähe und langsam, für Treib¬
kultur unempfänglich. Leute, die bloß „zwischen Häusern und Zeitungen
leben", kennen sie gar nicht. — Dann sind die durch das allgemeine Stimm¬
recht gewählten Reichstagsabgeordneten doch sicher die Vertreter der Volks¬
stimmung? — Zuweilen ja, in der Regel aber auch nicht. Das ist übrigens
in andern Ländern meist auch so. Unsre Reichstagsabgeordneten sollen wohl
nach Paragraph 29 der Reichsverfassung „Vertreter des gesamten Volks und
an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden" sein, aber sie sind an die
Aufträge und Instruktionen ihrer Partei gebunden, folglich nicht Vertreter
des gesamten Volks und können darum auch nicht durch die Bank als Ver¬
treter der Volksmeinung angesehn werden. Die überzeugten Verehrer des
neuen Standes der Jmmunitätsritterschaft werden diese Ansicht für sehr
ketzerisch halten, aber sie ist es keineswegs. In den vier Jahrzehnten des
Bestands des Reichs ist der Reichstag viermal aufgelöst worden, und jedesmal
hat sich die Volksmeinung gegen seine Mehrheitsbeschlüsse erklärt. Die Volks¬
stimmung ist darum keineswegs das, was Stimmungsmacher und Agitatoren
dafür ausgeben und auch gelegentlich durch allerlei Kunstgriffe an die Ober¬
fläche zu bringen wissen; sie liegt viel tiefer und läßt sich durch so seichtes
Hebelwerk gar nicht fassen. Die Reichstagsabgeordneten möchten ja gern als
Vertreter der wirklichen Volksstimmung gelten, schou um der Zukunft willen,
denn „wir wollen doch alle wiedergewählt werden", gestand ein liberaler Ab¬
geordneter kürzlich ganz offen zu. Dabei ist ihnen aber die Parteibrille und
ihr sonstiger Parteiapparat oft sehr hinderlich. Wenn sie mit ihrem Agita-
tionsstabe in ihren selten erdrückend vollen Versammlungen erscheinen, in denen
die Bravorufer geschickt verteilt sind, und der Uärteibyzantinismus noch in
ganz andrer Weise in Szene gesetzt wird als der sogenannte Hurrapatrio¬
tismus bei Kaiserreisen — da wickelt sich freilich die Rede unter dem üblichen
Beifall ab, und die längst vorbereitete Resolution wird glatt und ohne
Widerspruch angenommen. Sie vermögen sich damit in dem Glauben zu er¬
halten, daß sie die wahren Vertreter des Volks wären. Bei den Wahlen
kommt es aber manchmal anders. Die Volksstimmung ist nur selten in
solchen künstlich vorbereiteten und meist auch bloß von den engern Partei¬
interessenten besuchten Versammlungen zu Hause, sie wohnt ganz wo anders,
sie geht nicht in solche Versammlungen, sondern will aufgesucht werden.
Bismarck kannte sie und wußte, wo sie wohnte. Er war darum auch ein
wirklicher Vertreter des deutschen Volks, obgleich er nicht vom Volke gewählt
worden war.
Von Friedrich Naumann stammt der bemerkenswerte Ausspruch: „Bis¬
marck wurde der politische Meister des deutschen Denkens, aber nicht der Er¬
zieher zur politischen Einzeltätigkeit. Infolgedessen liegt direkt hinter der
Schicht vom Jahre 1848 im geistigen Leben der deutschen Nation eine Schicht
von völlig andrer Konstruktion. Ihre nächsten Nachfolger aber verzichteten
auf eignes Wollen und Denken unter dem übermächtigen Eindruck, daß eine
Art von Genius beides für sie besorge. Und als dann Bismarck aus dem
politischen Leben ausschied, da hinterließ er eine Art Trümmerfeld: es bestand
keine politisch tätige Aristokratie, es bestand keine politisch erzogne Berufs¬
bildung. Es war kein Volk vorhanden, in dem politische Überlieferung, außer
beim Zentrum und bei der Sozialdemokratie, im Entstehn begriffen war."
Eine sehr scharfsichtige Beobachtung, wie sie einem so begabten und für sein
Volk warmherzigen Politiker ziemt, aber die Einkleidung fordert doch zu
einigen Betrachtungen auf, bloß damit verbreitete Irrtümer nicht weiter Raum
gewinnen mögen. Gewiß hat Bismarck das deutsche Denken gemeistert, indem
er es von der achtundvierziger Anschauung befreite, nach der das Deutsche
Reich durch Parlamentsbeschlüsse begründet werden könnte. So billig war es
nicht zu haben. Aber er hat, kurz nachdem er sich beim Bundestage über
die damalige Machtlosigkeit Österreichs und des Deutschen Bundes unterrichtet
und der Prinzregent die Heeresreorganisation durchgeführt hatte, die wieder
gegen das Parlament durchgesetzt werden mußte, auch den praktischen Teil
der Beschlüsse des Frankfurter Parlaments durchgeführt. Er hat demnach den
angeblichen Bruch zwischen 1848 und der spätern Zeit nicht verschuldet, und
er hatte auch immer die Volksstimmung auf seiner Seite. Die Schuld liegt
ganz bei denen, die nicht eingesehn hatten, daß der Weg, der seinerzeit in
Frankfurt in bester Absicht eingeschlagen worden war, gar nicht zum Ziele
führen konnte, die aber trotzdem an der parlamentarischen Methode festhielten.
In dem ganzen Zeitraum von 1848 bis 1866 wog der Kampf um die Macht
des Parlaments vor, der wesentlich in Preußen geführt wurde, da dort allein
die Entscheidung lag. Der Partikularismus, der mit sicherm Instinkt erkannte,
daß dabei eine Demütigung Preußens herauskommen konnte, sprang mit Eifer
der preußischen Opposition bei. Dadurch wurde das Streitobjekt verschoben
und auch der Schein erweckt, als handle es sich um die deutsche Einheit.
Darum handelte es sich freilich, aber in ganz umgekehrtem Sinne, als die ge¬
machte öffentliche Meinung es auffaßte und darstellte.
Die großen Ereignisse von 1866 und 1870 riefen in der VolksstiMmUng,
die sich damals zu sehr den Zeitungsmeinungen hingegeben hatte, eine voll¬
ständige Umwandlung und eine Zersetzung der Parteien hervor. Die Ver¬
fassung brachte nun nicht die vom Liberalismus gewollte alleinige Vorherr¬
schaft des Parlaments mit unbedingter Gewalt über die Minister, sondern
hielt sich an die in den deutschen Staaten hergebrachte Form des Konstitutio-
-nalismus. Solange aber die Ereignisse von 1866 und 1870 direkt nach¬
wirkten, und das deutsche Volk eine größere Anzahl von politischen Kapazi¬
täten in den Reichstag sandte, blieb dieser auf seiner Höhe und vereinigte sich
mit dem Altreichskanzler zu politisch nützlicher Arbeit. Damals stand auch
sein Ansetzn in der Volksmeinung sehr hoch. In den siebziger Jahren wurde
dann die politische Erschlaffung, wie sie bei allen Völkern nach Perioden
größerer nationaler Anspannung einzutreten pflegt, von dem wieder zu Kräften
gekommenen Liberalismus geschickt benutzt, um den 1866 in Preußen nieder-
geworfnen Kampf um die Parlamentsherrschaft im Reiche aufzunehmen. Es
handelte sich dabei, wie Eugen Richter ausdrücklich aussprach, darum, „dem
Kanzler den Willen zu brechen". Er fand dabei die verständnisvolle Unter¬
stützung des Zentrums und der weitverbreiteten Presse des freihändlerischen
Kapitalismus, der sich in allen Ländern durch Mangel an Verständnis für
nationale und Machtfragen auszeichnet. Das Zentrum festigte sich immer
mehr dabei, aber die liberale Fortschrittspartei hatte keinen Vorteil davon,
denn was sich im deutschen Volke durch die verwirrende Agitation von seinem
bisherigen Standpunkte abbringen ließ, ging zur Sozialdemokratie über, die
mächtig anschwoll, indem ihr ein fortschrittlicher Wahlkreis nach dem andern
zufiel, wie Bismarck mehrfach warnend vorausgesagt hatte. Auch die national¬
liberale Partei litt schwer darunter, da sie wiederholt ernstlich Gefahr lief,
sich vom Linken umgarnen zu lassen.
Das parlamentarische Leben wurde dabei vollständig verwüstet und ist es
zum großen Teil heute noch. Seit jenen unseligen Zeiten ist es Mode ge¬
worden, daß bei parlamentarischen Entscheidungen nicht mehr das Wohl des
Reichs, sondern der Vorteil der Partei den Ausschlag gibt. Ein freisinniger
Abgeordneter schrieb erst kürzlich bei Besprechung der kommenden Finanz¬
reform: „Aber die Partei will doch auch leben." Auch noch nach den letzten
Reichstagswahlen wird alles vom Parteiinteresse, von der Parteidoktrin, vom
Parteizwang beherrscht, das Vaterland ist so ziemlich Nebensache dabei ge¬
worden, und alle Parteien haben mehr oder weniger schuld daran. Das
Volk hat diesem parlamentarischen Streite ziemlich gleichgiltig gegenüberge¬
standen. Am wenigsten begriff es, warum es sich nach den offenkundiger
Taten der Regierung und namentlich Bismarcks für parlamentarische Herr¬
schaftsgelüste begeistern sollte. Aber durch eine skrupellose Agitation unaus¬
gesetzt an seinen materiellen Interessen angefaßt und hin und her gezerrt,
hatte es Mühe, die Höhe des vaterländischen Standpunkts, auf den es die
Gründung des Reichs emporgehoben hatte, den verwirrenden Parteikämpfen
gegenüber zu behaupten. Dabei ging die Teilnahme an diesen und für ihren
Schauplatz, den Reichstag, immer mehr zurück bis zur vollständigen Gleich-
giltigkeit. Die lebende Generation hat nicht mehr recht die Erinnerung von
den schweren Kämpfen Bismarcks, ein Jahrzehnt hindurch bis zum Jahre 1887,
mit den von den Vorkämpfern des parlamentarischen Systems geführten Reichs¬
tagsmehrheiten, die alles bestritten, was von der Regierung kam, und denen
er mit der größten Anstrengung nach und nach und nur stückweise die Zoll-
und Steuerreform sowie die ersten grundlegenden sozialreformatorischen Gesetze
abringen konnte. Die dabei interessierte Presse ist seitdem beflissen gewesen,
diese Tatsachen zu verwischen und selbst in ihr Gegenteil zu verkehren. Aber
die namentlich zur Blütezeit der nachmaligen Bismarcklegende vielfach aufge¬
stellte Behauptung, zu Bismarcks Zeiten sei immer alles glatt abgegangen,
ist einfach nicht wahr.
Der Kern der deutscheu Bevölkerung hielt an Vismarck fest, und wenn
er rief, wenn er selbst die Wahlparole gab, erklärte sich die Volksstimmung
entschieden für ihn und gegen die Neichstagsmehrheit. Die Wahlen von 1887
endeten sogar mit einer geradezu vernichtenden Niederlage der Mehrheit
Richter-Windthorst-Grillenberger, und es wurde damals mit Recht behauptet,
der neue Reichstag sei auf den Namen Bismarcks gewählt. Jedenfalls hatte
er von da an bis zum Ausscheiden aus dem Amte parlamentarische Ruhe.
Danach war freilich, wie Herr Naumann richtig erkennt, kein politisch er-
zognes Volk vorhanden, worunter er wohl nicht versteht ein für die Parla¬
mentsherrschaft erzognes Volk. Er wird als guter Kenner unsers Volks
genau wissen, daß es damit noch gute Wege hat, dazu müßte sich der Reichs¬
tag erst durch eine lange Reihe volkstümlicher Leistungen den Respekt wieder
erwerben, den er seit drei Jahrzehnten eingebüßt hat. Was aber seit damals
an politischem Sinn im Volke lebt, führt auf Bismarck zurück, alles übrige
war durch die langdauernde, in der Wahl der Mittel rücksichtslose Agitation
gegen ihn und seine Politik verwüstet und zertrümmert worden. Das Trümmer¬
feld jedoch, das hinterblieb, und auf dem nur noch die Sozialdemokratie
wuchern konnte, war nicht sein Werk, er hat es nur nicht verhindern können.
Aber im Kampfe um die Parlamentsherrschaft hatte er so vollkommen gesiegt,
daß zwanzig Jahre vergingen, bevor wieder der Versuch gemacht wurde, ihn
neu aufzunehmen. Nur die Mehrzahl der liberalen Blätter, darunter nicht
wenige als nationalliberal bezeichnete, haben die damaligen aus dem Aus-
lande entlehnten Formen und leitenden Gedanken weiter beibehalten. Nach
ihnen sieht es immer so aus, als ob wir eigentlich eine parlamentarische
Regierung hätten, obgleich bis auf die letzten Tage jede direkte Anspielung
darauf sorgfältig vermieden wurde.
Hinterher haben verschiedne Parteien auch versucht, das Andenken Bis-
marcks — das einzige politische Gefühl, an das damals in allen den noch
nicht für die Sozialdemokratie reif gemachten Kreisen des deutschen Volkes
appelliert werden konnte — für ihre Zwecke nutzbar zu machen, es gründete
sich sogar förmlich eine neue Zeitungsindustrie darauf.
Seit Bismarck ist das deutsche Denken nochmals verändert worden durch
Kaiser Wilhelm den Zweiten, der auf unsre Zukunft ans dem Wasser
hingewiesen hat. Es ist in den Grenzboten schon dargelegt worden, auf
welchen Wegen dieser Gedanke mehr und mehr Wurzel im Volke geschlagen
hat und bereits ausschlaggebend geworden ist, wie die letzten Reichstags¬
wahlen bewiesen haben. Die gedruckte öffentliche Meinung hat dafür so gut
wie nichts getan, sondern längere Zeit versucht, von einer kaiserlichen Laune
und ähnlichem zu sprechen. Man kann Wohl bei der Verschiedenheit der
Auffassungen nur in wenigen Fragen von einem eigentlichen Volkswillen
sprechen, was aber die deutsche Seepolitik betrifft, so läßt sich nicht bestreiten,
daß dafür eine deutlich ausgesprochne Volksstimmung besteht. Seit Jahren
schon ist diese lebhafte Stimmung für die Geltung Deutschlands zur See
vorhanden, und die laue Behandlung der Flotten- und Kolonialangelegen¬
heiten in frühern Reichstagen war immer auf Befremden und Mißstimmung
gestoßen. Dagegen gewann die frische und energische Erscheinung des Kaisers,
und die unaufhörlichen Kritiken und „parlamentarischen" Auslegungen der
Zeitungen gegen ihn sind bis heute ohne Wirkung auf die Volksstimmung
geblieben. Man hat im Volke immer klar unterschieden, daß aus den Worten
auf der einen Seite Tatkraft und ideales deutsches Streben, aus denen auf
der andern Seite nur die graue Theorie sprach, von der das Vaterland
bisher wenig gehabt und in Zukunft noch weniger zu erwarten hat. Es
handelt sich dabei durchaus nicht um den sogenannten Hurrapatriotismus,
sondern um eine ganz unverkennbare Äußerung des Volksinstinkts. Man
kann seit einem halben Jahrhundert und darüber eine doppelte Strömung im
deutschen Volke verfolgen: eine geräuschvolle, hergebrachte, oberflächliche der
Zeitungen und Berufsparlamentarier, die nur in einem Teile — vielleicht
der Mehrheit — der sogenannten Intellektuellen zu Hause ist, und eine tiefere,
rein nationale Grundstimmung, der in der Gegenwart der Reichstag nur
imponiert, wenn er mit Kaiser und Kanzler geht. Es säßen heute viele
Liberale nicht im Reichstage, wenn diese Grundstimmung nicht vorhanden ge¬
wesen wäre.
Man begeht wohl kaum einen Irrtum, wenn man annimmt, daß diese
gegenwärtige Volksstimmung eine Erbschaft, ein Niederschlag aus der Zeit
Bismarcks ist. Es mag nun freilich ein Fehler des deutschen Volkes sein,
sich politisch von einer Art von Genius leiten zu lassen, jedenfalls ist aber
auf absehbare Zeit dieser Genius sicher nicht der des Parlaments. Diese
Hinweise sind durchaus angebracht in unsern Tagen, in denen behauptet
worden ist, es sei ein großer parlamentarischer Erfolg errungen worden. Man
mag das in den oben angedeuteten Kreisen glauben, in denen man sogar be¬
hauptet hat, es habe sich eine tiefe Kluft zwischen dem Monarchen und dem
Volke aufgetan. Das wäre selbstverständlich sehr schlimm, was aber jene
wirkliche Volksstimmung betrifft, wie sie sich bei den letzten Reichstagswahlen
kundgegeben hat, so ist es bei ihr in keinem nennenswerten Umfang der Fall.
Möglich, daß die Sozialdemokraten wieder eine Stärkung erfahren haben,
diese würde aber bei künftigen Wahlen nur auf Kosten der Liberalen zum
Ausdruck kommen und das Weiterbestehn des sogenannten Blocks in Frage
stellen. In gewissen parlamentarischen Kreisen scheint man nicht in Rechnung
gezogen zu haben, daß die Ausschreitungen der Reichstagsdebatten auf die
Volksstimmung den Eindruck einer Herabsetzung des Kaisers, namentlich vor
dem Auslande, gemacht haben, und noch dazu in einem Falle, in dem ihn
formell keine Schuld traf, die lediglich auf feiten des Auswärtigen Amts lag.
Auch der mehrfach mit Genuß wiederholte Kommiswitz über die „Regierung
im Umherziehen" wird die Wirkung verfehlen auf alle jene Teile der Be¬
völkerung, die sich freuen, den Kaiser einmal in ihrer Heimat persönlich be¬
grüßen zu können. Denn trotz zwanzigjähriger Anfeindung durch die ver-
breitetsten Blätter erscheint er ihnen doch als der wirkliche Kriegsherr, als
der Schöpfer der populären Flotte, als der unermüdliche Arbeiter, als das
Muster eines deutschen Familienvaters und nicht zuletzt als das Oberhaupt
des jungen Reichs, das er so würdig zu repräsentieren versteht. Ob das in
eine berechtigte oder unberechtigte parlamentarische Formel paßt, ficht die Volks¬
stimmung wenig an, aber Hurrapatrioten, die sich nur vordrängen möchten,
sind die nicht, die so denken.
So irrige Auffassungen können auch allem bei Leuten entsteh», die nur
„zwischen Häusern und Zeitungen" leben, deren gesamtes Treiben und Schreiben
seit Jahren nach ausländischen Mustern einen Zug angenommen hat, den
Bismarck mit der Bezeichnung „kryptorepublikanisch" belegte, und die, weil
sie in ihrem engen Kreise immer wieder auf die eigne Meinung stoßen, in
den Irrtum verfallen sind, das wäre die Volksstimmung. Die ist ganz
anders. König Friedrich August hat auch mit der gravitätischen Form seiner
Vorfahren gebrochen, bereist fleißig sein Land und erfreut seine Sachsen durch
wohlwollende und patriotisch anregende Ansprachen. Daran hat noch niemand
Anstoß genommen, man freut sich vielmehr darüber. Warum soll das der
Kaiser nicht auch können und dürfen? Bismarck sagte schon am .27. No¬
vember 1381 im Reichstage: „Es wird Ihnen nicht gelingen, dem Kaiser
Wilhelm im Deutschen Reich zu verbieten, daß er zu seinem Volke spricht." Ein
deutscher Kaiser hat ein viel größeres Gebiet zu bereisen als der König von
Sachsen. Wenn sich dabei Unzukömmlichkeiten in bezug ans die ministerielle
Führung der Geschäfte herausgestellt haben, so ist dafür der Reichskanzler in
erster Linie verantwortlich, und zwar nicht bloß formell sondern auch sachlich,
denn er hat dafür zu sorgen, daß solche Verstöße nicht vorkommen. Er
würde auch keinem Widerstande begegnet sein, und wenn es doch der Fall
gewesen sein sollte, so hätte er nicht im Zweifel darüber sein können, was
ihm die Pflicht der Verantwortlichkeit vorschreibt. Die Reichstagsverhand¬
lungen im November haben nun zu der bekannten Veröffentlichung im Staats¬
anzeiger geführt, wonach in Zukunft der Kaiser vermeiden wird, den Anschein
zu erwecken, als werde eine zwiefache Politik geführt. Diese Lösung der
sogenannten innern Krise hat dadurch den erfreulichen Charakter eines Kom¬
promisses zugunsten des Fürsten Bülow angenommen, den der Kaiser nicht
entbehren will und die Reichstagsmehrheit nicht entbehren kann. Sie hat
ihn darum auch in den Debatten auffällig geschont, während doch nach der
Verfassung alle Angriffe gegen ihn hätten gerichtet werden müssen. Wenn
durch das erwähnte Kompromiß der Erfolg erreicht wird, daß sich der Kaiser
nicht mehr unnötig einer absichtlich unfreundlichen Kritik aussetzt, so werden
alle wahrhaft monarchisch Gesinnten damit zufrieden sein. Ihm bleiben ja
noch ganz andre Wege, sein verfassungsmäßiges Recht auf Leitung der
Politik auszuüben, und er braucht um so weniger als Heerrufer zu erscheinen,
um das parlamentarische Schwergewicht zu überwinden, als es ihm schon ge¬
lungen ist, die in weiten Kreisen lebendige Neigung für eine Überseepolitik des
Reichs zu einer durchschlagenden Volksstimmung zu gestalten.
Die zweitägige Verfassungsdebatte im Reichstage ist ergebnislos gewesen;
über manchen großen Worten schwebte im stillen die zurückgehaltn« Überzeugung,
daß man gar nicht in der Lage sei, ernsthafte Entscheidungen herbeizuführen.
Trotz der hohen Töne, mit denen der Chorus der Presse den Vormarsch in
ein parlamentarisches Regiment einzuleiten scheint, besteht in ernsthaften Ab¬
geordnetenkreisen darüber nicht der geringste Zweifel. Man möchte freilich in
gewissen Kreisen das beantragte Gesetz über die Verantwortlichkeit des Reichs¬
kanzlers als erste Station auf dem Wege zum parlamentarischen Regiment
ausgeben. Ob ans den der Kommission übergebnen Anträgen überhaupt etwas
wird, steht noch dahin, aber wenn sich etwas daraus gestalten läßt, wird doch
nur ein Ding ohne jede praktische Bedeutung zum Vorschein kommen. Ein
Berliner Blatt hat aber recht mit der Ansicht, daß eine solche an sich bedeutungs¬
lose „Errungenschaft" nicht zwecklos sein dürfte, sobald sie zur Beruhigung
dient. Ein starkes Parlament bedarf gar keiner Ministerverantwortlichkeit, da
es in der Lage sein würde, jedem ihm unbequemen Minister das Regieren
unmöglich zu machen. Aber der Reichstag ist eben kein solches starkes Parlament,
weder nach seiner Zusammensetzung noch im Ansehn der Volksstimmung. Noch
vor den erwähnten Debatten im Reichstage führte Hans Delbrück in den
Preußischen Jahrbüchern treffend aus: „Der deutsche Reichstag ist nicht deshalb
von einer geringern Bedeutung als andre Parlamente, weil gewisse Paragraphen
ihm mehr oder weniger Rechte verleihn, sondern weil er keine Majorität hat
und haben kann, die imstande wäre, eine Regierung zu bilden.... In dem
Augenblick, wo eine solche Majorität vorhanden wäre, wäre alles anders, ganz
gleichgiltig, was in der Reichsverfassung steht oder noch hineingesetzt wird."
Der sogenannte Block ist seit dem Kartellreichstag Bismarcks von 1887 der
erste, jetzt vom Fürsten Bülow eingeleitete Versuch, eine solche Mehrheit zu
schaffen, und die Einsicht in dieses Verhältnis scheint auch der Beweggrund
gewesen zu sein, der die Mehrheitsparteien veranlaßt hat, die mehrfach erwähnten
Debatten von ihrer anfänglichen Richtung ab- und auf Nebengeleise zu leiten.
Die Furcht, in den Augen des Volks nicht liberal genug zu erscheinen, hat
außerdem mit auf diese Abwege geführt.
Die wirkliche Volksstimmung legt darauf aber wenig Wert, denn sie entsteht
nicht aus dem üblichen Versammlungsmilieu. Sie hat den gegenwärtigen
Reichstag nicht darum gegen die Sozialdemokratie heraus gerümpft, damit
Parteitifteleien fortgesetzt werden. Sie will Taten sehen zugunsten der See¬
politik und überhaupt zum Nutzen des Reichs. Sie würde auch harte Steuer¬
gesetze zum Zweck der Finanzreform ruhig hingenommen haben in der Überzeugung,
daß es nun einmal nicht anders sein kann, aber diese müssen entstehn durch eine
rasche Tat. Der in der Generaldebatte zutage geförderte, auf das allgemeine
Leitmotiv gestimmte Gedankengang: Wir bitten dich, heiliger Florian, schütz
unser Haus, zünd andre an — wird möglichenfalls einigen Parteien — zu
allermeist der Sozialdemokratie — zugute kommen, aber das Ansehn auch dieses
Reichstags gründlich untergraben, wenn er weiter für die Behandlung der
Finanzreform gelten sollte. Taten will die Volksstimmung sehn, nicht zwei¬
stündige Reden hören. Die hat sie bei den frühern Reichstagen genugsam gehabt,
wogegen sie alle Jahrzehnte einmal von der Reichsregierung aufgerufen werden
mußte. Auf dem jetzt eiugeschlagnen Wege liegt das Ziel nicht, das in der so
wünschenswerten Zunahme des reichstaglichen Ansehns besteht. Die jetzige
Reichstagsmehrheit ist für eine klar bestimmte Richtung der Politik gewählt
worden, und diese hat durch die Kaiserdebatten keine Ablenkung erfahren.
Demnach wird sich der Reichstag nach der umfangreichen Kritik der Regierungs¬
vorlagen im neuen Jahre zur Durchführung der Reichsfinanzreform bequemen
müssen, der die Volksstimmung noch freundlich, noch ungetrübt durch die eifrigen
Gegenagitationen der mannigfaltigen Interessentengruppen gegenübersteht. Je
länger der Reichstag diesen Agitationen Raum läßt, desto mehr wird die Volks¬
stimmung darunter leiden und die Sozialdemokratie Vorteil ziehn. Darüber
sollten sich doch gerade die gegen die Sozialdemokraten gewählten Abgeordneten
klar sein. Sollte auch dieser von einer so warmen Volksstimmung geschaffne
Reichstag versagen, so dürfte er ein politisches Trümmerfeld hinterlassen, das
das von Herrn Naumann geschilderte noch übertreffen würde.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß von gewissen Seiten auch die vorstehenden
Betrachtungen als Versuch ausgelegt werden, den Kaiser in seinem Gefühl des
Gottesgnadentums zu bestärken. Wem noch aus der Jugendzeit die gleichen
Redensarten aus der preußischen Konfliktszeit im Ohre liegen, den läßt die wieder
aufgewärmte Phrase kalt. Das Gottesgnadentum der Hohenzollern hat die
Entstehung des Reichs und seine heutige Größe und Blüte nicht gehindert. Es
würde aber dem Vaterlande nützen und der Mehrzahl unsrer Tagespolitiker
wohl auftehn, wenn sie die ihnen übertragne Aufgabe auch als eine von einer
höhern Macht, der sie Verantwortung schulden, aufgelegt ansetzn möchten. Was
hier Volksstimmung genannt wird, würde damit sehr einverstanden sein. Hierauf
hinzuweisen ist der einzige Zweck dieser Zeilen. Die Grenzboten haben schon
seit einigen Jahren wiederholt auf die selbständige Eigenart der Volksstimmung:
den lebhaften Sinn für Deutschlands Seegeltung und die allgemeine bürgerliche
Abneigung gegen die Sozialdemokratie, hingewiesen. Die weiten Kreise, die
immer vergnügt in ihren eignen Meinungen herumplätschern, haben diese
Hinweise übersehn. Aber der jetzige Reichstag ist auf Grund dieser Volks¬
stimmung, nicht wegen jener Meinungen gewühlt worden, und er hat dieses
Vertrauen zu rechtfertigen. Erst wenn er die Sünden seiner Vorgänger gut¬
gemacht hat, wird das deutsche Parlament bei der Volksstimmung ein Ansetzn
gewinnen, dessen sich das Kaisertum längst erfreut, und würde sich überhaupt
zu einer Stellung emporheben, die ihm gar kein geschriebner Verfassungs¬
paragraph zu verschaffen vermag. Die Vorgänge im November und seither
haben wieder einmal gelehrt, daß die im Privatleben tausendfach gemachte
Erfahrung, daß die Herabsetzung des andern den eignen Wert des Aburteilenden
'^^5^//'
K^/GM
W^S-N^> er Reichskanzler Fürst Bülow hat in seiner Rede zur Einleitung
der Beratung über die Reichsfinanzreform im Reichstage vom
19. November v. I. in dem Sinne darauf hingewiesen, daß bei
der Deckung unsers bisherigen Finanzbedarfs eine beispiel¬
lose Beanspruchung des deutschen Geldmarktes durch
die Einzelstaaten und kommunalen Verbände vorliege. Durch die
kommunalen Staats- und Neichsanleihen sei die Aufnahmefähigkeit des deutschen
Marktes erschöpft, und der Stand der Anleihen dauernd hinabgedrückt worden.
Während die vierprozentige Deutsche Neichsanleihe genau 99 Prozent notiert,
standen vierprozentige Italiener auf 104,75 Prozent, Spanier auf 96,05 Prozent,
die zweieinhalbprozentige französische Rente 95,30 Prozent, die dreiprozentige
französische Rente 95,30 Prozent, und die dreiprozentige Deutsche Reichsanleihe
stand kaum auf 83 Prozent.
Unter solchen Verhältnissen wird die gesamte Volkswirtschaft geschädigt
und durch die Erschütterung des nationalen Kredits die politische Stellung
Deutschlands unnötigen Gefahren ausgesetzt; die Finanzen des Reichs er¬
leiden eine schwere Schädigung dadurch, daß der Kapitalerlös für die Reichs¬
kasse bei jeder neuen Ausgabe von Schuldverschreibungen geringer wird.
Schädigungen erfahren sodann die Einzelstaaten und die Kommunen bei der
Aufnahme von Anleihen für ihre Bedürfnisse auf den verschiednen wirtschaft¬
lichen und sozialen Gebieten. Vor allem werden aber auch die deutschen An¬
leiher geschädigt und der Neichsbankdiskont, namentlich in Zeiten, wo Industrie
und Gewerbe blühen und das Geld knapper zu werden beginnt, übermäßig
in die Höhe geschnellt, sodciß Landwirtschaft, Industrie und Handel nachteilig
beeinflußt werden. Dazu tritt die Gefahr, daß einmal die Zeichnung gerade
dann einen Mißerfolg haben könnte, wenn Staat oder Reich das Geld be¬
sonders dringend gebrauchen. Wenn auf Grund der gemachten Erfahrungen
mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden kann, daß man die Anleihe kurze
Zeit nach der Emission unter dem Zeichnungskurse erhält, so wird man sich
einfach nicht mehr an der Subskription beteiligen.
In den Jahren 1895/96 erlangte das Reich für seine dreiprozentige An¬
leihe in Höhe von 33^ Millionen Mark einen durchschnittlichen Begebuugs-
preis von 99,30 Prozent. Seither hat es Anleihen zu 3, 3^ und 4 Prozent
im Gesamtbetrage von 1783 Millionen Mark begeben, für die es einen Erlös
von 1686 Millionen Mark erhalten hat, und deren Zinsendienst jährlich
59,1 Millionen Mark erfordert.
Wäre es dauernd möglich gewesen, so führte der Reichskanzler im An¬
schlusse an diese Zahlen aus, den Anleihebedarf durch Begehung von drei-
prozentigen Obligationen zum Kurse der Jahre 1895/96 zu decken, so würde
zur Erreichung desselben Erlosch ein um 84^ Millionen Mark geringerer
Zinsendienst möglich sein. Ende Oktober 1897 waren an Neichsanleihescheinen
zu drei und dreieinhalb Prozent 2153 Millionen Mark vorhanden, deren
Kurswert sich auf Grund des durchschnittlichen Kurses vom Oktober 1897 auf
2159^ Millionen Mark stellte. Nach dem Kurse vom 31. August v. I. be¬
läuft er sich nur noch auf 1906^ Millionen Mark, sodaß die Gesamtheit
der Besitzer dieser heimischen mündelsichern Anleihen, insonderheit das deutsche
sparende Publikum, infolge der Verschlechterung der Marktlage eine Ver¬
minderung seines Vermögens um 252^ Millionen Mark oder 11,71 Prozent
zu beklagen hat. Diese Verluste treffen aber gerade vielfach den kleinern
Rentner und den sogenannten Mittelstand.
Das Reich hat also die dringende Verpflichtung, hier Abhilfe zu schaffen;
denn im Interesse der volkswirtschaftlichen Produktion hat jeder Staat die
Aufgabe, das Sparen zu befördern; es ist eine Pflicht für den einzelnen, für
ein Volk, für die Menschheit.
Wenn nach Samuel Laing „produktiver Fleiß das einzige Kapital ist,
das ein Volk bereichert und das nationale Gedeihen und Wohlbefinden fördert",
so muß sich Staat und Gesellschaft wie das Individuum immer die Pflicht
vor Augen halten, dieses Kapital durch Sparen zu erhalten. Dieses allein
ermöglicht den wirtschaftlichen und dient dem Kulturfortschritt. Je mehr ge¬
spart wird, je mehr sich unsre Produktionsmittel vervollkommnen, je mehr
Kapital in der Produktion mitarbeitet, um so großartiger sind deren Leistungen.
Vom Standpunkte der Produktion aus kann nie genug gespart werden. Die
Beschränkung der Naturgüter wird durch das Sparen ersetzt. In Gegenden,
wo arme, unzivilisierte Völker trotz ihrer geringen Anzahl keinen Platz mehr
hatten, dort wohnen jetzt, nachdem die durch die Sparsamkeit gewonnenen
Hilfsmittel die Produktivität der Natur unendlich gesteigert haben, Millionen,
und weitere Millionen können mit der Zeit dort Platz finden.*)
So ist die Entwicklung, die Zukunft der Menschheit mit dem Sparen
eng verknüpft. Unsre auf dem Privateigentum beruhende Wirtschaftsordnung
leistet dem Sparer großen Vorschub und gibt damit im Gegensatz zu einer
kommunistischen, wo nur durch den Staat gespart würde, die Möglichkeit eines
unaufhaltsamen Fortschritts, einer immer steigenden Kulturentwicklung. Ein
Zustand ohne Sparen wäre der Pflicht der Menschheit, sich immer weiter zu
entwickeln, direkt entgegengesetzt.^)
Neben der Anlage in Staatspapieren erfolgt das Sparen, abgesehen von
dem Erwerbe von Lebens- und andern Versicherungen, in den Sparkassen.
Für diese ist aber eine gesunde Anleihepolitik von großer Bedeutung.
Wird sie nicht gehandhabt, so werden die Sparkassen geschädigt, und hierdurch
der Sparer wiederum von einer ausgiebigen Beteiligung an ihnen abgehalten,
das sparen also wiederum beschränkt.
Denn die Sparkassen sind darauf angewiesen, einen Teil ihrer Aktiv¬
kapitalien in Staats- und Neichscmleihen anzulegen.
Vorweg will ich bemerken, daß die Höhe dieser Anlagen eine bestimmte
Begrenzung haben muß. Denn die kommunalen Sparkassen sind zunächst dazu
da, den Real- und, wie ich noch mehr wünschen möchte, den Personalkredit in
ihren Bezirken zu pflegen und den Kreisen zugänglich zu machen, aus denen diese
Kapitalien stammen. Auch besteht bei einer übermüßig hohen Anlage der Spar-
kassenkapitnlien in Staatspapieren die Gefahr der Verquickung des Sparkassen-
und Staatskredits, die, wie die weiter erwähnten Beispiele zeigen, sehr leicht
verhängnisvoll werden kann. Die Anwendung der französischen und der
englischen Verhältnisse halte ich für Deutschland nicht für wünschenswert. Die
Spargelder der französischen Sparkassen müssen an die Baisse <Zos Depots et
L!on8iAnatioll3 abgeliefert werden, die nach dem Gesetz vom 9. April 1881 ge¬
halten ist, diese Gelder in vglsurs ac trg.n9g.i8 anzulegen. Ebenso
besteht für die englischen Postsparkassen, die unsern kommunalen Sparkassen
entsprechen, das Gesetz, alle Einlagen in solchen Werten anzulegen, die als
gesetzliche Vormundschaftssekuritäten zulässig sind. Der bei weitem größere
Teil wird in englischen Konsols investiert. Im Jahre 1901 betrugen die
anzulegenden Gelder rund 30 Millionen, 1902 16 Millionen Mark. In
Italien darf höchstens ein Sechstel der Sparkasseneinlagen in Hypotheken an¬
gelegt werden.
Immerhin verbleibt aber selbst unter diesem Vorbehalt noch ein Betrag
von mehreren Milliarden, den die deutschen Sparkassen im Interesse der
Liquidität neben andern liquiden Werten, zu denen in erster Linie gute
Wechsel und bei größern Kassen Primadiskonten gehören, in Effekten im Be¬
sitze halten müssen.
Meines Erachtens sollten von solchen Effekten aber nnr Reichs- und
Staatsanleihen in Betracht kommen, da sich die meisten andern mündelsichern
Anleihen, namentlich aber die Stadt- und Kreisobligationen, wegen ihrer schweren
Verkäuflichkeit zur Anlage für die Sparkassen nicht eignen. Besonders ist aber
die übermäßige Anlage der Kapitalien der Sparkassen in den Anleihen des
eignen Garantieverbandes wegen der hierdurch entstehenden Verquickung des
Gemeindekredits mit dem Sparkassenkredit bedenklich. Durch diese Verbindung
werden für die garantierende Gemeinde ähnliche Gefahren heraufbeschworen, wie
sie bei der ausschließlichen oder vorwiegenden Anlage der Sparkassenkapitalien
in Staatspapieren bei den Staats- und Postsparkassen für den Nationalwohl¬
stand entstehn können. Das Beispiel bietet hierfür unter anderm Frankreich,
wo, wie schon erwähnt worden ist, die Einlagen der Sparkassen an den Staat
abgeliefert werden müssen. Infolge dieser engen Verbindung der Sparkassen¬
gelder mit den französischen Staatsfinanzen mußten die französischen Sparkassen
an allen politischen Bewegungen des Staates unmittelbar teilnehmen. Er¬
fahrungen der traurigsten Art machte im Jahre 1848 besonders die große
Pariser Sparkasse, deren Einlageguthaben binnen Jahresfrist von 80 auf
10 Millionen Franken zusammenschmolz. Die Sparkasse mußte für 80 Millionen
Franken Wertpapiere mit einem Verlust von 2,65 Millionen Franken veräußern
und schließlich doch die Barzahlungen einstellen. Die Einleger wurden genötigt,
statt baren Geldes Staatspapiere, die 64 wert waren, zum Zwangskurse von
80 anzunehmen. Ähnliche Vorgänge haben um die Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts das bayrische Sparkassenwesen wegen dessen damaliger enger Ver¬
bindung mit der Staatsschuldentilgungskasse erschüttert.
Wenn nun auch durch eine Verbindung von Gemeinde- und Sparkassen¬
finanzen nicht gerade Gefahren in dem vollen Umfange, wie die erwähnten,
zu befürchten sein möchten, so könnten sie unter Umständen doch in schwierigen
Zeiten zu einer unliebsamen Bedrückung der Steuerzahler, wenn nicht gerade
zu einem wirtschaftlichen Ruin der einzelnen Gemeinde führen. Einzelne
Regierungen sind daher auch der starken Verbindung beider Kredite entgegen¬
getreten.
Das badische Gesetz macht die Anlegung in Partialobligationen oder
andern Schuldverschreibungen der bürgenden Gemeinden von einer besondern
staatlichen Genehmigung abhängig. In Preußen ist durch Ministerialerlaß vom
5. November 1902 verboten, mehr als ein Viertel des Gesamtbcstandcs der
Sparkasse an den eignen Garantieverband und außerdem an fremde Garantie¬
verbände mehr als noch 25 Prozent, im ganzen also mehr als 50 Prozent des
Gesamtbestandes auszuleihen.
Am ablehnendsten verhält sich die sächsische Regierung. Sie hat durch
Verordnung die Gewährung von Darlehen aus einer Gemeindesparkasse an die
garantierende Gemeinde für unzulässig erklärt und auch die Anlage in Schuld¬
scheinen derselben Gemeinde untersagt, „nicht sowohl wegen mangelnder Sicher¬
heit der Gemeindeschuldscheine, als wegen der zu befürchtenden Beeinträchtigung
der Sparkasse in der nach Befinden erforderlichen Geltendmachung ihrer Rechte
gegenüber der Stadtgemeinde als ihrer Schuldnerin". Ebenso ist in Sachsen-
Altenburg verboten, Sparkassengelder in Anleihepapieren der garantierenden
Gemeinde oder einer Korporation, deren Mitglieder mit den Mitgliedern der
politischen Gemeinde vollständig oder doch zum überwiegenden Teile identisch
sind (Kirchen-, Schul- usw. Gemeinde) anzulegen; gleicherweise sind Darlehen an
diese Korporationen untersagt. Diesen Standpunkt halte ich für den richtigsten.
Zurzeit machen die Anlagen der preußischen Sparkassen in Staatspapieren
10,5 Prozent der Sparguthaben aus, indem 214 Millionen in Schuldver¬
schreibungen des Reiches und 714 Millionen Mark in solchen Preußens angelegt
waren. Dagegen waren in Jnhciberpapieren überhaupt 25 Prozent angelegt.
Meines Erachtens müßten also noch weitere 15 Prozent in Staats- und
Neichscmleihen angelegt sein, schon im Interesse der größern Liquidität der
Sparkassen, denn im Falle eines Rums in Kriegszeiten würden die meisten
Kommunalobligationen nicht verkäuflich sein, und Lombardierungen sind sogut
wie ausgeschlossen. Waren doch 1866 sogar viele deutsche Staatsanleihen um
30 bis 40 Prozent im Kurse gefallen, und Lombardierungen dieser Werte
waren damals trotz der höchsten Zinssätze vielfach gar nicht möglich. Viele
Sparkassen gerieten in schwere Bedrängnis, da ein solcher Ansturm der ihre
Guthaben fordernden ängstlich gewordnen Einleger erfolgte, daß jene völlig zu
versagen drohten. So mußten die Kassen in Karlsruhe und Pforzheim Staats¬
hilfe in Anspruch nehmen. Auch 1870 brachte zunächst sogar einen ähnlichen
Kurssturz der preußischen Anleihen, und in Österreich versagten damals die
Banken auf Vorschüsse. Immerhin sind Staatsanleihen unter allen Verhält¬
nissen noch weit liquidere Werte als die schwerfälligen Kommunalpapiere.
Der preußische Minister des Innern hat kürzlich zugelassen,, daß die
Sparkassen, die sich freiwillig einer statutarischen Bindung in der Anlegung
ihrer Bestände unterziehen wollen, indem sie eine Anlegung von 30 Prozent
des verzinslich angelegten Vermögens in Jnhaberpapieren, davon die Hälfte in
Reichs- und Staatspapieren, und bis zur Erreichung dieses Besitzstandes die
gleiche Anlegung von vier Zehnteln des jährlichen Vermögenszuwachses statuieren,
eine Verlangsamung der Reservefondsansammlung vornehmen dürfen.
Diese Maßregel ist im Interesse der vielfach vermißten Liquidität freudig
zu begrüßen, aber sie erscheint mir nicht zureichend, da sie auch andre als
Staatsrenten als Anlagepapiere zuläßt; ein solches Verbot könnte freilich nur
im Wege der Gesetzgebung erlassen werden.
Wenn aber hiernach für die Anlage der Sparkapitalien von mündelsichern
Effekten vorzugsweise oder ausschließlich nur Neichsanleihen und Staatsanleihen
in Frage kommen dürfen, dann haben Reich und Staat natürlich allein schon
im Interesse der Sparer und der Sparkassen, die einen großen Teil des Volks¬
vermögens in sich bergen, die unabweisliche Pflicht, ihr Anleihewesen und ihre
Finanzgebarung so einzurichten, daß die von ihnen ausgegebnen Rcntenpapiere
einen angemessenen und stabilen Kursstand haben. Sie haben ferner die Pflicht,
den Sparkassen den möglichst billigen Erwerb ihrer Anleihen zu ermöglichen,
was dadurch geschehen kann, daß ihnen bei der Zeichnung billigere Bedingungen
lind Vorrechte, insbesondre ein geringerer Zeichnungskurs, zugestanden werden.
Jedenfalls empfiehlt es sich, dieses Mittel anzuwenden, solange nicht ein Gesetz
besteht, das den Sparkassen verbietet, Bestände in den Obligationen des eignen
Garantieverbandes anzulegen — ein Gesetz, das einstweilen aus naheliegenden
Gründen auf Schwierigkeiten stoßen würde.
Wie dringend die Pflicht des Staates ist, die Sparkassen auf jede Weise
zu unterstützen, ergibt sich aus der Bedeutung dieser Institute, die durch die
Zahlen in der Tabelle auf Seite 180 und 181 veranschaulicht wird.
Während nun auf der einen Seite als Pflicht der Gesetzgebung angesehen
werden muß, durch Einführung einer vernünftigen Anleihepolitik im Reiche
dem Sparer eine bessere Möglichkeit zum Sparen zu geben, darf auf der
andern Seite auch die vom Fürsten Bülow in seiner Reichstagsrede cmsge-
sprochue Mahnung zum Sparen von dem einzelnen Staatsbürger nicht un¬
berücksichtigt bleiben. Der Reichskanzler hat in dieser Beziehung auf Frank¬
reich hingewiesen, das an Kapital und Liquidität noch immer das reichste
Land der Erde sei, und zwar hauptsächlich vermöge seines Sparsinns und
seiner Sparkraft. Wenn ich auch die französischen Sparkasseneinrichtungen
— namentlich wegen der oben berührten engen Verbindung des Sparkassen¬
kredits mit dem Staatskredit — keineswegs als vorbildlich bezeichnen möchte,
so sind doch andrerseits die Sparleistungen des französischen Volkes als hervor¬
ragend zu bezeichnen. Diesen hat es Frankreich zu verdanken, daß es vor
wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten bewahrt worden ist, wenn
andre Länder, die weit größere wirtschaftliche Kräfte in sich bergen, von
schweren Erschütterungen berührt wurden und unter der Last der höchsten
Zinssätze litten.
Was heißt sparen? Es bedeutet: durch Konsumbeschrünknng einen Ver¬
mögenszuwachs schaffen. Jede durch Konsumbeschrünknng entstandne Ver¬
mögensbildung nennen wir Ersparnis. Zur Bestimmung des Sparbegriffs
ist also immer zweierlei notwendig: Vermögensbildung und Konsumbeschränkung.
Hiernach beantwortet sich auch die Frage, ob oder inwieweit der einzelne
sparen kann; es muß für ihn die Möglichkeit bestehen, seinen Konsum ein¬
zuschränken. Der der untersten wirtschaftlichen Stufe angehörende, der Hand¬
arbeiter, ist also nur in der Lage, Ersparnisse zu machen, wenn sein Lohn so
hoch ist, daß er nicht genötigt ist, ihn voll zur Bestreitung seines Konsums
zu verwenden. Man sieht deshalb, daß in den Ländern, wo die Löhne höher
sind, wie in Amerika und England, auch mehr von den Arbeitern gespart wird;
dies trifft auch auf die industriellen Gegenden Deutschlands zu. Soweit ist
das Sparen der ürmern Stände ein Zeichen sozialer Kraft und gesunder Volks¬
wirtschaft. Auf der andern Seite müssen in ausreichendem Maße Einrichtungen
getroffen werden, die dem Arbeiter und Minderbemittelten jede Gelegenheit
zum Sparen geben und dieses erleichtern, namentlich gilt dies auch von den
jüngern Leuten, die noch keine Familie zu ernähren haben, andrerseits aber
oft schon einen verhältnismäßig hohen Lohn beziehen. Schul-, namentlich
Fortbildungsschulsparkassen, Mietzins-, Fabrik- und andre Betriebssparkassen
müssen hier das ihrige tun. Zweifellos kann auf diesem Gebiete in Deutsch¬
land noch viel geleistet und unsern Volksangehörigen noch jährlich viele
Millionen Spargelder entlockt werden, wenn es gelingt, wie es der im
Jahre 1907 gegründete Volkssparverband für Deutschland anstrebt, durch ent¬
sprechende Einrichtungen die Spargelegenheiten zu vermehren und zu verbessern.
Neben der Begründung der vorgenannten das Kleinsparwesen befördernden Spar¬
kassen bieten hierzu vorzügliche Mittel die Einführung geeigneter Prämien-
und Alterssparsysteme und die Anwendung des Heim- oder Hanssparbüchsen¬
wesens, das in Amerika und später in Österreich so große Erfolge errungen
hat. Diese Heimsparkasse ist eine sinnreiche Ausgestaltung der alten Spar¬
büchse, und eben weil sie sich an eine alte und bekannte Einrichtung aufs
innigste anlehnt, weil sie nicht Gewöhnung an etwas neues und fremdartiges
verlangt, wird sie vom Publikum ohne Schwierigkeit angenommen. Die Aus¬
gestaltung besteht darin, daß die Büchse versperrt ist, und daß sich der Schlüssel
nicht beim Sparer, sondern bei der Sparkasse befindet und daher jedes kleine
Geldstück, das als Spargeld in die Büchse gelegt wird, auch tatsächlich beim
Sparinstitut als Spareinlage abgeliefert werden muß. Der erfindungsreiche
Amerikaner hat kürzlich diese Einrichtung dahin ergänzt, daß auch solche
Büchsen angefertigt werden, die vom Sparer in der Tasche getragen werden
können, sodaß er also jederzeit Gelegenheit hat, Spargroschen in die Büchse
zu legen. Nach Füllung der Büchse wird diese auf die Sparkasse gebracht,
dort entleert und der Inhalt verzinslich angelegt. Als Vorteile, die das
Heimsparkassensystem den Sparern bringt, sind zu bezeichnen: große Bequem¬
lichkeit der Einleger, Schutz vor planlosen Geldausgaben, Anleitung zum
Sparen und daher vielfach Sicherung der wirtschaftlichen Existenz. Die Spar¬
kassen erreichen den Beitritt neuer Einleger, indem ganze Bevölkerungsschichten,
die bisher brachlagen, dem Sparwesen zugeführt werden, und damit die Ver¬
mehrung des Einlegerstandes, die Vergrößerung ihrer Einflußsphäre und ihrer
wirtschaftlichen Bedeutung. Auch werden durch das Heimsparbüchsensystem
natürlich zunächst kleine Einleger herangezogen.
Das Heimsparbüchsenwesen war schon vor etwa zwei Jahren in Osterreich
in rund hundert Sparkassen eingeführt, seitdem hat es sich dort dank der er¬
folgreichen Tätigkeit der Gesellschaft zur Einführung des Heimsparbüchsen¬
systems, G. in. b. H., in Wien, einer gemeinnützigen Anstalt, ganz außer¬
ordentlich weiterentwickelt. Ähnlich wie diese Gesellschaft hat es sich der
Volkssparverband für Deutschland neben seiner sonstigen gemeinnützigen auf
die Beförderung des Spar- und Versicherungswesens gerichteten Tätigkeit zur
Aufgabe gesetzt, das Heimsparwesen in Deutschland, namentlich auch in den
Kreisen der städtischen Sparer, wo es noch weniger Eingang gefunden hat, in
gewerblichen Vereinen und Verbänden der Angestellten im Handelsstande und
verwandten Bevölkerungsschichten einzuführen. Er gibt die Büchsen, die er in
größern Mengen von verschiednen Fabriken bezieht, zu sehr billigen Preisen
ab und ist vor allem auch bestrebt, mit der Heimsparbüchse das Abholungs¬
system zu verbinden, um die Sparsystemeinrichtung recht erfolgreich zu gestalten.
Es ist nicht daran zu zweifeln, daß auch das deutsche Sparwesen durch diese
Tätigkeit des Verbandes eine große Förderung erfahren wird.
Das Wort des Fürsten Bülow: „Wir sind reich geworden, aber wir
müssen noch viel reicher werden für unsre wirtschaftliche und politische Stellung
in der Welt", ist unbedingt richtig, und weiter ist es richtig, wenn der Reichs¬
kanzler fortführt: „Von jeher war der Reichtum ein Mittel zur Macht, und
er wird es mit jedem Jahrzehnt mehr, weil in jedem Jahrzehnt die wirt¬
schaftlichen und finanziellen Beziehungen und die Abhängigkeitsverhältnisse
wichtiger werden für die internationalen Beziehungen und für die Gruppierung
der Völker." Während, um mit Samuel Sinnes*) zu reden, das Ziel der
Haushaltungskunst in der Herbeiführung und Förderung des Wohlbefindens
der einzelnen besteht, richtet sich die Aufgabe der Volkswirtschaft auf das
Schaffen und Steigen des Reichtums der Völker. Der Reichtum der Völker
hat dieselbe Quelle wie der des einzelnen. Der Reichtum wird durch Arbeit
erworben, durch Ersparnisse und Anhäufung zusammengehalten und durch Fleiß
und Ausdauer vergrößert. Die Ersparnisse des einzelnen sind es, die den
Reichtum — mit andern Worten das Wohlbefinden — jedes Volkes aus¬
machen. Andrerseits ist es die Verschwendungssucht des einzelnen, die die
Verarmung der Staaten verursacht. Somit kann jeder sparsame Mensch als
ein öffentlicher Wohltäter und jeder nicht sparsame Mensch als ein öffentlicher
Feind angesehen werden.
Hiernach ist es die Pflicht jedes einzelnen, die Spartätigkeit auszuüben,
und die Pflicht der Gesetzgebung und des Staates, sie mit allen Mitteln zu
befördern, vor allem aber auch alle Hindernisse, die ihr entgegenstehn, zu be¬
seitigen. Möge hierzu die Reichsfinanzreform nach Kräften beitragen!
n dem von uns schon erwähnten Buche von W. Prion, Das
deutsche Wechseldiskontgeschäft, mit besondrer Berücksich¬
tigung des Berliner Geldmarkts (Leipzig, Duncker Humblot,
1907) behandelt der Verfasser zum erstenmale monographisch eins
der wichtigsten Aktivgeschäfte der Banken. Er stellt zunächst das
Privatdiskontgeschäft an der Börse dar, Geldgeber, Material und Organisation
beschreibend, sodann schildert er das Diskontgeschäft der Zentralnotenbank, der
Seehandlung, der Preußenkasfe und der Großbanken, zum Schluß das sonstige
Diskontgeschäft des Landes: Provinzbanken, Privatbankiers. Genossenschaften,
Sparkassen, Wucherkredit. Der Verfasser hat sein Thema nicht erschöpft, doch
leistet er innerhalb des selbstgewählten Rahmens zum größten Teil vorzügliches.
Das dem erfahrnen Praktiker wohlbekannte Material wird in der übersicht¬
lichen und gewandten Darstellung für den jüngern Praktiker sehr belehrend
und besonders für den Theoretiker, den Volkswirt, von hohem Interesse sein
und ihm Aufklärung über den Wechselverkehr, der im Wirtschaftsleben eine so
hervorragende Rolle spielt, bringen.
Das ganze Buch durchzieht die Klage: Es besteht ein scharfer Gegensatz
zwischen den Privatbanken und der Reichsbank. Entspricht diese Behauptung
den Tatsachen, so müßte das auf das tiefste beklagt werden, da ein solches
Verhältnis auf die Dauer undenkbar ist; es müßte die größten Schäden für
das Wirtschaftsleben zur Folge haben. Und doch kann der Verfasser hier eine
gewisse Autorität beanspruchen; er muß über den Geschäftsverkehr der Reichs¬
bank ganz besonders eingehende Studien angestellt haben, da er in dem be¬
treffenden Abschnitte Mitteilungen über die Geschäftsprinzipien der Reichsbank
bringt, die in diesem Umfange in der Öffentlichkeit bisher noch nicht bekannt
gewesen sein dürften. Das Ergebnis des Abschnittes über das Wechseldiskont¬
geschäft der Neichsbank ist geeignet, berechtigtes Aufsehen zu erregen, !
In den letzten zwanzig Jahren ist der größte Teil der Kreditgewährung
an die Privatbanken übergegangen; die Reichsbank wird von dem Verkehr mit
der Geschäftswelt immer mehr zurückgedrängt. Mit großer Deutlichkeit ist eine
Verschlechterung der Stellung der Reichsbank in der Kredit- und Bank¬
organisation Deutschlands zu beobachten, auch sind alle Anzeichen vorhanden,
daß diese Entwicklung in derselben Weise weitergehen wird. So ist die Lage
der Reichsbank nach Prion eine geradezu verzweifelte: eine Besserung ihrer
Stellung im Kreditverkehr wird sie kaum erreichen können, falls nicht die
wenigen Großbanken in irgendeiner Form eine Verständigung untereinander
und mit der Reichsbank in bankpolitischen Angelegenheiten herbeiführen.
Wenn die Reichsbank nicht ganz zur Seite gedrückt werden und
nur noch als Notbehelf der Kreditbanken dienen will, so bleibt
ihr nichts andres übrig, als an eine vollkommne Umwandlung
ihrer Geschäfte zu gehen! (S. 157/58.)
Diese pessimistische Zustandsschilderung kommt gerade zurecht zu den nahe
bevorstehenden Neichstagsverhandlungen über die Bankgesetznovelle. Der
Reichstag wird zu prüfen haben, ob die Lage der Reichsbank tatsächlich so
bedrohlich ist.
Als wichtige Änderung in der Diskontpolitik der Reichsbank empfiehlt
Prion die Anwendung eines Vorzugssatzes für gute Handelswechsel, d. i. die
Umkehrung der alten Forderung, daß Finanzwechsel nur zu einem höhern
Satze angekauft werden sollen. Ferner empfiehlt Prion die Annahme ver¬
zinslicher Depositen und die Einrichtung des Kontokorrentgeschüfts. Eine aus¬
führliche Behandlung dieser großen Probleme hätte sich durchaus in den
Rahmen des Themas eingefügt, da die Stellung des wichtigsten Diskonteurs
nach allen Seiten hin hätte beleuchtet werden können. Der Verfasser tut diese
Probleme aber auf etwa anderthalb Seiten ab und bemerkt nur, daß gegen
seine Reformvorschläge keine andern als doktrinäre Bedenken geltend gemacht
werden könnten. Da die Bankenquetekommission — wenn die Zeitungsnach¬
richten richtig sind — die Annahme verzinslicher Depositen seitens der
Reichsbank nicht empfohlen hat, so müssen nach Prion die Doktrinäre in der
Kommission die Majorität gehabt haben.
Ebenfalls die größte Beachtung verdient, was der Verfasser über die
Stellung der Königlichen Seehandlung (Preußische Staatsbank) zur Wertpapier¬
spekulation sagt. Durch die Hingabe von Ultimogeld führt die Seehandlung
den Spielfonds der Spekulation um geringer Zinsgewinne wegen Staats¬
mittel zu, und zwar zu den billigsten Sätzen des ganzen Marktes, während
auf der andern Seite der Staat durch die Börsengesetzgebung einen Druck auf
die Börse auszuüben sucht.
Auch im Privatbankwesen stellt der Verfasser verschiedne Übelstände fest,
so vor allem die eigentümlichen Vorgänge bei der Festsetzung des Privat¬
diskontsatzes, dessen Höhe oft geradezu eine Machtfrage der verschiednen Bank-
gruppen ist. Selbst zu teuern Zinsen im Auslande beschafftes Kapital leihen
die Banken am Berliner Geldmarkt zu billigen Sätzen aus, um beispielsweise
die Emission ausländischer Papiere zu fördern. Prion weist auf verschiedne
Arten der Bilanzverschleierung hin (S. 233) und schließlich auf die bedenkliche
Sitte des Akzeptaustausches, der an die Stelle der früher unter den Provinz¬
banken üblichen Finanzakzepte getreten zu sein scheint (S. 63 u. S. 132).
Viel zu kurz sind zwei sehr wichtige Gebiete, das Devisengeschäft und
der Rembourswechsel, behandelt. Über die Entstehungsgründe der Wechsel
sind hier und da einige Bemerkungen verstreut, während sich vielleicht eine
gesonderte zusammenhängende Darstellung empfohlen hätte. Hierbei hätte ge¬
schildert werden sollen, wieweit die wirtschaftliche Natur des Wechsels äußerlich
erkennbar ist, und welche Mittel der Bankpraxis außerhalb des Wechsels zur
Verfügung stehn, um das Verhältnis der Wechselverpflichteten zu ergründen.
Das besonders für die Zwecke des Wechselverkehrs eingerichtete eigenartige
Auskunftswesen der deutschen Banken hätte unbedingt beschrieben werden sollen.
Überall da, wo dem Verfasser zu große Schwierigkeiten entgegentraten,
hat er, leider, seine Forschungen eingestellt; wie er einleitend selbst bemerkt,
wuchsen die Schwierigkeiten mit der Menge des Stoffes und noch mehr mit
den räumlichen Umständen. So ist es zu erklären, daß der Verfasser über
das Diskontgeschäft des Privatbankiers nichts neues ermittelt hat; was er
darüber bringt, sind großenteils nur Vermutungen. Und doch hätte hier mehr
geleistet werden können. In den letzten Jahren haben sich dankenswerterweise
verschiedne Privatbankiers durch Veröffentlichungen an der wissenschaftlichen
Erforschung des Bankgeschäfts beteiligt. Von dieser Seite hätte Prion ver¬
mutlich interessante Angaben erhalten können.
Das Schatzscheingeschäft am englischen Geldmarkt ist nicht ausreichend ge¬
schildert. Beim Wucherkredit findet sich der unklare Satz: „Das Wechselsystem
beruht ja darauf, daß in dem Wechsel überhaupt nicht die Rede von Zins
sein kann" (?).
Wir vermuten, daß der Verfasser sehr bald Gelegenheit haben wird, bei
einer zweiten Auflage unsre Ausstellungen in Erwägung zu ziehen. Doch
auch heute schon ist sein Buch das beste, was auf diesem Gebiete existiert.
„Die Grundlagen unsers Depositen- und Scheckwesens" (Jena, Gustav
Fischer, 1908) hat Dr. Siegmund Proebst in einer Weise dargestellt, die volle
Anerkennung verdient. Trotz der überreichen Literatur über das Scheckwesen
hat es der Verfasser verstanden, dem Stoff neue Seiten abzugewinnen. Da¬
durch, daß der Verfasser die Regelung des Depositenwesens in den Kreis seiner
Betrachtungen zieht, wird sein Buch in hohem Grade aktuell. Dr. Proebst
stellt alle wichtigern Vorschläge zur Sicherung der Depositen vollzählig zu¬
sammen und wägt die Licht- und Schattenseiten jedes einzelnen ab. Der Ver¬
fasser ist im Gegensatz zu Prion ein Gegner der Annahme verzinslicher De¬
positen durch die Reichsbank. Proebst empfiehlt die Beibehaltung des gegen-
wärtigen Zustandes, der die Reichsbank zur Annahme verzinslicher Depositen
berechtigt, ohne daß sie jedoch von dieser Berechtigung Gebrauch macht, weil
durch diesen Zustand ein heilsamer Druck auf die Privatbanken ausgeübt wird,
das Depositengeschäft nicht in einem Maße auszudehnen, das in einem starken
Mißverhältnis zu ihrem eignen Kapital und dem Reservefonds stehen wurde.
! er wollte nicht lieber loben als tadeln, und wer schriebe es nicht
gern hin, daß er unter einem gerüttelten Maß Büchern, das der
Zufall gleichzeitigen Erscheinens ihm um die Jahreswende ins
Haus warf, kein einziges gefunden hat, das schlechthin eine
! Niete war, keines, das er nicht mit Interesse gelesen und ge¬
nossen hätte. Aber darüber hinaus muß bei den Büchern, von denen ich
heute sprechen will, noch gesagt werden: es ist keines dabei, das nicht einer
innern Notwendigkeit seine Entstehung verdankte, keines, das nur um der
bloßen Unterhaltung willen, keines, das ohne innern Anlaß geschrieben worden
wäre. Lauter verschiedne Physiognomien, und dennoch zwischen allen, Alten
und Jungen, Nord- und Süddeutschen, Männern und Frauen, das Bindeglied
ernster Arbeit, eines guten Willens, der sich Erlebtes gern von der Seele
schreiben möchte. Es könnte im Grunde über all den Büchern, so verschieden
sie sein mögen, stehn, was Heinrich Kraeger über eine Sammlung von Ar¬
beiten geschrieben hat, die er seinen ästhetischen und kunsthistorischen Studien
entnahm: „An Deutschland" (Berlin, Martin Warneck). Nicht jedem der
neuen Werke ist der nationale Elan eigen, der dieses schöne Buch auszeichnet,
aber jedem eine redliche Arbeit um der Sache willen, also etwas, was man
mit Richard Wagner, und nicht erst seit ihm, als deutsch im besondern Sinne
bezeichnet. Kraeger stellt sich unter das Zeichen Fichtes, dessen Reden an die
deutsche Nation er im Laufe der Betrachtungen viel schöne und starke Worte
entnimmt. Er bringt Huldigungen für Peter Janssen, den Toten, und Eduard
von Gebhardt, den Siebzigjährigen, die eben Huldigungen sind und deshalb
manches an scharfer Charakteristik vermissen lassen. Er bringt dann schöne
Worte zu Schillers Gedächtnis und recht warme und lebendige Erinnerungen
aus seiner Tätigkeit als Kunstprofessor in Amerika. Wertvoller als all dies
aber erscheinen mir die Betrachtungen, die er unter der Überschrift „Mensch
und Kunst" zusammenfaßt. Man wird jemand, den man in die Begriffe der
künstlerischen Anschauung und der künstlerischen Schöpfung einführen will,
beides kaum besser nahebringen können als durch die Art, in der Kraeger
hier einfache und trotzdem oft überraschende Vorgänge des Lebens betrachten
lehrt. Was Licht, Farbe, Bewegung, Reflexe bedeuten, wird hier an Bei¬
spielen von der Straße, aus der Natur gezeichnet. Die Analyse zufällig be¬
obachteter kindlicher Spiele, harmloser Vorgänge von unbeabsichtigter Licht¬
wirkung ist schlechthin meisterhaft, wundervoll die Darstellung kleiner Bilder
aus der Natur, eines gegen die Sonne gestellten Mädchenkopfes, eines Busches
von Rhododendren im Schatten großer Bäume. Das stolze deutsche Be¬
wußtsein, das die dann folgenden Betrachtungen über deutsche Kunst im be¬
sondern durchzieht, gibt ihnen den feinsten Reiz, der am längsten nachwirkt;
nur daß wir freilich das, was das eigentlich Deutsche, die letzte deutsche Note
in unsrer Kunst ist, am Ende selbst aus so beredter Auseinandersetzung nicht
lernen, sondern nur von den Werken selbst.
Da wüßte ich keines, das uns diesen Charakter so unbeirrt vermittelte
wie der biographische Roman „Leben und Lüge" von Detlev von Liliencron
(Berlin, Schuster Löffler). Ein überaus seltsames Buch und doch, oder
vielmehr gerade deswegen, durchaus in der Linie Liliencronscher Poesie, eine
Art Abschluß in Prosa, wie das Epos „Poggfred" ein solcher in Versen ist.
Gleich im Beginn dieses Epos fragt Liliencron einmal:
Und dasselbe könnte er an den Beginn dieses Romanbuches schreiben. Er
erzählt die Geschichte eines jungen preußischen Aristokraten, der als Sohn
eines Generals in einer kleinen preußischen Festung an der Westgrenze zur
Welt kommt und später der Erbe des letzten, unermeßlich reichen Gliedes aus
der dänischen Linie seines Hauses wird. Diese Genesis ist sehr fein gewählt;
sie gibt dem jungen Offizier, der die Feldzüge von 1866 und 1870 ankämpft,
von vornherein etwas fremdartiges, das ihn von seiner Umgebung abhebt,
und diese Fremdartigkeit wird noch gesteigert durch die entfernte Herkunft von
südfranzösischen Troubadouren, die dem jungen Kai von Vorbrüggen unbewußt
im Blut spukt, und durch seinen geheimnisvollen Zusammenhang mit dem
Gestirn des Aldebaran. Und so verflechten sich nun in den Lebenslauf dieses
Junkers stillfrohe Schuljahre in Kiel und auf dem Lande bei Hamburg (er¬
freulicherweise ohne das ewige Gestöhne über die Pedanterie unsrer Gymnasien),
Leutnantsjahre in Mainz und während der polnischen Aufstandsgefahr in
Posen, zwei Abschnitte militärischen Lebens, die eine wundervolle Nachtszene,
der Vorbeimarsch des Bataillons auf der Durchreise im Winter beim alten
König Wilhelm vorüber, verbindet. Dann die Zeit des Besitzes auf der
Herrschaft Tangbüttel nach dem Tode des letzten dänischen Vorbrüggen, Welt¬
reisen, ein kurzes, jäh abbrechendes Liebesglück und schließlich eine stille, innige,
tief befriedigte, kindergesegnete Ehe. Und der zum Landsassen gewordne Offizier,
dessen Kriegstagebücher uns mit unerreichter Lebhaftigkeit Graus und Glanz
der Feldzüge wiederbringen, eine Ergänzung zu Liliencrons Kriegsnovellen —
der Schloßherr von Tangbüttel wird nun Dichter, spricht nicht eben mit
professioneller Hochachtung von seiner Lyrik, aber mit tiefer Liebe von der
seiner großen deutschen Vorgänger, unter denen ihm noch ganz am Ausgang
das herbe unb dunkle Talent Brentanos entgegenquillt. Wir wir es von
Liliencron wissen, so entdeckt auch Kai Vorbrüggen in sich den Dichter, da
er in wehmütigen Gedächtnis seiner Kameraden eine alte Photographie
vornimmt und wie gezwungen, wie im Traum auf die Rückseite die Verse
schreibt:
Kai von Vorbrüggen verschwindet endlich, langsam ein ganz Einsamer
geworden, auf unentdeckte Weise, hingezogen von seinem Lebensstern, dem
Aldebaran. Und kurz vor seinem Ende erreicht das Buch, das überall ein
bald sonniger, bald wehmütiger Humor durchzieht, deu Höhepunkt in einem
Gespräch Kais mit seinen nun auch altgewordnen Jugendfreunden, Henning
von Smalstede und Klaus Minder. Kai fordert, unbewußt schon seines nahen
Endes gewiß, die Freunde auf, einmal ganz offen gegenseitig zu bekennen,
was sie vom Leben und vom Tode denken. Und nun gibt jeder mit einer
Knappheit, die jede Phrase ausschließt, sein Bekenntnis. Sie sitzen beim Grog,
dessen Rezept Kai kunstgerecht angibt, und doch schwebt über dieser Szene die
Ahnung letzter Rätsel. Henning, der kommandierende General, gibt sein posi¬
tives evangelisches Bekenntnis, Klaus, der Naturforscher, sein,ruhiges Ignoramus
und Jgnorabimus, und Kai, der unterm Aldebaran gezeugt und geboren ist,
seine faustische Liebeserklärung zur einfachsten Arbeit auf urbar werdenden
Feldern, zugleich seine Ahnung von einem Zusammenhang mit frühern, un¬
bekannten Welten, seine Liebe zu Christus, der ihm nichts ist als der un¬
säglich gütige jüdische Zimmermannssohn, seinen Unglauben an ein Weiterleben
im Jenseits, seine Unfähigkeit, einen Gott über uns zu finden. Nur ein
Dichter ersten Ranges kann das so sagen, was Liliencron hier mit einer
deutschen Schlichtheit niedergeschrieben hat, die ihresgleichen sucht. Und so
schließt dieses ganz und gar von Poesie erfüllte, ob auch technisch nicht einem
Roman gleichende Werk mit dem leisen und doch vollen Ton aus einem in
Sturm und Stille bewährten Herzen, das immer wieder Meisterworte und
Meisterfarben fand. Wir Deutschen dürften glücklich sein, wenn nach hundert
Jahren die Menschlichkeit, die aus diesem Werk spricht, als mit dem Ge¬
dächtnis unsers Geschlechts verbunden empfunden werden würde.
Gustav Falke hat bisher als Romanschriftsteller keine rechte Geltung zu
erringen gewußt. In all seinen Prosabüchern waren einzelne Ausschnitte aus
dem Leben und insbesondre aus dem Hamburger Leben lebendig und wirksam,
aber es fiel doch, auch in „Landen und Stranden", das der Dichter noch
einmal umarbeiten will, alles in Einzelheiten auseinander. In dem neuen
Buch „Die Kinder aus Ohlsens Gang" (Hamburg, Alfred Janssen) sind die
frühern Mängel überwunden, und nun in Hamburg fest eingelebt, hat Falke
auch seinen Stil für die Schilderung Hamburger Lebens gefunden. Hamburger
Lebens, nicht des Hamburger Lebens. Gerade weil in ältern Büchern die
Bemühung, verschiedne auseinanderliegende Kreise zu meistern, eine Unruhe
mitbrachte, die den Werken nicht bekam, hat sich Falke hier auf einen Kreis
beschränkt und das Hamburger Kleinbürgertum, das am Hafen lebt, mit dem
Hafen zusammenhängt, sehr glücklich widergespiegelt. Was auch einfache
Schicksale in diesen Kreisen an der Wasserkante so häufig aus dem gemeinen
Lauf der Dinge heraushebt: daß sie nämlich immer verbunden erscheinen mit
Wasser und Meer, mit dem Strom und der überseeischen Schiffahrt, das prägt
sich in Falles Erzählung fein und unaufdringlich aus. Wie mit einem
Silberstift, der nichts verniedlicht und nichts verzerrt, aber doch den Dingen
einen zartern Glanz verleiht, ist alles gezeichnet. So werden uns die kleinen
Schicksale dieser kleinen Leute, die ihnen doch große Schicksale sind, etwas,
und die Leute selbst werden uns vertraut, wie sie in völliger Echtheit dastehn,
dem Boden ihrer Schritte durchaus verwandt, in ihrer Sprechweise den Rest
von Seemannshumor, den der Hamburger Kleinbürger niemals verleugnet.
Auch der Versuchung, sich durch das Hineinziehn der vortrefflichen Be¬
strebungen des Volksheims die Handlung entgleiten zu lassen und sie zu
einem sozialen Programmroman auszurecken, hat Falke widerstanden. Das
Volksheim, hübsch und warm geschildert, bleibt der Hintergrund für die
Menschen aus Ohlsens Gang, die nicht dazu angelegt sind, ihre Schicksale
aufzudonnern, aber freilich auch nicht mit dem Leben spielen, sondern es still
und mit Selbstbescheidung erfüllen und überwinden. Ein feines, liebenswertes,
dauerhaftes Buch.
Auch Hermann Hesses „Nachbarn" (Berlin, S. Fischer) sind kleine Leute,
die, freilich fern vom Weltverkehr, in engen Verhältnissen Geschicke auskosten,
die oft gerade durch ihre Enge tragisch sind. Aber es ist, als ob sich Hesse
einstweilen etwas ausgeschrieben hätte; der Stoff strömt ihm nicht recht, es ist
nicht alles ungequält, und man wird mit seinen Menschen nicht so recht warm
wie im „Peter Camenzind". Es geht diesen Erzählertalenten aus der Süd¬
westecke überhaupt so, auch Jakob Schaffners neuer Roman bedeutet ein leichtes
Abflauen, und man käme fast auf den Gedanken, daß die neue Umwelt dieser
Schwaben und Schweizer uns für ihre ersten Gaben zu sehr eingenommen
hätte, uns, die wir seit zwanzig Jahren fast alle neuen Talente aus dem
Norden erhalten hatten. Daß dem doch nicht so ist, lehrt das Beispiel von
Ernst Zahn, der natürlich auch nicht immer ganz gleichmäßig schreibt, aber
unter dessen Werken der letzten Jahre nicht eins ausfällt. Er erzählt ruhig
und bringt dabei doch immer wieder eine starke Spannung und eine starke
Stimmung in seine Dichtungen, mögen es nun längere Romane oder kurze
Novellen sein. Sein neues Buch „Die da kommen und gehen" (Stuttgart,
Deutsche Verlagsanstalt) enthält einen Kranz von Erzählungen, die sich nicht
unwürdig der letzten Sammlung „Firnwind" anschließen. Wieder zum Teil
ganz einfache Stoffe, und was bei Zahn so oft wiederkehrt, feste Herzen, die
sich durch schweren Lebensdruck ins Rechte kämpfen. Wie jedes Buch von Ernst
Zahn legt man auch dieses reicher geworden aus der Hand, und wo er scheinbar
hart wird, wie in der „Gerechtigkeit der Marianne Denier", empfinden wir
am Ende, daß er uns richtig geführt hat.
Gabriele Reuter, von der wir schon lange kein wirklich in Tiefen greifendes
Werk bekommen haben, hat einen Roman geschrieben: „Das Trünenhcms"
(Berlin, S. Fischer). Es ist ein Buch, das nur sehr ernste und ganz reife
Menschen in die Hand nehmen sollen, das diesen aber, wie ich meine, viel
geben wird. Eine platte, gemeine, ja widerliche Umwelt aus einem weiblichen
Herzen heraus so zu schildern, daß nichts verkleinert und nichts verfälscht,
sondern alles gesagt und doch alles nur zu einem höhern Sinne gesagt wird — das
ist die Kunst dieses Buches. Ich sage zu einem höhern Sinne, nicht in einem
höhern Sinne: die Erzählung umgeht nichts, aber sie ist ausgerichtet auf den
Menschen, der durch Druck und Drang und Schmutz hindurch seine unsterbliche
Seele in Reinheit und ins Licht retten will, und weil er will, auch retten
kann. Das Buch wäre eine vollkommne Schilderung des Schicksals der unehe¬
lichen Mutter, die für sich und für ihr Kind das Leben noch einmal erkämpft,
wenn nicht, freilich nur vorüberhuschend, der greuliche Typus des pflichtlosen
Mannes, den wir erst jüngst bei Schnitzler wieder einmal feststellen mußten,
auch hier hineinspielte, und zwar nicht als ein Thpus für den Pranger, sondern
(unbegreiflich vor Gabriele Reuters klaren Augen) doch noch mit einer Art be¬
scheidner Gloriole.
Eine ganze Kette solch pflichtfremder Männer führt uns Hermann Suder¬
manns Roman „Das Hohe Lied" (Stuttgart, Cottci) vor, freilich nicht, um sie
zu glorifizieren, sondern um zu erweisen, wie ihr rohes Zutappen und Zu¬
greifen eine im Grunde edle und zarte Frauenseele bis in Tiefen hinabzieht,
aus denen sie dann der erste nicht mehr retten mag. der ihr — vulgär
gesagt — anständig naht. Sudermann hat damit ein Problem aufgegriffen, an
das er schon früher gelegentlich gerührt hat, und das der Durchkomposition
wohl wert ist. Wenn sie ihm nicht gelungen ist, und wenn der Roman trotz
vielen interessanten Seiten und feinen Beobachtungen doch kalt läßt, so liegt
das erstens an seiner ungeheuern Breite und dann daran, daß die Heldin, eben
diese in allem Schmutz unbefriedigt und in gewissem Sinne rein gebliebne Frau,
uns doch langweilt. Sie hat zu wenig positiv feine Züge, ist durchweg zu
Passiv und erregt deshalb im Grunde schon, da ihre Jugend in einer von
Greisengier geschloßnen Ehe mißbraucht wird, nicht mehr unser Mitleid, genau
so wenig, wie sie uns später recht erwärmt. Ich stelle mir vor, daß Sudermann
im Laufe der Erzählung der Faden entglitten ist, daß er wo anders hat hinaus
wollen, als wohin er schließlich gelangte, und ich glaube noch immer, daß
Sudermann ein volles Kunstwerk nur noch gelingen wird, wenn er den Anschluß
an die Stimmungen und Stoffe wieder findet, die in der „Frau Sorge" leben,
dem auf seinem Gebiet noch von keinem erreichten Meisterwerk.
Auch Joseph Laufs ringt mit nicht zureichender Kraft um ein schwieriges
Problem. Er will in seinem Roman „Sankt Anne" (Berlin, G. Grote) eine
wirkliche, mit vielen realistischen Motiven ausgestattete Lebensgeschichte zusammen¬
weben mit einem mystischen Traumgeschehn, das den Liebenden in einem Kunst¬
werk und nacheinander in zwei Frauen die verdämmernde Gestalt seiner Sehnsucht
wiederfinden läßt. Laufe kann solche Dinge nicht schaffen; er ist im Roman
nicht der Dichter der Ekstase, die etwa in seinem Epos „Die Geißlerin" be¬
trächtliche Höhen überwindet, sondern der niederrheinische, ja niederländische,
breit malende Humorist. Die holländischen Szenen in dem kleinen Städtchen
an der See sind mit einem saubern, grotesken, ganz echten Humor hingestellt,
und ihnen gegenüber versagt schließlich die gespenstische Tragik, die den eigent¬
lichen Liebesroman durchklingen soll. Es ist ganz ähnlich wie in Lauffs vor¬
letzten Roman „Frau Ulen", wo auch das Leben des Völkchens am Niederrhein
sehr reizvoll gegeben, die Geschichte einer hohen Liebe aber doch zuletzt nicht
glaubhaft erfaßt war.
Mit bescheidnern Mitteln und in einfachern Problemen gelangt F. Hugin
an ihr Ziel. Die Fischer ihres Romans „Durch den Nebel" (Berlin, G. Grote)
sind rund und treu gegeben. Überall deckt sich Vorwurf und Ausführung völlig,
nur daß die gelehrige Schülerin und Landesgenossin Gustav Frenssens nicht
überall eine leichte Neigung zur Redseligkeit überwindet, die denn überhaupt
der Fehler so zahlreicher Bücher der Gegenwart ist, nachdem die nun verrauschten
Jahre des Naturalismus größere Knappheit gebracht hatten. Redseligkeit ent¬
stellt auch einzelne Teile von Hermann Bahrs Roman „Die Rahl" (Berlin,
S. Fischer), und das ist schade, weil dieses Werk im großen und ganzen ein
ernstes, feines und sehr apartes Buch ist. Ich lege dabei freilich weniger Gewicht
auf den kurzen Liebestraum, den ein von hellen Idealen erfüllter, kaum er¬
wachsener Jüngling mit der gefeierten Tragödin Rahl zu träumen glaubt, der
er nichts ist als die Impression einer erregten Stunde; sondern ich sehe den
Wert des Buches in der unaufdringlichen und ganz echten Schilderung be¬
stimmter Theatereindrücke. Alles, was Hermann Bahr da aufbaut, die Gestalt
der Rahl selbst, der wundervolle alte Larinser und was sie vom Intendanten
bis zu den Eleven umgibt, das ist mit sehr feiner Psychologie glaubhaft hin¬
gestellt. Und eine Szene hat geradezu Größe: da spielt die Rahl zu ihrem
Jubiläum die Sappho, und in dem Gefühl, es dem Publikum, dem rasenden,
einmal zeigen zu müssen, tritt der alte Larinser als Rhamnes bis hart an die
Rampe vor, und nun steigt und steigt und steigt seine Stimme „unaufhaltsam
durch alles Brander durch, über alles Brausen hin, über alles Nasen weg,
unaufhaltsam empor, mit stürmenden Schreien unaufhaltsam immer wieder oben
auf dem tosenden Lärm, wie ein weißes Segel weit im Meer, das immer wieder
aus den zerstürzenden Fluten springt, tanzend und tanzend und tanzend". Und
während er so Phaon und dem Publikum ins Gedächtnis hämmert, wer die
Künstlerin Sappho und die Künstlerin Naht ist, drängt sich alles scheu in den
Kulissen, und die Naht selbst schluchzt vor Angst, wie sich der greise Künstler im
Drang einer großen Stunde selbst noch einmal zu großer Leistung emporreißt.
Jakob Wassermann hat einst in den „Juden von Zirndorf" Proben eines
starken, aber undisziplinierten Talents gegeben und dann freilich durch das
meiste, was er seitdem schrieb, manche Hoffnung enttäuscht. Jetzt aber hat er
in einem Werk von großer Energie und ungewöhnlich zusammengepreßter
Kraft gezeigt, daß er ein Romandichter ist, von dem wir noch manches er¬
warten können. Die geheimnisvolle Geschichte Kaspar Hausers, die die
Phantasie unsrer Großeltern Jahrzehnte hindurch immer wieder beschäftigt
hat, hat er ergriffen und zu einem Roman gestaltet (Stuttgart, Deutsche
Verlagsanstalt). Er hat natürlich vor allem den bekannten Bericht Anselm
Feuerbachs benutzt, aber von vornherein benutzt mit großer psychologischer
Kunst, mit feiner Spürkraft. Ihm ist Kaspar Hauser wirklich der Abkömmling
eines süddeutschen Fürstenhauses und Lord Stanhope, den Feuerbach doch
für Hausers ehrlichen Freund hielt, ein Agent hoher Personen, die Kaspar
verderben wollen. Manches mußte in der Wirrnis dieser Geschehnisse an¬
muten wie ein Kriminalroman, und es ist Wassermanns Verdienst, daß er
bei allem sensationellen, das er bringen mußte, niemals die Linie dichterischer
Komposition verlor. Das tragische Verhängnis, das Kaspar Hauser immer
wieder Männern und Frauen in die Arme treibt, denen er ein Betrüger, ein
Spiel oder ein Objekt der Ausbeutung ist, ergreift uns von Tag zu Tag
mehr. Prachtvoll tritt der alte, durch sein Rechtsgefühl, seine Dienstbarkeit
gegen den Gedanken der Gerechtigkeit zugrunde gehende Präsident von Feuer¬
bach aus dem Rahmen hervor. Wir bleiben mit Kaspar im Rätselhaften und
empfinden den wunderbaren Reiz dieser zarten Natur, deren Träume ein
großes Schicksal andeuten, und deren furchtbares Ende noch menschlicher Un¬
verstand und halb bewußte, halb unbewußte Grausamkeit fratzenhaft verzerren.
Der Stil der dreißiger Jahre ist unverändert, aber ohne Künstlichkeiten fest¬
gehalten und das Helldunkel, das über allen Ereignissen liegt, mit Glück
widergespiegelt worden.
Olga von Hammerstein will in ihrem Roman „Was Gott zusammen¬
fügt" (Berlin, Martin Warneck) die Unübcrbrückbarkeit konfessioneller Gegen¬
sätze aufweisen, wie sie sich auftut für ein evangelisch gebliebnes weibliches
Herz, das aus Liebe zu einem katholischen Manne ohne Überzeugung dessen
Glauben bekennt. Bis auf die Höhe ihres Buches ist Olga von Hammer¬
stein ihrer Sache sicher und ihre Schilderung durchaus echt. Die abge¬
schlossenen Kreise des katholischen deutschen Adels auf seinem Stammsitz und
in Rom werden glaubhaft gezeichnet, und als ein rührendes, feines Menschen¬
bild tritt Sybille in diesen ihr fremden Kreis hinein. Wie sie von der Liebe
gezogen und doch immer wieder durch das fremde Bekenntnis abgestoßen, ein
zwiespältiges Leben führen muß, ist gut gegeben, nur daß, wie in so vielen
heutigen Büchern, der Mann zu sehr im Hintergründe bleibt, alle die Qualen
erst kennen lernt, als die Frau sie ihm beichtet. Die Katastrophe aber ist
äußerlich und wirkt wie aus Verlegenheit geboren, denn wir hätten begehrt
zu wissen, wie Sybille in innerer Befreiung siegt oder untergeht, nicht, wie
Haß und Eifersucht neben den Glaubenskämpfen sie schließlich verderben.
Wenn irgendeines seiner Werke so recht geeignet ist, den Leser Liebe
zu Gerhart Hauptmann zu lehren, so ist es sein neues Buch „Griechischer
Frühling" (Berlin, S. Fischer). Es ist keine Reisebeschreibung und auch keine
Dichtung, sondern es ist eine Sammlung von Eindrücken, wie sie ein deutscher
Dichter unmittelbar empfindet, der nach Hellas gegangen ist ganz unter dem
Vorgefühl eines mythischen Rausches und diesen Rausch nun auf Schritt und
Tritt voll auskostet. Ihm weben und leben Götter und Halbgötter überall,
im delphischen Bezirk, in Olympia wie besonders auf der Akropolis. Das
gegenwärtige politische Griechenland ist für Gerhart Hauptmann nicht da. Er
lebt in der Welt Homers und der großen Tragödiendichter, und ohne die
leiseste Pose empfindet und sieht er immer wieder die alten Gestalten, die
Schicksale der griechischen Sage um sich her. Aufs tiefste empfindet er dabei
den Gegensatz zwischen der Weltanschauung Homers und der Tragiker. „Über
Homers Gedichten ist nirgends das Haupt der Medusa aufgehängt. Gleicht
das Gedicht des Tragikers einem Klagegesang — seines gleicht überall einem
Lobgesang —, und wenn das Kunstwerk des Tragikers von dem Element der
Klage wie von seinem Lebensolute durchdrungen ist, so ist das Gedicht Homers
eine einzige Vibration der Lobpreisung." Und wie eine Mahnung an gewisse
sogenannte Tragödiendichter unsrer Tage klingt es, wenn Gerhart Hauptmann
auf der Akropolis niederschreibe: „Man soll nicht vergessen, daß Tragödien
und Komödien volkstümlich waren. Es sollen das diejenigen nicht vergessen,
die heute in toten Winkeln sitzen. Beide, Tragödie wie Komödie, haben
nichts mit schwachen, überfeinerten Nerven zu tun und ebensowenig wie sie
ihre Dichter — am allerwenigsten aber ihr Publikum. Trotzdem aber keiner
der Zuschauer jener Zeiten, etwa wie viele der heutigen, beim Hühner¬
schlachten ohnmächtig wurde, so blieb, nachdem die Gewalt der Tragödie
über ihn hingegangen war, die Komödie eines jeden unabweisliche Gegen¬
forderung: und das ist gesund und ist gut." Mir scheint, solche feine Be¬
merkung, deren das Buch noch viele enthält, kann auch manches in Gerhart
Hauptmanns Dichtungen besser verstehn lehren und manche falsche Beurteilung
abwehren.
Adolf Sterns Novellen dringen immer weiter ins Volk; von den „Aus¬
gewählten Novellen" liegt nun die vierte Auflage vor, und zugleich erscheint
Von den ausgewählten Werken der siebente und achte Band (alles bei C. A. Koch
in Dresden), die elf der schönsten Novellen vereinen. Da sind die düstern
Stücke „VorLeyden" und „Die Flut des Lebens", wohl die besten historischen
Novellen ihres Dichters, da sind heiter ausklingende Stücke wie „Das Weih¬
nachtsoratorium" und „Der Pate des Todes", alle geeignet, Adolf Stern,
der als Dichter lebenslang hart um Gehör kämpfte, neue Liebe zu werben.
Eine kleinere Auswahl von Erzählungen aus den Büchern von Charlotte
Niese wird durch die Freie Lehrervereinignng für Kunstpflege in Berlin
(Leipzig, Fr. Wilh. Grunow) veröffentlicht. Es sind lauter feine, kleine
Stücke, zum Teil aus der Jugend der Dichterin, wie sie sie in den Bänden
„Aus dänischer Zeit" erzählt, mir das liebste darunter die reizende Kinder-
gcschichte „Um die Weihnachtszeit". Das Buch kostet in vortrefflicher Aus¬
stattung und mit hübschen Bildern von Otto Gebhardt nur 1,60 Mark.
Zugleich kommt von Charlotte Rieses Landsmann Timm Kröger ein Novellen-
band „Aus alter Truhe" (Hamburg, Alfred Janssen), der den Dichter auf den
gewohnten heimatlichen Pfaden zeigt, auf die wir ihm nun schon oft mit Ver¬
gnügen an seiner feinen Kunst gefolgt sind.
Endlich liegt heute noch ein Buch vor mir, das auf der Grenze zwischen
Literatur und Historie steht, „Castell, Bilder aus der Vergangenheit eines
deutschen Dunastengeschlechts" von August spert (Stuttgart, Deutsche Ver¬
lagsanstalt). Der vortreffliche Romanschriftsteller, seines bürgerlichen Zeichens
Archivar, hat in der Zeit, wo er dem Archiv der Fürsten zu Castell-Rüden¬
hausen und zu Castell-Castell vorstand, in deren Auftrag diese Bilder aus
der Vergangenheit der Familie geschaffen. Wir sehen sie langsam aus dem
Dummer der Karolingerzeit emportauchen, sich schwer gegen die Bischöfe von
Würzburg behaupten, erleben den Verfall des Hauses im fünfzehnten Jahr¬
hundert, den Bauernkrieg mit dem Brand beider Burgen von Castell und die
furchtbare Rache des Schwäbischen Bundes an den Bauern. Die ehrenfester
Gestalten des Grafen Wolfgang, seiner Frau und seiner Kinder, die das
Haus im sechzehnten Jahrhundert wieder emporarbeiten, treten auf, wir be¬
gleiten die Söhne auf Universitäten und in schwere Kämpfe. Mit der weise
wählenden Hand des Dichters wird da immer wieder Bedeutendes, Eigen¬
artiges hervorgehoben und etwa auch einer Poetin unter den Gräfinnen
Castell, der Gräfin Henriette Charlotte (1729 bis 1797) gedacht; eine Base
dieser Dichterin, Christiane Charlotte (1722 bis 1773) heiratet den Grafen
Christian Günther zu Stolberg-Stolberg, und ihre Söhne sind Goethes
Jugendfreunde, die beiden Dichter Friedrich Leopold und Christian Stolberg;
die Mutter selbst tritt Klopstock freundschaftlich nahe. Und so greift denn das
Geschlecht, das sich insbesondre den Hohenlohes mehrfach verbindet, weit ins
deutsche Leben hinein, bis das Jahr 1806 seiner Souveräuitüt ein Ende
macht. Ein ungewöhnliches, sehr reizvolles Buch mit vielen feinen Details,
eine Quelle des Genusses für jeden Freund historischer Lektüre und voll
romantischer Züge, die sich in der bunten Geschichte der Dynastie ungesucht
finden, wie man denn etwa an den Grafen von Gleichen denkt, wenn man
liest, daß Graf Friedrich Magnus zu Castell im Jahre 1713 als junger
Witwer eine schon längst geliebte Türkin, Fatme, angeblich die Tochter eines
Paschas, heiratet, die der Gnade des Kurfürsten von Bayern bei der Er¬
oberung Ofens 1686 ihr Leben verdankte und schon zehn Jahre in der
Nähe ihres spätern Gatten lebte. Man wird bei Sperls Arbeit häufig an
Frchtags Bilder aus der deutschen Vergangenheit erinnert, und es wäre zu
wünschen, daß das fleißige und farbige Werk Sperls Nachfolger seiner Art
finden möchte.
u Philipps Zeiten wurde der alte Tempel an alter Stätte stattlicher
aus Marmor neugebaut. Feierlich, altertümelnd graziös umschritten
ihn auf einem Friese Jungfrauen in jenem Reigen, der immer einen
Teil des Gottesdienstes ausmachte. Zu diesem Friese gehören jene
Platten, auf denen Cyriacus Musen zu erkennen glaubte; die best-
erhnltnen Stücke werden jetzt im Louvre aufbewahrt. Das drei-
figurige Tempelbild schuf kein Geringerer als Skopas. Zu Beginn des dritten
Jahrhunderts wurde westlich auf der Höhe, 10 Meter über dem Tempel, eine
103 Meter lange und 15 Meter tiefe Halle aus einheimischen Stein errichtet;
ein Zeichen für die wachsende Zahl der Besucher. Vor ihr mehrten sich die Statuen
und Denkmäler andrer Art. Das großartigste ließ nahe an ihrem Südende
Demetrios Poliorketes aufstellen, als er 294 König von Makedonien geworden
war: jene fast 3 Meter hohe Nike auf einem Postament, das die Form eines
Schisfsvorderteils hat. Seine Siegesgöttin, die 306 bei Salamis auf Cypern vom
Himmel ans sein Admircüschisf herabgeschwebt war und ihm aus der Hand Athenas
den Sieg in der Seeschlacht gebracht hatte, weihte er den Seegöttern, die mit
Makedonien sein eigen geworden waren. Das Werk fesselt noch hente den Besucher
des Louvre mehr als vieles andre durch seine Schönheit und die Kraft der Be¬
wegung, aber an seinem ursprünglichen Platze, von dem aus es den ganzen heiligen
Bezirk beherrschte, muß es noch viel stärker gewirkt haben. Doch nicht die Nike des
Demetrios, sondern die Gemahlin seines Nachfolgers sollte der gute Engel dieses
Platzes werden. Arsinoe, eine ägyptische Prinzessin, ließ als Königin von Makedonien
(286 bis 281) nördlich vom alten Tempel einen prächtigen Rundbau unbekannter
Bestimmung von 20 Metern Durchmesser aufführen. Während die Außenseite unten
glatt war, wurde sie oben durch Halbsäulen gegliedert, zwischen deren Basen eine
mit Stierschädeln und Rosetten verzierte Schranke herumgelegt war. Im spitz zu¬
laufenden Dache stieg der Bau zu 27 Metern Höhe auf. Als Arsinoe aber nach
dem Tode ihres Gemahls bei diesen ihr holden Göttern Zuflucht hatte suchen müssen
und später Königin von Ägypten geworden war, und auch Samothrake in ägyptischen
Besitz gelangt war, da ließ ihr Gemahl Ptolemaios der Dritte zwischen 276 und
265 dort, wo der Weg von der Stadt den heiligen Bezirk erreichte, ein stolzes
Eingangstor setzen. In kühner Konstruktion lag der bis zu 5 Meter hohe und
40 Meter lange Unterban quer über dem östlichen Bach. In einem überwölbten
Durchlaß strömte er hindurch, während er sich spater einen andern Weg suchte. Wenig
spater unter den Seleukideu, die die Insel 265 gewonnen hatten, oder nach 245,
als sie wieder ägyptisch war, wurde ein neuer größerer Tempel neben den alten
gesetzt. Große Neubauten sind von da ab nicht mehr geschaffen worden, aber die
Inschriften gläubiger Besucher wurden immer zahlreicher, und der Reichtum an
wertvollen Tempelgerät immer bedeutender, bis die Seeräuber nach vielfachen
frühern Besuchen im Jahre 84 auch hier gehörig aufräumten. Das jedenfalls drei¬
tägige Hauptfest im Hochsommer wurde aus aller Welt viel besucht, weniger das
Frühlingsfest. Zumal die kleinasiatischen Städte vom Bosporus bis nach Lykien
verfehlten nicht, Festgesandte (Fee^o/) zu senden; ihre Namen wurden im zweiten
und im ersten Jahrhundert v. Chr. regelmäßig in die Wände des alten Tempels
eingegraben. Ein Nuiuenviereck (Hof mit Zimmern herum) nördlich von der Halle
sieht sehr nach einem Unterkunftshaus aus spätrer Zeit aus, wie es in Epidauros
aufgedeckt ist. Bei einem Jahre dieser Periode will ich etwas länger verweilen,
weil es sür die Insel Epoche macht, ein Jahr, in dem die äußere Entwicklung des
Heiligtums schon abgeschlossen war.
Perseus, der letzte Herrscher auf dem Throne Philipps von Makedonien, war
nach dem an sich nicht vernichtenden Schlage von Pydna (168) in Verzweiflung
an die Küste geflohen und hatte sich von dort mit seiner Familie, wenig Freunden
und Soldaten, aber der Hauptmasse seines allzu ängstlich gehüteten reichen Schatzes
nach Snmothrake übersetzen lassen. Er hoffte, das Asylrecht der heiligen Stätte zu
nutzen und durch Verhandlungen etwas von dem zu retten, was er mit dem Schwert
zu retten nicht mehr versuchen wollte. Aber die Römer wollten diesesmal reinen
Tisch machen. Die Flotte legte sich vor die Insel, wahrscheinlich vor den alten
Hafen bei dem Heiligtum. Man suchte die Bewohner, die Priesterschaft zu über¬
reden, den blutbefleckten König auszuliefern. Da bot sich diesem ein kretischer
Händler Oroandas an; er wolle mit seinem Schiff, das im Hafen der Demeter
läge, den König gegen angemessene Belohnung an die thrakische Küste führen.
Perseus griff zu. Nach Sonnenuntergang wird möglichst viel von dem Schatze
heimlich an Bord geschafft. Um Mitternacht schleicht der König mit wenig Getreuen
durch die Hintertür seines Hauses in den Garten, klettert mühsam über dessen Mauer
und glaubt sich gerettet — aber am Meere angelangt sieht er das kretische Schiff
mit seinen Schätzen auf hoher See. Dieser bestrafte königliche Geizhals wirkt komisch
in der Tragödie eines untergehenden stolzen Königtums. Verzweifelt irrt er am
Gestade; bei Tagesanbruch wagt er sich nicht in das Haus zurück, sondern flieht
in einen der beiden Tempel. Er ist gebrochen und stirbt nach manchen Demütigungen
in einer italischen Kleinstadt, in der er interniert worden war.
Die Insel wurde von den Römern für frei erklärt, mit ein Beweis des
Dankes dafür, daß sie ihren alten Herrn nicht dauernd geschützt hatte. Die Götter
gehörten nunmehr den Römern und wurden weiter verehrt in Republik und
Kaiserzeit. Mancher vornehme Mann auch mit römischem Namen empfing die
Weihen und ließ sich und sein Gefolge auf einer Marmortafel notieren, mancher
Schiffer und Matrose. Auch die Namen der Sänger, die ein Fest verschönten,
wurden aufgeschrieben. Römische Feldherren und Prinzen sahen sich die merkwürdige
Stätte an; Kaiser Hadrian besuchte sie natürlich (123 n. Chr.) und wurde durch
Statuen und den Titel eines Ehrenkönigs ausgezeichnet. Der Apostel Paulus hatte
im Jahre 54 auf der Fahrt nach Philtppi dieses Gestade berührt, aber sein Gott
mußte noch lange, nachdem er die großen Heidengötter besiegt hatte, mit diesen
lokalen Dämonen kämpfen. Sie haben hier im kleinen besonders ans die Kleinen
viel länger ihre Macht geübt, als wir feststellen oder ahnen können. Man könnte
meinen, Samothrake, nicht der Athos hätte die heilige Stätte des neuen Glaubens
Werden müssen, aber dazu war es durch die Heidengötter wohl zu sehr entweiht — im
heiligen Bezirk erstand keine christliche Kirche —, dazu war es zu wenig fruchtbar
und zu schwer zu erreichen. Einsiedler beteten und arbeiteten freilich auch hier, und
ein Kloster Hagios Christos wurde im Nordosten gegründet. Verbannte wurden
aus Byzanz hierher verschickt. Die Insel geriet allmählich, wie schon erzählt wurde,
in den Zustand, in dem Cyriacus sie sah. Nach der Eroberung durch die Türken
wurde sie Moscheengut; die Einkünfte fließen der Moschee Mohammeds des Zweiten,
ihres Eroberers, zu. Mit der Schilderung des heutigen Zustandes, wie ich durch
meine Ausflüge vom Dorf aus ihn kennen lernte, Will ich diesen Aufsatz schließen.
Das moderne Dorf liegt unglaublich schlecht für den Verkehr mit der übrigen
Insel und in ihm selbst. Wie Stufen einer Treppe sind die Häuser vom Bach aus
den Hang hinauf gelegt. Hinauf und hinab ging es an jenem Tage, als ich das
Dorf nach antiken Inschriften durchsuchte, über die gelauderlosen schlechten Treppen,
die von außen an die unverputzten Steinlasten gelegt sind, auf die flachen Dächer,
auf denen immer ein Stück einer antiken Säule als Walze liegt; auch die Wege
führen nicht selten über die Dächer der nächst niedrigen Häuser. Es war um so
mühseliger, als Konstantinstag war, und man doch wenigstens bei einigen der
zahllosen Konstantine Süßigkeiten und Kaffee nehmen mußte. Eines der größern,
etwa in der Mitte liegenden Häuser war das meines Gastfreundes, an den mich
Empfehlungsschreiben aus Jmbros gewiesen hatten. Ohne viele Worte zu machen,
stellte er mir sein Haus zur Verfügung, und da er gerade daneben einen Neubau
aufführen ließ, und einige Räume nicht benutzbar waren, so zog er mit seiner Frau
und seinem kleinen Mädchen aus. Größer an Wuchs und wortkarger, als sonst
Griechen zu sein pflegen, war er offenbar ein geschickter Kaufmann und Bauer und
der wohlhabendste Mann geworden. Er hatte alle auf der Insel nicht verbrauchte
Milch in Pacht und ließ sie in einem Magasi am Strande zu Käse verarbeiten,
der weithin begehrt ist. Häuser, Äcker und Ölgärten waren sein eigen; mit Stolz
zeigte er mir seine Bienen, die hier in kurzen Stücken ausgehöhlter Baumstämme
zu wohnen Pflegen; ein Gastgeschenk, eine Büchse des berühmten samothrakischen
Honigs — auch Baondelmonti (1419) preist ihn und die Ziegen von Mcmdrachi —
gelangte mit der österreichischen Post später glücklich nach Deutschland. Nicht wenig
bringt ihm schließlich die Pachtung des Zehnten von der türkischen Regierung ein.
Weniger praktisch als dieser Mann war sein vor einigen Jahren verstorbner
Landsmann, der Arzt Phardys. Seine Witwe und sechs Kinder merken es heute,
daß er einer jener selbst unter Neugriechen noch zu findenden idealen Schwärmer
für das Altertum war. Sein Beruf brachte unter dieser ärmlichen Bevölkerung
kaum etwas ein; sein Nachfolger, ein Charlatan, der nie studiert hat, wird schon
Geld machen. Phardys Name wird dafür aber für die Wissenschaft immer mit
Samothrake verbunden bleiben. Ihm, dem Freunde aller Reisenden, werden wertvolle
Nachrichten über Altertümer, besonders Inschriften verdankt; er hat selbst gesammelt
und gegraben — die Familie bewahrt noch einige leider weit überschätzte Stücke — und
erhoffte bis zuletzt die Wiederaufnahme umfassender Ausgrabungen. Er hat anch
eine Sammlung von Inschriften in der Schule von Chora veranlaßt.
Von den angeblich 4600 Bewohnern der Insel — nach etwas älterer Schätzung
sollen es nur 2000 sein — wohnen die meisten, im Winter ziemlich alle hier zu-
sammelt. Darunter sind ein paar türkische Beamte, deren höchster den Titel Mudir
führt und unter dem Wali von Adrianopel steht, und drei türkische seit langem
ansässige Familien, die unten im Dorf beisammen wohnen und sich durch Heiraten
mit den Griechen gemischt haben. Es war ein spaßiger Zufall, daß bei meinem
ersten Besuche dort unten gerade eine Hochzeit gefeiert wurde und diesesmal nach
acht Jahren die nächste. Mehrere Tage tönte Musik herauf. Gemessen schritt wohl
ein Mädchen zum Hause der Braut mit einem Geschenk, voran die Spielleute mit
Geige und Gitarre. Die Braut war natürlich nicht sichtbar, aber man konnte bei
Kaffee und Zigaretten die Geschenke bewundern, in denen schlechte europäische
Jndustrieerzeugnisse natürlich höher geschätzt werden als einheimische Stickereien.
Gerade auf Samothrake wird aber noch gestickt, während sonst auf diesen Inseln diese
Kunst fast geschwunden ist. Wie überall ist es sehr zu bedauern, aber die Frauen
meinen immer, wenn man sie schilt, es lohne die Arbeit nicht, und tragen billige
gedruckte Kattune. Freilich bedient man sich auch auf Samothrake schon mit Anilin¬
farben gefärbter Wolle, die dann bei der Wäsche unsern Hausfrauen Verdruß macht.
Zum Hochzeitsmahl ging ich nicht — die Leute begriffen natürlich nie, daß Zeit
Geld bedeute —, aber zum Nachtrunk bei Musik und Tanz. Dabei las ich wieder
einmal auf einem Trinkglas die Worte: „Iß, trink und hasse die Sorgen"; ganz
antik, nur daß in der antiken entsprechend angebrachten Lebensweisheit die Liebe
in oft krassen Ausdrücken dazukommt.
Die Ruine des Kastells der byzantinischen und lateinischen Herren, über dessen
Alter gesprochen wurde, hat in den letzten Jahren arg gelitten, weil man ein neues
Regierungsgebäude hineingesetzt und die Steine aus ihr gebrochen hat. Jetzt führt
von Osten unter der stolzen Inschrift des Palamedes von 1433 eine Treppe hinauf;
man sieht aber, daß die schwache Ostseite ursprünglich nicht den Haupteingang
enthielt, sondern durch einen runden und einen mächtigen viereckigen Turm, der
unten eine Zisterne birgt, besonders gedeckt war. Unter diesem Turm hin zog sich
der Weg zur Nordseite, um unter einem zweiten Rundturm den Eingang zu
gewinnen. Nach deu andern Seiten stürzt der Fels jäh ab; auf seiner Höhe ragte
noch ein viereckiger Turm. Reiches treffliches Wasser entspringt an der Nordseite
und treibt weiter unten Mühlen.
Das kleine Ackerland liegt westlich und südwestlich unter dem Dorf bis zu den
Salzseen am Westkap hin. Dort sind die Tennen, dort bei der Kirche der Pcmagia
Kamariotissa ein Landeplatz, der dem alten Demeterhafen entspricht. Etwas weiter
südlich steht einsam am flachen öden Strande ein heiliger Andreas. Sein Besuch
konnte leicht schlecht ablaufen; das Mulari, das auf dem schwindelnden Bergpfad
ganz ruhig gegangen war, warf hier unten zuerst mich, dann zweimal den Gastfreund
ab; bergauf trug es mich wieder ganz artig.
Zum alten heiligen Bezirk reitet man gen Norden in etwa dreiviertel Stunden
über kahle Höhen und durch ein paar Einschnitte, in denen am Bach purpurn blühender
Oleander wuchert. Vieles, was durch die Ausgrabungen freigelegt wurde, ist wieder
überwachsen oder verschwunden. Als Steinbruch gilt der Platz noch immer; am
Strande fand ich, schon halb im Sande vergraben, Inschriften und Architekturstücke,
und man erzählte mir völlig glaubhaft, das wären Stücke, die 1879 als Anteil der
türkischen Regierung aus deu Ausgrabungen von Champoisecm nach Konstantinopel
hätten geschafft werden sollen, aber dort liegen geblieben wären. Sie stammten auch
schon von den österreichischen Grabungen; im Louvre findet man mehr und besseres.
Völlig verlassen, bereit, wieder in den tiefen Schlaf zu versinken, aus dem die
Grabungen sie geweckt haben, liegt die Stätte da. Nördlich über ihr zieht sich düster
und trotzig die unvergängliche Mauer der alten Stadt hin, und an ihrer Nordecke
ragen die Türme der andern Feste des Palamedes. Das Rechteck ihrer Mauern
niußte im Süden und Osten durch einen 6^ Meter breiten Graben und Türme
verstärkt werden. Der mächtigste, dessen Seiten 10 Meter und 12 Meter lang
sind, schützte die Südostecke, vor der die Höhe zum Grat aussteigt. Truge man
ihn ab, man fände viele antike Bauglieder und Inschriften; einige, die von außen
sichtbar waren, sind jetzt in Paris; aber ich wäre doch nicht dafür, das Werk des
Stroilus zu zerstören. Unten steckt eine mächtige Zisterne darin; die Tür ist ganz
hoch angebracht, nur auf einer Leiter erreichbar; das Holzwerk des Innern ist
geraubt. An der Westseite springt ein Erker heraus, und oben ragen Konsolen
ringsum weit vor, die einst einen hölzernen Umgang für die Verteidiger trugen.
Auf dem flachen Dache wachsen sturmgebengte Fichten; über den niedrigern Nachbarturm
breitet ein Feigenbaum seine Zweige. Der Burghof senkt sich etwas nach Norden,
unten noch ein Turm, und dann Steilhang zum alten Hafen, der jetzt ein Sumpf
ist. Westlich neben ihm aber ein Fleckchen, von dem ich nach dem ersten Besuche
wohl einmal geträumt hatte: ein Hain uralter Platanen mit einer starken Quelle,
und das Plätschern und das Rauschen fügt sich zu dem Brausen des Meeres. Ein
Kohlenmeiler, der aber von diesen Bäumen nicht genährt werden darf, und eine
verfallne Hütte sind die einzigen Spuren von Menschen. Hier mögen jetzt wohl die
Götter der Insel wohnen, nachdem die Erdbeben und die Menschen ihre alte
Wohnstätte so grausam vernichtet haben.
Biegt man dann unter der alten Burg um die Nordspitze nach Osten herum,
so begreift man noch besser, warum die Samier und die Gattilusi dieselbe Stelle
befestigten. Für diese war die Nähe des Heiligtums nicht mehr maßgebend, aber
auch ihr Hauptbesitz lag drüben auf dem Festlande, und beide setzten sich dort fest,
wo die einzig von Menschen bewohnbaren Seiten der Insel zusammenstoßen. Der
Bergfried blickt noch lange trotzig auf den, der gen Osten zieht, und vom alten
Tore auf dem Grat oben schweift das Auge noch viel freier über die ganze Nord¬
küste und das Meer. Der Strand ist zunächst wenige Meter breit; rechts steigt der
mit Gebüsch bewachsne Abhang zu den Schroffen des giebelförmigen Hagios Georgios
auf; nur ganz selten ist ein Stückchen in Acker- oder Gartenland verwandelt, häufiger
zieht hellblauer Rauch aus einem Kohlenmeiler über ihn hin; links das an diesem
strahlenden Tage glatte Meer, drüben das Festland, das beim alten Maroneia höher
aufsteigt, bei der Mündung des Hebros (Maritza) verschwindet. Zwei Stunden geht
es so in der frischen Seeluft dahin; dann befindet man sich bei den Bädern von
Samothrake. Lager sie „in Europa", sie genössen vielleicht hohen Ruf. Stark
salpeterhaltiges Wasser kommt an verschiednen Stellen verschieden stark aus dem
Felsen, die es färbt und zerfrißt. Frühere Reisende haben 42 Grad Maumur
gemessen; die Einwohner behaupteten, im Sommer zeige es eine Wärme von
36 bis 38 Grad, im Winter eine solche von 45 bis 50 Grad. Ihre Heilkraft ist
sicherlich schon im Altertum benutzt worden, wenn sie auch nicht erwähnt werden.
Heute werden sie von den umliegenden Küsten viel aufgesucht, aber getan ist fast
nichts für die Kranken. Man badet in einem schmutzigen Bassin in einem niedrigen
verfallnen Hanse; eine wacklige Stiege führt in das Wasser, und auf einer Seite
liegt über ihm ein schwanker Holzboden, auf dem sich die Badenden zuweilen aus¬
ruhen. Und die Hotels? Man haust im Walde in Hütten und Zelten, die man sich
aufschlägt. Der einzige Steinbau in der Nähe war einst eine Kapelle; sie stürzte
ein; zwischen den Resten der Längswände steht noch ein Altärchen, an dem unter
dem Laubdach hoher Bäume gebetet wird. Von den Thermen an bekommt die
Nordseite nämlich ein andres Aussehn. Nie wieder sah ich einen Wald, der so sehr dem
Urwalde gleicht; hier paßt noch das homerische Beiwort der Insel: die waldreiche.
Ohne Überwachung von feiten des Menschen wachsen Eichen, Platanen, Kastanien,
aber keine Nadelbäume auf, strecken ihre Äste weithin, werden vom Blitze gefällt oder
sterben ab, vermodern und geben neuen Bäumen, einem dichten Unterholz und starken
Schlingpflanzen Nahrung. In tief eingerissenen Betten strömen Bäche vom Phengari,
das darüber ragt, hindurch; große Felsblöcke sind einmal von ihm herabgerollt. So
üppig ist die Vegetation, daß wir mehrmals umkehren und einen andern Pfad suchen
mußten, weil der eingeschlagne völlig zugewachsen war. In kleinen Lichtungen breiten
sich Farnwälder von einer Höhe, daß Roß und Reiter fast darin verschwinden.
Schildkröten, Schlangen, auch Singvögel Hausen dort in Menge. Der Wald lichtet sich;
wir nähern uns dem alten Gebiet des Klosters Hagios Christos. Ein paar Häuser
stehn am Waldrande, von denen aus ein fruchtbares Stück Land bebaut wird. Hier
gedeiht auch vorzügliches Obst: Äpfel, Pflaumen, Nüsse, Kirschen, deren erste mir die
Tochter eines Bauern pflückte, auch Wein und der Erdbeerbaum (^.rdutW). Im
Winter aber lassen die Bergwasser und die Nordstürme hier niemand wohnen. Lange
Terrassenmauern zeugen weiterhin von einer Kultur, die jedenfalls in das Altertum
zurückreicht. Auf einem Hügel ruht unter hohen Bäumen die Ruine der Klosterkirche.
Die kleine 3^ Meter tiefe und 3 Meter breite Vorhalle liegt etwas schräg vor der
Kirche; sie ist vielleicht etwas später vorgelegt worden, und nur sie ist genau west¬
östlich orientiert. An den Seiten je zwei rundabgeschlossene Fenster; zwischen ihnen
stieg eine schmale Strebe zur Decke empor, die eingestürzt ist. Erhalten ist dagegen
das Tonnengewölbe des 6 Meter langen Innern. Hinten springt zwischen zwei
kleinen flachen Nischen eine Apsis hinaus. Technisch steht der Bau höher als alle
auf diesen Inseln. Reste von Stuck mit Spuren roter Farbe beweisen einstige Bemalung.
Die Kapitelle sind antik wie das ganze Material, das gerade vom alten Tempel
genommen wurde; immer wieder entdeckt man eine Inschrift, aber die meisten sind
vom Wetter so zerstört worden, daß sie eine Qual für die Augen sind. An zwei
Stellen liest man Namen von Mönchen und die Jahreszahlen 1742 und 1753;
wohl Zeichen der letzten Wiederherstellung des Gebäudes, das bei der Plünderung
des Jahres 1821 seinen Untergang gefunden haben wird. Mit ihm verfiel die Boden¬
kultur an dieser Stelle. Nur Bienen summen; Herdengeläut in der Ferne. Nach
Wasser mußten wir lange suchen.
Weiter nach Osten zog es mich nicht. Etwa anderthalb Stunden östlich strömt
ein besonders starker Bach, Phonias genannt, zum Meere. An seiner Mündung
landet man wohl, wenn man von Norden, zum Beispiel von Dedeagatsch kommt,
und landete einst noch viel häufiger, als die Jusel dem Zweig der Gattilusi
gehörte, deren Hauptplatz Ainos gerade gegenüber an der Küste lag. Aus der
Zeit steht daher hier noch ein Wachtturm, nicht mehr aus antiken Steinen geschichtet,
dafür lag die Nuinenstätte zu fern, sondern aus dem Granit und Schiefer des
Ortes; oben wölbt sich ein schöner Marmorbogen. Die kurze Ostseite muß den
ärmlichsten Partien der Nordküste ähneln; die Kirchlein dort bergen nichts Antikes
mehr. Der einzige heilige Platz, der im Innern der Insel genannt wird, war
eine Grotte der zerynthischen Artemis, das heißt einer alten Naturgottheit dieser
Gegenden, die die Griechen der Artemis oder Hekate gleichgesetzt hatten; sie ist
noch nicht mit Sicherheit wieder gefunden worden. Ebenso unbewohnt ist hente
das Innere. Nur Hirten, die in Dialekt und Tracht altertümlich sind, ziehen dort
mit ihren halbwilden Hunden umher. Den Südosten sollen auch sie meiden; er ist
den verwilderten Ziegen, die man gern Steinböcke oder Gemsen getauft hat,
überlassen.
M0
M
M! enzel Holm bewohnte ein Haus, das in der innern Stadt lag, und
das einst zu den Zierden der Neusiedler Kaufmannshäuser gehört
hatte. Es zeichnete sich durch ein himmelhohes Dach aus, und oben
aus der Dachluke und über dem Tor schaute noch immer der Kran
heraus, an dem einst die Warmhalten hochgezogen worden waren.
iDas Haus war das Urbild bürgerlicher Respektabilität. Treppen
und Flure bewiesen eine unglaubliche Raumverschwendung. Auf der Flur hatten
einst alte kunstvolle Schränke gestanden, Wenzel Holm aber hatte sie, als er die
Regierung angetreten hatte, wegschaffen lassen und sich modern eingerichtet. Auch
das Wohnzimmer von Frau Holm hätte besser ausgesehn, wenn man es in altem
Stande gelassen hätte. Die reichgeschnitzte Holzdecke und die dürftigen, eckigen
Möbel wollten nicht zueinander passen. „Er" wollte es aber so haben, sagte Frau
Holm und richtete sich ein, so gut sie konnte. Hieran schloß sich das Allerheiligste
des Hauses, das Studierzimmer des Dichters, das mit Schriften, Büchern, Gipser
und Bronzen vollgepackt war. Laura, das Hausmädchen, bekam allemal das Zittern,
wenn sie in „dem Herrn seiner Stube" kehren und abstauben sollte. Denn hinterher
gab es jedesmal Krach über unsinniges Aufräumen und verlegte Papiere. Vor
der Tür, die zum Wohnzimmer führte, hing eine dicke Decke, damit der Dichter
bei seinen Inspirationen nicht durch profanen Lärm gestört würde. Es ist nur
merkwürdig, daß allemal, wenn Besuch von Damen, namentlich von jungen Damen
da war, der Teppich hellhörig wurde. Und dann dauerte es nicht lange, daß
er sich auseinandertat, daß Herr Wenzel Holm erschien, sich dazusetzte und seinen
Geist funkeln ließ.
Frau Luzie saß am Tische zusammen mit ihren beiden Kindern. Die Kinder
machten Schularbeiten, und Frau Luzie las die Korrektur der neuesten Novelle ihres
lieben Mannes. Das durfte sie, dazu war sie als die Tochter ihres Vaters ge¬
eignet, denn sie ließ nie einen Fehler stehn. Und sie korrigierte gern und dachte dabei
lächelnd an David Copperfields Frau, die dabeisitzen und die Federn halten durfte,
wenn ihr Mann schrieb.
Ein Mädchenkopf schonte zur Tür herein. Es war Hilda. Darf ich? fragte
sie und war drinnen und bei Frau Luzie, ehe sich diese noch erheben konnte. Frau
Luzie schob den Korrekturbogen weg, und Hilda betrachtete ihn mit Aufmerksamkeit.
Also so, sagte sie, sieht ein Roman im Neglige' aus? Ist er schön?
Zum Teil, antwortete Frau Luzie.
Und zum Teil nicht. Und dieser Teil gefällt dir also nicht. Sage es doch
deinem Manne, daß er seine Romane so schreibt, daß sie zuerst seiner Frau
gefallen. , !
Seidelbasts hatten, ehe sie in ihre Villa zogen, eine Zeit lang in dem Kölnischen
Hause gewohnt, und von der Zeit her schrieb sich auch die Freundschaft von Luzie
Holm und Hilda.
Luzie seufzte. Liebe Hilda, sagte sie, du weißt nicht, ein wie gutes Wort
du eben gesagt hast.
Siehst du, erwiderte Hilda. Aber das sollte Hunding wissen, der mit mir
sehr unzufrieden ist, ich weiß nicht warum.
Und da tat sich der Türteppich auseinander, und Herr Wenzel Holm schwebte
herein. Er ging nicht, er schwebte. Namentlich, wenn er seinen Hohenzollern-
mantel und seine» Schlapphut trug und im Winde ging, sah es aus, als wenn er
durchs Leben flatterte. Er trug, weniger aus Notwendigkeit, als um interessanter
aufzusehn, einen goldnen Kneifer. Er hatte wenig Haare auf dem Kopfe und ein
scharfgeschnittnes Gesicht. Ah, mein gnädiges Fräulein, sagte er nach einigen Ge¬
meinplätzen, die wir füglich übergehn können, was verschafft uns denn das Ver¬
gnügen, Sie in unserm Hause zu sehen?
Darf man denn nicht auch ohne ein besondres Anliegen kommen? erwiderte
Hilda.
Natürlich. Sie sind mir zu jeder Zeit auf das beste willkommen, sagte Holm.
Aber ich hatte eigentlich Ihre Frau Gemahlin besuchen wollen. Und ich hatte
auch ein Anliegen. Ich wollte dich um ein Buch bitten, Luzie.
Warum nicht mich? fragte Wenzel Holm und rückte näher heran.
Sie zu bitten, Herr Holm, erwiderte Hilda lachend, daran hatte ich wirklich
nicht gedacht. Bei uns zu Hause ist es furchtbar langweilig. Wir treiben Tag
für Tag Götzendienst. Wir bekränzen unsre Idole mit Trauerschleifen, wir kommen
mit den Füßen gar nicht mehr auf die Erde. Aber man will doch auch etwas
fürs Gemüt haben. Bitte, geben Sie mir einen Band Julius Wolf.
Lesen Sie nicht Julius Wolf, erwiderte Holm, es ist Kinderpapp. Es ist
Speise für Schlagsahne essende Backfische.
Das wäre für mich kein Grund, sagte Hilda, denn erstens komme ich mir
manchmal noch wie ein Backfisch vor, und zweitens esse ich Schlagsahne sehr gern.
Nein, lesen Sie nicht diesen Wolf, fuhr Holm mit steigender Heftigkeit fort,
lesen Sie Bierbaum, lesen Sie Stilgebcmer, lesen Sie Zahn. Lesen Sie Werke
von künstlerischem Werte, von Feingeschmack für das Atmen der Seele, von Ver¬
ständnis für moderne Probleme. Lesen Sie nicht zum Zeitvertreib, lesen Sie nicht
zum Vergnügen. Lesen Sie im ersten Walten der Kunst, lesen Sie zitternden
Herzens.
Sie reden immer von Kunst, wandte Hilda ein. Was ist Kunst? Und was
ist ein Künstler? Herr Ermsdorf sagt, der ist ein Künstler, der etwas kann.
Mein gnädiges Fräulein, fuhr Holm fort, es gibt eine Feste zwischen den
Wassern; drüber ist Wasser und drunter ist Wasser. Das Wasser über der Feste
ist golden, azurblau und kristallhell. Das Wasser unter der Feste wälzt Schlamm
und Sand. Das Lebensschiff, das auf dem obern Wasser schwimmt, ist steuerlos,
aber es bewegt sich aus eigner Kraft, das Lebensschiff auf den untern Wassern ist
Knecht von Wind und Welle und liegt an der Kette. Es zündet ein rot Licht an,
aber sein Weg bleibt dunkel. Das ist der Unterschied von Kunst und Nichtkunst,
von Künstler und Nichtkünstler. Mein gnädiges Fräulein — Holm rückte mit
seinem Stuhle wiederum näher heran, Hilda nahm ihr Kleid zusammen und blickte
mißtrauisch auf ihren Nachbar —, der Mensch, der gewürdigt ist, in den Parnassus
zu treten, der schwinge sich auf das geflügelte Roß. Nichts halte ihn auf, nichts
darf seinen Weg kreuzen. Sein Werk ist die Plastik der Seele, seine Würde das
Licht seines Geistes. Wer diesen Adel hat, brauche sein Recht. Sie, mein gnädiges
Fräulein — er rückte abermals näher, und Hilda rückte fort —, habe ich immer
sür eine der Auserwählten gehalten. Lesen Sie nicht Wolf, geben Sie Ihrem Geiste
eine Nahrung, die Ihrer würdig ist. Seien Sie die Künstlerin, zu der Sie ge¬
boren sind, frei, groß, unbeirrt.
Sie überschätzen mich, sagte Hilda, ich kann gar nichts, weder dichten noch
malen noch singen.
Versteh» Sie mich recht, fuhr Holm fort. Künstlerbrot backen ist die Sache
von wenig Auserwählten, aber Künstlerbrot essen soll jeder, der Zähne im Munde
hat. Sie haben Zähne im Munde — Hilda lachte und zeigte ihre kleinen, weißen
Zähne, und Holm legte seine Hand auf die Lehne ihres Stuhls — Sie in Ihrer
künstlerischen Atmosphäre, in der Sie aufgewachsen sind, Sie mit Ihrem hellen Auge,
Sie mit Ihrem warmen Herzen...
Hilda erhob sich und sagte nicht ohne Unmut: Ich möchte wissen, woher Sie
mein warmes Herz kennen wollen.
Frau Luzie war währenddessen aufgestanden, hatte ein Buch aus dem Schranke
genommen und es auf dem Tische niedergelegt. Hilda nahm es dankend, verab¬
schiedete sich herzlich bei Frau Luzie und flüchtig von Herrn Wenzel Holm und
verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Frau Holm wandte sich schweigend
wieder ihrer Korrektur zu, und Wenzel Holm ging im Zimmer aus und ab, blieb
stehn und sah zum Fenster hinaus. Er schien mit dem Verlaufe der Unterhaltung
nicht ganz zufrieden zu sein. Jetzt blieb er vor dem Stuhl seiner Frau stehn
und räusperte sich. Das klang wie eine Aufforderung zum Reden; aber Frau
Luzie schwieg.
Was sagst du zu der Novelle? fragte er.
Wenzel, antwortete Luzie, muß denn der Ehemann in deinen Geschichten
immer unglücklich sein und sich aus seinem Hause wegsehnen?
Muß? meinte Holm, natürlich muß er. Der Mensch ist abhängig von dem
Milieu, in dem er sich befindet. Diesem Menschen hier — er wies auf den
Korrekturbogen — ist der Rock, in dem er leben muß, zu eng. Muß er sich darin
nicht unglücklich fühlen, muß er sich nicht aus ihm heraussehnen? Er muß aus der
Enge ins Weite wollen, er würde sonst verkümmern, er würde nicht erreichen, was
ihm zu erreichen möglich ist, er würde nicht Er selbst sein.
Wenn er es nun nicht erreichte? sagte Luzie schüchtern, wenn er auf halbem
Wege stehn bliebe? wenn er auf den Ruhm da draußen verzichtete und sein Glück
in seinem Hause hätte? Ist ein Winkel voll Glücks nicht mehr wert als eine Be¬
rühmtheit da draußen, bei der niemand froh wird?
Luzie, du bist köstlich! rief Holm, kann denn Untätigkeit des Geistes Glück
sein? Es gibt einen Kampf ums Dasein auch auf geistigem Gebiete. Dieser Kampf
ist das Glück. Der Wettlauf um die Siegeskrone ist Lebensinhalt, nicht Kaffee¬
trinken und Zeitunglesen. Hieraus ergibt sich notwendig der Konflikt des Strebenden,
der Kampf mit der Fessel, die er auf sich genommen hat, ehe er noch er selbst war.
Aber warum schreibst du immer nnr solche Sachen? fragte Frau Luzie.
Weil ich muß, weil meine dichterische Phantasie mir solche Bilder vor die
Augen stellt.
Weil das die Gedanken sind, mit denen du dich unablässig beschäftigst.
Hättest du andre Gedanken, würde deine dichterische Phantasie dir andre Bilder
zeigen. Und meinst du denn, daß die Leute das gern lesen? Ja die, die hier
ausgesprochen finden, was sie selbst begehren, die stimmen dir zu; aber den andern
'se es peinlich, immer nnr von Untreue und Flucht aus der Heimat zu hören.
Der Dichter, sagte Holm mit erhabner Betonung, ist Seher und Prophet, er
fragt nicht nach dem Beifalle der Menge, er singt, was sein Gott ihm eingibt.
Er fragt wohl auch nicht danach, was er unter die Füße tritt? O Wenzel,
sind wir, dein Weib und deine Kinder, so wenig wert, daß du sie abschütteln möchtest
wie eine Fessel?
Luzie, sagte Holm ärgerlich, ich begreife dich nicht.
Ihr traten die Tränen in die Augen. Wenzel, rief sie, ich bitte dich, laß
das frevelhafte Spiel mit diesen Gedanken. Du machst uns unglücklich — und
dich auch, fügte sie mit leiser Stimme hinzu.
Es ist ein altes und bewährtes Verfahren, wenn man sich im Unrechte fühlt,
zu schelten. Und das tat denn Wenzel Holm auch. Er hielt eine von sittlicher
Entrüstung triefende Rede und schalt über Frauen, die ihren Lebensberuf darin
erblickten, Gespenster zu sehn, über Frauen, die in der kleinen engherzigen Um¬
gebung ihrer Welt untergehn, über Frauen, die nicht imstande seien, dem Fluge
eines Dichtergeistes zu folgen, und verschwand, nachdem er noch drei Extra¬
trümpfe aufgesetzt hatte, hinter seiner Gardine. Frau Luzie seufzte, wischte sich die
Tränen aus ihren Augen und wandte sich ihrer Korrektur wieder zu.
. So nahte der Tag der Eröffnung des Theaters heran. Alle Plätze waren
schon eine ganze Woche vorher bestellt, und man erwog alles Ernstes die Frage,
ob man das Theater nicht auf allgemeinen Wunsch zweimal eröffnen könne.
Wenzel Holm regte sich als Mensch, Dichter und Dramaturg erheblich auf, derart,
daß er schon lange vor jenem Tage ungenießbar war. Natürlich war es seine
Aufgabe, den Eröffnnngsprolog oder das Eröffnungsfestspiel zu dichten. Da es
aber leichter ist, in fremden Spuren zu wandeln, als eigne Pfade zu suchen, so
beschloß er, die Waldszene aus Hauptmanns Glocke seinem Werke zugrunde zu
legen. Es war nur schade, daß Neusiedel bloß die Schillersche Glocke kannte.
Um dies Festspiel auf die Bühne zu bringen, mußte mit dem Direktor ver¬
handelt werden. Vor allem mußte die Schauspielerin ausgewählt werden, die das
Rautendelein spielen sollte, und dieser mußte die Rolle auf den Leib geschrieben
werden.
Da war nun so ein junges Ding, Fräulein Mucki Buttervogel, die, ohne durch
Bedenklichkeiten belastet zu sein, ihren ersten Flug wagte. Diese mußte es sein,
dieser mußte die Rolle auf den Leib geschrieben werden, und mit dieser mußte
die Rolle mit aller Sorgfalt einstudiert werden. Darüber gab es Unfrieden im
Holmschen Hause, Klagen, Bitten, trübe Voraussagen auf der einen Seite und un¬
willige Abwehr und Vorwürfe auf der andern. Und der Herr Professor sagte zu
seiner Tochter: Dhieser theilt Wenzel scheint mir dder Ansicht zu sein, daß die
Dramaturgie die Lehre von den Schauspielerinnen ist. Worauf Frau Luzie in
Tränen ausbrach, ihren Mann dem Vater gegenüber in Schutz nahm und sich
selbst Vorwürfe machte, daß es ihr an Geist und Schönheit fehle, ihren Mann an
sich zu fesseln.
Am Eröffnungsabend war alles im Theater, was in Neusiedel irgend An¬
spruch auf Beachtung macheu konnte. Auch Herr Professor Icilius war da — nicht
wegen des Prologs, sondern wegen Minna von Barnhelm und wegen seiner In¬
schrift. Auch Frau von Seidelbast war da — aber nicht wegen Minna von
Barnhelm, auch nicht des Prologs wegen, sondern um die Wirkung des geteilten
Vorhangs zu studieren. Auch Hilda war da, um sich von Onkel Philipp durch alle
Räume des Theaters führen zu lassen. Und Berlitz und Hunding und viele Pri¬
maner waren da, um sich ihres Erfolges, die Inschrift betreffend, zu freuen. Und
die Stadtväter und die Bürgerschaft waren da, um nicht zu fehlen, wenn die Ent¬
wicklungsgeschichte ihrer Stadt an einem unvergeßlichen Marksteine vorüberkam.
Und der Herr Landrat war da mit seinen Damen, lehnte mit dem Rücken der
Bühne zugewandt an der Brüstung des Orchesters, und man hörte seine Stimme
weit ins Parkett hinein. Und General Kämpffer, Exzellenz, thronte in der Proszeniums-
loge. Und Wenzel Holm in Frack und weißer Binde hatte ein Stockwerk tiefer
in der Direktionsloge Platz genommen. Man konnte ja nicht wissen, ob nicht der
Dichter des Prologs vor die Lampen gerufen werden würde.
Die Festouverture erklang gedeckt und geheimnisvoll aus dem versenkten Or¬
chester heraus. Ach es waren keine Bayreuther Klänge! Es waren des Direktor
Krebs Myrmidonen. Und was sie hören ließen, war die in so vielen Sonntags¬
konzerten und sonstigen Festfeiern gehörte Jubelouverture. Aber hier im Theater
und namentlich aus dem versenkten Orchester heraus machte sich doch das „Heil dir
im Siegerkranz", womit sie schloß, höchst stilvoll.
Der Vorhang teilte sich. Ah! Natürlich neue Kulissen. — Von Kröner in
Koburg. Die Direktion hatte keine Opfer gescheut und für den Prolog zwei
Felsen, drei Büsche und den Brunnen extra malen lassen, aus dem der Nickelmann
aufsteigen sollte. Mit einem elektrischen Scheinwerfer wurden überirdische Blend¬
effekte gezaubert. Und dazu spielte man etwas, was dem Wagnerschen Waldweben
verwandt sein sollte. Nun erschien der Waldschratt, und der Nickelmann tauchte
aus seinem Brunnen auf und sagte Quorax. Beide waren nnzufriedneu Gemüts
und machten anzügliche Bemerkungen über gewisse Unzulänglichkeiten in dieser
irdischen Welt. Der Nickelmann schien die Wasserstadt zu vertreten, der Wald¬
schratt das Kellereiholz, und die Bnschgroßmutter, die zu dritt hinzukam, schien das
Organ des altstädtischen Bürgersinnes zu sein. Was sie eigentlich wollten, war
nicht recht klar und wurde vom Publico erst tags darauf verstanden, als die Ge¬
schichte im Tageblntte stand und erklärt wurde. Jedenfalls schienen alle drei in
gewissen wünschenswerten Dingen nicht weiter kommen zu können. Da erschien
unter nie gesehenen Lichteffekten Rautendelein, ein junges hübsches Ding, das gar
nicht schüchtern war. Diese fegte auf der Bühne umher, sagte der Wasserstadt,
der Kellerei und dem Bürgersinne einige Grobheiten und hielt eine Rede an die
Sonne, in der von Licht, Leben, Freiheit, Liebe und einer schöneren, unmittelbar
bevorstehenden Zeit die Rede war. Und das alles für euch, ihr Menschenkinder,
und zwar von heute an, wo der neue Tempel der herz- und seelenbefreiendcn
Kunst aufgetan wird. Von heute an, wo ein neuer Geist die Welt durchwehen
wird, von heute an, wo Finsternis und Lüge durch Licht und Wahrheit über¬
wunden werden. Der Nickelmann sagte Quorax und konnte sich der hohem Einsicht
Rautendeleins nicht verschließen. Und auch der Waldschratt und die Buschgro߬
mutter erklärten sich für überzeugt. Ein Zauberspruch, und es folgte (worauf der
Direktor keinesfalls hatte verzichten wollen) große Verwandlung. Nicht ganz ohne
Stocken, denn die Maschinerie war noch zu neu. Es erschien ein Schloß von
griechisch-ggtisch-gztekischer Architektur. Davor war das ganze Theatervolk gruppiert,
die Stars in ihre» Hauptrollen, und dahinter allerlei dramatisches Volk in neuen
Kostümen, die allein zweitausend Mark gekostet haben sollten. Und in der Mitte
stand Lessing. Einige hielten ihn für Goethe, andre für Schiller. Aber es war
Messing, der einige Sätze aus seiner Hamburger Dramaturgie zum besten gab und
dann die neue Stätte heiliger Kunst in aller Form einweihte. Darauf bedankte
^ sich bei Rautendelein, daß sie ihn zu so erhabner Feier aus den eleusinischen
Gefilden gerufen habe, der Nickelmann sagte Quorax, der Waldschratt schlug sich
aufs Knie, und Rautendelein warf Kußhände ins Publikum.
So endete das sinnvolle Weihespiel. Das Publikum klatschte und brach in
großen Beifall aus, und die Gardine flog abermals auseinander. Wenzel Holm
hatte kaum Zeit gefunden, hinauf auf die Bühne zu kommen. Er stürzte aus der
Kulisse hervor und verbeugte sich etwas atemlos mit dem Bühnenvolke. Aber es
war ihm eine große Genugtuung, in der Reihe zu stehn.
Dhaa! sagte Professor Icilius mit verächtlicher Handbewegung zu seinem
Nachbar, die alten Meister, die Äschylus und Sophokles, brachten das Ssatyrsptel
an das Ende der Tragödie. Wir ffangen mit them Ssatyrspiele an. Woraus
zu ssehen ist, daß wir keine Meister sind.
In der nun folgenden Pause strömte die Zuschauerschaft ins Foyer, um sich
dort eine Viertelstunde lang in argem Gedränge im Kreise zu bewegen. Den
Mittelpunkt bildete die Marmorbüste des seligen Rumpelmann. Der selige
Rumpelmann, den ja alle noch kannten, war in wesentlich idealisierter Form dar¬
gestellt, und zur Feier des Tages hatte man ihm einen Lorbeerkranz aufgesetzt. — Es
ist nicht zu sagen, meinte der Herr Landrat, was aus einem Menschen werden kann,
wenn er erst tot ist.
Über dem Bufett las man oder las auch nicht die Inschrift: InxsQuas Äi-
äioisss artss. . . Berlitz und einige andre Primaner hatten ihren Professor im
Gedränge aufgefangen und führten ihn mit Genugtuung zu ihrer Inschrift. Der
Professor war nicht sehr erbaut. Er prüfte die Inschrift, die Reihen von Gläsern
und Tellern mit belegten Brötchen und sagte: Ssehen Sie, Bberlitz, das ist dhie
Art dieses dhegenerierten Geschlechts: Lebensweisheit und Bier, Verdauung und Kunst.
An dieser Stelle dhaa ist die Weisheit Ovids eine Parodie. Sie gehört vor die
Augen der Schauenden und Lernenden.
Das haben wir auch gesagt, Herr Professor, erwiderte Berlitz, aber man
entgegnete uns, eine Inschrift über dem Vorhange sei stilwidrig und störe die
Stimmung.
Pah! rief der Professor. Ssetzen Ssie vor die Augen der Analphabeten
des Kuhstalls ein dreifaches Mus, höle werden im Wiederkäuen nicht gestört
werden.
Dies war ungewöhnlich grob gesagt. Aber Professor Icilius war durch das
Satyrspiel seines werten Schwiegersohnes und durch dessen Frack in ungewöhnlich
ungnädige Stimmung versetzt.
Auch Frau Luzie war durch den Sinn des Prologs, den sie nur zu gut ver¬
standen hatte, nicht erbaut worden. Von dem Theater hatte sie ja nicht fern
bleiben dürfen, aber sie wäre allein gewesen, wenn sich ihrer nicht Hnnding in
jugendlicher Verehrung angenommen hätte. Hnnding hegte nämlich eine schüler¬
hafte, bescheidne Schwärmerei für Frau Luzie und ging mit Hilda gern einmal zu
Hokus, wenn es ihm in seinem Hause gar zu überirdisch und katakombenhaft
wurde.
Frau Luzie und Hunding kamen gerade dazu, als der Professor unbekümmert
um die, die dabeistanden und zuhörten, seine Kraftsentenzen losließ.
Aber Vater, rief Frau Luzie ganz entsetzt, wenn dich nun jemand hört!
Mögen sie, erwiderte der Professor. Bberlitz, wie nennen Ssie mich in der
Schule? — Berlitz wurde verlegen und wollte mit der Sprache nicht heraus. —
Cato nennen Ssie mich. Ssehen Ssie. Meine Rede soll uubestochen sein wie die
eines Cato. Mögen Ssie es hören. Dhaa!
Auch der Herr Major c>. D. Kuhblcmk war da. Eben hatte er den Herrn
Assessor a. D. Markhof getroffen. — Diese kleine Mucki. sagte er, wie finden Sie
die. Assessor?
Famoser Käfer, erwiderte der Assessor. Wissen Sie — albisches Wesen. Wo
wohnt sie denn?
Nichts für Sie. Assessor, sagte der Major. Hat schon ihren Heinrich.
Nanu?
Den Holm, den Dramaturgen.
Holm?
Na ja, den Kerl im Frack, der für den Applaus quittierte. studiert Rollen
mit ihr ein. Verfluchter Kerl! Nicht?
Hier war auch Frau von Seidelbast und ihr Hofstaat. Frau von Seidelbast
hatte den Prolog mit zerstreuter Aufmerksamkeit angehört. Was waren ihr die
Menschen dort auf der Bühne, die wie Menschen redeten. Für sie fing die Kunst
erst da an, wo dürftig bekleidete Urmenschen unter Begleitung eines unsichtbaren
und erregten Orchesters ekstatische Töne ausstießen. Aber die geteilte Gardine
interessierte sie und das versenkte Orchester. Zwar bewegte sich diese Gardine nicht
so feierlich wie in Bayreuth, aber es war immerhin möglich, sich hinter ihr eine
Wagnersche Szene, Wagnersche Helden und Wagnersche Leitmotive vorzustellen.
Man pflegt bei Theatereröffnungen vor der Klassizität einen Knicks zu machen,
und nachdem man sich mit ihr abgefunden hat, zu der modernen und kasfa-
füllenden Kunst überzugehn. So tat man auch hier. Man spielte zur Eröffnung
Minna von Barnhelm. Man suchte sich in die Feinfühligkeiten dieser diffiziler
Menschen zurückzuversetzen, man pries die unvergänglichen Verdienste Lessings und
begab sich dann, um die Katharsis mit Spatenbräu feucht zu erhalten, in das
Theatereafe.
Am andern Tage stand der übliche Bericht unter dem Kopfe: Kunst und
Wissenschaft im Tageblatte. Es war ein Getön begeisterter Worte, durch die alles
und jedes gelobt wurde. Der Theaterreferent, Herr Hesselbach, ein alter pensio¬
nierter und etwas schwerhöriger Rektor, erfreute sich eines guten Leumunds bei
allen Direktionen, die in Neusiedel munter, da er den erfreulichen Grundsatz hatte,
die gute Sache durch gute Rezensionen zu unterstützen. Dieser Herr Hesselbach
bekam jetzt gute Zeit. Denn was der neue Direktor im neuen Theater bot, war
gar nicht schlecht. Es waren nicht gerade Meisterleistungen, es war aber ein ganz
respektables Mittelgut, nicht die Höhepunkte der dramatischen Kunst, nicht die extra¬
vagantesten Neuheiten, aber eine nicht ungeschickte Auswahl des Brauchbaren aus
der Masse dessen, was der Tag brachte. Das Publikum, das abonniere hatte, besuchte
fleißig das Theater, befand sich wohl, bildete eine Art Theatergesellschaft und ließ
sich gelten.
Auch eine Oper gab es. Von Zeit zu Zeit erschien die Operngesellschaft aus
Jxhausen und brachte den Waffenschmied, die Weiße Dame und andre schöne Sachen
zur Aufführung.
(Fortsetzung folgt)
Die Spannung, die noch vor acht Tagen in der hohen Politik herrschte, ist
endlich so weit gewichen, daß man wieder mit mehr Vertrauen der weitern Ent¬
wicklung entgegensehen kann. Die Pforte hat den österreichisch-ungarischen Vorschlag,
der bekanntlich in dem Anerbieten einer Entschädigung für die in Bosnien und der
Herzegowina gelegnen türkischen Staatsgüter bestand, im Prinzip angenommen. Es
ist also die. Grundlage für neue Verhandlungen gewonnen worden, und zwar ist
diese Grundlage derart, daß eine Verständigung in sichrer Aussicht steht. Kommt
eine solche zustande, so ist allen politischen Treibereien, die eine Störung des
europäischen Friedens zur Folge haben können, vorläufig der Boden unter den
Füßen weggezogen, und es müßten schon neue Zwischenfälle und im Anschluß daran
ganz neue Politische Maßnahmen der Mächte eintreten, wenn es zu weitern politischen
Spannungen kommen sollte. Das kann natürlich niemand voraussehn, denn mit
irgendwelchen Zwischenfällen wird man auf der Balkanhalbinsel immer rechnen müssen.
Aber mit Prophetenkünsten kann sich die Politik überhaupt nicht abgeben. Wenn
jetzt von einer Beurteilung der Orientfrage und ihrer wahrscheinlichen nächsten Ent¬
wicklung die Rede ist, so ist das immer nur mit der Einschränkung zu verstehn, daß sich
das Urteil auf die augenblicklich vorliegenden Fragen und Verwicklungen bezieht. Es
handelt sich jetzt um die Lösung der Krisis, die durch die Annexion Bosniens und
der Herzegowina und durch die Unabhttngigkeitserklärung Bulgariens entstanden ist.
Die nationalen Empfindlichkeiten, die hierdurch in der soeben erst in einen Ver¬
fassungsstaat umgewandelten Türkei erregt wurden, drohten einen Konflikt mit Öster¬
reich-Ungarn herbeizuführen, wobei auch Serbien und Montenegro auf seiten der
Türkei gestanden hätten. Diese Gefahr wurde verstärkt durch die moralische Unter¬
stützung, die die Pforte durch die englische Politik erhielt, und ebenso auch dadurch,
daß Rußland im Sinne seiner traditionellen Balkaupolitik zu handeln glaubte, wenn
es die serbische Großmannssucht im Königreich und in Montenegro anstacheln half
und sich unter Berufung auf die Heiligkeit internationaler Verträge den Forderungen
Österreich-Ungarns entgegenstellte. Für Rußland kam als besondre Lockung zugunsten
dieser Politik diesmal hinzu, daß es panslawistische Balkanpolitik treiben konnte, ohne
der Türkei feindlich gegenübertreten zu müssen. Und während es sonst die Regel
war, daß England und Rußland in Orientfragen die schärfsten Gegensätze darstellten,
konnten sie diesmal friedlich Hand in Hand wandeln. Das war in diesem Falle um
so bedeutsamer, als es nicht nur die zufällige Stellungnahme zu den einzelnen Fragen
der Orientpolitik war, was die beiden Großmächte zusammenführte; auch allgemeine
weltpolitische Erwägungen haben ja bekanntlich England und Rußland veranlaßt, ihre
frühere gegensätzliche Politik, wie sie durch die asiatischen Verhältnisse herbeigeführt
worden war, durch eine Politik der Verständigung zu ersetzen. Die Umstände
lagen also so, daß sich die Türkei wohl ermutigt fühlen konnte, den Konflikt mit
Österreich-Ungarn einer verhängnisvollen Verschärfung entgegenzutreiben. Das
wäre freilich wenig staatsklug gewesen, denn wesentliche Vorteile, die den zu
bringenden Opfern im Fall eines ohnehin wenig aussichtsvollen Krieges ent¬
sprochen hätten, waren für die Türkei keinesfalls zu erlangen, und von dem bloßen
Vergnügen, unter Umständen die Brandfackel in das europäische Staatengebäude zu
werfen, hätte die Türkei blutwenig Gewinn gehabt, wahrscheinlich aber die stärksten
Nackenschläge für ihre eignen wirtschaftlichen und politischen Bedürfnisse erfahren.
Aber wir haben oft genug Gelegenheit gehabt, darauf hinzuweisen, daß auf den
vielverschlungnen Pfaden der Völkerentwicklung und der Völkerbeziehungen nicht
immer die Logik und die Konsequenz zu finden sind. Wenn ein politischer Schritt
allgemein einleuchtet, den sichtbaren nächsten Interessen der Mehrheit und der
herrschenden Stimmung entspricht, fragt niemand danach, ob er im Einklang mit
der Vergangenheit steht oder den nur dem weitern Blick erkennbaren Forderungen
der Zukunft genügt. England läßt sich von den begeisterten Jungtürken huldigen
und mißbilligt zum Dank dafür die Annexion Bosniens — alles in demselben
Augenblick, wo öffentlich die Frage der völligen Einverleibung Ägyptens in den
britischen Reichskörper erörtert wird, desselben Ägyptens, dessen vollständige Los-
lösung vom türkischen Reich erst durch England vollzogen worden ist. Das ist
kein Vorwurf für England. Es braucht Ägypten für seine weltpolitische Stellung;
es hat unter Lord Cromers vortrefflicher Verwaltung unendlich viel für das Wohl
des Landes getan, seine wirtschaftlichen Kräfte so weit entwickelt, wie man es seit
den Zeiten der Ptolemäer kaum noch für möglich gehalten hatte. Warum sollte
es Ägypten nicht nehmen? Wenn es diesen letzten Schritt nicht tut, so ist es
sicher nicht der Respekt vor den Rechten des osmanischen Großherrn, der es davon
zurückhält. Aber alles das hindert England nicht, Österreich-Ungarn zu tadeln,
weil es in Bosnien dasselbe tut, was England in Ägypten gern tun möchte. Es
hindert aber auch die Türkei nicht, sich für England zu begeistern und gegen
Österreich zu entrüsten, obwohl es von Österreich nur einen eingebildeten, von
England einen wirklichen, nicht ersetzbaren Verlust erlitten hat. Und wer will
England ernstlich tadeln, daß es aus dieser ihm kostenlos zufallenden, seine Sünden
zudeckenden Begeisterung der Türken Nutzen zieht? Es ist ja nicht seine Aufgabe,
den Türken oollsAinm lo^eum zu lesen. Auf der andern Seite hat es für den
schlichten Verstand des Privatmanns nicht minder etwas Verblüffendes, von Ru߬
land mit Bezug auf die Annexion Bosniens eine Predigt über den Respekt vor
internationalen Verträgen zu hören. Österreich-Ungarn hat sich bei seinem Vor¬
gehen in Bosnien nicht ohne weiteres von den Bestimmungen eines internationalen
Vertrags losgesagt; es hat sie nur — vielleicht in einer anfechtbaren Weise —
zu seinen Gunsten umgedeutet. Das Beispiel einer förmlichen Lossagung einer
einzelnen Macht von gewissen Bestimmungen eines internationalen Vertrags ist der
Welt in den letzten hundert Jahren nur einmal gegeben worden, nämlich von —
Rußland. Es benutzte bekanntlich die günstigen Umstände während des Deutsch¬
französischen Kriegs, sich von gewissen einengendem Bestimmungen des Pariser Ver¬
trags von 1856 zu befreien.
Man muß sich diese Verhältnisse klar machen, um zu erkennen, daß man mit
logischen Vorhaltungen in solchen Fragen nicht weiterkommt, sondern daß in der
praktischen Politik nur die gegenwärtigen Interessen entscheiden. Allerdings müssen
diese auch geschickt vertreten werden, und ob das gerade in diesem Falle von
russischer Seite geschehen ist, dürfte wohl mindestens zweifelhaft sein. Herr
Jswolski hatte schon in London und Paris kein Glück gehabt, als er die Meer¬
engenfrage auf das Programm der künftigen Konferenz zu bringen versuchte. Seine
Dumarede über die auswärtige Politik Rußlands brachte das ziemlich unverhüllte
Eingeständnis, daß Rußland nicht gewillt sei, seinen Forderungen den letzten Nach¬
druck zu geben und um der Orientpolitik willen das Schwert zu ziehen. Sie
enthielt ferner indirekt das Eingeständnis, daß sich Österreich-Ungarn nach den Ab¬
machungen von Reichstadt im Jahre 1876 wohl berechtigt halten konnte, die Be¬
stimmungen des Berliner Vertrages von 1878 hinsichtlich Bosniens und der
Herzegowina so aufzufassen, daß für Rußland nach den mancherlei bereits geschehenen
und von den Mächten gutgeheißnen Durchlöcherungen des erwähnten Vertrages
kein besondrer Grund zu einem scharfe» Protest und zur Ermutigung der serbischen
Kriegslust vorlag. In diesem Zusammenhange konnte das Projekt eines Bundes
der Balkanstaaten unter einer Art von russischem Protektorat nicht gerade vertrauen¬
erweckend wirken. Vor allem zeigte sich, daß Frankreich nicht gesonnen war, auf
diesem Wege, der den Streit über kurz oder lang zu entfesseln geeignet war, den
Genossen in der Triple-Entente unbedingt zu folgen. Wir erwähnten schon neulich,
daß auch in England Anzeichen hervortraten, wie sehr man angesichts der Haltung
der russischen Politik zur Vorsicht gestimmt ist. Man hatte die Boykottbewegung
gegen Österreich-Ungarn in der Türkei geschäftlich nach Möglichkeit auszunutzen
versucht, aber nun wurde die Lage doch bedenklich. Der regierende englische Libe¬
ralismus, der ohnehin wußte, daß die Verständigungspolitik mit Rußland in den
Reihen seiner Anhänger nicht populär war, wollte in diesen Fragen vor allem das
Einvernehmen mit Frankreich wahren; sich um Rußlands willen in einer ferner¬
liegenden Frage von Frankreich abzusondern, konnte nicht im Sinne der Kreise des
englischen Volkes liegen, auf die die heutige Regierung angewiesen ist. Und
schließlich konnte auch das Aufflackern der für die englische Denkweise sehr charakte¬
ristischen Entrüstung über Österreich-Ungarn vor einer nüchternen Auffassung poli¬
tischer Interessen auf die Dauer nicht standhalten. Aber es ist in solchem Falle
nicht ganz leicht, den Rückweg zu finden, und der Eifer des jungtürkischen Komitees
war nicht leicht zu zähmen. Würde es Kiamil Pascha gelingen, der leidenschaft¬
lichen Agitation des Komitees Herr zu werden? Die letzte Woche hat die Antwort
auf diese Frage gebracht. Baron Aehrenthal hatte den richtigen Augenblick erkannt,
wo ein weiteres Entgegenkommen Österreich-Ungarns am Platze war. Er machte
seinen bekannten Vorschlag, und Kiamil Pascha war, als er ihn im Prinzip an¬
nahm, sogleich in der Lage, dem türkischen Parlament eine Auseinandersetzung über
die auswärtige Politik der ottomanischen Regierung zu macheu. Er erhielt ein
einseitiges Vertrauensvotum und gewann dadurch die Grundlage sür die Wieder¬
aufnahme der Verhandlungen mit Österreich-Ungarn und eine gewisse Sicherheit
gegen Quertreibereien des jungtürkischen Komitees. Der Wert dieser Wendung
liegt nicht nur in der Wahrscheinlichkeit der Verständigung rin Österreich, womit
die Hnuptschwierigkeit der ganzen Orientkrisis beseitigt wäre, sondern auch in der
Möglichkeit, daß England jetzt die von ihm selbst gewünschte Annäherung an
Österreich vollzieht. Und das bedeutet in Gemeinschaft mit dem für die zweite
Februarwoche in Aussicht genommnen offiziellen Staatsbesuch des Königs Eduard
in Berlin einen entschieden Schritt zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens.
Seit dem 12. Januar haben auch der Reichstag und das preußische Abge¬
ordnetenhaus ihre Arbeiten wieder aufgenommen; wir nähern uns also den großen
Entscheidungen, die uns dieser Tagungsabschnitt bringen soll. Während der ersten
Tage nach den Ferien hat der Reichstag zunächst kleinere Vorlagen erledigt, dann
ist er aber in die Beratung des vielumstrittnen Arbeitskammergesetzes eingetreten.
In der neuen Form scheint die Vorlage eine bedeutende Mehrheit zu finden; völlig
ablehnend verhält sich nach gewohnter Weise nur die Sozialdemokratie, weil sie
nach den Beschlüssen des Gewerkschaftskongresses von 1905 nicht Arbeitskammern,
sondern Arbeiterkammern fordert. Das bedeutet, daß sie zur Beurteilung der
wichtigen sozialpolitischen Fragen, die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergeben, nicht
eine paritätische Vertretung der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, sondern eine
einseitige Vertretung der Arbeitnehmer allein verlangt. Das ist nicht immer so
gewesen, wie den Sozialdemokraten der Staatssekretär des Innern, Staatsminister
v. Bethmann-Hollweg, in der ausgezeichneten Rede, mit der er die Debatte ein¬
leitete, ins Gedächtnis zurückrief. Die Partei fing erst an in dieser Frage mehr und
unerfüllbares zu fordern, als die Erfüllung ihrer frühern Forderung, die der älter»
Zeit schon radikal genug erschien, immerhin aber bei aufgeklärten Sozinlpolitikern
Sympathien erweckte, endlich in den Bereich der Möglichkeit gerückt schien. In
dem Augenblick, wo der ursprüngliche Gedanke von den bürgerlichen Parteien auf¬
genommen und im Interesse der Arbeiter erörtert wurde, genügte er nicht mehr,
das Bewußtsein des „Klassenstaats" aufrecht erhalten zu helfen; er hatte damit
den einzigen Parteizweck verfehlt und mußte durch einen andern ersetzt werden.
Die Sozialdemokratie hatte offenbar darauf gerechnet, daß sich die Gesamtheit der
wirtschaftlichen Unternehmer dem Grundgedanken dieser Gesetzvorlage noch schärfer
widersetzen würde. Ein gewisser Widerstand und ein starkes Mißtrauen besteht ja
auch in diesen Kreisen noch heute gegen alle gesetzlichen Maßnahmen dieser Art. Aber
auch im Wirtschaftsleben macht der Absolutismus allmählich dem Konstitutionalismus
Platz. Das starre Herrentum der bahnbrechenden Persönlichkeiten aus den Anfängen
unsrer aufblühenden Großindustrie weicht in einer neuen Generation allmählich dem
wachsenden Verständnis für die sozialpolitischen Bedürfnisse der Zeit. Herr v. Beth¬
mann-Hollweg verstand es auch vortrefflich, die Grundgedanken des Entwurfs und
die Absichten des Gesetzgebers hervorzuheben, die besonders geeignet waren, das
Mißtrauen der widerstrebenden Unternehmerkreise zu beseitigen. Die praktische
Klugheit und die Überzeugungskraft der Ausführungen des Ministers wurden
denn auch von allen bürgerlichen Parteien willig anerkannt.
Von den Kommissionsarbeiten beansprucht die Finanzkommission nach wie vor
das größte Interesse. Aber das Vertrauen, daß sie ihrer Aufgabe gerecht werden
wird, will sich noch nicht einstellen. Das zeigt wieder neuerdings ein Beschluß
der Kommission. Die Regierungsvorlage schlägt bekanntlich die Aufhebung der
Fahrkartensteuer vor, allerdings unter der Voraussetzung, daß der Reichstag bei
Beratung der Finanzvorlage die vorgeschlagnen Steuern in der beantragten Höhe
oder entsprechenden Ersatz bewilligt. Die Kommission dagegen will nach ihrem
Beschluß die Fahrkartensteuer beibehalten wissen und sie nur reformiere», obwohl
schwer einzusehen ist, was an dieser verfehltesten und törichtsten aller Einrichtungen
eigentlich reformiert werden soll. Man muß also bei dieser Neigung der Kommission,
von allem, was vernünftig ist und zum Ziele führt, gerade das Gegenteil zu be¬
schließen, auf alles gefaßt sein.
Zu derselben Zeit mußte im preußischen Abgeordnetenhause der Finanzminister
v. Rheinbaben von den Einnahmen des letzten Jahres ein trübes Bild entwerfen.
Und dabei wirken die Mindereinnahmen der Eisenbahnverwaltung besonders empfindlich.
Unter solchen Umständen sind dem Landtage, der in der Ungunst dieser Zeiten die
Mittel zu einer Reform der Beamtenbesoldung beschaffen soll, besonders schwierige
Aufgaben gestellt. Um so unbegreiflicher ist es, daß von den Konservativen die
Deckung des Mehrbedarfs im Reiche noch durch den Widerstand gegen die Nachla߬
steuer erschwert wird. Denn da doch ein Teil des Reichsbedarfs durch direkte
Besteuerung beschafft werden muß, so besteht die Gefahr, daß bei Ablehnung der
milden und leicht zu tragenden Form der Nachlaßsteuer die Belastung der Steuer¬
zahler wegen der gleichzeitigen einzelstaatlichen Mehrforderungen an direkten Steuern
eine unerträgliche Höhe erreicht.
Eine seltsame Debatte gab es dieser Tage im Abgeordnetenhause anläßlich der
Jnterpellation über die unter dem Namen der „Schönheitsabende" bekannten
Schaustellungen. Diese Veranstaltungen, bei denen sich die Darsteller von lebenden
Bildwerken, Gruppen und Tänzen in möglichst weitgehender Nacktheit zeigen, finden
ihre Freunde wohl nur unter einigen verstiegnen „Ästheten", die sich wirklich ein¬
bilden, auf diesem Wege könne ein neues Kunstverständnis gezüchtet werden, und
bei einigen Preßorganen, die es für geschmackvoll und freiheitlich halten, wenn sie
die Auflehnung eines gesunden Empfindens gegen modische Pseudokunst als Rück¬
ständigkeit und Zelotismus verschreien. Im übrigen werden sie wohl ganz all-
gemein als das erkannt, was sie sind, als ein echter Großstadtschwindel, der den
einzigen wirklichen Zweck, nämlich die Erregung eines ganz gewöhnlichen Sinnen¬
reizes und Nervenkitzels, durch eine ungewöhnliche, besondre Aufmachung und durch
ein Beiwerk von hochtrabenden, modisch aufgeputzten Schlagworten zu verschleiern
strebt. Es mag unter den Zuschauern viele Leute geben, die sich redlich bemühen,
ihr Interesse an diesen Darstellungen auf reine Kunstregungen zurückzuführen, und
die sich selbst in aller Treuherzigkeit alles mögliche dabei vorlügen, schon weil das
Eingeständnis, daß sie sich etwas andres dabei gedacht haben, der interessanten
Sache sofort ein Ende bereiten würde. Ein Feldzug gegen die Adepten der
„Nacktkultur" ist also ganz berechtigt, wenn man auch zweifeln kann, daß es des
Aufwands einer besondern großen Debatte bedürfte, und daß die Persönlichkeit des
Hauptwortführers, des Abgeordneten Roeren, glücklich gewählt war. Denn diesem
Herrn haftet nicht ohne Grund der Ruf an, daß er nach der andern Seite hin
übertreibt und sich in verschiednen Fällen zu einer wirklich kunstfremden Prüderie
bekannt hat, die imstande ist, auch hinter den Objekten durchaus reiner und edler
Kunst unreine Motive zu suchen. Auch hätte es dem ehemaligen Richter Wohl
besser angestanden, wenn er seinen Worten, in denen das Pathos ehrlicher Ent¬
rüstung darum nicht zu fehlen brauchte, nicht gerade die Form persönlich zuge¬
spitzter, qualifizierter Beleidigungen gegeben hätte, was unter dem Schutz der
parlamentarischen Immunität immer einen schlechten Eindruck machen muß. Aber
gleichviel, die Sache ist keine Parteifrage, und in dem Kern seiner Ausführungen
hatte Herr Roeren Recht. Und dem Minister hätte es, wie die Debatte ergab,
auch unter den Liberalen die Mehrzahl nicht übel genommen, wenn er diesem
Nacktkulturschwiudel gegenüber etwas energischer zugegriffen hätte.
Die Jahresberichte über die Entwicklung der Kolonien im Jahre
1907/08 sind in den letzten Tagen erschienen und bieten reichlich Stoff zu kolo¬
nialen Betrachtungen mannigfacher Art. Sie sind modern geworden, und man merkt
ihnen — wie schon im letzten Jahre — deutlich an, daß jetzt im Kolonialamt auch
Leute arbeiten, die im praktischen Leben gestanden haben, daß nicht mehr aus¬
schließlich der „Geheimrat" dominiert. Es läßt sich nicht leugnen, daß die jetzige
Aufmachung der kolonialen Denkschriften gegen früher viele Verbesserungen aufweist.
Auch der gewöhnliche Sterbliche findet sich jetzt darin zurecht, und man braucht
nicht Reichstagsabgeordneter zu sein, um sich ein „sachverständiges" Urteil über
den sachlichen Inhalt bilden zu können. Die Gruppierung des Stoffs ist geschickt
und übersichtlich, sodaß man sich rasch über die wesentlichen Ergebnisse des Berichts¬
jahres orientieren kann. Heutzutage muß alles illustriert sein, was einigermaßen
Anspruch auf allgemeine Beachtung machen will, also auch die kolonialen Denk¬
schriften. Es war ohne Zweifel ein guter Schachzug der Kolonialverwaltung, diesem
Zuge der Zeit zu folgen und den einzelnen Denkschriften eine Anzahl von Bildern
beizugeben. Auch unter den Herren Volksvertretern, für die diese Denkschriften ja
zunächst bestimmt sind, befindet sich jedenfalls eine ganze Reihe von Herren,
die von der überseeischen Welt gar keine oder nur eine sehr schwache Vorstellung
haben. Und wenn sie selbst vielleicht die Bilder auch nur flüchtig ansehen, so
werden diese in manchen Fällen wenigstens die Phantasien ihrer heranwachsenden
Sprößlinge beleben und so ein wenig für die Sache wirken. Überhaupt müßte sich
die Kolonialverwaltung immer noch mehr des Bildes als Aufklärungsmittel be¬
dienen. Wenn man vor zehn Jahren schon in dem Maße, wie dies die englische
und die französische Kolonialverwaltung getan haben, die Photographie und andre
Anschauungsmittel (Produktenausstellungen u. tgi.) in den Dienst der amtlichen
kolonialen Aufklärungstätigkeit gestellt hätte, so hätte der koloniale Gedanke sicherlich
schon früher im Volke Fuß gefaßt. Das französische Kolonialministerium z. B.
hat Schaufenster so gut wie Wertheim, in denen Bilder und Karten von den
Kolonien aushängen und koloniale Produkte zu sehen sind. Jedermann, auch die
Schuljugend, in Paris weiß infolgedessen, was und wo das Kolonialamt ist. In
Berlin dagegen wandeln wohl die meisten Leute durch die obere Wilhelmstraße,
ohne eine Ahnung zu haben, was für wichtige Organe des Staats die ehrwürdigen
Gebäude links und rechts beherbergen, daß in einem auch die Verwaltung der Kolonien
in vornehmer Zurückgezogenheit ihr Dasein führt. Dabei ist dieser Teil der Reichs-
verwaltung gar nicht mehr so unmodern — abgeschlossen. Wenn man vor zehn
bis zwölf Jahren dem Kolonialamt zugemutet hätte, seine Denkschriften zu illustrieren
oder gar nach französischem Muster Schaukästen aufzuhängen, so wäre man wohl
für ein bißchen verrückt gehalten worden, und heute geht in der Tat im Kolonial¬
amt der Gedanke um, planmäßig eine große Bildersammlung anzulegen und nicht
wie bisher etwa eingehende Photographien, mit Aktenzeichen und Nummer ver¬
sehen, zu begraben. Hoffentlich werden dann auch die so gesammelten Schätze
der privaten Propaganda, insbesondre den diesen Aufgaben dienenden Zeitschriften
in liberalster Weise zugänglich gemacht. Denn sonst hat die Sache gar keinen
Sinn. Natürlich nicht so, daß etwa versucht wird, aus dem Material amtlicher
Expeditionen Kapital zu schlagen und die Sammlungen meistbietend zu verkaufen
um einiger tausend Mark willen. Ich habe unlängst dieses Geistes einen Hauch
verspürt.
Die Kolonialverwaltung hat selbst das größte Interesse daran, daß der koloniale
Gedanke möglichst tief in die weitesten Volkskretse dringe, und sie muß daher bestrebt
sein, in ihrer Arbeitsweise möglichst volkstümlich zu werden und sie den Bedürf¬
nissen des praktischen Lebens anzupassen. Man kann ihr nur raten, auf dem Wege,
den sie mit der Modernisierung der Denkschriften beschritten hat, weiterzugehn.
Soviel über die äußere und innere Aufmachung der Denkschriften und die
Gedanken, die sich daran knüpfen. Der sachliche Inhalt spricht für eine erfreuliche
wirtschaftliche Entwicklung der Kolonien im abgeschlossenen Jahr. Doch
davon wollen wir jetzt nicht reden und die Fortschritte des Wirtschaftsjahres 1907/08
einer besondern Darstellung in der nächsten Nummer vorbehalten.
Heute sollen, wie üblich, die jüngsten Vorgänge in den einzelnen Kolonien
erörtert werden. Leider müssen wieder verschiedne Vorkommnisse zur Sprache
kommen, die aus dem Grunde ernste Beachtung verdienen, weil sie geeignet sind,
die Erfolge, die im verflossenen Jahre in ernster wirtschaftlicher Arbeit errungen
worden sind, nnter Umständen in Frage zu stellen.
Früher nannte man immer Südwest das Schmerzenskind unter den Kolonien.
Trotz der letzten traurigen Vorgänge im Süden der Kolonie paßt dieser Name
eigentlich nicht mehr, denn sie ist auf dem besten Wege, eine geordnete und gut
deutsche Siedlung zu werden. Dagegen hat sich in der letzten Zeit Ostafrika ein
Anrecht auf jenen Titel erworben, dank der unbegreiflichen Politik des Gouver¬
neurs von Rechenberg. Konnte man früher der zielbewußter und energischen
Persönlichkeit Rechenbergs einige Sympathien nicht versagen, trotz sachlicher Be¬
denken gegen seine Anschauungen, so mußten diese Sympathien angesichts der
kleinlichen Mittel, mit denen er seine Gegner mundtot zu machen sucht, schwinden.
Wir haben in der letzten Rundschau erzählt, wie er die gegnerische Presse in
der Kolonie zu schikanieren und auszuschalten sucht. Zuerst kam die schwächere
Deutsch-ostafrikanische Zeitung an die Reihe. Mittlerweile glaubt er auch ein
Mittel gefunden zu haben, womit er die widerstandsfähigere Usambara-Post treffen
könnte. Die Usambara-Post ist das Leiborgan der ostafrikanischen Pflanzer und mußte
daher unter andern, besondern Wert auf die Witterungsberichte der Meteorologischer
Station legen. Plötzlich erhielt sie von dieser die Mitteilung, daß auf Verfügung
des Gouverneurs die Witterungsberichte nur noch in der Deutsch-ostafrikanischen
Rundschau, dem neugegründeten Rechenbergschen Leiborgan, veröffentlicht werden
sollen. Allerdings wird die Freude des Gouverneurs wohl nur von kurzer Dauer
sein, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß die Verfügung direkt rechtswidrig ist
und nicht aufrechterhalten werden kann. Es liegt ini öffentlichen Interesse, daß die
meteorologischen Berichte möglichst rasch und allgemein verbreitet werden. Es ist
bezeichnend, daß Herr von Rechenberg sogar vor bewußt schädlichen Maßnahmen
nicht zurückschreckt, um seine Politik zu halten.
Noch bezeichnender ist sein allerneuster Vorstoß gegen die Weiße Be¬
völkerung im allgemeinen. Wie erinnerlich, hat das Gouvernement unlängst die
Kommunalverbände, die ersten Anfänge einer Selbstverwaltung, aufgehoben und
damit die Verwaltung der einzelnen Bezirke wieder vollständig unter den Einfluß
der Zentralverwaltung der Kolonie gebracht. Die Bezirke erhalten nun nicht mehr
die Hälfte der Einnahmen der Hüttensteuer zur freien Verfügung, sondern die Be¬
zirksräte haben jedes Jahr einen Haushaltsplan aufzustellen, auf Grund dessen ihnen
dann die begründet erscheinenden Summen zugewiesen werden. Da die Mitglieder
der Bezirksräte nach dem amtlichen Entwurf vom Gouverneur und nicht von der
weißen Bevölkerung ernannt werden, so kann von einer Selbstverwaltung keine
Rede mehr sein, denn der Gouverneur wird natürlich nur ihm genehme Personen
wählen. Das Skandalöseste an der ganzen Aktion ist aber, daß nach dem amtlichen
Entwurf auch ein Farbiger zur Vertretung der Interessen der Ein-
gebornen in den Bezirksrat gewählt werden kann. Und diese Bestimmung
charakterisiert sich geradezu als eine Verhöhnung der weißen Bevölkerung.
Ja Herr von Rechenberg geht noch weiter. Da man den beiden großen Städten
Dnressalam und Tonga ein gewisses Selbstbestimmungsrecht natürlich nicht vorenthalten
kann, so hat das Gouvernement eine Stadtverwaltung organisiert, über die man lachen
müßte, wenn die Sache nicht so verdammt ernst wäre. Die beiden Städte sollen jede
einen Stadtrat erhalten, der aus 4 Mitgliedern besteht. Von diesen 4 Mitgliedern
werden 3 von der Bevölkerung, 1 vom Gouverneur gewählt. Soweit wäre die
Sache ganz gut und schön. Nun soll aber der Vorsitzende nicht ein freigewählter
Bürgermeister, sondern der Bezirksamtmann, ein Untergebner des Gouverneurs
sein. Das ist der erste Pferdefuß, aber er ginge noch an. Völlig undiskutierbar
ist aber der dem Stadtrat anzugliedernde Farbigencinsschuß, dessen Vorsitzender
ein vom Gouverneur zu bestimmendes Mitglied des Stadtrats sein soll. Dieser
Farbigenausschuß ist — man höre! — befugt, gegen jeden Beschluß des
Stadtrats Einspruch zu erheben, und die Entscheidung hat dann — der
Gouverneur. Der Herr Gouverneur hat also ohne weiteres die Möglichkeit, die
in Ehrfurcht vor ihm, dem dana Mkuba, ersterbenden Mitglieder des Farbigen¬
ausschusses zum Einspruch gegen alle ihm unbequemen Beschlüsse des Stadtrats
zu veranlassen und diese Beschlüsse dann kraft seiner Eigenschaft als letzte Instanz
aufzuheben. Der ganze Stadtratszauber ist also nichts weiter als eine Farce und
wiederum eine Verhöhnung der weißen Bevölkerung. Der Weißen Bevölkerung
werden die Anfänge einer ernsthaften Selbstverwaltung entzogen, und der Ein-
gebornenbevölkerung wird eine Art Selbstverwaltung gegeben; ja sie ist sogar in
der Lage, der Selbstverwaltung der Weißen Steine in den Weg zu werfen. Und
da wundert man sich, daß die Schwarzen neuerdings immer frecher werden, und
das Verprügeln der Weißen, sogar in Dnressalam, nachgerade an der Tages¬
ordnung ist. Wenn es nicht bald anders wird, so steuern wir in Ostafrika
traurigen Zeiten entgegen. Der Reichstag wird hoffentlich diesen Zuständen jetzt
ein Ende machen. Er kann nicht länger zusehen, wie die Früchte langjähriger
energischer Kolonialarbeit aufs Spiel gesetzt werden, und daß an der Spitze unsrer
schönsten Kolonie ein Mann steht, der mit der ganzen weißen Bevölkerung zer¬
fallen ist, weil er die Interessen der Eingebornen denen seiner eignen Lands¬
leute voranstellt. In den Kolonien hat vorläufig nur der weiße Mann zu re¬
gieren. Und wer nicht soviel historisches und Rassegefühl hat, der gehört nicht
nach Afrika!
Gegen die ostafrikanische Misere erscheinen kleine Unstimmigkeiten in den
andern Kolonien unwesentlich. Immerhin verdienen die Vorgänge, die neulich aus
Kamerun berichtet wurden, einige Beachtung. Dem Leipziger Tageblatt waren
aus Handelskreisen in Südkamerun Nachrichten von Ausschreitungen schwarzer
Soldaten zugegangen. Die Soldaten waren ohne weißen Führer ausgesandt
worden, um in einer entfernten Gegend die Eingebornen von dem Verbot der
Elefantenjagd in Kenntnis zu setzen, und hatten diese Gelegenheit benützt, um zu
rauben und zu plündern und die Häuptlinge zu mißhandeln. An jene Mitteilungen
waren Bemerkungen geknüpft, die einen gewissen Zusammenhang zwischen den Aus¬
schreitungen der schwarzen Soldaten und dem Tod eines deutschen Offiziers nicht
ausgeschlossen erscheinen ließen. Auch wir können uns dieser Ansicht nicht ganz
verschließen, denn nirgends verbreiten sich Gerüchte schneller als in Afrika. Die
Eingebornen noch tiefer im Innern hörten von diesen Ausschreitungen und be¬
reiteten dem unglücklichen Offizier, der zufällig kurz nachher anmarschierte, einen
blutigen Empfang. Der Vorgang zeigt uns jedenfalls deutlich, daß man schwarze
Soldaten nicht ohne Aufsicht lassen soll, am allerwenigsten in noch unruhigen Ge¬
bieten. Natürlich ist eingewandt worden, daß der Vorfall wohl zu beklagen sei,
aber nicht von hier aus beurteilt werden könne.
Zum Beweis, daß auch erfahrene koloniale Praktiker nicht andres denken, sei
die Ansicht eines alten Kolonialoffiziers, des Hauptmanns A. Forel, angeführt, der
sich in der Kreuzzeitung wie folgt dazu äußerte: „Derartige Vorkommnisse werden
sich, selbst bei sonst tüchtigen militärischen Leistungen, um so mehr wiederholen, je
Weniger die weißen Vorgesetzten Fühlung mit den Eingebornen haben und je
weniger afrikanische Erfahrung sie besitzen. Bei dem Landsknechtscharakter der
farbigen Soldateska ist zu gedeihlicher, erfolgreicher Tätigkeit Erfahrung und
Lernzeit ebenso notwendig für den weißen Vorgesetzten der farbigen Truppe wie für
den Verwaltungsbeamten in den Kolonien. Für letztere allerdings noch in er¬
höhtem Maße. Was sind die Folgen von Unerfahrenheit, Sprachunkenntnis, Mangel
an Lernzeit? Der farbige Soldat nützt diese Eigenschaften seiner Herren wie jeder
andre Farbige aus für seine Zwecke und zur Erlangung unberechtigter materieller
Vorteile aller Art mit den verschiedensten Mitteln, deren harmlosestes der »ge¬
drückte«, selbst festgesetzte Preis ist. Der Eingeborne wagt nicht zu klagen. Er
ist vielleicht durch Drohungen des Soldaten eingeschüchtert und kann kein Ver¬
trauen zu einem Weißen Herrn haben, der ihn doch nicht versteht, weder sprachlich
noch sonstwie. Die Folge davon? Verbitterung — Selbsthilfe — Aufstände."
Der Reichstag wird sich also beim Etat für Kamerun erkundigen müssen, ob ge¬
nügend weiße Offiziere und Unteroffiziere vorhanden sind, um die Ordnung im
Lande aufrecht zu erhalten. Wenn nicht, so muß ihre Zahl eben vermehrt werden.
Die 100000 Mark, die das schlimmstenfalls kostet, ersparen uns die Kosten für
nachherige Strafexpeditionen und Störungen der wirtschaftlichen Entwicklung des
Landes, machen sich also ohne weiteres bezahlt.
Über die andern Kolonien liegen Nachrichten von Belang nicht vor. Ihre
wirtschaftliche Entwicklung wird, wie gesagt, in der nächsten Nummer besprochen
Den Südfahrern bieten sich mehrere hübsche neue Bändchen der seit kurzem
entstandnen und rasch entwickelten Städtemonographieliteratur an. Gurlitts Kon¬
stantinopel (Marquardt u. Co.) möchte nach dem kleinasiatischen Ende Europas
locken: vielleicht hilft das entsprechend lässig-schwülstig geschriebne Büchelchen für
diese weichlich-unrhythmische Stadt und Baukunst mehr deutsche Liebhaber gewinnen,
als sie bisher gehabt hat. Die „Berühmten Kunststätten" (Seemann) eröffnen mit
Band 41 eine neue Serie und erscheinen nun auch in handlichem Kleinoktav:
E. Petersen leitet sorgfältig durch die antiken Reste Athens — in der Akropolis
vermöchten freilich wohl alle Deutschen, die sie sähen, etwas einzig schönes auf der
Erde zu erblicken —, W. Götz (Band 44) führt interessiert und interessant in die
Stadt des heiligen Franz, das alte Assisi.
Zwei größere Bücher liegen über Rom und Pompeji vor. A. Meißner hat
es unternommen, unter dem Titel „Altrömisches Kulturleben" (Seemann) eine Ge¬
schichte der altrömischen Kultur bis zum Ende der Kaiserzeit — und auf diese fällt
dabei das Hauptgewicht — im Querschnitt zu geben, durchaus im Altertum bewandert
und doch ganz vom Standpunkt der Gegenwart aus schreibend: ein klares Buch, das
den modernen Kulturwert des alten Rom nicht nur für Primaner, sondern auch für
Romreisende glücklich ausmünzt. Und die zweite Auflage ist von dem schönen Buch
von A. Mau über „Pompeji in Leben und Kunst" (Engelmann) herausgekommen:
wer einen Tag auf Pompeji verwendet und dieses Buch dazu, darf sagen, im
italischen Altertum zu Hause geworden zu sein.
WMNunsre verehrten leler bei eintretenclem öeclsrs um geneigte KerücK-
lichtigung aler in cien „Sren^boten" inferierenclen lirmen unter treit.
zusclrücklicher Ke^ugn-ldme sul alle grenxvolen. vie Geschäftsstelle
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Leclsi-k su türlciscnen Ligsretten betritkt, alni-et „Lglsin ^leilcum".
Diese Lixarette erkorclert einen vernLItnismsKix xerinxen Kosten-
sufxvsnä uncl bewirkt einen snrexenäen unä unxstiüotsn denuiZ.
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aiser Wilhelm der Zweite hat in diesen Tagen das fünfzigste
Lebensjahr vollendet, nach der üblichen Schätzung des Menschen¬
lebens den Höhepunkt des Mannes erreicht. Vor zwanzig Jahren
hat er das gewaltige Erbe seiner Väter angetreten, das sein Gro߬
vater nach bisher unerhörten Siegen um den Glanz der deutschen
Kaiserkrone vermehrt hatte. Nicht in herrschsüchtigen Eroberungskriegen, sondern
in Verwicklungen, die der politische Werdegang der deutschen Einheit, die
Wahrung der Ehre des deutschen Namens dem natürlichen Führer der deutschen
Staaten aufgedrängt hatten. Die Kaiserkrone war das notwendige Ergebnis,
nicht das erstrebte Ziel der glorreichen Kämpfe. Darum erscheint es ganz
selbstverständlich, daß die gesamten deutschen Fürsten dem Kaiser zum fünfzigstes
Geburtstag persönlich ihre Glückwünsche darbrachten. Es ist nötig, an diesen
Zusammenhang anzuknüpfen in unsern Tagen, in denen die Erinnerungen an
die einfache Größe jener bedeutungsvollen Zeit nur noch in den ältern Lebens¬
klassen rege ist, während sich die jüngere Generation auf dem ohne ihr Zutun
errungnen Reichsboden darauf einzurichten beginnt, den handwerksmäßigen
Betrieb der Politik wie in andern Ländern in die Hand zu nehmen, leider
ohne immer den in seiner Art ganz unvergleichlichen Ursprung des Erstandnen
dabei im Auge zu behalten.
Die Weltgeschichte wird einmal einen ganz andern Standpunkt zur Be¬
urteilung des Kaisers Wilhelm einnehmen, als wir es in der Gegenwart zu
tun vermögen. Die Nachwelt wird vielleicht das meiste von dem, was vielen
jetzt als unendlich wichtig erscheint, als Kleinkram beiseite schieben. Aber sie
wird nicht an den großen Tatsachen vorübergehn, daß er in den ersten zwanzig
Jahren seiner Regierung in einem langen Frieden sein Volk stark gemacht, ihm
eine Flotte geschaffen und es im Stande erhalten hat, sich inmitten des großen
Wettstreits der Völker nicht nur in seiner alten Größe zu behaupten, sondern
auch weitern Raum zu gewinnen. Günstige äußere Konstellationen sind ihm
dabei nicht zugunsten gekommen, im Gegenteil hat der gewaltige Aufschwung
von Industrie und Handel Deutschland weitere Feindschaften eingebracht, die
durch, Freundschafts- und Friedensversicherungen nicht zu versöhnen, aber durch
Erwiderungen feindseliger Art auch nicht mehr zu verschärfen sind. Unter diesen
Umständen, deren erste Entwicklung bis zu den letzten Jahren der Reichskanzler¬
schaft Bismarcks zurückverfolgt werden kann, ist es kein geringes Verdienst der
im Namen und mit Willen des Kaisers geführten Politik, daß das reiche Erbe
seiner Vorfahren nicht nur erhalten worden ist, sondern sich auch in weitrer
gedeihlicher Entwicklung befindet. Die im bürgerlichen Leben häufig erlebte Er¬
fahrung, daß es selbst bei unveränderter Tüchtigkeit leichter ist, in günstigen Zeit¬
läuften etwas zu erwerben, als es in ungünstigen ungefährdet zu bewahren,
hat auch für die große Politik ihre volle Bedeutung. Dieser Tatsache sollten
die häufig übereifriger Kritiker der gegenwärtigen Lage des Vaterlands stets
gewissenhaft Rechnung tragen.
^ Was unsre Armee und ihre Führung betrifft, so ist das gesamte deutsche
Volk mit bestem Grund vollkommen ruhig, ja sogar so unerschütterlich ruhig, daß
die in den letzten Jahren vollzogn« Zusammenziehung der englischen Flotte in
den heimischen Häfen mit der unverhüllt offiziös und nicht offiziös ausgesprochnen
Spitze gegen Deutschland hier nicht die geringste Besorgnis, kaum einige gereizte
Äußerungen in den Zeitungen hervorgerufen hat. Es bedürfte auch nicht des
bewundernden Zugeständnisses des französischen Majors Driant, der den Kaiser¬
manövern in den letzten Jahren beigewohnt hat, daß die Person des Kaisers
mehr als ein Armeekorps bedeute. Im deutschen Volke, innerhalb wie außer¬
halb des Heeres, hat man zu keiner Zeit daran gezweifelt, daß Kaiser Wilhelm
her Träger des seit dem Großen Kurfürsten geltenden Grundsatzes ist, daß
eine tüchtige Armee die Grundlage des Staats bildet, und daß er als oberster
Kriegsherr nach diesem Grundsatze auch mit ungewöhnlicher Begabung und
unermüdlicher Arbeit wirkt und schafft.
Kaiser Wilhelm ist nicht der Mann des tatenlosen Genusses. Was er
von seinen Vätern ererbt hat, will er erwerben, um es zu besitzen und das
Glück dieses Besitzes seinem Volke zu sichern. Deutschland war in den ersten
Jahrzehnten nach seiner Erflehung industriell zu einer gewaltigen Höhe empor¬
gewachsen und hatte den Erdball mit einem Netz von Handelsinteressen um¬
sponnen. Da war Kaiser Wilhelm der erste, der klar erkannte, daß die
Umwandlung der deutschen Verteidigungsflotte in eine Hochseeflotte nötig
war, daß die gepanzerte Faust der Entwicklung der industriellen Ausdehnung
folgen müsse, daß aber auf der andern Seite nur ein wirtschaftlich voll ent¬
wickeltes Volk auf die Dauer die Kraft haben werde, die schwere Rüstung
zu tragen. Er setzte seinen entschlußfrohen Willen, seine außerordentliche
Arbeitskraft hinter diese Aufgaben, belebte den immer neben der alten Kaiser¬
idee im deutschen Volke schlummernden Gedanken der Seegeltung, über¬
wand den Beharrungszustand der Neichstagsparteien und sicherte den Bestand
des wirtschaftlichen Getriebes durch ein Netz von Handelsverträgen und die
Gründung der Hochseeflotte. Freudige Zustimmung in den weitesten Volks¬
kreisen begleitete ihn auf diesen Wegen, und die jubelnden Begrüßungen in
unsern großen Seestädten, wo man dafür das tiefste Verständnis hat, be¬
weisen alljährlich, welchen Wert man dem persönlichen Einfluß des Monarchen
dabei beimißt. Sein Ausspruch: „Unsre Zukunft liegt auf dem Wasser" hat
unserm innerpolitischen Volksleben, das unter dem Parteitreiben zu ver¬
sumpfen drohte, einen neuen idealen Inhalt verliehen, der wieder einen be¬
lebenden Einfluß auf das Parteiwesen ausgeübt hat, sodaß sich daran schon
Hoffnungen auf dessen völlige Gesundung heften.
Macaulay sagt in seinen Reden: „Wir zollen unsern Ahnen eine schick¬
liche, vernünftige, männliche Ehrfurcht nicht durch ein abergläubisches Fest¬
halten an dem, was sie unter andern Umstünden getan haben, sondern dadurch,
daß wir tun, was sie in unsrer Lage getan haben würden." Das klingt, als
wäre es auf unsre unentwegter Lobredner der Zeiten Kaiser Wilhelms des
Ersten und Bismarcks gemünzt. Kaiser Wilhelm der Zweite hat von seinem
Großvater nie anders als mit der tiefsten Ehrfurcht gesprochen — er selbst
nennt ihn ja Wilhelm den Großen — und hat zu jeder Zeit dem Andenken
Bismarcks, trotz allem, was zwischen ihnen lag, die größte Verehrung et-
wiesen. Er hat ihm ja auch Jahre hindurch näher gestanden als so viele,
die sich heute für die geistigen Erben des Altreichskanzlers ausgeben Möchten.
Aber als die Trennung erfolgt war, und die Verantwortung allein auf seinen
Schultern ruhte, erkannte er sofort, wo die dauernden Elemente der Staats-
kunst Bismarcks lagen, und wo die Gewalt der Verhältnisse, wo die lebens¬
volle Entwicklung der Volkskraft den Rahmen zu erweitern strebten, den Bis-
marck seiner Politik zog und unter den ihm gegebnen Verhältnissen ziehen
mußte. Dieser Erkenntnis entsprang der Übergang von der Weltteilspolitik
zur Weltpolitik, die nicht etwaiger Herrschereitelkeit ihren Ursprung verdankte,
sondern von der frischquellenden Triebkraft der wirtschaftlichen Entwicklung
dringend gefordert wurde. Die mechanischen Nachbeter des Fürsten Bismarck
werden darum immer zu Fehlschlüssen geführt werden, weil sie diese not¬
wendige Entwicklung der Grundlagen der Bismarckischen Politik für einen
Gegensatz zu ihr ansehen.
Vor solcher einseitigett Nachahmung bewahrten den Kaiser seine vielseitige
Begabung ebensosehr wie die Möglichkeit des Weitblicks, den ihm seine
Stellung vergönnt. Er ist eben ein moderner Mensch, der mit erstaunlicher
Vielseitigkeit und Beweglichkeit der geistigen und gemütlichen Interessen alle
Regungen, die Kopf und Herz der Menschheit in Bewegung setzen, verfolgt
und sie seinem Volke nutzbar zu machen sucht. So sieht man ihn auch im
gesamten Auslande an, wo man ganz einig darüber ist, daß man in ihm eine
der eigenartigsten und tatkräftigsten Persönlichkeiten vor sich hat. Man hat
jahrelang nicht begreifen können, warum eine so energische Natur mit dem
besten Heere hinter sich nicht sofort einen großen Krieg anfangen wollte. Das
Ware aber ein Verstoß gegen die deutsche Hohenzollerntradition gewesen, nach
der die Energie des Fürsten in dem unausgesetzten toujours en vsäetts ihre
Befriedigung sucht und den Krieg, der dann sicher mit Erfolg geführt werden
kann, nur als Unterbrechung dieser steten Bereitschaft ansieht. Im übrigen
ist draußen Kaiser Wilhelm wegen seiner Eigenart eine volkstümliche Persön¬
lichkeit, für die Briten ist er elf Kaiser, und die Franzosen nennen ihn, weniger
in der Presse als unter sich, schlechthin Ouillauius, und zwar ohne den sonst
üblichen Deutschenhaß. Mußte doch im Mai 1898 die Pariser Zeitung
I^s ^cmrual ihre Leser versichern, daß der soeben von der Akademie zum Mit¬
gliede ernannte, sonst aber der Menge ziemlich unbekannte Bildhauer Guillaume
nicht der deutsche Kaiser sei. Wer im Auslande gewesen ist, der weiß,
welche Achtung vor dem Kaiser Wilhelm bei den Angehörigen aller andern
Nationen herrscht, die Deutschen im Auslande hängen mit herzlicher An¬
hänglichkeit und Bewunderung an ihm. Aus der Ferne erscheint eben seine
Persönlichkeit von allem Nebensächlichen befreit und darum seine Umgebung
überragender als in unserm überreich mit Kritikern und Tadlern bedachten
Vaterlande.
Wir brauchen hier nicht zu verschweigen, daß Kaiser Wilhelm reichlich
Anlaß zur Kritik geboten hat. In den Anforderungen, die er an seine eigne
Arbeitskraft als „erster Diener des Staats" stellt, in der gewissenhaftesten
Erfüllung der ihm nach der Familientradition von der Vorsehung über¬
tragnen Regentenpflichten, als Oberhaupt des Kaiserhauses ist er ein ganzer
Mann und von außergewöhnlicher Willenskraft. Darüber ist alle Welt
einig, aber es ist ihm auch eine große Rednergabe verliehen worden, von
der er oft Gebrauch machte und damit von vornherein zu einer übel¬
wollenden Kritik Anlaß gab, die sich von Jahr zu Jahr gesteigert und zu¬
letzt Formen angenommen hat, die jedes anstündige Maß überschritten. Es
war ja schon Gebrauch geworden, überhaupt den Kaiser zu tadeln, gleich¬
viel, was er tat oder nicht tat. Dem Kaiser ist die Erfahrung nicht er¬
spart geblieben, daß aus den wundervollen Fähigkeiten der Tatkraft und
der Beredsamkeit Seelenkümpfe erwachsen, die den am reichsten begabten
am empfindlichsten treffen. Seine Einsicht ist in dem hochherzigen Ent¬
schlüsse zum Ausdruck gekommen, dem obersten politischen Grundsatz nachzu¬
leben: mit den Verhältnissen zu rechnen; und zwar nicht einem parlamen¬
tarischen Theorem zuliebe, sondern aus Regentenpflichtgefühl. Die kleinen
Tadler hatten einen solchen Entschluß nicht für möglich gehalten, weil sie
Ähnliches selbst nicht zu tun vermöchten, aber Kaiser Wilhelm kennt die Ge¬
schichte seines Hauses zu genau, um nicht zu wissen, daß gerade die hervor¬
ragendsten Glieder der Dynastie im seelischen Ringen erstarkten und dann erst
recht mit dem Volke verwuchsen-
lährend diese Zeilen in Druck gelegt werden, findet gleichzeitig in
Paris, London und Holland die Emission der neusten russischen
^/zprozentigen Staatsanleihe im Betrage von 1350 Millionen
Franken zum Kurse von 89^ Prozent statt. Wie der Frankfurter
I Zeitung*) aus Paris gemeldet wird, „haben die Besprechungen
tagelang gedauert, und der niedrige Kurs hat allgemein überrascht; er hat auf
den Stand der ältern Anleihen einen Druck ausgeübt, während die neue Anleihe
bereits mit einer Prämie von über 2 Prozent gehandelt wurde". Wir sind
in der Lage, auf Grund eigner Information von durchaus eingeweihter Seite
hinzuzufügen, daß die russische Regierung tatsächlich nur 83 Prozent erhält
und den Stempel selbst zahlt. Die französischen Großbanken machen somit
ein glänzendes Geschäft.
Die Anbringung der Anleihe hat somit der russischen Regierung große
Schwierigkeiten bereitet. In Deutschland wird sie überhaupt nicht direkt auf den
Markt gebracht. Aber es wird genug Privatpersonen geben, die, vielleicht durch
den hohen Zinsfuß und den niedrigen Emissionskurs angelockt, ihre Ersparnisse
in dem neuen russischen Papier anlegen werden. Es scheint mir darum an der
Zeit, auf einen der wesentlichsten Gründe dafür hinzuweisen, weshalb sich die
französischen und die englischen Bankiers, die doch gegenwärtig zu Rußland in
einem besonders freundschaftlichen Verhältnis stehn sollten, ihre Bemühungen
so außerordentlich hoch bezahlen lassen. Ganz abgesehn von der immer noch
bestehenden Unsicherheit im Innern Rußlands, liegt der Hauptgrund für die
Ängstlichkeit in der Stellung, die auswärtige Anleihen in der russischen Budget-
gesetzgebung einnehmen. Deshalb möge hier eine kurze Darstellung dieser Gesetz¬
gebung folgen; sie stützt sich auf das gesamte amtliche Material, das ich in den
vergangnen fünf Jahren in Rußland selbst gesammelt habe, sowie auf die Unter¬
suchungen der bedeutendsten russischen Finanzpolitiker und Volkswirte.*)
Die Grundlage der bisher in Anwendung gewesnen Budgetgesetzgebung bilden
die Regeln vom 22. Mai 1862 und ein stattlicher Band Zusatzbestimmungen.
Danach hat das Reichsbudget zu enthalten: eine Aufzählung aller voraussicht¬
lichen Ausgaben sowie der Quellen, aus denen diese bestritten werden sollen.
Eine Ausnahme davon bilden die Mittel der Selbstverwaltungen, wie der
Sjemstwo und Städte, der ständischen Organisationen, wie des Adels, der
Kosakenheere, der Wohltätigkeitsanstalten. Ferner gehören nicht ins Budget
die „speziellen" Mittel staatlicher Einrichtungen, das heißt solcher dem Fiskus
nicht gehörender, aber doch der Verrechnung durch ihn unterliegender Summen,
die für gewisse Zwecke bestimmt sind, zum Beispiel Schenkungen für Schulzwecke,
Stipendien, Krankenpflege, Wohltätigkeit, Kirchengelder, einschließlich der den
Polen in den Jahren 1864/66 abgenommnen, Pensionskassen und ähnliches.
Das Entstehn des Budgets vollzieht sich in folgender Weise: Jedes
Ministerium und jede Hauptverwaltung stellt über die von ihnen erwarteten
Einnahmen und Ausgaben Etats auf, aus denen das Finanzministerium den
Staatshaushalt im Voranschlage zusammenstellt. Seit langer Zeit haben ver-
schiedne Ministerien mehrere Etats.**)
Auf Grund der oben erwähnten Gesetze nahm die Aufstellung, Prüfung
und Genehmigung des Budgets bis zum Jahre 1906 folgenden Verlauf. Die
Zentralbehörden erhielten von den ihnen unterstellten Ortsbehörden alljährlich
zu bestimmten Zeitpunkten Verzeichnisse der zu erwartenden Einnahmen sowie
der voraussichtlichen Ausgaben für das folgende Geschäftsjahr, das am 1. Januar
beginnt. In diese Verzeichnisse durften Ausgaben für Änderungen nicht auf¬
genommen werden, die nicht schon durch bestehende Gesetze vorgesehn waren.
Die Zentralbehörden (Ministerien, Hauptverwaltungen und Departements), die
eigne Etats haben, ergänzten diese Verzeichnisse nach ihren den Ortsbehörden
unbekannt gebliebner eignen Daten und stellten nun einen detaillierten Vor¬
anschlag auf, der zu enthalten hatte:
Seit dem Jahre 1895 konnten in die Voranschläge der einzelnen Zentral¬
behörden auch solche Kredite aufgenommen werden, die auf einem Gesetz nicht
fußten, für die aber bis zur Aufstellung des Gesamtbudgets wegen der Kürze
der Zeit ein Gesetz nicht geschaffen werden konnte. Solche „vorbehaltlichen"
Kredite sollten unbedingt notwendige Ausgaben von besondrer Wichtigkeit oder
Größe ermöglichen, die eine eingehende Vorbesprechung in den gesetzgebenden
Körperschaften forderten, aber nicht gut als „vorbehaltliche" Kredite ausgenommen
werden konnten. Andrerseits durften „vorbehaltliche" Kredite nicht eher veraus¬
gabt werden, als bis eine besondre Genehmigung zu der in Aussicht genommnen
Ausgabe erteilt worden war. Vorbehaltliche Kredite flössen wieder dem Fiskus
zu, sofern die Genehmigung zu ihrer Ausgabe verweigert wurde.
Neben den finanziellen (Etats-) Voranschlägen stellten die Zentralbehörden
auch solche für die ihnen zur Verwaltung überwiesnen „speziellen" Fonds auf,
indem sie die zu erwartenden Einnahmen und Ausgaben nach den verschiedenen
Kapitalbestimmungen aufzählten. Der Heilige spröd fügte seinem finanziellen
Voranschlag noch besondre Listen über die Verausgabung gewisser Summen bei
wie auch über Verwendung der Reste von Krediten für den Unterhalt von
städtischen und ländlichen Geistlichen, Missionen, Missionaren, Reservebaufonds
der Geistlichen im Westgebiet und im Zartnm Polen sowie über Kapitalien der
kirchlichen Gemeindeschulen und Kirchenschulen. Alle diese Abrechnungen für
spezielle Fonds kamen, wie gesagt, im Reichsbudget nicht zum Ausdruck.
Jeder Voranschlag der Zentralbehörden wurde dreimal ausgefertigt und
gelangte zugleich an den Reichsrat, den Finanzminister und an den Reichs¬
kontrolleur. Die beiden zuletzt genannten Instanzen waren gehalten, innerhalb
eines Monats nach Eingang der Voranschläge dem Reichsrat und dem zu¬
stündigen Minister Mitteilung von ihren Ausstellungen zu machen. Die Prüfung
der Voranschläge durch den Reichskontrolleur bestand in einem Vergleich der
aufgeführten Posten mit den herrschenden Gesetzesvorschriften und in der Be¬
stätigung, daß die Voranschläge den Gesetzen bezüglich des Gegenstandes und
ihrer Größe entsprachen. Ferner hatte die Reichskontrolle die Voranschläge mit
den frühern Ausführungen des Budgets zu vergleichen. Es war also eine
durchaus formelle Kontrolle.
Die Minister usw. hatten die ihnen mit Bemerkungen zurückgegebnen
Voranschläge innerhalb von zehn Tagen mit Erklärungen an den Neichsrat
oder den Neichskontrolleur zurückzureichen. Nach Eingang dieser Erklärungen
wurden die Voranschläge im Departement für Staatswirtschaft des Reichsrath
besprochen und vorläufig festgestellt; nur der Voranschlag des Hofministeriums
gelangte nach Bestätigung durch den Zaren direkt an den Finanzminister ohne
vorherige Nachprüfung im Reichsrat. Bezüglich der „speziellen" Fonds bestand
die Tätigkeit des Reichsrath lediglich in einer Bestätigung, daß sie in den
Einzeletats ihrer Bestimmung gemäß aufgeführt seien.
Wie sich denken läßt, waren die Ausstellungen des Finanzministers und
des Neichskoutrolleurs meist recht zahlreich, und sie hätten bei schriftlicher Er¬
ledigung große Weiterungen und Verzögerungen zur Folge gehabt. Darum
hatte sich in der Praxis allmählich der Brauch herausgebildet, daß die be¬
teiligten Ressorts zusammenkamen und die Ausstellungen mündlich besprachen.
Es entstanden die Budgetkommissionen aus wechselnden Vertretern der einzelnen
Behörden und ständigen Mitgliedern des Finanzministeriums sowie der Reichs¬
kontrolle. Diese Einrichtung hat sich vom Standpunkt des Finanzministers aus
recht bewährt, da sie erstens zu einer schnellen Verständigung der beteiligten
Behörden führte, außerdem aber den Reichsrat entlastete, der nun noch weniger
nötig hatte, in Details einzudringen. In der allerletzten Zeit ist dieses Verfahren
auf Anordnung des Reichsrath allgemein und für alle Voranschläge bindend
eingeführt worden. Eine Ausnahme blieb bestehn für die Voranschläge des
Hofministeriums sowie der höchsten Behörden, Reichsrat und Senat. Natürlich
hat es auch nicht an grimmigen Kämpfen und Intrigen gefehlt, die sich vor¬
wiegend gegen den Finanzminister richteten, die aber auch häufig genug die
vorhandne geringe Kontrolle völlig dem Willen eines starken Finanzministers
unterordneten. Aus diesen Verhältnissen heraus ist auch der scharfe Gegensatz
zwischen Witte und Schwanebach entstanden.
Durch das Gesetz vom 22. Mai 1862 war dem Finanzminister die Ver¬
pflichtung auferlegt worden, bei der Aufstellung des Budgets Einnahmen und
Ausgaben in Einklang zu bringen und, wenn solches allein durch Verringerung
der Ausgaben nicht möglich sei, neue Mittel zur Deckung des Defizits zu finden.
In Erfüllung dieser Aufgabe hatte sich der Finanzminister zu bemühen, die
Forderungen der einzelnen Behörden bezüglich neuer Bewilligungen im Rahmen
der vorhandnen Mittel zu halten. Hierauf waren die meisten Anmerkungen
des Finanzministers zu den einzelnen Voranschlügen zurückzuführen. Um das
Ziel — die Übereinstimmung zwischen Einnahmen und Ausgaben — zu erreichen,
wurde im Jahre 1874 das System der „Maximalbudgets" oder, wie sich der
Finanzminister ausdrückt, der „limitierten" Etats für das Marine- und Kriegs¬
ministerium eingeführt. Die Grundlage dieses Systems besteht darin, daß auf
dem Wege der Gesetzgebung für die Dauer von mehrern Jahren jährlich eine
bestimmte Summe festgesetzt wird, die wieder nur auf den, Wege der Gesetz-
gebung abgeändert werden kann. Derart haben die Regeln für Maximal¬
budgets den Charakter von besondern, für einen bestimmten Zeitraum ausge¬
gebnen Gesetzen und erinnern an die in Deutschland bekannten Quinquennate,
Septennate und andre.*) In einzelnen Fällen ist die Anwendung des Maximal¬
budgets für mehrere Jahre auch für Zivilbehörden angängig, zum Beispiel bei
der Festsetzung von Krediten für Bauzwecke. Einen praktischen Zweck haben
solche limitierten Budgets in einem autokratisch regierten Staate nicht. Denn
sie können jederzeit, wie bei den 1902 geforderten Mehrbewilligungen für die
Marine, durch einen entsprechenden Vortrag eines Ministers beim Zaren ver¬
größert werden.
Nach Durchsicht der Einzelvoranschläge im Departement für Staatswirt¬
schaft des Reichsrath stellte der Finanzminister den Gesamtentwurf zum Reichs¬
budget auf und reichte ihn spätestens sieben Tage nach der letzten Sitzung
des genannten Departements wieder an dieses zurück. Dieses Departement
hatte nun die Aufgabe, den Reichsbudgetvoranschlag nebst den Voranschlägen
des Finanzministers im Rahmen der Aufgaben der allgemeinen Staatswirtschaft
zu begutachten und im besondern nachzuprüfen, wieweit die vorgeschlagnen
Ausgaben zeitgemäß und nützlich sein würden. Das Departement hatte somit
im wesentlichen die Aufgabe, die in konstitutionellen Staaten durch die Volks¬
vertretung erledigt wird. Der Beschluß des Departements für Staatswirtschaft
gelangte mit dem Budgetvoranschlag an das Plenum des Reichsrath und mit
dessen Einverständnis zur Bestätigung an den Zaren. Das durch den Zaren
bestätigte Reichsbudget wurde durch den Finanzminister gemeinsam mit dessen
Jmmediatberichr über das Budget veröffentlicht. Dabei wurden die einzelnen
Etats als Anlage zum Reichsbudget mit veröffentlicht, jedoch ohne Angabe
von Einzelheiten.
Das ist in kurzen Strichen das allgemeine Bild vom Zustandekommen
des russischen Budgets unter normalen politischen Verhältnissen. Die Termine
für die einzelnen Instanzen sind dabei derart gewählt worden, daß es dem
Zaren möglich war, das Reichsbudget zum 1. Januar jeden Jahres bestätigen
und veröffentlichen lassen zu können. Tatsächlich konnten die Termine acht¬
undzwanzig Jahre hindurch, das heißt seit 1879 festgehalten werden. Für
Gewährung von Ausgaben zu Kriegszwecken oder in kriegerischen Zeiten waren
jedoch noch besondre Vorschriften vorhanden. Danach waren die für die
Vorbereitung einer kriegerischen Aktion sowie für die Kriegsführung selbst er¬
forderlichen Kredite im direkten Vortrag der zuständigen Minister beim Zaren
zu erbitten. Nach Mobilisierung der Armee wurden die erforderlichen Kredite
durch den „besondern Rat" festgestellt, der sich zusammensetzte aus dem Vor¬
sitzenden des Departements für Staatswirtschaft, dem Reichskontrolleur und
den Finanz-, Kriegs- und Marineministern. Diese Vorschrift erstreckte sich
seit 1904 auch aus die durch den Krieg veranlaßten Mehrausgaben der Zivil¬
behörden.
Alle diese Vorschriften und Gesetze erfahren nun durch die
Schaffung der Reichsduma, Umwandlung des Reichsrath sowie durch
Bildung des Kabinetts eine einschneidende Veränderung nicht.
Wie früher stellen alle Ministerien und Hauptverwaltungen ihre Etats
selbständig auf, haben sich nur dauernd mit einer besondern Versammlung, der
ein Vertreter des Finanzministeriums und ein solcher der Reichskontrolle an¬
gehört, im Einvernehmen zu halten. Von dieser Versammlung unbeanstandet
gebliebne Einzeletats können ohne weiteres, und zwar zwischen dem 1. und
25. September, dem Finanzminister, dem Reichsrat und der Reichsduma zu¬
gestellt werden. Einzeletats, die zu nicht beigelegten Meinungsverschiedenheiten
Anlaß geben, sollen im Ministerrat besprochen werden und erhalten durch ihn
die Form, in der sie in den Reichsbudgetvoranschlag aufgenommen werden
können. Der Finanzminister hat den allgemeinen Budgetvoranschlag zum
1. Oktober an die Volksvertretung gelangen zu lassen, die wieder mit der
Durchberatung des Entwurfs am 1. Dezember fertig sein soll. Die praktische
Arbeit leistet hierbei die nur aus Beamten des Finanzministeriums bestehende
Finanzkommission des Finanzministers. Einmal in das Parlament gelangt,
unterliegt die Behandlung des Entwurfs den allgemeinen Bestimmungen über
die Erledigung von Gesetzentwürfen durch die beiden Häuser.
Unter den kurz skizzierten formalen Verhältnissen ist die Entscheidung der
Frage von Bedeutung, was die Volksvertreter, die übrigens bezeichnenderweise
im Gesetze immer vzchornM — Gewählte heißen und nicht Volksvertreter, mit
den ihnen zugegangnen Etatentwürfen anfangen dürfen. Maßgebend dafür ist
zunächst Paragraph 31 des Regulativs für die Reichsduma. Danach unter¬
liegen ihrer Befugnis:
g.) Gegenstände, die die Herausgabe von Gesetzen und Etats sowie deren
Abänderung, Ergänzung, Außerkraftsetzung und Aufhebung notwendig machen;
d) das Reichsbudget für Einnahmen und Ausgaben zusammen mit den
finanziellen Voranschlägen (Etats) der Ministerien und Hauptverwaltungen
wie auch Anweisung von fiskalischen Mitteln, die im Budget nicht vorgesehen
waren, auf Grund festgesetzter Regeln;
v) der Bericht der Reichskontrolle über die Ausführung des Reichs¬
budgets;
ä) Angelegenheiten betreffend die Enteignung staatlicher Einnahmen oder
Besitztümer, die der Allerhöchsten Genehmigung bedürfen;
^ Angelegenheiten betreffend den Bau von Eisenbahnen auf unmittelbare
Veranlassung des Fiskus und für dessen Rechnung; , , „
k) Angelegenheiten betreffend die Gründung von Aktiengesellschaften, wenn
hierbei um eine Ausnahme von den bestehenden Gesetzen nachgesucht wird;
hö) Angelegenheiten, die der Duma auf besondern Allerhöchsten Wunsch
vorgelegt werden.
Der Befugnis der Reichsduma unterliegen auch die Voranschläge und
Verteilungen der ländlichen Abgaben in den Bezirken, in denen die Sjemstwoverwaltungen
nicht eingeführt sind, ferner Angelegenheiten betreffend die Erhöhung von ländlichen oder
städtischen Steuern über die durch die Sjemstwoversammlungen und Stadtdumen festgestellten
Grenzen hinaus. (Siehe Reglement für die Sjemstwoverwaltung Paragraph 94, die Städte¬
ordnung Paragraph 88 und die Stadtordnung für Se. Petersburg Paragraph 6 und 78; alte
Gesetzsammlung Bd. II von 1892.)
Die eben aufgezählten Befugnisse der Reichsduma sind jedoch beschränkt
durch Artikel 9 und 10 des ersten Bandes, Teil II der Gesetzsammlung von
1906, die ihrerseits den Paragraphen 8 und 9 der Anlage zum Mas vom
8. März 1906 entsprechen und lauten:
Artikel 8. Bei der Beratung des Voranschlags des Neichsbudgets können
solche Einnahmen und Ausgaben nicht abgelehnt oder abgeändert werden, die in
das Budget auf Grund bestehender von der obersten Regierungsgewalt erlassener
Gesetze, Verordnungen, Etats, Budgets und Allerhöchster Befehle aufgenommen
worden sind.
Artikel 9. Im Reichsrat und in der Reichsduma gelegentlich der Besprechung
des Budgetentwurfs aufkommende Vorschläge betreffend a) die Abänderung be¬
stehender Gesetze, Verordnungen, Etats und Allerhöchster Befehle, denen zufolge
Einnahmen und Ausgaben in das Budget aufgenommen worden sind, und b) Assi¬
gnierungen für dem Fiskus früher nicht zur Last fallende Bedürfnisse finden ihre
weitere Erledigung in der für die Prüfung gesetzgeberischer Angelegenheiten vor-
geschriebnen Ordnung.
bezeichnet diese Vorschriften als den Angelpunkt des
russischen Budgetrechts. Das stimmt insofern, als er und seine politischen
Freunde, die Demokraten, hier die wichtigste Position der Bureaukratie er¬
kennen, aus der sie durch die Volksvertretung herausgedrängt werden soll.
Tatsächlich können die Artikel mit den Bestimmungen der preußischen Kon¬
stitution von 1850 (Artikel 109) und mit Artikel 67 der japanischen verglichen
werden, wenn sie auch in ihren Beschränkungen weit über deren Absichten
hinausgehn. Denn neben den „Gesetzen, Verordnungen, Etats, Budgets"
sollen auch „Allerhöchste Befehle" Geltung haben. Das will sagen: wie
bisher kann die Bureaukratie geschlossen durch den Ministerrat
oder jeder Minister oder gar jede hochgestellte Persönlichkeit ein¬
zeln beim Zaren einen „Allerhöchsten Befehl" auswirken, an dem
weder der Reichsrat noch die Reichsduma etwas ändern können.
Die in Artikel 13 bis 15 angeführten Beschränkungen haben daneben nur ge¬
ringen praktischen Wert.*) Wie wesentlich die Rückwirkung der „Allerhöchsten
Befehle" auf die Gestaltung der Finanzen aber sein kann, geht aus einem
geheimen Bericht der Staatsbank an den Reichskontrolleur hervor, wonach auf
Grund solcher „Allerhöchsten Befehle" in direktem Widerspruch zu den be¬
stehenden Gesetzesvorschriften seitens der Reichsbank Vorschüsse gewährt
werden mußten, die am 1. Januar 1906 ungehinderte Aufstände in Höhe von
53716730 Rubel 32»/^ Kopeken zurückließen — Ausstünde, die obendrein nur
0,5 pro Mille (!) Zinsen bringen.
Gegen die Beibehaltung der „Allerhöchsten Befehle" als gesetzgebenden
Faktor sind auch, wie aus einer bisher nicht veröffentlichten Denkschrift des
Staatssekretärs Kokowtzew hervorgeht, im Senat Bedenken erhoben worden.
Dabei wurde besonders unterstrichen, daß gerade auf Grund dieser Befehle die
meist unpopulären, keiner Kontrolle unterliegenden Kredite für die Polizei zur
Verfügung gestellt werden. Diese Kredite belaufen sich aber auf etwa 7,5 Mil¬
lionen Rubel im Jahre. Die Anregung, in dieser Richtung der Duma größere
Befugnisse einzuräumen, fand im Senat keinen Anklang, obgleich die erwähnte
Vorschrift einen zweifellosen Widerspruch gegen das Staatsgrundgesetz enthält.
Danach soll bekanntlich keine Vorschrift Gesetzeskraft erhalten ohne Zustimmung
des Reichsrath und der Reichsduma. Neben den Allerhöchsten Befehlen
kommen die Allerhöchst bestätigten Memoriale des Departements für Staats¬
wirtschaft in Frage, die noch kurz vor Einberufung der w^horn^s allerhand
Kredite auswarfen. So geschah es für Landpolizei in bestimmten Gegenden,
wo politisch einflußreiche Personen ihre Güter haben, oder für lebenslängliche
außerordentliche Zuweisungen an hohe Staatsbeamte, die für jeden einzelnen
zwischen 4000 und 6000 Rubeln schwanken.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß die Volksvertretung an dem ihr
vorgelegten Budgetentwurf praktisch nichts ändern kann, und wenn sie bei der
Beratung des Budgets für 1909 einen Rubel, den sogenannten konstitutionellen
Rubel gestrichen hat, so hat diese Streichung jedenfalls, solange als Stolypin
am Ruder ist, nur den Wert einer Spielerei. Nur die als bedingte Kredite
auf Grund des Artikels 37 der Staatsgrundgesetze in den Entwurf eingesetzten
Posten können durch die Reichsduma und den Reichsrat abgelehnt, verkürzt
oder vergrößert werden. Der Reichsrat und die Reichsduma können
somit nur Gesetzentwürfe zur Abänderung der die einzelnen Kredite
schützenden „Gesetze, Verordnungen, Etats, Budgets und Aller¬
höchsten Befehle" einbringen. Diese Gesetzentwürfe aber haben einen so
langwierigen und obendrein durch die Bureaukratie leicht zu verlängernden Weg
zu durchlaufen, daß sie das vorliegende Budget nicht mehr beeinflussen und
deshalb im besten Falle erst in einem spätern Budgetjahr Geltung finden
können. Wie sehr eine solche Sachlage den Wünschen der herrschenden Klasse
entspricht, geht aus einer vertraulichen Denkschrift des Ministers Bulygin hervor,
der wir folgende charakteristische Ausführungen entnehmen möchten:
„. . . abgesehen von den bedingten Krediten . . ., führt Herr Bulygin aus . . .,
sind alle übrigen Ausgabeposten unsers Reichsbudgets im Grunde genommen schon
Vorher festgelegt, die einen — sowohl nach ihrem Gegenstand wie auch nach dem
Umfang der Ausgabe, die andern (wirtschaftliche Ovcrationsausgaben) bezüglich des
Gegenstandes ihrer Bestimmung. Diese Grundprinzipien unsrer Etatsordnung müssen
unter alleu Umständen auch in Zukunft ohne Abweichung festgehalten werden, und ihre
Unantastbarkeit muß streng gewahrt bleiben, um die Grundlage unsers finanziellen
Gleichgewichts nicht zu erschüttern. Deshalb müßte im Gesetz klar ausgesprochen
Werden, der Duma sei das Recht der sogenannten Budgetinitiative nicht eingeräumt.
Es handelt sich hier um das Recht, während der Durchsicht des Budgets neue,
auf gesetzgeberischen Wege noch nicht bewilligte Einnahmen oder Ausgaben in das
Budget einzubringen, oder auch Ausgaben und Einnahmen, die durch die bestehenden
Gesetzesbestimmungen oder Etats bedingt sind, zu kürzen, da der Duma das Recht
durchaus nicht genommen werden soll, auf dem gewöhnlichen Wege gesetzgeberischer
Initiative Fragen auszuwerfen über diese oder jene Abänderung oder Ergänzung
bezüglich des Gegenstandes oder des Umfangs unsrer Staatsausgaben oder auch
bezüglich der Feststellung neuer Steuern sowie der Erhöhung oder Herabsetzung
von bestehenden. Die genaue Befolgung der Grundprinzipien der bestehenden Etals-
ordnung wird zugleich auch die notwendige Schnelligkeit der Prüfung des Budgets
sicherstelle; denn die Mehrzahl der Ausgabeposten wird sich augenscheinlich als
konsolidiert erweisen, und somit wird die Notwendigkeit einer umständlichen Nach¬
prüfung kaum eintreten.... Die ausgeführten Erwägungen geben einen Anhalt,
vorauszusetzen, daß die Prüfung des Budgets in der Reichsduma und dem Reichsrat
hauptsächlich deu Charakter von Klarstellungen einzelner strittiger Fragen und Zweifel
bezüglich einiger weniger Budgetvoranschläge annehmen wird;*) daher brauchen sich
die Budgetdebatten nicht zu sehr hinzuziehn, und es wird sich als möglich erweisen,
die Durchsicht nach zwei Monaten zu beschließen, d. i. zum 25. Dezember, damit
das von Seiner Majestät dein Kaiser bestätigte Budget rechtzeitig, mit Beginn des
Budgetjahres, in Anwendung gebracht werden kann."
Aber nicht genug, daß die Volksvertretung an den eingebrachten Etats
so gut wie nichts soll ändern dürfen, wird ihr auch die Prüfungsarbeit der
Einzelposten erschwert. Über die zwischen dem Finanzminister und einem Ressort
bei den Vorarbeiten für die Aufstellung des Budgets gepflognen Verhandlungen,
über die nähern Abmachungen, Besprechungen und Begründungen braucht die
Regierung keine Auskunft — auch nicht in den Kommissionen — zu geben. . Die
Dnma kann also nach dem Gesetz nur eine die formelle Seite des Budgets be-?
rührende Prüfung vornehmen, nicht aber direkt an der Gestaltung des Budgets
mitarbeiten. Jeder Versuch, am Budget etwas zU ändern, muß, wie schon er¬
wähnt worden ist, durch Einbringung eines besondern Gesetzentwurfs eingeleitet
werden, und die Veränderungen bekommen dadurch ein so langsames Tempo,
daß sie für den Augenblick wertlos werden. Angesichts der Unsicherheit der
Politischen Lage in Rußland hat diese Bremsung des Tätigkeitsdranges der
Duma vorübergehend sehr gute Wirkungen gehabt und die Finanzen des
Reichs stabiler gestaltet. Wenn aber die Regierung ans ein dauerndes Vertrauen
des Auslandes rechnen will, muß sie die Finanzen allmählich einer auch sach¬
lichen Kontrolle durch die Volksvertreter zugänglich machen. Gegenwärtig ist
das noch nicht der Fall.
Versuche der Duma, die Artikel 9 und 10 vollständig zu beseitigen und
statt ihrer die sogenannten stsnäinA oräors von 1706 einzusetzen, sind bisher
mißglückt. Auch die in diesem Punkte bescheidnern konstitutionellen Demo¬
kraten haben nichts erreicht. Sie hatten einen Entwurf des Mitglieds im
Departement für Staatswirtschaft, W. P, Tscherewanski, aufgegriffen, der dahin
zielt, Abänderungsvorschläge zum Budget seitens der Budgetkommissionen zu¬
lässig zu machen, sofern die betreffenden Minister usw. damit einverstanden
sind, darüber zu verhandeln. Andernfalls sollen die Kredite analog den früher»
Bestimmungen als „bedingte" gelten, also erst im folgenden Jahre der Be¬
fugnis des Reichsrath und der Reichsduma unterliegen.
Da die ausländischen Geldgeber bisher keinen Druck auf die russische Re¬
gierung ausgeübt haben, blieb alles beim alten.
Auch sonst hat der russische Finanzminister noch keine Schritte getan,
um die Klarheit des Budgets zu heben. Die Klassifizierung wird nach
dem alten System vorgenommen, dessen Abänderung Herr Kokowtzew ver¬
sprach, nachdem er es in der Denkschrift zum Budget von 1907 als un¬
übersichtlich , willkürlich, systemlos charakterisiert hatte. Wenn wir eme
Wendung zum Bessern durchaus feststellen wollen, dann kann auf deu Ton
der Denkschrift zum Budget für 1909 hingewiesen werden. Solche Offen¬
herzigkeit fand man sonst wohl nur in den Geheimberichten des Herrn Witte
an den Zaren. Diesmal aber gab es nichts mehr zu verschleiern. Denn die
Zahlen über die Ernten zeigen seit 1904 wieder einen ständigen Rückgang
der Rohproduktion, *) und die Saatenstandsberichte aus dem vergangnen Herbst
meldeten, daß ein großer Teil der Winterung erfroren ist. Rußlands Finanzen
beruhn aber auf der Getreideausfuhr.
, Laut Gesetz ist es der Volksvertretung verwehrt, Abmachungen der Re¬
gierung über den Abschluß von Anleihen zu beeinflussen oder gar umzustoßen.
In der Praxis ergibt sich sogar die Tatsache, daß sich die Negierung nicht
für verpflichtet hält, über die Verhandlungen mit den Emissionsbanken nach
deren Abschluß Auskunft zu erteilen. Die Behandlung der Anleihefragen wird
also nach wie vor in undurchdringliches Dunkel gehüllt sein. Angesichts dieser Tat¬
sache ist ein Vergleich mit dem in Deutschland geübten Modus Wohl lehrreich.
Die Aufnahme von Anleihen ist im Deutschen Reiche vorgesehen durch
Artikel 73 der Verfassung von 1871 und näher geregelt dnrch das Gesetz
über die Reichsschulden vom 19. März 1900. Danach darf die Regierung
nur ans Grund eines besondern Gesetzes, das den Reichskanzler ermächtigt,
eine Anleihe oder Schatzscheine auszugeben, Geld zur Deckung von in diesem
Gesetz festbestimmten Ausgaben aufnehmen. Dementsprechend kann die Ini¬
tiative dazu auch tatsächlich sowohl von der Regierung wie von dem die
Ausgaben bewilligenden Parlament misgehn. Bei der Aufstellung des Budget¬
voranschlags wird die aus der Anleihe erwartete Einnahme nebst dem ent¬
sprechenden Gesetzentwurf seitens des Finanzministers eingestellt. Dann wird
der Voranschlag und der Anleihegesetzentwurf erst in der Kommission, dann
im Plenum des Reichstags durchgesehen und der Umfang der aufzunehmenden
Anleihe entsprechend der Entscheidung des Reichstags bestimmt. Die Ein¬
nahmen aus Anleihen finden einen besondern Platz im Budget. Alsdann
erscheint im Namen des Kaisers das Gesetz, das den Reichskanzler zur Auf¬
nahme der Anleihe ermächtigt. Der Zeitpunkt der Ausgabe der Anleihe, die
Höhe der Zinsen, der Emissionsknrs sind dem Ermessen der Regierung über¬
lassen. Das Ergebnis der Anleihe wird der Neichsschuldenverwaltung und
durch diese der Neichsschuldenkommission, der neben Staatsbeamten auch
Parlamentarier angehören, mitgeteilt. Die Reichsschuldenkommission erstattet
ihrerseits dem Reichstag alljährlich Bericht über den Stand der Reichsschulden.
Die Volksvertretung ist also durch Vermittlung der Neichsschuldenkommission
dauernd über den Stand der Schulden unterrichtet und ist imstande, die Ab¬
machungen der Negierung mit den Emissionsbanken nachzuprüfen. Praktisch
wird die Kontrolle noch erleichtert durch den Umstand, daß es sich in Deutsch¬
land einstweilen nur um innere Anleihen handelt, daß infolgedessen einzig die
Lage des Geldmarkts dafür maßgebend ist, wie die Emissionsbedingungen zu
formulieren sind. Der Einfluß einzelner Bankgruppen ist abgeschwächt durch
das Vorhandensein mehrerer solcher konkurrierender Gruppen. Dadurch wird
von vornherein der Verdienst der Banken an einer Anleihe in solchen Grenzen
gehalten, die man als angemessen bezeichnen kann.
In Rußland basiert das Recht der Volksvertreter zur Teilnahme an der
Bewilligung von Anleihen auf Artikel 118 der Stantsgrundgesetze, der lautet:
Staatsanleihen zur Deckung von im Voranschlag aufgenommene» wie auch
nicht aufgenommenen Ausgaben werden auf demselben Wege genehmigt, wie es für
die Genehmigung des Reichsbudgets der Ausgaben und Einnahmen festgestellt ist.
Auf dem Wege der obersten Verwaltung werden durch Se. Majestät den Kaiser
genehmigt: Staatsanleihen zur Deckung von Ausgaben in den Fällen und in dem
Umfang, wie es in Artikel 116 (nicht bestätigtes Gesetz) vorgesehn ist, ebenso wie
Anleihen zur Deckung für auf Grund des Artikels 117 (Kriegszeiten) bestimmte
Ausgaben. Zeitpunkt und Bedingungen des Abschlusses der Staatsanleihen werden
auf dem Wege der obersten Verwaltung festgesetzt.
Die Volksvertretung hat somit das Recht, an der Bestimmung der
Höhe einer Anleihe teilzunehmen. Damit endet aber ihre ganze Wirksamkeit,
wenn man nicht die Beaufsichtigung der durch die betreffende Anleihe zu
deckenden budgetmäßigen Ausgaben besonders hervorheben will. Denn alle
weitern Phasen der Anleihebegebung liegen in der Finanzkommission des
Finanzministeriums, und es gibt keine „Reichsschuldenkvmmission", der. wie in
Deutschland, Parlamentarier angehören, die dauernd den Weg der Anleihe¬
verhandlungen überwachen könnte. Außerdem sagt noch Artikel 9, daß bei der
Beratung eines Budgetvoranschlags solche Einnahmen und Ausgaben nicht
abgelehnt oder abgeändert werden können, die auf Grund bestehender Gesetze
aufgenommen sind. Da aber die Anleihen auf besondern Gesetzen beruhen,
der Abschluß der Anleihen aber ausschließlich der Kompetenz der Finanz¬
kommission unterliegt, erscheint es nach Meinung der Regierung überflüssig,
über die zum Abschluß der Anleihe führenden Bedingungen mit den Volks¬
vertretern noch nachträglich zu diskutieren. Darum lehnt der Finanzminister
es auch ab, Auskunft zu erteilen. Die Lage ist in Nußland noch dadurch
wesentlich verdunkelt, als die meisten russischen Anleihen im Auslande aufge¬
nommen werden müssen. Der ausländische Bankier hat aber begreiflicherweise
nur das Interesse, bei der Übernahme einer Anleihe zu verdienen. Er braucht
auf die Interessen der auswärtigen Macht nur insofern Rücksicht zu nehmen,
als sie sich mit den eignen decken. Eine Konkurrenz hat er nur zu befürchten,
wenn politische Fragen mit in die Anlcihcverhandlungen hineinspielen. Die
öffentliche Meinung des fremden Volks berührt ihn nicht, und die seiner Heimat
hat er gewöhnlich mit der Hilfe der Presse so eingerichtet, wie er sie braucht.
Welche Bedeutung unter solchen Verhältnissen der Mangel einer Kontrolle
durch die Volksvertreter für die Beurteilung der russischen Finanzen hat, soll
gleich gezeigt werden. Bei einem Budget von 2471684870 Rubel hat Ru߬
land am 1. Januar 1907 eine Staatsschuld von 8594 Millionen, auf die es laut
Budgetentwurf 380724000 Rubel (Zinsen 357,8 Millionen und Amortisation
21,7 Millionen) zu zahlen hat.*) Da nun aber mehr als die Hälfte der
russischen Staatsschuld im Auslande untergebracht ist, ist es wohl gerade für
die ausländischen Sparer von hohem Interesse, einmal unverblümte Ansichten
zu hören, die große ausländische Bankiers über die Kreditfähigkeit Rußlands,
das heißt über die Kreditfähigkeit der unkontrollierten Bureaukratie, haben.
Im Jahre 1907 ist in Petersburg eine sehr interessante Schrift erschienen,**)
die den Zweck hatte, nachzuweisen, an dem Mißtrauen der ausländischen Geld¬
geber Rußland gegenüber sei Graf Witte schuld. Der frühere Handelsminister
Feodorow glaubt in dem geistigen Urheber der Schrift den im letzten Herbst
jn Magdeburg gestorbnen Neichskontrolleur von Schwanebach zu erkennen,
bezeichnet aber die in der Schrift angeführten Tatsachen unter Hinweis auf seine
eigne amtliche Tätigkeit als richtig. Infolgedessen wollen wir uns der Ans-
führungen, soweit sie rein sachlich sind, bedienen. Schon im Herbst 1896 be¬
schwerte sich das Bankhaus Mendelssohn u. Co. in Berlin beim russischen Finanz-
minister darüber, daß es die ihm überwicsncn russischen Papiere nur mit größter
Schwierigkeit unterbringen könne, und riet von jeder neuen Finanzoperation
ab. Da aber der Finanzminister drängte, bot die Firma 94 Prozent bei vier
Prozent Zinsen mit der Andeutung, daß das Gelingen der Operation selbst
unter diesen Bedingungen nicht sichergestellt sei, vermutlich mit Rücksicht auf
den großen Eigenbedarf Deutschlands. Dabei stand damals die russische vier-
prozentige Staatsrente in piU'i. Das Angebot wurde nicht angenommen, da
aber Geld für Abschwächung der innern Wirtschaftskrisis und für Stciatsbe-
stellungcn an die junge Eisenindustrie nötig war, erhielten Mendelssohn u. Co.
den Auftrag, die Lage in London zu Sortieren. Das Ergebnis dieser Son¬
dierung war. daß sich das Haus Heinrich Schröder u. Co. zu London, unter
recht günstigen Bedingungen für sich, bereit erklärte, 4,6 Millionen vorzu¬
schießen. Die Geringfügigkeit der Summe bei einem Budget vou 1200 Mil¬
lionen Rubel zeigt, wie knapp damals das Geld in Rußland war, und wie die
Finanzleitung aus der Hand in den Mund lebte. Mit welcher Unverfrorenheit
aber eine unkontrollierbare Bureaukratie auftreten kann, geht aus der Tatsache
hervor, daß die kleine Anleihe noch dazu von einem lange nicht in Anspruch
genommenen Markt in einem Jmmediatbericht an den Zaren als Zeichen
des Vertrauens in die russische Finanzlage dargestellt wurde. Später
wurde der amerikanische Markt sondiert. Diese Aufgabe besorgten aber nicht
mehr Mendelssohn u. Co., sondern die Lebensversicherungsgesellschaft „New
Jork". Die Amerikaner stellten als Grundbedingung die Überweisung von
Aufträgen zu Schiffbauten. Der Finanzminister erbat sich infolgedessen einen
Kredit von 90000000 Rubel für Marinezwecke. Die Amerikaner bekamen die
erwünschten Auftrüge, die dann später mit russischen Wertpapieren bezahlt
wurden, und der Finanzminister erhielt von den Amerikanern Gold. Zu An¬
fang des Jahres 1901 verhandelte der Finanzminister mit den Gebrüdern
Rothschild in Paris wegen Übernahme einer konsolidierten Eisenbahnanleihe;
wozu sich die Firma auch bereit erklärte unter der Hauptbedingung, daß sich
die russische Regierung verpflichtete, im Laufe des Jahres 1901 und bis zum
1. Mürz 1902 keine neuen Anleihen auszugeben. Die Annahme dieser für
eine Großmacht beschämenden Bedingung begründet der Finanzminister in seinem
Budgetbericht für 1902 mit dem Umstände, daß Rußland das Geld durchaus
nicht nötig gehabt habe. Danach wurde also die Anleihe ohne dringendes
Bedürfnis aufgenommen, lediglich, weil gerade in Frankreich Geld frei war,
und weil ein Jahr später nicht mit Sicherheit auf freies Geld im Auslande
zu rechnen war. Aber das Budget wurde mit einem Jahr Zinsen nutzlos be¬
lastet. Geradezu lächerlich aber erscheint das Finanzgebaren, wenn man sich
erinnert, daß zu derselben Zeit, wo Rußland überall versuchte, Geld zu be¬
kommen, im September 1899, der Finanzminister der deutschen Reichsbank
250000000 Mark zu vier Prozent auf sechs Monate anbot, angeblich, um
diesem Institut zu helfen, seinen Diskontosatz zu halten. Das Angebot wurde
abgelehnt.
Wenn man alle diese Daten liest, weiß man nicht, was man davon ledig¬
lich auf das persönliche Konto des Herrn Witte und was allein auf das der
unkontrollierbaren Bureaukratie zu setzen hat. Eins wird aber deutlich bewiesen,
daß auch der materielle Schaden, den eine solche Bureaukratie dem Lande zu¬
fügen kaun, ganz außerordentlich groß ist. und es ist schwer verständlich, wie
sich Herr Kokowtzew zu der Geschmacklosigkeit hinreißen lassen konnte, bei den
letzten Budgetdebatte» die deutsche Finanzwirtschaft einer kritischen und wenig
freundlichen Betrachtung zu unterziehn.
Wir haben schon darauf hingewiesen, daß mehr als die Hälfte der
russischen Schulden im Auslande — eine halbe Milliarde Mark in Deutsch¬
land — untergebracht ist. Infolgedessen hat das Ausland ein ebenso
großes Interesse daran, daß die russischen Finanzen einer scharfen
öffentlichen Kontrolle unterliegen, wie die Russen selbst. Uns darf
es im Interesse des großen Publikums nicht beruhigen, wenn die Gro߬
banken, wie es gegenwärtig in Frankreich geschieht, unter den durch die Ein¬
berufung einer Volksvertretung bewirkten neuen Verhältnissen die Sicherheit
Rußlands so hoch einschätzen, daß sie bereit sind, eine Anleihe zu übernehmen.
Die Bankiers lassen sich für ein verhältnismäßig schnell vorübergehendes Risiko
eine so hohe Kommission zahlen, daß sie schon einem gewissen Wagemut Raum
geben können. Das große Publikum aber, der deutsche Sparer, setzt für vier
bis fünf Prozent oft das Ergebnis eines langen mühevollen Lebens aufs
Spiel; er trägt das Risiko solange, als er das russische Papier in der Hand
hat, und er muß es in der Hand behalten, da es ohne größere Verluste im
Laufe der nächsten Jahre kaum zu realisieren sein dürfte. Darum müssen wir
uns auch genau darüber klar werden, was denn die Volksvertreter bei den
Finanzen mitzureden haben, und was sich gegen früher gebessert hat. Wir
haben gezeigt, daß die Mitwirkung der Volksvertretung an der Beaufsichtigung
der Finanzen gering, an der Kontrolle der Anleihenabschlüsse aber gleich Null
ist. Darum die Zurückhaltung der deutschen Banken von der Emission der jüngsten
russischen Anleihe, darum auch die Sprödigkeit der Londoner und der Pariser
Bankiers, die in dem niedrigen Emissionskurse zum Ausdruck kommt.
!le Singapore den Südeingang in das Chinesische Meer bewacht,
so behütet, 2400 Kilometer davon entfernt, Hongkong den Nord¬
eingang. Im Süden gelangt man durch die Straße von Malakka,
im Norden durch die Straße von Formosa in das Chinesische
i Meer. Hätte sich Großbritannien den Besitz von Manila, das
es im Jahre 1762 erobert hatte, erhalten, anstatt diesen Platz nach dem
siebenjährigen Kriege an Spanien zurückzugeben, so würde es heute das
Chinesische Meer ebenso beherrschen, wie es das Mittelländische Meer beherrscht.
Wie nun aber heutzutage die Dinge liegen, hat die Erwerbung der Philippinen
im Jahre 1898 den Vereinigten Staaten von Nordamerika eine feste Flotten¬
basis in der Flanke der britischen Verbindungslinie zwischen Singapore und
Hongkong geschaffen. Basiert auf Manila und verfügend über eine genügend
starke Seemacht, kann heute ein amerikanischer Admiral nach rechts und nach
links ausholen und seinen Gegner zu einer Schlacht dort zwingen, wo es für
ihn selbst am günstigsten ist. Heute sind die Beziehungen Englands zu den
Vereinigten Staaten durchaus freundschaftlich; trotzdem hat die Erwerbung der
Philippinen durch die Vereinigten Staaten die strategischen Verhältnisse im
Pazifischen Weltmeer wesentlich verändert gegenüber der Zeit, wo die Inseln
in den Händen einer so schwachen Macht wie Spanien waren.
Wenn aber auch Großbritannien zurzeit in seiner östlichen Flotte keine
Schlachtschiffe hat, so verfügt es doch gegenwärtig über die numerische Über¬
legenheit auf dem Gebiete maritimer Machtmittel. Das chinesische Geschwader,
das sein Hauptquartier in Hongkong hat, besteht aus sieben Kreuzern, dreizehn
Torpedobootszerstörern und dreizehn kleinern Fahrzeugen. In zehn bis zwölf
Tagen kann dieses Geschwader durch das ostindische und das australische Ge¬
schwader verstärkt werden, die zusammen über zwölf Kreuzer verfügen. Das
gibt dann schon eine Seestreitmacht von neunzehn Kreuzern für den Fall
einer kriegerischen Verwicklung. Dem gegenüber besteht die amerikanische
Flotte aus drei Schlachtschiffen, drei Kreuzern und fünf Torpedobootzerstörern;
Frankreich hat ein Schlachtschiff und sechs Kreuzer, Deutschland ein Schlacht¬
schiff und einen Kreuzer. So kann mit oder ohne Unterstützung der japanischen
Marine eine aus dem chinesischen, dem ostindischen und dem australischen Ge¬
schwader gebildete britische Flotte eine genügende Anzahl hervorragender
Kreuzer ins Gefecht bringen, die es mit jeder denkbaren Vereinigung von
Seestreitkrüften, die sich plötzlich in den chinesischen Gewässern bilden kann,
aufzunehmen vermag. Man hofft jedoch, daß die chinesische Station nicht
mehr lange ohne die Unterstützung von wenigstens einem oder zwei Schlacht¬
schiffen gelassen wird. Denn abgesehen von der hohen moralischen Wirkung,
die die Anwesenheit von Schlachtschiffen überall hervorruft, kann ein Kreuzer
in bezug auf seine Bewaffnung niemals mit einem Schlachtschiff konkurrieren.
Und da die vier großen Seemächte zurzeit schon über die oben aufgeführten
Secstreitkräfte verfügen, so könnte, nach englischer Ansicht, eine plötzliche Ver¬
einigung feindlicher Flottenteile den englischen Kreuzern, die meist nur mit
15-Zentimeter-Geschützen ausgerüstet sind, eine Reihe von Schlachtschiffen
gegenüberstellen mit doppelt so starker Bewaffnung. Diese Lage der Dinge
wurde natürlich von der britischen Admiralität gründlich erwogen; überall*)
aber längs des Seewegs nach dem fernen Osten wird die plötzliche Zurück¬
berufung sämtlicher Schlachtschiffe aus den chinesischen Gewässern im Jahre 1905
allgemein kritisiert.
Die ersten Anfänge britischer Besitzergreifung in der heutigen Kolonie
Hongkong reichen zurück in das Jahr 1340, bilden aber kein ruhmreiches
Blatt in der englischen Geschichte, da sie eng verknüpft sind mit dem Opium-
kriegc des Jahres 1840, der ein dunkles Kapitel in der Geschichte des
britischen Reiches darstellt. Dieser Krieg war, da er aus Geldgier und aus
niedrigsten Motiven entspringender Habsucht unternommen wurde, einer der
ungerechtesten, die je geführt worden sind. Er war nichts andres als ein
erfolgreicher Raubzug, ausgeführt, um sich durch die Vermehrung und Aus¬
beutung eines furchtbaren Lasters an einem unglücklichen Volke zu bereichem.
Seit jenem Opiumkrieg war der britische Einfluß im fernen Osten in stetem
Abnehmen begriffen. Als Deutschland Kiautschou und Rußland Port Arthur
besetzten, schwieg England still, nicht aus materieller Schwäche, sondern wegen
seiner moralischen Unfähigkeit, mit voller Macht aufzutreten. Die Hände
waren ihm gebunden, und trotz seiner Überlegenheit zur See wagte es nicht,
durch sein Eingreifen eine Erinnerung an sein Verhalten in vergangnen
Zeiten hervorzurufen- Mr. Mprley konnte am 30. Mai 1906 im Hause der
Gemeinen sagen: „Es gibt wenige Länder, auf deren Beziehungen zu uns
wir weniger Grund haben stolz zu sein, als auf die zu China!"
Die erste Besetzung der heutige» Kronkolonie Hongkong, die aus einer
der Südostküste von China vorgelagerten Insel nahe der Mündung des Flusses
Kanton und aus einem Stücke des Festlandes besteht, wurde von der britischen
Regierung im Jahre 1341 vorgenommen. Durch den Vertrag von Nanking
im Jahre 1842 wurde dann das Gebiet förmlich abgetreten, während sich im
Jahre 1860 die Erwerbung von Britisch-Kaulung anschloß auf Grund der
Konvention von Peking. Durch einen am 9. Juni 1898 abgeschlossenen
Pachtvertrag kam dann noch der südliche Teil der Provinz Kwcmtung unter
der Bezeichnung „New Territory" dazu. Hongkong ist, wie Singapore, eine
militärisch besetzte Flottenstation zum Schutze des britische» Handels. Die
Insel hat eine Gesamtfläche von rund 79 Quadratkilometern, die ganze
Kolonie eine solche von mehr als 1000 Quadratkilometern. Die Hauptstadt
Viktoria liegt an der Nordküste der Insel, dem Festlande gegenüber. Zwischen
dem Festlande und der Insel liegt der Hafen, einer der schönsten der Welt,
mit einer Wasserfläche von 26 Quadratkilometern. Der Hafen ist ein Frei¬
hafen und stark befestigt. Er besitzt ausgezeichnete Dockanlagen, geräumig
genug, um die größten Schiffe aufzunehmen. In Hongkong besteht eine aus¬
gedehnte Industrie, die sich mit dem Bau und der Wiederherstellung von
Schiffen beschäftigt.
Der britischen Flagge folgte der britische Handel in Hongkong auf dem
Fuße. Vor 1840, ehe noch die britische Flagge auf Possession Point, dem
Mittelpunkt der heutigen Stadt Viktoria, wehte, bestand die Bewohnerschaft
nur aus wenig Fischern. Heute ist der Hafen von Hongkong, was den
Schiffsverkehr anlangt, der größte der Welt. Im Jahre 1904 haben nicht
weniger als 114135 Schiffe mit 24648258 Tonnen den Hafen aufgesucht.
Wenn es auch nicht ohne weiteres möglich ist, die Schiffahrtsstatistik der ver-
schiednen Häfen miteinander zu vergleichen, so wurden doch die genannten
Zahlen von keinem andern Hafenplatz der Welt übertroffen.
Der Hafen selbst liegt zwischen der Nordseite der Insel und dem Fest¬
lande. Durch die Halbinsel Kaulung ist er in zwei Hälften geteilt, die durch
eine 750 Meter breite, die nach Süden zeigende Spitze dieser Halbinsel vom
Festlande trennende Wasserstraße verbunden werden. Er ist gegen jeden An¬
griff von der See aus geschützt. Ein östlicher und ein westlicher Eingang
erlauben den Eintritt in den Hafen. Die Schiffe fahren in der Regel durch
die eine Einfahrt ein und verlassen dann den Hafen durch die andre. Die
beiden Zugänge zum Hafen sind überaus stark befestigt; die Forts sind mit
den besten Geschützen armiert, und hervorragend ausgebildete britische Artilleristen
bilden ihre Besatzung. Die gesamte britische Landgrenze der Kolonie hat eine
Ausdehnung von annähernd 18 Kilometern. Die zur Verteidigung dieser
großen Grenzlinie zur Verfügung stehende Streitmacht ist allerdings ziemlich
bescheiden. Sie besteht zurzeit aus vier Kompagnien britischer Infanterie,
drei Kompagnien Fußartillerie, zwei Pionierkompagnien, einer Sanitäts¬
kompagnie, zwei Bataillonen der indischen Eingeborneninfcmterie und vier
Kompagnien Kolonialartillerie mit insgesamt 3587 Mann.
Der Hafen von Hongkong ist eine vorzügliche Station für die Handels-
wie für die Kriegsflotte. Zurzeit werden neue Dockanlagen, vergrößerte
Speicher und Werkstätten mit einem Gesamtaufwcmde von 30 Millionen Mark
errichtet. Die bedeutendste Privatwerft ist die Hongkong and Whanpon Dock
Company, die ebenso eifrig tätig ist wie früher die Tanjong Pagar Company in
Singapore. Diese Gesellschaft hat drei getrennte Dockanlagen, eine in Hongkong
selbst, eine in Aberdeen an der Südseite der Insel und eine dritte auf der Festland¬
seite des Hafens bei Hungham. Diese letzte Anlage verfügt über drei aus Granit
erbaute Docks, deren größtes eine Länge von 175 Metern und eine Breite von
26 Metern bei einer Tiefe von 9 Metern zur Zeit der Flut aufweist. Ein Besuch
der Werftanlagen von Hungham wird als äußerst lohnend bezeichnet.
Das „New Territory" genannte Gebiet wurde von der Regierung von
Hongkong nach und nach erschlossen. Politische Reibungen verschiedner Art
und auch der Boxeraufstand des Jahres 1900 führten zu mehrfachen Ver¬
zögerungen. Namentlich hatte unter diesen der Bau einer Eisenbahnlinie
durch das „Neue Territorium" von Kaulung nach Kanton zu leiden. Erst
neuerdings wurde ein endgiltiges Abkommen dahin getroffen, daß die Regie¬
rung von Hongkong den Teil der Linie von Kaulung bis zur Grenze des
Neuen Territoriums zu bauen habe, während die Strecke von da bis Kanton
der chinesischen Regierung überlassen bleibt. Eine fünfprozentige, von der
chinesischen Regierung garantierte Anleihe von 30 Millionen Mark ist zur Be¬
schaffung der Mittel für den Bau aufgenommen worden.
Die ganze Kolonie hatte im Jahre 1903 eine Einwohnerzahl von
20 831 Europäern, die Angehörigen des britischen Heeres und der Marine ein¬
gerechnet. Die Gesamtbevölkerung belief sich auf annähernd 412000 Seelen,
darunter rund 390000 Chinesen. Die Hauptstadt Viktoria zählt allein über
180000 Einwohner.
Einen besondern Eindruck auf die Besucher macht die politische Gleich¬
stellung mit den Europäern, wie sie hier der ungeheuern chinesischen Be¬
völkerung gewährt wird. Ein Gesetz herrscht hier über Weiße und Gelbe.
Ob Handelsmann oder Arbeiter ist der Chinese der Kolonie Hongkong ein
fleißiger, haushälterischer, die Gesetze achtender Mann. Als Händler ist er
gleichermaßen geschäftstüchtig und anständig, weniger aus Grundsatz, als weil
es ihm am meisten einbringt. Der chinesische Arbeiter ist der beste von allen
Arbeitern unter den Tropen und in mancher Beziehung der beste Arbeiter der
ganzen Welt. Während der Kaffer, der Singhalese und der Malaie nur unter un¬
ablässigem Zwang und Druck arbeiten, arbeitet der Chinese jederzeit und in allen
Lagen um seinen Lohn und liefert stets das Beste für das, was er erhält.
Alles in allem betrachtet bedeutet die Kolonie Hongkong mit ihren un¬
einnehmbaren Festungswerken, ihrer vorzüglichen Regierung und ihren günstigen
Handelsbedingungen eine stolze und furchtbare Unterstützung der Seemacht¬
stellung Großbritanniens in den Wassern des fernen Ostens. Ihre Zukunft
ist so aussichtsvoll, wie ihre Vergangenheit glücklich war.
Der Kernpunkt dieser günstigen Verhältnisse aber ist das unwandelbare
Festhalten an der Politik der offnen Tür, diesem besten Grundsatz britischer
Handelsweisheit. Die Ablehnung dieses Grundsatzes hat Frankreich in Jndo-
china, Deutschland in Schankung pekuniären Schaden gebracht. Die Regierungs-
form der Kronkolonie hat sich in Hongkong praktisch vorzüglich bewährt,
trotz aller theoretisch ihr anhaftenden Mängel. Denn diese Art der Regierung
ist stark und durch ihre Stärke zugleich gerecht und frei.*) Eine wichtige
Aufgabe bleibt freilich der britischen Regierung, die sie jedoch von ihrer festen
Stellung in Hongkong aus zu lösen vermag, nämlich die endgiltige Unter¬
drückung des Opiumhandels im fernen Osten. Es wäre das eine bedeutende
Kulturtat. Auch haben schon Verhandlungen zwischen der britischen und der
chinesischen Negierung zu diesem Zwecke stattgefunden. Möchten sie zu einem
guten Ziele führen!
>le größten Mächte der Geschichte sind das politische und das
religiöse Leben. Das Politische bedeutet die äußere Gestaltung
des menschlichen Lebens, die Religion bedeutet den seelischen
Inhalt des Lebens." „Der glücklichste Zustand ist der, wenn
! beide einander decken, wenn der äußere Körper des Volkes in
der Gestalt des Staates ein getreues Spiegelbild des religiösen, seelischen
Gehaltes des Volkes ist." „Nichts kann die Bedeutung des Religiösen, die
Macht des Religiösen klarer lehren als ein flüchtiger Blick auf die Partei¬
verhältnisse der Gegenwart. Welche Parteien sind heute stark? Welche können
sich fest auf ihre Anhänger verlassen? Diejenigen, welche ein religiöses Ideal
im Hintergrunde haben, das sie trägt und stützt, das ihre Anhänger fest an
ihre Fahne kettet. Allen voran das Zentrum, als Vertreterin des katholischen
Kulturideals. Man gibt sich der Hoffnung hin, daß der Zentrumsturm wanke.
Diese Hoffnung ist gänzlich trügerisch. Dieser Turm steht fest, weil das
Zentrum kräftige religiöse Ideale im Bunde führt. Diese Ideale werden sich
nicht von heute auf morgen verflüchtigen." „Nicht anders ist es mit den
Konservativen. Auch diese haben ein klares bestimmtes Kulturideal, das in
der konservativen Partei seinen politischen Ausdruck findet."
Wo lesen wir diese Worte? Man sollte glauben, diese von einem klaren
und tiefen Blick in das Menschenherz und in die Zeit zeugenden Ausführungen
könnten nur in der Nähe des Zentrumsturmes oder im konservativen Lager
ihren Quell und Ursprung haben. Doch sie stammen aus der Feder eines
der schärfsten Kämpfer wider Kirche und Christentum. Dr. Ernst Horneffer,
der unermüdliche Apostel des Meisters Nietzsche, der schon seit längerer Zeit
auf seinen Wanderfahrten für seine neuen religiösen Ideale Anhänger wirbt,
gibt in seiner neu erschienenen Schrift „Die Kirche und die politischen Parteien"
(Verlag von or. Werner Klinkhardt, Leipzig) die programmatischen Gedanken
der auf seine Anregung hin gebildeten „Deutschen Kulturpartei". Er verfügt
über eine zündende Beredsamkeit, und selbst der Gegner muß den ehrlichen
Einsatz der ganzen Persönlichkeit für das gewählte Ideal anerkennen und
kann beim bloßen Lesen des geschriebnen Wortes mitempfinden, welchen Einfluß
die lebendige Rede des Mannes auf die Menge äußert. Noch manches andre
vernünftige Wort des kleinen Schriftchens muß auch bei uns vollen Einklang
wecken. So wenn er den politischen Parteien, die sich nur auf Vertretung
materieller Interessen gründen, zu bedenken gibt, daß das bloß Materielle keine
bindende Kraft hat, daß die materiellen Interessen, die Fragen um das Mein
und Dein nur zersplitternd wirken und die unversöhnlichsten Gegensätze im
Schoße tragen. Denn was dem einen nützt, schadet dem andern. Das
Nationalgefühl ist schon eine ideelle Macht, die wunderbar die Völker zu einer
Einheit zusammenschmiedet. Allein darauf ist im gewöhnlichen Lauf der Dinge
kein Verlaß. Es bewährt sich nur in vorübergehenden Stunden der Not dem
äußern Feinde gegenüber. Im Alltagsleben steht sofort wieder der eine gegen
den andern, wenn nicht übergreifende, bindende Mächte wirksam werden. Diese
können nur von geistigen Gütern ausgehn, deren Art es an sich trägt, daß
nicht der Besitz des einen die andern vom Mitbesitz ausschließt. Deshalb
seien die liberalen Parteien, bei denen das Materielle, das Wirtschaftliche,
das im engern Sinne politische die erste Rolle spielt, nicht mehr wahrhaft
populär. Zu immer erneuter Zersplitterung verurteilt werde der Liberalismus
endlich ganz zerfallen, wenn er nicht die Macht des Religiösen begreifen lerne
und sich ebenfalls religiöse Mächte und Ideale dienstbar mache. Dem Libera¬
lismus, der bis jetzt in religiösen Dingen bloß eine feige Charakterlosigkeit
bewiesen habe, will der Verfasser einen religiösen Gehalt und damit die nötige
Stoßkraft zum Umsturz der Kirchen verleihen. Der Charakter der Kirche in
jeder Gestalt ist „Glaube an unbedingte Wahrheit, Aufrichtung einer absoluten
Autorität". Auch der kirchliche Protestantismus bis in seine liberalsten Aus¬
läufer ist im letzten Grunde nur eine Schutztruppe des Papstes. Denn auch
die liberale Theologie will christliche Theologie bleiben. Drei Grunddogmen
hält auch sie fest: den Glauben an einen persönlichen oder unpersönlichen Gott,
an die Unsterblichkeit und — der Grund alles Übels — an Jesus. Die Losung
der europäischen Bildung zu Ausgang des Mittelalters hieß: Los von Aristoteles!
Die der Neuzeit muß heißen: Los von Jesus! Jesus ist selbst daran schuld,
daß seine Person zum Schibboleth aller Gewissensknechtung wurde. Er hatte
seine Größe, die bewundernswert bleibt, aber er sagte: Ich bin die Wahrheit.
Das hätte ihm die Menschheit nicht glauben dürfen. „Wie erlösend wirkt
gegenüber solchem Worte das menschlich echte, wahre Wort des Atheners
Sokrates, des großen Gegenpols zu Jesu: Ich weiß, daß ich nichts weiß."
Durch die Bindung an eine absolut sein wollende Wahrheit wird der Mensch
entsittlicht, des Rechtes seiner Individualität beraubt. „Der Mensch der Zu¬
kunft steht da, Herr seiner selbst, Herr seines Willens, seiner Wünsche und
seiner Ziele." Der Individualismus, der sich in der Reformation Bahn ge-
brochen hat, muß zu noch kühnerer Gestalt gesteigert werden. Der Protestan¬
tismus muß sich selbst überbieten. Die völlige Ausscheidung der Kirche aus
dem deutschen Leben wird darum als das Endziel der deutschen Entwicklung
aufgestellt. Deshalb muß der Staat einen Ersatz für die Kirche schaffen, der
geeignet ist, sie allmählich zu verdrängen. Einstweilen mag er ja für das
Häuflein geistig Rückständiger auch noch die Kirchen dulden, aber die neutrale
Simultanschule mit konfessionslosen Sittenunterricht, die Aufhebung jeder
kirchlichen Aufsicht und Bevormundung für die Lehrerseminare und andre Ein¬
richtungen werden schließlich schon die Kirche entwurzeln. Doch dies schreibt
Horneffer dem Liberalismus als obersten Grundsatz ins Stammbuch: Jede
Freiheit dürfe er dulden, jedoch „eine Freiheit kann er niemals dulden, den
Willen zur Unfreiheit". Alle kirchlich Gesinnten haben den Willen zur Unfreiheit,
sie wollen sich ja an eine absolute Wahrheit binden. Diese Gesinnungsart
bedarf einer gründlichen Ausrottung. Es wird also nichts übrig bleiben, als
der Rat des Philosophen Überweg, einmal dreißig Jahre lang alle, die sich
noch irgendwie zum Christenglauben bekennen wollen^ niederzukartätschen.
Der Verfasser zieht diese gründlichen Konsequenzen in seinem Buche nicht.
Er empfiehlt dem Staate vielmehr die Einrichtung lehrfreier Volks¬
akademien. Philosophisch herangebildete Volkserzieher sollen in diesen, gleich
den bisherigen Kirchen, überall in Stadt und Land zu gründenden Anstalten
ungehemmt ihre Wahrheit verkünden. Jeder soll da nach seiner Überzeugung
das Volk über die tiefsten und bedeutsamsten Fragen des Lebens aufklären.
Wo bleibt aber der religiöse Inhalt, den der Verfasser dem Liberalismus
zu geben versprach, der ihm anstatt der bisherigen Hohlheit eine innere Kraft
geben sollte, der überlegen, die die katholische und evangelische Kirche an ihren
religiösen Idealen besitzen? Das Religiöse ist nach der Anschauung des Ver¬
fassers ein weiterer Begriff als bei uns Vertretern positiver Religion. „Religion
ist alles, was das menschliche Gemüt von den letzten Dingen sagt." Wir
verstehn ihn also wohl nicht falsch mit der Annahme, daß das Religiöse, um
das sich seine neue Kulturpartei scharen will, die freie Diskussion der Volks¬
akademien über jene „tiefsten und bedeutsamsten Fragen des Lebens" fein soll.
Ist das wirklich ein religiöser Inhalt? Angenommen, diesen Erörterungen,
in denen der eine dies, der andre jenes behauptet und einer wider den andern
ist, käme wirklich ein Interesse weiterer Volkskreise entgegen, meint der Ver¬
fasser wirklich, solches formale Interesse für tiefere Fragen könne an Kraft
dem Christenglauben die Spitze bieten, der, wie die Geschichte lehrt, in Zeiten
der Krise den Märtyrermut gibt, auch das Leben hinzuopfern? Horneffer redet
von einer „unausgesprochnen Einheit", die alle Anhänger des neuen Kultur-
ideals verbinde zu einem Geist, einer Hoffnung, einer Liebe. Wir aber
halten diese Einheit nicht bloß für unaussprechbar, sondern auch für unaus¬
denkbar, für ein Unwirkliches und Niezuverwirklichendes, für ein hölzernes
Eisen. Es ist eine bloße Einheit in der Negation. Diese gibt nie eine positive,
'fruchtbare, lebenwirkende Kraft. Ihre Nichtigkeit würde zum mindesten in dem-
selben Augenblick offenbar werden, wo der Gegenstand schwante, in dessen
Negation die Einheit besteht. Wäre das Ziel erreicht, Christentum und Kirche
bis auf den letzten Rest ausgetilgt, so würden die verneinenden Kräfte nichts
mit sich selber anzufangen wissen und sich gegenseitig zerfleischen.
Einer großen Inkonsequenz macht sich der Schüler Nietzsches im Vergleich
zu seinem Meister schuldig. Dieser wollte folgerecht jede Fessel der Indi¬
vidualität brechen, auch die einer allgemein geltenden Moral und Logik. So
weit geht Horneffer nicht. Soll doch in der Schule des neuen Kulturideals
uoch Moral gelehrt werden. Dann muß doch dafür eine allgemeine Formel
gefunden werden. Denn was bei den Millionen millionenfach verschieden wäre,
ließe sich in keine Lehre fassen. Sodann ist er auch Gegner jeder Anarchie.
Ja er verlangt einen starken Staat, der die Auswüchse des Individualismus
verhindern soll, er ist sogar, man sollte es nicht glauben, Anhänger des mon¬
archischen Gedankens. Denn er sieht klaren Auges, daß schrankenlose Demo¬
kratie zur Unterdrückung jeder Individualität wird, in Sklaverei für den
einzelnen umschlägt. So soll sich der einzelne in den Ansprüchen seiner
Individualität zugunsten eines Allgemeinen, des Staates beschränken. Vorher,
bei der Bekämpfung des Christentums sah der Verfasser auch in dem leisesten
Anspruch auf Allgemeingiltigkeit eine unerträgliche Fessel. Es sollte nicht
einmal mehr geduldet werden, wenn sich einer solche Fesseln aus innerer Über¬
zeugung selbst anlegen wollte. Jetzt legt er Ketten von viel härterer Konsistenz
auf, denn der Staat hat es an sich, daß er mit äußerer Gewalt an den ein¬
zelnen herantritt. Wir erkennen, Horneffer meint gar nicht den reinen Indi¬
vidualismus, dessen fanatisch-konsequenter Vorkämpfer Nietzsche war. Er hat
eine normierte Individualität im Auge, für die man in unmißverständlichem
Sprachgebrauch den Ausdruck „Persönlichkeit" geprägt hat. Sollte es ihm
ganz entgangen sein, daß das Christentum mit seinem Anspruch auf Absolutheit
doch nie Feind der Persönlichkeit, sondern nur der schrankenlos sich ausleben
wollenden Individualität ist? Nur die Auswüchse der Individualität, das
Häßliche, Böse, das Haltlose, Wesenwidrige, die Fehler, die in der Entwicklung
möglich sind und wirklich geworden sind, unterbindet es, nicht das Wachstum
selbst. Nicht schablonisieren will es die Individuen, sondern in jeder Indi¬
vidualität sieht es eine ewig wertvolle Idee, die sich ausgestalten soll, und zu
deren ungehemmter Ausgestaltung es helfen will. Wenn manche Formen des
Christentums diese Tendenz nur in verdunkelter Gestalt zeigen, so können wir
uns immer wieder an der Art orientieren, wie Christus Seelen zu gewinnen
sucht. Das Recht, das Nietzsche von seinem Standpunkt aus geltend machen
durfte, das Christentum als den Urfeind zu bekämpfen, hat Horneffer, der die
Individualität doch wieder normieren will, verwirkt.
Die „Deutsche Kulturpartei" ist gegründet worden. Schon scheint sie einen
Stamm begeisterter Anhänger zu zählen. Als Anhang seiner Schrift gibt Horneffer
das Programm, auf das sie sich geeinigt hat, im einzelnen schon ausgeführt
bis auf die Forderung der Feuerbestattung, der Reichseinkommensteuer und
des aktiven Wahlrechts für die Frauen. Sehen wir zu, welche Werbekraft
diese neuste unter den politischen Parteien zeigen wird. Uns will angesichts
dieser, wie aller Parteien, die lediglich von der Verneinung leben, immer wieder
nur das Bild der Holzwürmer im alten Hausgerüt aufsteigen. Sie lebe^n, sind
geschäftig, ja nähren sich wohl, solange noch Holz da ist, das sie zernagen
können. Wenn der Kampf gegen das Bestehende sein Ziel erreicht hat, wenn
alles Holz zerstört ist, verhungern sie.
Hakespeare ist ein so reicher und so treuer Weltspiegel, daß
man aus ihm den Menschen und die Menschen beinahe so gut
kennen lernt wie aus der lebendigen Wirklichkeit. Man benutzt
denn auch seine Dramen fleißig zu Charakterstudien und Seelen¬
analysen. Jüngst hat der dänische Polizeichef August Gott
sechs Shakespearische Personen ausgewählt, um an ihnen das Wesen ebenso
vieler Kategorien von Verbrechern darzustellen. (Verbrecher bei Shakespeare.
Deutsch von Oswald Gerloff, mit Vorwort von Professor or. F. von Liszt.
Stuttgart, Axel Juncker.) Cassius vertritt die gemeinen, Brutus die edeln
politischen Verbrecher. Cassius haßt zwar Cäsarn „sozusagen politisch", weil
er es unwürdig findet, daß ein Emporkömmling von gebrechlicher Körper¬
konstitution Rom und die Welt beherrsche, „aber hinter diesem Haß liegen
reichliche Elemente gut bürgerlichen Neides". An der Oberfläche machen sich
bei Revolutionen die edeln Motive breit: Unzufriedenheit mit den schlechten
Staatseinrichtungen und Entrüstung über die Ungerechtigkeiten, unter denen
andre leiden. Doch: „Geh den revolutionären Strömungen auf den Grund,
und du wirst hinter all dem wogenden unpersönlichen Haß gegen Institutionen
und Regierung den persönlichen Haß des einzelnen gegen den einzelnen finden.
Das ist der Haß, der das übrige anfache, es dirigiert, es sammelt zu dem
Sturmwind, der zu guter Letzt stark genug ist, Städte zu verwüsten." Den
Brutus, diesen „sanften Idealisten, den das ganze Volk kennt und liebt",
braucht Cassius, weil durch seine Teilnahme die Sache der Verschwörer als
eine gute gerechtfertigt erscheint. Brutus ist ein Doktrinär, der sich nicht von
Gefühlen und Stimmungen, sondern nur von Vernunftgründen und von der
Pflicht leiten und bestimmen lassen will. Eigne Erwägungen haben ihn längst
innerlich auf die Seite der Verschwörer gezogen, aber erst, nachdem diese Er¬
wägungen von außen, aus dem Munde des Cassius, an sein Ohr dringen,
fangen sie an, als Motive zum Handeln zu wirken. Sein Entschluß zur
Teilnahme an der Verschwörung bedeutet einen moralischen Sieg über sich
selbst, über seine dankbare Liebe zu Cäsar. Aber auch dieser edle Schwärmer
täuscht sich noch über sein eignes Herz: sein starkes Gefühl der Pflicht gegen
das Volk, gegen das Gemeinwohl ist im Grunde genommen das tiefe Gefühl
„seiner eignen hervorragenden Bedeutung und seiner ganz besondern Stellung
als Abkömmling des Volksbefreiers Brutus". Und als Doktrinär verdirbt
er die Sache, für die er handelt und kämpft, im ersten wie im letzten Stadium.
Cassius rät jedesmal das richtige. „Denn der Haß sieht scharf und benutzt
alle Mittel, die Idee sieht nur sich selbst und kaun nur ihre eignen Mittel
brauchen." An Macbeth demonstriert Gott den Gelegenheitsverbrecher. Ein
ehrlicher und tüchtiger Mann, der sich aber seines Wertes bewußt ist und
die diesem Wert entsprechende Stellung erstrebt. Dabei nicht fest genug, der
Versuchung zu widerstehn, wenn das Ziel seines Strebens nur durch ein Un¬
recht erreicht werden kann., „Was sehr du willst, das willst du fromm," sagt
ihm die Gattin; „du liebst nicht falsches Spiel, und doch Gewinn mit Unrecht."
Also ein Durchschnittscharakter: ist nur der Gewinn, der winkt, hoch genug,
so wird er auch falsch spielen. Meist ist Verführung notwendig, einen
solchen soweit zu bringen, aber er läßt sich gern verführen, will verführt sein.
Zum Verführer gehört nicht etwa geistige Überlegenheit, sondern nur eine ge¬
wisse psychologische Technik, „die, wo sie vorhanden, sehr oft gerade dem im
übrigen Unterlegnen eine vollständige Gewalt über den Überlegnen geben kann,
während umgekehrt der überlegenste Geist ohne diese Technik sich für voll¬
kommen bankrott erklären muß, wenn er sich als Anstifter, Überreder oder
— gegenüber einem größern Kreise — als Agitator versucht". Ganz unzu¬
gänglich für Anstiftung sind nur die stumpfsinnigen; alle andern sind
empfänglich dafür, je reichern Geistes, desto empfänglicher. Der Mensch ohne
Kombinationsgabe „läßt den zugeführten Stoff unbeachtet und unverdaut
passieren, die reiche Kombinationsgabe erfaßt den Stoff, verbindet ihn mit dem
schon vorhandnen geistigen Inhalt und bringt durch die neu zugeführten
Elementen je nach Umstünden etwas Neues und Überraschendes hervor".
Mittelmäßige Geister, meint der Verfasser, seien überhaupt schwerer zu über¬
zeugen als reiche und bewegliche, die besonders dann leicht gewonnen werden
können, wenn der Überredende geschickt solchen Stoff auszuwählen versteht,
der dem Empfindungs- und Verstandesleben des zu Überredenden gut angepaßt
ist. Weder im Verbrechen noch in der ihm folgenden Gewissensangst und
Geistesverwirrung hat sich die Persönlichkeit Macbeths geändert; was sich
ändert, das sind die Umstände; auf sie reagiert der Verbrecher jedesmal durchaus
seinem Charakter gemäß. Lady Macbeth kennt keine Neue; nicht die begangne
Untat, nur der Zustand ihres Gatten, und was daraus entstehen kann, beun¬
ruhigt sie. In ihr sieht Gott den Typus des verbrecherischen Weibes. Bei der
impulsiver Natur des Weibes, bei seinem stärker» Affekt und der Unstetigkeit
des sich sprungweise äußernden Willens sollte man meinen, es müßte häufiger
Verbrechen begehen als der Mann; in Wirklichkeit ist die weibliche Kriminalität
vier- bis siebenmal geringer als die männliche. Die scheinbare Anomalie er¬
klärt sich daraus, daß die Frau weniger egoistisch ist, mehr unmittelbare Güte,
aufopfernde Liebe hat als der Mann, daß sie religiöser, als Mutter mehr an
Familie und Tradition gebunden ist und vor herrschenden Meinungen mehr
Respekt hat als der Mann, Auch ist sie, wenn sie nach Frauenart lebt (was
heute allerdings allmählich aufzuhören scheint), weniger häufig äußern Ein¬
wirkungen, namentlich denen einer schlechten Gesellschaft ausgesetzt. Aber
gerade aus ihrem starken Familiensinn und aus ihrem Altruismus ersteht der
Frau die Versuchung, Weil sie nichts Höheres kennt als das Glück des Ge¬
liebten, des Gatten, der Kinder, hält sie alles, was der Förderung dieses
höchsten Zieles zu dienen scheint, für erlaubt, wird sie aus Liebe Verbrecherin —
mit vollkommen gutem Gewissen, indem sie nur ihre Pflicht zu tun glaubt.
Gott sieht darin eine Art Atavismus. Das Pflichtmäßige, Moralische ist das
vom Wohle der Gesamtheit geforderte. Heute ist der Staat die Gesamtheit,
ursprünglich war es die Familie, höchstens die zum Stamm erweiterte Familie.
Was ihren Nutzen förderte, das war das moralisch Gute. In diesem „mikro¬
sozialen Familienrecht" sei die Frau befangen geblieben, meint Gott, und wenn
wir hinzufügen: sollte sie auch immer befangen bleiben, so wird er nichts da¬
gegen haben, denn er erinnert daran, daß wo, wie in Rußland, die Weiber
anfangen, männliche Interessen zu haben, sich an der Politik zu beteiligen,
auch ihre Kriminalität steigt. (Der zurzeit in England tobende Stimmrecht-
lerinnenunfug ist wohl mehr eine Modenarrheit als blutiger und gefährlicher
Ernst.) Die Frau also empfindet die Schranken, die der Staat ihrer Fürsorge
für das Wohl der Ihrigen zieht, als zu Unrecht bestehend und sieht kein
Unrecht darin, diese Schranken zu überspringen; sie ist also dem Staate
gegenüber Anarchistin; glücklicherweise kommt sie nur selten in die Lage, ihre
anarchische Gesinnung zu betätigen. Daß die meisten weiblichen Vergehungen
nicht dieser im Grunde genommen edeln Quelle entspringen, sondern der Not,
der Schwäche und gemeinen Gelüsten, wird Gott natürlich nicht in Abrede
stellen wollen.
Zwei Jnstinktverbrecher zeichnet er in Richard dem Dritten und Jago.
Er fragt, wie ein solches Ungeheuer entstehen könne, und antwortet, daß bei
Richard die Entstehungsweise klar zutage liege. Die Wurzel des Übels besteht
in seiner körperlichen Mißgestalt. '(Es handelt sich natürlich nicht um den
historischen, sondern um den Shakespearischen Richard.) Merkwürdig, daß Gott
aus dem entscheidenden Monolog (Heinrich der Sechste, dritter Teil, fünfter
Aufzug, sechste Szene) nur einzelne Verse zitiert, anstatt wenigstens seinen
wichtigsten Teil im Zusammenhange wiederzugeben. Er lautet:
Weil denn der Himmel meinen Leib so formte,
Verkehre demgemäß den Geist die Hölle.
Ich habe keinen Bruder, gleiche keinem,
Und Liebe, die Graubärte göttlich nennen,
Sie wohn' in Menschen, die einander gleichen,
Und nicht in mir: ich bin ich selbst allein.
Er hat bei keinem Menschen Liebe gefunden, auch bei der eignen Mutter nicht;
er hat sich wenigstens Achtung zu erobern gestrebt, indem er seinen Körper
und seinen Geist mit großer Energie ausbildete und sich durch Tapferkeit
im Kriege wie durch Weisheit im Rat auszeichnete. Es hat ihm alles nichts
genutzt: jedermanns Hand war wider ihn, so ist er wider jedermann. Und
bei seinem Streben nach der Krone kommt ihm seine unwiderstehliche Dialektik
zu Hilfe, deren Siege ihn, zusammen mit den leichten Erfolgen seiner Heuchelei,
die ihm verhaßten Mitmenschen auch noch als Dummköpfe verachten lehrten.
Nachdem er den Thron durch eine Reihe von Verbrechen erkämpft hat, wendet
sich seine Dialektik gegen ihn: der Feind der Menschheit kann nicht ihr Be¬
herrscher sein; wer sie haßt, nicht, wie die Königswürde fordert, für ihr Wohl
sorgen, wer alles Vertrauen selbst verloren und in seiner Umgebung vernichtet
hat, nicht das Vertrauen finden, ohne das kein Vorgesetzter seine Untergebnen
zu leiten imstande ist. Damit ist sein Untergang unvermeidlich geworden.
Richards Verbrechen gehen aus Begehrlichkeit, Jagos Arkaden aus reiner Bosheit
hervor. Dieser hat zwar auch Gelüste, aber die Haupttriebfedern seines Handelns
sind die Wut über das Glück, die Güte, die Größe andrer und der Wunsch,
all dieses Schöne zu zerstören. Die Gemeinheit seiner Gesinnung äußert sich
als Zynismus, aber weil er seinen Zynismen die Farbe der ungeschminkten
Wahrheit zu geben versteht und damit große Klugheit, durchdringenden Scharf¬
sinn verbindet, so wird er von seiner ganzen Umgebung, besonders von
Othello, als der ein wenig ungeschlachte aber grundehrliche Freund und nütz¬
liche Ratgeber geschätzt. Im Zynismus, führt Gott aus, liegen Recht und
Unrecht beieinander. Es ist wahr: unsre ganze Kultur baut sich auf dem
Grunde animalischer, durch menschliche Überlegung noch verstärkter Triebe auf.
Daß sie auch noch hinter den höchsten Kulturerscheinungen stecken, ist richtig,
und der bösartige Zyniker findet nun seine Befriedigung darin, bei jeder Ge¬
legenheit auf dieses dahintersteckende hinzuweisen; die Feinheiten der Kultur,
die den Naturtrieb veredeln, betrachtet er als Masken, die den Trägern abgerissen
werden müssen. Der edle Mensch sieht in diesen Feinheiten, in den edeln Gefühlen,
Verhältnissen und Erzeugnissen, die aus dem Naturboden hervorgehn, gerade den
Zweck des menschlichen Daseins. Er will die Durchschnittsmenschen, die dem
Naturboden noch zu nahe stehn, auf sein Niveau emporheben, der Zyniker will die
Ausnahmemenschen auf das Niveau des Durchschnittsmenschen herabziehn und
möchte die ganze Kultur zur Natur, womit er die Tierheit meint, zurück¬
schrauben. Freilich, fährt Gott fort, gibt es auch sympathische Zyniker.
Gleich dem bösartigen, haßt auch der edle Zyniker „die entlehnten Federn",
und er zieht sie aus, aber nicht ohne Sorge. Er liebt das Gute, nur durch die
Enttäuschungen, die er erlitten hat, ist er Zyniker geworden; er sieht sich durch
seine Erfahrungen gezwungen, die Menschen für schlechter zu halten, als sie
sich geben, aber um alles in der Welt möchte er keinen Menschen schlechter
machen; findet er wider Erwarten Gutes in einem, so freut er sich dessen.
Jagos grausame Zerstörungslust ist nun noch erotisch gefärbt. Am liebsten
würde er Desdemona selbst besitzen und seine Lüste an ihr befriedigen. Da
er dies nicht kann, „so müssen sie umgesetzt werden, auf anderm Wege ihre
Befriedigung finden; das Endziel aber bleibt dasselbe: diesem Weibe alle die
Qualen zu verursachen, gegen die ihre erhabnen Eigenschaften sie schützen
müßten; diese Eigenschaften zu durchbrechen, sie selbst niedergebrochen, geistig
zugrunde gerichtet und körperlich mißhandelt zu sehen, alles im denkbar
höchsten Grade; selbst alle diese Leiden zu verursachen und verursacht zu
haben — das ist Jagos Lust und Begierde", Was das Verbrechen betrifft,
das der Bösewicht an Othello begeht, so besteht es in dem ärgsten Vertrauens¬
bruch, den man sich denken kaun. „Man setze an Othellos Stelle die Menschheit,
und Jago ist der größte Verbrecher der Welt", denn die Menschheit kann
nicht leben ohne Vertrauen. Wie ein solcher Teufel entsteht, das ist nicht
leicht zu erklären, denn Jago ist leiblich und geistig gut begabt, hat sich Liebe
und Achtung erworben. In solchen Fällen muß eine ererbte krankhafte Dis¬
position, angeborne moral mög-nit^ angenommen werden.
Gotts Analysen sind sehr fein durchgeführt. Aber da Brutus, Cassius,
Macbeth und Richard leicht zu verstehn sind, so bleiben nur Lady Macbeth
und Jago übrig als Persönlichkeiten, über die manches Neue gesagt wird, das
nicht jedermann leicht selbst finden könnte. Darum sind nur deren Seelen¬
gemälde, als Neuschöpfungen, neben das von Falstaff zu stellen, das August
Müller im 7. und 8. Heft des Jahrgangs 1903 der Grenzboten entworfen hat.
Der scharfsinnige Psycholog zeigt dort, daß der Fettwanst keineswegs, wie
gewöhnlich angenommen wird, als komische Figur gedacht ist (feinern Seelen
ist seine Komik wohl schon immer verdächtig vorgekommen), sondern eine sehr
ernste Funktion zu erfüllen hat. Er wie Prinz Heinz sind Alkoholiker. Aber
der charakterschwache Ritter unterliegt dem Alkohol und sinkt zum Verbrecher,
zum Lumpen hinab, Heinrich dagegen überwindet vom gesunden Kern seiner
Seele aus den Leichtsinn, die Trägheit und Genußsucht seiner Jugendjahre
und arbeitet sich unter dem Eindruck, den ernste Ereignisse auf ihn machen,
zur ernstesten Auffassung und großartigsten Erfüllung seiner Regentenpflichten
empor. Der dicke Ritter dient also dem Helden der drei Dramen als Folie.
Zudem hat (nach Müller) Shakespeare in dem Zustande des Säufers das
klinische Bild eines solchen mit dem elenden Ausgang im Delirium tremens so
meisterhaft gezeichnet, wie es kein moderner Arzt besser könnte. Bedenkt man
nun, daß die heutigen Ärzte und besonders die Psychiater die meisten Ver¬
brechen auf den Alkohol zurückführen, so muß man sich eigentlich wundern,
daß Gott den Falstaff nicht wenigstens kurz erwähnt hat. denn seine Absicht
ist, den Kriminalpsychologen zu dienen. Professor von Liszt dankt im Namen
dieser Forscher dem Dänen und Kohler (dessen Buch „Verbrechertypen in
Shakespeares Dramen" ich nicht kenne) für die Hilfe, die sie jenen leisten.
Und Gott selbst führt in seiner Einleitung aus: da die neuere Kriminalistik
nicht mehr die Tat sondern die Person des Verbrechers zum Hauptgegenstande
der Betrachtung und Untersuchung mache, das Hauptgewicht auf die Frage lege,
wie die verbrecherische Persönlichkeit entstehe, um der Entstehung vorbeugen zu
können, so sei es zunächst geboten, Material für die Lösung dieser Frage zu
sammeln, psychische Krankenjonrnale anzulegen. Und obwohl man noch weit
von der endgiltigen Aufdeckung aller Verursachungsprozesse entfernt sei, die
menschliche Giftmikroben erzeugen, sei vorläufig wenigstens dieses eine erkannt,
daß Lombrosos geborner, an körperlichen Merkmalen erkennbarer Verbrecher
selten vorkommt. Die meisten „Verbrecher sind in ihrem Gedanken-, Gefühls-
nnd Willensleben nicht wesentlich verschieden von andern, sie sind im Gegenteil
Menschen wie wir alle". Das vorläufige Ergebnis des Streites der neuen
kriminalistischen Schule mit der alten scheint mir in der ziemlich allgemeinen
Anerkennung folgender Sätze zu bestehen. Daß alles menschliche Handeln durch
Motive bestimmt wird, die teils aus der eingebornen und ererbten Individualität
des Handelnden, teils aus Einflüssen seiner Umgebung entspringen, steht fest.
Aber die Frage, ob dann noch von Willensfreiheit die Rede sein könne, ist
für die juristische Praxis bedeutungslos. Der Strafrichter hat bloß danach zu
fragen, ob der Angeklagte aus seiner Natur heraus oder unter dem Zwange
äußerer Umstände und Einflüsse gehandelt hat; im ersten Falle ist er, wie
unabänderlich determiniert anch sein Verhalten gewesen sein mag, im juristischen
Sinne als frei und darum verantwortlich anzusehn, denn jedermann muß die
Folgen der Äußerungen seiner Natur tragen: den Tod durchs Richtschwert
ebensogut wie den durch Alkoholvergiftung, den ihm kein Richter verordnet.
Die Strafandrohungen sind gerade bei der Annahme strenger Motiviertheit
aller Handlungen zweckmäßig, weil die Furcht vor der Strafe ein Motiv ist,
verbotne Handlungen zu unterlassen, während es zwecklos wäre, mit Strafen
zu drohen oder durch Belohnungen zu locken, wenn der Durchschnittsmensch
absolut frei, willkürlich, ohne Rücksicht auf vernünftige Motive, das heißt
verrückt handelte. Daß wir nicht richten dürfen, weil wir es nicht können, weil
wir weder den Nächsten noch uns selbst durchschauen und Gott allein weiß, was
ein jeder wert ist und für seine Handlungen verdient, das haben uns schon
Jesus und Paulus gelehrt, und die heutige Biologie, Psychologie und Soziologie
bestätigen es. Darum hat die neue Schule recht, wenn sie nicht mehr die
Vergeltung, sondern nur noch den Schutz des Publikums und die Verhütung
des Verbrechens als Zweck der Strafrechtspflege gelten läßt. (Die Besserung
des Verbrechers, soweit sie möglich, ist in den genannten beiden Zwecken
enthalten.) Doch muß man Grabowsky recht geben, wenn er in seiner Broschüre
„Recht und Staat" davor warnt, die unzweifelhafte Wahrheit förmlich z»
proklamieren. Das Volk verlange einmal die Sühne der bösen Tat. „Nimmt
die moderne Schule auf dies Volksempfinden keine Rücksicht, so wird gerade
damit das Gegenteil von dem bewirkt, was bewirkt werden soll: Nechtsunsicher-
yeit statt Rechtssicherheit." Gerade darin sehe das Volk die Sicherung, daß
Gerechtigkeit geübt werde, jeder Untat ihre Sühne gewiß sei. Unter allem
Unvollkommnen dieser Erde mag nichts unvollkommner sein als die Angemessen-
heit der Strafen; die juristische Gerechtigkeit mag in den meisten Fällen schreiendes
Unrecht sein, aber daß überhaupt irgendwie durch Strafen Gerechtigkeit geübt
oder wenigstens angestrebt wird, das befriedigt das Rechtsgefühl der Masse und
gibt ihr zugleich ein Gefühl der Sicherheit. Das wichtigste aller Ergebnisse
dieser neuern Forschungen und Erörterungen aber besteht in der allgemein
verbreiteten Einsicht, daß Verhütung der Verbrechen die Hauptsache ist, daß
mit den Verbrechern, die man hat, nicht mehr viel anzufangen ist, daß aber
durch soziale Reformen und durch Fürsorgeerziehung der Entstehung neuer
Verbrechen vorgebeugt werden kann. Die sozialen Reformen sind nicht Sache
des Richters, an der Fürsorgeerziehung wirkt er nur insofern mit, als er sie
einzuleiten hat. Auch die Kenntnis der Genesis der Verbrechen, die aus dem
Studium der Lebensgeschichte wirklicher Verbrecher und von Schöpfungen seelen-
knndiger Dichter gewonnen wird, nützt eigentlich nur dem Pädagogen, dem
Geistlichen, dem Sozialpolitiker, nicht dem Richter. Höchstens, daß es dessen
Blick für mildernde Umstände schärft, aber an der Leitung des Strafprozesses
kauu es kaum etwas ändern.
Dagegen scheint mir etwas andres von großer Wichtigkeit für die Rechts¬
pflege zu sein, was Shakespeare vielfach illustriert, und woran weder Liszt
gedacht hat, noch einer der beiden von ihm gelobten Autoren, „der deutsche
Professor der Rechtswissenschaft und der dänische Polizeibeamte", nämlich: daß
das Verbrechen im juristischen Sinne keineswegs identisch ist mit dem Ver¬
brechen im ethischen Sinne. Ist denn Brutus überhaupt ein Verbrecher?
Er, dein Cieero zujubelt, der feinfühlendste Mensch, der tüchtigste Jurist, der
größte Staatstheoretiker seiner Zeit? Nicht im Gerichtshof, sondern auf dem
Schlachtfelde ist ja des Brutus Sache entschieden worden, und Gott selbst
meint, Hütte er gesiegt, so würde das Urteil der Geschichte wohl anders aus¬
gefallen sein; zwischen den historischen und den ethischen Urteilen gähne eine
unüberbrückbare Kluft; auf welche Seite man sich stellen solle, das könne nur
die Individualität eines jeden entscheiden. Gerade für den Juristen aber ist
die Frage bei politischen Verbrechen ein für allemal entschieden: er hat sich
auf die historische Seite zu stellen, die dem Erfolg recht gibt, auf die Seite
dessen, der im Augenblick die Macht hat. Und der war vorläufig Cäsar nicht,
denn dessen Macht war mit seinem Tode erloschen, seine Parteigänger aber
hatten sie erst in einem Kriege zu erringen. Cäsar, meint Gott, war zwar
ein Usurpator — das sei im Grunde genommen jeder Gewalthaber —, aber er
war doch nun einmal der Repräsentant der Gesellschaft; in der Verletzung der
Lebensinteressen der Gesellschaft besteht das Verbrechen; er war ein Bollwerk
der Gesellschaft gegen die drohende Rückkehr des Chaos. Aber die Republikaner
waren der Überzeugung, daß sich die Ordnung auch ohne Alleinherrscher mit
der republikanischen Verfassung, die sie als noch zu Recht bestehend ansahen,
aufrecht erhalten lasse. Diese Überzeugung war ohne Zweifel irrig, aber
solche Irrtümer können eben nnr durch den Gang der Geschichte widerlegt
werden. Auch nach Absetzung des bei Sedan gefangnen Napoleon haben die
Monarchisten ohne Zweifel die Anarchie für unvermeidlich gehalten, und der
Kommuneaufstand schien ihnen zunächst recht zu geben, allein nach dessen
Niederwerfung hat dann die Republik die Ordnung aufrecht zu erhalten ver¬
mocht und sich nun schon beinahe vier Jahrzehnte bewährt. Die Ordnung,
die der Richter schützt, ist eben nicht eine abstrakte, sondern eine konkrete, dio
et nunc, vorhandne Ordnung, eine Ordnung, die von ihrer Nechtsnachfolgerin
für grundschlecht erklärt werden kann; darum stimmt bei sogenannten poli¬
tischen Verbrechen das ethische Urteil mit dem historischen sehr oft nicht
überein. Ernst Moritz Arndt, einer der wenigen Menschen, deren politisches
Denken und Fühlen ganz und gar unter der Herrschaft eines sittlich geläuterten
Charakters stand, hat in seinem Kurzen Katechismus für teutsche Soldaten
die Frage, ob deutsche Soldaten solchen Fürsten, die auf der Seite Napoleons
kämpfen, Gehorsam leisten dürfen, mit einem klaren Nein beantwortet, hat sie
zum Bruch des Fahneneides aufgefordert und damit im juristischen Sinne
zweifellos Hochverrat begangen. Über die im Augenblick zu Recht bestehende
gesellschaftliche Ordnung hat er eine Jdealordnung gestellt, die gar nicht vor¬
handen war, und die auch heute noch nicht vollständig verwirklicht ist: die des
deutschen Volkes. Kronprätendenten, schreibt Gott, „die kraft eines wirklichen
oder vermeintlichen Rechtsanspruchs auf den Thron mehr oder weniger gewalt¬
same Mittel anwenden, ihr Recht geltend zu machen", seien, mit dem Ma߬
stabe ihres Zeitalters gemessen, keine Verbrecher. Ich kann aber zwischen
Richard dem Dritten, den er einen ganz gewöhnlichen Verbrecher nennt, und
den übrigen Kronprätendenten, Königsmördern und Königsmachern der Jork-
tetralogie keinen wesentlichen Unterschied finden; Richard zeichnet sich vor den
andern nur durch größere Gewissenlosigkeit, Herzlosigkeit und Bosheit aus,
und auch er (ebenso Macbeth) ist nicht auf der Richtstatt, sondern auf dem
Schlachtfelde gerichtet worden. Diese Tetralogie zeigt uns eine Gesellschaft,
deren Machthaber geradezu die Verkörperung des Unrechts geworden waren,
sodaß, ihnen nicht gehorchen und die in ihrem Namen gesprochn«« Urteile
nicht achten, sittliche Pflicht erscheinen konnte.
Shakespeare — das ist der einzige große Fehler, den man ihm vorwerfen
kann — empfand so aristokratisch, daß er den Geruch des Volkes nicht ver¬
trug und es gewöhnlich als einen rohen und gemeinen Haufen von elovns
darstellt; nur in den Luftiger Weibern feiert er Bttrgertüchtigkeit einem ver-
kommnen Adelssprößling gegenüber, und in einigen Schäferszenen läßt er auch
dem Landvolk einigermaßen Gerechtigkeit widerfahren. Aber im dritten Teile
von Heinrich dem Vierten (5. Szene des 1. Auszugs) deutet er doch an, daß
die Grundlagen der sittlichen und damit auch der Staatsordnung nur noch
im niedern Volke zu finden seien, das der von oben eindringenden Zerrüttung
und Verderbnis noch widerstrebe. Er läßt einen Sohn und einen Vater
auftreten, jeden mit der Plünderung eines von ihm Erschlagnen beschäftigt.
Jener entdeckt in seinem Opfer den Vater, dieser den einzigen Sohn. Jeder
von beiden bricht in Jammern aus über die unwissentlich und unter dem
Druck von oben begangne Untat und verwünscht die Anstifter und An¬
führer des Bürgerkrieges:
O schlimme Zeit, die solch Beginnen zeugt!
Aus London ward vom König ich gemahnt!
Mein Vater, als Vasall des Grafen Warwick,
Von dem gemahnt, kam auf der Dorischen Seite.
Und ich, der ich von seiner Hand das Leben
Empfangen, raubt es ihm mit meiner Hand.
Verzeih mir, Gott, nicht wußt ich, was ich tat.
Die englische Geschichte jener Zeit, die Shakespeare erzählt, stimmt ja
nun nicht ganz mit der wirklichen, aber an Wildheit, Grausamkeit und Gesetz¬
losigkeit gibt diese jener nichts nach. In der ersten Hälfte des Mittelalters
hat die Religion Jesu die wilde Selbstsucht der Großen gebändigt und
namentlich eine Reihe deutscher Könige zu Musterregenten erzogen. Aber das
Organ dieser Religion, die Kirche, versagte, je länger desto mehr. Zu Macht,
Glanz und Reichtum gelangt, wurde sie nicht allein selbst ungerechte Unter¬
drückerin und Ausbeuterin, sondern erfand, dem Fanatismus und dem Aber¬
glauben ergeben, neue abscheuliche Formen der Ungerechtigkeit; und nicht bloß
im englischen Bürgerkriege, sondern auch in der Kriegsführung und in der
Kriminaljustiz ganz Europas wurde das unter den Vorwänden des Rechts,
des Staatswohls und des Seelenheils verübte Verbrechen die Regel, ein Zu¬
stand, der im Orient, annähernd auch in bekannten Gegenden „Halbasiens",
bis heute herrscht. Das eigentliche Europa daraus zu erlösen, haben zusammen¬
gewirkt: das von der französischen Revolution angebahnte Verfassungsleben,
das die Regierungen unter die Kontrolle der Völker stellt (darin, in der
Wiederherstellung der alten Stünderechte in einer neuen Form, in der Kon¬
trolle der Regierungen, nicht in der unmöglichen „Selbstregierung" der Völker
liegt das Wesen der Konstitutionen), und die moderne Technik, die der Kon¬
trolle die Presse als kräftiges Organ schafft und der Zentralgewalt die Mittel
verleiht, die Ordnung des Rechtsstaats auch in einem großen Gebiet gegen
den Willen kleiner Tyrannen durchzusetzen. Die zweite Reform war schon
unter dem Absolutismus, bei noch unvollkommner Technik, von einzelnen aus¬
gezeichneten Monarchen eingeleitet worden. Beide Reformen zusammen haben
die äußern Bedingungen geschaffen, unter denen die natürliche sittliche Anlage
der Masse sich entfalten und der ihr zu Hilfe kommende Einfluß der Religion
wirksam werden kann.
Damit hat die sogenannte Justiz wenigstens aufgehört, das Werkzeug
und die Verkörperung der Ungerechtigkeit zu sein. Aber daß sich ihr Wirken
mit der Erfüllung ethischer Forderungen vollständig decke, das ist damit noch
nicht gegeben, ja es ist im allgemeinen nicht möglich, weil jeder bestehende
Rechtszustand zu seiner Aufrechterhaltung besondrer Maßregeln bedarf, die nicht
alle ethisch gefordert sind, unter Umständen sogar mit ethischen Forderungen
in Widerspruch geraten können, was natürlich soviel wie möglich vermieden
werden soll. Im juristischen Sinne ist Vergehen oder Verbrechen alles, was
die Gesetze verbieten, und die Gesetze ändern sich mit den Bedürfnissen des
Staates. Unter allen Missetätern, die uns Shakespeare vorführt, finde ich
nur einen, der in allen Staaten alter und neuer Zeit verurteilt worden wäre,
den Schelm Autolytus im Wintermürchen, und gerade der erregt selbst des
strengsten Staatsanwalts Lachlust eher als seine Entrüstung (mit mehr Recht
als Falstaff, an dem sich nur rohe Gemüter ergötzen können, oder gar
Petrucchio. Es gereicht dem deutschen Publikum nicht zur Ehre, daß die
Zähmung der Widerspenstigen, ein nach meinem Geschmack dummes und des
großen Dramatikers unwürdiges Stück, das einzige seiner Stücke ist, das
kleinere Bühnen manchmal aufführen). Autolytus analysiert sich selbst. Er
ist „unter dem Merkur geworfen". Nachdem er den jungen Schäfer bestohlen
hat, beschließt er, das Schafschurfest zu besuchen, und „wenn ich die Scherer
nicht zu Schafen mache, so möge man mich ausstoßen und meinen Namen
auf das Register der Tugend setzen". Den jungen Schäfer hat nur seine
Gutmütigkeit zum Schafe gemacht, die übrigen werden ihm von Eitelkeit,
Neugier und Lüsternheit in die Schlingen getrieben. Er erscheint als Hausierer,
wird seinen ganzen Plunder los; „sie drängten sich danach, als wenn alle
meine Lumpereien geweiht wären und dem Käufer Segen brächten". Dabei
sieht er, wessen Börse das beste Ansehen hat. Dann verteilt er Dirnenlieder
und lehrt die Melodie: „Das zog die ganze Herde so zu mir, daß alle
ihre übrigen Sinne in die Ohren steckten; man konnte ihnen die Schnürbrust
lüften, den Beutel vom Leibe schneiden, sie merkten nichts." Und nachdem
er mit Florizel ein glänzendes Geschäft gemacht, und dieses ihm zu weitern
glänzenden Geschäften verholfen hat, schließt er: „Wenn ich auch Lust hätte,
ehrlich zu sein, so sehe ich doch, das Schicksal will es nicht; es läßt mir die
Beuteln den Mund fallen." Ist der Kerl nicht ein vortrefflicher Repräsentant
der großen Zunft derer, die sich auf das muncius ckkvipi berufen? Die
meinen, es sei ja geradezu unrecht, nicht zu nehmen, was die Dummheit so
freigebig spendet, einer Zunft, die nicht aussterben kann, weil die Dummen
nicht alle werden? Einer Zunft, die sich in unsrer Zeit um die interessante
Gesellschaft der Gründer, der Universalmittelfabrikanten, der Neklamevirtuosen
bereichert hat, und die sich nach mancher Leute Meinung rühmen darf, die
Hochmögenden der Vereinigten Staaten zu Vorstehern zu haben? Auch bei
einer „feinen Ptene" pflegen ja die Heiterkeit über die Dummheit der Ge¬
schädigten und die Schadenfreude den Unwillen über den Betrüger zu über¬
wiegen. sodaß also im allgemeinen Handlungen, die im juristischen Sinne
zweifellos Verbrechen sind, in minderen Grade sittlichen Abscheu erregen als
die Mordtaten hochgestellter Gewaltmenschen, für die es weder Richter noch
richterliche Beurteilung gibt. (Auch der König im Hamlet und Hamlet selbst
gehören zu ihnen.) Diesen Mördern nahe stehn ihre Werkzeuge: Halbschurken,
die von ihren Gebietern gezwungen oder verlockt Verbrechen begehn. Einer
von diesen liefert Shakespeare den Stoff zu einer Szene, die mir als die
Krone aller seiner Schöpfungen erscheint: die Szene zwischen Hubert und
Arthur im König Johann. Ein roher Henker, überwunden durch die von der
Angst eingegebne Beredsamkeit eines unschuldigen Kindes! Wie ehrt es
Shakespeares Herz, daß er einen solchen Erfolg als möglich hinstellt in einer
Zeit, wo Richter auf den wahnsinnigen Verdacht der Hexerei hin kleine Kinder
foltern und lebendig verbrennen ließen! (Überhaupt muß man sich über die
Zartheit und Zärtlichkeit wundern, die einen so hervorstechenden Charakterzug
Shakespeares ausmachen; der Roheit seiner Zeit zahlt er seinen Tribut mit
derben Späßen und reichlichen Mordtaten.) In welchem Grade der Begriff
des Verbrechens von der Gesetzgebung abhängt, zeigt „Maß für Maß". Nicht
die liederlichen jungen Edelleute, die Lucio repräsentiert, faßt das harte Gesetz
des Lord Angelo, sondern Claudia soll sterben, dessen Gewissensehe noch ent¬
schuldbarer ist als die Goethes. Sie ist ganz mein Weib, sagt er von
seiner Julia:
Nur daß wir noch bisher nicht kund getan
Den Stand nach außen hin, dies unterblieb
Um einer nicht bezahlten Mitgift willen,
Die noch in der Verwandtschaft Truhen liegt.
Angelo aber ist eine der für die Kriminalpsychologen ergiebigsten Gestalten
des Dichters, weil an ihm gezeigt wird, wie sich ein edler und ohne Heuchelei
sittenstrenger Mann zu einem wirklichen Sittlichkeitsverbrechen schlimmster Art
hinreißen läßt, das auch von der heutigen Justiz als solches behandelt werden
würde. Und er begeht es fast unmittelbar nach der Abweisung des Escalus,
der für Claudio bittet. „Ein andres ist, versucht sein, Escalus, ein andres
fallen." Und er selbst fällt bei der ersten Versuchung!
Ja, Shakespeare ist unerschöpflich, aber doch für ethische Untersuchungen
nicht ganz ohne Vorsicht zu benutzen. Sollen poetische Schöpfungen für solche
brauchbar sein, dann muß der Schöpfer selbst gesund empfinden, muß uns
die guten Charaktere so darstellen, daß sie uns sympathisch sind, die bösen
und schlechten so, daß sie unsern Abscheu oder unsre Verachtung hervorrufend
Das ist bei Shakespeare im allgemeinen, aber nicht ausnahmslos der Fall.
Er mutet uns Teilnahme für Timon von Athen zu, den Undank in Menschen¬
haß hineintreibe, malt ihn aber nicht als vernünftigen und edelmütigen Wohl¬
täter, sondern als verrückten Verschwender und Züchter von Schmarotzern.
Ähnlich Verhaltes sich mit König Lear, dem Altersnarren. Und im Kaufmann
von Venedig sollen wir den Shylock verabscheuen, verachten und verlachen,
dessen Haß gegen Antonio durch die verächtliche Behandlung, die er von
diesem erduldet, gerechtfertigt erscheint, sollen dagegen nicht allein für Antonio
und Porzia Partei nehmen, sondern auch für die jungen Herren ihres Hof¬
staats, deren ganzes Verdienst darin besteht, daß sie hübsch und witzig sind
und mit gepumptem und geschenkten Gelde elegant zu leben verstehn, und
von denen einer mit seiner Liebsten zusammen an deren Vater einen gemeinen
>s gibt Länder, die ihre natürliche Lage von vornherein dazu
berechtigt, eine führende Rolle in der fortlaufenden Entwicklung
der Völker zu spielen. Um so verwunderlicher ist es deshalb,
daß sie die ihnen von selbst zugefallne Aufgabe nicht erfüllen,
Ija sogar hinter weit weniger begünstigten Landstrichen in Be¬
ziehung auf Fortschritt und Kultur zurückbleiben. Kaum irgendwo anders
tritt dies vielleicht deutlicher als in Apulien vor. Schien doch diese Südost¬
spitze Italiens, da sie sich am weitesten der Balkanhalbinsel entgegenstreckt,
schon im Altertum dazu bestimmt, als natürlicher Übergang den von Osten
nach Westen vordringenden Bildungs- und Gesittungsstrom aufzunehmen. Und
doch ist die Kolonisation Süditaliens durch die Griechen von Sizilien und
Kalabrien aus erfolgt, obgleich dort die tiefeingerissenen Bergküsten dem
Schiffer weit mehr Schwierigkeiten zum Landen darboten als der flache,
sandige Strand Apuliens. Es mag dies zum Teil wohl in den Verhältnissen
des Landes, vor allem in seiner großen Wasserarmut begründet liegen. Denn
der karstartige, von Höhlen und Grotten durchfurchte Boden saugt dort im
Frühjahr rasch die vom Himmel herabstürzenden Wassermassen, die meisten der
von den Bergen des Apennin kommenden Flüsse ein, sodaß diese Sommers
über, wo eine wahrhaft tropische Hitze herrscht, weiten Schutt- und Stein¬
halden gleichen, zwischen denen sich höchstens ein dünner Silberfaden müden,
trägen Laufs nach dem Meere schleppt. Aber wenn auch diese Wasserarmut
aus dem nördlichen Apulien mit seinem meist offen zutage tretenden Gestein,
vor allem aus der weiten Ebene südlich vom Garganusgebirge, eine öde, un¬
fruchtbare Steppe gemacht hat, die nur im Winter als Weideplatz für das
vom Apennin herabkommende Vieh benutzt werden kann, so zeigt sich die
Gegend überall da, wo rötliche Fruchterde den felsigen Boden deckt, besonders
zwischen Barletta und Bari, in einen blühenden Garten verwandelt, der im
Altertum schon neben Sizilien als die Kornkammer Italiens galt, und der
auch jetzt noch das Hauptausfuhrgebiet Italiens an Wein und Olivenöl ist.
Um so mehr fällt daher die Öde und Stille, der Mangel menschlicher Wohn¬
stätten in diesen von Nebengarten, Olivenhainen und Baumwollenkulturen
förmlich übersponnenen Strecken auf. Nur da, wo sich das wellige Gelände,
das landeinwärts der einförmig fortlaufende Gebirgskamm der Le Murgie und
dahinter die Pyramide des längst erloschnen Vulkans Vulture begrenzt, hier
als flache Sandbank, dort als eine niedere, von Grotten durchfurchte Mauer
nach dem Meere senkt, haben sich, Schwänen gleich, blühende, weißschimmernde
Städte hingelagert. Man könnte sich beim Anblick dieser blendenden, flach¬
gedeckten Häuserreihen, zwischen denen niedere Kuppeln, schlanke minaretähn¬
liche Türme emporragen, in des Orients bunte, fremdartige Welt versetzt
glauben, wären nur jene hohen, finstern Kirchenmauern, jene dräuenden Zwing¬
burgen nicht, aus denen klar der Geist abendländischen Kirchenregiments und
mittelalterlich-nordischer Feudalherrschaft zu uns redet. Sie alle sind in jenen
Tagen entstanden, wo Apulien unter der Herrschaft der Normannenkönige aus
dem Hause Hauteville und ihrer Nachfolger, der Hohenstaufen, ein einziges«
mal eine führende Rolle in der Geschichte der Völker gespielt hat. Kein Wunder
darum, daß dort unten die Namen eines König Rogers, eines Kaiser Friedrichs
des Zweiten und seines unglücklichen Sohnes Manfred noch immer voll Ehr¬
furcht und Dankbarkeit, fast wie die Personifikation des goldnen Zeitalters,
von Geschlecht zu Geschlecht fortklingen.
Man mag über die Art, wie sich die Normannen als eine von Jerusalem
heimkehrende Pilgerschar durch List und persönliche Tapferkeit nach und nach
in den Besitz des damals von innern Zwistigkeiten zerspaltnen Landes gesetzt
haben, denken, wie man will, fest steht jedenfalls, daß ihm damit im großen
und ganzen eine Wohltat sondergleichen geschah. Denn zum erstenmale, seit
es im sechsten Jahrhundert Goten, später Langobarden, Byzantiner und Deutsche
um seinen Besitz ringen, ja im neunten Jahrhundert auf den Zinnen seiner
Städte sogar die Fahne des Propheten aufpflanzen sah, durste es sich unter
dem kraftvollen Zepter seiner neuen Herrscher einer ungeahnt raschen Entwicklung
erfreuen. Besonders hob sich unter der verständigen Finanzwirtschaft der ersten
Normannenfürsten der Reichtum und das Ansehen der Städte. Nicht nur die
an der Küste liegenden, so Tram, Brindisi, Giovinazzo, Molfetta, Biscegli,
Bari, blühten infolge der nun regern Handelsbeziehungen mit dem Orient
empor, auch landeinwärts erlangten Andria, Corato, Bitonto, Terlizzi eine er¬
höhte Bedeutung, besonders als Kaiser Friedrich der Zweite, der Erbe des
Normännenthrons beider Sizilien, seine Residenz von Palermo nach dem sonnigen
Apulien verlegte.
Mit solchen Zeiten des politischen und wirtschaftlichen Aufschwungs geht
auch gewöhnlich ein solcher auf dem Gebiete der Kunst Hand in Hand. Es
kann deshalb beinahe als etwas selbstverständliches erscheinen, daß alsbald
in Apulien eine rege Bautätigkeit begann. Werke wurden dadurch ins Leben
gerufen, die zwar nicht zu Staunen und Bewunderung fortreißen, wie jene
gleichzeitigen, auf feinsten, sinnlichen Lebensgenuß berechneten Lustschlösser der
Normannenherrscher oder die von Gold und Mosaik strotzenden sizilianischen
Dome von Cefalü, Monreale oder die Capella Palatina in Palermo, die aber
durch den schlichten Ernst und den hohen, konstruktiven Gedanken, dem sich
alles Dekorative als Beiwerk unterordnet, eine tiefe, nachhaltige Wirkung auf
unser Gemüt ausüben. Zu besonders großartigen Schöpfungen hat man sich
damals in der Terra ti Bari, jenem Landstrich zwischen Barletta und Bari
erhoben, der an sich durch die Fülle blühender Städte, den fruchtstrotzenden
Boden, mehr aber noch durch das kirchliche Übergewicht seines Erzbischofs
über die andern Diözesen, den natürlichen Mittelpunkt von ganz Apulien bildet.
So mußte es kommen, daß die dortigen Kirchenbauten den aus den hetero¬
gensten Elementen gemischten apulischen Stil jener Tage am reinsten wieder¬
geben und so als dessen ureigenste Vertreter zu gelten haben.
Früher als irgendwo anders wurde ja auch zu Bari, kurz nach der Ver¬
treibung des oströmischen Statthalters im Jahre 1043, mit dem Neu- und
Umbau der aus byzantinischer Zeit stammenden Kirchen begonnen. Leider ist
davon nichts bis auf unsre Tage gekommen; vermutlich aber hat man dabei
schon den römischen Basilikenstil in Anwendung gebracht, den die an Stelle
der griechischen Mönche Fuß fassenden Benediktiner in Apulien eingeführt
haben mochten. So erklärt es sich wenigstens am einfachsten, daß wir keinen
Kirchenbau griechischen Stils in der Terra ti Bari mehr vorfinden. Denn
der etwa aus dem Jahre 1101 stammende Dom von Canosa, der in seinem
durch fünf Kuppeln gedeckten Innern noch die meiste Anlehnung an griechische
Vorbilder verrät, weiß dieses schon in höchst origineller Weise mit der la¬
teinischen Langhausanlage zu verbinden. Noch weniger gehört der etwa ein
Jahrhundert später aufgeführte Dom von Molfetta und die von ihm abhängigen
Kirchen in der dortigen Umgebung mit ihrem durch drei Kuppeln gedeckten
Mittelschiff der byzantinischen Bauweise an. Schon Quast hat auf die Ähn¬
lichkeit dieser Anlage mit aquitanischen Kirchen hingewiesen. Und in der Tat
hat ja auch der französische Orden der Kluniazenser gleich dem der Zisterzienser
in gotischer Zeit ans die gesamte Kunst des Abendlands und so auch auf
Apulien einen tiefgreifenden Einfluß ausgeübt. Aber darum den apulischen
Baustil überhaupt auf französische Vorbilder zurückzuführen, wie es neuerdings
meist geschieht, geht doch nicht an. Denn wahrscheinlich haben schon die früh¬
christlichen Metropolen des Orients, die ja bereits im sechsten Jahrhundert die
wesentlichen Bestandteile des romanischen Stils, ja sogar das Motiv des
Chorumgangs mit daran sich schließendem Kapellenkranz kennen, durch ihre
Mönche nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Allerdings kann bei dem Mangel an
größern Baudenkmälern in Apulien aus dem ersten Jahrtausend und bei der
oft überraschenden Übereinstimmung der französischen Kirchen mit jenen früh¬
christlichen in Kleinasien und Syrien nicht mehr entschieden werden, welche
Motive dem Orient, welche Frankreich entsprangen. So finden sich zum Bei¬
spiel die Kryptenanlagen, die bei keiner apulischen Kirche fehlen, und die bisher
als eine spezifisch nordische, über Frankreich in Apulien eingedrungne Bauform
galten, schon an kleinasiatischen und syrischen Kirchenruinen des sechsten Jahr¬
hunderts vor. Ebenso begegnen wir dem außen viereckigen Chorabschluß, den man
früher für eine normannische, von England nach Apulien verpflanzte Eigenart
hielt, an den kleinen byzantinischen Steinkirchen von S. Croce Camerina in
Sizilien, die nach Orsi (Byzantinische Zeitschrift VII, 1898, S 1f.) aus dem
sechsten oder achten Jahrhundert stammen. Noch mehr weisen die primitiven,
unterirdischen Andachtstätten griechischer Mönche in Apulien, besonders in der
Art, wie sich die roh aus dem Gestein herausgehauene Felsennische an den
Pfeilergestützten Vorraum schließt, auf die Abhängigkeit von den Höhlenkirchen
Kleinasiens hin.
Gehn wir nun näher auf die Betrachtung der einzelnen Kathedralen in
der Terra ti Bari ein, so fällt uus sofort auf, daß fast allen ein gemeinsamer
Plan zugrunde liegt. Das Vorbild dazu hat offenbar Baris älteste Kirche
S- Nicola abgegeben, mit deren Bau man schon im Jahre 1087 begann, um
den damals vom fernen Lycien nach Bari gebrachten Gebeinen des heiligen
Nikolaus eine würdige Unterkunft zu bereiten. Dieser Heilige, der für einen
Bischof von Myra unter Konstantin dem Großen gilt, hat von jeher bei dem
Volke hier unten die größte Verehrung genossen. Ja sein Kult reicht wahr¬
scheinlich bis in die ferne Heidenzeit zurück, da er vermutlich an Stelle des
Meeresbeherrschers Neptun in seiner Eigenschaft als Beschützer der Schiffer
und ihrer schwanken Fahrzeuge trat. San Nicola zu Bari ist daher zu
einem Hauptwallfahrtsort des Schiffervolks von Süditalien geworden, das dem
Heiligen heute noch wie vorzeiten zum Dank für Errettung aus Sturm- und
Wassersuot Seestücke und kleine Fahrzeuge weiht, wie sie zu Dutzenden an
einer Säule in der dortigen Krypta hangen. Dem hohen Ansehen, das dieses
Heiligtum genoß, ist es wohl auch zu danken, daß es König Wilhelm der
Böse, der Sohn Rogers, verschonte, als er im Jahre 1156 die Stadt Bari
infolge eines Aufruhrs ihrer Bürger zerstören ließ. So kommt es, daß San
Nicola getreuer als irgendeine andre Bareser Kirche, sogar als der nur wenige
Jahrzehnte nach ihm entstandne Dom, das Bild der mittelalterlichen apulischen
Kirchenanlage wiedergibt. In seinem Äußern, besonders in den hochaufgeführten
bräunlichen Quadermauern haftet ihm etwas Düsteres, ja nordisches an. Und
in der Tat ist ja mich die geringe Gliederung der Fassade, die eigentlich nur
»ach einer Betonung der vertikalen statt der horizontalen Linie strebt, nicht
der Anschauungsweise des Südländers, sondern der der germanischen Völker
entsprungen. Möglich, daß die Gliederung durch zwei Wandpfeiler, wodurch
die Einteilung des Innern in drei Schiffe klar zum Ausdruck kommt, den Lango¬
barden zugehört, deren Anschauungen dadurch, daß dieses Volk jahrhunderte¬
lang Italien beherrschte, länger und nachhaltiger als die irgendeines andern
germanischen Stammes auf die Entwicklung der italienischen Baukunst einge¬
wirkt haben müssen. Besonders für Unteritalien, wo erst der berühmte Nor¬
mannenfürst Robert Guiskard um die Mitte des elften Jahrhunderts die letzten
Langobardenherrscher, die kleinen Fürsten von Salerno und Capua verdrängte,
dürfte ihr Einfluß nicht von der Hand zu weisen sein. Zeugnis dafür legen
die vielen Flechtwerkmotivc ab, die, der langobardischen Kleinkunst entstammend,
häufiger und länger als sonst irgendwo in apulischen Kirchen als Schmuck an¬
gebracht wurden. Auch wird es kaum ein Zufall sein, daß die gleiche Fassaden¬
gliederung in den am meisten von langobardischen Elementen durchsetzten Teilen
von Oberitalien wiederkehrt, wie ja überhaupt die oberitalienische Kunst im
Gegensatz zu Mittelitalien eine auffallende Ähnlichkeit mit der Apuliens zeigt.
So treten uns hier wie dort an den Fassaden die durch Blendbogen verbundnen
Arkaden und Doppelfenster, dieselben von Löwen getragnen Portale, die Fenster¬
rosen und der durch Halbkreisbogcn verzierte, dreieckige Giebel entgegen. Dieser
letzte gehört allerdings auch der normannischen Bauweise an und kann des¬
wegen ebensogut von dorther in die apulische Kunst eingedrungen sein. Ohne
Zweifel geht auch die Aufführung von Türmen an der Fassade und an der
Ostseite auf die Normannen zurück, da der Italiener ja nur den mit der Kirche
nicht organisch verbundnen Campanile kennt. Leider aber weist keine Kathedrale
in der Terra ti Bari diesen größten Schmuck nordischer Kirchen in seiner
Vollendung auf. Denn während San Nicola nur die beiden Westtürme und
diese nicht einmal fertig zeigt, sind an den Domen zu Bari, Ruvo, Bitonto,
Molfetta usw. nur die Osttürme ausgeführt. Auch stoßen sie nicht wie an
den stolzen rheinischen Domen oder zu Cefalü in Sizilien an die Apsis,
sondern von dieser weit abstehend an das Querhaus an, sind aber mit jener
durch eine gerade fortlaufende Mauer verbunden, wodurch der ganze Anblick
etwas ungemein Schwerfälliges, fast Trotziges erhält. Außerdem füllt auch der
Turm über die Vierung, diese vorzüglichste Zierde normannischer Bauten in
Frankreich, weg. Seine Stelle nimmt am Dom zu Bari eine Kuppel ein, die
man auch bei San Nicola in Aussicht genommen hatte. Doch wird man ihren
Wegfall kaum zu beklngeu haben, da die Domkuppel in ihrer an arabische
Moscheen erinnernden Form, dem achteckigen, säulengeschmückten Tambour und
der niedern Kalotte eigentümlich fremdartig, ja stilwidrig auf dem nordisch ernsten
Bau wirkt.
Weniger klar als das Äußere spiegelt das Innere von San Nicola den
Kirchenbaustil der Terra ti Bari in seiner Blütezeit wieder. Denn es ist so¬
wohl durch einen häßlichen, weißen Kalkbewurf als durch drei das Mittelschiff
durchsetzende Querbogen entstellt, die man aufgeführt hat, als das altehr-
würdige Denkmal im vierzehnten Jahrhundert infolge eines heftigen Erdbebens
zusammenzubrechen drohte. Die alten Formen lassen sich aber trotzdem noch
deutlich erkennen, deutlicher jedenfalls als im dortigen Dom, den man im sieb¬
zehnten Jahrhundert in unverständiger Weise modernisiert hat. Diesem Schicksal
ist übrigens kaum eine der cipulischen Kathedralen entgangen. Mit die größten
Verunglimpfungen weist der Dom von Andria, jene wahrscheinlich unter Kaiser
Friedrich dem Zweiten entstandne Schöpfung auf, deren Krypta die Leichen
seiner beiden Gemahlinnen Jolanthe von Jerusalem und Jsabella von England
aufgenommen hat. Unter den verschnörkelten Stuckornamenten, dem in schreienden
Weiß und Lila ausgeführten Anstrich treten die großen, schönen Verhältnisse
der fünfschiffiger Anlage fast gar nicht hervor. Der Gipfelpunkt der Geschmack¬
losigkeit aber wurde in der Kathedrale von Trani erreicht, jener größten und
schönsten der apulischen Kirchen, deren grauweiße Sandsteinmauern so weithin
über die tiefblaue Meeresfläche schimmern. Vierzigtausend Dukaten ließ es
sich Trans Erzbischof ti Frcmci im Jahre 1834 tosten, um das Innere mit
einem rosenroten, marmorartigen Bewurf und barvckartigen Stuckverzierungen
zu überziehn. Zum Glück aber hat selbst diese Barbarei nicht ganz den über¬
wältigenden Eindruck verwischen können, den der weiträumige Säulenbau mit
seinen malerischen Durchblicken, den Emporengalerien und der schwindelnd hohen,
künstlerisch ausgemalten Decke macht.
le Gesellschaft zur Pflege usw. beobachtete diese Vorgänge Statuten«
gemäß mit gespannter Aufmerksamkeit. Sie hatte jedoch für die Oper
nur ein mitleidiges Lächeln. Wie konnte man diese Singspielchen
ernst nehmen, die schon die Mütter und Großmütter des gegen¬
wärtigen Geschlechts amüsiert hatten. Geht man denn in das Theater,
I pflegt man denn Kunst, um sich zu amüsieren? Und Flotow,
Lorzing. Rossini, Boieldieu, verbundne Sterne, Helden einer Zeit, in der man Arien
und Rezitative schrieb. Ein einziges: „Winterstürme wichen dem Wonnemond"
aus dem Munde eines Bayreuther Meisters wiegen ja sieben Barbiere von
Sevilla auf.
Man faßte einen Beschluß, der protokollarisch festgelegt wurde, dahingehend,
daß die Gesellschaft zur Pflege usw. die Veranstaltung von „Bayreuther Tagen" in die
Hand nehmen werde. Dazu brauchte man natürlich das neue Theater. Man
zweifelte nicht daran, daß der Direktor erfreut sein werde, sein Theater zu einer
Stätte hehrer Kunstübung gemacht zu sehen, und der Herr General übernahm es,
die Verhandlungen mit dem Direktor zu führen.
Er begab sich also steifbeinig, aber leutseligen Gemüts zum Direktor in das
Theaterbureau. Der Herr Direktor empfing Seine Exzellenz in der Haltung eines
Diplomaten alter Schule, der sich anschickt, mit dem Gesandten eines befreundeten
Staates in Unterhandlungen zu treten, und bewahrte eine überaus feine und
reservierte Haltung.
Sie haben versprochen, Herr Direktor, sagten Exzellenz, daß Sie uns von
Zeit zu Zeit auch eine Oper bieten wollten.
Ich glaube sagen zu können, erwiderte der Direktor mit einem feinen, aber
etwas steinernen Lächeln, daß ich mein Versprechen gehalten habe.
Oper, na ja Oper! rief General Kcimpffer, Sie haben uns da ein paar Sing¬
spiele aufgeführt. Aber mit so etwas kann sich doch ein moderner, gebildeter Mensch
nicht für befriedigt erklären. Waffenschmied, Weiße Dame, ich bitte Sie, das waren
doch schon alte Sachen, als unsre Mütter noch jung waren.
Der Direktor nahm einen Ausdruck unendlicher Feinheit an, steckte die Hand
in den Busen und sagte: Es bleibt nnr zu erwägen, Exzellenz, ob das Neue immer
das Gute und das Alte immer das Schlechte ist.
Ich will Ihnen sagen, Direktor, erwiderte Exzellenz, warum Sie für das
Alte schwärmen. Weil es geschäftliches Allgemeingut ist, und weil Sie dafür keine
Dichtertantiemen zu zahlen haben. Aber Sie können doch unsereinem nicht zumuten,
dieses alte Klingling mit anzuhören. Wagner, Herr Direktor, Wagner! Da steckt
was drin. Das nimmt den Menschen mit. Das ist Nasse, das ist Leben, das ist
Musik. Wir haben eine Gesellschaft gegründet zur Förderung von Musik- und
Theaterangelegenheiten. Wir haben beschlossen, Bayreuther Tage zu veranstalten.
Wir wollen Ihnen zeigen, was eine Harke ist. — Hier wurde der Direktor tief
ernst und blickte die Welt an mit den Augen Hamlets, als er eine Seins- oder
Nichtseinsfrage stellte. — Wir wollen verstärktes Orchester haben, fuhr der General
fort, wir wollen erste Kräfte heranziehen. Dazu brauchen wir Ihr Theater. Wir
wollen es nicht umsonst haben. Was beanspruchen Sie?
Tausend Mark, sagte der Direktor so kühl und gleichgiltig, als wenn er um
Feuer gebeten hätte.
Tau—tausend Mark. Herr, sind Sie . . . Tausend Mark?
Kauns nicht billiger machen.
Exzellenz griffen nach ihrem Hute. Es scheint, sagten sie, Sie wollen sich
einen Scherz mit uns erlauben, brachen die Verhandlung ab und zogen ab, während
der Direktor bis an die Tür folgte und drei tiefe Verbeugungen machte.
Jetzt kam Frau von Seidelbast selbst angeranscht. Der Direktor empfing
sie als Kavalier und niente Bolingbrook, wie er mit der Königin Anna von
Politik sprach.
Ich höre, sagte Frau von Seidelbast, daß Sie für die Benutzung Ihres Theaters
an einem Abend tausend Mark fordern. Ist das nicht unerhört viel?
Der Direktor stellte eine einzige Figur des Bedauerns dar und erwiderte: Ich
bin todunglücklich, gnädige Iran, aber ich kann es nicht billiger machen.
Aber was kostet es Sie denn, wenn Sie uns das Theater einen einzigen
Abend überlassen, da Sie ja doch nicht täglich spielen.
Sie verderben mir, sagte der Direktor, indem er mit trübem Blicke in eine
dunkle Ferne schaute, Sie verderben mir das Geschäft auf mindestens vier Wochen.
Und das kostet mich mindestens tausend Mark.
Geschäft, Geschäft! rief Frau von Seidelbast. Da, wo die Kunst gebieterisch
ihr Recht fordert, da darf von Geschäft doch nicht die Rede sein, da muß man
auch ein Opfer zu bringen bereit sein.
Der Direktor wurde ganz Shylock. Ich kanns nicht finden, sagte er, ich kanns
nicht finden. Jede Kunst hat ihre geschäftliche Unterlage. Wenn ich nicht ver¬
diene, was ich an Gagen und Unkosten zu zahlen habe, kann ich weder etwas
Klassisches noch Unklassisches herausbringen. Sie stören meine Kreise. Sie fördern
nicht, sie hindern die Kunst. Warum soll ich zu diesem Zwecke Opfer bringen?
Frau von Seidelbast war weit davon entfernt, sich überzeugen zu, lassen; sie
unternahm vielmehr noch drei Stürme auf den Direktor, einen auf sein gutes Herz,
einen auf seine Ehre und einen auf seine Pflicht als Leiter eines Kunstinstituts.
Der Direktor schlug sie alle drei ab. Dagegen erklärte er sich bereit, eine Wagnersche
Oper auf eigne Rechnung aufführen zu lassen. Frau von Seidelbast fühlte sich
keineswegs befriedigt. Mindestens für die Hauptrollen verlangte sie Bayreuther
Kräfte. Der Herr Direktor zog die Schultern bis an die Ohren, und so verlief
auch diese Verhandlung ergebnislos.
Damit war das Tischtuch zwischen der Gesellschaft zur Förderung usw. und der
Direktton zerschnitten. Gleich in der nächsten Sitzung war man einig in der Ver¬
urteilung des Direktors, der keine Ahnung davon habe, was der Kunst nottue.
Ein solcher profitwütiger und engherziger Geldmensch stehe als Leiter eines Kunst¬
instituts nicht an richtiger Stelle. Nein, er war nicht der Mann dazu, das Kunst¬
leben in Neusiedel zur Blüte zu bringen, und es mußte die Aufgabe des Vereins usw.
sein, die Bürgerschaft über den schweren Mißgriff, den man gemacht hatte, aufzu¬
klären und dafür zu sorgen, daß dieser Mensch dach eine bessere Kraft ersetzt werde.
Die Aufgabe des Vereins zur Pflege des Theaters bestand also darin, dieses gegen¬
wärtige Theater unmöglich zu machen.
Der Direktor brachte auch wirklich die Walküre, gespielt von den Mitgliedern
der Operntruppe zu Jxhausen, zur Aufführung. Ich habe nicht die Aufgabe,
hier Theaterkritiken zu schreiben. Ich kann nur konstatieren, daß man an Reklame
das Mögliche getan hatte, daß Herr Rektor Hesselbach schon im voraus Hymnen
im Tageblatte schrieb, daß ganz Neusiedel im Theater war, daß auch die Gesell¬
schaft usw. nicht fehlte, daß man aber nicht allzuviel von dem begriff, was auf der
Bühne und unter der Bühne vor sich ging, hingegen darüber große Genugtuung
empfand, daß solch ein kurioses Stück in Neusiedel aufgeführt wurde.
Als sich die Mitglieder der Gesellschaft zur Förderung usw. in den Zwischen¬
akten im Foyer zusammenfanden, gab es nur das eine Urteil absoluter Verwerfung.
Es war einfach zum Lachen gewesen. Diese Hütte Hundings, diese Frühlingsnacht,
dieser Feuerzauber! einfach lächerlich. Nicht einmal mit Leipzig oder München,
geschweige denn mit Bayreuth zu vergleichen. Und der Stamm, aus dem Sigmund
das Schwert Rodung zieht, hatte rechts gestanden statt links. Und der Secirtisch
aus Pappe, auf den er sprang, hatte gewackelt. Und dieser Sigmund selber, nicht
entfernt ein van Dyk oder Burgstaller oder sonst einer der Großen. Und diese
Walküre! Man denke sich eine brünette Walküre und ohne Pferd!
Am andern Tage stand eine überlange Besprechung im Tageblatte. Wir
kennen den Stil schon, es wurde alles und jedes in den Himmel gehoben. Am
Tage darauf folgte ein feierlicher Protest gegen die Vorstellung im Namen der
Kunst, im Namen des guten Geschmacks, im Namen des geheiligten Andenkens
Richard Wagners. Wenn man nichts Besseres zu geben habe, so sollte man lieber
zu Huus bleiben. Durch solche Aufführungen werde die Kunst nicht gehoben,
sondern preisgegeben. Und nun wurde scharf ins Gericht gegangen mit jedem
szenischen Mangel, mit jedem unbekannten Namen. Es wurde gerügt, daß Wodan
nicht ganz Wodan und Freya nicht ganz Freya gewesen sei, und daß Hnnding in
der Kampfszene merkwürdig ungeschickt zu Boden gefallen sei. Auch das Orchester
habe nicht auf der Höhe seiner Aufgabe gestanden. Das Horn in dem Hornrufe
Hundings sei nicht lant genug gewesen und sei übergeschnappt, und wenn man die
erste Geige nicht mit sechzehn ersten Kräften besetzen könne, solle man die Hand
von Aufgaben, wie sie eine Walkürenaufführung stellt, weglassen.
Darauf erschien eine scharfe Erwiderung: Einsender scheine von Musik nicht
viel zu versteh», da er sich durch unerhebliche und bei einem kleinen Theater un¬
vermeidliche szenische Mängel so sehr stören lasse.
Worauf repliziert wurde: Einsender verstehe nichts von dem Geiste und den
künstlerischen Absichten Wagners, der alle Künste in den Dienst derselben künst¬
lerischen. Aufgabe stelle. Darum müsse das ganze Werk, die ganze Aufführung als
mißraten gelten, wenn einer dieser Bestandteile ausfalle. Man müsse von einer
Direktion, die ihrer Aufgabe gewachsen sei, voraussetzen, daß sie dies wisse und
beachte.
Und so weiter.
Der Direktor ließ sich auf einen Zeitungskampf nicht ein und brachte eine
Aufführung des Fidelio. Eine wirklich gute Aufführung. Das Theater war schwach
besucht, und auch diese Aufführung fand keine Gnade bei der Gesellschaft usw. Sie
wurde nach allen Regeln der Kunst heruntergemacht. Und um erklärten die Jxhäuser
Sänger, daß sie in Neusiedel nicht mehr singen würden.
Inzwischen folgten im Theater Schauspiele und Lustspiele in schöner Kette.
Aber diese schöne Kette genügte nun wieder dem Professor Icilius nicht. In der
Donnerstagsgesellschaft der Kollegen, die im Weißen Bären gehalten wurde, und
die auch der Professor mit demselben Pflichteifer besuchte, als wenn es eine amt¬
liche Konferenz gewesen wäre, hielt er zum Vergnügen der Corona seine Cntonischen
Reden. — Dhiese Pygmäen dhaa, sagte er, auf dem Tthentrou, das höhern Aufgaben
geweiht sein sollte, mögen für Bhanausen und Bhöotier genügen, aber der klassisch
gebildete Mensch will auf der Bühne mehr sehen als Liebeleien und Hcmswurstiaden.
Er will Menschen sehen, Menschenschicksale, Menschenleib und Meuschentugeud. Alt-
klassische Stücke können uns diese Männerchen mit them ausgestopften Waden nicht
bieten. Aber warum spielt man nicht Wallenstein? Warum bringt man uns nicht
den Shakespearischen Cäsar?
Ein junger Kollege griff diese Rede auf und richtete im Tageblatte in vor¬
wurfsvollem Tone an den Direktor das Verlangen, daß man doch nicht immer
Possen und Lustspiele, sondern auch etwas ordentliches spielen möchte, Wallenstein
oder Julius Cäsar.
Die rührige Direktion kam dem Wunsche nach und brachte sowohl Wallen-
steins Tod als auch Julius Cäsar. Nur konnten die Unglücksmenschen von Schau¬
spielern keine Jamben sprechen. Sie behandelten die Jamben, als wenn sie um-
gebrochncs Zeitungsdeutsch gewesen wären. Und mit Shakespeare wußte man erst
recht nichts anzufangen. Man war durch das Konversationsstück verdorben worden,
man war Naturalist geworden und teilte sich die Vorgänge auf der Bühne flüsternd
als innere Angelegenheit mit. Und das liebe Publikum von Neusiedel saß dabei
und verstand nicht, wie und warum Cäsar ermordet wurde, und was hernach dazu
„von der Kanzel" gesagt wurde, und es gab eine allgemeine Unzufriedenheit. Die
Bürger von Neusiedel konnten nicht begreifen, wie man ihnen ein Stück vorsetzen
konnte, das man nicht verstand, und an dem auch rein gar nichts war, und am
Stammtisch des Weißen Bären wütete man über diese Histrionen, die ihr eignes
Gewerbe verlernt hätten. Und Aufführungen wie die Julius Cäsars seien ein Frevel,
den man an einem großen Dichter begehe. Und daraus entwickelte sich eine große
Zeitungsfehde, über die der Direktor in Verzweiflung geriet. Sich die Haare aus¬
raufen konnte er zwar nicht, dazu hatte er sie sich zu kurz abgeschnitten, aber er
niente Richard den Dritten, wie dieser sein Königreich einem Pferdeschwanze gleich
achtete, und erklärte, jetzt gebe er weder Schiller noch Shakespeare. Und so war
daS Theater nun auch von den Klassikern gereinigt.
Wir dürfen annehmen, daß Wenzel Holm als Dramaturg und Dichter ganz
auf feiten der Modernen stand. Was hat ein moderner Dramaturg auch mit Werken
zu tun, die schon in der Literaturgeschichte ihre Stelle haben! Er war viel im Theater
beschäftigt, er kam spät am Abend nach Hause oder auch gar nicht, er unternahm
Reisen, um auswärtige Theater zu besuchen, er studierte mit Mucki Buttervogel
Rollen ein. Alles dies war mit seinem Berufe als Dramaturg untrennbar ver¬
bunden und durchaus nötig.
Frau Luzie verlebte ihre Tage in Angst und trüben Gedanken. Sie erfuhr
durch Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen von dem, was ihr Mann trieb,
genug, um alle ihre Befürchtungen bestätigt zu finden. Sie zürnte nicht, sie klagte,
sie machte ihrem Manne keine häuslichen Szenen, aber sie hörte nicht auf zu bitten,
Wenzel möchte doch bei ihr und den Kindern bleiben. Und sie erfuhr unwillige
Abweisung: Was willst du eigentlich? Bin ich nicht hier? Soll ich deinetwegen
von früh bis zum Abend zu Haus sitzen? Soll ich auf das ehrenvolle Amt, das
man mir übertragen hat, verzichten? Soll ich nicht den Flug wagen, der mich
emportragen soll bis in die Sphäre der großen Männer Deutschlands? Sollen
Frau und Kind die Last sein, die mich an diese jämmerliche, tote, philiströse Welt
kettet? Siehst du das nicht selber ein? Verstehst du nicht, daß das Leben Ent¬
sagung bedeutet? Auch die Frau des Dichters muß entsagen können.
Nein, rief Frau Luzie in Tränen ausbrechend, ich entsage nicht. Du hast
mir am Altare dein Wort gegeben, wir haben unser Leben unlösbar cmeinander-
geknüpft, du gehörst als Vater zu deinen Kindern. Ach, lieber Wenzel, geh nicht
weiter, laß ab von dem gefährlichen Wege, den dn eingeschlagen hast. Laß dich
nicht gefangennehmen von jenem Wesen, das deiner nicht würdig ist, das kein
Herz für dich hat, und das dich und uns alle unglücklich machen wird.
Wesen? fragte Wenzel Holm etwas unsicher, was für ein Wesen?
Diese verächtliche Kreatur, rief Frau Luzie, leidenschaftlich werdend, diese Mucki
Buttervogel, mit der du Rollen einstudierst, mit der du verreisest.
Ha! das war fatal. Luzie war unterrichtet. Da aber Wenzel Holm ein
streitbarer und wortgewandter Mann war, und da er wußte, daß der Angriff die
beste Verteidigung sei, legte er seine Stirn in finstere Falten, brach in sittliche
Entrüstung aus und rief: Wie? Was höre ich? Du hast mich beobachtet? Du
hast Spione an meine Ferse geheftet? Du hältst es für recht, hinter meinem Rücken
gegen mich zu konspirieren?
Nein, Wenzel, nein, rief Frau Luzie, die Hände ringend, aber die ganze Stadt
weiß, was du treibst, und auf mich und deine Kinder weisen sie mit Fingern.
Die Stadt! erwiderte Wenzel Holm mit verächtlichen! Tone. Glaubst dn denn
alles, was man in der Stadt redet?
Kannst du es denn leugnen? rief Frau Luzie. Wenzel, sieh mir in die Augen
und sage, daß es nicht wahr ist, was man über dich und diese Mucki Buttervogel
sagt, und ich will dir glauben und will dir auf den Knien danken.
Der Dichter geriet in Verlegenheit. Am liebsten wäre er davongegangen,
aber das wäre gegen die Mannesehre gewesen. Er konnte unmöglich hier das
Feld räumen, wenigstens nicht ohne die Diskussion rin einem kräftigen Trumpfe
zu schließen, und den hatte er leider nicht zur Hand. Luzie, sagte er, du mußt
doch einsehen, ein Dichter — hin! — ein Dichter kann sich nicht an die enge
Moral kleinbürgerlicher Anschauung binden. Ein Dichter muß die Höhen und Tiefen
des Menschenlebens studieren. Die Menschenseele ist der Ton des Dichters. Daß
er diesen Ton forme, darf die Frau des Dichters ihrem Manne ebensowenig wehren,
als es die Frau des Bildhauers übelnehmen darf, wenn in der Werkstatt ihres
Mannes Modelle aus- und eingehn. Wenn in dem Herzen des Dichters ein neues
Frühlingsleben aufleimt, aus dem eine goldne Frucht für die Kunst der Gewini,
ist, hat die Frau das Recht, dieses neue Leben zu zerstören? Kann sie es, will
sie es verantworten, das Gewicht zu sein, das sich an die Seelenflügel eines
Dichters hängt? Darf sie den geflügelten Sänger am Faden halten wollen und
sagen: Du bist mein, du hast nicht das Recht zu singen und zu fliegen? — Und so
weiter in schönem Schwunge der Rede. Und zuletzt fanden sich auch noch die
tönenden Schlußsentenzen, und der Dichter Wenzel Holm verschwand hinter seinem
Vorhange.
Frau Luzie hatte kein Wort erwidert; nur ihre Tränen flössen. Sie zürnte
mit sich selbst, daß sie nur weinen konnte, statt ihrem Manne in flammendem Zorne
entgegenzutreten und ihm das lügnerische Gewand, in das er sich hüllte, von den
Schultern zu reißen.
Es würde für Wenzel Holm beschämend gewesen sein, einzugestehn, wie viel
Mühe es ihm bei dem Direktor gemacht hatte, die Aufführung seines Verlornen
Paradieses durchzusetzen. Endlich gelang es ihm, eine Zusage zu erhalten, und
endlich auch, alle jene Hindernisse, die sich unbegreiflicherweise immer wieder ans¬
türmten, zu beseitigen. Die Aufführung fand statt, aber sie hatte nur einen
halben Erfolg. Neusiedel war für die dichterische Offenbarung dieses „Verlornen
Paradieses" nicht reif und verstand die These nicht, die der Dichter hatte beweisen
wollen.
Der Professor war nicht in das Theater gegangen, doch hatte es ihn auch
nicht zu Hause geduldet, er hatte sich in das Theatercafe begeben und trank dort
mit Ingrimm Schlummerpunsch. Und dazu hatte er sich in eine der dort ein¬
gerichteten Nischen gesetzt. Da kam eine lärmende Gesellschaft von Theater¬
besuchern', setzte sich in die benachbarte Nische und besprach die Aufführung mit
lauter Stimme.
Man sollte so etwas in Neusiedel uicht aufführen, sagte einer der Herren. Die
Leute versteh» das nicht.
Ja, warum denn nicht? sagte ein andrer. Die Sache ist doch ganz einfach.
Man läuft seiner Frau davon und ist nicht so dummi, sich wieder einfangen
zu lassen.
Diese Mucki, meinte noch ein andrer, ist ein Teufelsweib. Donnerwetter, was
für ein Paar Augen.
Sie hat was gelernt. Hat ja auch den Lehrmeister dazu.
Den Dramaturgen. Na ja, er hats ja auch dazu. Hat ihr eine Wohnung
in der Holzgasse eingerichtet. Fürstlich, sage ich Ihnen.
Was sagt denn aber seine Frau dazu?
Der Professor hatte alles gehört. Jetzt trat er ans seiner Nische hervor
und sagte mit großem Ernste: Verzeihen Sie, meine Herren, wenn ich störe. Aber
von wem reden die Herren?
Man wollte nichts gesagt haben, man suchte sich herauszureden, man hatte
nur so im allgemeinen gesprochen und — Professörchen prosit! Seien Sie nicht
ungemütlich.
Aber warum soll mans nicht sagen, meinte ein andrer, der den Zusammen¬
hang zwischen Wenzel Holm und dem Professor Icilius nicht kannte. Die Sache
ist ja stadtbekannt. Wir fanden, daß der Dramaturg unsers Theaters keinen schlechten
Geschmack habe.
Ja, warum denn auch nicht? Er ist ja immerhin der nächste dazu. Und es
geht ja keinen andern etwas an, was er tut.
Sso, meine Herren? sagte der Professor. Wenn aber dhieser Dramaturg Weib
und Kind hat, und wenn seine Frau meine Tochter ist?
Alle Hagel!
Ssie werden versteh», meine Herren, daß mich das etwas angeht.
Das wurde nun eine verlegne Geschichte. Man bat den Professor, Platz zu
nehmen, man suchte ihn zu beruhigen. Aber er ließ sich nicht beruhigen. Nein
nein, sagte er, ich verlange von Ihnen als Ehrenmännern, daß Sie mir nichts ver¬
schweigen. Ich muß wissen, um was es sich handelt.
So mußte man denn mit der Sprache heraus. Und es fand sich so viel, daß
klar wurde, es handle sich hier nicht um ein müßiges Gerede, sondern um all¬
gemein bekannte Tatsachen. Der Professor regte sich nicht auf, sah aber bleich und
entschlossen aus, notierte die vorgebrachten Tntsachen in sein Buch, bedankte sich
und empfahl sich.
Hören Sie, meine Herren, sagte einer von deu Zurückgebliebnen, das gibt Krach.
Er wird doch nicht schießen?
Sicher nicht. Aber in Hokus Haut möchte ich nicht stecken, sagte einer, der
sich noch von der Schule her dieses oder jenes Strafgerichts erinnerte, das der
Cello abgehalten hatte.
Am andern Tage sagte der Professor zu seiner lieben Frau: Rosalie, richte
die Fremdenstube für Luzie und die Kinder ein.
Die liebe Frau entsetzte sich; sie ahnte wohl, um was es sich handle, und
war keineswegs damit einverstanden, daß als erster Schritt in der Sache das Tisch¬
tuch zerschnitten werden sollte. Ach, Theodor, erwiderte sie, man sollte sich doch
bedenken, einzugreifen. Das geht die Kinder an, das müssen die Kinder unter sich
abmachen.
Sso! rief der Professor, dhaa! dhaa soll ich Wohl sagen, lieber Wenzel, Ssie
ssiud zwar ein moustrum norrsnäum, c?ni lumsn gilsMiin, ein blindes Untier, ein
beträchtlicher Lump, Ssie häufen Schimpf und Schande auf unser Haupt und das
unsrer Tochter, aber weil Sie nicht uns geheiratet haben, sondern unsre Tochter,
so macht das unter euch aus, Kinderchen, uns solls recht sein. Nein, mir ists nicht
recht. Richte das Zimmer, Rosalie. Nach der Schule werde ich Luzie holen. Man
soll nicht sagen, weil der Schwiegersohn reich ist, sprechen wir gehorsamer Diener.
Der Cato macht vor einem Geldsäcke nicht Kotau.
Als der Professor nach der Schule in das Holmsche Haus trat, fand er die
Dinge dort so, wie wenn einer im Hause gestorben wäre. Auf der Straße stand
der Gemüsemann und etliche Weiber, die steckten die Köpfe zusammen und flüsterten.
Unten im Hause standen alle Türen auf, und kein Mensch war zu sehen, und oben
im Vorsaal hatte sich das ganze Personal versammelt. Einer sah dem andern
über die Achsel. Da war auch Hunding, und da stand auch der Theaterbote, der
sich erkundigte, ob Fräulein Buttervogel hier sei; sie sollte sogleich zur Probe
kommen. Aber sie war nicht da, und Wenzel Holm auch nicht. Eben hatte Frau
Luzie einen Brief gefunden und gelesen, den er hinterlassen hatte. Sie stand da
Wie eine Niobe, bleich, starr und stumm. Was sie längst hatte kommen sehen, das
war eingetreten, gerade so, wie sie es gefürchtet hatte. Nun war es ihr zumute,
wie wenn eine rauhe Hand in das Heiligtum ihres Herzens gegriffen und das
Licht, das da brannte, ausgelöscht hätte.
Stumm reichte sie ihren Brief dem Vater hin. Es stand nichts neues darin.
Die alten Phrasen von Lebenwollen und Lebenmüssen, von Kunst, Freiheit, Welt,
Seele und Seelenfrühling. Zuletzt stellte er die Sache so dar, als wenn er es
wäre, der das Opfer brächte. Wie groß das Opfer gewesen sei, gerade mit seiner
Mucki durchzugehn, sagte er freilich nicht. Zum Schluß nahm er rührenden Ab¬
schied und teilte tröstend mit, daß beim Bankier alles schönstens geordnet sei.
Der Professor wandte, als er den Brief gelesen hatte, das Papier in der
Hand hin und her und sagte zu Seidelbast, der neben ihm stand: Dhieser Dhrama-
turg hat sein Satyrspiel bis zu Ende geführt. Dvasit, sruxit, adiit. Er ist durch-
gebrannt. Luzie, rufe deine Kinder und nimm deinen Hut. Wir haben hier nichts
mehr zu suchen.
Luzie rief ihre Kinder — sie waren schon da —, nahm ihren Hut aus dem
Kasten und schickte sich an, ihrem Vater zu folgen. Da trat ihnen in der Tür
ein Bild des Jammers entgegen, die alte Frau Holm, die Mutter Wenzels. Die
alte Frau war gelähmt und hatte schon seit Jahren keinen Schritt ohne fremde
Hilfe tun können. Jetzt war sie ganz allein aufgestanden und die Treppe herunter
gekommen, nun aber verließen sie die Kräfte. Mutterchen, rief Frau Luzie ganz
entsetzt, wo kommst du her?
Luzie, antwortete die alte Frau mit leiser Stimme und mit zitternden Lippen,
verlaß mich nicht. Luzie, ich bitte dich um Gottes Jesu willen, verlaß mich nicht.
Damit sank sie hilflos zusammen. Luzie fing sie auf und geleitete sie zu einem
Sessel. Frau Holm klammerte sich an ihre Führerin an und wollte sie nicht
aus ihren Armen lassen. Bleib, Kind, bleib, flüsterte sie, es soll alles geordnet
werden.
Frau Holm, sagte der Professor, ich bin kein reicher Mann, aber lieber will
ich mein lebelang Khartoffeln essen, ehe ich dha zugebe, daß sich meine Tochter
entehrt, indem sie von diesem Menschen, ihrem Manne, Geld annimmt.
Sie haben das Recht, so zu fühlen, Herr Professor, sagte Frau Holm, und
ich weiß, daß Luzie ebenso denkt wie Sie. Kind, ich weiß, daß ich von dir ein
schweres Opfer erbitte, das Opfer deines Stolzes. Aber ich weiß auch, du kannst
das schwerste. Ich habe ja auf der weiten Welt niemand weiter als dich.
Komm, Luzie, sagte der Professor.
Luzie kämpfte einen schweren Kampf. Da stand ihr Vater, der ein gutes Recht
hatte, zu fordern: Komm! Und da standen ihre Kinder, die große, erschrockne Augen
machten, und da rang die alte Frau Holm zitternd und hilflos die Hände. Man
sah ihr an, daß sie gern ihrem Vater gefolgt wäre, und daß es ihr bitter schwer
wurde, ihren Stolz zu überwinden. Vater, rief sie, ich kann nicht. Ich muß bleiben.
Ihretwegen.
Sso? sagte der Professor, dann haben wir hier nichts mehr zu suchen, und
wandte sich zum gehn.
Vater, rief ihm Luzie nach, zürne mir nicht. Ich kann nicht, ich muß bleiben.
Kommen Ssie, Sseidelbast, wandte sich der Professor an Hunding. Ssehn Ssie,
so geht es in dieser schlappen, hysterischen Zeit zu. Der Mann geht mit einer
Schauspielerin dnrch, und die Frau hat nicht die Kraft, ihm seinen Bettel vor die
Füße zu werfen, weil eine alte Frau jammert. Wo bleibt da die Ehre, die ein
KtsmÄ hö asi, ein Ewigkeitswert sein sollte? Dhaa — auf der Mauer von Pompeji
stand eine römische Schildwache in Helm und Rüstung, als im Jahre 79 der Vesuv
Pompeji verschüttete. Der Mann hätte ruhig davonlaufen können, aber seine Ehre
verbot es ihm; er war nicht abgelöst worden, und da ließ er sich in der Asche ver¬
graben und ist nach achtzehnhundert Jahren auf seinem Posten aufgefunden worden.
Dhaa! das war Römertugend. Aber Römertugend gibt es heutzutage nicht mehr,
nicht bei den Männern und nicht bei den Frauen. Wir haben zu weiche Herzen.
Herr Professor, erwiderte Hunding, der auf seine Frau Luzie nichts kommen
lassen wollte, ich weiß doch nicht, was schwerer ist, für die Ehre das Leben weg¬
werfen oder den Stolz zum Opfer zu bringen, um für die Barmherzigkeit zu leben.
Der Professor sah seinen Schüler groß an und antwortete nicht. Und dann
sagte er: Ssehn Ssie, Sseidelbast, Ssie gehören auch zu den Mollusken.
Und Sie auch, Herr Professor, erwiderte Hunding. Sie sind gar nicht der alte
Römer, als der Sie erscheinen möchten, Sie tragen nur eine alte, römische Toga.
Und nicht wahr, Herr Professor, Sie zürnen Fran Holm nicht, weil sie tat, wozu
sie ihr Herz zwang? . - ^
Währenddessen war man an der Stelle angekommen, wo sich ihre Wege trennten.
Hunding zog die Mütze, und der Professor reichte ihm wie einem jünger» Freunde
die Hand und sagte: Ich wills versuchen.
Der Cato nahm seine Primaner für voll und behandelte sie wie junge erwachsene
Männer, und das rechneten ihm seine Primaner hoch an.
(Fortsetzung folgt)
Im Mittelpunkt des politischen Interesses steht gegenwärtig die Rede, die
Fürst Bülow im preußischen Abgeordnetenhause bei der Generaldebatte über den
Staatshaushaltsetat am 19. Januar gehalten hat. Sie scheint auf verschiednen
Seiten eine gewisse Überraschung hervorgerufen zu haben, weil sie zum Teil poli¬
tische Themata behandelte, über die man das Nötige im Reichstage zu hören er¬
wartete. Aber man wird zugeben müssen, daß der Zusammenhang dieser Fragen
mit der preußischen Politik so eng ist, daß sie auch im Abgeordnetenhause erörtert
werden können, und da sich Fürst Bülow, einem schon von Bismarck geübten
und empfohlnen Brauch entsprechend, von Kommissionsberatungen aus wohlerwognen
Gründen fern hält, so erscheint es begreiflich, daß er die im Abgeordnetenhause
gebotne Gelegenheit zu einer von ihm für notwendig gehaltnen politischen Aus¬
sprache wahrnahm, weil die Geschäftseinteilung des Reichstags ihn wahrscheinlich
noch auf längere Zeit hinaus verhindert hätte, dort im Plenum zu sprechen. Er
wollte aber nicht schweigen, während der Kampf in der Presse um alle diese be¬
deutenden Fragen täglich eifriger und schärfer wird.
Die Etatsdebatte im Abgeordnetenhause drehte sich um so wichtige Finanz¬
fragen, daß der Übergang zu der auch die einzelstaatlichen Finanzen so nahe be¬
rührenden Neichsfinanzreform von selbst gegeben war. Deshalb sprach Fürst Bülow
auch über die Nachlaßstcner, weil die verschärfte konservative Agitation gegen diese
Steuer eine Gegenwehr dringend notwendig macht. Der Abgeordnete von Pappen-
Heim hatte sich auch im Abgeordnetenhause scharf gegen die Nachlaßsteuer aus¬
gesprochen. Der Träger der Opposition ist in diesem Falle eigentlich nicht die
konservative Partei, sondern der Bund der Landwirte. Freilich weiß man, daß
sich die Partei ungern zu dem Bunde in Gegensatz stellt und ihre Unabhängig¬
keit nach dieser Richtung in der Regel erst dann betont, wenn größere Werte auf
dem Spiele stehn und die Gefahr eines dauernden Schadens für die Partei näher¬
rückt. Den Grnndbesitzerkreisen ist der Gedanke, daß auch Kinder und Ehegatten
eines Erblassers dem Staate etwas von ihrem Erbteil abgeben sollen, aus begreif¬
lichen Gründen äußerst unsympathisch; daß sich auch die konservative Partei dieser
Stimmung nicht entziehen konnte, ist selbstverständlich. Wenn ihr Widerstand
gegen den Grundgedanken dahin zielte, die Vorschläge der Regierung nur nach
schärfster Prüfung ihrer Notwendigkeit und Unersetzlichkeit und nur in einer Form,
die den eigenartigen Verhältnissen des Grundbesitzes Rechnung trug, anzunehmen,
so läßt sich kaum etwas dagegen einwenden. Aber für eine Jnteressenvereinigung
wie den Bund der Landwirte, die sich so sehr als politische Macht fühlen gelernt
hat, ist eS schwer, in solchen Fällen der Versuchung einer Kraftprobe zu wider¬
steh». Hier muß die Opposition taktischen Zwecken dienen, und deshalb wird sie
verschärft und bis aufs äußerste gesteigert, weil demagogische Mittel am sichersten
geeignet sind, das sonst leicht schwindende politische Interesse festzuhalten, dessen
eine Vertretung wirtschaftlicher Sonderinteressen bedarf, wenn sie sich als Macht¬
faktor behaupten will. Eine so schöne Gelegenheit zur Opposition dürfte sich der
Bund nicht entgehn lassen, sonst wird er eine zwar nützliche, aber politisch be¬
deutungslose Berufsgenossenschaft, und seine Mitglieder könnten am Ende den
Glauben verlieren, daß die Regierung nicht aus freier Einsicht der Landwirtschaft
gibt, was ihr gebührt, sondern unter dem Druck der politischen Macht des Bundes.
Darum entwickeln die Agrarier einen wahren Feuereifer in der Bekämpfung der
Nachlaßsteuer.
Die Methode, die dabei angewandt wird, ist sehr bezeichnend. Vor allem
gilt es, immer wieder die sachlichen Gründe aufmarschieren zu lasse», die gegen
das Projekt einer allgemeinen Nachlaßsteuer ohne Einschränkungen sprechen, und
die ja in der Tat für den kleinen und mittlern Grundbesitz von verhängnisvoller
Bedeutung werden können. Natürlich muß aber dabei sorgfältig verschwiegen werden,
daß diese Gründe in dem Negierungsentwnrf gar nicht in Frage kommen, da sie
bereits berücksichtigt sind und noch weiter berücksichtigt werdeu können. Der Ent¬
wurf hat zunächst jeden Nachlaß nnter 20000 Mark als steuerfrei angenommen
und die Steuersätze auch für recht beträchtliche Nachlaßwerte sehr niedrig festgesetzt,
abgesehen von den besondern Rücksichten, die den Erben von Immobilien außerdem
noch eingeräumt werden. Diese Vorschläge hat die Regierung gemacht, weil sie
doch in irgendeiner greifbaren Form das Prinzip festlegen mußte. Es ist aber
zur Genüge bekannt, daß die Mehrheitsparteien bereit sind, den Wünschen der
Landwirtschaft noch weiter entgegenzukommen, und daß die Regierung gar nichts
dagegen haben wird, wenn nur das gleiche finanzielle Ergebnis annähernd erreicht
wird. So wird man wahrscheinlich die untere Grenze von 20000 Mark wesentlich
hinausschieben, wahrscheinlich auf 70000 Mark, und dann bei höhern Nachlaßwerten
eine stärkere Progression eintreten lassen. Man wird auch sonst bemüht sein, be¬
sonders bei der Vererbung von Grundbesitz alle Härten bei der Besteuerung zu
beseitigen. Aber wenn das den Agrariern entgegengehalten wird, so erklären sie
trocken: das berührt uns gar nicht; wir siud im Prinzip gegen die Nachlaßsteuer.
Auch damit würde man sich abfinden können, wenn die agrarische Presse und ihre
Agitatoren den Bauern dasselbe Lied vorpfiffen. Aber das fällt ihnen gar nicht
ein. Sie unterlassen sorgfältig jede Aufklärung über das wirklich geplante und
fahren statt dessen fort, das Bild von dem Steuerexekutor zu zeichnen, der jedem
notleidenden Kleinbauern, der von seinem Vater den Besitz übernimmt, rücksichtslos
einen Steuerbetrag erpreßt, der ihn ruinieren muß. So wird in echt demagogischer
Weise die Abneigung der kleinen Landwirte gegen die Nachlaßsteuer auf Grund
einer vollständig wahrheitswidrigen Darstellung der Tatsachen und mit Hilfe der
Verschweigung der Wahrheit genährt. Damit gewinnt auch der Egoismus der
Großgrundbesitzer einen geeigneten Vorwand, sich hinter „Prinzipien" zu verstecken,
die in ihrer sentimentalen Verschwommenheit noch mehr ihren demagogischen Cha¬
rakter offenbaren. Immer wieder wird der Unsinn wiederholt, daß die Nachlciß-
stcuer den deutschen Familiensinn untergraben müsse. Fragt man aber die Herren,
warum denn von den vielen irdischen, zum Teil noch viel unangenehmern Ge¬
schäften, die mit einer Nachlaßregulierung verbunden sind, gerade die Steuerforderung
des Staats die verderbliche Wirkung auf die Anhänglichkeit an den Verstorbnen
und den Familiensinn der Überlebenden oder die störende Wirkung auf die pietät¬
volle Trauerstimmung haben soll, so bleiben sie die Antwort schuldig. Wir er¬
fahren auch nicht, warum diese Wirkungen da, wo diese Steuer schon besteht, bisher
nicht eingetreten sind, und warum der deutsche Familiensinn, der schon manche un¬
angenehme Auseinandersetzungen zwischen Hiuterbliebnen überdauert hat, plötzlich
angesichts dieser staatlichen Forderung jede Widerstandsfähigkeit verloren hat.
Zweifellos wird auch jeder, der etwa die gegen die Nachlaßsteuer vorgebrachten
allgemeinen Phrasen sachlich verteidigen wollte, sehr bald daran scheitern, weil ihn
die Empfindung des Widerspruchs zwischen dem ernsten Gegenstand und der unfrei¬
willigen Komik dieser Phrasen überwältigen muß. Daß das nicht so empfunden wird,
erklärt sich eben aus dem rein demagogischen Zweck aller solcher Auseinandersetzungen.
Wie wird sich nun aber die konservative Partei als rein politische Organisation
damit abfinden? Wer die Eigenheiten des Parteilebens kennt, wird sich nicht
Wundern, daß die Stellungnahme des Bundes der Landwirte, der stärksten volks¬
tümlichen und unabhängigen Stütze, die die Konservativen haben, zunächst auf ihre
Entschlüsse stark abfärben muß. Denn die Rücksicht auf eine besonders stark und
deutlich hervortretende Stimmung der Wähler bedeutet für jede parlamentarische
Fraktion, mag sie rechts oder links stehn, immer die Stelle, wo sie sterblich ist.
Zwar enthält'die Reichsverfassung in Artikel 29 den aus Artikel 83 der preußischen
Verfassungsurkunde übernommnen, stolz klingenden Satz: „Die Mitglieder des
Reichstags sind Vertreter des gesamten Volks und an Aufträge und Instruktionen
nicht gebunden." Die Preußische Verfassungsurkunde schiebt sogar noch ein: „Sie
stimmen nach ihrer freien Überzeugung." Aber das ist ein Ideal, dem die Wirk¬
lichkeit nicht immer entspricht. Der Neigung, der Stimmung der Wähler nach¬
zuforschen, von denen zwar nicht das gegenwärtige Mandat, wohl aber die Wieder¬
wahl abhängt, unterliegt manche „freie Überzeugung", die freilich nach außen hin
sorgfältig den Schein wahrt, als ob sie ganz aufrecht wandelte.
Es ist, wenn man die Lage verstehn will, notwendig, auf die Gefahr hin¬
zuweisen, die aus der Beeinflussung der konservativen Partei durch agrarische
Stimmungen droht. Aber man soll auch diese Gefahr nicht überschätzen oder
vor ihr mutlos die Waffen strecken. Man darf wenigstens zwei Tatsachen nicht
unbeachtet lassen. Erstens hat die konservative Partei immerhin die Tradition
für sich, daß sie sich von der geschilderten Abhängigkeit von der Stimmung der
Wähler in der Regel relativ freier gezeigt hat als manche andre Parteien. Daß
sie sich von dieser Tradition in demselben Augenblick lossagen sollte, wo gerade
auch die liberalen Blockparteien angefangen haben, in ihren parlamentarischen Frak¬
tionen einiges Rückgrat gegenüber dem alten Parteischlendrian zu zeige« und ihr
gutes Recht eigner politischer Einsicht und Erfahrung gegen den Phrasenseligen
Unverstand der Wählermassen geltend zu machen, ist nicht anzunehmen; wenigstens
würde sich die Partei in einen starken Widerspruch mit ihrer Vergangenheit setzen.
Zweitens kann die konservative Partei, so gern sie sich sonst auf die agrarische
Bewegung stützt und den besondern Schutz der landwirtschaftlichen Interessen in
ihr Programm aufnimmt, doch nicht so völlig vor dem Bund der Landwirte kapitu¬
lieren, daß sie ihm die Betätigung ihrer allgemeinen Politischen Grundsätze preis¬
gibt. Das hat sie nicht einmal bei der Beratung des Zolltarifs getan, obwohl
es damals eher zu rechtfertigen gewesen wäre als jetzt. Denn damals konnte man
die Lage immerhin dahin verstehn. daß die Landwirte der Meinung waren, mit
der Zustimmung zum Zolltarif wirklich der Allgemeinheit ein großes Opfer zu
bringen; jetzt aber handelt es sich nicht um einen wirklichen Schaden für die
Landwirtschaft, ja nicht einmal um ein Opfer überhaupt, sondern um einen einge¬
bildeten Nachteil, um eine künstlich erregte Stimmung gegen eine „unsympathische"
Einrichtung. Um deswillen soll die konservative Partei das Odium für das
Scheitern der Reichsfinanzreform auf sich nehmen, mit andern Worten den Staat
bei einer der wichtigsten Reformen, die die Zukunft des Reichs sichern soll und
durchaus keine Parteisache ist, völlig im Stich lassen? Gewiß liegt das nicht außer
dem Bereich der Möglichkeit, aber wahrscheinlich ist es nicht, daß diese Partei so
vollständig ihre besten Überlieferungen verleugnen sollte.
l Es ist bisher aus ihren Reihen kein geeigneter Ersatz vorgeschlagen worden.
Denn es handelt sich doch darum, eine mit den Rechten der Bundesstaaten verein--
bare Form direkter Besteuerung zu finden, die es den Liberalen ermöglicht, einer
stärkern Anspannung der indirekten Steuern zuzustimmen. Es müssen eben für die
Reichsfinanzreform von beiden Seiten Opfer gebracht werden, nicht ausschließlich
von den Konservativen für die Liberalen, aber auch nicht nur von den Liberalen
für die Konservativen. Deshalb sind alle Vorschläge unbrauchbar, die an Stelle
der Nachlaßsteuer eine indirekte Steuer setzen wollen oder eine Steuerform, die
von den Liberalen außer der Bereitwilligkeit zur schärfern Heranziehung von Bier>
Tabak und Branntwein noch weitere grundsätzliche Zugeständnisse fordert, während
die Konservativen von ihren Prinzipien nichts opfern wollen.
' Fürst Bülow hat diesen Sachverhalt so eindringlich und maßvoll dargelegt
daß darin für die konservative Partei nichts verletzendes lag. Wenn jemand, dem
man in schonender Weise eine Meinung ausspricht, die er zunächst nicht teilt, plötzlich
unwirsch, empfindlich und sogar unhöflich wird, so ist das immer ein Zeichen, daß
er sich innerlich im Unrecht weiß und irgendwie im Gewissen getroffen fühlt.
Wenn deshalb der Rede des Fürsten Bülow agrarische Demonstrationen gefolgt
sind, die offenbar den Eindruck erwecken wollen, daß die konservative Partei dem
Reichskanzler den Krieg zu erkläre» beabsichtige, so wird man sich dadurch nicht
verblüffen zu lassen brauchen. Der temperamentvolle Herr von Oldenburg ist, so
straff er auch in westpreußischen Parteiversammlungen das Zepter schwingen mag,
und so heftig er auch gegen die unbotmäßige Regierung anrennt, doch noch lange
nicht die konservative Partei, und diese hat bisher noch niemals eine Taktik be¬
obachtet, die in kritischen Augenblicken alles kurz und klein schlägt, wenn sich der
leitende Staatsmann einmal erlaubt, andrer Meinung zu sein. Wenig schön ist aller¬
dings die den konservativen Überlieferungen ebenfalls nicht entsprechende Erfahrung,
daß Herr von Treuenfels seine subjektive Meinung über die Notwendigkeit, daß
die Konservativen den Reichskanzler stürzen und die Reichsfinanzreform zum Scheitern
bringen müßten, durchaus einem ausländischen Journalisten unterbreiten mußte und
damit einen bedauerlichen Mangel an richtiger Schätzung der politischen Lage bewies.
Auch die Ausführungen des Fürsten Bülow zum Fall Schücking scheint man
im konservativen Lager mehrfach mißverstanden zu haben, weil er genötigt war,
sich auch gegen eine Ausführung der Konservativen Korrespondenz zu wenden. DaS
Parteiorgan hatte indirekt die Meinung durchblicken lassen, daß die Staatsregierung
dem Regierungspräsidenten, der gegen den Bürgermeister Schücking disziplinarisch
vorgegangen war, schon um der Staatsautorität willen die Stange halten müsse,
auch wenn sein Vorgehn nicht im Sinne der Regierung gewesen sei. Der Minister¬
präsident aber mußte Wert darauf legen, bei dieser Gelegenheit festzustellen, daß
er von politischen Beamten in ihren Maßnahmen unter allen Umständen eine Unter¬
stützung seiner Politik verlangen müsse. Indem er einen scharfen Strich zwischen
der Sozialdemokratie und den bürgerlichen Parteien machte, stellte er fest, daß er
keinen Beamten, wenn er nicht als solcher wegen Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie
überhaupt unmöglich sei, wegen seiner politischen Gesinnung drangsaliert wissen
wolle. Die Aufstellung dieser Grundsätze war unanfechtbar und zeitgemäß, aber sie
konnte natürlich als eine unmittelbare Mißbilligung des Vorgehns gegen Schücking
aufgefaßt werden, um so mehr, als in der konservativen Presse der Fall immer so
dargestellt worden war, als ob dem Regierungspräsidenten von den Liberalen zu¬
gemutet worden sei, Beschimpfungen des Staats ruhig über sich ergehn zu lassen.
Aris nähere Auseinandersetzungen über den Fall selbst ging aber Fürst Bülow gar
nicht ein, und das mit Recht, denn es kam nur darauf an, zu den grundsätzlichen
Folgerungen, die die Parteien aus dem Fall gezogen hatten, Stellung zu nehmen.
Der Reichskanzler berührte auch die Wahlrechtsfrage in Preußen, worüber er
freilich noch nichts bestimmtes mitteilen konnte, und verteidigte sich energisch gegen
die ihm in feindlichen Blättern und indirekt auch in einer auf Schleichwegen wan¬
delnden Agitation gemachten Vorwürfe, daß er in der Novemberkrisis den Kaiser
nicht genügend gedeckt habe. Es war gewiß gut, daß sich Fürst Bülow einmal
offen darüber aussprach, freilich konnte er nicht vermeiden, daß feine Ausführungen
ängstliche Gemüter und übelwollende Gegner zu besondern Deutungen veranlaßten.
Aber die Kritiker können sich beruhigen; diese Abwehr kam nicht aus einer schwachen
und gefährdeten Stellung, sondern bedeutete einen entschlossenen Griff in ein Ge¬
webe von Lügen und Täuschungen.
Wer übrigens durchaus etwas mißverstehen will, findet in jeder Ausführung
etwas, was er für diesen Zweck ausbeuten kann. So sind die Bemerkungen des
Fürsten Bülow über die Bekämpfung der Sozialdemokratie von einigen Seiten als
Ankündigung eines neuen Sozialistengesetzes verstanden worden. Die Deutung
erscheint schon dadurch verdächtig, daß sich andre darüber beklagt haben, daß die
Regierung nach den Worten des Fürsten Bülow offenbar nicht beabsichtige, Aus¬
nähmemaßregeln gegen die Sozialdemokratie zu ergreifen. Zu Wirklichkeit hat sich
Fürst Bülow darüber überhaupt nicht ausgesprochen. Theoretisch hat er allerdings
die Möglichkeit eines künstigen gesetzgeberischen Vorgehens gegen die Sozialdemo-
kratie aufgestellt, aber nur, um zu zeigen, daß die Voraussetzungen dazu bei weitem
nicht erfüllt sind. Und auch diese Feststellung diente ihm nur zu einem Mahnwort
an die bürgerlichen Parteien, die durch ein Übermaß der Kritik die notwendige
Autorität im Staate untergraben. Wenn er daran erinnerte, daß auch Kreise, zu
deren Tradition die Aufrechterhaltung der Autorität gehört, „keinen Anstand ge¬
nommen haben, Vorurteilen, Leidenschaften, Irrtümern der breiten Massen in er¬
giebigsten Maße Rechnung zu tragen", so ist für jeden Unbefangnen klar, daß der
Zweck dieses Hinweises ein ganz andrer war als die Empfehlung von Ausnahme¬
gesetzen und Gewaltmaßregeln gegen die Schäden der Gesellschaft.
Während die Rede des Fürsten Bülow in den Parteien so verschiedenartige
Wellenkreise zog, hat sich in der Kommission des Abgeordnetenhauses eine Ver¬
ständigung über die Beschaffung der Mittel zur Erhöhung der Beamtengehältex
vollzogen. Danach wird der Vorschlag der sogenannten Gesellschaftssteuer, wie
vorauszusehen war, fallen gelassen; eine allgemeine Erhebung von Zuschlägen zur
Einkommensteuer und einige neue Stempelsteuern sollen den Ausfall decken. Freilich
ist dabei der Plan, die neuen Lasten möglichst auf die stärksten Schultern zu legen,
sehr ins Hintertreffen gekommen; die vereinbarten Zuschlage belasten die mittlern
Einkommen recht bedeutend. Aber es ist wenigstens eine allgemeine Reform des
Einkommensteuergesetzes ins Auge gefaßt.
Nun ist auch endlich nach schweren Mühen im Königreich Sachsen die Wahl¬
rechtsreform unter Dach und Fach gebracht worden. Regierung und Parteien haben
dabei manches Opfer an Lieblingsideen bringen müssen, und zuletzt stellt doch das
miles einen Versuch dar, von dem noch niemand genau weiß, wie er sich bewähren
wird. Aber die Einsicht aller positiv mitarbeitenden Teile in die dringende Not¬
wendigkeit, diese einmal in Fluß gebrachte Sache auch einem baldigen Abschluß
entgegenzuführen, hat einen heilsamen Druck ausgeübt, und so ist eine Lösung zu¬
stande gekommen, die als eine der interessantesten auf diesem Gebiete gelten muß.
Die ersten, freilich sehr verwickelten Vorschläge der Regierung und die Versuche,
die Verhältniswahl einzuführen, sind dabei in die Brüche gegangen, dafür ist ein
sorgfältig durchdachtes, wenn auch in Einzelheiten nicht ganz von Bedenken freies
Pluralstimmensystem angenommen worden, das in eigenartigen Kombinationen den
durch Alter, Bildung und Besitz voranstehenden Bevölkerungselementen gewisse
Vorzüge sichert. Wenn dieser Versuch günstig ausläuft, wird das unter Umständen
auch für Preußen und seine Wahlrechtsreform von der größten Bedeutung werden
Die nationalen Charaktere Europas drücken
sich dem Musikalischen am kürzesten in wenigen Takten der Volksmusik jedes Landes
aus. Die meisten Völker Europas haben sich in den letzten Jahrhunderten charak¬
teristische Volkshymnen geschaffen. Diese findet man jetzt pereinigt in zuverlässiger
Form und mit sorgfältigem, knappen Bericht über die Entstehung von Text und
Melodie, über ihre Verbreitungsgeschichte und Geltung in der neuen Arbeit des
Breslauer Gelehrten Emil Bohn „Die Nationalhymnen der europäischen Völker"
(M. u. H. Marcus). Neben seinem schlichten kleinen Meisterwerk, an dem auch der
stille Humor des Verfassers erfreut, sei hier die dilettantischere Arbeit von Louis
Schneider „Das französische Volkslied" erwähnt, die Richard Strauß in seiner
Musikbändchensammlung veröffentlicht sMarquardt u. Co.). Sie enthält zwar dieses
und jenes schiefe Wort und recht wenig Musikbeispiele, ist aber im ganzen gefällig
belehrend und eine dankenswerte Beleuchtung französischer Art und Kultur.
Im zweiten Heft Seite 111 wird erwähnt, daß Deutsch¬
land in den ersten nenn Monaten des Jahres 1908 mehr Roggen ein- als ans-
geführt hat. Dazu schreibt uns Herr Justizrat Groeger in Schweidnitz: diese be¬
fremdliche Tatsache, die sich auch auf die Mehlausfuhr erstrecke und die Reichskasse
um den vollen Ertrag der Getreidezölle bringe (das Maß der Schädigung ist
damit nicht ganz klar ausgedrückt), werde im Export, dem Organ des Zentralvereins
für Handelsgeographie, auf die Einrichtung der Einfuhrscheine und die Aufhebung
< ^
„Gin treuer Führer inMndesland,
wirklich», daß sie nicht allein den Plan des Lundes mit sozialem Geiste durchtränkt^
sonder» es auch verstanden hat, für jedes Gebiet des Rtndeslebens tüchtige Fachleute
zur Mitarbeit heranzuziehen und so die besten Resultate der Rwderforschung, der
Rinderpflegc und Erziehung im modernen Sinne den Eltern und Erziehern darzureichen.
Die ganz neue !vertu»g,^dis der kindliche Mensch im Jahrhundert des Rindes gefunden
schaumigen unserer Übergangszeit, in den, man am liebsten alles Alte unter den pilz¬
artig onfwuchcrnden Neuschöpfungen erstickt hätte, leiten die objektive» Darstellungen z»
geklärten Auffassungen über, die den jaden der Entwicklung nicht abreißen, sondern
seiner fortspinnen. So hat Fröbels Wort, »Romme, laßt uns den Rindern leben!«
Urteil des „Berliner Tageblattes" über
Das Buch vom Amte Z
Ein Sammelwerk für die wichtigsten Fragen der Kindheit, u»ter Mitarbeit zahlreicher
hervorragender Fachleute herausgegeben von Zit«>« sehr«Ib«r.
Inhaltsübersicht. I. Band: Einleitende Ravitel.,, Rörpcr und Seele des Rindes,
häusliche und allgemeine Erziehung. — II. Band: Öffentliches Erziehungs- und Lür-
sorgcwcsen, Das Rind i» Gesellschaft und Recht. Berufe und Berufsvorbildung,
Mit zahlreichen Abbildungen und Buchschmuck. K-l> Bogen lex.-S». Z» Leinw. geb.
ihm 2 Bände» geh. je 7 ^, geb. je S.<«. Zeder Band wird einzeln abgegeben.
„Nicht leicht fällt dem Referenten die Besprechung dieses prachtvollen Werkes im Nahme»
einer kurzen Rezension; am liebsten möchte er einfach jeder um eine gute Erziehung ihrer Rinder
besorgten Mutter zurufen: »daß DirdiesesBuchmöglichst bald vonDeinemManncschenken!
schau' es Dir an, und so oft Du Rat und Auskunft brauchst über das, was Dir unklar und un¬
bekanntes schlage in diesem Sammelwerk nach,und Du wirst gut beraten werden. " (Das Rind)
Ausführlicher Prospekt umsonst und postfrei vom Verlag
V. G. Teubner in Leipzig und Berlin.
—
>le aus der gesamten serbischen Presse hervorgeht, ist durch die
kürzlich getroffneu Vereinbarungen zwischen der Türkei und
Österreich-Ungarn, die zu einer dauernden Verständigung dieser
beiden Mächte führen dürften, die erwartete Beruhigung in
! Serbien nicht eingetreten. Im Gegenteil ist die Erregung stärker
geworden, und die chauvinistischen Blätter erklären sogar, daß Österreich über
die Leichen der Serben schreiten müsse, wenn es die Annexion von Bosnien
und der Herzegowina durchführen wolle. Bei solcher Lage der Dinge ist es
kein Wunder, wenn die österreichisch-ungarische Heeresleitung ihre Rüstungen
mit vollendeter Sicherheit aber ohne Geräusch fortsetzt, um für alle Fälle
bereit zu sein. Seit wenig Tagen ist auch die volle kriegsmüßige Munition
für die neubewaffnete Feldartillerie fertiggestellt, und dazu sind besondre Vor¬
kehrungen sowohl in den annektierten Provinzen wie auch längs der Doncm-
Savegrenze getroffen worden. Diese Vorsorgen erstrecken sich auf die Er¬
höhung der Friedensstünde bei allen im Bereiche des XV. Armeekorps (Sarajewo)
dislozierten Truppen und auf die Vermehrung der dort stehenden höhern
Einheiten um eine Truppendivision, die in zwei Gebirgsbrigaden gegliedert
ist. Durch die Erhöhung der Friedensstände ist die Gefechtsstärke des
XV. Korps auf rund 60000 Mann erhöht worden.
Die Truppentransporte aus dem Reichsinnern erfolgten derart, daß aus
allen Korpsbereichen Niederösterreichs, Böhmens, Galiziens und Ungarns von
verschiednen Regimentern die vierten oder andre Bataillone herangezogen und
mit diesen Truppenteilen zwei Gebirgsbrigaden zu drei bis sieben Bataillonen
und einer Gebirgsbatterie gebildet wurden.
Das XV. Korps gliedert sich sonach heute in drei Jnfanterietruppen-
divisioneu (Ur. 1. 2 und 48), insgesamt mit 12 Gebirgsbrigaden, . in das
Militärkommando in Zara, unter dem Süddalmatien steht, mit zwei Gebirgs-
brigaden, sodaß für etwaige Operationen nach Montenegro und Serbien zu¬
sammen 14 Gebirgsbrigaden sofort zur Verfügung stehen. Dieses Kräfteauf¬
gebot dürfte jedoch schwerlich ausreichen. Für einen Feldzug nach Serbien
rechnet man bei dem zu erwartenden Guerillakrieg und den dadurch bedingten
umfangreichen Vorsorgen für den Etappenschutz auf ein Ausgebot von vier bis
fünf Korps; das wären rund 240000 bis 300000 Mann, während für die
Operationen in Montenegro etwa 100000 Mann als notwendig erachtet
werden. Bei unmittelbarer Kriegsgefahr müßten also sehr umfangreiche
Transporte erfolgen. Gegen Serbien wären sie ohne besondre Schwierigkeit
zu bewältigen, da die Drinaposition, wo schon heute rund 30000 Mann stehen
dürften, dank der guten Bahn- und Straßenverbindungen leicht verstärkt werden
kann, aber gegen Montenegro können die Transporte nur dann ohne große
Reibungen ausgeführt werden, wenn auch die Flotte hierzu herangezogen
würde. Hierbei kommt in Betracht, daß Österreich-Ungarn unter Festhaltung
der Drinalinie mit den Hauptkräften aus dem untern Banat vorgehen dürfte,
während gegen Montenegro eine Operation über die Cerra gora und von der
Küste aus über Spizza gegen die zentralen Becken in Aussicht stehen mag.
- Soweit aus unvorsichtigen Äußerungen serbischer und montenegrinischer
Politiker zu schließen ist, besteht der Kriegsplan dieser Staaten darin, Bosnien
und die Herzegowina zu insurgieren und dann wo möglich durch eine gemein¬
same Operation, etwa mit Kalinovik als Bindelinie, über das südöstlichste
Bosnien gegen Sarajewo - Mostar loszumarschieren. Diesen Möglichkeiten hat
Österreich durch die Befestigungen, durch die Errichtung eines verstärkten Grenz¬
schutzes, durch die Organisierung von Streifkommandos wie durch die aus¬
giebige Verstärkung der exponierten Stationen vorgebeugt. Gegenüber Serbien
kommt es hierbei auf die unbedingte Festhaltung der Drinalinie an. Die
Drina hat bis Zvornik den Charakter eines wilden Gebirgsflusses, von da
ab den eines verwilderten Flachlandflusses und ist im ganzen Laufe nach
Wassermasse und Talbeschaffenheit ein starkes Hindernis. Ihre Breite beträgt
bei Niederwasser bis Zvornik 45 bis 190 Meter, dann bis 360, die Tiefe
2,5 bis 6 Meter, dann 1,5 bis 3 und ist im allgemeinen sehr wechselnd. Die
Ufer sind im Oberlaufe fast durchweg, im Mittellaufe häufig bis 7 Meter hoch,
oft schwer zugänzlich. Übergänge bestehen: bei Foca und Gorazda eine eiserne
Straßenbrücke, bei Visegrad eine steinerne, 6 Meter breite, aus dem Jahre
1571 stammende Brücke, ferner bei Megjegje eine Eisenbahnbrttcke mit ge¬
schlossener Decke, bei Brod eine eiserne Straßenbrücke (oberhalb Foca), bei
Foca selbst noch zwei hölzerne Straßenbrücken über die Cehotina. Weiter
abwärts bestehen nur Zugsähren für zwanzig bis fünfzig Mann, die jedoch
für Fuhrwerke nicht geeignet sind, Flöße und Ruderschiffe sind im ganzen
Laufe zu haben, die letzten haben sechzig bis siebzig Mann Fassungsraum.
Da die Drina nur an den Übergangspunkten von größern feindlichen
Kräften iiberschreitbar ist, und diese Übergänge in österreichischem Besitze sind,
so müßte an dieser Flußbarriere jeder feindliche Vormarsch aus Ost-Südost zum
Stehen kommen; deshalb wird der Angreifer danach trachten, sich dieser Über¬
gänge zu bemächtigen. Die erwähnten Übergangspunkte wurden demgemäß
noch in den achtziger Jahren befestigt und neuerdings durch mehrere feld¬
mäßige Anlagen verstärkt. So besitzt Foca drei verteidigungsfähige Kasernen,
Visegrad eine verteidigungsfähige Kaserne und zwei offne Batterien, Zvornik
eine alte türkische, von Österreich adaptierte Feste, die das Tal und die Straße
nach Dolna Tuzla und die Drina beherrscht. Von besondrer Bedeutung unter
diesen Übergangspunkten ist Visegrad als die bequemste Ausfallpforte gegen
Serbien. Hier mündet unweit des Ortes, bei Vardiste, die böhmische Ostbahn
und eine gute für Wagentransport geeignete Straße. Für den weitern Vor¬
marsch landeinwärts ergeben sich insofern günstige Verhältnisse, als von hier
über die Mokra gora nach Uzice eine fahrbare Kommunikation führt, die im
Tale der westlichen Morava ihre Fortsetzung in das Straßen- und hilfsquellen¬
reiche Tal der zentralen Morava findet. Ein Vormarsch aus dem Brücken¬
kopfe von Visegrad heraus müßte jedoch von Rogatica und Gorazda her unter¬
stützt werden. Bei der Verteidigung der obern Drina fällt der Umstand stark
ins Gewicht, daß auf österreichischem Boden in der Strecke Gorazda - Rogatica
keine den Fluß begleitende Straße führt, und daß sich jenseits der Grenze sehr
hohe Mittelgebirgsrücken auftürmen, die ein Überschreiten des Grenzwalles nur
auf den gegen die genannten Übergangspunkte zusammenströmenden Kom¬
munikationen zulassen. Daraus geht auch die Bedeutung von Visegrad, Gorazda
und Rogatica hervor, der österreichischerseits durch Truppenverstärkungen ent¬
sprochen wurde.
Abwärts von Rogatica sind bemerkenswert das serbische Ljubovija, die
alte türkische Feste Zvornik, das serbische Loznica und der Kommunikations¬
knoten Bjelina. Im Raume Rogatica - Loznica schiebt sich auf serbischen Boden
ein bis 1300 Meter hoher Mittelgebirgsrücken quer über die Vormarschlinien;
er wird nur von wenigen Kommunikationen überschritten, die fast ausnahmslos
in die vorhin erwähnten Flußpunkte münden. Serbien hat schon in den
siebziger Jahren den wichtigsten Uferort Loznica befestigt, die verfallnen Forti-
fikationen wurden neuerdings aufgefrischt; die Feste Zvornik wird von dem
auf serbischen Gebiete liegenden Maki-Zvornik beherrscht, wie überhaupt ab¬
wärts von Loznica das serbische Drinaufer das böhmische um mindest einen
Meter überragt und fast überall eine verdeckte Annäherung und Ansammlung
gestattet, während das böhmische meist frei und offen daliegt. Diese Umstände
erschweren nicht nur die Grenzbeobachtung und Sicherung, sondern auch das
Überschreiten des Flußhindernisses und die hierzu nötigen Brückenarbeiter. Um
gegen Überraschungen vollkommen gesichert zu sein, müßten die wichtigsten Ge¬
birgspässe des früher erwähnten Mittelgebirges besetzt werden. Die große
Entfernung der einzelnen Übergänge ist auch als eine Gefahr zu bezeichnen,
der man nur durch ein umfassendes, unterstützendes und darum zeitlich genau
umgrenztes Vorbrechen begegnen könnte.
Wahrscheinlich ist nun, daß das Gros der im östlichen Bosnien, in
Banjaluka und Dolna-Tusla, untergebrachten 48. Infanteriedivision über
Loznica und über und nördlich von Zvornik vorgehen wird, während über
Ljubovija die aus Sarajewo vordirigierten und für die Operation über No-
gatica-Visegrad entbehrlichen Kräfte angesetzt werden dürften. Hierzu ist zu
bemerken, daß die vorhandnen Streitkräfte für die Durchführung einer kräftigen
Offensive über die Drina nicht ausreichen, daß vielmehr die an der serbischen
Grenze verteilten beiden Infanteriedivisionen nur die ersten Staffeln des
nötigen Machtaufgebots sein können, während das Gros erst aus dem nächsten
Korpsbereiche von Agram (XIII. Korps) heranzuschieben sein wird. Und dies
um so mehr, als mit einem starken Vorstoß serbischer Truppen über die Drina
gerechnet werden muß.
Wesentlich einfacher liegen die strategischen Verhältnisse im Norden Serbiens.
Hier bilden save und Donau eine so mächtige Grenzbarriere, daß von einem
Überfall Serbiens keine Rede sein kann. Auch bestehen viel günstigere Ver¬
hältnisse für die Versammlung sehr starker Streitkrüfte, da das Kommuni¬
kationsnetz die rasche Ansammlung zahlreicher Truppen ermöglicht und die
vielen wohlhabenden Ortschaften eine Unterbringung begünstigen. Als Auf¬
marschraum des Gros kommt nach dem Bestand an Straßen und Hilfsmitteln,
ferner nach der strategischen Gesamtlage das untere Banat in Betracht, das
ist der Raum Pancsova - Weißkirchen, in dem vier Bahnen münden, und wo
die Donau als Transportlinie seit je eine große Rolle gespielt hat. Von hier
aus ergeben sich günstige Operationsrichtungen durch das Tal der zentralen
Morava, der Kornkammer Serbiens. Diese Richtung ist aber auch deshalb
von so großer Bedeutung, weil sie die für den Bewegungskrieg geeigneten
Räume umfaßt und bei dem schwierigen Nachschub die Okkupation wesentlich
erleichtern würde.
Die Operationsrichtung über Visegrad-Caeak und die durch das Moravatal
stellen die große äußere Umrandung des wahrscheinlichen Kriegstheaters dar;
gelingt es einer österreichischen Offensive, Herr dieser Linien und der sie be¬
grenzenden Räume zu werden, so werden die serbischen mobilen Kräfte in den
westlich und nördlich davon liegenden Räumen eingeschlossen, was zu einer
Kapitulation führen würde. Auf eine solche Niederwerfung der Serben hinzu¬
arbeiten, erscheint auch deshalb wichtig, weil nur ein Festhalten der serbischen
Streitkräfte den Bandenkrieg verhüten kann. Ist die serbische Armee geschlagen
und womöglich zerniert — die konzentrischen österreichischen Operationslinien
weisen gebieterisch daraufhin, diese Zernierung anzustreben —, so ist auch der
Widerstand des Landes gebrochen, denn der serbische Bauer ist keineswegs
kriegerisch gesinnt, er seufzt im Gegenteil unter der Last der Steuern und der
Politik, die von einigen Hitzköpfen aus persönlichem Interesse gemacht wird.
Neben der durch das Moravatal gedachten Hauptvormarschrichtung kommen
Operationen aus den Aufmarschräumen in Syrmien (Mitrovitza) und aus dem
Gebirgslande des Raumes Weißkirchen-Orsova in Betracht; diese Operations-
ziele haben aber nur unterstützenden und fördernden Charakter. Die Eigenart
der Kriegführung der Bergstämme würde ausreichende Vorsorgen für den
Etappenschutz nötig machen; es müßten umfangreiche Straßenverbesserungs¬
arbeiten durchgeführt und Befestigungen an den wichtigen Etappenpunkten
errichtet werden. Wegen des minderwertigen fortifikatorischer Zustandes der
serbischen Befestigungen braucht die österreichische Armeeleitung keinen großen
Belagerungspark mitzunehmen.
Bei der Forcierung der save-Donau ist der Donauflottille eine besondre
Rolle zugewiesen. schätzungsweise dürften im Banat etwa zwei bis drei Korps,
in Syrmien ein Korps, an der untern Drina eine verstärkte Infanteriedivision
und im Gebirgslande östlich des Banats zwei bis drei Gebirgsbrigaden ver¬
wandt werden, sodaß sich das Kraftaufgebot gegenüber Serbien auf vier Korps
und zwei selbständige Infanteriedivisionen belaufen könnte.
Die serbische Hauptkraft wird, wie aus mehreren Anzeichen hervorzugehn
scheint, im Raume Valjevo-Uzice oder Aranjelovac-Sviljainac versammelt mit
Kragujevac als befestigtem Stützpunkt. Das Schwergewicht der serbischen
Operationen ist augenscheinlich aus einen Einfall in Bosnien gerichtet, und zwar
über Visegrad und Umgebung auf Sarajewo, wobei über die Krbljna eine
Verbindung mit der auf Mostar gedachten montenegrinischen Offensive angestrebt
wird. Auf derlei Absichten deuten wenigstens die starken Truppenansammlungen
im Tale der westlichen Morava hin. Ob einer serbischen Invasion nach Bosnien
ein Erfolg blühen kann, soll hier nicht näher untersucht werden. Es ist jedoch
kaum zweckmäßig, die serbische Armee qualitativ gering zu schützen; Serbien
rüstet seit Oktober des verfloßnen Jahres, bildet seine Reservisten in vierwöchigen
Übungen aus, bestellt neue Gewehre, Geschütze und Kriegsmaterial und ist auch
in der Lage, das Bestellte zu bezahlen, woraus geschlossen werden muß, daß
das Land im Kriege nicht aus Mangel an materiellen Mitteln unterliegen
Wird; es hat mächtige Gönner. Inwieweit in Bosnien und der Herzegowina
selbst die Möglichkeit einer Aufstandsbewegung vorliegt, sei dahingestellt; zu
betonen wäre jedoch, daß eine wenn auch noch so geringe Schlappe der öster¬
reichischen Truppen von sehr schweren Folgen begleitet sein würde, da sie, durch
die orientalische Phantasie riesengroß aufgebauscht, das Signal zu einer all¬
gemeinen Erhebung geben könnte.
Auf jeden Fall muß damit gerechnet werden, daß bei einer weitern Ver¬
schlechterung der politischen Lage, also am Vorabend eines Krieges, Österreich-
Ungarn zu neuen Truppensendungen genötigt sein wird. Es scheint zwar sehr
leicht, die Bewegungen der serbischen Streitkräfte, die fast durchwegs auf langen
Straßen und in kultivierten Teilen erfolgen, zu überwachen, dagegen ist aus
der serbischen Presse fast gar nichts über derlei Verschiebungen zu erfahren,
sodaß die Gefahr besteht, bei nicht umfassend organisierten Kundschafterdienst
überrascht zu werden. Ganz im Gegensatze hierzu lassen sich die militärischen
Maßnahmen Österreich-Ungarns aus den ungarischen Blättern bis ins kleinste
Detail verfolgen, ja die Unvorsichtigkeit oder Ungewißheit der Preßübexwachungs-
stellen ging so weit, daß aus der Danksagung der mit Weihnachtsspenden be¬
dachten Truppen die genaue Kriegsgliederung des fünfzehnten Korps entnommen
werden konnte, die bis dahin streng geheimgehalten worden war. Ein Schul¬
beispiel, wie man es nicht machen soll!
Was nun die militärische Situation Österreich-Ungarns gegenüber
Montenegro betrifft, so gestalten sich hier die Verhältnisse dank der seit der
Okkupations Bosniens und der Herzegowina geschaffnen umfangreichen mili¬
tärischen Einrichtungen wesentlich günstiger als gegenüber Serbien. Die große
Armut an Hilfsquellen in der Herzegowina, das gering entwickelte Kommuni¬
kationsnetz und die äußerst schwierigen Unterknnftsverhältnisse, wie sie noch in
den achtziger Jahren vorlagen, führten zu einer Reihe administrativer Ma߬
nahmen, die auf den Kommunikationsbau und zwar vor allem wieder auf die
Schaffung leistungsfähiger Verbindungen mit der Monarchie (Bahn und Schiff¬
fahrt) hinzielten, auf die Anlage eines möglichst engmaschigen Netzes von guten,
jederzeit benutzbaren Straßen, ferner auf die Sicherung der Benutzung dieser
Kommunikationen und auf die Verbesserung der Wasser- und Hilfsmittelverhält¬
nisse. Zu diesem Zwecke wurden zahlreiche Befestigungen geschaffen.
Diese Befestigungen schaffen gesicherte Lagerräume und Depots für größere
Kräfte, können daher als gesicherte Samuel-, Ausgangs- und Stützpunkte für
Operationen dienen und sind somit als fortifizierte Aufmarschräume zu betrachten.
Da jede der drei Grenzfestungen: Blick, Trebinje, Cattaro mit Garnisonen von
rund 10000 Mann belegt ist, während das Gros der Operationstruppen ge¬
staffelt bis Mostar zurückreicht, ist eine für den Bormarsch in diesem Gelände
sehr zweckmäßige Kräftegliederung schon durch die Garnisonierung gegeben. Die
umfassende Gestaltung der Grenze ermöglicht zudem ein konzentrisches Vorgehn,
wobei als Ausgangsräume Foca, Gacko, Blick, Trebinje, Krivosije, Cattaro,
Budua, Castellas-tua in Frage kommen.
Der eigentümliche Charakter des montenegrinischen Hochgebirges, dessen
Schwierigkeiten durch die meist starke Verkarstung sehr erhöht werden, verlangt
eine besondre Operationsführung und ein besondres taktisches Verfahren, das
überdies durch die nationale Kampfweise des Bergvolks wesentlich beeinflußt
wird. Als österreichisches Operationsziel kommt im allgemeinen die Zeta-Moraca-
niederung von Niksic bis Podgorica in Betracht, sie ist das materielle Kräfte¬
reservoir Montenegros. Wiewohl von der österreichischen Grenze bis zu dieser
Talniederung nicht mehr als 50 Kilometer Luftlinie sind, würde die Gewinnung
des Zetatales doch mindestens eine Woche beanspruchen, da die Marschleistung
von längern Kolonnen in diesem Terrain oft nicht höher als 5 Kilometer pro
Tag ist, was sich aus der Notwendigkeit vorsichtiger Basierung (Errichtung
befestigter Etappenpunkte) und deren ungeheuern Schwierigkeiten (sogar die
einfachsten Bedarfsartikel müssen auf Tragtieren nachgetragen werden, wie
Wasser, Futter für die Tiere usw.) erklärt.
Das jetzige Kräfteaufgebot reicht nur für die Festhaltung der annektierten
Länder und die Niederwerfung einer Insurrektion hin; für die Operationen
nach Montenegro müßten weitere Kräfte aufgeboten werden oder die zurzeit
in der Herzegowina liegenden durch andre für den Landessicherungsdienst
ersetzt werden. Eine Truppenverschiebung im Winter stößt sowohl bei Benutzung
der Schmalspurbahn als auch der Seeschiffahrt auf bedeutende Schwierigkeiten.
Die Bahn ist fast regelmäßig bei den dortigen ungeheuern Schneefällen verweht,
die Aufnahmefähigkeit der kleinen Waggons infolge der Kälte bedeutend ver¬
ringert, die Teilung längerer Zuglasten in mehrere Staffeln geboten, wodurch
wieder die Tagesleistung geschmälert wird; schätzungsweise können im Winter
nur drei bis vier Bataillone pro Tag in die südliche Herzegowina geschafft
werden.
Die Schiffahrt leidet unter den heftigen Borqstürmen, die das Anlaufen
der nautisch wenig entwickelten süddalmatinischen Häfen ungemein erschweren,
sodaß Schiffe oft tagelang auf günstigere Wetterverhältnisse warten müssen, um
ihre Ladung löschen zu können. Die Landung in Teodo oder Cattaro ist zwar
nicht solchen Schwierigkeiten ausgesetzt, doch können besondre Verhältnisse das
Ausschiffen von Truppen im Gebiet von Spizza nötig machen, das über keine
besondern Hafenanlagen verfügt. Und Spizza ist gerade der durch einen Überfall
Montenegros gefährdetste Raum; dieser schmale süddalmatinische Landstrich hängt
mit Cattaro durch die Zupaebne zusammen. Hier steht zurzeit nur ein Bataillon,
doch dürfte es binnen kurzem durch Aufstellung einer süddalmatinischen Gebirgs-
brigade verstärkt werden. Ursprünglich bestand die Absicht, Spizza im Kriegsfalle
zu räumen; davon scheint man jedoch aus politischen Gründen abgekommen zu
sein. Bei der Verteidigung Süddalmatiens wird der k. und k. Kriegsflotte eine
sehr große Rolle zukommen; demgemäß ist als „Wintergeschwader" die neue
10600 Tonnen-Schlachtschiffdivision mit den Kreuzern Se. Georg und Kaiser
Karl der Sechste und zahlreichen kleinern Fahrzeugen formiert worden; ein Teil
des Geschwaders steht schon in Teodo und Budua.
irtschaftskrisen haben schon ihre eignen Theorien und ihre eignen
Theoretiker gefunden, und im Interesse dieses neuen Zweiges
volkswirtschaftlicher Sonderforschung muß jede neue monographische
Darstellung dieser Art dankbar begrüßt werden. Die jüngste
Sturmperiode des Zeitalters kapitalistischer Produktion, die Krisis
des Jahres 1907, hat nunmehr in Adolf Hasenkamps Buch: Die wirt¬
schaftliche Krisis des Jahres 1907 in den Vereinigten Staaten von
Amerika (Jena, Gustav Fischer) eine zusammenhängende Bearbeitung gefunden;
gerade sie ist uns um so willkommner, als sie auf Spezialkenntnissen ameri¬
kanischer Wirtschaftszustände, von denen der Verfasser schon Zeugnis abgelegt
hat, fußt, willkommen auch, weil sie die Untersuchungen Hermann Schumachers
erweitert und ergänzt. Die Wirkungen jener transatlantischen Krise haben wir
ja auch bei uns genügend gespürt; ein Vorbeugen ähnlicher Ereignisse, die
bei den engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Kontinenten
wohl jedesmal einen entsprechenden Rückschlag bei uns auslösen würden, fordert
aber eine klare Erkenntnis der Krankheitserscheinungen; sehen wir zu, wie jene
Krisis entstand.
Bekanntlich äußerte sich die Krisis in den Vereinigten Staaten als Geld¬
krisis, d. h. sie trat in einem verhängnisvollen Mangel an Zahlungsmitteln
zutage. Aber dieser Geldmangel ist nur ein Symptom, nicht die Ursache,
kann es schon deswegen nicht sein, weil die Vereinigten Staaten nächst Frank¬
reich den größten Geldumlauf aller Goldländer, den doppelten Geldumlauf
Großbritanniens besitzen. Die offne Krise hat in einem psychologischen
Moment ihren Grund, in dem Zusammenbruch des amerikanischen Optimismus
angesichts eines plötzlichen Konjunkturumschlags, verstündlich wird sie aber erst,
wenn man die einzelnen Ursachen und Phasen dieses einer außergewöhnlichen
Hochkonjunktur folgenden wirtschaftlichen Tiefstandes kennt.
Intensiver als anderswo waren die vier Jahre des Aufschwungs, die der
Krisis vorausgingen, von dem tatkräftigen amerikanischen Volke ausgenutzt
worden, aber mit der wirtschaftlichen Entwicklung, mit der Hochspannung des
Unternehmermutes hatte, das war das Verhängnisvolle, die Kapitalbildung
nicht Schritt gehalten. Der Außenhandel hatte sich seit 1896 verdoppelt,
desgleichen die Roheinnahmen der Eisenbahnen, die Mineraliengewinnung war
auf das Dreifache gestiegen, gewiß Ergebnisse, auf die man stolz sein könnte,
die aber teilweise schon ihr Zustandekommen einem in seinen Spekulationen
zu weit gehenden Unternehmungseifer verdankt hatten. Auf Zusammenfassung
drängten Industrie und Verkehrswesen im letzten Jahrzehnt hin, und dieser
Vorgang, so nützlich er durch Ausschließen oder wenigstens Vermindern der
Konkurrenz wirken kann, so verhängnisvoll kann er wirken durch Festlegung zu
gewaltiger Kapitalmassen, und so wirkte er in diesem Falle. Optimist, wie
der Amerikaner ist, rechnete er mit einem jederzeit genügenden Kapitalangebot,
und die finanziellen Erfolge der ersten großen Zusammenlegungen schienen ja
auch diese Hoffnung zu rechtfertigen; eine Gefahr aber lag in der veränderten
Grundidee, die diese Zusammenlegungen im Verlauf einer natürlichen Ent¬
wicklung annehmen mußten. Aus den freiwilligen Zusammenschlüssen der
Werkbesitzer wurde nach und nach ein Auslaufen um jeden Preis seitens ge¬
wisser Unternehmerkreise, die eben bei konsequenter Durchführung ihrer Monopol¬
bestrebungen gezwungen waren, den ihres Vorteils wohl bewußten, zurück¬
haltender Betrieben Bedingungen anzubieten, die eine Überkapitalisierung der
neuen Gesellschaft zur Folge haben mußten. Nicht der wahre Wert der zu
erwerbenden Anlage, sondern eine oft äußerst optimistische Abschätzung ihrer
Ertragsfähigkeit wurde dann der Bemessung des Grundkapitals zugrunde ge¬
legt. Einzig da stehn die Riesenschöpfungen des Jahres 1901, Schiffahrts¬
trust und Stahltrust, Ergebnisse einer immer weiter um sich greifenden Betriebs-
zusammenfassuug. Betriebskapital war gewöhnlich knapp, zumal da in den ersten
Jahren, wo man zur Anlockung des Publikums auf hohe Dividenden hin¬
arbeiten mußte, wenig flüssige Mittel herausgewirtschaftet werden konnten;
Neuaufnahmen von Kapital waren die notwendige Folge.
Charakteristisch hebt sich dieser Konzentrationsprozcß in der Entwicklung
des amerikanischen Eisenbahnwesens ab. Das Bestreben der großen kon¬
kurrierenden Gesellschaften ging dahin, die eignen Linien in möglichste Nähe
der großen Verkehrs- und Handelsplätze zu führen und zwang so entweder
zum umfassenden Ausbau der Strecken oder zum Ankauf anschließender, die
gewünschte Verbindung herstellender Netze. In den Jahren 1905 bis 1907
wurden nicht weniger als 12196 Meilen neue Linien gebaut, das Betriebs¬
material erfuhr eine entsprechende Vermehrung, die Betriebskosten wuchsen ins
Riesenhafte; insgesamt beläuft sich die Kapitalvermehrung der gesamten Gesell¬
schaften in den letzten zwei Jahren vor der Krisis auf 2 Milliarden Dollars.
Und man vergesse nicht, daß von einem großen Teil dieser dem Kapital¬
markt entzognen Summen Erträgnisse erst in fernliegender Zeit zu erwarten
waren und sind. Jedenfalls aber rechnete man damals auf diese Erträge,
wie denn überhaupt dem Amerikaner Bedenken für die Gesundheit, Zweifel
an dem Erfolg dieser Entwicklung vorerst nicht kamen, und so erschien jene
an vermutlich aufsteigende Konjunktur fast immer anknüpfende Richtung der
Kapitalsentstehung ebenfalls: die Bodenspekulation. Teils befaßte sie sich mit
den für spätere Bebauung günstig erscheinenden mächtigen Terrains um die
Großstädte herum, erhöhte hier die Bautätigkeit, trieb die Boden- und Miet¬
preise in die Höhe, machte sich aber auch in den rein landwirtschaftlichen
Gegenden des Westens bemerkbar und legte alles in allem große Kapitalien
fest. Als drittes gesellt sich dann noch dazu die Börsenspekulation in Wert-
Papieren; überschritt sie auch im allgemeinen das sonst in Amerika übliche
Maß nur wenig, so wirkte sie in diesem Falle doch ungünstig, weil sie den
Kapitalmangel noch fühlbarer gestaltete. Zudem erreichte sie auch in einigen
Werten einen Umfang, wie man ihn sonst kaum kannte; beispielsweise konnten
so achtzehn neue Bergwerksunternehmungen an einem Tage ihre Anteilscheine
in den Handel einführen.
Viel Geld wurde verdient, oft mühelos, viel aber auch ausgegeben. Man
macht die Beobachtung, daß die starken Lohnsteigerungen der arbeitenden
Klassen weniger zu einer Erhöhung der Sparrücklagen als vielmehr zu einer
verhältnismäßigen Verbesserung der Lebenshaltung führten, daß ein ungesunder
Hang zum Wohlleben alle Kreise der Bevölkerung ergriff. Die Ausgaben für
Luxus und Vergnügen wuchsen, man wundert sich kaum noch, wenn man von
400 Millionen Dollar hört, die in den letzten zwei Jahren allein für Auto¬
mobile ausgegeben worden sein sollen. Hier lag eine direkte Kapitalverzehrung
vor, hier kann man wohl auch von einer unmittelbaren Schuld der Nation
reden, während Gründungs- und Speknlationsleichtsinn doch noch im Naturell
des Amerikaners seine entschuldigende Erklärung findet.
Unabhängig nun von amerikanischen Eigenheiten kommt noch eins als
Ursache der Krisis in Betracht: der Einfluß der europäischen Geld- und Kredit-
Verhältnisse. Amerika ist auf europäisches Geld angewiesen; mit dem Auf¬
schwung in den Vereinigten Staaten nun fiel zeitweilig ein starker geschäftlicher
Niedergang in England und Deutschland zusammen, und ganz von selbst stellte
sich das hier vielfach müßige Kapital dem starken Bedarf drüben zur Ver¬
fügung. Eine Rückwirkung machte sich aber sofort bemerkbar, als nun auch in
Europa unter dem Einfluß der aufsteigenden Konjunktur erhöhte Ansprüche an
den Kapitalmarkt gestellt und die Kapitalien ans den Vereinigten Staaten
zurückgezogen wurden. Ein Ersatz fand sich um so schwerer, als die Katastrophe
von Se. Franzisko gewaltige Werte vernichtet hatte, als die politische Weltlage
zugleich den Kapitalbedarf aufs höchste anspannte; man schätzt die Summen,
die der südafrikanische und der russisch-japanische Krieg verschlungen haben, auf
21/4 Milliarden Dollar.
Bei der sich nun nachdrücklich geltend machenden Kapitalnot gelang es
nicht mehr, Anleihen zu den bisherigen Bedingungen unterzubringen, die in¬
dustriellen Werke und namentlich die Eisenbahnen sahen sich wegen Herbei¬
schaffung dringend benötigter Mittel zur Ausgabe kurzfristiger, hochverzins¬
licher Noten gezwungen. Die Hoffnung, bald wieder billiges Geld zu bekommen,
herrschte eben noch immer vor, mit den zu zahlenden Zinsen rechnete man nur
für ganz kurze Zeit, unternahm es sogar noch, durch unmotivierte Erhöhung
der Dividenden eine künstlich in Szene gesetzte Haussebewegung zu unterstützen.
Die Möglichkeit hierzu boten, und da läßt sich ein Mitverschulden nicht aus
der Welt schaffen, die Banken. Indem sie, durch die hohen Ertrügnisse der
kurzfristigen Noten verlockt, der Industrie und den Eisenbahnen in dieser Zeit
ihre Kapitalien zur Verfügung stellten, handelten sie direkt leichtsinnig. Das
Unzeitgemäße dieser Überschwemmung des Marktes mit neuen Werten mußten
sie bemerken, durften sie keinesfalls unterstützen, wenn auch die allgemeine
wirtschaftliche Lage noch günstig war. Sie durften es um so weniger, als
ihnen diese Unterstützung nur mit starker Inanspruchnahme europäischen Kredits
möglich war, und sie die Schwierigkeiten beim Einlösen der fülligen euro¬
päischen Verbindlichkeiten Hütten voraussehen müssen. Diese ließen nicht auf sich
warten; eine Verlängerung der europäischen Kredite war nicht zu erlangen,
große Entlastungsverkäufe in Jndustriepcipieren wurden nötig, bewirkten aber
ihrerseits wieder große Kursverluste der fraglichen Werte, und direkt kritisch
wurde die Lage, als infolge der Verschuldung an Europa Goldexporte ein¬
traten, die bald die Höhe vou dreißig Millionen Dollar erreichten.
Einheitlichkeit der Grundsätze und Geschäftsführung, starkes Verantwort¬
lichkeitsgefühl, das sind Eigenschaften, die bei Banken ohne einheitliche Or¬
ganisation mehr als anderswo wünschenswert erscheinen, die man aber in dieser
kritischen Zeit bei den amerikanischen Banken bedauerlicherweise vermißt. So¬
weit tragen sie ohne Zweifel unmittelbare Schuld, mehr Verantwortung aber
lädt die Bundesregierung durch ihre mangelhafte gesetzliche Regelung des
Banknotenwesens auf sich. Zu geringe Anpassungsfähigkeit der Notenzahl an
den Bedarf, ungenügende Deckung durch Goldvorräte, das sind die fühlbarsten
Schwächen der Bankgesetzgebung, die sich in der Krise des Jahres 1907 aufs
deutlichste bemerkbar machten. Eine automatische Regelung des Notenumlaufs,
wie unser Reichsbanksystem sie gewährleistet, hätte eine derartige Kredit¬
anspannung, wie sie der Krise vorausging, unmöglich gemacht; hören wir doch,
daß der Notenumlauf der Vereinigten Staaten 1897 bis 1907 von 230,8 auf
604 Millionen Dollar gestiegen ist, wobei man bedenken muß, daß die Deckung
dieser Noten nur in Schuldtiteln des Bundes, deren Vermehrung ebenfalls
keine Grenzen gesteckt sind, besteht. Die verhängnisvolle Tragweite der un¬
gehinderten Vermehrung dieser Kreditpapiere, die ja nicht einmal in Gold
eingelöst zu werden brauchen, bringen erst die komplizierten Reservevorschriften
der Einzelstaaten und des Bundes zum rechten Bewußtsein; ermöglichen sie
doch tatsächlich, daß eine Banknote als Grundlage für den sechs- bis zehnfachen
Betrag an Depositenverpflichtungen dienen kann. Überhaupt läßt die Aufsicht
der einzelstaatlichen Banken, der Trust Comvanies, an Strenge und Sorgfalt
viel zu wünschen übrig; Verpflichtungen, Reserven zu halten, bestehn teils über¬
haupt nicht, teils in ungenügender Höhe, erscheinen aber um so unentbehrlicher,
als sich die Trust Companies auf alle Gebiete des Bankgeschäfts vorgedrängt
haben, dank ihrer größern Schmiegsamkeit den Kunden Vorteile vor den
Bundesbanken bieten können und diese dadurch zwingen, auch ihrerseits sich
ertragreichern, aber daher auch riskantem Geschäften zuzuwenden. So konnte
es kommen, daß die Newyorker Banken in den letzten zwei Jahren siebenmal
ein Defizit unter der vorgeschriebnen 25 Prozent Barreserve ihrer Depositen
zu verzeichnen hatten, daß sich für alle Bundesbanken das prozentuale Ver¬
hältnis zwischen Depositen und Barreserve von 1897 bis 1907 um fünf vom
Hundert verschlechterte.
Nicht unbedenklich waren schließlich, wenn man einmal in der willkür¬
lichen Vermehrung der Banknoten einen wunden Punkt der amerikanischen
Bankgesetzgebung sehen muß, jene Maßnahmen der Regierung, die der Er¬
weiterung des Notenumlaufs bewußt Vorschub leisteten. Der vom Schatzamt
mehrfach ausgeführte Beschluß, den Banken Regierungsgelder als Depositen
zu überweisen, ergab sich aus der an sich begreiflichen Absicht, die Barbestände
zu vermehren, trug aber, da für Regierungsgelder selbst keine Reserve ver¬
langt wird, dazu bei, die übertriebne Kreditgewährung seitens der Banken zu
fördern; um den vierfachen Betrag der ihnen überwiesnen Summen konnten
die Banken ihre Verbindlichkeiten auf Depositenrechnung anwachsen lassen.
Die Bedeutung dieser Hilfsaktionen wird anschaulich, wenn man hört, daß die
Regierungsdepositen von 50 Millionen im Februar 1906 auf 173 Millionen
im Mai 1907 angewachsen waren.
Nach alledem kann man die Finanzverwaltung der Vereinigten Staaten
vom Vorwurf einer gewissen Kurzsichtigkeit nicht freisprechen; aber nur schwach
fällt er ins Gewicht neben der ersichtlichen Laxheit und mangelnden wirtschafts¬
politischen Umsicht, die sie in ihrer Vankgesetzgebnng an den Tag gelegt haben.
Übersehn darf man freilich nicht die ungeheuern Schwierigkeiten, die räumliche
Ausdehnung, territoriale Sonderheiten und nicht zuletzt eifersüchtige Wahrung
einzelstaatlicher Gesetzgebungsrechte einer einheitlichen und übersichtlichen Re¬
gelung in den Weg legen. Die wirtschaftliche Entwicklung hatte sich eben in
einer bei uns unbekannten Geschwindigkeit, zuweilen Sprunghaftigkeit voll¬
zogen, ihr entsprangen auch im letzten Grunde jene früher erwähnten unge¬
sunden Eigenschaften des amerikanischen Wirtschaftslebens. Der Erkenntnis,
daß es um die Elastizität und Widerstandskraft des Finanzsystems übel bestellt
sei, konnte sich zuletzt auch der amerikanische Optimismus nicht mehr ver¬
schließen; nur so ist es zu versteh«, daß einzelne Zusammenbruche im Herbst
1907 nicht auf ihre lokale Wirkung beschränkt blieben, sondern im ganzen
Lande als der Beginn der Katastrophe angesehn wurden und in der Tat zu
dieser wurden. Der Boden war eben schon zu sehr erschüttert!
AeMMem in den Grenzboten (1907, Heft 51) schon erwähnten ersten
Bande der „Lebenserinnerungen von Karl Schurz" ist im Verlage
I von Georg Reimer in Berlin vor einigen Monaten der zweite
Band gefolgt, der dem ersten an anziehenden Inhalt kaum nach¬
steht, obgleich er nur noch lose mit Deutschland im Zusammen¬
hange steht.*) Der erste Band, der die Erlebnisse des Verfassers bis zum
Jahre 1852 in deutscher Sprache behandelte, ist von der Kritik mehrfach mit
einem fesselnden Roman verglichen worden, dessen Inhalt nichts weniger als
eine Dichtung, sondern vielmehr eine einfache, mit Kraft und Frische vor¬
getragne Beschreibung der an Kämpfen und Schicksalen ungewöhnlich reichen
Jugendzeit des Verfassers ist. Sein ausgesprochnes Erzählertalent und die
anschaulichen Schilderungen der Erlebnisse, die in einer hochbewegten Zeit
unsers Vaterlandes spielen und darum des höchsten Interesses gewiß sind,
machten den ersten Band zu einem anziehenden Lesestoff, obgleich er nichts
wesentlich neues brachte, aber die meisten Darstellungen jener Zeit an fesselnder
Gestaltungskraft überragte. Und er hatte auch noch einen andern Vorzug.
Wer einen Blick in die Erinnerungsliteratur der Achtundvierziger geworfen
hat mit der häufig aufdringlichen Selbstbespiegelung in großen Worten, der
Verdächtigung der Mitkämpfer, von Unfähigkeit angefangen bis zum Verrat,
der wiederholten Versicherung des Erzählers, wenn es nach seinem Sinne ge¬
gangen sei, wäre dies oder jenes Ereignis und damit der Traum einer deutschen
Republik nicht mißglückt — wer dergleichen gelesen hat, den muß die einfache,
jedes Bombastes, doch nicht des Humors bare Darstellung der Erlebnisse in
jener stürmischen Zeit wohltuend berühren, und der Verfasser hätte doch,
nachdem er wohl auch alle Mißgeschicke der pfülzisch-badischen Revolution, den
Ruhm jener, mitgemacht, aber später eine wirkliche Tat, die Befreiung Kinkels,
mit außerordentlicher Geschicklichkeit und kühlem Mut vollendet hatte, eher einen
Anflug von Ruhmredigkeit verraten dürfen als die meisten andern jener Tage.
Daß ihn nicht erst die Reife des Alters, in dem er seine Aufzeichnungen zu¬
nächst für seine Kinder niederschrieb, zu dieser Enthaltsamkeit bewog, geht aus
seinem gesamten Verhalten hervor.
Er ist Republikaner aus innerster Überzeugung und folgt nicht bloß dem
gewaltigen Zuge der Zeit, sondern er bleibt ihr sein ganzes Leben hindurch
treu. Mit einer für seine Jugend sehr beachtenswerten Objektivität durchschaut
er bald die Aussichtslosigkeit der revolutionären Strömung in Europa, die
seine Flüchtlingsgenossen noch lange Zeit in ihrem Banne gefangen erhält,
und wendet sich schon im Jahre 1852 der nordamerikanischen Republik zu,
die allein seinem Staatsideal entspricht. Damit geht Schurz dem deutschen
Vaterlande dauernd verloren, die glänzende Erflehung des Deutschen Reichs
läßt ihn ziemlich kalt, denn sie befriedigt sein republikanisches Ideal nicht. Die
nationale Ader, die viele seiner Schicksalsgenossen mitbewegt und sie dem neuen
deutschen Vaterlande schließlich wieder, wenn auch äußerer Umstände halber
meist nur mit dem Herzen, zugeführt hat, ist bei ihm wenig entwickelt, er bleibt
Amerikaner im vollsten Sinne des Worts, weil er ausschließlich Republikaner ist.
Nicht Deutschland, sondern die Republik ist seine Heimat. Diese eigenartige
Entwicklung, die mau wegen seiner persönlichen Bedeutung wohl gern anders
gewünscht hätte, läßt sich ans seinen Lebensverhältnissen begreifen. Aus jenen
neuprenßischen Gebieten der früher erzbischöflichen Rheinland? stammend, die
ebenso wie die rheinbündischen süddeutschen Lande die große nationale Erregung
Kor i8iZ „ur an sich vorüberrauschen gesehen aber nicht selbst mitgemacht
haben, ist ihm das Wesen des preußischen Staats vollkommen unverstanden
geblieben. Das ist selbst viel ältern seiner Gesinnungs- und Schicksalsgenossen,
wie Temme n. a,, auch so gegangen. Man schimpft ja auch heute noch aus
ähnlichem Beweggrunde im gesamten Süden Deutschlands weiter auf Preußen,
obgleich man es weder entbehren kann noch mag. Die in den dreißiger und
vierziger Jahren an den höhern Schulen und Universitäten vorherrschende
Richtung hatte sich, da ihr der deutschnationale Patriotismus von Bundestags
wegen verwehrt wurde, dem Traume einer allmächtigen demokratischen Staats¬
gewalt nach der Weise der Alten zugewandt; man hielt die Republik eigentlich
für vernünftiger als die Monarchie, die höchstens als Übergang zu jener an¬
zusehen und darum noch zu dulden sei. Dazu kamen namentlich in den Rhein¬
landen lebhafte Erinnerungen an die französische Revolution, der französische
Liberalismus hatte deu Deutschen eine revolutionäre Brille aufgesetzt, durch
die sie ihre Lage nicht klar zu erkennen vermochten. Schurz hatte für sich
selbst daraus das Fazit gezogen: „Der Idealismus, der in dem republikanischen
Staatsbürger die höchste Verkörperung der Menschenwürde sah, war in uns
durch das Studium des klassischen Altertums genährt worden, und über alle
Zweifel, ob und wie die Republik in Deutschland eingeführt und inmitten des
europäischen Staatensystems behauptet werden könne, half uns die Geschichte
der französischen Revolution hinweg" (Band I, Seite 141).
An patriotischer Empfindung hat es auch vor Bismarck im deutschen Volke
nicht gefehlt. Man schwärmte und sang vom deutschen Vaterlande, man sehnte
sich nach der äußern Form für die innerlich so reich vorhandne Fülle der Liebe
zu allem, was man in Wort und Gesinnung, in Dichtung und Kunst, in
Sitten und Gebräuchen als deutsch empfand. Ein deutsches Reich war die
Sehnsucht aller Gebildeten, begeisterte die Dichter für „das deutsche Vater¬
land", das nach den Worten des alten Arndt immer „größer" sein sollte.
Aber wie es zu machen sei, war die schwere Frage, und der politische Kampf
um diese oder jene Staatseinrichtung, wie sie eine Lehrmeinung oder ein
Klasseninteresse fordert, hat nicht geruht, bis ihm die historische Entscheidung
von 1866 ein Ende machte. Zu der einfachen Klarheit, daß man nicht Fragen
der innern Politik entscheiden kann, bevor man nicht Herr im eignen Hause
ist, jeden fremden Angriff und jede fremde Intrige zurückzuweisen vermag,
vermochten sich nur wenige emporzuringen. Und doch galt es überhaupt erst
einen Staat zu schaffen, der Nation das Unterpfand jedes Erfolgs, das stolze
Selbstgefühl zu retten. Aber dies lag unter den Schlagbäumen der Klein¬
staaterei wie in einem Spinnengewebe ohnmächtig und gelähmt. Die Kaiseridee,
die in Geschichte und Sage besonders mit den beiden großen Kaisern Karl und
Friedrich Barbarossa innig verknüpft war, lebte weiter, obgleich Franz der
Zweite die Kaiserwürde aufgegeben hatte, und wurde der Gegenstand des
politischen Hoffens und Sehnens, sowohl zur Zeit der napoleonischen Willkür¬
herrschaft wie unmittelbar nach den Befreiungskriegen und wieder in der Zeit
der politischen Wallungen der Jahre 1848 und 1849. Aber sie traf mit der
demokratischen Idee zusammen, die nach dem Muster der französischen Revolution
das deutsche Vaterland als Republik begründen wollte. Dieser Gedanke stieß
jedoch auf den Widerstand sämtlicher Fürsten, die Kaiseridee auf die Abneigung
der Mehrzahl der Fürsten mit dem Kaiser von Österreich an der Spitze, der
schließliche Kompromiß in der Frankfurter Nationalversammlung zwischen
Kaiseridee und Demokratie auf die Ablehnung des Königs von Preußen. Das
Endergebnis war die Wiederherstellung des Bundestags und die Bekräftigung
des schon früher gefcillnen Ausspruchs Friedrich Wilhelms des Vierten, daß
die deutsche Kaiserkrone nur auf dem Schlachtfelde erworben werden könne.
Ihm gebrach es keineswegs an politischer Erkenntnis, nur an der Befähigung
zum politischen Handeln. Die politischen Ereignisse bestätigten achtzehn Jahre
danach seine Ansicht.
Das gänzliche Mißlingen der beiden Pläne zur Schaffung eines deutschen
Reichs hatte in den Vertretern der leitenden Grundgedanken merkwürdige
Wandlungen zur Folge. Heinrich v. Gagern, der eigentliche Führer auf dem
Wege zum Erbkaisertum der Hohenzollern, ging im Verlaufe der Jahre ins
österreichische Lager über, Schurz, der mit zwanzig Jahren alle demokratischen
Mißerfolge mitgemacht, aber durch die umsichtige und mutvolle Befreiung seines
Lehrers und Freundes Gottfried Kinkel aus dem Gefängnis zu Spandau in
der Nacht vom 6. zum 7. November 1850 bewiesen hatte, daß er ein tatkräftiger
Mann war, wurde Amerikaner. Er tat diesen Schritt im August 1852 mit
voller Überzeugung: „Es ist eine neue Welt, eine freie Welt, eine Welt großer
Ideen und Zwecke. In dieser Welt gibts wohl für mich eine neue Heimat.
Vdi lidörws, ibi Meria." Er folgte der hauptsächlich durch deu Einfluß Lord
Byrons besonders im Westen Deutschlands angeregten, auch im elterlichen
Hause gepflegten Schwärmerei für Nordamerika und seinen Helden Washington.
Byron hatte sich zu sterben gewünscht jenseit des Meeres in dem letzten Asyle
der Freiheit: vns K-omnM mors, ^msriea, lor tilge! Diese Schwärmerei fiel
in die Zeit, da das deutsche Volk ein ruhiges, stetiges Selbstgefühl kaum besaß
und das Fremde anstaunte und idealisierte, nur weil es fremd war. Seitdem
wir auf festen eignen Füßen stehn, sind wir leicht geneigt, die Ideale jener
Zeit allzu scharf zu verurteilen. Man darf aber nicht vergessen, daß noch ein
halbes Menschenalter nachher, in den letzten Zeiten des unglückseligen Bundes¬
tags, manchem Deutschen die Frage auf der Seele lag, ob wir überhaupt be¬
rechtigt seien, uns eine große Nation zu nennen. Denn nur in den Gedanken
lebte das deutsche Vaterland, unsre Eltern haben es erst erarbeiten, erkämpfen,
erleben müssen. Tausende einfacher Leute, die gar nicht vom republikanischen
Prinzip so durchdrungen sein konnten wie Schurz, haben damals ihr Vaterland
auf der Suche nach einer neuen Freiheit verlassen. Viele von ihnen und ihren
Nachkommen beschleicht, auch unter günstigen äußern Verhältnissen, noch das
Heimweh nach dem alten Vaterlande, um so mehr, seitdem es so ganz anders
geworden ist. Schurz hielt sich fast gänzlich frei davon, nur in der ersten
Zeit, da ihm auch noch seine junge Frau in Newyork erkrankt war, kam ihm
teres Verlassenheitsgefühl, das man nur in der „neuen Welt" so recht kennen
lernen kann. Er überwand es bald, denn er hatte sich vorgenommen, „die
Vereinigten Staaten zu meiner bleibenden Heimat zu machen, alles von der
günstigsten Seite zu betrachten und mich von keiner Enttäuschung entmutigen
zu lassen". Solche blieben freilich nicht ans, denn er hatte noch nie eine
Demokratie im vollen Betriebe gesehn, sondern nur in einer Welt der Theorien
und Einbildungen darüber gelebt.
Zunächst galt es für ihn, der trotz lungern Aufenthalt in London noch
nicht englisch gelernt hatte, sich in der fremdartigen Umgebung die Landessprache
anzueignen. Es gelang ihm hauptsächlich durch gewissenhaftes Studium, Über¬
setzen und wiederholtes Rückübersetzen von amerikanischen Zeitungen und Werken
in englischer Sprache. Ein dreijähriger Aufenthalt in Philadelphia galt dem
eifrigen Bemühen, Einsicht in die politischen Verhältnisse zu gewinnen, er sah
sich mächtig angeregt von den vielfachen Widersprüchen des amerikanischen
Lebens. Seine Zweifel hat er damals in einem schon früher bekannt ge-
wordnen Briefe an seine Freundin Malwida v. Meysenbug ausgedrückt. „Ist
denn dieses Volk wirklich frei? Ist dies die Verwirklichung meines Ideals?"
Er kam zu dem Schlüsse, daß er „in keinem idealen Staate lebe, einfach des¬
wegen nicht, weil die Kräfte des Schlechten wie die des Guten freies Feld
hätten". Im Frühjahr 1854 ging er zum Studium der politischen Lage nach
Washington, erhielt aber durch die Vorläufer des Parteikampfes um die
Sklavereifrage — es handelte sich um die sogenannte „Nebraskabill" des
Senators Douglas, des Gegners Lincolns — nichts weniger als erhebende
Eindrücke. Eine „erschreckende Enthüllung" brachte ihm „der erste Blick in
die Tiefen der großen amerikanischen Regierungsinstitution, die man mit dem
Namen Beutepolitik" bezeichnet. „Ich mußte an das preußische Beamtentum
denken, das immer den Ruf strengster offizieller Ehrlichkeit genossen hat, und
war entsetzt." Er wurde dadurch „auf der Stelle, allerdings mir selbst unbe¬
wußt, ein Zivildienstreformer". Nach Lincolns Wahl mußte er freilich zugeben,
daß der vollständige Beamtenwechsel mit dem Siege des neuen Grundsatzes
der Aufhebung der Sklaverei notwendig war, die „Beutepolitik" demnach in
der demokratischen Grundlage der Republik begründet ist, wobei Wähler und
Parteien durchaus nicht immer unterscheiden, ob es sich um große politische
und sittliche Grundsätze bei den Wahlentscheidungen handelt. Die „Bente"
bleibt eben in jedem Falle die gleiche und ist schließlich zur Hauptsache ge¬
worden. Mehr gefielen ihm die Verhältnisse im damaligen Westen. „Hier
fynd ich mehr als anderswo das Amerika, das ich in meinen Träumen gesehn
hatte: in einem neuen Lande eine neue Gesellschaft, gänzlich ungefesselt von
irgendwelchen Traditionen der Vergangenheit; ein neues Volk aus freier
Mischung der kräftigen Elemente aller Nationen hervorgegangen, das nicht
Altengland allein, sondern die ganze Welt zum Mutterlande hatte, mit fast
unbegrenzten Möglichkeiten, die allen offen standen, und mit den gleichen
Rechten, die ihnen durch die freien Institutionen der Negierung gesichert
wurden."
Bevor sich Karl Schurz in Watertown in Wisconsin niederließ, wohin
inzwischen auch seine Eltern ausgewandert waren, kehrte er der Gesundheit
seiner Frau wegen noch einmal nach London zurück, wo er die letzten Reste
der republikanischen Flüchtlinge, Kossuth, Herzen u. a., sich in aussichtslosen
Hoffnungen auf neue Revolutionen verzehrend, wiederfand. Mit Zuversicht
wandte er sich „von dieser nebelhaften Verwirrung" ab und der „neuen Welt"
wieder zu, der „bewußten Verkörperung der höchsten Ziele des modernen Zeit¬
alters", die ihm nur einen „einzigen Flecken" zeigte, die Sklaverei. Im Mai 1856
traf er in Watertown ein und sah sich bald in den politischen Kampf um die
Sklavereifrage verwickelt. Die Aufhebung der Sklaverei erschien ihm als „die
Sache der Freiheit, der Menschenrechte, der freien Regierung, an der alle
Menschen ein gemeinsames und gleiches Interesse haben mußten". Im Osten
kannte man solchen Idealismus in der Sklavereifrage freilich nicht, aber die
Deutschen in Amerika teilten ihn fast ausschließlich. Die Gegensätze zwischen
den Nord- und Südstaaten spitzten sich immer mehr zu, bei der Präsidenten¬
wahl im Jahre 1860 gab der Westen den Ausschlag zum Siege Lincolns, und
im Westen wieder waren es die Deutschen, deren Redner und politischer Führer
Schurz war. Bei der Einführung Lincolns in sein Amt war er in Washington
anwesend und wurde ohne sein Bewerber zum Gesandten in Madrid ernannt.
Gerade war der Bürgerkrieg ausgebrochen, an dem er sich gern beteiligt hätte,
aber man hielt seine Anwesenheit in der spanischen Hauptstadt für nötiger.
Nach den ersten militärischen Mißerfolgen der Nordstaaten nahm er Urlaub
und kehrte nach Washington zurück mit der Absicht, in das Heer einzutreten,
beteiligte sich aber vorher noch an der politischen Debatte über die Frage der
Aufhebung der Sklaverei, an die viele Nordstaatler aus verschiednen Gründen
nicht heranwollten. Lincoln ließ sich endlich bewegen, durch eine Botschaft am
6- März 1862 die Aufhebung der Sklaverei gegen Entschädigung anzuregen.
Schurz erhielt eine Stelle als Brigadegeneral und wurde zunächst der
Armee Fremonts zugeteilt. An dieser Ernennung war nichts Auffälliges.
Er hatte schon im Feuer gestanden, ausgedehnte militärische Studien gemacht
und stand darum dem größten Teile der Truppenführer, zu denen die Union
bei der Schaffung der großen Armee greifen mußte, in keinem Falle nach.
Er berichtet sachlich und schmucklos, aber in fesselnder Darstellung über seine
Teilnahme an der zweiten Schlacht am Bull Rum, an den Schlachten bei
Fredericksburg, Chcmcellorsville, Gettysburg und Chatcmooga, von denen die
nöten infolge der Unfähigkeit der obern Führer wieder verloren gingen. Wie
es damals mit dem öffentlichen Urteil über die Vorgänge und die Führer
beschaffen war, sagt Schurz selbst: „Als ich wenig verdiente, erhielt ich viel;
als mir wirklich Anerkennung für geleistete Dienste zukam, wurden mir Tadel
Und Ungunst zuteil, die eigentlich andre verdient hatten, gerade wegen der
Dinge, die ich mich nach Kräften abzuwenden bemüht hatte." Die öffentliche
Meinung richtete sich eigentlich nur gegen die Deutschen, die im elften Armee-
korps, in dem Schurz die dritte Division befehligte, zahlreich vertreten waren.
Ihnen gönnte man keinen Erfolg und suchte ihnen alle Niederlagen zuzu¬
schreiben. Schurz wurde dann Kommandeur des Jnstruktionskorps in Nashville,
in dem die neu errichteten Regimenter ausgebildet werden sollten, nahm aber
bald Urlaub, um sich an der Agitation für die Wiederwahl Lincolns zu be¬
teiligen, und wurde dann der in den Südstaaten stehenden Armee Shermans
zugeteilt, wo er als Generalstabschef des Generals Slocum nach wenigen
Tagen die Nachrichten vom Fall Richmonds und der Kapitulation der Armee
der Südstaaten sowie auch der Ermordung Lincolns erhielt. Der Nest der
Rebellenarmee kapitulierte am 13. April 1864 vor dem General Sherman.
Schurz wurde dann vom Präsidenten Johnson zu einer Bereisung der Süd¬
staaten veranlaßt, die von ihm eingesandten Berichte fanden aber nicht die
Zustimmung des Präsidenten, der wegen seiner versöhnlichen Politik bald mit
den alten Sklavereigegnern und schließlich mit der großen Mehrheit der
republikanischen Partei in Konflikt geriet, was bekanntlich sogar die Erhebung
einer Anklage gegen ihn zur Folge hatte, die selbstverständlich nicht zur Ver¬
urteilung führen konnte.
Schurz war ein heftiger Gegner Johnsons, der sich für seine Auffassung
von der Sklavereifrage zu weit vom Standpunkte Lincolns zu entfernen schien,
mit der Anklage jedoch nicht einverstanden. Er war inzwischen Journalist
geworden, zunächst als Vertreter der New Dort Tribüne in Washington, dann
zog es ihn wieder nach Westen; er übernahm erst die Leitung der neu¬
gegründeten Detroit Post und 1867 die der deutschen Westlichen Post in
Se. Louis, wo er bald als erster Deutscher vom Staate Missouri in den
Bundessenat gewählt wurde. Weihnachten 1863 war Schurz in Wiesbaden
eingetroffen, wo sich seine Familie aus Gesundheitsrücksichten aufhielt, und
kam darauf nach Berlin. Durch Vermittlung Lothar Buchers erhielt er eine
Einladung Bismarcks, der ihn zweimal zu längern vertraulichen Unterhaltungen
empfing. Die Schilderung dieser Unterredungen bildet einen der interessantesten
Teile des zweiten Bandes, wenn sie auch dem deutschen Leser eigentlich wenig
neues zu bieten vermag. Schurz wundert sich namentlich über die unge¬
zwungne Art, mit der Bismarck ihm gegenüber seine persönlichen Beziehungen
zum König Wilhelm schildert, und die allerdings von der zurückhaltender
Manier vieler amerikanischer Staatsmänner, worüber er mehrfach berichtet,
stark abweicht. Neu ist übrigens, daß Bismarck im Januar 1868 den Krieg
mit Frankreich in den nächsten zwei Jahren voraussagte, den er als not¬
wendige Folge des Bonapartismus voraussah, und der zur vollständigen
Einigung Deutschlands und zum wahrscheinlichen Sturz des Kaiserreichs führen
werde. Gemäß seiner ganzen Anschauungsweise und politischen Entwicklung
verrät übrigens Schurz keine besonders warme Sympathie für den Nord¬
deutschen Bund und antwortet Bismarck auf dessen Frage, ob er noch immer
ein so überzeugter Republikaner sei, „daß ich zwar die Republik nicht in allen
Teilen so schön und lieblich gefunden hätte, wie ich sie mir in meiner jugent-
lichen Begeisterung vorgestellt hätte, hingegen praktischer in ihren Wohltaten
für die große Menge und viel konservativer in ihren Tendenzen, wie ich sie
mir je gedacht hätte". Bismarck erwies sich über amerikanische Verhältnisse
viel eingehender unterrichtet, als es Schurz sonst bei Ausländern gefunden
hatte, und sein politischer Scharfblick zeigte sich in den Äußerungen: „Aber
würden die demokratischen Institutionen Amerikas nicht erst dann die wahre
Probe zu bestehn haben, wenn die außergewöhnlich günstigen Chancen, welche
aus unsern wunderbaren natürlichen Hilfsmitteln hervorgingen, aufgehört
haben würden zu existieren? Würden dann die politischen Kämpfe Amerikas
nicht naturgemäß ein Kampf zwischen reich und arm werden, zwischen den
wenigen, die besitzen, und den vielen, die entbehren?"
Schurz war durchaus Republikaner und war so weit Amerikaner geworden,
daß er auch die Andeutungen Bismarcks überhörte, wie Lothar Bucher und
andre nach Deutschland zurückzukehren, wo öffentliche Stellungen mit hervor¬
ragender Tätigkeit bereit stünden. Volle Befriedigung gewährte ihm im
nächsten Jahre die Erwählung zum Bundessenator, „die höchste öffentliche
Stellung, welche meine ehrgeizigsten Träume mir nur je Hütten verheißen
können". Am 4. März 1869 nahm er seinen Sitz im Senate der Vereinigten
Staaten ein, erst vierzig Jahre alt nach kaum sechzehnjähriger Anwesenheit
im Lande. „Würde ich je imstande sein, diesem Lande meine Dankesschuld
abzutragen und die Ehren, mit denen ich überhäuft worden war, zu recht¬
fertigen? Um dies zu erfüllen, konnte mein Begriff von Pflicht nicht hoch
genug gespannt werden." Mit diesem Höhepunkt schließt der zweite Band
der Lebenserinnerungen, der, bezeichnend genug, in englischer Sprache ge¬
schrieben ist, während der erste Band deutsch war. Wie die Tochter Agathe
im Vorwort erzählt, bot sich ihrem Vater für seine Erlebnisse und die poli¬
tischen Verhältnisse in der neuen Heimat „unwillkürlich die englische Sprache,
die es ihm gestattete, seine Gedanken über diese Verhältnisse prägnanter aus¬
zudrücken". Die Übersetzung, die von den beiden Töchtern und Fräulein Mary
Rolle besorgt wurde, ist ziemlich tadelfrei und läßt nur selten vermissen, daß
man nicht die unmittelbare Ausdrucksform von Karl Schurz vor Augen hat.
Zu bedauern bleibt nur. daß die Erinnerungen mit dem Jahre 1870 ab¬
schließen und die eignen Ansichten des bedeutendsten deutschamerikanischen
Politikers über den Verlauf seines weitern Lebens, über die Entwicklung der
Union und der gesamten Weltlage seit jener Zeit nun fremder Darstellung
vorbehalten bleiben. Es wäre vom größten Wert gewesen, die eignen Urteile
des Meisters der Sprache darüber zu vernehmen. Denn der zweite Band
bietet neben der im höchsten Grade lesenswerten Schilderung der Erlebnisse
der ersten sechzehn amerikanischen Jahre eine ganze Reihe von Rückschauen,
allgemeinen Erörterungen und Ausblicken in die Zukunft, die gerade als von
dieser Seite kommend der Beachtung wert sind. Aus allem leuchtet die Tat¬
sache hervor, daß Schurz ein vollkommner Amerikaner geworden ist. der den
vollen innerlichen Anschluß an die große Republik des Westens gefunden hat,
was nicht allen in Nordamerika eingewanderten Deutschen in gleichem Maße
geglückt ist, weil sie immer noch einen geheimen Zug nach dem alten Vater¬
lande empfinden, das wieder im Glänze des Kaisertums dasteht.
Schurz hatte sich den befremdenden Erscheinungen im Osten entzogen und
sich dem aufstrebenden Westen zugewandt, der unter den einfachen Ver¬
hältnissen seinem republikanischen Ideale mehr entsprach. Plötzlich kam die
schon lange drohende Auseinandersetzung zwischen den Nord- und den Süd¬
staaten, in die der Westen unter dem Einfluß der deutschen idealen Auffassung
der Sklavereifrage entscheidend eingriff und längere Zeit die Führung be¬
hauptete. Das brachte eine vollständige Änderung der Stellung der Deutschen
in der Union hervor, und Schurz wurde sogar unter dem Präsidenten
Nutherford Hayes (1877 bis 1881) Minister des Innern. In dieser Stellung
hat er bewiesen, daß er seine Grundsätze von Recht und Ehrlichkeit bei der
Reform des Zivildienstes, der Verwaltung des Pensions- und Schatzamtes
und der öffentlichen Ländereien, namentlich der Jndianerschutzgebiete und der
Begründung einer vernünftigen Forstverwaltung auch praktisch ins Leben ein¬
zuführen verstand. Viel Dank der eigentlichen Amerikaner hat er damit nicht
erworben, aber bewiesen, daß er im Grunde doch immer ein ehrlicher Deutscher
geblieben war. Das eigentliche Parteiwesen mit seinen zweifelhaften Mitteln
und dem Streben nach der Beute war ihm ein Greuel, er hat auch mehrfach
seine persönliche Stellung zu den Parteien geändert und versuchte selbst im
Jahre 1875 eine Reformpartei zu gründen. Der Ruf nach Reformen wird
aber noch heute bei jeder Wahl erhoben, doch hinterher bleibt immer alles
beim alten, nicht selten wird es noch schlimmer. Es wäre nun vom höchsten
Interesse gewesen, die endgiltige Meinung von Karl Schurz über alle diese Vor¬
gänge und die spätere Entwicklung bis zu seinem Lebensende zu vernehmen.
Er hat freilich für alle bedenklichen Erscheinungen im republikanischen Leben
eine entschuldigende Erklärung bei der Hand und spricht mehrfach in seinen
Erinnerungen die sichere Hoffnung aus, der gesunde Sinn des freien Volkes
werde schon den Weg zur Reform finden. Viel erlebt hat er davon nicht
mehr, es ist eher schlimmer geworden, seitdem die Geschäftspolitik des Ostens
auch den Westen überflutet hat, überhaupt kein Raum mehr vorhanden ist,
wo sich eine republikanische Idylle entwickeln könnte. Der Kampf zwischen
reich und arm ist schon da, und bisher hat selbst eine so populäre Persönlich¬
keit wie Noosevelt den Trusts keinen merklichen Abbruch zu tun vermocht.
Seit das Land nahezu voll ist, beginnt die Staatenbildung drüben nach
europäischer Weise, und die Maschinenzivilisation der Neuzeit zwingt die
Vereinigten Staaten ebenso zur Weltpolitik wie Deutschland, das auch nicht
etwa nur durch eine Laune des Kaisers dazu gekommen ist. Wer da nicht
mitmachen kann, wird sicher im Laufe gar nicht ferner Zeiten der Spielball
der andern. Das hat der republikanische Idealismus Schurzens. der sich von
Anbeginn an gegen jeden amerikanischen Imperialismus gesträubt hat, voll¬
kommen verkannt.
Er ist dabei immer vollkommner Amerikaner, und seine Opposition ist
nichts als Sorge um die Union und namentlich um ihre republikanische
Staatsform. Für den sachlich Urteilenden geht er in seiner Schätzung alles
Amerikanischen und der dortigen republikanischen Einrichtungen und Schöpfungen
vielfach zu weit. Wenn er beispielsweise behauptet, daß der amerikanische
Soldat sich in einem längern Kampfe schließlich nach einiger Erfahrung allen
andern überlegen erweisen würde, so hat er schon 1863 die Zustimmung
Bismarcks dafür nicht gefunden. Er bleibt aber trotzdem auch nach den
Leistungen der Soldaten der allgemeinen Wehrpflicht 1870/71 doch dabei.
Er unterliegt selbst spezifisch amerikanischen Schwächen und hält etwas von
dem in den sechziger Jahren grassierenden Spiritismus. So erzählt er in
den Erinnerungen aus Paris und aus Philadelphia einige Vorkommnisse, bei
dem letzten ist die Täuschung unverkennbar. Eine Tochter des Dr. Tiedemann
in Philadelphia, des Schwagers von Friedrich Hecker, hatte nämlich auffallendes
Talent zum Medium gezeigt, sie tröstet die Mutter durch spiritistische Grüße
von ihren im Sezessionskriege gefallnen Söhnen, prophezeit Schurz, daß er
in Missouri zum Senator gewühlt werden wird, und schreibt auf seine Auf¬
forderung, Schillers Geist zu zitieren und sich einige Verse von ihm diktieren
zu lassen, die deutschen Worte: „Ich höre rauschende Musik, das Schloß ist
von Lichtern hell. Wer sind die Fröhlichen?" Allgemeines Erstaunen, endlich
besinnt man sich auf Schillers Wallenstein. Der Band wird gebracht, und
man findet die Verse am Anfang des letzten Akts. Die Tochter hatte
„Wallensteins Tod" unzweifelhaft nicht gelesen, wohl aber ebenso sicher Hauffs
..Lichtenstein", wo sich die Verse als Überschrift des dritten Kapitels finden
und dem talentierten Medium als recht geeignet erschienen sein mochten, einmal
Schillers Geist zu zitieren.
Diese Nebensachen tun jedoch der Persönlichkeit Karl Schurzens keinen
Abbruch, sie beweisen bloß den ungeheuern Einfluß alles Amerikanischen in
ihm. Seine Bedeutung liegt aber dennoch in allem, wo er sein Deutschtum
dem Amerikanismus gegenüber zur Geltung brachte. Es ist schon erwähnt
worden, welche Wendung in der Stellung des Deutschtums in den Vereinigten
Staaten seinem Verdienst zuzurechnen ist. Fast noch mehr muß man an¬
erkennen, was er für die Berechtigung der Erhaltung der deutschen Sprache
in Amerika gesprochen und getan hat. Seine Ausführungen darüber in den
Erinnerungen wirken überzeugend und erhebend, und er hat bis an sein Ende
dafür gearbeitet. Die Verehrung aller Deutschen in der Welt ist ihm dafür
dauernd gesichert. Er ist am 14. Mai 1906 gestorben, und die Deutschen
wie die Nordamerikaner feierten ihn mit Recht als den größten Deutsch¬
H^FM
Wn einer Zeit, wo man dem historischen Drama wenig geneigt
war, mußte es Ernst von Wildenbruch nicht leicht fallen, sich auf
der Bühne Beifall zu erringen. Seinen ersten Erfolg verdankte
er den Studenten. In seinen Skizzen aus dem Universitäts¬
leben „Der alte Korpsstudent und andre Geschichten" (Leipzig,
Fr. Wilh. Grunow) schildert Ernst Johann Groth das Debüt des Dichters
ausführlich mit Einzelheiten, die auch literargeschichtlich vou Interesse sein
dürften. An die Berliner Studentenschaft war 1880 die Bitte gerichtet worden,
zu wohltätigen Zwecken eine Aufführung im Nationaltheater zu veranstalten.
Groth wurde von der Studentenschaft in das Komitee gewählt. Aus seiner
Geschichte „Eine Studentenaufführung" entnehmen wir folgende interessante
Schilderung: Es hieß, ein Mitglied des literarischen Vereins, ein gewisser
Wildenbruch, ein Referendar, habe einen kleinen „Einakter" geschrieben, der
sich vielleicht zur Aufführung eignen würde. Der Dichter war zwar schon als
Epiker aus dem literarischen Verein bekannt, aber von seinen dramatischen
Arbeiten wußten die meisten Mitglieder des Komitees noch gar nichts.
Ein Mitglied fügte hinzu, Wildenbruch habe sich bereit erklärt, das Stück
dem Komitee selbst vorzulesen, es brauche nur ein bestimmter Abend dafür an¬
gesetzt zu werden. Das geschah denn auch. Schon an einem der nächsten
Tage vereinigten wir uns in dem Sonderzimmer eines Lokals unter den
Linden. Außer dem Komitee waren noch Hofschauspieler Kahle, der Regisseur
Fuchs, der Historiker Höriger und der Germanist Litzmann anwesend. Aus
einem Nebenraume tönten die Klänge eines Streichquartetts herüber und ver¬
setzten unsre Seelen in weihevolle Stimmung.
Wildenbruch las sein Stück „Die Eroberung von Mairan" vor. War
es der feurige Vortrag des Dichters oder die Gewalt der poetischen Sprache
und der genialen Bilder, oder der Zauber der einfachen, aber spannenden
Handlung — wir wurden mit fortgerissen, lauschten mit wachsendem Beifall
bis zum Schluß und waren sofort darüber einig, daß sich das Stück vor¬
trefflich für eine Studentenaufführung eigne.
Die Handlung spielt zur Zeit der römischen Heereszüge nach Germanien-
Die Führer Cethegus, Spurius und Camillus haben sich der den Germanen
heiligen Insel Mairan bemächtigt, wo der Priester Wodemir mit seiner lieb¬
reizenden Tochter Svcmhild den Göttern opfert. Zu dieser herrlichen Jung¬
frau entbrennen die drei Römer in Liebe. Es wird um ihren Besitz gewürfelt,
es kommt zum Streit, zum Kampf, zum Verrat. Währenddessen haben die
Germanen, geführt von dem Verlobten der Svanhild, die Insel erstürmt, die
Römer werden niedergemacht, und das heilige Eiland wird wieder befreit. Mit
einer prächtigen Dithyrambe auf Deutschlands mächtige Zukunft schließt
das Stück.
Wir machten dem Dichter den Vorschlag, dem Drama, um den lokalen
Charakter etwas abzuschwächen, einen allgemeinern Titel zu geben, etwa
„Svanhild". Da Wildenbruch derselben Ansicht war, so hatten wir unsrer¬
seits nun nichts mehr gegen die Aufführung des Stückes einzuwenden.
Allein die Techniker fanden an der Dichtung manches auszusetzen. Kahle
meinte, daß die Sprache im Anfang etwas an Richard den Dritten erinnere,
und daß das hochflutende Pathos kaum von Studenten in erträglicher Weise
wiedergegeben werden könne. Der Regisseur Fuchs machte die Bemerkung,
daß eine Kampfszene auf der Bühne eines der schwierigsten Kunststücke sei,
und daß Dilettanten bei solchen Gelegenheiten leicht den ganzen Eindruck ins
Lächerliche zögen, daß überdies das auflodernde Brennen eines Baumes, wie
es im Stücke verlangt wird, auf der Bühne schwer darstellbar sei; kurz sie
hatten so viele Ausstellungen zu machen, daß Wildenbruch in Unruhe und Be¬
sorgnis geriet. Aber wir hielten an unsrer Wahl fest, obgleich wir uns nicht
verhehlen konnten, daß es für uns Studenten ein großes Wagnis sei, das
Erstlingsdrama eines unbekannten Dichters aufzuführen.
So war die eine wichtige Frage in kurzer Zeit erledigt. Nun aber be¬
gannen die langwierigen diplomatischen Verhandlungen mit Van Hell, dem
damaligen Direktor des Nationaltheaters, der nur mit Mühe und Not sein schon
unter Borsdorffs Leitung leck gewordnes Fahrzeug über Wasser halten konnte.
Van Hell empfing uns mit so viel Würde und Selbstbewußtsein, wie
etwa Apollo eine irdische Künstlerschar empfangen würde.
Natürlich hatte er an der Wahl der Stücke alles mögliche auszusetzen.
Schiller, Hans Sachs, Wildenbruch — nehmen Sie mirs nicht übel, meine
Herren, das geht in die Brüche. Wer ist denn Wildenbruch? Lassen Sie
sich um Himmels willen auf keine Premieren ein. Überlegen Sie doch: Sie
wollen als Dilettanten eine Premiere spielen! Auf einer der größten Bühnen
Deutschlands! Sie wollen neue Rollen schaffen! Nehmen Sie mirs nicht
übel, aber das ist ein wenig unverfroren — unvorsichtig wollte ich sagen.
Sie müssen ein Stück spielen, das schon als großartige Dichtung allein auf
das Publikum wirkt, ein Stück, das gar nicht zu verderben ist, wo sich jeder
Spieler nach einem vorhandnen Muster richten kann. Aber bei allen Göttern,
keine nagelneuen Rollen!
Wir wurden etwas kleinmütig, denn aus dem Munde eines erfahrnen
Bühnenleiters mußten wir die Wahrheit dieser Worte anerkennen.
Das Publikum — fuhr er mit fein gespielter Erregung fort — wird vor
Lachen bersten, und unfreiwillige Komik ist für uns das Todesurteil. Sie
^unen nicht verlangen, daß ich meine Bühne solcher Gefahr aussetze. Auch
befürchte ich, daß Sie sich über die erwarteten Erfolge täuschen. Kurz — Sie
werden nicht auf die Kosten kommen.
Also das war für den Direktor die schwarze Wolke — die Geldfrage!
Nun hatten wir unsrerseits wieder blauen Himmel, denn wir kannten unser
Publikum besser und wußten, daß das Haus auf alle Fälle ausverkauft sein
würde. Die ganze Angelegenheit entwickelte sich denn auch sehr schnell, ohne
alle literarischen, technischen und pekuniären Bedenken, als wir ihm bereitwillig
die verlangten Entschädigungen für Überlassung des Theaters und aller Bühnen-
erfordernisfe zugestanden.
Wildenbruch war bei jeder Probe auf der Bühne, und bei jeder geriet
er mit van Hell zusammen. Bald wollte der Dichter seine Verse anders be¬
tont und seine Ideen anders aufgefaßt wissen, bald verlangte van Hell, der
uns alle mit dem Selbstbewußtsein eines pommerschen Schulrath behandelte,
die Streichung dieser oder jener Stelle oder eine völlig anders geordnete
Stellung der Spieler. Kurz, erst herrschte eine Uneinigkeit, die nicht allein
den Dichter nervös machte und reizte, sondern auch die Freudigkeit der
Mimen sehr beeinträchtigte. Als aber van Hell die Schlußverse, in denen
Wodemir mit großartigem Schwunge Germaniens Schicksal und Bestimmung
vorträgt, einfach als Unsinn wegstrich, da war es mit des Dichters Geduld
zu Ende. Es kam zu einer scharfen Auseinandersetzung, und der Regisseur
Fuchs mußte von nun an auch die Inszenierung der Svanhild übernehmen.
Wildenbruchs Debüt war wirklich ein „Rennen mit Hindernissen". Kaum
hatte man das Stück einigermaßen eingeübt, da trat Spurius von seiner Rolle
zurück. Ich suchte den Dichter auf, um ihm diese Trauerkunde mitzuteilen.
Er wohnte damals in der Dessauer Straße, drei bis vier Treppen hoch
in einer ziemlich öden Wohnung. Ich trat in ein niedriges, kleines Zimmer.
Selbst nach studentischen Begriffen sah es darin außerordentlich wüst aus.
Vor einem alten, gebrechlichen Sofa mit vervlichnem Bezug stand ein plumper
Tisch, der mit Büchern, Zeitschriften und Manuskripten über und über be¬
laden war. Rechts lächelten mich das Waschgeschirr und andres Gerät an,
links lagen Kleider, Hüte und Wäsche zerstreut auf den Stühlen oder hingen
an der Wand. Der Dichter selbst lag in Hemdsärmeln auf dem Sofa und
hatte eine Novellensammlung vor sich. Er richtete sich auf und erkannte mich,
nachdem er den Kneifer aufgesetzt hatte.
Donnerwetter, was ist denn schon wieder los?
Ich erzählte ihm das neue Hindernis. Er sprang auf: Ihr guten Götter,
soll mich euer Fluch denn ewig treffen! Das ist ja eine niederträchtige Ge¬
schichte! Und übermorgen soll die Aufführung sein!
Er ging hastig, soweit es der Raum gestattete, hin und her.
Ich sah unsern „Einakter" auf dem Tische liegen und blätterte darin-
Er ergriff meinen Arm: Na, aber Bester, haben Sie denn gar kein Ver¬
ständnis für meine Lage? Sie müssen doch fühlen, in welche entsetzliche Ver¬
legenheit wir alle damit geraten! Es ist wirklich — nein ! nein! Nun, da
ich Fuchs all.-? überlassen habe, gar nicht mehr anrede, überall das Maul
halte, nun denke ich, würde die Karre gehn. Wissen Sie, lieber will ich
Steine klopfen als Theaterdichter sein, dahin bin ich jetzt schon gekommen!
Ich habe die Schreiberei satt! Sehen Sie, da liegt ein Drama über dem
andern; ich habe sie alle losgelassen wie die Jagdfalken, und alle sind sie
wieder scheu wie die Nachteulen in ihr altes Loch zurückgekommen. Wahr¬
haftig, sie scheuen das Lampen- und Tageslicht! Unsre Bühnenleiter — es
ist ein Skandal! Und nun mit van Hell! Ich weiß, er agitiert gegen mein
Stück! Alles agitiert gegen mich! Haben Sie denn schon einen Ersatzmann
für Spurius?
Ich hatte mich hingesetzt. Nein, es hat sich niemand für die Rolle ge¬
meldet, und zwingen kann man nach dem preußischen Landrecht keinen.
Er sah mich etwas verdutzt an. Ja, Sie haben Recht! zwingen kann
man keinen; dann mag alles zum Teufel gehn!
Ich unterbrach ihn: Nein, aufgeführt muß das Stück werden, dazu sind
wir Ihnen gegenüber moralisch verpflichtet.
Ja, wenn alle so dächten! Daß sich aber auch niemand zu der dank¬
baren Rolle des Spurius melden will! Traurige Gesellschaft, das!
Es gehört eben Stimme dazu, viel Stimme, und darüber verfügen die
wenigsten! bemerkte ich. Sehen Sie, diese Rolle muß herausgedonnert
werden — und dabei las ich ein paar Verse herunter.
Weiter, immer weiter! rief er. Ich las die ganze Tirade zu Ende. Er
sprang auf mich zu und nahm mir das Buch aus der Hand. Sie müssen
den Spurius spielen! tun Sie mir den Gefallen! Sie müssen die Rolle
übernehmen!
Ich machte die Einwendung, daß ich als Komiteemitglied nicht mitspielen
dürfte, daß ich auch unmöglich Zeit zum gründlichen Einstudieren der Rolle
finden würde; aber der Dichter hatte sich in seinen Überzieher gehaspelt und
sagte aufgeregt: Machen Sie keine Ausflüchte, mein Bester, ich bitte Sie, es
bleibt dabei; ich eile sofort zum Nationaltheater.
Die Generalprobe, bei der niedrige Preise genommen wurden, war bis
zum letzten Platze besucht. Alles ging vortrefflich.
Nun aber kam der dritte Streich. Wildenbruch stand hinter den Kulissen
und sprach uns, um seine eigne Aufregung zu verbergen, immer von neuem
Mut zu.
Die Römer und die Germanen stürmten über die Bühne, schrien, schlugen
um sich, warfen sich hin und starben zappelnd wie todeswunde Hasen. Das
Publikum wurde unruhig, wir hörten sogar eine lachende Kinderstimme — ent¬
setzliches Balg! Als aber ein toter Römer, der in der Nähe einer Kulisse
lag, ganz sacht auf allen vieren von der Bühne verschwinden wollte, da traf
uns eine schallende Lachsalve aus dem dunkeln Parkett. Und als nun auch
die Göttereiche nicht brennen wollte und doch immer von den wilden, lodernden
Flammen gesprochen wurde, als der Germanenfürst zu früh auf die Bühne stürzte
und seinen Irrtum erkennend schleunigst wieder hinter die Kulissen lief, als der
Faden verloren war, als sich Römer und Germanen auf der Bühne verwundert
anglotzten und sich verlegen anstießen, da wieherte das Publikum vor Wonne.
Vom „Amphibientheater" brüllte eine Stimme: Hat denn keener nich
faule Äppel hier? Der Angstschweiß trat uns auf die Stirn. Also auch das
noch für all die Liebe — der Vorhang mußte fallen. Lärmend verließ das
Publikum das Theater.
Der Dichter kam atemlos und bleich aus seiner Loge auf die Bühne gestürzt:
Das Publikum hat — gelacht; wenn das morgen — auch passiert, bin ich ver¬
loren I — Was machen wir nur? — Sagen Sie, was machen wir nur?
Der Regisseur kratzte sich schmunzelnd hinterm Ohr. Habe ich Ihnen
das nicht vorher gesagt? Nichts ist schwieriger als eine Kampfesszene! Aber
es ist richtig — so darf es morgen nicht wieder gehen.
Die Germanen und Römer wurden am nächsten Vormittag noch ein¬
mal ordentlich gedrillt und ihnen das bühnenmäßige Schreien, Fechten und
Sterben gründlich beigebracht. Und in der Tat siel nun die Hauptaufführung
glänzend aus.
Der alte Kaiser war wirklich erschienen und von einer großen Zahl von
Chargierten feierlich empfangen worden. Er blieb bis zum Schluß der Vor¬
stellung in seiner Loge und verfolgte das Spiel der Studenten mit sichtlicher
Aufmerksamkeit. Den ältesten der Komiteemitglieder geruhte der Kaiser zu
sich zu befehlen; er sprach seine volle Anerkennung über die Leistungen aus.
Das Kriegslager sei vortrefflich gewesen, und auch das letzte Stück habe ihm
sehr gut gefallen, besonders der Cethegus. Selbst van Hell erhielt etwas von
dem kaiserlichen Wohlwollen ab, obgleich er wenig für uns getan hatte.
Jedenfalls war dies das erste und auch wohl das einzigemal, daß Kaiser
Wilhelm das Nationaltheater besucht hatte.
Die Stimmung unter den Spielern war, wie man sich leicht vorstellen
kann, nach solchem unerwarteten Erfolg äußerst gehoben. Wildenbruch glühte
vor Wonne und hätte uns alle umarmen mögen. Die in der Presse er¬
schienenen Besprechungen gingen zwar mit gnädiger Herablassung über unsre
Aufführung und über Wildenbruchs Stück zur Tagesordnung über, wobei sie
ihre Verwundrung über unsre Premiere nicht unterdrücken konnten. Aber der
Dichter hatte unsre Herzen durch seine persönliche Liebenswürdigkeit wie durch
seinen genialen Schwung erobert, und das galt ihm mehr. Er mochte ahnen,
daß dieser Abend die eigentliche Geburtsstunde seiner dramatischen Muse, die
erste Stufe seiner Erfolge gewesen war.
estern hat es Gold geschneit, und Silber fiel heute nacht; Rauh¬
reif knirscht unter meinen Schuhen.
Die hellen Wochen sind zu Ende, vorüber sind die Tage, da
die Birken golden vor dem klaren Himmel standen. Lustig schüttelte
sie gestern der Nordost, der kecke Heidläufer; morgen wird der Nord¬
west, der alte Brummbär, ihnen die letzten Flittern aus den langen
Haaren kämmen.
Mag er! Ich habe mir mein Teil Blauhtmmel und Goldluft erpürscht auf
brauner Heide und im fahlen Bruche, habe mich gewappnet gegen tiefen Himmel
und dicke Luft, drei Wochen lang pürschend Heidauf seitab, heute dort oben auf
der hohen Geest, wo der fünf uralten Steingräber schwarze Mäuler gähnen,
morgen im lichtdurchsprühten Gedämmer der Fichten, und tags darauf im pfad¬
losen Bruche. Stände morgen der Regen über die Heide und rauscht er in das
Moor, auch seiner will ich mich freuen und der mürrischen Wolken und des hohlen
Windes, wie ich mich heute der silbernen Heide und der goldnen Birken freue.
Wo soll ich ihn vervürschen, den letzten Sonnentag? Dort, wo der Forellen¬
bach lustig plaudernd im tiefen Bette dahinschießt, wo sich der Eichen Herbstlaub
und der Stechpalme Korallenschmuck in dem blanken Wasser spiegeln? Oder da,
wo des Moorbaches ernste, verschwiegne Wasser langsam am heimlich flüsternden
Ried vorbeiziehen? Da oben auf der Heide am grünen Ginsterfelde entlang und
zwischen den gespenstigen Wacholdcrhorsten, wo der Birke Silberstämme aus
goldnem Fallaube ragen, im buschumhegten Weidelande, wo unter den roten Kronen
der Buchen die Rehe nach Mast suchen, oder im räumen Kiefernstangenorte, wo
sie sich an den roten Pilzen äsen? Wer sagt mir, wo es heute am schönsten ist
"uf diesen dreißigtausend Morgen Land?
Drei Orakel will ich befragen. Wo der erste Vogel hinfliegt, wo der Wind
herkommt, wo mein Messer hinzeigt, wo die drei Linien sich schneiden, dort will
^ hin. Mein Weidmesser blitzt durch die Luft und klirrt in den Sand: nach
Südost zeigt die Spitze. Nach Südost zieht auch der Pfeifenrauch. Und jetzt
ruft es rund und voll über mir, der Rank ist es, der edle Rabe, mein Freund,
den ich hege und pflege, dem ich den Junghasen gönne und das Birkhuhngelege,
weil er so schön ist und so selten ward. Nach Südost geht sein Flug.
Blitzendes Messer, blauer Rauch, blanker Vogel, gern folge ich euch. Da
unten, zwischen Mittag und Morgen, da liegt das weite, breite Bruch, das laute,
lustige, bunte Bruch zur Frühlingszeit, wenn sich der Birkenbaum mit Smaragden
schmückt, wenn der Porstbnsch wie eine Flamme glüht, wo im April der Birkhahn
will, der Kranich ruft, der Brachvogel pfeift, Weihe und Mooreule und Kiebitz
ihre Minnespiele treiben und die Dämmerung voll ist von dem Gemecker der Heer¬
schnepfen. Ich liebe dich, lustiges, lachendes Bruch, der Giftotter Wutgezisch, der
Mücken Hohngesang verdirbt mir die Lust an dir nicht, und auch nicht das knie¬
hohe Wasser, der schwarze Schlamm. Wir kennen uns so manches Jahr, und nie
ward ich deiner leid. Zu allen Zeiten war ich in dir, kam oft mit krauser Stirn
und kalten Augen und fuhr helläugig und glattstirnig wieder heim. Soweit der
Himmel blau und die Heide braun ist, bist du mir das liebste hier.
Und heute wirst du schön sein, schön wie im Mai, und lustig. Wie ein
Silberteppich, mit Purpur und Gold gestickt und mit grünem Sammet besetzt, liegst
du da, wie ein Teppich aus eines Riesen Haus, eine Meile lang hin, eine Meile
lang her. Eintönig erscheinst du unkundigen Augen, eine leere Wüstenei, und bist
so reich an Wechsel, mit Schönheit gefüllt und von Zauber durchweht. Seltsame
Dinge raunen die Krüppelkiefern, und alte Mären rauscht das Ried; dort, wo sich
der Damm zollte, knallt um Mitternacht der ewige Fuhrmann; bei der Kösterbult
weint die tote Spinnerin, drüben am Hellberge wiegt die Zwergenkönigin ihr
Kind in einer goldnen Wiege, und im hohen Holze kräht um die Unterstunde
der goldne Hahn; das klingt wie ein silbernes Horn. Wer ihn krähen hört,
der stirbt.
Ich höre ihn krähen und lache doch. Sterben muß ich, das weiß ich. Hier,
wo unter tausend alten Eichen hundert Quellen springen, da hatte mich der Tod
eine Stunde lang in der Hand. Bis unter die Arme saß ich im Quellsand. Hätte
ich geschrien und gezappelt, so umsponnen Eichenwurzeln meine Knochen. Und
drüben, wo des Moorbachs braune Wasser tückisch hinter dem fahlen Ried funkeln,
da balgte ich mich eine halbe Stunde lang mit der Moorfrau umher. Sie lieb¬
koste meine Brust und küßte meinen Mund, aber ich trat sie in ihr scheußlichschönes
Gesicht und entwand mich ihrer klebrigen Liebe. Ich höre ihn krähen, den goldnen
Hahn; wie einer silbernen Glocke Klang tönt sein Gesang, und schrilles Lachen
trillert hinterdrein.
- Der Schwarzspecht ist es, der nach Regen ruft. Morgen ist es aus mit der
- Flitterpracht der Birken, mit der Heide Silbergeglitzer. Der Nebelhexen graue
Schar wird über das Land reiten; ihre plundrigen Röcke werden bis in die Porst¬
büsche hängen, und mit ihren Reiserbesen fegen sie alle Farben aus dem Moore.
Aber heute ist noch alles bunt. Frisch, wie im Mai, stehn die Wacholder da, die
Stechpalmen prahlen mit ihrem Korallenschmucke, und die Birken protzen mit Flitter¬
gold. Allen voran aber ist der Porst. Sein Blattwerk lobt und glüht und gleißt
im blanken Sonnenlicht so feurigflammend, wie seine Blüten nicht schöner brennen
um die Zeit, wo der Birkhahn tolle und der Kiebitz gaukelt. Auch an lustigem
Leben fehlt es nicht: viele, viele Kreuzschnäbel streichen über die Weiße, rot durch¬
webte Weite, von Birke zu Birke klingt der Goldfinken Flöten, der Häher Gekreisch,
und von dem hohen Moor schallen der Kraniche Fanfaren herüber.
Eine Hütte, blitzend, wie aus altem Silber gefertigt, schimmert unter der
krausen Eiche hervor. Manche Nacht lag ich dort auf Heu und auf Stroh, wenn
es dem Birkhahn galt oder dem uralten Bock, der seit zehn Jahren in der un¬
durchdringlichen Porstdickung seinen Stand hat. Manches liebe mal sah ich von
hier die Sonne aufgehn, sah dem Fischaar bei der Fischwelt zu und dem Schwarz¬
storch beim Neunaugenfang, rief mir mit der Hasenklage den Fuchs heran und
holte den Reiher aus der Luft herab und trug dem Bock die Kugel an. Aber
nicht dem alten Bock; und ob ich auf ihn auch weidwerkte von einem Vollmond
bis zum andern, in der Maikühle fror und in der Junihitze schwitzte, vom Lerchen-
stieg an Pürschte und bis nach der Uhlenflucht auf ihn anstand, er narrte mich
ein wie das andremal, und stellte ich es auch noch so klug an, aus der Ellern-
dickung, wo der Bach den Schlamm mannshoch zusammentrug, wo kein Menschen-
fuß Halt findet, verlachte mich sein tiefer Baß. Aber immer wieder zieht es mich
hinter ihm her.
Der Wind ist günstig; die Luft ist weich und warm; da wird der alte Bock
Wohl draußen stehn. Ich lache über mich selber, aber ich gehe doch den Damm
entlang. Bis zur Brust pudern die hohen Halme mich mit Reif ein. Gestern,
als der Wind zwischen Abend und Morgen herpfiff, war es tot und leer hier;
heute lebt das ganze Bruch. Hier äst sich ein geringer Bock, drüben zieht die
Standricke mit ihren Kitzen hin, und dort hinten vor der gewaltigen Porstdickung
steht ein ganzer Sprung und äugt den zehn Birkhähnen nach, die über sie fort¬
strichen. Noch ein Hahn saust über das silberne Bruch, den andern nach, und
dreht und schwenkt, die Dickung zu gewinnen. Aber der Habicht ist schneller; mit
sicherm Griffe schlägt er ihn, und mühsam flatternd schleppt er ihn über das Moor.
Er sei ihm gegönnt! An Btrkwild mangelt es hier nicht und an Enten,
und die Eierdiebe, die Krähen, die hält der Habicht im Schach. Ich weiß, wo
er Jahr für Jahr horstet, und ich störe ihn nicht. Allzu arm wurde das Bruch
an den stolzen Räubern. niedergeknallt ist der Gabelweih, der einst hier jagte,
verschwunden ist der Wanderfalk, der oben auf der Geest horstete, und Jahre sind
es her, daß des Schreiadlers Jagdruf hier klang. Noch einige Zeit, und kein
Kranichruf tönt im Mai mehr durch das Bruch, des Kolkraben Ruf wird Ver¬
halten, und der Schwarzstorch zur Sage geworden sein; haben sie hier auch eine
Freistatt, rund umher droht ihnen der Mensch mit Kraut und Lot.
Hier, wo der braune Bach unter und über der wankenden Knüppelbrücke
gluckst, wo sich Erlen, Porst und Weiden verfilzen, wo ein Schritt Vom Wege in
das Bett der Moorhexe führt, in ihr schwarzes, weiches Bett, in dem sie ihre
braunen Glieder räkelt, hier steht mein alter Bock, sicher vor Kugel und Schrot,
sicher vor Treiber und Hund. Niemals tritt er nach Tau und Tag auf das freie
Bruch, nie, bevor die Nacht nicht Himmel und Erde zusammenspann. Das weiß
:es. und dennoch zieht es mich durch Strunk und Strauch den schmalen Pfad, der
zum Hochsitze in der Krüppelkiefer führt, zieht mich die Leiter in die Höhe, läßt
-meh harren, wie oftmals schon. Meisen pfeifen und kichern im Dickicht, mit
schrillem Schrei blitzt der Eisvogel über den Bach, eine gewaltige Möwe weht über
das Bruch, wie ein weißes Gespenst vor dem schwarzen Walde dahinschwebend.
In den fernen Wald träume ich hinein oder in dunkle Zeiten, aus denen
tote Gesichter undeutlich hervorschimmern. Und ich reiße meine Augen und meine
Gedanken los von dem Dunkel und den verdämmerten Jahren und hin auf des
Porstes lodernde Pracht und des Bruches silberne Herrlichkeit unter mir, aus dem
die Kiefern ihre Häupter recken, trotzig und doch so wehmütig, und über das sich
die Birken erheben, eiteln Tand im schwermuthvollen Gezweige. Und dann sehen
meine Augen nichts mehr als einen großen, grauen Fleck, der sich aus dem Porste
herausschiebe, und die Luft pfeift mir in der Kehle, das Herz fängt an zu tanzen,
Siedehitze kribbelt mir unter dem Hut.
Er ist es. er! Ein solches Gebäude hat kein Bock weit und breit, und
solange sichert kein Reh in der ganzen Heide. Wenn auch die Porstbüsche sein
Haupt verdecken, ich sehe am Bau, daß es ein Bock, und an der Stärke, daß es
wein Bock ist. Ein Druck am Stecher, und ich habe ihn! Aber was habe ich
dann? Vielleicht das Wildbret. Denn wer weiß, ob er noch seinen Kopfschmuck
trägt! Meine Hände ziehen langsam das Glas vor die Augen. Der Bock steht
regungslos da, halb von dem rotgelben Laube verdeckt. Jetzt hebt er das Haupt
und zieht einen Stengel herab. Er trägt noch seine Hauptzierde. Und er steht
gut für die Kugel. Achtzig Gänge sind es bis dahin. Jetzt wendet er sich und
weist mir das Haupt von rückwärts. Über dem einen Lauscher blitzt es hell, über
dem andern nicht; er hat schon eine Stange verloren. Ich lache vor mich hin;
ich konnte es mir denken, daß es so kam. Nun dann, mein Lieber, auf Wieder¬
sehen im Juni!
Eine Krähe quarrt hart und spitz über mich hin, sie hat mich eräugt. Der
Bock ist verschwunden. Er weiß, wenn die Krähe warnt, ist die Luft nicht rein.
Ich klettere von meiner Warte, schlüpfe durch das Buschwerk und gehe den
Damm entlang, und ich weiß nicht, soll ich mich ärgern, oder soll ich mich freuen.
Auf dieser alten Wurt hier unter den hohen Hängebirken, wo vor vielen Jahren
einst das Hirtenhaus stand, in dem Eidig, der Freischütz, manchesmal Unterschlupf
fand, wenn drüben in der königlich hannöverschen Forst die Luft unsauber wurde,
will ich mich strecken; das Kauern auf dem Hochsitze machte mich müde.
Ich recke und strecke mich und starre in die buntfarbige Weite. Und da reißt
es mich hoch; dort unten, wo der Kanal hinter der Böschung fließt, humpelt ein
Reh entlang. Es ist eine Ricke, die schwer an beiden Hinterläufen klagt; bei der
Drückjagd in der Nachbarschaft wurde sie krank geschossen. Seit einer Woche weid-
werke ich sie schon, aber ihr Leiden hat sie heimlich gemacht. Rucksack, Hut und
Joppe werfe ich ab, schlage das Fernrohr auf den Drillingslauf, streife die Schuhe
ab und schleiche barfuß dem schmalen Pfade zu, der, eingerahmt von hüftenhoher
Heide, den Kanal begleitet. Die Ricke zieht der großen Porstdickung zu; es gilt
zu laufe«. Tiefgebückt, ab und zu den Kopf über das Heidkraut reckend, renne
ich den Pfad entlang. Die Brombeeren wollen mich halten, Himbeeren stellen sich
mir in den Weg, aber ich komme mit eiligem Herzen und schnellem Atem früher
als die Ricke vor der Dickung an und kniee hinter der krummen Birke nieder.
Über die blanke Wiese muß sie jetzt; jämmerlich sieht es aus, wie sie den Graben
zu überfliehen versucht. Jetzt steht sie und windet hin und her. Es ist weit,
sehr weit, aber das Fernrohr hilft mir. Da, wo der Hals ansetzt, bringe ich die
Spitze des Fadenkreuzes hin und mache den Finger krumm. Wenn sie nicht im
Dampfe liegt, geht sie mir verloren, denn ich bin allein.
Sie schlägt im Feuer rundum, und das Wasser spritzt auf. Ich recke mich
hoch, lade und spanne und nehme das Fernrohr ab und schleiche näher, immer
näher, bis ich vor dem Anschusse stehe. Regungslos liegt sie da, den Kopf im
Wasser. Die Kugel sitzt, wo sie sitzen sollte. Aber mich freut der Schuß kaum.
Nicht deshalb, weil es eine Ricke war; lieber ist mir, daß ich ihr Leiden endete,
als hätte ich den alten Bock vom Ellernbache auf die Decke gebracht. Auch daß
die Luft dick wurde, und vom großen Moore her schwarze Wolken heranwehen,
stört mir die Stimmung nicht. Es ist, weil ich allein bin, weil mein Hund nicht
freudewinselnd die Ricke zerrt und zaust, wie vor Jahresfrist. Besser pürscht es
sich, ist jemand da, der teilnimmt an der Weidmannsfreude, sei es Mensch, sei
es Hund. Und wenn es ein Hund war wie mein Hund, mein Freund Batter-
mcmn, der Teckel mit der Schweißhundmaske und dem Aalstrich über den rotbraunen
Rücken, dann war Jagen doppelte Lust. Wie oft legte ich ihn hier nicht am
Schweißriemen zur Notfährte, wie oft riß er mich nicht durch Bach und Graben,
wie oft, wenn ich ihn, verlor die Wundfährte sich in wegloser Dickung, schnallte,
klang sein Heller Hals nicht am kranken Stücke, bis irgendwo im Bruche dumpf
sein Totverbellen zu mir herscholl.
Die Ricke über den Hals geschlagen trete ich den Rückweg an. Auf der
Hütewurt breche ich sie auf und hänge sie zum Ausschweißen an die Birke. Und
ich esse mürrischen Sinnes mein Brot und die Äpfel und rauche und starre auf
das Bruch, das im Grau verdämmert, und über das die Wolkeuweiber die zer-
risseneu Säume ihrer schlampigen Röcke hinflattern lassen. Ein hohler Wind hat
sich aufgemacht, und naß weht die Luft. Eine Krähe quarrt heiser, mit angstvollem
Pfiffe streichen Wanderdrosseln hin. Ich rauche und denke an den langen, weiten
Weg. Und dann fällt mir ein sonniger Januartag ein und drei Kinder. Um
die Mittagszeit war es, da kam ich aus dem Walde bei der großen Stadt und
sah drei Kinder, Arbeiterkinder in dünnen, mißfarbnen Kleidchen, zwei Mädchen
und ein Junge. Der Junge schwang etwas in der Hand und sang das Lied vom
Tannenbaum und seinen treuen Blättern, und das eine Mädelchen hatte die Jacke
des Jungen gefaßt und das andre ihrer Schwester Rockzipfel. Und alle drei
gingen mit lachenden Gesichtern und leuchtenden Augen den staubigen Weg und
fangen das Lied vom Tmmenbaum.
Es war nach langer, trüber Zeit der erste sonnige Tag, und die Kinder taten
recht, zu singen und zu jubeln. Sie wollten wohl, der Sonne zum Preise, ein
Frühlingslied singen, aber sie wußten keins, und so machten sie das Weihnachts¬
lied zum Lenzgesang. Und der Junge hätte wohl gern einen Tannenzweig ge¬
schwungen, doch da er keinen hatte, begnügte er sich mit einem Ende Stacheldraht,
das am Wege lag. Und ich lächelte und dachte mir weiter nichts. Warum fällt
mir gerade jetzt dieses kleine Erlebnis ein? Warum begreife ich heute erst die
Lehre, die mir die drei Flachsköpfe gaben? Gerade in dieser Stunde, da mich
die Jagd öde dünkt, da graue Gedanken über meine frohe Stimmung fegen, und
eine hohle Sehnsucht in meiner Erinnerung seufzt? Und warum fällt mir heute
mein Treugesell ein, der drei Jahre hier mit mir weidwerkte, und ohne den mir
die Jagd ein sinnloses Morden scheint?
Der Stacheldraht in der Hand des Knaben lehrte es mich: nichts auf der
Welt hat eignen Wert; die Illusion ist alles.
Ich will heimfahren morgen früh. Mit meinem Hunde begrub ich meine
Weidmannslust.
as erste Theaterjahr war vergangen. Es hatte nicht verschwiegen
werden können, daß der Direktor in diesem Jahre ein gutes Geschäft
gemacht hatte. Man sprach von zehntausend, zwanzigtausend und gar
dreißigtausend Mark Gewinn. Es half nichts, daß der Direktor
seine dramatischste Haltung annahm, von Blödsinn und phantastischen
Zahlen redete, denn er konnte nicht leugnen, daß er verdient hatte,
"no das ist in den Augen der Leute ein schweres Unrecht. Es ist doch einmal
s ik,!-" ^ ö"sZ einer dem andern seinen Gewinn nicht gönnt, auch wenn er
^ keinen Nachteil davon hat, daß der andre verdient. Und so empfand es
°Ach die Bürgerschaft von Neusiedel als eine Übervorteilung, daß so ein Direktor
s?^Z°gen kommt, ein Theater aufmacht und das Geld gewinnt, das die Bürger¬
est an die Kasse getragen hat. Hierzu kam die Gesellschaft zur Pflege usw., deren
Mitglieder Gift und Galle gegen den Direktor waren, und die es überall aussprachen,
wenn man die künstlerische Leistung auf so tiefes Niveau herabschraube, wenn man
so wenig biete, wenn man nicht einmal eine anständige Oper herausbringe, so sei
es nicht zu verwundern, daß man darüber reich werde. Ob aber ein solcher Profit¬
macher wie der Direktor der rechte Mann dazu sei, das Theater in Neusiedel auf
die ihm zukommende Höhe zu bringen, das sei doch sehr die Frage.
Der Kontrakt mit dem Direktor war so abgefaßt, daß das erste Jahr als
Probejahr gelten sollte. Nach Verlauf dieses Jahres werde man, so war vorbehalten
worden, die endgiltigen Bestimmungen treffen. Natürlich hatte niemand, weder der
Direktor noch der Magistrat daran gedacht, etwas an dem vorläufigen Kontrakte zu
ändern. Man hatte den Vorbehalt als eine Formalität betrachtet, über die man still¬
schweigend hinwegging. Da brachte jedoch der Stadtverordnete Schnaller eine Jnter¬
pellation ein, die zu einer langen und erregten Diskussion führte, und durch die die
ganze Lage geändert wurde. Schnaller fragte an, ob dem Magistrat bekannt sei,
daß der Direktor Brandeis seinen Kontrakt dazu benutze, sich auf Kosten der Stadt
zu bereichern, und was der Magistrat zu tun gedenke, der Verschleuderung städtischer
Mittel entgegenzuwirken. In der Begründung seiner Jnterpellation rief er, von
dem „Hört hört" und der „Bewegung" seiner Gesinnungsgenossen unterstützt, da
sehe man es ja, wie mit den Stadtgeldern gewirtschaftet würde. Den Großen und
Reichen sei kein Amüsement zu teuer, aber dem kleinen Manne, dem Handwerker,
dem Arbeiter würden anstandslos drückende Steuern aufgeladen. Man ziehe ihnen
das Geld aus der Tasche, um fremde Menschen, um Nichtstuer zu füttern, um
parasitische Existenzen großzuziehn.
Das Wort: parasitische Existenzen machte tiefen Eindruck. Die Bürger erschraken.
Wenn sie auch bereit waren, für das Wohl der Stadt Opfer zu bringen, für parasitische
Existenzen einzutreten, das wagten sie nicht, und am wenigsten für diesen Direktor,
der in einem Jahre zehn- bis dreißigtausend Mark verdient haben sollte. Vergebens
suchte der Bürgermeister der Versammlung klarzumachen, daß die Einnahme des
ersten Jahres für die Dauer nicht maßgebend sein könne, daß der Theaterbesuch
nachlassen werde, und daß man darauf bedacht sein müsse, einen solchen Mann wie
den Direktor zu halten. Vergebens wies der Direktor nach, daß er für Neuanschaffung
eine bedeutende Summe aufgewandt habe, vergeblich ermahnte Rektor Hesselbach im
Tageblatte, daß man eine gute Sache durch falsche Sparsamkeit nicht stören dürfe.
Es brüllte der See und wollte sein Opfer haben. In einer der nächsten Sitzungen
setzte die Majorität der Stadtverordneten gegen das Votum des Magistrats durch,
daß der Direktor zweitausend Mark mehr Pacht zahlen solle als bisher. Der Direktor
niente die Verzweiflung Talbots und brüllte: Unsinn, du siegst, und ich muß unter¬
gehn. Darauf setzte er sich kaltblütig hin und kündigte seinen Kontrakt, worüber die
Bürgerschaft einigermaßen verdutzt war. Das hatte man nicht erwartet, vielmehr
geglaubt, daß Handeln und Bieten das Geschäft mache. Schon fing man an, einander
Vorwürfe zu machen, als die Mitglieder der Gesellschaft zu Pflege usw. erklärten:
Ach was, eine Stadt wie Neusiedel kriegt allemal einen Theaterdirektor, und zwar
einen bessern als Brandeis.
Ein solcher fand sich denn auch, wenn auch kein besserer. Es war ein kleiner
kahlköpfiger Herr, der mit seinem Künstlernamen Leo Wälder und mit seinem
bürgerlichen Namen Louis Fetköter hieß. Man kann nicht sagen, daß sein Äußeres,
sein schwammiges Fettschminkengesicht und seine rote Nase allzu vertrauenswürdig
ausgesehn hätte, seine Worte klangen um so vertrauenswürdiger. Er wußte alles,
er konnte alles, er war überall gewesen, er war jeder Situation gewachsen. Man
hatte ihn kniefällig gebeten, seinen bisherigen Wirkungskreis nicht aufzugeben, aber
er hatte sich nun einmal in den Kopf gesetzt, Neusiedel zum Zeugen seiner Triumphe
Zu machen. Eigentlich gab es in der ganzen Welt keinen Menschen, der neben ihm
überhaupt in Frage kommen konnte. Übrigens bewilligte er alles. Die Erhöhung
der Pacht um zweitausend Mark — Kleinigkeit, die Verpflichtung, im Laufe der
Spielzeit vier Abende das Theater der Gesellschaft usw. zu Musteraufführungen zur
Verfügung zu stellen — ja wohl! natürlich I Warum denn nicht? Das Versprechen,
für Oper und klassisches Schauspiel zu sorgen — selbstverständlich! Natürlich. Und
so wurde Leo Wälder. alias Louis Fetköter, Direktor, und die Gesellschaft usw., die
die Sache gemacht hatte, triumphierte.
Der Dom in Neusiedel ist als ein Meisterwerk reifster Gotik weithin berühmt.
Namentlich sind die Statuen, die die Säulen des Chorraums schmücken, in jedem
kunstgeschichtlichen Buche in Abbildung vorhanden. Der Domdiener Herr August
Lenne war der Inhaber dieser und der andern Herrlichkeiten, die der Dom barg,
und er ließ sich bereitfinden, sie gegen fünfundsiebzig Pfennige die Person (in
Gruppen billiger) zu zeigen und zu erklären. Herr August Lenne kleidete sich, seinem
kirchlichen Amte entsprechend, schwarz in schwarz, trug ein schwarzes Käppchen und
hatte wäßrige Augen und eine noch viel rötere Nase als der Direktor Leo Wälder, was
Wohl mit einer Flasche zusammenhing, die in seiner langen Rocktasche baumelte. Herr
August Lenne beherrschte das geschichtliche und künstlerische Material, das zur Er¬
klärung seiner Domschätze diente, durchaus. Er war eine Autorität, er duldete neben
seiner Meinung weder Zweifel noch Einwendung, wenigstens so lange nicht, als der
Herr Dombibliothekar nicht anwesend war. Andernfalls gestand er zu, daß der Herr
Dombibliothekar auch ein hervorragender Gelehrter sei, und daß er zuletzt allemal
dem zustimme, was er, der Domdiener, herausgefunden habe. Und das gehöre sich
auch so, denn zwischen Gelehrten dürfe es keine Eifersucht geben.
Als dieser Domdiener, Herr August Lenne, eines Tages wieder einmal seinen
Vortrag gehalten und von jedermänniglich seine fünfundsiebzig Pfennige (in Gruppen
billiger) empfangen hatte, traf er vom Portal zurückkehrend im Chor einen Herrn,
der mit großem Eifer und in bedeutungsvoller Haltung die Bildwerke an den Säulen
betrachtete. Er war nicht gerade elegant gekleidet und trug nicht ganz tadellose
Papierwäsche und einen Havelock, der Sommer- und Winterdienst zu verrichten
schien. Herr August Lenne schlängelte sich heran, lüftete sein Käppchen und machte
eine respektvolle Verbeugung. Der andre erwiderte das Kompliment und entnahm
seiner Brieftasche einen Zettel, auf dem geschrieben stand, Eugen Lappensnider, freier
Künstler.
Domkastellanus August Lenne, sagte der andre, sich abermals verbeugend.
Ich bin gekommen, erwiderte der freie Künstler Eugen Lappensnider, indem
er nachdenklich den Finger unter die Nase legte, diese Kathedrale zu besichtigen. In
der Absicht nämlich, in einer erstklassiger Zeitung Deutschlands darüber ein Referat
^ geben. Eine geschichtliche Studie, ein Stimmungsbild. Diese weiblichen Figuren,
diese — eh — er machte eine summarische Bewegung — sind in der Tat höchst
interessant.
Sie haben recht, mein Herr, sagte der Domkastellanus, höchst ünteressant. Es
gibt »ihresgleichen weder in Europa noch in den umliegenden Ländern. Bildwerke
wie diese gibt es in keiner Kirche Deutschlands. Höchstens dürfte man sie in alten
Pergamentern finden. Sie sehn nämlich vor sich die sieben oder neun oder dreizehn
Sübüllen.
Sibyllen — ja in der Tat, höchst interessant. Die Sibyllen waren ja doch
Die Sübüllen waren, mein Herr, die Prophetinnen der Türken und Kriechen.
Diese Sübülle, vor der wir stehen, ist die wichtigste von usum, LüdMa, xsrsioa
llnnö. Sie heißt Sambethe und ist die Schwiegertochter Noahs. In der Hand
hält sie, wie Sie sehn, die Laterne des Diogenes.
Eugen Lappensnider zog seine Brieftasche heraus.
Und diese zweite Sübülle, fuhr der Erklärer fort, ist die delphische Sübülle,
weshalb sie auch Daphne heißt. Sie war die Geliebte Apollos und sagte den
Untergang Jerusalems voraus.
Verzeihung, Sie meinen Trojas, meinte Eugen Lappensnider, um auch etwas
zu sagen. Aber der Domkastellanus wies die Einwendung mit überlegner Hand¬
bewegung zurück. Nein, Jerusalems, erklärte er., Troja ist überhaupt nicht unter¬
gegangen, sondern nur zerstört worden.
Und so weiter. Der Herr Domkastellanus erklärte alle dreizehn Sibyllen mit
Gründlichkeit und Sachkenntnis, und der freie Künstler nannte den Gegenstand
äußerst interessant und schrieb eifrig in seine Brieftasche.
Düses also, mein Herr, so schloß Herr August Lenne, sind die dreizehn
Sübüllen unsers Domes. Man hat behauptet, daß sie früher bemalt gewesen seien,
und hat sie wieder in Farbe setzen wollen. Aber ich habe dem widersprechen müssen.
Die Farbe ist der sünnliche Ausdruck des Verschiednem. Sie ist in der natürlichen
Natur nicht zu entbehren, aber in der Domarchitektur wirkt sie divergierend. Man
hat mir recht gegeben. Sie sehn, man hat mir ihre Gesichter in Farbe gesetzt, um
die naturwissenschaftliche Bedeutung der Sübüllen zu markieren.
Hierauf schloß der Herr Domkastellanus eine Pforte auf, die in die Dom¬
bibliothek führte. Man trat ein, und Herr Eugen Lappensnider sah an dem ver¬
gitterten Fenster einen alten, weißhaarigen Herrn hinter seinen Folianten sitzen und
schreiben.
Der Herr Dvmbibliothekar Doktor Mückeberg, der Verfasser des wissenschaftlichen
Katalogs unsers Domschatzes, flüsterte der Domdiener hinter der vorgehaltnen Hand,
bereit, wieder in der Pforte zu verschwinden, aus der er gekommen war. Aber Herr
Eugen Lappensnider ließ seinen Führer stehn und wandte sich mit der Unbefangen¬
heit, die den freien Künstler ziert, der größern Sonne zu. Er verbeugte sich tief
und sagte mit einer von Bewegung zitternder Stimme: Euer Hochwürden, es ist
schon lange mein sehnlicher Wunsch gewesen, den gelehrten und geistreichen Verfasser
des wissenschaftlichen Katalogs unsers Domschatzes von Angesicht zu Angesicht zu sehn
und demselben meine Hochachtung zu bezeugen. Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle,
Eugen Lappensnider, Verfasser einer Reihe von Aufsehn erregenden Aufsätzen und
Werken.
Der Herr Dombibliothekar sah etwas unsicher über die runden Gläser selner
Brille hinweg und wußte offenbar nicht, was er mit dieser Anrede anfangen sollte.
Aber der freie Künstler ließ sich unbefangen in einem der großen, lederbezognen
Kirchenstühle nieder und fuhr fort: Vom Hauche der Vergangenheit angeweht, fühlt
sich der Mensch über das Kleine des Lebens emporgehoben, er fühlt sich bereichert,
er fühlt sich veredelt. Wie beneide ich Sie, hochwürdiger Herr, in solcher Umgebung
und unter solchen Zeugen der Vergangenheit weilen, streben und arbeiten zu dürfen.
Ein andrer, welterfahrnerer Mann würde bei dieser Anrede vermutet haben:
Jetzt wird er mich gleich anpumpen, und würde den Kerl schleunig an die freie Luft
befördert haben, der Herr Dombibliothekar jedoch wußte unter den Urkunden der
Hohenstaufischen Zeit besser Bescheid als unter den Verhältnissen der Gegenwart. Er
war ein alter Herr und Privatgelehrter, der Zeit seines Lebens wenig über seine
Studierstube hinausgekommen war und von der Falschheit dieser unvollkommnen Welt
nur eine sehr allgemeine Vorstellung hatte. Er wußte sich auch hier gegen die
Beredsamkeit Eugen Lappensniders nicht zu helfen und hörte dies und noch andres,
was jener vorbrachte, mit Geduld und Ergebung an.
Und diese Sibyllen, fuhr Lappensnider fort, diese Sibyllen. sie haben mich auf
das äußerste interessiert. Sibyllen wie die Neusiedler sind mir noch nirgend be¬
gegnet. Sie dürften überhaupt nicht zu finden sein — höchstens in alten Pergamenten.
Besonders diese erste Sibylle — er warf einen Blick in sein Notizbuch — die persische
Sibylle Sambethe mit der Laterne des Diogenes. Wie erklären Sie diese Laterne?
Natürlich nicht als Laterne des Diogenes, erwiderte der alte Herr lächelnd,
sondern als das Symbol des Lichtes, der göttlichen Erleuchtung, die die Sibyllen,
obwohl Heidinnen, vom Heiligen Geist empfangen und durch ihre Weissagung weiter
tragen. — Folgte eine lange, gelehrte Auseinandersetzung, der Eugen Lappensnider
mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte, worauf er die Frage bescheidentlich zur Er¬
örterung stellte, ob figürliches Schmuckmerk in Kirchen in Farbe gesetzt werden dürfe,
was nach seiner unmaßgeblichen Meinung darum verneint werden müsse, weil welt¬
liche und kirchliche Kunst differiere. Das war nun nicht gerade das richtige, aber
der alte Herr fing Feuer und legte seine Grundsätze über den Gebrauch der Polychromie
dar, was wiederum zu andern archäologischen Problemen führte, und was zur Folge
hatte, daß es Mittag wurde, ehe die Diskussion zu Ende kam. Sie war auch noch
nicht abgeschlossen, als beide Herren die Bibliothek verlassen hatten, sie wurde fort¬
gesetzt, während Eugen Lappensnider den alten Herrn nach Hause geleitete, und sie
belebte sich immer von neuem, so oft der alte Herr sich seiner Tür zuwandte. Da
aber das Ende gar nicht kommen wollte, nahm der Herr Dombibliothekar den freien
Künstler zum Entsetzen seiner Haushälterin zum Essen mit hinauf, was der freie
Künstler hochgeehrt und mit aller Bescheidenheit annahm. Und als er spät am
Nachmittag Abschied nahm, geschah es mit der Bitte, bald wiederkommen zu dürsen.
Währenddessen hatte der Domdiener am Domportal gelauert, um den fremden
Herrn abzufangen und seine fünfundsiebzig Pfennige entgegenzunehmen. Als er sich
betrogen sah, nahm er entrüstet aus der bewußten Flasche einen tiefen Schluck und
schraubte sein Urteil über reisende Gelehrte um einige Striche herab.
Der Herr Dombibliothekar aber sollte erfahren, daß er sich an dem Tage, an
dem er Lappensnider den Schatz seines Wissens und die Tür seines Hauses auf¬
getan hatte, eine Kette geschmiedet hatte, von der sich zu befreien schwer war. Er
wurde den Menschen nicht wieder los. Er kam immer wieder, und das meist um
die Mittagszeit. Und bald traten aus dem Schwall seiner Rede folgende Grund¬
gedanken hervor: Neusiedel sei für einen freien Künstler, Schriftsteller und werdenden
Gelehrten der gewiesne Ort. Er biete Anregung, er belebe durch seine schöne Um¬
gebung die Phantasie, er croeitre durch seine Vergangenheit den Blick. Wenn er.
Lappensnider, nur beim Tageblatt ankommen könnte oder wenigstens beim Kreis¬
korrespondenten — als Mitarbeiter oder sonstwie! Ob nicht der Herr Doktor
Mückeberg etwas für ihn tun könne. > , ^
Dem Herrn Dombibliothekar war die Bitte unlieb. Aber er mußte in den
sauern Apfel beißen, um seinen Quälgeist loszuwerden. Auch hatte er die dunkle
Empfindung, daß er verpflichtet sei. etwas für die freie Kunst und die freien
Künstler zu tun. Und so begab er sich seufzend und mit der Befürchtung eines
Mißerfolgs zu dem Besitzer des Tageblattes und trug seine Bitte vor.
^ Der Besitzer schrie ob der Zumutung, die ihm gemacht wurde, ordentlich auf.
Er kenne diese freien Künstler wohl. Es seien Wanzen, die man nicht wreder
loswerde, wenn man sie im Hause habe. (Das weiß Gott, sagte Doktor Mucke¬
rs seufzend zu sich selber.) Es falle ihm nicht ein. diesen Lappensnider zu
engagieren. Er habe keinen Bedarf, und der Mensch möchte sich seinetwegen zum
Teufel scheren.
Der Herr Dombibliothekar fühlte es mit Herzbeben, daß er gegen Geschäfts-
formen dieser Art nicht aufkommen könnte, und beschloß bei seinem Gange zum
Kreiskorrespondenten den Bittsteller selbst mitzunehmen. Der Verleger, Besitzer und
Drucker des Kreiskorrespondenten hatte gerade seinen literarischen Mitarbeiter ent¬
lassen, weil dieser sich hatte einfallen lassen, für die Arbeit, die er in der Druckerei
tat, besonders honoriert werden zu wollen. Der Chef brauchte also gerade eine
neue Kraft für das Nichtpolitische, Lokale, für Theater, Musik, Verbrechen und
Unfälle, sowie für Hilfeleistungen in der Druckerei. Eugen Lappensnider war
bereit, diese Arbeiten zu übernehmen, obwohl er eigentlich in Roman und Leitartikel
arbeitete.
Ob er musikalisch sei?
Musika—? Natürlich. Er besitze tiefe Kenntnisse im Kontrapunkt und sei
auch im Oratorium zu Hause wie kaum ein zweiter.
Darum handle sichs nicht, erwiderte der Besitzer, sondern darum, unter „Kunst
und Wissenschaft" über die Krebsschen Mittwochskonzerte und über das Theater, auch
die Oper, zu berichten. Ob er das könne?
Selbstverständlich, so gut wie kaum ein zweiter.
Ob er den Satz umbrechen und die Formen zusammenstellen könne?
Natürlich. Er habe seit seiner Jugend nichts lieber getan, als Formen zu¬
sammenzustellen.
Der Gehalt war erbärmlich. Es war aber kein Groschen weiter herauszu¬
pressen, als den der Besitzer des Kreiskorrespondenten bot. Der Doktor Mücke¬
berg empfand es schmerzlich, daß einem Manne wie seinem Schützling ein solches
Gebot gemacht werden durfte, und schickte sich an zu gehen. Aber Eugen Lappen¬
snider hielt ihn zurück und sagte mit sardonischen Lächeln: Ein freier Künstler,
Hochwürden, muß über die Misere des Einkommens hinwegsehen. Und schließlich,
auch das geringste Einkommen ist besser als gar keins. Ach, mein Herr, es ist
schwer, heutzutage anzukommen und durchzukommen. Mit Büchern ist nichts zu
machen. Die Verleger sind Esel. Und überdem ist alles in festen Händen. Die
Wissenschaft, die Kunst, die Literatur, alles ist in festen Händen und bildet einen
geschlossenen Ring gegen die freie Kunst und den freien Künstler. Es ist mein
Stolz, unbeeinflußt und unparteiisch die Ideale hochzuhalten und zu verteidigen,
und wenn ich auch dabei hungern muß.
Und so schlug denn der freie Künstler hochherzig seine Hand in die des
Besitzers, Verlegers und Druckers des Kreiskorrespondenten, und Doktor Mücke¬
berg begab sich um ein erhebliches erleichtert zu seiner Arbeitsstätte in der Dom¬
bibliothek zurück.
Und Neusiedel hatte eine neue künstlerische Kraft gewonnen, einen Mann,
der durch die Weite des Blicks, durch die Tiefe der Erkenntnis, die Klarheit des
philosophischen Denkens und die Unbestechlichkeit des Urteils berufen war, das
Kunstleben Neusiedels und ganz besonders die Leistungen des dortigen Theaters
auf die dieser Stadt würdige Höhe zu heben. Der Kreiskorrespondent nahm
unter dem Striche — denn über dem Striche herrschte die Schere des Verlegers
absolut — eine „ungeahnte" Würde, einen hohen dichterischen Schwung an. Er
redete nur noch per „wir". Er stand auf hoher Warte und bewertete die Dinge
dieser Welt mit unbestechlicher Objektivität und tiefem Sachverständnis. Er durch¬
schaute den Trug der Unehrlichen, die ihre minderwertigen Produkte als lauteres
Gold ausriefen, er sah vor allem mit tiefer Verachtung auf die lobenden Kritiken
des Kunstreferenteu im Tageblatte herab. Dadurch, daß man Leistungen, die es
nicht verdienen, lobe, hebe man die Kunst nicht, man setze sie herab, man ent¬
würdige sie. Es sei ein wahres Wunder, daß das Publikum durch die unablässige
Lobhudelei nicht angeekelt werde. Das Publikum sei doch keine Schar von Fliegen,
die man mit Zucker in die Falle locken dürfe. Das Publikum wolle die Wahr¬
heit, die ganze, volle Wahrheit. Es habe das Recht, die höchsten Leistungen zu
fordern und den strengsten Maßstab anzulegen. Nicht darin liege die Förderung
der Kunst, daß man den Künstler durch Lob einschläfre, sondern darin, daß man
ihn durch Tadel aufpeitsche.
Denselben Ton stimmte auch die Gesellschaft zur Förderung usw. an. Frau
von Seidelbast ging zwar niemals in das Theater, aber sie ließ sich von ihren
Getreuen berichten, daß mit dem neuen Direktor noch weniger los sei als mit dem
alten, daß die Stücke, die man aufführe, keinen Schuß Pulver wert seien, und daß
die Schauspieler nicht besser seien als die Stücke. Man hatte nicht ganz unrecht.
Der Direktor hatte, um die zweitausend Mark zu decken, die er mehr Pacht zu
zahlen hatte, die Gagen der Schauspieler herabgesetzt, was man deren Leistungen
anmerkte. Er griff auf Benedix und andre alte Sachen zurück, für die kein Spiel¬
honorar zu zahlen war, er sparte, wo er konnte, er entzog dem Publikum die Ver¬
günstigungen, die sein Vorgänger gewährt hatte.
Frau von Seidelbast hörte dies mit Befriedigung. Denn sie entnahm aus
den Berichten die erneute Aufforderung, nun ihrerseits mit wahrer Kunst auf dem
Kampfplatze zu erscheinen. Die Gesellschaft usw. stimmte ihrem Rufe zu den Waffen
mit mehr oder weniger Begeisterung zu, und bald stand in den Zeitungen die
Nachricht, man werde in Neusiedel Unerhörtes erleben. Es sei im Werke, da man
ein erstklassiges Theater und eine erstklassige Oper nicht haben könne, wenigstens
„Bayreuther Tage" einzurichten. Man werde mit Bayreuther Kräften und in
enger Anlehnung an das Bayreuther Vorbild Stücke aus der Nibelungentrilogie
aufführen und auch nicht vor den höchsten Aufgaben zurückschrecken. Man erwarte,
daß das Publikum das Unternehmen unterstützen werde. Und danach ging die
Gesellschaft usw. unbedenklich daran, die Künstler für die Musteraufführung aus¬
zusuchen. Ach, man mußte viele vergebliche Briefe schreiben und die Erfahrung
machen, daß erste Kräfte ganz unbeschreiblich teuer seien. Man mußte sich be¬
scheiden und auf Bayreuther Größen verzichten. Nur auf einen vermochte Frau
von Seidelbast nicht zu verzichten, auf Alfred Rohrschach, den sie als Siegfried in
Bayreuth gesehen hatte — hinreißend, einfach göttlich! Dieser durfte auf keinen Fall
fehlen, wenn man sich anschickte, Neusiedel in den Kreis der Kunststätte einzuführen.
Durch welche künstlerische Großtat sollte nun diese Einführung geschehen?
Man hatte ausschweifende Pläne. Man dachte an die Meistersinger und die
Götterdämmerung. Aber alle diese Pläne scheiterten an der Geldfrage. Frau
von Seidelbast war außer sich und beschwor den Geist Wagners, damit er auch
diese pekuniären Nöte überwinde. Aber der Geist Wagners ließ sich nicht spüren.
Es blieb also Frau von Seidelbast nichts übrig, als sich wieder zu fassen und sich
für Siegfried zu entscheiden, weil dies Drama die geringste Zahl von Personen
forderte, und weil man sich mit der Hoffnung trug, den Fafner, das Pappungetüm,
von einer benachbarten Bühne geborgt zu erhalten.
Nun das Orchester. Woher ein der Aufgabe entsprechendes Orchester er¬
halten? Diese Frage führte zu einer lebhaften, wenn auch nicht öffentlichen Er¬
örterung. Jedermann nahm teil für oder gegen das städtische Orchester. Natürlich
blieben diese Erörterungen dem Meister Krebs nicht verborgen, und dieser, da er
optimistischen Gemüts war, faßte eine große Hoffnung. Da er ferner ein guter
Ehemann war, außer wenn er die Geduld verlor und mit seinem Haushahns warf,
so teilte er seine Hoffnung seiner lieben Frau mit. Die liebe Frau antwortete mit
ihren herbsten Tönen: Eduard, du bist ein Schafkopf.
Wieso? erwiderte der Direktor nicht ungekränkt.
Denkst du denn, daß sie dir die Sache auf dem Präsentierbrette bringen
werden? Gleich gehst du hin zu der Seidelbasten und sagst: Soundso, und sie
müsse dirs schriftlich geben, daß sie das Stadtorchester nehmen wollte. Aber das
bitte ich mir aus, daß du vorher nicht ins Wirtshaus gehst. Und mit dem Posten
als Konzertmeister läßt du dich nicht abspeisen. Du dirigierst selber, das bitte ich
mir aus.
Eduard Krebs hatte sich bisher nur in einem Gedankenspiele erfreulicher Mög¬
lichkeiten bewegt, nun war er vor die Entscheidung gestellt. Und dies durch seine
Frau, die keinen Spaß verstand. Und zu Frau von Seidelbast sollte er gehn.
Und den Siegfried sollte er dirigieren. Eduard Krebs litt nicht an übergroßer
Bescheidenheit, aber hier tauchte doch der Zweifel in ihm auf, ob er auch leisten
könne, was er unternahm. Er hatte noch nie eine Oper dirigiert, und er erinnerte
sich mit Schaudern, welche Mühe es gemacht hatte, seinem Orchester die Tann-
häuserouverture einzupauken. Es wäre ihm unter diesen Umständen nicht unlieb
gewesen, als Dirigent abgelehnt zu werden.
(Fortsetzung folgt)
Die Beunruhigung, die durch die Stellungnahme der Agrarier und Konser¬
vativen zu der Rede des Fürsten Bülow im Abgeordnetenhause hervorgerufen
worden ist, kann auch heute noch nicht ganz als beseitigt gelten, obwohl man schon
auf allen Seiten angefangen hat, darüber ruhiger zu denken. Unser nervöses, durch
die Tagespresse beeinflußtes Zeitalter reagiert ja in der Regel sehr schnell auf alle
möglichen Eindrücke, die sich einigermaßen sensationell deuten lassen, und es bedarf
immer erst einiger Zeit, ehe diese Eindrücke auf ihren wahren Wert zurückgeführt
werden. Von konservativer Seite war die Rede des preußischen Ministerpräsidenten
im Abgeordnetenhause durch Herrn von Arnim-Zusedom beantwortet worden. Diese
Antwort bekundete zwar, daß die Konservativen in vielen Punkten ihre Sprödig-
keit gegenüber den Wünschen der Regierung bewahrten, aber andrerseits deutete in
ihr auch nichts darauf hin, daß die Partei die bisherige Politik verlassen, den
Block sprengen oder gar dem Reichskanzler eine Absage erteilen wollte. Inzwischen
aber kam das agrarisch-konservative Echo der Kanzlerrede aus dem Lande. Das
Auftreten des Herrn von Oldenburg in der Versammlung der westpreußischen
Konservativen, das Interview des Herrn von Treuenfels in einem französischen
Blatte, verschiedne Beschlüsse von Landwirtschaftskammern und andern agrarisch ge¬
sinnten Körperschaften, dazu der erregte Chor der Preßstimmen — das alles war
geeignet, Aufsehen zu erregen, und die Phantasie der Gegner gab diesen Er¬
scheinungen eine noch über die naheliegenden Eindrücke hinausgehende Bedeutung.
So war man geneigt, eine rednerische Leistung aus dem Abgeordnetenhause,
die zu Anfang der jetzt verflossenen Woche vor sich ging, sehr stark zu überschätzen
und aus ihr Dinge herauszuhören, die wohl alarmierend wirken konnten. Der
konservative Abgeordnete Freiherr von Richthofen hielt eine Rede, die bei der Er¬
örterung der Wahlrechtsfrage scharfe Spitzen gegen den Reichskanzler herauskehrte,
dem Block mindestens sehr kühl, den Wünschen der Liberalen mit ausgesprochner
Schroffheit begegnete, dagegen — und das wurde am meisten bemerkt — vor dem
Zentrum eine Verbeugung nach der andern machte und den Gedanken eines konser¬
vativ-klerikalen Bündnisses nach altem Schema mit sichtlicher Vorliebe behandelte.
Manchem Zeitungsleser, der in den parlamentarischen Personalien nicht ganz taktfest
ist, mochte es wohl begegnen, daß er den Redner mit dem — dem preußischen
Landtag nicht angehörenden — Freiherrn von Richthofen-Damsdorf verwechselte, der
einer der geschicktesten Sprecher der deutschkonservativen Reichstagsfraktion ist und
als Politiker bedeutend über dem Niveau der Durchschnittsparlamentarier von heute
steht. Diese Verwechslung hat vielleicht auch dazu beigetragen, der Rede ein
größeres Gewicht zu geben, als ihr eigentlich zukam. Ein führendes Zentrums¬
organ war dafür freundlich genug, die Vorstellung, als ob die Konservativen durch
den Mund eines ihrer besten Sprecher ein neues Bündnis mit dem Zentrum ver¬
künden wollten, gründlich zu berichtigen und die Beweggründe des Herrn von Richt¬
hofen mit dem Scheinwerfer der Wahlstatistik zu beleuchten. Der zentrumsbegeisterte
Redner verdankt in der Tat seine Wahl einem Kompromiß zwischen Konservativen
und Zentrum, und für die Wirkung dieser aus örtlichen Gründen und ganz außer¬
halb der Reichspolitik vollzognen Verständigung bei den letzten Landtagswahlen
wollte er wohl gelegentlich quittieren; er fand bei der Wahlrechtsdebatte dazu die
beste Veranlassung. Er brauchte nicht zu befürchten, von seinen Parteigenossen
direkt verleugnet zu werden, denn was er sagte, widersprach ja keineswegs konser¬
vativen Anschauungen. Nur eine besondre taktische, für die ganze Partei verbind¬
liche Bedeutung wird man seiner Rede nicht beimessen dürfen.
Die konservative und die agrarische Presse hat denn auch die Fortsetzung der sich
daran knüpfenden Erörterungen benutzt, die Schärfen des Widerspruchs gegen den
Reichskanzler und seine Politik zu mildern. Vor allem ist bestimmt erklärt worden,
daß diese ganze Frondestimmung keine Absage an den Fürsten Bülow persönlich
bedeuten solle. Allerdings wurde der Widerspruch gegen die Nachlaßsteuer nach
wie vor entschieden betont, unter Zugrundelegung der Behauptung, daß die Kon¬
servativen, soweit sie in der Partei etwas zu bedeuten hätten, ausnahmlos Gegner
dieser Steuer seien, die nur von Liberalen und „Offiztösen" verteidigt würde.
Damit machen sich die konservativen Wortführer die Sache wohl doch etwas zu
leicht. Wenn in der konservativen Partei im Lande erst noch weiter die Einsicht
durchgedrungen ist, daß ohne die Nachlaßsteuer die Reichsfinanzreform nicht gemacht
werden kann, wenn also der Widerstand gegen die Steuer ernsthaft den Charakter
einer Gefährdung des ganzen Reformwerks annimmt, dann erscheint es doch sehr
fraglich, ob die Stimmung im konservativen Lager wirklich so einheitlich bleiben
wird, wie ihre Presse behauptet. Diese stellt sich jetzt freilich sehr entrüstet, wenn
irgendwo die Zuversicht auf die Nachgiebigkeit der Partei in diesem Punkte offen
ausgesprochen wird. Sie sieht darin den beleidigenden Vorwurf der Gesinnungs¬
losigkeit und eines Mangels an Rückgratfestigkeit. Daß die konservative Partei¬
presse das alte Vorurteil, die Konservativen seien schlechterdings gouvernemental,
w jeder Form bekämpfen will, wird man versteh». Es muß ihr natürlich unan¬
genehm sein, wenn gesagt wird: „Euer Widerstand ist nicht ernst zu nehmen; ihr
ja zuletzt doch, was die Regierung will." Aber so ist die Sache doch nicht
geweint. Die Reichsfinanzreform ist keine Gefälligkeit gegen die Regierung, keine
^ache, die man je nach dem Parteistandpnnkt tun oder lassen kann, sondern eine
»orderuiig. die so ernst und wichtig ist wie die Verteidigung des Reichs gegen
äußre Feinde. Eine solche Sache kann nicht von einer Partei gefährdet werden,
die ihrer Natur nach nicht etwa den Grundsatz der Regierungsfreundlichkeit um
jeden Preis, wohl aber eine nicht durch Nebenfragen zu erschütternde Staatsge¬
sinnung hochhalten muß. Die erwähnte Gefährdung kann immer nur so lange
bestehn, als durch berechtigte Interessen und Sorgen oder durch andre Partei¬
prinzipien verhindert wird, daß den Anhängern der Partei zum Bewußtsein kommt,
was auf dem Spiele steht. Wird dieses Hindernis weggeräumt, so muß das Prinzip
siegen, das von jener als der höchste Ruhmestitel der Partei geschätzt worden ist.
Es liegt nichts verletzendes darin, diese Zuversicht zu äußern, denn es bedeutet
nicht die Erwartung, daß die Konservativen ihren Prinzipien untreu werden sollen,
sondern daß sie bei der Abwägung von Prinzipien, die sich gegenseitig im Wege
stehn, dem höhern Prinzip folgen werden.
Daß die Stellung sämtlicher Parteien zu den einzelnen Vorschlägen, die in ihrer
Zusammenfassung die Reichsfinanzreform bilden, so nicht bleiben kann, wie sie jetzt in
dem gänzlich negativen Ergebnis der Kommissionsberatungen zum Ausdruck kommt, ist
klar. Die Beschlüsse der Kommission haben den augenfälligen Beweis schon jetzt geliefert,
daß das ganze Werk überhaupt nicht zustande kommen kann, wenn die Parteien nur
ihre Grundsätze geltend machen und sich gegenseitig bald mit dieser, bald mit jener
Mehrheit niederstimmen. Wenn die Parteien überhaupt den Willen haben, zu dem sie
sich doch bisher bekannt haben, nämlich die Reform durchzuführen, so müssen sie eben
irgendwie nachgeben, und es ist nicht einzusehen, warum ihnen eine Nachgiebigkeit
unter solchen Umständen mehr zur Schande gereichen soll als ein Sinn- und kopf¬
loses Beharren, das den selbstgewollten leitenden Gedanken unausführbar macht.
Und wenn dieser leitende Gedanke darauf beruht, daß die zu lösende Aufgabe
einer nationalen Notwendigkeit entspricht, die unabhängig von besondern Partei¬
wünschen besteht, so ist das eben „Blockpolitik", weil sich Konservative und Liberale
in dem Entschluß begegnen müssen, ein Werk durchzuführen, das die Zurück¬
stellung von Sonderinteressen und Parteitheorien ganz in derselben Weise fordert
wie andre gesetzgeberische Arbeiten, die mit Hilfe einer konservativ-liberalen Mehrheit
durchgeführt worden sind. Deshalb ist die akademische Erörterung, ob die Reichs¬
finanzreform zur Blockpolitik gehört, und ob ihr Scheitern den Block sprengen würde,
praktisch vollkommen wertlos. Höchstens kann sie als ein taktisches Manöver gelten,
um innerhalb der Blockmehrheit den Schwerpunkt etwas zu verschieben. Aber der
Ernst der Lage fordert, daß man alles, was die Betrachtung der einfachen Grund¬
linien der vor uns liegenden Aufgabe hindert, möglichst fernhält. Deshalb soll
man auch nicht mit dem Gedanken spielen, daß es ja gar nicht drauf ankäme,
von welcher Mehrheit die Reichsfinanzreform beschlossen würde. Konservative und
Liberale haben beide Ursache, sich den Anteil an diesem nationalen Werk zu sichern und
die Opfer ins Auge zu fassen, die sie an ihren Parteiprinzipien bringen müssen.
Die Veranlassung zu der hier erwähnten Rede des Abgeordneten Freiherrn
von Richthofen war die Wahlrechtsdebatte, die im Abgeordnetenhause kürzlich auf
der Tagesordnung stand. Verhandelt wurde über die Anträge, die teils von den
Freisinnigen, teils von Zentrum, Polen und Sozialdemokraten gestellt worden waren,
um die Frage der preußischen Wahlrechtsreform in Fluß zu bringen. Bekanntlich
hatte die Thronrede zur Eröffnung des Landtags diese Reform angekündigt, das
heißt, es war grundsätzlich als Wille des Königs bezeichnet worden, die Reform
vorzunehmen, ohne jedoch eine bestimmte Vorlage für die jetzige Tagung in Aussicht
zu stellen. Alle Andeutungen gingen bisher nur dahin, daß die Vorarbeiten im Gange
seien. Nun sollten bestimmte Anträge der reformfreundlichen Parteien die Regierung
zu einer Aussprache veranlassen, wieweit diese Arbeiten gediehen seien, und zugleich
ein Bild von der Stimmung des Abgeordnetenhauses in dieser Frage geben. Der
erste Wunsch wurde nur unvollkommen erreicht. Minister von Moltke konnte in der
Hauptsache nur mitteilen, daß die Regierung zunächst noch damit beschäftigt ist, sich die
statistischen Unterlagen zur Beurteilung der Verhältnisse zu verschaffen. Man ist also
noch weiter zurück, als die Fragesteller erwartet hatten. Mehr Glück hatten die Freunde
der Wahlrechtsreform mit ihrer zweiten Absicht. Denn das Haus lehnte zwar die ge¬
stellten Anträge ab, aber in entscheidenden Fragen mit so geringer Mehrheit, daß
das Ergebnis der Abstimmung unmöglich als Wille des Hauses in parlamentarischem
Sinne gelten konnte, sondern als ein Zufall, der bei jeder neuen Abstimmung durch
einen anders wirkenden Zufall in das Gegenteil umgewandelt werden kann. Was
will bei unsern Parteiverhältnissen eine Mehrheit von drei Stimmen sagen! Die
Gegner der Reform haben deshalb auch das Ergebnis durchaus nicht mit Froh¬
locken entgegengenommen, sondern sehr ernsthaft die Ursachen davon zu er¬
örtern gesucht.
Vielleicht wäre schon jetzt die Abstimmung anders ausgefallen, wenn nicht die
Sozialdemokraten den Gegnern jeder Wahlrechtsänderung zu Hilfe gekommen wären.
Die „Genossen" pflegen bekanntlich zur Erinnerung an die bekannten Vorgänge in
Se. Petersburg, als ein petitionierender Volkshaufe mit Gewalt verhindert wurde,
zum Winterpalast zu gelangen, und dieser Versuch zum Blutvergießen führte, in den
Januartagen, die um diesen Gedächtnistag herumliegen, Massenversammlungen zum
Protest gegen das bestehende Wahlrecht abzuhalten. Das Abströmen der Menschen¬
massen aus diesen Versammlungen gibt dann, nachdem die „bessern" Parteiführer
vorsichtig vom Schauplatz verschwunden sind, eine hübsche Gelegenheit für die
Parteisterne zweiter Größe, die am inmoi-um Asutium, ihr Talent als Regisseure
von Straßenumzügen zu bewähren, die den „Schrei des entrechteten, arbeitenden
Volks über das Wahlunrecht" in die breiteste Öffentlichkeit tragen sollen. Diese
Straßendemonstrationen wurden vor zwei Jahren, als sie zum erstenmal vorkamen,
von der Polizei sehr energisch abgewehrt. Es war für beide Teile etwas neues;
die Volksmenge war aufgeregt und zur Widersetzlichkeit geneigt, die Polizei vielfach
nervöser, als gerade nötig war. So kam es zu verschiednen Zusammenstößen.
Seitdem hat man in Berlin aufgehört, die Sache tragisch zu nehmen. Die Teil¬
nehmer an den Umzügen hüten sich, die Polizei zu reizen, und die Polizei begnügt
sich damit, die Trupps der Demonstranten durch Straßensperrungen vom Schloß
und von den Verkehrsmittelpunkten abzuhalten und in entlegne Straßenviertel zu leiten,
wobei möglichste Ruhe bewahrt wird. Es gehört schon die lebhafte Phantasie und
die agitatorische Ausschmückungskunst des sozialdemokratischen Zentralorgans dazu,
um die ruhig ihres Dienstes waltenden Schutzleute zu Schergen der Gewalt und
die Demonstranten selbst zu tragischen Helden von imponierender Wirkung zu
stempeln. In Wirklichkeit sind die Demonstrationen, die am 24. und 25. Januar
versucht wurden, sehr harmloser Natur gewesen. Aber sie haben einen Eindruck
gemacht, an den die Genossen wahrscheinlich nicht gedacht haben. Es mag Länder
geben, wo derartige Umzüge eine gewisse Wirkung ausüben und somit auch eine
entsprechende Berechtigung haben. So in Frankreich, wo Temperament und Phan¬
tasie des Volks von großer Lebhaftigkeit sind, wo der Sinn viel stärker von der
Wirkung einer Pose beeinflußt wird und die Möglichkeit, Massenkundgebungen
hervorzurufen, in geeigneten Augenblicken jederzeit eine reale Bedeutung gewinnen
kann. So auch in England, wo die Volkssitte in allen Schichten jahrhunderte¬
lang darauf hingewirkt hat, jede Betättgung der individuellen Meinung möglichst
frei zu gestalten, wo also jede Massenkundgebung bis zu einem gewissen Grade
denn auch das phlegmatische Temperament »ut der unabhängige Sinn kann sich
"icht ganz der Suggestion des Parteiwesens entziehen — eine wirkliche Verviel¬
fältigung der individuellen Meinung bedeutet. Aber unserm Nationalcharakter ent-
sprechen solche Veranstaltungen nicht. Nicht nur für den feiner entwickelten Ge¬
schmack unsrer gebildeten Kreise, sondern auch für den soliden Sinn der in einfachen
Verhältnissen lebenden Volksschichten haben sie etwas abstoßendes oder auch un¬
gewollt lächerliches. Umzüge sind bei uns der Ausdruck der Festfreude, des
harmlosen Vergnügens; als Ausdruck einer ernsthaften Meinung, deren Gewicht
sie versinnbildlichen sollen, imponieren sie nicht. Im Gegenteil, sie reizen zur
Kritik und zum Widerspruch durch den darin liegenden Anspruch, den Wert der
Meinung durch die Zahl auszudrücken; das verletzt die spezifisch deutsche Abart des
Individualismus. Der deutsche Bürger, und ganz besonders der Berliner, ist gar
nicht darauf abgestimmt, einen Menschenhaufen, der die Straßen durchzieht und
dabei die Arbeitermarseillaise und die eingelernten Parteiphrasen abgröhlt, besonders
ernst zu nehmen. Er sieht sich die Leute nur um so schärfer an, je auffallender
und aufdringlicher sie erscheinen, und dabei entgeht ihm nicht das Überwiegen
der Müßiggänger und bloßen Schreier in diesen Haufen und die große Zahl
derer, die sich offenbar bei dem ganzen Unternehmen gar nicht besonders wohl
fühlen. Die Leute scheinen ihm recht viel überflüssige Zeit zu haben, wenn sie,
statt zu arbeiten und zu rechter Zeit zu reden, den Verkehr auf den Straßen hindern
und sich redlich arbeitenden Bürgern als Wortführer und Vorbilder aufdrängen.
Deshalb haben Straßendemonstrationen bei uns nur die Wirkung, daß die Stimmung
der bürgerlichen Kreise sich noch entschiedner von den sozialdemokratischen Be¬
strebungen abwendet und von Abneigung und Mißtrauen gegen alles erfüllt wird,
was der Herrschaft des Straßenpöbels vielleicht eine Tür öffnen könnte. Mit
ihren Kundgebungen auf den Straßen Berlins haben die Sozialdemokraten auch
die Lage im Abgeordnetenhause erheblich zu ihren Ungunsten gewandt.
Im Reichstage gab eine Jnterpellation über Arbeiteraussperrungen und schwarze
Listen Herrn von Bethmann-Hollweg Gelegenheit, zu dieser ebenso wichtigen als
schwierigen Frage Stellung zu nehmen. Mit Recht lehnte er ein Einschreiten auf
dem Wege eines gesetzlichen Verbots ab, indem er sehr klar die Mtßstände und
Ungerechtigkeiten schilderte, die ein solcher Eingriff durch ein Spezialgesetz nach sich
ziehen müsse. Er wies darauf hin, daß die Rechtsprechung schon gewisse Grundsätze
festgelegt habe, die dem Mißbrauch der erwähnten Druckmittel durch die Arbeit¬
geber zuungunsten der Arbeiter sehr wohl vorbeugen können. Im übrigen kann
nur geholfen werden, wenn es gelingt, Einrichtungen zu schaffen, die jeden einzelnen
Fall nach seiner Eigentümlichkeit zu beurteilen gestatten und auf diesem Wege brauch¬
bare Rechtsgrundsätze herstellen helfen. Vielleicht können sich die vorgeschlagnen
Arbeitskammern zu solchen Organen entwickeln. Der Minister erntete mit seinen
Ausführungen den Beifall der Mehrheit des Hauses. Es ist erfreulich, zu beob¬
achten, daß der Geist vorurteilsloser, aber besonnenen und gemäßigten Fortschreitens
auf sozialem Gebiete dem Reichsamt des Innern auch unter seiner jetzigen Leitung
geblieben ist. Was Graf Posadowsky geschaffen und angebahnt hat, geht nicht ver¬
loren. Herr von Bethmann-Hollweg schreitet auf demselben Wege weiter. Die beiden
Staatsmänner unterscheiden sich nur in der Methode und der persönlichen Eigenart.
Beide sind in gleichem Maße bedeutend als erfahrne Kenner der praktischen Ver¬
waltung und in der Beherrschung ihres umfassenden Arbeitsfeldes. Graf Posadowsky
strebte seiner Natur nach darauf hin, die innern Wurzeln der Erscheinungen klar¬
zulegen und in ihnen allgemeingiltige Wahrheiten zu erkennen; seine Kritiker fanden
ihn oft zu „philosophisch". In Herrn von Bethmann-Hollweg erscheint dieser philo¬
sophische Zug mehr durch einen diplomatischen ersetzt. Er ist offenbar mehr Taktiker
als Prinzipienmann, ohne daß ihm die klare Überzeugung und der feste Wille fehlt,
die ihn auf dasselbe Ziel leiten, das sein Vorgänger gesteckt hat. Es ist also zu
hoffen, daß die Sozialpolitik des Reichs stetig und fest ihren Weg gehen wird.
Die auswärtige Politik wird noch immer durch die orientalische Frage be¬
herrscht, und wenn auch allen Spannungen und Zwischenfällen zum Trotz die
friedliche Tendenz hier immer wieder zur Geltung kommt, so geschehen doch stets
neue Überraschungen, die die Lage von heute zu morgen verschieben können.
Österreich-Ungarn und die Türkei waren ja schon handelseinig, als sich die Türkei
für berechtigt hielt, in dem Protokoll Änderungen vorzunehmen, die zwar unbe¬
deutend waren, aber doch zur Folge hatten, daß Österreich, ohne den ruhigen und
höflichen Ton der Verhandlungen zu verlassen, solche einseitigen Änderungen für
unzulässig erklärte und darüber neue Besprechungen anbot. Das wird die end¬
gültige Verständigung nicht hindern, hat sie aber immerhin hinausgeschoben. Ernster
gestaltete sich das Verhältnis zwischen der Türkei und Bulgarien. Die Bulgaren
fürchteten eine Überschreitung der Grenze durch die dort angesammelten türkischen
Streitkräfte und machten selbst Truppen mobil. Dabei rückten die Unterhandlungen
wegen der von Bulgarien zu zahlenden Geldentschädigung nicht von der Stelle.
Die Türkei forderte 150 Millionen Frank, Bulgarien bot 82 Millionen. Unglück¬
licherweise hatte die Pforte einige Großmächte verständigt, daß sie ihre Forderung
ohne weiteres herabsetzen würde, wenn sich Bulgarien zu einer Grenzregulierung,
d, h. zu einer kleinen Gebietsabtretung in Ostrumelien entschlösse. Das war nach
Sofia durchgesickert und hatte dort einen starken Protest gegen jede Regelung in
dieser Form hervorgerufen. Die Türkei verfolgte nun diesen Vorschlag nicht weiter,
erkannte vielmehr aus der ganzen Lage die Notwendigkeit, ein weiteres Entgegen¬
kommen in ihrer Geldforderung zu zeigen. Ihr Zurückgehen auf 100 Millionen
Frank zeigt, daß sie eine Verständigung sucht, um weitern Vermittlungsaktionen
der Großmächte aus dem Wege zu gehn; auch hat sie Bulgarien die Zusicherung
erteilt, daß sie nicht beabsichtige, die Grenze zu überschreiten. Aber so ganz scheint
der Gedanke einer Territorialentschädigung auf türkischer Seite noch nicht aufge¬
geben zu sein, und deshalb schwankt die Regierung in Sofia noch, ob sie die Ver¬
pflichtung, ihr Angebot auf 100 Millionen zu erhöhen, ohne besondre Zusicherungen
hinsichtlich der schnellen Anerkennung des bulgarischen Königtums und seiner Unab¬
hängigkeit und hinsichtlich der strikten Erhaltung des jetzigen Besitzstandes eingehn
kann. Rußland ist bemüht, durch vermittelnde Vorschläge, an denen sich auch die
andern Großmächte beteiligen sollen, die Verständigung herbeizuführen. Es bleibt
dann aber noch die Schwierigkeit zu lösen, die Ansprüche Bulgariens wegen der
Orientbahn in einer beide Teile befriedigenden Form zu lösen. -Die Diplomatie
hat also noch viel zu tun, ehe völlige Beruhigung in diesem Wetterwinkel Europas
eintret
Der Kronprinz nimmt im Finanzministerium seit längerer Zeit die Vorträge
des Geheimen Finanzrath Dr. von Luna über Geld-, Bank- und Kreditwesen ent¬
gegen. Luna, der seit 1886 im Dienste der Reichsbank steht, wurde im Jahre
1903 zum Mitgliede des Reichsbankdirektoriums ernannt. Er gilt in Theorie und
Praxis als erste Autorität in seinem Fache und ist deshalb vom Reichsbankpräsidenten
wiederholt mit besondern Aufgaben betraut worden. So unternahm er zusammen
>nit dem Geheimen Oberfinanzrat Schmiedecke die Studienreisen nach Wien und
Brüssel und wurde erst kürzlich damit betraut, als Vertreter seiner Behörde an
den Verhandlungen der Bankenquetekommission teilzunehmen. Ein großer Hörerkrei«
"inne seit Jahren die Gelegenheit wahr, in der Vereinigung für staatswissen--
Ichaftliche Fortbildung in Berlin die geistvollen und kritischen Vorlesungen Lumms
über ähnliche Fragen, über die der Kronprinz zurzeit Vorträge entgegennimmt,
zu hören. In Bank- und Handelskreisen wird man mit Befriedigung die Nachricht
von den Studien des Kronprinzen vernommen haben.
Den von der Bankenquetekommission vernommenen Sachverständigen ist unter
anderen die Frage vorgelegt worden, ob es sich empfiehlt, aus eine Verstärkung des
Barvorrats der Reichsbank aus dem Jnlandsverkehre durch Ausstattung der Reichs¬
banknoten mit der Eigenschaft als gesetzliches Zahlungsmittel tsnciizr) hinzu¬
wirken. Obwohl von einer solchen Maßnahme eine Verstärkung des Goldvorrats
Wohl nur in bescheidnen Umfange erwartet werden darf, hat sich die Negierung
in Übereinstimmung mit der Kommission entschlossen, den Noten der Reichsbank die
Legaltenderqualität beizulegen, um dem seit über dreißig Jahren bestehenden tat¬
sächlichen Zustande eine gesetzliche Grundlage zu geben. Unsre Reichsbank erfreut
sich im In- und Auslande eines so hohen Ansehens und allgemeinen Vertrauens,
daß eine Ablehnung der geplanten Neuerung ihrem Ansehen nur schädlich sein
könnte. In der Tat wird es in Deutschland keinem Menschen einfallen, eine Reichs¬
banknote als Zahlung zurückzuweisen; weite Kreise der Gebildetsten, ja selbst Bank¬
fachleute wissen gar nicht, daß man gegenwärtig die Noten der Reichsbank als
Zahlung nicht anzunehmen braucht. Selbst der Gesetzgeber hat gelegentlich einmal
im Gesetz festgelegt, daß Zahlung in Neichsbanknoten als Barzahlung gilt. Der
Paragraph 195 des Handelsgesetzbuches schreibt vor, daß in der Anmeldung der
Aktiengesellschaft bei Gericht die Erklärung abzugeben ist, daß auf jede Aktie, soweit
nicht andre als durch Barzahlung zu leistende Einlagen bedungen sind, der einge¬
forderte Betrag bar eingezahlt ist. Als Barzahlung gilt nur die Zahlung in
deutschem Gelde, in Reichskassenscheinen sowie in gesetzlich zugelassenen Noten
deutscher Banken. Diese Bestimmung reichte natürlich nicht aus, um die Noten
zum 1sAg,1 tsuclor zu machen, sie zeigt aber, daß auch dem Gesetzgeber die Zahl¬
kraft der Noten als etwas Selbstverständliches erschien.
Noch ist der Bankgesetzentwurf betreffend die Verlängerung des Notenprivilegs
der Reichsbank dem Reichstage nicht zugegangen, da taucht im Inland und ver¬
einzelt auch im Auslande der »veitverbreitete Irrtum auf, gesetzliche Zahlkraft sei
dasselbe wie Zwangskurs. Der Irrtum wäre verzeihlich, denn selbst hervorragende
Gelehrte sind in ihn verfallen, wenn er nicht leicht verhängnisvolle Folgen haben
könnte. Werden die Noten zum gesetzlichen Zahlungsmittel erklärt, so bedeutet das
weiter nichts, als daß der, der eine Schuld mit Reichsbanknoten bezahlt, diese ge¬
setzlich getilgt hat. Dabei bleibt die Grundlage unsrer Währung, das heißt die
Verpflichtung der Neichsbank, ihre Noten sofort bei Präsentation in Berlin in Gold
einzulösen, unvermindert bestehen. Das Wesen des Zwangskurses dagegen liegt in
der Befreiung der Notenbank von der Einlösungspflicht.
Demnach liegt mit Rücksicht auf unsre Währung nicht das geringste Bedenken
gegen die geplante Neuerung vor, und der gegenwärtige Augenblick wäre der denkbar
geeignetste zu ihrer Einführung. Seit Beginn dieses Jahres hat sich die Reichs¬
bank — ein Zeichen großen Selbstvertrauens — zu einer wichtigen Neuerung in
der Veröffentlichung ihrer Wochenausweise entschlossen. Während sie bisher seit
ihrem Bestehen nur einmal jährlich ihren Goldvorrat veröffentlichte, und zwar in
ihrem Geschäftsberichte nach dem Stande vom 31. Dezember, weist sie vom
7. Januar dieses JahreS ab wöchentlich ihren Metallvorrat nach Gold und Silber
getrennt aus. Ferner ist aus den vor Wochen durch eine Korrespondenz als Er¬
gebnis der Bankenquete bekannt gegebnen Mitteilungen, wonach die Verpflichtung
der Reichsbank zur Einlösung ihrer Noten mindestens in dem bisherigen Um¬
fange erhalten werden soll, zu schließen, daß die Regierung beabsichtigt, die Ein¬
lösungspflicht der Reichsbank zu erweitern. Sollte das der Fall sein, so wäre es
ein unverzeihlicher Fehler, wenn man den selten günstigen Augenblick zur Aus¬
stattung der Noten mit gesetzlicher Zahlkraft unbenutzt verstreichen ließe. Falls das
Ausland versucht, die Wichtigkeit der Maßnahme aufzubauschen und den Vorgang
als bedenklich hinzustellen, so können wir die Angriffe kurzerhand abwehren mit
dem Hinweis: Kehrt vor eurer Tür!
Frankreich hat nach dem Ausbruch des Krieges 1870 die gesetzliche Zahlkraft
für die Noten der Bank von Frankreich eingeführt und sie seitdem nicht wieder
aufgehoben. England machte die Noten seiner Zentralbank Jahrzehnte früher zum
le^l wnäsr; auch in der Schweiz, den Niederlanden, in Belgien und Spanien
haben die Noten gesetzliche Zahlungskraft. Die gestern erfolgte Veröffentlichung der
stenographischen Berichte über die Verhandlungen der Bankenquetekommission wird
dazu beitragen, weiten Kreisen Aufklärung über die schwierige Frage zu bringen.
In einer kürzlich erschienenen Schrift: Die finanzielle Kriegsbereitschaft
und Kriegführung (Jena, Gustav Fischer, 1909) empfiehlt Professor Rießer
die Einführung der gesetzlichen Zahlkraft bei Ausbruch eines Krieges als Mittel der
finanziellen Mobilmachung. Das interessante und aktuelle Buch erörtert nach einer
Darstellung der Kosten des deutsch-französischen, des russisch-japanischen und des
Burenkrieges die finanzielle Kriegsbereitschaft Deutschlands unter Würdigung sämtlicher
in Betracht kommender Faktoren, sodann die finanzielle Mobilmachung und schließlich
die finanzielle Kriegführung. Rießer kommt zu dem Resultat, daß Deutschland
finanziell kriegsbereit sei. Von einem Pessimisten ist das Buch als schädlich bezeichnet
worden, weil es viel zu optimistisch sei. Unsers Erachtens werden wir zu noch
wesentlich größern Leistungen fähig sein, als sie Rießer für möglich hält. Denn
bei Ausbruch eines europäischen Krieges ist der Einsatz für alle Beteiligten so enorm
groß (und die internationalen Friedensbestrebungen haben dafür gesorgt, daß diese
Tatsache heute allgemein bekannt ist), daß das deutsche Volk die äußersten Kräfte
aufbieten und dann ohne Zweifel Außergewöhnliches leisten wird. Der Versuch,
diese höchsten Leistungen heute in Zahlen vorrechnen zu wollen, ist müßig.
Mag man nun die ziffermäßigen Ergebnisse der Rießerschen Untersuchungen
optimistisch als Minimum oder pessimistisch als Maximum ansetzn, die technischen
Mittel und Wege der finanziellen Mobilmachung und Kriegführung sind „mit großer
Sachkenntnis und weiter Voraussicht", wie der Reichsschatzsekretär Sydow vor dem
Deutschen Handelstage anerkannte, dargestellt worden; das Buch kann bestens
empfohlen werden.
Die Frage der finanziellen Kriegsbereitschaft ist aktuell, weil man vielfach das
unaufhörliche Anschwellen des Goldvorrats der Bank von Frankreich als finanzielle
Mobilmachung bezeichnet hat. Seit Anfang vorigen Jahres bis heute sind über
900 Millionen Franken in die Bank geflossen, sodaß der Bestand jetzt die ganz
abnorme Höhe von 3585 Millionen Franken zeigt. Die Vermehrung des französischen
Goldbestandes innerhalb eines Jahres ist also fast so groß wie der gesamte Gold¬
bestand der Reichsbank, der am 23. Januar 895 Millionen Mark betrug. Zunächst
'se jedoch Tatsache, daß der Goldzufluß nach Frankreich in den letzten Monaten
nicht mehr auf die Politik der Bank zurückzuführen ist, daß vielmehr, begünstigt
durch die natürliche Gestaltung der Verhältnisse am internationalen Geldmarkt, ein
allgemeiner Rückfluß der französischen Auslandsguthaben erfolgte. Der Stand der
-Wechselkurse führte dazu, daß die Arbitrage diese Guthaben in Gold zurückziehen
nnißte. Der Leitung der Bank von Frankreich kann die Anhäufung eines so hohen
Metallvorrats nicht erwünscht sein, da sie eine kostspielige Last für die Bank bedeutet,
^u Kriegszeiten wäre der Goldüberfluß für Frankreich ohne Zweifel von großem
Urteil, doch darf es in keiner Weise beunruhigen, daß der für deutsche Verhältnisse
>ehr hohe Goldbestand der Reichsbank hinter dem der Bank von Frankreich wesentlich
zurückbleibt. Wir müssen immer berücksichtigen, daß das sich in Deutschland im
Verkehr befindende Gold eine viel höhere Summe ausmacht als der Goldumlauf
in Frankreich. Um in Kriegszeiten das sich im Verkehr befindende Gold für die
finanzielle Kriegführung nutzbar zu machen, bedarf es allerdings besondrer Ma߬
nahmen. Hier ist ein Vorschlag des Deutschen Ökonomisten (vom 16. Januar) sehr
beachtenswert. Er empfiehlt als integrierender Bestandteil der Mobilmachungsorder
ein Goldnusfuhrverbot; die Ausfuhr von Gold soll nur dann gestattet sein,
wenn nachgewiesen wird, daß das Gold zur Bezahlung von zurzeit unentbehrlichen
Einfuhrartikeln dient. Es wäre ein nicht wieder gut zu machender Fehler, den
zahlreichen vorsichtigen Leuten, die bei Anordnung der Mobilmachung noch geschwind
einen Goldschatz nach dem Auslande in Sicherheit bringen wollen, hierzu Zeit zu
lassen. Der Vorschlag verdient deshalb Beachtung, weil er uns entgegen der herrschenden
Meinung auch wirklich durchführbar erscheint, abgesehn von den Mängeln, die jedem
Ausfuhrverbot anhaften. Dazu ist freilich notwendig, daß die für die Überwachung
der Goldbewegung zuständige Stelle über die Zahlungsgewohnheiten im In- und
Auslandsverkehr auf das genauste unterrichtet ist. Kommt dann noch eine kauf¬
männisch rührige, umsichtige Tätigkeit der Zollämter hinzu, so wäre die Durchführ¬
barkeit des Vorschlags durchaus denkbar.
Gleich mit den ersten erschütternden Meldungen von der furchtbaren Katastrophe
in Italien gingen Nachrichten in die Welt von den Greueltaten verkommner Menschen,
die angesichts eines solchen Unglücks nicht zurückschenken, die schamlosesten Verbrechen
an wehrlosen Opfern zu begehn. Man begreift nicht, daß es Menschen gibt, die
trotz der ungeheuern Wucht eines solchen Unglücks zu Bestien werden können. Nach¬
dem die Behörden einigermaßen die Oberhand wieder gewonnen hatten, verfuhr
man in der einzig richtigen Weise: man schoß die Elenden nieder, wo man sie bei
ihrem grausigen Treiben fand. Als Erklärung für diese Arkaden könnte man an¬
führen, daß es sich um verrohte, hungernde, zum Teil vielleicht geisteskranke Menschen
handelte. Doch es gibt noch eine andre Spezies von Menschen, die mit jenen Hyänen
verzweifelte Ähnlichkeit hat, und für deren Handlungsweise in diesem Moment es
keine Entschuldigung gibt. Das sind jene Spekulanten, die aus der erschütternden
Katastrophe durch ausgedehnte Baissespekulationen auf Kosten ihrer bestürzten Lands¬
leute Kapital zu schlagen suchen. Es ist klar, daß die Folgen des Erdbebens eine
bedeutende Schädigung des italienischen Wirtschaftslebens mit sich bringen, und es
gehörte bald nach der Katastrophe nicht viel Schwarzmalerei, Verbreitung falscher
Gerüchte und Verhetzung dazu, um das geängstigte Publikum zum übereilten Verkauf
seiner Wertpapiere zu veranlassen. Die erfahrnen Spekulanten, die wohl wissen, daß
Italien die Folgen des Erdbebens bald überwinden wird, ziehen nun aus der durch
falsche Gerüchte genährten Bestürzung ihren Vorteil.
Ähnliche Manöver sind an der Newyorker Börse nichts seltnes und — in
mehr oder weniger abgeschwächter Form — ein weitverbreitetes Übel. Nur ungern
erinnert man sich in Deutschland vereinzelter Fälle, in denen 1870 und 1888 eine
ähnliche Gesinnung betätigt wurde. Die Nützlichkeit des Terminhandels, der
Spekulation, ist unbestritten, aber die Behauptung, daß die Baissespekulation nur
ein Symptom einer abwärtsgehenden Kursbewegung sei und sich in den Grenzen der
großen rückläufigen Bewegung halten müsse, ist nicht richtig. Vielmehr werden die
Baissespekulanten immer ein Interesse daran haben, die Lage über die Wahrheit
hinaus schwarz darzustellen, und so wird das Kursnivcau unter den durch die Lage
bedingten Tiefpunkt herabgedrückt.
Als Ende 1907 die Baissespekulanten die Wirkung der ungünstigen Wirtschafts¬
und Geldmarktslage durch Ausstreuen falscher Gerüchte verschlimmerten, ergriff die
Regierung auf Ansuchen der Handelskammern von Mailand, Rom, Genua und
Livorno die strengsten Maßnahmen. Es wurde das sogenannte Aron Ä'ssooiQxw
eingeführt. Dem Käufer wurde das Recht zugestanden, die Lieferung von Effekten
zwei Tage nach Ankündigung auch vor dem vereinbarten Termin zu fordern; ein
englischer Staatsangehöriger wurde aus Italien ausgewiesen und gegen die ein¬
heimischen Spekulanten das Strafverfahren eröffnet. Damals schrieb die Handelspresse,
das Vorgehn der Negierung sei unklug, man dürfe mit solchen Gewaltmaßregeln
die Funktionen der Börse nicht schädigen. Es ist jedoch sehr charakteristisch, daß es
auch diesmal die Börsenbesucher und die Börsenorgane selbst sind, die von der
italienischen Regierung Abhilfe verlangen. Man fordert ein Verbot des Termin¬
geschäfts bis auf weiteres und gerichtliches Vorgehn gegen die Spekulanten. Es
wäre natürlich der wünschenswerte Zustand, daß Treu und Glauben und vornehme
Gesinnung der an Börsengeschäften beteiligten die Gesetze schrieben. Solange aber
die Börsenkreise nicht imstande sind, Elemente, denen solche Begriffe unbekannt sind,
auszustoßen, dürfen sie sich nicht wundern, daß die Regierung gesetzliche Maßnahmen
trifft, die nur allzuleicht über das Ziel hinausschießen können.
Nach einer weitverbreiteten Ansicht muß der Sozialdemokratie
von der in der Zahl liegenden Kraft und Macht ein wesentlicher Abzug gemacht
werden, weil sich unter ihren Anhängern eine große Anzahl sogenannter „Mit¬
läufer" befindet. Bei der schwersten Krankheit unsers innern Staatslebens ver¬
dienen alle Erscheinungen der eingehendsten Beachtung. Die obige Anschauung
bedarf darum der Nachprüfung auf ihre Richtigkeit.
"
Unter „Mitläufern werden im allgemeinen die Bestandteile einer politischen
Partei verstanden, die ihr ohne volles Verständnis für die Grundsätze und Ziele Ge¬
folgschaft leisten. Kein Teil der Bevölkerung kann sich in der Gegenwart der Anteil¬
nahme am öffentlichen Leben entziehn. Dabei aber liegen die Verhältnisse derartig,
daß einer großen Anzahl von Persönlichkeiten aus den verschiedensten Gründen — etwa
aus mangelnder Vorbildung und Besähigung oder weil die Erwerbstätigkeit
ihre ganze Zeit in Anspruch nimmt — die Möglichkeit fehlt, sich über die allge¬
meinen Grundregeln der Politik oder über die jeweiligen Tagesfragen ein ab¬
schließendes eignes, auf wohldurchdachter Überzeugung beruhendes Urteil zu bilden.
Wiederum die verschiedensten Umstände sind dann für den Anschluß dieser Elemente
an eine bestimmte politische Partei maßgebend: die Luft, die in der Familie, dem
Berufs- oder Umgangskreise weht, manchmal der Einfluß einer Persönlichkeit, zu
der man sich vertrauensvoll hingezogen fühlt, noch öfters leider die Erwägung, in
welchem Neste die wärmste Lagerstätte in Aussicht steht. Auf diese Weise rekrutiert
sich das Gros der Mitläufer. Das politische Leben der Gegenwart trägt also
folgende Gesichtszüge. Eine mit der nötigen Muße und Befähigung ausgerüstete
Anzahl von Persönlichkeiten ist der aktive Träger der Parteigedanken, der sich in
verschiednen Abstufungen mit stetig abnehmendem Verständnis die überwiegende An¬
hängerschaft anschließt. Aber dieses Sachverhältnis ist keine Eigenheit der Sozial¬
demokratie, sondern Gemeingut aller politischen Schattierungen. Wer also wegen
dieser Klasse von Mitläufern bei der Soztaldemokratie einen Abzug machen will, muß
auch bei allen bürgerlichen Parteien dasselbe Rechenexempel anstellen. Im Gegenteil!
Fe geringer das politische Verständnis, desto blinder die Folgsamkeit. Nun stehn
s'es in der Sozialdemokratie Führer und Masse am schroffsten gegenüber. Bei
"lieu bürgerlichen Parteien schiebt sich dagegen eine große Reihe von Mitteltönen
Sie sind vor allen Dingen mit der gefährlichen Halbbildung belastet. Dieser
haftet bekanntlich wie eine Klette der Fehler der Selbstüberschätzung an. Zur Sucht,
die eigne Persönlichkeit geltend zu machen, gesellt sich die deutsche Untugend der
Eigenbrötelei, und das Ende vom Liede ist, daß die bürgerlichen Parteien mit
einer Anzahl nörgelnder, sich auflehnender und absplitternder Bestandteile belastet
sind. Das Fazit ist ein Heruntersinken der Wagschale zugunsten der Sozialdemokratie.
Deren Mitläufer sind am zuverlässigsten. Sie müssen also nicht bei der Sozial¬
demokratie, sondern viel eher bei den bürgerlichen Parteien auf dem „Soll" statt
auf dem „Haben" gebucht werden.
Bei der Sozialdemokratie gibt es jedoch als eine wirkliche Sondererscheinung
noch eine zweite Art von Mitläufern. Das unterscheidende Merkmal der bisher
geschilderten Gattung war ein dunkler Drang, eine Art von unbewußter Wahl¬
verwandtschaft, die sie in die Arme einer bestimmten politischen Partei trieb. Die
Sozialdemokratie aber hat es daneben verstanden, sich Anhänger zu verschaffen, die rein
äußerlich „der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe" sich unter das rote Banner
ducken mußten. Hier ist die Sorge für das tägliche Brot aus Angst vor dem sozial¬
demokratischen Terrorismus zur Triebfeder gegen die eigne Überzeugung geworden.
Unwillkürlich drängt sich der Vergleich dieser Mitläufer mit den Soldaten
auf, die der Eroberer eines fremden Staates seiner eignen Armee eingereiht hat.
Unzweifelhaft drücken sie deren Gefechtswert herunter. Sie werden nicht mit der¬
selben Begeisterung wie die eignen Landeskinder ihr Leben für fremden Vorteil in
die Schanze schlagen und das verhaßte Joch bei der ersten aussichtsreichen Ge¬
legenheit abschütteln. Aber das Bild ist doch nur teilweise zutreffend. Der springende
Punkt ist die ohnmächtige Schwäche des Vaterlandes, die dort den Soldaten dem
äußern, hier den Arbeiter dem innern Feinde ausgeliefert hat. In beiden Fällen
kann der Gedanke zur Abschüttlung der Ketten erst bei einem völligen Umschwung
der Verhältnisse aufkeimen. Damit sind jedoch die Berührungspunkte erschöpft, und
die Unterschiede beginnen. Von den Kämpfen auf Leben und Tod, die der äußern
Unterjochung des Vaterlandes vorausgegangen sind, hat der gepreßte Mitläufer
nichts gespürt. Fast ohne ernstlichen Widerstand ist er seiner Bedrückerin auf Gnade
oder Ungnade überantwortet worden. Dem Soldaten wird niemand die Zuversicht
auf die Wiedergeburt seines Vaterlandes rauben. Kein billig denkender Mensch
wird sich aber wundern, daß bei dem sozialdemokratischen Mitläufer der Glaube an
eine bis zu seiner Befreiung führende Erstarkung der bestehenden Staats- und
Gesellschaftsordnung ins Wanken gerät. Mit Recht schreibt die Antisoziale Korre¬
spondenz von ihnen, daß sie „der patriotischen Begeisterung bar und für die pflicht¬
treue Arbeit am nationalen Werke verloren sind". Aber diese Ernüchterung und
Gleichgiltigkeit ist nicht die einzige Folgeerscheinung. Tagtäglich Verkehren sie im
Kreise der Sozialdemokraten, und der stetige Umgang färbt außer bei ungewöhnlich
selbständigen Charakteren mit eiserner Naturnotwendigkeit unmerklich ab. So gleitet
ein Teil der ursprünglichen Zwangsgenossen allmählich in das sozialdemokratische
Lager hinüber, bis aus dem Saulus ein Paulus geworden ist.
Im günstigern Falle hält die innere Abneigung gegen das rote Lager stand.
Welcher Schaden aber soll der Sozialdemokratie aus dieser in der dunkelsten Herzens¬
kammer verschlossenen Gesinnung erwachsen? Todesmutige Begeisterung ist in der
Gegenwart noch kein Erfordernis für ihre Soldaten. Die ausschlaggebende Rolle
spielt vielmehr das scharfe Überwachungssystem. Um ihrer Existenz willen werden
daher gerade die Mitläufer, die Ursache zur Anzweiflung ihrer waschechter Färbung
haben, den Mund am vollsten nehmen, in keiner Versammlung fehlen, pünktlich ihre
Parteigroschen zahlen und am eifrigsten an die Wahlurne treten. Also auch bet
den gepreßten Mitläufern ist die Sozialdemokratie des vollen Einsatzes ihrer Per¬
sönlichkeit sicher.
-? Solange also die Zwangsgenossen noch .Mitläufer des Umsturzes sind, stehn
sie der Sozinldemokratie vollwertig zu Buche. Das Blatt wendet sich erst in dem
Zeitpunkt, wenn sie offen das aüfgezwungne Joch abzuschütteln, d. h. die Reihen
der Sozialdemokratie zu verlassen wagen. Dann aber haben sie eben aufgehört,
„Mitläufer" der roten Herde zu sein. Der aussichtsreiche Zeitpunkt hierzu ist in^
dessen erst gekommen, wenn ihnen der Staate wieder mit unbedingter Zuverlässigkeit
Schutz vor allen persönlichen und wirtschaftlichen Bedrückungen gewährt. Dies muß
also dos Ziel aller geschlicheir und sonstigen Maßnahmen sein. ' :
^ In dem Artikel Was können
wir von Japan lernen? in Heft 1 der Grenzboten sagt der Verfasser von
den Volksfesten der Japaner: „Kein Alkohol, kein wüster Lärm mit Blechmusik uni<
Pauken. Ernst und bedächtig ziehn die kleinen geschmeidigen Kampfer zum 'Festplatz.
Der Kampf ist schwer...." Um so größer ist die Begeisterung, um so höher der
Ruhm, der dem Sieger zuteil wird. Er wird nicht in Festreden, zwischen Fisch und
Braten gefeiert, aber das Volk nennt ihn als einen ihrer Besten, und die Jugend
erzählt von ihm mit stiller Bewunderung und erfüllt von dem glühenden Wunsche
zu werden ein Held wie jener. Still und bescheiden zieht der Sieger im heißen
Kampf heimwärts. Die Ehre genügt ihm als einziger Lohn." '.Und. im' 'Gegensatz^
dazu spricht der Verfasser von deutschen Volksfesten und Turnfesten, wie er sie
hier und da gesehn hat, und wo dem Gambrinus kräftig geopfert wurde, ,wo es
ohne Frühschoppen, Festessen, Festreden und Kommerse nicht -abging.. Er sieht in
diesen deutschen Trinksitten eine große Gesahr und wünscht, daß namentlich die
deutschen Turnvereine, die wesentlich, dazu beitragen sollen, unser Volk zu hohen körper¬
lichen und moralischen Tugenden zu erziehn, dem ganzen.Kommerswesen und dem
Alkohol Ballet sagen. Auch unter den Turnern gibt es schon jetzt eine große Zahl
von Abstinentlern, die dem Verfasser in diesem Weckruf zur Enthaltsamkeit beistimmen
werden. „Das Gute, was an körperlicher und geistiger Spannkraft von wenigen,
gezeigt wurde, es wird ertränkt in dem Alkoholgenuß und dem Festesrausch der
großen Meuge." Mit der Menge hat er natürlich nicht die ausführenden Turner,
gemeint. Wenn der Verfasser in dem Kampf für eine, ideale Sache, etwas kräftige
Farben aufgetragen und Bilder gezeichnet hat, wie sie ihm wohl hier und da bei
Volksfesten zu Gesicht gekommen sind, so hat er selbstverständlich weder einen
bestimmten Verein oder Verband oder gar führende Persönlichkeiten gemeint. Die
Grenzboten sind seit je überzeugte Verfechter der in der schlichten deutschen Turneret
liegenden hohen Ideale gewesen und wissen die schwierige und verdienstvolle Arbeit
der Führex nicht hoch genug zu schätzen; aber sür große effektvoll arrangierte'
Feste, Kommerse und Preisverteilungen haben sie sich aus mancherlei gewichtigen'
Gründen auch nie recht begeistern können. Was seinerzeit an Kommersen und Bier¬
konsum in München und Innsbruck geleistet wurde, das weiß jeder Zeitungsleser.
In dieser Beziehung ist uns die schlichte japanische Art, ein Volksfest zu feiern,
wirklich sympathischer. Wir haben in äußerlichen Dingen so viel unerfreuliches von
den Engländern und den Franzosen angenommen, daß es uns wirklich nichts schaden.
könnte, auch einmal etwas Gesundes, Natürliches und Einfaches von den Japanern
zu lernen.
dem 3. Fe¬
bruar 1909, bringt der Verlag von Baedeker in Essen eine liebenswürdige und
interessante Gabe: „Felix Mendelssohn-Bartholdys Briefwechsel mit Karl Klingemann",
herausgegeben von Karl Klingemann dem Sohn. Klingemann war nicht ein Freunde
londern der Freund Mendelssohns, im Sinne Montaignes und Bull-Jean Pauls.
Manches hübsche Lied von ihm, dem Legationsrat bei der hannoverschen Vertretung
in London und gewandten Poeten der bürgerlichen Spätromantik um 1836, hat
Mendelssohn komponiert, Der Frühling naht mit Brausen, Ach wie so bald verhaltet
der Reigen usw. Im Jahre 1829 haben beide zusammen die schottische Reise gemacht,
auf der sie ein gemeinsames Tagebuch führten, Mendelssohn als fertiger Zeichner
und Klingemann als Versifex dazu, worauf als musikalischer Hauptertrag die Amvll-
symphonie entstand. Der Briefwechsel ist zwanzig Jahre lang ausgiebig und herzlich
von beiden Seiten geführt worden; nur weniges war bis jetzt davon veröffentlicht,
um so mehr erfreut nun die reichhaltige Publikation. Nicht nur Musik- und Kultur¬
historiker dürften eifrig danach greifen; auch das musikalische deutsche Bürgertum,
soweit ihm nicht durch die Lohengrin- und Parsifalposaunen alle Empfindung für.
die fein polierte Linienmelodik von damals aus den Nerven hinausgeschmettert worden
ist, foweit es noch und wieder Mendelssohn singt, mag Freude und Behagen an
diesen lebensblühenden Briefdokumenten aus der Zeit unsrer Großvater haben.
Der Name Sebastian Bach kommt oft in diesen Briefen Mendelssohns vor,
in manchem eigentümlichen Zusammenhang. Wir teilen eine dieser Stellen mit
<vom 9. Januar 1838): „Als mir vor einigen Tagen die Direktion des Kölner
Musikfestes förmlich angeboten wurde, war ich mancher Gespräche eingedenk, die
wir miteinander gehabt haben (nach dem Frühstück etwa) und gab Dir im Herzen
recht und nasus an, das heißt mit einigen Bedingungen, unter denen namentlich
einiger Seb. Bach mit vielen Trompeten ist, welchen ich mir dazu von Hauser
(dem Bachmanuskriptsammler) aus Breslau habe kommen lassen. Der hat mir zehn
Musiken zur Auswahl geschickt, und darunter wieder viel Treffliches, aber zwei
ganz apart schöne Sachen, sodaß ich schon im Lesen laut jubelte — ist doch ein
alter Prachtkerl gewesen. Wir wollen ihm jetzt hier vor der Thomasschule ein
kleines Denkmal aufrichten lassen, aber natürlich ganz unter uns, ohne Zeitungs¬
bettelei und Kvnzertalmosen und dergleichen, nur einen Stein, vielleicht mit der
Büste, und sein Name oben drauf, und darunter muß stehn »von seine» dankbaren
Nachkommen 1838«. Gefällt dir das nicht gut? Am besten gefällt mirs, daß
wir die Sache heimlich und unter uns behalten wollen." Das kleine Mendels-
sohnsche Bachdenkmal kam damals zustande; siebzig Jahre später hat Leipzig nach
langen und lauten Vorbereitungen und inmitten eines prangenden Bachfcstes sein
großes Bachdenkmal erhalten. Eine merkwürdige Parallele dazu, daß der junge
Goethe es einst «ur leise sagen wollte, daß Dürers Kunst voll Anmut sei, und
Thausing hundert Jahre später ausrief: Wir wollen es heute laut sagen!
Das Klingemannsche Buch ist mit einigen Liedfaksimiles, gezeichneten Porträts
aus dem Freundeskreise der Schreibenden und einer Einleitung des Herausgebers
ausgestattet, die aus verwandtem Briefmaterial noch manches interessante mitteilt,
zum Beispiel über den Dichter Grabbe.
Unter den drei ältesten und zugleich
wichtigsten geistlichen Ritterorden des Mittelalters, dem Deutschen Orden, dem
Hospitaliterorden und dem Templerorden, nimmt der zuletzt genannte insofern eine
besondre Stellung ein, als er infolge seiner Auflehnung gegen Kirche und Staat
ein frühes Ende fand, während sich der Deutsche Orden mit feinem Verständnis
für die Wandlungen des Zeitgeistes ein neues Wirkungsfeld suchte und durch
kolonisatorische Arbeit einen eignen Staat, Preußen, schuf, und während die
Hospitaliter durch geschicktes Lavieren jede Konflikte zu vermeiden wußten und ihr
freilich zuletzt mehr vegetierendes Dasein bis zum Ausgang des achtzehnten Jahr¬
hunderts zu fristen verstanden. Infolgedessen verblaßt die nicht ganz zweihundert¬
jährige Geschichte der Templer vor der ihrer glücklichern Rivalen, und der Laie
ist nur zu leicht geneigt, ihre einst so bevorzugte Sonderstellung zu übersehen und
ihre Bedeutung zu unterschätzen. Und doch liegt in ihren verheißungsvoller Anfängen,
ihrem ungewöhnlichen Glück und ihrem durch Übermut und Mißbrauch der Macht
hervorgerufnen jähen Sturz eine solche Fülle von echt menschlicher Tragik, daß es
sich für den Geschichtsfreund wohl verlohnt, sich mit der Entwicklung dieses Ordens
zu beschäftigen. Dazu wüßten wir keine bessere und anregendere Anleitung als das
kürzlich erschienene Buch von Hans Prutz: Die Geistlichen Ritterorden. Ihre
Stellung zur kirchlichen, politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung
des Mittelalters (Berlin, E. S. Mittler u. Sohn. geh. 14 Mark. geb. 15 Mark 50 Pf.),
das in zwölf lichtvoll und fesselnd geschriebnen Kapiteln Ursprung und Anfänge der
geistlichen Ritterorden, die geistlichen Ritterorden im Morgenlande, die spanischen
Ritterorden, den Deutschen Orden, Entwicklung und Wesen der exemten Stellung
des Hospitaliterordens, das Verhältnis des Templerordens zu Kirche und Papsttum
in seiner geschichtlichen Entwicklung, Verbreitung, Besitzstand und rechtliche Stellung
des Hospitaliterordens, Verbreitung, Begütcrung und rechtliche Stellung des Templer¬
ordens im Abendlande, den Templerorden in Frankreich, Stellung der geistlichen
Ritterorden in der wirtschaftlichen Entwicklung, Pläne zur Reform der geistlichen
Ritterorden und Ursprung und Anlaß des Templerprozesses behandelt. In den
meisten Darstellungen der Geschichte des Templerordens wird der Schwerpunkt auf
die politischen und kirchlichen Verwicklungen gelegt, die seine Stellung erschütterten
und zu dem bekannten Prozesse führten, der sein Schicksal besiegelte. Dabei erscheint
er denn in keinem allzu günstigen Lichte, und über die unleugbaren Verfehlungen
der Tempelritter vergißt man nur zu oft die ursprünglich gute und gesunde
Tendenz, die zu der Stiftung des Ordens geführt hatte.
Wie Prutz an der Hand von kürzlich in Frankreich veröffentlichten Urkunden
den Nachweis führt, daß es gerade die Gunst der Päpste und die durch sie be¬
wirkte Überhäufung mit Sonderrechten waren, die den Anlaß zu der so verhängnis¬
vollen Verweltlichung des Ordens boten, so bringt er auch zur Geschichte der
Ordensentstehung neues Material und stellt sich dabei, namentlich was die sogenannte
Templerregel anlangt, in Gegensatz zu den Untersuchungen Gustav Schnürers. Prutz
gibt zu, daß den ersten Anstoß zur Stiftung des Ordens der Verband gegeben
haben mag, zu dem der als Kreuzfahrer, Pilger oder Abenteurer nach Palästina
gekommene burgundische Ritter Hugo de Papus rin einem nordfranzösischen Lands-
mnnn, Gottfried von Se. Omer und sechs andern Edelleuten zusammentrat, und der
die Bestimmung hatte, die nach Jerusalem ziehenden Pilger gegen die Überfälle
der Ungläubigen zu schützen. Zu einer Art von Orden wurde dieser Verband
allerdings erst später, als sich die Mitglieder durch einen in die Hand des Patriarchen
von Jerusalem abgelegten Eid dazu verpflichteten, für die Sicherheit der Straßen
zwischen der heiligen Stadt und der Küste zu sorgen. Die Lebensweise der „armen
Ritter Christi" war durch Bestimmungen, die der Benediktinerregel entsprachen,
geregelt. Als König Balduin der Erste dem neuen Orden ein Haus bei dem
"Tempel Salomonis", der ehemaligen el Aksa-Moschee, einräumte, nahmen die Mit¬
glieder den Namen „arme Ritter Christi vom Salomonischen Tempel" oder kurzweg
"vom Tempel" an, führten die drei Mönchsgelübde bei sich ein und erwarben,
dank der reichen Schenkungen, die ihnen von dankbaren Pilgern zuflössen, Grund¬
besitz und nutzbare Rechte.
Im Jahre 1127 zogen Hugo de Papus und Gottfried von Se. Omer nach
Frankreich, um dort eine vom Papst zu bestätigende Regel aufzustellen und so den
^sten geistlichen Ritterorden zu konstituieren. Unter dem Vorsitz des päpstlichen
Kardinnllegaten Matthäus von Albano fand am 13. Januar 1128 zu Troyes ein
Provinzialt'onzil statt, den, eine Anzahl Erzbischöfe und Bischöfe — einer nuper-
bürgten Tradition nach auch der gefeierte Bernhard von Clairvaux— beiwohnten,
und wo die Sammlung von vorläufigen, ungeordneten Aufzeichnungen zustande kam,
die man nach Prutzens Ansicht irrtümlich als die „Regel von Troyes" bezeichnet
hat/ Die endgiltige Abfassung der Regel wurde vielmehr aufgeschoben, bis sich der
Patriarch von Jerusalem über gewisse Fragen geäußert hätte.
Hatte also der Aufenthalt in Troyes für Hugo de Papus nicht den gewünschten
Erfolg, so führte ihm die im Anschluß daran unternommne Reise durch Frankreich,
England, Schottland und möglicherweise auch durch Spanien zahlreiche begeisterte
Anhänger zu, besonders aus den Kreisen von Rittern, die „um ihrer Freveltaten
willen, insbesondre, wegen Brandlegung und Vergewaltigung von Geistlichen aus der
Gemeinschaft der Kirche ausgestoßen waren, durch ihren Eintritt Gelegenheit er¬
hielten, sich vom Banne zu lösen und ihre Schuld durch den Kampf gegen die
Ungläubigen zu sühnen".
Die wirksamste Propaganda für die Bestrebungen Hugo de Papus und seiner
Anhänger machte Bernhard von Clairvaux mit seinem Traktat I)s lauÄs novao
militiqcz. Das schnelle Wachstum der Genossenschaft erscheint ihm wie ein durch
göttliche Fügung geschehenes Wunder. „Eine besonders segensreiche soziale Wirkung
des Ordens, schreibt Prutz, sieht er darin, daß das Abendland durch ihn eine Menge,
sittlich, bedenklicher und gefährlicher Elemente los wird, indem zahlreiche Räuber,
Heiligtumschänder und Mörder, Meineidige und Ehebrecher nach dem Osten entfernt
werden, wo man sich ihrer als Helfer gegen die Ungläubigen aufrichtig freut."
Das merkwürdigste ist jedoch, daß die Tempelritter zur Zeit ihrer Bluttaufe
auf dem Rückzüge von Damaskus, am 5. Dezember 1129, und sogar noch beim
Tode Balduius des Zweiten (21. Angust 1131) immer noch keine eigentliche, vom
Papst bestätigte Regel hatten. Prutz sieht darin einen glücklichen Umstand, der dem
Orden eine Anpassung an die besondern Verhältnisse der verschiednen Länder, wo
er bald festen Fuß faßte, erlaubte und namentlich seine Verbreitung und Wirksam¬
Air Wenunsre verehrten Leser bei eintretenclein Kecksrl um geneigte Keriick-
lichtigung aler in cien „Lren/.holen" inlerierenclen?!rnen unter rrc».
susclriicklicher Le?.ug»zi)me fut alle 6re»2voler. vie Kekek)3se§leckte
)in AöMsscKlosse
Jesum elzenkslls niclit Kessereg xsraucl>t werclen sIs Lslein ^leilcuin-
Lixsretten. OieselKen sinnt nstuiell-sromstiscksr (juslirst, sus nur
scllsn orientsliscnsn 1'-»l>Stier von aler k'irms Orientsliscns l'skslc-
uncl Lü^c>rettenli>l>r!Je „Veniet^e", lnnsder: Huxc> I?ick:-, nerxestellt.
Lslem ^leilcuiN-LiKsretten: Keine ^usscattunz, nur (ZusIitÄt:
^Ir. 3_4 5 K 8 10__^
pi-eis: 3^4 S ö L 10 >fg. clss 8tiivK.
in 12. Oktober ist in Durham die erste südafrikanische National¬
versammlung zusammengetreten. Dreißig Abgeordnete der Parla¬
mente der vier autonomen Koloniestaaten Kapkolonie, Natal,
Oranjeflußkolonie und Transvaal haben in ihr Sitz und Stimme.
Jeder einzelne hat nach bestem eignem Wissen und Gewissen zu
urteilen. Kein Sondermandat wurde gegeben und empfangen, ausdrücklich
jede Parteikontrolle entfernt. Passiv nahmen an den Verhandlungen, außer
dem Hixn Loinimssionör, die Gouverneure teil und drei Abgesandte des
Chartered-Company-Landes Rhodesia. Zur Verhandlung steht etwas sehr
Wichtiges: erwogen soll werden die beste Form der Einigung Südafrikas; und
ist die gefunden, so soll auch gleich der Entwurf einer Verfassung des zu¬
künftigen Staatswesens entstehn.
Denkbar ist, daß diese erste Nationalversammlung, die National Oonvention,
ohne praktisches Resultat verläuft, aber das würde kaum andres bedeuten,
als die Einberufung eines zweiten Konvents; denn die Buren, die in allen
beteiligten Staaten, Natal allein ausgenommen, heute eine sieghaftere Ma¬
jorität als je haben, wollen die Einigung nicht verschleppt sehen auf einen
Tag, an dem sie vielleicht nicht mehr so mächtig sind.
Die zwei Möglichkeiten der Einigung sind Unifikation und Föderation,
Einheitsstaat und Bundesstaat. Im Bundesstaat würden die Einzelstaaten in
um ähnliches staatsrechtliches Verhältnis zum Gesamtstaate gestellt werden wie
bei uns. Sie würden ihre eignen Volksvertretungen behalten, aus denen
heraus wiederum die Mitglieder zum Bundesparlament gewählt und entsandt
würden. Der Einheitsstaat dagegen beseitigte die politischen Grenzen der
Einzelstaaten völlig, stieße ihre Parlamente um und ließe aus der Masse seines
Volkes heraus ein neues Parlament wühlen, dem die Regierung des Gesamt¬
staates bis in die Provinz- und Grafschaftsfragen hinein obliegen würde. Vor¬
gesehen ist, daß bei der enormen Ausdehnung des Landes, den zum Teil völlig
mangelnden Verbindungen in dem 500000 Quadratmeilen großen Territorium,
das nur mit fünf Millionen Menschen, Schwarze eingeschlossen, besetzt ist, das
Bundesparlament der bestmöglichen Verwaltung wegen, ja um überhaupt die
Verwaltung zu ermöglichen, neue praktische Provinzialgrenzen schaffen kann. In
diesen Kunstprodukten von Provinzen mag dann sehr wohl ein Institut wie
etwa die Provinziallandtage eingerichtet werden. Bei den durchaus heterogenen
Verhältnissen des Subkontinents ist eine solche Neubildung fast eine eonäitio hos
yng. non. Eine rein zentrale Regierung wäre in diesem Lande des pedantischen
Freiheitseifers ohnehin in den ersten Jahren so viel Angriffen gekränkter
Landesteile ausgesetzt, daß sie sich, um überhaupt dauern zu können, wenigstens
die gefährlichsten und bissigsten aller menschlichen Leidenschaften, Parochial-
ärger und Parochialhaß, vom Halse halten muß.
Für Unifikation plädieren der Premierminister der Kapkolonie und hinter
ihm und mit ihm die größte Masse der Afrikander (oder Buren, um ver¬
ständlich zu sein) in der Kapkolonie; in Orangia und Transvaal hat die
Unifikation unter den Afrikandern schon weniger Anhänger, wenn auch immerhin
ihre Anzahl nicht klein ist.
Die Vorfechter für Föderation sind namentlich die angelsächsischen Afrikaner,
unter ihnen das ganze Land Natal, das überhaupt dem Einigungsgedanken
aus leicht begreiflichen Gründen eine nur sehr temperierte Liebe entgegen¬
bringt. Den englischen Afrikanern (den „Colonials") schließen sich die Stock¬
briten an, soweit sie Neigung oder Beruf in Südafrika festhält, und sie sich
überhaupt darüber beruhigen können, daß die Buren wieder soviel mitzureden
haben, wobei sie vergessen, daß eben dies die Friedensbedingung war, die den
Krieg vor sechs Jahren beendigte.
Die partikularistischen Afrikander halten ebenso fest an der Föderation,
und das scheinen auch die 18000 deutschen Kapuntertanen zu tun. Die
internationalen Mineninteressenten dagegen neigen in der Majorität zur Uni¬
fikation. Erwähnt muß werden, daß viele Anhänger der Föderation nicht
Gegner der Unifikation sind, im Gegenteil sagen: „Unser endliches Ziel ist
die Unifikation, aber wir wollen schrittweise voran. Entscheiden wir uns zur
Unifikation, dann kann diese plötzliche Vorwärtsentwicklung, die allzuviel des
Künstlicher und Gewollten in sich trägt, plötzlich einen solch gefährlichen Ab¬
grund vor uns auftun, daß der ganze hübsche Einheitsgedanke, dem ohnehin
von allzuviel theoretisch präparierter Nahrung die Beine nicht zu stark sind,
an uns vorbei ins Loch fällt. Mit der Föderation wachsen wir hinein in die
Unifikation."
Wenn man gern zugibt, daß bei einem Mißerfolge der Unifikation das
nachträgliche Aufnehmen des föderativem Gedankens ausgeschlossen erscheint,
muß man doch lächeln über die Opportunisten, die das übermäßige Beharrungs¬
vermögen von Engländern und Holländern so unterschätzen, daß sie meinen, nach
etwa zwei oder drei lustigen Erfolgjahren könne man ohne weiteres die föderative
Halbraststation verlassen, um den Marsch zur völligen Einheit anzutreten.
Die Freunde der Unifikation erklären, nicht nur weil sie amerikanische,
schweizerische und deutsche Geschichte gelesen haben: „Das Element, das eine
Föderation zusammenhält, ist die Gefahr von außen." Sie führen aus, daß
dem südafrikanischen Bundesstaat eine solche Gefahr nicht droht und drohen
wird; dabei wird mit dem Schlagwort der ?ax LritMiiiog. gespielt, was nicht
nötig ist. Die Schlußfolgerung lassen sie ihre Hörer ziehen, und doch wäre
es ihnen eigentlich nötig, sich viel negativer auszudrücken, wenn man nicht,
wo englische Art und Weise zu Hause ist oder dem öffentlichen Leben die
Richtungslinien gegeben hat, an die Zuckerhülleu gewohnt wäre. Der richtige
Einwurf lautete etwa: So gewaltig türmen sich die Schwierigkeiten auf, weil
die Interessen der Einzelstaaten fast feindlich sind, daß ein Bund, aus dem
heraus nicht alle Augen auf einen jeden Einzelstaat zugleich angreifenden äußern
Feind gerichtet wären, notwendig sich und alle Teile in der gewaltigen Glut¬
hitze innerer Reibungen verzehren müßte.
Die Schwierigkeiten sind mannigfacher Natur. Sie beginnen für den
unbeteiligten Beobachter fast mit Lappalien. Gestritten wird, welche Landes¬
hauptstadt Reichshauptstadt werden soll. Wie diese Frage, die in einem gänzlich
verarmten Lande, wo das Interesse des einzelnen nur auf den persönlichen
Gelderwerb gerichtet ist und sich in ihm erschöpft, und wo soziale Instinkte den
Individuen fast fehlen, immerhin durchaus aufregender wirkt, als das sonst
möglich wäre, sind auch die meisten andern Streitfragen solche, die Pound,
Shilling und Pence der Städte und Interessengruppen sehr stark berühren. Eines
jeden Herz hängt am Gelde, der Brite aber, Kanfmannsnatur durch und durch,
die, sobald es aus freien Stücken geschieht, splendider sein kann als irgendeine
andre, haßt keinen Appell mehr, und keiner findet in seinem Herzen unange¬
nehmem Widerhall als der an seine Börse. Die Afrikander sind die letzten,
die ein Titelchen ihres Besitzes aufgeben würden, und Opferwilligkeit ist ihnen
zu allen Zeiten fremd, ihnen fehlt der kaufmännische Blick voraus für die wirt¬
schaftlichen Schwierigkeiten und Folgen, die sie freilich als Ackerbauer, Be¬
amten und Pastoren unmittelbar gar nicht zu tragen hätten. Ihre Sorge
gilt deshalb zumeist den Hemmnissen der Einigung, die ganz allgemein als
die bedeutendsten angesehen werden müssen, die nicht durch Opferwilligkeit be¬
seitigt werden können, nicht die Sache einzelner Klassen, sondern die eines
jeden und aller sind, nämlich der Eingebornenfrage, der Stimmrecht- und
(mehr versteckt) der Rassenfrage.
Es ist kein Zufall oder persönliche Liebhaberei, daß gerade der Premier¬
minister der Kapkolonie ein eifriger Verfechter der Unifikation ist und der
Föderation ablehnend gegenübersteht. Der Mann, der über ein Menschen¬
alter im öffentlichen Leben steht, weiß, daß das Kapland als ältester und
— in unserm Sinne — historisch gewordner Staat in Südafrika die größte
Masse von Schwierigkeiten oder gefährlichen Reibflächen in eine Föderation
hineinbringen müßte, weil er die schärfsten und am schwersten zu verwischenden
Eigenzüge hat. Schon heute siud diese Eigenzüge bei den drei andern
Staaten recht wenig beliebt. Das unglückliche Jamesonministerium mit seinem
wohlmeinenden Chef und seinem in dessen beständiger Abwesenheit meist
schwatzenden Vizechef, dem Clown und Maulhelden Suard, hat keine Dumm¬
heit und Unfähigkeit unversucht gelassen, das Kap mißachtet zu machen. Bei
eiuer Föderation würde das Kap durch die Masse der Bevölkerung, denn die
Hälfte der Bewohner von ganz Südafrika sind dort ansässig, notwendig einen
sehr großen Einfluß auf die Leitung und das Geschick des Gesamtstaats er¬
langen. In dem Augenblick aber vollzöge sich bei den andern Staaten und
ihren Bürgern ganz menschlich der Umschwung von der Geringachtung zum
Haß, und der Treppenwitz der Weltgeschichte hätte sich erfüllt, daß der lang¬
ersehnte Bundesstaat der George Grey, Rhodes und Krüger nur eine recht
sichtbare Bühne geliefert hätte für ein ganz besondres Pandämonium der
Zwietracht. Bei der Unifikation lägen die Verhältnisse anders; um das zu
verstehn, muß man von den noch bestehenden Zustünden Enropas und Deutsch¬
lands im besondern absehen, wo fast alle Stunden weit eines andern Gaues
Grenze läuft mit besondern Menschen, die wieder besonders denken und reden.
Südafrika ist noch zu nahe der Völkerwandrung, aber fast schon zu weit
in die Neuzeit hineingerückt, als daß es Resultate lokaler Seßhaftigkeit an
seinen weißen Bewohnern überhaupt zeigen könnte. Gewiß gibt es süd¬
afrikanische Typen, wenn man genau zusieht eigentlich drei, oder wenn man
weiter greift, fünf. Da sind die Afrikander (Buren, die Kolonisten holländischer,
hugenottischer, deutscher Abkunft), die englischen Afrikaner (die Kolonisten
englischer Abkunft), die Briten, die sich vorübergehend im Lande aufhalten
und durchaus von den englischen Afrikanern getrennt zu halten sind und sich
nicht eins mit ihnen fühlen, die Ausländer (deutsche Mineninteressenten semi¬
tischen Ursprungs usw.), schließlich die deutscheu Afrikander (Farmer und Klein¬
handwerker, die den verschiednen rein deutschen Siedlungen entwuchsen).
Aber diese Typen sind nicht örtlich begrenzt. Vom Tafelberg bis an den
Limpopo, ja bis an den Sambesi und von Maseking bis nach Durham sitzen sie,
und wenn einer Tage und Wochen unterwegs ist, trifft er immer wieder auf
die gleichen Menschen, nur daß etwa die Verhältniszahlen in den verschiednen
Städten und Orten verschieden sind. Wenn Kapland als Staat etwas historisch
gewordnes ist mit historisch gewordnen Grenzen, und dasselbe natürlich
— g. äistineticm vier g, clillörsuvö — gelten muß von Transvaal, Orängia und
Natal, so haben doch die trennenden Linien für das Volksgefühl kaum eine
andre Bedeutung als etwa die Formen und Normen, die durch eine Vereins¬
zugehörigkeit gegeben werden. Hüben »ut drüben sitzen Afrikander, hüben
und drüben englische Afrikaner, und Blut ist dicker als Wasser, und Afrikander
hüben und drüben stehn sich untereinander nun einmal näher als Afrikander
und Afrikaner im gleichen Koloniestaat.
Bleibt man bei dem Vereinsvergleiche, der der verständlichste ist, so sehr
er hinkt, so wird man auch zugeben, daß es bei vier rivalisierenden Vereinen,
die zur Erreichung eines gemeinsamen großen Ziels eine Zentmlorganisation
schaffen müssen, weniger gefährlich ist, wenn sich diese Vereine völlig ver¬
schmelzen, als wenn bei einer Sonderexistenz die Gelegenheit zu zentrifugalen
Bestrebungen immer wieder eifrig ergriffen wird. Die Interessengruppen, die
sich nach der Verschmelzung bilden, bringen kein steriles Erbe mit sich, ihre
Basis ist die nicht mehr diskutable Einheit, und Parteibildung ist nötig, wenn
das Staatsleben nicht verknöchern soll.
Das Verlangen aller Staaten nach der Hauptstadt ist schon erwähnt
worden. Geschichtlich hat ohne Zweifel das Kap das älteste Anrecht darauf,
wie die Kapstadt neben ein paar holländischen Landstädtchen überhaupt die
einzige weiße Siedlungsstütte in Südafrika ist, in der den Wandernden ein
bißchen Ehrfurcht vor dem Gewordnen ankommen kann. Durham, das schöne
nennen es viele, ist vornehmer, tropischer und im Sommer ungesunder; die
wenigsten werden seine Wahl unterstützen. Am zentralsten liegt Blomfontein,
farblos und reizlos mitten im dürren alten Freistaatveldt; es wäre recht ein
Platz für ein ganz verschlafnes, entwicklungsfeindliches Burenregiment. Aus
jedem frischen Gedanken, der über See von Europa käme, wo doch alle Ge¬
danken herkommen müssen, wäre Saft und Kraft weggetrocknet, ehe die ent¬
setzlich langsame Bahn ihn hinaufgekeucht hätte an die „Blumcnquelle". Aber
wenn sich drei Starke nicht einigen können, wählen sie oft den vierten
schwächsten zum König, und zu allen Zeiten war Blomfontein die neutralste
Stadt. Johannesburg und Pretoria? Johannesburg ist die lebendige Stadt,
in vieler Beziehung eine gar nicht afrikanische Stadt, aber von den Minen
und ihrem Einfluß soll die Zentralregierung so weit wie möglich weg.
Kimberley kommt überhaupt nicht in Frage. Gegen Kapstadt führt man an,
es sei einem feindlichen Angriff zu sehr ausgesetzt.
Ein südafrikanischer Zollverein hat schon bestanden und bestand noch bis
zum Ende vorigen Jahres. Man wird sich von neuem einigen können.
Wirklich zu schützen hat das Kap nur seine von geradezu kindischen Prinzipien¬
reitern verschriene Wein- und Branntweinindustrie und Transvaal seinen
Tabakbau. Ein gutes und kluges Schutzzollsystem könnte überall zur Gründung
von Fabriken führen; bis jetzt war der Grundsatz im Zollwesen fast nur der,
den Staaten Einkünfte zuzuführen. Das meiste Geschrei wird bei der Neu¬
ordnung der Dinge um den Wein und Branntwein des Kaps erhoben werden.
Die Produzenten sitzen mit Kellern voll von gutem Weine und durchaus
nicht schlechtem Weinschnaps da bei verschlossenem Absatzgebiet und müssen
verhungern, wenn das so fortgeht. Bis jetzt bestand für alle Alkoholpro¬
dukte noch eine Zwischenstaarssteuer, und um diese werden die urmächtigen
Temperenzler, die Natalrumbrenner und die Kapweinfärmer kämpfen. Er¬
schwert wird die Einigung durch die in allen Staaten verschiedne und viel¬
fach mit der Zollerhebung verquickte SpritsteNer. ' ^ '
In der Hafenfrage und der eng mit- ihr verbundnen Eisenbahnfrage
bringt die Kapkolonie schon im eignen Hause streitende Parteien mit. Von
je haben die Häfen Kapstadt, Port Elizabeth, East London, Durham und
Delagoabai konkurriert im Handel mit den Jnlandstaaten Transvaal und Frei¬
staat, sich aber seit der Gründung und dem Ausschießen der Minenstadt
Johannesburg im Jahre 1885 besonders bemüht, den Transitverkehr dieser
Stadt zu erhalten. Kapstadt, das wohl Europa am nächsten lag, räumlich
aber am weitesten vom Inlande getrennt war, schied bald für alles andre als
den Personenverkehr aus. Port Elizabeth hielt sich lange, mehr durch die
Tüchtigkeit seiner Kaufleute und die frühe hohe Blüte seines Handels als
durch seine geographische Lage. Durham und Delagoabai aber erwiesen sich
als örtlich dem „Rande" näher, und sie nahmen der Kapkolonie immer mehr
vom Durchgangsverkehr ab. Um ihn nicht ganz zu verlieren, warf diese sich
auf ihre kürzeste Eisenbahnlinie von der See in das Innere, auf die von
East London ausgehende. Sie drückte auf ihr die Raten per Tonne so sehr
hinunter, daß sie denen von Durham aus gleichkamen. East London wurde
der „Fechthafen" (KZIitinA xort), dadurch verblieb dem Kap wohl ein Teil des
Handels, der sonst an Durham gefallen wäre, aber Port Elizabeth wurde
neidisch auf East London. Heute liegen die Verhältnisse so, daß Transvaal,
das am billigsten über Delagoabai importieren kann, obgleich dieser Ort einem
Fremdstaat angehört, nicht Natal und dem Kap zuliebe höhere Frachten zahlen
will; Natal, dem die Energie des ganzen Volkes den ausgezeichneten Hafen
Durham geschaffen hat, will den nicht zum Besten des Kaps geopfert sehen;
umgekehrt aber will das Kap mit seinen drei rivalisierenden Häfen, die schwere
Opfer gekostet haben, nicht dauernd etwas an Natal abgeben und dafür einen
nur größern Kampf im eignen Hause eintauschen. Tatsächlich hat Südafrika
zuviel an seinen vier großen Häfen und Bahnlinien (von Delagoa und der
Delagoalinie überhaupt abgesehen), und da der Einheitsstaat doch auch Ge¬
schehenes und Bestehendes nicht ignorieren kann noch über Revenüen verfügen
wird, die einen beständigen Aufwand an großen Unterhaltungskosten ohne Ver¬
zinsung gestatten, findet selbst er ein unendlich schwieriges Problem vor. Ein
nur föderativer Staat könnte es nie lösen.
Was die direkten Steuern angeht, so wird man sich leicht verständigen.
In dieser Richtung hat man bisher in Südafrika wenig getan und hat um
so mehr aus den indirekten Steuern herausgeschlagen, die Handel und Wandel
oft schwer geschädigt haben. Die Männer des Handels und Wandels aber
sind nie gehört worden. Die Farmer einerseits und die Mineninteressenten
andrerseits, in deren Händen das Regiment abwechselnd ruhte, haben immer
dafür gesorgt, daß ihre Sphären möglichst steuerfrei blieben. Erst jetzt hat
man am Kap unter dem Druck der Verhältnisse angefangen, die direkten
Steuerschrauben etwas anzuziehen. Daß man den Farmer wieder schonte, ist
nicht so unrecht, wie es scheint, denn für Südafrika bedeutet er das einzige
wirklich staatserhaltende Element, alles andre fast gehört im guten oder
weniger guten Sinne zum Glücksrittertum, das kommt und geht, am liebsten
geht und etwas mitnimmt, und sich im Herzensgrunde den Teufel um des
Landes Zukunft kümmert. Fast jeder, der mit den Minen zu tun hat, ist
dieser Klasse einzureihen, und die Minen haben bis jetzt das Land eigentlich
nur ausgebeutet, direkt nichts dafür geleistet, sondern im Gegenteil, sie sind
schuld an allen unaufhörlichen Wirrnissen, an allem Blut, an allem Elend.
Südafrika ist das reichste Gold- und Diamantenland der Erde, in dem
reichsten Gold- und Diamantenland ist heute, schon nach der großen fünf¬
jährigen Abwanderung, durchschnittlich jeder fünfte Mann ohne regelmüßiges
Einkommen. Das Kap ist am Rande des Staatsbankrotts. Mit einer neuen
Steuerpolitik wird eine neue Minenpolitik Hand in Hand gehen müssen.
Sieht man ab von den kleinern Parochialdifferenzen, so ist das den
Einigungsbestrebungen gefahrdrohendste Element die Eingebornenpolitik der
verschiednen Staaten. In den vier Staaten zusammen kommen auf je einen
Weißen etwa drei bis vier Eingeborne. Wenn es auch unsinniges Gerede ist,
daß sich diese vier ganz verschiednen Farbigen je zusammenschweißen lassen
würden, um dem einen Weißen zu Leibe zu gehen, so liegt die enorme Be¬
deutung der einheitlichen Behandlung einer solchen Masse, die sich unter dem
Schutze der Weißen im Frieden noch in viel größerm Verhältnis vermehrt
als das Herrenvolk selbst, auf der Hand. Am Kap haben die Farbigen be¬
kanntlich Stimmrecht, sofern sie ihren Namen schreiben können und im Besitze
eines Wertes oder Vermögens von 60 Pfund Sterling in irgendwelcher Form
sind oder ein ganz kleines bestimmtes regelmäßiges Einkommen haben. Eine sehr
bedeutende Zahl erfüllt diese Bedingungen, und sie wächst von Jahr zu Jahr.
Seinen Namen lernt bei dem von den Parteien dazu eingerichteten Unterricht ein
Analphabet hinzeichnen, des Besitzes von Vieh im Werte von 60 Pfund Sterling
kann sich wohl jeder verheiratete Kaffer rühmen. Weder Natal noch Transvaal
und Orangia haben sich zu dem Unfugs bereitfinden lassen, ihren Farbigen das
erste bürgerliche Ehrenrecht zuzuwerfen, dem jetzt noch zwei Drittel aller Ger-
Manen kaum ein rechtes Verständnis entgegenbringen können, geschweige denn
Bauens und Hottentotten, deren ganze Eintagskultur nicht mehr als ein Nach¬
plappern sein kann. Mit stillem Zorn und mit Verachtung sehen die drei Kolonien
auf das Unwesen, das ihnen zugebracht werden soll. Dabei sagen sie: „Ganz
abgesehen davon, daß uns eure Eingebornenpolitik zunächst widerstrebt, ver¬
schiebt diese Stimmasse eurer Eingebornen die Verhültniszcchlen der Wühler
in den Kolonien. Die unendlich fruchtbare schwarze Wählerschaft wird es euch
einmal möglich machen, uns durch die berühmte kompakte Majorität an die
Wand zu drücken." Hier berührt sich die Eingebornenfrage eng mit dem
Problem der Vertretung der einzelnen Teilstaaten bei der Gesamtregierung.
Ein Vorschlag ist in der Hinsicht schon vom Kap gemacht worden. Die
Mehrheit der Kapbürger sähe wohl überhaupt gern, daß den Eingebornen das
Stimmrecht entzogen würde, aber da fürchten sich die beiden politischen
Parteien im Parlament voreinander. Die Progressiven werden den Antrag
nicht wagen, und der Bond auch nicht, weil beide die schwarze Hilfsstellung
bei den Wahlen brauchen; und welche von beiden Parteien sich immer zum
Handlanger des Gesamtwillens machen ließe, die andre träte augenblicklich
mit tönenden Reden hervor als Vorkämpfer der Schwarzen und gewänne die
Schwarzen für alle Zeit — pas vivtis dann in der Zukunft. Das ist für die
Kaffern überhaupt die ganze Bedeutung des Stimmrechts, daß sie lernen und
sich daran entzücken, Weiß gegen Weiß auszuspielen. Die Engländer, nicht
die Holländer, haben eine gewaltige Sünde gegen die Kultur begangen, als
sie ihren Missionaren, der ganzen Livingstoneapostelei und Exeter-Hall-
Stimmung nachgaben. Freilich, man hoffte damals wohl, sich bei den Wahlen
Stimmen gegen die Holländer geschaffen zu haben. Man irrte sich. Über die
Eingebornenfrage spricht am Kap offenherzig aus dem angegebnen politischen
Grunde niemand gern. Missionare und Missionsfreunde aber versichern dafür
dem übrigen Südafrika um so lauter, daß nicht Träumern zuliebe einst den
Farbigen das Stimmrecht vom Kap gewährt sei, sondern daß man etwas mit
Grazie hingegeben habe, was dem lebendigen Ansturm eines Volkes nicht mehr
vorzuenthalten war. Dazu lachen die Buren in Transvaal und in Orangia
grimmig.
Die Vertretungsfrage im Zukunftsparlament ist schon erwähnt worden,
auch der Umstand, daß die Hälfte der Gesamtbevölkerung am Kap ansässig
ist. Um gleich von vornherein den Schwesterkolonien den Verdacht zu nehmen,
daß das Kap versuchen werde, zu dominieren, um seine Eingebornenpolitik
schmackhaft zu machen und den erwähnten Einwurf der andern zu entkräften,
hat das Kap einen eigentümlichen Kompromißvorschlag gemacht: nicht die
Kopfzahl der Wähler in den bestehenden Einzelstaaten soll bestimmend sein
für die Wahl der Abgeordneten zum Gesamtparlament, sondern Gruppen sollen
gebildet werden, d. h. das Gesamtland soll zerfallen in dreißig Bezirke, von
denen zwölf dem Kap, acht dem Transvaal, fünf Natal und Orangia zugehören
und drei Rhodesia, wenn sich das später anschließen sollte. Jede Gruppe
oder jeder Bezirk soll fünf Abgeordnete entsenden, und zwar soll das Wachsen
oder Abnehmen der Bevölkerung eine Verschiebung oder Veränderung der Be¬
zirke nicht nach sich ziehen.
Von einer Schwierigkeit, der allerältesten und ewig jungen Südafrikas,
der Rassenfrage unter den Weißen, spricht niemand; kommt man ihr einmal
nahe, so versichert man sich gegenseitig, sie bestünde gar nicht. Sie besteht
natürlich; an dem Tage, wo sie wirklich aufgehört hat zu sein, ist Südafrika
unabhängig. Wohl aber ist wahr, daß schon heute die stille statutenlose
namenlose Partei im Lande die stärkste ist; sie hat aus den dreijährigen
Kriegen ihre Folgerungen ruhig gezogen, angenehme oder bittere. Diesem
Bunde der Geister gehören die Jungburen an, die über Krüger hinaus kennen
gelernt haben, daß der englische Afrikaner eine unauslöschliche Macht im
Lande ist, und daß man mit ihm zusammengehen muß, wenn die „Vereinigten
Staaten von Südafrika" zustandekommen sollen. Dem Bunde gehören englische
Afrikaner an, die über Milner hinaus verstanden haben, daß der Bur un¬
ausrottbar und wurzelstärker als jeder andre Weiße in Südafrika ist, und daß
es klüger ist, sich mit ihm zu vereinigen, um mit ihm gemeinsam zu herrschen.
Aus diesem Bunde heraus wächst die englisch-holländische, die holländisch-englische
Afrikanernation mit deutschem Einschlag. Weder englisch noch holländisch noch
gar deutsch wird das junge Staatswesen sein, sondern eben afrikanisch. Aus dem
Bunde heraus ist der Einheitsgedanke gekommen, und der wird im Einheits¬
staat oder im Bundesstaat nach einem, längstens nach zwei Jahren praktische
Gestalt gewonnen haben.
Wir Deutschen freuen uns an allem Werdenden; wir, die wir so hart
um eine Wiedergeburt selbst gerungen haben, gönnen sie besonders den so sehr
von uns mißverstandnen Buren, für die wir ohne Rücksicht auf unsern poli¬
tischen Nutzen viel Empfindung verschwendet haben. Wir bewundern die fast
übermenschliche Realitätspolitik ihrer Juugmannschaften, weil ein so kühles,
kluges und verbissenes Niederkämpfen aller und jeder Sentimentalität nach
einem Kriege uns Träumern unmöglich wäre.
Doch solche törichte Träumer sind wir nicht, daß wir dächten, diese in
der Bildung begriffnen „Vereinigten Staaten" da unten würden uns Deutschen
freundlich sein. Um Engländer und Buren abzuschrecken, hat es nicht des
Kaisergesprächs bedurft, worin versichert wird, daß die Majorität des deutschen
Volkes England feindlich sei, und daß der Herrscher einen Kriegsplan gegen
die Buren selbst entworfen habe. Die praktischen Gründe für die Abneigung
gegen Deutschland sind weniger zufällig.
^trio» lor elle ^triog-riäers ist ein alter Schlachtruf. Ist der Einheits¬
staat erst gebildet, dann wird er Deutschland und Portugal stark in die
Ohren klingen. Weder die holländischen Afrikcmder noch die englischen Afrikaner
sahen Deutschland freudig in Südwestafrika erscheinen, und bevor die Eng¬
länder den Union Jack über den „Vereinigten Staaten von Südafrika" ein¬
holen lassen, werden sie nachhaltigst versuchen, dem neuen südafrikanischen
Patriotismus eine ihnen erfreuliche und „englische" Wendung zu geben Sie
Hans Grimm
!ur Neichsfinanzreform des neuen Herrn Staatssekretärs des
Reichsschatzamtes gehört auch die Abschaffung der Fahrkarten¬
steuer. Wennschon die Aufhebung einer bestehenden Steuer eine
ganz ungewöhnliche Maßnahme an und für sich ist, so wird sie
I fast unverständlich bei einer so ungünstigen Finanzlage, in der
sich das Reich und mit ihm die Bundesstaaten befinden, und bei dem Wider¬
willen der einzelnen Interessenten beim Vorschlag einer neuen Steuer. Es sei
deshalb einmal eingehender über die Fahrkartensteuer und über ihre Abänderung
gesprochen.
Die Fahrkartenstcuer gehört zu den wenigen Steuern, deren Erhebung
und Verrechnung nur ganz geringe Kosten verursacht, und das ist ein großer
Vorteil; sie wird von den Eisenbahnverwaltungen durch ihre Beamten zugleich
mit dem Eisenbahnfahrgeld — ähnlich wie die Wechselstempelsteuer durch die
Postbeamten — erhoben. Es können daher bei ihr keine Hinterziehungen und
Unterschlagungen vorkommen, denn die Eisenbahnverwaltungen haften dem
Reiche für die Steuer. Wenn die Fahrkartenstcuer so unbeliebt ist — das
hat sich übrigens schon bedeutend gelegt —, so liegt es in der Hauptsache
darau, daß sie zugleich mit der Erhöhung der Fahrpreise für die Rückfahr¬
karten und der Gepäckfracht eingeführt wurde, und daß ihre Staffelung in den
einzelnen Wagenklassen ganz verschieden, in der obersten ungemein hoch ist.
Das geht aus der nachfolgenden Tabelle hervor, in der in Prozenten die Höhe
der Steuer vom Fahrkartenpreise in den drei Wagenklassen berechnet ist.
Die Fahrkartensteuer betrügt
Die Steuer beträgt in der ersten Klasse immer das vierfache der Steuer
in der dritten Klasse. Gewiß wird jeder Reisende der dritten Klasse bei
einem Fahrpreise von 60 Pfennigen für eine Fahrkarte gern und ohne Murren
die müßige Steuer von 5 Pfennigen zahlen; wenn aber der Reisende der ersten
Klasse für eine Fahrkarte zu demselben Preise (60 Pfennig) 20 Pfennig Steuer
zahlen muß, so ist das, gelinde gesagt, etwas „happig" und nicht gerecht. Die
60 Pfennig des Reisenden erster Klasse sind doch nicht mehr wert als die des
Reisenden dritter Klasse, und dann zahlt doch der Reisende schon für seine
Fahrkarte einen höhern Preis. Es war wohl nicht richtig, die verschiednett
Klassen verschieden zu besteuern, es hätte vielmehr, unabhängig davon, welche
Klasse der Reisende benutzt, die Steuer nach der Höhe des Fahrpreises für
jede Fahrkarte festgesetzt werden müssen. Hierbei hätten Fahrpreise bis
100 Pfennig ausschließlich unbesteuert bleiben sollen. Freilich hätte auch — es
muß gewagt werden, es auszusprechen — die vierte Wagenklasse mit heran¬
gezogen werden müssen, dann, würde auch das Ergebnis der Steuer ganz anders
gewesen sein. Die Angst davor, den Arbeiter mit der Fahrkartenstcuer mit
zu treffen, und zwar in seinen Erwerbsverhältnissen, ist ganz unberechtigt;
denn der Arbeiter, der unter Benutzung der vierten Wagenklasse täglich zu
seiner Arbeitsstätte fährt, wird nie für eine Fahrt 100 Pfennig ausgeben, er
niüßte denn fünfzig Kilometer sowohl bei der Hin- als auch bei der Rückfahrt
zurücklegen. Das verbietet sich schon deshalb, weil die Zurücklegung dieser
Strecke täglich zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Muß er aber, wie
es an verschiednen Orten der Fall ist, wöchentlich einmal den Betrag auf¬
wenden, weil er während der Woche am fernen Arbeitsorte verbleibt, dann
ist die Steuer für eine Woche so gering, daß sie der Arbeiter wohl zahlen
kann, oder aber er erhebt sie, wie den ganzen Fahrkartenpreis, von seinem
Arbeitgeber durch höhere Lohnforderung wieder. Reisende vierter Klasse da¬
gegen, die Vergnügungs- oder sonstige Fahrten auf weite Entfernungen unter¬
nehmen, können die Fahrkartensteuer ebensogut bezahlen wie die Reisenden der
andern Wagenklassen (1. bis 3.). Es liegt also gar kein Grund vor, diese
Reisenden von der Besteuerung auszunehmen. Und wie bei jeder Steuer, so
können auch bei der Fahrkartensteuer nur die Massen die Einnahmen bringen,
die Massen aber fahren in der vierten und in der dritten Klasse. Weiter
darf nicht außer acht gelassen werden, daß einen Teil der Fahrkartensteuer die
Ausländer bezahlen, die im Sommer zahlreich die schönen Gegenden usw.
unsers deutschen Vaterlandes besuchen, und daß die Deutschen bei Reisen in
fremden Ländern in einer Anzahl dieser Länder die Fahrkartensteuer, die dort
seit einer langen Reihe von Jahren besteht, ebenfalls zahlen müssen und ohne
Anstand zahlen, weil man es nicht anders weiß oder es überhaupt nicht inne
wird. Es ist leicht gesagt, daß bei der Reichsfinanzreform ein Ersatz für die
Fahrkartensteuer gefunden werden könnte: die Herren Schatzsekretäre wissen
aber, welche Schwierigkeiten es bereitet, neue Steuern zu finden, die gern
gezahlt werden, die niemand drücken, die die Zustimmung aller beteiligten
Faktoren finden, die dabei so ergiebig sind, daß sie alle Bedürfnisse des Reichs
befriedigen, und die außerdem schon eingeführte Steuern entbehrlich machen.
Schaffen wir die Fahrkartensteuer, die im Rechnungsjahre 1907 rund siebzehn
Millionen erbracht haben soll, ganz ab, dann müssen diese Millionen auf
andre Weise aufgebracht werden, und das wird wohl sehr schwer sein. Schon
jetzt wehren sich alle Berufsklassen, die sich von den vom neuen Staats¬
sekretär vorgeschlagnen Steuern getroffen glauben, gegen jede Steuer, alle
meinen, daß die auf ihre Erzeugnisse gelegten Steuern sie persönlich und auch
die ganze von der Steuer getroffne Industrie ruinieren werde. Dabei bedenken
sie nicht, daß keiner der Erzeuger eines von einer Steuer betroffnen Gegen¬
standes diese Steuer selbst zahlt, daß er vielmehr die Steuer auf die Abnehmer
abwälzt. - > - , ^
Daß die Fahrkartensteuer die Abwanderung der Reisenden aus den höhern
Klassen in die niedrigern herbeigeführt haben soll, ist noch niemals bewiesen
worden; vielmehr wird die Erhöhung des Fahrpreises für Hin- und Rückfahrten
die Veranlassung sein. Weiter aber darf als sicher angenommen werden, daß
die gegen früher bedeutend bessere Ausstattung der Wagen vierter Klasse,
die sich teilweise nur durch die außen cmgeschriebne „IV" von der dritten
Wagenklasse unterscheidet, die Abwanderung aus der dritten in die vierte Klasse
veranlaßt hat. Ist doch auf verschiednen Eisenbahnlinien.noch ein Unterschied
bei der vierten Wagenklasse gemacht worden, es sind da besondre Wagen dieser
Klasse für Reisende mit Traglasten eingeführt, sodaß die andern Reisenden
vierter Klasse fast genau so fahren wie die in der dritten Klasse und wenn
nicht gar besser, so doch weit billiger.
Es wird wohl zweckmäßig sein — und die Finanzlage des Reichs ge¬
bietet es geradezu —, die Fahrkartensteuer beizubehalten. Baut sie sich nun
wie folgt auf, dann kann sie nicht als drückend empfunden werden, und der
Reichskasse wird die Einnahme wie bisher erhalten bleiben, ja die Steuer
wird unter Umständen mehr erbringen.
Die Fahrkartensteuer müßte ohne Unterschied in allen vier Wagenklassen
folgendermaßen festgesetzt werden:
Bei einem Fahrpreise von
Sollten bei einer solchen Gestaltung der Fahrkartensteuer die Einnahmen
zu gering werden, was zu bezweifeln ist, so könnte entweder eine mäßige
Steigerung bei den Fahrpreisen über zehn Mark eintreten — vielleicht Ver¬
doppelung —, oder man müßte für die zweite und die erste Klasse eine Ver¬
doppelung aller vorstehend aufgeführten Sätze vornehmen. Jedenfalls empfiehlt
es sich nicht, die bestehende Fahrkartensteuer ohne weiteres aufzugeben; ihre
Reform aber erscheint unbedingt notwendig.
>er im März 1904 im Alter von achtundfunfzig Jahren ver¬
storbne Dr. Gottlieb Schnapper-Arndt war in seiner Jugend
als Sprößling einer reichen Frankfurter Judenfamilie der Sorge
um das tägliche Brot überhoben und durfte bei der Wahl seiner
I Beschäftigung seiner Neigung folgen. Diese bestimmte ihn zu
gemeinnützigen Bestrebungen und Sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, deren
Früchte er zuletzt als Dozent an der Akademie für Sozial- und Handels¬
wissenschaft in seiner Vaterstadt verwertete. Vorher hatte er einige Mono¬
graphien herausgegeben, die auf eingehenden Untersuchungen an Ort undcMÄ
Stelle beruhten: Fünf Dorfgemeinden auf dem Hohen Taunus, Haushaltungs¬
budgets einer Schwarzwälder Uhrschildmalersamilie und einer armen Näherin,
des Nührikele. Im Eingange der diesem Mädchen gewidmeten Studie schreibt
er: „Große, weite, schöne Welt — wie schmal ist der Ausschnitt, den
Myriaden von dir zu sehen bekommen, und wie genügsam hast du dich, Rikele,
gefreut über jeden schwachen Sonnenblick, den du erhaschtest. Ihr, die ihr
erhobnen Hauptes durch früchtereiche Gärten schreitet, schenkt der Geschichte
einer armen Kreatur Gehör, für die an dem mühsamen Wege, der zu jenem
Friedhöflein leitet, nur karge Beeren gewachsen sind. Nicht das Leben eines
Menschen, das Leben vieler wird erzählt, wenn immer wir uns in die Ge¬
schichte eines einzigen ernstlich vertiefen." Und er schließt: „Alle eigne An¬
strengung, alle kleinen Glücksfälle, all jene eiserne Sparsamkeit, die sich keinen
Moment vergißt, all jene List, mit der der Arme das Leben um die An¬
forderungen, die es stellt, zu betrügen, mit der er auf tausend Schleichwegen
um sie herumzukommen sucht, sie alle hatten nicht ausgereicht, Rikele bei den
allerbescheidensten Ansprüchen ein sorgenfreies Alter zu sichern." Mag es
natürlicher Heller Verstand, mag es der bildende Einfluß des gelehrten Pro¬
fessors gewesen sein — Rikele macht manchmal eine gute nationalökonomische
Bemerkung; so sagt sie mit Beziehung darauf, daß der Staat und die Eisen¬
bahngesellschaften auch arme Leute befördern: „früher haben die Bettelleut
Herren geführt (gefahren), jetzt führen (fahren) die Herren Bettelleut." Auch
Schnappers Reisefeuilletons berichten nicht über Kunstschätze und Hotelpreise,
sondern über die Lage armer Leute. Er hat solche in ihren Kammern,
Kellern und Höhlen, in den sizilianischen Schwefelgruben, in den Massen¬
nachtlagern von Tunis aufgesucht, das ärmliche Inventar und den Küchen¬
zettel seines venezianischen Gondelführers und den jämmerlichen Verdienst der
Strohflechterinnen von Fiesole ermittelt. Haushaltungsbudgets waren seine
Spezialität. Von dem Franzosen Le Play, von den Engländern Gregory
King, David Davies, Frederik Morton Eden und den beiden Uoung hatte er
gelernt, daß die Statistik nur dann Wert hat und Leben bekommt, wenn man
mit seinen Augen die Menschen, Zustünde und Tatsachen schaut, die sich unter
den toten Zahlen verbergen. Und er hat die Methode für solche Unter¬
suchungen geschaffen; Haushaltbücher, die Einnahme, Ausgabe, Zugang und
Abgang im Inventar enthalten sollen, empfiehlt er nach den Grundsätzen der
italienischen Buchführung einzurichten. Er zeigt in methodologischen Ab¬
handlungen, wie schwierig selbst bei der besten Methode die richtige ziffer¬
mäßige Erfassung der verschiednen wirtschaftlichen Operationen und Werte, ja
daß mit bloß ziffermäßiger Abschätzung überhaupt nicht auszukommen ist. In
welchem Konto sollen Neuanschaffungen gebucht, und mit welchen Zahlen¬
werten sollen gebrauchte Möbel, Kleider, Geräte eingetragen werden? Ihr
wirklicher Wert für den Besitzer kann sehr hoch sein, weil sie ihm (so zum
Beispiel Bücher einem Schriftsteller) den Brotverdienst ermöglichen, als
Wohnungsausstattung seine soziale Position behaupten helfen. Was dagegen
würden sie beim Verkauf — nach der „Trödlertaxe" — gelten? Vielleicht
nahezu nichts. „Der Anschlag nach dem Veräußerungswerte ist gewiß eine
angemessene Berechnung für einen Hausstand, der aufgelöst werden soll; sehr
zu überlegen ist jedoch, inwieweit sie sich auch für den Hausstand, der fort¬
geführt werden soll, gezieme. Sie ist sicher eine angemessene Rechnung für
Auswandrer, auch für den Fall der Pfändung und des Gaules, und zwar
der Pfändung bis auf den letzten Rock und das letzte Hemd. Würde eine
Familie — per iinxossibile — so vergantet, so würde sie, da man sie ja
schon vorher so eingeschätzt hat, durch diesen Gaut nicht einmal geschädigt er¬
scheinen, was ein Bedenken mehr gegen die Ansehung nach dem Verüußerungs-
wert liefert."
Ein großes Werk, an dem Schnapper gearbeitet hat: „Geschichte des
Geldverkehrs, der Preise und der Lebenshaltung in der Reichs- und Handels¬
stadt Frankfurt am Main und in Deutschland überhaupt vom Ausgange des
Mittelalters bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts", war ihm nicht
zu vollenden vergönnt. Eine Anzahl seiner Aufsätze und Vorträge hat Leo
Zeitlin samt einer biographischen Skizze (bei H. Laupp in Tübingen) vor
zwei Jahren herausgegeben und jetzt (bei Dr. Werner Klinkhardt in Leipzig)
vierzig Vorlesungen Schnappers über Bevölkerungslehre, Wirtschaftsstatistik
und Moralstatistik als „ein Lesebuch für Gebildete, insbesondre für Studierende"
unter dem Titel Sozial statt seit (mit Tafeln, Tabellen und Namenregister).
Der Herausgeber hat das in den Vortragen enthaltne statistische Material
durch Beifügung der neusten Zahlen in Klammern ergänzt, bemerkt jedoch
ganz richtig, ein Buch, das für die Probleme der Sozialstatistik Verständnis
zu wecken sucht, bedürfe, um seinen Zweck zu erfüllen, weder der Massen-
haftigkeit noch der Aktualität seines Zahlenmaterials. „Gerade ein Werk wie
dieses, das aus Vorlesungen entstanden ist, hat vor allem die Aufgabe, die
Schnapper-Arndt mit seinen Werken als die des akademischen Unterrichts
überhaupt charakterisiert: zur Kritik des Stoffes, den das Leben liefert, und
zur Selbstarbeit Direktiven zu geben." Diesen Zweck erfüllt das Buch. Aber
es muß doch bei dieser Gelegenheit daran erinnert werden — in der heutigen
Überschwemmung mit neuen Erzeugnissen werden ältere gute Sachen gar zu
rasch vergessen —, daß wir Deutschen schon längst ein Werk besitzen, das von
jedem, der nach tieferer und vollständiger Einsicht in den Gegenstand strebt,
unbedingt zur Ergänzung herangezogen werden muß. Zwar umfaßt Alexander
von Öttingers Moralstatistik nur zwei von den drei im vorliegenden Buche
behandelten Zweigen der Sozialstatistik (die Bevölkerungslehre konnte als Grund¬
lage der Moralstatistik nicht entbehrt werden), aber die Einleitung und das
erste Buch (zusammen über 300 Seiten) enthalten eine Einführung in die
Statistik, eine Methodologie dieser Kunst (nicht eigentlich Wissenschaft, wie
Schnapper richtig zeigt) und eine Anleitung zu ihrer Ausübung von solcher
Gründlichkeit und Vollständigkeit, wie es — in Deutschland wenigstens —
kein zweites gibt. Und das Verdienst Öttingers besteht vorzugsweise darin,
daß er Verständnis für statistische Untersuchungen in Kreisen geweckt hat, die
den von Berufs wegen zur Handhabung von Ziffertabellen genötigten fern
stehn, besonders in den Kreisen der Geistlichen, der Pädagogen, der Justiz¬
beamten. Was aber den eigentlichen Gegenstand des Werkes betrifft, so be¬
kennt Schnapper-Arndt selbst: „Als Verfasser eines größern moralstatistischen
Lehrbuchs ist eigentlich nur Alexander von Öttingen zu nennen." Zugleich
jedoch sucht er ihn zu diskreditieren, und eben deswegen ist es doppelt not¬
wendig, an den vor einem Jahre verstorbnen zu erinnern. Schnapper schreibt:
„Sein Werk ist ein Protest gegen die, die eine mechanische Weltanschauung
vertreten, oder denen man sie untergeschoben hat smehr noch ein Protest gegen
einseitigen Individualismus und Indeterminismus^. Das Buch fand darum
in weiten Kreisen eine warme Aufnahme; ich möchte ihm jedoch nur insoweit
Lob spenden, als es eine sehr fleißige Sammlung außerordentlich mühsam
zusammenzubringenden Stoffes ist. Durch die endlosen Sittenpredigten, die
es zu einem starken Umfange haben anschwellen lassen, geht ein Zug großer
Unfruchtbarkeit, und trotz der fortwährenden Wiederkehr der Worte »Ethik«
und »ethisch« hat ethisches Handeln sicherlich durch viele andre, die sich selbst
für Materialisten hielten, aber darum doch Idealisten waren swenn er doch
einen solchen nennen möchte!j, mehr Förderung erfahren als durch ihn.
Seine Sache war es nicht, sich die sozialen Dinge im Original anzuschauen,
und er kennt das menschliche Herz nur aus Büchern, die es selbst nicht
kannten." Daran ist nur so viel richtig, daß der Dorpater Professor wahr¬
scheinlich keine Forschungen in Proletarierwohnungen angestellt hat; non
owvia xossumus oirmss; wer ein so ungeheures Buchwissen aufhäuft, der hat
für umfassende Studien am lebendigen Objekt keine Zeit übrig. Aber darum
braucht ihm noch nicht die Kenntnis des menschlichen Herzens abgesprochen
zu werden. Was aber den bedeutenden Umfang des getadelten Werkes be¬
trifft, so sind es nicht „Sittenpredigten", die ihn verschulden, sondern auf
gründlicher Forschung beruhende Abhandlungen über psychologische, ethische,
volkswirtschaftliche Gegenstände, die für die Anwendung der Statistik im
ethischen Gebiete erst die Grundlage schaffen. In Schnapper-Arndts Vor¬
trügen sucht man vergebens eine Kennzeichnung der prinzipiellen Stellung, die
der Moralstatistiker einzunehmen hat, wie sie in den folgenden Sätzen
Öttingers enthalten ist (sie schließt sich an die vortreffliche Darlegung des
Wesens der sittlichen Freiheit an):
So wenig die Moralstatistik mit ihrer induktiven Methode uns berechtigt
oder befähigt, von irgendeiner Erscheinungsgruppe im menschlichen Gesamtleben zu
sagen, ob das, was da erscheint, frei oder unfrei, normal oder abnorm, gut oder
böse, ein Laster oder eine Tugend, ein Verbrechen oder ein Verdienst ist — denn
sie bringt uns ja nur die Tatsachen und deren zusammenhängende Erscheinung,
nicht aber einen höhern, allgemein geltenden Maßstab für ihre Beurteilung —;
so sehr ist sie doch imstande, uns von dem eigentümlichen Konnex, ja dem er¬
staunlich konsequenten Verursachungssystem in der geistig-sittlichen Weltordnung,
namentlich in der Bewegung ganzer sozialer Gruppen menschlicher Gesellschaft zu
überzeugen. Darauf beruht ihre enorme Wichtigkeit. Sie wird uns weder die
Freiheit des Willens beweisen, noch den Unterschied guter und böser Handlungen
lehren, noch auch an sich den Abscheu vor den kolossalen Verbrechermnssen oder
die Bewunderung für Tausende von Wohltätigkeitsanstalten erzeugen. Da wird
vielmehr überall die Deduktion, der ans dem Gewissen, aus den Tatsachen innerer
Erfahrung, aus dem geoffenbarten Gesetz und dem gegliederten System göttlicher
Wahrheiten hergeleitete prinzipielle Unterschied von dem, was wir gut, und dem,
was wir böse nennen, von dem, was sein soll, und dem, was schlechterdings nicht
sein soll, einzugreifen und die rechte Fährte ethischer Beurteilung aufzuweisen
haben. Aber darin wird die Moralstatistik als induktive Beobachtuugswissenschaft
dennoch Großes und in apologetischer Beziehung Bedeutsames zu leisten imstande
sein, daß sie empirisch die Gesetzmäßigkeit der sittlichen Lebensbewegung überhaupt
gegenüber der oberflächlichen Voraussetzung einer willkürlich sich selbst bestimmenden
Freiheit wird nachweisen können; sodann daß sie in jeglicher sittlicher Lebens¬
bewegung den Gemeinschaftsfaktor in seinem durchgreifend konstanten Einfluß wird
hervortreten lassen; endlich, daß sie dieser Gesetzmäßigkeit nachspürend, durch Analyse
und Klassifikation einzelne influierende allgemeine und spezielle Ursachen zu kon¬
statieren suchen wird. Es wird sie dabei nicht bloß der allgemeine Gedanke leiten,
daß die Ursachen den Wirkungen proportional sein müssen, sondern daß auch dem
Maximum der Wirkung ein Maximum der Ursachen und dem Minimum jener ein
Minimum dieser wird entsprechen müssen.
Auch wenn man nicht mit Ottingen an das Erbsünddogma im Sinne
der lutherischen Orthodoxie glaubt, muß man anerkennen, daß ihm dieser
Glaube die großen Wahrheiten der Einheit und der Solidarität des Menschen¬
geschlechts erschlossen hat und damit die Verantwortung, die daraus dem
einzelnen mit Rücksicht auf die Gesamtheit wie der Gesellschaft in Beziehung
auf den einzelnen erwächst. Ich halte dieses Dogma gleich andern Dogmen
nur für ein Symbol, aber die Bedeutung dieses Symbols, das darum als
ein geoffenbartes bezeichnet werden darf, liegt eben darin, dasz es jene Wahr¬
heiten enthüllt und das in ihnen wurzelnde Gefühl der Verantwortung ge¬
weckt hat, lange bevor die Wissenschaft Spuren davon durch Beobachtung
entdeckte. (Extreme Nasfentheoretiker, die das Menschengeschlecht in ganz ver-
schiedne „Tierarten" auseinanderreißen, leugnen geradezu die Einheit wie die
Solidarität und suchen die Menschenrassen, die Völker durch die Kluft eines
angeblich natürlichen feindlichen Gegensatzes voneinander zu trennen.) Diese
Wahrheiten mit statistischen Tabellen klar machen, nenne ich nicht predigen,
sondern ein Stück Volksaufklürung leisten. Öttingers Moralstatistik wird
demnach durch das vorliegende Buch keineswegs überflüssig gemacht, sondern
muß zur Ergänzung herangezogen werden, wie andrerseits auch die Verehrer
Öttingers die Leistungen Schnapper-Arndts nicht übersehen dürfen, die in
manchem einen Fortschritt bedeuten, abgesehen davon, daß sie sich ja nicht
auf die Moralstatistik beschränken, sondern die ganze Sozialstatistik umfassen-
Übrigens geht Schnapper über jene allgemeinen Anklagen gegen Ottingen
nicht hinaus; Verwendung von schlechtem Material weist er ihm gar nicht
und tendenziöse Verwendung guten Materials uur in einem einzigen Falle
nach. Das weitschweifige Reden über die Kollektivschuld der Gesellschaft,
schreibt er, nutze nichts, wenn auf die positiven Einzelursachen der herrschenden
Mißstände nicht eingegangen wird. (Das geschieht doch auch in Schnappers
Vorlesungen nur andeutungsweise und findet in einer allgemeinen Moral¬
statistik nicht Raum, muß Spezialuntersuchungen, zum Beispiel über den
Zusammenhang von Verbrechen und Alkohol oder von Verbrechen und
Wohnungselend vorbehalten bleiben.) Und seine Darstellung der Kinder¬
sterblichkeit (das ist der eine Fall) werde noch wertloser und irreführender
dadurch, „daß er die uneheliche Kindersterblichkeit, die ja zu wohlfeilen Morali¬
sieren leichten Anlaß gibt, ganz unverhältnismäßig vor die eheliche Kinder¬
sterblichkeit in den Vordergrund rückt". Freilich sei der Prozentsatz der un¬
ehelichen Kinder, die vorzeitig sterben, viel größer als der der ehelichen, aber
da die Zahl der ehelichen Kinder überhaupt etwa zehnmal so groß ist als
die der unehelichen, so sei doch die absolute Zahl der Sterbefälle von ehelichen
Kindern weit größer als der von unehelichen und falle darum für die Gesell¬
schaft mehr ins Gewicht. Es ist zuzugeben, daß Öttingen die Sterblichkeit
der ehelichen Kinder noch kräftiger Hütte betonen können, als es S. 882 ge¬
schieht. (Einen dankenswerten Beitrag zur Kenntnis ihrer Ursachen hat
Ludwig Kenner im 37. Heft der Grenzboten geliefert. Die „Entmilchung" der
Dörfer, auch schon der kleinen Städte, hat übrigens schon lange vor der
Gründung von Molkereigenossenschaften begonnen — mit der Verbesserung
der Verkehrswege, sogar schon vor dem Ausbau unsers Eisenbahnnetzes; sobald
gute Chausseen die Wege gang- und fahrbar machten, fingen auch die nicht
ganz nahe an der Stadt wohnenden Bauerfrauen an, alle ihre Milch, in
Butter verwandelt, auf den zwei bis vier Stunden entfernten städtischen Markt
zu schleppen, sodaß es, wie mir einmal ein Arzt klagte, mitten im Rindvieh
unmöglich war, armen Kindern und armen Kranken Milch zu verschaffen.
Die Molkereien haben dann natürlich das Übel außerordentlich gesteigert.)
Dafür könnte man Schnapper-Arndt vorwerfen, daß er selbst nicht ganz
tendenziös verfahre, zum Beispiel die ungeheure Bedeutung des Zahlenver¬
hältnisses der Geschlechter nicht gebührend hervorhebe. Bekanntlich weisen die
beiden Geschlechter im Heiratsalter nahezu gleiche Kopfzahlen auf. Und da
das Leben das männliche Geschlecht stärker mitnimmt als das weibliche, so
wird diese Gleichheit dadurch erreicht, daß mehr Knaben als Mädchen geboren
werden. Kann der Schöpfer (oder, da die deutschen Gelehrten das Wort
nicht leiden können, „die Natur") deutlicher sagen, daß er unbedingt die
Monogamie will? Die Konstanz der beiden großen Tatsachen ist um so
wunderbarer, da im einzelnen völlige Regellosigkeit, reiner Zufall zu herrschen
scheint; denn es werden ja nicht in jeder Familie je ein Knabe und ein
Mädchen geboren, sondern in der einen nur Knaben, in der andern nur
Mädchen, in wieder andern Familien Knaben und Mädchen in den ver¬
schiedensten Zahlenkombinationen. Schnapper konstatiert natürlich die Tat¬
sache, erwähnt auch die Nutzanwendung, die von Süßmilch an Theologen und
Moralisten davon gemacht haben; anstatt sie aber ihrer ungeheuern Wichtig¬
keit entsprechend hervorzuheben, sucht er sie abzuschwächen. Die Statistik
müsse ja im allgemeinen Süßmilchs Ergebnisse anerkennen, stoße aber doch,
von Land zu Land gehend, „auf größere Verschiedenheiten, als sie der alte
Herr wohl angenommen haben mochte". Bei der Durchmusterung dieser Ver¬
schiedenheiten zeigt es sich dann, daß sie nicht von der Natur, sondern von
Eingriffen der Menschen, zum Beispiel den Kinderaussetzungen und Kinder¬
mörder in China und bei manchen Naturvölkern, herrühren, deren Opfer
meist Mädchen sind. Und die Kompensation (daß, wenn ein Krieg viel Männer
hingerafft hat, ein paar Jahre hindurch der Überschuß der Knabengeburten
steigt) erwähnt er gar nicht. Gerade diese Tatsache aber, die Öttingen aus¬
führlich behandelt, beweist schlagend, daß das Menschengeschlecht wirklich eine
organische Einheit ist, ähnlich wie ein Bienenvolk, in dem immer gerade die
Anzahl von weiblichen, männlichen und geschlechtlosen Individuen auskriecht,
die im Augenblick gebraucht wird. Und bei der Darstellung der moham¬
medanischen Polygamie hätte der Umstand, daß die wirtschaftlich den meisten
unmögliche simultane durch die succesivc ersetzt wird, noch etwas deutlicher
ausgesprochen werden können. Er erwähnt zwar, daß die Ehescheidungen
nach unsern Begriffen enorm häufig sind, und daß man bei den untern Volks¬
klassen geradezu von einer Ehe auf Probe sprechen könne, aber es handelt
sich um mehr als dieses. Lord Cromer erzählt in seinem Noctsrn Lss^pe (und
früher schon ist von Kennern des Orients ähnliches berichtet worden), einer
seiner Stallburschen habe in noch nicht zwei Jahren seine „Gattinnen" elfmal
gewechselt. Das heißt doch, die Prostitution an die Stelle der Ehe setzen,
und das ist bedeutend schlimmer, als wenn sie nur zu deren Ersatz erlaubt
wird für Heiratsfähige, denen ihre Verhältnisse die Eheschließung wehren.
Das Buch hätte gewonnen, wenn die beiden Ausfälle gegen Öttiugen
gestrichen worden wären; man könnte dann das viele Gute, das es enthält,
und von dem wir einiges mitteilen wollen, in reinerer Stimmung genießen.
Sehr richtig wird S. 97 gesagt: „Wie bekannt, leben auf unfruchtbarem
Boden die dichtesten Bevölkerungen von der Industrie, da die zu ihrer Er¬
nährung nötigen Flüchen ^die heutige Verkehrstechnik vorausgesetzt!) nicht um
sie herum zu liegen brauchen, sondern in den verschiedensten Teilen der Erde
gelegen sein können. Ungeschickt drückt man das oft so aus, daß man sagt,
die Industrie vermöge mehr Menschen zu ernähren als der Ackerbau, oder:
mit der Zunahme der Industrie nehme die Bevölkerung zu. Umgekehrt: je
mehr Industrie — d. h. je mehr Bedürfnisse sich die Menschheit miegt, die
über die der Ernährung hinausgehn — um so mehr menschliche Arbeitskraft
und Boden entzieht sie der Nahrungsproduktion." Aus den widersprechenden
und zum Teil sehr unbestimmten Angaben über die Bananenkultur, die er
zusammenstellt, geht hervor, daß zwar gewiß eine mit Bananen bepflanzte
Fläche mehr Menschen zu ernähren vermag als ein gleich großes Stück
Weizen- oder Kartoffelacker, daß aber die Überlegenheit des tropischen Bananen¬
bodens über unsern Getreideboden wahrscheinlich stark übertrieben wird. Er
macht unter anderm darauf aufmerksam, daß die „Agglomeration", die An¬
häufung der Bevölkerung in Großstädten und Industriebezirken, keineswegs
immer Wirkung und Symptom von Dichtigkeit der Bevölkerung ist. Die
Vereinigten Staat,en sind trotz starker Agglomeration in ihrem nordöstlichen
Teile ein dünn bevölkertes Land. In dem Abschnitt über den physischen
Habitus der Bevölkerungen sind die anthropometrischen Ergebnisse zu beachten,
die beweisen, daß die mittlern Körpergrößen und Gewichte namentlich der
Kinder den Wohlstandsklassen parallel gehn. (Unsre Rassentheoretiker freilich
werden sagen: nicht bleiben die Kinder der Armen im Wachstum zurück, weil
sie schlechter genährt werden, sondern weil sie einer kleinern und schlechtem
Nasse angehören, bleiben sie arm, anstatt Lords zu werden.) Wenn manche
Statistiker darauf hinweisen, daß Hundertjährige gerade in den untersten
Volksschichten, sogar bei Almosenempfängern, häufig vorkommen, daß demnach
Unbildung ein höheres Lebensalter zu verbürgen scheine, so hält dem Schnapper
entgegen, daß gerade die Unbildung die Angaben über das Lebensalter ver¬
dächtig mache: ungebildete Leute wüßten meist nicht genau, wie alt sie seien,
machten sich wohl auch absichtlich älter, als sie sind, um mit ihren hohen
Jahren zu prahlen oder Mitleid zu erregen. Zu was für Unsinn statistische
Ergebnisse einen denkschwachen oder oberflächlichen Forscher verleiten können,
zeigt Schnapper an folgender Deklamation eines solchen, den die Zahl 40
für die mittlere Lebensdauer erschreckt hat: „Unsre Jahre sind zu wenig ge¬
worden, gegenüber dem, was wir zu sin?) diesen Jahren schaffen sollen. Jetzt
schon bringt der gebildete Europäer seine fünfundzwanzig ersten Lebensjahre
damit zu, bloß zu lernen. Bei einer mittlern Lebensdauer von vierzig Jahren
bleiben ihm nur fünfzehn Jahre, das Gelernte im Dienste der Menschheit zu
verwerten." Die mittlere Lebensdauer ergibt sich bekanntlich in der Weise,
daß die Lebensjahre der Kurzlebigen, die sterbenden Säuglinge eingerechnet,
und die der Langlebigen zusammengerechnet werden, und die Summe mit
der Kopfzahl dividiert wird. Jener Erschreckte stellt sich vor, jeder heutige
Europäer müsse mit vierzig Jahren sterben; alle neununddreißigjährigen hätten
dann bloß noch ein Jahr zu leben, und die Achtzigjährigen? Ja, die müssen
wahrscheinlich vierzig Jahre herauszahlen. Die durchschnittliche Lebensdauer
der Männer, die ihr Studium absolviert haben, beträgt weit mehr als vierzig
Jahre. Seite 173 wird erzählt, gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts
habe Kaspar Neumann in Breslau fast als der erste die Lebensdauer der
Menschen zum Gegenstande wissenschaftlicher Untersuchung gemacht und eine
seiner vornehmsten Aufgaben darin gesehen, „durch statistische Ermittlung zu
erproben, ob dem: wirklich ein Zusammenhang zwischen Geburt und Tod der
Menschen und gewissen kabbalistischen Zahlen und dem Stande der Planeten
nachweisbar sei". Das regt zu allerlei Betrachtungen über den Fortschritt
des Menschengeistes an, wenn man weiß, daß schon der heilige Augustinus
im zweiten Kapitel des fünften Buches I)ö Livitg-es den astrologischen
Aberglauben sehr schön widerlegt hat. Manche, besonders englische Statistiker,
versuchen den ökonomischen Wert zu ermitteln, der einem Volke durch vor¬
zeitiges Absterben seiner Angehörigen verloren geht. Schnapper zeigt, daß
es Torheit ist, den ökonomischen Wert eines Menschen ermitteln und in Geld
ausdrücken zu wollen, und bemerkt mit Beziehung auf den Kostenwert witzig:
„ein Student im fünfzehnten Semester, der viele Kommerse hinter sich hat, ist
nicht unbedingt mehr wert als ein Kommilitone, der bereits früher ins Examen
gestiegen ist. Jener würde sehr erstaunt sein", wenn er erführe, daß er so viel
wert sei, wie er seinen Vater gekostet hat. Wenn viele moderne Berufsarten
die Gesundheit schädigen und das Leben kürzen, und zu den Schädigungen
auch die Einseitigkeit der Beschäftigung infolge der Arbeitteiluug und die
Überanstrengung gehören, so ist, wie richtig hervorgehoben wird, daran zu
erinnern, daß unter diesen beiden Übeln keineswegs bloß die ürmern Klassen,
sondern auch viele Angehörige der höhern Berufsarten, ja auch reiche Leute
leiden. Eine englische Statistik weist eine besonders gute Gesundheit und
lange Lebensdauer für eine Anzahl von bsaltb^ äistriots nach: Gegenden
mit einer ländlichen Bevölkerung, die uicht wohlhabend ist, aber in guter
Luft und bei gutem Wasser und leidlich guter Wohnung ihr notdürftiges
Auskommen hat. Daß diese Art günstiger Lebensbedingungen mit der Ver¬
wandlung des Agrarstaats in den Industriestaat schwindet, wird zunächst für
England verhängnisvoll werden, darf aber auch uns nicht gleichgiltig sein.
Die Tatsache, daß im preußischen Staate der Stadtkreis Frankfurt am Main
mit 2,6 Kindern auf die Familie die schwächste, der Kreis Zabrze mit 6,9 die
stärkste Fruchtbarkeit aufweist, wird die wegen der Polengefahr besorgten
interessieren.
In dem Abschnitt über Berechnungen des Volksvermögens und Volks¬
einkommens befolgt Schnapper dieselben Grundsätze und warnt vor denselben
Fehlern wie ich in meiner Volkswirtschaftslehre. Einer dieser Fehler wird,
wie er nachweist, im größten Maßstabe von der amtlichen preußischen Statistik
begangen, die das (mobile) Kapital viel zu hoch, den Bodenwert im Ver¬
hältnis dazu viel zu niedrig ansetzt, weil sie die Hypotheken, die tatsächlich
einen Teil des Grundwerth darstellen, dem Kapitalvermögen zurechnet; die
Grundstücke sind als Bestandteile des Nationalvermögens darum nicht weniger
wert, weil Hypotheken darauf drücken, d. h. weil andre als die Besitzer einen
Teil des Ertrages genießen. In Württemberg, Ungarn, den Vereinigten
Staaten rechne man richtiger. Wiesehr die Berechnungen in Geld irreführen,
sehe man daraus (ich habe diesen Fall ebenfalls angeführt), daß ein Volk
»ach einer schlechten Ernte reicher erscheinen könne als nach einer guten, weil
bei der enormen Steigerung des Getreidepreises, den eine schlechte Ernte zur
Folge hat (soweit nicht der moderne Verkehr ermäßigend eingreift), der Geld¬
wert der schlechten Ernte höher sein kann als der einer guten.
In dem Abschnitt, der Schnappers Spezialität behandelt, wird erzählt,
daß das erste ihm bekannte Haushaltungsbudget zu Augsburg im sechzehnten
Jahrhundert gedruckt und — gesungen worden ist, wenigstens gesungen zu
werden bestimmt war: „Ein schon newes Lied von den Unkosten aufs das
Hauszhalten, nemlich was auff ein Mann, ein Wyb und ein Magd ein Jahr
lang cmffgeht. Im Thon: es wolt ein wackeres Magetlein des Morgens
früh aufstohn." Es wird darin berichtet, wie ein Jüngling seiner Angebeteten
ein Ständchen bringt, sie aber zur Antwort ihm vorrechnet, was ein Haus¬
halt kostet, was er also durch Arbeit aufbringen müsse, wenn er heiraten
wolle, besonders da er doch wahrscheinlich wolle, daß seine Frau schön bleibe,
dieses aber nur möglich sei, wenn sie ein bequemes Leben habe, sich in Muße
Pflegen und tüchtig Wein trinken könne. Interessant ist die Bemerkung, daß,
je tiefer man in den sozialen Schichten hinabsteigt, desto typischer die Budgets
werden: bei den ganz Armen geht fast die ganze Einnahme auf die für alle
gleiche notwendige Nahrung darauf; je höher hinauf dagegen, desto individueller
werden die Budgets, in den sehr hohen so individuell, daß der Kundige aus
den Ausgabeposten den Namen der Person erraten kann. Bei der Erörterung
der Scheidungsgründe zeigt Schnapper an einem Beispiele, wie schwierig es
ist, bei Ermittlung der relativen Häufigkeit der verschiednen Gründe, auf
die hin die Scheidung beantragt wird, internationale Vergleichungen anzu¬
stellen. In der Union wird der Mann häufig wegen vrueltz^ verklagt, aber
was verstehn die Klägerinnen darunter? Wenn ein roher Mann seiner ganz
einsam lebenden Frau das einzige, was ihr Freude macht, ein Hündchen, ins
Feuer wirft, so muß man das ja Grausamkeit nennen. Zu stark ist schon
das Wort, wenn es sich um einen Mann handelt, der das Tabakrauchen
nicht läßt, das seiner Frau manchmal Kopfschmerzen verursacht. Aber es
kommen noch ganz andre Fälle vor. Eine nennt es Grausamkeit, daß ihr
Mann Bibelverse zitiert hat, die der Gattin Gehorsam gegen den Gatten vor¬
schreiben, wobei er allerdings gedroht hat, sie im Falle des Ungehorsams zu
zermalmen; und eine reiche junge Dame, die einen Todkranken geheiratet hat,
um nach dessen bald zu erwartenden Tode, der Vormundschaft ledig, freie
Verfügung über ihr Vermögen zu bekommen, beantragt, als der Mann wider
Erwarten gesund geworden ist, wegen oruslr^ ima trauä die Scheidung. Den
üblichen Alkoholstatistiken steht Schnapper skeptisch gegenüber; so, wenn nach
Hoppe und Baer-Laquer in Deutschland auf den Kopf 10^ Liter reiner
Alkohol kommen sollen. Das würde in Schnapsform täglich fünf Gläschen
für jedes deutsche Individuum ausmachen, die Frauen, die Säuglinge, die
Gefangnen eingerechnet, und das sieht sehr unwahrscheinlich aus, denn das
Bier enthält doch wenig Alkohol, und bei der heute in den höhern Ständen
herrschenden Mäßigkeit sind Leute, die solche Quantitäten Wein vertilgen wie
der Junker Hans von Schweinichen und sein fürstlicher Gönner, sehr selten.
Über die bekannten Experimente, auf die unsre Mäßigkeitsapostel die Forderung
völliger Abstinenz für alle gründen, urteilt er: „Wenn Auswendiglernen,
Addieren, Assoziationen auf Neizworte im Experiment erschwert erscheinen,
und wenn sogar überhaupt jede intensive geistige wie körperliche Tätigkeit
unter dem Einflüsse von Alkohol weniger gut vonstatten geht swobei noch zu
beachten ist, daß der Vernünftige seinen Schoppen erst trinkt, nachdem er sein
Tagewerk beendigt hat), so ist damit noch nicht bewiesen, daß jede Art
psychischen Geschehens in gleicher Weise ungünstig beeinflußt wird. Allein
selbst wenn dies der Fall sein sollte, so bliebe außerdem noch festzustellen,
daß die durch mäßigen Alkoholgenuß hervorgerufne Dauerschädigung tatsächlich
so groß ist, daß die Forderung der Totalabstinenz auch für alle die berechtigt
wäre, die jetzt im gelegentlichen oder regelmäßigen Genuß Erholung und
subjektive Anregung finden. Und schließlich steht den Ergebnissen der Ex-
perimentalnntersuchungen doch auch noch eine Erfahrung gegenüber, die nicht
übersehen werden darf: daß nämlich die große Mehrzahl auch solcher Menschen,
die auf den verschiedensten Gebieten mehr als das Durchschnittliche geleistet
haben, im Sinne des Laboratoriumversuchs als chronische Alkoholiker anzu¬
sprechen wären IZu ihnen gehören bekanntlich auch Luther, Goethe und Bis-
marckj. Wie schwer sich die Ergebnisse solcher Versuche praktisch verwenden
lassen, erhellt übrigens aus nichts so deutlich als aus dem ebenfalls von
der Heidelberger Schule erbrachten Nachweis, daß auch ein zweistündiger
Spaziergang ^überhaupt jede körperliche Anstrengung, wie jedermann an sich
selbst ohne psychometrische Experimente erfährtj die experimenteller Prüfung
zugänglichen Leistungen nicht bessert, sondern verschlechtert. Trotzdem wird
niemand grundsätzlich das Spazierengehn >oder das Schwimmen, Rudern,
Turnen, Ballspielen und die von Hirnarbeitern zur Erholung vorgenommnen
Gartenarbeitenj als schädlich verbieten wollen." Wobei allerdings daran er¬
innert werden muß, daß Spazierengehn, Sport und Gartenarbeit gesündere
Erholungen sind als Höcker in der Kneipe, mit welchem Ausdruck jedoch ein
wöchentliches Plauderstündchen beim Glase natürlich nicht bezeichnet zu werden
verdient.
Die Kriminalstatistik ist zu vielen Dingen nütze: man kann aus ihr
Schlüsse ziehen auf Charaktereigenschaften ganzer Völker und Stände, auf
soziale und politische Zustände, auf die Wirkung von Gesetzen und Volkssitten
und kann damit zu praktischen Verbesserungen gelangen, zum Beispiel mit der
Gewohnheit der Lohnzahlung am Sonnabend brechen — nur zu einem ist sie
nicht zu gebrauchen, zum Maßstabe der Volkssittlichkeit, auch nur der
negativen. Hätten wir, schreibt Schnapper, Kriminalstatistiken aus dem
sechzehnten und dem siebzehnten Jahrhundert, so würden wir wahrscheinlich
in den Einleitungen Klagen darüber lesen, daß das Verbrechen der Hexerei
im letzten Jahre leider wiederum zugenommen habe, während wir statt dessen
folgern würden, daß die Dummheit, Rachsucht und Grausamkeit gewachsen
sei. Und wie groß oder klein ist der Prozentsatz der Gesetzübertretungen, die
gerichtsnotorisch werden und dadurch in die Statistik kommen? In Neapel
wird jeder Fremde ausgelacht, der eines kleinen Taschendiebstahls wegen die
Polizei belästigt, und namentlich bei Hausdiebstählen, bemerkt Schnapper,
halte Milde (oder auch die Furcht vor Unannehmlichkeiten) sehr häufig von
der Anzeige ab. „Milde Herrschaften entlassen unehrliches Gesinde, ohne es
zu verfolgen. Das hiesige Geschäftshaus Rothschild ist bekanntlich erst ganz
spät dazu übergegangen, ungetreue Angestellte anzuklagen. Wer darf ich
wohl eine Anekdote anführen, die einmal in der Frankfurter Zeitung stand.
Einer der Herren Rothschild geht mit einem Bekannten spazieren. Dieser
ruft plötzlich: »Herr Baron, eben hat Ihnen ein Kerl das Taschentuch ge¬
stohlen.« Jener aber erwidert: »Lassens'n, lassens'n, mer haben alle klein
angefangen.«^ In einem Bericht an das ?von oormoil von Manchester hat
der vtusk voustavls behauptet, daß im Jahre 1891 Geschäftshäuser von
Personen aus den sogenannten bessern Ständen um mehr als 90000 Pfund
beraubt, daß aber in den wenigsten Fällen Anzeigen erstattet worden seien."
In dieser Schätzung mögen wohl verschiedne Kategorien zusammengefaßt worden
sein: Veruntreuungen von Angestellten, Schädigung durch leichtsinnige und
unehrliche Kunden und Ladendiebstähle. Auf solche sind bekanntlich die großen
Berliner Geschäfte als auf etwas Alltägliches eingerichtet, indem sie eine Auf-
Passerin anstellen und die Ertappten in einem dazu bestimmten Kabinett
durchsuchen lassen, ohne Aufsehen zu erregen und die Behörden in Anspruch
zu nehmen.
Eine dankenswerte Zugabe zu dem Buche sind die guten graphischen
Darstellungen, die den Inhalt der Tabellen veranschaulichen. Wie schlank
steigt die sich zur Säule verjüngende Pyramide der preußischen Einkommen¬
stufen empor, wie winzig ist das Klötzchen der Talermillionäre auf der breiten
Grundlage der übrigen Steuerzahler, wie anders sieht der Aufbau der Alters¬
stufen in Frankreich als der in Deutschland aus, und wie unregelmäßig er¬
scheint dieser Aufbau in Berlin, verglichen mit dem regelmäßigen und natür¬
as Jahr 1908 weckt in mancher Beziehung Erinnerungen an
den Freiherrn vom Stein, der durch zahlreiche Reformen die
Befreiung Preußens vom französischen Joche vorbereitete, bis er
im November 1803 von Napoleon geächtet und aus dem Lande
verbannt wurde. Steins gesetzgeberische Tätigkeit an der Be¬
freiung der Bauern aus der Leibeigenschaft ist bekannt, weniger bekannt sind
seine Bemühungen um die Herausgabe der deutschen mittelalterlichen Geschichts¬
quellen, auf denen heute die Geschichtschreibung des deutschen Mittelalters
beruht. Stein faßte zuerst den Plan einer wissenschaftlichen Sammlung dieser
Geschichtsquellen, ging im Jahre 1818 mit einer Reihe von opferfreudigen
Männern an das große Unternehmen, indem er einen Teil der Mittel dazu
aus seinem eignen Vermögen hergab und bis 1380 mehr als den vierten
Teil der gesamten Kosten selbst deckte. Der erste Band erschien 1826, und
in den folgenden Jahren wurden in einzelnen Abteilungen die Schriftsteller,
Gesetze, die Kaiserurkunden, Briefe und Altertümer sowie die ältesten Schrift¬
steller veröffentlicht, und zwar in der lateinischen Sprache der Quellen. Die
besten Kräfte der deutschen Geschichtschreibung stellten sich in den Dienst dieser
von Stein angeregten wissenschaftlichen Forschung, und heute darf der Deutsche
mit Stolz auf die lange Reihe der stattlichen Bünde sehen, deren Inhalt
durch Übersetzungen unter dem Titel: Geschichtschreiber der deutscheu Vorzeit
allgemein zugänglich gemacht worden ist.
Und doch, wer kennt jetzt nach achtzig Jahren diese wahrhaft erhabnen
Monumente deutschen Fleißes und deutscher Opferwilligkeit? Die Fach¬
gelehrten, die sich von Berufs wegen mit dem Quellenstudium zu beschäftigen
haben, benutzen sie bei ihren Darstellungen der allgemeinen deutschen Ge¬
schichte und behandeln auch wohl gelegentlich in den geschichtlichen Zeit¬
schriften eine oder die andre Streitfrage, im übrigen aber bekümmert man sich
wenig um die wertvollen Sammlungen der heimischen Geschichte. Wie ganz
anders werden dagegen die griechischen und die römischen Quellenschriftsteller
geschätzt und studiert. Schon in den mittlern Klassen unsrer höhern Schulen
werden die Schriften des Cornelius Nepos, Cäsar, dann in den höhern die
des Livius, Tacitus und im griechischen die Werke des Xenophon und all
der andern Geschichtschreiber nicht nur gelesen, sondern bis ins genaueste und
kleinste durchgenommen. Es werden Kommentare über Kommentare geschrieben
und mit Karten und Plänen der Schlachten und Schlachtordnungen aus¬
gestattet; die Einrichtungen der Heere und die Verfassungen der Staaten
werden darin auseinandergesetzt, und es geschieht alles, um den Schülern
einen Einblick in das Kulturleben der Griechen und Römer zu geben. Es
ist schon zu oft — auch in den Grenzboten erst kürzlich — gesagt worden,
wie klüglich demgegenüber unser deutsches Staats- und Verfassungsleben in
der Schule behandelt wird, als daß darüber noch Worte verloren werden
könnten. Hier soll nur die eine Frage angeregt werden, ob es nicht wenigstens
möglich ist, die Nonuiriönta tZerirmuiae llistories, für die Schule und die
Heimatkunde nutzbar zu macheu. Inhaltlich stehn die deutschen Geschichts¬
quellen jenen griechischen und lateinischen sicherlich nicht nach; die meisten
Schüler — das kann man ruhig behaupten — lesen die Schilderungen der
uns so fernstehenden Kriegsereignisse aus der vorchristlichen Zeit, wenn nicht
mit einem Widerwillen, so doch mit gewisser Gleichgiltigkeit. besonders wenn
Schwierigkeiten in den Formen und Satzkonstruktionen damit verbunden sind.
Wie mancher wäre verlassen gewesen beim Übersetzen, wenn er nicht seinen
„Freund" gehabt Hütte, der aus den Nöten helfen mußte? Und wie wenige
haben nach dem Abgange vou der Schule jemals wieder einen dieser alten
Römer und Griechen in die Hand genommen, soweit sie nicht berufsmäßig
dazu verpflichtet waren? Aus reiner Neigung und Liebhaberei wird wohl
selten jemand auf diese Quellen zurückgreifen, die sich ausschließlich mit
griechischer und römischer Geschichte beschäftigen und nicht auch, wie Cäsar
und Taeitus zum Beispiel, deutsche Geschichte behandeln. Wie es freilich mit
der Begeisterungsfähigkeit der Lehrer selbst steht, die jahraus jahrein immer
wieder dieselben Stoffe behandeln müssen, läßt sich nicht beurteilen.
Die Quellenschriften der deutschen Geschichtschreiber könnten für die
Altertums- und Heimatkunde von großem Nutzen sein, wenn sie in den höhern
Schulen gelesen und ebenso gründlich durchgenommen würden wie die römischen
und die griechischen an unsern Gymnasien; die Schüler würden sich für die
heimische Geschichtsforschung mehr erwärmen, als es ihnen jetzt für die fremden
Länder möglich ist, und unsre Altertumsforschung stünde ans einer andern
Höhe, wenn es den vielen Geschlechtern der deutschen akademisch gebildeten
Berufe auf der Schule vergönnt gewesen wäre, sich so eingehend mit den
deutschen Geschichtsquellen beschäftigen zu können, wie es mit jenen noch tag¬
täglich geschieht. Darin liegt doch wohl die Hauptursache, daß unsre ge¬
bildeten höhern Kreise so wenig Sinn und Verständnis für die Heimatkunde
haben und deren Pflege den Volksschullehrern überlassen, die tatsächlich oft
genug die einzigen Träger heimatlicher Bestrebungen sind und manchmal auch
tüchtige Leistungen aufweisen, obgleich sie nicht klassisch vorgebildet sind.
Wie mangelhaft es mit unsrer deutschen Quellenforschung und mit der
Benutzung des vorhandnen Stoffes noch immer bestellt ist, mag ein Beispiel
in aller Kürze zeigen. Der deutsche Geschichtschreiber Bischof Thietmar von
Merseburg, dessen Chronik die Hauptquelle für die Geschichte der slawischen
Gegenden östlich von der Elbe ist, beschreibt im sechsten Buche die alte Wenden¬
feste Liubusuci. Sie bestand nach seiner Schilderung aus einer besondern
Befestigung und aus einer Stadt, beide waren durch ein Tal getrennt, lagen
also auf Anhöhen. Der Bischof hat die Feste selbst gesehen und schreibt, daß
sie zwölf Tore und Platz für zehntausend Mann gehabt habe. Ihr Anblick
setzte ihn so in Staunen, daß er ein Werk Julius Cäsars und einen römischen
Bau vor sich zu haben meinte, und er gab sogar eine Stelle aus Lucanus
(Pharsalia, Buch 6 Vers 29) an, die seiner Ansicht nach vergleichsweise auf
die Feste Liubusua paßte. Im Jahre 932 trat sie zuerst in der Geschichte auf und
wurde damals vou Heinrich dem Ersten belagert und den Wenden abgenommen.
Später wurde die Feste von den deutschen Eroberern ausgebaut und mit einer
Besatzung belegt. Im Jahre 1012 zog der Herzog Bolislaw vor Liubusua und
belagerte die Feste, weil er wußte, daß wegen der Überschwemmung an der Elbe
die Deutschen den Belagerten keinen Entsatz und keine Hilfe bringen konnten.
Nach mäßigem Widerstand ergab sich denn auch die aus tausend Mann be¬
stehende Besatzung dem Polenherzog, es entstand ein furchtbares Blutbad, und
die Wenden zogen beutebeladen und vergnügt von dannen, nachdem sie die
Stadt angezündet hatten. Das deutsche Heer konnte tatsächlich nicht über die
Elbe herüber, sondern stand untätig bei Belgern. Wo lag Liubusua? Früher
nahm man an, daß die Stadt Lebus bei Frankfurt an der Oder in Frage
käme. Dieser Ort wird jedoch in der Geschichte erst später erwähnt und
paßt auch der Lage nach durchaus nicht zu der Beschreibung Thietmars. Die
Feste Liubusua lag unzweifelhaft in der Nähe des heutigen Dorfes Lebusa
zwischen Dahme in der Mark und Schlicker bei Herzberg an der Elster.
Auf einer langgestreckten Anhöhe südlich vom Dorfe sind noch deutlich Be¬
festigungen sichtbar, namentlich Gräben, die sich in Winkeln und Krümmungen
um die Höhen herumziehen und dann im Walde verlaufen. Als Quellen¬
schriften für diese immerhin nicht ganz unbedeutende Begebenheit, bei der
selbst die Wenden fünfhundert Mann einbüßten, kommen außer Thietmar die
Hildesheimer und Weißenburger, die Corveyer und Quedlinburger Annalen
sowie Widukinds res Assta« LaxomeÄS und der Lb.ronn>A'iÄMu8 Zaxo, die
alle in den Ncmriinsntg. abgedruckt sind, in Betracht, und doch hat noch kein
einziger namhafter Forscher auch nur deu Versuch gemacht, die Örtlichkeit der
alten Feste genauer zu bestimmen. Selbst Ludwig Giesebrecht, der eine drei¬
bändige Geschichte der Wendenkämpfe geschrieben hat, begnügt sich mit einer
Nacherzählung dessen, was Thietmar über Liubusua sagt. Wenn die Stätte
nicht in zwei Stunden mit der Bahn von der Reichshauptstadt aus zu er¬
reichen wäre, sondern in Italien, Griechenland oder Kleinasien läge, dann
wüßte man sicherlich die Einzelheiten recht genau, und es wären zu Nach¬
forschungen und Ausgrabungen an Ort und Stelle die nötigen Mittel wohl
längst bereitgestellt worden. Aber es sind ja bloß Deutsche, die hier an der
Elbe und Elster mit den Wenden gerungen haben, nicht etwa Römer,
Karthager oder andre heidnische Völker aus der alten Geschichte!
Über die Belagerung und Zerstörung der Feste Sagunt in Spanien durch
Hannibal im Jahre 219 v. Chr. weiß selbstverständlich jeder Schüler die ge¬
nauste Auskunft zu geben: aber wie wenige von den Tausenden der Schüler
in Berlin werden überhaupt jemals den Namen Liubusua gehört haben, viel
weniger dorthin gekommen sein, trotzdem es fast vor den Toren liegt! Doch
das ist nur ein Beispiel für viele, die sich allerorten in deutschen Landen
aufzählen und finden lassen. Man darf überzeugt sein, daß die Schüler mit
Begeisterung und Verständnis die deutschen Geschichtsquellen lesen würden,
wenn diese in derselben gründlichen Weise wie die der Römer und Griechen
durchgenommen und besprochen würden. Wenn dann noch bei Gelegenheit
einer Turnfahrt oder zur Feier des Sedcmtages eine solche in der Nähe
liegende geschichtliche Stätte von den Schülern und dem Lehrer aufgesucht
und an Ort und Stelle das Gelesene erklärt und näher erläutert, vielleicht
auch mit dem Spaten ein wenig gearbeitet würde, so müßte man an unsrer
Jugend verzweifeln, wenn sie keine Liebe für die heimische Geschichte erwürbe
und von der Schulbank ins Leben mit hinausnähme.
Man wird einwenden, daß das mittelalterliche Mönchslatein den klassischen
Schriftstellern der Alten gegenüber minderwertig und deshalb für die Schule
nicht verwendbar sei, wo nur rein klassisches Latein und Griechisch gelehrt
würde. Darauf ist zu erwidern, daß jetzt, wo die alten Sprachen sehr be¬
schränkt worden sind, nur die wenigsten Schüler noch diese Sprachen voll¬
ständig beherrschen lernen, und falls sie sie beherrschen, kann ihnen das
mittelalterliche Latein keinen Schaden mehr tun. Es ist dann im Gegenteil
lehrreich, wenn sie die Veränderungen und Auswüchse, denen ja jede Sprache
unterworfen ist, auch einmal an der lateinischen kennen lernen. Sie können
gerade an der Lektüre der mittelalterlichen Quellen den Verfall beobachten,
dem die Sprache im Laufe der Jahrhunderte immer mehr entgegengegangen
ist, bis sie schließlich zur Zeit des Humanismus zu neuem Leben erwachte.
Überdies wird zu beachten sein, daß schon das Oorpusjuris und die Kirchen¬
väter nicht mehr in dem alten klassischen Latein abgefaßt sind; die künftigen
Juristen und Theologen müssen sich also ohnehin bei den Studien auf der
Universität mit dem spätern Sprachgebrauch bekannt machen, ganz zu schweigen
von den Medizinern, deren lateinische Wortbildung willkürlich und nichts weniger
als klassisch ist.
Schließlich kaun auch zugunsten der alten Schriftsteller nicht ins Feld
geführt werden, daß durch das klassische straffe Latein mit seinen zwingenden
Konstruktionen, seinem festen Satzbau und Periodenaufbau zugleich das folge¬
richtige Denken bei den Schülern geübt und durch Auflösung der Sätze die
deutsche Sprache gefördert würde. Daß es bei unsern Gelehrten, Beamten
und Schriftstellern mit der deutschen Sprache im allgemeinen erbärmlich genug
aussieht, ist oft beklagt worden und bedarf keiner Wiederholung. Die Mi߬
handlung unsrer Muttersprache — ganz abgesehen von den vermeidlichen
Fremdwörtern — in amtlichen und nichtamtlichen schriftlichen Kundgebungen
aller Art von den höchsten Behörden an läßt nicht erkennen, daß die fremden
alten Sprachen einen veredelnden Einfluß auf die deutsche Ausdrucksweise
haben; man fühlt vielmehr oft sehr deutlich heraus, daß die deutschen Schachtel¬
sätze eine Erinnerung an die Schulbank geblieben sind, wo sie geradezu ge¬
züchtet worden sind.
In gleicher Weise wird wohl auch die Schulung für folgerichtiges Denken
durch die Lektüre der alten Klassiker überschützt. Es wäre doch schlecht in der
Welt bestellt, wenn man für ewig zur Erlernung logischen Denkens an die
paar wenigen Schriftsteller gebunden wäre und nirgends anders das Heil
gefunden werden könnte. Wie erginge es den vielen Menschen, deren Ohr
nie einen altklassischer Klang gehört und deren Auge keinen griechischen Buch¬
staben je gesehen hat! Es ist endlich auch nicht die Rede davon, nun auf
einmal alle griechischen und römischen Klassiker über Bord zu werfen und nur
noch die Nonuinöntg, zu lesen; diese Forderung wird niemand stellen, solange
die alten Sprachen gelehrt werden. Es genügt schon, wenn der Abwechslung
halber und mit Auswahl hin und wieder eine oder die andre mittelalterliche
Quellenschrift auf der Schule behandelt wird, womöglich eine, die gerade mit
der Gegend der betreffenden Schule in Beziehung steht, sodaß die Heimat¬
kunde davon unmittelbar betroffen wird. Ebensowenig soll einer weitern Über¬
bürdung der Schüler das Wort geredet werdeu, da jede Mehrbelastung anstatt
der erhofften Freudigkeit nur Verdruß hervorrufen würde.
Mehr Heimatkunde in den höhern Schulen verlangt mit vollem Recht
Archivar Dr. Brüning aus Aachen, indem er in den „Blättern für deutsche
Erziehung" schreibt: „Ich bin in Danzig auf dem Gymnasium gewesen, aber
niemals habe ich im Unterricht etwas von der bedeutenden mittelalterlichen
Geschichte und von den Kunstwerken der Stadt gehört; ich bin in Altenstein
auf das Gymnasium gegangen, aber niemals wurden wir Schüler auf die
dortige prächtige Stadtkirche und die bischöfliche Burg aus dem vierzehnten Jahr¬
hundert hingewiesen; ich bin in Hohenstein auf dem Gymnasium gewesen, aber
kein Lehrer machte uns darauf aufmerksam, daß es sich in den Mauern der
alten Ordensburg befand, und daß wir Altpreußen dem Deutschen Ritterorden
so unendlich viel zu verdanken haben, daß dessen Geschichte so ruhmvoll und
herrlich sei wie nnr irgendwie. Das galt alles nichts. Aber der geringfügigste
griechische oder römische Quark wurde uns jeden Vormittag aufs Frühstücks¬
brot geschmiert. Ja es ist mir bei einer Fahrt an Marienburg vorbei passiert,
daß einer der Mitreisenden den Kopf durchs Feuster steckte und beim Anblick
der Vnrg fragte: »Was ist denn das füm oller Kasten?« Ich fuhr nicht vierter,
sondern zweiter Klasse, und der Fragesteller war ein Gutsbesitzer aus Litauen,
der mit dem Einjährigenzeugnis das Gymnasium zu Jnsterburg verlassen hatte.
Von der Geschichte der Burg, von Tannenberg und Heinrich von Plauen
keinen Schimmer. Als ich dann die Vorlesungen des Professors Lohmcier in
Königsberg über Hcimatgeschichte besuchte, war es immer nur ein kleines Häuf¬
lein, das sich bei dem ausgezeichneten Lehrer zusammenfand; niemals sah ich
einen von einer andern Fakultät.
Das hat einst Simrock gesagt, und er hat noch immer recht."
l er die Jnnenansicht einer apulischen Kirche in ihrer Ursprüng¬
lichkeit und Reinheit genießen will, der muß das etwa vier
Stunden von Bari landeinwärts liegende Städtchen Bitonto auf-
! suchen, dessen Dom vor einigen Jahren unter der Leitung des
Architekten Bernich, desselben, der auch die Renovierung von
> Castel del Monte, Friedrichs des Zweiten berühmtem Lustsitz, aus¬
geführt hat, in glücklicher Weise wiederhergestellt worden ist. Dieser Dom, wahr¬
scheinlich erst unter Kaiser Heinrich dem Sechsten oder Friedrich dem Zweiten
begonnen, liefert zugleich den Beweis, wie man die bei San Nicola einge¬
schlagne Stilrichtung jahrhundertelang selbst bis auf Einzelheiten wiederholte.
So weist er zum Beispiel ebenfalls den Stützenwechsel auf, der in Italien sonst
als eine rohe, barbarische Bauart galt und sich äußerst selten, eigentlich nur
in den Abruzzen findet. Nicht in heiterer, goldstrotzender Mosaikpracht, wie
bei Siziliens einzigartigen Normannendomen, sondern düster, fast melancholisch
steigen über den runden, rötlichen Marmorsäulen, den durch Pilaster gegliederten,
mächtigen Pfeilern, den sich fensterartig gegen das Mittelschiff öffnenden Em¬
porengalerien die kahlen, braunrötlichen Mauern empor, die die flache Decke
des weit über die schmalen Seitenschiffe hinausragenden Mittelschiffs stützen.
Die Seitenschiffe sind abweichend von San Nicola nicht mit Tonnen, sondern
mit flachen Kuppeln überwölbt. Im vierzehnten Jahrhundert wurden dann
an sie jene kapellenartigen Rundnischen angefügt, die wir an allen apulischen
Kirchen wiederfinden, und die als Grabstätten der vornehmen Familien des
Landes dienen. Nach außen springen sie jedoch ebensowenig wie die Stirn-
wand des Querschiffs aus der Front der durch hohe Blendarkaden gegliederten
Seitenmauern vor. Das Querhaus ist einschiffig und wie das Mittelschiff flach
gedeckt. Unmittelbar an dieses schließen sich, der dreischiffigen Langhausanlage
entsprechend, drei Apsiden an. Der Fußboden, heute mit einfachen Marmor¬
fliesen bedeckt, hat wohl ehemals wie die Kirchenfußböden der Terra ti Bari
überhaupt Mosaikschmuck,.getragen. Aber leider ist auch nicht einer davon,
mit Ausnahme geringer Überreste im Chor von San Nicola zu Bari und im
Presbyterium des Doms zu Trani, bis auf unsre Tage gekommen. Jedoch
weist gerade dies Wenige, Tierkreisbilder und der von Greifen zum Himmel
getragne Alexander, eine so unverkennbare Ähnlichkeit mit Figuren des wohl-
erhaltnen Mosaikbodens im Dome der heute so weltentlegnen Hafenstadt
Otranto auf, daß wir uns an seiner Hand eine ungefähre Vorstellung des
einstigen Bildes machen können. Die Mitte dieses Bodens wird von einem
gewaltigen Baum eingenommen, an dessen Stamm sich zwei Elefanten gegen¬
überstehn. Zwischen die Äste des Baumes, die sich über den ganzen Flächen¬
raum der Kirche verbreiten, hat man hier biblische Szenen, dort solche aus
der Artus- und Alexandersage, Monatsdarstellungen und Tierkreisbilder gesetzt.
Ja selbst die Farbengebung ist wie in San Nicola auf dasselbe stumpfe,' fahle
Weiß, Grün, Braun und Rot beschränkt, was dem ganzen Anblick etwas ge¬
dämpft Feierliches, ja Düsteres im Vergleich zu der buntschillernden Mosaik¬
pracht Siziliens gibt. Auf den gleichen tiefernsten Grundton wie die Ober¬
kirche ist auch die Unterkirche in Bitonto gestimmt. In ihrer dreischiffigen,
von vierundzwanzig Säulen getragnen Anlage ahmt sie wieder, selbst bis auf
das durchschnittne Marmorgitter an der Treppe, die Krypta von San Nicola
nach. Leider hat sie durch den störenden Kalkbezug der Wände, den man noch
nicht entfernt hat, etwas von ihrer weihevollen Stimmung verloren. Aber
auch so wirkt der hochgewölbte Raum, wirken die Durchblicke zwischen den
Säulen, die mit ihrem Schaft direkt auf dem Marmorboden aufsitzen, ungemein
malerisch. Ins Groteske fast aber wird dieser Anblick durch den Schmuck der
Kapitelle gesteigert, aus deren spitzen Akanthusblüttern uns hier lachende
Menschenkopfe, dort Widder-, Stier- oder sich gegenüberstehende Vogelkopfe mit
einer so verblüffenden Natürlichkeit und Frische entgegensehen, daß man meinen
könnte, erst eben seien sie aus dem Stein herausgewachsen. Und in der Tat
hatte sich damals die Plastik Apuliens im Vergleich mit andern Ländern zu
ungeahnt hoher Entwicklung emporgeschwungen. Allerdings bleibt sie mehr
oder weniger auf Steinmetzarbeiten beschränkt, auf die Ausschmückung von
Portalen, Fenstern, Gesimsen, Kragsteinen, Säulenkapitellen und das Kirchen-
invcntar, auf Ciborieu, Ambonen und Bischofstühle. Im elften Jahrhundert
hatte man sich begnügt, sie mit pflanzlichen oder geometrischen Ornamenten,
Palmetten, spitzen Akanthusblüttern, Rosetten, Kreuzen, Kreisen und kufischen
Inschriften in der flachen Manier byzantinischer Kunstweise rahmenartig zu um¬
geben. Aber schon im zwölften Jahrhundert treten in dem Rankenwerk der
Tür- und Fensterfüllungen neben pflanzlichen auch andre Motive, Ungeheuer
und Fabelwesen, Kampf- und Jagdszenen auf, in denen sich ein wahrhaft er¬
staunlich rasches Durchringen zu hoher Formvollendung offenbart. Das fol¬
gende Jahrhundert hält an dieser typisch gewordnen Auszierung fest, nur daß
sich der Meißel jetzt immer tiefer in den Stein hineinbohrt und immer dichtere
Kränze, schärfer geschnittne Arabesken, länger herabwallende Blattgewinde voll
malerischer Lichtwirkung schafft. Das Akanthusblatt an den Kapitellen rollt
sich jetzt immer mehr nach Art von Blumenblättern zusammen oder muß dem
stilisierten Klee weichen. Zum Teil wird das Phantastische jetzt durch religiöse
oder, wie in dem berühmten Huldigungsrelief an der Rücklehne der Kanzel zu
Bitonto, durch profane Darstellungen ersetzt, falls die Annahme Schubrings richtig
ist, der in den früher als Salomo und die Königin von Saba gedeuteten
Figuren den thronenden Kaiser Friedrich den Zweiten und seine Familie sieht.
Wie rasch es die Kunst auf diesem ihr eben erschlossenen Gebiete zur Meister¬
schaft gebracht hat, beweisen außer jenem Relief auch die Patriarchen am linken
Türpfosten des Doms zu Trani und die Darstellungen aus dem Leben Christi
am Tympanon des Bitonter Doms, Schöpfungen von einem so frisch pulsierenden
Leben, wie sie das übrige Italien erst seit den Tagen eines Giovanni Pisano
kennt. Um so mehr muß daher die geringe Zahl rnndplastischer, menschlicher
Figuren überraschen. Es ist dies wohl auch als eine Nachwirkung des byzan¬
tinischen Bilderverbots zu betrachten, wodurch die Künstler die Fähigkeit ver¬
loren, menschliche Gestalten nachzuformen. Vor Kaiser Friedrich dem Zweiten
hat sich die apulische Plastik überhaupt nur ein einzigesmal darin versucht.
Es find dies drei Sklaven, die mit emporgehobnen Händen den heute in der
Sakristei des Doms zu Bari aufbewahrten Bischofstuhl halten. Die Last des
Tragens ist in der halb gebückten Stellung prachtvoll zum Ausdruck gekommen,
wenn ihnen auch andrerseits die allzulanger Arme und der stumpfsinnige
Gesichtsausdruck etwas Affenähnlichcs verleiht. Im übrigen entspricht dieser
Bischvfstuhl genan dem berühmter» im Dom zu Canosa, nur daß hier der
schwere Steinsessel mit der hohen, reich ornamentierten Lehne auf zwei Ele¬
fanten ruht. Überhaupt hat sich die apulische Kunst öfter und länger als
irgendeine andre in der rundplastischen Darstellung von Tieren gefallen. Am
eindringlichsten vielleicht spricht sich diese Vorliebe in den auf Löwen, Stiere,
Widder oder Elefanten gestellten Säulenportalen aus, die ja auch an ober¬
italienischen, deutschen und französischen Kirchen wiederkehren, in der Terra ti
Bari aber geradezu typisch geworden sind, sodaß sie an keiner größern Kathe¬
drale fehlen. Allerdings haben diese Portale eine bemerkenswerte Umbildung
erfahren, indem sie nicht vorhallenartig vor die Fassade treten und deshalb
auch nicht durch ein weit vorspringendes Dach mit dieser erst wieder verbunden
werden müssen. Vielmehr lehnen sich die auf den Tierkörpern ruhenden
Säulen samt ihren Kapitellen meist direkt an die Kirchenwand an, sodaß sie
ohne weiteres den das Portal krönenden Spitzgiebel oder den Rundbogen mit
der reich ornamentierten Archivolte aufnehmen können. Feinsinnig ist dabei
der Charakter des Tragender durch eine zweite Tierfigur auf den Kämpfern
zum Ausdruck gekommen. Aber auch überall da, wo sonst an diesen Bauten
Plastischer Schmuck wiederkehrt, an dem großen Bogenfenster der Apsis, das
sich, eine Eigentümlichkeit normannischer Kirchenbauten Englands, überraschender¬
weise wohl in Apulien, aber nicht in Frankreich findet, an den Radfenstern
der Fassaden, den Gesimsen, Kragsteinen, Kapitellen fehen wir bald freistehende
Affen, bald Kamele, bald Bären. Löwen, Giraffen, Pfauen oder Widder mit
solcher Natürlichkeit angebracht, wie sie eben nur eingehendes Studium und
liebevoller Verkehr mit der Tierwelt schaffen kann. Für den, der des Jtalieners
Verständnislosigkeit, ja Roheit im Umgang mit der Kreatur kennt, bedarf es
darum wohl kaun: eines Hinweises, daß solche Werke nicht seinem Gedanken¬
kreis entsprossen sind. Schwerer dürfte es jedoch sein, zu entscheiden, welcher
Anregung von außen her diese ganze eigenartige Kunstrichtung entstammt.
Zunächst wird mau dabei an die den germanischen Völkern eigentümliche Vor¬
liebe für Darstellungen aus der Tierfabel denken, die überall da, wohin deutscher
Einfluß drang, am meisten jedoch in den einst von Langobarden beherrschten
Teilen Italiens, in der häusigen Wiederholung solcher Szenen an Kirchen-
fassciden hervortritt. Andrerseits mag aber auch die orientalische Kunst mit
ihren Tierdarstellungen bestimmend auf die apulische eingewirkt haben. Denn
nicht umsonst sehen wir zwischen dem Rankenwerk der Tür- und Fenster¬
füllungen, an Kanzeln, Ciboricn, Bischofstühlen, Säulcnkapitellcn jene paarweis
gestellten Greife, Adler, Sperberköpfe oder Hirsche sitzen, die, dem Mythenkreise
persischer Neligionsanschauung entsprossen, schon früh in der Kunst Eingang
gefunden haben. Ebenso gehören die Kampf- und Jagdszenen, die Lanzen¬
stechen, die als fortlaufende Friese die Archivolten so vieler Kirchenportale in
der Terra ti Bari zieren, ursprünglich der orientalischen Kunstweise an. Frag¬
lich bleibt es nur, ob sie direkt von Kreuzfahrern oder auf dem Umweg über
Vyzanz in die abendländische Kunst eingeführt worden sind. Denn das byzan¬
tinische Kunstgewerbe, das sich unter der zielbewußter Herrschaft der Komnenen
zu hoher Vollendung emporgeschwungen und ganz Europa mit seinen Erzeug¬
nissen versorgte, hat sich ja mit Vorliebe solcher aus dem Orient stammender
Motive bedient. Man sehe sich daraufhin nur zum Beispiel die einzelnen
Platten an der berühmten Erztür des Hauptportals vom Dom zu Tram, die
Armbrustschützen, Meerweibchen, Centauren, Bewaffneten und daneben die gleichen
Darstellungen auf byzantinischen Bronzereliefs und Elfenbeinschnitzereien aus
jener Zeit an, und man wird über die Ähnlichkeit beider erstaunen. Der
Schöpfer dieser Türen, Varisano ti Trani, hat vermutlich seine Platten nach
bestimmten byzantinischen Vorlagen ausgeführt, da die gleichen Platten nicht
nur an den vom Künstler später geschaffnen Türen zu Monreale und Ravello,
sondern auch in Deutschland an den etwa ein halbes Jahrhundert vorher unter
byzantinischem Einfluß entstandnen Domtüren zu Augsburg wiederkehren.
Ebenso deutet die Art, wie diese Reliefs ohne bestimmte Reihenfolge auf dem
Holzkern aufgeheftet sind, wie sich einzelne Szenen, selbst biblischen Inhalts,
des öftern auf ein und derselben Tür wiederholen, auf eine durchaus unselb¬
ständige, sich äußerlich an fremde Vorbilder anschließende Arbeit hin. Man
sollte daher aufhören, diesen Künstler, weil er an Stelle der byzantinischen
Nielloarbeit. wie sie die Erztüren zu Amalfi, Salerno, Monte Cassino zeigen,
die Neliefbildnerei setzte, in Apulien als einen Vorläufer des Andrea Pisano
oder Ghiberti zu feiern. In technischer Hinsicht steht er jedenfalls weit hinter
jenem Meister Roger ti Melfi zurück, der im Jahre 1111 am Dom von Canosa
die Erztür für das Grabmal des Normannenfürsten Bohemund, des berühmten
Eroberers von Antiochien im ersten Kreuzzug, angefertigt hat. Denn weder
vor noch nach ihm hat es ein Künstler des Mittelalters gewagt, wie er, einen
ganzen Türflügel mitsamt den daran angebrachten Rosetten in einem Guß her¬
zustellen. Bertaux hat in seinem, Werke I/^re äans 1'ItMg rü^riäionalo
(Paris 1903) Seite 413 auf die Ähnlichkeit dieser Tür mit einer im vier¬
zehnten Jahrhundert entstandnen an der Moschee Olgay-el-Jussufs in Kairo
aufmerksam gemacht. Und einleuchtend erscheint es ja mich, daß sich ein technisch
so hoch entwickeltes Verfahren nur in einem Lande ausbilden konnte, das
damals, neben Mosul und Damaskus, die Kunst der Metallbearbeitung auf
eine solche Stufe der Vollendung gehoben hat. Weist doch auch die Aus-
zierung mit kufischen Inschriften, wie der kleine viereckige Kuppelbau überhaupt,
der besonders in seinen obern Teilen, dem achteckigen Tambour und der flachen
Kuppel darüber, viel eher einem Turbe, der Grabstätte eines türkischen Großen,
als der eines christlichen Fürsten gleicht, ans übermächtige orientalische Einflüsse
hin. Roger, der ja außerdem auch uoch die byzantinische Niellotechnik bei den
figürlichen Darstellungen auf dem rechten Türflügel verwendet, ist deshalb
ebensowenig wie Barisano der Vertreter einer rein apulischen Kunstrichtung
gewesen. Ist doch die apulische Kunst infolge ihrer Bereitwilligkeit, fremde
Elemente der verschiedensten Art in sich aufzunehmen, ohne sie zu selbständigen
Gebilden verarbeiten zu können, überhaupt nie zu einer nationalen im heutigen
Sinne geworden! Nur nach einer Richtung hin trat sie fast als Vorläuferin
der Frührenaissance auf; doch haben diese vielversprechenden Anfänge keine
weitere Entwicklung erfahren und daher auch keinen bestimmenden Einfluß auf
die spätere Kunst Italiens ausgeübt. Es finden sich nämlich zuweilen an den
Gesimsen, Kragsteinen und Süulenkapitellen der Kirchen Köpfe antiken Aus¬
sehens, hier archaistisch und schlecht modelliert, wie an dem Rundbogen der
Kathedrale von Monopoli oder an Kapitellen im Dom von Molfetta, dort
von hoher, klassischer Schönheit, wie am Kranzgesims des Doms zu Ruvo
oder am Ciborium von San Nicola zu Bari. Diese überraschende Erscheinung
ist zum Teil wohl mit Recht auf den übermächtigen Einfluß der so gewaltigen
Persönlichkeit Kaiser Friedrichs des Zweiten zurückgeführt worden, der ja auch
bei seinen Bauten, besonders bei den von ihm selbst entworfnen Schlössern
von Capua und Castel del Monte (vgl. Grenzboten 1906, Ur. 37, S. 564)
trotz der stark vorwaltenden Gotik immer wieder die Rückkehr zur Antike suchte.
Doch dürfte ihm darin auch der von alters her im Volke lebendige Sinn für
klassische Formen entgegengekommen sein. Man sehe sich daraufhin nur bei¬
spielsweise eine der wenigen aus dem Mittelalter erhaltnen Kanzeln in jenem
Landstrich an, und zwar etwa die im elften Jahrhundert entstandne im Dom
zu Canosa. Wie rein ist in dieser schlichten, feinen Marmorarbeit, der schönen
Profilierung der Säulen samt der Brüstungsmauer und der maßvollen Durch¬
führung des Ornaments das antike Schönheitsideal gewahrt geblieben! Auch
die kleinen Engelköpfchen, die mit ihrem verführerischen Aphroditelächeln von
den Kapitellen des Ciboriums von San Nicola heruntergrüßen, gehören, wie
dieses selbst, einer frühern Zeit, dem zwölften Jahrhundert, an. Leider wissen
wir nicht, wer dieses Meisterwerk mittelalterlicher Kunst geschaffen hat, das
vorbildlich nicht nur für die Ciborien in der Terra ti Bari sondern auch in
Dalmatien geworden ist. Erhebt sich doch dort über dem Hochaltar der Dome
zu Trau und Cattciro das gleiche, von vier Säulen getragne, offne Tempelchen
mit dem säulendurchbrochnen, laternenartigen Aufbau, wenn auch in etwas
schlankern Formen. Nur der originelle Kapitellschmuck von San Nicola, jene
reizenden Köpfchen, kehren nicht wieder. Es kann keinem Zweifel unterliegen,
daß ihnen, wie den Köpfen an den Domen zu Ruvo, Molfetta, Monopoli,
ein bestimmtes Modell zugrunde liegt. Und jeder, der heute die Museen zu
Ruvo oder Bari mit ihren Sammlungen griechischer Vasen durchwandert, die
man besonders in der Umgebung von Ruvo schon seit dem zwölften Jahr¬
hundert aus der Erde grub, der wird auf den ersten Blick erkennen, daß jener
Schmuck in seiner klassischen Schönheit dem Studium jener Vasen entstammt,
an denen dieselben lächelnden Nike- und Aphroditeköpfchen so häufig als Henkcl-
zierde auftreten. Und solche Werke sind in Apulien schon zu einer Zeit ent¬
standen, wo das übrige Italien meist noch zwischen der Darstellung des roh
Grotesken und der gedankenlosen Wiederholung altüberlieferter Kunstweisen
schwankte. Die Gotik, die in Italien ja schließlich nichts weiter als eine Vor¬
läuferin der Frührenaissance ist, fand daher, als sie unter Friedrich dem Zweiten
in Apulien ihren Einzug hielt, für ihre frische, auf lebendiger Naturanschauung
beruhende Ornamentik in der höher entwickelten Plastik ein besser vorbereitetes
Feld als irgendwo anders in Italien vor. Leider aber ist sie nicht zur vollen
Entwicklung gekommen, da die apulische Kunst nach Friedrichs Tode und dem
bald darauf erfolgten Untergang seines Geschlechts rasch dem Verfall entgegen¬
ging. Möglich, daß sie noch unter König Manfred, Friedrichs blondem Lieb¬
lingssohn, dem Erben Apuliens, eine Art Nachblüte erfahren hat. Da aber
alles, was dieser während seiner kurzen Regierungszeit, besonders in der von
ihm gegründeten Stadt Mnnfredonia geschaffen hat, entweder der Zerstörung
anheimgefallen ist oder tief verborgen in spätern Umbauten steckt, so können
wir uns von seiner Tätigkeit kein Bild mehr machen. Das aber, was der
finstre Räuber seines sonnigen Königreichs, Karl von Anjou, und dessen Nach-
solger an Bauwerken in Apulien aufgeführt haben, ist im Vergleich zu den
Denkmälern aus der Normannen- und der Hohenstaufenzeit von untergeordneter
Bedeutung i da es meist sklavischen Anschluß an provenzalische Vorbilder verrät.
Mehr aber noch haben die Anjous der apulischen Kunst dadurch die Lebens¬
kraft unterbunden, daß sie alles, was von dem ihnen verhaßten Geschlecht der
Hohenstaufen herrührte, der Vergessenheit, ja der Vernichtung preiszugeben
versuchten. So mußte es kommen, daß eine Kunst, die früher als irgendeine
andre einen so verheißungsvoller Anfang im Sinne der spätern Frührenaissance
nahm, wieder verkümmerte, während sich das übrige Italien auf demselben
Gebiet zu- immer glänzenden! Leistungen emporgeschwungen hat. Erst heute,
nach sechs Jahrhunderten, hat man den Wert dieser fernen Kunstblüte, in
der sich so treu das bunte Leben des Mittelalters mit seinen Völkerver-
schiclttingen und seiner Romantik, seinen Fahrten ins Heilige Land wider¬
spiegelt, in ihrem eigenartigen Werte erkannt.
l an wird Meister Krebs entschuldigen, wenn man erfährt, daß er trotz
des Gebotes seiner lieben Frau am andern Tage, ehe er seine Schritte
zur Villa Seidelbast lenkte, am Weißen Bären nicht vorüber konnte.
Er mußte eintreten, er mußte sich Mut trinken. Und er tat es.
Als er nach geraumer Zeit den Weißen Bären verließ, um zu
l Frau von Seidelbast zu gehn, glänzte sein Gesicht rötlich, seine
Sprache hatte einen jugendlichen Schwung angenommen, und über seinem ganzen
Wesen war eine edle Heiterkeit ausgegossen. Er meldete sich, wurde angenommen
und in das Boudoir der gnädigen Frau eingeführt. >W>
Die gnädige Frau saß in leutseliger Haltung auf ihrem Diwan und war, wie
immer, nicht recht bei der Sache. Auf ein gnädiges Winken nahm der Direktor
sich räuspernd auf einem äußerst gebrechlichen Stuhle ihr gegenüber Platz. Er
räusperte sich abermals, weil er nicht recht wußte, wie anfangen, neigte sein rosiges,
lächelndes Gesicht und schlug mit den Fingern auf dem Deckel seines Zylinderhutes
einen eleganten Triller. Sehr liebenswürdig von Ihnen, gnädige Frau, sagte er,
wirklich äußerst liebenswürdig. Un—ungeheuer liebenswürdig. Sie gestatten wohl,
daß ich meinen Hut auf den Boden setze.
Womit kann ich dienen? fragte Frau von Seidelbast.
Ich komme, erwiderte Krebs, das heißt, ich bin gekommen im Dienste der
Kunst, das will sagen im Dienste des Universums. Denn wieso? Die Kunst ist
die Seele des Universums, und der Künstler ist der Prie —- der Priester im
Heiligtum der Töne. Die Schule und überhaupt das Strafgesetzbuch sind die Er¬
zieher des Menschengeschlechts, aber die höhere Bildung besteht in der Kunst.
Glauben Sie mir, gnädige Frau, die Sittlichkeit in Neusiedel würde höher dastehn,
wenn meine Mittwochskonzerte besser besucht würden, und wenn die Stadt für die
Stadtkapelle eine höhere Subvention gewährte.
Frau von Seidelbast wiederholte ihre Frage: Aber womit kann ich dienen?
Der Direktor nahm seineu Hut vom Boden wieder auf, schlug abermals einen
Triller und sagte: Sehr liebenswürdig, gnädige Frau. Ich wollte fragen, gnädige
Frau, ob das Gerücht auf Wahrheit beruhe, daß die Theatergesellschaft daran denke,
zu der Aufführung des Siegfried die Färschtlichen heranzuziehen.
Färschtlichen?
Ja, die Jxhäuser Kapelle, die allemal bestellt wird, wen» hier etwas besondres
los ist. Aber, gnädige Frau, meine Kapelle ist im Wagner einfach großartig, und
sie würde dasselbe leisten wie die Jxhäuser, wenn ihr hohe Aufgaben gestellt würden,
und wenn ihr das Publikum pekuniär entgegenkäme.
Die gnädige Frau erwiderte, daß man über das Orchester noch keine Be¬
stimmung getroffen habe. Was sie selbst angehe, so habe sie daran gedacht, das
Gewandhausorchester aus Leipzig heranzuziehen.
Aber haben Sie auch daran gedacht, rief Krebs mit dem Tone des Entsetzens,
was das Gewandhausorchester kosten würde, wo der erste Klarinettist einen höhern
Gehalt bezieht als wo anders der Direktor? Gnädige Frau, Sie können viel
Geld sparen. Ich und meine Künstler machen das viel billiger. Gnädige Frau,
ich wende mich an Ihre Einsicht. Sie haben in der Theatergesellschaft die erste
Stelle, und Sie versteh» den Wert einer künstlerischen Leistung zu würdigen. In
die Hand einer Frau wie Sie, gnädige Frau, lege ich getrost meine künstlerische
Reputation. Ich bin gewiß, daß Sie das Rechte treffen werden.
Diese Rede machte Eindruck. Wenn man jemand besondre Einsicht zuschreibt,
macht man immer Eindruck. ^
Ich würde nicht beanspruchen, fuhr Krebs fort, die Leitung zu übernehmen,
obwohl hin! aber meinen Platz am ersten Geigerpulte würde ich beanspruchen.
Und an Honorar für die Kapelle pro Probe hundert Mark und für die Aufführung
dreihundert Mark. -
Diese Forderung kam ihm selber hoch vor, aber Frau von Seidelbast erhob
keinen Widerspruch. Sie wolle die Sache erwägen, sagte sie. Sich die Erklärung,
daß sie das Stadtorchester unter allen Umständen wählen werde, schriftlich geben
zu lassen, was ihm seine Frau eingeschärft hatte, wagte der Direktor denn doch
nicht. Er erhob sich, dienerte, fand die gnädige Frau noch mehrmals äußerst liebens¬
würdig und zog ab.
Als er zu Hause angekommen war, setzte er sich in die bewußte Sofaecke,
nahm den Zylinderhut vom Kopfe und schlug auf seinem Deckel einen kunstvollen
Triller. Die Sache macht sich, Alte, sagte er. So gut wie entschieden.
Hast du es schriftlich? fragte die liebe Frau.
Nein.
Haben Sie dich zum Dirigenten gemacht?
N—nein.
Frau Direktor fügte kein Wort hinzu, sondern wandte sich in stummer Ver¬
achtung ab.
Frau von Seidelbast trug nun wirklich dem Verein usw. den Gedanken vor,
Krebs und die Neusiedler Stadtkapelle zur Aufführung heranzuziehen. Krebs sei
ein gebildeter und einsichtsvoller Mann, der ihr sehr wohl gefallen habe.
Ja, gnädige Frau, fragte Herr Neugebauer, haben Sie denn diese Kapelle
schon einmal gehört?
Frau von Seidelbast war noch nie in den Mittwochskonzerten gewesen.
Kein Gedanke, rief General von Mmpffer, diesen betrnnknen Strolch und seine
jammervolle Rotte zu nehmen — kein Gedanke daran.
Frau von Seidelbast fühlte sich durch die fortwährenden Einwendungen, die
ihr gemacht wurden, gekränkt. Sie hätte am liebsten das Projekt aufgegeben,
aber sie fühlte sich verpflichtet, sie betrachtete es als eine Lebensaufgabe, das Bay-
reuther Vorbild nach Neusiedel zu übertragen und das, was man dort im großen
und aus dem vollen darstelle, im kleinen und nach Maßgabe der vorhandnen
Mittel nachzubilden. Sie dachte abermals an das Gewandhausorchester, schrieb
auch darum Briefe, aber die Sache scheiterte an den unerschwinglichen Kosten, und
das Ende war, daß man die „Färschtlichen", das heißt die Jxhttuser Kapelle mit
angemessener Verstärkung engagierte.
Der Theaterfundus war ja so ziemlich vorhanden. Aber Fafner, der Papp¬
drache, den man leihweise von auswärts hatte kommen lassen —! Frau von
Seidelbast war entsetzt, als er schwankend und auf quietschenden Rädern auf die
Bühne geschoben wurde. Sie fühlte einen körperliche» Schmerz, als sie diese Pro¬
fanierung ihrer höchsten Ideale sah. Sie hätte das Untier am liebsten auf die
Straße geworfen, wenn nur ein Ersatz möglich gewesen wäre. Auch der Feuer¬
zauber, die Schmiede und der Amboß und das Waldwebeu entsprachen keineswegs
dem, was man von einer Musterausführung verlangen durste. Sie wollte das
alles anders haben und sprach so lange auf den alten Baurat, der gepreßt worden
war, bei der Inszenierung zu helfen, los, bis diesem der Geduldsfaden riß, und er
erklärte: Wenn Sie mit nichts zufrieden sind, gnädige Frau, dann machen Sie bitte
Ihre Sache allein — und davonging.
So fiel nun auch dies noch auf die Schultern der Frau von Seidelbast. Sie
seufzte tief auf, sie war in dieser Zeit mehr im Theater und unterwegs als zu
Hause, aber sie setzte mit weiblicher Zähigkeit ihre Ideen durch und überwand alle
Schwierigkeiten, wobei freilich an die Kosten nicht gedacht werden konnte. Mein
Gott, man befand sich doch sozusagen im Kriegszustande, und da wird anch nicht
gefragt, was jeder Schuß kostet.
Währenddessen hielt Meister Krebs an seinem Stammtische im Weißen Bären
flammende Reden über schändlichen Wortbruch und Verkennung des wahren Ver¬
dienstes und prophezeite dem Siegfriednnternehmen ein glänzendes Fiasko. Denn
anders könne es nicht kommen bei einer Aufführung, zu der alles, auch das Or¬
chester, zusammengepumpt sei, und bei der eine so alberne Person wie Wahnfriedchen
das Zepter führe. Und um zu zeigen, was das Stadtorchester leiste, veranstaltete
er einen Mittwoch-Wagner-Abend, an dem der Einzug der Gäste in die Wartburg,
der liebe Abendstern und andre schöne „Piecen" zu Gehör gebracht wurden und
Münchner Bier das Glas zwanzig Pfennige kostete.
Und der Direktor, der den Proben der Siegfriedaufführung im Dunkel seiner
Direktionsloge beiwohnte, machte die Miene des triumphierenden Bösewichts, wenn
es nicht klappen wollte, und die Leute auf der Bühne mit den Köpfen zusammen¬
stießen. Und mißgünstige Seelen, Menschen ohne Schwung und Ideal brachten
ihre Zweifel und Bedenken ins Tageblatt, worauf der Herr General mit Schärfe
und Verachtung antwortete. Als aber das Tageblatt die Erwiderung nicht auf¬
nehmen wollte, entstand zwischen der Gesellschaft zur Pflege usw. und der Redaktion
des Tageblattes ein Zerwürfnis, das sich beinahe zu einem Zerwürfnisse innerhalb
der Gesellschaft ausgewachsen hätte. Der Herr General wollte nichts davon wissen,
daß einem Menschen wie diesem Tageblattbesitzer ein Freibillett gegeben werde, und
nur mit Mühe setzte ganz zuletzt der Baurat das Freibillett durch. Das Tageblatt
aber lehnte es, in seiner journalistischen Ehre gekränkt, ab, von der Siegfrted-
aufführung Notiz zu nehmen, und so wären der Gesellschaft zur Pflege usw. die
Beziehungen zur Presse beinahe verloren gegangen.
Aber während sich das Tageblatt nach dem Urteil der Gesellschaft in einer
Weise benahm, für die der Ausdruck fehlte, kamen sich der Kreiskorrespondent und
Frau von Seidelbast auf halbem Wege entgegen. Lappensnider hatte weltschmerzliche
Gedanken. Denn einerseits empfand er die Zumutung, in der Druckerei helfen zu
sollen, als Entwürdigung. Andrerseits hatte er Hunger, von dem Zustande seiner
Garderobe ganz zu schweigen. Denn der Gehalt, den er vom Kreiskorrespondenten
bezog, war allerdings zu wenig zum leben und zu viel zum sterben. Da trat der
Besitzer dieses Kreiskorrespondenten, Herr Männelmann, in den Arbeitsraum, die
neueste Nummer des Tageblattes in der Hand haltend, und sagte: Lappensnider,
Sie werden einen Aufsatz über — er blickte in das Tageblatt — über die Sieg-
friedtrilogie schreiben.
Lappensnider blickte verdrossen von seiner Arbeit auf.
Aber kein Geschmuse, bitt'es mir aus, fuhr Männelmann fort, sondern was
Ordentliches. Tatsachen, und elegant und scharf. Und dem Tageblatt was auf
die Pfoten gegeben. Bitt'es mir aus. Wofür zahle ich Ihnen denn das un¬
menschliche Geld.
Lappensnider antwortete immer noch nicht, sondern begnügte sich damit, seinem
Chef und Tyrannen einen feindseligen Blick zuzuwerfen. Männelmann ging, und
der Weltschmerz Lappensniders steigerte sich. Denn einesteils war er über die
Behandlung, die er sich von diesem Menschen gefallen lassen mußte, empört, und
andernteils mußte er sich sagen, daß er von der „Siegsriedtrilogie" keine Spur
einer Ahnung hatte.
Da brachte der Lausbursche unter andern geschäftlichen Sachen ein rosafarbnes
Briefchen, das er behutsam mit seinen von Druckerschwärze gefärbten Fingern öffnete.
Frau von Seidelbast, von Herrn Dombibliothekar Mückeberg auf Lappensnider als
auf einen hervorragenden Vertreter der Presse aufmerksam gemacht, bat zu dann
und dann um eine Unterredung. Großartig. Lappensnider übersah die Lage mit
einem Blicke. Frau von Seidelbast wollte die Presse beeinflussen. Warum uicht?
Die Presse ist ja dazu da, sich beeinflussen zu lassen. Er war natürlich bereit,
hinzugehn und sich Instruktionen über die Siegsriedtrilogie zu holen. Aber seine
Kleidung war nicht gesellschaftsfähig. Lappensnider wusch sich die Hände und begab
sich in das Kondor zu Herrn Männelmann. Dort warf er den Brief wie eine
Sache, die kaum des Erwähnens wert ist, ans den Tisch. Lesen Sie, sagte er mit
einer eleganten Handbewegung. Sie werden finden, daß das Feuilleton des Kreis¬
korrespondenten Aufsehen erregt. Sie werden finden, daß dieses Feuilleton den
Kreiskorrespondenten auf eine bisher noch nicht innegehabte Höhe erhebt. Man
zieht in der höchsten Gesellschaft der Stadt den Redakteur dieses Feuilletons in seine
Kreise. Aber dies hat zu Folge, daß man repräsentationsfähig auftreten muß. Man
muß seine Garderobe der höhern Stellung nnpassen. Ich bitte um fünfundzwanzig
Mark Vorschuß.
Was? schrie Männelmann so entsetzt, als wenn man ihm zugemutet hätte, sich
auf eine Dynamitpatrone zu setzen und sich in die Luft zu schießen. Vorschuß?
Herr, sie sind verrückt?
Er gab auch wirklich keinen Vorschuß, borgte aber einiges von seiner eignen
Garderobe, um seinem Redakteur die Möglichkeit zu geben, das Blatt würdig zu
vertreten. Und so zog Lappensnider in etwas gemischter Tracht, aber wohl ge¬
waschen und leidlich gesellschaftsfähig zu Frau von Seidelbast. Bald darauf saß
er auf demselben Stühlchen, auf dem Krebs gesessen hatte, der gnädigen Frau
gegenüber.
Die gnädige Frau hatte Migräne. Aber die Pflicht forderte es, die heilige
Sache verlangte es gebieterisch, daß sie ihre Person opfere. Sie gab also in vor¬
nehmer und gedankenvoller Haltung dem Herrn von der Presse Audienz und sagte
seufzend: Ich habe Sie gebeten, zu mir zu kommen, um zu überlegen, in welcher
Weise wir das deutsche Volk für die Aufgabe interessieren können, durch ihn, den
großen Meister erzogen zu werden. Wir beabsichtigen in Neusiedel Bayreuther
Tage zu veranstalten und durch dieselben das Verständnis Wagners zu erschließen.
Verstehen Sie wohl, mein Herr, man lernt Wagner nicht kennen durch Darstellungen
minderwertiger Art, sondern nur durch solche, die den Absichten des Meisters voll
gerecht werden. Kennen Sie Siegfried?
Natürlich, gnädige Frau, erwiderte Lappensnider, „Jung-Siegfried war ein
stolzer Knab, sah auf die Schlösser all herab".
Sie haben recht, sagte Frau von Seidelbast wehleidig. Er ist der jugend¬
liche Held, der Traum der freudig schaffenden Natur. Er ist die Idee selbst in
der naiven Entfaltung ihrer Unbewußtheit.
Lappensnider machte eine philosophische Miene, die sein tiefes Verständnis an¬
deuten sollte, und Frau von Seidelbast fuhr fort: Zu diesem Verständnisse muß
das Volk vorbereitet werden, und das ist die Sache der Presse, das ist Ihre Sache,
mein Herr.
Aber ganz gewiß, rief Lappensnider. Und es soll mir eine Ehre sein, als
Herold dieser siegfriedlichen Idee in die Schranken zu treten. Gnädige Frau, ich
bin ein freier Künstler. Ich betrachte es als meine Künstlerpflicht, unbeeinflußt
von Strömungen und Parteien und nur der Stimme des eignen Gewissens ge¬
horchend, meines Amtes zu warten. Aber das schließt nicht den Wunsch aus, zu
erfahren, in welcher Weise Sie die Veröffentlichung Ihrer Absichten wünschen.
Aber mein Gott, sagte die gnädige Frau, das ist doch Ihre Sache.
Ganz recht, meinte Lappensnider, die Presse wird aus sich heraus für alles
Gute, Edle und Schöne eintreten. Aber das Matertal, die Unterlagen — dieser
Siegfried also — er ist, wie Sie sagten, die Verkörperung der Idee in der naiven
Entfaltung ihrer Unbewußtheit.
O, Sie sollten es sehen, rief Frau von Seidelbast, ihrer Migräne nicht
achtend, wie Alfred Nohrschach diese Lichtgestalt verkörpert. Dieser Adel, diese
jugendliche Kraft, wenn er sein Schwert schmiedet und den Drachen erschlägt, diese
Prophetengestalt, wenn er mit kundigem Ohr die Urtöne des Weltgrundes ver¬
nimmt.
Dieser Siegfried also — aber es war mit aller Reporterzähigkeit nicht möglich,
aus der gnädigen Frau herauszuholen, was er zu seinem Siegfriedartikel, der nicht
Geschmuse, sondern Tatsächliches enthalten sollte, brauchte. Die gnädige Fran
kam aus ihre Jugend zu sprechen, auf Wahnfried, ans ihre Empfindungen beim
Tode des großen Meisters und auf ihre Aufgabe, ihrem Meister, Richard Wagner,
dem Erzieher, durch Bayreuther Tage ein Denkmal zu setzen.
Lappensnider hatte seine Brieftasche herausgezogen und notierte. Zugleich
sah er sich in der Stube um, und da lag ein Buch, das einen Goldtttel trug, von
dem er das Wort Trilogie lesen konnte. Das wars, was er brauchen konnte.
Als er nach gemessener Zeit die Villa Seidelbast verließ, trug er besagtes Buch
unter dem Arme und dazu auch ein Honorar in der Tasche, das ihn ganz besonders
erfreute, weil es ihn in den Stand setzte, etwas für seinen äußern Menschen zu
tun. Nur erst einen anständigen Rock auf den Knochen, sagte er zu sich mit innerer
Befriedigung, und das andre macht sich schon.
Nach einigen Tagen begann im Kreiskorrespondenten eine Reihe von Auf¬
sätzen aus „sachverständiger Feder", wie die Redaktion hinzusetzte, über ZVagner,
Wagnersche Kunst im allgemeinen, Siegfried im besondern und die Bayreuther
Tage im ganz besondern. Der Stil war glänzend, die Gedanken waren tief und
Philosophisch. In vorwurfsvollem Tone wurde der Bürgerschaft vorgehalten, daß
man viel zu wenig von Wagner wisse, der bekanntlich der Präzeptor Germania
sei. Dagegen wurde die Erwartung ausgesprochen, man werde diesem Mangel ab¬
helfen, da dazu jetzt Gelegenheit gegeben werde. Und wenn sich nun eine edle Dame
an die Spitze derer stelle, die Neusiedel in den Kreis der Kunststätte einführen
wollen, so fordre es die Selbstachtung, nicht zurückzustehn, sondern in Gestalt von
einem oder mehrern Theaterbilletts ganz und voll für die gute Sache einzutreten.
Hierauf folgte eine musikgeschichtlich-ästhetische Erörterung, die jedenfalls dem be¬
wußten Buche entnommen war.
Als bereits der dritte Artikel über diesen Gegenstand erschienen war — Lappen¬
snider hatte inzwischen abermals und mit pekuniären Erfolge mit Frau von
Seidelbast konferiert —, sagte der alte Brömmel, das Faktotum in dem Geschäfte
des Besitzers des Tageblattes, zu diesem: Herr Spvhnnagel, mir missen, holf
der Deibel, was über Siegfrieden bringen. Der Korrespondent macht uns ja
reene alle.
Der Besitzer des Tageblattes wollte nichts davon hören, denn seine journa¬
listische Ehre war durch die Nichtgewährung eines Frcibilletts empfindlich gekränkt.
Es war ja unangenehm, daß der Korrespondent aus der Differenz mit dem Theater¬
verein Nutzen zog —
Aischerst fatal Is es Sie, sagte der alte Brömmel. Im Birgergasino danses
Dageblatt gar nich sahn wolln.
Herr Spvhnnagel raufte sich seine Haare und wußte nicht, was tun. Aber
da war ja ein Eingesandt aus dem Leserkreise. Man konnte das „Eingesandt"
wegstreichen und eine redaktionelle Bemerkung anknüpfen. Das verpflichtete zu gar
nichts und hatte dieselbe Wirkung wie ein redaktioneller Hinweis. Dafür entschied
man sich.
Diesem doppelten Ansturm konnte das werte Neusiedler Publikum nicht stand¬
halten. Es ließ sich belehren, antreiben, begeistern, und am Tage der Aufführung
war das Theater bis auf deu letzten Platz besetzt. Der Bayreuther Tag, den man
dadurch markierte, daß man ein paar Kränze an die Galeriebrüstung hängte und
die Büste Wagners im Foyer neben die Rumpelmanns stellte, verlief glänzend.
Die Sänger waren großartig. Sie sangen, bis sie überhaupt nicht mehr konnten.
Und das Orchester übertraf sich selbst. In der Tat hatten die Künstler Wunder
der Ausdauer und musikalischen Sicherheit getan und in zwei Proben das Drama
auf die Beine gebracht. Und der Musikdirigent hatte unmenschliches geleistet. Er
hatte die Arme fast aus deu Schultergelenken herausgeschleudert und den Kopf
fast abgeknickt. Ein Wunder, daß sich sein Chemisett nicht in seine Bestandteile
aufgelöst hatte. Und wenn die Freunde des Unternehmens auch hier und da die Augen
zukneifen mußten wie der Maler, wenn er über gewisse störende Details seines
Bildes hinwegsehen will, einer konnte es vertragen, mit vollem Auge gesehen und
mit vollem Ohr gehört zu werden — Er! Alfred Rohrschach! Großartig!
Himmlisch!
Eine ganz besondre Wirkung übte aber die Aufführung auf das Seidelbastsche
Haus aus. Daß der Herr Geheimrat hinfällig und schwach war, kam hierbei
weniger in Betracht. Es war ja der gnädigen Frau schwer, zu ihren häus¬
lichen Sorgen auch die öffentliche Last der Bewirtung und Verherrlichung Alfred
Rohrschachs auf sich zu nehmen. Mein Gott, aber vor den großen Sorgen um
die Ideale der Menschheit, vor den großen Pflichten um die Erziehung des
Menschengeschlechtes müssen die kleinen häuslichen Sorgen und Pflichten zurück¬
stehen — nicht wahr? Und der alte Herr, der sehr schwer hörte, hätte doch nichts
davon gehabt, auch wenn er gesund gewesen wäre. Man hatte gehofft, den großen
Künstler eine Woche beherbergen zu können, und der Name Rohrschach beherrschte
das ganze Haus vom Dach bis zum Keller. Sekt. Natürlich Sekt. Ein Rohr¬
schach trinkt nur Sekt. Kaviar — fast nicht zu bezahlen, aber er mußte auch an¬
geschafft werden. Und ein neues Waschbecken und neue Handtücher. Und ein
Frottiertuch. Und eine hermetische Absperrung des Schlafzimmers gegen alle Ge¬
räusche. Schließlich kam Alfred Rohrschach nur zwei Tage und logierte im Hotel.
Nicht ohne Mühe hatte es Frau von Seidelbast erreicht, daß ihr der Künstler am
Tage nach der Aufführung ein paar Stunden schenkte. Aber diese Stunden sollten
auch voll ausgenützt werden. Ein Festessen, zu dem die Freunde eingeladen wurden,
sollte die Krone bilden.
Kinder, sagte Hunding, doch so, daß es Mama nicht hören könnte, macht euch
doch mit euerm Heldentenor nicht lächerlich. Für Tote Traueroden singen ist nicht
erquicklich, aber mit so einem Heldentcnor bei lebendigem Leibe Götzendienst treiben,
Kinder, das ist mindestens geschmacklos.
Wer treibt Götzendienst? fragte Hilda. Ich doch nicht.
Na! na! erwiderte Hunding. Und von Musik, und von Wagnerscher Musik
versteht ihr alle nichts, Mama am allerwenigsten.
Hunding, sagte Hilda lachend, du bist ein Kamel, aber kein geniales.
Hilda hatte den Verdacht, daß sie Götzendienst treibe, lachend abgewiesen; aber
auch ihr sollte ihre Stunde schlagen. Als sich am Abend der Vorstellung der Vor¬
hang der Bühne schloß, saß sie mit brennenden Wangen und geistesabwesend in
ihrer Loge wie einer, der eine Erscheinung aus einer überirdischen Welt gehabt
hat. Und das war auch der Fall gewesen. Siegfried! Dieser Siegfried! Diese
blühende, jugendliche Schönheit, dieses Schreiten und Tun, dieser Klang, diese
Stimme, frei und schmetternd wie der Vogel singt! Huso! dabei! Schmiede, mein
Hammer, ein hartes Schwert. Hoho! dabei! Freilich war er - hin — mit
einem Wolfsfelle etwas dürftig bekleidet. Aber wenn das damals so Mode war,
durfte man ihm doch keine Eskcirpins anziehn. — Ach, es war unsäglich schön ge¬
wesen. Hilda war zumute, als wenn sie die Welt bisher durch einen Schleier
gesehen hätte, und als wenn dieser Schleier nun gefallen wäre. Ja das war Kunst,
das war ein Künstler, das war der Halbgott, von dem sie geträumt hatte.
Siehst du, Hilda, sagte Hunding, der wohl merkte, was in der Seele seiner
Schwester vorging, jetzt bist du auch meschugge.
Hilda, in ihren heiligsten Gefühlen verletzt, lachte nicht wie am Tage vorher,
sondern wandte sich schweigend und mit Tränen in den Augen ab.
Da, wie wir wissen, das Festessen erst am Tage nach der Aufführung stattfand,
und die andern Künstler inzwischen abgereist waren, war es glücklicherweise nicht nötig
gewesen, sie einzuladen. Man war also im engsten Kreise, und des Kreises Mittel-
Punkt war er, Alfred Rohrschach. Das ganze Haus war hell erleuchtet und in
Bewegung. In der Küche waltete die Kochfrau, umgeben von so viel helfenden
Personen, daß man sich kaum umdrehen konnte. Im Speisesaale baute ein Tafel-
decker auf, was das Haus an Kostbarkeiten hatte, Fräulein Binz schaute in alle
Ecken, ob auch alles in Ordnung sei, und Frau von Seidelbast saß auf ihrem
Sofa hinter dem runden Tisch. Sie hatte in Erfahrung gebracht, daß Alfred
Rohrschach den Sekt der Marke Goldberg bevorzuge, und es Fraulein Binz auf
die Seele gebunden, daß „Er" nichts andres zu trinken bekomme als Goldberg.
Die Getreuen, die man eine halbe Stunde früher geladen hatte, als die An¬
kunft Rohrschachs zu erwarten war, waren alle da. Auch Onkel Philipp. Onkel
Philipp und die beiden Söhne des Hauses saßen in besagter Tonne und beobachteten
von da aus die Gesellschaft. Hilda, die sich besonders sorgfältig gekleidet hatte und
reizend aussah, hielt sich fern.
Endlich nach langem Warten, und nachdem von draußen verheißungsvolle
Geräusche erklungen waren, tat sich die Tür auf, und da war er, der gottbegnadete
Künstler. Hilda griff unwillkürlich nach einer Stuhllehne. „Er" küßte der gnädigen
Frau die Hand und verbeugte sich wie vom Podium aus nach allen Seiten. Dann
folgte die Vorstellung, und dann nötigte man ihn mit einer Dringlichkeit zu Stuhle,
als wenn er sich von einer unerhörten Anstrengung erholen müsse. Darauf wurde
sein Stuhl von den Allergetreusten belagert. Rechts saß Frau von Seidelbast, links
Frau Generalin von Kämpsfer, Exzellenz, und hinten stand Fräulein Binz mit einer
Flasche Goldberg und Johann mit Gläsern. Und von allen Seiten feierte man den
Sänger des Siegfried. Und der Sänger ließ sich feiern und entwickelte eine große,
ungeheuer große Liebenswürdigkeit.
Hilda betrachtete aus der Ferne ihren Halbgott. Eigentlich glich er heute weniger
einem Halbgott als gestern. Er trug sehr moderne Kleider, von denen man nicht
behaupten kann, daß sie auf Götter zugeschnitten seien, eine Weste, die eigentlich nur
Ausschnitt war, einen Kragen, der noch höher war als der Onkel Philipps, und
sogar einen Kneifer drückte er sich auf die Nase. Er sah lange nicht so jung und rosig
aus wie gestern, sondern, offen gestanden, etwas gelb und faltig. Aber wenn auch,
der Halbgott war er doch. Zog nicht auch Wodan, der Wandrer, von Hut und
Mantel verhüllt, durch die Welt und blieb doch ein Gott? So blieb auch er der
Halbgott, wenn er auch, sich selbst verhüllend, Gesellschaftsanzug trug. Und die Stimme
war ja dieselbe. Die tönende Stimme, die von Herzen kommt und Herzen gewinnt:
hoso! dabei! Und wie lieb er war, wie freundlich gegen jedermann, und wie geduldig
er die Huldigungen, mit denen man ihn überschüttete, anhörte! Ach, wie gern wäre
sie zu ihm geeilt und hätte ihm zugerufen: Du, du bist es, der mir das lichte Tor
der Kunst geöffnet hat, jetzt weiß ich, was Kunst ist.
(Fortsetzung folgt)
Der Besuch König Eduards in Berlin steht unmittelbar bevor. Wenn diese
Zeilen in die Hand der Leser kommen, wird der König schon wieder an die
Heimkehr denken. Es sind schon viele Betrachtungen an dieses Ereignis geknüpft
worden, sodaß es kaum möglich ist, dem aufmerksamen Beobachter des täglichen
Geschehens darüber noch etwas neues zu sagen. Nur das muß, wenn einmal davon
die Rede ist, auch hier festgestellt werden, daß dieser Besuch in ganz Deutschland
mit Genugtuung aufgenommen wird. Denn es gibt bei uns wohl nur wenige,
ganz vereinzelte Kreise, die nicht den Wunsch hegen, daß sich die Beziehungen
zwischen Deutschland und Großbritannien friedlich und freundlich gestalten mögen.
Wenn es Zeiten gegeben hat, in denen die Gefühle des deutschen Volks für die
verwandte Nation jenseits des Kanals weniger freundlich zu sein schienen, so ist
das nach unsrer deutschen Auffassung immer der Ausdruck einer Enttäuschung
gewesen, daß unser Bestreben, unsre berechtigten Interessen durchaus auf friedlichem
Wege und unter loyaler Achtung fremder Rechte zu verfolgen, drüben nur Mi߬
trauen und Neid erweckt hat. Selbstverständlich widersteht es der berechtigten
Selbstachtung eines großen Volks, einem andern Freundlichkeiten zu erweisen, wenn
diese den Charakter eines unerwiderten Liebeswerbens annehmen müssen, und
ebensowenig ist es unter solchen Umständen zu verwundern, wenn leidenschaftliche
Gemüter bei dieser Zurückhaltung nicht stehn bleiben und nach dem Grundsatz, daß
die beste Parade der Hieb ist, und daß man auf einen Schelmen anderthalbe setzen
soll, auch ihrerseits den gehässigen Angriffen eines großen Teils der englischen
Presse nichts schuldig bleiben wollen. Aber der von Zeit zu Zeit auch bei uns
aufflammende Zorn über die englische Politik und der nebenhergehende, nie ganz
einschläferte Ärger über den erwähnten Teil der englischen Presse ändert doch nichts
an der grundlegenden Wahrheit, daß wir keine Feindseligkeiten gegen England hegen
und uns freuen, wenn wir irgendein Zeugnis dafür erhalten, daß auch in England
der Wert eines friedlichen und freundlichen Verhältnisses zwischen den beiden Nationen
voll erkannt wird. Der offizielle Staatsbesuch des Königs von Großbritannien in
der Hauptstadt des Deutschen Reichs ist ein besonders bedeutungsvolles Zeugnis
dieser Art und wird von uns als solches gewürdigt, wenn wir auch keineswegs
glauben, daß nun mit einem Schlage alle Kräfte, die einem guten Verhältnis zwischen
Deutschland und England entgegenarbeiten, außer Tätigkeit gesetzt werden.
Wir haben uns ja in diesen Betrachtungen mehrfach darüber ausgesprochen
und glauben daher als bekannt voraussetzen zu dürfen, daß wir Ursachen und Ge¬
wicht der in England gegen Deutschland gehegten Vorurteile etwas anders be¬
urteilen als die volkstümliche Meinung bei uns. Wir haben immer darauf hin¬
gewiesen, daß für die englische Weltpvlitik die Frage, wie Großbritannien zu
Deutschland steht, nicht die erste Stelle einnimmt. Selbst wenn wir für unsre
überseeischen Interessen den weitesten Umfang annehmen, werden wir niemals daraus
einen Grund konstruieren können, die englische Weltstellung zu bedrohen. Wohl
aber kann dies von andern Mächten geschehen. Früher, als sich die Interessen
der sogenannten „hohen" Politik auf Europa beschränkten, konnte England diese
Bedrohung dadurch von sich abwenden, daß es sich für seine Herrschaft auf den
Weltmeeren die Hände frei hielt und in Europa die überlieferten politischen Inter¬
essengegensätze der Mächte und ihre gegenseitige Eisersucht nicht einschlafen ließ-
Als die weltwirtschaftlichen Beziehungen immer größern Einfluß auf die politischen
Verhältnisse gewannen und die Interessen der europäischen Mächte über Europa
hinauswuchsen, als dann die Vereinigten Staaten von Amerika anfingen, Welt-
Politik zu treiben und Japan sich zur Großmacht emporschwang, wurde die alte
englische Politik einfach unmöglich. Der leitende Gedanke für die neue europäisch:
Politik Englands mußte — um Ägyptens und des Weges nach Indien willen —
eine beherrschende Stellung im Mittelmeer werden; für die neue asiatische Politik
konnte — nach der Umgestaltung der Machtverhältnisse im Stillen Ozean — das
alte Dogma von der natürlichen Gegnerschaft und Nebenbuhlerschaft Rußlands
und Englands nicht mehr maßgebend sein. Vergegenwärtigt man sich diese beiden
Grundgedanken, so bedeutet das einmal die möglichst weitgehende Annäherung an
Frankreich und demnächst auch an Spanien sowie die Beeinflussung Italiens, mehr
auf seine Mittelmeerstellung als auf die Anlehnung an die kontinentalen Militär¬
mächte bedacht zu sein; weiter aber die Verständigung mit Rußland und die
Wiedergewinnung des frühern Einflusses im nahen Orient. Diese einfachen Er¬
wägungen geben den Schlüssel zur auswärtigen Politik Englands, ohne daß die
Frage der deutsch-englischen Beziehungen auch nur aufgeworfen zu werden braucht.
Daraus folgt aber für uns, daß die tatsächliche Gruppierung der Mächte in ab¬
sehbarer Zeit schwerlich geändert werden wird, auch wenn sowohl in Berlin als
auch in London der Wunsch nach gegenseitigen freundschaftlichen Beziehungen noch
viel lebhafter werden sollte. Und solange diese Gruppierung fortdauert, wird auch
der Keim des Mißtrauens und der Spannungen niemals ganz ausgerottet sein.
Denn ganz von selbst enthalten diese Verhältnisse eine Spitze gegen Deutsch¬
land. Das liegt ja zu einem Teil in der Einbildung, wenn man es so nennen
will, oder — genauer ausgedrückt — in den Eindrücken, die durch den Abschluß
von Bündnissen oder Verständigungen oder auch durch den Austausch augenfälliger
Freundschaftsbezeugungen zwischen England und den Staaten um Deutschland
herum, nur nicht Deutschland selber, notwendig erzeugt werden mußten. Man
kann nicht von einem großen Volke verlangen, daß es sich in seiner Gesamtheit
in den Gedankengang und in die Bedürfnisse fremder Politik versetzt. Es urteilt
nach dem, was es sieht, und was das deutsche Volk hier sah, das ließ nicht gerade
freundliche Absichten Englands gegen Deutschland vermuten. Und die englische
Politik mußte sich bewußt sein, daß dieser Eindruck in Deutschland unvermeidlich
war; sie hatte es in der Hand, irgendeinen Schritt zu tun, der in Deutschland
beruhigend wirken konnte, ohne daß sie ihren Weg zu verlassen brauchte. Ein
solcher Schritt aber unterblieb, und damit gewann die Lage auch in den Augen
ruhiger Beobachter einen ernstern Anstrich. Dazu kam ein weiterer Grund, der
der englischen Politik eine gewisse Spitze gegen Deutschland gab. England konnte
nicht erwarten, daß ihm Frankreich und Nußland in die Arme sinken würden auf
die bloße Versicherung hin, daß England dieses Einverständnis zur Aufrecht¬
erhaltung seiner Weltstellung nötig habe. Sollte der Zweck erreicht werden, so
mußte ein andrer Grund vorgeschoben werden, der den andern Mächten das
Zusammengehn mit England als wünschenswert erscheinen lassen mußte. Es
bedarf keiner besondern Erläuterung, daß dieser Grund gegeben war durch
die die französische und russische Politik beherrschende Vorstellung von dem be¬
drohlichen und deshalb in Schach zu haltenden militärischen Übergewicht der
beiden europäischen Zentralmächte, Deutschland und Österreich-Ungarn. Nur auf
diesem Wege war Frankreich und mittelbar auch Rußland für die Interessen der
englischen Politik zu gewinnen, und indem England das Schwergewicht des fran¬
zösisch-russischen Zweibundes gegenüber dem Dreibund verstärkte und dadurch zu¬
gleich die Möglichkeit eines stärkern Drucks im Mittelmeer herstellte, lockerte es die
Beziehungen Italiens zum Dreibund in dem Sinne, daß sich Italien zwar nicht
vom Dreibund lossagte — in diese Falle geht es natürlich nicht —^ aber doch
mehr der Vorstellung Raum gab, daß es zwischen den beiden Bündnisgruppen
das Zünglein an der Wage werden könne. Auch diese Stellung Italiens erscheint
nach außen hin als ein reiner Vorteil der englischen Politik und als ein Nachteil
des Deutschen Reiches. Endlich erhielt England durch diese Politik wieder freie
Hand im nahen Orient, und es erschien auch hier als der Gegenspieler Deutsch¬
lands. So ist das zustande gekommen, was man bei uns die Politik der „Ein¬
kreisung" Deutschlands genannt hat. Diese Politik war ursprünglich nicht so ge¬
dacht, sie mußte aber so wirken und empfunden werden. Das um so mehr, als
die englische Regierung zur Begründung ihrer auswärtigen Politik auch die innern
Verhältnisse und die öffentliche Meinung berücksichtigen muß. Auch diese Rück¬
sichten, auf deren Charakteristik wir hier nicht im einzelnen eingehn können,
wirkten in der gleichen Richtung, daß die britischen Staatsmänner den Anschein einer
deutschfeindlichen Politik nicht zu scheuen brauchten, im Gegenteil darin ein Hilfs¬
mittel für gewisse innerpolitische Zwecke und eine Steigerung ihrer Volkstümlichkeit
erblicken mußten. Aber aus diesem allerdings weite Kreise des englischen Volkes
beherrschenden und durch die Presse künstlich aufgestachelter Mißtrauen gegen Deutsch¬
land und die Deutschen auf kriegerische, direkt feindselige Absichten der Mehrheit
des englischen Volkes schließen zu wollen, halten wir gleichwohl für falsch.
Man wird vielleicht hiergegen einwenden, daß die leitenden Staatsmänner
des britischen Reichs unter solchen Umständen doch wohl einen andern, für den
Weltfrieden weniger gefährlichen Weg zu ihrem Ziele hätten finden können. Nun,
einen andern Weg gab es allerdings, und er ist tatsächlich zu betreten versucht
worden. Joseph Chamberlain wünschte im Jahre 1899 die britische Machtstellung
nicht durch ein Einverständnis mit Frankreich, sondern durch ein Bündnis mit
Deutschland und womöglich mit Amerika zu sichern. Als sich damals dieser Plan
zerschlug, kam Chamberlain nach der Thronbesteigung König Eduards noch einmal
darauf zurück. Im Berliner Tageblatt wird jetzt erzählt, der Vorschlag sei an
einer Nebensächlichkeit gescheitert, und das wird lebhaft bedauert und als ein Fehler
der deutschen Politik bezeichnet. Man kann darüber verschiedner Meinung sein.
Es darf nämlich nicht vergessen werden, daß der Zweck Englands bei diesen Vor¬
schlägen nicht war, irgendeinen beliebigen Bundesgenossen zu finden, der die schöne
Dame Britannia aus ihrer sxlsnäiZ isolation befreite, sondern daß der leitende
Gedanke schon damals derselbe war wie jetzt; es handelte sich in erster Linie darum,
unbequeme Einflüsse im Mittelmeer auszuschalten. Ob man dies dadurch erreichte,
daß man Frankreich als Freund an seine Seite lockte, oder dadurch, daß die größte
Landmacht und die größte Seemacht, als Bundesgenossen vereint, Frankreich in
nicht mißzuverstehender Weise umklammert hielten, das kam auf dasselbe hinaus.
Dem ehrgeizigen, nach Taten drängenden Chamberlain mußte diese zweite Mög¬
lichkeit wohl näherliegen, da sie ein umfassenderes, stolzeres Programm in sich
schloß und der Volksstimmung besser entsprach, die damals gegen Frankreich viel
mehr als gegen Deutschland erbittert war. Aber wir durften uns durch diesen
Vorschlag nicht blenden lassen. Die Zwecke, die dadurch erreicht werden konnten,
lagen nur in englischem, nicht in unserm Interesse. Wenn die Triple-Entente
zwischen England, Frankreich und Rußland heute als eine Kriegsdrohung erscheint,
so wissen wir zugleich, daß diese Mächte uns in ihrem eignen Interesse niemals
angreifen werden, solange wir ruhig und fest bleiben und unser gutes Schwert
scharf geschliffen erhalten. England erreicht das, was es dabei braucht und will,
viel besser durch die bloße Existenz seiner Bündnisse und Freundschaften als durch
die Erprobung dieser Freundschaft in kriegerischen Abenteuern gegen Deutschland.
Im Bunde mit Deutschland dagegen würde England wahrscheinlich längst der Ver¬
suchung erlegen sein, zur Wahrung seiner Interessen einen kriegerischen Konflikt
herbeizuführen. Von unserm Standpunkt aus gesehen, würde das bedeuten, daß
wir einen Krieg für englische Interessen zu führen gehabt hätten. Dieser Politik
müssen wir allerdings das sogenannte „Eingekreistwerden" vorziehn, es sei denn,
daß die einkreisenden Mächte eine wirkliche geschlossene Interessengemeinschaft mit
dem Ziele, Deutschland gemeinsam anzugreifen, darstellen, wovon vorläufig gar
nicht die Rede sein kann.
Wenn wir also die Grundlagen der englisch-deutschen Beziehungen ohne
Illusionen und Schönfärberei, aber auch ohne Schwarzseherei betrachten, so ergibt
sich, daß wir schwerlich eine Änderung in der Gruppierung der Mächte und in
der allgemeinen Richtung ihrer Politik erwarten dürfen, daß aber das gegenseitige
Mißtrauen, das daraus zwischen Deutschland und England erwachsen ist, keine not¬
wendige Beigabe dieser Politik ist, sondern sehr wohl in Zukunft dem guten
Willen und dem nüchternen, sachlichen Verständnis der Bedürfnisse und Interessen
beider Völker Platz machen kann. Nur bedarf es einstweilen für dieses gegenseitige
Berstehen noch von Zeit zu Zeit eines kräftigen Anstoßes und eines äußern An¬
lasses, der die gewohnheitsmäßigen Hetzer eine Zeit lang in den Hintergrund schiebt.
So haben wir auch jetzt alle Ursache, uns des Besuchs König Eduards herzlich
zu freuen/und hoffentlich werden die Wirkungen nicht so schnell vorübergehn.
Dabei können wir nicht umhin, auch darauf hinzuweisen, daß bei uns weite
Kreise in dem Irrtum befangen gewesen sind, alles, was uns an der englischen
Politik der letzten Jahre unerfreulich gewesen ist, sei das persönliche Werk des
Königs und entspringe den Gefühlen, die er gegen Deutschland hege. Wie aus
unsern Betrachtungen hervorgeht, entspricht das nicht der Wahrheit. König Eduard
hat keine persönliche Gefühlspolitik getrieben, sondern er hat mit großer Klugheit
und Unermüdlichkeit seine persönlichen Fähigkeiten und Beziehungen in den Dienst
der von den verantwortlichen britischen Staatsmännern betriebnen Politik gestellt.
Es ist doch einfach selbstverständlich, daß ein König die Politik seines Landes treibt,
und wenn er das mit soviel Staatsklugheit, Hingebung und Verständnis für die
Eigenart und die Wünsche seines Volkes tut wie König Eduard, so entspricht es
unsrer nationalen Würde am besten, wenn wir das freimütig anerkennen, auch wo
es uns unbequem ist. Wer gerecht zu urteilen vermag, kann der Art, wie der König,
ohne die von der Verfassung gezognen Grenzen zu überschreiten, sein hohes Amt
mit eiuer Bedeutung erfüllt hat wie keiner seiner Vorgänger seit zweihundert
Jahren, aufrichtige Bewunderung nicht versagen.
In diesen Tagen ist auf dem Gebiete der innern Politik nicht viel von be¬
sondern Ergebnissen zu verzeichnen. Einen bemerkenswerten Erfolg hat allerdings
die preußische Regierung im Abgeordnetenhause gehabt, da die Besoldungsvorlagen
glücklich alle drei Lesungen passiert haben und zuletzt sogar einstimmig angenommen
worden sind. Das will sagen, daß sogar die Sozialdemokraten dafür gestimmt
haben, weil sie sich doch nicht vorhalten lassen wollen, daß sie gegen ein Gesetz
gestimmt haben, das unter anderen die Lage der Unterbeamten wesentlich verbessert.
Ganz stilgerecht ist ja diese Zustimmung nicht; sie streift bedenklich an die vom
Parteitag verdammte Budgetbewilligung der Süddeutschen, aber die gestrenge
Parteileitung wird wohl hier ein Auge zudrücken. Die glückliche Vollendung des
Werks der neuen Besoldungsordnung für Beamte, Lehrer und Geistliche wird
wahrscheinlich auch auf das Herrenhaus nicht ohne Eindruck bleiben, und so darf
man annehmen, daß die schwierige Arbeit ohne weitere Hindernisse bald gänzlich
vollendet werden wird.
Im Reichstage herrscht jetzt in den Kommissionen eine außergewöhnliche
Emsigkeit, während sich das Plenum der zweiten Beratung des Etats in der üb¬
lichen Weitläufigkeit zugewandt hat. Das wichtigste ist jetzt freilich die Arbeit
hinter den Kulissen, um eine Verständigung der Parteien über die Gestaltung der
Reichsfinanzreform herbeizuführen. Man darf Wohl die Zuversicht hegen, daß die
nationalen Parteien diese Arbeit zu einem guten Ende führen werden.
Als ein politisches Ereignis dieser Tage darf man auch das Erscheinen der
Schrift von Adolf Stein über Kaiser Wilhelm den Zweiten ansehen. Nicht als
ob die Schrift selbst das Aufsehen verdiente, das sie bei ihrer Ankündigung in den
Zeitungen und bei ihrem Erscheinen erregte. Wir halten uns nicht berechtigt, dem
Verfasser die Redlichkeit seiner Überzeugung und seiner Absichten abzusprechen.
Aber es kann ihm der Vorwurf nicht erspart werden, daß er die Tatsachen nicht
mit der nötigen Gewissenhaftigkeit behandelte, Wahres und Falsches durcheinander¬
mischte, trotzdem aber das Ganze in reklamehafter Weise als sensationelle Ent¬
hüllungen der Öffentlichkeit anpries. Aber das bemerkenswerteste ist, daß die auf¬
dringliche Absicht, den Kaiser mit diesem Sensationsmachwerk zu verteidigen, von
fast allen Seiten entschieden abgelehnt wurde. Und das nicht etwa, weil man
nichts zugunsten des Kaisers hören wollte, sondern weil alle Kreise jetzt von dem
Gefühl beherrscht werden, daß es keiner Verteidigung mehr bedarf. Die bekannten
Novemberereignisse haben wirklich wie ein luftreinigendes Gewitter gewirkt. In
diese gereinigte Atmosphäre paßt weder das mißmntige Nörgeln der frühern Zeit
gegen den Kaiser noch eine sensationell gefärbte Verteidigung, die mit denselben
Mitteln des Klatsches und Tratsches für den Kaiser unternommen wird, hinein.
Man will das alles aus dem Wege haben und das gesunde Verständnis zwischen
Kaiser und Volk ruhig wachsen und gedeihen lassen. Es ist der gesunde Takt
eines gesunden, monarchisch empfindenden Volks, der sich gegen Aufdringlichkeiten
wehrt, und insofern das deutlich festgestellt werden konnte, ist die Schrift von
Adolf Stein wirklich, wie vorhin bemerkt wurde, ein politisches Ereignis ge¬
worden. ^_
Der Krieg in Südwest¬
afrika ist offiziell zu Ende, sogar schon seit fast eineinhalb Jahren. Für den
größten Teil des Landes trifft dies auch zu. Mau ist mitten in den Werken des
Friedens, und ein neuer Ansiedler nach dem andern kommt an, um sich drüben eine
neue Heimat zu gründen und die Schrecken des Krieges vergessen zu machen. Im
äußersten Süden der Kolonie aber gard es immer noch, und erst vor wenig Wochen
sind den Hottentottenbanden Simon Coppers eine Reihe von Farmern und Soldaten
zum Opfer gefallen. Zwar soll mit Hilfe der englischen Grenzpolizei diesen letzten
Banden zum großen Teil der Garaus gemacht werden. Aber wer weiß, ob es
wirklich die letzten waren, ob sich nicht neue Banden uuzufriedner Eingeborner zu¬
sammenfinden werden? Jedenfalls befindet sich die Truppe in jenem Grenzgebiet
nach wie vor am Feinde, und es will mir scheinen, als ob jener Friede nnr ein
Kompromiß war, als ob wir keine Sicherheit für den Frieden in jenem Gebiet
haben werden, bis die dort sitzenden Hottentottenstämme zerstreut und nach ent¬
ferntem Gegenden versetzt sind, oder bis der letzte Hottentott verschwunden ist. Dieser
Gedanke ist in dem Buche des Hauptmanns M. Bayer") zwar nicht ausgesprochen,
aber man gewinnt aus ihm unwillkürlich diesen Eindruck, wenn man sich durch
seine lebensvollen Schilderungen mitten in den erbitterten Kampf mit dem unver¬
söhnlichen Feinde hineinversetzt sieht. Und in der Tat ist dies auch die Anschauung
vieler Landeskenner.
Doch dies nur nebenbei, gewissermaßen als aktuelle Beziehung zu den bereits
der Geschichte angehörenden Ereignissen, deren Darstellung das Buch gewidmet ist.
Hauptmann Bayer hat den ganzen Krieg mitgemacht. Er hat gegen die
Herero wie gegen die Hottentotten gekämpft. Es will mir scheinen, als ob es zu
bescheiden wäre, wenn er im Vorwort sagt, daß seine Erlebnisse im Kriege nur be¬
scheiden gewesen seien. Aus dem folgenden gewinnt man den gegenteiligen Eindruck.
Wenn er auch dem Hauptquartier angehörte und seine Aufgabe an sich nicht war,
stets in der Front zu stehen, so will das in Südwestafrika nicht viel besagen. In
einem europäischen Kriege großen Stils freilich wird sich das Hauptquartier nicht
gerade da aufhalten, wo die meisten blauen Bohnen fliegen, aber in dem Klein¬
krieg Afrikas gibts keinen Unterschied, da lag gelegentlich sogar der Generalissimus
mit dem Gewehr in der Hand in der Schützenlinie. Und so geht auch aus den
vorliegenden Bayerschen Schilderungen deutlich hervor, daß das Hauptquartier vor
der übrigen Truppe sicherlich nichts voraus, sondern sein vollgerüttelt Maß an
Gefahren und Anstrengungen zu tragen hatte.
Der Verlauf des Krieges ist in großen Grundzügen bekannt, er ist auch im
Generalstabswerk aktenmüßig festgelegt. Dichterisch sind die Taten unsrer Krieger
in Gustav Freussens „Peter Moors Fahrt nach Südwest" verherrlicht. Was aber
dem Bayerschen Buch einen hohen Reiz verleiht, ist, daß der Verfasser den Krieg
nicht nur in der militärisch-exakten Form des Generalstäblers schildert, sondern daß
er auch mit den Augen des Dichters gesehen hat. Seine Erzählungswelse zeugt
von feiner Beobachtungsgabe, gepaart mit gemütvollem Humor.
Der aufmerksame Leser findet allerlei darin, was zum Nachdenken anregt,
treffende Urteile, philosophische Brosamen, amüsante Anekdoten. Da erzählt Bayer
zum Beispiel, wie die Soldaten die ersten richtigen Feldhereroweiber, „die fast nur
mit dem Klima bekleidet waren", zu sehen bekamen: „Den ersten Tag kamen unsre
Leute, die lange kein weibliches Wesen mehr gesehen, nicht aus dem Staunen heraus;
schon am zweiten Tage sah keiner mehr hin. Nacktheit, die unbewußt zur Schau
getragen wird, ist ohne Reiz und wirkt keusch in ihrer Art. Wir brachten die Ge¬
fangnen in einem Dorukraal unter; eine Schmutzschicht und ein scharfer ranziger
Fettgeruch waren ständige Tugendwächter." Denen, die sich über die Bilder
nackter Eingebornen aus den Kolonien, wie sie unsre Zeitschriften wohl oder übel
bringen müssen, sittlich entrüsten zu müssen glauben, zur Beachtung!
Vergnüglich sind die Erzählungen über die Tatarennachrichten in der Kapstädter
Presse und ihre Lösung. Da wurde einmal berichtet, daß eine deutsche Signal¬
station von Hottentotten überfallen und niedergemetzelt worden sei. Das Ergebnis
der eingezognen Erkundigungen war: Paviane hatten einen Berggipfel erklettert,
dort Instrumente der Signalstation gefunden und nach Affenart sich damit vergnügt,
die Gestelle in Kleinholz zu verwandeln. Die wasserholenden Signalisten fanden
bei ihrer Rückkehr einen Trümmerhaufen vor. Nur der Signalspiegel soll gefehlt
haben. „Den hat sicher das Weibchen mitgenommen", meinten die ungalanter
Schutztruppler.
Inmitten der Schrecken des Krieges fehlte es unsern Soldaten nicht an echtem
Soldatenhumor, und der Stoff zum Lachen stellte sich manchmal mich zur rechten
Zeit ein. „Einmal — erzählt Bayer — war ich gerade mit Schreiben beschäftigt,
da hörte ich in der Nordostecke des Lagers, wo der Proviant des neu eingetroffnen.
Transports ausgeladen wurde, ein brüllendes Gelächter, das immer wieder einsetzte.
Ich warf die Feder hin und lief hinüber, um zu erfahren, was los ist. Schon von
fern sah ich um einen Wagen einen großen Haufen unsrer Reiter herumstehn, die
vor Vergnügen ganz aus dem Häuschen waren. Auf einer Kiste stand ein Leutnant,
sah über die andern hinweg und krümmte sich vor Lachen, während ihm die dicken
Tränen die Backen herunterliefen. Ich drängte mich in den Kreis und fand auf
dem Boden die seltsamsten Gegenstände: Röcke, Unterröcke, Binsen, intimere weibliche
Wäschestücke, mit und ohne Spitzenbesatz, Hemden und Strümpfe beiderlei Geschlechts,,
eine verschoßne Livre, mehrere Filzhüte, eine Pumphöse usw., jedes Stück, das
erschien, wurde von dem umstehenden Publikum mit neuen lnfterschütternden Aus¬
brüchen unbändigster Heiterkeit begrüßt. Ich untersuchte die Säcke: es waren
Liebesgaben — für die Abgebrannten von Aalesund!" ... '
Mit lebendiger Anschaulichkeit versteht Bayer die Kampf- und Marsch- und
Lagerszenen zu schildern. Seine warmherzige und schlichte Darstellung der unmensch¬
lichen Strapazen und Entbehrungen, die unsre Krieger durchzumachen hatten, läßt
den Gedanken an Lobrednerei nicht aufkommen. Man hat im Gegenteil den Eindruck,
als wollte er nicht viel Aufhebens machen.
Alles in allem gibt uns auch dieses Buch wieder das stolze Bewußtsein, daß
unsre deutsche Jugend an Kriegstüchtigkeit und soldatischem Geist ihren Vätern nicht
nachsteht, und in diesem Sinne müssen wir den Krieg in Südwest, so beklagenswert
er an sich war, für ein Glück betrachten. Durch ihn haben auch Tausende deutscher
Soldaten das Land kennen gelernt. Viele haben es zu ihrer neuen Heimat erwählt,
die andern können zu Hause erzählen, daß Südwest besser ist als sein Ruf, daß es
durch eine tüchtige weiße Bevölkerung zu einem Kulturlande werden kann zum
Segen der deutschen Nation. In treffenden, herzlichen Worten gibt auch Bayer
dieser Überzeugung Ausdruck. Wie er denkt, sagen am besten die prächtigen, unsern
Kriegern gewidmeten Verse von Reinhold Fuchs, die er über das Kapitel gesetzt
hat, das von der Zukunft der Kolonie handelt:
/d^en." fDas s-v«??s?A^<? ^/aFTLnnöe?^ rzci^czizrzczczliiczcicioczciooorzcici
WMMtKWMK IM MlMIM «IM7
Von Usus voi»nviius IMt 240 Attu-iungsn. IZeiieN. M. 7.—, gvdunll. IM, ».—.
Iniisit: Vorwort, oss Problem äsr Iciinstierisenen Vsstsitung, I-rsoiieinung uncl wir-
Kung. Krunugesot-e vor VIrliuno unä vsstoitung. »Ilgvmslne ciniieitzdeoingungen.
VIs üilittei zur «Zsstoitung äsr Hinzeiform. Mo IMttsi zur gvstsitung nos vvssmtrsums.
„vor Verfasser «iii mit seinem seuönsn öuekv In «eiteren Kreisen KIsriieit ilsriider
verbreiten, «o» tuo Kultur des Auges koräort, nun Iiotft niormit so«om zur IZsseitigung
ver Auswiieiisv moderner Kunstiiaung, »is fuor positiv zur llurotifllnrung eins» gvsuniion
nun zioidev»ultor Xunstunterrieiits ilsn V/eg d-»inen z» neifsn. »er Unterrlviit so» Suoiios
Ist «lureiisus praktiseii, u»s «erii ist rüvkiisitsios zu emoseiiisn. rs defrioiiigt suoli im
nöonstsn »sko äuron pspisr, vruoli unä Svliiirko vor »ddiiliungsn.^ lSviisuen u.SviiaffenZ
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in den letzten Wochen hat die Stellung der Kolonien im Rahmen
des Wirtschaftslebens eine bedeutsame Wandlung erfahren, die
zwar der Allgemeinheit wohl nicht weiter aufgefallen ist, aber
nichtsdestoweniger unter Umständen einen starken Antrieb in der
I Erschließung der Kolonien begründen kann. Ich meine die beinahe
begeisterte Aufnahme, die südwestafrikanische Werte an der Berliner Börse
gefunden haben. Auf die Frage nach der sachlichen Begründung dieser Hauffe
mag weiter unten eingegangen werden. Soviel ist sicher, daß die Erschließung
der Kolonien viel großzügigere Formen annehmen könnte, wenn sich nun auch
das Großkapital ernsthaft für das Kolonialgeschäft interessieren würde. Denn
bisher war es in der Hauptsache Privatkapital, was in den kolonialen Unter¬
nehmungen steckt, und den Banken ist es vielfach sehr verdacht worden, daß sie
nicht zu haben waren, wenn es sich darum handelte, koloniale Gründungen
zu finanzieren. Eigentlich mit Unrecht, den» die Kolonien boten bis vor kurzem
keine rechte Gelegenheit zur Betätigung für die Hochfinanz. Pflanzungsgesell¬
schaften — denn um diese handelte es sich vorwiegend — sind ungeeignete, meist
zu geringfügige Objekte für Großbanken. Also hielten diese sich fern. Und mir
will es scheinen, als ob dies kein Schaden gewesen wäre. Denn dadurch, daß
sich die kolonialen Unternehmer an das Privatkapital wenden mußten, um ihre
Pläne zu verwirklichen, ist der koloniale Gedanke tiefer in die gebildeten Kreise
eingedrungen, als dies der Fall gewesen wäre, wenn das Großkapital die Sache
in die Hand genommen hätte. Wie es dann gekommen wäre, davon geben die
Landbesitzverhültnisse in Südwestafrika ungefähr ein Bild. So wie es gekommen
ist, ist es gut. Die „Kolonialsreunde", ein gewisser Teil der begüterten ge¬
bildeten Klassen, haben die Mittel zu einer zwar langsamen und an Enttäuschungen
reichen, aber immerhin erfolgreichen Vorbereitungsarbeit aufgebracht, und die
Kolonien sind, wenigstens zum Teil, Gemeingut des deutschen Volkes geworden
und nicht bloß ein Tätigkeitsfeld für einige Bankgrnppen. Mittlerweile hat
NUN auch das Großkapital auf dem für seine Tätigkeit geeigneten Gebiet ein¬
gegriffen, auf dem der Verkehrsanlagen, des Bergbaus und der Industrie. So
sind die Ostafrikanische Eisenbahn gesellschaft, die Otavi-Minen- und Eisenbahn¬
gesellschaft, die Kamerun-Eisenbahngesellschaft, die Deutsche Südsee-Phosphat¬
aktiengesellschaft entstanden, um Unternehmungen zu verwirklichen, für die das
Privatkapital nicht ausreicht. Es ist gewiß, daß die Person eines gewiegten
Finanzmannes an der Spitze der Kolonialverwaltung einen starken Antrieb für
die Entwicklung in dieser Richtung gegeben hat, und darum halte ich es für
weiter kein Unglück, daß Dernburg in seiner jüngsten Neichstagsrede — wohl un¬
beabsichtigt — den Anstoß zu einer Art von Eröfsnungshausse gegeben hat. Die
Kolonialwerte sind damit mit Hurra an der Börse eingeführt worden, und ich
glaube nicht, daß — wie ängstliche Gemüter fürchten — allzuviele Spargroschen
dadurch gefährdet worden sind. Es sind jedenfalls nur große Kapitalisten
gewesen, die dabei schlimmstenfalls hereingefallen sein könnten. Der Dämpfer
ist außerdem nicht ausgeblieben, und ich glaube, daß sich Dernburg künftig
größere Zurückhaltung auferlegen wird.
Es sind zunächst nur einige südwestafrikanische Werte gewesen, die direkt
durch diesen Vorgang profitiert haben. Einen gewissen moralischen Gewinn
aber haben die kolonialen Unternehmungen überhaupt dabei davongetragen.
Und der ist durchaus berechtigt und wird sich mit der Zeit realisieren. Denn
daß der Dernburgsche Optimismus nicht unangebracht ist, dafür geben die
kolonialen Jahresberichte die tatsächliche Grundlage. Noch sind nur ganz
kleine Teile der Kolonien wirklich erschlossen und rationell nutzbar gemacht
worden, und von diesen bringt wiederum nur ein Teil volle Erträge, während
viele Kulturanlagen mancherlei Art erst in einigen Jahren produktiv werden.
Trotzdem ist der Warenumsatz von Jahr zu Jahr gestiegen, und jede neue
Kultur, jedes Stück Weg, das neu angelegt wurde, jedes Stück Eisenbahn hat
in einem Anwachsen der Handelsziffern seinen Ausdruck gefunden. Dabei ist
noch zu berücksichtigen, daß auf der andern Seite Naturereignisse, Aufstände
und dergleichen ungünstig auf die Entwicklung des Landes eingewirkt haben.
Man denke nur an den Aufstand in Ostafrika im Jahre 1905, der ganze Be¬
zirke nahezu entvölkert hat. Bei Berücksichtigung dieser Hemmungen gewinnen
die folgenden Handelsziffern erst die richtige Bedeutung. Es betrug in den letzten
acht Jahren
(in Tausend Mark)
Rechnet man bei Südwestafrika die Negierungsgüter in den Jahren 1906/07
und 1907/08 ab, so beläuft sich der Gesamthandel auf 120786000 Mark
und 123591000 Mark. In den Ziffern von 1904/05 und 1905/06 sind
nämlich die Regierungsgüter nicht enthalten. Damit wäre die scheinbare Ab¬
nahme in 1907/08 beseitigt und die Stetigkeit der Zunahme auch im letzten
Berichtsjahre festgestellt.
Der Gesamthandel hat sich also während der angeführten acht Jahre mehr
als verdoppelt. Die zeitweise Abnahme der Einfuhr, die hauptsächlich eine
Folge der durch die Aufstände in Ost- und Südwestafrika geschwächten Kauf¬
kraft der Bevölkerung sein dürfte, will demgegenüber nicht viel besagen. Die fort¬
schreitende Erschließung und Kultivierung des Landes, die in der steigenden Aus¬
fuhrziffer zum Ausdruck kommt, wird diese Scharte wohl bald wieder auswetzen.
Doch die absoluten Handelsziffern können teilweise trügerisch sein. Man
sieht ihnen nicht ohne weiteres an, ob hinter ihnen dauernde Werte stecken,
oder ob sie zum Teil auf Raubbau beruhen, der eines Tages ein natürliches
Ende findet. Es gibt in unsern Kolonien verschiedne Beispiele dieser Art, z. B.
Sammelkautschuk und Elfenbein. Einen bestimmten Anhalt für die behauptete
Stetigkeit in der Entwicklung der Kolonien gewinnt man bei Betrachtung der
Produktion der einzelnen wichtigern Erzeugnisse. Die folgenden Ausfuhrziffern
der letzten fünf Jahre bestätigen somit gewissermaßen im einzelnen das, was
uns schon die Handelsziffern im ganzen erzählt hatten:
Erläuternd muß zu diesen Zahlen bemerkt werden, daß es sich beim
Kautschuk zum großen Teil um Sammelkautschuk handelt, der aus den wilden
Beständen gewonnen ist. Und da sich die Gewinnungsart meist als richtiger
Raubbau charakterisiert, ohne Schonung der Bestände, so müßte bald eine rapide
Abnahme der Produktion zu bemerken sein, wenn nicht einerseits durch die
Eisenbahnen immer neue Kautschukbestände erschlossen und die Eingebornen
langsam zu einer rationellen und schonungsvollern Gewinnungsart erzogen
würden, andrerseits durch die europäischen Unternehmungen in großem Umfang
durch Anlage von Kautschukpflanzungen dafür gesorgt werden würde, daß die
Kautschukproduktion auf der Höhe bleibt.
Der Stillstand der Kopraausfuhr erklärt sich wohl daraus, daß
die Kokospalme, aus deren Frucht die Kopra gewonnen wird, Seeklima ver¬
langt, also nur in Gebieten vorkommt, die von jeher leicht erreichbar waren.
Da aber auch hier die Eingebornen zu rationellerer Gewinnung angehalten
werden, und die Kokospalme von europäischen Unternehmungen systematisch an¬
gepflanzt wird, so ist in Zukunft eine Steigerung der Produktion zu erwarten.
Der Bergbau ist noch jung und hat kaum erst begonnen. Die Kupfer-
und Phosphatlager scheinen aber so reich zu sein, daß eine bedeutende
Steigerung in den nächsten Jahren sicher ist. In Ostafrika sind abbauwürdige
Goldlager gefunden worden, und in Neuguinea führen die Flüsse ebenfalls
so viel Gold, daß eine geregelte Gewinnung nur eine Frage der Zeit ist.
Das Ereignis des Jahres ist die Entdeckung von Diamanten in Süd¬
westafrika. Schon jetzt sind für rund 1200000 Mark Diamanten gefördert
worden, und die Kolonialverwaltung erwartet, daß sich die Produktion in
kurzer Zeit auf 8 bis 10 Millionen jährlich steigern wird.
Die Produkte der Viehzucht werden in Südwestafrika sicher, in Ostafrika
wahrscheinlich, in absehbarer Zeit eine große Rolle spielen.
Bevor ich nun auf die Entwicklung der einzelnen Kolonien eingehe, muß
ich noch bei einer Frage verweilen, die mir der Gradmesser dafür zu sein
scheint, ob die Kolonien ihre Aufgabe im Rahmen der nationalen Volkswirt¬
schaft erfüllen, einerseits Rohstofflieferanten, andrerseits Absatzgebiete zu sein
für das Mutterland. Mit andern Worten: welchen Anteil am Außen¬
handel der Schutzgebiete hat das Deutsche Reich? Folgende Übersicht
gibt Auskunft darüber:
In den afrikanischen Kolonien nimmt das Mutterland also mit 63 vom
Hundert an der Einfuhr, mit 69 vom Hundert an der Ausfuhr teil, in den
Südseekolonien mit 60 oder 67 vom Hundert. Die Beziehungen der Kolonien
zum Mutterland in Zahlen ausgedrückt, haben also zwar nicht ganz das
Ideal der Kolonialpolitik erreicht, aber man kann sich nicht sonderlich darüber
beklagen, zumal da anzunehmen ist, daß sich das Verhältnis mit der Zeit von
selbst noch günstiger gestalten wird. Von der Südsee kann man in Anbetracht
der gewaltigen Entfernung vom Mutterlande billigerweise nicht viel mehr ver¬
langen. Es bieten sich dort für manche Dinge eben günstigere, d. h. nähere
Absatzgebiete und Bezugsquellen. Ungesund dagegen ist das Verhältnis bei
Ostafrika. Es ist wirklich nicht einzusehen, warum wir aus die Dauer den
Handel dieser Kolonie zu fast zwei Dritteln dem Ausland überlassen sollen.
Auch bei Togo muß in dieser Hinsicht auf Besserung hingewirkt werden.
Über die Ursachen dieser Erscheinung und die Mittel zu ihrer Beseitigung
können wir uns hier nicht auslassen, sie werden den Gegenstand einer be¬
sondern Betrachtung bilden. Wir wollen es ganz gewiß nicht den Franzosen
nachmachen, die den fremden Handel mit allen Mitteln von ihren Kolonien
fernzuhalten streben. Eine gewisse Konkurrenz ist sicher notwendig, um die
heimische Industrie im Streben nach Fortschritt nicht erlahmen zu lassen.
Aber der Löwenanteil gebührt sicherlich dem Mutterlande, das die Mittel zur
Erschließung und Nutzbarmachung der Kolonien aufbringen mußte.
Die Handelsbeziehungen der Kolonien zum Mutterlande stehn in einem
gewissen Zusammenhang mit der Stärke der weißen Bevölkerung. So¬
lange der Handel in Händen weniger großer Firmen ruht und die Zwischen¬
händler Farbige, die Abnehmer nur Eingeborne sind, ist es verständlich, daß
der Absatz vorwiegend der Flagge zufällt, deren Angehörige auf Grund alter
Erfahrungen am vorteilhaftester zu liefern vermögen. Wächst aber die weiße,
namentlich deutsche Bevölkerung, und geht der Zwischenhandel allmählich in
ihre Hände über, so werden sich die direkten Beziehungen zur heimischen In¬
dustrie von selbst entwickeln. Bis jetzt ist die weiße Bevölkerung noch recht klein.
Sie betrug am 1. Januar 1908 (ohne Schutztruppe) 13858 Köpfe (12300 im
Vorjahr). Davon entfielen auf die weibliche Bevölkerung 3438 Köpfe (im
Vorjahr 2688). Es ist also immerhin auch hier eine Zunahme zu beobachten.
Da die Besiedlung von Südwestafrika flott vorwärts schreitet, und die gegen¬
wärtige Erkundungsreise des Unterstaatssekretürs von Lindequist in Ostafrika
hoffentlich auch dort der Besiedlung durch Deutsche den Boden bereiten wird,
so dürfte im laufenden Rechnungsjahre 1908/09 und in den folgenden Jahren
auch in dieser Beziehung ein nennenswerter Aufschwung zu erwarten sein.
Und es wird niemand bestreiten wollen, daß eine Vermehrung der weißen
Bevölkerung am besten eine stetige Steigerung der Produktion, politische
Sicherheit und Hand in Hand damit eine Verminderung der Verwaltungs¬
ausgaben gewährleistet, also eine Besserung der Finanzlage der Kolonien.
der Kolonien kann als durchaus
günstig bezeichnet werden. Die eignen Einnahmen steigen stetig, wenn sie auch
mit den Verwaltungsausgaben noch nicht Schritt zu halten vermögen. Immer¬
hin ist die Grundlage dazu geschaffen, insofern als jetzt die Deckung der außer¬
ordentlichen Bedürfnisse der Kolonien im Wege der Anleihe zu Lasten der
betreffenden Kolonien unter Gesamthaftung aller an der Anleihe beteiligten
Kolonien und unter Garantie des Reichs erfolgt. Damit sind die Kolonien
Von einer schweren Fessel befreit und eher in der Lage, eine geordnete Finanz¬
wirtschaft zustande zu bringen. Togo bringt schon seit Jahren seine Ver¬
waltungsausgaben selbst auf, und einzelne Kolonien sind nicht mehr weit davon
entfernt. Sie werden das Ziel um so rascher erreichen, je besser sie es ver¬
steh«, die Steuerkraft der Eingebornen zu entwickeln. Hiermit steht, wie immer
wieder betont werden muß, die Entwicklung der Produktion und des Absatzes in
ursächlichen Zusammenhang. Wenn der Eingeborne für die mancherlei Vorteile,
die er von uns hat, Steuern bezahlen muß, so muß er arbeiten. Und wenn er
arbeitet, so hat er Geld, um die Erzeugnisse unsrer Industrie zu kaufen. Seine
Lebenshaltung bessert sich, und die Besteuerung wirkt dadurch sozial.
Nun zu den einzelnen Kolonien, wobei ich mich kurz fassen kann, da noch
besondre Darstellungen folgen werden.
In einigen Kolonien ist nun zufällig der Handel gegen das Vorjahr etwas
zurückgegangen. Das will aber nicht viel besagen, da, wie gesagt, in den
letzten neun Jahren im allgemeinen eine stetige Zunahme zu verzeichnen war
und auch der Gesamthandel der Kolonien im Berichtsjahr gestiegen ist.
Der bessern Übersicht wegen seien die Ergebnisse in Tabellenform wieder¬
gegeben:
Bemerkenswert ist demnach nur der gewaltige Aufschwung um fast zehn
Millionen, den der Handel in Kamerun im Jahre 1907/08 aufzuweisen hat,
obwohl ein starker Preissturz beim Kautschuk von ungünstigem Einfluß war.
Die niedrigen Handelsziffern in Südwestafrika erklären sich leicht aus den
Nachwehen des Krieges; im laufenden Jahre 1908/09 werden sie sich jeden¬
falls wesentlich eindrucksvoller gestalten. Der Rückgang in Samoa ist durch
verschiedne Zufälligkeiten bedingt gewesen, die den Ausfuhrwert der Kopra, des
Hauptartikels, ungünstig beeinflußten.
Die Nutzbarmachung der Kolonien durch Einführung und Erweiterung
von Kulturen aller Art, Bergbau, Viehzucht schreitet vorwärts. Gerade in
den nächsten Jahren werden eine ganze Reihe von Unternehmungen ertrag¬
fällig werden und verschiedne Eisenbahnen ihre Wirkung äußern, sodaß eine
bedeutende Steigerung des Umsatzes sicher ist.
sind wir also auf dem besten Wege, aus unsern
Kolonien etwas zu machen. Dagegen scheinen mir unsre moralischen
Eroberungen vorläufig nicht sonderlich weit her zu sein.
Immer noch nicht haben wir den richtigen Ton in unserm Verhältnis
zu den Eingebornen gefunden. Dieser Mangel kann von einschneidender Be-
deutung werden und die materiellen Vorteile der Kolonien zeitweise in Frage
stellen. Die Bilanz von Südwestafrika redet in dieser Beziehung eine mir zu
deutliche Sprache, und auch aus der von Ostafrika läßt sich allerlei heraus¬
lesen. Aufstände über Aufstände haben uns gewaltige Summen gekostet, die
wir uns mit einiger Aufmerksamkeit und größerer Festigkeit im Auftreten
hätten ersparen können. Dabei hat die für die wirtschaftliche Erschließung der
Kolonien so wertvolle eingeborne Bevölkerung durch diese Kämpfe immer mehr
abgenommen, ja in Südwestafrika ist sie nahezu vernichtet. Wir haben uns
eben nicht in Respekt zu setzen gewußt, und deutliche Anzeichen in Südwest-
und Ostafrika sprechen dafür, daß die Kämpfe noch nicht zu Ende sind, sondern
immer wieder aufleben werden, wenn nicht in unsern Kolonien eine unzwei¬
deutige Herrenpolitik Platz greift. Eine Herrenpolitik im besten Sinne, die
sich auch das Wohl der Untertanen angelegen sein läßt.
Und die wirtschaftliche Nutzbarmachung der Kolonien hängt davon ab,
in welchem Grade wir die Eingebornen zu stetiger Arbeit zu erziehen verstehn.
In der Denkschrift von Togo heißt es, die Annahme, daß die Eingebornen
die ihnen angelernten Produktionsarten auch ohne Einwirkung der Verwaltung
sachgemäß fortführen würden, habe sich nicht ganz bestätigt. Daraus ergibt
sich, was es mit der Behauptung in der ostafrikanischen Denkschrift auf sich
hat, man brauche den Eingebornen bloß durch Bau von Eisenbahnen Absatz¬
gelegenheit zu schaffen, dann würden sie von selbst intensiver arbeiten. In Togo
ist in dieser Hinsicht alles mögliche geschehen, das Resultat bleibt aber doch:
ohne sanften Druck arbeitet der Neger nicht. Worin der sanfte Druck bestehen
soll, in Mindestarbeitsverpflichtung, Besteuerung oder Belehrung, das kommt auf
die lokalen Verhältnisse an. Als Gegenleistung erhält der Neger von uns Sicher¬
heit für Leib und Leben und Besserung seiner Lebenshaltung, denn beides liegt
auch in unserm Interesse. Man komme uns aber nicht immer wieder mit der
schönen Phrase: das wichtigste Aktivum der Kolonie ist der Neger, denn das
ist nicht wahr. Das wichtigste Aktivum ist der Weiße, denn ohne seine In¬
telligenz, seinen Unternehmungsgeist, sein Geld ist der Schwarze gar nichts
wert. Man denke gefälligst an die kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen der
selbständigen Negerstaaten Haiti und Liberia. Ein bessern Beweis kann ich mir
nicht denken. Wenn sich diese Erkenntnis endlich allmählich Bahn bricht, was
wir hoffen, so ist dies zunächst wertvoller als einige Millionen Einfuhr und
Ausfuhr mehr oder weniger. Ich wünschte, dieses wichtige Aktivum möchte dem
nächsten Jahresbericht über die Entwicklung der Kolonien das Gepräge geben!
in 8. Januar veröffentlichte das Zentralkomitee der Sozialrevo¬
lutionären Partei gleichzeitig in Paris, London, Genf sowie in
den größten Städten Rußlands folgenden Aufruf: „Das Zentral¬
komitee der Sozialrevolutionären Partei bringt zur Kenntnis der
Genossen, daß der Ingenieur Jewgenij Filipvowitsch Asew,
38 Jahre alt, bekannt unter dem Spitznamen »der Große«, auch »Iwan
Nikolajewitsch« und »Walentin Kusjmitsch«, Mitglied der Partei seit ihrer
Gründung, wiederholt in das Zentralkomitee der Partei gewählt, Mitglied der
Kampforganisation sowie des Zentralkomitees der Partei — der Beziehungen
zur russischen Geheimpolizei überführt worden ist. Infolgedessen wird Asew als
»Agent Provokateur« erklärt, der sich dem Parteigerichte durch die Flucht ent¬
zogen hat, und er ist als eine für die Partei außerordentlich gefährliche Persön¬
lichkeit zu betrachten. Die Partei wird baldigst eingehende Mitteilungen über
die provokatorische Tätigkeit Asews veröffentlichen. Gez. Das Zentralkomitee
der Sozialrevolutionären Partei. 8. Januar 1909."
Am Sonntag den 31. Januar fand zu Se. Petersburg in den Morgen¬
stunden eine Haussuchung bei dem frühern Chef der politischen Polizei, Wirklichen
Staatsrat Alexi Alexandrowitsch Lopuchin statt, die mit der Verhaftung
des Genannten und seiner Überführung ins Untersuchungsgefängnis endete.
Am Montag den 1. Februar meldeten zahlreiche deutsche Blätter, meist
auf Informationen aus London gestützt, Lopuchin sei an den wesentlichsten
politischen Morden, die seit 1902 in Nußland begangen worden waren, handelnd
beteiligt gewesen — ein Berliner Blatt meinte, der Chef der Polizei habe den
Mördern Plehwes die Kulissen bei ihrem gemeinen Vorgehn gestellt.
Solche Auffassung soll angeblich bestätigt werden durch einen Brief, den
Lopuchin bereits Anfang Dezember an den Ministerpräsidenten Stolhpin ge¬
richtet hatte, und der befremdlicherweise in der Times erschienen war. Der
Brief lautete: „Peter Arkadjewitsch! Am Abend des 11. November kam in
meine an der Tawritscheskaja gelegne Wohnung Jewgenij Asew. Ich kannte
den Mann aus der Zeit vom Mai 1902 bis Januar 1907, in der ich das
Polizeidepartement im Ministerium leitete; ich hielt ihn für den Agenten eines
Beamten des Polizeidepartements in Paris. Nachdem er bei mir unangemeldet
eingetreten war, erklärte er, der Sozialrevolutionären Partei, deren Mitglied
er gewesen sei, wären Informationen über seine Tätigkeit als Polizeiagent
zugekommen; gegenwärtig werde eine Untersuchung gegen ihn vor dem Pariser
Parteitribunal geführt; das Tribunal werde an mich herantreten, um Auf¬
klärungen über ihn zu erhalten; sein Leben sei daher in meiner Hand. — Heute
erschien bei mir, ebenfalls unangemeldet, der Sicherheitschef von Petersburg,
Generalmajor Gerassimow. Er erklärte mir, er käme infolge einer Bitte von
Asew, um zu fragen, was ich dem revolutionären Tribunal, das im Begriff
stehe, Asew zu richten, zu antworten gedenke, sofern sich dessen Mitglieder an
mich um Aufklärung wenden sollten. Der Sicherheitschef, General Gerassimow,
fügte hinzu, alles, was in der Verhandlung dieses Tribunals zutage kommen
werde, insbesondre die Namen aller vernommnen Personen, ebenso wie ihre
Aussagen, würde zu seiner Kenntnis gelangen. In dem Verlangen Asews im
Zusammenhang mit der Erklärung des Sicherheitschefs Gerassimow erblicke ich
eine direkte Gefahr für mich und halte es für notwendig, all dies zur Kenntnis
Eurer hohen Exzellenz zu bringen, mit der Bitte, mich gegen die Treibereien
der Geheimpolizei zu schützen, die meiner Ruhe und vielleicht auch meinem
Leben gefährlich sind. Wenn Eure hohe Exzellenz sich mit mir persönlich über
diesen Brief aussprechen wollen, stehe ich Eurer hohen Exzellenz zur Verfügung.
A. Lopuchin, Se. Petersburg, 21. November (4. Dezember) 1908."
Auf Grund näherer Kenntnis der einschlägigen Verhältnisse kann ich mich
der allgemeinen Auffassung über die Schuld Lopuchins nicht anschließen und
möchte heute das, was ich schon im Dresdner Anzeiger Ur. 37 schrieb, er¬
weitern und durch authentisches Material begründen.
Der Fall Lopuchin hat nicht nur in Rußland, sondern in der gesamten
zivilisierten Welt berechtigtes Aufsehn erregt. Wir haben nun Grund zu der
Annahme, daß nicht alles so ist, wie es scheinen könnte, und erinnern zunächst
zur Beruhigung der Gemüter an den Feldzug der internationalen sozialistischen
und freisinnigen Presse gegen den Polizeimeister Reinbot von Moskau. Alle
gegen den General persönlich erhabnen Anschuldigungen haben sich als nichtig
erwiesen, und er hat Gelegenheit gehabt, vor dem öffentlichen Gericht seine
Unschuld zu beweisen. Nicht anders wird es hoffentlich mit Lopuchin gehn,
und es liegt im eigensten Interesse der russischen Regierung, mit der Unter¬
suchung der Angelegenheit so weit zu gehn als nur irgend möglich.
ist Abkömmling eines alten Adels¬
geschlechts des Gouvernements Twer und durch vielfache Bande mit den Familien
der Fürsten Urussow, Stolypin, Obolenski, die seit zehn Jahren eine politische
Rolle spielen, verwandtschaftlich verknüpft. Seit 1880 im Staatsdienst, ist
Lopuchin von Haus aus Jurist. Erst im Jahre 1900 trat er in den Vorder¬
grund, als er in seiner Eigenschaft als Staatsanwalt von Se. Petersburg den
gefurchtsten Stadthauptmann von Se. Petersburg, Kleigels, wegen Bestechlich-
lichkeit vor Gericht bringen wollte. Der Justizminister Murawioff vereitelte
den Prozeß durch Schaffung eines neuen Gesetzes mit rückwirkender Kraft.
Lopuchin wurde kurzerhand nach Charkow versetzt. Dort war er im Jahre 1902
der einzige Beamte, der imstande war, dem inzwischen zum Minister des Innern
ernannten Plehwe eingehende Auskunft über die in den Gouvernements Charkow
und Poltawa stattgehabten Bauernunruhen zu geben. Plehwe berief darauf
den übrigens recht jungen Staatsanwalt ins Ministerium des Innern nach
Se. Petersburg und machte ihn zu seinem ersten Gehilfen in Polizeisachen,
nämlich erst zum Vizedirektor und dann zum Direktor des Polizeidepartements.
In dieser Eigenschaft war Lopuchin dem bekannten Reaktionär Durnowo
koordiniert, auf den wir weiter unten noch zu sprechen kommen werden. Wie
groß die Befugnisse dieses Beamten in Rußland vor 1906 waren, geht unter
anderm aus der Tatsache hervor, daß er über einen Kredit verfügte, dem all¬
jährlich gegen fünfzehn Millionen Rubel zuflössen. Die höhere Aufsicht über
den Fonds aber stand ausschließlich dem Minister des Innern zu. Lopuchin
blieb in dieser Stellung vom Sommer 1902 bis zum Januar 1907, wurde
dann Gouverneur von Estland. In demselben Jahre kehrte er dem Staats¬
dienst den Rücken, ohne eine Pension zu erbitten, und ließ sich in Se. Petersburg
als Rechtsanwalt nieder. Zugleich schloß er sich der Partei der konstitutionellen
Demokraten an, mit der er bereits durch Vermittlung seines Schwagers, des
Fürsten Urussow. in guten Beziehungen stand.*)
Seine amtliche Tätigkeit als Chef der politischen Polizei war von geringen
Erfolgen gekrönt. Nicht weniger als einundachtzig politische Verbrechen
wurden während seiner Amtszeit an höhern Staatsbeamten verübt.**)
- Das grausige Register darf jedoch nicht ohne weiteres der Persönlichkeit
Lopuchins als Chef der Polizei auf das Schuldkonto gesetzt werden. Es ist
das natürliche Ergebnis der Politik Alexanders des Dritten, deren unbeug¬
same Werkzeuge Pobjedonostzew und Plehwe waren. Man wird für Lopuchin
sogar Worte der Entschuldigung finden, wenn man sich seiner ersten Ma߬
nahmen erinnert. So suchte er die wichtigsten Posten im Departement, die
bis dahin fast ausschließlich in den Händen ehemaliger Offiziere lagen, mit
Juristen zu besetzen. Er hat auch tatsächlich eine Reihe von Juristen anstellen
können. Aber die innere Zersetzung der gesamten russischen Gesellschaft war
schon zu weit vorgeschritten, als daß die Maßregeln in einem einzelnen
Ressort noch irgendeinen Eindruck hervorrufen konnten. Lopuchin bemühte
sich in der Erkenntnis der Notwendigkeit von tiefgreifenden Reformen, die
oppositionelle Intelligenz humaner behandeln zu lassen, als wie es unter
Ssipjagin der Fall war. Doch auch hierin waren ihm bald die Hände durch
seinen Kollegen Durnowo gebunden, da es sich herausstellte, daß sich selbst manche
Kreise des begüterten Landadels nicht scheuten, mit den Parteien zusammen-
zugehn, die den politischen Mord als ein legales Kampfmittel ansahen. Doch
statt der Macht der Verhältnisse zu weichen und wie sein Kollege von der
Staatsanwaltschaft Jasykow wieder zur Justiz zurückzugehn, blieb Lopuchin
im Amt. Welche Erwägungen ihn dazu veranlassen mochten — die Aussicht
aus Reformen, die mit dem Fürsten Swjatopolk-Mirski im Hause an der
Fontanka einzogen, oder Ehrgeiz —, wer will es sagen. Bemerkenswert ist
nur, daß die gemäßigten Liberalen der Sjemstwo von Lopuchin ein energisches
Eingreifen in die Politik erwarteten. So richtete Fürst Grigorij Wol-
konski öffentlich die Aufforderung an ihn, er möge nun endlich dem Zaren
über die Bestechlichkeit des Stadthauptmanns Kleigels die Augen öffnen.*)
Im Dezember 1904 trat Lopuchin mit reformerischen Ideen an die Re¬
gierung heran."*) Es erklärte das gesamte Verwaltungssystem in Rußland
als verfehlt, die Kunst, mit der die Fälschung der Pässe vorgenommen werde,
mache den Paßzwang geradezu gefährlich. „So ist es bekannt, heißt es in
dem Memorandum, daß Karpowitsch, obwohl ihm der Aufenthalt in
Petersburg untersagt war, sich drei Tage lang in der Reichshauptstadt auf¬
gehalten hat, überdies zwei Stunden nach seiner Ankunft den Paß bei der
Polizei vorlegte, ohne daß die Polizei irgendwie gegen sein Eintreffen einge¬
schritten wäre. So hat die Polizei ihm die Möglichkeit gegeben, den Minister
für Volksaufklärung, Bogoljepow zu ermorden. Weiter ist bekannt, daß
während in jedem Polizeirevier der Befehl des Polizeidepartements vorlag,
einen gewissen Gerschuni***) bei seinem Eintreffen in der Hauptstadt zu ver-
haften, daß während in jedem Polizeirevier die Photographien des Genannten
auslagen, daß eben dieser Gerschuni mit einem richtigen auf seinen Namen
lautenden, ordnungsmäßig ausgestellten und visierten Paß anderthalb Monate
in einem möblierten Zimmer in der Puschkinstraße wohnen, das Attentat auf
den Minister des Innern Ssipjagin organisieren, während des Attentats
aus der Stadt verschwinden und nach seinem Gelingen wieder zurückkehren
konnte, ohne daß die Polizei von ihm Notiz genommen hatte.
Ebensowenig hat sich die Petersburger Polizei befähigt erwiesen, die zur Er¬
mordung Plehwes in der Hauptstadt eingetroffnen Verschwörer rechtzeitig
ausfindig zu machen..." Das schrieb, wohl verstanden, vor vier Jahren
Lopuchin, derselbe Lopuchin, der gegenwärtig angeklagt sein soll, die Polizei
in ihrer Tätigkeit behindert zu haben!
Von den drei erwähnten Morden fällt nur der Plehwes in seine Amtszeit.
Seit dem Dezember 1904 hat man von Lopuchin wenig gehört, um so mehr
von Durnowo, und die Blätter waren voll von Nachrichten über die provo¬
katorische Tätigkeit der Polizei. Nachträglich füllt es auf, daß man in der
Revolutionsliteratur, möge es die demokratische Oswoboshdennije Struves oder
Jskra und Proletarij des Sozialdemokraten Plechanows oder Rewoljutionnaja
Rossija der Sozialrevolutionäre Burtzew-Asews sein, daß man sehr selten von
Lopuchin hörte, obwohl er doch der bestgehaßte Beamte im revolutionären
Rußland hätte sein müssen. In der Oswoboshdennije findet sich wohl hin und
wieder ein Hieb auf ihn, weil er die Justiz zugunsten der Polizei verlassen
habe, aber auch dort sind die vorsichtigen Satzwendungen nur für Eingeweihte
recht verständlich.
Dieser Umstand deutet darauf hin, daß zwischen Lopuchin und dem oppo¬
sitionellen Rußland schon während seiner Amtszeit eine Verbindung bestanden
hat, die auf einen tiefen Konflikt im Polizeidepartement schließen läßt, und die
eben darum den Gegnern der Regierung eine gewisse Reserve gegen Lopuchin
auferlegte. Wie weit die Verbindung Lopuchins nach links gegangen ist, zu
untersuchen ist eine der wesentlichsten Aufgaben des bevorstehenden Prozesses.
Die Bekanntschaft Lopuchins mit Asew sagt, so will mich dünken,
gar nichts. Denn nicht er, sondern einer seiner Vorgänger hat den Führer
der Sozialrevolutionäre als Agenten angestellt. Lopuchin hat ihn bereits als
altes Inventar im Ministerium vorgefunden. Nur die unerhörte Kühnheit
Asews hat seine Persönlichkeit über die der hundert andern Agenten heraus¬
gehoben. Hatte Lopuchin die Pflicht — ja die Möglichkeit, sich als Chef fort¬
gesetzt über die Persönlichkeiten der Agenten seiner Unterorgane auf dem
Laufenden zu halten? Mußte er sich in dieser Beziehung nicht vollständig
auf seine Unterorgane verlassen? Wer hat Asew in das Ministerium gebracht? Das
ist die zweite wichtige Frage, die klar beantwortet werden muß, ehe von einer
Schuld Lopuchins gesprochen werden kann, und wer hat ihn benutzt? Plehwe,
Durnowo oder Lopuchin? Da liegt der Schwerpunkt der ganzen Angelegenheit.
Auch die Tatsache der Bekanntschaft mit Burtzew kann Lopuchin vor
Gericht als belastendes Moment kaum ausgelegt werden. Burtzew ist wohl
Sozialrevolutionär, aber nicht Terrorist, überdies ähnlich wie Krapotkin ein
in ganz Rußland geachteter Schriftsteller und Historiker der russischen Revo¬
lutionsgeschichte, mit dem man sich nach dem Manifest von 1905 in Peters¬
burg nicht scheute, auf der Straße zu zeigen. Burtzew ist überdies Heraus¬
geber der in Petersburg erscheinenden historischen Zeitschrift Byloje.*) Ich
glaube, daß die Beziehungen Lopuchins zu ihm eben in der Redaktionsstube
zusammenlaufen. Lopuchin mag dem Historiker ergänzendes Material geliefert
haben, und wenn er wirklich auch nur das Amtsgeheimnis verletzte, so wird
sich das auf alte Prozesse bezogen haben, keinesfalls auf persönliche Be¬
ziehungen zu Agenten der Polizei. Zu seiner eignen Sicherheit war Lopuchin
gezwungen zu schweigen; denn in dem Augenblick, wo er einen Agenten offen
preisgab, war er gerichtet, entweder durch die Revolution oder durch den Staat.
Indiae Beziehungen zu den Terroristen scheinen mir ausgeschlossen. Es
drängt sich somit der Gedanke auf, daß der Verrat an Asew von
einer dritten Stelle begangen wurde, die ein Interesse daran hat,
sich sowohl Lopuchins wie Asews zu entledigen. Auch die Verhaftung
des ehemaligen Polizeichefs braucht nicht gegen ihn zu sprechen; sie kann sehr
wohl eine Schutzmaßregel für das Leben des so hart bedrängten sein.
Anders steht es mit Lopuchins Beziehungen zur konstitutionell¬
demokratischen Partei; schon heute wird in den Wandelgängen der Reichs¬
duma behauptet, bei ihr habe sich ein interessantes Material über den Fall
zusammengefunden. Es soll darüber im nächsten Briefe berichtet werden.
el der Feststellung der äußern Ergebnisse am Schlüsse des Schul¬
jahrs müssen sich den Lehrern und Schulvorständen Gedanken¬
gänge aufdrängen, die mit allgemeinen Erwägungen aufs engste
zusammenhängen, wie sie uns dermalen in den freien Er¬
örterungen der pädagogischen Literatur entgegentreten und auch
manchen Maßnahmen der obern Schulbehörden in deutschen Landen nicht fern
zu liegen scheinen. Das Ziel einer jeden Erziehung, hören wir da, und so
auch unsrer Schulerziehung, sei nicht das Wissen, sondern neben der mit der
Wissenspflege freilich aufs engste zusammenhängenden Ausbildung der Denk-
kraft namentlich auch die Pflege der Einbildungskraft, des Gemüts, des
Willens, dann weiterhin der körperlichen Anlagen und Kräfte, kurz all der
verschiednen Seiten, die die Komponenten der Gesamtpersönlichkeit bilden, die
körperliche und die geistige, die menschliche und die bürgerliche, die nationale
und — neuerdings mit steigendem Nachdruck betont — die soziale. Fürwahr
ein hohes und edles Ziel, das wir gern anerkennen und uns aneignen
möchten, dem wir auch tatsächlich schon längst, schon lange vor den Predigten
der Schulreformer, nachgestrebt haben und nachstreben, dessen große Worte
wir aber doch der harten Wirklichkeit der Tatsachen gegenüber einer nähern
einschränkenden Bestimmung unterwerfen müssen.
Eine solche liegt erstens in der zunehmenden Beschränkung der Erziehungs¬
mittel, der sich die Schule und die persönliche Einwirkung der Lehrer mehr und
mehr ausgesetzt sieht. Neben sie und zum Teil an ihre Stelle, ja ihr gegenüber
sind im Laufe der Jahrzehnte in wachsendem Umfange und mit steigendem
Nachdruck andre Einflüsse von recht aufdringlichen Gewicht getreten: die all¬
gemeine dienstliche Ordnung, das Elternhaus, die gesellschaftlichen Beziehungen,
die ganze Umwelt, in der die Jugend lebt, zu der nachgerade namentlich auch
die Presse, besonders die Tagespresse zu rechnen ist, endlich auch die poli¬
tischen Parteien und die Parlamente, lauter Einflüsse, die der Schule nicht
immer in förderlichem Sinne zur Seite, gar häufig auch gegenüberstehn.
Unter diesen Umständen muß diese und müssen namentlich ihre ausführenden
Organe die Verantwortung für die Erfüllung oder Nichterfüllung jener so be¬
stimmten hohen Erziehungsaufgabe zu einem guten Teile von sich ablehnen
und die häufigen meist freilich ganz einseitigen oder übertriebnen Klagen, die
sich nach dieser Seite vernehmbar machen, als wesentlich durch die nicht selten
„unlautere" Konkurrenz jener andern erzieherischen Faktoren mindestens mit
hervorgerufen bezeichnen. Die Schule ist eben nicht, entfernt nicht, jeden¬
falls nicht mehr jener große Pan, nicht im guten Sinne als Heiland, nicht
im schlimmen als Sündenbock, zu dem die Schulparteien sie heute machen
möchten., '. ,, ^' : - - . ,?, ^7 ^,..^-..^
Wenn diese erste Einschränkung in der Stellung der Schule begründet
ist, so liegt eine andre im Charakter der Schüler. Diese nämlich sind nicht
bloß freie Einzelpersönlichkeiten, nur zum „Sichausleben" in ihrer besondern
Art bestimmt, sondern sie sind auch Glieder eines in eine feste Ordnung
organisierten Ganzen, in das sie sich mit der individuellen Art ihrer werdenden
Persönlichkeit einzufügen haben. Die uralte und ewige Wahrheit, daß man
zur wcihren Freiheit der Persönlichkeit nur durch die Zucht des Gehorsams
und der Selbstbeschränkung gelangt, sollte doch bei der Stellung jener hohen
Erziehungsaufgabe nicht vergessen werden. Wie sagt auch der, den man in
den letzten Jahren so oft und so gern — nicht immer mir innerm Rechte —
genannt und zitiert hat? „Nur allein durch seine Sitte kann er frei und
mächtig sein." >/7 - ,
Mit dieser doppelten Einschränkung können wir die durch jenes Ziel gesetzte
Aufgabe gern anerkennen. Damit ist aber auch die Forderung gegeben, daß
erstens die allgemeine Ordnung unsers Ganzen, die bekanntlich nicht von der
Schule, sondern von der Schulverwaltung und weiterhin von der ganzen staat¬
lichen Organisation bestimmt wird, von der diese nur ein einzelnes Glied ist,
und auf die die Schule, namentlich die höhere Schule, nur einen verschwindenden
Einfluß hat, und daß weiterhin das persönliche Wirken der mit der Durchführung
dieser Ordnung beauftragten Organe, der Lehrer, jenem Ziele angepaßt sei.
Eine Prüfung der Frage, ob das der Fall ist, setzt nun freilich eine
Verständigung darüber voraus, was wir uns unter Persönlichkeit und unter
Erziehung zur Persönlichkeit zu denken haben. Eine solche Verständigung, an
der es auch sonst zu fehlen scheint und an deren Stelle vielfach unklares
Gerede tritt, erfordert je nachdem entweder eine Tiefe der spekulativen Be¬
trachtung oder eine Genauigkeit exakter Feststellungen, wie sie durch die Be¬
dingungen dieser kurzen Betrachtung nicht gewährleistet werden können. So¬
viel aber wird doch allgemein anerkannt werden, daß wir uns, wo wir
von Persönlichkeit reden, einen innern, einheitlichen, zentralen Kern des
Wesens denken, durch den alle Strahlen bewußter, halbbewußter, ja selbst un¬
bewußter Regungen und Äußerungen unsers einzelnen Empfindens, Denkens,
Fühlens und Wollens bestimmt werden, ein Herdfeuer, eine Zentralsonne
— um mich bildlich auszudrücken —, die unser ganzes Sein und Wirken
durchdringt, durchwärmt, durchleuchtet. Wie verhält sich nun zur Pflege einer
solchen einheitlichen, alle die verschiednen Wirkungsweisen des individuellen
Lebens bestimmenden zentralen Macht die Unterrichtsordnung namentlich unsrer
höhern Schulen, vor allem unsrer Gymnasien? Sollte die sich seit Jahrzehnten
fortsetzende und allem Anschein nach immer noch kein Ende findende un¬
organische Häufung und Aufeinanderstapelung der verschiedenartigsten Wissens¬
stoffe und Kunstfertigkeiten im Lehrplan des Gymnasiums, die Geist und Herz
und Willen oft nach den entgegengesetztesten Richtungen auseinanderzerren, bei
denen das einheitlich zusammenhaltende Band für eine tiefere Betrachtung zwar
schließlich nicht verborgen bleibt, auf dieser Stufe aber nicht nachgewiesen
oder auch nur verständlich gemacht werden kann — sollte das einer solchen
einheitlichen, organischen Zusammenfassung und Durchdringung, wie sie die
Pflege der Persönlichkeit verlangt, förderlich sein? Die ernsthaftesten Zweifel
stellen sich einer Bejahung dieser Frage in den Weg. zumal da sich bei dieser
ganzen Entwicklung vielfach nicht wesentliche Interessen der geistigen oder der
sittlichen Bildung, sondern vorübergehende Forderungen des praktischen Nutzens,
wenn nicht gar der äußerlichen Konvenienz oder selbst der vergänglichen Mode
als mitbestimmend erweisen.
Dem entspricht auch die eigentümliche Form, in die wir die Würdigung
der Gesamtentwicklung unsrer Schüler, zu der doch eben wesentlich ihre Persön¬
lichkeit im oben formulierten Sinne gehört, am Schlüsse ihrer Hauptstufen
zu kleiden haben. Ich sage ausdrücklich die Form; denn gewiß wird ja die
sachliche Auffassung und Würdigung durch die Lehrer mit dieser Form nicht
erschöpft. Aber Form und Inhalt sollten doch in der möglichsten Überein¬
stimmung stehen. Dagegen sind es nun nicht Bilder lebendiger Persönlich¬
keiten oder doch wenigstens anschauliche und individuell charakterisierende Worte,
sondern konventionelle, formelhafte Schablonen, dem Außenstehenden oft schwer
oder gar nicht verstündliche Bezeichnungen, die zudem in jedem Lande wieder
anders lauten, bei uns etwa „ziemlich gut bis gut" oder „mittelmäßig bis
ziemlich gut", etwa noch mit „mittelmäßig in Klammern", wenn nicht gar
bloße Ziffern mit Dezimalen und Zentesimalen, in die diese Gesamtbeurteilung
der Schüler gekleidet wird. Selbst unsre reifsten Schüler entlassen wir nach
Vollendung des ganzen Bildungsgangs, den sie bei uns zu erreichen ver¬
mögen, ins Leben hinaus mit einer Gesamtwürdigung ihrer Persönlichkeit, die
sich neben einem mehr oder weniger formelhaften Worte wie „genügend" oder
„gut" in einer Ziffer wie etwa 4,08 oder, Wenns höher kommt, 5,97 Ausdruck
geben muß. Wo bleibt da das Persönliche? Und dieses rechnerische Er¬
gebnis beruht auf so unverbrüchlichen allgemeinen Normen, daß ein Verstoß
auch nur gegen einige Zentesimalen des Durchschnitts eine ernsthafte Verant¬
wortung in Aussicht stellt. Mit bessern: Rechte als über andre Seiten der
Schulentwicklung dürfte man hier vom Standpunkte der Persönlichkeits¬
erziehung aus von einem zu weitgehenden scholastischen Formalismus oder,
wie man weniger höflich auch zu sagen pflegt, von einem gewissen Chinesentum
reden. Die Macht der Zahl und der Formel in der Wissenschaft in allen
Ehren, aber einem so vielseitigen, feingegliederten, tiefwurzelnden, leben¬
sprühenden Organismus, wie er sich uns in der Persönlichkeit anch eines
werdenden Menschen darstellt, vermag sie doch nicht gerecht zu werden.
Und nun noch ein weiteres! Es ist ein alter Spruch, in seiner praktisch¬
technischen Bedeutung zwar verworfen von der exakten Wissenschaft, darum
aber doch wahr in einem tiefern, sittlichen Sinne: „Gold wird nur durch Gold
bewährt." So können auch Persönlichkeiten, soweit sie überhaupt der Beein¬
flussung von außen, also auch der Erziehung zugänglich sind, nur durch Per¬
sönlichkeiten gebildet werden. Darum schaffe man vor allem im Lehrer, man
achte aber auch im Lehrer die Persönlichkeit. Jenes ist freilich zunächst Auf¬
gabe von uns selber. Wie und nach welcher Richtung wir dieser Forderung
nachzukommen haben, das näher nachzuweisen ist hier nicht der Ort. Es
genügt die Grundregel auszusprechen, daß, was an Persönlichkeitsbildung der
Lehrer im Schüler zu Pflegen suchen muß, charaktervolle und selbständige
Eigenart, doch innerhalb der Schranken allgemein sittlich-menschlicher und be-^
ruflicher Pflicht, daß er das nach Maßgabe seiner eignen berechtigten indivi¬
duellen Art vor allem an sich selbst vorbildlich darstellen soll, eingedenk des
alten Schulmeisterspruches: lonZum sse lehr xer xiaeoexts., brevv et etlioax
psr WömM, das heißt auf unsre Aufgabe angewandt: am wirksamsten ist die
Erziehung, die sich im persönlichen Vorbilde darstellt. Insbesondre wäre eines
zu wünschen. Wie wir von dem Schüler, wenn auch unter wachsenden
Schwierigkeiten, verlangen und stets verlangen müssen, daß er, solange er
Schüler ist, den Mittelpunkt und den Schwerpunkt seines Lebens und Strebens
in die Aufgabe der Schule lege, die ja seine Schule ist und nicht die des
Lehrers, so soll auch dieser unter Vergönnung aller mit seiner Berufsaufgabe
verträglichen Freiheit, seine Persönlichkeit menschlich und beruflich zu pflegen
und zu bilden, den Nerv seines Wirkens und Schaffens in seinem Lehrer¬
berufe finden und durch die mancherlei Reizungen und Lockungen des modernen
Lebens, seiner Liebhabereien und Genüsse, seines gesellschaftlichen und Vereins¬
lebens, denen so manche sonst tüchtige Persönlichkeiten unterliegen, sich von
ihm nicht abziehn lassen. Feine Fühlfäden haben die Jünger dafür, ob ihr
Meister ihnen und ihrer Aufgabe sein ganzes Sinnen, sein volles Herz, sein
zentrales Wollen, kurz seine eigne ganze Persönlichkeit ungeteilt schenkt.
Für eine solche Hingabe ist freilich die unerläßliche Voraussetzung, daß
sich niemand dieser schönen, aber schweren Lebensaufgabe zuwendet, dem der
innere Beruf dazu versagt ist. Nein vulpis oonurü oolltinAit aäiro Vormtnum,
heißt es hier; viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt, und den ge¬
wählten Lebensberuf nur als Versorgungsanstalt zu betrachten, rächt sich
nirgends bittrer als hier. Denn der Nichtauserwählte wandelt nicht unge¬
straft unter den Palmen des Lehramtes, die uns wohl süße Früchte, daneben
aber auch wohl einmal eine Dornenkrone tragen können. Und da drängt sich
nun der Gedanke auf, daß die Bedingungen der Auslese für diesen Beruf
nach manchen Seiten nicht vorsichtig und nicht tiefgründig und nicht liebevoll
genug festgestellt sind. Eine auch noch so wohlgeordnete Prüfung vermag dem
allein nicht gerecht zu werden. Denn keinen Beruf gibt es, bei dem mehr
von der Persönlichkeit abhängt als den des Lehrers. Nicht eine erlernbare
Wissenschaft ist ja die Erziehungslehre, wie man sie einseitig nennt, wozu
man sie gerade gegenwärtig mit aller Gewalt stempeln möchte, woraus so
manche Fehlgriffe entspringen, sondern eine Kunst, die freilich wie jede Kunst
ruht auf dem Grunde vielseitiger wissenschaftlicher und technischer Bildung, aber
ihre Spitze und Vollendung findet in persönlichster Eignung, die eine freie
Gabe von oben ist.
Stellen wir uns nun vor, daß diese Voraussetzung einer möglichst hohen,
freien und feinen Persönlichkeitsbildung des Lehrers, deren Verwirklichung
zwar zu einem ganz wesentlichen Teile, aber doch nicht ausschließlich an ihm
selber liegt, ganz oder im wesentlichen erfüllt wäre, dann müssen wir nun
unsrerseits doch noch einen doppelten Anspruch erheben, ehe wir uns als voll
ausgerüstet für jene hohe Aufgabe betrachten dürfen. Der eine dieser Ansprüche
richtet sich nach außen. Es ist in den letzten zehn bis zwanzig Jahren der
Brauch, man darf fast sagen Mode geworden, an der Wirksamkeit von uns
Lehrern der höhern Schulen, nicht etwa nach feiten persönlicher Unzuläng-
lichkeit des einzelnen, wie sie ja überall vorkommt, aber auch überall sonst der
öffentlichen Diskussion entzogen bleibt, sondern nach feiten der Grundlagen unsers
Wirkens mehr als andern Schulsystemen und Lehrerkreisen gegenüber herum-
zumäkeln, herumzudoktern, Herumzuschulmeistern. Jede Laune kurzsichtiger und
flüchtiger Tagesmeinung und Gassenbildung setzt sich auf den selbstgezimmerten
Thron an Stelle der in jahrzehntelanger Bewährung, in gründlichster Selbst-
Prüfung, in der Erfahrung einer oft langen Berufsarbeit gewonnenen und
befestigten Grundsätze, und das sonst so hochgestellte und der Volksschule
gegenüber unbedingt geforderte Allheilmittel der „fachmännischer Bildung" —
hier soll es auf einmal nichts mehr gelten? Und sollte jener Brauch oder
vielmehr Mißbrauch wirklich förderlich sein für die Persönlichkeitsbildung, ins¬
besondre bei ungefestigten, unselbständigen, zaghaften Naturen, wie sie sich
aus naheliegenden Gründen in unsrer Mitte vielleicht eher finden als ander¬
wärts, eine Persönlichkeitsbildung, die doch die unerläßliche Voraussetzung ist
für das Werk der Persönlichkeitserziehung an den Schülern? Also höre man
doch endlich auf mit dieser Schul- und Lehrermäkelei, die die Grenzen einer
berechtigten, ja gewiß notwendigen Kritik in ihrer oft so unfeinen Form weit
überschreitet und uns dem hohen Ziele, das man uns steckt, nicht näher zu
bringen vermag, vielmehr nur weiter davon abzuführen droht.
Neben dieser Forderung, die sich nach außen kehrt, geben wir noch einem
Wunsche, einer Bitte Ausdruck, die sich nach oben richtet. Das äußere und
innere Wachstum unsers Bildungswesens nach Zahl, Größe, Mannigfaltigkeit
der Schulen, die im Verhältnis dazu steigende Schwierigkeit der obersten Leitung,
die zunehmende Vielseitigkeit der Ansprüche — all das drängt die Schulver¬
waltungen ja wohl mit einer gewissen Notwendigkeit dazu, die strenge Durch¬
führung eiuer festen äußern Ordnung in höherm Maße zu verlangen als bisher.
Wenn unserm Unterrichtsbetrieb früher ein großes, ein sehr großes, vielleicht ein
zu großes Maß von Freiheit und Selbständigkeit zwar nicht des Schaffens — das
genossen wir früher so wenig als heutzutage — aber doch des Seins und
Wirkens für die einzelne Lehrpersönlichkeit wie für die ganzen Lehrkomplexe
vergönnt war, so ist das nun anders geworden, und zwar — nach dem Gesetz
der abwechselnden Extreme in den Kontrasten — gründlich anders. Es mußte
anders werden. Aber man vergesse nicht, daß man das Gut einer größern
Einheitlichkeit, einer straffem Zusammenfassung, einer zunehmenden Nivellierung
oder auch Schablonisierung nicht umsonst gewinnt, und daß der Preis dafür
doch kein kleiner ist, die Beschränkung persönlich-individuellen Wirkens. Möge
man ihn nicht höher bemessen, als durchaus notwendig ist. Denn jenem Interesse
einheitlicher Reglementierung steht andrerseits die Erwägung gegenüber, daß
kein Beruf, soll er anders wahrhaft fruchtbringend geübt werden, der Schabloni¬
sierung mehr widerstrebt und ein ziemliches Maß von persönlicher Freiheit des
Wirkens nötiger hat als der des Lehrers und Erziehers, in der Auffassung
und Behandlung der Personen und der Lehrstoffe wie — in geringerm
Maße — auch in der äußern Ordnung der Geschäfte, also in Unterricht und
Erziehung zunächst, einigermaßen aber auch in der Verwaltung. Die zunehmende
Neigung, mit vorgeschriebnen Formularen zu arbeiten, ist zweifellos praktisch!
das erleichtert das Regieren und befördert die Routine. Aber mit Regiment
und Routine allein ist der Aufgabe der Erziehung, vollends der Erziehung zur
Persönlichkeit nicht gedient. Denn — es muß wiederholt werden — zur Per¬
sönlichkeit kann nur der erziehen, der selber eine Persönlichkeit sein darf und
eine Persönlichkeit ist.
Überschauen wir den beschränkten Kreis der Gedanken, die im Vorstehenden
entwickelt worden sind, so gelangen wir zu einem Ergebnis, das sich dem
denkenden Beobachter auch sonst aufdrängt, und dem zum Schluß noch Aus¬
druck gegeben werden soll. Ein ernstes Streben nach hohen Zielen ist auf dem
Gebiete der Volkserziehung heutzutage unverkennbar. Aber es scheint doch eine
gewisse Gefahr vorhanden, daß es sich seine Kraft schwächt in zersplitternder
Mannigfaltigkeit und daneben ausschöpft in vielen und großen Worten, denen
der innere Gehalt und die dauernde Lebenskraft fehlen. Denn vielfach tritt ein
auffälliger Widerspruch hervor zwischen Wort und Tat, zwischen Ziel und
Weg, zwischen Idee und Wirklichkeit: man ruft nach Entlastung der Schüler
und häuft immer eine Last auf die andre; man predigt stärkere Betonung der
Eigenart für die verschiednen Bildungswege und vermischt und verflicht sie
immer enger miteinander, man verlangt stete Verbesserung der Methode und
mißachtet den, der das unverläßliche Werkzeug ist — und mehr als das — zur
Handhabung der Methode. So erhebt man auch den Ruf nach Erziehung zur
Persönlichkeit durch die Schule und hemmt den Erzieher selber in der freien
Gestaltung und Auswirkung der eignen menschlichen und beruflichen Persön-
sönlichkeit. Darin liegt die Gefahr der Veräußerlichung, noch mehr, der Phrase,
man hört daraus den vernehmbaren Anklang eines gewissen Geistesprotzen-
tums, von dem auch sonst Spuren in unserm deutschen Volksleben von heut¬
zutage für eine tiefere Beobachtung nicht fehlen.
Wohl dürfen wir mit dem geistreichsten aller Geschichtschreiber von uns
sagen: <xt^oc>OPo5/<co övev wir streben nach wissenschaftlicher Bildung,
ohne deswegen zu erschlaffen. Mögen wir auch die andre Hälfte des Wortes
auf uns anwenden können: ^e?/ e^,.e^et«L, mit Bescheidenheit
und mit schlichtem Sinne suchen wir zum Guten und Schönen zu gelangen.
Denn nicht in Sturm und Wetter, nicht mit Sphärenmusik und Donncrgcmg,
wie die aufgehende Sonne beim Dichter, nein! mit sanftem, stillem Säuseln,
mit leisem Schritte, wie das nahende Morgenrot hat von jeher das wahrhaft
Große seinen ersten Einzug in die Geistesgeschichte der Menschheit gehalten.
> le Frage, die Jesus in der Nähe von Cäsarea Philippi an seine
Jünger richtete: Für wen haltet ihr mich? regt die heutigen
Kulturvölker nicht weniger auf, als sie die Christenheit bewegt
hat in der Zeit, wo im Streite mit Gnostikern und Arianern
Idas christologische Dogma formuliert wurde. Völker und Staaten
entstehen und vergehen, aber der Mensch mit seinem Verlangen nach leib¬
lichem und Seelenbrot bleibt derselbe. Für die Rechte wie für die Linke ist
die Frage entschieden. Es gibt noch Millionen naiv gläubiger Christen, die
weder forschen noch zweifeln. Auf der andern Seite wimmeln Scharen, deren
Seelenleben in der Sorge für den Leib aufgeht, andre Scharen, die den So¬
zi allsten Himmel auf Erden erwarten, und ebenso rühmen Intelligenzen, daß ihnen
Kunst, Wissenschaft oder politische Wirksamkeit die Religion ersetzen. Für alle
diese ist Christus ein Mensch, nach dem zu fragen nicht die Mühe lohnt, oder
dessen Anhängerschaft als ein Hindernis gedeihlicher Entwicklung bekämpft
werden muß. Aber in der Mitte leben Tausende, die religiöse Bedürfnisse
empfinden, die von der Unentbehrlichkeit der Religion für ein gesundes Volks¬
leben überzeugt sind, und die der scheinbar unlösliche Widerstreit ängstigt
zwischen der einzigen Religion, die in Betracht kommen kann, und den Ergeb¬
nissen der modernen Wissenschaft. Unter den Männern, die solchen Geüngstigten
annehmbare Lösungen darbieten, steht Adolf Hcirnack vornan. Die Auffassung
der modernen protestantischen Theologie, deren berühmtester Vertreter er ist,
darf als bekannt vorausgesetzt werden: auch bei der Entstehung des Christen¬
tums ist, wie überall und immer in der Welt, alles natürlich und ohne Wunder
zugegangen. Aber aus der religiös-philosophischen Gärung jener Zeit sind
unter dem entscheidenden Einflüsse Jesu Ideen kristallisiert und dadurch Werte
gewonnen worden, die auch der leidenschaftliche Umwerter von Sils Maria
nicht zu entwerten vermocht hat; und die gewaltige Kraft, die von der Person
Jesu ausgegangen ist, hat eine Organisation geschaffen, die jene Werte, ob¬
wohl sie zeitweise verhüllend und verunreinigend, doch in ihrem Wesen un¬
versehrt von Jahrhundert zu Jahrhundert weitergibt. Was Harnack vor seinen
Mitarbeitern auszeichnet, das ist der erstaunliche Umfang seines Wissens, der
geniale Scharfsinn, mit dem er den Geist der alten Zeiten erfaßt und dunkle
Vorgänge aufhellt, der konservative Sinn, der ihn vor Hyperkritik schützt und
der kirchlichen Tradition beipflichten läßt, wo immer sie von der Forschung
bestätigt wird, und die Vorurteilslosigkeit, mit der er der alten Kirche gerecht
wird. Alles dieses, namentlich, daß er ganz frei ist von Gehässigkeit gegen
die katholische Kirche, rühmt auch die Germania an ihm.
Nun hat das Berliner Komitee zur Veranstaltung volkstümlicher Vor¬
träge, das vorigen Winter Johannes Reinke berufen hatte, der Propaganda
des materialistischen Monismus entgegenzutreten, diesmal Harnack eingeladen,
und dieser hat am 9., 13. und 16. Januar in der alten Singakademie vor
einer zahlreichen, aus allen Ständen und Konfessionen gemischten Zuhörerschaft
gesprochen und sich deren tiefempfundnen Dank erworben. (Der Geldertrag
dieser Vorträge wird der Kolonialfrauenschule in Witzenhausen überwiesen.)
Er zeigt darin, wie das Christentum Weltreligion, Weltanschauung und
Weltmacht geworden ist. Der erste Vortrag schildert, wie die orientalischen
Religionen im Reiche Alexanders miteinander in Berührung gekommen sind,
wie jede von ihnen, missionierend, ihre nationalen Grenzen überschreitend, mit
der andern Ideen austauschend, unter der Führung der griechischen Philosophie
sich vergeistigend und nationale Äußerlichkeiten abstreifend, die Tendenz zeigt,
Weltreligion zu werden, wie es aber keiner von diesen alten Religionen gelungen
ist. Zwei Lieblingsansichten moderner Parteien: daß Jesus nicht wirklich ge¬
lebt habe, nur eine mythische Figur sei, und daß er kein Jude sondern ein
Arier gewesen sei, werden mit gebührender Schärfe zurückgewiesen, ebenso später
das sehr verbreitete Vorurteil, das im Christentum nur weltflüchtige Askese
sieht, und die Phantasie der Marxisten, die es aus einer Bewegung prole¬
tarischer Sozialreformer hervorgehen lassen. Der zweite Vortrag beschreibt
den Prozeß der Aufnahme des Ideengehalts der griechischen Philosophie in
den Glauben der Christenheit. Das Ergebnis der griechischen Denkarbeit be¬
stand in der Erkenntnis, daß Geist und Zweck wirklicher sind als alles andre,
daß der Geist den Körper baut und nicht der Körper den Geist, daß alles
Vergängliche nur ein Gleichnis, das Reich der Ideen das wahrhaft Wirkliche
und das Bleibende ist. Zwischen dieser Überzeugung und dem Gedanken des
Evangeliums: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne,
aber Schaden litte an seiner Seele", bestand eine ebenso tiefe Wahlverwandt¬
schaft wie zwischen der griechischen Logoslehre und dem Sohne Gottes, den die
Jünger Jesu in dessen Person erlebt hatten. Auf die Frage, ob es gut sei,
daß sich der Kirchenglaube mit der griechischen Philosophie verschmolzen habe,
antwortet Harnack: wer wird so vorwitzig sein, zu fragen, ob die Entwicklung
auch anders hätte verlaufen können; sie ist nun einmal so verlaufen. Ich
erlaube mir zu antworten, daß der Bund, die Verschmelzung gut, natürlich
und notwendig gewesen ist, daß die religiöse Entwicklung des Judentums, die
in der Person und Lehre Jesu gipfelte, und die philosophische Entwicklung
der Griechen providentiell so gelenkt worden sind, daß sie einander in ihren
Spitzen berühren und miteinander verschmelzen mußten. Daß wir an die
Formulierung dieser Entwicklungsergebnisse in den Konzilsbeschlüssen des
Vierten und des fünften Jahrhunderts nicht gebunden sind, darin stimme ich mit
Harnack überein. Der dritte Vortrag zeigt, wie die Urchristengemeinden schon
als Erben der großartigen jüdischen Geschichte eine Weltmacht in xotentig,
waren, wie sie eine solche durch ihre Organisation, durch ihren materiellen
Besitz, durch die Aneignung aller geistigen Machtmittel schon im zweiten und
dritten Jahrhundert wirklich wurden, sodaß dem großen Konstantin gar nichts
andres übrig blieb, als die kirchliche Organisation zur Grundlage seines Reiches
zu machen. Freilich sei dieser damals allein offenstehende Weg ein gefährlicher
Weg. Der Staat müsse seinen eignen Grund unter den Füßen haben; er
möge sich freuen, eine geistige Macht, wie die christliche sei, in seinem Schoße
hegen zu dürfen, solle aber nie vergessen, daß er — er selbst sei.
Die Vossische Zeitung hat diesmal kein höhnendes Wort gewagt, sondern
den großen Theologen mit der ihm gebührenden Ehrerbietung behandelt. Die
Germania erkennt zwar, wie schon bemerkt worden ist, Harnacks Vorzüge an,
findet aber, daß sich seine Vorträge in formeller Vollendung mit denen
katholischer Größen nicht messen können. Darüber läßt sich, als über eine
Geschmacksache, nicht streiten; als charakteristisch verdient nur erwähnt zu
werden, daß die zwei ersten von den fünf katholischen Größen, die sie über
Harnack stellt, die Modernisten Schelk und Kraus sind. Noch weniger ist sie
natürlich mit dem Inhalt des Vorgetragnen zufrieden. Besonders tadelnswert
findet sie es, daß Harnack an sehr wichtigen Einwürfen, die ihm gemacht
werden können, vorübergehe, ohne sie zu beachten, andre, die er erwähnt, mit
der Bemerkung abfertige: wer wird so vorwitzig sein, das wissen zu wollen!
Und sie stellt ihm den heiligen Thomas als Muster vor, der ja in der Tat
jede seiner Behauptungen genau formuliert, alle in seiner Zeit möglichen Ein¬
würfe dagegen der Reihe nach widerlegt und alle Fragen mit einem klaren
„ja" oder „nein" beantwortet. Wir Heutigen sind eben nicht mehr so naiv,
zu meinen, wir wüßten alles (das heißt wir heutigen Denker; die Kirch¬
gläubigen wie die Haeckelgläubigen sind beide darin noch ganz Mittelalter).
Wir wissen, daß wir nichts oder wenig wissen, und daß wir in Beziehung
auf die großen Welträtsel höchstens Vermutungen wagen dürfen. Wir sind
bescheidne Agnostiker, Hypothesenbauer und Relativisten geworden. Es ist
wahr, die Scholastik imponiert mit ihrer Kühnheit, Klarheit und Folgerichtigkeit.
Aber die Weltgeschichte beweist uns, daß diese Folgerichtigkeit zu Absurditäten
geführt hat, zum Beispiel zur Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes und
zu der von Hexen und Zauberern, die beide durch Tatsachen widerlegt werden.
Darum müssen wir auf jene Vorzüge, die nur der Ignorierung oder Leug-
nung unzweifelhafter Tatsachen zu danken sind, verzichten. Doch in Beziehung
auf einen engen Kreis von Tatsachen gebe ich der Germania recht. Auf eine
Frage, die ihrem vollen Inhalt nach auszusprechen hier der Raum fehlt,
muß die protestantische Theologie eine klare und unzweideutige Antwort geben:
ist die wunderbare Führung des jüdischen Volkes samt seinem Prophetentum,
ist die Person Jesu, ist die „von Matrosen, Fischern und Schneidern" ge¬
schaffne Kirchenverfassung, eine Verfassung „von ungeheurer Zweckmäßigkeit
und Haltbarkeit", wirklich rein natürlich aus psychologischen Prozessen zu er¬
klären? Das zweite Glied der Frage hat um so mehr Gewicht, wenn man
mit Harnack für bewiesen hält, daß Jesus von dem Bewußtsein durchdrungen
war, er sei der Messias, und wenn man mit ihm die Messicmität definiert als
„das Endgeschick des Volkes Israel, das er herbeiführen, und das für das
Geschick aller Völker entscheidend sein sollte". Man stelle sich einen Menschen
vor, der das von sich denkt! Loisy meint, wenn Jesus ein bloßer Mensch
war, dann war er nicht größer, sondern kleiner als Sokrates, und andre haben
die Alternative bedeutend gröber ausgesprochen. Ich halte es für eine von
der Vernunft durchaus nicht geforderte Konzession an die Naturwissenschaftler,
wenn man Gott zum Sklaven der Naturordnung macht, die er selbst als
Grundbedingung für die Entwicklung des Menschengeistes geschaffen hat, den
zu vollenden Aufgabe des Christentums ist. In einem Buche, an dem Harnack,
ohne es zu wissen, mitgearbeitet hat, und das demnächst erscheinen soll, ver¬
suche ich zu zeigen, daß und wie man, ohne der Orthodoxie zu verfallen, den
Offenbarungscharakter des Christentums festhalten könne. Wenn nun auch
Harnack meiner Ansicht nach in diesem Punkte dem Naturalismus nicht so
entschieden entgegentritt, wie es wünschenswert erscheint, hat er doch durch
seine Vorträge der guten Sache einen großen Dienst geleistet. Die Bevölkerung
der Reichshauptstadt huldigt sehr verschiednen geistigen Richtungen, aber in
der Feindschaft gegen das Christentum scheinen diese ziemlich einig zu sein,
und die Berliner Presse entspricht natürlich einer Gesinnung und Stimmung des
Publikums, die von ihr zu einem guten Teile gemacht wird. Diese Presse
nun sieht sich durch Harnack gezwungen, vom Christentum einmal nicht mit
haeckelscher Geringschätzung zu sprechen, sondern es als eine bis heute wohl¬
tätig fortwirkende verehrungswürdige Geistesmacht darzustellen.
Nach Schluß des letzten Vortrags versammelten sich unter Führung des
Leiters der freien Vereinigung, die diese Vorträge veranstaltet, des Legations¬
sekretärs a. D. Dr. Freiherrn von Flöckher, eine Anzahl von Männern der
Wissenschaft zu einem Bankett, bei dem der Geheimrat Professor Lasson, wie
die Vossische Zeitung schreibt, Harnack als den Typus des wissenschaftlichen
Geistes in Deutschland in herzlichen Worten feierte und erkennen ließ, mit
welcher Verehrung er seinem freundschaftlichen Gegner zugetan sei.
Was vergangen, kehrt nicht wieder,
Aber ging es leuchtend nieder,
Leuchtets lange noch zurück.
.(?'^W^lese Zellen — der Anfang des Gedichts „Erinnerung und
Hoffnung" von Karl Förster — zieren den Grabstein auf dem
alten Johanuisfriedhofe, der die irdischen Reste von Henriette
Voigt geb. Kuntze deckt. Fast sieben Jahrzehnte sind seit ihrem
frühen Tode verflossen, aber noch heute lebt die Freundin
Robert Schumanns und Felix Mendelssohns, eine Lichtgestalt, im Gedächtnis
der Musikfreunde. Selber musikalisch ausgebildet und von glücklicher Fassungs¬
gabe, aber keusch zurückhaltend in ihrem Urteil und ihrem Spiel, stets bereit,
teilnehmend zu hören, anzuregen, zu helfen, zu vermitteln, war sie während
der Jahre 1834 bis 39 der seelische Mittelpunkt des Künstlerkreises, der den
Ruf Leipzigs als Musikstadt neu begründete. Was ihre Freundschaft für
Schumann bedeutet hat, ist aus dem veröffentlichten Briefwechsel zu ersehen.
Noch bezeichnender ist das hohe Maß von Vertrauen, das ihr der fast vier
Jahrzehnte ältere Hofrat Rochlitz, der welterfahrne Freund Goethes und Beet¬
hovens, schenkte. Aber auch in den zahlreichen Briefen von Taubert,
Hauptmann, Spohr und andern, die ans ihrem Nachlaß erhalten sind, sehen
wir gleichsam das Spiegelbild der Empfängerin als einer edeln, liebenswerten
Persönlichkeit.
Henriette Kuntze war am 24. November 1808 in Leipzig in dem am Brühl
neben dem „Heilbrunnen" nach dem Hallischen Pförtchen zu gelegnen Hause
geboren. Der Vater, Magister Karl Wilhelm Kuntze, gab an der Thomasschule
französischen, daneben auch italienischen Unterricht. Zu seinen Schülern im
Italienischen gehörte u. a. Karl Maria von Weber, der sich zwischen 1811
und 13, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre stehend, großenteils in
Leipzig aufhielt, und der die kleine Henriette öfters auf seinen Knien geschaukelt
hat. Nach den Kriegen, deren Folgen lange auf der Stadt lasteten, war gar
oft Schmalhans Küchenmeister im Hause. Noch härter wurde das Los der
Familie, als sie im Mai 1817 den Ernährer verlor. Schon vorher war die
Wohnung mit einer andern in einem Dachgeschoß nahe bei dem Juridikum
vertauscht worden. Die Mutter, die außer dem Töchterchen uoch zwei Söhne
zu versorgen hatte, wußte manchen Tag nicht, wie sie am nächsten die Nahrung
beschaffen sollte. Um nur ein paar Pfennige zu verdienen, mußte Jettchen,
ihrer Mutter zulieb zu jedem Dienste bereit, im Haudkörbchen Strickgarn von
Haus zu Haus anbieten. Dabei zeichnete sie sich in der Schule so aus. daß
der seinerzeit sehr angesehene Direktor Gebiete bei ihrem Abgänge von ihr
sagte, es habe nie eine bessere Schülerin seine Schule verlassen.
Den ersten Klavierunterricht hatte ihr der Thomasschüler .Karl Neißiger,
der nachmalige Tonsetzer, erteilt. Später kam sie auf Veranlassung ihres
väterlich für sie sorgenden Paten Schalter, der abwechselnd in Leipzig und in
Petersburg lebte, in das Haus einer Frau Tutter in Berlin, um sich dort
in Musik, Französisch usw. so weit zu vervollkommnen, daß sie eine Stelle
als Erzieherin annehmen könnte. Aus dieser Zeit rührt ein mit „Tutter
gen. 1825" bezeichnetes Bildnis von ihr her, in Deckfarben auf blaugrauem
Papier: ein sinniges Gesicht, ernste braune Augen unter feingewölbtcn Brauen,
reiches, welliges, dnnkelaschblondes Haar, zierlich geschwungner Mund, um deu
entblößten Hals ein Korallenkettchcn. Ein Jahr etwa hatte sie bei Frau
Tutter gewohnt, als der treffliche alte Bendemann, der Oheim des damals
noch jungen Malers, ein hochgebildeter Musikfreund, angezogen durch ihren
Geist und ihr anmutiges Wesen, sie als Pflegetochter in sein Haus aufnahm.
Hier faud ihre Vegabuug für Musik die beste Anregung und Förderung. Ihr
Klavierlehrer erklärte eines Tages, er getraue sich nicht, sie noch weiter zu
unterrichten.
Ihr Wunsch, uoch bei Ludwig Berger Unterricht zu nehmen, wurde
wiederum durch ihren Paten erfüllt, der ihr hundert Taler dafür aussetzte.
Freilich reichte das nur zu fünfzig Stunden, aber sie benutzte diese so trefflich,
daß Berger selbst ihr zu öffentlichem Auftreten riet. Hierzu ließ sie sich
jedoch schlechterdings nicht bewegen. Dagegen spielte sie sowohl im Bende-
mcmnscheu Haus als in andern befreundeten Kreisen gern vierbändig, namentlich
mit Felix Mendelssohn und mit Wilhelm Taubert, die, etwas jünger als sie.
zu derselben Zeit Bergers Schüler waren.
Die Familie Bendemann pflegte alljährlich eine größere Reise zu macheu
und die Pflegetochter als Begleiterin mitzunehmen. So lernte sie nach und
nach viele Gegenden Deutschlands, auch das Elsaß und die Niederlande kennen
und brachte mancherlei Anschauungen und Erfahrungen mit heim. Kurz, es
waren Jahre voll edler geistiger Genüsse. Trotzdem entschloß sich Henriette
im Mürz 1828, diese glänzende Umgebung wieder mit dem bescheidnen Heim
ihrer Mutter in Leipzig zu vertauschen, wo sie sich ihren Lebensunterhalt mit
Klavierunterricht zu verdienen und der Mutter eine Stütze zu werden gedachte.
Nicht leicht wurde ihr der Abschied — um so schwerer, als sie sich zugleich
von ihrer Herzensfreundin Henriette Magenhöfer, später verehelichte Witte,
trennen mußte, in deren Hanse — der Vater war Oberstleutnant a. D. — sie
unvergeßliche Stunden verlebt hatte, und deren Freundschaft ihr bis zum Tode
ein kostbarer Besitz geblieben ist.
Leipzig war damals — nur mit ein paar Worten sei daran erinnert —
eine Stadt von wenig mehr als 40000 Einwohnern, die größtenteils in dem
noch durch Tore und Pförtchen abgeschlossenen alten Stadtkerne wohnten.
Jenseits des Promenadenringes gab es noch nicht viele bebaute Straßen,
aber große Gärten mit behaglichen Wohnhäusern. Zwischen ihnen und den
nächsten, noch ganz ländlichen Dörfern lagen breite Feld- und Wiesenflächen
oder Waldungen; nur in einigen, wie Connewitz und Gohlis, hatten sich wohl¬
habende Leipziger Familien mit Landhäusern angesiedelt. Die Straßen wurden
durch Öllaternen notdürftig erleuchtet. Statt der hellen Kaufläden gab es
düstre, unheizbare Gewölbe. Wer nicht zu Fuße gehn wollte, ließ sich in der
Portechaise tragen. Das Theater am Ranstädter Zwinger war das einzige,
die Konzerte waren, abgesehen von den Kirchen, im wesentlichen auf das
Gewandhaus, die Freimaurersäle und den Großen Küchengarten angewiesen.
Mutter Kuntze wohnte damals am Nikolaikirchhof in einem alten, der
Universität gehörenden Gebäude und erwarb sich ihren Unterhalt durch Ver¬
köstigung von Studenten. Henriette mußte sich mit einem engen Kümmerchen
behelfen. Aber schon wenige Monate nach ihrer Heimkehr lernte sie durch
eine zufällige Begegnung in der Struveschen Trinkanstalt in Reichels Garten,
wo ihre Mutter eine Kur brauchte, den Mann kennen, an den bald das
innigste Band sie fürs Leben knüpfen sollte: den wenige Jahre ältern, damals
noch unselbständigen Kaufmann Karl Voigt. Die Bewundrung für Jean
Pauls Werke und die Liebe zur Musik brachten die beiden rasch einander nahe.
Als die Nachricht von der frühen Verlobung nach einiger Zeit an Voigts
Naumburger Freundeskreis gelangte — die Eltern waren beide früh ge¬
storben —, erregte sie nicht geringes Kopfschütteln, und namentlich sein Vor¬
mund und väterlicher Freund Thränhart sah darin einen höchst leichtfertigen
Schritt. Bei dem Besuch aber, den das Brautpaar mit zwei Nachtfahrten er¬
möglichte, änderte der wackre alte Herr sein Urteil: schon nach der ersten Stunde
umarmte er die Braut als „sein liebes Töchterchen".
Am 1. September 1830 eröffnete Voigt mit seinein Freund I. F. Berger
in Kochs Hof am Markt eine Garn- und Seidenhandlung, und am 10. No¬
vember führte er die Braut heim. Außer deren Mutter und Bruder nahm
nur Voigts liebster Jugendfreund Julius Pinder. der nachmalige Oberprüsident
von Schlesien, an der Hochzeit teil. Das junge Paar führte zunächst in einer
etwas düstern Wohnung in der Hainstraße ein stilles Dasein, der Gatte mußte
seine Zeit fast ganz dem „Geschüft" widmen. Da der Ertrag noch ungewiß
war, hatte Henriette darauf bestanden, ihren Klavierunterricht fortzusetzen, um
wenigstens ihre persönlichen Bedürfnisse selber zu bestreiten, und so konnte sie
beim ersten Jahresabschluß ihrem Manne achtzig Taler als Überschuß ihrer
Einnahme übergeben. Bald aber drang dieser darauf, daß sie diesen an-
strengenden Erwerb aufgab; nur einigen unbemittelten Schülerinnen erteilte
sie noch fernerhin unentgeltlich Unterricht. Allmählich bildete sich auch ein
Singkränzchen, an dem u. a. die beiden Brüder Schrey — der eine der nach¬
malige bekannte Rechtsanwalt — und der spätere Appellationsgerichtspräsident
Petschke teilnahmen. Mit dem Geiger Matthäi musizierte Henriette gern,
auch mit dem Cellisten Grcnser; später mit dem Geiger Abtrieb. Zu den
Freunden des Hauses gehörte ferner der junge Geistliche Gilbert, zuletzt Ge¬
heimer Kirchen- und Schulrat in Dresden, ein verständnisvoller Hörer.
Unter dem 23. Juni 1831 enthält ihr Tagebuch das Bekenntnis: „Mit
solchen Seelen, die mir nahe stehen, denen ich mich verwandt fühle, mag ich
gern scherzen, aber nie mit Menschen, die mich nicht versteh», dann ist mir
jeder Scherz zuwider, weil der Ernst mich nicht mit ihnen befreundete." Damit
verwandt ist der Zug. den Schumann von ihr berichtet: „Nie hörten wir eine
schlechte Komposition von ihr spielen; nie auch munterte sie Schlechtes auf.
Als Wirtin vielleicht genötigt, es hinzunehmen, zog sie dann vor zu
schweigen."
Im Frühjahr 1832 weilte sie ein paar Wochen in Berlin, ihrer „ersten —
geistigen Heimat", in seligem Genuß der Freundschaft und der Musik. Über
Taubert schreibt sie in ihr Tagebuch: „Lebten wir an einem Orte, wie wollte
ich durch ihn weiterstreben, immer tiefer in das Heiligtum der Kunst zu dringen.
Er schenkte mir seine Sonate, die er wunderschön vortrug. Die Sonate von
Onslow spielten wir — wieviele neue Schönheiten entdeckte ich durch sein
herrliches Spiel!" Nach ihrer Heimkehr entspann sich zwischen beiden ein
reger Briefwechsel. Zu ihrem Geburtstag erhielt Henriette einen besonders
ausführlichen Brief von ihm, u. a. über sein derzeitiges Schaffen und seinen
Wunsch, sich bald einmal in Leipzig hören zu lassen, dann über Mendelssohns
wohlverdiente Erfolge, die ihm fast Neid einflößen; „ich kann ja, tröstet er
sich, den Leuten wohl auch Freude machen". Jener Wunsch kam im folgenden
Jahre zur Ausführung: Taubert spielte am Reformatiousfest im Gewandhaus¬
konzert, dann in zwei eignen, und es erwuchs zwischen ihm und Voigt ein
freundschaftliches Verhältnis, das sich bis zum Tode bewährt, auch auf das
jüngere Geschlecht vererbt hat. Inzwischen hatte das Voigtsche Ehepaar — wie
es scheint, durch den Cellisten Johann Benjamin Groß, der den Winter 1832/33
in Leipzig zubrachte und viel mit Henriette musizierte — den Hofrat Rochlitz
kennen gelernt, mit dem sich, wie sie in ihr Tagebuch schreibt, „ihrem Innern
eine neue Welt aufschloß", und der ihr bald ein wahrhaft väterlicher Freund
wurde. (Näheres darüber im „Leipziger Kalender" für 1908, S. 103 ff.) Ende
August 1833 besuchte Mendelssohn Voigts auf der Durchreise und verlebte
mit ihnen einen Abend bei dem Sänger Hauser. Er spielte seine Lieder
ohne Worte sowie das Capriccio in K-moll, dann mit Henriette vierbändig
sein Ottetto. Das Tagebuch berichtet darüber: „Es ging ganz herrlich, und
seine Zufriedenheit schuf mir den Abend zu einem der glücklichsten in der
Kunst." Nicht lange danach hörte sie an drei Abenden, einmal in engerm
Kreise bei Professor Weiße, das Quartett der Bruder Müller aus Braunschweig;
die Art, sagt sie, wie diese Haydn, Mozart und Beethoven wiedergeben, werde
jedem wahren Kunstfreund unvergeßlich sein.
Bei Weiße machten Voigts auch zuerst die Bekanntschaft des jungen Klavier¬
spielers und Komponisten Ludwig Schurke, der, von Taubert ihnen warm
empfohlen, durch seine herrliche musikalische Begabung und sein Talent für
Freundschaft bald ein gern gesehener Gast im Hause wurde. Er war es, der
in seinem mit ihrer Hilfe erfolgreich zustande gebrachten Konzert (27. Januar 1834)
den damals etwas menschenscheuen Schumann mit ihnen bekannt machte und
nach Monaten auch endlich zu einem Besuch vermochte. Inzwischen hatte sich
Henriette schon ratend und helfend an der Vorbereitung der „Neuen Zeit¬
schrift für Musik" beteiligt und war als „Eleonore" unter die „Davidsbündler"
aufgenommen worden. Das allmähliche Wachstum der Freundschaft zu schildern,
das Schumann durch das große Crescendo-Zeichen auf dem Albumblatt ver¬
sinnbildlichte, dazu reicht der mir zugemessene Raum nicht aus. (Näheres in
dem Sonderabdruck 1892, II d. Bl.) Auch Klara Wieck schloß sich ver¬
trauensvoll an Henriette an. — Schurke starb schon am 7. Dezember 1834
an der Schwindsucht, schmerzlich betrauert von den Freunden. Noch vierzehn
Tage zuvor hatte er für das neue, größere Album, das Henriette von ihrem
Gatten zum Geburtstag erhielt, ein „Religioso" komponiert. Auf sein Grab
ließ Voigt ein eisernes Kreuz setzen, mit derselben Inschrift, die am Eingange
dieses Gedenkblattes zu lesen ist. Es folgte ein längerer freundlicher Brief¬
wechsel mit Schunkes Eltern in Stuttgart, denen Henriette schon vorher über
seine Krankheit berichtet hatte.
Vom 1. bis 4. Oktober desselben Jahres war Mendelssohn auf der Rück¬
reise vom Elternhause nach Düsseldorf wieder in Leipzig eingekehrt, hatte am
Abend des 1. in einer Gesellschaft bei Raymund Härtel u. a. mit der
Freundin vierbändig seine Hebriden-Ouverture gespielt, sich am folgenden Vor¬
mittage von ihr zu Rochlitz geleiten lassen, wo sie „eine erhebende Stunde"
verlebten, und am 4. in der Konzertprobe durch ihre Vermittlung auch
Schumann persönlich kennen gelernt. In diesen Tagen hatte er Voigts zum
Besuche des zu Pfingsten 1835 in Köln unter seiner Leitung abzuhaltenden
Musikfestes eingeladen — eine reizvolle Aussicht, die auch in Erfüllung ging.
Sie trafen schon am Tage nach Himmelfahrt in Kassel ein, wo sie eine Woche
verweilten und mit der Frau von der Malsburg, Hauptmann und Spohr viel
verkehrten, musizierten und Musik hörten, u. a. Spohrs drittes Doppelquartett.
Die weitere Reise machten sie in Gesellschaft des Malers Julius Hübner, mit
dem sie in Frankfurt in der Ausstellung sein Bildnis Schadows, Mendels¬
sohns Bildnis von Theodor Hildebrandt und Lessingsche Landschaften sahen.
Das Musikfest selbst war ein hohes Erlebnis. Handels Salomon, Beethovens
Festouverture und achte Symphonie, Webers Euryanthe-Ouverture waren die
Hauptstücke, die Zahl der Mitwirkenden sechshundertachtzig. Mendelssohn, be¬
richtet Henriette, die beim Festmahl seine Nachbarin war, ihrer Freundin Atome
Jasper, „gewann alle Herzen, ausgenommen meines, das ihm schon seit alter
Zeit angehörte". Kurz zuvor war ihm von Leipzig der Antrag zugegangen,
die Leitung der Gewandhauskonzerte zu übernehmen. Er mochte Pohlenz nicht
verdrängen und hatte schon einen Absagebrief geschrieben, wollte aber vor dessen
Absendung noch mit den Freunden darüber sprechen. Seiner Einladung folgend,
fuhren sie mit nach Düsseldorf. Das Ergebnis der Unterredungen war, daß
er den Brief zerriß und den Antrag bedingungsweise annahm. Befriedigt be¬
suchten sie nun noch die jungen Meister der im Aufblühen begriffnen Akademie
in ihren Ateliers. Bei Hildebrandt bestellte Voigt als Geschenk für Henriette
zum 24. November eine Wiederholung seines Mendelssohn-Bildes, die dieser
durch seinen besten Schüler ausführen zu lassen versprach. Sie gelang so vor¬
züglich, daß die Gürzenichgesellschaft eine gleiche Kopie bestellte.
Gegen Ende Juli kam Karl Loewe nach Leipzig, um seine Balladen vor¬
zutragen. Er schenkte Voigts einen Abend, zu dem Abtrieb und Dr. Carus mit
geladen waren, und sang ihnen u. a. seinen Erlkönig und Der Wirtin Töchterlein,
komponierte auch aus dem Stegreif ein Gedichtchen von Henriette für ihr
Album. Die frühere Wohnung war inzwischen mit einer freundlichern in der
Petersstraße vertauscht worden. Groß war sie mich nicht, aber der geräumige
Vorsaal ließ sich, mit Blumen geschmückt, zu einer Musikaufführung, auch wohl
zu einem Tänzchen benutzen. Hier entfaltete sich nun ein reiches, in Wohl-
klang und Schönheit getauchtes Leben. Beiden Eheleuten war die Gabe zuteil
geworden, in jede Darbietung etwas von ihrer Eigenart zu legen und die
Gäste so anzuregen, daß jeder sein Bestes gab. Schumann und Mendelssohn
waren zusammen zum erstenmal kurz nach Mendelssohns Ankunft in Leipzig,
am 10. September 1835, bei Voigts, mit ihnen der Sänger Hauser, Dr. Carus
und Schrey. In ihrem Kalender vermerkt Henriette: „Ich mußte Mendelssohn
mehreres allein spielen — dann arrangierten wir die Olympia-Ouverture vier¬
bändig, Hauser und ich sangen Lieder, dann gegessen, Anekdoten erzählt, sehr
lustig gewesen bis nach elf Uhr, wo Mendelssohn noch Liszt kopierte." Später,
als Schumann und Mendelssohn einmal mit Bennett und David zu Gaste
waren, hatte Henriette jedem der Gäste statt des Namens ein ihn kenn¬
zeichnendes Distichon aufs Gedeck gelegt. Am Silvester 1836 komponierte
Reißiger, der bei Voigts Quartier genommen hatte, aus dem Stegreif einen
Kanon, es wurden lustige Zettel geschrieben, und Bennett zeichnete Karikaturen
dazu. Von andern Künstlern, die während dieser Jahre die Gastfreuudschnft
des Vvigtschen Hauses genossen, seien hier nur einige genannt: Bohrer, die
Brüder Ganz („die Gänze"), Henselt, Lipinski, Lobe, Moscheles, Stamaty,
Verhulst, der jugendliche Vieuxtemps, die Sängerin Klara Novello, die
Mendelssohn nach damaligem Brauche für den ganzen Winter 1836/37 ge¬
wonnen hatte. Chopin hat nur Henrietten allein einmal auf ihrem Flügel
Vorgespielt: „Interessanter Mensch, noch interessanteres Spiel — es griff mich
seltsam an." Eine besondre Freude war es ihr, daß ihr verehrter Lehrer
Berger im November 1836 als Wohngast da war; im Stammbuch dankt er
„seiner lieben Freundin und Pflegemutter".
Nach der ersten Leipziger Aufführung des Paulus hatte Henriette zunächst
Rochlitz um öffentliche Besprechung ersucht. Dieser war jedoch durch seinen
Gesundheitszustand verhindert und verwies auf Schumann, der ihrer Bitte
Folge leistete, indem er in den berühmten „Fragmenten" ans Leipzig IV und V
Meyerbeers Hugenotten Mendelssohns Paulus entgegenstellte: „Sein Weg führt
zum Glück, jener zum Übel." Zum Danke schenkte Henriette ihm den Brief,
worin ihr Rochlitz seine freudige Zustimmung ausgedrückt hatte.
Im Dezember 1835 war Henriette eines Töchterchens genesen. Den beiden
Gatten war damit ein Herzenswunsch erfüllt. Einer der Paten war Mendels¬
sohn; er schenkte dem Kind ein Album, dessen erste Seite von ihm eigenhändig
mit Bibelsprüchen beschrieben war. Mit welcher Liebe Henriette um dem Kinde
hing, wie sie bestrebt war, in seiner Seele zu lesen, wie verständig sie die
Erziehung führte, davon geben ihre Aufzeichnungen beredtes Zeugnis. Hier
nur eine Stelle, 1836, „an Goethes Geburtstag" eingetragen: „Kein Buch,
und wäre es von Engeln geschrieben, ersetzt uns die Lehren und Offenbarungen
des unsichtbaren und doch so sichtbaren Werdens und Fortschreitens eines
Kindes. .. . Gewiß ist ein Kind der beste Lehrmeister für ein waches, tätiges
Gemüt." Als sie im Mai 1837 die Freunde in Kassel und die Schwägerin in
Weimar besuchte, nahm sie das Töchterchen mit. Wie sie dort aufgenommen
worden ist, zeigt am besten der Nachklang in einem Briefe von Hauptmann:
„Eine große Freude haben Sie uns durch Ihre lieben Briefe gemacht. Als
wir, Fr. v. Malsburg, Spohr und ich, einige Tage nach Empfang desselben
zusammentrafen, kam Fr. v. M. mir freudig entgegen: denken Sie sich, ich habe
einen Brief von der Voigt; ich auch, rief ich, ich auch, Spohr." In
Weimar — dazwischen hatte sie die Wartburg und Wilhelmstal besticht — durfte
Sie mit dem alten Hummel dessen As-Dur-Sonate spielen (vier Monate später
hatte sie sein Albumblatt mit einem Krenz zu bezeichnen). Dann sah sie, von
Kräuter geführt, „mit heiligem Schauer" Goethes Haus, musizierte mit Lobe,
Götze und Apel und empfing den Besuch des Kanzlers von Müller, der dann
Rochlitz zu einer solchen Freundin beglückwünschte. In, folgenden Jahre war
sie wieder ein paar Wochen in Berlin und hatte die Freude, endlich Schumanns
Kompositionen anerkannt zu sehn.
Schon in ihren frühern Aufzeichnungen finden wir hier und da Todes¬
ahnung und Ewigkeitssehnsucht ausgesprochen. Mit solchen Gedanken beginnt
sie das Jahr 1839, fügt aber hinzu: „Mut und Standhaftigkeit sollen mich
begleiten auf der dornigen Bahn, die bald meiner harret. Gott hilft mir gewiß,
gewiß, so oder so!!!" Damit schließt das Tagebuch. Der Schreibkalender ist
bis zum 7. April fortgeführt, dem Tage der Einweihung der Eisenbahn nach
Dresden. Am 24. Februar hatte sie noch einen Nachruf an Berger, später
noch Verse zu Schumanns Kinderszenen, 1 bis 4, gedichtet. Am 5. Mai gebar
sie ein zweites Töchterchen, das Schumann aus der Taufe hob, das sie aber
unter der Obhut der treuen Atome Jasper zurückließ, als sie im Juli, begleitet
vom Gatten und dem ältern Töchterchen, zur Kur nach Salzbrunn reiste. Wenige
Wochen nach der Heimkehr, am 15. Oktober, erlag sie, noch vor Vollendung
ihres einunddreißigsten Lebensjahres, jener verzehrenden Krankheit, die — wie
Schumann in seinem Nachrufe schreibt — die Natur dem siechender so gütig
zu verbergen weiß. Die Grabrede hielt Freund Gilbert; ein von Verhnlst eigens
komponierter vierstimmiger Gesang schloß die Trauerfeier.
on dem Festessen berichten wir nichts. Es war tadellos und verlief
nach gegebnen Schema. Und richtig kriegte der Halbgott nichts weiter
als Sekt, Marke Goldberg, zu trinken. Fräulein Binz, eingedenk der
Verpflichtung, die sie übernommen hatte, duldete es nicht anders.
Und Frau von Seidelbast rührte überhaupt nichts an, sondern
schwärmte und fütterte ihr Idol. Und die andern führten z» zwei
und drei höchst interessierte Gespräche, wandten dabei aber ein Auge und ein Ohr auf
die Mittelgruppe, um etwas von dem zu sehn und hören, was vorging, und um
sich gegebnenfalls in das Gespräch mischen zu können. Und Er, der Eine, der Einzige
war in seinem Element; er schwamm in der allseitigen Verehrung wie ein Fisch
im Wasser.
Nach Tisch fuhr man sort, Sekt zu trinken, und zuletzt ließ sich Alfred Rohr¬
schach erweichen, seine Schmiedelieder nochmals zu singen. Und Fräulein Binz be¬
gleitete am Klavier und war wütender als je. Ach sie konnte ihr Inneres nicht
anders offenbaren als durch musikwütige Blicke. Denn auch sie hatte ihre Stunde
gehabt und war dem Halbgott innerlich zu Füßen gesunken.
Als Alfred Rohrschach geendet hatte, begegnete er Hilda, die er bis jetzt noch
nicht beachtet hatte. Hilda errötete und wollte etwas sagen. Aber sie brachte kein
Wort über die Lippen und sah den Sänger mit so strahlenden und bittenden Augen
an, daß dieser erstaunte. Donnerwetter, sagte er zu sich, famoser Käfer. Goldkäfer.
Und bis über die Ohren in mich verliebt. Er hielt den Augenblick fest, zog das
junge Mädchen ins Gespräch und zeigte sich von allen Seiten im vorteilhaftester
Lichte. Als Frau Mama dazwischenkam und den Halbgott sür sich in Anspruch
nahm, flog Hilda, die Hand auf das Herz gedrückt, in ihren Philosophenwinkel — und
traf dort Onkel Philipp. Offenbar wollte Onkel Philipp etwas sagen, aber auch er
brachte es nicht heraus und sah Hilda nur mit herzlich mitleidigem Blicke an.
Was sehn Sie mich denn so an? fragte Hilda.
Ich weiß nicht, erwiderte Onkel Philipp, was ich, darum geben würde, wenn
ich Ihnen die Enttäuschungen ersparen könnte, denen Sie entgegengehn.
Ach, Onkel Philipp, entgegnete Hilda, äußerlich leichthin, doch innerlich merk¬
würdig befangen, Sie sind doch bloß eifersüchtig.
Ja, Fräulein Hilda, sagte Onkel Philipp sehr ernst, ich bin es. Ich hatte
mir in meinen besten Stunden ein stilles Heiligtum gebant und „ein Bild ans goldnem
Grunde" hineingestellt. Soll ich nicht traurig sein, wenn man mirs hinausträgt?
Ach, Onkel Philipp — Hilda errötete abermals —, es steht Innen gar nicht
gut, wenn Sie eifersüchtig sind. Gönnen Sie mir doch meinen Halbgott. — Aber sie
fand, daß es Onkel Philipp sehr gut stehe, wenn er eifersüchtig war, und daß er
auf einmal ganz jung und gar nicht onkelhaft aussah. Und wie hatte er gesagt?
und was bedeutete das Bild ans dem Goldgrunde? Da leuchtete in ihr ein Helles
Licht auf, das ihr deutlich zeigte, was sie bis dahin geahnt hatte, was sie aber nicht
hatte sehn wollen, daß Onkel Philipp sie liebe — nicht in flüchtiger Neigung, sondern
in einer Liebe, die das ganze Leben bedeutete. Aber ach, es war nicht bloß eine Sonne,
die ihr an diesem Abend aufgegangen war, es waren zwei. Die Sonne der Kunst, das
heißt die Sonne eines Halbgottes, und die Sonne der Liebe eines guten und tüchtigen
Menschen, den sie immer gern gehabt hatte, und der plötzlich viel zu jung geworden
war, um als Onkel behandelt zu werden. Und da war auch schon wieder der Halb¬
gott, der sie sichtlich auszeichnete, ihre Hand in der seinen festhielt und auf Wiedersehn
und gute Freundschaft anstieß. Daß eine Blume sich ihrer Sonne zuwendet, das
ist begreiflich, aber zwei Sonnen auf einmal, war das nicht zuviel? Kaum hatten
sich die letzten Gäste empfohlen, als Hilda in ihr Kämmerchen floh, um dort einen
guten Teil der Nacht mit Tränen und grübelnden Gedanken zuzubringen.
Währenddessen saß der alte Geheimrat krank in seinem Lehnstuhl in dem fernsten
Zimmer der Seidelbastschen Villa. Es war nur zu deutlich zu sehn, wie hinfällig er
war, und wie verbraucht seine Lebenskräfte waren. An seiner Seite saß sein Sohn
Hunding, der, sobald er das Fest unbemerkt verlassen konnte, zu seinem Vater geeilt
war. Von fern vernahm man musikalische Töne und draußen ans dem Korridor
Schritte und hastige Worte. Der alte Herr konnte ja davon nichts hören. Doch erfüllte
es das Herz Hundings mit Bitterkeit. Wenn der Vater schon gestorben, eingesargt
und begraben wäre, er hätte nicht mehr beiseite gesetzt sein können, als es jetzt schon
der Fall war. Der alte Herr hatte Papiere vor sich liegen, in denen er ab und zu
las. Dann verfiel er wieder in sinnendes Nachdenken.
Hunding, fragte er nach einer Weile, was machen sie da vorn?
Hunding nahm einen Zettel, und schrieb darauf: Sie trinken Sekt und feiern
Alfred Rohrschach.
Wer ist Rohrschach? fragte der alte Herr.
Mamas Vollgott und Hildas Halbgott, antwortete Hunding auf gleiche Weise.
Heldentenor und Künstler von Gottes Gnaden.
Hunding, sagte der Vater, wenn es Mama so weitertreibt, macht sie ihr
Vermögen und euer Vermögen alle, ehe sie es selber merkt. Und wenn ich erst tot
bin, kann ich es nicht hindern. Und du auch nicht. Ich will nicht, daß du in meinem >
Auftrage die Hand auf den Beutel legst und der Feind deiner Mutter wirst. Hunding,
es ist deine Mutter. Und was ich habe ertragen können, das mußt du auch ertragen
können. Ich will sie nicht enterben und ihre Kinder zu ihren Vormündern setzen.
Hunding, höre zu. Weißt du, was eine Schiebung ist?
Hunding wußte es nicht.
Es ist ein Scheinvertrag, Hunding. A zediert B durch einen Scheinvertrag
eine Summe, und B zediert sie an A zurück. Weg ist sie. Ich bin A. Ich habe mein
Vermögen zediert, das heißt verschwinden lassen. Aber ich habe die Rückzession in
Händen.
Hunding griff nach Papier und Bleistift.
Weiß schon, sagte der Vater. Die Rückzessionsurkunde liegt in meinem Schreib¬
tisch in dem Kasten links in einem Umschlag. Darauf steht: Erledigte Sachen. Da
findet sie niemand. Wenn ich tot bin, wirst — du — Nach—richt erhalten.
Seine Sprache war langsamer und leiser geworden, und ehe er noch geendet
hatte, war er vor Erschöpfung eingeschlafen.
Es war am Morgen vor der Aufführung des Siegfried gewesen, als der alte
Brömmel in das Bureau seines Chefs trat und sagte: Herr Spohnnagel, würd denn
der Siegfried im Dageblatte gclopt oder getadelt wa'rü?
Wieso? fragte Herr Spohnnagel.
Ich muß das wissen, fuhr der alte Brömmel fort, wegen 'n Lvgalen. Wir
germen doch nich in'n Lvgalen Halleluja singen und hernach die Geschichte unter
Gunst und Wissenschaft hernnderhunzen.
Das war richtig, Herr Spohnnagel sann nach. Die Lage war kompliziert.
Um der gekränkten journalistischen Ehre von wegen des Freibillctts Genugtuung zu
verschaffen, hätte er am liebsten ein vernichtendes Referat gesehn; aber die Theater¬
gesellschaft mußte geschont werden — schon darum, weil der Bnurat seine geschäft¬
lichen Drucksachen bei ihm anfertigen ließ. Und so entschied er nach einigem Nach¬
denken: Der Theaterbericht soll vornehm und reserviert gehalten werden.
Scheenechen, meinte Herr Brömmel und sagte es dem Faktor; und dieser be¬
richtete es dem Laufburschen, und dieser Herrn Hesselbach, daß der Theaterbericht
vornehm und reserviert abgefaßt werden solle. Demgemäß begab sich Herr Hessel¬
bach in vornehmer und reservierter Stimmung ins Theater, nahm die Darstellung
vornehm und reserviert entgegen und schrieb einen Bericht im Sinne eines Menschen,
der mit der einen Hand zögernd gibt und die andre Hand bereit hält, das wieder
zurückzunehmen, was er gegeben hat.
Anders Herr Lappensnider. Er arbeitete die halbe Nacht an einem Opus, in
das er die ganze Fülle seines Talents und seiner Kenntnisse goß. Als er am
andern Morgen das Manuskript in der Druckerei abgab, war er mit seinem Werke
wohl zufrieden. Und als Herr Mäunelmann die Korrekturfahne in der Hand hielt,
konnte er nicht leugnen, daß eine so schwungvolle und gelehrte Epistel in seinem
Blättchen uoch nicht gestanden hatte. Er erwog ernstlich, ob er seinem Knnstreferenten
nicht die Kleider schenken solle, die er ihm geborgt hatte, aber er verwarf diesen
Gedanken. Man muß, meinte er, seine Leute nicht verwöhnen. Sie dürfen nicht
glauben, wenn sie einmal etwas gut gemacht haben, daß das Extraleistung sei, die
extra honoriert werde. Nein, das ist es, wofür sie bezahlt werden.
Der Kunstreferent des Kreiskorrespondenten begann seinen Bericht der Bedeutuiig
der Sache entsprechend mit der Erschaffung der Welt, das heißt mit den Stürmen
und Katastrophen, aus denen das Sein geboren ist. Diese Stürme, zu deren Zeugen
uns Rheingold und die Walküre gemacht haben» haben ausgetobt, die gegenseitigen
Spannungen der heterogenen Kräfte, des Urmännlichen, Urweiblichen und Ursächlichen
haben sich gelöst, und diese besänftigten Kräfte haben sich vereinigt zur Hervorbringung
des Wesens, das der Inbegriff des Urmännlichen, Urweiblichen und Ursächlichen ist,
des Menschen, jenes Wesens, in dem sich alle jene Eigenschaften, die in der Welt als
Totalität vorhanden sind, die jedoch in der Singularität nur sporadisch auftreten,
totalistisch-singulär vereinigen. Dieser Mensch ist Jung-Siegfried, der Naturmensch,
der Heldentenor in Fell und Trikot gekleidet, der Sieger über Bären und Drachen,
der Bezwinger der wabernden Lohe. Und nnn war Referent bei der Aufführung
Siegfrieds im Theater von Neusiedcl angekommen. Diese Ausführung wurde in den
Himmel gehoben. Es war ein Abend gewesen, der den Festspielen in Bayreuth dreist
an die Seite gestellt werden konnte. Namentlich war Alfred Rohrschach wahrhaft
überirdisch gewesen. Aber auch die andern Mitspielenden waren alles Lobes würdig,
Stimme, Pose, Ausdruck — großartig. Wenn etwas hinter den Erwartungen zurück¬
gestanden habe, so sei es der Feuerzauber gewesen, aber mit Rücksicht auf die Feucr-
gefährlichkeit und das neue Theater habe man sich einschränken müssen. Besonder»
Dank verdiene die Theatergesellschaft und namentlich Frau von Seidelbast, die die
Seele des Unternehmens sei, und deren durch und durch künstlerischer Geist dem
Titanenwerke eines Richard Wagner als kongenial bezeichnet werden müsse. Das
Publikum werde es nicht ungern hören, daß im Laufe des Winters auch «och ein
zweiter Bayreuther Tag stattfinden werde, und daß ein zweites Stück der Trilogie
zur Aufführung gelangen solle.
Damit hatte es seine Richtigkeit — nur aus einem rudern Grunde als dem
vermuteten. Nicht das Feuer der Begeisterung führte zu dieser zweiten Aufführung,
sondern die Not. Die Aufführung hatte trotz der hohen Preise und trotzdem alle
Plätze besetzt gewesen waren, zu einem Defizit geführt. Wie hoch es war, war
noch gar nicht abzusehn. Man hatte keinen ordentlichen Voranschlag gemacht, man
hatte überhaupt nicht gerechnet. Rechnen war nicht die starke Seite von Frau von
Seidelbast, und wie hätte sie es vermocht zu rechnen, wenn es sich um die höchsten
Ideale der Menschheit handelte! Und die andern Mitglieder der Theatergesellschaft
hatten sich, als sie sahen, wie eigenmächtig und unbesonnen Frau von Seidelbast
handelte, geärgert zurückgezogen. Nun aber kamen die Rechnungen; sie liefen alle
bei Frau von Seidelbast ein, und Rechnungen hatte sie nie leiden können. Ihren
Mann um Geld zu bitten — offen gestanden, das wagte sie nicht. Und er war
doch auch so leidend und mußte geschont werden — nicht wahr?
Gnädige Frau, hatte Fräulein Binz geraten, gehn Sie doch zu Sally. Da
kriegen Sie soviel Geld, als Sie haben wollen.
Meinen Sie?
In der Tat, Sally zahlte mit der größten Liebenswürdigkeit so viel Geld aus
den Tisch, als Frau von Seidelbast verlangte. Es war dazu nichts weiter nötig,
als daß sie einen Zettel unterschrieb.
Wenn also um das Defizit gedeckt werden sollte, so mußte man einen zweiten
Bayreuther Tag veranstalten und mit dem Überschusse dieses zweiten Tages den
Fehlbetrag des ersten ausgleichen. Nachdem man doch seine Erfahrungen gemacht hatte,
und wobei man auch die Preise der Plätze erhöhen konnte. Und wobei man a»es
hoffen durfte, ihn, Alfred Rohrschach, wieder begrüßen zu können.
Hilda drückte die Hand aufs Herz. Ja, nnn war ihr das Verständnis für
die Kunst aufgegangen. Nun saß sie am Klavier und versuchte es an der Hand
des Klavieranszugs die hohen Eindrücke zurückzurufen, die sie einst gehabt hatte,
und nun stand das Bild von „Ihm" vor ihr, auf ihrem Schreibtische. Hunding
Höhute, aber sie beachtete es nicht. Was wußte er denn davon, welchen Glanz die
Kunst in einen: Mädchenherzen ausstrahle» läßt!
Das Theater aber hatte schlechte Zeiten. Das Publikum war theatersatt ge¬
worden. Viele von denen, die vordem die Theaterkasse gestürmt hatten, um für hohen
Preis ein Billett zu erkämpfen, blieben nun zu Hause und sparten. Der Direktor
versammelte mit seinen Schwanken und Lustspielen einen Kreis von Hausfreunden
um sich, Geschäftsleute, die sich abends vom Tagewerke erholen wollten, Bürger,
die nicht wußten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten, Ökonomen vom Lande,
die ihre Pferde ans dem Stalle bringen und bewegen und der Frau und den
Töchtern etwas bieten wollten; aber im Parkett und in der Kasse zeigten sich
schmerzliche Lücken. Für diese treuen Freunde des Theaters erhub Schlechtenthal
täglich seinen Lobgesang. Alles war vortrefflich gewesen, und ob Fräulein X oder
Frau I einmal so oder so ausgesehn hatten, war eine Sache von großer Wichtigkeit.
Und wenn ja einmal etwas getadelt wurde, so wurde es so in Lob eingewickelt,
daß es niemand schadete.
Den Referenten des Kreiskorrespondenten erfüllte dies Verfahren mit tiefer
Verachtung. Wer so lobt, wie der Referent des Tageblattes, steht nicht über, er
steht unter den Dingen. Der freie Künstler nimmt gar keine Rücksicht. Ja gerade
an der Höhe seiner unerfüllbaren Forderungen zeichnet sich die Größe seines Geistes
ab. An der Höhe dieser Forderungen gemessen, erschienen nun freilich die Leistungen
des Neusiedler Theaters als minimale. Hören wir einige der Urteile, die der freie
Künstler in seinen Rezensionen zum besten gab: Die Verwaltung unsers Theaters
befindet sich in rapiden Niedergange, und es ist der Zeitpunkt nicht fern, wo wir
bei der unverhüllten Schmierenhaftigkeit angekommen sein werden. — Und was hat
unser Direktor, den ein Unstern an die Spitze unsers Theaters gestellt hat, aus
diesem Werke gemacht? Nur das, was er selbst zu begreifen vermochte, und das
war nicht viel. — Von feinen Abtönungen, von Schattierungen, vom Herausarbeiten
des Fundamentalen — leine Spur. — Das Ensemble war hundsmiserabel. Ein
Haufe von Menschen, die planlos auf der Bühne herumlaufen, bildet noch kein
Ensemble. — Herr Mundo als Bonnifet glaubte mit einigen Mätzchen seine Un¬
fähigkeit zu charakterisieren verdecken zu können. — Herr Beutler ist uns seit lange
als alter Routinier bekannt, der nichts geradezu verdirbt, aber mich nichts gut macht.
Und Fräulein Nienburg ließ die erforderlichen Herzenstöne durchaus vermissen. —
Warum ist die Rolle der jungen Komtesse nicht Fräulein Peppi Moosblüte gegeben
worden. Sie würde etwas ganz andres daraus gemacht haben. — Ausstattung und
Arrangement waren kläglich. Wir kennen die beiden Restaurationstische, die je nach¬
dem die Ausstattung eines Salons oder den armen Hausrat der Hütte darstellen.
Wir sind ja aber bessere Leistungen von feiten des Herrn, der sich auf dem
Theaterzettel als Regisseur zeichnet, nicht gewöhnt. — Zu einem Theater, das sich
über das Niveau der Erbärmlichkeit erheben will, gehört mehr als Rolle, Gage
und Souffleur. Dazu gehört Talent. Wenn alle die, die sich Künstler nennen und
talentlos die Bretter, die die Welt bedeuten, betreten, hinausgewiesen würden, diese
Welt würde entvölkert sein.
Diese sträflichen Anreden, die der Korrespondent, um die Kunst in Neusiedel
zu hebe», täglich brachte, unterschrieb der Kritiker mit seinem vollen Namen:
Dr. Lappensnider, was Dietrich Lappensnider heißen konnte, aber als Doktor Lappen-
snidcr gelesen wurde. Und Lappensnider erhob auch keinen Widerspruch, wenn er
von seineu Freunden Herr Doktor genannt wurde. Ja im Laufe der Zeit fing er
selber an, zu glauben, daß er in Leipzig oder Jena den Doktor rio oder summen
«zum lancio gemacht habe.
Natürlich erregten die schonungsloser Kritiken des Korrespondenten bei dem
Theatervölkchen einen großen Zorn, was den Kritisierten auch nicht zu verdenken
war. Der Charakterspieler Herr Frank Mundo warf den Flügel seines Mantels
über die Schulter, vergrub die Hände in die Hosentaschen und grollte mit Grabes¬
stimme: Gemeinheit! Und der Bonvivant kaufte sich alle acht Tage einen ander»
Stock, mit dem er erklärte, diesen Skribenten verhauen zu wollen. Aber Herr Beutler,
der Komiker, kniff ein Auge zu und krähte: Drückt diesem Tintenkuli ein paar
Groschen in die Pfote, ihr sollt sehn, er lernt ans der Hand fressen.
Dies tat nun auch der Direktor, dessen Geschäft dnrch die schlechten Kritiken
ernstlich geschädigt wurde. Aber er beging die Unklugheit, mit Lappensnider zu
verhandeln, als er sich in seinem Arbeitsräume befand, und während die Tür zum
Kontur seines Chefs nicht verriegelt und verschlossen war. Und er bot zu wenig.
Da nun Lappensnider gerade von Frau von Seidelbast eine metallne Aufmunterung
erhalten hatte, so wies er die Zumutung, sein freies Künstlertum für Geld zu ver¬
kaufen, mit sittlicher Entrüstung ab. Im nächsten Theaterberichte las man dann
finstere Andeutungen über Bestechungsversuche und unehrenhafte Machinationen und
über die unerschütterliche Tugend des Berichterstatters, der es ablehne, sein Urteil
durch Schmiergelder beeinflussen zu lassen. Niemand zuliebe, allen nach Verdienst,
das sei der Grundsatz seines freien Künstlertums.
Auch Herr Hesselbach war sittlich entrüstet über dieses Verfahren, das nur zum
Nachteil eines Kunstinstituts gereichen konnte, das die Bürgerschaft in Ehren zu
halten allen Grund hatte. Diesen Schaden seinerseits wieder gut zu machen, war
er durchaus bereit; doch war es unmöglich, seine Leier auf einen noch höhern Ton
des Lobes zu stimmen. Er griff also zum Schwerte des Geistes und führte dieses
Schwert vornehm, nachdrücklich und schneidig. Er stigmatisierte die Art des Kritikers
des Korrespondenten als eine solche, die von Unkenntnis, Übelwollen und Überhebung
eingegeben war, und stand nicht an, zu sagen, daß einem Menschen, der fremd nach
Neusiedel gekommen sei, und der weder Personen noch Verhältnisse kenne, etwas
mehr Bescheidenheit wohl anstehn werde.
Der Kritiker des Korrespondenten entbrannte in Heller Wut über diese Zurecht¬
weisung, zog vom Leder, und es erhub sich ein Zweikampf, bei dem die Federn
flogen. Da nun dieser Zweikampf gleichsam über das Theater hinweg ausgefochten
wurde, so bekam das Theater von rechts und links Hiebe. Lappensnider wütete:
Wenn das Tageblatt solche Stümperei, solche Kulissenreißerei, solche Minderwertig¬
keiten in Personen und Leistungen verteidige, so verdiene es als Kcisepnpier verwandt
zu werden. Sein Referent gleiche einer Spieldose, die nur eine Melodie auf der
Walze habe und diese unermüdlich Tag für Tag abklingle. Er müsse den Referenten
daran erinnern, daß für jeden Menschen einmal die Zeit komme, sich pensionieren
zu lassen, besonders aber für den, der schon pensioniert sei. Dem hielt der Referent
des Tageblatts entgegen, daß man von einem Provinziciltheater nicht dieselben
Leistungen erwarten könne wie von einem Residenztheater. Dazu sei das Neusiedler
Theater zu klein. Man dürfe also auch nicht urteilen unter Annahme von Voraus¬
setzungen, die nicht zuträfen. Der Direktor und die Schauspieler tuten, was sie könnten,
und was man billigerweise von ihnen erwarten dürfe. Und wenn es auch nicht
alle acht Tage ein klassisches Trauerspiel geben könne, so werde man einem Moser,
Blumenthal, Kadelburg und Ernst doch vollauf gerecht. Und was man denn mehr wolle?
Das Neusiedler Publikum las diese Urteile mit scheuem Befremde». Es hatte
nicht gedacht, daß die Stücke, bei denen man sich manchen Abend so gut unter¬
halten hatte, so schlecht, und daß die Leistungen der Schauspieler so minderwertig
seien. Es mnßie aber doch wohl der Fall sein, denn man las es ja im Kreis¬
korrespondenten, einem Blatte, in dem die offiziellen Bekundungen des Herrn Land¬
rath standen, die doch ein Bürger und Patriot als höchste Autorität ansehn mußte.
Und so war man geneigt, auch die Theaterkritiken als offiziöse Äußerungen von
Gesetzeskraft anzusehn. Und was das Tageblatt für das Theater vorbrachte, klang
doch mehr als Entschuldigung, wie als Widerlegung. Ja ja, mit dem Theater stand
es sehr schlecht. Und so nahm der Theaterbesuch von Woche zu Woche ab.
Auch der Balkon und die Logen, wo sich die Plätze für die bessere Gesell¬
schaft in Neusiedel befanden, standen Abend für Abend leer.
Sagen Sie mal, Assessor, sagte der Major Kuhblank, der einer der wenige»
Getreuen war und wenigstens ab und zu einmal in das Theater ging, man sieht
Sie ja gar nicht mehr im Theater.
Keine Zeit, Herr Major, erwiderte der Assessor a. D.
Was haben Sie denn zu tun? meinte der Major a, D.
Drückende Verpflichtungen. Alle Abende Gesellschaft. Ist scheußlich. Namentlich
für den Magen. Würde gern einmal ins Theater kommen, um körperliche und
geistige Diät zu halten. Aber es geht nicht, geht partout nicht.
Noch ein Verhängnis brach über das arme Theater herein. Seine Ursache
war der Musikdirektor Krebs. Von dem Tage an, daß ihm Frau von Seidelbast
versprochen hatte, ihn und seine Kapelle für den Bayreuther Tag zu verwenden, und
von dem Tage an, daß sie ihr Wort gebrochen hatte, war bei ihm die Milch der
frommen Denkungsart in garend Drachengift verwandelt. Er sah es nicht mehr
für ein unabänderliches Geschick an, wenn die Tische in seinen Mittwochskonzerten
so wenig besetzt waren, sondern für ein bittres Unrecht, das ihm angetan wurde — und
dies von diesem Theater, auf das er so große Hoffnungen gesetzt hatte. Er empfand
Herostratische Gefühle, er hätte es fertiggebracht, mit seinen Leuten in die geheiligten
Räume einzubrechen und eine Katzenmusik anzustimmen. Wenn er diesem Theater
einen Streich hätte spiele» können, er hätte es mit Wonne getan.
Und die Gelegenheit fand sich. Sie bestand in einer einfachen Überlegung.
Wenn die Neusiedler schlecht in das Schauspiel gingen, so war damit keineswegs
gesagt, daß sie nicht in die Operette kommen würden, falls eine solche geboten würde.
Eine Operette — na ja, eine Operette war ja im Grunde keine klassische Musik,
aber besser als Tanzmusik war sie doch. Und wenn die Leute durchaus Operette»
haben wollte», warn»? denn nicht?
Seiner lieben Frau teilte Krebs diesmal seinen Plan nicht mit, dagegen nahm
er seinen Geschäftsfreund und Gevatter vom Thaliathenter nach einem dürftig be¬
suchten Mittwochskonzerte, bei dem weder der Wirt noch die Musik etwas Erkleck¬
liches verdient hatten, beiseite und suchte ihn für die Operette zu interessieren. Und
diesem leuchtete die Sache ein. Jawohl, das Publikum würde in die Operette kommen
und nicht ins Theater gehn. Nur eine Hauptbedingung war noch zu erfüllen, der
Saal mußte gegen Zug und Rauch geschützt werden. Darauf ging der Thaliawirt
mit anerkennenswerter Opferwilligkeit ein. Es wurden Doppeltüren angeschafft, und
die Ofen wurden umgesetzt. Nachdem dies geschehn war, konnte man in der Zeitung
veröffentliche», daß es gelungen sei, das rühmlichst bekannte Dippendorfsche Operetten¬
ensemble für einen Zyklus von Vorstellungen zu verpflichten. Die Aufführungen fänden
in dem den Bedürfnissen der Neuzeit entsprechend erneuerten Thaliatheater statt.
Zugleich lagen die Photographien der Sterne des Ensembles, namentlich die Bilder
der Damen in pikanten Kostümen in den Schaufenstern ans.
Die geniale Idee Krebsens hatte vollen Erfolg. Das Theater war jeden Abend
bis auf den letzten Platz gefüllt. Und je gepfefferter die Kost war, die man darbot,
desto mehr stieg der Appetit des Publikums. Es war auch keine Kleinigkeit, wenn
Dinge, die man sich sonst anständigerweise hinter der vvrgehaltnen Hand zuflüsterte,
auf offner Bühne mit Trommeln und Trompeten verhandelt wurden. Ja, das mußte
man sehn, das war doch ganz etwas andres als die Heiratsgeschichtchen des Theaters.
(Fortsetzung folgt)
Der Besuch des Königs Ednnrd ist vorüber und hat bei allen Beteiligten
ungetrübte Befriedigung hinterlassen. Will man die Stimmung kurz bezeichnen,
so darf man wohl sagen: es herrschte herzliche Wärme ohne Überschwenglichkeiten.
Und das ist, was die vernünftigen Leute diesseits und jenseits des Kanals ge¬
wünscht und erhofft hatten. Es ist die Stimmung, in der man sich ans sachlicher
Grundlage freundschaftlich verständigen kann, ohne fürchten zu müssen, daß die
Rückkehr von der Festfreude zur Alltagsarbeit einen Rückschlag herbeiführt. Unsre
Gäste haben uns gesehen, wie wir wirklich sind, nämlich von keiner Feindseligkeit
und keinem Hintergedanken erfüllt, daher aufrichtig bereit, in die uns gebotne Hand
einzuschlagen und an der Beseitigung von Mißverständnissen und überflüssigen
Reibungen mitzuarbeiten, deshalb auch herzlich erfreut, einen Staatsakt zu erleben,
der uns Gelegenheit gibt, dem Oberhaupt des britischen Reichs zu zeigen, daß wir
Beweise der Höflichkeit und der freundlichen Gesinnung mit Ehrerbietung und
Sympathie aufnehmen und erwidern. Wie sich die Folgen dieses Besuchs nun
weiter gestalten werden, das ist jetzt natürlich schwer zu sagen. Es sind mehrfach
politische Aussprachen gepflogen worden, außer den Herrschern selbst auch zwischen
Fürst Bülow und Herrn v. Schön einerseits und Sir Charles Hardinge und Lord
Crewe andrerseits, und wir hören, daß diese Unterredungen sehr befriedigende
Eindrücke hinterlassen haben. Gewiß ist ja auf feiten der Regierungen der beste
Wille zur Verständigung vorhanden; ob die öffentliche Meinung in England dieser
Weisung folgen wird, das muß abgewartet werden. Die neusten Flottenforderungen
in England werden noch jetzt damit begründet, daß die Vermehrung der deutschen
Flotte diese Anstrengungen nötig mache. Da aber ein großer Teil der öffentlichen
Meinung für solche übermäßigen Aufwendungen keineswegs begeistert ist, so ist
man geneigt, Deutschland die Schuld dafür beizumessen. Immer wieder taucht in
England die Hoffnung auf, es werde sich vielleicht doch ein Abkommen mit Deutsch¬
land wegen Beschränkung der Rüstungen zur See treffen lassen. Jede Enttäuschung
in dieser Richtung läßt den alten Argwohn immer wieder aufleben. Es ist nur die
Frage, ob dieses Mißtrauen auch uach dem Besuche König Eduards wieder den
Sieg davontragen wird, oder ob endlich die Einsicht durchbrechen wird, daß der
Flottenbau eine Angelegenheit ist, die jeder Staat nach seineu besondern Bedürf¬
nissen regeln muß. -
Wie es scheint, hat es in England besondre Genugtuung hervorgerufen, daß
ein deutsch-französisches Abkommen über Marokko abgeschlossen worden ist. Diese
Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich in einer Frage, die so lange
Zeit den Gegenstand lebhafter Beunruhigung gebildet hat und zeitweise sogar den
Weltfrieden zu gefährden schien, wird fast überall im Auslande lebhaft begrüßt
und als ein Zeichen der Beruhigung angesehen. Bei uns sind die Meinungen
darüber geteilt, obwohl auch solche Beurteiler, die über diesen Ausgang der Ma¬
rokkofrage wenig erfreut sind, am letzten Ende eine gewisse Resignationsstimmung
gewonnen haben und das Ergebnis etwa in dem Gedanken zusammenfassen: „Die
Sache ist ja doch nun einmal verpfuscht; gut, wenn sie wenigstens ein Ende hat."
Dieses neue deutsch-französische Mnrvkkoabkommen stellt sich als eine Ergänzung
der Algeeirasakte dar, ändert selbstverständlich an diesen internationalen Abmachungen
nichts und erklärt ihre Grundlagen, nämlich die Integrität des marokkanische»
Reichs und das Prinzip der offnen Tür für den Handel aller Nationen, nochmals
ausdrücklich für rechtsverbindlich. Dazu fügt nnn Frankreich eine ausdrückliche
Anerkennung der wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in Marokko, während
Deutschland, soweit es die Algecirasakte gestattet, eine politische Vormachtstellung
Frankreichs in Marokko zugibt.
Es sind vornehmlich zwei Fragen, die sich dem unbefangnen Beurteiler dabei
aufdrängen. Die eine lautet: „Bedarf es denn überhaupt der besondern An
erkennuug der wirtschaftlichen Stellung Deutschlands in Marokko durch Frankreich,
wenn der Grundsatz der offnen Tür schon durch eine Abmachung aller beteiligten
Mächte feststeht?" Und weiter fragen wir: „Hätte man das nicht früher haben
können? Weshalb erst soviel Ärger und Häkeleien auf sich nehmen, wenn man
seine Ansprüche doch zuletzt nicht aufrechterhalten will?"
Zu der ersten Frage ist zu bemerken, daß der Grundsatz der offnen Tür unter
der Voraussetzung der Unabhängigkeit Marokkos nur ein Rechtsverhältnis zwischen
Marokko und den auswärtigen Mächten festlegt, natürlich aber nicht die Beziehungen
zweier auswärtiger Mächte, die in Marokko Handel treiben wollen, zueinander
regelt. Das würde natürlich keinen Unterschied ausmachen, wenn die marokkanische
Regierung so weit Herr im eignen Hause wäre, daß die Beziehungen der aus¬
wärtigen Mächte zueinander in Marokko lediglich von ihrer Stellung zur ein¬
heimischen Regierung abhingen. Wenn aber eine auswärtige Macht tatsächlich
bereits eine Stellung einnimmt, die ihr in Marokko die Gelegenheit gibt, unsre
wirtschaftlichen Interessen an die Wand zu drücken, ohne daß eine von allen
Signatarmächten als solche erkannte Verletzung der Algecirasakte nachzuweisen wäre,
so ist ein Sonderabkommcn mit dieser Macht keineswegs überflüssig.
Aber nun die Frage, warum das nicht schon längst geschehen ist. Darauf
eine völlig befriedigende Antwort zu geben, ist jetzt wohl kaum möglich. Nur an¬
deute« läßt sich, daß die angebliche frühere Bereitwilligkeit der französischen Re¬
gierung und der Franzosen zu einem solchen Abkommen Wohl einigen berechtigten
Zweifeln begegnen muß. Wir hören zwar jetzt, daß Frankreich schon seit langer
Zeit eine solche Verständigung angestrebt habe, aber Eigensinn und Ungeschick der
deutschen Diplomatie habe das Zustandekommen verhindert. So ungefähr lese»
wir es immer in einem Blatte der Reichshauptstadt, das stets eine besondre Virtuosität
darin entfaltet, die deutsche Politik vom französischen Standpunkt ans zu beurteile».
Es mag sein, daß die französische Regierung eine Verständigung mit Deutschland
im Auge gehabt hat, aber immer auf einer Grundlage, die wir uns nicht zu eigen
machen konnten. Wir sollten nämlich unsre wirtschaftlichen Interessen in Marokko
vollständig opfern und dafür Zugeständnisse eintausche», die wir aus der Hand
Frankreichs gar nicht nehmen konnten, ans dem einfachen Grunde, weil es gar
nicht darüber verfügen konnte. Wir haben aber niemals el» Anzeichen dafür ent¬
decken können, daß Frankreich schon früher nnter irgendwelchen Bedingungen bereit
gewesen wäre, unsre wirtschaftliche Stellung in Marokko ausdrücklich anzuerkennen.
Das darf mau doch nicht ganz übergehen, wenn man das jetzige Abkommen und
seine Bedeutung richtig beurteilen will.
Damit soll für dieses Abkommen durchaus keine Begeisterung ausgedrückt
werden. Der Eindruck, den der Verlauf des ganzen Marokkostreits ans ein un¬
befangnes Gemüt machen muß, ist der eines Rückzugs nach anfänglichen starken
Trompetenstößen, die auf einen Angriff zu deute» schienen. So wird die Sache
jedenfalls von den meisten Deutschen in Marokko selbst aufgefaßt, und das ist
natürlich nicht angenehm. Man wird auch sagen können, daß eine gute Politik
möglichst vermeiden muß, solche Eindrücke zu erzeugen, auch wenn sich herausstellen
sollte, daß in Wirklichkeit der Verlust, der daraus entsteht, nicht eben allzu groß ist.
So weit kann man also den Mißvergnügten Recht geben, die an dem ganzen
Marokkohandel wenig Freude haben und sich nur deshalb mit diesem Abschluß
einverstanden erklären, weil sie endlich ein Ende sehen wollen, gleichviel wie.
Die ganze Angelegenheit gewinnt nun freilich ein andres Gesicht, wenn man
sie im Zusammenhang mit der gesamten deutschen Politik betrachtet. Die meisten
Urteile gehn ja davon aus, daß Marokko ein wichtiges Feld zur Beleidigung deutschen
Einflusses sei. Ehe die bekannten Ereignisse die breitere Öffentlichkeit beschäftigten,
war eine lebhafte Agitation im Gange, die den politischen Ehrgeiz des deutschen
Volks auf Marokko lenken und dieses Land geradezu zu einem deutschen Koloni¬
sationsgebiet machen wollte. Von der Verantwortlicher Leitung der deutschen Politik
wurde dieser Gedanke zwar aufmerksam verfolgt, gewissenhaft und sorgfältig geprüft,
aber nach dieser Prüfung aus guten Gründen entschieden abgelehnt. Marokko ist
immer nur so weit Gegenstand der deutschen Politik gewesen, als dies die pflicht¬
mäßige Wahrung der deutschen Handelsinteressen notwendig machte; die Umstände
fügten es jedoch, daß die marokkanischen Angelegenheiten mit der großen, euro¬
päischen Politik in Zusammenhang gebracht wurden und so ohne Zutun der deutschen
Regierung eine Bedeutung erhielten, die zu einem scheinbaren Abweichen von der
gegebnen Richtlinie führte. Das wurde das Verhängnis der ganzen Marokkofrage,
denn dadurch wurde der deutschen Regierung zu verschiednen Zeiten eine Haltung
aufgenötigt, die nicht nur auf ein besondres politisches Interesse an der Gestaltung
der Dinge in Marokko schließen ließ und dadurch in Marokko selbst bei den Ein-
gebornen und noch mehr bei den dortigen Deutschen falsche Vorstellungen erzeugte,
sondern auch mehr als einmal bei uns im eignen Lande irreführend wirkte und
die Meinung aufkommen ließ, die Regierung wolle wirklich in eine Politik ini
Sinne des deutschen Marokko-Komitees einschwenken. Dadurch gewann die Sache
leider das Ansehen eines deutschen Mißerfolgs, weil der weitere Verlauf die an¬
geregten Erwartungen nicht erfüllen konnte und vor allem — was das peinlichste
dabei ist — die Marokkaner und die Deutschen in Marokko bitter enttäuschen mußte.
Es wäre ganz falsch, diese unerfreuliche Seite der Sache beschönigen und vertuschen
zu wollen, soweit es auf die Feststellung der tatsächlichen Wirkungen ankommt. Die
Schuldfrage müssen wir freilich dabei aus dem Spiele lassen. Nur der künftigen
Geschichtschreibung, der die Einzelheiten der Akten vorliegen, wird es möglich sein,
zu entscheiden, ob der deutsche» Regierung andre Mittel und Wege offen standen,
um die mit ihrer tatsächlichen Politik verbundnen Unzuträglichkeiten zu vermeiden.
Einstweilen aber werden wir bei sorgfältiger Beurteilung des Geschehenen
und besonders bei Berücksichtigung des Zusammenhangs mit der politischen Gesamt¬
lage vieles finden, was die deutsche Politik erklärt und zu ihren Gunsten spricht.
Bei dem Kaiserbesuch in Tanger handelte es sich nicht um die Einleitung einer
großen Aktion für Marokko, sondern um die möglichst augenfällige Durchbrechung
einer durch die französische Politik geschaffnen, für Deutschland ungünstigen
Situation in der europäischen Politik, oder mit andern Worten, um den fran¬
zösischen Versuch, in einer für die deutsche Politik zunächst nebensächlichen Frage
Deutschland in einer Form auszuschalten, die für die gesamten europäischen Macht¬
verhältnisse nicht ohne Folgen bleiben konnte. Und weiter! Hätte Deutschland
irgendwelche besondern positiven Zwecke in Marokko verfolgt, so wäre allerdings
die Herbeiführung der Konferenz von Algeciras ein Fehler gewesen, und man
hätte besser eine direkte Verständigung mit Frankreich gesucht. Aber auch da lag
die Sache anders. Frankreich hatte für Marokko die Politik der sogenannten
xsnstration xaoiüqus eingeleitet, d. h. es wollte zur politische» Herrschaft über
Marokko auf dein Wege einer ausdrücklichen Ausschaltung aller fremden wirtschaft¬
liche» Einflüsse und Interessen gelangen, und gerade diesen Weg konnte Deutsch¬
land Frankreich nicht zugestehn. Wenn kluge Leute heute meinen, Frankreich wäre
schon damals bereit gewesen, Deutschland wirtschaftliche Zugeständnisse zu machen
— die einzigen, die für Deutschland Wert hatten —, so verkennen sie vollständig
die damalige Lage. Bisher ist noch keine andre Möglichkeit nachgewiesen worden,
wie Deutschland eine internationale Anerkennung der Unabhängigkeit Marokkos
und des Prinzips der offnen Tür, d. h. die einzige Art, die deutschen Interessen
ohne einen direkten Konflikt mit Frankreich zu wahren, sonst noch hätte erreichen
können. Wollte Frankreich auch nach Algeciras sei» Ziel festhalten, so mußte es
nun ganz anders Verfahren, nämlich durch Benutzung der sich ergebenden Zwischen¬
fälle und der innern Streitigkeiten in Marokko eine Okkupation des Landes
herbeiführen, die ohne förmliche Kriegführung doch die Anwendung kriegerischer
Machtmittel gegen Marokko gestattete und zugleich das Scherifenreich so stark
finanziell verpflichtete, daß das Ziel der französischen Politik dennoch erreicht
wurde. Damit war die ursprüngliche Methode der rMstration xaoiüizus ver¬
lassen, aber für Deutschland wurde freilich die Lage sehr viel schwieriger und
peinlicher, weil der Glaube erweckt worden war, die Algecirasakte werde ein ge¬
eignetes Mittel sein, Frankreich ganz von seinem Ziel abzudrängen, und das erwies
sich nun als ein Irrtum. Indessen alles das zugegeben — für die offizielle
deutsche Politik, die niemals Frankreich an seinen berechtigten Interessen kränken
wollte, blieb doch immer die Hauptsache, daß die Fürsorge für unsre marokkanischen
Interessen im richtigen Verhältnis stand zu den Erfordernissen der politischen
Gesamtlage. Die Rücksicht auf den bösen Schein einer Rückzugspolitik konnte das
Festhalten an diesem verständigen Grundsatz nicht hindern. Von solchen Gesichts¬
punkten aus wäre es ein schwerer Fehler gewesen, den Augenblick zu verpassen,
wo Frankreich, durch die Bedrohung seiner Interessen bei Verwicklungen im nahen
Orient beunruhigt, einer Verständigung mit Deutschland geneigt sein mußte und
endlich bereit war, das unumwunden zuzugestehn, worauf es Deutschland in
Marokko allein ankam, nämlich die volle wirtschaftliche Gleichberechtigung. Das
hatte unsre Politik von Anfang an gewollt, nichts andres. Auf dieser Grundlage
konnte auch Frankreich das Zugeständnis gemacht werden, seinen politischen Einfluß in
Marokko bis zu der Grenze zu erweitern, die durch die Algecirasakte gezogen war.
Das Gesamturteil muß also dahin gehen, daß uns das deutsch-französische
Marokkoabkommen endlich das sichert, was von Anfang an das eigentliche Ziel unsrer
Marokkopolitik war, und daß diese Verständigung uns gegenwärtig in unsrer euro¬
päischen Politik zum Vorteil gereicht. Das geschieht freilich um den Preis einer
gewissen Einbuße an moralischem Prestige in Marokko selbst. Aber es muß offen
gesagt werden, daß wir auch darin nichts übertreiben sollten. Nachdem wir nach
Zeiten nationaler Demütigung und bescheidnen Duckers einen beispiellosen Auf¬
schwung und Erfolge, die zu den glänzendsten der Weltgeschichte gehören, aufzu¬
weisen gehabt haben, sind wir überempfindlich geworden und regen uns bei jedem
kleinen Nachteil, den wir — wie alle andern Nationen — auch einmal irgendwo
erleiden, darüber auf, daß unser Ansehen sinken könnte. In diesem Falle kann
wohl kein Zweifel sein, daß die Verständigung mit Frankreich im rechten Augenblick
unsre Machtstellung unter den Mächten gegenwärtig erheblich befestigt hat.
Das wird hoffentlich auch der Lage im Orient zugute kommen. Noch immer
läßt die Verständigung zwischen der Türkei und Bulgarien ans sich warten. Ru߬
land hat einen charakteristischen Vermittlungsvorschlag gemacht. Er bestand darin,
daß Bulgarien als Entschädigung für die Türkei einen entsprechenden Teil der
türkischen Kriegsschuld an Rußland übernehmen sollte. Rußland wollte sich dann
über diese Summe mit Bulgarien direkt auseinandersetzen. Die Türkei wies den
Grundgedanken dieser Lösung nicht von der Hand, machte aber einen Gegenvor¬
schlag, der ihr zugleich eine vorteilhafte Ablösung ihrer sämtlichen Verpflichtungen
an Rußland ermöglichen sollte. Die Erwägungen dieser beiden Vorschläge haben
zunächst eine endgiltige Einigung zwischen der Türkei und Bulgarien noch hinaus¬
geschoben. Inzwischen scheint sich in Konstantinopel eine neue Regierungskrisis zu
entwickeln. Die Besonnenheit, mit der im ottomanischen Reiche der Übergang vom
Absolutismus zum Verfassungsstaat vollzogen wurde, verdient gewiß alle Anerkennung,
aber es konnte doch nicht ausbleiben, daß für die neuerrungne Freiheit noch viel
Lehrgeld zu zahlen ist. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß das jungtürkische
Komitee auch jetzt noch, nachdem die parlamentarische Maschine bereits in Gang
gebracht ist, als Nebenregierung in Tätigkeit geblieben ist. Für die konstitutionelle
Regierung sind unter solchen Umständen Konflikte unausbleiblich. Nachdem bereits
mehrere Minister solchen Konflikten in den letzten Tagen zum Opfer gefallen sind,
hat jetzt auch der energische Großwesir Kiamil Pascha selbst ein Mißtrauensvotum
des Parlaments erhalten und deu Platz räumen müssen. Durch diese Zwischen¬
fälle und allerlei Gewühle von Verschwörungen ist die öffentliche Meinung nervös
erregt, und so sieht die Lage einmal wieder recht unklar aus. Das kann natürlich
auch die Entwicklung der äußern Lage beeinflussen, es scheint aber doch, als ob
der ernste Wille der Großmächte jetzt sehr einmütig in der Richtung wirkt, den
Ausbruch eines Krieges auf der Balkanhalbinsel zu verhüten.
Unser Reichstag ist in der Lösung der vor ihm liegenden großen Aufgabe
noch nicht wesentlich weiter gekommen. Wir haben schon erwähnt, daß die Finanz¬
kommission bisher noch nichts positives zustande gebracht, sondern nur die eigensten
Wünsche der Parteien noch einmal festgelegt und gewissermaßen ihre Kräfte gemessen
hat. Als man nun an die Beratung der Nachlaßsteuer ging, erkannte man doch,
daß auf diesem Wege nicht weiter gearbeitet werden konnte. Wenn auch in diesem
Punkte, der der Angelpunkt der ganzen Reform geworden ist, die Vorlage einfach
abgelehnt wurde, fehlte doch jede Anknüpfung für eine vernünftige und ersprießliche
Fortführung der Beratung. Jetzt rafften sich die Blockparteien endlich auf und
setzten gegen den heftigen Widerstand des ..Antiblocks", der hier zum erstenmal
seine Hoffnungen vereitelt sah, durch, daß die Weiterberatung in der Kommission
vertagt und eine Subkommtssion eingesetzt wurde, die eine Verständigung über die
Frage, in welcher Form neben der Besteuerung der Genußmittel eine Besteuerung
des Besitzes stattfinden kann, herbeiführen soll. Das ist die Frage, von der die
Reichsfinanzreform tatsächlich abhängt. Die Einsetzung der Snbkommission ist der
erste Lichtblick in der bisherigen parlamentarischen Arbeit an der Reform.
Die zweite Beratung des Etats schreitet diesmal schneller vor, als anfangs
befürchtet werden mußte. Besonders bei dem Etat des Innern ist man schneller
über die sozialpolitischen Klippen hinweggekommen als in frühern Jahren. Zum
Teil liegt das an dem jetzigen Verhältnis der Parteien, zum andern Teil ist es
das Verdienst des Staatssekretärs v. Bethmann-Hollweg, der eine große Geschick-
lichkeit in der Behandlung dieser Fragen entwickelt hat. In der großen Rede, die
er am 5. Februar in der sozialpolitischen Debatte hielt, äußerte er zwar volles
Verständnis dafür, daß der Reichstag alle sozialpolitischen Wünsche immer wieder
Revue passieren lM „Aber, so führ er fort, es hat doch auch seine Bedenken,
wenn so Jahr für Jahr alles, was man für die Zukunft verlangt, zu einem
großen Strauß zusammengebunden und dieser Strauß dann dem Staatssekretär
übergeben wirdi" Im einzelnen wußte er in bezug auf verWedne Fragen dieses
theoretisierende Drängen des Reichstags auf Lösung aller möglichen sozialpolitischen
Aufgaben auf ein durch praktische Rücksichten gebotnes Maß zurückzuführen. Und
diese geschickt angebrachten Vorhaltungen scheinen wirklich nicht vergeblich gewesen
zu sein, wie der weitere Verlauf der Beratung zeigte. So wird man vielleicht mit
dem Etat doch zu rechter Zeit fertig.
Während der Anwesenheit des Königs Eduard in Berlin hat der großstädtische
Pöbel den Unistand, daß die Polizei und die Truppen durch den Einzug des hohen
Gastes in den Hauptstraßen in Anspruch genommen waren, benutzt, um an andern
Stellen sogenannte „Straßendemonstrationen der Arbeitslosen" zu veranstalten. Das
ist in Wirklichkeit nur ein vorsichtig beschönigender Ausdruck für unbeschreiblich
rohe Ausschreitungen arbeitsscheuen Gesindels. Es ist bezeichnend für den Geist
und die Methode unsrer Sozialdemokratie, daß sie diese zweck- und sinnlosen Aus¬
schreitungen, die von allen anständigen Leuten ohne Unterschied der Partei streng
verurteilt werden, von Partei wegen in Schutz zu nehmen versucht und diese
Straßenrowdies aus dem Sumpf der Großstadt, die ein für günstig gehaltner
Augenblick aus ihren Schlupfwinkeln hervortreibt, als Vertreter einer sich in un¬
verschuldeter Notlage befindenden Klasse zu preisen wagt. Dieselben Leute, die sich
immer beklagen, daß zwischen geordneten Massenaufzügen demonstrierender Arbeiter
und lärmenden Pöbelausschreitungen kein Unterschied gemacht wird, stellen ihrerseits
den rohesten Pöbel auf eine Stufe mit der arbeitenden Klasse, die sie vertreten
wollen. Und sie scheinen sich auch nicht klar machen zu wollen, daß sie durch
Lobpreisung solcher widerlichen Auftritte die Notwendigkeit beweisen, daß die Polizei
sich bereit hält, ihre Schuldigkeit zu tun, wenn die Schützlinge der Sozialdemokratie
in sich den Drang zur Beleidigung verspüren. Es bleibt der traurige Charakterzug
der deutschen Sozialdemokratie, daß sie nicht nur politisch und sozial umstürzende
Ideen vertritt, sondern sich auch außerhalb dieses Gebiets zu allem in Gegensatz
setzt, was nach allgemein menschlichem Gefühl für anständig und guter Sitte und
hoher Kultur entsprechend gilt.
Das koloniale Leben ist wieder einmal von allerlei unerquicklichen Auseinander¬
setzungen beherrscht, die in den grundsätzlich verschiednen Anschauungen des Leiters
der Kolonialverwaltung und der Mehrheit der Kolonialkreise daheim und draußen
über das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß in den Kolonien wurzeln.
Wir meinen die leidenschaftliche Kontroverse zwischen Dernburg und
Trotha, dem ehemaligen Höchstkommandierenden in Südwest, über die dortige
Kriegführung und den Kampf der Ostafrikaner gegen die Politik des
Herrn v. Rechenberg.
Wir wollen den letzten Fall vorwegnehmen, da wir der Kolonialverwaltung
noch die Antwort auf eine offiziöse Auslassung schuldig sind, die sich mit unsrer
letzten Kolonialen Rundschau beschäftigte. Sie ist im „Tag" erschienen und
hebt also an: „Zu dem in den »Preßstimmen« wiedergegebnen Artikel der Grenz¬
boten über die Kolonialverwaltung in Deutschostafrika erfahren wir von
gut unterrichteter Seite, daß die in demselben enthaltene Kritik durchweg auf
falschen Voraussetzungen beruht."
Folgt eine längere Ausführung. Der Zusatz „von gut unterrichteter Seite" macht
sich recht gut und soll wohl den Anschein erwecken, als ob die Auslassung von
einem unparteiischen Kenner stammte. Der Verfasser des Aufsatzes sitzt aber im
Kolonialamt. Wir haben daher seine Auslassungen mit schuldigen Respekt gelesen,
mußten aber am Ende seufzend bekennen: „Da steh ich nun, ich armer Tor, und
bin so klug als wie zuvor." Es will uns sogar scheinen, als ob der Offiziosus
gar nicht „gut unterrichtet" wäre, jedenfalls aber im vorliegenden Falle keinen
Gebrauch davon gemacht hätte.
Denn seine Auslassungen — beruhen durchweg auf falschen Voraussetzungen.
Wir wollen ihm dies auch beweisen, während er uns im „Tag" den Beweis dafür
schuldig geblieben ist.
Zu diesem Behuf müssen wir den Kern der Sache, um den in jenem Artikel
herumgegangen wird, nochmals kurz fixieren: Herr v. Rechenberg hat es für gut
befunden, die Kommunalverbände, also die bescheidnen wirklichen Anfänge einer
Selbstverwaltung der weißen Einwohner, aufzuheben und in gleichem Atem damit
eine Neuorganisation vorzubereiten, durch die die eingeborne Bevölkerung eine Art
Selbstverwaltung erhält, ja sogar das Recht und die Möglichkeit, der Selbstver¬
waltung der Weißen — wenn davon noch die Rede sein kann — Steine in den
Weg zu werfen. Da der Gouverneur das letzte Entscheidungsrecht hat, so wäre
der Farbigenausschuß der Kommunalverwaltung in Daressalam und Tanga und
das farbige Mitglied des Bezirksrats ein bequemes Instrument für den Gouverneur,
um alle ihm nicht zusagenden Beschlüsse der weißen Körperschaften zu beseitigen.
Der Kern der Sache ist der, daß für die weiße Bevölkerung in den Kolonien
eine Beteiligung der farbigen Bevölkerung an der Verwaltung schlechterdings un-
diskutierbar ist. Eine solche Maßnahme ist mit einer gesunden Kolonialpolitik
unvereinbar. Entweder erkennen wir die Schwarzen als vollwertig an, dann haben
wir in Afrika nichts zu suchen, oder aber wir sind der richtigen Ansicht, daß die
Schwarzen geistig und kulturell minderwertig sind, dann haben wir zwar die ver¬
dammte Pflicht und Schuldigkeit als Kulturmenschen, für ihr Wohlergehn nach
bestem Wissen und Gewissen Sorge zu tragen, nehmen aber die Vorherrschaft im
Lande und die Bestimmung der notwendigen Maßnahmen für uns unbedingt in
Anspruch. Die Schwarzen sind noch zu unreif, um im modernen Staats- und
Wirtschaftsleben irgendwie mitzureden, und ob es je anders wird, ist fraglich (siehe
Haiti und Liberia!). Mit demselben Recht könnten unsre Primaner und Fort¬
bildungsschüler das aktive und passive Wahlrecht verlangen. Über all das sollte
man überhaupt nicht reden müssenI
Nun wird in der offiziösen Auslassung nachträglich noch der frühere
Gouverneur v. Liebert für die Aktion verantwortlich gemacht. Als ob
das eine Entschuldigung wäre! Herr v. Liebert kann sich wenigstens auf den Druck
der damaligen öffentlichen Meinung berufen, die besonders negrophil angehaucht
war und Zeter und Mordio schrie, als er in Ostafrika die Hüttensteuer einführte.
Nun, Herr v. Liebert hat mit den Segnungen der Hüttensteuer Recht behalten.
Aber jener Konzessionsschwarze im Bezirksrat ist weder unter ihm noch seinen
Nachfolgern je praktisch geworden, er war wohl überhaupt von Kennern der Ver¬
hältnisse nicht ernst gemeint. Jetzt aber soll er durch Herrn v. Rechenberg zum
Leben erweckt werden, und zwar nicht um „das Gesetz zu erfüllen" oder um für
seine schwarzen Brüder zu sorgen, sondern weil Herr v. Rechenberg diese Mißgeburt
früherer Zeiten gerade gut brauchen kann. In jeder Gesetzgebung finden sich antiquierte
Bestimmungen, die den tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprechen. Eine vernünftige
Verwaltung wird die Anwendung solcher Bestimmungen zu vermeiden wissen. Die
Reichskanzlerverordnung vom 29. März 1901 ist ein Schulbeispiel dafür.
Die wissen, wenn sie koloniale Erfahrung haben, viel besser, was
den Eingeborne» frommt, als diese selbst. Dazu braucht es keine farbigen Bezirks¬
räte und Farbigenausschüsse. Der Gouverneur glaubt doch Wohl selbst nicht, daß
so ein Farbigenvertreter wirklich die Interessen der Farbigen im allgemeinen ver¬
treten würde. Das fiele ihm gar nicht ein, auch hätte er kein Verständnis dafür.
Zunächst wurde er seine eignen Interessen vertreten, besonders wenn er Inder wäre,
die der Inder, als Araber die der Araber, die Nigger aber wären ihm ganz
gleichgiltig. Und einen Neger, der einigermaßen mitreden könnte, gibt es vorläufig
kaum. Die Vertretung der Farbigen im allgemeinen wäre also ziemlich illusorisch,
und die Herren Inder brauchen wirklich keine Vertretung, für die sorgt väterlich
der Herr Gouverneur.
In der offiziösen Auslassung im „Tag" wird beweislos behauptet, es fehle unter
den Weißen überhaupt das Material, aus dem Bezirksräte gewählt werden könnteU.
Dabei sei die Bevölkerung außerordentlich fluktuierend. Das ist natürlich Ansichts¬
sache, über die sich streiten läßt. Anscheinend hält man die Herren Farbigen für
geeigneteres „Material", obwohl zum Beispiel die Inder nicht minder fluktuierend siud
als die Weißen. Die öffentliche Meinung braucht sich jedenfalls diese Ansicht nicht zu
eigen machen, und der Reichstag wird sich hoffentlich eingehend damit beschäftigen.
Wir können von hier aus nicht beurteilen, ob die einzelnen Weißen zu Ver¬
tretern der Selbstverwaltung geeignet sind, darüber mögen sich unsre ostcifrtkanischen
Landsleute direkt mit Kolonialamt und Volksvertretung auseinandersetzen. Aber wir
sind der Ansicht, daß sich ein andres Mittel hätte finden lassen, um eine zweck¬
mäßige Verwendung der Einnahmen aus der Hüttensteuer in den einzelnen
Bezirken zu gewährleisten. Dazu brauchte man die Kommunalverbände nicht auf¬
zuheben und die Verwaltung und Finanzgebarung zu zentralisieren und schwer¬
fälliger zu machen. Wieder einmal taucht in dem offiziösen Artikel die widersinnige
Behauptung auf, der weitaus größte Teil der Steuereinnahmen werde von Farbigen,
nicht vou Weißen aufgebracht, und damit soll das Anrecht der Farbigen zur Teil¬
nahme an der Verwaltung bewiesen werden. Man vergißt dabei nur die Leistungen
des Mutterlandes. Wir glauben, der deutsche Steuerzahler hat kein Verständnis dafür,
daß die Kolonie, die mit seinem Gelde von weißen Männern gegründet worden ist,
nun von Schwarzen mit verwaltet werden soll.
Ob die ganze Selbstverwaltuugsfarce der Initiative des Herrn v. Rechenberg
entsprungen ist oder der des Kolonialamts, erscheint uns gleichgiltig. Jedenfalls
ist der Gouverneur verantwortlich dafür, und wir wiederholen: in den Kolonien
hat vorläufig nur der Weiße Mann zu regieren. Und wer nicht so viel historisches
und Nassegefühl hat, der gehört nicht nach Afrika. Wir glauben versichern zu
können, daß der Mehrheit des deutscheu Volkes das Verständnis für eine Kolonial¬
politik, die auf schwarz-weißer Parität begründet ist, völlig abgeht. Die gegen¬
teilige Meinung beruht auf völlig falscher Voraussetzung. '
Nun zu dem Streit Trotha voudra Dernburg wegen der Kriegführung
in Südwest. Jeder anständige Mensch wird mit Dernburg übereinstimme», daß
die Vernichtung des Hererovolkes ein beklagenswertes Kapitel in unsrer Kolonial¬
geschichte bildet. Und auch Herr v. Trotha denkt nicht anders. Ob sie not¬
wendig war, können nur namhafte Mitkämpfer und Kenner entscheiden. Und da
steht aktenmäßig fest, daß der Kriegsleitung nichts andres übrig geblieben ist, als
den Vernichtungskampf zu Ende zu führen, wollte sie nicht die eigne Truppe ge¬
fährden, die selbst am Zusammenbrechen war. Hätten sich die Hereros nach dem
Kampf am Waterberg rasch zur Unterwerfung entschlossen, so wäre die Möglichkeit
der Schonung vorhanden gewesen. Da sie dies nicht getan haben, mußte unsre
Truppe Schlag auf Schlag seu Sieg ausnützen. Etwas merkwürdig mutet die
Ansicht des frühern Gouverneurs Leutwein an, der sich in der Sache ebenfalls
zum Wort meldet. Wie kann er im Ernste verlangen, daß Herr v. Trotha nach dem
Siege am Waterberge mit dem Feinde hätte Fühlung suchen müssen! Man hätte
doch nur mit den Anführern verhandeln können/W nach den Greueltaten zu
Anfang des Aufftauds keine Gnade geben durfte. Und hätte nicht Entgegenkommen
wie Schwäche ausgesehen und dieselben Konsequenzen gezeitigt, die General Leut-
wein aus Erfahrung nur allzugut kennt? Während seiner ganzen Amtszeit hat
er den Eingebornen immer zu sehr vertraut und auf gleichem Fuß mit ihnen ver¬
handelt. War es ein Wunder, daß die Hercros, sobald er ihnen damals den
Rücken kehrte, ihre Zeit für gekommen hielten? Und so wäre es wahrscheinlich
auch gekommen, wenn man mit den Hereros nach der Schlacht am Waterberg
verhandelt hätte. Ja es sieht fast so aus, als ob die überlebenden Herervs trotz
der Vernichtung ihres Volkes ihr Spiel nicht ganz verloren gegeben hätten. Denn
die Deutsch-südwestafrikanische Zeitung berichtet in einer der letzten Nummern über
Vorgänge, die zu denken geben. Unlängst sind in größerer Zahl Hereros aus
Swakvpmund ausgewandert. Nach Ansicht obiger Zeitung soll der ehemalige
Oberkapitäu Samuel Maharero, der im englischen Gebiet sitzt und schon früher
versucht hat, Stammesgenossen an englische Minen als Arbeiter zu verhandeln, an
diesem Auszug der Hereroarbeiter schuld sein. Jedenfalls ist bemerkbar geworden,
daß sich Hereros von der Küste nach dem Innern ziehen. Omaruru ist meist ihr
Ziel. Zum 1. Januar hatten sämtliche Hercroarbeiter der Staatsbahnwerkstätte
gekündigt. An der ganzen untern Staatsbahnstrecke sind etwa zwanzig Hereros
auf und davon. Bei Privatleuten in Swakopmund und flußaufwärts haben eben¬
falls Hereros gekündigt und sind abgezogen, auch diese meist nach Omaruru. Aus
dem Süden, von Warmbad sogar, hört man dasselbe, auch dort soll es die Hereros
auffällig nach dem Norte» ziehen. Auch erhielten einzelne Herervs in Swakop¬
mund in der letzten Zeit eine ganz erstaunliche Anzahl von Briefen aus allen
Gegenden der Kolonie, sogar aus dem englischen Gebiet. Daß die Kompagnie
aus Okcmjcmde nach dem Süden abgezogen, daß die in Omaruru aufgelöst ist,
bleibt im Lande kein Geheimnis und macht Mut zur freien Bewegung. Jetzt
haben Ovambos, die von Norden kommen, die Nachricht mitgebracht, in der Nähe
des Otjikotosees säßen 1000 bis 1500 Hereros, anscheinend Volk, das noch vom
Aufstand her überall im Busch und in den Klippen gesteckt hatte und sich nun
dort oben sammelt. Die Aussage der Ovambos konnte bis dahin noch nicht auf
ihre Richtigkeit geprüft werden; wenn man aber die einzelnen Vorkommnisse an¬
einanderreiht, gewinnt sie den Anschein der Wahrhaftigkeit. Jedenfalls ist es
außerordentlich wichtig, daß unsre Farmer und Ansiedler scharf beobachten und
jedes Anzeichen von Wanderlust unter den Hereros den Behörden melden.
Es mag dahingestellt bleiben, ob die Zusammenrottung der Hereros direkt
feindseligen Zwecken dient oder nur einem Exodus zu ihrem Oberhäuptling im
englischen Gebiet. Auch dieses darf nicht geduldet werden. Erstens brauchen
wir die Hereros selbst, und zweitens liegt die Auswanderung gar nicht in ihrem
Interesse, sondern nur in dem von Samuel Maharero, der mit ihnen „Geld machen
will". Denn auch die Engländer würden nicht dulden, daß die Hereros jenseits
der Grenze eine selbständige Niederlassung bilden. Die Nachricht scheint jedenfalls
nicht ganz „ohne" zu sein, denn wie man hört, wird Gouverneur v, Schuckmann
die Beratung des südwestafrikanischen Etats nicht abwarten, sondern Knall und
Fall schon nächster Tage abreisen. Vielleicht wird dieser Zusammenhang offiziös
bestritten werden.
Sei dem, wie ihm wolle, jedenfalls werfen diese Neuigkeiten ein eigenartiges
Licht auf die Kontroverse Dernburg-Trotha.
So sehr man die Härten unsrer Kriegführung vom rein menschlichen und
wirtschaftlichen Standpunkt bedauern mußte, aus militärischen und politischen Gründen
war eine unerbittliche Dezimierung der Hereros nicht zu vermeiden. Das Leben
unsrer Soldaten und Ansiedler mußte uns denn doch wichtiger sein als selbst die
Weiber und Kinder der Hereros, die sich übrigens — daran sei erinnert — in
Viehischer Weise an den Greueltaten des Aufstands beteiligt haben. Bei ruhiger
Überlegung muß dies auch Dernburg anerkennen. Wir haben mittlerweile den
Hereros in menschenfreundlicher Weise trotz jener Greueltaten die Möglichkeit gegeben,
sich zu erholen, allerdings unter einer scharfen Kontrolle. Die Hereros schienen sich
denn auch, wie in der neuesten Denkschrift betont ist, daran zu gewöhnen.
Bestätigen sich aber obige Meldungen, und wollen sich die Hereros unsern
friedlichen Bestrebungen absolut nicht fügen, sondern immer wieder die Sicherheit
des Landes bedrohen, dann lieber — wie vor vier Jahren ein Ende mit
Rudolf Wagner
Unter diesem Titel ist soeben eine reizend ausgestattete
Ausgabe des Briefwechsels zwischen Schiller und Charlotte von Lengefeld erschienen,
die zwei Bände umfaßt und den Urenkel des Dichters, den Freiherrn Alexander
von Gleichen-Rußwurm, zum Herausgeber hat (Jena, Eugen Diederichs Verlag.
Geheftet 5 Mark, in Leinwand gebunden 7 Mark, in Leder gebunden 9 Mark).
Die Korrespondenz erstreckt sich über einen Zeitraum von etwa sechzehn Jahren
und gewährt einen klaren Einblick in die Beziehungen zwischen diesen beiden so
ungewöhnlichen Menschen von ihrer ersten Bekanntschaft an bis zum Beginn des
letzten halben Jahres von Schillers langsamem Dahinsiechen. Was diesen Brief¬
wechsel vor so manchem andern zeitgenössischen auszeichnet, ist die große Natürlich¬
keit in Empfindung und Ausdruck. Da ist nichts Berechnetes, nichts Geschraubtes,
kein unwahres Kokettieren mit Gefühlen, kein blendendes Gedankenfeuerwerk. Was
diese beiden Menschen sich mitteilen, ist so schlicht und menschlich, daß es heute,
nach mehr als hundert Jahren, noch so unmittelbar zum Herzen spricht, als sei es
erst gestern geschrieben. Aber darüber hinaus bietet der Briefwechsel noch weit
mehr: eine getreue Darstellung von Schillers literarischer Wirksamkeit, seiner
Stellung zu den Kreisen in Weimar und Jena und seines Verhältnisses zum
Theater. Dem Texte liegen die kritischen Gesamtausgaben der Schillerbriefe von
Fritz Jonas und die Fielitzsche Ausgabe der Briefe Charlottens und Karolinens
Fvie in <Ier Wüste ZsKsrs inunciet 2u jecier Tell xleicn vor-
irüxlicn 6le Ouslitst» - (üixsrette „Lslein ^.leilcum". ^ilei,
nsturell - sroinstiscn. Keine ^.usststtunx, nur l)uslitst.
Ur. 3 4 S K 8 10
preis:3'/z 4 5 6 L 10 pfg. as« 8tiioK.
>is die Lage Ägyptens und des ägyptischen Sudans im Jahre
1906 auf Grund des offiziellen Berichtes des damaligen bri¬
tischen Generalagenten Lords Cromer besprochen wurde (Grenz¬
boten 1907 Ur. 35 und 1908 Ur. 4), mußte darauf hingewiesen
I werden, daß dieses der letzte Bericht sei, den Lord Cromer nach
langjähriger verdienstvoller Tätigkeit vor seinem Scheiden aus Ägypten seiner
Regierung eingereicht habe. Auch wurde schon damals erwähnt, daß es von
ganz besondern: Interesse sein werde, zu verfolgen, wie sich die Geschicke
Ägyptens und des Sudans uuter seinem Nachfolger gestalten würden.
Heute liegt nun der erste Bericht des neuen königlichen Agenten und
Generalkonsuls Sir E. Gorst über seine Tätigkeit auf dem Gebiete der Finanzen
und der Verwaltung und über die Lage in Ägypten und dem Sudan im
Jahre 1907 vor.
An erster Stelle weist Sir E. Gorst darauf hin, daß die Hauptlinien der
von Lord Cromer eingeleiteten Politik einer allmählichen Verwaltungsreform,
die auch schon die Zustimmung verschiedner britischer Regierungen gefunden
hat, dauernd festgehalten worden seien.
Noch immer bilden die bekannten Kapitulationen ein bedeutendes Hindernis,
das sich der Einführung verschiedner Reformen in den Weg stellt. Eine ganze
Reihe von Maßnahmen kann nur durchgeführt werden mit Zustimmung der
zahlreichen in Ägypten lebenden Europäer, wobei nie vergessen werden darf,
daß in diesem Lande Untertanen von fünfzehn verschiednen Nationen leben.
Und wenn auch im allgemeinen an dem guten Willen der verschiednen Mächte
nicht gezweifelt werden kann, so ist es doch in Wirklichkeit vielfach ganz un¬
möglich, fortschrittliche Neuerungen durchzuführen, da schon der Widerstand
einer einzigen Macht genügt, sie zu hintertreiben.
Wenn man danach trachtet, die Ägypter nach und nach zur Selbstregierung
zu erziehen, so kann dies nach allgemeiner übereinstimmender Anschauung nur
durch die Errichtung von Provinzialräten und Gemeindevertretungen geschehen.
Derartige Einrichtungen würden aber nur dann von Wert sein, wenn sie im¬
stande waren, auch den Fremden gegenüber selbständig aufzutreten. Von ganz
besondrer Wichtigkeit erscheint der Erlaß von Gesetzen über den Handel mit
alkoholischen Getränken, der fast vollständig in der Hand von Europäern liegt
und erst dann eine Einschränkung erfahren könnte, wenn es möglich wäre,
die Gesetzgebung auf die Europäer auszudehnen. Große Mißstände liegen auf
dem Gebiete der Kinderarbeit vor, die dringend einer Abstellung auf dem
Wege der Gesetzgebung bedürfen. Ebenso erscheint der Erlaß eingehender gesetz¬
licher Bestimmungen über das Bauwesen notwendig. Bestimmungen gegen
den Gebrauch falscher Maße und Gewichte werden nur dann einen Wert haben,
wenn sie gleichmüßig gegen Eingeborne wie gegen Europäer in Anwendung
gebracht werden können. Ebenso würde es im Interesse der Europäer der
verschiedensten Nationalitäten liegen, wenn ein Gesetz zustande käme, das die
Frage der Gewährung von Patenten, des Musterschutzes und des Urheberrechts
behandelte.^
Schon diese wenigen Beispiele zeigen deutlich, daß es eine der wichtigsten
Aufgaben der Negierung sein muß, ein System auszuarbeiten, dessen gesetz¬
lichen Bestimmungen Eingeborne wie Europäer gleichermaßen unterworfen
wären. Wenn aber Lord Cromer in seinem letzten Bericht die Grundlinien
für dieses System angegeben hat und seinen endgiltigen Entschluß nur von
der Aufnahme abhängig machen wollte, die sein Plan bei den führenden euro¬
päischen und ägyptischen Persönlichkeiten finden würde, so hat sich leider
bis zum heutigen Tage eine Übereinstimmung über diese Frage nicht erreichen
lassen. - - ' ' '
Die am Ende des Jahres 1906 stattgehabten Neuwahlen für den „Gesetz¬
gebenden Rat" und für die „Generalversammlung" geben Veranlassung, mit
einigen kurzen Worten auf die bei diesen Wahlen zutage getretner Erschei¬
nungen einzugehen. Im allgemeinen hat jeder erwachsne Ägypter das Recht
zu wählen. Die in den Wahllisten eingetragnen Wühler wühlen nun Dele¬
gierte, die ihrerseits die Mitglieder der Generalversammlung und der Provinzial-
rätc wählen.
Die Mitglieder des Gesetzgebenden Rates werden von den Provinzialräten
oder in den Städten, wo keine Provinzialräte vorhanden sind, unmittelbar von
den Delegierten gewählt.
In Kairo leben ungefähr 134000 erwachsne männliche Ägypter, von
denen aber nur 34000 als Wähler in den Listen laufen. Von diesen haben
nur 1500 abgestimmt, das heißt 4,4 Prozent von den in den Wählerlisten
geführten und nur 1,1 Prozent von der Gesamtzahl. An dem zweiten Wahlakt
haben nur zwölf Delegierte teilgenommen, da in einem von den dreizehn
Distrikten, in die die Stadt Kairo eingeteilt ist, überhaupt keine Wahl statt¬
gefunden hatte aus Mangel an geeigneten Kandidaten, und weil keiner der
Wähler an der Urne erschienen war.
In Alexandria mit einer erwachsnen Bevölkerung von etwa 70000 Köpfen
laufen etwa 14000 Wühler auf den Listen, von denen 750 abgestimmt haben,
das heißt 5,3 Prozent der berechtigten Wähler und 1,07 Prozent der gesamten
männlichen Bevölkerung.
Noch geringer war die Beteiligung in den Provinzialstüdten; so haben
in Mcmsourah von 5000 Wählern nur 2 Prozent abgestimmt und in Tanthci
von 8600 nur 182, und diese hatte man fast gewaltsam zur Wahl treiben
müssen.
Erst wenn der zweite Akt der Wahl erreicht ist, und sich die Delegierten
zur Wahl versammeln, beginnt das Interesse zu wachsen.
Die Umstände, unter denen in Ägypten eine allgemeine Wahl zustande
kommt, zeigen deutlich, daß das Land noch weit davon entfernt ist, die Re¬
gierung durch seine eignen Vertreter führen zu können. Eine derartige Re¬
gierungsform läßt sich ja wohl einführen, man darf sich aber keineswegs der
Meinung hingeben, in ihr eine Vertretung der Mehrheit des Volkes zu sehen.
Man kann ohne weiteres behaupten, daß die obern und die mittlern Klassen
der Bevölkerung eine weitere Ausdehnung zurzeit gar nicht wünschen und
selbst das Land hierfür noch nicht für reif erachten. Die Fellachen aber, die
die Hauptmasse der Bevölkerung ausmachen, sind noch nicht einmal imstande,
die Unterschiede der verschiednen Regierungsformen zu erkennen. Solange
das Volk nicht bedeutende Fortschritte in der Richtung seiner moralischen und
intellektuellen Entwicklung gemacht hat, erscheint die Schaffung von Selbst¬
vertretungen keineswegs zweckentsprechend, sondern vielmehr geeignet, für die
zurzeit gehandhabte Politik der Verwaltungsreform ein bedeutendes Hindernis
zu- bilden. , ^ , , , v, i,,.
Aus diesen Gründen ist eine Ausdehnung der Macht des Gesetzgebenden
Rates und der Generalversammlung nicht wünschenswert, wenngleich es in ver¬
gangnen Jahren des öftern möglich gewesen ist, den von diesen Behörden aus-
gegangnen Anregungen Folge zu leisten. Mit zunehmender Erfahrung jedoch
und bei wachsendem Verständnis für die ihnen unterbreiteten Verwaltungs-
fragen ist eine weitere Ausdehnung ihres Einflusses auf die Regierung wohl
denkbar und sogar wünschenswert.
Zur Hebung der lokalen Selbstverwaltung hat die Regierung einen Ge¬
setzesentwurf vorbereitet, der darauf hinzielt, die Provinzialryte in bezug auf
ihre Zusammensetzung zu ändern und ihre Machtbefugnis zu erweitern. Die
Zahl der Mitglieder soll bedeutend vermehrt, Vertreter der verschiednen Distrikte
der einzelnen Provinzen sollen geschaffen und die Dauer des Maubads verkürzt
werden. Ferner sollen diese Ratsversammlungen das Recht erhalten, sich nach
ihren eignen Bestimmungen zu versammeln, während sie früher durch einen
Erlaß des Khediven einberufen wurden. Hatten diese Provinzialräte bisher
tatsächlich beinahe keine Machtbefugnis, so sollen sie nun mit größerer Macht¬
vollkommenheit ausgestattet werdeu und in Fragen des Ackerbaues, der Be¬
wässerung, der Verkehrsmittel, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen
Gesundheitspflege und des Erziehungswesens eine beratende Stimme erhalten.
Durch diese Erweiterung ihrer Machtbefugnis hofft man in den Provinzial-
räten eine Schule für eine spätere weitergehende Selbstregierung zu schaffen.
Die sich auch anderwärts fühlbar machende finanzielle Krisis hat der
günstigen finanziellen und kommerziellen Entwicklung, wie sie Ägypten in den
letzten Jahren durchgemacht hat, einen schweren Stoß versetzt.
Vom Jahre 1903 ab stieg der Preis der Baumwolle fortwährend und
erreichte eine Höhe, die fünfzehn Jahre vorher unbekannt war. Die Ausfuhr,
bei der die Baumwolle die weitaus größte Rolle spielt, vermehrte sich be¬
deutend. Neue Banken und Hypothekenanstalten wurden gegründet; der Wert
von Grund und Boden stieg bedeutend, die Preise für Lebensmittel und
Arbeitskräfte wuchsen, und nach und nach setzte eine Spekulation ein, die immer
größere Ausdehnung annahm.
Die hohen Preise hielten an, und eine Reihe guter Jahre, die in der
glänzenden Baumwollernte des Jahres 1906 ihren Höhepunkt erreichten und
in diesem Jahr eine Summe von ungefähr 540 Millionen Mark abwarfen,
gab dieser Bewegung eine neue Anregung. Mit Leichtigkeit wurde auf euro¬
päischen Märkten Geld flüssig gemacht und in Ägypten angelegt. Trotz ver-
schiedner Rückschläge dauerte die Hochflut der Spekulation bis ins Jahr 1907,
wo endlich eine Reaktion eintrat. Zu Anfang des Jahres 1907 begann man
in deu Finanzmittelpunkten das Ungesunde der Lage allmählich zu erkennen.
Ein allgemeiner Rückgang war die Folge. Die Einschränkung des Kredits
machte sich bis in die ländlichen Distrikte fühlbar; man fürchtete, nicht das
genügende Kapital zur Einbringung der Baumwollernte zu erhalten, die für
die Bauern den Grundstock bildet, ans dein sie ihre Steuern, ihre Renten und
ihre Schulden bezahlen.
Glücklicherweise war das akute Stadium der Krisis nur von kurzer Dauer;
man erkannte bald, daß die gesunde Grundlage des ägyptischen Handels und
der ägyptischen Finanzen durch eine Überspeknlation nicht in ihrem innersten
Zustand geschädigt werden könne.
Leider wurde jedoch im Herbst, zu einer Zeit, wo man eben auf dem
besten Wege war, die Hauptschwierigkeiten zu überwinden, eine Verschlimmerung
der Lage herbeigeführt durch die ungünstigen Verhältnisse, die plötzlich auf dem
Geldmarkt in Amerika und in Europa zutage traten. Dies hatte eine zweite
ungünstige Periode zur Folge, die jedoch weder die ackerbautreibende Be¬
völkerung als ganzes noch die allgemeine Finanzlage in Mitleidenschaft zog.
Die Baumwollernte wurde in regelmäßiger Weise abgesetzt, und der größere
Teil wurde zu günstigern Preisen als im Vorjahre ausgeführt. Die Bauern
konnten ihre Steuern pünktlich bezahlen. Auch die Menge des eingeführten
Tabaks nahm im Laufe des Jahres zu, ein Beweis für die Zahlkraft der Be¬
völkerung. So zeigen die öffentlichen Einkünfte des Jahres 1907 eine be¬
friedigende Ausdehnung.
Trotz der günstigen Anzeichen ist man jedoch noch nicht zu der An¬
nahme berechtigt, daß die ungünstigen Folgen der Krisis schon gänzlich
überwunden seien.
Ein deutliches Bild der guten ökonomischen Entwicklung Ägyptens während
der letzten zwanzig Jahre und der großen materiellen Fortschritte, die in der
jüngst zum Ausbruch gekommenen Spekulation gipfelten, zeigt die nachstehende
Tabelle.
Die erste Zeile dieser Tabelle zeigt, daß von der Gesamtzunahme der
öffentlichen Einnahmen während des in Frage stehenden Zeitraums um ins¬
gesamt 120 Millionen Mark zwei Drittel in die letzten fünf Jahre fallen. Die
drei folgenden Linien zeigen, daß der Aufschwung in der letzten Zeit haupt¬
sächlich auf Kosten des ununterbrochnem Steigens der Baumwolle zu setzen ist.
Dieser hat sich im letzten Jahrzehnt annähernd verdoppelt. Die Zunahme der
Einfuhr gibt einen Beweis für den steigenden Wohlstand des Landes.
Die Werte der Einfuhr an Waren und Bargeld zeigen eine so rasche
Zunahme, daß sie, wie der weiter unten dargestellte „Umsatz" beweist, die
Werte des Exports sehr schnell übertroffen haben. Dieses Verhältnis des
Umsatzes ist errechnet, indem man den Unterschied des Exports auf der einen
Seite und des Imports und der „Unkosten" auf der andern Seite in Betracht
zog. Zu den Unkosten gehören die nach auswärts gehenden Summen für
Verzinsung der öffentlichen Schuld, für den Tribut an die Türkei, für die
Nilreservoirs und für die Okkupationsarmee sowie eine Reihe andrer Posten.
Der gesamte Rechnungsabschluß des Jahres 1907 gestaltete sich folgender¬
maßen :
Der tatsächliche Jahresabschluß ergab die folgenden Zahlen:
Die Einnahmen überstiegen nicht nur den in Ägypten grundsätzlich mög¬
lichst vorsichtig aufgestellten Voranschlag um rund 34 Millionen Mark, sondern
waren auch um 21 Millionen größer als die des Jahres 1906.
Die direkten Steuern haben eine Mehreinnahme von 1.177 Millionen
Mark gebracht; indirekte Steuern und andre Abgaben haben 5,568 Millionen
Mark mehr abgeworfen als im Vorjahre. ,, .
Die Gesamteinnahmen der Eisenbahnen beliefen sich auf 6,354 Millionen
Mark mehr als im Vorjahre. Die Reineinnahmen belaufen sich in demselben
Zeitraum auf 33,1 Millionen Mark gegenüber von 29,3 Millionen im Jahre
1906, was eine Mehreinnahme von rund 3,8 Millionen Mark bedeutet. Die
Einnahmen der Post sind um annähernd eine halbe Million gestiegen.
Auch auch andern Gebieten haben sich mehrfach günstigere Abschlüsse
erreichen lassen, woraus sich der gesamte Überschuß gegenüber dem Vor¬
anschlag ergibt.
Am 31. Dezember 1906 belief sich die gesamte ägyptische Staatsschuld
aus rund 1990 Millionen Mark. An Zinsen und für den Schuldentilgungs¬
fonds wurden 76,5 Millionen Mark aufgewandt. ^
7,2 Millionen Mark wurden im Laufe des Jahres 1907 abbezahlt.
Somit betrug am 31. Dezember 1907 das gesamte aufstehende Kapital
1984 Millionen Mark mit einer jährlichen Zinslast von 75.3 Millionen Mark.
Von dieser Staatsschuld befinden sich 173,6 Millionen in den Händen der
Regierung oder von Kommissären der schulde Die Zinslast für diese Summe
beträgt 6,5 Millionen Mark. In den Händen des Publikums-befinden sich
somit nur 1807,1 Millionen Mark, die zu ihrer Verzinsung 68,8 Millionen Mark
nötig machen.
Der Haushalt für 1908 hatte folgende Summen vorgesehen:
Der Reservefonds hat am 1. Januar 1907 eine Höhe von 228,83 Mil¬
lionen Mark gehabt. Am Ende des Jahres betrug er nach Berechnung der
Einnahmen und Ausgaben noch 138 Millionen Mark. Für das Jahr 1908
sind noch die nachstehenden Ausgaben zur Bestreitung aus dem Fonds ge¬
nehmigt worden:
In den erwähnten Krediten sind beträchtliche Summen für den Ausbau
der Werke am Hafen von Alexandria eingeschlossen, um diesen in den Stand
zu setzen, dem fortdauernden Anwachsen des Handels gerecht zu werden.
Ebenso sind für die Fortsetzung des bewährten Bewässerungssystems und für
den Weiterbau der Eisenbahnen bedeutende Summen vorgesehen. In der für
den Sudan eingesetzten Summe sind 5,9 Millionen Mark zur Ausrüstung
eines Teils der Bahnlinie zwischen Atbara und Khartum mit schwerern Schienen
vorgesehen.
Eine wichtige Frage hatte bisher die Verwendung der aus dem Loskauf
vom Militärdienst eingehenden Summen gebildet. Einer grundsätzlichen Änderung
der ganzen Angelegenheit standen bisher zwei wesentliche Bedenken entgegen.
Erstens hätte die völlige Abschaffung des Loskaufs einen bedeutenden finan¬
ziellen Verlust zur Folge gehabt (im Jahre 1907 hatten die Einnahmen aus
dieser Quelle annähernd fünf Millionen Mark betragen); zweitens wäre aber
auch eine vollständige Abschaffung des Systems in weiten Kreisen durchaus
unpopulär. Nach reiflicher Überlegung wurde deshalb ein neuer Plan aus¬
gearbeitet, der zwar den Loskaus auch fernerhin gestattet, der jedoch die Ver¬
wendung der aus dem Loskauf eingehenden Summen für die zunächst Be¬
teiligten, nämlich die Ausgehobnen, vorsieht. Die Einzelheiten des ganzen
Planes sind noch nicht völlig festgestellt. Im allgemeinen aber zielen sie
darauf hin, jedem Ausgehobnen nach Ablauf seiner Dienstzeit im Heer, der
Polizei oder der Küstenwache eine größere Geldsumme auszubezahlen. Ferner
soll die Verpflichtung, nach Ableistung der fünf Dienstjahre im Heer noch
weitere fünf Jahre in der Polizei zu dienen, abgeschafft werden, wodurch
aber erneute Ausgaben entstehen.
n den drei Namen findet die deutsche politische Literatur eines
Zeitalters hervorragende Verkörperung. Ihre Träger waren
durch völlig gleiches Streben miteinander verbunden; sie waren
drei Zeugen einer politischen Weltanschauung, die einst einen
außerordentlichen Einfluß auf das lebende Geschlecht hatte. Doch
so viele dieser auch zufielen, so sehr jahrzehntelang gerade die intelligenten
Schichten des deutschen Volkes ihr angehörten: der Sieg, der ihrem Ringe»
einst ganz zweifellos beschieden zu sein schien, wurde ihr nicht zuteil. Es war
die Richtung des Individualismus, des freihändlerischen Liberalismus, des
Manchestertums — wenn man diesen viel mißdeuteten und oft zu unbedachter
Beschimpfung mißbrauchten Namen einmal anwenden will. Otto Gildemeister
war daneben noch langjähriger Senator und Bürgermeister von Bremen und
Bundesratsmitglied, Essayist auf nichtpolitischem Gebiet und vor allem der
berühmte Übersetzer von Byron, Shakespeare, Ariost und Dante. Ludwig
Bambergers Name knüpft sich schon an die Pfälzer Revolution von 1849.
Man begegnet ihm in der Literatur der politischen Flüchtlinge der fünfziger
und sechziger Jahre; er war der langjährige Neichstagsabgeordnete für Mainz
und Bingen-Alzey, der Hauptschöpfer unsrer Münzreform, der zäheste Ver¬
teidiger der Goldwährung und der unbeugsamste Gegner des Übergangs zum
Schutzzoll; daneben ein schöpferischer Essayist. Alexander Meyer hat sich,
soviel mir bekannt ist, weder dichterisch noch revolutionär betätigt, noch ist er
Mitglied der obersten Verwaltung eines Staats gewesen. Sein äußeres Leben
verlief einfach; er war Redakteur, Handelskammersyndikus, Reichstagsabgeord¬
neter, politischer Schriftsteller. — Gildemeister und Bamberger, die ältesten,
wurden 1823 geboren, Alexander Meyer, der jüngste, lebte bis 1908. Dieser
Zeitraum ungefähr spannt die Wirksamkeit des Dreigestirns ein. Auch in
diesem halben Jahrhundert hat unser Vaterland manchen gewaltigern Politiker,
manchen einflußreichern Parlamentarier, manchen Dichter von weit größerer
Schöpferkraft gesehn. Als Typen eines Hauptarmes der geistig-politischen
Strömung der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts können ihnen
schwerlich gleich hervorragende an die Seite gestellt werden. Das heißt bis
zu der Zeit, wo eben diese Strömung durch eine andre überwunden wurde,
worauf noch zurückzukommen sein wird.
Die freiheitlichen Bestrebungen in Deutschland vor 1848 hatten zum un-
bestrittnen Hauptziel die Einigung des Vaterlandes und die Schaffung von
Volksrechten neben der teils noch völlig absoluten, teils mir wenig be¬
schränkten Fürstenmacht. Der Ansturm gegen die Autokratie entsprang damals
zum größten Teil aus dem Widerstreit des nationalen Gedankens gegen die
dynastischen Rechte. Erst aus diesem Grunde nahm er eine radikale und
teilweise republikanische Richtung, wobei die Einflüsse aus Frankreich je länger
desto mächtiger herüberwirkten. Aber der eigentliche Individualismus war
darin noch wenig ausgebildet. Er war eher bei erleuchteten Geistern in den
Behörden zu finden, als daß er in weitem Volkskreisen mächtig gewesen wäre.
Am ersten noch in der akademischen Jugend; doch auch hier wogte noch der
demokratische Gedanke, der den Staat allmächtig machen, dann aber volks¬
tümlich walten sehen will, mit dem konstitutionellen und nationalen vielfach
zerfließend durcheinander. Dagegen war in der preußischen Regierung
schon Hardenberg in seinen Grundsätzen (die er freilich nicht stark genug ver¬
focht) ein Individualist. Ebenso war diese Tendenz mächtig bei den Männern
des preußisch-deutschen Zollvereins. Er ging nicht zurück auf Frankreich.
Die Turgot, Qnesnay, Mirabeau (Vater) usw. waren von der ganz anders
gerichteten Revolution, die die Menschen gegen ihren Willen glücklich machen
wollte und zu diesem edeln Zweck selbst die Guillotine nicht verschmähte,
völlig in Vergessenheit gebracht. Vielmehr war Adam Smith die maßgebende
Persönlichkeit. Man kann wohl kaum sagen, daß Hardenberg hiermit ge¬
scheitert sei. Sein Niedergang hatte ganz andre Ursachen. Überhaupt kamen
die Tendenzen noch keineswegs rein zur Erscheinung. Auch der nachherige
Sieg des Zollvereins vollzog sich keineswegs zur Hauptsache dadurch, daß die
Menschen allmählich individualistischer geworden wären, sondern aus Gründen
der Finanzen und der Vereinfachung der Zollverwaltung, die bei der Gemenge¬
lage der deutschen Gebiete auch bei Ministern von bescheidner wirtschaftlicher
Einsicht wirksam werden mußten.
Unterdessen wuchs der Einfluß des Freihandels in England beständig.
Die Kornzölle fielen, womit die norddeutsche, namentlich die nordöstliche Land¬
wirtschaft ein wichtiges Absatzgebiet gewann, sodaß sich der Wohlstand hier
zusehends hob, und sich der ganze Norden Deutschlands, namentlich östlich von
der Elbe, zum Freihandel bekannte. Auch die deutsche Volkswirtschaftslehre
auf den deutschen Hochschulen stand wesentlich unter dem Einfluß der englischen
Ökonomisten. Seit 1812 lehrte Rein. seit 1843 der weit ausgesprochnere
Röscher. Das Ziel ging dahin, daß der einzelne in der Regel weit besser
für sich sorge, wenn er sich völlig selbst überlassen werde und die Früchte
seiner Tüchtigkeit, seines Fleißes, seiner Sparsamkeit oder auch die Nach¬
teile des Gegenteils allein hinzunehmen habe, als wenn der Staat ihn be¬
vormunde. Der einzelne sollte möglichst von aller Einmischung des Staates
freigemacht werden. Gewerbefreiheit, Freihandel, I^isser Küre, laisssr allor.
Fort mit dem Zunftwesen, dem Schutzzoll, den Monopolen! Selbstverant¬
wortung des einzelnen, des Unternehmers wie des Arbeiters! Freie Ent¬
faltung des Verkehrs. Die Einflüsse Cobdens und Brights sowie die kurze
aber außerordentlich starke Wirksamkeit Friedrich Bastiats trafen zusammen.
Mit der Form der Regierung hängt das nicht unmittelbar zusammen.
Ein despotischer Fürst kann sein Land in der vollsten wirtschaftlichen Freiheit
verwalten. Und umgekehrt kann eine demokratische Republik nicht nur hohe
Schutzzölle errichten — das sehen wir noch diesen Augenblick in Frankreich
und den Vereinigten Staaten —, sondern anch das Zunftwesen organisieren
oder, wie die sozialdemokratische Republik es will, den Staat in allen wirt¬
schaftlichen Dingen allmächtig machen. Die individualistische Richtung in
Deutschland, als deren Vertreter wir die drei Mäuner dieses kleinen Essays
vor uns sehen, faßte die ganze Sache universeller auf. Sie verkannte natürlich
nicht, was hier soeben ausgeführt worden ist. Sie sagte: die Befreiung der
Menschen von der Obrigkeit, soweit diese eben zur Beschirmung der Freiheit
unentbehrlich ist, soll Selbstzweck sein und rechtfertigt sich durch die Wohl¬
taten, die sie bringt, wofür selbst das Tier erkenntlich ist. Daß Nachteile mit
ihr verbunden sind, ist unbestreitbar, aber sie müssen in den Kauf genommen
werden. Das System des Zwanges, der Bevormundung hat noch viel größere
Übel in Gefolge. Damit haben wir den vielverspotteten „Nachtwächter-
standpuukt des Staates" vor uns — Bamberger bekannte sich noch in den
achtziger Jahren im offnen Reichstag zu ihm. Die individuelle Freiheit
als Selbstzweck kann und soll nicht nur in einzelnen Beziehungen des Zu¬
sammenlebens der Menschen maßgebend sein; nein sie soll den Grundgedanken
überhaupt bilden. Eine demokratische Republik entspricht ihm nicht, wenn sie
ihn im wirtschaftlichen Leben, z. B. in der Gewerbe- oder Zollpolitik oder
durch unnötige Monopole verletzt. Eine autokratische oder aristokratische Re¬
gierung mag ihm (was in damaligen Zeiten näher lag als heute) durch Frei¬
handel Genüge tun, aber tut sie es nur auf diesem einen Gebiete, so geht die
Maßregel vielleicht aus richtiger wirtschaftlicher Einsicht hervor, nicht aber in
Huldigung des Gedankens der individuellen Freiheit. Denn diesen muß sie,
falls sie ihn für richtig hält, auch durchführen in der vollständigen Freiheit
des Glaubens und des Forschens, in der Gleichberechtigung aller Konfessionen,
in der Öffnung einer freien Bahn für die Mitwirkung des Volkes an der Be¬
stimmung seiner Geschicke. Die Sozialdemokratie verwirklicht ihn wohl — sogar
extrem und ohne Rücksicht auf das geschichtlich gewordne — in der Erhebung
des Volkswilleus zur allein maßgebenden Instanz (wobei sie freilich auch noch
oft genug äußere Einschüchterung üben mag), aber sie schlägt ihm ins Gesicht
durch ihren Sozialismus, durch die obrigkeitliche Gewalt über die Produktions¬
mittel und daher über die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit. Vielmehr muß
die Freiheit des einzelnen der wichtigste und maßgebendste Ausgangspunkt für
die Gesamtheit des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens sein. Mit einem
Worte: politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche, religiöse Freiheit.
Dieses manchesterliche Programm gewann selbst in England, wo der Staat
als solcher nicht eigentlich unpopulär war, die Herrschaft über die Geister — mit
Ausnahme der Denkfreiheit, die auf Widerstand stieß, nicht sowohl vom
Staat aus als auf Grund der in religiösen Dingen allmächtigen Konvention.
Whigs und Tones bekannten sich zu ihm. Freihandel und Gewerbefreiheit
wurden radikal durchgeführt. Das Monopolwesen hatte überhaupt keine Be¬
deutung. In Deutschland kam die volle Abneigung gegen den autokratisch
oder wenigstens oligarchisch geleiteten Staat hinzu. Die religiöse Intoleranz
war nicht Konvention, sondern Ausfluß aus der Staatsgewalt und hatte die
ganze geistige Elite der Nation, verkörpert durch die Universitäten, gegen sich.
Wäre es möglich gewesen, die damaligen Anschauungen in einer ent¬
scheidenden Parlamentsmehrheit zusammenzufassen — wer weiß, was heraus¬
gekommen wäre. Die Dinge liefen anders. Es kam die Revolutionsbewegung
von 1848, auch ihrerseits sich spaltend in mancherlei Weise: großdeutsch,
kleindeutsch; national, partikularistisch; liberal, revolutionär; und endlich als
Gegenschlag gegen den allzu vielfältigen Irregang die Reaktion. Wozu noch
viele Worte darüber verlieren!
Da war denn um jener Kreis der Liberalen — nicht allein repräsentiert,
mich nicht geistig beherrscht, wohl aber in hervorragenden Typen vertreten —
durch die drei Männer, deren Namen den Titel dieses Essays bilden. Bam-
berger stand damals noch abseits; er war verurteilt, lebte im Auslande und
glaubte nicht an die Neformierbarkeit der damaligen deutschen Verhältnisse.
Otto Gildemeister, geboren am 13. Mürz 1823 in Bremen, Sprößling einer
alten republikanischen, sehr konservativen Patrizierfamilie, hatte einige Jahre
Philologische Studien betrieben, ohne sie der Form nach zu beendigen, und
war 1846 in die Redaktion der am 1. Januar 1844 zu Bremen begrün¬
deten Weserzeitung eingetreten. Dieses unter seiner Leitung zu bedeutendem
Ansehen gelangte Blatt war in den ersten beiden Jahren seines Daseins (vor
Gildemeister) schutzzöllnerisch. An Agrariertum dachte damals niemand, denn
Deutschland führte ja Lebensmittel aus. Gildemeister lenkte das Blatt in das
Hochwasser des Freihandels und hielt es unter Einsetzung seiner ganzen Persön¬
lichkeit und Stellung darin fest, als aus geschäftlichen Kreisen ein Druck in
entgegengesetzter Richtung auf ihn ausgeübt wurde. Überall hatte er Mit¬
streiter. Ich nenne nur Fancher, Prince-Smith, Aug. Lammers, Karl Braun
(später Braun-Wiesbaden). Der Freihandel war der Zug der Zeit. Die
preußischen Konservativen huldigten seinen Grundsätzen. Treitschke war ein
eifriger Freihändler, Bismcirck nicht minder, dieser auch noch ein ausge-
sprochner Vorkämpfer der Gewerbefreiheit gegen das Zunftwesen, das ihm bei
seinem Frankfurter Aufenthalt äußerst lästig und reaktionär erschienen war.
Doch in diesem Gegensatz erschöpften sich die damaligen Bestrebungen
nicht. Gildemeister war 1848 ein ausgesprochen liberaler Unitarier, aber
(obwohl in seinem Kleinstaat ein Republikaner) kein Anhänger des Gedankens
um eine deutsche Republik. Demgemäß war er kein Parteigänger Henkers,
Karl Vogts, des jungen Ludwig Bamberger. Er war und blieb ein Liberaler
sowohl im Sturmjahre wie auch in der Reaktion der fünfziger Jahre. Außer¬
dem war er ein nationaler. In jener Zeit, wo der Partikularismus wieder
Orgien feierte, wo Olmütz seine Herrschaft neu begründet hatte, wo Preußen
und andre Staaten den Natioualverein verboten, vertrat Gildemeister mit der
größten Dreistigkeit den Gedanken der Einigung Deutschlands auf liberaler
Grundlage. Es war damals fast nur die Weserzeituug, die das wagen konnte,
und auch sie erlitt das Schicksal, in Preußen verboten zu werden. Gilde¬
meister wurde in Bayern zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die freilich
niemals vollstreckt wurde. Daß er damals ein so schneidiger Vorkämpfer der
preußischen Spitze unter Ausscheidung Österreichs gewesen wäre, wie man
zuweilen liest, ist nicht ganz richtig. Ihm stand Preußen wesentlich als
die reaktionäre Macht unter Leitung Manteuffels und nach Unterbrechung
durch das Ministerium der neuen Ära Bismarcks von 1862 bis 1864 vor
der Seele.
Vielmehr war es damals Alexander Meyer, der den Glaube» an die
Zukunft des schwarz-weißen Banners anfachte und in Bremen, in ganz Nord-
westdentschland (in einem gewissen Gegensatz zu dem österreichisch gesinnten
Hamburg, namentlich aber zur hannoverschen Regierung und zum Welfentum)
zur Herrschaft brachte. Meyer, geboren am 22. Februar 1832 zu Berlin,
war 1864 bis 1866 Mitredakteur der Weserzeitung. Gildemeister war 1852
aus dem Redaktionsverbande ausgetreten und Senatssekretär, 1857 Mitglied
des bremischen Senats geworden. Er blieb aber bis zu seinem 1902 er¬
folgten Tode in enger Verbindung mit ihr. Den Stempel, den er ihr auf¬
gedrückt hat, trägt sie noch heute, nur, der Zeit entsprechend, mit einer ge¬
wissen Abschwächung des Manchestertums. Als der von ihr vertretne nationale
Gedanke 1864 und vollends 1866 zum Siege gelangt war, zog es Alexander
Meyer auf einen größer» Schallplatz. Er wandte sich nach Preußen zurück.
Seine bürgerliche Stellung war von 1866 bis 1871 die des Sekretärs der
Breslauer Handelskammer, dann bis 1876 des Generalsekretärs des Deutschen
Handelstages, endlich bis 1879 des Chefredakteurs der Schlesischen Presse in
Breslau, worauf er als freier Publizist in Berlin lebte. Fast dreißig. Jahre
weitreichender Wirksamkeit waren ihm hier beschieden, wenn auch schließlich
und einem politischen Mißerfolg, wie weiterhin zu berühren sein wird. Von
1876 bis 1888, dann wieder von 1892 bis 1893 war er Mitglied des preußischen
Abgeordnetenhauses und von 1881 bis 1896 des Reichstags.
Dr. Meyer war Mitglied der nationalliberalen Partei. Wie Gildemeister,
so hatte auch er schon in den Jahren, als aus dem preußischen Konflikte Bis-
marcks große, schöpferische Nationalpolitik hervorleuchtete, den negierenden
Standpunkt des damaligen Liberalismus verlassen und einer Versöhnung
zwischen diesem und Bismarck vorgearbeitet. Im Jahre 1866 bildete sich die
neue Partei. Zu ihren Hauptvorkämpfern auf dem Gebiete der Publizistik
gehörten die beiden Männer. Und als vollends der Riesenkampf mit Frank¬
reich entbrannte, als das neue Reich geschmiedet wurde, und dann die Feind¬
schaft des für unfehlbar erklärten Papsttums abzuwehren war, da waren beide
unermüdlich.
Es ist längst Zeit geworden, nunmehr anch Ludwig Bambergers zu ge¬
denken, der an Wirksamkeit bald der erste werden sollte. Er war am
22. Juli 1823, wenige Wochen nach Gildemeister, in Mainz geboren. Nach
dein juristischen Universitütsstudium nahm er an der achtundvierziger Bewegung
eifrigen Anteil, sogar an dem pfälzischen Aufstande von 1849, worauf er zur
Flucht ins Ausland gezwungen wurde. Die Rechtswissenschaft vertauschte er
nun mit dem Handel, der ihn zu einem vermögenden Manne machte. Aus
dein Exil hatte er schon manche freisinnige Artikel veröffentlicht, keineswegs
nur politische. Im Jahre 1866 wurde ihm die Rückkehr möglich, und nun
griff er kräftig in die Entwicklung Deutschlands ein. Auch er machte im
Gegensatz zu vielen süddeutschen Demokraten, zu den „alten Achtundvierzigern"
seinen Frieden mit der Neugestaltung der deutschen Verhältnisse und bot
alles auf, sie im liberalen Sinne zu beeinflussen. Im Jahre 1868 wählte
ihn Mainz ins Zollparlament, 1870 in den Reichstag. Hier trat er in die
nationalliberale Partei ein, hier kämpfte er an der Seite Bennigsens,
Twestens, Lasters, Forckenbecks. Mit wenig Ausnahmen, zu denen Miqnel
und Hannacher gehörten, war damals die ganze Partei freihändlerisch. In
dem Präsidenten des Reichskcmzlcramts, Rudolf Delbrück, hatten die frei¬
händlerischen und manchesterlichen Nationalliberalen einen Gesinnungsgenossen
auf wirtschaftlichem Gebiet, wie sie ihn sich nicht besser wünschen konnten.
Am nachhaltigsten beeinflußte Bamberger die deutsche Münzgesetzgebung. Auch
darin ging er Hand in Hand mit Delbrück. In ihrer Verteidigung zur Zeit
der bimetallistischen Angriffe fand er die entscheidende Hilfe bei dem Neichs-
dankdirektor Dr. Koch. Auf kirchenpolitischen Gebiete stand Bamberger abseits.
Er wollte vieles von dem Kulturkampf nicht mitmachen, weil es ihm gegen
die Toleranz zu verstoßen schien. Es war eine große Zeit für unsre drei
Politiker.
Ehe wir uns der für sie so tragischen Schicksalsünderung zuwenden, muß
hier ihrem rein literarischen, nichtpolitischen Wirken gedacht werden. Hier
steht offenbar Otto Gildemeister am glänzendsten da. Es ist überflüssig, seinen
Übersetzungen noch einen Lorbeerkranz zu winden. Die Meisterschaft der Sprache,
die Schönheit und Einfachheit des Ausdrucks, die Genauigkeit der Verdeutschung,
die Genialität in der Wiedergabe genialer Wortspiele ist so allgemein anerkannt
worden, daß sie hier nicht geschildert zu werden braucht. „Der Übersetzergildc
Meister" nannte ihn Paul Heyse. Zuerst, schon 1864, erschien Lord Byron,
der 1904 schon seine fünfte Auflage erlebt hat. Dann folgten die Shake-
spearischen Königsdramen in der Bodenstedtschen Ausgabe, doch blieb es nicht
bei diesen; im Laufe der Jahre schloß sich manches andre Drama daran.
Neben dem Englischen zog ihn die klassische italienische Literatur an, erst Ariost
und dann Dante, deren Werke (1882 bis 1888) unübertreffliche Neudichtungen
in der deutschen Sprache wurden. War Gildemeister auch kein schöpferischer
Dichter, so war er doch mindestens einer der ersten Sprachkünstler seiner Zeit,
in der Poesie wie in der Prosa. Ein Sprachkünstler, der nicht künstelte!
Die Einfachheit und Pruuklosigkeit in der Form mit dem bedeutendsten geistigen
Gehalt zu verbinden, schien ihm nicht nur möglich, sondern das erstrebens¬
werteste Ziel. So kennzeichnet denn seinen Prosastil bei aller Tiefe des
Wissens, bei dem Reichtum seiner Erfahrungen gerade die Schlichtheit des
Ausdrucks. Bamberger bewunderte diese Kunst so sehr, daß er ihr in der
Wochenschrift Nation ein eignes Denkmal setzte. Mehr als füufcinhalb Jahr¬
zehnte lang haben die Leser der Weserzeitung Gelegenheit gehabt, diese Kunst
zu bewundern. An dem Stil erkannte man leicht den ungenannten Verfasser.
Eben jetzt hat man seinen alten Freunden wie auch andern Liebhabern seiner
Feder Gelegenheit gegeben, wenigstens einzelnes ans dem reichen Strom seiner
Leitartikel wieder zu lesen und dem Schicksal des Vergessenwerdens wie auch
den: stillen Schlummer der Bibliotheken und Archive zu entreißen. Ein kleiner
Bruchteil dieser Weserzeitungsleitartikel, sechzig unter etwa fünftausend, sind
unter dem Titel „Aus Bismarcks Tagen, Essays von Otto Gildemeister" im
Herbst 1908 bei Quelle und Meyer in Leipzig erschienen. Auch die Wochen¬
schrift Nation, herausgegeben von Theodor Barth, erfreute sich mancher herr¬
licher Essays: ihr Verfasser verbarg sich nur wenig unter dem Täuschnamen
Giotto. Manche von diesen sowie auch einige ältere größere Essays sind schon
1896 bis 1897 unter demi Titel: „Essays, herausgegeben von Freunden" er¬
schienen. Gildemeister verließ den bremischen Senat im Februar 1890', um
sich ganz seinen literarischen Arbeiten zu widmen. Als er im August 1902
starb, hatte er wenig Wochen zuvor seinen letzten Leitartikel für die Weser-
zeitung geschrieben.
Ludwig Bambergers gesammelte Schriften nebst einem selbstgeschriebnen
Lebensabriß sind 1894 bis 1897 bei Rosenbaum und Hart in Berlin erschienen.
Auch sie sind Meisterstücke des Prosastils, Meisterstücke politischer Tagesliteratur.
Das wird auch der sagen, der mit ihrem Inhalt keineswegs einverstanden ist.
Die Muße eines dem Berufsleben überhobnen Mannes von der feinsten
Bildung hat sie entsteh» lassen. An Klarheit der Gedankenentwicklung sind sie
unübertrefflich. In der münzpolitischen Literatur ist nichts, was sich mit ihrem
reichen Inhalt messen könnte. Abgesehn von einigen wenigen sind sie Partei-
schriftcn, als solche wollen sie genommen werden; Parteischriften des Frei¬
handels, des „Manchestcrtums", des Individualismus, der Goldwährungs¬
partei. Aber diese Eigenschaft hat nicht verhindert, daß ihr Verfasser in seinem
Essay zum Tode Bismarcks dem Genius des großen Mannes in einer Weise
gerecht geworden ist, wie man es von einem Gegner selten finden wird. Die
neuern Schriften Bambergers entstammen ebenfalls in ihrer großen Mehrheit
der Nation.
Und gerade in der Nation wirkte Alexander Meyer mit den beiden
ältern Freunden zusammen. Wo seine Schriften sonst zerstreut sind, davon
weiß ich nicht allzuviel. Ich konnte mich ganz deutlich auf einige seiner Leit¬
artikel besinnen, die ich als ganz junger Mann vor 1366 in der Weserzeituug
gelesen hatte; es machte ihm, als ich ihn nach langen Jahren persönlich kennen
lernte, Freude, daß ich ihm am Gedanken gang oder an einzelnen überraschenden
Wendungen das Gelesene so deutlich machen konnte, daß er sich als Urheber
darin wiedererkannte. Vieles wird in seinen Breslauer Zeitungen niedergelegt
sein. Dann erinnere ich mich sehr wohl seiner Artikel, die er 1880 bis etwa
1882 für die Tribüne, später für die Nationalzeituug schrieb. Zuletzt hatte
die Vossische Zeitung daS Glück, regelmäßige Leitartikel von ihm zu erhalten.
Bon alledem ist noch nichts wieder gesammelt und herausgegeben worden. Es
sind ja auch wenig Monate verflossen, seitdem man sein müdes Haupt zur ewigen
Ruhe gelegt hat. Möge die nächste Zukunft uns eine Sammluug bringen, so¬
lange die Erinnerung an ihn noch frisch ist. Ein Bändchen unpolitischer Skizzen,
die aber doch keinen vollen Begriff von Alexander Meyers Geist, von seiner
Kunst geben, ist vor wenigen Wochen erschienen: Aus guter alter Zeit; Berliner
Bilder und Erinnerungen. (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt.)
Was Alexander Meyer vor den beiden neben ihm genannten Genossen
auszeichnet, das ist der köstliche Humor. Es ist schwer, diesen völlig zu zer¬
gliedern. Viel trägt zu seiner Wirkung die Schlichtheit des Vortrags bei.
Meyer weiß jeden Anschein des Haschens nach einem Lachcrfolg zu vermeiden.
Mit einem Grabesernst — auch als Redner — trägt er vor. Wie er sich gibt,
ist er Pessimist. Gelegentlich gewährt er uns einen lustigen Einblick in die
wirkliche Weise, wie er seine Worte aufgefaßt haben will. Zuweilen sagt er
etwas von einer fast unerträglichen Selbstverständlichkeit, und dann mit einem¬
mal gibt der nächste Satz den Schlüssel zu dem keineswegs trivialen Gedanken,
den er auf eine solche Weise entwickelt. Auch auf der parlamentarischen Tribüne
war er ein Meister dieser Kunst. Er war einer derer, die am sichersten das
Ohr des Hauses fanden. Auch als er gegen Ende feiner parlamentarischen
Laufbahn nur noch eine kleine Minderheit im Reichstage vertrat, sammelte sich
stets eine dankbare Zuhörerschaft um die Tribüne, von der seine Worte er¬
tönten.
Bamberger und Meyer waren hervorragende Parlamentarier. Aber
Bamberger war der stärkere, schon weil er leichter zum Worte griff, mehr
Feuer und mehr Initiative hatte. Er sprach schneidig und trachtete danach,
seinen Gegner ernstlich und schwer zu verwunden. In den achtziger Jahren
hat Bismarck in ihm sicher den gefährlichsten parlamentarischen Feind gesehen.
Er war die größte geistige Kraft der sogenannten sczessionistischen Partei und
dessen, was von ihr in dem spätern Linksliberalismus aufging.
Nachdem er anfänglich in Mainz gewählt worden war, hatte er in Bingen-
Alzey einen Wahlkreis gefunden, der ihm treu blieb, bis er 1893 mit dem Ende
der Legislaturperiode erklärte, uicht wieder gewählt werden zu wollen. Wegen
seiner besondern Stellung zur kirchenpolitischen Frage hielten auch zahlreiche
Katholiken zu ihm. Nach seinem Ausscheiden wurde erst Schmidt-Elberfeld
gewählt, dann verschoben sich die Parteiverhältnisse des Wahlkreises vollständig.
Daß er aufhörte, sich am parlamentarischen Leben noch unmittelbar zu beteiligen,
war ein schwerer Schlag für den Linksliberalismus; vollends war Bambergers
Tod im Mürz 1899 ein Verhängnis für seine Partei.
Es ist schon hier und da berührt worden, daß sich die Zeiten für das
„Mcmchestertnm" — um noch einmal diesen schiefen aber gebräuchlichen Ausdruck
beizubehalten — gänzlich änderten. Von allen Seiten wurde es zurückgedrängt.
Aus der Handelskrise der siebziger Jahre ging der Sieg der Schutzzollpartei
innerhalb der Industrie hervor. Bismarck erfüllte deren Verlangen, indem er
der Landwirtschaft die Lebensmittelzölle verschaffte, womit sich das fortan die
meisten Verhältnisse beherrschende Bündnis zwischen Landwirtschaft und Industrie
bildete. Am ersten, schon im Frühsommer 1879, kam der Freihandel zu Fall.
Und bald darauf führte Bismarck die schon im Juli 1878, gleich nach dem
Tode Pius des Neunten begonnenen Verhandlungen mit Rom weiter, die zwar
noch nicht zum Frieden führten, aber doch die freihündlerischen Liberalen ent¬
wurzelten, weil Bismarck nun wiederholt Mehrheiten mit den? Zentrum bilden
konnte. Auch innerhalb der früher fast ganz freihändlerischen Nationalliberalcn
kam der Schutzzoll zur Herrschaft. Aus mancherlei Gründen trennte sich 1881
der linke Flügel von den Bennigsen, Miquel, Hcunmacher usw. Man gründete
die sezessionistische Partei, und diese errang in der Reichstagswahl von 1881
große Erfolge: sie wiederholten sich niemals. Vielmehr machte das Agrariertum
alsdann Fortschritte. Von noch weit größerer Tragweite war, daß die Arbeiter¬
schaft immer vollständiger in die Netze der Sozialdemokratie geriet, sodaß viele
großstädtische und industrielle Wahlkreise vom Liberalismus abfielen. Man
suchte das 1834 durch Verschmelzung der Sezessionisten mit der alten Fort¬
schrittspartei zu der deutschfreisinnigen Partei zu bekämpfen. Auch das hatte
keine sonderlichen Früchte. 1890 trennte man sich wieder.
Doch das Schlimmste von allem für das Manchestertum war die voll¬
ständige innere Umwandlung der Anschauungen der Volkswirtschaftswissenschaft.
Das gesellschaftliche Leben zeitigte Erscheinungen, denen mit der Lehre vom
freien Spiel der Kräfte nicht mehr beizukommen war. In andrer Form als die
Sozialdemokratie versuchten der Kathedersozialismus, der Staatssozialismus,
der christliche Sozialismus der Übel Herr zu werden, zu deren Bekämpfung
das Manchestertnm freilich niemals freie Bahn gehabt hatte, wie in England,
deren Bewältigung man ihm aber nicht mehr zutraute. Es war nicht nur, daß
sich Bismarck, die Parteien der Rechten und das Zentrum mit der neuen
Lehre verbanden, um äußerlich zur Macht zu gelangen. Der Individualismus
wurde — pro Kino et rupe — auch innerlich überwunden. Es kam zu der
neuen staatlichen Sozialpolitik. Der Individualismus unterlag. Es gebricht
hier an Raum, diese Entwicklung eingehender zu schildern. Die Sache ist ja
auch bekannt genug.
Im Reichstag ging der individualistische Liberalismus stark zurück, womit
innerm Hader Tür und Tor geöffnet wurden. Im Jahre 1893 löste man die Fusion
zwischen Sezessionisten und der freisinnigen Volkspartei wieder auf. Bamberger
kandidierte nicht mehr für den Reichstag, Alexander Meyer wurde 1896, wo
sein Mandat für un giltig erklärt wurde, nicht wiedergewählt; auch später nicht.
Beide, wie auch Gildemeister, der wohl (bis 1890) dem Bundesrat, aber niemals
einer parlamentarischen Körperschaft angehört hat, blieben noch eifrige politische
Literaten, bis der Tod ihrem Erdenwallen ein Ziel setzte. Ihre politische
Weltanschauung ist zwar nicht absolut einflußlos, vielmehr macht sie sich kritisch
immer noch bemerkbar. Aber sie ist doch zurzeit stark zurückgedrängt, selbst in
England wird sie denaturiert. Eine Rückkehr zur Macht steht nach menschlichen!
Ermessen nicht nahe bevor. Doch wird das Erbe gehütet. Es gibt im Menschen¬
leben Ebbe und Flut. Der Individualismus hat seine Flut gehabt. Jetzt hat
der Sozialismus Hochwasser. Ob er die Probleme, an die er jetzt herangetreten
ist, lösen wird — wer wollte darüber prophezeien? An dem wichtigsten müht
er sich bis jetzt ohne jeden Erfolg ab, an der Versöhnung der sozialdemokratisch
versetzten Arbeiterschaft.
Wir wollen aber auch nicht vergessen, wie vieles von dem, was jene
Männer mit der ganzen Inbrunst ihres Herzens erstrebt haben, gesichert ist.
Die Einheit des Vaterlandes ist unerschütterlich begründet; der Partikularismus
ist dem Erlöschen nahe. Das Verfassungslebeu wird jetzt selbst von den Konser¬
vativen verteidigt. Die Angriffe auf die Forschungs-, Denk- und Glaubens¬
freiheit mögen hier und da einen Wellenschlag hervorrufen — daß die geistige
Freiheit je wieder in Gefahr kommen könnte, wird im Ernst niemand befürchten.
!M zweiten vorjährigen Bande der Grenzboten S. 83 habe ich
meine Freude darüber ausgesprochen, daß Ferrero der sym¬
pathischen Persönlichkeit des großen Redners, Staatsmanns und
Denkers, der wahrlich kein kleiner Mensch gewesen ist, vollauf
! gerecht wird. Der zweite Band des Geschichtswerks schließt mit
Cäsars Ermordung; im dritten Bande wird Ciceros Charakterbild vollendet.
Wir sehen ihn am Nachmittage der Iden des März aufs Kapitol eilen, wo
er rät, Brutus und Cassius sollten den Senat versammeln, die Bürgerschaft
zu den Waffen rufen und sich so, dem Antonins zuvorkommend, der Staats¬
gewalt bemächtigen. Der Rat wurde von den Verschwornen nicht befolgt;
„alle diese Söhne des Mars ließen sich an Kühnheit von dem Manne der
Feder übertreffen". Wir sehen ihn dann, als er mit allen Großen die Stadt
verlassen hatte, von seinen Landgütern aus die fieberhafteste und unermüd¬
lichste Tätigkeit zur Wiederherstellung der Republik entfalten, die keine Don-
quichoterie war, wenn Ferrero recht hat, der behauptet, die Republik habe
noch mehr Lebenskraft gehabt, als die Mehrheit der Geschichtschreiber (mit
Recht, wie mir scheint) annimmt. Jedenfalls aber ist die Bemerkung richtig:
„selbst wenn man ihr die Lebenskraft abspricht, muß man bedenken, daß die
Menschen die sozialen und politischen Umwälzungen sehr oft erst lange,
nachdem sie sich vollzogen haben, gewahr werden." Nachdem Cicero alle
Hoffnung auf Erfolg aufgegeben hatte, warf sich sein Tätigkeitsdrang auf die
literarische Produktion. Von dem Büchlein I)o oWeüg, das unter anderm
damals entstand, schreibt Ferrero, als gelehrte Abhandlung sei es nur eine
rasch hingeworfne Kompilation, wer sich nicht der Lage erinnere, in der es
entstanden ist, der werde „dieses für das Verständnis der politischen und der
sozialen Geschichte Roms grundlegende Aktenstück verständnislos beiseite legen".
Mit lebhafter Besorgnis habe Cicero gesehen, „wie Italien in den Künsten
und Wissenschaften gewann und an Sittenreinheit verlor, sich bereicherte und
immer unersättlicher ward, wie es Menschen brauchte, während seine Frucht¬
barkeit abnahm, seine Herrschaft ausdehnte und daheim seiner Freiheit verlustig
ging". Noch einmal mühte er sich die Zauberformel zu finden, die diese un¬
versöhnlichen Gegensätze versöhnen könne; das Problem seines Buches vom
Staate faßte er diesmal von moralischen und sozialen Gesichtspunkten aus an.
Er untersuchte, welche Eigenschaften die herrschende Klasse seines Jdealstcmts
haben müsse, „Und da war er denn zu der Überzeugung gelangt, daß man,
um der Welt deu Frieden zu schenken, eine Umwertung der zurzeit geltenden
Lebenswerte vollziehen müsse, daß man fürderhin Reichtum und Macht, deren
verderblichen Einflüssen die Menschen so leicht erliegen, nicht als die höchsten
Güter des Lebens ansehen dürfe, die man um ihrer selbst willen suchen und
herbeiwünschen soll, sondern als eine schwere Bürde, die man zu tragen hat
für das Wohl aller und vor allem des Volks. Folgenden Kanon von Pflichten
stellt er für die Herrschenden auf: Eine der Würde des vornehmen Mannes
entsprechende Lebenshaltung, die sich jedoch von allen Übertreibungen fernhält,
und zu der landwirtschaftlicher Betrieb oder Großhandel schriebe er heute, so
würde er noch die Großindustrie beigefügt haben > die Mittel gewähren; Be¬
teiligung an der Staatsverwaltung, nicht um sie zur persönlichen Bereicherung
und zum Appell an die niedern Leidenschaften des Volks zu mißbrauchen,
sondern um den Interessen der Armen und des Mittelstandes mit Hingebung
zu dienen; die Leitung und Durchführung nützlicher öffentlicher Arbeiten, Hilfe¬
leistung bei Hungersnöten, ohne die Staatsfinanzen zu ruinieren," Genau
dasselbe, was unsre heutige Zeit von ihrer Aristokratie fordert, nur daß deren
Tätigkeit in einem höchst vollkommnen Staatsorganismus geregelt ist. Nach¬
dem Ferrero die Ermordung des Proskribierten erzählt hat, schließt er die
Charakterschilderung mit einer Betrachtung ub, von der wir nur den Anfang
wiedergeben.
Die Geschichtschreiber der Gegenwart haben leichtes Spiel, wenn sie sich
besonders angelegen sein lassen, uns Cicero in den Augenblicken zu zeigen, wo er
schwach war,'schwankte, in Widerspruch mit sich selbst geriet. Sie vergessen dabei,
daß sich ahnliche Schilderungen auch von seinen Zeitgenossen und selbst von Cäsar
entwerfen ließen, und daß es bei Cicero nur deswegen leichter ist, weil er uns
selbst mit allem bekannt macht, was in seinem Innern vorgeht. Man muß jedoch
Cicero und seine Stellung in der Geschichte von einer andern Seite ansehn.
Innerhalb der römischen Gesellschaft, in der es seit Jahrhunderten niemand möglich
gewesen war, als Staatsmann eine Rolle zu spielen, wenn er nicht zum alten
Geschlechteradel gehörte oder über großen Besitz verfügte oder sich kriegerische
Lorbeeren erworben hatte, ist Cicero der erste, der. ohne dem Geburis- oder
Geldadel anzugehören und ohne militärische Verdienste, in die tonangebende Klasse
Aufnahme fand, zu den ersten Posten ausrückte und in Gemeinschaft mit den
Adligen, den Millionären und hohen Militärs den Staat regierte, und dies alles
nur dank seiner meisterhaften Beherrschung des mündlichen und schriftlichen Ausdrucks
und seiner Fähigkeit, der großen Masse der Gebildeten die verwickelten und tiefen
Gedanken der griechischen Philosophie durch seine lichtvolle Darstellung zu vermitteln.
Er war der erste Staatsmann in der Geschichte Roms und damit in der auf ihr
sich aufbauenden Geschichte der europäischen Zivilisation, der der Klasse der In¬
tellektuellen angehörte. Demnach haben wir ihn als den Stammvater einer Dynastie
zu betrachten, der man vielleicht alle mögliche Verderbnis, die verschiedensten Laster
und Mängel nachsagen kann, der aber der Geschichtschreiber, selbst wenn er den
Stab über sie bricht, die Anerkennung nicht wird versagen können, daß sie die
Ccisaren überdauert hat, da sie von Cicero an bis auf unsre Zeit zweitausend Jahre
lang ununterbrochen die Geschicke Europas gelenkt«?) hat. Cicero war der erste
unter jenen Männern der Feder, die in der Geschichte unsrer Zivilisation bald als
Stützen der bestehenden Staatsformen, bald als Vorkämpfer der Revolution eine
Rolle spielen. Wir sehen sie in der heidnischen Zeit als Rhetoren, Juristen,
Polyhistoren am Werk und hernach als Apologeten des Christentums szuncichst doch,
von Paulus an, als seine Begründer und Verbreiters und Kirchenväter; wir begegnen
ihnen im Mittelalter als Mönchen, als Vertretern der Rechts- und der Gottes-
gelcchrtheit, als Doktoren und Lektoren und in der Renaissance als Humanisten; im
achtzehnten Jahrhundert kannte man sie in Frankreich unter dem Namen Enzyklopädisten,
und heute nennen wir sie Advokaten, Journalisten, Publizisten und Professoren.
Zielinski nun stellt diese Bedeutung Ciceros in eine ganz neue Beleuchtung,
durch die sie ins Riesenhafte wächst: nicht bloß der erste der Intellektuellen,
der Eröffner einer neuen Weltära, ist er gewesen, sondern er hat durch seine
Schriften und durch seine Persönlichkeit diese neue, mit den Inhabern der
materiellen Machtmittel um die Herrschaft ringende Klasse inspiriert, angeregt,
geleitet bis in die Französische Revolution hinein; er tritt als beinahe eben¬
bürtiger neben den Apostel Paulus und die Evangelisten. Dieser Nachweis
wirkt im ersten Augenblick, zusammen mit der Erinnerung an den Cicero der
Schulpedanten, einigermaßen komisch, aber wenn man dem gelehrten und für
seinen Helden begeisterten Darsteller bis zu Ende folgt, kann man ihm nicht ganz
unrecht geben. Wir verzichten auf die Wiedergabe der Charakteristik Ciceros
und seiner mit der politischen verflochtenen literarischen Tätigkeit; in beiden
Beziehungen stimmt Zielinski mit Ferrero überein, den er selbstverständlich noch
nicht gelesen haben kounte. Erwähnt sei nur, daß er deu Periodenstil recht¬
fertigt, als dein Geiste des Hochgebildeten, seinen Reichtum an Vorstellungen
und Gedanken planvoll verknüpfenden angemessen, gegenüber dem ungebildeten
„Simplisten", der natürlich nicht anders könne, als seine wenigen Gedanken
ungegliedert in einer Reihe aufmarschieren lassen, der die Wahrheit einfach
wolle, damit er sie fassen, die Rede „einplanig", damit er ihr folgen könne.
Was Ciceros Stellung in der Politik und damit seine Lebensaufgabe bestimmte,
das sei der Umstand gewesen, daß er in den Grundsätzen des Scipionenkreises
aufgewachsen sei, und daß er die römische Verfassung, wie sie sich im Ideal¬
bilds jenes Kreises edler Seelen darstellte, über alles liebgewonnen habe. „Er
liebte an ihr: die harmonische Verbindung monarchischer, aristokratischer und
demokratischer Elemente, durchdrungen vom Geiste hellenischer Gesittung, jeden
Fortschritts fähig, soweit dieser zur Aufnahme und Entwicklung fördernder, nicht
zerstörender Ideen führte." Und er arbeitete praktisch an der Verwirklichung
seines Ideals, indem er sich von Anfang bis zu Ende der Opfer des Unrechts
annahm: zuerst einzelner zivilrechtlich geschädigter oder von der den Gewalt¬
habern dienstbare» Strafjusiiz bedrohten Personen, dann der unterjochten und
ausgeplünderten Völker. Die Karikatur des großen und großherzigen Staats¬
manns, die bis heute noch vielen das wahrheitsgetreue Bild ersetze, sei sehr
geschickt im Hause des Antonianers Asinius Pollio ausgearbeitet worden.
Ciceros Einfluß nun habe auf jeder der drei Stadien, in denen sich unsre,
die christliche. Kultur entfaltet hat, bestimmend eingewirkt. Im ersten, dem
religiös-ethischen Stadium sei der Glaube zur Herrschaft gelangt, „der einer¬
seits jedem Menschenleben, wie verächtlich und ärmlich auch seine äußere Er¬
scheinungsform sein mag, einen ewigen und unvergänglichen Wert beimißt,
andrerseits aber seine Bekenner nicht zu tatenloser Ruhe und jenseitssüchtigem
Quietismus leitet, sondern, seinem Wahlspruch: via et Isbora getreu, zu nütz¬
licher Kulturarbeit". Im zweiten Stadium, dem der Renaissance, herrscht der
Intellekt und erringt sich die Persönlichkeit das Recht, „selbständig die ihr
eingebornen Keime geistiger Gesittung zu entwickeln und durch individuelle
Verarbeitung des allgemeinen Knlturbesitzes den Fortschritt des menschlichen
Gedankens zu fördern". In der Französischen Revolution endlich setzt sich das
dritte der drei Güter durch, die unsre Kultur von der aller Heiden und Mo¬
hammedaner unterscheidet: das politische Ideal, „demzufolge jeder innerhalb
der ihm vom Gesetze aufgerichteten Schranken in vollem Maße seiner persön¬
lichen Freiheit genießt". Im ersten Stadium nun, weist Ziclinski nach, habe
Cicero der europäischen Menschheit nichts geringeres gespendet als die Ethik.
Formell ist das richtig. Die antike Ethik ist so, wie sie Cicero formuliert hat,
von Lactantius und Ambrosius übernommen und für den christlichen Unter¬
richt zurechtgemacht worden. Bis auf den heutigen Tag werden im katho¬
lischen Katechismus die vier aristotelisch-ciceronianischen Tugenden: Klugheit
ibel Cicero heißt sie Weisheit, aber der Weisheit wird im Katechismus als
einer Gabe des Heiligen Geistes ein höherer Rang angewiesen). Mäßigkeit oder
Müßigung. Gerechtigkeit und Stärke oder Tapferkeit als „Kardinaltugenden"
empfohlen. Inhaltlich aber haben die Kirchenväter aus Cicero doch nichts er¬
fahren, was sie nicht auch aus der Bibel hätten schöpfen können. Was sie
dem Heiden entnahmen, das war die systematische Anordnung und die rationelle
Begründung sowie die Anleitung zum schulmäßigen Vortrage. Zielinski stellt
die Sache so dar. als hätten die Kirchenväter durch die Aufnahme der cicero¬
nianischen Ethik ihr Christentum verleugnet, bis dann Augustinus die Moral
wieder durch die Religion verdrängt habe. Er stützt sich auf den Ausspruch
Tertullians: „Hütet euch, ihr, die ihr ein platonisches, ein stoisches, ein dialek¬
tisches Christentum ausgeklügelt habt! Wir brauchen unsre Gedanken nicht
anzustrengen. seit wir Christus haben; wenn wir nur glauben, so tut uns
weiter nichts not." Ferner auf das Erlebnis, das Hieronymus in einem
seiner Briefe erzählt. In einer schweren Krankheit träumte ihm. er sei vor
den Richterstuhl Gottes geschleppt worden. Man habe ihn gefragt, was er
sei; Christianer, habe er geantwortet; nein: Ciceronianer, habe ihm die Stimme
zugedonnert, und zugleich habe er die Streiche gefühlt, mit denen er für sein
Heidentum gezüchtigt worden sei. Die Umstehenden hätten den Richter ge¬
beten, dem Sünder seiner Jugend wegen zu verzeihen, und Verzeihung sei
ihm bewilligt worden, nachdem er geschworen hatte, keine heidnischen Bücher
mehr zu lesen. Er habe jedoch, schreibt Zielinski — und auch seine Feinde
warfen es ihm vor —, diesen Schwur nicht zu halten vermocht; er zitiere
Cicero unendlich oft, und der Cicerokenner ertappe ihn fast bei jedem Schritt
auf ciceronianischen Gedanken und Wendungen. Es ist nun nicht zu ver¬
wundern, daß der Abscheu vor dem Heidentum die gebildeten Christen heidnische
Lektüre, die sie eben doch bei der Dürftigkeit und den formellen Mängeln der
christlichen Literatur nicht entbehren konnten, als eine Sünde empfinden ließ,
aber es gab doch auch Kirchenlehrer, die das Heidentum anders ansahen.
Clemens von Alexandrien läßt bekanntlich den göttlichen Pädagogen, den
Logos, nicht bloß in den jüdischen Propheten, sondern auch in den heidnischen
Weisen zur Vorbereitung der Menschheit aufs Christentum tätig sein. Wunder¬
licherweise erwähnt Zielinski nicht diesen für die alexandrinische Theologie ma߬
gebenden Gedanken des genannten Lehrers, sondern nur die Stelle, wo er die
„unwissenden Schreier", die gegen die hellenische Philosophie ankämpfen, mit
den Gefährten des Odysseus vergleicht, die sich die Ohren mit Wachs verstopften,
um den Gesang der Sirenen nicht zu hören. Dieser hübsche Vergleich beweise
bestenfalls die Unschädlichkeit der heidnischen Philosophie für glaubensstarke
Christen, nicht aber ihren Nutzen und noch viel weniger ihre Notwendigkeit.
Vom christlichen Standpunkt aus betrachtet sei die heidnische Philosophie
wirklich nichts andres als Sirenengesang. Dazu stimmt es doch nicht, wenn
Lactantius mit Entzücken die gegen das Götterwesen und andern heidnischen
Aberglauben gerichteten Vernunftbeweise Ciceros benutzt, und wenn er von der
Darstellung des Sittengesetzes als einer lsx vel in Ciceros Staatslehre schreibt:
„Wer von uns, die wir der göttlichen Weihen teilhaftig sind, könnte das
Gesetz Gottes ebenso eindrucksvoll verkünde«, als es dieser Mann getan hat,
der doch von der Erkenntnis der Wahrheit soweit entfernt war?" Man muß
jedoch leider Zielinski recht geben, wenn er gegenüber der Anerkennung des
Verdienstes, das sich der Heide um die Zerstörung des polytheistischen Aber¬
glaubens erworben habe, daran erinnert, daß die Kirchenväter, durch Stellen
des Neuen Testaments verleitet, selbst einen sehr gefährlichen Teil des helle¬
nischen Aberglaubens, durch orientalischen verschlimmert, sich angeeignet und
„den gesunden Aufklärungsgeist des republikanischen Philosophen im Nebelmeer
einer wüsten Dämonologie" ertränkt haben. Durch Ambrosius, dessen Bücher
ä« oküviis niillistrornin „viele Jahrhunderte lang als das wesentlichste, wo
nicht das einzige Lehrbuch der christlichen Moral in Geltung waren", sei, „der
natürlichen Entwicklung der christlichen Heilslehre zum Trotz, die Ethik Ciceros
die anerkannte christliche Ethik geworden". Sagen wir: soweit die christliche
Ethik, abgesehen von ihrem heroisch-mystischen Überbau, eben nur die natürliche
Vernunftmoral war, hat sie von Cicero die Form empfangen. Es mag
wunderbar erscheinen, fährt der Verfasser fort, „daß durch Ambrosius Cicero
verchristlicht worden ist, noch wunderbarer ist, daß kurz vorher Cicero einen
Heiden zum Christentum« bekehrt hatte, und daß dieser sein Neophyt kein
andrer war als die spätere Säule des Christentums, die Zierde und der Stolz
der abendländischen Kirche. Augustin". Dieser erzählt in den Konfessionen, wie
Ciceros Dialog Hortensius einen völligen Umschlag seiner Neigungen bewirkt
und seinem Dichten und Trachten die Richtung auf Gott gegeben habe, sodaß
ihm von da an „alle eiteln Hoffnungen" schal und leer erschienen seien; nicht
durch die Form, sondern durch den Gehalt seines Buches habe ihn Cicero ge¬
fesselt. (Zielinski übertreibt; vou dieser Erschütterung seiner Seele, die
Augustin als neunzehnjähriger erlebte, wars bis zu seiner elf Jahre später
erfolgten Bekehrung noch weit.) Dieses seiner Ansicht nach epochemachende
Ereignis bestimmt den Verfasser, noch einmal genau anzugeben, wie die
Christianisierung Ciceros — das heißt seiner Philosophie, denn die Reden be¬
achtete man nicht, und die Briefe wurden vergessen — zu verstehen sei. Diese
Philosophie habe eiuen positiven, einen negativen und einen skeptischen Teil.
Der positive sei die Moral, der negative die Verwerfung aller jenseitigen Ein¬
flüsse auf den Menschen, der skeptische die Metaphysik; zwar habe Cicero am
Dasein Gottes und an der Unsterblichkeit der Seele festgehalten, doch diese
wie alle metaphysischen Behauptungen zu dem gerechnet, was einem jeden je
nach seiner Individualität so oder anders erscheint (ist», sunt ut äisxutanwr),
während die Moralgcbote feststehn müssen, wenn nicht die menschliche Gesell¬
schaft zugrunde gehn soll. Die Kirche habe nun den zweiten und dritten Be¬
standteil entschieden zurückgewiesen, den ersten angenommen, aber nur inhaltlich,
von dem Geiste, ans dem dieser Inhalt geflossen, sei ihr Geist das Gegenteil.
Cicero sei von der Göttlichkeit und Güte der Menschennatur überzeugt; wenn
er sich des christlichen Sprachgebrauchs bedient Hütte, würde er gesagt haben,
es gebe nur eine Gnade, die Schöpfuugsgnade. Die Sittlichkeit fließe aus
der Vernunft des Menschen, werde durch den freien Willen verwirklicht, be¬
tätige sich in der freien Pflichterfüllung und trage ihren Lohn in sich: die
Glückseligkeit; jenseitige Fortdauer sei nicht ausgeschlossen, aber dem Weisen
genüge das Bewußtsein seiner Tugend zum Glück. Das alles habe Augustin
mit dem Erbsünd- und Erlösungsdogma in sein Gegenteil verkehrt. Freilich
habe dieser Wendung der in die Kirche eingedrungne Ciceronicmismus opponiert,
in der Person des Pelagius und seiner Anhänger, und der Pelagianismus
sei nie ganz überwunden worden; die katholische Kirche habe mit ihrem
Semipelagianismus beide Richtungen versöhnt. Das zuletzt angeführte ist
mehlig, und daß der moderne Mensch die augustinischen Übertreibungen un¬
annehmbar findet, versteht sich von selbst. Aber es ist eine nicht weniger un¬
geheuerliche Übertreibung, wenn Zielinski meint, mit der Behauptung, nur
dnrch die Beziehung auf Gott werde das sittlich Gute vollkommen, darum
seien die Tugenden der Heiden eigentlich Laster, habe Augustin nicht bloß den
Ciceronicmismus, sondern „jede Moral abgestreift; es war ein echt augusti-
nischcr Geistesblitz, bei dessen Schein Religion und Moral, die anfänglich ge¬
trennten, seit kurzem verbundnen, einander in ihrer ganzen UnVersöhnlichkeit
erkannten. Von nun an hieß es: Religion oder Moral."
Vielmehr hat das Christentum die Moral in der Religion fest verankert.
Die heidnischen Religionen hatten freilich mit der Moral so wenig zu schaffen,
daß Cicero den Skeptiker Cotta sagen lassen durfte: „Seine Tugend hat uoch
niemand den Göttern gutgeschrieben." Die Religion bestand in Kulthand¬
lungen, und ihre Diener, die Priester, hatten weder zu lehren noch sittlich zu
leiten, sondern bloß Opfertiere zu schlachten. Es wäre töricht gewesen, die
absurden römischen Staatsgötzen oder die liederlichen Olympier Homers um
Tugend zu bitten. Das Christentum hat aber das von den griechischen
Tragikern lind Philosophen — freilich erst lange nach der entsprechenden
Wirksamkeit der jüdischen Propheten — begonnene Werk vollendet, an die
Stelle der hölzernen Götzen und der lustigen Phantasiegcstcilten die Welt¬
vernunft und Weltursache als den Gott verkündigt, dem im Geist und in der
Wahrheit gedient werden solle. Damit waren Religion und Moralität zwar
nicht in eins verschmolzen, aber auf ihre gemeinsame Wurzel zurückgeführt,
und die Moral ruhte fortan auf dem Grunde des Glaubens weit sichrer, als
sie auf dem vermeintlich unabhängigen Willen des Menschen geruht hatte.
Das stolze Gebilde des stoisch-ciceronianischen Weisen, der im Bewußtsein
seiner Tugend eine keiner Ergänzung bedürftige Seligkeit genießt, hat die
Erfahrung zweier Jahrtausende, von Cicero selbst angefangen, zunichte gemacht,
und daß die Tugend ausschließlich eines jeden eigenstes Werk sei (was
Zielinski als einen wesentlichen Bestandteil der ciceronianischen Philosophie
hervorhebt), hat die größtenteils christentumsfcindlichc moderne Wissenschaft ans
das schlagendste widerlegt. Sie zeigt, wie ein jeder lediglich das Produkt
seiner Vorfahren bis zu den Moneren hinauf und das seines Milieus ist, in
das wir uns die Erzieher eingeschlossen denken mögen. Lehnen wir nun auch
die Übertreibungen der Biologen ab, die der freien Willenstätigkeit gar nichts
übriglassen, so müssen wir doch, von dieser Wissenschaft erleuchtet, sagen:
wenn ein Mensch von ruppigem Charakter sprechen wollte: ich will von Stund
an ein edler Mensch von erhabnen Charakter sein, so wäre das ebenso
lächerlich, wie wenn einer von uns gewöhnlichen Menschenkindern spräche: ich
will jetzt geschwind ein Bismarck oder ein Napoleon oder ein Goethe werden.
Stehen nun also die Naturbedingungen, aus denen sich eines jeden Charakter
entwickelt, Abstammung und Milieu, nicht in unsrer Gewalt, und halten wir
die Welt uicht für eiuen Zufall, sondern für eine planvolle Schöpfung Gottes,
wie sollten wir da, wenn wir uns günstiger Bedingungen erfreuen, unsre
Tugend uns selbst gutschreiben und nicht vielmehr Gott als für eine Gnade
dafür danken? Ciceros Tugend ist aber ohne die Ergänzung durch den christ¬
lichen Glauben noch an zwei andern Stellen brüchig, die sehr deutlich in dem
Abschnitt über seine Selbstrechtfertigung hervortreten. Um diese vor allem sei
es Cicero zu tun gewesen. Und wollte er gerechtfertigt erscheinen, so mußte
er genau wissen, ob er in jedem Augenblicke recht gehandelt habe, also auch,
was in jedem Augenblicke seine Pflicht gewesen sei. Aber wie darüber Gewi߬
heit erlangen? Wen soll ich befragen? Die Guten, heißt es bei den
Philosophen. Also doch wohl die Männer, die sich sogar die Besten nennen.
Ja. wenn nur wenigstens einige Gute unter diesen Optimaten wären, aber
die sind ja sämtlich Schurken und Lumpen, denen ihre Fischteiche mehr am
Herzen liegen als die Republik. Nur einen kenne ich. auf dessen Urteil ich
mich verlassen kann: meinen Freund Attikus. Aber schließlich hat auch der
versagt, und so wollte sich Cicero zuletzt nur noch auf sein gutes Gewissen
verlassen. Leider fand er auch in diesem nicht die erhoffte Ruhe; vom Zweifel,
was das Rechte sei. hin und her geworfen, mühte er sich in schweren Seelen¬
kämpfen vergebens ab. ..Mich foltert der Gedanke, ich sei in eine Lage ge¬
raten, wo ich weder einen zweckmäßigen noch einen ehrenhaften Entschluß
fassen kann." (Daß Cicero überzeugt war, man dürfe niemals das uoneswm
dem utile opfern, darin hat er, wie Zielinski mit Recht hervorhebt, unzählige
Christen beschämt.) Zuletzt aber hat er nur noch die eine Sorge, wie die
Nachwelt über ihn denken werde, und wie er bemüht gewesen ist, sich einen
fleckenlosen Nachruhm zu sichern, ist ja hinlänglich bekannt. Hat Augustin,
der sich freilich zu stark ausgedrückt, unrecht gehabt, wenn er diese Art Tugend
von seinem durchs Christentum erleuchteten Standpunkt aus nicht für voll
nahm? Ruhmsucht als ausschlaggebendes, und ruhen wollen im Bewußtsein
der eignen Gerechtigkeit als zweitstärkstes Motiv, ist das höchste und reinste
Sittlichkeit? Der Christ stellt die Liebe höher als das Verlangen nach Ruhm
und braucht sich dessen schon darum nicht zu schämen, weil der Nachruhm so
eitel ist wie der bei Lebzeiten genossene; wird er doch auch Unwürdigen zuteil.
Und mit der Warnung vor Selbstgerechtigkeit — pharisäisch nennen wir
sie — hat Jesus der Menschheit einen großen Dienst erwiesen, denn sie macht
hochmütig und hart, wirkt unsozial und schadet dem Pharisäer selbst, dem sie
seine Fehler verbirgt und die Selbstvervollkommnung unmöglich macht. Wenn
aber Cicero zu seiner eignen Qual über seine positive Pflicht, über das, was
zu tun war, nicht mit sich ins reine kommen konnte und nur die Grenze
zu erkennen vermochte, jenseits deren das entschieden Unehrenhafte, das Böse
und das Schlechte liegt, so war das zwar kein spezifisch heidnischer Mangel,
uns Christen geht es auch nicht anders. Aber wir haben ein Beruhigungs¬
mittel, das dem Heiden fehlte. Paulus schreibt: ich bin mir zwar keiner
sonderlichen Schuld bewußt, halte mich aber darum noch nicht für gerecht¬
fertigt. Was menschliche Richter über mich urteilen, das ist mir gleichgiltig,
und ich richte mich auch selbst nicht; „der mich richtet, ist der Herr". Weil
das. was wir tun und lassen, keineswegs ganz ohne Nest unser eignes Werk
ist. weil wir unsern eignen, persönlichen Anteil an unserm Lebenswerk so
wenig zu ermitteln vermögen wie etwa der Maschinenspinner seinen Anteil
an dem fertigen Stück Leinwand, darum wäre es töricht, wenn wir unser
Glück, unsre Zufriedenheit auf das Bewußtsein unsrer Gerechtigkeit gründen
wollten. Was ein jeder von uns wert ist, das weiß allein Gott; wir können
und dürfen weder uns selbst noch andre richten. Aber eben darum brauchen
wir nicht vor Angst wahnsinnig zu werden, wenn wir in einem Gewissens¬
konflikt nicht mit Sicherheit zu ermitteln vermögen, was unsre Pflicht ist.
Haben wir nach reiflicher Erwägung einen Entschluß gefaßt, gegen den noch
ernstliche Bedenken obwalten, so darf uns das nicht weiter beunruhigen, denn
Gott, der die unendliche Vernunft ist, kann nicht unvernunftigerwei.se Un¬
mögliches von uns fordern und wird unsre Tat, die er so gewollt haben
muß, wie sie zustandekommt, in seinem Plane verwenden. Die Kirche hat
freilich noch ein zweites, weniger unbedenkliches Beruhigungsmittel erfunden,
das schon Ambrosius anpreist: man soll sich der Führung des Priesters an¬
vertrauen, der einem in zweifelhaften Fällen schon sagen wird, was das
Rechte sei. Auch dieses Beruhigungsmittel übrigens würde zulässig erscheinen,
wenn es die Kirche nur den wirklich Unselbständigen und Leitungsbe¬
dürftigen empföhle und sich nicht anmaßte, es allen ohne Unterschied aufzu-
zwingen.
Was die Kirche für die Masse getan hat, erkennt Zielinski an, fragt
jedoch, ob sie nicht im Verhältnis zur Gabe zu viel verlangt habe, wenn sie
das Opfer der Persönlichkeit forderte. „Vielleicht, vielleicht auch nicht", ant¬
wortet er; soviel aber sei sicher: sowie irgendwo eine Persönlichkeit erstehe,
fordere sie die Freiheit der Wahl, der Entschließung, als ihr Recht. Solche
Persönlichkeiten seien nun zur Zeit der Renaissance in Fülle erstanden, und
auch ihnen sei Cicero Erwecker und Führer gewesen, eben das, was oben als
sein Geist bezeichnet wurde, sei in ihnen erstanden. Die gewöhnliche Ansicht,
wonach die Leistung der Renaissance darin bestehe, daß Petrarca und die
Seinen die alten Autoren, darunter auch den Cicero, wieder zu Ehren ge¬
bracht, sei falsch; der Einfluß Ciceros auf Petrarca sei ein eminent persön¬
licher gewesen, nicht als ein beliebiger der alten Autoren, sondern als Cicero
habe er gewirkt. Das wird ausführlich dargestellt und die Renaissance als
eine individualistische, weltflüchtige Richtung von Menschen beschrieben, die mit
der Masse nichts zu schaffen haben, auf sie nicht einwirken wollten. (Eine
der Ursachen, aus denen sich Nietzsche den Renaissancemenschen verwandt
fühlen mußte.) „Der Renaissance folgten die Reformation und die Gegen¬
reformation; für unsre Frage werfen beide gleich wenig ab." Beide Be¬
wegungen standen eben dem ciceronianischen Geiste fremd, ja feindlich gegen¬
über. Dagegen hat Cicero, nicht durch seinen Geist, sondern stofflich, das
Erwachen und den Fortschritt der Realwissenschaften gefördert. Wenn Cicero
gegen die atomistische Zufallswelt einwendet: eine vom Himmel aufs Gerate¬
wohl ausgeschüttete Menge unzähliger Buchstaben werde nimmermehr in der
Gestalt der Annalen des Ennius zu Boden fallen, so sei damit „das Prinzip
suggeriert, auf dem die Erfindung der Buchdruckerkunst beruht". Kolumbus
habe aus Cicero die Ideen der Kugelgestalt der Erde und der Gegenfüßler
kennen gelernt. Kopernikus endlich habe sich ausdrücklich auf Cicero berufen.
In der Dedikation seines Werkes an den Papst Paul den Dritten schreibt
er, er habe alle Philosophen, deren er habhaft werden konnte, durchforscht.
..Da fand ich denn zuerst bei Cicero, daß Hiketas die Erde für beweglich
erklärt habe; später fand ich auch bei Plutarch das Zeugnis, daß einige
andre derselben Meinung gewesen wären. Das war für mich der Anlaß,
daß ich auch selbst über die Beweglichkeit der Erde nachzudenken anfing.
Wohl erschien mir diese Ansicht absurd; da ich indessen ersehen hatte, daß
schon andre vor mir sich die Freiheit genommen hatten, beliebige Kreis¬
bewegungen zu fingieren, um die Phänomene der Himmelslichter zu berechnen,
so hielt ich auch für mich den Versuch erlaubt, einmal nachzuforschen, ob bei
der Annahme einer gewissen Bewegung der Erde auch für die Bewegungen
der Himmelskörper sichrere Berechnungen als die meiner Vorgänger erzielt
werden könnten." Weiter wird dann gezeigt, wie die Lektüre Ciceros den
Glauben an unfehlbare Autoritäten erschüttert, wie der englische Deismus.
..an Calvin und Augustin vorbei, über Sozzini und Pelagius Cicero die Hand
gereicht" und die durch Kampflust und Propaganda von der Renaissance so
verschiedne Aufklärung eingeleitet. Cicero endlich auch Voltaire und die
Enzyklopädisten inspiriert, durch seine Reden die Revolutionsmänner geleitet,
sie durch das Vorbild des Rechtsstaats begeistert und aufgeklärt, namentlich
bei der Reform der Justiz wohltätig mitgewirkt habe. Man kennt Voltaires
enthusiastische Tätigkeit in dem Falle Calas. Er schreibt u. a.: bei den
Römern — und woher kannte er deren Verfahren als aus Ciceros Gerichts¬
reden? — „wurden die Zeugen öffentlich verhört, in Gegenwart des Ange¬
klagten, der ihnen zu antworten, sie einem Kreuzverhör zu unterwerfen
^ entweder in eigner Person oder durch seinen Verteidiger — berechtigt
war. Das war eine edle, eine freimütige, eine der römischen Hochherzigkeit
würdige Bestimmung. Bei uns geschieht alles heimlich, es ist der Richter
allein, der mit seinem Sekretär die Zeugen verhört." Zielinski schließt den
sehr interessanten Abschnitt über diesen Gegenstand mit den Worten: „Wenn
der friedliche Bürger heutzutage nicht mehr zu beten braucht, daß Gott ihn
außer den vier Plagen der Litanei: Pest, Feuer. Hunger und Krieg auch noch
vorm Gericht bewahre, so ist es für ihn nur recht und billig, zuzeiten des
guten Geistes dankbar zu gedenken, der auch dieses Gespenst öden Jnquisitions-
prozeU hat bannen helfen." Nun dürfen sich die Schulpedanten stolz in die
Brust werfen, wenn sie wieder einmal mit ihrem ledernen Cicero gehöhnt
werden.
Um noch einmal auf Ferrero zurückzukommen: die vorliegenden beiden
Bände zeichnen sich nicht weniger durch fesselnde Darstellung und schöne
Charakteristiken aus als die ersten beiden. Als Forscherverdienst nimmt Ferrero
für sich in Anspruch die Entwirrung der Verwirrung, die zu Rom in den
drei Tagen nach der Ermordung Cäsars herrschte, und die in die Ge¬
schichtschreibung übergegangen ist. In der Erzählung der Leichenfeier folgt
er dem Sueton und verweist damit die große Rede des Antonius, die
Shakespeare so effektvoll gestaltet hat, ins Reich der Legende.
le
K?5>s gibt eine hübsche und speziell den Frauen angemeßne Kunst,
die wir heute trotz der Tage der Frauenfragen so gut wie ver¬
loren haben: die Kunst des Briefeschreibens! Diese Kunst, die
zur Zeit unsrer Urgroßmutter eine so vielgeübte und vielbeliebte
I war, uns wieder mehr zu eigen zu machen, wäre wohl der
Mühe wert. Nicht, als ob zu wenig Briefe geschrieben würden! Vom
Gegenteil überzeugen die immer zunehmenden Arbeiten (und Einnahmen) unsrer
PostVerwaltung. Aber die Qualität der beförderten Schriftstücke steht nicht
im Einklang mit ihrer Quantität. Wir empfinden es durchschnittlich als Last,
Briefe schreiben zu müssen; wo ist wohl jemand, der aus Liebhaberei über
literarische, politische, religiöse Zeitfragen korrespondierte? Man beschränkt sich
vielmehr zumeist auf sogenannte Familienbriefe, d. h. Mitteilungen über das
Ergehen der einzelnen Familienmitglieder, wünscht sich an den dazu her¬
gebrachten Tagen Glück und Gesundheit, und im übrigen dienen die bequemen
und deswegen so beliebten Ansichtspostkarten als Träger und Erhalter freund¬
schaftlicher Beziehungen.
Wie ganz anders verkehrten dagegen unsre Vorfahren brieflich miteinander!
Wenn wir heute so sehr für die Biedermeierzeit schwärmen und unserm Haus¬
gerät gern jenen altväterischen Anstrich geben, so täten wir ganz gut, auch in
dieseni Punkte ein wenig in ihre Fußtapfen zu treten. Wir wundern uns,
wenn wir einen dicken Band in die Hand bekommen, der nur die wichtigsten
Briefe einer Frau enthält; wir lächeln über die sentimentalen Gefühlsergüsse,
die in jener Zeit nun einmal nicht fehlen konnten; aber wir staunen auch in
aufrichtiger Bewunderung über manchen geistvollen Brief, der in klarer Sprache
kluge und wohlbegründete Urteile über allerhand Zeitfragen gibt. Heute würde
sich jede, aber auch jede Dame zur Schriftstellerin berufen fühlen, die so zu
schreiben verstünde; damals wurden Bünde über Bünde solcher Briefe ge¬
schrieben, nur aus dem Bedürfnis freundschaftlicher Aussprache heraus. Woran
liegt es denn, daß dieses Bedürfnis und damit auch jene Kunst uns so sehr
verloren gegangen ist?
Zugegeben — eins hatten unsre Urgroßmutter vor uns voraus, eine
Hauptbedingung zum Briefschreiben — sie hatten mehr Zeit als wir! Aber
an allen Fehlern unsers Geschlechts ist dieser oft beklagte Mangel doch auch
nicht schuld. Frühere Generationen hatte ihre Arbeit so gut wie wir die
unsre, und bekanntlich waren die Frauen der Biedermeierzeit vorzügliche
Hausfrauen. Sie fanden aber doch Muße zu schriftlicher Beschäftigung.
Warum können wir das nicht? Ich glaube, von einigen vielgeplagten, be¬
dauernswerten Müttern abgesehen, die wirklich nie Zeit für irgend etwas
haben, finden wir alle die Möglichkeit für das. was uns am Herzen liegt.
Aber ernsthafte Aussprache über gute Bücher oder Kunstwerke und dergleichen
liegt uns eben nicht am Herzen, und sie tut das nicht, weil wir nichts von
alledem mehr mit Sammlung und Hingebung aufnehmen und betreiben.
Diesen Jnteressenmangel — vielleicht liegt es noch öfter an dem un¬
glückseligen Jnteressenüberfluß! — kann man wirklich nicht nur mit der Ner¬
vosität unsrer Zeit entschuldigen. Wenn alle die Stunden, die auf das Ab¬
solvieren überflüssiger Besuche und Handarbeiten, auf das Lesen minderwertiger
Modebücher usw. verwandt werden, zusammengerechnet würden, so ergäbe sich
genug freie Zeit, in der so viel geschichtliche, naturwissenschaftliche, künstlerische
Kenntnisse gesammelt werden könnten, um eine Aussprache und Weiterbildung
nach diesen Seiten zu ermöglichen. Denn wirkliches Interesse beruht immer
nur auf wirklichen Kenntnissen. Uns Heutigen stehen glücklicherweise viel mehr
Möglichkeiten offen, viel zu wissen, als unsern Vorfahren, aber viel wissen heißt
leider oft oberflächlich wissen. Und ein flaches Vielwisser, die Richtung unsrer
modernsten, mit verblüffender Prätension auftretenden Pädagogik, die Mädchen
M einem „vielseitigen" Interesse zu zwingen, sind meist der Grund der leidigen
Halbbildung — eine der allerschlimmsten Gefahren des weiblichen Geschlechts.
Liest man heute die anschaulichen Briefe z. B. aus dem Weimarer Kreise,
so kommt einem zum Bewußtsein, daß die damalige Frau zwar weniger viel¬
seitig, aber dafür einheitlicher gebildet war, was dem eigentlichen Sinne des
Wortes Bildung im Grunde näher kommt. Neben der Gefühlswürme — wir
nennen es Gefühlsüberfluß! — zieht sich geistige Arbeit, lebendige Teil¬
nahme an allen Geisteswerken wie ein roter Faden durch die Korrespondenz
auch der Frau, und gerade dies macht die alten Briefe so anziehend. Nicht
die hübschen Beschreibungen, philosophischen Reflexionen, literarischen Meinungen
an sich geben uns in ihnen ein so anschauliches Gemälde damaliger Zeit und
Kultur. Das tut vor allen Dingen das Bild der Schreiberin, das hinter den
Zeilen vor uns auftaucht — wir sehen die Frau jener Zeit etwas über¬
schwenglich, etwas streng in Leben und Sitte, aufgehend in Gatten- und
Kinderliebe zu Hause, aber mit reger Teilnahme nach außen an den geistigen
Strömungen und hell begeistert für das Schöne und Gute darin. Wir
Modernen haben es längst aufgegeben, nach Art unsrer Großmütter Auszüge
aus allen Büchern zu machen, Gedichte und Sinnsprüche, ja ganze Aufsätze
niederzuschreiben und uns darüber brieflich zu äußern. Wie sentimental!
meint man. Aber diese Sentimentalität hatte den großen praktischen Nutzen,
das Gelesne ungemein zu vertiefen, Kenntnisse zu vermitteln und den Stil
zu bilden.
„Ein Brief muß wie ein Büchlein fließen, das tausend kleine Wellen hat,
aber nur einen Lauf. Ein Thema muß unweigerlich aus dem andern sich
entwickeln, ohne daß der Faden verloren geht." Das war die Vorschrift eines
Lehrers aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts — unsre Vorfahren legten
viel Wert auf einen guten Brief! Wir finden es heute geistreich, über ernste,
schwere Dinge zu „plaudern"! Damals redete man ernsthaft und pathetisch
auch über kleine Dinge. Ohne einem überflüssigen Pathos das Wort zu reden,
muß doch gesagt sein, daß der größere Ernst der Lebensauffassung und der
reingeistigen Beschäftigung wohl bei unsern „biedern" Großmüttern lag.
Hübsche Briefe zu schreibett ist eine besondre Frauenkuust, denu diese persön¬
liche, intime Art, von Dingen und Ereignissen zu berichten und die Er¬
fahrungen des eignen Ich einzuflechten, liegt dem weiblichen Charakter gut.
Wir haben ja eine Menge Briefe bedeutender Frauen, die das beweisen. Und
da es außerdem wohl nicht zu bezweifeln ist, daß ein ernsthafter Briefwechsel
ein nicht zu verachtendes Mittel zur Geistesbildung und Vertiefung ist, so
wäre es wirklich der Mühe wert, wenn wir uns diese fast verloren ge-
gangne Kunst unsrer Urgroßmutter wieder mehr zu eigen machten.
> as südliche Klima und die geschützte Lage der Riviera erzeugen
eine Unmenge Pflanzenarten. Sowohl an wildwachsenden als
an angepflanzten Arten finden wir einen solchen Reichtum wie
sonst in Europa kaum. Auch entwickeln sich die Pflanzen unter
der südlichen Sonne weit kräftiger als im Norden.
Pflanzen, die wir aus dem Treibhaus kennen, wachsen hier in
freier Natur weit größer und zeigen eine weit schönere Farbenpracht der Blüten
als im Norden. Auch blüht und grünt es an der Riviera im Winter überall.
Schon im Januar stehn Obst- und Mandelbäume, Orangen- und Zitronengärten
in buntem Blütenschmuck und lassen die Buchten als einziges Blütenmeer er¬
scheinen. Von der Gunst des Klimas zeugen weiter die subtropische und die
tropische Vegetation, die der Landschaft das südliche Gepräge verleiht. Größten¬
teils als immergrünende Bäume und Sträucher vorkommend, erregen die Ge¬
wächse wegen ihres grünen Kleides im Winter unsre Verwunderung.
Von den tropischen Pflanzen tritt im Westen der Riviera die Palme auf,
die nirgends besser als in Bordighera gedeiht. Es kommen an der Riviera
fünfundvierzig verschiedne Varietäten vor. Die Sagopalme, mit deren Wedeln
man qern die Gräber schmückt, wird in Bordighera in großer Ausdehnung
angebaut, und die Kokospalmen sind durch einige australische Spezies vertreten,
die kleine eßbare Früchte liefern. Erwähnt sei ferner die Fächerpalme, die
chinesische Chamärops. die Kentia. die Livistone. die Phönix- und dre Dattel-
Palme Die Industrie hat sich auch der Palmen bemächtigt; aus den Blattern
der Sagopalme werden zähe Fasern gewonnen, die zu Hüten. Körben und
Säcken verarbeitet werden. Auch werden Palmenwedel bei Gelegenheit von
kirchlichen Festen verwandt. Die Früchte der Dattelpalme bleiben an der
Riviera meist hart und ungenießbar, da es für ste hier nicht heiß genug ist.
Dagegen reift eine Art der Palmengattungen (Loeos austialis). deren Früchte
von gelber oder roter Farbe und genießbar sind. -« >er. in .
Mehr zur Perte werden Lorbeer, Farnbaum. Kaktus, mexikanische Agave,
Banane. Pfefferbaum. Platane. Blaugummibaum. Eukalyptus. Muskat, ^ngwer,
Gewürznelkenbaum und Nadelhölzer in Parks gezogen. Dagegen findet sich die
indische Feige oder Opuntie überall wild vor. Es ist eme eigenartige Pflanze
von bizarrer Gestalt, die uns an die Tropen erinnert. Anstatt des Stammes, der
Zweige und Blatter hat sie dicke, fleischige, graugrüne bis zu einem Fuß breite
mit Stacheln versehene Äste. Man findet die Pflanze überall, sie wachst auch
auf steinigem Boden/zwischen Felsen, an Umfassungsmauern und überall dor ,
wo andre Pflanzen nicht fortkommen. Sie bildet, dicht nebeneinander gepflanzt,
undurchdringliche Hecken. Aus abgerissenen Scheiben der Aste, die zu Boden
fallen, entwickeln sich neue Pflanzen, weshalb sie sich dort, wo sie sich einmal
angesiedelt hat, weiter ausbreitet. Gartenmäßig wird sie der Früchte wegen
kultiviert. Diese sind von birnenförmiger Gestalt, äußerst nahrhaft, haben aber
einen etwas säuerlichen Beigeschmack. Gegenwärtig sind sie auch bei uns in
den feinsten Fruchthandlungen der größern Städte während der Hauptreisezeit zu
haben. Gartenmäßig wird die Pflanze, namentlich in der Umgegend von Palermo,
angebaut. Soll sie ordnungsmäßig kultiviert werden, so werden die vorjährigen,
Mi Mai abgeschnittnen und abgewelkten Blätter nebeneinander etwa 20 Zenti¬
meter tief in Abstünden von etwa 20 Zentimetern in den Boden gelegt. Sie
Werden dann später, etwa aller vier Jahre, gedüngt. Während der dürren
Sommermonate liefern die dicken Äste ein wertvolles Futter für das Rindvieh,
weshalb die letzten Triebe abgebrochen, an der Sonne getrocknet, zerschnitten
und mit Heu und Stroh vermischt an das Vieh verfüttert werden. Auch dienen
die Blätter als Brennmaterial oder als Dünger für die Oliven. Die von
«lters her eingebürgerte indische Feige (0puvtiÄ ?ious mäioa) wird vielfach von
dem amerikanischen Feiqenkaktus (Oxuntia inoiiaoaiitNÄ) verdrängt. Die Glieder
dieser Pflanze bleiben wesentlich kleiner und sind weniger scharf abgesetzt, tragen
größere Dornen und reichlich Früchte, während Oxuiiw illäi(n nur selten
Früchte ansetzt. ,
^,Wie die Opuntie, so dient auch die Agave mit ihren Stacheln als Ein¬
friedigung. In wenigen Wochen schießt aus den fleischigen Riesenblattern der
amerikanischen Agave, einem Laternenpfahle gleich, ein fünf bis sieben Meter
hoher Blütenschaft, der gleich mit einer Unmenge weißer, glockenförmiger, wohl¬
riechender Blüten behaftet ist. An der Riviera blüht sie in einem Alter von
zehn bis fünfzehn Jahren, während sie bei uns ini Gewächshaus oft erst im
Alter von fünfzig Jahren zur Blüte gelangt.
Charakteristisch für die Riviera ist ferner das Vorkommen der Agrumen,
das sind Orangen und Zitronen. Wir finden beide Pflanzen zwar schon an
den felsigen Ufern des Gardasees. doch ist ihnen das Klima hier noch nicht
Völlig zusagend, da sie in manchen Wintern durch Frost und Schnee zu leiden
haben. Man überdeckt sie deshalb dort im Winter sorgfältig mit Strohmatten,
während sie an der Riviera ohne Schutzvorrichtungen durch den Winter kommen.
Wäre aber die Riviera nicht gegen Norden von der hohen Kette der Seealpen
abgeschlossen, so würde die Kultur der Orangen in dieser geographischen Breite
nicht möglich sein. An zahlreichen Stellen zwischen Savona und Nizza ge¬
deihen sie sogar ebensogut wie in Neapel, während man sie sonst in Ober-
und Mittelitalien nicht antrifft. Das Bild dieser Gewächse in Verbindung mit
dem der Zypressen und Pinien ist in unsrer Phantasie so eng mit dem des
Südens verknüpft, daß wir uns Italien nicht anders als im Glänze der Gold¬
orangen vorstellen können, wozu wohl am meisten Goethes Mignonlied bei¬
getragen hat. So sehr die Orangen und Zitronen in die Landschaft Italiens
Hineinzugehören scheinen, so sind sie doch nur auf einen bestimmten Teil
dieses Landes beschränkt. Auch ist ihre Kultur erst verhältnismäßig spät dort
hingelangt. Die echte Zitrone (Leäro) ist wahrscheinlich nach Christi Geburt
gelegentlich in Sizilien eingeführt worden, von wo sie dann nach der Riviera
gelangt ist. Die Limone ist zur Zeit der Kreuzzüge im zwölften Jahrhundert
eingeführt worden, ihre Heimat ist Indien. Die Apfelsine ist dagegen später
nach Italien gekommen. Man nimmt an, daß sie im sechzehnten Jahrhundert
durch Ozeanfahrer, die den Seeweg nach Ostindien entdeckten, nach Europa
gebracht worden ist. Die bittere Pomeranze stammt aus China und wurde
durch Araber nach Italien eingeführt. Die Mandarine, ebenfalls aus China
stammend, wird erst seit etwa fünfundsiebzig Jahren in Italien angebaut. Eine
Voraussetzung für ihre Kultur ist die künstliche Zufuhr von Wasser, die unter
Umständen mit nicht geringer Mühe und einem größern Kostenaufwands durch¬
geführt werden muß. In der Riviera werden nun überall in geschützten Lagen,
wo nur Wasser auch in geringer Menge dauernd rinnt, entsprechend der ver¬
fügbaren Wassermenge, Orangen und Zitronen angepflanzt. Auch wird der
Boden an Bcrgwandungen ähnlich wie beim Weinbau terrassenförmig zur
Kultur hergerichtet. Von den Agrumen werden an der Riviera und überhaupt
in Italien die Orange oder Apfelsine, die Limone, die Zitrone des Handels,
die kleinere chinesische Mandarine und die widerstandsfähige Pomeranze an¬
gebaut. Die Orange blüht hauptsächlich im Frühjahr, obgleich auch zu jeder
Jahreszeit Blüten in größerer Anzahl vorkommen. Im Herbst und Winter
wird geerntet. Um aber auch zu andern Jahreszeiten Früchte zu haben, werden
im Frühjahr die Blüten abgebrochen, die betreffenden Zweige bringen dann
später noch einmal Blüten hervor. Die abgebrochnen Blüten werden zur Her¬
stellung von wohlriechenden Essenzen, namentlich zur Gewinnung von Kölnischen
Wasser, verwertet.
Die Limone blüht fortgesetzt und bringt das ganze Jahr hindurch Früchte.
Man erntet infolgedessen drei- bis viermal im Jahre. Daher sieht man auch
Blüten, halbreife und reife Früchte an einem Baume. An der Riviera über¬
wiegt die Zitrone, die hauptsächlich wegen ihrer hohen Anforderung an die
Milde des Klimas in geschützten Lagen angebaut wird. Die Pomeranze, die
ebenfalls an der Riviera vorkommt, hat eine rauhe Schale von goldgelber
Farbe und bitterm Geschmack. Die Blüten werden zur Fabrikation von Parfümerien
verwandt. Die chinesischen Maudarinenbüume sind an der Riviera sehr ver¬
breitet. Ihre Früchte sind kleiner als die Apfelsinen. Im Geschmacke steht sie
jedoch wesentlich hinter der sizilianischen zurück. Die Ergiebigkeit der Agrumen¬
bäume ist bei genügendem Schutz vor Frost, bei hinreichender Bewässerung und
Düngung sehr groß. Unter solchen Verhältnissen werden im Jahre bis tausend
Früchte vou einem Baume geerntet. Ein merkwürdiger Baum aus der Gattung
der Agrumi, der an der Riviera vorkommt, ist die Bizzarria, die eine Mittel-
vlldung von Orangen-, Zitronen- und Limonenbaum ist und auch deren Früchte
trägt. Die Bizzarria ist nicht zu verwechseln mit einem Baume, der aus der
Veredlung hervorgegangen ist und Zitronen und Orangen auf demselben
Stamme trägt. Leider wird die Bizzarria immer seltner. Sie ist seit der
Mitte des siebzehnten Jahrhunderts bekannt, doch ist ihr Ursprung noch nicht
aufgeklärt.
Unter den Fruchtbäumen nimmt in den Gärten der Riviera die Feige
einen hervorragenden Platz ein. Sie ist, wie der Ölbaum und der Weinstock,
eine alte Kulturpflanze. Wein und Feigen waren immer im alten Griechen¬
land ein Lebensbedürfnis für die Armen. In Italien ist die Feige schon zur
geschichtlichen Zeit vorhanden. Soweit die Schilderung zurückgreift, werden
ichon zwei Fcigenrassen aufgezählt, die Feige mit eßbaren und die mit un¬
genießbaren Früchten. Diese ist die Geißfeige oder Caprificus. Sie trügt im
allgemeinen dreimal, jene zweimal Früchte im Jahre. Die eine Generation
der Geißfeige setzt im Herbst an und reift im April, die zweite setzt ini April
an und reift im Juni und Juli, und die dritte reift den ganzen Sommer hin¬
durch. Alle drei Generationen sind bis zur Reife milchig, zähe und un¬
genießbar. Die meist jetzt in Italien kultivierte Feigenrasse ist nnr in einer
Generation vorhanden, es ist dies die Sommergeneration, während die Winter¬
generation verkümmert. Die weiblichen Blüten der Geißfeigen sind eigenartig
verändert und sind nicht auf Bestäubung und Befruchtung eingerichtet; sie
^zeugen nur Gallen, dagegen entwickeln sich nach der Feige mit eßbarer
Frucht normale weibliche Früchte. Diese bringen aber bei den meisten in
Italien angebauten Feigenrassen ohne Bestäubung und Befruchtung Feigen
hervor, führen dann aber auch keinen keimfähigen Samen. Sie bedürfen aber
ZU ihrer Erhaltung der Befruchtung nicht, da sich die Pflanze, dnrch Stecklinge
vermehrt. Zur Erzeugung von Samen ist dagegen die Übertragung des
mannlichen Blütenstaubes von der Geißfeige nötig, ivas durch die Wespe aus
der Gattung L1g.8toxb.aA0 ^roLsornm geschieht. Bei einzelnen Feigenarten,
Wie bei den griechischen und türkischen, namentlich den Smyrnäer Feigenrassen,
l>t die Befruchtung zur Bildung eßbarer Früchte notwendig. Sie sind deshalb
an die Existenz der Geißfeigen und der Blastophagenwespe gebunden., Darum
hangt man Geißfeigen, denen Wespen entschlüpfen, zwischen den Ästen der
kultivierten Feigenbäume auf. Die frischen Feigen sind ein sehr wohlschmeckendes,
kühlendes Nahrungsmittel. Doch haben sie ihre Bedeutung als solches gegen
früher eingebüßt.
Sehr verbreitet ist an der Riviera auch der Johanuisbrotbcmm, der als
alter Stamm in seiner Entfaltung an unsre Eiche erinnert. Er ist an seinen
Paarig gesondert lederartigen Blättern und an seinen Früchten leicht zu er¬
kennen. Die Hülsenfrncht ist im Frühjahr noch sehr klein, sodasz man sie kann,
erkennen kann, später wird sie größer und liefert die bekannte süßschmcckende
Frucht, die von Kindern so gern genossen wird.
An den Abhängen und Anhöhen bis zu sechshundert oder auch achthundert
^eteru Höhe treffen wir Olivenwälder in größerer Ausdehnung. Wir haben
den Ölbaum schon als Kind aus dem Alten und Neuen Testamente und aus
der Geschichte der alten Griechen kennen gelernt. Er war den Alten heilig,
Tempel und Altäre wurden in Olivenhainen errichtet. Ein Kranz von seinen
Blättern wurde den Siegern der olympischen Spiele aufs Haupt gedrückt,
denn er war das Zeichen des höchsten Ruhms. Der Baum hat viel Ähn¬
lichkeit mit unsrer Weide. Die Blätter sind wie bei dieser graugrün gefärbt,
dagegen ist der Stamm nicht aufrechtstrebend, sondern knorrig und stark ver¬
zweigt. Sowohl die grauen Blätter als die knorrigen Stämme geben dem
Baume den Schimmer des Alters. Ausgewachsne Bäume, deren Zweige nicht
abgehauen sind, sehen dnrch ihre umfangreichen, starkverzweigten Kronen recht
stattlich aus, doch werden leider die Zweige vielfach abgehauen. Die wirkliche
Form des Baumes kann man dann nur selten erkennen. Der Baum gehört
zu den immergrünenden Gewächsen, daher tritt die Kahlheit der Wälder nach
deutscher Art an der Riviera nicht ein. Der Baum erreicht ein hohes Alter,
jedenfalls kann er tausend Jahre und noch älter werden. Sein Stamm ist
vielfach gerissen, oft sind nur noch Teile davon vorhanden. Sein Inneres
ist häufig hohl, oder sein Stamm ist auseinandergerissen, sodaß man hindurch¬
sehen kann, und doch bildet er immer noch neue Triebe. Der Ölbaum stellt
an den Boden recht geringe Ansprüche und begnügt sich mit einer dünnen
Erdschicht, doch liefert er reiche Ernten nur auf besseren Boden. Die Bäume
pflanzt man in einem Abstände von etwa fünf bis sechs Metern. Die gepflanzten
wilden Stämme werden mit Edelreihern gepfropft. Unter den Väumen wird
der Boden mit einer schweren Hacke gelockert und gedüngt. An den steilen
Abhängen werden die Oliven auf Terrasse» gepflanzt. Anhaltender Frost
verträgt der Ölbaum nicht. Deshalb gedeiht er auch am besten in der Nähe
des Meeres, was man schon im Altertum wußte. Ohne den Ölbaum würden
die Abhänge an der Riviera sowie im übrigen Italien einen viel kahlem
Eindruck machen. So bildet er das charakteristische graugrüne Band, das sich
um den Fuß der Gebirge schlingt. Bevor die Bäume noch Früchte tragen,
werden unter ihnen Getreide und Hülsenfrüchte angebaut, später unterläßt man
deren Anbau, hält das Land nur locker. An den Zweigen der Bäume ent¬
wickeln sich im Mai oder Juni grünlichgelbe Blüten, die einen resedaartigen
Duft verbreiten. Aus ihnen entwickeln sich grüne und später schlehenähnliche
blauschwarze Steinfrüchte. Diese Früchte werden abgeschüttelt oder abgeschlagen
und am Boden aufgesammelt. Im westlichen Teile der Riviera und der Pro¬
vence werden die Ölbäume durch künstlichen Schnitt niedergehalten, damit man
die Früchte mit der Hand erreichen kann. Solche gepflückte Früchte, die vor
Verletzung bewahrt bleiben, liefern das feinste speisest. Nicht in jedem Jahre
ist eine gute Ernte; auf ein Fruchtjahr folgt ein Ruhejahr, und nur etwa aller fünf
Jahre erhält man eine volle Ernte. Deshalb kann sich der Kleinbesitzer allein
aus der Olivenkultur seine Existenzmiitel nicht verschaffen, weshalb er noch
auf die Erträge andrer Kulturen wie Wein, Gemüse, Blumen und Agrumen
angewiesen ist.
Im Maurengebirge begegnet man auf verwitterten Urgesteinen Wäldern
von Korkeichen. Die zur Korkgewinnuug dienenden Stämme und Äste werden
geschält, sodaß sie die Farbe des menschlichen Körpers annehmen und in der
Sonne blutrot erscheinen. Zu diesem Zwecke muß die Korkeiche eine bestimmte
Dicke erreicht haben, die sie mit fünfzehn bis zwanzig Jahren erhält. Der
erste Kork ist rissig und spröde und wird zum Gerben verwandt. Er wird
als „männlicher Kork" bezeichnet, während man den größern Kork, weil er
weniger hart ist, den „weiblichen Kork" nennt. Dieser wird aller acht bis
zehn Jahre gewonnen. Aus ihm werden die Korkstopfen hergestellt. Die
Schälung, die im Sommer vorgenommen wird, beschränkt sich immer mir auf
einzelne Teile, da es schädlich ist. den ganzen Baum von >einem Korkmantel
zu befreien. Bei der Schälung darf nur der Kork, nicht der ganze Bast
entfernt werden. Die Korkeiche wächst mit Vorliebe ans verwittertem Grant
und Schiefer, während sie aus Kalkboden nicht fortkommt
Während nun im übrigen Italien die Berghöhen meist kahl sind, sind sie
an der Riviera vielfach mit Nadelholzbäumen bestanden. Wir finden hier die
Strandsöhre mit ihren dicken, langen, dunkelgrünen Nadeln und die Aleppo-
kiefer mit ihren hellen Nadeln. Jene bevorzugt den Quarz- und Gramtbodeu.
diese den Kalkboden. Dagegen kommt die eigentliche Pulte nut ihrer Kuppcl-
Wölbuug an der Riviera nur vereinzelt, und nur bei Mannes in größerer
Anzahl, vor. Überall sehen wir dann die Zypresse als schwarzen mächtigen
Obelisken, namentlich auf Friedhöfen und bei Kapellen, weit
Die Kultur der Nutzpflanzen an der Riviera ist fast ausschließlich Garten-
und Agrumenban. Der ganze Küstenstrich gleicht einem wohlgepflegten Garten.
Das warme Klima, die geschützte Lage, unterstützt durch Bewasserungvanlagcn.
haben in der Umgegend von Nizza eine landwirtschaftliche Gartenkultur ge¬
schaffen, die in der Welt unerreicht dasteht. Auf ebenem Boden des Kustcn-
saumes. aber auch an steinigen Abhängen, wo der Boden erst durch kost¬
spieligen Terrassenbau zur Kultur hergerichtet werden muß sind Gemüse-,
Blumen-, Wein- und Agrumengärten angelegt. Ohne Bewässerung Ware aber
diese Gartenhochkultur nicht möglich, denn der Unterschied in der Pflmizcn-
kultnr zwischen bewässerten und unbewässcrtcm Lande läßt dies deutlich er¬
kennen. Der unbewüsserte Boden liegt vielfach völlig nutzlos da. oder es
werden auf ihm Getreide. Oliven und Walnüsse angebaut. Der bewässerte
Boden trägt dagegen doppelte Ernten. Der Boden selbst trägt Gemüse.
Blumen usw. Die Fruchtbäume, die zwischen diesen Pflanzen stehn, liefern
Feigen. Pfirsiche. Mandeln und dergleichen. Ist reichlich Wasser vorhanden,
so werden in passenden Lagen Orangen und Zitronen, meist jedoch ohne lebe
Nnterkultur. angebaut. , '
^,,.
Die künstliche Bewässerung wird durch das südliche Klima besonder» be¬
günstigt und ^alae hier größere Erfolge als in unsern Breitegraden. Deshalb
werden auch Überall dort, wo Wasser direkt von der Quelle oder aus einem
Wasserlaufe oder durch künstliche Leitung beschafft werden kann, elbst auf
steinigem Boden und an steilen Abhängen. Gemüse. Obst und Aphelium ge¬
igen. Bei Noa werden sogar mit Vorliebe die steinigen Abhänge zum
Anbau von Blumen hergerichtet, da der kalte Nordwind hier nicht hinkommt
und Tauniederschlag kaum bemerkbar ist. ....
<c.
. Die Bewässerung geschieht außer in der eigentliche.! re^erlösen Zeit mich
un Winter, wo manchmal während einiger Monate kein Regen fallt. Das
zur Bewässeruna dienende Naß wird nun zunächst während der regen- und
wasserreichen ^an in die Gurten in zementierten Bassins gesammelt. Von da
wird es in kleine ausgemauerte und wasserdichte Gruben und von diesen in
die zwischen den schmalen Rabatten gelegnen Furchen geleitet. Auch dann
siud Bassins nötig, wenn das Wasser fortwährend läuft, da es über Nacht
und zu andern Seiten, in denen nicht bewässert wird, aufgefangen werden muß
Dort, wo kein natürliches Gefälle von dem Bassin aus vorhanden ist. wird
das Wasser durch Pumpen, die durch Göpel getrieben werden, in die Leitungs-
rinncn gehoben. An manchen Orten, so zum Beispiel in Bordighera bestehn
aus der Sarazenenzeit angelegte tiefe Brunnen, aus denen das Wasser durch
Pumpen gehoben wird. 'Der Bedarf an Wasser ist bei den Bäumen mit
großen Blättern und infolgedessen mit großer Verdunstungsoberfläche und
großer Fruchtbildung, wie bei Apfelsinen und Zitronen, sehr bedeutend.
Deshalb können auch Agrumengärten nur dort angelegt werden, wo ver¬
hältnismäßig viel Wasser vorhanden ist. Bemerkenswert ist noch, daß die
Agrumen kein stehendes Wasser vertragen, weshalb um den Baum herum
Rinnen gezogen werden, um so einer Aufstauung des Wassers vorzubeugen,
dagegen eine mehr gleichmäßigere und sorgsamere Verteilung herbeizuführen.
An der westlichen Riviera gewinnt noch besonders die Rosenkultur größere
Bedeutung. Die Rosenstöcke werden nach der Trockenheit des Sommers ge¬
schnitten. In kältern Lagen beschneidet man sie schon im August, worauf
dann die Knospen vor Weihnachten aufbrechen, in Würmern Lagen erfolgt das
Beschneiden erst im Oktober, damit die Blüten im Januar und Februar ge¬
erntet werden können. Die zweite Nosenernte bringt dann der April, während
der Monat März im allgemeinen keine Rosen hervorbringt. Um aber auch
in diesem Monat den Bedarf an Rosen zu befriedigen, bedecken die Gärtner
von Dezember an einen Teil der Rosenhecke mit Glas, wodurch die Ent¬
wicklung der Blüten beschleunigt wird.
Ferner werden alle möglichen Blumen kultiviert, und den ganzen Winter
hindurch blühen die Nelken und Veilchen in herrlicher Farbenpracht. Während
jene alljährlich durch Stecklinge neu gezogen werden, werden diese erst nach
fünf Jahren neu gepflanzt.
Für Bewässerungszwecke wird das Wasser in der Umgegend von Nizza
von kapitalistischen Gesellschaften geliefert. Es wird durch Rohrleitungen aus
den Flußläufen der Secalpen entnommen und meist gegen recht hohe Preise
an die Gärtner und Kleingrundbesitzer abgegeben. Bei der kostspieligen An¬
lage der Bewässerung und den hohen Abgaben für Wasser würden aber auch
andre landwirtschaftliche Kulturen nicht betrieben werden können, es kann sich
nur darum handeln, Produkte mit spezifisch hohem Werte, wie Blumen, Rosen,
Gemüse, Apfelsinen usw. zu erzengen.
In welchem Umfange die Blumen- und Rvseukultur in der Umgegend
von Nizza betrieben wird, geht daraus hervor, daß im Winter täglich ein
Extrazug mit Blume», wie Veilchen, Nelken, Orangen, Margueriten, Ane¬
monen, Levkojen, Reseda, Narzissen, Tuberosen und Rosen, nach Paris ab¬
geht, von wo aus dann der Versand nach allen Ländern erfolgt. Alle
Morgen werden von den Gärtnern am Abend vorher abgeschnittene Rosen
und Blüten auf Karren und Eseln in die Stadt gebracht, wo sie von den
Exporteuren sogleich verpackt und versandt werde». Blumen und Rosen werden
aber auch an Ort und Stelle (z. B. in Grasse) zu Parfüm verarbeitet. Grasse
liefert jedoch nicht die fertigen Parfüms, die Buketts sind Mischungen, die die
eigentlichen Parfümisten herstellen. Bei den Pflanzen sind es vornehmlich die
Blüten, die den Riechstoff enthalten, doch sind auch duftende Substanzen
anderswo in der Pflanze angesammelt, so in den Wurzeln (Iris), im Holz der
Bäume (ostindischer Sandelbauin), in der Rinde (Zimtbaum), in den Blättern
(Pfefferminze), endlich auch in Früchten und Samen (Kümmel).
Vor nicht lauger Zeit wurden die Blumen an der Riviera nur für die
Parfümfabriken gezogen, und erst in neuerer Zeit hat ihr Verbrauch an der
Riviera selbst und der Versand bedeutend zugenommen. Namentlich an der
französischen Riviera ist die Blumenzucht weit verbreitet. In der Umgegend
von Toulon, Grasse, Cannes, Antibes, Nizza bemerkt man große Felder in
herrlicher Blütenpracht. Bei Toulon sieht man im zeitigsten Frühjahr die
römische Hyazinthe, darauf folgen Narzissen, weiße und rote Nelke», Tazzetten,
Jonqnillen. In der Gegend von Cannes, Grosse und Antibes herrschen die
Anemonen und in Grosse die Anemonen und die Ranunkeln vor. Sodann
bemerkt man Levkojen, Goldlack, Reseda, Gladiolen, Teerosen, Jxica.
Sparaxis, Chrysanthemum. So ist die Riviera dauernd festlich gekleidet. Kein
Wunder, daß sie sich unsrer Phantasie immer wieder im üppigsten Blüten-
schmucke vorstellt.
ran Frida von Seidelbast, Wahnfriedchen. wie sie von dem unwürdigen
Spotte nicht allein des Majors Knhblank, sondern auch andrer übel¬
wollender Leute genannt wurde, fühlte inzwischen die Verpflichtung,
der großen Sache der Bayreuther Tage ihre Kräfte zu weihen. Sie
versammelte also die Herren des Vereins um ihren runden Tisch.
Die Herren kamen weder willig noch vollzählig, und Herr Neugcbcmer
erklärte deu andern — natürlich nicht in Gegenwart von Frau von Seidelbast —
gerade heraus, die Sache werde ihm zu dumm, und er fühle gar keinen Beruf in
sich, den Nickemann zu spiele«. Was es denn für einen Zweck habe, Beschlüsse zu
fassen, wenn Frau von Seidelbast hinterher tue, was sie wolle. Und er habe auch
keine Lust, sich daran zu beteiligen, daß das Geld aus dem Fenster geworfen werde.
Er sei sehr neugierig, wer zuletzt die Rechnung bezahlen werde.
Die Frage, wie das Defizit des ersten Bayreuther Tages gedeckt werden sollte,
war schon dahin beantwortet worden, daß ein zweiter Tag, der geringere Kosten
verursachen und Gewinn abwerfen müßte, veranstaltet werden solle. Es fragte sich
nu», welches Musikdrama zur Aufführung kommen werde. Die gnädige Frau war
ganz entschieden für die Götterdämmerung, jenes unsterbliche Werk, das die ganze
Trilogie abschließe und kröne. Aber die Kohle»! wurde eingewandt. Die Götter¬
dämmerung habe so viel Personen, daß die Gagen eine unerschwingliche Höhe er¬
reiche» würden. Wenn man mit dem zweiten Festspiele das Defizit des ersten decken
wolle, müsse man sparen und eine Oper mit möglichst wenigen Personen wählen.
Frau von Seidelbast erklärte diese Erwägung als einen ganz unkünstlerischeu
Standpunkt. Wenn Richard Wagner diesen Standpunkt gebilligt hätte, so hätte er
keins seiner Meisterwerke schreiben dürfen. Sie kam also nochmals auf die Götter¬
dämmerung zurück. Aber sie traf auf geschloßnen Widerstand. Wer würde die Kosten
bezahlen, wenn zu dem vorhandnen noch ein neues Defizit kommen werde?
Frau von Seidelbast mußte seufzend nachgeben, und so einigte man sich, wenn
es durchaus ein Stück der Trilogie sein müßte — ja das müßte es durchaus
sein —, auf Rheingold, Wagelaweia und den Regenbogen.
Ja, aber mein Gott, rief Frau von Seidelbast ganz entsetzt, da ist ja keine
Rolle für Alfred Rohrschach darin.
Nein, erwiderte man. Also brauchen wir ihn auch nicht zu bezahlen.
Unmöglich! erklärte die gnädige Frau und kam nochmals auf die Götterdämmerung
zurück. Aber sie erreichte nichts. Darauf setzte sie sich hin und schrieb an Alfred
Rohrschach, ob er nicht auch in dem Rheingold eine Rolle übernehmen könnte.
Rohrschach antwortete, er bedaure. EL sei gegen seine künstlerischen Grundsätze, Rollen
zu studieren und zu singen, in denen er nicht in dem Mittelpunkt der Szene stehe.
Aber er werde kommen und sich an den Vorbereitungen beteiligen.
Er wird kommen! Hildci, er wird kommen, rief Frciu von Seidelbast begeistert,
und Sonnenschein kehrte in der Villa Seidelbast wieder ein. Und Hilda legte ganz
im geheimen eine Rose vor dem Bilde des Einzigen nieder.
Man hatte die Rollen unter sich verteilt. Die Herren besorgten die Engagements
der Künstler und die gnädige Frau die Beeinflussung der Presse. Doktor Lappen-
snider wurde zur gnädigen Frau befohlen und instruiert. Da aber diese Instruktion
nicht zu einem völlig klaren Bilde führte, Lappensnider aber erklärte, daß er, ohne
völlig klar zu sehn, nicht schreiben könnte, da auch kein Buch da war, das ihm
hätte mitgegeben werden können, so schlug die gnädige Frau vor, daß er nach Berlin
reisen und sich die dort bevorstehende Aufführung einsehn möchte. Ein Gedanke, auf den
Lappensnider, nachdem er das nötige Geld erhalten hatte, mit Begeistrung einging.
Am andern Tage war nnter Kunst und Wissenschaft im Korrespondenten von dem
ehrenvollen Auftrage zu lesen, den der künstlerische Sachverständige dieses Blattes
erhalten haben, nach Berlin zu reisen und unter den Augen der geistigen und
künstlerischen Größen des Reichs das Rheingold einer Prüfung zu unterwerfen. Nach
ein paar Tagen las man eine neue Bemerkung, Doktor Lappensnider weile wieder
in Neusiedel und sei damit beschäftigt, seine Eindrücke zu Papier zu bringen.
Und das Tageblatt hatte niemand, der über dramatische Musik hätte schreiben
können. Denn Herr Hesselbach hatte sich bei dem Kampfe mit Lappensnider tatsächlich
krank geärgert und war außerstande, eine Feder in die Hand zu nehmen.
Weil nasum wer denn nnn, Herr Spohnnagel? fragte der alte Brömmel.
Herr Spohnnagel, der eben mit seinem Lesebuch beschäftigt war und sich über
die Königliche Regierung, die nicht aufhörte. Ausstellungen zu machen, geärgert hatte,
blickte ihn ohne Verständnis an.
Ferhad Rheingold, Herr Spohnnagel, fuhr Brömmel fort. Mir missen becasse
notwendch e Referat bringen, sonst werd Sie der Gorrespondent iebermietch. Aber
war solle mer nähme?
Wen Sie wollen, schrie Spohnnagel, aber mich lassen Sie in Frieden.
Der alte Brömmel verwunderte sich. Weil Sie wollen, meinte Brömmel, ist
leicht gesagt. Aber mir sein doch hier nich in Leipzch, wo die Gunsthammels gleich
dutzendweise uf der Straße rumloofen.
Lappensnider befand sich damals auf der Höhe seines Ruhms. Er beherrschte
die literarische Lage durchaus. Was er sagte, war Evangelium oder auch Heim¬
suchung — je nachdem. Die höchsten Kreise bemühten sich um ihn. Dagegen hatte
er auch Feinde. Aber ist es nicht ein Verdienst, Feinde zu haben, wenn man sür
die höchsten Ideale eintritt? Die Schauspieler namentlich spien Gift und Galle, aber
pah, was konnten sie ihm tun? Und doch war Lappensnider nicht zufrieden. Es
war ein harter Dienst, in der Nacht Berichte schreiben und am Tage die Funktionell
eines Kommis und Faktors in der Druckerei ausüben. Als nun aber Männelmann
seinem mit Bitterkeit erfüllten Mitarbeiter für die beiden Tage, an denen er in
Berlin gewesen war, den Gehalt abgezogen hatte, da schrie die gekränkte Menschen¬
würde in ihm auf, und er wagte es, seinem Chef sein schäbiges Verhalten vor
Augen zu stellen. Aber er machte gar keinen Eindruck damit. Wenn es Ihnen
bei nnr nicht gefällt, sagte er, so können Sie sich ja auf Ihre Rittergüter zurück-
ziehn. — Jawohl! wenn er nur diese Rittergüter gehabt hätte! Er, ein freier
Künstler, befand sich in schnöder Abhängigkeit, im Lohn, aber nicht im Brot des
gemeinsten, brutalsten Geldphilisters, in der Abhängigkeit von einem Menschen, der
kein Bedenken trug, über ihm die Huugerpeitsche zu schwingen. O, wenn er frei
gewesen wäre, wie hätte er ihn literarisch prügeln und an den Pranger stellen
mögen! Er, Lappensnider, hob den Korrespondenten durch seine Feder auf eine hohe
Stufe, und jener, der Tyrann, steckte den schönen Verdienst ein und zog ihm noch
die zwei Tage Gehalt ab. Es war zum Verzweifeln.
In dieser Stimmung traf er im Thealercafe, seinem Hauptquartier, mit
dem alten Brömmel zusammen. Man lernte sich kennen, man deckte sein Herz
""f. man schalt über die Herren Chefs, und das Ende war, daß Lappen¬
snider, der als geschickter Mann nach rechts und auch nach links zu schreiben ver¬
stand, versprach, fiir das Tageblatt einen Bericht über Rheingold gegen gute Be¬
zahlung abzufassen. Warum auch nicht? Wie viele Berichterstatter bedienen zugleich
verschiedne Zeitungen! Am nächsten Abend sollte der Aufsatz an demselben Orte
Herrn Brömmel übergeben werden, und über die Verfasserschaft sollte strengstes
Stillschweigen beobachtet werden.
Am nächsten Abend hing der stadtbekannte Havelock Lappensniders in einer
der Nischen des Theatercafts/ Lappensnider selbst hatte an einem Tische Platz ge¬
nommen, an dem einige Neusiedler Pfahlbürger und auch der alte Brömmel saßen.
Dort war er damit beschäftigt, einen Vortrag über seine Fähigkeiten und Erfolge
und über den geringen Wert, den er einem Doktortitel beimesse, zu halten. Bald
darauf traten drei laut redende Herren ein, die wir auf den ersten Blick als
Schauspieler erkennen. Es waren die Herren Frank Mundo, der Heldenspieler,
Lauterbach, der Bonvwant, und Beutler, der Komiker. Sie traten in die Nische,
>n der Lappensniders Havelock hing, und ließen sich mit Getöse nieder. Schorsch,
uef Frank Mundo mit einer Stimme, als mine er Prinz Heinrich und rufe Franz.
Schorsch stürzte herbei. Bringe mir, mein Sohn, das Schandblatt.
Das Schandblatt, Herr Mundo? Sie meinen wohl den Korrespondenten?
Was denn anders, du Kamel!
Schorsch brachte die neuste Nummer des Korrespondenten, und Frank Mundo
ergriff sie mit gewaltiger Hand und stampfte sie auf den Tisch. Ich will, sagte
er, mich mit diesem papiernen Dollich ermorden. Ich will den Giftfusel trinken
ins auf die Neige. Darauf setzte er sich mit aufgestützten Ellenbogen hinter seine
Zeitung und ging die Beilagen durch. Hier! rief er, Sudermanns Ehre. „Die
naive Voraussetzung, daß eine verletzte Ehre durch den Zweikampf wiederhergestellt
Werden könne —"'
Überschlagen Sie das, meinte Lauterbach. Was dieser Doktor Ouassel über
die Ehre schreibt, ist höchst uninteressant.
Und ohne Zweifel auch abgeschrieben, fügte Bender hinzu.
Mundo fuhr fort. „Die Aufführung stand unter einem ungünstigen Stern."
-natürlich, wenn sie von dem Sterne Lappensniders angeleuchtet wird. „Der Graf
Trask-Saarberg" — das sind Sie, Lauterberg — „ist, wenn auch Kaffeekönig ge¬
worden, doch Graf geblieben. Er ist nicht so tief gesunken, daß er mit dem
Messer üße oder sich die Nase am Ärmel abwischte. Woher der Graf des Herrn
5-auterberg seine Manieren hatte, ist schwer zu sagen. Vielleicht aus jenem Kreise,
ich will fügen von jenem Miste, von dem das Schauspielersprichwort sagt: Wer
einmal darauf gelegen hat, der riecht danach sein Leben lang."
Ich muß mir, sagte Lauterberg, seinen Stock wippend, unbedingt am nächsten
Ersten einen neuen Stock kaufen, um dieser Giftkröte meine Manieren bei¬
zubringen.
Mundo las weiter: „Robert. . ."
Das sind Sie, Mundo, sagte Lauterbach.
«... Robert war eine gänzlich mißratne Leistung. Auch ich würde einen
Wichen Robert nicht für satisfaktionsfähig halten und würde mir seine nähere
Bekanntschaft verbitten." Hols der Teufel! Muß man sich solche Beleidigungen
gefallen lassen? Und noch dazu von einem Menschen, der weiter nichts ist als
eine Wanze?
Verdauen! verhauen! rief Lauterberg.
Sie, erwiderte Brandes, das überlegen Sie sich noch. Die Sache macht zwar
Spaß, kostet aber mindestens fünfzig Mark.
Na, dann wenigstens in Effigie.
Können Sie haben, meinte Brandes. Da hängt sein Havelock. Und da steckt
auch gleich sein neustes Pamphlet drin, das können Sie gleich mit verhauen.
Wird ihm nicht gerade sehr weh tun, meinte Mundo. Ich wäre doch mehr
für Originalprügel.
Die Herren wandten sich ihrem Biere zu, aber es war merkwürdig, welche
Anziehungskraft das Manuskript, das in einer Tasche des Havelocks stak, ausübte.
Bender erhob sich, trat unauffällig an den Havelock und kehrte, das Manuskript
in der Hand, zu seinem Platze zurück. Man rückte zusammen, und Bender las mit
komischem Pathos: Die Offenbarung des Wcignerschen Genius steigt in gigantischen
Schritten von Stufe zu Stufe.
Das ist Wagelaweia, sagte Lauterbach. Nichts für uns.
Werft das Scheusal in die Wolfsschlucht, fügte Mundo hinzu.
Aber Brandes blieb hinter seinem Manuskripte sitzen und las es mit sicht¬
barer Belustigung. Die beiden andern begrüßten einen Kollegen, der sich mit an
den Tisch setzte, und Brandes ließ sich Papier und Feder bringen und schrieb.
Was machen Sie denn da, Brandes? fragte nach einiger Zeit Mundo.
Etwas besseres als Sie, erwiderte Brandes. Sie reden immer bloß; aber
ich bin ein Mann der Tat. Und Ihre Sammlung von Spazierstöcken, Lauterbach,
wird nachgerade kindisch. Aber ich nehme Rache. Nache! Blutwurst! Rache,
kalt wie eine Hundeschnauze! Und damit schrieb er weiter.
Bender hatte die besondre Gabe, Handschriften nachzuahmen. Nachdem er
einige Vorübungen gemacht hatte, wurde es ihm nicht schwer, was er entworfen
hatte, in der Handschrift Lappensniders abzuschreiben. Darauf setzte er den Namen
Lappensinders unter die Epistel, steckte das Originalmanuskript in seine Vrusttasche
und sein eignes Opus in den Havelock.
Nun aber würde ich empfehlen, sagte er, daß wir uns drücken. — Das
taten sie denn, um mit den Mienen von Max und Moritz von einem Tische des
vordern Saales aus zu beobachten, was geschehen würde.
Nach geraumer Zeit erhob sich Lappensnider, holte seinen Havelock und steckte
das Manuskript Brömmel zu.
Passen Sie auf, sagte Bender mit heimlichem Frohlocken, die Geschichte wächst
sich zu einer Katastrophe aus.
Am andern Tage las man im Tageblatte folgenden Aufsatz:
Wagelaweia, Heia jaheia!
Ja, Heia von ganzem Herzen. Heia aus der Tiefe einer Seele, die mit
unverlöschlichem Erinnerungen erfüllt ist. Ich, der freie Künstler, bin wieder da.
Heia! ich bin wieder da. Ich habe Rheingold gesehen. Heia, ich habe es ge¬
sehen. Es war die Offenbarung des relativ Unbegrenzten, es war die Manifestation
des zur Schwingung gewordnen Genies. Die dynamischen Evolutionen der Rhein¬
töchter waren großartig, transzendent und ausgeglichen. Die Abtönung der Nuancen
war Schattenreich, ihre Tricks waren erstklassig, der Glimmerfels vollendet glitschrig.
Was die Musik dazu spielte, erschien mir katholisch, was bei der Nähe von Köln
auch nicht zu verwundern ist. Wagner steht bekanntlich auf den Schultern
Mendelssohns, die schöne Melusine ist das Wagelaweia der Mendelssohnperiode.
Darum sind auch die Leitmotive des Rheingold so ausgefallen, daß sie auch der
weniger musikalische Mensch nachpfeifen kann. Die Ausstattung war ungemein, war
stimmungsvoll und kostspielig. — Wir werden es in kurzer Frist erleben, daß das
Rheingold auch in unsrer Stadt gespielt wird. So lange der Dom unsrer Stadt
steht, ist noch kein Wagelaweia in seinen Mauern erklungen. Darum to vats —
auf zur Tat! Auf ins Theater! Die Lustige Witwe und das Rheingold muß
man gesehen haben. Doktor Lappensnider.
Die Bürger von Neusiedel lasen dies Elaborat zwar mit einiger Verwunderung,
hatten aber doch nichts Ernstliches dagegen einzuwenden. Es stand ja in der Zeitung.
In der Villa Seidelbast dagegen erweckte es einen Sturm der Entrüstung. Zeitungen
durften in der Villa Seidelbast nicht in die geheiligten Räume des obern Stockwerks
gelangen, sondern nur bis in die Küche eindringen. Hier hatte Fräulein Binz den
Artikel gelesen und war, da sie ihn für blutigen Hohn des Tageblatts hielt, in
helle Wut geraten. Sie eilte hinauf und las der gnädigen Frau den Aufsatz vor. Die
gnädige Frau kam außer Atem. Sie war ganz geknickt. Sie stellte eine bewegliche
Klage über den Undank der Welt im allgemeinen und den der Literatur im besondern
um und schickte Fräulein Binz mit der Zeitung zu General von Kämpffer, Exzellenz.
General Kämpffer. Exzellenz, teilte die Entrüstung der beiden Damen, setzte
sich hin und schrieb einen Brief an Spohnnagel, der an Deutlichkeit nichts zu
Wünschen übrig ließ.
In der Druckerei von Spohnnagel vermutete man nichts arges. Der Chef
war mit seinem Schulbuche beschäftigt, und Brömmel hatte den Aufsatz unbesehens
in die Druckerei gegeben. Brömmel hatte auch, als er die Korrektur las, den
Bericht ganz ernst genommen. Als nun Spohnnagel den Brief des Generals ge¬
lesen hatte, war es ihm zumute, wie wenn ihn der Schlag auf der einen Seite
gerührt hätte, und als er den Wagelaweiaartikel gelesen hatte, hatte er die Empfindung,
als sei er auch auf der andern Seite vom Schlage getroffen worden.
Herr — Herr — Brömmel, schrie er nach Luft schnappend den alten Brömmel
an, was haben Sie denn da drucken lassen? Das ist ja der helle Unsinn! Von
wem haben Sie sich denn das aufbinden lasten?
'
Vonn Doktor Lappensnider selber, erwiderte Brömmel.
Ach was Doktor! rief Spohnnagel, dieser Lump ist so wenig Doktor als Sie und ich.
Aber er hat mirschs Manuskript selber in de Hand gedrickt.
Sehen Sie denn nicht, daß Sie auf den Leim gekrochen sind, und daß das
eine Niedertracht vom Korrespondenten ist, der uns damit hat hineinlegen wollen.
Sehen Sie das nicht. Sie alter Esel?
Herrn Spohnnagel. erwiderte der alte Brömmel stolz und gekränkt, ein alter
Esel bin ich Sie nicht, sondern ein altes Mächen für alles. Und zwar kee schlechtes.
Das wissen Sie ganz alleene. Herr Spohnnagel. Und Gunstgenner bin ich Sie
auch nicht. Das wissen Sie auch ganz alleene, Herr Spohnnagel. Warum
gimmern Se sich nich um Ihre Ahngelächenheiten, Herr Spohnnagel? Mit Ihren
Schulbiechern wären Se de Welt nich umreißen. Gimmern Sie sich lieber um
Ihre Zeitung, Herr Spohnnagel.
Der alte Brömmel ging grollend hinaus. Er hatte Recht, und Spohnnagel
mußte es sich selber sagen, daß er Recht hatte.
Auch in der Redaktion des Korrespondenten herrschte Unwetter. Der Chef
trat, die neueste Nummer des Tageblattes schwingend, in die Druckerei und schrie:
Lappensnider, wie können Sie sich unterstehen, wenn Sie bei mir in Lohn und
Brot sind, für das Tageblatt zu schreiben?
Wer hat Ihnen denn gesagt, antwortete dieser, daß ich fürs Tageblatt ge¬
schrieben habe?
Hier steht es!
Richtig, da stand es. Das war fatal und gegen die Abrede gewesen. Lappen-
snider zürnte. Aber er ließ sich nicht werfen. Er erwog, daß mit dieser Ent¬
deckung seine Stellung bei Mcinnelmann unhaltbar geworden war, er erinnerte sich,
daß er mit dem alten Bröinmel über die Möglichkeit, zum Tageblatte überzugehen,
geredet hatte, und daß Brömmel dieser Idee gar nicht abgeneigt gewesen war und
jagte: Nun ja, ich habe für das Tageblatt geschrieben. Aber daran ist niemand
anders schuld als Sie selbst. Lohn und Brot sagen Sie? Ihr schäbiger Hunger¬
lohn reicht noch nicht einmal für die Kartoffeln ans. Bezahlen Sie Ihre Leute
anständig, dann haben sie es nicht nötig, außer dem Hause Verdienst zu suchen.
Es fällt mir auch gar nicht ein, für den Hundelohn für Sie noch z» arbeiten.
Mindestens müssen Sie dreißig Mark Zulage geben,
Nun aber machen Sie, schrie Mcinnelmann mit überschnappender Stimme,
daß Sie ans dem Hause kommen, Sie cmsverschämter Mensch Sie! Aber gleich!
auf der Stelle! Bitt'es mir ans.
Wird mir ein Genuß und eine Ehre sein, erwiderte Lappensnider. Wenn
Sie aber einmal ein Journal in die Hand kriegen, in dein einer als ein ganz
gemeiner, ruppiger, filziger Hund abgemalt ist, dann können Sie annehmen, daß
ich es geschrieben, und daß ich Sie gemeint habe. Adieu.
Natürlich begab sich Lappensnider stehenden Fußes zum Tageblatte. Hier
wurde er mit allgemeinem Hurra empfangen und schleunigst wieder an die Luft
befördert. Was war denn los? Er wandte jetzt seine Schritte zum Theater-
caft und ließ sich das Tageblatt geben. Er war starr. Freilich! nach dem, was
da stand — unter dem Titel Wagelaweia und mit seiner Namensunterschrift, war
es nicht zu verwundern, wenn er an die Luft gesetzt wurde. Aber das hatte er
ja gar nicht geschrieben. Das war untergeschoben und in verräterischer Weise Brömmel
in die Hand gespielt worden. Und mit diesem Opus war über ihn selbst ein
blutiger Hohn ausgegossen worden. -— Ha! Rache! Wenn ich den fasse, der das
geschrieben hat —! Mit Hilfe von Schorsch war es nicht schwer herauszubekonimeo,
daß die Übeltäter die Herren Mundo, Lauterberg und Beutler gewesen seien.
Sogleich eilte Lappensnider zum Staatsanwalte. Der Staatsanwalt lehnte
es ab, eine Anklage zu erheben, da ein öffentliches Interesse nicht vorliege, und gab
anheim, Privatklage anzustrengen. Davor aber hatte Lappensnider eine lebhafte
Abneigung. Denn Klagen kosten Geld, und er hatte kein Geld. Und man konnte
erleben, daß die Schauspieler zu zwanzig Mark verdonnert wurden und die Lacher
auf ihrer Seite hatten, und daß er als der Blamierte dastand. Nachdem er einen
vergeblichen Versuch gemacht hatte, bei Frau von Seidelbast vorzukommen, und
nachdem sich auch der Herr Dombibliothekar vor ihm hatte verleugne» lassen, packte
er seine Sachen und verschwand, indem er, tiefe Verachtung im Herzen, es Nen-
siedel überließ, ohne einen solchen Künstler, wie er war, auszukommen.
Was hier hinter verschwiegnen Wänden geschehen war, wäre vielleicht nicht
in die Öffentlichkeit gedrungen, wenn sich die Herren Mundo, Lauterberg und
Bender nicht ihrer Tat gerühmt hätten. Sie hatten dabei wirklich die Lacher auf
ihrer Seite. Das änderte freilich an der Tatsache nichts, daß jetzt weder das
Tageblatt noch der Korrespondent eine Kraft hatten, die über die bevorstehende
Aufführung des Rheingold hätte berichten können.
Frau von Seidelbast nahm von den neuen Schwierigkeiten, die sich mit dem
Verschwinden ihres journalistischen Helfers gegen ihr Unternehmen anstürmten, keine
Notiz. Ihr Sinnen war auf den Einen gerichtet, der kommen und dem Festspiele
durch seine Anwesenheit die künstlerische Weihe geben sollte.
Und er kam. Und er stieg diesmal in der Villa Seidelbast ab. Und die
ganze Villa Seidelbast stand ihm zur Verfügung mit Ausnahme des Hinterzimmers,
worin der Geheimrat, kränker als je, in seinein Lehnstuhle saß. Es fehlte nicht viel,
so hätte die gnädige Frau dem Gaste ihren Ehrenplatz uns dem Sofa hinter dem
runden Tische abgetreten und sich zu seinen Füßen niedergelassen. So sehr war ihr
Herz mit ihren Idealen erfüllt, und so groß war ihre Hingabe an die Kunst.
Und Hilda? Sie befand sich noch immer in der peinlichen Lage, daß sie von
einander widerstrebenden Empfindungen beunruhigt wurde. Man denke sich den
Fall, daß die Erde zwei Monde oder gar zwei Sonnen hätte, welcher Kampf der
anziehenden Kräfte würde entsteh»! Zwei Monde, das ginge noch, Monde sind
Trabanten, die nachfolgen, aber Sonnen sind Herrscher, die führen. Und wenn die
Sonnen nur eben erst aufgingen, das mochte auch noch sein, da versteckt sich die eine
hinter dem Morgennebel, und die andre leuchtet. Aber wenn sie beide hoch am
Himmel standen, was dann? Man denke sich ein Mädchenherz, das doch von Natur
ans den Einen, den Herrlichsten von allen gestimmt ist, und zwei Herrlichste von
allen stehn auf einmal hoch an dem Himmel ihres Lebens! Hilda hatte dies wider¬
natürliche Ereignis erlebt. In demselben Augenblicke, wo ihr die Sonne der Kunst
aufging, trat auch Onkel Philipp aus den Wolken der Onkelhaftigkeit hervor. Wenn
Nohrschach nicht ihren Weg gekreuzt hätte, sie hätte ihre Hand vertrauensvoll in
die Onkel Philipps gelegt. Aber jetzt, wenn er jetzt reden würde, die andre Sonne
hätte es ihr verboten, ja zu sagen. Es war gut, daß er schwieg.
Man hätte meinen sollen, daß diese andre Sonne dann, wenn sie da war, den
stärksten Eindruck gemacht hätte; bei Rohrschach war es umgekehrt. Der abwesende
Halbgott machte den größern Eindruck als der anwesende. Der abwesende nahm
verklärte Gestalt an; der Rvhrschach im Frack verschwand, und Siegfried im Wolss-
fell — hoso! dabei! — trat an die Stelle, jene überirdische Jugend und Schönheit,
die es ihr angetan hatte, und die sie die Kunst nannte.
Mama merkte nichts von alledem, ihre Gedanken bewegten sich in zu hohen
Regionen, sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber Hundiug merkte es. Hilda,
sagte er, du bist krank, du hast das Tenorfieber. Laß dir täglich drei kalte Ab¬
reibungen verordnen.
Als Antwort warf Hilda einen schwärmerischen Blick auf die Photographie
ihres Halbgottes.
Ich will dir sagen, was dein Halbgott ist, ein ganz gewöhnlicher Narr. Großer
Sänger, Mädchenfänger. Ein eitler Mensch, der nur eine Leidenschaft hat, seine eigne
werte Person. Aber so sind sie alle. Man sollte sich mit diesem Volke überhaupt
"icht einlassen.
Hilda strafte ihren Bruder mit Verachtung, mußte sich freilich zugestehn, daß
er nicht ganz Unrecht hatte, wenn er sie krank nannte. Sie fühlte sich unfrei, sie
stand unter einer fremden Macht, Es war eine schmerzlich-süße Herrschaft, aber im
Grunde hätte sie doch gewünscht, frei zu sein, wieder sie selbst zu sein. Was freilich
Hmiding von des Sängers Egoismus und seiner Eitelkeit sagte, war eitel Ver¬
leumdung.
(Fortsetzung folgt)
Der Deutsche Landwirtschaftsrat hat in der vergangnen Woche getagt und sich
während dieser Zeit, wie alljährlich, zu einem Festmahl vereinigt, zu dem auch der
Reichskanzler als Gast erschienen war. Fürst Bülow pflegt diesen Anlaß, bei dem
er mit der berufnen Vertretung der deutschen Landwirtschaft in Berührung kommt,
regelmäßig zu einer Aussprache zu benutzen, in der er zu wichtigen, die landwirt¬
schaftlichen Interessen und die allgemeine Politik berührenden Fragen Stellung nimmt.
Diesmal wurde die übliche Kundgebung vielleicht mit noch größerer Spannung
erwartet als sonst, weil die politische Lage den Gedanken nahelegt, daß der Reichs¬
kanzler bei der Landwirtschaft einen starken Widerstand gegen die Durchführung
der gegenwärtig wichtigsten Aufgabe, der Reichsfinanzreform, findet. Die Gegner¬
schaft der Agrarkonservativen gegen die Nachlaßsteuer erschwert, wie wir schon öfter
ausgeführt haben, das Zustandekommen der Reform, weil die Liberalen das Opfer,
das sie an ihren Prinzipien durch die Zustimmung zur Erhöhung der indirekten
Steuern auf den Massenkonsum zu bringen bereit sind, nur für den Fall in Aus¬
sicht stellen können, daß auch die Konservativen durch Zustimmung zu einer direkten
Besteuerung des Besitzes prinzipielle Zugeständnisse machen. Nun ist aber außer
der Nachlaß- und Erbschaftssteuer bisher noch keine Möglichkeit nachgewiesen worden,
wie man ohne Störung der Finanzwirtschaft der Einzelstaaten und ohne Eingriffe
in ihre Finanzhoheit den Besitz von Reichs wegen direkt besteuern könnte. Des¬
halb sind die verbündeten Regierungen gezwungen, an der Nachlaßsteuer und der
stärker» Heranziehung der Erbschaftssteuer festzuhalten. Bei der Schärfe der agra¬
rischen Opposition besteht infolge dieser Verhältnisse die Gefahr, daß sich die Lage
in einer der Regierung nicht genehmen Weise verschiebt. Das war allem Anschein
nach der Grund, weshalb Fürst Bülow gern die Gelegenheit wahrnahm, an seine
grundsätzliche Stellung zu den landwirtschaftlichen Interessen zu erinnern. Bet
dem Festmahl des Deutschen Landwirtschaftsrats hat er diesmal seinen Zuhörern
ins Gedächtnis zurückgerufen, daß er schon im Herbst 1900, als er nach seiner Er¬
nennung zum Reichskanzler dem Kaiser den ersten Vortrag hielt, die Zustimmung
zu seinem landwirtschaftlichen Programm erbeten und erhalten habe, und daß er
seinen Anschauungen über die Bedeutung der Landwirtschaft immer treu geblieben
sei. Und sein Bestreben, auch jetzt die Interessen der Landwirtschaft ihrer Be¬
deutung für den Staat entsprechend zu berücksichtigen, betonte er noch weiter auf
das nachdrücklichste. Dabei war freilich auch der Übergang gegeben zu der wich¬
tigsten Tagesfrage, in der einstweilen noch keine Harmonie zwischen der Regierung
und der Landwirtschaft besteht. Es wäre natürlich für den Reichskanzler in diesem
Zusammenhange und an dieser Stelle unmöglich gewesen, sei es den bestehenden
Gegensatz in ein besonders Helles Licht zu rücken oder auch so etwas wie einen
Überredungsversuch zu machen. Es war wichtiger, unter Hervorhebung seiner
grundsätzlichen Stellung zur Landwirtschaft vertrauensvoll an die allgemeine Opfer¬
willigkeit zu appellieren und in einigen kurzen Sätzen die Bedeutung der Reichs¬
finanzreform sowie das Unheil, das aus dem Versagen der Opferwilligkeit in frühern
Perioden der Geschichte entsprungen ist, zu kennzeichnen.
Wir sind auch heute »och der Ansicht, daß mit Wor^n n.ehe viel ausgerichtet
werden kann, eine andre Meinung über die Frage der Erbschafts- und Nachla߬
steuer herbeizuführen. Denn einstweilen steht bei den Leuten. dle sich mit der
ganzen zähe» und stillen Leidenschaftlichkeit des echten dentschen D° trinärs in ehr
Prinzip festgebissen haben, immer noch die Überzeugung im Hintergrunde: Es
geht auch anders! Etwas anders wird und muß die Sache doch aussehen wenn
die Unerbittlichkeit der Tatsachen zu wirken anfängt, wenn s.es ernstlich herausstellt,
daß alle die Mittel und Mittelchen, mit denen sich der Partewgensinn um Not¬
wendigkeiten herumzudrücken versucht, etwas unausführbares ""d unannehmbares er¬
geben, wenn es den Leuten klar wird, daß ihr Versagen wirklich das Scheitern des
ganzen Werks herbeiführen muß. Es scheint, daß wir uns allmählich diesem Zeitpunkt
nähern. Die Sublommission. die die Finanzkommission des gwchstagv eingesetzt hat.
um über die Frage der Nachlaß- und Erbschaftssteuer eine En.igung herbeizuführen
h°t. soviel bis jetzt bekannt geworden ist. ihre Aufgabe nicht zustande gebracht.
Dafür liegen bestimmte Gründe vor. die einstweilen nicht ans Licht gezogen zu
werden brauchen, weil diese Erörterung nicht dein Nutzen der Sache diene»
würde. Zwar wurde die Nachricht verbreitet, es sei zu einer Einigung gekommen,
und es ist auch möglich, daß die Subkommission mit einem solchen VorWag an
die Kommission herantritt. Wenn aber das Ergebnis der Einigung ,o lautet, wie
berichtet wird, dann ist es vollkommen zwecklos, überhaupt davon zu sprechen,
denn es ist eine Lösung, die die liberalen Parteien niemals annehmen können.
Wir stehn also vor einem Vakuum. Die Parteien haben nun zur Genüge gezeigt.
w°s sie einzeln wollen und was sie nicht wollen; jetzt ist es ihre Aufgabe zu
zeigen, was sie zusammen wollen und können. Endet diese Probe wirklich
negativ, wie es sich bis jetzt anläßt, so werden unsre Herrn Volksvertreter recht
"»angenehme Erfahrungen machen. Ihr Gedankenkreis bewegt sich noch immer
w dem alten Geleise; sie leben in der Vorstellung, daß sich der Volksvertreter
seine» Wählern angenehm macht, wenn er nach der Weise der alten Fortschritts¬
partei dein Staate ein paar Groschen abzujagen versteht und darin seine ganze
politische Weisheit sucht. Aber heute trifft das nicht mehr zu. Zwar das Steuer¬
zahler ist dem deutschen Philister auch heute noch ein lästiges Geschäft, so lästig,
d"K ihm beim Monieren darüber am Stammtisch die Kehle trocken wird und
er notwendig ein Glas Bier mehr hinunterspülen muß. und da wirkt es wiederum
höchst peinlich, wenn das Bier den Produzenten infolge höherer Besteuerung ein
W zwei Pfennige ».ehr für das Liter kosten soll, und der Wirt Mhalb die
heilige Verpflichtung im Busen fühlt, den Konsumente» fünf bis zehn Pfennige ur
das Liter .»ehr abzunehmen. Indessen alles das zugegeben, täuschen soll mau stehtrotz allen diesen Schwächen »icht in der allgemeinen Stimmung Das deutsche
Volk will die Finanzfrage endlich einmal in Ordnung gebracht sehe... Der ge¬
sunde Gemeinst.,» ist stark genug geworden, um die Bedeutung der Frage endlich
ZU erfassen. Die Gebildeten erkennen deutlich den Zusammenhang der Fmanzlage
des Reichs mit seiner Sicherheit und Machtstellung. Die Geschäftsleute empfinden
die Nachteile der finanziellen Lage aus dem Geldmärkte »ut an vielen Einzel-
heiten ihrer täglichen Erfahrungen in. Handel und Wen.del. Das geschäftliche
Leben ist ja auch großzügiger geworden; die Leute sehen nicht ...ehr mit der eng¬
herzige» Sorge auf geringfügige Geldopfer, wenn sie die Überzeugung haben daßdie allgemeine Lage dadurch verbessert wird und auf die pr.vatwirtschaftl.chen
Verhältnisse festigend und klärend zurückwirkt. Das Feilschen der Interessenten¬
kreise, die sich hinter Parteien und Abgeordnete stecken, um Sondervorteile heraus¬
zuschlagen, ist heute nicht mehr nach dem Sinne der Mehrheit des Volks; die
Negierung hat also, wenn sie festbleibt, jetzt die allerbeste Stütze gegen die klein¬
lichen Quertreibereien, an denen die Reichsfinanzreforin zu scheitern droht. Nur
das wird unter allen Umständen verlangt, daß nicht der Verbrauch allein besteuert
wird, um den Reichsbedarf zu decken, sondern daß anch irgendwie der Besitz dazu
herangezogen wird.
Übrigens ist es sehr bemerkenswert, wie sich die Anschauungen über die ge¬
eignetste Art der Besteuerung im Laufe der Zeit wandeln. In alten Zeiten fand
man gar nichts darin, Verbrauchsartikel mit Abgaben — und noch dazu Abgaben
von nicht selten außerordentlicher Höhe — zu belegen, während eine uns oft
geradezu unverständliche Überempfindlichkeit in bezug auf die unmittelbare Be¬
steuerung des freien Besitzes herrschte. Der Historiker kann den Grund leicht auf¬
decken; die auf dem Verbrauch ruhenden Abgaben waren den herrschenden An¬
schauungen geläufig, weil sie zum großen Teil aus alten Regalien stammten und
mit dem Wirtschaftssystem der Zeit und der ursprünglichen Beschaffungsweise der
Artikel in Zusammenhang standen, während die direkten Steuern wesentlich an den
Gedanken der Unfreiheit und Abhängigkeit — einem Gedanken, der damals größere
rechtliche Bedeutung und ganz andre Konsequenzen hatte — gebunden waren und
deshalb, wo es irgend anging, abgelehnt wurden. Der abstrakte Staatsbegriff als
Verkörperung eines für das Gemeinwohl wirkenden Willens war noch nicht ge¬
nügend befestigt, um das streng individualisierte Eigentumsrecht nach irgendeiner
Richtung erweitern zu können. Heute ist es nun gerade umgekehrt geworden. Der
Staatsbegriff hat sich durchgesetzt, und man verzeiht dem Staate auch den Eingriff
in das individuelle Eigentumsrecht, wenn er einer durch seine Zwecke bedingten
Notwendigkeit und der sozialen Gerechtigkeit dient. Und weil man heute alles
nach dein Maßstabe der sozialen Gerechtigkeit mißt, darum zieht man heute die
Besteuerung des Besitzes sogar der Besteuerung des Verbrauchs vor, soweit nicht
etwa Luxussteuern in Frage komme». Aber von diesem strengen Schema kommt
man, der Not gehorchend, anch schon wieder ab. In den Luxussteuern scheinen
sich die Neigungen derer, die die Steuerpflicht möglichst von der direkten Belastung
des Besitzes auf die indirekte des Verbrauchs abwälzen wollen, und derer, die vor¬
nehmlich die besitzenden Klassen treffen wollen, zu begegnen. Nur schade, daß die
Luxussteuern nichts einbringen. Und wenn man dann einen Luxus als Steuer¬
objekt sucht, das vielleicht doch einigermaßen einträglich sein könnte, dann stößt man
auf die Frage: Was ist Luxus? Man entdeckt, daß es zahlreiche Übergänge vom
absolut notwendigen Verbrauch zum Luxus gibt, und daß jede Grenze, die innerhalb
dieses Übergangsgebiets gezogen wird, mehr oder weniger willkürlich ist. Wenn
der Begriff „soziale Gerechtigkeit" ernst genommen wird und nicht nur ein ver¬
hüllender und beschönigender Ausdruck für soziale» Neid ist, dann fehlt jede innere
Berechtigung für einen Standpunkt, der den nicht notwendigen Verbrauch mir da
besteuern will, wo größere Wertobjekte im Verbrauch der reichen Leute in Frage
kommen. Wem seine Mittel es gestatten, täglich Champagner zu trinken, ohne
den Vorwurf der UnWirtschaftlichkeit zu verdienen, der braucht nicht gewissermaßen
vom Staate am Vermögen gestraft zu erscheinen gegenüber einem andern, der wenig
Mittel hat, der aber täglich ein Bier oder Schnaps mehr durch seine Kehle rinnen
läßt, als seine Verhältnisse erlauben. Gerecht ist es also, den nicht notwendigen
Verbrauch seinem Werte entsprechend zu besteuern, also den Champagner hoch, das
Bier entsprechend geringer, weil die Wertverhältnisse es so erfordern, nicht aber
den Champagner hoch, das Bier verschwindend gering oder gar nicht, weil der
Champagner von reichen, das Bier von cirmern Leuten getrunken wird. Die Er¬
kenntnis, daß, wenn erst einmal das Prinzip der Luxussteuer und damit eben die
Besteuerung des nicht notwendigen Verbrauchs anerkannt wird es keineswegs ge¬
rechtfertigt ist. an dem nicht notwendigen Massenkonsum vorub^jetzt immer weiter durchzuringen. Diese Einsicht hat auch Kreise erfaßt, die sich o se
einseitig auf den Gedanken der ausschließlichen direkte» Besteuerung des Besitzes
festgelegt hatten »ud gern mit Schlagworten wie dem berühmten ..Pfeifchen des
armen Mannes" und ähnlichen arbeiteten.
Aus alledem ist zu erkennen. daß die allgemeu.er Theorien, die mau gern
Wer die verschied» » Bestenernngssysteme ausgestellt hat. unrer nnr beschränkten
und zeitlichen Wert haben' Es ist aber wohl als ein Gebot der Klnghe t °um^bei Stenerproblemen neben dem rechnenden Verstand auch gew.ste Zeitströmung
"»d Zeitanschauungen zu berücksichtigen und wenigstens innerhalb des Möglich
dahin zu strebe», daß die Leistungen sür die Allgemeinheit den herrschenden Ideen
und Volks unlieben Bedürfnissen angepaßt bleiben. So halte» wir es fu^Fehler, i» tems!the» Augenblick, wo »'an das Prinzip ^ Besitz- ^steuern in glücklicher Mischung verbinde», dadurch de» "use.nanderstrebeu^des Blocks die gegenseitigen Zugeständnisse erleichtern und einem »men Verständu s
für stenerpolitische Pflichten den We bahnen will. "u. I°me ^erschweren und zu gefährden, daß man als drittes noch die ^"»angenehm empfu^nen Verkehrsstenern heranziehen will W.r w.edercho » s es
co Fehler trotz alle» vortreffliche» Gründe», die sich vom Standpunkt des pra he»
Rechnens und des geschulten Steuertechnikcrs dafür anführen lasten. Ca Polittker.
der dem Volke de» Puls fühlt, wird dergleichen Vorschläge nicht machen. Denn
im Verkehr der Entwicklung einen möglichst ungestörten Weg zu weisen und diese
Vorteile voll zu genießen, ist der besondre Stolz unsers Z^alters, man bringt
lieber wo anders jedes mögliche Opfer als gerade hier. Das mag lächerlich u»d
übertrieben aussehen, aber jede Zeit hat ihre Imponderabilien. Es wird einmal
sehr wahrscheinlich die Zeit kommen, wo man die Kehrseiten eines schrankenlosen
übermäßig gesteigerten Verkehrs gerade vom Standpunkte der neuen Ideen eines
künftigen Geschlechts stark empfinden wird. Aber jetzt sind wir noch nicht so weit;denn zwischen den Warnungen der heutigen Gegner des Verkehrs, der eine noch in
der Entfaltung begriffne Erscheinung ist. und den Forderungen einer M-lleicht tun legauftauchenden Gegenwirkung besteht selbst daun. wenn ste scheinbar Zeichen Inhalts
hob. el» gewaltiger Unterschied der Unterschied einer absterbenden Kra von rne
^wachenden. Man sollte dieser Beobachtung Rechnung tragen. Wenn irgendwo
«sue Schaden für den Staat die größte Weitherzig^modernsten Forderungen herrschen kann, so ist es auf dem Gebiete des Verkehrs - und
wenn andrerseits irgendwo durch kleinliche Beschränkungen «ut störende^Lasten e.n
"«fache Unüberlegtheit von gar nicht einmal besonders schlimmer Wirkung den
Charakter besondrer Rückständigkeit gewinnt, so geschieht das eben all auf demselben
Gebiete. Erschwerungen und Belastungen des Verkehrs sollten also besonders da»»
vermieden wenden wenn man vor einer wichtigen Aufgabe steht, die an die Einsicht
der Staatsbürger in ihre Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit ohnehin schon
»roße Anforderungen stellt.
.Das erstreckt sich anch auf Maßregeln, die nicht eigentlich zur Steuerpolitik
gehören. Ein offenbarer Mißgriff ist es denn auch, wenn jetzt der Telephon¬
verkehr von der Reichspostverwaltuug oh»e zwingende Grnnde durch höhere Ge¬
bühren belastet werden soll. Gegen diese Neuordnung hat sich em starker Wider¬
stand erhoben, und es ist zu hoffen, daß der Reichstag die,e Vorlage ablehne»
wird. Aber wenn Versuche dieser Art in solchen Zeiten »nternommen werden,wo es Sache des Staates sein müßte, sich dnrch richtige Beurteilung der Verkehrs-
Bedürfnisse besondres Vertrauen zu erwerben, so wirkt das natürlich auch auf die
Stimmung in Stencrfragen zurück.
Bei Erwähnung der Reichsfinanzreform ging Fürst Bülow in seiner Rede
beim Festmahl des Deutschen Landwirtschaftsrats mit einigen Sätzen auch auf die
auswärtige Lage ein. Er verzeichnete die günstigen Folgen des englischen Königs¬
besuchs in Berlin und äußerte sich mit Befriedigung über das deutsch-französische
Marokkoabkommen, das den Horizont im Westen geklärt habe. An diese Worte
hat sich nnn noch ein eigentümliches Nachspiel geknüpft. Es ist bekannt, daß die
Verhandlungen über eine Verständigung mit Frankreich hauptsächlich in Berlin
geführt wurden. Hier war es natürlich der Staatssekretär des Auswärtigen Amts,
Herr v. Schoen, der — selbstverständlich im Auftrage und im Sinne des Fürsten
Bülow und auch unter seiner persönlichen Beteiligung — mit dem Botschafter der
französischen Republik in Berlin, Herr Cambon, hauptsächlich zu verhandeln hatte.
Aber Herr Cambon konnte nicht ohne Instruktionen ans Paris vom Minister
Pichon handeln. Wer sich nnn einigermaßen in die Natur und den Gang solcher
Verhandlungen zu versetzen vermag, wird erkennen, daß in der Kette ein wichtiges
Glied fehlt, wenn der französische Minister nur mit seinem Botschafter in Berlin
Verkehren kann und nicht auch an Ort und Stelle einen gut unterrichteten Ver¬
treter der deutschen Interessen zur Verständigung zur Seite hat. Daraus ergibt
sich von selbst, daß der deutsche Botschafter in Paris, Fürst Radolin, nicht aus¬
geschaltet werden konnte und sollte, sondern daß die Rolle des geschickten Sekun-
dierens unter Umständen ebensoviel Gewandtheit und Erfahrung erforderte als
die Führung der Verhandlungen selbst. Es ist weiter bekannt, daß sich der Kaiser
sehr für die Verständigung mit Frankreich interessierte und daher über den Ab¬
schluß lebhafte Befriedigung empfand. Die korrekte Form, in der er dies als
Souverän den Franzosen gegenüber zum Ausdruck bringen konnte, war eine Ordens¬
verleihung an den französischen Botschafter. So geschah es; Herr Cambon erhielt
das Großkreuz des Noten Adlerordens. Einen Dank und Huldbeweis an die be¬
teiligten deutschen Herren, Fürst Bülow, Herrn v. Schoen und Fürst Radolin,
konnte der Kaiser natürlich in jeder beliebigen Form geben: das ist kein Rcgie-
rungsakt und kein persönlicher Eingriff; es wäre noch schöner, wenn der deutsche
Kaiser der einzige Mensch wäre, der einem deutschen Manne nicht einen Dank
aussprechen dürfte. Wie der Kaiser deu beiden Herren gedankt hat, die hier in
Berlin sind, und die er jeden Augenblick spreche» kann, wenn er will, ist nicht be¬
kannt geworden; es geht auch niemand etwas an. An den Fürsten Radolin hat
er eine Depesche geschickt, die durchaus persönlichen und privaten Charakter hatte
und vom Botschafter auch nicht bekanntgegeben wurde. Es heißt, dieser Charakter
der Depesche sei schon dadurch kundgegeben worden, daß sie nicht chiffriert gewesen
sei. Jedenfalls wurde sie ohne Zutun des Fürsten Radolin im Maler ver¬
öffentlicht und mit einem Kommentar versehen, der unter Erweckung des Anscheins,
als ob Fürst Radolin selbst dahinter stecke, andeutete, die Verständigung zwischen
Deutschland und Frankreich sei das Werk der persönlichen Politik des Kaisers, der
sich dabei des Fürsten Radolin bedient habe, während Fürst Bülow mehr oder
weniger ein Gegner dieser Lösung gewesen sei.
Es ist nicht nötig, diese unsinnige, tendenziöse Verdrehung eines sehr einfachen
Tatbestandes noch besonders zu widerlegen. Unsern guten Nachbarn im Westen ist
der Gedanke einer ruhigen, stetigen, von verantwortlichen Staatsmännern geleiteten
deutschen Politik immer ein wenig unheimlich; dieser im Deutschen Reiche verkörperte,
kompakte, nach ihrer Vorstellung zugleich ehrgeizige und brutale Machtwille im
Herzen Europas lastet auf ihnen. Der Kaiser aber beschäftigt ihre Phantasie, er
bringt das Element hinein, das sie brauchen, um in dieser vermeintlichen Gefahr
zugleich einen Ansporn zu erhöhter Wachsamkeit und eine Beruhigung zu finde».
Die natürliche Beunruhigung, die nach ihrer Auffassung in dem innerlich stets
wachsenden Deutschen Reich ihren Ausgangspunkt hat. erscheint ihnen gemildert
durch die künstliche Unruhe eines scheinbar persönlichen Regiments, das ein Grunde
Frankreich sympathisch gegenübersteht, im andern Falle aber wenigstens das Herz
"uf der Zunge trägt. Daher ist die Wendung vom November 1908 den Fran¬
zosen, besonders aber der französischen Presse, die früher so viel Interessantes aus
Berlin zu melden wußte, höchst unbequem. Ein Kaiser, der seinem Kanzler Ver¬
traue» schenkt und diesen die Geschäfte führen läßt, so wie es einmal festgesetzt
Worden ist — ein Kanzler, der für den Willen des Kaisers alle», die Politische
Verantwortung trägt, ihm Gestalt gibt und ihn vertritt -- das alles .se ...ches
für unsre guten Freunde an der Seine. Da muß eben mit allen Mitteln d-e
Legende von dem über deu Kopf des Kanzlers hinweg in die Politik eingreifenden
Kaiser und von dem gegen die Intentionen des Kaisers handelnden, gegen seine
eigne» Untergebnen kämpfenden Kanzler wieder aufgewärmt werden.
Aber das bleibt doch wohl ein Privatvergnügen der Franzosen? Die deutsche
Presse muß das doch auf den ersten Blick durchschauen und so viel Takt und
politischen Verstand haben, auf diese Märchen nicht hineinzufallen! Ja so
sollte es sein, aber in Wirklichkeit ist es anders. Die Grenze, die z. B. in England
sogar von den sensationslustigsten, mit faustdicken Unwahrheiten arbeitenden Blattern
innegehalten wird existiert bei uns für viele Blätter nicht. Nichts ist dumm genug.
d"ß es nicht geglaubt, nichts schädlich genug, daß es nicht verbreitet wird wenn
es den Erzähler nur in den Ruf des Eingeweihtseins bringt und etwas bietet,
was der blöden Menge Wasser auf die Mühlen des politischen Klatsches liefert.
Mau diskreditiert ein wichtiges Staatsabkvmmen. zieht es auf das persönliche
Gebiet hinüber und beraubt es einesteils seiner Wirkungen, nur uni eine Hmtcr-
treppengeschichte anbringen zu können und die Genugtuung zu gemefzeu. daß im
Gehirn denkunfähiger Spießbürger mit dem bloßen Wort ..Kaisertelegramm" heil¬
lose Verwüstungen angerichtet werden. Nicht einmal ein vernünftiger Nebenzweck
wird dabei erreicht, nur Schaden und Verwirrung um nichts und wieder nichts!
Unser Mitarbeiter, der Reg.eruugs-
wt Negenborn. der im Jahrgang 1907 der Grenzboten in einer^Reihe vor¬
trefflicher Artikel die Notwendigkeit einer systematischen politifcheii Bildung und
staatsbürgerlichen Erziehung unsrer Jugend nachgewiesen hat, ,se bemüht, auch durch
Vorträge in weiter» Kreisen des Volkes für seine Ideen zu wirken Nach «neu.
solchen Vortrage ist von der Stadt Düsseldorf an den Reichskanzler das Gesuch
gerichtet worden, für deu bürgerkundlichen Unterricht tatkräftig einzutreten. Der
Reichskanzler ist von der Wichtigkeit dieser Frage vollkommen überzeugt. In seiner
Antwort sagt er: „Ich halte mit Ihnen die Bestrebungen, die sich eine höhere politische
Schulung »nsers Volkes zum Ziel setze... für sehr bedeutungsvoll Denn ich g aude
daß nichts mehr geeignet ist. die Freude am Vaterlande und die Bereitwilligkeit,
ihm Opfer ein Arbeit. Gut und Blut zu bringen, in den Deutschen wach zu halten
und zu stärken, als die wachsende Erkenntnis des Wesens und der hohen An gaben
des Staates und die Einsicht, welche Wohltaten ihm der einzelne vertan t ^es habe
eine Prüfung der Frage veranlaßt, inwieweit der Anregung an Fortblldungs- und
Fachschule», an mittlern und höhern Schulen und um den Hochschulen einen bcsondem
Unterricht in »Bürgerkuude«, die ja schon in das Programm für die Umbildung
des Schulwesens aus dem Jahre 1889 aufgenommen war und in Seminarien sowie
auch in höhern Knaben- und Mädchenschulen seit Jahren im Nahmen des Geschichts-
»ut Gcographieuuternchis gelehrt wird, einzuführen, Folge gegeben werden kann."
Die Schwierigkeit liegt darin, daß wir zurzeit uoch nicht genug Lehrer haben,
die mit ihrer historischen Bildung von der Universität ein ausreichendes juristisches
und staatswissenschaftliches Denken und Wissen mitbringen; denn die Bürgerkunde
liegt auf dem Grenzgebiet zwischen Jurisprudenz, Staatswissenschaft und Pädagogik.
Nicht jeder Historiker ist also geeignet, einen pädagogisch wertvollen Unterricht in
der deutschen Bürgerkunde zu erteilen. Das ist auch der wesentliche Grund, daß
sich manche höher» Schulen diesen neuen Ideen gegenüber völlig teilnahmlos oder
gar ablehnend Verhalten. Nach den Äußerungen des Reichskanzlers wird es nunmehr
Aufgabe der Universitäten sein, die Studierenden der Geschichte mit dem staats¬
wissenschaftlicher und juristischen Rüstzeug zu versehn, das sie später im Lehramt
geschickt macht, in den obern Klassen einen bürgerkundlichen Unterricht erfolgreich zu
erteilen. Gerade dieses so lange vernachlässigte Gebiet der modernen Kultur enthält
eine Fülle von Stoffen, an denen sich das logische Denken, die geistige Selbsttätigkeit
und das politische Verantwortlichkeitsgefühl vortrefflich ausbilden lassen.
Wiederholt hatte ich in der Frank¬
furter Zeitung vom Münchner Franziskanerpater Expeditus Schmidt gelesen,
der auf Vortragsreiseu das Theater als Bildungsstätte empfiehlt und zum Ent¬
setzen der Frommen sogar Ibsen lobt. Neulich hat er nun auch im katholischen
Volksverein zu Reiße gesprochen, und zwar über das Thema: Kirche und Theater.
Er hat an deu religiösen Ursprung des Dramas im heidnischen Griechenland wie
im christlichen Mittelalter erinnert und zu zeigen versucht, daß die Loslösung der
Bühne von den religiösen Idealen Verrohung zur Folge gehabt habe. Die Bühnen-
knnst habe, eben als Kunst, unbedingt ihre Berechtigung. Ihr Verderben rühre
daher, daß sie nach Brot gehn und dem schlechten Geschmack des Publikums
Rechnung tragen müsse, und diesem Übelstande könne nicht abgeholfen werden, so¬
lange nicht die Gesetzgebung das Theater als Kunststätte anerkenne. (Der Pater
scheint, wenn ich den gedruckten Bericht über seinen Vortrag richtig verstehe, zu
fordern, daß das Theater verstaatlicht werde, und zwar gewissermaßen als ein Annex,
als eine Kapelle der Kirche.) Eine Hochblüte der Bühne sei vorläufig nicht zu
erwarten, weil eine solche nur dort möglich sei, wo eine gemeinsame Weltanschauung
Dichter, Zuschauer und Bühnenkünstler einige. Diese seien übrigens heute ein acht¬
barer Stand; anstrengende Arbeit sorge dafür, daß ihr Verkehr untereinander nicht
sittenmordend wirke. Die Gefahren drohten von außen, namentlich den Schau¬
spielerinnen, würden jedoch in dem Maße schwinden, als die Gesellschaft den Schau¬
spielern Rückhalt und Schutz gewähre. Schlimmer als das, was mau gewöhnlich
unter Gefährdung der Sittlichkeit verstehe, sei es, daß der Zwang zur Darstellung
wächst im Hause seiner
Eltern auf, einige Meilen westlich von Chicago. Schon im dritten Lebensjahre
ist ihm die Logosreligion eingepflanzt worden, die ihn in dem Maße, als sich sei»
Geist entwickelt, immer tiefer durchdringt. Alle Geschöpfe umfaßt er als Offen¬
barungen Gottes mit Liebe und küßt des Abends vorm Schlafengehn die Kuh, die
er gemolken, die Ponys, die er gefüttert, die Blumen, die er gepflegt hat. Eine
Tante unterrichtet ihn im Klavierspiel, was seine Gr°ß"aller ^Puritanerin, in der Musik eine Lockung des Teufels urch e. Dem V e ^sMt Liszts Galopp Chromatique in die Hände. Er Welt ^^ ^d übt sich völlig
umgewandelt. Er lebt nur noch in diesem Ton nel. die Menschen die K es d
Ponys, die Blum.e sind ihm serngerückt. gleichgilttg Hat " ^e zu G t
verloren, ist die Musik doch an. Ende Teufelswerk? Der Zoch
A.n fünften Tage l idees ihn nicht ...ehr im Be t Ohne EUanb"^erhebt er sich, entfernt sich heimlich und sucht Trost be.in Urgr°ß°n - - de vo.^Großmutter als Ungläubiger verabscheut, einsiedlerisch in eine H h e lebt. ^Greis sagt ihn, daß er aus dem rechten Wege 'el und L.,ze send^sei höchste Gottesliebe. Nächstenliebe nnr Gottesdienst zwe.ten Gr dö- Zu^uckgekeh^wird er von der Großmutter verwünscht, flieht nach Chwgo wo ^ und
Vater vergebens aufsuche... verdient so viel, daß er em Zwisch «deck^Rotterdam losen kaun wo er nach stürmischer Überfahrt ankommt. Zudrin^Helfer bringen ihn bevormundend gegen seinen Willen in den Zu^dort stellt er sich ur Prüfung in. Konservatorium. ein Wütend ^e Bed ndwng
die sein Lif.t erfährt läuft er vom Flügel weg und rennt, nachdem er von einem
Musikalin.ZLr ^in Bild Liszts und eine Visitenkarte und einer cap edle>.w
Bemerkung geschenkt bekommen hat. von. Nosental aus uach Wem ar^ H er setzt
A) vor Liszts Haus, auf sein Erscheinen wartend. Eine Frau fragt .hu. was er
wolle: „Zu Liszt" Der ist in Rom." Vou seiner Liebe und se.nem Schmerz gerührt
führt siechn Ls Haus wo er an Liszts Bette kniend, lange wein Dann renn
er nach Rom im Freien oder in Ställen übernachtend, manchmal anch von guten
Wirtsleuw be^rb?rg n7d trifft er Gelegenheit, den Gästen etwas aufzusp.e en.
s° kann er dann wohl einmal ein Nachtquartier bezahle... Mitten in. Winter allem
übers Stilfser Joch, trotz allen. Mahnen der Bauern und der Führer in Tre. in.
Beim ersten Versuch wird er von Führern, die ihm nachgegangen sind, erstarrt
°us dem Schnee gefunden und zurückgetragen. In Rom wartet er vor dem Kloster,worin Liszt wohnt. Dieser tritt in Begleitung eines Mönchs heraus. Dem Vor¬
übergehenden küßt Frederic den Mantelsaum. ohne etwas zu sagen, und egt Mdann, berauscht vou dem Glück. Liszt gesehn zu haben, in die Sonne, em Stundle.n
z» träumen. Dann macht er sich auf. Liszt um eine Unterredung zu Wem ^a.der war vor einer Stunde zum Bahnhof gegangen und nach ffalerno gefahren
Also auf nach Salerno! Dort wird er vou den. Angebeteten und der seiner L b
entsprechenden Zärtlichkeit empfangen und nach Weimar in.tgenon.mem Nachdem 'hin
hier Liszt das Geheimnis seiner Technik offenbart hat. sah.alt er du nach L P g"uff Konservatorium. Mit der Autobiographie. v°n der wir ein »
gegeben haben, leitet Clark sein (bei Chr. Vieweg Berlin-Großlichterferschienenes) Buch: Liszts Offenbarung. Schlüssel 5^ Frechett ^em- Die ..Offenbarung-- besteht aus zwei ineinander vers-°chwen O "b°r^ d
religionsvbilo ouluicken die eben eine Probe der modernen Mystik se. und der
technische?^ und manches Bedenkliche, über chw^g-
«che; jedenfalls ist sie zu einseitig, als daß sie je brauchbar werden on.ne über
diese muß man die Klamertechniker urteilen lassen. Ihr Wesentliches ist wenn .esClark recht verstehe, daß die Tasten nicht durch Bewegungen des Unterarms in t
gekrümmten Fingern geschlagen, sondern von. Schultergelenk aus «'it wagerecht g -
Wecktem Arm gedrückt werden sollen. Der Klavierlehrer Deppe sag e Sie
s"'d überhaupt kein Künstler. Sie sind ein Enthusiast, ein Träumer. Helmholtz.
Hermon Grimm. Reuleaux. Euckeu haben seine Ideen beachtenswert gesunden.
Die Konzertberichterstatter nennen sein Spiel eindrucksvoll und originell. — Zahl¬
reicher als die Kunstmystiker sind heute die Geister, die mit der modernen Natur¬
erkenntnis Gott oder das Ding um sich sozusagen leibhaftig packen wollen, zu ihnen
gehört auch Edward Carpenter, der sein neustes, von Karl Federn übersetztes
Buch Die Schöpfung als Kunstwerk, Abhandlungen über das Ich und seine
Kräfte, betitelt (Jena, Eugen Diederichs, 1908). Daß Carpenter die materielle
Welt als Schöpfung des Geistes darstellt und die „tote Materie" ebenso wie das
„unbewußte Denken" für Unsinn erklärt, macht ihn uns sympathisch. Die Art und
Weise freilich, wie er sich das allgemeine große Ich denkt und das kleine Jndividualich
mit ihm verknüpft, kann uns nicht befriedigen; doch finden wir seine Betrachtungen
über den Rassengeist, über das niedere und das höhere Ich im Menschen, über die
Realität der Götter und der Teufel, die Personifikationen des Rassenempfindens
seien, recht geistreich und lesenswert.
Von der im 50. (vorjährigen) Heft angezeigten Neuausgabe des
Vossischen Homers von Hans Feigl ist jetzt (bei Carl Konegen und Ernst
Stülpnagel in Wien) auch die Odyssee erschienen.
»As«Ka»BSAVS«S0S«DSNS«L«0»»«iZ>»«S»i»SSi«»0S«Sk»WBSR»«!S
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.... von L. I^Jo^et NorAÄN, 1^.1^.8.
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Nit11'itsIbiIälVII u.Z96L.Z. Qen. 5^. lui.w6.hev.6,^
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le Fiuanztommission des Reichstags hat sich für den Vorschlag
der Neichsregierung erklärt, wonach das gesetzliche Erbrecht der
Verwandten zugunsten des Reiches beschränkt werden soll. Aber
die Entscheidung siel nur mit knapper Mehrheit und unter leb¬
haftem Widerspruch der Minderheit, die offenbar gewillt ist,
auch weiterhin den Gesetzentwurf energisch zu bekämpfen. Und die Wechsel¬
beziehung, die zwischen Nachlaßstcuer und Erbrechtsreform besteht, läßt es zur¬
zeit noch überaus zweifelhaft erscheinen, ob die Vorlage Gesetz werden wird.
Über die finanzpolitische Seite der geplanten Abänderung unsers bürgcr-
"chen Rechts soll hier nicht gesprochen werden. Aber die Vorlage hat nicht
nur finanzpolitische, sondern auch rechtspolitische Bedeutung. Und diese Seite
verdient vornehmlich Beachtung. Sie ist aber, wie mir scheinen will, in der
Erörterung nicht immer scharf genug ins Ange gefaßt worden.
Als ein „im Grundzug ungeheuerliches Gesetz" soll nach Zcitungs-
welduugen ein konservatives Mitglied der Kommission den Entwurf gebrand¬
markt haben. Ich möchte ihn im Gegenteil als im Grundzüge überaus
gesund bezeichnen, und zwar von einem konservativen Standpunkte aus.
Denn wenn das Erbrecht eine konservative Rechtseinrichtung ist, so wird jedes
besetz, das das Erbrecht in Einklang mit seinem Grundgedanken bringen soll,
konservativ im besten Sinne des Wortes zu nennen sein. Freilich, wer die
kritiklose „Erhaltung des Bestehenden" als konservativen Leitsatz betrachtet,
der wird auch jede Reform des Erbrechts ablehnen, er wird aber damit auch
jenen Recht geben, die den Konservatismus für den Feind jeden Fortschritts
erklären.
Die Quelle alleu Rechtes ist die menschliche Gemeinschaft, ist heute der
Staat. Er ist auch die Quelle des Eigentums. Ohne rechtliche Gemeinschaft,
ohne Staat gäbe es wohl Besitz, aber kein Eigentum, das heißt: rechtlich ge¬
währleisteten Besitz. Zu rechtfertigen ist demnach das Eigentum nur im Hinblick
auf das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit, als längliches Mittel, das
Einzelwohl mit dein Gemeinwohl in Übereinstimmung zu bringen. Gerecht¬
fertigt aber ist es in der Erwägung, daß es die zur Entwicklung der Kräfte
des Einzelnen am meisten geeignete Form der Güterbeherrschung ist.
Das Erbrecht ist nicht nur die letzte Folgerung aus dem Gedanken des
Eigentums, sondern verleiht ihm erst seinen vollen Wert. Denn die Sorge
für die Familie ist die nächste und wichtigste soziale Aufgabe des Einzelnen,
und nur in Verbindung mit dem Erbrechte kann das Eigentum dem Einzelnen
bei Erfüllung dieser Aufgabe Dienste leisten. Noch ist „das Haus" die Stelle,
wo der heranwachsende Bürger des Staates seinen Unterhalt und seine Er¬
ziehung empfängt, noch bildet das Hans eine Wirtschaftsgemeinschaft, an der
die Frau neben dem Manne, die Kinder neben den Eltern beteiligt sind, uoch
ist das Hans die Pslegstätte idealer Güter. Ohne Erbrecht aber ist dieses
„Haus" nicht denkbar.
„Ohne Erbrecht, sagt Trendelenburg (Naturrecht, Paragraph 141)-, fehlte
dem Streben zur Sicherung der Familie ein natürlicher Antrieb, es fehlte ein
Stachel der Arbeit, ein großer Hebel der Tätigkeit. Der Erwerb würde in
dem Genuß des Augenblicks aufgehen. Dagegen liegt darin, daß Erwerb und
Erhaltung des Eigentums für Zwecke geschehen, welche über das einzelne Leben
hinausgehen, etwas menschlich Bedeutendes, indem der Wille Vergangenheit
und Zukunft in eins faßt und auch im Eigentum eine geschichtliche Stetigkeit
gründet, welche nicht mit jedem vergänglichen Leben abreißt, souderu sich
natürlich fortsetzt."
Mit dieser Rechtfertigung ist aber auch die Schranke des Erbrechts ge¬
geben. „Richtig" ist uur das Recht, das seinen Grundgedanken zu voll-
kommnem Ausdruck bringt. Je weniger es mit ihm übereinstimmt, desto
schwächer wird die Liebe zum Recht, und desto stärker der Widerstand derer,
die es als ungerecht empfinden. Ein unrichtiges, ungerechtes Recht
wirkt nicht stnatserhaltend, sondern staatsauflösend.
Das Erbrecht dient zur Erhaltung und Fruchtbarmachuug der Kräfte,
die in der Familiengemeinschnft gegeben sind. An ihm dürfen daher uur die
teilhaben, die zur Familiengcmeinschaft zu rechnen sind. „Wenn die Erb¬
schaft auf entfernte Verwandte geht, welche kaum noch von dem Bande der¬
selben Familie umfaßt werden, weil die Gesinnung der Einheit längst erloschen
ist, so verliert sich das Erbrecht aus der Notwendigkeit des innern Zweckes
in das Gegenteil, in das Spiel des Glücksloses." (Trendelenburg.)
Wie weit ist nun der Kreis zu ziehen, der die erbberechtigte Familie um¬
schließt? Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch macht sich die Antwort leicht:
es macht jeden Blutsverwandten zum Erbanwärter. Womit dann in der Tat
das Erbrecht zu einem „Spiel des Glücksloses" herabgewürdigt wird. Ist
hier das Wesen des Erbrechts, das heißt sein Zusammenhang mit der Familie,
oder ist die rechtliche Bedeutung der Familie verkannt, so, daß das Gesetz
Blutsgemeinschaft und Familiengemeinschaft einfach gleichsetzt? Man würde
vielleicht das letzte annehmen, wenn nicht das Gesetz durch andre Bestimmungen
deutlich genug die Familiengemeinschaft, „das Haus" abgrenzte. Es gibt
nämlich eine unentziehbare Erbanwartschaft, ein „Pflichtteilsrecht" nur den
Verwandten in auf- und absteigender Linie und ebendenselben das Recht auf
Gewährung des Unterhalts. An die Blutsverwandtschaft schlechthin knüpft
dagegen das Gesetz weitere Rechtswirkungen von wesentlicher Tragweite nicht.
Nur die Aussicht auf mühelosem Gewinn verleiht die Blutsverwandtschaft dem,
der eiuen reichen Erbonkel hat! Ein Recht, dem keine Pflicht gegenübersteht,
ein Vorteil, der durch keinerlei Opfer erkauft wird, ein Glücksspiel, das
vom Recht begünstigt wird.
Es scheint zunächst unbegreiflich, wie der Reichstag — entgegen dein Vor¬
schlage der Gesetzgebungskommission und der Reichsregieruug! — ein solches
Gesetz beschließen konnte, wie ernsthafte Männer das Gesetz noch heute mit
Pathos verteidigen können. Untersucht man aber diese Stellungnahme auf
ihre psychologischen Motive, so stößt mau auf Vorstellungen, die Beachtung
verdienen und mir bei ihren Trägern zu falschen Entschlüssen geführt haben.
Es ist keine Frage, daß das Bewußtsein einer Zusammengehörigkeit, die
sich auf Abstammung und Überlieferung gründet, in vielen Familien weit über
den Kreis der durch Verwandtschaft in gerader Linie verbundnen Personen
hinaus sich geltend macht. Der Name, den die Väter trugen, die Scholle, die
die Väter bebaut haben, Familienüberlieferungen und Familienandenken lassen
ein Gefühl die Gemeinschaft entstehen, das sozial wertvoll ist, weil es den
einzelnen erzieht und trägt, weil es Pflichtbewußtsein und Selbstbewußtsein
stärkt und in Einklang bringt. Und es läßt sich nicht leugnen, daß, wo dieses
Familienbewußtsein besteht, es auch Berücksichtigung durch das Erbrecht ver-
dient. Nur fragt sich, ob diese Berücksichtigung in der Weise zu geschehen
hat, daß jeder Blutsverwandte eine gesetzliche Erbanwartschaft erhält. Und
dies muß mit Entschiedenheit verneint werden.
Ich sehe davon ab, daß eine solche Regelung unter allen Umständen weit
über das Ziel einer Berücksichtigung des Familienzusammenhanges hinaus¬
schießt. Ich bestreite vielmehr, daß die geschilderten Beziehungen überhaupt
durch ein allgemeingültiges Gesetz zu berücksichtigen sind. Das Erbrecht des
Bürgerlichen Gesetzbuches stellt Rechtssätze auf, die für jedermann gelten
und aus „normale Verhältnisse", das heißt auf überwiegend beobachtete Er¬
scheinungen des sozialen Lebens zugeschnitten sind. Und ich bestreite, daß ein
so weitgehender Familienzusammenhang heute überhaupt noch zu den normalen
Erscheinungen gehört. Das mag beklagenswert sein, aber es kann nicht da¬
durch geändert werden, daß mau durch das Erbrecht künstlich eine Familie
schafft, die im sozialen Leben nicht mehr vorhanden ist. Man rettet nicht die
Familie, indem mau die Begehrlichkeit der Erbanwärter aufstachelt, sondern
indem man dafür sorgt, daß das Familienleben wieder eine Stätte findet.
Denn es ist kein Zweifel, daß die Wurzellosigkeit des Daseins, die Heimat¬
losigkeit, die Unrast des Lebens die Familie zerreibt und zermürbt. Sie hat
bei der Mehrheit der Bevölkerung das Familienbewußtsein auf einen Kreis
beschränkt, der außer den Ehegatten die Verwandten in auf- und absteigender
Linie umschließt, dazu vielleicht die Geschwister und Geschwisterkinder, und in
den nur etwa der eine oder andre Verwandte noch hineingezogen wird, je
nachdem es die Umstände ergeben. Und auch dieses Haus ist schon gefährdet,
weil ihm das Heim fehlt.
Das sind die Tatsachen, auf die das Erbrecht zuzuschneiden ist. Daneben
aber muß, soweit es möglich ist, dafür gesorgt werden, daß auch Ausnahme¬
zustände, daß auch über den beschriebnen Kreis hinausreichende Familiengcmein-
schaften ihre Berücksichtigung finden. Das Mittel hierfür kann nur eine Aus¬
nahmebestimmung sein. Dieses Mittel ist das Testament. Seine Aufgabe ist
es, das gesetzliche Erbrecht in solchen Füllen abzuändern, wo es den gegebnen
Verhältnissen nicht gerecht werden würde. Nicht einer Laune, auch nicht einer
Gebelaune des Erblassers soll es dienen, sondern der Anpassung des Erb¬
rechts an die besondre Gestaltung der einzelnen Familie.
Hieraus dürfte sich allerdings ergeben, daß die Freiheit der letztwilligen
Verfügung nicht nur wie bisher ihren: Inhalte nach — zugunsten der nächsten,
der „Pflichtteils"erben — sondern auch der Form nach zu beschränken ist. Der
Bedeutung des Aktes der Testamcntserrichtung ist es allein angemessen, daß
es vor Gericht oder Notar errichtet wird. Es war wiederum keine Verbesserung
des Gesetzes, als der Reichstag «eben das öffentliche Testament das schriftliche
Privattestament stellte. Nur zum Zwecke der Verteilung des Nachlasses unter
die gesetzlichen Erben dürfte dieses zugelassen sein; eine Abweichung vom gesetz¬
lichen Erbrechte aber sollte nicht durch eine einfache schriftliche Verfügung
herbeigeführt werden können, deren Schicksal zudem stets ungewiß ist und
bleiben wird. In dieser Hinsicht hat der Entwurf der Neichsregierung Ver¬
besserungsvorschläge nicht gemacht; er beschränkt sich ans die Reform des gesetz¬
lichen Erbrechts, da er aus finanzpolitischem Anlasse, im Gefolge des Vorschlags
einer Nachlaßsteuer aufgestellt worden ist.
Dies führt zu der Frage, ob die Verdoppelung der Erbrechtsreform und
der Nachlaßsteuer empfehlenswert ist. Es lassen sich dagegen vom rechts¬
politischen und vom finanzpolitischen Standpunkt aus Bedenken erheben.
Für ganz unberechtigt allerdings würde ich das Bedenken halten, daß die
Besteuerung der Erbschaft der nächsten Angehörigen des Erblassers im Wider¬
spruch stünde zu der gesetzlichen Anerkennung des Erbrechts dieser Verwandten.
Mit treffenden Worten hat Adolf Harnack (Deutsche Revue. Februar 1909)
daraus hingewiesen, daß die Auferlegung einer mäßigen Nachlaßsteuer auch die
nächste» Angehörigen des Erblassers daran erinnern soll, daß sie nnr unter dem
Schutze des Rechtsstaates die Erbschaft in Sicherheit an sich nehmen und
genießen können. Und daran, daß Hinterbliebne, denen ein Vermögen hinter-
lassen wird, unendlich bevorzugt sind vor denen, die beim Tode des Ernährers
mittellos zurückbleiben.
Aber ein andres rechtspolitisches Bedenken bedarf der Erwägung: ob
denn gerade der Staat der richtige Erbe für erblose Nachlasse sei, ob nicht
besser öffentliche Körperschaften, die dem Einzelnen näher stehn, wie ins¬
besondre die Gemeinden, zur Erbschaft zuzulassen seien. Wäre dieses Be¬
denken zutreffend, so würde sich daraus allerdings ergeben, daß die Erbrechts¬
reform von der Reichsfinanzreform loszulösen sei. Aber ich halte es nicht für
zutreffend.
Unter welcher Voraussetzung ist denn überhaupt ein gesetzliches Erbrecht
öffentlich-rechtlicher Verbände zu rechtfertigen? Doch wohl nur unter dieser,
daß Staat und Gemeinde heute an dem Gedeihen des Einzelnen und seines
Vermögens mehr beteiligt sind als die Verwandten, die nicht zur engsten
Familie, zum Hause, gehören. Nicht nur, daß der Staat durch seine Ein¬
richtungen für das leibliche Wohl, die geistige und sittliche Ausbildung seiner
Mitglieder sorgt; er ist auch der mächtige Förderer vou Landwirtschaft, Industrie
»ud Handel; auf staatliches Wirken gründet sich das Vermögen des Einzelnen
uicht minder als auf dessen persönliche Kraft. Und wenn diese Kraft versagt,
wenn auch die engste Familie nicht imstande ist, den Einzelnen zu erhalten,
so ist es schließlich wieder der Staat, der für ihn eintreten muß. Allerdings
teilt er sich in diese Fürsorge für das Einzelwohl mit andern öffentlich-recht¬
lichen Verbunden, insbesondre den Gemeinden, und dies könnte den Gedanken
rechtfertigen, daß den Gemeinden ein Anteil am Nachlaß der Gemeindemitglieder
einzuräumen sei. Dem steht aber entgegen, daß den verschiednen Arten dieser
Verbände ein sehr verschiednes Maß an Aufgaben zugewiesen ist, sodaß ein
einigermaßen gerechter Verteilungsmaßstab kaum zu finden sein dürfte. Es wird
deshalb das richtigste sein, was der Entwurf vorschlägt: der Staat, als das
Gemeinwesen, von dem die andern ihr Recht herleiten, ist Erbe. Da aber das
Deutsche Reich ein Bundesstaat ist, so haben sich Reich und Einzelstaat in die
Erbschaft zu teilen.
Schließlich ein finanzpolitisches Bedenken, das mit Nachdruck vou I. Conrad
(im Band 36, Heft 5 seiner Jahrbücher) geltend gemacht worden ist. Ist es
nichtig, das Erbrecht des Staates zur Deckung laufender Ausgaben zu benutzen,
ist es also richtig, die Erbrechtsreform mit einer Finanzreform zu verbinden,
die laufende Bedürfnisse befriedigen will? So gewichtig dieses Bedenken ist,
es muß doch zurücktreten.
Conrad gibt selbst zu, daß das Erbrecht des Staates, auch wenn es zur
Ansammlung von Fonds benutzt wird, der Staatskasse eine wesentliche Hilfe
bei Deckung laufender Ausgaben leisten kann, sofern es die Schulden und die
außerordentlichen Ausgabe» mindert. Und wenn es eine finanzielle Hilfe bietet,
s° ist jetzt der Zeitpunkt gegeben, es einzuführen, jetzt, wo das Wohl des Reiches
gebieterisch die Eröffnung neuer Einnahmequellen heischt.
Vor allem aber: das Erbrecht des Staates und die Nachlaßstcuer gehn
auf ein und denselben Grundgedanken zurück: der Staat ist die große Gemein¬
schaft, in der und für die und durch die der Einzelne seine Kräfte entwickelt
und ausnutzt. Der hat das Wesen des Staates schlecht begriffen, der von
einem „Erbraub" spricht, wenn der Staat seinen Anteil am Nachlaß des
Einzelnen fordert. Das muß jetzt mit aller Kraft betont werden, und darum
müssen Nachlaßstener und Erbrechtsreform zugleich erkämpft werden. Möchte
die Einsicht mehr und mehr Platz greifen, daß es sich hier wahrlich nicht um
Beseitigung, sondern um Erhaltung des Rechtes handelt, um Erhaltung
durch Gesundung!
«>in 29. April 1907 wurde eine Volkszählung vorgenommen. Der
Plan, der hierbei verfolgt wurde, war in der Hauptsache derselbe
wie in Indien im Jahre 1901. Gegen 60000 Zähler wurden
verwandt; ein Teil von ihnen waren Beamte der Negierung;
!der größte Teil bestand aus Nichtbeamten. Im Januar 1907
war ein Gesetz erlassen worden, das alle ägyptischen Untertanen verpflichtete,
der Aufforderung zur Übernahme der Tätigkeit eines Zählers bei der Volks¬
zählung nachzukommen.
Die zuletzt festgestellten Zahlen ergaben eine Gesamtbevölkerung von an¬
nähernd 11192000 Seelen. Dies bedeutet einen Zuwachs von 1457595 Seelen
gegenüber der Volkszählung des Jahres 1897, das heißt eine Steigerung um
annähernd 15 Prozent. In diesen Zahlen ist eine große Menge nomadisierender
Araber nicht eingeschlossen, die auf etwa 80000 geschätzt werden können. Die
gesamte Bevölkerung betrügt somit, einschließlich der Nomaden, 11272000 oder
annähernd 16 Prozent mehr als im Jahre 1897.
Eingehende statistische Angaben über das Ergebnis der Volkszählung im
einzelnen sollen später veröffentlicht werden.
Die Ausdehnung der Domünengüter betrug am 1. Januar 1907 147 509
Feddaus (1 Feddan etwa 42 Hektar). Von diesen wurden 1561 Feddans
während des Jahres versteigert. Dieses Gebiet wurde in 131 Lose verteilt,
jedes Los zu etwa 12 Feddaus. Der Wert dieser Lose wurde auf 866617 Mark
eingeschätzt oder auf etwa 555 Mark für 1 Feddan. Der wirklich erlangte
Preis betrug 1883675 Mark oder 1206 Mark für I Feddan, das heißt
117 Prozent mehr als der Voranschlag. Die Anzahl der Gesuche um Zuschlag
Von Domänengüteru betrug 573 gegenüber von 545 im Jahre 1906; mit
Ausnahme von dreien rührten alle Gesuche von Einheimischen her.
Die Einnahmen aus Zöllen und Steuern betrugen 78,57 Millionen Mark
und verteilen sich in folgender Weise:
Diese Zahl übersteigt die des Jahres 1906 um rund fünf Millionen Mark.
Der Gesamtwert der aus- und eingeführten Waren betrug, ausschließlich
des Transits, der Wiederausfuhr und des baren Geldes, 1120,5 Millionen
Mark, das heißt 108,6 Millionen oder 10.7 Prozent mehr als im Jahre 1906,
das seinerseits schon alle Vorjahre übertroffen hatte.
Der Wert der eingeführten Güter allein betrug 540,7 Millionen Mark
gegenüber von 497 Millionen im Jahre 1906 und der der Ausfuhr 579,8 Mil¬
lionen gegenüber vou 514,9 Millionen im vorhergegangnen Jahre.
Bargeld wurde eingeführt im Werte von 160.8 Millionen und ausgeführt
im Werte von 97 Millionen, was einen Überschuß der Einfuhr von 62,7 Mil¬
lionen Mark bedeutet gegenüber einer Nettoeinfnhr in der Höhe vou
145 Millionen Mark im Jahre 1906.
Die Preise waren im allgemeinen im Jahre 1907 höher als im Jahre
1906. Während der ersten sieben Monate des Jahres stieg die Einfuhr an,
fiel aber dann in den Monaten Angust, September und Oktober etwas unter
die Zahlen des Vorjahres. Der November brachte einen starken Aufschwung,
der Dezember wieder einen Rückgang, sodaß sich der Ausfall während dieser
fünf Monate nur auf die Summe von etwa einer halben Million Mark belief.
Die Einfuhr von Stückgütern hatte besonders unter der Krisis zu leiden.
Auch die Metalle zeigten einen gewissen Rückgang, während die Einfuhr andrer
Güter, wenn auch in geringem Maße, zunahm.
An Petroleum wurden 14000 Tonnen mehr eingeführt, Kohle insgesamt
1,576 Millionen Tonnen, das heißt 12 Prozent mehr als im Vorjahre. Der
Preis der Kohle war um 15 Prozent gestiegen. Baumwollgarn zeigte eine
Zunahme um 14 Prozent. Die Einfuhr von Weizen und Mehl war geringer
als im Jahre 1906. Der Zucker sank von 34,6 Millionen Kilogramm auf
24,9 Millionen. Wie schon im vorigen Jahre ausgeführt wurde, hat die
Einfuhr von Zucker zum Zwecke des Naffinierens und die nachherige Wieder¬
ausfuhr so gut wie aufgehört. Die Abnahme der Einfuhr im Jahre 1907
ist auf Kosten des anwachsenden Anbaues im Lande zu setzen.
Die Einfuhr von Tabakblättern ist von 7.7 auf 7,9 Millionen Kilogramm
oder am 2 Prozent angewachsen. Die Hauptmenge oder 48 Prozent liefert
Griechenland; an zweiter Stelle kommt die Türkei mit 43 Prozent.
Baumwolle wurde in der Höhe von 6,859 Millionen Kantars (1 Kantar
— etwa 45 Kilogramm) und in einem Gesamtwert von 298,5 Millionen Mark
ausgeführt. Dies bedeutet 163000 Kantars oder 2 Prozent mehr als im
Jahr 1906 mit einer Steigerung des Wertes um 15 Prozent. Der Absatz
nach Amerika war zurückgegangen.
An Baumwollcnsamen wurden insgesamt 3,919 Millionen Ardebs (ein
Ardeb — 198 Liter) in einem Gesamtwert von 52,9 Millionen Mark ex¬
portiert. Dies ist eine Zunahme von 6 Prozent an Menge und 17 Prozent
an Wert.
Gummi, ein Produkt des Sudans, zeigte einen deutlichen Ausfall um
1,8 Millionen Mark; auf der andern Seite passierte Gummi im Werte von
2,6 Millionen Mark den Suezkanal.
Zigaretten wurden in der Höhe von 492000 Kilogramm exportiert
gegenüber von 590000 im Jahre 1906 oder insgesamt 93000 Kilogramm
weniger. Die verminderte Ausfuhr nach Deutschland erklärt diesen Ausfall
vollständig. Die nachstehende Tabelle zeigt den deutliche« Rückgang des
Zigarettenhandels mit diesem Lande seit der Einführung des neuen Tarif¬
gesetzes um die Mitte des Jahres 1906.
Was die Teilnahme der verschiednen Länder am Gesamthandel anlangt,
so nimmt England als Einfuhrland die erste Stelle ein mit 32,5 Prozent;
es folgen Frankreich mit 12,1 Prozent, Türkei mit 11,4 Prozent, Osterreich
mit 7.9 Prozent, Deutschland mit 5.3 und Italien mit 5,2 Prozent. An
der Ausfuhr beteiligten sich England mit 54,4, Deutschland mit 8,1, Amerika
mit 7,5, Frankreich mit 7,3 und Rußland mit 5,7 Prozent.
Der PostVerkehr macht andauernd große Fortschritte. Die Einnahmen
betrugen im Jahre 1907 612000 Mark gegen 574000 Mark im Jahre 1906.
Die Ausgaben waren in derselben Zeit von 370000 Mark ans 488000 Mark
gestiegen; der Überschuß betrug demnach 124000 Mark gegenüber von
104000 Mark im Vorjahre.
Auch der telegraphische Betrieb weist erfreuliche Fortschritte auf; die Ein¬
nahmen haben sich um rund 145000 Mark gegenüber dem Vorjahre vermehrt.
In Demirdash wurde eine neue Telegraphenschule eröffnet.
An den Hafenbauten in Alexandria wurde mit merkbaren Fortschritt ge¬
arbeitet. Die neuen Kaianlagen wurden wesentlich gefördert, desgleichen die
Schutzanlagen im Außenhafen. Die Baggerarbeiten am neuen Hafeneingang,
mit denen man im Juni 1905 begonnen hatte, wurden im Dezember 1907
mit einem Gesamtkostenaufwand von rund zwei Millionen Mark beendet. Der
Hafeneingang hat nun eine Breite von 183 Metern und eine Tiefe von
10,7 Metern, sodaß jetzt bei jedem Wasserstand auch Schiffe von bedeutendem
Tiefgang den Hafen von Alexandria aufsuchen können. Auch wurden neue
Lagerräume errichtet, unter anderm sieben neue Zollschuppeu, die einen Gesamt¬
raum von rund 8700 Quadratmetern einnehmen. Eine derartige Vergrößerung
der Hafenanlagen hatte sich als eine nicht zu umgehende Notwendigkeit heraus¬
gestellt infolge der ununterbrochen andauernden Steigerung des Verkehrs im
Hafen von Alexandria. Diese wird aus der nachstehenden Tabelle ersichtlich.
In Port Said fahrt die Suezkanalgesellschaft fort, ihre projektierten
Kaianlagen auszubauen. Auf der Ostseite wurden drei Bassins mit einer
Tiefe von zehn Metern für Kohlen- und Petroleumschiffe ausgebaggert.
Was die Wasscrverhältnisse und die Wasserversorgung anlangte, begann
das Jahr 1907 ungünstig, insofern am 1. Januar der bei Wadi-Halfa
registrierte Wasserstand um 30 Zentimeter geringer war als der Durchschnitt
früherer Jahre. Dieser niedrige Wasserstand hielt bis Mitte März an. Von
da ab trat eine Besserung ein, die bis zum 5. Juni anhielt. Dann fiel das
Wasser zehn Tage lang rapid. Am 15. Juni begann das regelmäßige jähr¬
liche Steigen, das aber ausnahmsweise gering und schwach war. Auch im
Juli und August zeigten sich ungünstige Wasserverhültniffe. So muß das
Jahr 1907 als eines der ungünstigsten bezeichnet werden seit 1877. Trotz
dieser überaus ungünstigen Verhältnisse haben sich die Fortschritte der Be¬
wässerung in glänzendem Lichte gezeigt; denn obgleich die Verhältnisse ungefähr
gerade so ungünstig lagen wie im Jahre 1877, betrug doch die Fläche der
infolge der schlechten Wasserverhältnisse unbewüsscrt gebliebner Landstriche
nur wenig mehr als zehn Prozent der Ländereien, die im Jahre 1877 trocken¬
gelegen hatten.
Das mit Baumwolle bestellte Gebiet hat an Ausdehnung zugenommen.
Die Ernte des Jahres 1907 wird auf 6^ bis 7 Millionen Kantars an¬
gegeben. Statistische Angaben zeigen jedoch einen Rückgang des Ertrages im
Verhältnis zum Ertragsgebiet. Die nachstehende Zusammenstellung gibt hierüber
Aufschluß.
Die Ernte betrug im Durchschnitt von einer Fläche von einem Feddan
(etwa 42 Hektar) in den Jahren
Ungünstige klimatische Verhältnisse, schlechte Saatfrucht u. a, bilden den
Grund für diese Erscheinung.
Mit der Ansammlung vou Wasser im Reservoir von Assuan wurde am
26. November 1906 begonnen und am 21. Januar 1907 aufgehört. Am
1. April wurde mit der Ausgabe von Wasser zur Unterstützung der Flut an¬
gefangen. Am 1. August war das Becken leer.
Eine große Anzahl von Menschen findet während der Flut dauernde Ver¬
wendung zur Bewachung der Nildämme. Ihre Zahl betrug
Der Zeitraum ist hier nur als Vergleichswert eingestellt, um Vergleiche
mit frühern Berichten zu ermöglichen; die wirkliche Dauer dieser Bewachung
ist wesentlich geringer.
Die Ausführung des Beschlusses, den schon bestehenden Damm von
Assuan um fünf Meter zu erhöhen, wird eine Hebung des Wasserspiegels
um sieben Meter und eine Vergrößerung seines Fassungsvermögens um mehr
als das Doppelte zur Folge haben. Auf diese Weise wird es möglich
sein, im Sommer eine Wassermenge verfügbar zu haben, um annähernd
400000 Hektar Land, die zurzeit in den nördlichen Teilen des Deltas wüst
liegen, zu bewässern. Die vorbereitenden Arbeiten für das große Werk wurden
im Mai 1907 begonnen; mit den eigentlichen Mauerarbeiten begann man im
darauffolgenden Winter. Die ganze Erhöhung des Dammes wird etwa fünf
Jahre in Anspruch nehmen und einschließlich des Ersatzes für überschwemmte
Gebiete in Nubien und der Auslagen für die Erhaltung der nubischen Denk¬
mäler etwa 31 Millionen kosten.
Ganz bedeutend wurde auch der Staudamm von Esneh im Jahre 1907
gefördert. Mehr als die Hälfte der ganzen Arbeit wurde schou im Jahre 1907
fertiggestellt, und es besteht die begründete Hoffnung, die ganze Arbeit noch
im Jahre 1908 ihrer Vollendung entgegenzuführen.
Auf die bedeutenden Leistungen und Fortschritte auf dem Gebiet der übrigen
öffentlichen Arbeiten näher einzugehn, dazu fehlt hier der Raum.
Auch die Gebiete der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, des Polizei¬
wesens und der öffentlichen Gesundheitspflege können nicht näher in Be¬
tracht gezogen werden, obgleich anch ans ihnen recht tüchtiges geleistet
worden ist.
Aus dem Gebiete der Rechtspflege soll nnr hervorgehoben werden, daß sich
die Zahl der Verfehlungen gegenüber dem Vorjahre wesentlich vermindert hat.
Es kamen zur Bestrafung
Das einzige Verbrechen, das eine Zunahme aufweist, ist der Mord und der
versuchte Mord. Im ganzen kamen 21 Fälle mehr vor als im Vorjahre.
Auch das Erziehungs- und Schulwesen zeigt in allen seinen Zweigen
erfreuliche Fortschritte. Die dem Ministerium des Schulwesens für das
Jahr 1907 zur Verfügung stehende Summe betrug 7,74 Millionen Mark,
d. h. 1,6 Millionen Mark mehr als im Vorjahre. Für das Jahr 1908 wurden
weitere 1,58 Millionen in das Budget zur Hebung der Volkserziehung ein¬
gestellt und außerdem 2,17 Millionen zum Bau vou Schulhäusern.
So zeigt auch dieser erste Bericht des neuen Herrn in Ägypten auf allen
Seiten in erfreulichster Weise die deutlichsten Anzeichen »ngeminderten Fort¬
schritts. Ohne Zweifel hat es Sir Eldon Gorst verstanden, weiterzuarbeiten
im Sinne und auf den Bahnen seines Vorgängers. Nicht ohne einen gewissen
Stolz schließt er den Teil seines Berichts, der der Verwaltung Ägyptens ge¬
widmet ist, mit den Worten, er wage die Hoffnung auszusprechen, daß das
gewohnte Maß des Fortschritts auch im abgelcmfnen Jahre in allen Zweigen
der Verwaltung erreicht worden sei. Besonders wird noch auf das gute
Einvernehmen und stete einmütige Zusammenarbeiten des Khediven und seiner
Minister mit deu Beamten der britischen Negierung hingewiesen und betont,
daß es immer der Grundsatz der Regierung gewesen sei, zunächst die wichtigsten
Aufgaben in Angriff zu nehmen; daß noch viel zu tun übrig sei, müsse ohne
weiteres eingeräumt werden. Nicht die Wichtigkeit einer Frage an sich könne
für ihre Ausführung hauptsächlich maßgebend sein, sondern vielmehr ihre
Wichtigkeit im Vergleich mit andern Aufgabe», und dieser Grundsatz dürfe
auch von denen, die die Maßnahmen der Negierung kritisieren, nicht außer
acht gelassen werden.
Man gewinnt bei dem Studium des Berichts, aus dem hier nur das
Unwesentlichste wiedergegeben werden konnte, den Eindruck, daß es allem
Anschein uach England gelungen ist, auf den überaus schwierige» ägyptische«
Posten den richtigen Mann zu stellen.
^^WLöas Jahr 1908 hat staunenswerte Erfolge auf dem Wege zur
Eroberung der Luft gemacht. Was in kühner, zäher Arbeit von
^ Generationen erstrebt worden ist, steht nun in täglich brauchbarer
werdender Gestalt vor unsern Augen. Der Soldat war von jeher
l auch auf diesem wie jedem andern Gebiete der Verkehrstechnik
ein eifriger Mitarbeiter. In der Lösung der Luftschiffahrtsfrage erweist er sich,
namentlich in Deutschland, als Wegführer. Die Heeresverwaltungen sind auch
in erster Linie berufen, das neue für Privatzwecke noch zu unrentable Verkehrs¬
mittel durch die Praxis auszugestalten und allmählich weitern Kreisen zuzuführen,
ähnlich wie es mit der Verwendung von Lastkraftwagen geschieht.
Als wichtigstes Ergebnis aller Versuche ist festzustellen, daß mit der Tüchtig¬
keit des Motors die Brauchbarkeit jedes Luftschiffes und jeder Flugmaschine
steigt und füllt. In höchstem Maße leistungsfähig und unbedingt betriebssicher
muß jeder Luftmotor sein und dabei so leicht, als die zuerst genannten Be¬
dingungen es nur irgend zulasse». Gewöhnliche Automobilmotore haben nicht
die notwendige enorme Dauerleistnng. Das Gewicht des Motors mit allen
Teilen soll nicht unter 2^ Kilogramm auf die ?8 heruntergehn. Die märchen¬
haft leichten Motore, von denen die Tagespresse berichtet, sind sehr mit Vorsicht
zu beurteilen; die erfolgreichen Luftschiffer verwenden sie nicht. Von dem Motor
hängt die Eigengeschwindigkeit ab, je größer diese ist, um so unbedingter ist
die Lenkbarkeit in allen Höhenlagen und bei allen Windstärken, um so größer
ist auch die Sicherheit, da sich ein Luftschiff nur durch Schnelligkeit der Be¬
schießung durch automobile Ballongeschütze, die alle von Luftschiffer erreichbaren
Höhen bestreichen, entziehen kann. Nur in Deutschland hält man richtigerweise
für Luftschiffe zwei Motore für notwendig, jeden zu etwa 90 ?L. Für Flug¬
maschinen ist die Erfüllung dieser Forderung leider nicht möglich, falls man
nicht, wie es teilweise geschieht, auf Kosten der Betriebssicherheit das Gewicht
herabsetzt.
Von den drei Systemen hat das Halbstarre die meisten Anhänger, obwohl
das im Parsevalthp am idealsten verkörperte unstarre System für militärische
Zwecke am geeignetsten scheint.
Der einzige Vertreter des starren Systems ist bis jetzt der Zeppelin¬
ballon geblieben. Der vom Staat im November 1908 erworbne „Zeppelin I"
hat 136 Meter Länge, 11,7 Meter Durchmesser. Der Erfinder hat gleichsam
zwei Luftschiffe der gebräuchliche» Abmessungen hintereinandergefügt, um den
für den Auftrieb notwendigen Gasraum von 12500 Kubikmetern zu erhalten,
ohne den Stirnwiderstand zu erhöhen. Diese Länge, die zwei Gondeln und
der starre Bau gewähren große Stabilität und zweckmäßige Anbringung der
Lenkvorrichtungen. Der Antrieb erfolgt durch zwei Benzinmotore von etwa
85 Die Sekundengeschwindigkeit beträgt 15 Meter, die größte erreichte
Fahrtdauer hat 750 Kilometer gemessen. Die Höhensteuerung erfolgt auf
dynamischen Wege unter starker Inanspruchnahme der beiden Motore. Die
atmosphärischen Einflüsse sind bedeutend. Durch Wechsel der Höhenlage und
Temperatur verlor der Ballon bei der großen Fahrt etwa 12 Prozent Gas
— 2000 Kilogramm Tragkraft bis zum Abend. Nur durch dynamische Kraft
konnte der Verlust ausgeglichen werden. Diese fehlte aber, da der eine Motor
versagte. In dem Raum zwischen den in Abteilungen eingeschloßnen siebzehn
Gasballvns und der umgebenden, starr gespannten Ballonhülle befindet sich
freier Raum, worin sich bei Ziehen des Ventils durch die Vermischung von
Gas und Luft ein brennbares Gemisch bildet, das durch Luftclektrizität leicht
entzündet werden kann. Hierin liegt, wie der 5. August 1908 bewiesen hat,
eine schwere Gefahr des starren Systems, dessen Vorteile bei ausreichenden
Motoren die große Fahrtdauer, dessen Nachteil die Abhängigkeit von Luftschiff¬
häfen und stationären Füllstationen bleiben. Deshalb sind die „Zeppeline" zur
Stationierung an den Grenzen und Küsten und zur strategischen Fernaufklärung
zu Lande und zu Wasser berufen. Da die nötigen Mittel zu eingehenden weitern
Versuchen dank der Opfermütigkeit des deutschen Volkes und der staatlichen
Ankäufe zur Verfügung stehn, wird es der unermüdlichen praktischen Übung
gelingen, die erkannten Nachteile abzustellen oder wenigstens ihre Gefahren zu
vermeide«.
Die Wiege des Halbstarren Systems stand in Frankreich. Bei diesen
Luftschiffer ist entweder der unstarre, durch Ballouets in Form gehaltn? Ballon
durch ein unter ihm angebrachtes Aluminiumgerüst, an dem die Gondel hängt,
versteift (Patrietyp), oder Gondel und Versteifungsgerüst bilden einen etwa
30 Meter langen Gitterbalken, und der Ballon schwebt an Seilen darüber
(Ville de Paristyp). Mit mehr oder weniger großen Abweichungen nicht grund¬
legender Natur sind hiernach alle Luftschiffe mit Ausnahme des „Zeppelin" und
des „Parseval" gebaut.
Frankreich besitzt vom Patrietyp die Luftschiffe „La Republique" und
..Lebaudy", vom Ville de Paristyp die „Ville de Paris" und die im Bau be¬
griffne „Liberte". Diese Fahrzeuge sind als ätriAe^bles ac tortorössö in den
Ostfestungen stationiert oder dafür bestimmt und für die Aufgaben des Festungs¬
krieges und der Nahcmfklärnng ausersehn. Für die Fernaufklärung ist ein
DiriAeMg ä'armöe des Ville de Paristyp im Bau, der die doppelten Ab¬
messungen wie die vorher genannten und unter Umständen auch zwei Motore
erhalten soll. „La Republique" ist 61 Meter lang, hat einen Durchmesser von
10,8 Metern und faßt 3700 Kubikmeter Gas. Die Höhensteuerung geschieht
durch zwei horizontale, 16 Quadratmeter große Aeroplauflächen, die unter ver-
schiednen Winkel eingestellt werden können. Hierdurch wird ein durch deu
tiefliegenden Schwerpunkt der Gondel ausgeschloßnes Schrügstellen des Ballons
fast ganz vermieden und zugleich ein dynamisches Heben und Senken des Luft¬
schiffes ermöglicht. nachteilig ist die Anbringung der zwei Luftschrauben an den
Seiten der Gondel, tief unter dem Schwerpunkt, wodurch ein Kippmoment ent¬
steht, das die Ballonspitze hebt, Schwankungen verursacht und die Dämpfungs-
flächen stark beansprucht. „La Republique" trägt vier Mann und 820 Kilogramm
Ballast. Ähnlich ist die „Lebaudy", die vier Mann mit 40 Kilometern Stunden¬
geschwindigkeit aufnimmt. Die Stabilisierung geschieht durch ebene Stabilisations-
stächen, während bei „Ville de Paris" hierzu acht unstarre Gasschläuche am Heat
dienen. Solche kleine Nebenkörper werden leicht undicht, sind darum unzweck¬
mäßig. Die Fortbewegung geschieht in geeigneter Weise durch eine ziehende
Luftschraube an der Spitze des Versteifnngsgerüstes, die Stabilität ist gut. Der
„Ville de Paris" sehr ähnlich sind „Bayard Element" mit 15 Metern Sekuudcu-
geschwindigkeit und „Ville de Bordeaux", die wohl von der Regierung über¬
nommen werden, da ein drittes Luftschiff dieser Art, „Colonel Renard", von ihr
in Auftrag gegeben worden ist. Der Ville de Paristyp ist feldmäßiger montierbar
als der Patrietyp.
Nachdem in Nußland die eignen ziemlich kläglichen Versuche mit einem
Halbstarren Luftschiff von 1500 Kubikmeter» und einem Motor von nur 16 ?L,
wie zu erwarten stand, mißlungen sind, ist nunmehr ein Lenkballon mit nur
einem 90 ?8-Motor von 61 Metern Länge, 11 Metern Durchmesser und
4000 Kubikmetern Fassungsvermögen in der Form der „Republique" bei den
französischen Lebandywerken in Auftrag gegeben worden, der im Frühjahr ab¬
geliefert wird. Die auf ihn gesetzten Hoffnungen erscheinen übermäßig groß.
Italien ist in der letzten Zeit selbständig zu einer Konstruktion gelangt.
Die Hauptleute Riraldoni und Croccv haben ein zigarrenförmiges, an einem
Ende scharf zugespitztes Luftschiff starren Systems gebaut, das von der Heeres¬
verwaltung für 120000 Lire erworben worden ist. Außerdem sind drei Luft¬
schiffe gleicher Art in Auftrag gegeben worden, die schon in den Herbst¬
übungen 1909 Verwendung finden sollen. Innerhalb von zwei Jahren sollen
im ganzen zwölf Fahrzeuge fertiggestellt sein. Dem ersten sehr kleinen Ver¬
suchsballon sollen größere von 5000 Kubikmeter» folgen. Die äußere Form
wird durch einen besonders angeordneten, gleichmäßig auf die ganze Oberfläche
verteilten Druck der Gondel erhalten.
In Österreich ist mau zu der richtigen Ansicht gekommen, daß Luft¬
schiffe den Flugmaschine» zurzeit noch überlegen sind. Das Privatkapital ist
endlich so weit interessiert, daß die Ausführung eines Militärballons auf Grund
eines der vorhandnen brauchbaren Entwürfe durch ein Syndikat im Gange ist.
Näheres ist noch unbekannt.
England hat nach dein Verlust des „nulli secmnclus" (Patrietyp) noch
kein brauchbares Motorluftschiff wieder geschaffen. Das Interesse scheint sich
mehr den Flugmaschinen zuzuwenden.
Das deutsche Militärluftschiff „Groß II" (60:11 Meter, 4500 Kubik¬
meter) ähnelt der „Patrie"*), nur mit den wesentlichen Unterschieden, daß es
zwei in der Gondel nebeneinanderstehende Motore hat, und daß die beiden
Propeller am Versteifungsgerüst fast genau im Widerstandszentrum ange¬
bracht sind. Die Stabilität ist vortrefflich. Der Ballon hat am 11. Sep¬
tember 1908 in dreizehn Stunden 300 Kilometer bei Windstärken von 7 bis
12 Metern zurückgelegt. Die Geschwindigkeit läßt sich sicher noch durch er¬
höhte Motorleistung oder verbesserten Wirkungsgrad der Propeller steigern.
Es scheint, daß die „Große" berufen sein werden, die „Zeppeline" in der
Fernaufklärung zu unterstützen. Auch in der Nahaufklärung werden sie eine
Rolle spielen, da die Mvutieruug des auseinandernehmbaren Versteifungs-
gerüstes schnell möglich ist und die Ballons auf Wagen mitgeführt werden
können. In der Feldmäßigkeit der Verpackungsmöglichkeit werden sie aller¬
dings durch den unstarren Parscvaiballon übertroffen. Der soeben vollendete
„Parseval III" übertrifft den „Parseval II" um 2200 Kubikmeter Gasfüllung
(5600 statt 3400) und ist mit zwei 100 ?8-Motoren und mit zwei Schrauben
ausgestattet. Die beiden in den Enden des fischförmiger Luftschiffes ange¬
brachten, der Formerhaltung und Höhensteuerung dienenden Ballonets nehmen
ein Viertel des Ballonvolumens ein. Die Schaukelaufhüugung der Gondel
hat den Vorteil, daß Schwankungen oder ein Aufbäumen des Ballons beim
Anfahren oder bei plötzlichen Windstößen vermieden werden, sie erleichtert
mich die Höhenstenerung. „Parseval II" fuhr mit durchschnittlich 13 Metern
Sekundengeschwindigkeit und legte am 11. September 1908 250 Kilometer in
11^ Stunden zurück. „Parseval III" soll Betriebsstoff für 12 bis 24 Stunden
je nach der Arbeit der Motore mit sich führen und 42 bis 45 Kilometer
durchschnittliche Reisegeschwindigkeit erreichen. Die Parsevalballons sind be¬
rufen, die Aufgaben der Nahaufklärung zu lösen und vielleicht anch später
ans Ballonschiffen auf hoher See Verwendung zu finden.
Die Flugmaschinen haben die ernste Beachtung der Heeresverwaltung
auf sich gelenkt. Ihre geringere Größe, Billigkeit und bequeme Bedienung
erwerben ihr ständig neue Anhänger. Ihr Mangel liegt in der noch unge¬
nügenden Betriebssicherheit, die erstens eine Motor-, zum andern eine Gleich-
gewichtsfrage ist. Die Benutzung der besten Flugmaschine setzt — jedenfalls
vorläufig -— durch motorlose Gleitflüge praktisch vorbereitete, kaltblütige
Männer voraus. Es wäre verfrüht, zu beurteilen, welchen Wert Flug¬
maschinen für die Aufklärung haben. Aktionsradius und Flughöhe sind noch
gering. Die für die Stabilität notwendige Schnelligkeit erschwert die Be¬
obachtung. Sie sind vorläufig mir ein Gegenstand zielbewußter Sports.
Durch den Sport haben sich aber auch die Automobile zu einem vollwertigen
Kriegsmittel entwickelt, und die Automobile der Luft, die Flugmaschinen,
werden folgen.
In der Entwicklung sind die Schraubenflieger und die Drachen¬
flieger. Die theoretisch günstigern Schraubenflieger köunen sich vom engsten
Hofe erheben, die Drachenflieger beanspruchen freies Gelände. Die Schrauben¬
flieger scheitern vorläufig technisch an der notwendigen enormen Hebelcistung
der Tragschrauben, die Drachenflieger bestehn schon in zahlreichen, mehr oder
minder erfolgreichen Typs.
In Frankreich leisten die von Farman und Delagrange gesteuerten
Voismschen Doppeldecker Gutes. Sie werden übertroffen durch die Doppel¬
decker der Gebrüder Wright, deren Vorzüge in den zwei Luftschraube», den
patentierten Stabilisieruugsflächen und in den für die Erhaltung der Stabilität
!n den Schwenkungen abbiegbaren Tragdecksenden zu suchen sind. Die Wrights
haben Flüge bis 90 Kilometer und bis 60 Meter Höhe in 1^ Stunden zurück¬
gelegt. Eine französische Gesellschaft baut bei Dünkirchen fünfzig Wrightsche
Apparate, und auch Amerika steht vor der Erwerbung. Die Franzosen Bleriot
und Esnault Pelterie bauen Eindecker, deren Stabilität noch mangelhaft ist. In
Deutschland ist unter andern Major von Parscvcil, in Österreich der bekannte
Aviatiker Dr. Nimfuhr am Bau von Drachenfliegern.
Überall sehen wir rege Arbeit, täglich berichten die Zeitungen von neuen
Versuchen. Schon das laufende Jahr wird voraussichtlich der militärischen
Welt auf den Gebieten der Aerostatik und Aerodynamik viel des interessanten,
hoffentlich auch des brauchbaren, bringen.
ZM
M)on Geisteskrankheit handeln zahlreiche Bestimmungen des
Strafgesetzbuchs und der Strafprozeßordnung. Wir Irrenärzte
haben uns mit diesen bekannt zu machen und haben uns bei
unsrer Tätigkeit nach ihnen zu richten. Im Herbst 1908 ist
nun der Entwurf zu einer neuen Strafprozeßordnung heraus¬
gekommen. Hiermit ist auch uns eine neue Aufgabe gestellt. Jetzt gilt darauf
zu achten und mitzuwirken, daß das neue Gesetz auch die Bestimmungen trifft,
die durch die eigenartigen Zustünde der Geisteskranken geboten und für eine
ersprießliche psychiatrische Tätigkeit nötig sind. Man wird den Irrenärzten
nicht verdenken dürfen, daß sie auch ihrerseits hier mitsprechen; haben sie doch
zum Beispiel in den Jahren 1901 bis 1903 in 69 Anstalten des Deutschen
Reichs nicht weniger als zwölfhundert Personen nach Paragraph 81 der Straf¬
prozeßordnung und Paragraph 656 der Zivilprozeßordnung auf ihren Geistes¬
zustand zu untersuchen und damit eine an Mühe und Sorgen reiche Arbeit
zu verrichten gehabt.
Ich habe die von Irrenärzten verschiedner Richtung vorgebrachten Wünsche
gesammelt und den Mitgliedern der seit fünfzehn Jahren in Dresden be¬
stehenden forensisch-psychiatrischen Vereinigung vorgetragen. Eine ein¬
gehende Beratung hat in den Vereinssitzungen namentlich über die Paragraphen
58 und 80 des Entwurfs (NichtVereidigung bestimmter Personen und Jrren-
anstaltsbeobachtnng Beschuldigter) stattgefunden; hier haben sich unsre Be¬
sprechungen zu bestimmten Vorschlügen verdichtet. In folgendem werde ich
aber auch zu Wünschen, über die sich die Vereinigung nicht einigte, Stellung
nehme». Wer von uns deutschen Irrenärzten die betreffenden Vorschläge
zuerst gemacht, wer von uns Mitgliedern der Dresdner Vereinigung die zuletzt
angenommne Formulierung erdacht hat, kann hier im einzelnen nicht erwähnt
werden. Das Zusammenarbeiten von Juristen und Psychiatern brachte uns
jedenfalls auch diesmal viel Anregung und Aufklärung.
Was zunächst die Vorschriften über Zeugen anlangt, so haben Irren¬
ärzte schon bei verschiednen Gelegenheiten auf die Unzulänglichkeit des Para¬
graphen 56 der geltenden Strafprozeßordnung aufmerksam gemacht, der die
Nichtvereidiguug bestimmter Personen regelt, aber die Vereidigung Geistes¬
kranker nicht genügend ausschließt. Einen Erfolg hat diese Kritik nicht gehabt.
Denn Paragraph 58 Abs. 1 des Entwurfs lautet wiederum: Nicht zu ver¬
eidigen sind: 1. Personen, die zur Zeit der Vernehmung das sechzehnte Lebens¬
jahr noch nicht vollendet haben oder wegen mangelnder Verstandesreife oder
wegen Verstandesschwäche von dein Wesen und der Bedeutung des Eides keine
genügende Vorstellung haben. — Hiergegen ist anzuführen, daß gar manche
geisteskranken oder geistesschwachen Personen von dem Wesen und der Be¬
deutung des Eides eine genügende Vorstellung besitzen, dennoch aber zum
Beispiel wegen krankhaften Affekts, abnormer Phantasie, Wahnvorstellungen,
Sinnes- oder Erinnerungstäuschungen, Gedächtnisschwäche die Wahrheit nicht
zu sagen vermögen. Auch ist zu berücksichtigen, daß die meisten von einer
Geisteskrankheit genehmen oder gebesserter Personen eine genügende Vorstellung
vom Wesen und der Bedeutung des Eides haben, über Vorgänge aber, die
sich während ihrer Krankheit in ihrer Umgebung abgespielt haben, erfahrungs¬
gemäß oft nur unvollständig, falsch oder gar nicht orientiert sind. Über solche
Vorgänge sollten sie niemals eidlich vernommen werden. Der Eid stellt
ja die denkbar feierlichste Bekräftigung einer Wahrnehmung dar; wird doch
ihre Richtigkeit unter Anrufung göttlicher Autorität versichert. Zum mindesten
dem Laienrichter erscheint eidliche Bekräftigung als Garantie für die Wahrheit.
Zu einer so akzentuierten, oft so folgenreichen Betonung seiner Wahrnehmung
darf aber im Strafprozeß doch nur der berechtigt sein, der über völlig gesunde
Geisteskräfte verfügt. Zudem ruft die Förmlichkeit, die mit dem Schwur ver¬
bunden ist, bei psychisch Leidenden keineswegs eine größere Konzentration des
Denkens hervor als bei den meisten Gesunden, nein im Gegenteil macht sie
jene oft befangen lind verwirrt. Mehrere haben den Standpunkt eingenommen,
daß es unbedenklich sei, Geisteskranke und Geistesschwache dann zu vereidigen,
wenn ihre Aussage annehmbar durch zurzeit noch bestehende oder früher fest¬
gestellte geistige Krankheit nicht beeinflußt sei, und haben vorgeschlagen, in
Paragraph 58 zu sagen: Nicht zu vereidigen sind Personen, deren Aussagen
oder Wahrnehmungen durch frühere oder gegenwärtige Geisteskrankheit oder
Geistesschwache beeinflußt sind. Diese Verbesserung genügt jedoch nicht. Wie
schwer wäre es auch im einzelnen Falle zu entscheiden, ob eine solche Beein¬
flussung vorliegt! Das richtigste ist, man sieht von einer Vereidigung solcher
Personen ganz ab, die zur Zeit der Vernehmung an Geisteskrankheit oder
Geistesschwache leiden oder hieran in der Zeit litten, über die sie Angaben
machen sollen. Dieser Satz würde dann an die letzten Worte des Para¬
graphen 58 Absatz 1 des Entwurfs anzugliedern sein.
Hierbei möchte zugleich noch erwogen werden, ob man das eidesfühige
Alter nicht von sechzehn auf achtzehn Jahre hinaussetzen soll. Vom psycho¬
logischen Standpunkt ist hierfür geltend zu machen, daß mit dem achtzehnten
Lebensjahre die Gehirnentwicklung völlig abgeschlossen, die Erinnerungstreue
somit fester und die Urteilskraft stärker ist. Der gesunde Mensch hat mit
achtzehn Jahren in der Regel genügende Erfcchrnngen gesammelt und aus¬
reichende Ruhe erworben, um klar zu überlegen — mit sechzehn Jahren oft
noch nicht. Mit achtzehn Jahren hat der Verstand ein gewisses Maß von
Reife. Unter normalen Verhältnissen ist erst in diesem Alter die zur Er¬
kenntnis der Strafbarkeit eines falschen Eides notwendige Einsicht vorhanden
und erst gefestigt genug, um die jugendlich lebhafte Phantasie zu zügeln.
Von großer Wichtigkeit kann es sein, den Geisteszustand eines Zeugen
feststellen zu lassen — nicht nur um der Vereidigung willen, sondern überhaupt
wegen seiner Glaubwürdigkeit. Ans Grund wahrhafter Vorstellungen erheben
Geisteskranke oft falsche Anschuldigungen; Hysterische und Paranoische bringen
beispielsweise erdichtete Naubanfülle, sexuelle Attentate und dergleichen zur An¬
zeige. Manchmal sind sie die einzigen Belastungszeugen. Unschuldige können
durch solche falsche Anzeigen Geisteskranker in Schande gebracht und sozial
schwer geschädigt werden. Wird die Glaubwürdigkeit eines wichtigen Zeugen
durch die Behauptung, er sei geisteskrank, bemängelt, so kann die Feststellung
des tatsächlichen Zustandes ebenfalls von großem Nutzen sein. Natürlich ge¬
bietet die Rücksicht auf den Zeugen, die Untersuchung seines Geisteszustandes
nur auf wichtige und zweifelhafte Fälle zu beschränken, auch ihm das Recht
der Beschwerde gegen seine Untersuchung einzuräumen. Dem Bedürfnis würde
genügt, wenn man folgenden Paragraphen, etwa vor Paragraph 60 des Ent¬
wurfs, einschieben würde: „Ein Zeuge kann nur dann gegen seinen Willen
auf seinen Geisteszustand untersucht werden, wenn von dieser Untersuchung
ein für die Urteilsfülluug wesentlicher Aufschluß zu erwarten ist. Beschwerde
gegen diese Anordnung hat ausschiebende Wirkung." — Der von einem Psy¬
chiater gemachte Vorschlag, auch zuzulassen, daß ein Zeuge zum Zwecke der
Beobachtung seines Geisteszustandes in eine Anstalt übergeführt werden dürfe,
geht nach der Meinung der forensisch-psychiatrischen Vereinigung zu Dresden
zu weit. Zwar hat man eine solche Forderung nur für Ausnahmefälle auf¬
gestellt und statt einer Irrenanstalt die Nervenabteilung einer Universitäts¬
klinik oder eines Krankenhauses empfohlen; immerhin dürfte der Vorschlag als
ein schwerer Eingriff in die persönlichen Rechte abzulehnen sein. Ist es nicht
möglich, den Geisteszustand eines Zeugen ohne Austaltsbeobcichtung festzustellen,
und ermöglicht der Zeuge diese Feststellung auch uicht dadurch, daß er sich
freiwillig in eine geeignete Anstalt begibt, so bleibt nichts übrig, als die Frage
unentschieden zu lassen.
Auch die Vorschrift in Paragraph 75 Absatz 2 des Entwurfs, die von der
Vorbereitung des Gutachtens des Sachverständigen handelt, hat bei Psy¬
chiatern Anlaß zu Bedenken gegeben. Sie lautet: Dem Sachverständigen kann
uns sein Verlangen zur Vorbereitung des Gutachtens durch Vernehmung von
Zeugen und Beschuldigten weitere Aufklärung verschafft werden; auch kann
ihm gestattet werden, die Akten einzusehen, bei der Vernehmung von Zeugen
und Beschuldigten zugegen zu sein und Fragen an sie zu richten. Eine Reihe
von Psychiatern hat sich nun dahin ausgesprochen, daß es nötig sei, in Para¬
graph 75 zweimal „kann" durch „ist" zu ersetzen, da den irrenärztlichen Sach¬
verständigen hier oder dort Schwierigkeiten gemacht worden sind, wenn sie
Akteneinsicht und unmittelbare Zeugenbefragung wünschten. Die vorgeschlagne
Änderung würde aber zur Folge haben, daß auch andre nicht psychiatrische
und überhaupt nicht ärztliche Sachverständige die Aktencinsicht und das Recht
zur unmittelbaren Fragestellung beanspruchen dürften, was mit Unzuträglich¬
keiten verbunden sein könnte. Zur Beurteilung des Geisteszustandes sind
sorgfältige Aktendnrchsicht und persönliche Befragung ganz gewiß von unschätz¬
barem Wert. Den berechtigten Wünschen der Irrenärzte usw. würde hinreichend
Rechnung getragen durch folgenden Zusatz zu Paragraph 75: „Handelt es
sich um die Untersuchung des Geisteszustandes, so müssen solche Anträge des
Sachverständigen tunlichst berücksichtigt werden."
In Paragraph 71 Absatz 3 des Entwurfs heißt es: An Stelle der Ver¬
nehmung eines Sachverständigen kann in geeigneten Fällen das Gutachten einer
Fachbehörde eingeholt werden. — Eine allgemeine Bestimmung, daß in der
Regel die Fachbehörde erst in höherer Instanz sprechen soll, ist nicht gegeben.
Bei psychiatrischen Begutachtungen und überhaupt in medizinischen Dingen ist
es aber wünschenswert, daß die Fachbehörde, das ist die medizinische Fakultät
oder das Medizinalkollegium, erst dann in Tätigkeit tritt, wenn ein Obergut-
uchten über verschieden lautende Beurteilungen nötig, wenn die Richtigkeit
eines oder mehrerer Gutachten zweifelhaft erscheint. Auch die wissenschaftliche
Deputation in Berlin spricht nur, wenn schon ein Gutachten abgegeben worden
ist- Als besondre Bestimmung kann es ja erwähnt bleiben, daß in geeigneten
Fällen — es kann gewiß solche, die mit der Medizin gar nichts zu tun haben,
geben — gleich die Fachbehörde befragt werden darf. Aber es ist unzweck¬
mäßig, im Gesetz nur diese Ausnahme namhaft zu machen. Man gestalte den
Absatz 3 des Paragraphen 71 des Entwurfs also folgendermaßen: „Nach
Gehör eines oder mehrerer Sachverständiger kann das Gutachten einer Fach¬
behörde eingeholt werden. In geeigneten Füllen kann dies an Stelle der
Vernehmung eines Sachverständigen geschehen."
Für den Gerichtsarzt wie für den Anstaltsirrenarzt ist der Paragraph
von größtem Interesse, in dem die Einweisung eines Angeschuldigten
in eine Irrenanstalt zur Beobachtung und Begutachtung seines Geistes¬
zustandes geordnet ist. Und auch für die Allgemeinheit ist die gesetzliche
Regelung einer so einschneidenden Maßregel nicht gleichgiltig. Paragraph 80
des Entwurfs, der den in Rede stehenden Stoff behandelt, hat folgenden, im
Vergleich zu den jetzt geltenden Bestimmungen wesentlich geänderten Wortlaut:
„Ist zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Be¬
schuldigten nach der Erklärung des Sachverständigen eine längere Beobachtung
erforderlich, so hat der Richter dem Sachverständigen, soweit tunlich, hierzu
Gelegenheit zu geben.
Erklärt der Sachverständige, daß die erforderliche Beobachtung außerhalb
einer Irrenanstalt nicht ausführbar ist, und wird sie demi Sachverständigen auch
nicht dadurch ermöglicht, daß sich der Beschuldigte freiwillig in eine solche
Anstalt aufnehmen läßt, so kann, sofern die öffentliche Klage schon erhoben
ist, das Gericht anordnen, daß der Angeschuldigte in einer öffentlichen Irren¬
anstalt unterzubringen ist; die Anstalt ist vom Gericht zu bezeichnen. Vor der
Anordnung ist der Verteidiger zu hören; hat der Beschuldigte keinen Verteidiger,
so ist ihm ein solcher für das Verfahren über die Unterbringung zu bestellen.
Gegen die Anordnung ist sofort Beschwerde zulässig; die Beschwerde hat auf¬
schiebende Wirkung.
Sobald die Beobachtungen zur Abgabe des Gutachtens ausreiche», hat
der Sachverständige dem Gericht Anzeige zu machen. Die Unterbringung in
der Anstalt darf, auch wenn sie in demselben Verfahren oder in einem andern
Verfahren, das dieselbe Tat zum Gegenstande hat, wiederholt angeordnet wird,
ohne Einwilligung des Angeschuldigten in ihrer Gesamtdauer sechs Wochen
nicht überschreiten.
Die Vorschriften der Absätze 2, 3 finden keine Anwendung im Verfahren
auf Privatklage und in Sachen, die in erster Instanz von den Amtsgerichten
ohne Schöffen zu verhandeln sind."
Man erkennt aus diesem Paragraphen, daß man in Zukunft die Unter¬
bringung in einer öffentlichen Irrenanstalt auf solche Fälle beschränke» will,
in denen diese Maßregel nicht durch andre Vorkehrungen ersetzt werden kann.
Nicht selten wird sich, wie in der amtlichen Begründung des Entwurfs richtig
hervorgehoben ist, nur eine längere Beobachtung nötig machen, um auch in
kompliziertem Fällen ein Gutachten fertigstellen zu können. Daß der Richter
in Zukunft gehalten sein soll, dem Sachverständigen nötigenfalls Gelegenheit
zu längerer Beobachtung für die Vorbereitung des Gutachtens zu geben, ist
ein erfreulicher Fortschritt. ES gibt Richter, die den Umfang und die Schwierig¬
keit mancher psychiatrischen Beobachtung offenbar nicht kennen, die ungestüm
auf die Ablieferung verantwortlicher Gutachten bis zu einem bestimmten, kurz¬
fristigen Termine drängen; Gutachten mit beschränkter Lieferungsfrist können
aber nicht sorgfältig genug nach allen Richtungen erwogen werden. Zuweilen
wird, wie die amtliche Begründung des Entwurfs ebenfalls hervorhebt, die
Beobachtung in der Häuslichkeit oder, wenn sich der Beschuldigte nicht aus
freiem Fuße befindet, im Untersuchungsgefängnis eine sichere Grundlage für
das Gutachten geben. Gegen die Beobachtung in der Häuslichkeit haben sich
einige Fachgenossen ausgesprochen. Ich kann mich diesem Bedenken nicht ohne
Weiteres anschließen. Die Kenntnis des Milieus, worin der Täter zur Zeit
der Tat lebte, kann aufklärend wirken. Es kan.n wichtig sein, daß die Übeln
Verhältnisse, die zu der in Betracht kommenden Zeit ihren Einfluß ausübten,
auch während der Beobachtung einwirken: Ärger im Beruf, Unfrieden in der
Familie, Mißbrauch in Alkohol und Morphium, schlechte Ernährung usw. In
manchen Fällen genügt auch die längere Beobachtung im Untersuchungs¬
gefängnis. Läßt sich die Beobachtung nun aber nach der Erklärung des Sach¬
verständigen außerhalb einer Irrenanstalt nicht ausführen, so wird dem Be¬
schuldigten nach dem Entwurf offen gelassen, die Unterbringung in einer
öffentlichen Irrenanstalt dadurch abzuwenden, daß er sich freiwillig in eine
Irrenanstalt aufnehmen läßt. Es würde eine solche freiwillige Aufnahme sowohl
in einer privaten wie in einer öffentlichen Irrenanstalt in Frage kommen
können. Erst wenn der Beschuldigte dem Sachverständigen die Beobachtung
in einer Irrenanstalt durch freiwilliges Aufsuchen einer solchen nicht ermög¬
licht, oder wenn dem Sachverständigen in der gewählten Irrenanstalt Schwierig¬
keiten für die Beobachtung erwachsen, soll das Gericht die Unterbringung an¬
ordnen, dieses soll aber nur eine öffentliche Irrenanstalt bestimmen können.
Hierzu ist folgendes zu bemerken: Ist Jrrenanstaltsbeobachtung wirklich not¬
wendig, so ist die öffentliche Irrenanstalt der geeignetste Beobachtungsort,
gleichviel ob die Aufnahme freiwillig erfolgt, oder ob sie gegen den Willen
des Beschuldigten vom Gericht angeordnet wird. Es verstößt schon gegen das
Rechtsgefühl, daß der Wohlhabende den Vorteil haben soll, sich in einer Privat¬
irrenanstalt beobachten zu lassen, während der Nichtbegüterte in eine öffent¬
liche Irrenanstalt gehn muß. Die öffentliche Irrenanstalt verfügt aber auch
in der Regel über viel bessere Einrichtungen zur Beobachtung. Begutachter
"wß übrigens bei Jrrenanstaltsbeobachtnng, wenn irgend möglich, einer der
Jrrenaustaltsärzte sein, nicht etwa ein nur gelegentlich in der Anstalt er¬
scheinender Kreis- oder Gerichtsarzt, unter dem doch auch die Pfleger keines¬
wegs steh». Der Jrrencmstaltsarzt, der alle Dispositionen über die Behandlung
des zu Untersuchenden zu treffen hat, ist der gegebne Begutachter. Im ersten
Satz des Absatz 2 streiche man also die zwei Worte: dem Sachverständigen
und schreibe statt „in eine solche Anstalt": „in eine öffentliche Irren¬
anstalt". — Ärztlicherseits hat man Anstoß daran genommen, daß Unter¬
bringung in eine öffentliche Irrenanstalt erst angeordnet werden soll, „sofern
die öffentliche Klage schon erhoben ist". Man wies darauf hin. daß Jrren¬
anstaltsbeobachtnng zweckdienlicherweise sobald als möglich einsetzen möchte.
Die Juristen versichern jedoch, daß kein Zeitverlust in Betracht komme, da die
öffentliche Klage schon durch den Antrag auf Voruntersuchung erhoben werde.
Es ist schon ein Fortschritt, daß nach dem Entwurf die Zeit von sechs
Wochen für Beobachtung in der Irrenanstalt dann überschritten werden darf,
wenn der Angeschuldigte damit einverstanden ist. Es ist aber ein dringendes
Bedürfnis, daß diese Frist auch ohne seine Einwilligung in besondern Fällen
bis zur Dauer von nochmals sechs Wochen verlängert werden könne. Na¬
mentlich wenn mehrere Begutachter hintereinander ihre Beobachtungen anstellen
sollen, genügt erfahrungsgemäß die Gesamtbeobachtungszeit von einmal sechs
Wochen oft nicht. Es hat schon zu großen Schwierigkeiten geführt, wenn die
Zeit von einmal sechs Wochen verbraucht und weitere exakte Beobachtung nötig
war. Sehr wichtig ist der von rechtsanwaltschastlicher Seite in der Dresdner
Vereinigung gemachte Vorschlag, die Zeit der Beobachtung in der öffentlichen
Irrenanstalt entsprechend der Untersuchungshaft ganz oder teilweise auf die
Strafe anzurechnen.
Fänden diese Anträge Zustimmung, so wäre Paragraph 80 des Entwurfs
in folgender Weise abzuändern. Absatz 2 erster Satz würde beginnen: „Er¬
klärt der Sachverständige, daß die erforderliche Begutachtung außerhalb einer
Irrenanstalt nicht ausführbar ist, und wird sie — auch nicht dadurch ermög¬
licht, daß der Beschuldigte sich freiwillig in eine öffentliche Irrenanstalt auf¬
nehmen läßt, so kann" usw. Absatz 3 würde heißen: „Sobald die Beobachtungen
zur Abgabe des Gutachtens ausreichen, hat der Sachverständige dem Gericht
Anzeige zu machen. Die Unterbringung in der Anstalt darf ohne Einwilligung
des Angeschuldigten die Dauer von sechs Wochen nur dann und zwar höchstens
um sechs weitere Wochen überschreiten, wenn sie in demselben Verfahren oder
einem andern Verfahren, das dieselbe Tat zum Gegenstande hat, wiederholt
und zwar zur Vorbereitung des Gutachtens eines zweiten Sachverständigen
angeordnet wird. Die in der öffentlichen Irrenanstalt zum Zwecke der Be¬
obachtung zugebrachte Zeit kann bei Fällung des Urteils auf die erkannte
Strafe ganz oder teilweise angerechnet werden."
Ganz ausgeschlossen ist übrigens die Privatirrenanstalt nach der vorge¬
schlagnen Fassung auch nicht. Der Angeschuldigte kann ja, solange er sich
auf freiem Fuße befindet, freiwillig in eine Privatanstalt gehn, dafern der
Sachverständige nicht erklärt, die erforderliche Beobachtung sei außerhalb einer
Irrenanstalt nicht ausführbar. Dann aber sollte allein die öffentliche Irren¬
anstalt in Frage kommen.
Nach Paragraph 313 des Entwurfs steht übrigens dem Beschuldigten auch
gegen die Entscheidung des Beschwerdegerichts noch das Rechtsmittel der
weitern Beschwerde zu. Man hat gefürchtet, daß durch die Einräumung
weiterer Beschwerde die Beobachtungszeit zu weit hinausgeschoben und der
Sachverhalt verdunkelt werden könnte. Die Juristen versichern jedoch, daß
diese weitere Beschwerde längstens in einer Woche erledigt werde.
Das für das Verhältnis zwischen Arzt und Patient äußerst wichtige
Berufsgeheimnis wird vom Strafgesetzbuch in Paragraph 300 geschützt.
Hiernach werden auf Antrag unter anderm Ärzte dann streng bestraft, wenn
sie unbefugt Privatgeheimnisse offenbaren, die ihnen kraft ihres Amts, Standes
oder Gewerbes anvertraut sind. Auch die Strafprozeßordnung nimmt auf das
Berufsgeheimnis gebührende Rücksicht. Nach Paragraph 48 des Entwurfs
dürfen Verteidiger, Rechtsanwälte und Ärzte die Auskunft über solche Tat¬
sachen verweigern, die ihnen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben oder der Aus¬
übung ihres Amts oder Berufs anvertraut worden sind, soweit sie nicht von
der Verpflichtung zur Verschwiegenheit befreit sind. Viele, vor Gericht wenig
erfahrne Ärzte kennen diesen Paragraphen nicht und glauben, sie seien ver¬
pflichtet, dem Richter unter allen Umständen Auskunft zu erteilen. Es mag
dahingestellt sein, ob sie dadurch gegen Paragraph 300 des Strafgesetzbuchs
verstoßen; jedenfalls können sie hierdurch ihre Patienten schädigen und das
Zutrauen beeinträchtigen, das der Hilfesuchende jederzeit zum Arzte haben muß.
Deshalb wird zu Paragraph 48 des Entwurfs der Zusatz gewünscht: „Diese
sind auf das Recht hinzuweisen, solche Aussagen zu verweigern, insoweit sie
Privatgeheimnisse betreffen."
In der geltenden Strafprozeßordnung sind nach Paragraph 97 nur schrift¬
liche Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und den zur Verweigerung des
Zeugnisses Berechtigten vor Beschlagnahme geschützt, falls sie sich in den Händen
der Berechtigten befinden. Es ist nun vorgekommen, daß ärztliche Journale be¬
schlagnahmt wurden; waren sie ja nicht als schriftliche Mitteilungen zwischen
Beschuldigten und Arzt anzusehen. Das Recht des Arztes, die Geheimnisse
seines Berufs zu wahren, ist hierdurch vom Untersuchungsrichter illusorisch
gemacht worden. Beschwerde blieb erfolglos. Im neuen Entwurf heißt es
in Paragraph 88 Absatz 2: Schriftliche Mitteilungen zwischen den zur Ver¬
weigerung des Zeugnisses berechtigten Personen und dem Verdächtigen sowie
ihre Aufzeichnungen über Mitteilungen des Verdächtigen dürfen auch nicht
zwangsweise in Beschlag genommen werden usw. Das ist schon eine bedeutende,
immerhin noch nicht voll genügende Verbesserung, denn auch Aufzeichnungen,
die nicht Mitteilungen des Verdächtigen darstellen, also zum Beispiel Nieder¬
schriften über Diagnose und Behandlung, über dem Arzt erstattete Angaben
der Angehörigen müssen unbedingt vor Beschlagnahme geschützt sein. Deshalb
möchte es heißen statt „sowie ihre Aufzeichnungen über Mitteilungen des Ver¬
dächtigen": „sowie ihre Aufzeichnungen über den Verdächtigen".
Noch einige die Geisteskranken selbst betreffende Bestimmungen be¬
dürfen der Abänderung. Nach Paragraph 471 Absatz 1 des Entwurfs ist die
Vollstreckung der Freiheitsstrafe aufzuschieben, wenn der Verurteilte vor dem
Beginn der Strafe in Geisteskrankheit verfällt. Die Erfahrung lehrt nun dem
psychiatrischen Fachmann, daß Geisteskrankheit, die schon vor dem Beginn der
Strafzeit hervortritt, sehr oft schon zur Zeit der Tat bestanden hat. Mikro¬
skopische Forschungen beweisen von Jahr zu Jahr immer deutlicher, daß viele
Geisteskrankheiten auf meist allmählich sich entwickelnden anatomischen Ver-
ünderungen der Großhirnrinde beruhen. Bei genügend scharfer Nachforschung
findet man auch oft, daß die ersten Erscheinungen der psychischen Krankheit
recht weit zurückliegen. War aber solche Krankheit schon zur Zeit der Tat,
und zwar in einem Grade vorhanden, daß durch sie die freie Willensbestimniung
ausgeschlossen war, so lag keine strafbare Handlung vor. Der Täter wäre
also, wenn man das zur Zeit der Urtcilsfällung schon gewußt hätte, freizu¬
sprechen gewesen. Und handelte es sich um keinen hohen Grad von Geistes¬
krankheit, so Hütte das, wenn es bekannt gewesen wäre, bei Festsetzung des
Strafmaßes berücksichtigt werden müssen. Deshalb ist warm zu empfehlen,
daß als Absatz 3 zu Paragraph 471 die Bestimmung eingefügt wird: „Bei
bald nach dem Urteilsspruch hervortretender Geistesstörung ist nachträglich zu
prüfen, ob diese schon zur Zeit der Tat vorhanden war." Stellt sich Geistes¬
krankheit, durch die die freie Willeusbestimmung ausgeschlossen war, heraus,
so müßte der Staatsanwaltschaft die Pflicht auferlegt werden, von Amts wegen
zugunsten des Verurteilten Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen.
Nach Ansicht namhafter Autoritäten sind ferner gar manche Geisteskranke
verhandlungsfähig. Gewiß ist es oft unmöglich oder für den Erkrankten
nachteilig, zu verhandeln. Zuweilen ist es aber möglich und wünschenswert,
die Verhandlungen nicht aufzuschieben oder das Verfahren vorläufig einzu¬
stellen, sondern zu verhandeln und die Sache zu einem Abschluß zu bringen.
Paragraph 472 des Entwurfs schlägt in Übereinstimmung mit Para¬
graph 492 der jetzt geltenden Strafprozeßordnung vor, daß einem Strafge¬
fangnen, der erkrankt ist und in eine von der Strafanstalt getrennte Kranken¬
anstalt gebracht wird, die Dauer des Aufenthalts in der Krankenanstalt
in die Strafzeit einzurechnen ist, es sei denn, daß der Verurteilte die Krank¬
heit vorsätzlich herbeigeführt hat. In verschiednen Bundesstaaten, namentlich
in Preußen, wird nun aber die Zeit, die ein Verurteilter in einer von der
Strafanstalt getrennten Irrenanstalt zubringt, nicht auf die Strafzeit ange¬
rechnet. Dies geschieht nur um deswillen, weil bei Unterbrechung des Straf¬
vollzugs während des Jrrenanstaltsaufenthalts nicht der Justizetat sondern die
Unterstützungspflichtige Gemeinde oder die Provinz die Verpslegungskosten zu
zahlen hat. Für den Arzt ist die Auslegung, daß die Irrenanstalten nicht unter
die Krankenanstalten zu rechnen seien, unverständlich. Unheilbare Geisteskranke
haben ja von dieser Handhabung des Gesetzes keinen Nachteil, weil sie nicht
wieder in die Strafanstalt kommen; hier ist es verstündlich, daß sie mit der
Strafanstalt nichts mehr zu tun haben sollen. Viele Gebesserte und Gesellte
werden aber bedeutend geschädigt, wenn die Irrenanstalt nicht als Kranken¬
anstalt gilt. Sind doch die, die im Gefängnis psychisch erkranken, zum großen
Teil von Haus aus psychopathische Naturen. Wesentlich beruhigt es gerade
sie, wenn ihnen in der Rekonvaleszenz gesagt werden kann, daß die Jrren-
cmstaltszeit in die ihnen zudiktierte Strafzeit mit eingerechnet wird, daß nach
Ablauf der Gesamtzeit ihre Entlassung in die Freiheit bevorsteht. Am Schluß
Von Absatz 1 des Paragraphen 472 des Entwurfs möchte deshalb ausdrücklich
gesagt werden: „Als Krankenanstalten gelten auch die Irrenanstalten." Die
Wohltat des Paragraphen 472 soll solchen Verurteilten nicht zugute kommen,
die ihre Krankheit vorsätzlich herbeigeführt haben. Ebensowenig gebührt sie
aber Geistiggesundeu, die geistige oder andre Krankheit vortäuschen. Der
Nachsatz sollte deshalb lauten: es sei denn, daß der Verurteilte die Krankheit
vorsätzlich herbeigeführt oder vorgetäuscht hat.
Es kann in strittigen Fällen sehr wichtig sein, daß die Antworten auf
Fragen des Sachverständigen nicht nur dem Sinne, sondern dem Wortlaut
nach genau aufgezeichnet werden. So nur können Jdeenflucht, Verwirrtheit,
stereotype Wiederholungen, Vorbeireden, manierierte Zusätze, fehlerhafte Aus¬
sprache und dergleichen aktenkundig gemacht werden. Die Irrenärzte wünschen
deshalb in der Strafprozeßordnung eine Bestimmung, nach der auf Verlangen
des Sachverständigen Aussagen von Zeugen oder Angeschuldigten wörtlich
Protokolliert werden müssen, wenn sie für das Gutachten besonders wichtig
sind. Eine entsprechende Bestimmung könnte etwa an Paragraph 167 oder
168 des Entwurfs angefügt werdeu.
Das sind in Kürze die Wünsche der Irrenärzte zum Entwurf der Straf¬
prozeßordnung von 1908. Mögen die gesetzgebenden Körperschaften sie noch
in letzter Stunde wohlwollend in Erwägung ziehn!
er Roman Elsaß-Lothringens ist noch nicht geschrieben und
wird auch erst geschrieben werden, wenn aus elsässischem oder
lothringischen Blute der Mann hervorgehen wird, der mit der
nötigen Fülle dichterischer Kraft politischen Blick, Sinn für das
geschichtlich Gewordne und Verständnis für die neuen Aufgaben
der Reichslande verbindet. Bisher waren es Deutsche oder Franzosen, die
Elsaß-Lothringens Geschicke poetisch verwerteten, und sie betrachteten das Vo-
gesenland mit deutschen oder französischen Augen, deutscheu oder französischen
Herzen. Wer wollte es leugnen, daß unsre Auffassungen von Rcissenverwcmdt-
!abäst und Kulturzusammengehörigkeit deu eingebornen Elsaß-Lothringern auch
heute noch ganz fremd sind? Die Franzosen machen sich aber ebenfalls ein
falsches Bild von der Gedankenwelt der Annektierten. Den Elsässern liegt die
romantische Empfindlichkeit, mit der man in Paris bei feierlichen Gelegen¬
heiten das Bild der Verlornen Brüder beschwört, ganz fern. Sie sind ein
realistischer Schlag, der sich von den Phrasen abwendet, denen doch keine Taten
folgen. Der Elsässer ist immer Protestler; er war es gestern gegen die fran¬
zösische Herrschaft; er ist es heute gegen die deutsche, und er würde es morgen
wieder gegen die französische sein, wenn sie ihm morgen auferlegt werden sollte.
Er liebt die „Schwöwe" nicht, er liebt die „Welsch" aber auch nicht. Mehr
noch als für andre Völker gilt hier der Satz, daß eine Nation nicht von Ge¬
fühlen, sondern von Geschäften lebt. Heute muß das Elsaß mit dem Reich
Geschäfte machen, um vorwärts zu kommen. „Ihr bildet Euch immer ein, daß
die große schwarze Schleife, die die Elsässerin auf dem Kopfe trägt, ein Zeichen
der Trauer ist!" so ruft ein nüchterner Elsüsser dem Franzosen zu. „Ihr irrt
Euch — die Schleife ist nationale Tracht." — Der Lothringer ist weicher,
romanischer, weiblicher. Er ist dem deutschen Eroberer gegenüber schmieg¬
samer. Er poltert nicht und duldet still. In seinem innersten Wesen aber
ist er der Germanisierung viel unzugänglicher als der Elsüsser. Den fran¬
zösischen Ansprüchen wiederum bietet er keine feste Stütze: er ist nicht stark¬
knochig genug.
In der letzten Zeit hat sich das Interesse der französischen Intellektuellen in
ganz ungewöhnlichem Maße der elsaß-lothringischen „Frage" zugewandt. Hie
und da wird sie in Verbindung mit dem Modethema, der deutsch-französischen
Annäherung, behandelt. Gemeinsam sind den meisten Erörterungen zwei
Leitsätze. Erstens die Feststellung, daß das politische Protestlertum, wie es
von den Unterzeichnern der Erklärung von Bordeaux (1. März 1871) gedacht
war, in der parlamentarischen Praxis nicht mehr vorhanden ist. Dann aber
die Behauptung, daß die geistige Abneigung gegen alles Deutsche, besonders
natürlich das deutsche Regierungssystem, und die Hinneigung zur französischen
Kultur seit einigen Jahren wieder im Wachsen ist (vergleiche zum Beispiel
Andre Lichtenberger). Diese zweite Behauptung fällt um so mehr auf, als
die französischen Kreise in Elsaß-Lothringen darüber ganz andre Ansichten
haben, als die Pariser Berichterstatter, die dem letzten Kaisermanöver in den
Reichslanden beiwohnten, vielfach bemerken mußten. Von den dichterischen
Werken über das Elsaß-Lothringen der Gegenwart verdienten bisher nur drei
Schriften genannt zu werden: zunächst I/ouM von Casr-Forest. Diese literarisch
wertlose Arbeit ist in Frankreich so ziemlich totgeschwiegen worden. Sie vertrat
den Gedanken, daß die Frankreich genommenen Provinzen zu vergessen be¬
ginnen und sich mit den neuen Verhältnissen auszusöhnen suchen. Den ent¬
gegengesetzten Standpunkt hat der Akademiker Rene Bazin in seinem Roman
1,68 Odsrlö, der zu den populärsten Werken der modernen französischen Literatur
gehört, und der auch, ohne Erfolg zwar, auf die Bühne gebracht worden ist.
Die Söhne der 1870/71 Annektierten suchen sich mit den neuen Herren des
Landes gut zu stellen, die Enkel kehren aber zur UnVersöhnlichkeit der Gro߬
väter zurück. Jean Oberle, der Held Bazins, desertiert und flieht nach
Frankreich. Auch Maurice Barres ist von der unerschütterlichen Anhänglichkeit
der Elsaß-Lothringer überzeugt. Gerade deshalb aber gibt er den französisch-
gesinnten Bewohnern der entrissenen Departements den Rat, im Lande zu
bleiben. In dein Buch ssrvi<zö as 1'H.11<zinagiie> dient der Elsässer Ehrmann
ruhig sein Jahr ab. Folgte er Jean Oberle, würde er ja nur Platz schaffen
für die nachwandernden Germanen und würde das Land der Germanisierung
Preisgeben. Der Elsaß-Lothringer hat aber auf seinem Posten an Rhein und
Vogesen auszuhalten und den weltgeschichtlichen Beruf des Landes weiter zu
erfüllen. I^a, romariisation als8 (?6rnig.iii8 68t> ig, tenäimviz con8eines Ah
l'^IsAvien-I^orram. Im Schlußwort zu /^u sorvioe cle l'^llöins^rio redet
Barres den Helden Bazins an: „Jean Oberle, willst du ein Held sein? Verlaß
das Elsaß nicht!" — „Ja, was kann ich hier nützliches tun, ich armer Ver¬
dächtiger, gegenüber einem Niesenreich?" — „Ich verlange nicht, daß du handelst;
du sollst nur leben. Ich verlange nicht einmal, daß du protestiert; aber
natürlich wird jeder deiner Atemzüge ein Atemzug im Rhythmus zweier Jahr¬
hunderte des Zusammenklangs mit dem französischen Herzen sein. Bleib ein
Kiesel Frankreichs unter dem Stiefel des Eindringlings. Ertrage das Unver¬
meidliche und erhalte, was nicht stirbt." In dem Vorwort zu Florent Makkers
Buch Il'^lsaeg-LoriNns Ah nos ^jorirs kommt Barres auf diesen Gedankengang
zurück. „Man kann heute sagen, daß jeder Auswanderer ein Soldat war,
den Frankreich verlor in dem Kampf, der sich ewig fortsetzt jenseits der Vogesen
zwischen zwei feindlichen Zivilisationen." Ein andermal sagt Barres, man
müsse das Französische des Elsaß nicht von der Verwaltungstätigkeit eines
französischen Präfekten oder der Anwesenheit französischer Regimenter in der
Kaserne am Austerlitzplatz oder dem Absatz der Mülhauser Waren nach Paris
abhängig machen. Das seien politische, militärische, wirtschaftliche.Zustände,
die das furchtbare Unglück von 1870 wohl ändern konnte. Das hindert die
Elsüsser aber nicht, eine besondre französische Feinheit des Ehrgefühls und eine
Höflichkeit der Sitten, die eben die französische Sittlichkeit selbst ist, zu haben
und weiter zu bewähren. Diese Barressche Anschauungsweise ist in Frankreich
immer mehr zur Anerkennung gekommen und hat die Theorien Bazins zurück¬
gedrängt.
Die bisher genannten Bücher stellten Schicksale elsüssischer Familien dar.
Soeben ist nun ein neuer Band der Sammlung I^es Lastions <Zö l'Lst, von
Maurice Barres erschienen: die Geschichte einer jungen Metzerin: Lolotte
LaudooKiz. Barres will in den „Bastionen des Ostens" zeigen, daß sich
der Charakter dieser Marken im Wandel der Schicksale von Jahrhunderten
immer gleich geblieben ist, das heißt nach der Meinung Barres natürlich, daß
diese Marken immer die teutonischen Barbaren abgewehrt, die Andrängenden
aber zur wahren Kultur, der lateinisch-französischen nämlich, erzogen haben.
Für Maurice Barres, den rationalistisch-konservativen Politiker, wird das
Lateinisch-Französische im übrigen durch das Römisch-Katholische ergänzt. Diese
alte Kultur des Westens ist es, die, wie die Lorelei, die Germanen unwider¬
stehlich anzieht, ihnen aber auch Furcht einflößt und sie leicht zugrunde gehen
läßt. Eine solche Auslegung gibt Barres unserm alten, guten Rheinlied,
dessen erste und letzte Strophe wir hier in seiner Übersetzung einfügen wollen:
In volstts Kanäoous haben wir also den ersten Roman der annektierten
Lothringer vor uns. Maurice Barres ist einer der begabtesten, aber auch
einer der meist umstrittnen Schriftsteller des heutigen Frankreichs. Barres
ist eben nicht nur Schriftsteller, sondern auch Politiker, und zwar ein
äußerst kampflustiger Politiker, wie die Boulangerzeit bewiesen hat, und wie
wir noch heute in der Deputierteukammer beobachten können. Er hat den
ausgearteten Parlamentarismus der Demokratie grimmig verhöhnt, und die
Parteigegner rächen sich für die empfangner Geißelhiebe dadurch, daß sie den
Schriftsteller herabsetzen. Wenn ein so scharfer Widersacher Barres wie der
Sozialist de Presscnse dem Verfasser des Romans as I'Lnsr^is nationale seine
Bewunderung ausspricht — was neulich im Palais Bourbon geschah —, so
erregt das bei den Radikalen Verwundern, ja Entrüstung.
Wir wollen hier dem Beispiel Pressenses folgen und dem Mann, der ein
unversöhnlicher Gegner des Bismarckischen Neudeutschland ist, trotzdem gerecht
zu werden suchen. Barres gehört zu jenen Franzosen, die ihr Volk aus der
Wüste des Wurzel- und überlieferungslosen Jakobinertums zu den Quellen der
alten, nationalen Kraft zurückführen wollen. Barres ist, wie Albert Sorel
in seinen nachgelassenen Rotes se?orei-g,it>8 mit Recht von ihm sagt, von allen
Beschwörern der Bolkscnergie der, dessen Stimme am tiefsten in die Seele
der heutigen Jugend eingedrungen ist. Auf wenige zeitgenössische Franzosen
paßt so das Wort La-Rochefoueaulds: I/aevent an p-Z^s, on 1'ein est irö,
äöiueurs clans l'ssprit et äg-us 1s ocsur voulus ains 1o IkMMZs. Wir wollen
die Echtheit der Heimatliebe Barres nicht bezweifeln; aber er kokettiert doch
gar zu sehr mit ihr. Gesuchtheit und Manier entstellen auch seine Sprache,
seinen Stil. Barres schreibt ein Französisch, das durch seinen Glanz gefangen¬
nimmt, das sogar oft durch große Kraft überrascht, dessen Hauptreiz aber in
einer duftigen Eleganz besteht. Schade nur, daß dieser Duft oft nicht der
Geruch der frischen Blumen Lothringens, sondern Pariser Parfüm ist. Wenige
verstehn es wie Barres, in der Seele einer Landschaft zu lesen und diese
Seele wiederzugeben; die Menschen in einen innigen, geheimnisvollen Zu¬
sammenhang mit der Erde zu bringen, aus der sie leben, mit der Luft, in der
sie atmen. Alle diese Vorzüge zeigt sein neustes Buch, und es hält sich dabei
frei von manchen Fehlern früherer Werke; die Sprache fließt in anmutigen,
leichtem Fluß dahin, und die Darstellung ist von größerer Schlichtheit als sonst.
Die Bilder aus dem französischen Metz, die Wanderungen dnrch die Umgebung
der alten Lothringerstadt, der Ausflug nach Gorze und die Gedächtnisfeier
für die gefallnen Franzosen in der Kathedrale sind kleine Meisterwerke. Dazu
ausgestreut über das ganze Buch eine Fülle feiner Bemerkungen und Worte
von tiefem, echtem Klang. Auch die deutschfeindliche Tendenz zeigt sich weniger
grobdrähtig als in ssrvios cle l'^IlömaZ'us, wenn sie sich im vorliegenden
Buch noch oft genug über Geschmack und vornehmes Maß, auf die sich der
Autor so viel zugute tut, hinwegsetzt.
Der Gymnasiallehrer Dr. Friedrich Asmus aus Königsberg ist nach Metz
versetzt und nimmt dort bei den Damen Baudoche Wohnung. Großmutter und
Enkelin — Reste einer durch die Ereignisse von 1870/71 verarmten französisch¬
lothringischen Familie. Die Not zwingt die Damen, die von einer winzigen
Pension und etwas Schneiderei leben, an einen „Prussien" Zimmer zu ver¬
mieten. Er kommt mit den ganzen Vorurteilen des Eroberers nach Lothringen
und will die Annektierten zu borussischen Kulturidealen erziehen. Natürlich
ist er es aber, der dem Zauber der alten Stadt, der teils lieblichen, teils
schwermütigen Landschaft, der französischen Lebensformen, Anschauungen, Bil¬
dung und Sprache unterliegt. Die langsame Bekehrung wird durch die Liebe
zu Colette vollendet. Er entschließt sich mit bemerkenswerter Kaltblütigkeit,
seiner Braut daheim den Abschied zu geben, und wird sich nach den Ferien
das Jawort der zögernden Colette holen. In der Lothringerin empört sich
aber zu guter Letzt der französische Patriotismus mehr und mehr gegen die
Liebe zu den? Landesfeind, und bei dem Requiem für die Opfer des Krieges
wird es ihr klar, daß die französische Ehre von ihr den Verzicht auf die Liebe
des Barbaren verlangt. An der Kirchentür macht sie dem bestürzten Asmus
ihre Entscheidung bekannt. Colette kehrt mit ihrer Großmutter in die Wohnung
am Moselkai zurück; sie wird voraussichtlich einsam durchs Leben gehn, aber
sie wird den Gräbern, der Sprache, dem Gedanken ihres Volkes treu bleiben.
Diese einfache Fabel gibt den Rahmen ab zu einer Gegenüberstellung
deutscher und französischer Charaktere. Das neudeutsch-geschmacklose moderne
Metz der Einwanderer spielt eine traurige Rolle neben dem c-i-cUvant Metz
der Eingevornen. In den Villen der Umgebung haben die teutonischen
Parvenus alle feinen Reize durch ihre abgeschmackten Einfälle zerstört. Auch
nicht ein einziger wahrhaft liebenswürdiger Vertreter des Deutschtums wird
uns gezeigt. Die Kollegen des Dr. Asmus sind natürlich xMAeriliarnstW mit
Landsknechtmanieren, die nach Elsaß-Lothringen auch noch die Picardie, Artois,
Flandern, Champagne, Burgund und Freunde-Comte der Wonnen der Germa¬
nisierung teilhaftig werden lassen wollen. Der deutsche Arbeiter ist ein
Trunkenbold, der sein Geld in der Schenke perdue, den seine lothringische Frau
haßt, und den die eignen Kinder als Prussien verachten, wenn er daheim alles
kurz und klein schlüge. Man macht sich auch über die deutschen Beamten
lustig, die anspruchsvoll auftreten und dabei insgeheim erbärmlich krausem
müssen. Junge deutsche Lassen benehmen sich gegen französisch sprechende
Familien rüpelhaft, und Deutsche sind es, die die üppigen Obstbäume plündern,
die der Lothringer nicht anrührte. „Ihre Landsleute wissen sich überall zu
nähren", sagt Madame Baudoche zu Asmus. Warum auch nicht? Wenn
man Provinzen, Milliarden und Pendülen stiehlt, wird man ein paar arm¬
selige Kirschen nicht schonen. Die deutschen Frauen spielen, wie immer in
diesen französischen Geschichten, eine lächerliche Rolle. Die ostpreußische Braut
ist natürlich eine schwerfällige Walküre. Sie will warten, bis ihr Asmus die
gehörige Überlegenheit über sie hat; ohne solche Unterordnung der Frau ist
eines Deutschen Eheglück undenkbar. Was sonst von ihr erzählt wird, ist so
einfältig und abgeschmackt, daß man es bedauern muß — im Interesse des
vornehmen Akademikers Barres. Auch ein Konzert wird geschildert; da werden
die gesellschaftlichen Manieren der Einwanderer kräftig verhöhnt. Colette ist
durch die „falsche Sentimentalität in Musselin" abgestoßen, und ihre lothringische
Sittsamkeit ist empört über das Verhalten einer deutschen Braut, die vor
ihrem Bräutigam, einem Offizier natürlich, sitzt, ihn mit dem rechten Arm um¬
faßt, die linke Hand mit den Händen des Geliebten auf dem Säbelgriff vereint
und ihren Kopf schmachtend an die Hüfte des Kriegers lehnt, der sie seinerseits
martialisch von oben herab betrachtet! Wenn man sich diese Szene vergegen¬
wärtigt — was nach der verwickelten Darstellung des Romans nicht leicht
ist —, wird man Colette nnr Recht geben können. Den Beweis aber, daß
das echt deutsch ist, hat sich Barres geschenkt.
Der sogenannte Held ist ein unausstehlicher, lederner Geselle. Ein „klas¬
sischer Deutscher", denn er trägt einen grünlichen Filzhut, ist matratzeuartig
in einen unmöglichen Überrock eingepolstert, trügt eine ebenso unmögliche
Kravatte und mit ranzigem Fett geschmierte plumpe Stiefel; benimmt sich un¬
manierlich bei Tisch, erinnert daran, daß er auf den Doktortitel Anspruch hat,
schlägt rücksichtslos und laut die Türen zu, tritt bei den Damen mit
qualmender Tabakspfeife und vollem Bierkrug ein und begeht die auserlesensten
Taktlosigkeiten gegen die Empfindungen — insbesondre die patriotischen —
der Baudoche. Die Kulturerrungenschaften Französisch-Lothringens erfüllen
ihn mit Erstaunen, und jeder Kenner Lothringens wird mit Überraschung lesen,
daß sogar die Hygiene in den altfranzösischen Häusern besser ist als im
modernen Deutschland. Der französische Kamin und die französische Küche
werden gefeiert und dabei manches Wahre über die Absonderlichkeiten neu¬
deutscher Wohnungseinrichtungen gesagt. Als die Salvatorzeit kommt, hält
es der „klassische Deutsche" für seine Pflicht, sich in der unanständigsten Weise
zu betrinken, und als ihm Colette Vorhaltungen macht, antwortet er: „Das
sind so unsre Sitten!" Als er die Schönheiten von Nancy mit der nötigen
Pedanterie studiert, ist er schon so französiert, daß er sich des reichlichen Bier¬
genusses schämt. Er leistet sich da den wiederum klassischem Ausspruch: „Wenn
ich in Nürnberg betrunken torkele, so ist das durchaus in der Ordnung, aber
ich wäre untröstlich, wenn ich mich auf der Place Stanislas ungehörig be¬
nehmen würde." Er fängt an, für die Gemeinden Partei zu ergreifen, die
sich gegen deutschen Unterricht wehren; er nimmt einen Schüler in Schutz,
der sich wegen einer Verunglimpfung Bonapartes im Lesebuch empört, er stellt
Deutsche zur Rede, die sich seiner Meinung nach nicht taktvoll gegen die Ein-
gebornen benehmen, und macht die französisch-lothringische Sache so sehr zu
der seinen, daß er Schwierigkeiten mit seinen Vorgesetzten und Kollegen
bekommt.
Allen diesen Deutschen gegenüber stehen die beiden Damen Baudoche, die
Vertreterinnen einer lebendigen Kultur, die nicht Büchergelehrsamkeit ist. Die
Französinnen lesen nur alte Jahrgänge der illustrierten Zeitschrift ^ustrasie
und lehnen sogar die Bekanntschaft mit den französischen Klassikern ab. Asmus
selbst sagt: „Meine eigne Erfahrung hat mich die Berechtigung dessen erkennen
lassen, was wir bei den Eingebornen Chauvinismus nennen, und was in
Wahrheit das vernünftige Bewußtsein einer Kultur ist. die man dein hellenischen
Attizismus an die Seite stellen muß. Auf unsern Universitäten machen wir
die Hellenen zu uusern Vorbildern, aber keine erworbne Schulweisheit wird
uns ihnen näher bringen. Ihr ganzes Leben war von einem Geist durchdrungen
und harmonisch gestaltet. Hier in Metz finde ich etwas von dieser Einheit."
Und Asmus beruft sich dabei auf Goethe. Barres sieht das hellenische Ideal
in der lothringischen Landschaft, in den lothringischen Bauten, im geistigen
Leben der Bewohner, ihrem Sinn für das schöne Maß. für Einfachheit, für
Ausgleich des Denkens und Fühlens. In ^.n sorvies as l'^IIsmaMs hatte
^ noch Taine gescholten, weil dieser auf dem Odilienberg die Goethische
Iphigenie gelesen habe, statt den romanisch-fränkisch-katholischen Charakter der
Vogesenlandschaft zu erkennen. Hat Barres seine Ansichten geändert, oder ist
Lothringen griechisch und das Elsaß gotisch?
Im Vorwort zu den Lastions ac l'Lst macht Barres darauf aufmerksam,
daß er als französischer Lothringer schreibe, und daß er als Kämpfer in den
Streit der Rassen eingreifen wolle. Auch die Lote^e Lg.nao<ZU6 ist eine Tendenz¬
schrift. Es soll bewiesen werden, daß die französische Kultur der deutschen
überlegen ist. und daß das elsaß-lothringische Grenzland noch heute wie vor
Jahrhunderten die Barbaren latinisiert und die Eroberer der romanischen
Kultur Untertan macht. Auch die heutigen französischen Lothringer stellen eine
nnnmiütv suxÄ-iLure dar. sind beseelt „von dem Willen, nichts anzunehmen,
was nicht ihren innern Gefühlen entspricht». Die Deutschen können mit roher
Gewalt die Zeugen französischer Vergangenheit zerstören, aber der französische
Kulturgedanke selbst ist unsterblich und veredelt selbst die noch, die kommen, ihn
auszurotten. Die heutige Unterdrückung Lothringens ist nur ein vorübergehender
Akt in dem ewigen Kampf der Nassen am Rhein, der ebensowenig aufhört
wie der Kampf zwischen Regen und Sonnenschein. Die Völker jenseits des
Rheins sind achtundzwanzigmal in Frankreich eingedrungen. Und die romani-
siertcn Frcmko-Gankler sind ihrerseits oft genug ins alte Deutschland eingebrochen.
Es werden auch wieder andre Zeiten kommen. „Die Wechselfälle der politischen
Geschichte können es mit sich bringen, daß Herren fremden Bluts uns unter¬
werfen, aber der Wille der Sieger vermag nicht, auch das Blut der Besiegten
zu ändern." Aber zur Zeit Heinrichs des Voglers war Metz doch deutsch! „Ich
weiß nicht — antwortet Colette —, was die Bewohner von Metz vor tausend
Jahren gedacht haben, aber ich weiß, daß ich nicht Deutsche sein kann. Wir
fragen nur unser Herz. Haben Sie, als Sie sich Ihre Braut wählten, auch die
alten Geschichtsbücher befragt?"
Welche Haltung sollen nach der Meinung des Dichters die Deutschen den
Lothringern gegenüber einnehmen? Sie sollen vor allem nicht den organischen
Zusammenhang der Kulturentwicklung zerreißen, die Eingebornen ihren Über¬
lieferungen Treue halten lassen und ihnen nicht Anschauungen und Gefühle
sowie eine Sprache aufzwingen wollen, die ihnen ewig fremd bleiben werden.
Nsmus sagt darüber: „Unser Erscheinen bedeutet eine Krise für die lothringische
Gesellschaft; wir sollten helfen, diese Krise zu überwinden, sollten die Pflege
der allgemeinen Wohlfahrt leiten, und das Land wird uns liefern, was uns
fehlt. Wir siud nicht mehr aufgeregte Soldaten, sondern glückliche Erben eines
alten und herrlichen Besitzes. Wir dürfen auf diesem Boden nichts zerstören,
ohne geprüft und erforscht zu haben, was es an Werten in sich schließt. Ich
glaube, daß diese Werte Deutschland bereichern können---- Es ist etwas Schönes
und Reines um das Herz eines wahrhaften Deutschen; ich möchte es daher
nicht verderben durch Haß gegen ein edles Volk. Wir sollten glücklich sein,
daß dieses Land uns etwas von Frankreich zur Verfügung stellt. Goethe,
Schiller und viele andre große Männer haben erklärt, daß dem deutschen Teig
etwas französische Hefe fehle. Deshalb scheint mir der Widerstand Lothringens
gut, nützlich und unsern Interessen gemäß. Möglicherweise ist das lothringische
Leben noch nicht für alle unsre Landsleute bekömmlich, aber allmählich werden
sie es erkennen und dann nicht mehr entbehren können. Es wird sie nicht
ihrer Natur entfremden, sondern ihre Sitten mit ihren Träumen in Einklang
bringen, ihren tiefsten Neigungen entsprechen, ihre Welt erweitern und sie
erhöhen." Selbstverständlich will Asmus den Lothringern auch die französische
Sprache lassen. „Wir kommen hierher, um Französisch zu lernen und wollen
trotzdem bei den Eingebornen gerade das vernichten, was wir bei ihnen suchen?"
Es liegt uns fern, Maurice Barres wegen seinen Anschauungen an sich
tadeln zu wollen. Wir finden nur, daß er seine Tendenz durch die Verzerrungen
seines Romans nicht glücklich vertreten hat. Jeder Kenner der tatsächlichen
Verhältnisse, ob Franzose oder Deutscher, sagt sich, daß die Wahrheit' nicht da
liegen kann, wo man ihr solche Gewalt antun muß, um eine Behauptung zu
beweisen. Die Methode, jeden Deutschen eben von vornherein in Äußerlich¬
keiten lächerlich erscheinen zu lassen, ist eines Barres unwürdig. Der einzige,
dem er verhältnismäßig liebenswürdige Züge gibt, ist Asilus — und warum?
weil dieser in seinem nationalen Empfinden unzuverlässig ist. Er ähnelt darin
dem grotesken und halb unzurechnungsfähigen Nolovli von Prevost. Würde
sich Asmus als Franzose so widerstandslos gegen ausländische Einflüsse zeigen,
so würde er von Barres als Verräter gebrandmarkt werden. Dabei wollen wir
keineswegs die Gedanken des Asmus als durchaus falsch bezeichnen. Ein
Deutscher kann daheim solche Ansichten haben und ansprechen; er kann sich
«und in Paris zu solchen Anschauungen bekennen, ohne sie Franzosen gegenüber
zu betonen. Lothringischer Boden ist aber Kampfbodcn. In seiner schönen
Scheurer-Kestner-Rede hat Clemeuccau sehr treffend von deu Bewohnern jener
Marken gesprochen, die alle Zeit streitbar und kriegslustig waren. Der
Deutsche.'der nach Metz geht, ist ein Soldat des Deutschtums, und wenn er
an dieser gefährdeten Stelle seine Parteinahme für die Protestler so ..affichiert",
wenn er sich dort den erbitterten Gegnern seines Volks so zärtlich in
die Arme wirft, begeht er Fahnenflucht. Der Metzerin wird es leicht, dem
Deutschen zu entsagen, denn sie hat ihn in Wahrheit niemals geliebt. Aber
much wen,/sie von Leidenschaft für Asmus ergriffen wäre, würde Barres sie
eine Ehe mit dem Prussien ablehnen lassen. Dein Dentschen aber kommt der
Gedanke überhaupt nicht, daß patriotische Bedenken zwischen ihm und der
Geliebten stehen könnten! Er ist eben der Französin auch in dieser Beziehung
nicht gleichwertig. Damit verliert aber der ganze Roman seine überzeugende
Kraft. Das Franzosentum findet gar keinen ebenbürtigen Gegner bei Barres,
man kann daher auch nicht sagen, das? das Franzosentum siegt, denn ein Sieg
setzt doch einen Kampf voraus. Asilus aber kämpft nicht; er unterwirft sich.
Wir haben mehr als einmal Deutsche deu Satz aussprechen hören, daß man
die Franzosen wie die Frauen gar nicht schlecht genug behandeln könne, um
sich ihre Liebe zu erwerben. Wir halten diese Behauptung in beiden Teilen
f"r unsinnig. Ebenso unsinnig ist es aber, sich dem Franzosentum gefangen¬
zugeben und ihm zu schmeicheln. Was würden wir erreichen, wenn wir den
Rezepten des Asmus in der Behandlung Lothringens folgten? Wir würden
den Beifall des Herrn Barres finden, der drohend fragt, wie lange Frankreich
noch das stille Heldentum der Lothringer ansehn werde, ohne ihm zu Hilfe
zu kommen. Asmus arbeitet also nur deu Revauchemünnern in die Hand. Unser
Deutschtum verbietet uns nicht, die stärksten Sympathien für das französische
Aott und französisches Leben zu haben. In Lothringen aber - so sagt der
"pnngermanistischc" Gegner des Asmus bei Barres durchaus mit Recht — muß
'"an wählen: für Deutschland oder für Frankreich! Und da gibt es für uns
ebensowenig eine Wahl wie für die Lothringerin Colette Bandoche.
is nu>i Alfred Rohrschlich zum zweitenmal kam im Frack, in einem
Kragen, der fast bis an die Ohren reichte, mit Kneifer und müden
Mienen, da war sein Eindruck noch weniger überwältigend als am
ersten Gesellschaftsabend, Aber das war er jn nicht er selbst, das
war nur gesellschaftliche Verpackung. Aber daß er so sichtlich mit
dem Teller umherging und Lob für sich einkassierte, daß er sich
feiern ließ, als wäre er ein kleiner Dalailama, daß er kaum für etwas andres Sinn
hatte als für seine Person, war dies auch Verkleidung, oder war es seine eigne
Natur? Und Mama! Nein Mama war ja ganz außer sich. Sie bimmelte ja
diesen Alfred Nohrschach ordentlich an, es sah wahrhaftig so aus, als wenn sie in
ihn verliebt wäre. So eine alte Dame!
Hilda sah es ganz deutlich, daß sich Mama über ihre eignen Gefühle täusche.
Sie verehrte die Kunst, aber ihn, den Künstler, meinte sie. Und er, der Künstler,
ließ es sich gefallen, als habe er diese Verehrung als ein angestammtes Recht zu
beanspruchen. Er trank Mamas Sekt, er aß Mamas Kaviar, er schluckte Mamas
Überschwänglichkeiten, er küßte Mama die Hand, nein er ließ sich fast von ihr die
Hände küssen. Von so einer so alten Dame, die erwachsne Kinder hatte!
Bei nächster Gelegenheit sagte Mama zu Hilda: Höre, Hilda, ein junges
Mädchen muß eine schickliche Zurückhaltung beweisen. Du bemühst dich viel zu
sichtbar um Alfred Rohrschach.
Hilda machte große Augen und antwortete: Nicht daß ich wüßte, Mama. Ich
verehre in Rohrschach nur seine Kunst.
Nein, Hilda, du täuschest dich selbst, sagte Mama. Ein junges Mädchen hat
ein viel zu unerfahrnes Herz, es verwechselt die Kunst mit dem Künstler. Es
glaubt die Kunst zu lieben und liebt den Künstler.
Hilda machte noch größere Augen, aber sie schwieg.
Und dann, fuhr Mama fort, ist er auch für dich viel zu alt.
Alt! Hilda hatte noch nie daran gedacht, wie alt er sein möchte.
Als Siegfried und auf der Bühne sah er so alt aus, wie wenn er mit ewiger
Jugend geschmückt wäre. Im Salon trug er auch ein jugendliches Wesen zur Schau,
aber war das nicht vielleicht auch Verkleidung? Manchmal sah er wie ein Fünfziger aus.
Und weißt du denn, fuhr Mama fort, ob er nicht Frau und Kinder hat?
Damit hatte Mama ins Schwarze getroffen. Ein Mensch, der Frau und Kinder
hatte, konnte unmöglich ein Halbgott sein. Hilda hatte an diese Möglichkeit noch
nicht gedacht. Warum nicht? Weil es gleichgiltig ist, ob die Kunst verheiratet ist
oder nicht? Ich werde ihn fragen, sagte sie zu sich. Aber sie fragte ihn doch nicht,
sondern suchte bei Gelegenheit Hunding in seinem Zimmer auf.
Hunding lag auf dem Sofa, hielt eine Wagnersche Partitur über sich, las und
sang schauderhafte Töne und war offenbar in hoher Begeisterung.
Was machst du denn da? fragte Hilda.
Sieh mal hier, erwiderte Hunding, dieser Kontrapunkt. Hier das Motiv in
den Hörnern, und dann kommt das Cello und sagt: Lai-la-lallala. Weißt du, Htlda.
ihr habt keine Ahnung, was für solide Arbeit in so einer Partitur steckt. Ihr
hört ein allgemeines Getöne und verliebt euch in die Sänger. Und dann heißt
es Bayreuther Tage.
Lästere nicht, entgegnete Hilda. Sag mal, ob wohl Rohrschach verheiratet ist?
Mama meint, er hätte Frau und Kinder.
Kann wohl sein, meinte Hunding. Mindestens hat er eine geschiedne Frau.
Eine geschiedne Frau hat diese Art immer.
Aber er trägt doch keinen Ring und spricht doch nie von seiner Frau.
Hildn, antwortete Hunding altklug, du bist naiv. Diese Art betrachtet Weib
und Kind nur als vorübergehende Zeiterscheinungen.
Nun hätte Hilda zu sich selbst in unerschütterlichem Glauben sagen müssen:
Aber er nicht. Doch sie hatte diesen Glauben nicht.
Vor Tisch hatte Hilda Gelegenheit, mit ihm eine Viertelstunde allein zu sein.
?icht ganz allein, denn im Hintergründe kramte Fräulein Binz in den Noten, aber
sie war doch rin Ihm zusammen, ohne daß Mama dazwischentrat. Er war sehr
gütig und nahm die Verehrung, die man ihm darbrachte, leutselig an. Wenn er
seine Augen aufschlug und Hilda feurig anschaute, drangen seine Blicke bis in ihr
innerstes Herz hinein. Und dann redete er, und von diesen klingenden, rhythmischen
Tönen wurde Hilda wie von einer fremden Macht dahingenommen. Aber sie
'»ehrte sich gegen diese Macht. Sie wußte ja nicht, ob er nicht Frau und Kinder
hatte. Nun mischte sich Fräulein Binz in das Gespräch. Sie lies; sich auf dem
Klaviersessel nieder, griff mit gewalttätiger Hand in die Tasten und ließ Wagnersche
Harmonien erklingen, Motive aus Siegfried. Und dann forderte sie, mit wütendem
Blicke über die Schulter schauend, den Sänger musikalisch pantomimisch auf, den
Schatz seiner Tone aufzutun. Alfred Rohrschach tat es und sang, jetzt mit halber
Stimme, jetzt mit herausschmetterndem Tone, hier eine Phrase, und da ein Motiv,
und dann wandte er sich wortlos fragend an seine ZuHörerinnen, ob das nicht
großartig schön sei — nämlich sein Gesang.
Nun kam Mama, die in Eile ihre Toilette vollendet hatte. Rohrschach küßte
ehr die Hand, bewillkommnete sie in ihrem eignen Hause und ließ sich von ihr ans
den Ehrenplatz führen. Sie nannte ihn Meister und lieber Freund und genoß in
weihevollen Minuten seine Gegenwart. Und er ließ sich genießen. Darauf kamen
dle Gäste. Unter ihnen Philipp Ermsdorf. Er reichte Hilda die Hand, sagte gleich-
gütiges, sah sie aber forschend an, als wollte er fragen: Muß ich noch warten?
Und sie erhob die Auge» zu ihm, als wollte sie antworten: Ja warte. Ich bin
"och krank, aber Mama wird dafür sorgen, daß ich gesund werde.
Das Festessen war vorüber. Man saß beim Kaffee. Das war der Zeitpunkt,
tur den eine Besprechung der bevorstehenden Aufführung in Aussicht genommen
war. Eigentlich war alles fertig, aber da nun einmal Rohrschach zu einer solchen
Besprechung erschienen war, konnte man sie nicht umgehn. Rohrschach ließ sich Vortrag
halten und billigte zuerst alles, um hinterher mit Gegenvorschlägen herauszutreten.
Und diese Gegenvorschläge kosteten Geld, viel Geld. Man hatte Bedenken. Aber
us bitte Sie, meine Herren, rief Rohrschach, wenn es sich darum handelt, in Bayreuther
^ager dem dentschen Volke das Höchste der Kunst zu bieten, darf die Geldfrage
one Rolle spielen.
Das war das alte Sirenenlied der gnädigen Frau gewesen, und es hatte zu
dem Defizit geführt, von dem noch keineswegs sicher war. ob man es durch die
neue Aufführung decken werde. Aber zu dem ersten Defizit noch ein zweites zu
lugen, dazu hatten die Herren wenig Lust.
Meine Herren, sagte Rvhrschach aufstehend, seien wir doch uicht weniger mutig
als diese edle Frau, meine geehrte Gönnerin und Freundin. Lassen Sie nicht ein
Werk von so eminenter Bedeutuug, von so eminent kulturellen Endzwecke zu einem
Geschäftsuntcrnehmen herabsinken. Wir werdeu einen unvergleichlichen Genuß haben,
wir werden einen Markstein in der Musikgeschichte Neusiedels aufrichten. In diesem
Sinne wollen wir uns als Freunde und Helfer um unsre Führerin scharen und
geloben ...
Hunding war leichenblaß ins Zimmer getreten und sagte mit erstickter Stimme:
Mama, eben ist Vater gestorben.
Hunding, rief Fran von Seidelbast entsetzt, was redest dn da? Unmöglich,
ganz unmöglich!
Ja, eben ist er gestorben, wiederholte Hunding.
Aber, mein Gott, rief Frau von Seidelbast, er war doch eben noch ganz Wohl.
Das war er nicht, Mama, erwiderte Hunding, er war sehr schwach, und eben
ist er mir unter den Händen gestorben.
Frau von Seidelbast verließ schwankenden Schrittes das Zimmer. Was sie in
diesem Augenblicke empfand, ist schwer zu sagen. Etwa das, was ein Mensch
empfindet, der auf festem Boden zu stehn glaubte, und nun zerfällt ihm mit einem-
mal alles zu Asche. Ihr Verhältnis zu ihrem Manne war immer nur ein kühles
gewesen. Sie wußte, daß er krank und alt sei, und daß er einmal sterben werde;
aber daß er eben jetzt starb, in dem Augenblicke, wo sie vor der Vollendung ihres
Werkes, vor dem stolzesten Augenblicke ihres Lebens stand, daß er starb und damit
alles in Trümmer warf, sie hätte ihm darum zürne» können. Aber da war ein
andrer Gedanke, der aus der Tiefe auftauchte, deu sie nicht zu denken wagte und
doch denken mußte. Sie hatte ihren Mann allein gelassen, sie hatte ihn allein ge¬
lassen in der Stunde, wo ein Mensch des andern am nötigsten bedarf. Sie hatte
Gäste empfangen und Pläne geschmiedet, und darüber war er gestorben, und nun
kam sie zu spät, um Lebewohl zu sagen.
Die Nachricht vom Tode des Herrn erregte in der Villa Seidelbast eine große
Bestürzung. Man hörte laufende Schritte, Türen schlage», Geschirr zu Boden fallen.
Nie hatte der Herr Geheimrat bei seinen Lebzeiten sein Hans so in Bewegung
gesetzt, wie er es bei seinem Tode tat.
Die Gäste standen in stummer Verlegenheit in Gruppen beieinander. Sie fühlten
die Schuld, die auf Frau von Seidelbast lag, sie fühlten auch ihre eigne Schuld.
Sie hatten Sekt getrunken, Hochs ausgebracht und Feste gefeiert, während der Herr
des Hauses mit dem Tode rang. Der Künstler-Sänger war offenbar höchst unangenehm
berührt, und er gab sich auch keine Mühe, seine Stimmung zu verbergen. Er trat
an die Tür und rief: Johann, meinen Koffer ans den Bahnhof. Aber gleich. Meine
Herrschaften, wandte er sich an die Gäste, der Hausherr hat die Laune gehabt, un¬
erwartet abzureisen, er wird es uns nicht verübeln, wenn wir das gleiche tun.
Hilda hatte im Philosophenwinkel gesessen, als Hunding die Nachricht vom Tode
ihres Vaters brachte. Sie hatte ihrer Mutter folgen wollen, aber diese hatte ihr
zugewinkt, zurückzubleiben. Hilda blieb, während sich Nohrschach verbeugte und ent¬
fernte, wie gelähmt stehn. O, Hunding hatte recht. Er war ein Mensch, der nichts
andres als sich selbst liebte.
Da ging die eine Sonne, die Hilda soviel Unruhe und Herzcnslämpfe gemacht
hatte, unter. Aber die andre Sonne blieb.
Die Gäste rüsteten sich zum Aufbruche. Sie fingen Fräulein Binz ein und
trugen ihr soviel herzliche, herzliche Teilnahme auf, daß es Fräulein Binz, wenn
es Kränze gewesen wären, nicht hätte tragen können. Aber Philipp Ermsdorf blieb
zurück, ergriff Hildas Hand und redete zu ihr schlichte und gute Worte.
Als die Gäste die Treppe hinabstiegen, kam ein Mann die Treppe herauf, der
eine Ledermappe unter dem Arme und ein Papierblatt in der Hand trug, und der
Frau von Seidelbast zu sprechen wünschte.
Frau von Seidelbast sei uicht zu sprechen, wurde ihm geantwortet.
Frau vou Seidelbast müsse zu spreche» sein, erklärte der Mann.
Man rief Fräulein Hilda heraus, und diese kehrte zurück und zeigte dem Onkel
Philipp den Zettel, den der Mann in der Hand gehalten hatte.
Das ist ein Wechsel über fünftausend Mark, sagte Onkel Philipp. Er muß
heute noch bezahlt werden.
Hilda brach in Tränen aus. Mama hat all ihr Geld weggegeben, sagte sie,
>>"d Vater ist tot. Wußte Mama nicht, daß sie heute zahlen mußte?
Ja, Fräulein Hilda, sagte Ermsdorf, sie hat es gewußt und hat es vermut¬
lich vergessen. Fräulein Hilda, erlauben Sie, daß ich Ihnen helfe?
Hilda reichte ihm beide Hände und sagte: In, Onkel Philipp, helfen Sie.
Onkel Philipp ging hinaus, gab dem Boten seinen Wechsel zurück und sagte:
Sagen Sie Herrn Sally, in einer halben Stunde würde ich da sein und den
Wechsel honorieren.
Daß der Herr Geheimrat mit allem Pomp beerdigt wurde, daß die „Fälscht-
lichen" den Trauermarsch bliesen, daß der Herr Archidiakonus von dem Verstorbnen
ein Bild zeichnete, über das dieser sich selbst gewundert haben würde, daß er zum
Schluß, wie üblich, als Rosenknöspchen im Wasserglase beweint wurde, daß alles,
was Näder hatte, dem Leichenzuge folgte, und daß in der Zeitung Reihen von
schwarzumrnndeten nachrufen standen, brauche ich uicht zu erwähnen. Es verlief
"6es so, wie es nach Neusiedler Ordnung verlaufe» mußte.
Frau von Seidelbast war durch den Tod ihres Gemahls doch tiefer getroffen,
als man erwartet hatte. Es war, als wenn ein geheimer Vorwurf auf ihr laste,
^ber sie raffte sich auf. Sie seufzte zum Herzzerbrechen, aber sie erklärte, die große
Sache dürfe durch ihren unendlichen Verlust nicht leiden. Es gab in der Villa
Seidelbast lebhafte Auseinandersetzungen. Die gnädige Frau weinte, Hilda weinte, und
Huuding hielt verzweifelte Reden und rang die Hände.
Darauf trat Hnnding bei Philipp Ermsdorf ein und sagte: Onkel Philipp,
ich komme. Sie um Hilfe zu bitten. Hilda sagt, Sie hatten versprochen, uns
S» helfen.
Ja, Hnnding, erwiderte Ermsdorf, ich habe es versprochen, und ich halte gern
'"ein Wort. Was gibt es denn?
Mama ist ganz außer sich, sagte Hnnding. Sie will durchaus, daß das Rhein-
gold aufgeführt werde, und wir haben doch nichts, wir sind doch arm.
Ermsdorf war überrascht. Er hatte geglaubt, daß sich die Seidelbasts in guten
Verhältnissen befänden. Kommen Sie mit, bat Hnnding, ich finde mich nicht zurecht.
Ermsdorf folgte Hnnding in die Villa Seidelbast, prüfte die Bücher und den
Geldschrank und fand alles in tadelloser Ordnung. Das Vermögen der Frau und
der Kinder war wohl angelegt und verwaltet, aber das Vermögen des Verstorbnen,
°/>s weitaus den größten Teil ausmachte, fehlte. Hnnding erzählte Ermsdorf das
sprach, das er vor Monaten mit seinem Vater gehabt hatte, was dieser von seiner
Absicht, das Geld verschwinden zu lassen, gesagt hatte, daß tabulas Mama von ihrem
Kunstklaps geheilt werden sollte, und daß der Schlüssel des Rätsels in einem
Schriftstücke gefunden werden sollte, das in einer Mappe mit der Aufschrift: Er¬
zeigte Sachen, zu unterst liege. Man fand die Mappe, aber es lag nichts darin.
Hatte der Verstorbne seine Absicht geändert, oder hatte Fräulein Binz im Eifer des
Aufräumens die Papiere beseitigt, weil es ja doch erledigte Sachen waren, es war
'nasi festzustellen. Auch die Zinseinnahmen von dem verschwnndnen Kapital fehlten.
Statt dessen war von einem Kapital, das ans der Bank lag, in den letzten Jahren
ein entsprechender Betrag abgehoben worden. Dadurch war das Kapital ziemlich
aufgebraucht worden. Wo war nun das Verniögen des Geheimrath? Man forschte
nach. Jede Spur, die sich etwa bot, wurde verfolgt, keine führte zu einem Er¬
gebnis. Es kommt vor, daß ein Mensch irgendeine Sache so gut aufgeräumt hat,
daß er sie hinterher nicht finden kann. So schien es der Geheimrat mit seinem
Vermögen gemacht zu haben. Er hatte es so fein weggepackt, daß es hernach niemand
finden konnte. Daß das Vermögen vorhanden war, litt keinen Zweifel; eben so sicher
war es in guten Händen, wenn man nur gewußt hätte, in welchen. Ermsdorf setzte
öffentliche Anfragen in die Zeitung, keine Antwort lief ein, auch nicht die Nachricht,
von der der Geheimrat gesagt hatte, daß sie nach seinem Tode gegeben werden würde.
Fräulein Binz wurde in hartes Verhör genommen. Fräulein Binz bestritt alles.
Man mußte auf eine Lösung des Rätsels in der Zukunft hoffen.
Aber von Hoffnungen kann man nicht leben. Die frühere Wohlhabenheit und
Sorglosigkeit war im Handumdrehn verschwunden. Man mußte sich einschränken, und
selbst Frau von Seidelbast mußte begreifen lernen, daß, wo der schnöde Mammon
fehlt, auch die höchsten Ideale welken.
Die gnädige Frau warf die Augen einer Sterbenden gen Himmel und bereitete
in sich ein zweites Begräbnis, das Begräbnis ihrer Ideale lind ihrer Lebensaufgabe.
Denn, sagte Hunding, das müßt ihr doch einsehn, daß von dem Bayreuther
Tage keine Rede mehr sein kann.
Nein, Hunding, erwiderte Ermsdorf, das Rheingold muß aufgeführt werden,
das sind wir der Mama schuldig.
Die gnädige Frau warf Ermsdorf einen auflebenden Blick zu, aber Huudiug
zeigte seine leeren Hände und rief: Womit? womit?
Hunding, antwortete Ermsdorf, ich helfe.
Und Ermsdorf half, und der Bayreuther Tag faud statt. Aber der Glanz des
Festes fehlte. Es war eine ganz gute Aufführung, etwa so, wie es die Theatergesell¬
schaft ans Jxhausen auch hätte leiste» könne». Das Haus war wiederum bis auf deu
letzten Platz besetzt, und der Rechnungsabschluß war insofern günstiger, als nicht
neue Fehlbeträge herauskamen. Aber von demi alten Defizit hatte nichts abgezahlt
werden können. Und wer bezahlte das? Die Gesellschaft zur Pflege usw. erwies
sich als sehr lau, und Herr Nengebaner sagte: Fällt mir gar nicht ein, für den Riß
zu stehn. Hütte es Frau von Seidelbast zugegeben, daß die Gesellschaft ihre Be¬
schlüsse ausführe, dann wäre das etwas andres gewesen. Aber so hat sie die ganze
Sache an sich gerissen und das Geld zum Fenster hinausgeworfen. Und nun sollen
wir die Pastete bezahlen? Ich denke nicht daran.
Jahr und Tag waren seitdem vergangen. Frau Luzie saß in ihrem Zimmer
und schrieb. Neben ihr saßen ihre Kinder und machten Schularbeiten, und vor ihr
stand ein Telephon, das zu dem Zimmer der alten Frau Holm führte. An der
Wand aber stand Wenzel Hokus Geldschrank. Die Türen waren geöffnet, denn
Frau Luzie machte gerade Rechnungsabschluß. Frau Luzie hatte sich in der ver¬
gangnen Zeit kaum geändert. Sie war ihrem Vater ähnlicher geworden, und ein
gewisser catonischer Zug war hervorgetreten.
Das Mädchen meldete: Frau Baumeister Ermsdorf.
Ach, lassen Sie nur, rief eine junge, elegante Dame, die hinter ihr eintrat
und Luzie um den Hals flog. Da bin ich wieder, rief sie. Ich konnte es nicht aus¬
halten, solange zu warten, bis wir unsern feierlichen Besuch im Landauer machen.
Es war Hilda. die von ihrer Hochzeitsreise zurückgekehrt war. nachdem sie ihrem
Onkel Philipp die Hand zum Ehclmnde gereicht hatte. Sie trat vor den offnen
Arnheim und warf einen neugierigen Blick hinein. Zu Haus hatte sie nie dabei
sein dürfen, wenn der Vater den Geldschrank öffnete. Sie sah nichts besondres,
"nten lag ein verschnürtes und versiegeltes großes Paket.
Ich muß doch meines Mannes Geschäfte führen, sagte Luzie.
Für deine Kinder? fragte Hilda.
Ja - und für - ihn. sagte Luzie und schickte ihre Kinder hinaus.
Ich habe immer gedacht, meinte Hilda, du wurdest dich scheiden lassen?
Warum scheiden?
Um frei zu sein. „ , ... ,
Hilda. sagte Luzie. ich will nicht frei sein, ich will meme Schuldigkeit tun
und will dienen.
Und wenn er wiederkäme?
Luzie erschrak, aber es war kein freudiges Erschrecken.
Würdest du dich freuen. wenn er zurückkehrte? fuhr Hilda fort.
Setze dich, Hilda. erwiderte Luzie. und hör zu. Ich weiß nicht, ob du mich
verstehst. Ja ich weiß, daß du mich verstehst. Das Verhältnis von Mann und
Frau ist das tiefste und feinste, was es gibt. Und wie leicht verletzlich! Was
gibt eine Frau die einen Mann nimmt, hin! Wieviel von ihren, eigensten und
innersten Leben' Wenn man Mädchen ist, ist man eine stachlige Blüte, man lebt
wie im Harnisch, man läßt nichts an sich heran. Das Letzte und Heiligste behält
man sür sich, bis man dem Manne, den man liebt, sein Herz öffnet: da steh hinein,
da lebe drin', es ist alles dein, jeder Atemzug, jeder Wunsch, jede Freude. Aber
eins ist die Bedingung, der Manu muß rein sein und bleiben. Er muß reine
Hände haben, wenn er das Heiligtum anrührt. Hilda, ein Mann, der untreu ist,
ist für eine Frau, die ihn liebt — unrein. Hilda, man kann in bitterm Zorn
voneinander scheiden, man kann sich schlagen, sich bis in die Seele verletzen, die
Rückkehr ist möglich. Ein gutes Wort macht alles wieder gut. Aber nichts trennt
so unheilbar wie der Verrat an der Liebe. Reißt du zwei Pflanzen, die aus
einer Wurzel gewachsen sind, auseinander, sie wachsen nie wieder zusammen. Es
geht zu tief, es ist zu fein, was da zerrissen ist.
Hilda dachte nach. Aber wenn er bereut, sagte sie. Soll man acht einem
Sünder vergeben, der Buße tut?
^^,^
Ja in allen Stücken — aber darin? Das tue, wers kann. Hilda, unterbrach
sie sich angstvoll, kommt er? Weißt du etwas?
Ich weiß gar nichts, erwiderte Hilda. ...
.,^
Aber sie wußte doch etwas. Sie wußte, daß Wenzel Holm, seit er seine Iran
»erlassen hatte, kein Glück gehabt hatte. Er hatte geglaubt, wenn er die enge
Bevormundung von sich abgeschüttelt hätte, würde sein Genius die Flügel entfalten.
Er hatte viel unternommen, einen Mißerfolg nach dem andern gehabt. Und neulich
erst war sein neustes „Spiel", in das er alles hineingeheimnist hatte, was er besaß,
das er drei- und viermal umgearbeitet hatte, mit Trommeln und Trompeten durch-
gefallen. Hilda hatte ihn erst vor wenig Tagen auf der Brühlschen Terrasse in
Dresden gesprochen. Er hatte gedrückt ausgesehen und hatte sich das Bombardieren
"ut Kraftsentenzen fast abgewöhnt. Er schalt zwar auf deu Unverstand der Welt.
^ geschah aber in so elegischem Tone, als glaubte er nicht an seine eigne gute
Sache. Und er sehnte sich nach einem stillen Winkel. Und darauf hatte Philipp
""t ihm ein langes Gespräch unter vier Augen gehabt.
Ich weiß gar nichts, wiederholte Hilda, aber ich würde mich freuen, wenn
dein Wenzel zurückkehrte.
Wenn nun dein Manu von dir gegangen wäre, sagte Luzie, und er kehrte
zurück, würdest du ihn denn mit Freuden empfangen?
Mein Philipp? rief Hilda, mein goldner Herzensmann? Undenkbar!
So habe ich auch gedacht, Hilda, sagte Luzie. Ich hielt es auch für undenkbar,
und daun war das Gold doch nicht echt. Wenn du nun in meiner Lage wärst,
was würdest du tun?
Hilda zog die Brauen zusammen und rieb sich die Stirn. Ich würde ihm
die Augen auskratzen, rief sie lachend und zugleich erzürnt. Oder vielmehr, ich
würde es schon vorher getan haben.
Luzie verscheuchte den Gedanken, der sie eben beschäftigt hatte, und sagte in
andern: Tone: Nun aber erzähle von deiner Reise.
Luzie erzählte.
Und was macht die Kunst?
Du meinst bei Mama? Mama hat Richard Wagner abgesetzt, und uun baut
sie ein neues Mausoleum voller Denkmale für Papa. Weißt du, Luzie, die Kunst
ist eine Schmarotzerpflanze. Wo der Nährboden knapp wird, läßt sie die Blätter
hängen. Ohne Geld auch kein Wagner. Für Mama ist das am Ende ganz gut,
denn ihr Wagnerschwarm war am Ende nicht mehr schön. Ich denke mir, Papa
hat ihr eine Kur verordnen wollen. Aber jeder Spaß muß doch auch einmal ein
Ende haben. Wir aber sehen kein Ende, und es wird nichts übrig bleiben, als
daß wir die Villa verkaufen müssen. Huudiug sagt, es sei eine Pferdekur. Und
Huuding tut mir auch am meisten leid. Er wäre gern in ein Korps eingetreten,
aber dazu langt es nicht. Und Hunding ist der allerschlimmste mit dem Ein¬
schränken.
Hilda erhob sich und trat vor den Arnheim. Ihre Augen fielen auf das ver¬
schnürte Paket.
Was ist denn da drin? fragte sie, Kousols?
Ich weiß nicht, erwiderte Luzie. Ich habe das Paket vorgefunden und uicht
augerührt.
Ich würde aber doch nachgesehen haben, was darin ist, meinte Hilda.
Luzie machte eine abwehrende Bewegung,
Aha, deines Mannes Geheimnisse, sagte Hilda. Dn schämst dich, in seine
Privatangelegenheiten hineinzusehen. Kann ich dir nicht verdenken.
Luzie traten die Tränen in die Augen.
Verzeih, rief Hilda, ich wollte dich nicht kränken. Glaube mir, es wird alles
wieder gut. Er kommt wieder, er hat nicht gefunden, was er suchte.
Ich weiß es, sagte Luzie. O Hilda, rief sie in ausbrechendem Schmerze, warum
mußte Wenzel sein Glück und sein Haus zum Opfer bringen? Für nichts! Für
ein Phantom! Ich weiß es, es gelingt ihm nichts. Es ist, wie wenn ein Fluch
ans seinem Werke läge. Wenn er ein großer Dichter geworden wäre, ich hätte
mich fügen müssen. Ich hätte gesagt: Für diese Größe bin ich zu klein. Aber
für nichts! Glück und Frieden und Gewissen für nichts! Für eine Reihe von
Enttäuschungen!
Siehst du, das ist seine Strafe, sagt Hilda.
Und die meine, und die meiner Kinder.
(Schluß folgt)
Die große Landwirtschaftswoche, die alljährlich um diese Zeit dem Leben der
Reichshauptstadt ein besondres Gepräge gibt, stand in diesem Jahre wieder einmal
w Zeichen stärkerer politischer Erregung. Zwar sind die Zeiten vorüber wo die
in dem Bunde der Landwirte organisierten Kreise um die Bewertung ihres Ge¬
werbes und seiner Interessen innerhalb des Staatslebens einen heißen, erbitterten
Kampf zu führen hatten. Heute steht die Landwirtschaft einer wohlwollenden,
verständnisvollen Negierung gegenüber, und die Schwierigkeiten, mit denen das
landwirtschaftliche Gewerbe vor etwa anderthalb Jahrzehnten zu kämpfen hatte,
sind überwunden. Aber die Kampfzeit hat ans der agrarischen Organisation etwas
andres gemacht, als ursprünglich gedacht war. Sie ist ein politischer Machtfaktor
geworden, der einen wirtschaftlichen Interessenkreis in dem Sinne vertritt, daß er
ihm womöglich eine führende Stellung sichern will. Dieses Streben allem ist schon
geeignet, dem Bunde der Landwirte eine starke Gegnerschaft zu erwecken. Denn
c»'dre Interessenkreise werden sich den Gedanken, daß die Landwirtschaft ein Über¬
gewicht im Staate beanspruchen dürfe, schwerlich zu eigen machen. Der Staat
umfaßt alle die verschiednen gewerblichen Interessen und muß alleu gleichmäßig
gerecht werden Wenn aber Unterschiede anerkannt werden, dann glauben die
Vertreter von Industrie und Handel ein Anrecht auf den Vorrang zu haben, weil
das moderne Wirtschaftsleben an die Stelle des alten Agrarstaats immer mehr den
Industriestaat setzt. Die Frage ist nun, ob der moderne Staat dieser Entwicklung
ohne weiteres folgen, sich von ihr gewissermaßen tragen lassen und sich darauf
einrichten soll oder nicht. Es ist hier nicht der Ort, dieser Frage weiter nach-
Mgehn und das Für und Wider abzuwägen. Die wirtschaftspolitische Anschauung
der gegenwärtig maßgebenden Stellen im Deutschen Reiche geht dahin, daß der
Staat seiner Pflicht, das gewerbliche Leben in jeder Gestalt zu schützen und zu
fördern, gerecht werden soll, daß es aber nicht im Interesse der Gesamtheit Kegt.
die allmähliche Zurückdrängung der Landwirtschaft durch Handel und Industrie
als eine durchaus notwendige und unabänderliche Tatsache hinzunehmen und wo¬
möglich noch zu unterstützen, daß es im Gegenteil bei der natürlichen Stärke, die
unter den gegenwärtigen Zeitverhältnissen Handel und Industrie haben, für diese
keine Zurücksetzung oder Vernachlässigung bedeutet, wenn der Landwirtschaft jede
zulässige Hilfe zuteil wird, die es ihr gestattet, sich neben den andern großen
Erwerbsgruppen zu behaupten. In diesem Sinne hat sich Fürst Bülow als ein
warmer Freund der Landwirtschaft bewährt, und so hat er es auch wohl gemeint,
als er einst das Wort prägte, er wünsche, man solle ihm einmal auf den Leichen-
stetn setzen: „Dieser ist ein agrarischer Reichskanzler gewesen."
Man wird es an sich dem Bund der Landwirte nicht verübeln können, wenn
^ für den Erfolg seines Strebens stärkere Garantien sucht als das Wohlwollen
der zurzeit am Ruder befindlichen Regierung. Er drängt darauf hin. sich selb¬
ständig energischer und in weiteren Umfange durchzusetzen, als es ihm jedesmal in
Wirklichkeit zugestanden wird. Die Versuchung liegt dabei freilich nahe, daß das
Bestreben, ein politischer Machtfaktor zu werden und zu bleiben, über die Grenzen
hinausführt, die durch das Interesse der Gesamtheit gezogen sind. Dieser Ver¬
suchung ist der Bund wiederholt erlegen. Man kann daher ein warmer Freund
der Landwirtschaft sein und sich an allem beteiligen, was geeignet ist, dem Staate
mitten unter den Fortschritten der Industrie und dem Anwachsen des beweglichen
Kapitals einen lebenskräftigen Grundbesitz und einen bodenständigen, tüchtigen
Bauernstand zu erhalten, und doch unter Umständen zu der Überzeugung kommen,
daß das politische Agrariertum zu einer Gefahr für den Staat wird, weil es über
sein berechtigtes Interesse hinaus und zum Schaden der Gesamtheit die Meinungen
und Vorurteile einer einseitigen wirtschaftlichen Richtung dem Staate als politische
Wahrheiten und Notwendigkeiten aufdrängen will.
Auch da, wo man mit Methode und Wirkung nicht einverstanden ist, kann
man anerkennen, daß die Führung des Bundes der Landwirte geschickt auf ihr Ziel
hingearbeitet hat. Aber diese Anerkennung kann die Einsicht nicht hindern, daß
eine Gefahr vor allem darin liegt, daß der Bund auch einer wohlwollenden Re¬
gierung gegenüber von Zeit zu Zeit Machtproben anstellen muß, um zu beweisen,
daß er die Selbständigkeit bewahrt und nicht erschlafft. Eine politische Partei be¬
darf solcher Proben nicht, da sich die von ihr vertretne Grundanschauung stets an
dem Gegensatz andrer Anschauungen messen kann. Verschiedne Anschauungsweisel?
politischer Fragen sind immer da; es fehlt daher auch nie an der nötigen Reibung,
die den Kampf lebendig erhält. Eine Vertretung wirtschaftlicher Interessen da¬
gegen, die in ihren Bestrebungen von einer wohlwollenden Regierung in der Haupt¬
sache anerkannt und unterstützt wird, läuft Gefahr, als überflüssig zu erscheinen,
weil sie für die materiellen Forderungen ihres Programms keinen ernsten Kampf
mehr zu führen hat, die ideelle Grundlage ihres Strebens jedoch viel wirksamer
und umfassender in dem Programm einer auf gleichem Boden stehenden politischen
Partei zum Ausdruck kommt. Deshalb wird bei einer solchen Interessenvertretung
immer die Neigung bestehen, künstliche Differenzen mit einer sonst wohlwollenden
Regierung zu schaffe», damit „gekämpft" werden kann und die Massen deutlich
sehen, wozu die Organisation da ist. Und ebenso wird man versuchen, die Ge¬
samtheit der verfochtnen Interessen zu einer besondern „Weltanschauung" zu er¬
weitern und zu vertiefen. Das ist aber innerlich unberechtigt, denn eine wirtschaft¬
liche Interessenvertretung sollte niemals an die Stelle einer politischen Partei treten
wollen. Mag die politische Parteianschauung auch bestimmten wirtschaftlichen und
sozialen Gruppen eigentümlich sein, sie muß doch immer davon ausgehn, haß sich jeder
Staatsbürger im Interesse des Ganzen zu ihr bekennen kann. Wird eine poli¬
tische Anschauung ans einen bestimmten Wirtschaftlichen Interessenkreis von vorn¬
herein zugeschnitten, so verliert sie mit ihrer Allgemeingiltigkeit auch ihre Be¬
rechtigung.
Das agrarische Hauptorgan hat es uns gewaltig übelgenommen, als wir vor
einiger Zeit den heftigen Widerstand der Agrarier gegen die Nachlaßsteuer auf das
Bedürfnis zurückführten, die Massen des Bundes der Landwirte wieder einmal
durch kräftige Opposition in Bewegung zu bringen. Die Nachlaßsteuer war in den
Kreisen der Landwirte allerdings unpopulär und hatte ihre Bedenken; dieser sach¬
liche Widerstand war natürlich nicht anzufechten. Aber er wurde hauptsächlich
durch den Bund auf das äußerste geschürt. Es wurde mit allen Mitteln verhindert,
daß die offenbaren Irrtümer und Vorurteile, die sich eingeschlichen hatten, irgendwie
berichtigt wurden. Diese demagogischen, mit Irreführungen und Phrasen arbeitenden
Methoden erklären sich nur aus dem Bestreben, die im Frieden mit der Regierung
erschlaffende agrarische Bewegung aufzustacheln und ihr wieder politisches Macht¬
bewußtsein einzuflößen. Die Erwiderung der Deutschen Tageszeitung zeigte uns
damals, daß wir das Richtige getroffen hatten. Die Generalversammlung des
Bundes der Landwirte, die am 22. Februar wie üblich im Zirkus Busch abgehalten
wurde, hat uns eine weitere Bestätigung unsrer Meinung gebracht. Sie lag in
den Ausführungen des Bundesdirektors or. Diedrich Hahn, eines Herrn, der aus
seinem Herzen niemals eine Mördergrube zu machen pflegt. Er besprach das Ver¬
hältnis des Bundes zur Regierung und erinnerte an das bekannte Gleichnis von
dem Wettstreit von Regen, Sturm und Sonne, die dem Wandrer den Mantel von
den Schultern ziehen wollen, or. Hahn äußerte ganz ehrlich, daß er Besorgnisse
hege, das Wohlwollen der Negierung könne auf den Bund der Landwirte wirken
wie die Sonne auf den mit dem Mantel bekleideten Wandrer, der ihn unter den
warmen Strahlen freiwillig von den Schultern nimmt. Der Bund aber will seinen
Mantel behalten, und darum sorgen die Wettermacher des Agraricrtums für etwas
Sturm und Regen. Oder richtiger: die Massen werden hypnotisiert, damit man
ihnen einreden kann, der warme Strahl sei eigentlich eine Wetterwolke, die sich
über ihnen entladet. Und was Dr. Hahn weiter auseinandersetzte, was dann auch
w den übrigen allgemeinen Ansprachen zum Ausdruck kam, das war die Meinung,
daß die speziell agrarischen Interessen eine besondre politische Anschauung, in eine
Weltanschauung darstellten, die das unbedingte Recht hätte, sich durchzusetzen, ohne
sich durch andre Interessen einschränken und beirren zu lassen. Man mußte vor
der naiven Brutalität, mit der diese Ansichten vorgebracht wurden, geradezu er¬
schrecken, wenn man nicht wüßte, daß diese aufgeregten Leute doch im Grunde
patriotisch bis auf die Knochen sind. Aber das beseitigt nicht die Gefahr, die in
diesem demagogischen Spiel mit einem oppositionslustigen Unverstand liegt.
Interessant war der Vortrag, den Herr Aus dem Winckel-Logan über das
Tngesthema, die Reichsfinanzreform, hielt. Die Ausführungen bewegten sich auf
der Linie, die so ziemlich von der ganzen konservativen Partei innegehalten wird.
Sie waren sachlich gehalten und bilden daher eine wertvolle Unterlage für die
Beurteilung des konservativ-agrarischen Standpunkts, der das Zustandekommen der
Reform durch Verständigung mit den Liberalen durchaus sichern könnte, wenn die
Nachlaß- und Erbschaftssteuer nicht das Hindernis wäre. Und in diesem Punkte
waren auch die Behauptungen des Herrn Aus dem Winckel nicht einwandfrei. Es
ist überaus bezeichnend, daß dieser Herr, der offenbar so ruhig und sachlich sprechen
wollte, wie es in einer Massenversammlung bet der herrschenden Stimmung nur irgend
möglich war. doch in bezug auf die Wirkungen der Nachlaßsteuer Schilderungen
entwarf, die sofort in sich zusammenstürzen mußten, sobald eine wichtige Tatsache
«icht verschwiegen wurde. Alle diese Schilderungen wären wunderschön, einleuchtend
und treffend, wenn die Regierung den Vorschlag gemacht hätte, etwa jeden Nachlaß
gleichmäßig mit einem bestimmten, relativ hohen Prozentsatz zu besteuern. Es wurde
"ber mit der äußersten Sorgfalt verschwiegen, daß in allen den Fallen, in denen
auch nur annähernd von einer wirklichen Notlage der Hinterbliebnen die Rede sein
k"»n, gar keine Steuer erhoben werden soll, daß die Steuer progresstv und der
Höhe des Nachlasses steigt, bei kleinen Hinterlassenschaften beinahe lächerlich gering
ist und selbst bei großen Vermögen noch ein so kleines Opfer bedeutet, daß jeder
Mensch, der die bei jedem Todesfall an die Hinterbliebnen herantretenden Sorgen
und Lasten einigermaßen kennt, einfach nicht begreift, wie man überhaupt davon
reden kann. Dieses fortgesetzte Erörtern von Gegengründen und Bedenken, die in
Wirklichkeit gar nicht in Betracht kommen würden, und die hartnäckige Nichtbeachtung
der Grenzen und des Umfangs der geplanten Besteuerung ist das Charakteristische
bei der agrarischen Agitation. Es brauchten den vernünftigen Leuten unter den
Landwirten nur einmal die wirklichen Zahlen, um die es sich handelt, ernsthaft klar
gemacht und mit den bei Todesfällen zu zahlenden Gerichtskosten, Gebühren usw.
berglichen zu werden, dann würden vielleicht »och Meinungsverschiedenheiten über
die Ausführung im einzelnen zurückbleiben, aber der prinzipielle Widerstand würde
zusammenbrechen. Wie sehr die Leidenschaft an Stelle der Vernunft mitspricht, hat
sich auch darin gezeigt, daß ein Mann wie Professor Adolf Wagner in der General¬
versammlung des Vereins der Steuer- und Wirtschaftsreformer eine geradezu un¬
würdige Behandlung erfuhr, weil er — selbst ein berühmter und erprobter Vor¬
kämpfer agrarischer Ideen — die Nachlaßsteuer mutig verteidigte.
Die Versuche, die Reichsfinanzreform auf der Grundlage der bisherigen Kom¬
missionsarbeiten in Sicherheit zu bringen, können wohl als völlig gescheitert gelten.
Man hatte, wie wir schon vor acht Tagen erwähnen konnten, einen sogenannten
Kompromißvorschlag ausgearbeitet, der im wesentlichen darin bestand, daß sich Kon¬
servative und Zentrum darüber geeinigt hatten, die gewünschte Besteuerung des Be¬
sitzes in der Weise eintreten zu lassen, daß eine von den Einzelstaaten zu erhebende
und an das Reich abzuführende Steuer eingeführt würde, die an die Stelle der
Nachlaß- und Erbschaftssteuer treten und auch die Gas- und Elektrizitätssteuer unnötig
machen sollte. Mit andern Worten eine verschleierte Erhöhung der Matrikular-
beiträge, nur in einer Form, die in geradezu raffinierter Weise unter dem Schein
einer stttrkern Betonung des föderalistischen Prinzips im Reiche in Wahrheit einen
entschiednen Eingriff in wohlbegründete Finanzhoheitsrechte der Einzelstaaten dar¬
stellte. Das war echte Zentrumsmache, die von der richtigen Berechnung ausging,
daß den Konservativen jedes Mittel recht sein würde, um von der Nachlaßsteuer
loszukommen und die Liberalen zu majorisieren, und daß sie um diesen Preis auch
ihre eignen Traditionen und Prinzipien — denn die strenge Wahrung des in der
Reichsverfassung festgelegten Verhältnisses zwischen Reich und Einzelstaaten ist kon¬
servative Tradition — kaltblütig verleugnen würden. Seltsamerweise schien auch bei
den freisinnigen Kommissionsmitgliedern die Neigung zu bestehn, sich übertölpeln
zu lassen, vielleicht weil sie durch einen allerdings kaum zu verstehenden Irrtum
in der vvrgeschlagnen „Besitzsteuer" ihr Lieblingskind, die Reichsvermögenssteuer,
wiederzuerkennen glaubten. Glücklicherweise leisteten die Nationalliberalen diesmal
Widerstand. Die Taktik dieser Partei in der Blockpolitik läßt sich vielleicht am
deutlichsten dahin kennzeichnen, daß sie jedesmal den Mund zugemacht hat, wenn
ihr die gebratnen Tauben hineinfliegen wollten. Es ist wohl noch nicht da¬
gewesen, daß eine Partei, die durch die Zeitumstände geradezu berufen schien, die
Führung zu übernehmen, sich diese Stellung durch Verständnislosigkeit, Unklarheit
und Disziplinlosigkeit so vielfach gründlich verscherzt hat. Sie hätte bei der Neichs-
sinanzreform eigentlich der Kristallisationspunkt werden müssen. Nun hat sie
wenigstens ihre Sünden dadurch gebüßt, daß sie ein Kompromiß verhindert hat,
das zwar den Block gesprengt, aber die Reichsfinanzreform in eine Sackgasse ge¬
fahren hätte. Denn eine Einigung der Parteien über eine Lösung, die für die
verbündeten Regierungen von vornherein unannehmbar war, wäre das Schlimmste
von allem gewesen. Durch das Scheitern des Kompromisses der Kommission ist
für ein Eingreifen des Reichskanzlers und für neue direkte Verhandlungen rin den
Blockparteien Raum geschaffen worden. Ein brauchbares Kompromiß wird hoffentlich
Vorliegen, wenn diese Zeilen den Lesern vor Augen kommen.
In der auswärtigen Lage ist endlich eine weitere Beruhigung auch in bezug
auf die Balkankrisis eingetreten. Die Verhandlungen zwischen der Türkei und
Bulgarien sind freilich noch in der Schwebe. Bulgarien hat mit großer Gewandtheit
die Lage auszunutzen versucht, um aus dem Bedürfnis Rußlands, als Protektor der
Balkanstaaten aufzutreten, Nutzen zu ziehen, ohne sich zu verpflichten. Die Reise des
Fürsten Ferdinand nach Se. Petersburg diente demselben Zweck. Der russische Hof
hatte dem Fürsten die königlichen Ehren zugestanden, sah sich aber mit Rücksicht
auf die allgemeine Lage zu der Erklärung genötigt, daß diese höfische Aufmerksam¬
keit nicht die Bedeutung haben solle, die politische Anerkennung der Königswürde
vorwegzunehmen. Trotzdem hat diese kleine Befriedigung des bulgarischen Ehrgeizes
zur Befestigung der Autorität des Fürsten Ferdinand betgetragen. Daraus darf man
wohl die Hoffnung schöpfen, daß in die bulgarisch-türkische Streitfrage keine unnötigen
Verschärfungen hineingetragen werden.
^
Schwieriger sah die Lage in Serbien aus. Die grvßserbischen Wunsche waren
durch die Haltung Rußlands stark genährt worden. Die unruhigen Köpfe in Belgrad
hielten fest an der Hoffnung, doch noch mit einem Stück Land für die Enttäuschung,
die ihnen die Annexion Bosniens bereitet hatte, entschädigt zu werden Sie trieben
die serbische Stimmung gegen Österreich-Ungarn bis zur Siedehitze. Solche Erregungs¬
zustände sind auf die Dauer unmöglich; irgendwie mußte eine Lösung erfolgen, und
so wurde die Kriegsgefahr akut. Der Versuch des kleinen Königreichs mit der
Habsburgischen Monarchie anzubinden, hätte wohl wenig Eindruck gemacht, wenn
nicht die russische Presse in der leidenschaftlichsten Sprache die Verpflichtung Ru߬
lands betont hätte, in einem solchen Kriege an die Seite Serbiens zu treten Das
bedeutete aber einen Angriff Rußlands gegen Österreich-Ungarn, und dieser schloß
wiederum für Deutschland den Bündnisfall in sich. Die Russen schienen zu hoffen,
daß dann auch Frankreich an ihre Seite treten würde. Kurz und gut, ein europäischer
Krieg von unberechenbaren Dimensionen wäre zu erwarten gewesen. Und dann
war auch die Haltung Englands zweifelhaft und der türkisch-österreichische Vertrag
noch nicht perfekt Die Serben glaubten im Vertrauen auf die freundliche Politik
Rußlands und die Österreich keineswegs freundliche Stimmung in England den
Konflikt ungestraft schüren zu können. In England glaubte man in diesem Augen¬
blick, um etwas für den Frieden zu tun. aber auch Rußland und die Türkei nicht
M verletzen, einen gewissen Druck auf Österreich ausüben zu können. Das erwies
sich als unmöglich, aber Frankreich nahm den Gedanken auf, weil es durch eine
ernstlich gemeinte Friedensvermittlnng ans einer Situation herauskommen wollte,
die mehr als eine Verlegenheit für seine politischen Interessen enthielt. Der
französische Vorschlag ging dahin, daß Deutschland in Wien freundschaftliche Ein¬
wirkungen versuchen sollte, um die Streitpunkte zwischen Österreich-Ungarn und
Serbien aus der Welt zu schaffen. Serbien sollte sich dann an Stelle der terri¬
torialen Zugeständnisse mit wirtschaftlichen Vorteilen begnügen. Deutschland mußte
diesen Vorschlag ablehnen, da unsre Stellung zu Österreich-Ungarn eine solche
Intervention nur gestattet, wenn wir damit einen eignen Wunsch unsers Ver¬
bündeten erfüllen Es war erfreulich, daß Frankreich diese Gründe als stich¬
haltig anerkannte, seinen Vorschlag zurückzog und sich die deutsche Auregung zu
eigen machte, wonach ein gemeinsamer Schritt der Mächte in Belgrad mehr an¬
gebracht sein würde. Dieser Anregung lag zugleich der Gebäu e zugrunde daß
durch einen gemeinsamen Schritt der Großmächte die serbische Eigenliebe geschont
würde. Serbien würde dann nicht vor einer einzelnen Macht zurückweichen,
sondern durch ein Votum Europas veranlaßt werden, die gewünschten Kompen¬
sationen auf andern. Gebiete zu suchen als gerade in territorialen Gewinn. Und
wan wußte, daß der leitende Staatsmann in Osterreich diesem Gedanken durchaus
geneigt war. Dem von Frankreich angenommnen deutschen Vorschlage schloß sich
"und Italien an, und ebenso hielt England die Ideen für richtig, wenn es auch
Rücksicht auf Nußland nehmen wollte. Der Beitritt Rußlands zu dem Gedanken
einer freundschaftlichen Intervention in Belgrad im Sinne einer Verständigung mit
Österreich-Ungarn .und unter Fallenlassen territorialer Forderungen schien auf
Schwierigkeiten zu stoßen. Aber Frankreich unternahm es, Rußland dafür zu ge¬
winnen. Es ist nun wirklich gelungen, die Großmächte außer Österreich-Ungarn zu einem
Vermitteluden Schritt in Belgrad zusammenzubringen. Erleichtert wird dieser Schritt
durch verschiedne Umstände. Erstens ist in Serbien inzwischen ein neues Ministerium
unter Vorsitz von Nowakowitsch gebildet worden, das alle Parteien in sich ver¬
einigt. Nowakowitsch hat es kürzlich in sehr geschickter Weise verstanden, den
Regungen des serbischen Nationalgefühls gerecht zu werden und doch das Nach¬
geben gegenüber dem Willen Europas vorzubereiten. Ferner ist es denen, die es
angeht, bekannt, daß Baron Aehrenthal den Serben die Verständigung nach Mög¬
lichkeit erleichtern wird. Endlich ist, und das ist sehr wichtig, inzwischen der Ver¬
trag zwischen der Türkei und Österreich-Ungarn über die Abtretung von Bosnien
und der Herzegowina unterzeichnet worden. Dadurch ist eine so unanfechtbare
Rechtslage geschaffen, daß für Serbien der Gedanke, für seine Ansprüche auf eine
Gebietsentschädigung vielleicht noch einen Rückhalt an den Signatarmächten des
Berliner Vertrags von 1878 zu finden, vollständig in Nebel zerfließen muß. So
scheint denn endlich eine Grundlage gefunden zu sein, die es ermöglicht, die Kon¬
fliktstoffe ini Orient wirklich unschädlich zu machen.
Als die amerikanische Flotte im
Oktober vorigen Jahres in den Häfen Japans erwartet wurde, ließ der Gouverneur
von Kanogawa, einer Stadt an der Bucht von Tokio, folgenden Erlaß den Be¬
wohnern bekannt machen, den wir aus der französischen Zeitschrift 1.'our an Noiräs
wiedergeben: Müßiggänger sollen sich nicht um die Fremden scharen. Kaufleute
dürfen von ihnen nicht übertriebne Preise fordern. Es ist nicht erlaubt, mit
Steinen nach den Hunden zu werfen, die die Ausländer begleite»; die Fremden
sind mit Höflichkeit und Herzlichkeit zu behandeln. Wenn sie in ein Amtszimmer
treten, muß ihnen ein Stuhl angeboten werden; auch ist nicht zu verlangen, daß
sie den Hut abnehmen. Über ihre Kleidung, ihre Religion und ihre Gebräuche
dürfen keine spöttischen Bemerkungen gemacht werden, noch weniger dürfen ihnen
rohe oder beleidigende Worte zugerufen werden. Ihnen neugierig ins Gesicht zu
sehn oder sie unverschämt anzustarren, ist nicht erlaubt. Niemand darf das Haus
eines Ausländers mit schmutzigen Stiefeln betreten. Fremde Missionare hat man
ebenso zu respektieren wie die japanischen Priester. Wenn die Ausländer ihre
Spiele treiben oder spazierengehn, dürfen ihnen nicht Scherben, Knüttel oder
Steine in den Weg geworfen werden. In den Eisenbahnwagen oder den Schiffen,
in denen Fremde rin euch reise», ist es verboten, auf den Boden zu spucken, Obst¬
schalen oder Zigarrenreste hinzuwerfen. Es ist untersagt, nach einer ausländischen
Dame mit dem Finger zu zeigen, sie durch übermütige Redensarten zu belästigen
oder gar ohne Grund nach dem Alter zu fragen. Wenn ihr mit einem Ausländer
geht, haltet euch einen Schritt von ihnen entfernt, und wenn er die Uhr heraus¬
zieht, so merkt, daß er noch andre Besorgungen zu machen hat.
Die Japaner gelten im allgemeinen als ein höfliches Volk; es scheint aber
doch, daß die Erziehung und amtliche Vorschriften mehr dazu getan haben als
natürliche Anlagen. Auch bei uns merkt man ja in jedem Dorfe sogleich an dem Be¬
nehmen der Jugend, wie hoch mau den Schulzen und den Lehrer einzuschätzen hat.
Es ist zu verwundern,
daß es bis jetzt uoch keinen umfassenden „Grundriß der deutschen Geschichts¬
wissenschaft gegeben hat, wie ihn zum Beispiel die klassische Altertumswissenschaft, die
germanische und die romanische Philologie seit Jahren besitzen ein Abriß der
Methode, der Hilfsmittel, der Teildisziplinen und der genauen derzeitigen Ergebnisse
und Probleme Das zweibändige Handbuch der deutschen Gesuchte von Gebhardt.
das Anfang der neunziger Jahre erschien, war zwar zum Tel in dieser Richtung
entworfen, betrat aber den Weg von der Historie zur Historik nicht mit der nötig n
Energie und berichtete anch fast nur über das Wissen von der poli löcher Ge chicht .
davon allerdings ausreichend. Erst jetzt haben sich siebzehn Gelehrte meist Uni¬
versitätslehrer und einige Archivbeamte, zur Bearbeitung e nes vollständ gern Grund¬
risses zusammengefunden. wobei Initiative und Löwenanteil der Universität M^mit vier Verfassern gehört, darunter dem Herausgeber Aloys Meister.'-) Das Werk
ebenfalls zweibändig geplant, ist noch im Erscheinen, doch liegt der gr ßere Tel
v°r. sodaß Urteil und Empfehlung möglich sind. Denn der ..Grundriß" ist zwa
Machst für „Studierende", das heißt Studenten berechnet durfte ab r auch
den Studierten, soweit sie irgend Fühlung mit der gegenwärtigen Wissenschaft
wünschen, fehr willkommen sein. Die Behandlung der p° Emze^schließt er aus und bringt in, ersten Bande außer den geschichtlichen Hilfswissen¬
schaften (Paläographie, Urkundenlehre. Chronologie. Siegel- und Wappenlehre) eme
durch Neuheit und Gediegenheit gleich beachtenswerte Arbeit über historische Geo¬
graphie und dann die Quellen- und Geschichtsschreiberkunde, von der nur der zweete
Teil, seit 1500. noch aussteht. Der zweite Band stellt dann dar: Wirtschafts¬
geschichte, Verfassungsgeschichte. Rechtsgeschichte. Kirchenverfafsungsgeschichte? von
ihm ist etwa die Hälfte erschienen. ...
...^Das Gepräge des Ganzen ist dadurch gegeben, daß namentlich lungere Ge¬
lehrte mit neuer Kraft und in frischer Sprache Zusammenfassungen ihrer Disziplinen
gewagt haben, anch wo große, bewährte Handbücher vorlagen. Sie haben den
Vorteil, in der wissenschaftlichen Bewegung der Gegenwart als die empfindlichsten
Fühler dessen, was soeben entwickelt wird, drin zu stehn, sie sind sich aber auch
sust durchweg der eigentümlichen Verpflichtung ihrer Aufgabe bewußt gewesen. So
ist die Form im ganzen knapp — bei großer inhaltlicher, namentlich bibliographischer
Fülle —, lebhaft und gut geworden. Wenn hier von einzelnem gesprochen werden
d"rf, so seien besonders die kirchenverfnssnngsgeschichtlichen Teile empfohlen
(Werminghoff und Schling), während in der Darstellung der weltlichen dentschen
Verfassung Meister) bei den germanistisch-sprachlichen Ableitungen, die mit
voller Sicherheit vorgetragen werden, öfter ein kräftiges Fragezeichen zu machen
ist- Graf hat mit einem konstruierten Mi-oyo etymologisch nichts Zu tun die
Wurzel von Sippe bedeutet nicht Friede, mundtot da^ nicht von dem al^Worte Mund (Schutz) abgeleitet werden. In der ältern Wirtschaftsgeschichte (Kotzschke)
wird man sich daftir interessieren, den psychischen Charakter einer Periode in bezug
°"f wirtschaftliches Verhalten den, im einzelnen geschilderten Verhalten selbst voran¬
gestellt zu finden. In der ältern Quellenkunde (Jansen) konnte man wohl die
chronologische Vorstellung noch schärfer ausgeprägt und z. B Euchard lieber vor
Regino. Thietmar lieber nach Widukind behandelt our chen. Zu bedauern ist. daß
der Herausgeber, der in seiner Methodenlehre, wie üblich, Objektivität ^Subjektivität schwarz malt, in etwas gewöhnlicher Weise in dem Mvrikerstreit
Partei genommen hat. indem er bemerkt. Lamprecht sei auf einen Satz Rankes
»hereingefallen". Lamprecht habe das Kulturzeitalter des Individualismus — ein
durch Lamprecht von Jakob Burkhardt her übernommner Begriff — „entdeckt" usw.;
doch sind diese Dinge so auffällig, daß sie schon bei geweckter» Studenten ab¬
prallen werden.
Wie alles in der Welt, so ist auch der Begriff
„Kleinheit" recht relativ. Man kann es den Gipfel der Bescheidenheit nennen,
wenn das kleinere von Meyers zwei Konversationslexiken, dessen vor Weihnachten
erschienener fünfter Band (Nordkap bis Schönbein) 991 Seiten zählt, Meyers Kleines
Konversationslexikon betitelt wird. Daß auch dieser Band in jeder Beziehung auf
der Höhe der Zeit steht, braucht nicht besonders gesagt zu werden; nicht empfehlen
wollen wir das Werk, sondern nur das Erscheinen des neuesten Bandes melden.
Um von dem, was uns besonders gefallen hat, einiges zu erwähnen: die Karten
der Nord- und der Südpolarländer geben über den gegenwärtigen Stand der
Polarforschung Auskunft. Der Artikel „Österreich" veranschaulicht die geschichtliche
Entwicklung der Monarchie mit acht, den Stand ihrer Industrie mit einer großen
und den ihrer Landwirtschaft mit acht kleinen Karten; auch fehlen die Wappen
sämtlicher Kronländer nicht. Eine Zeittafel der Päpste wird dem Liebhaber der
Geschichte, ein Verzeichnis der Patentgesetze dem Industriellen willkommen sein.
Von den zahlreichen technischen Artikeln, die alle genügend und zum Teil reichlich
illustriert sind, seien nur Papierbereitung, Photographie, säe- und Düngerstreu¬
maschinen, Schiffbau, Schloß und Schlosser, Schnellpressen genannt. Der Musiker
findet die Entwicklung der Notenschrift, die für Blinde eingeschlossen, der Natur¬
freund die Orchideen, die Raubvögel, die Schmetterlinge, eine gedrängte Pflanzen¬
kunde samt Verteilung der Vegetationsformen über die Erde, jedermann einen
Augenschmaus an schönen, zum größern Teil bunten Bildern. Von den ins Gebiet
der Kunst einschlagenden sind mit solchen besonders die Artikel Ornament und
?A>5 Nllttre lie plllklr
vero!en Lie Lslein ^leilcuin-Li^grellen scnstsen lernen. I^lands ist in xleicnein
UsLe geeignet, ein billigeres uncl ungetrübteres Vergnügen ?u bereiten, sis o!er
denuü von ecllem türlciscnen Isbslc in I^oren von Löthen ^leilcum »lüigsrstten.
« t^alle mit turas Orientsliscue l'sbslc» uno! Ligsrettenksbrilc „Veniet^e", <»
Innsoer Hugo niet?. Deutschlands gröüte ksorilc tur lisnclarbeit-Ligsretten.
Keine ^usststtunA, nur (Qualität.
Ur. 3 4 S K 8 10__pi-elf: ^ 4 S 6 8 10 pfg. 0^8 8tust"
meer dem Titel „Die Reichsfinanzreform, ein Führer" hat die
Vereinigung zur Förderung der Reichsfinanzreform soeben bei
Hermann Hillger in Berlin eine 236 Seiten umfassende Schrift
mit acht Tafeln und graphischen Darstellungen herausgegeben,
die als erste von mehreren weitern dazu dienen soll, für die
Gesamtheit der vorliegenden Probleme der Umgestaltung des Finanzwesens
Deutschen Reiche eine umfassende und gemeinverständliche Übersicht zu
lefern. Die Veröffentlichungen sollen daran mitwirken, daß nicht Partei-
Mstigkeiteu oder Sonderinteressen die Lösung der Aufgabe der Neichsfinanz-
reform verzögern, oder daß auf der Grundlage unzureichend hoher Bewilligung
Finanznot, statt gehoben zu werden, verewigt werde. Die Vereinigung
wendet sich deshalb mit einem zuverlässigen Wegweiser, an dem eine große
Reihe hervorragender Praktiker, Politiker aller Parteien und Gelehrten mit¬
gearbeitet hat, an die breiten Massen des Volks und der Steuerzahler. Die
Beiträge sind von verschiednen Standpunkten aus geschrieben, um alle Fragen
aufzuklären und alle nationalen Richtungen zum Worte kommen zu lassen,
^le will Kenntnis und Verständnis verbreiten nicht nur am heutigen Tage
^ den Tag, sondern zu dauernder Vertiefung der politischen Einsicht unsrer
Mitbürger.
Der vorliegende Band, der für 60 Pfennig käuflich ist, ist in drei Bücher
eingeteilt. Das Buch I behandelt die Notwendigkeit der Reichsfinanz-
^eform und erörtert zunächst in einer Einleitung Finanz und Finanznot
°es alten Deutschen Reichs, ist also im wesentlichen von geschichtlichem
Interesse. Als Ergebnis der geschilderten Entwicklung wird hingestellt, daß
das alte Reich nicht bloß finanziell, sondern überhaupt seiner ganzen
innern Entwicklung nach scheiterte
1. daran, daß es das ihm anfangs aufs reichlichste zu Gebote stehende
wirtschaftliche Hauptmachtmittel der Nation, den Grund und Boden, ver¬
schleuderte,
2. daran, daß es, da es so handelte, infolge der Desorganisation seiner
Verwaltung die Möglichkeit jeder innern Exekutive verlor,
3. daran, daß es, auf diese Weise hilflos werdend, den Einflüssen der
partikularen, in der Verfassung durch die Reichsstände vertretnen sozialen Ge¬
walten derart anheimfiel, daß ihm eine Umbildung seiner Finanzen in irgend¬
einem dem dreizehnten Jahrhundert zeitgemäßen Sinne überhaupt nicht mehr
gelang.
Es wäre, wie der Verfasser ausführt, so, als wenn heutzutage das Reich
das heutige wirtschaftliche Hauptmachtmittel der Nation, ihren Kredit, durch
ein leichtfertiges, stetig an Dimension zunehmendes Anleihewesen erschöpfte,
dadurch auch zu einer Desorganisation des Dienstes in der Reichsverwaltung,
vornehmlich in Heer und Marine käme und dann, endlich im Begriffe, sich
im entscheidenden Momente noch durch eine einschneidende Finanzreform zu
retten, bei den verfassungsmäßigen Vertretern seiner partikularen sozialen Ge¬
walten, bei den Parteien, einen so hartnäckigen Widerstand fände, daß alle
Maßnahmen, die helfen können, nicht zur Ausführung gelangten. Was sich
aber im dreizehnten Jahrhundert zwischen entwickelter Naturalwirtschaft und
primitiver Geldwirtschaft abgespielt habe, finde heute in Vorgängen zwischen
entwickelter Geldwirtschaft und primitiver Kreditwirtschaft nur eine ähnliche
Fortsetzung.
Das erste Kapitel behandelt sodann die politische Bedeutung der
Reichsfinanzreform, und zwar zunächst die Reichsfinanzreform und
die äußere Politik. In letzter Beziehung wird die finanzielle Kriegs¬
bereitschaft des Reiches unter den bestehenden Verhältnissen verneint, da die
Möglichkeit, die enormen, für die Führung eines modernen Krieges not¬
wendigen Geldmittel rechtzeitig und ohne unnötige Erschütterung der in jedem
Kriege schwer getrosfnen heimischen Wirtschaft erhalten zu können, nicht be¬
stehe. Die Frage, ob für Deutschland im Falle eines Krieges ausländische
Geldmärkte offen stehen würden, möge abhängig sein von der internationalen
Konstellation, werde aber nach den im Jahre 1870 gemachten Erfahrungen
für die meisten Fälle verneint werden müssen. Es werde immer dem in¬
ländischen Markt die Beschaffung des allergrößten Teils der notwendigen Mittel
auferlegt werden müssen. Ob und wie die nötigen Milliarden — sei es nun
im Inland oder im Ausland beschafft werden können, hängt einzig und
allein von dem Kredit des Reiches ab. Dieser findet seinen Ausdruck in dem
Kurse unsrer Anleihen. Wird die Kursbewegung der heimischen Anleihen
durch das System, das Defizit von Reich und Einzelstaaten durch immer neue
Begehung von Anleihen und eine gedankenlose Vermehrung unsrer Schulden
zu decken, weiter wie bisher vernachlässigt, so werden im Kriegsfalle bei dem
niedern Kursstand unsrer Renten die nötigen Mittel nur mühsam und zu
sehr ungünstigen Bedingungen zur Verfügung stehn. Abgesehen aber von
der Eventualität eines Krieges liegt die Gefahr vor. daß die uns feind¬
lichen Staaten im Vertrauen auf unsre finanzielle Schwäche uns bereits im
diplomatischen Wege Aktionen einleiten, die. wenn man an tue finanzielle
Kriegsbereitschaft des Deutschen Reiches glauben wollte, niemals in Frage
kommen würde.
Da aber die politische Macht eines Volkes nicht mehr allein auf seiner
militärisch-politischen Stärke, sondern auf der Summe aller seiner Volkskräfte,
der finanziellen und kulturellen so gut wie der militärischen und politischen
beruht, so wird eine Ordnung der Reichsfinanzen, die eine Stärkung des
durch die bisherige Anlcihewirtschaft geschwächten und diskreditierten deutschen
Geldmarktes zur Folge haben würde, eine Verbesserung unsrer internationalen
Stellung herbeiführen, da dieser nur so imstande sein kann, fremde geld¬
bedürftige Staaten von dem finanziellen Einfluß andrer Großmächte und semen
politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen zu befreien.
Nachdem des weitern an den ausländischen/ Preßstimmen zur Reichs-
finanzreform nachgewiesen worden ist. daß das Ausland die allgemeine Be¬
deutung der Finanznot für die deutschen Verhältnisse durchaus erkennt, wird
die Reichsfinanzreform in ihrer Beziehung zur innern Politik und
schließlich die Stellung der politischen Parteien zu jener erörtert.
Es wird mit Recht die Notwendigkeit einer langfristigen Finanz¬
reform betont und darauf hingewiesen, daß der Zug unsrer Staatspolitik
auf langfristige Bündnisse und Verträge politischer und wirtschaftlicher Art
nach außen, langfristige Tarife und Vereinbarungen nach innen, Ausbau von
Heer und Flotte auf Grund langfristiger Probleme. Sozialpolitik mit stetigem
Fortschritt zu weitgestcckten Zielen gehe; nirgends eine unbedingte und un¬
abänderliche Festlegung, aber überall ein weitausschauender Plan; auf dem
Gebiete der Finanzen habe das gegenteilige Verhalten unheilvoll gewirkt;
solle aber das politische Leben gesunden, so müsse das Jahr 1909 eine lang-
listige Finanzreform bringen.
Hinsichtlich der Stellung der politischen Parteien zur Reichs¬
finanzreform bemerkt die Schrift, daß die allgemeine Auffassung dahin
ginge, daß diese Reform eine bittere Notwendigkeit sei; auch zweifle mit Aus¬
nahme der äußersten Linken kaum eine politische Partei daran, daß die
schlechte Finanzlage Deutschlands nicht aus einer schlechten wirtschaftlichen
Lage des Volkes hervorgehe, sondern daß sie in allererster Linie auf politische
Gründe zurückzuführen sei. Es sei nicht das Nichtkönnen, das die Finanznot
Verschuldet habe, sondern der Widerstreit der politischen Meinungen; dem ent¬
spreche auf der andern Seite der Wunsch, nun endlich aber ganze Arbeit
zu machen.
Was die Stellungnahme der Parteien zu den einzelnen Steuern, ins¬
besondre zu den direkten und indirekten Steuern, betrifft, so hat auf
diesem Gebiete die Debatte an Schärfe nicht nachgelassen. Noch immer be¬
tont die Linke die Schädlichkeit der Verbrauchssteuern, die Rechte die Gefahr,
die mit direkten Reichssteuern verbunden wäre. Doch ist zu beobachten, wie
auch auf diesem Gebiete bei dem Ernste der Finanznot die einigenden Ideen
in den Vordergrund getreten sind. Das von der Reichsregierung aufge¬
stellte Prinzip, man müsse bei der Finanzreform sowohl den Verbrauch wie
den Besitz besteuern, findet fast in sämtlichen ernsten politischen Zeitungen
einen Widerklang und wohlwollende Aufnahme. „Da es ebenso ausge¬
schlossen ist, den Bedarf ausschließlich durch indirekte wie ausschließlich durch
direkte Steuern zu beschaffen, so bleibt eben nichts übrig als eine der Ge¬
rechtigkeit entsprechende, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit angepaßte Ver¬
bindung direkter und indirekter Steuerformen." (Vossische Zeitung vom 2. Ok¬
tober 1908.) Auch die Absicht der Reichsregierung, jede Sondergewerbesteuer
auszuschalten und die Steuern lediglich der Allgemeinheit, nicht dem Gewerbe
aufzuerlegen, indem die Verbrauchssteuern nicht vom Fabrikanten oder dem
Händler, bei dem sie erhoben werden, sondern von dem Konsumenten getragen
werden sollen, findet rechts und links Anklang. Dieselbe Annäherung, wie
sie für die Verbrauchssteuer zwischen den politischen Richtungen festzustellen
war, ist bei den Abgaben auf den Besitz nicht wohl möglich. Hier stehn
sich die politischen, ethischen und föderalistischen Anschauungen noch zu un¬
mittelbar gegenüber, als daß es bisher möglich gewesen wäre, ein allgemeines
Prinzip zu finden, innerhalb dessen nur noch die technischen Fragen unerörtert
blieben. Aber auch hier wird ein Fortschritt anerkannt. Keine Partei wagt
heute zu bestreiten, daß eine große Finanzreform nicht gemacht werden könne,
ohne auch den Besitz heranzuziehen. Das soziale Empfinden hat in dieser
Richtung Fortschritte gemacht, die vom ethischen Standpunkt aus nur freudig
zu begrüßen sind.
Im zweiten Kapitel des Bandes wird dann die wirtschaftliche Be¬
deutung der Reichsfinanzreform dargelegt und zunächst das Interesse
aller Erwerbsstände an ihr erörtert. Im Anschluß an die Aus¬
führungen der Denkschrift zur Vorlage wird darauf hingewiesen, daß durch
die infolge der planlosen Anleihewirtschaft herbeigeführte Steigerung des
Zinsfußes alle Anlage- und Betriebskredit benötigenden Produzenten in
Landwirtschaft, Industrie und Handel, ferner auch die Gemeinden und
sonstige in wirtschaftlicher Entwicklung begriffne öffentliche Körperschaften in
Mitleidenschaft gezogen werden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ein der-
artiger hoher Zinsfuß die Konkurrenzfähigkeit des heimischen Gewerbes dem
Auslande gegenüber beeinträchtigt.
Zwar darf das Hinaufgehn des Zinsfußes keineswegs allein der Anleihe¬
ausgabe im Reiche auf Rechnung gesetzt werden. Auch der erhebliche Geld¬
bedarf der Einzelstaaten und Kommunen wie der gewaltige Kapitalbedarf der
Industrie sind als wesentliche Ursachen anzusprechen. Dennoch hat die Er¬
fahrung deutlich bewiesen, daß die gewaltigen Anforderungen des Reiches auf
den Kapitalmarkt in stärkster Weise gedrückt haben, und es kann und Sicher¬
heit erwartet werden, daß ein Nachlassen in diesen Ansprüchen auch den all¬
gemeinen Zinsfuß auf die Dauer günstig beeinflussen würde.
Die Reichsschuld steht heute schon auf 4250 Millionen. Zu diesen
4'/t Milliarden Schulden des Reiches treten noch 14'/, Milliarden Anleihen
der Bundesstaaten und 7'/« Milliarden Anleihen der Kommunen, sodaß
sich daraus eine Gesamtanleihelast von 26 Milliarden für Reich. Bundesstaaten
und Kommunen ergibt.
Hinzu treten die sogenannten Schatzanweisungen. Nach den neuste» Be¬
rechnungen des Rcichsschatzamts waren 475 Millionen Schcitzanweisnngen im
Umlauf, also der volle für 1908 deklarierte Kredit. Außerdem waren 100 Millionen
auf den bewilligten neuen Kredit ausgegeben. Die Bedeutung dieser Zahlen
tritt hervor, wenn man erwägt, daß im Kriege 1870/71 nur etwa 120 Millionen
Mark Schatzanweisungen cuilliere wurden. Die finanzielle Belastung, die das
Reich in den neunziger Jahren durch Schatzanweisungen traf, machte etwa
300 bis 400000 Mark jährlich aus; im vergangnen Jahre ist sie auf
Millionen an Kosten des Diskonts und der Verzinsung gestiegen. Die
Wirkung ist natürlich ein Druck auf den allgemeinen Zinsfuß. So oft sich der
Diskont anschickte, wieder herabzusehen, kam das Reich mit seinen Schatz¬
anweisungen an den Markt und trat der wünschenswerten Abwärtsbewegung
entgegen.
Die Folge der Inanspruchnahme des Geldmarkts durch die starken
Ziffern der Schatzanweisungen und des allgemeinen Anlagemarktes durch die
Reichsanleihen fühlte in den letzten Jahren die deutsche Volkswirtschaft all¬
gemein.
Des weitern wird dann ausgeführt, wie diese eben beschriebne Schulden-
vermchrung auf die einzelnen Erwerbs- und Nährstände wirkt. Alle Stände
sind in starkem Maße an der Gesundung der Neichsfinanzen interessiert: Land¬
wirtschaft. Industrie, Handel und Bankwesen durch die Notwendigkeit billigen
Betriebskredits; die Lohnarbeiter durch das Interesse an dem allgemeinen
Wohlergehn der Erwerbsstünde und insbesondre durch die Notwendigkeit
finanzieller Grundlagen für eine Fortführung der Sozialpolitik; das sparende
Publikum durch das Interesse an der Aufrechterhaltung des Kursstandes der
Anleihen.
Für die Landwirtschaft sind hier die Schlagworte: Produktions¬
steigerung bei sinkendem. Produktionserschwernng bei steigendem
Zinsfuß, insbesondre Meliorationen bei billigem Kredit. Auch die
Entschuldungsmöglichkeit steht und fällt mit der Frage, ob der Zinsfuß sinkt
oder steigt.
In der Industrie leidet namentlich die Exportindustrie bei teueren
Kredit, weil die hierdurch hervorgerufnen hudern Verkaufspreise den Konkurrenz¬
kampf mit den fremden Ländern erschweren oder unmöglich machen.
Sehr zutreffend wird auch darauf hingewiesen, daß das volkswirtschaftlich
zu außerordentlicher Wichtigkeit gelangte Baugewerbe nur gedeihen kann,
wenn das Zinsniveau ein angemessen mäßiges ist. Ein höherer Zins ist geeignet,
die Tätigkeit des Baugewerbes zu lahmen, und damit gerade gerät dann das
fast alle andern Zweige der Volkswirtschaft alimentierende und von ihnen
alimentierte Gewerbe in Stockung.
Über Reichsfinanzreform und Handel und Bankwesen werden
die Äußerungen hervorragender Vertreter des deutschen Bankierstandes wie
Paul Mankiewitz und Max Warburg angeführt, von denen Warburg insbesondre
nachweist, daß die Folgen der Inanspruchnahme des Geldmarktes durch die
Schatzanweisungen und des allgemeinen Anlagemarktes durch die Reichsanleihe
auf Handel, Industrie und Landwirtschaft außerordentlich stark einwirken.
Alle die Kreise, die zusammengewirkt haben, durch einen Wandel der
Handelspolitik die deutsche Volkswirtschaft auf gesundere Grundlagen zu
stellen, haben jetzt ein Interesse daran, an der Wiedergesundung der deutschen
Finanzwirtschaft mitzuarbeiten. Gelingt die Finanzreform nicht, so werden der
Landwirtschaft die Gewinne aus den erhöhten Produktenpreisen wieder verloren
gehn durch die Verteuerung ihrer Kredite, durch den erhöhten Zins für Hypo¬
theken; die Intensität des landwirtschaftlichen Betriebs wird nicht gesteigert
werden können, damit wird auch dieser wichtige Faktor der Volkswirtschaft als
sich immer steigernder Absatzmarkt für die Industrie versagen, diese aber noch
besonders beschränkt werden in ihrer Ausfuhr, weil sie mit den mit billigern
Krediten arbeitenden ausländischen Industrien nicht konkurrieren kann, auch
die internationale Machtstellung ihres Baterlandes der seiner industriellen
Hauptkonkurrenten nicht die Wage halten kann.
endlich ist die Finanzreform eben deshalb von
vitalen Interesse, weil der Beschäftigungsgrad der Arbeiter in der Industrie
wie in der Landwirtschaft nur dann ein zufriedenstellender sein kann, wenn
Landwirte und Industrielle die Möglichkeit haben, Produktion und Absatz aus¬
zudehnen. Wie auf so vielen andern Gebieten, so ist auch hier der Vorteil
von Arbeitgebern und Arbeitnehmern solidarisch. Auch die weitere Fortführung
der Maßnahmen auf dem Gebiete der Sozialpolitik würde gehemmt werden,
und die Interessen der Arbeiterschaft würden dadurch leiden, wenn es auf die
Dauer nicht gelänge, Ausgaben und Einnahmen des Reichs in Einklang mit¬
einander zu bringen, insbesondre würde es unmöglich sein, die durch die so¬
genannte Lex Trimborn vorgesehene Witwen- und Waisenversorgung durch¬
zuführen, da die zu diesem Zwecke bis jetzt zur Verfügung gestellten schwankenden
Erträge der Getreidezölle nicht ausreichend sind.
Wie sehr das sparende Publikum im allgemeinen an dem Gelingen
der Reichsfinanzreform nicht nur politisch, sondern auch allgemein wirtschaftlich
beteiligt ist, habe ich versucht, in einem in Ur. 4 dieses Jahrgangs der Grenz¬
boten (Seite 73 ff.) veröffentlichten Aufsatze „Der Sparer und die Reichsfinanz¬
reform" darzulegen, auf den hier lediglich verwiesen werden darf.
ieser Tage wurde von der deutschen Presse eine russische Stimme
wiedergegeben, die im Journal des Dibats etwa ausführte, die
Slawen seien seit tausend Jahren vor dem Germanentum zurück¬
gewichen, setzt aber sei der Wendepunkt eingetreten, und die
Slawen rüsteten sich zum Marsch gegen den Westen; das be¬
ginnende Jahrhundert gehöre der slawischen Welt. Selbst wenn man an dieser
Großsprecherei einen gehörigen Prozentsatz in Abzug bringt, bleibt doch noch
ewe Fülle von Positivem übrig, das uns zwingt, dem Geschrei von Osten
^ehör zu schenken. Es sei darum eine kurze Umschau über das slawische
Problem gehalten, wie es sich in den letzten sechzig Jahren im Verhältnis
zum deutschen Nationalstaat entwickelt hat.
Das allslawische Problem ist im Laufe des Jahres 1908 von neuem
b°r unsern Gesichtskreis getreten durch den gelegentlich der tschechischen
Ausstellung zu Prag abgehaltnen „Allslawischen Kongreß". Seitdem will es
aus den Erörterungen der slawischen Presse nicht mehr verschwinden. Jene
Versammlung war die zweite Veranstaltung dieser Art, auf der wirklich Ver¬
räter aller slawischen Stämme zugegen waren. Die erste hatte im Jahre
«48 stattgefunden, und zwischen beiden gab es mehrere lärmende Ver-
vrüderungsfeste der Tschechen und der Russen, die die Presse richtig gewürdigt
hat. Der hauptsächlichste Unterschied zwischen den beiden Versammlungen
liegt in dem ausgesprochen anarchischen Charakter der ersten und in dem
streng demokratisch-nationalen der zweiten. Im Jahre 1848 spielten
Männer wie der russische Nihilist Bakunin eine hervorragende Rolle, während
es der polnische Marquis Wielepolski nicht wagen durfte, sich öffentlich zu
zeigen — auf dem ^letzten Slawenkongreß hielt sich im Gegensatz der tschechische
Sozialist Mazaryk abseits, und strenge Nationalisten aus dem Bürgertum wie
der Russe Bobrinski, der Pole Dmowski und der Tscheche Kramarz waren
Wortführer. Hinter diesem Unterschiede steckt natürlich mehr als ein Personen¬
oder Parteiwechsel, dahinter steht eine gewaltige kraftstrahlende Entwicklung,
dahinter steht ein sittliches und politisches Gesunden und Gereiftsein, die die
Achtung und darum auch die Beachtung der gesamten Kulturwelt heraus¬
fordern. Ich betrachte es nun nicht als meine Aufgabe, die an sich sehr inter¬
essante kulturelle Seite der Entwicklung darzustellen, sondern die für uns
augenblicklich wichtigere politische.
Nur auf ein Symptom des Kulturfortschritts sei hingewiesen, auf die
Entwicklung der slawischen Sprachen. Auf dem letzten Slawenkongreß,
dem ich durch Vermittlung russischer Freunde als Gast beiwohnen durfte, wurde
ausschließlich in slawischen Sprachen geredet, und nur gelegentlich wurde von
Slowenen eine deutsche Wendung eingeflochten, um den Sinn dieses oder jenes
schwerer verständlichen Satzes ihrer Sprache genau zu präzisieren. Auf dem
ersten Slawenkongreß wurde dagegen vorwiegend deutsch gesprochen, ebenso wie
auf den meisten dazwischenliegenden Versammlungen. Die Brücke der Ver¬
ständigung, eine allen zugängliche slawische Sprache, die vor sechzig Jahren
fehlte, ist somit heute wenigstens für die Gebildeten der einzelnen Stämme
in den Anfängen vorhanden. Verdanken die Slawen diesen Fortschritt vor¬
wiegend auch deutschem Fleiß — denn die vergleichende Sprachforschung ist
von deutschen Gelehrten geschaffen worden —, so ist damit doch ein Mittel
gegeben, das wohl geeignet wäre, den politischen Zusammenschluß zu fördern-
Jede der in Betracht kommenden Sprachen hat an die andern Konzessionen
gemacht. In die russische sind polnische und tschechische Wortbildungen über¬
gegangen, und in alle Sprachen und Dialekte siud russische, französische und
sehr zahlreiche deutsche Worte und Wendungen eingedrungen, ohne Kampf,
ohne Auseinandersetzungen, lediglich auf dem Wege des täglichen Verkehrs,
den Handel und Wandel gegenwärtig - so überaus nah und schnell gestaltet
haben. Eisenbahnen, Telegraphen, Handlungsreisende haben die Annäherung
der Sprachen praktisch mehr gefördert als Gelehrte, und Parlamente und Presse
haben ihr täglich neue Ausdrücke zugeführt. Wie verschlechternd gerade die
Parlamente auf die Sprache wirken können, beweist uns täglich die deutsche
Presse in Wien und Petersburg. Der Sprachforscher, insonderheit der^ sla¬
wische Sprachforscher, wird nun den eingegangnen Verbindungen nach und
nach die wissenschaftliche Weihe geben.
Wir müssen diesen Umstand im Auge behalten, denn die wirtschaftliche
Entwicklung unsrer Zeit, die Ausgestaltung der Verkehrsmittel, die sich ;a
endlich auch den Weg durch den freien Äther gebahnt haben - alles drangt
zur Überwindung von Entfernungen, zum Näherkommen auf materiellem wie
idealem Gebiete.' Stellen sich dann noch Strömungen ein. die sich von der
natürlichen Annäherung politischen Nutzen versprechen, dann geht unzweifelhaft
mancher daran geknüpfte Wunsch leichter in Erfüllung, als es die glauben,
die einer solchen Entwicklung mißgünstig gegenüberstehn.
Nach dieser Feststellung scheint mir bei einer Gegenüberstellung des ersten
und des letzten Slawenkongresses die wichtigste politische Tatsache dann zu
liegen, daß. während der erste gegen das Staatswesen als solches demonstrierte,
der letzte Kongreß nur zum Kampf gegen den Staat im deutschen Gewände
nef. Früher glaubte man den Staat erst zertrümmern zu müssen, um das
allslawische Ideal erreichen zu können, jetzt ist man überzeugt, das Ziel durch
Umwandlung des innern Gehalts desselben Staats zu erreichen. Das anarchistisch-
soziale Element ist somit gegen das nationale zurückgetreten, und das allslawyche
Problem ist von der Bühne utopischer Allcrweltspolitik auf den realen Boden
der Beziehungen zwischen zwei Nachbarn, nämlich den slawischen Volksgruppen
und dem deutschen Nationalstaat, getreten.
Damit hat die allslawische Bewegung ihre Bedeutung als theoretisches
Problem in eine solche als politisch-praktisches eingetauscht, und sie darf nicht
mehr das Studienfeld einiger Stubengelehrter und privater Liebhaber bleiben,
sondern muß unter die zeitgemäßen Fragen eingereiht werden, mit denen sich
alle deutschen nationalen Parteien zu beschäftigen haben. Das betrifft mich die
amtlichen Leiter unsrer Politik.
Bisher sind es nur zwei Gruppe» von Angelegenheiten, die das amt¬
liche Deutschland in Berührung mit den Slawen bringt: Handelsabkommen
mit den einzelnen selbständigen slawischen Staaten, wie Rußland. Bulgarien.
Montenegro und Serbien. Alsdann sind Bundesrat und Reichstag an ihnen
beteiligt. Die zweite Gruppe umfaßt unsre Polennot in der Ostmark sowie
Arbeiterfragen; sie wird unter Hinzuziehung des preußischen Landtags und des
Herrenhauses bearbeitet. In den beiden Formen unsrer amtlichen politischen
Beziehungen zur slawischen Welt kommt das pauslawische Moment nicht amtlich
Zur Geltung und macht sich nur sporadisch in den Äußerungen der Presse
sowie einzelner Abgeordneter bemerkbar. Die leider notwendig gewordne
Stellung unsrer Polenfrage als interne Angelegenheit des preußischen Staates
schließt - und das ist das gute daran - wenigstens einstweilen jede inter¬
nationale Behandlung aus. während der russische Selbstherrscher die Ver¬
folgung allslawischer Ideen bisher nur bezüglich der orthodoxen Brüder vom
Balkan zu den Aufgaben der amtlichen russischen Politik gezählt hat. Das
will heißen, im amtlichen diplomatischen Verkehr gibt es trotz des letzten
Gr
Slawenkongresses in Prag noch kein allslawisches Problem. Nichtsdestoweniger
steht ein solches in aller Lebenskraft vor uns, und die Zeit scheint nicht mehr
fern, wo es sich eben aus dieser Lebenskraft heraus amtliche Anerkennung er¬
zwingen wird. Auch russische Zaren bleiben nicht ewig Selbstherrscher —^ auch
ihre Stellung ist nicht abhängig allein von einem Gottesgnadentum im land¬
läufigen Sinne, sondern von dem unabwendbaren Entwicklungsgang der Ge¬
schichte. Die slawischen Stämme sind dem ebenso unterworfen wie die ger¬
manischen, wenn sie für die gesellschaftliche Struktur auch nicht dieselben Formen
gefunden haben. Das Wort von der Inferiorität der slawischen Nasse gegenüber
der germanischen erscheint nur in diesem Zusammenhang eine gefährliche Phrase;
sie verschleiert die sich unaufhörlich vollziehende Rassenmischung und die sich
daraus ergebende Kräftigung.
Der Mittelpunkt der politischen Beziehungen zwischen dein Dentschen Reich
und den Slawen liegt gegenwärtig in dem Verhältnis zwischen Rußland
und Deutschtand. Dieses Verhältnis darf in allen den Angelegenheiten, die
einen unmittelbaren Verkehr zwischen den genannten Regierungen beanspruchen,
als ein gutes, ja als ein freundschaftliches bezeichnet werden. Dagegen wird das
Verhältnis seinem innersten Wesen nach geradezu als feindlich zu charakteri¬
sieren sein, wo Fragen der großen Politik im Vordergrunde stehn. Rußland
und Deutschland sind Freunde durch die traditionellen Beziehungen ihrer
Herrscherhäuser wie durch den engen zwischen ihnen bestehenden Handelsverkehr.
Die gegenwärtige russische Regierung steht freundschaftlich zur deutschen Reichs¬
regierung, solange sie keine Polenfrage kennt, sondern das Vorhandensein
dieser Frage lediglich für Preußen zugibt. Anders in der großen Politik.
Da sehen wir Rußland auf der Seite aller der Staaten, die uns unsre ge¬
waltige Entwicklung, die uns die Schaffenskraft unsers Bürgertums nicht
gönnen. Rußland ist mit Frankreich und Großbritannien verbündet und wird
gegen uns losschlagen, sobald einer der beiden Staaten durch uns augegriffen
wird. Die Interessengemeinschaft der drei Staaten liegt angeblich im nahen
Orient, wo wieder angeblich Deutschland und Österreich-Ungarn den andern
Mächten die Handelsfreiheit unterbinden wollen. Rußland hat gerade in den
letzten Jahren gehofft, mit Hilfe Englands und Frankreichs den freien Aus¬
gang ans dem Schwarzen Meer zu erhalten, sieht sich aber gegenwärtig ein¬
geschlossener als je. Rußland hat somit wenig aus der Geschichte seiner Be¬
ziehungen zu England gelernt. Stets war Englands Politik darauf gerichtet,
Rußland in Europa zu engagieren, denn die Gewinnung eines östlichen oder
südlichen Meeres durch Nußland würde die Interessen Englands auf das
empfindlichste verletzen. In Indien fühlt es sich fortwährend durch den rus¬
sischen Bären bedroht. England hat aus diesem Grunde den Japaner zum
Kriege getrieben und den Persischen Golf als eine Interessensphäre gekenn¬
zeichnet, in der Nußland nichts zu suchen habe. Wenn aber Nußland tat¬
sächlich so unselbständig geworden sein sollte, daß es, dem Druck der britischen
Diplomatie nachgebend, seinen Drang an die östliche Küste aufgeben muß,
dann wird es aus Selbsterhaltungstrieb gezwungen sein. im.Norden und im
Westen ein Ausfalltor für seinen Kräftcüberschüß zu suchen. Die Partei der
russischen Politiker, die Englands Absichten richtig erkannt hat. trachtet um
danach, einen Stützpunkt zu finden, der geeignet wäre. England mit Hilfe
einer eben nicht großen Flotte im Zaume zu halten. Dieser Stützpunkt kann
aber dank den geographischen Verhältnissen nicht auf russischem Gebiet liegen.
Darum liegt er in Norwegen, im Bezirk Tromsö oder in Finnmarken. Dorthin
richtet der russische Generalstab tatsächlich schon lange seine Blicke. Als
Etappe auf diesem Wege zum Atlantischen Ozean liegt die finnische Frage.
Sie muß zunächst im altrussischen Sinne geregelt sein, wenn Nußland eme
ungefährdete Verbindung zum Atlantischen Ozean haben will. Hieraus er¬
klärt sich die russifikatorische Politik gegen die Schweden in Finnland, hieraus
erklären sich auch die wirtschaftlichen Maßnahmen am Eismeer, die Besiedlung
der eisfreien Murmanküste sowie deren Verbindung mit Se. Petersburg durch
einen Schienenweg. Ohne über den Stand der Frage eingehend unterrichtet
zu sein, kann ich mitteilen, daß die Vermessnngsarbeiten für die geplante Bahn
schon im Jahre 1903 begonnen wurden. während die Besiedlung der Murman¬
küste schon seit zwanzig Jahren energisch betrieben wird.
Nun gibt es aber in Rußland eine große Partei, die mit Englands
Stellung durchaus einverstanden ist. und die infolgedessen das Vordringen
Rußlands über Finnland nach Nordwesten ebenso mißbilligt wie die oft- und
zentralasiatischen Pläne. Für sie gibt es nur einen Weg. der Nußland an¬
geblich zum Heile gereichen könnte — das ist der Bruch mit „Preußen",
das ist der enge Anschluß an die Westslawen in der äußern und in¬
tensive Kulturarbeit in der innern Politik. Die zunächst zu überwindende
Etappe sei aber die Aussöhnung der russischen Negierung mit den Polen,
wobei vorausgesetzt wird, daß eine Aussöhnung von Volk zu Volk schon statt¬
gefunden habe.*)
Damit kommen wir zu der allslawischen Frage, die hinter der großen
Weltpolitik Rußlands lauert. Denn die größtenteils demokratischen England¬
freunde in der russischen Gesellschaft sind die tatsächlichen Erben der slawja-
"°Philem Ideen, wenn sie auch den Zusammenhang mit den ältern Natio¬
nalisten entrüstet zurückweisen und für ihre Richtung den Namen ..Neoslawophllen"
geprägt haben - denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt em Wort zur
rechten Zeit sich ein. Aus dem Programm der alten Slawophilen ist vielleicht
nur die Feindschaft gegen die römische Kirche gewichen.
Die russische Regierung ihrerseits sieht in den Polen nicht hauptsächlich
slawische Brüder, sondern Träger des der russischen Staatskirche gefährlichen
Ultramontanismus. Darum legt sie auf die Aussöhnung mit den Polen
solange kein besondres Gewicht, so lange sie nicht eine rücksichtslose Unterwerfung
ist. Professor Dr. Hoetzsch hat diesen Ausdruck jüngst (in Schmollers Jahr¬
buch als zu weit gehend) beanstandet — er läßt sich jedoch aus der amtlichen
Literatur des Heiligen spröd erklären. Den Beweis für meine Auffassung
liefert aber die Behandlung der Polen in Rußland. Wenn wir allein die
Maßnahmen der innerrussischen Politik während des Jahres 1908 an uns
vorbeiziehn lassen, so stehn sie vor uns als eine ununterbrochne Kette von
Demütigungen des polnischen Nationalgefühls sowie als Beschränkungen aller
der Rechte und Freiheiten, die im Laufe des Jahres 1905 unfreiwillig ge¬
geben worden waren.
Die seinerzeit in Aussicht gestellte städtische Selbstverwaltung ist bisher
dem Zartum Polen ebensowenig beschieden worden wie die Sjemstwo oder
die Geschwornengerichte. Dagegen wurde mit der polnischen Privatschule nach
Möglichkeit aufgeräumt. Schon im Jahre 1907 begann man die polnische
Matica zu schließen, die bekanntlich den Zweck hatte, die polnischen Massen
nationalpolnisch zu erziehen.*) Im Herbst 1908 wurde die Warschauer Universität
geschlossen und der nationalen Aufklärung der polnischen Massen ein Riegel
vorgeschoben. Zugleich wurden auch alle sonstigen polnischen Privatschulen ge¬
schlossen, und einige tausend Kinder des einzigen Unterrichts beraubt. Die
noch bestehenden Schulen müssen den Geschichts- und Geographieunterricht in
russischer Sprache gewährleisten, und nur Mathematik, Naturkunde, Physik und
neue Sprachen dürfen in polnischer Sprache unterrichtet werden. Diese immerhin
nicht großen Konzessionen hat die Regierung überdies nur unter dem Drängen
der dritten Duma bewilligt. Im November wurde die Bestimmung ergänzt
durch die Forderung, der Geschichts- und Geographieunterricht dürfe nur von
Personen orthodoxen Glaubens erteilt werden. Hierdurch sind zahlreiche polnische
Lehrer, sogar solche, die schon dreißig Jahre um den staatlichen Schulen den
Geschichtsunterricht geleitet hatten, auf die Straße geworfen worden.
Auf der andern Seite begünstigt die Regierung alle zersetzenden Er¬
scheinungen in der polnischen Gesellschaft wie die Sekte der Mariaviten. Sie
hat ihr vollständige Freiheit der Religionsausübung gewährt zu einer Zeit,
wo sich selbst die fünfzehn Millionen russischer Altgläubigen und ihnen verwandte
Sekten solcher Freiheit noch nicht erfreuen konnten.
Gegenwärtig wird an der Newa die von den Polen sogenannte vierte
Teilung Polens vorbereitet, indem der lange gehegte und vielfach erwognc
Plan erneut zur Beratung steht, die östlichen Kreise der Gouvernements Ljublin
und Sjedletz an die benachbarten russischen Gouvernements anzuschließen — sie
also der auf dem Code Napoleon beruhenden bürgerlichen Gesetzgebung im
Zartum zu entziehen.
Wir können somit in der amtlichen russischen Polenpolitik eine Ergänzung
der preußischen Polenpolitik erkennen. Dabei dürfen wir uns jedoch acht be¬
ruhigen. Denn mehr noch als unsre Ostmarkenpolitik ist die russische Westmarken-
Politik wesentlichen Schwankungen unterlegen, und geringer noch als unsre
Erfolge sind die der russischen Polenpolitik. So haben zum B^l ewige
finanztechnische und wirtschaftspolitische Maßregeln des Herrn Witte eme Reese
v°n politischen Vorschriften hinfällig gemacht. Die gegenwärtige Haltung der
russischen Regierung gibt uns keine Gewähr dafür, daß sie nun auch drei, sun
»der gar fünfzehn Jahre lang konsequent beibehalten wird.Gegenwärtig steh
man in Rußland noch unter dem Eindruck der letzten Revoliitwn insonderheit
der großen Eisenbahner-und Poststreiks. an denen hauptsächlich d.e Polen be¬
teiligt waren. Schon in wenig Jahren - die Zeit heilt bekanntlich alles - kann
der Eindruck verwischt sein, und wohl um so leichter, wenn von irgendeiner Seite
politischer Zwang hinzutreten sollte. Und so erwarte ich und mit mir zahlreiche
russische und polnische Politiker eine Wendung der russischen Politik den Polen
gegenüber nicht so von der Duma als von der Regierung aus. Die teilweise
Erfüllung der polnischen Hoffnungen machen die Russen abhängig von den
amtlichen Beziehungen zu England. Eine wichtige Frage ist deshalb für die
Russen und die Polen, wie viel englandfreundliche Elemente in die maßgebenden
Kreise Petersburgs an den Hof und in die Ministerien gelangen. Und da ist es
äußerst interessant, zu beobachten, wie gerade die mangelnde Bildung bei den
Moskowitern die Veranlassung dafür wird, daß Nichtrussen den gedachten
Einfluß gewinnen. Moskowiter haben nicht genügenden Bildungsüberschuß, um
imstande zu sein, das gewaltige Reich mit eignen Kräften zu verwalten. S,e
sind mit dem steigenden Fortschritt auch in steigendem Maße gezwungen. Fremd¬
völker, wie Deutsche. Polen. Letten, Ehlen. Kaukasier usw.. ja sogar Juden, die
doch strengen Ausnahmegesetzen unterworfen sind, in großer Zahl in ihre
Beamtcnkörper aufzunehmen. Die systematische, seit der Mitte der siebter >;ahre
betriebne Hetze gegen das Deutschtum innerhalb und außerhalb Rußlands hat
gegen die Aufnahme von Deutschen in die höchsten Stellen der Beamtenschaft
einen solchen Widerwillen erzeugt, daß wir deutsche Namen immer mehr aus
den Ranglisten verschwinden sehen. Wo wir ihnen aber begegnen, haben ste
ihr Deutschtum meist längst abgestreift und dieser Tatsache unter anderm Ausdruck
verliehen durch den Übertritt zum orthodoxen Glauben. Ich nenne die Namen
Plehwe. Meyendorf. Graf Lambsdorf - ihre Zahl ist ganz wesentlich zu ver¬
mehren. Das hervorragend gute Beamteumaterial aus Deutschen wird größten¬
teils ersetzt durch Polen und Letten. Ist es nun anch in friedlichen Zeiten
politisch belanglos, ob das technische Personal von Post. Telegraph und
Eisenbahn nicht durchgehend russisch bleibt, so muß es doch zur Aufmerksamkeit
Veranlassung geben, wenn zum Beispiel aus den obersten Justizbehörden, vor
allen Dingen aus dem Senat, das russische Element verdrängt wird. In den
Senat können tatsächlich nur hervorragende Juristen und makellose Männer
gelangen. Früher spielte das deutsche Element aus dem Baltikum dort die
Hauptrolle, jetzt treten immer mehr Polen ein. Eine persönliche Beobachtung
an Ort und Stelle möge die Behauptung beleuchten. Im Jahre 1901 ist
es mir zuerst aufgefallen, daß auf den Korridoren des Senats polnische Laute
fielen — im Jahre 1896 klang noch überall in der Unterhaltung der Beamten
die deutsche Sprache, im Jahre 1906 herrschte dagegen das polnische Idiom
vor. Gegenwärtig haben wir einen Marineminister, den die Polen als ihren
Landsmann reklamieren, und eine ganze Reihe von Direktoren in den ver¬
schleimen Ministerien, die nur als Polen bekannt sind. Der Einzug der polnischen
Sprache in die Korridore der höchsten russischen Gerichtsbehörden ist mir neben
tausend andern Erscheinungen des öffentlichen und privaten Lebens ein Symptom
dafür, daß ein wichtiger Teil der Staatsgeschäfte nicht ausschließlich von Trägern
der russischen Staatsidee, sondern von Leuten besorgt werden muß, die nach
Tradition und Erziehung eben dieser Idee feindlich gegenüberstehn. Wenn ich
diesen Dingen eine besondre Aufmerksamkeit schenke, so geschieht das, weil ich
fest davon überzeugt bin, daß jeder an der Politik irgendwie beteiligte Pole,
sei es in Preußen, Österreich oder Rußland, an welchem Platze er auch immer
stehn möge, daß jeder Pole dahin wirkt, der heutigen ideellen Polengemein¬
schaft den realen Ausdruck eines alle Teile umfassenden Polcnstaats zu schaffen.
Wer an der Berechtigung solcher Auffassungen zweifelt, blättre Wagners Polen-
spicgel durch, und er wird auf jeder Seite die Unterlagen finden.
Die polnische Idee hat somit ihre Werkzeuge bereits an den Stellen
Rußlands, von wo aus sie im geeigneten Augenblick wirken können, und hinter
ihnen steht die demokratische und fortschrittlich gesinnte russische Gesellschaft, die
durch die Vermittlung der Polen endlich Anschluß an den Westen gewinnen
will, an dem sie nach ihrer Auffassung durch die amtliche Freundschaft zwischen
Rußland und Deutschland verhindert wird.
Ehe ich auf die Konsequenzen dieser x«zu<ztrÄtic>n paeillMs der Polen in
den leitenden Stellen Rußlands näher eingehe, sei ein Blick zunächst vom Norden
zum Süden geworfen — auf die Entwicklung der politischen Stellung
der Slawen in Österreich-Ungarn. Die Südslawen interessieren uns
zunächst in diesem Zusammenhange gar nicht. Ihre Stellung zum Deutschen
Reich ist im Grunde genommen nur von Belang in Balkanfragen. Da¬
gegen nötigen uns auch in Österreich die Polen das lebhafteste Interesse ab
und nach ihnen die Tschechen.
ährend des interparlamentarischen Preßkongresses in Berlin kam
zur Sprache, daß unter andern Staatsmännern und Fürsten auch
Kaiser Wilhelm der Erste zeitweilig unter die Journalisten ge¬
gangen sei. Das ist wohl der Mehrzahl unbekannt gewesen, und
es dürfte vielleicht uicht uninteressant sein, aus dieser Tätigkeit
com meiner Ansicht nach sehr bezeichnenden Beitrag zu liefern. Bezeichnend
erstens für die Gesinnung dieses bedeutenden Fürsten, bezeichnend aber auch für
!e Klarheit, mit der er seine Gedanken zum Ausdruck und allgemeinen Ver¬
ständnis zu bringen wußte. Es gibt wohl heute keinen, der nicht der schlichten
""lltärischen und königlichen Gestalt Wilhelms des Ersten rückhaltlose Be¬
hinderung entgegenbrächte, aber weitverbreitet ist daneben die Anschauung, daß
^iher Wilhelm nicht gerade ein Mann der Feder und der Wissenschaft gewesen
^. Diese irrige Meinung geht bis weit in die gebildeten Kreise hinein. Und
d^ ^scheint auch auf diesem Gebiete die geistige Begabung Kaiser Wilhelms
alles n^" " abgeklärter und gefestigter Form. Freilich liegt ihm auch hier
Prahlende und Prunkende fern, auch hier überwiegt der militärische
fere aug. seiner ganzen Anschauung und prägt sich in der einfachen und
ngen Form der Gedanken und Sätze aus, aber niemand wird trotz dieser
Flachheit verkennen können, daß wir es mit einem ungemein klaren und das
n et beherrschenden leiste zu tun haben. Natürlich darf man nicht zu den
enden gehören, die von vornherein alles, was aus der Feder oder dem Munde
"es Fürsten kommt, für eingelernt und uicht für eignes Können halten. Mir
b ^!>' ^ d^' prinzipiellen Ableugnung aller wissenschaftlichen Fähigkeiten
l Fürsten, wie sie der echte Demokrat kundzutun pflegt, eine in das Groteske
ertnebne Selbstverhimmelung der Klugheit und Fähigkeit des „freien Bürgers"
»um, Ausdruck kommt.
. ^r setzen der Heldengestalt des ersten Deutschen Kaisers überall Denk-
mVk.^ ^ ihm den Beinamen des Großen. Aber mir scheint noch
G^ü ^- steinerne oder erznc Denkmäler zu sein, daß wir auch die geistige
^ ^ Fürsten in allen ihren Äußerungen unserm Volke bekannt machen.
sind sechzig Jahre her, daß im Dezember 1848 eine Broschüre erschien, die
v°"s ? ^ führte: „Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf über die Deutsche Wehr-
^assung." (Gedruckt bei A. W. Hahn.)
Das Bändchen ist 108 Selten stark, und der Verfasser war der damalige
Prinz von Preußen, der nachmalige Kaiser Wilhelm der Erste.*) Es handelte
sich damals darum, eine Wehrverfassung zu geben, die für alle deutschen Staaten
maßgebend sein sollte. Die Broschüre leitet ihre Darlegungen mit folgenden
Worten ein:
Welcher deutsche Militär hätte nicht mit Spannung dem Erscheinen des ver-
heißnen Entwurfs einer Wehrverfassung für Deutschland entgegengesehn? — einer
Verfassung, welche dem ersehnten Zweck der größern Einheit und Selbständigkeit
des gesamten Vaterlandes das bereiteste Mittel, ein schlagfertiges, kriegstüchtiges Heer
bieten und durch eine wohlgeleitete Entwicklung der Nation — für welche man das
einstige Reichsheer doch halten aus; — die Sicherheit ini Innern und das Ansehn
nach außen wahren sollte.... Ein einheitliches Heer sollte hergestellt und doch die
Sonderbedingungen der einzelnen Staaten berücksichtigt — die geringmöglichste
Störung des einzelnen Individuums in seinen bürgerlichen Verhältnissen mit einer
für den Krieg völlig und ausreichend vorbereiteten Organisation in einem Wehr¬
system vereinigt werden. ... Gerade weil wir keinen Augenblick die wirkliche Einheit
Deutschlands aus den Augen verlieren und sie als den gemeinsamen Strebepnnkt
erkennen, wollen wir sie nicht durch eine Opposition gefährdet wissen, die zuverlässig
entstehn wird, wenn nicht billige, gleichzeitig aber auch würdige und angemessene
Rücksichten auf die Lebensbedingungen der einzelnen Staaten genommen werden.
Eben weil wir nicht wollen, daß eine solche Opposition das Zustandekommen einer
wirklich deutschen Wehrverfassuug überhaupt in Frage stellen könnte, müssen wir
wünschen, den gegründeten Anforderungen der Einzelstaaten Rechnung getragen
zu sehe».
Wir sehen hier mit scharfer Deutlichkeit den Grundsatz ausgesprochen, den
der Kaiser nie aus den Augen verloren hat: die Notwendigkeit der größern
Einheit und Selbständigkeit Deutschlands, — wie er schreibt: den ersehnten Zweck;
aber daneben die Wahrung der berechtigten und gegründeten Anforderungen
der Einzelstaaten. Auf der andern Seite die felsenfeste Überzeugung, daß dieser
Zweck nur erreicht werden könnte durch ein schlagfertiges kriegstüchtiges Heer,
das ihm die beiden Hauptaufgaben erfüllen soll, die der friedliche Bürger von
einem Staatswesen verlangen muß: „Einheit im Innern und Ansehn nach
außen". Es ist, als ob das ganze Lebenswerk Wilhelms des Ersten in diesen
knappen Sätzen gekennzeichnet wäre: die Einheit Deutschlands und die
Wahrung der Einzelstaaten, aufgebaut auf das beste Heer.
In den weitern Ausführungen wendet sich der Prinz den speziellen Forde¬
rungen für das Heer zu. Aber wir werden sehn, wie klar er die wirtschaft¬
lichen Verhältnisse dabei bewertet, und wie er bestrebt ist, „die geringmöglichste
Störung des einzelnen Individuums in seinen bürgerlichen Verhältnissen mit
einer für den Krieg völlig und ausreichend vorbereiteten Organisation zu
vereinigen".
Der Entwurf, den die Broschüre zu widerlegen sucht, hatte behauptet, daß
das preußische System für diese Wehrvcrfassnng zum Vorbilde genommen sei.
Dem widerspricht der Prinz auf das entschiedenste und weist das im einzelnen
"ach. Zunächst wendet er sich gegen die kurze Dienstzeit; dann aber fragt er
mit Recht, ob vielleicht in dem preußischen System ein Vorbild zu finden sei
für die nachfolgenden Forderungen, die der Entwurf aufgestellt hatte: ..Die
Beförderung außer der Tour durch Wahl der gleichgestellten Kameraden. Die
Wahl der Vorgesetzten bei der Landwehr durch die Untergebnen. Die Auf¬
hebung aller nnlitärischen Erziehungsanstalten und der Kriegsschule Die Ab¬
schaffung der Ehrengerichte. Die Überweisung der Soldaten an die Zivilgerichte
wegen Bestrafung während des Friedens verübter gemeiner Verbrechen. Die
Aufhebung der Bildungsanstalten für Militärärzte."
Weiter fährt der Prinz fort:
Nur wenn mau glaubt, daß alle diese Einrichtungen, jede nach ihrem Teile
nichts zu dem beigetragen haben, was die preußische Armee un Laufe der Zeit
geworden - nur dann würde eine Aufhebung oder wesentliche Modifizierung der¬
selben gerechtfertigt sein. Wir erheben uns aber entschieden gegen eine solche Annahme
und erkennen vielmehr in der geordneten und sorgfältig überwachten Zusaimnenwirlung
"«er dieser Einzelheiten sowie in dem ungestörten Ineinandergreifen derselben als
Mittel zum Zweck den einzigen Grund, welcher dieser Armee die so schmeichelhafte
Anerkennung des Wehrausschusses überhaupt verschaffen konnte, ihrer Organisation
«is einem Vorbilde nachzustreben.
^^Wer diese Mittel ändert, erdrückt den echten militärychen Geist des Heeres
>">d überläßt sich Illusionen, über die er dereinst, und dann wahrscheinlich zu
spät — weil ans dem Schlachtfelde —, enttäuscht werden dürfte!... Feind aller
Theorien, die sich noch dnrch keine Praxis bewährt, hoffen wir in diesen Blattern
unser Scherflein zu dem hochwichtigen Werke beigetragen zu haben, auf dessen
Vollendung Deutschland mit Hoffnung und Besorgnis hinsieht. Darum erwäge man
auch nur die Sprache des Praktikers, der seine auf lange Erfahrung und glückliche
Erfolge gestützten Ansichten zum Wohle des Ganzen hier niederlegt
Sollte es diesen Ansichten gelingen. Einfluß auf die def.me.ve Feststellung der
deutschen Wehrverfassuug zu gewinnen, sollte durch Beachtung der,eiden das deutsche
Vaterland dereinst ein ebenso mutiges als geistig und körperlich durchgebildetes, vor
"klein aber fest diszipliniertes Heer entstehen sehn, so würden wir dann den schönste..
Lohn für unsern redlichen Willen erkennen.
Mit diesen bescheidnen Worten schließt der Prinz das Vorwort seiner
Broschüre. Es ist für den Epigonen ein seltsam ergreifendes Gefühl, wenn man
den Wunsch. der hier ausgesprochen wird, mit der glorreichen Erfüllung ver¬
gleicht, die er später gefunden hat. Derselbe Fürst, der in diesen bescheidnen
Worten seinen Lebenszweck zu erkennen gibt, sollte später an der Spitze eines
Heeres, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen erdacht, die Einheit des
Reiches, die Sehnsucht seines Volkes erfüllen.
Wir wollen im folgenden möglichst wortgetreue Auszüge, aus den Be¬
wertungen zu der Wehrverfasfung geben. Paragraph 3 der Wehrverfassung
HMte die gesamte deutsche bewaffnete Macht unter die „Leitung" der Zentrcil-
gewalt stellen wollen. Der Prinz sagt dazu: „Das Wort Leitung ist verletzend
für die großen Staaten, namentlich Österreich und Preußen. Einer Oberaufsicht
durch Inspektionen, wie zur Zeit des Bundestages, würden dieselben nichts
entgegenstellen."
Ebenso will er beim Paragraphen 4 „Befehl in Aufsicht" umgeändert
haben. Scheinen das auch nur Kleinigkeiten, so zeigen sie doch deutlich die
Gründlichkeit der Arbeitstätigkeit des Fürsten und die Beachtung der peinlichsten
Rücksicht auf die Gefühle andrer. Sehr interessant sind die Ausführungen, die
der Prinz zum Paragraphen 15 des Entwurfs macht, nach dem alle verfüg¬
baren Wehrpflichtigen auch wirklich eingereiht und ausgebildet werden sollen.
Er schreibt dazu:
Die Bestimmung dieses Paragraphen ist eine völlig unausführbare. Ist ein
solcher Ausspruch erst Gesetz geworden, so muß er auch durchgeführt werden. Wir
fragen aber jeden, der je mit dem Aushebuugs- und Ersatzgeschäft zu tun gehabt
hat, ob er an die Ausführbarkeit eines solchen Gesetzes glaubt?
Es soll kein verfügbarer Wehrpflichtiger uneingestellt bleiben! Welch eine Jagd
nach Verfügbaren wird also gesetzlich angestellt werden müssen, damit keiner sich der
Einstellung entzieht. Zu welch unerhörten Belästigungen, Streitigkeiten, Mißbräuchen
und Unterschleifen muß eine solche Bestimmung führen, während sie in ihrer ganzen
Schärfe doch unausführbar bleibt. Aber gesetzt den Fall, sie würde durchgeführt,
wie stark würde dadurch die sogenannte ausgebildete Mannschaft werden. Der Bericht
gibt xax. 3 an, daß nach den in Preußen gemachten Erfahrungen die Zahl der
einstellungsfähigen Wehrpflichtigen in Deutschland jährlich 225000 Mann betragen
würde. Da nun der erste Heerbann (bereites Heer) fünf Jahrgänge enthält, so würde
demnach derselbe 1125000 Mann stark sein. Der zweite Heerbann enthält sieben
Jahrgänge Wehrpflichtiger, würde also 1575000 Mann zählen, demnach das aktive
Kriegsheer Deutschlands eine Stärke von 2 700000 Mann erreichen.
Jeder Deutsche wird sich allerdings erhoben fühlen und stolz darauf sein, ein
Heer zu besitzen, wie es bis jetzt kein Reich der Erde aufzustellen vermochte. Stellt
man neben diese Zahl aber die Zahl der Kosten, welche jeder Deutsche für ein Heer
von 2700000 Mann aufzubringen angehalten werden wird, so wird sich dieses
Hochgefühl anders äußern.
Da der Bericht des Ausschusses sich wiederholt auf die Preußische Armeeverfassung
bezieht, so folgen wir diesem Beispiel auch mit Rücksicht auf den Kostenpunkt. Aus
der diesem Berichte beigefügte» statistischen Übersicht des Aushebungsgeschäfts in
Preußen ergibt sich, daß in diesem Staate jährlich gegen 90000 Einstellungsfähige
ermittelt worden sind. Die Zahl der wirklich eingestellten Ersatzmannschaften beträgt
aber nur 40 bis 45000 Mann, also nur die Hälfte der Zahl, welche die deutsche
Wehrverfassung für Preußen feststellen will.
Da nun die Preußische Armee für den Fall einer Mobilmachung auf 500000 Mann
angenommen wird, so wird sie nach obiger Ansicht auf die Chiffre einer Million
gesteigert. Wie wird der schon stehend gewordne Satz, die Preußische Armee sei
jetzt schon zu groß und durch das Budget von 24 Millionen Talern für dieselbe
zu kostspielig, sich mit diesem Verlangen vereinigen lassen? Jede sachkundige und
vorurteilsfreie Prüfung dieses Budgets wird nun zwar ergeben, daß dasselbe im
Vergleich zu dem Zustande, in welchem die Preußische Armee sich stets befindet,
keineswegs zu hoch ist, und die allerdings möglichen einzelnen Ersparnisse nie so
bedeutend werden können, um eine erhebliche Verminderung der Kosten herbeizu-
führen. In welchem Maße müßte das Budget aber wachsen, wenn die Armee
numerisch verdoppelt würde? , .
,Da doch kaum anzunehmen ist. die Wehrverfassuug beabsich ge um un.
Gesetzes willen alle Wehrfähige auszubilden, ohne die spätere wirkliche Einzieh^Bekleidung. Ausrüstung und Bewaffnung derselben in Anschlag gebracht u haben
sondern vielmehr die Absicht vorzuleuchten schein . d"s d-u^che Heer dn^es l-n
Ausgebildete auch effektiv auf die höchste Chiffre der ins Feld rückender Macht u
bringen, so folgt daraus für Preußen die Verdoppelung, tur ^ °?e °über denk es
Staaten aber die Vervierfachimg des Militärbudgets. Die Möglichkeit dazu müssen
wir geradezu in Abrede stellen.
,
Ist somit nachgewiesen, daß die Forderungen des Paragraphen 15 >mer nild°r
sind, sowohl hinsichtlich der Sache selbst als der dazu nötigen Mitte ' .so erscheint
die Streichung des elb n folgerecht. In dem dafür vorgeschlagnen P°/agA ist das
Verhältnis der He resstärke in Preußen maßgebend gewesen, wonach ^e deutsche
Staat für den Fall eines Krieges lüll. Reserve- »ut Er ah ruppen
der Bevölkerung schlagfertig aufzustellen hat. Ein Hauptgesichtspunkt aber, wenn es
"»f die Leitung und Aufstellung von Armeen ankommt ist bisher gen^unerörte
geblieben. Es ist die Frage, ob allein die Zahl oder nicht auch die Tüchtigkeit der
Truppen entscheidet? Wir entscheiden uns. wenn wir wählen dürfen, unbedingt für
eine geringere Zahl, von deren Zuverlässigkeit man aber ^llkommen überzeugt ist^Diese Zuverlässigkeit erzeugt sich aber uur durch die Erziehung ^ Soldaten kein^durch seine Abrichtung allein. Soll nun aber eine übergroße Zahl ausgebildet werden.
!° kann die Zeit, welche jedem einzelnen zu widmen ist nur unbedeutend sein;
daraus folgt die Unmöglichkeit, eine zuverlässige Truppe heranzubilden; zuve ass.gist aber eine Truppe nur dann, wenn sie unter allen Umständen und Wechselfällen
des Kriegsglücks treu, gehorsam und in Ordnung ausharrt. Diese Soldatentugenden
sind aber nur erreichbar, wenn Vertrauen der Vorgesetzten zu den Untergebnen und
umgekehrt vorhanden ist. Dieses Vertrauen läßt sich aber nicht in wenigen Monaten
einexerzieren, sondern kann nur durch längeres Beisammensein, also Erziehung des
Soldaten, erreicht werden.
^„. Also auch dieser Hauptgesichtspunkt spricht gegen den Paragraphen 15 we
"n Artikel IV die Dienstzeit so niedrig angenommen ist. daß eine Zuverlässigkeit
der Truppen nach den eben ausgesprochnen Anforderungen unerreichbar erscheint.
Der Entwurf entscheidet sich sonach für die Quantität, der Vorschlag für die
Qualität als Prinzip.
Die hierbei niedergelegten Anschauungen werden auch dazu beitragen, das
Bild zu korrigieren, das sich so manche von dem damaligen Prinzen machen,
als ob er am liebsten alles dem Soldatentum geopfert hätte, ohne Rücksicht
auf Kosten und wirtschaftliche Lage. Wir sehen hier ganz im Gegenteil, wie
er als sorgsamer Berechner Bedenken geltend macht, die in der Hauptsache
durch Rücksicht auf das Budget diktiert worden sind. Am prägnantesten kommt
die ganze Auffassung von der Tüchtigkeit eines Heeres in den Erläuterungen
zum Paragraphen 22 zum Ausdruck. In diesem Paragraphen 22 hatte der
Entwurf als Dienstzeit bei der Infanterie höchstens ein bis zwei Jahre fest¬
gesetzt, wovon sechs Monate ohne Unterbrechung zur ersten Ausbildung zu
verwenden wären. Bei der Reiterei und Artillerie sollte die Dienstzeit wenigstens
zwei Jahre betragen. Das waren natürlich Grundsätze, die den Anschauungen
des Prinzen direkt entgegenliefen, und er schreibt mit dem ganzen Feuer der
Überzeugung dazu folgendes:
Wer eine Armeeverfassung beurteilen will, fragt gewöhnlich zuerst nach der
Dauer der Dienstzeit und nach dem Modus der Beurlaubung, um zu ermessen, ob
1. die Dienstzeit ausreicht, den Rekruten zu einem wirklichen Soldaten erziehen zu
können, und 2. in welchem Verhältnis die Beurlaubung zu der Dienstzeit steht?
Der Grundsatz, auf den es a.ni 2 ankommt, kann kein andrer sein als ein richtiges
Verhältnis der Dienstzeit zur Beurlaubung, das heißt: beide müssen so abgemessen
sein, daß das dem Soldaten Gelehrte und Anerzogne sich während seiner Be¬
urlaubung nicht zu sehr verwische. Wenn man nnn die Preußischen Heereseinrichtungen
ins Auge faßt, so wird man einräumen müssen, daß hier durch Einführung der
Landwehr ein Beurlaubungssystem in kolossalstem Maßstabe geschaffen worden ist.
Die Beurlaubung umfaßt neun bis zehn Jahre, teils im Reserve-, teils im Land¬
wehrverhältnis, während welcher eine zwei- bis dreimalige Einziehung auf vierzehn
Tage stattfindet. Zu dieser langen Beurlaubung (die im gewöhnlichen Sprachgebrauch
die „Verpflichtung zu den verschiednen Dienstkategorien" genannt wird) steht nun die
Dienstzeit bei der Fahne in völlig richtigem Verhältnis, denn die bereits angeführte
Dauer derselben für die verschiednen Waffengattungen ist eine nnnnterbrochne.
Der Schöpfer dieser Verfassung, Kriegsminister von Boyen, erkannte mit deur
ihm eigentümlichen klaren Blicke, daß eine beurlaubte Landwehr nur dann innern
Halt und Kriegstüchtigkeit haben könne, wenn die Mannschaften eine so feste und
gediegne erste Kriegserziehung erhalten hätten, die es möglich macht, daß jene zwei-
bis dreimalige Einziehung ans vierzehn Tage hinreicht, um das Erlernte »nieder
aufzufrischen und zu verlebendigen.. .. Aber auch in den neusten Tagen hat diese
Landwehr Beweise ihrer Pflichttreue, ihres Gehorsams und ihrer Disziplin gegeben.
Inmitten einer Krisis, wie sie so leicht kein Staat zu bestehn gehabt gegenüber den
Wühlereien, die kein Mittel unversucht ließen, um das Volk zum Abfall von seinem
rechtmäßigen Monarchen zu verleiten, konnte der König von Preußen ihr vertrauen.
Er ruft fünfzig Bataillone Landwehr aus dem Herzen seines Volkes zusammen, und
wie mit einem Zauberschlage stehn diese 50090 Mann nnter dem Gewehr. Wahrlich,
ein gleich ehrendes Zeichen für die Gesinnung des Volkes als für die wahre
Soldatenehre!
Wodurch wurde nun ein so glänzendes Resultat möglich!
Allein durch die wahrhaft militärische Erziehung, die dem Preußischen Soldaten
zuteil wird, in der Gewöhnung desselben an den Dienst, in der Art nud Weise,
wie ihm die Pflichten und Obliegenheiten dieses Dienstes zu eigen gemacht werden,
und in dem Verständnis, warum diese überhaupt von ihm verlangt werden müssen.
Zu dem allen aber gehört Zeit! Unbegreiflich erscheint daher die fast stereotyp
gewordne Ansicht, daß ein Infanterist sich in sechs Monaten ausbilden lasse! Wenn
darunter das bloße AuSexerziereu der Eingestellten verstanden wird, so ist sechs
Monate eine zu lange Frist. In sechs bis zehn Wochen ist derjenige Grad der Aus¬
bildung, welcher zum Eintreten in das Bataillon genügt, vollkommen zu erreichen.
Was aber ist dann der Eingestellte geworden? Ein ausexerzierter Rekrut, aber
wahrlich kein crzogner Soldat! Das ist es, was jene banalen Urteile übersehn. Schon
bei Paragraph 15 haben wir gezeigt, wie die Zuverlässigkeit einer Truppe in der
längern Erziehung derselben zu den wahren Soldatentugenden besteht, und wie
hierzu namentlich das Vertrauen der Obern zu den Untergebnen und umgekehrt
gehöre. Daß sich ein solches Resultat aber nicht in einem halben Jahre erzielen
läßt, muß sogar dem Laien klar sein, um wie viel mehr aber demjenigen Offizier,
der über solche Verhältnisse ein gediegnes und gewissenhaftes Urteil abgeben soll,
von denen die Zukunft einer Armee abhängt.
^..
Wir hören in Gedanken schon die Äußerung fallen, daß ja .^n 3«^» 1809
W 1812 in Preußen faktisch nur eine sechsmouatige Dienstzeit bestanden hab . d ß
die Landwehr 1813 durch lauter rohe Rekruten gelnlde worden sei, >ab das trotz
sicher Elemente dennoch die Siege der glorreichen Knegsmhre errunge. wurden
Das ist allerdings gegründet. Aber unter welchen Umstanden fand d.es alles statt?
Wer jene Zeit in Preußen erlebt hat, weiß, welcher Geist der Erb' teruug in Vol e
lebte, wie es uur deu einen Gedanke., hatte, sich von dem feindlichen I H z" be¬
freien, welches sieben Jahre auf demselben lastete, woraus d'e Bege.s erung und
Hingebung erwuchs, die zu alleu Opfern bereit war als der Kor g das Volk ,
den Waffen rief. Eine solche Gesinnung erlaubt nicht den ciew°du ,es n Maßstab an
Verhältnisse zu lege., die unter andern Umständen nicht stichhaltig em können.
Jene schon erwähnte sechsmonatige Dienstzeit in Preußen " das ogenanu e
.Krnmpersystem" - war eine ihrer ganzen Natur "?es ^°'"be g He de
Dichtung. Sie bestand darin, daß bei sehr starkem Pr^^e sechs Monate Rekruten eingestellt, nach diesen, Zeitraum entlassen und so ° t
durch andre ersetzt wurden. Es leuchtet ein. daß ein solches unausgesetzt Rekruten--
^erzieren das Material, dem diese Ausbildung obliegt, das heiß d.e Off,^Unteroffiziere in. hohen Grade abnutzt, sodaß schon hieraus die Unmöglichkeit folgt,
ein solches System auf die Dauer beizubehalten.
„-
, Das erste Auftreten der Landwehr, die 1813 nach kaun, dre.monattger Aus¬
bildung dem Feinde entgegengestellt wurde, führte bei Löwenberg und Kulm Ver¬
luste mit sich die eben uur dieser, wenn auch unabwendbar übereilten Formation
zugeschrieben werde., müssen. Niemand wird deshalb auf diese Teile der Landwehr
einen Stein werfen wollen, den» an eine kurzexerzierte, noch in der Disziplinierungbegriffne Truppe darf kein zu hoher Maßstab gelegt werden.
Nachdem die Landwehr durch die Zeit und Siege „seuerfest" geworden war,
hat sie gleiches mit den Linientruppen geleistet. Ob aber Erfolge, wie wir sie von
dem Krümpersystcm und von der Landwehr des Jahres 1813 gesehen haben er¬
reichbar gewesen sein würde», wenn nicht jeuer hohe moralische Aufschwung durchdie VerlMtuisse herbeigeführt worde» wäre — dies dürfte wenigstens zweifelhaft
Wu. Am schlagendsten hat sich hierüber der Kriegsminister von Boyen selbst aus¬
gesprochen. Wir erinnern uns nämlich einer Verhandlung über die Wehrverfassung
Preußens, bei welcher ihm die Frage gestellt wurde warum er denn das Krumper--
N"d Landwehrsystem des Jahres 1813 nicht beibehalten habe als es flehte
">n die Organisation der Preußischen Armee gehandelt habe, indem jene Systeme
doch unendlich wohlfeiler als das jetzige gewesen seien, worauf Boyen ".. feiner
bekannten Klugheit und Energie antwortete: „Weil ich etwas Besseres wollte, als
Was die Not geboten hatte." In diesen wenigen Worten liegt die volle An¬
erkennung alles bisher über diesen Gegenstand Gesagten.
Um einer kurze.. Dienstzeit und schnelle.. Kriegsformation das Wort zu reden,wird man uns die ersten Kriegsjahre der Französischen Revolution von 1789 vor¬
führe... vielleicht auch die letzten kriegerischen Ereignisse des Jahres 1847 in der
Schweiz. Was die erster., betrifft, so darf man nicht außer acht lasse.., daß
Was die kriegerischen Ereignisse der Schweiz 1847 betrifft, so mögen sie dem
Laien sehr handgreiflich für eine kurze Dienstzeit mit langer Beurlaubung und
seltner Nachübung sprechen. Nur wird dabei ein wesentlicher Punkt übersehen,
nämlich daß sich Truppen von ganz gleicher Formation, aber sehr ungleicher
numerischer Stärke gegenüberstanden. Hätte letztere Ungleichheit nicht in dem Maße
stattgefunden, und einer der sich bekriegenden Teile hätte eine festere kriegerische
Erziehung gehabt, so dürften, selbst wenn letzterer der Schwächere gewesen wäre,
überraschend andre Resultate sich ergeben haben, wie sie sich wahrscheinlich jedesmal
ergeben werden, wenn schlecht vorgebildete Truppen bessern gegenübertreten. Selbst
die neuesten Erfahrungen der deutschen Freischaren dürften dieser Ansicht nicht
entgegenstehen.
Nun aber auch ein Blick auf Truppe» mit längerer Dienstzeit, als sie die
deutsche Wehrverfassung für die Zukunft annehmen will. Wir wählen die Preußische
Armee im Jahre 1848. Nie vielleicht hat eine Armee vom Schicksal so Schweres
zu erdulden gehabt als die Preußische in diesem verhängnisvollen Jahre! Ver¬
höhnt, verspottet, von allen Kunstgriffen der Verführung umstrickt, hat sie felsenfest
und unerschüttert in ihrer Gesinnung und Disziplin dagestanden, hat ihre Schuldigkeit
gegen jeglichen Feind mit einer Treue und Hingebung getan, welche dieser stets
hochgestellt gewesenen Truppe aufs neue die Bewunderung der Welt erworben.
Aber auch da, wo sie bisher unbekannt auftrat, wurde ihr ungelenke Anerkennung
von Freund und Feind, und zwar, wie man versichert, in einem höhern Grade als
sie Truppen andrer deutschen Staaten zuteil wurde. Worin wurzelt diese Tat¬
kräftigkeit, Ausdauer und Treue, welche solchen Eindruck hervorbringen kann?
Nächst der Gesinnungstüchtigkeit, welche in der Mehrzahl des Preußischen Volles
herrscht, allein in der Erziehung, welche dem preußischen Soldaten zuteil wird, in
der Dauer derselben, durch welche es überhaupt möglich wird, wahre Soldaten¬
tugenden zu erzielen. Diese sind es, welche man den preußischen Soldaten anfühlt,
wo sie sich zeigen — es ist der militärische Geist, der sich in allen Graden aus¬
spricht, und der, von einem unübertrefflichen Offizierkorps getragen, sich über alle
Glieder des Heeres verbreitet — es ist jenes schon öfter erwähnte Vertrauen der
Vorgesetzten zu ihren Untergebnen und der Untergebnen zu ihren Vorgesetzten,
welches sich in diesem Heere ausspricht, und welches ebenso zu Heldentaten auf dem
Kampfplatze anfeuert als die Handhabung der Disziplin erleichtert. Solche Resultate
zu erreichen muß jeder Militär, der über eine Wehrverfassung mitzusprechen hat,
sich angespornt fühlen. Wer aber den Erfolg will, muß auch die Mittel wollen,
und diese sind in der zwei- bis dreijährigen Dienstzeit gegeben.
Wir wissen sehr wohl, daß den Verteidigern einer längern Dienstzeit der
Vorwurf gemacht wird, sie verlangten dieselbe nur, um den Truppen ein schönes
Äußere anzuexerzieren, und daher wird auch wohl in den Motiven zum Artikel 1^
gesagt, daß freilich eine sechsmonatige Dienstzeit nicht durch Paradekünste verdorben
werden dürfe. Unsre Entgegnung c>uf diesen Vorwurf ist sehr -"^»1- Wir h°be>
"us alle... bisher Gesagten klar zu machen gesucht aus welchen Grund n w d
"»gegebne Dauer der Dienstzeit für unerläßlich halten Nicht -me äußerlich schön
Truppe ist unser Ziel, hin d rü die innere Tüchtigkeit derselben Wenn nun aber
diese wahrhaft militärischen Eigenschaften sich nur in längerer Dieustze.t Zeichen a^° folgt daraus von elbst. daß während derselben »«e l^dungen zur Aushub.eng
des Soldaten sich öfter und fortgesetzt wiederholen müssen Alles was man an.
haltend treibt, muß aber zu größerer Vervollkommnung fuhren »ut s ergib sahdenn ganz von selbst durch anhaltende Dienstzeit auch eme »erwllkommnete
Erscheinung des Soldaten die nicht nur angenehm ins Auge ^ ^"ner Truppe würdig ist. Daß sich bei einem längern Frieden Übertreibungen un
sogenannte" Dritten'einschleichen, wollen wir nicht in Mrede stellen aber in
würde sehr falsch urteilen wollte man eine grüudl che «usbi dung bei e.ner ^v°raus gekannten längern Dienstzeit für unnütz hal en oder ste ^ P°rate unse
stücke verspotten. Noch einmal also sei es wiederholt: weil der Solda u se »
Kriegs.üchtigkeit einer längern Dienstzeit bedarf, so kann er wahrend derselben auch
une ansprechende äußere Erscheinung sich aneignen.
^.„»^-s K-.-
^ Durch die ausführlichere Behandlung dieses für uns wichtigsten Gegen ^ der
Wehrverfa sung glauben wir die vorgeschlagnen Veränderungen im P°r°^hinreichend motiviert zu haben und sehen wir deren Annahme bei der einstigen
Feststellung des Gesetzes selbst vertrauensvoll entgegen.
Das sind Worte, die noch heute zu Recht bestehen. Schöner und be-
geisterter kann wohl kaum für die sittliche Tüchtigkeit einer Truppe eingetreten
werden, wie es hier der prinzliche Autor tut. Worte, die aus einem Herzen
kommen, das mit seiner ganzen Liebe der Sache, die es verteidigt, gehört.
Us ist zu bedauern, daß Ronda, das Tivoli Andalusiens genannt,
viel zu selten von fremden Besuchern Spaniens durchforscht wird.
Es ist nicht nur eine in der Geschichte der iberischen Halbinsel
hoch bedeutsame Stadt, sondern die Natur hat auch mit ver-
— schwenderischer Hand den Ort und seine Umgebung durch eine
überreiche Fülle teils lieblicher, teils schaurig^schöner Gaben geschmückt. Ronda
hatte nicht das Glück, durch bequeme Verkehrswege, wie Cordova, Madrid,
^evilla und Grmiada, in den Weltverkehr gezogen zu werden, und so lages wie im Vergessenheitstraum da, bis es erst die neue Zeit durch Eisenbahn¬
verbindung, die voll Bobadilla nach Ronda führt und es mit Algeciras und
^wraltar verbindet, zugänglicher gemacht hat. Aber viele durcheilen in,
^"mpfwagen nur die malerische Gegend, ohne Halt zu machen, und vielleicht
""es, ohne zu wissen, welchen ungehobnen Schätzen der Naturfreund sowohl
« s der Historiker hier nachspüren kann. Der Ruhm der großen Namen hat
ungerechterweise den Rondas verdunkelt, aber der unbefangne Beobachter
kann den Eindruck, den das wilde Felsental des reißenden Guadinro bei
Ronda auf ihn ausübt, getrost mit dem Bilde vergleichen, das ihm der Blick
von dem Velaturm der Alhambra gewährt. Düstere, halbzerfallne Maureu-
burgen in der Altstadt Rondas versetzen uns in die Märchenwelt der Araber
und erinnern uns daran, daß die Stadt, die heute kaum 20000 Einwohner
hat, einst eine der glänzendsten und wichtigsten Städte der iberischen Halb¬
insel war.
Die lange Abgeschiedenheit hat zum Teil noch die Erhaltung der
Nationaltracht bewirkt, in der besonders die benachbarte Landbevölkerung sehr
malerisch aussieht. Reiter in Majotracht, die aus dem Gebirge kommen, ver¬
körpern in ihren kraftvollen Gestalten und ihrem selbstbewußten Auftreten so
recht den „stolzen Spanier". Die brenne, offne Samtjacke, die mit Zieraten
geschmückt ist, die bunte Seidenschürpe und der große, gerade Filzhut steht
ihm anch ausgezeichnet gut. Niemals fehlen Stilet und Pistolen im Gürtel,
mit denen sich viele der Landleute, die auch Schmuggler sind und von
Gibraltar her Waren herübertransportieren, ihrer Haut wehren. Die Ränbcr-
romantik, die in der ganzen Pyrenücnhalbinsel von den Zeiten des Cervantes
bis auf den heutigen Tag durch die Poesie verherrlicht wird, blüht hier noch
in Wirklichkeit. Eine stattliche Menge von Soldaten, der Gendarmerie an¬
gehörend, „Zivilgarde" genannt, die man in Stadt und Umgegend antrifft,
macht nicht gerade den Eindruck, als ob sie den Gesetzesübertretern im Ernstfall
gar zu scharf zu Leibe gehen würde.
Bevor wir uns auf dem Eisenbahnwege Ronda nähern, durchstreifen wir
einen Teil Andalusiens, der alles vereint, was die pyrenäische Halbinsel zer¬
streut besitzt. Wir fliegen an Baumwollen- und Zuckerrohrpflanzungen vorbei,
an Orangengärten, Mais-, Weizen- und Roggenfelder», an Kastanien-, Eichen-
und Ölbanmwäldern, an Cistusheiden und grünen Viehtriften, an Wein- und
Obstplantagen. Wir haben, von Bobadilla kommend, die letzten nördlichen Aus¬
läufer des südandalusischen Berglandes bei Teba berührt — einem Städtchen,
das uns an die Kaiserin Eugenie erinnert, da sie den Grafentitel in Ver¬
bindung mit diesem Namen führte. Dann geht es weiter über Almargen, wo
wir in einiger Entfernung das Hügelland gewahren, das eine günstige Folie
für das Flußtal des Guadalete bildet, durch das der Zug eilt, um südlich
zwischen Kalkbergen in der Hochebne des sendern aufwärts zu steigen. An
träumerischen kleinen Seen vorbei, dnrch Korkeichenwülder führt uns der Weg
zuletzt auf die „Vega" von Ronda, die von Bergen eingeschlossen ist, und wir
haben die Stadt erreicht, die, wie wir auf den ersten Blick erkennen, ihrer
hohen, gesunden Lage wegen zur Sommerfrische sehr geeignet ist. Besonders
die Einwohner von Gibraltar suchen Ronda gern zu diesem Zwecke auf.
Vom Bahnhof kommend sehen wir zunächst den weniger interessante»
Teil, die Neustadt, Mercadillo, mit schmucklosen weißen Häusern. Wir müsse»
eine lange, sich in ertötender Regelmäßigkeit hinziehende, kerzengerade Straße
Passieren, die völlig schattenlos ist. und in der schon im Vorfrühzahr. der Zeit
unsers Besuches, die Strahlen der Sonne unbarmherzig wie em heißes Bugel¬
eisen wirken. Gar nicht schnell genug kann man dieser Pein entfüehn. um
die ..Alameda". oder ..Placeo de la Merced» genannt, zu erreichen, einen mit
hübschen Gartenanlagen geschmückten Platz, der einen herrlichen Blick auf die
Altstadt und den in einer Tiefe von zweihundert Metern dahmtosenden Fluß
gewährt. Im Hintergrunde erhebt sich aus der Sierra de Grazalema der
Cerro de San Cristobal mit seinen fünf Gipfeln, dem sich ein ganzer Gebirgs-
kranz angliedert. An seinem Fuße, an der fruchtbaren Vega vou Ronda. die
an Bodenkultur der von Granada wenig nachgibt, steigt ein Plateau auf. das
durch den Guadalevin. der hier auch Guadiaro genannt wird, in zwei Teile
geschieden ist.
Es wäre vergebne Mühe, den überwältigenden Eindruck des Wassersturzes
schildern zu wollen, den dieses Naturschauspiel voll wilder Romantik auf den
Besucher ausübt! In schwindelnder Tiefe, halb von phantastischen Felsformen
verdeckt, hören wir. von frischer Bergluft umweht, die Wasser des Flusses in
donnerartigem Schwall dahinströmen. Und dieser ungeheure Abgrund, in den
wir von der Brücke schauen, liegt mitten in der Stadt. Er hat den Charakter
einer klaffenden Felsspalte, die sich nach unten erweitert. Oben auf der
Straße setzt sich hüben und drüben das Trottoir fort, als hätte die neue Zeit
keine Beziehung zu den Naturgewalten, die schon von den Mauren zu ihrem
Dienst nutzbar gemacht wurden. Tief unten gewahren wir Überreste von
Mühlen eigenartiger Gestalt, die zur Zeit der Maurenherrschaft in Betrieb
waren. Üppige Vegetation sprießt um die verfallnen Bauwerke, klettert an
den steilen Felswänden empor und überzieht sie mit verschlungnen Gewirr
von Kaktuspflanzen, zwischen denen ab und zu schlanke Bäume des Südens
aufragen. Oben an der Schlucht träumen kaum mehr kenntliche Fragmente
eines ehemals berühmten Maurenschlosses von der lange vcrschwundnen Zeit
ihres Glanzes. Erdbeben und Kriege, zuletzt die Invasion der Franzosen 1808.
haben an seinem Ruin gearbeitet. .Heute sind kaum einige Stellen des frühern
Mosaikfußbodens mehr zu erkennen. Gras und Buschwerk wachsen zum
größten Teil darauf, und einige hungrige Ziege« verunglimpfen mit ihrer
Gegenwart diese historische Stätte. Aber den köstlichen Blick auf die Land¬
schaft konnte ihr kein Wandel der Zeiten rauben. Den wußten schon die
Römer, die noch vor den Mauren hier waren, zu schätzen, als sie auf der
Spitze des Plateaus die „Arunda" erbauten, die heute „Ciudad" heißt und
.Altstadt" bedeutet, während die nüchterne Neustadt von den „katholischen
Königen" gegründet wurde, die Ronda noch ein Jahrzehnt vor Granada nach
zwanzigtägiger Belagerung im Jahre 1485 eroberten.
Andre bauliche Überreste sind vom Schicksal etwas milder behandelt
worden. So die jetzige Kirche Santa Maria le Mayor, die ursprünglichGre
Moschee war, woran die Überwölbung mit maurischen Kuppeln noch erinnert.
Die christliche Zeit verlieh ihr gotische Seitenschiffe und eine Capilla Mayor
im plateresken Stil, unter anderm auch Renaissancestuhlwerk mit Heiligen¬
figuren. Eine zum Fluß hinabführende unterirdische Felsentreppe mit 365 Stufen
erinnert ebenfalls an die Maurenzeit. Sie wurde zur Verhütung von Wassersnot
angelegt, die bei Belagerungen für die Stadt hätte verhängnisvoll werden
können. Die Brücken Puente de San Miguel und Puente viejo stammen
auch aus jener Zeit, ihre von dichtem Moos überzognen Steinornamente künden
ihr hohes Alter.
Ein steiniger Weg führt uns aufwärts an der Stadtmauer entlang, die
ebenfalls maurischen Ursprungs ist. Ein ganzes Stück Geschichte ist in dem
dazu wie zum Bau fast der ganzen Altstadt benutzten Material verkörpert.
Die Bausteine stammten nachweislich aus der nltiberischen Stadt Acinipo,
die in kurzer Entfernung vom heutigen Ronda lag. Dann herrschten nach
den Iberer», den Ureinwohnern Spaniens, die Römer, und als es hier mit
deren Macht vorbei war, die Mauren, die von den christlichen Königen
Ferdinand und Jsabella vertrieben wurden. Eine zwölf Kilometer nördlich
davon gelegne armselige Ortschaft, heute „Ronda la Vieja" benannt, war eine
alte Jbererstätte von großer Bedeutung, wovon die Überreste eines einstigen
Amphitheaters Zeugnis ablegen. Es macht einen ebensolchen weltabgeschieden
Eindruck wie das in einiger Entfernung von Sevilla liegende Jtalica mit
seinem antiken Riesenzirkus, das auch zur Römerzeit glänzende militärische
Pracht sah, deren Höhepunkt die „Spiele" bildeten.
Der moderne Spanier huldigt ihnen, wenn auch in etwas veränderter
Form, noch heute, und zwar mit wahrer Leidenschaft. Das grausame Ver¬
gnügen des Stierkampfes gehört zum Rondalesen wie die Luft zum Atmen-
Im allgemeinen weiß er nicht nur, sich nach allen Richtungen vortrefflich zu
amüsieren, sondern er ist auch ein glänzender Gesellschafter. Geist und Witz
beschleunigen den Fluß seiner Rede, deren Zauber oft von hinreißender Wirkung
ist. Die einfachsten Leute verfügen über das Talent, zu improvisieren, womit
sie unter Begleitung der Gitarre auch vor Fremden gern glänzen. Überall
hört man in lauen Frühlingsnächten Seguidillas, Lieder, die der Erwählten des
Herzens gelten, erklingen.
Die Gastfreundschaft in allen Kreisen der Bevölkerung ist groß. Fremde,
die an Familien empfohlen sind, werden von einer „Tertullia", das heißt
Abendgesellschaft, zur andern weiter eingeladen, eine gesellige Veranstaltung,
die die liebenswürdigen Wirte zu keinen besondern Opfern veranlaßt. Die
Bewirtung übersteigt niemals einige Süßigkeiten oder ein Gläschen Landwein,
manchmal tuts auch nur ein Glas Wasser. Aber die geistige Nahrung bietet
allen Ersatz, und die angenehmen Umgangsformen der Anwesenden machen
uns jede dieser Zusammenkünfte zum Fest. Tanz mit Castagnettenbegleitung
bildet den Höhepunkt der Genüsse. In den untern Kreisen kommen allerdings
bei solchen Gelegenheiten oft Eifersuchtsdramen vor, denn der Dolch sitzt dem
heißblütigen Andalusier lose im Gürtel, und manches frohe Fest endet mit
einer Bluttat.'
Nirgends kann man besser andalusisches Volksleben in seiner vollen Ori¬
ginalität sehn wie auf der Messe — terea -. zu der besonders einfache Leute
von allen Richtungen der Windrose hier nach Ronda zusammenströmen, und
dann auch beim Stierkampf, wo der Maultiertreiber so gut erscheint wie der
„Conde". der von seinem Schloß in den Bergen herkommt. Der Stierzirkus
Rondas ist berühmt. Mit einer Vorstellung darin wird die Messe eingeleitet,
und alles freut sich, wie die Kinder auf Weihnachten, in Erwartung des auf¬
regenden Schauspiels.
Der Fremde, der sich nur schweren Herzens dazu entschlossen hat. dieser
barbarischen Volksbelustigung beizuwohnen, genießt zunächst ein interessantes
Schauspiel, das nicht auf die Nerven geht, vor Beginn der Vorstellung. Das
Auge erfreut sich an einer reichen Fülle schöner, glutäugiger Mädchen und
Frauen, die mit Eifer ihre Fächer schwenken, was in der dichtgedrängten
Menge an das Wogen des Meeres gemahnt. Man legt zum Stierkampf ein
vorschriftsmäßiges Kostüm an. Das hochfrisierte Haar wird mit einem
prächtigen Riesenkamm in der Mitte des Kopfes gekrönt, davor steckt eme
Reihe frischer Rosen in rot und gelb — den spanischen Farben —. das Ganze
ist durch eine kostbare Mantilla von weißer Blondenspitze halb verschleiert.
Diese Hülle setzt sich an der Taille fort, die von den wogenden Falten mantel¬
artig umschlossen wird. Das schwere, weißseidne Schaltuch mit langen Fransen,
das bei Tänzerinnen niemals fehlt, gehört eigentlich auch hierher. Aber es
ist in Spanien, außer bei Vorstellungen, nicht mehr zeitgemäß. Doch nehmen
die eleganten, jungen Damen dieses Tuch — dem Brauch entsprechend — in
die Arena mit und hängen es ausgebreitet über die Logenbrüstung, was eine
ganz reizende Folie für die brünetten Schönheiten abgibt.
Unruhig hat die Menge oft nach der Loge des Alkalden geblickt, der erst
die Erlaubnis zum Beginn des Kampfspiels geben muß. Endlich erscheint er.
v°n Musikfanfaren begrüßt. Dann treten in der mit Sand bestreuten Arena
Zwei Herolde auf. denen vier Picadores zu Pferde folgen. Sie tragen gelbe
unde Mützen, ein mittelalterliches Wams und gelbe Lederhosen. Unter dem
Anzüge ist eine vollständige Stahlrüstung verborgen, die an den Fußen, die
durch kastenartige, dreieckige Metallhülsen geschützt sind, zutage tritt. Die Waffe
ist ein langer Stab mit eiserner Spitze. Es folgen im Zuge sechs Capadores.
die die Aufgabe haben, ihre Mäntel zu schwenken, um die Matadore bei
gefahrdrohenden Angriffen des Stieres zu schützen, indem sie das Tier ablenken.
Es folgen alsdann vier Banderilleros, die kurze mit farbigen Bändern um-
wundne Stäbe tragen, die mit Widerhaken versehen sind. Den Schluß machen
Swei Matadore - die eigentlichen Kämpfer, deren jeder sechs der unglücklichen
Stiere, die nacheinander auf dem Kampfplatze erscheinen, zu erstechen hat.
Vor der Tribüne des Alkalden angelangt, verneigen sich die Teilnehmer
des Zuges feierlich vor dem Oberhaupt der Stadt, dann machen sie einen
Rundgang durch die ganze Arena, bejubelt vom Publikum. Mit goldnem
Schlüssel, den der Walde hinabwirft, öffnet man das Tor, durch das der erste
Stier in den Raum tritt, feierlich von allen aktiven Teilnehmern, die Spalier
bilden, erwartet. Schüchtern und scheu, zögernden Schrittes kam ein ganz junges
Tier herein, das die Situation offenbar gar nicht begriff. Die Picadores
schreckten es durch Lanzenstiche bald aus seiner Ruhe auf. Diese Männer müssen,
wie sämtliche Kämpfer, dem Angriff des Stiers von vorn begegnen und dürfen
das Tier niemals von der Seite verletzen. Um nun dicht herankommen zu
können, ist den Pferden, auf denen die Picadore reiten, das rechte Auge ver¬
bunden, und so sind diese beklagenswerten Tiere von vornherein dem Tode
geweiht, wenn des Toro erste Wut sich gegen diese wehrlosen Kreaturen wendet.
Schon nach einigen Minuten war der Stier so gründlich in Harnisch gebracht,
daß er nach den Stichen des Picadors diesen einfach mitsamt dem Pferde in
die Höhe hob, nachdem er seine Hörner zwischen Sattel und Roß eingeklemmt
hatte. Pferd und Reiter wurden mit einem Knalleffekt zur Erde geschleudert.
Schnell lenkten nun die Capadores mit dem Spiel ihrer Mäntel das wütende Tier
von seinen Opfern ab, und alsbald hatte es sich neuer Angreifer zu erwehren.
Die Banderilleros walteten nun ihres gefahrbringenden Amtes. Es handelt
sich darum.^daß dieser Kämpfer dem Stier zwei der mit zierlichen Bändern um-
wickelten'^Stube zugleich von vorn ins Fell sticht, und zwar muß der Augenblick
abgewartet werden, wo das Tier den Kopf senkt und Miene macht, den An¬
greifer auf die Hörner zu nehmen. Mit bewundernswerter Grazie und Schnellig¬
keit weiß der Banderillcro im kritischen Augenblick zurückzuspringen, um das Feld
einem ebenso gewandten Kameraden zu überlassen. Von den Widerhaken der
Banderilleros sickern bald breite Blutbänder an dem Körper des Tieres herab.
Nun erfolgt der Hauptakt. Der Matador oder Espada tritt vor die
Tribüne des Alkalden und grüßt diesen durch Abnehmen der Kopfbedeckung,
die, um nicht beim Kampf verloren zu gehn, durch einen künstlichen kurzen
Zopf gehalten wird. Der Anzug stimmt völlig mit den Kostümen überein, die
wir in der Oper Carmen auf der Bühne sahen. Die Farben, grün und weiß
mit Silber, standen der Erscheinung des berühmten Bombita vortrefflich. Der
kaum zwanzigjährige Mann, der zwei Degen trug — einen in der rechten
Hand, einen in der linken in wagerechter Stellung mit darüber drapiertem
Mantel —, erwartete in der vorschriftsmäßigen Haltung sein Opfer, das er
nicht eher angreifen durfte, als bis es aMärg-av, das heißt breitbeinig auf den
vier Füßen vor ihm stand. Lange dauerte es, bis diese erwünschte Haltung er¬
folgte, inzwischen ermunterte der Fechter das Tier mit dem Anruf: 016, loro!
das heißt „Paß auf, Stier!" Als es endlich so weit war, stürzte Bombita auf
ihn mit gehobnem Degen zu, bereit, die Waffe in den zum Stoß geneigten
Nacken seines Gegners zu senken. Es war ein Augenblick voll so grausiger
Spannung, daß wohl jedem Zuschauer das Blut stockt, als nun das Tier Miene
machte, den Angreifer auf seine Hörner zu spießen. Aber schnell wie der Blitz
entschlüpfte der gewandte Mensch, indem er den roten Mantel, die Capa, vor
den Augen des Stieres schwenkte, wodurch das Tier momentan den Gebrauch
der Sehkraft verliert. Die andern, dem Bombita zur Verfügung stehenden
Capadores, die aber nur im Augenblick der äußersten Gefahr dazwischenspringen
dürfen, um den Ruhm des Hauptkämpfers nicht zu schmälern, hielten sich noch
zurück. Der zweite Angriff erfolgte mit einem Stoß des Fechters zwischen die
Halswirbel. Aber nach einigen Sekunden schüttelte sich das Tier den Degen
ab. Nun zischte das Publikum, denn es verlangt in seiner Mordgier, daß das
Opfer gleich beim ersten Stich getötet werde. Mit dem dritten Angriff aber
wußte der Espada die Scharte auszuwetzen. Der Stier schwankte, brach zusammen
und wurde zur Abkürzung seiner Todesqual von einem Picador mit kurzem
Dolch erstochen. Jetzt brach die Begeisterung im Zuschauerraume los. weil der
Kampf „ein so glückliches Ende genommen" hatte. Man warf auf gut spanische
Manier Feldflaschen, Hüte, Blumen und Fächer in die Arena, um den Gefeierten
zu ehren, der mit dem herablassenden Lächeln eines Fürsten die Gegenstände
aufhob und zurückreichte. Ein kostbares Geschenk durfte er behalten, es war
eine mit Brillanten geschmückte goldne Uhr und ein ebensolcher Ring, das
Geschenk einer dem alten Adel des Landes angehörenden jungen Marques«.
Inzwischen hatte man durch drei mit Schellen und Bändern phantastisch
aufgezäumte Maultiere den Stier sowie die verendeten Pferde hinausschleifen
lassen, um den Kampfplatz frei zu machen. Dann trat Gallito auf, ein eben¬
falls sehr beliebter Matador. Für jeden erlegten Stier bekommt der Fechter
5000 Pesetas, manche sogar 10 bis 15000. Man sieht, es ist bei diesem
einträglichen Gewerbe nicht schwer, Millionär zu werden. Der berühmte Fuentes
ist es schon lange, er tritt nur noch im Beisein des Königs auf. Er hat sich
ein schönes Landgut gekauft, und da er auch hier aus Liebhaberei seiner frühern
Beschäftigung gern huldigt, läßt er keinem seiner Stiere das Lebenslicht durch
einen Schlachter ausblasen, sondern befördert sie höchst eigenhändig auf
.künstlerische" Art ins Jenseits.
Wir konnten es nicht über uns gewinnen, der Vorstellung bis zum Schluß
beizuwohnen und die Ermordung sämtlicher Stiere mit einzusehn. deshalb
verließen wir den Zirkus lange vor dem Schluß. Sehr entrüstet waren darüber
einige reizende junge Spanierinnen in unsrer Nachbarschaft, die sich dem Genuß
""t wonnigem Grausen Hingaben. Sie hatten sich als teures Andenken einen
der blutgetränkten Banderillos. die im Sande der Arena lagen, um schweres
Geld von den Angestellten, die den Kampfplatz sauberem, erstanden. Eifrig
redeten sie auf uns ein, ihrem Beispiel zu folgen, und unbegreiflich erschien es
ihnen, daß wir auf diese grausige Trophäe verzichteten. In einer lungern Rede
setzten sie uns auseinander, daß es doch keine köstlichere Unterhaltung gäbe als
den Stierkampf und keine größern Helden aller Zeiten als die Matadores,
Zu unserm Erstaunen hörten wir noch, daß man sich mit der Unschädlich¬
machung der im Zirkus umgebrachten Pferde, deren Zahl oft einige zwanzig
beträgt, weiter keine große Arbeit macht, sondern sie vom Felsenufer des Guadiaro
einfach in den Fluß hinabwirft. Niemand bekümmert sich darum, ob dessen
Wellen den Kadaver auch wirklich wegschwemmen. Bleibt einer oder der andre
zwischen dem Geröll liegen, so regt sich kein Vertreter der öffentlichen Ordnung
oder gar das Publikum darüber auf. Eine hygienische Überwachung scheint im
schönen Lande der Kastanien gänzlich zu fehlen. Man kommt als Fremder hier
überhaupt bald zu der Überzeugung, daß fast jeder Spanier alle möglichen
Ungehörigkeiten mit solcher naiven Selbstverständlichkeit ausübt, als ob er ein
verbrieftes Recht darauf hätte. Das sind eben OosAs as Lspaila — ein schwer
übersetzbares Wort, dessen Bedeutung der Fremde, der im deutschen Vaterland
an Ordnung und guten Ton gewöhnt ist, zu seinem Leidwesen auf spanischer
Erde oft schwer empfindet.
MM
M'M^c
MH^!ange bevor die Architekten des neunzehnten Jahrhunderts über
die heillose Zeit zu klagen ansingen und sich entschlossen, dieser
Zeit ihren Stil zu geben, hatte der Ingenieur die Grundlinien
festgelegt, die der Gegenwart ihre stilistische Physiognomie geben.
Aber die neuen Formen waren noch zu wenig Gewohnheitsbild
' geworden, und niemand vermochte ihre Ästhetik zu erkennen und
zu begreifen, daß eine neue Architektur im Werden war. Die Architektur des
Eisens, die der modernen Zeit ihr entschiednes Stilgepräge verlieh.
Mehr als technische Ungetüme konnte die überwiegende Mehrzahl der
künstlerisch Gebildeten in den modernen Großkonstruktionen nicht sehn. Ja
John Nuskin, der große Kunstprophet des neunzehnten Jahrhunderts, hatte
selbst erklärt, daß das Eisen der unmonumentalste Baustoff sei und nur als
untergeordnetes Hilfsmittel bei der Jnnenkonstruktion in Betracht käme.
Ruskin war für das Kunstempfinden des neunzehnten Jahrhunderts der
Kulminationspunkt, auf den wir mit Verehrung zurückblicken wie auf einen
geheiligten hohen Berg, dessen Gipfel, in Wolken verhüllt, zeitweilig den Blitz
und Donner entsendet, um das sündhafte Geschlecht zu strafen, das so wider¬
setzlich gegen seine zehn Gebote der Kunst handelt. Für ihn waren die Dampf'
Maschine, die Lokomotive, die Eisenbahn Gegenstände der Abscheu.
Aber trotz der fruchtbarsten und erhebendsten Vibelworte läuft die Geschichte
der Welt nicht in sich zurück. Die Menschheit hat sich an die Werke der Technik
gewöhnen müssen, weil in diesen Werken der Technik der Ausdruck eherner
Notwendigkeit liegt. Das neue Auge sieht an Stelle der Verwüstung das
Geheimnis einer neuen Welt aufgehn, es empfindet, der Kunstgeschichte zum
Trotz, die technischen Konstruktionen künstlerisch oder zumindest ästhetisch.
Kein Zweifel, daß die moderne technische Konstruktion unversehens eine
künstlerische Herrschaft gewonnen hat und die Statthalterin der Königin der
Künste, der Architektur, geworden ist. Wir können auf keinem Gebiete des
modernen menschlichen Schaffens eine ästhetische Bestimmung einführen, die
uicht aus dem rationellen Geist der Sachlichkeit, der Konstruktion und des
Zweckes fließt. Dieses Stilgesetz ist so zwingend, daß sich nicht nur in den
spezifisch technischen Erzeugungen, sondern auch in der modernen Kleidung, ,in
Hausrat, im Kunstgewerbe, in allem, was unser gegenwärtiges Leben umkleidet
oder veredelt, sein Gleichnis wiederholt.
Das Eisen als Baustoff hat verhältnismäßig ein überraschend junges
Alter. Erst die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts brachte die zweckbewußte
architektonische Anwendung dieses Stoffes, der bis dahin in der Baukunst nur
die Rolle eines untergeordneten Hilfsmittels gespielt hatte. Groß und ruhm¬
reich ist einzig und allein die kunstgewerbliche Vergangenheit dieses Metalls.
Die alten Waffen, die schmiedeeisernen Gitter, der Stahl- und Elsenschmtt des
fünfzehnten und des sechzehnten Jahrhunderts bedeuten die künstlerischen Höhe¬
punkte in der Verarbeitung dieses Stoffes. Aber erst das Maschmenzettaltcr
gab dem Eisen die weltbewegende Bedeutung, die es im Kulturkampf der Industrie
einnimmt. Erst in diesem Zeitalter der Fabriken, der Eisenbahnen, der ungeheuern
Brücken, der Ausstellungs- und Bahnhofshallen fing es an, sich als stlltnldendes
Architekturelement zu behaupten und eine neue Architekturperlode einzuleiten.
Die Erfahrung lehrt, daß die materielle und technische Eroberung des Stoffes
immer vorangeht, und daß die formschöpferische Kraft erst nach und nach den
passenden sachlichen oder künstlerischen Ausdruck für die Materialeigenschaften
finden kann. Die Geschichte des Eisenbaues ist so jung, daß an den noch be¬
stehenden Werken die Stilentwicklung nachgewiesen werden kann.
In Schinkels Neuem Museum in Berlin, das von Slüter vollendet wurde,
sind gußeiserne Säule», mit korinthischen Kapitälen versehn, und die eisernen
Bogenbinder reich mit Renaissanceornamentik verziert. In Halle steht ein
Gasometer mit gotischen Ornamenten. Seit Viollet-le-Duc empfangt das Eisen
die romantische Macht der mittelalterlichen Gotik, es hatte zur Zeit dieses Ge¬
lehrten und des von ihm beherrschten Architektengeschlechts noch nicht seine
«ane Sprache gefunden. Daß gotische Steinpfeiler in alten Kirchen durch gu߬
eiserne in demselben Stil ersetzt wurden, gehörte damals zu den Selbstverständ¬
lichkeiten. Die fünfschiffige Halle im neuen Oxforder Museum ist aus Eisen
"l durchaus gotischem Stil errichtet, und es muß sogar zugestanden werden,
daß der Geist der Steinaotik mit dem Wesen der Eiscnkonstruktion eme starke
innere Verwandtschaft zum Ausdruck bringt. Es darf nicht vergessen werden,
daß die Architekten, die sich des neuen Baustoffes bedienten, am Steinbau
geschult waren und obendrein nur in den Formen der Überlieferung zu denken
vermochten. Die Aufzählung solcher Kompromißerscheinungen konnte ruf Un¬
endliche fortgeführt werden, und wir finden fast u, jeder Stadt bis in die
unmittelbare Gegenwart schlagende Beweise dieser Art.
Die offizielle Geburtsstunde des neuen Stils fällt in das Jahr 1851,
°is der Kristallpalast in London für die Weltausstellung errichtet wurde. Wie
wenig der ^ukunftsgedanke. der dem Bauwerk zugrunde lag. von den Zeitgenossen
erkannt worden war, geht aus der Tatsache hervor, daß. wie eben erwähnt
Worden ist. in den folgenden Jahrzehnten erst die „historische" Entwicklungdes Eisenstils vorüberqehn und überwunden werden mußte, ehe das ästhetische
Gewissen befähigt war, die Sprache des Materials und der Technik aus ihren
eignen Bedingungen heraus zu verstehn und der kühnsten und monumentalsten
Schöpfung um die Jahrhundertmitte die gebührende Würdigung zu zollen.
Die erste eiserne Bahnhofhalle wurde in Liverpool zwar schon im Jahre 1851
dem Verkehr übergeben, in jenem Jahre, als der Eisenglasbau durch den
Londoner Kristallpalast seinen Weltruhm erlangt hatte. Neue Maßverhältnisse
bot fünfzehn Jahre später die Eisenglaskonstruktion des Se. Pankraz-Bahnhofes
in London, der als der erste große Weltraum anzusehn ist.
In der Maschinenhalle und in dem Eiffelturm vom Jahre 1889 sind die
zwei Stützpunkte gegeben, auf denen die neue voraussetzungslose Architektur
des Eisens beruht. Die Maschinenhalle zeigt den größten freitragenden Bogen
ohne Pfeiler, der Eiffelturm den höchsten Pfeiler ohne Bogen.
Wodurch unterscheidet sich die Eisenarchitektur von der Baukunst? In
welcher Beziehung bedeutet die Eisenarchitektur eine künstlerische Erscheinung?
Wir haben bei dem Vergleich, der in der Regel nur mit Unrecht geführt
wird, auf der Seite der Steinarchitektur einen durch Jahrtausende gepflegten
und traditionell gewordnen Formeuwillen vor Augen, der den Begriff des
Monumentalen in Massigkeit und in der Materialverschwendung begründet
und auf der Seite der Eisenarchitektur den Grundsatz der Entmaterialisierung,
dessen oberstes Gesetz in der größten Raumbewültigung mit den geringsten
Mitteln besteht.
In Stein und Holz ist der Baugedanke restlos erschöpft und in einer
Überlieferung, so alt wie die Menschheit, zum Abschluß gebracht. Im Eisenbau
stehn wir im Anfang der,.Geschichte und vor einer Zukunft, die trotz des
Bisherigen uoch reich an Überraschungen sein wird.
Im Steinbau dominiert ein durch eine hohe künstlerische Vergangenheit
ausgebildeter Formenwille, in der Eisenarchitektur ein in der Mathematik
behaupteter rationeller Konstruktionswille.
Gewöhnlich liegt gerade bei den größten Werken der Baukunst der Fall
so, daß die nachträgliche Berechnung diese Werke, die in voller Körperlichkeit
und Größe den Jahrhunderten trotzend dastehn, in das Gebiet des Unmöglichen
verweist. Hier in der Eisenarchitektur war der Entwicklungsgang allerdings
insofern analog, als zuerst das Wagen und dann das Wägen kam. Aber das
Wägen, mit andern Worten das Rechnen spielt in der Eisenarchitektur die
weitaus größere Rolle als das Bauen.
Paxton, der Schöpfer des Kristallpalastes, Dutert, der Konstrukteur der
großen Pariser Maschinenhalle, und der Ingenieur Eiffel hätten ihre technischen
Monumentalwerke nicht im Wege der bloßen Rechnung finden können, ohne
den schöpferischen Funken, der sie die Form vorahnen ließ, in den wichtigsten
Umrissen wenigstens, denen sie mit dem Nechenstift nachfolgten. Der Eisenträger
mit mehreren untergeordneten Abwandlungen auch Winkeleisen, 1"-Träger oder
Profileisen genannt, enthält alle Charakteristik, die der Eiscnarchitektur zukommt.
In der absoluten Schönheit stehn sie darum auch nicht den Werken der
Baukunst nach, bei denen es ebenfalls Grundgesetz ist, „daß die Hauptlinien
des Baues vollkommen seiner Bestimmung entsprechen". Das Profilcisen ist
also der Hauptnerv der Eisenarchitektur, der das gesamte Leben der Konstruktion
trägt, die Kraft, das heißt die Widerstände des Lasters und Tragens auf¬
nimmt, fortgepflanzt in immer luftigere Gebilde zerlegt und durch die Verteilung
gegeneinander aufhebt oder ausgleicht.
Um die völlig eigenartige Schönheit dieser neuen Konstruktionen zu be¬
greifen, dürfen wir sie nicht durch die Brille der traditionellen Baukunst ansehn-
Ja wir müssen, selbst auf die Gefahr hin, daß die ästhetische Wertung der Eisen¬
konstruktion ins Gegenteil umschlägt, alle Unterscheidungsmerkmale in Betracht
ziehn, die sie von der Baukunst unterscheiden. Allerdings hat es den Anschein,
als ob in der Gotik mit den baukünstlerischen Prinzipien der Materialfülle
und der kompakten Raumschließung gebrochen würde und im Wege der Ent¬
materialisierung eine Art von konstruktiven Gerüststil, der ähnlich wie in der
Eisenarchitektur den Raum nicht durch Flächen umschließt, sondern nur durch
Linien umschreibt, entsteh» würde. Das ist der wichtigste ästhetische Unterschied,
der die Baukunst von der Eisenkonstruktion trennt, deren Wesen sich in der
konstruktiven Linie, in der Kraftlinie ausdrückt, die andern statischen Gesetzen
gehorcht und andern Bestimmungen Untertan ist als denen der räumlichen
architektonischen Proportion.
Aber das bunte und bemalte Glas, die riesigen Glasfenster zwischen den
schlanken Säulen und Rippen der gotischen Steinarchitektur sollten nicht wie
in dem heutigen Glaseisenbau die Helligkeit heranführen und den Anschein
erwecken, als ob man sich zwar geschützt, aber doch zugleich im Freien befinde,
sondern diese bunten Glasfenster hatten die raumabschließende Aufgabe, das
Innere von der Außenwelt abzusondern und das Licht farbig modifiziert und
in gebändigten Fluten nur so weit hereinzulassen, als es der beabsichtigten
künstlerischen Wirkung entsprechen sollte.
Von innen gesehn glich der Raum einem aus Edelsteinen gefügten Gehäuse,
darin die bunten legendenreichen Fenster als die farbigen Schmucksteine und
das Steinwerk als die Fassung dieser feurigen, dichterisch beseelten Juwelen
glichen. Die störende Tageshelle, das Licht abzuhalten und nur ein Leuchten
zu erzeugen, ein Farbensprühen im Andacht erregenden Dämmer, folglich den
Raum gegen die Alltagswelt abzuschließen und in dieser feierlichen Umschlossen-
heit das Gefühl der Entrücktheit, die religiöse Ekstase zu gewähren, das war
die Absicht der gotischen Kirchenbaukunst, die sich wie jede Baukunst von den
andern Stilperioden nur durch die Eigenart in der Verwendung der Mittel
unterschied.
Die Eisensprache und der Geist der rationellen Konstruktion aber weisen
den neuen Baustoffen Glas und Eisen eine ganz andre Bestimmung an.
Kein ornamentales Element, das die Baukunst in Hülle und Fülle darreicht,
darf hier hinzutreten, ohne als Störung empfunden zu werden. Das einfache
Profileisen und die Nietenköpfe drücken alle furchtlosen Gedanken aus, die in
diesem Material verwirklicht worden sind oder der Verwirklichung harren.
Es ist schon gesagt worden, diese konstruktiven Gebilde haben die Aufgabe
oder das Vermögen, lediglich Räume durch Linien zu umschreiben und durch
Bogen zu überspannen. Das vermögen sie in einem unerhörten Umfange.
Die Halle des Kristallpalastes oder der Pariser Maschinenausstellung umfaßt
demgemäß Weiten, die es früher nicht gegeben hat, und die wir auch mit den
herkömmlichen gefühlsmäßigen Bestimmungen der menschlich angemeßnen Raum-
Verhältnisse nicht bewältigen können. Aber in diesem von einem Liniennetz
^«gefangnen Raum herrscht die allseitige unbestimmte Tageshelle.
n> . Für unser Raumempsinden kommen in diesen Hallen nur die konstruktiven
^rien der Eisenarchitektur, das Netzwerk, die Gitterträger oder die eisernen
Nahmen der regelmäßigen Glasscheiben in Betracht.
Es wäre ein Exzeß von Geschmacklosigkeit, Wirkungen anzustreben, die
nur der Baukunst zukommen und von dieser der Sakralkunst. Während andrer¬
seits niemand leugnen kann, daß den technisch konstruktiven Werken, in denen
die Eisenarchitektur ihre eigenste Sprache redet, trotz der Kolossalitat und der
absoluten Größe das Prädikat geschmackvoll durchaus zukommt. Vor allem
aber ist es die absolute Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit, der Ausdruck der
äußersten materiellen Ökonomie, der straffen, geistigen Disziplin, der diesen
Gebilden das Recht auf die ästhetische Anerkennung sichert.
Ohne selbst mit den herkömmlichen Begriffen der Baukunst übereinzustimmen
und ohne aus den Händen von Künstlern in einem überlieferten Sinne hervor¬
gegangen zu sein, können Gebilde wie diese künstlerisch wirken, wenn sie auf
diese hier erklärten Bedingungen und auf ihre Folgerichtigkeit hin erkannt sind.
Diese Wirkung kommt den modernen Meisterwerken zu. Es ist eine Frage an
die Zukunft, ob es eine entscheidende Reform im Wesen der Großkonstruktion
bedeuten wird, wenn der moderne Künstler gemeinsam mit dem Konstrukteur
die Form der technischen Gebilde namentlich in der Eisenarchitektur bestimmen
wird. Unter Umständen kann es eine Veredlung im einzelnen bedeuten, so gut
wie es auch ästhetisch ein Unglück sein kann. Es kommt auf den Künstler an.
Das heißt darauf, ob der Künstler genug Ingenieur oder der Ingenieur genug
Künstler sein wird.
Künstlerisch begreifen wir alle technischen Werke der alten Kultur, Fabrik¬
anlagen, Krame, Sägemühlen, alle landwirtschaftlichen Bauwerke, das Bauern¬
haus so gut wie das alte schlichte Bürgerhaus, sobald wir an diesen Werken
eine sachliche Schönheit nachweisen können. Sachlich waren so ziemlich alle
Nützlichkeitswerke bis vor 1850 und selbst in einer so dekorativ betonten Zeit
wie im Barock. ,
- Die modernen Maschinen, die Eisenkonstruktionen, die technischen Werke,
die Fahrzeuge waren die Erzieher jenes gesteigerten Sachlichkeitsgefühls, das
für die moderne Ästhetik die wichtigste Grundlage abgibt.
-! Nur auf diesem Wege ist es möglich, den Schönheitswert und die künstlerische
Berechtigung der neuen Formen zu ermessen, die durch den neuen Baustoff,
das Eisen, entstanden sind. Die neuen Weiten, die neuen Höhen, die neuen
Linien, die Offenbarung neuer statischer Gesetze, neuer Kräfte, die in den eisernen
Trägern wirksam sind, ihre Energien in immer luftigere Gebilde zerlegen und
auf unerhörte Spannungsweiten überleiten.
Eine neue künstlerische Steinmasse, Belon, die flüssig in jede Form ge¬
bracht werden kann und verhärtet gegen Druck jeden Widerstand leistet, un¬
empfindlich gegen Frost und Hitze, an keine bestimmte Form gebunden, sondern
vielmehr mit einer unbegrenzten Formfähigkeit begabt, das ist die Natur des
neuen Stoffes, die zwar im Aussehn dem Stein, im Wesen aber dem Gu߬
metall gleicht. Dem Steinmaterial wird gleichsam als zähe Sehnenstrünge das
Eisen beigesellt, in Form von Netzen, Stäben, Gerüsten und Gerippen. Diese
Vereinigung scheidet die Nachteile der beiden Verbindungsteile aus und summiert
ihre Vorzüge. Das Eisen verschwindet in dem feuersichern Panzer, der es auch
gegen Rost unempfindlich macht, der Belon vermehrt seine Druckfestigkeit durch
die Zugfestigkeit des Eisens, und beide Teile empfangen erst in dieser Ver¬
einigung eine geradezu ideale konstruktive Zuverlässigkeit.
Der Betonbau hat eine künstlerische Eigensprache insofern noch nicht
erreicht, als er nur die quantitative Übertragung der überlieferten architektonischen
Grundform darstellt. Nebenher hat er schon eine leise Veränderung der Ge-
büudephysiognomie bewirkt, wenn man bedenkt, daß ein alter Kuppelbau ohne
mächtige Widerlager nicht möglich ist, die die Parabellinie der Druckspannung
von der Kuppel innerhalb der geschloßnen Mauermasse zur Erde führt, während
die moderne Betoneisenkuppel diese Widerlager völlig überflüssig macht und
von einem eisernen Ring in sich zusammengehalten frei und leicht auf der
Gebäudeform aufsitzt. ' > , ' .
Wo über die zweckdienliche statische Form hinaus noch M
formales Leben an der Fläche erwünscht ist, dort bieten sich mehrere einwand¬
freie künstlerische Möglichkeiten für den Betonbau dar. Eine materialgerechk
Flächenverzierung kann sich durch die hölzernen Leerformen ergeben, in die
die Stampfmasse eingefüllt und zum Erdarten gebracht wird. Durch verschiedne
hölzerne Auflager in der Leerform kann eine rhythmisch geordnete Folge von
reliefartigen Eindrücken entstehn, wie etwa kassettenartige Vertiefungen, die eine
technisch berechtigte künstlerische Wirkung ergeben und dem Formensinn einen
gewissen Spielraum überlassen. Die Plastik und namentlich die Keramik kann
als besondres Werkstück hinzutreten und mit dem raumumschließenden, Flächen
und Nischen ergebenden Betonwerk in einen mumkunstlerischen Zusammenhang
treten, oder es können direkt farbige reliefartige Fliesen in die Wandung ein¬
gesetzt werden und je nach Gestalt der Verhältnisse einen geläuterten künstlerischen
Willen verraten. / ! r
Hier also, auf dem technischen Gebiete, liegen die Keime einer neuen
Architektur. Denn um was es sich in der Technik im letzten Grunde handelt,
ist die Herstellung von Kontakten mit der Natur außerhalb uns, die Er¬
weiterung des Machtbezirks unsrer Organe und Nerven. Unsre Stimme und
unser Arm wollen über den Ozean reichen, wir wollen Länder verbinden,
räumliche und zeitliche Entfernung verkürzen, durch das Kabel, den Schnell¬
dampfer, die Kraftfahrzeuge, durch mannigfache Verkehrseinrichtungen, durch
Schienen-, Brücken-, Tunnelbauten, durch Organismen aller Art, deren Form
aus der Notwendigkeit und der sachlichen Bestimmung hervorwächst, durch
keinerlei vorgefaßten Stilbegriff ans der Vergangenheit belastet. Hier also ist
Leben. Ein neuer Begriff der Raum- und Formgebung entsteht, ein neuer
Architekturbegriff, ein neuer Schönheitsbegriff.
inige Tage später saß dem Herrn Professor Icilius in seiner Studier-
stube sein Herr Schwiegersohn Wenzel Holm gegenüber. Der Professor
hatte seine Weste bis oben hin zugeknöpft und war sehr ungnädig. —
Ssie sind dhavongegcmgen. als hätten Ssie hier nichts zu ver¬
säumen. Ssie haben Ihre Angelegenheiten zurückgelassen als eine
ruckis inäig'sstgHus molss, Ssie haben Arm in Arm mit dhiesem
Buttervogel, dieser Dhienerin der Aphrodite Pandcmos den Parnaß stürmen wollen.
Und nun Ssie sich die Flügel gebrochen haben und aus dem xosta laursaws nichts
geworden ist, kommen Sie dha wieder, und es soll alles wieder gut sein. Meinen
Ssie, daß Wunden, die einem Frauenherzen geschlagen worden sind, heilen wie ein
Mückenstich? meinen Ssie, daß Luzie Ihnen, wenn Ssie heimkommen, die Tür
bekränzen wird? daß Ssie Ihnen entgegenfliegt! Mein Herzenswenzel, jetzt bist
du wieder da, nun ist alles wieder gut? Ssehen Ssie, Luzie ist die Tochter des
alten Cato, und der alte Cato weiß, was er seiner Ehre schuldig ist. Ich ssage
Ihnen, wenn es nach mir gegangen wäre, so wäre sie keine Stunde in Ihrem
Hause geblieben. Aber sie brachte das Opfer. Verstehen Ssie Wohl, Luzie brachte
das Opfer, dazubleiben und Ihre alte verlassene und gelähmte Mutter zu Pflegen
und Ihre Finanzen in Ordnung zu halten.
Der Cato war aufgesprungen und heftig gestikulierend, wie er es in der
Klasse zu tun pflegte, vor den Sünder getreten. Dieser saß zerknirscht auf seinem
Stuhle und ließ den Kopf hängen. Ja, sagte er, Sie haben Recht. Sie sehen
einen Menschen vor sich, der die Flügel gebrochen hat, und der sich nach einem
stillen und sichern Winkel sehnt. Ich habe mich über mich selbst getäuscht, das
war bitter. Ich habe mich selbst verloren, das war noch bittrer. Ich habe vor
dem Gedanken gestanden, ob es nicht das beste sei, dieses verpfuschte Leben weg¬
zuwerfen.
Katzenjammer I schaltete der Professor ein.
Eins hat mich festgehalten — sie! Sie, an der ich viel gutzumachen habe.
Und die wollen Sie mir nehmen? Zwischen sie und mich wollen Sie mit Ihrer
römischen Ehre treten? Sie können es nicht. Ich weiß, Sie können es nicht.
Nein, Sie selbst sollen zu Luzie gehn und sagen: Er ist wieder da, er hat sein
Unrecht schwer gebüßt, er bereut es, nimm ihn wieder auf.
Ssie dhaaa! rief der Professor im allerhöchsten Erstaunen. Den Teufel
werde ich tun. Aus Ihnen redet der Katzenjammer, weiter nichts. Was gilt es?
Sie werden gleich damit herauskommen, daß Ssie ssagen: Dha! Luzie war meine
Muse, ich habe sie verkannt, aber nun habe ich sie gefunden.
Das will ich auch, entgegnete Wenzel Holm. Ich weiß jetzt, was ich an ihr
hatte, und daß ich ohne innern Halt war, und daß dies der Grund meines Mi߬
erfolges gewesen ist. Aber nicht um neue Häuser handelt es sich, sondern um
den Aufbau des alten. Und dazu sollen Sie mir, dazu müssen Sie mir helfen.
Der Professor war sehr ungnädig, hielt catonische Reden und schob seine alt¬
römischen Grundsätze vor. Im Grunde jedoch hatte er ein weiches und gar nicht
altrömisches Herz, und dieses ließ sich überreden. Er nahm seinen Schwiegersohn
am Arm und führte ihn zu Luzie.
Dha, sagte er eintretend, da bringe ich dir deinen Mann.
Luzie saß am Schreibtische. Als sie ihren Mann eintreten sah, wurde sie blaß
bis an die Lippen.
Luzie, vergib, sagte Wenzel. Ich komme heimatlos. Nimm mich in deinem
Hause auf.
Es ist dein Haus, erwiderte Luzie. Es ist dein Recht, hier einzutreten.
Du zürnst mir, sagte Wenzel Holm. Ich habe es verdient, aber verzeihe.
Ich habe nie gezürnt. Vielleicht, fügte sie leise hinzu, wäre es besser ge¬
wesen, wenn ich es getan hätte.
. Ich weiß, fuhr Wenzel Holm fort, du hast für mich gearbeitet. Du hast
meine Mutter gepflegt, du hast meine Kinder erzogen.
Meine Kinder, Wenzel, rief Luzie angstvoll, es sind meine Kinder.
Du sollst sie behalten. Niemand will sie dir nehmen. Aber verstatte mir
einen Raum in deinem Hause.
Es ist dein Hans, wiederholte Luzie. Ich gebe dir zurück, was ich bewahrt
habe. — Und damit wandte sie sich dem offenstehenden Arnheim zu. Wenzel
Holm folgte ihr mit den Blicken. In dem untersten offnen Fache lag das braune,
verschnürte und versiegelte Paket. Wenzels erster Blick fiel darauf: —-Was ist
das? rief er. das Paket herausreißend.
Ich weiß nicht, antwortete Luzie. Es liegt da, solange als du wegbist.
Wenzel Holm warf das Paket entsetzt auf den Tisch. — Und du hast es
nicht geöffnet und nickt fortgeschickt?
Nein, ich hatte kein Recht dazu.
Und Herr von Seidelbast hat nicht danach gefragt?
Herr von Seidelbast ist tot.
Es ist sein Vermögen. Ein großes Vermögen. Ich sollte es im Rcichs-
schuldbuche eintragen lassen. Und ich habe es vergessen! Vergessen! Und Seidel-
basts wissen nicht, wo ihr Geld geblieben ist?
Niemand weiß etwas davon, und Frau von Seidelbast lebt in Dürftigkeit.
Wenzel Holm schlug sich vor den Kopf.
Nun, sagte der Professor, diese neuste Heldentat kann Ihnen noch am ehesten
vergeben werden. Der gnädigen Frau sind die Fasten, die sie durchzumachen hatte,
nicht schlecht bekommen. Ssie hat ein geistigen Indigestionen jetzt weniger zu leiden
als früher. Geben Sie her, ich werde das Paket besorgen. Und sehen Sie zu,
wie Sie sich mit Ihrer Fran versöhnen.
Wenzel Holm versuchte es um in etlichen langer» Reden, sich mit seiner Frau
zu versöhnen. Als er aber zuletzt seinen Arm um ihre Schulter legen wollte,
entzog sie sich ihm und sagte scheu und bekümmert: Wenzel, ist es nicht besser, daß
ich jetzt zu meinen Eltern gehe?
Wenzel erschrak. Er hatte sich seine Aufgabe leichter gedacht. Er schulg einen
elegischen Ton an und stellte in Aussicht, daß er selbst gehen werde — in das
Elend und in den Tod hinein. Aber er ging doch nicht, und die Spannung blieb
bis auf weiteres ungelöst.
Hierüber meditierte der Professor in folgender Weise: Ich habe dha einmal
gesagt, man müsse hart auf hart setzen, und die eiserne Pflicht müßte das Letzte
und Höchste sein. Der Römer müsse sich auf seinem Posten, wenn er nicht ab¬
gelöst wird, vom Vesuv verschütten lassen. Dha hat nun dhiese Luzie, als ich sie
rief, Nein gesagt und ist geblieben. Und dhieser Hnnding Seidelbast hat seinem
alten Lehrer einen Vortrag gehalten und behauptet, leben sei manchmal schwerer
als billig sterben. Ich habe' es nicht mißbilligt, daß sie blieb. Mein Gott, man
nniß auch vergeben können. Und nun dieser Wenzel Holm zurückkommt, da kann
sie ihm nicht vergeben und mochte am liebsten weg. Es ist in diesen Frauen etwas,
was sich mit vernünftigem Denken nicht vereinen läßt. Jetzt fehlte es nur noch,
daß ich alter Lateiner zu ihr gehe und ihr christliche Barmherzigkeit predige.
An einem spätern Abend war Hilda bei Hokus. Ihr Philipp war in Ge¬
schäften verreist, und Hildn fühlte sich zu Haus einsam und hatte eine Einladung
ihrer Freundin gern angenommen. Dnzn hatte sie sich vorgenommen, diesem Wenzel
Holm einige nötige Sachen zu sagen. Es war ja toll! Er hat Papas Ver¬
mögen in Handen und vergißt die ganze Sache, wie wenn es sich um ein Paket
Fidibus gehandelt hätte. Die arme Mama! Der arme Hnnding! Wie viel hatte
denn gefehlt, so hätte man die Villa verkaufen müssen. Dieser Mensch bildete sich
ein. Dichter sein bedeute so viel, daß man darüber seine Pflichten versäumen dürfe.
Er fliegt in die Welt hinaus, blamiert sich und kommt wieder heim, wie wenn nichts
geschehen wäre. ^ ' ' ^ ' ^
Man saß geradeso beieinander wie damals, als Hilda gekommen war, ein Buch
Zu borgen, und Holm seine große Rede von der Freiheit hielt. Und so wie
damals rückte Holm seinen Stuhl neben den von Hilda. Aber Hilda, die eins!
zurückgewichen und zuletzt davongelaufen war, hielt diesmal stand und rückte ihren
Stuhl keck dem Wenzel Hokus entgegen. Es war doch eine ganz andre Sache,
wenn man junge Frau war.
Nun, gnädige Frau, sagte Wenzel Holm, Sie sind ja jetzt zur Baukunst über¬
gegangen.
Ja, erwiderte Hilda, ich habe umgesattelt.
Um Häuser zu bauen?
Nein, um mein Haus zu bauen. Das ist auch eine Kunst, Herr Holm,
Lebenskunst.
Austern, Trüffeln, Portwein? fragte Wenzel Holm.
Bewahre! erwiderte Hilda. Nicht Lebekunst, sondern Lebenskunst. Geld aus¬
geben ist keine Kunst, sagt Philipp, und Geld zusammenscharren auch nicht. Aber
das Leben so gestalten, daß es zur Harmonie wird, das ist eine Kunst — sagt
Philipp. Hat er nicht Recht?
N—ja, er hat schon Recht.
Kunst kommt her von Können, sagt Philipp, und zur Lebenskunst muß man
auch etwas können. Raten Sie einmal, was? Vierhändig spielen. Jeder hat
seine Tastenseite und seine Notenseite, aber es muß doch zusammen klappen. Keiner
darf den andern stören. Und nicht davonlaufen und nicht zurückbleiben. Und immer
muß man das Gefühl haben, daß man Seite an Seite sitzt — sagt Philipp. Hat
er nicht Recht?
Allerdings. Ich möchte aber doch bemerken...
Ich sage Ihnen, Philipp ist ein großartiger Künstler. Ich glaubte immer,
um Künstler zu sein, müsse man im Trikot als Halbgott auf der Bühne herum¬
springen. Ach, welche Stümper gibt es unter diesen Halbgöttern! Leute, die sich
heute scheiden lassen und morgen wieder zusammenlaufen, wie dieser Rohrschach und
seine Julie. Luzie, wenn damals Philipp wild geworden wäre, wenn er ungestüm
gefordert hätte, was er wünschte, ich weiß nicht, was geworden wäre. Aber er
hat gewartet — wie einer, der wartet, bis die Kartoffeln gar sind. Und dann
schnell heraus aus dem Wasser.
Mir scheint, gnädige Frau, sagte Wenzel Holm, Sie halten Kartoffeln kochen
auch für eine Kunst.
Halte ich auch, erwiderte Hilda. Ich bitte Sie, wozu in übersinnlichen Welten
herumwimmeln? Wozu das ganze Getue? Die Hauptsache ist, daß das Fundament
des Lebens klar und gesund ist. Das ist die feinste Baukunst — sagt Philipp.
Du hast es gut, sagte Luzie.
So gut können es andre Leute auch haben, erwiderte Hilda, wenn sie
nur wollen.
Sie meinen, wandte Holm ein, andre Leute wollen nicht?
Nein, sie wollen nicht. Luzie wird wollen, wenn sie kann, aber Sie wollen
noch gar nicht.
Köstlich! Ich will gar nicht.
Nein, Herr Holm, Sie wollen noch gar nicht. Sie sitzen da wie ein Mai¬
käfer, der Vom Baume gefallen ist und zählt, um wieder aufzupurren. Ich
sage Ihnen, Herr Holm, der Maikaifer wird wieder mit dem Kopfe an die Wand
fliegen.
Sie meinen also, gnädige Frau, sagte Holm, dem es unbehaglich zumute wurde,
ich solle meinen Dichterberuf aufgeben?
Ja, Sie haben ja zum Dichten gar keine Zeit. Erstens sind Sie der Mann
Ihrer Frau und haben viel gutzumachen. Macht täglich vierundzwanzig Stunden-
Und dann sind Sie der Vater Ihrer Kinder, und dann sind Sie der Herr in
Ihrem Hause. Ich wüßte nicht, woher Sie zum Dichten Zeit nehmen wollen.
Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Holm, satteln Sie um, gehen Sie zur
Lebenskunst über. Das ist mehr wert als Dramen schreiben, die nur für eine be¬
sondre Sorte von Menschen genießbar sind.
Von da an wurde Hilda den ganzen Abend Wenzel Holm nicht los. Der
Dichter war wirklich klein geworden. Man hätte darüber lachen können, wenn es
nicht so ernsthaft gewesen wäre, wie er dieselbe Hilda, der er noch vor Jahresfrist
seine erhabnen Lehren doziert hatte, als Helferin und Ratgeberin anging. Hilda
über war keine gütige Fee, die alles schnell ins reine brachte.
Aber, mein Gott, rief Wenzel Holm, die Hände ringend, was soll ich
denn tun?
Vor alle« Dingen, erwiderte Hilda, keine Reden halten, und vor allen Dingen
sich nicht weiß waschen wollen.
Soll ich wieder in die Fremde ziehn? fragte Holm.
Würde Sie das bessern? fragte Hilda zurück. Ihr Haus ist groß genug.
Geben Sie Ihrer Frau mit den Kindern und der Mutter ihr Reich für sich.
Sie müssen erst noch den Beweis führen, daß Sie sich gebessert haben. Sie müssen
um Ihre Frau von neuem werben. Die Fäden, die zerrissen sind, lassen sich nicht
wieder anknüpfen, es müssen neue Fäden gesponnen werden — sagt Philipp.
Hum!
Ja, hum!
Als Hilda Abschied genommen hatte, fügte Luzie: Wenzel, ist es nicht doch
besser, ich kehre zu den Eltern zurück?
Nein, bleib, erwiderte Holm, du sollst dein Reich für dich haben, und ich werde
"icht eher wieder über deine Schwelle treten, als bis du selbst sagst: Komm.
Das arme Neusiedler Theater war inzwischen ganz auf den Hund gekommen.
Der Direktor Walten, als er sah, daß das Theater gegen die vielen Vereine,
Konzerte, Operetten und Gesellschaften nicht aufkommen konnte, löste seinen Kontrakt
und zog ab. Und sein Nachfolger, der so weit hinter Wälder zurückstand wie dieser
hinter seinem Vorgänger, machte Bankrott. Denn der Besuch seitens des Publikums
war erbärmlich, und die Leistungen der Schauspieler waren es auch. Und so bildete
>'es eine verhängnisvolle, in sich zurückkehrende Kette: je geringer die Einnahmen
waren, desto schlechter wurden die Leistungen, und je schlechter die Leistungen wurde«,
desto mehr nahm der Theaterbesuch ab. Auf dieser schiefen Ebne war kein Halten.
Als aber erst die Leistungen unter ein gewisses Niveau gesunken waren, war der
Zusamwenbrnch nicht mehr aufzuhalten. Das bessere Publikum erklärte, in solch
Theater nicht gehen zu können, und das geringe Publikum, das immer noch
"«f seine Kosten kam. konnte das Theater nicht halten.
Darauf stand das Haus Jahr und Tag leer, da sich die Herren Stadtver¬
ordneten nicht entschließen konnten, den Pachtpreis herabzusetzen. Man hatte nämlich
die Pachteinnahme dazu verwandt, städtische Bedürfnisse zu decken und sich Steuern
A sparen. Man hätte also die Kommunalsteuer erhöhen müssen, wenn man die
^acht herabsetzte. Und das wollte niemand auf sich nehmen. Zwar hatte man
"och weniger, wenn das Haus leer stand, aber das war kein Grund, der die Über-
^ugungstreue der Herren Stadtverordneten hätte wankend machen könne». Es
^w in der Stadtverordnetenversammlung zu heftigen Auseinandersetzungen und
/"'klagen. Es sei, sagten die Unentwegten, genau so gekommen, wie sie es gesagt
hatten. Erst hätte man große Einnahmen versprochen, und das Ende sei nun, daß
der Steuerzahler bluten müsse.
Daran erkenne man den Fluch der kapitalistischen Weltordnung, rief Redakteur
Schnaller, und der Seifeufabrit'ant Lippspitz warf die Frage auf, ob nicht jetzt
noch das Theater in ein Schwimmbad umgewandelt werde» könnte.
Das ging nun freilich nicht, dagegen nisteten sich Wandertruppen im leeren
Theater ein, jetzt ein Opern-, jetzt ein Operettenensemble und jetzt eine Lustspiel-
truppe. Eben hatte sich ein Variete-theater eingerichtet in den heiligen Räumen,
die die Inschrift trugen: Ingsnuas llckcilitor äiäioi8Sö s.rrss und so weiter. Man hatte
die Bänke aus dem Parkett entfernt, Tische gestellt und einen Bierschank eingerichtet,
man hatte den Orchesterboden bis ganz oben hin hinaufgeschraubt, und da, wo einst
die hohe Kunst das Höchste erstrebt hatte, da standen spärlich bekleidete Nymphen
Kopf, und da produzierten sich abgerichtete Affen und Ponies.
In der Proszcninmsloge saßen ein paar mit großen Opernguckern ausgerüstete
Herren. Ein neu Eintretender kam hinzu. Es war der Assessor a. D. Markhof.
I, sehen Sie mal an, Herr Major, rief er, Sie mich hier?
Was will man denn machen, erwiderte dieser. Man hat ja hier in diesem
Jammerneste nicht einmal ein anständiges Theater.
Wenn wir vor acht Tagen die Vermutung aussprachen, daß beim Erscheinen
der letzten Nummer der Grenzboten wahrscheinlich schon ein Kompromiß der Block¬
parteien vorliegen werde, so können wir heute feststellen, daß sich diese Erwartung
erfüllt hat. Aber die Hoffnung, daß der Inhalt der Beschlüsse eine Verbesserung
der Vereinbarungen zwischen Konservativen und Zentrum bedeuten würde, ist ent¬
täuscht worden. Das neue Kompromiß stellt eher noch eine Verschlechterung des
von der Subkommijsivn vvrgeschlagnen dar. Der Gedanke einer „Besitzsteuer" ist
beibehalten worden, nur soll sie in einer Form erhoben werden, die einen noch
viel schärfern Eingriff in die Finanzhoheit der Einzelstaaten bedeutet.
Zunächst drängt sich die Frage auf, ob die Reichsfinanzreform nun wirklich
fertig ist oder — genauer gesprochen — Aussicht hat, auf diesem Wege einmal
fertig zu werden. Wenn man die Väter des neuen Kompromisses darüber reden
hört, könnte man es beinahe- glauben. Sie haben es sich freilich redlich sauer
werden lassen, und so kann man es ihnen nachfühlen, daß sie nach getaner Arbeit
von dem Bewußtsein, etwas ungewöhnlich schwieriges glücklich vollbracht zu haben,
getragen und über ihr Werk hoch erfreut sind. Es sah ja auch wirklich so aus,
als ob es durchaus nicht gehn wolle, Wir wissen ja, w>e sehr die Parteien
anseinanderstrebten, und wie jede ihre eigne Vorstellung von dem Aussehen der
künftigen Reichsfinanzreform hatte. Und jede meinte natürlich auch, daß mau ihr
allein Opfer zumute, daß alles, was von den andern verlangt werde, gar kein
Opfer sei, und daß, wenn ans der ganzen Sache nichts würde, nnr die andre
Seite schuld sei. Aber während dieses zähen Handelns um Zugeständnisse, wobei
die Parteien noch einmal vor Toresschluß alle ihre Unarten entfalteten, wuchs doch
allmählich immer- stärker die gemeinsame Überzeugung empor, wie notwendig die
schließliche Einigung und Verständigung sei/ Es stellte sich heraus, daß, die Block¬
parteien keineswegs unempfindlich gegen die im Falle eines Scheiterns drohenden
Möglichkeiten waren, sondern es in Wahrheit sämtlich als Ehrensache erkannten,
die entscheidende Mehrheit für das Zustandekommen der Reichsfinanzreform allein
— unabhängig von dem Zentrum — zu schaffen. So nahmen denn die Ver¬
handlungen doch endlich den gewünschten Verlauf, und jede der beteiligten Block-
Parteien opferte etwas von ihren Grundsätzen und Lieblingswünschen. Aus diesem
erfreulichen und gerade in der Art, wie die Schwierigkeiten überwunden wurden,
beinahe mustergiltigen Verlauf glauben die parlamentarischen Führer das Recht
schöpfen zu können, von den Verbündeten Regierungen die Zustimmung zu dem
Ergebnis der mühsamen Arbeit zu erlangen. Wir glauben aber nicht, daß das
möglich sein wird.
Damit soll nicht gesagt sein, daß die gegenwärtige Verständigung der Parteien
bedeutungslos sei. Man muß vielmehr zugeben, daß das Kompromiß in jedem
Falle einen Gewinn bedeutet, und das mag den Arbeitern an dem guten Werk
zum Trost auch dann dienen, wenn das Ergebnis ihrer Mühen keine Gnade vor
den Augen des Bundesrates findet. Der Gewinn, der trotz alledem erreicht worden
ist. besteht einmal in den Erfahrungen und Eindrücken der Verhandlungen selbst
und dann auch in einem Teil der gefaßten Beschlüsse. Was das erste anlangt,
so vergleiche man nur einmal das planlose Darcmflosstürmen der Parteien in der
ersten Lesung der Vorlagen in der Kommission mit der Art und Methode des
Arbeitens in diesen letzten Tagen, wobei ein stetiges Hindrängen auf eine prak¬
tische Einigung zu erkennen war. Und was den Inhalt der gefaßten Beschlüsse
betrifft, so bleibt in jedem Falle die Tatsache bestehn, daß sämtliche Blockparteien
bereit sind, die Reichsfinauzreform auf der Grundlage zuwege zu bringen, daß
»eben der Deckung des größern Teils des Bedarfs durch indirekte Verbrauchs¬
steuern auch die Aufbringung von hundert Millionen Mark direkter Steuern vom
Besitz in Betracht kommt. Im schlimmsten Falle kann also die Schwierigkeit von
jetzt an nur darin liegen, daß es noch zweifelhaft ist, wie diese hundert Millionen
aufzubringen sind.
Wir sind also durchaus nicht blind gegen den Nutzen des Kompromisses. Es
ist eben die erste Gestalt einer zum Ziele führenden Einigung, nur ist es kaum
denkbar, daß es auch die letzte sein sollte. Das ist äußerlich schon dadurch ange¬
deutet, daß die Liberalen nur „vorläufig" und „mit Vorbehalt" dem Kompromiß
beigetreten sind. Sie haben es einstweilen angenommen, um die Möglichkeit ge¬
meinsamen weitern Arbeitens auf fester Grundlage zu haben. Sympathisch ist den
Liberalen außer der Anerkennung der Notwendigkeit, für das Reich nicht nur den
Verbrauch, sondern auch den Besitz zu belasten, auch die in dem Kompromiß ent¬
halte Vereinbarung, daß neben der „Besitzsteuer" die Matrikularbeiträge aufrecht
erhalten bleiben sollen, daß also nicht, wie es der Zentrumsantrag wollte, die
Besitzsteuer in einer auf mehrere Jahre festgelegten Höhe an Stelle der Matrikular¬
beiträge treten sollte. Denn nach liberaler Auffassung bedeutet die gesetzliche Fest¬
legung bestimmter Einnahmequellen des Reichs auf mehrere Jahre eine Beschränkung
des Budgetrechts des Reichstags. Dieses Recht wird dem Reichstag am besten
gewahrt, wenn die Einnahmen so beweglich gestaltet werden können, daß sie für
tetes Jahr den vom Reichstag bewilligten Ausgaben angepaßt werden können.
Dazu eignet sich das System der Matrikularbeiträge am besten, und deshalb will
Man sie beibehalten wissen. Das schließt jedoch nicht etwa den Wunsch ein, daß
das Reich, um einen anerkannten und unvermeidlichen Mehrbedarf zu decken, die
Matrikularbeiträge rücksichtslos erhöhen solle. Darauf läuft nun aber das Finanz¬
kompromiß hinaus, denn die vorgeschlagne Besitzsteuer ist nichts andres als ein erhöhter
Matrikularbeitrag, den die Einzelstaaten durch Zuschlage zu ihren Einkommen- und
Vermögenssteuern aufzubringen haben. Das entspricht durchaus nicht den liberalen
Anschauungen, die vielmehr auf eine wirkliche Reichsvermögenssteuer gerichtet sind.
Bedenklicher als mancher Schönheitsfehler des Kompromisses ist der starke
Eingriff in die Finanzhoheit der Einzelstaaten, wie er in den vereinbarten Be¬
stimmungen über die Besitzsteuer enthalten ist. Deswegen hat auch die konservative
Partei eiuen Vorbehalt zu dem Kompromiß gemacht, und es ist eigentlich schwer
zu begreifen, wie sich Konservative überhaupt entschließen konnten, solchen Gedanken
zuzustimmen. Die einzige Erklärung dafür ist, daß sie um jeden Preis aus der
Sackgasse herauswollten, in die sie sich durch die Ablehnung der Nachlaßsteuer ver¬
rannt hatten. Man mache sich einmal klar, was den Einzelstaaten durch das Kom¬
promiß zugemutet wird. Sie sollen eine Steuersumme erheben und an das Reich
abführen. Das würde ja unbedenklich sein; es ist dasselbe, was alljährlich durch
die Zahlung der Matrikularbeiträge geschieht. Nun aber weiter! Es sind zwei
Wege möglich, wie das geschehen kann. Entweder ist nämlich die Steuer von
vornherein als Reichsabgabe gedacht; dann haben wir eine Einrichtung vor uns,
die das Reich selbständig getroffen hat, und bei der es sich nur der formellen
und technischen Mitwirkung der einzelstaatlichen Behörden bedient. Oder aber das
Reich überläßt es den Einzelstaaten, die an das Reich zu zahlende Summe aufzu¬
bringen, wie sie es für gut befinden. Der zweite der hier bezeichneten Wege be-
deutet ein Verfahren, bei dem das Reich seine Last vollständig auf die Einzelstaaten
abwälzt. Was die Einzelstaaten dabei zu leisten haben, unterscheidet sich in keinem
wesentlichen Punkte von der Zahlung der ungedeckten Matrikularbeiträge. Wenn
wir das wollen, sind wir allerdings schnell mit unsrer Aufgabe fertig. Dazu
brauchen wir keine Reichsfinanzreform; das hätten wir längst haben können. Wir
wollen ja aber gerade aus diesem Zustande heraus. Ist nun der andre, erstge¬
nannte Weg gangbar? Die Ansichten können darüber verschieden sein. Die Reichs¬
einrichtung, die dort bezeichnet wurde, ist nichts andres als die von den Liberalen
von jeher befürwortete direkte Reichssteuer auf Vermögen oder Einkommen oder
beides. Gegen eine Reichseinkommensteuer haben sich zu starke Bedenken von allen
Seiten erhoben; es steht jetzt eigentlich mir noch die Reichsvermögenssteuer zur
Erörterung. Daß sie von vielen für durchaus vereinbar mit der Reichsverfassung
gehalten wird, beweist die Stellung der Liberalen zu dieser Frage. Aber die ver¬
bündeten Regierungen selbst haben nie etwas davon wissen wollen, sie haben nie
einen Zweifel darüber gelassen, daß sie diese Form der Steuer für unannehmbar
ansehen.
So hat man sich denn auf die Suche nach einem dritten Wege begeben, ob¬
wohl eigentlich von vornherein klar sein könnte, daß es einen solchen Weg gar nicht
geben kann. Man verfällt bei diesem Suchen nur der Versuchung, die wirkliche
Lage zu verschleiern. So ist es auch hier geschehen. Man hat ein mixtum vom-
xosiwm aus verschleierter Reichsvermögenssteuer und verschleierter Erhöhung der
Matrikularbeiträge hergestellt. Damit die Sache nicht als einfache Erhöhung der
Matrikularbeiträge erscheint, will man den Einzelstaaten Vorschriften machen, wie
sie die an das Reich abzuführende Summe aufzubringen haben. Man sollte denke»,
nun wäre es am einfachsten, überhaupt eine Reichsvermögensstcuer einzuführen, aber
man muß doch der Sache ein künstlich verändertes Ansehen geben, damit man den
Verbündeten Regierungen sagen kann: Wir bieten euch etwas funkelnagelneues, bei¬
leibe keine Reichsvermögensstcuer, sondern die famose „Besitzsteuer"! Mit diesem
neuen Namen deckt man eine Steuer, die in einfachen Zuschlägen zu den einzel¬
staatlichen Einkommen- und Vermögenssteuern besteht. Man fügt also zu der Reichs¬
vermögenssteuer noch eine Reichseinkvmmensteuer, die man bisher als unausführbar
und unannehmbar verworfen hat, hinzu und nennt die ganze Geschichte anders,
damit der Braten nicht gerochen wird. Und dann ist noch ein wesentlicher Unter¬
schied dabei: Die Reichsvermögensstcuer wurde beanstandet, weil diese Reichssteuer
die Einzelstaaten in der Verfügung über eine Einnahmequelle beschränkte, die sie für
ihre eignen Zwecke nicht entbehren zu können glauben; die Besitzsteuer jedoch begnügt
sich nicht damit, den Einzelstaaten ein unentbehrliches Steuergebiet wegzunehmen,
sondern sie fordert, daß das Reich die Einzelstaaten in der Ausübung ihrer eignen
Staatshoheitsrechte beaufsichtigt und bevormundet. Denn es bleibt ja nicht dabei,
daß den Staaten von Reichs wegen befohlen wird, bestimmte Zuschlage zu ihren
Einkommen- und Vermögenssteuern zu erheben, sondern das Reich will auch die
Grenzen dieser Zuschlage selbständig bestimmen, ohne danach zu fragen, ob das mit
den durch Landesgesetz bestimmten Anordnungen im Einklang steht. Das Reich
verlangt ferner Auskunft über die Ergebnisse der bundesstaatlichen Steuererhebung,
damit es danach die Besitzsteuer verteilen kann, und — was das ärgste ist — es
zwingt die Bundesstaaten, die bisher noch keine Einkommen- und Vermögenssteuer
haben, solche einzuführen. Mit einem Wort: es ist der stärkste Eingriff in die
Finanzhoheit der deutschen Bundesstaaten, der überhaupt denkbar ist. Er bringt
die Einzelstaaten dem Reich gegenüber in dasselbe Verhältnis, in dem die Kom¬
munen dem Staat gegenüberstehn. Das ist nicht etwa eine kleine Änderung der
Reichsverfassung, wie sie vielleicht durch eine natürliche Entwicklung des Reichs¬
gedankens in unitarischer Richtung unter Umständen geboten sein könnte, sondern
das ist eine durch Willkür und Parteieigensinn geschaffne, durch keine Notwendigkeit
gebotne, grundstürzende Verschiebung des ganzen Reichsgefüges. Man ist auf diesen
Ausweg gekommen, nicht weil man absichtlich in dieser Richtung arbeiten wollte
— im Gegenteil, die eigentlichen Urheber dieser Lösung sind nach ihren ganzen
Parteitraditionen ausgesprochne Föderalisten und, wenn man es so nennen will,
„Partikularisten" —, sondern weil man für den Gedanken der Reichsvermögens¬
steuer eine andre, annehmbare Form finden wollte! Es ist beinahe etwas von
Humor in dieser verzwickten Lage. Man verfährt nach dem Rezept: Weil dem
Menschen Arsenik nicht bekömmlich ist. gebe man ihm Cyankali!
Uns erscheint es ausgeschlossen, daß die Verbündeten Regierungen dem Kom¬
promiß zustimmen können. Von konservativer Seite wird gewissermaßen als Ent¬
schuldigung angeführt, diese schwierige Lage sei dadurch entstanden, daß man durchaus
eine direkte Besteuerung des Besitzes habe finden müssen. Es sei eben von Hause
ans ein falscher Gedanke, die Finanznot des Reichs auf diesem Wege zu heben.
Die Einführung direkter Steuern für das Reich widerspreche überhaupt dem Geiste
der Reichsverfassung, wie sie Bismarck interpretiert habe. Es will uns scheinen,
als ob man hier verschiedne Gedankengänge durcheinander bringt. Zunächst ist es
eine bekannte Sache, daß Bismarck grundsätzlich der indirekten Besteuerung vor der
direkten den Vorzug gab. Aber diese Ansicht Bismarcks gehört unter die.
die zwar für die persönliche Charakteristik des großen Staatsmanns und für die
Kenntnis seiner Zeit wichtig sind, aber keineswegs maßgebend und verpflichtend
für die praktische Staatskunst einer neue» Zeit sein können. Daß im allgemeinen
dem Reich die indirekten, den Einzelstaaten die direkten Steuern als Einnahme¬
quellen zur Verfügung stehn, beruht weniger auf den Festsetzungen der Reichs-
verfassung selbst — die von einer solchen grundsätzlichen Scheidung nichts weiß —
noch auf der Interpretation Bismarcks, als auf den praktischen Folgerungen, die
sich aus den Bestimmungen der Reichsverfassung ganz natürlich ergeben und ein¬
gebürgert haben. Wenn aber eine direkte Reichssteuer gesunden werden kann, die
den Bau der einzelstaatlichen Finanzeinrichtungen nicht erschüttert, so steht nichts
dem entgegen, daß sie eingeführt werden kann. Darauf allein kommt es an, nicht
°uf die Prinzipienfrage, ob direkt oder indirekt. Bisher hat sich freilich nur eine
einzige Art der Besteuerung gefunden, die den Bedingungen einer direkt vom Besitz
S" erhebenden Reichssteuer entspricht, das ist die Nachlaß- und Erbschaftssteuer.
Nur daraus, daß die Parteien der Rechten von dieser allein einwandfreien Steuer
nichts wissen wollen, hat sich die unmögliche und widerspruchsvolle Lage ergeben,
Vor der wir jetzt stehn. Wenn man sich durchaus auf Bismarck berufen will, warum
erinnert man sich dann nicht seines beständigen Strebens, die Einzelstaaten finanziell
zu Kostgängern des Reichs zu machen, nicht umgekehrt? Jetzt will man die Finanznot
des Reichs dadurch beseitigen, daß man die Leistungen auf die Einzelstaaten ab¬
schiebt und den Ausgleich darin sucht, daß die Einzelstaaten in Ausübung ihrer
wichtigsten und wohlbegründetsten Rechte unter die Kuratel des Reichs gestellt
werden. Und die Leute, die das machen, berufen sich auf Bismarck!
Noch ein weiterer Widerspruch findet sich dabei. Dieselben Leute, die die
notwendige und durch unsre gesamten staatlichen Einrichtungen begründete finanz¬
politische Selbständigkeit der deutschen Bundesstaaten ruhig den Eingriffen der
Reichsgewalt preisgeben, gehören einer Parteirichtung an und folgen ihrer Führung,
die bei einer der Versammlungen in der großen Landwirtschaftswoche der Äußerung zu¬
stimmte, in der Lnndesgesetzgebung könne man sich wohl die Nachlaß- und Erb¬
schaftssteuer gefallen lassen, nicht aber im Reiche, wo die Gesetzgebung leichter der
Herrschaft demokratischer Einflüsse verfallen könne. Diese Furcht vor den um¬
stürzenden Einflüssen des Reichs haben die Herren merkwürdig schnell abgelegt,
da sie dem Reiche Befugnisse geben wollen, die der Existenz der Einzelstaaten über¬
haupt den Boden unter den Füßen wegziehen. Es wird noch viel Arbeit nötig
sein, ehe die Finanzreform eine brauchbare Gestalt gewinnt.
In der auswärtigen Politik wird die Lage auch heute uoch von der Balkan¬
krisis beherrscht. Noch sind die Gefahren für den Fieber nicht völlig geschwunden.
Berichtigend muß erwähnt werden, daß sich Deutschland an den Vorstellungen der
Mächte in Belgrad nicht unmittelbar beteiligt hat. Nachdem Rußland allein einen
Schritt in dieser Richtung unternommen hat, also ein Kollektivvorgehen der Gro߬
mächte außer Österreich-Ungarn unterblieben ist, hat es Deutschland nicht für nötig
gehalten, ausdrücklich einzugreifen. Nußland handelte für sich, und es folgten dann
England, Frankreich und Italien. Serbien hat nnn dem freundschaftlichen Druck
so weit nachgegeben, daß es seine Bereitwilligkeit, territoriale Ansprüche wegen der
Annexion Bosniens fallen zu lassen, vorläufig ausgesprochen hat, aber es ist eine neue
Schwierigkeit dabei entstanden. Serbien will nämlich die Regelung seiner Auseinander¬
setzung mit Österreich-Ungarn in die Hand der Großmächte legen. Es soll also nicht
dabei bleiben, daß die Mächte, wie es jetzt geschehen ist, im Interesse des Friedens so
weit eingreifen, wie es notwendig ist, um die Grundlage für Verhandlungen zu
schaffen. Serbien möchte vielmehr, daß auch während der Verhandlungen die Gro߬
mächte ihre Hand darüber halten. Dafür fehlt nun freilich jede völkerrechtliche
Unterlage. Der bisherige Souverän von Bosnien und der Herzegowina hat diese
Länder in einem rechtsgiltigen Vertrage an die Habsburgische Monarchie abgetreten.
Da hierdurch allerdings die Festsetzungen des Berliner Vertrags von 1878 berührt
werden, so kann man um des Ansehens internationaler Verträge willen grundsätzlich
fordern, daß dieser neue Rechtsstand von den Signatarmächten formell anerkannt
wird. Aber weder haben die Signatarmächte die Möglichkeit, dieses bereits geordnete
Rechtsverhältnis irgendwie umzustoßen, noch gehört Serbien zu den Signatarmächten
des Berliner Kongresses. Vor allem aber kann es als völlig ausgeschlossen gelten,
daß sich Österreich-Ungarn auf irgendwelche Verhandlungen mit Serbien einläßt,
solange von feiten einer oder der andern Großmacht der Gedanke festgehalten
wird, daß eine Kontrolle über diese Verhandlungen ausgeübt werden könnte. Österreich-
Ungarn kann mit Serbien nur direkt und allein verhandeln. Deutschland hat nicht
den geringsten Zweifel darüber gelassen, daß es auch in dieser Frage der österreichischen
Politik einen festen Rückhalt bietet. Man darf wohl hoffen, daß Serbien sehr bald
zu der Einsicht kommen wird, wie sehr es, nachdem einmal der Anspruch auf
Gebietsentschädigung fallen gelassen ist, seinem eignen Interesse entspricht, daß die
Verständigung mit Österreich-Ungarn allein gefunden wird. Das nationale Be-
wußtsein und den kriegerischen Sinn des serbischen Volks in Ehren, aber die
Torheit wird es doch nicht begehen wollen, sich in einen Krieg gegen eine Gro߬
macht zu stürzen, wenn es das Gewünschte tatsächlich ohne Krieg erreichen kann.
Die Kriegslust hatte einen Sinn, solange Forderungen aufrecht erhalten wurden,
die ohne Krieg nicht zu erlangen waren. Jetzt hat sich Serbien überzeugen können,
daß es diese ursprünglichen Forderungen auch im günstigsten Falle und auch durch
die Hilfe der Großmächte nicht durchsetzen kann und wird. Was es jetzt noch haben
kann und will, kann es in Wahrheit auf dem Wege der Verhandlungen und ohne
Demütigung von Österreich-Ungarn allein erlangen. Dringt es aber darauf, daß
diese Verhandlungen unter der Kontrolle der Mächte stattfinden, so verbaut es sich
selbst den Weg auch zu den erreichbaren Vorteilen und beschwört entweder einen
europäischen Krieg herauf, dessen Ausgang ihm vielleicht seine Wünsche noch weniger
erfüllt, oder es erlebt eine noch härtere Enttäuschung, indem es zur Vermeidung
schwerer Konflikte selbst von solchen Mächten im Stich gelassen wird, auf die es jetzt
zählen zu können glaubt. Aus diesen Gründen glaubt man in eingeweihten Kreisen
trotz manchen Schwankungen der Lage doch an der Hoffnung festhalten zu dürfen,
beiß es bei der friedlichen Lösung der Krisis bleibt.
Kolonialpolitik im Reichstage. Der Kolonialetat ist diesmal so glatt
und anstandslos verabschiedet worden, daß man seine Freude an der Kolonialpolitik
des Reichstags haben könnte, wenn das, was dort hin und her geredet worden ist,
im ganzen genommen, überhaupt den Titel Kolonialpolitik verdienen würde. An
den Früchten sollt ihr sie erkennen. Nun, die Frucht der ganzen Rederei ist: es
bleibt alles beim alten...
Wir meinen damit nicht den materiellen Inhalt des Kolonialetats. Gegen den
läßt sich im allgemeinen nicht viel einwenden. Er trägt den Stempel erfreulichen
Vvrwärtsschreiteus auf wirtschaftlichem Gebiete, und die wenigen kolonialen Sach¬
verständigen im Reichstag haben darum auch nicht viel beanstandet. Aber die
brennende Frage der Kolonialpolitik, der Gegensatz zwischen Schwarz
und Weiß, ist seiner Lösung keinen einzigen Schritt näher gekommen. Dabei drehte
sich um diesen Punkt im Grunde genommen die ganze Verhandlung. Aber sie ent¬
behrte, sobald die Debatte auf Streitpunkte kam, des rechten Ernstes und der
Würde. Es wurde zum Teil sachlich Gutes geredet — Arning, v. Liebert,
Arendt —, das meiste aber war — sit vouia vsrdo — abgeschmackte Phrasen¬
drescherei. Bei jeder Rede — ich nehme hier auch die genannten drei Herren nicht
ganz aus — mehr oder minder dasselbe Spiel: Verbeugung vor den Verdiensten
des Herrn Staatssekretärs, Betonung, wie herrlich weit wirs mit unsern Kolonien
gebracht haben, bescheidentlich ein paar kritische Bemerkungen, Schluß: Apotheose des
Herrn Staatssekretärs. Dann kam Dernburg, fuhr dem Redner entweder mit ein
paar scharfen Worten oder unangenehmen, wenn auch unrichtigen Reminiszenzen
und tgi. über den Mund oder überlieferte ihn in seiner schlagfertig-überlegnen
Art durch spöttische Bemerkungen der Heiterkeit des Hauses. Und ein paar ge¬
schickt nach der geeigneten Seite gerichtete Schlagworte mußten für den erforderlichen
Beifall sorgen. Ja, meine Herren, so kommen wir nicht weiter. Einmal muß
die Eingebornenfrage doch ernsthaft gelöst werden! Was nützt die schönste
sachliche Kritik, wenn man ihr selbst die Spitze abbricht, wenn man sich in der Ein¬
leitung für das Kommende entschuldigt und zum Schluß sagt, es sei nicht so bös
gemeint? Oder wenn man — wie z. B. Herr Arendt — ausgezeichnete Worte über
eine Kardinalfrage der Kolonialpolitik durch lange Ausführungen über Nebensächliches
verflacht und vergessen macht?
Daß Staatssekretär Dernburg die koloniale Sache in der Heimat in Schwung
gebracht, und daß er dadurch den Kolonien wichtige Hilfen gegeben hat, wissen wir
nachgerade, und ihm ist es schon oft genug gesagt worden. Wir dürfen auch nicht
daran zweifeln, daß er nach bestem Wissen und Gewissen die Entwicklung seines
Wirkungskreises zu fördern bemüht ist. Aber das Moralische versteht sich von
selbst, darüber braucht nicht fort und fort geredet zu werden.
Alle Kenner und Freunde der Kolonien sind darüber einig, daß der Staats¬
sekretär über die Haupt- und Grundfrage der Kolonialpolitik, über die Ein-
gebornenfrage in einem gefährlichen Irrtum befangen ist. Der Umstand,
daß ihm dieser Irrtum lieb geworden ist, und daß er seine falschen Anschauungen
mit zäher Energie verteidigt, kann uns nicht abhalten, mit aller Bestimmtheit auf
eine Änderung der Politik hinzuwirken, die letzten Endes geeignet ist, die fernere
Zukunft unsers Kolonialbesitzes zu gefährden.
Wir wollen deutsche Kolonien, in denen das deutsche Wesen, die deutsche
Macht vorherrschend bleibt. Das erreichen wir nur dadurch, daß wir ein für
allemal der schwarzen Rasse den Platz anweisen, der ihr gebührt, und sie konsequent
von jeder Mitbestimmung ausschließe«. Nur ein patriarchalisches Regiment bietet
uns Gewähr, daß sich die nun einmal inferiore schwarze Rasse dem modernen
Wirtschaftsleben als rationell arbeitendes Glied einfügt, und daß andrerseits das
Staatsleben der Kolonien eine bleibende Grundlage nach soliden deutschen Grund¬
sätzen erhält. Dressieren wir aber die Schwarzen zu „Mitbürgern" heran, setzen
wir sie im Gemeinde-, Bezirks- und Gouvernementsrat und andern Verwaltungs¬
organen neben den weißen Mann, so ergibt sich daraus in absehbarer Zeit die¬
selbe ekelhafte Hosennigger- und Mischlingswirschaft wie an der englischen Goldküste.
Die Folge davon ist naturnotwendig, daß sich die weiße Rasse nicht rein erhält,
sondern moralisch und physisch allmählich hinuntersinkt. Und letzten Endes haben
wir draußen nicht deutsche Kolonien, sondern Gebilde wie die portugiesischen, oder
wenn sich der Selbständigkeitsgedanke trotz alledem weiter entwickeln sollte, west¬
indische Verhältnisse mit der latenten Revolution als Regierungssystem.
Es mag für manche Leute unbequem sein, historisch zu denken, und einfacher,
über einen solchen Gedankengang zu spötteln. Das soll uns aber nicht abhalten,
immer wieder den Teufel an die Wand zu malen.
Wir haben uns dazu durchgerungen — dank Dernburg —, die Kolonial¬
politik als vorwiegend wirtschaftliche Frage zu betrachten, was sie ja
auch ist. Aber jedes Wirtschaftssystem muß auch ein gesundes politisches Rückgrat
haben. Wir wollen keine grundsatzlos auf den Erwerb gerichtete Opportunitäts-
politik, kein Fortwursteln um der Geschäfte willen, sondern eine bewußt deutsche,
wohldurchdachte Kolonialpolitik, die unserm kolonialen Nachwuchs festen Boden unter
die Füße gibt, ihn vor Rassenkonflikten nach Möglichkeit bewahrt und der deutschen
Nationalwirtschaft eine wichtige Ergänzung sichert.
Uns will es scheinen, als ob Dernburg denn doch seiner Sache nicht mehr
recht sicher wäre, denn seine im Reichstag an den Tag gelegte Selbstsicherheit
schien uns etwas forciert und nervös. In seine Idee von den reinen Handels-
kolonien ist ja auch Bresche gelegt. Ostafrika wird Dernburg und Rechenberg
zum Trotz Siedlungskvlonie, wenigstens zum Teil.
Damit find wir glücklich bei Ostafrika angelangt, um das sich vornehmlich
die Frage Schwarz oder Weiß dreht, weil es Herrn v. Rechenberg so beliebt.
Dernburg hat neulich zugeben müssen, daß sich offenbar doch weite Teile dieser
Kolonie zur deutschen Besiedlung eignen. Somit müßte die Rechenbergsche Idee
der Beteiligung der Schwarzen um der Selbstverwaltung vernünftigerweise in sich
zusammenfallen. Wenn das Hinterland stark mit Weißen besiedelt ist, so kommen
auch in die Küstenstädte immer mehr weiße Kaufleute und Gewerbetreibende, und
damit ist das weiße „Material" (wie die Kolonialverwaltung so hübsch sagt) für
die Selbstverwaltung vorhanden.
Natürlich werden demgegenüber wieder die abgedroschncn Phrasen von der
»Entrechtung" und „Ausbeutung" der armen Schwarzen auftauchen, mit denen nicht
nur beim Zentrum und der äußersten Linken, sondern neuerdings leider auch am
Regierungstisch operiert wird. Diese Märchen werden dadurch nicht wahrer, daß sie
fortgesetzt wiederholt werden. Wobei zu bemerken ist, daß die armen Schwarzen,
ehe wir nach Afrika kamen, in der Regel weder Rechte noch etwas zum Ausbeuten
hatten. Wenn Herr Erzberger und Herr Ledebour, von denen mau nichts andres
"is Bramarbasieren gewohnt ist, mit solchen Mätzchen arbeiten, so schadet das nicht
viel, denn diese Herren werden von der öffentlichen Meinung glücklicherweise nicht
"llzu ernst genommen. Aber am Regiernngstisch sollte man sich hüten, mit diesen
Begriffen zu spielen, bloß um einen Augenblicksbeifall zu erlangen. Dieses schadet
der Sache und schafft in kolonialen Kreisen, namentlich bei unsern Landsleuten
draußen, Verbitterung.
Desgleichen finden wir es unklug, daß man es versucht, unsre kolonialen
Landsleute als egoistische Querulanten hinzustellen, die Sondervorteile herauszu-
schlagen versuchen. Räudige Schafe, Ausbeuter, Egoisten und Querulanten gibt
es überall, in Ostelbien, am Rhein und in Ostafrika. Aber das muß wieder ein-
uwl mit aller Deutlichkeit betont werden, diese Leute geben in den Kolonien nicht
den Ton an. Dort spielen nnr die eine führende Rolle, die wirtschaftlich etwas
geleistet haben. Gewiß, die Leute drüben sind selbstbewußt, sie haben in harter
entbehrungsreicher Arbeit etwas geleistet, und sie wollen deshalb auch gefragt werden,
wenn über das Wohl und Wehe und die Zukunft der Kolonie, die sie am eignen
Leibe spüren müssen, entschieden wird.
Sie beuten auch ihre Schwarzen nicht aus, sondern sie bezahlen sie ver¬
hältnismäßig recht anständig und behandeln sie im eigensten Interesse gut,
denn sonst kriegen sie keine Arbeiter. Gegenteilige Behauptungen sind Märchen,
die aus einer ernsthaften Diskussion nachgerade verschwinden sollten.
Leider sind unter solchen Einwendungen die Wünsche und Klagen der
°stafrikanischen Deutschen samt und sonders unter den Tisch gefallen. Item:
es bleibt alles beim alten. Man kann ihnen nur deu guten Rat geben: nicht
soviel reden, nicht soviel schreiben, sondern — handeln, ^.et ooulos demonstrieren,
was regierungsseitig bestritten wird, daß namentlich die weiße Bevölkerung der
Kolonie wie ein Mann gegen den Gouverneur steht, indem man es ablehnt, an
einer Selbstverwaltung nach Rechenbergschen Grundsätzen mitzuarbeiten. Die
Weißen in Neu-Guinea haben es dem neuen Zolltarif gegenüber, der ihre Existenz
bedroht, so gemacht, und dieser Beweis hat seine Wirkung nicht verfehlt. Dabei
handelt es sich in Neu-Guinea nur um materielle Dinge, in Ostafrika aber um
"ehr, um die politische Zukunft der Kolonie.
Wir sehen, offen gestanden, trotz aller äußern Fortschritte in den Kolonien
"ach den jüngsten Reichstagsdebatten trübe in die Zukunft. Die geringschätzige
Zurückweisung der Klagen unsrer Ostafrikaner, die nicht wie die südwestafrikanischen
Lnndsleute einen Gouverneur haben, der mit ihnen lebt und für sie sorgt, kann
"icht ohne Wirkung auf das Wirtschaftsleben draußen bleiben, und der Kredit der
Kolonie beim heimischen Kapital muß naturnotwendig unter diesen Verhältnissen
^den. Um so mehr, als alle Kenner der Verhältnisse nach wie vor der wohl-
begründeten Ansicht sind, daß die Recheubergsche Eingebornenpolitik zu einer
^"wstrophe führen muß. Am Markt in Kolonialwerten kommt alles dies heute schon
deutlich zum Ausdruck: von ostafrikanischen Werten will gegenwärtig niemand etwas
Wissen. So kann es nicht weitergehn. Hoffentlich wird im Reichstag endlich die
"achste Gelegenheit ergriffen, ernst und deutlich über die UnHaltbarkeit dieser Ver¬
hältnisse zu reden.
Wir können nur die trefflichen Worte unterschreiben, mit denen die Deutsche
Leitung ihr Resumö über die Kolonialverhandlungen beschließt: „Staatssekretär
Dernburg muß sich tief durchdringen mit dem Bewußtsein: daß auch
der tüchtigste Beamte in leitender Stellung nicht rechthaberisch,
unzugänglich und leichtherzig offen in der Polemik werden darf."
> Den „Grundriß einer Semswissenschaft" von
H. G. Opitz haben wir als ein brauchbares, im besten Sinne des Worts populäres
Lehrbuch der Philosophie gelobt, haben jedoch (im 2. Bande des Jahrgangs 1905)
der Ansicht des Verfassers, daß seine Methode, und sie allein, die Philosophie zur
wirklichen Wissenschaft mache, nicht beigestimmt. Bei Otto Günther in Charlottenburg
hat er 1907 ein kleines Buch herausgegeben (Auf dem Wege zum Gott, eine
Studie, nebst Anhang: Gibts eine Philosophie?), das einige Ergebnisse seines
größern Werkes zusammenfaßt und das Verhältnis der Philosophie zur Religion
erörtert. Diese allein vermöge den Menschen von den Widersprüchen zu erlösen,
in die ihn das Denken („die Vernunft", sagt Opitz) verwickelt und ihm durch Tröstung,
durch Richtung und Kräftigung des Willens praktische Hilfe zu leisten; dagegen
sei es das Recht und die Aufgabe der Philosophie, das Verhältnis der Religion
zur Wissenschaft, hauptsächlich zur Naturwissenschaft zu bestimmen und jeder dieser
geistigen Mächte das Gebiet ihrer Zuständigkeit abzugrenzen. Das Buch enthält
wie die „Seinswissenschaft" eine gute Darstellung der Gleichartigkeit der Menschen-
und der Tierseele und des Unterschieds beider und eine kurze scharfe Kritik der
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it starkem Unmut u»0 tiefer Beschämung nehmen wir Tag für
Tag wahr, wie langsam und stockend — man könnte sagen
widerwillig — des Reichstags Mühlen arbeiten, um die Kraft-
mittel für den Neichsorganismus zuzubereiten. Die nationale
Opferwilligkeit, ein Schlagwort, das alle Parteien in Sachen der
Reichsfinanzreform so eifrig auf den Lippen führen, ist bis zur Ohnmacht von
den häßlichen Schlinggewächsen kleinlichen Fraktionsgeistes und eigennütziger
Interessenpolitik umrankt. Wie freundlich sind die Mienen und wie beredt die
„Münder" desselben Reichstags, wenn es gilt, die Opfer auf den sozialpolitischen
Altären höher aufzuschichten! Der Kontrast ist augenfällig. Wo liegt der
Urgrund eines solchen gegensätzlichen Verhaltens? Naive Naturkinder vor dem
Vorhange der parlamentarischen Schaubühne dürften meinen, daß sich die
Bewilligungsfreudigkeit in beiden Richtungen gleich intensiv betätigen müßte,
könnten sich der weltfremden Ansicht hingeben, daß mit den finanziellen
Subsidien nicht geknausert werden dürfe, wenn das Reich neben dem pflicht¬
gemäßen Aufbau der andern Kulturstätten den sozialpolitischen Gabentempel
besonders prunkvoll Herrichten solle. Im Spiel hinter den Kulissen aber nehmen
sich die Dinge anders aus. Da wird nach dem Grundsatz gehandelt und ver¬
handelt: das eine tun und das andre lassen! Der durch das allgemeine
Wahlrecht mit demokratischer Lymphe geimpfte Reichstag ist zwiespältiger
Wesensart: ihm ist das Nehmen seliger als das Geben, er nimmt im Bewußt¬
sein, daß Geschenke jeder Art die Freundschaft erhalten, die sozialpolitischen
Früchte, soweit irgend erreichbar, für den verhätschelten Demos, im weitern
Sinne für „das Volk der Wähler", vollauf in Anspruch, wird aber verdrossen
und zurückhaltend, wenn das Geben zugunsten des staatlichen Regimes an die
Reihe kommt. Der „Racker dort oben" mag zusehn, wie er sich durchs Dasein
schlägt. Aber wir wollen heute deswegen nicht hadern, unser Thema beschränkt
sich nur auf die Sozialpolitik.
Während einer Reihe von Jahren stand die Sozialpolitik im Reichstag
an der ersten Stelle. In dieser Session gebührt hingegen der Reichssincmzreform
der Vorrang, doch ist hinreichend dafür gesorgt, daß auch die Sozialreform nicht
zu kurz kommt. Und wenn — was diesmal keineswegs der Fall ist — der
Tisch des Hauses mit neuen sozialpolitischen Gesetzentwürfen nicht genügend
besetzt sein sollte, so hat es der Reichstag in seiner Hand, seiner „Initiative"
breitere Anwendung zu geben. Hierzu bietet besonders die gewohnte „große"
sozialpolitische Aussprache, die um den Gesamtctat des Reichsamts des Innern
einleitend anzuknüpfen pflegt, willkommne und eifrig benutzte Gelegenheit. Im
Februar dieses Jahres füllte die bunte Mannigfaltigkeit der betreffenden Ver¬
handlungen sechs volle Sitzungstage ans. Wer diesen parlamentarischen Aus¬
einandersetzungen bis zum Schluß gefolgt ist — keine leichte und keine erquickliche
Aufgabe —, wird schwerlich den Eindruck empfangen haben, daß unsre sozial¬
politische Erkenntnis von der Breite der rednerischen Ausführungen und von der
Vielheit der zur Sprache gebrachten Themata einen wesentlichen Nutzen davon¬
getragen hat. Trotzdem möchten wir dieses Redetnrnier, so müßig es in manchen
Einzelheiten erscheinen mag, nicht missen, denn wir können dadurch in gewissem
Maße ungefähr zu eiuer Orientierung über die Stimmungen und Strömungen
des Reichstags mit Bezug auf die sozialpolitischen Dinge der Gegenwart ge¬
langen; das ist immerhin von einiger Bedeutung. Beileibe soll damit nicht
behauptet werden, daß sich aus der sprunghafter Behandlung von allerlei
mehr oder minder interessanten „Fragen" aus dem weiten Gebiete der Sozial¬
politik irgendwelche programmatische Richtlinien für den demnächst einzuschlagenden
sozialpolitischen Reichstagskurs entnehmen lassen, wir gewinnen aber einen
immerhin schätzenswerten Einblick in den Seelenzustand unsrer Volksvertretung.
Der sozialpolitische Puls der Herren Neichsboten in ihrer Gesamtheit schlüge
nun einmal nicht immer gleichmäßig, sondern wird von innern Erwägungen
und äußern Einwirkungen wesentlich beeinflußt. Das wird bestätigt finden, wer
sich danach umsieht, welche „aktuellen" Themata im Reichstag im Laufe einiger
Jahre den lautesten Widerhall gefunden haben. Diese Themata tauchen auf
und schweben nieder, je nachdem sich dort draußen auf dem Markte des Lebens
die begehrenden Stimmen in der einen oder in der andern Richtung am lautesten
erheben; die Anregungen und Wünsche aus dem Hause häufen sich, wenn Neu¬
wahlen vor der Tür stehn, lind werden zurückhaltender, wenn der Wahlkampf
ausgefochten ist nud wiederum „Ruhe im Lande" herrscht. Arbeitskämpfe, die
Bestrebungen des Mittelstandes, die Handwerkerbewegung, die Proteststimme
der Großindustrie und andres mehr lassen abwechselnd ihren Schatten in den
Reichstagssaal fallen und geben den Debatten Charakter und Färbung.
Man wird es begreiflich finde», daß sich die Regierung um so unbehag¬
licher fühlt, je gemischter der Chor ist, der sein Wunschprogramm vorträgt.
Graf Posadowsky hat sich gelegentlich — es sind genau zehn Jahre her — in
bittern Klagen ergangen, daß der Dilettantismus auf keinem andern Gebiete
so breitspurig auftrete wie auf dem der sozialen Gesetzgebung, und hat, „die
Hände zum Zeus erhoben", den Reichstag beschworen, er möge ein Einsehen
haben und seinem Ressort nicht in solcher Menge Mehlsäcke zuschieben, aus
denen wunderbares sozialpolitisches Brot geformt werden solle. Gewiß sei alles,
was der Reichstag aus gutem Herzen an neuen gesetzgeberischen Vorschlägen
vorbringe, sehr wohlmeinend, aber es sei zu viel für die Leistungsfähigkeit des
Reichsamts des Innern und viel zu viel für die Tragkraft der Industrie. Der
Reichstag hat derartigen wiederholten Mahnungen wenig Beachtung geschenkt;
nach wie vor feierten heißblutige parlamentarische Sozialreformer ihre Triumphe
und suchten einander zu überbieten, wenn bei der Etatsberatung im Reichstage
der Titel „Gehalt des Staatssekretärs" zur Diskussion stand.
Der neue Herr, der nach dem Rücktritt des Grafen Posadowsky als Minister
für Sozialpolitik aufzog, hat es nicht besser gehabt als sein Vorgänger. Vor
Jahresfrist, als der Staatsminister von Bethmann-Hollweg mit seinem Etat
vor dem gestrengen Reichstag stand, hatte es sogar den Anschein, als wenn
das dem Fürsten Bülow zugeschriebene bekannte Wort: „Nun erst recht Sozial¬
politik" die Neichsboten zu besondern Kraftleistungen angespornt hätte. Nie
zuvor hatte die Initiative des Reichstags eine solche Schwungkraft bekundet.
Beispielsweise lagen damals zur zweiten Lesung des Etats siebenundzwanzig
Resolutionen vor; die Zahl der Wünsche, die im Laufe der Verhandlungen in
die Reden eingeflochten wurden, dürfte kaum geringer gewesen sein. Die Er¬
richtung von nicht weniger als vier neuen Neichsstellen wurde gefordert: ein
Reichskartellamt, ein Neichshandwerkeramt, ein Neichssecfahramt und eine ge¬
werblich-technische Reichsanstalt. Zum Schluß wurden durch Abstimmung achtzehn
Resolutionen angenommen, darunter manche, die einen bedenklichen Eingriff in
die Produktionsverhältnisse der deutschen Industrie bedeutete,,, so zum Beispiel
eine Zentrumsresolution, die um alsbaldige Vorlegung von Gesetzentwürfen
ersucht: zur Sicherung des Koalitionsrcchts der Arbeiter, zur freiheitlichen
Regelung der privatrechtlichen und öffentlichen Verhältnisse der Berufsvereine
aller Art. zur Errichtung von Arbeitskammcru und zur rechtlichen Ausgestaltung
der Tarifgemcinschaftm zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Wer in
sozialpolitischen Dingen auch nur entfernt Bescheid weiß, wird ermessen können,
welche Häufung von gesetzgeberischen Problemen in diesem einzelnen schlichten
Wunschzettel enthalten ist. Der Reichstag hat sich aber nicht nnr fast den
ganzen ihm vorgelegten sozialpolitischen Speisenzettel einverleibt (abgelehnt
wurden einige sozialdemokratische Resolutionen), sondern war mit diesem über¬
zeugenden Nachweis seines Heißhungers nach sozialen Gesetzen noch nicht einmal
c»u Ende der ihm angesonnenen Verdauungslcistungen angelangt. Wenigstens
hatte ihm das Zentrum eine weitere Garnitur sozialpolitischer Verschönerungen
durch vierzehn Anträge zugedacht, die zunächst der Kommission für die Gewerbe-
»rdnungsnvvelle (Arbeiterschutz) unterbreitet worden war. Beiläufig bemerkt,
diese Kommission hat ihre Arbeiten erst zum Teil abgeschlossen; die erste Hälfte
davon, betreffend die Frauenarbeit und einiges andre, ist mit Rücksicht auf das
Inkrafttreten der Berner Konveutio» gesondert im Plenum eingebracht und
dort noch im alten Jahre erledigt worden, während die Kommissionsberatungen
über den zweiten Teil zurzeit noch fortdauern. Dieser vom Zentrum ge-
wundne neue sozialpolitische Strauß wird also vermutlich noch dem Reichs¬
tage in absehbarer Zeit überreicht werdeu; aus der Blütenlese seien folgende
Forderungen zur Jllustrierung des hastigen Vorwärtsdrängens mancher Rcform-
ciferer hervorgehoben: Einführung des Zehnstundentages für alle erwachsnen
Arbeiter in Fabriken, obligatorische Arbeiterausschüsse in allen Betrieben mit
mehr als zwanzig Arbeitern, Beschränkung der Arbeitszeit in Kondoren, Er¬
weiterung der Schutzvorschriften und Verbot der Sonntagsarbeit für die Haus¬
industrie u. a. in. Daß bei einer solchen Überfülle von An- und Aufträgen
eine gründliche Durchackerung aller einschlägigen Fragen kaum möglich sei, ist
im Reichstage offen zugestanden worden. Daher tauchte auch erneut der schon
früher Verlautbarte Plan einer Kontingentierung der Sozialpolitik auf, d. h. ein
Ausschuß aus allen Parteien feststellen sollte, welche Reformen als die dringlichsten
anzusehen und demgemäß zunächst in Angriff zu nehmen wären. Bei der löb¬
lichen Absicht ist es vorläufig geblieben, ihre Verwirklichung würde wahrscheinlich
außerhalb des Blocks auch auf heftigen Widerspruch stoßen, da das Zentrum,
wie dessen Parteiorgan rühmend hervorhob, durch sein Auftrumpfen vor aller
Welt bezeugen wollte, daß die stärkste Fraktion des Reichstags nicht gesonnen
sei, sich unter dem Zeichen der Blockpolitik „ausschließen" zu lassen.
Ein Jahr ist seitdem vergangen, und wiederum hat sich dem Reichstag
Gelegenheit geboten, in der Generaldebatte zum Etat des Reichsamts des
Innern seinem bekümmerten sozialpolitischen Herzen Luft zu machen. Diesmal
aber hat sich der Reichstag in seinen Anträgen und Resolutionen einer be¬
merkenswerten Zurückhaltung befleißigt. Dem Block im besondern gebührt
das Verdienst, daß aussichtslose und unzeitgemäße Triebe, die das Zentrum
und die Sozialdemokratie auf den Baum der Reichstagsinitiative verpflanzen
wollten, wie das Neichsberggesetz unter anderm, abgetan wurden. In andern
Fragen, zum Beispiel über die Regelung der Arbeitsverhältnisse in der Gro߬
eisenindustrie, begnügte man sich, auf weitere Klärung der Materie zu dringen,
anstatt kurzerhand „die Klinke der Gesetzgebung" zu ergreifen. Dieses ma߬
volle Verhalten der Reichstagsmehrheit muß erwähnt werden, weil sich aus
ihm im Verein mit andern Symptomen, wie wir meinen, folgern läßt, daß
der Reichstag gewillt ist, sich mehr als bisher der Führung der Negierung in
der Sozialpolitik anzuvertrauen. Eine solche Aunciheruug würde beiden Teilen
zum Vorteil gereichen. Die Negierung würde dadurch, daß der Reichstag ihr
mehr freie Hand läßt und sie nicht fortgesetzt mit neuen Arbeitsaufgaben be¬
drängt, instandgesetzt werden, den Ausbau der Sozialreform mit mehr System
zu betreiben, während zugleich der Vorwurf gegen den Reichstag, daß er sich
unbedachter Gesetzesmacherei hingebe, hinfällig werden müßte. Jedenfalls darf
man nach den offenherzigen Erklärungen des Staatssekretärs des Innern
überzeugt sein, daß dem Reichsamt des Innern ein großer Dienst erwiesen
würde, wenn die Flut der sozialpolitischen Forderungen und Anregungen seitens
des Reichstags künftighin mehr eingedämmt werden könnte. Herr von Bethmann-
Hollweg hat in einer seiner letzten Reichstagsreden auch dargelegt, welche Übeln
Konsequenzen sich aus dem Vorwärtsdrängen und der Überhastung auf dem
Gebiete der Sozialreform ergäben. Der Reichstag habe es mit der Verab¬
schiedung neuer sozialpolitischer Vorschriften bisweilen so eilig, daß er sich
kaum gedulden wolle, bis die Interessenten ausgiebig zu Worte gekommen
wären, sei in seinem eifernden Aktionsdrange unter Umständen sogar geneigt,
Verhältnisse über denselben gesetzgeberischen Leisten zu schlagen, denen gegenüber
eine individualisierende Behandlung am Platze gewesen wäre. Dadurch wäre
Beunruhigung, die sich andernfalls wohl hätte vermeiden lassen, in den Kreisen
derer hervorgerufen worden, die sich mit den neuen Gesetzesparagraphen in
der Praxis abfinden müßten; andrerseits hätte sich in weitern Kreisen die
Illusion festgesetzt, daß sich durch ein wiederholtes dringliches Anrufen der
Parlamentarischen Maschinerie auch solche Hindernisse der Erwerbsbetätigung
oder soziale Übelstände hinwegräumen ließen, für die nur eine Gesetzgebung
zuständig wäre, die alle Gegensätze und Reibungen in Harmonien aufzulösen
vermöchte.
Der tiefere Sinn dieser Ausführungen deutet nach unserm Dafürhalten
darauf hin, daß der Staatssekretär von Bethmann-Hollweg die sozialpolitischen
Wege mit größerm Bedacht zu beschreiten gedenkt, als es in neuerer Zeit bis¬
weilen geschehen ist. In seinem Wollen steckt, von der Allgemeinheit vielleicht
unerkannt, ein Programm, das sich nicht in knappe Leitsätze fassen läßt,
sondern durch dauernde praktische Handhabung erwiesen werden muß. Daher
wird sich auch nicht klar und deutlich feststellen lassen, worin die Unterscheidungs¬
merkmale der vom gegenwärtigen Staatssekretär vertretnen Sozialpolitik zu
der seines Borgängers bestehn.
Von Posadowsky zu Bethmann-Hollweg! Als Graf Posadowsky im
Sommer des Jahres 1907 die Bürde seines Amtes niederlegte, erfaßte ein
gelindes Bangen alle politischen Parteien, denen an einem ununterbrochnem
Fortschreiten der Sozialreform auf den bisherigen Bahnen ernstlich gelegen
war. Der Graf im Barte hatte ihr volles Vertrauen gehabt, weil man von
ihm wußte, daß er aus ehrlichster Überzeugung der Bannerträger einer un¬
verdrossen anfwärtssteigenden sozialpolitischen Entwicklung gewesen war. Mit
dem im Reichsamt des Innern vollzognen Ministerwechsel schien manchem
die Möglichkeit nahegerückt, daß sich mit dem neuen Herrn auch ein neuer
Geist in der Behandlung der Sozialreform geltendmachen könnte. Daß etwa
das Tempo der sozialen Gesetzgebung nun noch beschleunigt werden könne,
daran dachte niemand, die Besorgnisse liefen vielmehr einzig darauf hinaus,
daß ein Stillstand, wenn nicht gar eine Rückwärtsrevidierung in unsrer Sozial¬
politik platzgreifen könnte. Gerade die Möglichkeit eines solchen Umschwungs
erfüllte andrerseits die Kreise mit hoffnungsvollen Erwartungen, die mit
wachsender Verstimmung die sozialpolitischen Gesetzesvorschläge zu einer Hochflut
hatten anwachsen sehen. Die Unternehmer, die ihr nnverhohlnes Mißvergnügen
mit dem sozialpolitischen Kurse an den Tag legten, hatten sich übrigens niemals
gegen die Vergrößerung ihrer Soziallasten aufgelehnt, glaubten sich aber zur
Klage berechtigt, daß die soziale Gesetzgebung einseitig auf die Interessen der
Arbeiter zugeschnitten werde und unausgereifte Fragen übereilt zu lösen ver¬
suche. Die unvergänglichen Verdienste des Grafen Posadowsky um den Ar¬
beiterschutz und die Versicherungsgesetzgebung hat dabei gewiß niemand an¬
zweifeln oder schmälern wollen, man zieh aber den verantwortlichen Leiter des
Ministeriums für Sozialpolitik einer allzu großen Nachgiebigkeit den Eiferern
gegenüber, die teils unpraktische Ideologen, teils zielbewußte Demokraten waren.
Der vom Schauplatz abgetretue Herr Staatssekretär, so hieß es von dorther,
sei zu wenig bestrebt gewesen, die bisweilen recht ungestümen Wünsche der
Neichstagsmehrheit aus Rücksicht auf das Staatswohl und das Erwerbsleben
einzudämmen und die Interessen der nationalen Produktion dem parlamen¬
tarischen Doktrinarismus gegenüber zur Geltung zu bringen.
Die Allgemeinheit dieser Vorwürfe an die Adresse des Grafen Posadowsky
ist sicher ungerechtfertigt. Dieser hat zeit seines Lebens mit dem hingebenden
Eifer eines glühenden Patrioten und charaktervoller Staatsmanns Gerechtigkeit
nach allen Seiten walten lassen. Seine Reden bezeugen das. Sein heißes
Mühen war darauf gerichtet, die soziale Bewegung unsrer Tage, deren ethische
Erfassung ihm Herzenssache war, in die Bahnen friedlicher und organischer
Entwicklung zu lenken, damit die Harmonie zwischen Klassenvertretung und
Staatsverfassung, Arbeiterinteressen und Gemeinwohl wiederhergestellt werde. Die
Arbeitswilligenvorlage, mit deren brüskierenden „Vcrscharrung" der Reichstag
sich keine Ehre eingelegt hat, entstammte diesem Gedankenkreise. In den letzten
Jahren seiner Amtsführung geriet Posadowsky, infolge von niederdrückenden
Erfahrungen unsicher und zaghaft geworden, in die Verstrickungen der Para-
graphendrechselei. Dem Gesetzentwurf über die Rechtsfähigkeit der Berufs¬
vereine wäre sonst wohl eine freundlichere Aufnahme beschieden gewesen. Im
Grübeln über die beste Lösung der ihm anvertrauten schwierigen Probleme mag
er hier und da außer acht gelassen haben, wie hart im Raume die realen
Dinge sich stoßen, wie dem Höhenflüge begeisterter Sozialreformer durch die
Staatsräson und die kapitalistische Wirtschaftsordnung verhältnismäßig enge
Grenzen gezogen sind. Die charitative Richtung, die in der Sozialreform vor¬
zugsweise von klerikalen Schriftstellern vertreten wird, schien auf die An¬
schauungen des philosophierenden Staatsmannes einen gewissen Einfluß ge¬
wonnen zu haben. Man erinnert sich des vielangefochtnen Wortes aus des
Grafen Munde: „Besitz ist keine Tugend, Besitz ist meist auch kein Verdienst!"
Ähnliche Ideen waren vielfach auch im Blocksozialismus des Reichstags
heimisch. Dieser Block, an dessen Spitze unbestritten das Zentrum mit seinen
sozialdemokratischen Einpeitschern stand, und dem auch ein großer Teil der
Liberalen willig Gefolgschaft leistete, bildete zwar keine geschlossene Gemeinschaft,
fand sich aber auf Grund ideeller Verwandtschaft ungezwungen zusammen,
wenn der sozialen Gesetzgebung ein neuer Baustein hinzugefügt werden sollte.
Ob die verstandesgemäße Hinneigung des Grafen Posadowsku zu diesem sozial-
reformatorischen Block unter ultramontaner Führung oder ob, wie völlig un-
enviesen behauptet wird, seine Abneigung gegen den neuerstandnen politischen
Block, den ausgesprochnen Gegner der Borherrschaft des Zentrums, seiner amt¬
lichen Tätigkeit ein Ziel gesetzt hat. muß dahingestellt bleiben. Kurz. Posa-
dowskys Miuisterlaufbahn verrann. . .
Der neue Staatssekretär von Bethmann-Hollweg hat von Anbeginn be¬
kundet, daß er zwar im Prinzip auf den Pfaden seines Amtsvorgängers zu
wandeln beabsichtigt, keinesfalls aber wird er sich von den sozialpolitischen Hei߬
spornen über eine bestimmte Verhaltnngslinie hinausdrängen lassen. Der bis¬
herige sozialpolitische Webstuhl bleibt also im Betrieb, es wird aber künftighin
nicht so sehr Gewicht auf die Menge der Fabrikate als auf ein gleichmäßiges
und allgemein zufriedenstellendes Erzeugnis gelegt werden. Die Rechnung
derer, die von dem Personenwechsel auch einen Umschwung in der bisherigen
Stellung der Regierungen zur Sozialreform befürchteten und herbeiwünschten,
dürfte mithin nicht stimmen. Demgemäß wird auch auf der einen Seite das
Murren über die soziale Gesetzgebung mit ihren unvermeidlichen Rückwirkungen
auf das Erwerbsleben fortbestehn, während auf der radikalen Gegenseite die
Nimmersatte Begehrlichkeit nach wie vor nach weitern „Zugeständnissen" an die
Arbeiterbewegung langen wird. Die Regierung und die Mehrheit des Reichs¬
tags werden zwischen den aus den beiden feindlichen Lagern ausgehenden
Aktionsversuchen die verständige Mitte halten müssen. Dabei braucht die
staatliche Sozialpolitik mit der parlamentarischen keineswegs durchweg überein¬
zustimmen. Im Deutschen Reiche zumal haben von jeher auf diesem Gebiete
wesentliche Unterschiede zwischen Regierung und Volksvertretung bestanden.
Je mehr vom Reichstage im Bannkreise demokratisierender Tendenzen die
Interessen einzelner Berufsstünde einseitig in den Vordergrund geschoben werden,
desto sorgfältiger wird darauf acht zu geben sein, daß nicht etwa Klassen- und
Erwerbsinteressen die nationale Wohlfahrt beeinträchtigen. Die in aufreibenden
Kämpfen aufeinanderstoßenden Gegensätze abzuschwächen und womöglich aus¬
zugleichen, ist das vornehmste Ziel, das sich der neue Staatssekretär, wie seine
Reden bezeuge,,, gesteckt hat. Dabei soll die Staatsautorität, unter Wahrung
strenger Unparteilichkeit, nachdrücklich zur Geltung gebracht werden, nicht etwa
im Sinne einer Erweiterung starrer Reglementierung, sondern durch Förderung
aller versöhnlichen Tendenzen in der sozialen Bewegung. Wenn bisher in
unsrer Sozialpolitik, unter dem starken Antriebe der Sozialreformer im Reichs¬
tag, die Anwendung der Dampfkraft an erster Stelle stand, so dürfte unter
dem neuen Leiter an der Spitze des Neichsamts des Innern das Steuer¬
ruder in den Händen der verantwortlichen Staatsgewalt mehr zu seinem
Rechte kommen/ Richtung und Ziel staatlicher Sozialpolitik bleiben auch
fürderhin unverändert, denn so gebieten es unsre sittlichen und nationalen
Pflichten, der gesetzgeberische Apparat aber soll mit mehr selbstbewußter Zurück¬
haltung und ruhiger Überlegenheit gehandhabt werden. Ob wir bei solchem
Verhalten einen „neuen" Kurs steuern, mag sich jeder nach Belieben selbst
beantworten.
Man sollte meinen, daß das erfreuliche Zielbewußtsein, mit dem Herr
von Bethmann-Hollweg an seine Aufgabe herantritt, ihm die vertrauensvolle
Zustimmung aller an der sozialpolitischen Entwicklung anteilnehmenden Faktoren
sichern müßte. Im Reichstage hat der Staatssekretär unleugbar an Boden ge¬
wonnen; denn ist es angesichts der bekannten parteipolitischer Zerklüftung nicht
ein außergewöhnlicher Erfolg, daß der grundlegende erste Paragraph der viel-
umstrittnen Arbeitskammervorlage in der vorberatenden Kommission einstimmig
angenommen wurde? Und zwar geschah das, obgleich eine ganze Reihe ma߬
gebender Jnteressenorganisationen der Arbeitgeber den Gedanken der Errichtung
paritätischer Arbeitskammern mit aller Entschiedenheit, ja teilweise mit Heller
Entrüstung als unglücklich und unheilstiftend abgewiesen hatte. Auch die
Sozialdemokratie will zwar von einer Einrichtung, die die Arbeiter und Unter¬
nehmer zu gemeinsamem Ratschlägen zusammenbringt, grundsätzlich nichts wissen,
aber aus einem Grunde, der die Gegenpartei eigentlich veranlassen müßte, den
Entwurf freundlich aufzunehmen. Wenn die berufsmäßigen AufHetzer der Ar¬
beiter der Meinung sind, daß die Arbeitskammern ihre Kreise stören könnten,
dann sollten die bürgerlichen Interessengruppen eine solche Organisation schon
deswegen ergreifen. stattdessen erleben wir aber gerade jetzt das wahrlich
nicht erheiternde Schauspiel, daß „die Männer der Praxis" außerhalb des
Parlaments in geschlossenen Reihen mit durchdringender Schärfe ihre Stimme
gegen einen Gesetzentwurf erheben, der nach den Absichten und Erwartungen
der Regierung sowohl wie des Reichstags dem sozialen Frieden einen neuen
Stützpunkt darbieten soll. Ein Zwiespalt hat sich hier aufgetan, den wir
nicht auf die leichte Achsel nehmen dürfen. Es ist für die Allgemeinheit keine
Angelegenheit von nebensächlicher Bedeutung, wenn die wichtigsten Interessen-
Verbände der Industrie und Dutzende von Handelskammern in öffentlichen
Kundgebungen laut Einsprache gegen „den sozialpolitischen Kurs" erheben, den
ihres Trachtens Regierung und Reichstag steuern. In vielen Fällen richten
sich diese Angriffe zwar nur gegen den auf der Tagesordnung stehenden
Arbeitskammergesetzentwnrf, das einzelne Objekt dient aber den Unmutigen
offenbar nur zur Zielscheibe, um ihren tiefgehenden Groll über „die ganze
Richtung" zu demonstrieren.
Die staatliche Sozialpolitik befindet sich in einer schwierigen Lage. Die
wirtschaftliche Entwicklung der Neuzeit führt stetig sich vergrößernde Scharen
von Arbeitern in die industriellen Betriebe. Dadurch treten die Kehrseiten
einer Masseuanhäufung arbeitender Individuen unter einem häufig unpersön¬
lichen Kapitalistenregime grell in Erscheinung. Die rein materiellen Erwerbs¬
interessen gewinnen unter solchen Umständen gar leicht die Oberhand über alle
ethischen Rücksichten und verschärfen dadurch die ohnehin vorhandnen, natur¬
gemäß gegebnen Gegensätze zwischen „unten" und „oben". Die Pflicht der
Selbsterhaltung, ganz abgesehen von den Erfordernissen sozialer Kultivierung,
gebietet der Staatsgewalt, daß sie sich zu den unvermeidlichen Konflikten
zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht teilnahmlos verhalte. Wie
weit aber gesetzgeberische Eingriffe zur Regelung der Arbeitsverhältnisse,
Sicherung des Arbeiterschutzes und Förderung der allgemeinen Wohlfahrt zu
gestatten sind, ist eine Frage, deren Beantwortung niemals einheitlich wird
erfolgen können. Im allgemeinen wird das nationale Interesse die Richtschnur
und die ausgleichende Gerechtigkeit den Maßstab der Reglementierung abgeben
müssen. Bei jeder derartigen Abgrenzung der Rechte und Pflichten zwischen
Unternehmern und Arbeitern läuft man aber um so eher Gefahr, auf starken
Widerstand der einen oder der andern Seite zu stoßen, wenn die Sozialreform
im Laufe einer langen Zeit ihre die individuelle Bewegungsfreiheit behindernden
Schranken schon nach verschiednen Richtungen hin aufgerichtet hat. Man be¬
greift, daß selbst solche Arbeitgeber, die einen reichlichen Anteil der allgemeinen
Soziallasten willig auf sich genommen haben und tragen, schließlich mürrisch
und aufsässig werden müssen, wenn unter sozialpolitischer Flagge immer neue
Opfer finanzieller und ehrenamtlicher Art an sie herantreten und ihren Be¬
trieben neue gesetzgeberische Rahmen auferlegt werden. Die Verdrossenheit
wird verstärkt durch die betrübende Wahrnehmung, daß die sozialpolitischen
Benefizien jeder Gattung nicht dazu beigetragen haben, Arbeitskümpfe der or¬
ganisierten Arbeiterschaft hintanzuhalten. Kommt nun dann noch hinzu, daß
der Reichstag — aus welchen Motiven es auch sein mag! — die Sozialreform
längere Zeit hindurch als sein bevorzugtes Paradepferd anzusehen beliebt, mit
dem man gelegentlich auch recht gewagte Touren glaubt ausführen zu dürfen,
so wird durch das Zusammenwirken der verschiednen ursächlichen Dinge jene
Unwillenswoge emporgetrieben, aus der der schroffe Ruf emporklingt: „Nur
keine Sozialreform mehr!"
Daß der sozialpolitische Überschwang, dem sich der Reichstag seit Jahren
hingegeben hat, über kurz oder laug die Industrie zu organisierten Wider¬
spruch reizen müsse, war vorauszusehen. Die geschäftige Vielrederei über¬
eifriger Sozialreformer zum Fenster hinaus glaubte man als unschädlich hin¬
nehmen zu können, die wiederholten Anläufe hingegen, die soziale Gesetzgebung
einseitig auf die Interessen der Arbeitnehmer zuzuschneiden, brachten das Unter¬
nehmertum in Harnisch. Die Arbeitgeber haben sich durch umfassende Aus¬
bildung ihre Koalitionen so stark gemacht, daß sie es auf eine Machtprobe
gegen die Arbeiterorganisationen heute getrost ankommen lassen können. Im
Bewußtsein dieser Stärke versuchen sie nunmehr auch gegen die „Gesetzes-
macherei" und das „Paragraphengcstrüpp" des Reichstags aktiv aufzutreten,
die schroffsten Elemente verraten'sogar Neigung, durch passive Resistenz die
Gesetzgeber zu brüskieren. Für diese nach anßen drängende verbitterte Stimmung
Kegen mannigfache Beispiele vor. Es sei erinnert an das sozialpolitische Pro¬
gramm des Vereins deutscher Arbeitgcberverbände mit seinen mindestens eigen-.
artigen Richtlinien in bezug auf die Reform der Arbeiterversicherung. Hinzu¬
weisen wäre ferner auf die Resolutionen und Diskussionen des Zentralverbandes
deutscher Industrieller, in denen dem Reichstag und der Regierung in schärfster
Form ein Mißtrauensvotum erteilt wird. Hierher gehören auch die gutacht¬
lichen Äußerungen vieler Handelskammern zu einzelnen Fragen der sozialpoli¬
tischen Gesetzgebung, wobei über diese mit stark übertriebner Skepsis abgeurteilt
wird. Die erste Stelle kann in dieser Hinsicht wohl der kürzlich erschienene
Jahresbericht der Handelskammer zu Hamburg für das Jahr 1908 beanspruchen,
der, wie ein Hamburger Blatt rühmend hervorhebt, „ein vernichtendes Ge¬
samturteil über die Sozialpolitik des neuen Kurses" enthält.
Die angeführten Zeugnisse hochgradiger Übellaune Hütten eine Berechtigung,
wenn sich ihre Vorwürfe gegen die mancherlei parlamentarischen Fehler, die
in der Vergangenheit begangen worden sind, richteten; es wird aber bedauer¬
licherweise mehrfach mit Nachdruck hervorgehoben, daß auch dem „neuen Kurse"
mit größtem Mißtrauen zu begegnen sei. Hierzu liegt aber bei objektiver Be¬
trachtung bisher keine erkennbare Veranlassung vor. In einem konservativen
Blatte begegnen wir der Behauptung, daß der alte Kurs auch unter dem neuen
Staatssekretär in schönster Blüte stünde. Es sei eine Politik des Abwartens,
des Lcmfenlassens; nirgends mache sich der feste Wille bemerkbar, das not¬
wendige, entschiedn« Halt! zu rufen. Diese Bemerkungen sind nur insofern
richtig, als sie feststellen, daß ein Kurswechsel in Wirklichkeit nicht stattge¬
funden hat. Wer hätte das aber auch im Ernst erwartet, und wie kann man
verlangen, daß die im Um- und Ausbau begriffne soziale Gesetzgebung plötzlich
fallengelassen werde, oder daß etwa ungeachtet der bekannten Parteiungen im
Reichstag, die als gegeben in Rechnung zu stellen sind, mit Sondergesetzen
gegen die Sozialdemokratie vorzugehn sei? Der Staat darf auch gar nicht
von dem opfer- und segensreichen Werke der Sozialreform, deren angemessene
Fortsetzung uns aufwärts führen soll, seine Hand willkürlich abziehen, anch
dann nicht, wenn sich arge Verdrossenheit auf der einen, schnöder Undank auf
der andern Seite kundgeben. Er darf ferner aus Achtung vor dem gefunden
Sinn in allen Schichten der deutschen Nation nicht daran verzweifeln, daß es
ihm bei ausharrender Geduld mit der Zeit gelingen werde, eine Brücke der
Verständigung von den Arbeitnehmern zu den Arbeitgebern über die anscheinend
unversöhnlichen Gegensätze hinweg zu schlagen. Um das zu erreichen, wäre es
grundfalsch, die Neigungen „des starken Mannes" hervorzukehren, anstatt mit
zäher Beharrlichkeit um der guten Sache willen die Fäden aneinanderzuknüpsen
und den vielfach noch schlummernden versöhnlichen Tendenzen die Stätte zu
bereiten.
Ein solches Programm mag denen nicht behagen, die im Erwerbsleben
nur den unvertummerten Materialismus gelten lassen »vollen, und die die
Sozialpolitik lediglich von Standpunkt bestimmter persönlicher Interessen be¬
urteilen. Wollte sich der Staat diesen, in mancher Hinsicht bequemern An-
schauungen anpassen, so stünden wir binnen kurzem in einem unabsehbaren
wüsten Kampfe aller gegen alle. Ließe man den Heerlagern hüben und drüben
mit ihren hundertfach verzweigten Organisationen freie Hand zu einer Macht-
Probe, unbekümmert um die Folgen einer solchen Auseinandersetzung für das
gesamte Wirtschaftsleben, so wäre damit das Recht und die Diktatur des
Stärkern proklamiert. Die Allgemeinheit könnte solche Gewaltakte nicht dulden,
sie verlangt nach einem gerechten Ausgleich unter vorsichtiger Abwägung der
gegenüberstehenden Interessen, durch Vermittlung und Entscheidung der gesetz¬
gebenden Faktoren. Dieser „Gerechtigkeit" will auch Herr von Bethmann-
Hollweg nach Maßgabe seines Könnens zu ihrem Rechte verhelfen, nicht durch
ein Übermaß neuer Gesetze, sondern durch den sozialen Geist, der die Materie
durchdringt. Der Staatssekretär hat in seiner feinen, nach allen Seiten ver¬
bindlichen Tonart aus einer solchen Gesinnung heraus zu den konkreten Fragen
Stellung genommen. Er sieht die sich allmählich vollziehende Umwandlung
der individualistische!! Volkswirtschaft in eine organisierte vor Augen, möchte
aber in diesen natürlichen Entwicklungsprozeß nicht störend eingreifen, solange
sich nicht unleidliche Auswüchse bemerkbar machen. Er warnt vor den
„eisernen Klammern" des Koalitionszwangs; er will das Problem der Tarif¬
verträge durch praktische Bewährung ausreifen lassen; er rechtfertigt die
„schwarzen Listen" als ein Gegenstück zu Boykotts und Streiks, verwirft aber
deren rücksichtslose Anwendung als eine Untergrabung sozialer Ethik; er will
durch die Einrichtung paritätischer Arbeitskammern schreiende Dissonanzen
mildern. Der Reichstag hat sein Vertrauen zu diesem „Kurse" bekundet;
möge die „antisoziale" Opposition außerhalb des Reichstags mit sich zu Rate
gehn, ob ihr Mißtrauen gegen den neuen Minister für Sozialpolitik gerecht¬
f
cum Wir uns nun den Slawen in Österreich zuwenden, so muß
hervorgehoben werden, daß sie nicht das direkte Interesse des
Reichs in Anspruch nehmen, wie in Rußland, solange die Habs¬
burgische Monarchie wirklich Anspruch darauf erheben kann, ein
deutscher Staat zu sein. Besonders gilt das von den Südslawen,
dann aber auch von den Tschechen. Nicht so ohne weiteres von den Polen.
Denn gerade die überaus geschickte Politik der Polen ist es, die die systematische
Slawisicrung Österreichs möglich gemacht und erst den tschechischen, später den
südslawischen Forderungen den Weg geebnet hat.
Die Polen haben in Österreich ebenso wie in Rußland steigenden Einfluß
auf die Fragen der großen Politik gewonnen. Eigentlich schon von 1866 an
sind sie auch in der innern Politik die Vermittler zwischen dem Kaiser und den
einzelnen Nationalitäten gewesen. In dieser Stellung waren sie für die
österreichisch-ungarische Politik geradezu unentbehrlich — freilich unentbehrlich
mit Einschränkung. Denn diese Politik ging seit dem von Goluchowski geschaffnen
Oktoberdiplom von 1860 geradeswegs — ob bewußt oder unbewußt, ist hier
ohne Belang — auf Umwandlung der Habsburgischen Monarchie aus einem
Einheitsstaat in einen Föderativstaat aus. Es heißt nämlich im Diplom (Kölner,
Band 1, Seite 40 bis 41): „Im Interesse unsers Hauses und unsrer Unter¬
tanen ist es unsre Regentenpflicht, die Machtstellung der österreichischen Monarchie
zu wahren und ihrer Sicherheit die Bürgschaften klar und unzweideutig fest¬
stehender Rechtszustände und einträchtigen Zusammenwirkens zu verleihen. Nur
solche Institutionen und Rechtszustände, welche dem geschichtlichen Rechts¬
bewußtsein, den bestehenden Verschiedenheiten unsrer Königreiche und Länder
und den Anforderungen ihres unteilbaren und unzertrennlichen kräftigen Ver¬
bandes gleichmäßig entsprechen, können diese Bürgschaften in vollem Maße
gewähren."*)
Die Dezemberverfassung gewährte gegen die hieraus seitens der Mehrheit
gezognen Konsequenzen keinen Schutz. Mit Ausnahme der Polen drängten
alle Slawen auf Föderation. Die Polen begnügten sich mit der Erweiterung
ihrer autonomen Rechte. „Sie wollten, wie der Abgeordnete Grocholski meinte,
keine Kantonisierung Österreichs." Dieser Stellung der einzelnen Nationalitäten
entsprach die Haltung der Mehrheit im Kabinett Taaffe-Potocki, die im
Memorandum vom 18. Dezember 1869 zum Ausdruck kam. Somit erkannten
die Polen richtig, daß sie mit Hilfe der Zentralgewalt und der deutschen
Magnaten alle autonomen Rechte erlangen konnten, deren sie bedurften, um
später den maßgebenden Einfluß zu erhalten. Den seitens der Polen ein¬
geschlagnen Weg hier im einzelnen zu verfolgen, würde, so interessant er ist,
zu weit führen.
Im April 1870 feierten sie ihren ersten großen Sieg in der allgemeinen
Politik Österreichs durch die Berufung eines besondern galizischen Ministers in
das Wiener Kabinett. Seit 1370 ist also der polnische Einfluß auf das Kabinett
mindestens durch ein polnisches Mitglied gesichert. In Wirklichkeit gibt es, glaube
ich. seit vierzig Jahren kein österreichisches Kabinett, dem nicht mindestens zwei
Polen angehörten, wenn wir das gegenwärtige nicht rechnen. Unter diesen
Bedingungen kann es kaum auffallen, daß es schon im Jahre 1872 den Polen
gelungen war, „das deutsche Element in den Städten Galiziens fast völlig zu
verdrängen oder zu polonisieren" (Kölner II, Seite 163).*) Die Polen haben
durch das Mißlingen des letzten Aufstandes gelernt, sich in ihrer politischen
Beendigung weise Müßigung aufzuerlegen. Die oft und arg gescholtene Partei
der Stanczyken hat sich in dieser Beziehung unbedingt große Verdienste um
die Nation erworben.
Die sich tatsächlich vollziehende Stärkung der polnischen Position in
Österreich ist aber dann vor allen Dingen durch den Egoismus der deutschen
Magnaten möglich geworden. Die deutschen Magnaten haben ihre kulturelle
und politische Mission in Österreich durchaus verkannt. Sie sahen ihr Interesse
nicht in einem Zusammengehn mit den mittlern und den untern Schichten des
Deutschtums, sondern in einem solchen mit den klerikalen Magnaten aller
Nationen. Sie waren unter dem Deckmantel des Österreichertums international
wie die Führer der Sozialdemokraten.
In der Ära Taaffe von 1879 bis 1893 sollten die natürlichen Folgen
jener selbstsüchtigen Politik ausreifen und zu ihrem Recht kommen. Der einstige
deutsche Bundesstaat, der auf dem Frankfurter Fürstentag im Jahre 1863 noch
die Vorherrschaft unter den deutschen Staaten verlangte, aber schon 1866 durch
den Prager Frieden ausgeschlossen war und sich durch den Dualismus zu dem
österreichisch-ungarischen Staatenbund umgestaltet hatte, sollte nun in der
zisleithanischen Hälfte zu einem Polyglotten, föderativ geeinigten Staatenbund
der Königreiche und Länder umgewandelt werde«, worin sich das zahlenmäßige
Übergewicht der slawischen Stämme selbst zur Geltung bringen konnte.
Die Dezemberverfassung, die auf Österreich als auf einem deutschen Staate
fußte, hielt dem nationalen Ansturm nicht stand, und unter ihren Trümmern,
meint Kölner nicht mit Unrecht, wurden nicht nur die Grundfesten der bürger¬
lichen Freiheit, sondern auch die deutsche Vergangenheit Österreichs verschüttet.
Die Slawisierung Österreichs setzte mächtig ein. Die Verdrängung der deutschen
Elemente aus der Beamtenschaft, der Kampf gegen die deutsche Sprache in
allen Ländern der Krone Habsburg, die Boykottbewegung gegen die Erzeugnisse
deutschen Fleißes sind die äußern Anzeichen dafür.
Durch die Koalition der deutsch-klerikalen mit den slawisch-nationalen
Elementen wurde die deutsche Opposition gelähmt, deren durch die Geschichte
berufne Führer im feindlichen Lager standen. Sie trug darum den Keim der
Zersetzung in sich und ermangelte der Fähigkeit, zusammenzustehn in dem Maße,
als sich ihre Mißerfolge häuften, ihre Gruppen sich untereinander zerfleischten,
und, ich lasse hier wieder Kölner sprechen, als ein großer Teil von den Deutschen
dem Demagogentum und der Reaktion in die Arme lief. An der heutigen
Uneinigkeit der Deutschen in Österreich ist — ich möchte das noch einmal unter¬
streichen — in allererster Linie das Magnatentum schuld; erst wenn dieses in
Österreich überwunden sein wird durch eine nationale und doch liberale Demokratie,
dann können wir auch mit einer politischen Gesundung des Deutschtums in
Österreich rechnen. Freilich dürfen uns die Slawen mit ihren Einigungs¬
bestrebungen nicht zuvorkommen. Die Los-von-Nom-Bewegung ist, ohne ihre
praktische Bedeutung überschätzen zu wollen, ein vorläufiges Symptom für
die ansetzende Genesung, und es wäre zu wünschen, daß sich nun auch eine
energische Reaktion gegen den Antisemitismus als ein weiteres bald bemerkbar
machte. Denn die unter den Slawen zerstreut lebenden Juden, einschließlich
der sechs Millionen russischer, sind unsre natürlichen Bundesgenossen gegen
die vereinten Slawen. Ich habe mich gegen diese Auffassung lange ge¬
wehrt und erinnere mich deutlich, welches Unbehagen mir ein Artikel des
Berliner Tageblatts verursachte — ich glaube von Hans Heinz Ewers —, der
mir vor fünf Jahren in Kijew nach einer Besichtigung des Judenviertels in
die Hände fiel. Nach dem eben Geschauten schien es mir geradezu als eine
Beleidigung der eignen Nationalität, von einer Gemeinsamkeit der deutschen
und der jüdischen Kulturinteressen zu sprechen. Bei der Verarbeitung des ge¬
sammelten Materials und dessen Betrachtung durch Klios Brille hat sich dann
meine Ansicht geändert.
Doch kehren wir nach Österreich zurück. Dort hat für die Entwicklung
der allslawischen Idee die Ära Taaffe eine außerordentlich große Bedeutung
erlangt. Sie hat den übrigens noch immer nicht zustande gekommnen Ausgleich
zwischen Polen und Tschechen vorbereitet. Die Tschechen waren stets Rußland
freundlich, weil der russische Panslawismus deutschfeindlich war. Die Polen
waren dagegen Rußland feindlich gesinnt, weil es der gefährlichste Gegner des
Ultramontanismus ist. Das trennte die beiden Nationalitäten vornehmlich; hierzu
kam trennend der verschiedne Standpunkt gegenüber der Politik des Reichsrath,
solange in Galizien das konservativ-klerikale Element die Führung hatte, sowie
schließlich der Gegensatz in Mähren und Schlesien. Die Tschechen haben ihre
Politik der Obstruktion gegen die Zentralregierung von: Tage der Dezember¬
verfassung an aufgenommen. Sie haben sich dadurch von vornherein die Ver¬
mittlung ihres Adels gegenüber dem Monarchen verscherzt, der wie der deutsche
aus der Seite der Polen und Klerikalen stand. Dabei waren sie politisch
schlechter gestellt als die Polen, da sie von vornherein keine autonomen
Rechte hatten. Doch haben sie dafür im Laufe der Jahre die Freundschaft der
polnischen Demokraten eingetauscht, die von Lemberg aus wohl die polnischen
Magnaten in Krakau und Wien in Kulturangelegenheiten bekämpften, die
Leitung der großpolnischen Angelegenheiten ihnen aber nicht ohne gewissen
Takt überließen.
Für die großpolnische Sache war die Stellung der Polen im öster¬
reichischen Rcichsrat so günstig wie nur möglich. Konnte doch in ein und
derselben Sitzung der Minister polnischer Nationalität für die deutschland¬
feindliche Politik des Reichs sprechen, während der polnische Abgeordnete gleich
darauf gegen sie auftrat. Auf der andern Seite konnte die polnische Sprachen¬
frage dem Forum des Reichsrath entzogen und ausschließlich im Landtag zu
Lemberg behandelt werden. In Lemberg erwiesen sich aber die Stanczyken
als Reaktionäre und betrachteten getreu der Geschichte ihrer Vorfahren die
Bildung als ein Prärogativ der Besitzenden. Dadurch gerieten sie nicht nur
in Gegensatz zu den Ruthenen, sondern auch zu ihren eignen demokratischen
Stammesbrüdern. Die Tschechen ihrerseits erhielten zwanzig Jahre später als
die Polen ebenfalls einen Landsmannminister und durch ihn Einfluß auf die
Zentralregierung.
Die polnischen und tschechischen Demokraten konnten sich alsdann in dem
gemeinsamen Bestreben nach Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten
und geheimen Wahlrechts finden. Ihm gesellte sich der Wunsch bei, die wirt¬
schaftliche Konkurrenz der Deutschen niederzuwerfen. Die also verbündeten
Westslawcn haben dieses Ziel im Jahre 1906 erreicht, unterstützt von den
Südslawen, deren politische Aufrüttlung sich die Tschechen angelegen sein ließen.
Die Slawisierung Österreichs hat somit wenigstens in der innern Politik
im Laufe der letzten Jahrzehnte ganz außerordentlich große Fortschritte gemacht.
Vollendet aber — wenigstens in politischer Beziehung — kann sie nur werden:
entweder durch die Beseitigung der konservativ-klerikalen Magnaten auf dem
Wege sozialer Revolution oder durch Übertritt der Magnaten auf die Seite
der einzelnen slawischen Nationalitäten. Mancher in Böhmen wohnende Edel¬
mann mit deutschem Namen hat schon sein tschechisches Herz erkannt, und mancher
dürfte noch zu dieser Erkenntnis kommen, wenn es dem Deutschtum nicht ge¬
lingen sollte, seinen alten Einfluß wieder zu gewinnen. Damit aber würden
die nach altem Herkommen zu Beratern der Krone gewählten Männer nicht
nur als Vertreter der deutschen Sache ans der innern Politik ausscheiden,
sondern auch aus der äußern. Ich sehe diese Möglichkeit als wahrscheinlich
"n. da es mir ausgeschlossen erscheint, daß der weitern Demokratisierung der
Politik in Österreich, das ist gleichbedeutend mit Slawisierung. anders als
durch Staatsstreich und Blutvergießen ein Halt geboten werden könnte.
Wer das Volksempfinden als den letzten und mächtigsten Pfeiler Pott¬
aschen Lebens anerkennt, wird auch ohne weiteres damit einverstanden sein,
^cum ich die in Nußland und Österreich angebahnte Jdeencntwicklung als
eine Gefahr sowohl für das heutige Deutsche Reich wie für die deutsche Natio¬
nalität überhaupt bezeichne. Ich behaupte uicht, daß die Gefahr akut ist,
aber ich bin überzeugt, daß sie uns umschleicht, um sich in einem gegebnen
Augenblick auf uns zu stürzen. Wann dieser Augenblick eintreten wird, vermag
natürlich niemand weder von uns noch von den slawischen Führern zu sagen,
denn wir sind keine Propheten. Wohl aber sind wir und jene imstande, uns
aus den uns umgebenden politischen, sozialen, wirtschaftlichen und nationalen
Zuständen sowie aus der Geschichte die Verhältnisse zu veranschaulichen, unter
denen die Gefahr akut werden kann. Meine Ausführungen seien deshalb mit
einem kurzen Ausblick auf die gedachten Verhältnisse beschlossen.
Zweifellos liegt der am meisten kritische Moment in den künftigen Be¬
ziehungen zwischen den Slawen in ihrer Gesamtheit und dem Deutschen Reich
als Nationalstaat in dem Augenblick, wo der greise Herrscher in Wien der
Politik den Rücken kehrt. Es ist keine Phrase, wenn Politiker behaupten,
Österreich werde überhaupt nur durch den Kaiser zusammengehalten. Ein
halbes Jahrhundert hat Kaiser Franz Joseph am Steuer seines Staatsschiffes
gestanden und sich in dieser Zeit bei allen Parteien und Nationalitäten eine
Achtung und Verehrung erworben, die weit über das Maß hinausgeht, das
sonst auch beliebten Monarchen von ihren Völkern entgegengebracht wird. Das
persönliche Verhältnis des Volks zum Monarchen zwingt gegenwärtig selbst
die radikalsten Führer, sich zu müßigen. Ob Deutsche, Tschechen oder Polen -—
solange der greise Herrscher an der Spitze steht, dürfte es kein Sozialist
wagen, das Volk zum Sturm gegen die Monarchie aufzufordern. Gegen das
Ministerium — ja! gegen die verhaßten Deutschen ja! — nicht gegen die
Krone!
Diese Rücksicht fällt weg, sobald ein junger Monarch die schwere Last der
Krone Habsburg auf sich nimmt. Was müßte er tun, um die stärksten Kreise
in der Gesellschaft an sich zu fesseln? Könnte er die Politik des allmählichen
Zurückweichens vor den slawischen Forderungen noch ein Menschenalter hindurch
fortsetzen und dadurch den Sieg der Polen und Tschechen über das Deutschtum
unabwendbar machen? Könnte er sich an die Spitze der Deutschen oder der
Polen stellen und einem von ihnen dadurch zur Hegemonie in Österreich ver¬
helfen? Wer könnte die sich aufdrängenden Fragen beantworten?! Auch ich möchte
den Versuch nicht wagen. Die angedeutete Situation kann jeden Augenblick
eintreten, und obwohl alle Welt darauf vorbereitet ist, würde sie doch immer
als eine gewaltige Überraschung wirken — würde sie zu früh kommen. Denn
mit ihr werden so unendlich viel Verbindlichkeiten gelöst, daß sie bisher von
niemand vollständig überschaut werden können.
Weniger plötzlich und von langer Hand vorbereitet entwickeln.sich die
Verhältnisse auf dem Gebiete der internationalen Politik. Sind sie
auch nicht jedem Politiker gegenwärtig, so lassen sie sich durch ein eingehendes
Studium feststellen. Bisher ist für das Studium dieser Frage von deutscher
Seite herzlich wenig getan worden, um so mehr von den Polen, Tschechen
und neuerdings auch von den Russen.
In dem Maße, wie die allslawischen Bestrebungen in Österreich an Boden
gewinnen und das slawische Element die Oberhand in der Politik nimmt,
wird Rußland genötigt sein, auch die von den gebildeten Kreisen angestrebte
Aussöhnung mit den Polen in das Programm der amtlichen Politik aufzu¬
nehmen oder aber auf seinen Einfluß auf die Tschechen und Südslawen zu
verzichten. Die Polen sind für Rußland ein Kulturfaktor, den jene weiten
Schichten der russischen Gesellschaft gern bei sich aufnehmen, die unter der
Bezeichnung „Westler" bekannt sind.
Rußland müßte aufhören, die eignen Polen zu bekämpfen, und müßte sich
selbst zum Träger der polnischen Pläne machen, die auf die Gewinnung der
ehemals polnischen Lande Preußens einschließlich der Weichselmündung aus¬
gehn. Wir haben im ersten Teile dieses Aufsatzes*) angedeutet, wo Rußland
für eine solche Politik Bundesgenossen finden könnte.
Der hauptsächlichste Widerstand hiergegen liegt bei der russischen Geist¬
lichkeit und bei einem Teil der Moskaner und südrussischen Industrie. Es
hängt nun meines Trachtens besonders von der innern Zersetzung der rus¬
sischen Kirche ab, die — das sei hervorgehoben — schon sehr stark vorge¬
schritten ist, ob und wann die genannten Widerstände beseitigt werden können.
Gegenwärtig gibt es noch einige einflußreiche Männer in Rußland, die bereit
wären, das Zartum Polen bis zur Weichsellinie an Preußen abzutreten —
nicht an Österreich. Aber ich glaube, in etwa fünfzehn Jahren wird auch diese
Richtung vollständig verschwunden sein. Die junge Generation des Adels
wächst schon heran, geleitet durch den Moskaner Kreis, der sich um die Namen
Trubetzkoj, Struve geschart hat.
Dennoch stehn wir nicht unbewehrt da. Gegen die oben angedeutete Ge¬
fahr können wir unsre preußische Ostmark schützen durch rücksichtslose Ver¬
drängung des polnischen Einflusses. Das geschieht aber am besten durch An¬
sehung deutscher Bauern und durch Aufteilung aller großen Güter, die nicht
imstande sind, sich deutsche Arbeitskräfte zu halten. Unser Osten fordert im
Interesse der Neichssicherheit gebieterisch eine tiefgreifende Reform der Agrar-
verhältnisse nach demokratischen, ja bodenreformerischen Grundsätzen, die vor
der Verwaltungsreform nicht haltmachen darf.**) Das ist eine Aufgabe der
nationalen Parteien in Preußen.
Die Gefahr von Osten wird meines Erachtens gemildert durch ein sla¬
wisches und demokratisches Österreich. Ein solches ist der natürliche Gegner
Rußlands auf dem Balkan — es ist der geborne Feind des reaktionären
Moskowitertums. Wie heute die katholische Propaganda in den russischen
Westgouvernements hauptsächlich von Galizien ausgeht, so muß ein demokratischer
Slawenstaat auch die nationale Begehrlichkeit der Kleinrussen, Ruthenen, Ukrainer
entwickeln, die in Rußland noch viel schlechter behandelt werden als die Ruthenen
in Galizien.
Das hier angedeutete Problem ist uns in Deutschland so gut wie un¬
bekannt. Das einzige Organ, das uns bisher darüber unterrichtet hat, ist die
Ruthenische Revue in Wien. Diese Unterweisung aber war und ist einseitig.
Aus der Slawisierung Österreichs erwachse» dem Deutschen Reiche Pflichten,
die wir heute noch gar nicht überschauen, denen wir uns aber wohl kaum
werden entziehen können, wenn wir auf unsern stolzen Staatsbäu die Be¬
zeichnung „deutscher Nationalstaat" auch fernerhin mit Recht anwenden
wollen.
Die Aufgabe, die sich in dieser Beziehung gegenwärtig für uns ergibt,
ist das Studium slawischer Verhältnisse in Österreich, der Lage der
Litauer, Kleinrussen und Juden in Galizien und Rußland. Dieses
Studium sollte nicht der Wissenschaft allein vorbehalten bleiben, die gewöhnlich
xost tsLwin, kommt, sondern vor allen Dingen der nationalen Presse aufgetragen
werden. Die Presse soll wenigstens nach dem Vorbilde der englischen einwand¬
freies Material zusammentragen, damit es die berufnen Politiker der Regierung
und der Parlamente im gegebnen Augenblick zur Hand haben. Das allslawische
Problem ist keine Frage der Vergangenheit oder der Zukunft, sondern eine
solche der Gegenwart.
! er deutsche Städtetag hat sich im Jubiläumsjahre der preußischen
Städteordnung aufs neue mit der Frage befaßt, auf welche
Weise am besten die neuerdings ins Unendliche gewachsnen
Kommunalanleihen beschafft werden können. Die Aufgabe der
I Finnnzwirtschaft staatlicher und kommunaler Körperschaften besteht
bekanntlich nicht in der bloßen Kunstfertigkeit, die Einnahmen mit den Aus¬
gaben der jeweiligen Finanzperiode in ein äußerliches Gleichgewicht zu bringen,
als vielmehr darin, die Anforderungen und die Leistungsfähigkeit innerhalb
der Wirtschaften in dauerndem Gleichgewicht zu erhalten. Hand in Hand mit
den zunehmenden Aufwendungen geht die Frage nach der wirtschaftlichen Be-
Schaffung der Deckungsmittel, oft auch die nach der Möglichkeit einer Fonds¬
ansammlung.
Wie tiefgehend die Unterschiede zwischen staatlicher und kommunaler
Finanzwirtschaft sind, kann im Rahmen unsrer Abhandlung nicht bis ins
einzelne dargelegt werden; die nachfolgenden Ausführungen werden jedoch nach
mancher Richtung hin Aufschlüsse dafür geben. Es möge aber an dieser Stelle
schon daran erinnert werden, daß die Kommunalkörperschaften dem Staats¬
wesen subordiniert sind, wodurch die Finanzgebamng der erstern notwendig
bestimmt und beeinflußt wird. Vor allen, sind den Kommunalkörperschaften
in der Anwendung außerordentlicher Mittel zur Deckung ihres Finanzbedarfs,
zumal für die Aufnahme öffentlicher Anleihen, engere Grenzen gezogen als
dem Staate. Und weiter stecken sich diese Grenzen je nach der Art der Körper¬
schaften selbst nach ihrer Größe und wirtschaftlichen Entwicklung wieder ganz
verschieden ab.
Bedarf und Deckungsmittel müssen zeitlich kongruieren. In einfachen
Verhältnissen macht sich dies ganz von selbst. Bei den heute wirtschaftlich
weiter sich entwickelnden Verhältnissen können in der Regel die große Summen
erheischenden Aufwendungen nicht mehr aus den laufenden Mitteln bestritten
werden. Da eine vorherige Kapitalansammlung aber selten besteht oder nicht
ausreicht, bleibt nur der Weg der Anleihen übrig, wodurch die erforderlichen
Deckungsmittel vorweggenommen werden. Da durch eine Anleihe die „künftige
Generation" unbelastet wird, sollen die durch sie beschafften Mittel in der
Regel nur zu solchen Aufwendungen verwandt werden, die der „künftigen
Generation" in irgendeiner Art zugute kommen und sich nicht in den einzelnen
Finanzperioden wiederholen. Welche Vorteile eine Fondsansammlung einer
Anleihe gegenüber aufzuweisen hat, möge folgendes Beispiel zeigen: Ein
Kapital von 100000 Mark wird mittels Ansammlung bei einer dreiprozentigen
Verzinsung in fünfzehn Jahren aufgebracht, wenn dem Fonds jährlich
5000 Mark zugeführt werden, sodaß also im ganzen nur 75000 Mark von
den Steuerzahlern aufzubringen sind! Wird dasselbe Kapital durch eine An¬
leihe aufgenommen, so müssen bei einer Verzinsung von 3^ Prozent und
l'/t Prozent Tilgung, unter Zutritt der allmählichen Zinsersparnisfe zur
Tilgungsrate. 5000 Mark 37^ Jahre lang aufgebracht werden, also im ganzen
188333 Mark. Das ist mehr als das Zweieinhalbfache der ersten Summe.
Bei Aufnahme einer Anleihe muß deshalb auf die Finanzmittel der spätern
Finanzperioden die weitestgehende Rücksicht genommen werden, da die Tilgungs-
»ut Zinslasten nicht für andre Zwecke verwandt werden können. Die hieraus
für die kommunale Finanzwirtschaft entspringende Gefahr birgt den Keim aller
Schwierigkeiten, die heute mit der Aufnahme der Anleihen verbunden sind.
Sogenannte ewige Rentenschulden, die eine Tilgung nicht erfordern und bei den
Staatskörpern die Regel sind, kommen für Kommunen als mit ihrem Wesen
w Widerspruch stehend überhaupt nicht in Betracht. Zwar bilden die Gemeinden
auch dauernde politische Körper, aber doch nicht in dem Maße wie der Staat;
sie bieten zweifellos weit geringere Sicherheit für ihre dauernde Fähigkeit zur
Zinszahlung als dieser, weil ihre Bevölkerung und ihr Wohlstand größern
und häufigern Schwankungen unterliegen können. Anderseits sind die Kom¬
munen meist viel eher in der Lage, eine regelmäßige Tilgung und Verzinsung
ihrer Anleihen ohne Überlastung der Abgabepflichtigen zusichern zu können als
der Staat, da viele Anleihen zur Gründung solcher produktiver Anstalten
dienen, die aus ihren eignen Erträgnissen die Abzahlung gestatten. Die be¬
schränkte Entwicklungsfähigkeit der kommunalen Finanzkraft bedingt des weitern,
daß die Verschuldung einer Kommunalkörperschaft in ihrem Gesäme niemals
eine Höhe erreichen darf, durch die die dauernde Erhaltung des finanziellen
Gleichgewichts in Frage gestellt würde. Aus den sich von Zeit zu Zeit
immer wieder geltend machenden Anleihebedürfnissen versteht es sich schon
eigentlich von selbst, daß für jede Anleihe ein Tilgungsziel gesetzt werden muß.
Auch erscheint uus nach dieser Hinsicht der Umstand beachtenswert, daß die
Leistungsfähigkeit der kommunalen Steuerzahler schließlich nicht bloß für die
Schulden der engern lokalen Körperschaft, der sie unmittelbar angehören,
sondern auch, neben denen des Staates, für die der übergeordneten Selbst-
vcrwaltungskörperschaften in Anspruch genommen wird.
Die Beschränkungen, die aus solchen Gründen die Ausübung der kom¬
munalen Anleihebefngnis mit sich bringen, können jedoch nur zum Teil im
Wege der Gesetzgebung festgelegt werden. Das geschieht einmal in der Weise,
daß der Verschuldung der Kommnnalkörperschaften gewisse Grenzen gezogen
werden, über die hinaus eine Schuldaufncihme nur mit besondrer gesetzlicher
Bewilligung zulässig ist. Anderseits können gesetzlich nach der Tilgungsdauer
der einzelnen Anleihen gewisse Abstufungen vorgesehn werden, die den Ge¬
meinden nur bei kleinern und kurzfristigen Anleihen eine gewisse Bewegungs¬
freiheit gewähren.
Genehmigung zur Anlehensaufnahme wird in Preußen und den meisten
andern Bundesstaaten des Deutschen Reichs nur erteilt, wenn deren Not¬
wendigkeit und Nützlichkeit nachgewiesen ist. Eine Anleihe ist notwendig,
wenn gesetzlich vorgeschriebne Ausgaben gelöst oder vorhandne Notstände be¬
seitigt werden müssen, wozu die laufenden Mittel nicht ausreichen; nützlich
nennt man heute allgemein eine Anleihe, wenn sie eine Steigerung der Ren¬
tabilität des Kommunalvermögens oder der Leistungsfähigkeit der Kommunal¬
mitglieder erwarten läßt. Wer die heutigen Aufgaben unsrer Städte diesen
Anforderungen zur Aufnahme einer Anleihe gegenüberstellt, wird sich sofort
klar darüber sein, daß der Nachweis der Notwendigkeit und Nützlichkeit sehr
einfach zu bringen ist.
Die schon erwähnte Tilgungsdauer richtet sich vor allem nach dem Zwecke,
dem die Anleihe dient, des weitern nach der gesamten finanziellen und wirt¬
schaftlichen Lage der kreditsuchenden Körperschaft. Wenn verschiedentlich eine
dreißigjährige Tilgungsdauer als die für Kommunalanleihen im allgemeinen
angemessene hingestellt wird und sogar diese Ansicht in der französischen
Gesetzgebung insoweit Ausdruck gefunden hat, als Anleihen mit längerer
Tilgungsdauer der Genehmigung des Staatsoberhaupts bedürfen, so ist doch
nicht zu übersehen, daß bei der heutigen Entwicklung der kommunalen Kredit¬
bedürfnisse, zumal der größern Städte, mindestens ebensooft jene Zeitgrenze
überschritten werden muß, wie sie etwa bei Anleihen kleinerer Gemeinden ein¬
gehalten werden kann. Es erfordert — um ein Beispiel heranzuziehen —
eine mit 3^ Prozent verzinsliche Anleihe, die mit einer Grundquote von einem
Prozent unter Zutritt der bei fortschreitender Tilgung sich ergebenden Zins¬
ersparnisse amortisiert wird, eine Tilgungsdauer von nahezu 44 Jahren. Es
liegt weiter im Interesse der kommunalen Finanzwirtschaft, daß der Tilgungs¬
plan genau aufgestellt ist und sie sich ein Kündigungsrecht vor Ablauf der
Tilgungsfrist vorbehält, um sich auf diese Weise die Möglichkeit einer Kon¬
vertierung zu lassen. In Preußen ist durch Zirkular des Ministers des Innern
vom 1. November 1870 für die Genehmigung von Kreisanleihen, deren
Begehung durch Ausgabe von Jnhaberpapieren stattfindet, als Prinzip auf¬
gestellt, daß die Tilgungsquote mindestens ein Prozent betragen soll, wenn
die Kontrahierung des Urlebens zu gemeinnützigen Zwecken erfolgt; sie soll
mindestens 1^ Prozent betragen, wenn das Darlehn zu gewinnbringenden
Anlagen verwandt wird. Daß nicht für alle Anleihen gleiche oder ähnliche
Normen gelten, und es in den meisten deutschen Staaten an einer allgemeinen
Regelung der Tilgungsdauer als auch der Tilgungsquoten fehlt, ist zweifellos
ein Übelstand. Auf weitere Modalitäten der Darlehnsaufnahme seitens der
Kommunalkörperschaften einzuwirken, ist der Staat kaum in der Lage. Wir
können für unsre Betrachtungen die eintretenden Möglichkeiten als belanglos
ausschließen, da sie nur dann in Betracht kommen, wenn der Staat selbst die
Rolle des Darlehusvermittlers übernimmt.
Wenn die kommunalen Anleihen Objekte des Geld- und Effektenhandels
werden sollen, was heute allgemein die Regel ist, so gelten nach dieser Richtung
hin genau dieselben Vorschriften, die für den Börsenhandel überhaupt gelten,
und auf die hier nur verwiesen werden kann. An der Berliner Börse werden
fast 150 verschiedne Städtepapiere heute gehandelt. Welche Schuldsummen
diese repräsentieren, ist leider ohne weiteres auch nicht annähernd genau an¬
zugeben; es ist jedoch festgestellt (und zwar von Zahn), daß sich die Anleihe¬
schulden (nicht nur die Jnhaberpapiere) von 52 deutschen Städten mit über
50000 Einwohnern im Jahre 1902 auf zwei Milliarden beliefen. Das war
also im Vergleich zu den damals 2,7 Milliarden Mark betragenden Reichs¬
schulden eine ganz bedeutungsvolle Summe. Schon 1892 schätzte Miquel das
w Kommunalanleihen angelegte preußische private Kapitalvermögen auf
1,2 Milliarden Mark. Besonders sind die städtischen Schulden infolge von
Aufwendungen fiir Verbesserung der hygienischen Einrichtungen, Wasser-
leitungen, Unterrichtsanstalten usw. ganz ungeheuer angewachsen. Es betrugen
b
eispielsweise
Es darf dabei allerdings nicht übersehen werden, daß die genannten Städte
mit Ausnahme von Berlin infolge von Eingemeindungen die Schulden dieser
Kommunen mit übernommen haben. Um aber das Anwachsen der städtischen
Schulden in einer Zeitspanne der letzten drei Jahrzehnte übersehen zu können,
möge nachstehende Zusammenstellung dienen. Danach betrugen die Obli¬
gationsschulden von zehn der größten Städte Preußens
Welche Summen ein solcher Schuldendienst erfordert, möge nur an den Ver¬
hältnissen der Stadt Düsseldorf gezeigt werden, wo 1896 hierfür 1600000 Mark
an Aufwendungen gemacht werden mußten, 1906 aber schon 4976532 Mark.
Da die Anleihen zum größten Teil für werbende Zwecke kontrahiert waren
und somit eine Quote ihrer Verzinsung und Tilgung selbst aufbrachten, hatte
die Stadtkasse Düsseldorf 1896 einen Reinzuschuß von 375215 Mark und
1906 einen solchen von 1221052 Mark zu leisten.
Wenn die Anleihen größtenteils für werbende Anlagen begeben sind,
also für Wasser-, Gas-, Elektrizitätswerke usw., und sich, wie das Düsseldorfer
Beispiel zeigt, beinahe aus sich selbst heraus verzinsen und tilgen, haben diese
Schuldbeträge nichts bedrohliches. Darüber sind sich auch die interessierten
Kreise, vor allem die aufsichtführende Behörde und die Kommunalkvrperschasten
selbst im klaren. Aber was ernste Sorge bereitet, ist die Organisation des
Kommunalkredits, die an nationaler und volkswirtschaftlicher Bedeutung nicht
hinter der der zeitigen Reichsfinanzreform zurücksteht. „Kein so fortge¬
schrittenes Land hat eine so jämmerliche und erbärmliche Organisation des
Kommunalkredits als Deutschland." Diese Kritik Miquels aus dem Jahre
1873 trifft leider auch heute noch zu, denn die Organisation ist nicht nur
schlecht, sondern sie ist so gut wie überhaupt nicht vorhanden.
Eine Folge dieser mangelhaften Organisation, die hauptsächlich mit darin
zu suchen ist, daß jede Kommunalkörperschaft fast bei jeder zu kontrahierenden
Anleihe eine andre Bank oder ein andres Konsortium um Hilfeleistung an¬
gehen muß, ist nicht zuletzt der niedrige Kurs der Städteobligationen. Wir
sehen bei Betrachtung dieser Frage davon ab, daß der Kurszettel der Börsen
nur in den allerwenigsten Fällen ein genaues Bild der wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse abgibt; der Umsatz eines einzigen Stücks genügt oft schon, um die
Notierung des betreffenden Papiers um einige Prozente zu steigern oder ab¬
zuschwächen. Aber eine Organisation des Kommunalkredits würde den Kurs
der Obligationen derart beeinflussen können, daß er dem innern Werte der
Papiere mehr entspräche. Es ist doch einleuchtend, daß der niedrige Kurs der
Papiere nicht in einem etwaigen Mangel an Sicherheit seine Ursachen hat;
denn dafür bürgen nicht nur das Vermögen der Kommunen, sondern auch
ihre Steuererträgnisse. Auch die Kurse der Städte, unter sich betrachtet, weisen
keineswegs die Unterschiede auf, die der verschieden Solvenz der einzelnen
Städte entsprechen würden. Bei den Kursen der Konsols und Reichsanleihen
liegt die Sache fast ebenso, obgleich diese durchschnittlich zwei bis drei Prozent
höher notieren als die gleich verzinslichen Städteobligationen. Eine derartige
Übereinstimmung in den Kursschwankungen der Staats- und Städteanleihen
läßt deshalb auf dieselben Ursachen schließen.
Der große wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands veranlaßt das Anlage
suchende Privatkapital, sich industriellen Werten zuzuwenden, die eine höhere
Verzinsung als Reich und Kommunen gewähren. Dazu kommt (nach Zahn)
die Konkurrenz der Hypothekenbanken mit ihrer Unmenge von Pfandbriefen
und deren schnelle Zunahme. Dem Kapital bietet sich also die verschiedenste
Verwendungsmöglichkeit; daneben ist die Sucht, „schnell reich zu werden", nicht
ohne Bedeutung. Die Kursnotierung der Kommunalobligationen leidet weiter
darunter, daß ihr Markt in den meisten Fällen nur lokal ist; selbst die An¬
leihen größerer Städte wandern immer wieder nach der Ausgabestadt zurück
und haben nur hier bei lokalem Angebot und lokaler Nachfrage ernsthafte
Kundschaft (Kimmich).
Aus diesen Gründen sehen sich viele Banken nicht in der Lage, die
Emission von Stadtanleihen zu übernehmen, obwohl der Geschäftsgewinn der
E'nissionshüuser hier durchschnittlich größer ist als bei den Staats- und Pro-
vinzialanleihen. Aber dieser höhere Emissionsgewinn wird dadurch, daß sie
die Städteobligationen nicht mit der erforderlichen Schnelligkeit auf den Markt
bringen können, also oft morale- und jahrelang auf den Stadtschuldverschrei¬
bungen „sitzen" bleiben, mehr als wettgemacht. Selbst der Absatz der An¬
leihen größerer Städte geht zeitweise schleppend vor sich, was für die Banken
stets mit Verlusten verbunden ist. Sehr häufig müssen die Emissionshäuser
das zurückströmende Material zu einem von ihnen selbst diktierten Preise wieder
übernehmen. Im allgemeinen überwiegt in Städteobligationen das Angebot,
und die Nachfrage tritt oft so zurück, daß eine Kursnotierung überhaupt nicht
zustande kommt.
Bei Staatsanleihen liegen die Verhältnisse insofern günstiger, als für sie
ein unbegrenzter Markt in Frage kommt und sich die Banken zum Rückkauf
des Materials viel eher bereit finden. Ungünstig wirkt hier jedoch die starke
Zentralisierung, da dadurch die Börse als der selbsttätig wirkende Regulator
geschwächt und der Kreis der Interessenten stark verringert wird. Die preußische
Regierung hat aus diesen Gründen schon zweimal zu AbHilfsmitteln gegriffen,
von denen aber nur eins durchgeführt worden ist, dessen Wirkung nicht
gleichmäßig anerkannt wird. Der erste Fall ist die 1904 durchgeführte Er¬
höhung des Grundkapitals der Königlich Preußischen Bank (Seehandlung)
von 34,4 Millionen Mark auf 94,4 Millionen Mark, wodurch das Institut
zur bessern Pflege und Überwachung des Marktes der preußischen und Reichs¬
anleihen befähigt werden sollte. Infolge verstärkter Kapitalkraft kann die
Seehandlung durch Aufnahme größerer oder geringerer Mengen schwimmenden
Materials den von diesem ausgehenden Kursdruck leichter beseitigen und
mildern. In vollem Umfange ist die Seehandlung nach dieser Richtung hin
ihren Aufgaben jedoch nicht gerecht geworden, da ihr Kapital auch nicht im
entferntesten hingereicht hätte, um alle angebotnen Werte auszulaufen.
Hand in Hand damit ging die Einrichtung des Staatsschuldbuchs, wo¬
durch die dauernden Anlagen in Staats- und Reichsanleihen beträchtlich ver¬
mehrt und das Angebot im freien Verkehr verringert worden ist.
Ein zweites Mittel zur Erhöhung der Kurse der Staats- und Reichs¬
anleihen ist nicht Gesetz geworden. Die preußischen Sparkassen sollten danach
verpflichtet sein, von ihrem verzinslich angelegten Vermögen mindestens
15 Prozent in Schuldverschreibungen des Reichs und Preußens anzulegen.
Wenn der nicht verabschiedete Entwurf für alle Sparkassen neues geschafft
hätte, würden auf diese Weise etwa 1,6 Milliarden Mark Staatsobligationen
in Spargeldern festgelegt worden sein, was zweifellos eine Stabilisierung des
Kurses zur Folge gehabt hätte. Allein die meisten Sparkassen haben schon
20 Prozent ihrer Kapitalien in Staatspapieren angelegt, sodaß die Absicht
des Gesetzentwurfs auch nicht annähernd erfüllt worden wäre. Es ist aber
im nationalen wie auch volkswirtschaftlichen Interesse durchaus anerkennenswert,
daß die Regierung Schritte zur Hebung des Kurses der Staatsanleihen unter¬
nommen hat, und wir glauben, daß die erhofften Folgen jener Maßnahmen
über kurz oder lang doch eintreten müssen, wie dies auch in dem Maße geschehen
wird, als das deutsche Privatkapital zu dauerndem Renteneinkommen verwandt
werden wird.
ercidezu klassisch dürfen die Ausführungen genannt werden, die der
Prinz von Preußen zu dem Paragraphen 57 des Entwurfs der
Wehrverfassung macht. Dieser bestimmt, daß alle Beförderungen
bis zum Befehlshaber der Kompagnie und Schwadron einschließlich
durch die Wahl der Wehrmänner zu erfolgen habe.
Wahl der Führer! Dies Stichwort der Zeit wird, weil es volkstümlich klingt,
in unsern Tagen von einem dem andern nachgesprochen, und man glaubt damit
die Sache abgemacht und gut. Da nun kein erfahrner Soldat jemals mit diesem
Prinzip einverstanden sein wird, so hoffen wir, daß die militärischen Mitglieder
des Wehrausschusses auch bei der Festsetzung dieses Paragraphen in der Minorität
geblieben sind.
Warum, fragt sich zunächst, eine Führerwahl für den zweiten und dritten
Heerbann bestimmen, während für den ersten Heerbann der bisher übliche Modus
der Ernennung beibehalten worden ist? Warum soll dem einen nicht recht sein,
was dem andern billig ist? Eine Erklärung dieses Unterschiedes kann nur in
ber Ansicht über den zweiten und dritten Heerbann (Landwehr) gesucht werden,
"ach welcher diese als eine weniger streng disziplinierte Truppe gedacht wird. Es
ist dies dieselbe Anschauung, welche in der Landwehr den Übergang zur Bürger-
Wehr erblickt, bet welcher letztern allerdings die Wahl der Führer eingeführt worden
ist. Sie erscheint uns aber unklar und im Widerspruch mit dem Paragraphen 18
der Wehrfassung, nach welchem die Landwehr gleich dem ersten Heerbann für Krieg
oder Frieden verwendet werden kann und dazu bestimmt ist, in ihrer ganzen Stärke
gegen den Feind geführt zu werden. Warum also Truppen, welche eine ganz
gleiche Bestimmung haben, andern organischen Bestimmungen hinsichtlich ihrer Be¬
fehlshaber unterliegen sollen, ist schwer zu begreifen. Wenn man die Wahl der
Führer bei dem ersten Heerbann (Linie) nicht einführte, so wurde man dabei gewiß
bon dem ganz richtigen Grundsatze geleitet, daß bei dem steten Wechsel der ein¬
zuziehenden und erst zu erziehenden Truppen von diesen kein Urteil über die An¬
sprüche zu verlangen sei, welche sie an ihre Vorgesetzten zu machen haben. Aber
hat auch wohl den tiefer liegenden Grund durchgefühlt, daß bei einer Truppe,
die ihre Führer selbst wühlt, doch auch Mißgriffe vorkommen können, die eine
schwere, vielleicht nie wieder gutzumachende Desorganisation an derselben nach
s'es ziehen.
Dieser Gefahr wollte man also doch die Waffenschule der ganzen Nation, wie
^.r erste Heerbann in Paragraph 17 genannt wird, nicht aussetzen, denn wenn
keine Gefahr mit der Wahl der Führer verbunden wäre, so sieht sich schwer ein,
warum dem Soldaten bei seiner ersten Erziehung nicht auch darüber durch die
Praxis selbst das Verständnis eröffnet werden sollte? Ist aber Gefahr bei Auf¬
stellung eines solchen Grundsatzes — und wer wollte sie leugnen, da er noch
nirgend auf die Dauer erprobt ist —, so muß man weiter fragen, aus welchen
Gründen diese Gefahr für die Landwehr nicht vorhanden sein soll? Die Motive
zu Paragraph 57 erwidern freilich darauf, daß
man geglaubt, durch Aufstellung dieses Grundsatzes der Landwehr die wahre Volks¬
tümlichkeit aufzudrücken und eine dauernde Teilnahme für dieses Institut zu er¬
zeugen, mich dürfte man von dem reifern Alter der Wehrmänner und ihrer Er¬
fahrung verständige und gute Wahlen erwarten, gegen Mißgriffe würden
einschränkende Bestimmungen schützen.
Aber schon beim ersten Anblicke machen diese Motive den Eindruck, als hätten
die Verfasser derselben selbst die Schwäche der versuchten Rechtfertigung gefühlt.
Denn die nähere Prüfung ergibt, daß es sich damit nur um Konzessionen handelt,
die man den einmal beliebten Schlagwörtern der aufgeregten Zeit machen möchte,
denn um die Landwehr volkstümlich zu machen, ihre Sympathien zu gewinnen,
führt man Bestimmungen ein, welche die ganze Organisation der Landwehr zu er¬
schüttern drohen. Volkstümlich wird eine Truppe nur dann sein, Sympathien wird
sie sich nur dann erwerben, wenn die Nation sieht, daß ihre wehrpflichtigen Söhne
menschlich und gerecht während ihrer Dienstzeit behandelt und billige Rücksichten
auf die außerdienstlichen Verhältnisse der Wehrpflichtigen genommen werden, dann
aber, wenn sie imstande und vollkommen vorbereitet sind, in Krieg und Frieden
ihre Schuldigkeit zu tun, sobald das Vaterland ihrer bedarf.
Dazu sind aber tüchtige Führer nötig, und es liegt um einmal im Menschen,
daß er sich bereitwilliger den ihm gegebnen als selbst von ihm gewählten Vor¬
gesetzten unterwirft. Bei jeder Wahl ist die Minorität verletzt und in allen das
Gefühl angeregt, ebensogut als der Gewählte zu der Stelle gelangen zu können.
Hierin liegt die Gefahr der Jndisziplin, weil hierin der Keim der Unzufriedenheit
liegt. Wie muß sich diese Gefahr aber steigern, wenn sich in der Praxis die Un¬
fähigkeit der Erwählten ergibt, und die Wähler auf sehr einfache Weise zu dem
folgerichtigen Schluß geführt werden, den Erwählten durch eignen Beschluß auch
wieder entfernen zu müssen. Daß dergleichen Gelüste zur völligen Auflösung einer
Truppe führen können, ist unwiderlegbar, denn kein Vorgesetzter wäre auch nur
eine Stunde seiner Stellung sicher. Wie soll unter solchen Umständen Ansehen
und Einfluß auf der einen, williger Gehorsam und Unterordnung auf der andern
Seite möglich werden. . . . Wir brauchen Wohl nicht erst darauf aufmerksam zu
machen, wie notwendig für die Offiziere einer Armee ein höherer Bildungsgrad
ist, aus welchem sich die richtige Auffassung des Kriegerstandes und seiner Pflichten
von selbst entwickelt, wie gerade aus dieser der wahrhaft militärische Geist und
die soldatische Gesinnung entspringt, welche sich nach und nach dem Stande der
Unteroffiziere mitteilt und durch diese wiederum der Masse des Heeres; denn das
weiß jeder zu würdigen, der jemals mit Truppen ^n Verbindung gestanden hat.
Darum eben ist die Gefahr groß, wenn man Einrichtungen empfiehlt, welche zu¬
nächst dahin führen, die Ansprüche an den Offizierstand von ihrer Höhe herab¬
zustimmen.
Mit einer Wahl der Führer ist auch das Fundament des Kriegerstandes unter¬
graben. Bis zum März 1848 wurden alle Stimmen, welche sich hin und wieder
für eine ähnliche Anordnung erhoben, als solche bezeichnet, die wissentlich auf ein
systematisches Untergraben des Heeres hinarbeiteten. Seit dieser Epoche sind freilich
alle politischen und militärischen Begriffe so verwirrt worden, daß wir es nur
dieser Begriffsverwirrung zuschreiben können, wenn diejenigen Personen, welche den
Paragraphen 57 polierten, die notwendig eintretenden Konsequenzen übersahen,
ohne sie deshalb beschuldigen zu wollen, es aus jenen Motiven getan zu haben.
Den Beschluß des Entwurfs: „alle einseitig militärischen Erziehungs¬
anstalten sind aufzuheben", führt der Prinz glänzend ab:
Das Aufgeben aller einseitig militärischen Erziehungs- und Bildungsnnstalten
und die empfohlene Errichtung von Lehrstühlen für Kriegswissenschaften an den
Universitäten setzt bei den Vorschlagenden die Ansicht voraus, daß eine besondre
Erziehung für den Kriegerstand überflüssig sei. Diese Ansicht ist aber nur dann
richtig, wenn man überhaupt keinen Wert auf diesen Stand legt und glaubt, daß
sich eine Armee mit dem Geiste der Ordnung, Disziplin, Ausdauer und des Ge¬
horsams, deren Träger ein durchgebildetes Offizierkorps ist. im Augenblicke des Be¬
dürfnisses improvisieren lasse. Noch sieht man sich vergebens nach einem Beispiele
in der Geschichte um, wo ein dergleichen improvisiertes Heer einem andern geistig
und praktisch durchgebildeten Heere mit Erfolg entgegengetreten wäre, wenn nicht
Terrain, Klima oder Nationalität eingewirkt. Wie kann man also Einrichtungen
ausgeben wollen, die sich durch Erfahrung nicht allein nützlich, sondern unumgänglich
notwendig erwiesen haben. Die Berufspflichten des Offizicrstcmdes sind schwere
und nur daun vorwurfsfrei und mit Erfolg zu erfüllen, wenn man diesen Stand
mit Vorliebe ergriffen hat oder von früh an dafür erzogen wurde. Es ist daher
von der größten Wichtigkeit, daß Anstalten bestehen, aus denen Offizierskandidciten
hervorgehen können, die von Kindheit auf an strenge Zucht, Ordnung. Entbehrungen
und Gehorsam gewöhnt werden, als diejenigen Erfordernisse, welchen sie selbst ihr
lebelang genügen müssen, um ihren Untergebnen ein Beispiel zu werden und ihren
Kameraden von der Landwehr ermutigend voranzugehen. Ohne dieses Beispiel
wird die genügende Ergänzung der Landwehroffiziere immer eine sehr schwierige
und nie ganz erquicklich zu lösende Aufgabe bleiben. Trotz aller angewandten Für¬
sorge und Vorsicht dürfte man in Preußen manche bittre Erfahrung in dieser Be¬
ziehung gemacht haben.
Darum haben wir nach unsrer Überzeugung sowohl den Paragraphen 62 als
den damit in Verbindung stehenden Paragraphen 66 gänzlich gestrichen, weil dieser
verlangt, daß die Kriegswissenschaften künftig nur an Universitäten gelehrt werden
sollen. Zunächst entsteht die Frage, wer die Lehrer sein sollen? Professoren?
Unmöglich, denn Kriegswissenschaften können mit Erfolg nur von kriegserfahrnen
Männern gelehrt werden, die selbst erlebt und aus eigner Anschauung kenn?n ge¬
lernt haben was sie ihren Schülern mitteilen sollen. Wer nicht mit den Soldaten
gelebt, wer nicht Freude und Leid. Gefahr und Entbehrungen mit ihnen geteilt
hat. der kann nicht mit der nötigen Lebendigkeit und Eindringlichkeit von Dingen
reden, die er nur von Hörensagen oder aus Büchern kennt. Aber selbst Offiziere.
d>e in die Kategorie von Universitätsdozenten übertreten und gegen Honorar
Kollegien lesen wollten, würden nicht genügen, weil sie eben nur dozieren können,
°hre daß ihnen eine Kontrolle darüber möglich wäre, welchen Erfolg ihre Vorträge
°uf die zuhörenden Offiziere haben, weil sie nie darüber zu urteilen vermögen, ob
die Zeit, während welcher die Offiziere den- praktischen Dienste entzogen und deren
Kameraden gezwungen sein würden, den Dienst für sie zu versehen, auch nützlich
und erfolgreich angewendet worden ist. Der Offizier studiert die Kriegswissen¬
schaften nicht, wie jeder Student seine Fachwissenschaft, den» er wählt sich den
Beruf nicht erst nach Vollendung seiner Studien, sondern er ist bereits im Dienste,
wenn er sie beginnt, und soll sich nur im höhern Grade dazu geschickt machen.
Da sein Kriegsherr ihm nun Gelegenheit dazu verschafft, so hat dieser auch ein
Recht, danach zu fragen und sich zu überzeugen, wie der so Bevorzugte die ihm
gewordne Begünstigung benutzt hat. Das alles ist aber auf der Universität nicht
möglich, da wir annehmen müssen, daß der Lehrstuhl für Kriegswissenschaften gerade
deshalb dort beliebt wird, um die mit der Art des Universitätsunterrichtes ver-
bundnen Eigentümlichkeiten auch den Offizieren zuteil werden zu lassen. Wollte
man aber Einrichtungen treffen, welche diese Eigentümlichkeiten zu beseitigen be¬
stimmt wären, so würden diese nicht allein der bisherigen akademischen Praxis ent¬
gegenstehen, sondern man würde auch vollends nicht begreifen, weshalb man dann
die bestehenden höhern Militärlehranstalten aufgeben soll? Sonach erscheint der
Paragraph 66 einer Theorie zuliebe entstanden zu sein, und bei Streichung des¬
selben ist auf die praktische Seite Rücksicht genommen worden.
Der Artikel 12 des Entwurfs hat sich mit Disziplin und Rechtspflege
beschäftigt. Der Entwurf hatte bestimmt, daß die Militärgerichte im Frieden
nur über Dienstvergehen und Dienstverbrechen zu erkennen haben, für gemeine
Verbrechen und Vergehen sollten aber im Frieden die gewöhnlichen Gerichte
zuständig sein. Und ferner wollten sie den Militärgerichten Geschworne bei¬
fügen. Des weitern hatte der Entwurf in Paragraph 70 einfach und kate¬
gorisch bestimmt: „Die Ehrengerichte sind abzuschaffen." Fast noch lakonischer
wirkt die Bemerkung des Prinzen dazu: „Ganz zu streichen." Die Motive,
die ihn veranlaßten, sowohl gegen die Übertragung der Ahndung gemeiner
Vergehen und Verbrechen an die gewöhnlichen Gerichte sowie die Hinzu¬
ziehung von Geschwornen abzulehnen, hat er in folgenden Sätzen niedergelegt:
Auch hier glauben wir eine den Zeittheorien gemachte Konzession zu erkennen,
da die Motive sich auf die einfache Äußerung beschränken: „Die hier vorgeschlagnen
Bestimmungen möchten sich Wohl von selbst rechtfertigen, ohne daß es deren weiterer
Motivierung bedarf." Wir sind keineswegs dieser Ansicht, weil wir die große
Schwierigkeit nicht verkennen, welche in der Auffindung eines bestimmten Unter¬
schiedes zwischen Dienstvergehen und Verbrechen mit gemeinen Vergehen und Ver¬
brechen besteht. Wie oft greifen beide ineinander oder kumulieren sich! Wie oft
würde also eine doppelte Prozedur nötig sein und dadurch eine unerwünschte Ver¬
schleppung der Untersuchung veranlaßt werden. Ist nun aber der Geschäftsgang
bei Zivilgerichten langsamer überhaupt, als militärische Verhältnisse zulassen, gibt
es bei der Beurteilung gemeiner Verbrechen im Kriegerstande Rücksichten, welche
auf die Eigentümlichkeit des Standes genommen werden müssen, kann die Disziplin,
welche ein Zivilgericht weder anzuerkennen noch zu beachten hat, darunter leiden, so
müssen wir bei dem Grundsätze stehen bleiben, daß den Militärgerichten in Krieg
und Frieden die volle Strafgewalt erhalten bleibe, wenn man nicht einen der
festesten Grundsteine aus dem Heerwesen verlieren will.
Obgleich wir fürchten, daß in vielen Fällen die Öffentlichkeit und Münd¬
lichkeit der Militärgerichtsverhandlungen nicht günstig auf die Erhaltung der Di¬
sziplin wirken wird und ein Terrorisieren der Richter durch die Zuhörer nicht außer
aller Berechnung liegen sollte, so wollen wir doch nichts dagegen erinnern. Da¬
gegen müssen wir uns gegen die Einführung von Geschwornen erklären, insofern
ihnen das Recht zustehen soll, von der Anklage ohne höhere Bestätigung freizu¬
sprechen. Ein solches Recht würde gegen alle bisher anerkannten Grundsätze der
militärischen Hierarchie verstoßen. Nur der Kriegsherr darf zugleich der oberste
Richter sein, und nur er kann in einzelnen Fällen dies Recht höhern Befehls-
hadern delegieren. Soll jedoch mit der Bezeichnung „Geschworne" nur der Begriff
verbunden werden, daß der Soldat von seinesgleichen gerichtet werde, so ist auch
dieser Anforderung im Preußischen Heere bereits seit dem Jahre 1808 entsprochen
worden. Hier werden dem Präses des Kriegsgerichts, welcher selbst ein höherer
Offizier sein muß, als Beigeordnete je drei Gemeine. Unteroffiziere. Sergeanten,
Sekond- und Premierleutnants, Hauptleute usw. und auch höher hinauf nach dem
Range des Angeklagten zugegeben. Der dem Präses zugeteilte Auditeur hält den
Vortrag, worauf jede einzelne Klasse für sich das Strafmaß ausspricht, dann nach
der daraus gewonnenen Stimmenmehrheit das Erkenntnis aufgesetzt und entweder
an den König oder an den von demselben Delegierten eingereicht wird. Diese
Einrichtung hat sich bisher durchaus bewährt, und wir haben sie daher mit Ver¬
meidung des Wortes „Geschworne" der dritten Rubrik des Paragraphen 68 sub¬
stituiert.
Und seine lakonische Bemerkung zu den Ehrengerichten motiviert er
folgendermaßen:
Vergebens sucht man bei dem ersten Anblick der inhaltsschweren Bestimmung:
..Die Ehrengerichte sind abgeschafft!" in den Motiven nach den Gründen derselben.
Wir können auch hierin nur eine Zeitkonzession erkennen. Liegt es denn aber in
den Zeiterfordernissen, daß die Ehre nichts mehr gelten soll? Wir glauben im
Gegenteil, je freier die Handlungen der Menschen sein dürfen, je mehr müssen sie
sich den Forderungen der Ehre und der Ehrenhaftigkeit unterwerfen. Und da, wo
geschloßne Sonderungen bestehen, ist es wohl ganz natürlich, daß in denselben der
eine über den andern wacht, damit jenen Forderungen Genüge geleistet, jeder
Verstoß gegen dieselben zur Verantwortung gezogen und nach Befund Strafe ver¬
hängt wird.
Alle Vergehen, welche den gewöhnlichen Strafgesetzen nicht unterliegen, dessen¬
ungeachtet aber nicht ungeahndet bleiben dürfen, wenn die konventionellen Be¬
dingungen aufrechterhalten werden sollen, ohne welche keine geschloßne Sonderung
bestehen kann, gehören vor das Forum einer Beratung und Entscheidung der
Standesgenossen.
Zu solchen geschloßne» Sonderungen zählt nun aber der Stand des Offiziers.
Wollte man selbst das Prinzip der Nivellierung soweit ausdehnen, alle Standes¬
unterschiede zu vernichten, so wird es doch wahrlich nie gelingen, auch einen Stand
in den Kreis dieser Nivellierung hineinzuziehen, dessen Lebensaufgabe es ist, jeden
Augenblick für die höchsten und edelsten Güter der Menschheit das Leben einzu¬
setzen, und sich gerade hiermit von andern Genossenschaften unterscheidet, deren
Lebensaufgabe eine durchaus andre ist. Wer sich aber einem Berufe widmet, der
das Einsetzen des eignen Lebens für allgemeine Zwecke verlangt, wer zugleich die
Verantwortung übernimmt, andre durch seinen Befehl in den Tod zu führen, der
muß sich auch eine Gesinnung und Richtung bewahren, die nicht mit dem gewöhn¬
lichen Maßstabe gemessen werden kann. Diese Bewahrung bedarf aber einer ganz
besondern Überwachung. Ohne eine solche würden Ausschreitungen der rohesten
und unedelsten Art den Stand in die Zeiten der Barbarei zurückversetzen. Ist
doch die Geschichte der neusten Zeit nicht arm an Beispielen, zu welchen Grausam¬
keiten und Abscheulichkeiten bewaffnete Massen sich hinreißen lassen, wenn keine
Führer an ihrer Spitze stehen, welche von dem Prinzip der Ehre durchdrungen
sind. Will man daher die Heere auf dem Standpunkt der Gesittung erhalten, so
stelle man auch Führer an ihre Spitze, welche diese Gesinnung vor allem nicht
"«ein in sich zu erhalten, sondern auch bei ihren Untergebnen zu beleben wissen.
Die Standes- und Ehrengerichte entstanden nun aus der Überzeugung wie
diese wieder aus dem Gefühl und Bedürfnisse, daß gewisse Vergehungen, ja selbst
nur Unterlassungen innerhalb des Standes selbst und untereinander erwogen und
gerichtet werden müssen.
Überall, wo die militärischen Ehrengerichte gewirkt, haben sie nur zum wahren
Wohl und Besten des Offizierstandes beigetragen, und sind im Laufe der Zeit bei
einzelnen dieser Gerichte Erscheinungen vorgekommen, durch die man sich berechtigt
glaubte, sie mißliebig zu machen, so findet das seine Erklärung in dem Umstände,
daß Fälle vor deren Forum gebracht worden sind, die nicht dahin gehörten. In
der Preußischen Armee haben diese Ehrengerichte eine besondre Pflege erfahren,
aber auch wesentlich dazu beigetragen, die Offizierkorps auf der Stufe der Bildung,
des Ehrgefühls und der Gesittung zu erhalten, welche freilich den Feinden jeder
gesetzmäßigen Ordnung ein Dorn im Auge ist. Dieser Bildungszustand der Offi¬
ziere, die Träger der Ehre einer Armee, das heißt der Treue und des Gehorsams
gegen den Herrscher, die Erhalter der Ordnung, weil sie die ausübende Gewalt
der Machthaber sein müssen, ist jenen Aposteln der Anarchie im höchsten Grade
zuwider. Sie richten daher ihr Hauptaugenmerk darauf, die Offizierehre zu unter¬
graben, weil sie so am sichersten hoffen können, die Treue der Armee wankend zu
machen. Daraus erklären sich die Anfeindungen und Verunglimpfungen, welche
seit Jahren die Offiziere aller Armeen zu erdulden gehabt haben, daraus die Er¬
findung des Wortes „Junkertum", um in dieser Bezeichnung einen stereotypen Begriff
des Gehässigen zusammenzufassen, daraus der Eifer, mit welchem einzelne Auswüchse
und vorkommende Exzesse unter Offizierkorps zur Anschuldigung der stehenden
Heere überhaupt vergrößert und im übelsten Lichte dargestellt wurden. Bedenkt
man, daß unter Tausenden und aber Tausenden junger, lebensfroher Männer immer
nur ganz einzeln stehende Fälle zu deren Nachteil ausgebeutet werden konnten, so
müßte dies eigentlich zur Ehre und zum Lobe des Gesittungsstandpunktes aller
ausschlagen. Fern sei es von uns, damit behaupten zu wollen, daß unter einer
so außerordentlich großen Zahl von jungen Männern nicht wirklich zuweilen Dinge
vorfallen, die strenge Ahndung erheischen, aber ungerecht ist es, durch das geflissent¬
liche Ausbeuten solcher Einzelfälle dein Offizierstande im ganzen schaden zu wollen
und vom einzelnen Rückschlüsse ans die Totalität zu machen.
Glücklicherweise hat alles seine Zeit, und jetzt schon erfährt das so verschriene
Junkertum die Genugtuung, auch wieder gerecht beurteilt zu werden. Oder sind
etwa die Truppen, welche in Schleswig, Posen, Berlin, Frankfurt a. M., Süd¬
deutschland, Prag, Wien, Italien gesiegt, von andern als solchen Offizieren in den
Kampf geführt worden, die man so freigiebig mit jenem Spottnamen bezeichnet?
Ja, ist die Zeit nicht schon da, wo Leute, die früher am lebhaftesten gegen stehende
Heere und Offiziere im allgemeinen ankämpften und jetzt ihre Theorien durch revo¬
lutionäre Praktiker weit überflügelt sehen, sehr froh sind, daß es doch noch eine
Macht gibt, die dem alles zerstörenden Strome der Anarchie entgegenzutreten
versteht?
Wenn wir aus allen diesen Betrachtungen eine Schlußfolge ziehen sollten, so
würden wir sie in folgendem Satze zusammenfassen: Wem es mit dem Bestehen
einer ehrenhaften und gesitteten Armee Ernst ist, der sollte vor allem darauf be¬
dacht sein, die Gesinnung für Ehrenhaftigkeit und Gesittung unter den Offizieren
lebendig zu erhalten, und damit dies geschehen könne, zu Vorkehrungen die Hand
bieten, welche geeignet sind, alle Vorkommenheiten, die, ohne gerade den gewöhn¬
lichen Strafgesetzen zu verfallen, doch nicht im Einklange mit den Anforderungen
an den Offizierstand stehen, für das Ganze unschädlich zu machen. Weil nun Standes-
oder Ehrengerichte das beste Mittel dazu und also eine Notwendigkeit sind, so ist
der ganze Paragraph 70 gestrichen worden.
Das sind Ausführungen, die noch heute jeden preußischen und deutschen
Offizier mit einem Hochgefühl erfüllen müssen und wohl verdienten, auch
weitern Kreisen bekannt zu werden. Gerade in der heutigen Zeit, wo un¬
ausgesetzt die gehässigsten Angriffe gegen das Offizierkorps erfolgen, sollten
die Worte auf fruchtbaren Boden fallen: „aber ungerecht ist es, durch das
geflissentliche Ausbeuten solcher Einzelfalle dem Offizierstande im ganzen zu
schaden und vom einzelnen Rückschlüsse auf die Totalität zu machen."
Damit sind in der Hauptsache die Gedanken wiedergegeben, die in der
Broschüre niedergelegt sind. Tragen sie auch vornehmlich militärischen Cha¬
rakter und atmen militärischen Geist, werden sie infolgedessen den und jenen
Leser finden, der sich mit ihnen in Einzelheiten nicht einverstanden erklären
kann, so muß doch jeder billigdenkende die Begeisterung, die der Verfasser
seinem Stoffe entgegenbringt, anerkennen, die gründliche Beherrschung bis in
die kleinsten Einzelheiten, die klare Darstellung, die flüssige und eindringliche
Sprache. Ohne in den Verdacht des Byzantinismus zu kommen, darf man
angesichts dieser Schrift ruhig sagen, daß. wenn der Prinz unter die Schrift¬
steller ging, er das mit Fug und Recht, erfüllt von dem Bewußtsein seiner
Fähigkeiten, tun durfte.
u den Sternen am Kunsthimmel, die uns die deutsche Jahr¬
hundertausstellung in der Berliner Nationalgalerie wieder in den
Gesichtskreis gerückt hat. gehört der Wiener Ferdinand Wald¬
müller. Wenn wir heute seine Bilder betrachten, drängt sich
uns die Frage auf: Wie war es möglich, daß ein Meister von
so ausgesprochner Realistik, ein so feiner Naturbeobachter und kühner Pleinairist
w dem künstlerisch so unfreien, in der Süßlichkeit des Rokoko, im unwahren
Pathos des Klassizismus, in der falschen Naivität des Nazarenertums be¬
fangnen Wien der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erstehn und sich
trotz der Teilnahmlosigkeit des Publikums, der Mißgunst der Akademiker und
der Böswilligkeit bornierter Schranzen schließlich durchsetzen konnte? Besäßen
wir von Waldmüller weiter nichts als die Briefe, die der von seinen Lands¬
leuten so schmählich verkannte Künstler an die ..hochlöbliche k. k. Steuer-
Administration" , an den Staatskanzler Fürsten Metternich und den Staats-
nnnister Anton Freiherrn von Schmerling gerichtet hat, so würden wir schon
aus diesen Dokumenten einer stolzen Bescheidenheit und eines unerschütter-
liehen Glaubens an seine Mission erkennen, daß hier, in der fröhlichen
Kaiserstadt, einer der Größten der Zeit im heißen Kampfe gegen Neider und
Banausen um seine Ideale und seine Existenz gerungen hat.
Wir finden diese Briefe abgedruckt in der kürzlich erschienenen Monographie
Ferdinand Georg Waldmüller von Arthur Roeßler (Wien, Karl Graeser
u. Cie.), einem Buche, das in vorzüglich ausgeführten Autotypien nicht weniger
als 130 Gemälde des Meisters wiedergibt und zur Einführung in diese köst¬
lichen Kunstschätze eine kurze Darstellung der Lebensumstände und des Ent¬
wicklungsganges Waldmüllers bietet. Man muß es Rößler als Verdienst an¬
rechnen, daß er sich bei dieser biographischen Einleitung ans das Sachliche
beschränkt und der Versuchung, die einzelnen Bilder ästhetisch zu analysieren,
widerstanden hat. Angenehm berührt auch die Objektivität, mit der er die
Stellung des Meisters innerhalb der zeitgenössischen Kunst beleuchtet, und mit
der er die Grenzen andeutet, die auch diesem Genie gesteckt waren.
Waldmüllers Leben ist bald erzählt. Am 15. Januar 1793 zu Wien
als ein Sohn des Bürgers und Gastwirts Georg Waldmüller geboren, verriet
er schon früh geistige Regsamkeit und schnelle Auffassungsgabe, was die Eltern,
die offenbar unter dem Einfluß einer im Hause lebenden bigotten Tante
standen, auf den Gedanken brachte, ihren Ferdinand „auf einen Geistlichen"
studieren zu lassen. Der Knabe ging jedoch seine eignen Wege, benutzte jeden
freien Augenblick zum Zeichnen, verließ schließlich das Elternhaus und besuchte
anstatt der Lateinschule die Akademie der bildenden Künste. Am seinen Unter¬
halt zu verdienen, bemalte er in dem mit einem Freunde gemeinsam bewohnten
Dachkämmerlein während der Nachtstunden Zuckerwerk. In der Akademie
machte er dabei gute Fortschritte, errang auch schon im zweiten Jahre seines
Studiums den ersten Preis für Zeichnen nach dem Kopf. Die Anfangsgründe
der Ölmalerei erlernte er nebenbei von einem darin dilettierender Schauspieler,
versuchte auch, durch fleißiges Kopieren den alten Meistern ihre Technik ab¬
zusehen. Daneben brachte er es in der Verfertigung der damals sehr beliebten
Miniaturporträts zu großer Virtuosität, sodaß er eine Reise nach Preßburg
wagen durfte, wo er von den dort anläßlich des ungarischen Landtags ver¬
sammelten Vornehmen Aufträge erwartete. Diese Spekulation hatte Erfolg
und brachte ihm außerdem eine Berufung als Zeichenlehrer in das Haus des
Barus von Kroatien, Grafen Gyulay, ein. In Agram, wo er drei Jahre
blieb, fand er keinerlei künstlerische Anregung, wohl aber — und das war
für den jungen Künstler verhängnisvoll — in Katharina Weidner, der ersten
Sängerin des Stadttheaters, eine Gattin, deren Schönheit ihn bezauberte,
deren Charakter aber mit dem seinigen durchaus nicht harmonierte. Das
schlimmste war, daß Waldmüller als Satellit dieser Bühnensonne die Kreuz-
und Querzüge der wandernden Truppe durch ganz Osterreich „ans einem
knarrenden Karren hockend" jahrelang mitmachen und seine Kunst als Deko¬
rationsmaler der Schmiere beendigen mußte. In Brunn wurde dem seltsamen
Paare das erste Kind, der nachmalige bekannte Komponist Ferdinand Wald¬
müller, geboren, der vom Vater das Talent zur bildenden Kunst und von
der Mutter in noch stärkeren Maße die musikalische Begabung geerbt hatte.
Endlich, im Jahre 1817. als Frau Waldmüller ein Engagement am k. k. Hof¬
theater in Wien erhielt, wurde der Maler wieder seßhaft. Aber er hatte in
den sieben Verlornen Jahren viel verlernt und mußte gleichsam wieder von
vorn anfangen. Jetzt tat er aber einen Schritt weiter und versuchte sich in
großen Bildnissen und selbständigen Kompositionen, die wegen ihrer damals
streng verpöntem Realistik auf der Ausstellung von 1822 Aufsehen erregten,
ihm aber eigentlich doch nur Auftrüge auf Kopien berühmter Meister ein¬
brachten. Nachdem er sich von seiner Frau hatte scheiden lassen, reiste er
im Frühjahr 1825 zum erstenmale nach Italien, wo er die Werke der Alten
mit großer Sorgfalt studierte, die Natur aber noch unbeachtet ließ. Nach
einer Reise durch Deutschland im Jahre 1827 errang er den ersten größern
Erfolg mit einem Porträt des Kaisers Franz des Ersten, das von Steinmüller
in Kupfer gestochen wurde. Die Folge davon war. daß die Wiener jetzt bei
dem bekannt gewordnen Maler — Ladenschilder bestellten, deren Kunstwert
sogar von der Presse anerkannt wurde.
Dabei verlor er jedoch sein Ziel nicht aus den Augen. Unter unsäglichen
Mühen suchte er die letzten und tiefsten Geheimnisse der Kunst zu enthüllen.
Und da ist es äußerst merkwürdig, wie er aus der Schule der akademischen
Tradition in die der Natur gelangte. Bei der Ausführung seiner Kopien hatte
er sich bisher immer auf das Figürliche beschränkt, den landschaftlichen Hinter¬
grund aber von einem Freunde, einem Landschafter, ausführen lassen. Da
merkte er eines Tages, daß Figuren und Hintergrund nicht miteinander und
infolgedessen auch nicht mit dem Geiste des Originals in künstlerischem Einklange
standen. „Ich erkannte dies selbst, so bekennt er, und durch diese Erkenntnis
angeregt, ging ich daran, Studien nach der Natur zu machen, welche, da ich
in diesem Fache durch Kopieren noch nicht irregeleitet und verdorben war, sehr
gut gelangen. Jetzt war der Moment erschienen, in welchem der erste Strahl
jenes Lichtes vor mir aufdämmerte, in dessen Glanz ich — leider erst so
spät — die Wahrheit erkennen lernen sollte."
Waldmüller war der Mann, aus einer solchen Erkenntnis die Konsequenzen
SU ziehen, seine bisherigen Anschauungen entschlossen über Bord zu werfen und
auf einem neuen Wege und mit neuen Mitteln seinem Ziele zuzustreben. Die
Entrüstung der Kunstgenossen über den Mann, der die Welt nicht mehr durch
die akademische Brille sehen wollte, wuchs mit seineu Erfolgen, besonders auch,
seit der Ketzer 1830 zum Professor an der Akademie und kurz darauf zum
akademischen Rat und zum Kustos der gräflich Lambergschen Galerie der Akademie
ernannt worden war. Ein Besuch in Paris und das Studium der französischen
Meister konnten ihn jedoch nur in seinen Kunstanschauungen bestärken, obgleich
^ für den Wesensunterschied zwischen der französischen Romantik und seiner
eignen, „auf die schlichte Wiedergabe der Natur gerichteten Bestrebungen" nicht
blind war.
Und so sind denn seine Genrebilder aus dem österreichischen Bauernleben
trotz eines gewissen bühnenmäßigen Arrangements der Gruppen frei von allem
falschen Pathos, dafür aber im Detail von einer überzeugenden Natürlichkeit,
die uns heute noch verblüfft, und die durch das sorgfältig beobachtete und
wiedergegebne Milieu, vor allem auch durch die enge Verbindung mit der
Landschaft gesteigert wird. Ja bei einer Reihe solcher Bilder tritt das
Figürliche mehr und mehr hinter das Landschaftliche zurück, und wir
können an ihnen den Übergang zur reinen Landschaft gleichsam etappenweise
verfolgen.
Man hat in Waldmüller lange Zeit hauptsächlich den Genremaler be¬
wundert. Seine Bedeutung für uns liegt jedoch in seiner Wirksamkeit als
Landschafter und Porträtist. Was er auf diesen Gebieten geleistet hat, stellt
ihn neben die Größten aller Zeiten. In der Darstellung der atmosphärischen
Stimmungen und des Sonnenlichts erscheint er geradezu als ein Bahnbrecher,
neben dem die großen Niederländer verblassen. Er legt nichts in die Land¬
schaft hinein, aber er holt aus ihr heraus, was darin steckt — nicht nur die
Struktur des Bodens und das Vegetationskleid, sondern auch ihre Seele, den
SsruiiZ loci. Da wird nichts frisiert, nichts „schön gemacht", nichts „aus
künstlerischen Gründen" weggelassen oder hinzugetan, und eben deshalb wirken
diese Bilder wie Ausblicke in die Natur selbst. Und wie versteht Waldmüller
die Bäume zu malen! Von dem berüchtigten akademischen „Baumschlag", der
jeden Baum nach einer bestimmten Schablone behandelte, ist da nichts zu spüren.
Hier sehen wir Baumindividualitäten, die in der Welt nur einmal vorkommen
können, deren Eigenart aber so fein erfaßt und mit so wundervoller Charakteristik
wiedergegeben ist, daß sie als typische Repräsentanten ihrer Gattung erscheinen.
Ob Waldmüller nun die Tannen am Waldbach Strubb oder die Olivenbäume
bei Riva oder die Buchen im Wiener Walde oder endlich die Eichen und Silber¬
pappeln der Praterauen malt — immer gibt er Baumporträts, die den Be¬
schauer wie Bildnisse lieber Bekannten anmuten.
Es ist für den Künstler bezeichnend, daß er auch Menschenbildnisse mit
reichem landschaftlichen Hintergrund geschaffen hat. Auf zweien der in dem
Buche reproduzierten Bilder sind die dargestellten Personen untrennbar mit
der Landschaft verbunden: auf dem Familienporträt des Notars Eltz, wo eine
zehnköpfige Gesellschaft bei einer Bergfahrt rastet, und auf dem unter dem
Namen „Die entblätterte Rose" bekannten angeblichen Bildnis der Sängerin
Malibran, die in träumerisch-nachlässiger Haltung auf der Steinbank eines
südlich-üppigen Terrassengartens sitzt. Zwischen diesem Garten und dem im
Hintergrunde aufsteigenden Hochgebirge dehnt sich ein Tal, aus dessen Grunde
der Spiegel eines Sees aufleuchtet. Es liegt etwas wie die Stimmung aus
Mignons Sehnsuchtslied über diesem Bilde, nicht zum wenigsten über Gestalt
und Zügen des reizenden jungen Weibes, das man gerne für die so früh
dahingegangne Künstlerin zu halten geneigt ist.
Wcildmüllers Porträts sind köstliche Dokumente zur Zeitgeschichte, ob sie
nun würdige, von ihrer Bedeutung überzeugte Herren oder blühende Frauen
und Mädchen von spezifisch wienerischer Anmut darstellen. Das Bildnis des
Fürsten Rasumoffski mit dem wunderbar durchgeistigten Kopf wird gewöhnlich
als die Krone aller Porträts des Meisters bezeichnet; vielleicht geht man
aber nicht fehl, wenn man ihm zwei Matronenbildnisse an die Seite stellt:
das einer Frau Schaumburg und das einer Edlen Mannagetta von Lerchenau.
Hier die alte Aristokratin, deren Selbstbewußtsein durch einen leisen Anflug
von Gutmütigkeit und Humor gemildert wird, dort die behäbige Bürgersfrau,
der man es anmerkt, wie sehr sie unter dem Eindruck des Gemaltwerdens steht.
Es war Waldmüllers Schicksal, daß er die künstlerischen Wahrheiten, die
er in heißem Kampfe errungen hatte, auch der Menschheit nutzbar machen
wollte und sie in einer für Altwiener Verhältnisse revolutionären Weise in
Wort und Schrift verfocht. Die Folge davon war, daß ihn die von ihm an¬
gegriffnen Akademiker beim Senat denunzierten und seine Pensionierung mit
halbem Gehalt durchsetzten. Erst als dem Künstler vom Auslande die ver¬
dienten Anerkennungen und Ehrungen zuteil geworden waren, gelang es seinem
Gönner, dem Staatsminister von Schmerling, ihm eine Audienz beim Kaiser
Zu verschaffen, der den so lange Verläumder rehabilierte, ihm den Franz-
Joseph-Orden verlieh und ihm die volle Pension anwies. Ein Jahr später,
am 23. August 1865, schloß Waldmüller die Augen — auch darin ein echter
Künstler, daß ihm das Schicksal den ruhigen Genuß eines späten Glücks nicht
gö
San Francisco, den 30. Juni 1901
eins eine Heldin am Abend vor der Schlacht! Ich schreibe dies in
einem kleinen, dumpfen Hotelzimmer, und ich wage nicht, für eine
Minute mit Pfeifen aufzuhören. Man könnte meine Courage mit
einer Briefmarke bedecken. Morgen früh segle ich nach dem Königreich
der Blumen, und wenn die Rosen etwa schon darauf warten, um
auf meinem Pfade zu sprießen, so ist das mehr, als sie in den letzten
paar Jahren hier getan haben.
Als der Zug aus dem heimatlichen Bahnhof dampfte, und ich die vielen
«eben traurigen Gesichter verschwinden sah, da empfand ich wohl für einige Augen¬
blicke die Bitterkeit des Todes. Alles ließ ich zurück, was mir teuer auf Erden
war; vorwärts gings in die dunkle, unbekannte Zukunft — allein.
Natürlich ist es zu meinem Besten; das Unangenehme ist immer zum Besten.
Du bist verantwortlich dafür, meine geliebte Cousine, und du magst die Folgen
tragen. Du glaubst, meine Rettung sei, Kentucky zu verlassen und mein Glück in
der Fremde zu suchen. Dein zärtliches Feingefühl schrak davor zurück, mich der
Welt preisgegeben zu sehen als eine junge Witwe, die nicht trauert. So schifftest
du mich ein nach irgendeinem Ort östlich von Suez und bandest mich an einen
vierjährigen Kontrakt.
Aber, Kameradin, Hand aufs Herz! ich glaube nicht, daß du mich in deinem
Innersten darum tadeln kannst, daß ich nicht traure. Ich hielt aus bis zum Ende
und trotzte den Vernachlässigungen, den Demütigungen, den angstvollen Tagen und
Nächten und verlor in der Anstrengung, meine Pflicht zu tun, fast die Achtung vor
mir selbst. Als aber der Tod cilledem plötzlich ein Ende machte — Gott allein
weiß, was das für eine Erlösung war!
Und wie wunderbar hat sich alles gefügt! Erst der Kindergartenkursus, den
ich besuchte, dir zu Gefallen, und um meine Gedanken von Dingen abzulenken, die
nie hätten sein sollen. Dann meine unerwartete Befreiung von den Fesseln, die
entsetzliche Weise, wie alles stattfand, meine unangenehme Stellung und Ab¬
hängigkeit — dann, mitten in alles hinein dieses unerwartete Anerbieten, nach
Japan zu gehen und in einer Missionsschule zu unterrichten!
Ist es nicht lächerlich, Gefährtin? Gab es je etwas so Absurdes als mein
Los bei den Missionaren? Ich, die ich nie ein einziges Kentuckyrennen verpaßt
habe, seit ich alt genug war, einen Schimmel von einem Fuchs zu unterscheiden!
Es scheint, daß mich die alte Parzendame nicht zu einem einseitigen Theaterstern
ausbilden will. Denn achtzehn Jahre lang habe ich reine Komödie gespielt, dann
Tragödie sieben lange Jahre, und nun soll ich eine Charakterrolle geben.
Niemand soll je wissen, was es mich gekostet hat, zu gehen. Alle waren so
sehr dagegen, aber es scheint mir, daß ich mein ganzes Leben lang den Wünschen
meiner Familie entgegengehandelt habe. Und doch würde ich mein Leben hingeben
für jedes Glied unsrer Familie. Wie haben sie mir doch beigestanden und mich
geliebt durch alle meine blinden Dummheiten hindurch! Sicherlich waren meine
Fehler ebenso groß wie die andrer Leute.
Und nnn noch die Geschichte mit Jack. Du weißt, wie es immer mit ihm
gewesen ist, schon als ich ein kleines Mädchen war bis zum Tage, wo ich mich
verheiratete. Von da an hat er mich nicht mehr angesehen, aber er stand mir bei
und half, stumm und fest. Wenn es nicht um deinet- und um seinetwillen ge¬
wesen wäre, so hätte ich schon längst ein Ende mit mir gemacht. Aber nun ich frei
wurde, fing Jack gerade da wieder an, wo er vor sieben Jahren aufgehört hatte.
Es ist mehr als nutzlos; ich bin für immer und ewig fertig mit Liebe und jeg¬
lichem Gefühl. Natürlich wissen wir alle, daß Jack das Salz der Erde ist, und
es bringt mich beinahe um, ihm Schmerzen zu bereiten, aber er wird sich darüber
hinwegsetzen — das tun sie alle —, und es wird besser für ihn sein, ohne mein
Dabeisein zu genesen. Ich habe ihm das Versprechen abgenommen, mir nie eine
Zeile zu schreiben. Da guckte er mich bloß an in seiner ruhigen, kritischen Art
und sagte: Gut, aber bitte vergiß nicht, daß ich warte, bis du bereit bist, das
Leben mit mir noch einmal von vorn anzufangen.
Ich bitte dich, es würde ja der Todesstoß all seiner Hoffnungen sein, wenn
er mich heiratete. Mein Witwenscherflein besteht in einem verkrachten Leben,
einigen Schulden und dem menschlichen Bewußtsein, daß ein prächtiger, junger Arzt
wie er nicht das Recht hat, alle seine Chancen wegzuwerfen, um ein kleines Hospital
für unheilbare Kinder zu gründen. Ich knirsche mit den Zähnen, wenn ich daran
denke, daß er seinen langgehegten Traum, in Deutschland zu studieren, aufgeben
will, um Land für das Krankenhaus kaufen zu können.
Ach ich weiß daß du es für groß und edel hältst, und daß es schrecklich von
mir ist, so anders zu sühlen. Mag wohl sein! Jedenfalls wirst du zugeben, daß
ich. indem ich euch verlasse, endlich einmal das Rechte getan habe. Es ist, als ob
ich ein Klecks in der Landschaft gewesen sei, der nun mit deiner Hilfe entfernt ist.
Inzwischen flehe ich zum Himmel, mein Herz möchte verknöchern.
Die einzige Kraft, die mich nun noch in Schwung erhält, das ist dem Glaube
an mich. Du hast immer behauptet, daß ich doch etwas wert sei. trotzdem ich
hartnäckig das Gegenteil bewiesen habe. Grant dir nicht vor dem Wagnis? Denke
an die Verantwortlichkeit, die du übernimmst, etwa als Bürge für mich vor einer
Missionsversammlung stehen zu müssen. Ich will so stramm zugekorkt dastehn, als
ich nur irgend kann, aber gesetzt den Fall, der Pfropfen knallte doch los!
Arme Gefährtin, es war nicht freundlich von Gott, mich dir als Cousine
zu geben.
Schwamm drüber! Es ist geschehen, und wenn du dies erhältst, bin ich schon
weit auf meiner Seekräuter Reise. Ich getraue mir nicht, dir Grüße an die Familie
aufzutragen. Kaum wage ich, dir selbst einen Gruß zu senden. Ich bin em
Soldat und salutiere meinem vorgesetzten Offizier!
An Bord, den 8. August 1901
Es ist so windig, daß ich kaum mein Papier niederhalten kann, doch ich will
einen Versuch macheu. In der ersten Nacht an Bord war ich für mich allein.
Wir waren achtzehn Kabinenpassagiere an Bord. Sehr stürmisch war es, aber ich
blieb oben, solange ich konnte. Die Geister der Niedergeschlagenheit schwärmten so
dicht um mich herum, daß ich sie nicht in dem engen Quartier meines Staats¬
zimmers bekämpfen mochte. Aber endlich mußte ich doch hinunter, und es folgte
eine Schreckensnacht. Ein entsetzlicher Sturm raste, das Schiff schaukelte, stöhnte,
das Wasser brauste gegen die Luken; mein Koffer spielte Hases mit meinen Schuhen,
und meine Kiste rannte um das Zimmer herum wie eine Ratte, die ihr Loch sucht.
Ich hörte, wie oben die Befehle des Kapitäns die Antwortrufe der Matrosen über¬
tönten, wie Männer und Frauen in panischen Schrecken durch die Gänge eilten.
So lag ich die Nacht hindurch in der obern Koje und rief mir die unglück¬
lichen Nächte der sieben letzten Jahre ins Gedächtnis zurück. Enttäuschung. Herzeleid,
grausames Erwachen Abschen: so kam eins nach dem andern in schweigender Folge.
Jede zärtliche Erinnerung, jedes frühe Gefühl, das noch in meinem Herze.: ver¬
weilt haben mag. wurde unbarmherzig hingemordet durch die stärkere Erinnerung
?» die Leide». Der Sturm draußen war nichts gegen den Sturm in meinem
Herzen. Das Schicksal des Schiffes war mir gleichgiltig, mochte es segeln oder
stranden: einerlei für mich. ,
,
Als der Morgen kam. war etwas mit mir geschehen. Ich weiß nicht, was
es War; meine Vergangenheit schien in gewisser Weise jemand andern anzugehören.
Ich hatte endlich die alte Last abgeworfen und war ein neuer Mensch in einer
neuen Welt
. Ich setzte meine hübscheste Mütze auf. zog den langen Mantel an und begab
»'ich auf Deck O meine Beste, wenn du bloß den Anblick gesehen hattest, der
s"h mir darbot! Eine Schar lahmer, elender Menschen! Erbsengrün sahen sie aus
wie gelb dazwischen und einer schwarzen Linie unter den Augen, bleich um die
Lippen und schwach in den Knien. Es gab nur noch ein weibliches Wesen außer
'">r, das nicht seekrank war, und das war eine Missionärin mit kurzen Haaren und
einer Riesennase. Sie ging auf Deck umher, verteilte Traktate und fragte die
Leute, ob sie Christen seien.
Als ich herauskam, probierte sie es gerade mit einem großen, niedergeschlagen
aussehenden Fremden, der in einer Ecke kauerte: Bruder, bist du ein Christ?
Nein nein, murmelte jener ungeduldig. Ich bin Norweger. Was dem Mann
aber fehlte, war ein Schnaps; jedoch war es nicht an mir, dies vorzuschlagen.
Ich schäme mich fast, zu gestehn, daß ich täglich drei tüchtige Mahlzeiten mache,
und zwischendrein knurrt mir dennoch der Magen gerade wie Mark Twains kleinem
gelben Hunde. Nicht weit von mir bei Tisch sitzen vier ältere Herren und ein
junger Deutscher. Sie sind groß im Geschichtenerzähler, und ich selbst habe schon
alle meine, alle deine und einige, die ich improvisierte, zum besten gegeben. Einer
der alten Herren ist Missionar; und als er herausfand, daß ich weitläufige
Konnexionen mit der „Herde" habe, nannte er mich sofort „Liebe Schwester".
Wäre ich zu Hause, so würde ich ihn „Lieber Pa" nennen, aber hier trage ich mein
bestes Betragen zur Schau.
Die Speisen sind ziemlich gut, nur manchmal so scharf gewürzt und gepfeffert,
daß es mir den Atem benimmt. Mein kleiner chinesischer Kellner ist ein wenig
zu sehr um mein Wohl besorgt. Alles Protestieren bringt ihn nicht dazu, mir
meinen Teller zu lassen, bis ich aufgegessen habe. Nach ein paar Bissen entreißt
er ihn mir und bringt den nächsten Gang. Er nötigt zu Speisen aller Art und
besteht darauf, daß ich alle Spalten und Löcher mit Nüssen und Rosinen ausfülle.
Und nachdem ich gegessen und gestopft habe, sieht er mich an und sagt bedauernd:
Missy krank, nicht ißt!
Noch eine andre Person ist ebensosehr um mich besorgt. Der kleine Deutsche
beobachtet jeden meiner Bissen mit großen, feierlichen Augen und besteht darauf,
mir vorzulegen. Er sieht verdutzt aus, wenn jemand eine lustige Geschichte erzählt,
und verlangt manchmal nach einer Erklärung. Er ist zweimal um die Welt ge¬
fahren und geht nun auf drei Jahre nach China zur Gesellschaft für wissenschaft¬
liche Forschung. Ich glaube, er hält mich für die größte Kuriosität, die er bis
jetzt auf seinen Reisen getroffen hat.
Das größte, aufregendste Erlebnis unsrer Fahrt war ein Tag in Honolulu.
Ich hätte vor Freuden jauchzen mögen, als wir Land erblickten. Die Bäume und
das Gras erschienen mir nie so wunderschön wie an jenem Morgen in strahlendem
Sonnenschein. Das Landen nahm ein paar Stunden in Anspruch wegen der vielen
Formalitäten und Umstände, die gemacht wurden. Außerdem gab es noch eine
Extraverzögerung, deren unschuldige Ursache ich selbst war. Der Quarantänearzt
inspizierte das Schiff. Ich sah ihm zu, wie er die Auswandrer untersuchte, und
fühlte inniges Mitleid mit den armen, kleinen, elenden Kindern, die da unten
herumwimmelten. Nachher fand ich eine stille Ecke auf dem Schutzdeck, in die ich
mich verkroch, und von wo aus ich die eingebornen Knaben beim Schwimmen be¬
obachtete. Ihre bronzebrauner Körper glänzten im Sonnenschein unterm Wasser.
Sie spielten darin herum wie ein Haufen Delphine. Ich muß wohl eine Stunde
lang dort gewesen sein; denn als ich herunterkam, herrschte große Aufregung an
Bord. Ein Passagier wurde vermißt, und alle mußten warten, während man das
Schiff durchsuchte. Schon wollte ich mich mit aufregen, als plötzlich der Zahlmeister
heraufkam, ein ernster, eleganter Mann, und auf mich losstürzte: Sind Sie untersucht
worden? fragte er strenge, mich vom Kopf bis zum Fuß messend. Nicht mehr, als
Sie es eben tun, antwortete ich bescheiden. Kommen Sie mit! sagte er.
Ich bat ihn, mir doch zu sagen, ob er mich über Bord werfen wolle, aber
er war zu sehr erfüllt von seiner Wichtigkeit, um auch nur zu lächeln. Er übergab
wich dem Arzt mit den Worten: Hier ist die Frau, die die Verzögerung ver¬
anlaßte. Frau! Ich danke! Aber ich sollte noch mehr zerknirscht werden; denn
der Doktor sah über seine Brillengläser weg und sagte: Nanu! Wie konnte man
bloß so was übersehen!
Aber nun Honolulu! Es wundert mich gar nicht, daß die Leute darüber in
Ekstase geraten. Es ist, als ob die Künstler aller Welt ihre Farben auf diesen
einen Fleck verschwendet hätten, und als ob die Natur sie dann zusammengestellt
lMte nach ihrem eigensten süßen Willen. Ich überlegte mir lange, ob ich nicht
etwa gestorben und in den Himmel gekommen sei. Wundervolle Palmen und
tropische Ranken und Reben, niederhängend in sanft träumender Stille, die mir
wie Wein zu Kopfe stieg.
Mit zwei alten Damen und einem Dakotamädchen machte ich mich auf den
zur Stadt, aber der „liebe Pa" und „Klein-Deutschland" kamen auch mit.
^ Gefährtin, wie ich mich nach dir sehnte! Am liebsten hätte ich alle diese wunder¬
lichen alten Kreaturen in einen Knäuel zusammengebunden und ins Meer geworfen!
Das Mädchen aus Süddakota ist ein wenig besser, aber, denk nur, auch sie trägt
eine Jerseyjacke!
Es gibt wirklich auch elegante Leute an Bord, aber ich wage es nicht, mich
^n sie heranzumachen. Sie spielen immerzu Karten, und wenn ich in ihrer Nähe
verweilen würde, so wäre ich sicher verloren. Hab keine Angst, ich will meine
Rolle schon spielen, aber eins schwöre ich hiermit: danach anziehen werde ich
wich nicht!
Immer noch an Bord, den 18. August
^ Diesen Brief schreibe ich in meiner Koje hinter zugezognen Vorhängen. Nein,
'es bin nicht ein bißchen seekrank, nur sehr populär. Eine der alten Damen lehrt
wich stricken, die kurzhaarige Mijsionarin liest mir vor, das Dakotamädchen hält
meine Füße warm zugedeckt, und der „liebe Pa" und „Klein-Deutschland" bedienen
wich beim Essen.
Der Kapitän hat ein großes Wasserbehältnis für die Damen aufstellen lassen,
so kann ich jeden Morgen ein kaltes Bad nehmen. Das erinnert mich an die
alten Zeiten im Landhaus droben am Kap. Was hatten wir doch für eine fürst¬
liche Zeit jenen Sommer, und was waren wir jung und albern! Es waren die
letzten guten Tage für lange Zeit — aber lieber nichts davon.
Gestern abend hatte ich ein Abenteuer oder wenigstens so was ähnliches.
W saß oben auf Deck, als der „liebe Pa" vorbeikam und mich aufforderte, mit
u)in auf und ab zu gehn. Nach einigen Rundgängen setzten wir uns auf die
Stufen am Lotsenhans. Der Mond war so groß wie ein Wagenrad, das Meer
Stanzte wie flüssiges Silber, und der fliegende Fisch spielte im Schatten Versteckens.
??es hatte den „lieben Pa" ganz vergessen und ließ meine Gedanken wandern, wohin
sollten, als er sich auf einmal nach mir umwandte und sagte: Ich hoffe, es ist
^sum nicht lästig, mit mir zu reden. Ich bin sehr, sehr einsam. Da glaubte ich
gefährliche Symptome zu erkennen, und als er gar anfing, mir von seinen lieben
Helmgegangnen zu erzählen, wußte ich, daß es Zeit sei, mich davonzumachen.
Sie haben es ja auch durchgemacht, sagte er, Sie können mir nachfühlen.
^ Ich faltete meine Hände im Dunkeln. Wir suchen beide eine Lebensarbeit im
Minden Lande ... fing er von neuem an, aber eben da kam der Zahlmeister vorbei,
^einahe stolperte er über uns in der Dunkelheit, und als er mich und meinen
ältlichen Freund erkannte, lächelte er tatsächlich! Daß du es nicht etwa wagst, Jack
wehe Geschichte zu erzählen; ich würde endlos damit geneckt werden.
Kannst du es ausdenken, das; ich drei ganze Wochen von zu Hause weg bin?
Ich kanns, jede Sekunde davon! Manchmal, wenn ich stillstehe, um darüber nach¬
zudenken, was ich vorhabe, zerspringt mir fast das Herz. Aber wer weiß, ich bin
das Herzweh nun schon so gewohnt, daß ich mich ohne es vielleicht einsam
fühlen würde.
Wenn ich nur dem entspreche, was man von mir erwartet, wenn ich nur die
Stücke meines verkrachten Lebens auflesen und zusammenflicken kann zu einem an¬
ständigen Ganzen, sodaß dn dich nicht mit mir zu schämen brauchst, so will ich
ganz zufrieden sein.
Das erste Fremdwort, was ich gelernt habe, ist ^lokavs! das heißt „meine
innigsten Grüße!" Ich sende es dir voll zärtlichster Bedeutung. Gott segne und er¬
halte euch alle und führe mich znriick zu euch als ein weiseres und besseres Geschöpf.
Kobe. den 18. August 1901
Tatsächlich in Japan! Ich kann es kaum glauben, obgleich alles um mich her
fremdartig ist. Heute morgen kam ein Boot um den Dampfer heran und brachte
Miß Lessing und Miß Dixon, die beiden Missionarinnen, in deren Schule ich unter¬
richten soll. Ich muß gestehn, als ich sie sah, rutschte mir das Herz in die Stiefel.
Ihres hat gewiß dasselbe getan; denn wir standen da und sahen einander dermaßen
perplex an, als ob wir von verschiednen Planeten kämen. Der Unterschied begann
bei unsern Stiefeln und erstreckte sich bis hinauf zum Hute. Sogar die Sprache,
die wir gebrauchen, schien verschieden, und als ich mir die Aussicht, mit solchen
absolute» Fremdlingen zu leben, klar machte, fühlte ich die größte Lust, über Bord
zu springen.
Auf einmal erschienen mir meine Mitreisenden sehr liebenswert, und ich hing
an allem, was der alte, gute Dampfer trug, als an dem letzten Band, das mich
an Amerika knüpfte.
Als wir die Laufplanke hinuntergingen, wurden mir Bruder Mason und
Bruder Colemcm vorgestellt, und wir landeten alle zusammen. Ich fühlte mich der
ganzen Welt gegenüber wie ein Verbrecher, der zu vier Jahren Verbannung ver¬
urteilt ist. Sobald wir das Hotel erreichten, flüchtete ich auf mein Zimmer und
warf mich ans mein Bett. Ich heulte zwei Stunden fünfunddreißig Minuten, dann
stand ich auf, wusch mein Gesicht und guckte zum Fenster hinaus.
Draußen war alles so fremdartig und malerisch, daß ich interessiert war, ehe
ich minds versah. Nach einer Weile kam Miß Lessing herein. Jetzt, wo sie ohne
Hut war, sah ich, daß sie ein sehr liebes Gesicht hatte, hübsches dunkles Haar und
ein lustiges Zwinkern im Augenwinkel, was mich sofort an dich erinnerte. Sie
erzählte mir, wie sie als junges Mädchen nach Japan gekommen und die Schule
gegründet hätte, und was sie alles gern dafür tun mochte. Dann fuhr sie fort: Ihr
Kommen ist die direkte Erhörung meiner Gebete. Es war bis jetzt mein liebster
Traum, einen Kindergarten für die Kleinen zu haben; es ist fast zu schon, um
wahr zu sein, daß sich mein Traum nun erfüllt. Dabei sah sie mich mit ihren
hübschen, glänzenden Augen so dankbar und begeistert an, daß ich mich meiner
voreiligen Gefühle schämte.
Später kam auch Miß Dixon herauf, und sie saßen beide da und guckten mir
zu, wie ich meinen Koffer auspackte. Schott nach zwei Minuten hatte ich heraus, daß
sie gerade wie alle andern Frauen Putz und hübsche Sachen gern hatten, und da>!
sie auf Neuigkeiten aus der Welt begierig waren. Sie examinierten all die zierliche
Wüsche, die meine Schwester für mich genäht hatte, beflaumten die Schühchen mit
hohen Absätzen und lachten über meine weiten Ärmel.
Wann wollen Sie bloß all diese entzückenden Sachen anziehn? fragte Miß
Dixon. Und wieder sank mir das Herz; denn sogar mein einfacher Kleidervorrat, fürs
sehnlicher berechnet, schien merkwürdig verschwenderisch und hier nicht am Platze.
Aber das muß ich dir noch einmal versichern, Kameradin, daß ich — und
wenn ich tausend Jahre hier bliebe — nie auf Jerseyjacken und achtjährige Hüte
herunterkommen will! Ich habe vor, auf eine gute Modenzeitung zu abonnieren,
damit ich wenigstens in Rufweite der Mode bleibe.
Es ist noch zu heiß, zur Schule hinunter zu fahren. Darum gehn wir noch
eine Woche in die Berge, ehe wir für das Herbstvterteljahr aufbrechen.
"
Der „liebe Pa" und „Klein-Deutschland waren zweimal hier innerhalb drei
Stunden, aber ich sah sie kommen und entschlüpfte. Briefe von daheim werden nicht
vor der nächsten Woche ankommen, und ich kann die Zeit kaum abwarten. Ich
bilde mir immer wieder ein, daß ich auf Besuch bin und bald zurückkehre. Ich lege
Sachen beiseite, um sie dir zu zeigen, und fange schon an, Geschenke für die Heimkehr
zu kaufen. Hab noch ein gut Teil zu lernen, nicht wahr?
(Fortsetzung folgt)
Wie zu erwarten war. ist in der vergangnen Woche für das Schicksal der
Reichsfinanzreform noch nichts entscheidendes geschehen. Und wahrscheinlich wird
man sich auch noch verhältnismäßig lange gedulden müssen, ehe die Entscheidung
fallt. Das Kompromiß hat zunächst die Folge gehabt, daß in weiten Kreisen die
Einsicht gestärkt worden ist, daß die Frage einer für die Zwecke der Reichsfinanz¬
reform geeigneten Besitzbesteuerung ohne die Rückkehr zu einer Heranziehung der
Hinterlassenschaften in irgendeiner Form nicht zu lösen sein wird. Diese grund¬
sätzliche Überzeugung muß sich durch das Scheitern andrer Vorschläge erst noch
weiter befestigen; eher kommen wir bei der demagogischen Verhetzung, der gerade
sonst Staatstreue und nüchterne Bevölkerungskreise in dieser Frage unterlegen sind,
nicht weiter. Und erst wenn das Prinzip als notwendig erkannt worden ist. wird es
möglich sein, eine Form zu finden, die auch denen genügt, die in dem bezeichneten
Ausweg aus den Schwierigkeiten zwar eine Notwendigkeit, aber allerdings ein not¬
wendiges Übel erkennen. Es ist also ganz richtig, was unlängst ein liberales Blatt
schrieb, daß der Kampf um die Nachlaßsteuer jetzt überhaupt erst anfängt.
Nach den Triumphgesängen, die in der agrarischen Presse schon über den
endgiltigen Fall der Nachlaßsteuer angestimmt wurden, muß das zähe Festhalten
der Regierungen und eines großen Teils der Presse an dem scheinbar in den
Orkus geworfnen Projekt die Agrarier in großen Zorn versetzen. Der Kampf
wird deshalb augenblicklich wieder mit besondrer Erbitterung geführt. Das uner¬
freuliche dabei ist, wie schon mehrfach an dieser Stelle betont worden ist. die Er¬
scheinung, daß die demagogischen Methoden immer mehr auch in Kreise getragen
werden, deren Stolz es sonst war, mit reinlichem Waffen zu kämpfen. Auf jede
Weise wird in den agrarischen Kreisen die Abneigung gegen das Prinzip der
Nachlaßsteuer genährt. So wird sie mit Vorliebe als eine Besteuerung der
Witwen und Waisen bezeichnet. Diese Bezeichnung steht genau auf derselben Linie
mit Schlagwörtern wie „Ausbeutung" im Munde der Sozialdemokraten gegenüber
den Arbeitgebern oder „Brotwucher" im Munde der freihändlerischen Liberalen
gegenüber den Agrariern. Es ist die gleiche Methode, durch die Wahl des Aus¬
drucks irrezuführen und Gehässigkeit zu erregen. Wenn man von Besteuerung der
Witwen und Waisen spricht, so denkt jedermann daran, daß besonders hilfsbe¬
dürftige Geschöpfe, die ohnehin Gegenstand des Mitleids sind, belastet und bedrückt
werden sollen. Diese Vorstellung soll erzeugt werden, um von dem Nachdenken
über die Wahrheit abzulenken, die darin besteht, daß die Witwen und Waisen
— diese bedrängten Waisen sind zum großen Teil recht hübsch ausgewachsne
Leute in selbständigen Lebensstellungen, die oft mehr Einkommen beziehen als der
Vater — allerdings insofern besteuert werden, als sie im Falle einer ihnen zu¬
fallenden größern Erbschaft von diesem Besitz einen lächerlich geringen Prozentsatz
abzugeben haben. Die Nachlaßsteuer bringt keinen Menschen in größere Not, als
er schon ist, da sie von einem Besitz, der so klein ist, daß er eine wirkliche Not¬
lage darstellt, überhaupt nicht erhoben wird, bei einer kleinen Hinterlassenschaft
jedoch, die über die untere Grenze der Besteuerung hinausgeht, aber immer noch
bescheiden ist, in einer so geringen Höhe zu leisten ist, daß eine merkbare Ver¬
änderung in der materiellen Lage gar nicht eintreten kann. In einer kürzlich aus-
gefochtnen Preßfehde ergriff der zweite Vorsitzende des Bundes der Landwirte,
Dr. Rösicke, selbst das Wort, um die Behauptung seines Gegners, alle wirk¬
lichen Gründe gegen die Nachlaßsteuer seien längst widerlegt, zu bestreiten. Man
konnte auf diese Ausführungen wirklich neugierig sein, da der ganze Aufsatz,
wie hervorgehoben werden muß, sehr sachlich gehalten war. Um so mehr mußte
auffallen, daß alle Einwände, die gegen die Nachlaßsteuer vorgebracht wurden,
gegen Einzelheiten der bisher gemachten Vorschläge gerichtet waren. Daraus
folgte nichts für die grundsätzliche Stellungnahme; denn die unbesehene An¬
nahme des Regierungsentwurfs hat auch den Agrariern niemand zugemutet.
Grundsätzlicher Art war nur die Meinung, daß die Nachlaßsteuer die Möglichkeit
öffne, den Besitz so stark zu belasten, daß die Besteuerung einer Konfiskation
des Privateigentums gleichkomme. Das könne jederzeit eintreten, sobald sich
im Reichstage eine demokratische oder sozialistische Mehrheit dafür finde. Der
Widerstand dagegen sei schwerer, sobald der erste Schritt einmal getan sei. Es
liegt auf der Hand, daß dieses Argument gegen jede Steuer ins Feld geführt
werden kann. Jede einmal eingeführte Steuer kann natürlich erhöht werden,
wenn es die Gesetzgeber für richtig halten. Ja mit diesem Argument kann
die ganze Reichsfinanzreform überhaupt lahmgelegt werden. Man braucht ja nur
zu sagen: „Das Reich fordert jetzt eine halbe Milliarde; wir wollen aber nichts
bewilligen, denn wir können ja nicht wissen, ob man nicht in Zukunft mit den¬
selben Gründen eine ganze Milliarde fordert, und das ist uns zu viel." Eine solche
Argumentation führt auf einen völlig unhaltbaren Standpunkt. Dr. Rösicke meint
zur Verteidigung der agrarischen Auffassung, man weise die Agrarier darauf hi»i
daß die Ablehnung der Nachlnßsteuer ihnen ja doch keine Sicherheit gegen ihre
spätere Annahme durch eine demokratische Reichstagsmehrheit böte; das käme ihm
geradeso vor, als ob man die Unterwerfung unter eine Nachbarmacht empfehle,
weil man ja doch nicht wissen könne, ob man nicht später einmal dazu gezwungen
sein werde. Das mag ja eine dialektisch geschickte Erwiderung sein, aber sie be¬
gründet das Verhalten der Agrarier nur taktisch, nicht materiell. Der Vergleich
paßt nicht; denn warum man sich einer fremden Macht nicht ohne Kampf und
äußersten Zwang unterwirft, das weiß jeder ohne Auseinandersetzung; aus welchen
sachlichen und wirklich haltbaren Gründen jedoch die Agrarier gegen die Nachla߬
steuer sind, das wollen wir doch erst noch erfahren. Wenn uns jetzt die Antwort
gegeben wird: „Wir lehnen bestimmte Forderungen ab, weil wir uns einbilden,
daß eine andre Reichstagsmehrheit vielleicht in Zukunft ganz andre Forderungen
bewilligen könnte" — so beweist das sachlich absolut gar nichts gegen die jetzt
gestellten Forderungen. Der logische Zusammenhang kann überhaupt nur künstlich
dadurch hergestellt werden, daß die heute tatsächlich vorliegenden Steuerprojekte auf
dem Gebiete der Nachlaß- und Erbschaftssteuer und die von der Zukunft be-
fürchteten Schritte auf demselben Gebiete theoretisch in die gleiche Rubrik gehören.
Damit kommt man aber in der praktischen Politik überhaupt nicht Wetter. Zur
Zeit unsrer Vater waren die strengen Konservativen der Meinung, daß eine ver¬
fassungsmäßige Abgrenzung der monarchischen Rechte zur Republik führen müsse;
heute steht trotzdem die Monarchie in Deutschland fester denn je. Wenn man ferner
heute aus unsern Staatseinrichtungen alles entfernen wollte, worin die theoretische
Betrachtung prinzipielle Anfänge des Sozialismus oder eine Verwandtschaft mit
sozialistischen Ideen erkennen muß, so würden wir unser öffentliches Leben bis zur
Unkenntlichkeit umformen müssen. Solche Beispiele ließen sich häufen. In der
Wirklichkeit gibt es eben keinen Staat, der ein Prinzip, eine Idee ausschließlich
verwirklichen könnte. In der Einbildung, daß das möglich ist, liegt ja der schäd¬
lichste und gefährlichste Irrtum der Sozialdemokratie. Wenn daher jemand, statt
bestimmte Gründe anzuführen, einen politischen Vorschlag nur dadurch diskreditieren
will, daß er erklärt, es sei der erste Schritt zum Sozialismus oder irgendeinem
andern „Ismus", so steht es immer schief um solche Beweisführung. Ist sie ehrlich
gemeint, so beruht sie auf einem unzureichenden Urteil; andernfalls dient sie dema¬
gogischen Zwecken.
In dem Suchen nach den ernsthaften Gründen der Agrarier gegen die Nach¬
laßsteuer ist der Gedanke in den Vordergrund getreten, daß die Feststellung des
Nachlasses von Amts wegen für den Grundbesitz besonders unangenehm sein müsse,
weil sie jeden Fehler bei der Vermögenseinschätzung und Steuerveranlagung rück¬
sichtslos an den Tag bringe. Professor Hans Delbrück hat das in einer den Zorn
der Agrarier besonders reizenden Form in verschiednen Artikeln zum Ausdruck ge¬
bracht und den Anlaß zu einer heftigen Fehde gegeben. Wie sich die «sache in
Wirklichkeit verhält, ist nicht so leicht und einfach zu erkennen. Daß die Veran¬
lagung zur Vermögenssteuer in Preußen hinter dem Betrage zurückbleibt, der sich
°us einer genau zutreffenden Einschätzung der steuerpflichtigen Vermögen ergeben
müßte, scheint richtig zu sein, und ebenso ist es wohl unzweifelhaft, d"ß iach Ein¬
führung der Nachlaßsteuer die Differenz zwischen Veranlagung und Wirt lebte.t
allmählich sehr viel geringer sein würde. Der Grundbesitz hat diese Wirkung
sicherlich mehr zu fürchten als das mobile Kapital, weil die dem Staat einmal
erteilte Befugnis, Einblick in die Wertverhältnisse des Grundbesitzes zu gewinnen,
hier viel gründlicher und schärfer wirkt als gegenüber dem beweglichen Kapital,
das sich einer zutreffenden Schätzung immer leichter entziehen kann. Und dann
hat der Grundbesitzer kein Interesse daran, daß der Wert von Grund und Boden
höher als nötig eingeschätzt wird, während die Nachteile, die das mobile Kapital
durch eine erhöhte Schätzung treffen, durch erhöhten Kredit ausgeglichen werden
können. Aber so groß sind die Unterschiede nicht, daß aus der ungleichen Lage
der beiden Besitzkategorien ein durchschlagender Grund gegen die Nachlaßstener
abgeleitet werden könnte, zumal da alle Parteien bereit sind, dem Grundbesitz bei
dieser Steuer besondre Zugeständnisse zu machen. ^ ,
^Einstweilen dient noch das Kompromiß als Grundlage der Verhandlungen, ob¬
wohl sich Kluc der beteiligten Parteien bedingungslos den Vorschlägen angeschlossen
hat. Auch wird es immer deutlicher, daß der Bundesrat den Beschlüssen, selbst
wenn sie wider Erwarten im Reichstage angenommen werden sollten, nicht zu¬
stimmen kann und wird. Trotzdem bleibt der Nutzen des Kompromisses bestehen.
Er ist zu suchen in der Einigung der Blockpartelen über die Notwendigkeit, hundert
Millionen von dem zu beschaffender Finanzbedarf des Reichs durch eine direkte
Besteuerung des Besitzes zu sichern. Diese Einigung war wiederum die Voraus¬
setzung und unumgängliche Bedingung für die Bereitwilligkeit der Liberalen,
über eine Umgestaltung und Vermehrung der Verbrauchssteuern weiter zu ver¬
handeln. Auch bei diesen Verhandlungen, die jetzt im Gange sind, bleiben noch
genug Schwierigkeiten zu überwinden, aber man kann doch nun wenigstens ver¬
handeln und weiterkommen, was ohne das Kompromiß einfach ausgeschlossen ge¬
wesen wäre.
Der Schneckengang der Arbeit an der Reichsfinanzreform beeinträchtigt natürlich
auch sonst die Tätigkeit des Reichstags. Die Etatsberatung ist noch bedeutend im
Rückstand. Bei dem Etat des Reichspostamts gab es diesmal interessante Debatten.
Man sprach natürlich auch über die geplante Verteuerung des Telephonverkehrs.
Da war es nun bemerkenswert, daß von der starken Gegnerschaft, die sich im
Lande und in der Presse gegen diese Vorschläge erhoben hatte, im Reichstage nichts
zu merken war. Soweit diese Stellungnahme der parlamentarischen Redner be¬
zweckte, Übertreibungen entgegenzutreten und die Debatte auf eine Erörterung der
gerechtern Verteilung der Gebühren — entsprechend der Inanspruchnahme der
Telephoneinrichtungen — hinzulenken, wird man das verständlich und gerechtfertigt
finden. Daß aber die mit den Vorschlägen des Reichspostamts verbundnen wirk¬
lichen Erschwerungen des Geschäftsverkehrs und übermäßigen Verteuerungen des
notwendigen Telephongebrauchs so leichtherzig übergangen wurden, muß doch wunder¬
nehmen. Man sieht aber daraus — und das wird man sich als erfreuliche Er¬
fahrung für andre Fälle merken müssen —, daß von einer Abhängigkeit unsrer
Volksvertreter von der öffentlichen Meinung und den Sonderinteressen ihrer Wähler
nicht in dem Maße die Rede sein kann, wie dies häufig vorgeschützt wird.
Eine Meinungsverschiedenheit zwischen Regierung und Reichstag entstand bei
der zweiten Lesung des Weingesetzes. Der Reichstag nahm, den Kommissions-
beschlüsfen gemäß, Bestimmungen über den Verschnitt der Weine an, denen die
Regierung ein entschiednes „Unannehmbar" entgegensetzte. Es handelte sich nämlich
dabei um die Verwendung nichtdeutscher Weine zum Verschnitt deutscher Weinsorten.
Die Annahme der Kommissionsbeschlüsse läßt die Befürchtung nahegerückt er¬
scheinen, daß die Verwendung jener nichtdeutschen Weine durch die verschärften
Vorschriften des neuen Gesetzes erheblich erschwert und beeinträchtigt wird. Das
könnte vielleicht an und für sich eher als ein Vorteil als als Nachteil vom Stand¬
punkt einer nationalen Wirtschaftspolitik erscheinen, aber die der Einfuhr nicht¬
deutscher Weine eingeräumten Vorteile stehen im Zusammenhang mit den in
Handelsverträgen zugesicherten Vorteilen, die die deutsche Ausfuhr in andrer Be¬
ziehung genießt. Im Rahmen der gesamten Wirtschaftspolitik muß die deutsche
Regierung natürlich darüber wachen, daß die Voraussetzungen, unter denen handels¬
politische Abmachungen getroffen worden sind, auch erfüllt bleiben. Deshalb hat
die Regierung die Beschlüsse des Reichstags in diesem Punkte für unannehmbar
erklärt, obwohl der Reichstag seinerseits dabei verharrt, daß eine Verletzung der
Handelsverträge durch seine Beschlüsse nicht vorliege. Man erwartet einen Aus¬
gleich dieser Differenzen für die dritte Lesung.
Unsicher und kritisch ist noch immer die auswärtige Lage. Die Note, die
Serbien als Antwort auf die Vorstellungen Rußlands und demnächst auch Frank¬
reichs, Englands und Italiens an die Mächte gerichtet hat, will die Sache Serbiens
vertrauensvoll in die Hand der Mächte legen. Aber Österreich-Ungarn und mit
ihm Deutschland haben keinen Zweifel darüber gelassen, daß sie einer Konferenz
nur zustimmen, falls das Programm dieser Konferenz genau abgegrenzt wird und
ihr nur solche Fragen vorgelegt werden, über die schon eine Einigung zwischen den
beteiligten Mächten stattgefunden hat. Mit andern Worten: die Konferenz soll nicht
zu entscheiden, sondern nur zu registrieren haben, damit gegenüber der mehrfach
durchlöcherten Berliner Kongreßakte wieder eine klare internationale Rechtslage ge¬
schaffen wird. Es versteht sich von selbst, daß die serbische Antwort dieser Forderung
nicht genügt. Nun hatte Österreich-Ungarn aber auch noch eine besondre Antwort
Serbiens auf den versöhnlichen Schritt zu erwarten, den es in Belgrad unter¬
nommen hat, indem es durch seinen Gesandten, den Grafen Forgach, eine in ent¬
gegenkommenden Tone gehaltne Vorstellung, die aber eine bestimmte Erklärung
forderte, überreiche» ließ. Die Antwort darauf steht unmittelbar bevor,*) es läßt
sich aber noch nicht übersehen, ob sie geeignet ist, die Gefahren der Lage zu be¬
seitigen. Zwar ist nicht daran zu zweifeln, daß die Großmächte sämtlich eine fried¬
liche Lösung der Krisis wünschen. Frankreich arbeitet entschieden im Sinne des
Friedens; Italien hat eine durchaus korrekte Haltung gegenüber Österreich-Ungarn
und Deutschland gezeigt; England hat in dem jetzigen Stadium der Entwicklung
keine Neigung mehr, irgendwelche Verwicklungen zu begünstigen; Rußland hat, so¬
weit verantwortliche Stellen in Betracht kommen, deutlich zu erkennen gegeben, daß
es nicht Krieg führen kann und will. Aber Serbien setzt seine Kriegsrüstungen
fort, und solange das geschieht, muß man mit der Möglichkeit rechnen, daß alle
friedlichen Schritte dieser Macht, soweit sie nicht klipp und klar Österreich-Ungarn
gegenüber den Verzicht auf alle territorialen Ansprüche bekunden, nur den Zweck
haben, den Ausbruch des Krieges so lange hinzuhalten, bis die Rüstungen vollendet
sind. Darum bleibt die Lage noch höchst unsicher. Neuerdings scheint auch die
Türkei eine entschiednere Haltung einzunehmen. Nachdem die Verständigung mit
Österreich-Ungarn gelungen ist, hat die Türkei kein Interesse mehr daran, die
Streitfragen wieder aufgerührt zu sehen. Vielmehr sieht sie sich jetzt durch die
großserbischen Ansprüche und durch die Folgen möglicher Kriegsunruhen selbst be¬
droht. Sie hat deshalb Maßregeln getroffen, um jeder Begünstigung der Kriegs¬
rüstungen und Kriegsdrohungen Serbiens entgegenzutreten. So stehn die Dinge noch
mitten in der schärfsten Krisis, aber eine Entscheidung wird nun bald fallen müssen.
Seit dreiviertel Jahren erwarteten die Bank- und Handelskreise mit Spannung
die Ergebnisse der Bankenquete. War die Lage der Retchsbank wirklich so be¬
drohlich geworden, daß die Bank eine vernünftige Diskontpolitik nicht mehr durch¬
führen konnte? War wirklich ein solches Kräfteaufgebot, wie es in der Veran¬
staltung der Bankenquete in die Erscheinung trat, nötig gewesen, um Rat zu
schaffen? 1?A!it as diuit! Die am 8. Februar dem Reichstage zugegangne Novelle
zum Bankgesetz vom 14. März 1875 zeigt auf das deutlichste, daß die Leitung
der Neichsbank in Übereinstimmung mit der Regierung die gegenwärtige Organi¬
sation der Bank für ausreichend hält, um die Neichsbank auf weitere zehn Jahre
zur Erfüllung ihrer eminent wichtigen Aufgaben zu befähigen. Nichts will man
von einer Verstaatlichung wissen. Die Bank bleibt weiter „die Kreuzung
kapitalistischen Unternehmertums mit altpreußischer Korrektheit", wie Sombart in
einem kühnen Bilde sagt.
Besonders bemerkenswert ist, daß man an zuständiger Stelle in der gewaltig
anwachsenden Kapitalkraft der Großbanken keine Gefahr für die ungehinderte
Durchführung der Diskontpolitik der Reichsbank gesehen hat, und daß man sich
nicht auf die von verschiednen Seiten vorgeschlagnen großzügigen Reformen wie
die Annahme verzinslicher Depositen eingelassen hat. Man dürfte erkannt haben,
daß ein Hand in Handarbeiten mit den Privatbanken von Fall zu Fall mehr
Aussicht auf Erfolg bietet und weniger Risiko mit sich bringt als große Reformen,
deren Wirksamkeit sich von vornherein nicht garantieren läßt. Nur in recht be¬
scheidnen Grenzen bewegen sich die Maßnahmen, die eine Stärkung der Aktions¬
kraft der Reichsbank bezwecken. Von einer Erhöhung des Grundkapitals ist ab¬
gesehen worden, da die hierfür aufzubringenden Mittel dem freien Verkehr entzogen
werden müßten. Die Erhöhung würde somit auf den Geldmarkt zurückwirken und
zu einer verstärkten Inanspruchnahme der Bank durch Einreichung von Wechseln
und Abhebung von Giroguthaben führen, d. h. die Bank würde ihre Kapitals¬
erhöhung zunächst selbst bestreiten müssen.
Dagegen wird beabsichtigt, den Reservefonds, der die gesetzlich vorgeschriebene
Höhe seit dem Jahre 1905 erreicht hatte, wieder zu eröffnen. Aus dem Rein¬
gewinn erhalten zunächst die Anteilseigner wie bisher 3^ Prozent ordentliche
Dividende, von dem verbleibenden Rest die Anteilseigner ^, die Reichskasse «/^,
jedoch werden von diesem Reste dem Reservefonds zugeschrieben, die je zur
Hälfte auf Anteilseigner und Reich entfallen. Dadurch sollen die Mittel gewonnen
werden für eine Erhöhung der Guthaben im Auslande, für eine verstärkte Gewährung
zinsfreier Vorschüsse aus Goldimporte sowie schließlich für eine Erweiterung des
Lombardgeschäfts. Für die genannten geschäftlichen Transaktionen darf die Reichs¬
bank die durch die Notenausgabe gewonnenen Mittel nicht verwenden, vielmehr sind
durch das Gesetz als Notendeckung ausschließlich Wechsel zugelassen worden.
Im Zusammenhang mit einer Erhöhung der Auslandsguthaben ist eine Er¬
weiterung des Devisengeschäfts, das schon im Jahre 1908 eine beträchtliche Aus¬
dehnung erfahren hat, geplant. Im Jahre 1903 wurden 49509 Stück Auslands¬
wechsel im Betrage von 484,6 Millionen Mark angekauft gegen nur 39483 Stück
im Betrage von 268 Millionen im Jahre 1907. Um ständig am Devisenmarkte
vertreten zu sein, hat die Bank vor kurzem zum erstenmale einen Börsenvertreter
ernannt, der täglich die Börse besucht und die Bewegungen am Devisenmarkt be¬
obachtet. Eine Vermehrung der Zahl der Börsenvertreter wäre unsers Erachtens
sehr wünschenswert, da sich hier der Bank ein geeignetes Mittel bietet, die Ver¬
bindung mit der lebendigen Praxis des kaufmännischen Lebens noch enger zu knüpfen
und aus bester Quelle Informationen zu schöpfen, die anderswo überhaupt nicht
oder nur unzuverlässig zu erhalten sind.
Das steuerfreie Notenkontingent der Bank wird von 472 Millionen Mark auf
550 Millionen und für die Quartalstermine auf 750 Millionen Mark erhöht. Zu
dieser bisher unbekannten Art der Kontingentierung hat man sich entschlossen, da die
eigenartige zum Teil unvollkommene Zahlungsweise in Deutschland bewirkt, daß sich
der Bedarf an Zahlungsmitteln an den Quartalsenden außerordentlich steigert. Die
somit normalen regelmäßig wiederkehrenden Ansprüche rechtfertigen nicht ein Warnungs¬
zeichen, als das die Überschreitung des Notenkontingents angesehen wird.
Die Erhöhung des Kontingents dürfte auf das Drängen jener agrarischen Kreise
zurückzuführen sein, die glauben, daß ein zu niedriges Kontingent eine Verteuerung
des Kredits bedinge. Denn da die Notensteuer fünf Prozent beträgt, so müsse die
Bank bei jeder Überschreitung des Kontingents ihren Wechseldiskontsatz mindestens
auf fünf Prozent erhöhen. Das ist aber ein großer Irrtum; die Erfahrung lehrt,
daß die Bank durchaus nicht immer nach diesem Prinzip gehandelt hat. Man ver¬
gißt gar zu leicht, oder weiß es nicht, daß die Reichsbank ihren Diskontsatz gar
nicht willkürlich festsetzen kaun, sondern daß sie ausschließlich die Verhältnisse des
offnen Marktes konstatiert. Nach großen unumstößlichen Gesetzen kann sie sich nicht
mit dem offnen Geldmarkt in Widerspruch setzen.
Obwohl sich wiederholt gezeigt hat, daß die in den Großbanken zusammen¬
strömenden enormen Summen von Depositengeldern zeitweise auf dem offnen Markte
eine Flüssigkeit verursachen, die der Zentralnotenbank die Durchführung einer im
Interesse der Währung notwendigen Diskontpolitik erschweren, hat man doch davon
Abstand genommen, die Grundlagen der Organisation der Reichsbank derart zu
ändern, daß die Bank den „Kampf" gegen die Banktrusts erfolgreich aufnehmen
kann. Der Gedanke an sich wäre schon absurd; aber es haben auch in der
Bankenquete Leiter unsrer Großbanken und besonders der Chef eines Berliner
Privatbankhauses den Männern der Wissenschaft wie den Regierungsvertretern
gegenüber durch ihre Vorträge dargetan, daß sie Volkswirte in des Wortes bester
Bedeutung sind. Wenn sie die Interessen, die sie berufsmäßig vertreten, in den
Vordergrund stellten, so wird ihnen kaum jemand daraus einen Vorwurf machen.
Die nahe bevorstehende Veröffentlichung der Zweimonatsbilanzen wird den Bank¬
leitern Gelegenheit geben, zu zeigen, ob sie geneigt sind, ihre mündlich vorgetragnen
Anschauungen in die Praxis umzusetzen. Man kann jedenfalls vorläufig nicht
daran zweifeln, daß in Privatbankkreisen die Überzeugung durchgedrungen ist, daß
die Banken gerade wegen ihrer rapide wachsenden Macht die Verpflichtung haben,
häufiger als früher die privaten Interessen hinter die öffentlichen zurückzustellen.
Über die Bedeutung der Verleihung der gesetzlichen Zahlkraft an die Noten
der Reichsbank haben wir in unserm Bericht vom 30. Januar eingehend gesprochen.
Im Interesse der Einheitlichkeit des deutschen Geldwesens ist es freudig zu begrüßen,
daß die Noten der vier Privatnotenbanken von diesem Privileg ausgeschlossen sind,
doch soll diesen Banken als Kompensation eine erhöhte Ausnutzung ihres Noten¬
rechtes dadurch ermöglicht werden, daß die Verpflichtung der Reichsbank zur An¬
nahme ihrer Noten auf alle ihre Zweiganstalten, die innerhalb des natürlichen
Umlaufgebiets der Privatbanknoten liegen, ausgedehnt wird.
Die der Reichsbank und den Privatnotenbanken erteilte Ermächtigung zum
Ankauf von Schenks bedeutet nur eine unvermeidliche Konsequenz der von dem
frühern Reichsbankpräsidenten Dr. Koch eifrig betriebnen Propaganda für die
Ausbreitung des Scheckverkehrs.
Schließlich erweitert die Novelle den Kreis der im Lombardverkehr der Reichs¬
bank beleihbaren Pfänder auf die auf den Inhaber lautenden nicht pfandbriefartigen
Schuldverschreibungen, die auf Grund von Darlehen ausgestellt werden, die an
inländische kommunale Korporationen gewährt oder von ihnen garantiert sind, da
mit Rücksicht auf die große Sicherheit der Papiere ihr Ausschluß vom Lombard¬
verkehr als unbillig empfunden wurde. Der vermehrten Aufmerksamkeit, die die
Regierungen des Reichs und der Einzelstaaten in der letzten Zeit der Entwicklung der
Staatsschuldbücher zuwenden, dürfte die Bestimmung zuzuschreiben sein, durch die
die Reichs- und Staatsschuldbuchforderungen lombardfähig werden. Die Ma߬
nahme ist eins der kleinen Mittel zur Hebung des Kurses der Staatsanleihen.
Eine wichtige Maßnahme zur Fortentwicklung des landwirtschaftlichen Kredits
enthält der am 28. Januar dem preußischen Abgeordnetenhause zugegcmgne Gesetz¬
entwurf betreffend die Erhöhung des Grundkapitals der Preußischen Zen-
trnlgenossenschaftskasse von 50 auf 75 Millionen Mark. Wie die ersten
50 Millionen so soll auch das Erhöhungskapital der Kasse vom Staate überwiesen
werden, und zwar bar oder in Schatzanweisungen oder in Schuldverschreibungen
zum Kurswert.
Es ist beabsichtigt, die Kreditgenossenschaften stärker zur Entschuldung des mitt¬
leren und kleinen ländlichen Grundbesitzes heranzuziehen. Die Entschuldung soll
durch die allmähliche Verdrängung des Realkredits von dem dem Personalkredit
zustehenden Gebiete bewirkt werden. Es besteht jedoch die Gefahr, daß die Liquidität
der Genossenschaften durch die Mitwirkung bei der Entschuldung leidet, sodaß eine
besondre „Rückendeckung" zur Sicherung der Liquidität nötig ist. Als Rücken¬
deckung ist nun eine Stärkung der eignen Mittel der Preußenkasse gedacht. Die
Bank soll das erhöhte Kapital gewissermaßen zur Aussetzung von Prämien für die
Flüssighaltung des Vermögens der Genossenschaften benutzen. Den Verbands¬
kassen und Genossenschaften, die ihren Status unter Befolgung gewisser Grundsätze
liquide erhalten, soll die Bank einen erhöhten Wechselkredit, der 20 bis 25 Prozent
des bisherigen Haftsummenkredits betragen wird, zusagen. Ein starker Rückhalt
als Garantie für die Liquidität ist aber, abgesehen von der erwähnten Sonder¬
aufgabe der Genossenschaften, durch das Anwachsen der fremden Gelder geboten,
die schon im Jahre 1907 bei 14600 Genossenschaften etwa 2»/^ Milliarden be¬
trugen und ständig weiter wachsen. —
Bei der Beurteilung der Krisis 1907/08 ist immer betont worden, daß die
Ursache des Konjunkturumschwungs in einem starken Mißverhältnis zwischen An¬
lage- und Betriebskredit zu suchen sei, daß Ansprüche des Kapitalmarkts in der
Form des kurzfristigen Kredits um den Geldmarkt herantraten und so die Zinssätze
des Geldmarktes verteuerten, während die des Kapitalmarkts hätten steigen müssen.
Die Kritik hat nun das Ungesunde des Zustandes richtig erkannt, glaubte aber durch
Ermahnung der Banken, die angeblich Fehler bet der Kreditgewährung gemacht
hatten, eine Änderung herbeiführen zu können. Demgegenüber hat Geheimer Hofrat
Or. Hecht im September vorigen Jahres auf der Generalversammlung des mittel¬
europäischen Wirtschaftsvereins darauf hingewiesen, daß in unsrer Kreditorganisation
Lücken vorhanden sind, deren größte in dem Mangel einer besondern Organisation
des langfristigen industriellen Kredits besteht. Die Banken dürfen die ihnen als
kurzfristig zuströmenden Gelder nicht in langfristigem Realkredit festlegen; den
Hypothekenbanken, die früher in gewissem Umfange langfristigen industriellen Kredit
gewährten, ist durch das Hypothekenbankgesetz die Gewährung gewerblichen Boden¬
kredits unterbunden worden. So bleibt nur die direkte Inanspruchnahme des
Kapitalmarkts durch Ausgabe von Jndustrieobligationen übrig, die aber gerade für
die mittlern und kleinen Betriebe aus börsentechnischen Gründen unmöglich ist. Die
Börsen lassen Obligationen mir dann zum Börsenhandel zu, wenn der Gesamt¬
betrag der Emission mindestens eine Million Mark beträgt; es ist sogar schon er¬
wogen worden, die Mindestgrenze auf drei Millionen zu erhöhen.
Hecht schlägt nun die Errichtung eines Zentralinstituts für langfristigen
industriellen Kredit vor, das möglichst den Charakter einer Trnstgesellsch oft
haben müßte (ähnlich den jüngst gegründeten Elektro-Treuhandbcmken). Das Institut
soll Kredit gegen Ausgabe von Obligationen gewähren, und zwar sowohl eigner,
Wie auch solcher der einzelnen Industriebetriebe, für deren Schuldverschreibungen
das Zentralinstitut die Mithaftung übernehmen würde. Den größten Vorzug des
in Vorschlag gebrachten Systems sieht Hecht mit Recht in der Einführung des
Annuitätenkredits, wodurch in die deutsche Industrie eine Errungenschaft eingeführt
würde, deren sich zurzeit nur die Landwirtschaft und ein Teil der städtischen
Hausbesitzer erfreuen. Was heute noch durch reichliche Abschreibungen bilanz¬
mäßig bewirkt wird, kann durch starke Annuitätenzahlungen viel besser hergestellt
werden; das neue Institut dürfte niemals dauernd unkündbare Darlehen ge¬
währen, sondern müßte unbedingt als Korrelat der Unkündbarkeit das Annuitäten¬
system einführen.
Bei den bisher besprochnen Vorschlägen zur Reform unsrer Kreditorganisation
handelte es sich immer um den Schutz der mittlern und kleinen Kreise; werden
Klagen über die Reichsbank laut, so gipfeln auch sie meist in der Behauptung,
die Bank unterstütze den Mittelstand zu wenig. Bei der modernsten Form der
Kreditgewährung, der Diskontierung von Buchforderungen, handelt es sich
ebenfalls vorwiegend um mittlere und kleine Kaufleute.
Obwohl es kein andres Land gibt, worin der Wechselverkehr gleich stark ent¬
wickelt wäre wie in Deutschland, gibt es doch in den Kreisen der Kleinhändler
eine große Zahl von Kaufleuten, die prinzipiell die Akzeptierung von Wechseln
verweigern. Die Lieferanten solcher Kaufleute sind nun in schwieriger Lage. Sie
müssen ihren Abnehmern mindestens den üblichen Dreimonatskredit gewähren. Da
sie aber ihre Forderungen nicht in Wechselform verbrieft erhalten, so können sie
sich nicht durch Weitergabe der Wechsel an ihre Gläubiger oder Diskontierung beim
Bankier den notwendigen Betriebskredit verschaffen. Dazu kommt, daß die Kartelle
und Syndikate ihre Monopolstellung dazu benutzt haben, die Zahlungssitten zu ver¬
bessern. Sie fordern in dem auf die Lieferung der Ware folgenden Monat Bar¬
zahlung oder Bankakzept. In allen Fällen, in denen nun die Abnehmer der
Kartelle Bankakzeptkredit nicht in Anspruch nehmen können — das ist hauptsächlich
bei mittlern und kleinern Kaufleuten der Fall — müssen sie die drückenden Be¬
dingungen des Kvntokorrentkredits auf sich nehmen, um die Barzahlung leisten zu
können. In den letzten Monaten ist in Deutschland eine Bewegung bemerkbar,
die hier nach dem Beispiel Österreichs durch Diskontierung der offnen Buch¬
forderungen Abhilfe schaffen will. Es wurden verschiedne kleinere Institute auf
genossenschaftlicher Grundlage errichtet, deren Hauptgeschäftszweig die Gewährung von
Kredit in der neuen Form bilden soll. Die allgemeine Aufmerksamkeit wurde auf
die Bewegung gerichtet, als die Deutsche Bank in Berlin bekannt gab, daß sie
vom 1. Februar d. I. ab die Diskontierung von Buchforderungen als besondern
Geschäftszweig pflegen werde nnter Zugrundelegung der im Akzeptkreditgeschäft
üblichen Zins- und Provisionsbedingungen. Die Deutsche Bank nimmt Einsicht in
die Bücher der Firma, die den Kredit in der neuen Form in Anspruch nehmen
will, prüft die Güte der Forderungen und bemißt danach die Höhe des Kredits
(zwischen sechzig und achtzig Prozent der Forderungen). Die Firma akzeptiert in
Höhe des zugebilligten Betrages einen Wechsel, dessen Gegenwert die Deutsche
Bank abzüglich Diskont gutschreibt. Aus diesem Guthaben wird die Deutsche Bank
die Lieferanten der Firma bezahlen, während andrerseits die Buchschuldner ange¬
halten werden sollen, an die Deutsche Bank Zahlung zu leisten.
Der Geschäftszweig ist in Deutschland nicht so neu, wie vielfach behauptet
wird. Immerhin war er so wenig bekannt, daß die Frankfurter Zeitung noch im
Jahre 1904 den Verkauf von Buchforderungen als einen ganz ungewöhnlichen
Vorgang bezeichnen konnte.
Wenn wir noch die ebenfalls hierher gehörende, aber später zu erörternde
Regelung des Depositenwesens in Rechnung ziehn, so sehen wir. daß sich die gesamte
deutsche Kreditorgauisation im Flusse befindet, und es erhebt sich die große Frage:
Wird die Reform der Reichsbank in den mäßigen Grenzen, die sich die Novelle
zieht, genügen, die Bank auf weitere zehn Jahre für ihre großen Aufgaben
stark genug zu machen? Wird die Diskontierung von Buchforderungen eine Ge¬
sundung der Kreditverhältnisse herbeiführen, oder besteht nicht vielmehr die Gefahr,
daß die jetzt schon häufig ungesunde Inanspruchnahme von Kredit uoch weiter ge¬
steigert werden wird? Birgt der Hechtsche Vorschlag das Mittel in sich, das wir
zur Gesundung der Kreditverhältnisse notwendig brauchen?
Die restlose Beantwortung dieser Fragen, soweit sie überhaupt möglich ist,
würde den Rahmen unsers Berichts weit überschreiten; handelt es sich doch um
Probleme von der allergrößten Tragweite.
Am 9. März hat ein Mitglied des Neichsbankdirektoriums, der Geheime Ober-
fincmzrat Dr. von Luna, in Wien in der Gesellschaft österreichischer Volkswirte einen
Vortrug über die Stellung der Notenbanken in der heutigen Volkswirt¬
schaft gehalten. Der mit großem Beifall von den hervorragenden Sachverständigen
nnfgeuvmmne Vortrag ist besonders deshalb bemerkenswert, weil die Ausführungen
Lumnis schärfere Maßnahmen der Baukgesetznovelle zur Stärkung der Neichsbcmk
zu erfordern scheinen. Soweit die bisher vorliegenden Berichte erkennen lassen,
entwarf der Vortragende ein recht pessimistisches Bild von der Stellung der Zentral¬
notenbanken. Die Zentralisation des Notenbaukwesens wies die Privatbanken in
immer stärkeren Maße darauf hin, sich durch Heranziehung verzinslicher Depositen
Betriebsmittel zu verschaffen. Die selbstverständliche Verpflichtung, diese Depositen
möglichst liquide zu erhalten, nötigte die Privatbanken, ans den Erwerb von kurz¬
fristigen, leicht realisierbaren Forderungen Bedacht zu nehmen. Am geeignetsten
war naturgemäß der solide Warenwechsel, und so wuchs mit der Zunahme der
Depositengelder für die Reichsbank, deren Notenausgabe auf dem Wechsel beruht,
die Schwierigkeit, geeignetes Deckungsmaterial für die Noten zu finden. Die Aufgabe,
für die Nutzbarmachung verfügbaren Kapitals zu sorgen, ging also mehr und mehr
auf die Privatbanken über, während die Stellung der Bank als letzte Kreditquelle
im Lande an Bedeutung zunahm. Diese Entwicklung war in hohem Maße uner¬
wünscht; sie mußte dazu führen, daß die Notenbank den Überblick über die Kredit¬
bedürfnisse und die Fühlung mit dem Wirtschaftsleben verliert, und daß ihre Ma߬
nahmen an Wirksamkeit einbüßen. Es wird also die Erfüllung der wichtigsten
Aufgabe, die Erhaltung der Währung, für die Notenbank erschwert. Sie kann
nur so weit Kredit gewähre», als es ihre verfügbaren Mittel gestatten, und muß
daher rechtzeitig einer Überspannung der Kreditbcdürfnisse vorbeuge» können. Als
Mittel hierzu dient die Diskontpolitik. Diese ist aber nur dann wirksam, wenn
die Bank einen genügenden Einfluß auf den gesamten Geld- und Kreditverkehr
ausübt, sodaß sich die Zinssätze des offnen Marktes der Bewegung des Diskonts
anpassen. Das ist in letzter Zeit hänfig nicht mehr in wünschenswerten Maße der
Fall gewesen. Eine große Spannung zwischen dem Bank- und dem Privatdiskont
muß aber die Wirkung der Diskontpolitik abschwächen, da der Privatdiskvnt für
die internationalen Geldübertragungen maßgebend ist, also auch die Bewegung der
Wechselkurse beeinflußt. Dadurch verliert die Notenbank den Einfluß auf die Geld¬
bewegungen, den sie im Interesse der Währung ausüben muß. Wenn die Reichöbank
ihren außerordentlich gesteigerten Aufgaben auch in Zukunft gerecht werden will,
wird sie danach streben müssen, ihre Basis zu verbreitern.
Da der Vortragende die schwierige Lage der Neichsbcmk auf das Zuströmen
verzinslicher Depositen in die Privatbanken zurückführt, drängt sich geradezu der
Gedanke auf, weshalb denn die Reichsbank nicht das gleiche Mittel, die Annahme
verzinslicher Depositen, zur Stärkung ihrer Position versucht. Zu diesem Thema
sind die Ausführungen Beutlers interessant, der in seiner kürzlich erschienenen
Arbeit „Die Reichsbank, ihre rechtliche Natur und Zweckbestimmung" (Berlin und
Leipzig, Dr. Walther Rothschild, 1909) konstatiert, daß die Leitung der Reichsbank
nicht das Recht hat, den ihr durch das Bankgesetz gestatteten Geschäftszweig der
Annahme verzinslicher Depositen im Verordnungswege auszuschalten. Diese Ma߬
nahme läßt sich — nach Beutler — weder formell »och materiell rechtfertigen.
Beutler kommt in seiner gründlichen, fleißigen Arbeit, in der er bis in die
tiefsten Tiefen der bisher und zum Teil uoch heute ungeklärten schwierigen Rechts¬
fragen eindringt und eine notwendige Aufklärungsarbeit leistet, zu dem Schluß, daß
die Beteiligung von Privatkapital an der Reichsbank aufzugeben und das für die
Ablösung der Anteilseigner nötige Kapital durch eine Reichsanleihe aufzubringen
ist, das heißt also, die Neichsbcmk soll verstaatlicht werden. Wir können diesen
Schlußfolgerungen nicht beitreten, ohne jedoch damit den Wert der Arbeit herab¬
setzen zu wollen.
Schließlich möchten wir noch auf eine interessante Neuerscheinung hinweisen,
ein Werk von Hnrtley Widders betitelt l^dö NsaninK ot' None^. (London, Smith,
Eider Co., 1909.) Wir wollen vorläufig nur die Auslassungen des Verfassers
über die deutsche Währung, denen gar nicht früh genug widersprochen werden
kann, wiedergeben. Widders schreibt:
In der Theorie hat Berlin Goldwährung, und die Noten der Neichsbcmk sind theoretisch
auf Vorzeigung in Gold zahlbar. Aber Deutschland ist jung als Finanzmacht, und seine Banken
sind so eifrig und gründlich damit beschäftigt, die industriellen Kräfte des Landes zu fördern,
daß ihre Mittel durch diese Aufgabe bisher voll in Anspruch genommen worden sind. Freilich
haben sie ihre Ausgabe mit großem Erfolge durchgeführt, doch haben sie sich noch nicht den
Fragen des internationalen Bankwesens zugewandt, wie auch nicht der Frage, ob sie gerüstet
sind, alle an sie herantretenden Forderungen in Gold zu erfüllen. Ferner wird jeder, der den
Goldvorrat der Reichsbank in einigermaßen erheblichem Umfange in Anspruch nehmen will,
dabei leicht auf Hindernisse und Schwierigkeiten stoßen und wird außerdem leicht einer wenig
ermutigenden Haltung begegnen, wenn er einmal die Gefälligkeit der Bank in Anspruch
nehmen will.
Diesen unwahren Behauptungen muß auf das entschiedenste widersprochen werden.
Die Neichsbcmk hat noch niemals die Abgabe von Gold verweigert; sie ist jederzeit
bereit, jedes Quantum Gold im Tausch gegen ihre Noten herzugebe». Sie hat dagegen
kein Interesse, ebensowenig wie irgendeine andre Notenbank, der Arbitrage die Wege
zu ebnen. Demnach muß die Behauptung, Deutschlands Goldwährung bestehe nur
in der Theorie, als maßlose Übertreibung eines Ausländers zurückgewiesen werden,
der bemüht ist, London nach wie vor als das Clearinghaus der Welt, als den
Mittelpunkt des Geldmarkts hinzustellen, ohne zuzugestehen, wie viel doch London
bereits von seiner Stellung an Newyork, Paris und Berlin verloren hat.
Unter diesem Titel ist jetzt das im achten Heft angekündigte Buch bei
E- Haberland in Leipzig erschienen. In einer Überschau der Kirchengeschichte ge¬
lange ich zu einer Auffassung des Wesens des Christentums, die mit der in der
liberalen Theologie herrschenden nicht ganz übereinstimmt, zeige, wie die modernen
religiös-kirchlichen Probleme geworden sind, wäge Recht und Unrecht der Parteien
in den heutigen konfessionellen Kämpfen ab und untersuche, durch welche Zugeständ¬
nisse die Kirchen den Bedürfnissen der Gegenwart genügen und sich für die Zu¬
kunft lebensfähig erhalten können, Es sind ältere und neuere Zeitschriftenaufsätze
in das Buch hineingearbeitet worden, aber der größte Teil ist noch nirgends ver¬
öffentlicht, wenn ich auch vielleicht einzelne der in den neuen Bestandteilen ent-
haltnen Gedanken schon irgendwo und irgendwie einmal geäußert haben mag. Im
Vorwort bemerke ich, daß seit der Vollendung des Manuskripts im Juni vorigen
Jahres mir so manche Publikation zu Gesicht gekommen ist, die, wenn sie mir
früher bekannt geworden wäre, Ergänzungen und mitunter auch Berichtigungen
veranlaßt haben würde. Nur eines mag erwähnt werden. In dem Abschnitt über
die spanische Inquisition wird das Urteil V. A. Hubers angeführt, es seien ihr nur
wenig Personen zum Opfer gefallen, die die evangelische Kirche für sich in Anspruch
nehmen könnte. Der Oberlehrer Theodor Schneider in Wiesbaden dagegen behauptet
in seiner Abhandlung über Wilhelm von Nassau auf Grund der ihm vorliegenden
Q
Erzählt von Erik Lie. Mit Briefen, Illu¬
strationen und Porträts. Übersetzt von Mathilde Mann. (Leipzig, Haupt und
Hannor, 1909.) Jonas Lie verdient eine Biographie, die sehr verschleimen
Forderungen gerecht werden muß. Für ein eindringendes Verständnis seiner
Dichtung ist die Kenntnis zahlreicher Details aus dem persönlichen Leben des
Dichters nötig. Nicht minder wirken hier die politischen, sozialen und geistigen Be¬
wegungen, in denen Norwegen zu eigenartigem Dasein erwachte. Die Leiden¬
schaft des Kampfes, die allem werdenden Leben eigen ist, verleiht den führenden
Geistern Norwegens den Hauptcharakterzug, sie alle sind streitende Geister. Das
Emporsteigen des neuen nordischen Lebens ist es, das auch dem Schaffen Lies
Inhalt und Kraft gibt. Lie ist gegenüber seinen großen Landsleuten Ibsen und
Björnson die am meisten künstlerisch bestimmte Natur. Er wollte nicht politischer
oder religiöser Parteimann, sondern Dichter sein; früh ist er seines Berufes inne¬
geworden, den er stets in seiner klaren Reinheit zu wahren gewußt hat. Es wäre
auch einer fremden Hand möglich gewesen, aus Lies Werken, seinem Briefwechsel
und andern Quellen die literarische Stellung Lies darzustellen. Aber es hätte
einer rein literarhistorischen Darstellung etwas wesentliches gefehlt: die innerlichen
Wesenszüge der Persönlichkeit Lies. Nur ein ihm nahestehender konnte das Bild
entwerfen, das uns die menschliche und künstlerische Eigenart des Dichters in ihrem
Reichtum und ihrer stets wachsenden Geschlossenheit zeigt.
Die Biographie von der Hand seines Sohnes Erik Lie ist eine solche Dar¬
stellung, überall voll von der Fülle persönlichen Lebens, gestützt auf die sorgsamste
Forschung und mit liebevollem Verständnis für Menschen und Ereignisse durch¬
geführt. Sie bietet viel mehr als nur eine Darstellung vom Leben und Schaffen
Jonas Lies. Sie entrollt ein prächtiges Kulturbild in der Schilderung des nor¬
wegischen Geisteslebens, dessen führende Geister uns hier lebendig nahetreten als höchst
persönliche Menschen sowie in ihrer Beteiligung an den Fragen und Kämpfen
der Zeit.
Wo Jonas Lie als Dichter geschätzt und geliebt ist, da wird diese reiche und
eindringende Schilderung seiner Persönlichkeit und seines Schaffens in ihrer
Liebenswürdigkeit ein willkommnes Buch sein. Ein vortreffliches Bild des Dichters
und zahlreiche Illustrationen sind eine dankenswerte Beigabe. Ganz vortrefflich ist
die Übersetzung; man empfindet sie nicht als solche. Sie stammt von Mathilde
Mann, die wirklich im Geiste beider Sprachen lebt. Mit dieser Gabe hat sich
auch der Verlag ein Verdienst erworben, er hat dem Buch eine würdige und in
n den letzten Jahren sind im deutschen Heere eine Reihe neuer
Ausbildungsvorschriften eingeführt worden, in denen die neuste»
Fortschritte der Technik und die Erfahrungen der letzten Kriege,
vor allem des russisch-japanischen, für unsre Verhältnisse nutzbar
gemacht worden sind. So ist vor zwei Jahren ein neues Exerzier¬
reglement für die Infanterie erschienen, dem eine neue Feldbefestigungsvorschrift,
ein Exerzierreglement für die Feldcirtillcrie, eine neue Felddienstordnung und
zuletzt vor einigen Wochen ein Exerzierreglement für die Fußartillerie folgten.
Das letztere ist insofern etwas neues, als die Fnßartillerie ein Exerzierreglement
überhaupt nicht hatte. Die Vorschriften für die Ausbildung dieser Waffe und
die Grundsätze für ihre Verwendung im Kampfe fanden sich vielmehr in einzelnen
geheimen oder doch nur für den dienstlichen Gebrauch der Truppe bestimmten
Druckwerken. Es haftete daher an der Fußartillerie ein gewisser Nimbus des
Geheimnisvoller, ein Überbleibsel vergangner Tage, in denen sich die schwarze
Kunst einer abergläubischen Bewunderung zu erfreue» hatte.
Daß damit aufgeräumt worden ist, kann man nnr als einen Fortschritt
bezeichnen, ist es doch kaum möglich, Dinge, die jährlich Tausende von
Soldaten genau kennen lernen, in denen sie auf das eingehendste unterwiesen
werden, vor dem Auslande geheimzuhalten. So etwas ist heute im Zeitalter
des Verkehrs unmöglich und führt nnr dazu, daß einem großen Teile der
Offiziere und Unteroffiziere des eignen Heeres Dinge gänzlich unbekannt bleiben,
deren Kenntnis ihnen im Kriege sehr nützlich sein kann. Der Erfolg im Kriege
hängt in Zukunft von dem verständnisvollen Zusammenarbeiten aller Waffen¬
gattungen ab, und zu denen gehört vou jetzt ab die Fußartillerie in höherm
Maße als bisher; diese ist nicht mehr, wie früher, nur zum Kampf um Festuuge»
oder mit festungsmäßigen Mitteln aufgebaute Stellungen bestimmt, sondern sie
soll außerdem in der Entscheidung der Feldschlacht mitwirken und hat wahr¬
scheinlich dabei ein sehr schwerwiegendes Wort mitzusprechen.
Die Fußartillerie als solche ist kurz nach dein Feldzuge von 1870/71
geschaffen worden. Man hatte damals erkannt, daß die Aufgaben der Artillerie
zu vielseitig waren, als daß sie von einer einheitlich ausgebildeten Truppe
hätten gelöst werden können. Man teilte deshalb die Artillerie in eine bespannte
Feldartillerie, die mit einem sehr beweglichen, aber doch für alle Aufgaben des
Feldkrieges ausreichenden Geschütz ausgerüstet wurde, und eine unbespmmte
Fußartillerie, deren Aufgabe die Bedienung der schweren Geschütze war, die zur
Verwendung im Festungskriege bestimmt waren. Diese Organisation und gegen¬
seitige Abgrenzung der Tätigkeitsbereiche hat sich so lange durchaus bewährt,
als angenommen werden konnte, daß die Feldartillcrie allen Anforderungen
gewachsen sei, die der Feldkrieg an die Artillerie stellt. Zweifel daran tauchten
auf, als die Einführung der weittragenden Jnfanteriegewehre mit rauchschwachem
Pulver zu den bekannten großen Änderungen in der Taktik führte. Die ge-
schloßnen Jnfcmterieformationen, die früher in kurzen Abständen hinter wenig
gedeckten Schützenlinien zu folgen pflegten, die Artillerielinien, die in nahezu
offner Stellung die Höhen bekrönten, verschwanden mehr und mehr, und es
trat die vielbesprochnc „Leere" des Schlachtfeldes dafür ein. Man lernte die
Artillerie hinter den Höhen aufzustellen. Die Infanterie zerteilte sich schon auf
weiten Entfernungen in kleine Einheiten, die sich unter vorsichtigster Gelände-
ausuntzung an den Feind heranarbeiteten. Offres deckungsloses Gelände wurde
nach Möglichkeit vermieden, und wo es überschritten werden mußte, geschah
dies unter sorgsamer gegenseitiger Feuerunterstützung in kleinen Einheiten und
in raschen Sprünge». Auch lernte man allmählich den Spaten wieder schätzen,
der während des Feldzuges gegen Frankreich und nachher nicht in sehr hohem
Ansehn gestanden hatte. Hatten doch den Franzosen ihre Schützengräben bei
Wörth, Spichern, Se. Privat lind anderswo wenig genützt. Die verheerenden
Wirkungen des modernen Feuers zwangen aber dazu, alle Mittel anzuwenden,
die zur Verminderung der Verluste mithalfen. Der ostnsiatische Krieg hat gezeigt,
bis zu welcher raffinierter Vollendung eine geschickte, tapfere Truppe es in
der Ausnutzung dieser Hilfsmittel bringen kann.
Für die Feldartillerie ergab sich aus alledem eine neue vorher wenig
beachtete Aufgabe, nämlich die, den Feind hinter seinen Deckungen aufzusuchen
und zu bekämpfen. Dazu war sie mit ihrer damaligen Munition und ihrem
damaligen Geschütz kaum imstande.
Die Feldartillerie braucht ihrer Natur nach ein Flachbnhugeschütz, das
heißt ein Geschütz mit langem Rohr, das mit großer Pulverladung und hoher
Anfangsgeschwindigkeit das Geschoß in rasauter, das heißt möglichst flacher
und möglichst wagerechter Bahn schleudert. Das unmittelbare Gegenstück zur
Kanone — mit diesem Worte im engern Sinne bezeichnet man Flachbahn¬
geschütze — bildet der Mörser, der ein kurzes Rohr hat und mit einer im
Verhältnis zum Geschoßgewicht kleinen Pulverladung ein Geschoß in hohem
Bogen schleudert, sodaß dieses mit entsprechend steilem Einfallwinkel von oben
her das Ziel trifft. Ein Mittelding zwischen Kanone und Mörser ist die
Haubitze, ein Geschütz mit mittellangem Rohr, das je nach Ziel und Zweck mit
größerer oder kleinerer Pulverladung und entsprechend umgekehrt mit kleinerm
oder größerm Erhöhnngswinkel und flacherer oder steilerer Geschoßbahn feuert.
Das, Mörser und Haubitze vortrefflich geeignet sind, Ziele hinter Deckungen zu
erreiche», ist ohne weiteres klar, ihre übrigen Eigenschaften schließen aber ihre
Verwendung als einziges oder auch nur als hauptsächlichstes Feldgeschütz aus.
Denn von einem solchen muß vor allen Dingen große Wirkung gegen beweg¬
liche Ziele, also gegen schnell vorgehende Infanterie oder Kavallerie, gegen
Geschütze oder Maschinengewehre in der Bewegung verlangt werden. Alle solche
Ziele sind aber heutzutage meist nur ganz kurze Zeit sichtbar. Um sie zu
fassen, bedarf es daher eines schnell schießenden, schnell zu bedienenden Ge¬
schützes. Hierbei versagen Haubitze und Mörser, weil ihre Bedienung weit
umständlicher und zeitraubender ist als die der Kanone. Ferner ist es leicht
einzusehen, daß bei einem Geschütz mit flachgestreckter Flughahn alle die unvermeid¬
lichen — namentlich in aufregenden Momenten besonders häufigen — Fehler
bei der Entfernnngsermittlung und beim Richte» und schließlich auch die
Strenuug des Geschützes viel weniger schädlich sind als bei einer stark gekrümmte»
Flughahn, daß also die Treffwahrscheinlichkcit viel größer ist. Darin liegt ja
auch der Vorteil der modernen rasant schießenden Jufanteriegewehrc vor den
ältern mit rauchendem Schwarzpulver geladne» Gewehren. Die Kanone wird
also ihre Stellung als wichtigstes Feldgeschütz stets behaupten. Es ist aber
weiterhin sehr wünschenswert, möglichst wenig verschiedne Waffentype» bei der
Armee, besonders im Feldkriegc zu habe». Nicht nur wird die Ausbildung
dadurch vereinfacht, sondern die gegenseitige Aushilfe verschiedner Truppenteile
mit Mannschaften, Munition, Ergänzungsteilcu und allem möglichen sonstigen
Material, wovon im Kriege, wenn irgendwo der Nachschub stockt, sehr viel
abhängen kann, ist nur möglich, wenn alles zueinander paßt. Das wünschens¬
werte Ideal ist ein. Einheitsgeschütz, das allen Aufgaben gewachsen ist. Als
»in» daher in Deutschland erkannte, daß die Feldkcmone gegen Ziele hinter
Deckungen keine Wirkung habe, entschloß man sich, um uicht zwei Geschütze
einführen zu müssen, zu Änderungen an der Munition der Feldkanone.
Im Jahre 1870 schoß unsre Artillerie — abgesehen von Kartätschen, einem
groben Schrotschuß zur Abwehr von Nahangriffen feindlicher Infanterie und
Kavallerie — ausschließlich mit Granaten, das heißt einem gußeisernen Hohl¬
geschoß, das mit Pulver gefüllt war und an der Spitze einen Zünder hatte,
der beim Aufschlagen auf den Boden das Geschoß zum „krepieren" brachte.
Außer diesen Aufschlagzündern gab es schon damals Brennzünder oder Zeit¬
zünder, das heißt Zünder, die vor dein Abfeuern des Schusses für eine bestimmte
Zeit eingestellt wurden und das Geschoß nach Ablauf dieser Zeit in der Luft
^ur Explosion brachten. Die Konstruktion dieser Zünder war aber 1870 noch
sehr unvollkommen, sodaß die französische Artillerie, die sie vielfach benutzte,
schlechte Erfahrungen damit machte. In den Jahren nach dem Kriege gelang
es bald, die Zeitzünder so zu vervollkommnen, daß sie absolut sicher wirkten,
und damit kam ein neues Geschoß auf, das heute das Hanptkampfgeschvß der
Feldartillerie bildet, das Schrapnell.
Das Schrapnell besteht aus einer Stahlbüchse, die mit einer großen Zahl
kleiner Bleikugeln und einer Pulverladung gefüllt ist. Es wird mit Hilfe des
Brennzünders vor und oberhalb des Gegners zur Explosion gebracht und streut
nun eiuen Regen von Bleikugeln in den Gegner hinein. Das Schrapnell ist
also ein bis kurz vor dem Ziel zusammengehaltner Schrotschuß. Es ist leicht
einzusehen, daß die Flugbahnen der einzelnen Teile des in der Luft krepierten
Schrapnells in ihrer Gesamtheit einen gekrümmten Kegel bilden müssen, dessen
mittlere Linie mit der verlängerten Bahn des ganzen Geschosses zusammenfällt.
Der Winkel an der Spitze dieses Kegels hängt hauptsächlich von der Stärke der
Pulverladung innerhalb des Schrapnells ab. Wenn diese sehr groß ist, so werden
die Sprengteile weit auseinandergestreut, und die Treffwirkung gegen ein be¬
stimmtes Ziel, zum Beispiel ein feindliches Geschütz oder eine feindliche Infanterie¬
kolonne, ist geringer, als wenn die Sprengladung klein ist und die Teile in
einem spitzern Kegel gegen das Ziel geschlendert werden. So groß nun auch
die Wirkung eines solchen Schusses gegen Ziele von einer gewissen Höhe ist,
so genügt sie doch nicht gegen Ziele hinter Deckungen, und zwar um so weniger,
je rasanter die Geschoßbahn ist.
Um diesem Mangel abzuhelfen, konstruierte mau ein neues Geschoß, die
sogenannte Sprenggranate, ein stählernes Hohlgeschoß mit außerordentlich stark¬
wirkender Sprengladung und einem Dvppelzünder, der als Aufschlag und als
Brennzünder benutzt werden konnte. Wenn dieses Geschoß durch den Brenn¬
zünder zur Explosion gebracht wird, so wird es nach allen Seiten auseinander-
gerissen, und zwar infolge der starken Ladung in zahllose kleine Splitter, die
eine vernichtende Wirkung haben, und da sie teilweise senkrecht nach unten und
sogar nach rückwärts geschleudert werden, auch Ziele hinter Deckungen zu er¬
reichen vermögen, aber mir wenn das Geschoß in ihrer Nähe zur Explosion
kommt. Während ein Schrapnell seine Kugeln und Sprengteile auf einen zwar
nicht breiten aber tiefen Raum hinpeitscht, sodaß ein nicht zu großer Fehler
in der Entfernung gar nicht weiter schädlich ist, wenn nur dafür gesorgt wird,
daß die Sprengpnnkte immer vor dem Ziele liegen, wirkt eine Sprenggranate,
deren zahllose Sprengstücke nach allen Seiten, aber infolge ihrer Kleinheit nicht
sehr weit fliegen, nur in der Nähe ihres Sprengpunktes. Darin liegt die
Schwäche dieses Geschosses: es erfordert ein außerordentlich präzises Schießen,
eine Genauigkeit der Vevvachtuug und Bedienung, auf die man im Feldkriege
nicht mit Sicherheit rechnen kann.
Nach langen Versuchen erkannte man, daß es nicht möglich sei, auf diesem
Wege weiterzukommen, und man entschloß sich, den Gedanken eines Einheits-
geschtttzes fallen zu lassen. Neben der Feldkanone, deren Konstruktion in
zwischen auch manche Verbesserung erfahren hatte, wurde die leichte Feldhanbitze
eingeführt, und zwar zunächst für jedes Armeekorps eine Abteilung zu drei
Batterien. Es war dies Ende der neunziger Jahre. Man hatte damit der
Feldartilleric ein wirksames Mittel zur Lösung solcher Aufgaben gegeben,
denen gegenüber die Kanone allein nicht ausreichte. Allein es zeigte sich
doch, daß die leichte Feldhanbitze zwar für die Aufgaben der Feldschlncht ge¬
nügte, daß man aber befestigten Stellungen gegenüber, auch wenn es sich nicht
»>n permanente Werke handelte, sondern nur um sorgsam angelegte feldmäßige
Befestigungen, einer noch wirksamern Artillerie bedürfe. Bei der Konstruktion
der leichten Feldhanbitze hatte man auf große Beweglichkeit Wert gelegt, um
ein Geschütz zu erhalten, das auch außerhalb der Wege rasch vorwärtskommen
konnte, also dieselben Möglichkeiten der Verwendung bot wie die Feldkcmoue.
Es liegt auf der Hand, daß die Wirkung eines so kleinen nud leichten Ge¬
schützes künstlichen Deckungen gegenüber gering sein muß. Man kam somit
dazu, auch die schweren Geschütze der Fußartillerie heranzuziehen. Es wurde
eine sogenannte „Fußartillerie mit Bespannung" organisiert, indem bei ein¬
zelnen Fnszartillerieregimentcrn Bespanuungsabteilungen aufgestellt und diese,
mit schweren Haubitzen ausgerüstet, bei Manövern und andern größern Übungen
im Verbände der übrigen Waffengattungen mit verwandt wurden. Diese
Persuche haben dazu geführt, daß jetzt die Fußartillerie eine im Verein mit
der Feldartillerie in der Feldschlacht ankämpfende Waffe geworden ist. In¬
zwischen ist nämlich mit der eigentlichen Feldartillerie eine solche Veränderung
vorgegangen, die der ganzen Verwendung dieser Waffe in der Schlacht ein
verändertes Gepräge gibt. An Stelle der seitherigen Feldkanone ist ein
Schncllfeuergeschütz mit Panzerschilder eingeführt worden. Zugleich ist das
indirekte Schießverfahren zu einer solchen Vollkommenheit ausgebildet worden,
daß es in Zukunft auch von den Kcmonenbatterien viel öfter als seither an¬
gewandt werden wird. Unter indirekten Feuer versteht man ein Feuer, bei dem
das Rohr nicht unmittelbar über Visier und Korn gerichtet wird, sondern
bei dem aus verdeckter Stellung, also ohne daß die Bedienung des Geschützes
das Ziel sehen kann, mit Hilfe besonderer Richtvorrichtungen geschossen wird.
Es ist für den Feind natürlich außerordentlich schwer, häufig sogar ganz nn-
Mvglich, eine Artillerie, die ans solcher verdeckten Stellung feuert, zu siudeu
""d zu bekämpfen. Zieht man dies sowie die Tatsache in Betracht, daß jede
Feldknnone mit einem Panzerschild versehen ist, so wird man wohl ohne Über¬
treibung sagen können, daß sich die beiderseitigen Feldartillerien in einer Zu¬
kunftsschlacht überhaupt nicht viel werden anhaben können, jedenfalls niemals
die eine über die andre ein derartiges Übergewicht erhalten wird, daß diese
zum Einstellen des Feuers gezwungen und als niedergekämpft angesehen
werden kann. Man hatte früher die Vorstellung, daß die Schlacht mit einem
"Artilleriednell" beginnen werde, daß währenddessen die Infanterie sich ent-
Wickeln und den Kampf einleiten werde, in dessen Durchführung die im
Artillerickampf siegreich gebliebne Artillerie entscheidend mitwirken werde. Der
Kampf wird in Zukunft aber wohl anders verlaufen, insofern als die Feld¬
artillerie auf das Feuer der gegnerischen nicht mehr soviel Rücksicht z»
nehmen gezwungen sein wird als früher, sondern ihr Augenmerk von vorn¬
herein der entscheidenden Waffe, der feindlichen Infanterie, zuwenden wird.
Die stählernen Schutzschilde befähigen die Artillerie, viel näher als in frühern
Zeiten an die Infanterie heranzugehn und trotz des feindlichen Infanterie-
feuers ihren Kampf in wirksamer Weise fortzusetzen.
Die Bekämpfung der gegnerischen Artillerie wird zur Aufgabe der Fnß-
artillerie. Sie wird durch sorgsame Beobachtung und Erkundung, bei denen
auch dem Luftballon ein Teil der Arbeit zufallen wird, den Stand der feind¬
lichen Batterien, soweit sie nicht unmittelbar zu erkennen sind, aufsuchen und
sie dann mit Hilfe des Bogenschusses zu vernichten haben. Für diese Aufgabe
genügen die leichten Feldhaubitzeu uicht allein. Denn bei den großen
Schwierigkeiten, die das Beobachten und Treffen dieser Ziele bereitet, muß
man, um des Erfolges sicher zu sein, dafür sorgen, daß jeder Schuß, der
wirklich in die feindliche Batterie hineinkommt, dort auch eine gründliche Zer¬
störungsarbeit verrichtet. Das leisten aber nnr schwere Kaliber. Eine weitere
Folge dieser veränderten Verhältnisse wird die sein, daß die langen Artillerie-
linien, die man aus frühern Schlachten her kennt, und die noch bis vor kurzer
Zeit auf unsern Manöverfeldern zu sehe» waren, auch verschwinden werden.
Solche zusammenhängende Linien fordern die feindliche schwere Artillerie
geradezu heraus und werden ihr leicht zur Opfer fallen. Die Feldartillerie
wird sich vielmehr dem Vorbilde der Infanterie anzuschließen und sich in kleine
Verbände aufzulösen haben, die sich an das Gelände anschmiegend hier und
dort erscheinen. Das Bild scheinbarer Regellosigkeit, der Selbständigkeit der
untersten Führer, das der Jnfanteriekampf heute bietet, wird auch bald den
Kampf der Feldartillerie charakterisieren. Die Einheitlichkeit wird dnrch Ver¬
einigung aller Geschütze und Gewehre auf den entscheidenden Teil des Gegners
wiederhergestellt. Die Aufgabe der ober» Führung besteht in dem richtigen
ersten Einsetzen der Kräfte, dem rechtzeitigen Einschiebett zurückgehaltner Kräfte
da, wo es ne der vorder» Linie not tut, und schließlich in der Beobachtung
und Überwachung des ganzen, um im rechten Augenblicke alle Kräfte auf
den Teil des Gegners, wo die Entscheidung fallen soll, zu vereinigen.
Das neue Exerzierreglement der Fnßartillerie bezeichnet die Aufgaben der
Artillerie mit folgenden kurzen Worten: „Die Fußartilleric soll im Verein mit
der Feldartillerie der Infanterie den Weg zum Siege bahnen." Näher aus¬
geführt wird dies an einer andern Stelle, wo es über den Angriff heißt:
„Die Fnßartillerie soll in erster Linie bei dem Niederkämpfen der feindlichen
Waffeuwirkuug, demnächst bei der Zerstörung der Deckungen und Annähernngs-
Hindernisse, endlich bei der Vorbereitung des Sturmes mitwirken." Über die
Tätigkeit in der Verteidigung wird an eiuer andern Stelle gesagt: „Die
schwere Artillerie soll im Verein mit der Feldartillcrie den Kampf gegen die
feindliche Artillerie durchführen, während die Abwehr des feindlichen Infanterie¬
nngriffes in der Hauptsache der Feldartillerie zukommt."
Aus diesen wenigen Sätzen ist schon zu erkennen, daß die Bezeichnung
der Vorschrift als „Exerzierreglement" eigentlich unzutreffend oder richtiger
unzureichend ist. Unter Exerzieren versteht man im gewöhnlichen Sprache
gebrauch nicht die feldmüßige Verwendung einer Truppe, sondern vielmehr
deren sehnt- und parademäßige Ausbildung. Wenn man die neuentstcmdne
Vorschrift mit diesem Namen belegt hat, so ist das wohl geschehen, um an¬
zudeuten, daß die neue Vorschrift für die Fußartillerie das sein soll, was die
Exerzierreglements der andern Waffen im Laufe der Zeit für diese geworden
sind. Zu den Zeiten, wo bei der Infanterie Schul- und Gefechtsformeu
durchaus identisch waren, wo sich das Gefecht in den streng gebnndneu
Formen exerziermäßiger Bewegungen vollzog, deckte der Begriff „Exerzier¬
reglement" durchaus den einer Gefechtsausbildungsvorschrift mit. Der un¬
schöne Name hat sich erhalten, aber der Inhalt der Vorschrift ist bei allen
Waffengattungen weit über den eigentlichen Sinn dieses Namens hinaus¬
gegangen, genau so wie das Wort „Felddienstordnung" eine mangelhafte Be¬
zeichnung für den Inhalt des so benannten Buches ist.
Das Exerzierreglement der Fußartillerie enthält ebenso wie die ent¬
sprechenden Vorschriften der andern Waffengattungen zunächst die Bestimmungen
für die Einzelausbildung des Mannes und die exerziermüßigeu Formen der
Batterie und des Bataillons und für die Parade. Die Fußartillerie ist mit
einem dem Jnfanteriegewehr ähnlichen Gewehr ausgerüstet und dadurch im¬
stande, sich ohne schützende Infanterie gegen Nahangriffe und Überfälle zu
verteidigen. An infanteristischer Ausbildung fordert das Reglement natürlich
nur so viel, als dieser Zweck erheischt. Die Ausbildung am Geschütz umfaßt
die schwere Feldhaubitze, den 21-Zentimeter-Mörser und zwei Kanonen von
Zentimeter und 15 Zentimeter Kaliber.
Auch der Teil über das Gefecht ist den Reglements der andern Waffen
»ansgebildet. Er enthält die Grundsätze über die Verwendung der Waffe im
Gefecht und zerfällt in Unterabteilungen über den Angriff und die Verteidigung.
Erstere gliedert sich in Begegnungsgefecht und Angriff auf eiuen zur Ver¬
eidigung entwickelten Feind, Angriff auf eine befestigte Feldstellung, Ver¬
folgung, Angriff auf eine Spcrrbefestigung und schließlich Angriff auf eine
Testung. Der Teil über die Verteidigung zerfällt in ähnliche Unterabteilungen,
darunter eine über den Rückzug.
Dieser Teil über das Gefecht ist ein taktisches Lehrbuch von mustergiltiger
Knappheit und Klarheit der Ausdrucksweise, der nirgends bindende Vorschriften
leibt, sondern nur die Mittel, die in jedem Falle zum Erfolge führen, mit ihren
Vor- und Nachteilen bespricht, dem Führer über ihre Wahl völlig freie Hand
Essend. Die Vefehlsbefngnisse zwischen dein Trnppenführer, den Führern der
Fuß- und der Feldartillerie, die in dein bisherigen provisorischen Zustande oft
genug Veranlassung zu störenden Reibungen boten, sind jetzt in klarer und
einfacher Weise geregelt.
Alles in allem genommen bedeutet das Reglement einen neuen Schritt
in der Kriegsbereitschaft unsers Heeres nach vorwärts und ist berufen, auch
uuter den Offizieren andrer Waffengattungen Verständnis für die Bedeutung
der Fußartillerie im modernen Kampfe zu erwecken. Ob es etwas Abschließendes
bedeutet, ist eine andre Frage. Der nahe Zusammenhang, in den das Ein¬
greifen der Fußartillerie auf dem Schlachtfelde die Infanterie zur Feldartillerie
bringt, sodaß diese mehr und mehr enge Schwesterwaffen im Kampfe um die
feindliche Jnfanteriestellung werden, birgt vielleicht die Keime zu neuen Ent¬
wicklungen. Wer weiß, ob wir nicht wieder den Bataillonsgeschützen Friedrichs
des Großen zusteuern! Wer weiß, welche Rolle die Maschinengewehre hierbei
spielen werden! Die fortschreitende Technik bietet hier immer neue Probleme.
MM>n dem dritten Kapitel des ersten Buches der Schrift „Die
Reichsfinanzreform, ein Führer" wird die Bedeutung der
Reichsfinanzreforin für die Kriegsbereitschaft näher dar¬
gelegt. Nur durch völlige Kriegsbereitschaft des Heeres und
I durch einsichtsvolle Geldwirtschaft kann unter Umständen für ein
Land ein Krieg vermieden werden. Alle Aufwendungen für die militärisch-
inaritime Rüstung sind nichts weiter als eine nationale Versicherungsprämie,
eine Versicherungsprämie in doppeltem Sinne: sie bietet zunächst eine Ver¬
sicherung gegen den Ausbruch eines Krieges, und sie bietet für den Kriegsfall
eine Versicherung gegen den ungünstigen Ausgang. Trotzdem das Deutsche
Reich zufolge seiner Grenzlage in der höchsten internationalen Gefahrenklasse
steht, sind die Aufwendungen für die internationale Versicherungsprämie in
Dentschland nicht die absolut und bei weitem nicht die relativ höchsten. Nach
der Denkschrift des Neichschatzamtes hat das Deutsche Reich im Jahre 1907
für Heer und Flotte zusammen 1100 Millionen Mark aufgewandt, England
dagegen 1208 Millionen, wobei allerdings anzuerkennen ist, daß die großen
überseeischen Besitzungen für das Inselreich die Ausdehnung seiner Grenzen
bedeutend erweitern. Nach der Kopfzahl hatte Deutschland für Heer und
Flotte nicht ganz 18 Mark pro Kopf nufzubriugeu, dagegen Frankreich über 23
und England fast 28 Mark. Dabei ist weiter zu berücksichtigen, daß die
sogenannten unproduktiven Ausgaben in Deutschland einschließlich der Bundes-
Staaten einen beträchtlich geringern Anteil an der Gesamtsumme der staatlichen
Aufwendungen haben als in andern Ländern.
„Erwägen wir, daß sich trotz Aufbringung der scheinbar so hohen Rüstungs-
kosten bei gleichmäßig fortschreitender wirtschaftlicher Entwicklung unser National¬
vermögen um jährlich rund 2 vom Hundert steigert, so wird die Frage,
ob wir, in der ersten internationalen Gefahrenklasse stehend, diese Prämie durch
unveränderte Pflege unsrer Wehrkraft und durch Ausbau unsrer finanziellen
Rüstung tragen können, nicht anders zu beantworten sein als mit einem runden
Ja!" (Arthur Dix). Generalleutnant z. D. Metzler schätzt nach den Erfahrungen
aus frühern Kriegen die deutschen Kriegskosten für einen Monat auf 1845 Mil¬
lionen, für ein Jahr auf 22 Milliarden. Dr. Rießer berechnet den Gesamt¬
bedarf in den ersten sechs Wochen auf rund 2450 Millionen Mark — eine
Zahl, die bei weitem zu niedrig gegriffen sein dürfte — und zieht dann
Vergleiche, die England und Deutschland mit ihrem Kredit in Kriegszeiten ge¬
macht haben.
Das zweite Buch behandelt sodann die Finanznot und ihre Ent¬
stehung, und zwar indem vierten Kapitel zunächst die geschichtliche Ent¬
wicklung und ihre Entstehung.
Die Schulden des Reiches sind innerhalb dreißig Jahren von 0 auf
4251 Millionen Mark gestiegen. Die Schatzanweisungen zur Deckung der lau¬
fenden Betriebsausgaben waren vor dreißig Jahren gar nicht oder nur ganz
vorübergehend notwendig. Jetzt stehen sie dauernd über 475 Millionen Mark
und kommen kaum noch zur Einlösung. Das Defizit des letzten Jahres beläuft
sich nach den Ausführungen des Reichsschatzsekretärs auf weit über 100 Mil¬
lionen Mark, und werden nicht neue Einnahmen erschlossen, so ist für jedes der
nächsten Jahre auf ein Defizit von nicht weniger als 200 bis 250 Millionen
Mark zu rechnen.
Aus dem kürzlich vom Neichsschatzamt für die Vergangenheit aufgestellten
sogenannten gereinigten (purifizierten) Etat — der bisherige aus Gründen des
Budgetrechts anders aufgestellte läßt die Einnahmen und Ausgaben des ein¬
zelnen Jahres nicht richtig erkennen — ist zu ersehen, daß mit Ausnahme
des einzigen Jahres 1906 in sämtlichen Jahren seit der Reichsgründung die
Ausgaben des Reiches seine Einnahmen überschritten, und zwar
Diese rund 4 Milliarden Mindereinnahmen kommen in unsrer heutigen
Reichsschuld zum Ausdruck, denn unter den 4^ Milliarden, die diese aus¬
weist, sind für außergewöhnliche kriegerische Ereignisse, die kein Staat aus
laufenden Mitteln decken kann, etwa 720 Millionen Mark entstanden, nämlich
für die südafrikanischen Aufstände lind die ostasiatische Expedition. Für
werbende Zwecke, das heißt für solche Anlagen, die man vernünftigerweise aus
dem Kapital bestreiten darf, wie bestimmte Eisenbahn- und Postbauten, Kanal¬
anlagen usw., sind im ganzen 650 bis 700 Millionen Mark verwandt worden.
Bei dem verbleibenden Rest der Reichsschulden, fast 3000 Millionen Mark,
dagegen handelt es sich um solche Ausgaben, die in normalen Zeiten aus
laufenden Einnahmen zu decken wären.
Zurückzuführen ist diese verfehlte Finanzpolitik darauf, daß es bis 1901
an hinreichenden Grundsätzen darüber gefehlt hat, was in den ordentlichen und
was in den außerordentlichen Etat gehört. Erst seit 1901 sind genaue Grund¬
sätze darüber aufgestellt, was auf Anleihe genommen werden darf. Diese haben
im Laufe der Jahre noch eine schärfere Ausbildung erfahren.
Ein weiteres Deckungsmittel für das Reich neben den unzulänglichen
eignen Einnahmen und der besprochenen Kontrahierung von Schulden ist die
eigenartige Einrichtung der Matrikularbeitrüge. Diese können von allen Ver¬
suchen, den Reichsbednrf zu decken, wohl als das unzuträglichste und ver¬
fehlteste Hilfsmittel angesehen werden. „Die Vorlage ist die Proklamation der
finanziellen Zerrüttung und Anarchie in den sämtlichen deutschen Bundesstaaten"
(Dr. von Miquel). Das Reich hat sich auf die Beiträge der Einzelstaaten ver¬
lassen, dadurch aber sich selbst nichts genützt, vielmehr diesen geschadet. „Denn
die Form der Verträge trifft, wie Fürst Bismarck sagte, den kontribualen
Staat nicht gerecht nach den Verhältnissen seiner Leistungsfähigkeit. Das
Gefühl, zu ungerechten Leistungen herangezogen zu werden, entwickelt das Be¬
streben, einer solchen Ungerechtigkeit sich zu entziehen, und verstimmt."
Es werden sodann die verschiednen Reformversuche und deren teilweise
Mißerfolge vom Jahre 1873 bis 1906 näher geschildert, insbesondre die beiden
in der deutschen Finauzgeschichte so lehrreichen, gescheiterten Projekte: Reichs¬
eisenbahn und Tabakmonopol. Dadurch, daß das Reichseisenbahnprojekt nicht
verwirklicht worden ist, sind dem Deutschen Reiche bis jetzt Einnahmen in Höhe
von mindestens 5,7 Milliarden Mark entgangen, aus dem Scheitern des Tabak¬
monopolentwurfs von 1882 berechnet man einen Schaden von reichlich vier
Milliarden.
In dem folgenden fünften Kapitel wird das finanzielle Ver¬
hältnis des Reichs zu den Bundesstaaten erörtert. Bei der vorge¬
sehenen Neureglung des Reiches würde der von den Bundesstaaten so schwer
empfundne schwankende Charakter der Rückwirkung der finanziellen Verbindung
mit dem Reiche nahezu ganz beseitigt werden. Das gilt schon von den Über¬
weisungen, denn aus dem Zwischenhandel soll aus Branntwein regelmäßig ein
Reinertrag von 220 Millionen Mark herausgewirtschaftet werden. Für den
seltnen Ausnahmefall, daß trotz des in Aussicht genommnen Ausgleichsfonds
der Reinertrag einmal hinter diesem Betrage zurückbleibt, soll der Minder¬
ertrag dem Reiche zur Last fallen, soweit in dem betreffenden Jahrfünft die
Matriknlarbeiträge nicht unter dem gesetzlichen Höchstbetrage bleiben.
Die Matrikularbeiträge können allerdings innerhalb der durch diesen
Höchstbetrag gezognen Grenze schwanken, für das nächste Jahrfünft also
zwischen 0 und 80 Pfennig auf den Kopf der Bevölkerung. Aber durch diese
Höchstgrenze sind die Bundesstaaten nicht allein vor einer übermäßigen In¬
anspruchnahme für Neichszwecke gesichert, sondern auch iustaudgesetzt, im voraus
zu übersehen, wie hoch äußerstenfalls diese Inanspruchnahme sein kann, und
worauf sie sich demzufolge schlimmstenfalls einzurichten haben.
Daß auch das finanzielle Verhältnis der Gemeinden zum Reiche
durch die starke Abhängigkeit der beiderseitigen Finanzen und Finauzsysteme
berührt wird, wird an den Ausführungen des bekannten Professors der Rechte
von Blume in Halle«. S., der zugleich Stadtverordneter ist, und den sta¬
tistischen Zahlen des Denkschriftenbandes Teil über die Bedingungen,
die die öffentlichen Finanzwirtschaften etwa im Jahre 1896 und im Jahre
1907/08 bei Deckung ihres Kreditbedarfs eingehen mußten, in einem Anhange
näher dargelegt.
In dem sechsten Kapitel wird die Entwicklung des deutschen
Schuldenwesens behandelt und ausgeführt, daß die gegenwärtige einen
Zinsendicnst von jährlich 155^ Millionen Mark erfordernde Schuldenlast des
Deutschen Reiches in Höhe von 4^ Milliarden Mark unter Berücksichtigung
aller schon im Kern bewilligten künftigen Anleihen bis 1913 auf 5^ Mil¬
liarden Schulden angelangt sein würde, deren Zinsendienst einschließlich der
Verwaltungskosten voraussichtlich auf 190 Millionen Mark steigen wird.
Daneben betrugen die bundesstaatlichen Schulden Anfang 1908 (einschließlich
der langfristigen, verzinslichen Schatzscheine) mehr als 14^ Milliarden Mark.
Diese Schulden sind freilich im Gegensatze zu deu Reichsschulden vorwiegend
für produktive Zwecke, speziell für Eisenbnhnanleihen, eingegangen worden,
wenn auch meist ohne genügende Tilgung. Sie belasten aber ebenso wie die
in der Denkschrift des Reichsschatzamtes, erster Band, für das Rechnungsjahr
mit 7^/z Milliarden Mark angesetzten Gesamtschulden der deutschen Kommunal¬
anleihen in höchst unerwünschter Weise den Kapital- und Geldmarkt, sodaß
seit Mitte der neunziger Jahre alle Anleihen eine außerordentlich stark sinkende
Tendenz im Kurse verfolgen, die in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts
durch eine Steigerung unterbrochen wird, alsdann aber aufs neue beginnt und
bis zur Gegenwart fortdauert.
Demgegenüber zeigen sowohl England als auch Frankreich eine wesentliche
Verminderung ihrer Schulden. England verfolgt mit Konsequenz den Grundsatz
sehr starker Schuldentilgung, sodaß die infolge des Burenkricges 1903 auf 16 Mil¬
liarden angewachsne Schuld von 1904 bis 1907 wieder auf 15^ Milliarden
zurückgegangen ist. Auch die französische Staatsschuld, die in den achtziger
Jahren von 19.4 bis 20,2 Milliarden auf 25 bis 26 Milliarden angewachsen
war, zeigt seitdem zufolge planmäßiger gesetzlicher Tilgung eine bedeutende Ver¬
minderung, indem sie sich im Jahre 1907 auf 24^ Milliarden Mark stellte.
Dieser Anleihepolitik entsprechend stellte sich der Durchschnittskurs für die
englischen und französischen Anleihen wesentlich günstiger, er betrug 1907
Eine der bedenklichsten Erscheinungen in der Finanzgebarung des Reiches liegt
in der Zunahme der schwebenden Schulden, die in kurzfristigen unverzins¬
lichen Schatzanweisungen und langfristigen verzinslichen Schatzscheinen bestehn.
Namentlich die zuletzt genannten haben eine enorme Steigerung erfahren. Sie
sind vom Jahre 1901 mit 175 Millionen Mark 1902/04 auf 275, 1905/07
auf 350 und 1908 auf 475 Millionen Mark angeschwollen; für 1909 ist der
Höchstbetrag sogar mit 600 Millionen Mark in Aussicht genommen.
Im dritten Buch wird dann Deutschlands Bedarf und Leistungs¬
fähigkeit behandelt und die Frage, wie wir aus der Finanznot hinauskommen,
dahin beantwortet, daß eine energische Schuldentilgung vorgenommen, ferner
auf Jahre hinaus das Gleichgewicht zwischen Ausgaben und Einnahmen her¬
gestellt und endlich das Verhältnis zwischen Reich und Einzelstaaten endgiltig
geregelt werden müsse. Das Finanzgesetz schlägt in Paragraph 2 vor, die
Tilgung der Reichsanleiheschuld nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen
vorzunehmen:
Die Bestimmungen, welche für die Tilgung der zu werbenden Zwecken
bereits ausgegebnen Anleihen gelten, bleiben in Kraft. Zur Tilgung der bis
30. September 1909 begehren sonstigen Anleihen ist jährlich mindestens eins
vom Hundert des an diesem Tage vorhandnen Schuldkapitals unter Hinzu¬
nehmung der ersparten Zinsen zu verwenden.
Zur Tilgung des vom 1. Oktober 1909 ab begehren Schuldkapitals sind
jährlich
g.) von dem für werbende Zwecke bewilligten Anleihebetrage mindestens
1,9 vom Hundert,
d) im übrigen mindestens drei vom Hundert, in beiden Fällen unter Hinzu¬
rechnung der ersparten Zinsen zu verwenden.
Als ersparte Zinsen sind 5^ vom Hundert der zur Tilgung aufgewendeten
Summe anzusetzen.
Die danach zur Schuldentilgung erforderlichen Beträge sind jährlich durch
den Reichshaushaltsetat bereitzustellen. Abschreibungen vom Anleihesoll und
Anrechnungen auf offne Kredite bis zur Höhe der zur Schuldentilgung zur
Verfügung stehenden Beträge sind einer Tilgung gleichzuachten.
Im Beginn der Schuldentilgung stehen also wiederum auch neue An¬
forderungen. Es ist klar, daß man ohne neue Steuern die Schulden nicht
tilgen kann.
Der Mehrbedarf des Reiches ist für die Jahre 1909 bis 1913 auf
Milliarden berechnet worden, der durch die neuen Steuern zu decken ist.
Tatsächlich würden durch diese eben noch ungedeckt bleiben 194,1 Millionen
Mark, die, falls nicht zufolge der Entwicklung der wirtschaftlichen Konjunktur
ein tatsächlich besseres Ergebnis, als in den Einnahmeanschlägen vorgesehn ist,
eintreten sollte, nur im Wege weiterer strengster Sparsamkeit zu beschaffen
sein würden.
Die Frage, in welchen Beziehungen die Sparmöglichkeit und damit die
Möglichkeit von Abstrichen am Mehrbedarf besteht, wird dann eingehend erörtert,
zugleich aber vor einer falschen Scheinsparsamkeit gewarnt.
Das achte Kapitel erörtert in sehr interessanter Weise die Leistungs¬
fähigkeit Deutschlands im Vergleich mit andern Ländern. Als
allgemeinen Dnrchschnittssatz konnte man um die Jahrhundertwende einen
Standard von rund 200 Milliarden Volksvermögen annehmen und eine jähr¬
liche Vermehrung in Zeiten ständiger Wirtschaftsentwicklung von rund 2 Prozent
feststellen. Dagegen läßt sich das gesamte Volkseinkommen mit einem ziemlichen
Grade von Sicherheit auf mindestens rund 30 Milliarden jährlich als unterste
Grenze berechnen. Von diesen 30 Milliarden würde also der Gesamtbetrag
der neuen Steuern nur ein Sechzigste! in Anspruch nehmen. Bleibt man bei
der durchschnittlichen Schätzung, daß sich das Volksvermögen um 2 Prozent
seines Bestandes jährlich vermehre, so gelangt man nunmehr zu einem Ver¬
mögenswachstum über 5 bis 6 Milliarden, wovon durch die neuen Steuern
ein knappes Zehntel absorbiert werden würde. Dabei wird an der Hand der
Statistik für die einzelnen Bundesstaaten dargetan, daß überall seit 1896 das
Einkommen wesentlich stärker gestiegen ist als die Bevölkerung,
in zahlreichen Fällen mehr als doppelt so stark. Ebenso wiesen die Einlagen
bei den Sparkassen zwischen den Jahren 1875 und 1907 ein Anwachsen von
rund 1870 auf 13890 Millionen Mark oder eine Steigerung wie von 100
auf 743 auf. Die Kreditoren und Depositen der deutschen Depositenbanken
stiegen von 1883 bis 1907 von 313 auf 7050 Millionen oder wie 100 auf
867 Millionen. Hiervon sind allerdings nur die Depositen als Spareinlagen
«"gesehn. Immerhin stiegen aber gerade sie auf das neunfache (die Kreditoren
nur auf das achtfache). Die Depositen betrugen 1883 284 Millionen, 1907
2643 Millionen. Die fremden Gelder, die den deutschen Kreditgenossenschaften
anvertraut wurden, betrugen bei dem Allgemeinen Verband 1880 353,1 Millionen,
1V07 916,5 Millionen, beim Darmstädter Verband 1896 109 Millionen,
1906 1373 Millionen. Die Versicherungswerte der Immobilien bei den öffent¬
lichen Zwangsversicherungsanstalten stiegen in dem Zeitraum 1875 bis 1909
pro Kopf der Bevölkerung von 763 auf 1458 Mark, das heißt um 465 Mark.
Im Jahre 1909 ist mit etwa 140 Millionen Versicherungswerten zu rechnen.
Der Wert des Hausmobiliars der einzelnen Familien hat sich nach von
Rasp um ein Fünftel vergrößert. Andrerseits wird die Steigerung der
Produktivität für die letzten Jahrzehnte auf die Berufsstatistik wie die
Maschinenstatistik verwiesen. Es stieg nach jener in Preußen zwischen 1895 und
1907 die Zahl der Erwerbstätigen im Hauptberuf von 12 auf fast 16 Millionen
oder wie von 38,17 auf 42,04 Prozent der gesamten Bevölkerung.
Aus diesen und weitern über die einzelnen Gewerbe und die Entwicklung
des Außenhandels und der Löhne sowie der heimischen Konsumtionskraft mit¬
geteilten Zahlen läßt sich folgendes Fazit ziehen:
1. Die Zahl der industriellen Arbeiter steigt schneller als die Bevölkerungs-
zahl. Die Verwendung arbeitsparender Maschinen steigt noch in weit größern
Progressionen. Beide Faktoren zusammen ergeben eine ganz bedeutende Steigerung
der Produktion, die weit über das Maß der Volkszunahme hinausgeht. Die
Ausfuhr hat nicht in entsprechendem Tempo zugenommen wie die Produktions¬
steigerung. Nach alledem verbleibt ein rapides Anwachsen des inländischen
Konsums als schlagender Beweis zusehends steigender Konsumkraft, das heißt
zusehends steigenden Wohlstands.
2. Soweit direkte Ergebnisse der Produktionsstatistik vorliegen, bestätigen
sie für Landwirtschaft wie Bergbau dieses Resultat.
3. Die Entwicklung der Löhne zeigt eine stündige Steigerung bei gleich¬
zeitigem Rückgang der Auswandrung.
Schließlich wird die von Steindamm-Bucher für die vier wirtschaftlich stärksten
Mächte aufgestellte Schätzung des Volksvermögens wiedergegeben:
„In Deutschland steht demgegenüber auf der andern Seite eine Belastung
mit allen Steuern insgesamt von nur wenig mehr als 3000 Millionen Mark
(genau 3060) oder noch nicht 50 Mark auf den Kopf der Bevölkerung. Jetzt sollen
400 bis 500 Millionen neue Steuern hinzukommen, also etwa ein Siebentel
der bisherigen Steuerlast, ein Sechzigste! des jährlichen Volkseinkommens. Kein
Vernünftiger wird sagen, daß dies unerschwinglich sei. Nur muß die Steuerlast
in richtiger Weise verteilt werden. Wie dies zu geschehen habe, darüber wird
der zweite Teil des Führers Auskunft geben, wobei es gut sein wird, auch die
Erfahrungen des Auslandes zum Vergleich heranzuziehen."
le von der Staatsregierung eingeschlagnen Wege zur Hebung des
Kurses der Reichs- und Staatsanleihen scheinen auch uns geeignet,
die Kurse der Städteobligationen nicht nur günstig zu beeinflussen,
sondern auch vor allem die Emission neuer Kommunalanlcihen
zu überwachen.
Außer den schon angeführten Ursachen ist es vor allem die umfassende
Auslosung, die einen dauernd günstigen Kursstand der Stadtschuldverschreibungen
hindert. Zweifellos zeigt jede beschleunigte Auslosung, daß die Städte zur
Tilgung ihrer Schulden sehr wohl in der Lage sind, und daß die Stadtobligationen
an Solidität keinem andern Papier nachstehn, aber der auf dauernde Renten
bedachte Kapitalist wird durch solche Maßnahmen mißgestimmt, schon die stetig
zu übende Kontrolle über die aufgelösten Stücke und die sich hieraus ergebende
Neuverwertung des Geldes sind ihm lästig. Von Ankauf fremder Stadtobligationen
wird er hierdurch vollends abgehalten, und zum mindesten auch deshalb, weil
sich die einzelnen Städte um den Kurs ihrer Papiere nur selten oder gar nicht
kümmern und unter sich jedwede Fühlung auf dem Gebiete des Kommunal¬
kredits verlieren. Diese Übelstände sind auch nicht dadurch beseitigt worden, daß
sich in letzter Heit bei der Überschwemmung des Marktes mit Anleihewerten
die Kommunalkörperschaften zu einem 4- bis ^/yprozentigen Typus ihrer
Obligationen haben bequemen müssen. Auf Grund der geschilderten Umstände ist
die einzelne Stadt den Bankorganisationen gegenüber völlig machtlos. Köln erhielt
auf seine Submission einer 36 Millionenanleihe zu Prozent im Jahre 1906
kein einziges Angebot, aber wohl die Erklärung, daß bei derzeitiger Lage des
Geldmarktes eine Z^prozentige Stadtanlcihe einfach nicht möglich sei. Jetzt
hat Köln dieselbe Anleihe zu 4 Prozent untergebracht. Elberfeld eine 10 Millionen¬
schuldverschreibung zu 4 bis 41/2 Prozent. Und man darf sich nicht dem Glauben
hingeben, als ob durch spätere Konvertierung ein günstigerer Typus für diese
Anleihen beschafft werden könnte. Jetzt, wo eine Verzinsung von 4 Prozent
einmal erreicht worden ist, wird sie die Grundlage und Vorbedingung jeder
weitern Anleihe sein, da das kauflustige Publikum genügend Jndustrieobligationen
An gleich und höher verzinslichem Zinsfuß vorfindet. Namentlich dürfte in Preußen
die Novelle für Besteuerung der nichtphysischen Personen (Gesellschaftssteuer),
die bekanntlich die industriellen Schuldverschreibungen steuerfrei läßt, auf diese
Verhältnisse deshalb nicht ohne Einfluß sein, als manche Gesellschaft die Auf¬
nahme einer Anleihe der Vermehrung des Aktienkapitals vorziehen wird.
Daß hierin Wandel geschaffen werden muß, ist heute die einstimmige
Überzeugung aller interessierten Kreise. Und es hat an Vorschlägen der ver¬
schiedensten Art denn auch nicht gefehlt. Der wichtigste scheint für uns der
nach einer allgemeinen Zentralisierung des Kommunalkredits zu sein. Wir
haben schon erwähnt, daß die Banken aus den verschiedensten Gründen nur
ungern eine städtische Anleihe übernehmen. Für ihr Verhalten ist auch ma߬
gebend, daß die Vermittlungsgebühren bei Kommunalanleihen durchschnittlich
geringer sind als bei Emission von Pfandbriefen. Außerdem haben die Städte
bis heute wohl durchweg die Vertreibung ihrer Obligationen durch bezahlte
Vermittler vermieden, auch zahlen sie keine Provision für die Einlösung der
Coupons und verkosten Stücke und gewähren keine Ausnahmepreise bei größerer
Abnahme von Stücken. Also alles Umstände und Formen, die heute der bank¬
mäßige Betrieb verlangt. Es bleibt also für die Kommunen nur die Alternative:
entweder sich allen Gebräuchen, die Bank und Börsenwesen heute erfordern,
anzupassen, oder sich durch eine wohldurchdachte Organisation von jenen Ver¬
hältnissen unabhängig zu machen, wenn auch nicht gänzlich, so doch in einem
gewissen Umfange.
Für diesen Weg, eine Zentralisierung des Kommunalkredits, hat die
preußische Staatsregierung schon für ihre eignen Zwecke, die ja in vielfacher
Beziehung dieselben sind, durch eine verstärkte Machtstellung der Seehandlung
einen Fingerzeig gegeben. Seit der erwähnten Kapitalvermehrung der See¬
handlung von 34,4 auf 94,4 Millionen Mark wird keine Reichs- und Staats¬
anleihe mehr von einem Bankkonsortium kontrahiert, dessen Führung nicht in
den Händen der Seehandlung liegt. Wenn die Seehandlung im Jahre 1907
nicht in der Lage gewesen wäre, von den 1905 begehren aber nur zum Teil
verkauften Schatzanweisungen des Reichs und Preußens 120 Millionen Mark
in ihren Tresors zu halten, würden die 700 Millionen Mark neuer An¬
leihen im Herbst des Vorjahrs wohl schwerlich von einem Bankkonsortium
übernommen worden sein, jedenfalls nicht zu einem 4prozentigen Typus. Wenn
die deutschen Kommunen ein ähnliches oder gleiches Zentralinstitut besäßen wie
Preußen, brauchten die kleinern von ihnen bei Begehung einer neuen Anleihe
nicht mehr betteln zu gehn.
Versuche zu einer solchen Zentralisierung liegen bereits verschiedentlich
vor. Es ist heute schon die Regel, daß die kleinern Gemeinden Rheinlands
und Westfalens bei der Landesbank ihrer Heimatprovinz ihre Darlehn aufnehmen-
Dies sind vor allem solche Gemeinden, die heute Geld für Kanalisation, morgen
für ein Gaswerk und dann für ein Wasserwerk brauchen, die Kontrahierung
einer einmaligen Anleihe für jene Zwecke also entweder nicht wagen oder nicht
können. Vielleicht zersplittern sie auf diese Weise nur deshalb ihre finanziellen
Kräfte, da in Preußen die Regierung für jede Anleihe eine Mindesthöhe von
250000 Mark fordert, die jedoch über die Kraft der Gemeinde hinausgeht.
Ausnahmen von dieser Mindesthöhe werden jedoch sehr oft gemacht; so gibt es
Städte mit Anleihen von 100000 Mark, ja 70000 Mark. Von der Börse
sind also diese Obligationen schon von vornherein ausgeschlossen; die Kurs¬
notierung — falls überhaupt eine zustande kommt — würde in diesen Fällen
auch nicht im geringsten den innern Wert der Stücke repräsentieren.
Weiterhin gibt es heute mehrere Hypothekenbanken, die mit dem Hypotheken¬
geschäft den Kommunalkredit verbinden. So beispielsweise die Preußische Zentral¬
boden-Aktiengesellschaft in Berlin, die Rheinische Hypothekenbank in Mannheim,
die Aktiengesellschaft für Boden- und Kommunalkredit in Elsaß-Lothringen, die
Schlesische Aktiengesellschaft u. a. in. Auch kann die seit 1871 bestehende
Kommunalbank für das Königreich Sachsen in diese Rubrik mit eingereiht
werden. Allein all diese Bestrebungen und Einrichtungen verfehlen deshalb ihren
Zweck, weil sie unter sich keinerlei Fühlung haben und sodann für größere
Anleihen überhaupt nicht in Betracht kommen. Und wenn jene Institute zur
Erzielung der oben geschilderten Zwecke vor allem errichtet sind, müssen sie
leider als gescheiterte Versuche bezeichnet werden.
Eine vorgeschlagne und auch von uns noch weiter unten zu erörternde
Zentralisierung des Kommunalkredits kann nun mit und ohne Hilfe der Staats¬
regierung geschehn. Im letzten Falle kann der Staat Privatinstitute anregen,
sich mit der Kreditgewährung an kommunale Körperschaften besonders zu befassen.
Das kann unter Umständen von großem Nutzen sein, da sich die Banken, wie er¬
wähnt, nicht gern mit solchen Geschäften befassen. Bereits bestehende Institute
dieser Art find allerdings die obengenannten Hypothekenbanken; vor allem aber
der öl-6<Zit tonoier in Paris, dessen Tätigkeit sich über ganz Frankreich ausdehnt
und in dieser Hinsicht keinen Mitbewerber hat, deshalb eine Zentralinstanz ist.
Sodann kann der Staat öffentliche Institute selbst schaffen zur Gewährung
kommunalen Kredits, wie es Belgien im Or6an ooMraunal bereits getan hat.
Eine derartige Maßnahme kommt für das Deutsche Reich jedoch gar nicht
in Betracht; sie könnte höchstenfalls in den größern Bundesstaaten verwirklicht
werden. Schließlich kann der Staat selbst die Kommunalanleihen übernehmen,
wie es in England oft geschieht. Aber auch diese Art Kreditgewährung kommt
für deutsche Verhältnisse nur wenig in Frage, da nach dieser Richtung hin die
Staatswesen schon mit sich selbst zu sehr beschäftigt sind.
Auf welche Weise soll nun ein Institut zur Zentralisierung des städtischen
Kredits errichtet werden, und in welcher Form? Der Staat als Mithelfer
scheidet nach dem Vorherigen schon ganz aus. Es blieben also nur die Städte
als Gründer allein übrig.
Da die zu errichtende Städtebank, wie wir sie kurz nennen wollen, mit
Anleihen von 2 bis 3 Milliarden stündig zu arbeiten haben wird, müßte sie
Ma mindesten ein Grundkapital von 60 Millionen Mark haben, damit sie auch
M jeder Zeit in der Lage ist, die im freien Verkehr zu niedrigen Kursen cm-
gebotnen Stücke auszulaufen und für eine längere Dauer in ihrem Portefeuille
aufzubewahren. Da alle Städte mit Ausnahme der unter 10000 Einwohner
zählenden lebhaftes Interesse an der Gründung einer solchen Bank haben, diese
andrerseits aber nur solche Gewinne zu erzielen braucht, um die Verwaltungskosten
zu bestreiten, also von jedem überschießenden Reingewinn von vornherein ab¬
sehen kann, dürfte die Rechtsform einer Genossenschaft mit beschränkter Haftung
die geeignetste sein. Je nach dem Verhältnis ihrer Steuerkraft würden die
„Städtegenossen" die Anteilscheine zu übernehmen haben. Die hierfür erforder¬
lichen Summen könnte jede Stadt wohl am besten dadurch erzielen, daß sie auf
etwa fünf Jahre die Auslosung einer oder mehrerer Anleihen suspendiert und die
so freiwerdenden Gelder zum Ankauf der auf sie entfallenden Anteilscheine der
Genossenschaftsbank verwendet. Die Inhaber der Stücke dürften aus den schon
oben angeführten Gründen mit der Suspendicrung der Auslosung auf eine zu
bestimmende Frist sehr wohl einverstanden sein. Kommunalkörperschaften, bei
denen die auf diese Weise erzielten Summen nicht ausreichen, würden sicherlich
in der Lage sein, aus etwa bestehenden Fonds die erforderlichen Mittel zu
nehmen. Ob durch einen Steuerzuschlag für ein oder mehrere Jahre oder durch
etwaige Überschüsse in der Steuerveranlagung die für Gründung der Bank not¬
wendigen Mittel ausnahmsweise beschafft werden können, scheint uns — soweit
die preußischen Gesetze in Betracht kommen — sehr fraglich zu sein. Hier dürfte
die beaufsichtigende Behörde die Zustimmung versagen. Ein andrer Weg würde
der sein, für eine Reihe von Jahren einen Posten für Ankauf der Bankanteil¬
scheine in den Etat einzusetzen.
Die Aufbringung des Grundkapitals in Höhe von 60 Millionen Mark
dürfte nicht die größten Schwierigkeiten bereiten. Wenn sich an der Bank¬
gründung nur die über 50000 Einwohner zählenden deutschen Städte beteiligen
würden, auch wenn wir Hamburg, Lübeck und Bremen ausschließen, so entfielen
auf jedes angefangene 50000 etwa 250000 Mark. Köln mit 428000 Ein¬
wohnern würde das Neunfache von 250000 Mark — 2,250 Millionen Mark —
aufzubringen haben. Es darf nun weiter nicht vergessen werden, daß 60 Millionen
die überhaupt in Betracht kommende Höchstsumme für Gründung der Städtebank
darstellt, und daß andrerseits die vielen Städte unter 50000 ebenfalls zur
Einzahlung des auf sie entfallenden Genossenschaftskapitals geneigt sein
werden. Düsseldorf würde bei dieser Berechnung etwa 1^ Millionen Mark
Grundkapital übernehmen müssen, also einen Betrag, der dem Reinzuschuß ent¬
spricht, den Düsseldorf 1906 für seinen Schuldendienst aufgewandt hat. Daran
sieht man, daß die Schwierigkeiten für Aufbringung des Gesellschaftskapitals, das
überdies nicht auf einmal beschafft zu werden braucht, wohl zu überwinden sein
dürften. Wenn die Städtebank die Rechte einer Hypothekenbank erlangt, dürfte
die Hälfte des angenommnen Grundkapitals schon zweifellos ausreichen. Und
diese Aussichten sind um so berechtigter, als es sich auch hier nur um mündcl-
sichcre Papiere handelt.
Die Gründung einer Städtebank im Zusammenhang mit der Sparkassen¬
konzentration halten wir deshalb nicht für erstrebenswert, da hierdurch leicht
kommunalwirtschaftliche und privatwirtschaftliche Interessen verknüpft werden
oder in Widerstreit geraten können. Die Gründung von Städtebanken in den
einzelnen Provinzen oder Einzelstaaten mit gleichen Interessen erscheint uns
nicht als ein glücklicher Griff, als dadurch die Zentralisierung des Kommunal-
krcdits vermieden und somit die bestehende Abhängigkeit der Städte von den
Bankkonsortien nicht aufgehoben wird. Eine solche Partialbank dürfte auch
Wohl nicht in der Lage sein, allen an sie auf dem offnen Markt der Obligationen
herantretenden Aufgaben gerecht zu werden. Die privaten Großbanken würden
nach nicht zu langer Zeit den Bestand derartiger Institute gefährden, sie ins
Schlepptau zwingen, und der jetzige Zustand würde sich aufs neue einstellen.
Auch wenn man solche Partialbanken nur als vorläufige Versuche errichten
wollte, würden alle Reformen vergeblich sein, da nach einem ungünstigen Verlauf
alle weitern Pläne durchkreuzt sein würden.
Heute haben die Städte ihre Anleiheschulden gedeckt bei eignen Sonder¬
kassen und Stiftungen der Stadt, bei eignen oder fremden Sparkassen, beim
Reichsinvalidensonds, den Reichsversicherungsanstalten, öffentlichen und andern
Banken, privaten Lebens-, Feuer- und ähnlichen Versicherungsgesellschaften und
bei einzelnen Privatpersonen.
Die Tätigkeit der Städtebank hätte sich nicht nur auf die Abschlüsse der
Anlehnsgeschäfte zu erstrecken, sondern auch auf die Gewährung von schwebenden
Schulden und Darlehen, von denen namentlich die kleinern Gemeinden Gebrauch
machen dürften. Durch die Schaffung eines sich über das ganze Reich er¬
streckenden Marktes für Städteobligationen würde die Städtebau! jederzeit in
der Lage sein, einen hohen Barbestand zu führen. Mit den Sparkassen müßte
die Bank in Giroverkehr treten. Auch dürfte sie in der Lage sein, die Ein¬
richtung eines Städteschuldbuchs durchzusetzen, das sich im Reich und in
Preußen sehr gut bewährt hat und bereits in Frankfurt am Main besteht.
situes Low, ein englischer Publizist, berichtete am 13. Januar 1906 im
Standard, einem Deutschland wenig freundlichen Blatte: „Die deutschen Städte
genießen den Ruf, daß sie mit Klugheit verwaltet werden. Kaufleute und
Geschäftsleute, die es zu etwas gebracht haben, nehmen ein tätiges Interesse
an der Arbeit in den meisten größern und vielen der kleinern Städte." Mögen
die deutschen Städte zeigen, daß sie auch das größere Problem lösen, das das
Anleihewesen ihnen gegeben hat.
MA)a es das Land des großen Abfalls ist, in dem der Modernismus
blüht, so darf man bei der Unfähigkeit der italienischen Priester,
modernes Geistesleben zu verstehen, wohl annehmen, daß es eine
verkehrte Kausalverknüpfung französischer Dinge gewesen ist, was
die vatikanischen Blitze des Jahres 1907 verursacht hat: man
hat den Abfall auf die gottlose moderne Theologie zurückgeführt. Bekanntlich
verhält sich die Sache umgekehrt. Der Galloromane ist ein genußfreudiges,
nüchtern verständiges Weltkind; doch ist seinem Temperament eine Dosis
leidenschaftlicher Phantastik beigemischt, die sich auf dem politischen Gebiete in
Übereilungen und revolutionären Konvulsionen äußert und, wenn sie sich aufs
religiöse Gebiet wirft, bald schwärmerische Selbstaufopferung bald Bigotterie
und Fanatismus zeitigt. Solange romantisch angehauchte Aristokraten und
Dynastien, die den kirchlichen Apparat als Stütze ihrer Throne verwandten,
die Gewalt innehalten, nahm die Religion, deren Ausübung teils erzwungen
wurde, teils wenigstens Vorteil brachte, einen viel breitern Raum im äußern
Leben als im Gemüte der Franzosen ein. Nachdem die alten Gewalten durch
Geldmänner, Literaten und Advokaten ersetzt, die äußern Stützen also dem Kirchen¬
wesen entzogen waren, hätte dieses allmählich zusammenbrechen müssen, auch
wenn nicht die Feindschaft der Intellektuellen planvoll an seiner Zertrümmerung
gearbeitet hätte, eine Feindschaft, die besonders durch die widerwärtigen Er¬
scheinungen täppischer Bigotterie, kindischer Wundersucht und unwissenschaftlicher
Blindgläubigkeit zum fanatischen Haß entflammt wurde. Fromme und dabei
gescheite Geistliche, die das einsahen, strebten die Religion dieser höchst unzeit¬
gemäßer Form zu entkleiden und mit dem modernen Denken und Fühlen zu ver¬
söhnen. Die einen studierten die Kantische Philosophie, die andern die deutschen
Bibeltntiker, und da sie nun erkannten, daß sich die katholische Dogmatik nicht
unverändert aufrecht erhalten lasse, so versuchten sie auf der katholischen Seite,
wie Harnack und die Freunde Rades auf der evangelischen, vom Christentum zu
retten, was zu retten ist. Pius aber, der einfältig fromme Bauernpfarrer, fuhr
in seiner falschen Annahme mit seiner Muskelkraft drein. Den Kirchenfeinden
freilich, die schadenfroh lachend zuschauten, konnte die von mönchischen Theologen
geschnitzte Keule nichts tun, aber den wohlmeinenden Freunden der Kirche, den
einzigen in Frankreich, die für das Siechtum der Religion das richtige Heil¬
mittel gefunden hatten, sauste sie auf die Köpfe. Schmerzlich getroffen schreien
sie auf in der Antwort der französischen Katholiken an den Papst
(deutsch bei Eugen Diederichs in Jena, 1908). Sie klagen, daß Pius „eine
ruhmeswerte und segensreiche Tätigkeit brutal vernichte", daß die lehrende
Kirche laut und in authentischer Form „die besten, die hochgesinntesten, die
gebildetsten, die sie am meisten liebenden ihrer Söhne desavouiere". Sie be¬
haupten, der Modernismus, den der Vatikan verdamme, sei gar nicht der ihre;
Syllabus und Enzyklika enthielten ein von vatikanischen Theologen entworfnes
System, zu dem man einige Ideen der Modernisten, die falsch verstanden
würden, und einige ihrer echten Bedeutung beraubte Sätze verwandt habe,
und sie protestieren dagegen, daß ihrer Tätigkeit unedle Motive wie Stolz
und Neugier untergeschoben würden. Die sehr rhetorisch gehaltne Schrift
zeichnet sich nicht eben durch Klarheit aus, und es scheint, daß ihre Verfasser
im Eifer für die Versöhnung mit den modernen Ideen so weit gehn, daß
auch gläubige Protestanten ihnen kaum zu folgen geneigt sein werden.
Weit klarer und zugleich gründlicher ist das (ebenfalls bei Eugen Diederichs
in Jena deutsch erschienene) Programm der italienischen Modernisten,
eine Antwort auf die Enzyklika kasesQäi, die als Anhang beigegeben ist.
Sehr schön wird die Annahme der Enzyklika widerlegt, die Bibelkritik der
Mvdernisten entspringe ihrem unkatholischen philosophischen System. Wir
haben gar kein System, sagen sie. Sondern die Bibelkritik, die vor mehr als
zweihundert Jahren der Oratorianer Richard Simon, ohne von der Hierarchie an¬
gefochten zu werden, in Gang gebracht hat, macht den alten Jnspirations-
begriff und die scholastische Begründung der Dogmen aus der Heiligen Schrift
hinfällig; damit gerät das Dogmensystem selbst ins Wanken, und wir sind
eben bemüht, für die christliche Religion andre, festere Stützen zu suchen, da
die der Scholastik versagen. Tastend schreiten wir vorwärts in diesem
Wirrsal und hoffen allerdings mit der Zeit ein System ausbauen zu können
Zum Ersatz für das veraltete scholastische, vorläufig aber haben wir es noch
nicht. Dieses Programm ist früher erschienen als die Antwort der franzö¬
sischen Katholiken, die in ihrer Schrift erzählen, der Papst habe jenes gähnend
gelesen und zu seiner Umgebung gesagt, so was langweiliges sei ihm schon
lange nicht vorgekommen.
Der in den Zeitungen vielgenannte Romolo Murri ist kein Modernist;
davon hat uns eine Sammlung seiner in der (Xilwrg. Sociale erschienenen
Essays überzeugt, deren deutsche Übersetzung unter dem Titel: Das christ¬
liche Leben zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (bei Hermann I. Freuler
in Cöln-Weiden, 1908) erschienen ist. Er beschäftigt sich weder mit Philo¬
sophie noch mit Bibelkritik. Jede naturalistische Erklärung der Entstehung des
Christentums lehnt er mit Entrüstung ab. Die Bücher von Harnack und Loisy
findet er arg ketzerisch, meint aber, es sei trotzdem unklug, sie und ähnliche
Schriften zu verbieten. Denn die meisten Namenskatholiken (er hat nur feine
Landsleute im Sinne) seien halbe oder ganze Heiden. Eine genießbare
katholische Literatur und Presse gebe es kaum, und soweit sie Vorhemden, werde
sie von den Neuheiden nicht beachtet. Da sei es doch besser, diese lasen
Sachen, in denen sie wenigstens noch ein Restchen von Christentum fänden,
als atheistische Bücher, die alle Religion verleugneten und den Haß gegen sie
schürten. Die Bekämpfung solcher gutgemeinten Schriften erscheint ihm als
Ausfluß einer falschen Wiedererweckung des Katholizismus, die gerade dessen
unhaltbare und bedenkliche Lebensäußerungen, die Wundersucht und einen über¬
triebnen Zeremoniendienst, mit Vorliebe kultiviere. Wenn aber völlig orthodoxe
Christen die allerrohesten Formen der Volksreligion abgestreift hätten, ohne
daß darüber die Kirche zugrunde gegangen sei, so könne diese noch etwas
weiter gehn und auf manche dem heutigen Empfinden anstößige Vorstellungen
und Bräuche, wie die Vorstellung von den leiblichen Höllenstrafen und die
Einsperrung zehnjähriger Kinder in Klöster und Knabenseminare verzichten.
Aber das alles ist für ihn nicht die Hauptsache. Ihn schmerzt und beunruhigt
es, zu sehen, daß das Leben ganz heidnisch geworden sei, daß die Priester in
der Sakristei stecken bleiben, anstatt sich missionierend im Volke zu bewegen,
und daß es atheistische Sozialisten sind, die sich dem Volke als Helfer, Führer
und Organisatoren anbieten. Gerade der Kirche liege diese Aufgabe ob, sie
sei berufen, den herrschenden gottlosen Liberalismus der Bourgeoisie durch eine
wahre christliche Demokratie zu verdrängen. Auch aufrichtig gläubige Katholiken
handelten heute nach heidnischen Grundsätzen, ohne sich in ihrem Gewissen be¬
unruhigt zu fühlen. Diesem Zustande müsse ein Ende, mit dem Christentum
müsse wieder Ernst gemacht werden. Der Mann ist so urkatholisch fromm,
daß er der Kirche allein das Recht der Ehegesetzgebung zuspricht, und daß er
sich den Geist der Erneuerung des Christentums nur als vom Kloster aus¬
gehend denken kann. Ja er phantasiert von industriellen Unternehmungen
der Klöster, die das Volk von der Herrschaft des Kapitals erlösen sollen.
„Denn eine liberale, heidnisch lebende Bourgeoisie hat sich der neuen Quellen
des Reichtums bemächtigt; sie zwingt uns, sie zu ernähren, sie eignet sich die
Produkte der Arbeit an, und sie tyrannisiere die Arbeiter und deren Kinder in
sozialer wie in religiöser Beziehung." Was ihn und seine Mitarbeiter in
Konflikte mit der Kurie verwickelt hat, ist nur deren Anmaßung, die Arbeiter¬
organisationen der Reglementierung und Disziplinierung durch die Bischöfe zu
unterwerfen, die sich als unfähig erwiesen haben, solche Organisationen zu
gründen und zu leiten. Den Gemütszustand eines ganzen Volkes richtig zu
beschreiben und zu zeigen, wie seine Lebensäußerungen daraus hervorgehn,
würde auch für einen, der es aus jahrzehntelanger Beobachtung genau kennte,
noch schwierig genug sein. Murri schreibt das eine mal, Italien sei glücklicher¬
weise noch — nach Spanien — das am meisten katholische Volk der Welt.
An einer andern Stelle dagegen berechnet er aus der Statistik der katholischen
und der antikatholischen Zeitungen, daß die Katholiken nur den funfzigsten
Teil der Bevölkerung ausmachen. Doch ist der Schluß voreilig, daß alle
Katholiken, die „die schlechte Presse" unterstützen, weil „die gute" entweder
zu dürftig oder zu langweilig oder gar nicht vorhanden ist, Heiden seien
oder mit der Zeit solche werden müßten. Der Mensch hat einen guten
Magen und verdaut die tollsten Widersprüche; er kann unter andern: auch eine
marxistische Zeitung gläubig lesen und trotzdem nicht minder gläubig nach
Loreto wallfahrten gehn. Jene echte, reine, innige, das ganze Leben durch¬
dringende Religiosität, die der fromme und edle Murri fordert, ist nie und
nirgends allgemein gewesen und wird nie und nirgends allgemein sein. Mit
den italienischen Arbeitern jedoch, die in der ganzen Welt dafür bekannt sind,
daß sie fleißig arbeiten und den größten Teil des Wochenlohns ihrer Familie
schicken, trotz halb- und mehrjähriger Trennung von ihr, und die dabei in
ihrer kindlichen oder kindischen Frömmigkeit oder ihrem Aberglauben, wie es der
Aufgeklärte nennt, die Madonna anrufen, darf die Kirche schon zufrieden sein;
und wenn sich alle italienischen Priester so eifrig des armen Volkes annähmen,
wie es Murri und seine Mitarbeiter tun, so würde dieses, wenig angefochten
vom Atheismus seiner Brotherren, mit seiner Kirche zufrieden sein. Die Bibel¬
kritik verursacht ihm sicherlich weder Skrupel noch Schmerzen. (Im letzten
Wahlkampfe hat sich Murri, von Sozialdemokraten und Radikalen unterstützt,
um ein Mandat beworben; das dürfte seinen definitiven Bruch mit der Kurie
unvermeidlich machen.)
Einen interessanten einsamen Denker und Kämpfer lernen wir aus dem
Glaubensbekenntnis eines katholischen Mannes (Berlin, Hermann
Walter, 1908) kennen. Der Verfasser, der Oberpostinspektor Robert
Schwellenbach, hat nach einer frommen Kindheit den Glauben verloren
und ihn dann schrittweise wiedergewonnen. Er hat sehr fleißig sowohl Natur¬
wissenschaften wie Bibelkunde studiert und zuletzt entdeckt, daß seine religiösen
Anschauungen im Grunde genommen mit den Lehren der katholischen Kirche
vollkommen übereinstimmen. Das ist aber, schreibt er, „nicht etwa so zu ver¬
stehen, daß ich, des Grübelns müde und an der Erkenntnis der Wahrheit
verzweifelnd, wieder zur Religion meiner Kindheit zurückgekehrt wäre. Nein,
ich bin fest davon überzeugt, daß die katholische Kirche als die einzige unter
allen bestehenden Religionsgesellschaften den Anspruch erheben darf, die religiöse
Führerin der Menschheit zu sein. Aber der katholische Glaube, den ich jetzt,
nachdem ich durch alle religiösen Irrtümer hindurchgegangen bin. besitze, ist
anders als der Glaube meiner Kindheit, anders zwar nicht dem Wesen, jedoch
der Form nach." Diese neue Form, seine Auffassung der Dogmen und Kult¬
bräuche, legt er nun ausführlich dar. Es ist ihm, wie man ans manchen
Wendungen schließen darf, hauptsächlich darum zu tun, seine Glaubensgenossen
für eine Auffassung und Deutung der Kirchenlehre zu gewinnen, die alles dem
modernen Menschen Anstößige daraus entfernt, und dadurch die von den ge¬
bildeten Katholiken selbst beklagte Inferiorität zu überwinden. Er verfolgt
also dasselbe Ziel wie die Modernisten, wenn er auch wahrscheinlich nicht zu
diesen gerechnet werden will. Wäre er Theologe, so würde er der Zensur
durch die Jndexkongregation nicht entgehn. Als Laie wird er unbehelligt
bleiben, freilich leider auch unbeachtet. Es gehört zu den betrübenden
Wirkungen der letzten päpstlichen Maßregeln, daß die katholischen Zeitungen
solche Bücher wie die von Murri und Schwellenbach nicht mehr zu empfehlen,
kaum uoch zu nennen wagen; bis zum Sommer 1907 hatte wenigstens die
Kölnische Volkszeitung ihren Lesern die Scheuklappen noch nicht zugemutet.
Welche Anziehungskraft der Katholizismus auf Protestanten von einer
gewissen Seelenkonstitution auszuüben vermag, ersehen wir aus den (bei
G. Pillmeher in Osnabrück 1908 erschienenen) Hxistulg-s rscliviv-z.«?. Der
Verfasser, der unter dem Namen Ansgar Albing Romane und Feuilletons
schreibt, nennt sich im bürgerlichen Leben Baron de Mathies und ist der 1868
geborne Sohn eines Hamburger Generalkonsuls. Die von den verschiedensten
Orten aller fünf Erdteile datierten Briefe sind an Verwandte und Freunde
gerichtet, unter denen man Bischöfe, Professoren und Aristokraten findet, auch
eine, wie es scheint englische, Königliche Hoheit. Aus den in diesen Briefen
zerstreuten gelegentlichen Angaben läßt sich folgende Lebensskizze zusammen-
stellen. Als seine Neigung zum Katholizismus bekannt wurde, schalt man ihn
einen Romantiker. Er versichert aber, daß ihn nüchterne Logik leite. Allerdings
sei er mit lebhafter Phantasie begabt, aber eben darum suche er, um nicht von
ihr auf Abwege geführt zu werden, einen sichern Halt in einer klaren Glaubens¬
überzeugung. Die könne ihm, das sei ihm schon bei der Konfirmation völlig
klar geworden, die evangelische Kirche nicht gewähren, denn die Pastoren
widersprächen einander. Wenn man ihm den Protestantismus anpreise, müsse
er immer fragen: welcher Protestantismus? Den rationalistischen Pastoren,
die er kennen lernte, fehlte die religiöse Wärme, den Pietisten ein logisches
System. Da lernte er nacheinander drei Bücher kennen, die ihn auf den rechten
Weg brachten. Das erste war das Look ok (üominou ?rg^ör, das ihm ein
älterer Bruder aus England mitgebracht hatte. Darin fand er eine entsprechende,
schriftgemäße Liturgie, und durch diese wurde er einerseits zu ihrer Quelle, dem
katholischen Meßbuch und Brevier geleitet, andrerseits auf die Oxforder Be¬
wegung aufmerksam gemacht und mit Newmans Schriften bekannt. Das zweite
war Jcmssens „Geschichte des deutschen Volkes", die ihm sein entschieden
protestantischer Geschichtslehrer Dr. Christensen empfahl: ut Äuclig-tur se kütsrs
xars, und über die er anfangs wütend wurde. Als drittes Werk, das tiefen
Eindruck machte, schloß sich Hurters Jnnozenz der Dritte an; es begeisterte
ihn, weil er in diesem Papste „den Träger und heldenhaften Verteidiger des
christlichen Gedankens in einer feindseligen Welt erkannte". (Gerade diesem
Jnnozenz, der so wunderbar vom Glück begünstigt wurde, hat das Heldenhafte
gefehlt, das man in manchem andern Papste ehren darf.) Auf einer Reise lernte
er den katholischen Gottesdienst kennen und besuchte von da an in Hamburg
öfter die Messe. Als das sein Vater erfuhr, verbot er es ihm und zwang ihn,
seine katholischen Bücher zu verbrennen. Er wandte sich nun an einen Kaplan,
zu dem er bald Vertrauen faßte. Auch das kam heraus und wurde ihm ver¬
boten. Als Student der Rechte in Berlin konnte er am Umgange mit Katholiken
nicht gehindert werden; er verkehrte mit dem Dominikanerpater Ceslaus (Graf
Robicmo); ein Enkel Karl Friedrichs von Savignh und Urenkel Fr. Leopolds
Grafen Stolberg gehörte zu seinen intimsten Freunden. Am 11. April 1884
notierte er in sein Tagebuch, er habe zum letztenmal der Andacht wegen eine
Protestantische Kirche besucht. Er studierte neben seiner Fachwissenschaft die
Kirchenväter, den Buddhismus, den Koran, lernte in Italien katholische Kunst
und katholisches Leben kennen, nahm in England, Schottland, Schweden, Livland
Protestantische Eindrücke in sich auf; in Heidelberg ekelte ihn das Studenten¬
leben an. Bei seiner Familie fand er keine Spur von Verständnis dafür, daß
ihm die Religion Herzenssache war; in den mündlichen und schriftlichen Aus¬
einandersetzungen mit Bater, Vettern und Basen wurden immer nur weltliche
Erwägungen geltend gemacht. Ein Senator äußerte: „Ja, glaubt denn der junge
M., daß man ihn als Katholiken im Justizdienste brauchen kann?" Ich schrieb
mir das, bemerkt er dazu, „hinter die Ohren und richtete meinen Sinn auf
höhere Dinge". Sein Vater erklärte es für Pflicht eines jeden, in der Religion
zu bleiben, in der er geboren sei. Nur in zwei Fällen halte er einen Religions¬
wechsel für erlaubt: wenn einer das Mädchen, das er liebe, auf andre Weise
nicht zur Frau bekommen könne, und wenn einer in einem andersgläubigen
Lande von Berufs wegen zu leben gezwungen sei. Das seien gerade zwei Gründe,
erwiderte der Sohn, die, weil sie mit Überzeugung nichts zu schaffen hätten,
den Übertritt nicht rechtfertigen würden. Er vollzog seine Konversion 1890 in
Berlin, und zwar heimlich, weil er fürchtete, seine Familie werde ihn vielleicht
mit physischer Gewalt daran hindern.
Interessant ist die Art und Weise, wie er einem protestantischen Freunde
gegenüber die Ordensgelübde verteidigt. „In deinem ganzen Raisonnement
vergißt du, daß wir die Ordensgelübde mit voller Erkenntnis ihres Inhalts
und vollkommner persönlicher Freiheit ablegen. Sonst gelten Gelübde nichts.
Wo ist denn da der »unmoralische Zwang«? Ein religiöses Gelübde ist zehn¬
tausendmal weniger erzwungen als ein Fahnen-, Amts- oder Untertaneneid.
Hat man dich etwa gefragt, ob du dein Jahr addieren wolltest? Wird man
dich fragen, ob du Steuern zahlen, die Staatsgesetze beobachten, der Obrigkeit
gehorchen willst? In einen Orden dagegen tritt man freiwillig ein." Abgesehn
dcwon, daß die Freiwilligkeit keineswegs in allen Fällen so über jeden Zweifel
erhaben ist, wie der junge Herr meint, übersieht er zweierlei: daß der den
Staatsgesetzen geleistete Gehorsam nur die Einfügung in die unumgänglich
notwendige soziale Ordnung bedeutet, ohne die wahrhaft menschliches Dasein
unmöglich ist, während die katholischen Orden nnr vorübergehend ein soziales
Bedürfnis gewesen sind, und daß nicht die Staatsgesetze, wohl aber die Ordens¬
regeln etwas fordern, was dem Durchschnittsmenschen unmöglich ist. Freilich
hat Albing diese Unmöglichkeit nicht empfunden, und eben darin liegt das
Interessante. In einem seiner Briefe entwickelt er seine Ansichten über Erziehung.
In den deutschen Gymnasien werde nur unterrichtet, nicht erzogen. Der Lehrer
solle aber zugleich Erzieher sein. Er wolle daraus seinen Lehrern, denen er für
den genoßnen Unterricht dankbar sei, keinen Vorwurf machen: sie hätten eben
keinen andern Auftrag als den, zu unterrichten. Die Zeiten des Hellenentums,
wo der ältere Maun dem jüngern Erzieher wurde, wo persönliche Neigung
und persönliches Interesse Erzieher und Zögling verbanden, seien vorüber. Er
glaube aber, daß eine ähnliche Freundschaft, wie sie die Alten gekannt, dort
noch geübt werden könne, wo Ordensleute als Erzieher in Pensionaten wirken,
„natürlich eine Freundschaft, die, als christliche, von reinern Motiven eingegeben
wird als die oft zu sinnlich aufgefaßte Freundesliebe der Antike". Ja, wenn
sich nur diese sinnlichen Motive wirklich fernhalten ließen! Die Erfahrung lehrt,
daß sie sich sehr oft dem Erzieher, der ausschließlich von ganz reinen Motiven
geleitet zu sein glaubt, unbewußt einschleichen. Gerade deswegen verbieten die
asketischen Schriftsteller — und in diesem Punkte irrt ihre Psychologie keines¬
wegs — dein Seelenleiter und Erzieher individuelle Zuneigungen und Freund¬
schaften.
Übrigens wird der Wert dessen, was man sich — dunkel und verworren
genug — unter Erziehung vorstellt, nicht bloß von Albing sondern auch von
vielen andern, die unaufhörlich nach Erziehung schreien, außerordentlich über¬
schätzt. Ich und meine Schulkameraden, wir sind gar nicht erzogen worden,
und ich finde, daß dieses das beste für uns gewesen ist. Wenn die Eltern
und Lehrer den jungen Leuten einige wenige feste Grundsätze einpflanzen und
durch ihr Beispiel zeigen, wie man diesen Grundsätzen nachlebt — oder auch,
wie häßlich es aussieht, wenn man ihnen nicht nachlebt —, wenn sie einem
die Manieren beibringen, die man haben muß, um im Verkehr nicht anzu¬
stoßen, und durch Schranken, die der jugendliche:: Willkür und dem unver¬
ständigen Gelüst gesteckt werden — Schranken, die nicht zu eng gezogen
werden sollen —, den jungen Menschen in die soziale Ordnung einfügen, so
ist das Erziehung genug, und das geschieht ja wohl auf unsern Gymnasien-
Das Leben in Wechselwirkung mit der eignen Vernunft, die allerdings im
Gymnasium geweckt und geübt werden soll, vollenden dann schon die Er¬
ziehung. Was die Erziehungssüchtigen wollen, das ist Modeluug der Natur
nach einer Idealform, wobei sie gewöhnlich sich selbst für die Idealform
halten. Es ist aber sehr zweifelhaft, ob der so auf den Zögling ausgeübte
Zwang diesem, und ob die Vervielfältigung jenes Typus der Gesellschaft zum
Heile gereichen würde; jedenfalls könnten, wenn ein einzelner solcher Typ im
Staate die Herrschaft erlangte, sich die in den Individuen vorhandnen ver-
schiednen Anlagen nicht frei entfalten. Mehr Beachtung verdient es, wenn
Albing weiter fordert, die männliche Jugend solle von Männern erzogen
werden, und behauptet, das sei heute nicht der Fall. Heute sei das Weib
das Ideal, vornehmlich das Ideal der Phantasie. Schon der Gymnasiast
habe seine Flamme, und der von der Möglichkeit einer Familiengründung
noch sehr weit entfernte Student trage das Weib, das edle wie das unedle,
in seiner Phantasie. „Männliche, nicht galante Kultur müßte das Ziel der
Erziehung sein. Und wer dereinst zur Ehe berufen ist, der sollte erst in
reiferem Alter auf das andre Geschlecht aufmerksam werden. Der Zeit der
geschlechtlichen Liebe — zu der übrigens, wie die Erfahrung lehrt, eine kleine
Minorität niemals berufen ist »an sieht deutlich, daß er selbst zu dieser
Minorität gehört^ — sollte immer eine Periode edler Freundesliebe voraus¬
gehn. Wir Modernen haben selten mehr Freunde." Das Resultat sei, daß
die Frauen in der Gesellschaft den Ton angeben, die Männer sich bemühen,
wie die Frauen zu denken, und den Frauen zu Gefallen handeln. Man gehe
sozialen Zuständen entgegen, in denen das Weib nicht bloß dem Manne
gleichgestellt sein, sondern in der Gesellschaft herrschen werde. Minnesang
und höfischer Klingklang, die nur eine Karikatur der christlichen Erlösung
des Weibes aus unwürdigen Zuständen seien, hätten schon vor sieben Jahr¬
hunderten diese Wendung eingeleitet. Dabei werde aber gerade die Würde
der Mutter und der legitimen Gattin keineswegs gewahrt. Man feiere die
Frauen nur als das schöne Geschlecht, was noch dazu gegen die Tatsache
verstoße, daß jedes Geschlecht seine eigentümliche Schönheit habe. Trotz
Burschenschaft und Militarismus sei uns die männliche Kultur abhanden ge¬
kommen. In der jüngsten Zeit scheine ja die Kunst zur Besinnung zu
kommen und nicht mehr so ausschließlich das Weib zu feiern. Auch die
Wissenschaft werde die richtige Mitte finden „und nicht unbedingt etwas
Pathologisches darin sehen, wenn wir Männer nicht allesamt dieser Göttin
Weihrauch streuen". Lehrreich sei auch der Umstand, daß der Erlöser wohl
einen bevorzugten Freund hatte, aber außer seiner Mutter und der mitleids¬
voll begnadigten Sünderin keiner Frau nahestand. Die Kirche schütze Ehre
und Würde der Frau durch ein besondres Sakrament und verehre offiziell
heilige Jungfrauen, Märtyrerinnen, Gattinnen und Witwen, befürworte jedoch
nicht eine ästhetische oder soziale Superioritüt des Weibes. „Schon deshalb
glaube ich, daß wir auch als Christen ein volles Recht auf männliche Kultur
besitzen und dieses Recht in der Erziehung der Knaben und Jünglinge
theoretisch und praktisch wieder mehr zur Geltung bringen müssen. Die Mutter,
die Gattin, die Jungfrau, die sich in ihrem Berufe aufopfern, sind gewiß
hohe, verehrungswürdige Ideale, aber das höchste Ideal für den Mann sollte
das Weib doch nie sein, nicht einmal das höchste irdische Ideal. Du sagtest
wir einmal, die ewige Verhimmelung des Weibes in der Belletristik sei dir
langweilig. Ich gebe dir vollständig recht und gehe noch einen Schritt
weiter: diese Verhimmelung ist ein Beweis für die hilflose Einseitigkeit der
Schriftsteller, die erstens kein andres Problem aufzutreiben wissen und zweitens
sich gern darauf beschränken, weil die Masse der Leser doch immer lieber
sinnlich als geistig angeregt werden will." Seit reichlich einem Jahre nennt
man das „normwidrige Empfinden", wobei man nur nicht gleich an Ver¬
brechen und Laster denken sollte, an denen es übrigens auch die „Normalen"
bekanntlich nicht fehlen lassen. Es ist klar, daß für so empfindende Männer
einer der Hauptgründe protestantischer Abneigung gegen den Katholizismus
nicht existiert, ja daß solchen die Kirche des Priesterzölibats und der Ordens¬
gelübde ungemein sympathisch sein muß. Albings Betrachtungen legen aber
zugleich die Frage nahe, ob diese „Abnormität" gewisse Kulturmissionen, wie
sie solche im Sokratismus und in der griechischen Plastik, im mittelalterlichen
Mönchstum und in einzelnen ledig gebliebner Großgeistern geübt hat, nicht
in allen Zeiten zu üben habe.
Man erfährt aus den Briefen weiter, daß sich Albing eine Zeit lang
mit Unterrichten beschäftigt hat — einen eigentlichen Beruf scheint er zunächst
nicht gehabt zu haben —, und daß er viel gereist ist. Er war öfter in
Italien, sechzehnmal in der Schweiz, dann in Palästina und Ägypten, in
England, wiederholt, das erstemal beinahe drei Jahre lang, in Nordamerika.
Das zweitemal hat er den Jellowstonepark, den er ausführlich beschreibt, und
Mexiko besucht, wo ihn der Umstand, daß des vortrefflichen Porfirio Diaz
Regiment antiklerikal ist, hätte nachdenklich machen können. Von Kalifornien
aus reiste er durch den Stillen Ozean nach Enropa zurück, lernte die
Sandwichinseln und Japan kennen. Seine Heimat, wenn bei einem Globe¬
trotter von einer solchen gesprochen werden kann, wurde dann Rom, wo er
als päpstlicher Geheimkämmerer lebt und unter anderm bei dem Besuche, den
unser Kaiser mit zweien seiner Söhne am 4. Mai 1903 im Vatikan abstattete,
nebst andern Monsignori die Honneurs gemacht hat. Er wurde den Prinzen
und dem Reichskanzler vorgestellt und hörte alles, was vor und nach der
zeugenlosen Zwiesprache im Privatzimmer des Papstes dieser und der Kaiser
in der Anticamera sprachen. Der Kaiser erklärte unter anderm sein Geschenk:
drei Riesenalbums mit Photographien des Metzer Domportals. Sehr ver¬
ständig bemerkt Albing: „Ich schreibe dir nichts von dem, was gesprochen
wurde, weil man so leicht falsch zitiert." Nur den harmlosen, zu deutschen
Bischöfen gesprochnen Satz, in dem Kaiser Wilhelm seinen Wunsch, der Papst
möge noch lange in guter Gesundheit am Leben bleiben, ausspricht, führt er
an. Fast vierzig Jahre alt, läßt sich Albing zum Priester weihen und sucht,
weil ihm der Bureaudienst im Vatikan nicht zusagt, einen Wirkungskreis in
Nordamerika. Er beobachtet dort, wie sich die Kirche allen neuen Bedürfnissen
anschmiegt. So ist in einer Newyorker Kirche für Zeitungsjungen, Schrift¬
setzer und dergleichen Leute um Mitternacht Messe und Predigt eingerichtet,
und in einer andern werden Sonntags acht bis zehn Messen nacheinander
gefeiert und wird nach jeder, natürlich nur kurz, gepredigt. Er selbst aber
Wurde von seinen irischen Amtsbrüdern hinausgebissen und kehrte, da ihm
das verräucherte Cincinnati und das ganze zu moderne Nordamerika eigentlich
nicht gefällt, sehr gern nach Europa zurück. Im Vatikan arrangiert er seitdem
mit Perosi Konzerte, läßt aber auch das Reisen nicht und predigt manchmal in
Hamburg und Umgegend. In seinen Reiseberichten fehlt es nicht an hübschen
Anekdoten. Hier soll nur noch einer seiner theologischen Argumentationen:
auf dem Boden vernünftiger Grundelemente könnten zwar Mythen wachsen,
ihm aber sei es undenkbar, daß aus Mythen, als welche die heutige
Kritik die biblischen Erzählungen auffasse, das streng logische System der
katholischen Dogmatik hervorgegangen sei, und seiner großdeutscheu Idee ge¬
dacht werden: die Glaubensspaltung habe die weltbeherrschenden und zur
Weltherrschaft berufnen Deutschen zu einer unter den andern Nationen er¬
niedrigt. In Ägypten, das er im Jahre 1907 wiederum besucht hat, findet
er, daß die englische Herrschaft die Lage der Bauern nicht gebessert habe; Lord
Cromer ist andrer Meinung.
Eine vortreffliche Charakteristik der großen Konfessionen liefert Dr. Karl
Sell, Professor der Kirchengeschichte an der Universität Bonn, in seinem
Buche: Katholizismus und Protestantismus in Geschichte, Religion,
Politik, Kultur (Leipzig, Quelle und Meyer, 1908). Die vier Haupt¬
abschnitte nennt schon der Titel. Es wird von derselben Versöhnungstendenz
beseelt wie mein letztes Buch, auch in der Auffassung steht es diesem sehr
nahe, unterscheidet sich jedoch von ihm in der Auswahl und Anordnung des
Stoffes. „Das Neue dieses Versuchs, heißt es im Vorwort, dürfte sein, daß
der Gegenstand rein geschichtlich behandelt wird und nicht polemisch oder
apologetisch als eine Streitfrage zwischen Konfessionen und Religionen", und
in der Einleitung: „Völlig ausgeschlossen mußte bei einer solchen Betrachtung
die Methode des konfessionellen Kleinkrieges sein, die so oft mit einem nicht
geringen Erfolg dem Prinzip einer Konfession die Schuld alles dessen auf¬
bürdet, was doch nur der Fehler seiner einzelnen Vertreter und die Folge
einer sehr mangelhaften Vertretung des Prinzips ist." Gegen den Schluß
lesen wir: „Es könnten in Sachen des Kultus, der Organisation, des
künstlerischen Geschmacks, in der Zurückdrängung eines sich breit machenden,
undeutschen Chauvinismus hinter das wahrhaft Humane die Protestanten von
den Katholiken, es könnten in der Verinnerlichung der Vorstellung von der
Kirche, in der pflichtmäßigen Berücksichtigung nationaler Eigentümlichkeiten,
in der treuen Anhänglichkeit an das Vaterland, nicht bloß an den Heimat¬
boden, die Katholiken von den Protestanten lernen. . . . Lassen wir jeder der
beiden Konfessionen das subjektive Recht, sich für das wahre oder das beste
Christentum zu halten, wie ja auch so ziemlich jede Nation sich für das beste
Exemplar der Menschheit hält. Man könnte dabei dennoch öffentlich und
rechtlich auf die Geltendmachung dieses Rechts der andern Konfession gegen¬
über verzichten, indem man die Entscheidung über den Prozeß der beiden
widereinander der göttlichen Vorsehung anheimstellte, die sich in der un¬
zweideutigsten Sprache weltgeschichtlicher Tatsachen zweifellos dahin aus¬
gesprochen hat, daß diese zwei einstweilen nebeneinander leben sollen."
Ein verständiger, ein vortrefflicher und, bei gutem Willen, leicht ausführ¬
'
us dem Bilde, das der von Ernst Heilborn und Erich Schmidt
besorgten Gesamtausgabe von I. I. Davids Werken (München und
Leipzig, R. Piper K Co.) vorgeheftet ist, schaut uns der Kopf eines
von Schmerzen und Leiden gerüttelten und gequälten, aber, wie
wir deutlich fühlen, nicht bezwnngnen Mannes entgegen. Die
eingesunknen Schläfen, der von Sorgenfalten umzogne Mund, die
eingefallnen Wangen deuten auf körperliche Leiden und Entbehrungen, die
schön gewölbte Stirn und der bewußte, klare, ernste Blick der großen Augen
auf innerliche Überwindung irdischer Anfechtung. Und auf sie weist auch hin,
was der Dichter selbst als sein Testament dem ältern der beiden Herausgeber zu¬
ruft; von seinem letzten Krankenbett schreibt er da: „Noch hatten die Ärzte
Hoffnung oder taten so. Ein schlimmer Sommer zerstörte auch den Rest davon,
und ich habe eben nur schwerer sterben müssen, wie mir das Leben nicht
leicht geworden ist. Das muß man eben nehmen, wie es verhängt ist und
kommt, und wenn ich die Gesamtheit überblicke, die ja eine ganz hübsche Spanne
Zeit umfaßt, so darf ich mir das Zeugnis nicht versagen: wie es mich nicht
weich gewiegt hat, so bin ich nicht weich geworden und habe die Dinge ge¬
nommen und getragen, wie sie gefallen sind." Und nachher mit tief ergreifenden
Tönen aus dem Quellpunkt von Herzensempfiudungen, die sich erst vor dem
Tode nach außen ergießen: „Zu essen haben Weib und Kind zur Not; sie
haben sich an meiner Seite bescheiden gelernt, aber sie sollen die Gewähr
haben, daß der Mann, den sie dulden, immer von neuem seine Kraft aufraffen,
den sie siechen und Schritt vor Schritt sterben sahn, kein Phantast war, daß
er mehr der Ungunst der Sterne als der Unkraft der Arme erlegen ist." Die
Freunde, die sich solchem Anruf nicht entziehen konnten, haben recht getan,
daß sie uns so bald nach des Dichters Tode in einer schönen Ausgabe die
Gesammelten Werke vorlegten. Es ist für ein noch nicht fünfzig Jahre
währendes, kämpfevolles Leben eine sehr stattliche Ernte, sechs Bände Er¬
zählungen, Gedichte und Dramen, ein Band Essays, denen noch die Arbeiten
über Anzengruber und Mitterwurzer (aus den Sammlungen „Die Dichtung"
und „Das Theater" bei Schuster Ä Löffler in Berlin) beizugesellen sind.
Jakob Julius David stammte aus Mähren, in Mährisch-Weißkirchen war
er am 6. Februar 1859 geboren worden, hat aber seine Kindheit in dem Kuh-
ländchen verlebt, unter Hannaken, in einer Landschaft, deren Erinnerungen von
Hussitenschrecken durchklungen sind. Aus dürftigen Verhältnissen zu Hause in
dürftige aus der Universität Wien hineingekommen, hat er trotz unermüdlichem
Fleiß immer am Rande schwerer materieller Not, oft mitten in ihr als
Journalist und Schriftsteller gearbeitet, bis er am 20. November 1906 am
Krebs gestorben ist. Dankbar hat er — davon spricht vor allem seine Lyrik —
alles empfunden, was ihm von den wenigen, seiner Begabung gewissen Freunden
an Lebenserleichterung und aufmunternden Zuspruch gespendet wurde. In
knappen, klaren, feinen Versen spricht sich das aus. Und um so herber klingt
die Klage, wenn doch wieder fast jeder Wunsch versagt wird, wenn ihm nicht
einmal vergönnt wird, der Mutter die Augen zudrücken zu dürfen.
Das Kreuz an der Dorsgrenze mahnt ihn immer wieder und nicht vergebens,
Trübe Bilder, der Zug des Todes, die Erscheinung El Schadais, dessen Blick
die ganze Welt zerrinnen läßt, gehn durch Davids gehaltne Verse, und mit
letztem, lang nachhallenden Klang hat er etwa Theodor Körners Wesen und
Erscheinung' aufgefangen:
Und dabei immer wieder jene tiefe Dankbarkeit für jede gute Stunde, für jeden
Lichtblick, den das Leben einem läßt, der es immer schwer nahm und dazu
allen Grund hatte. Es sind hier und da Klänge, wie sie ältere Österreicher,
vor allem der von David sehr geliebte und früh in seiner Bedeutung erkannte
Ferdinand von Saar, auch offenbaren.
Freilich an Ferdinand von Saars Erzählungskunst denkt man bei Jakob
Julius Davids Prosawerken nicht, denn den lyrischen Hauch und Ton, den
jede Saarsche Novelle zeigt, hat David dann keineswegs. Die Trübe und
Schwere beider Männer ist die gleiche; aber dennoch erscheint David ganz anders
als der ältere Landsmann: Saars Pessimismus, seine feine Resignation ist weit
subjektiver als Davids Darstellung schmerzlicher und schwerer Dinge. Ja,
vielleicht genügt es, zu sagen, daß Saar ein starkes musikalisches Element hat,
während David unmusikalisch, sehr viel mehr plastisch ist."
Davids älteste und bekannteste Erzählung „Das Höferecht führt gleich
mitten in seine mährische Heimat hinein. Es lebt in ihr nur das vou Ge¬
stalten und Wohnungen, was der Dichter für seinen Konflikt braucht: das
Bauernhaus der Familie Lohner. in der als Stolz und Last der Erbrichter
des Dorfes das Höferecht gilt, und dann die Hütte des Dorfjuden. Aus
jenem gehn die beiden Söhne, aus dieser die Tochter hervor, die die Handlung
tragen und die sie dann »veiter tragen nach Wien und wieder ins Dorf zurück.
Der Dichter ist schon hier sehr sparsam mit seinen Mitteln, aber noch nicht
spürsam genug für die Stimmungen und Wandlungen in den Seelen der
Menschen, auch noch nicht ganz vollgesogen mit der Stimmung ihrer Um¬
gebung. Es fehlt nicht an schroffen Übergängen, an Brüchen in der Charak¬
teristik, aber es fehlt schon hier völlig jedes Schielen nach populären Stim¬
mungen innerhalb und außerhalb der Kunst, es fehlt jede Art von Stimmungsmache,
und 'es fehlt das sonst so charakteristische Anfängermerkmnl überflüssiger Breite.
Man fühlt: in dieser tüchtigen, aber noch nicht bedeutenden Heimaterzählung
ist David der Stoff nicht zugeströmt, sondern langsam gequollen, und er ver¬
schmäht es, durch Putz und Zntat das Gewordne zu dehnen und zu zerren.
Ein Mensch, der sich gibt, wie er ist.
Aber schon die kleinern Stücke, die dann die Sammlung „Die Wieder¬
geborenen" enthielt, zeigen David freier, zugleich feiner in der Charakteristik.
Es sind alles historische Novellen, Dichtungen, die zumeist in der Vergangenheit
Mährens spielen, und unter denen „Der neue Glaube" die beste ist, die Ge¬
schichte eines Ketzerrichters, der zum Ketzer wird, sich langsam, langsam von
allem, was ihn umgibt, loslöst, alle zarten Beziehungen seines Lebens zerreißt
und schließlich dem Hussitenheer zustößt. Dasselbe Thema wird dann in einer
meisterhaften Erzählung der spätern Reihe „Frühschein" noch einmal abge¬
wandelt, nun ganz reif, und fein ist es, wie da der Hexenrichter selbst in das
Grauenhafte hineingerissen wird, allmählich Menschliches menschlich versteh»
lernt und dem Frühschein eines neuen Tages nach dem großen Kriege ent¬
gegenflieht. David schildert überhaupt gern verstörte Zeit, wie sie eben nach
dem Dreißigjährigen Kriege über Deutschland lag, seltsame, aber doch nicht
gesuchte Verhältnisse und Menschen mit einem leisen Hauch von Geheimnis
wie die Gräfin Adriana Oudenwerdc auf Schloß Ripan, über der es schwebt
wie halbverschuldete Schickung düstrer Kämpfe, die ein Herz wohl brechen
können.
David gibt gern Meuschen, die ein empfindliches Herz haben, das dnrch
Ungerechtigkeit und Druck hineingesetzt wird in schwere Taten und Gedanken,
wie denn in „Ruzena Capet" die Heldin schließlich in ihrer unerträglichen
Not den Gatten erschlägt. In dieser Geschichte, wie gemeinhin in seinen
spätern Werken, hat er auch die Natur Mührens, wo seine Seele immer daheim
blieb, in ihrer düstern Schwere am reinsten gestaltet. Wie ein fein gemalter,
echter Hintergrund liegt sie in der „Mühle von Wranowitz" um die Liebe des
Barons Friedrich Branicky zu der Müllerstochter Hanka Dworzak, ein Ver¬
hältnis, das gegeben ist ohne eine Spur von unechter Süßlichkeit und zugleich
ohne die leiseste Spekulation auf unkünstlerische Triebe.
Und das ist ein Zeichen von Davids Kunst, daß er, wie schon im
„Höferecht", so auch in seinen spätern, reifern und wirkungsvollem Dichtungen
nicht rechts und links blickt und jedes billige Hindeuten auf effektvolle
Situationen, jedes Spielen unterläßt. Wie nah hätte solche Gefahr in seinen
Wiener Geschichten gelegen, und wie ist er ihr immer wieder aus dein Wege
gegangen. Da ist eine kurze und in ihrer Schlichtheit ergreifende Erzählung:
„Ein Poet?" Ein armer Journalist, der es zu nichts gebracht hat und nun
seinem Leben ein Ende macht, um der Witwe, für die als Lebender zu sorgen
ihm nicht gelingen will, durch deu Tod eine Versorgung zu bieten. Und
etwas ähnliches in der Geschichte „Digitalis", wo ein Arzt, der infolge eines
Kunstfehlers seine Praxis nicht mehr ausüben darf, in stillem Heldentum
langsam aus der Welt geht, um Frau und Kind die Möglichkeit einer Existenz
zu sichern. Ganz apart und durch und durch echt ist die Charakteristik des
berufsmäßigen Schachmeisters in der Skizze „Das königliche Spiel" oder in
der „Troika" die des großen Schauspielers, dem sein Dreigespann von Wille,
Temperament und Gedächtnis langsam versagt, und der dies allmähliche Nach¬
lassen empfindet wie den Strom, der zu Winters Ende leise gegen die Eis¬
decke klopft, bis der Läufer dann vor der Gewalt des hereinbrechenden, alles
zerschellenden Flusses untergeht.
Jakob Julius David war durchaus der Meister der Erzählung in kleinerm
Umfang. Seine zwei Dramen, die in den Gesammelten Werken enthalten
sind, sind nichts als anseinandergezogne Erzählungen, denen das echte Gegen-
einanderspielen dramatischer Gestalten abgeht. Allen fehlt der langsam ge¬
tönte Hintergrund der Novelle, der sich nicht allweise verschiebt, sondern in
regelmäßiger Entwicklung aufgebaut wird. Und die Leidenschaften springen
nicht gegeneinander an, sondern erwachen langsam, entfalten sich in feinen,
kleinen Zügen hier und da, und ihre Darstellung läßt im Schauspiel, wo
Personen und ihre Worte in freier Luft stehn, immer wieder die Anlehnung
und Einbettung an das von der Erzählung zu gebende Milieu vermissen.
Ja, David war so ausschließlich der Manu der kurzen Erzählung, daß
auch im Roman das Letzte fehlt, was diese vielen Novellen und Geschichten
uns geben. Dem „Höferecht", das 1890 erschienen war, folgte ein Jahr später
»Das Blut". Wieder ein Werk vom Lande, die Geschichte eines Brauhauses,
dessen ehrbare, puritanische, kinderlose Bewohner das uneheliche Kind der fort-
gelaufnen Schwester der Hausfrau aufnehmen. Das Blut aber schlägt in ihm
durch, und es verläuft sich zu einer Kunstreitergesellschaft wie einst die Mutter.
Es ist, als ob David, wenn er einen zu breit gewordnen Stoff meistern will,
sich zu viel tut und gerade deshalb das Letzte an seinen Personen nicht heraus¬
bringen kann; denn das junge Mädchen dieses Romans erwärmt uns kaum je,
erscheint, besonders kurz vor seinem gewaltsamen Ende, so uninteressant und
durchschnittsmäßig, daß wir uns zu ihm kein Herz fassen können und deshalb
den Roman aus der Hand legen, ohne tiefer erschüttert zu sein. „Am Wege
sterben", 1899 erschienen, ist dann ein Wiener Roman, in den die österreichische
Landschaft nur ein paar Abgesandte hineinschickt. Wir sehn das Werden, Empor-
und Hinabsteigen einer Reihe junger Kommilitonen der Universität, aber wieder
niemand darunter, dem wir mit dem letzten Anteil folgen, den etwa der Dichter
im „Frühschein" zu erzwingen weiß, und nur der feine Ton gehaltner Resignation
am Schluß, die Stimmung eines Einsamen mitten im Arbeitervorort der Welt¬
stadt gibt eine wärmere Note.
Als Darstellung des Lebens sehr viel bedeutender ist Davids letzter Roman
»Der Übergang", drei Jahre vor seinem Tode herausgekommen. Was auch
Ferdinand von Saar so zu schildern liebte: die Entwicklung eines Wiener
Stadtteils aus der alten in die neue Zeit hinüber, das gibt David hier, indem
er das Geschick der Adam-Mayer-Gasse versucht mit dein Niedergang der Familie,
der sie ihren Namen dankt. Und wie dieser Name vom Straßenschild gelöscht
und ein andrer hingesetzt wird, so gehn Vater, Sohn und eine Tochter der
Mayerschcn Familie zugrunde in Schuld und Haltlosigkeit, um einem neuen, anders
benannten Geschlechte Platz zu machen. Es besteht aber freilich nur diese äußere
Parallele mit Saars Werk, denn wir leben sonst hier ganz und gar in einer
Welt, verwandt der harten Wirklichkeit von Ludwig Anzengrubcrs „Vierten
Gebot", wie denn Ludwig Anzengruber wohl Davids Herzenspoet gewesen ist.
Der Roman ist ohne Zweifel Davids bester, aber er erreicht in der furchtbaren
Härte seiner durchaus wahrhaftigen Zeichnung doch nicht die Feinheit und Treue
von Davids Erzählungen. Der Dichter ist zu starr in seinem Willen, die Fäulnis
d^ses Hauses mit starken sittlichen Akzenten bis zum Letzten darzustellen, und
>elbst die Größe der endlich heraufgezognen Auseinandersetzung zwischen Mann
und Frau an der Leiche des erstochnen Sohnes trägt über die allzu schroffe
Starrheit des Ganzen nicht hinweg. „Eine Sehnsucht nach Wahrheit war in
UM", diese Worte, die David über Zola schrieb, passen ganz auf ihn selbst.
Aber dieser Drang war in Schöpfungen wie „Der Übergang" zu stark ge¬
steigert, ohne von jenem Hauch der Romantik umflossen zu sein, den David
Zola als tief empfundnen Schmerz seiner ganzen Persönlichkeit wohl mit Recht
nachsagt.
Aber freilich hatte diese Härte in David auch ihre eigne Bedeutung, und
da, wo sie sich in kleinerm Rahmen zu meisterhaften Schöpfungen seiner er¬
zählenden Kunst erhebt, sichert gerade sie dem immer von Schmerzen Über¬
schatteten seine Stellung. Denn David steht als ein Fremder unter dem wenig
jüngern Wiener Geschlecht, das sich artistisch gebärdet, das zum großen Schmerz
vieler Österreicher, etwa Alfred von Bergers, mehr als irgendein früheres die Stadt
Wien in den Ruf der Phäakenstadt gebracht hat. David, dessen Bild nicht einen
jüdischen Zug aufweist, steht weltenfern sowohl jenen weichen Dramatikern und
Erzählern von der Art Arthur Schnitzlers wie den nervösen Nenromantikern
vom Schlage Felix Dörmcmns wie der dem Leben abgewandten Kunst Hugo
von Hofmannsthals. Und da wird man denn die Namen Ferdinand von Saar
und Ludwig Anzengrnber wieder aussprechen müssen, wird Marie von Ebner-
Eschenbach und Ferdinand Knrnberger nennen können, alle jene ernsten und
schließlich allein fruchtbaren deutsch-österreichischen Geister, die uns heute doppelt
wertvoll erscheinen, da dies so oft für verfallen gehaltne Reich in neuen Kämpfen
unerschöpfte Kräfte zeigt.
Wie fein und sicher Jakob Julius David diese zu deuten wußte, lehren
seine Essays, eine der schönsten Sammlungen dieser Art aus den letzten Jahr¬
zehnten. Es ist wohl niemals etwas Feineres und Besseres über Karl
Lueger geschrieben worden als der Aufsatz „Der Bürgermeister". Es ist
geradezu vorbildlich und für den Leser ein künstlerischer Genuß, wie hier
langsam das Bild dieses Volksführers aufgebaut wird, wie ruhig zugegeben
wird, daß er manchem als ein Erzbanause erscheinen mag, und wie dann doch
das Urteil füllt und wohl begründet wird: „Ein ganzer und genialer Kerl".
Auch in diesen Arbeiten, in denen er insbesondre den Künstlern seiner Heimat,
auch ihren Schauspielern, unverschönerte Denkmäler setzt, erweist sich Jakob
Julius David als der am Echten sich emporarbeitende, dabei durchaus selb¬
ständige Kopf, als der Künstler mit reichen Gaben und einer spröden Natur,
die über den Alltag hinausdenkt, die, unter Schatten einhergehcnd, kaum
jemals schwärmt und darum auch kaum jemals getäuscht wird. Ein männ¬
licher Schriftsteller, ein Erzähler voll kräftiger, gern der Vergangenheit und
seiner Heimat zugewandter Phantasie, ein unablässig an sich arbeitender, sich
langsam aber sicher entwickelnder Dichter — so steht er vor uus da.
Die Halluzinationen, die ihn ans dem Krankenbette umfingen, hat er
mit der Ruhe eines Menschen geschildert, der sich zu beobachten weiß, ohne
in sich verliebt zu sein. Und wer wollte, wenn er Davids prunkloscs, aber
dauerhaftes Werk durchschritten hat, ohne Wehmut diese letzten Bekenntnisse
aus der Hand legen, in denen es heißt: „Was ich in gekrampften Händen,
wie sie ein Ertrinkender ballt, aus jenen Tiefen emporgebracht, das habe ich
hier mitgeteilt, das entfällt mir, nun sich der Krampf zu lösen beginnt. Mag
sein, daß es Tang ist, wie ihn jede Welle an das Ufer wirft, sonder allen
Wert, den man so wenig als den Salzschaum am Dünensand auch nur eines
Blickes für wert hält. Es ist aber immerhin doch auch möglich, daß sich
unter so geringem Angeschwemmten auch eine Muschel berge, wert des Augen¬
merks dessen, der sich, aus welche« Gründen immer, ans Sammellust oder
müßiger Neugierde, um derlei Gut der See zu kümmern gewöhnt ist. Wie
immer dem sei. ich mußte mich dieses miwillig genug Mit^ehr^ten entledigen
will ich meine Hunde annoch zu den Weckn ^ noch
ucirren avam und die nicht gar zu um anglich noch allzu cywrcng ,em
ur?. d.mE^ volle^das^
^in^e^ ^u^ ? !chi^ ^ » ^ i„
seinem Wesen und Schaffen ganz echten Dichters, den wu nicht vergessen
wollen.
Hieisan, den 28. August 1901
ärchenland! Das echte wahre Märchenland, von dem wir uns er¬
zählten oben auf dem alten Kirschbaum bei Großmüttern! So ists
hier, Kameradin. Nur noch viel, viel märchenhafter, als wir je
träumten! Ich bin durch kleine Dörfer gekommen, die aussahen,
als ob sie eben aus dem Bilderbuch gefallen wären. Die Straßen
voll von lustigen kleinen Leuten, die lächelnd und sich verbeugend
umherlaufen und einander hübsche Dinge erzählen. Es ist ein Land, wo jedermann
vergnügt zu sein scheint, und wo Höflichkeit das erste Gebot ist.
Gestern reisten wir in Jinrikshas auf die Berge. Der Weg war eng, aber
eben, und mehr als drei Stunden lang marschierten die Männer aufwärts ohne
anzuhalten oder ihre Gangart zu ändern, bis wir um die Mittagszeit rasteten. Ein
japanisches Haus ist nicht viel mehr als ein Dach und eine Menge Bambuspfahle,
aber alles ist wundervoll sauber. Noch ehe wir abgestiegen waren, liefen Männer
und Weiber aus ihren Häusern, verbeugten sich und riefen: Oüazm, on^o! das heißt
Guten Morgen. Sie liefen und holten Kissen herbei, und wir waren froh, uns auf
niedrigen Bänken bequem ausstrecken zu können. Dann brachten sie uns köstlichen
Tee, standen herum und guckten uns zu. Es scheint, daß blondes Haar hier eine
große Seltenheit ist; jedenfalls war ihnen das meine so interessant, daß sie mir
Zeichen machten, ich möchte meinen Hut abnehmen, und dann standen sie eifrig lachend
und schwatzend um uns herum. Miß Lessing meinte, sie wünschten, ich solle meine
Haare aufmachen, aber wagten nicht, die Bitte auszusprechen wegen der schönen
Frisur. Blonde Fluten! Ich wünschte, du hättest es scheu können! Doch du hast
es ja gesehn nach mancher tollen Tennispartie!
Nachdem wir eine Stunde lang geruht, Tee getrunken, uns verbeugt und
gelächelt hatten, machten wir uns wieder auf den Weg, diesmal in einer Art
Tragstuhl aus Bambus, der von zwei Männern an einer langen Stange auf den
Schultern getragen wurde. Ich habe doch wahrhaftig schon manchen Berg erstiegen,
aber dieser Ausflug übertraf alles, was ich je erlebt. Man kam sich vor wie eine
Riege auf der Glatze eines Mannes. So stiegen wir aufwärts, höher und immer
höher, manchmal durch dichte Wälder, wo die Nacht wohnte, und wieder über
Strecken in blendendem Sonnenlicht.
Gerade als ich anfing, mich zu Wundern, wo wohl unser GePack geblieben sei,
kamen wir an vier lachenden, singenden Frauen vorbei. Zwei von ihnen trugen
Schiffskisten auf ihren Köpfen und die andern riesige Kori. Das schien ihnen aber
absolut nichts auszumachen; sie verbeugten sich und lächelte», bis wir außer Sicht
waren. Ein zweistündiger Aufstieg brachte uns dann endlich in dieses Lagerdorf hier,
Hieisau genannt. Es find gegen vierzig Amerikaner hier, die wahrend des Sommers
im Freien kampieren, und ich bin der Gast eines Doktor Waring und seiner Gemahlin
aus Alabama. Mein Zelt steht hoch oben über dem Dorf auf einem großen, über¬
hängenden Felsen, und vor mir habe ich eine Aussicht, die eine passende Einfassung
des Paradieses abgeben würde. Dieser Berg ist dem Buddha heilig und darum
mit vielen Tempeln und Altären bestanden, von denen manche uralt sind. Einmal
habe ich alle meine Energie zusammengenommen und bin gegen drei Uhr früh auf¬
gestanden, um die Affen zum Frühstück kommen zu sehn. Die Berge sind voll von
ihnen, aber man kann sie nur zu dieser bestimmten Stunde sehn. Es gibt einige
sehr nette Leute hier, und ich habe manche Bekanntschaft gemacht. Ich bin ihnen
eine Art Rätsel, und die liebe Neugier ist eifrig zu erfahren, warum ich nach
Japan gekommen bin. Mrs. Wariug plebe mich und stellt mich aus wie eine neue
Puppe, und die Frauen beraten mit mir den Aufputz ihrer alten Kleider.
Ich begreife nicht, warum ich nicht ganz und gar elend bin. Der Grund ist
wohl der, daß es niir zu gut geht. Es ist nett, gehätschelt und wie ein Kind be¬
handelt zu werden, und angenehm, unter einfachen, herzlichen Leuten zu sein, die
im Freien leben und gesund sind an Leib und Seele.
Ich sehne mich danach, alles zu vergessen, was ich in den letzten sieben Jahren
von der Welt gelernt habe. Könnte ich das Leben noch einmal beginnen als junges
Mädchen mit ein paar Illusionen, wären es auch nur geborgte! Ich weiß zu
viel für meine Jahre und habe mir fest vorgenommen, zu vergessen. Die Briefe
von zu Hanse waren himmlisch, ich habe sie zerlesen, den Rest will ich morgen
beantworten.
Hiroshima, den 2. September 1901
Endlich, nach all meinen Wanderungen habe ich mich für den Winter nieder¬
gelassen. Die Schule ist ein großes Gebäude, offen und lustig; ich habe ein nettes
Zimmer nach Osten zu, wo ich euch Lieben im Geiste suche. Auf zwei Seiten
türmen sich die Berge, und zwischen ihnen liegt das märchenhaft schöne Binnenmeer.
Hiroshima ist eine bedeutende Marine- und Militärstation, und während ich schreibe,
tönen die Höruerrufe vom Exerzierplatz zu mir herüber.
Ich habe eine hübsche kleine Dienerin bekommen und wünschte, du könntest uns
zusammen plaudern sehn. Sie tritt ein, verbeugt sich, bis ihr Kopf den Boden
berührt, und spricht die Hoffnung aus, daß meine geehrten Augen, Ohren und Zähne
sich wohl befinden. Ich antworte ihr auf gut Englisch, daß ich zum Zanken auf¬
gelegt sei, und dann lachen wir zusammen. Sie ist von all meinen Sachen entzückt,
berührt sie manchmal zärtlich und sagt: Ich darf dies alles hüten. Es sind zwischen
vier- und fünfhundert Mädchen in der Schule, und bis ich mit der Sprache vertraut
bin, soll ich mit den ältern Mädchen, die etwas Englisch verstehn, arbeiten. Du
würdest lächeln, wenn du ihre Neugierde in allem, was mich anlangt, sähest. Sie
finden meine Taille sehr komisch, messen sie mit ihren Händen und lachen sich
halb tot. Eines der Mädchen fragte mich ganz ernsthaft, warum ich mir denn hätte
Stücke uns den Seiten schneiden lassen, und eine andre wollte wissen, ob mein Haar
früher schwarz gewesen sei. Du siehst, in dieser ganzen großen Stadt bin ich die
einzige Person mit goldnen Locken, und eine grüne Nelke könnte nicht mehr Glossen
hervorrufen.
Gestern gingen wir aus, um Vorhänge für mein Zimmer einzukaufen. Es
folgte uns solch eine Menschenmenge, daß wir kaum unsern Weg finden konnten.
Als wir in den Laden traten, setzten wir uns auf die Erde, und ein kleiner Knabe
fächelte uns Kühlung zu, während wir auswählten. Letzten Montag bat mich Miß
Lessing, einen Turnkursus zu beginnen, und zwar mit den größern Mädchen, die zu
Kleinkinderlehrerinnen ausgebildet werden. Den Anfang machte ich mit einer Lektion
im Seilspringen. Dies ist eine unbekannte Kunst in Japan, ein Mangel, der die
Kindergartenarbeit recht erschwert. Ich nahm also vierzehn Mädchen mit mir ins
Vorhaus und bedeutete ihnen durch Gebärden, mir alles nachzumachen. Dann steckte
ich meine Röcke hoch, und — eine Negermelodie pfeifend — hüpfte ich los. Nichts,
was du je gesehn, kommt der Verblüffung gleich, die sich auf den Gesichtern malte!
Auf Knie und Händen ließen sie sich nieder, um meine Füße besser beobachten zu
können. Aber schon hatte ich gewonnenes Spiel, und trotz der engen Kimonos und
Sandalen machten sie tapfre Versuche, mir zu folgen. Der erste Versuch verunglückte
gründlich, einige fielen auf die Gesichter, einige auf die Knie, alle stolperten. Ich
wagte nicht zu lachen, denn die Japaner können nichts schwerer vertragen als Spott.
Ich half, förderte und ermunterte sie, bis der Sieg gewonnen war. Am nächsten
Tage war schon ein kleiner Fortschritt zu verzeichnen, und am dritten Tage hatten
sie es alle inws. Ich hörte, daß sie den ganzen Nachmittag mit Über zugebracht
hätten. Was meinst du wohl, ist das Resultat? Eine Seilspringepidemie ist über
Hiroshima hereingebrochen. Männer, Frauen und Kinder sind ergriffen, und wenn
wir spazierengehn, bekomme ich fast Lachkrampfe, wenn ich die ältlichen Paare
ernsthaft sich bemühen sehe, den Sprungschritt zu erfassen.
Dieser Erfolg hat mich so ermutigt, daß ich die Mädchen alle möglichen
Schritte und Reigen lehrte, ich ging sogar so weit, ihnen die Quadrille beizubringen.
Aber mein Ehrgeiz führte miles ein wenig zu weit. Eines Tages kam ich mit einem
nagelneuen, selbsterfundnen Schritt in die Stunde, er war ziemlich verrückt, aber
eine famose Übung. Gut! Ich stelle mich an die Spitze, und nachdem die Mädchen
mir zweimal um den Platz gefolgt sind, bemerke ich, daß sie fast bersten vor Lachen.
Als ich frage, was denn los sei, erklären sie platzend, daß gerade dieser Schritt die
Hauptbewegung in einem heidnischen Tanze sei, der während der Götzenfeste dem
Gott der Schönheit vorgetanzt würde! Alle Heiligen! Der Schlag würde die
Brüder rühren, wenn sie das wüßten!
Jeden Nachmittag führe ich gegen vierzig spazieren. Unser Lieblingsbummel
ist am Graben entlang, der das alte Kastell umgibt. Er ist fast immer über und
über mit Lotosblüten bedeckt. Die Mädchen geben ein hübsches Bild, wie sie so
ehrbarlich dahintrollen in ihren bunten Kimonos und kleinen klappernden Sandalen.
Wir kommen dann an dem Exerzierplatze vorbei und an den Kasernen, wo
20000 Soldaten in Quartier liegen. Ich wünschte, du könntest sie sehen, wie sie
sittsam zu sein versuchen und doch ans den Winkeln ihrer kleinen Mandelaugen
hinüberlugen auf eine Weise, wie es alle Mädchen der Welt fertig bringen.
Die Art, wie sie mir alles machen», benimmt mir fast meine Unbefangenheit.
Die Idee, ein leuchtendes Vorbild zu sein, ist mehr, als ich gewettet habe. Es
ist eins von den wenigen Dingen in meinem bunten Leben, denen ich bisher ent-
kl/engen bin. Hab keine Angst, Gefährtin, ich könnte in Hiroshima nicht leicht¬
sinnig sein, wenn ich auch wollte. Kobe würde sich wohl als verhängnisvoll er¬
wiesen haben; denn dort find viel Fremde, und die Versuchung, mich gehn zu
lasten, wäre zu groß für mich gewesen. Hier jedoch entwickle ich mich rapid zu
einer choralsingenden Schwester, und die Welt und das Fleisch und der Teufel
stecken tief hinten in. Schrank.
Den 2. Oktober 1901
Endlich, mein lieber Kamerad, habe ich meine Arbeit mit den Babys be¬
gonnen, und ich kann dir nicht genug davon sagen, wie verschmitzt sie sind. Wir
haben 85 zahlende Kinder aus den hohen Kasten und 40 im freien Kindergarten.
Diese letzten sind meist aus sehr armen Familien, wo fast alle Mütter in den
Feldern oder an den Eisenbahnen arbeiten. Es gibt so viele traurige Existenzen,
daß man sich eine Schatzkammer voll Gold wünscht und ein Dutzend Hände, um
sie zu unterstützen. Ein kleines Mädchen von sechs Jahren kommt täglich mit
ihrem blinden Brüderchen, der auf ihrem Rücken festgeschnallt ist. Sie ist selbst
ein winziges Ding, und doch wird der Kleine nie vor Schlafengehn von ihrem
Rücken losgeschnallt. Als ich zum erstenmal ihr greisenhaftes Gesicht sah und ihre
Begierde zu spielen, nahm ich sie einfach beide auf deu Schoß und heulte.
Etwas Lustiges muß ich dir noch erzählen! Seit der ersten Woche meines
Hierseins haben die Kinder einen Spitznamen für mich. Ich bemerkte, wie sie
lachten und einander anstießen, auf der Straße sowohl mis auch in der Schule;
und so oft ich vorbeiging, erhoben sie ihre rechte Hand zum Gruße und gaben
dabei einen lustigen, glucksenden Ton von sich. Sie schienen das Wort von einem
zum andern weiterzugehen, bis jedes Kerlchen in der Umgegend das Kunststück
nachmachte.
Meine Neugier wurde zu solch einer Höhe gesteigert, daß ich einen Dol¬
metscher anstellte, um die Sache zu ergründen. Als er mir Bericht brachte, be¬
rührte er lächelnd meine kleine Emailnhr, die mir Jack an meinem sechzehnten
Geburtstag gab, und unter vielen Entschuldigungen erzählte er, daß die Kinder
glaubten, es sei ein Orden vom Kaiser, und daß sie darum salutierten. Sie haben
mich die Dame mit dem Orden getauft. Denke nur, ich habe also einen Titel,
und diese lustigen gelben Kerlchen sehen auf zu mir wie zu einem höhern Wesen.
Sie vergessen es jedoch manchmal, wenn wir alle im Hofe zusammen spielen. Wir
können freilich nicht miteinander reden, aber wir können zusammen lachen und tollen,
und manchmal ist der Spaß enorm.
Ich bin von früh bis abends fleißig. Die beiden Kindergärten, eine große
Turuklasse, täglich zwei japanische Stunden und Andachten ungefähr aller drei
Minuten: das alles läßt mir nicht viel Zeit übrig für Heimweh. Doch die Sehn¬
sucht ist trotzdem da, und wenn ich die großen Dampfer im Hafen sehe, und mir
klar mache, daß sie Kohlen aufnehmen, um heim zu fahren, möchte ich mich an
Bord stehlen und mitreisen.
Die Sprache ist was entsetzliches. Meine Zunge gerät in solche Knoten, daß
ich manchmal einen Korkzieher nehmen muß, um sie wieder gerade zu kriegen.
Unter uns gesagt, ich habe mich entschlossen, es aufzugeben und mich statt dessen
dem englischen Unterricht der Mädchen zu widmen. Sie sind so empfängliche, lern¬
begierige Schülerinnen, es wird gewiß nicht schwer sein.
Was die Natur betrifft, so wage ich mich nicht an eine Beschreibung.
Manchmal erdrückt mich fast ihre großartige Pracht. Von meinem Fenster blicke
ich auf eine Bananengruppe, auf Granaten, Persimonen und Feigenbäume, alle
mit Früchten beladen. Die Rosen sind noch in voller Blüte. Farbe, Farbe
überall! Jenseits des Flusses sind die Ufer mit malerischen Häusern besetzt, die
aus einer Masse von Grün Herausgucken, weiter oben sind Teehäuser und Tempel
und Altäre, so alt, daß sogar ihr Moos grau geworden ist, und die Zeit die
Inschriften der Steine verwischt hat.
Wir brachten den gestrigen Tag auf der heiligen Insel Migajima zu, eine
einstündige Fahrt bringt uns hin. Ihre traumhafte Schönheit umschwebt mich noch
jetzt, und ich wünschte, du könntest sie mit mir empfinden. Wir fuhren über in
einem Sampan, d. i. ein rohes, offnes Boot, von zwei spärlich bekleideten Männern
gerudert. Eine halbe Stunde lang tanzten wir tatsächlich über den See. Alles
war frisch und funkelte, und ich freute mich so meines Lebens und meiner Freiheit,
daß ich vor Wonne sang. Miß Lessing stimmte auch mit ein, und die Ruderer
schlugend lächelnd und Beifall nickend den Takt dazu.
Die Berge ragten himmelhoch. Zu ihren Füßen auf einer kleinen, sichel¬
förmigen Ebene lag das Dorf mit so reinen, Weißen Straßen, daß man sich fast
scheute, sie zu betreten. Wir hielten vor dem Hause Zur weißen Wolke an, und
drei kleine Mädchen nahmen uns die Schuhe ab und banden uns hübsche Sandalen
an. Das ganze Haus war aus Zedern, Ebenholz und Bambus. Alles war mit
Hi abgerieben, daß es wie Atlas glänzte. Auf dem Boden lag eine gepolsterte
Matte mit schwerseidner, purpurroter Kante, und in der Ecke des Zimmers stand
eine Base voll prächtig assortierter Chrysanthemen, die mir bis an die Schulter
reichte. Alle Zimmer gingen auf eine Veranda, die direkt über einen: brausenden
Wasserfall hing, und unter uns, zehn Schritte entfernt, breitete sich die funkelnde
See aus mit Hunderten von Segelbooten und chinesischen Dschunken.
Am Nachmittag wanderten wir über die Insel, besuchten die uralten Tempel,
lauschten den geheimnisvollen Klagen der Windglocken, fütterten das Wild und die
Kraniche und tranken all die Schönheit in vollen Zügen. Ich kam mir wie ein
körperloser Geist vor, der über Jahrhunderte hinweg in dunkle, versunkne Zeiten
zurückschreitet. Verstorbne Seelen schienen um mich zu sein, doch sie brachten kein
Grauen; denn auch ich war tot. Den ganzen Nachmittag mußte ich mein Be¬
wußtsein festhalten, damit es nicht durch die Pforte dieses magischen Traumes in
die Vergessenheit entschwände.
Wie du es erst genießen und die tiefere Bedeutung lesen würdest, die mir
verborgen bleibt! Aber wenn ich auch nicht philosophieren kann wie meine kluge
Kameradin, so kann ich doch empfinden, so empfinden, daß mir die Nerven vor
Anspannung zittern. Lebewohl für heute! Ich habe die Zeit zu diesem Brief
gestohlen, und nun geziemt es mir, zu Hetzen.
Den 12. November 1901
Nach einer langen Weile kann ich wieder einmal schreiben, ich habe nämlich
abgewartet, bis ich einen Brief ohne Stöhnen und Jammern verfassen könnte.
Denke, ich bin bis auf den Grund untergetaucht und erst heute wieder an die
Oberfläche gekommen. Als der Reiz der Neuheit vorbei war, versank ich in ein
Meer von Heimweh; das drohte der Kindergartenarbeit ein für allemal ein Ende
zu machen. Aber ich schaffte wie toll und war die ganze Zeit über wie eine
jener zischenden Raketen, die wild durch die Luft schießen und zuletzt in einem
elenden kleinen Knall ersterben. Bei Tage kann ich es schon aushalten, aber
nachts werde ich fast verrückt davon. Und du glaubst gar nicht, wieviele Frauen
ihren Verstand hier verlieren. Fast jedes Jahr muß man ein armes, geistes¬
krankes Wesen nach Hause einschiffen. Du brauchst dich jedoch nicht um mich zu
sorgen; wenn ich genug Verstand zum Verlieren hätte, so wäre das schon längst
geschehen.
Aber es auszudenken, daß das Ende all meines alten Ehrgeizes und meines
Strebens in der bescheidnen Arbeit bestehn soll, dem kleinen Japan die Nase zu
wischen!
Wahrscheinlich glaubst du nun, daß ich gern zurück in den Hafen möchte,
aber dem ist nicht so. Ich secure mein kleines Boot erst recht ins offne Meer
hinaus. Vielleicht wird es in tausend Stücke zerschellen, vielleicht auch sicher wieder
heimkehren. Jedenfalls aber will ich den Trost jenes Kuhhirten in Texas haben,
der sagte: Ich habe mein Kühnstes gewagt.
Was ist übrigens aus Jack geworden? Er hätte mich nicht so beim Worte
nehmen brauchen, daß er mir nie auch nur einen Gruß schickt. Du erwähntest,
daß er am Kap gewesen sei, während du dort wohntest. War er so ungesellig
wie immer? Ich sehe ihn im Geist im Boote flach auf dem Rücken liegen und
Gedichte lesen. Ich hasse Gedichte, und wenn er mir seine Lieblingsstellen her-
zubeten pflegte, so machte ich Parodien darauf. Freilich, du warst immer anders.
Du pflegtest mit ihm zu rhapsodiereu nach Herzenslust.
Gerade jetzt hatte ich eine herrliche Überraschung. Ich guckte aus dem Fenster
und sah die Paketpost von einem Kuli gezogen in den Hof kommen und ausge¬
laden werden. Ich konnte mir gar nicht erklären, was los sei, aber gar bald
kam Miß Dixon herein mit beiden Armen voll Zeitungen, Bilder, Bücher und
Briefe. Alles für mich! Ich tanzte bloß so auf und ab vor Freude. Ich glaube,
man wird nie den Wert der Briefe genügsam schätzen, bis man nicht neuntausend
Meilen weit von zu Hause fort ist. Und solche liebe, zärtliche, ermutigende Briefe,
wie die meinen waren! Nun setze ich mich aber erst ordentlich hin und lese sie
alle noch einmal durch.
Den 24. November 1901
sichre Fahrt nun wieder, Kameradin! Ju meinem letzten Brief, wie ich mich
erinnere, blies das Nebelhorn ziemlich hartnäckig! Die Briefe von zu Haus setzten
mir wieder den Kopf zurecht. Wenn je ein menschliches Wesen mit guten Ver¬
wandten und Freunden gesegnet war, so ists mein unwürdiges Ich.
Die vergangne Woche war ungewöhnlich aufregend. Zuerst hatten wir eine
Hochzeit vor. Weil die Braut in unsrer Schule erzogen worden ist, nahmen wir
alle teil. Vor einiger Zeit kam der Vermittler, der alles arrangieren muß, zu
ihrem Vater und sagte ihm, daß ein junger Lehrer in der Staatsschule seine
Tochter heiraten möchte. Der Vater — ohne das Mädchen zu fragen —- orien¬
tierte sich über des Bewerbers Stellung, und da ihn alles befriedigte, sagte er
ja. Darauf teilte man der kleinen Otoya mit, daß sie verheiratet werden würde,
und nun wurde der Auserwählte eingeladen. Ich brannte vor Neugier auf das,
was geschehen würde, aber das Zusammentreffen fand hinter geschlossenen Türen
statt. Otoya erzählte mir später, daß sie den jungen Mann nie vorher gesehen
habe. Sie verneigten sich dreimal gegeneinander, dann bediente sie ihn mit Tee,
während ihre Eltern mit ihm redeten. Hast du denn gar nicht mit ihm gesprochen?
fragte ich. Sie blickte mich entsetzt an: Nein, das wäre sehr unanständig. Aber
du hast ihn dir gewiß genau angesehen, fuhr ich fort. Sie schüttelte deu Kopf:
Das wäre eine Schande gewesen. Das war vor drei Monaten, und sie hat ihn
nicht wiedergesehen bis letzten Montag, wo die Hochzeit stattfand.
Auf unsern Vorschlag hin machten sie eine amerikanische Hochzeit, und ich
wurde als Zeremonienmeisterin angestellt. Es war sehr lustig, denn wir hatten
Brautführer und Brautjungfern und Blumenmädchen, und Miß Lessing spielte den
Hochzeitsmarsch, als sie hereinkamen. Die Vorbereitungen waren ein wenig schwierig,
da es die Japaner als die größte Ungeschicklichkeit ansehen, etwas über Braut
oder Hochzeit vorher zu besprechen. Mich haben sie aber entschuldigt, weil ich
Ausländerin bin.
Der kleinen Braut oberstes Gewand war vom feinsten schwarzen Krepp, aber
darunter, Lage über Lage, waren Streifen aus regenbogenfarbiger Spümweb-
seide, die bei jeder Bewegung rieselten und sichtbar wurden. Und jeder Zoll
ihrer Ausstattung war von ihren Dienerinnen gesponnen, und zwar aus Kokons
eigner Zucht.
Nachdem die Hochzeitsnufregung nachgelassen hatte, bekamen wir Besuch von
vierzig chinesischen Aristokraten. Sie zogen in einer Kavalkade von Kuramas bei
uns ein, prächtig angetan, einen imponierender Anblick darbietend. Ich lief nach
dem Feuerhaken; denn ich dachte, vielleicht seien sie gekommen, um „uns Missionaren"
ein Ende zu machen. Aber, denk nur, sie hatten von unsrer Schule und dem
Kindergarten gehört und waren gekommen, um für die chinesische Regierung unsre
Einrichtung, unsre Lehrweise kennen zu lernen. Sie machten die Runde durch die
Schule und kamen auch zu den Kleinsten. Diese waren ganzlich überwältigt beim
Anblick der schwarzäugigen, wildblickenden Herren, aber sie machten doch ganz
schön all ihre Kunststückchen vor. Die Gäste waren so erfreut, daß sie den ganzen
Morgen blieben und uns ihre unmaßgebende Anerkennung aussprachen. Als sie
aufbrachen, fragte ich den Dolmetscher, ob die Hoheiten meinem unwürdigen Ich
gnädigst gestatten würden, ihre geehrten Photographien abzunehmen. Ist es zu
glauben! Die alten Kerle bliesen sich ans wie Kropftauben und kicherten und
zierten sich wie Schulmädchen! Sie standen in einer Reihe und grinsten mich
an, während ich den Kodack knipfte. Wenn das Bild gelingt, sende ich dir
einen Abzug.
Heute morgen mußte ich den Kindergottesdienst halten. Nächstens werde ich
noch öffentlich beten müssen. Ich sehe es kommen! Die Lektion war über den
Verlornen Sohn, ein Thema, über das ich ans Erfahrung rede. Die japanischen
Jungens verstanden vielleicht jedes dritte Wort, aber sie folgten mir höchst auf¬
merksam. Als ich mitten im feierlichsten Erklären war, fiel mir plötzlich ein Bild
ein, das Jack früher hatte. Es stellte ein mageres, kleines Kalb dar, das die
Straße hinunterrast, weil weiter hinten ein faul aussehender Bummler daherschlürft.
Darunter stand die Geschichte: „Bossy, lauf davon, dort kommt der Verlorne Sohn!"
Diese Erinnerung machte meiner Predigt jählings ein Ende, und statt dessen er¬
zählte ich den Jungens eine Bärengeschichte.
Wie gern ich heute abend bei dir reingucken möchte und vor dem Kamin auf
der Erde hocken und plaudern! Ich werde schrecklich altmodisch sein, wenn ich
heimkomme, aber denk nur, wie unterhaltend! Ich habe genug famose Anekdoten
gesammelt für den Rest meines Lebens.
Um des Himmels willen schicke mir ein paar Hutnadeln, aber nette lange
mit hübschen Köpfen. Und wenn du diesen Winter nach Newyork gehst, so
besorge mir zwei Flaschen Veilchenextrakt. Viel herzliche Grüße euch allen, und
tausend Küsse den Kindern zu Hause. sorgst du auch, daß sie mich nicht etwa
vergessen?
(Fortsetzung folgt)
Der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien nähert sich immer mehr
der letzten Entscheidung über Krieg und Frieden. Feste Anhaltepunkte, wie diese
Entscheidung fallen wird, lassen sich in dem Augenblick, wo diese Zeilen geschrieben
werden, noch nicht gewinnen. Tatsächlich haben die Serben noch nicht dos geringste
davon merken lassen, daß sie ein Nachgeben in den Bereich der Möglichkeit ziehn.
Man hat deshalb vorläufig keine Unterlage für die Annahme, daß sie doch zuletzt
nachgeben werden. Tun sie das aber nicht, so muß der militärische Konflikt mit
Österreich-Ungarn in wenigen Tagen ausbrechen. Andrerseits scheint uns das Ver¬
halten Serbiens so sehr jeder vernünftigen Berechnung zuwiderzulaufen, daß man
immer wieder versucht ist, nach besondern Gründen für die herausfordernde Haltung
des kleinen Staats gegenüber einer benachbarten Großmacht und für diese an selbst¬
mörderischen Wahn grenzende Politik zu forschen. Diese Gründe kann man aber
nur in dem festen Glauben der Serben finden, daß die Großmächte die Nieder¬
werfung Serbiens und die endgiltige Anerkennung der österreichisch-ungarischen
Balkanpolitik nicht gletchgiltig mit ansehen könnten. Besonders rechnet man hierbei
auf die Hilfe Rußlands und läßt es sich nicht ausreden, daß diese slawische Vor¬
macht doch im entscheidenden Augenblick noch Mittel und Wege finden werde, den
südslawischen Brüdern zu Hilfe zu kommen. Da es nun aber nicht ausgeschlossen
ist, daß diese Hoffnungen der Serben am letzten Ende von den Großmächten
gründlich zerstört werden, so kann man auch wieder trotz der sehr geringen Wahr¬
scheinlichkeit, die noch für die Erhaltung des Friedens besteht, nicht mit Bestimmtheit
sagen, daß diese Wendung der Dinge unmöglich ist.
Wenn man sich hiernach mit dem Gedanken vertraut machen muß, daß die
Kanonen das letzte Wort zwischen Österreich-Ungarn und Serbien sprechen, so läßt
sich doch an der Hoffnung festhalten, daß ein großer europäischer Krieg vermieden
werden wird. Ob das möglich sein wird, hängt von Rußland ab. Denn wenn
diese Macht wirklich keinen Zweifel darüber läßt, daß sie sich nicht in einen Krieg
für die serbischen Ansprüche treiben lassen will, so fallen auch für die andern
europäischen Mächte alle Gründe hinweg, in den Konflikt mit irgendwelchen Gewalt¬
mitteln einzugreifen. Noch ist freilich auch eine Entwicklung denkbar, die Rußland
veranlassen könnte, mit aktiver militärischer Hilfe für Serbien einzutreten. Für
diesen Fall wäre für Deutschland die Verpflichtung gegeben, dem Verbündeten
Österreich-Ungarn zu Hilfe zu kommen, und daß die deutsche Regierung bei solcher
Wendung der Dinge den Bündnisfall in der Tat als gegeben ansieht, darüber
hat sie in diplomatischen Aussprachen an geeigneter Stelle nicht den geringsten
Zweifel gelassen. Erfreulicherweise findet diese Auffassung auch in den weitesten
Kreisen des deutschen Volks und in der Presse aller bürgerlichen Parteirichtungen
lebhaften Anklang und entschied»« Zustimmung. Nur vereinzelt sind die Stimmen,
die von der Meinung ausgehn, Deutschland verfolge diese Politik nur in Erfüllung
der Verpflichtung des formellen Festhaltens an dem Bündnis mit Österreich-Ungarn.
Sie meinen weiter, Deutschland verstricke sich damit in eine Politik, die keineswegs
einwandfrei und vor allem nur eine Politik österreichischer Interessen sei. Diese
Meinung tritt, wie gesagt, in der Presse nur vereinzelt auf, wobei es freilich Er¬
staunen erregen muß, daß es gerade Blätter sind, die am entschiedensten die Bis-
marckischen Traditionen, wie sie sie verstehn, zu vertreten bemüht sind, und die der
Regierung immer die schärfsten Vorwürfe und eine geradezu erbitterte Opposition
gemacht haben, wenn sie nach ihrer Meinung das von Bismarck errungne Prestige
des Deutschen Reichs nicht entschieden und weitsichtig genug wahrte und damit den
Schein des ängstlichen Zurückweichens, des Zickzackknrses und der Friedenssehnsucht
um jeden Preis auf sich lud. Wir wollen diesem eigentümlichen Umstände nicht
näher nachgehn, sondern nur den sachlichen Irrtum hervorheben, der in der Auf¬
fassung liegt, die gegenwärtige Haltung der deutschen Politik diene nur österreichischen
Interessen. Man braucht nur einmal ernstlich die Gegenprobe auf das Exempel
zu machen und sich zu vergegenwärtigen, wie die europäische Lage aussehen würde,
wenn Deutschland nicht mit entschiedner Klarheit und Festigkeit an die Seite
Österreich-Ungarns getreten wäre. Man hat sich lange Zeit grundlos über die
„Einkreisung" Deutschlands aufgeregt. Wenn Deutschland jetzt die kapitale Dumm¬
heit gemacht hätte, Österreich-Ungarn im Stich zu lassen, dann würde man die
Einkreisung und Isolierung Deutschlands allerdings von einer Seite kennen gelernt
haben, bei der den Freunden solcher Politik wohl die Berufung auf Bismarck im
Halse stecken geblieben wäre. Es bedarf eigentlich kaum der Auseinandersetzung,
daß die Politik der Bündnistreue in diesem Falle zugleich ganz und gar die Politik
der deutschen Interessen in jeder Beziehung ist.
Wie steht nun eigentlich Rußland zu Serbien? Bestärkt es den kleinen Staat
wirklich in seiner Starrköpfigkeit, oder fühlt es sich nur ohnmächtig, die Illusionen
der Serben endgiltig zu zerstören? Im allgemeinen wünscht man in Rußland,
den Frieden erhalten zu sehen. Der Kaiser persönlich, die Minister, die hohe
Beamtenschaft, die einflußreichen Führer der Duma, die Mehrheit der erwerbtätigen
Stände, sogar die ausschlaggebenden Kreise der Armee sind für den Frieden. Auch
die panslawistischen Organisationen, die doch das stärkste Interesse daran haben,
die Solidarität aller Slawen womöglich unter Rußlands Führung durch die Tat
zu beweisen, halten den Augenblick zum Losschlagen noch nicht für gekommen. Es
bestehen natürlich auch kleine, der Sachlage entsprechend, sehr laute Kreise von
Schreiern, die unter unverantwortlichen Politikern, Literaten und jungen Offizteren
ihren Rückhalt finden, und die vor allem in der Presse das große Wort führen.
Das verbreiterte Blatt Rußlands, die Nowoje Wremja, unterhält ebenfalls diese
Stimmung der Feindschaft gegen Österreich-Ungarn und Deutschland und spielt,
das nationale Selbstgefühl der Russen fortwährend anstachelnd, mit dem Gedanken
einer kriegerischen Entscheidung. Das ist nicht ganz gleichgiltig und ungefährlich,
weil bei den Eigentümlichkeiten der russischen Zustände und dem Charakter des
russischen Volks eine Va,-dg.n^us-Politik nicht so sehr außerhalb jeder Wahrschein¬
lichkeit liegt wie bei andern europäischen Großstaaten. Aber vorläufig sind die
Gegengewichte, die in der Macht der Tatsachen und in der Meinung der Verant¬
wortlicher und ausschlaggebenden Persönlichkeiten liegen, noch stark genug. Sie
-würden noch stärker sein und längst die Erhaltung des Friedens verbürgt haben,
wenn nicht die persönliche Politik Jswolskis tatsächlich im andern Sinne wirkte.
Man kann zwar überzeugt sein, daß auch Herr Jswolski persönlich den Frieden
will, aber er hat der Hoffnung gelebt, daß sich aus dem ganzen Verlauf der
Orientwirren ein großer diplomatischer Vorteil für Rußland ergeben werde, eine
Verstärkung des russischen Einflusses im nahen Orient, die zugleich einen großen
Erfolg der Triple-Entente gegenüber dem Dreibund und damit eine Verschiebung
der europäische» und der weltpolitischen Lage zugunsten Rußlands in sich schließen
sollte. Darauf hatte Jswolski seine ganze Taktik eingestellt, und gerade dieser
Plan mißglückte. Nun ist es so überaus schwer, aus dieser Sackgasse herauszu¬
kommen, ohne nicht nnr das russische Prestige bei den Sndslawen preiszugeben,
sondern auch vor ganz Europa entweder einen Rückzug anzutreten oder als illoyal
zu erscheinen. Darm darf man Wohl den Schlüssel zu der politischen Haltung
Rußlands sehen. Man hat darin ein bewußt zweideutiges Spiel gesehen. Es will
uns aber scheinen, als ob darin mehr Verlegenheit als bewußte Zweideutigkeit sei.
Die Sache bekommt nur ein andres Ansehen durch die serbische Politik, die bei
aller leidenschaftlichen Verblendung doch immer noch genug echt slawische Ver¬
schlagenheit zeigt, die eigentümliche Lage Rußlands für sich auszunutzen. Serbien
ist es, das dafür sorgt, daß Jswolskis Schachzüge, durch die er die Bemühungen
um einen friedlichen Ausweg so weit maskieren will, daß sie nicht als Rückzug
vor Österreich-Ungarn erscheinen, immer wieder als versteckte Ermutigungen der
serbischen Halsstarrigkeit erscheinen. Wenn es Serbien glückt, die Meinung zu er¬
halten, daß Nußland insgeheim noch immer die serbischen Wünsche unterstützt und
zuletzt auch einem tatkräftigen Eintreten für Serbien nicht mehr aus dem Wege
gehn kann, ohne als slawische Vormacht geradezu abzudanken und sich vor Europa
zu blamiere», so fällt für die serbischen Politiker nach ihrer Erwartung auch die
weitere Frucht ab, daß die beiden andern Mächte der Triple-Entente die Ver¬
pflichtung sühlen, die Blamage der russischen Politik im Interesse dieser ganzen
europäischen Mächtegruppe zu verhindern und ebenfalls nicht zu gestatten, daß
Serbien vor dem von Deutschland unterstützten Österreich-Ungarn einfach zu
Kreuze kriecht.
Dieser Taktik entsprechend hat die serbische Regierung keinen Augenblick unter¬
lassen, der ganzen Welt zu unterbreiten, daß es sich bei allen seinen Schritten ver¬
trauensvoll den Rat Rußlands erbittet. Die Antwort auf die in Belgrad erhabnen
Vorstellungen der Mächte sollte sogar in Petersburg redigiert sein, obwohl die
russische Negierung das entschieden ableugnet; sie sei allerdings zu Rate gezogen
worden, aber gerade die letzte Redaktion rühre nicht von ihr her. Zu gleicher
Zeit wurde die serbische Sondernote an Rußland bekannt, worin ostentativ das
Vertrauen in die Ratschläge Rußlands und seine vermittelnde Rolle ausgesprochen
wurde. Dadurch war die Stimmung vorbereitet für die zweideutige und unbe¬
friedigende Antwort, die Serbien auf die vom Grafen Forgatsch überreichte öster¬
reichische Note erteilte. Der Eindruck konnte nur sein: Serbien weiß Rußland
hinter sich, daher stürzt es sich blindlings in kriegerische Abenteuer. Und als nun
von Petersburg eine neue Note nach Wien kam, die den von Rußland stets fest-
gehaltnen Vorschlag der Einberufung einer Konferenz noch einmal betonte, und die
in der Sache zwar den alten Standpunkt festzuhalten schien, aber in der Form
eine Schwenkung und ein Einlenken andeutete, sorgte ein neues Aufflammen der
Kriegsstimmung in Belgrad dafür, daß der vorhin bezeichnete Eindruck verstärkt wurde,
und daß der letzte diplomatische Schritt Rußlands nach außen hin nicht als eine Ein¬
leitung der Verständigung, sondern als eine neue Ermutigung Serbiens erschien.
Und doch steckt in der serbischen Politik ein großer Rechenfehler. Denn Frank¬
reich und England haben beide ein großes Interesse an der Erhaltung des Friedens
nicht nur in Europa, sondern auch ini Orient und wissen, daß Rußland tntsäch¬
lich nicht Krieg führen will. Gerade weil sie der befreundeten osteuropäischen
Macht einen Rückzug ersparen wollen, werden sie darauf hingedrängt, alles zu tun,
Serbien zur Vernunft zu bringen, natürlich auf möglichst schonende Weise, um
Rußlands Balkaninteressen nicht schroff zu verletzten. Wenn in der englischen und
französischen Presse gegen Österreich und Deutschland Lärm geschlagen wird, so
darf man sich dadurch nicht irreführen lassen. Dieser Preßlärm, der ja nichts
kostet, soll verhüten, daß die Orientpolitik der Westmächte etwa als ein Abrücken
von Rußland aufgefaßt wird, was ja sowohl Frankreich als auch England sehr
unangenehm wäre. In Wahrheit braucht England nur bei dem Programm zu
bleiben, das es von Anfang an aufgestellt hat, nämlich Einberufung einer Konferenz,
aber genaue Abgrenzung der Fragen, die dabei behandelt werden sollen. Man
erinnere sich, daß die britische Regierung seinerzeit die weitergehenden Pläne
Jswolskis zurückgewiesen hat. Frankreich hat ein so starkes Interesse daran, die
Orientfrage friedlich zu regeln und vor allem ein kriegerisches Eingreifen Rußlands
unnötig zu machen, daß es sich zu diesem Zwecke bekanntlich sogar Deutschland ge¬
nähert hat, also keineswegs geneigt ist, Serbiens Haltung zu ermutigen.
Es war bisher immer die Freude der Dreibundgegner und Serbenfreuude,
daß Italien anscheinend in seiner ganzen Stellung uuter dem Druck der Westmächte
stand. Die tatsächliche Annäherung Frankreichs und Deutschlands hätte den schaden¬
frohen Beobachtern schon ein Wink sein können, sich die Lage in dieser Beziehung
etwas genauer anzusehen. Wenn sich Italien vielfach genötigt geglaubt hat, zwischen
seinen Dreibuudpflichten und seinem Verhältnis zu den Westmachten als Beherrschern
des Mittelmeeres eine schwankende Stellung einzunehmen, so fällt jetzt jeder Grund
dazu weg. Im Gegenteil, jetzt ist die Gelegenheit zur freundschaftlichen Unterstützung
Österreich-Ungarns gegeben wie noch nie, weil jetzt nicht einmal die Entschuldigung
gelten kann, daß die starke Betonung der Dreibundfreundschaft in Italien leicht
dazu führen könnte, die Spannung zwischen Deutschland und Frankreich zu erhöhen.
In der Tat hat der italienische Minister Tittoni und Geschick den Augenblick erfaßt,
die Initiative in einer neuen Vermittlungsaktion in die Hand zu nehmen. Der
Grundgedanke ist einfach und geschickt formuliert: Aufnahme des Konferenzprojekts
im Sinne der Triple-Entente, aber Begrenzung des Programms der Konferenz in
dem Sinne, daß sich auch Österreich-Ungarn, ohne zurückzuweichen, daran beteiligen
kann. Das Vorgehen Tittonis hat in Wie» und Berlin außerordentlich sympathisch
berührt: vielleicht bringt es doch noch die Lösung der Krisis.
In England haben kürzlich die Parlamentsverhandlungen über den Ausbau
der Flotte wieder die Nervosität wegen einer angeblichen Bedrohung durch Deutsch¬
land merkwürdig hervortreten lassen. Die liberale Regierung befindet sich freilich
in der eigenartigen Lage, mit ihren Flottenplänen Forderungen zu vertreten, die
zwar in sachverständigen und realpolitisch denkenden Kreisen aller Parteirichtungen
als eine selbstverständliche Konsequenz der Weltlage erscheinen müßten, für die aber
gerade in der großen Masse der liberalen Parteigänger nicht ohne weiteres Ver¬
ständnis zu finden ist. Man denkt in diesen Kreisen über die Grundlagen über¬
seeischer Machtstellung und die Mittel zu ihrer Erhaltung außerordentlich naiv, und
die liberalen Parteiorganisationen sind namentlich in ihren radikalern Schattierungen
stark von pazifistischen Strömungen durchsetzt. Diese begreifen ungern, warum die
liberalen Minister mit denselben Forderungen auf Steigerung der maritimen Wehr¬
kraft kommen wie ihre konservativen Vorgänger. Daher das Bestreben der Führer
und der weitsichtigern Politiker, die öffentliche Meinung ihres Parteilagers aufzu¬
rütteln durch die Vorstellung einer Gefahr, die in den populären Vorstellungen
leicht Ausnahme findet. Und fo trugen der Premierminister Asquith und sein Kollege,
der erste Lord der Admiralität, kein Bedenken, als Veranlassung des neuen Flotten¬
bauplans die Fortschritte der deutschen Flotte hinzustellen. Es wurde herausgerechnet
daß die deutsche Flotte im Jahre 1912 mehr „Drendnoughts" zur Verfügung haben
werde als die englische. Diese Berechnung hat in England eine wahre Panik erzeugt
wobei übrigens anerkannt werden muß, daß keine Feindseligkeit gegen Deutschland
zum Ausdruck kam; mau machte nur die britische Regierung dafür verantwortlich
daß sie der deutschen Energie gegenüber nicht besser auf den Schutz des Landes
bedacht gewesen sei.
In denselben Tagen wurde bei uns der Marineetat in der Budgetkommission
beraten. Admiral v. Tirpitz konnte natürlich an den Verhandlungen des englischen
Unterhauses nicht stillschweigend vorübergehn. Er hatte es jedoch leicht, die eng¬
lische Berechnung richtigzustellen. Er brauchte nur darauf hinzuweisen, daß das
deutsche Flottengesetz ja vor aller Welt genau bestimmt, welche Schiffe und in
welchem Zeitraum sie gebaut werden sollen. Mit Recht konnte er Erstaunen äußern,
daß vollkommen falsche Vorstellungen über den Umfang der deutschen Flotte im
Auslande öffentlich und amtlich verbreitet werden können. Im übrigen aber ist es
Sache jedes Staates, seine Seestreitkräfte nach eignem Bedürfnis zu bestimmen, und
wir werden mich ferner unsern Weg gehen ohne Feindseligkeit und Drohung gegen
England, aber auch ohne uns einschüchtern zu lassen.
Das Plenum des Reichstags ist jetzt beim Militäretat angelangt. Die De¬
batten gestalteten sich diesmal sehr lebhaft, und mehrfach hat der Kriegsminister
General v. Einem das Wort ergriffen, um die Heeresverwaltung gegen die übliche
Kritik zu verteidigen. Diese Kritik bringt im allgemeinen nicht viel Neues vor;
es sind im wesentlichen immer dieselben Klagen, die meist darauf beruhen, daß die
Beurteiler von einem grundsätzlich ganz verschiednen Standpunkt ausgehen, auf den
sich die Militärverwaltung nicht stellen kaun. Der Wunsch der Linksliberalen geht
auf eine größere Demokratisierung der Heereseinrichtnngen, und diesen Bestrebungen
schließt sich auch ein großer Teil des Zentrums an, das jetzt glücklich ist, in der
Person eines ehemaligen bayrischen Generals, des Abgeordneten Häusler, einen fach¬
männischer Wortführer gefunden zu haben. Nun ist ja durchaus nicht zu ver¬
wundern, daß es auch im Offizierkorps selbst — und zwar gerade unter Persönlich¬
keiten von großer Intelligenz — Leute gibt, die abweichend von den „offiziellen"
Ansichten ihre eignen Wege gehn. Gewöhnlich handelt es sich da aber doch in
der Regel um irgendeine einseitig entwickelte und auf gewisse Lieblingsgedanken
gerichtete geistige Eigenheit, die mehr durch zufällige persönliche Erfahrungen als
durch streng geschultes Nachdenken über die Bedürfnisse des großen Ganzen genährt
worden ist. So kann es denn auch vorkommen, daß ein Mann, der es zu hohen
Stellungen in der Armee gebracht hat und wahrscheinlich in Pflichttreue und
Intelligenz hinter niemand seinesgleichen zurückgeblieben ist, doch zu so abstrusen
und unter Fachmännern vereinzelt dastehenden Ansichten gelangt, wie sie der Ab¬
geordnete Häusler über Wert und Ausbildung der Kavallerie entwickelt hat.
Gewöhnlich wirken besondre Vorkommnisse darauf ein, daß bestimmte Fragen
in der Militärdebatte in den Vordergrund gerückt werden. Eine solche Frage war
diesmal die der geheimen Qualifikationsberichte, in denen die persönliche Befähigung
der Offiziere und ihre Eignung zur Beförderung und besondern Verwendung von
den Verantwortlicher Vorgesetzten beurteilt werden. Ein derartiges Urteil kann nicht
auf exakten, mit juristischer Schärfe oder mathematischer Sicherheit zu bestimmenden
Unterlagen aufgebaut werden, sondern es muß, wie man die Sache auch anfassen
mag, von Menschen nach subjektiven Beobachtungen gefällt werden. Daraus folgt
für jeden verständigen Menschen ganz von selbst, daß bei der Beurteilung der
Offiziere Irrtümer und auch Ungerechtigkeiten vorkommen können, nicht bewußte
Ungerechtigkeiten, wohl aber solche, die aus der Unvollkommenheit menschlichen
Beobachters und Urteilens selbst bei strengster Gewissenhaftigkeit entspringen.
Solche Irrtümer sind nicht wegzuschaffen, man mag das System einrichten, wie
man will. In Frankreich suchte mau dem Übelstande vorzubeugen, indem man die
entscheidende Feststellung der Qualifikationen Kommissionen übertrug. Sehr schön!
aber worauf fußten die Mitglieder der Kommissionen? Ebenfalls auf subjektiven
Urteilen und Beobachtungen von Vorgesetzten! Und wenn diese nun falsch waren?
Weder bei der auf höchst unsichrer Grundlage ruhenden Abstimmung der Kommissions-
mitglieder noch bei den das Material hierzu liefernden Urteilen der Vorgesetzten
kam ein sehr wichtiges Moment zu seinem Recht, nttmlich die Verantwortung, die
ein Ehrenmann auf sich ruhen fühlt, wenn er durch sein persönliches Urteil das
Schicksal eines Untergebnen in der Hand hat. Übrigens weiß bei uns jeder Vor¬
gesetzte, der Qualifikationsberichte zu schreiben hat — und das sind bei uns außer
der verhciltnißmäßig geringen Zahl von Kommandeuren selbständiger Bataillone
nur die Befehlshaber vom Regimentskommandeur aufwärts —, daß er mit diesen
Berichten seinen eignen Vorgesetzten wieder eine Unterlage liefert, wonach sie ihn
selbst beurteilen. Wer in diesen Sachen Bescheid weiß, wird Beispiele anführen
können, daß sich höhere Offiziere durch unzutreffende oder unzureichende Bericht¬
erstattung über die ihnen unterstellten Offiziere selbst das Grab gegraben haben.
Nun wird plötzlich behauptet, alle Übelstände, die wirklich oder vermeintlich bei
der persönlichen Beurteilung der Offiziere gelegentlich eintreten, seien darauf
zurückzuführen, daß die Berichte geheim sind. Man kann getrost behaupten: wären
sie öffentlich, so würden die Übelstände dieselben sein, nur würde man dann auf
die demütigende und beleidigende Rücksichtslosigkeit hinweisen, die darin liegt, daß
ein Offizier bis zum General hinauf wie ein Schulknabe beständig zu hören be¬
kommt, wie man über seine Persönlichkeit denkt. Abgesehen davon würden un¬
mögliche Zustände eintreten, da jedes ungünstige Urteil in den Augen des davon
betroffnen auch als ungerecht gelten würde. Es genügt in Wahrheit, daß ein
Offizier erfährt, wenn gegen seine Befähigung und seine Leistungen etwas so
gravierendes vorliegt, daß seine Laufbahn gefährdet erscheint, und das wird kein
Vorgesetzter seinen Untergebne» vorenthalten. Der Kriegsminister wies mit Recht
darauf hin, daß öffentliche Qnalifikationsberichte die Vorgesetzten nur dazu zwingen
würden, inoffiziell besondre Erkundigungen über die Offiziere einzuziehen.
Wieder wurde auch der altbekannte Sturmlauf gegen die Kommandogewalt
und die Stellung des Militärkabiuetts unternommen. Herr v. Einem konnte dem¬
gegenüber betonen, daß er die Verfassung hinter sich habe. Ohne Änderung der
Verfassung würden die Wünsche der Opposition in Wahrheit nicht zu verwirklichen
sein. Weiter richtete sich die Kritik gegen die Ehrengerichte und dann gegen die
angebliche Bevorzugung des Adels in der Armee. Ganz wird man es den
Parteien, die sich als besondre Vertreter des Bürgertums fühlen, nicht verdenken
können, daß sie auf diesen Punkt ein scharfes Augenmerk haben. In Preußen
besteht der Kern der alten Militärfamilien, deren Söhne schon durch Vererbung
und Überlieferung die natürlichen Träger militärischer Traditionen sind, noch immer
aus den Adelsfamilien, und die Versuchung der Regimenter, die großen Zulauf
haben, die Angehörigen dieser Familien bei der Annahme von Offiziersaspiranten
zu bevorzugen, ist sehr groß. Die Zahl der bürgerlichen alten Militärfamilien
schmilzt schon deshalb immer etwas zusammen, weil bürgerlichen Offizieren, sobald
sie in höhere Stellen gelangen, in der Regel der Adel verliehen wird. Bet den
heutigen sozialen Verhältnissen des gebildeten Bürgertums ist aber eine Scheidung
von Adel und Bürgertum und eine Feruhcütung neuer bürgerlicher Elemente aus
dem Offizierkorps nicht zu rechtfertigen. Das hat anch der Kriegsminister offen
zugegeben. Nur schießt die freisinnige Kritik über das Ziel hinaus, wenn sie eine
Statistik aufmacht, wie viele Adlige und Bürgerliche in hohen Stellen und im
Generalstab sind. Gesetzt, die verantwortlichen Stellen stellten sich wirklich auf den
Standpunkt des Freisinns, so würde folgendes geschehen müssen: Nachdem die
Qualifikation der zur Versetzung in den Generalstab bestimmten Offiziere festgestellt
worden ist, macht der Chef des Generalstabes die Entdeckung, daß darunter ebenso
Viele adlige wie bürgerliche Offiziere sind. Nach der Statistik gibt es aber in der
Armee im ganzen ungefähr doppelt so viel bürgerliche wie adlige Offiziere. Damit
die Sache nun nach den Ansichten des Abgeordneten Müller-Meiningen stimme,
muß er einige der gut qualifizierten adligen Offiziere zurückstellen und einige weniger
gut qualifizierte bürgerliche an ihre Stelle setzen. Das geht natürlich nicht.
In Sachen der Reichsfinanzreform rücken die Arbeiten der Kommission nur
langsam vorwärts. Über die Brcmsteuer hat mau sich geeinigt, auch bei der
Tabaksteuer lichtet sich der Horizont etwas. Glatt abgelehnt wurden die Jnseraten-
steuer und die Gas- und Elektrizitätssteucr. Im Lande aber wächst die Teil¬
nahme an dem Zustandekommen der Reform, und die Erklärungen zugunsten der
Nachlnßsteuer häufen sich. Hoffentlich geht es nun besser vorwärts!
In einem „den Manen Miquels"
gewidmeten Buche: „Die Retchsfincmzreform und ihr Zusammenhang mit Deutsch¬
lands Volks- und Weltwirtschaft" (Leipzig, C. L. Hirschfeld) hat Professor Julius
Wolf die brennendste Frage des Tages mit erschöpfender Gründlichkeit behandelt.
Er weckt den Patriotismus mit dem bekannten Gedankengange: der jährliche Be¬
völkerungszuwachs Deutschlands kann nicht in der Landwirtschaft, sondern nur in
der Industrie untergebracht werden, und dieses nur dann, wenn sich unser Export
ausdehnt. Damit erregen wir den Konkurrenzneid der andern Staaten, namentlich
Englands, und daraus entspringt die Notwendigkeit stetig wachsender Rüstungen und
der Ausgaben dafür. Indem unsre Reichseinnahmen hinter diesen notwendigen
Ausgaben alljährlich um durchschnittlich 5 Prozent zurückblieben, sind wir in die
gegenwärtige Kalamität geraten. Der Weg der Abhilfe war dadurch vorgezeichnet,
daß von den indirekten Steuern die auf Gegenstände des Massenluxus, von den
direkten die Erbschaftssteuer ungenügend entwickelt waren. (In besondern Abhand¬
lungen wird als wesentlicher Unterschied der indirekten von den direkten Steuern
nachgewiesen, daß jene von der Masse, diese von der wohlhabenden Minderheit
erhoben werden, und außerdem gezeigt, daß Branntwein, Bier und Tabak wirklich
ein Luxus sind, daß ihr Verbrauch ohne Schädigung des Volkes und der National¬
wirtschaft eingeschränkt werden kann, daß dagegen hohe Getreide- und Fleischzölle
eine sehr bedeutende Belastung der unvermögenden Bevölkerung bedeuten, endlich,
daß die Opposition der Konservativen gegen die vorgeschlagne Nachlaßsteuer zwar
aus achtungswerten Gefühlen entspringt, die Befürchtungen wegen der vermeintlichen
schlimmen Wirkungen dieser Steuer jedoch auf Irrtum beruhen.) Diesen Weg hat
nun, nachdem mancherlei andres teils publizistisch erörtert teils tatsächlich probiert
worden war, jetzt Sydow beschritten. Die eingehende Prüfung seiner Vorlage ergibt
das zusammenfassende Urteil: „In Summa ist diese Reichsfinanz- und insbesondre
die Reichssteuerreform ein großes, gründlich vorbereitetes, wohl durchdachtes, modern
entworfnes, Billigkeit gegenüber den verschiednen Ständen und Gruppen suchendes,
des großen Deutschen Reichs durchaus würdiges Werk." Siege über Sydow der
Reichstag, das heißt ein Kompromiß der in diesem vertretnen Interessengruppen
und Parteidoktrinen, so wird das zwar ein Fortschritt sein, und es wird auch nicht
einer künftigen Reform der Weg verlegt, wie das vor siebenundzwanzig Jahren
durch die Verwerfung des Tabakmonopols geschehen ist, des besten aller Monopole,
das mit einem Schlage allen Nöten abgeholfen haben würde. Aber ganze Arbeit
wäre damit uicht geleistet; es würde eine siebente, achte, neunte Neformrnte not¬
wendig werden, „da nun einmal die ratenweise Erledigung der nationalen Pflicht
beliebt wird". Fällt die Nachlaßsteuer, so schlägt Wolf statt ihrer eine Gesellschafts¬
oder Dividendensteuer vor, nicht etwa aus Feindschaft gegen das mobile Kapital,
Vielmehr werde eine solche Steuer zur Gesundung der Aktiengesellschaften beitragen.
Und sollten die durchaus zweckmäßige» Banderole abgelehnt werden, so würde Wolf
der nur geringen Ertrag versprechenden Erhöhung des Rohtabakzolls und der Roh¬
tabaksteuer eine Besteuerung des Zwischenhandels, namentlich eine nach der Höhe
der Ladenmiete abgestufte Besteuerung der Luxusläden vorziehen. Auch solche Leser,
die nicht mit allen Ansichten Wolfs einverstanden sind, werden ihm dankbar sein
für die mit reichlichem statistischen und Tatsachenmaterial ausgestatteten Begründungen
seiner Thesen, die eine vollständige und klare Einsicht in den Gegenstand vermitteln
(oder vielmehr in die vielen für die Hauptfrage in Betracht kommenden Gegen¬
stände, wie den sozialen Charakter der deutschen Besteuerungsweise, die Verwendung
der Reichs- und Staatseinnahmen, Vergleichung Deutschlands mit andern Staaten
in beiden Beziehungen, die Verflechtung der Neichsfinanzen mit den Finanzen der
Einzelstaaten und der Kommunen, das Reichs- und Staatsschuldenwesen). Tiefer in
das hier Dargebotne einzugehn, halte ich darum für überflüssig, weil alle, denen
die große Angelegenheit am Herzen liegt, ohne Zweifel das Buch selbst zu Rate
Von dem „Jahr- und Lesebuche", das Dr. Ernst
von Halle unter dem obigen Titel (bei B. G. Teubner in Leipzig) herausgibt,
ist der internationale Übersichten enthaltende erste Teil des dritten Jahrgangs er¬
schienen. Sechzehn Fachautoritäten behandeln darin: die Weltpolitik im Jahre
1907, die internationale Wirtschaftspolitik, die landwirtschaftliche und Rohstoff-
Produktion, Geld und Kredit, den Welthandel und Weltverkehr (Eisenbahnen, Schiff¬
fahrt, Post und Telegraphie), Versicherungswesen, Fortschritte der chemischen Technik
im Jahre 1907 (das bestellte Manuskript über mechanische Technik ist nicht ge¬
liefert worden), Armenwesen, Wirtschaftsrecht und Sozialpolitik. Das größte Interesse
wird die sehr eingehende Darstellung der merkwürdigen Geldverhältnisse des
Jahres 1907, der Bankenkonzentratton und der amerikanischen Krisis erregen.
Man erfährt unter anderm, daß sich die Verbindlichkeiten der im Jahre 1907 in
Konkurs geratnen Banken der Vereinigten Staaten auf 233325972 Dollars be¬
laufen haben. Der Verfasser, Dr. P. Wallich in Paris, bemerkt dazu: „Biedre
Ironie liegt darin, daß Trustkompagnien, d. h. Treuhandgesellschaften, in die Macht¬
sphäre gewissenloser Spekulanten gerückt und nicht mehr imstande waren, die ihnen
anvertrauten Gelder auszuzahlen." Sehr interessant ist auch der Bericht über die
Goldproduktion in Transvaal, die trotz allen aus der Arbeiterfrage entstandnen
Schwierigkeiten wieder flott im Gange war und die aller übrigen Länder über¬
flügelt hat. In den übrigen Gold liefernden Ländern, nur Mexiko ausgenommen,
sank die Ausbeute; die Steigerung der Gesamtausbeute ist allein dem Rand zu
verdanken. Es haben im Jahre 1907 geliefert: Transvaal 7535000, Kanada
4335000, die Vereinigten Staaten genau ebensoviel(?), Australien 3619000, Ru߬
land 900000, Mexiko 925000, alle übrigen Länder zusammen 1860000 Unzen.
Von Friedrichs des Großen Ge¬
mahlin Elisabeth Christine haben wir bis jetzt nur eine aus dem Jahre 1848
stammende, von F. v. Hahnke verfaßte Biographie. Alle kleinern Lebensbeschreibungen
und Skizzen, z. B. die von Kirchner in dem Werk „Die Churfürstinnen und Königinnen
ans dem Throne der Hohenzollern" (1870), beruhen auf Hahnkes Arbeit, der dazu
die im Berliner Königlichen Hausarchiv liegende Korrespondenz der Königin mit
ihrem Gemahl und ihren Verwandten benutzt hat. Die Briefe Elisabeth Christinens,
die sie an ihren Bruder, den Herzog Karl von Braunschweig, schrieb, und die
manchen neuen Zug zu ihrem Charakterbilde geben, sind erst jetzt im Landesarchiv
zu Wolfenbüttel der Forschung eröffnet worden, und Eufemici von Adlersfeld-
Ballestrem hat sich der Arbeit unterzogen, diese Quellen für eine neue Biographie
zu benutzen, die unter dem Titel erschienen ist: Elisabeth Christine, Königin
von Preußen, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg. Das Lebensbild
einer Verläumder. Nach Quellen bearbeitet unter Verwendung zum Teil unbe¬
nützten Materials aus dem Braunschweigischen Landesarchiv zu Wolfenbüttel. Mit
einem Titelbilde. Berlin, Verlagsbuchhandlung von Alfred Schall, 1908.
Die Verfasserin hat sich bemüht, das wenig günstige Bild, das die Geschicht¬
schreiber von dieser Königin zu entwerfen pflegen, wesentlich zu korrigieren und ihr
die im Leben versagt gewesne Gerechtigkeit im vollen Maße widerfahren zu lassen.
Elisabeth Christinens Schicksal war trotz ihrer hohen Stellung oder richtiger wegen
ihrer hohen Stellung neben einem Fürsten wie Friedrich dem Zweiten beklagenswert;
sie war das Opfer einer kurzsichtigen Kabinettspolitik, aber auch eines tiefen Grolls
und einer heftigen Reaktion, die der rücksichtslose Eigensinn Friedrich Wilhelms des
Ersten in seiner Familie, namentlich bei seiner Gemahlin Sophie Dorothea, seiner
Tochter Amalia und am schärfsten bei seinem Sohne Fritz hervorrufen mußte. Der
König preist die braunschweigische Prinzessin dem Sohne mit den Worten an: „Sie
ist ein gottesfürchtiges Mensch und dieses ist alles und comportable sowohl mit Euch
als mit den Schwiegereltern. Gott gebe seinen Segen dazu und segne Euch und
Eure Nachfolger." Der Kronprinz wußte aus böser Erfahrung, daß er dem Vater
auch in dieser Angelegenheit nicht widersprechen dürfe, und willigte ihm gegenüber
ein. Aber im Geheimen wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um diese Ver¬
gewaltigung abzuwenden. Der Sohn kochte vor Wut: „Ich möchte lieber, schreibt
er in einem Briefe, das gemeinste Weibsstück von ganz Berlin haben, als eine
Betschwester mit einem Gesicht wie ein halbes Dutzend Mucker zusammengenommen."
Noch vierundzwanzig Stunden vor der angesetzten Hochzeit erschien ans Wien Graf
Seckendorff und überbrachte den Vorschlag Kaiser Karls des Sechsten, die Ver¬
lobung des Kronprinzen aufzulösen und ihn mit der zweiten Tochter des englischen
Königs Georgs des Zweiten zu verbinden. Aber Friedrich Wilhelm der Erste
geriet über diese Einmischung in heftigen Zorn: er würde sich durch keine Vorteile
der Welt bewegen lassen, seiner Ehre und Parole einen solchen Schandfleck anzu¬
hangen.
Freilich im Interesse der Prinzessin Elisabeth Christine und auch wohl im
Interesse Preußens wäre es besser gewesen, wenn die Braunschweiger unter diesen
Umständen auf die Eheschließung verzichtet hätten, aber man hoffte wohl, die Zeit
würde alle Gegensätze ausgleichen. Das geschah leider nicht; im Gegenteil, das
Leben der Kronprinzessin und spätern Königin wurde am preußischen Hofe zu einem
Martyrium. Dadurch, daß sie alle Zurücksetzungen, Kränkungen und Beleidigungen
willenlos hinnahm und sich immer wieder sklavisch vor ihrem gnädigen Herrn beugte,
statt auch dem königlichen Gemahl gegenüber ihre Stellung entschieden zu wahren
und den König für sein zuweilen beleidigendes Verhalten mutig zur Rechenschaft zu
ziehen, verschlimmerte sie ihre Lage immer mehr; sie gewinnt durch diese Schwäche
auch nicht unsre Sympathien. Liselotte von der Pfalz kam in ähnliche Verhältnisse
hinein; aber mit welcher Charakterstärke, mit welchem Mut und welcher Würde hat
sie ihre Persönlichkeit durchgesetzt! Nur eine Frau von solchem Charakter und Geist
hätte Friedrich dem Zweiten imponieren können. Der König zählte seine Gemahlin
tatsächlich nicht zu seiner Familie. Als er aus dem siebenjährigen Kriege heim¬
kehrte, umarmte er alle seine Verwandten, aber seiner Gemahlin machte er nur
eine Verbeugung mit den Worten: „Madame sind korpulenter geworden." Er
konnte noch roher sein: zu einem Diner, das Friedrich seiner Schwester Ulrike,
der Königin von Schweden, gab, war auch Elisabeth Christine erschienen, v'sse
eng. visills vaolis, sagte er zur Schwester, <i^s vous oonnaisssZ! ciöjZ..
Man kann der Verfasserin nicht ganz widersprechen, wenn sie an einer Stelle
sagt: „Man pflegt Friedrich Wilhelm den Zweiten für die Sittenlosigkeit seines
Hofes verantwortlich zu machen, aber mit Unrecht. Den Grund dazu hat das
Eheleben Friedrichs des Zweiten gelegt; indem er seine Gemahlin von dem Familien¬
leben ausschloß, untergrub er die Basis der Familie: die Achtung vor der Frau.
Das Beispiel, welches er gab, begann sehr bald gewaltig um sich zu greifen, und
der erste, der ihm darin folgte, war des Prinzen eigner Bruder, der Prinz von
Preußen, der seine Gemahlin in jeder Weise vernachlässigte. Andre ahmten ihm
darin nach, und so griff der Sumpf um sich, denn die Fromm zögerten nicht, dem
Beispiel ihrer Männer Folge zu leisten."
Zu dem Mangel an Mut und Willenskraft, der den Charakter Elisabeth
Christinens beherrscht, kommen noch ihre einseitigen geistigen Anlagen. Aber so
beschränkt und dumm, wie sie in den Briefen der Hofgesellschaft, besonders durch
Friedrichs eigne Mutter, geschildert wird, kann sie doch nicht gewesen sein.
Jedenfalls hat sie sich redlich bemüht, die Lücken ihrer unzulänglichen Bildung aus¬
zufüllen. Davon legen nicht nur die Briefe an ihren Bruder Karl ein deutliches
Zeugnis ab, sondern auch die zahlreichen im Druck erschienenen Übersetzungen aus
dem Deutschen ins Französische, z. B. die Übersetzung von Gellerts geistlichen Oden
und Liedern und von dessen moralischen Vorlesungen. Da sie aber weder die
deutsche noch die französische Sprache vollkommen beherrschte, ist die Annahme wohl
berechtigt, daß sie bei ihren literarischen Arbeiten die Hilfe andrer stark in An¬
spruch genommen hat. — Wenn wir auch der Verfasserin dieser neuen Biographie
in ihren ausgesprochnen Sympathien für die Gemahlin Friedrichs des Großen nicht
ganz folgen können, so begrüßen wir diese Publikation doch als neuen wertvollen
Beitrag zur Geschichte der friderizianischen Zeit. Die Ausstattung des Buches ist
Es wird in Deutschland, und nicht mit Unrecht,
seit längerer Zeit darüber geklagt, daß viel zu viel übersetzt wird. Von manchem
mittelmäßigen Werk des Auslands erhalten wir eine deutsche Bearbeitung nach der
andern, von jedem durch eine Mode emporgetragnen Neuling möglicherweise gleich
die gesammelten Werke. Dem gegenüber ist es erfreulich, wenn alte klassische
Schriften in neuem deutschem Gewände vorgelegt werden. So bringt der Verlag
von Wiegandt <K Grieben <M. K. Sarasin) in Berlin drei Flaggenwerke der fran¬
zösischen Literatur in guten Übersetzungen neu heraus. Zunächst den ersten Band
der „Versuche" von Michel de Montaigne, übertragen von Wilhelm Vollgraff;
dann die „Bekenntnisse" von Jean Jacques Rousseau, übersetzt von Ernst Hardt;
endlich einen Band Erzählungen von Voltaire, ebenfalls von dem Dichter Ernst
Hardt übertragen. Über die Werke von Montaigne und Rousseau, von denen das
zweite eine vollständige Wiedergabe des Originals ist, braucht neues nicht gesagt
zu werden. Hervorgehoben sei aber die Ausstattung, für Rousseau ein schöner
Lederhaut mit ganz dünnem satiniertem Papier im bequemen Taschenformat, klar in einer
dünnen Antiqua gedruckt, für Montaigne ein großes Bibliothekformat mit dicker
Antiqua auf starkem Papier; beide Bände sind mit vortrefflichen Bildern der Ver¬
fasser geschmückt. Voltaires Erzählungen, äußerlich ebenfalls gut ausgestattet und
mit dem Bildnis Voltaires von Latour versehn, bieten aber etwas wie eine Über¬
raschung. Denn sie wirken, in dieser Zusammenstellung kaum in Deutschland ver¬
öffentlicht, wie völlig neu. Ihre feingeschliffne Satire, die dabei (der Ausdruck sei
gestattet) wie ans dem Ärmel geschüttelt erscheint, gewährt immer neuen Genuß,
das Buch ist überall geistreich, frisch, lebendig und weist deutlich die Fäden, die
von dem herrschenden Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts in die französische
Revolution, ja bis nahe an unsre Tage herangehn. Eine kalte Kunst, aber eine
nicht nur für ihre Zeit interessante, wie es Ernst Hardt in der etwas zu knappen
Einleitung richtig andeutet. Man sieht in die Werkstatt eines reichen, wenn auch
kühlen Geistes, den wir als fremd, als nicht unsers Geblüts zu empfinden nicht
aufhören, der aber immer wieder fesselt durch seine Klugheit, seinen Witz, seine
Kunst, das Letzte in einer Form zu sagen, die vielleicht nicht nur deu Zeitgenossen,
sondern auf lange hinaus noch den Nachkommen Rätsel aufgab, und hinter deren
Gewand wir mit dem Vergnügen von nicht mehr voll beteiligten Zuschauern eine
uns fremde und uns kaum liebenswerte, aber doch eigenartige und immer wieder an¬
Zur Beachtung
Mit dem nächste» Hefte beginnt diese Zeitschrift das 2. Vierteljahr ihres «8. Jahr-
ganges. Sie ist durch alle Buchhandlungen und Postanstalte» des In- und Anstandes
zu beziehen. Preis für das Vierteljahr « Mark. Mir bitten» die Bestellung schleunig
zu erneuer».
Unsre Krser machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß die Grenzboten
regelmäßig jeden Donnerstag erscheinen. Wenn Unregelmäßigkeiten in der Kirferung,
besonders beim Martalwechscl, vorkommen» so bitten wir dringend, uns dies sofort
mitzuteilen, damit wir für Abhilfe sorgen Können.
Keipzig. im März 1N0!) Die Verlagshandlung
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IttKü M^ieKI^Q lMO INKL ÄHI^
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25 Koxen l.ex.-8. 1909. QeK. Nsrlc 10.—, in l.e!nwsn<l xel>. Nsrlc 12.—.
In 2., «lurcliAesenener ^ullsxe lisxt vor:
?M^050Mix
vearoeilet von W. Oiltnev, t^I. rlooinANÄus, K. Luel<en, l'n.I^ipps.
Vo". Runen. XV. 0swaI6. 5r. paulsen. ^. Kienl unc! Vo". V^unät
27 Koxen I.ex.-8. 1908. Qel>. Nsrlc 10.— , in I.einw-mo' ?el>. Ngrlc 12.—.
?rokeliett u. Lpexial-?rospelcte über 6lec!nTeInen^KteiIunxen (mit ^us^ux
---—--AUS cien Vorwort nicht^ersuszebers, clera»
KsItsübersicKt clef Lessmtwsrlces, «kein ^utorenverneic-luns und mit?roiiestüclcen sus <kein
^erlce) sul Vi/unser umsonst un6 postlrei vom Vsrlsx g. (Z. I'entrer in I^eipsix uncl Berlin.